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Full text of "Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft"

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COMMENTAE 


ZU 


KANTS 


KRITIK  DER  REINEN  VERNUNFT 


ZUM  HUNDERTJÄHRIGEN  JUBILÄUM  DERSELBEN 


HERAUSGEGEBEN 

VON 


Dr.  E  VAIHINGER, 

PRIVATDOCENT  DEB  PHILOSOPHIE  AN  DER  UNIVERSITÄT  STBASSBÜRG. 


\ 


Man  hat  allen  Grund ,  mit  den  emateaten  Studien, 
wie  9ie  bis  jetzt  unter  allen  Philosophen  faet  nur  auf 
Aristotelee  verwandt  worden  sind,  in  die  IHefen  de» 
KanVechen  Syeteme  einzudringen. 

F.  A.  Lang". 


ERSTER  BAND. 


j-i-i. 


STUTTGART. 
VERLAG  VON  W.    SPEMANN. 

1881. 


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Das  üebersetzungsrecht  in  fremde  Sprachen  vorbehalten. 


Druck  von  Oebrüder  Kröner  in  Stuttgart. 


Vorwort. 


Der  vorliegende  Commentar  zu  Kants  „Kritik  der  reinen  Vernunft" 
ist  aus  der  Praxis  des  Verfassers  an  dem  hiesigen  von  Professor  Laas 
geleiteten  Philosophischen  Seminar  herausgewachsen.  Die  bei  mehrfach 
wiederholter  Behandlung  des  Gegenstandes  gesammelten  Erfahrungen 
brachten  den  Gedanken  zur  Reife,  zum  hundertjährigen  Jubiläum  der 
Kritik  dieses  ausführliche  exegetische  Handbuch  auszuarbeiten. 

Bei  der  Abfassung  desselben  verfuhr  ich  nach  denjenigen  methodi- 
schen Grundsätzen,  welche  bei  der  Erklärung  der  griechischen 
Philosophen  von  den  modernen  Exegeten  angewendet  werden.  Ich 
war  in  der  Lage,  dieselben  ebenfalls  aus  mehrfacher  seminaristischer 
Praxis  zu  abstrahiren.  Bekanntlich  besteht  jedoch  hierin  ein  tiefgehender 
Gegensatz.  Bei  der  Erklärung  Piatons  reconstruirt  z.  B.  Steinhart 
die  einzelnen  Dialoge  desselben  in  freiester  Weise,  selbst  als  Platoniker, 
um  in  warmer  Begeisterung  für  den  Inhalt  aus  dem  „Geiste  Piatons ** 
heraus  dessen  System  philosophisch  gleichsam  neu  zu  schaffen.  Da- 
gegen analysirt  ein  Bonitz  mit  philologischer  Nüchternheit  und  exacter 
Strenge  rein  objectiv  Form  und  Inhalt  jener  Schriften,  um  vom 
historischen  Standpunkt  aus  den  eigentlichen  Sinn  derselben  zu 
eruiren.  Es  kann  kein  Zweifel  darüber  obwalten,  dass  auf  den  Titel 
der  Wissenschaftlichkeit  nur  die  letztere  Methode  Anspruch  er- 
heben kann.  Dass  ^das  Verständniss  gemeiniglich  erst  da  beginnt,  wo 
der  Enthusiasmus  aufhört,*  ist  eine  wenn  auch  nicht  immer,  so  doch 
häufig  gültige  psychologische  Wahrheit.  Jene  freie  Reproduction  hat 
für  die  systematische  Fortbildung  der  Philosophie  ihren  unleugbaren 
Werth.  Aber  eine  historisch  exacte,  streng  objective,  unbefangene 
und  unbestechliche  Darlegung  und  Entwicklung  der  Lehre  wird  durch 
dieselbe  nicht  gefördert,  sondern  vielmehr  gehindert.  Wer  jemals 
etwa  Steinharts  Einleitung  in  den  Theätet  mit  der  Abhandlung  von 
Bonitz  über  denselben  Gegenstand  verglichen  hat,  hat  es  erfahren,  wie 
sehr  die,  wenn  auch  warme  und  wohlthuende,  so  doch  befangene,  un- 
kritische Begeisterung  das  wahre  Verständniss  besonders  des  Einzelnen 
beeinträchtigt.    Wie  überall  in  der  Philosophie,  so  nicht  am  wenigsten 


IV  Vorwort. 

hier,    ist    die  Verwechslung   des  Geistvollen  und  Geistreichen  mit  der 
nüchternen  und  schlichten  Wahrheit  verhängnissvolL 

Derselbe  tiefgehende  Gegensatz  herrscht  unter  denjenigen  Schriften 
der  Gegenwart;  welche  man  unter  dem  Namen  der  Kantphilologie 
'  zusammenzufassen  pflegt.  Auf  der  einen  Seite  freie  philosophische 
Reconstruction ,  auf  der  anderen  streng  philologische  Reproduction. 
Nachdem  eine  Reihe  von  Schriften  das  Kant'sche  System  zum  Zweck 
der  Propaganda  fiir  dasselbe  in  selbständiger  Umarbeitung  dargestellt 
haben,  beginnt  seit  einigen  Jahren  die  exacte  philologische  Methode 
in  ihr  gutes  Recht  allmälig  einzutreten.  Man  würde  sich  jedoch  in 
einem  schweren  Irrthum  befinden,  wollte  man  glauben,  letztere  Me- 
thode diene  nicht  auch  der  systematischen  Weiterbildung  der  Philosophie. 
Ist  sie  auch  zunächst  für  den  Historiker  Selbstzweck,  so  wird  doch 
eine  wahrhaft  fruchtbare  Fortbildung  aus  ihr  und  nur  aus  ihr  belebende 
Anregung  empfangen  können. 

Der  vorliegende  Commentar  steht  auf  dem  Standpunkt  der  ^Kant- 
philologie*',  aber  im  strengen  Sinne  des  Wortes,  auf  das  ja  auch  in 
richtiger  Selbsterkenntniss  von  dem  Hauptvertreter  der  entgegengesetzten 
Richtung  förmlich  verzichtet  worden  ist.  Der  Bon itz' sehe  Commentar 
zu  des  Aristoteles  Metaphysik,  der  Waitz'sche  zu  desselben  Organon, 
die  von  Zeller  in  unvergleichlicher,  muster-  und  meisterhafter  Weise 
gehandhabte  philologisch  -  historische  Methode  schwebten  dabei  als  das 
auf  imseren  Gregenstand  mutatis  mutandis  übertragbare  Ideal  vor.  Ich 
wähle  den  Ausspruch  von  F.  A.  Lange  zum  Motto:  ^Man  hat  allen 
Grund,  mit  den  ernstesten  Studien,  wie  sie  bis  jetzt  unter  allen  Philo- 
sophen fast  nur  auf  Aristoteles  verwandt  worden  sind,  in  die  Tiefen 
des  Kant'schen  Systems  einzudringen.*  Ob  diese  philologische  Bear- 
beitung die  von  der  einen  Seite  geforderte  „Wiederaufrichtung  der 
Kant'schen  Autorität*  zur  Folge  habe,  oder  ob  sie  die  von  der  an- 
deren Seite  ausgesprochene  Hoffnung  realisire,  „von  dem  Druck  der 
blossen  Autorität  als  solcher  definitiv  zu  befreien,*  —  dies  muss  dem 
Historiker  und  Philologen  zunächst  ganz  gleichgültig  sein.  Philosophisch 
nehme  ich  wie  Jeder  Andere  zu  Kant  eine  feste,  bestimmte  Stellung 
ein,  aber  ich  fand  es  nothwendig,  zunächst  hievon  zu  abstrahiren.  Mein 
Ziel  ist  die  nach  den  methodischen  Grundsätzen  der  Hermeneutik  und 
Geschichtsforschung  angestellte,  exacte,  d.h.  streng  wissenschaft- 
liche Erklärung  der  Kantischen  „Kritik  der  reinen  Vernunft*.  Die 
Mittel  zur  Erreichimg  dieses  Zieles,  das  mir  zunächst  Selbstzweck  ist, 
sind  folgende: 

1)  Eine  all  gemeine  Einleitung  über  die  historische  und  actuelle 
Bedeutung  Kants,  sodann  gleichsam  als  eine  Vorschule  des  Kant- 
studiums auf  Grund  sämmtlicher  Kantischer  Originalstellen  eine  ein- 
gehende Darstellung  des  Verhältnisses  des  Kantischen  Kriticismus  zum 
Dogmatismus  und  Skepticismus,  nebst  einer  Erörterung  verwandter  zur 
Introduction  dienender  Punkte,  so  der  Entwicklung  Kants,  der  Haupt- 
tendenz seiner  Philosophie  u.  s.  w. ,  wobei  schon  die  Anwendung  der 
unten  näher  geschilderten  Methode   mannigfach  neue  Resultate  ergab. 

2)  Fortlaufende  und  erschöpfende  Interpretation  des 
Textes.    Gerade  hierin  waren  es  die  Erfahrungen  im  Seminar,  welche 


Vorwort.  V 

einen  derartigen  Commentar  als  ein  wissenschaftliches  Bedürfniss  er- 
scheinen liessen.  Es  fehlt  nicht  an  mehr  oder  weniger  eingehenden 
Gesammtdarstellungen  des  Inhalts,  aber  auch  die  ausfuhrlichsten  müssen 
ihrer  Anlage  nach  eine  grosse  Menge  einzelner  Punkte  unerörtert  lassen. 
Der  mün^iche  Erklärer  eines  solchen  Werkes,  der  ebensosehr  auf  die 
Fragen  seiner  Schüler  Rede  stehen  muss,  wie  diese  selbst  seine  Fragen 
beantworten  sollen,  wird  häufig  genug  diese  Erfahrung  machen,  an 
Jenen,  wie  an  sich  selbst.  Selbst  bei  der  Leetüre  der  besten  secun- 
dären  Darstellungen  bleibt  auch  den  Fortgeschrittenen  und  Gewecktesten 
unter  Jenen  (und  gerade  ihnen  am  meisten)  unglaublich  vieles  Ein- 
zelne unverständlich;  und  der  Lehrer  selbst  wird  auf  nicht  wenige 
Stellen  stossen,  bei  denen  er,  wenn  auch  mit  den  brauchbarsten  übli- 
chen Hilfsmitteln  ausgestattet,  Schwierigkeiten  aller  Art  findet.  Mag 
auch  der  Totalinhalt,  der  logische  Zusammenhang  eines  grösseren  Ab- 
schnittes klar  sein,  es  bleiben  noch  genug  erklärungsbedürftige  dunkle 
Stellen  im  Einzelnen  übrig,  welche  von  den  Gesammtdarstellungen  ab- 
sichtlich oder  unabsichtlich  mit  Stillschweigen  übergangen  werden.  Die 
^Kritik  der  reinen  Vernunft*  ist  überhaupt  ein  viel  schwierigeres  Werk, 
als  Viele  glauben  und  als  jene  oft  so  glatten  secundären  Darstellungen 
durchblicken  lassen.  Bald  ist  es,  wie  in  der  Einleitung  und  Aesthetik, 
die  gedrängte  Knappheit,  bald,  wie  z.  B.  in  einem  Theil  der  Analytik, 
die  wiederholungs-  und  variationsreiche  Weitschweifigkeit,  welche  das 
Verständniss  des  logischen  Zusammenhanges  des  Ganzen,  des  eigent- 
lichen Sinnes  des  Einzelnen  erschwert.  Dazu  kommt  jene  Menge 
scheinbarer  oder  wirklicher  Widersprüche,  welche  auf  Schritt  und  Tritt 
den  weniger  flüchtigen  Leser  aufhalten.  Es  sind  nicht  die  schlechtesten 
Leser,  denen  es  geht  wie  Schiller,  der  einmal  an  Körner  schreibt 
(II.  257),  Kants  Kritik  werde  ihm  immer  dunkler,  je  öfter  er  sie  lese ! 
Dass  eine  derartige  Detailerklärung  nicht  ohne  Rückwirkung  auf  die 
Auffassung  ganzer  Abschnitte,  ja  des  ganzen  Werkes  bleiben  kann, 
lässt  sich  im  Voraus  denken.  Für  das  Erstere  wird  besonders  die  Er- 
klärung der  ^transscendentalen  Deduction*  Beispiele  bieten,  für  das 
Letztere  führe  ich  aus  diesem  Ersten  Bande  die  Erörterung  zum  V.  Ab- 
schnitt der  Einleitung  (2.  Aufl.)  über  die  „reine  Naturwissenschaft", 
oder  die  Ausfuhrungen  zum  I.  und  VI.  Abschnitt  (vgl.  Allg.  Einleitung 
S.  5  S.)  über  die  Doppelfrage  der  Kritik  an ;  insbesondere  diese  letz- 
teren Erörterungen  lassen  den  eigentlichen  Inhalt  der  Kritik  in  einem 
neuen  Lichte  erscheinen.  Eine  gewissenhafte,  keiner  Dunkelheit  aus 
dem  Wege  gehende  Detailerklärung  ist  somit  auch  im  Stande,  die 
Gesammtdarstellungen  erheblich  zu  modificiren  und  zu  rectificiren.  Bei 
der  Detailerklärung  ist  die  Hauptsache  die  logische  Analyse  des  In- 
halts der  einzelnen  Sätze  nach  dem  Wortlaut  und  aus  dem  Zusammen- 
hang heraus,  wobei  auch  mehrfach  zu  dem  Hilfsmittel  tabellarischer 
Darstellung  gegrifien  wurde  (z.  B.  S.  203,  264  und  im  Abschnitt  V), 
und  unter  Umständen  rein  grammatische  Erörterungen  (wie  z.  B.  in 
diesem  Bande  S.  76. 117  fi^.  171.  189.  210.  253,  am  Anf.  von  Abschn.  VI, 
und  ö.)  nicht  gescheut  werden  durften.  Aus  der  logischen  Zerfaserung 
des  Details  ergibt  sich  dann  der  logische  Zusammenhang  der  grösseren 
Abschnitte.     Dass  man  aber  nicht  bloss  das  Ganze  aus  dem  Einzelnen, 


VI  Vorwort. 

sondern  auch  das  Einzelne  aus  dem  Ganzen  erklären  musS;  ist  eine 
überall  streng  zu  befolgende  hermeneutische  Forderung,  welche  be- 
sonders Schleiermacher  betont  hat.  Der  alte  Streit,  ob  die  Erklärung 
^aus  dem  Geist  oder  aus  dem  Buchstaben^  geschehen  muss,  erledigt 
sich  für  den  unbefangenen  Interpreten  dahin,  dass  Beides  einander  zu 
ergänzen  hat.  Es  kann  sich  immer  nur  darum  handeln,  zu  eruiren, 
was  der  Autor  gedacht  habe,  als  er  diese  oder  jene  Stelle  niederschrieb. 
Eine  sorgfaltige  gewissenhafte  Detailerklärung  kann  allein  jenem  Uebel- 
stand  der  einseitigen  Auslegung  abhelfen,  die  mit  ^ein  wenig  Philo- 
logie* bescheiden  auskommen  will,  sie  allein  kann  jener  mehr  unter- 
als  auslegenden,  überall  j,tiefen*  und  „tiefsten*  Sinn  witternden,  j,Andeu- 
tungen*  hineingeheinmissenden  Pseudomethode  ein  Ende  machen,  welche 
durch  Dunkelheit  imponirt  und  jene  Gemüther  vollends  zu  verwirren 
geeignet  ist,  welche  bei  dem  Wort  „transscendental*  ohnedies  ein  heiliger 
Schauer  ergreift  *.  Dieselbe  Detailerklärung,  welche  auf  der  seit  einigen 
Jahren  entstandenen,  insbesondere  durch  Erdmann,  Laas  und 
Paulsen  gepflegten  strengeren  Kantphilologie  aufgebaut  ist,  muss 
jener  geistreichen  und  oberflächlichen  Manier  ein  Ziel  setzen,  welche 
die  gröbsten  Donatschnitzer  begeht.  Eigenes  für  Kantisch  ausgibt,  und 
sich  über  die  solide  philologisch-kritische  Methode  in  billigster  Weise 
lustig  macht,  ebenso  jener  Vornehmthuerei,  welcher  die  Fülle  der  sich 
mehrenden  Kantphilologie  zu  viel  wird,  und  welche  sich  auf  die  Igno- 
rirung  derselben  —  zu  ihrem  eigenen  Schaden  —  gar  noch  etwas  zu 
Gute  thut. 

3)  Ein  nothwendiges  Erforderniss  ist  ferner  die  Her  beizieh ung 
der  Parallelstellen  als  der  wichtigsten  Interpretationsbehelfe.  Voll- 
ständigkeit hierin  ist  für  eine  exacte  Exegese  unentbehrlich.  Die 
wörtliche  Anführung  sämmtlicher  zur  Erläuterung  irgendwie  werth- 
vollen  Stellen  zeigt,  dass  Kant  selbst  vielfach  als  sein  eigener  Inter- 
pret die  beste  logische  Paraphrase  des  Textes  gibt;  so  wünschte  schon 
im  Jahre  1796  Jenisch  ein  Werk:  „Kant,  sein  eigener  Commentator.* 
Diese  Citate  beruhen  —  diese  Bemerkung  ist  nicht  überflüssig  — 
durchaus  auf  eigenen  methodisch  angestellten  Sammlungen,  und  dies 
ist  derjenige  Punkt,  wo  der  Natur  der  Sache  nach  am  ehesten  Voll- 
ständigkeit garantirt  werden  kann.  Es  sind  derartige  Stellen  aus 
sämmtlichen  Schriften  Kants,  auch  aus  den  scheinbar  heterogensten, 
sowie  aus  den  bisher  ganz  vernachlässigten,  1817  (1830)  und  1821 
von  Pölitz  herausgegebenen  Vorlesungen  Kants,  endlich  auch  aus  dem 
neuerdings  durch  B.  Erdmann  theil weise  ans  Licht  gezogenen  Nachlasse 
systematisch  verwerthet  worden.  Hiedurch  fallt  oft  ein  überraschendes 
Licht  auf  den  eigentlichen  Sinn  der  Stelle,  zu  welcher  die  Parallelen 
herangezogen  werden.  Dadurch  allein  wird  die  Einführung  in  die 
Kantische  Gedankenwelt   eine  vollständige.     Es  gilt  hiebei,  was  Kant 


^  Kant  sagt  ausdrücklich  in  der  Erklärung  gegen  Fichte:  dass  die  Kritik 
„bloss  auf  dem  Standpunkt  des  gemeinen,  nur  zu  solchen  abstracten  Untersuchungen 
hinlänglich  cultivirten  Verstandes  zu  verstehen  ist".  Was  wtlrde  Kant  sagen  über 
„such  a  thing  as  an  oneiromantic  understanding  of  Kant,  in  which  W  is 
a  windmül,  K  a  kite  and  0  an  oicl^?    (Stirling.) 


Vorwort.  VTI 

(Kritik  der  reinen  Vernunft.  Erste  Ausgabe,  S.  314)  über  Piaton 
sagt,  von  ihm  selbst,  wie  ja  auch  diese  Stelle  schon  mehrfach  in  diesem 
Sinne  angezogen  worden  ist:  ^Es  ist  gar  nichts  Ungewöhnliches  .  .  . 
durch  die  Vergleichung  der  Gedanken,  welche  ein  Verfasser 
über  seinen  Gegenstand  äussert,  ihn  sogar  besser  zu  verstehen,  als  er 
sich  selbst  verstand,  indem  er  seinen  Begriff  nicht  genugsam  bestimmte, 
and  dadurch  bisweilen  seiner  eigenen  Absicht  entgegen  redete  oder 
auch  dachte.^  Nicht  selten  ergeben  sich  auch  Abweichungen  und 
selbst  Widersprüche  theils  innerhalb  der  ,, Kritik  der  reinen  Vernunft* 
selbst,  theils  innerhalb  derselben  Entwicklungsepoche  der  Kantischen 
Lehre.  Auf  die  Entwicklung  der  einzelnen  Lehrstücke  vor  —  und 
ihre  Weiterbildung  nach  1781  wurde  hiebei  ebenfalls  überall  hinge- 
wiesen. Dass  durch  derartige  Confrontirung  wichtige  Resultate  zu  er- 
reichen  sind,  davon  gibt  schon  die  Sammlung  und  Verarbeitung  der 
Aeusserungen  Kants  über  das  Verhältniss  seines  Kriticismus  zum  Dog- 
matismus und  Skepticismus  in  der  „Speciellen  Einleitung*  Zeugniss, 
sowie  z.  B.  der  Excurs  über  die  Entwicklung  des  Unterschiedes  ana- 
lytischer und  synthetischer  Urtheile,  oder  die  Zusammenstellungen  auf 
S.  180  und  S.  183  f.  Nicht  unwillkommen,  weil  nicht  uninteressant 
wird  es  sein,  dass  hiebei  auch  die  Lieblingsbilder  Kants  besonders  be- 
rücksichtigt wurden  *.  Wichtiger  ist  freilich  die  Verwerthung  der 
Parallelstellen  zur  Aufhellung  des  Sinnes  und  der  Entstehung  der 
Termini  technici  Kants.  Die  ungemein  reiche  Ausbildung  und  feine 
Gliederung  der  technischen  Sprache  der  ^Kritischen  Philosophie*  ist 
ja  eine  bekannte  Thatsache.  Hiebei  wurde  sowohl  nach  statistisch- 
comparativer,  als  nach  historisch-genetischer  Methode  ver- 
fahren, um  der  Terminologie  von  allen  Seiten  beizukommen.  Natürlich 
muss  den  wichtigsten  Terminis  auch  die  grösste  Aufmerksamkeit  ge- 
widmet werden,  insbesondere  ihrer  Entwicklung  nach,  sowohl  bei  Kant 
selbst,  als  aus  dem  Sprachgebrauch  seiner  Vorgänger  heraus  •.  Gerade 
durch  den  Mangel  einer  vollständigen  Uebersicht  der  Parallelstellen 
entstanden  eine  Menge  der  bisherigen  Fehler  der  Erklärer.  Es  ist 
femer  unstreitbar  eine  irreflihrende  Methode,  wenn,  wie  so  häufig  und 
besonders  bei  der  Frage  nach  dem  sogenannten  Hauptzwecke  der  Kritik 


*  Dass  durch  eine  derartige  Statistik  des  Sprachgebrauchs  auch  für  die  sach- 
lichen Fragen  Manches  herauskommt^  zeigen  die  Zusammenstellungen  S.  89  f. 
(der  Ocean  der  Speculation),  S.  86  ff.  (der  Kampfplatz  der  Metaphysik),  S.  93  f. 
(der  Despotismus  der  Dogmatiker),  S.  97  (die  Aristokratie  der  Vernunft),  S.  107 
bis  116  (der  Process  der  reinen  Vernunft),  S.  166  f.  (der  Borg  aus  der  Erfahrung), 
S.  233  ff.  (das  Gebäude  der  Metaphysik),  S.  244  ff.  (die  Flügel  der  Ideen),  S.  247  ff. 
(der  leere  Raum  des  reinen  Verstandes),  ferner  S.  86.  89.  92.  98.  128.  129.  134. 
136.  143.  150.  171  f.  176  u.  ö.  Aus  den  dazu  angeführten  Bemerkungen  Späterer 
lässt  sich  zugleich  die  literarische  Regel  ableiten,  dass  die  Anhänger  derartige 
Bilder  übertreibend  auszumalen  pflegen,  während  die  Gegner  durch  ävitatpo^pYi  die 
Spitze  des  Bildes  gegen  den  Urheber  desselben  selbst  zu  wenden  lieben. 

"  So  geschah  das  z.  B.  mit  den  Terminis  „dogmatisch",  „skeptisch"  S.  33  f., 
„kritisch"  S.  44.  46.  103.  121,  „Metaphysik"  S.  88.  232  u.  ö.,  „aus  Principien" 
S.  124  f.,  „Erfahrung"  S.  165.  176  f.  217  f.,  „apriorisch"  S.  169,  „rein"  S.  169.  195. 
211  ff.,  „Rührung"  und  „Reiz"  S.  175,  „analytisch"  und  „synthetisch"  S.  258  ff., 
267  f.  u.  ö.    Vgl.  S.  137.  166.  191.  221.  230.  236  u.  ö. 


Vm  Vorwort. 

(vgl.  S.  59 — 70)  geschieht,  eine  einzige  Stelle  gleichsam  als  Normalstelle 
betrachtet  wird,  und  die  Parallelstellen  entweder  ganz  vernachlässigt 
werden,  oder  die  wenigen,  welche  herbeigezogen  werden,  gewaltsam 
nach  jener  ersten  Stelle  erklärt  werden,  falls  sich  nämlich  Abweichungen 
ergeben  *. 

4)  Ebenso  wichtig  als  die  Sammlung  aller  Parallelstellen  ist  die 
kritische  Sichtung  und  Hereinarbeitung  des  gesammten 
bisherigen  exegetischen  Materials.  Dieses  ist  ein  ungemein 
reiches  und  fast  unübersehbares.  Hunderte  von  Specialschriften,  Aufsätzen, 
Dissertationen,  Recensionen  sind  seit  1781  über  und  zu  Kants  Kritik 
erschienen.  Dieses  reiche  Material  von  Noten  und  Notizen,  Glossen 
und  Scholien  ist  aber  zerstreut  und  theilweise  sehr  selten  geworden. 
Der  Einzelne,  selbst  der  Fachgelehrte,  ist  natürlich  nicht  im  Stande, 
dasselbe  aufzufinden,  geschweige  denn  vollständig  zu  verwerthen,  wenn 
er  über  Kant  schreibt  oder  ihn  auch  nur  studirt.  Besonders  die  reiche 
Literatur  von  1785 — 1800  ist  von  den  modernen  Kanterklärern  so  gut 
wie  gar  nicht  herbeigezogen  worden,  woraus  denselben  aus  den  ange- 
gebenen Gründen  nicht  der  geringste  Vorwurf  gemacht  werden  soll. 
Man  wird  aber  gerne  zugeben,  dass  mit  dieser  Vernachlässigung  die 
grössten  Uebelstände  verbunden  sind.  Der  Mangel  an  Continuität  und 
Zusammenhang  hierin  kann  nur  schädlich  sein.  Dinge,  welche  Andere 
schon  lange  entschieden  haben,  werden  aus  Unkenntniss  davon  auf» 
Neue  Gegenstand  der  Discussion,  Bemerkungen,  theils  exegetischer  theila 
kritischer  Natur,  welche  schon  lange  oft  in  trefifender  Form  gemacht 
sind,  werden,  oft  in  weniger  schlagender  Weise  auf  eigene  Faust  auf» 
Neue  vorgebracht.  Dass  unter  diesem  hundertjährigen  Schutte  sehr 
viel  Unbrauchbares  neben  Brauchbarem  enthalten  ist,  ist  selbstver- 
ständlich. Aber  irgend  Jemand  musste  sich  endlich  finden,  der  die 
Mühe  auf  sich  nimmt,  mit  kritischer  Sorgfalt  den  Waizen  von  der 
Spreu  zu  sondern,  das  Gute  dem  allgemeinen  Gebrauche  zugänglich 
zu  machen  und  so  eine  Entlastung  von  dem  drückenden  Uebergewicht 
der  unermesslichen  Literatur  herbeizuftlhren,  wie  dies  ja  auch  bei  den 
Ausgaben  der  klassischen  Autoren  „cum  notis  variorum^  der  Fall  ist. 
Was  mir  von  Literatur  erreichbar  war,  habe  ich  herbeigezogen  und 
vollständig  ausgenützt.  Dies  ist  jedoch  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob 
da,  wo  die  Citate  nicht  wörtlich  angeführt  sind,  nicht  noch  gar  Man- 
ches zu  holen  wäre:  wo  das  der  Fall  ist,  wurden  die  Stellen  ange- 
geben, so  dass  Jeder,  der  sich  für  irgend  einen  Punkt  interessirt,  die 


*  Mittelst  derselben  Methode  konnte  endlich  eine  Reihe  höchst  wichtiger,  bis 
jetzt  zum  Theil  vernachlässigter  Distinctionen  gemacht  werden  (die  theilweise  auf 
Widersprüche  führen),  so  besonders  zwischen  den  verschiedenen  Bedeutungen  des 
Ausdruckes  „Kritik  der  reinen  Vernunft**  (S.  116—120  u.  im  Abschn.  VII),  zwischen 
relativem  und  absolutem,  reinem  und  gemischtem  Apriori  (S.  192—196),  zwischen 
hypothetischer  und  absoluter  Nothwendigkeit  (S.  200),  zwischen  subjectiver  und 
objectiver  Allgemeinheit  (S.  204  f.)i  zwischen  Nothwendigkeit  des  Causalitäts- 
gesetzes  und  des  Causalitätsbegriffes  (S.  213  ff.)«)  zwischen  transscendenter  und 
immanenter  Metaphysik  (S.  232  f.  und  im  Abschn.  V) ,  zwischen  Verursachung 
und  ürtheilen  über  dieselbe  (S.  270.  272),  endlich  besonders  zwischen  den  beiden 
Bedeutungen  von  „Naturwissenschaft"  im  Abschnitt  V  und  den  zwei  ganz  hetero- 
genen  Fassungen  des  sog.  Hume'schen  Problems  im  Abschnitt  VI. 


Vorwort.  IX 

Literatur  in  annähernder  Vollständigkeit  beisammen  hat.  Endlich  wird 
dadurch  auch  der  bis  jetzt  noch  lange  nicht  hinreichend  flüssige  Um- 
tausch zwischen  deutscher  und  ausländischer  Kantforschung  angebahnt. 
Welch  grosse  Belehrung  aus  der  Zusammenstellung  der  Literatur  zu 
den  einzelnen  Stellen  für  das  Studium  erwachsen  kann^  lässt  sich  be- 
sonders ersehen  bei  der  Sammlung  der  exegetischen  Literatur  zu  den 
Hanptstellen^  speciell  in  der  in  diesem  Bande  behandelten  Einleitung^ 
so  besonders  zu  dem  vielbesprochenen  Anfang  der  Einleitung  B  (S.  170 
und  besonders  S.  178  flF.)  oder  zu  der  kleinen  Stelle  B  5  (S.  215  flf.), 
zn  dem  Hauptproblem  im  Abschnitt  VI;  man  vergleiche  beispielshalber 
noch  S.  77.  184.  211.  Willkürliche  und  tendenziöse  Auslegungen; 
theilweise  auch  grobe  Fehler  wurden  aufgedeckt  und  zurückgewiesen, 
z.  B.  S.  171.  179.  205.  208.  225,  dann  besonders  bei  der  Erörterung 
des  Hauptproblems  und  des  Ausdruckes  ^synthetisch  apriori^  im  VI.  und 
des  Terminus  „transscendental^  im  VII.  Abschnitt  der  Einleitung.  Die 
trefflichen  und  verdienstvollen  Arbeiten  der  modernen  Kantphilologie, 
welche  zur  Erklärung  des  grossen  Werkes  so  Hervorragendes  geleistet 
haben,  wurden  sämmtliche  benützt:  insbesondere  die  Schriften  von 
Arnoldt;  Cohen,  Dietrich,  B.  Erdmann,  K.  Fischer,  Holder, 
Laas,  F.  A.  Lange,  Liebmann,  J.  B.  Meyer,  Montgomery, 
Paulsen,  ßiehl,  Stadler,  Thiele,  Volkelt,  Windelband, 
Witte,  Zeller,  Zimmermann  u.  A.  sowie  die  ausländischen  Werke 
von  Adamson,  Caird,  Cantoni,  Nolen,  Stirling  u.  A. 

5)  Ein  weiteres,  zur  Erklärung  des  Einzelnen  herbeizuziehendes 
Gebiet  ist  der  ganze  historische  Untergrund,  auf  welchem  Kant 
sein  Lehrgebäude  aufgebaut  hat.  Wie  bei  den  vorhergehenden  Punkten, 
handelt  es  sich  auch  hier  darum,  das,  was  zur  Detailerklärung  noth- 
wendig  ist,  hereinzuziehen.  Wo  Kant,  zustimmend  oder  polemisch, 
direct  oder  indirect  auf  Frühere  Rücksicht  nimmt,  sind  die  urkundlichen 
Quellenbelege  aus  Hauptwerken  und  blossen  Lehrbüchern  anzuführen, 
und  auch  da,  wo  Kant  gar  nicht  davon  spricht,  sind  die  historischen 
Bezüge  aufzudecken,  soweit  die  Hereinziehung  der  Erklärung  des  Ein- 
zelnen nutzbar  gemacht  werden  kann.  Denn  mehr  als  andere  philo- 
sophische Werke  ist  Kants  Kritik  aus  Polemik  entstanden,  und  be- 
steht daher  auch  aus  solcher.  ^Kant  erklären  heisst  ihn  geschichtlich 
ableiten*,  sagt  K,  Fischer  treffend.  Die  vielen  und  trefflichen  Vor- 
arbeiten hiezu  von  Dietrich,  Erdmann,  Fischer,  Paulsen, 
Riehl,  Zimmermann  u.  A.  wurden  hereingearbeitet;  oft  bietet  sich 
auch  die  Gelegenheit,  die  Zerfaserung  des  Kantischen  Gedankengewebes 
noch  weiter  als  bisher  geschehen,  zu  treiben,  weil  eben  ein  fortlaufender 
Commentar  häufig  dazu  auffordert,  und  dies  ist  die  nothwendige  ob- 
jective  Ergänzung  der  schon  oben  berücksichtigten  subjectiven  Ent- 
vncklungsgeschichte  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft''.  In  diesem  ersten 
Bande  musste,  um  unverhältnissmässige  Einschiebungen  zu  vermeiden, 
auf  Supplemente  verwiesen  werden,  welche  so  bald. als  möglich  nach- 
geliefert werden;  so  bei  der  Lehre  vom  Apriori,  dem  Terminus  „ Apriori,*' 
so  bei  der  Lehre  vom  synthetischen  und  analytischen  Urtheil.  Einzelne 
historische  Hinweise  finden  sich  z.  B.  S.  91.  93.  96.  97.  105.  131. 
142.    144.   167.   168.    171.    183.    206.   218.   237.  242.  244.  252  u.  ö. 


X  Vorwort. 

Besonders  die  späteren  Bände  werden  dazu  noch  sehr  häufig  Gelegen- 
heit geben. 

6)  Ais  eine  Aufgabe  der  Exegese  im  weiteren  Sinne  ist  noch  neben 
der  „nüchternen  und  reservirten  Paraphrase*  die  immanente  Kritik 
zu  betrachten.  Wie  schon  bemerkt  wurde,  stellt  sich  der  Verfasser 
selbst  nicht  die  Aufgabe  der  sachlichen  Kritik  des  Systems  im  Ein- 
zelnen, sondern  beschränkt  sich  aus  den  angegebenen  (rrilnden  auf  die 
formal  logische  Kritik  des  Zusammenhanges,  ohne  den  Standpunkt  un- 
parteiischer Neutralität  zu  verlassen ;  auf  die  Untersuchung  des  Wahr- 
heitsgehalts muss  der  Philologe  als  solcher,  wenn  auch  oft  mit  Wider- 
streben, verzichten.  Es  darf  hiebei  nicht  das  Bestreben  obwalten,  In- 
convenienzen  und  Inconsequenzen,  Unebenheiten  und  Widersprüche 
hinwegzudisputiren.  Aber  ebenso  wenig,  als  er  gewaltsame  Harmoni- 
sirungsversuche  vorzunehmen  hat,  darf  der  Exeget  scheinbare  Wider- 
sprüche zu  wirklichen  aufbauschen.  Die  wahre  Achtung  vor  dem  zu 
erklärenden  Autor  verhindert  das  Eine  wie  das  Andere.  Kant  bleibt 
ein  grosser  Philosoph,  auch  wenn  er  sich  widerspricht,  und  er  wird  da- 
durch nicht  widerlegt,  dass  man  in  wohlfeiler  Haarspalterei  ihm  Wider- 
sprüche andichtet,  welche  sich  bei  genauerer  Untersuchung  lösen.  Für 
das  Erstere  bieten  S.  108.  133.  141  f.  172  flf.  174.  187  ff.  200.  205.  232. 
264.  266.  267  u.  ö.,  und  besonders  S.  165  und  176  ff.  (über  den  Be- 
griff der  Erfahrung),  sowie  der  Excurs  über  die  Haupttendenz  der 
Kritik  (am  Schluss)  ßeispiele,  für  das  Zweite  S.  83  f.  113.  119  f. 
143  f.  184  f.  194  f.  211  ff.  253.  262  u.  ö. 

7)  Dagegen  hielt  ich  es  für  ein  nothwendiges  Complement,  die 
gesammte  polemische  Literatur  zu  den  einzelnen  Stellen  heran- 
zuziehen. Dies  ist  ein  Punkt,  bei  dem  die  Rücksicht  auf  die  Actualität 
des  Autors  ein  Abweichen  von  dem  Vorbild  der  Exegese  der  antiken 
Philosophen  gebietet.    Die  ^Kritik  der  reinen  Vernunft"  ist  der  Mittel- 

Junkt  der  philosophischen  Debatten  und  Controversen  seit  hundert 
ahren  ^,  sie  ist  es  heute  mehr  als  je.  Dies  machte  es  nothwendig, 
auch  dieses  Literaturgebiet  kritisch  gesichtet  hereinzuarbeiten,  um  so 
mehr,  als  an  vielen  Punkten  Exegese  und  Polemik  sich  schneidende 
Kreise  sind  *.  Die  Leetüre  der  Kritik  kann  nur  auf  diese  Weise  für 
die  Weiterentwicklung  der  Philosophie  fruchtbar  gemacht  werden.  Es 
ist  dadurch  Jedem  ermöglicht,  durch  die  ganze  Kritik  hindurch  alle 
Einzeleinwände  sowie  die  Gesaramtkritik,  soweit  sie  für  die  grösseren 
Abschnitte  in  Betracht  kommt,  zu  verfolgen,  und  sich  von  den  sach- 


*  Auch  hier  ist  gar  vieles  Vergessene  von  früheren  Gegnern  Kants  für  die 
Gegenwart  nutzbar,  vieles  Latente  für  die  wissenschaftliche  Bewegung  frei  zu 
machen;  es  war  eine  berechtigte  Erwartung  v.  Ebersteins  (Gesch.  d.  Logik  u. 
Metaphysik  II,  232):  „Eine  friedliche  Zukunft  werde  dereinst  die  Arbeiten  jener 
Philosophen  wieder  hervorziehen  und  bey  ihrer  parteylosen  Prüfung  benutzen." 
(1799.) 

'  Es  gilt  von  gar  Manchem,  was  man  einem  Gegner  Kants  entgegengerufen 
hat:  „Etwas  mehr  Interpretation  und  etwas  weniger  Kritik!"  „Die  Appellation 
von  dem  falsch  ausgelegten  an  den  richtig  auszulegenden  Kant"  kann  aber  nicht 
bloss  von  den  Anhängern,  sondern  auch  von  den  Gegnern  des  Kriticismus  gegen- 
über mannigfachen  Entstellungen  ausgehen. 


Vorwort.  XI 

liehen  Schwierigkeiten  des  Gegenstandes  ein  zutreffendes  Bild  zu  machen, 
um  so  besser,  als  auch  die  Vertheidiger  Kants  überall  herbeigezogen 
wurden,  und  überall  jenes  ^sorgfältige  Eingehen  in  die  Einzelheiten^, 
welches  Herbart  (vgl.  S.  121  Anm.  dieses  Commentars)  verlangt,  beför- 
dert wurde.  Auch  hier  musste  Einzelnes  auf  Supplemente  verschoben 
werden,  so  das  wichtige  fundamentale  Problem  der  Unterscheidung 
analytischer  und  synthetischer  Urtheile.  Aber  auch  so  blieb  noch  Ge- 
legenheit genug  zu  Anführung  kritischer  und  antikritischer  Bemer- 
kungen, welche  das  Nachdenken  anregen  und  vor  kritikloser  Hinnahme 
des  Textes,  wie  vor  missverständlicher  Bekämpfung  desselben  behüten 
können,  so  z.  B.  S.  82.  89.  99.  104  f.  108.  123.  127.  130.  147.  170  f. 
172  ff.  176.  182  f.  186.  196.  198.  202.  205  f.  208  f.  222.  224. 
247  u.  ö. 

8)  Zur  Erhöhung  des  Verständnisses  erschien  es  ferner  nicht  über- 
flüssig, überall  die  Anknüpfungspunkte  der  Epigonen  heraus- 
zuheben, um  die  Tragweite  der  einzelnen  Stellen  voll  zum  Bewusst- 
sein  zu  bringen,  um  wie  die  Vor-,  so  auch  die  Nachgeschichte  der 
, Kritik  der  reinen  Vernunft"  darzustellen.  Die  Forderung,  Kant  auch 
in  dieser  Beziehung  nicht  auf  den  j^historischen  Isolirschemel*,  wie  man 
sich  ausdrückte,  zu  setzen,  ist  eine  vollberechtigte,  mag  man  die  ein- 
zelnen Lehren  und  Stellen,  aus  denen  die  Nachkantische  Philosophie 
erwuchs,  als  Fehlerquellen  betrachten  oder  nicht.  Die  Literatur  hier- 
über wurde  möglichst  ausgenützt,  sind  ja  doch  gerade  hierin  viele  Vor- 
arbeiten dankbar  zu  erwähnen.  In  diesem  ersten  Bande  bot  sich  hiezu 
wenig  Gelegenheit,  doch  sei  auf  S.  42.  106.  133.  149  und  auf  einzelne 
Bemerkungen  im  Abschnitt  VI  und  VII  hingewiesen.  An  einzelnen 
Punkten  wurde  auch  die  mehr  kulturhistorisch  interessante  Abhängig- 
keit gewisser  Nachfolger,  z.  B.  Schillers,  erwähnt,  z.  B.  S.  234.  248.  249. 

9)  Damit  hängt  zusammen,  dass  an  vielen  Stellen  auf  den  mo- 
dernen Streit  zwischen  Rationalismus  und  Empirismus, 
Idealismus  und  Materialismus  u.  s.  w.,  jedoch  in  discreter  Wahrung 
der  Grenzen  eines  blossen  Commentars,  Rücksicht  genommen  wird, 
sofern  dabei  einzelne  Abschnitte  aus  Kant  in  Betracht  kommen.  Die 
modernen  Fort-  und  Umbildungs versuche  der  Kantischen  Lehre,  die 
ja  in  der  Gegenwart  eine  Nachblüthe  erlebt,  werden  besonders  in  dem 
Commentar  zur  Aesthetik  und -Analytik  ihre  Stelle  finden. 

10)  Zur  Vervollständigung  der  Exegese  werden  sodann  die  grossen 
Controversen  über  den  Hauptzweck  der  Kritik  und  die  Methode 
derselben,  über  die  eigentliche  Natur  des  Apriori,  sowie  die  Frage  der 
Composition  der  Ersten  Auflage  und  der  c5treit  über  den  Werth  der 
Veränderungen  der  Zweiten  zur  Sprache  kommen.  Gerade  hierin 
bietet  die  fortlaufende  Detailerklärung  sehr  erhebliche  Vortheile,  weil 
ein  Uebersehen  einzelner  Stellen  dadurch  ausgeschlossen  ist,  und  weil 
die  detaillirte  logische  Analyse  der  fraglichen  Hauptstellen  im  Zu- 
Bammenhang  sicherere  Resultate  zu  liefern  im  Stande  ist,  als  die  bis- 
herige Methode,  welche  jene  Fragen  noch  nicht  zum  Austrag  brachte. 
Dieser  erste  Band  bot  Gelegenheit,  an  einzelnen  Textstellen  zu  sprechen 
über  den  Hauptzweck  (z.  B.  S.  82.  127.  163,  zu  Abschnitt  VI  u.  ö.),  über 
die  Methode  (S.  124 ,  132  u.  ö.),  die  Natur  des  Apriori  (S.  191),  die 


XII  Vorwort. 

Composition  der  ersten  Auflage  (zu  Abschn.  VI  u.  VII),  die  Ver- 
änderungen der  zweiten  Auflage  (S.  79.  159  ff.  227  ff.  229  ff.,  zu 
Abschnitt  IV,  V,  VI,  VII).  Den  Abweichungen  der  Prolegomena 
wurde  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt  (z.  B.  S.  163  f.  und  zu 
Abschn.  V  u.  VI).  In  den  späteren  Bänden  wird  die  Erörterung  der 
Einheitlichkeit  oder  Nichteinheitlichkeit  der  Composition  der  Kritik 
überraschende  Aufschlüsse  über  die  Entstehungszeit  der  einzelnen  Par- 
tien der  ^Kritik  der  reinen  Vernunft^  ergeben. 

11)  Auch  die  Kevision  des  Textes  erschien  als  eine  wesent- 
liche Aufgabe  des  Commentars.  Dass  hierin  noch  Manches  zu  thun 
ist,  zeigte  die  Auffindung  der  ^ Blattversetzung*  in  Kants  Prolegomena. 
Schon  im  vorliegenden  Bande  gab  sich  Gelegenheit  zu  Textemendationen 
theils  in  d§r  Kritik  selbst  (z.  B.  S.  209  und  im  Abschnitt  V),  theils 
in  Stellen  aus  anderen  Werken  Kants  (z.  B.  S.  145.  179.  217.  263). 
Auch  hierin  ist  schon  im  vorigen  Jahrhundert  Manches  geschehen,  was 
vergessen  worden  ist.  Hiebei  leisteten  auch ,  wie  schon  bei  der  Exe- 
gese, die  fremdsprachlichen  Uebersetzungen  nicht  unwesentliche  Dienste*. 

12)  Endlich  wird  zum  Schluss  ein  Namen-  und  (besonders  ein  ter- 
minologisches) Sachregister  zum  Commentar  gegeben  werden,  um 
dessen  Gebrauch  zu  erleichtern  und  ihn  für  die  Fortbildung  der  Kant- 
philologie fruchtbar  zu  machen.  Eine  bibliographisch  genaue  An- 
führung der  benützten  Schriften  wird  den  Schluss  bilden. 

Durch  methodische  Ausnützung  sämmtlicher  Interpretationsbehelfe, 
durch  encyclopädische  Zusammenfassung  und  kritische  Sichtung  der 
bisherigen  Literatur  sucht  der  Commentar  das  Facit  aus  der  Summe 
der  Kantforschung  zu  ziehen,  und  durch  Hinweis  auf  bestehende  Lücken 
derselben  neue  Impulse  zu  geben.  Ein  besonderes  Bestreben  des  Ver- 
fassers war  es,  den  verschiedenartigen  Ansprüchen  der  so 
verschiedenartigen  Leser  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft*  durch 
allseitige  Berücksichtigung  der  Anforderungen  gerecht  zu  werden:  es 
ist  ja  die  „Kritik  der  reinen  Vernunft*  bei  Anhängern  und  Gegnern,  bei 
Laien  und  Fachmännern,  bei  Schülern  und  Meistern,  in  Deutschland 
und  im  Ausland  weitaus  das  am  meisten  gelesene  philosophische  Werk. 
Es  bildet  den  Mittelpunkt  des  gesammten  Interesses  an  der  Philosophie. 
So  mag  denn  wohl  dem  Einen  das  als  überflüssige  Farrago  erscheinen, 
was  dem  Anderen  sehr  willkommen  ißt,  und  was  wiederum  Jenem 
werthvoU  ist,  mag  für  Diesen  nur  geringen  Reiz  haben.  Indem  ich  in 
dem  weiten  Rahmen  des  Commentars  Vieles  bringe,  wird  aber  doch 
wohl  Jeder  Etwas  finden,  und  sich  dasjenige  herauslesen  und  heraus- 
lösen, was  seine  Studien  fördert  und  sein  Nachdenken  anregt.  Aehn- 
lich  ist  es  ja  auch  bei  den  grossen  neuerdings  erschienenen  Coramentaren 
zu  Goethe's  Werken,  insbesondere  zum  ^Faust'',  wie  denn  überhaupt 


*  Es  war  ursprünglich  meine  Absicht,  zugleich  eine  neue  Ausgabe  der  „Kritik 
der  reinen  Vernunft"  nach  den  Grundsätzen  der  Philologie  zu  veranstalten.  Ver- 
schiedene Ums^nde  veranlassten  mich  jedoch,  zunächst  hievon  Umgang  zu  nehmen. 
Eine  Folge  jener  Absicht  ist,  dass  bei  den  Citaten  aus  der  Kritik  der  r.  V.  stets 
die  Seitenzahlen  der  ersten  Ausgabe  benützt  wurden,  da  eben  aus  philologischen 
Gründen  jene  Ausgabe,  nicht  die  zweite,  meiner  Ansicht  nach  zu  Grundezu  legen 
ist.     Das  Weitere  über  die  Art  der  Citirung  enthalten  die  „Vorbemerkuxgen". 


Vorwort.  XIII 

Goethephilologie  und  Kantphilologie  manche  Analogien  zeigen  und 
gleichermassen  ihr  gutes  Recht  gegen  einseitige  Angriffe  und  gegen 
den  Vorwurf  der  -Mikrologie*  zu  wahren  haben. 

Dieser  erste  Band  umfasst  (ausser  der  Erklärung  von  Titel;  Motto 
und  Widmung)  den  Commentar  zur  Vorrede  A  ^  und  zur  Einleitung 
A  und  B.  Bei  der  Wichtigkeit  der  Ersteren  zur  allgemeinen  Ein- 
leitung in  Kants  Gedankenkreis ^  der  Letzteren  für  das  ganze  auf  ihr 
aufgebaute  kritische  Lehrgebäude  wurden  beide  Stücke  ausführlicher 
behandelt;  als  dies  besonders  bei  der  Analytik  und  Dialektik  der  Fall 
8ein  wird,  wo  nicht  wie  hier  fast  jeder  Satz^  sondern  ganze  Abschnitte 
den  Gegenstand  der  Erklärung  bilden,  und  überhaupt  bei  der  geringeren 
Menge  von  Parallelstellen  und  Erläuterungsmaterial  die  eigene  Er- 
klärung in  den  Vordergrund  treten  wird.  Hier  aber  war  Ausführlich- 
keit erstes  Gebot:  denn  schon  Brastberger  bemerkt  richtig:  j^Der 
Schlüssel  zum  richtigen  Verständniss  der  ganzen  Kritik  ist  grössten- 
theils  schon  in  der  Einleitung  zu  suchen^  ;  daher  wir  das,  was  Schultz 
(1791)  in  der  Vorrede  zu  seiner  ^Prüfung*  der  Kx.  d.  r.  V.  sagt, 
auch  auf  diesen  Commentar  anwenden  dürfen:  „Der  erste  Theil  schränkt 
sich  zwar  bloss  auf  die  Einleitung  der  Kritik  ein  und  könnte  daher 
vielleicht  Manchem  für  ein  so  kleines  Stück  derselben  zu  weitläuftig 
Bcheinen.  Allein  von  Kennern  der  Sache  befürchte  ich  den 
Vorwurf  einer  zu  grossen  Ausführlichkeit  so  wenig,  dass 
diesen  vielleicht  auch  eine  noch  grössere  desto  willkom- 
mener wäre**  .  .  .  Diese  wissen  auch,  „wie  sehr  dadurch  die  fol- 
gende Untersuchung  .  .  .  erleichtert  und  abgekürzt  wird.*' 

Ich  bin  mir  der  grossen  Schwierigkeiten,  welche  dieses  Unternehmen 
enthält,  der  wissenschaftlichen  Verantwortlichkeit,  welche  ich  mit  dem- 
selben übernommen  habe,  und  des  grossen  Abstandes  zwischen  dem 
bisher  entworfenen  Ideal  und  der  wirklichen  Ausführung  wohl  bewusst. 
Eine  Aufmunterung  lag  jedoch  für  mich  in  der  Hoffnung,  die  Fach- 
genossen werden  das  Unternehmen  mit  mir  als  ein  wissenschaftliches 
Bedürfniss  ansehen,  bei  der  Schwierigkeit  und  fast  unübersehbaren  Aus- 
dehnung den  Fehlern  und  Mängeln,  den  Lücken  und  Unvollkommen- 
heiten  und  manchen  Ungleichheiten  der  Behandlung  eine  billige  Beur- 
theüung  entgegenbringen,  und,  sei  es  auf  literarischem  oder  privatem 
Wege,  ihm  durch  positive  „Mitarbeit*  Unterstützimg  angedeihen  lassen, 
zu  deren  Verwerthung  die  in  Aussicht  genommenen  Nachträge  *  Ge- 
legenheit bieten  werden. 

Ich  erlaube  mir  zugleich  die  Bitte,  die  Verfasser  von  Programmen, 
Dissertationen,  Joumalaufsätzen,  Recensionen  u.  s.  w.,  deren  Beschaffung 
oft  ganz  unmöglich  ist,  um  Zusendung  ihrer  Arbeiten  (auch  aus  früherer 
Zeit)  zu  bitten,   da  nur   auf  diese   Weise  die  wünschenswerthe  VoU- 


*  Die  Vorrede  B  setzt  den  Inhalt  der  Kritik  viel  zu  sehr  voraus,  als  dass 
ihre  Erklärung  schon  am  Anfang  gegeben  werden  könnte.  Indem  die  Vorrede  A 
am  Anfang,  die  Vorrede  B  am  Schluss  behandelt  wird,  hat  man  zugleich  den 
Vortheil,  die  alte  Regel  zu  befolgen,  man  solle  die  Vorrede  eines  Werkes  zweimal, 
vor  und  nach  der  Lectüre  des  Werkes  lesen. 

*  Ich  beabsichtige  ausserdem,  zur  Förderung  und  Centralisirung  der  Kant- 
forschungen eine  Zeitschrift  in  freien  Heften:  Kantstudien  herauszugeben. 


XIV  Vorwort. 

Btändigkeit  erreicht  werden  kann.  Diese  Bitte  erstrecke  ich  auch  aus- 
drücklich auf  Bücher  und  sonstige  Veröffentlichungen  von  Ausländern, 
da  hierin  unsere  Bibliotheken  grosse  Lücken  aufweisen.  Mittheilungen 
und  Zusendungen  dieser  Art  werde  ich  dankbar  registriren.  Schon 
jetzt  habe  ich  den  Herren  Professoren  Dr.  v.  Prantl  in  München, 
Dr.  Heinze  in  Leipzig,  Dr.  Erdmann  in  Kiel,  Dr.  Paulsen  in  Berlin, 
Dr.  Frohschammer  in  München,  sowie  den  Herren  Dr.  Frederichs  in 
Berlin,  Dr.  Stadler  in  Zürich,  Dr.  Deussen  in  Aachen,  Dr.  Biese  in 
Barmen,  Dr.  Reicke  in  Königsberg,  Dr.  Kehrbach  in  Halle,  Dr.  Borschke, 
Dr.  Matosch  und  Dr.  Pommer  in  Wien,  Dr.  Ritter  in  Luckenwalde, 
Dr.  Lengfehlner  in  Landshut,  Dr.  Krause  in  Hamburg,  Dr.  v.  Leclair 
in  Prag,  A.  Spir  in  Stuttgart,  A.  Bilharz  in  Sigmaringen  und  T.  Harris 
in  St.  Louis  für  literarische  Zusendungen,  Kants  Kritik  betreffend, 
besten  Dank  auszusprechen. 

Zum  Schlüsse  habe  ich  noch  die  angenehme  Pflicht,  für  die  mannig- 
fache Förderung,  durch  welche  die  Herren  Professor  Dr.  Laas,  Pro- 
fessor Dr.  Gerland,  sowie  Dr.  Schricker  in  Strassburg  mich  bei  diesem 
Unternehmen  unterstützten,  für  die  freundliche  Theilnahme,  welche 
demselben  seitens  des  Curators  der  hiesigen  Universität,  Herrn  Unter- 
staatssecretär  Ledderhose  entgegengebracht  wurde,  und  für  die  Er- 
leichterungen, welche  die  hiesige  Bibliotheksverwaltung  mir  angedeihen 
liess,  öffentlich  meinen  ergebenen  Dank  auszudrücken.  Endlich  erwähne 
ich  mit  dankbarster  Anerkennung  das  ungemein  liberale  Entgegen- 
kommen der  Verlagsbuchhandlung,  welche  kein  Opfer  scheute,  und  be- 
sonders dem  Werke  eine  würdige  Ausstattung  verliehen  hat. 

Strassburg,  im  Mai  1881. 

H.  V. 


Vorbemerkungen. 


1)  Die  Citate  aus  Kants  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  selbst 
sind  nach  den  Seitenzahlen  der  Originalausgaben  gemacht^  so 
dass  diejenigen  Stellen,  welche  beiden  Ausgaben  der  Kritik  (vom  Jahre  1781  und 
1787)  gemeinsam  sind,  nach  der  Ersten,  diejenigen,  welche  nur  der  Zweiten  an- 
gehören, nach  dieser  citirt  sind.  Bei  den  Citaten  aus  der  zweiten  Ausgabe  ist 
stets  ein  B  vorgesetzt,  das  auch  sonst  die  zweite  Auflage  bedeutet,  wie  A  die 
erste.  Stellen,  die  nur  der  ersten  Auflage  angehören,  ist  immer  ein  A  vorgesetzt. 
Citate  mit  blossen  Zahlen  ohne  weitere  Angabe  beziehen  sich 
immer  auf  die  erste  Auflage.  Die  Originale  insbesondere  der  Letzteren  sind 
nun  ziemlich  selten,  die  Auffindung  der  Citate  ist  jedoch  ganz  leicht  nach  der  für 
jeden  Kantleser  und  insbesondere  für  jeden  Leser  dieses  Commentars  unentbehr- 
lichen, vortrefflichen,  handlichen  und  ungemein  billigen,  daher  auch  sehr  ver- 
breiteten Ausgabe  von  Kehrbach  (Leipzig,  Reclam).  In  dieser  Ausgabe  sind 
äberall  die  Seitenzahlen  der  ersten  und  zweiten  Originalausgabe,  der  Rosenkranz- 
schen  und  der  Hartenstein'schen  Ausgaben,  sowie  der  v.  Kirchmann'schen  Aus- 
gabe angegeben  {vgl.  Commentar  S.  74),  so  dass  jedes  Citat  aus  der  Kritik  nach 
diesen  Ausgaben  sofort  nachgeschlagen  werden  kann.  Auch  in  der  Kosenkranz- 
schen  Ausgabe  können  die  Citate  nach  den  Seitenzahlen  der  ersten  Auflage  veri- 
ficirt  werden,  doch  fehlen  bei  den  Zusätzen  der  2.  Aufl.  deren  Seitenzahlen.  In 
der  Erdmann'schen  Ausgabe  finden  sich  dagegen  die  Seitenzahlen  der  2.  Aufl., 
welche  zu  Grunde  gelegt  ist»  am  Rande  angegeben,  und  nur  bei  den  Supplementen 
aus  der  1.  Aufl.  die  dieser  selbst.  Da  nun  nach  irgend  einer  Ausgabe  citirt  werden 
mnsste  und  aus  den  schon  in  der  Vorrede  angegebenen  Gründen  der  Vorschlag 
nicht  acceptirt  werden  konnte,  die  Seitenzahlen  der  2.  Aufl.  als  Normalpagini- 
rnng  zu  benutzen  —  ein  Vorschlag,  welcher  auch  sonst  wenig  Anklang  fand  — 
so  erschien  es  als  das  Rationellste  und  Natürlichste,  die  Citate  aus 
der  ersten  und  zweiten  Auflage  sowie  die  aus  der  ersten  Auflage 
allein  nach  der  ersten^  die  aus  der  zweiten  allein  nach  ihr  selbst  zu 
paginiren.» 

Ich  wiederhole,  dass  —  bis  zum  Erscheinen  einer  allen  Ansprüchen 
entsprechenden  Ausgabe  —  die  Benützung  dieses  Commentars  den  Ge- 
brauch der  Kehrbach'schen  Ausgabe  der  „Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft" nothwendig  voraussetzt. 

2)  Bei  den  Citaten  aus  Kants  übrigen  Werken  wurden,  um  den 
Besitzern  der  verschiedenen  Ausgaben  das  Kachschlagen  zu  ermöglichen ,  die 
▼on  Kant  selbst  gemachten  Abschnitte,  Paragraphen  u.  s.  w.  benützt.  Dies  ist 
2.  B.  der  Fall  bei  der  „Kritik  der  Urtheilskraft"  und  mehreren  kleineren  Schriften 
Kant«.    Wo  diese  Methode  nicht  möglich  war,   wurde  nsujh  der  Rosenkranz'schen 


XVI  Vorbemerkungen. 

Ausgabe  [R]  als  der  besten  und  verbreitetsten  citirt.  (Nicht  selten  sind  auch  die 
Seiten  der  v.  Kirchmann'schen  Ausgabe  [K]  dazu  angegeben.)  Bei  der  „Kritik  der 
praktischen  Vernunft"  und  bei  den  Abschnitten  der  „Prolegomena",  welche  nicht 
von  Kant  paragraphirt  sind,  wurde  die  Original paginirung  angegeben,  welche  dort 
in  der  Kehrbach'schen,  hier  in  der  Erdmann'schen  Ausgabe  zu  finden  ist.  Es  ist 
bedauerlich,  dass  die  Nachlässigkeit  der  früheren  Editoren  eine  solche  Umständlich- 
keit nöthig  macht.  Eine  neue  grosse  Ausgabe  sämmtlicher  Werke  Kants,  mit 
Textkritik,  Angabe  aller  Varianten  und  Emendationen  und  vor  Allem  der  Pagini- 
rungen der  verschiedenen  bisherigen  Editionen  wäre  sehr  zeitgemäss.  Verzeich- 
nisse und  genaue  Titel  der  sämmtlichen  Schriften  Kants  finden  sich  in  den  Ge- 
sammtausgaben  von  Rosenkranz  (XI,  211—217),  Hartenstein  (VIII,  816  —  821) 
und  V.  Kirchmann  (Band  VIII,  S.  547—561,  „Kants  Vermischte  Schriften"),  sowie 
z.  B.  in  Üeberweg-Heinze's  Geschichte  der  neueren  Philosophie  (§  17). 

3)  Bei  den  Citaten  aus  den  auf  Kant  bezüglichen  Schriften 
musste  der  Titel  möglichst  concis  und  abgekürzt,  jedoch  hinreichend  angegeben 
werden.  Ein  bibliographisches  Verzeichniss  der  angeführten  Schriften  am  Schlüsse 
des  W^erkes  wird  die  Benützung  erleichtern.  Wo  etwa  Zweifel  über  den  vollen 
Titel  entstehen  können,  leisten  das  bekannte  philosophische  Lexicon  von  Krug  für 
ältere,  der  dritte  Band  der  Geschichte  der  Philosophie  von  Üeberweg-Heinze 
für  neuere  Literatur  gute  Dienste,  sowie  die  bibliographischen  Hilfsmittel  von 
Gumposch,  Ersch-Geissler  und  die  Bihliotheca  phüosophica  von  Büchting. 
Eine  eigene  Kant-Bibliographie  existirt  leider  nicht. 

4)  Was  die  Einrichtung  des  Commentars  selbst  betrifft,  «o  ist 
Folgendes  zu  bemerken: 

a)  Zur  Erleichterung  des  Gebrauches  des  Commentars  sind  (von  S.  82  ab) 
auf  jeder  Seite  oben  angegeben:  1.  die  Seitenzahlen  der  drei  verbreitetsten  Aus- 
gaben der  Kritik  d.  r.  V.  (von  Rosenkranz  =  R,  von  Hartenstein  (1867)  =  H, 
von  V.  Kirchmann  =  K);  2.  die  Seitenzahlen  der  beiden  Originalausgaben 
=  A  und  B,  und  zwar  so,  dass  bei  Abschnitten,  welche  beiden  Ausgaben  gemein- 
sam sind,  die  beiden  Seitenzahlen  neben  einander,  bei  Abschnitten,  welche  nur 
einer  der  beiden  Ausgaben  angehören,  die  Seitenzahlen  der  betreffenden  Ausgabe 
beigefügt  sind.  (Die  neuerdings  ebenfalls  vielverbreitete  Edition  von  B.  Erdmann 
brauchte  nicht  berücksichtigt  zu  werden,  da  sie,  wie  bemerkt,  die  Seitenzahlen 
der  Originalausgaben  am  Rande  angibt,  welche  im  Commentar  überall  angebracht 
sind.)  Auf  diese  Weise  ist  die  rasche  Aufeinanderbeziehung  des  Commentars  und 
der  Textstellen  nach  den  verschiedenen  Editionen  ermöglicht. 

b)  Wo  (wie  z.  B.  S.  231  f.)  Stellen  in  einer  der  drei  genannten  secundären 
Editionen  ganz  fehlen,  ist  dies  durch  einen  Querstrich  kenntlich  gemacht. 

c)  Die  Textworte  der  Kritik  d.  r.  V.,  welche  in  den  einzelnen 
Anmerkungen  des  Commentars  erklärt  werden,  sind  fett  gr^dmekt 
und  beginnen  jedesmal  eine  neue  Linie. 

d)  Diejenigen  Stichworte,  welche  aus  Textstellen  genommen  sind,  die  — 
in  den  im  Uebrigen  gemeinsamen  Abschnitten  von  A  und  B  —  niu* 
der  1.  Aufl.  angehören,  sind  durch  runde,  diejenigen,  welche  nur  der  2.  Aufl. 
angehören,  sind  durch  eckige  Klammem  kenntlich  gemacht.     (y%\.  S.  229  Anm.) 


L 

Allgemeine  Einleitung. 

Historiscbe  und  actuelle  Bedentnng  der  Kritik  der 

reinen  Vernunft.    Literatur. 


§  1.  Allgemeine  Bedeutimg  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  der  Kanti- 
schen Philosophie  überhaupt.  —  §  2.  Historische  Bedeutung  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft.  Kantische  Philosophie  als  üebergang  zwischen  zwei  Perioden. 
—  §  3.  Die  actuelle  Bedeutung  der  Kantischen  Philosophie.  —  §  4.  Allge- 
meine Uebersicht  über  die  Literatur. 


§  1. 

Allgemeine  Bedeutung  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  der 

Eantischen  PhilosophiJB  überhaupt. 

Die  Kritik  der  reinen  Vernunft  von  I.  Kant  wird  unter  den  grossen 
Geisteswerken  der  Menschheit  stets  in  erster  Eeihe  genannt  werden.  Sie  ist 
ein  Werk,  dem  an  Grossheit  der  Auffassung,  an  Schärfe  des  Denkens,  an 
Gewicht  der  Ideen  und  an  Gewalt  der  Sprache  innerhalb  der  Speculation 
nur  Wenige,  etwa  Piatons  , Bepublik*,  des  Aristoteles  , Metaphysik", 
Spinoza 's  „Ethik",  —  dem  an  nachhaltiger  Wirksamkeit,  an  tiefeinschnei- 
dendem und  weitgreifendem  Einfluss  und  an  Beichthum  von  Anregungen 
wohl  Keines  an  die  Seite  gesetzt  wei:den  kann.  Dieses  Werk  ist  nicht  bloss 
vom  allgemein  kulturgeschichtlichen  und  speciell  philosophiegeschichtlichen 
Gesichtspunkte  aus  von  grösster  Wichtigkeit,  von  höchstem  Interesse  —  es 
ist  auch  ein  Werk  von  eminent  actueller  Bedeutung.  Wer  die  Geschichte 
der  menschlichen  Vorstellungen  über  das  Wesen  der  Welt  studiren,  ja  wer 
die  Entwicklung  der  modernen  Menschheit  verstehen  will,  darf  ebensowenig 
an  Kant  vorbeigehen,  als  es  derjenige  darf,  der  in  die  Probleme  der  zeit- 
genössischen Philosophie  einen  richtigen  Einblick  gewinnen  oder  gar  dabei 
mitreden  will. 

Valhlnger,  Kant-Commentar.  1 


2  Allgemeine  Einleitung. 

Es  lässt  sich  a  priori  denken,  dass  jein  Werk,  von  dem  das  Gesagte  gilt, 
nur  in  einer  solchen  Zeit  entstanden  sein  kann,  die  auch  sonst  zu  den  pro- 
ductiven  Perioden  der  Geschichte  gehört.  Um  den  allgemeinen  Charakter 
jener  Zeit  zu  bezeichnen,  genügt  der  Hinweis  auf  einige  wenige  synchroni- 
stische Daten,  welche  beredter  sprechen,  als  es  eine  Aufzählung  der  Merkmale 
jener  Zeit  vermöchte.  Das  Werk  erschien  in  erster  Auflage  im  Jahre  1781, 
im  Todesjahre  Lessings,  in  dem  Jahr,  in  welchem  Schillers  Eäuber  er- 
schienen und  Joseph  11.  seine  Toleranzedicte  erliess;  in  zweiter  Auflage  im 
Jahre  1787,  ein  Jahr  nach  dem  Tode  Friedrich  des  Grossen  und  zwei 
Jahre  vor  dem  Ausbruch  der  französischen  Bevolution.  Diese  gleichzeitigen 
Ereignisse  reichen  hin,  um  zu  erinnern  an  eine  Zeit  der  lebhaftesten  Be- 
wegung der  Geister,  der  tiefsten  Aufwühlung  der  Verhältnisse,  an  eine 
Zeit  gewaltiger  Gährung  in  allen  Lebensgebieten,  in  allen  Ländern. 

Man  hat  häufig  —  und  dies  im  Anschluss  an  gewisse  Aeusserungen  Kants 
in  der  Vorrede  zur  11.  Aufl.  der  Kritik  —  die  durch  Kants  Werk  hervorge- 
rufene Bewegung  im  deutschen  Geistesleben  mit  der  gleichzeitigen  französischen, 
politischen  Bevolution  verglichen.  Es  lassen  sich  auch  mit  einiger  Scheinbarkeit 
Analogien  aufstellen:  auf  der  einen  Seite  wird  das  ancien  rSgime  gestürzt 
und  ein  neuer  Staats-  und  Bechtsbegriff  wird  realisirt;  auf  der  andern  Seite  — 
im  „Lande  der  Denker*  —  wird  die  Herrschaft  einer  veralteten  Metaphysik 
und  Moral  gebrochen,  der  moderne  Welt-  und  Erkenntnissbegriff,  der  moderne 
Begriff  einer  autonomen  Sittlichkeit  wird  begründet.  Man  hat  weiter  darauf 
hingewiesen,  dass,  wie  dort  aus  der  Bevolution  selbst  ein  neues  Haupt, 
ein  Imperator  entstand,  so  hier  aus  den  Trümmern  der  durch  den  „ Alles- 
zermalmenden''  Kant  zerstörten  Gebäude  neue  Systeme  entstanden;  man  hat 
Fichte  mit  Napoleon,  Hegel  mit  Ludwig  XVlU.  verglichen.  Allein  derartige 
spielerische  Vergleiche  sind  kaum  geeignet,  das  Eigenthümliche  einer  wissen- 
schaftHchen  Bewegung  genügend  zu  kennzeichnen;  ja  sie  bringen  sog^r 
ein  ganz  schiefes  Bild  der  Sachlage  hervor.  Derartige  kulturhistorische  Wen- 
dungen wollen  durch  ihre  eignen  Merkmale  innerlich  zergliedert  und  äusserlich 
abgegrenzt  werden.  Daher  ist  der  Vergleich  der  durch  Kant  geschaffenen  philo- 
sophischen Beform  mit  Luthers  religiöser  Beformation  ebenso  verfehlt.  Mehr 
Scheinbarkeit  nimmt  der  oft  bis  ins  Einzelnste  ausgemalte  Vergleich  Kants 
mit  Sokrates  in  Anspruch.  Beide  suchten,  sagt  man,  einen  Mittelweg  zwischen 
ausschweifendem  Dogmatismus  und  zerstörender  Skepsis.  Beide  waren  der 
Ausgangspunkt  neuer  Bildungen,  und  dann  pflegt  man  etwa  die  Eleaten 
mit  Spinoza,  Anaxagoras  mit  Leibniz,  Protagoras  mit  Hume,  sowie  Piaton 
mit  Schelling,  Aristoteles  mit  Hegel  u.  s.  w.  zu  vergleichen.  Und  was  die 
inneren  Merkmale  der  Lehre  betrifft,  so  versäumt  man  nicht  darauf  hinzu- 
weisen, dass  Beide  den  Weg  einseitig-objectiver  Betrachtung  der  Welt  ver- 
liessen  und  den  Ausgangspunkt  vom  erkennenden  und  handelnden  Subject 
nahmen.  Anstatt  über  die  Weltprobleme  selbst  zu  grübeln,  gruben  Beide  in 
den  Tiefen  des  Subjects  und  hoben  hier  die  Schätze  der  gesetzgebenden  Denk- 
formen und  der  Autonomie  des  WiUens.  Wie  Sokrates  nach  Cicero's  Aus- 
spruch „avocavit  phüosophiam  a  rebus  occtdUa  et  ab  ipaa  natura  invokttia  . . . 


Allgemeine  und  bistoriBche  Bedeutung  Kants.  3 

et  ad  eommunem  vüam  adduxit,  ut  de  virttUibus  et  vitiis  .  .  .  quaereret,  coe- 
lesHa  atUem  vel  proetd  esse  a  nostra  cognitUme  censeret  vel  .  .  .  nihil  ad  hene 
vwendum^  —  so  habe  Kant  die  Nichtigkeit  des  Erkennens  bewiesen  und 
das  Primat  des  Handelns  gelehrt.  —  Allein  auch  durch  diesen  Vergleich 
werden  Züge  hereingebracht,  welche  bei  Kant  sich  nicht  finden,  und  gehen 
andere  verloren,  ohne  welche  das  Bild  Kants  unvollständig  bleibt.  Das  relativ 
Richtigste  mag  noch  die  historische  Bemerkung  sein,  dass,  wie  Sokrates,  so 
auch  Kant  den  Uebergang  büde  zwischen  zwei  Perioden,  dass  Beide  neue 
Epochen  begründeten,  dass  Beide  also  den  wichtigsten  Wendepunkt  in  der 
Bewegung  des  Denkens  bildeten,  der  eine  im  Alterthum,  der  andere  in  der 
Neuzeit.  Man  theilt  ja  auch  die  Geschichte  der  Philosophie  allgemein  dort 
in  die  Zeit  vor  und  nach  Sokrates,  hier  in  die  Zeit  vor  und  nach  Kant  ein. 

Aber  diese  historische  Stellung  und  Bedeutung,  mit  der  wir  uns  bei 
Sokrates  begnügen,  genügt  nicht  bei  Kant.  Jenen  können  wir  den  Historikern 
überlassen.  Dieser  aber  ist  nicht  blos  ein  Mann  der  Vergangenheit,  sondern 
auch  ein  Mann  der  Gegenwart.  Es  ist  ja  das  in  seiner  Art  merkwürdige 
Phänomen  eingetreten,  dass,  nachdem  Kants  Philosophie  von  seinen  Nach- 
folgern als  „überwundener  Standpunkt'',  oft  mit  Geringschätzung,  abgethan 
war,  dieselbe  in  der  Gegenwart  von  Neuem  die  Geister  theils  beherrscht, 
theils  beschäftigt. 

Wir  haben  somit  die  Kantische  Philosophie  von  zwei  Gesichtspunkten  aus 
genauer  ins  Auge  zu  fassen:  erstens  in  ihrer  historischen  Bedeutung  als 
epochemachende  und  periodenbildende  Geisteserscheinung,  zweitens  in  ihrer 
actuellen  Bedeutung  als  System  einer  Schule  und  Object  des  Streits. 

§2. 

Historische  Bedeutung  der  Kritik  der  reinen  Yemunft.    Eantische 
FhQosophie  als  uebergang  zwischen  zwei  Perioden. 

Die  historische  Bedeutung  der  Kantischen  Philosophie  besteht,  wie 
bemerkt,  vor  Allem  darin,  dass  dieselbe  den  Uebergang  zwischen  den  zwei 
grossen  Perioden  der  modernen  Philosophie  bildet.  Sie  schloss  die  alte  Periode 
ab 9  indem  sie  deren  Gegensätze  zu  vereinigen  bestrebt  war;  sie  begründete 
eine  neue  Periode,  indem  die  in  ihr  verbundenen  Gegensätze  aufs  Neue 
auseinanderstrebten,  aber  befruchtet  von  den  neuen  Gedanken,  welche  Kants 
Genie  bei  jenem  Yereinigungsprozess  erzeugt  hatte. 

Die  vorkantische  Philosophie  umfasst  bekanntlich  das  XYIII.  und  das 
XVn.  Jahrb.,  letzteres  ohne  das  erste,  ersteres  ohne  das  letzte  Viertel  oder 
genauer  Fünftel  (1620—1780).  Man  pflegt  in  ihr,  eben  durch  Kants  Anstoss, 
zwei  Hauptrichtungen  zu  unterscheiden,  die  man  als  die  rationalistisch- 
dogmatische und  als  die  empiristisch -skeptische  bezeichnet.  Die  Namen  be- 
sagen, was  diese  Schulen  lehren.  Nach  Ausgangspunkt,  Methode,  Ziel, 
XJmhng  und  Resultat  unterscheiden  sich  beide  als  diametral  entgegen- 
gesetzte Bestrebungen.     Die  rationalistische  Partei   —   ihre  Hauptvertreter 


4  Allgemeine  Einleitung. 

sind  Cartesius,  Spinoza,  Malebranche,  Leibniz,  Wolf  —  nimmt  zum 
Ausgangspunkt  die  Vernunft,  die  ratio.  Ihre  Methode  ist  deductiv  und 
apriorisch,  indem  aus  Begriffen  (z.  B.  Substanz)  und  Sätzen  (z.  B.  Alles 
hat  seinen  zureichenden  Grund),  welche  der  Vernunft  eingeboren  und  daher 
durch  sich  selbst  klar  verständlich  gewiss  und  durchsichtig  (wie  in  der 
Mathematik)  sein  sollen,  ohne  Zuhilfenahme  der  Ei-fahrung  alle  Erkenntniss 
abgeleitet  wird.  Das  Ziel  istdieRationalisirung  der  Wirklichkeit,  d.  h .  die 
vollständige  Auflösung  des  Wirklichen  in  Begriffe,  um  es  gänzlich  begreiflich 
zu  machen.  In  diesem  Bestreben  überschreitet  diese  Richtung  auch  den 
umfang  der  Erfahrang,  ja  sie  sieht  in  der  Erkenntniss  des  Transscendenten 
ihre  Hauptaufgabe.  Darin  liegt  auch  schon  das  allgemeine  Resultat  ange- 
deutet: trotz  aller  Abweichung  im  Einzelnen  ist  es  im  Grossen  und  Ganzen 
spiritualistisch,  d.  h.  die  wahre  und  letzte  Wirklichkeit  wird  im  Geistigen 
gefanden  und  insbesondere  im  absoluten  Geiste,  d.  h.  Gott.  Dem  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Charakter  nach  ist  diese  Richtung  endlich  dogmatisch, 
d.  h.  die  Möglichkeit  einer  solchen  übersinnlichen  und  apriorischen  Erkenntniss 
wird  nicht  in  Frage  gestellt,  im  Gegentheil  glauben  ihre  Vertreter  an  die 
Möglichkeit  einer  der  mathematischen  Gewissheit  sich  annähernden  Kraft 
ihrer  Beweise. 

Im  schroffsten  Gegensatze  zu  dieser  Richtung,  die  im  Wesentlichen  auf  dem 
Continent,  in  Frankreich  und  besonders  Deutschland,  herrschte,  verfolgten 
die  Engländer  den  empiristischen  Weg.  Bacon,  Hobbes,  Locke,  Hume 
(Berkeley  gehört  nur  theilweise  hieher)  nehmen  ihren  Ausgangspunkt  in 
der  Erfahrung,  der  ifineipia.  Von  hier  aus  gehen  dieselben  inductiv  und 
aposteriorisch  weiter;  sie  steigen  vom  Einzelnen,  Gegebenen  zum  All- 
gemeinen, Höheren ;  sie  wollen  nichts  von  erfahrungsfreier  Erkenntniss,  sondern 
gehen  am  Leitfaden  der  gemeinen  Erfahrung.  Ihr  Ziel  ist  daher  nicht  so 
stolz  als  das  der  Gegner;  mit  Verzicht  auf  absolutes  Begreifen  und  absolute 
Wahrheit  begnügt  man  sich  hier  mit  bescheidener  Constatirung  der  letzten 
Unauflöslichkeiten  der  Wirklichkeit,  welche  die  Erfahrung  gibt.  Man  will 
daher  eben  nichts  feststellen  über  das  Transscendente,  ja  die  Heissspome  dieser 
Richtung  leugnen  direct  alles  das,  was  die  entgegengesetzte  Richtung  als 
transscendent  ansetzt,  insbesondere  Gott  und  Unsterblichkeit  der  Seele.  Dem 
allgemeinen  Resultat  nach  nähert  sich  diese  Richtung  daher  dem  Materialismus 
oder  besser,  sie  ist  realistisch,  d.  h.  zur  Erklärung  der  Wirklichkeit  wird 
nichts  herbeigezogen,  was  nicht  in  der  Erfahrung  liegt.  Dem  allgemeinen 
wissenschaftlichen  Charakter  nach  ist  diese  Partei  skeptisch,  d.  h.  sie  zweifelt 
an  allen  Behauptungen  der  dogmatischen  Gegner,  an  allem  unberechtigten, 
oder  auch  sogar  berechtigten  Ueberschreiten  der  unmittelbaren  Erfahrung. 
Aus  diesen,  der  Natur  der  Sache  nach  nur  ganz  allgemeinen  und  rohen 
Umrissen,  ergibt  sich  schon,  dass  die  vorkantische  Philosophie  in  zwei  anti- 
thetisch sich  verhaltende  Richtungen  auseinanderfiel,  welche  in  den  Zeit- 
genossen Wolf  und  Hume  in  die  schärfsten  Gegensätze  sich  zuspitzten. 
Der  letztere  endigt  mit  der  am  Schluss  seines  Inquify  wörtlich  stehenden 
Aufforderung:   Alle  theologischen  und  metaphysischen  Werke  —  ins  Feuer 


Historische  Bedeutung  der  Kritik  d.  r.  V.  5 

damit;  und  die  Gegner  gestehen  den  Atheisten  kaum  das  Recht  der  bürger- 
lichen Existenz  zu. 

Freilich  wurden  auch  Compromisse  geschlossen,  war  ja  auch  jener  Ge- 
gensatz schon  bei  einzelnen  unbedeutenderen  Vertretern  bedeutend  abgeschwächt 
worden.  Aber  die  Vermischung  so  heterogener  Gedankengattungen  konnte 
nur  zu  Bastardbildungen  und  folgerichtig  bald  zu  vollständiger  Unfruchtbar- 
keit fuhren.  Die  zweite  Hälfte  des  XVIII.  Jahrh.  erschien  dem  Blicke  Kants 
in  diesem  traurigen  Niedergang.  Es  lässt  ^ich  der  steigende  Unmuth  über 
diese  zunehmende  Unfruchtbarkeit  seiner  Zeit  an  grossen  philosophischen 
Gonceptionen  ordentlich  in  seinen  Schriften  und  Briefen  verfolgen.  Die 
Popularphilosophie  verwischte  die  schroffen  Gegensätze  durch  inconsequente 
Entlehnung  aus  beiden  Extremen,  schlüpfte  über  die  principiellen  Probleme 
mit  der  immer  lauter  geforderten  » Eleganz"  hinweg  und  beschäftigte  sich 
im  Uebrigen  nicht  ohne  Verdienst  mit  den  leichteren  Theilen  der  Philosophie, 
LfOgik,  Psychologie,  Moral.  Kant,  ein  Mann  strengster  Consequenz,  betrachtete 
dies  Treiben  mit  Verachtung,  griff  zu  dien  principiellen  Gegensätzen,  zu 
Leibniz  und  Hume  zurück,  und  stellte  sich  die  Lebensaufgabe,  durch  eine 
Reform  von  Grund  aus  einen  neuen  Boden  für  die  Philosophie  zu  schaffen; 
er  betrachtete  jene  Antipoden  theils  als  seine  Gegner:  er  will  den  Dogmatismus 
stürzen  und  den  Skepticismus  widerlegen;  theils  als  einseitige  Vertreter  der 
in  der  Mitte  liegenden  Wahrheit:  er  suchte  einen  Mittelweg,  und  nachdem 
er  Leibniz  durch  Hume  und  Hume  durch  Leibniz  hatte  bekämpfen  lassen, 
stellte  er  sich  als  Schiedsrichter  zwischen  beide  und  Hess  sich  beide  versöhnt 
die  Hände  reichen.  Mit  jenem  Stolz,  welcher  jedem  Genie  eigenthümlich  ist, 
ignorirte  er  seine  „halbschlächtigen*  Zeitgenossen  und  behandelte  die  ganze 
Angelegenheit  als  eine  Sache,  welche  sozusagen  im  Reich  der  Geister  zwischen 
ihm  und  jenen  beiden  grossen  Männern  auszumachen  sei,  wobei  jene  Po- 
pularphilosophen.  höchstens  die  Zuschauer  bildeten. 

Die  Details  der  originellen  Synthese  müssen  der  folgenden  Uebersicht 
über  Dogmatismus,  Skepticismus  und  Kriticismus  vorbehalten  bleiben.  Hier 
kann  nur  der  Grundstock  des  neuen  Gedankengehalts  ganz  im  Allgemeinen 
einleitungsweise  kurz  gekennzeichnet  werden. 

Kant  machte  die  Ausgangspunkte  der  beiden  Richtungen,  ihre 
beiderseitigen  Fundamente,  auf  denen  beide  ohne  weitere  und  tiefere  Prüfung 
ihre  Gebäude  aufbauten,  zum  Gegenstand  eindringendster  Untersuchung,  also 
eben  Vernunft  und  Erfahrung. 

Er  stellt  die  Fragen :  ^ 

1)  Wie  ist  (reine)  Vernunft  möglich? 

2)  Wie  ist  Erfahrung  möglich? 

In  Bezug  auf  die  erste  Frage  stellt  er  die  von  den  Dogmatikem  ganz 
yemachlässigte,  ja  ignorirte  Frage  auf:  Wie  ist  Erkenntniss  von  Dingen  aus 


^  Die  gemeinsame  Frage  ist  natüriich  die  nach  dem  Wesen  der  Er- 
kenntnis 8.  Allein  diese  allgemeine  Frage,  wie  sie  meist  dargestellt  wird, 
(s.  B.  Harms,  Phil.  s.  Kant  130)  muss,  wie  oben  geschehen,  speclficirt  werden. 


ß  Allgemeine  Einleitang. 

reiner  Vernunft  möglich  ?  Gesetzt,  es  gebe  reine  Vernunfturtheile,  wie  ist  es 
zu  denken,  dass  Satze,  in  welchen  wir  a  priori  vor  aller  Erfahrung  über 
Dinge,  welche  doch  von  uns  unabhängig  sind,  gültige  ürtheile  fällen  wollen, 
wirklich  diesen  Anspruch  auf  Gültigkeit  erfüllen?  Subject  und  Object  stehen 
sich  doch  fremd  gegenüber ;  wie  kann  das  Subject  es  wagen,  über  das  Object 
aus  sich  selbst  heraus  gültige  ürtheile  zu  fällen?  Mit  dieser  Frage  allein 
schon  hob  Kant  den  ganzen  Dogmatismus  aus  den  Angeln.  Indem  er  sie 
aber  beantwortet,  reformirt  er  die  ganze  dogmatische  Methode  und  verwandelt 
sie  in  eine  kritische,  ohne  jedoch  —  und  hierauf  ist  ganz  besonders  zu 
achten  —  den  Grundzug  des  Dogmatismus  aufzuopfern,  seinen  rationalistischen 
Ausgangspunkt.  Wie  er  diese  Grundfrage  beantwortet,  und  wie  er  in  dieser 
Antwort  dem  Empirismus  sein  Becht  lässt,  kann  hier  nur  ganz  im  Allge- 
meinen angedeutet  werden.  Erkenntniss  a  priori  ist  nur  möglich,  wenn  die 
Gegenstände,  über  welche  a  priori  geurtheilt  werden  soll,  uns  eben  nicht 
fremd  gegenüberstehen,  sondern  wenigstens  theilweise,  ihrer  Form  nach  von 
unseren  subjectiven  Functionen  abhängig  sind,  von  uns  sozusagen  geschaffen 
werden.  Das  ist  aber  nur  bei  Erscheinungen  möglich.  Es  gibt  Erkenntniss 
a  priori  nur  von  möglicher  Erfahrung  und  von  dieser  nur,  wenn  und  weil 
diese  Erfahrung  selbst  erst  durch  jene  apriorischen  Formen  möglich  wird. 
So  ist  schon  hier  eine  gewaltige  Synthese,  eine  geniale,  grossartige  Verbindung 
geschaffen,  welche  an  Grossheit  der  Conception,  an  Fülle  fruchtbarer  An- 
regung ihres  Gleichen  nicht  in  der  Geschichte  der  Philosophie  findet. 

Aber  K.  untersucht  mit  derselben  Gründlichkeit  auch  den  Ausgangs- 
punkt der  Empiristen,  die  Erfahrung.  Die  Dogmatisten  hatten  diese 
verschmäht  oder  höchstens  wie  bei  Leibniz  gewaltsam  hinwegzudrängen  oder 
auch  in  die  reine  Vernunfterkenntniss  gleichsam  aufzusaugen  versucht. 
Ungeprüft  nahmen  sie  die  Empiristen  auf.  Erfahrung  —  was  ist  Erfahrung? 
Das  kennt  doch  Jeder;  es  ist  eben  die  Summe  der  Wahrnehmungen,  welche 
dem  Subject  von  Aussen  entgegenkommen.  Und  an  sie  hält  sich  der  Empirist. 
Aber  auch  hier  findet  Kant  ein  Problem.  Er  findet,  dass  wie  die  Dogmatisten 
nicht  nach  der  Möglichkeit  reiner  Vernunfterkenntniss  der  Dinge  gefragt, 
sondern  diesen  heiklen  Punkt  mit  Stillschweigen  übergangen  hatten,  so  der 
Empirist  sich  nie  ernstlich  die  Frage  vorgelegt  hatte,  wie  denn  die  Erfahrung, 
aus  welcher  alle  Wissenschaft  entstehe,  selbst  entstehe?  od^r  vielmehr  woraus 
diese  denn  selbst  bestehe?  was  sie  denn  auch  enthalte?  ob  nur  Gegebenes 
oder  auch  vielleicht  einen  —  eigenen  Zusatz  des  Subjects?  Kant  analysirt  die 
Erfahrung  selbst,  in  welche  die  Empiristen  alles  Wissen  analytisch  aufgelöst 
hatten.  Gesetzt,  alles  unser  Wissen  besteht  aus  Erfahrung,  woraus  aber, 
fragt  Kant,  besteht  die  Erfahrung  selbst?  Erfahrung  ist  ein  geordnetes  Zu- 
sammen der  Wahrnehmungen,  die  dem  Subject  aus  den  Objecten  zuzuströmen 
scheinen.  Subject  und  Object  stehen  sich  aber  fremd  gegenüber;  wie  kann 
aus  dem  Object  in  das  Subject  etwas  hinüberwandem  ?  Können  auch 
formelle  Verhältnisse  oder  gar  allgemeine  und  nothwendige  Zu- 
sammenhänge durch  Wahrnehmung  empfunden  werden?  Die  Erfahrung  ent- 
hält diese  Drei,  woher  kommen  sie  also?  Diese  Frage  schon  erschüttert  den 


Historische  Bedentnng  der  Kritik  d.  r.  V.  7 

£mpirismTis.  Die  Antwort  stürzt  ihn,  um  ihn  seinen  richtigen  Bestandtheilen 
nach  neu  za  begründen.  Der  Empirismus  wird  Eriticismus,  ohne  dass  sein 
Hauptgedanke,  die  Beschränkung  der  Erkenntniss  auf  Erfahrung,  aufgeopfert 
wird.  Auch  hier  kann  die  Eantische  Antwort  nur  kurz  skizzirt  werden. 
Eriabmng  ist  nur  möglich  durch  Zusammenwirken  sinnlicher  Empfindung 
mit  apriorischen  Formen  des  Subjects.  Die  Erfahrung  selbst  schon  ist  keine 
Erfahrung  mehr  im  Sinne  der  Empiristen;  sie  enthält  schon  rationelle  Zu- 
sätze, welche  die  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  ermöglichen.  Wie  Lavoisier 
das  bis  dahin  für  einfach  gehaltene  Wasser  zerlegt  in  zwei  Elemente  — 
Sauer-  und  Wasserstoff  — ,  so  zerlegt  Kant  die  Erfahrung  in  zwei  heterogene 
Elemente,  deren  Zusammenwirkung  erst  wahre  Erfahrung  zu  Stande  bringt. 
Mit  der  Wurzel  hebt  Kant  den  Empirismus  aus,  indem  er  weniger  seine 
Consequenzen  angreift  und  widerlegt,  als  seine  Voraussetzung  corrigirt. 
Nun  übersieht  man  die  gewaltige  Geistesarbeit  des  Mannes.  Auf  die 
beiden  Fragen  lauten  seine  Antworten: 

1)  Vernunft  ist  nur  durch  Erfahrung  möglich. 

2)  Erfahrung  ist  nur  durch  Vernunft  möglich. 

Dem  Dogmatismus  zeigt  K. ,  was  er  zur  Möglichkeit  apriorischer 
Erkenntniss  hätte  Toraussetzen  sollen,  nämlich  Erfahrung ;  dem  Empirismus 
zeigt  K.,  was  in  seiner  , Erfahrung"  wirklich  unbewusst  lag,  nämlich  Vernunft. 
Als  nothwendige  Bedingung  der  Vernunfterkenntniss  entdeckt  er  die  Er- 
fahrung: nur  von  Erfahrungsgegenständen  gibt  es  Vernunfterkenntniss;  als 
integrirenden  Bestandtheil  der  Erfahrung  entdeckt  er  die  Vernunft:  nur  unter 
Mitwirkung  der  Vernunft  gibt  es  Erfahrung.  Beide  —  Erfahrung  und  Ver- 
nunft —  f 0 r d e r n  und  bedingen  sich  gegenseitig.  Die  Erfahrung,  kann  man 
sagen,  realisirt  das  Apriori;  das  Apriori  idealisirt  die  Erfahrung,  d.  h. 
gibt  ihr  die  logischen  Eigenschaften  der  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit.  Die 
Vernunft  macht  die  Erfahrung,  die  Erfahrung  die  Vernunft  „objectiv  gültig*. 
Ohne  die  Mitwirkung  des  Andern  würde  Jene  in  der  Luft  schweben,  wäre  Diese 
ein  blosses  Chaos.  Die  Vernunft  bekommt  Fleisch  und  Blut  durch  die  Erfah- 
rung, und  die  Erfahrung  bekommt  ihr  Knochengerüste  durch  das  Apriori.  Die 
chaotische  Materie  der  Empfindung  wird  geformt  durch  den  apriorischen 
Zusatz  aus  der  Vernunft  und  wird  so  erst  Erfahrung  aus  blosser  Wahr- 
nehmung. Die  luftige  Form  der  reinen  Vernunft  erhält  Inhalt,  Werth  und 
Bedeutung  erst  durch  die  Anwendung  auf  die  Materie  der  Erfahrung,  und 
so  erst  wird  sie  aus  blossem  Denken  ein  Erkennen.  Wahres  Erkennen 
d.  h.  Erkenntniss  a  priori  setzt  das  Aposteriorische  voraus;  wahre  Erfah- 
r  n  n|g  d.  h.  allgemeine  und  nothwendige  Erfahrung  setzt  das  Apriori  voraus. 
Die  Erfahrung  erhält  gleichsam  das  Auge  eingesetzt  durch  das  Apriori;  die 
Vernunft,  bis  dahin  Jahm,  bekommt  Bewegung  durch  die  Erfahrung. 

Kant  nannte  sein  Werk:  „Kritik  der  reinen  Vernunft".  Dieser 
Titel  berücksichtigt  eigentlich  nur  die  erste  Frage  und  ist  somit  nur  gegen 
den  Dogmatismus  gerichtet.  Mit  vollem  Recht  hat  man  aber  auch  einer 
Darstellung  der  Kritik  d.  r.  V.  den  Titel  gegeben:  Kants  Theorie  der 
Erfahrung.     Denn  dieser  Titel  berücksichtigt  auch  Kants  zweite  Grund- 


8  Allgemeine  Einleitung. 

frage,  welche  allerdings  in  der  Anlage  seines  Werks  nicht  so  stark  hervor- 
tritt wie  die  erste.  Der  Titel  „Kritik  der  Vernunft*  ist  zu  ergänzen  durch 
den  Zusatz:  „Theorie  der  Erfahrung".  Nur  so  hat  man  den  vollen  und 
ganzen  Kant,  der,  indem  er  sowohl  Vernunft  als  Erfahrung  untersucht,  die 
Einseitigkeiten  der  beiden  vorkantischen  Eichtungen  vermeidet,  deren  eine 
die  Erfahrung  ignorirt,  deren  andere  die  Vernunft  geleugnet  hatte.  Indem 
K.  so  den  sensuellen  und  den  logischen  Factor  der  Erkenntniss,  also  die 
ganze  Maschinerie  des  Erkennens  untersucht,  macht  er  zum  Gegenstand  seiner 
Forschung  nicht  wie  man  im  Allgemeinen  vor  ihm  that,  die  Gegenstände, 
die  Gründe  des  Seins  und  die  Ursachen  des  Geschehens,  sondern  er  fragt 
nach  den  Bedingungen  des  Erkennens.  Vor  ihm  hatte  man  vermittelst 
der  Vernunft  oder  der  Erfahrung  als  Organen  die  Gründe  der  objectiven 
Welt  erforscht,  er  dagegen  macht  jene  Organe  selbst  zum  Gegenstand  der 
Forschung  und  fragt  nach  den  Gründen  des  Wissens.  So  ist  seine  Philo- 
sophie in  erster  Linie  Erkenntniss theorie. 

Seinen  Ausgangspunkt  nimmt  Kant  bei  Vernunft  und  Erfahrung  zugleich ; 
er  will  eine  auf  „der  Möglichkeit  der  Erfahrung*  beruhende  rationalistische 
Methode;  sein  Ziel  ist  Rationalisirung  der  Form  der  Erfahrung  und  Con- 
statirung  des  Inhalts,  der  in  die  Vernunftform  gefasst  wird;  so  ist  auch 
der  allgemeine  Charakter  seiner  Philosophie  nicht  dogmatisch,  noch  skeptisch, 
sondern  kritisch,  untersuchend,  nicht  einfach  a  priori  behauptend,  noch  auf 
Grund  einseitiger  unvollständiger  Erfahrung  leugnend. 

Aber  wenn  auch  schon  diese  hier  nur  ganz  im  Allgemeinen  nachgewiesene 
kunstvolle  Synthese  genügt  hätte,  um  der  Philosophie  eine  neue  Richtung 
zu  geben,  so  waren  es  doch  erst  die  daraus  sich  ergebenden  Resultate, 
welche  der  Philosophie  einen  neuen,  gewaltigen  Schwung  gaben.  Er  schied 
die  Welt  in  Erscheinung  und  Ding  an  sich.  Alle  innere  und  äussere  Er- 
fahrung ist  kein  wahres,  eigentliches  Sein.  Hinter  der  Welt  der  Erscheinung 
stehen  die  Dinge  an  sich,  über  der  Welt  der  Erscheinung  stehen  die 
Ideen.  Keines  der  Prädikate  der  Sinnenwelt  kommt  den  wahren  eigent- 
lichen Dingen  zu,  wie  sie  an  sich,  ohne  unsere  auffassenden  sinnlichen  und 
logischen  Functionen  sind.  Die  Ideen:  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit 
sind  theoretisch  betrachtet  —  blosse  Ideen.  Sie  geben  auch  keine  Erkenntniss 
der  Dinge  an  sich.  Aber  sie  sind,  praktisch  betrachtet,  die  Bedingungen 
des  sittlichen  Handelns.  Nur  die  Pflicht  und  der  freie  Wille  des  sittlichen 
Menschen  bilden  eine  Brücke  zwischen  beiden  Welten.  Da  gibt  es  keinen 
Spiritualismus  und  keinen  Materialismus  mehr.  Der  ewige  Geist  und  die 
ewige  Materie  machendem  Menschen  Platz.  Anthropocentrisch  ist  Kants 
Philosophie  in  jeglicher  Beziehung,  formell  und  materiell;  formell,  indem  die 
Untersuchung  anfängt  bei  den  theoretischen  Functionen  des  Subjects,  in  denen 
die  Bedingungen  aller  Objectvor Stellung  gefunden  werden;  materiell,  indem 
die  Untersuchung  damit  endigt,  sogar  das  Höchste  als  Bedingung  des  sitt- 
lichen Handelns  des  Menschen  zu  betrachten.  Noch  nie  war  in  dieser  Weise 
der  Mensch,  seine  theoretischen  Vermögen  und  seine  praktischen  Bedürfhisse, 
zum  Mittelpunkte  gemacht  worden.     Aber  das  Merkwürdige  war,    dass  das 


Historische  Bedeatung  der  Kritik  d.  r.  V.  9 

Erkenntnissvermögen,  trotz  seiner  apriorischen  Formen  nur  auf  Erscheinung 
berechnet,  als  gänzlich  unfUhig  erachtet  wurde,  die  wahre  Welt  zu  erkennen, 
und  dass  die  Bedürfnisse  des  sittlich  dirigirten  Willens,  wie  dieser  selbst 
aus  der  Welt  der  Dinge  an  sich  in  die  Erscheinungswelt  herübergriff,  so  aus 
dieser  auf  jene  zurückwiesen.  So  demüthigt  Kant  das  Erkennen,  um  das 
Wollen  zu  erheben.  Und  auch  darin  ist  schliesslich  eine  Synthese  zu  er- 
kennen: Kant  gibt  dem  Empirismus  das  transscendente  Erkennen  preis,  um 
das  aus  dem  Transscendenten  stammende  und  auf  dasselbe  zurückführende 
sittliche  Wollen  in  einer  dem  Dogmatismus  freilich  ungeahnten  Würde  und 
Macht  zu  retten. 

Diese  gewaltigen  Gedanken,  in  gewaltiger  Sprache  vorgetragen,  machten 
nacb  kurzer  Pause  einen  Effect,  mit  dessen  Umfang  und  Intensität  keine 
zweite  rein  theoretische  Erscheinung  in  der  ganzen  Kulturgeschichte  ver- 
glichen werden  kann.  Nur  religiöse  Reformen  brachten  einen  grösseren  Ein- 
druck hervor.  In  Deutschland  war  aber  auch  eine  Constellation  günstiger 
Verhältnisse,  die  nur  an  dem  Zusammenwirken  glücklicher  Factoren  bei  dem 
durch  ein  politisches  Genie  herbeigeführten  Umschwung  unserer  nationalen 
Stellung  in  dem  vorigen  Jahrzehend  ein  Pendant  findet.  Die  Nation  war, 
dies  ist  in  erster  Linie  zu  beachten,  damals  politisch  so  gut  wie  unbeschäftigt. 
Nichtsdestoweniger  war  durch  Friedrichs  des  Einzigen  Grösse  das  Selbst- 
bewusstsein  gewachsen.  In  literarischer  Beziehung  war  seit  einem  Jahrzehend 
eine  fieberhafte  Erregung,  eine  ungemein  intensive  Thätigkeit.  Die  Sßichtig- 
keit  der  Popularphilosophie  konnte  die  junge  Generation  nicht  entfernt  be- 
friedigen. Die  allgemeine  europäische  Gährung  konnte  in  Deutschland  trotz 
einzelner  Versuche  politisch  nicht  sich  ausleben:  so  stürzte  man  sich  denn 
mit  Freuden  auf  ein  Gebiet,  in  welchem  ungestraft  eine  Revolution  der  Ge- 
danken sich  vollziehen  konnte.  Man  kann  dies  besonders  bei  zwei  Männern 
nachweisen,  bei  denen  die  gewaltige  Erregung  der  Zeit  sich  auf  diese  Weise, 
gleichsam  in  der  Umwälzung  der  zeitlosen  Welt  der  Ideen  Luft  macht,  bei 
Schiller  und  bei  Fichte. 

Ein  »neues  Licht"  war,  um  mit  Schiller  zu  reden,  den  Menschen  an- 
gezündet. Viele  betrachteten  Kant  als  Propheten  einer  neuen  Religion  und 
Reinhold  verkündete,  ^in  hundert  Jahren  werde  Kant  die  Reputation  von 
Jesus  Christus  haben.**  Einen  „novus  ordo  rerum^  proclamirte  die  Jenaer 
Allgemeine  Literaturzeitung.  Im  Laufe  von  circa  10  Jahren  erschienen  gegen 
300  Schriften  und  Gegenschriften  über  Kants  Philosophie.  Dem  Enthusiasmus 
entsprach  der  Hass  der  Gegner;  Herder  nennt  die  ganze  Bewegung  einen 
, Veitstanz*  und  fanatische  Priester  würdigten  den  Namen  des  Weisen  von 
Königsberg  zum  Hundenamen  herab  ^  Man  muss  nicht  bloss  die  objectiver 
gehaltenen  Bücher,  sondern  auch  die  subjectiv  gefärbten  Zeitschriften  und 
Briefe  aus  jener  Zeit  kennen,  um  sich  eine  Vorstellung  von  dieser  heutzutage 
ganz  unglaublichen  Bewegung  zu  machen. 

Dem  gewaltigen  Eindruck  der  Kantischen  Philosophie   auf  alle  Kreise 


'  Vgl.  die  gute  Schilderung  bei  Villers,  Phil,  de  K.  Vorr.  XXIX. 


10  Allgemeine  Einleitung. 

der  Nation  entsprach  der  gewaltige  Einfluss  auf  alle  Geistesgebiete.  Theo- 
logie, Jurisprudenz,  Philologie,  selbst  Naturwissenschaft  und  Medicin  waren 
bald  in  die  Bewegung  hereingezogen,  ganz,  abgesehen  von  den  einzelnen 
philosophischen  Disciplinen,  welche  einer  vollständigen  Umgestaltung  unter- 
worfen wurden. 

Durch  die  Dichtungen  Schillers  wurden  Kants  Ideen  in  das  Volk  ge- 
schleudert und  in  den  Freiheitskriegen  schlug,  um  mit  Treitschkezu  reden, 
9 der  kategorische  Imperativ  die  siegreichen  Schlachten^. 

Aber  Kants  Philosophie  wurde  selbst  bald  in  die  Bewegung  mit  hinein- 
gerissen *.  Es  lagen  in  dieser  Philosophie  gar  mannigfache  Keime  der  Weiter- 
bildung. Einmal  Keime  positiver  Natur;  dann  aber  insbesondere  jener 
Stachel,  den  Kant  durch  die  Leugnung  der  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich 
der  Philosophie  sozusagen  eingestossen  hatte.  Und  dann  trat  nach  einem 
natürlichen  geschichtsphilosophischen  Gesetz  auch  eine  Beaction  ein.  Gar 
manches  Alte  war  von  K.,  wie  es  schien,  ohne  Noth  geopfert  worden.  Die 
früheren  Standpunkte  machten  sich  wieder  geltend  und  suchten  aus  der 
gewaltsamen  Umarmung  mit  dem  Gegensatze  sich  wieder  herauszulösen.  Und 
endlich  waren  in  Kants  System  selbst  Widersprüche  und  Inconsequenzen, 
ja  es  waren  so  auseinanderstrebende  Tendenzen  in  ihr,  dass  Kant,  anstatt 
wie  er  meinte,  die  Philosophie  in  einen  stabilen  Zustand  zu  bringen,  vielmehr 
eine  Periode  fortgesetzter  Veränderung  eröffnete. 

Der  alte  Dogmatismus  machte  sich  besonders  in  der  Einwirkung  Spinoza's 
geltend,  der  vorher  nie  in  seiner  ganzen  Grösse  begriffen  und  aufgenommen 
gewesen  war.  Fichte,  Schelling  und  Hegel  stellen  diese  Beaction  des  alten 
Dogmatismus  speciell  des  Spinozismus  auf  der  Basis  Kantischer  Anschauungen 
dar.  Ihre  Tendenz  ist,  durch  Verschmelzung  des  Ich  an  sich  und  der  Dinge 
an  sich  mit  den  Ideen  unter  dem  Namen  des  Absoluten  einen  Pantheismus 
zu  begründen,  der  die  Trennung  der  Erscheinungswelt  und  der  intelligibeln 
Welt  aufhebt,  und  der  vollständig  apriorisch,  logisch  aufgebaut  wird. 

Diese  Tendenz  gewann  bekanntlich  in  Hegel  die  Oberhand,  und  seine 
Philosophie  beherrschte  Lehre  und  Leben  in  Deutschland  während  einer  be- 
trächtlichen Zeit.  Kants  Philosophie  war  ebensobald  vergessen,  als  sie  seiner- 
zeit bald  absorbirt  gewesen  war.  Die  Begrenzung  der  Philosophie  auf  Er- 
fahrung wurde  verlacht  und  das  apriorische  Gonstruiren  und  dogmatische 
Speculiren  wurde  noch  viel  stärker  als  früher  ausgeübt.  HegeFsche  Philo- 
sophie war  bald  identisch  mit  Philosophie  überhaupt  und  seine  Schule  gewann 
mächtige  Beschützer  und  gewandte  Anhänger.  Gieng  diese  Bichtung  mehr 
von  der  sog.  Analytik,  dem  11.  Theile  der  Kritik  aus,  so  war  die  Aesthetik, 


'  Herbart,  Einl.  §  149:  „Als  ein  ohne  Vergleich  tieferer  D'enker  (als 
Locke)  Kant  dens.  Weg  betrat  (Ausmessung  der  Grenzen  der  Erkenntniss),  da  er- 
wachte die  Metaphysik,  anstatt  einzuschlafen:  denn  eine  so  kräftige  Anregung 
war  ihr  seit  Jahrhunderten  nicht  zu  Theil  geworden.  Gerade  darin  liegt  Ks. 
Ruhm,  dass  seine  Nachfolger  bei  dem  Ziele,  wohin  er  sie  führte,  unmöglich  still 
stehen  konnten.*^ 


Historische  und  actuelle  Bedeutung  Kants.  11 

der  I.  Theil  der  Kritik,  mehr  die  Basis  der  Herbart'schen  und  Schopen- 
haaer'schen  Philosophie;  aber  diese  beiden  berührten  sich  mit  der  ersten 
Reihe  in  dem  gemeinsamen  Bestreben,  die  dogmatische  Erkenntniss  der  Dinge 
an  sich  so  oder  so  zu  ermöglichen.  Andere  bleiben  Kant  näher,  so  Fries, 
weniger  Schleiermacher,  der  zu  viel  Spinozismus  eingesogen  hatte. 

Andererseits  regte  sich  der  Empirismus  von  Neuem.  Beneke  vertrat 
einen  an  Locke  sich  annähernden  Standpunkt,  nicht  ohne  Vieles  von  Kant 
gelernt  zu  haben.  Endlich  erhob  der  todtgesagte  Materialismus  wieder 
sein  Haupt.  Im  Ausland  wirkten  Comte  und  Mi  11  im  empiristischen  Sinne, 
Beide  nur  wenig  von  Kant  beeinflusst,  aber  im  Anschluss  an  Condillac  und 
Hume. 

Aber  doch  war  nirgends  der  Kantische  Einfluss  zu  verkennen;  freilich 
war  er  im  Laufe  der  Zeit  schwächer  geworden.  Indessen  konnte  Niemand 
leugnen,  dass  durch  Kant  eine  neue  Periode  des  philosophischen  Denkens 
eröffnet  worden  war,  dass  er  die  Probleme  in  einer  vor  ihm  ganz  un- 
bekannten Weise  aufgewühlt  hatte.  Alle  Radien  der  vorkantischen  Philo- 
sophie liefen  in  ihm  zusammen ;  und  von  ihm  laufen  die  Radien  der  neueren 
Philosophie  aus.  So  ist  er  der  Mittelpunkt  der  neueren  Philosophie,  der 
Uebergang  zwischen  ihren  zwei  grossen  Perioden. 

§3. 

Die  actnelle  Bedentang  der  Kantischen  Philosophie. 

Die  actuelle  Bedeutung  der  Kantischen  Philosophie  schiene  nach  der 
eben  gegebenen  Schilderung  des  Zustandes  der  Philosophie  eine  sehr  geringe 
zu  sein,  wenn  nicht  jene  Verhältnisse  selbst  zu  einer  totalen  Aenderung  der 
Situation  gedrängt  hätten.  Der  Hauptgrund  dieser  Aenderung  liegt  darin, 
dass  die  nachkantischen  Richtungen  in  Deutschland  vollständig  abwirthscbaf- 
teten.  Sie  zerfielen  nicht  nur  in  sich  selbst,  sondern  es  war  auch  ein  so 
allgemeiner  Krieg  Aller  gegen  Alle,  dass  das  Publikum  von  dem  unerquick- 
lichen Schauspiel  sich  abwandte.  Eng  damit  hieng  zusammen  das  allmälige 
üebergewicht,  welches  die  nüchternere  Richtung  Herbarts  und  die  interes- 
santere Schopenhauers  erhielt.  Insbesondere  Schopenhauers  Philosophie 
gewann  einen  ungeahnten  Einfluss.  Ein  fernerer  Factor  der  Aenderung  war 
der  Aufschwung  der  Naturwissenschaften,  welche  der  Speculation  den  Boden 
unter  den  Füssen  wegzogen.  Endlich  zeigte  sich  innerhalb  der  philosophi- 
schen Schulen  selbst  bei  selbständigeren  Vertretern  eine  Selbstbesinnung, 
welche  zu  einer  Revision  der  Grundlagen  führte.  Alle  diese  und  noch  andere 
Gründe  aber  fahrten  mit  innerer  Noth wendigkeit  eine  Renaissance  der 
Kantischen  Philosophie  herbei.  Das  mit  metaphysischen  Speculationen 
übersättigte  Publikum  musste  doch  —  denn  der  metaphysische  Trieb  ist  nie 
auszurotten  —  irgend  eine  philosophische  Geistesnahrung  haben,  und  da 
war  Kant  der  rechte  Mann.  Die  Trennung  in  Erscheinungs-  und  intelligible 
Welt  gestattete,  Naturforschung  und  religiöse  Ahnung  zu  versöhnen,   ohne 


12  Allgemeine  Einleitung. 

jener  etwas  zu  vergeben,  und  ohne  aus  dieser  demonstratives  Wissen  zu 
machen.  Sein  ethischer  Idealismus,  wenn  auch  in  abgeschwächter  Form, 
ergänzt  die  nüchterne  Erfahrung  durch  einen  höheren  Factor.  So  wurde  Kant 
aufs  Neue  der  Mann  des  Tages.  Umkehr  zu  Kant  —  wurde  das  Schlag- 
wort der  Zeit,  sei  es,  um  bei  ihm  stehen  zu  bleiben,  sei  es,  um  durch  das 
Zurücktreten  auf  einen  früheren  Standpunkt  Schwung  zu  neuem  Anlauf  zu 
gew^innen^  Das  sehr  berechtigte  Uebergewicht,  das  nach  langem  Kampfe 
die  Herbart'sche  Philosophie  und  nach  langem  Harren  Schopenhauer  über 
die  idealistische  Eeihe  —  Fichte,  Schelling,  Hegel  —  errang,  führte  am  Ende 
auf  denselben  Punkt.  Beide  betonen  viel  enger  als  diese  ihren  unmittel- 
baren Zusammenhang  mit  Kant,  den  sie  stets  mit  Hochachtung  nennen, 
während  jene  häufig  den  Königsberger  Philosophen  geringschätzig,  nicht 
selten  ironisch  behandelten.  So  wurde  dadurch  ein  günstiges  Vorurtheil  für 
Kant  erweckt,  das  noch  höher  steigen  musste,  als  Schelling  in  seinem 
hohen  Alter  seine  Jugendphilosophie  in  einer  Weise  modificirte,  welche 
theil weise  nichts  war,  als  ein  Rückgang  auf  den  von  ihm  ^inst  verlassenen 
Kant.  Insbesondere  durch  Schopenhauers  oft  wiederholten  Hinweis  auf  den 
von  ihm  trotz  scharfer  Kritik  tief  verehrten  Vorgänger,  durch  seine  Forde- 
rung, man  müsse  zuerst  Kant  lesen,  ehe  man  ihn  verstehen  wolle  —  eine 
Forderung,  die  seine  sehr  zahlreichen  Leser  wohl  häufig  erfüllten  —  durch 
seine  fast  agitatorische  Thätigkeit  für  die  K[ritik  d.  r.  V.  —  wurde  die 
Kritik  d.  r.  V.  allmälig  wieder  ein  Buch,  welches  gelesen  und  studirt  wurde. 
So  kam  es  auch  in  die  Hände  der  Naturforscher,  und  während  diese  von 
aller  speculativen  Philosophie  sich  streng  und  verächtlich  abwandten,  glaubten 
sie  in  Kant  den  Einzigen  zu  finden,  mit  dem  sie  Hand  in  Hand  gehen  konnten. 
Einmal  fand  die  physiologische  Psychologie  in  seiner  Lehre  von  den  Er- 
scheinungen und  von  der  Idealität  des  Raumes  Anknüpfungspunkte;  anderer- 
seits fand  die  beständige  Betonung  der  Erfahrungsgrenze  der  Philosophie  bei 
Kant  ihren  Beifall  in  doppeltem  Sinne;  man  wollte  Beschränkung  auf  Er- 
fahrung und  doch  verkannte  man  nicht  die  Schranken  des  Erkennens  in 
dem  Sinne,  dass  eine  unbekannte  Welt  wirkender  Substanzen  und  Kräfte 
hinter  der  Erscheinungswelt  stecke  und  dass  die  Naturwissenschaft  bei  der 
Empfindung,  dem  Bewusstsein  Halt  machen  müsse.  So  führte  die  Natur- 
forschung selbst  auf  Probleme,  bei  denen  man  bald  sah,  dass  eine  erkenntniss- 
theoretische Behandlung  nothwendig  sei,  dass  hier  keine  naturwissenschaft- 
liche Methode  ausreiche  und  hierin  berührte  man  sich  mit  den  Philosophen, 
welche  ihrerseits  die  wieder  allgemein  gewordene  dogmatisch-objective  Be- 
arbeitung der  metaphysischen  Probleme  scheitern  sahen  und  zur  Erkenntniss- 
theorie  zurückgreifen   mussten.     Und    so    wurde   das   Studium  Kants   all- 


*  Nach  dem  Grundsatz  von  Leibniz,  Op.  Erdm.  150  r,Q^on  reckde  pour 
mieux  sanier^.  Vgl.  G.  Kü hn e 's  Wahlspruch :  „Auf  L e s s  i n g  zurückgehen  heisst 
fortschreiten".  —  Aeussere  Zeichen  davon  sind  u.  A.  die  statistisch  nachweisbare 
immer  steigende  Mehrung  von  Specialvorlesungen  über  Kant,  sowie  die  Errichtung 
seines  Denkmals  in  Königsberg  im  Jahre  1864  u.  s.  w. 


Actuelle  Bedeatung  Kants.  13 

gemeiner,  wobei  man  freilich  ganz  wiUkürlich  nur  die  sympathischen  Seiten 
der  Kantischen  Philosophie  adoptirte  und  das  übrige,  wohl  auch  weil  man 
es  allzu  schwierig  fand,  ignorirte.  Endlich  brachte  innere  Selbstkritik  die 
Anhänger  der  alten  Schulen  immer  näher  an  Kant  heran:  so  war  es  unter 
den  Hegelianern  Zell  er,  unter  den  Herbartianem  Drobisch,  welche  für 
diese  Restauration  Kants  thätig  waren.    Auch  R.  Haym  wies  auf  Kant  hin. 

Man  fand  aufs  Neue  in  der  Kantischen  Philosophie  das  Heil  und  die 
Rettung  vor  den  entgegengesetzten  Extremen  des  dogmatischen  Spiritualismus 
und  Idealismus,  und  des  empiristischen  Realismus,  der  theilweise  Materia- 
lismus geworden  war.  Insbesondere  gegen  den  letzteren  fand  man  in  Kants 
Philosophie  die  Waffen,  ohne,  was  so  überaus  schwierig  war,  der  Natur- 
wissenschaft zu  nahe  zu  treten.  Dieses  Motiv,  dass  in  Kants  Philosophie 
vor  jenem  Schreckgespenst  Rettung  zu  finden  sei,  trieb  Hunderte  in  Kants 
Arme;  und  dies  allein  war  so  stark  als  jene  oben  genannten  Gründe  zu- 
sammen. Philosophen,  Naturforscher,  Theologen  —  alle  fanden  bei  Kant 
ihre  Rechnung.  Somit  war  es  eine  in  Vielem  ähnliche  Situation  der  Philo- 
sophie, welche  der  Kantischen  Philosophie  zur  neuen  Blütheperiode  verhalf, 
wie  im  vorigen  Jahrhundert.  Beidemal  schroffe  Gegensätze,  verschwommene 
populai*philosophische  Vermittlungen  zwischen  den  alten  und  ewig  neuen 
Gegensätzen,  deren  Einer  bejaht,  während  der  Andere  verneint.  Kurz  —  man 
fand  sich  allmälig  in  Kants  System  wie  auf  Verabredung  zusammen.  So 
entstand  die  Neukantische  Schule.  Nachdem  Fischer  durch  seine  geistvollen 
Vorträge  an  derselben  Universität  Jena,  welche  einst  für  Kantische  Philo- 
sophie die  wahre  Hochschule  gewesen  war,  dem  allgemeinen  Bedürfhiss 
entgegengekommen  war,  standen  eine  Reihe  Männer  auf,  welche  die  Kantische 
Schule  der  Gegenwart  repräsentiren.  Liebmann,  Lange,  J.  B.  Meyer, 
Cohen  sind  hier  in  erster  Linie  zu  nennen.  Nun  schössen  Schriften  über 
Kant  wie  die  Pilze  aus  der  Erde.  Auf  Theologie  und  Naturwissenschaft 
macht  sich  ein  erneuter  Einfluss  Kants  geltend.  Die  neue  Kantliteratur 
zählt  schon  gegen  200  Nummern  von  eigenen  Schriften  über  Kant. 

Selbstverständlich  war  das  nur  das  Zeichen  zu  einem  neuen  Kampfe. 
Die  Kantische  Schule  wird  von  den  beiden  genannten  Gegenrichtungen 
gleichermassen  angegriffen  und  die  Kantische  Philosophie  ist  wieder  das  all- 
gemeine Kampfobject  der  Philosophie  *.  Das  System  wird  in  der  Front  und 
im  Rücken  angegriffen  von  Gegnern,  die  unter  sich  selbst  Gegner  sind. 
Eben  weil  das  Kantische  System  zwischen  beiden  eine  Mittelstellung  ein- 
nimmt, indem  es  von  beiden  Etwas  anerkennt,  Etwas  verwirft,  bekämpfen 
beide  Theile  dasselbe  an  der  Seite,  an  der  sie  von  demselben  abgestossen 
worden.  Der  Rationalist  bekämpft  die  Beschränkung  der  Erkenntniss  auf 
Erfahrung,  mag  er  auch  mit  dem  Apriorismus  des  Systems  einverstanden 
sein;  der  Empirist  bestreitet  den  letzteren,  so  sehr  er  die  Beschränkung  auf 
die  Erfahrung  billigt  und  findet  in  Kants  System  selbst  den  Keim  der  seiner 


1 


„Der  Kusche  Kriticismus  ist  der  änsserliche  Mittelpunkt  der  gegenwärtigen 
deutschen  PhiloBophie«.    Gör  in  g,  Viert,  f.  wisa.  Philos.  I,  402. 


14  Allgemeine  Einleitung. 

Ansicht  nach  verkehrten  Fortbildung  der  nachkantischen  Philosophie.  Wer 
Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  annimmt,  ma^  er  sonst  auch  eine  empi- 
ristische Erkenntnisstheorie  haben,  macht  natürlich  als  Dogmatist  mit  dem 
Rationalisten  gemeinsame  Sache  in  der  Bekämpfung  der  Grenzbestimmung. 
Jeder  setzt  sich  mit  Kant  auseinander,  und  an  ihm  vorbeizugehen  kann 
Niemand  wagen. 

Im  Ganzen  und  Grossen  ist  die  ac  tu  eile  Lage,  dass  Kants  Philosophie 
eine  Mittelstellung  einnimmt  zwischen  zwei  entgegengesetzten  Parteien, 
mit  deren  jeder  sie  sich  einerseits  berührt  und  von  denen  sie  auf  der  anderen 
Seite  angegriffen  wird. 

Historisch  aber  bildet  Kants  Philosophie  einen  Uebergang  zwischen 
zwei  grossen  Perioden,  die  sie  einerseits  scheidet  und  andererseits  verbindet. 

Jene  Mittelstellung  in  der  Gegenwart  zwischen  zwei  Parteien  kann 
sie  einnehmen,  weil  es  ihr  gelang,  dieselben  in  ihrer  früheren  Form  zusammen- 
fassend, einen  uebergang  in  der  Geschichte  zwischen  zwei  Perioden  zu 
bilden,  in  deren  zweiter  sich  die  Gegensätze  der  ersten  wiederholen. 

Aber  den  Uebergang  in  der  Geschichte  zwischen  zwei  Perioden  konnte 
sie  nur  bilden,  weil  es  ihr  gelang,  eine  Mittelstellung  zwischen  jenen 
beiden  auch  gegenwärtig  vorhandenen  Richtungen  einzunehmen. 

§4. 

Allgemeine  TJebersicht  über  die  Literatur. 

Aus  dem  Bisherigen  ergeben  sich  auch  die  Eiutheilungsprincipien,  nach 
denen  wir  die  Kantliteratur  zu  gliedern  haben.  Es  ist  jedoch  im  Folgenden 
nur  beabsichtigt,  die  wichtigeren  in  Betracht  kommenden  Namen  und  die 
wichtigsten  der  sich  auf  die  ganze  Kiitik  beziehenden  Schriften  anzufahren, 
da  eine  Generalübersicht  am  Schlüsse  gegeben  werden  soll.  So  soll  die 
Tabelle  dazu  dienen,  überhaupt  eine  generelle  Orientirung  über  die  Schriften 
der  Kantliteratur  zu  geben,  da  dieselben  im  Conmientar  im  Einzelnen  oft 
genug  zur  Anführung  kommen. 

Wir  haben  zwei  Haupteintheilungsprincipien  zu  berück^chtigen,  erstens 
das  chronologische,  zweitens  das  systematische.  Jenes  gibt  eine  Gliederung 
dem  Längendurchschnitt  nach,  dieses  dem  Querdurchschnitt  nach.  Nach  dem 
ersten  Princip  haben  wir  offenbar  zu  scheiden  die  Kantliteratur  der  Gegen- 
wart von  der  der  Vergangenheit.  Jene  beginnt  im  Allgemeinen  mit  den 
60er  Jahren,  etwa  mit  K.  Fischers  Darstellungen  der  Kantischen  Philo- 
sophie. Von  da  an  häufen  sich  die  Schriften  über  und  gegen  Kant  ins  Un- 
übersehbare. 

In  der  Vergangenheit  haben  wir  abzuscheiden  die  Kantliteratur,  welche 
für  Kant  selbst  als  synchronistisch  zu  gelten  hat.  Man  kann  diese  Periode 
rechnen  etwa  bis  1800  oder  1804  (Todesjahr  Kants).  Was  in  die  Zwischen- 
zeit zwischen  1800  (1804)  und  1860  föllt,  bildet  eine  besondere  Periode. 
Diese  beide  Perioden  bilden  sachlich  einen  grossen  Gegensatz.    In  der  ersten 


Literaturübersicht.  15 

Periode  liaiideit  es  sich  um  die  unmittelbaren  Gegner  und  Anhänger.  In 
der  zweiten  Periode  handelt  es  sich  um  die  mittelbarere  Eantliteratur,  um 
die  grossen  Systematiker  und  Fortbildner  Kants,  welche  in  ihren  Schriften 
überall  auf  Kant  Eücksicht  nehmen  und  an  ihn  theils  positiv,  theils  polemisch 
anknüpfen.  Natürlich  ist  zeitlich  die  Trennung  nicht  so  schroff  durchzu- 
fahren ;  so  entstanden  ja  Beinholds  Hauptschriften  vor  1800  und  bei  Manchen, 
z.  B.  Beck,  Maimon  kann  man  zweifeln,  ob  man  sie  mehr  zu  der  mittelbaren 
oder  unmittelbaren  Literatur  zu  Kant  rechnen  soll.  Derartiges  muss  sich 
jede  Eintheilung  dieser  Art  gefallen  oder  vorwerfen  lassen.  An  der  all- 
gemeinen Brauchbarkeit  ändert  dies  nichts. 

Nach  dem  zweiten  Eintheilungsprincip  haben  wir  zunächst  solche  Schrift- 
steller abzusondern,  welche  über  Kant  in  phüologisch-historisch-commentirender 
Weise  abhandeln.  Das  sind  theils  Anhänger,  theils  solche,  welche  in  rein 
historischem  Interesse  das  Eantische  System  darstellen.  Die  zweite  Haupt- 
classe  bilden  diejenigen  Schriftsteller,  welche  über  das  Kantische  System  in 
kritisch-räsonirender  Weise  sich  äussern,  und  das  sind  im  Grossen  und 
Granzen  entweder  Dogmatisten  oder  Empiristen.  Zu  jenen  sind  auch  die 
theologisch,  zu  diesen  die  skeptisch  tingirten  Verfasser  zu  rechnen.  Bei  den 
Ersteren  scheint,  wenigstens  för  die  erste  Periode,  eine  Eintheilung  in  volle 
und  halbe  Dogmatiker  angezeigt,  wie  bei  den  Anhängern  Kants  in  derselben 
Zeit  eine  Scheidung  in  volle  und  halbe  Anhänger.  Beidemal  kann  man  im 
Einzelnen  über  die  Zutheilung  dieses  oder  jenes  Namens  zweifelhaft  sein, 
was  für  den  Kenner  der  Geschichte  der  Philosophie  nichts  Befremdliches  an 
sich  hat.  Die  drei  folgenden  Tabellen,  welche  übrigens  noch  nicht  ein  Drittel 
der  sämmtlichen  Schriftsteller  über  Kant  repräsentiren,  können  zugleich  als 
eine  allgemeine  Uebersicht  über  die  Entwicklung  der  Philosophie  seit  Kant 
dienen.  Insbesondere  gibt  die  dritte  Tabelle  sub  B,  1,  a;  B,  2,  a;  A,  1,  a 
eine  uebersicht  über  die  drei  philosophischen  Hauptparteien  der 
Gegenwart  in  Deutschland,  die  dogmatische,  empiristische  und 
kriticistische  (vgl.  §  3). 

Femer  ist  zu  bemerken,  dass  in  der  folgenden  Tabelle  einzelne  Namen 
an  mehreren  Stellen  vorkommen,  weil  deren  Träger  eben  eine  doppelte  Stel- 
lung zu  Kant  einnahmen;  sodann  ist  insbesondere  in  Bezug  auf  die  zweite 
und  dritte  Periode  zu  bemerken,  dass  über  Kant  auch  in  Werken  die  Bede 
ist,  bei  denen  aus  dem  Titel  allein  darauf  nicht  zu  schliessen  ist.  Es  er- 
scheint ja  seit  dem  Erscheinen  der  Kritik  kein  Buch,  in  dem  nicht  Kant 
mehr  oder  weniger,  so  oder  so  berücksichtigt  wäre. 

Endlich  ist  zu  erwähnen,  dass  in  der  KantUteratur  auch  noch  eine 
Vorperiode  angesetzt  werden  muss,  welche  nicht  nur  Kants  fiühere 
Schriften  und  deren  Annahme,  sowie  seinen  Briefwechsel  umfasst,  sondern 
auch  insbesondere  alle  jene  Philosophen,  welche  in  besonderer  Weise  auf 
Kant  eingewirkt  haben  und  zwar  ausser  den  erwähnten  grossen  Philosophen 
der  beiden  Hauptrichtungen,  Namen  wie  Grusius,  Lambert,  Tetens, 
Banmgarten,  Knutzen,  Mendelssohn,  Euler,  Maupertuis  u.  A. 


16 


Allgemeine  Einleitung. 


Uebersicht  über  die  Eantliteratur. 


I.  Periode  1781 

A)  Commentatoren  und  Historiker. 

1)  Anhänger, 
a)  In  Deutschland. 

q)  Volle  Anhänger, 

M.  Herz  —  J.  Schultz  —  (Hippel) 

—  Kraus  —  Pörschke  —  Jachmann 

—  Rink  —  Jäsche   —  L.  H.  Jakob 

—  K.  C.  E.  Schmid  --  Mellin  - 
Kiesewetter  —  Bendavid  —  Born- 
träger  —  Tieftrunk  —  Born  —  Schütz 

—  Hufeland  —  Buhle   —    Reinhold 

—  Tennemann  —  Grohmann  —  Bou- 
terweck    —  Will  —  Snell  —   Metz 

—  Gerstenberg  —  Heusinger  —  J. 
Weber  —  Stephani  —  Bergk  —  ßeuss 

—  Hoffbauer  —  Heydenreich  —  Pö- 
litz  —  Goes  —  Mutschelle  —  Peucker 

—  Schaumann  —  Gräffe  —  Jenisch 

—  Borowski  —  Dietz  —  Füllebom. 

b)  Halbe  Anhänger. 

Abicht  —  Abel  —  Lossius  — 
Ulrich  —  Berg  —  Behberg  —  Rein- 
hold —  Maimon  —  Beck  —  Schiller  — 
W.  V.  Humboldt  —  Erhard  —  Fichte. 

ß)  Im  Ausland. 

Villers  —  Schmidt -Phiseldek  — 
H.  de  Bosch  —  WiUich  —  Nitsch  — 
P.  V.  Hemert  —  Kinker  —  Heumann 

—  Bautain  —  Höhne  —  Boöthius. 

2)  Historiker. 

a)  In  Deutschland. 

Eberstein  —  Stäudlin  —  Buhle  — 
Tennemann  —  Suabedissen  —  Hausius. 

ß)  Im  Ausland. 

Sta6l  •  Holstein  —  D^g^rando  — 
Treschow. 


—1800  (1804). 

B)  Gegner. 

1)  Dogmatiker. 

a)  In  Deutschland. 
a)  VoUe  Dogmatiker. 

Eberhard  —  Schwab  —  Brast- 
berger  —  Maass  —  Eberstein  — 
Garve   —   Pistorius   —  Mendelssohn 

—  Zwanziger  —  Schäffer  —  Stattler 

—  Miotti  —  Flatt  —  Storr  — ;  Jacobi 

—  Herder  —  Hamann    —   Schlosser 

—  Neeb   —  Hug  —  Wizenmann  — 
Obereit  ■—  Pezold  —  Reinhard. 


b)  Halbe  Dogmatiker, 

Feder    —    Tittel    —    Meiners 
Reimarus  d.  S.  —  Nicolai. 


ß)  Im  Ausland. 
Wyttenbach  —  Thorild. 


2)  EmpiriBien. 

a)  In  Deutschland. 

Weishaupt  —  Seile  —  Tiedemann 
—  G.  E.  Schulze  (-Aenesidem)  —  Plat- 
ner  —  Heyuig  —  Ouvrier  —  Werner. 

ß)  Im  Ausland. 
Dögörando  —  Destutt  de  Tracy. 


Literatnrübersicht. 


17 


üebersicht  über  die  Eantliteratur« 

II.  Periode  1800  (1804)-1860. 


A)  CommeDtatoren  und  Historiker. 

1)  Anhänger. 

a)  In  Deutschland. 

Fries  —  Apelt  —  Mirbt  —  Schlö- 
milch  —  Krug  —  Bouterwek  — 
Scbopenhauer. 


ß)  Im  Ausland. 

Whewell  —  Hamilton  —  Renou- 
vier  —  A.  Testa. 


2)  Historiker. 

a)  In  Deutschland. 

J.  H.  Erdmann  —  Rosenkranz  — 
Schubert  —  Schaller  —  Rixner  — 
küchelet  —  Chalybäus  —  Biedermann 

—  Sigwart  —  E.  Reinhold  —  Ritter 

—  Fortlage  —  J.  H.  Fichte  —  Ast. 

ß)  Im  Ausland. 

Cousin  —  Lewes  —  Semple  — 
Barchou  de  Penhoän  —   Meiklejohn 

—  Saintes  —  Ott  —  Willm  —  Mau- 
rial  —  Vacherot  —  Wocquier  — 
R^musat  —  Bartholmäss  —  Ravaisson 

—  Damiron  --  Tissot  —  Barni  — 
K^ratry  —  Schoen  —  Stapfer. 


6)  Gegner  (und  Fortbildner). 

1)  Dogmatiker. 

a)  In  Deutschland. 

Reinhold  —  Beck  —  Bardili  — 
Fichte  —  Schelling,  —  Hegel  — 
Schleiermacher  —  Herbart —  Schopen- 
hauer --  E.  Reinhold  —  Krause  — 
Baader  —  Weisse  —  Ulrici  —  J.  H. 
Fichte  —  K.  Biedermann. 


ß)  Im  Ausland. 

Cousin  —  Rosmini  —  Galluppi 
Gioberti  —  Höijer. 


2)  Empiriaten. 
a)  In  Deutschland. 
Beneke  —  Gruppe. 


ß)  Im  Ausland. 
Comte  —  J.  St.  Mill. 


V  a  1  h  i  n  g  e  r ,  Kuit-CominenUr. 


18 


Allgemeine  Einleitung. 


Uebersicht  über  die  Eantliteratur. 

III.  Perlode  1860—1881. 


A)  Commentatoren  and  Historiker. 

1)  Anhänger. 

a)  In  Deutschland. 

Lange  —  Liebmann  --  Cohen  — 
J.  B.  Meyer  —  Riehl  —  Stadler  — 
Witte  —  Grapengiesser  —  Prederichs 

—  Arnoldt  —  Knauer  —  Tobias  — 
Krause  —  W.  Goering  —  v.  Leclair 

—  Lasswitz  —  Jacobson  —  v.  Bären- 
bach —  Helmholtz  —  Zöllner  —  Fick 

—  Rokitansky  —  Classen  —  Siebeck 

—  Schuster  —  Biese. 


ß)  Im  Ausland. 

Hodgson  —  Adamson  —  Watson 
(Boström)  —  Renouvier  —  Pillon. 


2)  Hifltoriker  und  Kantphilologen. 

a)  In  Deutschland. 

K.  Fischer  —  Zeller  —  Harten- 
stein —  Paulsen  —  B.  Erdmann  — 
Holder  —  F.  Schulze  —  Dietrich  — 
Noack  —  V.  Eirchmann  —  Thiele  — 
Windelband  —  Kehrbach  —  Harms 
—  Reicke  —  Haym. 


ß)  Im  Ausland. 

MahaflFy  —  Caird  —  Abbot  — 
Henderson  —  Desduits  —  Nolen  — 
Saisset  —  Barzellotti  —  Spaventa  — 
Gantoni. 


B)  Gegner. 

1)  Dogmatisten. 

a)  In  Deutschland. 

Ulrici  —  J".  H.  Fichte  —  E.  v. 
Hartmann  —  Lotze  —  Trendelen- 
burg —  Zimmermann  —  Volkelt  — 
Michelis  —  Harms  —  Spicker  — 
Pesch  —  Teichmüller  —  Spir  —  Bau- 
mann —  Bergmann  —  Asmus  — 
Rehmke  —  Thiele  —  Th.  Weber  — 
G.  Biedermann  —  Planck  —  Stendal 
—  Schaarschmidt. 


ß)  Im  Ausland. 

J.  H.  StirUng  —  (Nolen)  - 
miani  —  Saisset  —  Sarchi  — 
nisco)  —  Nybläus. 


-  Ma- 

(Ra^- 


2)  Empiristen. 

a)  In  Deutschland. 

Czolbe  —  V.  Kirchmann  —  Ueber- 
weg  —  Dühring  —  C.  Göring  —  Laas 

—  Wolff  —  Montgomery  —  Caspari 

—  Hoppe  —  Proelss   —  Wundt  — 
Heinze  —  Avenarius. 


ß)  Im  Ausland. 

Lewes  —  Bain  —  Taine  —  Bai- 
four. 


Literaturübersicht.  19 


Uebersicht  der  wichtigsten  allgemeinen  Erläuteningsschriften  zu 

Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft« 

Die /wichtigsten,  im  folgenden  daher  am  häufigsten  citirten  allge- 
meinen Erläuteningsschriften,  welche  die  ganze  Kritik  umfassen,  sind 
folgende : 

I.  Periode:    Joh.  Schultz,  Erläuterungen  über  des  Herrn  Professor 
Kant  Critik  der  r.  V.   Königsb.   1785.     (Nachdruck  1791)   [werthvoU].  — 
L.  H.  Jakob,  Prüfung  der  Mendelssohn'sehen  Morgenstunden.  Leipz.  1786.  — 
Derselbe,    Grundriss  der  allgem.  Logik  und  kritische  Anfangsgründe  der 
allgemeinen  Metaphysik.  Leipz.  1788,  3.  Aufl.  1794. —  Derselbe:  Annalen 
der  Philosophie.    Halle  1795 — 1797.     [Brauchbar,  besonders  das  zweite  und 
dritte.]  —  K.  C.  E.  Schmid,    Critik  der  r.  V.  im  Grundrisse.    Jena  1786. 
3.  Aufl.    1794.    —    Derselbe,    Wörterbuch   zum  leichteren   Gebrauch  der 
K.'schen  Schriften.  4.  Aufl.  1798.  [Beide  sehr  werthvoll.]  —  Beinhold,  K.  L., 
Briefe  über  die  K.'sche  Phüos.  I.  II.  Leipz.  1790. 1792.  [Für  die  Erläuterung 
als  solche  wenig  werthvoll,  mehr  das  Folgende.]  —  Derselbe:  Versuch  einer 
neuen  Theorie  des  menschlichen  Vorstellungsvermögens.  Prag  u.  Jena  1789.  — 
Will,   Vorlesungen  über  die  Kantische  Philosophie.    Altdorf  1788.    [Gut- 
gemeint, aber  schwach.]  —  Bouterwek,  Aphorismen  nach  Kantischer  Lehre. 
Gott.  1793.    [Theilweise  nicht  ohne  Scharfsinn.]  —  Beck,  J.  S.,  Erläuternder 
Auszug  aus  den  criüschen  Schriften  des  H.  Prof.  Kant.    Auf  Anrathen  des- 
selben.   3  Bände.    Eiga   1793—1796;   der  dritte  Band  a.  u.  d.  T.    „Einzig 
möglicher  Standpunkt,  aus  welchem  die  kritische  Philosophie  beurtheilt  werden 
muss.*  —  Derselbe,  Grundriss  der  kritischen  Philosophie.  Halle  1796. 
[Willkürliche,   unexacte  Auslegungsmethode,    daher  für  die  eigentliche  Er- 
läuterung nicht  sehr  werthvoll.]   —   Meli  in,    Marginalien  und  Register  zu 
Kants  Oritik  der  Erkenntnissvermögen.  I.  II.  ZüUichau  1794.  1795.  —  Der- 
selbe,   Encyclopädisches    Wörterbuch    der    kritischen    Philosophie.   I — VI. 
Züllichan  1797 — 1804.  —  Derselbe,  Kunstsprache  der  krit.  Phil,  nebst  An- 
hang. Jena  1798 — 1804.    [Drei  sehr  brauchbare  Werke,  besonders  das  zweite; 
M.  wiederholt  aber  oft  zu  sklavisch  den  Wortlaut  des  Textes,    anstatt  ihn 
zu  erläutern.]  —  Peucker,  Darst.  des  Kant.  Systems.  Leipzig  1790.  [Unselbst- 
ständig,  ganz  im  Anschluss  an  Schultz'  „Prüfung".]  —   Metz,  Darstellung 
des  K.'schen  Systems.    Bamb.  1795.    [Schätzbar.]  —  Heusinger,  Versuch 
einer  Encyclopädie  der  Philosophie  I.  11.  Weimar  1796.    [Schwach.]  —  Ben- 
david, Vorlesungen  über  die  Critik  d.  r.  V.   Wien  1795.   [Unbedeutend.]  — 
Kiesewetter,  Versuch  einer  fassl.  Darstellung  der  wichtigsten  Wahrheiten 
der  neueren  Philosophie  för  Uneingeweihte.    4.  Aufl.  1824.    [Dem  Zwecke 
entsprechend  sehr  verwässerte  Darstellung.]  —  M.  Eeuss,  Vorlesungen  über 
die  theoretische  und  praktische  Philosophie  I.  11.  Würzb.  1797.  [Schätzbar.] 
—  Hauptmomente  der  kritischen  Philosophie.    Vorlesungen.  Münster  1803. 
[Brauchbar.]  —  Buhle,  Entwurf  der  Transscendentalphilosophie.  Gott.  1798. 
[Ohne  besondern  Werth.]  —  Pörschke,  Briefe  über  die  Metaph.  der  Natur. 


20  Allgemeine  Einleitung. 

Königsb.  1800.  [Scharfsinnig.]  —  Abicht  und  Born,  Neues  philos.  Magazin, 
Erläuterungen  und  Anwendungen  des  Kantischen  Systems  bestimmt.  4  Bde. 
Leipzig  1789  ff.  [Enthält  brauchbare  Beiträge].  —  Willich,  Elements  of 
the  critical  Philosophy.  London  1798.  [Ohne  Werth.]  —  Villers,  Philosophie 
de  Kant.  Metz  et  Paris  1801.  [Populär.]  —  Schmidt-Phiseldek,  Criticae 
rationis  purae  Expositio  systematica,  Hafniae  1796.  [Fast  wörtliche  Üeber- 
setzung.]  Auch  in  den  Schriften  der  Gegner  sowie  der  halben  Anhänger  finden 
sich  viele  brauchbare  exegetische  Beiträge,  so  bei  Ulrich,  J.  A.  G.,  Institutiones 
logicae  et  metaphysicae,  Jenae  1785.  [Theilweise  schätzenswerthe  Bemer- 
kungen.] —  Brastberger  Untersuchungen  über  Kants  Critik.  Halle  1790. 
[Sehr  scharfsinnig.]  —  Schaff  er,  Inconsequenzen  und  auffallende  Wider- 
sprüche in  der  K. 'sehen  Philosophie.  Dessau  1792.  [Theilweise  brauchbar.]  — 
Zwanziger,  Commentar  über  Kants  Kritik  d.  r.  V.  Leipz.  1792.  [Eine 
durchaus  schätzenswerthe,  scharfsinnige  Schrift.]  —  Stattler,  Anti-Kant  I — ITI. 
München  1788.  [Berüchtigt  wegen  des  rohen,  polternden  Tones,  aber  im 
Einzelnen  oft  treffende  Bemerkungen.]  —  Miotti,  Falschheit  und  Gottlosig- 
keit des  K.*schen  Systems.  Augsb.  1802.  [Ganz  im  Genre  von  Stattler.]  — 
G.  E.  Schulze,  Kritik  der  theoretischen  Philosophie.  I.  11.  Hamburg  1801. 
[Des  berühmten  Verfassers  des  „Aenesidemus"  (der  sich  jedoch  nicht  auf 
alle  Theile  der  Kritik  bezieht)  durchaus  würdig,  von  richtigen  exegetischen 
Grundsätzen  geleitet.]  —  Maimon,  Versuch  über  die  Transscendentalphilosophie. 
Berlin  1 790.  [Wie  alle  Schriften  des  merkwürdigen  Verfassers  höchst  scharf- 
sinnig, aber  im  Einzelnen  oft  von  talmudistischer  und  daher  werthloser  Spitz- 
findigkeit.] —  Treschow,  Vorlesungen  über  die  Kantische  Philosophie.  I.  II. 
Aus  dem  Dänischen.  Kopenhagen  u.  Leipz.  1798.  1799.  [Zwar  nicht  ohne 
Missverständnisse,  aber  elegant  und  schätzbar.]  —  Tiedemann,  Theätet. 
Ein  Beitrag  zur  Vemunftkritik.  Frankfurt  1794.  [Sehr  brauchbar.]  — 
Herder,  Metakritik  (I.  Vernunft  und  Erfahrung.  II.  Vernunft  und  Sprache). 
Leipz.  1 799.  [Trotz  Ueberwegs  Apologie  in  der  Gesch.  der  Phil.  III,  248  ein 
Buch  voller  Miss  Verständnisse ,  gänzlich  unkritisch  und  Herders  unwürdig.] 
Vgl.  dazu  Kiesewetter,  Prüfung  der  Herder 'sehen  Metakritik,  in  welcher 
zugleich  mehrere  schwierige  Stellen  in  der  Kritik  d.  r.  V.  erläutert  werden. 
I.  II.  Berlin.  1799.  1800.  [Nicht  ohne  Werth,  theilweise  recht  brauchbar.] 
In  Eberhards  ,Phil.  Magazin«  Haue  1789—1792,  desselben  ,Phil.  Archiv*' 
ib.  1792.  1793,  sowie  in  Feders  und  Meiners'  Philos.  Bibliothek,  Gott.  1788 
bis  1791  finden  sich  ebenfalls  werthvolle  Beiträge  zur  Exegese,  besonders  von 
den  genannten  Herausgebern. 

11.  Periode«  (Eigentlich  exegetische  Schriften  hat  diese  Periode  nicht.) 
Fries,  Neue  oder  anthropologische  Kritik  der  Vernunft.  Heidelb.  1828 
— 1831.  [Fast  durchaus  eine  Abschwächung  von  wenig  exegetischem  Ge- 
halt.] —  Apelt,  Metaphysik.  Leipzig  1857.  [Paraphrase  Kants,  vom  Fries- 
schen  Standpunkt  aus  theilweise  recht  brauchbar.]  —  Von  demselben: 
Ernst  Reinhold  und  die  Kantische  Philosophie.  Leipzig  1840.  [Brauchbare 
Beiträge.]  Schätzenswerthe  Beiträge  zur  Erläuterung  findet  man  in  den 
historischen  Werken,   bes.   bei  J.  H.  Er d mann.    Versuch  einer  wissensch. 


Literaturilbersicht.  21 

m 

Darstellung  der  Gesch.  d.  n.  Philos.  III.  B.  1.  Abth.  Leipz.  1848.  [Sehr 
dankenswerth,  exact  und  scharf.]  — Rosenkranz,  Gesch.  d.  K.'schen  Philos. 
Leipz.  1840.  (KU,  Band  der  Gesammtausgabe  der  Werke  Kants  von  Ros. 
und  Schubert).  [Willkürliche  Auslegung  im  Hegel'schen  Sinne.]  —  Cousin, 
Philosophie  de  Kant.  4.  Ed.  Paris  1864.  [Rhetorisch  gehalten,  aber  oft 
treffende  Bemerkungen,  erinnert  an  K.  Fischer.]  Fortlaufende  Kritiken  er- 
schienen ebenfalls  wenige.  Die  bekannteste  und  werth vollste  ist  von  Schopen- 
hauer im  Anhang  zu  der  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung".  Leipz.  1819. 
1844.  [Exactes  Verfahren,  liebevolles  Eingehen,  jedoch  scharfe  Kritik,  von 
exegetischem  Werth.]  —  Prihonsky,  Neuer  Anti-Kant.  Bautzen  1850.  [Auf 
dem  Bolzano'schen  Standpunkt;  theilweise  recht  brauchbar.] 

m.  Periode.  Fortlaufende  Commentare:  K.  Fischer,  Gesch.  d.  n.  Philos. 
in.  Band.  2.  Aufl.  Heidelb.  1869.  [Verdienstvoll,  brachte  das  Kantstudium 
in  Fluss;  sehr  geistreiche  Darstellung,  aber  im  Einzelnen  unexact  und  un- 
zuverlässig, neben  glücklichen  Apper^us  grobe  Fehler.]  Das  Werk  ist  von 
Mahaffy  ins  Engl,  übersetzt  u.  d.  T. :  A  commerUary  in  Kants  Critik  of 
the  jp.  R,  [Diese  Uebers.  enthält  werthvoUe  Anmerkungen  des  Üebers.]  — 
Noack,  L. ,  Kants  Auferstehung  aus  dem  Grabe.  Leipz.  1865.  [Werthlos; 
unexact.]  —  Cohen,  Kants  Theorie  der  Erfahrung.  Berlin  1873.  [Sehr 
schätzenswerthes  Werk  voll  feiner  Bemerkungen  und  consequenter  Auffassung, 
aber  oft  willkürlich,  unexact  und  sogar  unverständlich;  gespreizter  Stil,  er- 
innert oft  an  Maimon.]  —  Riehl,  der  Kriticismus.  I.  Band.  Leipzig  1876. 
[Neben  feinen  Bemerkungen  und  sehr  brauchbaren  exegetischen  Beiträgen 
ohne  Exactheit;  zu  enger  Anschluss  an  Cohens  willkürlich  deutelnden  Tief- 
sinn.] —  Stadler,  die  Grundsätze  der  reinen  Erkenntnisstheorie  in  der 
Kantischen  Philosophie.  Kritische  Darstellung.  Leipzig  1876.  [Werth voller 
Beitrag,  aber  oft  willkürlich.]  —  Paulsen,  Versuch  einer  Entwicklungs- 
geschichte der  K. 'sehen  Erkenntnisstheorie.  Leipz.  1875.  [Sehr  schätzens- 
wertber  Beitrag.]  —  B.  Erdmann,  Einleitung  in  seine  Ausgabe  der  Kantischen 
Prolegomena.  Leipz.  1877.  —  Derselbe,  Kants  Kriticismus.  Leipz.  1878. 
[Verdienstvolle  Werke,  voll  treffender  Bemerkungen.]  —  Holder,  Darstellung 
der  K.'schen  Erkenntnisstheorie.  Tüb.  1873.  [Scharfsinnig,  nur  zu  kurz.] 
—  Caird,  The  philosophy  of  Kant,  Glasgow  1877.  [Construirend,  abhängig 
von  deutscher  Forschung,  aber  schätzenswerthes  Werk.]  —  Cantoni,  Em- 
manude  Kant.  L  Müano  1879.  [Elegante  Darstellung.]  —  Viele  brauchbare 
Winke  finden  sich  in  den  historischen  Darstellungen,  besonders  in  Zellers 
Geschichte  der  deutschen  Philosophie,  München  1873  und  bei  Windelband, 
Gesch.  d.  neueren  Philos.  II.  B.  Leipzig  1880.  —  Harms,  die  Philosophie  seit 
Kant,  Berl.  1879.  [Oft  treffend,  aber  unexact,  ohne  Verwerthung  der  neueren 
Forschungen.]  —  Lange,  Gesch.  d.  Materialismus  IL  Bd.  Iserl.  1875.  [Geist- 
volle Reproduction  des  K. 'sehen  Systems,  doch  nicht  ohne  Unexactheiten.] 
Gegnerische  Schriften  in  fortlaufender  Darstellung  und  Beurtheilung  der 
Kritik:  Kirch  mann,  J.  H.  v.,  Erläuterungen  zu  Kants  Kritik,  Prolego- 
mena u.  s.  w.  Leipzig  1870.  [Von  sehr  wenig  exegetischem  Werth,  da  keine 
unbefangene  und  exacte  Auffassung  des  Textes.]  —  Vgl.  dagegen  Grapen- 


22  Allgemeine  Einleitung. 

giesser,  Erklärung  und  Vertheidignng  von  Kants  Kritik  d.  r.  V.  wider 
die  sog.  Erläuterungen  des  H.  v.  Kirchm.  Jena  1871.  [Ziemlich  werthlos.] 
—  MicheliS;  Kant  vor  und  nach  1770.  Eine  Kritik  der  gläubigen  Ver- 
nunft. Braunsb.  1871.  [Ganz  unexact.]  —  Pesch  (Soc.  Jes.),  Die  Haltlosigkeit 
der  modernen  Wissenschaft.  Eine  Kritik  der  K. 'sehen  Vernunftkritik.  Frei- 
burg 1877.  [In  dem  bekannten  widerlichen  Tone  dieser  VeröfFentlichungen 
gehalten,  aber  nicht  ohne  Scharfsinn.]  —  Montgomery,  Die  Kantische  Er- 
kenntnisslehre widerlegt  vom  Standpunkt  der  Empirie.  München  1871.  [Nicht 
exact,  aber  viele  treffende  Bemerkungen.]  —  Volkelt,  Kants  Erkenntniss- 
theorie, nach  ihren  Grund principien  analysirt.  Lfeipz.  1879.  [Gewandte  Dar- 
stellung, brauchbare  Winke,  aber  oft  sehr  flüchtig  und  unezact.] 


Zur  allgemeinen  Erläuterung  dienen  besonders  folgende  Schriften  Kants 
aus  der  kritischen  Periode: 

1)  Prolegomena  zu  einer  jeden  künftigen  Metaphysik,  die  als  Wissen- 
schaft wird  auftreten  können.     Biga  1783. 

2)  üeber  eine  Entdeckung,  nach  der  alle  neue  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft durch  eine  ältere  entbehrlich  gemacht  werden  soll.     Königsb.  1790. 

3)  üeber  die  von  der  K.  Acad.  d.  Wiss.  zu  Berlin  f.  d.  Jahr  1791  aus- 
gesetzte Preisaufgabe:  Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte,  die  die 
Metaphysik  seit  Leibniz'  und  Wolfs  Zeiten  gemacht  hat?  Her.  v.  Rink. 
Kgsb.  1804.  Ebenso  dienen  sämmtliche  übrigen  Schriften  Kants  aus  derselben 
Periode  (insbes.  die  Kritik  der  prakt.  Vern.  und  die  der  ürtheilskraft, 
sowie  die  Logik,  auch  die  metaph.  Anfangsgründe  der  Naturwiss.)  mehr 
oder  weniger  zur  Erläuterung  der  Kr.  d.  r.  V.  und  sind  im  folgenden  Com- 
mentar  vollständig  dazu  ausgenützt.  Selbstverständlich  gilt  dasselbe  von  Ks. 
vorkritischen  Schriften,  insbesondere  von  der  Gruppe  der  60er  Jahre,  über 
die  „Negativen  Grössen",  den  „Einzig  möglichen  Beweisgrund  zu  einer 
Demonstr.  für  d.  Dasein  Gottes",  „Die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  der  natürl. 
Theologie  und  Moral",  „Träume  eines  Geistersehers,  erläutert  durch  Träume 
der  Metaphysik".  Eine  besondere  Erwähnung  verdient  die  interessante  Ueber- 
gangsschrift  von  1770:  „De  mundi  sensibüis  atque  inteUigtbüis  forma  et  prin- 
cipiis,^  Endlich  ist  besonders  Ks.  Briefwechsel  als  exegetisch  werthvoll 
zu  erwähnen,  sowie  die  bis  jetzt  noch  gar  nicht  verwertheten,  allerdings  mit 
Vorsicht  zu  gebrauchenden,  von  Pölitz  herausgegebenen  Vorlesungen  Kants 
über  „Die  Metaphysik"  (1831)  und  „Die  philosophische  Religions- 
lehre" (1817  u.  1830). 


n. 


Specielle  Einleitung. 

Dogmatismus,  Skeptlcismns  und  Krittcismns. 


Literatur.  —  §  1.  Vorbemerkangen.  —  §  2.  I.  Dogmatismus.  —  §  3.  II.  Skep- 
ticismus  (Empirismus).  —  §  4.  HI.  Kriticismus.  —  §  5  a.  Specielleres  Verhält- 
niss  des  Kriticismus  zum  Dogmatismus.  —  §  5b.  Specielleres  Verhältniss 
des  Kriticismus  zum  Skepticismus.  —  §  6.  Die  historischen  Vertreter  des 
Dogmatismus  und  Skepticismus.  ^  §  7.  Allgemeines  Verhältniss  der  drei  Stand- 
punkte. —  §  8.  Specieller  Gegensatz  des  Kriticismus  einerseits  und  des 
Dogmatismus  und  Empirismus  andererseits.  Kants  subjectivistische  Wen- 
dung. —  §.  9.  Kants  eigener  Entwicklungsgang  durch  Dogmatismus  und 
Empirismus  hindurch  zum  Kriticismus.  —  §  10.  Der  Kriticismus  als  Ver- 
mittlung zwischen  Dogmatismus  und  Skepticismus.  Allgemeine  Gesichts- 
punkte..— §  11.  Dieselbe  Vermittlung  specieller  betrachtet.  —  §  12.  Kants 
durchgängige  Vermittlungstendenz.  —  §  13.  Die  verschiedenen  Ansichten 
über  den  Grundcharakter  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  —  §  14.    Fort- 

setzxmg  (Gegenwart). 

Literatiir. 

Mellin,  W.  B.  H,  143  ff.  V,  330  ff.  -  Schmid,  W.  B.  192.  213.  472. 
617  ff.  —  Lossius,  Lexic.  11 ,  60  ff.  m,  650  ff.  —  Pistorius,  A.  D. 
Bibl.  80.  464.  -  Villers,  Phil.  d.  K.  I,  69-128.  H,  154.  -  Willich, 
Elements  1  —  83.  —  Krug,  Lex.  I,  684.  H,  652.  576.  HI,  767.  Id. 
Handb.  §  94  ff.  (S.  98  ff.)  Id.  Fund.  §  116  ff.  (S.  262  ff.)  -  Platner, 
Aphor.  3.  Aufl.  §  695  ff.  §  706.  §  747  ff.  —  Jakob,  Prüfung  178  ff.  — 
Eberhard,  Philos.  Magazin,  häufig,  bes.  I,  9  ff.  150  ff.  244  ff.  263  ff. 
290  ff.  n,  75  ff  431  ff  486  ff.  495  ff  m,  70  ff.  212  ff  IV,  84  ff  490  ff 
Id.  Plulos.  Archiv  I,  2,  79.  3,  22  ff.  4,  46  ff  II,  3,  25.  44  ff  122  ff.  - 
Schwab,  Preisschrift  über  die  Fortschr.  d.  Metaph.  15  ff.  103.  —  Eein- 
hold,  Preisschr.  178  ff.  282  ff.  239  ff  243  ff.  -  Abicht,  Preisschr.  260.  - 


24  Specielle  Einleitung. 

Schulze,  Aenesidem.  Einl.  1—4.  Krit.  d.  th.  Phil.  I,  88  ff.  H,  126  ff.  — 
Neeb,  Vem.  g.  Vem.  35  ff.  Vgl.  dessen  „System  der  kritischen  Philos." 
Einl.  —  Berg,  Epikritik.  101  ff.  —  Suabedissen,  Result.  219  ff.  298  ff. 
326  ff.  -  Reinhold,  Briefe  I,  22  ff.  89  ff.  107  ff.  116  ff.  160  ff.  168  ff. 
u.  ö.  II,  15  ff.  50  ff.  Id.  Theorie  der  VorsteU.  1  ff.  79  ff.  129  ff.  137  ff. 
174  ff.  Id.  Beyträge  II,  12  ff.  115  ff.  159  ff.  Id.  Fundament  13  ff.  58  ff. 
65  ff.  Id.  Einleitung  zu  Tennemanns  Uebers.  der  Hume'schen  Untersuchungen 
XIII  ff.  Id.  Beyträge  z.  leicht.  Uebers.  2,  4  ff.  7  ff.  6,  230  ff.  Id.  Verm. 
Schrift,  n,  176  ff.  205  ff.  -  Visbeck,  Reinh.  Elementarphil.  12  ff.  — 
Maimon,  Streifereien  48  ff.  191  ff.  Id.  Logik  298  ff.  374  ff.  —  Than- 
ner,   K,  Fichte  u.    Schelling    12  ff.    —    Fichte,   W.   W.    I,   30.    119   f. 

155  f.  430  f.  509.  H,  66.  167  ff.  442.  -  Schelling,  W.  W.  Erste  Abth. 
I,  283  ff.  IV,  348  ff.  V,  191  ff.  VI,  117.  X,  75.  215.  Zweite  Abth.  m, 
110  ff.  -  Hegel,  W.  W.  VI.  (Encycl.)  61  ff.  78  ff.  85  ff.  XV,  330  ff. 
487  ff.  551  ff.  XVI,  70  ff.  -  Schleiermacher,  Werkf  z.  Phüos.  IV  (2). 
30.  171.  VI,  16.  —  Jacobi,  W.  W.  II  (Hume)  16  f.  33.  III  (Spinoza) 
10.  69  ff.  173.  350.  460.  —  Krause,  Grundwahrh.  373  ff.  —  Schopen- 
hauer, W.  a.  W.  u.  V.  I,  16.  498  ff.  Par.  I,  142.  II,  9.  12.  Handschr. 
Nachl.  297.  -  Herbart,  W.  W.  I,  65  ff.  IH,  194  ff.  -  Fries,  Neue 
Kritik  IL.  189  ff.  —  Hamann,  W.  W.  VI,  53.  VII,  107.  —  D^g^rando, 
Vergl.  Gesch.  I,  458  ff.  468  ff.  515  ff.  H,  471  ff.  477  ff  489  ff.  497  ff.  - 
Buhle,  Gesch.  d.  Phil.  VIII,  463.  Id.  Gesch.  d.  n.  Phil.  VI,  575  ff.  — 
Ast,  Gesch.  d.  Phil.  §  302.  -  Fülleborn,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Phil.  I,  114. 
VII,  138  ff.  -  Sigwart,  Gesch.  d.  Philos.  HI,  22  ff.  146  ff.  -  Michelet, 
Gesch.  d.  Phil.  v.  Kant  bis  Hegel  I,  18  ff.  37.  43  ff.  46  ff.  50  f.  218  f.  — 
Willm,  Eist,  de  la  pkü.  All.  I,  18  ff.  91  ff.  —  Barchou  de  Penhoön, 
Hist.  de  la  phü.  AU.  I,  201  ff.  234  ff.  296.  —  Biedermann,  die  deutsche 
Philos.  I,  20  ff.  63  ff.  78.  133  ff.  412  f.  —  Beneke,  Kant  25  f.  36  f.  — 
Reinhold,  E.,  Th.  d.  menschl.  Erk.  I,  22  ff.  —  Apelt,  E.  Reinh.  und 
Kant  9.  67  ff.  79  ff.  —  Sigwart,  Handb.  67  ff.  104  ff.  151.  —  Schön, 
Phil.  Transc.  17  ff.  —  Chalybäus,  Histor.  Entw.  19  ff.  —  Gruppe,  An- 
täus  140  ff.  Wendepunkt  353  ff.  Gegenwart  u.  Zukunft  d.  deutsch.  Phil. 
32  ff.  54  ff.  -  Erdmann,  Versuch  III,  1,  1—24.  37.  232  ff.  415  ff.  Id. 
Grundriss  §  296.  —  Kolbe,  rfe  Kant.  phü.  21  ff.  —  Weisse,  Orient,  an 
Kant.  10  ff.  —  Mirbt,  Ks.  Philos.  23  ff.  174  ff.  -  Saintes,  Phü.  d.  K 
67  ff.  —  Rosenkranz,  Gesch.  d.  Kant.  Phil.  (W.  W.  Kants  XH)  9.  117  ff. 

156  f.  262.  —  Cohen,  Kants  Th.  d.  Erf.  1—4.  -  Zeller,  Erkenntniss- 
theorie 13  ff.  —  K.  Fischer,  Gesch.  III,  1.  3—45.  Id.  System  der  Logik 
und  Metaphysik  S.  104—111.  Kants  Leben  und  die  Grundlagen  seiner 
Lehre  97  ff.  —  üeberweg,  Grundr.  III,  §  6.  §  18.  Id.  Logik  §  28.  — 
Zell  er,  Gesch.  d.  deutsch.  Philos.  402.  —  Lewes,  Gesch.  d.  Phil.  11,496- 
—  Schwegler,  Gesch.  d.  Philos.  §  37.  -  Paulsen,  Entw.  147  ff.  Id. 
in  der  Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Philos.  I,  159  ff.  —  Er d mann,  Ks.  Proleg. 
Vorr.  82.  Id.  Ks.  Kriticismus  S.  14  ff.  —  Riehl,  Krit.  12  f.  201  f.  — 
Cantoni,   Em.  Kant  1—67.   —    Laas,    Ks.    Analog.    204   ff.   —  Caird, 


Dogmatismus,  Skepticismus,  Kriticismus.     Literatur.  25 

PhHos.  of  Kant  27—121.  -  Laas,  Id.  u.  Positiv.  8.  54.  68  ff.  111  ff.  119  ff. 
129  ff.  157  ff.  168  ff.  —  Göring,  Krit.  Phüos.  II,  124  ff.  Ders.  Viert,  f. 
wiss.  Phüos.  I,  401  ff.  525  ff.  II,  106  ff.  -  Wolf  f,  Specul.  u.  Phil.  I,  3  ff. 
71  ffl  —  Spicker,  Kant,  Hume  u.  Berk.  8  ff.  —  Volkelt,  Ks.  Erkennt- 
nissth.  11  ff.  30  ff.  79  ff.  87  ff.  153  ff.  189  ff.  —  Harms,  Die  Philos.  s. 
Kant  28  f.  50  f.  127  ff.  —  Weber,  Histoire  de  la  Philos.  Europ.  433.  — 
Lange,  Gesch.  d.  Mater.  11,  45.  Beiträge  39  ff.  —  Zimmermann,  Lam- 
bert 5  ff.  —  Witte,  Beiträge  7,  9  ff.  32  ff.  Id.  Vorstudien  52—88.  — 
Holder,  Kantische  Erkenntnisstheorie  1—5.  Id.  Mögl  u.  Bed.  wahrer  Er- 
kenntniss.  Urach  1878.  2  ff.  16  ff.  —  Drobisch,  Fortb.  der  Philos.  d.  Her- 
bart 6  ff.  —  Capesius,  Metaphysik  Herbarts  60  ff.  —  Horowitz,  De  apr. 
princ.  S.  5  ff.  —  Vorrede  zu  Tissots  Uebers.  d.  Kritik  d.  r.  V.  S.  VI  ff. 
—  Masson,  Bec.  Brit,  Phü.  34  f.  63  f.  —  Bergmann,  Z.  Beurth.  d. 
Kritic.  30  ff.  181  ff.  —  Dilthey,  Schleierm.  88  ff.  —  Thilo,  Gesch.  d. 
Phü.  n,  185.  —  Stöckl,  Gesch.  d.  Phil.  689.  —  Oischinger,  Haupts, 
d.  n.  Phil,  n,  2  ff.  —  Deutinger,  Princ.  d.  n.  Phil.  117.  —  v.  Reichlin- 
Meldegg,  Einl.  z.  Phil.  139  ff.  —  Rehmke,  Welt  als  Wahrn.  25. 

Special  Schriften:  Kreil,  A.,  Vergl.  der  Leibniz'schen,  Locke'schen 
und  Kantischen  Philos.  Anh.  zu  dessen  Gegenschrift  gegen  Miotti:  „Be- 
merkungen* u.  s.  w.  Wien  1799.  —  Kirsten,  J.  F.  E.,  Düs,  philos,  ex- 
hibens  discrimen  inter  philos,  criticam  et  dogmaticam.  Jena  1792.  —  F.  W. 
D.  Snell,  üeber  philos.  Kriticismus  in  Vergleichung  mit  Dogmat.  u.  Skep- 
ticismus. Giessen  1802.  —  Schelling,  Philos.  Briefe  über  Dogmat.  u.  Kritic. 
Nieth.  Phil.  Journ.  II,  177  ff.  III,  173  ff.  —  Scheidler,  üeber  Dogmat. 
u.  Kriticism.  Zeitschr.  f.  Theol.  u.  Phil.  11,  3,  65  ff.  —  Krug,  üeber  die 
verschiedenen  Methoden  des  Philosophirens  u.  s.  w.  Meissen  1802.  — 
A.  Kletke,  der  Streit  des  Empirismus  und  Idealismus  geschlichtet  in  der 
neueren  Philos.  Breslau  1839.  —  H.  Bach,  Philos.  Kantianae  quae  sit  con- 
nexio  et  propinquitas  cum  Philosophia  FrancogaUiae  et  Angliae  XVIII,  Saec, 
Bonn.  1866.  —  Leng  fehlner,  Dogmatismus  und  Skepticismus,  oder 
d.  Wendepunkt  der  Philos.  in  Kant.  Landsh.  1870.  —  Kannengiesser, 
Dogmatismus  und  Skepticismus.  Elberfeld  1877.  (Darüber  Pfleiderer  in 
Jen.  L.  Z.  1879  Juni.) 


§  1. 

Vorbemerkungen. 

„Kant  erklären  heisst  ihn  geschichtlich  ableiten."  Dieses  tref- 
fende Wort  K.  Fischers  (Gesch.  29,  vgl.  Göring,  System  II,  108)*  bezeichnet 
den  normalen  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  eine  Einleitung  in  die  K.'sche 
Philosophie  gegeben  werden  muss.    Fischer  selbst  und  vor  ihm  und  nach 


*  Vgl.  Paul 86 n,  Entw.  Vorr.  III  ff. 


26  Specielle  Einleitung. 

ihm  Viele  haben  diesen  Weg  eingeschlagen.  Man  hat  sich  dabei  meistens, 
von  Es.  Selbstzeugniss  über  seine  historische  Stellung  leiten  lassen.  Und 
mit  Becht.  Selbst  wenn  Es.  Auffassung  des  vor  ihm  Geschehenen  nicht 
ganz  zuträfe,  müsste  diese  Anlehnung  vorgezogen  werden;  denn  das,  was 
E.  gewollt  hat,  kann  nur  erkannt  werden  durch  die  Einsicht  in  die  Art 
und  Weise,  wie  er  es  wollte,  d.  h.  in  das  Bild,  das  er  sich  in  seinem 
Eopfe  von  der  philosophischen  Zeitlage  gebildet  hatte.  Nun  ist  aber  Es. 
Auffassung  des  Status  der  Philosophie  vor  ihm  im  Grossen  und  Ganzen  zu- 
treffend, mag  er  auch  einzelne  seiner  Vorgänger  wie  z.  B.  Berkeley  und 
Hume  theilweise  verkannt  haben.  Die  folgende  Auseinandersetzung  unter- 
scheidet sich  von  den  bisherigen  Einleitungen  jedoch  dadurch,  dass  Es. 
Aeusserungen  („loca  pröbantia")  über  die  vorhergehenden  philosophischen 
Systeme  darin  vollständig  gesammelt  und  systematisch  verwerthet  sind. 

Eant  theilt  die  philosoph.  Systeme  vor  ihm  in  die  beiden  Hauptklassen 
des  Dogmatismus  und  Empirismus  oder  Skepticismus.  Sein  eigenes 
System  istEriticismus.  Jene  strenge  Scheidung  ist,  wie  Paulsen,  Entw.  98  ff., 
vgl.  Göring,  Viert,  f.  w.  Phil.  I,  404,  ausführt,  ein  bedeutsames  Verdienst 
Eant-s.  »Die  klassificatorischen  Gegensätze  für  die  Philosophie  wurden  vor 
Eant  ausschliesslich  der  Metaphysik  entnommen.''  Darnach  theilte  man, 
sofeme  eine  solche  Eintheilung  überhaupt  versucht  wurde,  etwa  in  Materia- 
lismus und  Spiritualismus  ein,  indessen  kam  selbst  letzterer  Ausdruck  erst 
in  später  Zeit  auf.  Bei  den  älteren  Historikern  wie  z.  B.  Br ucker  ist 
keine  systematische  Eintheilung  durchgeführt.  Dagegen  schliessen  sich  die 
auf  E.  folgenden  Historiker  (wie  Buhle,  Tennemann  u.  A.,  neuerdings 
Fischer  und  Ueberweg  [HI,  §.  6]  u.  A.)  an  Es.  Eintheilung  an.  Diese 
ist  im  Wesentlichen  der  Erkenntnisstheorie  entnommen,  entsprechend 
der  ganzen  Wendung  des  E.'schen  Denkens  von  den  Objecten  weg  zu  dem 
erkennenden  oder  erkennenwollenden  Subject.  Und  hierin  entdeckt  E. 
jenen  fundamentalen  Gegensatz,  den  er  an  die  allerdings  überlieferten  Namen 
des  Dogmatismus  und  Empirismus  (Skepticismus)  knüpft.  Neu  aufgestellt 
ist  die  Eategorie  des  Eriticismus. 

Diese  drei  Systeme  bezeichnen  fiir  Eant  in  erster  Linie  drei  verschiedene 
Methoden  der  Philosophie  viel  mehr,  als  etwa  drei  bestimmte  philosophisch 
ausgestaltete  Weltanschauungen.  Es  ist  das  Wesentliche  und  Neue  bei  Eant, 
dass  er  die  sachlichen  Fragen  von  der  Erledigung  der  methodologischen 
Probleme  abhängig  macht:  die  Metaphysik  wird  durch  ihn  eine  von  der 
Methodologie  und  Erkenntnisstheorie  abhängige  Function.  Es  geht  sowohl 
aus  den  früheren  Schriften  und  den  erhaltenen  Briefen  Eants  als  aus  der 
ganzen  Anlage  der  Ejntik  und  ausdrücklichen  Bestimmungen  in  derselben 
klar  hervor,  dass  Eant,  wie  er  den  Streit  der  entgegengesetzten  Richtungen 
seiner  Zeit  und  früherer  Zeiten  in  erster  Linie  vom  methodologischen  Gesichts- 
punkt aus  auffasste,  also  weniger  als  einen  Streit  um  eine  bestimmte  mate- 
rialistische oder  spiritualistische  Weltanschauung,  sondern  vielmehr  als  einen 
Streit  über  die  propädeutische  Frage  der  Methode  —  dass  E.  so  auch  seine 
eigene  Richtung  vor  Allem  als  die  Einfuhrung  eines  neuen  Philosophir- 


Das  methodologische  Problem.    Die  Gesichtspunkte.  27 

modus  betrachtet  wissen  wollte.  Das  methodologische  Problem 
ward  für  K.  immer  mehr  in  den  Vordergrund  gerückt  und  sobald  es  ihm 
einmal  yoll  zum  Bewusstsein  gekommen  war,  stellten  alle  seine  Schriften 
dieses  Problem  an  den  Anfang.  Kants  Kritik  ist  ein  „Tractat  von  der 
Methode*  \  Wie  nun  schon  die  allgemeine  Bezeichnung  der  drei  Stand- 
punkte diese  methodologische  Signatur  an  der  Stirne  trägt,  so  ist  dies  und 
zwar  noch  viel  mehr  der  Fall  mit  der  speciellen  Merkmalbestimmung  der 
drei  Hauptrichtungen  des  Philosophirens.  Aus  der  vollständigen  Zusammen- 
stellung und  systematischen  Ordnung  der  Aeusserungen  Kants  über  die 
drei  Richtungen  ergibt  sich  nämlich,  dass  die  Merkmalbestimmung  zwei  ver- 
schiedene Gesichtspunkte  betrifft: 

1)  die  Form  oder  die  Methode, 

2)  den  Inhalt  oder  das  Object. 

Bei  dem  ersten  Gesichtspunkt  handelt  es  sich  um  die  Frage:  Durch  welche 
Methode  kommen  wir  zu  wahrer,  gültiger  Erkenntniss,  durch  apriorische, 
deductive,  syllogistische  oder  durch  empirische,  inductive,  analogische?  Jene 
setzt  einen  angeborenen  Inhalt  reiner  Vernunft  demente  voraus,  diese 
bedarf  nur  der  Erfahrung.  Hier  handelt  es  sich  um  die  Methode  im 
engeren  Sinn.  Die  zweite  Frage,  welche  sich  auf  den  durch  die  Eine 
jener  Methoden  zu  erkennenden  Inhalt  bezieht,  ist  aber  auch  methodologi- 
scher Natur,  indem  hier  Methode  im  weiteren  Sinne  verstanden  wird. 
Denn  zur  Methode  in  diesem  Sinn  gehört  auch  die  Bestimmung  der  Aus- 
dehnung des  Verfahrens.  Kann  sich  das  philosophische  Denken  auf  über- 
sinnliche Gegenstände  erstrecken  oder  muss  es  sich  auf  die  Erfahrungssphäre 
beschränken?  Somit  theilt  sich  das  methodologische  Problem  (im 
Allgemeinen)  in  zwei  Unterfragen: 

1)  nach  dem  Verfahren  (im  engeren  Sinn), 

2)  nach  der  Ausdehnung  des  Verfahrens. 

Man  darf  diese  Gliederung  um  so  weniger  aus  den  Augen  verlieren,  als 
duzeb  verschiedene  Ursachen  für  Kant  selbst  später  dieselbe  mit  anderen 
Gesichtspunkten  vertauscht  wurde. 

Im  Wesentlichen  findet  sich  jene  Eintheilung  auch  ausdrücklich  schon 
bei  Kant  selbst.  Am  Schluss'  der  Kritik  (852),  wo  er  „die  Geschichte  der 
reinen  Vernunft*'  skizzirt,  theilt  er  die  Systeme  ein: 

1)  in  Ansehung  des  Gegenstandes, 

2)  in  Ansehung  des  Ursprungs  der  Erkenntnisse. 

(Die  dritte  Klasse  gehört  nicht  hieher.)  In  erster  Hinsicht  theilt  K.  ein  in 
Sensual-  und  in  Intellectualphilosophen,  d.  h.  in  solche,  welche  die 
Wirklichkeit  in  den  Gegenständen  der  Sinne  finden  und  alles  andere 
for  Sehein  Jialten,  und  in  solche,  welche  durch  den  Verstand  erkennbare 
intelligible  Dinge  annehmen.  In  zweiter  Hinsicht  theilt  er  ein  in 
Empiristen  und  in  Noologisten,  d.  h.  in  solche,  welche  die  Erkenntniss 
atts  der  Erfahrung  ableiten,  und  in  solche,  welche  dafür  halten,  dass  wahre 


'  Krit.  d.  r.  V.  Vorr.  B.  XXÜ. 


28  Specielle  Einleitung. 

Erkenn tniss  unabhängig  von  der  Erfahrung  in  der  Vernunft  ihre  Quelle 
habe.  —  Fassen  wir  das  jedesmalige  erste  und  zweite  Glied  zusammen,  so 
erhalten  wir  die  hier  aufgestellte  Gliederung  in  Skepticismus  und  Dog- 
matismus, welche  beide  doppelt  zu  betrachten  sind,  einmal  dem  Object 
nach  und  dann  der  Methode  nach. 


§  2. 

I.    Dogmatismus. 

A)  Der  Methode  oder  Form  nach  ist  der  Dogmatismus  speciell 
als  Rationalismus  zu  bezeichnen.  D.h.:  Die  Erkenntniss  soll  gewonnen 
werden  durch  reine  Vernunft,  welche  eine  eigene  Quelle  der  Erkenntniss 
ist  und  Erkenntnissmaterial  aus  sich  selbst  erzeugt.  Aus  in  der  Vernunft 
selbst  liegenden ,  angeborenen  Begriffen  und  Grundsätzen  (ideae  innatae, 
ap/al  ivaico^eixTot)  soll  nach  dem  Vorbild  der  reinen  Mathematik,  „tnore 
geoinetrico<^^  deductiv,  durch  Analyse  der  Begriffe,  durch  syllogistische 
Ableitung  aus  den  Grundsätzen  die  Wirklichkeit  erkannt  werden.  Sowohl 
Begi'iffsinhalt  als  Begriffs  Verknüpfung  sollen  a  priori  sein.  Dieser  Ratio- 
nalismus oder  Apriorismus  ist  jedoch  ein  unkritischer,  weil  die  Besinnung 
über  die  Möglichkeit,  Gültigkeit  und  Tragweite  einer  solchen  Erkenntnissart., 
einer  solchen  „reinen  Vemunffcwissenschaft"  fehlt,  weil  weder  der  angeborene 
Inhalt  systematisch  angegeben,  noch  die  Congruenz  der  aus  ihm  ge- 
bildeten Urtheile  mit  dem  Realen  gerechtfertigt  ist,  weil  somit  weder 
die  psychologische  Untersuchung  noch  die  methodologische  Selbst- 
besinnung vorhanden  ist. 

B)  Dem  Object  oder  dem  Inhalt  nach  ist  der  Dogmatismus 
als  transscendent  zu  charakterisiren.  Nicht  etwa  blos  die  Erfahrungs- 
wirklichkeit, sondern  und  gerade  vorzugsweise  da«  jenseits  der  Erfahrung 
Liegende  (das  „Metempirische*)  ist  Gegenstand  der  Forschung;  also  über 
Weltanfang,  Weltende,  Weltprincip,  Ursprung  und  Zukunft  der  Seele  u.  s.  w. 
soll  jene  Erkenntnissmethode  Aufschluss  geben  und  zwar  absolut  sicheren 
und  zuverlässigen.  Der  Dogmatismus  will  somit  ohne  Erfahrung  über 
die  Erfahrung  hinaus  ^ 

Stellen  ans  Kant:  Ad  A).  Entd.  R.  I,  452:  „Unter  dem  Dogm.  der 
Metaph.  versteht  die  Kritik  der  r.  V.  das  allgemeine  Zutrauen  zu  ihren 
Principien,  ohne  vorhergehendeKritik  des  Vernunftvermögens  selbst, 
bloss  um  ihres  Gelingens  willen"  (d.  h.  weil  es  uns  gelingt,  derartige  Prin- 
cipien, z.  B.  den  Satz  der  Causalität  auf  Erfahrung  anzuwenden,  glaubt  man 
denselben  auch  auf  Uebersinnliches  anwenden  zu  dürfen.  Vgl.  Mellin  11,  153. 
V,  332).    Der  Dogmat.  gibt  „Beweise  a  priori*  oder  „apodiktische  Beweise", 


*  Nach  Krug  (Lex.  I^  636)  sind  daher  die  beiden  Merkmale  des  Dogmatismus 
nach  denselben  beiden  Gesichtepmikten  1)  Willkür  in  den  Principien,  2)  Tran  s- 
scendenz  in  den  Behauptungen. 


Methode  und  Object  des  Dogmatismus.  29 

aber  wohl  zu  merken,  ohne  „über  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori" 
^die  mindeste  vorhergehende  kritische  Untersuchung  anzustellen".  Ohne  diese 
Beurtheilung  ist  der  Dogmat.  „blind"  (a.  a.  0.).  —  Kritik  Vorr.  B.  XXX. 
Der  Dogm.  d.  Met.  ist  „das  Vorurtheil,  in  ihr  ohne  Kritik  der  r.  V.  fort- 
zukommen*. Krit.  763.  Der  Dogmatiker  „setzt,  ohne  ein  Misstrauen  auf 
seine  ursprünglichen  objectiven  Principien  zu  setzen,  d.  h.  ohne  Kritik  seinen 
Gang  gravitätisch  fort".  Er  will  „durch  blosse  Kräfte  des  Verstan- 
des" vorwärts  kommen,  durch  „reinen  Verstand'  in  Bezug  auf  die  Erfah- 
rungswirklichkeit, durch  „reine  Vernunft"  in  Bezug  auf  das  Metempirische. 
(Ib.  760  ff.)  Aber  ohne  Kritik  sind  „alle  jene  Behauptungen  blindlings 
gewagt*.  (Ib.)  Der  Dogmat.  „fängt  vom  Unbedingten  an  und  will  völlig 
a  priori  die  ganze  Kette  der  Bedingungen  fassen  und  die  Ableitung  des  Be- 
dingten begreifen".  466.  Der  Dogm.  glaubt  an  die  Möglichkeit  einer  „a  priori 
sich  enveiternden  reinen  Vernunft".  767.  Indessen  soll  diese  Erweiterung 
doch  nur  durch  Begriffsanalyse  erreicht  werden.  Ib.  3 — 6.  Nach  alle- 
dem ist  Dogm.  „die  Anmassung,  mit  einer  reinen  Erkenntniss  aus  Begriffen 
nach  Principien,  so  wie  sie  die  Vernunft  längst  im  Gebrauch  hat,  ohne  Er- 
kundigung der  Art  und  des  Rechts,  wodurch  sie  dazu  gelangt  ist,  allein 
fortzukommen.  Dogmat.  ist  das  dogmatische  Verfahren  der  reinen  Vernunft 
ohne  vorangehende  Kritik  ihres  eigenenVermögens".(Vorr.  B.  XXXV.) 
Hier  nimmt  der  Philosoph  „einen  dogmatischen  Trotz  an  und  setzt  den  Kopf 
steif  auf  gewisse  Behauptungen,  ohne  den  Gründen  des  Gegentheils  Gehör 
und  Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen".    Krit.  407. 

Ad  B).  Entd.  R.  I,  452:  „Der  Dogmat.  in  Ansehung  des  Uebersinn- 
liehen"  geht  auf  „Gegenstände,  die  nie  in  der  Erfahrung  gegeben 
werden  können " .  Dieser  „unbegrenzte  Dogm.  der  reinen  Vernunft"  ent- 
steht, wenn  man  es  versäumt,  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori 
kritisch  zu  untersuchen.  Ib.  403.  —  Die  Objecto  der  Metaphysik  sind  Gott, 
Freiheit  und  Unsterblichkeit.  Das  Verfahren  derselben  ist  im  Anfang  dog- 
matisch, d.  h.  „sie  übernimmt  ohne  vorhergehende  Prüfung  des  Vermögens 
oder  Unvermögens  der  r.  V.  zu  einer  so  grossen  Unternehmung  zuversicht- 
lich die  Ausführung".  Krit.  3.  „Der  dogmat.  Gebrauch  der  Vernunft  führt 
auf  grundlose  Behauptungen"  (in  Ansehung  des  Uebersinnlichen).  Krit.  B.  22. 
Der  Dogmat.  legt  „intellectuelle  Anfänge  zu  Grunde".  Krit.  A.  466.  „Er 
verlässt  die  Kette  der  Naturordnung,  um  sich  an  Ideen  zu  hängen,  deren 
Gegenstände  er  nicht  kennt",  er  „geht  in  das  Gebiet  der  idealisirenden  Ver- 
nunft und  zu  transscendenten  Begriflfen  über,  wo  er  nicht  weiter  nöthig  hat 
zu  beobachten,  .  .  .  sondern  nur  zu  denken  und  zu  dichten".  Er  glaubt 
sogar  „Thatsachen  der  reinen  Vernunft  unterordnen  zu  dürfen".  Ib.  467  ff. 
Derartige  Begriffe  sind  Gott,  Freiheit,  Weltschöpfung,  einfache  Substanzen, 
absolute  Freiheit  u.  s.  w.  Hier  „verkennt  die  Vernunft  ihre  wahre  Bestim- 
mung und  thut  mit  Einsicht  und  Wissen  gross  da,  wo  eigentlich  Einsicht 
und  Wissen  aufhören".  Das  sind  „idealische  Erklärungen  der  Naturerschei- 
nungen" (ib.  472).  So  verfährt  also  „der  unkritische  Dogmatiker,  der  die 
Sphäre  seines  Verstandes  nicht  gemessen,  mithin  die  Principien  seiner  mög- 


30  Specielle  Einleitung. 

liehen  Erkenntniss  nicht  nach  Principien  bestimmt  hat,  der  also  nicht  schon 
zum  Voraus  weiss,  wie  viel  er  kann,  sondern  es  durch  blosse  Versuche  aus- 
findig zu  machen  gedenkt '',  er  stellt  „Behauptungen  auf,  die  er  nicht  recht- 
fertigen kann*;  kurz,  er  ist  „ein  dogmatischer  Vernünftler*.  Ib.  768. 
Alle  diese  fehlgeschlagenen  Versuche  entspringen  aus  „dogmatisch-schwär- 
mender,  Wissbegierde,  die  nur  durch  Zauberkünste  befriedigt  werden  könnte*. 
Vorr.  A.  VIT.  Der  Dogm.  „macht  sich  anheischig,  die  menschliche  Erkennt- 
niss über  alle  Grenzen  möglicher  Erfahrung  hinaus  zu  erweitem  und 
die  Fragen  über  die  Natur  der  Seele  und  den  ersten  Weltanfang  zu  ent- 
scheiden*. Ib.  Vni.  Sogar  der  Empirist  Locke  Ö&et  einer  derartigen  „Schwär- 
merei Thür  und  Thor*,  denn  „die  Vernunft,  wenn  sie  einmal  derartige 
Befugnisse  auf  ihrer  Seite  hat,  lässt  sich  nicht  mehr  durch  unbestimmte 
Anpreisungen  der  Massigkeit  in  Schranken  halten*.  Krit.  B.  128^  vgl.  A.  854. 
Beim  gewöhnl.  Dogmat.  „bekommt  die  wissbegierige  Jugend  frühe  und  so 
viel  Aufmunterung  über  Binge,  davon  sie  nichts  versteht,  und  darin  sie 
so  wie  Niemand  in  der  Welt  auch  nie  etwas  einsehen  wird,  bequem  zu  ver- 
nünfteln*. Vorr.  B.  XXXI. 

§3. 

n.    Skepticismus  (Empirismus)  K 

A)  Der  Methode  oder  Form  nach  ist  der  empiristische  Skepti- 
cismus speciell  als  Sensualismus  zu  bezeichnen,  d.  h.  die  Erkenntniss 
soll  gewonnen  werden  durch  die  Empfindung.  Wie  alle  Begriffe,  so  ent- 
stehen auch  alle  allgemeinen  Sätze  durch  Vergleichung  der  erfahrungsmässig 
gegebenen  Thatsachen,  aus  denen  nach  dem  Vorbild  der  empirischen  Natur- 
wissenschaft inductiv  zum  Höheren  aufzuschreiten  und  so  die  Philosophie 
als  Er fahrungs Wissenschaft  zu  begründen  ist.  Die  Seele  hat  keinen  an- 
geborenen Inhalt,  sondern  ist  eine  „tabula  rasa^,  Erkenntniss  von  That- 
sachen ist  nur  durch  Erfahrung  möglich. 

B)  Dem  Object  oder  dem  Inhalt  nach  ist  der  empiristische 
Skepticismus  als  immanent  zu  bezeichnen.  Alle  Erkenntniss  ist  auf 
den  Erfahrungsinhalt  eingeschränkt,  soll  also,  wie  sie  nicht  ohne  Erfahrung 
entsteht,  so  auch  nicht  über  die  Erfahrung  hinaus.  Die  fortgeschrittene 
Erichtung  leugnet  direct  alles  Uebersinnliche,  alles  Transscendente. 

Stellen  ans  Kant:  Ad  A).  Entd.  R.  I,  452:  „Der  Skept.  ist  das,  ohne 
vorhergegange  Ejitik,  gegen  die  reine  Vernunft  gefasste  allgemeine  Miss- 
trauen, bloss  um  des  Misslingens  ihrer  Behauptungen  willen.*     Der  Skept. 


*  Die  von  Reinhold  Preisschr.  244  ff.  getroffene  Aenderung^  den  Empiris- 
mus vom  Skepticismus  ganz  zu  trennen,  ist  an  sich  berechtigt,  insbesondere  in 
Betreff  des  Problems  der  Wahrheit  der  Erkenntniss,  entspricht  aber  nicht  der 
Kantischen  Auffassung,  wonach  Empirismus  zum  Skepticismus  führt.  Das- 
selbe gilt  von  Schulzens  Eintheilung  in  seiner  „Kritik  d.  theoret.  Philos.^  Vergl. 
Göring  Viert,  f.  wies.  Phil.  I,  405. 


Methode  und  Object  des  Skepticismus.  31 

wendet  sich  zunächst  gegen  die  Erkenntniss  des  Uebersinnlichen  durch  Ideen 
der  reinen  Vernunft,  weil  gegen  derartige  Behauptungen  das  Gegentheil  mit 
demselben  Becht  behauptet  werden  kann;  es  „entspringt  aber  daraus  ein 
Verdacht  gegen  alle  Erkenntniss  a  priori,  welcher  denn  zuletzt  die 
allgemeine  metaphysische  Zweifellehre  herbeifuhrt '^.  Ib.  453.  Vgl.  hiezu  Proleg. 
§  57.  Diese  besteht  darin,  dass  der  Skeptiker  „die  Vermehrung  der  Begriffe 
ans  sich  selbst  und  sozusagen  die  Selbstgebärung  unseres  Verstandes  (sammt 
der  Vernunft),  ohne  durch  Erfahrung  geschwängert  zu  sein,  für  unmöglich, 
mithin  alle  vermeintlichen  Principien  derselben  a  priori  für  eingebildet"  hält, 
findend,  «dass  sie  nichts  als  eine  aus  Erfahrung  und  deren  Gesetzen  ent- 
springende Gewohnheit,  mithin  bloss  empirische,  d.  i.  an  sich  zufällige  Hegeln 
sind,  denen  wir  eine  vermeinte  Noth wendigkeit  und  Allgemeinheit  bei- 
messen". Ib.  765.  Dies  bezieht  sich  speciell  auf  das  Causalitätsgesetz  oder 
den  Satz  des  zureichenden  Grundes.  „Ohne  Erfahrung  haben  wir  nichts, 
was  xmseren  Begriff  vermehren  und  uns  zu  einem  solchen  a  priori  sich  selbst 
erweiternden  ürtheile  berechtigen  könnte."  Ib.  765.  So  macht  der  Skeptiker 
ans  einem  Princip,  welches  im  Verstände  seinen  Sitz  haben  soll,  und  noth- 
wendige  Verknüpfung  auszusagen  in  Anspruch  nimmt,  eine  blosse  Hegel  der 
Einbildungskraft.  Ib.  766.  759.  Der  Empirismus  führt  damit  nothwendig 
zmn  Skepticismus.  Krit.  pr.  Vern.  Vorr.  XXVI  ff.  Ib.  90  ff'. 

Ad  B).  Hume  verwies  alle  eigentlich  metaphys.  Fragen  ausserhalb  den 
Horizont  der  menschl.  Vernunft.  »Aus  dem  Unvermögen  unserer  Vernunft, 
von  dem  Grundsatz  der  Causalität  einen  über  alle  Erfahrung  hinausgehenden 
Gebrauch  zu  machen,  schloss  er  die  Nichtigkeit  aller  Anmassungen  der 
Vernunft  überhaupt  über  das  Empirische  hinauszugehen."  Kritik  760.  Die 
Censur  der  bisherigen  dogmatischen  Versuche  „fuhrt  unausbleiblich  auf 
Zweifel  gegen  allen  transscendentalen  Gebrauch  der  Grundsätze".  Ib.  761. 
Der  Verstand  wird  hier  eingeschränkt  auf  das  „Feld  von  lauter  möglichen 
Erfahrungen,  deren  Gesetzen  er  nachspüren  und  vermittelst  derselben  er  seine 
sichere  und  fassliche  Erkenntniss  ohne  Ende  erweitern  kann".  Man  „ver- 
lässt  die  Kette  der  Naturordnung  nicht,  um  sich  an  Ideen  zu  hängen". 
408  ff.  Aber  der  Empirist  begnügt  sich  nicht  damit,  zu  zeigen,  dass  man 
in  Ansehung  des  Uebersinnlichen  nichts  wissen  könne,  „sondern  der 
Empirismus  wird  in  Ansehung  der  Ideen  selbst  dogmatisch'  und  ver- 
neint dreist  dasjenige,  was  über  der  Sphäre  seiner  anschauenden  Erkenntniss 
ist  und  fällt  so  in  den  Fehler  der  ünbescheidenheit".  Ib.  470.  „Dem  prak- 
tischen Interesse  der  Vernunft  wird   dadurch  ein    unersetzlicher   Nachtheil 


'  Unter  Skepticismus  versteht  K.  nicht  die  Meinung  überhaupt,  dass  es  kein 
Wissen  gebe,  sondern,  da  für  ihn  Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit  Zeichen 
wahren  Wissens  sind,  eben  die  Leugnung  dieser  Merkmale.  Vergl.  Paulsen  in  der 
Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  171. 

«  Vgl.  ebenso  Krit  A.  388,  B.  423  u.  bes.  Krit.  d.  Urth.  §  90,  A.  457  über 
den  dogmatischen  Unglauben  des  Skeptikers  gegenüber  dem  kritischen  Zweifel- 
glauben. 


32  Specielle  Einleitung. 

verursachet."  Ib.  471.  Dem  „dogmatischen  Trotz"  steht  hierin  die  „skep- 
tische Hoffnungslosigkeit"  gegenüber.  Ib.  407.  So  ist  „der  Skepticismus 
der  Grundsatz  einer  kunstmässigen  und  scientifischen  Unwissenheit,  welcher 
die  Grundlagen  aller  Erkenntniss  untergräbt,  um  wo  möglich  überall  keine 
Zuversicht  und  Sicherheit  derselben  übrig  zu  laösen".  Ib.  424.  Eine  der- 
artige Negation  des  üebersinnlichen  stürzt  uns  in  den  „Abgrund  des  Skep- 
ticismus". Kr.  d.  pr.  V.  Vorr.  III.  Wenn  man  die  Schranken  der  menschl. 
Erkenntniss  für  Schranken  des  Erkennens  überh.  hält,  wie  Hume  that,  so  ist 
dies  ein  „transscendenter"  Empirismus. 

Das  Yerhältniss  des  Dogrmatismns  nnd  Skeptieismiis 

geht  aus  dem  bisherigen  klar  hervor. 

„Der  Skeptic.  setzt  den  grundlosen  Behauptungen  des  Dogmat.  ebenso 
scheinbare  entgegen."  Krit.  B.  22.  So  führt  der  Despotismus  der  Dogma- 
tiker  zum  Skepticismus  von  selbst.  Prol.  §57.  Vorr.  A.  Ulf.  „Alles  skeptische 
Polemisiren  ist  eigentlich  wider  den  Dogmatiker  gekehrt  .  .  .  um  ihm  das 
Concept  zu  verrücken  und  zur  Selbster kenntniss  zu  bringen,"  die  blosse 
skeptische  Censur  kann  jedoch  „die  Streitigkeit  über  die  Rechtsame  der 
menschl.  Vernunft  niemals  zu  Ende  bringen".  Krit.  A.  764.  Der  Skeptiker 
richtet  seine  Zweifel  sowohl  gegen  die  Methode  als  gegen  das  Object  des 
Dogmatisten. 

§4. 

in.    EriticismuB  K 

A)  Der  Methode  oder  Form  nach  ist  der  Kriticismus  als 
Rationalismus  zu  bezeichnen.  Auf  Grund  genauer,  streng  wissen- 
schaftlicher Untersuchung  und  Prüfung  des  Erkenntnissvermögens,  insbesondere 
der  reinen,  d.  h.  apriorischen  Vernunft,  stellt  der  Kriticismus  Ursprung, 
Umfang,  Gültigkeit  und  Grenzen  der  Erkenntniss  a  priori,  d.  h.  der  aus  dem 
Subject  stammenden ,  erfahrungslosen  und  daher  allgemeinen  und  noth- 
wendigen  Erkenntniss  fest. 

B)  Dem  Object  oder  dem  Inhalt  nach  ist  der  Kriticismus 
insofern  als  immanent  zu  charakterisiren,  als  er  die  Möglichkeit 
apriorischer  Erkenntniss  auf  das  Erfahrungsgebiet  einschränkt,  jedoch  mit 
ausdrücklicher  Anerkennung  eines  uns  indessen  verschlossenen  Gebietes  des 
Üebersinnlichen. 

Stellen  ans  Kant:  Ad  A).  Entd.  R.  I,  452.  „Der  Kriticismus  ....  ist 
die  Maxime  eines  allgemeinen  Misstrauens  gegen   alle  synthetischen  Sätze 


^  Mit  „KriticismuB^  bezeichnet  Kant  nicht  etwa  im  Allgemeinen  Erkenntniss- 
theorie oder  Erkenntnisskritik^  sondern  seine  specielle  historische  Gestaltung  der 
Erkenntnisstheorie.  Bei  derselben  bildet  die  Existenz  der  reinen  Vernunft  im 
weiteren  Sinne,  d.  h.  apriorischer  Bestandtheile  des  Erkennens  weniger  ein 
Problem,  als  eine  Voraussetzung. 


Methode  und  Object  des  Kriticismus.  33 

a  priori,  bevor  nicht  ein  allgemeiner  Grund  ihrer  Möglichkeit  in  den  wesent- 
lichen Bedingungen  unserer  Erkenntnissvermögen  eingesehen  worden."  Die 
Kritik  sichert  die  apriorischen  Grundsätze,  die  sich  auf  die  Möglichkeit 
der  Erfahrung  beziehen.  (Ib.  453.)  Sie  »rettet  den  reinen  Verstandes- 
begriffen ihren  Ursprung  a  priori"  gegen  Hume's  Anzweiflung.  Proleg.  §  30. 
K.  hat  (K.  d.  prakt.  Vern.  94)  die  Kategorien  »gerettet".  »Die  zur  Reife 
gekommene  Kritik  zeigt  vorher  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori  und 
ihre  allgemeinen  Bedingungen- *  (Ib.  453.)  »Es  kann  der  Vernunft  ein 
Fortgang  a  priori,  wenn  er  durch  bessere  Grundlegung  vorbereitet  und  ge- 
sichert wurde,  nicht  gänzlich  abgesprochen  werden,"  die  bisherigen  schlechten 
Erfolge  »können  nichts  über  die  Erwartungen  der  Vernunft  entscheiden, 
einen  besseren  Erfolg  ihrer  künftigen  Bemühungen  zu  hoffen  und  darauf 
Ansprüche  zu  machen".  Ib.  703.  »Wir  sind  wirklich  im  Besitz  synthetischer 
Erkenntniss  a  priori,  wie  dieses  die  Verstandesgrundsätze,  welche  die  Er- 
fahrung antecipiren,  darthun  (z.  B.  der  Satz:  Alles,  was  geschieht,  muss 
eine  Ursache  haben.  Bei  aller  Veränderung  beharrt  die  Substanz ,  aller 
Wechsel  betrifft  nur  die  Form)  *.  So  steht  »die  Nothwendigkeit  rationaler 
Prindpien  a  priori  ausser  Zweifel".  Kr.  d.  pr.  V.  Vorr.  XXVIII.  Wenn  wir 
den  Ursprung,  die  Aechtheit  und  den  Grund  derartiger  apriorischer  Erkennt- 
niss einsehen,  können  wir  eben  damit  auch  Umfang  und  Grenzen  unserer  Ver- 
nunft bestimmen.     Krit.  762. 

Aber  das  Resultat  des  Kriticismus  ist  nicht  bloss  hinsichtlich  der  Methode 
der  Philosophie  rationalistisch,  d.  h.  derselbe  zeigt  nicht  nur,  dass  Erkennt- 
niss a  priori  möglich  sei,  sondern  der  Weg,  auf  dem  jener  Nachweis  geführt 
wird,  ist  selbst  rationalistisch;  zwei  Dinge,  die  bei  K.  selbst  oft  ver- 
wechselt werden  und  seitdem  oft  vermischt  worden  sind.  »Eine  Bestimmung 
aller  reinen  Erkenntniss  a  priori"  muss  selbst  apodiktisch  sein.  Vorr.  A.  IX. 
Der  Kritiker  muss  »rational  verfahren".  Vorr.  zur.  Kr.  d.  pr.  Vern.  XIII. 
Die  Methode  des  Kriticismus  ist  selbst  dogmatisch,  d.  h.  aus  sicheren 
Principien  a  priori  sicher  beweisend.  Vorr.  Krit.  B.  XXXV.  Krit.  885  ff.  Kr. 
d.  pr.  Vern.  Vorr.  XVIH  Anm.     Brief  an  Herz  v.  21.  Febr.  1772  (ad  fin.)*. 


'  Derartige  apriorische  Urtheile  beziehen  sich  jedoch  nur  auf  Allgemeines; 
etwas  Bestimmtes^  Einzelnes,  z.  B.  eine  specielle  Ursache,  kann  nur  durch  Erfah- 
rung erkannt  werden. 

'  Es  ist  sonach  wesentlich  zu  unterscheiden  zwischen  zwei  verschiedenen 
Bedeutungen  des  Ausdruckes  „dogmatisch^  ;im8chlechtenSinneist  dogmatisch 
das  apriorische  rationalistische  Verfahren  ohne  vorhergehende  Ki*itik.  Imguten 
Sinne  ist  dogmatisch  dasselbe  Verfahren  mit  vorhergehender  Prüfung.  Die 
Philosophie  muss  nach  K.  im  guten  Sinne  dogm.  verfahren;  die  Momente  dieses 
Verfahrens  sind,  dass 

a)  jeder  Satz  bewiesen  werde, 

b)  der  Beweis  aus  Principien  geführt  werde, 

c)  diese  Principien  a  priori  seien, 

d)  diese  Principien  sicher  seien, 

e)  der  Beweis  apodiktisch  sei. 

V  a i  h in  g e r,  Kant-Gommentar.  3 


34  Specielle  Einleitung. 

Ad  B).  „Ausser  der  Sphäre  (dem  Feld)  der  Erfahrung  ist  nichts  für  die 
Vernunft  Object."  Krit.  762.  So  unterscheidet  man  in  der  Kritik  „seinen 
Besitz  von  dem,  was  gänzlich  ausserhalb  demselben  liegt".  Ib.  768.  „Die 
Nüchternheit  einer  strengen,  aber  gerechten  Kritik  kann  uns  allein  von 
dem  dogmatischen  Blendwerk  .  .  .  befreien  und  alle  unsere  speculativen 
Ansprüche  bloss  auf  das  Feld  möglicher  Erfahrung  einschränken,  nicht  durch 
schalen  Spott  über  so  oft  fehlgeschlagene  Versuche  oder  fromme  Seufzer 
über  die  Schranken  unserer  Vernunft,  sondern  vermittelst  einer  nach  strengen 
Grundsätzen  vollzogenen  Grenzbestimmung"  u.  s.  w.  Krit.  A.  895. 
Hiedurch  wird  die  Hoffnung  gänzlich  abgeschnitten,  „in  die  reizenden 
Gegenden  des  Intellectuellen  zu  gelangen".  Ib.  726.  Proleg.  204. 
Anm.  „Das  Wort  transscendental  bedeutet  nicht  etwas,  das  über  alle 
Erfahrung  hinausgeht,  sondern  was  vor  ihr  (a  priori)  zwar  vorhergeht,  aber 
doch  zu  Nichts  Mehrerem  bestimmt  ist,  als  lediglich  Erfahrungserkenntniss 
möglich  zu  machen  ^  Wenn  diese  Begriffe  die  Erfahrung  überschreiten, 
dann  heisst  ihr  Gebrauch  transscendent."     Diesen  Gebrauch  lässt  Kant  nicht 


Vgl.  Mellin,  W.  II,  143  ff.  Derselbe  sclilug  auch  vor,  das  unerlaubte  dog- 
matische Verfahren  lieber  dogmatis tisch,  das  erlaubte  dogmatisch  oder  besser 
doctrinal  zu  heissen.  Dem  Ersteren  entspräche  dann  der  Dogmaticismus,  dem 
Anderen  der  Dogmatismus.  Krug  Lex.  I,  635.  u.  Fundam.  265  verwirft  jenen 
Ausdruck.  Vgl.  dag.  Schelling  S.W.  I,  301.  Ausserdem  hat  dogmatisch  noch  zwei 
Bedeutungen;  die  Eine  s.  unten  S.  44,  wo  dogmatisch  als  Behandlung  der  Gegen- 
stände selbst  (gemeinsam  in  Dogm.  u.  Skeptic.)  dem  kritischen  d.  h.  subjectiven 
Verfahren  gegenüber  steht.  Sodann  steht  dogmatisch-discursiv  dem  mathematisch- 
intuitiven  gegenüber;  dies  zerfällt  wieder  in  dogmatisch  im  engeren  Sinne  und 
transscendental  oder  kritisch,  Kritik  184.  213.  712  ff.  734  ff.  Die  Unterscheidung 
des  „Kantianers''  in  Maas s  „Briefe^  u.  s.  w.  S.  18  ff.,  dass  dogmatisch  im  engeren 
(schlechten)  Sinn  apodiktische  Sätze  seien,  welche  sich  auf  Dinge  an  sich  be- 
ziehen, dogmatisch  im  weiteren  (guten)  Sinn  solche,  welche  am  Leitfaden  der 
Erfahrung  fortgehen,  könnte  sich  ganz  gut  bei  K.  finden,  indem  dann  nicht  wie 
oben  die  falsche  Methode,  sondern  die  unrichtigen  Objecte  betont  wären.  Bei 
K.  selbst  steht  dies  jedoch  nicht.  Es  kann  hier  sogleich  erwähnt  werden ,  dass 
auch  beim  Skepticismus  K.  eine  falsche  und  eine  wahre  skeptische  Methode 
unterscheidet.  Jene  ist  die  grundsätzliche  Leugnung  alles  Apodiktischen  und  alles 
Uebersinnlichen,  diese  ist  das  Verfahren,  alle  Behauptungen  antithetisch  zu  be- 
handeln, d.  h.  auch  das  Gegentheil  derselben  als  möglich  anzunehmen  und  so 
durch  Untersuchung  dieses  Streites  zur  Gewissheit  und  Entscheidung  zu  gelangen. 
Krit.  424.  VgL  Brief  an  Mendelssohn  v.  8.  April  1766.  Brief  an  Herz  vom 
7.  Juni  1771. 

*  Als  ein  wesentliches  Element  ist  die  Bestimmung  zu  betrachten,  womach 
die  Erkenn tniss  a  priori  nicht  blos  etwa  auf  mögliche  Erfahrung  einge- 
schränkt ist,  sondern  nur  durch  die  Beziehung  auf  die  Möglichkeit  der 
Erfahrung  bewiesen  werden  kann.  So  kann  das  Gesetz  der  Causalverknüpfung 
zwar  a  priori,  aber  doch  nur  durch  und  in  Beziehung  auf  mögliche  Erfahrung 
erkannt  werden.  Krit.  766.  Ist  diese  Aeusserung  hier  auch  noch  nicht  ganz  ver- 
ständlich, so  muss  sie  doch  zur  Vollständigkeit  der  Merkmalbestimmung 
angeführt  werden. 


Kriticismus  und  Dogmatismas.    Kriticismus  und  Skepticismus.  35 

zu.  Ib.  §  34.  Trotz  der  Unabhängigkeit  von  der  Erfahrung,  welche  die 
reinen  Begriffe  haben,  gibt  es  doch  keinen  Gebrauch  ausser  dem  Feld 
der  Erfahrung  von  ihnen. 

,Die  Grenzbestimmung  unserer  Vernunft  kann  nur  nach  Gründen  a  priori 
geschehen."  „Dass  meine  Unwissenheit  schlechthin  noth wendig  sei  und 
mich  datier  von  aller  weiteren  Nachforschung  freispreche,  lässt  sich  nicht 
empirisch,  aus  Beobachtung,  sondern  allein  kritisch,  durch  Ergrün- 
dun  g  der  ersten  Quellen  unserer  Erkenntniss  ausmachen."  „Jene  durch 
Kritik  der  Vernunft  selbst  mögliche  Erkenntniss  seiner  Unwissenheit  ist 
Wissenschaft",  die  blos  empirisch  [nach  Art  des  Skepticismus]  gewonnene 
ist  „nichts  als  Wahrnehmung,  von  der  man  nicht  sagen  kann,  wie  weit 
der  Schlnss  aus  selbiger  reichen  möge".  Krit.  758.  Prol.  §  57.  Der  Umfang  der 
Erkenntniss  muss  nach  Principien  a  priori  festgestellt  werden.  Ib.  Also 
sowohl  bei  Peststellung  der  apriorischen  Erkenntniss  und  dem  Beweis  ihrer 
Gültigkeit,  als  auch  bei  der  Grenzbestimmung  ist  die  Methode  Kants  selbst 
rational;  dies  sind  zwei  ausserordentlich  wichtige  Punkte. 

§  5  a. 

Si>6ciellereB  Yerhältniss  des  Kriticismus  zum  Dogmatismus  ^ 

Entd.  B.  I,  453:  die  Kritik  bestimmt  die  Grenzscheidung  in  Bezug  auf 
die  Gültigkeit  der  apriorischen  Erkenntniss,  d.  h.  sie  schränkt  diese  auf  die 
Erfahrungswelt  ein,  über  welche  sich  allerdings  a  priori  Gesetze  aussprechen 
lassen.  Ohne  diese  Grenzscheidung  hält  man  diese  Grundsätze  für  solche, 
welche  weiter  als  bloss  für  Gegenstände  der  Erfahrung  gelten.  Ib.  I,  416. 
jjVon  den  [scheinbar]  fnichtbaren  Feldern  der  rationalen  Psychologie  und 
Theologie  schreckt  das  Medusenhaupt  der  Kritik  den  Dogmatiker  zurück." 
Die  ,beim  dogmat.  Verfahren  unvermeidlichen  Widersprüche  der  Vernunft 
mit  sich  selbst"  löst  die  Kritik  auf.  Krit.  B.  24.  Das  dogmatische 
Wissen  bläht  auf;  Kritik  macht  bescheiden.  „Vorn.  Ton"  (ad  fin.).  Bei 
der  dogmat.  Methode  kann  man  viel  für  und  dawider  vernünfteln;  die 
kritische   Methode  ist  nicht  weitläufig.     Ew.  Fr.  Anh.  II,  1.*     Durch   den 


'  Vgl.  besonders  den  Abschnitt  der  Kritik  712  —  738.  «Die  Disciplin 
der  reinen  Vernunft  im  dogmatischen  Gebrauche".  Detaillirte  Darstellung 
des  Verh.  s.  bei  Jakob,  Prüfung  der  Mendelssohn 'sehen  Morgenstunden  bes. 
in.  Vm— XII.  Vorl.    Vgl.  Kants  Bemerkungen  zu  dieser  Prüfung  (1786). 

■  Hieher  gehören  auch  alle  Stellen,  an  denen  sich  Kant  über  Piaton,  Car- 
tefiins,  Spinoza,  Leibnlz,  Wolf,  Baumgarten  und  andere  Dogmatiker 
äussert,  und  in  denen  immer  dieselben  Merkmale  sich  finden.  Die  betreffenden 
Aeusserungen  werden  später  registrirt  werden.  Nach  K.  war  der  Dogmatismus 
unkritisch,  weil  er  nicht  von  einer  Untersuchung  des  Vemunftvermögens  ausgieng. 
Dass  dieser  Vorwurf  wenigstens  Leibniz  nicht  treffe,  hat  Eberhard  Phil.  Mag. 
Lj  ßt.  2  mit  Recht  betont,  und  überhaupt  den  Gegensatz  (des  Dogm.  u.  Krit.)  be- 
stritten 265,  (275,  289),  „denn  es  kann  auch  eine  kritische  Phil,  geben,  die  —  dog- 


36  Specielle  Einleitung. 

„veralteten,  wurmstichigen  Dogmatismus'  ist  die  Metaphysik  in  grosse 
Geringschätzung  verfallen;  die  Kritik  bereitet  dagegen  deren  Umschaffung 
und  Neubegründung  vor.     Krit.  Vorr.  A.  IV. 


§  5b. 

Specielleres  Yerhältniss  des  Kriticismus  zum  Skepticismus  \ 

„Das  skeptische  Verfahren  kann  auf  die  Erweckung  einer  gründlichen 
Vernunftprüfung  grossen  Einfluss  haben."  Krit.  764.  Der  Skeptiker  ist  „der 
Zuchtmeister  des  dogmatischen  Vernünftlers  auf  eine  gesunde  Kritik  des 
Verstandes  und  der  Vernunft  selbst."  Ib.  768.  Vgl.  Logik  Einl.  X.  (In- 
sofern hat  der  Skept.  nach  Krug,  Fund.  267,  einen  relativen  Werth, 
während  ihm  der  absolute  abgesprochen  werden  muss.)  Aber  der  Skeptiker 
geht  zu  weit,  hat  kein  sicheres  Verfahren  und  dies  ist  unvollständig.  Er 
schränkt  den  Verstand  ein,  ohne  ihn  streng  wissenschaftlich  zu  begrenzen; 
er  bringt  einige  Grundsätze  des  Verstandes  unter  Censur,  ohne  diesen  Ver- 
stand in  Ansehung  seines  ganzen  Vermögens  auf  die  Probierwage  der  Kritik 
zu  bringen,  und  „indem  er  ihm  dasjenige  abspricht,  was  er  wirklich  nicht 
leisten  kann,  geht  er  weiter,  und  streitet  ihm  alles  Vermögen,  sich  a  priori 
zu  erweitern".  Er  wird  wegen  der  zufälligen  Beschränkung  selbst  be- 
zweifelt, denn  nur  eine  principielle  apriorische  Grenzbestimmung  „kann 
eine  nothwendige  Entsagung  auf  das  Recht  dogmatischer  Behauptungen 
bewirken".     Krit.  767«. 

§  6. 

Die  historischen  Vertreter  des  Dogmatismus  und  Skepticismus. 

Was  die  Ausfüllung  dieser  Kategorien  durch  historische  Namen  betrifft, 
so  hat  K.  selbst  folgende  Eintheilung  getroffen.  (Kritik,  852  ff.  470  ff. 
270  f.     Logik,  Einl.  IV.) 

I.  Dogm  atismus.     1)  Im  Alterthum:  Piaton,  Stoa. 

2)  In  der  Neuzeit:  Leibniz,  Wolf. 

matißch  ist".  Dasselbe  sagt  Schulze  in  seiner  Kritik  d.  th.  Philos.  I,  88  ff.  in 
noch  schärferen  Worten.    Vgl.  Volkelt,  Ks.  Erk.-Theorie  S.  7  ff.  S.  11  ff. 

'  Vgl.  besonders  den  Abschnitt  der  Kritik  (739—769):  „Die  Disciplin 
der  reinen  Vernunft  in  Ansehung  ihres  polemischen  [skeptischen]  Ge- 
brauchs.** Detaillirte  Darstellung  des  Verhältnisses  der  Krit.  zum  Skeptic.  s.  bei 
Jakob  in  seiner  üebersetzung  von  D.  Harne's  Versuch  über  die  menschl.  Natur. 
Anhang,  bes.  Abschn.  I.  VII— X. 

*  Hieher  gehören  auch  alle  Stellen,  an  denen  Kant  sich  über  Locke  und 
besonders  Hume  äussert  Diese  Stellen  werden  später  zusammen  geordnet  werden. 
Es  finden  sich  daselbst  keine  andern  Merkmale  als  die  bisher  angegebenen,  wess- 
halb  eine  Anführung  derselben  hier  unnöthig  ist. 


Historische  Vertreter  des  Dogmatismus  und  Skepticismus.  37 

II.  a)  Empirismus.    1)  Im  Alterthmn:  Epicur. 

2)  In  der  Neuzeit:  Locke, 
b)  Skepticismus.     1)  ImAlterthum:  Pyrrhon,  SextusEmpiricus. 

2)  In  der  Neuzeit:  Hume^ 
Ausserdem  wird  von  Kant,  Krit.  854,  (irrthümlicher weise)  Aristoteles 
zu  den  Empirikern  gerechnet,  weil  er  nach  der  auch  bei  Leib niz  und  im  ganzen 
Mittelalter  herrschenden  falschen  Ansicht  alle  Erkenntniss  auf  Erfahrung 
basirt  habe.  Zu  den  Dogmatikern  gehört  er  aber  (nach  der  Logik,  Einl.  IV), 
weil  er  ^Speculationen'  trieb.  Andererseits  wird  einmal  Locke  (Krit.  B.  127) 
auf  die  Seite  der  Dogmatiker  und  Hume  gegenüber  gestellt,  weil  er  trotz 
seines  Empirismus  die  , Erfahrungsgrenze*  überschritt  und  (Krit.  A.  854) 
Gott  und  Unsterblichkeit  für  demonstrirbar  hielt.  [Für  den  Moderatismus 
d.  h.  die  bloss  mechanische  Vermittlung  der  Gegensätze  fuhrt  Kant  keine 
Namen  an;  wen  er  aber  meint,  ist  klar:  es  ist  die  Popularphilosophie, 
d.  h.  Männer  wie  Mendelssohn,  Sulzer,  Platner,  Tetens,  Feder. 
Ob  er  aucb  Lambert  darunter  gerechnet  habe,  kann  dahin  gestellt  bleiben. 
Derselbe  suchte,  wie  Eiehl,  Kritic.  180  ff.  richtig  ausführt  (so  schon  Rein- 
hold, Fortschr.  180.  174),  zwischen  Wolf  und  Locke  zu  vermitteln. 
,  Seine  Vermittlung  zwischen  Demonstration  und  Erfahrung  blieb  jedoch 
eine  äusserliche  Verknüpfung  von  beiden.  Weit  tiefer,  ja  von  den  Wurzeln 
der  Sache  aus  hat  Kant  den  Gegensatz  zwischen  dem  Intellectualsysteme 
von  Leibniz  und  Wolf,  und  dem  Sensualismus  der  Erfahrungsphilosophie 
vermittelt.*  Vgl.  Castillons  Aufsatz  über  die  Vereinigung  von  Cartesius 
und  Locke  in  den  Abh.  der  Berl.  Acad.  1770.] 


§  7. 

Allgemeines  Verhältniss  der  drei  Standpunkte. 

.„Der  erste  Schritt  in  Sachen  der  reinen  Vernunft,  der  das  Kindesalter 
derselben  auszeichnet,  ist  dogmatisch.  Der  zweite  Schritt  ist  skeptisch 
und  zeugt,  von  Vorsichtigkeit  der  durch  Erfahrung  gewitzigten  Urtheilskraffc. 
Nun  ist  aber  noch  ein  dritter  Schritt  nöthig,  der  der  gereiften  und  männ- 
lichen Urtheilskraft."  Diese  prüft  das  ganze  Vermögen  der  Erkenntniss 
a  priori  und  beweist  aus  Principien  die  Unwissenheit  in  Ansehung  aller 
Fragen,  die  sich  aufs  üebersinnliche  beziehen.  Der  Skepticismus  ist  ein 
Buheplatz  für  die  menschliche  Vernunft  nach  ihrer  dogmatischen  Wan- 
derung, aber  nicht  ein  Wohnplatz;  diesen  stellt  nur  der  Kriticismus  dar. 
Kritik  761  f.*    Dogm.  und  Skept.   haben  im  Verh.  zum  Krit.   auch  gemein 

^  Gesch,  des  Skepticism.  e.  bei  Meilin  V,  381  ff.  nach  Stäudlins  Gesch. 
des  Skepticismus. 

'  In  aasfahrlicher  und  höchst  interessanter  Weise  sind  diese  drei  Stadien 
der  Entwicklung  in  der  Schrift  über  die  Fortschritte  der  Metaphysik  dar- 
gestellt ;  neue  Elemente  zur  Merkmalsbestimmung  enthält  jedoch  die  Schrift  nicht. 
Vergl.  bes.  R.  I,  490-494.  504.  515.  522  ff.  529.  530  f.  570  f. 


38  Specielle  Einleitung. 

den  Mangel  an  systematischer  Allgemeinheit  der  behaupteten  oder 
bestrittenen  Erkenntniss  a  priori.  Ib.  766.  Die  skeptische  Art,  die  Fragen 
zu  behandeln,  hat  einen  grossen  Nutzen;  man  ist  dadurch  eines  grossen 
dogmatischen  Wustes  überhoben  und  kann  sodann  an  dessen  Statt  eine 
nüchterne  Kritik  setzen.  Ib.  486.  Zwischen  der  Schwärmerei  und  dem 
Skepticlsmus  macht  die  Kritik  den  Versuch,  die  menschliche  Vernunft 
wie  zwischen  zwei  Klippen,  zwischen  Scylla  und  Charybdis  hindurchzubringen, 
ihr  einerseits  bestimmte  Grenzen  anzuweisen,  und  dennoch  das  ganze  Feld 
ihrer  zweckmässigen  Thätigkeit  für  sie  geöffiiet  zu  erhalten.  Krit.  B.  128  f. 
Eine  treffende  Zusammenstellung  der  drei  Methoden  gibt  die  erste  Auflage 
bei  Gelegenheit  der  Paralogismen  S.  388  f.  Dogmatiker  und  Skeptiker 
geben  so  viel  Einsicht  ihres  Gegenstandes  vor  als  nöthig  ist,  etwas  von  ihm 
bejahend  oder  verneinend  zu  behaupten,  der  Kritiker  dagegen 
macht  nichts  über  die  Beschaffenheit  des  Gegenstandes  selbst  aus,  son- 
dern behandelt  nur  die  Grundlagen  unserer  wahren  oder  angeblichen  Er- 
kenntniss derselben.  Vgl.  ib.  377  ff.  die  Zusammenstellung  des  dogma- 
tischen, skeptischen  und  kritischen  Idealismus.  Vgl.  Prol.  Anhang.  Nach 
Krit.  B.  423  werden  beide  Theile  abgewiesen  vom  Kriticismus.  Gegenüber 
dem  Dogmatismus  wird  gezeigt,  „dass  ein  über  die  Grenzen  möglicher  Er- 
fahrung hinaus  versuchtes  .  .  .  Erkenntniss,  soweit  es  der  speculativen 
Philosophie  verdankt  werden  soll,  in  getäuschte  Erwartung  verschwindet**. 
Aber  indem  die  Strenge  der  Kritik  beweist,  dass  über  die  jenseits  der  Er- 
fahrung liegenden  Gegenstände  überhaupt  nichts  dogmatisch  ausgemacht 
werden  kann,  wird  auch  der  dogmatisch  verneinende  Skepticismus  abge- 
schlagen. Vgl.  bes.  die  treffliche  Schilderung  in  Prol.  §  4:  „Ueberdrüssig 
des  Dogmatismus,  der  uns  nichts  [Gewisses]  lehrt,  und  zugleich  des 
Skeptic,  der  uns  gar  überall  nichts  verspricht  .  .  .  bleibt  uns  nur 
noch  eine  kritische  Frage  übrig,"  u.  Prol.  §  58:  „Kritik  der  Vernunft 
bezeichnet  den  wahren  Mittelweg  zwischen  dem  Dogmatismus,  den  Hume 
bekämpfte,  und  dem  Skepticismus,  den  er  dagegen  einführen  wollte, 
einen  Mittelweg,  der  nicht  wie  andere  Mittelwege,  die  man  gleichsam  mecha- 
nisch (Etwas  von  Einem  und  Etwas  von  dem  Andern)  sich  selbst  zu  be- 
stimmen anräth,  und  wodurch  kein  Mensch  eines  Besseren  belehrt  wird, 
sondern   einen  solchen,   den  man  nach  Principien  genau  bestimmen  kann' 


U  I 


*  Eine  weitere  Ausführung  mit  besonderer  Berücksichtigung  dieses  falschen 
Vermittlungssystems  gibt  K.  in  der  Verkünd.  d.  nahen  Abschlusses  eines  Tractates 
zum  ewigen  Frieden  in  der  Philos.  I,  A.  „Der  Dogmat.  ist  ein  Polster  zum 
Einschlafen  und  das  Ende  aller  Belebung.  Der  Skeptic,  welcher,  wenn  er  voll- 
endet daliegt,  das  gerade  Widerspiel  des  Ersteren  ausmacht,  hat  nichts,  womit  er 
auf  die  regsame  Vernunft  Einfluss  ausüben  kann;  weil  er  Alles  ungebraucht  zur 
Seite  legt.  —  Der  Moderatismus,  welcher  auf  die  Halbscheid  ausgeht,  in  der 
subjectiven  Wahrscheinlichkeit  den  Stein  der  Weisen  zu  finden  meint  .  .  . 
ist  gar  keine  Philosophie.  Kritische  Philosophie  ist  diejenige,  welche  nicht  mit 
den  Versuchen,  Systeme  zu  bauen  oder  zu  stürzen  oder  gar  nur  (wie  der 
Mod.),   ein   Dach   ohne  Haus   zum   gelegentlichen   Unterkommen    auf  Stützen   zu 


Verhältniss  der  drei  Standpunkte.     Das  Bild  vom  Ooean.  39 

Vgl.  die  Schilderung  der  drei  Systeme  in  der  Logik  Einl.  X:  »Der  Dogm. 
ist  ein  blindes  Vertrauen  auf  das  Vermögen  der  Vernunft,  ohne  Kritik 
sich  a  prioi-i  durch  blosse  Begriffe  zu  erweitem."  Der  Skeptic.  „thut  auf  alle 
behauptende  Erkeüntniss  Verzicht  und  vertilgt  alle  unsere  Bemühungen, 
zum  Besitz  einer  Erkenntniss  des  Gewissen  zu  gelangen*.  Unter  dem 
krit.  Verfahren  ist  , diejenige  Methode  des  Philosophirens  zu  verstehen, 
nach  welcher  man  die  Quelle  seiner  Behauptungen  oder  Einwürfe  unter- 
sucht, und  die  Gründe,  worauf  dieselben  beruhen,  eine  Methode,  welche 
Hoffoung  gibt,  zur  Gewissheit  zu  gelangen".  Vgl.  Ks.  Bemerkungen  zu 
Jakobs  Prüfung  der  Mend.  Morgenst.  über  Dogm.  Skept.  u.  Kritik  in  Bezug 
auf  den  Gottesbegriff.  Vgl.  Prol.  §  52  in  Bezug  auf  die  Antinomien. 
Vgl.  ib.  §  4. 

Eine  besonders  elegante  Verdeutlichung  des  Verhältnisses  der  drei  Systeme 
gibt  K.  Prol.,  Vorr.  17,  vgl.  mit  Kritik  235,  A.  395.  726;  Portschr.  d.  Metaph. 
B.I,  487;  ,Demonstr.  Gottes"  (1763)  Vorr,;  Dissert.  von  1770  §  22  Schol. 
Der  Dogmatismus  wagt  sich  kühn  und  ohne  weitere  Vorbereitung  „auf 
den  bodenlosen  Abgrund  der  Metaphysik" ;  dies  ist  ein  finsterer  Ocean  ohne 
Ufer  und  ohne  Leuchtthürme;  unbemerkte  Seeströme  verwirren  den  Lauf, 
aller  Behutsamkeit  ungeachtet.  (Dem.)  Der  Dogmat.  wagt  es  „in  aUutn 
indagationutn  mysticarum  provehi".  (Diss.)  Aber  die  Metaph.  ist  „ein  ufer- 
loses Meer,  in  welchem  der  Fortschritt  keine  Spur  hinterlässt,  und  dessen 
Horizont  kein  sichtbares  Ziel  enthält,  an  dem,  um  wie  viel  man  sich  ihm 
genähert  habe,  wahrgenommen  werden  könnte".  (Fortschr.)  Das  „Land  der 
Wahrheit  ist  umgeben  von  einem  weiten  und  stürmischen  Oceane,  dem 
eigentlichen  Sitze  des  Scheins,  wo  manche  Nebelbank  und  manches  bald 
hinwegschmelzende  Eis  neue  Länder  lügt,  und,  indem  es  den  auf  Entdeckungen 


stellen,  sondern  von  der  Untersuchung  der  Vermögen  der  menschlichen  Ver- 
nunft .  .  .  anfängt,  und  nicht  so  ins  Blaue  hinein  vernünftelt,  wenn  von  Philoso- 
phemen  die  Rede  ist,  die  ihre  Belege  in  keiner  möglichen  Erfahrung  haben  können." 
Dieser  Moderatismus  wurde  späterhin  Eklekticismus  oder  Synkretismus  ge- 
nannt Vergl.  Schulze,  Kritik  der  th.  Phil.  I,  100  f.  Ueber  den  Ausdruck  „Mo- 
derat« vergl.  Reinhöld,  Briefe  I,  124.  In  der  Krit  d.  prakt  Vem.  44  tadelt  K. 
denselben  Synkretismus  unter  dem  Namen  „Coalitionssystem".  (Bardili 
wirft  freilich  K.  selbst  [Grundr.  d.  erst  Logik  345]  „Syneretismum  enormem^  vor 
in  einer  sehr  lesenswerthen  Steile.)  Vergl.  Zimmermann,  Lambert  8,  wo  be- 
sonders die  irenischen  Bestrebungen  der  Berliner  Academie  betont  werden*,  ib.  17  ff. 
über  Lamberts  Vermittlungsversuch.  »Der  Kriticismus  leistete  wirklich,  was 
der  Eklekticismus  vergeblich  versprochen  hatte."  Reinhold,  Beitr.  z.  1.  üeber- 
sicht  2,  8.  Der  schroffe  Gegensatz,  in  den  K.  jene  beiden  Richtungen  brachte, 
„ist  ein  hohes  Verdienst  gegenüber  der  Verkommenheit  des  Eklekticismus,  in  welche 
die  deutsche  Philosophie  bis  1781  immer  tiefer  versank".  (Paulsen,  Entw.  99.) 
Da  nahm  man  aus  beiden  diametralen  Systemen  Stücke,  um  ein  unmögliches 
Ganzes  zu  erhalten.  Mit  der  diktatorischen  Strenge  des  Genies  stellt  K.  jene 
Systeme  als  die  beiden  einzig  möglichen  Richtungen  liin,  welche  dem  kritischen 
Verfahren  vorhergehen  können. 


40  Specielle  Einleitung. 

herumschwärmenden  Seefahrer  unaufhörlich  mit  leeren  Hoifnungen  täuscht, 
ihn  in  Abenteuer  verflicht,  von  denen  er  niemals  ablassen  und  sie  doch  auch 
niemals  zu  Ende  bringen  kann".  (Krit.  235.)  Während  der  Dogmatismus 
sich  auf  diese  kühne,  aber  vollständig  misslingende  Fahrt  wagt,  setzt  Hume, 
der  Empirist,  „sein  SchiflP,  um  es  in  Sicherheit  zu  bringen,  auf  den  Strand 
(des  Skepticismus),  da  es  denn  liegen  und  verfaulen  mag**.  (Prol.  Vorr.) 
Anders  der  Kriticismus.  Bei  diesem  kommt  es  darauf  an,  „dem  Schiff 
einen  Piloten  zu  geben,  der  nach  sicheren  Principien  der  Steuermannskunst, 
die  aus  der  Kenntniss  des  Globus  gezogen  sind,  mit  einer  vollständigen 
Seekarte  und  einem  Compass  *  versehen,  das  Schiff  sicher  führen  könne, 
wohin  es  ihm  gut  dünkt".  Nur  dem  Skepticismus  gegenüber  ist  das 
Schiff  des  Kritikers  so  seetüchtig  und  ist  die  Fahrt  so  sicher.  Anders  ist 
nämlich  die  Bestimmung  gegenüber  dem  Dogmatismus.  Während  dieser 
sich  aufs  hohe  Meer  der  Speculation  wagt,  treibt  der  Kriticismus  —  Küsten' 
fahrt.  „Consultius  videtur,  littus  legere  cognitionum  per  intellectus  nostri 
inediocritatem  nohis  concessarum,  quam  in  altum  ....  provehL"  (Diss.) 
Die  Grenzbestimmung  in  der  Kritik  „heftet  ihr  nihil  ttUerius  mit  grossester 
Zuverlässigkeit  an  die  herkulische  Säule,  welche  die  Natur  selbst  aufgestellet 
hat  [vgl.  Diss.  nicht  „uUra  tenninos  certitudinis  apodicticae,  quae  meta- 
physicam  decet,  promovere^^,  um  die  Fahrt  unserer  Vernunft  nur  so  weit, 
als  die  stetig  fortlaufenden  Küsten  der  Erfahrung  reichen,  fortzusetzen,  die 
wir  nicht  verlassen  können,  ohne  uns  auf  einen  uferlosen  Ocean  zu  wagen, 
der  uns  unter  immer  trüglichen  Aussichten  am  Ende  nöthigt,  alle  beschwer- 
liche und  langwierige  Bemühung  als  hoffnungslos  aufzugeben*.  [Nach  einer 
anderen  Version  des  Bildes  ist  das  Land  der  Wahrheit  eine  durch  die  Natur 
selbst  in  unveränderliche  Grenzen  eingeschlossene  Insel,  umgeben  von  eidem 
weiten  und  stürmischen  Ocean  (vgl.  oben  Krit.  235).  Dieses  umgebende  Meer 
sucht  die  Kritik  nach  allen  Breiten  durch,  um  gewiss  zu  werden,  ob  etwas 
in  ihnen  zu  hoffen  sei.]  Bemerkenswerth  ist,  dass  dem  Skepticismus  gegen- 
über die  mögliche  Sicherheit  (der  Rationalismus),  dem  Dogmatismus 
gegenüber  die  Begrenzung  (die  Grenzbestimmung)  betont  wird.  Mit  dem 
Letzteren  will  die  Kritik  wohl  Fahrten  wagen,  aber  mit  Compass  und  Pilot 
und  am  Ufer,  gibt  aber  dem  Ersteren  zu,  dass  über  die  Küsten  hinaus  keine 
Fahrt  mehr  möglich  ist  —  nichts  mehr  zu  hoffen  ist '.  —  Anziehend  formulirt 
Neeb,  Vernunft  gegen  Vernunft  38  ff.,  dieses  Verhältniss :    „K.  beweist,  dass 


*  Dieser  „Compass"  ist  nach  dem  Brief  an  Jacobi  v.  Oct.  1789  die  Ver- 
nunft. Mit  ihr  ist  die  „glückliche  Durchfahrt",  welche  mit  den  „vollen  Segeln 
des  Dogm."  nicht  möglich  ist,  nämlich  durch  die  „Klippen"  ermöglicht.  Vgl. 
Fortschr.  d.  Met.  R.  I,  510:  Die  Leibn.  -  Wolfsche  Philos.  habe  den  Philosophen 
ausser  dem  Aristot.  Satz  d.  Wid.  noch  einen  neuen  Compass  zur  Leitung  in  die 
Hand  gegeben,  nämlich  den  Satz  des  zur.  Grundes  für  die  Existenz  der  Dinge. 

*  Üebrigens  findet  sich  das  Bild  vom  Ocean  der  Metapliysik  schon  bei  Locke, 
I,  1,  §  6.  7.,  sowie  bei  Bacon,  De  Augm,  Scient.  IX,  1.  Vgl.  auch  Herz,  Be- 
tracht. S.  6,  und  V.  Schölten,  Berl.  Mon.  VII,  398  ff.  (1786). 


Allgemeines  Verhältniss  der  drei  Standpunkte.  41 

die  Vernunft  nicht  so  weitsichtig  sei,  als  sie  Leibniz  haben  will,  und 
nicht  so  blöde,  als  sie  Hnme  hält.  Sie  ist,  wie  er  gezeigt  hat,  kein 
Sonnenvogel,  der  im  reinen  Aether  des  üebersinnlichen  lebt  und  schwebt, 
und  keine  Auster,  die,  in  das  enge  Gehäuse  dumpfer  Gefühle  eingeschlossen, 
nnr  von  ihrem  subjectiven  animalischen  Zustande  Bewusstsein  hat.  Er  zeigte, 
dass  es  eine  ebenso  grosse  Vermessenheit  ist,  sich  auf  Treue  und  Glauben 
einer  hülflosen  Vernunft  über  die  Natur  hinauszuwagen,  als  tadel- 
hafte Verzagtheit,  es  mit  einem  selbstthätigen  und  von  der  Sinnlichkeit 
unterstützten  Verstände  nicht  einmal  zu  wagen,  etwas  über  ihre  in- 
wohnenden Gesetze  zu  entscheiden*  \  „Leibn.  erhob  die  fragliche  Vorstell- 
kraft  über  ihre  Schranken,  indem  er  nur  auf  ihre  Thätigkeit  Rücksicht 
nahm;  sie  wurde  zügellos.  Hume  erniedrigte  die  Vernunft  unter  ihren 
Wirkungskreis,  indem  er  nur  auf  ihr  leidentliches  Verhalten  sah;  sie 
schien  ihm  regellos.  Kant  bestimmte  ihre  Grenze  und  wog  ihre  Selbst- 
thätigkeit  gegen  ihr  Leiden  ab,  und  bewies  sie  als  gesetzlich.*  „So 
hält  auch  im  K. 'sehen  System  die  Welt  der  Erscheinungen  die  Mitte 
zwischen  dem  Phantasiereich  der  Natur  im  Hume'schen  Skept.  und  der 
intelligibeln  Welt  im  Leibn.  Dogm.  Diese  Erscheinungswelt  ist  gleich- 
weit entfernt  von  dem  absoluten  Dinge  und  von  dem  leeren  Scheine.* 
,K.  erkannte,  dass  Leibn.  Recht  hatte,  wenn  er  den  Grund  der  nothwen- 
digen  Harmonie  in  einem  Verstände  aufsuchte,  und  dass  Hume  nicht 
irrte,  wenn  er  bei  dem  Menschen  stehen  blieb.*  Vgl.  (Thanner),  Der 
transc.  Ideal.  Münch.  1805:  „K.  zog  eine  Art  Diagonale  des  Philosophirens. 
Wenn  der  Dogmat.  zu  gläubig  an  der  Macht  der  Begriffe  und  des  Rai- 
sonnements  hieng,  hingegen  der  Skept ic.  zu  ungläubig  alles  verwarf,  was 
den  Begriffen  angehörte:  so  prüfte  Kant*  u.  s.  w.  Reinhold,  Briefe  I, 
100  ff.:  Bisherhat  man  der  Vernunft  zu  viel  oder  zu  wenig  zugemuthet. 
Die  Abgötterei,  welche  mit  ihr  getrieben,  und  die  Verachtung,  welche 
ihr  bezeugt  wird,  gehen  bis  zum  Lächerlichen.  Beide  Theile  beschuldigen 
sich  einander  des  Verkennens  der  Vernunft.  Dies  beweist  das  Bedürfniss 
einer  Kritik  der  Vernunft.  Rosenkranz,  Gesch.  d.  K.'schen  Phil.  156:  „In 
der  Kritik  d.  r.  V.  floss  Alles,  was  in  K,  seit  Jahren  sich  geregt  hatte,  zu 
einem  breiten  Strom  zusammen,  der  mit  kleinem  Wellenschlage  langsam 
einherdrängte,  aber  mit  sicherer  Gewalt  die  Verschan zungen  der  scho- 
lastischen Philosophie  durchbrach  und  die  Pussangeln  Ües  Skepticismus  hin- 
wegschwemmte.* Saint  es  a.  a.  0.  85  stimmt  Biedermann  (Die  deutsche 
Philos.  I,  64)  bei,  Ks.  System  sei  das,  was  man  in  der  Politik  die  ^tiste- 
mUieu"  nenne  (natürlich  im  guten,  lobenden  Sinne  des  Wortes).  Diese  Auf- 
gabe, Extreme  zu  vermitteln,  schreibt  Erdmann  a.  a.  0.  III,  1,  2  ff. 
der  ganzen  modernen  Philos.  zu.  Die  Neuere  Philos.  erkennt  in  dem  Idea- 
lismus (=  Dogmat.)  ihren  Vater  an  und  muss  in  der  realistischen 
Tendenz  (=  Empir.)   ihre  Mutter  ehren.     Bach  a.  a.  0.  19:    Kant   nahm 


■  Die  Wahlsprüche   der  drei  Systeme  sind  nach  Neeb  a.  a.  0.  44;  Nil  ad- 
mirari  (Dogm.);  Berte  desperare  (Skept.):  S  apere  au  de  (Krit.). 


42  Specielle  Einleitung. 

dem  Dogmat.  die  „animi  objectivitatem,  ü  e.  eam  vim,  qua  praeter  for- 
mam  etiam  materiam  amnis  cognitionis  in  se  coniineret^ ;  dem  Empirism. 
gegenüber  rettete  er  die  „subjectivitatem  experieniiae  i.  e.  vim  fortna- 
tivam.  Itaque  ah  intellectimlismo  suhjectivitatem  animi,  ah  empirismo  objec- 
tivitatem naturae  retinuit  Kantius  etc.  *  —  Nach  demselben  Schema '  theilt 
K.  in  Bezug  auf  die  Moral  die  Systeme  in  Mysticismus,  Empirismus 
und  Rationalismus.  Jener  legt  den  moralischen  Begriffen  wirkliche  und 
doch  nicht  sinnliche  Anschauungen  eines  unsichtbaren  Reiches  Gottes  unter 
und  schweift  ins  Ueberschwengliche  hinaus.  Der  Zweite  setzt  die  prakti- 
schen Begriffe  des  Guten  und  Bösen  blos  in  die  Erfahrung  und  reducirt  sie 
auf  die  Glückseligkeit  und  Selbstliebe  und  blosse  Neigung  und  rottet  die 
Wurzel  aller  sittlichen  Handlungsweise  aus.  Er  ist  der  Sittlichkeit  gefähr- 
licher als  der  erstere.  Der  von  K.  selbst  vertretene  Rationalismus  be- 
ruht auf  den  apriorischen  Gesetzen  der  praktischen  Vernunft,  ist  also  weder 
übersinnlich  noch  sinnlich.  Vgl.  Krit.  pr.  Vern.  124  ff.  Gegenüber  der 
Seichtigkeit  des  Empirismus  neigt  sich  E.  ib.  168  sehr  stark  dem  Mysti- 
cismus  und  der  Eröffnung  einer  intelligibeln  Welt  zu.  —  Auch  in  der 
Aesthetik  spielt  derselbe  Gegensatz  seine  Rolle.  Da  stehen  sich  gegenüber 
der  Empirismus  der  Geschmackskritik  und  der  Rationalismus;  letzterer 
theilt  sich  in  Realismus  und  Idealismus.  Der  erste  dieser  beiden  entspricht 
dem  Dogmatismus,  der  andere  dem  Kriticismus.  Auch  hier  ist  also 
Kant  dem  Dogmatismus  nahe  verwandt,  wenn  er  auch  dem  Emp.  Zugeständ- 
nisse macht.  Vgl.  Krit.  der  ästh.  Urth.  §  58.  —  In  der  Kritik  der  teleol. 
Urtheilskraft  §  72  ff.  stehen  sich  gegenüber  einerseits  der  hier  mit  dem 
Empirismus  zusammenfallende  Idealismus  (Epicur,  Spinoza)  und  der  mit  dem 
Dogmatismus  identische  Realismus  (bes.  der  Theismus),  und  andererseits 
der  Kriticismus;  jene  beiden  ersteren  Systeme  sind  dogmatisch.  —  In 
Bezug  auf  die  Religion  stehen  sich  Theismus,  Atheismus  (Supranaturalismus, 


*  In  älteren,  bes.  Hegelianisirenden  Darstellungen,  spec.  bei  Rosenkranz  und 
Erdmann,  findet  man  den  Gegensatz  der  drei  Richtungen  auch  so  präcisirt,  dass 
der  Dogmat.  mehr  das  Subject,  der  Empirismus  mehr  das  Ob j  ect  betont  habe. 
Jenem  gieng  das  Object  im  Subject,  diesem  das  Subject  im  Objeet  auf  u.  s.  w. 
Kant  habe  Object  und  Subject  vermittelt,  indem  er  beide  gegenüberstellt  und 
jedem  das  Seine  gibt.  •  Diese  Kategorien,  übrigens  nicht  einmal  Kantische,  sind 
aber  zu  v  a  g  zur  scharfen  Präcisirung  der  historischen  Gegensätze,  und  desshalb 
führt  der  Versuch ,  dieselben  dennoch  durch  diese  Kategorien  zu  fassen ,  zu 
Spielereien,  so  bei  Rosenkranz,  Gesch.  d.  Kantischen  Phil.  S.  6  ff.  117.  157. 

*  Dieses  durchgängige  triadische  Schema  Kants  ist  eine  bis  jetzt  un- 
beachtete Quelle  der  bei  Fichte,  Schelling  und  bes.  Hegel  so  bedeutsamen  und 
fruchtbaren  dialectischen  Methode.  Wie  hier  der  Dogmatismus  in  Skepti- 
cismus  umsciilägt  und  beide  durch  den  Kriticismus  vermittelt  und  überwunden 
werden,  so  schreitet  jene  Methode  in  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  fort, 
Speciell  in  Bezug  auf  den  vorliegenden  Punkt  wird  der  Kriticismus  Kants  von 
seinen  Nachfolgern  jedoch  selbst  zu  einem  Momente  in  diesem  geschichtlichen 
ProcesB  herabgesetzt.     Vgl.  unten  S.  58  über  Ks.  Vermittlungstendenz. 


Kritische  und  dogmatische  Methode  (im  weiteren  Sinn).  43 

Natnralismiis)  und  kritischer  Deismus  gegenüber,  Krit.  630  £f.  (wie  in  der 
Psychologie:  Spiritualismus,  Materialismus  und  Kritic.  Krit.  A.  381  ff. 
Rosenkranz,  Gesch.  d.  K.  Phil.  262).  Eine  andere  Dreitheilung  s.  im 
Streit  der  Facultftten  I.  Abschn.:  seelenloser  Orthodoxismus,  vernunft- 
tödtender  Mysticismus  und  (die  Religion  aus  der  Vernunft  selbst  in  üeber- 
einstimmung  mit  der  Bibel  entwickelnder)  Kriticismus. 

§  8. 

Spedeller  (Gegensatz  des  Eriticismus  einerseits  und  des  Dog- 
matismus nnd  Empirismus  andererseits.   Kants  subjectivistische 

Wendung. 

Der  Kriticismus  steht  dem  Dogm.  und  Emp.  gemeinsam  auch  insbesondere 
insofern  gegenüber,  als  diese  beiden  die  Gegenstände  selbst  behandeln, 
der  erstere  dagegen  ihr  Verhältniss  zu  unserem  Er kenntniss vermögen. 
Vgl.  Krit.  484.  758.  Krit.  d.  Urth.  §  72  Anm.  und  bes.  §  74.  Das  dogm. 
Verfahren  geht  direct  auf  die  Objecte.  Das  kritische  betrachtet  die  sub- 
jeetiven  Bedingungen,  ohne  es  zu  unternehmen,  über  das  Object  etwas 
zu  unterscheiden  V  Met.  Anf.  d.  Naturw.  I,  1,  Anm.  2.  K.  will  daselbst 
5 den  Begriff  der  Materie  nicht  durch  ein  Prädicat,  was  ihr  selbst  als  Object 
zukommt,  sondern  nur  durch  das  Verhältniss  zum  Erkenntnissvermögen, 
in  welchem  mir  die  Vorstellung  allererst  gegeben  werden  kann,  erklären". 
Ib.  IV.  Schlussworte:  Wenn  es  sich  um  das  absolute  Ganze  handelt,  bleibt 
nichts  übrig,  „als  von  den  Gegenständen  auf  sich  selbst  zurückzukehren, 
am  anstatt  der  letzten  Grenze  der  Dinge  die  letzte  Grenze  des  .  .  .  Ver- 
mögens zu  erforschen  und  zu  bestimmen".  Diese  subjectivistische  Wendung 
nennt  K.  seine  kritische  Methode  im  Unterschied  der  dogmatischen  Me- 
thode, sowohl  des  Dogmatismus  im  engeren  Sinn,  als  des  Skepticismus  \  [Es 
ist  somit  hier  der  Gegensatz  um  eine  Nuance  anders  als  bisher.  Sonst  steht 
die  kritische  Methode  der  dogmatischen  und  der  skeptischen  gegenüber 
und  bezeichnet  dann  den  Kriticismus  in  dem  oben  definirten  Sinne  —  Aprio- 
rismus  und  Bationalismus,  aber  beschränkt  auf  den  Erfahrungskreis.  In 
dem  letzteren  Sinne  spricht  K.   am  Schluss  der  Kritik  856  von  der  kriti- 


'  In  diesem  Sinne  unterschied  dann  später  Reinhold  den  positiven  nnd 
den  negativen  Dogmatismus.  S.  bes.  Beiträge  zur  Bericht,  d.  bish.  Missv. 
II,  159-206. 

'  Im  modernen  Sinn  heisst  das :  K.  hat  die  Erkenntnisstheorie  vor  die  Meta- 
physik gestellt.  Dass  das  aber  schon  Locke  und  noch  mehr  Hume  gethan  haben, 
ja  auch  schon  Leibniz,  ist  aus  der  Geschichte  bekannt.  Dass  die  Philosophie  be- 
ginnen nnd  sogar  schliesslich  sich  begnügen  müsse  mit  einer  Theorie  des  Er- 
kenntnissvermögens, ist  eine  Erkenntniss,  zu  welcher  K.  erst  allmälig  kam.  Zur  vollen 
Einsicht  hievon  gelangte  er  indessen  schon  1766  in  der  Schrift  über  die  Träume 
eines  Geistersehers,  wo  „er,  um  modern  zu  reden,  Erkenntnisstheorie  an  Stelle 
der  Metaphysik  setzte "^  (Paulsen  94).  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  28. 


44  Specielle  Einleitung. 

sehen  Methode  im  Gegensatz  zur  dogmatischen  Wolfs  und  zur  skeptischen 
Hume*s^]  In  diesem  Sinne  nennt  er  seine  Kritik  einen  Tractat  von  der 
Methode  (Vorr.  B.  XXII  vgl.  A.  11  ff.);  dieser  neue  Weg  soll  zu  einem 
systematischen  Ganzen  apriorischer  Wissenschaft  führen,  nachdem 
überhaupt  gezeigt  ist,  wie  es  Erkenntniss  a  priori  von  Gegenständen  geben 
könne  und  dass  dieselbe  nur  im  Erfahrungsumkreis  Gültigkeit  besitze.  Diese 
Auffindung  einer  neuen  Methode  betont  schon  Tieftrunk  in  seiner  Ein- 
leitung zu  Ks.  vermischten  Schriften.  Und  neuerdings  hat  man  den  Haupt- 
zweck Kants  mehrfach  in  die  Auffindung  einer  neuen  Methode  gesetzt. 
Bes.  Kannengiesser,  Dogmat.  und  Skeptic,  betont  das  methodologische 
Problem  als  Kants  Hauptproblem,  sowie  Paulsen  (Entw.)  und  Matosch  ^ 
üeber  diesen  Gegensatz  äussert  sich  Fischer,  Gesch.  18  ff.,  so:  „In 
der  dogmatischen  Periode  war  die  Philosophie  entweder  Metaphysik  oder 
Erfahrung,  hier  dagegen  sind  Metaphysik  und  Erfahrung  die  nächsten 
Objecte  der  Philosophie.  Mithin  ist  die  dogmatische  Philos.,  verglichen 
mit  der  kritischen,  eigentlich  nicht  deren  Gegensatz,  sondern  deren  Gegen- 
stand." Der  do^.  Philosoph  ist  das  Auge,  dessen  Objecte  die  Dinge 
sind;  der  kritische  Philosoph  ist  der  Optiker,  dessen  Object  das  Auge,  die 
Bilder  der  Dinge  im  Auge,  mit  Einem  Worte  das  Sehen  selbst  ist. 

^  Kritische  Methode  hat  also  bei  K.  zwei  Bedeutungen:  bald  bezeichnet  der 
Ausdruck  die  Wendung  von  den  Gegenständen  auf  das  Subject,  bald  die 
Prüfung  des  reinen  Vernunftvermögens  vor  dessen  Anwendung.  Die 
erste  Bestimmung  mündet  in  die  phänomenalistische  ^  die  andere  in  die  rationa- 
listische Seite  seines  Systems.  Im  ersteren  Sinne  (kritisch  -  subj  ecti  vis  tisch), 
welcher  hier  behandelt  wird,  ist  der  Gegensatz  von  „kritisch"  nur  „dogma- 
tisch''; dieses  umfasst  dann  (als  objecti  vis  tische  Behandlungsart)  sowohl  die 
Rationalisten  (als  Dogmatisten  im  engeren  Sinn),  als  die  Empiristen.  In  dem 
letzteren  Sinne  dagegen  (kritisch-prüfend),  welcher  Gegenstand  der  §§4 — 7  war, 
hat  „kritisch'^  den  Doppelgegensatz  von  „dogmatischer"  und  von  „skep- 
tischer" Philosophie,  deren  erstere  transscendente  und  rationale  Erkenntniss  an- 
nimmt, während  die  letztere  dieselbe  verwirft.  Das  Annehmen,  Verwerfen, 
Prüfen  jener  Erkenntniss  sind  hier  die  drei  Standpunkte;  sie  lassen  sich  aber 
auch  auf  zwei  reduciren:  denn  Annahme  und  Verwerfung  finden  beide  un- 
geprüft statt,  während  K.  erst  prüft.     Vgl.  Windelband  a.  a.  0.  16.  48. 

'  Mit  Vorliebe  hatte  K.  von  Anfang  an  bei  jeder  Untersuchung  der  Methode 
sein  Interesse  zugelenkt.  Schon  in  der  Erstlingsschrift  §  88  legt  er  seine  daselbst 
befolgte  Methode  dar,  „welche  die  Hauptquelle  dieser  ganzen  Abhandlung  ist". 
Der  Mangel  dieser  Methode  war  die  Hauptursache  der  bisherigen  Irrthümer.  Alle 
folgenden  Schriften  berühren  hin  und  wieder,  aber  an  entscheidenden  Stellen  die 
Methodenfrage,  bis  in  der  Preisschrift  1764  die  Methode  der  Philos.  selbst 
zum  Gegenstande  der  eingehendsten  Untersuchung  gemacht  wird.  Dort  ist  ihm 
Newtons  Methode  das  Vorbild  (Einl.,  2.  Betracht.),  und  die  äclite  Methode  der 
Metaphysik  scheint  ihm  einerlei  zu  sein  mit  derjenigen,  welche  Newton  in  die 
Naturwissenschaften  einführte.  (Davon  kommt  er  freilich  später,  d.  h.  in  der 
Kritik  zurück.)  In  dem  Bestreben  einer  Verbesserung  der  Methode  der  Metaphysik 
fand  K.  Beihilfe  und  Aufmunterung  bei  Lambert.  Vgl.  bes.  dessen  Brief  an 
K.  vom  13.  Nov.  1765.    Vgl.  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phü.  II.  21  ff. 


Kants  subjectivistische  Wendung.    Das  Bild  vom  Schwimmen.  45 

Gegenüber  dem  Hinweis  auf  die  älteren  erkenntnisstheoretischen  Unter- 
sachungen  bei  Cartesius,  Spinoza,  Malebranche,  Leibniz,  Wolf,  Berkeley,  Hume 
und  dem  Einwand,   anch  hier  sei  in  diesem  Sinne  kritische  Philosophie  ge- 
^eesen,  macht  Fischer  geltend,  dass  dieses  blosse  Versuche  gewesen  seien, 
keine  Lösung,  und  dass  K.  einen  völlig  neuen  Weg  eingeschlagen  habe. 
Jene  haben  die  Erkenntni&s  erklärt,  etwa  wie  wenn  die  Physiker  die  Electricität 
oder  die  Wärme  aus  einer  electrischen  Materie,   aus  einem  Wärmestoff  er- 
klärten: sie  wiesen  auf  einen  vorhandenen  Erkenntnissstoff  hin,  die  Erfahrung 
oder  die  Vernunft,  also  auf  ein  Er kenntnissf actum,   nicht  auf  die  Fac- 
toren  der  Erkenntniss,   nicht  auf  die  aller  Erkenntniss  voranliegenden  Be- 
dingungen, die  selbst  noch  keine  Erkenntniss  sind.   Jene  setzten  die  Erkennt- 
niss schon  voraus,   K.   zeigte  ihren  Ursprung   aus   den  ihr  vorhergehenden 
und   zu  Grunde   liegenden  Bedingungen.     Ausserdem   ist    allerdings    anzu- 
erkennen, dass  sich  die  entgegengesetzten  Richtungen  beide  in  ihren  letzten 
Vertretern  immer  mehr  der  kritischen  Philosophie  näherten,  so  bes.  in  Leibniz 
und  in  Hume.    Fischer  a.  a.  0.  28  f.    Den  Einwand  Hegels,  (Enc.  §  10)  Kants 
Unternehmen  sei  imgereimt,  denn  indem  er  vor  dem  Erkennen  das  Erkenntniss- 
vermögen  untersuchen  wolle,   wolle  er  erkennen  vor  dem  Erkennen,   oder 
erst  schwimmen  lernen,  ehe  er  ins  Wasser  gehe,  hat  K.  Fischer  *  glücklich 
daselbst  zurückgewiesen  (a.  a.  0.  24) ;  es  handle  sich  nicht  darum,  schwimmen 
zn  lernen,   sondern  das  Schwimmen  zu  erklären*.     Er  konnte  noch  hinzu- 
setzen, dass  durch  die  dadurch  ermöglichte  bewusste  Ausübung  auch  aller- 
dings  die  betreffende  Funktion  besser  als  bisher  ausgeübt  und  in  diesem 
Sinne  gelernt  werden  solle.  —  Man  nennt  dies  die  subjectivis tische  Wen- 
dung Kants'.     Dieselbe  entstand  historisch  genau  um  dieselbe  Zeit,   als 
Kant  die  Idee  der  Kritik  der  Vernunft  fasste,  welche  vor  der  Metaphysik 
einherzngehen  habe.  Die  erste  Spur  derselben  findet  sich  in  den  Tr.  e.  Geisters, 
1766   im  Schlussabschnitt.     Nachdem   schon   im    vorletzten  Abschnitt    die 
Erkenntnissfheorie    neben    die   Metaphysik    gestellt    worden    war    als    eine 
, Wissenschaft  von   den  Grenzen  der  menschl.  Vernunft",   sagt  K.  a.  a.  0.: 
.Die  Fragen  von  der  geistigen  Natur,  von  der  Freiheit  und  Vorherbestim- 


*  Ueberweg  (Gesch.  HI,  §  18.  S.  202)  weist  diesen  Einwand  zurück  durch 
Unterscheidung  des  vorkritischen  und  kritisch-philosophischen  Denkens.  Vgl.  id. 
Syst  d.  Logüt  §31.  Harms,  Phil.  s.  Kant,  138.  Göring,  System  I,  16  ff.  A  s- 
mufl.  Das  Ich.  S.  86.  Sigwart,  Gesch.  d.  Phil.  III,  147.  Schelling,  W.  W. 
1.  Abth.  X,  79.  üeber  Herbarts  [W.  W.  I,  55.  256.  II,  250  ff.  HI,  118.  230. 
y,  227]  ähnliche  Einwände  Göring  a.  a.  0.  27  ff.    Liebmann,  Kant  S.  47. 

'  Nach  Fischer,  Gesch.  UI,  298  ff.  ist  Inhalt  der  Kritik:  Erklärung 
der  Thatsache  der  menschlichen  Erkenntniss,  d.  h.  Aufsuchung  der  Be- 
dingongen^  aus  denen  sie  folgt,  die  das  Factum  ermöglichen  und  zwar  einzig  und 
allein  ermöglichen,  neben  denen  keine  andere  möglich  sind.  (Vgl.  jedoch  oben 
8.  5  Anm.)  Damit  wird  denn  auch  über  die  Rechtmässigkeit  der  t  raus  sc. 
Metaph.  entschieden. 

'  Welche  freilich  schon  Hume  auch  gemacht  hatte.  Göring,  Viert,  f.  wiss. 
PhÜDS.  I,  405. 


46  Specielle  Einleitung. 

mung,  dem  künftigen  Zustand  u.  dgl.  bringen  anfänglich  alle  Kräfte  des 
Verstandes  in  Bewegung  und  ziehen  den  Menschen  durch  ihre  Vortrefflicb- 
keit  in  den  Wetteifer  der  Speculation,  welche  ohne  Unterschied  klügelt 
und  entscheidet,  lehrt  oder  widerlegt,  wie  es  die  Scheineinsicht  jedesmal  mit 
sich  bringt.  Wenn  diese  Nachforschung  aber  in  Philosophie  ausschlägt, 
die  über  ihr  eigen  Verfahren  urtheilt,  und  die  nicht  die  Gegen- 
stände allein,  sondern  deren  Verhältniss  zu  dem  Verstände  des 
Menschen  kennt,  so  ziehen  sich  die  Grenzen  enger  zusammen,  und  die 
Marksteine  werden  gelegt,  welche  die  Nachforschung  aus  ihrem  eigenthüm- 
lichen  Bezirke  niemals  mehr  ausschweifen  lassen'.*  Noch  mehr  tritt  diese 
Wendung  in  der  Dissertation  von  1770  hervor,  welche  die  erste  Probe 
des  neuen  Princips  ist.  Sogleich  im  §  1  nimmt  er  in  die  Definition  der 
Welt  die  „causas  in  subjecti  indole  cantentas^  auf,  indem  er  nicht  bloss 
aftgibt,  was  Welt  ist,  sondern  inwiefern  bei  diesem  Begriff  unsere  subjective 
Thätigkeit  der  Synthesis  mit  im  Spiele  ist.  Und  im  Uebrigen  ist  die  ganze 
Schrift  der  Unterscheidung  der  leg  es  subjecti  im  Gegensatz  zu  den  con- 
ditiones  ipsorum  objectorum  gewidmet  (bes.  auch  §  30);  die  consequente 
Durchfuhrung  der  subjecti vistischen  Methode  ist  aber  erst  in  der  Kritik  ge- 
liefert. An  manchen  Stellen,  z.  B.  Metaph.  201.  213,  ist  Philos.  geradezu 
gleich  Erforschung  der  Erkenntnissqnellen  an  Stelle  der  der  Erkenntnis s- 
objeete.  Vgl.  Kants  Worte  bei  Erdmann,  Proleg.  Vorrede  LXXXVTI: 
„Ich  fand  allmälig,  dass  viele  von  den  Sätzen,  die  wir  als  objectiv  ansehen, 
in  der  That  subjectiv  seien,  d.  h.  die  Gonditionen  enthalten,  unter  denen 
wir  allein  den  Gegenstand  einsehen  oder  begreifen."  In  diesem  Sinne  schreibt 
er  an  Herz  (7.  Juni  1771):  „Sie  wissen,  welchen  grossen  Einfluss  die  gewisse 
und  deutliche  Einsicht  in  den  Unterschied  dessen,  was  auf  subjectiviaohen 
Principien  der  menschl.  Seelenkräffce ,  nicht  allein  der  Sinnlichkeit,  sondern 
auch  des  Verstandes  beruht,  von  dem,  was  gerade  auf  die  Gegenstände  geht, 
in  der  ganzen  Weltweisheit  .  .  .  habe.**  Nur  ist  hier  (vor  1781)  noch  immer 
die  Hoffnung  auf  irgend  eine  gegenständliche  Erkenntniss  nicht  aufgegeben. 
Die  Richtung  auf  die  Gegenstände  selbst  heisst  dogmatisch,  diejenige  auf 
die  Erkenntniss  und  speciell  auf  deren  Grenzen  gehende  kritisch.  Krit.  758. 
Jene  dogmatische  Auflösung  der  eigentlich  metaphysischen  Fragen  ist 
nicht  etwa  ungewiss,  sondern  unmöglich.  Die  kritische  betrachtet  die 
Frage  gar  nicht  objectiv,  sondern  nach  dem  Fundamente  der  Erkennt- 
niss, worauf  sie  gegründet  ist.  Ib.  484  (vgl.  Harms,  Phil,  seit  K.  127)'. 


*  Doch  hatte  schon  Lambert  am  13.  Nov.  1765  K«  geschrieben:  „man  thue 
besser^  wenn  man  anstatt  des  Einfachen  in  der  Metaphysik^  das  Einfache  in 
der  Erkenntniss  aufsuche''. 

'  Die  erstmalige  Entgegensetzung  des  Dogmatischen  und  Kritischen, 
wenn  auch  nicht  den  Worten,  sondern  der  Sache  nach  findet  sich  am  Schluss  des 
Aufsatzes  von  1754  über  die  Frage:  „Ob  die  Erde  veralte",  eine  Frage,  welche  K. 
„nicht  entscheidend,  sondern  prüfend"  abhandelt.  Am  Schluss  der  fortges.  Be- 
trachtung  über   die  Erderschütterungen  1756  stellt  er  kühne  Erdichtungen  und 


Kants  eigener  Entwicklangsgang.  47 


§  9. 

Kants  eigener  Entwicklungsgang  durch  Dogmatismus  und 
Empirismus  hindurch  zum  Eriticismus  '. 

Ein  weiterer  wichtiger  Gesichtspunkt  ist ,  dass  diese  Dreitheilung  in 
Dogmat.,  Skeptic.  nnd  Eriticismus  im  Grossen  und  Ganzen  Kants  eigene 
Entwicklung  recapitulirt,  wie  sie  seiner  Ansicht  nach  auch  die  natürliche 
Aufeinanderfolge  des  geschichtlichen  Verlaufes  der  Philosophie  ist.  Die 
phylogenetische  Entwicklung  wiederholt  sich,  um  darwinistisch  zu  reden, 
in  der  ontogenetischen  Entwicklung  des  Individuums.  Kants  Schriftenthum 
theilt  man  gemeinhin  ein  in  die  vorkritische  und  in  die  kritische  Periode. 
Die  Scheidung  trat  ein  im  Jahre  1770  mit  der  Dissertation :  De  mundi  sensi- 
büis  atque  inteUigibüis  forma  et  principiis.    Die    vorkritische  Periode   theilt 


bescheidene  Prüfung  einander  gegenüber.  Im  Jahre  1757  in  der  Ankündigung 
des  CoUegii  der  phys.  Geographie  stehen  sich  „behutsame  Prüfung"  und  „leicht- 
gläabige  Bewunderung  von  Fabeln"  gegenüber.  In  der  Vorbemerkung  zu  dem 
Lehrbegriffe  der  Beweg,  u.  Ruhe  1758  stellt  er  die  „Zwangmühle  des  Wolfschen 
Lehrgebäudes"  der  „Untersuchung"  gegenüber.  In  dem  dritten  Abschn.  der 
Schrift  über  die  negat.  Grössen  stellt  er  seine  vorsichtige  versuchende  Methode 
dem  „dreisten  dogmatischen  Ton"  gegenüber.  In  der  Ankündigung  der 
Vorles.  1765  stellt  er  die  zetetische  Methode  der  dogmatischen  gegenüber; 
im  Brief  an  Mendelssohn  v.  8.  April  1766  „dogmatisch- skeptisch".  Das 
,,Auf wachen  des  skeptischen  Geistes"  bespricht  K.  im  Brief  an  Herz  vom 
7.  Juni  1771.  Hier  steht  also  „skeptisch"  im  guten  Sinne.  Vgl.  oben  S.  34  Anm. 
>  Literatur:  Tieftrunk,  Einl.  zu  Ks.  Verm.  Schriften.  1799.  L  B. 
S.  1  ff.  —  Rosenkranz,  Gesch.  d.  K.'schen  Philos.  1840.  S.  130  ff.  —  Sigwart, 
Gesch.  d.  Philos.  III,  S.  22  ff.  -  Willm,  HisL  de  la  Philos.  AU.  I,  S.  51  ff.  - 
Saintes,  Phüos,  de  Kant  S.  40ff.  —  Erdmann,  Gesch.  d.  neueren  Philos. 
III,  1.  S.  27  ff.  —  Mussmann,  Im.  Kant  S.  10  ff.  —  Mirbt,  Kants  Philos. 
S.  49  ff.  —  Fischer,  Gesch.  d.  neueren  Philos.  III,  S.  121  ff.  —  Cohen,  Die 
systematischen  Begriffe  in  Kants  vorkritischen  Schriften.  1873.  —  Paulsen,  Ver- 
such einer  Entwicklungsgeschichte  der  K.'schen  Erkenntnisstheorie.  1875.  —  Riehl, 
Der  philos.  Kriticismus  I,  S.  202  ff.  —  Wolff,  Speculation  und  Philosophie  I,  S.  1  ff. 
Göring,  System  der  krit  Philos.  II,  S.  109  ff.  —  Ueberweg,  Gesch.  d.  Philos. 
ni,  §  17.  —  Michelis,  Kant  vor  und  nach  dem  Jahre  1770.  1871.  —  Weber, 
Kants  Dualismus  aus  dem  Jahre  1766.  Breslau.  1865.  —  J.  B.  Meyer,  Kants  Psy- 
chologie S.  41  ff.  123  ff.  —  B.  Erdmann,  Vorr.  zu  Kants  Prolegomena  S.  LXXXIlIff. 
(dagegen  Paulsen.  Viert,  f.  wiss.  Philos.  II,  484  ff.)  —  B.  Er d mann,  Martin 
Knutzen  und  seine  Zeit  S.  130  ff,  —  Windelband,  Die  verschiedenen  Phasen 
der  K.'schen  Lehre  vom  Ding  an  sich.  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  224  ff.  —  Dietrich, 
Kant  und  Newton  1877.  Id.  Kant  und  Rousseau  1879.  —  Caird,  The  Phüoeophy 
of  Kant  122  ff.  —  Cantoni,  Em,  Kant  83  ff.  122  ff.  —  Nolen,  La  Critique  de 
Kant  et  la  meiaphysique  de  Leibmz.  Paris.  1875.  S.  61  ff.  —  Harms,  Philos.  seit 
Kant  S.  119  ff.  —  Zeller,  Gesch.  d.  deutschen  Philos.  S.  407  ff.  —  Windel- 
band, Gesch.  der  neueren  Philos.  II,  S.  15  ff.  —  Nathan,  Ks.  Log.  Ans.  15  ff. 


48  Specielle  Einleitung. 

man  ein  in  zwei  Perioden,  in  die  dogmatische  und  in  die  empiristische.  Jene 
umfasst  die  Schriften  der  50er  Jahre,  diese  die  der  60er  Jahre.  Dem 
Leibniz -Wolf  sehen  Dogmatismus  gehören  Kants  philosophische  Erstlings- 
schriften an,  1755:  „Principiorum  primorum  cognitionis  metaphysicae  nova 
(lilucidatio^ ,  und  1756  die  „Monadologia  physica^,  sowie  1759  die  »Be- 
trachtungen über  den  Optimismus".  Der  zweiten  Periode,  in  welcher  K. 
immer  mehr  sich  dem  Dogmatismus  ab-  und  dem  Empirismus  sich  zuwandte, 
gehören  an  die  Schriften:  1762:  „Die  falsche  Spitzfindigkeit  der  syllogisti- 
schen  Figuren*;  1763:  „Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Grössen  in  die 
Weltweisheit  einzufuhren*;  1763:  „Der  einzig  mögliche  Beweisgrund  zu 
einer  Demonstration  Gottes*;  1764:  „Untersuchungen  über  die  Deutlichkeit 
der  Grundsätze  der  natürl.  Theologie  und  der  Moral*;  1766:  „Träume  eines 
Geistersehers  erläutert  durch  Träume  der  Metaphysik*,  sowie  die  Abhand- 
lung vom  Jahre  1768:  »Von  dem  ersten  Grunde  des  Unterschiedes  der 
Gegenden  im  Baume*  \  Mit  der  Dissertation  des  Jahres  1770  lässt  man 
gemeinhin  die  kritische  Periode  beginnen ;  auch  nimmt  man  gewöhnlich  an, 
dieselbe  sei  durch  den  Einfluss  Hume's  auf  Kant  entstanden.  Eingehendere 
Untersuchungen  des  vorliegenden  Materials  ergeben  jedoch  folgende  Ansicht 
über  die  Entwicklung  Kants,  die  hier  nur  kurz  in  ihrem  Resultat  dargestellt 
werden  kann:  Kant  stand  bis  1760  ganz  unter  Leibniz- Wolf schem  Einfluss. 
In  den  60er  Jahren  beginnt  dieser  Einfluss  überwogen  zu  werden  durch  die 
Einwirkungen  der  englischen  Philosophie,  besonders  Locke's  und  Hume's. 
Ende  der  60er  Jahre  geräth  K.  unter  den  übermächtigen  Einfluss  der  1765 
erschienenen  Nouveaux  Essais  von  Leibniz;  die  directe  Folge  dieses  Ein- 
flusses ist  die  Dissertation,  welche  gar  nicht  anders  erklärbar  ist  und  einer 
unmittelbaren  Beeinflussung  durch  Hume  geradezu  widerspricht.  Kant  Mit 
im  Jahre  1770  auf  den  Standpunkt  des  allerdings  durch  ihn  bedeutend  modi- 
ficirten  Dogmatismus  zurück.  Er  windet  sich  aus  demselben  nur  durch 
einen  erneuten  Einfluss  der  Hume'schen  Schriften  heraus  und  modiflcirt  den 
Dogmatismus  durch  Hume's  Skepticismus  zum  Kriticismus.  Kant  steht  somit 
zweimal  unter  dem  Einfluss  beider  Systeme;  1750—1760  überwiegt  der 
Dogmatismus,  1760— 1766  der  Empirismus.  Die  Schrift  über  die  Träume 
eines  Geistersehers  ist  jedoch  schon  ein  Vorspiel  des  Kriticismus;  1770 
erfolgt  eine  grosse  Reaction  des  Dogmatismus,  1771  ff.  entstehen  neue  em- 
piristische Bedenken  und  die  Frucht  derselben  ist  der  Kriticismus,  welcher  in 
den  70er  Jahren  zur  allmäligen  Ausbildung  kommt.  Hume's  Einwirkung 
ist  somit  zweimal  zu  setzen  und  die  Entwicklung  Kants  durchlief  jene 
Stadien  also  zweimal. 


*  Der  Versuch  Winde Iban de  (Gesch.  d.  neueren  Philos.  II,  33),  aus  diesem 
Aufsatz  Kants  eine  eigene  Entwicklungsphase  seiner  ganzen  Erkenntnisstheorie 
herauszueonstruiren,  scheint  uns  nicht  gelungen.  Der  wichtige  Aufsatz  bezeichnet 
nur  eine  Phase  in  der  Entwicklung  der  Raumtheorie. 


Kants  Entwicklung.    Der  Kriticismus  als  Vermittlung.  49 

Dies  ergibt  folgendes  Schema: 

Erster  Entwieklnngsprocess. 

I.  (1750 — 1760)  Dogmatischer  Standpunkt  von  Leibniz. 

[1755.   Nova  Dilucidatio.  —  1756.    Monadologia.  — 
1759.  Optimismus.] 
n.  (1760 — 1764)  Empiristische  Beeinflussung  durch  Hume. 

[1762.  Spitzf.  d.  syil.  Fig.  —  1763.  Negat.  Gross.  — 
1763.    Beweisgr.   z.  Demonstr.    Gottes.    —    1764. 
Unters,  üb.  d.  Deutlichkeit.] 
in.  (1766)  Kritischer  Standpunkt. 

[1766.  Träume  eines  Geistersehers.] 

Zweiter  Entwlcklnngsprocess. 

I.  (1770)  Dogmatische  Beeinflussung  durch  Leibniz. 

[1770.  Dissertatio,'] 
n.  (1772  ff.)  Skeptische  Beeinflussung  durch  Hume. 

[1772  ff.  Briefe  an  M.  Herz.] 
m.  (1781)  Kriticismus. 

[1781.  Kritik  der  reinen  Vernunft.] 

§  10. 

Der  Kriticismus  als  Vermittlung  zwischen  Dogmatismus  und 
Skeptidsmus.    Allgemeine  Gesichtspunkte. 

Diese  Vermittlung  ergibt  sich  aus  dem  Angeführten.  Dass  sie  keine 
mechanische  sein  darf,  hat  K.  selbst  betont.  Seine  Vermittlung  wäre 
somit  nach  heutigem  Sprachgebrauch  als  eine  organische  zu  bezeichnen, 
nicht  als  eine  Juxtaposition  der  beiden  Bestandtheile ,  sondern  als  eine 
innere  Durchdringung  und  Intussusception  der  beiden  Elemente.  Die 
Combination  soll  keine  äusserliche,  sie  soll  eine  innerliche  sein  ^  Diese 
Vermittlung  muss  zunächst  allgemein  betrachtet  werden.  Hier  ist  auf 
den  ersten  Blick  klar,  dass  Kant  in  seinem  Kriticismus  die  Methode  oder 
Form  entnimmt  dem  Dogmatismns^  dagegen  dem  Skepticismns  die  Object- 
bestimranng.  Er  nimmt  aus  dem  Dogmatismus  somit  den  Apriorismus  und 
Rationalismus,  d.  h.  er  hält  fest  an  der  Thatsache  apriorischer  Begriffe  und 
Elemente  überhaupt,  und  an  der  Möglichkeit,  aus  reiner  Vernunft  Gegen- 
ständliches zu  erkennen.  Er  nimmt  aus  der  entgegengesetzten  Eichtung  die 
Beschränkung  der  Erkenntniss  auf  Erfahrungsobjecte '.     Der  Anschluss 


'  ELmg  bezeichnet  daher  das  kritische  Verfahren  als  synthetisches 
gegenüber  dem  dogmatischen  als  thetischem  und  dem  skeptischen  als  anti- 
thetischem; daher  der  Name  Synthetismus  statt  Kriticismus. 

*  In  diesem  Sinne  spricht  K.  von  dem  negativen  Nutzen  seiner  Kritik, 
Yftllilnger,  Kant-CommenUr.  4 


50  Specielle  Einleitung. 

an  den  Dogm.  bezüglich  der  allgemeinen  Methode  des  Erkennens  wurde 
durch  diese  zweite  Bestimmung  wesentlich  alterirt:  der  Dogmat.  hatte  seine 
apriorische  Erkenntniss  in  erster  Linie  auf  das  Uebersinnliche  gemünzt  und 
speciell  Gott  und  Unsterblichkeit  a  priori  beweisen  wollen,  d.  h.  der  Dog- 
matismus war  stets  mit  Transscendenz  verbunden  gewesen.  Umgekehrt 
war  die  Beschränkung  auf  das  empirisch  Constatirbare  —  nennen  wir  sie 
Immanenz  —  bis  dahin  ausnahmslos  mit  dem  Sensualismus  resp.  Empiris- 
mus verbunden  gewesen.  Wie  die  erstere  Verbindung  bei  Cartesius, 
Spinoza,  Leibniz,  so  war  die  zweite  bei  (Locke  und)  Hume  sowie 
Condillac  offenbar.  Kant  stiftete  somit  eine  neue  Combination,  indem  er 
Rationalismus  und  Immanenz  verband.  So  zeigt  K.  —  und  dies  ist 
die  schärfste  und  wichtigste  Bestimmung  —  dass  die  Erkenntniss  vom  In- 
halt der  Erfahrung  unabhängig  (sich  aber  doch  auf  Erfahrungsgegen- 
stände beziehend)  sein  kann,  ohne  desshalb  auch  das  Becht  zu  haben,  den 
Umfang  der  Erfahrung  zu  überschreiten.  Sein  Verdienst  bestand  in  der 
Erkenntniss,  dass  aus  den  Elementen  Rationalismus,  Empirismus, 
Transscendenz,  Immanenz  nicht  bloss  die  beiden  Combinationen 

Rationalismus,  Transscendenz, 
Empirismus,  Immanenz 

möglich  seien,  sondern  dass  noch  eine  dritte  sich  ergebe: 

"Rationalismus,  Immanenz  ^ 

Man  kann  nun  Kants  System  sowohl  phänomenalen,  idealistischen  oder  for- 
malen Rationalismus  als  auch  rationalistischen,  formalen,  transscenden- 
talen  Phänomenalismus  (Idealismus)  nennen.  Man  subsumirt  damit 
jedoch  das  Kant'sche  System  das  Einemal  unter  die  dogmatische,  das  Andere- 
mal  unter  die  empiristische  Hauptreihe  als  den  Oberbegriff  und  gibt  in 
dem  Adjectiv  die  charakteristische  Differenz  an.  Damit  wird  aber  jedesmal 
eine  Seite  vor  der  anderen  betont,  was  unseres  Erachtens  unrichtig  ist.  Man 
wird  daher  Kants  System  am  richtigsten  Kriticismus  heissen,  wobei  man 
hinzuzufügen  hat,  dass  in  demselben  Rationalismus  und  Immanenz 
gleichermassen  verknüpft  sind.  Der  Schwerpunkt  des  Rationalismus  wird 
vom  Transscendenten  ins  Immanente  verlegt;  und  die  Erkenntniss  der  Phä- 
nomene wird  dem  schwankenden  Grunde  des  Skepticismus  entzogen,  indem 
sie  sozusagen  rationalistisch  verankert  wird  '.     Für  dieselbe  Verbindung  er- 


weiche keine  positive  Erweiterung  der  Vernunft  über  die  Erfahrung  hinaus  zu- 
lasse.  Krit.  11  f.  795.  851  u.  ö.     Vgl.  Vorr.  B.  XXIV  ff. 

*  Die  vierte:  Empirismus^  Transscendenz,  wie  sie  sich  historisch  bei 
Berkeley  und  Locke  gezeigt  hatte,  wies  K.  mit  wahrem  Abscheu  als  eine  incon- 
sequente  Verbindung,  also  als  eine  unmögliche  Combination  zurück. 

'  Zimmermann,  Lambert  5:  K.  setzte  die  negative  Seite  seiner  Phil., 
die  Grenzbestimmung  dem  Dogmat.,  die  positive,  Herstellung  allgemeingiltiger 
Erkenntniss  dem  Skepticismus  entgegen.  —  In  der  Methode  schliesst  sich  Kant 
Wolf  an,  Vorr.  B,  XXXVII,  in  der  Grenzbestimmung  Hume.  CProl.  Vorr.) 
Er  vermittelt  somit  zwischen  Wolf  und  Hume,  den  schärfsten  Ausläufern  des 


Der  Eriticismtis  als  Vermittiung  zwischen  Dogmatismus  u.  Skepticismus.       51 

geben  sich  noch  andere  Aspecte.  1)  Der  Empirismus  beschränkte  sich  nicht 
bloss  auf  Erfahrung,  sondern  er  leugnete  auch  das  üebersinnliche,  Gott  und 
Unsterblichkeit,  sobald  er  vollständig  consequent  verfuhr.  In  diesem  Sinn 
war  der  consequente  Skepticismus  Atheismus  und  Naturalismus,  theil weise 
Materialismus,  der  Dogmatismus  dagegen  Theismus,  Supranaturalismus 
und  Spiritualismus.  Auch  hierin  bildet  K.  eine  Vermittlung.  Er  nimmt 
mit  dem  Dogmatismus  die  Existenz  solcher  übersinnlichen  Gregenstände  an, 
aber  er  modificirt  die  dogmatische  Lehre,  welche  deren  Erkennbarkeit 
behauptet  hatte,  durch  die  Annäherung  an  den  gemässigten  Empirismus, 
mit  dem  er  die  absolute  Unerkennbarkeit  jener  Gegenstände  annimmt. 
Er  erkennt  dem  Skepticismus  an,  dass  unsere  Erkenntniss  auf  Erfahrung  be- 
schränkt sei,  aber  er  zwingt  denselben  zur  Anerkennung  eines  über  der 
Erfahrungswelt  befindlichen  üebersinnlichen.  So  vermittelt  er  zwischen  dem 
dogmatischen  Wissen  um  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit,  und  der 
skeptischen  Negirung  jener  Gegenstände  durch  den  moralisch  noth- 
wendigen  Glauben,  der  durch  die  praktische  Vernunft  gefordert  wird. 
Vgl.  hierüber  die  feinen  Ausföhrungen  von  Göring,  Viert,  f.  w.  Phil.  I, 
405  ff.  526  ff.  528.  532.  [Eine  andere  Version  der  Lehre  Kants  ist,  dass 
erdieabsoluteEealität  des  Üebersinnlichen  mit  dem  Skepticismus  leugnete, 
jedoch  die  praktische  Nothwendigkeit  der  Gottesidee,  der  Unsterb- 
lichkeitsidee, der  Freiheitsidee  behauptete.  Dieser  Punkt  ist  jedoch  ein 
umstrittener,  da  Viele  Kant  nur  in  der  oben  geschehenen  Weise  inter- 
pretiren.] 

2)  Das  Erstere  führt  zum  zweiten  Gesichtspunkt,  von  dem  aus  Kants 
Kriücismus  eine  Vermittlung  jener  beiden  diametralen  Systeme  ist  \  Der 
Dogmatismus  war  nämlich  auch  mit  dem  Anspruch  verbunden,  die  wahre 
Wirklichkeit  der  Dinge  zu  erkennen;  er  behauptete,  die  eigentlichen 
letzten  Elemente  alles  Gegebenen,  die  letzten  Kräfte  zu  erkennen  und  in 
seinem  Begriffs-  und  Schlusssystem  ein  genaues,  getreues,  vollkommen  zu- 
treffendes Abbild  der  wahren  Wirklichkeit  zu  geben.  Die  Metaphysik  sollte 
ein  ideelles  Gegenbild,  ein  \d\i.^\i.'x  der  Welt  sein,  wie  sie  in  nackter  Wirk- 
lichkeit hinter  der  blossen  sinnlichen  Erscheinung  ist.  Man  bezeichnet  diese 
Richtung  meistens  mit  Realismus.  Andererseits  behauptete  der  Skepti- 
cismus, dass  unser  Erkennen  nur  die  Oberfläche,  die  Erscheinung  treffe, 
dass  die  wahren  eigentlichen  Dinge  etwas  von  unserem  Erkennen,  Empfinden 

Dogmatismus  und  Skepticismus.  Auch  in  Wolf^  „dem  grössten  aller 
dogmatischen  Philosophen"  (a.  a.  0.)^  sieht  Kant  seinen  Vorgänger; 
dies  wird  fast  durchaus  übersehen.  (Vgl.  Laas,  Ks.  Anal.  d.  Erf.  138. 
204  ff.  Id.  u.  Pos.  32.)  Diese  Vermittlung  schliesst  natürlich  eine  üeberwindung 
beider  Richtungen  ein.  Inwiefern  die  Mathematik  es  sei,  durch  welche 
K.  beide  Richtungen  überwindet,  darüber  später.  Ueber  die  Vermittlung 
von  Leibniz  und  Hume  durch  Kant  vgl.  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  II, 
43  a.  44;  und  Adamson,  Kants  Philos.  S.  19  ff. 

'  Eine   so  geringe  Rolle,  als  Paulsen,  Entw.  148  ff.    meint,   spielt  dieser 
Pnnkt  bei  K.  nicht. 


52  Specielle  Einleittuig. 

und  Denken  total  Verschiedenes  seien.  Es  hieng  dies  aufs  engste  zusammen 
mit  der  Ansicht  des  Skepticismus  vom  Ursprung  und  der  Methode  des  Er- 
kennens.  Nach  ihm  entsteht  alles  Erkennen  aus  blossen  Empfindungen. 
Nun  sind  unsere  Empfindungen  nach  der  gemeinsamen  Annahme  der  ge- 
sammten  neueren  Philosophie  etwas  nur  Subjectives;  ist  somit  aller  Er- 
kenntnissinhalt abgeleitet  aus  der  Empfindung,  so  theilt  er  mit  dieser  die 
Subjectivität.  Diese  Richtung  nennt  man  Idealismus,  besser  Phänomena- 
lismus oder  Subjeetivismus.  Eben,  um  jener  nothwendigen  Consequenz  des 
Subjectivismus  zu  entgehen  (die  zu  unterscheiden  ist  von  dem  Probabilismus, 
d.  h.  der  Lehre  des  Empirismus,  dass  alle  Erkenntniss  nur  Wahrscheinliches 
gebe),  nahm  der  Dogmatismus  noch  eine  andere  Erkenntnissquelle  an,  die 
reine  Vernunft.  War  die  Empfindung  nur  subjectiv,  so  konnte  doch  die 
reine  Vernunft  auf  die  wahren  Objecte  gehen,  die  dann  freilich  Noumena 
waren,  d.  h.  Gegenstände,  welche  nur  durch  den  voö;,  die.  reine  Vernunft  zu 
erkennen  sind.  Der  Dogmatismus,  oben  als  Realismus  gekennzeichnet,  kann 
daher  auch  als  Noumenalismus  oder  Objectivismus  bezeichnet  werden. 
Auch  hier  fand  nun  Kant  die  Möglichkeit  einer  neuen  bis  jetzt  unversuchten 
Combination.     Bisher  waren  verbunden: 

Rationalismus  —  Objectivismus, 
Empirismus  —  Subjectivismus. 

Kant  findet  die  Möglichkeit  der  Verbindung: 

Rationalismus  —  Subjectivismus. 

(Die  vierte  Combination: 

Empirismus  —  Objectivismus 

galt  von  vorne  herein  für  unmöglich.)  Mit  anderen  Worten:  Kant  lehrte, 
dass  die  Erkenntniss  der  Dinge  aus  reiner  Vernunft  vollständig  möglich  sei, 
nur  seien  diese  a  priori  bestimmbaren  Gegenstände  nichtsdestoweniger  oder 
vielmehr  ebendesshalb  blosse  Erscheinungen.  So  schränkt  er  den  Dogmat. 
ein.  Kant  lehrte ,  dass  unsere  Erkenntniss  bloss  subjectiv,  bloss  auf  Erschei- 
nungen eingeschränkt  sei,  dass  aber  nichtsdestoweniger  oder  vielmehr  eben- 
desshalb unsere  Erkenntniss  dieser  Erscheinungen  wenigstens  theil weise 
a  priori  möglich  sei  \  Bei  dieser  Art  der  Vermittlung  gab  Kant  beiden 
Systemen  theilweise  Recht,  indem  er  das  Berechtigte  aus  beiden  herausnahm. 
Dieselbe  Art  der  Vermittlung  traf  Kant  auch  zwischen  beiden  Systemen, 
insofern  der  Empirismus  nicht  so  weit  ging,  dass  er  die  Existenz  des  Ueber- 
sinnlichen,  insbes.  Gottes  leugnete,  sondern  nur  dessen  ünerkennbarkeit 
behauptete,  während  der  Dogmatismus  die  Erkennbarkeit  behauptete,  und 
zwar  aus  reiner  Vernunft  •.  Kant  gab  dem  Rationalismus  den  Ursprung  der 


^  Nicht  damit  zu  confundiren  ist  der  Gegensatz  des  transscendentalen  Realis- 
mus und  Idealismus^  des  empirischen  Realismus  und  Idealismus.  Diese  Termini 
und  Systeme  beziehen  sich  nur  auf  die  Frage  der  Realität  von  Raum  und  Zeit 
und  decken  sich  nicht  mit  dem  obigen  Schema. 

•  Vgl.  hierüber  Reinhold,  in  der  Berl.  Mon.  XIV,  57  flf. 


Der  Kriticismus  als  Vermittlung  zwischen  Dogmatismus  u.  Skepticismus.       53 

Gottesidee  aus  der  Vernunft  zu,  ohne  jedoch  daraus  die  Erkennbarkeit 
Gottes  als  Consequenz  zu  ziehen;  hier  nahm  er  die  Unerkennbarkeit  aus 
dem  Empirismus. 

3)  Ein  weiterer  Punkt  der  Vermittlung  bezieht  sich  auf  das  Ding  an 
sich-  Nach  Kants  Auffassung  hatte  Berkeley  alles  in  Schein  verwandelt, 
indem  er  die  Dinge  an  sich  leugnete,  welche  der  Dogmatismus  als  erkenn- 
bare behauptet.  Jedenfalls  gab  es  damals  solche  Idealisten  (Egoisten),  wenn 
auch  Berkeley  selbst  nicht  darunter  fallen  mag.  Kant  nimmt  die  Dinge 
an  sich  an,  leugnet  jedoch  deren  Erkennbarkeit  *. 

4)  Ferner  hatte  jedes  der  beiden  entgegengesetzten  Systeme  in  Bezug 
auf  die  erste  Frage,  den  Ursprung  der  Erkenntniss,  nur  je  Ein  selb- 
ständiges Erkenntnissvermögen  gelten  lassen.  (Vgl.  hierüber  ad  Einl.  16 
n.  Holder,  Mögl.  d.  Erk.  16  ff.)  Der  Rationalismus  kannte  nur  den 
spontanen  Verstand  und  unterschied  von  ihm  die  Sinnlichkeit  nur 
als  eine  an  Klarheit  und  Deutlichkeit  zurückstehende  niedere  Stufe.  Der 
Sensualismus  erkannte  nur  die  receptive  Sinnlichkeit  an  und  sah  in 
dem  Verstand  nur  eine  höhere  Ausbildung  sinnlicher  Eindrücke.  Kant  ver- 
band auch  hierin  beide  und  nahm  zwei  selbständige  Quellen  unserer 
Erkenntniss  an,  Sinnlichkeit  und  Verstand;  jene  gibt  die  Gegen- 
stände, dieser  denkt  und  verbindet  sie.  Vgl.  besonders  £j*it.  271 :  „Anstatt 
im  Verstände  und  in  der  Sinnlichkeit  zwei  ganz  verschiedene  Quellen  von 
Vorstellungen  zu  suchen,  die  aber  nur  in  Verknüpfung  objectiv  gültig 
von  Dingen  urtheilen  können,  hielt  sich  ein  jeder  dieser  grossen  Männer 
nur  an  Eine  von  beiden,  die  sich  ihrer  Meinung  nach  unmittelbar  auf  Dinge 
an  sich  bezöge,  indessen  dass  die  andere  nichts  that,  als  die  Vorstellungen 
der  ersteren  zu  verwirren  oder  zu  ordnen."  —  Der  Rationalismus,  ins- 
besondere der  extreme  von  Leibniz  verlegte  den  Ursprung  der  Gegenstände 
des  Erkennens  ganz  in  das  S  u  b  j  e  c  t :  das  Subject  ist  nicht  nur  Quelle  der 
allgemeinen  Gesetze,  sondern  auch  die  Existenz  specieller  Dinge,  ja  selbst 
Gottes  lag  innerhalb  des  Bereichs  der  subjectiven  apriorischen  Erkenntniss- 
fähigkeit. Der  Sensualismus  umgekehrt  lässt  alle  gegenständliche  Erkennt- 
niss aus  dem  Object  entspringen.  Kants  Kriticismus  gibt  dem  Subject, 
was  des  Subjectes  ist,  und  dem  Object,  was  des  Objectes  ist.  Die  Erkennt- 
niss stammt  der  materialen  Seite  nach  aus  dem  Object,  der  formalen 
Seite  nach  aber  aus  dem  Subject. 


'  Damit  Zusammenbau gend^  jedoch  nicht  damit  zu  yerwechseln  ist  der  Gegen- 
satz des  dogmatischen^  skeptischen,  kritischen  Idealismus.  Auch  hier  ist  eine 
andere,  jedoch  bestrittene  Version  seiner  Lehre  zu  erwähnen.  Kant  leugnete  un- 
abhängige, absolute  Dinge  an  sich,  erkannte  aber  an,  dass  ihre  Annahme  eine 
noth wendige,  wenn  auch  unreale  Idee  sei.  Hierüber,  wie  über  die Gottesi d ee  u. s. w. 
das  Genauere  in  der  Analytik  und  Dialektik. 


54  Specielle  Einleitung. 

§  11. 

Dieselbe  Vermittlung  specieller  betrachtet. 

Wäre  die  Vermittlung  auf  diese  Gedankengänge  eingeschränkt,  so  würde 
sie  immer  noch  eine  ziemlich  äusserliche  sein.  Allein  bei  speciellerer  Be- 
trachtung zeigt  sich  eine  noch  innigere  Verschlingung  und  Durchdringung 
der  Gegensätze ;  und  wenn  auch  das  Verständniss  davon  schon  eine  allgemeine 
Kenntniss  des  Kriticismus  voraussetzt,  so  müssen  diese  Gedankenfaden  doch 
schon  hier  blossgelegt  werden, 

1)  Kant  entlehnt  die  Methode  der  Erkenntniss  dem  Dogmatismus:  er 
ist  Apriorist  und  Rationalist.  Aber  Kants  Apriorismus  und  Rationa- 
lismus ist  nicht  mehr  der  von  Cartesius  und  Leibniz :  es  tritt  beidemal  eine 
ganz  wesentliche  empiristischeModification  ein.  Die  apriorischen 
Elemente  (das  psychologische  Apriori)  bei  Kant  sind  nicht  wie  bei 
Cartesius  (Leibniz  war  hierin  Vorgänger  Kants)  angeborene,  d.  h.  vor  der 
Erfahrung  in  der  Seele  bereitliegende  Begriffe,  sondern  sie  entwickeln  sich 
an  und  mit  der  Erfahrung,  wenn  auch  nicht  aus  der  Erfahrung:  sie  ent- 
stehen erst  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  als  das  „Inventarium* 
der  reinen  Vernunftbestandtheile  *.  So  hat  der  Empirismus  schon  in  den 
Apriorismus  hinein  eine  Bresche  gebrochen.  Auch  der  Rationalismus 
(bei  dem  es  sich  um  die  formale  Verknüpfung  des  apriorischen  Begriffs- 
inhaltes handelt)  wird  empiristisch  tingirt:  die  rationalen  Erkenntnisse  (das 
logische  Apriori)  können  nicht  ohne  weiteres  aus  blossen  Begriffen 
gebildet  werden,  die  Möglichkeit  ihrer  Aufstellung  und  ihrer  Rechtfertigung 
erfordert  die  Beziehung  auf  das  in  Kants  System  so  ungemein  wichtige 
Princip  der  Möglichkeit  der  Erfahrung.  Erkenntnissgesetze  a  priori 
sind  nur  insofern  möglich,  als  ohne  sie  Erfahrung  unmöglich,  als  bloss  durch 
sie  Erfahrung  möglich  ist.  Freilich  ist  diese  „Erfahrung*  wieder  ihrerseits 
dogmatisch  gefärbt :  Erfahrung  ist  das  nothwendig  zusammenhängende 
System  der  Erscheinungen,  das  unter  allgemeinen  Gesetzen  steht.  Aber 
auch  diese  dogmatische  Färbung  hat  wieder  ihren  empiristischen  Zusatz: 
die  allgemeinen  und  nothwendigen  Erscheinungsgesetze  in  der  Erfahrung 
sind  auch  nur  auf  diese  beschränkt.  Sodann  haben  Apriorismus  und  Ratio- 
nalismus die  wichtige  empiristische  Restriction  erhalten,  dass  Begriffe  und 
Erkenntnisse  ohne  das  Substrat  der  sinnlichen  Erfahrung  ganz  leer  und 
nichtig  sind.  Begriffe  ohne  Anschauungen  sind  leer.  Nur  in  der 
Anwendung  auf  den  Erfahrungsstoff  erfüllt  das  Apriori  seine  Bestimmung; 
ohne  die  Correspondenz  sinnlicher  Gegenstände  bleiben  alle  apriorischen 
Formen  hohl  und  leer.  „Alle  Erkenntniss  von  Dingen  aus  blossem  reinen 
Verstände  oder  reiner  Vernunft  ist  nichts  als  Schein  und  nur  in  der  Er- 
fahrung ist  Wahrheit."     Kant,  Proleg.  Anh.  Or.  205. 

*  Ausserdem  werden  dieselben  bei  Kant  auch  zum  erstenmal  systematisch 
aufgezählt,  a  priori  abgeleitet  und  a  priori  gerechtfertigt. 


Der  Kriticismus  als  Vermittlung  zwischen  Dogmatismus  u.  Skepticismus.       55 

2)  Dies  fuhrt  zum  zweiten  Punkt:  Kant  entlehnt  die  Grenzbestimmung, 
die  Bestimmung  der  Erkenntnissobjecie  dem  Skepticismus.  Aber  wie  er 
jenen  obigen  fundamentalen  Unterschied  seines  Rationalismus  von  dem 
des  Dogmatismus  fest  betont,  so  versäumt  er  nicht  darauf  hinzuweisen, 
dass  seine  Grenzbestimmung  doch  wieder  ganz  anderer  Natur  sei,  als  die 
des  Skepticismus.  Wie  der  Rationalismus  bei  der  Frage  nach  der  ob- 
jectiven  Gültigkeit  seiner  Sätze,  nach  ihrer  Beziehung  auf  ihre  Gegenstände 
Schiffbruch  leidet,  und  (vgl.  bes.  Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772)  zur 
wenn  auch  übersinnlichen  Anschauung  seine  Zuflucht  nimmt,  also  zu 
einer  Art  Empirismus  wird,  so  fuhrt  der  Skepticismus  hier  doch  endlich  zur 
Schwärmerei  des  Dogmatismus  zurück.  Denn  die  Grenzbestimmung  der 
Skeptiker  ist  eine  bloss  willkürliche,  zufällige,  auf  keinen  Beweis  gegründete. 
Der  Skepticismus  wird  daher  selbst  bezweifelt;  ja  der  eigenthümliche  Schwung 
der  Vernunft  wird  hiebei  nicht  im  mindesten  gestört,  der  Raum  zu  ihrer 
Ausbreitung  wird  nicht  verschlossen  (Krit.  768).  Somit  kann  Kant  die 
Grenzbestimmung  des  Skepticismus  zwar  wohl  seinem  Wesen,  aber  nicht  der 
Form  nach  herübemehmen.  —  Die  Grenzbestimmung  ist  auf  strenge  Prin- 
cipien  a  priori  gegründet,  sie  ist  mit  einem  Worte  dogmatisch.  Die  Grenz- 
bestimmung des  Empirismus  ist  rationalistisch  motivirt, 
wie  der  Rationalismus  des  Dogmatismus  empiristisch  modi- 
ficirt  ist.  Denn  in  letzterer  Hinsicht  nimmt  K.  nur  die  apodiktische 
Form  der  rationalistischen  Methode  herüber,  die  er  aber  mit  einem  ganz 
anderen  Wesensinhalt  erfüllt. 

3)  Was  die  Methode  des  Empirismus  betrifft,  so  gesteht  K.  zu,  dass 
alle  Erkenntniss  mit  der  Erfahrung  anfange,  aber  er  macht  nicht  nur  die 
dogmatistische  Restriction,  dass  nicht  alle  aus  der  Erfahrung  entspringe, 
sondern  er  entdeckt,  dass  in  der  Erfahrung  selbst  sogar  apriorische  Bei- 
mischungen höchst  wesentlicher  Natur  enthalten  sind  und  dass  alle  An- 
schauungen ohne  (apriorische)  Begriffe  blind  sind.  So  wird  der 
Grundbegriff  des  Empirismus :  Erfahrung  im  Sinne  des  Dogmatismus  um- 
gearbeitet. —  Was  die  Objecte  des  Dogmatismus  betrifft,  so  nimmt  Kant 
den  Grundbegriff  desselben  an:  das  Noumenon;  aber  indem  er  lehrt,  es 
nie  in  positiv-dogmatischer  Weise  zu  nehmen,  sondern  nur  einen  negativen 
Sinn  an  dasselbe  zu  knüpfen,  so  wird  dieser  dogmatistische  Grundbegriff 
in  empiristischer,  ja  theilweise  sogar  in  skeptischer  Weise  umgeformt.  So 
wird  der  Realismus  des  Dogmatismus  zum  kritischen  Idealismus.  Aber  dieser 
Idealismus  unterscheidet  sich  von  dem  gemeinen  Phänomenalismus  des  vor- 
kritischen Empirismus  sehr  wesentlich ;  er  ist  „traDSScendental*^ :  d.  h.  er 
ist  auf  apriorische  Elemente  und  auf  eine  apriorische  Theorie  dieser  apriori- 
schen Elemente  gegründet:  so  wird  also  auch  der  Phänomenalismus  des 
Empirismus  im  Sinne  des  Dogmatismus  resp.  Rationalismus  umgearbeitet. 
Der  Begriff  der  Phänomena,  dieser  schwankende  Grundbegriff  des  em- 
piristischen Skeptikers,  wird  im  Kriticismus  dogmatisirt. 

4)  Der  Dogmatismus  gieng  von  der  Grundüberzeugung  aus,  dass  Begriffe 
und  Dinge  im  Grunde  identisch  seien,  dass  Sein  und  Denken  sich  decken. 


56  Specielle  Einleitung. 

Wie  in  der  Mathematik  der  Begriff  der  Figur  und  die   Figur  (als  der  Ge- 
genstand des  Erkennens)  als  identisch  galten,  so  in  der  Metaphysik  Begriff 
und  Ding.     Die  innere  Organisation  eines  Begriffs  und  eines  Dinges 
hielt  man  fiir  identisch,  wie  Paulsen   sich  treffend  ausdrückt  (Entw.  84). 
Wie  der  Begriff  seine  Merkmale,  so  hat  das  Dinff  seine  Eigenschaften.    Die 
Gesetze  des  Denkens,   das  Gesetz   des  Widerspruchs   und  das  Gesetz  des  zu- 
reichenden  Grundes  gelten  daher  einfach  als  reale  Gesetze.     Die  wesentliche 
Wahrheit  der  Dinge  richtet  sich,  sagt  z.  B.  Reimarus,  Vemunftl.  §  17,  nach 
eben  den  Begeln,  wonach  wir  auch  denken.     Haben  wir  erst  die  richtigen 
Begriffe,  so  können  wir  daraus  durch  Anwendung  jener  Gesetze  alle  Wahr- 
heit-ableiten,  wie  in  Wirklichkeit  aus  der  Substanz  der  Dinge  ihre  Eigen- 
schaften und  Zustände  folgen.    Mit  anderen  Worten  drückt  dies  Spinoza  aus : 
ordo  et  connexio  idearum  idem  est  oc  ordo  et  connexio  rerutn;  so  herrscht 
also  die  Verwechslung  von  ratio  und  causa,  von  sequi  und  causari,  von  lo- 
gischer Dependenz  und  realer  Verursachung.    Dies  sind  die  allgemeinen  Züge 
des  Dogmatismus,   mag  auch  im  Einzelnen  der  Einzelne  davon  abweichen. 
Umgekehrt  lehrt  der  Empirismus  und  noch  mehr  der  Skepticismus  die  ab- 
solute DiversitM  des  Denkens  und  Seins,  der  Begriffe  und  der  Dinge.    Daher 
kann  man  mittelst  begrifflicher  Operationen   nie  zur  Erkenntniss  und  zum 
absoluten  Verständniss   von  Thatsachen  gelangen.     Auch  hierin  ist  Kants 
System  eine  Vermittlung:  was  die  Form  betrifft,  so  stimmen  darin  die  Dinge 
nicht  blos  mit  dem  Denken  überein,  sondern  sie  haben  als  Erscheinungen  ihre 
Form  schlechterdings  nur  aus   dem  Subject^   das  seinen  Begriff  in  dieselben 
hineinträgt.   Dagegen  in  Bezug  auf  die  Materie  nimmt  E.  eine  vollständige 
Diversität  an:  das  Ding,  das  mir   durch  die  Empfindung  gegeben  wird,  ist 
etwas  ganz  anderes,  als  mein  Begriff  davon  ^ 

5)  Auch  in  Bezug  auf  das  formale  Ziel  des  Erkennens  trifft  K.  eine 
Vermittlung.  Das  Ziel  des  Dogmat.  ist  absolute  Bationalisirung  der 
Erkenntnissobjecte ,  vollständige  Auflösung  derselben  in  Begriffe,  und  sein 
Bestreben,  alles  Wirkliche  logisch  zu  durchschauen,  verstehen,  d.  h.  als 
nothwendig  zu  begreifen,  oder  mit  andern  Worten  die  Unmöglichkeit  des 
Gegentheils  zu  erkennen,  so  dass  Alles  ohne  Best  in  die  logische  Rechnung 
aufgehen  sollte.  Der  Empirismus  dagegen  bleibt  zuletzt  bei  dem  Realen  als 
dem  nicht  weiter  Analysirbaren  stehen,  das  der  logischen  Analyse  und  dem 
rationalistischen  Oxydationsprozess  schlechterdings  Widerstand  leistet,  und 
so  zu  sagen  als  unorganischer  Rest,  als  Asche  übrig  bleibt;  er  erkennt  das 
Reale  als  das  Irrationale  an,  d.  h.  als  das  Zufällige^  für  das  sich  keine 
logische  innere  Nothwendigkeit  durch  Vemunftgründe  auffinden  lässt;  diese 


*  Nach  Jakob,  Ann.  II,  393  besteht  der  Dogmatis m.  darin,  „dass  er 
Begriffe  mit  Objecten  verwechselt  und  in  den  Begriffen  die  Dinge  gefunden  zu 
haben  meint,  da  hingegen  die  Kritik  verlangt,  dass  allen  Begriffen  zuerst  ihre 
Gegenstände  gesichert  werden  sollen,  ehe  man  aus  denselben  Erkenntnisse  von 
Dingen  schöpfen  kann".  Vgl.  Beck,  Einz.  mögl.  Standp.  S.  14.  Windelband, 
Gesch.  d.  n.  Phü.  U,  20. 


Der  Kriticismns  als  Vermittlang  zwischen  Dogmatismus  u.  Skeptlcismus.       57 

empirisch  constatirbaren  letzten  Wirklichkeitsfactoren  lassen  sich  nicht  mehr 
logisch  ergründen,  nur  logisch  ordnen.  Auch  hierin  trifft  K.  eine  Vermitt- 
lung, die  freilich  nirgends  klar  genug  ausgesprochen  ist,  die  aber  factisch 
vorliegt  (vgl.  z.  B.  Proleg.  §  28) ;  diese  Vermittlung  besteht  darin,  dass  das 
Formaie,  weil  aus  dem  Subject  stammend,  auch  schlechthin  rational  und 
damit  als  noth wendig  erkennbar  ist,  dass  dagegen  alles  Materielle  an 
den  Erscheinungen  unbegreiflich,  d.  h.  nicht  mehr  rationalisirbar  oder  zu- 
fällig ist.  —  [Vgl.  Göring,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  526  f.:  Es  verschwindet 
die  Nothwendigkeit  desDogm.,  und  Wirklichkeit  des  Emp.,  mit  beiden 
das  Wissen;  übrig  bleibt  die  Möglichkeit  des  Kriticismus  u.  s.  w.] 

Dem  Dogmatismus  wirft  Kant  unkritischen  Apriorismus,  unkritischen 
Rationalismus,  unkritischen  Noumenalismus  und  unkritische  Transscendenz  vor. 
Dem  Skepticismus  wirft  er  unkritischen  Empirismus,  unkritischen  Phänome- 
naiismus  und  unkritische  Immanenz  vor.  Im  Kriticismus  werden  die  be- 
rechtigten Bestandtheile  durch  kritische  Umarbeitung  sjur  Aufnahme  in  ein 
neues  System  zubereitet,  das  die  Einseitigkeiten  verwirft  und  so  eine  orga- 
nische Vermittlung  der  diametralen  Richtungen  darstellt. 

Diese  Zerfaserung  des  Kjdticismus  in  seine  dogmatischen  und  empiristi- 
schen Bestandtheile,  die  Aufdeckung  der  Durchschlingung*,  Durchdringung  und 
sozusagen  der  Interferenz  der  Wellen  an  einzelnen  Punkten  liesse  sich  noch 
weiter  ins  Detail  treiben*.  Das  Gesagte  genügt  aber  zur  Einleitung  in 
Kants  Kriticismus,  in  dessen  Verhältniss  zu  den  vorkritischen  Strömungen. 

Fassen  wir  nun  die  Hauptmerkmale  zusammen,  welche  für  den  Kriti- 
cismns bezeichnend  sind,  so  ergibt  sich,  dass  derselbe  dasjenige  philosophische 
System  ist,  welches  lehrt,  dass  das  Erkennen  zwar  nicht  auf  den  Erfah- 
rangsinhalt,  aber  auf  den  Erfahrungsumfang  eingeschränkt  ist;  oder 
mit  Kants  eigenen  Worten,  Proleg.  §  34:  ungeachtet  der  Unabhängigkeit 
unserer  reinen  Anschauungsformen,  Verstandesbegriffe  und  Grundsätze  von 
der  Erfahrung,  haben  dieselben  doch  ausser  dem  Feld  der  Erfahrung 
keine  Gültigkeit.  Der  Kriticismus  unterscheidet  (Krit.,  Vorr.  A  VI)  die  ge- 
rechten Ansprüche  der  reinen  Vernunft  von  ihren  grundlosen  An- 
massungen.  Nach  Vorr.  B  XVIII  f.  gibt  der  Kriticismus  einerseits  eine  De- 
duction,  d.  h.  einen  Bechtsnachweis  unseres  Vermögens  a  priori,  aber  zeigt 


'  Gruppe  Antäus  140.  „Es  kann  dem  sorgsamen  Betrachter  unmöglich 
entgehen^  dass  nur  die  Elemente,  Resultate  und  Richtungen  der  vorkritischen  beiden 
Sjsteme,  auf  das  sonderbarste  verschlungen,  das  kritische  System  aus- 
machen, es  kann  sogar  dem  schärferen  Auge  nicht  entgehen,  dass  oft  nur  durch 
diese  grosse  Verschlungenheit  die  Illusion  erwächst,  als  sei  hier  wirklich  jedem 
der  streitenden  Elemente  sein  Recht  geschehen.** 

•  Fischer,  Syst.  d.  Log.  u.  Met.  §  54  stellt  die  Vermittlung  so  dar:  Alle 
Erkenntniss  ist  Erfahrung  (Emp.),  aber  die  Erfahrung  ist  nur  möglich  durch  reine 
Yerstandesbegriffe  (Rat.),  die  Kategorien  gelten  nur  innerhalb  der  Erfahrung  (Emp.), 
aber  sie  sind  vor  aller  Erfahrung,  d.  h.  a  priori  (Rat.).  Sie  werden  nicht  durch 
die  Erfahrung  gemacht  (Widerl.  des  Emp.),  vielmehr  wird  die  Erfahrung  durch 
sie  gemacht,  aber  es  wird  durch  sie  auch  nur  Erfahrung  gemacht  (Widerl.  des  Rat.). 


58  Specielle  Einleitung. 

auch,  dass  wir  mit  demselben  nie  über  die  Grenze  möglicher  Erfah- 
rung hinauskommen  können,  üeberweg,  Grundr.  III,  §  6  formulirt  daher 
richtig:  „Kants  Eriticismus  schränkt  nicht  die  Erkenntniss mittel  der  Phi- 
losophie auf  Empirie,  aber  ihre  Erkenntnissobjecte  auf  den  Erfahrungs- 
kreis ein.*  Die  kürzeste  Formel  für  das  Verhältniss  der  drei  Riehtungen 
möchte  wohl  folgende  sein:  Der  Dogmatismus  lehrt:  die  Erkenntniss  ent- 
steht ohne  Erfahrung  und  geht  ttber  Erfahrung  hinaus;  der  Empirismus 
lehrt:  die  Erkenntniss  entsteht  ans  Erfahrung  und  ist  nur  für  Erfahrung 
bestimmt.  Der  Kriticismus  lehrt:  die  Erkenntniss  entsteht  ohne  Erfahrung, 
ist  aber  nur  für  Erfahrung  bestimmt. 


§  12. 

Kants  (durchgängige  Vermitüungstendenz. 

Die  Vermittlung  zwischen  Gegensätzen  ist  eine  sehr  hervor- 
stechende Tendenz  von  Kant,  ohne  welche  sein  Streben  und  sein  Wirken 
nicht  verständlich  ist.  Diese  vermittelnde  Tendenz  liegt  der  deutschen 
Philosophie  überhaupt  im  Blute '.  Besonders  stark  tritt  sie  in  Leibniz 
hervor,  der  zwischen  Piaton  und  Aristoteles,  Alten  und  Neuen,  Scholastik 
und  Bienaissance ,  Gassendi  und  Cartesius,  Katholicismus  und  Protestan- 
tismus u.  s.  w.  zu  vermitteln  sucht.  Bei  Kant  tritt  dieses  Bestreben  von 
Anfang  an  hervor,  und  Fischer  hat  mit  richtigem  Takt  diesen  rothen 
Faden  herausgehoben  und  festgehalten.  Die  Erstlingsschrift  will  (1)  die  ent- 
gegengesetzten Lehrbegriflfe  von  Descartes  un  dLeibniz  vereinigen.  Zwei 
Aeusserungen  Kants  in  jener  Schrift  sind  für  seinen  wissenschaftlichen 
Charakter  bezeichnend.  In  §  20  schildert  er  „die  Regel",  der  er  sich  jeder- 
zeit in  der  „Untersuchung  der  Wahrheiten  bedient  habe":  „Wenn  Männer 
von  gutem  Verstände,  bei  denen  entweder  auf  keinem  oder  auf  beiden  Theilen 
die  Vermuthung  fremder  Absichten  zu  finden  ist,  ganz  widereinander  laufende 
Meinungen  behaupten,  so  ist  es  der  Logik  der  Wahrscheinlichkeiten  gemäss, 
seine  Aufmerksamkeit  am  meisten  auf  einen  gewissen  Mittelsatz  zu  richten, 
der  beiden  Parteien  in  gewissem  Masse  Recht  lässt."  Er  nennt  es  in  §  21 
den  sichersten  Weg,  eine  Meinung  „zu  ergreifen,  wobei  beide  grosse  Parteien 
ihre  Rechnung  finden".  Es  heisst,  sagt  er  §  125,  „gewissermassen  die  Ehre 
der  menschlichen  Vernunft  vertheidigen,  wenn  man  sie  in  verschiedenen 
Personen  scharfsinniger  Männer  mit  sich  selber  vereiniget,  und  die  Wahrheit, 
welche  von  der  Gründlichkeit  solcher  Männer  niemals  gänzlich  verfehlet  wird, 
auch  alsdann  herausfindet,  wenn  sie  sich  gerade  widersprechen."  Die  Schrift 
über  die  Naturgesch.  des  Himmels  sucht  (2)  Vereinigung  zwischen  Newton  und 
Leibniz,  Mechanismus  und  Teleologie  (vgl.  Fischer  145);  2.  Th.  l.Hptst.: 
„Man  sieht  bei  unparteiischer  Erwägung,  dass  die  Gründe  von  beiden  Seiten 


*  Man  hat  gesagt,  Deutschlands  Philos.  sei  eine  Vermittlung  zwischen  eng- 
lischem Empirismus  und  französischem  Rationalismus. 


Kants  durchgängige  Vermittlangstendenz.  59 

[Mechanismus  uiid  Eingriff  Gottes]  gleich  stark  und  beide  einer  völligen 
Gewissheit  gleich  zu  sehätzen  sind.  Es  ist  aber  ebenso  klar,  dass  ein  Be- 
griff sein  müsse,  in  welchem  diese  dem  Scheine  nach  wider  einander  strei- 
tenden Gründe  vereinigt  werden  können  und  sollen,  und  dass  in  diesem  Be- 
griffe das  wahre  System  zu  suchen  sei.*  Also  auch  hier  übernimmt  K. 
die  Bellendes  Schiedsrichters,  die  kritische,  und  neben  der  Bestimmung 
der  Grenzen  des  menschlichen  Erkennens,  der  einen  Seite  der  Kritik,  ist 
die  richterliche  Entscheidung,  die  speciell  als  Vermittlung  sich  darstellt,  die 
andere  Seite  der  Kantischen  Methode  (vgl.  Fischer  136).  In  der  Vorrede  zu 
der  1 756  vorgelegten  Monadologia  physica  will  er  (3)  die  Gegensätze  zwischen 
Geometrie  und  Transscendentalphilosophie  (speciell  Newton  und  Leibniz)  bes. 
über  die  unendliche  Theilbarkeit  der  Materie  ausgleichen,  „conciliare^.  „Quam 
litem  cum  componere  haud  parvi  laboris  esse  appareat,  saUem  aliquid 
aperae  in  eo  coüocare  statui,*^  Nach  Propos,  V  haben  beide  Recht.  In  der 
Xova  Dilucidatio  nimmt  K.  dieselbe  schiedsrichterliche  Stellung  ein  (4)  gegen- 
über dem  Streit  zwischen  Wolf  und  Crusius  über  den  Satz  des  zur.  Grundes, 
und  ebendaselbst  (5)  will  er  Wolfs  Lehre  von  der  Weltharmonie  mit  Newtons 
mechanischer  Betrachtung  verbinden  (Fischer  167).  Daher  hält  er  auch 
(Ankünd.  der  Vorl.  1758)  die  polemische  Behandlung  der  Sätze  für  ein 
vorzügliches  Mittel,  die  Einsichten  zu  behandeln.  In  der  Preisschrift  will 
K.  (6)  Newtons  naturwissenschaftliche  Methode  und  Leibniz'  philos.  Methode  in 
freilich  unklarer  Weise  verbinden.  Besonders  stark  tritt  diese  Vermittlungs-. 
tendenz  hervor  in  der  fast  meist  ihrer  Absicht  nach  missverstandenen  Schrift 
über  die  Träume  eines  Geistersehers,  wo  er  (7)  im  ersten  Theil,  im  I.  und  II. 
Hauptst.  die  Position  der  Metaphysik,  des  Dogmatismus,  Rationalismus  oder 
,  Idealismus '^y  im  III.  Hauptst.  die  der  Erfahrungsphilosophie,  des  Skepticis- 
mns,  Empirismus  oder  „ Realismus '^  nacheinander  einnimmt,  um  zwischen 
beiden  Gegensätzen  hindurch  im  IV.  Abschn.  den  neuen  kritischen  Stand- 
punkt zu  begründen.  Es  entspricht  diese  Methode  genau  der  Art  und  Weise 
bei  den  Antinomien  in  der  Kritik.  In  der  Dissertation  (8)  vermittelt  K.  zwischen 
der  englischen  und  deutschen  Raumtheorie  (§  14,  5.  §  15,  D),  d.  h.  zwischen 
Newtons  und  Leibniz'  Lehre  (vgl.  Kritik  39  ff.).  Die  ganze  Kritik  der  r. 
V.  ist  (9)  eine  Vermittlung  zwischen  englischem  Empirismus  und  deut- 
schem Rationalismus.     Vgl.  oben  S.  3  ff.  13.  26.  32  ff.  37—43.  47  ff. 

§  13. 

Die  yerschiedenen  Ansichten  über  den  Grundcharakter  der  Kritik 

der  reinen  Yemunft. 

Es  ist  aus  dem  Dargestellten  auch   erklärlich,  wie  es  kam,  dass  Kants 
System    sogleich   nach    1781    falsch    aufgefasst   werden   konnte  ^    Zunächst 


'  Um  so  mehr,  als,  wie  Erdmann,   Kb.  Krit.  10,  gut  bemerkt,  Kants  Kritik 
tiberhaapt   für   seine  Zeitgenossen   „zunächst  ein   vollkommen  incom mensurables 


60  Specielle  Einleitung. 

sachte  man  ihn  zu  den  bisherigen  Systemen,  d.  h.  zu  Einem  derselben  zu 
zählen.  In  dem  1786  geschriebenen  Aufsatz:  „Was  heisst  sich  im  Denken 
Orientiren ?**  (ad  fin.  Anm.)  hat  sich  K.  schon  hierüber  beklagt.  Einmal 
rechnete  man  das  neue  System  zum  Dogmatismus,  und  glaubte  speciell, 
es  leiste  dem  Spinozismus  Vorschub.  Aber  „die  Kritik  beschneidet  dem  Dog- 
matismus gänzlich  die  Flügel  in  Ansehung  der  Erkenntniss  über^nnlicher 
Gegenstände*.  „Es  gibt  kein  einziges  Mittel,  alle  Schwärmerei  [des  Dogmat.] 
mit  der  Wurzel  auszurotten,  als  die  Grenzbestimmung  des  reinen  Vemunft- 
vermögens.*  —  Andererseits  fand  man  in  der  Kritik  d.  r.  V.  Skepsis,  „ob- 
gleich die  Kritik  eben  darauf  hinausgeht,  etwas  Gewisses  und  Bestimm- 
tes in  Ansehung  des  Umfanges  unserer  Erkenntniss  a  priori  festzusetzen*. 
Man  bemerke,  wie  hier  K.  ausdrücklich  nur  das  Unterscheidende  heraus- 
hebt, dem  Dogmat.  gegenüber  die  Grenzbestimmung,  dem  Skeptic.  gegen- 
über die  dogmatische  Gewissheit  und  die  Erkenntniss  a  priori.  Das  Ge- 
meinsame, dort  den  Rationalismus,  hier  eben  die  Beschränkung  auf  den 
Erfahrungsumfang,  muss  man  zwischen  den  Zeilen  lesen.  K.  bespricht 
in  der  angezogenen  Stelle  die  beiden  Haupteinseitigkeiten,  welche  bei  der 
Auffassung  der  Kritik  mit  unterliefen.  Dieselben  konnten  einen  doppelten 
psychologischen  Grund  haben.  Nach  dem  natürlichen  Gesetz  des  Gegensatzes 
sehen  Dogmatiker  und  Empiristen  zunächst  in  dem  neuen  Werk  nur  das- 
jenige, was  sie  von  demselben  trennte,  indem  sie  das  Gemeinsame  für  das 
Selbstverständliche  hielten  und  daher  ignorirten.  Diejenigen  Dogmatisten, 
welche  die  apriorische  und  rationalistische  Grundlage  des  Erkennens  über- 
haupt nicht  in  Zweifel  zogen,  schätzten  die  gleichgestimmte  Saite  in  Kant 
nicht,  und  was  ihnen  entgegentrat  als  neu  und  bedeutend,  war  die  Leug- 
nung der  Möglichkeit,  mit  der  reinen  Vernunft  die  Dinge  an  sich  zu  er- 
kennen. Diese  Dogmatisten  sahen  in  Kants  System  im  Wesentlichen  Skep- 
ticismus,  worunter  man  eben  Beschränkung  der  Erkenntniss  auf  Erfahrung 
und  Leugnung  der  transscendenten  Erkenntniss  verstand.  Ebenso  übersehen 
die  Empiristen  das  von  ihnen  für  selbstverständlich  gehaltene  Princip  der 
Beschränkung  auf  die  Erfahrung  und  fanden  das  Eigenthümliche  in  dem 
Nachweise  Kants,  dass  es  Erkenntniss  von  Thatsachen  aus  reiner  Vernunft, 
dass  es  eingeborene  Formen  des  Anschauens  und  Denkens  gebe.  Daher  sahen 
diese  nur  denjenigen  Bestandtheil,  welcher  mit  dem  Dogmatismus  überein- 
stimmte. Entweder  richteten  also  die  Dogmatisten  und  Empiristen  ihr 
Augenmerk  auf  das,  was  sie  von  Kant  trennte  oder  —  und  diese  Möglich- 


Buch  war."  Vgl.  die  treffenden  Bemerkungen  Windelbands,  Gesch.  d.  n.  Phil, 
n,  179:  „Die  Einen  hielten  Kant  für  einen  Leibnizianer,  weil  er  die  Möglich- 
keit apriorischer  Erkenntniss  behauptete,  die  Anderen  stellten  ihn  zu  Locke, 
weil  er  das  menschliche  Wissen  auf  die  Erfahrung  beschränkte,  die  Meisten  sahen 
in  ihm  eine  der  vielen  Verschmelzungen  von  Leibniz  und  Locke,  welche  die 
deutsche  Philosophie  versucht  hatte.  Den  Kern  der  Sache  verstand  Niemand." 
Aehnliche  ürtheile  in  den  anonymen  Schriften:  Briefe  eines  EngL  üb.  d.  Kanti- 
sche Philos.  (1792)  153.    üeb.  d.  Studium  der  K'schen  Phüos.  (1794)  30. 


Die  verschiedenen  Auffassungen  der  Kritik  d.  r.  V.  61 

keit  bleibt  noch  übrig  —  auf  das,  was  sie  mit  Kant  verband  ^  Beide 
Theile  sahen  in  K.  mehr  den  Ihrigen  und  übersahen  dabei  willig,  was  Kant 
gethan  hatte,  um  die  beiden  Einseitigkeiten  zu  überwinden.  Also  wurde 
der  Eüriticismus  als  Dogmatismus  sowohl  von  Empiristen  als  Dogmatikern, 
wie  als  empirischer  Skepticismus  sowohl  von  Dogmatikern  als  Empiristen 
angesehen  \  Erst  nach  geraumer  Zeit  gewöhnte  man  sich  daran,  das  neue 
System  ganz  im  Sinne  Kants  yon  den  beiden  älteren  Richtungen  ganz  be- 
stimmt zu  unterscheiden.  Man  erkannte,  dass  der  Kriticismus  nicht  unter 
Eine  der  bisherigen  Kategorien  gebracht  werden  könne,  sondern  eine  neue 
eigenartige  Systembildung  vertrete.  Allein  nun  begann  ein  neuer  Streit  um 
den  Primat  der  in  Kants  System  vereinigten  Gedankenfäden,  also  im  All- 
gemeinen, ob  dem  dogmatischen  oder  dem  empiristisch-skeptischen  Elemente 
der  Vorzug  gebühre,  welches  von  beiden  Elementen  das  wichtigere  für  Kant 
und  in  seinem  Systeme  sei. 

Es  bedarf  jedoch  noch  genauerer  Specificationen,  um  die  hervorgetretene 
Vielheit  der  Auffassungen  logisch  zu  disponiren.  Unsere  bisherige  Zerfaserung 
der  verschiedenen  Elemente  der  Kantischen  Philosophie  gibt  hier  die  Han(}- 
habe.  Zwar  bleibeu  jene  beiden  Hauptauffassungen  stehen,  aber  innerhalb 
ihrer  ist  noch  specieller  zu  gliedern.  Bei  der  Heraushebung  des  dogma- 
tischen Grundbestandtheils  des  Systems  wurde  entweder  der  A prior ismus 
oder  der  Rationalismus  mehr  zum  Mittelpunkt  gemacht,  d.  h.  entweder 
die  Lehre,  dass  es  der  Vernunft  eingeborene  Vorstellungen  gebe,  oder  die 
Lehre,  dass  von  Thatsachen  Erkenutniss  aus  reiner  Vernunft  möglich  sei. 
Wurde  die  empiristisch-skeptische  Seite  in  den  Vordergrund  gestellt,  d.  h. 
wurde  nicht  die  methodologische  Frage,  sondern  die  Objectbestim- 
mnng  als  Hauptsache  angesehen,  so  waren  auch  hier  mehrere  Seiten,  welche 
ganz  besonders  bevorzugt  werden  konnten  und  wurden.  Entweder  man  fand 


'  Auch  wurde  gegen  K.  bald  der  Vorwurf  erhoben,  er  verwerfe  allen  Dog- 
matismus, und  sei  doch  selbst  dogmatisch.  Dieser  so  oft  wiederholte 
Einwurf  (vgl.  A.  L.  Z.  1789,  I.  159),  ist  eine  Probe  der  damals  geübten  unexacten 
Kritik,  wie  wir  sie  bei  Feder,  Raum  und  Caus.  Vorr.  IX,  XIX  f.  dag.  XXIX. 
(Skeptic.)  finden.  (Vgl.  Maass,  Briefe  11.  18.  24  u.  ö.)  Gegen  derartige  In- 
sinuationen wehrte  sich  K.  in  der  Vorrede  zur  U.  Aufl.,  wo  er  den  dogmatischen 
Charakter  seiner  Schrift  im  guten  Sinn  besonders  betont.  Vgl.  Jakob,  Log.  u. 
Metaph.  Vorrede  VII.  Der  Vorwurf  des  Skeptic.  ist  ebenfalls  „eine  unzählige- 
male  wiederholte  und  dennoch  ganz  falsche  Behauptung.  Es  ist  gegen  allen  ver- 
nünftigen Sprachgebrauch,  ein  System  von  Philos.  Skept.  zu  nennen,  welches  ein 
ganzes  Gebäude  von  demonstrativer  Naturerkenntniss  a  priori  enthält.^  A.  L.  Z. 
1789.  II,  529  (gegen  Weishaupt,  Gr.  u.  Gew.  d.  menschl.  Erk.  33  ff.). 

*  In  sehr  interessanter  Weise  hat  Rein  hold  in  der  Preisschr.  über  die 
Fortsebr.  d.  Metaph.  gezeigt,  wie  jede  Schule  K.  für  den  Ihrigen  hielt,  insbes.  die 
Leibniz'sche  (185  ff.),  der  Idealismus  (191  ff.),  der  Materialismus  (204  ff.), 
der  Pantheismus  (218  ff.),  der  Dualismus  (227  ff.),  der  Skepticismus  (235  ff.). 
Jede  dieser  Richtungen  findet  bei  K.  Anknüpfungspunkte,  hebt  einseitig  die  con- 
genialeo  Seiten  heraus  und  glaubt  daher  in  K.  einen  Fortbildner  sehen  zu  dürfen. 


62  Specielle  Einleitung. 

in  der  von  Kant  selbst  so  genannten  Grenzbestimmung  der  Erkenntniss 
auf  Erfahrung  die  Hauptleistung  \  oder  man  sah  den  Hauptcharakter  des 
Systems  in  dem  Idealismus;  und  hier  waren  wieder  zwei  Auffassungen 
möglich.  Man  sah  in  dem  System  entweder  relativen  Idealismus  (PhU- 
nomenalismus)  oder  absoluten  Idealismus,  d.  h.  man  Uess  E.  entweder 
als  Hauptsatz  vortragen,  dass  unser  ganzer  theoretischer  Inhalt  sich  nur  auf 
Erscheinungen  unbekannter  Dinge  an  sich  beziehe,  dass  wir  es  also  nur  mit 

^  Diese  Auffassung  der  Kritik  nannte  man  schon  zu  Kants  Zeiten  Empiris- 
mus.    Man  versteht  darunter  also  nur  die  Beschränkung  des  Erkennens    auf  den 
Erfahrungs umfange  nicht  die  Ableitung  desselben   aus   dem  Erfahrungsinhalt. 
Man  muss  also  diese  engere  Bedeutung  von  der  umfassenderen  unterscheiden.   In 
jenem  Sinne   gebraucht  z.  B.  Suabedissen,  Resultate  u.  s.  w.  S.  308  den  Aus- 
druck^ bemerkt  aber  sogleich  auch  das  mögliche  Missverständniss  durch  Verwech.<»- 
lung  mit  dem   weiteren   Begriff.    Indessen   findet  sich  jene  Bezeichnung  nicht 
selten  in  jener  Zeit  auch  ohne  das  bei  einiger  Aufmerksamkeit  keineswegs  noth- 
wendige  Missverständniss.    In  jüngster  Zeit  hat  B.  Erdmann  wieder  in  dem  ge- 
dachten  Sinne  den  Ausdruck  verwerthet  in   der  Einleitung  zu  den  Proleg.    Da 
dieser  Sprachgebrauch  zu  Missverständnissen   führte ,  erklärte   sich  E.  darüber  in 
der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  der  Krit.  d.  Urth.  imd  zog  den  Ausdruck  zurück, 
um  anstatt  dessen  blos  „kritisch^  „Kriticismus^  zu  sagen.    Allein  es  handelt  sich  ja 
eben  darum,  worein  K.  seinen  Kriticismus  gesetzt  habe,  in  welche  der  vielen  dar- 
gestellten Auffassungen?    Vielmehr  muss  man  zur  bequemen  Bezeichnung  der 
Erdmann'schen  Auffassung,  die  auch  schon  früher  zu  Kants  Zeiten  sich  fand,  eben 
den  Ausdruck  Empirismus  brauchen;  sonst   wird  es  sich  allerdings  empfehlen^ 
den  Ausdruck  Grenzbestimmung  zu  verwerthen.    Empirisch  hat,  wie  „Erfah- 
rung**, eine  doppelte  Bedeutung  bei  K.,  welche  zu  unterscheiden  ist.    Emp.  heisst 
entw.  a)  was  dem  Inhalt  nach  aus  der  Erfahrung  stammt  (in  diesem  Sinne  sind 
alle  Empfindungen  als  Eindrücke  der  Sinne  empirisch,  in  diesem  Sinne  spricht  K. 
von   empirischer  Anschauung,    empirischen  ürtheilen ,   Bewegungsgründen ,  Prin- 
cipien  und  Wissenschaften),  oder:   b)  was   sich   innerhalb  des  Umfangs  der  Er- 
fahrung   hält,   was    sich   auf  sinnliche  Gegenstände  bezieht   und   auf   sie    ange- 
wendet wird,  wenn  es  auch  einen  apriorischen  Ursprung  hat  (in  diesem  Sinne 
spricht  K.  von  der  empir.  Realität  des  Raumes  und  der  Kategorien).   Im  ersten  Sinne 
ist  empirisch  soviel  als  a  posteriori,  im  zweiten  dagegen  soviel  als  immanent. 
Darnach   ist   die   Darstellung   bei   Erdmann,   Entw.  III,    1.  48    zu   berichtigen. 
„Vollendeten  Empirismus**  in  dem  genannten  Sinne  warf  Jakob i  Kant  vor,  was 
K.  ruhig  hingenommen  hat  nach  Göring,   üeber  den  Begriff  der  Erf.,  Viert,  f. 
w.  Phil.  I,  401,  der  übrigens  beide  Bedeutungen  von  Emp.  verwechselt.    In  dem- 
selben Sinne  gebraucht  „Emp.**  gegen  Kant  Pesch  (Soc.  Jes.)  Inst.  Pkü.  N<U.  S.  9^ 
ebenso  Bergmann,  Kritic.  S.  2  ff.;   „höheren   Empirismus**   findet   I.  H.  Fichte 
in  Kant  (Theist.  Weitaus.  S.  64);    dieser  Terminus  stammt  übrigens  von  Schel- 
ling,  W.  W.  1.  Abth.  VI,  78.     Der  Empirismus  in  diesem  Sinne  ist  begrifflich 
sehr  wesentlich  vom  Phänomenalismus   (oder  Idealismus)   zu   unterscheiden; 
jener  lehrt  Beschränkung  der  Erkenntniss   auf  Erfahrung,    dieser  dagegen  auf 
Erscheinung,    d.  h.  hier  bildet  der  Correlatbegriff  der  Erscheinung,  das  Ding 
an  sich  und  die  Welt  der  Dinge  an.  sich,  einen  integrirenden  Bestandtheil   der 
Ueberzeugung,  welcher  dort  fehlt;   der  Unterschied  ist  somit  fundamental.     Vgl. 
Windelband,  Gesch.  d.  n.  Philos.  II,  48. 


Die  yerschiedenen  Auffassungen  der  Kritik  d.  r.  V.  63 

unseren  Vorstellungen,  nie  mit  dem  wahren  Sein  dahinter  zu  thun  hätten, 
oder  man  ging  so  weit,  Kants  eigentliche  Leistung  in  der  Beseitigung 
der  Dinge  an  sich  überhaupt  zu  finden.  Im  letzteren  Falle  stellte  man 
ihn  mit  Berkeley  zusammen.  Im  ersteren  FaU  trat  wieder  eine  doppelte 
Möglichkeit  ein.  Entweder  man  sah  in  Kants  Lehre  Skepticismus  in  dem 
Sinne,  dass  er  dem  menschlichen  Erkennen  die  Macht  absprach,  über  den 
Vorstellungskreis  hinaus  zum  wahren  Sein  hindurchzudringen,  oder  man  sah 
darin  Subjectivismus  in  dem  Sinne,  dass  Kant  die  totale  Verschiedenheit 
der  Erscheinung  vom  Ding  an  sich  lehre.  Die  erste  Lehre  enthält  die  er- 
kenntnisstheoretische Scheidung  zwischen  Vorstellen  und  Sein,  die 
zweite  die  mataphysische  Trennung  zwischen  Erscheinung  und  Ding  an 
sich.  Dort  nämlich  können  diese  beiden  letzteren  noch  identisch  sein,  wir 
wissen  es  nur  nicht;  hier  dagegen  ist  diese  Möglichkeit  positiv  ausgeschlossen. 
(Vgl.  Beneke,  Metaph.  11,  u.  Volkelt,  Ks.  Erk.-Theorie  S.  44.)  Wir  erhalten 
somit  folgendes  Schema  möglicher  Auffassungen  der  Kritik  d.  r.  V. 
I)  Nach  der  dogmatischen  Seite  hin: 

a)  Apriorismus  (1), 

b)  Rationalismus  (2). 

n)  Nach  der  empiristisch-skeptischen  Seite  hin: 

a)  Empirismus  (Grenzbestimmung)  (3), 

b)  Idealismus, 

a)  relativer  Idealismus  (Phänomenalismus), 
H)  Skepticismus  (4), 
2)  Subjectivismus  (5), 

ß)  absoluter  Idealismus  (6). 
Dies  ist  die  Tafel  derjenigen  Auffassungen,  für  welche  überhaupt  in  der 
Kritik  Anhaltspunkte  sich  finden  lassen.  Andere,  besonders  anfänglich  hervor- 
^'etretene  Auffassungen  beruhen  entweder  auf  Missverständnissen,  die 
eine  ernsthafte  Discussion  gar  nicht  verdienen,  wie  z.  B.  Eberhards  Mei- 
nung, K.  leugne  alle  Erkenntniss  a  priori  und  lehre  demnach  totalen  Empi- 
rismus, oder  auf  Einseitigkeiten,  welche  auf  den  ersten  Blick  ins  Auge 
fallen,  wie  z.  B.  die  Behauptung,  der  Begriff  der  intellectuellen  An- 
schauung stehe  im  Mittelpunkt  des  Kriticismus  (Thiele),  womit  sich 
Volkelts  Ansicht,  Kants  System  sei  „metaphysischer  Rationalismus**,  berührt, 
oder  wie  Hamanns  Classificirung  Kants  unter  die  Mystiker,  oder  wie 
Lowe's  (Fichte  S.  2)  Angabe,  der  „wahre  Kern  und  Mittelpunkt  Kant'scher 
Speculation  sei  das  Postulat:  das  Unbedingte  soll  sein**;  Schaarschmidts 
Ansicht  (Vorr.  zu  Adamson,  Kant  VI),  die  Idee  der  Freiheit  sei  „das  eigent- 
liche innerste  Princip  des  Kriticismus**,  und  eben  desselben  Behauptung,  Ks. 
System  sei  „kritischer  Ethicismus**,  sind  an  sich  nicht  unrichtig,  beziehen 
sich  jedoch  nicht  allein  auf  Ks.  Erkenntnisstheorie,  mit  welcher  wir  es  hier 
ausschliesslich  zu  thun  haben.     (Id.  Entw.  d.  Philos.  84.  93  f.  118.) 

Diese  verschiedenen  Auffassungen  im  Einzelnen  in  ihrem  historischen 
Auftreten  zu  verfolgen,  würde  den  Zweck  unserer  Einleitung  weit  über- 
schreiten.   Folgende  Hinweise  mögen  hier  genügen.    Die  berüchtigte  Garve- 


64  Specielle  Einleitung. 

Feder'sche  Recension  (Gott.  Gel.  Anz.  1782,  Zugabe  S.  40)  betont  den  absoluten 
Idealismus  (stellt  also  Kant  mit  Berkeley  zusammen)  sowie  den  Skepticismus^ 
Garve  in  seiner  Originalrecension  (A.  D.  B.  Anh.  zu  37 — 52,  S.  839)  betont 
Grenzbestimmung  und  Skepticismus,  wie  in  derselben  Zeitschrift  80,  461. 
463.  471;  86,  360  u.  ö.  von  Pistorius  wiederholt  wird,  bei  dem  sich  auch 
die  Auffassung  als  Subjectivismus  findet,  der  nach  93,  449  die  »Seele 
des  K.'schen  Systems*^  sein  soll.  Derselbe  war  es  auch,  der  Spinozismus  in 
Kant  fand.  Aenesidem  2  f.  118.  403  ff.  hebt  die  Grenzbestimmung 
hervor,  dagegen  95.  391.  400  die  Widerlegung  Hume's,  also  den  Rationa- 
lismus; 402  den  Dogmatismus.  Nach  Maimons  Streifz.  199  dag.  hat  Kant 
Hume  nie  widerlegen  wollen.  Ebenfalls  die  Grenzbestimmung  hebt  hervor 
Brastberger,  Phil.  Arch.  I,  4,  95  f.  Vgl.  Id.  Unters,  über  die  Kr.  d.  pr.  V. 
21  ff.  u.  A.  L.  Z.  1792,  Nr.  222.  Schwab,  Preisschr.  116  findet  Dogmatis- 
mus, dag.  118  ff.  Subjectivismus  und  Skepticismus  in  der  Kritik.  Das  letztere 
findet  auch  Hamann,  Metakrit.  W.  W.  VII,  4.  (bei  Rink  121),  sowie  Stattler. 
Das  erstere  besonders  Weishaupt,  Menschl.  Erk.  127.  135,  dag.  Skepticismus 
ib.  7.  74.  95.  Phänomenalismus  findet  derselbe  in  Kant  in  seiner  Schrift  über 
Zeit  und  Raum,  S.  6  ff.  dag.  absoluten  Idealismus,  ja  Egoismus  ib.  S.  62  ff. 
Dagegen  leugnet  Zwanziger,  Commentar  1  ff.  den  absol.  Idealismus  als 
Hauptzweck.  Für  Jacob i  enthält  die  Kritik  Skepticismus  (bei  Reinhold, 
Beitr.  z.  1.  Uebers.  II,  29.  cfr.  41.  49)  Subjectivismus  W.  W.  H,  136,  HI,  452. 
absoluten  Idealismus  W.  W.  II,  301  ff.  Auf  die  Methode  dagegen  legt  den 
Hauptwerth  (Thanner)  Der  Transsc.  Ideal.  13.  Die  Eberhard'sche  Zeitschrift 
findet  ausdrücklich  Kants  angebliches  Hauptverdienst  in  der  Grenzbestim- 
mung bes.  I,  9  ff.  117  ff.  II,  431  ff.  u.  ö.,  wozu  man  Kants  Gegenschrift 
(R.  I,  406)  vergleiche.  Dogmatismus,  sowohl  seiner  aprioristischen,  als  seiner 


^  Feder  (Garve'sche  Recension,  Gott.  Gel.  Anz.  Zug.  1782  8.  St.)  fasste 
die  Kritik  vor  allem  als  skeptischen  Idealismus  auf.  „Die  Mittelstrasse  zwischen 
ausschweifendem  Skepticismus  und  Dogmatismus,  den  rechten  Mittelweg"  — 
habe  der  Verf.  nicht  gewählt.  Die  dogmatische  rationalistische  Seite  verschwindet 
in  dieser  Auffassung  fast  ganz.  In  dem  eigenen  rationalistischen  System  «Rs.  sieht 
Feder  nur  „die  gemein  bekannten  Grundsätze  der  Logik  und  Ontologie,  nach  den 
idealistischen  Einschränkungen  des  Verf.  ausgedrückt,"  Dieser  Idealismus  imi- 
fasse  Geist  und  Materie  auf  gleiche  Weise  und  verwandle  die  Welt  und  uns  selbst 
in  Vorstellungen.  Feder  sieht  nur  die  Berührung  mit  Hume  und  Berkeley.  Aehnlicli 
die  A.  D.  B.  88.  11,  145.  „Der  übertriebene  Idealismus,  welchen  K.  durch 
seine  Revision  aller  bisherigen  Metaphysik  einzuführen  suchte,  scheint  das  Be- 
dürfniss  der  Vernunft  zu  wenig  zu  befriedigen  und  ihre  Rechte,  welche  der  dog- 
matische Realismus  der  älteren  Philosophen  vieUeicht  zu  weit  ausgedehnt 
hatte,  in  zu  enge  Grenzen  einzuschliessen,  als  dass  man  sich  dabei  hätte  beruhigen 
und  nicht  den  Mittelweg  zwischen  beiden  Extremen  aufzufinden  hätte  bemüht  sein 
sollen."  Anderwärts  (ib.  107.  448)  wird  Ks.  System  rationeller  Skepticismus 
genannt.  „Skeptische  Metaphysik"  finden  die  Gott.  Gel.  Anz.  1785,  S.  1020; 
Meiners  (Vorrede  zur  „Seelenlehre"),  stellt  K.  mit  Sextus,  Berkeley  und  Hume 
zusammen,  wogegen  ihn  Cäsars  Philos.  Arch.  I,  160.  248  in  Schutz  nimmt. 


Die  verschiedenen  Auffassungen  der  Kritik  d.  r.  V.  65 

rationalistisehen  Seite  nach  fanden  Feder,  Weishaupt,  Tiedemann,  Seile  \ 
Platner  fand  dogmatischen  Skepticismus  in  Kants  System';  ebenso 
Maimon*.  Diese  verschiedenen  Auffassungen  erregten  nun  verschiedene 
Discussioiien,  insbesondere  da  nun  auch  einzelne  Anhänger  einzelne  Seiten 
herauszuheben  begannen,  so  dass  ein  allgemeiner,  endloser  Streit  über'den 
eigentlichen  Sinn  de-r  Kritik  entstand*. 

Natürlich  musste  diese  Verschiedenheit  der  Auffassung  auch  in  der  Fort- 
bildung Kants  sich  geltend  machen.  Am  ehesten  wurde  noch  E einhold 
in  seiner  ersten  Zeit  allen  Seiten  des  Kriticismus  gerecht.  Vgl.  z.  B.  die 
Wiedergabe  des  Hauptresultates  „Fund,  des  phil.  Wiss."  65.  73.  Beitr.  z.  Ber. 


^  Der  Empirist  Seile  sah  in  Ks.  System  Dogmatismus  und  Rationalis- 
mus: „Wenn  K.  dem  Dogmatismus  der  menschl.  Yernunft  steuert^  so  thut  er  dies 
durch  einen  anderen  Dogmatismus^  der  despotischer  ist  als  alle  Quod  erat 
Demonstrandum* 8  der  bisherigen  Weltweisen.  Wenn  K.  den  Hader  zwischen  Ver- 
nunft und  Erfahrung  stillen  will,  so  schliesst  er  vielleicht  einen  Vertrag  zwischen 
beiden^  welcher  der  Erfahrung  nachtheiliger  ist,  als  alle  Apriori's,  welche  aus  der 
Schale  der  spitzfindigsten  Dialektiker  gekommen  sind.  Wenn  K.  die  Gerechtsame 
des  Raisonnements  wieder  herstellt,  so  thut  er  es  fast  immer  auf  Unkosten  der 
Erfahrung"  n.  s.  w.  Grunds,  d.  reinen  Philos.  3—4.  f)erselbe  setzt  seinen  eigenen 
Empir.  dem  K. 'sehen  Rationalismus  gegenüber  in  der  Abhandlung  ^De  la  rMitd 
et  VidMiii  des  objets  de  nos  connaissances,^   (Academ.  Berl.  1786—1787,  577  ff.) 

'  Im  Gegensatz  zum  eigenen  kritischen;  über  diese  Unterscheidung  vgl. 
Reinhold,  in  der  Berl.  Mon.  XIV,  49  ff. 

*  In  der  Geschichte  des  Skepticismus  von  Stäudlin  1794  steht  Kant  neben 
Home',  bei  Jacobi,  Schulze,  Maimon,  Platner  findet  sich  häufiger  der  Skepti- 
cismus Kants  als  sein  Dogmatismus  betont.  —  Subjectivismus  findet  Bardili, 
Phüos-  Elem.  II,  147. 

*  Zusammenstellungen  dieser  verschiedenartigen  Aufnahmen  Kants  findet 
man  besonders  bei  Rein  hold,  Briefe  I,  104,  vgl.  Verm.  Sehr.  II,  249:  „Das 
Evangelium  der  reinen  Vernunft  ist  den  Heterodoxen  Thorheit  und  den  Orthodoxen 
Aergemiss,  und  in  keinem  Buche,  die  einzige  Apokalypse  vielleicht  ausgenommen, 
hat  man  so  verschiedene  und  einander  so  sehr  entgegengesetzte  Dinge  gefunden." 
Besonders  aber  ist  hierüber  die  Einleitung  zu  der  „N.  Th.  d.  Vorst." :  Ueber  die 
bisherigen  Schicksale  der  K.'8chen  Phil,  zu  vergleichen,  wo  Reinhold  deduktiv 
nachweist,  wie  ein  solches  vermittelndes  System  von  allen  Parteien  falsch  ver- 
sfanden werden  musste.  Vgl.  noch  Suabedissen,  a.  a.  0.  298  ff.  über  die 
verschiedenen  Auffassungen  der  Kritik  bei  Gegnern  und  Anhängern  als  Idealis- 
mus, Rationalismus,  Empirismus,  Dualismus,  sowie  Schulze,  Kritik  d. 
theor.  Philos.  I,  XXVII.  Sehr  gut  auch  bei  Neeb,  Kants  Verdienste  S.  20  ff. 
Dogmat.  u.  Skept.  hielten  ihn  für  einen  „Halbbruder".  Eberstein,  Gesch.  der 
Log.  u.  Met.  n,  51.  AUe  heben  als  gründliche  Kenner  Kants  und  exacte  Historiker 
hervor,  dass  alle  jene  Auffassungen  einseitig  seien,  und  bei  K.  eben  die  verschie- 
denen Seiten  des  Kriticismus  gleichberechtigt  neben  einander  stehen.  Bald  erfand 
man  für  das  Kantische  System,  um  es  von  dem  bisherigen  Rationalismus  auch 
dem  Kamen  nach  zu  unterscheiden,  den  Namen  Purismus.  Dieser  Ausdruck 
scheint  im  Gegensatz  zum  Empirismus  zum  erstenmal  von  Schmid  im  Anhang 
zu  seinem  Wörterbuch  der  K.'schen  Philos.  angewendet  worden  zu  sein. 

YAlhiiiger,  Kant-Commentar.  5 


66  Specielle  Einleitung. 

b.  Missv.  I,  275.  Der  absolute  Idealismus  wurde  jedoch  bald,  weil 
auch  von  Gegnern  wie  z.  B.  Jacobi  betont,  bei  einem  Theile  die  herrschende 
Auslegung,  so  bei  Beck,  Maimon,  und  dann  bei  Fichte,  Schelling  und 
Hegel.  Entgegenstehende  Stellen  galten  als  „Accomodationen"  Kants  *.  Die- 
selbe Richtung  hob  aber  noch  ausserdem  den  Rationalismus  heraus,  den 
sie  jedoch  aus  einem  phänomenalisti sehen  bald  in  einen  absoluten  und  meta- 
physischen verwandelte,  indem  sie  die  Grenze  zwischen  Immanenz  und 
Transscendenz  des  Erkennens  fallen  Hess.  Den  Phänomenalismus  bildeten 
Herbart  und  Schopenhauer  aus,  freilich  Beide  unter  Anerkennung  der  Erkennt- 
niss  der  Dinge  an  sich ;  dazu  mischte  Herbart  rationalistische,  Schopenhauer 
empiristische  Elemente.  Den  Apriorismus  nebst  dem  Phänomenalismus  halten 
Fries  und  seine  Schüler  für  Kants  eigentliche  Meinung*.  Die  Beneke'sche 
Philosophie  ist  Weiterbildung  des  Empirismus.  Bei  dem  Interesse  an  der 
eigenen  Weiterbildung  des  philosophischen  Gedankens  trat  natürlich  das  rein 
philologisch-historische  Interesse,  die  Frage,  was  Kant  selbst  eigentlich  habe 
hauptsächlich  sagen  wollen,  beträchtlich  zurück,  und  ist  erst  neuerdings  in 
der  III.  Periode  der  Kantliteratur  wieder  und  zwar  sehr  stark  erwacht. 
Einer  der  Wenigen,  die  auch  in  der  II.  Periode  ein  Interesse  für  diese  Frage 
zeigten,  war  Weisse,  der  in  seiner  Schrift:  „In  welchem  Sinne  die  deutsche 
Philos.  jetzt  wieder  an  K.  sich  zu  orientiren  hat."  Leipzig  1847  gegenüber 
der  landläufigen  phänomenalistischen  Auffassung  die  rationalistische  wieder 
zur  Geltung  brachte.  Andererseits  rechnete  Maurial  in  Frankreich  Kant  zu  den 
Skeptikern  (1857)  und  im  Anschluss  an  ihn  1865  Saisset,  indem  er  Kant 
mit  Aenesidem  und  Pascal  in  Eine  Linie  stellt.  Beneke,  Logik  11,  173, 
Kant  12  ff.  17  f.  fand  die  Grundtendenz  Kants  in  der  Behauptung,  alle  Er- 
kenntniss  des  Seienden  stamme  aus  Anschauung,  nie  aus  Begriffen;  nach 
Metaphysik  S.  12  f.  dag.  habe  K.  den  Skepticismus  gestäi'kt. 

§.   14. 

Fortsetzung  (Gegenwart). 

Nach  dem  grossen  Wiederaufschwung  des  Kantstudiums  machten  sieh 
sofort  auch  wieder  jene  oben  gekennzeichneten  sechs  verschiedenen  Auf- 
fassungen geltend  sowohl  bei  Anhängern  als  bei  Gegnern,  als  auch  bei  den 


*  Fichte,Lebenu.Briefw.  11,349  [431].  Schelling,  W.  W.  1,210 ff.  231.  235. 

^  Mit  diesem  Gegensatz  deckt  sich  auch  im  Wesentlichen  der  Gegensatz  der 
anthropologischen  und  der  transscendentalen  Auffassung  des  Apriori. 
Nach  der  Ersteren  Auffassung  beruht  der  Nachweis  des  Apriori  auf  empirisch- 
psychologischer Entdeckung,  nach  der  anderen  auf  jenem  rein-logischen 
Beweis,  welchen  K.  selbst  „transscendental"  nennt.  Der  Gegensatz  dieser  Auf- 
fassungen trat  schon  bei  den  frühesten  Anhängern  hervor  und  fand  seine  Haupt- 
vertreter in  Fries  und  J.  B.  Meyer  einerseits,  Fichte,  Schelling,  Hegel, 
Fischer,  Cohen  andrerseits.  Diese  Streitfrage  wird  an  den  entscheidenden 
Stellen  zur  Besprechung  gelangen. 


Die  verschiedenen  Auffassungen  der  Kritik  d.  r.  V.  67 

philologischen  Historikern,  und  die  Frage  ^iirde,  wie  Paulsen  Viert,  f.  w.  Phil. 
m,  81  sagt:  „seeschlangenhaft" '.  Den  Apriorismus  machten  besonders 
die  an  Pries  sich  anlehnenden  Auslegungen  geltend,  so  bes.  J.  B.  Meyer, 
Kants  Psych.  19,  theilweise  auch  Lange  und  Lieb  mann,  sowie  eine  Reihe 
von  Gegnern  wie  z.  B.  Montgomery.  „Die  Entdeckung  und  Hervorhebung 
des  Apriorischen,  d.  h.  der  in  unserer  Organisation  uns  ursprüngHch  an- 
gehörigen  Erkenntnisselemente  gegenüber  der  sensualistischen  Zurückführung 
der  ganzen  Erkenntniss  auf  Affectionen  sei  die  wesentliche  Absicht  der  Kritik, 
und  Phänomenalität  und  Rationalität  gleichsam  CoroUare  des  eigentlichen 
Theorems,'  so  referirt  Paulsen,  Entw.  194  ff.  (vgl.  S.  143.  146),  der  diese 
Ansicht  daselbst  aufs  heftigste  bekämpft  und  im  Anschluss  an  Weisse  und 
Cohen  den  rationalistischen  Theil  als  Kants  eigentliche  Tendenz  bezeichnet 
und  zwar  den  immanenten  Rationalismus,  die  apriorische  Theorie  der  Er- 
fahrung. Ihm  und  seiner  Auffassung  trat  neben  Riehl,  Kritic.  I,  286  ff., 
311  ff.,  besonders  lebhaft  B.  Er  dm  an  n,  bes.  Kants  Kritic.  90.  245,  entgegen, 
welcher  den  Empirismus  (in  dem  oben  genau  definirten  Sinne)  als  Kants 
-Hauptzweck*  bezeichnet.  Paulsen  vertheidigte  seine  Ansicht  in  der  Viertel- 
jahrschi*.  f.  wiss.  Phil.  I,  484  ff.,  HI,  79  ff.  gegen  Erdmanns  Behauptungen 
in  seiner  Einleitung  zu  den  Prolegomena   und  zur  Kritik  *.    Dagegen   theilt 


'  Eine,  indessen  ganz  unvollständige  Uebersicht  derselben  gibt  Erdmann, 
Ks.  Kritic.  245  ff.  Richtig  ist  folgende  Bemerkung  desselben,  die  aber  in  ihrem 
letzten  Theile  auf  Erdmann  selbst  Anwendung  findet:  „Es  ist  gegenwärtig  der 
Gegensatz  in  der  Interpretation  der  Lehre  Kants  ungleich  tiefer  gehend,  als  zu 
irgend  einer  früheren  Epoche  der  naclik  an  tischen  Philosophie.  Dies  um  so  mehr, 
als  die  entschiedene  Setzung  des  einen  Gesichtspunkts  fast  überall  dazu  geführt 
hat,  die  relative  Berechtigung  der  anderen  ganz  zu  verkennen."  Man  interpretire 
vielfach,  fügt  derselbe  Autor  hinzu,  Kant  nicht  historisch  aus  der  Zeit  heraus,  in 
der  er  sich  entwickelt  hat,  sondern  sachlich  aus  den  Problemen  heraus,  die  uns 
za  ihm  zurückgeführt  haben.  „Je  nach  der  Parteistellung  also,  die  man  selbst 
einnimmt,  wird  sich  die  Reconstruction  verschieben,  sei  es,  dass  der  Zusammen- 
hang, sei  es,  dass  der  Gegensatz  zu  dem  eigenen  Urtheil  über  die  sachlichen 
Probleme  stärker  hervortritt,  als  ein  solcher  historisch  genommen  vorhanden  war." 
Je  eingehender  man  daher  die  rein  historische  und  philologische  Interpretation 
pflegt,  abgesehen  von  aller  eigenen  Stellung  zu  den  Problemen,  „desto  sicherer  wird 
eine  Einigung  über  den  thatsächlichen  Bestand  des  Kriticismus  Kants  zu  er- 
reichen sein." 

*  Gegen  Erdmanns  Darstellung  bes.  Ks.  Kriticismus  14  ff.  ist  als  sehr  wesent- 
licher Einwand  zu  erheben,  dass  er  diejenigen  Stellen,  in  welchen  Kant  den  Skep- 
ticismos  kennzeichnet  und  denselben  zurückweist,  ganz  ignorirt.  Kant  fasst  den 
Skepticismus  im  engsten  Zusammenhange  mit  dem  Empirismus  auf  und 
tadelt  an  diesem  und  daher  besonders  an  Hume  die  Leugnung  apriorischer  Ele- 
mente, rationaler  Erkenntniss  überhaupt,  wie  Erdm.  auch  Prol.  LXXXII  selbst 
zageben  muss.  Der  Skepticismus  ist  nicht  bloss  für  K.  die  Leugnung  trans- 
scendenter  Erkenntniss,  wie  Erdm.  und  Göring,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  405 
darstellen,  sondern,  wie  die  angeführten  Stellen  beweisen,  die  Leugnung  aller  ge- 
wissen Erkenntniss  auch  im  Er  fahr  nngsumk  reis.    Und  gerade  gegen  diesen  Skep- 


(58  Specielle  Einleitung. 

Windelband  Paulsens  Auffassung  (Viert,  f.  wiss.  Pbil.  I,  232).  Mit  be- 
sonderer Energie  hat  aber  Stadler,  dann  noch  besonders  Laas  die  ratio- 
nalistische Grundtendenz  als  die  „herrschende  VorsteUungsgruppe"  bei  Kant 
hervorgehoben ;  vgl.  dessen  Ks.  Analog,  d.  Erf.  7  ff.,  wobei  derselbe  auch  die 
einseitige  Schopenhauer'sche  Auslegung  des  K.'schen  Systems  als  Idealismus 
widerlegt.  Die  verbreitetste  Auffassung  ist  die  idealistische  und  hier  wieder 
die  phänomenalist is che.     Lange  betonte  bald  mehr  die  skeptische, 

ticismus  will  K.  die  Metaphysik  als  rationale  Wissenschaft  „retten",  daher  ist  es 
ganz  falsch,  das  einzige  Unterscheidungsmerkmal  des  Krit.  vom  Skept.  mit  Erdm. 
a.  a.  0.  14  darin  zu  finden,  dass  der  Krit.  eine  apodiktische  Grenzbestimmung 
gebe.    Dabei  sind  alle  Stellen  einfach  ignorirt,  in  denen  K.  den  Apriorismus  und 
Rationalismus  der  Erkenntniss  gegenüber  dem  Skept.  auf  das  energischste  in  Schutz 
nimmt.    Daher  ist  Erdmanns  Gliederung  a.  a.  0.  17  (die  der  obigen  nach  Methode 
und  Object  nur  äusserlich   ähnlich  ist,  aber   eine  starke  Amphibolie  einschliesst). 
unrichtig,   es  handle  sich  um  die   beiden  Gesichtspunkte  Methode  und  Haupt- 
zweck;  gleichartig   sei   der   Kriticismus   dem  Dogmat.   in   der  Methode,   dem 
Skeptic.  im  Hauptzweck;  dort  will  die  Kritik  eine  Metaphysik  auf  apriorischem 
Weg  erreichen,  hier  schränkt  sie  diese  auf  mögliche  Erfahrung  ein.     Da  nun  der 
Hauptzweck  das  wichtigere  ist,  stehe  Kant  dem  Skepticismus  bedeutend  näher  als 
dem  Dogmatismus.     „In  dem  Masse,  als  der  Inhalt  des  kritischen  Standpunktes 
durch   seinen  Hauptzweck   bestimmter  bezeichnet  wird   als  durch  seine  Methode 
und  seine  Architektonik,  ist  der  Gegensatz  desselben  gegen  den  Dogmatismus 
grösser  als  der  Zusammenhang,  und  die  Verwandtschaft  mit  dem  Skepti- 
cismus  enger  als  die   Differenz."     Hier  ist   übersehen  die   Möglichkeit,   dass 
doch  auch  gerade  die  Methode  für  Kant   der  Hauptzweck  sein  konnte!    Mit 
andren  Worten:     Erdm.  verwechselt  die   Methode,    um  den  Hauptzweck  zu 
erreichen,   mit    der   Methode,   welche   selbst   Hauptzweck    sein  kann. 
Er  vertauschte  die  apriorische  Metaphysik,  welche  Kant  gegen  den  Skepticismus 
aufrecht  erhält  und  welche   im  ersten   der  angeführten  Sätze   eingeführt  ist,  mit 
der    apriorischen   Grenzbestimmung,  mit    der  die   Erörterung    schliesst    In  dem 
ersteren  Fall  könnte  Methode  (d.  h.  also  speciell  apriorisch -rationalistische  Me- 
thode)  nur   in   Gegensatz   gebracht   werden   zu   Object  (d.  h.  also  speciell  zur 
Grenzbestimmung).     Im  zweiten  Falle  aber  steht  Methode,    durch   welche   die 
Grenzbestimmung  bewiesen  wird,  dieser  selbst  gegenüber,  welche  Erdmann  nun 
als  Hauptzweck  betrachtet,  der  eben  auf  verschiedene  Weise  von  Kant  erreicht 
werden  konnte.     Letzterer  Gegensatz  hat  natürlich   nur   Berechtigung  und  Sinn, 
wenn   erst  Eines  der  Elemente   des  ersten  Gegensatzes   als  Hauptzweck  heraus- 
gehoben ist.     Wenn  man  z.  B.  die  Methode  des   ersten  Gegensatzes  heraushebt 
als  Hauptzweck,  dann  kann  man    ebenfalls  wieder  fragen,  nach  welcher  Methode 
dieser  Hauptzweck    von  Kant    erreicht  werden   wollte,   worüber  ja  auch  Streit 
herrscht  (psychologische    oder    transscendentale    Eruirung   der    reinen  Vernunft- 
elemente und  -Erkenntnisse).  Und  dasselbe  gilt,  wenn  man  umgekehrt  die  Grenz- 
bestimmung als  Hauptzweck  heraushebt:  auch    hier  ist  dann  die  neue  Frage, 
durch   welche   Methode    diese   getroffen    werden   soll.     Vgl.    oben   S.   33   u.  ^, 
wo    diese   Punkte    zum    erstenmal   genau    unterschieden    sind.    —    Die   bes.   von 
Paulsen  und  Erdm  an n  discutirte  Frage,  ob  durch  die  IL  Aufl.  der  Kritik  der 
Schwerpunkt  verschoben  worden  sei,  kann  erst  im  Laufe  des  Commentars  erwogen 
werden. 


Die  verschiedenen  Auffassungen  der  Kritik  d.  r.  V.  gg 

bald  mehr  die  subjectivistische  Seite,  Grapengiesser  (gegen  Kirchmann) 
mehr  die  letztere  Seite,  ebenso  Spicker  (Kant  u.  s.  w.  12).    Die  Auffassung 
als  Subjectivismus  vertritt  insbesondere  die  Kritik  Trendelenburgs  und 
Ueberwegs,  während  Hartmanns  Kritik  eher  die  skeptische  Seite  be- 
trifft.    Den   absoluten  Idealismus   finden   wir  bei  Cohen,    theilweise 
auch  bei  Fischer  betont,  insbesondere  auch  bei  den  Gegnern,  so  bei  Hart- 
mann (als  „Illusionismus").     Die  Auffassung  Fortlage's,   die  Krit.   ent- 
halte wesentlich  Skepticismus,  bekämpft  Göring,  System  II,  120.  125 ff., 
134.  137.     Diese  einseitigen   Auffassungen   werden  theils  vertreten,    theils 
bekämpft   auch   in  jenen  zahlreichen,   meist  kleinen  Monographien,   welche 
Kants  Verhältniss  zuLeibniz,  Locke,  Hume,  Berkeley  u.A.  betreffen'. 
Denn  wenn  K.  in  Beziehung  zu  Leibniz  gebracht  wird,  wird  der  Aprio- 
rismus  oder  der  Eationalismus,  wenn  in  Beziehung  zu  Locke,  Hume 
und  Berkeley,    werden  die  übrigen  Auffassungen  mehr  in  den  Vorder- 
grund gestellt*.     Eben  dasselbe  gilt  auch  von  den   auf  das  Verhältniss  zu 
den  Nachfolgern  bezüglichen  Monographien.    Viele  Darstellungen  halten  sich 
von  diesen  einseitigen  Auffassungen  frei,  so  besonders  K.  Fischer,  wenig- 
stens im  Grossen  und  Ganzen.     Neuerdings  hat  zuerst  Witte,  Beitr.  4  ff., 
und  dann  bes.  Volkelt  in  der  Darstellung  von  „Kants  Erkenntnisstheorie*, 
S.  79  ff.,   82  f.,   225  ff.,   diese   naheliegende  Lösung  dieses  unerquicklichen 
Streites  genauer  ausgeführt,  indem  letzterer  zeigt,  dass  K.  „das  Ziel  seines 
Denkens  in  ein  inhaltvoll  und  nach  seinem  ganzen  reichen  Zusammenhange 
gefasstes  Problem,  also  in  ein  Ganzes  von  mehreren  mit  einander  wesentlich 
verbundenen  Seiten  setzt".     Kant  hat  „stets  den  vollen  Zusammenhang  des 
Zieles,  nur  mit  stärkerer  Betonung  bald  dieser,  bald  jener  Seite  vor  Augen**. 
Auch  Caird,  Phil,  of  Kant  191,  betont  richtig,  dass  die  Analytik  und  die 
Dialektik  gleichberechtigte  Theile   der  Kritik  seien,    und   er  beweist 
diese  Auffassung  durch  Darlegung  des  Doppelverhältnisses  Kants  zu  Leibniz 
und  zu  Hume.     Vgl.  auch  Pfleiderer  in  Fichte's  Zeitschrift  77,  1,  14  ff. 
Nach  den  oben  angeführten  Stellen  Kants  kann  kein  Zweifel  sein,  dass 
man  nur  in  Einem  Sinne  von  Einem  Hauptzwecke  Kants  reden  kann:  Kants 
Hauptzweck  war  eine  Reform  der  Philosophie  ihrer  Form  und  ihrem  Inhalt 
nach   durch  Vermittlung  des  Dogmatismus  und  Skepticismus,   also  die  Be- 
gründung   einer   neuen   philosophischen   Methode   im  weitesten  Sinn 
des  Wortes.     Daher   ist   ihm   weder   überhaupt    der   dogmatische  noch   der 
empiristisch-skeptische  Hauptbestandtheil  seines  Kriticismus  Hauptzweck,  noch 
auch   eine  der  verschiedenen  Seiten   dieser  beiden  Haupttheile.     Keine  von 
aUen  diesen  Seiten  seines  Systems  ist  Hauptzweck,  so  dass  die  andern  Seiten 
nur  Mittel  wären  zur  Erreichung  jenes  Zweckes  oder  Folgen  aus  dem  den 


^  Oder  auch  zu  den  Alten,  z.  B.  Piaton.  Den  platonischen  Grundcharakter 
des  K. 'sehen  Systems  betont  neben  Witte,  Beitr.  6  ff.,  besonders  Laas,  Idealis- 
mus and  PositivismuB  118  f.  119  f.  134  f.  157  f.  169  f.  Windelband,  Gesch. 
d.  n.  PhiloB.  n,  35.  38.  39.  97.  123. 

'  Vgl-  hierüber  Fischers  treffende  Bemerkungen,  Gesch.  III,  43. 


70  Specielle  Einleitung. 

Hauptzweck  enthaltenden  Theorem  *.  Insbesondere  die  Paulsen-Erdmann'sche 
Controverse  erledigt  sich  durch  den  Hinweis  darauf,  dass  weder  die  ratio- 
nalistische Behauptung  der  Möglichkeit  immanenter  Metaphysik  noch  die 
empiristische  Behauptung  der  Unmöglichkeit  transscendenter  Metaphysik 
für  Kant  die  Hauptsache  war,  sondern  beides  zugleich,  schon  desshalb,  weü 
in  Kants  System  beide  Behauptungen  einander  fordern  und  sich  gegenseitig 
stützen;  denn  die  immanente  Vernunfterkenntniss  ist  nur  möglich  durch 
Beschränkung  auf  Erfahrung,  und  die  transscendente  Vernunfterkenntniss  ist 
sozusagen  nur  unmöglich,  weil  eben  immanente  möglich  ist.  Kants  System 
ist  ein  gegliederter,  zweckmässig  geordneter  Organismus  *,  wo  alle  Theile  sich 
gegenseitig  bedingen  und  stützen  und  auf  einander  gegenseitig  als  Mittel 
und  Zweck  bezogen  sind.  Und  wie  jeder  Organismus  nur  Einen  Zweck  hat, 
den  man  gar  nicht  als  Hauptzweck  bezeichnen  kann,  weil  er  keine  anderen 
hat  —  nämlich  das  Leben  —  so  hatte  auch  Kants  System,  ein  in  sich  ge- 
schlossener Organismus  —  nur  einen  einzigen  Zweck,  durch  sein  lebendiges 
Dasein  und  Wirken  eine  die  Einseitigkeit  der  früheren  Systeme  vermeidende, 
weil  sie  vermittelnde,  Reform  der  Philosophie  herbeizuführen. 


*  Man  vergleiche  über  diese  ganze  Streitfrage  noch  den  Excurs  am  Schlnsse 
dieses  Bandes. 

■  üeber  diese  „organische"  Auffassung  vgl.  auch  Volkelt,  Phil.  Mon.  XVI, 
600.  603. 


COMMENTAE 


ZU 


KAMTS  KRITIK  DER  REINEN  VERNUNFT. 


L 


Commentar  zu  Titelblatt,  Motto  und  Widmung. 


A.   Titelblatt. 

Titel  (Kritik  d.  r.  Y.)«  Eine  ausführliche  Erklärang  des  Titels  s.  unten 
zu  Vorrede  A.  V  u.  zu  Einl.  A.  11  (B.  24).  Pauls en,  Entw.  181  ff.,  meint: 
wenn  es  beim  Erscheinen  der  Kritik  d.  r.  V.  noch  üblich  gewesen  wäre,  in 
den  Titel  eine  Bezeichnung  des  Inhalts  aufzunehmen,  so  hätte  derselbe  lauten 
müssen:  Krit.  d.  r.  V.  oder  erstes,  wahres  und  einzig  haltbares 
System  des  Batiönalismus.  Dass  diese  Auffassung  einseitig  ist,  wurde 
in  der  Einl.  II,  §  13.  14  nachgewiesen. 

Im.  Kaiit^  Prof«  in  K«  Den  Zusatz  „Professor^  Hess  E.  auf  seinen 
späteren  Schriften  weg.  Vgl.  Borowski  142:  „Um  Titel  und  äussere  Ehren- 
zeichen bekümmerte  sich  K.  durchaus  gar  nicht;  ehrte  aber  die  Professors- 
würde an  seinen  Kollegen  und  an  ihm  selbst  sehr.  Zu  seinem  einfachen 
,Im.  Kant*  setzte  er  in  späteren  Jahren  nichts  weiter  an  der  Spitze  seiner 
Schriften  hinzu.  Er  bedurfte  es  auch  nicht."  Ib.  41:  „Durchaus  kein  langer 
Schweif  zu  seinem  Professorstitel  von  so  oder  so  viel  Academien,  deutschen 
oder  lateinischen  Gesellschaften, "  K.  „bekümmerte  sich  um  diesen  von  Halb- 
gelehrten  ängstlich  gesuchten  Pimiss  gar  nicht*.— K.  zog  die  Form  „Immanuel" 
der  Form  „Emanuel*  vor.  Er  freute  sich  der  Grundbedeutung  „Gott  mit 
uns*.    Hasse,  Letzte  Aeusserungen  Ks.  S.  17  f. 

Der  Aeademie  .  •  •  Mitglied.  Kant  war  im  Jahre  1786  nach  dem  Tode 
Mendelssohns  der  Berliner  Aeademie  als  ordentliches  auswärtiges  Mitglied 
beigesellt  worden  und  machte  daher  den  Zusatz  auf  dem  Titelblatt  der 
IL  Aufl.  wohl  mehr  aus  Dankbarkeit  als  aus  Eitelkeit.  Ueber  diese  Er- 
nennung vgl.  Reicke,  Kantiana  8.  33.  36.  38.  41.  53.  60.  Bartholm^ss, 
Hist.  philos.  de  TAcad.  d.  Prasse  IE,  278  ff.  K.  hat  an  die  Aeademie  keine 
Abhandlungen  eingesandt.  Kraus  sagt  bei  Reicke  60:  „Dass  gerade  zu 
gleicher  Zeit,  da  K.  Mitglied  .  .  .  wurde,  es  auch  Eberhard  und  Herder 
worden,  war  ihm,  der  sich  aus  allen  solchen  Sachen  nichts  machte,  ganz 
gleichgültig;  aber  mich  verdross  es,  und  wohl  jeden,  der  diese  drei  Männer 


74  Commentar  zu  Titelblatt,  Motto  und  Widmung. 

einiger massen  ihrem  wissenschaftlichen  Werth  nach  zu  würdigen  weiss.  Auch 
liess  K.  diese  Titulatur,  die  er  anfangs  einmal  seinem  Namen  auf  dem  Titel- 
blatt seiner  Kritik  beisetzte,  weil  er  glaubte,  dass  sie  ihn  zur  Censurfreiheit 
berechtige,  hernach,  als  er  das  Gegentheil  erfuhr,  immer  weg"  *.  1794  wurde 
K.  Mitglied  der  Petersburger  Academie;  1798  der  zuSiena.  (Schubert  202.) 

Zweite  hin  und  wieder  rerbesserte  Auflage.  „Die  Veränderungen  .  .  . 
beweisen,  dass  diese  gelegentlichen  Verbesserungen  vielfache,  zum  Theil  ein,- 
gehende  Umarbeitungen  sind,  die  bis  in  den  ersten  Theil  der  Dialektik  hinein- 
reichen. (Zahlreiche  sprachliche  Verbesserungen  durchziehen  das  ganze  Werk.) 
Ganz  neu  geworden  sind  das  Vorwort,  die  Deduction  der  Kategorien 
und  die  Kritik  der  rationalen  Psychologie;  weniger  verändert  ist  die 
Argumentation  der  transscend.  Aesthetik  und  der  Abschnitt  über  die 
Phänomena  und  Noumena.  Umfangreiche  Zusätze  finden  sich  in  der 
Einleitung,  in  der  Aesthetik  und  in  denjenigen  Abschnitte'ln  der  Analytik, 
die  über  den  Ursprung  der  Kategorien  und  über  die  Grundsätze  der 
Urtheilskraft  handeln."  Erdmann,  Ks.  Krit.  164.  Es  hat  sich  bekannt- 
lich über  die  Tragweite  dieser  Aenderungen  ein  heftiger  Streit  erhoben' 
zwischen  Jacobi,  Feder,  Michelet,  Schopenhauer,  Rosenkranz, 
J.  E.  Erdmann,  K.  Fischer  einerseits  und  Beinhold,  Hartenstein, 
Cohen,  Ueberweg,  Zeller,  Riehl  andererseits.  Nach  der  ersteren  An- 
sicht ist  die  2.  Aufl.  wesentlich  verändert  resp.  verschlechtert,  nach 
der  zweiten  dag.  sind  die  Aenderungen  unwesentliche  und  zwar  formelle 
Verbesserungen.  Eine  genauere  Behandlung  dieser  Streitfrage  hat  nach 
Paulsen  bes.  B.  Erdmann  angebahnt,  zuerst  in  der  Einl.  zu  den  Prole- 
gomena  1878,  dann  in  dem  höchst  verdienstvollen  Werke:  Kants  Kriti- 
c  i  s  m  u  s  in  der  ersten  und  in  der  zweiten  Auflage  der  Kritik  d.  r.  V.  Eine 
historische  Untersuchung.  Leipzig  1878.  Eine  eingehende  Besprechung  dieser 
Controverse  kann  selbstverständlich  erst  am  Ende  erfolgen,  nachdem  die 
einzelnen  Aenderungen  im  Laufe  der  Erklärung  erwogen  worden  sind.  Die 
Streitfrage  bekam  eine  praktische  Bedeutung  durch  die  Consequenz,  dass 
man  entw.  die  1.  oder  die  2.  Aufl.  bei  der  Herausgabe  zu  Grunde  legte. 
Jenes  thaten  Rosenkranz  und  Kehrbach,  dieses  Hartenstein,  Kirch- 
mann und  B.  Erdmann.     Genaueres  hierüber  s.  in  unserer  Vorrede. 

Riga 9  flartknoeh.  Die  früheren  Schriften  Kants,  soweit  sie  in  den 
Buchhandel  kamen,  waren  bei  Petersen,  Härtung,  Kanter  in  Königs- 
berg erschienen.  Die  2.  Aufl.  der  „Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen*  und  der  „Träume  eines  Geistersehers*  (1.  Aufl.  1764 
und  1766  bei  Kanter)  hatte  schon  Hartknoch  in  Riga  übernommen.  Bei 
dem  Letzteren  erschienen  dann  noch  die  Prolegomena  (1783),  die  Grund- 
legung zur  Met.  d.  S.  (1785),  die  metaphys.  Anf.  d.  Naturw.  (1786  u.  1787) 


'  Diese  Angabe  bezieht  sich  nur  auf  die  übrigen  Schriften  Ks.;  denn  die 
Kritik  behielt  auch  bei  den  folgenden  Ausgaben  jene  Titulatur  bei. 

'  Vgl.  bes.  U eb er wegs  Abhandlung:  De priore  et  posteriore  fortna  KatUianae 
critices  ratianis  purae,  Berol.  1862,  sowie  dessen  Gesch.  der  Phil.  III,  §  17. 


Titelblatt.    Motto  aus  Bacon.  75 

und  die  Kritik  der  prakt.  Vernunft  (1787).  Mit  der  Kritik  d.  Urtheilskraft 
ging  Kant  zu  Lagarde  und  Friedrich  (Berlin  und  Liebau)  über  (1 790) ; 
die  späteren  Schriften  erschienen  jedoch  wieder  in  Königsberg,  nun  •  bei 
Nicolovius;  die  beiden  von  Bink  herausgegebenen  Schriften  bei  Grob b eis 
und  ünzer.  Mit  Hartknoch  in  Eiga  war  K.  vermuthlich  durch  Hamann 
bekannt  geworden,  der  mit  Hartkn.  befreundet  war.  Hartknoch  kam  auf 
der  Reise  zur  Ostermesse  1780  im  März  und  Mai  durch  Königsberg  durch 
(Hamann,  W.  VI,  124.  125  ff.  137  ff.)  und  besuchte  wahrscheinlich  Kant, 
von  dem  er  dann  auch  von  dem  neuen  Werke  hörte.  Eigentliche  Verlags- 
verhandlungen fanden  erst  im  Sept.  u.  Octob.  statt.  (Ib.  160.  163.  171.) 
Nach  Hamann  (W.  VI,  160)  bemühte  sich  auch  Kanter  in  Königsberg  um 
den  Verlag  „wie  ein  Gott  aus  der  Maschine '^  und  „hätte  beinahe  das  ganze 
Spiel  verdorben*.  „Ihr  Grund,*  sagt  Hamann  a.  a.  0.,  „dass  Sie  vorzüglich 
im  Stande  wären,  den  Absatz  des  Werkes  zu  verbreiten,  war  ein  treffliches 
argumentum  ad  hominem,  und  ich  wünsche,  dass  Sie  die  Braut  davon  tragen 
mögen.*  Nach  Hamann  und  auch  nach  Kraus  (Beicke  21,  Anm.  33)  fanden 
ausserdem  Verhandlungen  mit  Härtung  in  Königsb.  statt.  Kraus  sagt: 
,K.  forderte  gar  kein  Honorar  für  seine  Kritik.  Hartknoch  gab  ihm  von 
selbst  vier  Thaler  p.  Bogen,  und  K.  sah  es  als  ein  Geschenk  an,  dass 
Hartkn.  ihm  jede  Auflage  besonders  bezahlte.  Dem  verstorb.  Härtung  hatte 
er  das  Werk  angeboten,  aber  der  wollte  sich  nicht  damit  befassen,  da  K. 
ihm  ganz  treuherzig  gesagt,  er  wisse  nicht,  ob  er  (Härtung)  zu  seinen  Kosten 
kommen  würde.*  Aus  Ks.  Brief  an  Marc.  Herz  v.  1.  Mai  1781  ist  bekannt, 
dass  die  Kritik  (durch  die  Vermittlung  des  Buchhändlers  Spener  in  Berlin) 
bei  Grunert  in  Halle  gedruckt  wurde.  Ueber  Ks.  Verhältniss  zu  seinen 
Verlegern  im  Allgem.  vgl.  Borowski  132.  140.  171.  193/4,  Reicke, 
Kant.  21.  33,  Jachmann  44.  71.  Ueber  Ks.  Auffassung  des  Verhältnisses 
von  Schriftsteller  und  Verleger  s.  Ks.  Aufsatz  von  1785  über  die  Unrecht- 
mässigkeit  des  Büchemachdrucks ;  Bechtslehre  §  31.  W.  v.  Brünneck, 
K.  über  die  ünrechtm.  d.  Nachdrucks.  Altpr.  Mon.  II,  482  ff.  —  Es  mag  hier 
noch  aus  Kaisers  Bücherlexicon  die  Notiz  hinzugefügt  werden,  dass  die  Kritik ' 
damals  kostete  2  Thlr.  16  gr.,  auf  Schreibp.  4  Thlr. 


B.   Motto. 

Dieses  berühmte  Motto  ist  Zusatz  der  II.  Aufl.,  in  deren  Vorrede  Kant  seine 
Kritik  ausdrücklich  mit  B  a  c  o  n  s  Revolution  der  Naturwissenschaften  in  ver- 
gleichenden Zusammenhang  bringt  *.  Vielleicht  hatte  ihm  die  1 780  erschienene 
üebersetzung  des  Lebens  Bacons  von  Ulrich  (nebst  Abhandlung  über  seine 
Philos.)  oder  die  1783  erschienene  Üebersetzung  der  Schrift  de  augm.  sdent 


*  üebrigens  erinnert  schon  der  Anfang  der  Widmung  in  der  1.  Auflage  „ Wachs- 
thom  der  Wissenschaften^  an  den  Titel  des  Baooni sehen  Werks:  De  augmentis 
et  digmiaU  seierUiarum.    (1605.) 


76  Commentar  zu  Titelblatt,  Motto  und  Widmung. 

von  Pfingsten  1783  Anregung  zur  eingehenderen  Lectüre  Bacons  gegeben. 
Die  Stelle  ist  der  Vorrede  der  „Instauratio  magna"  (1620)  entnommen, 
deren  zweiten  Theil  das  Novum  Organum  bildet.  Diese  Vorrede  findet  sich 
in  allen  Ausgaben  des  Letzteren,  da  Bacon  den  ersten  Theil  zunächst  aus- 
fallen liess.  Kant  hat  die  Stelle  verkürzt  wiedergegeben.  Im  Original  heisst 
der  zweite  Satz:  Deinde  ut  suis  cpmmodis  aequi,  extitis  apinionum  zelis 
et  praejudiciis,  in  commune  consulant,  ac  ab  erroribus  viarum  atque  im- 
pedimentis,  nostris  praesidiis  et  auxiliis  liherati  et  muniti,  laborum  qui  resiant, 
et  ipsi  in  partem  veniant.  —  Uebersetzung:  »Von  mir  selbst  schweige 
ich;  in  Betreff  der  Sache  aber,  um  die  es  sich  handelt,  bitte  ich,  dass  man 
sie  nicht  als  einen  blossen  Einfall,  sondern  als  eine  ernsthafte  Arbeit  ansehe, 
und  dass  man  überzeugt  sei,  ich  lege  den  Grund  nicht  etwa  zu  einer  Secte 
oder  einer  Theorie,  sondern  zu  dem  Nutzen  und  Ruhm  der  Menschheit. 
Ferner,  dass  man,  des  eigenen  Vortheils  eingedenk,  .  .  .  auf  das  allgemeine 
Beste  bedacht  sei  .  .  .  und  selbst  Theil  nehme.  Schliesslich,  dass  man  guten 
Muthes  sei,  und  meine  Reform  nicht  fiir  etwas  Unendliches  und  Ueber- 
menschliches  halte  und  so  auffasse;  denn  sie  setzt  in  Wahrheit  dem  unend- 
lichen Irrthum  die  richtige  Grenze."  Die  von  uns  gegebene  Uebersetzung 
weicht  von  der  üblichen  Auffassung  ab.  Der  Ausdruck:  „in  commune  con- 
sulant" wird  mehrfach  übersetzt:  „gemeinsam  Rath  pflegen" ;  so  Kirchmann 
S.  48;  ähnlich  Bartoldy  S.  17  „gemeinschaftlich  zu  Werke  gehen".  Das 
Citat  Erdmanns,  Prol.  CXII,  verräth  dieselbe  Auffassung.  Diesen  üeber- 
setzungen  steht  gegenüber  die  Auffassung  von  Kehr b ach  (in  sr.  Ausg.): 
das  Allgemeine  bedenken;  ebenso  Buchen,  Paris  1842,  S.  8  und  Riaux, 
Paris  1843,  S.  14  tendre  au  bien  commun.  Die  Londoner  Ausgabe  von  1870 
übersetzt  (IV,  S.  21)  join  in  considtation  for  the  comtnon  good,  vereinigt 
somit  beide  Auffassungen,  was  jedoch  nach  dem  vorliegenden  Texte  nicht 
angeht.  Grammatisch  betrachtet  sind  beide  Uebersetzungen:  gemeinsam 
Rath  pflegen,  und:  für  das  allgemeine  Beste  sorgen,  gleichermassen  möglich. 
(Curtius  V,  9,  14;  IX,  1,  21;  X,  6,  15.  Tacitus,  Agr.  12,  5;  Bist.  4,  67,  14 
vgl.  mit  Tac.  Ann.  12,  5,  14;  2,  38,  6;  Liv.  32,  21,  1;  Terenz,  Andr.  3,  3, 
16  u.  ö.)  Es  entscheidet  somit  hier  der  logische  Zusammenhang:  aus  dem 
Gegensatz  „suis  commodis  aequi"  ergibt  sich,  dass  hier  die  zweite  Bedeutung 
gilt:  denn  wer  für  das  Allgemeine  sorgt,  befördert  zugleich  sein  eigenes 
Wohl.  Dass  K.  aus  Bacon  gerade  sein  Motto  entnahm,  ist  charakteristisch 
für  seinen  allgemeinen  Anschluss  an  die  Engländer,  besonders  Newton  und 
Hume  *.  Wie  Bacon  will  K.  eine  methodologische  Reform  jener  gegen  die 
Scholastik,  dieser  gegen  den  Dogmatismus,  üeber  das  allgemeine  Ver- 
hältniss  Ks.  zu  Bacon  vgl.  zu  Vorr.  B,  sowie  Einleitung  10  über  „Organon". 
Schon  im  Jahre  1772  sagten  die  aus  dem  Goethe'schen  Kreise  redigirten 
, Frankfurter  Gelehrten  Anzeigen"  S.  883:  „Unsere  Zeiten,  Mrir  müssens  ge- 
stehen,  und  sollten  auch  manche  noch  so  sauer  dazu  sehen;   unsere  Zeiten 


*  Das  Motto  aus  Bacon  verwendet  auch  Fichte  für  die  „Erste  Einleitung 
in  die  Wissenschaftslehre"  W.  W.  I,  419. 


Andere  Motti.     Widmung  an  Zedlitz.  77 

brauchen  einen  neuen  Baco,  so  nöthig  als  die  Zeiten  unserer  Väter." 
Ein  anderes  Motto  schlug  der  begeisterte  Kantianer  Vill er  s  vor  in  seinen 
LeUres  Westphaliennes,  Berl.  1797;  die  Verse  des  alten   Dichters  Hebert: 

Et  veriti  est  la  massue, 
Qui  tout  le  monde  occit  et  tue. 

Auch  Schopenhauer  schlug  ein  Motto  für  die  Kritik  vor,  Par.u.  Paral.  I,  84, 
aus  Pope  (Works  VI,  374.  Ed.  Basil.): 

„Since  Hia  reasonable  to  doübt  most  things,  we  should  most  of  all 
douht  that  reason  of  ours  tohich  would  demonstrate  aU  things" 

C.  de  R^musat,  La  Phüos.  Allem,  Prif.  X,  schlägt  die  folgenden  berühmten 
Eingangswort«  aus  Condillacs  „Essai  sur  Vorigine  des  connaisanccs  hu- 
maines"  als  „Epigraphe^  für  die  Kritik  d.  r.  V.  vor: 

„Sau  que  nous  nous  ilevions,  pour  parier  mitaphoriquement,  jusque 
dans  lea  cieux,  soit  que  nous  descendions  dans  les  abtmes,  nous  ne 
sortona  pas  de  nous-tneme;  et  ce  n'est  jamais  que  notre  pensSe  que 
nous  appercevons." 

Witte  (Philos.  Monats,  XIV,  487)  will  „mit  leichter,  obwohl  bedeutsamer 
Abänderung**  das  bekannte  Goethe 'sehe  Wort  als  Motto: 


„War'  nicht  die  Seele  sonnenhaft, 
„Wie  könnten  wir  das  Licht  erblicken? 
„Lag'  nicht  in  uns  des  Gottes  Kraft, 
„Wie  könnt  uns  Göttliches  entzücken?" 


Matosch  (Methodenfrage  der  K.'schen  Philos.  Wien  1879,  S.  29)  will  den 
eigenen  Satz  von  Kant  (Dissertatio  von  1770,  §  23)  als  „freilich  verhängniss- 
volle Inschrift  über  dem  Haupteingange  in  das  Lehrgebäude  des  Kriticismus**: 

„Methodus  antevertit  omnem  scientiam,'^ 


C.   Widmung. 

Dedleationeii.  Wald  bei  Reicke,  Kant.  22:  „Mit  Dedicationen  war  K. 
sparsam.*'  Borowski  193  fF.:  „Vielleicht  gibts  wenige  Autoren,  denen  es 
ums  Dediciren  ihrer  Schriften  so  wenig  zu  thun  war  als  Kanten.  Er  wollte 
sich  dadurch  weder  an  irgend  einen  grossen  Mann  andrängen,  noch  einen 
brillantnen  Ring,  wie  es  jetzt  Mode  wird,  darauf  auszugehen,  von  einem 
Fürsten  erschmeicheln.  Dem  Dr.  Bohlius,  der  in  seiner  Kindheit  und 
Jugend  ihm  und  seinen  Eltern  wohlgethan  hatte,  widmete  er  die  erste  seiner 
Schriften  (1747).  Das  geschah  aus  reiner  Dankbarkeit.  Die  allgemeine 
Naturgeschichte  des  Himmels  (1755)  hat  freilich  den  Namen  des  grossen 
Friedrichs  an  der  Spitze.  Dazu  hatten  K.  seine  Freunde  gerathen**  u.  s.  w. 
Die  Nova  Düuddatio  von  1755  und  die  Monadologia  Physica  1756  sind 
auch  Dedicationen,  letztere  an  H.  v.  Groben,   erstere  (durch  den  Respon- 


78  Commentar  zu  Titelblatt^  Motto  und  Widmung. 

denten)  an  Herrn  v.  Lebwald.  Die  Dissertation  von  1770  ist  wieder 
Friedrich  dem  Zweiten  zugeeignet.  Der  Streit  der  Facultftten  endlich  ist 
dem  Göttinger  Professor  Stäudlin  gewidmet.  Mit  der  Kritik  sind  somit 
6  (resp.  7)  Schriften  Kants  Dedicationen.  —  In  dem  Briefe  an  Herz  vom 
1.  Mai  1781  bittet  er  diesen,  das  Dedications-Exemplar  an  Zedlitz  zu  be- 
sorgen; es  soll  „in  einen  zierlichen  Band  gebunden  werden".  Das  „Exemplar 
soll  so  früh  nach  Berlin  kommen,  dass  noch  nicht  irgend  ein  anderes  dem 
Minister  ftüher  zu  Gesicht  hat  kommen  können".  Boshaft  genug  warf 
Nicolai  in  der  Vorrede  zu  den  „Neun  Gesprächen"  (von  Schwab  S.  21) 
es  Kant  vor,  dass  er  sich  hier  als  „unterthänig  gehorsamster  Diener"  unter- 
zeichne, da  doch  nach  seiner  Tugendlehre  §  9  offenbar  „eine  Unwahrheit 
aus  blosser  Höflichkeit"  eine  Lüge  sei.  Vgl.  Nicolai,  Gelehrte  Bildung 
161—163,  wo  derselbe  Gegenstand  ausführlich  und  ergötzlich  behan- 
delt wird. 

Freiherr  von  Zedlitz.  Zedlitz,  den  K.  „Beschützer"  und  insbesondere 
„Liebhaber  und  Kenner  der  Wissenschaften"  nennt,  ist  der  berühmte  Minister 
Friedrichs  des  Grossen  und  der  officielle  Vertreter  der  Aufklärung '.  Zedlitz 
war  seit  1777  Mitglied  der  Berliner  Academie,  welche  sich  daher  nach 
Bartholm^ss  II,  280  durch  diese  Widmung  mit  geehrt  fühlte.  In  seinen 
Briefen  erwähnt  K.  Zedlitz  mehrfach:  Aus  dem  Briefe  an  Herz  v.  27.  Sept. 
1770  geht  hervor,  dass  er  ihm  seine  Dissertation  sandte.  Im  Brief  an 
Herz  v.  Juni  1778  und  an  Mendelssohn  vom  Juli  1778  bespricht  er  die 
Berufungsangelegenheit  nach  Halle.  Zi  hatte  ihm  diese  erste  philos.  Pro- 
fessur angeboten  unter  glänzenden  Bedingungen.  K.  schlug  zweimal  ab. 
Er  nennt  Z.  „verehrungs würdig".  Nach  dem  Brief  an  Herz  vom  20.  Oct. 
1778  hatte  Z.  ein  Vorlesungsheft  Ks.  requirirt,  was  ihm  durch  Kraus  zu- 
gesandt wird.  Nach  dem  Brief  v.  15.  Dec.  1778  handelt  es  sich  um  die 
beliebte  „physische  Geographie".  Wie  eifrig  und  dankbar  Z.  dieses  Manu- 
script  studirte,  geht  aus  seinem  bei  Fischer  74  mitgetheilten  Briefe  *  hervor, 
woMehreres  über  Z.  Er  war  Minister  von  1770—1788;  er  stand  an  der  Spitze 
des  geistigen  Departements  und  die  Oberaufsicht  über  das  gesammte  Unter- 
richtswesen war  ihm  anvertraut.  Der  Wissenschaft  und  der  öffentlichen 
Meinung  sollte  der  freieste  Spielraum  eröfinet  werden.  Es  ist  daher  für 
die  Physiognomie  derZeit  sehr  bemerkenswerth,  dass  die  Kritik 
(trotz  ihrer  Antipathie  gegen  die  Aufklärungsphilosophie  selbst  das  systema- 
tische Grundbuch  der  wahren  Aufklärung  im  Sinne  Kants)  unter  der  Regierung 
Friedrichs  des  Grossen,  unter  dem  Ministerium  Zedlitz  erschien  '.     Charakte- 


'  Vgl.  C.  Rethwisch,  der  Staatsmann  Freiherr  von  Zedlitz.    Berlin  1880. 

*  Zuerst  veröffentlicht  bei  Schubert,  Kants  Biographie  S.  61,  der  noch 
Weiteres  beibringt.  Mit  Recht  nennt  derselbe  Kants  Widmung  „einfach  edel". 
(8.  65.)  Einen  Brief  von  Zedlitz  an  K.  vom  1.  Aug.  1778  theilt  Liebmann 
mit  in  den  Preuss.  Jahrb.  1865,  1,  496  („Kantische  Reliquien"). 

•  Schoi)enhauer,  Welt  a.  W.  u.  V.  I,  609:  „Es  ist  gewiss  keines  der 
geringsten  Verdienste   Friedrichs  des   Grossen,   dass  unter  seiner  Regierung 


Widmung  an  Zedlitz.  79 

ristisch  ist  das  Schreiben  des  Ministers  im  Dec.  1775  an  die  Universität 
Königsberg:  veraltete  Lehrbücher  und  Lehrgebäude  sollten  nicht  mehr  den 
academischen  Unterricht  verkümmern.  Kant  war  insbesondere  als  rühm- 
liche Ausnahme  erwähnt.  Diese  Beziehungen  —  Kants  Belobung  1775,  seine 
Berufung  1778,  das  Interesse  Zs.  für  seine  phys.  Geogr.  1778,  die  Widmung 
der  Kritik  1781  —  beweisen  die  gegenseitige  Hochschätzung  der  beiden  aus- 
gezeichneten Männer  \  Bekannt  ist,  dass  die  Nachfolger  des  Königs  und 
seines  Ministers  (Friedrich  Wilhelm  IL  und  Wöllner  [seit  1 789])  Kants  religions- 
philosophLsche  Thätigkeit  hemmten.  Die  Zeit  war  reactionär  geworden. 
Auch  der  Leibnizianer  und  Gegner  Kants,  Eberhard,  widmete  1787  den 
n.  Band  seiner  „Apologie  des  Socrates"  dem  Minister  v.  Z.  mit  Worten, 
welche  sehr  charakteristisch  sind  und  offenbar  auf  Ks.  Widmung  anspielen.  — 
üeber  Zedl.  (geb.  1731,  gest.  1793)  vgl.  Biester,  Berl.  Monatsschr.  1793, 
XXI,  S.  537  ff.  u.  Biester,  Berliner  Gelehrte.  Denina,  Priisse  literah-e, 
rn,  510.  Meusel,  Gelehrtes  Teutschland  IV,  268.  Erdmann,  Vorr.  zu 
Ks.  Proleg.  VII.  Hirsching,  Histor.  Liter.  Handbuch.  Trend elen bürg. 
Kleine  Schriften  I,  127  ff.  ZedUtz'  Porträt  s.  Berl.  Monatsschr.  I,  1783. 
Ein  Aufsatz  von  Z.  über  die  Verbesserung  des  Schulwesens  s.  Berl.  Mon.  X, 
27-116. 

Text  der  Widmiin^.  Der  erste  Satz  enthält  eine  stilistische  Härte: 
zu  j, vertrautere*  ist  offenbar  „Interesse"  zu  ergänzen;  dasselbe  Wort  ist 
aber  auch  zu  „dieses"  hinzuzudenken.  Nach  Er d mann  ist  nach  „vertrautere" 
das  Wort  „Verhältniss*  ausgefallen.  —  Für  die  Weglassung  des  zweiten 
Absatzes  in  B  lässt  sich  kein  genügender  Grund  auffinden.  Vielleicht  fand 
K.  die  Bemerkung,  dass  der  Nutzen  seiner  Bemühungen  „entfernt"  sei  und 
gemeinhin  „gänzlich  verkannt  werde",  nach  den  unterdessen  gemachten 
gunstigen  Erfahrungen  nicht  mehr  zeitgemäss.  —  Der  Ausdruck  „das  specu- 
lative  Leben"  erinnert  an  die  Aristotelische  Eintheilung  in  ßto?  aTCoXaüoxtxo^, 
ßto^  ävd^CüTTtvo^  itpaxttxo^,  ßto^  ^eüjp-rjxtxoc.  (Nicom.  Eth.  I,  3,  X,  7 — 8.)  Es  ist 
dies  die  „göttliche"  Lebensweise,  „vüa  contemplativa" ,  mit  Ueberwiegen  des 
voöc,  der  vom  Sinnlichen  sich  absondert  und  der  Anschauung  des  Ewigen 
sieh  zuwendet.  —  „Unter  massigen  Wünschen"  erinnert  an  die  bekannte 
Stelle  von  Horaz  (Sat.  11,  6,  1):  Hoc  erat  in  votis:  modus  agri  non  ita  magnus 
u.  s.  w.  —  „Beifall  eines  Richters",  vgl.  Vorr.  A,  fin.  S.  XV  „ich  erwarte  an 


Kant  sich  entwickeln  konnte  und  die  Kr.  d.  r.  V.  veröffentlichen  durfte.  Schwer- 
lich würSe  unter  irgend  einer  anderen  Regierung  ein  besoldeter  Professor  so  etwas 
gewagt  haben.  Schon  dem  Nachfolger  des  grossen  Königs  musste  Kant  ver- 
sprechen, nicht  mehr  zu  schreiben."  Vgl.  Biedermann, Deutschi.  IV,  874.  880.  893. 
*  Mit  stillschweigender  Anspielung  auf  Zedlitz  scheint  folgende  Stelle  von 
Kant  gesclirieben  zu  sein:  „Dass  vornehme  Personen  philosophiren,  wenn,  es 
auch  bis  zu  den  Spitzen  der  Metaphysik  hinauf  geschieht,  muss  ihnen  zur  grössten 
Ehre  angerechnet  werden,  und  sie  verdienen  Nachsicht  bei  ihrem  Verstoss  wider 
die  Schule,  weil  sie  sich  doch  zu  dieser  auf  den  Fuss  der  bürgerlichen  Gleichheit 
herablassen. **     (üeber  einen  neuerdings  erhobenen  vornehmen  Ton  u.  s.  w.  Einl.) 


80  Commentar  zu  Titelblatt,  Motto  und  Widmung. 

meinem  Leser  die  Geduld  und  Unparteilichkeit  eines  Richters".  —  lieber  den 
„Nutzen",  in  negativer  und  positiver  Beziehung,  vgl.  Vorrede  B,  S.  XXIV  ff. 
Von  dem  „Nutzen"  seiner  „Bemühungen"  spricht  K.  auch  in  der  Widmung 
der  Naturgeschichte  an  Fr.  11.  (1755).  — 

Trendelenburg,  Kleine  Schriften  11,  157:  Kant  hat  Zedlitz  „ein 
Denkmal  gestiftet,  das  mit  der  Kritik  d.  r.  V.  von  Jahrhundert 
zu  Jahrhundert  dauern  wird". 


IL 


Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 


Yorrede  zur  ersten  Auflage. 

Qliederung. 

(Vgl.  hiezu  Ks.  eigene  Bemerkungen  auf  S.  8—9.) 

A)  Ueb6r  die  kriüsehe  Untersnebmig  selbst.  (1—13) 

I.  Ueber  die  Materie  der  kritischen  Untersuchung.        (1—8) 

a)  Bisheriger  Zustand  der  Metaphysik.  (1— ^) 

a)  Sachlich:  innere  Widersprüche  der  Met.  (1—3) 
ß)  Historisch:    Dogmatiker,  Skeptiker  und 

Indifferentisten.  (3—4) 

b)  Neue  Aufgabe  und  Leistung,  (4—8) 

a)  Nothwendigkeit   einer    ,  Kritik  der   reinen 

Vernunft".  (4—6) 

ß)  Factbche  Leistungen  des  unter  gleichem  Titel 

vorliegenden  Werkes.  (6—8) 

IL  lieber  die  Form  der  kritischen  Untersuchung.      (9—13) 

a)  Oewissheit    des  Resultates.     [Episode    über    die 

transscendentale  Deduction.]  (9 — 11) 

b)  Deutlichkeit  der  Darstellung  (discursive,  nicht  in- 

tuitive). (11-13) 

B)  Ueber  das  Yerbältniss  der  kritiseben   Untersvebnng  sa 

einer  künftigen  Metaphysik.  (13—15) 
I.  Die  Aufgabe  einer  Metaphysik  nach  dem  Entwürfe 

der  , Kritik-.  (13-14) 
IL  Ankündigung   einer    systematischen    «Metaphysik 

der  Natur";  deren  Verhältniss  zur  „ Kritik " .  (15) 

Anhang:    Verbesserung  von  Druckfehlern.  (15—16) 


Specialliteratur:    Keine. 


Vftlhinger,  K»nt>Oommentar.  () 


82  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  I.  B  -  [R  5.  H  5.  K  13.] 

Die  mengclil«  Ternnnft  hat  u.  s.  w.  Für  die  Frage  nach  dem  sog.  Haupt- 
zweck der  Krit.  der  r.  V.  ist  dieser  Anfang  desshalb  höchst  bemerkens- 
werth,.  weil  hier  Kant  diejenigen  Probleme  in  den  Vordergrund  in  s^lir 
prönoncirter  Weise  stellt,  welche  Gegenstand  der  Dialektik,  insbesondere 
der  Antinomien  sind.  Diese  behandelt  jene  von  der  Vernunft  selbst  auf- 
gegebenen und  doch  von  ihr  unbeantwortbaren  Fragen  nach  dem  Wesen 
der  Seele,  dem  Ursprung  und  den  Grenzen  der  Welt  (räumlich 
und  zeitlich),  der  Freiheit  und  Noth wendigkeit,  die  Fragen  nach 
der  Existenz  eines  Absoluten  oder  Gottes.  „Die  transscendentalen 
Ideen  sind  .  .  .  solche  Probleme  der  Vernunft.**  Proleg.  §  57.  Dass  jene 
Fragen  ,uns  durch  die  Natur  unserer  Vernunft  selbst  auf- 
gegeben sind**,  ist  eine  fundamentale  und  oft  wiederholte  Bestimmung 
(Vorr.  A.  VIT.  S.  323.  668.  Prol.  §  52),  die  darin  ihre  Erklärung  findet,  dass 
„die  Begriffe  und  Grundsätze**,  die  in  jenen  Fragen  mitspielen,  ihren  Ur- 
sprung in  der  Vernunft  selbst  haben  (z.  B.  299),  die  „ein  eigener  Quell  von 
Begriffen  und  Urtheilen  ist,  die  lediglich  aus  ihr  entspringen**  (z.  B.  305). 
Dass  diese  Fragen  unbeantwortbar  sind,  ist  Kants  wichtigste  Bestimmung. 
Diese  Unbeantwortbarkeit  der  in  gewöhnlicher  Weise  gestellten  Fragen  schliesst 
jedoch  nicht  diejenige  Auflösung  dieser  Probleme  aus,  welche  vom  Stand- 
punkt der  kritischen  Philosophie  aus  möglich  ist,  und  welche  Kant  unten 
VI— VIII  für  sich  in  Anspruch  nimmt.  Es  wird  sich  indessen  noch  zeigen, 
dass  K.  hierüber  zu  keiner  widerspruchslosen  Bestimmung  gelangt,  indem 
er  bald  mehr  die  definitive  Unbeantwortbarkeit  der  letzten  Fragen  skeptisch 
betont ,  bald  in  dogmatisch  -  rationalistischer  Weise  die  Auflösung  der 
fundamentalen  Widersprüche  in  den  Vordergrund  stellt,  die  in  diesem 
Falle  bloss  äusserlich  und  scheinbar,  im  ersten  Falle  aber  innerlich  und  con- 
stitutiv  sind  \ 


*  J.  A.  H.  Reimarus  (Sohn  des  berühmten  H.  S.  Reimarus)  sucht  zu  zeigen 
(Gründe  d.  menschl.  Erkenntn.  S.  39),  dass  es  sich  widerspreche,  zu  behaupten, 
dass  die  Vernunft  Schranken  oder  ein  Unvermögen  habe,  die  verböten,  und 
doch  ein  Bedürfniss,  einen  Trieb,  d.  i.  ein  Naturgesetz,  welches  geböte,  weiter 
zu  forschen.  Die  Gegengründe  dieses  würdigen  Vertreters  der  Popularphilosophie 
werden  an  den  gehörigen  Orten  zur  Sprache  kommen.  Denselben  Einwand  macht 
F.  V.  Reinhard,  System  der  Christ.  Moral  I.  Bd.  Vorr.  XI.  „Ist  der  Grundriss 
unserer  Natur  wie  ihn  diese  Philos.  gezeichnet  hat,  richtig,  so  scheinen  wir  mehr 
das  rhapsodische,  aus  übel  verbundenen  und  mit  einander  streitenden  Kräften  zu- 
sammengefügte Werk  des  Zufalls,  als  das  Meisterstück  einer  schaffenden  Weis- 
heit zu  sein."  Ein  Wesen,  das  den  Widerspruch  des  auf  Erfahrung  beschränkten 
Verstandes  und  der  das  Sinnliche  überfliegenden  Vernunft,  den  Widerspruch  des 
sittlichen  Gesetzes  und  der  Neigungen,  den  Widerspruch  der  negativen  theore- 
tischen und  der  positiven  praktischen  Vernunft  (in  Bezug  auf  die  Ideen)  in  sich 
trägt,  „ist  doch  wahrlich  ein  im  höchsten  Grad  übel  organisirtes,  mit  sich  selbst 
durchaus  uneiniges,  und  in  jeder  Hinsicht  bedauerungswürdiges  Ganzes.''  Hierauf 
antworten  Jacobs  Ann.  III,  484  treffend:    „Es  würde  den  kritischen  Philosophen 


Die  Verlegenheiten  der  menschlichen  Vernunft.  83 

[R  5.  H  5.  K  13.]  ALn.B 

In  diese  Yerlegenhelt  gr^r&th  sie  ebne  Sclmld.  „Denn  die  menschliche 
Vernunft;  geht  unaufhaltsam,  ohne  dass  blosse  Eitelkeit  des  Vielwissens  sie 
dazu  bewegt,  durch  eigenes  Bedürfniss  getrieben,  bis  zu  solchen  Fragen 
fort,  die  durch  keinen  Erfahrungsgebrauch  der  Vernunft  .  .  .  beantwortet 
w^erden  können."  B.  21.  Durch  dasselbe  »eigene  Bedürfniss",  das  diese 
Fragen  hervortreibt,  wird  die  Vernunft  aber  auch  getrieben,  „sie  so  gut  als 
sie  kann  zu  beantworten".  B.  22.  Das  ist  die  sog.  „Naturanlage  zur  Meta- 
physik". (Ib.)  Jene  Fragen  sind  „natürliche  Fragen"  (ib.),  sie  sind  „un- 
vermeidliche Aufgaben  der  reinen  Vernunft".  B.  7.  Vgl.  den  Brief  an  Herz 
V.  26.  Mai  1789.  Diese  „Unvermeidlichkeit"  betont  K.  auch  323.  462  ff.  407. 
615.  Prol.  §  51:  „Die  nicht  etwa  beliebig  erdachte,  sondern  in  der  Natur 
der  menschl.  Vern.  gegründete,  mithin  unvermeidliche  und  niemals  ein  Ende 
nehmende  Antinomie."  „Die  dialektischen  Versuche  der  reinen  Vernunft 
¥?'erden  nicht  willkürlich  oder  muth williger  Weise  angefangen,  sondern  die 
Natur  der  Vernunft  treibt  selbst  dazu."  Prol.  §  57. 

Sie  fftngt  TOD  Gnmdsfttzeii  an,  u.  s.  w.  Kant  unterscheidet  im  Folgenden 
zweierlei  Arten  von  Grundsätzen,  immanente,  für  die  Erfahrung 
unvermeidliche  und  von  ihr  bewährte,  und  transscendente,  die  Erfahrung 
überschreitende.  Diese  Unterscheidung  ist  fundamental,  sie  wird  ausdrück- 
lich am  Eingang  der  Dialektik  295  gemacht.  „Wir  wollen  die  Grundsätze, 
deren  Anwendung  sich  ganz  und  gar  in  den  Schranken  möglicher  Erfahrung 
hält,  immanente,  diejenigen  aber,  welche  diese  Grenzen  überfliegen  sollen, 
transscendente  Grundsätze  nennen."  „Ein  Grundsatz,  der  diese  Schranket! 
wegnimmt,  ja  gar  gebietet,  sie  zu  überschreiten,  heisst  transscendent" 
im  Gegensatz  zu  jenen  Grundsätzen  des  bloss  empirischen  Gebrauchs.  Diese 
sind  „die  Grundsätze  des  Verstandes",  jene  „die  Grundsätze  aus  reiner  Ver- 
nunft". 786.  Er  spricht  zuerst  von  der  ersten  Art;  als  Beispiel  solcher 
Grundsätze  möge  angeführt  werden  der  Grundsatz  der  Causalität:  Alle 
Veränderungen  geschehen  nach  dem  Gesetze  der  Verknüpfung  der  Ursache 
und  Wirkung  (B.  232).  Dass  dieser  Satz  nicht  nur  von  der  Erfahrung 
genügend  bewährt,  sondern  für  sie  auch  ganz  noth wendig  ist,  ist  die  Lehre 
der  Analytik  (bes.  189  ff.);  dass  der  fortgesetzte  Gebrauch  dieses  Grund- 
satzes in  eine  unvollendbare  Reihe  von  Bedingungen  führe,  lehrt  die 
Dialektik  (bes.  466.  487.  531  ff.  bes.  605  Anm.).  Prol.  §  57:  „Die  Vernunft, 
durch  alle  ihre  Begriffe  und  Gesetze  des  Verstandes,  die  ihr  zum  empirischen 
Gebrauch,  mithin  innerhalb  der  Sinnenwelt  hinreichend  sind,  findet  doch 
för  sich  dabei  keine  Befriedigung ;  denn  durch  ins  Unendliche  immer  wieder- 
kommende Fragen  wird  ihr  alle  Hoffnung  zur  vollendeten  Auflösung  der- 
selben benommen." 

Kant  erwähnt  hier  scheinbar  nicht  die  schlimmen  Folgen,  welche  durch  An- 


leicht  fallen^  dieser  Litanei  eine  andere  entgegenzusetzen,  welche  die  Organisation, 
die  Reinhards  System  dem  Menschen  gibt,  noch  kläglicher  abschildere.^  Er  sehe 
Alles  in  Harmonie  in  des  Menschen  Bestimmung. 


84  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

ALn.B  — [E  6.  H  6.  E  13.] 

Wendung  dieser  empirisch  begründeten  Grundsätze  auf  das  Metempirische 
entstehen ,  obgleich  auch  dies  und  gerade  dies  nach  ihm  eine  Hauptquelle 
der  metaphysischen  Verlegenheiten  ist.  Vorr.  B.  XXIV.  XXVII.  XXX.  A.  710. 
750.  B.  25.  547.  Es  ist  ja  ^sehr  anlockend  und  verleitend,  sich  dieser  . .  . 
Grundsätze  allein  und  selbst  über  die  Grenzen  der  Erfahrung  hinaus  zu  be- 
dienen*. 63.  Besonders  der  Grundsatz  der  Causalität,  der  doch  »nur  für 
Gegenstände  möglicher  Erfahrung*  gilt,  ist  dieser  Missanwendung  ausgesetzt 
(786).  Portschr.  R.  489.  491.  Diese  „Grundsätze,  deren  man  sich  bei  der 
Erfahrung  bedient",  führen  unvermerkt,  wie  es  scheint,  mit  demselben  Rechte 
noch  weiter.  Prol.  §  57.  §  31  (in.).  Das  fuhrt  aber  zu  „sophistischem  Blend- 
werk* (63)  218  Anm.  Kant  unterscheidet  diesen  von  ihm  sog.  „transscenden- 
talen  Gebrauch*  der  bloss  auf  das  Empirische  angelegten  Kategorien  und 
Grundsätze  von  den  nun  folgenden  transscendenten  Grundsätzen  ausdrücklich. 
296.  Allein  factisch  kommt  die  transscendentale  Anwendung  der  immanenten 
Grundsätze  mit  den  davon  unterschiedenen  transscendenten  Grundsätzen  auf 
Ein  und  Dasselbe  hinaus;  denn  der  Grundsatz,  der  gebietet,  die  Schranken 
zu  überschreiten,  der  Satz  des  Unbedingten,  verlangt  eben  die  trans- 
scendentale Anwendung  der  immanenten  Grundsätze,  und  wenn  diese  eine 
solche  Anwendung  erfahren,  entsteht  der  metaphysische  oder  transscendentale 
Schein.  Streng  genommen  kennt  daher  Kant  nur  Einen  eigentlich  trans- 
scendenten Grundsatz,  den  Satz  des  Unbedingten,  und  die  übrigen  transscen- 
denten Sätze  (über  das  Wesen  der  Seele  u.  s.  w.)  entstehen  eben  durch  die 
transscendentale  Anwendung  der  immanenten  Grundsätze  auf  das  Metem- 
pirische nach  dem  Leitfaden  jenes  Princips  des  Unbedingten.  Ein  solcher 
„Grundsatz*,  der  „gar  so  weit  hinausgeht,  dass  uns  die  Erfahrung  selbst 
nicht  so  weit  folgen  kann*,  ist  z.  B.  der  Satz:  Die  Welt  muss  einen  ersten 
Anfang  haben.  B.  18.  A.  296;  cfr.  Prol.  §  31.  35  bes.  wie  der  Verstand 
„unschuldig  und  sittsam  anfängt*  und  dann  die  Erfahrungsgrundsätze  über 
alle  Erfahrung  hinaus  ausdehnt.  Weiteres  über  die  üeberanwendung  der 
Grundsätze  z.  B.  63  und  bes.  296  flp.  701  ff.  725  ff.  Entdeckung  R.  I, 
452  Anm. 

Zu  Grnndsfttien  ihre  Znflneht  zu  nehmen  u.  s.  w.  Für  diese  zweit«  Art 
von  Grundsätzen,  die  transscendenten,  ist  nach  Kant  der  Ausgangspunkt  der 
ihnen  gemeinsame  G r u n d s a t z  des  Unbedingten:  „Wenn  das  Bedingte 
gegeben  ist,  ist  auch  das  Unbedingte  gegeben*  (z.  B.  307.  322  ff.).  Dieser 
„unverdächtig*  scheinende  Grundsatz  und  „die  aus  diesem  obersten  Princip 
der  reinen  Vernunft  entspringenden  Grundsätze*  sind  „in  Ansehung  aller 
Erscheinungen  transscendent,  d.  i.  es  wird  kein  ihm  adäquater  empiri- 
scher Gebrauch  von  demselben  jemals  gemacht  werden  können*.  308.  299. 
„Auf  den  Credit  dieser  Grundsätze,  deren  Ursprung  man  (d.  h.  der  Meta- 
physiker)  nicht  kennt*,  und  „über  die  sich  der  gemeine  Menschenverstand 
nicht  zu  rechtfertigen  versteht*  (Prol.  Vorr.  6),  errichtet  der  Dogmatismus 
sein  „Gebäude*  (3).  Eine  Deduction,  Rechtfertigung  dieser  Grundsätze  ist 
unmöglich;   es  gibt  zwar  solche  Grundsätze  aus  reiner  Vernunft,   aber  „als 


Die  Widersprüche  der  Metaphysik.  85 

[R  5.  H  5.  E  13.]  A  n.  B 

objective  Grundsätze  sind  sie  insgesammt  dialektisch*^  (786).  Diese  ,in  unserer 
Vernunft  liegenden  Grundsätze  und  Maximen  ihres  Gebrauchs"  haben  zwar 
«gänzlich  das  Ansehen  objectiver  Grundsätze",  haben  aber  f actisch  nur  „sub- 
jective"  Bedeutung  (296).  Diese  Grundsätze  sind  aber  so  unverdächtig,  dass 
der  gemeine  Menschenverstand  sie  ganz  natürlich  findet,  mit  ihnen  „imEin- 
verständniss  steht",  oder  dass,  wie  die  Prol.  §  52b  sagen,  diese  Grund- 
sätze „allgemein  zugestanden"  sind.  Ja  diese  Grundsätze  werden 
schliesslich  als  „unmittelbar  gewiss"  in  Anspruch  genommen.   Prol.  136  *. 

Dunkelheit  und  Widersprüche.  Diese  wenig  schmeichelhafte  Charakte- 
ristik der  Metaphysik  wiederholt  Kant  sehr  häufig.  Z.  B.  B.  19  (Ungewiss- 
heit  und  Widersprüche),  B.  22  (unvermeidliche  Widersprüche),  Vorr.  A.  VI 
(Irrungen).  702  (transscendente  Erkenntnisse,  zwar  glänzender,  aber  trüg- 
licher  Schein,  bringen  nur  Ueberredung  und  eingebildetes  Wissen,  hiemit 
aber  ewige  Widersprüche  und  Streitigkeiten  hervor).  Vgl.  Kant  bei 
Erdmann,  Preuss.  Jahrb.  37.  212.  Die  dogmatischen  Philosophen  stellen  so 
^  unstatthafte  und  unsichere  Behauptungen  auf,  dass  zu  aller  Zeit  eine  Meta- 
physik der  anderen  entweder  in  Ansehung  der  Behauptungen  selbst  oder 
ihrer  Beweise  widersprochen  und  dadurch  ihren  Anspruch  auf  dauernden 
Beifall  selbst  vernichtet  hat".  Prol.  §  4.  Diese  „im  dogmat.  Verfahren  un- 
vermeidlichen Widersprüche  der  Vernunft  mit  sich  selbst  haben  die  Meta- 
physik schon  längst  um  ihr  Ansehen  gebracht".  B.  23.  Die  Widersprüche 
der  Metaphys.  sind  in  den  Antinomien  dargestellt '.     Schliesslich  freilich 


'  Diese  ersten  Sätze  fasst  Stattler,  Anti-Kant  Vorr.  so  zusammen :  „K.  er- 
kläret die  Vernunft  für  einen  durchgehends  unnützen  Knecht  und  Gaukelspieler, 
der  bisher  nur  diente,  durch  eitle  Schmeicheleien  von  hohen  Kenntnissen,  wie  ein 
grosser  Projectmacher,  zu  verführen." 

•  Kant  an  Bern oui  11  i  18.  Nov.  1781:  „Damals  (1765  ff.)  sah  ich  wohl 
ein,  dass  es  dieser  vermeintlichen  Wissenschaft  an  einem  sichern  Probirstein  der 
Wahrheit  und  des  Scheins  fehle,  indem  die  Sätze  derselben,  welche  mit  gleichem 
Rechte  auf  üeberzeugung  Anspruch  machen,  sich  dennoch  in  ihren  Folgen  unver- 
meidlicher Weise  so  durchkreuzen,  dass  sie  sich  einander  wechselseitig  verdächtig 
machen  müssen."  Ueber  den  hierin  liegenden  Hinweis  auf  die  Antinomien, 
als  das  veranlassende  Motiv  zu  Ks.  Kritik  s.  später.  Vgl.  Fortschr.  K.  101. 
R.  I,  492.  ^Woran  konnte  man  das  Misslingen  und  die  Verunglückung  der  grossen 
Anschläge  der  Met.  erkennen?  Ist  es  etwa  die  Erfahrung,  die  sie  widerlegte? 
Keineswegs !  Denn  was  die  Vernunft  als  Erweiterung  a  priori  von  ihrer  Erkenn t- 
nisB  der  Gegenstände  möglicher  Erfahrung,  in  der  Mathematik  sowohl, 
als  in  der  Ontologie  sagt,  das  sind  wirkliche  Schritte,  die  vorwärts  gehen  und 
wodurch  sie  das  Feld  zu  gewinnen  sicher  ist  Nein,  es  sind  beabsichtigte  und 
vermeinte  Eroberungen  im  Felde  des  üebersinnlichen,  wo  vom  absoluten 
Natnrganzen,  was  kein  Sinn  fasst,  imgleichen  von  Gott,  Freiheit  und  Un- 
sterblichkeit die  Frage  ist,  die  hauptsächlich  die  letzteren  drei  Gegenstände  be- 
trifft, daran  die  Vernunft  ein  praktisches  Interesse  nimmt,  in  Ansehung  deren  nun 
alle  Versuche  der  Erweiterung  scheitern,  welches  mnn  aber  nicht  etwa  daran  sieht, 
dass    uns   eine    tiefere  Erkenntniss   des  Üebersinnlichen,    als   höhere   Metaphysik, 


36  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  n.  B  —  [E  5.  H  5.  K  18.] 

löst  sich  für  K.  Alles  in  die  beste  Harmonie  auf,  und  nur  „der  Pöbel  der 
Vernünftler  schreit  über  Ungereimtheit  und  Widersprüche  und  schmählt  auf 
die  Regierung,  in  deren  innersten  Plan  er  nicht  zu  dringen  vermag*  u.  s.  w.  669. 

Verborgene  Irrthflmer  oder  wie  Kant  unten  VI  sich  ausdrückt,  ,der 
Missverstand  der  Vernunft  mit  sich  selbst".  Diesen  „Irrthum"  gilt  es  eben 
zu  verhüten  (339),  diese  „geheime  Dialektik"  aufzudecken  (Prol.  §  52b). 
Den  Weg,  „den  dialektischen  Schein,  der  sonst  auf  ewig  verborgen  sein 
müsste,  zu  offenbaren"  (ib.),  will  Kants  Kritik  eben  angeben  *. 

Kein  Problrstein  der  Erfahmng.  Dies  ist  ein  sehr  oft  wiederholter 
Lieblingsausdruck  Kants:  Vorr.  B.  XVII.  A.  295.  425.  Derselbe  findet 
sich  häufig  in  seinen  früheren  Schriften.  Von  dem  „Lapis  Lydius^  spricht 
K.  schon  in  der  Nova  Dilucidatio  1755,  Prop.  III.  Diss.  1770,  §  24:  „Horum 
judiciorum  criterium  et  veluti  Lydium  lapidem,  quo  Uta  dignoscamus  a 
genuinis,  et  artem  quandam  docimasticam.^  An  Lambert  13.  Dec.  1765: 
„Am  Probirstein  der  allg.  menschl.  Vernunft  den  Strich  halten."  Aehnlich 
spricht  K.  von  der  „Probirwage  der  Kritik"  767  oder  406  von  der  „Feuer- 
probe" derselben.  Kr.  d.  pr.  V.  276:  Reine  Sinnlichkeit  das  Probemetall, 
woran  man  den  moralischen  Grehalt  jeder  Handlung  prüfen  muss.  Brief  an 
Herz  V.  26.  Mai  1789:  Die  Antinomien  ein  Probirstein,  dass  der  mensch- 
liche Verstand  vom  göttlichen  specifisch  verschieden  ist. 
*  Metaphysik  ein  Kampfplatz.    Auch  dies  ist  ein  LiebUngsbild  Kants,  das 

er  z.  B.  in  der  Vorr.  B.  XFV  so  ausmalt:  „Sie  ist  ein  Kampfplatz,  der 
ganz  eigentlich  dazu  bestimmt  zu  sein  scheint,  seine  Kräfte  im  Spielgefechte 
zu  üben,  auf  dem  noch  niemals  irgend  ein  Fechter  sich  auch  den  kleinsten 
Platz  hat  erkämpfen  und  auf  seinen  Sieg  einen  dauerhaften  Besitz  gründen 
können."  „Das  speculative  Erkenntniss  ist  der  rechte  Kampfplatz  nimmer 
beizulegender  Fehden."  776.  Im  Schlusskapitel  spricht  K.  von  „dieser  Bühne 
des  Streits"  853,  auf  der  nach  Fortschr.  K.  173.  R.  I,  571  „ein  Zweikampf 
derVernunft  mit  sich  selbst"  stattfindet.  „Die  vernünftelnden  Behaup- 
tungen eröffnen  einen  dialektischen  Kampfplatz,  wo  jeder  Theil  die  Ober- 


etwa  das  Gegentheil  jener  Meinungen  lehre;  denn  mit  dem  können  wir  diese 
nicht  vergleichen,  weil  wir  sie  als  überschwenglich  nicht  kennen;  sondern  weil  in 
unserer  Vernunft  Prineipien  liegen,  welche  jedem  erweiternden  Satz  über  diese 
Gegenstände  einen,  dem  Ansehen  nach  ebenso  gründlichen  Gegensatz  entgegen- 
stellen und  die  Vernunft  ihre  Versuche  selbst  zernichtet" 
Grundl.  d.  Met.  d.  S.  K.  23.  „In  dem  theoretischen  Beurtheilungsvermögen,  wenn 
die  gemeine  Vernunft  es  wagt,  von  den  Erfahrungsgesetzen  und  den  Walirneh- 
mungen  der  Sinne  abzugehen,  geräth  sie  in  lauter  ünbegreiflichkeiten  und  Wider- 
sprüche mit  sich  selbst,  wenigstens  in  ein  Chaos  von  Ungewissheit,  Dunkelheit 
und  Unbestand.  Im  Praktischen  aber  fängt  die  Beurtheilungskraft  dann  eben 
allererst  an,  sich  recht  vortheilhaft  zu  zeigen,  wenn  der  gemeine  Verstand  alle 
sinnlichen  Triebfedern  .  .  .  ausschliesst."    (Ros.  VIII,  25.) 

*  Nach  Herbarts  Kantrede  von  1810  (S.  11)  folgt  die  Nothw.  einer  Vernunfl- 
kritik  aus  dem  nothw.  Widerstreit  der  Vernunft  mit  sich  selbst.    W.  W.  XII,  144. 


Der  Kampfplatz  der  Metaphysik.     Krieg  nnd  Frieden.  87 

[R  5.  H  5.  E  18.]  A  n.  B 
band  behält,    der  die  Erlaubniss  hat,    den  Angriff  zu  thun"  u.  s.  w.  422. 


handelt  sich  dabei  als  Kampfobject  um  „Landgewinnung^  (l^^)?  üis- 
besondere  um  das  »Feld  der  Noumena,  von  welchem  Besitz  ergriffen  werden 
soll*  (B.  409).  Der  Kampf  ist  aber  nur  ein  Spielgefecht;  denn  jene  Wider- 
sprüche liegen  nicht  in  der  richtig  angewandten  reinen  Vernunft:  denn 
der  einzige  Kampfplatz  für  sie  würde  „auf  dem  Felde  der  reinen  Theologie 
mid  Psychologie  zu  suchen  sein;  dieser  Boden  aber  trägt  keinen  Kämpfer 
in  seiner  ganzen  Rüstung  und  mit  Waffen,  die  zu  furchten  wären.  Er  kann 
nur  mit  Spott  oder  Grosssprecherei  auftreten,  welches  als  ein  Kinderspiel 
belacht  werden  kann".  743.  Gegen  solche  Kämpfer  gilt  es  in  den  „Waffen 
der  Vernunft**  (der  wahren)  aufzutreten.  744.  Jene  Kämpfer  dagegen  sind 
^Luftfechter  („ Luftstreiche **  742),  die  sich  mit  ihrem  Schatten  herum- 
balgen ...  Sie  haben  gut  kämpfen ;  die  Schatten,  die  sie  zerhauen,  wachsen 
wie  die  Helden  in  Walhalla  in  einem  Augenblicke  wiederum  zusammen,  um 
sich  aufs  Neue  in  unblutigen  Kämpfen  zu  belustigen".  756.  Dasselbe 
Bild  liegt  den  weiteren  Ausführungen  der  Vorrede  zu  Grunde,  bis  es,  wie 
auch  S.  793,  in  das  Büd  des  Prozesses  übergeht.  Vgl.  noch  464:  „Der 
Vernunft  bleibt,  da  es  sowohl  ihrer  Ehre  als  auch  sogar  ihrer  Sicherheit 
wegen  nicht  thunlich  ist,  sich  zurückzuziehen  und  diesem  Zwist  als  einem 
blossen  Spielgefechte  gleichgültig  zuzusehen,  noch  weniger  schlechthin 
Frieden  zu  gebieten,  nichts  weiter  übrig,  als  über  den  Ursprung  dieser  Ver- 
nneinigung  der  Vernunft  mit  .sich  selbst  nachzusinnen,  ob  nicht  etwa  ein 
blosser  Missverstand  daran  Schuld  sei,  nach  dessen  Erörterung  zwar  beider- 
seits stolze  Ansprüche  vielleicht  wegfallen,  aber  dafür  ein  dauerhaft  ruhiges 
Regiment  der  Vernunft  über  Verstand  und  Sinne  seinen  Anfang  nehmen 
würde."  Vom .  apagogischen  Beweis  heisst  es  793:  er  ist  „gleichsam  der 
Champion,  der  die  Ehre  und  das  unstreitige  Recht  seiner  genommenen 
Partei  dadurch  beweisen  will,  dass  er  sich  mit  Jedermann  zu  raufen  an- 
heischig macht"  u.  s.  w.  Dieses  Bild  hat  K.  selbst  weiter  ausgeführt  in 
seiner  launigen  Schrift  vom  Jahre  1796:  „Verkündigung  des  nahen  Ab- 
schlusses eines  Tractats  zum  ewigen  Frieden  in  der  Philosophie."-  »Den 
Hang,  sich  der  Vernunft  zum  Vernünfteln  zu  bedienen,  d.  i.  zu  ph i lo- 
se phiren,  sich  polemisch  mit  seiner  Philosophie  an  Anderen  zu  reiben,  d.  i. 
zu  disputiren,  und  weil  das  nicht  leicht  ohne  Affect  geschieht,  zu  Gunsten 
seiner  Philos.  zu  zanken,  zuletzt  in  Masse  gegen  einander  (Schule  gegen 
Schule,  als  Heer  gegen  Heer)  vereinigt,  offenen  Krieg  zu  führen"  —  diesen 
Hang  oder  vielmehr  Drang  sieht  Kant  daselbst  als  eine  von  den  wohl- 
thätigen  und  weisen  Veranstaltungen  der  Natur  an.  Der  Streit  zwischen 
Dogmatismus,  Ske^ticismus  und  Moderatismus  (Popularphilosophie) 
gibt  allerdings  den  Schein  der  Unvereinbarkeit  der  Philosophie  mit  dem  be- 
harrlichen Friedenszustande  derselben;  allein  K.  sucht  die  wirkliche  Ver- 
einbarkeit der  kritischen  Philosophie  mit  einem  solchen  Friedenszüstand 
zu  zeigen.  Diese  Philosophie  fängt  „ihre  Eroberungen"  an  mit  der  Unter: 
suchung  der  Vermögen  der  menschl.  Vernunft.    Indessen,  während  ein  totaler 


gg  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  n.  B  —  [R  5.  H  5.  K  13.] 

Frieden  zum  Todesschlaf  der  Vernunft  führen  würde,  ist  diese  Philosophie 
doch  nur  ein  bewaffneter  Friedenszustand,  der  aber  eben  den  Vorzug 
hat,  die  Kräfte  des  durch  Angriffe  in  scheinbare  Gefahr  gesetzten  Subjecis 
immer  rege  zu  erhalten.  Diese  streitbare  Verfassung  ist  kein  Krieg,  sichert 
aber  den  Frieden.    Wenn  aber  Kästner  sage: 

„Auf  ewig  ist  der  Krieg  vermieden, 
Befolgt  man,  was  der  Weise  spricht; 
Dann  halten  alle  Menschen  Frieden, 
Allein  die  Philosophen  nicht." 

so  sei  dieser  Ausspruch  nicht  als  ein  Unglücksbote ,  sondern  als  ein  Glück- 
wunsch auszulegen,  indem  er  den  Philosophen  einen  über  vermeinte  Lorbeeren 
gemächlich  ruhenden  Frieden  gänzlich  abspricht;  denn  ein  solcher  würde 
zum  Tode  und  zur  Fäulniss  fuhren.  In  der  kritischen  Philos.  liege  also  die 
Gewähr  des  nahen  Friedensschlusses.  Diese  „frohe  Aussicht  zum  nahen 
ewigen  Frieden"  werde  scheinbar  getrübt  durch  die  bedenkliche  Aussicht, 
welche  Angriffe  (speciell  J.  G.  Schlossers)  gegen  die  kritische  Philosophie 
eröffnen.  Denn  dieser  eben  erwähnte  Mann  trete  unerwarteter  Weise  auf 
den  Kampfplatz  der  Metaphysik,  wo  die  Händel  mit  grösster  Bitterkeit 
geführt  werden.  Indessen  thue  dieser  aus  Unkunde  und  etwas  böslicher 
Chikane  entstandene  Angriff  der  Verkündigung  des  ewigen  Friedens  in  der 
Philos.  keinen  Abbruch.  „Denn  ein  Friedensbund,  der  so  beschaffen  ist, 
dass,  wenn  man  sich  einander  nur  versteht,  er  auch  sofort  (ohne  Kapitu- 
lation) geschlossen  ist,  kann  auch  für  geschlossen,  wenigstens  dem  Abschluss 
nahe  angekündigt  werden."  Durch  den  Grundsatz:  Du  sollst  nicht  lügen 
(wozu  auch  gehört,  etwas  Unsicheres  für  gewiss  ausgeben),  werde  der  ewige 
Frieden  bewirkt  und  gesichert.  Vgl.  Krug:  de  pace  inter  philosophos, 
utrum  sperandu  et  optanda,  1795.  Auf  diesen  „ewigen  Frieden"  weist  K. 
auch  schon  in  der  Kr.  hin  592,  wo  das  Bild  auch  ins  Specielle  ausgeführt 
wird  \ 

Heisst  Metaphysik;  Dieses  Wort  verdankt  seinen  Ursprung  bekanntlich 
einer  Laune  des  Zufalls.  Die  jetzt  als  Metaphysik  bekannte  Schrift  des 
Aristoteles  erhielt  ihren  Namen  durch  ihre  Stellung  hinter  den  physikalischen 
Werken  desselben:  ta  jjLexa  xa  «pootxd.  Arist.  Met.  Ed.  Brand,  p.  823,  18.  K. 
selbst  huldigt  der  falschen  Etymologie.  Er  sagt  Fortschr.  K.  160.  E.  I,  558: 
„Der  alte  Name  dieser  Wissenschaft  \kexä  xä  cpootxd  gibt  schon  eine  Anzeige 
auf  die  Gattung  von  Erkenntniss,  worauf  die  Absicht  mit  derselben  ge- 
richtet war.  Man  will  vermittelst  ihrer  über  alle  Gegenstände  möglicher 
Erfahrung  (Irans  physicam)  hinausgehen ,  um  womöglich  das  zu  erkennen, 
was  schlechterdings  kein  Gegenstand  derselben  sein  kamn,  und  die  Definition 
der  Metaphysik,  nach  der  Absicht,  die  den  Grund  der  Bewerbung  um  eine 


*  In  diesem  Sinne  wollte  und  erstrebte  später  der  Kantianer  Reinhold, 
dass  aus  den  vielen  Philosophien  endlich  die  „Philosophie  ohne  Beinamen"  ent- 
stünde. 


Etymologie  von  y^Metaphysik".    Die  Königin  der  Wissenschaften.  89 

[B  5.  6.  H  6.  6.  E  13.  14.]  A  H.  B 

dez^leichen  Wissenschaft  enthält,  würde  also  sein:  sie  ist  eine  Wissenschaft, 
vom  Erkenntniss  des  Sinnlichen  zu  dem  des  üebersinnlichen  fortzuschreiten." 
(Vgl.  Metaph.  17:  das  Wort  bed.  eine  Wiss.,  die  über  die  Grenzen  der 
Xator  hinausgehet.)  Damit  stimmt  jedoch  nicht  überein  die  Auslegung  der 
Proleg.  §  1,  wo  K.  sagt:  »Was  die  Quelle  einer  metaphysischen  Erkennt- 
niss betrifft,  so  liegt  es  schon  in  ihrem  Begriffe,  dass  sie  nicht  empirisch 
sein  könne  .  .  .  denn  sie  soll  nicht  physische,  sondern  metaphysische,  d.  h. 
jenseits  der  Erfahrung  liegende  Erkenntniss  sein.*  (Vgl.  Metaph.  27:  „ohne 
Begriffe  a  priori  wäre  keine  Metaph.  möglich*).  Hier  wird  nicht  der  Um- 
fang der  Erfahrung,  sondern  ihr  Inhalt  überschritten.  Die  erstere  Er- 
klärung trifft  nur  die  transscendente  Metaphysik,  die  zweite  dagegen  auch 
die  immanente.  Dies  rechtfertigt  Hamanns  herbes  Urtheil  in  der  „ Meta- 
kritik* (Rink,  Manch.  125):  „Schon  dem  Namen  Met.  hängt  der  Erbschade 
tud 'Aussatz  der  Zweideutigkeit  an,  der  dadurch  nicht  gehoben,  noch  weniger 
verklärt  werden  mag,  dass  man  bis  zu  seinem  Geburtsort,  der  in  der  zu- 
fälligen Synthese  eines  griechischen  Vorworts  liegt,  zurückgeht  .  .  .  Das 
Muttermal  des  Namens  breitet  sich  von  der  Stirn  bis  in  die  Eingeweide  der 
ganzen  Wissenschaft  aus  .  .  .  und  ihre  Terminologie  verhält  sich  zu  jeder 
anderen  Kunst-,  Weid-,  Berg-  und  Schulsprache  wie  das  Quecksilber  zu  den 
übrigen  Metallen.*  W.  W.  VIT,  7.  Auch  Schopenhauer,  W.  a.  W.  u.  V. 
I,  506,  tadelt,  dass  K.»  das  etymologische  Argument  als  einzigen  Beweis 
för  seine  (falsche)  Cardinalbehauptung  anfuhrt ,  dass  die  Met.  schlechterdings 
nicht  empirisch  sein  dürfe.  Diese  allererste  Grundannahme  ist  eine  petitto 
prineipii.  Die  Hauptquelle  der  metaph.  Erkenntniss  sei  in  Wahrheit  die 
Erfahrung.  Vgl.  Eucken,  Grundbegr.  60.  Terminol.  177.  183.  Herder, 
Metakr.  I,  63  ff.  über  den  doppelsinnigen  Namen  „Met*.  Für  K.  gegen 
Schop.  tritt  ein  Lehmann,  Ks.  Principien  der  Ethik  S.  13.  14,  der  jedoch 
die  Stelle  Prol.  §  1  ganz  irrig  auslegt  und  Met.  als  Wissenschaft  von 
den  Bedingungen  der  Mögl.  d.  Erf.  fasst,  wovon  K.  weder  dort  noch 
hier  spricht. 

Die  Kdnfirii^  aller  Wissensehaften.  So  drückt  sich  z.  B.  Crusius  aus 
in  dem  Kant  sehr  wohlbekannten  Werke:  Entwurf  der  nothwendigen 
Vernunftwahrheiten.  Leipzig  1745.  Vorr.  S.  IL  Er  nennt  die  Meta- 
physik ,die  Königin  natürlicher  Wissenschaften*,  wobei  also  die 
Theologie,  die  göttliche  Wissenschaft  nicht  mit  eingeschlossen  ist.  Leibniz 
(Erdm.  121  A)  nennt  die  Metaphysik  „scientiam  illam  prindpem^ ,  was  Janetll, 
524  mit  „la  reine  des  aeiences^  wiedergibt.  Denselben  Ausdruck  gebraucht 
Mendelssohn  in  den  Lit.  Brief.  20  (W.  W.  IV,  1,  499).  Aber  auch  er 
klagt  schon  über  den  Verfall  dieser  Wissenschaft,  ,in  welcher  wir  so  wich- 
tige Progressen  gemacht,  in  welcher  Deutschland  die  grössten  Männer  aufzu- 
weisen hatte:  einer  Wissenschaft,  die  dem  unbestimmten  Nationalcharakter 
der  Deutschen  etwas  Eigenthümliches  zu  geben  schien,  der  Königin  der 
Wissenschaften,  die  sich  sonst  aus  Herablassung  ihre  Magd  nannte,  jetzt 
aber  dem  Wortverstande  nach    zu    den    niedrigsten   Mägden  herunter- 


90  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  n.  B  -  [R  6.  H  6.  K  14.] 

gestossen  worden."  Ib.  501.  504  weiteres  über  den  Verfall  der  Metaphysik 
(i.  d.  Jahre  1759),  sowie  in  der  Vorrede  zu  den  Morgenstunden  (1785). 

Dieser  EhreDnameii.  Dass  die  Metaphysik  doch  die  wichtigste  Wissen- 
schaft bleibe  trotz  ihrer  Unvollkommenheit,  sagt  Kant  auch  in  folgender 
Stelle  der Prol.fin.:  „Mathematik,  Naturwissenschaft,  Gesetze,  Künste, 
selbst  Moral  etc.  füllen  die  Seele  noch  nicht  gftnzlich  aus;  es  bleibt  immer 
noch  ein  Baum  in  ihr  übrig,  der  für  die  blosse  reine  und  speculative  Ver- 
nunft abgeschlossen  ist  und  dessen  Leere  uns  zwingt,  in  Fratzen  oder  Tändel- 
werken oder  auch  Schwärmerei  dem  Scheine  nach  Beschäftigung  und  Unter- 
haltung, im  Grunde  aber  nur  Zerstreuung  zu  suchen,  um  den  beschwerlichen 
Ruf  der  Vernunft  zu  übertäuben ,  die  ihrer  Bestimmung  gemäss  etwas  ver- 
langt, was  sie  für  sich  selbst  befriedige  .  .  .  Darum  hat  eine  Betrachtung, 
die  sich  bloss  mit  diesem  Umfange  der  für  sich  selbst  bestehenden  Vernunft 
beschäftigt,  darum  weil  eben  in  demselben  alle  anderen  Kenntnisse, 
sogar  Zwecke  zusammenstossen  und  sich  in  ein  Ganzes  vereinigen  müssen  .  .  . 
für  Jedermann  .  .  .  einen  grossen  Reiz  und  .  .  .  einen  grösseren,  als  jedes 
andere  theoretische  Wissen,  welches  man  gegen  jenes  nicht  (?)  leichtlich 
eintauschen  würde. ^  „Um  die  Auflösung  der  philosophischen  Fragen  gäbe 
der  Mathematiker  gerne  seine  ganze  Wissenschaft  dahin;  denn  diese 
kaim  ihm  doch  in  Ansehung  der  höchsten  und  angelegensten  Zwecke  der 
Menschheit  keine  Befriedigung  verschaffen. "  463.  VgL  dort  überh.  über  die 
hohe  Würde  der  Philos.  Die  Metaphysik  ist  „die  unentbehrliche  Vollendung 
aller  Kultur  der  menschlichen  Vernunft;  sie  betrachtet  die  Vernunft  nach 
ihren  Elementen  und  obersten  Maximen,  die  selbst  der  Möglichkeit  einiger 
Wissenschaften  und  dem  Gebrauche  aller  zum  Grunde  liegen  müssen*.  851. 

Der  Modeton  des  Zeitalters.  S.  unten  S.  V  Anmerk.  Mit  diesem  Ton 
des  Zeitalters  stimmt  Kant  soweit  überein,  dass  er  die  Verachtung  der  bis- 
herigen Metaphysik  theilt,  dagegen  die  Geringschätzung  der  Metaphysik  über- 
haupt bitter  tadelt.  Klagen  über  den  verdienten  Verfall  der  bisherigen 
Metaphysik  und  Aussprüche  über  den  hohen  Werth  einer  wahren  wissenschaft- 
lichen Metaph.  finden  sich  insbesondere  im  Brief  an  Mendelssohn  vom  8.  April 
1766:  „Die  aufgeblasene  Anmassung  ganzer  Bände  voll  Einsichten  dieser  Art, 
so  wie  sie  in  jetziger  Zeit  gangbar  sind,  sehe  ich  mit  Widerwillen,  ja  mit 
einigem  Hasse  an."  Aber  fügt  er  hinzu:  „ich  bin  soweit  entfernt,  die  Meta- 
physik selbst,  objectiv  erwogen,  für  gering  oder  entbehrlich  zu  halten,  dass 
ich  .  .  .  überzeugt  bin,  dass  sogar  das  wahre  und  dauerhafte  Wohl  des 
raenschl.  Geschlechts  auf  ihr  ankomme."  Aehnliche  Klagen  bei  Herz,  Betracht. 
S.  5.     Vgl.  übrigens  auch  den  Doppelsinn  von  „Metaphysik". 

Terachtnng  der  Metaphysik.  Diese  Thatsache  hebt  Kant  sehr  häufig  theils 
zustimmend,  theils  bedauernd  hervor'.    Vgl.  die  oben  S.  85  (zu  „Dunkelheit 


^  „Ueber  das  sinkende  Ansehen  der  Phil.**  beklagte  man  sich  um  das  Jahr 
1800  wieder  sehr  stark.  Nachdem  Kants  Phil,  eine  Zeit  lang  das  allgemeine  In- 
teresse  erregt   und   der   Phil,    einen   grossen   Glanz  verliehen  hatte^   trugen  die 


Die  allgemeine  Verachtung  der  Metaphysik.  91 

[B  6.  H  6.  E  14.]  A  n.  B 

und  Widersprüche")  angeführten  Stellen,  sowie  844:  „Da  Philosophen  selbst 
in  der  Entwickelung  der  Idee  ihrer  Wissenschaft  fehleten,  konnte  die  Be- 
arbeitung derselben  .  .  .  keine  sichere  Richtschnur  haben  und,  jederzeit  unter 
sich  streitig  über  die  Entdeckungen,  die  ein  Jeder  auf  seinem  Wege  gemacht 
haben  wollte,  brachten  sie  ihre  Wissenschaft  zuerst  bei  Anderen  und  endlich 
sogar  bei  sich  selbst  in  Verachtung."  Gleich  unten  IV  spricht  K.  von  der 
, Geringschätzung",  in  welche  die  Met.  verfallen  sei,  und  nochmals  von  der 
(vorgeblichen  und  vergeblichen)  Verachtung  der  Indifferentisten  gegen  die 
Met.  und  S.  758  von  der  „spöttischen  Verachtung",  welche  die  Skeptiker 
g'egen  alle  ernsteren  Nachforschungen  an  den  Tag  legen.  Frol.  Or.  191 :  „Ein 
^istreicher  Mann,  den  man  einen  grossen  Metaphysiker  nennen  wollte,  würde 
diesen  kaum  von  Jemand  beneideten  Lobspruch  übel  aufnehmen."  „Die 
Metaphysik,  da  man  ihr  anflinglich  mehr  zumuthete,  als  billigerweise  ver- 
langt werden  kann,  und  sich  eine  Zeit  lang  mit  angenehmen  Erwartungen 
ergötzte,  ist  zuletzt  in  allgemeine  Verachtung  gefallen,  da  man  sich  in 
seinen  Bof&iungen  betrogen  fand."  Er.  849.  „Das  Orakel  der  Metaphysik  ist 
längst  verstummt"  1796  („Zu  Sömmering  über  das  Organ  der  Seele").  Aehn- 
liche  Klagen  s.  Feder s  Leben  72.  Leibnitz  klagt  häufig  über  denselben 
Uebelstand,  z.  B.  Erdm.  121  A:  Video  plerosque,  qui  Mathemaücia  doctrinis 
ddedantur,  a  Metaphycis  abhorrere,  quod  in  Ulis  lucem,  in  his  tenehras  animad- 
rertant.  Diese  Wissenschaft,  schon  von  Aristoteles  {•rjtoofiivrj  genannt,  gehöre 
noch  „adhue  inter  quaerenda".  Eine  ganz  ähnliche  Introduction,  wie  Kant, 
fanden  alle  grossen  neueren  Philosophen  bei  ihren  Hauptwerken  nothwendig, 
Bacon,  Cartesius,  Locke,  Leibniz,  wobei  bald  die  Unsicherheit 
der  bisherigen  Metaphysik,  bald  die  allgemeine  Verachtung,  in  die  diese 
angebliche  Wissenschaft  verfallen  war,  hervorgehoben  wurde.  Wie  der 
junge  Kant  über  die  Metaphysik  dachte,  zeigt  jene  berühmte  Stelle  seiner 
Erstlingsschrift  (Schätzung  der  leb.  Kräfte)  §  19:  „Unsere  Metaphysik  ist  in 
der  That  nur  an  der  Schwelle  einer  recht  gründlichen  Erkenntniss;  Gott 
-weiss,  wenn  man  sie  selbige  wird  überschreiten  sehen.  Es  ist  nicht  schwer, 
ilire  Schwäche  in  Manchem  zu  sehen,  was  sie  unternimmt.  Man  findet  sehr 
oft  das  Vorurtheil  als  die  grösste  Stärke  ihrer  Beweise.  Nichts  ist  mehr 
hieran  Schuld,  als  die  herrschende  Neigung  Derer,  die  die  menschliche  Er- 
kenntniss zu  erweitem  suchen.  Sie  wollten  gerne  eine  grosse  Welt  Weisheit 
baben,  allein  es  wäre  zu  wünschen,  dass  es  auch  eine  gründliche  sein 
möchte*  u.  s.  w.  In  der  Vorrede  zur  allgem.  Naturgesch.  d.  Himmels  wirft 
er  einen  verächtlichen  Seitenblick  auf  „philosophische  Träume",  die  er  ja 
bekanntlich  1766  dazu  benützt,  um  die  spiritistischen  Träume  Swedenborgs 
dadurch  zu  „erläutern".     Dass  es  trotz  der  philosoph.  Lehrbücher  Wolfs  noch 


Streitigkeiten  der  Diadochen  bald  dazu  bei^  die  Phil,  um  allen  Credit  zu  bringen. 
Vgl.  Bardili'»  Aufsatz  unter  jenem  Titel  bei  Reinhold,  Beitr.  3^  111  fT.  und 
Fichte 's  häufige  Klagen  über  das  „verderbte  Zeitalter";  dagegen  Nieolai,  N. 
Berl.  Mon.  14,  92  ff. 


92  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  n.  B  —  [B  6.  H  6.  E  14.] 

keine  Metaphysik  gebe  als  Wissenschaft,  spricht  K.  sehr  stark  aus  in  der 
Ank.  der  Vorles.  1765.  „Um  Philos.  zu  lernen,  müsste  allererst  eine  wirk- 
lich vorhanden  sein.  Man  müsste  ein  Buch  vorzeigen  und  sagen  können : 
sehet,  hier  ist  Weisheit  und  zuverlässige  Einsicht  .  .  .  Bis  man  mir  nun  ein 
solches  Buch  der  Weltweisheit  zeigen  wird,  worauf  ich  mich  berufen  kann, 
wie  etwa  auf  den  Polyb,  um  einen  Umstand  der  Geschichte,  oder  auf  den 
Euklides,  um  einen  Satz  der  Grössenlehre  zu  erläutern,  so  erlaube  man 
mir  zu  sagen,  dass"  u.  s.  w.  Fast  mit  denselben  Worten  spricht  er  in  ProL 
§  4.  Freilich  noch  1755  in  der  Schulschrift  Nova  Dilucidaüo  sprach  er  die 
Hoffnung  aus,  durch  dieselbe  den  Vorwurf  der  Unfruchtbarkeit  und  der 
„otiosa  et  umbratica  subtilitas",  den  die  „contemtores^  erheben,  gehoben  zu 
haben.  Aber  wie  er  über  die  Metaph.  denken  lernte,  beweist  die  scharfe 
Bemerkung  gegen  die  „metaphysischen  Intelligenzen  von  vollendeter  Ein- 
sicht", „dass  zu  ihrer  Weisheit  nichts  mehr  hinzugethan  und  von  ihrem  Wahn 
nichts  kann  hin  weggenommen  werden".  (Ueber  die  negat.  Grössen.  Einl.  1763.) 
Und  in  der  Vorrede  zur  Preisschr.  1764  klagt  er  über  „den  ewigen  Un- 
bestand  der  Meinungen  und  Schulsecten".  In  der  Preisschrift  1764  am  Schluss 
der  ersten  Betrachtung  findet  sich  jene  bekannte  Stelle:  „Ich  weiss,  dass  es 
Viele  gibt,  welche  die  Weltweisheit  in  Vergleichung  mit  der  höheren  Mathesis 
sehr  leicht  finden.  Allein  diese  nennen  Alles  Weltweisheit,  was  in  den 
Büchern  steht,  welche  diesen  Titel  fuhren.  Der  Unterschied  zeigt  sich  durch 
den  Erfolg.  Die  philosoph.  Erkenntnisse  haben  mehrentheils  das  Schicksal 
der  Meinungen,  und  sind  wie  die  Meteore,  deren  Glanz  nichts  für  ihre  Dauer 
verspricht.  Sie  verschwinden,  aber  die  Mathematik  bleibt.  Die  Meta- 
physik ist  ohne  Zweifel  die  schwerste  unter  allen  menschlichen 
Einsichten:  allein  es  ist  noch  niemals  eine  geschrieben  worden." 
Er  nähert  sich  in  diesen  Stellen  jenem  Ausspruch  Voltaires:  „La  metaphysique 
est  le  roman  de  Vesprit,^  Vgl.  femer  besonders  in  den  „Träumen  eines 
Geistersehers"  Ros.  VII  a  65  f.  72.  83  (Schlaraffenland  der  Metaphysik). 

Die  Matrone.  Nur  die  dogmatische  Metaphysik  ist  für  Kant  eine  „Matrone" ; 
seine  eigene  Metaphysik  ist  ihm  eine  „Geliebte*.  Er  hat  das  Schicksal,  »in 
sie  verliebt  zu  sein,  obgleich  er  sich  von  ihr  nur  selten  einiger  Gunst- 
bezeugungen rühmen  kann".  (Tr.  e.  Geist.  R.  VII  a,  98.)  Vgl.  Brief  an 
Herz  V.  9.  Febr.  1779:  Man  fühle  manchmal  Misologie,  d.  h.  Gleichgültigkeit, 
gegen  die  Philosophie,  weil  man  sie  undankbar  finde,  theils  weil  man  ihr  zu 
viel  zugemuthet  habe,  theils  weil  man  zu  ungeduldig  sei,  die  Belohnung  für 
seine  Bemühung  abzuwarten;  aber  ein  günstiger  Blick  versöhnt  uns  bald 
wieder  mit  ihr  und  dient  dazu,  die  Anhänglichkeit  an  sie  fester  zu  machen  '. 


^  Der  berüchtigte  Stattler,  Verfasser  des  Antikant,  hielt  sich  an  dieses 
Bild,  indem  er  sagte:  er,  Stattler,  habe  der  alten  Hekube,  Metaphysik  genannt^ 
wieder  ihr  jugendliches  Ansehen  verschafft-,  Kant  aber  nur  einen  anzeitigen  Em- 
bryo in  unförmlicher  Gestalt  zur  Welt  gebracht.  S.  (Mutschelle)  Kritische  Bei- 
träge u.  8.  w.  XXlIl. 


Die  Metaphysik  eine  „Geliebte".    Despotismus  der  Dogmatiker.  93 

[R  6.  H  6.  E  14.]An.in.B 

»So  spröde  und  geringschätzend  auch  die  Meisten  thun,  so  wird  man  doch 
jederzeit  zu  ihr  wie  zu  einer  mit  uns  entzweiten  Geliebten  zurückkehren." 
Krit.  850.  Im  Brief  an  Herz  vom  24.  Nov.  1776  klagt  sich  K.  scherzhaft 
der  zeitweisen  , Untreue''  gegen  sie  an.  Das  Bild  ist  alt.  Es  findet  sich  u.  A. 
anch  bei  Lessing,  der  einmal  „Liebhaber  der  Wahrheit"  von  ihren  „Kupp- 
lern" unterscheidet.  Vgl,  Mendelssohn,  W.  W.  IV,  1,  499:  „Die  arme 
Matrone!  sagt  Shaftesbury,  man  hat  sie  aus  der  grossen  Welt  verbannt 
und  auf  die  Schulen  und  CoUegien  verwiesen.  Nunmehr  hat  sie  auch  diesen 
staubigen  Winkel  räumen  müssen."  Ebendaselbst  heisst  es  weiter:  „Alles 
lebt  in  einer  allgemeinen  Anarchie";  ganz  ebenso  Kant  im  folg.  Abs.  K. 
scheint  somit  diese  Stelle  Mendelssohns  (aus  den  Literaturbriefen  von  1759) 
bei  der  Niederschrift  vor  Augen  oder  im  Sinne  gehabt  zu  haben;  der  von 
K,  beliebte  Vergleich  zwischen  den  Schicksalen  der  Wissenschaft  und  dem 
Lieben  der  Staaten  findet  sich  ausdrücklich  und  principiell  ebendaselbst  (501). 
Auch  der  daselbst  (S.  501)  ausgesprochene  Gedanke,  dass  diese  unruhigen 
Begebenheiten  nützlich  seien,  weil  sonst  die  Säfte  in  tödtliche  Fäulniss  ge- 
rathen,  findet  sich  nicht  selten  bei  K.  (Eine  gute  Ausmalung  des  Bildes 
bei  Maimon,  Logik  294.) 

Modo  maxima  remm  etc.  Die  Worte  stehen  0 vid ,  Metam.  XIII,  508—5 10: 

Modo  maxima  verum 
Tot  gener%8  natUque  potens  nuribusque  viroque 
Nunc  trahor  extd,  inops. 

Kant  dtirt  häufig  die  römischen  Klassiker.  „Unter  der  Anfuhrung  eines  vor- 
züglichen Lehrers,  Heydenreich,  ward  K.  zu  dem  Studium  der  röm. Klassiker 
so  initiirt,  dass  Liebe  für  diese  ihm  immer  eingedrückt  blieb.  Auch  jetzt 
nochi  (1792)  ist  es  ihm  ein  Leichtes,  lange  Stellen  ohne  Anstoss  zu  recitiren." 
Borowski  25.  158.  VgL  Reicke,  Kantiana  5.  6.  31.  33.  43.  Wasianski 
46.  146.  „Eine  Stelle  aus  den  alten  Dichtern  vermochte  viel  auf  K.*  Jach- 
mann,  Kant.  11.  18.  40.  42.  Dieselbe  Vorliebe  für  Citate,  insbes.  aus 
Virgil  und  Ovid,  zeigt  schon  die  Erstlingsschrift  §§  93.  98.  101.  109  u.  ö. 
Viele  Citate  entnimmt  K.  auch  Lucrez  und  Pope,  sowie  Haller. 

Despotismus  der  Dogmatiker.  Eine  bei  K.  beliebte  Charakteristik.  In 
der  Vorr.  B.  XXXV  tadelt  er  die  Regierungen,  dass  sie  „den  lächer- 
lichen Despotism  der  Schulen  unterstützen".  Denn  bei  diesen  nimmt 
die  Vernunft  „dictatorisches  Ansehen  in  Anspruch"  (738)  '.    Vgl.  über  einen 


*  Pistorius  A.  D.  B.  66.  107.  sagt  von  Ks.  System,  es  könne  nur  auf  den 
Trümmern  aller  anderen  erbaut  werden  und  sei  so  unduldsam  wie  ein  „  orien- 
talischer Despot,  der  nur  nach  Ermordung  aller  seiner  Brüder  sich  auf  den 
Tliron  schwingte  Denselben  Despotismus  wirft  auch  Selle^  Grunds,  d.  reinen 
Philos.  3.  K.  vor.  „Ich  erwarte  von  den  Gegnern  der  neuen  Pliilosophie  die  Dul- 
dung nicht,  die  man  einem  jedem  andern  System,  von  dem  man  sich  nicht  besser 
überzeugt  hätte,  sonst  widerfahren  lassen  möchte ;  denn  die  Kantische  Philosophie 
übt  in  den  Hauptpunkten  selbst  keine  Duldung  aus  und  trägt  einen  viel  zu  rigo- 


94  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  m.  B  —  [R  6.  H  6.  K  14.] 

„vornehmen  Ton"  u.  s.  w.,  wo  der  „Despotismus"  der  Pseudophilosophen 
über  die  Vernunft  des  Volks  und  über  ihre  eigene  am  Anfang  gegeisselt 
wird.  Vgl.  Fortschr.  K.  175  (R.  I,  573),  wo  er  den  „Despotismus  des 
Empirismus  dem  anarchischen  Unfug  der  unbegrenzten  Philodoxie"  gegen- 
überstellt. Ebenso  sagt  Isel in  (1768)  in  seiner  „Geschichte  der  Menschheit" 
II,  362.  364  über  Wolf  und  sein  System:  „Es  ist  beynahe  unbegreiflich, 
wie  ...  ein  so  trockenes  und  ernsthaftes  Genie,  einen  so  allgemeinen  Bei- 
fall und  eine  so  entschiedene  Uebermacht  über  die  Geister  habe  erhalten 
können  ...  Er  beherrschte  lange  die  höheren  und  niederen  Schulen  Teutsch- 
lands und  fast  des  ganzen  Nordens  mit  einem  wahren  Despotism."  Aehn- 
lieh  Mendelssohn  in  der  Vorrede  zu  den  Morgenstunden  (IX).  Herder, 
Metakr.  Vorr.  V:  „Wider  ihren  Willen  sind  alle  Selbstdenker  Despoten; 
sie  drängen  was  sie  dachten  mit  Macht  auf."  lieber  diese  „Despoten  des 
Wissens  und  der  Meinung**  vgl.  Studium  der  K. 'sehen  Phil.  31.  Von  dem 
Despotismus  der  entgegengesetzten  Richtung  redet  Villers,  Philosophie 
de  Kant  I,  163.  Ueber  diesen  Zustand  der  Philos.  s.  Neeb,  Ks.  Verdienste 
25  ff.  Krug,  Fundam.,  264  nennt  den  Dogmat.  ausdrücklich  philos.  Despot., 
denn  bei  beiden  finde  sich  Willkür  in  den  Anordnungen  und  ü eber- 
schreiten der  Schranken.  Im  Gegens.  dazu  heisst  er  261  den  Skeptic.  philos. 
Anarchismus,  und  271  den  Kriticismus  philos.  Republikanismus. 
Vgl.  Saintes,  Kant  85  ff.  Biedermann,  die  d.  Philos.  I,  64.  Der  ganze 
Absatz  ist  ein  elegant  durchgeführter  Vergleich  zwischen  staatlichen  Ver- 
hältnissen und  den  Zuständen  der  Gelehrtenrepublik.  Das  Bild  ist  im 
Anschluss  an  diese  Stelle  vollständig  und  interessant  ausgemalt  von  Maimon 
in  der  Vorr.  zu  s.  „  Streif ereien". 

Anarehie.  Vgl.  Entdeckung  R.  I,  478.  „Bei  der  Anarchie,  welche  unter 
dem  philosophirenden  Volke  unvermeidlicher  Weise  herrscht,  weil  es  bloss  ein 
unsichtbares  Ding,  die  Vernunft  für  seinen  alleinigen  Oberherrn  erkennt,  ist 
es  immer  eine  Nothhülfe  gewesen,  den  unruhigen  Haufen  um  irgend  einen 
grossen  Mann  als  den  Vereinigungspunkt  zu  sammeln."*  Schwab,  Preis- 
schrift 104:  „Es  herrschte  unter  dem  philos.  Volk  eine  An.,  die  ein  neues 
Haupt  oder  gar  einen  Diotator  zu  erfordern  schien.  Dieser  Dictator 
trat  auf  und  mit  ihm  fängt  eine  neue  Periode  der  Metaphysik  an." 

Und  die  Skeptiker.  Dass  der  Skepticismus  aus  dem  Dogmatismus  selbst 
hervorgegangen  ist  als  nothwendige  Folge  seines  Verfalls,  betont  Kant  mehr- 
fach; Prol.  §.  4:  „Die  Versuche,  eine  solche  Wissenschaft  (nämlich  die  dog- 
matische Philos.)  zu  Stande  zu  bringen,  sind  die  erste  Ursache   des  so  früh 


ristischen  Charakter,  als  dass  eine  Accommodation  mit  ihr  möglich  wäre;**  Schiller, 
Briefw.  m.  Goethe  Nr.  21.  „Despotismus  einer  Vorstellungsart**  Ib.  Nr.  410. 
Vgl.  Baggesen,  Phil.  Naclü.  I,  426.  Hamann,  W.   W.  IV,  443.  VB,  27.  85. 

*  Pistorius,  A.  D.  B.  80.  463.  sagt:  „Das  Reich  der  Philos.  war  in  eine 
traurige,  verwirrende  Anarchie  gerathen,  nachdem  Leibniz  und  Wolf  vom  Throne 
gestossen  waren;  man  brauchte  ein  neues  Haupt.** 


Die  Anarchie  durch  die  Skeptiker.  95 

[R  6.  H  6.  K  14.]  A  m.  B  — 

entstandenen  Skepticismus  gewesen,  einer  Denkungsart,  darin  die  Ver- 
nunft so  gewaltthätig  gegen  sich  selbst  vei*fllhrt,  dass  diese  niemals  als  in 
völliger  Verzweiflung  an  Befriedigung  in  Ansehung  ihrer  wichtigsten  Ab- 
sichten hätte  entstehen  können/  Ib.  §  57.  Der  Skepticismus  ist  uranfönglich 
au5  der  Metaphysik  und  ihrer  polizeilosen  ,, Dialektik  entsprungen"  u.  s.  w. 
Einl.  B.  22  „der  dogmatische  Gebrauch  der  Vernunft  fährt  auf  grund- 
lose Behauptungen,  denen  man  eben  so  scheinbare  entgegensetzen  kann,  mit- 
hin zumSkeptic*  Portschr.  K.  101,  R.  I,  492.  „Der  alle  fernere  Anschlage 
des  Dogmat.  vernichtende  Rückgang  der  Skeptiker  gründet  sich  auf  das 
f^änzliche  Misslingen  aller  Versuche  in  der  Metaph."  Eine  Ausführung 
dieses  Gedankens  s.  Entdeckung  R.  I,  452  Anm.  Das  gänzliche  Miss- 
lingen der  dogmatischen  Metaph.,  das  den  Skeptic.  veranlasst,  zeigt  sich  durch 
die  Möglichkeit,  über  die  transscendenten  Gegenstände  genau  mit  demselben 
Rechte  ganz  entgegengesetzte  Sätze  aufzustellen.  „Dadurch  entspringt  ein 
Skept.  zunächst  in  Ansehung  alles  dessen,  was  durch  blosse  Ideen  der  Ver- 
nunft gedacht  wird,  sodann  entsteht  dadurch  ein  Verdacht  gegen  alle  Er- 
kenntniss  a  priori,  welcher  denn  zuletzt  die  allgemeine  Zweifellehre 
herbeifuhrt."     Vgl.  Kant  bei  Erdmann,  Preuss.  Jahrb.  37,  211. 

Skeptiker,  eine  Art  Nomaden.  Dieses  treffliche  Bild  führt  Eberhard, 
Archiv  I,  2.  79  weiter  so  aus:  „der  Skeptiker  erklärt  sich  gegen  beide  (Dog- 
matismus und  Kriticismus)  und  setzt  ihnen,  um  sie  zu  zerstören,  bald  Gründe 
ans  seiner  eigenen  Philosophie  entgegen,  bald  sucht  er  den  einen  durch  den 
andern  zu  bestreiten,  bald  endlich  sucht  er  jedes  besondere  dogmatische 
System  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  zu  setzen,  um  so  auf  ihren  allge- 
meinen Trümmern,  gleich  einem  beduinischen  Nomaden,  der  kein 
Grnndeigenthum  kennt,  die  bewegliche  Hütte  seines  Zweifels  bald 
hier  bald  dort  aufschlagen  zu  können." 

Naek  keinem  nnter  sich  einstimmigen  Plane  anbanen.  Vgl.  707: 
,Die  Sprachverwirrung  (wie  beim  babylon.  Thurm) ,  welche  die  Arbeiter 
über  den  Plan  unvermeidlich  entzweien  und  sie  in  alle  Welt  zerstreuen 
miisste  .  .  .  um  sich  jedes  nach  seinem  Entwürfe  besonders  anzubauen." 
Vgl.  Tr.  eines  Geisters.  11,  2,  wo  besonders  betont  wird,  dass  „ein  Jeder  nach 
seiner  Art  den  Anfangspunkt  nehme"  \     B.  409:    Besonders  „im   Feld  der 


*  In  seiner  geistreichen  Weise  hat  K.  dies  variirt  im  Jahre  1766  in  den  Tr. 
e.  Geist.  R.  VII a,  65;  er  erinnert  an  den  Ausspruch  des  Aristoteles:  „Wenn  wir 
-wachen^  so  haben  wir  eine  gemeinschaftliche  Welt,  träumen  wir  aber^  so  hat 
Jeder  seine  eigene.^  K.  kehrt  den  Satz  um:  „wenn  von  verschiedenen  Menschen 
ein  jeglicher  seine  eigene  Welt  hat^  so  ist  zu  vermuthen.,  dass  sie  träumen.^ 
„Auf  diesen  Fnss^  wenn  wir  die  Luftbaumeister  der  mancherlei  Gedanken  wollen 
betrachten^  deren  jeglicher  die  seinige  mit  Ausschliessung  anderer  ruhig  bewohnt 
(z.  B.  Wolf  oder  Crusius)  ...  so  werden  wir  uns  bei  dem  Widerspruche  ihrer 
Visionen  gedulden^  bis  diese  Herren  ausgeträumt  haben.  Denn  wenn  sie  einmal, 
so  Gott  will,  völlig  wachen,  d.  h.  zu  einem  Blicke,,  der  die  Einstimmung  mit  an- 


96  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  m.  B  —  [R  6.  H  6.  K  14.] 

Noumena"  suchten  sich  die  Metaphysiker  ^weiter  auszubreiten,  anzubauen 
und,  nachdem  einen  Jeden  sein  Glücksstern  begünstigt,  darin  Besitz 
zu  nehmen."  Einen  „wirklich  neuen  Anbau**  bieten  nur  synthetische  ür- 
theile  10  (A). 

Locke.  Ueber  das  Verhältniss  Ks.  zu  Locke  später.  Man  vgl.  vor- 
läufig die  Parallelstellen  86  („physiologische  Ableitung**  der  Begriffe),  270  ff., 
B.  127.  Die  „Genealogie**  der  Vernunft  nennt  K.  270  ein  „System  der 
Noogonie**.  Ueber  Locke  (auch  Wolf,  Lambert,  Tetens,  Crusius)  vgl.  die 
Aeusserungen  Kants  bei  B.  Erdmann,  Preuss.  Jahrb.  37,  212.  Vgl.  Kants 
Vorlesungen  über  Metaph.  16.  Vgl.  Jenisch,  Entd.  51.  Witte,  Vor- 
studien 71  ff.  bes.  83  über  das  gänzliche  Aufgeben  des  Locke'schen  psycho- 
logischen Standpunktes  durch  Kant.  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  71  ff.,  sowie 
bes.  Erdmann,  Ks.  Kritic.  16.  M.  Kissel,  de  rat  quae  inter  Lockii  ei 
Kantii  placita  intercedat,  comm,  Rostock  1869.  K.  sei:  „germanus,  sed  in- 
scius  Lockii  discipulus/^  M.  Drobisch,  Locke  der  Vorläufer  Kants.  Z.  f. 
ex.  Philos.  Bd.  II,  1  ff.  Rosenkranz,  Gesch.  der  K.  Phil.  115.  Riehl, 
Der  phil.  Krit.  I,  52.  62  ff.  370.  Lew  es,  Gesch.  II,  551.  561.  Zu  bemerken 
ist,  dass  Locke  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie  Kant  seinen  Essay  beginnt. 
Schon  Hegel  (Krit.  Journal  II,  1,  25,  W.  W.  I,  20)  bemerkt  ganz  richtig, 
man  könnte  diese  Worte  ebenso  in  der  Einleitung  zur  K.'schen  Philos.  lesen ; 
(freilich  bemerkt  er  dies  in  tadelndem  Sinn,  weil  Kant  wie  Locke  sich  auf 
das  endlich-subjective  Denken  beschränke).  Nach  Rosenkranz,  Gesch.  der 
K.'schen  Phil.  19  haben  beide  in  der  allgemeinen  Fassung  des  Problems 
grosse  Aehnlichkeit.  Hartenstein,  Ueber  Locke's  Lehre  von  der  menschl. 
Erk.  Histor.  philosoph.  Abhandl.  S.  305.  Bach,  Philos,  Kant,  etc.  22  ff., 
der  engste  Verwandtschaft  Kants  mit  Locke  behauptet.  Herbst,  F.  Locke 
und  Kant.  Stettin  1869.  T.  Becker,  De  philos.  Lockii  el  Humii,  criticismi 
germine,  Halle  1875.  Vgl.  ferner  die  engl.  Werke  von  Tagart  und  Webb 
über  Locke.  A.  Borschke,  Locke  im  Lichte  der  K.'schen  Philos.  1877. 
Schopenhauer,  W.  a.  W.  u.  V.  I,  495.  II,  89.  Löwe,  Fichte  S.  7. 
Cousin,  Premiers  Essais  S.  132  ff.    Höffding,  Phil.  Mon.  XV,  195  f. 

Es  fand  sieli  aber,  dass  u.  s.  w.    Statt  des  folgenden  Gedankens  findet 
sich  in  Cousins  Wiedergabe  der  Vorrede  (26)  charakteristischer  Weise  fol- 


derem  Menschenverstände  nicht  ausschliesst,  die  Augen  aufthun  werden,  so  wird 
Niemand  von  ihnen  etwas  sehen,  was  nicht  jedem  anderen  bei  dem  Lichte  ihrer 
Beweisthümer  augenscheinlich  und  gewiss  erscheinen  sollte,  und  die  Philo- 
sophen werden  zu  derselbigen  Zeit  eine  gemeinschaftliche  Welt  be- 
wohnen, dergleichen  die  Grössenlehrer  schon  längst  eine  gehabt 
haben,  welche  wichtige  Begebenheit  nicht  lange  mehr  anstehen  kaim,  wofern 
gewissen  Zeichen  und  Vorbedeutungen  zu  trauen  ist,  die  seit  einiger  Zeit  über 
dem  Horizonte  erschienen  sind.**  —  Dühring,  Krit.  Gesch.  390:  „Bei  K.  steigerte 
sich  die  Empfindung  der  Unerträglichkeit  der  sectenmässigen  Zerfahrenheit  aUer 
Metaph.  zum  entschiedensten  moralischen  Widerwillen  und  rief  so  eine  sehr  ernste 
positive  Kraftanstrengung  hervor." 


Die  Aristokratie  der  Vernunft  und  der  Pöbel  der  Erfahrung.  97 

[R  6.  H  6.  K.  14.]  A  m.IV.B 

gendes  Argumeiit:  mais  on  s^est  apergu  que  eette  prHendue  expSrience  itait 
eüe-mSme  remplie  d'hypothkses ,  et  que  la  nouvelle  atttoritS  nitait  rien  moins 
qt^un  dognuUisme  tout  aussi  tyrannique  que  ceiix  dont  on  avait  voulu  düivrer 
la  science.  Die  letztere  Wendung,  dass  der  Empirismus  selbst  zum  Dogma- 
tismus geworden  ist,  findet  sich  bei  Kant  hier  nicht  (trotz  des  scheinbaren 
4\jiklanges:  denn  der  „wurmstichige  Dogmatismus",  von  dem  Kant  redet,  ist 
eben  der  eigentliche  Leibniz  -Wolf  sehe ,  in  den  man  wieder  verfiel ,  weil 
Locke's  Angriff  misslungen  war).  Der  Gedanke  könnte  sich  allerdings  auch 
bei  Kant  finden ,  weil  Kant  „Dogmatismus"  auch  in  dem  anderen  Sinne 
gebraucht,  wornach  „Dogmatismus"  sowohl  den  rationalistischen  als  den 
empiristischen  Standpunkt  bezeichnet.     Vgl.  oben  S.  43  ff. 

Keine  Geburt  der  Königin  ans  dem  P5bel  der  gemeinen  Erfahrnug. 
Die  Metaphysik  und  ihr  Organ,  die  Vernunft,  sind  nach  Kant  streng  von 
der  Erfahrung  geschieden.  Er  liebt  es,  dieses  Verhältniss  unter  dem  Bilde 
des  Unterschieds  aristokratischer  Geburt  von  niedriger  Herkunft  darzustellen. 
Die  Vernunft  ist  königlichen  Geblüts,  die  Erfahrung  ist  —  Pöbel.  Die  Sinn- 
lichkeit soll  Dienerin  des  Verstandes  sein,  sie  ist  an  sich  Pöbel,  weil  sie 
nicht  denkt,  sie  stellt  sich  in  Masse  dar,  die  Sinne  sind  wie  das  gemeine 
V'olk,  welches,  wenn  es  niaihtTöhel  ist  (ignohüe  vidgus),  seinem  Oberen,  dem 
Verstände,  sich  .  .  .  unterwirft.  Anthr.  §.  8.  9.  10.  Daher  ist  auch  die 
Berufung  auf  widerstreitende  Erfahrung  gegenüber  den  Ideen  nach  Krit. 
316  pöbelhaft  und  eines  „Philosophen  ganz  unwürdig".  Schon  bei  Leib- 
niz, N,  Es8,  195b  findet  sich  das  Bild:  die  Sinnlichkeit  ist  quelque  chose 
(TinfSrieur  ä  la  raison,  was  Schaar Schmidt  richtig  so  übersetzt:  nichts 
Ebenbürtiges.  Diesen  Geburtsunterschied  (beide  sind  „sehr  ungleichartig" 
86)  betont  Kant  mehrmals:  „Die  reinen  Begriffe  müssen  einen  ganz  anderen 
Geburtsbrief,  als  den  der  Abstammung  von  Erfahrungen  aufzuzeigen 
haben.*  Krit.  86  vgl.  112.  Sie  haben  ihren  Geburtsort  im  Verstände  allein. 
66.  (Geburtsort  der  Metaph.  in  der  r.  V.  Prol.  Or.  215).  Besonders  prä- 
gnant für  diesen  Geburts-  und  Standesunterschied  ist  die  berühmte  Stelle  in 
der  Kr.  d.  pr.  V.  (A.  154):  „Pflichtl  du  erhabener,  grosser  Name  .  .  .  wel- 
ches ist  der  deiner  würdige  Ursprung  und  wo  findet  man  die  Wurzel  deiner 
edlen  Abkunft.,  welche  alle  Verwandtschaft  mit  Neigungen  stolz  ausschlägt, 
und  von  welcher  Wurzel  abzustammen  die  unnachlässliche  Bedingung  des- 
jenigen Werthes  ist,  den  sich  Menschen  allein  selbst  geben  können?"  In  einer 
noch  feudaleren  Weise  wird  das  Bild  in  der  Kritik  d.  ürth.  Einl.  II.  aus- 
geführt ;  darnach  ist  die  Natur  unterworfen  den  Begriffen  a  priori,  als  Herrschern, 
welche  auf  dem  Boden  derselben  als  ihrem  rechtlich  ihnen  zukommenden 
Herrschaftsgebiet  f«?»^»©^  gesetzgebend  sind.  Diesen  herrschaftlichen, 
adeligen  mit  Gerichtsbarkeit  und  Gesetzgebung  ausgestatteten  Begriffsklassen 
stehen  die  gemeinen  Erfahrungsbegriffe  wie  rechtlose  Bauern  gegenüber, 
welche  in  der  Natur  überhaupt  nur  Aufenthalt  (Domicilium) y  aber  keine 
gesetzgebende  Macht  haben.  Der  Gebrauch  dieses  Bildes  lässt  sich  bis  auf 
Ansioteles  und  Piaton  zurückverfolgen:   Laas,  Ideal,  u.  Posit.  70. 

Vaihlnger,  Kmnt-Comxnentar.  7 


98  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  IV.  B  —  [R  6.  H  6.  K  14.] 

Alle  Wegre  u.  s.  w.  „Wie  man  sich  überredet,"  denn  ,der  kritische 
Weg  ist  noch  offen".  856.  Vgl.  Grundleg.  zur  Metaph.  der  Sitten  Ros.  73. 
(Kirchm.  68):  „Die  menschliche  Vernunft  hat  hier  wie  allerwärts  in  ihrem 
reinen  Gebrauche,  so  lange  es  ihr  an  Kritik  fehlt,  vorher  alle  möglichen 
unrechten  Wege  versucht,  ehe  es  ihr  gelingt,  den  einzigen  wahren  zu 
treffen."  Dies  ist  ein  beliebtes  Bild  Kants,  vgl.  unten:  „Diesen  Weg,  den 
einzigen,  der  übrig  gelassen  war,  bin  ich  nun  eingeschlagen."  Prol.  K.  138: 
Alle  Wege,  die  man  bisher  eingeschlagen,  haben  den  Zweck  nicht  erreicht ; 
148:  Kritik  ein  Werk,  das  alle  gewohnten  Wege  verlässt  und  einen  neuen 
einschlägt.  Schon  Düucid.  Vorrede  1755  sagt  K.,  dass  er  einen  „kaiul 
calcatum  tramitem"  einschlage.  Dort  (am  Schluss)  will  er  auch  „in  reäo 
atqtLC  indaginis  tramite  pergere^;  trames  ist  der  „Fusssteig".  Durch  Zu- 
sammenfügung der  einzelnen  Stellen  lässt  sich  auch  hier,  wie  unten  beini 
Processbild,  ein  zusammenhängendes  Ganze  erhalten,  wenn  gleich  das  Bild 
hier  nicht  besonders  originell  ist,  und  zwar  sind  es  vier  Momente,  welche 
dabei  in  Betracht  kommen.  Erstens:  der  bisherige  Weg,  wenn  er  gleich 
ein  „gebahntes  Geleis"  ist  (Tr.  e.  Geist.  I.  1),  ist  unrichtig.  Er  ist,  könnte 
man  sagen,  eine  Sackgasse,  ein  „Labyrinth"  (R.  XI,  15).  Zweitens:  „wo 
andere  einen  ebenen  und  gemächlichen  Fusssteig  vor  sich  sehen,  den  sie  zu 
wandern  glauben,"  erheben  sich  für  K.  „Alpen"  (ib.  I,  1).  Drittens:  K. 
will  einen  neuen  Weg  einschlagen,  bahnen  ^  Viertens:  Er  fordert  auf, 
diesen  neuen  „Fusssteig"  durch  Mithilfe  zur  allgemeinen  „Heeresstrasse 
zu  machen"  (856). 

Indlfferentismiis*  Ebenso  wie  der  Verfall  der  Metaphysik,  so  ist  die 
allgemeine  Gleichgültigkeit  gegen  dieselbe  eine  wiederholte  Klage  Kants. 
„Es  haben  sich  ihre  Anhänger  gar  sehr  verloren;"  Vorr.  zu  Prol.  S.  5.  „Alle 
falsche  Kunst,  alle  eitle  Weisheit  dauert  ihre  Zeit ;  dann  endlich  zerstört  sie 
sich  selbst  und  die  höchste  Kultur  derselben  ist  zugleich  der  Zeitpunkt  ihres 
Unterganges.  Dass  in  Ansehung  der  Met.  diese  Zeit  jetzt  da  sei,  beweist 
der  Zustand,  in  welchen  sie  bei  allem  Eifer,  womit  sonst  Wissenschaften 
aller  Art  bearbeitet  werden,  unter  allen  gelehrten  Völkern  verfallen  ist" 
u.  s.w.;  Prol.  191.  „Ob  aber  gleich  die  Zeit  des  Verfalls  aller  dogma- 
tischen Metaphysik  ungezweifelt  da  ist,  so  fehlt  doch  noch  manches  daran, 
um  sagen  zu  können,  dass  die  Zeit  der  Wiedergeburt  vermittelst  einer 
gründlichen  und  vollendeten  Kritik  der  reinen  Vernunft  dagegen  schon  er- 
schienen wäre.  Alle  üebergänge  von  einer  Neigung  zu  der  ihr  entgegenge- 
setzten gehen  durch  den  Zustand  der  Gleichgültigkeit,  und  dieser 
Zeitpunkt  ist  der  gefährlichste  für  einen  Verfasser,  aber  .  .  .  doch  der  gün- 
stigste für  die  Wissenschaft,  denn  wenn  durch  gänzliche  Trennung  vormaliger 


*  Grundl.  zu  Met.  d.  S.  (R.  VIII,  90)  spricht  K.  von  einer  Wegscheidung;  es 
sind  die  zwei  Wege  der  Naturnothwendigkeit  und  der  Freiheit;  der  erstere  er- 
scheint gebahnter^  den  letzteren  schlägt  K.  ein^  indem  er  ibn  zugleich  erst 
eigentlich  bahnt. 


Unhaltbarkeit  des  Indifferentismus.    Revolution.  99 

[R  6.  7.  H  6.  K  14. 1  A  VI.  B 

Verbindungen  der  Paxteigeist  erloschen  ist,  so  sind  die  Gemüther  in  der 
besten  Verfassung,  um  allmälig  Vorschläge  zur  Verbindung  nach  einem  an- 
deren Plane  anzuhören."  (Ib.  192).  Logik,  Einl.  IV:  „Was  Metaph.  betrifft,  so 
scheint  es,  als  wSren  wir  bei  Untersuchung  metaph.  Wahrheiten  stutzig  ge- 
worden. Es  zeigt  sich  jetzt  eine  Art  Indiff.  gegen  diese  Wissenschaft,  da 
man  es  sich  zur  Ehre  zu  machen  scheint,  von  metaph.  Nachforschungen  als 
von  blossen  Grübeleien  verächtlich  zu  reden.  Und  doch  ist  Metaph.  die 
eigentliche  wahre  Philosophie."  „Gleichgültigkeit  und  Zweifel  sind,"  jedoch  im 
Gegensatze  zu  unkritischem  Dogmatismus,  „Beweise  einer  gründlichen 
üenkungsart"  unten  S.  V.  Anm.  Vgl.  Ks.  Vorl.  über  Metaph.  S.  16.  Der 
Indifferentismus,  sowohl  der  philosophische  als  der  religiöse,  war  in  der 
zweiten  Hälfte  des  XVIII.  Jahrh.  in  eine  Art  System  gebracht  worden,  und 
Dian  unterschied  eine  eigene  Secte  der  Indifferentist en.  Vgl.  Heyden- 
reich.  Üeber  das  Unsittliche  der  Gleichgültigkeit  u.  s.  w.  Philos.  Taschenb. 
L  1796.  Villers,  Phil.  I,  145  ff.  Pichte  nannte  in  den  Vorles.  über  die 
Grundz.  d.  gegenw.  Zeitalters  1801  (1805)  seine  Zeit:  „Das  Zeitalter  der 
(Ueichgültigkeit  gegen  alle  Wahrheit." 

Xabe  UmscIiAfftangr.  Der  Grund  zu  dieser  Umschaffang  *  ist  nach  K.  in 
der  Kr.  d.  r.  V.  von  ihm  gelegt  worden,  in  welcher  ,,eine  Revolution  der 
Denkart"  angebahnt  ist  (Vorr.  B,  X.  XII.  XHI.  XV.  XVIII.) ;  besonders  die 
Proleg.  sprechen  hievon  mehrfach,  der  Leser  muss  gestehen,  „dass  eine 
völlige  Reform  oder  vielmehr  eine  neue  Geburt  derselben,  nach  einem 
bisher  ganz  unbekannten  Plane,  unausbleiblich  bevorstehe,  man  mag  sich 
nun  eine  Zeitlang  dagegen  sträuben,  wie  man  wolle."  (Vorr.  K.  3.)  Nach  Prol. 
fin.  ist  die  Zeit  der  Wiedergeburt,  wenn  auch  nicht  erschienen,  so  doch 
nahe.  Diese  „angedrohte  Reform"  (deren  ,, Nutzen  sofort  in  die  Augen  fällt") 
setzt  jedoch  die  dogmatischen  Philosophen  in  ,,verdriessliche  Laune".  Rein- 
hold, Verm.  Sehr.  II,  244,  sagt:  „Die  Veränderung,  welche  durch  die 
Kritik  in  der  Metaphysik  bewirkt  werden  soll,  lässt  sich  nicht  als  Ver- 
besserung, sondern  nur  als  gänzliche  Um  Schaffung  dieser  Wissenschaft 
denken" '. 


'  Im  Brief  an  Herz  a.  d.  Jahr  1773  bezeichnet  Kant  es  als  seine  „Absicht". 
..eine  so  lange  von  der  Hälfte  der  philosophischen  Welt  umsonst  bearbeitete 
Wissenschaft  umzuscha f f e n ". 

^  Hit  ironischer  Beziehung  auf  unsere  Stelle  sagt  Hamann  in  der  Meta- 
kritik (Rink^  Manch.  129):  Die  Gebiete  und  Grenzen  der  Sinnlichkeit  und  des 
Verstandes  „sind  durch  eine  per  antiphrasin  getaufte  reine  Vernunft  und  ihre 
dem  herrschenden  Indifferentismus  fröhnende  Metaphysik  (jene  alt«  Mutter  des 
Chaos  und  der  Nacht  in  allen  Wissenschaften,  der  Sitten,  Religion  und  Gesetz- 
gebung!) so  dunkel,  verwirrt  und  öde  gemacht  worden,  dasa  erst  aus  der  Morgen- 
röthe  der  verheissenen  nahen  Um  Schaffung  und  Auf  klärung  der  Thau  einer  reinen 
Natnrsprache  wieder  geboren  werden  muss".  W.  W.  VII,  11.  ftbenfalls  mit 
Bezog  auf  diesen  ganzen  Zusammenhang  sagt  derselbe  in  seiner  Recension 
(Reinh.  Beltr.  1801.  II,  211)  offenbar  mit  ironischen  Hinde'utungen  auf  E.  selbst: 


qU^ 


100  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  IV.  B  -  [E  7.  H  6.  K  15.] 

Nicht  ^leichgflltigr.  Dass  die  metaphysischen  Fragen  doch  trotz  aller 
Nichtigkeit  der  gewöhnlichen  Metaphysik  durch  ihre  Wichtigkeit  das  Interesse 
immer  wieder  in  Anspruch  nehmen,  wiederholt  K.  mehrfach.  (Z.  Beisp.  Vorr. 
B.  XXXTI  ff.)  ;,Dass  der  Geist  des  Menschen  metaphysische  Untersuchungen 
einmal  gänzlich  aufgeben  werde,  ist  ebensowenig  zu  erwarten,  als  dass  wir, 
um  nicht  immer  unreine  Luft  zu  schöpfen,  das  Athemholen  lieber  ganz  und 
gar  einstellen  würden.  Es  wird  also  in  der  Welt  jederzeit,  und  was  noch 
mehr,  bei  jedem,  vornehmlich  dem  nachdenkenden  Menschen  Metaphysik  sein, 
die  in  Ermangelung  eines  öffentlichen  Bichtmasses  jeder  sich  nach  seiner 
Art  zuschneiden  wird;"  Prol.  Or.  192.  „Die  mensch.  Vernunft  hängt  (an 
den  Sachen  der  ganzen  speculativen  Philosophie,  die  auf  dem  Punkte  sind, 
gänzlich  zu  erlöschen)  mit  nie  erlöschender  Neigung,  die  nur  darum,  weil 
sie  unaufhörlich  getäuscht  wird,  es  jetzt,  obgleich  vergeblich,  versucht,  sich 
in  Gleichgültigkeit  zu  verwandeln;"  ib.  Or.  217.  „Die  Nachfrage  nach  der 
Metaphysik  kann  sich  (trotzdem  dass  es  überall  noch  keine  gibt)  doch  auch 
niemals  verlieren ,  weil  das  Interesse  der  allgemeinen  Menschenvemunft.  mit 
ihr  gar  zu  innigst  verflochten  ist;"  Prol.  Vorr.  Or.  6.  und  zu  dem  Aus- 
druck „sich  nie  verlieren"  citirt  Kant  den  Horazischen  Vers: 

Rusticus  exspectat,  dum  defluat  amnis;  at  iUe 
Labitur  et  labetur  in  omne  voluhilia  aevum. 

Das  Tertium  comparationis  ist  offenbar  das  stetige  Fliessen  der  nie  erlöschen- 
den philosophischen  Neigung  *.  Weitere  Stellen  hiezu  s.  zu  Einl.  S.  3.  „Weil 
diese  Nachforschungen  der  menschl.  Natur  nicht  gleichgültig  sein  können, 
darf  sie  „dem  Zwist"  darüber  auch  nicht  „gleichgültig  zusehen",  „weil  der 
Gegenstand  des  Streits  sehr  interessirt."  464.  Vgl.  Portschr.  Bos.  I,  488 :  „Es 
ist  nicht  zu  begreifen,  warum  bei  der  sich  immer  zeigenden  Fruchtlosigkeit 
der  Bemühungen  der  Menschen  in  dem  Felde  der  Metaph.  es  doch  umsonst 
war,  ihnen  zuzurufen:  sie  sollten  doch  endlich  einmal  aufhören,  diesen  Stein 
des  Sysiphus  zu  wälzen,  wäre  das  Interesse,  welches  die  Vernunft  daran 
nimmt,  nicht  das  innigste,  was  man  haben  kann."  Die  rationale  Psycho- 
logie, ein  zum  höchsten  Interesse  der  Menschheit  gehöriges  Erkenntniss 
—  verschwindet  jedoch.     Krit.  B.  423. 


.,Da  dieser  Indifferentismus  entw.  ein  muthwilliges  Blendwerk  der  tiefsten 
Heuchelei  ist  oder  zu  den  Phänomenen  von  dem  funesto  vetemo  des  Weltalters 
gehört:  so  könnte  er  (statt  kritisch)  füglicher  hypokritlsch  oder  auch  poli- 
tisch heissen,  im  Gegensatz  sowohl  der  skeptischen  Anarchie^  die  über  dem 
Chaos  ihrer  Methode  zur  Faulheit  verzweifeln  miiss,  als  des  dogmatischen 
Despotismus^  der  durch  ßaxspa  npwtepa  oder  (weim  ich  mir  einen  oberdeutschen 
Cynismus  erlauben  darf)  ä-lings  zu  Werke  gebt  und  mit  Waffen  des  Lichts  da:^ 
Reich  der  Fiftsterniss  und  Barbarei  ausbreitet.^  Hamann  wirft  E.  hier  religiösen 
Indifferentismus  vor.    (W.  W.  VI,  53.) 

»  Dieselbe  Auslegung  bei  Schelling,  W.  W.  1.  Abth.  V,  263. 


Unzulänglichkeit  der  Popularphilosophie.  101 

[R  7.  H  6.  K  15.]  A  IV.  B 

Popnlftren  Ton.  Kant  zeichnet  hier  mit  wenigen,  aber  scharfen  Strichen 
die  sog.  Popularphilosophie,  die  in  der  Zeit  von  1750— 1780  in  Deutsch- 
land herrschend  war,  und  deren  Häupter  bekanntlich  Mendelssohn,  Engel, 
Abbt ,  Sulzer ,  Feder ,  Basedow  u.  A.  waren  \  Gut  nennt  diese  Richtung 
Villers  I,  XXVII:  la  demi-philosophie  des  beaux  diseurs  devenue  ä  la  mode. 
Vgl.  die  gute  Schilderung  bei  Schwab,  Preisschr.  üb.  d.  Fort«schr.  d.  Met. 
21  ff.  Schon  Wolf  war  auf  die  popularisirenden  Anhänger  seiner  Philo- 
sophie, z.  B.  Meier,  nicht  gut  zu  sprechen;  er  meinte,  „die  Schönredner 
werden  alles  in  der  Philos.  verderben."  Derartige  Klagen  über  die  Zeitphilo- 
sophie s.  auch  Berl.  Mon.  IV,  50  ff.  Prol.  §.31:  „Der  Adept  der  gesunden 
Vernunft  ist  so  sicher  nicht,  ungeachtet  aller  seiner  angemassten  wohlfeil  er- 
worbenen Weisheit,  unvermerkt  über  Gegenstände  der  Erfahrung  hinaus  in 
das  Feld  der  Hirngespinnste  zu  gerathen.  Auch  ist  er  gemeiniglich  tief  ge- 
nug darin  verwickelt,  ob  er  zwar  durch  die  populäre  Sprache,  da  er 
alles  blosss  für  Wahrscheinlichkeit,  vernünftige  Vermuthungen  oder  Analogie 
ausgibt,  seinen  grundlosen  Ansprüchen  einigen  Anstrich  gibt."*  Krit.  847. 
Anm.:  „In  Ermanglung  (einer  Metaphysik  der  Natur)  haben  selbst  Mathe- 
matiker, indem  sie  gewissen  gemeinen,  in  der  That  doch  metaphysischen 
Principien  anhiengen,  die  Naturlehre  unvermerkt  mit  Hypothesen  belästigt" 
u.  s.  w.  Anthrop.  §  6.:  Der  populäre  Ton  in  der  Wissenschaft  sollte 
vielmehr  „geputzte  Seichtigkeit  heissen",  womit  „manche  Armseligkeit  des 
eingeschränkten  Kopfes  gedeckt  wird".  In  der  Popularphilosophie  ist 
nach  Prol.  §  58  ein  bloss  mechanischer  Mittelweg  zwischen  Dogm.  und 
Skeptic.  eingeschlagen,  welche  von  dem  einen  insbesondere  das  Uebersinnliche, 
von  dem  andern  die  Methode  auf  Empirie  gebauter  Wahrscheinlichkeit  ent- 
lehnt, und  auf  welche  er  besonders  in  der  Schrift  über  den  „Ewigen  Frieden 


*  Einen  Commentar  zu  dieser  Stelle  finden  wir  im  Brief  an  Lambert  vom 
31.  Dec.  1765 :  „Sie  klagen,  m.  H.,  mit  Recht  über  das  ewige  Getändel  der  Witz- 
linge  und  die  ermüdende  Schwatzhaftigkeit  der  jetzigen  Scribenten  vom  herrschen- 
den Tone  ....  Allein  mich  dünkt-,  dass  dieses  die  Euthanasie  der  falschen  Philo- 
sophie sei,  da  sie  in  läppischen  Spielwerken  erstirbt,  und  es  weit  schlimmer  ist, 
wenn  sie  in  tiefsinnigen  und  falschen  Grübeleien  mit  dem  Pomp  von  strenger 
Methode  zu  Grabe  getragen  würde.  Ehe  wahre  Weltweisheit  auflebe,  ist  es  nöthig, 
da«  die  alte  sich  selbst  zerstöre,  und  wie  die  Fäulniss  die  vollkommenste  Auf- 
lösung ist,  die  jederzeit  vorausgeht,  wenn  eine  neue  Erzeugung  anfangen  soll,  so 
macht  mir  die  Crisis  der  Gelehrsamkeit  zu  einer  solchen  Zeit,  da  es  an  guten 
Köpfen  gleichwohl  nicht  fehlt,  die  beste  Hoffnung,  dass  die  so  längst  gewünschte 
grosse  Revolution  der  Wissenschaften  nicht  mehr  weit  entfernt  sei."  Vgl.  Lamberts 
Brief  V.  Dec.  1770.  Anf. 

•  Aehnlich  heisst  es  in  der  Berl.  Monatschr.  1784.  IV,  50  von  der  „heutigen 
deutschen  Philosophie**: 

Wie  kömmts,  mein  Vaterland,  dass  du  den  strengen  Ernst, 
Vordem  dein  Eigenthum,  muthwillig  jetzt  verlernst?    u.  s.  w. 


102  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B  -  [R  7.  H  6.  7.  K  15.] 

in  der  Philos."  I,  A  seinen  Hohn  ausgiesst.  (Vgl.  oben  S.  5.  9.  37.  38.)  Dort  wird 
die  Pop.  als  Moderatismus  zwischen  Dogmat.  und  Skepticism.  eingeführt, 
„der  auf  die  Halb  scheid  ausgeht,  in  der  subjectiven  Wahrscheinlichkeit 
den  St«in  der  Weisen  zu  finden  meint,  und  durch  Anhäufung  vieler  isolirten 
Gründe  (deren  keiner  für  sich  beweisend  ist)  den  Mangel  des  zureichenden 
Grundes  zu  ersetzen  wähnt;  dieser  ist  gar  keine  Philosophie.  Und 
mit  diesem  Arzneimittel  (der  Doxologie)  [d.  h.  Behauptung  der  865a, 
des  blossen  Meinens  statt  der  eirtorfijjLiq,  des  Wissens]  ist  es,  wie  mit  Pest- 
tropfen oder  dem  Venedig'schen  Theriak  bewandt:  dass  sie  wegen  des  gar 
zu  vielen  Guten,  was  in  ihnen  rechts  und  links  aufgegriffen  wird, 
zu  gar  nichts  gut  sind."  Die  Angriffe  gegen  die  Popularphilosophie 
setzte  besonders  Reinhold  fort,  gegen  den  dieselbe  jedoch  der  Kantianer 
Jenisch,  Entd.  32  ff.  nicht  ungeschickt  in  Schutz  nahm,  indem  er  deren 
Vorzüge,  bes.  die  feine  psychologische  Analyse  betonte.  Reinhold  sagt 
z.  B.  Preisschr.  üb.  d.  Fortschr.  175:  „War  die  Metaph.  vor  dieser 
Periode  Wissenschaft,  so  hat  sie  wenigstens  während  derselben  aufge- 
hört, diesen  Namen  zu  verdienen.  Sie  wurde  kaum  mehr  von  ihren  eigenen 
Pflegern  und  Bearbeitern  dafür  gehalten,  die  kein  Bedenken  trugen,  ihre 
Grund-  und  Lehrsätze  für  nichts  als  blosse  Meinungen  zu  geben"  u.  s.  w. 
Vgl.  jedoch  bes.  die  Schilderungen  in  der  Einl.  zur  „Theorie  des  Vorstel- 
lungsvermögens" 1789,  bes.  S.  133  ff.  Id.  Paradoxien  13  ff.  Vgl.  B  out  er- 
weck, Im.  Kant  72  ff.  Herbart,  Kantrede  von  1810,  S.  3  ff.  W.  W.  XII, 
141.  Gute  Schilderung  des  Ekl.  bei  Erdmann,  Ks.  Kriticismus  S.  6 — 11. 
Derselbe  gibt  3  Merkmale  jener  Zeit  an:  1)  Schematische  Verknöcherung 
des  geringen  Restes  der  Metaphysik;  2)  psychologische  Abschwächungen 
der  erkenntnisstheoretischen  Probleme ;  3)  anthropologische  moralische  Glück- 
seligkeitslehre.   In  allen  3  Punkten  schuf  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  eine 

Reform. 

[Anmerkniig  zu  Pag.  V.] 

Man  hört  hin  nnd  wieder  u.  s.  w.  Dieser  Gedanke  ist  weiter  ausgeführt 
bei  Jakob,  Prüf.  Vorr.  XXIII.  Vgl.  unten  Von\  B.  XLII:  „Ich  habe  mit 
dankbarem  Vergnügen  wahrgenommen,  dass  der  Geist  der  Gründlichkeit 
in  Deutschland  nicht  erstorben"  ist.  Wolf  ist  „der  Urheber  des  bisher 
noch  nicht  erstorbenen  Geistes  der  Gründlichkeit  in  Deutschi."  Ib.  XXXVI. 
Unter  die  „gründlichen  Wissenschaften",  an  welche  Kant  hier  erinnert,  ge- 
hört aber  die  Metaphysik,  wie  sie  zu  seiner  Zeit  war,  seinem  Urtheil  nach 
nicht  oder  „nicht  mehr".  Prol.  Or.  191. 

Beriehtignng  der  Principlen.  Vgl.  „Kritik  der  Principien"  (der  reinen 
Naturwiss.)  847  Anm. 

Zweifel.  Dass  der  Zweifel  das  Symptom  einer  gründlichen  Denkungsart 
sei,  betont  K.  mehrfach;  so  769:  „Der  Skeptiker  ist  der  Zuchtmeister  des 
dogmatischen  Vernünffclers  auf  eine  gesunde  Kritik  des  Verstandes  und  der 
Vernunft  selbst  .  .  .  Das  skeptische  Verfahren  ist  zwar  an  sich  selbst  für 
die  Vemunftfragen   nicht  befriedigend,   aber  doch   vor  übend"    u.  s.  w. 


Das  Zeitalter  der  Kritik;  die  Aufklärung.  103 

[B  7.  H  7.  K.  15.]  A  Y.  B 

Ganz  in  demselben  Sinne  sprach  sich  schon  Lessing  aus:  „Nach  dem  natür- 
lichen Cirkellanfe  der  Dinge  fuhrt  Wahrheit  zur  Beruhigung,  Beruhigung 
zur  Trägheit  und  Trägheit  zum  Aberglauben.  Alsdann  ist  es  eine  Wohlthat 
der  Vorsehung,  wenn  der  Geist  des  Zweifels  und  der  spitzfindigsten 
Untersuchung  rege  gemacht  wird,  um  durch  Verwerfung  aller  Grundsätze 
den  Bückweg  zur  Wahrheit  wieder  hinzuführen." 

Zeitalter  der  Kritik'.  Ein  berühmter  und  oft  citirter  Ausspruch  Kants 
(vgl.  Logik,  Einl.  IV,  Vorles.  über  Metaph.  S.  16),  durch  den  er  das  Cha- 
rakteristische des  XVIIL  Jahrhunderts  prägnant  zusammenfasst '.  Vgl. 
Proleg.  Or.  217:  „Tn  unserem  denkenden  Zeitalter  lässt  sich  nicht  ver- 
muthen,  dass  nicht  viele  verdiente  Männer  jede  gute  Veranlassung  benützen 
sollten,  zu  dem  gemeinschaftlichen  Interesse  der  sich  immer  mehr  aufklärenden 
Vernunft  mitzuarbeiten,  wenn  sich  nur  einige  Hoffnung  zeigt,  dadurch  zum 
Zwecke  zu  gelangen.*'  Bekanntlich  heisst  das  XVIII.  Jahrh.  das  Zeitalter 
,der  Aufklärung",  auch  das  Zeitalter  der  , Vernunft",  des  Rationalismus. 
, Vernunft"  besteht  nach  K.  eben  darin,  614.  763,  dass  wir  von  allen  unseren 
Be^ffen,  Meinungen  und  Behauptungen,  es  sei  aus  objectiven  oder  .  .  . 
subjectiven  Gründen,  Rechenschaft  geben  können  (cfr.  Piaton,  Theätet 
177  B.  202  C.  Prot.  336  B.  Xo^ov  8t36va0.  tJeber  den  Zusammenhang  der 
Aufklärung  mit  der  Kritik  und  ihrer  Freiheit  vgl.  Ks.  Aufsatz  vom  Jahre 
1784:  , Beantwortung  der  Frage:  Was  heisst  Aufklärung?* 
..Habe  Muth,  dich  deines  eigenen  Verstandes  zu  bedienen,  ist  der  Wahl- 
spruch der  Aufklärung  .  .  .  Das  Unvermögen,  sich  seines  Verstandes  ohne 
Leitung  eines  Anderen  zu  bedienen,  ist  Unmündigkeit.  Aufklärung 
ist  der  Ausgang  des  Menschen  aus  seiner  selbstverschuldeten  Un- 
mündigkeit." „Zu  dieser  Aufklärung  wird  nichts  erfordert  als  Freiheit, 
und  zwar  die  unschädlichste  unter  allen:  von  seiner  Vernunft  in  allen 
Stücken  öffentlichen  Gebrauch  zu  machen.'*  „In  der  Qualität  eines 
Gelehrten  darf  Jeder  räsonniren  über  das  Bestehende  und  dasselbe,  sei  es 
politischer  oder  kirchlicher  Natur,  seiner  Kritik  unterziehen.  Caesar  non 
est  supra grammaticos.  Wir  leben  nicht  in  einem  aufgeklärten  Zeitalter, 
aber  wohl  in  einem  Zeitalter  der  (allmäligen  und  möglichen)  Auf- 
klärung, in  dem  Jahrhundert  Friedrichs.  Religionssachen 
und  Gesetzgebung  sind  die  eigentlichen  Objecte  dieser  freien  Kritik."  — 
Der  genannte  berühmte  Aufsatz,  der  die  Bestrebungen  Spinoza's,  Bayle^s, 
Lessings,  Mendelssohns  u.  s.  w.  fortsetzt,  ist  eine  weitere  Exposition  des 
zweiten  Theils  der  vorliegenden  Anmerkung.   Vgl.  Urtheilskr.  §  40.  Religion 


^  kit  ironischer  Beziehung  auf  Kant.  Krit.  57.  nennt  sein  Gegner  Bardili, 
^r.  d.  ersten  Logik.  344  f.  die  Zeit  der  Kantischen  Philosophie :  „das  Zeitalter  des 
Bockmelkens.** 

'  Aehnlich  Hamann^  W.  W.  VII,  6  „kritisches  Jahrhundert".  Sehr  gut  be- 
Michnet  Bachmann.  Philos.  m.  Zeit  7  ff.  die  auf  K.  folgende,  durch  ihn  be- 
stimmte Zeit  als  das  „Zeltalter  der  Ideen**. 


104  '  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B  —  [R  7.  H  7.  K  15.] 

rV,  2,  §  3  u.  d.  Abhandlung  von  1786:  Was  heisst  sich  im  Denken  orien- 
tiren?,  sowie  Anthrop.  §  57  \ 

Kritik,  der  sieh  Alles  unterwerfen  mnss.  Vgl.  738:  ,Die  Vernunft 
inuss  sich  in  allen  ihren  Unternehmungen  der  Kritik  unterwerfen  und 
kann  der  Freiheit  derselben  durch  kein  Verbot  Abbruch  thun  .  .  .  Da  ist 
nun  nichts  so  wichtig  in  Ansehung  des  Nutzens,  nichts  so  heilig,  das 
sich  dieser  präfenden  und  musternden  Durchsuchung  .  .  .  entziehen  dürfte.* 
Das  Recht  der  Kritik  der  Religion  ist  in  den  Vorreden  zur  „Religion 
innerh.  d.  Grenzen  d.  bl.  Vern."  mit  Energie  von  Kant  gewahrt  worden. 
Vgl.  die  Vorrede  und  die  betreffenden  Stellen  im  „Streit  der  Facultäten*. 
Vgl.  Streit  der  Facult.  I,  4:  „Es  muss  der  philos.  Facultät  frei  stehen, 
den  Ursprung  und  Gehalt  eines  angeblichen  (theolog.)  Belehrungsgrundes  mit 
kalter  Vernunft  öffentlich  zu  prüfen  und  zu  würdigen,  ungeschreckt  durch 
die  Heiligkeit  des  Gegenstandes,  den  man  zu  fühlen  vorgibt"  u.  s.  w. ' 


*  Während  K.  so  sein  Werk  als  ein  nothwendig  aus  dem  Geist  der  Zeit 
heraus  geborenes  zu  erweisen  suchte  legte  Feder  (vgl.  über  die  erste  Receneion 
^Leben"  117)  das  Buch  „als  ein  dem  Genius  der  Zeit  gar  nicht  angemessenes^ 
bei  Seite.  Dagegen  A.  L.  Z.  1787.  II,  236:  „Wir  haben  diese  Philosophie  seit 
unserer  ersten  Bekanntschaft  mit  derselben  als  den  wahren  einzigen  Schluss- 
stein  unserer  Aufklärung  angesehen,  ohne  welchen  das  ganze  stolze  Grewölbe 
derselben  allmälig  locker  werden  und  zuletzt  vielleicht  nach  und  nach  einstürzen 
müsste."  (Schütz.)  Ganz  im  Kantischen  Sinne  räumt  K.  H.  L.  Pölitz  (Sind  wir 
berechtigt,  eine  grössere  künftige  Aufklärung  und  höhere  Reife  uns.  Geschl.  zu 
erwarten?  Leipz.  1795)  dem  damaligen  Zeitalter  den  Vorzug  vor  allen  vorher- 
gehenden ein.  Stael-Holstein,  De  TAH.  IV.  1.  6.  Cap.:  „Obgleich  im  Wesent- 
lichen bestimmt,  die  Phil,  des  XVIII.  Jahrh.  zu  widerlegen,  hat  die  K'sche  Phil, 
doch  das  Eine  und  das  Andere  mit  derselben  gemein-,  denn  die  Natur  des  Men- 
schen bringt  es  mit  sich,  sich  dem  Geiste  seiner  Zeit  anzuschmiegen,  selbst  wenn 
er  auf  Bekämpfung  derselben  ausgeht."  Trefflich  Windelband,  Gesch.  der  n. 
Phil.  II,  2.  und  bes.  145  f.  „Kants  Lehre  ist  der  Abschluss  der  Aufklärungs- 
bewegung  und  eben  desshalb  zugleich  die  Vollendung  und  die  üeb  er  Win- 
dung der  Aufklärung."  Vgl.  hierüber  ferner  Hettners  und  Biedermanns 
einschlägige  Werke  über  das  XVIII.  Jahrb.,  besond.  Biedermann  II,  345  ff.  384  ff. 
Vgl.  die  Schilderung  des  XVIIl.  Jahrh.  z.  B.  von  Strauss,  der  den  ^vemünftigen", 
disjunctiven  Charakter  der  Zeit  betont  und  ihren  (im  Gegensatz  zum  XIX.  Jahrh.) 
unhistorischen  Sinn,  jenen  Zug,  alles  rein  abstract- vernünftig  zu  beurtheilen  und 
einzurichten,  ein  Zug,  der  in  der  französ.  Revolution  als  dem  Gipfel  der  Auf- 
klärung des  XVIII.  Jahrh.  scharf  hervortritt;  (Reimarus  S.  1  ff.  269  ff.). 

^  In  demselben  Sinn  sagt  L.  Feuerbach,  W.  W.  I,  53.  von  der  Philosophie: 
Nicht  das  Heilige  ist  ihr  wahr,  sondern  das  Wahre  heilig.  Mit  Bezug  aUf  diese 
Stelle  spöttelt  Hamann,  Metakritik  (Rink,  Manch.  123):  «Die  erste  Reinigung 
der  Philosophie  bestand  in  dem  theils  missverstandenen,  theils  misslungenen  Ver- 
such, die  Vernunft  von  aller  Ueberlieferung,  Tradition  und  Glauben  daran  unab- 
hängig zu  machen.  [Bisher  Anspielung  auf  die  Aufklärungsphilosophie,  von  jetzt 
an  auf  Kant.]    Die  zweite  ist  noch  transscendenter  und  läuft  auf  nichts  weniger 


Freiheit  der  Präfang.     Selbsterkenntniss  der  Vernunft.  105 

[R  7.  H  7.  K  15.]  A  V.  B 

Das  Recht  der  Kritik  der  Gesetzgebung  und  der  obersten  Gewalt  über- 
haupt wird  indessen  von  Kant  in  der  Metaphysik  der  Sitten,  I.  Bd.  Rechts- 
lehre (1798)  §  49  Anm.,  sehr  beschränkt.  „Der  Unterthan  soll  über  den 
Ursprung  der  obersten  Gewalt  nicht  werkthätig  vernünfteln";  „das  sind 
zweckleere  und  doch  den  Staat  mit  Gefahr  bedrohende  Vernünfteleien".  Ib.  §  52. 
Vgl.  Theorie  u.  Praxis  11.  Abschn.,  wo  jedoch  „die  Freiheit  der  Feder**, 
der  öffentlichen  Prüfung  gewahrt  bleibt,  oder  des  „Selbst-  und  Lautdenkens". 
Vgl.  dag.  Mendelssohn,  W.  W.  IV,  1.  146. 

CoTerstellte  Achtmigr.  In  der  Vorrede  zur  „Religion"  u.  s.  w.  klagt 
Kant,  dass  das,  „was  nur  sofern  wahrhaftig  verehrt  werden  kann,  als  die 
Achtung  dafür  frei  ist*,  sich  durch  Zwangsgesetze  Ansehen  verschaffen  wolle. 
Aehnlich  im  Schlussabschnitt  der  Tr.  e.  Geisters.  1766:  „Ich  habe  meine 
Seele  von  Vorurtheilen  gereinigt,  ich  habe  eine  jede  blinde  Ergebenheit  ver- 
tilgt, welche  sich  jemals  einschlich,  um  manchem  eingebildeten  Wissen  in 
mir  Eingang  zu  verschaffen.  Jetzt  ist  mir  nichts  angelegen,  nichts  ehr- 
würdig, als  was  durch  den  Weg  der  Aufrichtigkeit  in  einem  ruhigen  und 
fiir  alle  Gründe  zugänglichen  Gemüthe  Platz  nimmt."  Caird,  Phil,  of  K,j 
beginnt  sein  Werk  mit  Wiedergabe  dieser  Stelle  („In  these  words  K.  expresses 


als  eine  Unabhängigkeit  von  der  Erfahrung  und  ihrer  alltäglichen  Induction  hinaus 
—  denn  nachdem  die  Vernunft  über  2000  Jahr,  man  weiss  nicht  was?  jenseits 
der  Erfahrung  gesucht,  verzagt  sie  nicht  nur  auf  einmal  an  der  progressiven  Lauf- 
bahn ihrer  Vorfahren,  sondern  verspricht  auch  mit  ebenso  viel  Trotz  den  un- 
geduldigen Zeit  verwandten  und  zwar  in  kurzer  Zeit  jenen  allgemeinen  und  zum 
Katholicismo  und  Despotismo  nothwendigen  und  unfehlbaren  Stein  des  Weisen, 
dem  die  Religion  ihre  Heiligkeit,  und  die  Gesetzgebung  ihre  Majestät 
flngs  unterwerfen  wird,  besonders  in  der  letzten  Neige  eines  kritischen  Jahrhun- 
derts, wo  beiderseitiger  Empirismus,  mit  Blindheit  geschlagen,  seine  eigne  Blosse 
von  Tag  zu  Tag  verdächtiger  und  lächerlicher  macht.**  W.  W.  VII,  5.  Und  eben- 
falls unter  Citirung  dieser  Anmerkung  beginnt  derselbe  seine  Recension  der  Kritik 
(Reinh.  Beitr.  1801.  II,  107.)  mit  den  halbironischen  Worten:  „Mit  unverstellter 
Achtung  kündigt  auch  Recensent  vorstehendes  Werk  an,  um  wenigstens  durch 
seine  eng  eingeschränkte  Anzeige  eine  freie  und  öffentliche  Prüfung  .  .  . 
zu  befördern."  W.  W.  VI,  47  — .  Was  K.  will,  ist  der  L  e  s  s  i  n  g  'sehe  Geist, 
von  dem  der  Jesuit  Baumgartner  sagt  (Erg.  zu  Stimmen  aus  Maria  Laach  II,  165): 
„Er  ist  der  Kritiker  .  .  .  der  unabhängig  von  göttlicher  und  menschlicher  Auto- 
rität .  .  .  Philosophie  und  Offenbarung,  Kirche  und  Staat,  Wissenschaft  und  Kunst 
vor  sein  höchstes,  unfehlbares  Tribunal  zieht.**  Ueber  das  Verhältniss  Kants  zu 
Lessing  in  dieser  Hinsicht  vgl.  Ks.  Brief  an  Herz  vom  24.  Nov.  1776  (cfr.  Phil. 
Mon.  XVI,  60);  Jacoby,  Kant  u.  Lessing,  eine  Parallele.  1859.  Huber,  Lessing 
und  Kant  im  Verhältniss  zur  religiösen  Bewegung  im  XVIII.  Jahrh.  Deutsche 
Vierteljahrsschr.  1864,  244  ff.  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  I,  524  ff.,  II,  96. 
131  f.  145.  202.  Fischer,  Kuno,  Lessing  I,  8  ff.  58.  Kirchner,  Leipz.  HL  Ztg. 
V.  18.  Jan.  1879.  Zimmermann,  Geschichte  d.  Aesthet.  L  201  f.  Biedermann, 
Deutschi,  im  XVIÜ.  Jahrh.  IV,  873  f. 


106  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B    -  [R  7.  8.  H  7.  K  15.] 

the  thought  thai  underlies  and  animates  aU  his  worh^).     Vgl.  ib.  8  f.   über 
fythe  age  of  crüicism^, 

Freie  nnd  öffentliche  Prilfüng«  üeber  die  Nothwendigkeit  derselben 
s.  die  betreff.  Abschnitte  in  der  Methodenlebre,  bes.:  „Die  Disciplin  der  r.  V. 
in  Ansehung  ihres  polem.  Gebrauches"  S.  739  ff.  Anthrop.  §2  (Freiheit 
der  Feder,  sonst  kein  Mittel  der  Prüfung).  Dasselbe  Recht  wahrt  K.  in  der 
Schrift  über  den  Ewigen  Frieden,  2.  Abschn.  Zus.  2,  und  im  Streit  der 
Facultäten.  I,  2  und  II,  8. 


Selbsterkenntniss  der  Yerniinft.  Die  Nothwendigkeit  einer  solchen  und 
ihre  Ausführung  in  der  Krit.  wird  oft  von  K.  betont.  Schon  Hume  habe 
„die  Absicht  gehabt,  die  Vernunft  in  ihrer  Selbsterkenntniss  weiter 
zu  bringen".  Die  „Vernunft  muss  ein  freimüthiges  Geständniss  ihrer  Schwächen 
ablegen,  die  ihr  bei  der  Prüfung  ihrer  Selbst  offenbar  werden."  745. 
Desshalb  kehrt  sich  der  Skeptiker  gegen  den  Dogmatiker,  „bloss  um  ihm 
das  Concept  zu  verrücken  und  [ihn]  zur  Selbsterkenntniss  zu  bringen*. 
763.  Die  „Selbsterkenntniss  der  Vernunft"  muss  „wahre  Wissenschaft"  werden, 
Prol.  §  35;  eine  solche  „Selbsterkenntniss  der  reinen  Vern.  in  ihrem  trans- 
scendenten  (überschwenglichen)  Gebrauch  ist  das  einzige  Verwahrungsmitt^l 
gegen  die  Verirrungen,  in  welche  die  Vernunft  geräth,  wenn  sie  ihre  Be- 
stimmung missdeutet",  ib.  §  40.  So  lange  der  Metaphysik  diese  Selbst- 
erkenntniss fehlte,  war  sie,  nach  dem  Briefe  an  Herz  v.  21.  Febr.  1772,  eine 
„sich  selbst  noch  verborgene  Metaphysik".  Krit.  849;  „Scientifisches  und  völlig 
einleuchtendes  Selbsterkenntniss  ist  noth wendig,  um  die  Verwüstungen 
abzuhalten,  welche  eine  gesetzlose  Vernunft  überall  anrichten  würde."  In 
dem  Aufsatz:  „Von  einem  vornahmen  Ton  in  der  Philosophie"  1796  spricht 
K.  von  der  „herkulischen  Arbeit  des  Selbsterkenntnisses".  Ganz 
richtig  bezeichnet  daher  Schulz,  Erl.  14,  es  als  den  Zweck  der  Kritik,  „die 
Vernunft  zu  ihrer  wahren  Selbsterkenntniss  zu  führen",  indem  es  nach 
S.  18  darauf  ankomme,  „das  ganze  Vermögen  der  Vernunft  durch  sie 
selbst  auszumessen".  Vgl.  schon  Piaton,  Rep.  IX  (*)  572  A:  „el?  oöwotav 
ahxb^  aöxoö  ä^ixopLevo?.**  Hieraus  machte  dann  Hegel  und  seine  Schule,  die 
Philosophie  müsse  „Selbstverständniss  des  Geistes"  sein  (vgl.  Erdmann, 
Grundr.  §  3,  §  296) ,  was  aber  bekanntlich  viel  dogmatischer  gemeint  ist.  — 
Vgl.  Wangenheim,  Verth.  Kants  geg.  Fries  17,  22,  47,  54.  Nach  W.  beweist 
die  Stelle,  dass  Ks.  Krit.  auf  innerer  Erfahrung  beruht,  diese  soll  jedoch 
nicht  empirischer  Natur  sein!  Vgl.  dagegen  Grapengiesser,  Aufg.  d. 
Vern.  14  ff.  —  Vgl.  S.  Zaun  er,  Ueber  den  Denkspruch  „y'^äö-i  ocaotov"  oder 
über  die  Nothwendigkeit  der  Selbsterkenntniss.  Eichst.  1851.  Darin  liegt 
ein  Coincidenzpunkt  Kants  mit  Sokrates,  vgl.  Harms,  Phil,  seit  K.  231  f. 
üeber  das  Verhältniss  zu  dem  Letzteren  s.  zur  Vorr.  B.  XXXI.  Ueber  die 
Selbsterkenntniss  vgl.  femer  Fichte,  Theist.  Weitaus.  81 ;  über  das  „Problem 
und  Postulat"  derselben  v.  Bärenbach,  Phil.  Mon.  XVI,  224  f.     Als  „Selbst- 


Das  Bild  des  Processes:  der  Gerichtshof.  107 

[R  8.  H  7.  K  16.]  A  V.  B 

besinnung'^  erscheint  dieselbe  bei  Witte,  Zur  Erkenntnisstheorie  S.  9  ff. 
14  ff.  In  Fichtianisirender  Weise  macht  aus  ihr  eine  „Selbstrealisirung  der 
Vernunft"  Löwe,  Pichte  S.  2.  Bei  Schelling,  W.  W.  VI,  170  wird  daraus 
die  Selbsterkenntniss  Gottes.  Bachmann,  Ueber  die  Philosophie  meiner 
Zeit  1816.  S.  28  sagt:     „Jene  berühmte  Tempelinschrift: 

„Erkenne  Dich  selbst" 

würde  als  Motto  der  Critik  vorgesetzt,  den  innersten  Geist  derselben  be- 
zeichnen".    Vgl.  Baader,  W.  W.  XI,  405.  417  über  das 

Einen  Gerichtshof  einsosetzen*  Dieses  Bild  des  Processes  liegt  der 
ganzen  Kritik  zu  Grunde  und  wird  von  Kant  so  oft  wiederholt,  dass  eine 
systematische  Zusammenstellung  der  Aeusserungen  hierüber  zweckdienlich 
erscheint.  Den  üebergang  aus  dem  Bilde  des  Krieges  in  das  des  Pro- 
cesses macht  Kant  selbst  750  (vgl.  793  ff.):  ^Ohne  Kritik  ist  die  Vernunft 
gleichsam  im  Stande  der  Natur  und  kann  ihre  Behauptungen  und  Ansprüche 
nicht  anders  geltend  machen  oder  sichern,  als  durch  Krieg.  Die  Kritik 
dagegen,  welche  alle  Entscheidungen  aus  den  Grundregeln  ihrer  eigenen  Ein- 
setzung hernimmt,  deren  Ansehen  keiner  bezweifeln  kann,  verschafft  uns  die 
Ruhe  eines  gesetzlichen  Zustandes,  in  welchem  wir  unsere  Streitigkeit  nicht 
anders  fuhren  sollen,  als  durch  Process.  t^gl.  Rechtsl.  §  61.]  Was  die 
Händel  in  dem  ersten  Zustande  endigt,  ist  ein  Sieg,  dessen  sich  beide  Theile 
rühmen,  auf  den  mehrentheils  ein  nur  unsicherer  Friede  folgt,  den  die  Obrig- 
keit stiftet,  welche  sich  ins  Mittel  legt,  im  zweiten  aber  die  Sentenz,  die, 
weil  sie  hier  die  Quelle  der  Streitigkeiten  selbst  trifft,  einen  ewigen  Frieden  ' 
gewähren  muss.  Auch  nöthigen  die  endlosen  Streitigkeiten  einer  bloss  dog- 
matischen Vernunft,  endlich  in  irgend  einer  Kritik  dieser  Vernunft  selbst 
und  einer  Gesetzgebung,  die  sich  auf  sie  gründet,  Ruhe  zu  suchen"  u.  s.  w. 

In  diesem  an  die  Stelle  des  Krieges  tretenden  Process  ist  !•  Der  Ge- 
rlehtshof:  die  kritische  Vernunft.  Nach  der  vorl.  Stelle  und  nach 
P.  751  „kann  man  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  (Kant  meint  nicht  das 
Buch,  sondern  die  Sache)  als  den  wahren  Gerichtshof  für  alle  Streitig-  . 
keiten  derselben  ansehen ;  denn  sie  ist  in  die  letzteren,  als  welche  auf  Objecte 
anmittelbar  gehen,  nicht  mit  verwickelt,  sondern  ist  dazu  gesetzt,  die  Recht- 
same der  Vernunft  überhaupt  nach  den  Grundsätzen  ihrer  ersten  Institution 
zu  bestimmen  und  zu  beurtheilen".  „Dieser  oberste  Gerichtshof  aller  Rechte 
und  Ansprüche  unserer  Speculation  kann  unmöglich  selbst  ursprüngliche 
Täuschungen  und  Blendwerke  enthalten."  Bestimmter  unterscheidet  K.  743 
die  forschende  und  die  prüfende  Vernunft,  jene  als  Partei,  diese  als 
Rieht  er  in.     Die   richtende  Vernunft,  ist  die  höhere.     .Die  reine  Vernunft 


'  Basselbe  Bild  wendet  Schleier m acher  an  in  Bezug  auf  das  Verhältniss 
zwischen  Theologie  und  Wissenschaft,  zwischen  denen  er  einen  „ewigen  Ver- 
trag** stiften  will.    Theolog.  Stud.  u.  Krit.  1829,  S.  404. 


108  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B  —  [R  8.  H  7.  K  15.] 

in  ihrem  dogitiatischen  Gebrauche  ist  sich  nicht  so  sehr  der  genauesten  Be- 
obachtung ihrer  obersten  Gesetze  bewusst,  dass  sie  nicht  mit  Blödigkeit, 
ja  mit  gänzlicher  Ablegung  alles  angemassten  dogmatischen  Ansehens  vor 
dem  kritischen  Auge  einer  höheren  und  richterlichen  Vernunft  erscheinen 
müsste.*  739.  Daher  wird  S.  668  und  740  die  Vernunft  selbst  (nicht 
wie  oben  die  Kritik  der  r.  V.)  als  der  „oberste  Gerichtshof  aller  Recht«  und 
Ansprüche  unserer  Speculation",  „über  alle  Streitigkeiten"  bezeichnet.  Nach 
S.  786  ist  es  „der  Gerichtshof  einer  kritischen  Vernunft",  vor  den  alle 
Streitigkeiten  zu  bringen  sind  ^  Dieser  Gerichtshof  ist  aus  Geschworenen 
zusammengesetzt:  Man  kann  es  Niemand  verargen  noch  verwehren,  seine 
„Sätze  und  Gegensätze  so,  wie  sie  sich  durch  keine  Drohung  geschreckt,  vor 
Geschworenen  von  seinem  eigenen  Stande  (nämlich  dem  Stande  schwacher 
Menschen)  vertheidigen  können,  auftreten  zu  lassen**.  475.  „Dies  liegt  schon 
in  dem  ursprünglichen  Rechte  der  menschlichen  Vernunft,  welche  keinen 
anderen  Richter  anerkennt,  als  selbst  wiederum  die  allgemeine  Menschen- 
vernunft, worin  ein  jeder  seine  Stimme  hat."  752.  „Dieser  prüfenden 
und  musternden  Untersuchung,  die  kein  Ansehen  der  Person  kennt,  darf 
sich  Nichts  entziehen.     Auf  dieser  Freiheit  (der  Prüfung)    beruht  sogar  die 


'  Wenigstens  Diejenigen,  die  sich  auf  transscendente  Probleme  beziehen ;  denn 
die  immanenten  Probleme  gfehören  (nach  229)  vor  „die  Gerichtsbarkeit 
des  blossen  Verstandes".  Jene  dagegen  „fallen  der  Gerichtsbarkeit  der  Vernunft 
anheim"  (ib.);  so  trennt  K.  die  Competeuzen  beider.  —  Fast  komisch  berührt  dem 
gegenüber  die  naive  Meinung  R  i  e  h  1  s ,  Krit.  I,  341 :  ,,Die  Kritik  wäre  nicht, 
was  sie  sein  will,  die  R  i  c  h  t  e  r  i  n  über  die  Parteien,  sie  wäre  selbst  eine 
der  Parteien,  wenn  sie  die  reine  Erkenntniss  zwar  im  Allgemeinen  untersnchtCT 
aber  im  Besonderen  voraussetzte,  wenn  sie  sich  in  dem  Streite  der  reinen  Vernunft 
einfach  auf  einen  Theil  der  Vemunfterkenntniss  berufen  würde."  Sagt  doch  auch 
Kant  in  der  Krit.  d.  pr.  Vern.  Einl.  30:  „Reine  Vernunft  enthält  selbst  die  Richt- 
schnur zur  Kritik  alles  ihres  Gebrauchs."  Vgl.  Prol.  §  42:  Reine  Vernunft  müsse 
den  Irrthum  aufdecken,  was  aber  sehr  schwer  sei,  da  er  eben  aus  der  r.  V.  ent- 
springt. Schon  Herder  (Metakr.  6)  bemerkt:  „Wenn  Vernunft  kritisirt  w^erden 
soll,  von  wem  kann  sie  es  werden?  Kicht  anders  als  von  ihr  selbst,  mithin  ist 
sie  Partei  und  Richter.  Und  wonach  kann  sie  gerichtet  werden  ?  Nicht 
anders  als  nach  sich  selbst*,  mithin  ist  sie  auch  Gesetz  und  Zeuge.  Sofort 
erblickt  man  die  Schwierigkeit  dieses  Richt«ramtes."  Vgl.  A.  Lef^vre,  La  Philo- 
sophie 387:  La  Critique  de  la  raison  pure  est  donc  ä  la  fois  Vexamen,  par  la 
raison  pure,  de  VexpSrience  et  du  jugement,  et  la  critique  exerc4epar  la  raison 
pure  sur  elle-meme.  ün grand  vice  de  cette  conception,  c'est  que  la  raison 
pure  est  ä  la  fois  juge  et  pari ie;  un  plus  grand^  c'est  que  la  raison  pure 
n'a  jamais  eanstS,  Ebenso  schon  Rdmusat,  La  Philos.  AU,  XX VU:  y^La  critique 
de  la  raison  pure  suppose  un  critique,  un  juge  de  la  raison  pure.  Ce  titre  signifie, 
au  vrai,  la  raison  absolue  jugeant  la  raison  humaine,^  j^Critique**^  und  „raison  pure^ 
bezeichnen  in  letzter  Linie  „fe  meme  sujet*^  u.  s,  w.;  ib.  XXX:  „to  raison  observ^ 
par  la  raison^.  Daher  findet  Baggesen,  Philos.  Nachl.  1,  164.  232  einen  inneren 
Widerspruch  in  Idee  und  Titel  des  K.'schen  Werkes. 


Das  Bild  des  Processes:  das  Rechtsbuch,  die  Parteien.  109 

[R  8.  H  7.  K  15.]  A  V.  B  - 

Existenz  der  Vernunft,   die  kein  dictatorisches  Ansehen  hat,   sondern  deren 
Ausspruch  jederzeit  nichts  als  die  Einstimmung  freier  Bürger  ist,  deren 
jeglicher  seine  Bedenklichkeiten,  ja  sogar  sein  Veto  ohne  Zurückhaltung  muss 
äussern  können*    (739).    Der  Terminus,  „Richterstuhl  der  reinen  Vernunft **, 
ist  bei  K.  alt,   denn   schon  Herz,   der  ganz  unselbständig   an  K.   sich  an- 
schliesst,   gebraucht  ihn  in   seinen    „Betrachtungen"    1771  u.  s.  w.   S.  100. 
Das  Wort  und  das  ganze  Bild  findet  sich  bei  K.  schon  in  der  Erstlingsschrift 
über  die  Schätzung   der  leb.  Kräfte  Einl.  III.  XIH  §  22.  §  24.  §  33.  §  47. 
§  90.   §  151.   §  163.     An  einzelnen  dieser  Stellen  findet  sich  auch  das  Bild 
des  Krieges.    Ebenso  in  der  Vorrede  zur  AUgem.  Naturgesch.  des  Himmels 
(Areopagus,  Sachwalter  u.  s.  w.),  ferner  in  der  Vorr.  zur  „Demonstr.  Gottes". 
Ferner  in  den  Tr.  e.  Geistersehers  (Vorr.  u.  ö.)  *.     Anthr.  §  10:  Richter- 
stuhl des  Verstandes  (über   die  Sinne).     Mendelssohn,   Morgenst.  S.  135, 
spricht  auch  vom   ^Areopagus   der   Vernunft"  u.  s.  w.    —  IT.  Das  Beehts- 
bnehy  nach  dem  dieser  Gerichtshof  urtheilt,   sind   die  von  ihm  selbst  fest- 
gestellten Gesetze  der  Erkenntniss  (wie  sie  in  Aesthetik  und  Analytik 
niedergelegt  sind).     Nach  „den 'ewigen  und  unwandelbaren  Gesetzen"  der 
Vernunft  selbst,  heisst  es  oben,  nicht  durch  blosse  Machtsprüche  sollen 
die  Anmassungen   der  Vernunft   abgefertigt,  ihre  gerechten  Ansprüche  ge- 
sichert werden.     Die   kritische  Vernunft  selbst  gibt    „die   Grundsätze  ihrer 
Institution",  nimmt  „die  Entscheidungen  aus  den  Grundregeln  ihrer  eigenen 
Einsetzung",   gibt  eine  „Gesetzgebung"  (751  u.  752).     Der  Gerichtshof  gibt 
also  diese  Gesetze  selbst,  die  er  nach  S.  786  „verlangt".     Das  Kriterium 
dieser  kritischen  Vernunft  ist  das  Kriterium  der  Möglichkeit  resp.  Unmög- 
lichkeit „solcher  synthetischen  Sätze,  die  mehr  beweisen  sollen,  als  Erfahrung 
geben  kann".    785.     Für  diese  Entscheidung  mangelte   es  bis  auf  Kant  an 
einem  , öffentlichen  Richtmass".  Prol.  Or.  193.    „Andere  Wissenschaften  und 
Kenntnisse  haben  doch   ihren  Massstab.     Mathematik   hat  ihren  in  sich 
selbst,  Geschichte  und  Theologie  in  weltlichen  oder  heiligen  Büchern, 
Naturwissenschaft  und  Arzneikunst  in  Mathematik  und  Erfahrung, 
Hechtsgelehrsamkeit   in    Gesetzbüchern,    und   sogar   Sachen   des   Ge- 
schmacks in  Mustern  der  Alten.     Allein  zur  Beui*theilung  des  Dinges,  das 
Metaphysik  heisst,   soll   erst  der  Massstab  gefunden  werden  (ich  habe  einen 
Versuch  gemacht,  ihn  sowohl  als  seinen  Gebrauch  zu  bestimmen)."  Prol. Or. 2 12. 
Durch  Kritik  erst    „wird  unserem  Urtheil  der  Massstab  zugetheilt,   wo- 
durch Wissen  von  Scheinwissen  mit  Sicherheit  unterschieden  werden  kann". 
Prol.  Or.  221.    Dieser  Massstab,  eben  das  Grundgesetz,  das  der  Entscheidung 


*  Diesem  Gerichtshof  der  Vernunft  über  die  theoretischen  Fragen  steht 
gegenüber  der  moralische  Gerichtshof,  das  Gewissen,  welcher  in  der  Tngend- 
Ichre  §  13.  ausführlich  geschildert  wird.  Wie  hier  die  Vernunft  zugleich  Rich- 
terin und  Partei  ist,  so  ist  auch  dort  der  Mensch  beides  in  Einer  Person;  der 
Mensch  schafft  sich  dort  jedoch  eine  ideal ische  Person  (Gott)  zum  Richter.  Der 
Richtergpruch  ist  auch  dort  wesentlich  negativ-kritischer  Natur. 


110  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B  ~  [R  8.  H  7.  K  15.] 

aller  Streitigkeiten  zu  Grunde  gelegt  wird,  ist  die  Bestimmung,  dass  wir  auf 
keine  Weise  über  den  Erfahrungsumfang  hinausgelangen  können,  um  also 
nirgends  verlassen  sollen.  Es  sind  dies  „die  obersten  Gesetze  der  Ver- 
nunft*, 739,  als  gesetzgebender  und  darnach  richtender,  falls  sie  selbst 
als  forschende  sich  der  Ueberschreitung  dieser  obersten  Gesetze  schuldig 
macht.  Die  etwaigen  Mängel  der  Gesetzgebung  zeigen  sich  bei  der  Verlegen- 
heit der  Richter  bei  Rechtshändeln;  so  sind  die  Antinomien  das  beste 
Prüfungsmittel  der  Nomothetik  (424).  (Von  der  , Gesetzgebung"  der 
Vernunft  spricht  Kant  besonders  in  ethischer  Beziehung.  Vgl.  Streit  der 
Facult.  Anf.)  —  in.  Die  Parteien  in  diesem  Processe  sind  erstens  die  zwei 
grossen  gegnerischen  Schulen  der  Dogmatiker  und  Skeptiker,  zweitens 
die  verschiedenen  Schulen  der  Ersteren,  vgl.  751,  wornach  auch  schon  die 
endlosen  Streitigkeiten  einer  bloss  dogmatischen  Vernunft  zur  Einsetzung 
eines  solchen  Gerichtshofes  nöthigen.  Aber  auch  der  erstere  Streit  wird  als 
„Streit  der  Vernunft  mit  sich  selbst"  bezeichnet,  indem  beide  Gegner 
die  Vernunft  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  S.  z.  B.  757.  744.  486.  Denn 
Vern.  ist  in  ihrem  transsc.  Gebrauche  an' sich  dialektisch  (777).  An 
anderen  Stellen  ist  der  Streit  bezeichnet  als  der  zwischen  den  gegründeten 
Ansprüchen  des  Verstandes  und  den  dialektischen  Anmassungen  der  Ver- 
nunft, 768;  wieder  an  anderen  als  der  zwischen  Verstand  und  Sinnen, 
zwischen  denen  die  Vernunft  zu  entscheiden  habe.  465.  Diese  verschie- 
denen Bezeichnungen  treiFen  aber  immer  Eine  und  Dieselbe  Hauptsache, 
nemlich  eben  den  Streit  zwischen  Dogmatismus  und  Skepticismus.  An 
des  letzteren  Stelle  tritt  S.  466  ff.  der  Empirismus,  und  es  werden  daselbst 
die  praktischen  Motive  für  die  „zelotische  Hitze  des  einen  und  die  kalte  Be- 
hauptung des  anderen  Theils",  sowie  für  den  Zutritt  der  beiderseitigen  Partei- 
gänger angegeben,  wobei  das  Bild  des  Processes  mehrfach  geistreich  ver- 
wendet wird.  Dass  die  Vernunft  zwischen  diesen  Parteistreitigkeiten  nicht 
gleichgültig  sich  verhalten  dürfe  (464),  wurde  schon  angeführt.  Neu- 
tralität ist  ausgeschlossen.  756  f.  Die  skeptische  Manier,  sich  mit  der  Un- 
wissenheit zu  entschuldigen  und  sich  so  auf  dem  kürzesten  Wege  „aus  einem 
verdriesslichen  Handel  der  Vernunft,  zu  ziehen",  verwirft  K.  daselbst  aufs 
Entschiedenste.  Ebenso  Grundl.  z.  M.  d.  S.  Ros.  VIII,  91.  Die  Vernunft  darf 
den  Widerstreit  nicht  unangerührt  lassen,  sonst  ist  die  Theorie  „honum  vacans*^, 
„in  dessen  Besitz  sich  der  Fatalist  mit  Grunde  setzen  und  alle  Moral  aus 
ihrem  olme  Titel  besessenen  vermeinten  Eigenthum  verjagen  kann".  AehnUch 
liegt  die  Sache  auch  hier.  Da  der  Process  ein  Civil-,  nicht  ein  Criminal- 
process  ist  —  es  handelt  sich  um  die  Rechtsansprüche  auf  einen  Besitz  — 
so  ist  der  Unterschied  des  Klägers  und  des  Beklagten  ohne  Bedeutung; 
doch  kann  man  nach  Kants  Andeutungen  den  Skepticismus  als  Kläger,  den 
Dogmatismus  als  Beklagten  betrachten,  weil  der  Letztere  vom  Ersteren  wegen 
seines  angemassten  Besitzes  angegriffen  wird.  Denn  Hume  „fieng  alle  An- 
fechtung der  Rechte  einer  reinen  Vernunft,  welche  eine  gänzliche  Unter- 
suchung derselben    nothwendig   machten,    an".     Krit.   d.   pr.  V.   S.  88.    — 


Das  Bild  des  Processes:  das  Streitobject,  die  Zeugen  ii.  s.  w.  JH 

[R  8.  H  7.  K  15.]  A  V.  B 

IT.  Das  Streitobjeet  in  diesem  Processe  sind  die  Rechtsansprüche  der 
Vernunft  auf  transscendente  Erkenntniss,    die  ihr  von   den  Skeptikern  ab- 
gesprochen werden.     Die   Metaphysik    macht  (nach  Vorr.   III,    IV)     „An- 
sprüche*, die  der  Gegner  als  „Anmassung"  bezeichnet.     Diese  Streitigkeiten 
hätten   schon  durch  Locke  entschieden  werden  sollen,   indem  „die  Recht- 
mässigkeit  jener  Ansprüche"    hätte   ausgemacht  werden  sollen.     Das 
geschah  aber  nicht.     Auf  der  Einen  Seite  stehen  „die  Anmassungen".   „die 
unbezwingliche  Verblendung  und  das  Grossthun  der  Vernünftler*',  ausgedrückt 
in  „trockenen  Formeln,  welche  den  Grund   der  rechtlichen  Ansprüche   ent- 
halten" (463),  auf  der  Andern  Seite  „eine  Grosssprecherei,  welche  auf  eben 
dieselben  Rechte  fusset".    757.     Die  Skeptiker  machen  als  ,, Gegner"  (210. 
742.  750.  768.  778)  „furchtbare  Angriffe"  wider  die  Dogmatiker  (755.  768), 
verlangen,   dass  diese  ihre  bei  ihren  angeblichen  Erkenntnissen  gebrauchten 
Grundsätze  „deduciren".  786.     ,,Denn  die  Rechtslehrer,  wenn  sie  von  Befug- 
nissen und  Anmassungen  reden,  .  .  .  nennen  den  Beweis,  der  die  Befugniss 
oder  auch  den  Rechtsanspruch  darthun  soll,  die  De  du  et  ion"  (auf  die  Frage: 
quid  juris?)    84.     Den   ,, Rechtsgrund"    für    ihre  angemassten   Erkenntnisse 
sollen  also   die  Dogmatiker  darthun.     Diese  Erkenntnisse  werden   auch  als 
der  angemasste  Besitz  der  Vernunft  bezeichnet.  377.  739.  776.  237.    Auch 
die  Gegner,  welche  ihr  diesen  Besitz  streitig  machen,  der  die  drei  Hauptobjecte, 
Gott,   Freiheit  und  Unsterblichkeit  betrifft  (749),   sind  „Vemünftler" 
(749),    erheben    „gleich    alte,    aber   niemals   verjährende  Ansprüche",   777, 
zeigen  „Anmassungen"  (780)  und  „ihre  Ansprüche  sind  nicht  weniger  stolz 
und  eingebildet".  (Ib.)     „Beiderseits  sind  stolze  Ansprüche."  464.     Die  Ein- 
wände des  Skeptikers  sind  „Ansprüche  des  Mitbürgers".  739.  cfr.  Kr.  d.  pr.  V. 
85  ff.  Nichtsdestoweniger,  trotzdem  am  Anfang  der  Process  gegen  die  dog- 
matische Vernunft  sehr  schlimm  für  diese  ausfallen  zu  sollen  scheint, 
wird   deren  Sache   doch  von   der  kritischen  Vernunft   als  die  gute 
Sache,  744  ff.  749,   die  gerechte  Sache,  750.  753,  bezeichnet,   und  in 
das  Büd   des  Krieges  zurückfallend,    leiht   ihr   der  Autor  „Rüstung"  und 
„Waffen".  778.  Die  Vernunft  ist  ja  ihr  eigener  ,,nachsehendesterRichter", 
589,  bei  der  „Abgabe  der  Stimme  ersetzt  GunstdenMangelderRechts- 
ansprüche".  587.  637.  —  In   der  Analytik  handelt  es  sich  (84)  um  die 
juristische  Deduction   der   apriorischen  Begriffe,   d.  h.  um  Er- 
weis der  Rechtsansprüche  ihres  Gebrauchs,  um  die  Lösung  der  Frage:  quid 
juris.    Nach  S.  236  fragt   es  sich,   unter  welchem  „Titel"  wir  das  Land 
der  reinen  Erkenntniss  besitzen;  dasselbe  muss  wider  alle  feindselige 
Ansprüche  gesichert  werden  ^   —   T.  Zeugen,  Doenmente^  Beweise  u.  s.  w. 


^  Kach  Kl*,  d.  Urth.  Einl.  II.  handelt  es  sich  um  das  Rechts  gebiet  der  Be- 
griffe, um  das  Gebiet,  das  ihnen  rechtlich  unterworfen  ist.  Begriffe  haben  ein 
Feld,  sofern  sie  überhaupt  auf  Gegenstände  bezogen  werden,  abgesehen  davon, 
ob  davon  Erkenntniss  möglich  sei.  Der  Theil  des  Feldes,  worin  jene  Begriffe 
mögliche  Erkenntniss  schaffen,  heisst  ihr  Boden,  territorium,  überhaupt.     Soweit 


112  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B  -  [R  8.  H  7.  K  15.] 

gibt  es  auch  in  diesem  Process.  Die  transscendentale  Dialektik  ist  „die 
mühsame  Abhörung  aller  dialektischen  Zeugen ,  die  eine  transscendente 
Vernunft  zum  Behuf  ihrer  Anmassungen  auftreten  lässt".  Indessen  „weiss 
man  schon  im  Voraus  mit  völliger  Gewissheit,  dass  alles  Vorgeben  derselben 
zwar  vielleicht  ehrlich  gemeint,  aber  schlechterdings  nichtig  sein  müsse,  weil 
es  eine  Kundschaft  betraf,  die  kein  Mensch  jemals  bekommen  kann".  703. 
Und  ebensowenig  als  die  Zeugen  sind  die  Documente  stichhaltig:  „denn 
dieses  ist  das  Schicksal  aller  Behauptungen  der  r.  V.,  dass,  da  sie  über  die 
Bedingungen  aller  möglichen  Erfahrung  hinausgehen,  ausserhalb  welchen 
keinDocument  der  Wahrheit  irgendwo  angetroffen  wird  ...  sie  dem 
Gegner  jederzeit  Blossen  geben".  750.  „Man  muss  durchaus  misstrauisch 
sein,  und  ohne  Documente,  die  eine  gründliche  Deduction  verschaffen 
können,  selbst  auf  den  kläresten  dogmatischen  Beweis  nichts  glauben."  210. 
In  §  5  der  Proleg.  wird  den  Metaphysikern  ein  Creditiv  abverlangt,  cfr. 
Krit.  233.  Wenn  der  Dogmatiker  für  Eine  Behauptung  mehrere  Gründe 
aufstellt,  so  macht  er  es  wie  , jener  Parlamentsadvokat":  ,,das  Eine  Argu- 
ment ist  für  diesen,  das  Andere  für  jenen,  nämlich,  um  sich  die  Schwäche 
seiner  Richter  zu  Nutze  zu  machen",  welche  nach  dem  ersten  besten  Argu- 
ment rasch  entscheiden.  789.  Doch  sog.  „Advokatenbeweise"  werden  hiebei 
nicht  zugelassen.  428.  Eine  ganz  besondere  List  der  dialektischen  Vernunft 
besteht  beim  kosmolog.  Gottesbeweis  darin,  dass  sie  „ein  altes  Argument  in 
verkleideter  Gestalt  für  ein  neues  aufstellt  und  sich  auf  zweier  Zeugen 
Einstimmung  beruft,  nämlich  einen  reinen  Vernunftzeugen  und  einen  anderen 
von  empirischer  Beglaubigung,  da  es  doch  nur  der  erstere  allein  ist,  welcher 
bloss  seinen  Anzug  und  Stimme  verändert,  um  für  einen  zweiten  gehalten  zu 
werden".  605  f.  794:  „Ein  Jeder  muss  seine  Sache  vermittelst  eines  .  .  . 
rechtlichen  Beweises  fuhren,  damit  man  sehe,  was  seine  Vemunftansprüche 
für  sich  selbst  anzuführen  haben."  Bei  bloss  indirecten  Beweisen  kann  jeder 
seinen  Gegner  in  die  Enge  treiben.  „Verfahren  aber  beide  Theile  direct,  so 
werden  sie  entweder  die  Unmöglichkeit,  den  Titel  ihrer  Behauptungen  auszu- 
finden,  von  selbst  bemerken  und  sich  zuletzt  nur  auf  Verjährung  berufen 
können,  oder  die  Kritik  wird  den  dogmatischen  Schein  leicht  entdecken"  u,  s.  w. 
Die  Einwürfe  der  Skeptiker  sind  „alte,  niemals  verjährende  Ansprüche". 
777.  —  VI,  Die  Entseheidoii^  („Sentenz")  in  diesem  grossen  Streithandel 
ist  in  der  Dialektik  gegeben,  ist  von  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
definitiv  getroffen.  „Die  Vernunft  bedarf  gar  sehr  eines  solchen  Streites ; 
denn  um  desto  früher  wäre  eine  reife  Kritik  zu  Stande  gekommen,  bei  deren 
Erscheinung  alle  diese  Streithändel  von  selbst  wegfallen  müssen ,  indem  die 
Streitenden  ihre  Verblendung  und  Vorurtheile,  welche  sie  veruneinigt  haben, 

die  Begriffe  auf  diesem  Boden  herrschend  sind  d.  h.  a  priori  gesetzgebend^  so 
isl  der  Theil  des  Bodens^  auf  dem  sie  diese  Herrschaft  ausüben ,  ihr  Gebiet 
(ditio).  Empirische  Begriffe  haben  kein  Gebiet,  wo  sie  herrschen^  nur  einen  Boden, 
wo  sie  sich  aufhalten  (domiciliutn)^  nur  Aufenthalt. 


Das  Bild  des  Processes:  die  Entscheidang.  113 

[R  8.  H  7.  K  15.]  A  V.  B  - 

einsehen  lernen."  747.  Allein  die  Entscheidung  spricht  dem  Dogmatismus 
doch  trotz  der  Einsprüche  des  Skepticismus  seinen  „Besitz"  zu,  wenn  auch 
allerdings  in  anderer  Form,  nicht  als  Wissen,  sondern  als.  Glauben,  als 
Ideen.  Der  Streit  wird  zwar  um  eine  Sache  geführt,  „deren  Eealität  keiner 
von  beiden  in  einer  wirklichen  oder  auch  nur  möglichen  Erfahrung  dar- 
stellen kann".  „Keiner  von  beiden  kann  seine  Sache  geradezu  begreiflieh 
und  gewiss  machen,  sondern  nur  die  seines  Gegners  angreifen  und  wider- 
legen." „Alle  Behauptungen  der  reinen  Vernunft  (auch  die  negativen)  gehen 
über  die  Bedingungen  aller  möglichen  Erfahrung  hinaus,  ausserhalb  welchen 
kein  Document  der  Wahrheit  irgendwo  angetroffen  wird."  750.  Allein 
schließlich  kommt  doch  die  kritische  Vernunft  ihrer  Schwester,  der  dog- 
matischen, nachdem  sie  ihr  furchtbare  Angst  gemacht  hat,  verwandtschaft- 
lich zu  Hilfe ;  die  dogmatische  Vernunft  wird  durch  die  Kritik  „aufgeklärt" 
(755)  und  die  Kritik  (mit  Einschluss  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft)  ent- 
scheidet: „Melior  est  conditio  possidentis.^  776.  Der  Besitzstand  der  dog- 
matischen Vernunft  ist,  wenn  auch  unter  anderem  Titel,  gerettet.  „Wir 
sind  alsdann  doch  nicht  bittweise  in  unserem  Besitze,  wenn  wir  einen,  ob- 
zwar  nicht  hinreichenden  Titel  desselben  lur  uns  haben,  und  es  völlig  gewiss 
ist,  dass  Niemand  die  Unrechtmässigkeit  dieses  Besitzes  jemals  beweisen 
könne."  740.  Der  Gegner  „kann  nur  mit  Spott  oder  Grosssprecherei  auf- 
treten, welches  als  ein  Kinderspiel  belacht  werden  kann".  Dies  „gibt  der 
Vernunft  wieder  Muth",  „auf  Frieden  und  ruhigen  Besitz  zu  hoffen".  74R. 
„So  ist  zu  hoffen,  dass  ihr  euch  einen  in  alle  Zukunft  niemals  mehr  anzu- 
fechtenden Besitz  verschaffen  werdet."  778.  Mit  dieser  Entscheidung 
{deren  juridisch  lautende  Stellen  wir  zur  Vollendung  des  Kant'schen  Bildes 
herausgegriffen  haben)  steht  nur  scheinbar  im  Widerspruch,  wenn  Kant 
sagt:  „Ein  völliger  üeberschlag  seines  ganzen  Vermögens  und  die  daraus 
entspringende  Ueberzeugung  der  Gewissheit  eines  kleinen  Besitzes,  bei 
der  Eitelkeit  höherer  Ansprüche,  hebt  allen  Streit  auf  und  bewegt, 
sich  in  einem  eingeschränkten,  aber  unstrittigen  Eigenthume  friedfertig  zu 
begnügen."  768.  Nur  wer  unterscheidet,  „ob  gewisse  Fragen  in  seinem 
Horizonte  liegen  oder  nicht",  ist  „seiner  Ansprüche  und  seines  Besitzes" 
sicher.  2S8.  Denn  hier  handelt  es  sich  um  den  Besitz  sicheren  Wissens, 
dort  um  den  Besitz  vermuthenden  Glaubens.  —  Nach  Kr.  d.  ürth.  Vorr.  IV 
wird  der  Verstand  gegen  alle  übrigen  Competenten  in  sicheren  Besitz  ge- 
setzt *.    Bei  einzelnen   der  Streitfragen  sucht  K.   auch   eine  „Beilegung  des 


^  In  seinen  „Bemerkungen  zu  Jakobs  Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgen- 
stunden** (1786)  führt  K.  das  Bild  weiter  aus:  „In  den  Morgenstunden  bedient 
Bicli  der  scharfsinnige  Mendelssohn^  um  dem  beschwerlichen  Geschäfte  der 
Entscheidung  des  Streites  der  reinen  Vernunft  mit  ihr  selbst  durch  vollständige 
Kritik  dieses  ihres  Vermögens  überhoben  zu  Bein,  zweier  Kunststücke,  deren  sich 
auch  wohl  sonst  bequeme  Richter  zu  bedienen  pflegen,  nämlich,  den  Streit  ent- 
weder gütlich  beizulegen  oder  ihn,  als  für  gar  keinen  Gerichtshof  gehörig,  ab- 
Val hinger,  Kant-Commentar.  g 


114  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.  B  -  [R  8.  H  7.  K  15.] 

Streites",  der  nicht  „abzuurtheilen"  ist.  Das  ist  der  Fall  bei  den  sog.  mathe- 
matischen Antinomien  (Weltanfang  u.  s.  w.).  Hier  werden  „beide  streitenden 
Theile  mit  Recht  als  solche,  die  ihre  Forderung  auf  keinen  gründlichen  Titel 
gründen,  abgewiesen".  Es  fehlt  an  tüchtigen  Beweisgründen.  Die  drohende 
Fortsetzung  des  Streites,  „wenn  die  Parteien  gleich  bei  dem  Gerichtshof  der 
Vernunft  zur  Buhe  verwiesen  werden",  wird  dadurch  abgeschnitten,  dass  das 
Streitobject  selbst  sich  als  blosses  —  Nichts  herausstellt.  500  flf.  Während 
hier  beide  Theile  abgewiesen  werden,  findet  bei  den  dynamischen  Antinomien 
ein  Vergleich  statt  zu  „beider  Theile  Genugthuung",  indem  „der  Richter 
den  Mangel  der  Bechtsgründe,  die  man  beiderseits  verkannt  hatte,  ergänzt''. 
530.  —  Nach  Jacobi,  Unternehmen  d.  Krit.  u.  s.  w.  (Beinh.  Beitr.  3,  19), 
„gibt  es  nach  dem  Kan tischen  Friedensinstrument  folgenden  Vergleich  zwischen 
beiden.  Die  Vernunft  hat  dem  Verstände  das  Verneinen  zu  verbieten,  der 
Verstand  hingegen  der  Vernunft  das  Bejahen;  die  Vernunft  hat  den  Ver- 
stand zu  respectiren  und  wird  positiv  durch  ihn  eingeschränkt,  der  Verstand 
hingegen  erhält  von  der  Vernunft,  nur  eine  scheinbare  Begränzung  und  be 
dient  sich  ihrer  Ideen,  ohne  seine  Verständigkeit  aufzugeben,  zur  äussersten 
Erweiterung  seines  Gebietes".  Hiernach  scheint  es,  als  falle  der  Löwen- 
antheil  dem  Verstände  zu;  allein  bei  genauerem  Zusehen  hat  in  dieser 
leonina  societas,  wo  Einer  den  Andern  zu  übervortheilen  sucht,  doch  die  Ver- 
nunft das  Beste.  —  VII.  Und  um  das  Bild  bis  ins  Einzelnste  und  Letzte 
auszunützen,  so  hat  dieser  Process  auch  seine  Acten:  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft.  „Weil  des  Bedens  doch  kein  Ende  wird,  wenn  man  nicht  hinter 
die  wahre  Ursache  des  Scheins  kommt,  wodurch  selbst  der  Vernünftigste 
hintergangen  werden  kann,  ...  so  war  es  rathsam,  ...  da  der  dialektische 
Schein  .  .  .  anlockend  und  jederzeit  natürlich  ist  und  so  in  alle  Zukunft 
bleiben  wird,  gleichsam  die  Acten  dieses  Processes  ausführlich 
abzufassen  und  sie  im  Archive  der  menschlichen  Vernunft,  zu 
Verhütung  künftiger  Irrungen  ähnlicher  Art,  niederzulegen."  704.  Seine 
Bemerkungen  zu  Jacobs  Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgenstunden  (1786) 
schliesst  K.  mit  den  Worten:  „Die  Sachen  der  Metaphysik  stehen  jetzt  auf 
einem  solchen  Fusse,  die  Acten  zur  Entscheidung  ihrer  Streitigkeiten  liegen 
beinahe  schon  zum  Spruche  fertig,  so  dass  es  nur  noch  ein  wenig  Geduld 
und  Unparteilichkeit  im  Urtheile  bedarf,  um  es  vielleicht  zu  erleben,  dass 
sie  endlich  einmal  ins  Beine  gebracht  werden."  —  Das  Bild  des  Processes  wird 
auch  sonst  von  K.  angewandt,  z.  B.  beim  Streit  mit  Eberhard,  Entd.  Einl. 
u.  I.  Abschnitt  Anm.,  wo  gegen  Eberhards  „Kunstgriff**  polemisirt  wird,  „dem 
Bichter  den  eigentlichen  Punkt  des  Streits  aus  den  Augen  zu  rücken,  indem 


zuweisen."  Das  erste  wolle  M.  durch  seine  Maxime^  „alle  Streitigkeiten  der 
philosophischen  Schulen  für  blosse  Wortstreitigkeiten  zu  erklären";  das  zweite 
durch  den  Versuch,  die  Grundfrage  als  ganz  vergeblich  und  unberechtigt  hinzu- 
stellen, nämlich,  was  das  hinter  den  Relationen  steckende  Ding  an  sich  sei.  Eine 
„Beilegung"  versucht  aber  K.  später  selbst. 


Das  Bild  des  Processes:  dre  Acten  u.  s.  w.  1X5 

ff 

[B  8.  H  7.  E  16.]  A  V.  B 

er  auf  die  den  iüultdfn  possessionis  betreffende  Frage  nicht  eingeben  wolle'^ 
Endlich  wendet  K.  das  Bild  aucb  an  im  Streit  der  Facultäten,  I,  4. 
Der  Streit  der  oberen  Facultftten  mit  .der  unteren  (philosophischen)  soll  nicht 
durch  friedliche  Uebereinkunft  (amicabüis  compositio),  sondern  durch  eine 
Sentenz  der  Vernunft  geschlichtet  werden  u.  s.  w.,  ib.  „Friedensabschluss" ; 
über  die  sog.  „Instruction"  d^s  Processes  u.  s.  w.  In  dem  Aufsatz  vom 
Jahre  1791:  „üeber  das  Misslingen  aller  philos.  Versuche  in  der  Theodicee", 
wird  der  „Gerichtshof  der  reinen  Vernunft",  der  „Sachwalter  Gottes",  die 
versuchte  ,  Zurückweisung  des  Ersteren  als  incompetent  durch  den  Letzteren" 
a.  s.  w.  besprochen.*  —  L.  Noack  hat  in  seinem  Buche,  „Im.  Kants  Auf- 
erstehung aus  dem  Grabe"  1861 ,  dieses  Bild  seiner  ganzen  Eintheilung  zu 
Grunde  gelegt,  was  vom  Standpunkt  des  literarischen  Geschmacks 
aus  formell  nicht  unbedenklich  ist,  abgesehen  davon,  dass  er  mit  jenem 
Bilde  das  des  Dramas  verquickt  und  das  Ganze  als  Process -Drama  be- 
bandelt, wovon  sich  bei  Kant  nichts  findet.  Aber  auch  materiell  gibt 
seine  Darstellung  zu  Bedenken  Anlass.  Auch  fUllt  die  Entscheidung  keines- 
wegs so  negativ  aus  gegen  die  reine  Vernunft,  als  Noack  es  darstellt.  (Vgl. 
dessen  Philos.  Handwörterb.  466  ff.) 
Noack  theilt  ein: 

I.  Das  Vorspiel  zur  Eröffnung  des  Processes.  33  ff. 
Gleichstellung  der  gemeinen  Trftume  der  Geisterseher  mit  den  vornehmen 

Träumen  falscher  und  eingebildeter  Wissenschaft. 

In  der  Tbat  spricht  auch  Kant  in  der  Vorrede  der  Schrift:  Tr.  e.  Geister- 
sehers von  „Rechtsamen  des  Geisterreichs",  die  sich  über  alle  ohnmächtigen 
Einwürfe  der  Schul  weisen  erheben  (er  meint  damit  die  Kirche  und  ihre 
Dogmen).  Dagegen  will  er  die  gemeinen  Geistererzählungen  untersuchen 
and  steht  so  als  Bichter  „zwischen  den  Betheuerungen  eines  vernünftigen 
und  festüberredeten  Augenzeugen  und  der  inneren  Gegenwehr  eines  unüber- 
windlichen Zweifels".  Auch  wird  das  Bild  noch  sonst  in  Vorrede  und  Text 
yerwerthet  (z.  B.  das  Kreditiv  der  Bevollmächtigten  aus  der  anderen  Welt 
besteht  in  den  Beweisthümern  u.  s.  w.). 

II.  Das  Schauspiel  des  Processes  gegen  die  reine  Vernunft  selbst. 

S.  58  ff. 
1.  Der  Gerichtshof  in  Sachen  der  menschl. •  Vernunft.  62  ff. 

a)  Das  Gesetzbuch   der  Erfahrung   und   die   Prüfung    der  Voll- 

■ 

machten.  64  ff. 
a)  Aesthetik  (Sinnlichkeit).  64  ff. 
ß)  Analytik  (Verstand).  67  ff. 

b)  Die  Gerichtsordnung  des  Verstandesgebrauches:    die  Denk- 

gesetze. 69  ff.  (Analytik.  Forts.) 


*  Vgl.  Schopenhauer,  Welt  a.  W.  u.  V.  I,  593,  der  das  Bild  des  hiaiTqt^c; 
schon  bei  Arist.  Phys.  VIII,  6  nachweist.  Rehmke,  Welt  a.  Wahrn.  309  be- 
zweifelt Kants  „Unparteilichkeit^  sehr  stark. 


116  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  V.VI.B-  [R  8.  H  7,  K  15.  16.] 

c)  Die  Spiegelfechtereien  des  überschwänglichen  Denkverfahrens. 
83  ff.  (Dialektik.) 
2.  Die  Gerichtsverhandlungen  in  Sachen  der  reinen  Vernunft.  95  ff. 
(Dialektik.  Forts.)     Verfehlte  Beweis  versuche  der  r.  V. 

(Hier  bringt  Noack  auch  die  beiden  anderen  Kritiken  in  wenig  zweck- 
entsprechender Weise  hinein.) 

III.  Das  Nachspiel  des  Processes  gegen  die  reine  Vernunft.  246  ff. 
Methodenlehre  u.  s.  w. 

„Das  Nachspiel  versetzt  den  Leser  aus  der  Traumwelt  der  selbstherr- 
lichen Einbildung  wieder  auf  das  Festland  des  Erfahrungswissens."  28.  In 
einem  „Schlusswort",  257  ff.,  fuhrt  Noack  das  Bild  selbständig  weiter:  „Kant 
hat  der  reinen  Vernunft,  der  Speculation  aus  blossen  Begriffen,  den  Process 
gemacht.  Er  hat  die  Ansprüche  der  menschlichen  Vernunft  auf  eine  von 
der  Erfahrung  unabhängige  Erkenntniss  für  ungültig  erklärt  und  die  des 
ünterschleifs  und  der  Falschmünzerei  schuldig  Befundene  in  die  Kosten  ver- 
urtheilt  (?).  Da  nun  Diejenigen ,  welche  die  Erbschaft  der  reinen  Vernunft 
um  des  glänzenden  Scheins  ihrer  Verheissungen  willen  angetreten  haben,  sich 
mit  dem  Erkenntniss  des  kritischen  Gerichtshofes  nicht  zufrieden 
geben  wollen,  sondern  unter  Berufung  auf  gewisse  Formfehler,  die  bei 
den  Gerichtsverhandlungen  mit  untergelaufen  sind,  von  einer  Revision  des 
Processes  eine  Abänderung  des  Erkenntnisses  hoffen,  so  fragt  es  sich,  ob 
diese  Formfehler  der  Art  sind,  dass  dadurch  das  Endergebniss  wirklich  be- 
einträchtigt würde."  Dieser  „Formfehler"  bestünde  in  der  Annahme  der 
Apriorität  der  Formen  des  Anschauens  und  Denkens.  Allein  dieser  Form- 
fehler in  der  ersten  Instanz  genüge  nicht  zur  ümstossung  des  Urtheils 
in  zweiter  Instanz,  sondern  im  Gegentheil  werde  diese  —  nach  Aufhebung 
jenes  Irrthums  —  nur  mit  um  so  grösserer  Entschiedenheit  die  Anmassungen 
des  übersinnlichen  Erkennens  zurückweisen  u.  s.  w.  —  Rupp,  I.  Kant  S.  25  ff., 
hat  das  Bild  umgedeutet  aus  einem  juridischen  in  ein  politisches,  in  das 
Bild  einer  „gesetzgebenden  Versammlung",  deren  Protokolle  die 
Geschichte  der  Philos.  sind.  Die  Mitglieder  sind  die  verschiedenen  Vermögen, 
Sinn,  Verstand,  Einbildungskraft,  Gefühl  u.  s.  w.  Sie  wollen  die  Gesammt- 
weltanschauung  berathen.  Aber  erst  K.  habe  die  Prüfung  der  Voll- 
machten der  Einzelnen  in  seiner  Kritik  vollzogen.  Indessen  findet  sich 
dieses  Bild  auch  bei  K.,  denn  nach  Fortschr.  K.  175.  R.  I,  573  hat  die 
Kr.  d.  r.  V.  ,,die  gesetzgebende  Metaphysik  in  zwei  Kammern 
getheilt",  womit  dort  wohl  die  Trennung  in  theoretische  und  praktische  Ver- 
nunft gemeint  ist.  Dasselbe  Bild  findet  sich  bei  Jacobi,  Unt.  d.  Krit. 
(Reinh.  Beitr.  3,  19):  „Die  Vernunft  sitzt  im  Oberhause,  der  Verstand  im 
Unterhause ;  letzterer  repräsentirt  die  Sinnlichkeit,  die  eigentlich  Souverainetät, 
ohne  deren  Ratification  nichts  Gültigkeit  haben  kann." 

Kritik  der  reinen  Yemanft.  Kant  umschreibt  diesen  Titel  selbst  in 
folgendem  Satze  (vgl.  mit  Einl.  10  f.)  als  eine  „Beurtheilung  der  erfahrungs- 
freien Erkenntniss",  und  es  geht  aus  diesen  beiden  Stellen  mit  vollständiger 


Was  heisst:  „Kritik  der  reinen  Vernunft"?  117 

[B  8.  H  7.  K.  16.]  A  VI.  B 

Sicherheit  hervor,  dass  der  Genetiv  „der  r.  V."  hier  als  Genetivus  objecti- 
vus  gefasst  werden  muss:  die  Beurtheilung  oder  Prüfung  richtet  sich  auf  die 
reine  Vernunft  als  ihr  Object.     Diese,   die  r.  V.  muss  sich,  der  Anmerkung 
zufolge,  der  Kritik  unterwerfen,  die  an  ihr  ausgeübt  wird.    Es  erscheint 
daher  auf  den   ersten  Blick   barok,  dem  bisher   allgemein  in  diesem  Sinne 
ausgelegten  Titel  eine  andere  noch  mögliche  Auslegung   zu   geben,   nemlich 
eine  Prüfung,  welche  von  der  reinen  Vernunft  angestellt  wird.    Diese  Auf- 
fassung, wobei  also  der  Genetivus  als  Gen.  subjectivus  gefasst  werden  muss, 
findet  sich  indessen  mehrfach,  z.  B.  bei  Krug,  Lex.  II,  574.     Kant  habe  eine 
neue  Prüfung  des  ganzen  menschlichen  Erkenntnissvermögens  angestellt  und 
habe  sie  Krit.  d.  r.  V.  genannt,   weil  er  meinte,   die  Vernunft  müsse  nicht 
nur  sieht  selbst,  sondern  auch  Sinnlichkeit  und  Verstand  kritisiren,   da 
jene  die  oberste  Instanz  des  menschlichen  Geistes   sei.     Ihm   ist  also  Kr.   d. 
r.  V.  =  die  vo n  der  r.  V.  angestellte  Kritisirung  (des  ganzen  menschlichen 
Erkenntnissvermögens :    Sinnlichkeit ,    Verstand    und    zugleich    Vernunft 
selbst).     Demnach  wäre   im   Titel  nur   das  prüfende  Vermögen  aus- 
gedrückt, nicht  aber  das  geprüfte  ganze  menschl.   Erk. vermögen ,    das  von 
einem  Theil  desselben,  nämlich  der  reinen  Vernunft,   einer  Prüfung  unter- 
worfen wird.     Die  Aesthetik  sei  die  Kritik  der  Sinnlichkeit,  die  Analytik  die 
des  Verstandes,  die  Dialektik  erst  die  Kritik  der  Vernunft,  und  diese  ganze 
Prüfung  gehe   also   von  diesem  Vermögen   selbst  aus.     Somit  ist  nur  Dia- 
lektik Kr.  d.  r.  V.  in  dem  Sinne,    dass   die  Vernunft   geprüft  wird,    das 
ganze  Buch  ist  aber  Kr.  d.    r.  V.  in   dem  Sinne,    dass   die  Vernunft  selbst 
prüft.     Dieselbe  Auffassung  machte   geltend  Sigm.  Levy,    Ks.  Kr.  d.  r.  V. 
S.  3;  nach  ihm   ist  Kr.  d.  r.  V.  Kritik  des  Verstandes  durch  die  Ver- 
nunft.    „Dies  beweiset  der  Sinn   des  ganzen  Werkes" ;   dazu  beruft  er  sich 
auf  S.  465,    wonach  das  Ziel  Kants  ist  „ein  dauerhaftes   ruhiges  Regiment 
der  Vernunft  über  Verstand  und  Sinne"  zu  begründen,   auf  Prol.  Vorr.  12, 
womach  „die  kritische  Vernunft  den  gemeinen  Verstand  in  Schranken  hält". 
Levy  wendet  sich  daher  gegen  Jacobi ,  weil  dieser  „die  Sache  auszudrücken 
beliebte   als:    Unternehmen   die    Vernunft    zu   Verstände    zu    bringen";    das 
würde  allerdings  ein  vergebliches  Unterfangen  sein;   sondern  es  sei  ein  Ver- 
such,   „den    Verstand   zur  Vernunft    (raison)    zu  bringen".     Der   Titel  des 
Jacobi'schen    Aufsatzes   (s.  Reinhold,   Beitr.  1802,    3.  H.,  S.  I  ff.)   ruht 
allerdings  auf  der  allgemeinen  recipirten  Auslegung,  dass  das  Buch  sei  eine 
,;Untersuchung   der   reinen    synthetischen   Principien"    (7).     „Die   Kantische 
Theorie  der  reinen  Vernunft  hat  zur  Absicht,  den  Verstand  vor  der  Vernunft 
als  einer  Betrügerin  zu  warnen",  J9.  —  Die  Untersuchung  dieser  Frage  ist 
keineswegs  so   seltsam  und  unnöthig,  wie  das  auf  den  ersten  Blick  scheinen 
möchte  —  vielmehr  enthüllt  diese  Controverse  eine  bemerkenswerthe  Eigen- 
thümlichkeit  Kants.     Da  die  vorliegende  Stelle   der  Vorrede   den  Genetivus 
objectivus  klar  ausspricht,  so  kann  es  sich  nur  darum  handeln,  ob  es  Stellen 
gebe,  in  denen   der  Genet.  subjectivus  unzweifelhaft  ist.     I.  Zunächst  eine 
Außsählung  solcher  Stellen,   welche  den  Genet.  obj.  enthalten:   es  sind  dies 


118  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  VI.  B  -  [R  8.  H  7.  K  16.] 

die  Hauptstellen,  an  denen  sich  Kant  über  sein  Unternehmen  äussert :  Wenn 
er  Vorr.  A  IX  als  Gegenstand  der  „kritischen  Untersuchung"  die  „Bestim- 
mung aller  reinen  Erkenntnisse  a  priori"  erklärt,  so  ist  dies  ebenso  objectiv 
zu  verstehen,  als  wenn  er  daselbst  XV  als  Aufgabe  der  Kr.  es  hinstellt, 
„Quelle  und  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Metaphysik  darzulegen."  Ebenso 
wenn  das  Resultat  der  Kritik  ist,  dass  sie  die  reine  speculative  Vemunft 
einschränkt,  Vorr.  B,  XXV.  XXVI,  so  wird  dadurch  der  Sinn  ebenso  ein- 
deutig bestimmt,  als  wenn  an  vielen  Stellen  dem  Dogmatismus  vorgeworfen 
wird,  „ohne  Kritik,  ohne  Prüfung  und  Untersuchung  der  reinen  Vemunft, 
ihrer  Grenzen,  ihres  Vermögens  oder  Unvermögens"  vorgegangen  zu  sein, 
so  ib.  B.  XXX,  Einl.  3  f.  (Vgl.  Prol.  §.  42:  Untersuchung  der  V.)  Diese 
„Kritik  des  Organs,  nämlich  der  reinen  Vernunft",  will  ja  eben  Kant  liefern, 
oder  eine  Wissenschaft  der  Beurtheilung  der  r.  V.,  ihrer  Quellen  und  Grenzen, 
10 ,  B.  22  f. ,  und  daher  geht  diese  Kritik  dem  System  der  reinen  Ver- 
nunft vorher.  Vorr.  B.  XLII,  Einl.  11  ff.  Ausdrücklich  wird  als  „Gegen- 
stand" der  Kritik  der  apriorisch  urtheilende  Verstand  (d.  h.  die  reine  Ver- 
nunft) angegeben,  12  f.,  die  Kritik  ist  nicht  „eine  Kritik  der  Bücher  und 
Systeme"  der  r.  V.,  sondern  „des  reinen  Vernunftvermögens  selbst",  13;  es 
handelt  sich  darin  m.  a.  W.  um  „eine  Beurtheilung  der  synthetischen  Er- 
kenntniss  a  priori**,  14  f.,  und  diese  zerfällt  „in  Elementarlehre  und  Methoden- 
lehre der  r.  V.",  15,  701  f.  841.  In  der  Vorr.  zur  Kr.  d.  pr.  V.  XI.  heisst 
es,  dass  in  ihr  die  „Begriffe  und  Grundsätze  der  reinen  specul.  Vemunft, 
welche  doch  ihre  besondere  Kritik  schon  erlitten  haben,  nochmals  der  Prü- 
fung unterworfen  werden.**  Vgl.  Vorrede  zur  Kr.  d.  Urth.  I.  „Es  ist  einem 
nachdenkenden  und  forschenden  Wesen  anständig,  gewisse  Zeiten  der  Prü- 
fung seiner  eigenen  Vernunft  zu  widmen*.  Kr.  475.  Ebenfalls  finden 
wir  diesen  Sinn  an  denjenigen  Stellen,  wo  Kant  den  Ausdruck  zum  ersten- 
mal anwendet,  in  den  Briefen  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772,  aus  dem  Jahr  1773, 
vom  24.  Nov.  1776,  vom  20.  Aug.  1777.  Endlich  wird  dieser  Sinn  ja  noth- 
wendig  gefordert  durch  die  Parallele  mit  den  beiden  andren  Kritiken,  der 
der  praktischen  Vernunft  und  der  der  Urtheilskraft,  welch  letztere 
auch  in  Briefen  (Ros.  XI,  81.  90.)  Kritik  des  Geschmacks  bezeichnet  wird.  Aus 
den  Vorreden  zu  den  beiden  Werken  geht  das  zur  Genüge  hervor;  in  der 
Vorrede  zum  ersteren  heisst  es ,  dass  diese  Kritik  das  praktische  Vermögen 
der  Vemunft  kritisire,  XV,  XXII  f.  u.  ö. ;  in  der  zum  zweiten,  dass  es 
sich  um  „eine  Untersuchung  eines  Princips  der  Urtheilskraft"  handle,  VIII. 
Das  „kritische  Geschäft"  (ib.  IX,  vgl.  2.  Brief  an  Reinhold  Ros.  XI,  90) 
besteht  demnach  in  einer  von  Kant  selbst  ausgeübten  Untersuchung  und  Prü- 
fung der  Vemunft.  —  II.  Diesen  Stellen  stehen  aber  solche  gegenüber,  wo  der 
Genet.  subject.  unzweifelhaft  ist.  So  sagt  Kant  in  der  (allerdings  nicht  streng 
authentischen,  aber  doch  im  Allg.  zuverlässigen)  Metaphysik  S.  16:  „Das 
andere  Verfahren,  das  man  (ausser  dem  dogmatischen)  einschlagen  könnte, 
wäre  Kritik  oder  das  Verfahren  der  Vernunft,  zu  untersuchen  und  zu 
beurtheilen,"     Aber   auch   in   der  Vorr.  B,   XXVIII  spricht  K.   von  „dem 


[ 


S  e  I  b  s  t  präfung  des  erfahrungsfreien  Erkenntnissvermögens.  119 

[R  8.  H  7.  K  16.]  A  VI.  B 

positiven  Nutzen   kritischer   Grundsätze   der   reinen   Vernunft",    und   einige 
Zeilen  vorher:   „gesetzt,  die  speculative  Vernunft  hätte  bewiesen"  in  einem 
Zusammenhang,   wornach   damit   nur   die  Kritik   selbst  gemeint   sein  kann. 
Wenn  K.  femer  den  Abschn.  VI  der  Einleitung  B  überschreibt:    Aufgabe 
der  reinen  Vernunft,  wenn  als  diese  Aufgabe  bezeichnet  wird  die  Lösung 
der  Frage:  „wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich?"  so  ist  damit 
ebenso    eindeutig   ausgedruckt,    dass  die   reine  Vernunft  selbst  die  Prüfung 
and  Lösung  dieser  Frage  vorzunehmen  habe,  als  umgekehrt  die  Ueberschrift 
des  Abschnittes  III   den  Genet.    object.  im  Auge  hat,    wenn    sie    sagt:    die 
Philos.  bedarf  einer  Wissenschaft,  welche  die  Möglichkeit,  die  Principien  und 
den  Umfang  aller  „Erkenntnisse  a  priori  bestimmt".     War  im  ersten  Falle, 
beim  Genet.  object.  das  Subject  zunächst  noch    unbestimmt,    von  dem  die 
Kritik  auszugehen  hat,    so  ist  bei  diesem  Genet.  subject.  das  Object   der 
Prüfung  zunächst  noch  unbestimmt ,  während  bei  den  nun  folgenden  Fällen 
Object  und  Subject  zugleich  deutlich  bestimmt  werden.    Wenn  K.  Prol.  Vorr. 
12  und  §.  40  von  einer  „kritischen  Vernunft  spricht,  die  den  gemeinen 
Verstand  in  Schranken  hält",  so  ist  auch  darin  der  Genet.  subject.  involvirt. 
—  in.  Eine  dritte  Klasse  von  Stellen  umfasst  beide  Bedeutungen,  und  Kant 
erklärt,  dass  die  reine  Vernunft  an  sich  selbst  Kritik  ausüben  solle,  so  dass 
sie  Object  und  Subject  in  Einer  Person  ist ;  wie  ja  beim  Bilde  des  Processes 
dieselbe  Angeklagt«  und  Richterin  zugleich    ist    und  'wie   dies  schon  in  der 
Forderung  der  Selbsterkenntniss  liegt,  welche,  „als  das  beschwerlichste 
ihrer  Geschäfte,  die  Vernunft   selbst  übernehmen  solle".     Dies  wäre  also 
bei  dem  Ausdruck  zu  subintelligiren,  wie  auch  aus  dem  ganzen  Passus  VI — VIII 
hervorgeht.     Nach   Vorr.   B.   XXII   f.  hat  „die  reine  specul.   Vernunft   das 
Eigenthümliche  an  sich,  dass  sie  ihr  eigen  Vermögen  ausmessen  soll".    Nach 
Einl.  B.  23  soll  Vernunft  „ihr  eigen  Vermögen  kennen  lernen".     Bes.  Fort- 
schr.   K.   167  (R.  I,  565):    „Allgemeine    Aufgabe    der    sich    selbst    einer 
Kritik  unterwerfenden  Vernunft"  (nachdem  es  2  Seiten  zuvor  geheissen  hatte: 
Wider  dieses  Unheil  [des   Skepticismus]   gibt   es   kein  Mittel,    als   dass   die 
Vernunft  selbst,  d.  i.  das  Vermögen  überhaupt  a  priori  etwas  zu  erkennen, 
einer  .  .  .  Kritik  unterworfen    werde).     747:  „Vernunft   bändigt   sich 
selbst."     795:  Die  Vern.  übt  die  Disciplin  und  Censur  über  sich  —  selbst  aus, 
was  ihr  Zutrauen  zu  sich  selbst  gibt.    K.  d.  pr.  V.  30:  „Reine  Vernunft  be- 
darf keiner  Ki'itik,  sie  ist  es,  welche  selbst  die  Richtschnur  zur  Kritik  alles 
ihres   Gebrauches  enthält."     ib.   196.  —  Resultat.     In   diesem  Schwanken 
spiegelt  sich  nun  ein  sehr  charakteristisches  Verhältniss  wieder,  sowohl  was 
Methode  als  Inhalt  des  Buches  betrifft.     Was  die  Methode  betrifft,   so  liegt 
darin,    dass  die  Prüfung  von  der  Vernunft  selbst   ausgeht,  schon,   dass  sie 
selbst  eine  apriorische  ist,    dass   dai'in    „nach   Principien"   verfahren  wird. 
Dieser  Umstand  wird  noch  unten  zur  Sprache  kommen.     Wichtiger   ist  die 
Beziehung  auf  den  Inhalt;    denn   hier  mündet  die  vorliegende  Frage  ein  in 
die  Frage,   ob   die   Kritik   nur  ein  Tractat  von  der  Methode  oder  schon 
das  System  der  reinen  Vemunfterkenntniss  selbst  sei.     Indem  das  Einzelne 


120  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Aufliige. 

A  VI.  B  -  [R  8.  H  7.  K  16.] 

hierüber  auf  später  verschoben  wird,  ist  hier  zu  bemerken,  dass  der  Gene- 
tivus  objectivus  —  die  an  der  reinen  Vernunft  ausgeübte  Kritik  mehi'  dem 
ersteren,  dass  der  Genet.  subjectivus  sowie  die  reflexive  Auffassung  mehr 
dem  zweiten  sich  nähert.  Es  scheint  auch,  als  habe,  je  mehr  Kant  sich 
selbst  der  letzteren  Ansicht  zuneigte,  der  Genet.  subject.  sich  mehr  und  mehr 
vorgedrängt.  Für  uns  selbst  ergibt  sich  die  Nothwendigkeit ,  aus  den  drei 
sich  wie  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  verhaltenden  Bedeutungen 
eine  solche  Auslegung  zu  combiniren,  welche  wir  als  die  Normalauf- 
fassung im  Folgenden  festhalten  können.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass 
wir  hier  die  dritte  Bedeutung  acceptiren  müssen,  und  dass  wir  somit  der 
gebräuchlichen  Auffassung  des  Titels,  als  ob  es  sich  einfach  um 
eine  Prüfung  des  reinen  Erkenntniss Vermögens  handle,  entgegen  die  präg- 
nante und  zugleich  die  Methode  ausdrückende  Bedeutung  geltend  zu  machen 
haben.  Kant  hat  allerdings  in  der  ursprünglichen  Conception  des  Titels  -und 
in  seinem  gewöhnlichen  Gebrauch  sicher  nur  an  den  Genet.  objectivus  ge- 
dacht, bei  dem  das  Subject  zunächst  noch  unbestimmt  bleibt,  und  ebenso 
hat  man  den  Titel  von  Anfang  an  aufgefasst,  so  z.  B.  Eberhard  und  dann 
Kant  selbst  in  seiner  Schrift  gegen  diesen:  „Ueber  eine  Entdeckung,  nach  der 
alle  neue  Kritik  der  r.  V.  durch  eine  ältere  entbehrlich  gemacht  werden 
soll."  Da  aber  Stellen  da  sind,  in  denen,  anstatt  dessen,  der  Genet.  subject. 
unzweifelhaft  ist,  und  da  vollends  für  die  reflexive  Auffassung  Kant  selbst 
an  vielen  Stellen  eintritt,  so  erscheint  es  richtiger  nnd  vortheilhafter  bei 
dem  Ausdrucke:  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  die  reflexive  Bedeutung  im 
Sinne  zu  haben,  woraus  sich  die  Umschreibung  ergibt:  SelbBtprIlfnngr  des 
von  der  Erfahrung  nnabhftngigen  Erkenntnlssvermögens.  („Selbstprüfung" 
Krit.  S.  711.  745.)  Durch  diese  Formel  wird  der  Vortheil  erreicht,  dass 
in  ihr  nicht  bloss  der  Inhalt  des  Werkes,  sondern  auch  zugleich  seine 
Methode  ausgedrückt  wird,  die  nach  Kant  eine  apriorische  sein  soll.  * 
Es  ist  somit  falsch,  wenn  Will,  Vorl.  S.  76  in  seiner  ausführlichen  Erörte- 
rung des  Begriffs  der  Kr.  d.  r.  V.,  den  er  richtig  einen  „schwankenden  und 
zweideutigen"  nennt,  sagt:  „die  Vernunft  ist  nicht  das  untersuchende  Sub- 
ject, sondern  das  Object  der  Kritik."  Dieselbe  Auffassung  auch  bei  Snell, 
Menon.  22.  Metz,  Darst.  38.  Jakob,  Log.  u.  Met.  §  46.  Mirbt,  181. 
Schön,  Phil.  d.  K.  71.  Richtig  bei  Baumann,  Phil,  als  Orient.  180. 
Schwankend  bei  Schaarschmidt,  Entw.  d.  Spec.  89.  (Vern.  bald  Zweck, 
bald  Mittel  der  Unters.)  und  bei  Baggesen,  Phil.  Nachl.  I,  311  (Veraunft 
mehr  Object  als  Subject  der  Kritik,  vgl.  ib.  217.) 

Der  Ausdruck  Kritik  wird  von  Pauls  en  116  Anm.  bezogen  auf  die  Stelle 


*  Dass  K.  den  Doppelsinn  in  dem  Ausdruck  gewollt  habe,  ist  schwerlich 
zu  behaupten,  indessen  gibt  es  derartige  Fälle;  so  verlangt  z.  B.  Erdmann, 
Grundriss  §  2  ausdrücklich  den  Doppelsinn  des  Ausdruckes  „Weltweisheit"  „im 
genitivo  subjecii  et  objecti  zugleich".  —  „Mehr  warme,  als  forschende  Freunde  nannten 
Kants  Meisterwerk:  Bibel  der  Vernunft."     Neeb,  Vern.  51. 


Sinn  des  Ausdruckes:  „Kritik".  121 

[R  8.  H  7.  K  16.]  A  VI.  B 

der  Dissertation  §  8  iind  §  30,  wo  von  der  Propädeutik  gesagt  wird,  sie 
lehre  das  „discrimen  sensitivae  cUque  intellectualis  cognitionis;^'  Kritik  sei  dem- 
nach zunächst  Unterscheidungslehre,  welche  das  Erkenntnissvermögen 
in  seine  Funktionen  zerlege.  *  Die  Bedeutung  der  Beurtheilung  der  Meta- 
phjrsik  resp.  der  r.  V.  würde  dann  erst  allmälig  entstanden  sein,  indem  die 
Unterscheidung  oder  „Ausscheidung  des  Intellectualen  vom  Sensualen", 
wie  Paulsen,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  II,  494  sagt,  schliesslich  auf  Be-  und  Ver- 
ortheilung  geführt  hahe.  Diese  Ableitung  ist  historisch  unrichtig.  Die  Ent- 
stehung geht  aug  der  „Nachricht**  über  die  Vorlesungen  im  Jahre  1765  her- 
vor. Dort  tritt  der  Name  zum  erstenmal  auf.  K.  vergleicht  dort  die 
„Kritik  der  Vernunft"  mit  der  „Kritik  des  Geschmacks",  d.  h.  die 
Logik  mit  der  Aesthetik.  Die  Kritik  in  diesem  Sinne  ist  aber  bekannt- 
lich einzig  und  allein  die  Beurtheilung  und  zwar  die  „richterliche".  Die 
Logik  nennt  Kant  dort  mehrfach  noch  Kritik  und  unterscheidet  1)  eine 
Kritik  des  gemeinen  Menschenverstandes;  2)  eine  Kritik  der  eigentlichen 
Gelehrsamkeit  (Logik  im  eigentlichen  Sinn) ;  3)  die  Kritik  der  Weltweis- 
heit. Von  der  letzteren  sagt  er,  diese  Kritik  und  Vorschrift  als  ein  Or- 
ganon  der  Metaphysik,  als  „vollständige  Logik",  als  Betrachtung  über  die 
eigentliche  Methode  derselben  gehöre  ans  Ende  der  Metaphysik,  wenigstens 
beim  Vortrag,  „da  die  schon  erworbenen  Erkenntnisse  derselben  und  die 
Geschichte  der  menschlichen  Meinungen  es  einzig  und  allein  möglich  machen, 
Betrachtungen  über  den  Ursprung  ihrer  Einsichten  sowohl  als  ihrer  Irr- 
thümer  anzustellen  und  den  genauen  Grundriss  zu  entwerfen,  nach  welchem 
ein  solches  Gebäude  der  Vernunft  dauerhaft  und  regelmässig  soll  aufgeführt 
werden."  Alle  drei  zusammen  nennt  er  „Kritik  der  Vernunft".  Dass 
er  den  Namen  „Kritik"  sonach  der  ästhetischen  Kritik  entnahm  und  in 
dem  damals  üblichen  Sinn  anwandte,  steht  darnach  fest.  In  der  Logik, 
Einl.  I,  citirt  er  Home,  der  die  Aesthetik  „Kritik"  genannt  habe',  nimmt 
aber  dort  die  Bezeichnung  Kritik  für  die  Logik  zurück,  weil  die  Logik  einen 
apriorischen  Kanon  aufstelle,  der  allerdings  nachher  zur  Kritik  diene,  d.h. 
zum  Princip  der  Beurtheilung  alles  Verstandesgebrauches  überhaupt.  In 
diesem  Sinne  spricht  Kant  von  seiner  Zeit  als  dem  „Zeitalter  der  Kritik" 
(oben  102).'  —  Den  Paulsen'schen  Irrthum  begieng  schon  Eberhard,  Philos. 
Mag.  I,  22,  welcher  das  Kritische  in  der  Zergliederung  der  verschiedenen 


*  Ebenso  bei  Weber,  Histoire  de  la  phü.  433  f. 

'  In  England  ist  factisch  der  Ausdruck  cHticism,  critie  aufgekommen  im 
XVIIl.  Jabrh.,  insbesondere  für  Aesthetik,  wie  viele  derartige  Titel  beweisen  von 
Home^  Pope  u.  A.     Crüic  findet  sich  schon  bei  Locke,  Essay,  IV,  21,  4. 

*  Herbart,  W.  W.  XII,  774:  „Ks.  Hauptwerke  nennen  sich  Kritiken;  und 
wcun  sie  kritischen  Geist  wecken,  so  können  sie  diesem  sich  selbst  nicht  ent- 
ziehen. Allein  sie  wollen  studirt  sein,  ehe  man  sie  beurtheilt,  und  der  Fleiss  des 
Stadiums  wird  sich  nicht  durch  ein  Absprechen  im  Allgemeinen,  sondern  durch 
ein  sorgfältiges  Eingehen  in  die  Einzelheiten  bewähren  können." 


122  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  VI.  B  -  [R  8.  H  7.  K  16.] 

Erkenntnissvermögen,  und  die  A.  L.  Z.  1789,  1,  78,  welche  es  in  der  Ab- 
sonderung des  Intellectuellen  vom  Sinnlichen  fand,  üeber  den  Terminus 
Kritik  vgl.  Herder,  Met.  II,  338  f.,  K.  habe  den  Namen  missbraucht.  Vgl. 
dess.  Adrastea,  9.*  Beneke,  Kant  55:  der  Titel  Kritik  kündigt  die 
analytische  Grundtendenz  des  Werkes  an:  sie  zergliedert;  (diese  analyt. 
Tendenz  hatte  K.  nach  Beneke  mit  seinem  Jahrh.  gemein  und  er  sprach  eigent- 
lich nur  aus,  was  man  schon  allgemein  annahm).  Die  synth.  systemati- 
sche Seite  des  Werks  dient  nur  seinem  analytischen  Zweck.  Auch  diese 
etymologische  Ausdeutung  ist  falsch;  es  handelt  sich  weder  um  Zergliede- 
rung noch  um  Unterscheidung  *  bei  diesem  Terminus,  sondern  um  Prüfung 
und  Beurtheilung.  —  Feder,  Raum  und  Caus.  Vorr.  XXIV  ff.  spricht  des 
Weiteren  über  den  Sinn  des  Ausdruckes  Kritik.  Man  habe  ein  Recht,  das 
Wort  mit  Skepsis  zu  vertauschen.  Jedermann  verstehe  unter  K.  „eine  ge- 
mässigte Skepsis".  K.  verbitte  sich  das  mit  Unrecht,  da  seine  Philos.  sogar 
zu  übertriebenem  Skepticismus  führe. 

Nieht  eine  Kritik  der  Btleher  .  .  .  sondern  u.  s.  w.  Vgl.  761.  767. 
(836  f.):  „Nicht  die  Facta  der  Vernunft,  sondern  die  Vernunft  selbst, 
nach  ihrem  ganzen  Vermögen  und  Tauglichkeit  zu  reinen  Erkenntnissen  a 
priori,  soll  der  Schätzung  unterw^orfen  werden."  Denn  jene  Facta  „sind  nur 
zufällige  Data".  Die  „Natur  des  menschlichen  Verstandes  selbst"  ist  Object 
und  Princip  der  Untersuchjing.  639.  „Die  fehlgeschlagenen  dogmatischen  Ver- 
suche der  Vernunft  sind  Facta,  die  der  Censur  zu  unterwerfen  immer 
nützlich  ist.  Diese  aber  kann  nichts  über  die  Erwartungen  der  Vernunft 
entscheiden,  einen  besseren  Erfolg  ihrer  künftigen  Bemühungen  zu  hoffen; 
die  blosse  Censur  kann  also  die  Streitigkeit  über  die  Rechtsame  der  menschl. 
Vernunft  niemals  zu  Ende  bringen."  764.  Einzelnen  Verirrungen  kann 
durch  Censur  abgeholfen  werden,  ihren  Ursachen  aber  durch  Kritik 
und  Disciplin.  711.  Diese  „blosse  Censur"  der  Facta  fällt  zusammen  mit 
der  blossen  Kritik  der  Bücher,  an  deren  Stelle  Kant  eine  Kritik  des  Er- 
kenntnissvermögens überhaupt  ein  für  allemal  geben  will.  Vgl.  Proleg.  Or. 
212:  Ein  Werk  kritischer  Art  und  zwar  nicht  in  Absicht  auf  andere  Schrif- 
ten, sondern  auf  die  Vernunft  selbst;  daher  kann  auch  der  Massst-ab 
der  Beurtheilung  des  Werkes  nicht  schon  angenommen  werden,  sondern 
ist  erst  zu  suchen.  „Pas  une  critiqtie  du  tel  ou  tel  Systeme,  mais  une  crüique 
qui  s^applique  ä  Vinstrument  meme  de  tout  systhne/^   Cousin  27  '.   Vgl.  Logik, 


*  Baggesen,  Philos.  Nachl.  I,  210:  „K.  hat  kritieirt  in  der  gemeinen  Be- 
deutung des  Worts,  worin  kritisiren  leichter  als  besser  machen  ist."  B.,  welcher 
anfangs  K.  unmittelbar  neben  Christus  setzte  (Rosenkranz  398),  wurde  später  sein 
erbittertster  Gegner. 

*  Boruttau,  Kant  21:  „K.  unterschied  das  Erkennende  und  das  Zuer- 
kennende, das  Ich  und  die  Welt,  das  Subject  und  das  Object"  u.  s.  w.  Denn 
xpivetv  heisse  „unterscheiden".  Auch  Hamilton,  Lect,  on  Met.  11^  195  hat  dieselbe 
irrthümliche  Auslegung. 

'  Her  hart,  W.  W.  XII,  144:     „Seiner  Kühnheit  genügte  es  nicht,  nur  die 


Kritik  der  Vernunft  überhaupt,  nicht  der  Systeme.  123 

[R  8.  H  7.  K  16.]  A  VI.  B 

Einl.  VII :  Die  Aufdeckung  und  Auflösung  des  Scheines  selbst  sei  ein  weit 
grösseres  Verdienst  um  die  Wahrheit,  als  die  directe  Widerlegung  der  ein- 
zahlen Irrthümer  u.  s.  w.  Wie  Kant  nicht  eine  Kritik  der  Bücher  beab- 
sichtigt, sondern  eine  Kritik  des  Vemunftvermögens  selbst,  so  will  er  auch 
nicht  durch  Bücher ,  d.  h.  durch  Berufung  auf  solche ,  z.  B.  von  Leibniz. 
widerlegt  werden.  „Es  ist  mit  dem  Widerlegen  reiner  Vernunftsätze  durch 
Bücher  (die  doch  selbst  aus  keinen  anderen  Quellen  geschöpft  sein  konnten 
als  denen,  welchen  wir  ebenso  nahe  sind  als  ihre  Verfasser)  eine  missliche 
Sache."     Entd.  Ros.  I,  401  (gegen  Eberhard). 

Sondern  die  des  Yernnnftrermogens  überhaupt.  Unter  Vernunft  fasst 
hier  K.  das  ganze  Vernunftvermögen  zusammen,  wie  Metz,  Darst.  38, 
richtig  bemerkt.  Nichtsdestoweniger  bleiben  noch  Unklarheiten,  die  in  den 
Bemerkungen  zur  Einleitung  10  zur  Behandlung  kommen  *.  Ueber  den 
Titel  sagt  Herder,  Metakr.  I,  3:  „Der  Titel  befremdet.  Ein  Vermögen  der 
menschl.  Natur  kritisirt  man  nicht,  sondern  man  untersucht,  bestimmt,  be- 
gränzet  es,  zeigt  seinen  Gebrauch  und  Missbrauch.  Künste,  Wissenschaften, 
als  Werke  der  Menschen  betrachtet,  kritisirt  man  .  .  .  nicht  aber  Natur- 
vermögen V*  Er  lobt  Locke,  Leibniz,  Hume,  Reid,  welche  ihre  Werke 
Essays  oder  Treatise  nannten'.     Vgl.  dagegen  Kiesewetter  I,  8  ff.    Daher 


Systeme  zu  kritisiren^  K.  kritieirte  die  Vernunft.  Bei  diesem  Unternehmen  staunten 
die  ZeitgenoBBen"  u.  s.  w. 

'  Der  Gegenstand  der  kritischen  Analyse  sind  unsere  Erkenntnissvermögen. 
Wesehalb  sich  F.  V.  Reinhard  unrichtig  ausdrückt  (System  d.  ehr.  Moral  I,  Vorr.), 
es  handle  sich  um  die  Zergliederung  unseres  Wesens.  Hiegegen  erklärten  sicli 
die  Jacob'Bchen  Annal.  III,  485;  das  Wesen  sei  nach  der  krit.  Philos.  ganz  un- 
sichtbar und  unzugänglich  für  uns.  Nur  eine  Zergliederung  der  durch  iiire  Wir- 
kungen sich  hinlänglich  offenbarenden  Vermögen  sollte  vorgenommen  werden. 
Daher  gibt  auch  Reinh.  fälschlich  als  Ziel  an:  Analyse  des  Wesens  in  seine  Be- 
8tandtheile  und  Herauslösung  der  reinen  Form  derselben  von  aller  Materie  ent- 
blösst^  woran  nach  den  Ann.  die  kritische  Philos.  nie  gedacht  habe. 

'  Aehnlich  Baggesen,  Phil.  Nachl.  I,  164,  der  daher  auch  den  Titel  „un- 
bescheiden** findet  ib.  232:  Kritik  des  Universums  wäre  ein  bescheidener  Titel 
gegen  den  Kantischen ;  factisch  sei  das  Werk  eine  Kritik  des  üebersinnlichen. 
Schelling  dag.  W.  W.  2.  Abth.  III,  46  findet  den  Titel  „bescheiden";  denn  K. 
gebe  eine  vollständige  Theorie  des  menschlichen  Erkenntnissvermögens.  Ebenso 
wie  Baggesen  fasste  Bachmann,  Philos.  m.  Z.  62  die  Kritik  auf:  „Die  Ver- 
nunft kann  sich  wohl  verstehen,  im  eigenen  Leben  und  Wirken  erfassen,  sie 
kann  eich  selbst  aber  nicht  eigentlich  kritisiren,  wenn  nicht  etwa  ein  Anderes  an 
ihre  Stelle  tritt  So  bei  Kant.  Was  hier  kritisirt,  ist  der  Verstand".  „Dieser 
Verstand,  der  grausamste  Gewalthaber,  hat  in  der  Kritik  seinen  Thron  aufge- 
schlagen, in  seinem  öden  Reich  verhallt  die  Stimme  der  Vernunft  ungehört,  sie 
wird  des  Thrones  entsetzt,  ausgestossen,  zertreten  und  ihre  heiligsten  Güter  als 
Ausgeburten  des  Wahns  bezeichnet," 

'  Dagegen  erinnert  Harms,  Gesch.  d.  Log.  216  umgekehrt  an  die  Aehnlich- 
kcit  des  K.'8chen  Titels  mit  den  Titeln  der  Schriften  von  Locke,  Hume.,  Leibniz: 


124  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  VI.  B  —  [B  8.  H  7.  K  16.] 

schlagt  H.  den  Titel  „Physiologie  der  menschl.  Erkenntnisskräfte** 
vor;  a.  a.  0.  I,  7.  Dag.  Kiesew.  a.  a.  0.  I,  54.  Vgl.  oben  S.  96  zn  Kants 
Vorr.  A  pag.  IV  über  Locke's  „Physiologie  des  menschl.  Verstandes".  Sonstige 
derartige  EinwÄnde  bei  Herder,  Met.  I,  67,  die  darin  gipfeln,  dass  die  Ver- 
nunft doch  nicht  über  sich  selbst  hinaus  könne,  um  sich  zu  untersuchen, 
sind  widerlegt  bei  Kiesew.  a.  a.  0.  I,  53.  Vgl.  Schmidt  und  Snell,  Erl. 
106  ff. 

Alles  aber  aas  Prinelplen.  Vgl.  unten:  „Ich  habe  die  Vernunft  nach 
Principien  vollständig  specificirt."  Dieser  Zusatz  hier  bezeichnet  einfach 
die  Methode,  nach  welcher  jene  Untersuchung  geführt  werden  soll.  Aus 
der  entgegengesetzten  Methode  wird  der  Sinn  des  Ausdruckes  ganz  klar :  K. 
vdi'ft  dem  Hume'schen  Skepticismus  vor,  dass  seine  Einwürfe  „nur  auf 
Factis,  welche  zufällig  sind,  nicht  aber  auf  Principien  beruhen,  die  eine 
nothwendige  Entsagung  bewirken  könnten."  767.  Durch  „unbestimmte 
Anpreisung  der  Mässigung  lässt  sich  die  Vernunft  nicht  in  Schranken  halten. 
B.  128.  Ganz  denselben  Vorwurf  macht  er  dem  Dogmatismus,  „der  die 
Grenzen  seiner  möglichen  Erkenntniss  nicht  nach  Principien  bestimmt 
hat,  der  also  nicht  schon  zum  Voraus  weiss,  wie  viel  er  kann,  sondern 
es  durch  blosse  Versuche  ausfindig  zu  machen  denkt."  768.  Vgl.  besonders 
die  Ausfuhrung  S.  66  und  67:  „Die  Transc.  Phil,  hat  den  Vortheil,  aber 
auch  die  Verbindlichkeit,  ihre  Begriffe  nach  einem  Princip  aufeusuchen;" 
ib.  über  den  dadurch  erreichten  Vortheil  systematischer  Vollständigkeit. 
Identisch  ist:  „nach  einem  Begriff  oder  Idee"  s.  hiezu  zur  Einl.  13.  Der 
Kriticismus  besteht  eben  darin ,  dass  er  die  Grenzbestimmung  der  mensch- 
lichen Erkenntniss  mit  apodiktischer  Sicherheit  feststellt,  und  das  kann  er, 
weil  er  „nach  Gründen  a  priori"  verftlhrt;  nur  so  lässt  sich  die  „schlecht- 
hinige  Nothwendigkeit  der  Unwissenheit"  feststellen,  „nicht  empirisch» 
durch  Beobachtung,  durch  Wahrnehmung,  a  posteriori".  Diese 
Grenzbestimmung  muss  „nach  Principien  a  priori"  geschehen,  wie  man 
die  Begrenzung  der  Erde,  d.  i.  ihre  Oberfläche,  auch  nach  mathematischen 
Principien  a  priori  feststellen  kann.  Und  so  entsteht  eine  wirkliche  wissen- 
schaftliche Kritik,  nicht  bloss  eine  aus  Factis  vermuthende  Censur  der  Ver- 
nunft. 758—762.  Das  Verfahren  dieser  Prüfung  ist  somit  apriorisch  oder, 
wie  K.  Vorr.  B.  XXXI.  es  selbst  nennt,  dogmatisch,  d.  h.  „aus  sicheren 
Principien  a  priori  strenge  beweisend",  und  die  dadurch  erreicht«  Erkennt- 
niss ist  nicht  eine  „historische  cognitio  ex  datis,  sondern  rationale 
cognitio  ex  principiis*^  835.  Vgl.  oben  das  Bild  des  Processes,  womach 
die  schliessliche  Entscheidung  „nach  den  Grundsätzen  der  ersten  Institution 
der  Vernunft  selbst"  751  f.  getroffen  wird.  Vgl.  S.  13  f.  S.  66  f.  838  f. 
Proleg.  §  43.  57.  58.  Wie  das  eine  der  Merkmale  apriorischer  Methode, 
die  Nothwendigkeit  der  dadurch  erreichten  Grenzbestimmung  schon  be- 


„ Untersuchungen  über  den  menschlichen  Verstand."   „So  nennen  sie  ihre  Logik.' 
(Hier  ist  Logik  =  Erkenntnisstheorie.) 


Apriorische  Methode  der  Kritik.  125 

[R  8.  H  7.  Z.  16.]  A  VI.  B 

tont  wurde,  so  wird  es  auch  das  andere,  die  Allgemeinheit;  die  Unter- 
suchung der  menschl.  Vernunft  soll  „allgemein  und  aus  der  Natur  des 
menschl.  Verstandes"  639  geführt  werden.  Das  kann  nur  geschehen  „von 
der  gereiften  und  männlichen  ürtheilskraft ,  welche  feste  und  ihrer  Allge- 
meinheit nach  bewährte  Maximen  zum  Grunde  hat".  761.  *  Es  ist  damit 
das  Specifische  der  K.'schen  Methode  ausgesprochen  \  welche  rein  begriff- 
lich, logisch  analysirt,  nicht  psychologisch.  Es  ist  dieser  Punkt 
von  Anfang  an  streng  festzuhalten,  dass  K.  demPrincip  nach  psycholo- 
gische Beobachtung  ausschliesst.  Das  ist  nach  Beneke's  treffender  Bemer- 
kung (Kant  30)  der  erste  bedeutende  Gegensatz  Kants  gegen  die  bisherigen 
erkenntnisstheoretischen  Untersuchungen.  Kant  trieb,  sagt  derselbe  S.  33, 
somit  die  Speculation  aus  blossen  Begriffen  zur  Vorderthür  hinaus,  um  sie 
(hier  bei  seiner  eigenen  Methode)  zur  Hinterthür  wieder  einzulassen*.  Ueber 
die  Kritik  der  r.  V.  aus  reiner  V.  und  durch  sie,  vgl.  Jacob,  Ann.  d. 
phil.  Geistes  III,  406  (gegen  Tiedemann).    Riehl,  Kritic.  I,  294  ff. 

DkseB  Wegr,  den  einzlsren.  Vgl.  den  Schluss  der  Kritik  Methodenl.  S.  856 : 
Der  kritische  Weg  ist  allein  noch  offen.  Mit  Beziehung  auf  diese  beiden 
Stellen  sagt  Herder,  Met.  Vorr.  XI:  ,, seitdem  dieser  Weg  offen  ist, 
schwingt  jeder  Zaunkönig  sich  mit  allgültiger  Vollmacht  der  absoluten 
Welt-  und  Wortallheit  entgegen,  überfliegend  bei  Weitem  den  Erfinder  des 
W^es."  Er  will  damit  die  übermässig  ins  Kraut  schiessende  Kantliteratur 
seiner  Zeit  treffen.  W.  v.  Humboldt  sagt  (Ans.  über  Aesth.  u.  Literat. 
Berlin  1880  S.  21.  30):  „Ich  gehe  hierin  (in  der  Aesth.)  schlechterdings  den 
Kantischen  Weg  V* 

Alle  Irmng'eii.     „Diese  Irrungen",  in  welche  die  Vernunft  durch  Selbst- 


'  Eine  lesenswerthe  Erörterung  über  diesen  Ausdruck  „aus  Principien",  s.  bei 
Keinhold,  Beitr.  z.  Bericht.  II,  48  —  56.  Reinhold  geht  die  verscliiedenen  Be- 
deatungen  durch,  welche  man  vor  K.  mit  dem  Ausdruck  ^cognitio  ex  principm"^ 
verbunden  hatte  und  bestimmt  die  Kantische  genauer. 

'  Desshalb  sagt  Cousin  von  den  Vorreden  A  ii.  B  und  der  Einleitung  ganz 
richtig  C24):  Ces  trois  morceaux  sont  de  la  plus  Jiaute  importance-^  iU  contiennent 
ee  qu'U  y  a  peut^Hre  de  plus  essentiel  et  de  plus  durable  [?]  dans  la  Critique,  la  m^- 
thode  . , ,  Dans  tout penseur  original,  c^est  la  miihode  qu*il  faut  avant  tout  rechercher  ; 
cor  eeite  mähode  est  le  germe  de  tout  le  reste.^  Diese  drei  Stücke  sind  pour  la 
phüosopkie  de  Kant  ce  que  le  Discours  de  la  mithode  est  pour  la  phüosophie 
de  Deseartes. 

"  Vgl.  Beneke,  Metaph.  20  flF.  133  ff.  368  f.  B.  findet  in  diesem  Punkte 
einen  Selbstwiderspruch  und  den  grussten  Fehler  Ks.  Er  habe  an  die  Stelle  der 
„ubjeetiven  Erdichtungen"  des  Dogm.  subjective  gesetzt. 

*  Es  ist  ein  seltsamer  Einfall  des  Kantianers  Knauer  (Phil.  Mon.  XIII,  406), 
zu  leugnen,  dass  K.  damit  seine  Methode  habe  bezeichnen  wollen:  K.  wolle 
nicht  eine  ju^^o^,  sondern  eine  bZ6<;\  doppelt  seltsam,  wenn  man  damit  die  in 
der  Einl.  oben  S  4.  7.  8  beigebrachten  Stellen  aus  K.  vergleicht.  —  Cfr.  Pri- 
honsky,  Anti-Kant  229:  der  von  K.  eingeschlagene  „Weg"  sei  nicht  der 
richtige  u.  s.  w. 


126  Commentar  zui*  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  VI.  B  —  [K  8.  H  7.  8.  K  16.] 

entzweiung  geräth,  „abzuthun"  „ist  die  Vernunft  selbst  berufen"  743.  d.  b. 
eben,  die  Methode  der  Auflösung  muss  auf  Principien  a  priori  beruhen. 
Diese  Absicht  „der  Abstellung  aller  Irrungen"  erinnert  an  die  Einleitung 
Bacons,  an  die  Befreiung  der  Menschheit  von  den  „errores^'f  an  den  „terminus 
legitimus  infiniti  erroris^. 

Im  erfahrnngsfreieii  Gebrauch.  Der  Ausdruck  „erfahrungsfrei"  findet 
sich  bei  Kant  selten.  Laz.  Geiger  wendet  ihn  an  auf  den  Titel  seiner 
Schrift:  „lieber  Umfang  und  Quelle  der  erfahrungsfreien  Erkenntniss". 
Frankfurt  1865.  Der  „erfahmngsfreien"  Erkenntniss  entspricht  praktisch 
das  „sinnenfreie"  Handeln.  Kant  übersetzt  beides  mit  „intellectualis^  s.  Met. 
d.  Sitten.     Einl.  I. 

Mit  dem  Unrermögren  der  mensohllohen  Yerminft.  In  specieller  An- 
wendung dieses  Grundsatzes  wendet  sich  z.  B.  Kant  S.  614  gegen  den  Aus- 
weg, das  „Ideal  der  reinen  Vernunft  uner  forsch  lieh  zu  heissen;  es  muss 
in  der  Natur  der  Vernunft  seinen  Sitz  und  seine  Auflösung  finden  und  also 
erforscht  werden  können;  denn  eben  darin  besteht  Vernunft,  dass  wir  Ton 
allen  unseren  Begriffen  .  .  .  Rechenschaft  geben  können."  Vgl.  Prol.  §  35: 
„Es  kann  gar  nichts  helfen,  jene  fruchtlosen  Versuche  der  reinen  Vernunft 
durch  allerlei  Erinnerungen  wegen  der  Schwierigkeit  der  Auflösung  so  tief 
verborgener  Fragen,  Klagen  über  die  Schranken  unserer  Vernunft 
und  Herabsetzung  der  Behauptungen  auf  blosse  Muthmassungen  massigen 
zu  wollen.  Denn  wenn  die  Unmöglichkeit  derselben  nicht  deutlich  dargethan 
worden  und  die  Selbster kenntniss  der  Vernunft  nicht  wahre  Wissenschaft 
wird,  worin  das  Feld  ihres  richtigen  von  dem  ihres  nichtigen  und  fruchtlosen 
Gebrauchs  mit  geometrischer  Gewissheit  unterschieden  wird,  so  werden  jene 
eitlen  Bestrebungen  niemals  völlig  abgestellt  werden."  „Wir  sind  auch  nicht 
berechtigt,  diese  Aufgaben,  als  läge  ihre  Auflösung  wirklich  in  der  Natur 
der  Dinge,  doch  sie  unter  dem  Vorwand  unseres  Unvermögens  abzu- 
weisen, und  uns  ihrer  weiteren  Nachforschung  zu  weigern,  da  die  Vernunft 
in  ihrem  Schoosse  allein  diese  Ideen  erzeugt  hat,  von  deren  Gültigkeit  oder 
dialektischem  Scheine  sie  also  Rechenschaft  zu  geben  gehalten  ist."  763  vgl. 
695.  756  f.  Dieser  Gedankengang  ist  S.  476 — 480  weiter  ausgeführt,  worauf 
hier  verwiesen  wird.  Die  definitive  Entscheidung  bei  Kant  führt  aber  doch 
schliesslich  auf  den  hier  verpönten  und  verschlossenen  Ausweg  der  Schranken 
der  menschl.  Vernunft.  Ja  er  spricht  z.  B.  Prol.  §  58  von  unseren  „schwachen 
Begriffen". 

Missverstand  der  Ternanft  mit  sich  selbst.  „Wie  fUngt  man  es  an, 
dass  sich  die  Vernunft  hierüber  selbst  verstehe"  und  u.  s.  w.  615. 
(Vgl.  im  Bilde  des  Processes  die  Stellen  über  den  Streit  der  Vernunft  mif 
sich  selbst  S.  110).  Met.  der  Sitt.  Vorr. :  ;yDie  voreilige  Vernunft  soll 
dahin  gebracht  werden,  vor  ihren  dogmatischen  Behauptungen  sich  erst 
selbst  zu  verstehen."  „Die  Vernunft  muss  aus  ihrem  Widerstreit  mit 
sich  selbst  herauskommen,"  Prol.  §  54.  Der  „Missverstand",  auf  dem  jene 
metaphysischen  Irrthümer  und  Streitigkeiten  beruhen,   besteht  darin,  «das, 


Die  Resultate  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  127 

[R  8.  H  8.  K  16.]  A  VI.Vn.B 

was  bloss  von  Erscheinungen  gilt,  über  Dinge  an  sich  selbst  auszudehnen 
und  überhaupt  beide  in  einem  Begriff  zu  vereinigen,"  Prol.  §  53  fin.  „Die 
Antithetik  beruht  auf  dem  Missverstand ,  da  man  nemlich  dem  gemeinen 
Vorurtheile  gemäss,  Erscheinungen  für  Sachen  an  sich  selbst  nahm.**  740. 
Dieser  fundamentale,  principielle  „Missverstand"  (weiter  unten  nennt  es 
K.  .Missdeutung*)  wird  in  der  Dialektik,  die  seiner  Aufdeckung  gewidmet 
ist,  nnzähligemal,  z.  B.  464,  betont.  Auch  hier  findet  somit  K.  die  Haupt- 
aufgabe seiner  Kritik  in  der  Dialektik.  Ueber  diesen  Missverstand  s.  fer- 
ner Prol.  §  53.  §  56;  derselbe  wird  Proleg.  Or.  215  als  „Erbfehler  der 
Metaphysik*  bezeichnet.  Eben  desshalb  heisst  es  Kr.  406,  der  Erbfehler 
des  Dogmat.  sei,  „sich  bei  allem  ihm  günstigen  Schein  in  der  Feuerprobe 
der  Kritik  in  lauter  Dunst  aufzulösen,"  weil  eben  jener  Missverstand  zu 
Grunde  liegt  ^ 

Dogmatisch  gehwftrmeiide  Wissbegierde.  Diese  Schwärmerei  tadelt  E. 
häufig  am  Dogmatismus;  so  B.  127  f.,  wo  Locke  beschuldigt  wird,  trotz  seines 
Empirismus  der  Schwärmerei  Thür  und  Thor  geöffnet  zu  haben;  der- 
selbe Vorwurf  trifft  Crusius,  Logik  Einl.  II.  Insbesondere  an  Herders 
Ideen  tadelt  K.  später  den  „schwärmenden  Verstand".  „Der  menschliche 
Verstand  hat  über  unzählige  Gegenstände  viele  Jahrhunderte  hindurch  auf 
mancherlei  Weise  geschwärmt."  Prol.  Vorr.  4,  vgl.  Kr.  770.  „Es  kann 
der  Einbildungskraft  vielleicht  verziehen  werden,  w^enn  sie  bisweilen 
schwärmt,  d.i.  sich  nicht  behutsam  innerhalb  der  Schranken  der 
Erfahrung  hält  .  .  .  Dass  aber  der  Verstand,  der  denken  soll,  anstatt 
dessen  schwärmt,  das  kann  ihm  niemals  verziehen  werden;  denn  auf  ihm 
beruht  alle  Hilfe,  um  der  Schwärmerei  der  Einbildungskraft,  wo  es  nöthig 
ist,  Grenzen  zu  setzen."  Prol.  §  35.  Diese  Schwärmerei  fand  im  „süssen  dog- 
matischen Traume  statt".  Kr.  757.  vgl.  S.  819  über  und  gegen  allen  schwär- 
merischen Vernunftgebrauch.  „ Das  Dogmatisiren  mit  der  reinen  Vernunft 
im  Felde  des  Uebersinnlichen  ist  der  gerade  Weg  zur  philos.  Schwärmerei, 
und  nur  Kritik  desselben  Vermögens  kann  diesem  üebel  gründlich  abhelfen;" 
Was  heisst  sich  i.  D.  orientiren?  K.  129.  Kr.  d.  pr.  V.  150  ff.  „Schwärmerei 
ist  eine  nach  Grundsätzen  unternommene  Üeberschreitung  der  Grenzen  der 


'  Mit  Beziehung  hierauf  sagt  Hamann  polemisch  in  seiner  Metakritik  (Rink 
Manch.  127.  W.  W.  VII,  9):  „Nicht  nur  das  ganze  Vermögen  zu  denken,  beruht 
auf  Sprache  ....  sondern  Sprache  ist  auch  der  Mittelpunkt  des  Niclit Ver- 
standes der  Vernunft  mit  ihr  selbst,  theils  wegen  der  häufigen  Coincidenz 
des  grössten  und  kleinsten  Begrifi's,  seiner  Leere  und  Fülle  in  idealischen  Sätzen, 
theils  wegen  des  unendlichen  [?]  der  Rede-  vor  den  Schlussfiguren  und  der- 
gleichen viel  mehr.**  Im  Anschluss  hieran  führte  dies  Herder  weiter  aus,  Meta- 
kritik S.  9  (f.;  derselbe  findet  in  dem  Mangel  der  Berücksichtigung  der  Sprache 
und  ihres  Verhältnisses  zum  Denken  mit  Recht  einen  Hauptfehler  der  Kritik. 
Piaton,  Aristoteles,  die  Stoiker,  Leibniz,  und  besonders  Locke,  sowie  Sulzer  und 
Lambert,  haben  dagegen  diese  Nothwendigkeit  eingesehen  und  die  Sprache  herbei- 
gezogen.   Vgl.  Levy,  Ks.  Kr.  d.  r.  V.  im  Verh.  z.  Kritik  d.  Sprache.   Bonn  1868. 


128  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

AVn.B-  [R  8.  H  8.  K  16.] 

mexischl.  Vernunft;*  ib.  216  ff.»  Klinger,  Betrachtungen  I.  775.  IT.,  652 
meint:  Kant  habe  durch  die  Vernunft  seine  Einbildungskraft  nicht  getödtet, 
vielmehr  sei  in  ihm  gerade  die  Vernunft  die  Schöpferin  der  erhabensten 
Schwärmerei  für  gewisse  Ideen;  sollte  auch  sein  System  in  der  Schule 
fallen,  so  werde  doch  die  erhabene  Schwärmerei  seiner  Vernunft  alle  Systeme 
der  Vernunft  überleben.  Nicolai,  Gel.  Bild.  203.  233,  beschuldigte  Kants 
Philos.,  zu  Schwärmerei  Anlass  gegeben  zu  haben,  so  bes.  zu  Pichtes  und 
Becks  Ausartungen;  insbes.  wenn  dieselben  sich  auf  den  urspr.  Vernunft- 
gebrauch, auf  ihr  Inneres  berufen  u.  s.  w.  Bouterweck,  Imm.  Kant  84  if. 
Kant  habe  zwar  zu  der  idealistischen  Schwärmerei  der  intellectuellen  An- 
schauung des  Absoluten  Anlass  gegeben;  aber  „der  Geist  der  Schwärmerei, 
der  sich  jetzt  transc.  Ideal,  nennt,  ist  so  durchaus  antikantisch ,  dass  K. 
selbst  eine  solche  Wendung  der  durch  ihn  bewirkten  Revolution  in  der 
Geisterwelt  nicht  einmal  ahnen  konnte."  Vgl.  jedoch  a.  a.  0.  119  über  K.'s 
eigene  platonische  Schwärmerei.  (Bekanntlich  warf  schon  Hamann  häufig 
K.  „Mystik"  vor;  ebenso  Herder,  Kalligone  Vorr.  XIV  [Suph.  XXII,  9].) 

Durch  Zanborktlnste.  In  demselben  Sinne  sagt  Kant  Prol.  Gr.  190. 
„Die  Kritik  verhält  sich  zur  gewöhnlichen  Schulmetaphysik  gerade  wie  Chemie 
zur  Alchemie,  oder  wie  Astronomie  zur  wahrsagenden  Astrologie.' 
Neeb  K.'s  Verdienste  33:  Der  Dogmatist  „macht  mit  dem  Geheimniss 
bekannt,  mit  der  Wünschelruthe  des  Syllogismus  die  goldene  Wahrheit 
aus  der  tiefsten  Verborgenheit  zu  Tage  zu  bringen.  Der  Adept  über- 
schwänglicher  Weisheit  schwelgt  an  dem  Zaubertische  und  füllt  sich  mit 
geträumten  Speisen"  u.  s.  w.  (ib.  55).  In  diesem  Vergleich  liegen  auch 
ausgedrückt  die  ganz  überspannten  und  verkehrten  Ansprüche,  die  man  von 
jeher  an  die  Philosophie  gestellt  hat,  sowie  die  chimärischen  Hoffnungen, 
welche  deren  Vertreter  selbst  erregten.  Ebenderselbe  sagt  vom  Skeptiker: 
„  Er  beweist  dem  Schüler,  dass  er  nur  Worte  mit  Luft  gefüllt  gegessen  habe, 
dass  seine  entdeckten  Ländereien  zusammengetriebene  Wolken  seien  .  .  . 
dass  die  vermeinte  Insel  der  Erfahrung,  die  auf  einen  Felsen  gegründet  sein 
soll,  nichts  als  ein  schwimmendes  Eis  sei,  das  vor  der  beleuchtenden  Ver- 
nunft in  Schaum  und  Wasser  zerrinne,  dass  man  nur  seine  Vernunft  brauchen 


^  Kr.  d.  Urth.  §  78:  Die  Vernunft  lässt  sich  verleiten,  dichterisch  zu 
schwärmen,  was  doch  zu  verhüten  eben  ihre  vorzüglichste  Bestimmung  ist. 
Kr.  d.  Urth.  §  29  Anm.:  Schwärm,  ist  ein  Wahn,  über  alle  Grenzen  der  Sinnlich- 
keit hinaus  etwas  sehen,  d.  i.  nach  Grundsätzen  träumen  (mit  Vernunft  rasen) 
zu  wollen.  Der  Schwärmerei  steht  (Anthrop.  §  36)  die  Aufklärung  gegenüber. 
Ist  diese  —  Gebrauch  der  Vernunft,  so  ist  jene  „die  Maxime  der  Ungültigkeit  einer 
zu  Oberst  gesetzgebenden  Vernunft."  S.  in  dem  Aufsatz:  „Was  heisst  sich  i.  d. 
Orientiren?"  K.  137.  Als  verschwiegenes  Vorbild  aller  Schwärmerei  steht  für 
K.  immer  Swedenborg  da,  s.  Träume  eines  Geistersehers.  Nach  dem  Aufsätze: 
„üeber  einen  vornehmen  Ton"  u.  s.  w.  Einl.  ist  Piaton  der  „Vater  aller  Schwär- 
merei in  der  Philosophie".  Vgl.  Vorles.  über  Philos.  Relig.  174.  205  u.  Kants 
Aufsatz  von  1790  „Ueber  Schwärmerei  und  die  Mittel  dagegen." 


Allgemeinresultate  der  Kritik  d.  r.  V.  129 

[R  8.  9.  H  8.  K  16.]  AVn.B  — 

müsse,  nm  ihr  Ansehen  zu  vernichten,  und  dass  jede  Untersuchung  aus  der 
Unwissenheit  entspringe,  mit  der  üngewissheit  endige."  —  Im  Anschluss  an 
diese  und  an  einige  anderen,  theils  früheren,  theils  späteren  Stellen,  fasst 
Hamann  in  seiner  Recension  (Reinh.  Beitr.  1801  II,  207)  die  Vorrede  Kants 
kritisirend  so  zusammen:  „Unter  dem  neuen  Namen  Transscendental- 
philosophie  verwandelt  sich  die  verjährte  Metaphysik  aus  einem  zwei- 
tausendjährigen «Kampfplatz  endloser  Streitigkeiten*  auf  einmal  in  ein  syste- 
matisch geordnetes  ,Inventarium  aller  unserer  Besitze  durch  reine  Vernunft^ 
und  schwingt  sich  auf  den  Fittigen  einer  ziemlich  abstracten  »Genealogie* 
und  Heraldik  zu  der  monarchischen  Würde  und  olympischen  Hoffnung,  ,als 
die  einzige  aller  Wissenschaften  ihre  absolute  Vollendung  und  zwar  in  kurzer 
Zeit*  zu  erleben,  ,ohne  Zauberkünste*  noch  magische  Talismane,  wie  der 
weise  Helvetius  sagt  (De  VHomme  II,  XIX)  ,alles  aber  aus  Principien*,  heiliger 
als  der  Religion  und  majestätischer  als  der  Gesetzgebung  ihre".  fW.  W. 
VI,  48). 

Blendwerk«  So  nennt  K.  die  Metaph.  häufig,  z.  B.  60.  68  (sophistisches 
Bl.),  168  (Erschleichungen  des  r.  Verstandes  und  daraus  entspringendes  Bl.) 
295.  298.  384.  395  (von  dem  dogm.  Blendwerk  kann  nur  die  Nüchternheit 
einer  strengen  aber  gerechten  Kritik  befreien),  424  (Bl.,  wonach  jeder  ver- 
geblich hascht),  430.  507.  608  (Blendw.  in  Schlüssen),  669  (unsere  Vernunft 
kann  unmöglich  selbst  ursprüngl.  Täuschungen  u.  Blendwerke  enthalten), 
711  (in  der  r.  V.  ein  ganzes  System  von  Täusch,  u.  Blendw.  angetroffen), 
735.  755  (schädliche  Blendw.),  782  (die  Vern.  unter  Erdichtungen  und 
Blendw.  ersäufen),  795  (Ausschweifungen  und  Blendw.).  „Gaukelwerk*' 
, leider  sehr  gangbare  Kunst  mannigfaltiger  metaphysischer  Gaukel werke**  63. 
Eine  psychol.  Erörterung  hierüber  s.  Anthrop.  §  11.  T>\e  ^^spectra  idearum^ 
Blendwerke  oder  besser  Hirngespinste  finden  sich  schon  in  der  Nova  Dilu- 
cidatio  1755  erwähnt  (in  der  Ausf.  zu  Prop.  IX). 

Anfj^elSst.  Es  ist  für  Kants  Methode  sehr  zu  bemerken,  dass  diese 
Auflösung  der  durch  die  Vernunft  aufgegebenen  Fragen  selbst  wieder 
aus  der  Vernunft,  d.  h.  nach  Principien  a  priori  zu  geschehen  hat.  Diese 
Fragen  „liegen  in  der  Vernunft  und  müssen  daher  aufgelöset  werden 
können**  763.  Diese  Fragen  haben  „in  der  Natur  der  Vernunft  ihren  Sitz 
und  ihre  Auflösung**  614.  „Die  Antwort  muss  aus  denselben  Quellen  ent- 
springen, daraus  die  Frage  entspringt;  die  Auflösung  kann  daher  gefordert 
werden**  476.  Eben  aus  diesem  Grunde  versichert  Kant,  die  Auflösung  aller 
Fragen  in  seiner  Kritik  gegeben  zu  haben:  denn  „keine  Frage,  welche  einen 
der  reinen  Vernunft  gegebenen  Gegenstand  betrifft,  ist  für  eben  dieselbe 
menschliche  Vernunft  unauflöslich**  u.  s.  w.  477.  695  f.  Vgl.  übrigens  hiezu 
Ks.  Brief  an  Lambert  vom  2.  Sept.  1770,  er  sei  zu  dem  Begriff  gekommen, 
1, dadurch  alle  Art  metaph.  Quästionen  nach  ganz  sicheren  und  leichten 
Kriterien  geprüft,  und  inwiefern  sie  auflöslich  sind  oder  nicht,  mit  Ge- 
wissheit kann  entschieden  werden**. 

Sehlllgsel.     Vgl.  4.  Brief  an  Herz  v.  21.  F^br.  1772:  ich  bemerkte  Etwas, 

VAihittger^  Kaat-Commentar.  9 


130  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

AVn.B—  [R  8.  9.  H  8.  K  16.] 

„welches  in  der  That  den  Schlüssel  zu  dem  ganzen  Geheimnisse  der  his 
dahin  sich  selbst  noch  verborgenen  Metaphysik  ausmacht.^  „Ich  sehe  mich 
in  dem  Besitz  eines  Lehrbegriffes,  der  das  bisherige  Räthsel  völlig  auf- 
schliesst/  5.  Brief  an  Herz  (von  1773).  Cfr.  Prol.  K.  144  (Or.  210). 
üeberschrift  des  6.  Abschnitts  der  Antinomie:  „Der  transsc.  Idealismus 
als  der  Schlüssel  zur  Auflösung  der  kosmologischen  Dialektik."  490.  480. 
Vgl.  Portschr.  d.  Met.  Ros.  I,  567.  —  Da  hier  K.  die  Leistungen  der  Kr.  auf- 
zählt, so  ist  hier  der  Ort,  einige  interessante  AUgemeinurtheile  über  Kants 
Kritik  zu  erwähnen:  Feder  (Gott.  Gel.  Anz.  Zug.  1782.  8.  St.)  sagt  von  der 
Kritik,  sie  sei  ein  Werk,  „das  den  Verstand  seiner  Leser  immer  übt,  wenn 
auch  nicht  immer  unterrichtet,  oft  die  Aufmerksamkeit  bis  zur  Ermüdung 
anstrengt,  zuweilen  ihr  durch  glückliche  Bilder  zu  Hülfe  kommt  oder  sie 
durch  unerwartete  gemeinnützige  Polgerungen  belohnt."  Seile  (Acad.  Berl. 
1786  —  1787,  581):  „Un  systhne  supMeur  u  bieti  tVautres  par  la  phiStration 
quHl  annonce  et  par  la  liaison  qui  rhgne  entre  toutes  ses  parties;  un  chef 
d'oeuvre  de  Vart,  qui,  comme  les  pyramides  d'^gypte,  sera  danstousles 
süclea  Vohjet  de  l'admiration  ghtSrale,  mala  qui  comme  eües  amhiera  toujount 
la  question,  pourquoi  et  pour  quel  effet  ceite  grande  dSpense  de  forces  extra- 
ordinairea?^  ^  Pistorius,  der  Gegner  Kants,  (A.  D.  B.  66,  92),  nennt  die 
Kr.  d.  r.  V.  „das  wichtigste  Buch,  das  seit  Aristoteles  Zeiten  über  die  Meta- 
physik geschrieben  ist."  Der  Anhänger  Kants,  Jakob,  sagt  in  der  Vor- 
rede zu  seiner  Prüfung  der  Mendelssohn *schen  Morgenstunden,  in  deren  V^or- 
rede  Kant  der  „AUes-Zermalmende"  genannt  worden  war,  S.  XXIV.:  „Die 
einzige  Kritik  wiegt  alles  auf,  was  seit  Plato  und  Aristoteles  in 
der  Metaphysik  geschrieben  ist.*  Dies  in  Bezug  auf  die  Vergangenheit. 
In  Bezug  auf  die  Zukunft  sagt  Schütz  A.  L.  Z.  1785,  III,  42,  die  Kr. 
d.  r.  V.  enthalte  alle  künftigen  Lehrbücher  der  Metaphysik  virtualiter 
in  sich.  „Die  Schriften  Ks.  sind  doch  einmal  der  Kodex,  den  man  nie  in 
philos.  Angelegenheiten,  so  wenig  als  das  corpus  juris  in  juristischen  aus 
der  Hand  legen  darf,*  sagt  W.  v.  Humboldt,  Ansichten  über  Aesth.  u.  Liter. 
Herausgeg.  v.  P.  Jonas,  Berlin  1880.  S.  2.* 


'  Eine,  allerdings  sehr  einseitige  Antwort  hierauf  gibt  Clai;dius^  der  über 
Ks.  Philosophie  folgendermassen  urtheilt:  „Sie  ist  einer  Maschine  gleich,  die 
aus  gräulich  viel  Hebeln,  Rollen,  Stricken  und  Winden  zusammengesetzt  wäre, 
und  deren  Effect  ist,  —  einen  Kork  aus  einer  Bouteille  zu  ziehen." 

'  Es  ist  unparteiisch ,  mit  diesem  Lobe  auch  andere  Stimmen  zusammenzu- 
halten; so  sagt  z.  B.  Scliwab,  Preisschr.  144:  „Wir  sind  in  dieser  neuen  Periode 
in  der  Metaphysik  nicht  weiter  gekommen,  ob  wir  wohl  einen  berühmten  Me- 
taphysiker  weiter  haben."  Ib.  117.  „K.  wolle  die  ünerweislichkeit  der 
bisherigen  Metaphysik  durch  eine  —  un  erweisliche  Theorie  vordemonstriren.** 
Aehnlich  Nicolai  in  der  Vorr.  zu  Schwabs  neun  Gesprächen  (S.  16):  „Es  dürfte 
ungeachtet  des  inneren  Scharfsinnes  und  der  vielen  neuen  und  zum  Theil  sehr 
sinnreichen  Ideen  der  kritischen  Philos.,  wodurch  der  menschliche  (reist  eine  Zeit- 
lang beinahe  unwiderstehlich  zu  derselben  gezogen   wird,  dennoch   der  Gewinn 


i 


Allgemeinurtheile  über  die  Kritik  d.  r.  V.  131 

[R  9.  H  8.  K  17.]  AVn.Vm.B 

leh  glaube,  indem  ich  u.  s.  w.  Vgl.  476:  Alle  Aufgaben  auflösen 
und  alle  Fragen  beantworten  zu  wollen,  würde  eine  unverschämte  Gross- 
sprecherei  und  ein  so  ausschweifender  Eigendünkel  sein,  dass  man  dadurch 
sich  sofort  um  alles  Zutrauen  bringen  müsste/  Gleichwohl  gibt  es,  ft.hrt 
K.  fort,  3  Wissenschaften,  in  denen  dies  möglich  ist  und  das  ist  eben  bei  der 
Transscendentalphilosophie  aus  den  oben  angegebenen  Gründen  der  Fall. 
Die  Behauptung  (der  vollbrachten  Leistung)  ist  desshalb  nur  dem  ersten 
Anscheine  nach  kühn*^   695. 

DftriB  etwa  die  einfache  Natur  der  Seele  u.  s.  w.  Kant  hat  hier  offen- 
bar J.  H.  G.  Feder s  im  Jahre  1765  erschienenes  Programm:  De  simplici 
animae  natura  im  Auge  (vgl.  Feder,  Leben  S.  58).  Ob  Feders  Empfind- 
lichkeit nicht  durch  diesen  Stich  gereizt  und  zur  stacheligen  Zurichtung  jener 
famosen  Becension  der  Kr.  d.  r.  V.  in  den  Göttinger  Gel.  Anz.  vom  19.  Jan. 
1782  (Zugabe  I.  Band  3.  St.)  animirt  worden  ist? 

Die  gemeine  Logik.  Die  Logik,  da  sie  nach  Kant  nur  die  formalen 
Regeln  alles  Denkens  zu  geben  hat,  und  da  diese  Regeln  in  uns  selbst  ge- 
funden, somit  aus  der  Vernunft  selbst  geschöpft  werden  müssen,  ist  das 
Beispiel  einer  geschlossenen  und  vollendeten  Wissenschaft.  Vgl.  vorläufig 
Vorr.  B.  Vin.  XXHI.  Krit.  51  ff.  70  ff.  Die  einfachen  Handlungen  oder 
logischen  Functionen  lassen  sich  vollständig  und  systematisch  auf- 
zählen, vgl.  ib.  66  ff.  Die  Logik  ist  für  die  Kritik  der  r.  V.  insofern  ein 
Vorbild,  als  auch  letztere,  wie  erstere,  aus  der  Vernunft  selbst  zu  schöpfen 
hat  und  so  systematische  Vollständigkeit  der  reinen  Vemunfthandlungen 
gewinnen  kann.    Vgl.  Log.  Einl.  II. 

Hier,  d.  h.  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft;  denn  in  ihr  handelt  es 
sich  um  Entscheidung  der  Frage,  ob  das  reine  Denken  auch  über  den  Üm- 
tang  der  Erfahrung  hinaus,  „ohne  allen  Stoff  und  Beistand  der  Erfahrung^ 
Erkenntniss  schaffen  könne,  was  ich  mit  der  Vernunft  (darauf  bezieht  sich 
.derselhen*  in  entfernter  Linie)  ausrichten  kann  unter  jener  Voraussetzung. 
Die  Auslegung  der  Stelle,  derart,  dass  die  Frage  lautet,  wie  weit  die  Ver- 
nunft als  apriorisches  Vermögen  überhaupt  gelangen  könne,  ist  durch  Zu- 


von  objectlver  Wahrheit  aus  ihr  nur  sehr  gering  sein."  [üeberhaupt  bilden 
die  verschiedenen  Beantwortungen  der  bekannten  Frage  der  Academie:  „Welche 
FortBcluitte  hat  die  Metaphysik  seit  Leibnizens  und  Wolffs  Zeiten  in  Deutschland 
gemacht?''  (1792)  interessante  Commentare  zu  der  Kau  tischen  Vorrede,  besonders 
zu  der  zweiten.  Die  Beantwortung  von  Schwab  war  feindlich  (vgl.  auch  dessen 
Schrift  über  die  Wahrheit  der  Kantischen  Philos.  72  ff.),  diejenige  von  Reinhold 
zustimmend,  diejenige  von  Abi  cht  mehr  neutral.  Maimons  Schriftchen  über  die 
Prqgressen  der  Philos.  ist  ebenfalls  höchst  interessant.  Grössere  Bedeutung  hat 
natürlich  Kants  eigene  Schrift  über  diesen  Gegenstand,  welche  erst  im  Jahre  1804 
als  Fragment  erschienen  ist.  Hülsens  seltsame  Schrift  über  dasselbe  Thema  ver- 
dient keineswegs  das  ihr  von  Rosenkranz  (421  ff.)  gespendete  Lob ;  nicht  so  werth- 
loe,  wie  derselbe  sie  hinstellt,  ist  die  Schrift  von  Jenisch  darüber.  Sehr  werth- 
ToU  ist  das  v.  Eberstein'sche  zweibändige  Werk  über  denselben  Gegenstand.] 


132  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  Vin.IX.B—  [R  9.  10.  H  9.  K  17.] 

sammenhang  und  Vergleich  mit  dem  Früheren  ausgeschlossen ;  es  wird  nicht 
gefragt,  was  die  Vernunft  in  ihrem  Gebrauche  als  rationales  Vermögen, 
d.  h.  ohne  aus  der  Erfahrung  zu  schöpfen,  ohne  Erfahrung,  leiste, 
sondern  ob  dies  rationale  Vermögen  über  die  Erfahrung  hinausreiche.  Es 
wird  also  auch  hier  die  Dialektik  in  den  Vordergrund  gerückt,  lieber  den 
hier  spielenden  Doppelsinn  von  „rein"  und  „Vernunft"  s.  später. 

Nieht  ein  beliebigrer  Torsatz.  K  weist  hier  seine  Untersuchung  als  ein 
nothwendig  durch  die  Natur  der  Sache  gefordertes  Unternehmen  nach, 
das  nicht  einem  zufälligen  Einfall  seine  Entstehung  verdankt,  sondern 
aus  dem  Zustand  der  Dinge  mit  naturgemässer  Nothwendigkeit  folgt.  Vgl. 
das  Motto  der  II.  Aufl.  aus  Bacon:  petimus,  ut  homines  rem  non  opinionem, 
sed  opus  esse  cogitent  u.  s.  w. 

Eine    Hypothese  u.  s.  w.     Die   weitere   Ausführung  dieses  Gedankens' 
s.  in  der  Methodenlehre  781 :     „Was   reine  Vernunft  assertorisch   raittheilt, 
muss  (wie  alles,  was  Vernunft  erkennt)  nothwendig  sein  oder  es  ist  gar  nichts. 
Demnach  enthält  sie  in  der  That  gar  keine  Meinungen.**    Vgl.  Vorr.  B.  XXIII 
Anm.  „nicht  hypothetisch,  sondern  apodiktisch  beweisen."    Vgl.  Krit 
823  (in  dem  Abschnitte  von  Meinen,  Wissen  und  Glauben):     „In  Urtheilen 
aus  reiner  Vernunft  ist   es  gar  nicht   erlaubt,   zu  meinen.     Denn  weil  sie 
nicht  auf  Erfahrungsgründe  gestützt  werden,  sondern  alles  a  priori  erkannt 
werden  soll,  wo  alles  nothwendig  ist,  so  erfordert  das  Princip  der  Verknüpfung 
.  .  .  völlige  Gewissheit.**     Vgl.  775  wo  der  von   aller  Erfahrung  abge- 
sonderten Vernunft  entweder  „Enthaltung  von  allem  Urtheil  oder  apodiktische 
Gewissheit"  auferlegt  wird.     Vgl.  Prol.  Or.  200  „Metaphysik  muss  Wissen- 
schaft sein,   nicht  allein  im  Ganzen,   sondern  auch  in  allen  ihren  Theilen, 
sonst   ist   sie    gar    nichts."      Nicht    bloss  Vermuthung   (wie   bei  Hume, 
s.  ob.  S.  35.  55),  sondern  völlige  Gewissheit  muss  durch  die  Kritik  erreicht 
werden.     761  f.  789:    „In  Sachen  der  r.  V.  muss  apodiktisch  bewiesen 
werden."     „Wenn  es  um  Urtheile  a  priori  zu  thun  ist,   kann  man  es  nicht 
auf  schale  Wahrscheinlichkeit  aussetzen;"   „die  Behauptung  der  speculativen 
Philosophie    muss   Wissenschaft  sein,   oder   sie   ist  überall  gar   nichts.*" 
Prol.  §  5.     „Das  Spielwerk  von  Wahrscheinl.   und  Muthmassung   steht   der 
Metaph.  ebenso  schlecht  an  als  der  Geometrie,"  Prol.  Or.  196  und  daselbst 
weiter:    „Es  kann  nichts  Ungereimteres  gefunden  werden,  als  in  einer  Meta- 
physik,  einer  Philosophie    aus   reiner  Vernunft,    seine  Urtheile    auf  Wahr- 
scheinlichkeit und  Muthmassung  gründen   zu  wollen.     Alles,   was   a  priori 
erkannt  werden  soll,  wird  eben  dadurch  für  apodiktisch  gewiss  ausgegeben, 
und   muss   also    auch   so   bewiesen   werden.     Man  könnte  ebenso  gut  eine 
Geometrie  oder  Arithmetik  auf  Muthmassungen  gründen  wollen.*  Kr.  d.  Ürth. 
§  90:    „Meinen  findet  in   Urth.  a  priori  gar  nicht  statt;  sondern  man  er- 


'  üeber  die  Hypothesen  vgl.  770  ff.  Es  sind  Erklärungen  von  etwas 
Wirklichem  durch  etwas  Anderes,  dessen  Wirklichkeit  nicht  erweislich  oder  nicht 
erwiesen  ist.    Kr.  d.  pr.  Vern.  227.    Kr.  d.  Urth.  §  90.  91. 


„Hypotheses  non  fingo,^    Alles  oder  Nichte.  133 

[R  10.  H  9.  K  17.]  A  IX.  B 

kennt  dui'ch  sie  entweder  etwas  als  ganz  gewiss,  oder  gar  nichts"; 
ib.  §91:  ,a  priori  zu  meinen,  ist  schon  an  sich  ungereimt  und  der  gerade 
Weg  zu  lauter  Hirngespinsten.  Entweder  unser  Satz  a  priori  ist  gewiss 
oder  er  enthält  gar  nichts  zum  Fürwahrhalten  \"  Ganz  in  diesem  Sinne 
lautet  einer  der  ersten  Sätze  der  Schrift  von  Reinhold  „lieber  das  Fundament 
des  philos.  Wissens*:  „Meine  Philosophie  weiss  nicht  vieles,  aber  sie  meynt 
gar  nichts.*  Vgl.  Reinhold  „üeber  die  Möglichkeit  der  Philosophie 
als  strenge  Wissenschaft"  Beitr.  zu  Bericht.  I.,  339  ff.  (cfr.  ib.  93  ff., 
273  ff.,  375  ff.),  worin  die  Noth wendigkeit  eines  ersten,  allgemeingültigen 
und  noth  wendigen  Ornndsatses  als  Bedingung  jener  Wissenschaftlichkeit 
aufgestellt  wird,  eine  Bestimmung,  welche  sich  bei  K.  noch  nicht  findet,  bei 
seinen  Nachfolgern  aber  eine  theilweise  verhängnissvolle  Rolle  spielte.  Vgl. 
Theorie  der  Vorstell.  71  ff. —  Die  schroffe  Disjunction:  Entweder  ganz 
ffewissoder  gar  nicht  fand  bei  den  idealistischen  Nachfolgern  begeisterten 
Anklang.  Schelling:  Vom  Ich  u.  s.  w.  Vorr.:  Die  Speculation  eines  grossen 
Denkers  „nimmt  den  freiesten,  kühnsten  Flug,  setzt  alles  aufs  Spiel  und  will 
entweder  die  ganze  Wahrheit  in  ihrer  ganzen  Grösse  oder  gar  keine 
Wahrheit*.  Apelt,  Metaph.  Vor.  Vll:  Met.  ist  entw.  eine  reine  Vernunft- 
wissenschaffe oder  sie  ist  ein  nichtiges  Phantom  *.  Im  Sinne  Kants  fuhrt 
daher  Jen i seh  Entd.  259  aus,  dass  Kants  Kritik  skeptische  Resultate 
dogmatisch-apodiktisch  gebe'.  Vgl.  Logik,  Einl.  IX  u.  X  mehrfach. 
Die  Einwände  gegen  die  hier  verlangte  und  behauptete  Unfehlbarkeit  (so 
nennt  es  Reinhard  System  der  Moral  I,  Vorr.  21)   s.   an  den   oben  ange- 


*  Wie  schon  in  der  vorliegenden  Textstelle,  so  wird  auch  in  den  obigen 
Citaten  von  K.  die  Apodicticität  der  formal-methodischen  Feststellnng  des  Apriori- 
schen nnd  die  Apodicticität  des  Apriorischen  selbst  nicht  genügend  unterschieden. 
In  der  Analytik  verschwimmt  beides  in  einander. 

'  Laas,  Ideal.  124:  „Wir  sehen  .  .  .  den  platonischen  Charakterzug 
überall  da,  wo  ,kategorische^,  all  e  Relativität  und  Bedingtheit  abstreifende  Impera- 
tive und  absolute  Ideale,  ohne  irgendwie  Compromisse  zuzulassen,  ohne  Nachsicht 
rmd  Racksicht,  ohne  Zuwarten  und  Bedacht  auf  sofortige  und  ganze  Erfüllung 
drängen;  überall  da,  wo  „Alles  oder  Nichts"  die  Maxime  und  Parole  ist." 
Wa«  Laas  hier  zunächst  von  der  praktischen  Philosophie  sagt,  gilt  selbstredend 
auch  für  die  theoretische.  Mi  11,  ExanUnation  209  f.  Anm.  *In  my  estimation  the 
doctrine  of  *all  or  none€  is  no  more  an  necessity  in  philosophy  than  in  polüies.^ 
(Gegen  M'Cosh.)  Dieser  Gegensatz  von  Meinen  und  Wissen  ist  ganz  speciell  Pla- 
tonisch, denn  durch  Piatons  ganze  Philos.  geht  der  wichtige  Gegensatz  von  865« 
und  es'.aTYjp.ir|  hindurch.  Vgl.  Herbart,  W.  W.  XII,  302  (über  Aenesidem- 
Srhulze  im  Verhältniss  zu  Kant). 

•  Jenisch  führt  jedoch  a.  a.  0.  169—179  aus,  dass  trotzdem  Ks.  Philosophie 
eine  Hypothese  sei;  von  den  „unerweislichen  Hypothesen"  des  Dogmatismus 
nnterscheide  sich  jedoch  der  Eriticismus  als  eine  „demonstrirte  Hypothese". 
—  üeber  Ks.  Verhältniss  in  dieser  Beziehung  zu  Condillac  s.  Willm,  Phü. 
^tt.  I,  85:  auch  dieser  ^rejette  touUs  les  hypoth^es*,  aber  als  Positivist. 


134  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  IX.  B  —  [R  10.  H  9.  K  17.  18.] 

führten   Stellen.  —  lieber    „Alles    oder   Nichts"    in    quantitativer   Hinsicht 
s.  unten.  — 

Denn  das  kündigt  eine  jede  Erkenntniss  u.  s.  w.  Vgl.  ProL  §  5:  „Denn 
was  dem  Vorgeben  nach  a  priori  erkannt  wird,  wird  eben  dadurch  als 
nothwendig  angekündigt.'^ 

Fell  stehen  darf«  Dieselbe  Wendung  schon  im  Briefe  an  Mendelssohn 
V.  8f  April  1766:  „Was  den  Vorrath  von  Wissen  betrifft;,  der  in  der  Meta- 
physik öffentlich  feil  steht,  so  ist  es  .  .  .  die  Wirkung  einer  langen 
Untersuchung,  dass  ich  in  Ansehung  desselben  nichts  rathsamer  finde,  als 
ihm  das  dogmatische  Kleid  abzuziehen"  u.  s.  w.  Ebenso  764  in  der  Preis- 
schrift, 2.  Betr.  Schluss:  Wenn  die  Philosophen  den  natürlichen  Weg  der 
gesunden  Vernunft  einschlagen,  u.  s.  w.  so  „werden  sie  vielleicht  nicht  so 
viel  Einsichten  feil  zu  bieten  haben,  aber  diejenigen,  die  sie  darlegen, 
werden  von  einem  sicheren  Werthe  sein".  Aehnlich  1790  gegen  Eberhard 
(R.  I.,  440)  dass  Eberhard  „Armseligkeiten  dem  Leser  für  bedeutende  Dinge 
verkaufe".  Nach  demselben  Bilde  nennt  er  die  dogmatischen  Systeme 
einmal  unerlaubte  Contrebande.  Das  Bild  der  „Waare"  schon  in  der 
Naturgesch.  d.  Himm.  (Vorr.)  in  demselben  Sinne.  Erkl.  über  Hippel  (R.  XI, 
a,  205),  „Was  in  Vorlesungen  als  öffentlich  zu  Kauf  gestellte  Waare  feil 
steht,  kann  von  einem  Jeden  benutzt  werden." 

A  priori,  lieber  diesen  hier  in  der  Kritik  zum  erstenmal  gebrauchten 
Ausdruck  s.  zu  Einl.  B  S.  2.  Der  Sinn  ist  bekanntlich  „unabhängig  von  £r- 
fahiTing". 

Eine  Bestimninng  aller  Erkenntnisse  a  priori«  D.  h.  eben  die  Fest- 
stellung der  in  der  Vernunft  selbst  als  solcher  liegenden  Erkenntnisse,  ihres 
Umfangs,  ihres  Werthes  und  ihrer  Tragweite.  Diese  Bestimmung  will  die 
Kritik  geben.  Aber  diese  Bestimmung  selbst  muss  auch  apodiktisch 
sein  und  das  kann  sie  nur,  wenn  sie  „nach  Principien"  gemacht  ist.  Die  von 
Kant  befolgte  Methode  wird  hier  wieder  scharf  betont  und  diese,  wie  die 
obigen  Stellen  werden  zur  Entscheidung  der  wichtigen  und  vielbehandelten 
Frage  „über  die  Auffindung  des  A  priori"  dienen,  d.  h.  über  die  Methode, 
welche  Kant  selbst  bei  der  Feststellung,  Bestimmung  aller  Erkenntnisse  a 
priori  befolgt  hat  oder  wenigstens  befolgen  wollte.  Die  hier  verlangte  ajK)- 
diktische  Natur  seiner  Resultate  nimmt  K.  sogleich  in  der  Aesthetik  in  An- 
spruch wo  es  S.  46  als  „eine  wichtige  Angelegenheit*  derselben  bezeichnet 
wird,  „dass  sie  nicht  bloss  als  scheinbare  Hypothese  einige  Gunst  erwerbe, 
sondern  so  gewiss  und  unge  zwei  feit  sei,  als  jemals"  u.  s.  w.  755  „Grenz- 
bestimmung unserer  Vernunft  nur  nach  Gründen  a  priori".  767  ff.  Dass 
mit  dieser  Stelle  die  Controverse  über  die  Methode  Kants  entschieden  sei, 
bemerkt  schon  Berg,  Epikritik  Vorr.  XVI.  Dass  die  Grenzbestimmung 
a  priori  festgesetzt  werden  soll,  findet  Aenesidem  404  ff.  in  Widerspruch 
mit  der  Thatsache,  dass  K.  faktisch  doch  nur  sich  auf  die  wahrgenommene 
Eigenschaft  an  einem  empirischen  Gegenstande  (nämlich  dem  menschlichen 
Gemüth)  stützt.     VgL  ib.  57.  401  ff.     Die  ganze  apriorisch-synthetische  Me- 


Apriorische  Auffindnng  des  Apriori.  135 

[R  10.  H  9.  E  18.]  A1X.B 

thode  der  Kritik  unterwarf  Nicolai  einer  scharfen  Kritik  in  der  lesens- 
werthen  Abhandlung  über  den  logischen  Regressus  (Philos.  Abh.  I,  197  fl'. 
bes.  218  ff.,  so  wie  er  ib.  I,  147  ff.  auch  Kants  abstracte  Methode  tadelt). 
Ausser  Pries  hat  besonders  Beneke  diese  Meth.  angegriffen,  vgl.  dessen 
Metaph.  S.  12  ff.  21.  26  f.  34.  133  ff.  367  f.  Eine  ganz  falsche  Bemerkung 
findet  sich  bei  Lange,  Mat.  II,  125,  wonach  diese  Forderung  apodiktischer 
Gewissheit  sich  nur  auf  „die  allgemeine  Deduction  von  Kategorien  über- 
haupt als  einer  Voraussetzung  aller  Erfahrung"  beziehe.  Eine  einfache 
Leetüre  des  Textes  zeigt  die  Flüchtigkeit  und  Irrthümlichkeit  dieser  Inter- 
pretation. Ebenso  verfehlt  ist  die  Herbeiziehung  der  obigen  Stelle,  womach 
die  Logik  ein  Vorbild  vollständiger  Aufzählung  der  Vernunfthandlungen  ist ; 
darnach  handle  es  sich  auch  hier  nach  L.  um  Vollständigkeit,  nicht  um 
Gewissheit.  Diese  Auslegung  beruht  auf  einer  auffallenden  Nachlässigkeit. 
Was  Lange  endlich  über  Prol.  Or.  196  sagt,  ist  ebensowenig  stichhaltig.  Viel 
richtiger  ist  die  Bemerkung,  dass  K.  über  die  method.  Grundlagen  seines 
grossen  Unternehmens  wohl  nicht  ganz  im  Klaren  gewesen  sein  könne 
(cfr.  ib.  29).  Wenn  aber  L.  hinzufügt,  K.  habe  eben  die  im  Jahre  1763 
ausgesprochenen  Ansichten  (in  der  Schrift  über  die  Evidenz)  nicht  genügend 
überwunden  gehabt,  so  vergisst  L.,  dass  K.  daselbst  von  einer  Forderung 
apodiktischer  Feststellung  apriorischer  Erkenntniss  in  dem  Sinne  von  1781 
gar  nicbt  spricht.  Dass  aber  jene  Forderung  eine  Nachwirkung  der  „metaph. 
Schule*  gewesen  sei,  ist  richtig  (a.  a.  0.  II,  29).  Selbst  aus  der  Kr.  der 
ürtheüskraft  werden  (nach  §  21  u.  ö.)  psychologische  Beobachtungen 
ausgeschlossen,  nur  die  transscendental-apriorische  Methode  soll  auch  dort 
angewendet  werden.  Ibid.  Einl.  V  wird  der  psycholog.  Weg,  der  nur  em- 
pirische Principien  enthält,  entschieden  verworfen.  Es  bedarf  einer  apriori- 
schen Deduction  aus  Begriffen  ib.  Voit.  IX.  Dag.  Anthrop.  §  4,  es  sei 
für  Logik  u.  Metaphysik  nöthig  und  nützlich,  die  verschiedenen  Akte  der 
Vorstellungskraft  in  mir  zu  beobachten.  Vgl.  hierüber  die  treffenden  Be- 
merkungen von  Windelband  Gesch.  d.  n.  Ptil.  II,  52  ff.  Diese  Frage 
stösst  im  Verlaufe  noch  mehrfach  auf.  Vgl.  zu  dieser  Stelle  Erdmann,  Ks. 
Kriticism.  13:  Die  Grenzbestimmung  kann  a  priori  sein,  »denn  die  Ab- 
straction  der  a  priori  erworbenen  Formen  unseres  Gemüths  aus  der  empiri- 
schen Erkenntniss,  die  Definition  dieser  Formen  und  ihre  Verbindung  sind 
selbst  lauter  apriorische  Handlungen,  obgleich  die  Erfahrung  (zeitlich)  vor 
ihnen  vorhergeht.  Man  abstrahirt  jene  Formen  nicht  von  der  Erfahrung, 
sondern  man  abstrahirt  im  Gebrauch  derselben,  die  a  priori  gegeben  sind 
von  allem  Empirischen,  das  damnter  enthalten  sein  mag."  (Kant,  W.  W. 
Res.  I,  312.  I,  416.)  Dass  und  in  welchem  Sinne  diese  apriorische  Erkennt- 
niss des  Apriorischen  eine  transscendentale  genannt  wird  (S.  56  f.) ,  wird 
a.  a.  0.  besprochen  K 


*  Ganz  anders   hatte  sich  K.  freilich  in  seiner  (*mp iristischen  Periode  über 
die  Methode  geäussert,  durch   welche   man  die  Grundlagen  der  Metaphysik  legen 


1 36  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  IX-XI.B—  [R  10.  11.  H  9.  10.  K  18.  19.] 

Bas  BichtmasB«  Ein  beliebtes  Bild  Kants.  „In  diesem  Lande  (Meta- 
physik) ist  noch  kein  sicheres  Mass  und  Gewicht  vorhanden,  um  Gründ- 
lichkeit von  seichtem  Geschwätze  zu  unterscheiden.**  Prol.  Vorr.  Or.  5. 
Ib.  221.  „Durch  Kritik  wird  unserem  ürtheil  der  Massstab  zugetheilt,  wo- 
durch Wissen  von  Schein  wissen  mit  Sicherheit  unterschieden  werden  kann.' 
Ib.  212:  „Andere  Wissenschaften  und  Kenntnisse  haben  doch  ihren  Mass- 
stab. Mathematik  hat  ihren  in  sich  selbst,  Geschichte  und  Theologie 
in  weltlichen  oder  heiligen  Büchern,  Naturwissenschaft  und  Arznei- 
kunst in  Mathematik  und  Erfahrung,  Rechtsgelehrsamkeit  in  Gesetz- 
buch era,  und  sogar  Sachen  des  Geschmacks  in  Mustern  der  Alten.  Allein 
zu  Beurtheilung  des  Dinges,  das  Metaphysik  heisst,  soll  erst  der  Massstab 
gefunden  werden  (ich  habe  einen  Versuch  gemacht,  ihn  sowohl,  als  seinen 
Gebrauch  zu  bestimmen)."  Aehnlich  schon  im  Briefe  an  Lambert  (31.  Dec. 
1779):  Die  zerstörende  Uneinigkeit  der  Philosophen  sei  die  Folge  des  Mangels 
eines  gemeinen  Richtmasses.  Ebenso  an  Mendelssohn  (8.  April  1766), 
wo  K.  den  Glauben  ausspricht  „zu  wichtigen  Einsichten  in  dieser  Disciplin 
gelangt  zu  sein,  welche  ihr  Verfahren  festsetzen,  und  nicht  bloss  in  allge- 
meinen Ansichten  bestehen,  sondern  in  der  Anwendung  als  das  eigentliche 
Richtmass  brauchbar  sind",  und  genau  ebenso  in  der  Ankündigung  zu 
.  seinen  Vorlesungen  1765:   in   anderen  Wissenschaften  ist  ein  gemeinschafbl. 

Massstab  da,  in  der  Philos.  hat  jeder  seinen  eigenen;  er  glaubt  „das 
Richtmass  des  Urtheils"  entdeckt  zu  haben.  Die  ^ Ideen  lassen  kein  an- 
deres, als  transscendentales  Richtmass  zu."  Kr.  640.  „In  transscendentaler 
Erkenntniss  ist  die  Richtschnur  die  mögliche  Erfahi-ung".  783,  844:  „die 
Phil,  hatte  bis  jetzt  keine  sichere  Richtschnur." 

Damit  aber  nicht  etwas  u.  s.  w.  Die  ganze  folgende  Stelle  gehört 
zur  „Deduction  der  Kategorien"  und  kann  natürlich  erst  dort  zur  Besprechung 
kommen. 

Deutlichkeit  9  discursive  und  intuitive.  Diese  methodologischen  Erfor- 
dernisse und  Begriffe  werden  in  der  Logik,  Einleitung  V,  ausführlich  er- 
örtert, wo  der  Unterschied  intuitiver  und  discursiver  Erkenntniss  überhaupt 
besprochen  wird.  „Es  bleibt  zwischen  der  ästhetischen  und  logischen  Voll- 
kommenheit unseres  Erkenntnisses  immer  eine  Art  Widerstreit  .  .  .  der 
Verstand  will  belehrt,  die  Sinnlichkeit  belebt  sein;  der  Erste  begehrt 
Einsicht,  der  Zweite  Fasslichkeit.*     Der  Vorliebe   für  das  Concrete  bei 


müsse.  Er  sagt  in  der  Vorr.  zu  der  Preisschrift  von  1764:  „Welche  Lehrart 
wird  diese  Abhandlung  selber  haben  sollen^  in  welcher  der  Metaphysik  ihr  wahrer 
Grad  der  Gewissheit,  sammt  dem  Wege,  anf  welchem  man  dazu  gelangt,  soll  ge- 
wiesen werden?  Ist  dieser  Vortrag  wieder  Metaphysik,  so  ist  das  Ür- 
theil desselben  eben  so  unsicher  als  die  Wissenschaft  bis  dahin  ge- 
wesen ist,  welche  dadurch  hofft,  einigen  Bestand  und  Festigkeit  zu 
bekommen  und  es  ist  Alles  verloren.  Ich  werde  daher  sichere  Erfahrungs- 
sätze  .  .  .  den  ganzen  Inhalt  meiner  Abhandlung  sein  lassen.'' 


Discnrsive,  nicht  intuitive  Deutlichkeit.  137 

[R  11.  H  10.  K  19.]  AXI.Xn.B 

der  Letzteren  steht  der  Vortrag  in  abstracto  bei  der  Ersteren  gegenüber, 
Logik  Eänl.  11.  , Beispiele  in  concreto  machen  den  Vortrag  fasslich"  (an 
Schutz  13.  Sept.  1785).  Vorl.  üb.  Philos.  Relig.  S.  19  f.  (Popularität  durch 
fassliche  Beispiele.)  Die  Vollkommenheit  der  Qualität  nach  betrachtet,  ist 
Deutlichkeit.  Die  Deutlichkeit  ist  entweder  eine  sinnliche  oder  eine 
begriffliche,  üeber  den  Ausdruck  „ästhetisch"  s.  unten.  Weitere  Aus- 
einandersetzungen hierüber  bes.  Logik,  Einl.  VIII.  Meilin  I,  85:  „Die 
Deutl.  ist  ästh.  durch  Beispiele  und  Gleichnisse  hervorgebracht,  welche  die 
abgezogenen  Vorstellungen  und  ürtheile  anschauend  machen;  sie  ist  der 
logischen  entgegengesetzt,  welche  durch  Entwickelung  der  Begriffe  entsteht.** 
Eine  Theorie  der  Beispiele  und  der  Versinnlichung  abstracter  Begriffe 
überhaupt  gibt  K.  in  der  Kr  it.  der  ästh.  ürtheilskr.  §  59.  ,  Bilder  u.  Beispiele 
nothw.  zur  Popul.",  Garve,  Verm.  Aufs.  I,  339.  Krit.  133  über  den  Nutzen 
der  Beispiele:  „ sie  schärfen  die  ürtheilskr aft".  Logik,  Einl.  VIII:  Logische 
Deutlichkeit  —  objective,  ästhetische  —  subjective  Klarheit  der  Merkmale. 
Jene  ist  eine  Klarheit  durch  Begriffe,  diese  eine  Klarheit  durch  Anschau- 
ung* Objective  Deutlichkeit  verursacht  oft  subjective  Dunkelheit  und  um- 
gekehrt. Aesthetische  Deutlichkeit,  durch  Beispiele  und  Gleichnisse,  ist  oft 
der  logischen  schädlich  u.  s.  w.  *  Aehnliche  Bestimmungen  schon  bei  den 
Wolfianern  z.  B.  Baumeister,  Inst.  phü.  rat  §  38  ff.  de  stylo  philosophico: 
„Manifestum  est,  omnem  ornatum ,  qui  sermonis  perspicuitati  officit,  ex  stylo 
phüos.  esse proscribendum,'^  Die  ästhetische  Deutlichkeit  schildert  Cousin  23 
als  ffVart  de  faire  passer  le  lecteiir  du  connu  ä  Vinconnu ,  du  plus  fädle  au 
difficHe,  art  sirare,  surtoui  en  Ällemagne^,  Von  der  log.  D.  bei  K.  sagt  er: 
r,Prenez  la  table  des  matihres;  comme  lä  il  ne  peut  itre  question  que  d^  Vordre 
logique  de  Venchainement  de  toutes  les  parties  de  Vouvrage,  rien  de  mieux  licy 
de  plus  precis,  de  plus  lumineux,  Mais  prenez  chaque  chapitre,  en  lui-meme, 
ici  totä  change ,  cet  ordre  en  petit  que  doit  renfermer  un  chapitre,  n'y  est 
poifU;  chaque  idie  est  toujours  exprimee  avec  la  dernih'e  prScision,  mais  eile 
n'est  pas  toujours  ä  la  place  oü  eile  devrait  etre  pour  entrer  aisSment  datts 
resprit  du  lecteur  '.^  In  seinen  öffentlichen ,  academischen  Vorträgen  war 
K.  viel  populärer  als  in  seinen  Schriften;  „die  edle  Popularität  in  seinen 
Vorlesungen  übertrifft  in  vielen  Punkten  den  stilistischen  Charakter  in  seinen 
Schriften*  Pölitz,  Von*,  zu  Ks.  philos.  Relig.  VI.,  zur  Metaph.  XII. 

Hiebt  go  streogpe^    aber  doeb  billige  Forderung«    Log.  Einleitung  V.: 
,Die  logische  Vollkommenheit  ist  die  Basis  aller  übrigen  Vollkommenheiten 


'  Schiller  an  Körner  Briefw.  II,  10:  Ausdrücke,  die  mehr  ästhetisch- 
als  logisch-deutlich  sind,  sind  gefährlich.  UeVjer  ästh.  Deutl.  vgl.  Baum- 
garten, Aesth.  II,  §  614.  —  Vgl.  hiezu  Windelband,  Viert  f.  wiss.  Philos. 
I.  231  Anm. 

■  Einen  ähnlichen,  eher  berechtigten  Vorwurf  erhebt  Barni  im  Avant  Prop. 
seiner  Uebers.  VII:  Les  phrases  sont  embarrassees  ou  mal  liies:  die  Kritik  entbehre 
nicht  selten  der  logischen  Klarheit. 


188  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  XII.  B  -  [R  11.  12.  H  10.  K  19.] 

und  darf  daher  keiner  anderen  gänzlich  nachstehen  oder  aufgeopfert  werden/ 
,Da  es  das  Bedürfniss  der  menschlichen  Natur  und  der  Zweck  der  Popu- 
larität des  Erkenntnisses  erfordert,  dass  wir  beide  Vollkommenheiten  mit 
einander  zu  vereinigen  suchen,  so  müssen  wir  uns  auch  angelegen  sein 
lassen,  denjenigen  Erkenntnissen,  die  überhaupt  einer  ästhetischen  Voll- 
kommenheit fähig  sind,  dieselbe  zu  verschaffen  und  eine  schulgerechte 
logisch  vollkommene  Erkenntniss  durch  die  ästhetische  Form  populär  zu 
machen".  Eine  ganz  ähnliche  Erklärung  gibt  Leibniz  im  Avant-Propos 
zu  den  Nouveaux  Essais  ab:  „(Locke)  est  plus  populaire  et  mois  je  suis 
forcS  quelquefois  d'etre  unpeu  plus  acro^amatique  et  plus  abstraü/'  Durch 
den  Dialog  will  er  des  remarques  toutes  shches  verhüten.  (Erdm.  194  a). 
(Kant  unten :  trockener  Vortrag.)  Schon  1 763 ,  Demonstr.  Gottes  1,1,3 
wies  K.  die  Klage  über  Trockenheit  stolz  zurück,  indem  er  sie  anerkennt. 
„Akroamatisch"  ist  bei  Kant  Gegensatz  zu  intuitiv  (anschaulich)  s.  zu  734. 
Kants  häufige  Erörterungen  über  den  Unterschied  der  beiden  Schreibarten 
erinnern  stark  an  die  Bemerkungen  von  Leibniz  über  diesen  Unterschied, 
den  er  mit  dem  der  Alten  von  exoterischer  und  esoterischer  Schreib- 
weise identificirt.  S.  Erdm.  290  a  und  besonders  die  weitläufigen  Auslassungen 
in  der  Abhandlung:  De  stilo  philosophieo  Nizolii  (1670)  Erdm.  54  a  sq.  VIII. 
X.  XL  XII.  XV.  XVI.  Wie  Kant  setzt  er  das  Wesen  des  exoterischen,  po- 
pulären Vortrages  auch  in  die  iUustratio  durch  exempla;  tele  dicendi  gepius 
ist  jedoch  non  rigorosissimum,  non  exactissimum.  Wie  Kant  an  Mendelssohn 
(s.  unt.)  schreibt,  so  darf  auch  nach  Leibniz  die  Popularität  nicht  so  weit 
gehen,  dass  der  „cursus  definitionum,  divisionum  et  demonstrationum  etc. 
interrumpitur'^.  Der  certitudo  geschieht  freilich  dui'ch  eine  solche  claritas 
Abbruch;  cfr.  ib.  122  ff. 

Im  ersten  Entwürfe.  Diese  Andeutungen  über  den  „ersten  Entwurf* 
und  den  „Fortgang  der  Arbeit*  sind  zu  unbestimmt,  als  dass  aus  denselben 
über  Kants  Arbeitsmethode  ein  befriedigender  Schluss  gezogen  werden  könnte. 
Nur  so  viel  lässt  sich  vielleicht  feststellen,  dass  Stellen,  in  denen  „Beispiele 
und  Erläuterungen"  sich  finden,  dem  „ersten  Entwürfe"  angehören.  Man 
vgl.  vorläufig«.  170.  291.  554  f.  645.  Vgl.  Brief  an  Herz  vom  20.  Aug.  1777 
über  die  eben  damals,  also  wohl  „im  ei*sten  Entwurf"  angestrebte  Deutlichkeit 
der  Darstellung.  Ueber  die  Art  der  Ausarbeitung  gibt  Kant  im  Briefe 
vom  18.  Aug.  1783  (an  Mendelssohn)  folgende  Schilderung:  Das  Produkt 
des  Nachdenkens  von  einem  Zeitraum  von  wenigstens  zwölf  Jahren  hatt^ 
ich  innerhalb  etwa  4  bis  5  Monaten  „gleichsam  im  Fluge,  zwar  mit  der 
grössten  Aufmerksamkeit  auf  den  Inhalt,  aber  mit  weniger  Fleiss  auf  den 
Vortrag  und  Beförderung  der  leichten  Einsicht  für  den  Leser  zu  Stande 
gebracht,  eine  Entschliessung  die  mir  auch  jetzt  noch  nicht  leid  thut,  weil 
ohnedies  und  bei  längerem  Aufschübe,  um  Popularität  hineinzubringen,  das 
Werk  vermuthlich  ganz  unterblieben  wäre".  Da  Kant  mit  Härtung  (Reicke, 
Kantiana  S.  21.  Anm.  38),  Kanter  und  Hartknoch  (Hamann  W\  W.  VT, 
160.  161)  Ende  September  1780  in  Verhandlungen  stand  (Hartknoch   hatte 


ZwölQährige  Arbeit  an  der  Kritik  d.  r.  V.  189 

[R  12.  H  10.  K  19.]  A  Xn.  B- 

sich,  wohl  auf  Hamans  Betreiben,  selbst  gemeldet),  da  Kant  in  diese  Verhand- 
lungen wohl  nicht  vor  Vollendung  der  Arbeit  getreten  sein  wird  (vgl.  Erd- 
mann, Kritic.  83),  da  Kant  nach  Hamann  W.  VI,  145  Ende  Juni  noch  an 
seiner  Arbeit  ist  —  so  folgt  aus  diesen  Daten,  zusammen  mit  jenem  Selbst- 
zeugniss  von  Kant,  dass  die  Niederschrift  der  Kritik  im  Sommer  1780, 
etwa  im  April  bis  August  oder  Anfang  September,  stattfand.  Dafür,  dass 
Kant  um  diese  Zeit  mit  dem  Manuscript  fertig  war,  spricht  auch  die  Art 
der  Behandlung  der  Religionstheorie  Hume's  (in  der  Methodenlehre),  die  er 
erst  Anfang  September  genauer  kennen  lernt  (nach  Beendigung  des  Manuscripts). 
(Erdmann,  Prol.  VI).  Indessen  hatte  K.  das  Manuscript  noch  lange  im 
Hause,  denn  erst  Anfang  December  (Hamann  VI,  171)  scheinen  die  Ver- 
handlungen mit  Hartknoch  zum  Abschluss  gediehen  zu  sein.  Ob  nun  dieses 
.Zustandebringen'*,  wie  K.  sich  ausdrückt,  nach  Windelband  (V.  f.  w. 
Phil.  I,  227  ff.)  theilweise  eine  mit  üeberarbeitung  verbundene  blosse 
•Zusammenstellung  fiüher  entstandener  Manuscripte"  oder  nach  Erd- 
mann (Krit.  84)  eine,  wenn  auch  fast  durchaus  frühere  Materialien 
benützende,  so  doch  ganz  neue  Niederschrift  gewesen  sei,  das  ist  eine 
an  sich  unwichtige  Frage,  die  aber  bis  zu  einer  gewissen  Sicherheit  beant- 
wortet werden  kann  aus  der  inneren  Beschaffenheit  des  Textes;  als 
Schlussfolgerung  aus  dieser  erhält  dann  auch  jene  Frage  ihre  Wichtigkeit. 
Diese  Frage  lässt  sich  daher  auch  erst  im  Laufe  und  am  Ende  des  Com- 
mentars  beantworten.  Die  äusseren  Gründe,  welche  Erdmann  Krit.  84 
gegen  Wind,  geltend  macht,  sind  jedenfalls  nicht  genügend.  —  Was  endlich 
jene  Bemerkung  Kants  betrifft,  es  handle  sich  um  das  Produkt  des  Nach- 
denkens von  mindestens  12  Jahren,  so  erhellt  aus  einer  anderen  Briefstelle, 
dass  Kant  damit  nicht  bloss  eine  runde  Zahl  angibt.  Am  2.  Sept.  1770 
schreibt  er  an  Lambert:  Seit  etwa  einem  Jahr  bin  ich  ...  zu  demjenigen 
Begriffe  gekommen,  welchen  ich  nicht  besorge  jemals  ändern,  wohl  aber 
erweitern  zu  dürfen  u.  s.  w.  Wenn  somit  Kant  12  Jahre  Nachdenken  an- 
setzt, wenn  das  Werk  im  Sommer  1780  fertig  wurde  und  daher  die 
Jahre  1769—1780  als  diese  12  Jahre  zu  gelten  haben  (nach  Erdmann  84 
soll  Kants  Angabe  nicht  ganz  streng  richtig  sein:  „er  rechnete' vermuthlich 
kurz  von  1769  Ende  bis  1781".  Das  sind  aber  13  Jahre)  —  so  setzt  er  im 
Briefe  an  Mend.  als  Anfangspunkt  des  Nachdenkens  genau  denselben  Zeit- 
punkt, den  er  im  Briefe  an  Lambert  als  denjenigen  bezeichnet,  in  dem  er 
zu  einer  definitiven  principiellen  Ansicht  gekommen.  Der  Zusatz  „wenigstens'' 
erhält  femer  seine  Erklärung  durch  folgende  Daten:  Schon  1765  entwickelt 
er  in  dem  Briefe  an  Lambert  vom  31.  Dec.  genau  das  Thema,  mit  dem 
sich  auch  die  Kritik  beschäftigt,  und  im  Briefe  vom  16.  Nov.  1781  an  Ber- 
noulli  erkennt  er  ausdrücklich  die  Continuität  des  Nachdenkens  über  dieses 
Thema  (von  1765  ab)  an.  Und  auch  dort  spricht  er  „von  verschiedenen 
Jahren,  während  der  er  seine  philosophischen  Erwägungen  auf  alle  erdenk- 
lichen Seiten  gekehrt  hat",  so  dass  jenes  ^wenigstens"  seine  volle  Berechtigung 
erhält  und  statt  12  wohl  15  Jahre  des  Nacbdeukens  angegeben  sein  dürften. 


140  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  Xn.  B  —  [R  12.  H  10.  K  19.] 

wovon  allerdings  gerade  12  auf  die  Kritik  selbst  fallen,  mit  Einschluss  der 
im  Jahre  1770  erschienenen  Dissertation,  die  den  Anfang  der  sog.  , kritischen* 
Periode  Kants  und  den  Vorläufer  der  Kritik  bildet.  (Paulsen  Entw.  101.) 
Auch  wenn  man  die  oben  S.  47 — 49  dargelegte  Modification  der  landläufigen 
Entwicklungstheorie  der  K. 'sehen  Philos.  acceptirt ,  stimmt  die  K.'sche  An- 
gabe der  12  Jahre:  Kant  rechnet  von  dem  Zeitpunkt  des  erneuten  Leibniz- 
schen  Einflusses  an,  und  fasst  den  a.  a.  0.  sogenannten  ,Z weiten  Ent- 
wicklungsprocess"  unter  dem  Ausdruck:  , wenigstens  12  Jahre*  zu- 
sammen.    [Vgl.  unten  den  Anhang  zu  diesem  Abschnitt.] 

Ich  sähe  aber  u.  s.  w.  Vgl.  die  Parallelerklärung  an  Mendelssohn 
(Brief  vom  18.  Aug.  1783):  „Ich  habe  das  Werk  .  .  .  zwar  mit  der  grössten 
Aufmerksamkeit  u.  s.  w.  [vgl.  die  vorige  Anm.]  .  .  .  denn  ich  bin  schon  zu  alt. 
um  ein  weitläufiges  Werk  mit  ununterbrochener  Anstrengung,  Vollständigkeit 
und  zugleich  mit  der  Feile  in  der  Hand,  jedem  Theile  seine  Rundung,  Glatt« 
und  leichte  Beweglichkeit  zu  geben.  Es  fehlte  mir  zwar  nicht  an  Mitteln 
der  Erläuterung  jedes  schwierigen  Punkts,  aber  ich  fühlte  in  der  Ausar- 
beitung unaufhörlich  die  der  Deutlichkeit  ebensowohl  widerstreitende  Last 
der  gedehnten  und  den  Zusammenhang  unterbrechenden  Weitläufigkeit ;  daher 
ich  von  dieser  vor  der  Hand  abstand,  um  sie  bei  einer  künftigen  Behand- 
lung .  .  .  nachzuholen."  Aehnlich  sagt  K.  in  der  Vorrede  zur  Nova  düuci- 
datio  1 755,  dass  er  aller  „prolixae  anibages*'  sich  enthalte,  nur  die  „nervös  ae 
artus  argumentorum^^  anstrenge,  und  alle  „venustas  sermonis^'  wie  ein  Kleid 
ausziehe. 

Scholastisch  und  populär.  Ueber  diesen  Gegensatz  spricht  Kant  sehr 
häufig.  »Schon  am  12.  Juni  1755  sprach  er  bei  dem  Promotionsact  über 
den  „leichteren  und  gi'ündlicheren  Vortrag  der  Philosophie"  in  einer  latei- 
nischen Rede,  die  noch  Borowski  (K.  32)  abschriftlich  vorlag.  Grund- 
legung zur  Met.  d.  S.  II.  Abschn.  (üebergang  von  der  populären  sitt- 
lichen Weltweisheit  zur  Met.  d.  S.):  „Die  Herablassung  zu  Volksbegriffen 
ist  sehr  rühmlich,  wenn  die  Erhebung  zu  den  Principien  der  reinen  Vernunft 
zuvor  geschehen  und  zur  Befriedigung  erreicht  ist.  ...  Es  ist  ungereimt, 
der  Popularität  in  der  ersten  Untersuchung,  worauf  alle  Richtigkeit  der 
Grundsätze  ankommt,  schon  willfahren  zu  wollen";  das  sei  keine  wahre 
philosoph.  Popularität,  indem  es  keine  Kunst  sei,  gemeinverständlich  zu 
sein,  wenn  man  dabei  auf  alle  gründliche  Einsicht  Verzicht  thue.  AUerei'st 
nach  erworbener  bestimmter  Einsicht  dürfe  man  mit  Recht  populär  sein. 
Femer  ib.  über  die  B  e  i  s  p  i  e  l  e  im  pop.  Vortrag  und  den  Mangel  adäquater 
Beispiele  im  streng  wissenschaftlichen.  Cfr.  19.  Brief  an  Herz  (c.  1795)  seit 
einiger  Zeit  sinne  er  auf  die  Grundsätze  der  Popularität,  und  er  glaube  aus 
diesem  Gesichtspunkte  eine  andere  Auswahl  und  Anordnung  bestimmen  zu 
können,  als  sie  die  schulgerechte  Methode  erfordert,  die  doch  immer  das  Fun- 
dament bleibe.  Logik.  Einl.  II.  „Der  scholastische  Vortrag  ist  das  Fundament 
des  populären,  denn  nur  derjenige  kann  etwas  auf  eine  populäre  Weise  vortragen, 
der  es  auch  gründlicher  vortragen  könnte.*     V,  (vgl.  oben  zu  Deutlichkeit; 


üeber  die  Popularisirung  der  Kritik  d.  r.  V.  141 

[B  12.  H  10.  E  19.]  A  Xn.  B 

populär-  intuitive  Deutlichkeit) .    Ib.  VI,  die  üebertreibung  des  scholastischen 
Vortrags  gibt  Pedanterie,    die  des   populären   Galanterie.     Dagegen 
zweckmässige    Genauigkeit   in   Formalien   ist    Gründlichkeit    (schulgerechte, 
scholastische  Vollkommenheit).     »Um  der  populären  Vollkommenheit  willen, 
dem  Volke  zu  gefallen,  muss  die  scholast.  Vollkommenheit  nicht  aufgeopfert- 
werden".  Vgl.  Metaph.  der  Sitten,  Vorr.  und  Logik  §  16.  §  115.  Weiteres 
über  diesen  Unterschied  und  über  die  „Popularität*  der  Proleg.  s.  zu  Vorr.  B. 
Beispiele    wahrer  Popularität    sind   unter    den   Alten   Cicero' s   philos. 
Bchriften;  unter  den  Neuern  Hume  (subtil  und  anlockend  Prol.  Vorr.)  und 
Sbaftesbury   (Log.  VI),    Garve   (Met.   d.  S.  Vorr.)    und  Mendelssohn 
(gründlich  und  elegant  Prol.  Vorr.   Vgl.  Brief  an  Mend.  v.  18.  Aug.  1783). 
Keineswegs  dem  populären  Oebranohe  u.  s.  w.     Ueber  die  Möglichkeit 
der  Popularisirung  der   Kritik  der  r.  V.  finden  sich   bei   Kant  zwei  wider- 
sprechende Ansichten.    Wie  hier,   so   verneint   er  dieselbe  besonders  in  der 
Vorrede  B,  XXXIII.    „die  Kritik  der  r.  V.  kann   niemals,  populär  werden", 
und  in  der  Vorr.  zur  Met.  der  Sitten:   gegen   Garve 's  Forderung  (in  den 
Vermischten  Aufsätzen  I.  Theil  Breslau  1796  [331—358  Popularität]  352  f.) 
jede  philosophische  Lehre  müsse  zur  Popularität  (einer  zur  allgemeinen  Mit- 
theilung hinreichenden  Versinnlichiing)  gebracht  werden  können,  sonst  komme 
der  Lehrer   selbst  in   den   Verdacht   der   Dunkelheit  seiner  Begriffe,  —  be- 
merkt Kant,   das  räume   er  ein,  mit  Ausnahme  der  Kritik  des  Vernunft- 
vermögens selbst,  diese  „kann  nie  populär  werden,   so  wie  überhaupt  keine 
formelle   Metaphysik;   obgleich    ihre    Resultate   für  die  gesunde  Vernunft 
(eines  Metaphjsikers,  ohne  es  zu  wissen)  ganz  einleuchtend  gemacht  werden 
können.     Hier   ist   an  keine   Popularität  (Volkssprache)  zu  denken,  sondern 
es  muss  auf  scholastische  Pünktlichkeit,  wenn  sie  auch  Peinlichkeit  gescholten 
würde,  gediningen  werden  (denn  es  ist  Schulsprach ej,  weil  dadurch  allein 
die  voreilige  Vernunft  dahin  gebracht  werden  kann,  vor  ihren  dogmatischen 
Behauptungen  sich  erst   selbst  zu  verstehen."     Brief  an  Lichtenberg  (1793). 
Eine  Kritik  „kann  bei  der  Strenge  der  Begriffsbestimmungen  die  scholastische 
Geschmacklosigkeit  kaum  umgehen."      Er    wünscht   daher   auch,    dass    die 
latein.  üebersetzung  der  Kritik  von  Born,  sollte  sie  zu  sehr  auf  Eleganz  an- 
gelegt sein,  mehr  der  scholastischen  Richtigkeit  und  Bestimmtheit  angepasst 
werde  (an  Schütz  25.  Juni  1787).     Prol.  Vorr.  Or.  21    „die  so   beschrieene 
Dunkelheit"  habe  auch  ihren  Nutzen,  den  er  mit  dem  Vi rgilischen  Verse 
ausdrückt: 

IgfMvum,  fucos,  pecus  a  p^'aesepihus  arcent. 

Dagegen  sagt  er  am  Schluss  der  Vorrede  B,  der  sich  ganz  mit  der  Möglich- 
keit der  Popularisirung  beschäftigt,  „wenn  sich  Männer  wahrer  Popularität 
damit  beschäftigen,  so  werde  der  Theorie  auch  die  erforderliche  Eleganz  ver- 
schafft werden."  Im  Brief  an  Mendelssohn  vom  18.  Aug.  1783  sagt  er, 
wenn  das  Product  seiner  rohen  Bearbeitung  nach  erst  da  sei,  könne  dem 
Mangel  der  Popularität  nach  und  nach  abgeholfen  werden;  er  sei  von  der 


142  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  Xn.Xm.B—  [R  12.  H  10.  11.  E  19.  20.] 

populären  Erläuterung  nur  abgestanden,  um  sie  bei  einer  künftigen  Behand- 
lung, wenn  seine  Sätze  angegriffen  werden,  nachzuholen.  Die  Annäherung 
an  ,die  gemeine  Fassungskraft"  glaubt  er,  lasse  sich  in  einem  doctrinalen 
Vortrage  eher  erreichen,  als  bei  der  propädeutischen  Kritik  (an  Lichtenberg 
1793).  —  Dieses  Schwanken  lässt  sich  nicht  genügend  heben,  weder  durch 
Distinction  zweier  Bedeutungen  von  „populär"  (für  das  gemeine  Volk 
oder  für  die  Gebildeten),  noch  durch  eine  derartige  Distinction,  dass  etwa 
nur  die  Kritik  selbst  der  Popularität  ermangeln  müsse,  dass  aber  die  Mit- 
theilung ihres  Planes  (Proleg.  20  f.)  oder  die  Mittheilung  ihrer  Resultate 
(vgl.  „doctrinale"  Bearbeitung)  den  populären  Vortrag  wählen  könne.  Die 
an  sich  unwichtige  Frage  gewinnt  jedoch  einiges  Interesse  für  die  Frage, 
ob  die  Prolegomena  „populär"  seien,  (s.  unten  S.  143). 

Abt  Terrasson.  Derselbe  wird  von  Kant  auch  in  dem  „Versuch  über 
die  Krankheiten  des  Kopfes"  (1764)  citirt.  Eine  Anekdote  über  denselben 
findet  sich  in  der  Anthrop.  §  77.  Jean  Terrassen  (Biogr.  Univ.  45,  170  ff.) 
geb.  zu  Lyon  1670,  f  zu  Paris  1750  ist  bekannt  durch  seine  Betheiligung 
an  dem  Streit  über  Homer,  an  dem  Actienunternehmen  von  Law,  und  ins- 
besondere durch  seinen  Staatsroman  „Sethos",  ein  Gegenstück  zum  „Tele- 
maque".  Die  Schrift,  auf  welche  sich  K.  bezieht,  erschien  nach  seinem  Tode, 
im  Jahr  1 754  und  wurde  von  Frau  Gottsched  übersetzt  u.  d.  T. :  Des  Abtes 
Terrasson  „Philosophie  nach  ihrem  allgemeinen  Einflüsse  auf  alle  Gegen- 
stände des  Geistes  und  der  Sitten."  Berlin,  Stettin  und  Leipzig,  bey  Johann 
Heinrich  Rüdiger  1762.  Die  angezogene  Stelle  findet  sich  dort  auf  S.  117 
und  lautet:  „In  den  an  sich  selbst  schweren  Wissenschaften  rechne  ich  die 
Länge  eines  Buches  nicht  nach  der  Zahl  der  Seiten,  sondern  nach  der  Länge 
der  Zeit,  die  man  zu  dessen  Verstände  braucht.  In  diesem  Verstände  ist  es 
ziemlich  oft.  geschehen ,  dass  das  Werk  viel  kürzer  geworden  sein  würde, 
wenn  es  etwas  länger  geworden  wäre."  Auch  der  in  der  Anthrop.  §  44 
erwähnte  „Academiker"  ist  Terrasson,  wie  aus  S.  48  des  gen.  Werkes  hervo^ 
geht.     Anthrop.  §  77  bezieht  sich  auf  &.  45. 

Manches  Buch  wäre  viel  deutlicher  tfr^worden  u.  s.  w.  Das  gilt  be- 
kanntlich besonders  für  die  unendlich  weitschweifigen  Werke  Wolfs.  Vgl. 
das  317.  Xenion  von  Schiller-Goethe: 

Alte  Prosa,  komm  wieder,  die  alles  so  ehrlich  heraussagt. 

Was  sie  denkt  und  gedacht,  auch  was  der  Leser  sich  denkt. 

Schon  in  der  Erstlingsschrift  (Schätzung  d.  leb.  Kräfte)  Einl.  XIII.  gibt  K. 
dasselbe  Bestreben  kund,  durch  Kürze  dem  Leser  entgegenzukommen. 
Ib.  §  102,  man  sage  mit  Grund:  Ein  grosses  Buch,  ein  grosses  Uebel '. 


'  Mit  Bezug  auf  diese  Stelle  sagt  Hamann  am  Schlüsse  seiner  Recension 
(Reinh.  Beitr.  II,  212) :  Demselben  Abt  Terr.  zu  Folge,  der  die  ästhetische  Länge 
transscenden taler  Schriften  nicht  ab  extra,  sondern  ab  intra  geschätzt  wissen  wollte, 
besteht  das  Glück   eines   Schriftstellers   darin:    „von   einigen   gelobt  und  allen 


1 


Aufforderung  zur  Mitarbeit.  143 

[R  12.  13.  H  11.  K  20.]AXin.B 

Cfliederban  des  Systems.  Prol.  Or.  20.  „Wie  bei  dem  Gliederbau  eines 
organisirten  Körpers",  kann  bei  der  reinen  Vernunft  „der  Zweck  jedes 
Gliedes  nur  aus  dem  vollständigen  Begriffe  des  Ganzen  abgeleitet  werden." 
Kritik  Vorr.  B.  XXII  sq.  XXXVII:  „Die  reine  specul.  Vernunft  enthält  einen 
wahren  Gliederbau,  worin  alles  Organ  ist,  nämlich  Alles  um  Eines  willen 
und  ein  jedes  Einzelne  um  Aller  willen"  u.  s.  w.  Ib.  XLIV:  „Gliederbau 
des  Systems".  Weiteres  über  diese  der  Coacervation  entgegengesetzte 
Articulation  s.  822:  Das  Ganze  ist  „wie  ein  thierischer  Körper,  dessen 
Wachsthum  kein  Glied  hinzusetzt,  sondern  ohne  Veränderung  der  Proportion 
^m  jedes  zu  seinen  Zwecken  stärker  und  tüchtiger  macht."  Vgl.  65.  Neben 
Artic.  steht  Organisation  Kr.  d.  Urth.  §  79.  Dieser  natürliche,  organische 
Gliederbau  wird  durch  die  populäre  Darstellung  verdeckt.  Damit  nun  „die 
Wissenschaft  alle  ihre  Articulationen,  als  den  Gliederbau  eines  ganzen  be- 
sonderen Erkenntnissvermögens  in  seiner  natürlichen  Verbindung  vor  Augen 
steile",  muss  das  Werk  durchaus  nach  synthetischer  Lehrart  dargestellt 
^ein.  Denn  „für  den  Zweck  der  Popularität  ist  die  analytische,  für  den 
Zweck  der  wissenschaftlichen  und  systematischen  Bearbeitung  des 
Erkenntnisses  aber  ist  die  synthetische  Methode  angemessener."  (Logik  §  117 
Anm.)  Von  hier  aus  lässt  sich  auch  die  Controvei-se  heben,  ob  die  Prole- 
gomena  als  eine  populäre  Arbeit  von  Kant  beabsichtigt  seien.  Erd- 
inann,  Kants  Proleg.  Einl.  VH-XI.  XV-XX.  XXVI  u.  XXVIL  Arnoldt, 
Kants  Proleg.  7 — 10.  (Vgl.  Vaihinger,  die  Erdmann- Arnoldt'sche  Contro- 
?erse  über  Kants  Prolegomena.  Phil.  Mon.  1880,  I,  1 — 27  und  die  dort 
gegebenen  Nachweise.)  Weiteres  hierüber  s.  zu  Einl.  S.  18  zum  Terminus 
„  A  rchitektonisch  " . 

Seine  Bemfllmiig  mit  der  des  Verfassers  zu  vereinigeii.  Diese  Auffor- 
derung zur  Mitarbeit,  die  auch  im  nächsten  Absatz  wiederholt  wird,  wo  die 
Mithilfe  der  Leser  zu  Vollendung  der  Metaphysik  (in  analytischer  Hinsicht) 
angerufen  wird,  findet  sich  auch  am  Schluss  des  Werkes,  S.  856,  wo  der 
Leser  gebeten  wird,  ,das  Seinige  beizutragen,  um  diesen  Pusssteig  zur 
Heeresstrasse  zu  machen".  Dieselbe  Bitte,  zugleich  verbunden  mit  der  der 
systematischen  Prüfung  seiner  Kritik,  wiederholt  Kant  dann  am  Schlüsse 
der  Prolegomena  Or.  218,  die  er  dann  als  „Abriss"  zu  jener  Prüfung  darbietet. 
Er  hofft,  dass  verdiente  Männer  jede  gute  Veranlassung  benützen,  zu  dem 
gemeinschaftlichen  Interesse  der  sich  immer  mehr  aufklärenden  Vernunft 
mitzuarbeiten.  „Man  rühmt  von  den  Deutschen,  dass,  wozu  Beharr- 
lichkeit und  anhaltender  Fleiss  erforderlich  sind,  sie  es  darin  weiter  als 
andere  Nationen  bringen  können.  Wenn  diese  Meinung  gegründet  ist,  so 
zeigt  sich  hier  nun  eine  Gelegenheit,  ein  Geschäft,  an  dessen  glücklichem 
Ausgang  kaum  zu  zweifeln  ist,  .  .  .  zur  Vollendung  zu  bringen."  Ib.  219. 
Höchst  charakteristisch   und  denkwürdig  ist  ein  Grund,   mit  dem  K.  seine 


bekannt^  ;  Recensent  setzt  noch  als  Maximum  echter  Autorschaft  und  Kritik  hinzu: 
„von  blutweuigen  gefasst  zu  werden."  (W.  W.  VI,  53.) 


144  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

AXin.B-  [B  13.  H  11.  E  20.] 

Bitte  unterstützt:  „Auch  scheint  dieser  meiner  Zumuthung  der  jetzige  Zeit- 
punkt nicht  ungünstig  zu  sein,  da  man  jetzt  in  Deutschland  fast  nicht  weiss, 
womit  man  sich,  ausser  den  sogenannten  nützlichen  Wissenschaften  noch 
sonst  beschäftigen  könne".  Es  gab  damals  in  Deutschland  keine  Politik.  —  Am 
Schlüsse  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  stattet  er  den  Dank  für  die  unter- 
dessen geleistete  Mithilfe  ab  und  spricht  daselbst  die  Hoffnung  der  Fort- 
setzung dieser  Unterstützung  aus.  —  Diesen  Gedanken  einer  gemeinsamen 
Bearbeitung  der  Metaphysik  (welche  Geraeinsamkeit  das  beste  Zeichen 
ihrer  wahrhaft  wissenschaftlichen  Qualität  wäre),  hat  Kant  von  Lambert 
übernommen  *.  L.  schreibt  am  13.  Nov.  1765,  da  sie  (Lambert  und  Kant) 
in  „vielen  neuen  Untersuchungen  auf  einerlei  Gedanken  und  Wege  gerathen", 
so  wäre  es  angemessen,  „die  Ausarbeitung  der  einzelnen  Stücke  eines  ge- 
meinschaftlichen Planes  unter  einander  zu  vertheilen."  Diese  Auffor- 
derung ergreift  Kant  mit  Wärme;  er  schreibt  am  31.  Dez.  1765  an  Lambert: 
„Ihre  Einladung  zu  einer  wechselseitigen  Mittheilung  unserer  Entwürfe  schätze 
ich  sehr  hoch",  er  glaubt,  dass  wenn  es  Lambert  beliebe  „mit  meinen  kleineren 
Bestrebungen  Ihre  Kräfte  zu  vereinbaren",  dies  für  ihn  und  vielleicht  auch 
für  die  Welt  eine  wichtige  Belehrung  hoffen  lasse.  An  Stelle  der  „zer- 
störenden Uneinigkeit  der  vermeinten  Philosophen"  möchte  er  „ein  gemeines 
Richtmass*  setzen,  „ihre  Bemühungen  einstimmig  zu  machen*. 
Lambert  antwortet  darauf  mit  jenem  Brief  vom  3.  Febr.  1766,  der  für 
Kant-s  Entwicklung  so  bedeutsam  war.  Erst  am  2.  Sept.  1770  übersendet 
ihm  K.  seine  Dissertation  mit  der  Bemerkung:  „Nichts  konnte  mir  er- 
wünschter sein,  als  dass  ein  Mann  von  so  entschiedener  Scharfsinnigkeit 
u.  s.  w.  seine  Bemühung  darbot,  mit  vereinigten  Prüfungen  und 
Nachforschungen  den  Plan  zu  einem  sicheren  Gebäude  zu  entwerfen.  Ich 
konnte  mich  nicht  entschliessen ,  etwas  Minderes  als  einen  deutlichen 
Abriss  .  .  .  und  eine  bestimmte  Idee  der  eigentlichen  Methode  (in  der  Meta- 
ph3'sik)zuüberschieken*.  Erbittet,  „das  schöne  Vorhaben,  diesen  Bemühungen 
beizutreten,  noch  immer  unverändert  zu  erhalten",  versteht  dies  aber  weniger 
so,  dass  es  eine  gemeinsame  Arbeit  sein  sollte,  als  dass  Lambert  seine 
Arbeit  kritisiren  sollte,  w^ie  es  scheint,  schon  im  Manuscript;  denn  Kant 
will  ihm  seine  Vei'suehe  in  der  Metaphysik  vorlegen,  „mit  der  festen  Ver- 
sicherung, keinen  Satz  gelten  zu  lassen,  der  nicht  in  Ihrem  ürtheil  voll- 
kommene Evidenz  hat,  denn  wenn  er  diese  Beistimmung  sich  nicht  erwerben 
kann,  so  ist  der  Zweck  verfehlt,  diese  Wissenschaft  ausser  allem  Zweifel  auf 
ganz  unstreitige  Regeln  zu  gründen'."    Er  bittet  ihn  zugleich  um  ein  Urtheil 

'  Der  Gedanke  ist  weiter  rückwärts  auf  Leibniz  zu  verfolgen.  Die  bezüg- 
lioheu  Stelleu  aus  L.  sind  zusaniniengeoniuet  bei  Lauiey,  Leibniz  u.  d.  Studium 
d.  Wiss.  iu  eiuem  Kloster.  Münster  1879.  S.  25  ff.  Vgl.  auch  Tschirn  hausen. 
Mfdidm  Metttis  S.  267-209.  273  f. 

'  Nach  Jach  mann.  Im.  K.  S.  80  hat  K.  iu  seiner  Kritik  seiner  eigenen 
Versicherung  nach  „keinen   einzigen   Satz   uiedergeschriebeu .  den   er  nicht  zuvor 


Aufforderung  zur  stückweisen  Prüfung.  145 

[B  13.  H  11.  E  20.]  A  Xm.B 

über  seine  Dissertation.  Wie  Kant  Lamberts  Bemerkungen  über  dieselbe 
benützt  habe,  darüber  s.  die  Aesthetik.  In  seinem  Antwortschreiben  entwickelt 
Lambert  zugleich  den  Plan  zu  einer  Privatgesellschaft  zu  gemeinschaftlichen 
Ausarbeitungen  in  der  Metaphysik.  Es  sollte  zunächst  ein  brieflicher  Mei* 
nungsaustausch,  gegenseitige  Nachhilfe  und  Kritik  stattfinden  und  dann  die 
so  entstandenen  Schriften  in  einer  eigenen  Zeitschrift  gedruckt  werden.  Ihm 
schwebte  hiebei  jene  Gemeinsamkeit  vor,  wie  sie  in  Physik  und  Mathe- 
matik stattfindet,  die  aber  eigentliche  und  strenge  Wissenschaften  sind. 
Damit  brach  der  Briefwechsel  ab.  Im  Brief  anBernoulli  vom  16.  Nov.  1781 
wiederholt  Kant,  wie  wichtig  ihm  jener  Antrag  Lamberts  war,  „mit  ihm 
zur  Reform  der  Metaphysik  in  engere  Verbindung  zu  treten".  Er  habe 
daher  den  Plan  gefasst,  seine  Gedanken  ausreifen  zu  lassen,  „um  sie  meinem 
tiefeinsehenden  Freunde  zur  Beurtheilung  und  weiteren  Bearbeitung 
zu  überschreiben*  [-schicken?].  Er  habe  alle  „seine  Hoflfnung  auf  einen  so 
wichtigen  Beistand  gesetzt*.  Durch  den  Tod  Lamberts  (1777)  sei  diese 
Ho&iung  geschwunden,  was  er  um  so  mehr  beklagt,  als  er  der  rechte  Mann 
gewesen  sei,  vorurtheilsfrei  seine  Kritik  d.  r.  V.  „in  ihrem  ganzen  Zusammen- 
hang zu  übersehen  und  zu  würdigen,  mir  die  etwa  begangenen  Fehler  zu 
entdecken  und  bei  der  Neigung,  die  er  besass,  hierin  etwas  Gewisses  für  die 
menschliche  Vernunft  auszumachen,  seine  Bemühung  mit  der  meinigen 
zu  vereinigen,  um  etwas  Vollendetes  zu  Stande  zu  bringen,  welches  ich 
auch  jetzt  nicht  für  unmöglich,  aber  da  diesem  Geschäfte  ein  so  grosser 
Kopf  entgangen  ist,  für  langwieriger  und  schwerer  halte".  Aehnliche  Ge- 
danken finden  sich  im  Briefwechsel  an  Mendelssohn,  offenbar  zufolge  der 
Anregung  durch  Lamberts  Brief.  Am  8.  April  1 766  bittet  er  Mendelssohn : 
»Ihre  Bemühungen  mit  den  meinigen  zu  vereinigen  (worunter  ich 
die  Bemerkung  ihrer  Fehler  mitbegreife), "  und  er  schmeichelt  sich  „dass  da- 
durch etwas  Wichtiges  zum  Wachsthum  der  Wissenschaft  könnte  erreicht 
werden,'  Er  wünscht,  dass  sein  Versuch  (über  die  Träume  eines  Geister- 
sehers) gründliche  Betrachtungen  von  Mend.  herauslocke.  Im  Brief  vom 
18.  Aug.  1783  erweitert  er  diese  Bitte  zu  jenem  bekannten,  auch  in  den 
Prolegomena  (Anhang)  Or.  S.  219,  aber  auch  schon  ib.  in  der  Vorrede  S.  20 
gemachten  Vorschlage,  die  Kritik  stückweise  zu  prüfen,  die  Sätze  in 
ihrer  Ordnung  nach  und  nach  anzugreifen,  glaubt  zwar,  dass  wenn  die 
Prüfung  in  gute  Hände  falle,  etwas  Ausgemachtes  daraus  entspringen 
werde,  hat  aber  wenig  Hoffnung  auf  eine  solche  Prüfung,  da  Mendels- 
sohn, Garve  und  Teten s  „dieser  Art  von  Geschäft  entsagt  zu  haben 
scheinen".    Dieser  Vorschlag  der  stückweisen  Prüfung,  dem  er  durch  Schultz 


aeinem  (vertrauten  Freunde,  dem  Kaufmann)  Green  vorgetragen  und  von  dessen 
anbefangenem  und  an  kein  System  gebundenem  Verstände  hätte  beurtheilen  lassen". 
(Vgl.  Ks.. Logik  Einl.  VI:  Es  ist  wichtig,  ein  Erkenutniss  an  Menschen  zu  prüfen, 
deren  Verstand  an  keiner  Schule  hängt).  Ders.  Gedanke  ist  bezüglich  Lamberts 
im  Brief  an  Bernoulli  1781  ausgesprochen. 

Vftihi&ger,  S*nt-Oomxnentar.  10 


146  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

AXin.B-  [B  13.  H  11.  E  20.] 

Erläut.  10 — 11,  188  ff.  weitere  Verbreitung  geben  Hess,  erscheint  unter  dieser 
historischen  Beleuchtung  als  das  Gegentheil  davon,  als  Erdmann  Prol.  XXIY. 
CXI  sq.  ihn  benennt:  ihm  erscheint  er  „wunderlich,  abgeschmackt '^  und  er 
glaubt,  Kant  vor  dem  Vorwurf  „der  Anmassung  der  urtheilslosen  Gelehr- 
samkeit* durch  den  Hinweis  auf  seine  üeberzeugung  von  der  Wahrheit 
und  Unfehlbarkeit  seiner  „Kritik"  retten  zu  müssen.  Wenn  Kant  diese 
Üeberzeugung  so  absolut  gehabt  hätte ,  hätte  er  nicht  seinen  Vorschlag 
gemacht;  so  hätte  er  nicht  im  Brief  an  Bernoulli  von  „Fehlern"  gesprochen, 
die  Lambert  hätte  entdecken  sollen;  so  hätte  er  nicht  Prol.  221  gesagt. 
„  durch  solche  gemeinsame  Bemühungen  müsse  j  edenf alls  ein  Lehrgebäude, 
wenngleich  nicht  das  Meinige"  ...  zu  Stande  kommen;  so  hätte  er  nicht  an 
Schultz  geschrieben  (Schultz,  Erl.  11),  „denn  auf  diese  Art  allein  kann  ein 
für  die  Wissenschaft  vortheilhafter  Ausgang  gehoffet  werden,  es  mag  nun 
von  meinen  Versuchen  viel  oder  wenig  übrig  bleiben,  und  endlich 
„hätte  er  nicht  in  der  Vorr.  der  Proleg.  fin.  gesagt,  „man  müsse  seine  Auf- 
lösung entweder  annehmen  oder  auch  gründlich  widerlegen  und  eine 
andere  an  deren  Stelle  setzen".  Der  Vorschlag,  den  Kant  machte,  ist 
ganz  natürlich  bei  einem  Manne,  der  sich  bewusst  ist,  so  viele  neue  und 
wichtige  Punkte  mindestens  neu  formulirt  zu  haben,  und  die  stückweise 
Prüfung  ist  ganz  natürlich  bei  einem  Werke,  das  so  scharf  und  fein  articulirt 
ist.  Wenn  endlich  Erdmann  sagt,  nur  „die  mittelmässigsten  Gegner  Kants 
haben  sich  auf  eine  solche  stückweise  Prüfung  eingelassen" ,  so  genügt  es, 
um  von  Kleineren  zu  schweigen,  an  Aenesidem-Schulze  und  —  an 
Schopenhauer  zu  erinnern.  Der  Vorschlag  ist  sogar  so  natürlich,  dass 
man  gar  nicht  sagen  kann,  wie  denn  eine  Prüfung  eines  so  umfangreichen 
und  Inhalt  vollen  Werkes  anders  sollte  gemacht  werden  als  „stückweise". 
Kant  macht  ja  diesen  Vorschlag  auch  im  schroffen  Gegensatz  gegen  die 
Göttinger  Recension,  deren  Verfasser  ungeduldig  war,  „ein  weitläuftig  Werk 
durchzudenken",  „der  sich  mit  keiner  besonderen  Untersuchung  bemühen 
will"  ;  „der  Verfasser  derselben  urtheilt  durch  und  durch  en  gros*^ ;  er  gibt 
kein  „einziges  ausföhrliches  Urtheil  en  düail".  Diese  detaillirte  Prüfung 
ist  eine  sehr  berechtigte  Forderung  Kants  *  und  weder  „wunderlich"  noch 
„abgeschmackt" ;  ebensowenig  als  die  von  Kant  zum  Motto  der  11.  Aufl.  der 
Kritik  aus  Bacons  Organum  herausgelesene  Stelle,  in  der  es  heisst:  Peii- 
mu8  ,  ,  .  ut  homines,  lahorum  qui  restant,  et  ipsi  in  partem  veniatU,  (Vgl. 
Widmung,  Erklärung  oben  S.  76.) 

Dauerhaft.  Diese  Dauerhaftigkeit  der  metaphysischen  Arbeit  hebt 
Kant  sehr  häufig  hervor,  gegenüber  dem  Wechsel  der  philosophischen  Systeme ; 
vgl.  an  Lambert  (31.  Dec.  1765),  von  dem  er  dort  die  wichtige  und  dauer- 
hafte Verbesserung  der  Metaphysik  hofft.  Er  will  (an  dens.  2.  Sept.  1770) 
die  unwandelbaren  und  evidenten   Gesetze   der  Metaphysik  finden.     Um 


*  Der  Gedanke  einer  „stück weisen**  Prüfung  findet  eich  schon  in  dem  Aufsatz 
über  den  Optimismus  1758. 


Dauerhaftigkeit  der  Resultate.    Kritik  d.  r.  Y.  und  Metaphysik.         147 

[R  13.  H  11.  K  20.]  A  Xin.XIV.B 

etwas  Vollendetes  und  Dauerhaftes  (hier:  ganz  und  doch  dauerhaft) 
zu  liefern,  ist  Aufwand  der  Zeit  kein  Verlust.  Diese  Dauerhaftigkeit 
wäre  eben  die  Folge  der  wissenschaftlichen  Behandlung  der  Metaphysik  und 
eine  Bedingung  für  diese  ist  die  gemeinsame  Arbeit  an  derselben.  (Die 
domichten  Pfade  der  Kritik  führen  zu  einer  schulgerechten,  aber  als 
solche  allein  dauerhaften  Wissenschaft  der  r.  V."  Krit.  Vorr.  B.  XLII.) 
Nur  eine  solchermassen  entstandene  Metaphysik  „kann  der  Vernunft  dauernde 
Befriedigung  verschaffen".  Prol.  Or.  190.  Der  Grund  dieser  dauerhaften 
Befriedigung  liegt  ausser  in  der  dadurch  erreichten  Gewissheit  auch  in 
der  Vollständigkeit,  s.  unten.  „Es  gehörte  viel  Beharrlichkeit  .  .  .  dazu, 
die  Anlockung  einer  früheren  günstigen  Aufnahme  der  Aussicht  auf  einen 
zwar  späten,  aber  dauerhaften  Beifall  nachzusetzen."  Prol.  Or.  19. 
Fortschr.  K.  103.  R.  I,  494:  ,  durch  eine  Kritik  ihres  Vermögens  selbst 
würde  die  Met.  in  einen  beharrlichen  Zustand,  nicht  allein  des  Aeussern, 
sondern  auch  des  Innern,  fernerhin  weder  einer  Vermehrung  noch  Verminde- 
rung bedürftig  oder  auch  nur  fähig  zu  sein  versetzt  werden.*  Der  Zustand  der 
Met.  vor  K.  „war  viele  Zeitalter  hindurch  schwankend*.  —  Diese  Stelle 
findet  wegen  ihrer  Sicherheit  lebhaften  Tadel  bei  Beneke,  Kant  2  f. 

Hiehts  für  die  Nachkommenschaft  übrig  bleibt^  als  .  .  .  Prol.  219: 
, Diese  Wissenschaft  kann  auf  einmal  zu  ihrer  ganzen  Vollständigkeit  und  in 
denjenigen  beharrlichen  Zustand  gebracht  werden,  da  sie  nicht  im  min- 
desten weiter  gebracht  und  durch  spätere  Entdeckung  weder  vermehrt  noch 
verändert  werden  kann  (den  Ausputz  durch  hin  und  wieder  vergrösserte 
Deutlichkeit  oder  angehängten  Nutzen  in  allerlei  Absicht  rechne  ich  hieher 
nicht)*.  Die  Kritik  soll  ein  System  anbahnen,  das  „ein  Vermächtniss  für 
die  Nachkommenschaft  werden  kann*.  Prol.  220.  „Ein  nie  zu  vermehrender 
Hauptstuhl  zum  Gebrauche  für  die  Nachwelt*,  Vorr.  B.  XXIII.  Ib.:  „Ein 
Schatz,  den  wir  der  Nachkommenschaft  mit  einer  solchen  durch  Kritik  ge- 
läuterten, dadurch  aber  auch  in  einen  beharrlichen  Zustand  gebrachten  Met. 
hinterlassen.*  Ib.  XXX:  Vermächtniss  für  die  Nachk.  als  kein  gering  ?u 
achtendes  Geschenk.  Die  Mathem.  ist  hierin  Vorbild;  der  Gang  der  Vern. 
ia  der  Mathem.  „macht  eine  Heeresstrasse,  welche  noch  die  späteste  Nach- 
kommenschaft mit  Zuversicht  betreten  kann.*   725.     Fortschr.  R.  I,  563. 

Das  InTentarimn«  Vgl.  Zimmermann,  Lambert  4:  Lambert  wollte 
ein  vollständiges  Verzeich niss  der  Pormaliirsachen  der  menschl.  Erkennt- 
nisse d.  h.  dasjenige  aufstellen,  was  er  das  Einfache  in  der  Erkenntniss,  ein- 
fache Begriffe,  Kant  aber  die  apriorischen  Formen  der  Erkenntniss  nannte. 
Vgl.  ib.  78.  Der  Ausdruck  erinnert  an  ähnliche  Ausdrücke  bei  Lambert  und 
bes.  bei  Premontval,  der  in  den  Mem,  de  VAcad,  de  Berl,  1754,  442 
davon  spricht,  dass  das  Verzeichniss  der  einfachen  Begriffe  das  Alphabet 
des  menschlichen  Denkens  sein  würde  ^ 


^  Michelet^  Letzte  Systeme  I,  52  und  Wi lim,  Phil.  All,  I,  84  beziehen  das 
Jnventarium'*   auf  die  Kritik  d.  r.  V.  selbst.     Dem  logischen   Zusammenhange 


148  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  XIV.B—  [R  13.  H  11.  K  20.] 

Weil  was  Ternniift  gränzlioh  u.  s.  w.  Der  Grund  fiir  die  Möglichkeit 
jener  Vollständigkeit  ist  derselbe,  der  schon  oben  S.  VIII  dafür,  und  S.  VII 
für  die  Möglichkeit  der  Beantwortung  aller  Probleme  der  reinen  Vernunft 
angegeben  wurde  (vgl.  Vorr.  B.  XXII) :  weil  es  sich  dabei  nur  darum  handelt, 
das  zu  erforschen,  was  in  uns  selbst  liegt,  was  aus  uns  selbst  stammt, 
weil  wir  es  nicht  mit  Objecten,  sondern  mit  dem  Subjecte  zu  thun 
haben.  Nur  handelte  es  sich  oben  um  Auflösung  der  transcendenten, 
metaphysischen  Probleme,  hier  um  Feststellung  des  auf  das  Immanente 
bezüglichen  und  unbestreitbaren  apriorischen  Besitzthums  der  Seele.  Vgl. 
S.  13  f.,  wo  dieser  Gedanke  der  absoluten  Vollendbarkeit  der  Metaphysik 
weiter  ausgeführt  wird;  B.  23  (vollständig  und  sicher),  ebenso  schon  im 
Brief  an  Herz  vom  24.  Nov.  1776.  Prol.  Or.  170:  Wer  die  Grundsätze  der 
Kritik  durchgedacht  hat,  der  wird  niemals  „wieder  zu  jener  alten  und 
sophistischen  Scheinwissenschaft  zurückkehren;  vielmehr  wird  er  mit  einem 
gewissen  Ergötzen  auf  eine  Metaphysik  hinaussehen,  die  nunmehr  allerdings 
[allererst?]  in  seiner  Gewalt  ist,  auch  keiner  vorbereitenden  Entdeckungen 
mehr  bedarf  .  .  .  das  ist  ein  Vorzug,  auf  welchen  unter  allen  möglichen 
Wissenschaften  Metaphysik  allein  mit  Zuversicht  rechnen  kann,  nämlich  dass 
sie  zur  Vollendung  und  in  den  beharrlichen  Zustand  gebracht  werden  kann, 
da  sie  sich  weiter  nicht  verändern  darf,  auch  keiner  Vermehrung  durch 
neue  Entdeckungen  f^ig  ist;  weil  die  Vernunft  hier  die  Quellen  ihrer  Er- 
kenntniss  nicht  in  den  Gegenständen  und  ihrer  Anschauung  (durch  die  sie 
nicht  ferner  eines  Mehreren  belehrt  werden  kann),  sondern  in  sich  selbst  hat, 
und,  wenn  sie  die  Grundgesetze  ihres  Vermögens  vollständig  und  gegen  alle 
Missdeutung  bestimmt  dargestellt,  nichts  übrig  bleibt,  was  reine  Vernunft 
a  priori  erkennen,  ja  auch  nur  was  sie  mit  Grund  fragen  könnte.  Die  sichere 
Aussicht  auf  ein  so  bestimmtes  und  geschlossenes  Wissen  hat  einen  be- 
sonderen Reiz  bei  sich*  u.  s.  w.  Der  Verstand  ist  selbst  eine  absolute 
Einheit  67.  Unsere  Vem.  ist  selbst  ein  System  738.  Die  Natur  der 
Vernunft,  die  diese  Vollständigkeit  möglich  macht,  wird  Prol.  Or.  19 — 20 
so  geschildert:  „ReineVernunft  ist  eine  so  abgesonderte,  in  ihr  selbst  so 
durchgängig  verknüpfte  Sphäre,  dass  man  keinen  Theil  derselben  antasten 
kann,  ohne  alle  übrigen  zu  berühren,  und  nichts  ausrichten  kann,  ohne  vorher 
jedem  seine  Stelle  und  seinen  Einfluss  auf  den  anderen  bestimmt  zu  haben, 
weil,  da  nichts  ausser  derselben  ist,  was  unser  ürtheil  innerhalb  be- 
richtigen könnte,  jedes  Theiles  Gültigkeit  und  Gebrauch  von  dem  Verhältnisse 
abhängt,  darin  es  gegen  die  übrigen  in  der  Vernunft  selbst  steht  .  .  .  daher 
kann  man  von  einer  solchen  Kritik  sagen,  dass  sie  niemals  zuverlässig  sei, 
wenn  sie  nicht  ganz  und  bis  auf  die  mindesten  Elemente  der  reinen  Ver. 


nach  aber  kann  nur  das  „nach  dem  vorgelegten  Entworfe**  auszuführende  System 
der  Metaphysik  gemeint  sein,  das  aber  K.  bekanntlich  nicht  geliefert  hat  (VgL 
unten  149.) 


Unbedingte  Vollständigkeit;  Alles  oder  Nichts.  149 

[E  13.  H  11.  12.  K  20.  21.]  A  XIV.XV.B 

nnnft  vollendet  ist,  nnd  dass  man  von  den  Sphären  dieses  Vermögens 
entweder  Alles  oder  Nichts  bestimmen  und  ausmachen  müsse."  Wir  haben 
hier  dieselbe  schroffe  Disjunction  in  Bezug  auf  die  umfängliche  quan- 
titative Vollständigkeit,  der  wir  oben  in  Bezug  auf  die  inhaltliche 
qualitative  Gewissheit  begegneten.  Vgl.  Fortsch.  R.  I,  487:  „Metaphysik 
ist  ihrem  Wesen  und  ihrer  Endabsicht  nach  ein  vollendetes  Ganze; 
entweder  Nichts  oder  Alles;  was  zu  ihrem  Endzweck  erforderlich  ist, 
kann  also  nicht  wie  etwa  Mathematik  oder  empirische  Naturwissenschaft,  die 
ohne  Ende  immer  fortschreiten,  fragmentarisch  dargestellt  werden".  Prol.  §  26:* 
Diese  Gewissheit  der  Vollst,  ist  ,,eine  Befriedigung,  die  die  dogmatische 
Methode  niemals  verschaffen  kann".  (Vgl.  oben  S.  28.  54.)  Prol.  §  43:  Die 
Vollst,  in  Aulzählung,  Classificirung  und  Specificirung  der  Begriffe  a  priori 
3, ein  noch  nie  vermutheter,  aber  unschätzbarer  Vortheil".  Dies  möglich,  weil 
Verfahren  ,,nach  Principien*.  „Ohne  dieses  ist  in  der  Metaphysik  alles  lauter 
Rhapsodie,  wo  man  niemals  weiss,  ob  dessen,  was  man  besitzt,  genug  ist, 
oder  ob,  und  wo  noch  etwas  fehlen  möge.  Freilich  kann  man  diesen  Vortheil 
auch  nur  in  der  reinen  Philosophie  haben,  von  dieser  aber  macht  derselbe 
auch  das  Wesen  aus."  Denselben  Gedanken  fuhren  die  Fortschr.  K.  166 
R.  I,  563  so  aus:  „Die  Metaph.  zeichnet  sich  unter  allen  Wissenschaften 
dadurch  ganz  besonders  aus,  dass  sie  die  einzige  ist,  die  ganz  vollständig 
dargestellt  werden  kann,  so  dass  für  die  Nachkommenschaft  nichts  übrig 
bleibt  hinzuzusetzen  und  sie  ihrem  Inhalt  nach  zu  erweitern,  ja  dass,  wenn 
sich  nicht  aus  der  Idee  derselben  zugleich  das  absolute  Ganze  systematisch 
ergibt,  der  Begriff  von  ihr  als  nicht  richtig  gefasst  betrachtet  werden 
kann".  Es  kann  sowohl  die  Erkenntniss  a  priori  der  Gegenstände  mögl. 
Erf.  ganz  erschöpft,  als  auch  alle  Fragen  über  das  Üebersinnliche  genau  an- 
gegeben werden.  Eine  ausfuhrlich  methodologische  Erörterung  hierüber  gibt 
K.  in  der  Vorrede  zu  den  Met.  Anf.  der  Naturw. :  ,in  Allem,  was  Meta- 
physik heisst,  kann  die  absolute  Vollständigkeit  der  Wissenschaften 
gehofft  werden" ;  die  Ursache  sei,  weil  hier  der  Gegenstand  nach  den  allge- 
meinen Gesetzen  des  Denkens,  in  anderen  Wissenschaften  nach  Datis  der 
Anschauung  vorgestellt  werden  muss;  letztere  aber  sind  unendlich 
mannigfaltig;  jene  sind  bestimmt  und  geben  daher  eine  bestimmte  Anzahl 
von  Erkenntnissen.     Vgl.  Fichte,  W.  W.  H,  468. 

Teaim  habita  u.  s.  w.  Siehe  Persius,  Sat.  4,  52.  Schon  Hamann, 
W.  W.  IV,  5  wendet  das  Citat  in  diesem  Sinne  an,  ebenso  schon  Charron, 
De  la  Sagesse,  I,  1.  (1601.)     Vgl.  Baader,  W.  W.  XI,  43. 

Metaphysik  der  Natur.  Das  hier  angekündigte  Werk  ist  nie,  wenigstens 
nicht  unter  diesem  Namen  erschienen.  Aeusserliche  und  innerliche  Schwierig- 
keiten, z.  B.  wie  sich  dieses  System  zur  Kritik  verhalten  sollte,  warum  K. 
es  nicht  geliefert  habe,  ob  das  bekannte  Manuscript  aus  dem  Nachlasse  Ks. 
sich  wirklich  hierauf  bezieht,  lassen  es  räthlich  erscheinen,  diese  Frage  erst 
am  Ende  zu  behandeln,  zum  Schluss  derVorr.  B.,  wo  dieselbe  Angelegenheit 
berührt  wird. 


150  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage. 

A  XV.XVI.B—  [R  13.  14.  H  12.  K  81 J 

Bei  noch  nicht  der  Hälfte  der  Weitlänftigkeit.  Vgl.  Einl.  B.  22  f.: 
„Auch  kann  diese  Wissenschaft  nicht  von  grosser  abschreckender  Weit- 
läuftigkeit  sein,  weil  sie  es  nicht  mit  Objecten  der  Vernunft,  deren 
Mannigfaltigkeit  unendlich  ist,  sondern  es  bloss  mit  sich  selbst,  mit  Aufgaben, 
die  .  .  .  ihr  durch  ihre  eigene  Natur  vorgelegt  sind,  zu  thun  hat**.  Eine 
genauere  Ausführung  s.  Einl.  A.  10  f. 

Verwacfasnen  Boden  u.  s.  w.  K.  an  Herz  (Ende  1773):  „Ich  bleibe 
halsstarrig,  bei  meinem  Vorsatze  mich  von  keinem  Autor-Kitzel  verleiten  zu 
lassen,  in  einem  leichteren  und  beliebteren  Felde  Ruhm  zu  suchen,  ehe 
ich  meinen  dornigen  und  harten  Boden  eben  und  zur  allgemeinen 
Betrachtung  frei  gemacht  habe."  Vgl.  Vorr.  B.  XII  „Dornichte  Pfade  der 
Kritik".  „Dornichte  Pfade  der  Scholastik*,  Kant  an  Fichte  (12.  Brief,  vom 
Jahre  1797).  In  demselben  Sinne  spricht  Iselin,  Gesch.  der  Menschheit 
II,  366  von  Wolfe  „dornichten  Pfaden".  Vgl.  Eberstein  II,  165  über 
Eberhard. 

Abgeleitete  Begriffe  •  •  •  Analysis.  Zwei  Merkmale  werden  hier  an- 
gegeben, wodurch  sich  das  System  von  der  Kritik  unterscheiden  soll :  erstens 
Aufsuchung  der  abgeleiteten  Begriffe;  diese  stehen  nach  Einl.  14,  wo 
dieselben  zwei  Merkmale,  Ableitung  und  Analysis  angegeben  sind,  den 
Stammbegriffen  gegenüber,  oder  nach  81  den  ursprünglichen  und  primi- 
tiven; letzterer  Natur  sind  z.  B.  die  Begriffe  der  Causalität  und  der 
Wechselwirkung;  zu  den  ersteren  gehören:  Kraft,  Handlung,  Leiden, 
Gegenwart,  Widerstand.  Vgl.  Prol.  §  39.  üeber  das  zweite  Merkmal,  die 
Analysis  (im  Gegensatz  zu  Synthesis)  vgl.  vorläufig  Einl.  A  12.  14.  Auch  in 
Prol.  §  39  Anm.  wird  die  Analysis  dcrAbleitung  als  zweites  noth  wendiges 
Merkmal  des  Systems  zur  Seite  gestellt. 

Der  Anfang  des  Drucks  u.  s.  w.  Diese  Worte  und  vermuthlich  daher 
auch  die  ganze  Vorrede  sind  wohl  um  dieselbe  Zeit  geschrieben,  wie  die 
Widmung  an  Zedlitz,  die  vom  29.  März  (1781)  datirt  ist.  Zu  der  Zeit,  wo 
diese  Zeilen  von  Kant  niedergeschrieben  wurden,  hatte  er  „nur  etwa  die 
Hälfte  der  Aushängebogen  zu  sehen  bekommen".  Da  er  noch  S.  461  citirt. 
und  da  diese  in  den  Bogen  Ff,  den  29.,  hineinfällt,  so  hatte  er  also  min- 
destens diese  29  Bogen  fertig  gedruckt  erhalten.  Er  hatte  aber  factisch 
30  Bogen  bekommen.  Da  das  ganze  Buch  53 V2  Bogen,  Titel,  Widmung 
und  Vorrede  IV«  Bogen  betrugen,  also  zusammen  55  Bogen,  so  war  Kants 
Schätzung,  dass  er  mit  30  Bogen  „etwa  die  Hälfte*  bekommen  habe,  im 
Allgemeinen  zutreffend.  Dass  es  nemlich  30  Bogen  gewesen  seien,  lässt  sich 
aus  Hamanns  Briefen  feststellen.  Dieser  hatte  von  dem  Verleger  Kants, 
dem  mit  ihm  befreundeten  Hartknoch,  schon  am  6.  Oct.  1780  „ein  warmes 
Exemplar"  sich  erbeten,  falls  er  Verleger  werde.  Diese  Bitte  wurde  erfüllt, 
denn  er  hatte  am  6.  April  1781  die  30  ersten  Bogen  der  Kritik  erhalten 
und  bittet  am  8.  April  um  „das  Ende,  vom  Bogen  Hh  bis  zur  Vorrede*. 
Bogen  Hh  ist  der  31.  Bogen.    Man  hatte  ihm  somit  (ohne  Vorwissen  Kants) 


Chronologie  der  Drucklegung  der  „Kritik".  151 

[R  14.  H  12.  K  -]  AXV.XVI.B 

ron  Berlin  aus  genau  dieselbe  Anzahl  der  fertig  gedruckten  Bogen  zugesandt, 
wie  Kant,  nur  dass  er  sie  einige  Tage  später  erhalten  hat,  wie  dieser,  wenn 
wenigstens  die  Vermuthung  richtig  ist,  dass  der  Schluss  der  Vorrede  auch 
Ende  März  geschrieben  sei.  —  Um  nun  den  Anfang  des  Druckes  zu  er- 
mitteln ,  sind  noch  weiter  folgende  Daten  in  Erwägung  zu  ziehen.  Am 
6.  Mai  erhielt  Hamann  weitere  J  8  "Aushängebogen,  die  Kant  jedenfalls  nicht 
Yor  dem  1.  Mai  erhalten  hat,  denn  an  diesem  Tage  schreibt  er  an  Herz, 
er  solle  sich  erkundigen,  wie  weit  der  Druck  jetzt  gekommen  sei;  sogleich 
darauf  erhielt  er  jene  18  weitere  Bogen,  wie  Hamann.  (Den  Rest,  5Va  Bogen 
des  Textes,  l'/a  Bogen  Vorrede  u.  s.  w.  , Anfang  und  Ende",  „erste  und 
letzte  Bogen''  erhielt  Hamann  lange  Zeit  nicht;  er  bittet  darum  am  31.  Mai, 
hat  sie  noch  nicht  am  3.  Juni  und  selbst  noch  nicht  am  19.  Juni;  auch 
Kant  hatte  den  Best  nicht,  und  „war  unzufrieden  darüber^.  Am  22.  [oder 
29.]  Juli  endlich  erhielt  Hamann  von  Kant  selbst  ein  „gebundenes  Exemplar'', 
woraus  sich  schliessen  lässt,  dass  Kant  das  erste  fertige  Exemplar  etwa  Mitte 
Juli  erhielt.)  Aus  dem  Umstand,  dass  von  Mitte  März  bis  Mitte  April  (es 
sind  mindestens  14  Tage  für  die  Post  abzurechnen)  nicht  weniger  als 
18  Bogen  fertig  gedruckt  wurden,  ergibt  sich,  dass  der  Druck  mit  fieber- 
hafter Eile  betrieben  wurde;  und  nach  demselben  Verhältniss  wäre  der  An- 
fang des  Druckes  etwa  auf  Ende  Januar  1781  (nicht  Anfang  Jan.  wie  Erdm. 
Krit.  83  sagt)  anzusetzen.  Somit  ist  der  Hergang  folgender:  Kant  hatte 
sein  Manuscript  Ende  1780  abgeschickt.  Der  Druck  begann  ziemlich  spät 
im  Vergleich  mit  der  Absicht,  das  Buch  noch  auf  die  Ostermesse  des  Jahres 
1781  zu  bringen ;  denn  diese  fand  im  Mai  statt.  Man  begann  Ende  Januar 
mit  dem  Druck  und  sandte  die  erste  Portion  von  30  Bogen  Mitte  März  an 
Kant  ab,  zugleich  mit  der  Bitte,  Widmung,  Vorrede  und  Inhaltsangabe 
nachzuliefern,  sowie  mit  der  Bemerkung,  er  könne  die  Lieferung  der  Vor- 
rede nicht  wie  üblich  aufschieben,  bis  er  den  Rest  der  Aushängebogen  er- 
halten habe,  um  die  bemerkten  Druckfehler  noch  in  der  Vorrede  erwähnen 
zu  können,  einfach  weil  das  bei  damaligen  Postverhältnissen  einen  Aufschub 
der  Vollendung  um  mindestens  vier  Wochen  (vgl.  Brief  an  Nicolai  vom 
25.  Oct.  1773)  zur  Folge  gehabt  hätte.  Es  kam  aber  nach  damaligen  Sitten 
darauf  an,  das  Buch  auf  die  im  Mai  (ev.  auch  noch  Juni)  stattfindende 
Ostennesse  und  zwar  möglichst  am  Anfang  zu  bringen;  denn  die  Bücher- 
ballen wurden  wie  andere  Waarenballen  an  die  Sortimenter  auf  der  Oster- 
messe ausgegeben,  die  heut  nur  zur  Regulirung  der  Rechnungen,  nicht  zum 
Absatz  der  Waaren  dient.  Kant  erkundigt  sich  daher  durch  Herz  genau, 
an  welchen  Tagen  der  Messe  das  Buch  in  Leipzig  ausgegeben  werde?  Die 
Frage  können  wir  aus  obigen  Daten  beantworten:  ganz  zum  Schluss  der 
Messe,  vermuthlich  erst  gegen  Mitte  Juni  \ 


*    Die  Hesse  begann  im  Jahre  1781  am  14.  Mai  (Sonntag  Cantate)  und  dauerte 
4  Wochen. 


152  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage.    Anhang. . 

AXV.XVI.B-  [R  14.  H  12.  K  — ] 


1781. 
Ende  Januar: 
Mitte  März: 
29.  März  ff.: 


6.  April: 
1.  Mai: 

6.  Mai: 
Anfang  Juni: 

Mitte  Juli: 


Beginn  des  Drucks. 

Fertigstellung  der  ersten  30  Bogen. 

K.  schreibt  und  versendet  Widmung  und  Vorrede 
(nach  Empfang  der  30  Bogen). 

Hamann  erhält  die  30  Bogen. 

K.  erkundigt  sich  bei  Herz  nach  dem  Fortgang  des 
Drucks. . 

Kant  und  Hamann  erhalten  weitere  18  Bogen, 

Die  Kritik  der  r.  V.  wird  auf  der  Leipziger  Oster- 
messe ausgegeben. 

Kant  erhält  den  Rest  und  seine  Exemplare. 

Aus  Ks.  Brief  an  Herz  vom  1.  Mai  ist  noch  die  Notiz  zu  erwähnen:  das 
Buch  „wird  für  Hartknochs  Verlag  bei  Grucert  in  Halle  gedruckt  und 
das  Geschäft  von  Herrn  Spener,  Buchhändler  in  Berlin,  dirigirt".  Ha- 
manns Notiz,  der  Druck  finde  in  Berlin  statt  (VI,  192)  ist  also  irrig.  Zum 
Vorstehenden  vgl.  Kant,  13.  Brief  an  Herz.  Hamann,  W.  W.  VI,  163, 
178.  179.  180.  181.  185.  189.  192.  197.  201.  204.  Zu  diesen  technischen 
Einzelheiten  ist  noch  folgende  Bemerkung  Hamanns  (VI,  179)  hinzuzufügen: 
„Sauber  von  Druckfehlern  scheint  mir  das  Buch  zu  seyn;  habe  ungefähr 
ein  Dutzend  in  die  Augen  fallende  bemerkt.  Die  Probe  von  dem  Aeusser- 
lichen  ist  sehr  nach  dem  Wunsch  des  Verfassers  gewesen.  Dem  üeberschlag 
nach  sollte  ich  vermuthen,  dass  es  über  zwey  Alphabete  betragen  dürfte." 
(Das  Druckalphabet  umfasste  23  Bogen.  Hamanns  Schätzung  war  also 
richtig.) 

Thesls  und  Antithesis.  Hamann  an  Hartknoch  (W.  VI,  179):  „Ein 
paar  Bogen  habe  ich  überhüpft,  weil  Thesis  und  Antithesis  auf  entgegen- 
gesetzten Seiten  liefen,  und  es  mir  zu  sauer  wurde,  den  doppelten  Faden 
zu  bestreiten,  in  einem  rohen  Exemplar."    (8.  April  1781.) 


Anhang. 

Gesehictatlictae  Notizen  ttber  die  Entstehung  der  Kritik.  Ks.  Vorrede 
ist  noch  durch  einige  Notizen  über  die  äusserliche  Entstehung  des  Werkes 
zu  ergänzen.  K.  schreibt  an  Herz  (1.  Mai  1781):  „Dieses  Buch  enthält  den 
Ausschlag  aller  mannigfaltigen  Untersuchungen,  die  von  den  Begriffen  an- 
fiengen,  welche  wir  zusammen  unter  der  Benennung  des  Mundi  sensibilis 
und  intelligibilis  abdisputirten.*  Herz  war  Respondent  bei  der  sich  an  die 
DisaertaHo  pro  loco  (Professorat)  am  20.  Aug.  1770  anschliessenden  Dispu- 
tation. Am  2.  Sept.  1770  entwickelt  K.  im  Briefe  an  Lambert  das 
Programm  der  Erweiterung  des  Inhalts  der  Dissertation  zu  einer  vor  der  Meta- 
physik vorhergehenden,  deren  Methode  bestimmenden  propädeutischen 
Disciplin.    Er  will  ausserdem  auf  die  Ostermesse  1771  die  Dissertation 


Genesis  der  „Kritik"  nach  den  Briefen  an  M.  Herz.  153 

selbst  verbessert   und   um    ,ein   paar  Bogen  erweitert"  herausgeben.     Das 
letztere  geschah  nicht.    Am  7*  Jnnl  1771  schreibt  K.  an  Herz,  dass  Lamberts 
und  Mendelssohns  Einwürfe  gegen  die  Dissertation  ihm  yiel  zu  denken  geben, 
dass   er  jetzt  damit  beschäftigt  sei,    ein  Werk   auszuarbeiten    „etwas   aus- 
fuhrlich*,  das  unter  dem  Titel:    Die  Grenzen    der  Sinnlichkeit    und 
der  Vernunft  die  Grundlagen   der  Metaphysik  und  der  Moral  sowie  der 
Aesthetik  behandeln  sollte.    (Dieser  Titel  erinnert  auffallend  an  den  Neben- 
titel des  Lessing'schen  Laocoon  „oder  über  die  Grenzen  der  Malerei 
und  Poesie*;   dass  der  Adressat   selbst  dies  bemerkte,   dafür  spricht  die 
Parallele,  die  er  zwischen  Kant  und  Lessing  angestellt   hat,   wie   aus  dem 
folgenden  Briefe  Ks.   an   ihn  hervorgeht.     Kant  hatte  also  wohl  auch  diese 
Anspielung  und  Nachahmung  beabsichtigt).     Den  Winter   (1770   auf  1771) 
hindurch  habe  er  alle  Materialien  dazu  durchgegangen,  habe  alles  gesichtet, 
gewogen,  aneinander  gepasst,   sei   aber  mit  dem  Plane  erst  kürzlich  fertig 
geworden.     Darnach  sollte  das  Werk  nun  wohl  auf  die  Michaelismesse  1771 
fertig  gestellt  werden.  Allein  auch  dieser  Plan  zerschlug  sich.  Am  21.  Febr.  1772 
schildert  er  den  Plan   zu  dem  gedachten  Werke  mit  dem   genannten  Titel 
ausfuhrlicher,  spricht  aber  auch  von  den  ihm  aufgestossenen  Schwierigkeiten 
und  die  dadurch  herbeigeführte  Veränderung  seines  Planes ;  er  will  nun  die 
Vernunft  allein  behandeln  in  einer  „Transcendental-Philosophie"  d.h. 
in  einer  Theorie  der  gänzlich  reinen  Vemunftbegriffe,   und  beabsichtigt  den 
ersten  Theil  davon  ,in  etwa  drei  Monaten*  herauszugeben  (also  zur  Ost  er- 
messe 1772).     Er  heisst  das  Ganze  hier  auch  zum  erstenmal  eine  „Kritik 
der  reinen  Vernunft*,  er  will   „die  reine  Verstandeseinsicht  dogmatisch 
begreiflich  machen  und  deren  Grenzen  zeigen*.    Gegen  Ende  des  Jahres  1773 
entschuldigt  er  sich  gleichsam,   dass  sein  1772  in  Aussicht  gestelltes  Werk 
nicht  erschien.     „Sie  suchen   im  Messkatalog  fleissig,  aber  vergeblich   nach 
einem  gewissen  Namen  unter  dem  Buchstaben  K.*    Es  wäre  ihm  ein  Leichtes 
^'pwesen,   mit  beinahe  fertigen  beträchtlichen  Arbeiten  in   einem  leichteren 
und  beliebteren  Felde  (Moral  und  Aesthetik)  zu  paradiren,  allein  kein  Autor- 
kitzel bringe  ihn  von  seinem  halsstarrigen  Vorsatze  ab,  zuerst  die  allerdings 
viel  schwierigere,  principielle  Untersuchung  abzuschliessen.     Es   koste  aber 
sehr  viele  Zeit,  diese  neueWissenschaft  streng  systematisch  und  termino- 
logisch auszuarbeiten;    er  werde  dadurch   aber  auch  der  Philosophie  eine 
^nz  neue  Richtung  geben,  so  dass  sie  praktisch  *  für  Religion  und  Sitten 
eine  weit  vortheilhaftere  Wendung  nehme  und   in  theoretischer  Beziehung 
durch  ihre  logische  Strenge  selbst  den  spröden  Mathematiker  anlocken  könne. 
Erhoffe  manchmal  es   bis  Ostern  (1774)  fertig  zu   stellen,   sei  das  nicht 
der  Fall  (wegen  häufiger  Indispositionen)  „so  kann  ich  es  doch  beinahe  mit 
Ctewissheit   eine    kurze  Zeit    nach   Ostern    versprechen",    wie   er    auch    am 


*  Den  Zusammenhang  der  theoretischen  Reformbestrebungen  Kants  mit  den 
Problemen  der  praktischen  Philos.  betont  richtig  Lasso n  in  seiner,  indessen  ganz 
unvollständigen  üebersicht  der  Entstehung  der  Kritik  d.  r.  V.  Verhandl.  d.  philos. 
GcseUßch.  6.  Heft  S.  26  ff.    Hierüber  Genaueres  später. 


154  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage.     Anbang. 

25.  Oct.  1773  in  dem  Briefe  an  Nicolai  die  „gegenwärtige  Arbeit"  als  ^in 
Kurzem"  erscheinend  ankündigt.  Auch  hier  nennt  er  das  Werk  ^ Trans- 
scendentalphilosophie,  welche  eigentlich  eine  Kritik  der  reinen  Vernunft 
ist".  Auch  dieses  Versprechen  erfüllte  sich  nicht.  Am  24*  Not.  1776  schreibt 
er:  „Ich  gebe  die  Hoffnung  zu  einigem  Verdienst  in  dem  Felde,  darin  ich 
arbeite,  nicht  auf.  Ich  empfange  von  allen  Seiten  Vorwürfe  wegen  der 
Unthätigkeit ,  darin  ich  seit  langer  Zeit  zu  sein  scheine,  und  bin  doch 
wirklich  niemals  systematischer  und  anhaltender  beschäftigt  gewesen,  als  seit 
den  Jahren,  da  Sie  mich  gesehen  haben  (1770).  Die  Materien  .  .  .  häufen  sieb 
unter  meinen  Händen,  wie  es  zu  geschehen  pflegt,  wenn  man  einiger  fruchtbarer 
Principien habhaft  geworden".  Indessen  habe  er  nicht  mehr  auszudenken,  nni 
auszufertigen.  Die  letzten  Hindernisse  habe  er  den  vergangenen  Sommer  (1775) 
überstiegen,  und  nach  Verrichtung  der  Arbeit,  die  er  allerst  jetzt  (1776)  antrete, 
mache  er  sich  freies  Feld,  dessen  Bearbeitung  für  ihn  nur  Belustigung  sein 
werde.  „Es  gehört  Hartnäckigkeit  dazu,  einen  Plan,  wie  dieser  ist,  un- 
verrüekt  zu  befolgen."  Die  neue  Wissenschaft  charakterisirt  er  als  „Kritik, 
Disciplin,  Kanon  und  Architektonik  der  reinen  Vernunft. "  Mit  dieser  Arbeit 
denke  er  jedoch  vor  Ostern  (1777)  nicht  fertig  zu  werden,  sondern  dazu 
einen  Theil  des  nächsten  Sommers  (eben  1777)  zu  verwenden.  Doch  solle 
Herz  „über  dieses  Vorhaben  keine  Erwartungen  erregen".  Wäre  der  Plan 
so  ausgeführt  worden,  so  wäre  also  das  Buch  zur  Michaelismesse  1777  er- 
schienen. Am  20.  Aug«  1777  wiederholt  er,  dass  der  Anfertigung  aller  seiner 
übrigen  Arbeiten  das,  was  er  Kritik  der  reinen  Vernunft  nenne,  wie  ein 
Stein  im  Wege  liege,  mit  dessen  WegschaflFung  er  jetzt  allein  beschäftigt  sei. 
Was  ihn  aufhalte,  sei  nur  die  Bemühung,  seiner  Darstellung  völlige  Deut- 
lichkeit zu  geben.  Er  hofft  aber  „diesen  Winter"  (1777  auf  1778)  „völlig 
damit  fertig  zu  werden."  Somit  wäre  das  Werk  zur  Ostermesse  1778  er- 
schienen. So  hatte  sich  unterdessen  durch  diese  häufigen,  wohl  auch  Anderen 
gemachten  Versprechungen,  das  Gerücht  verbreitet,  „dass  von  meiner  unter 
Händen  habenden  Arbeit  schon  einige  Bogen  gedruckt  sein  sollen '',  was  Kant 
jedoch  im  Briefe  vom  Ende  Mal  (nicht  Juni)  1778  zurückweist.  „Da  ich 
von  mir  nichts  erzwingen  will  (weil  ich  noch  gerne  etwas  länger  in  der 
Welt  arbeiten  möchte),  so  laufen  viel  andere  Arbeiten  zwischendurch."  *  Die 
Arbeit  „rückt  indessen  weiter  fort  und  wird  hoffentlich  diesen  Sommer  (1778) 
fertig  werden.  Die  Ursachen  der  Verzögerung  einer  Schrift,  die  an  Bogenzahl 
nicht  viel  austragen  wird,  werden  Sie  dereinst  aus  der  Natur  der  Sache  und 
des  Vorhabens  selbst  als  gegründet  gelten  lassen."     „Wenn  dieser  Sommer 


*  Zwischen  1770  und  1781  wurden  folgende  Abhandlungen  von  K.  gedruckt : 
1771  Recension  der  Schrift  von  Moscati  über  den  Unterschied  der  Strnctur 

der  Menschen  und  Thiere. 
1775  Das  Programm:    Von   den  verschiedenen  Racen  der  Menschen  (vgl. 

Brief  an  Engel  vom  4.  Juli  1779). 
1776 — 1778  Recensionen  und  Aufsätze  über  das  Basedow'sche  Philanthropin 

(vgl.  Brief  an  Crichton  vom  28.  Juli  1778). 


Chronologie  der  Entstehnng  der  „Kritik".  155 

bei  mir  mit  erträglicher  Gesundheit  hingeht,  so  glaube  ich  das  versprochene 
Werkchen  dem  Publikum  mittheilen  zu  können**  (also  auf  die  Michaelismesse 
1778).  Die  Briefe  Tom  28.  Ang.  und  15.  Uecember  1778  scheinen  das  neue 
Handbuch  über  die  Metaphysik,  woran  er  noch  unermüdet  arbeite,  und  das  er 
bald  fertig  zu  haben  hofft,  da  er  an  der  Bekanntmachung  jetzt  arbeitet,  auf 
Ostern  oder  Herbst  1779  in  Aussicht  zu  stellen.  Als  Hinderniss  wird  der 
Gesundheitsumst^nci  angegeben.  Das  Colleg:  „Prolegomena  der  Metaphysik** 
sollte  wohl  im  Wesentlichen  den  Inhalt  der  neuen  Wissenschaft  geben.  Aber 
nochmals  schiebt  er  im  Sommer  (4.  Juli)  1779  in  einem  Briefe  an  Engel 
die  Zeit  hinaus;  hier  hofft  er  ^bis  Weihnachten**  seine  Arbeit  zu  beendigen, 
die  ihn  so  lange  an  der  Ausfertigung  aller  anderen  Produkte  des  Nachdenkens 
gehindert  hat.  Demnach  sollte  das  Werk  noch  im  Jahre  1780  (etwa  Ostern) 
erscheinen.  Aber  trotzdem  Kant  nach  Hamanns  Bericht  (W.  W.  VI,  83, 
17.  Mai  1779)  an  Herder  im  Sommer  1779  an  seinem  Werk  [Hamann  nannte 
es  Moral  der  reinen  Vernunft;  richtiger  fugt  er  wohl  VI,  145  noch  die 
Metaphysik  hinzu]  „frisch  darauf  losarbeitet**  —  erst  am  1.  Mai  1781  kann 
Kant  dem  Freunde  das  Erscheinen  des  Werkes  anzeigen,  das  er  so  oft  als 
bald  kommend  angekündigt  hatte.     Er  hatte  es  versprochen: 

1)  auf  Herbst  1771  (Br.  v.  7.  Juni  1771), 

2)  auf  Ostern  1772  (Br.  v.  21.  Febr.  1772), 

3)  auf  Ostern  1774  (Br.  v.  Ende  1 773), 

4)  auf  Herbst  1777  (Br.  v.  24.  Nov.  1776), 

5)  auf  Ostern  1778  (Br.  v.  20.  Aug.   1777), 

6)  auf  Herbst  1778  (Br.  v.  Ende  Mai  1778), 

7)  auf  Ostern  oder  Herbst  177»  (Br.  vom  28.  Aug.  u.  15.  Dec.  1778), 

8)  auf  das  Jahr  1780  (Br.  v.  4.  Juli  1779). 

Dass  Kant  selbst  diesen  Verzug  zu  seinen  Gunsten  auslegte,  folgt  aus  den 
angefahrten  Stellen,  und  auch  aus  einem  Briefe  Hamanns  an  Herder  (welcher 
im  Juni  1780  gefragt  hatte,  ob  »man  weiter  nichts  von  Kant  zu  lesen  be- 
komme?") vom  26.  Juni  1780:  „K.  thut  sich  auf  seinen  Verzug  etwas  zu 
;?ut.,  weil*  selbiger  zur  Vollkommenheit  seiner  Absicht  beytragen  wird,** 
(W.  W.  VI,  145),  und  schon  1770  schreibt  K.  an  Lambert,  dass  „in  einer 
Unternehmung  von  solcher  Wichtigkeit  einiger  Aufwand  der  Zeit  gar  kein 
Verlust  ist,  wenn  man  dagegen  etwas  Vollendetes  und  Dauerhaftes  liefern 
kann*.  —  Die  äussere  Entstehungsgeschichte  der  Kritik  ist,  wie  theilweise 
schon  S.  139  f.  bemerkt  wurde,  indessen  noch  hinter  die  Dissertation  von  1770 
zn  verfolgen.  Durch  die  Preisaufgabe  der  Berliner  Academie  aufs  Jahr  1763, 
welche  eine  methodologische  Untersuchung  der  Metaphysik  forderte,  und  die 
Mendelssohn  in  seiner  Schrift:  „Ueber  die  Evidenz  in  metaphysischen 
Wissenschaften**  und  Kant  in  der  Schrift:  „Untersuchung  über  die  Deutlich- 
keit der  Grundsätze  der  natürlichen  Theologie  und  der  Moral**  beantwortete, 
wurde  Kants  Nachdenken  auf  das  ihn  schon  lange  beschäftigende  Problem 
der  Methode  der  Metaphysik  concentrirt;  und  so  hatte  er  denn  schon  im 
Jahre  1765  eine  Schrift  über  „die  eigenthümliche  Methode  der  Meta- 
physik*  geplant,  ja  sogar  schon   zur  Ostermesse   1766  versprochen   (der 


156  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage.    Anhang. 

Leipziger  Mess-Katalogos  brachte  schon  die  Anzeige  davon).  „Ich  bin  gleich- 
wohl von  meinem  ersten  Vorsatze  sofeme  abgegangen,  dass  ich  dieses  Werk, 
als  das  Hauptziel  aller  dieser  Aussichten,  noch  ein  wenig  aussetzen  will  und 
zwar  darum"  u.  s.  w.  (Brief  an  Lambert  vom  31.  Dec.  1765)  ^  Inwieweit 
der  Tendenz  nach  aber  das  so  geplante  und  sogar  schon  angezeigte  Werk 
mit  der  Kritik  der  r.  V.  identisch  ist,  sofern  auch  diese  als  „Tractat  von 
der  Methode"  bezeichnet  wird,  darüber  vgl.  Pauls en,  Entw.  94  fif.  * 


*  Im  Briefe  an  Mendelssohn  vom  8.  April  1766  sagt  er:  seit  seinen  letzten 
Ausarbeitungen  sei  er  zu  wichtigen  Einsichten  gelangt  in  dieser  Disciplin. 
„welclie  ihr  Verfahren  festsetzen  und  als  das  eigentliche  Richtmass  brauchbar 
sind".  Auch  in  der  Nachricht  von  seinen  Vorlesungen  1765  erwähnt  K.  einer 
Grundlegung  zu  seinen  Vorlesungen,  die  er  in  Kurzem  hoffe  vorlegen  zu  können. 

*  Aus  den  angeführten  Stellen  geht  hervor,  dass  die  eigentliche  principielle 
antidogmatische  und  methodologische  Umwälzung  im  Geiste  Kants  in  der  Mitte 
der  60er  Jahre  stattgefunden  hat,  und  dass  der  eigentliche  Anlass  zur  Sinnes- 
änderung die  Preisschrift  und  die  mit  ihr  zusammenhängenden  Schriften  waren. 
Aus  den  Briefen  an  Lambert  und  Mendelssohn,  1765  und  1766,  geht  mit 
Sicherheit  hervor,  dass  insbesondere  in  jenen  Jahren  eine  vollständige  Umgestal- 
tung in  dem  Habitus  seines  Denkens  stattfand.  Ob  diese  Umgestaltung  auf  fremde 
Einflüsse,  insbesondere  auf  Hume  oder  auf  immanente  Entwicklung  zurückzufuhren 
sei,  ist  eine  Frage,  deren  Entscheidung  hier  nicht  im  Einzelnen  getroffen  werden 
kann.  Nur  so  viel  sei  hier  bemerkt,  dass  die  Ansicht,  Hume  habe  schon  damals 
einen  energischen  Einfluss  auf  K.  ausgeübt,  die  wahrscheinlichere  ist.  Dagegen 
ist  hier  noch  ein  anderes  Zeugniss  für  Kants  Sinnesänderung  anzuführen,  dessen 
Bedeutung  bis  jetzt  gar  nicht  erkannt  wurde,  nämlich  die  ^Nachricht  von  der 
Einrichtung  seiner  Vorlesungen  im  Winterhalbjahre  von  1765 — 1766".  Während 
nämlich  die  übrigen  derartigen  Nachrichten  und  Ankündigungen  stets  mit  einer 
Abhandlung  begleitet  sind,  hat  diese  einzig  und  allein  den  Zweck,  eine  „Verände- 
rung" seiner  bisherigen  Methode  anzukündigen.  Die  übrigen  derartigen  Nach- 
richten sind  folgende : 

1)  Apr.  1756.    Neue  Anmerkungen  zur  Erl.  d.  Th.  d.  Winde. 

2)  Oct.    1757.     Ueber  die  feuchten  Westwinde  (Phys.  Geographie). 

3)  Apr.  1758.     Neuer  Lehrbegriff  der  Bewegung  und  Ruhe. 

4)  Oct.    1759.     Betrachtungen  über  den  Optimismus. 


6)  Apr.  1775.  Von  den  verschiedenen  Mensch enracen. 
Während  also  alle  Uebrigen  mit  Abhandlungen  versehen  sind,  welche  die  Haupt- 
sache sind  (nur  bei  2)  ist  die  Ankündigung  des  neuen  Collegs  die  Hauptsache), 
wird  dort  nur  ausschliesslich  ein  volles  Programm  der  Philos.  Vorlesungen  ent- 
wickelt, das  K.  darum  für  nöthig  erachtete,  ^damit  man  sich  einigen  Begriff  von 
der  Lehrart  machen  könne,  worin  ich  jetzt  einige  Veränderung  zu  treffen 
nützlich  gefunden  habe."  Und  worin  bestehen  diese  Veränderungen  ?  Erstens 
in  dem  Bruch  mit  der  bisherigen  Methode  des  academischen  Vortrags  in  der 
Philosophie;  derselbe  war  bisher  dogmatisch  und  soll  nunmehr  zetetisch 
sein.  Zweitens  in  der  Veränderung  der  Methode  der  Metaphysik,  die  bisher 
synthetisch  war  und  nun  analytisch  sein  soll.  Drittens  —  und  das  ist 
die  Hauptsache  —  in  der  Hinzufügung  einer  abgesonderten  Methodologie  der 


Die  „Kritik  der  Vernunft"  Anno  1765  und  Anno  1781.  157 

Aus  diesen  Stellen  geht  mit  vollendeter  Sicherheit  hervor,  dass  Kant 
am  Ende  des  oben  S.  49  sogenannten  „Ersten  Entwicklungsprocesses", 
d.  h.  in  den  Jahren  1765  und  1766  schon  ein  von  ihm  damals  ebenfalls 
, Kritik  der  Vernunft"  genanntes  Werk  herauszugeben  im  Sinne  hatte. 
Es  wäre  eine  interessante  Aufgabe,  welche  schon  Paulsen  a.  a.  0.  94  ff. 
versuchte,  diese  erate  „Kritik  der  Vernunft*  vom  Jahre  1765  zu  reconstruiren'. 
In  der  Ausarbeitung  dieser  ersten  Kritik  d.  V.  wurde  K.  durch  das  Er- 
scheinen der  Nouveaux  Essais  von  Leibniz  unterbrochen.  Diese  leiteten  den 
Zweiten  Entwicklungsprocess  des  Kantischen  Denkens  ein ,  dessen 
Resultat  die  uns  vorliegende  Kritik  d.  r.  V.  ist.  Als  den  Gewinn  des  ersten 
Entwicklungsprocesses  nahm  Kant  in  seinen  zweiten  Entwicklungsgang 
herüber  die  formelle  Ueberzeugung  der  Noth wendigkeit  einer  ICritik  d.  V. 
Die  materielle  Erfüllung  dieses  Postulates  war  Sache  dieser  zweiten  Periode. 
Nach  dem  dogmatischen  und  empiristischen  Stadium  der  ersten  Periode  gebar 
deren  drittes  Stadium  den  Gedanken  der  „Kritik  der  Vernunft*^:  die  Aus- 
führung dieses  kritischen  Gedankens  durchlief  merkwürdiger  und  doch 
vielleicht  natürlicher  Weise  dieselben  drei  Entwicklungsformen. 


Metaphysik^  d.h.  einer  „Kritik  der  Vernunft",  m.  a.  W.  in  dem  Verlassen 
des  dogmatischen  Standpunktes  und  in  dem  Einnehmen  des  kritischen. 
(Viertens  in  der  Begründung  einer  neuen  Methode  der  Ethik.)  In  diesem  höchst 
interessanten,  wenn  gleich  nicht  genug  beachteten  Programm  ist  somit  das  beste 
Zeugniss  der  totalen  Sinnesänderung  des  Philosophen  enthalten  und  erhalten.  Der 
Gedanke  einer  „Kritik  der  Vernunft"  erwacht  hier  zum  erstenmal.  Es  ist  die 
formelle  Aufstellung  einer  neuen  Disciplin.  Was  den  materiellen  Gehalt 
betrifft,  darüber  s.  oben. 

'  Nur  müsste  man  bei  dieser  Reconstruction^  was  Paulsen  unterliess,  die 
„Träume  eines  Geistersehers"  zu  Grunde  legen ;  vgl.  oben  in  der  „Speciellen  Ein- 
leiti^ng"  S.  48  f.  u.  S.  59. 

*  Die  Umänderung  der  „Kritik  der  Vernunft"  des  Jahres  1765  in  die  „Kritik 
der  reinen  Vernunft"  von  1781  ist  wohl  auf  Leibni zischen  Einfluss  zurückzu- 
führen. Dagegen  ist  die  Quelle  für  „Kritik"  wohl  in  Locke  zu  suchen.  Wie 
nämlich  Kant  in  dem  Programm  von  1765  Logik  und  Kritik  zusammenstellt,  so 
thut  dasselbe  auch  Locke  in  seinem  Hauptwerke,  am  Schlnss^  IV,  21,  §  4.  (Vgl. 
H.  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  76.)    Vgl.  oben  S.  121. 


IIL 


Commentar  zur  Einleitung. 


Yorbemerkniigen. 

1.  Allgemeine  Literatur  zur  ^.Einleitung''  der  Kritik. 

Vgl.  die  oben  (S.  19  ff.)  angeführten  allgemeinen  Erläutemngsschriften 
an  den  bezüglichen  Stellen.  Specielleres  *:  J.  Schultz,  Prüfung  der 
Kantischen  Critik  d.  r.  V.  I.  IL  Königsb.  1791.  1792.  [Der  erste  Band  be 
trifft  die  „Einleitung".  Widerlegung  damaliger  Einwürfe,  höchst  schätzens- 
werthes  Werk.]  —  (Anon.)  Kr  it.  Briefe  an  Im.  Kant  über  seine  Kr.  d.  r.  V. 
Göttingen  1794.  [Einl.  u.  Aesth. ;  viele  richtige  Bemerkungen  neben  Miss- 
verständnissen; Leibnitz'scher  Standpunkt  modificirt  durch  Locke.]  Damit 
ist  zu  vergleichen  die  eingehende  Kritik  des  auf  die  Einleitung  bezüglichen 
Theiles  dieser  Schrift  von  Born  in  seinem  mit  Abicht  herausgeg.  Philosoph. 
Magazin  II,  3.  321—395.  II,  4.  527-558.  [Theilweise  geschickte  Vertheidi- 
gung;  Born  ruft  dem  anonymen  „Kavitoop^ottS"  zu:  Non  sus  Minervam!]' 
Heyn  ig,  Herausforderung  an  Kant,  die  Hauptsätze  seiner  Transsc.  Phil, 
entw.  von  neuem  zu  begründen,  oder  sie  als  unstatthaft  zurückzunehmen. 
Leipzig  1798.  [Besprechung  der  4  ersten  Abschnitte  der  Einleitung  vom 
Standpunkt  des  „consequenten  Empirismus"  (S.  187)  aus;  tumultuarisch  mit 
vereinzelten  Scharfblicken.]  —  Seh  er  er,  G.,  Kritik  über  Kants  Subjectivität 


*  Detailschriften  über  die  Einl.  überhaupt  allein  existiren  nicht',  die  Ein- 
leitung ist  immer  mit  der  Aesthetik  zusammen  behandelt. 

■  Der  anonyme  Verf.  Hess  bald  darauf  eine  „Vertheidigung  der  kritischen 
Briefe"  insbes.  gegen  Born  erscheinen.  Vgl.  Eberstein  II,  240  ff.  —  Der  Aufsatz 
von  Seile,  Versuch  u.  s.  w.  Berl.  Monatsschr.  1784,  Dec.  (vgl.  Mendelssohn, 
W.  W.  VI,  a.  134  f.)  ist  hier  ebenfalls  zu  nennen. 


Vorbemerkungen:  Literatur;  Aenderungen  der  zweiten  Auflage.        159 

und  Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit.  Prankf.  1871.  [Bespricht  Ein!, 
und  Aesth.  ziemlich  werthlos.]  (Einzelne  Aufsätze  in  den  früher  genannten 
Zeitschriften  über  einzelne  Punkte  der  Einleitung  sind  unten  angeführt.)  — 
Femer  sind  besonders  zu  erwähnen  Ueberwegs  scharfsinnige  und  scharfe 
Bemerkungen  in  seinem  Grundriss  IH,  §  18,  sowie  Lewes'  Einwände,  Gesch. 
IT,  497  ff.  Desduits'  Kritik  in  Phü.  de  Kant  273  ff.  ist  sehr  unbedeutend, 
im  Style  Cousins.  G.  Biedermanns  Einwände  in  „Ks.  Kr.  d.  r.  V.  und  die 
HegeFsche  Logik",  Prag  1869,  5  ff.  sind  vom  Standpunkt  einer  sog.  „Be- 
griffiswissenschaft*  aus  geschrieben,  [ein  Muster  falscher  Interpretation!] 
Beachtenswerther  sind  C.  Biedermanns  Bemerkungen,  Deutsche  Philos. 
I,  64  ff.;  ferner  Hegel,  W.  W.  XV,  555  ff.  Sigwart,  Gesch.  d.  Philos. 
in,  56  ff.  Pries,  Gesch.  d.  Philos.  11,  506  ff.  Cournot,  Ess.  sur  le  fond. 
des  connaiss,  11,  371  ff.  Remusat,  Ess.  de  pkiL  I,  255—270.  Id.  Phü. 
Aü.  24  ff.  Morell,  Modern  Phüos.  I,  233  ff.  Degerando,  VergL  Gesch. 
I,  467  ff.  n,  471  ff.  Tombo,  Ks.  Erkenntnissl.  4  ff.  Glaser,  De  pHnc. 
phü.  Kant.  16  ff.  S.  Laurie,  Interpret,  of  Ks.  Krit.  of  p.  R.,  Journ.  of 
spee.  Phü.  VI,  222—233.  Dühring,  De  Tempore  etc.  16  ff.  ülrici,  Grund- 
princip  der  Philos.  I,  295-314  (§  31). 


2.    Die  Emleitung  in  der  I.  und  in  der  II.  Auflage. 

Die  Einleitung  ist  in  der  11.  Aufl.  verändert  und  insbesondere  vergrös- 
sert.  Was  das  äusserliche  Verhältniss  beider  Bedactionen  betrifft,  so 
zerfällt  die  Einleitung  in  A  in  zwei  ungleich  grosse  Hauptabschnitte: 

a)  Idee  ) 

[  der  Transscendentalphilosophie. 
ß)  Eintheilung    ) 

Die  Einleitung  der  11.  Ausgabe  zerfällt  dagegen  in  7  Abschnitte: 

1)  Von  dem  Unterschiede  der  reinen  und  empirischen  Erkenntniss. 

2)  Wir  sind  im  Besitze  gewisser  Erkenntnisse  a  priori  und  selbst  der 
gemeine  Verstand  ist  niemals  ohne  solche. 

3)  Die  Philosophie  bedarf  einer  Wissenschaft,  welche  die  Möglichkeit, 
die  Principien  und  den  Umfang  aller  Erkenntnisse  a  priori  be- 
stimme. 

4)  Von  dem  Unterschiede  analytischer  und  synthetischer  Urtheile. 

5)  In  allen  theoretischen  Wissenschaften  der  Vernunft  sind  synthetische 
Urtheile  a  priori  als  Principien  enthalten. 

6)  Allgemeine  Aufgabe  der  reinen  Vernunft. 

7)  Idee  und  Eintheilung  einer  besonderen  Wissenschaft,  unter  dem 
Namen  einer  Kritik  der  reinen  Vernunft. 


160  Commentar  zur  Einleitung. 

Folgendes  Schema  gibt    eine   üebersicht   über   das  Verhältniss   beider 
Redactionen  bezüglich  der  aus  A  in  B  herübergenommenen  Bestandtheile: 

A  B 

aus  A  nach  A  nur  B 

1 
2 
3 

a.     / 

4 

5 
6 

ß.    ^       7 

d.  h.  die  Abschnitte  3,  4,  7  der  II.  Aufl.  sind  aus  der  I.  herübergenommen: 
1,  2  u.  5,  6,  gehören  nur  der  IL  Aufl.  an;  1  u.  2  enthalten  jedoch  nur  eine 
Veränderung  des  Textes  von  A ;  5,  6  sind  ganz  neu.  (Die  herübergenom- 
menen Abschnitte  3,  4,  7  sind  jedoch  auch  nicht  unverändert  geblieben: 
am  meisten  Aenderungen  fanden  im  4.  Abschnitt  statt.)  Die  beiden  Haupt- 
theile  der  I.  Aufl.  sind  auf  die  neuen  7  Abschnitte  der  II.  so  vertheilt,  dass 
der  Inhalt  des  Ersten  (Idee  der  Tr.)  sich  deckt  mit  1 — 6  und  der  ersten 
Hälfte  von  7;  der  Inhalt  des  Zweiten  (Eintheilung  der  Tr.)  bildet  die 
zweite  Hälfte  des  7.  Abschnittes  der  II.  Aufl. 


8.    Gliederung  der  Einleitung  nach  der  n.  Auflage. 

L 

A    (I).    Unterschied  reiner  und  emplriseher  Erkenntniss. 

a)  Fragestellung,  ob  Erkenntniss  a  priori? 

ß)  Definition  der  Erk.  a  priori, 

y)  Eintheilung  derselben  in  uneigentliche  und  eigentliche. 

B  (II).  Thatsächlicher  Besitz  reiner  ErkenntnIsH. 

{Quaestio  facti;  Frage  nach  dem  Dass). 

a)  Merkmale  der  reinen  Erkenntniss  (Nothwendigkeit  und 

Allgemeinheit), 
ß)  Beispiele  reiner  Erkenntniss  (*), 

1)  ürtheile, 

I.  Aus  der  Mathematik, 

II.  Aus  der  Beinen  Naturwissenschaft  (Causalität), 
[III.  Aus  der  Metaphysik]  (**), 

2)  Begriffe, 

I.  Baum, 

II.  Substanz, 

[in.  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit]  (**), 


Gliederung  der  Einleitung.  161 

C  (in).  Nothwendlgkeit  einer  Theorie  der  reinen  Erkenntniss  {***), 

{Quaestio  juris \  Frage  nach  dem  Wie). 

a)  ü ebergang:  Ansprüche  der  (transsc.)  Metaphysik  auf 

Erkenntniss  a  priori, 
ß)  Daher  Nothw endig k ei t  einer  Theorie  der  Erkenntniss 

a  priori  überhaupt, 
y)  Grunde  bisheriger  Unterlassung, 

1)  Vorbild  der  Mathematik  in  apriorischer  Methode, 

2)  Trieb  zu  transscendenter  Erweiterung  der  Erkenntniss, 

3)  Verwechslung  analytischer  und  synthetischer  Urtheile 

(=  Uebergang  zum  Folgenden). 

n. 

A  (TV).  Untersehied  analytiseher  nnd  sjnthetiseher  Urtheile. 

a)  Definition  beider  Gattungen, 
ß)  Genesis  synthetischer  Urtheile, 

1)  Empirischer  durch  Erfahrung, 

2)  Apriorischer  wodurch?    (Causalitätsbeispiel). 

B    (V)   Thatoiehlieher  Besitz  synthetiseher  Urtheile  a  priori. 

I.  Mathematik, 

1)  Arithmetik, 

2)  Geometrie, 

U.  Beine  Naturwissenschaft, 
in.  Metaphysik;  ihre  Ansprüche  darauf. 

C  (VI)  Nothwendiglceit  einer  Theorie  synthetischer  ErlLenntnissa  priori. 

a)  Allgemeine  Fragestellung : 

Wie  sind  synthetische  Urtheile  apriori  möglichV 
ß)  Detaillirte  Problemstellung: 

I.  Wie  ist  reine  Mathematik  möglich? 
n.  Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich? 
ni.  Wie  ist  Metaphysik  möglich? 

a)  Wie  ist  Metaphysik  als  Naturanlage  möglich  ? 

b)  Wie  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft  möglich  V 
y)  Allgemeine  Bemerkimgen  über  Gegenstand  und  Methode 

der  neuen  Wissenschaft. 


m. 

(Vn)  Idee  nnd  Eintheilnng  der  yerlanipten  Theorie  d.  h.  der  Kritilc 
der  reinen  Ternnnlt. 

a)  Idee, 

ß)  Eintheilung, 

Vaihlnger,  Kant-Commentar.  \\ 


162  Commentar  zur  Einleitung: 

1)  Negative  Abgrenzung, 

a)  Nichts  Analytisches, 

b)  Nichts  Empirisches, 

2)  Positive  Eintheilung, 

a)  Elementar-  und  Methodenlehre, 

b)  Sinnlichkeit  und  Verstand. 


4.    Bemerkungen  zu  der  Gliederung  der  Einleitung. 

Man  bemerkt  erst  vermöge  dieser  Uebersicht  die  feine  und  durchdacht« 
Gliederung  der  Einleitung,  welche  für  Kants  „architektonische"  Anlage  ein 
glänzendes  Beispiel  abgibt.  Die  Theile  in  den  beiden  ersten  Hauptabtheilungen 
entsprechen  sich  im  Einzelnen  genau  und  Kant  hätte  diese  durchsichtige, 
sachliche  Gliederung  durch  eine  passendere  üeberschrifb  insbesondere  des 
Abschnittes  VI  selbst  viel  deutlicher  hervortreten  lassen  können  und  sollen. 
Es  wird  beidemal  behandelt 

A)  der  Unterschied  zweier  Erkenntnissarten, 

B)  Nachweis  des  thatsächlichen  Vorhandenseins  beider,  insbesondere 
das  erstemal  der  apriorischen  Erkenntniss,  das  zweitemal  der  synthetischen 
und  zwar  ganz  speciell  synthetischer  Erkenntniss  a  priori;  insofern  wird  in 
n,  C  (=  VI)  das  Synthetische  des  Haupttheiles  II  mit  dem  Apriori  des 
Haupttheiles  I  verbunden. 

C)  Hinweis  auf  die  Nothwendigkeit  einer  Theorie  der  als  factisch 
nachgewiesenen  apriorischen  resp.  synthetisch  apriorischen  Erkenntniss'.    Nach 


^  Aehnlich,  wenn  auch  nicht  genau  genug  gliedernd,  bemerkt  Fischer  folgende 
drei  Theile  der  Einleitung  überhaupt,  indem  er  je  I  u.  IV,  U  u.  V,  HI  u.  VI 
zusammen  nimmt,  wo  Definition,  Existenzfrage,  Rechtsfrage  be- 
handelt sind: 

1)  Was  ist  Erkenntniss? 

2)  Ist  die  Erkenntniss  factisch? 

3)  Wie  ist  dieses  Factum  möglich? 

„Die  Fragen  sind  so  geordnet,  dass  nur  wenn  die  vorhergehende  gelöst  ist,  die 
folgende  gestellt  werden  darf.  Diese  ganze  Art,  wie  K.  seine  Kritik  einleitet 
vergleicht  sich  sehr  gut  mit  dem  Verfahren  einer  juristischen  Untersuchung:  Erst 
wird  der  Fall  constatirt,  dann  wird  er  aus  Rechtsgründen  beurtheil t  und 
entschieden.  K.  hat  es  mit  der  Rechtsfrage  der  menschl.  Erkenntniss  zu  thun,  er 
will,  juristisch  zu  reden,  der  Erkenntniss  den  Process  machen  ....  Instruirt 
wird  die  Sache  der  Erkenntniss,  indem  man  zeigt,  worin  ihr  Fall  besteht,  und 
dass  der  Fall  vorliegt.  Entschieden  wird  die  Sache,  indem  man  die  Möglichkeit 
der  Erkenntniss  darthut,  d.  h.  indem  man  nachweist,  kraft  welchen  Rechtes 
dieselbe  exißtirt"  u.  s.  w.  In  den  Prol.  werden  erst  beide  Unterschiede  abgehan- 
delt (in  8  1  u.  §  2)  und  dann  wird  erst  in  §  4  u.  5  das  Problem  gestellt;  es  folgen 
sich  also  die  Theile  so:  I,  II,  IV,  V  ;  UI,  VI. 


Bemerknngen  zur  Gliederung.    Die  Einleitung  der  Prolegomena.         1(33 

diesen  beiden  Haupttheilen  wird  im  dritten  (den  man  auch  den  beiden  ersten 
zusammen  als  einen  zweiten  gegenüberstellen  kann),  die  Idee  und  Einth ei- 
lung der  in  I  C  und  II  C  als  noth wendig  nachgewiesenen  Wissenschaft 
näher  besprochen. 

Einzelne  Bemerkungen: 

*)  ad  I,  B,  ß.  Eigentlich  hat  K.  hier  noch  eine  weitere  Eintheilung;  auf 
a)  Merkmale  reiner  Erkenntniss,  kann  man  auch  folgen  lassen: 
ß)  Nachweis  des  Vorhandenseins  derselben  und  zwar 

1)  durch  Beispiele, 

2)  durch  allgemeinen  Hinweis  auf  ihre  Nothwendigkeit  für 
die  Möglichkeit  resp.  Gewissheit  der  Erfahrung.  Da  aber  bei  K.  diese 
letztere  Bemerkung  nur  episodisch  ist,  so  wurde  sie  oben  weggelassen; 
sie  durchbricht  femer  die  Eintheilung,  da  sie  sich  nur  auf  Sätze  be- 
zieht, nicht  auf  Begriffe. 

**)  ad  I,  B,  ß,  1,  in.  Wir  haben  hier,  um  die  übersichtliche  Vollständig- 
keit herzustellen,  einen  Theil  angebracht,  wenn  auch  nur  in  Klammern, 
der  bei  K.  in  den  folgenden  Theil  I,  C  als  Uebergang  (a)  hinein- 
gezogen worden  ist.  Auch  wird  dadurch  der  Parallelismus  mit  II,  B 
u.  C  erst  hergestellt ;  nur  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  es  sich  hiebei  um 
angemasste  apriorische  Erkenntniss  handelt,  welche  der  unzweifel- 
haften gegenübertritt  als  transscendente  (im  Gegensatz  zur  imma- 
nenten). Dem  entsprechend  folgt  auch  bei  den  Begriffen  ein 
in.  Theil  in  Klammern,  der  die  bezüglichen  metaphysischen  Begriffe 
enthält. 
***)  ad  I,  C.  Dieser  Theil,  fast  wörtlich  aua  der  l.  Aufl.  herübergenommen, 
leitet  die  Nothwendigkeit  der  Theorie  der  apriorischen  Erkenntniss 
nur  daraus  ab,  dass  dieselbe  in  der  intendirten  Metaphysik  miss- 
braucht werde  zu  transscendenter  Speculation;  wegen  dieses  t heil- 
weis en  Missbrauchs  muss  die  ganze  apriorische  Erkenntniss,  auch 
wo  sie,  wie  in  der  Mathematik,  unbestritten  ist,  der  Untersuchung 
unterworfen  werden.  Darin  offenbart  sich  wieder  die  ursprüngliche 
Voranstellung  der  Dialektik  als  der  eigentlichen  Kritik  d.  r.  V. 

Die  Eintheilung  der  I.  Aufl.  in  Idee  und  Eintheilung  der  Transsc. 
Philos.  ist  dieser  fast  gothisch  gegliederten  Division  gegenüber  sehr  einfach. 
Die  IL  Auflage  ist  hier  eine  wirkliche  Verbesserung.  Insbesondere 
die  Theile  I  A  und  I  B,  welche  umgearbeitet  sind,  sowie  II  B  und  II  C,  welche 
ganz  neu  hinzugekommen  sind,  geben  der  Eintheilung  der  II.  Aufl.  ein  ent- 
schiedenes Uebergewicht  über  die  der  I.  Aufl. 


6.  Emieitimg  der  Prolegomena. 

In  den  Prol.  ist  die  Einleitung  methodisch  noch  feiner  ausgearbeitet.  Die 
Einl.  zerf&llt  daselbst  in  8  Schritte. 


164  Commentar  zur  Einleitung. 

(§  1.  2.)  Erster  Schritt:  Klassificatorische  Definition  der 
Metaphysik.  Aufsuchung  einer  definitorischen  Formel,  eines  Systems  von 
Prädicaten.  Dadurch  scharfe  Inhaltsbestimmung  und  genaue  ümfangsab- 
Scheidung  des  td,  de  quo  disptäcUur.  —  Dies  hier  gewonnen  durch  Zerfällung 
des  Begriffs  derErkenntniss  durch  zwei  combinirte  Theilungsgründe.  Diese 
Merkmalsbestimmung  eine  Entdeckung  für  sich.  Stellung  der  Met.  nach 
Subordination:  synthetische  Erkenntniss  a  priori;  nach  Disjnnetlon: 
Mathematik  und  reine  Naturwissenschaft  gehören  unter  denselben 
Oberbegriff.     [§  3  ist  eine  blosse  Anmerkung.] 

(§  4.)  Zweiter  Schritt:  Aufstellung  des  hypothetischen 
Problems:  Ist  die  so  definirte  Wissenschaft  möglich?  üeber  hypothet. 
Probleme  s.  Drobisch,  Log.  §  140  (weil  der  aufgestellte  Begriff  selbst  nur 
erst  „problematisch'  ist,  Prol.  §  4,  d.  h.  die  Auflösung  entscheidet  hier 
erst  über  Gültigkeit  des  Begriffs).  Derartige  Probleme  schwieriger,  weil  das 
Untersuchungsobject  nicht  etwas  Gegebenes  und  unleugbar  Vorhandenes  ist, 
(denn  die  Metaphysik,  um  welche  es  sich  hier  handelt,  ist  ja  eine  be- 
strittene Wissenschaft);  daher 

(§  5.)  Dritter  Schritt:  Beduction  auf  ein  absolutes  Problem. 
Vgl.  Drobisch ,  Log.  §  141 :  man  sucht  für  ein  unzweifelhaftes  Factum  die 
Bedingungen  und  Erklärungsgründe,  ohne  welche  jenes  unbegreiflich.  Hier 
dies  Factum  =  Datum :  Die  Thatsache  synth.  Erk.  a  pr.  in  Mathem.  u.  Naturw. 
Das  Quaesitum  ist  das  Princip,  das  die  Gültigkeit  jener  Erkenntniss  er- 
möglicht. Damit  das  ursprüngliche  Detnonstrandutn  (in  §  4)  durch  ein 
anderes  ersetzt,  aus  dem  jenes  durch  einfache  Deduction  abzuleiten  ist: 
durch  Beantwortung  des  Allgemeinen  auch  das  Specielle  gelöst.  Dies  eine 
fiexaX'r^tpi^:  das  Neue  ist  das  |jL6TaXa^ßav6}i«yov  (Sigw.  Log.  II,  241).  Diese  Sub- 
stitution, resp.  Beduction  ist  ein  methodologischer  Kunstgriff.  Schematisch: 
Ist  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  von  A  [hier  =  die  Metaphysik]  schwer 
lösbar,  so  wird  A  als  Species  auf  das  Genua  G  [hier  =  synthetische  Erkenntniss 
a  priori]  reducirt;  die  Frage  nach  G  ist  eventuell  leichter  lösbar  und  aus 
der  Lösung  von  G  wird  die  von  A  abgeleitet  \ 


6.   Allgemeine  Parallelstellen  aus  Eants  Werken. 

Prolegomena,  Vorrede  und  Einleitung  §  1 — 5.  Streitschr.  gegen 
Eberhard  (üeber  eine  Entdeckung)  2.  Abschnitt,  üeber  die  Fortschritte 
der  Metaph.  Einleitung.  Beilage  I.  —  [üeber  das  Verb,  der  Einleitung  zur 
Vorr.,  insbes.  B  sagt  Desduits,  Phil,  de  K,  36:    „La  PrSface  nous  a  fait 


*  M.  a.  W. :     Beim  hypothetischen  Problem  lautet  die  Frage: 
Ist  M  etwas  Mögliches?  (DabiU?) 
Beim  absoluten  Problem  lautet  sie  dagegen: 

Wie  ist  (das  als  Datum  gegebene)  M  möglich? 


ErfahrungB-  und  Yemunfterkeniitnisse.  165 

eonnattre  Vintention  ginSrale  de  Vouvrage  et  noua  en  a  mStne  annoncS  les 
conclusions;  VIntroducHon  nous  en  indique  le  plan,  la  mithode  et  les 
suhdivisionsJ'  Ueber  die  hohe  Wichtigkeit  der  Einl.  Witte,  Beitr.  23  ff., 
der  dieselbe  in  7  X  3  =  21  Thesen  übersichtlich  zergliedert.] 


Erklärung  von  A,  S.  1  und  2.  [Vgl.  B,  Abschn.  I  u.  H-] 

Die  Erkenntniss  a  priori. 

Specialliteratur. 

Nüsslein,  G.,  De  cognitionum  a  prioH  et  a  posU  discrimine,  Bamb. 
1794.  —  Anton,  K.  G.,  Quaedam  de  cognitione  a  priori,  qualem  Kantius 
statuere  videtur,  dubUationes.  Wittenb.  1800.  —  Ed.  Röder,  das  Wort 
,a  priori*.  Eine  neue  Kritik  d.  K.'schen  Phil.  Frankf.  1866  [ziemlich  werth- 
los].  —  J.  Horowitz,  De  apriorüatis  Kantii  in  Phüosophia  principio  et  in 
quo  quum  cum  dogmaticarum  doctrinarum  de  innatis  ideis  principiis  con- 
gruaty  tum  ab  iis  differat,  Diss.  Königsb.  1872.  —  Eine  theilweise  beachtens- 
werthe  Kritik  des  I.  und  II.  Abschnitts  (B)  vom  empiristischen  Standpunkt 
aus  von  G.  F.  Werner  (Verf.  der  »Aetiologie")  s.  in  Eberh.  Phil.  Archiv  II, 
4,  60—73.  —  Spicker,  Kant,  S.  14  ff.    Bachmann,  Phil.  m.  Z.  S.  50  ff. 


[R  17.  H  36.  K  50.]  A  1. 

Erfahmiig  das  erste  Prodnet  u.  s.  w.  Das  erste  Product  des  Verstandes 
ist  die  durch  Verstandesarbeit  aus  dem  Empfindungsrohstoff  entstandene 
Erfahrung  '.  Häufig  definirt  K.  Erf.  als  das  Product  des  Verstandes  aus 
Materialien  der  Sinnlichkeit,  Prol.  §  20,  34.  Dieser  Begriff  schliesst  nun  aber 
bei  K.  bald  das  Merkmal  jener  Verstandesarbeit  ein,  bald  bedeutet  er  bloss 
die  reine  Empfindung;  u.  jene  Verarbeitung  ist  bald,  wie  hier,  eine  bloss 
logische,  bald,  wie  A  2,  eine  schon  apriorische.  (Über  diesen  dreifachen 
Sinn  S.  176).  Die  weiteren  Producte  des  Verstandes  sind  die  eigentlich  allgem. 
und  nothw.  Erkenntnisse,  die  demnach  zeitlich  als  das  zweite  Product  zu  be- 
zeichnen wären,  jedoch  unbeschadet  ihrer  Apriorität.  (Vgl.  dag.  J.  S.  B  e c k,  Pro- 
päd.  5  ff.  a  Von  den  mannigfaltigen  Producten  des  Verstandes" :  Begriff,  ürtheil» 
Schluss.)  Vgl.  299 :  »Alle  unsere  Erkenntniss  hebt  von  den  Sinnen  an, 
geht  von  da  zum  Verstände,  und  endigt  bei  der  Vernunft,  über  welche 


'Methodisch  angestellte  Erfahrung  heisat  B e o  b a c h t u n g.  Kr.  d.  Urth.  §  66. 
(Vgl  Gebr.  teleol.  Princip.  u.  s.  w.    R.  VI,  359.  K.  VUI,  147).     Vgl.  Prol.  §  17. 


l(5ö  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  1  und  2. 

A  1.  2.  [B  17.  H  36.  E  50.] 

nichts  Höheres  in  uns  angetroffen  wird,  jden  Stoff  der  Anschauung  zu 
bearbeiten"  u.  s.  w.  294.  Anm.:  „Die  Sinnlichkeit  dem  Verstände  unter- 
gelegt, als  das  Object,  worauf  dieser  seine  Function  anwendet,  ist  der  QaeU 
realer  Erkenntnisse." 

Feld.  „Feld"  und  oben  „Boden"  sind  unzählig  oft  wiederholte  Lieb- 
lingsausdrücke Kants,  der  die  sinnlich  gefärbte  Sprache  trotz  der  Abstractheit 
des  Gegenstandes  nicht  vernachlässigte. 

Sie  sagt,  was  da  sei,  aber  nicht  u.  s.  w.  Eine  sehr  häufig  wiederholte 
Bestimmung:  z.  B.  S.  734:  „Erfahrung  lehrt  uns  wohl,  was  da  sei,  aber 
nicht,  dass  es  gar  nicht  anders  .sein  könne."     Weiteres  s.  zu  Einl.  B.  3. 

Die  Yerniinft,  welche  u.  s.  w.  K.  gebraucht  hier  Verstand  und  Ver- 
nunft promiscve;  oben  hiess  es:  der  Verstand  lässt  sich  nicht  auf  Er- 
fahrung einschränken;  hier  ist  es  die  Vernunft,  welche  nach  nothwendigen 
Erkenntnissen  begierig  ist.  Ueber  Ks.  Sprachgebrauch  hiebei  s.  zu  A  3.  Hier 
nur  so  viel,  dass  Kant  im  gewöhnlichen  Fluss  der  Eede  zwischen  Verstand 
und  Vernunft  keinen  Unterschied  macht,  besonders  nicht  in  dieser  Ein- 
leitung; statt  „reine  Vernunft"  findet  sich  auch  „reiner  Verstand".  In 
diesem  Falle  bezeichnet  Verstand,  oder  Vernunft  das  ganze  obere  Erkenntniss- 
vermögen über  der  sinnlichen  Erfahrung.  Im  strengeren  Sprachgebranch 
dagegen  unterscheidet  er  zwischen  dem  immanenten  Verstand  und  der 
transcendenten  Vernunft,  worüber  man  zu  A,  S.  3  sehe.  Ueber  weitere 
Bedeutungsnüancen  s.  später  zu  A  11.   —  Vgl.  Pesch,   Mod.  Wiss.  S.  34. 

Mflssen  fOr  sich  selbst  gewiss  sein»  Der  Grund  dieses  Müssens  ist, 
weil  solche  allgemeinen  und  nothwendigen  Erkenntnisse  ihre  Gewissheit  nicht 
der  Erfahrung  verdanken  können,  welche  weder  wahre  Allgemeinheit  noch 
innere  Nothwendigkeit  zu  geben  vermag;  darum  „müssen  sie  für  sich  selbst 
gewiss  sein",  d.  h.  ihre  Gewissheit  muss  eine  in  ihnen  selbst  liegende  sein. 
Bouterwek,  Aph.  22:  „Ein  Begriff  oder  Grundsatz,  den  das  Erkenntniss- 
vermögen aus  sich  selbst  entwickelt  und  der  ebendeswegen  durch  sich 
selbst  bestehet  und  anhebt  von  sich  selbst,  heisst  a  priori".  Erdmann, 
Ks.  Krit.  165  bemerkt,  in  der  II.  Aufl.  sei  dieses  Merkmal  abgestreift,  das 
sicher  in  der  I.  Aufl.  nur  ein  „lapsus  pennae^'  gewesen  sei.  Es  sei  das  ein 
Merkmal  des  Cartesianisch -Locke 'sehen  Begriffs  der  angeborenen  Ideen, 
das  in  die  kantische  Portbildung  dieser  Lehre  gar  nicht  mehr  hineinpasse. 
(Vgl.  jedoch  Proleg.  Vorr.  8.  9.  10:  „innere  Wahrheit"  des  Gausalbegriffes.) 
Diese  innere  Klarheit  beruhte  nach  der  altdogmatischen  Lehre  auf  einer 
nach  Art  der  mathem.  Anschauung  gedachten  Vernunftanschauung; 
dies  Moment  trat  bei  Crusius  in  den  Vordergrund.  Vgl.  Kannengiesser, 
Dogm.  und  Skeptic.  10  ff.    Vgl.  unten  S.  191  f. 

Von  der  Erfahrung  erborgt.  In  dieser  Lieblingswendung  Kants  liegt 
(zusammen  mit  dem  „nur"  a  posteriori)  die  Verachtung  ausgedrückt,  welche 
er,  im  Einklang  mit  fast  allen  Philosophen  seit  Platon,  der  Erfahrung  gegen- 
über hegt.  Es  liegt  darin,  dass  die  Erfahrung  nicht  der  richtige,  eigentliche 
Ort  sei,  woher  die  Erkenntniss  zu  entnehmen  ist,  dass  der  Mensch  vielmehr 


Das  Apriori  nicht  aus  der  Erfahrung  „erborgt".  167 

[B  17.  18.  H  36.  E  60.]  A  2. 

ans  dem  inneren  Fond  seiner  eigenen  Yernunfb  zu  schöpfen  hat,  um  zur 
wahren  Erkenntniss  zu  gelangen.  Eine  Aufzählung  derartiger  Parallelstellen 
ist  daher  hier  zur  Charakteristik  Ks.  am  Platze.  S.  24:  „Die  Vorstellung  des 
Baumes  kann  nicht  .  .  .  durch  Erfahrung  erborgt  sein.*'  Wie  hier  die 
Aesthetik,  so  behandelt  auch  die  Analytik  das  „was  der  Verstand  aus  sich 
selbst  schöpft,  ohne  es  von  der  Erfahrung  zu  borgen".  S.  236.  Das  sind 
die  reinen  Begriffe.  Im  Gegensatz  dazu  stehen  die  empirischen  Begriffe, 
»die  von  der  Erfahrung  erborgt  sind",  220.  Endlich  hat  es  auch  die  Dialektik 
mit  Ideen  der  Vernunft  zu  thun,  die  diese  „weder  von  den  Sinnen  noch  YOpi 
Verstände  entlehnt".  S.  299.  Daher  „ist  es  eine  alle  reine  Philosophie  zer- 
störende Behauptung  Hume's,  alles  was  wir  Metaphysik  nennen,  sei  bloss 
vermeinte  Verntmfteinsicht  dessen,  was  in  der  That  bloss  aus  der  Erfahrung 
erborgt  sei".  B.  20.  Diese  Entlohnung  oder  Erborgung  aus  der  Er- 
fahrung oder  der  „gemeinen  Vernunft"  wird  ferner  an  folgenden  Stellen  zurück- 
gewiesen: Kritik.  B.  2.  21.  A.  86.  96.  114.  126.  220.  222.  236.  299.  306. 
313.  .533.  656.  725.  B.  134.  166.  Pro  leg.  §  13.  Anm.  III.  §  19.  §  27. 
§  36.  §  56.  §  59.  Metaph.  Anf.  d.  Naturw.  K.  179.  198.  Anthropol.  §  7. 
4.  Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772.  Metaph.  244.  245.  304.  In  der 
Dissertation  von  1770  §  6.  §  10  und  §  15,  D.  §  30  finden  sich  als  ent- 
sprechende Ausdrücke:  depromere,  mutuare.  Der  Grund  dieser  Zurück- 
weisung liegt  in  der  Ansicht,  dass,  „was  von  der  Erfahrung  entlehnt  ist, 
auch  nur  comparative  Allgemeinheit  hat,  nämlich  durch  Induction".  A.  24. 
Das  Vorbild  der  Metaphysik  ' ist  die  Mathematik,  die  nichts  „aus  der  Er- 
fahrung borgt".  713.  Die  Metaphysik  ist  jedoch  „keineswegs  darum  erdichtet, 
weil  sie  nicht  von  der  Erfahrung  entlehnt  ist,  sondern  enthält  die  reinen 
Handlungen  des  Denkens"  u.  s.  w.,  Met.  Anf.  d.  Nat.  Vorr.  Auch  die  reine 
Moral  „entlehnt  nicht  das  Mindeste  von  der  (anthropologischen)  Kenntniss 
des  Menschen",  Grdl.  z.  Met.  d.  S.  Vorr.  Auch  Ks.  Schüler  gebrauchen  dieses 
und  ähnliche  Bilder.  Hauptm.  142:  „Raum  und  Zeit  sind  unmittelbare 
Vorstellungen,  keine  Geschenke  der  Erfahrung".  (Dag.  Heusinger,  I,  286: 
der  Raum  „ist  ein  Geschenk  der  Natur  und  also  ursprünglich".)  Lange, 
Gesch.  d.  Mater.  11.  11.  Bau  mann,  R.  Z.  und  Mathem.  IL  526:  „Für  die 
Raumvorstellung  brauchen  wir  nicht  draussen  betteln  zu  gehen"! 
üebrigens  ist  der  Ausdruck  selbst  „entlehnt" ,  denn  schon  Leibniz  sagt  im 
Avant'Propos  zu  den  Nouveaux  Essais  (Erdm.  196  B):  „Notre  dme  est-elle 
done  si  vtnde,  que  sans  les  images  empruntSs  du  dehors,  eile  ne  soit 
rien*'?  cfr.  ib.  208  A.  208  B.  Vgl.  schon  bei  Piaton  den  „voö<;  aio^t(j> 
xavcdicaoty  ohlrA  icpoaypwjisvoc".  Rep.  511.  C.  Schopenh.  W.  a.  W.  I,  535. 
Born,  Phil.  Mag.  II,  349.  Über  Ks.  „Antipathie  gegen  die  Sinnlichkeit" 
bes.  Laas,  Ks.  Anal.  93. 

Nun  xeigt  es  sieh^  u.  s.  w.  Dieser  erste  Satz  enthält  genau  genommen 
zweierlei  Behauptungen,  für  welche  der  Beweis  im  folgenden  Satze  erbracht 
wird.  Die  erste  Behauptung  ist,  dass  sich  unter  unsere  Erfahrungen  fremd- 
artige Bestandtheile  mengen;    die   zweite,   dass  diese  fremden  Bestandtheile 


16g  Commentar  zur  Einleitang  A^  S.  1  und  2. 

A  2.  [R  18.  H  86.  87.  K  50.] 

einen  apriorischen  Ursprang  haben.  Die  erste  Behauptung  wird  durch  den 
ersten  Theil  des  folgenden  Satzes  erwiesen:  der  Beweis  für  die  fremdartige 
Beimischung  liegt  darin,  dass  nach  Absonderung  des  Sinnlichen  noch  ander- 
weitige Elemente  übrig  bleiben.  Die  andere  Behauptung  wird  im  zweiten  Theil 
des  folg.  Satzes  gerechtfertigt.  Jene  beigemischten  Elemente  bewirken  nämlich 
zweierlei :  1)  Man  kann  von  den  Sinnendingen  in  gewisser  Hinsicht  (quantitativ) 
mehr  sagen,  als  die  blosse  Erfahrung  lehrt.  2)  Gewisse  Behauptungen  über 
die  Sinnendinge  sind  (qualitativ)  anders  beschaffen,  als  blosse  Erfahrungs- 
eckenntnisse ;  denn  sie  enthalten  eine  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit, 
welche  sich  in  den  letzteren  nicht  findet.  Kant  schliesst  aus  diesen  zwei 
Wirkungen,  für  welche  die  Beispiele  ad  1)  die  Anwendung  der  Mathematik 
auf  die  Sinnendinge,  ad  2)  die  Verwandlung  blosser  zuflüliger  Wahmehmungs- 
in  nothw.  Erfahrungsurtheile,  später  gegeben  werden,  auf  die  Bedingung :  das 
Enthaltensein  apriorischer  Elemente  in  der  Erfahrung.  Aehnlich  schliesst 
Leibniz,  Nauv,  Ess,  195  A:  8i  quelques  SvhtemetUs  peuvent  HreprMis  avani 
toute  ^preuve  qu^on  en  ait  faite,  ü  est  manifeste ,  que  nous  y  contribuons 
quelque  chose  de  notre  part. 

Dass  selbst  unter  unsere  Erfahrungen  u.  s.  w.  K.  unterscheidet  somit 
zweierlei  Arten  der  apriorischen  Erkenntnissgattung :  1)  diejenigen  apriorischen 
Erkenntnisse,  welche  selbstständig  neben  der  Erfahrungserkenntniss  hergehen, 
2)  solche,  welche  unter  die  Erfahrungen  selbst  gemengt  sind,  so  dass  die 
Erfahrung  einen  apriorischen  Zusatz  besitzt.  Als  Beispiel  für  die  erste  Art 
diene  der  Satz:  Gott  existirt.  Als  Beleg  für  die  zweite  die  Causalurtheile. 
Der  Charakter  dieser  apriorischen  Erkenntnisse  wird  hier  mit  wenigen,  aber 
markigen  und  vollständig  zureichenden  Strichen  gekennzeichnet.  Die  Merkmale 
sind:  Nicht-anders-sein-können ;  wahre  Allgemeinheit;  innere  Nothwendigkeit; 
Unabhängigkeit  von  der  Erfahrung;  Selbstgewissheit  und  völlige  Klarheit. 
Diese  Merkmale  kehren  unzähligemal,  z.  B.  822  f.  wieder  und  bezeichnen 
das  Apriori  scharf.  Die  Merkmale  der  Allgemeinheit  und  Nothwen- 
digkeit werden  dann  besonders  bevorzugt. 

Um  unseren  Yorstellnn^en  ZnsammenliEny  in  verschaffen.  Leibn.  Now. 
Ess.  211  B.:  Les principes  ghiSraux  erUrent  dans  nos  pensSes,  dont  Us  fönt 
V&me  et  la  liaison.  Ib.  344 B.  Vgl.  hiezu  Schopenhauer,  Satz.  v.  Gr. 
S.  89,  welcher  Abhängigkeit  Es.  von  Leibniz  annimmt. 

UrsprIIngllehe  Begriffe  und  ans  ihnen  enenirte  Urtheile*  Leibniz, 
Nouv.  Ess.  Erdm.  194  B.  „Uäme  contient  originairement  les  principes  de 
plusieurs  notions  et  doctrines*'  etc.  Vgl.  Laas,  Id.  u.  Pos.  66  f.  Zu 
diesen  nicht  „wegzuschaffenden  Begriffen"  gehört  auch  vor  Allem  die  Baum- 
anschauung. Vgl.  Prol.  §  1:  „Die  Principien  der  Metaphysik,  wozu  nicht 
bloss  ihre  Grundsätze,  sondern  auch  Grundbegriffe  gehören*'. 

Wenigstens  es  sagen  in  k5nnen  glaubt.  Dem  scharfen  Auge  Görings 
ist  diese  unsichere  Wendung  Ks.  nicht  entgangen.  Er  sagt  System  11,  146, 
E.  habe  also  selbst  einige  Bedenken  hinsichtlich  der  Zuverlässigkeit  seiner 
apriorischen  Erweiterung  der  metaph.  Erkenntnisse  gehegt.    Diese  oder  eine 


„Apriorisch**  (rein)  und  „aposteriorisch**  (empirisch).  169 

[R  18.  H  37.  E  50.}  A  2. 

entsprechende  Bemerkung  fehle  in  den  übrigen  Auflagen.  Vgl.  femer  dens. 
in  der  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  411.  Diese  vorsichtige  Restriction  — 
Kant  sei  hinsichtlich  der  Wahrheit  der  allg.  und  nothw.  Urth.  noch  nicht  sicher 
gewesen  —  sei  später  weggelassen  worden,  da  sie  der  in  den  Prol.  und  der 
zweiten  Aufl.  entwickelten  Theorie  der  Erf.  nicht  mehr  angemessen  gewesen 
sei.  So  ¥rill  6.  die  Stelle  dafür  verwerthen,  dass  in  der  I.  Aufl.  die 
apriorische  Erkenntniss  noch  keine  so  positive  Bolle  gespielt  habe,  als  später. 
Das  heisst  aber  doch  viel  zu  viel  in  diese  eben  bloss  stilistisch  ungenaue 
Stelle  hineinlegen,  welche  K.  daher  mit  Recht  in  der  11.  Aufl.  tilgte. 


Erklärung  von  B,  Absclinitt  I.  (S.  1-3.) 
Unterschied  reiner  und  empirischer  Erkenntniss. 

[B  696.  H  33.  E  46.]  B  1. 

Reime  «ad  empirlMhe  Erkenntniss.  Es  ist  bemerkenswerth,  dass  K.  das 
später  so  gebräuchliche  Adjectiv  „ apriorisch*'  noch  nicht  bildet,  das  zwar  bar- 
barisch, aber  bequem  ist.  Noch  Krug,  Lex.  I,  4  (1832)  nennt  die  Wortbildung 
eine  ^barbarische^  und  verwirft  sie.  Der  Erste,  der  die  neue  Wortbildung 
wagte,  war  Schmid  im  „Wörterbuch"  schon  1788,  er  schreibt  z.  B.  S.  17 
,a  priori-sche",  S.  8  „a  posteriori-sche"  Erkenntnisse.  Doch  ist  das  neue  Wort 
noch  selten  bei  ihm.  Wegen  dieser  Sprachneuerung  wird  er  von  Feder,  Phil. 
Bibl.  n,  250  hart  angelassen,  ,er  verunstalte  die  Sprache  und  es  sei  immer 
leichter,  neue  Worte  zu  machen,  als  durch  Güte  der  Sachen  sich  auszuzeichnen". 
M ellin,  obwohl  später,  hat  das  Wort  noch  nicht.  Da  K.  noch  nicht  den 
Taminus  «apriorisch"  bildete,  und  doch  zu  , empirisch"  einen  prägnanten 
Gegensatz  brauchte,  hiezu  aber  auch  das  bisher  übliche  Wort  »rational" 
verschmähte  (mit  wenigen  Ausnahmen  348.  347.  716.  835)  \  so  bediente  er 
sich  des  Ausdruckes  „rein".  Dieses  Wort  hat  aber  bei  K,  verschiedene, 
nicht  unbedeutende  Bedeutungsnüancen  (hierüber  zuB,  3. 5,  A 11),  wodurch  eine 
gewisse  Unbestimmtheit  eintrat.  Später  dagegen  kehrt  das  Wort  „rational" 
häufig  wieder,  so  sogleich  in  der  Vorrede  zur  Kritik  der  prakt.  V.  14.  28. 
ib.  68.  Kr.  d.  Urth.  §  1.  Met.  Anf.  d.  Naturw.  Vorrede.  M.  d.  Sitten,  ßechtsl. 
§  31.  Sitten].  Einl.  XIIl.  Logik,  Einl.  III  u.  bes.  IX;  rational  =  apodiktisch, 
empirisch  =  assertorisch.  Der  Terminus  Bationalismus  für  Ks.  eigenes 
System  wird  auch  erst  später  häufiger  bei  K.  und  findet  sich  nicht  bloss,  wie 
Paulsen,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  II,  491  meint,  in  der  Schrift  über  die  „Fortschr. 


'  Im  Zusammenhange  damit  steht  die  Eintheilang  in  historische  Et- 
k^iunimss  (cognitio  ex  datis)  und  rationale  Erk.  (cognitio  ex  principiis), 
national  ist  überhanpt  eine  Erkenntniss,  „welche  etwas  Allgem.  und  Kothw. 
enthält  oder  daraus  hergeleitet  wird",    Schmid,  Krit.  4. 


X70  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  1.  [B  695.  H  83.  K  46.] 

d.  Metaphysik".  Ros.  I,  507.  Hart.  VTII.  534  f.,  sondern  auch  schon  in  der 
Kritik  der  pr.  Vem.  und  der  der  ürth.  Früher  hatte  K.  dafür  den  Ausdruck 
„intellectual''  gebraucht  für  das,  was  er  jetzt  »rein"  heisst;  so  in  derDissert. 
und  in  den  Briefen  an  Herz,  z.  B.  vom  21.  Febr.  1772.  (vgl.  oben  S.  126.) 
Dass  alle  unsere  ErkenntiilsB  u.  s.  w.  In  diesem  Anfange  findet  Riehl, 
Krit.  I,  303,  323  zugleich  ausgedrückt,  dass  auch  die  apriorischen  Bestandtheile 
des  Erkennens  erst  auf  Anlass  und  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  sich  ent- 
wickeln. „Die  Erf.  weckt  und  entwickelt  das  Bewusstsein,  aber  das  Be- 
wusstsein  wächst  und  wirkt  nach  seiner  eigenen  Gesetzlichkeit,  und  dagenige 
ist  apriori ,  was  in  dieser  Gesetzlichkeit  allein  gegründet  ist*  *.  Das  Apriori 
ist  mithin  nicht  eine  zeitlich,  sondern  eine  begrifflich  vorhergehende 
Erkenntniss.  —  Alle  unsere  Erkenntniss  fängt  mit  der  Erfahrung  an:  Dieses 
Geständniss,  sagt  die  A.  L.  Z.  1788,  III,  11,  hätte  K.  vor  der  Unannehm- 
lichkeit schützen  sollen,  sich  von  so  Manchem  seiner  Gegner  beweisen  zn 
lassen,   dass   es    vor  der  Erfahrung  keine  Erkenntniss  gebe.  —  In  dieser 


*  Herder,  Met.  I,  19  ff.  will  dagegen  einen  Widerspruch  zwischen  Anfang 
und  Fortsetzung  des  Abschnittes  finden;  zuerst  heisse  es,  dass  das  Erkenntniss- 
vermögen  durch  Sinneseindrticke  geweckt  werde,  und  dann  sei  von  Erkenntnissen 
die  Rede,  welche  gänzlich  von  den  Sinneseindrücken  unabhängig  seien.  Bei  Leibniz, 
bei  dem  sich  auch  der  Ausdruck  „dSpendre  des  aens^  finde,  sei  dieser  Widerspruch 
nicht.  Vgl.  dagegen  Schmidt  u.  Snell',  Erläut.  91 — 97.  Der  Einwand  beruht 
auf  einem  offenbaren  Missverständniss.  Krause,  Grundwahrh.  375  findet  den 
ersten  Satz  der  Kr.  „nicht  bewiesen,  noch  kritisch  beleuchtet" ;  er  lässt  jedoch  K. 
von  „äusserer"  Erf.  sprechen;  die  „innere"  Erf.  wird  allerdings  hier  am  Anfang 
nicht  berücksichtigt,  ist  jedoch  dem  Princip  nach  nicht  ausgeschlossen.  Beut  er- 
weck, Anfangsgr.  d.  specul.  Philos.  197  macht  den  methodologischen  Einwand, 
um  den  Skepticismus  zu  widerlegen,  dürfe  man  nicht  mit  einer  sich  so  wie  diese 
als  „unzweifelhaft"  gebenden  Behauptung  beginnen,  auch  dürfe  man  nicht  die 
Unbegreiflichkeit  des  Gegentheils  [„denn  wodurch"  u.  s.  w.]  als  Beweisgrund  auf- 
stellen. In  seiner  sehr  scharfsinnigen  Analyse  und  theilweise  treffenden  Kritik 
der  Einleitung  erhebt  ülrici(Grundpr.  d.  Philos.  I,  295-314,11,  3)  ähnliche  Ein- 
wände. Die  Einl.  Ks.  enthalte  Prämissen,  deren  Rechtfertigung  K.  nicht  gegeben 
habe.  „Die  Thatsachen,  auf  denen  Ks.  ganze  Philosophie  ruht,  können  alsThal- 
sachen  nicht  apriorisch,  als  apriorisch  nicht  Thatsachen  sein."  Diesem 
Dilemma  kann  K.  nicht  entgehen,  weil  er  einfach  gewisse  Sätze  des  bisherigen 
Dogmatismus  zum  Ausgangspunkt  nimmt,  bes.  über  das  Wesen  der  Erkenntnis^ 
überhaupt.  Für  die  erste  Prämisse  —  Beginn  der  Erkenntniss  mit  der  Er- 
fahrung —  beruft  sich  K.  auf  die  Nothwendigkeit  des  Erwecktwerdenmüssens 
durch  Anstoss,  also  auf  die  Denknothwendigkeit  des  Causalverhältnisses.  Eben 
darauf  beruht  auch  die  zweite  Prämisse  —  Besitz  apriorischer  Erkenntniss. 
Sonach  setze  K.  die  Denknothwendigkeit,  d.  h.  die  Gültigkeit  des  nothwendigen 
Denkens  factisch  voraus  [ähnlich  Aenesidem-Schulze] :  hievon  hätte  er  also  aus- 
gehen müssen,  üebrigens  bekämpft  Ulr.  jene  Prämissen  auch  materiell.  —  Vgl. 
Ehrenhaus,  Die  neuere  Philos.  63.  Capes  ins,  Met.  Herbarts  S.  62.  —  Dieser 
Anfang  der  2.  Auil.  erinnert  lebhaft  an  den  ähnlichen  Anfang  der  Aristotelischen 
Metaphysik  (A,  981  a  sq.):  Ijjiiretpta  Äpx*^  iKtoffjfjLYj?.   Vgl.  Sigwart,  Gesch.  III,  37. 


Anfang  aller  Erkenntniss  mit  der  Erfahrung.  171 

[B  695.  H  38.  E  46.]  B  1. 

ganzen  Stelle  will  Beneke,  Kant  66 ^  das  Zugeständniss  finden,  dass  —  auch 
die  apriorische  Erkenntniss  demgemäss  eben  nicht  a  priori,  sondern  empirisch 
erkannt  werden  mnss,  da  alle  Erkenntniss  mit  der  Zeit  anfange  \  Es  liegt 
anf  der  Hand,  dass  das  nicht  in  die  Stelle  hineingelegt  werden  kann,  trotz 
der  Vertheidigung,  welche  diese  Ansicht  findet  bei  Horowitz,  de  aprioritatis 
principio  S.  35  f.  K.  sagt  Proleg.  §  1,  dass  der  Met.  keine  innere  Er- 
fahrung, wie  in  der  Psych,  zu  Grunde  liegen  dürfe,  wobei  allerdings  immer 
noch  zwischen  dem  Apriori  selbst  und  seiner  Auffindung  unterschieden 
werden  könnte,  wenn  nicht  andere  Stellen  bes.  in  der  Analytik  entgegen- 
stünden *.  Auch  Cohen,  Ks.  Th.  d.  Erf.  105.  108.  122  verwendet  diesen 
Anfang  der  Kritik  für  die  empirisch-psychologische  Auffindung  des  Apriori, 
indem  er  sich  gegen  Fischer 's  gegentheilige  Meinung  wendet.  Smolle, 
Ks.  Erkenntnisstheorie  28  richtet  an  E  die  Frage:  „Woher  kommt  uns  denn, 
wenn  all  unser  Wissen  von  der  Erf.  anhebt,  ein  Wissen  von  diesen  [aprio- 
rischen] Formen  selbst?"  —  Brastberger,  Philos.  Archiv.  I,  4,  97  ergänzt 
zu  dem  Satze:  «Mit  der  Erfahrung  fängt  alle  unsere  Erkenntniss  an",  im 
Sinne  Kants:  ,und  mit  ihr  hört  sie  auch  wieder  auf",  um  so  das 
ganze  K.'sche  System  kurz  zusammenzufassen  '.  Den  ersten  Satz  umschreibt 
Cohen  34:  ^Alle  unsere  Erkenntniss,  ohne  Ausnahme,  fllngt  mit  der 
Erfahrung  an."  Dies  hält  Witte,  Beitr.  18  für  ein  Missverständniss! 
,Alle  unsere"  heisse  «von  uns  allen";  „alle"  gehe  nicht  auf  das  Object, 
sondern  auf  das  Subject  des  Erkennens,  „alle"  sei  eine  Verallgemeinerung 
des  Adjeetivs  „unsere".  K.  woUe  sagen:  „Die  Erkenntniss  von  allen  Menschen 
beginnt  mit  der  Erfahrung!"  Auch  der  Schlusssatz  dieses  Absatzes  habe 
denselben  Sinn:  „keine  Erk."  geht  in  uns  „vor  der  Erf.  vorher".  Keine 
beziehe  sich  auf  „in  uns"  u.  s.  w.!  Eine  derartige  Auslegung  ist  unerhört.  (Vgl. 
dag.  ib.  S.  23.)  Witte,  ib.  36  verwerthet  die  Stelle  für  Auffindung  des  Apriori 
durch  Selbstbeobachtung,  Spicker  Kant  181  gegen  die  Apriorität  des  Raumes. 
Erweckt  werden«  Dieser  Ausdruck  war  ein  Lieblingsausdruck  von 
Leibniz  und  findet  sich  auch  sonst  nicht  selten  bei  Kant.  Leibniz,  Erdm. 
194  B  (van.  Ardang  der Nouv.  Ess,):  „les  objets  externes  reveillent  .  .  .  dans 
les  oeeasums  les principes^  etc.  207  B. :  „la  doctrine  externe  ne  faxt  qt/exciter 
ee  qui  est  en  nous^,  Kant  in  der  Diss.  §  15  fin.  ^excitare",  §  14,  5  „elicere^. 
und  ib.  „provocare^.  Die  bloss  äusserliche  „Veranlassung"  wird  nachher 
nochmals  ganz  besonders  betont,  und  dass  diese  eine  gelegenheitliche 
ist,  spricht  Kant  im  Einverständniss  mit  Leibniz   (194  B.    195  B.    196  B. 


*  Genau  ebenso  Schelling,  W.  W.  (1)  X,  210  f.  über  diese  „erste  Zeile". 

*  BasB  hier  ein  unheilbares  Schwanken  Ks.  besteht,  folgt  aach  aus  der  damit 
widersprechenden  Stelle  in  d.  Fortschr.  d.  Met  (R.  I,  552):  „Innere  Erfahrung 
allein  ist  es,  wodurch  wir  uns  selbst  kennen".  Vgl.  hiezu  Wangenheim,  Verth. 
Ks.  8.  47  f.  Ueber  diese  „innere  Erfahrung"  vgl.  auch  Reinhold,  Briefe  II,  25, 
Lewes,  Gesch.  II,  554.  Lehmann,  Ks.  Princ.  d.  Eth.  8—10.    Vgl.  oben  S.  105. 

*  Vgl.  Helmholtz,  Das  Sehen  d.  Menschen  S.  6;  dag.  Witte,  Beitr.  S.  18. 


172  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  I. 

B  1.  [R  695.  H  88.  E  46.] 

206  B.  208  A.  209  B.  210  A.  223  A.  380  A)  mehrfach  aus,  so  S.  86,  wo 
er  die  Sinneseindrücke  die  ^Gelegenheitsursachen  nennt,  , welche  den 
ersten  Anlast  geben,  die  ganze  Erkenntnisskraffc  in  Ansehung  ihrer  zu 
eröfiiien  und  Erfahrung  zu  Stande  zu  bringen".  S.  86.  Die  Formen  des 
reinen  Anschauens  und  Denkens  werden  ,,bei  Gelegenheit*'  der  Empfindungen 
„zuerst  in  Ausübung  gebracht*.  „Die  reinen  Begriffe  liegen  im  menschlichen 
Verstände  vorbereitet,  bis  sie  endlich  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  ent- 
wickelt werden.*  S.  66.  f.  195.  Vgl.  bes.  Metaph.  145  ff.  Meilin  III, 
800  meint,  Kants  Ausdruck  hier  habe  einen  directen  Bezug  auf  die 
Stelle  in  den  Nouv,  Ess.  194  B.  Solche  Parallelgedanken  und  Wendungen 
lassen  sich  noch  viele  finden;  z.  B.  Kant,  Prol.  §  2,  c.  1,  [=  Krit.  B.  11]: 
zu  Urth.  a  priori  brauche  ich  „kein  Zeugniss  der  Erfahrung*  ;  vgl.  Leihniz, 
N.  Ess,  a.  a.  0.  „tSmoignage  des  sens^.  Die  grosse  Aehnlichkeit  der  Einl. 
der  Kritik  mit  der  Einleitung  der  Nanveaux  Essais  hat  schon  öfters  Auf- 
merksamkeit erregt;  so  hat  Abicht  in  der  Preisschr.  über  d.  Portschr. 
d.  Met.  bes.  315.  323.  341  dahin  zielende  Bemerkungen  gemacht.  Er 
zeigt  bes.  die  Identität  des  K.'schen  Apriori  und  der  Leibniz'schen  an- 
geborenen Ideen  (ib.  313).  Vgl.  auch  Herder,  Metakr.  I,  17  ff.  und  bes. 
Nicolai,  Gel.  Bild.  119  ff.  Philos.  Abh.  I,  239.  Schulze,  Krit.  H,  127  ff. 
Eberhard  in  seinem  „Phil.  Magazin*  hebt  durchgängig  diese  Verwandt- 
schaft hervor.  Vgl.  hiezu  das  Supplement:  Geschichte  der  Unter- 
scheidung reiner  und  empirischer  Erkenntniss  mit  bes.  Bezug 
auf  Leihniz  als  Vorgänger  Kants  in  diesem  Punkte.  Besonders  be- 
merkenswerth  ist,  dass  Leihniz  a.  a.  0.  auch  als  apriorische  Wissenschaften 
Mathematik,  Metaphysik,  sowie  Logik  und  Moral  aufi^ählt.  Vgl.  Ks.  Diss. 
V.  1770  §  5.  Lengfehlner,  Das  Princip  d.  Philos.  13,  findet  in  diesen 
Einleitungsworten  ausgesprochen,  was  das  ganze  Werk  weiter  ausfähre,  dass 
ohne  Anregung  durch  Dinge  an  sich  unser  bloss  potentielles  Erkenntniss- 
vermögen inhaltsleer  wäre. 

Durch  Gegenstände.  Zu  diesen  ersten  Sätzen  der  Einl.  macht  Brast- 
b erger  Unters.  2  ff.  einige  schlagende  Bemerkungen.  Bei  der  Frage  nach 
den  wirkenden  Ursachen  der  Entstehung  unserer  Erkenntnisse  liege  hier 
eine  Zweideutigkeit  im  Ausdruck  „Gegenstände*  zu  Grunde;  wenn  man  diese 
übersehe,  so  folge  eigentlich  schon  aus  den  paar  ersten  Sätzen  der  Kritik 
das  ganze  System  mit  zwingender  Gonsequenz.  Brastb.  fragt,  was  fnr 
„Gegenstände*  denn  K.  meine;  „gewiss  keine  Dinge  an  sich,  die  ausser 
unserem  Erkennen  da  sind  und  für  sich  bestehen  und  bleiben,  wenn  auch 
unsere  Erkenntniss  aufhört" ;  dies  würde  nicht  nur  dem  Inhalt  der  ganzen 
Krit.  völlig  widersprechen,  sondern  es  dürfte  auch  in  der  Einl.  nicht  schon 
als   bewiesen   mit   solcher   Zuversicht   behauptet   werden  ^     Folglich  seien 


*  Auch  Grohmann  (Dem  Andenken  Kants  103)  meint  im  Anschluss  an  Beck: 
^Man  verkennt  die  Kritik  ganz,  wenn  man  glaubt,  dass  wenn  sie  [wie  eben 
hier  in  der  Einl.]   von  äusserer  Erfahrung  spreche,  sie  eine  wirklich  äussere 


Das  Problem  der  Aflfection  durch  „Gegenstände".  173 

[R  695.  H  33.  K.  46.]  B  1. 

jene,  unsere  Sinne  rührende  Gegenstände  eben  unsere  Vorstellungen 
selbst.  Folglich  , können  sie  auch  keine  wahre  reelle,  sondern  nur  eine 
scheinbare  Quelle  ungerer  Erkenntniss  sein ;  es  kommt  uns  nur  so  vor ,  als 
ob  es  Dinge  w^en,  die  uns  afficirten  und  solche  Vorstellungen  bewirkten". 
Nach  Brastb.  ist  also  hier  eine  Unklarheit,  ob  die  von  K.  eingeführten 
G^enstSnde  die  Gegenstände  des  gemeinen  Menschenverstandes,  oder  die  Dinge 
an  sich  der  Philos.  seien ;  sind  jene  ersten  gemeint,  wie  kann  man  sagen,  sie 
afficiren  uns,  da  sie  docb  nur  unsere  Vorstellungen  sind  und  Affection  durch 
sie  nur  Schein  ist;'  sind  die  zweiten  gemeint,  mit  welchem  Rechte  werden 
solche  gar  nicht  bekannte  Dinge  an  sich  zudem  noch  als  wirkende  eingeführt? 
Brastb.  legt  hier  den  Finger  auf  den  tiefsten  Schaden  des  ganzen  Systems; 
seine  Bemerkung  ist  ganz  treffend.  Er  schüesst  dann  scharfsinnig  weiter: 
Gleichermassen,  wie  es  nur  ein  Schein  ist,  wenn  wir  die  uns  umgebenden 
Gegenstände,  die  doch  nur  unsere  Vorstellungen  sind,  für  unabhängige  Dinge 
halten,  welche  auf  uns  wirkend  eben  ihre  Vorstellungen  verursachen,  so 
muss  es  consequenterweise  auch  nur  als  ein  Schein  betrachtet  werden,  oder 
wenigstens  als  ein  sehr  voreiliger  Schluss,  wenn  wir  sagen :  alles,  was  nicht 
durch  Einwirkung  jener  Gegenstände  in  uns  gekommen  ist,  muss  aus  uns 
stammen.  Die  Unterscheidung  empirischer  und  reiner  Erkenntnisse  gebe 
das  Verhältniss  nur  wie  es  erscheine,  nicht  wie  es  an  sich  selbst  sei,  und 
sei  somit  irrthümlich.  Brastb.  recurrirt  dann  zwar  doch  auch  schliesslich 
im  E.'schen  Sinn  auf  sog.  wirkende  „Urdinge".  Seine  Einwände  und  Be- 
merkungen sind  aber  höchst  beachtenswerthe.  Er  hebt  das  K.'sche  Gebäude 
mit  Ks.  eigenen  Mitteln  aus  dem  Boden.  Brastb.  bemerkt  ganz  richtig,  dass 
K.  hier  von  den  Gegenständen  so  spricht,  dass  man  darunter  die  bekannten 
äussern  Gegenstände  im  Baum  verstehen  muss.  Sein  Gedankengang  ist  dann 
S.  8  ff.  ib.  femer  so,  dass  er  zwar  zugibt,  dass  von  diesen  Gegenständen 
die  allgemeinen  und  nothwendigen  Begriffe  und  Urtheile  nicht  abzuleiten 
sind,  dass  er  aber  hier  die  scharfe  Wendung  macht  und  behauptet,  der 
Schluss,  als  stammen  sie  aus  dem  Subject,  sei  falsch,  denn  jene  Vorstellungen 
können  doch  in  reellen  Sachen  ausser  uns  (im  transscendenten  Sinne)  so  ge- 
gründet sein,  dass  deren  Zusammenwirken  mit  uns  jene  Vorstellungen  her- 
vorbringt. Wie  die  sinnliche  Vorstellung  der  äusseren  Gegenstände  letzte 
reelle  Grande  voraussetzt,  so  können  auch  die  Vorstellungen  Raum,  Substanz, 


Erfahrung  oder  ein  System  von  an  sich  bestehenden  Dingen  darunter  begreife." 
Dagegen  Born,  Phil.  Mag.  II,  326  gegen  die  „Kritischen  Briefe**  S.  3  findet  hier 
auBdrücklich  Dinge  an  sich  anerkannt.  Speciell  als  „duaUsttcal  assumption**^  welche 
K.  ans  Locke  und  Hnme  her  übergenommen  habe,  brandmarkt  Watson  diese 
Prämisse  (Joum.  of  spee,  Phil.  X,  119);  ebenso  ib.  XI,  148  R.  C.  Ware:  K.  be- 
g:inne  mit  dem  alten  Cartesianischen  Dualismus  von  thought  and  thing  as  opposed 
9ide8  of  th€  World  y  dedaring  the  gulf  hetween  them  to  he  impaaaahle.  Nach 
Phil.  Mon.  X,  230  erhob  auch  J.  Sniadecki  in  seiner  Metakritik  ähnliche 
Einwürfe. 


174  Commentar  zur  Einleitung  B,  Absctin.  I. 

B  1.  [B  695.  H  33.  E  46.] 

Causalität  u.  s.  w.,  welche  E.  als  apriorische  behandelt,  abhängig  sein  Ton 
jenen  letzten  Bealgründen,  wenn  sie  auch  unabhängig  sind  von  allen  Gegen- 
ständen, die  sich  uns  darstellen.  Kurz:  Brastb.  weist  ganz  scharfsinnig 
nach,  dass  Kant  die  Unabhängigkeit  jener  Vorstellungen  von  den  äusseren 
sinnlichen  Gegenständen  sofort  in  eine  Abhängigkeit  von  unsierem  Subject 
verwandelt  habe,  ohne  die  dritte  Möglichkeit  zu  bedenken,  dass  jene  Vor- 
stellungen doch  noch  bedingt  sein  können  durch  die  wahren  eigentlichen 
Dinge  an  sich.  Diese  Vernachlässigung  liegt  somit  seines  Erachtens  in  der 
Verwechslung  der  äusseren  Gegenstände  mit  den  Dingen  an  sich,  in- 
dem K.  die  Unabhängigkeit  von  jenen  auch  als  eine  Unabhängigkeit  von 
diesen  fasse.  Jene  dritte  Möglichkeit  ist  Brastb.  eigene  Meinung  (vgl. 
S.  21.  88  f.),  also  ein  modificirter  Leibnizianismus,  wie  er  auch  bei  Garve, 
Pistorius,  Feder  und  später  bei  Herbart  auftritt;  ohne  dass  jedoch 
Jemand  so  scharfsinnig  wieBrastberger  sogleich  in  den  ersten  Sätzen 
den  logischen  Fehler  nachgewiesen  hätte,  auf  dem  jene  Nichtbeachtung  der 
3.  Mögl.  beruht.  Vgl.  hiezu  Tüb.  Gel.  Anz.  1792  Stück  49  und  Brast- 
bergers  Entgegnung  in  Eberhards  Philos.  Mag.  IV,  897—403,  wo  der  Ge- 
danke noch  spezieller  dahin  ausgeführt  wird,  dass  Ks.  Widerspräche  durch 
diese  Auslegung  beseitigt  werden  können.  Die  uns  afficirenden  Gegenstände 
sind  nur  unsere  Vorstellungen,  d.  h.  jene  Affection  ist  blosse  Vorstellung. 
K.  bleibe  damit  innerhalb  des  menschl.  Bewusstseins  stehen,  und  wolle 
hier  noch  nichts  Transscendeutes  bestimmen.  Denn  das  könne  er  nicht,  das 
widerspreche  ja  seinen  späteren  Bestimmungen  über  das  D.  a.  s.  als  eine 
blosse  Idee.  Gegen  Einwände  von  Eberhard,  der  Allg.  D.  Bibl.  Bd.  104  u.  a. 
vertheidigt  Brastb.  seine  Auffassung  Ks.  scharfsinnig  in  Eberhards  Phü. 
Archiv  I,  4,  91  ff.,  wo  er  seine  „ subtile"  Unterscheidung  eines  nothwendig 
gedachten  Dinges  an  sich  und  eines  wirklich  vorausgesetzten  weiter  ausführt 
und  aufs  Neue  geltend  macht,  dass  K.  im  Beginn  seiner  Kritik  nicht  von 
wirklichen,  sondern  nur  von  dem  gedachten,  somit  unwirklichen  D.  a.  s. 
spreche.  Vgl.  Bendavid,  Urspr.  d.  Erk.  12.  25  ff.  Schärfer  und  richtiger 
als  Brastberger  fasst  Eberhard  die  Sachlage,  indem  er  einfach  den  vorhan- 
denen Widerspruch  constatirt.  Phil.  Arch.  I,  2,  40  ff.  (vgl.  II,  1,  94  ff.):  ^Es 
ist  ein  auffallender  Widerspruch  in  den  ersten  Gründen  der  kritischen 
Philosophie.*  Bei  der  Lehre  von  dem  Ursprung  der  empir.  Erkenntniss 
wird  die  doch  nachher  in  Frage  gestellte,  sogar  geleugnete  Wirklichkeit 
und  Causalität  von  Dingen  an  sich  einfach  behauptet  und  vorausgesetzt. 
Die  Brastbergerische  Auslegung  findet  Eb.  unmöglich  mit  Hinblick  auf 
andere  Stellen  Ks. ,  insbes.  auf  Entd.  R.  I,  446,  es  seien  Dinge  an  sich 
wirklich,  welche  durch  ihre  Eindrücke  das  Erkenntniss  vermögen  zu  der 
Vorstellung  eines  Objectes  bestimmen.  Ebenso  nackt  fasst  Schwab  den 
Sachverhalt  (Preisschr.  148);  er  zählt  es  als  den  ersten  und  auffallendsten 
Haupt  Widerspruch  Ks.  auf:  „Die  krit.  Phil,  fängt  mit  den  Aussprüchen  des 
gemeinen  Menschenverstandes  an;  sie  spricht  z.  B.  gleich  im  Anfang  der 
Kr.  von  Objecten,  die  unsere  Sinne  afficiren,  und  endiget  damit,  diese  Aus- 


Die  „Rührungen **  der  Sinne  nnd  der  „Rohstoff"  der  Empfindung.        175 

[R  696.  H  83.  K  46.]  B  1. 

Sprüche  nipziistossen'^.^  Schulze,  Krit.  II,  144.  152.  160  tadelt,  dass  K. 
ohne  weiteres  in  der  Einleitung  einen  so  wichtigen  Punkt  wie  die  Affection 
Yon  aussen  hinstelle,  ohne  alle  Vorbereitung,  Einführung  und  Beweis  u.  s.  w.' 
Dass  es  sich  bei  den  Hume'schen  impresaions  um  dieselbe  Inconsequenz 
bandle,  wird  vielfach  behauptet,  andere  halten  das  nur  für  Accomodation. 
Neeb,  Vem.  55.  Laas,  Ks.  Anal.  d.  Erf.  830.  [Weiteres  über  diesen  wich- 
tigen Punkt  s.  beim  Beginn  der  Aesthetik,  wo  auch  Fichte 's  gewaltsame 
Auslegung  (W.  W.  I,  487)  zur  Sprache  kommt.] 

Die  unsere  SlDiie  rfihren.  „Kühren'',  neben  „afßciren*'  damaliger  Srach- 
gebrauch  für  unser  heutiges:  „reizen".  „Rührung*  gebrauchen  die  Schrift- 
steller des  XVIII.  Jahrh.  statt. „Heiz''.  Z.B.  Mendelssohn,  Morgenstunden 
33.  332.  Eberstein,  Gesch.  d.  Log.  11,  149.  11,  282  (Rührungen  der 
Sinne).  Reimarus,  Gr.  d.  menschl.  Erk.  S.  4.  5.  Platner,  Aphor.  III.  Aufl. 
(1793)  §61:  „in  allen  Sinneswerkzeugen  entsteht  also  von  dem  Gegenstande 
eine  Veränderung  oder  Rührung".  Bei  K.  z.B.  Prol.  §  36.  Naturgesch. 
des  Himmels.  Anhang:  „Eindrücke  und  Rührungen,  die  die  Welt  im  Menschen 
erregt.*  Metapbys.  101  „die  Sinne  beweisen  nur  die  Art  der  Rührung 
von  den  Erscheinungen  [!]  in  mir".  Rührung  in  gewöhnl.  ästh.  Sinne  s.  Krit. 
d.  Urth.  §  26.  Metaph.  167.  Wenn  K.  Kritik  S.  802  sagt:  „Das  was  reizt, 
d.  h.  die  Sinne  unmittelbar  äfßcirt",  so  ist  damit  nicht  nach  unserem  Sprach- 
gebrauch die  Affection  des  Vorstellungsvermögens,  sondern  die  des  Begehrungs- 
Termögens  gemeint.  K.  gebraucht  den  Ausdruck  Reiz  im  ästhetischen  und 
im  eth is  eben  Sinn.  Noch  Kiesewetter  Log.  11, 257  sagt  (1806) :  „Reiz  bezeichne 
einen  Eindruck,  durch  den  das  Lebensgefühl  erhöht  d.  h.  die  Thätigkeit 
befördert  werde".  Kr.  d.  Urth.  §  14  u.  §  42.  Der  Ausdruck  „Reiz"  „reizen" 
wurde  erst  um  jene  Zeit,  insbes.  durch  A.  v.  Hallers  Elementa  Physiologiae  ein- 
geführt, als  Bezeichnung  für  die  Affectionen  des  Vorstellungsvermögens;  die 
damaligen  physiologischen  Systeme  betrachteten  als  die  beiden  Grundeigen- 
schaften der  Animalität  die  Irritabilität  (Reizbarkeit)  und  die  Sensibilität  (Fühl- 
barkeit); der  erstere  Ausdruck  wurde,  entsprechend  der  Bedeutung  von 
dimulus,  Stimulare  ',  zuerst  nur  fiir  die  Anregung  der  willkürlichen  Bewegung 
gebraucht*,  dann  aber  bald  auf  die  Ursachen  der  Perceptionen  ausgedehnt^; 
so  z.  B.  Mellin  im  W.  B.  IH,    775  (1800),  während  er  ib.  I,  241  (1797) 


'  Vgl.  hiezu  Eberstein  n,  261  flf.  280  f.  282  f.  294,  503  f. 
'  Derselbe  Einwand  auch  bei  Rdmusat,  Phil.  AU.  XI.  XIX. 
'  f^Stimidua*^  gebraucht  K.  in  der  Diss.  von  1770,  ebenso  „excitare^ ;  letzteres 
auch  Leibniz  im  Avant-Pi'opos  zu  den  Nouv.  Eas.^  u.  Maupertuis  (Leüres). 

*  Z.  B.  Kant,  1796,  Verkündigung  des  nahen  Abschl.  I.  Abschn.  init.  Hufe- 
iand.  Ideen  über  Pathogenia  S.  50. 

*  Vgl.  hierüber  A.  D.  B.  40,  475  flf.  vgl.  68.  494.  über  Herders  Erkennen 
und  Empfinden  1778:  Reiz  ist  „äussere  Wirkung  auf  die  Seele  durch  Kräfte". 
Sie  geschieht  durch  „Berühren".  —  Der  Terminus  „Rührung"  involvirt  eine 
mechanische^  „Reiz"  eine  dynamische  Beeinflussung.  Vgl.  Baader,  W.  W.  IV, 
101.  Vn,  252.     Vgl.  Witte,  Zur  Erk.  22,.u.  dag.  Spicker,  Kant,  S.  124. 


176  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  1.  [R  695.  H  83.  K  46.] 

noch  dem  ersteren  Sprachgebrauch  huldigt.  Die  neue  Sprechweise  entsprach 
übrigens  ganz  den  Eantischen  Anschauungen  und  gelangt-e  vielleicht  dadurch 
zur  schnellen  Anerkennung,  denn  Beiz  ist  (vgl.  Krug,  III,  495)  überhaupt 
alles,  was  zur  Thätigkeit  erregt.  Nun  ist  aber  nach  Kants  Anschauung  schon 
jede  Sinnesempiindung  eine  Thätigkeit,  eine  Folge  der  selbsteigenen  Activität 
der  Seele ,  .trotzdem  bei  K.  allerdings  noch  häufig  die  Sinnesempfindungen 
als  „ passiv'  bezeichnet  werden  ^;  besonders  bei  Schopenhauer  spielt  der 
Ausdruck  dann  eine  grosse  Rolle,  üeber  den  mit  diesem  Ausdruck  und 
mit  der  darin  liegenden  Vorstellung  der  causalen  Affection  getriebenen 
dualistischen  ünfiig  vgl.  Henle,  Anthropol.  Vortrage  11,  130.  Inwieweit 
diese  Vorwürfe  auch  Kant  treffen,  darüber  später. 

Den  rohen  Stoff«  Der  Stoff  heisst  roh,  wenn  er  als  noch  unverknüpft, 
unverarbeitet  gedacht  wird.  „Diesen  rohen  Stoff  können  wir  aber  nicht 
wahrnehmen,  weil  die  Vorstellungsthätigkeit  sogleich  bei  der  Entstehung 
der  Eindrücke  verknüpft.  Daher  kömmt  es  uns  eben  vor,  als  käme  die  Ver- 
knüpfung ebenso  in  uns  hinein,  wie  die  Eindrücke  selbst."  Mellin  II,  337. 
In  diesen  einfachen  einleitenden  Bestimmungen  über  den  Stoff  und  seine 
Bearbeitung  durch  den  Verstand  eine  Beeinflussung  durch  Hume  zu  sehen, 
wie  Ch.  Ritter,  K.  u.  H.  10  will,  ist  nicht  nothwendig.  Zwar  sagt  auch 
Hume,  Ess,  on  Und.  Abth.  III,  dass  all  die  schöpferische  Kraft  der  Seele 
nur  die  Fähigkeit  sei,  den  durch  die  Sinne  gewonnenen  Stoff  zu  verbinden, 
umzustellen,  insbes.  nach  den  Associationsgesetzen ,  allein  diese  Gedanken 
sind  denn  doch  zu  allgemein,  als  dass  sie  nicht  auf  dem  Boden  jedes 
Philosophen  von  selbst  wachsen  konnten.  Bei  Locke  findet  sich  dasselbe 
z.  B.  Vers.  II,  1,  5.  Hamann  in  seiner  Recension  (Reinhold,  Beitr.  1801, 
n,  209)  ironisch:  „Erfahrung  und  Materie  ist  also  das  Gemeine,  durch 
dessen  Absonderung  die  gesuchte  Reinigkeit  gefunden  werden  soll,  und 
die  zum  Eigenthum  und  Besitz  des  Vernunftvermögens  übrig  bleibende 
Form  ist  gleichsam  die  jungfräuliche  Erde  zum  künftigen  System 
der  reinen  Vernunft.«  —  Auch  Caird,  Phü.  of  Kant  203  sagt:  MaUer 
äUogether  unformed  is  a  tnere  abstraction,  like  the  Äristotelian  npwrq  ßXir). 

Die  Erfabrnn;  heisst.  Auch  hier  wird  Erfahrung  in  jenem  schon  oben 
165  bemerkten  zweideutigen  Sinne  gebraucht,  und  heisst:  der  durch  den  Ver- 
stand verarbeitete  Rohstoff  der  Empfindung :  Kant  lässt  es  hier  zunächst  an- 
entschieden, ob  diese  Verarbeitung  schon  eigentlich  apriorische  Elemente  ein- 
schliesst,  oder  ob  nur  diejenige  Verwandlung  der  Empfindungen  in  Allgemein- 
begriffe gemeint  ist,  welche  durch  die  bloss  logische  Reflection  entstehen 
kann.  In  den  beiden  folgenden  Absätzen  gebraucht  K.  ausserdem  den  Aus- 
druck „Erfahrung*  auch  im  allerniedersten   Sinn,   wenn   er  sagt,  nicht  alle 


^  Göring^  System  11^  161  wirft  K.  vor,  dass  er  mit  einem  Satze  beginne, 
der  nur  von  naiven  Realisten  angenommen  werden  könne,  dass  nemlich  die  Gegen- 
stände von  selbst  Vorstellungen  in  uns  bewirken,  nhier  ei*8cheinen  die  Sinne  als 
der  rein  receptive  und  passive  Spiegel "^    Vgl.  ülrici,  Gnindp.  I,  302. 


Dreifacher  Sinn  von  „Erfahrung".  177 

[R  695.  H  33.  E  46.]  B  1. 

Erkenntniss    entspringe    aus    „Erfahrung",    was  hier   mit  Sinnesempfindung 
identisch  ist  und:  ein  Theil  der  Erkenntniss  habe  seine  Quellen  in  der  „Er- 
fahrung* (a  posteriori).     Im    zweiten  Satze  des  zweiten  Absatzes  wird  „  Er- 
fahrungserken ntniss"  aber  jedenfalls  in  dem  prägnanten  Sinne  gebraucht,  der 
besonders  in   der  Analytik   zur  Geltung  kommt;   dass  K.  dort  Erfahrung 
im  strengen  Sinne  gemeint  habe,   geht  aus  der  Parallelstelle  86  hervor,  wo 
übrigens   auch    „Erfahrung"    zuerst  im   gewöhnlichen  Sinne  zu  nehmen  ist: 
.iTan  kann  von  den  Kategorien  die   Gelegenheitsursachen  in  der  Erfahrung 
aufsuchen,    wo  alsdann   die   Eindrücke    der  Sinne  den  ersten  Anlass  geben, 
die  ganze  Erkenntnisskraft  in  Ansehung  ihrer  zu  eröffnen,  und  Erfahrung 
zu  Stande  zu  bringen,   die  zwar  sehr  ungleichartige  Elemente  enthält,  eine 
Materie  zur  Erkenntniss  aus  den  Sinnen,   und  eine  gewisse  Form,  sie  zu 
ordnen,  aus  dem  inneren  Quell  des  reinen  Anschauens  und  Denkens."  —  Dass 
in  der  Einleitung*  der  Ausdruck  „Erfahrung"  in  verschiedenen  Bedeutungen 
gebraucht  wird,  bemerkt  schon  Maimon,  Krit.  Unters.  53  ff.     Ders.  unter- 
scheidet   viererlei  Bedeutungen   von    „Erfahrung",    deren   erste  ist:     Ein- 
zelne Wahrnehmung,  deren  vierte:    Objective  Nothwendigkeit  in  der  Wahr- 
nehmung (was  K.  auch  „Erkenntniss"  im  prägn.  Sinne  nennt.   Vgl.  Schultz 
Prüf.  I,  3).     M.  gibt  K.  schuld,  von  der  ersten  Bedeutung  sogleich  mittelst 
eines  Salto  mortale  zur  vierten  überzuspringen.     Auch  erhebt  M.  den  Vor- 
wurf, „dass  K.  die  Zwischenstufen    der   Erfahrung  nicht  beachtet  habe,  die 
doch  vielleicht  ein  Licht  auf  die  Entstehung  der  Erkenntniss  a  priori  werfen 
könnten,  sowie  auf  die  Möglichkeit   einer  solchen  Erfahrung  im  prägnanten 
Sinn,  wie  sie  K.  annimmt."    Von  dreierlei  „Erfahrung"  ist  in  dem  ersten  Ab- 
schnitt die  Rede  nach  Spicker,  Kant  31 :  1)  rein  empirischer  Sinn  =  Em- 
pfindung; „alle  unsere  Erk.  f&ngt  mit  der  Erf.  an".     2)  Populärer  Sinn 
=  gehäufte,  wiederholte  Wahrnehmung ;  die  Erf.  lehrt,  dass,  wenn  man  die 
Fundamente   eines   Hauses   untergräbt,   dieses  einstürzen   muss.      3)  Streng 
wissenschaftlicher  Sinn  =  System  der  Erfahrungserkenntniss:     „Unsere 
Erf.  ist  zusammengesetzt  aus  Eindrücken  und  Zusätzen  des  Erk.-Verm."    [Im 
letzteren  Sinne   spricht  Fischer,   Gesch.  III,   310  von  „Erfahrungsurtheilen 
a  priori",  von  Urtheilen,    welche  zugleich  empirisch  und  metaphysisch  sind. 
Hier  sind  die  Gegenstände  unserer  Erkenntniss  empirisch  und  die  Erkennt- 
niss selbst  metaphysisch.     Die   Erkenntniss  sinnlicher   Dinge  braucht 
noch  nicht  eine  sinnliche  Erkenntniss  zu  sein.]    Üeber  den  Doppelsinn 
von  Erfahrung  vgl.  Meyer,  Kants  Psych.  161.     Lewes,  Gesch.  II,  553 
und  besonders   Göring,    Ueber  den  Begriff  der  Erfahrung  in  der  Viert,  f. 
^viss.  Philos.  I,  406  ff.,  wo  eine  Reihe  K.'scher  „widersprechen,der"  Def.  von 


^  Es  ist  gar  nicht  zu  leugnen,  dass  K.  hier  zwischen  1)  dem  Rohstoff^ 
2)  seiner  Verarbeitung  durch  den  gemeinen  Verstand,  und  3)  der  durch  die  Formen 
des  reinen  Verstandes  nicht  scharf  genug  unterschieden  hat,  bes.  im  Vergl.  mit 
Proi.  §18 — 20,  womach,  im  vollsten  Gegensatz  gegen  hier,  „Vergleichung" 
und  „Verknüpfung"  noch  nicht  zur  „Erfahrung"  genügen.  Vgl.  zu  B  5. 
Valhlnger,  Kant-Commentar.  12 


178  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  1.  [R  695.  H  33.  E  46.] 

Erf.  zusammengestellt  sind.  Ueber  den  Begriff  der  Erfahrung  bei  Locke 
und  Leibniz  s.  Zimmermann,  Lambert  6  ff .  —  Prihonsky,  Antikant  24 
tadelt,  dass  der  Begr.  d.  Erf.  als  ein  schon  bekannter  und  nicht  erklärungs- 
bedürftiger vorausgesetzt  werde.  Vgl.  Schaarschmidt,  Phil.  Mon.  XIV,  3  ff; 
V.  Wangenheim,  Verth.  Kants  S.  23,  und  dazu  Knauer,  Phil.  Mon. 
XIII,  208.  210.  Proelss,  Ursp.  d.  Erk.  110.  Falsch  bei  Watson,  J.  of 
spec.  Phil.  X,  118:  Die  Kritik  beginne  mit  dem  gewöhnl.  Begriff  d.  Erf. 
und  endige  mit  dem  kritischen;  daher  „the  appearance  of  cotUradietion 
hettoeen  the  earlier  and  later  poriions  of  his  workJ^  Vielmehr  finden  sieb 
jene  beiden  Begriffe  schon  in  der  Einl.  Ganz  falsch  bei  Jacobson,  Auff.  d. 
Apr.  18.   Cfr.  Laas,  Ks.  Anal.  d.  Erf.  10.  179.  225.  325.   Witte,  Z.  Erk.  15. 

Der  Zeit  nach  u.  s.  w.  Mit  dieser  Abweisung  der  zeitlichen  Priorität 
irgend  einer  Erkenntniss  vor  der  sinnlichen  Empfindung  sucht  K.  einen 
Mittelweg  zwischen  dem  Empirismus  von  Locke  und  der  cartesianischen 
Lehre  angeborener  Vorstellungen  einzuschlagen,  den  übrigens  schon  Leibniz 
eröffnet  hatte,  bei  dem  sich  jedoch  auch  zeitliche  Priorität  findet  z.  B. 
Nouv.  Es8,  Avant -Propos  ^rdm.  194  B:  „par  avoTice^  K  An  die  Stelle  zeit- 
licher und  actueller  Priorität  setzt  K.  das  dynamische,  psychologische,  in 
der  Analytik  das  logische  Prius.  Man  hat  sich  jedoch  durch  die  bestimmte- 
Erklärung  an  dieser  Stelle  darüber  täuschen  lassen,  dass  K.  an  anderen 
Orten  doch  eine  zeitliche  Priorität  der  apriorischen  Erkenntnisse  lehrt. 
Die  apriorischen  Erkenntnisse  haben  wir  also  nicht  vor  der  Erfahrung,  aber 
abgesehen  von  ihr  (Erdmann,  Entw.  III,  1.  45).  Das  Zeitliche  wurde 
natürlich  bald  sehr  häufig  in  den  Begriff  des  a  priori  hineingemischt.  So 
z.  B.  bei  Herder,  dem  Kiesewetter,  Prüf.  I,  51  entgegentrat,  es  sei 
langweilig,  immer  wiederholen  zu  müssen,  „dass  ürth.  a  priori  nicht  solche 
sein  sollen,  die  der  menschl.  Verstand  der  Zeit  nach  vor  aller  Erf.  föllt, 
sondern  deren  Grund  in  ihm  selbst  liegt."  Vgl.  Block,  Ursp.  d. 
Erk.  114.  Bei  Apelt,  Metaph.  24  ff.  27.  40  gehen  beide  Bestimmungen 
durcheinander'.  Spicker,  Kant  etc.  14  findet  gleich  im  ersten  Abschnitt 
einen  Widerspruch,  indem  K.  einerseits  eine  zeitliche  Priorität  leugne,  und 
doch  von  einer  von  aller  Erf.  unabhängigen  Erkenntniss  spreche.  Bei  rich- 
tiger Auslegung  verschwindet  dieser  Widerspruch,  wie  auch  schon  Me in ong 
Phil.  Mon.  XII,  340  ff.  richtig  bemerkt.     (Vgl.  auch  Spicker  25  Anm.) 

Wenn  gleich  alle  unsere  Erkenntniss  mit  der  Erfahrnngr  anhebt  u.  s.  w. 
In  diesem  Satze  '  ist  das  Grundprincip   der   Kantischen  Erkenntnisstheorie 


^  Vgl.  Euler,  Briefe  an  eine  d.  Prinz.,  8.  Br.  81:  „Der  erste  Stoff  wird 
ihr  [der  Seele]  von  den  Sinnen  zugeführt,  daher  es  der  Zeit  nach  das  erste 
Vermögen  der  Seele  ist,  gewahr  zu  werden  oder  zu  empfinden." 

■  Dagegen  Fries,  Gesch.  d.  Phil.  II,  514  betont  die  Ausschliessung  des 
Zeitlichen.  Ebenso  Harms,  Gesch.  d.  Logik,  S.  219  u.  bes.  Caird.  Phü.  of  K.  2ü2. 

'  „Diese  ersten  Sätze  enthalten  den  Grundkanou  des  K.'schen  Kriticismoä  in 
nuce"",   Schaarschmidt,  Philos.   Monats.  XIV,  (1878),  S.  2  f.    Nach  ihm  mus« 


Alle  Erkenn tniss  hebt  zwar  mit  der  Erfahrung  an.  179 

[R  695.  H  33.  E  46.}  B  1. 

angemein  schlagend  herausgehoben.  Vgl.  Fortschr.  K.  115,  R.  I,  507.  „Der 
Grundsatz,  dass  alle  Erkenntniss  [hier  schieben  die  Ausgaben  ein  ganz 
sinnloses  , nicht*  ein,  wie  auch  Riehl,  Krit.  I,  323  Anm.  bemerkt  hat,] 
allein  von  der  Erfahrung  anhebe,  welches  eine  quaestio  facti  betrifft"  .  .  . 
drückt  eine  Thatsache  aus,  die  „ohne  Bedenken  zugestanden  wird".  „Ob  sie 
[d.  h.  die  Erkenntniss]  aber  auch  allein  von  der  Erfahrung  als  dem  obersten 
Erkenntnissgrunde  abzuleiten  sei,  dies,  ist  eine  quaestio  juris,  deren 
bejahende  Beantwortung  den  Empirismus  derTranssc.  Phil.,  die  Verneinung 
den  Bation alismus  derselben  einführen  würde"  '.  Vgl.  Apelt,  Met.  27: 
Kants  Erkenntnisse  a  priori  gelten  weder  vor  noch  nach  der  Erfahrung, 
sondern  in  der  Erfahrung,  aber  nicht  durch  Wahrnehmung.  K.  erkennt 
den  negativen  Theil  des  Empirismus  an,  dass  keine  Erkenntniss  vor  der 
Erfahrung  anhebe;  aber  er  bestreitet  die  positive  Behauptung  desselben, 
dass  alle  Erkenntniss  aus  der  Erfahrung  entspringe.  Vgl.  Metz,  Darst.  29. 
.K.  zog  den  Humeischen  obersten  Grundsatz  selbst  in  Zweifel."  Cohen  3: 
.In  diesem  Satze  wird  die  Erfahrung  als  ein  Bäthsel  aufgegeben.  Die 
Auflösung  dieses  Räthsels  ist  der  Inhalt  der  K. 'sehen  Philosophie."  Was 
Cohen  damit  meint,  erhellt  aus  S.  191:  „Zu  allererst  wird  Hume  (von  K.) 
auf  den  Widerspruch,  der  in  dem  Begriffe  der  Erfahrung  liegt,  aufmerk- 
sam gemacht.  Der  Anfang  braucht  nicht  auch  der  Ursprung  zu  sein. 
Gibt  es  -  .  .  eine  ursprüngliche  Erkenntniss,  die  über  den  Anfang  hinaus 
li^?"  Diese  Herbartisirende  Wendung  (in  der  Erfahrung  liege  ein  Wider- 
spruch), ist  weder  durch  die  Sache,  noch  durch  Ks.  Ausdrucks  weise  geboten, 
oder  auch  nur  gestattet.  Die  blosse  Möglichkeit,  dass  ein  Theil  der  Erkenntniss 
trotzdem^  dass  alle  Erkenntniss  mit  der  Erfahrung  anfange,  nicht  aus  der  Erfah- 
rung entspringe,  enthält  keinen  Widerspruch,  sondern  nur  einen  Einspruch 
gegen  eine  unnÖtMige  Consequenz.  Nicht  um  die  Lösung  eines  Räthsels  handelt 
es  sich,  sondern  um  die  Feststellung  einer  hier  zunächst  nur  als  Möglichkeit 
eingeführten  Thatsache,  um  die  Frage,  ob  in  der  Erfahrung  apriorische 
Znsätze  seien  *.     In  diesem  Satze  ist  ausserdem  Ks.  Verhältniss  zu  den  beiden 


die  Philosophie  bei  diesen  Sätzen  stehen  bleiben;  so  auch  ib.  XlII^  371  0.  Schneider: 
,die  grosse  Arbeit  der  drei  Kritiken  ißt  der  Begründung  jenes  Satzes  gewidmet." 

*  Krag,  Lex.  I,  757  umschreibt  diesen  Satz  so :  „Es  ist  zwar  unzweifelhaft, 
dass  wir  ohne  Erfahrung  keine  Erkenntniss  haben  würden,  dass  jene  also  die 
negative  Bedingung  {conditio  sine  qua  non)  sei.  Daraus  folgt  aber  nicht,  dass 
alle  Erkenntniss  dnrc'h  blosse  Erfahrung  begründet  werde,  dass  mithin  diese 
auch  die  positive  Bedingung  jeder  Erkenntniss  sei."  Aehnlich  Born,  Phil. 
Mag.  II,  328  gegen  den  „Kritischen  Briefschreiber"  S.  3.  Dag.  Pesch,  Mod.  Wiss.  24. 

*  VgL  gegen  Cohen  Witte,  Beiträge  17.  Er  meint,  Cohen  habe  in  dem 
Satze  Kants  „Wenn  aber  gleich  alle  Erkenntniss  mit  der  Erf.  anhebt,  so  ent- 
springt sie  darum  doch  nicht  eben  alle  aus  der  Erfahrung",  das  Pronomen  sie 
Btatt  auf  Erkenntniss  auf  Erfahrung  bezogen  und  dem  Satze  also  ein 
falsches  Subject  gegeben.    (Das  Räthsel hafte   der  Erfahrung  bestünde 


180  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  1.  [R  695.  n  33.  E  46.] 

gegnerischen  Schulen  von  ihm  ausgedrückt:  beidemal  ist  Anerkennung  und 
Bestreitung  verbunden.  Cohen  4:  j,Der  erste  Satz  enthält  die  Anerkennung, 
dass  auf  beiden  Seiten  natürliche  Bechte  bestehen,  wenn  sie  auch  unrichtig 
sich  geltend  machen:  das  Anheben  wird  dem  Skepticismus,  das 
Nichtentspringen  dem  Dogmatismus  eingeräumt\  Wie  beides  sich 
vereinigen  lasse,  hat  der  neue  Begriff  der  Erfahrung  zu  lehren."  Denn  nach 
Cohen  hat  K.  „einen  neuen  Begriff  der  Erfahrung"  entdeckt  *.  Die  Kritik 
der  r.  V.  ist  Kritik  der  Erfahrung.  „Von  der  genauen  Bestimmtheit  dieses 
Begriffs  der  Erfahrung  hängt  es  ab,  ob  K.  durch  seine  Kritik  die  natür- 
lichen Ansprüche  sowohl  des  Skepticismus  der  Empirie,  als  auch  des  Dog- 
matismus der  r.  V.  befriedigt  und  damit  den  Streit  derselben  geschlichtet 
hat."  S.  33:  Mit  dem  ersten  Satze  der  Kritik  (dass  alle  unsere  Erkenn t- 
niss  u.  s.  w.)  hatte  sich  „K.  auf  Hume*s  Seite  gestellt" :  aber  im  zweiten 
Absätze  restringirt  er  diese  Anerkennung;  und  wenn  er  dort,  „dem  Vor- 
urtheil  der  unkritischen  Vernunft"  entgegen  getreten  war,  so  tritt  er  hier 
„der  irrigen  Consequenz  des  unkritischen  Zweifels"  entgegen*.    Vgl.  Cohen 


dann  also  wohl  darin^  dass  sie^  die  Erfahrung  selbst,  nicht  eben  allt' 
aus  der  Er  f.  entspringt.)  Dunkel  sei  aber  offenbar  nach  K.  der  Ursprung 
der  Erkenntniss,  während  bekannt  sei  ihr  Anfang,  die  Erfahrung.  Dat? 
Räthsel  sei  das  Zustandekommen  der  Erkenntniss,  nicht  das  der  Erfahrung:  kurz 
Cohen  habe  jenen  Satz  grammatisch  falsch  ausgelegt.  Zu  dieser  berüchtigt  ge- 
wordenen Unterstellung  gibt  jedoch  der  Wortlaut  bei  C.  keinen  Grund,  wenn  auch 
allerdings  der  Sinn  jene  Unterschiebung  der  Erfahrung  statt  der  ErkQuntnisij 
enthält.  Cohen  fasst  eben  die  Kritik  d.  r.  V.  ganz  einseitig  als  Krit.  d.  Erf.  auf. 
^  Ebenso  ülrici,  Grundpr.  I,  296  und  Will m,  Phü,  AU.  I,  112:  Dieser 
erste  Satz  ist  auch  „le  rSsuUat  gSnSral*^  der  Kritik.  Desduits,  PhÜ.  de  Kant 
37.   161  f.     Scharfe  Analyse  der  Stelle  bei  Witte,  Zur  Erkenntnissth.  16. 

•  Diese  neue  Entdeckung  hat,  wie  Witte,  Beitr.  19  richtig  bemerkt,  den 
Sinn  der  Herbart'schen  Sprache :  „K.  hat  den  Begriff  der  Erfahrung  neu  bearbeitet''. 

•  Während  hier,  am  Anfang  der  Kritik,  als  ein  Grundsatz  gelehrt  wird,  dass 
der  empirische  Anfang  der  Erkenntniss  den  nicht-empirischen  Ursprung  derselben 
(oder  wenigstens  eines  Theiles  derselben)  keineswegs  ausschliesst,  wird  im  Fort- 
gang derselben  (am  Schluss  der  transsc.  Deduction,  2.  Aufl.  §  27  [B  166])  ein  Satz 
aufgestellt,  welcher  als  das  ergänzende  Gegenstück  zu  diesem  Satze  zu 
betrachten  ist,  wie  er  auch  formell  oifenbar  an  denselben  anklingt.  Dort  heisst 
es:  „Aber  diese  Erkenntniss,  die  bloss  auf  Gegenstände  der  Er- 
fahrung eingeschränkt  ist,  ist  darum  nicht  alle  von  der  Erfahrung 
entlehnt."  D.  h.  der  empirische  Umfang  der  Erkenntniss  schliesst  keineswegs 
ihren  empirischen  Ursprung  ein.  Beide  Formeln  sind  in  dieser  Fassung  zunächst 
gegen  die  falschen  Consequenzen  des  Empirismus  gerichtet.  Kehrt  man  sie 
jedoch  --  und  das  ist  durchaus  im  Sinne  Kants  —  um,  so  richtet  sich  die  Spitze 
gegen  den  Rationalismus:  der  nicht^empirische  Ursprung  eines  Theüs  der 
Erkenntniss  schliesst  dessen  empirischen  An-  und  Umfang  nicht  aus,  sondern  ein. 
Beide  Formeln  —  in  ihrer  doppelten  Fassung  —  bilden  dieSumma  derKant- 
schen  Erkenntnisstheorie. 


Aber  nicht  alle  Erkenntniss  entspringt  ans  der  Erfahrung.  181 

[E  696.  H  33.  E.  46.]  B  1. 

a.  a,  0.  166  f.,  wo  diese  ersten  Sätze  als  ein  Gespräch  zwischen  Hume, 
Leibniz  und  Kant  dargestellt  werden.  Mit  dem  Gegensatz  von  Anfangen 
und  Entspringen  spielt  Cohen  a.  a.  0.  34  ff.  (vgl.  auch  S.  88.  89.  167. 
191)  in  einer  theil weise  orakelhaften  unverständlichen  Weise.  (Auch  Witte 
Beitr.  13,  18  legt  viel  in  diesen  Gegensatz  hinein,  wenn  er  sagt:  ,Nach  K. 
ist  der  Ursprung  als  der  absolute  von  jeder  endlichen  Entstehungsweise 
unabhängige  Quell  unseres  Erkennens  vermöge  seiner  apriorischen  Natur 
über  jenen  Gegensatz  (von  angeboren  und  erworben)  erhaben,  und  von 
dem  zeitlichen  Anfange,  der  in  der  Erfahrung  liegt,  vollständig  verschie- 
den.") üeberhaupt  ist  Cohens  Erörterung  (S.  34)  der  ersten  Sätze  der  Einleitung 
nicht  durchaus  Kantisch  gehalten,  stellenweise  jedenfalls  zu  dunkel  und  ge- 
sucht. Richtig  ist  dagegen  folgende  Paraphrase:  „Wir  dürfen  die  Eindrücke 
nicht  als  letzte  Formelemente  der  Erf.  hinnehmen.  Am  Ende  ist  doch  in 
den  Elementen,  welche  als  die  einzigen  Bausteine  der  Erfahrung  gelten  — 
ein  Apriori  verborgen.*  Unsere  Erf.  besteht  nicht  bloss  aus  psychologischen 
Associationen;  es  gibt  darin  Bestandtheile  höherer  Dignität.  Erf.  verliert 
damit  den  alten  Sinn.  Dagegen  ist  a.  a.  0.  191  ff.  der  logische  Gang  des 
I.  u.  n.  Abschnittes  der  Einl.  unrichtig  wiedergegeben.  S.  34  macht  Cohen 
mit  Recht  auf  den  , erheblichen"  Unterschied  zwischen  „anheben"  und  „ent- 
springen" aufinerksam.  Das  „Anheben  mit  der  Erfahrung"  schliesse  einen 
anderen  Ursprung,  als  den  aus  der  Erfahrung  nicht  aus.  Das  „darum"  sei 
zu  beachten.  Darum,  wegen  des  Anhebens  mit  der  Erfahrung,  sei  die 
Consequenz  des  empirischen  Ursprungs  noch  nicht  geboten.  Das  sei  eine 
falsche,  unnöthige  Consequenz.  Die  im  nächsten  Satz  enthaltene  Möglichkeit 
bleibe  „darum"  doch  noch  offen.  Diese  Bemerkung  ist  auf  Apelt,  Metaph.  32 
zurückzufuhren.  Vgl.  Spicker,  Kant  u.  s.  w.  31.  —  Heynig,  Herausf. 
60  ff.,  macht  den  Versuch,  aus  der  Wahrheit  des  ersten  Theils  dieses  Satzes 
die  Unwahrheit  des  zweiten  zu  erweisen.  Eben  weil  alle  Erkenntniss  mit 
der  Erf.  anfängt,  entspringt  sie  alle  aus  ihr :  denn  das  Erk.-Verm.  kann  als 
blosse  leere  Kraft  nichts  Inhaltliches  dazu  thun.  Erkenntniss  entsteht  nur 
.durch  Beherzigung  von  Eindrücken  und  Empfindungen".  Es  bedarf 
keines  Zusatzes  zur  vollgenügenden  Erkenntniss.  Die  Behauptung  einer 
solchen  Zuthat  ist  ihm  „ewiglich  ein  finsteres  Geheimniss".  [Heynig  hat 
dieses  ganze  Thema  des  Ursprungs  unserer  Erkenntniss  mit  ausdrücklicher 
Beziehung  auf  den  vorliegenden  Passus  ausserdem  in  einer  eigenen  Schrift 
behandelt:  Plato  und  Aristoteles,  oder  der  Uebergang  vom  Idealismus 
zum  Empirismus.  Amberg  1804.  Er  verfasste  diese  Schrift  gelegentlich  der 
Preisaufgabe  der  Berliner  Academie  vom  Jahre  1799:  „Ueber  den  Ur- 
sprung unserer  Erkenntniss."  Die  Frage  war  natürlich  mit  Bezug  auf 
Kant  gestellt.  Bendavid  beantwortete  sie  im  Sinne  Kants,  Block  im 
empirischen  Sinne.  Insbesondere  der  Letztere  gibt  jenen  Gegensatz  als  Thema 
seiner  Schrift  an.  Vgl.  die  gleichnamige  Schrift  beider  (Berlin  1802).  Auch 
Degörando  trat  gegen  K.  auf.]  Heynig  führt  aus,  Ks.  Besorgniss  in  der 
Vorr.  zur  Kr.  d.  prakt.  Vem.,  man  könne  einmal   beweisen,    es  gebe  keine 


\Q2  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  I. 

B  1.  [R  695.  H  38.  E  46.] 

Erkenntniss  a  priori,  sei  nur  allzu  gegründet.  Denn  so  verhalte  es  sich 
wirklich  (S.  57).  Der  apriorische  „Zusatz*  zur  Erfahrung  kommt  ihm  gar 
„sonderbar"  vor  (S.  64  ff.).  Andere  als  aus  der  Erfahrung  gezogene  sog. 
relative  apriorische  Erkenntniss  gibt  es  nicht  (76  ff.).  Proelss,  Ursprung 
der  Erk.  S.  109  meint,  K.  hatte  nur  schliessen  dürfen:  „so  entspringt  sie 
doch  darum  nicht  alle  einzig  aus  der  Erfahrung".  So  aber  nehme  K. 
zurück,  was  er  in  den  Vordersätzen  eingeräumt  habe.  Ein  solcher  „innerer 
Widerspruch"  ist  aber  nicht  da,  wenn  man  darauf  merkt,  dass  das  „An- 
fangen" mit  der  Erf.  kein  „Entspringen"  aus  ihr  ist.  Gör  in  g,  System 
der  Krit.  I,  279:  „K.  hat  den  schwierigsten  Theil  der  Aufgabe,  die 
Philos.  als  Wissensch.  zu  begründen,  bewältigt  durch  die  Einsicht,  dass 
alle  unsere  Erkenntniss  mit  der  Erf.  anhebt".  Wenn  er  trotzdem 
nicht  das  Erfahrungswissen,  sondern  die  Metaphysik  neu  begründen  wollte, 
so  that  er  das  in  dem  „guten  Glauben",  dass  beide  Zwecke  sich  ver- 
einigen Hessen.  —  Natürlich  beschäftigen  sich  die  Commentatoren  gerne 
mit  diesem  Gegensatz  von  mit  und  aus  der  Erfahrung  anfangen  resp. 
entspringen;  z.  B.  Born,  Grundl.  §  7.  Villers,  Phil.  d.  K.  I,  212. 
Hauptmom.  23  \     Schultz,  Prüfung  I,  3. 


*  Die  Stelle  ist  ihrer  grundlegenden  Wichtigkeit  und  treffenden  Prägnanz 
wegen  überhaupt  viel  citirt,  comraentirt  und  discutirt  worden.  Man  vgl.  z.  B. 
nocli  S  ig  wart,  Gesch.  d.  Phil.  III,  37,  der  darauf  hinweist,  dass  der  Inhalt  des 
Satzes  schon  in  dem  obigen  Grundbegriff  des  rohen,  zu  verarbeitenden  Stoffes 
involvirt  sei.  Falsch  bei  Laurie  a.  a.  0.  222.  Gut  in  der  Foreign  Review  (1829) 
IV,  63:  tfOur  facuUies  do  not  owe  their  existence  to,  though  ihey  are  only  edüed 
into  action  hy  our  impressions".  Scharfe  Kritik  bei  Prihonsky,  Antikant  S. 
24  f.;  ebenso  in  den  „Kritischen  Briefen",  S.  3  ff.  (Vgl.  dagegen  Born,  a.  a.  0. 
II,  328,  der  den  K.'schen  Satz  gegen  den  Vorwurf  des  „Paradoxen"  in  Schute 
nimmt),  ferner  bei  Spicker,  Kant  S.  15,  der  übrigens  die  im  Sinne  Kants  nicht 
unzulässige  Consequenz  zieht,  dass,  wenn  alle  Erkenntniss  zeitlich  mit  der  Erf. 
anfängt,  die  apriorische  Erkenntniss  oder  besser  die  Anlage  dazu  etwas  Ausser- 
zeitliches sein  muss;  dies  folgt  ja  auch  aus  der  Idealität  der  Zeit.  Interessaat 
ist  die  Aeussening  Goethe 's  über  diesen  Anfang  der  Kritik  (Beitr.  z.  Naturw. 
I,  2,  104):  „Mit  einiger  Aufmerksamkeit  konnte  ich  bald  bemerken,  dass  durch 
K.  die  alte  Hauptfrage  der  Philosophie  sich  erneuerte:  Wie  viel  unser  Selbst, 
und  wie  viel  dagegen  die  Aussenwelt  zu  unserem  geistigen  Daseyn, 
d.  h.  zu  unserem  Wissen  und  Erkennen  betrage?  Ich  selbst  zwar  kam  nie 
in  Versuchung,  mir  selbst  diese  Frage  vorzulegen :  denn  mit  unbewnsster  Naivheit 
philosophirend  hatte  ich  mich  und  die  Aussenwelt  nie  Eins  ausser  dem  Andern 
gefasst.  Gerne  gab  ich  jedoch  den  Freunden  vollkommen  Beifall,  die  mit  K.  be- 
haupteten, wenn  gleich  alle  unsere  Erkenntniss  mit  der  Erfahrung  anfange,  so 
entspringe  sie  darum  doch  nicht  alle  aus  der  Erfahrung  ...  So  sehr  mir  jedoch 
der  Eingang  der  Kantischen  Philosophie  gefiel,  und  so  sehr  ich  auch  einige  Kapitel 
zu  verstehen  glaubte,  und  gar  manches  für  meinen  Hausbedarf  daraus  für  mich 
gewann,  so  konnte  ich  mich  ins  Labyrinth  selbst  nicht  hineinwagen  u.  8.  w. 
(Hempersche  Ausgabe,  Bd.  34,   S.  94  f.)  —  Vgl.  Ritter,  Kant  u.  Hume,  S.  45. 


Vergleichung  mit  der  „Leibniz'schen  Clausel".  183 

[R  696.  H  33.  E  46.]  B  1. 
Diese  Formel  Kants  erinnert  an  Leibniz'  bekannten  Ausspruch: 

Nihü  est   in  inteUectu,  quod  non  antea  fuerit  in  sensibles,   nisi 
intellectus  ipse. 

Man  könnte  sich  wundem,  dass  K.  nicht  daran  angeknüpft  hat.  Und 
Pauls en  Entw.  198  meint,  diese  Unterlassung  sei  bedeutsam;  das  beweise, 
dass  für  K.  die  ganze  Frage  des  A priori  gewisser  Begriffe  der  mensch- 
lichen Erkenntniss  zurückgetreten  sei  hinter  der  Frage  nach  der  realen 
Gültigkeit  rationaler  Urtheile.  Nicht  die  Hervorhebung,  die  Ent- 
deckung der  unserer  Organisation  ursprünglich  angehörigen  Elemente  gegen- 
über der  sensualistischen  Reduction  aller  Erkenntniss  auf  Empfindungen 
sei  die  Aufgabe  der  Kritik.  Das  liege  derselben  ganz  ferne.  Diese  Auffassung 
ist  ganz  einseitig  und  verkennt,  dass  die  Kritik  ein  Werk  ist,  das  ver- 
schiedene Seiten  zugleich  darbietet ;  ausserdem  bietet  die  Kritik  derartige 
Stellen  genug,  in  welchen  die  Aufsuchung  der  apriorischen  Bestandtheile 
unserer  Organisation  als  ein  Hauptzweck  angegeben  wird  (als  Einer  der 
mehreren  Gesichtspunkte).  Wie  bedenklich  jedoch  derartige  allgemeine, 
nicht  auf  genaue  Vergleichung  der  einzelnen  Stellen  gebauten  Behauptungen 
sind,  kann  hier  zufällig  gezeigt  werden.  In  der  Metaph.  144  ff.  knüpft  K. 
an  die  altficholastische  Formel  an:  nihil  est  in  inteUectu,  quod  non  antea 
fuerii  in  sensu.  Aber  nicht  alle  Erkenntnisse  kommen  aus  den  Sinnen, 
sondern  auch  der  Verstand  ist  eine  Quelle.  Man  muss  den  Satz  ein-^ 
schränken:  Nihil  est  quoad  materiam  in  inteü.  u.  s.  w.  „Die  Materie 
müssen  uns  die  Sinne  geben,  und  diese  Materie  wird  durch  den  Verstand 
bearbeitet.  Was  aber  die  Form  anlangt,  so  ist  sie  intellectuell.  Die  erste 
Erkenntnissquelle  liegt  also  in  der  Materie,  die  die  Sinne  darreichen. 
Die  zweite  Erkenntnissquelle  liegt  in  der  Spontaneität  des  Verstandes  .  .  . 
Es  ist  nichts  in  dem  Verstände  der  Materie  nach,  was  nicht  in 
den  Sinnen  war;  aber  der  Form  nach  gibts  Erkenntnisse,  die  in- 
tellectuell, die  gar  kein  Gegenstand  der  Sinne  sind.  Die  intell. 
Begriffe  entspringen  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  .  .  .  Demnach  machen 
zwar  die  Sinne  insofern  den  Grund  aller  Erkenntnisse  aus,  obgleich  nicht 
alle  Erkenntnisse  aus  ihnen  ihren  Ursprung  haben.  Obgleich  sie  kein  Prin- 
cipium  essen di  sind,  so  sind  sie  doch  conditio  sine  qua  non^  ^.  Man 
kann  also,  so  lange  man  keine  falsche  Vorstellung  damit  verbindet,  allerdings 
Ks.  System  als  «eine  consequente  Ausführung  des  Leibniz'schen :  nisi 
intellectus  ipse*  bezeichnen  trotz  Paul sens  Widerspruch  in  der  Viert,  f. 
w.  Phil.  I,  169  und  in  Uebereinstimmung  mit  Windelband,  ib.  I,  234. 
Genau  so  fasst  es  auch  Schütz,  A.  L.  Z.  1785,  III,  121:  „die  Leibniz'sche 
Clausel:  excipe:  nisi  intellectus  ipse  wird  hier  zum  erstenmal  nach  ihrem 
ganzen  Inhalt   erkläret".     Kant   hat   diese  Darstellung   seines  Systems   von 


*  Genau  denselben  Ausdruck  gebrauchen  (oben  S.  179)  Krug,   Born,  Phil. 
Mag.  11,  328,  der  diese  Stelle  noch  nicht  kannte,  u.  Pesch,  Haiti,  d.  m.  Wiss.  23. 


1^34  Coxnmentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  1.  [B  695.  H  38.  K  46.] 

Schütz  ausdrücklich  gebilligt  (s.  Brief  an  Schütz).  Nebenbei  bemerkt, 
glaubt  auch  Staöl- Hülste  in,  De  VAU.  III,  1.  cap.  VI,  nach  dem  Vorgang 
von  Villers,  dass  K.  jenes  Axiom  zum  Thema  seiner  Phil,  gemacht  habe  ^ 
Montgomery,  Ks.  Erk.  93:  Die  Transsc.  Philos.  war  eine  grossartige  Aus- 
legung, eine  imposante  Erörterung  des  berühmten  Leibniz'schen  Epigramms. 
Ebenso  sehr  ausführlich  und  treffend  schon  Jenisch,  Entd.  Kants,  S.  93 — 108, 
bes.  102.  Vgl.  Jacobi,  W.  W.  II,  21.  Caspari,  Grundpr.  II,  175. 
Vgl.  dag.  Cohen  Ks.  Th.  d.  Erf.  167.    Ulrici,  Grundpr.  I,  313. 

Selbst  unsere  Erfahmiigrserkenntiilss.   In  dem  „selbst"  liegt,  was  schon 
zu  der  I.  Aufl.  betont  wurde,  dass  es  sich  um  zwei  Arten  der  apriorischen 
Erkenntnisse  handelt.  Um  solche,  die  der  Erfahrung  beigesetzt,  beigemischt 
sind,  und  solche,  welche  neben  der  Erfahrung  hergehen.  Das  Wörtchen  ^selbst" 
ist  also  sehr  zu  beachten.     Es  besagt  nach  dem  Zusammenhang  offenbar, 
dass   nicht  bloss   die  apriorisch  gefärbte  Erfahrungserkenntniss ,   sondern 
auch  überhaupt  die  nicht   aus  der  Erf.  stammende  Erkenntniss  in  Betracht 
konmit.    Nicht  alle  Erkenntniss  braucht  darum  aus  der  Erf.  zu  entspringen, 
weil  alle  mit  ihr  anfängt.     Es  kann  somit  Erkenntniss  geben,  die  gar  nicht 
aus  der  Erfahrung  entspringt.     Ja  es  kann  sogar  sein,   dass  die  gemeine 
Erfahrung  mit  apriorischen  Elementen  versetzt  sei.    So  selbstverständlich  diese 
Erklärung  der  Stelle  ist,  vgl.  Schultz,  Prüfung  I,  3,  so  hat  doch  z.  B.  der 
scharfsinnige  Maimon  (Krit.  Unters.  53 ff.  [vgl.  167]),  weil  er  jenes  , selbst" 
nicht  beachtet  hat,  die  Stelle  falsch  erläutert  und  daher  auch  unrichtig  an- 
gegriffen, indem  er  meint,  K.  spreche  nur  von  der  apriorisch  gefärbten  Erfah- 
rung.   Dieser  Auslegung  widerspricht  aber  offenbar  der  Schluss  des  Abschnittes 
überhaupt,   wo  ja  von  der   reinen  Erkenntniss  a  priori  die  Bede  ist,   der 
keine  empirischen  Begriffe  beigemischt  sind   und  die  somit  auch  keiner  Er- 
fahrung zugesetzt  ist.    [Man  vgl.  auch  noch  die  Stelle  des  folgenden  Absatzes, 
wo  K.  die  Frage   als   berechtigt  erweist,    „ob   es  ein   dergleichen   von  der 
Erfahrung  und  selbst  von  allen  Eindrücken  der  Sinne   unabhängiges  Er- 
kenntniss gebe".    Hier  kehrt  doch  wohl  dieselbe  Zweiheit  zurück:  reine  Er- 
kenntniss a  priori  und  solche,   welche   der  Erfahrung  beigemischt  ist.     Das 
beweist  nicht  nur  das  wiederkehrende  , selbst",   sondern  auch  die  übrigen 
Ausdrücke:  „von  der  Erfahrung  unabh."    entspricht  dem  obigen  (allerdings 
allgemeineren)  „Nicht  aus  der  Erf.  entspringen**.    „Von  allen  Eindr.  der  Sinne 
unabh."    entspricht  dem  Zusatz    zu   dem,    „was  wir    durch  Eindrücke    em- 
pfangen".    Der  Parallelismus  träte  deutlicher  heraus,   wenn   nicht  hier  wie 
oben    K.  einen  Satz  so  zu  sagen  verschluckt  hätte;   es   sollte  heissen,    „und 
selbst  ein  von  allen  Eindrücken  der  Sinne  unabhängiges",  „jedoch  zu  denselben 
hinzukommendes   und    sich    mit    ihnen    zur   Bildung    der    Erfahrungser- 


*)  Uebrigens  ist  die  Einwirkung  von  Leibniz  auf  Kant^  die  unserer  An- 
sicht nach  die  Dissertation  von  1770  wesentlich  hervorrief,  in  einem  besonderen 
Supplement  zu  behandeln,  in  welchem  der  Beweis  für  diese  Ansicht  ge- 
liefert wird. 


Die  chemische  Zerlegung  der  Erfahrung  selbst.  185 

[R  695.  H  33.  K  46.]  B  1.  2. 

kenntniss  amalgamirendes^  Erkenntniss  gebe  ^]  Genau  demselben  Irrthum 
wie  Maimon  verfiel  auch  Göring,  System  II,  162.  Er  sagt  zunächst 
richtig,  dass  K.  aus  dem  Satze:  , Nicht  alle  Erkenntniss  entspringt  aus  der 
Erf.*  den  Satz  mache:  „Alle  unsere  Erkenntniss  entspringt  nicht  bloss  aus 
der  Erfahrung* ;  denn  die  sog.  Erf.  sei  selbst  etwas  Zusammengesetztes. 
Dann  meint  aber  Göring,  dass  die  Frage,  ob  es  ein  von  aller  Erf.  unab- 
hängiges Erkenntniss  gebe,  keineswegs  die  logische  Folge  aus  jener  Be- 
stimmung der  Erkenntniss  als  eines  Products  aus  dem  subjectiven  und 
objectiven  Factor  sei.  Vielmehr  folge  hieraus  etwas,  was  jene  Frage  von 
vorneherein  abschneide,  nämlich,  dass  eben  alle  Erkenntniss  zusammengesetzt 
sei.  Nur  durch  die  Thatsache  der  Mathem.  als  ganz  rationaler  Erkenntniss 
habe  sich  K.  zu  diesem  Fehlschluss  bringen  lassen,  durch  den  er  von  den 
Erfahrungserkenntnissen  zu  den  ganz  apriorischen  gelange.  (Inwiefern  aber 
diesen  Bemerkungen  von  Maimon  und  Göring  etwas  Richtiges  und  Wichtiges 
zu  Grunde  liegt,  darüber  siehe  S.  186  flF. '.)  Im  Folgenden  gebraucht  Kant  ein 
Büd  ans  der  Chemie,  der  er  mit  Vorliebe  Vergleiche  entnimmt.  Genaueres 
s.  zu  S.  22  (Aesth.  Einl.).  „Grundstoff"  und  „Zusatz"  nennt  daher  Zimmer- 
mann Ks.  math.  Vor.  5  mit  Recht  „sehr  anschauliche  Bezeichnungen",  welche 
unter  die  „Verbesserungen  der  Darstellung"  (Vorr.  B)  gehören  '.  Der  „Zusatz" 
aus  uns  selbst  ist  die  Form,  der  „Grundstoff"  ist  der  Inhalt  der  Anschau- 
ungen, wie  K.  später  speciell  nachweist.  Vgl.  Vorr.  B.  XVII.  „Erf.  selbst  ist 
eine  Erkenntnissart,  die  Verstand  erfordert,  dessen  Regel  ich  in  mir,  noch 
ehe  mir  Gegenstände  gegeben  werden,  mithin  a  priori  voraussetzen  muss, 
welche  in  Begriffen  a  priori  ausgedrückt  wird." 

Unsere  Erf.  ein  Zusammengesetztes.  Heusinger,  Das  id.  ath.  System 
Fichte's.  S.  5  bemerkt  richtig,  dass  dieser  wichtige  Satz  das  K.'sche  System 
vollständig  charakterisirt,  indem  er  zwischen  dem  idealistischen  und  realistischen 
System  den  Mittelweg  einschlage.  Dass  die  Erfahrung  mit  apriorischen 
Elementen  versetzt  sei,  ist  ein  Lambert 'scher  Gedanke.  Zimmermann, 
Lamb.  60  ff.     Dag.  Proelss,  Urspr.  d.  Erk.  108. 

Lange  üebnng.  Vgl.  Proleg.  §  39:  Aus  dem  gemeinen  Erkenntnisse 
(vgl.  hiezu  die  Ueberschr.  des  II.  Abschn.  „und  selbst  der  gemeinen  Erkenntniss") 
die  Begriffe  herauszusuchen,  welche  gar  keine  besondere  Erfahrung  zum 
Grunde  liegen  haben,    und  gleichwohl   in  aller  Erfahrungserkenntniss   vor- 


'  Eine  ganz  andere^  jedoch  missverständliche  Auslegung  dieser  allerdings 
nicht  ganz  klaren  Stelle  gibt  A.  Meinong,  Phil.  Mon.  XII,  340  ff.  —  Unter  der 
Vernachlässigung  jenes  „selbst"  leidet  auch  Baaders  sonst  lesenswerthe  Para- 
phrase der  Einleitung,  W.  W.  XI,  405  IT.;  auf  ihr  beruht  wohl  auch  Bieder- 
manns Meinung  (Deutsche  Phil.  I,  76)  von  einem  „schwer  auszugleichenden 
Widerspruch"  der  Einleitung.     Ebenso  Prihonsky,  Anti-Kant  23. 

'  Inwiefern  in  der  Stelle  eine  Acnderung  gegenüber  der  I.  Aufl.  liege, 
darüber  unten  (Anhang  zu  Abschn.  11.). 

*  Die  Möglichkeit  dieser  Trennung  sei  schon  durch  den  ersten  Absatz  aus- 
geschlossen, behauptet  Spicker,  Kant  u.  s.  w.  30. 


186 


Commentar  znr  Einleitung  B,  Abschn«  I. 


B  2.  [R  695.  696.  H  33.  E  46.  47.] 

kommen,  von  der  sie  gleichsam  die  blosse  Form  der  Verknüpfmig  ausmachen, 
setzte  kein  grösseres  Nachdenken  oder  mehr  Einsicht  voraus,  als  aus  einer 
Sprache  Regeln  des  wirklichen  Gebrauchs  der  Wörter  überhaupt  herausza- 
suchen  u.  s.  w.  Die  Unterscheidung  der  reinen  Elemente  der  Sinnlichkeit 
und  der  des  Verstandes  sei  ihm  erst  nach  „langem  Nachdenken"  gelungen. 
Vgl.  bes.  Meyer,  Ks.  Psych.  129.  Heyn  ig,  Her.  64:  „Etwas  bedenklich 
und  verdächtig,  und  lässt  errathen,  dass  jene  allgemeine  Formenerkenntniss 
a  priori  nichts  als  ein  Werk  von  weitgetriebenen  Abstractionen  sei".  Auch 
bemerkt  derselbe  S.  69,  K.  habe  die  Frage  vernachlässigt,  wie  der  Zusatz 
erst  nach  der  Erfahrung  (im  Bewusstsein)  da  sein  könne  und  demungeachtet 
nicht  aus  Erfahrung  sei.  „So  unscheinbar  diese  Stelle  sich  ausnimmt",  sagt 
Zimmermann,  Ks.  mathem.  Vorurtheil  4,  so  enthält  sie  doch  ein  Problem, 
„das  die  Lebensfrage  des  K. 'sehen  Unternehmens  berührt,  unter  seinen  Nach- 
folgern tiefgehende  Spaltuiig  und  bis  auf  den  heutigen  Tag  ungeschlichteten 
Streit  hervorgerufen  hat.  Dasselbe  betrifft  nämlich  die  Frage,  auf  welchem 
Wege,  die  Existenz  jenes  apriorischen  Zusatzes  zur  Erfahrung  in  unserem 
Erkenntnissvermögen  vorausgesetzt,  die  Erkenntniss  dieses  letzteren  selbst 
durch  das  Erkenntnissvermögen  möglich  sei?  Wäre  ein  solcher  Weg  nicht 
vorhanden,  oder  dessen  Betreten  doch  unsicher,  so  wäre  jener  apriorische 
Zusatz  selbst  für  uns  gar  nicht  oder  so  gut  wie  nicht  vorhanden,  weil  wir 
nie  oder  wenigstens  nicht  mit  Sicherheit  wissen  könnten,  welcher  Theil 
unserer  vermeinten  Erkenntniss  jGrundstoff',  welcher  ,Zu8atz*  sei?  —  Kant 
selbst  scheint  dieses  Problems,  das  von  der  Behauptung,  dass  es  apriorische 
Elemente  im  Erkenntnissvermögen  gebe,  gänzlich  verschieden  ist,  sich  erst 
nachträglich  völlig  bewusst  geworden  zu  sein,  nachdem  er  bereits  versucht 
hatte,  mittels  des  apriorischen  Zusatzes  aus  dem  Erkenntnissvermögen 
allgemeingiltige  Erfahrung  zu  begründen,  denn  diese  Stelle  ist  erst  in  der 
II.  Ausgabe  hinzugekommen.  Die  Schwierigkeit  dieses  Problems:  wie  ist 
die  Entdeckung  des  Apriori  möglich?  ist  erst  Kants  Nachfolgern  recht 
deutlich  geworden:  dieses  Problem  sei  schwieriger  und  dunkler  als  das 
andere:  Wie  ist  ohne  Apriori  die  Erfahrung  möglich?"  [In  hervorragender 
Weise  hat  schon  Schulze,  Aen.  404  ff.  auf  dieses  wichtige  Problem  auf- 
merksam gemacht.  Derselbe,  Krit.  11,  162  macht  den  Einwurf,  dass  K.  die 
Möglichkeit  einer  solchen  Scheidung  selbst  nach  langer  Uebung  nicht  wahr- 
scheinlich genug  gemacht  habe.  Ganz  dieselben  Bemerkungen  machte  schon 
Heyn  ig,  Herausf.  64  ff.  164.]  Dies  hängt,  wie  Zimmermann  nicht  bemerkt, 
mit  dem  Hervortreten  der  in  die  Erfahrung  sich  einmischenden  apriorischen 
Elemente  zusammen.     Hierüber  unten.     Vgl.  bes.  Witte,  Zur  Erk.  16. 

Frage  9  ob  es  ein  dergleicben  u.  s.  w.  Diese  Frage  haben  wir  schon 
S  168.  184  analysirt  und  darin  zwei  Elemente  gefunden,  welche  sicher  Kant 
beim  Niederschreiben  der  Stelle  vorschwebten.  Es  ist  zu  tadeln,  dass  K.  nicht 
diese  beiden  Elemente  kräftiger  hervortreten  Hess.  Dies  hat  nämlich  zur 
Folge  gehabt,  dass  man  Kants  Frage  nur  so  fasste,  als  frage  er  nach  der 
ganz  apriorischen  Erkenntniss.    Und  offenbar  hat  K.  die  Frage  selbst  dann 


Die  Doppelfrage  der  Kritik  d.  r.  V.  187 

[B  696.  H  33.  K  47.]  B  2. 

weiterhin  so  verstanden ;  er  spricht  in  der  Folge  nur  noch  von  den  eigentlich 
apriorischen  Erkenntnissen,  nur  noch  vorübergehend  von  der  apriorisch 
durchsetzten  Erfahrung.  Dieser  Umstand  ist  aber  höchst  wichtig.  Kant 
hätt€  streng  genommen  hier  fragen  müssen:  1)  gibt  es  ganz  apriorische 
Erkenntniss?  2)  ist  die  Erfahrung  am  Ende  selbst  auch  mit  apriorischen 
Bestandtheilen  durchzogen  ?  In  dem  II.  Abschnitt  musste  dann  der  Nachweis 
kommen,  1)  dass  es  ganz  reine  apriorische  Erkenntniss  gebe,  2)  dass  die 
Erfahrung  ein  Zusammengesetztes  sei.  In  der  That  ist  das  im  2.  Abschnitt 
der  Fall.  Schon  die  XJeberschrift  lautet  ja:  Wir  sind  im  Besitze  gewisser 
Erkenntnisse  a  priori  und  selbst  der  gemeine  Verstand  ist  niemals  ohne 
solche.  Als  jene  weist  er  die  Mathematik  nach.  Aber  in  Bezug  auf  den  ge- 
meinen Verstandesgebrauch  begegnet  ihm  eine  Verwechslung.  Er  rechnet  zu 
demselben  auch  den  Satz  der  Gausalität,  der  doch  nach  der  Analytik  ein 
reines  Erkenntniss  a  priori  ist.  Allerdings  gebraucht  auch  der  gemeine 
Verstand  das  Gesetz.  Aber  als  solches  ist  es  doch  nicht  einer  jener  Zusätze 
zur  Empfindung,  welche  die  Erfahrung  zu  einem  Zusammengesetzten 
machen.  Wohl  aber  gehören  zu  denselben  der  Causal  begriff  und  die  am 
Sehluss  von  Abschnitt  II  besprochenen  Begriff^  Baum  und  Substanz.  Er 
verwechselt  so  den  gemeinen  Verstand  mit  der  Erfahrungserkenntniss. 
Es  ist  eben  daher  die  eigentlich  zu  Grunde  liegende  Argumentation  nicht 
genug  ans  Lieht  getreten;  denn  K.  sollte  beweisen:  1)  wir  haben  ganz  reine 
Erkenntnisse,  2)  auch  in  der  Erfahrung  als  solcher  steckt  schon  ein  Apriori, 
wodurch  sie  selbst  nothwendig  wird.  Im  Abschnitt  HI  fliessen  nun  jene 
beiden  Arten  des  Apriori  vollständig  ineinander  und  am  Ende  verschwindet 
die  zweite  Gattung  ganz.  Das  ist  aber  verhängnissvoll  gewesen  für  das 
Verständniss  der  ganzen  Einleitung  und  damit  der  ganzen  Kritik.  Folge- 
gemftss  hätte  Kant  zwei  Fragen  als  die  Hauptfragen  seiner  Kritik  aufstellen 
müssen:  1)  Wie  sind  jene  ganz  reinen  Erkenntnisse  a  priori  möglich? 
(Wie  sind  synthetische  ürtheile  a  priori  möglich?)  2)  Wie  ist  jene  Er- 
fahrung möglich,  von  der  nachgewiesen  ist,  dass  sie  allgemeine  und  noth- 
wendige  Bestandtheile  enthält?  Und  dann  hätte  Kant  überhaupt  seinen 
Begriff  der  Erfahrung  als  einer  allgemeinen  und  nothwendigen  Erkenntniss 
hier  sogleich  am  Anfang  klar  und  präcis  entwickeln  müssen,  während 
dieser  Begriff  im  Verlauf  und  allmälig  ohne  jede  Einführung  einiliesst. 
Dann  hätte  K.  sieh  nicht  bloss  hier  damit  begnügen  können,  zu  zeigen,  dass 
die  Erfahrung  Elemente  in  sich  trage,  wie  Raum,  Causalität,  Substan- 
zialität,  welche  sich  selbst  als  apriorische  Begriffe  documentiren  durch 
»die  Noth wendigkeit ,  mit  der  sie  sich  aufdrängen*,  sondern  er  hätte  eben 
zeigen  müssen,  dass  durch  jene  Elemente  die  Erfahrung  selbst  an  der 
Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  Theil  habe,  selbst  allgemein 
und  nothwendig  sei,  dass  sie  ohne  jene  Elemente  ein  C?haos  zufälliger  Em- 
pfindungen bleibe.  Dann  hätte  er  sich  nicht  mit  jenem  unten  genauer 
besprochenen  Sätzchen  über  die  Möglichkeit  der  Erfahrung  begnügt,  in 
welchem  er  ohnedies  das  nicht  ausdrückt,    was  er  hHtte  ausdrücken  sollen, 


188  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  2.  [R  696.  H  38.  E  47.] 

dass  die  Erfahrung  durch  Beimischung  jener  Begriffe  selbst  etwas  noth- 
wendiges  und  allgemeines  werde,  während  er  factisch  dort  nur  daran  erinnert, 
dass  das  System  des  Erfahrungswissens  ohne  die  reinen  Grundsätze  nicht  fest 
genug  sei.  Es  spielt  dabei  jene  unt«n  genauer  zu  besprechende  Verwechslung 
von  Causal begriff  und  Causalitätsgesetz  eine  verhängnissvolle  Rolle. 
So  aber  spricht  Kant  anstatt  von  der  allgemeinen  und  nothwendigen  Er- 
fahrungserkenntniss  nur  von  den  nothwendigen  apriorischen  Be- 
standtheilen  der  Erfahrung,  und  mischt  diese  zusammen  mit  der  ganz 
reinen  apriorischen  Erkenntnis s.  Und  demgemäss  hätten  dann  in  Aesthetik 
und  Analytik  zwei  Theile  deutlich  unterschieden  werden  müssen,  deren  erster 
die  bezügliche  ganz  reine  Erkenntniss  behandelt,  deren  zweiter  zeigt,  wie 
die  Erfahrung  selbst  erst  durch  apriorische  Zusätze  objectiv,  allgemein 
und  nothwendig  werde.  Factisch  finden  sich  auch  jene  beiden  Bestand- 
theile,  deutlicher  in  der  Analytik  als  in  der  Aesthetik.  Dort  behandelt  die 
„transsc.  Deduction*  die  Erfahrung,  die  ,, Grundsätze"  die  ganz  reine  Er- 
kenntniss. In  der  Aesthetik  entspricht  dem  letzteren  Theil  der  Nachweis 
der  Möglichkeit  der  reinen  Mathematik,  dem  ersteren  Theil  die  rudimentäre 
Erörterung  in  A  28—29,  wonach  durch  den  Zusatz  des  Raumes  objectiv 
noth wendige  und  allgemeine  Erfahrungseigenschaften  möglich  sind.  Auf 
diese  fundamental  wichtige  Unterscheidung  kommt  der  Commentar 
zur  Analytik  zurück.  Mag  auch  Kant  theilweise  pädagogische  Gründe  gehabt 
haben,  so  zu  verfahren,  wie  er  verfuhr,  so  ist  doch  nicht  zu  leugnen,  dass 
dabei  eine  tüchtige  Portion  eigener  Unklarheit  mitspielt,  an  der  es  bei  Kant 
nachgewiesenermassen  nicht  fehlt.  —  Dass  Kants  Philosophie  eine  Theorie  der 
Erfahrung  sein  wolle,  hat  besonders  Fischer  Gesch.  III,  1,  16  flF.  entwickelt. 
Vor  K.  habe  die  Metaphysik  eine  prekäre  Stellung  gehabt,  entweder  gieng 
sie  bei  den  Empirikern  auf  in  der  Erfahrungswissenschaft  oder  sie  stand  bei 
den  Dogmatikern  gegenüber  derselben  unnütz  und  unfruchtbar ;  dort  wurde 
die  Metaphysik  von  der  Erfahrung  verneint,  hier  die  Erfahrung  von  der 
Metaphysik  gänzlich  verlassen  (ib.  28),  beidemal  gieng  sie  als  selbständige 
Wissenschaft  zu  Grunde.  Kant  rettete  sie,  indem  er  ihr  ein  eigenes  unbe- 
strittenes, bis  dahin  ununtersuchtes  Gebiet  und  Object  zuwies:  Die  That- 
sache  der  exacten  Wissenschaften  selbst.  Die  Mathematik,  die 
Physik  sind  da:  wie  sind  sie  möglich?  Es  muss  eine  selbständige  Wissen- 
schaft geben,  welche  Mathematik,  Physik  und  Erfahrung  selbst  zum  Gegen- 
stand ihrer  Erklärung  macht.  „  Object  der  Erfahrung  sind  die  Dinge.  Object 
der  Philosophie  ist  die  Erfahrung,  überhaupt  die  Thatsache  der  menschlichen 
Erkenntniss.  So  hört  die  Philos.  auf,  eine  Erklärung  der  Dinge  zu  sein, 
sie  wird  eine  Erklärung  von  der  Erkenntniss  der  Dinge:  sie  wird 
eine  noth  wendige  Wissenschaft,  denn  sie  erklärt  eine  Thatsache,  die  als 
solche  der  Erklärung  bedarf,  zugleich  wird  sie  eine  neue  Wissenschaft, 
denn  sie  erklärt  eine  noch  nicht  erklärte  Thatsache.*  K.  wende  die  natur- 
wissensch.  Methode  auf  diese  Thatsachen  an,  indem  er  nach  ihren  Bedingungen 
forscht,  nach  den  Bedingungen  der  menschl.  Erkenntniss.     Diese  Darstellung 


Die  von  der  Erfahrang  unabhängigen  Erkenntnisselemente.  IgQ 

[R  696.  H  33.  E  47.]  B  2. 

trennt  nicht  scharf  genug  die  Erfahrung  als  solche  und  jene  Wissen- 
schaften. Als  Theorie  der  Erfahrung  fasst  Cohen  Kants  Kritik  auf;  das 
that  schon  Vi  Hers,  Phil,  de  K,  I,  64.  190.  {Uempiriste  veut  faire  usage  de  Vex- 
perience,  et  le  transcendentaliste  veut  exp liquer  l ' exp drience;  ils  n'ont  rien de 
commun;  üs  partent  taus  deux  de  la  ligne  de  VexpSrience;  mais  Fun  se  tient  au- 
dessus,  et  Vautre  plonge  avrdessous;  Vun  tapiase  le  pcUais  de  la  science,  Vautre  en 
assure  les  fondements.)  Diese  Auffassung  hat  eine  bedeutsame  Stütze  in  der 
Erklftrung  Ks.  in  den  Portschr.  K.  115.  E.  I,  207:  Die  höchste  Aufgabe  der 
Transsc.  Phil,  ist:  »Wie  ist  Erfahrung  möglich?*  Man  hat  diese 
Stelle  bis  jetzt  viel  zu  wenig  beachtet;  durch  sie  kommt  Licht  in  Kants 
Kritik.  Dass  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  auch  zugleich  eine  Kritik  resp. 
Theorie  der  Erfahrung  sei,  und  die  Frage  behandle,  wie  ist  Erfahrung 
möglich?,  ist  Kant  selbst  also  erst  nach  Vollendung  derselben  zum 
klaren  Bewusstsein  gekommen;  ja  er  spricht  dies  ganz  bestimmt 
und  klar  erst  in  der  genannten  kleinen  Schrift  über  die  Fortschr.  d.  Met. 
aus,  also  erst  nach  1790.  Es  war  das  Resultat  der  Deduction,  das  ihm 
erst  die  Fundamentalität  jenes  Problems  zum  Bewusstsein  brachte,  das  schon 
in  den  Prolegomena  viel  klarer  ist,  als  in  der  I.  Aufl.  der  Kritik,  ja  klarer 
auch,  als  in  der  11.  Aufl.  derselben.  Die  ganze  Tragweite  der  Kritik 
kann  aber  nur  erfasst  werden,  wenn  der  Leser  derselben  dieses 
Problem  neben  dem  von  Kant  selbst  factisch  im  Abschn.  VL  der 
Einl.  B,  aufgestellten,  welches  nur  die  absolut  reine  Erkenntniss  be- 
trifft, scharf  ins  Auge  fasst.  Nur  dann  hat  er  den  „Ariadne- Faden", 
um  sich  in  dem  Labyrinth  der  Kritik  zurechtzufinden,  um  über  den  Details 
den  Grundplan  nicht  zu  verlieren  *. 

Ein  Erkenntiiiss.  K.  gebraucht  das  Erkenntniss  und  die  Erkenntniss 
promiseue.  Man  hat  zwar  einen  Unterschied  der  Bedeutung  finden  wollen, 
doch  lässt  sich  derselbe  nicht  festhalten.  Vgl.  Grimm,  Wörterb.  ITT,  870: 
K.  bedient  sich  beider  Geschlechter,  insbes.  des  Neutrums;  beide  sind  ihm 
gleichbedeutend,  wie  besonders  aus  mehreren  Stellen  hervorgeht,  wo  er  ganz 
nachlässig  von  dem  Neutrum  zum  Feminin  übergeht.  Auch  bei  Luther 
sind  beide  Formen  gleichbedeutend. 

Ton  der  Erfahrung  • .  •  nnabh&ngit^.  Für  die  ganze  Einleitung  hat  der 
Terminus  ^a  priori"  nicht  nur  die  negative  Bedeutung,  „von  der  Er- 
fahrung unabhängig''  wie  z.  B.  Volkelt,  Ks.  Erk.  224  f.  meint, 
sondern  auch  die  positive,  dass,  was  von  der  Erfahrung  unabhängig  sei, 
aus  der  Vernunft  (im  weiteren  Sinne)  stamme.  In  der  I.  Aufl.  wird 
dieselbe  sogleich  am  Anfang  erwähnt.     In  der  II.  Aufl.  im  Abschn.  11.  wird 


^  Dies  ist  kein  unbefugtes  Meistern  Kants  ^  sondern  erlaubte  und  gebotene 
immanente  Kritik  und  consequente  Analyse  des  Textes.  Die  specielle  Ausführung 
dies  hier  Gesagten,  wozu  man  noch  die  Bemerkungen  zum  Abschnitt  VI.  der 
2.  Aufl.  vergleiche,  kann  erst  in  der  Analytik  erfolgen  (wo  auch  zwischen  der  Mög- 
lichkeit der  Erfahrung  als  Beweis thema  und  Beweismittel  unterschieden  wird). 


190 


Gommentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  I. 


B  2.  [B  696.  H  38.  34.  K  47.] 

wenigstens  „von  einem  besonderen  Erkenntnissqaell,  einem  Vermögen  der 
Erkenn tniss  a  priori"  gesprochen.  Und  im  weiteren  Verlaufe,  insbesondere 
in  den  aus  der  I.  in  die  II.  Aufl.  hinübergenommenen  Abschnitten  wird 
mehrfach  die  reine  Vernunft  als  jenes  Vermögen  bezeichnet.  Weiter 
darf  aber  hier  nicht  hineingelegt  werden,  etwa,  dass  das  Apriori  die 
ursprüngliche  Einheitsfunction  unseres  Bewusstseins  bezeichne  u.  s.  w.  üeber 
den  Ausdruck:  „unabhängig  von  aller  Erfahrung*  s.  Apelt,  Metaph.  26  ff. 
Er  bezeichnet  nicht  eine  zeitliche,  sondern  eine  genetische  Unabhängigkeit. 
Riehl,  Krit.  I,  322:  „Der  Grund  der  Apriorität  ist  die  unabhängige  Ent- 
stehung, die  F  o  1  g  e  die  von  Erfahrung  unabhängige  Einsicht  in  die  Gültigkeit 
einer  Erkenntniss'^.  Diese  Erklärung  ist  übrigens  zu  eng,  weil  sie 
apriorische  Begriffe  ausschliesst.  Lange,  Mat.  II,  15:  „Es  handelt  sich 
bei  den  Erkenntnissen  a  priori  nach  Ks.  unvergleichlicher  Begriffsbestimmung 
weder  um  fertig  in  der  Seele  liegende  angeborene  Vorstellungen,  noch  um 
unorganische  Eingebungen  oder  unbegreifliche  Offenbarungen.  Die  Erkennt- 
nisse a  priori  entwickeln  sich  im  Menschen  ebenso  gesetzmässig  und 
aus  seiner  Natur  heraus,  wie  die  Erkenntnisse  aus  Erfahrung.  Sie  be- 
zeichnen sich  einfach  dadurch,  dass  sie  mit  dem  Bewusstsein  der  Allgemeinheit 
und  Noth wendigkeit  verbunden  und  also  ihrer  Gültigkeit  nach  von  der 
Erfahrung  unabhängig  sind".  Herder,  Met.  I,  49.  57  tadelt,  dass 
„Unabhängigkeit  von  der  Erf.*  ein  negativer  Begriff  sei.  [Die  AUgem.  und 
Nothw.  der  Mathem.  beruhe  auf  dem  positiven  Merkmal  ihrer  inneren  Ge- 
wissheit. *  Vgl.  dag.  Schmidt  und  Snell,  Erl.  98,  wo  die  Identität  beider 
Begriffe  behauptet  wird;  u.  Kiesewetter,  Prüf.  I,  45.  Auch  verwechselt 
Herder  den  log.  Zusammenhang,  indem  er  die  AUg.  u.  Nothw.  als  aus  der 
Unabh.  von  der  Erf.  bewiesen  ansieht.]  Ebenso  Witte,  Beitr.  37  u.  Göring 
Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  386  ff.  und  bes.  I,  539.  II,  106  ff.  Krit.  Briefe  5. 
13  verlangen  eine  genauere  Bestimmung  des  Unabhängigsein  dem  Inhalt 
und  dem  Ursprung  nach.  Die  Mathem.  sei  dem  Inhalt  nach  ganz  von 
Erf.  unabhängig,  nicht  aber  dem  Ursprung  nach;  also  ganz  empiristische 
Einwände;  ebenso  (ib.  49)  über  die  Metaphysik.  Dag.  Born  a.  a.  0. 11,  333. 
Man  nennt  solche  Erkenntnisse  a  priori«  Schon  bald  nach  Erscheinen 
der  Kritik  wurde  von  verschiedenen  Seiten  '  bemerkt ,  dass  K.  hier  einen 
Sprachgebrauch  als  recipirt  angebe,  der  bis  dahin  nicht  üblich  gewesen  sei. 


*  Gegen  die  Erkenntniss  a  priori  kämpften  Manche  auch  aus  blossem  Hiss- 
verständniss ^  indem  sie  sachlich  doch  mit  K.  einverstanden  waren;  so  war  dies 
theilweise  bei  Herder  der  Fall.  Dass  derselbe  sachlich  mit  K.  übereinstimme, 
zeigten  Schmidt  u.  Snell,  Erl.  97  und  [Matthiä],  Hugo,  S.  5.  Nur  spricht 
Herder  von  „inneren  Daten",  „inneren  Erfahrungsbegriffen",  Met.  I,  21.  61.  „Innere 
Erfahrung"  ib.  I,  58.     Vgl.  dag.  Kiesewetter,  Prüf.  I,  47. 

'  Z.  B.  Kritische  Briefe,  S.  6:  „^o  viel  ich  weiss,  sind  Sie  der  Erste, 
welcher  eine  Erk.  a  pr.  diejenige  nennt,  welche  in  Ansehung  ihres  Ursprungs 
von  jeder  Erf.  imabhängig  ist  .  .  .  Sie  haben  sich  von  dem  Sprachgebranch  ent- 
fernt".   Vgl.  hiezu  Born  a.  a.  0.  II,  334.  —  Vgl.  Jacobson,  Auff.  d.  Apr.  18. 


Der  Begriff  dca  Apriori.  191 

[B  696.  H  38.  34.  E  47.]  B  2. 

Was  man  bis  dahin  a  priori  nannte,  war  etwas  anderes  gewesen,  bei  Ari- 
stoteles nftmlicb  die  Erkenntniss  aus  dem  Früheren,  den  Ursachen,  bei 
Leibniz  die  aus  allgemeinen  Begriffen  und  Sätzen  erschlossene  Erkenntniss. 
Vom  Leibniz 'sehen  Sprachgebrauch  zum  K  aufsehen,  der  eine  dritte 
Periode  der  Geschichte  jenes  Terminus  darstellt,  bildet  Lambert  einen 
üebergang.  Vgl.  hierüber  das  Supplement:  Geschichte  des 
Terminus  A  priori.  Ueber  den  Ausdruck  ,a  priori"  wurde  zu  Kants 
Zeiten  unexact  viel  Unrichtiges  hin-  und  hergeredet,  vgl.  z.  B.  Herder, 
Metakr.  I,  21.  69.  Kiesewetter,  Prüf.  I,  15.  Schmidt  und  Snell, 
Erl.  96.  sowie  die  Discussion  zwischen  Bendavid  und  Nicolai,  vgl. 
dessen  Philos.  Abhandl.  I,  231  ff.  Schaumann,  Ueber  die  transc.  Aesthetik 
Leibniz  1789  behauptete  vom  Kantischen  Apriori,  es  bedeute  keineswegs 
irgend  etwas  Angeborenes,  potentiell  in  uns  Liegendes  oder  vor  der  Erfahrung 
irgendwie  vorhergehendes.  Sondern  Vorstellungen  a  priori  seien  solche, 
ans  welchen  sich  allein  die  Möglichkeit  anderer  Vorstellungen  erklären  lässt 
(der  empirischen),  oder  die  als  Gründe  der  empirischen  gedacht  werden. 
»Weil  ich  nun  eine  solche  Vorstellung,  welche  die  Causalität  von  anderen 
enthält,  als  vor  den  anderen  vorhergehend  denke,  so  wie  ich  immer  den 
Grund  von  der  Folge  denken  muss,  so  nenne  ich  diese  Vorstellung  a  priori, 
in  Bezug  nämlich  auf  die  Vorstellungen  a  posteriori.  Daher  kann  man  auch 
die  Vorstellungen  a  priori  erwerben.*  —  Dies  ist  die  erste  Spur  der 
logischen  Auffassung  des  Apriori  im  Gegensatz  zur  psychologischen ;  jene 
hat  sich  bei  Pichte,  Schelling,  Hegel  weiterentwickelt,  diese  bei  Schopen- 
hauer, Pries  und  Apelt.  Gegen  jene  Auslegung  wehrte  sich  aber  schon 
der  Becensent  gedachter  Schrift  in  der  A.  D.  B.  103,  133  ff.,  welcher  darauf 
aufinerksam  machte,  dass  apriorische  Vorstellungen  solche  seien,  welche  in 
der  Natur  des  menschlichen  Erkenntnissvermögens  gegründet  sind  und  der 
Erfahrung  wenigstens  potentiell  in  uns  vorhergehen.  Schaumann  mache  den 
Unterschied  des  Apriori  und  des  Aposteriori  bloss  relativ,  während  er  nach 
K.  absolut  sei.  Ihr  Unterschied  beruhe  nach  K.  keineswegs  auf  dem  Denken 
[sei  also  nicht  logisch],  sondern  auf  der  Natur  des  Erkenntnissvermögens 
nnd  der  verschiedenen  Vorstellungen  selbst  [sei  also  psychologisch].  Der 
rnterschied  des  apriori  und  aposteriori  wurde  dann  ganz  verwischt  von  Beck 
^Einz.  mögl.  Standpunkt),  von  Pichte  (Einl.  in  d.  Wissensch.)  u.  A.  Apelt 
mischt  Metaph.  2.  4.  u.  ö.  ein  unkantisches,  mehr  aristotelisches  Element  in  den 
Unterschied  des  apriori  und  aposteriori,  wenn  er  das  erstere  mit  Einsicht, 
das  andere  mit  blosser  Kenntniss  identificirt.  Dieser  Gegensatz  des  Siotc 
und  8t t  spielt  bei  Kant  nicht  die  ihm  von  Apelt  zugeschriebene  Rolle,  also 
passt  auch  das,  was  Göring  häufig,  so  bes.  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  392  ff. 
553  ff.  über  den  Gegensatz  von  Begreifen  und  Wissen  als  Wurzel  des 
Gegensatzes  aposteriorischen  und  apriorischen  Wissens  sagt,  nicht  auf  Kant. 
Vgl.  jedoch  Kant,  Proleg.  §  27  ff.  mit  Vorr.  S.  8  u.  9.  und  Krit.  d.  pr.  V. 
Vorrede  Schluss,  der  Rationalismus  gründe  sich  auf  „eingesehene  Noth- 
wendigkeit*.    Krit.  760:     Einsicht    d.  i.    Erkenntniss    a   priori.     Vgl. 


192  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  2.  3.  [R  696.  H  34.  E.  47.] 

Kant  bei  Erdmann  Proleg.  Vorr.  LXXXVII.  Ueber  diesen  schwierigen  Punlrt 
später.]  Jene  Unterscheidung  entspricht  jedoch  der  Wolf  sehen  Eintheilnng 
in  cognitio  historica  und  cognitio  philosophica.  Denn  jene  gibt  nur 
nudam  facti  notitiam,  diese  ist  eine  cognitio  rationia  eorum,  quae  stm/ 
vel  fiunt.    Ueber  den  Begriff  des  Apriori  vgl.  Witte,  Zur  Erk.  15  ff. 

Er  durfte  nicht  auf  die  Erfahmng  warten.  Der  Versuch  Grapen- 
giessers,  Aufg.  der  Vemunftkr.  29,  auch  hier  aus  dem  Apriori  das 
Zeitliche  ganz  zu  eliminiren,  ist  nicht  gelungen.  »Nur  wer  das  Wort 
.warten'^  im  Auge  hat,  kann  an  jenes  Zeitverhältniss  denken,  aber  es  steht 
sich  vielmehr  gegenüber  das  »wirklich*  des  a  posteriori,  und  das  ,noth- 
wendig*  des  a  priori/  Dies  ist  eine  gezwungene  Auslegung,  die  ausserdem 
nutzlos  ist,  da  es  sich  hier  ja  eben  nicht  um  das  absolute  Apriori  handelt. 
Vgl.  Wangenheim,  Verth.  Kants  23.  24.  52:  Nur  hier  sei  Apriori  im 
zeitlichen  Sinne  gebraucht.     Dies  ist  falsch,  wie  sich  zeigen  wird. 

Wir  werden  .  .  .  anter  Erkenntnissen  a  priori  u.  s.  w.  Kant  macht 
hier  den  Unterschied  eines  relativen  und  eines  absoluten  Apriori.  Er- 
kenntnisse sind  relativ  a  priori,  wenn  sie  nicht  direct  aus  der  Erfahrung, 
sondern  aus  einer  allgemeinen  Hegel  abgeleitet  sind,  die  selbst  aber  in  letzter 
Linie  aus  der  Erfahrung  stammt.  Diese  Art  bietet  natürlich  keine  erkennt- 
nisstheoretische Schwierigkeit  dar.  Absolut  (, schlechterdings')  a  priori 
sind  nur  Diejenigen,  welche  „völlig",  gänzlich  von  der  Erfahrung  unabhängig 
sind.  Denselben  Unterschied  berührt  K.  auf  S.  843  f.,  wo  er  dem  bisherigen 
Dogmatismus  den  (berechtigten)  Vorwurf  macht,  er  habe  das  absolut«  und 
das  relative  Apriori  nicht  gehörig  geschieden ;  es  handle  sich  dabei  um  eine 
„gänzliche  Ungleichheit  und  Verschiedenheit  des  Ursprungs".  „Auch  unter 
den  Principien  sind  einige  allgemeiner  und  darum  höher  als  andere" ;  diese 
sind  aber  doch  nicht  »völlig  a  priori",  (ib.)  „Völlig  a,  priori  kann  keine 
Existenz  der  Gegenstände  der  Sinne  erkannt  werden,  aber  doch  comparative 
a  priori,  relativisch  auf  ein  anderes  schon  gegebenes  Dasein."  226.  Vgl. 
322  über  die  Function  der  Vernunft  bei  den  Schlüssen.  „Der  Vernunftschluss 
ist  ein  Urtheil,  welches  a  priori  in  dem  ganzen  Umfang  seiner  Bedingung 
bestimmt  wird."  Dort  ist  das  Beispiel  der  Satz:  Cajus  ist  sterblich,  der  aus 
dem  allgemeinen  Erfahrungssatz :  alle  Menschen  sind  sterblich,  a  priori  ab- 
geleitet wird.  Derartige  Sätze  sind  empirische  Principien.  *  Ib.  300.  Cfr.  646  ff. 
über  den  „hypothetischen  Vernunftgebrauch,  wodurch  comparativ 
allgemeine  Regeln  entstehen".  Eine  weitläufige  Auseinandersetzung  hierüber 
s.  Met.  d.  Sitten,  Rechtsl.  Einl.  II.  Weitere  Beispiele  dieses  Apriori  s.  in 
dem  Aufsatz  von  1794:     „Etwas   über   den  Einfiuss   des  Mondes   auf  die 


^  In  diesem  Sinne  des  Apriori  als  relativen  sagt  Glogan,  Abr.  d.  philoä. 
GrundwisB.  I,  364^  dass  der  S  c  h  1  u  s  s  ^  der  einfache  Syllogismus  die  Bedingungen 
der  synthetischen  Urtheile  a  priori  enthalte.  —  In  dieser  Unterscheidung  einen 
„Widerspruch''  zu  finden,  wie  die  „Kritischen  Briefe*'  S.  7  (auch  neuerdings  trifft 
man  diese  Beliauptung),  beweist  eine  auffallend  oberflächliche  Leetüre  des  Textes. 


Relatives  und  absolutes  Apriori.  l93 

[B  696.  H  34.  E  47.]  B  2.  3. 

Witterung."  Vgl.  Metaph.  163.  176.  (Geschmacksurtheile  comparativ  apriori.) 
Logik  §  57.  —  ^Eigentliche  Wissenschaft  kann  nur  diejenige  genannt 
werden,  deren  Gewissheit  apodiktisch  ist:  Erkenntniss,  die  bloss  empirische 
Gewissheit  enthalten  kann,  ist  nur  uneigentlich  sogenanntes  Wissen  .  .  . 
Wenn  die  Principien  in  einer  Wissenschaft,  wie  z.  B.  in  der  Chemie  doch 
zuletzt  empirisch  sind,  und  die  Gesetze,  aus  denen  die  gegebenen  Facta 
durch  die  Vernunft  [also  relativ  a  priori]  erklärt  werden,  bloss  Erfahrungs- 
gesetze sind,  so  führen  sie  kein  Bewusstsein  ihrer  Nothwendigkeit  bei 
sich  ....  das  Ganze  verdient  alsdann  im  strengen  Sinne  nicht  den  Namen 
einer  Wissenschaft  und  Chemie  sollte  daher  eher  systematische  Kunst  als 
WLssenschaft  heissen.**  „Die  vollständigste  Erklärung  gewisser  Erscheinungen 
aus  chemischen  Principien  lässt  noch  immer  eine  Unzufriedenheit  zurück, 
weil  man  von  diesen,  als  zufälligen  Gesetzen,  die  bloss  Erfahrung  ge- 
lehrt hat,  keine  Gründe  a  priori  anfuhren  kann;"  Met.  Auf.  d.  Nat.  Vorr. 
Vgl.  die  Unterscheidung  in  der  Kr.  d.  pr.  V.  110  zwischen  absolut  und 
comparativ  Gutem.    Vgl.  auch  Maimon,  Krit.  Unters.  168.  Schultz,  Prüf. 

I,  4.  Mit  der  strengen  Unterscheidung  zwischen  absolut-  und  relativ-apriori- 
schen Urtheilen  in  dem  ausgeführten  doppelten  Sinne  tritt  K.  der  Leibniz- 
sehen  Philos.  schroff  entgegen;  denn  in  dieser  wurde  zwischen  diesen  beiden 
Arten  so  gut  wie  gar  nicht  unterschieden :  Beides  galt  ohne  schärfere  Unter- 
scheidung als  „cognitio  a  priori^  oder  „rationalis^  (vgl.  Kannengiesser, 
Dogm.  u.  Skept.  16  ff.).  Die  Leibnizianer  traten  daher  dieser  Unterscheidung 
feindlich   gegenüber,   so  bes.   Eberhard   im  Philos.   Mag.  I,  132  und  bes. 

II,  76.  „Man  kann  ohne  Bedenken  behaupten,  es  könne  mit  der  apodikti- 
schen Gewissheit  gar  wohl  bestehen,  dass  die  Hauptbegriffe  a  posteriori  er- 
haltene oder  von  Erfahrungsbegriffen  abstrahirte  Begriffe  seien**  u.  s.  w. 
Ein  Urtheil,  dessen  Hauptbegriffe  aus  der  Erfahrung  abstrahirt  seien,  brauche 
daher  nicht  alle  Zufälligkeit  der  Wahrnehmung  zu  haben.  Vgl.  ib.  II,  509 
u.  bes.  m,  67  ff.  Aehnlich  Herder,  Met.  I,  21:  Das  strenge  A  priori  im 
Sinne  Kants  finde  selbst  nicht  in  der  Math,  statt,  ib.  I,  46.  Dag.  Kiese- 
wetter I,  31  ff.  Garve  bei  Nicolai,  Gel.  Bild.  137  (über  bedingte  Noth- 
wendigkeit). Schultz,  Prüfung  I,  5.  Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  390  und 
besonders  Eberhard,  Phil.  Mag.  III,  70  ff.  u.  Phil.  Archiv  I,  1,  98  ff.  mit 
Bezug  auf  Seile's  ganz  ähnliche  Stellung  in  der  Abhandlung  De  la  realitS 
u.  s.  w.  Der  Satz  der  Causalität  sei  apodiktisch  gewiss,  doch  stammen  die 
in  ihm  vorkommenden  Begriffe  aus  der  Erfahrung.  Was  in  dem  Urtheile 
nothw endig  ist,  beruht  auf  dem  Satz  des  Widerspruchs.  Femer  Philos. 
Arch.  I,  2,  46  ff.  Diese  Unterscheidung  hat  sich  bei  K.  entwicklungsge- 
schichtlich herausgebildet  aus  dem  Unterschied  des  tisus  logicus  und  ttsus 
realis  des  inteUectus  (Diss.  §  5).  Von  jenem  heisst  es:  „Datis  cognitionibus 
sensUivis  per  usutn  intell,  logicum  sensitivae  subordinantur  aliis  sensitivis, 
ut  concepHbus  cammunibus,  et  phaenomena  legibus  phaenomenorum  generaliori' 
busf  Daraus  entstehen  dann  die  rcUiodnia,  die  argumentationes  secundum 
regvlas  logkas.    Aus  dem  Intellect  im  sensus  realis  entspringen  die  intellec- 

VaihlBger,  Kant-Commentar.  13 


194 


Commentar  zur  Einleitung  6^  Abschn.  I. 


B  2.  3.  [B  696.  H  34.  E  47.] 

tualia  stricte  tcUia  (§  6),  die  Kategorien  und  Ideen  der  Kritik.  Vgl.  ibidem 
§  23  die  Unterscheidung  der  „leges  rationis  purae"  von  den  „leges  aupposi- 
sitiae^.  In  der  Dial.  299  ist  noch  die  Spur  dieses  Zusammenhanges,  wo 
vom  formalen  und  realen  Vemunftgebrauch  die  Rede  ist,  was  ganz  mit 
den  hiesigen  Bestimmungen  identisch  ist.  Vgl.  zu  A  10,  über  „reine  Vernunft*. 
Ein  beliebtes  Beispiel  der  Commentatoren  für  das  relative  Apriori  ist  die 
Entdeckung  des  Neptuns  durch  Leverr i er  auf  Grund  blosser  Berechnungen, 
s.  Lewes,  Gesch.  II,  554  f.  Kirchner,  Metaph.  30.  Die  Bedingungen 
jener  Bestimmung  lagen  in  dem  Newton 'sehen  Gesetz.  Man  kann  in  dieser 
Weise  Wirkungen  so  gut  wie  Ursachen  a  priori  bestimmen.  In  diesem  Sinne 
wird  der  Terminus  heutzutage  in  den  exacten  Wissenschaften  oft  gebraucht. 

Ton  dieser  oder  Jener  Erfahrnng  unabhängig.  Heynig,  üerausf.  73  ff. 
tadelt  den  Ausdruck  „von  dieser  oder  jener"  als  ungenau.  K.  will  wohl 
sagen,  jene  relativ-apriorische  Erkenntniss  sei  zwar  unabhängig  von  der 
speciellen  Erfahrung,  dass  untergrabene  Häuser  einfallen,  aber  nicht  unab- 
hängig von  der  Erfahrung  der  Schwere  der  Körper.  Heynig  sagt  auch  nicht 
übel  S.  77:  „dass  doch  die  verwünschten  Zauberwörter  ,überhaupt,  im  Ganzen, 
schlechterdings,  schlechthin,  absolut,  allgemein*  u.  s.  w.  die  Philosophen 
immer  so  sehr  täuschen,  und  verwirrt  machen  und  ihnen  zu  den  ungereim- 
testen Behauptungen  und  lächerlichsten  Vorstellungen  Anlass  geben!* 

Sohleehterdingg  von  aller  Erf.  unabhängig.  K.  rechnet  darunter  auch 
das  Urtheil,  in  welchem  der  empirische  Begriff  „Veränderung"  vorkonmit. 
Ist  dies  kein  Widerspruch?  Nur  scheinbar  nach  Schultz,  Prüf.  I,  4. 
Denn  das  Urtheil  als  solches  ist  von  der  Erf.  unabhängig ^  [Schultz  sucht 
a.  a.  0.  auch  ein  etwaiges  Missverständniss  bezüglich  des  Ausdruckes:  ^nur 
durch  Erf.  möglich"  abzuweisen.  Es  könnte  eingewandt  werden,  es  gebe  Ur- 
theile,  die  durch  Erfahr,  möglich  sind  und  doch  zugleich  a  priori  sind. 
So  viele  mathem.  Urth.  z.  B.  die  Winkel  im  A  sind  =  2  R.  An  diesen  Um- 
stand scheine  K.  bei  seinem  Ausdrucke  nicht  gedacht  zu  haben.]  Daher  um- 
schreibt daselbst  Seh.  den  Text  so :  wir  erkennen  etwas  a  priori  (resp.  a  po- 
steriori), sofern  wir  es  ohne  Wahrnehmung  (resp.  durch  Wahrn.)  wissen. 
Dagegen  Krit.  Briefe  8:  „Sie  heben  Ihren  Begriff  von  einer  Erkenntniss 
a  pr.  wieder  auf,  wenn  Sie  diesen  Satz  hieher  rechnen."  Diese  Eintheilong 
enthalte  einen  offenbaren  Widerspruch.  Bei  der  richtigen  Auslegung  ver- 
schwindet, wie  schon  Born,  a.  a.  0.  11,  335  f.  bemerkt,  dieser  angebliche 
Widerspruch,  auf  den  auch  Bachmann,  Philos.  m.  Z.  51  hinweist,  jedoch 
vollständig.     Auch  Spicker,  Kant  20  findet  in  dieser  Unterscheidung  einer 


*  Schultz  definirt  daher  richtig  (Prüf.  I,  6):  Urth.  a  post.  sind  solche^  in  denen 
die  Verbindung  des  Prädicats  und  Subjects  aus  Wahrnehmung  ge- 
schöpft ist,  a  priori  solche,  in  denen  das  nicht  der  Fall  ist.  Damit  sind  auch  Ein- 
wände widerlegt,  wie  der  von  Bachmann,  Phil.  m.  Z.  52:  Diese  schlechthinige 
Unabhägnigkeit  einiger  Erkenntniss  von  aller  Erf.  widerspreche  dem  Axiom  vom 
Anfang  aller  Erkenntniss  mit  der  Erfahrung.    Vgl.  Proelss,  Ursp.  d.  Erk.  108. 


Reines  und  gemischtes  Apriori.  195 

[R  696.  H  84.  E  47.]  B  8. 

«schlechthinigeii   und  einer  aposterioriscben  Apriorität*  einen  Widerspruch. 

Bei  der  Zurückweisung  desselben  darf  man  nicht  mit  Meinong,  Phil.  Mon. 

XII.  341  die  beiden  gleich  folgenden  Eintheilungen  mit  einander  verwechseln. 

Vgl.  biezu  noch  unten  zu  Abschn.  11.   Vgl.  Witte,  Beitr.  23.  Zur  Erk.  16, 

BeiB.    „Rein*'  ist  demnach  hier  nicht  identisch   mit  a  priori,  wie  in  der 

Ueberscbrift; ,   wo    es  =  a  priori  als  Gegensatz  zu  empirisch  =  a  posteriori 

dient,    sondern   bezeichnet    eine  bestimmte    Art   der   apriorischen   ürtheile. 

Heber   diesen  Wechsel   der  Nomenclatur  von  »rein*  s.  zu  B  5.     Man  sieht 

schon  hier  die  S.  169  angedeutete  Inconvenienz,  welche  aus  den  Bedeutungs- 

verschiedenbeiten  des  Ausdruckes  folgt.  —  Es  werden  die  ürtheile  a  priori 

hier  nacb  einem  doppelten  Gesichtspunkte  eingetheilt: 

I.  nach  dem  Gesichtspunkt  des  Ursprungs  in 

a)  relativ   )         •    .    t_ 
j     '     ,      ,    .  !   apriorische, 
und  b)  absolut  ) 

Die  letzteren  werden  nun  wieder  eingetheüt 

II.  nach  dem  Gesichtspunkt  des  Inhalts  in 

a)  gemischt    )         .     .    v 
,  , ::  °  .  J   apriorische, 

und  DJ  rein  ) 

Das  erstemal  handelt  es  sich  um  die  Art,  wie  das  Urtheil  entsteht,  (ob 

aas   anderen   allgemeinen,    aber  empirischen  ürtheilen   oder   ob   aus   reiner 

Vernunft),  das  anderemal  um  die  Elemente,  aus  denen  das  Urtheil  besteht, 

(ob  ein  empirisches  BegriflFselement  beigemischt  ist  oder  ob  alle  das  Urtheil 

constituirenden  begrifflichen  Factoren  ebenfalls  aus  reiner  Vernunft  stammen). 

Wir  stellen  zur  Uebersichtlichkeit  auch  die  bezüglichen  Beispiele  zusammen: 

la.  Ein  unterminirtes  Haus  stürzt  ein. 

Ib.  (Beispiel  fehlt.) 

IIa.  Eine  jede  Veränderung  hat  ihre  Ursache. 

IIb.  (Beispiel  fehlt.) 
Für  I  b  können  wir  aus  dem  reichen  Schatze  apriorischer  Ürtheile  bei  Kant 
etwa  ergänzen: 

Bei  allem  Wechsel  der  Erscheinungen  beharrt  die  Substanz. 
(B.  224.) 
Für  n  b  gibt  Kant  an  einer  anderen  Stelle  (s.  unten)  folgendes  Beispiel,  in 
dem  gar  nichts  Empirisches  beigemischt  sei: 

Alles  Zufällige  hat  eine  Ursache. 
Jedes  beliebige  mathematische  Urtheil,  z.  B.  der  Baum  hat  drei  Dimensionen, 
thut  denselben  Dienst.  Denn  „ein  jeder  Satz  der  Geometrie,  z.  B.  dass  ein 
Triangel  drei  Winkel  habe,  ist  schlechthin  noth wendig"  592.  Auch 
das  sub  I  b  angeführte  Urtheil  gehört  bei  der  zweiten  Eintheilung  unter  II  b. 
In  der  Kritik  hat  es  Kant  nur  mit  denjenigen  Ürtheilen  zu  thun,  welche 
absolut  a  priori  sind,  und  unter  diesen  wieder  mit  denjenigen,  die  ganz  rein 
sind,  also  mit  IIb.  Gegen  diese  Eintheilung  in  reine  und  nicht  ganz 
reine  Erk.  a  priori  wendet  sich  Grapengiesser,  Aufg.  der  Vernunftkr. 
29  ff.,  mit  Berufung  auf  Fries,  Logik  S.  245,  der  jene  Bezeichnung  ver- 


196  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  I. 

B  3.  [R  696.  H  34.  E  47.] 

wendet  für  den  obigen  Üntersbhied  von  absolut-  und  relativ-a  priori. 
Derartige  Willkürlichkeiten  der  Abweichung  können  nur  zu  Miss  Verständ- 
nissen fuhren.  Grap.  meint,  a  priori  beziehe  sich  nur  auf  das  ürtheil 
als  solches;  wenn  dieses  selbst  aus  reiner  Vernunft  sei,  komme  es  auf  die 
Begriffe  nicht  an.  Warum  soll  aber  K.  diese  richtige  Distinction  nicht 
machen?  Apelt,  Metaph.  25  verwechselt  direct  beide  Eintheilungen.  Ge- 
mischte ürtheile  a  priori  behandelt  K.  in  denMetaphys.  Anfangsgründen 
der  Naturwiss.,  wo  der  empirische  Begriff  der  Materie  als  Subject  zu 
Grunde  gelegt  wird.  Eine  andere  derartige  Gattung  behandelt  K.  in  der 
Kritik  der  ürtheilskraft,  Einl.  V  und  §  36,  sowohl  teleologischer  als  ästhe- 
tischer Natur.  Kant  sagt  aber  ib.  Einl.  V,  derartige  Principien  seien  doch 
a  priori,  „weil  es  zu  Verbindung  des  Prädicats  mit  dem  empirischen 
Begriffe  des  Subjects  ihrer  XJrtheile  keiner  weiteren  Erfahrung  bedarf, 
sondern  jene  völlig  a  priori  eingesehen  werden  kann.* 

Weil  YerändernnfiT  ein  Begriff  ist,  der  u.  s.  w.  Cohen  a.  a.  0.  102: 
„Indessen  die  Kategorie  der  Causalität,  d.  h.  die  Form  der  Verknüpfung: 
Ursache  —  Wirkung,  ist  gar  nicht  denkbar  ohne  die  Vorstellung  der  Ver- 
änderung. Demnach  wäre  die  Kateg.  der  Gaus,  keine  „reine*  Form  des 
Denkens.  Sie  ist  es  nur,  insofern  sie  eine  synthetische  Einheit  in  der  Ver- 
knüpfung des  Mannigfaltigen  der  Anschauung  darstellt.*  C.  sieht  nicht, 
dass  es  sich  um  einen  Satz  handelt,  nicht  um  einen  Begriff;  er  ver- 
wechselt auch  offenbar  beide  so  verschiedene  Bedeutungen  von  „rein*.  — 
Genaueres  hierüber  s.  zu  den  Parallelstellen  32.  41.  171  f.  187  ff.  204  ff. 
452  Anm.  Stark  aber  sachlich  nicht  unbegründet  ist  Heynigs  Bemerkung 
gegen  diese  Stelle  (Herausf.  131):  „Lächerlich  ist  es  im  höchsten  Grade, 
wenn  der^Begriff  von  einer  Veränderung  a  posteriori  und  der  von  einer 
Ursache  a  priori  sein  soll.*  Beide  Begriffe  lassen  sich  ja  im  Grunde  gar 
nicht  trennen,  sind  eigentlich  ein  einziger  Begriff ;  „wenigstens  ist  ja  allemal 
die  Vorstellung  einer  Ursache  abhängig  von  der  einer  Veränderung  und  um- 
gekehrt.* Dass  der  Satz  der  Caus.  apriorisch  sei,  findet  natürlich  ebenso- 
wenig den  Beifall  des  Empirikers  (ib.  75  f.).    Dag.  Prihonsky,  Antikant  25. 

Bei  der  grundlegenden  Wichtigkeit  dieses  ersten  Abschnittes  und 
den  mannigfachen  Miss  Verständnissen ,  denen  er  ausgesetzt  ist,  ist  eine  Re- 
capitulation  des  Inhalts  in  Form  einer  logischen  Analyse  nicht 
überflüssig. 

Absatz  1  stellt  eine  Thatsache  auf  [zeitlicher  Anfang  aller  Erkennt- 
niss  mit  der  Erfahrung],  und  gibt  für  dieselbe  eine  Begründung,  [Er- 
weckung des  Erkenntnissvermögens  durch  Eindrücke]. 

Absatz  2  weist  eine  falsche  Consequenz  aus  jener  Thatsache  ab, 
[darum  nicht  Ursprung  aller  Erkenntniss  aus  der  Erfahrung],  und  be- 
gründet dies  durch  Hinweis  auf  eine  durch  sie  nicht  ausgeschlossene  Möglich- 
keit, [Beimischung  apriorischer  Bestandtheile  in  die  Erfahrung  selbst]. 

Absatz  3  leitet  daraus  ein  Problem  ab  [Gibt  es  ein  Apriori?]  und 
gibt  eine  vorläufige  Definition  [von  a  priori  und  a  posteriori]. 


Zufälligkeit  der  Erfahrung  und  Nothwendigkeit  des  Apriori.  |97 

[B  696.  697.  H  34.  E  47.  48.]  B  3. 

Absatz  4  gibt  eine  genaue  Distinction  [des  eigentlichen  vom  un- 
eigentlichen Apriori]. 

Absatz  5  gibt  eine  Division  [des  eigentlichen  Apriori  in  reines  und 
gemischtes]. 


Erklärmig  von  B,  Abschnitt  U.  (S.  3  -  6). 
Thatsächlicher  Besitz  apriorischer  Erkenntniss. 

Selbst  der  gemeine  Yerstand.  Heyn  ig,  Herausf.  81  ff.  findet  es  son- 
derbar, dass  K.  an  den  gem.  Verst.  hier  appellirt,  den  er  in  der  Vorrede 
zu  den  Proleg.  so  gründlich  verächtlich  behandelte.  Daher  kommen  ihm 
diese  Worte  »sehr  verdächtig  und  bedenklich"  vor.  Vgl.  Maimon,  Krit. 
Unters.  56:  Der  gem.  Menschenverstand  könne  sich  täuschen. 

ErfahniBg  lehrt  uns  zwar.  Das  Eine  Merkmal  des  Apriorischen  ist 
die  Nothwendigkeit  oder  wie  K.  sagt,  das  Nicht-anders-sein-können. 
Gr^enüber  steht  das,  was  auch  andersseinkönnte,  dessen  Beschaffenheit 
also  für  uns  zufällig  ist  (und  bedingt  im  Gegensatz  zur  unbedingten 
Gültigkeit):  eine  andere  Beschaffenheit  ist  nicht  ausgeschlossen.  Metz,  Darst. 
29  nennt  das  Erfahrungsurtheil  in  diesem  Sinne  „precarisch".  Dass  das  Jahr 
365  resp.  366  Tage  hat,  dass  das  Wasser  bei  0  Grad  gefidert,  dass  das 
Gold  das  specifische  Gewicht  von  19,5  hat,  dass  die  Körper  schwer  sind, 
dass  die  Sonne  im  Osten  aufgeht,  dass  Tag  und  Nacht  einmal  innerhalb  24 
Stunden  wechseln,  dass  die  Erde  mit  organischen  Wesen  besetzt  ist  —  das 
alles  ist  nicht  nothwendig,  das  alles  könnte  anders  sein;  auf  anderen 
Planeten  hat  das  Jahr  z.  B.  weniger  oder  mehr  Tage,  andere  Planeten  sind 
vielleicht  ohne  alles  organische  Leben.  Die  Zufälligkeit,  das  Anders -sein- 
können ,  ist  somit  das  erste  wichtige  Merkmal  der  aposteriorischen  Urtheile. 
Bei  den  relativ  apriorischen  ürtheilen,  die  in  letzter  Linie  auf  ein  em- 
pirisches ürtheil  basirt  sind,  ist  daher  diese  Zufälligkeit  mittelbar  vor- 
handen: ich  muss  das  ürtheil,  ein  unterminirtes  Haus  fällt  ein,  zwar  als 
ein  nothwendiges  fällen  unter  der  Voraussetzung  des  allge- 
meinen Naturgesetzes  der  Schwere.  Dass  Peter  oder  Paul  sterben  werde, 
ist  ein  nothwendiges  ürtheil  unter  der  Voraussetzung  der  allge- 
meinen Vergänglichkeit  der  organischen  Wesen,  speziell  der  Menschen, 
aber  es  ist  nicht  nothwendig,  dass  die  Menschen  sterblich  seien  oder  dass  alle 
Menschen  sterben  müssen,  es  ist  nicht  nothwendig,  dass  die  Körper  schwer  seien 
—  dies  könnte  sich  anders  verhalten.  Somit  könnten  sich,  absolut  be- 
trachtet, jene  einzelnen  Fälle  anders  verhalten ;  und  sie  sind  nur  nothwendig 
unter  der  Voraussetzung  jener  allgemeinen  Gesetze,  die  aber  an  sich  selbst 
betrachtet  wieder  zufällig  sind.  Dieser  Zufälligkeit  halber  nennt  L  ei bniz  die 
empirischen   Kenntnisse    „viritis   contingentes^   im   Gegensatz   zu   den 


198  Commentar.  zur  Einleitung  B,  Abschn.  II. 

B  2.  [B  697.  H  34.  K  48.] 

„vSrith  nScessairea^ .  , Empirisch"  und  „zufällig"  ist  für  K.  identisch  z.  B. 
765:  Hume  fand,  dass  alle  Principien  a  priori  „nichts  als  eine  aus  Er- 
fahrung und  deren  Gesetzen  entspringende  Gewohnheit,  mithin  blosd  em- 
pirische d.  i.  an  sich  zufällige  Regeln  sind,  denen  wir  eine  vermeinte 
Npth wendigkeit  und  Allgemeinheit  beimessen".  Ib.  766.  B.  5:  „empirisch, 
mithin  zufällig".  „Die  Erf.  lässt  uns  keine  Noth wendigkeit  erkennen."  721. 
Vgl.  94.  114.  A.  353.  Kr.  d.  pr.  V.  60.  Proleg.  §  14.  §  33.  „Zwischen 
Zufälligem  und  Nothwendigem  ist  eine  unermessliche  Kluft, 
welche  man  durch  keine  Analogie  ausfällen  kann" ;  Ks.  Recension  über  Herders 
Ideen,  I.  Anhang  „Erinnerungen"  u.  s.  w.  Heyn  ig,  Herausf.  84  ff.  findet 
in  dem  Satze:  „Erf.  lehrt  uns  zwar"  u.  s.  w.  den  doppelten  Sinn :  entweder 
heisst  das:  „die  Erf.  lehrt  uns  nichts  nothwendiges ,  nichts  absolutes  d.  h. 
sie  sagt  nicht,  dass  daS;  was  sie  uns  lehrt,  auch  nicht  anders  sein  könne''; 
oder  es  kann  heissen:  „die  Erf.  selbst  als  solche  ist  zufällig  und  veränderlich, 
sie  ertheilt  keine  Gewissheit  und  Zuverlässigkeit  und  man  kann  sich  nicht 
siehe):  auf  ihre  Aussagen  stützen,  eben  weil  Nothw.  und  Allgeni.  ihr  keine 
volle  Autorität  geben."  H.  findet  beide  Auslegungen  fast  einerlei,  entwickelt 
aber  beide  Möglichkeiten  85  flF.  und  104  ff.  und  sucht  beidemal  K.  zu  wider- 
legen. Die  erste  Auslegung  betrifft  offenbar  die  Zufälligkeit  des  Erfahrungs- 
inhaltes,  die  zweite  die  der  Form,  in  der  wir  diesen  Inhalt  durch  die 
Erfahrung  als  Wissen  haben.  Man  kann  nicht  behaupten,  dass  K.  nur  das 
Letztere  im  Auge  gehabt  habe.  Daher  sind  Heynigs  Erinnerungen  gegen 
die  Vorstellungen  der  Möglichkeiten  des  Anders-sein-könnens  formell  wenigstens 
berechtigt.  Er  meint,  es  gehe  uns  nicht  das  Allermindeste  an,  was  noch 
anders  sein  könnte  in  der  Möglichkeit,  wir  hätten  mit  der  vorhandenen 
Wirklichkeit  „alle  Hände  voll  zu  thun".  (S.  94.)  Von  diesem  Standpunkt 
aus  kämpft  er  auch  ib.  S.  107  ff.  gegen  die  K.'sche  Behauptung  der  bloss 
relativen  Allgemeinheit  der  Erfahrung.  AUgem.  u.  Nothw.  seien  die 
ganz  gewöhnlichen  Prädicate  unserer  „wochentägigen  Erfahrungserkenntniss^ 
Ib.  268.  Vgl.  Heynig,  Plato  u.  Arist.  49  ff.  68  ff.  Aehnlich  Herder, 
Metakr.  I,  23.  Er  fragt  in  diesem  Sinne  nach  dem  „Pritnum  des  a  priori*'. 
Ein  Satz^  der  zugleich  mit  seiner  Nothwendlgkeit  gedacht'  wird.  Die 
Erfahrung  lehrt  nur  Thatsächliches  ohne  die  Garantie  des  Nicht-anders-sein- 
könnens.  Finden  sich  „also"  Sätze,  welche  diese  Garantie  des  Nicht-anders- 
sein-könnens  enthalten,  so  stammen  sie  nicht  aus  Erfahrung;  so  sind  sie 
a  priori,  aus  der  Vernunft  gezogen.  In  diesem  Satze  schliesst  K.  auch  die 
relativ-apriorischen  mit  ein,  wie  aus  dem  Folgenden  hervorgeht,  wo  er 
erst  die  absolut  apriorischen  besonders  ablöst.  Auch  bei  den  ersteren  findet, 
wie  oben  bemerkt,  eine  Nothwendigkeit  statt,  aber  nur  eine  relative. 
Schlechterdings  nothwendig  sind  nur  diejenigen,  die  ganz  von  der  Er- 


*  Diesen  Aosdruck  „gedacht",  der  auch  unten  bei  der  Allgemeinheit  wider- 
kehrt, presßt  Ülrici  a.  a.  0.  301  viel  zu  stark,  wenn  er  darin  den  Ausdruck  der 
Denknothwendigkeit  finden  will. 


Hypothetische  und  absolute  Noth wendigkeit.  199 

[R  697.  H  34.  K  48.]  B  3. 

fahmng  unabhängig  sind,  die  „vor  sich  selbst  klar  und  gewiss  sind"  (s.  A  1), 
die  also  eine  absolute  Evidenz  besitzen,  bei  denen  das  Gegentheil  oder 
ein  Anderssein  unbedingt  abzuweisen,  gar  nicht  zu  fassen  ist.  Was  nothw. 
ist,  ist  »unzertrennlich  mit  dem  Verstände  verbunden",  76.  „Die  geometrischen 
SÄtze  sind  insgesammt  apodiktisch,  d.  i.  mit  dem  Bewusstsein  ihrer  Noth- 
wendigkeit  verbunden;  z.  B.  der  Raum  hat  nur  drei  Abmessungen ;  der- 
gleichen Sätze  aber  können  nicht  empirische  sein."  S.  25.  Sätze,  die  ein 
solches  Nicht-anders-sein-können  einschliessen,  sind  z.  B.  alle  mathematischen 
Sätze. 

Die  Sätze    2.2  =  4 

2»  =  8 

v/86  =  6 
enthalten  Urtheile,  bei  denen  das  Nicht-anders-sein-können  sich  unmittelbar 
aufdrängt.  Wären  die  mathematischen  Grundsätze  nicht  a  priori,  »so  hätten 
sie  alle  Zufälligkeit  der  Wahrnehmung,  und  es  wäre  eben  nicht  noth- 
w endig,  dass  zwischen  zweien  Punkten  nur  eine  gerade  Linie  sei,  sondern 
die  Erfahrung  würde  es  so  jederzeit  lehren".  A.  24.  Diese  apodiktische  Ge- 
wissheit ist  (Schultz,  Prüf,  ü,  133)  theils  eine  intuitive  (in  der  Mathem.), 
theils  eine  discursive  (in  der  Philos.) 

So  ist  er  ein  ürtlieil  a  priori.  Diesen  Gegensatz  führt  Villers  hübsch 
aus  (Phil.  I,  189):  I/ou  vient  que  dans  un  cos  je  ne  suis  sür  de  rien,  qu'on 
n^oteraü  ma  conviction  avec  la  mime  facilitS  que  je  Vavais  acquise?  Et  que 
dans  Vautre  on  m'anianterait  miUe  fois  avant  que  je  puisse  rien  changer  ä 
ma  contnctian?  N'est-ü  pas  absurde  d'attribuer  la  meme  origine  et  la  meme 
nalure  ä  des  choses  si  opposies?  Uahsurdüi  cesse  en  reconnaissant  deux 
sources  trh-diffSrentes  de  ces  jugements,  UexpMence  rhgle  les  uns,  les  autres 
rhglent  Vexphience",  Weiteres  ib.  I,  201  flf.  in  dem  Abschnitt:  DiffSrence 
de  la  certUude  analogique  et  de  la  certitude  apodictique.  Jene  gibt  nur 
eine  certitude  prSsumh;  une  expMence  nouveUe  peut  la  detruire;  so  die  Art 
der  Axendrehung  der  Erde,  die  Folge  der  Jahreszeiten;  dagegen  die  aprio- 
rischen Urtheile  haben  eine  „puissance  irrisistible  de  conviction^.  Ein  beach- 
tenswerther  Zusatz  findet  sich  Hauptm.  30:  Das  Dichtungsvermögen  werde 
sich  eher  an  jedes  andere  Urtheil  wagen,  es  umzumodeln,  als  an  ein  streng 
apriorisches.  Dass  die  Pferde  keine  Flügel  haben,  ist  ein  comparativ  allge- 
meiner Erfahrungssatz.  Der  Dichter  kehrt  sich  daran  nicht  und  schafft 
geflügelte  Pferde,  und  selbst  Büflfon's  Verstand  kann  eine  solche  Dichtung 
wenigstens  ertragen,  aber  nur  ein  Rasender  würde  den  Satz  umwandeln, 
dass  2  X  2  =  4  ist. 

Ist  er  aneb  von  keinem  abgeleitet  u.  s.  w.  Dem  Wortlaute  nach  muss 
man  die  Sache  so  verstehen,  dass  die  absolut  apriorischen  Sätze  auch  ab- 
geleitete seien,  so  z.  B.  Jakob,  L.  u.  M.  §  527.  Die  relativ  apriorischen 
sind  eben  solche  Sätze,  die  aus  einem  allgemeinen  Erfahrungssatze 
syllogistisch  abgeleitet  sind,  wie  das  von  K.  aufgestellte  Beispiel  lehrt.  Nun 
brauchen  aber  die  absolut  apriorischen  Sätze  keineswegs  abgeleitet  zu  sein; 


200  Commentar  zur  Einleitung  6^  Abschn.  II. 

B  3.  [R  697.  H  34.  E  48.] 

sie  können  für  sich  unmittelbar  gewiss  sein  (z.  B.  der  Raum  hat  drei  Di- 
mensionen) ;  sie  können  aber  allerdings  auch  selbst  wieder  von  nothwendigen, 
absolut-apriorischen  Sätzen  abgeleitet  sein,  wie  etwa  diejenigen  mathematischen 
Sätze,  die  aus  den  Axiomen  gefolgert  werden  (vgl.  B.  14).  Der  Wortlaut 
berücksichtigt  nun  bloss  die  letztere,  untergeordnete  Art.  Der  Satz  ist  daher 
wohl  als  eine  kühne  locutio  compendiaria  aufzufassen  und  so  zu  umschreiben : 
ist  ein  mit  seiner  Nothwendigkeit  gedachter  Satz  überhaupt  ein  abgeleiteter 
(und  nicht  schon  an  und  für  sich  ein  schlechterdings  noth wendiger  Satz), 
so  ist  er  nur  dann  auch  ein  schlechterdings  nothwendiger  Satz,  wenn  er 
wieder  aus  einem  nothw.  (und  nicht  wie  die  relativ-apriorischen  Sätze  aus  einem 
empirischen)  Satze  abgeleitet  ist.  Diese  Ungenauigkeit  entstand  unter  dem 
Einfluss  des  ersten  Satzes,  der  unter  das  allgemeine  Merkmal  der  Nothwendigkeit 
auch  die  relativ-apriorischen  Sätze  fasst^  welche  alle  abgeleitet  sein  müssen. 
So  dachte  K.  im  folgenden  vorzugsweise  auch  an  die  abgeleiteten  unter  den 
schlechterdings  noth  wendigen  Sätzen,  die  demnach  hier  nochmals  (wie  oben 
in  gemischte  und  reine)  eingetheilt  werden  in 

1)  ursprüngliche*, 

2)  abgeleitete. 

*  Es  besteht  hier  eine  bemerkenswerthe  ungenauigkeit.  Wenn  K.  noch  einmal 
auf  die  relativ-apriorischen  Sätze  recurrirte,  so  musste  er  auch  hier,  entsprechend 
dem  folgenden  Unterschied  bei  der  Allgemeinheit^  hypothetische  und  abso- 
lute Nothwendigkeit  unterscheiden.  Offenbar  schwebte  ihm  so  etwas  vor,  aber 
es  kommt  im  Text  nicht  zum  Ausdruck.  Wäre  das  geschehen^  so  konnte  K.  nicht 
unten  mehrfach  als  Merkmale  des  strengen  Apriori  nur  „Nothwendigkeit  und 
strenge  Allgemeinheit**  angeben,  sondern  er  musste  auch  von  strenger  Noth- 
wendigkeit reden,  wie  er  das  in  der  1.  Aufl.  S.  2  (neben  der  wahren  Allgemein- 
heit) that.  Somit  gibt  in  diesem  speciellen  Punkte  die  2.  Aufl.  eine  erhebliche 
Verschlechterung.  (Auch  in  der  Erklärung  gegen  Nicolai  [vgl.  unten  206  f.] 
stellt  er  innere  Nothwendigkeit  und  absolute  Allgemeinheit  nebeneinander; 
der  Gegensatz  wäre  somit  äusssere  Nothwendigkeit.)  Die  Stelle  ist  somit  in 
mehrfacher  Hinsicht  unklar  und  ungenau,  wird  aber  trotzdem  häufig  citirt.  Sie 
gab  auch  zu  einer  Discussion  zwischen  den  Kritischen  Briefen  S.  10  und 
Born  a.  a.  O.  838  Anlass.  Beide  meinen,  K.  spreche  nur  vom  absoluten  Apriori. 
Der  Anonymus  weist  auf  hypothetisch  -  noth  wendige  Sätze  hin  und  meint,  man 
könne  somit  nicht  die  Nothwendigkeit  als  Kriterium  der  strengen  Aprioritat 
aufstellen ;  und  Born  macht  dann  den  Unterschied  hypothetischer  und  absoluter 
Nothwendigkeit,  welchen  K.  selbst  hier  hätte  machen  sollen,  glaubt  aber  auch, 
K.  spreche  hier  nur  von  der  Letzteren.  Aehnliche  Auslegung,  wie  im  Text,  doch 
nicht  ohne  Missverständnisse,  bei  S.  Laurie  a.  a.  0.  223.  Verbesserungsversuche 
machen  die  Uebersetzer  Born  (8),  Bami  (47)  und  bes.  Tissof  (84). 

*  Nach  Krit  S.  148  sind  die  sog.  Grundsätze  a  priori  unter  die  ursprüng- 
lichen zu  rechnen;  denn  sie  führen  ihren  Namen  besonders  desshalb,  „weil  sie 
selbst  nicht  in  höheren  und  allgemeineren  Kenntnissen  gegründet  sind**.  Wie  den 
Grundbegriffen  abgeleitete  gegenüberstehen  (vgl.  oben  S.  150),  so  auch  den 
Grundsätzen;  z.  B.  das  Gesetz  der  Continuität  ist  von  dem  der  Causalität 
abgeleitet  (Krit.  209). 


Comparative  und  strenge  Allgemeinheit  201 

[B  697.  H  34.  36.  K  48.]  B  3.  4. 

Schmidt-Phiseldek  in  seiner  Paraphrase  (3)  lässt  die  Bestimmung  der 
Ableitung  einfach  weg.  —  Dass  ürtheüe  a  priori,  d.  h.  die  aus  dem  Subject 
selbst  stammen,  nothwendig  sein  müssen,  begründet  Schultz,  Prüf.  I,  9: 
-Wie  könnte  das  Subject,  ohne  allwissend  zu  sein,  aus  sich  selbst  erkennen, 
dass  etwas  was  ganz  anders  beschaiffen  sein  kann,  gerade  so  beschaffen  sei"? 
Fries'  anthropolog.  Theorie  der  Nothw.  s.  Neue  Kritik  I,  299.  II,  16  ff.: 
Nothw.  ist,  was  in  einem  „Bewusstsein  überhaupt*  vorgestellt  wird. 
Ueber  diese  Kantische  Bestimmung  vgl.  die  Transsc.  Deduction.  Dass  auch  aus 
Erfahrung  absolute  Nothwend.  entspringen  könne,  suchte  Feder  zu  zeigen. 
(R.  u.  Gaus.  §  9  ff.)  Er  beruft  sich  auf  die  in  der  Empfindung  liegende 
Nothwendigkeit.  Vgl.  dag.  Schultz,  Prüf.  I,  11  ff.,  Nothw.  sei  ein  zu  der 
Empf.  hinzugesetztes  apriorisches  Prädicat,  subjective  Nothw.  führe  nicht 
zu  objectiver,  setze  leztere  vielmehr  voraus.  Im  Anschluss  an  Feder  sucht 
Tittel,  Kant.  Denkf.  67  sogar  die  Nothwendigkeit  des  Satzes  vom  Wid. 
empirisch  abzuleiten.  Vgl.  dag.  Schultz,  a.  a.  0.  20  ff.  22  ff.  Bei  Leibniz, 
dem  Vorgänger  Kants,  findet  sich  dieselbe  Eintheilung  in  viritia  de  faü, 
iTexphienee,  contingentes  und  in  vMtSs  de  raison,  nScessaires  et  Stemelles, 
Von  den  letzteren  heisst  es:  leur  vSritS  vietU  du  seul  entendement;  les  sens  ne 
peuvent  pcts  dhnontrer  la  vSritd  immanquahle  et  perpitueUe,  wie  Leibniz  am 
Beginn  der  Nouveaux  Essais  ausfuhrt. 

Erfahrung  gibt  niemals  strenge  Allgemeinheit.  Nachdem  als  erstes 
Merkmal  der  Erfahrungssätze  ihre  Zufälligkeit  betont  und  daraus  das 
entgegengesetzte  Merkmal  der  apriorischen  Sätze  abgeleitet  wurde,  wird  jetzt 
als  zweites  Merkmal  der  empirischen  Urtheile  der  Mangel  an  strenger 
Allgemeinheit,  die  Beschränktheit  (oder  die  bedingte  AUgem.  im 
G^ns.  zur  unbedingten)  hervorgehoben.  Dort  handelte  es  sich  um  ein 
qualitatives  Anders-sein-kÖnnen  (z.  B.  es  ist  nicht  nothwendig,  dass  die 
organischen  Wesen  vergänglich  sind ;  sie  könnten  auch  wie  die  unorganischen 
dauerhaft  sein);  hier  handelt  es  sich  um  quantitatives  Anders-sein-können, 
L.  B.  dass  alle  Menschen  sterblich  sind,  ist  zwar  eine  durch  Induction  fest- 
gestellte Wahrheit;  aber  dass  es  keine  Ausnahme  davon  geben  könne  oder 
geben  werde,  kann  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  behauptet  werden.  Wir 
haben  nur  eine  annähernde  Gewissheit,  dass  es  von  jener  allgemeinen  Er- 
fahrung keine  Ausnahme  gebe.  Logik  §  84:  Induction  gibt  wohl  generale, 
aber  nicht  universale  Sätze  (ib.  §  21).  Ein  Anderssein  in  einzelnen  Fällen 
oder  in  Zukunft  ist  an  sich  nicht  ausgeschlossen.  Somit  ist  die  durch  die 
Erfahrung  erreichbare  Allgemeinheit  keine  strenge,  keine  absolute,  nur 
comparative,  nur  relative.  „Empirische  Regeln  erhalten  durch  Induction 
keine  andere  als  compar.  Allgem.  d.  h. :  ausgebreitete  Brauchbarkeit." 
92.  —  Unter  den  Erfahrungsurtheilen  finden  sich  also  solche,  welche  die 
Merkmale  der  Vemunfturtheile  scheinbar  an  sich  tragen,  es  gibt  Sätze  unter 
der  Erfahrungserkenntniss,  welche  somit,  wegen  ihrer  äusseren  Aehnlichkeit 
mit  den  ürtheilen  aus  reiner  Vernunft,  leicht  zur  Verwechslung  Anlass  geben. 
Denn  es  gibt  1)  solche,  welche  eine  gewisse  Nothwendigkeit  einschliessen, 


202  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  II. 

B  3.  4.  [R  697.  H  34.  35.  E  48.] 

aber  diese  Noth wendigkeit  ist  nur  relativ,  es  sind  Sätze,  die  aus  allge- 
meinen Erfahrungsurtheilen  abgeleitet  sind,  und  eben  die  letzteren  sind  es 
2),  welche  eine  gewisse  Allgemeinheit  an  sich  tragen;  aber  diese  Allge- 
meinheit ist  nur  relativ ;  denn  sie  garantirt  die  Ausnahmslosigkeit  keinesw^ 
an  sich,  sondern  sie  beruht  auf  der  Vielheit  der  beobachteten  Fälle.  Bloss 
verglichene  Wahrnehmungen  fuhren  nicht  zur  „strengen  AUgem.*'  205.  In 
Wahrheit  beruhen  die  Ersteren  doch  in  letzter  Linie  nur  auf  zufälligen 
Thatsachen,  und  die  Letzteren  nur  auf  vielen  Beobachtungen,  die  eine 
absolute  Allgemeinheit  nicht  garantiren  und  die  letztere  ebensowenig  als 
die  Nothwendigkeit  beweisen.  Somit  fehlt  „die  wahre  Allgemeinheit  nnd 
die  strenge  Nothwendigkeit".  A  2.  Diese  strenge  Allgemeinheit  vermisste 
auch  schon  Leibniz  bei  den  empirischen  ürtheilen:  ea  ratiane  (inductume) 
nunquam  constüui  posaunt  propositionea  perfecte  universales,  quia 
inductione  nunquam  certus  es,  omnia  individua  a  te  tentata  esse;  u.  s.  w. 
Ed.  Erdm.  70  B.  Eine  Modification  und  Exemplification  findet  sich  bei 
Liebmann,  An.  d.  W.  S.  215:  Zu  den  Sätzen  a  priori  gehören  Sätze  wie 
2  X  2  =  4,  zu  den  empirischen  solche  wie  „alle  24  Stunden  wechseln  bei 
uns  Tag  und  Nacht".  Von  jenen  ist  eine  Ausnahme  nicht  einmal  denkbar, 
von  diesen  (sofern  sie  bloss  inductiv  aufgefunden,  also  noch  nicht  aus  allge- 
meinen Gesetzen  als  nothwendige  Folge  deducirt  sind)  sogar  realiter  möglich. 
Jene  sind  daher  offenbar  mit  der  eigenthümlichen  Natur  unserer  Intelligenz 
solidarisch  verknüpft,  so  dass  durch  ihre  Aufhebung  oder  Negation  zugleich 
die  Vernunft  aufgehoben  oder  annihilirt  würde,  diese  aber  insofern  keines- 
wegs, als  bei  ihrem  Hinwegfall  oder  ihrer  Vertauschung  mit  einem  ganz 
anderen  empirischen  Erkenntnissinhalt  das  Wesen  unserer  Intelligenz  keines- 
wegs alterirt  werden  würde.  Die  Probe  liegt  in  Folgendem.  Denke  man  sich 
eine  menschliche  Intelligenz  auf  einen  anderen  Weltkörper,  den  Jupiter  etwa, 
versetzt,  oder  mit  ganz  anderen  Sinnesenergien  ausgestattet,  so  würden  ihre 
Erkenntnisse  a  priori  mit  den  unsrigen  durchaus  identisch,  ihre  Erkenntnisse 
a  posteriori  von  den  unsrigen  völlig  verschieden,  eventuell  diesen  ganz  un- 
vergleichlich sein.  Auch  für  sie  wäre  2X2  =  4;  dagegen  der  Satz,  „alle 
24  Stunden  wechseln  bei  uns  Tag  und  Nacht",  wäre  für  sie  im  einen  Fall 
falsch,  im  anderen  vielleicht  ganz  unverständlich  und  sinnlos.  Dass  die 
vollständige  Induction  auch  strenge  Allgemeinheit  gebe,  führen  aus  üeber- 
weg  Logik,  §  128  und  Ritter,  Logik  u.  Met.  I,  134  f.  Besonders  in  der 
Mathematik  finde  sich  diese  Art  der  Induction.  Vgl.  Kirchner,  Hauptp.  33. 
Wird  also  ein  Urtheil  in  strenger  Allgemeinheit  gedaoht  u.  s.  w.  Da 
die  Erfahrung  niemals  strenge  Allgemeinheit  gibt,  so  weisen  solche  Sätze, 
die  doch  eine  strenge  Allgemeinheit  enthalten,  auf  einen  anderen  Ursprung 
hin,  als  auf  die  Erfahrung,  nämlich  auf  die  reine  Vernunft  ^     Wie  oben 


*  Daher  heisst  K.  diese  Allgemeinheit,  im  Gegensatz  zur  empirischen,  auch  die 
rationale,  „welche  als  a  priori  erkannt  eine  stricte  Allgemeinh.  ist".  Fortschr. 
K.  168.  R.  J,  566.    Vgl.  Riehl,  Krit.  I,  325.    S  ig  wart,  Logik  I,  299.  II,  454. 


Tafel  der  ürtheile.  203 

[B  697.  H  85.  E  48.]  B  4. 

das  (qualitative)  Nicht-anders-sein-können,  so  weist  hier  die  (quan- 
titative) Ausnabmslosigkeit  auf  den  apriorischen  Ursprung  hin.  Auch 
hier  sind  die  niathematischen  Beispiele  die  besten.  Dass  der  Baum  drei 
Dimensionen  habe,  ist,  wie  schon  bemerkt,  so  nothwendig,  dass  ein  Anders- 
sein-können  unvorstellbar  ist.  Wir  sprechen  den  Satz  mit  apodiktischer 
Gewissheit  aus.  Mit  derselben  Gewissheit  sprechen  wir,  da  der  Sata  schlechthin 
apriorisch  ist,  auch  aus,  dass  jeder  Baum  nur  drei  Dimensionen  haben 
kann.  Die  qualitative  Nothwendigkeit  schliesst  die  quantitative  Ausnahms- 
losigkeit  ein.  „Was  von  der  Erfahrung  entlehnt  ist,  hat  auch  nur  com- 
parative  Aligemeinheit.  Man  würde  also  nur  sagen  können,  so  viel  zur  Zeit 
noch  bemerkt  worden,  ist  kein  Baum  gefunden  worden,  der  mehr  als  drei 
Dimensionen. hätte.''  A.  24.  Wir  sind  aber  in  der  Lage,  jenen  Satz  von  den 
drei  Dimensionen  des  Baumes  mit  strengster  Allgemeinheit  auszusprechen. 
Also,  da  Erfahrung  niemals  strenge  Allgemeinheit  gibt,  stammt  jener  Satz 
jedenfalls  nichi  aus  Erfahrung,  ist  nicht  durch  Induction  entstanden,  die 
nur  comparative  Allgemeinheit  gibt.  Der  Satz:  Die  Winkel  des  ebenen 
Dr^ecks  sind  ==  2B,  ist  ausnahmslos  gültig,  nicht  nur  für  alle  beliebigen 
Arten  des  ebenen  Dreiecks,  sondern  auch  für  alle  in  der  Natur  sich  Vor- 
findenden. Das  Dreieck,  das  Erde,  Sonne,  Sirius  in  jedem  Moment  ihrer 
Bewegung  bilden,  hat  schlechterdings  immer  jene  Eigenschaft.  Das  können 
wir  mit  absoluter  Zuverlässigkeit  vorausbestimmen  ohne  jede  empirische 
Messung;  denn  eine  Ausnahme  von  jenem  an  sich  nothwendigen,  evidenten 
Satze  ist  unmöglich.  Strenge  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  sind  somit 
untrügliche  Hinweise  auf  apriorischen  Ursprung ;  und  das  was  aus  der  Natur 
des  Erkenntnissvermögens  selbst  fliesst  und  von  demselben  als  constante 
Function  in  Anwendung  gebracht  wird,  das  allein  kann  nothwendig  und 
allgemein  sein. 

Nach  dem  Bisherigen  erhalten  wir  folgende 

Eintheilnng  der  Ürtheile. 

ürtheile. 

Empirische  Apriorische  =  Reine 

(a  posteriori)  (abeolutes  Aprlorl)     (Bein  im  weiteren  Sinn) 

(absolute  Allgemeinheit  und  absolute 
Nothwendigkeit). 

Einzelne  Allgemeine  Reine  Gemischte 

(empiriBche  AUgemeinheit)   (Bein  im  engeren  Sinn) 

nnmittelbare   Abgeleitete  Unmittelbare   Abgeleitete 

(relatlTes  Aprlorl)  (Grundsätze) 

(hypothetische  Nothwendigkeit). 

Bei  den  empirischen  ürtheilen  wurden  zur  Ergänzung  des  Eintheilungs- 
systems  den  empirisch  -  allgemeinen  die  Einzelnen  zugefügt,  von  denen  sich 
dann  wieder  diejenigen  abtheilen,    welche  ihrerseits  aus   einem  empirisch- 


204  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  II. 

B  4.  [R  697.  H  35.  E  48.] 

allgemeinen  Urtheil  als  relativ-apriorische  abgeleitet  sind.  Dass  bei  den 
Apriorischen  auch  die  Eintheilung  in  Unmittelbare  und  Abgeleitete  im  Sinne 
Kants  ist,  folgt  aus  den  Ausfuhrungen  zu  dem  Anfang  dieser  Nummer. 
Von  dieser  Allgemeinheit,  dass  ein  Urtheil  unbedingt  für  alle  ein- 
zelnen Fälle  gilt,  ohne  jegliche  Ausnahme,  ist  eine  andere  Allgemeinheit  zu 
unterscheiden,  die  auch  häufig  (z.  B.  Prol.  §  39)  als  Allgemeingültigkeit 
bezeichnet  wird:  hier  gilt  das  Urtheil  für  alle  Menschen.  Niemand  kann 
sich  demselben  entziehen  und  eine  andere  Meinung  aufstellen.  Alle  denkenden 
Wesen  oder  wenigstens  alle  Menschen  müssen  ausnahmslos  ein  in  diesem 
Sinn  allgemeines  Urtheil  fUUen  und  anerkennen.  Die  erstere  Allgemeinheit 
kann  man  die  objective,  die  andere  die  subjective  nennen.  K.  wechselt 
oft  fast  ohne  Uebergang  zwischen  beiden,  so  in  der  Vorrede  zur  Kr.  d. 
pr.  Vern.  A  23  fF.,  wo  er  von  der  allgemeinen  Gültigkeit  für  alle  Fälle  zur 
allgemeinen  Einstimmung  übergeht.  [Besonders  in  späteren  Schriften,  so  Kr. 
d.  pr.  V.  35.  37,  liebt  es  K.,  „allgemeingültig"  mit  „objectiv*  *  zusammen- 
zustellen. Was  allgemeingültig  ist,  ist  darum  auch  objectiv  (nicht  bloss  für 
ein  einzelnes  Subject  geltend)  und  umgekehrt.  Diese  objectivistische  Tendenz 
ist  beachtenswerth  gegenüber  dem  oft  schroff  betonten  Subjectivismus  der 
Kritik.  Schon  in  den  Prol.  z.  B.  §  19  ist  diese  Zusammenstellung  beliebt.  Allgem. 
Erk.  ist  objectiv,  weil  sie  aus  Gründen  angenommen  wird  und  diese  auf 
ein  Object  weisen.  Nach  Kr.  d.  pr.  V.  68  ist  objectiv  und  rational 
identisch.  Das  Allgemeingültige  ist  daher  nach  Kr.  d.  Urth.  §  22  objectiv 
nothwendig,  ib.  Einl.  VIIL]  Nur  die  subj.  Allg.  hat  im  Auge  Snell,  Menon 
25  und  besonders  Bendavid  Vorl.  5.  Auch  Jacobson,  Auff.  des  Apriori 
5  ff.,  spricht  nur  von  der  „ Allgem eingültigkeit"  in  dem  Sinn,  „dass  die  be- 
treffende Vorstellung  [es  handelt  sich  aber  vor  allem  hier  um  Sätze!]  bei 
allen  Menschen  und  auch  bei  mir  zu  jeder  Zeit  ganz  in  derselben  Weise  zu 
finden  sei".  Nur  die  object.  Allgemeinheit  behandelt  Schultz,  Prüf.  I,  27, 
sowie  Eiehl,  Krit.  I,  325.  Göring,  System  II,  135.  137.  Dag.  ders.  Viert, 
f.  wiss.  Phil.  I,  417  nur  die  subj.  {quod  semper,  quod  tibique,  quod  ab  Omni- 
bus creditum  est).  Dag.  Maimon,  Krit.  Unters.  168  (vgl.  bes.  174)  unter- 
scheidet allg.  in  Bezug  aufs  Object  und  aufs  Subject;  dort  unter  allen 
zuMligen  Umständen  des  Objects,  hier  unter  denen  des  Subjects  und  folglich 
auch  für  alle  Subjecte  gültig.  Beides  findet  sich  auch  bei  Meyer  Ks. 
Psych.  15  und  bei  Mahaffy,  Comment.  Intr.  XXII.  gegen  Cousin  und 
Stirling,  (Secr,  of  Hegel  224  nur  subj.),  und  M'Cosh,  Int.  of  the  Mind 
p.  52  not.  Die  subjective  Allgemeinheit,  welche  den  Anspruch  auf 
Gültigkeit  für  Jedermann  involvirt,  wird  der  Natur  der  Sache  nach  besonders 
in  der  Kritik  der  ästhetischen  Urtheilskraft  behandelt,  §  6  und  §  8.     Doch 


'  Natürlich  ist  diese  Objectivität,  welche  der  subjeetiven  Allgemeinheit  cor- 
respondirt,  nicht  mit  der  vorhin  von  der  letzteren  abgeschiedenen  objectiven  All- 
gemeinheit zu  confundiren.  —  Zum  ersteren  Punkte  vgl.  Laas,  Ks.  Anal.  d.  Erf. 
54  ff.  92.  176  ff.  188.    Spicker,  Kant  157.    Falsch  bei  Riehl,  Krit.  298. 


Subjective  und  objective  Allgemeinheit.  205 

[B  697.  H  35.  E  48.]  B  4. 

wird  daselbst  auch  dem  logischen  TJrtheil  dieselbe  Allgemeinheit  zuertheilt, 
die  K.  „Allgemeingültigkeit''  nennt.  (Diese  kommt  jedoch  nur  den 
ürtheilen  über  das  Schöne,  nicht  denen  über  das  Angenehme  zu.)  „Ein 
öbjectiv  allgemeingültiges  Urtheil  ist  es  auch  jederzeit  subjectiv,  d.  h. 
wenn  das  ürtheil  für  Alles,  was  unter  einem  gegebenen  Begriffe  enthalten 
ist,  gilt,  so  gilt  es  auch  für  Jedermann,  der  sich  einen  Gegenstand  durch 
diesen  Begriff  vorstellt."  Dort  handelt  es  sich  ,um  die  (logische)  ganze 
Sphäre  des  Begriffs,  hier  um  die  ganze  Sphäre  der  ürtheilenden". 
Jenes  ist  die  logische,  dies  die  ästhetische  Allgemeinheit.  Ib.  §  31. 
Dieselbe  (subjective)  Allgemeinheit  findet  bei  den  moralischen  ürtheilen 
statt,  welche  für  Jedermann  ohne  Ausnahme  gelten.  —  Pistorius 
A.D.  B.  105  I,  62 — 56  fragt,  woher  Kant  von  der  Allgemeinheit  der  aprio- 
rischen Begriffe  wisse?  Das  sei  nur  nach  dem  Schluss  der  Analogie 
möglich;  also  sei  die  Annahme  jener  Allgemeinheit  eigentlich  empirisch. 
Dieser  Einwand  bezieht  sich  natürlich  nur  auf  die  subjective  Allgemeinheit. 
Dagegen  bemerkt  Seile,  Berl.  Mon.  1784.  IV,  570:  Erfahrung  kann  allerdings 
einen  Satz  nie  allgemein  und  noth wendig  machen,  aber  sie  kann  uns  einen 
allgemeinen  und  nothwendigen  Satz  kennen  lehren.  So  lehre  besonders  die 
innere  Erfahrung  die  Allgem.  und  Nothw.  der  Denkgesetze.  —  Nach  der 
Analytik  hat  auch  die  Erfahrung  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit ;  s.  bes. 
Prol.  §  22  Anm.  Dass  und  inwiefern  hierin  ein  einfacher  Widerspruch 
liegt,  ist  erst  in  der  Analytik  zu  erörtern.  Biehl,  Krit.  I,  326  findet 
natürlich  einen  solchen  Widerspruch  nicht.  Was  er  auf  Grund  davon  gegen 
Ueberwegs  Einwand,  auch  Erf.  gebe  Allgemeinheit  (Gesch.  III,  204)  sagt, 
ist  daher  hinfällig.  Vgl.  Spicker,  Kant  63.  122.  126.  Es  fällt  dies  zusammen 
mit  der  oben  und  später  besprochenen  nothwendigen  Ergänzung  der  Einl. 
durch  die  Frage  nach  der  Mögl.  d.  Erfahrung  (im  prägn.  Sinn). 

Alle  Körper  sind  schwer.  Cohen  macht  Th.  d.  Erf.  191  darauf  auf- 
merksam, dass  K.  in  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  Dyn.  Lehrs.  8,  Zus.  2  (Ros. 
V,  372)  erklärt:  „Die  urspr.  Elasticität und  die  Schwere  machen  die  einzigen 
a  priori  einzusehenden  allgemeinen  Charaktere  der  Materie  .  .  .  aus;  denn 
auf  den  Gründen  beider  beruht  die  Möglichkeit  der  Materie  selbst.*  Den 
damit  gegebenen  Widerspruch  sucht  C.  doppelt  zu  lösen:  einmal  habe  K. 
das  Kecht  gehabt,  dem  Satze  nur  eine  comparative  Allgemeinheit  zuzuer- 
kennen, sofern  er  darin  Recht  hat,  dass  derselbe  noch  nicht  a  priori  bewiesen 
war(!)  Und  sodann  erkläre  Kant  nicht  etwa  den  Satz  von  der  Schwere  der 
M.  hier  für  einen  a  posteriori  gültigen  (?).  (Nach  Cohen  S.  202  ist  er  aber  hier 
empirisch.)  Zwei  herrliche  Entschuldigungsgründe,  schade  dass  der  erste 
lahm  und  der  zweite  blind  ist.  —  Vgl.  Spicker,  Kant  S.  197. 

Ein  besonderer  Erkenntnlssquell.  Hiegegen  erklären  sich  mit  grosser 
Energie  die  , Kritischen  Briefe"  S.  12,  welche  nur  den  logisch  reflectirenden 
Verstand  anerkennen,  keine  besondere  Quelle,  welche  für  angeblich  apriorische 
Wahrheiten  fliessen  soll.  Born  a.  a.  0.  346 — 354  sucht,  unter  Abweisung 
der  angeborenen  Ideen,   der  Vernunft  eine  immanente  Thätigkeit   zu   vin- 


206  Commentar  zur  Einleitung  B^  AbBchn.  II. 

B  4.  [R  697.  H  85.  K  48.] 

diciren,  vermöge  der  sie,  ohne  derartige  Sätze  „aus  fremder  Hand*'  annehmen 
zu  müssen,  aus  selbsteigener  Vollmacht  streng  allgemeine  und  absolut  noth- 
wendige  Sätze  ausbildet.  Besonders  heftig  wendet  sich  der  Jesuit  T.  Pescb. 
Die  moderne  Wissenschaft  betrachtet  in  ihrer  Grundfeste  [d.  h.  Kant]  Preib. 
1876  (=  1.  Erg.  Heft  zu  den  Stimmen  aus  Maria-Laach)  S.  25  gegen  diesen 
Ausdruck,  den  „wir  uns  entschieden  verbitten  müssen*.  Denn  er  importire 
einen  Kantischen  Fundamentalirrthum ;  die  eigentliche  „Quelle*'  für  die  ersten 
allgemeinen  Urtheile  sei  durchaus  nicht  der  menschliche  Verstand,  sondern 
die  gObjectiven  Begriffe*  (d.  h.  im  aristotelisch-scholastischen  Sinne). 

Koth wendigkeit  und  strenge  AUgemeinlieit  sind  Kennzeiehen  u.  s.  w. 
Die  Zusammenstellung  dieser  beiden  Merkmale^  findet  sich  zahllos  bei  K. 
z.  B.  S.  823.  „In  ürtheilen  aus  reiner  Vernunft  ist  es  gar  nicht  erlaubt  zu 
meinen.  Denn  weil  sie  nicht  auf  Erfahrungsgründe  gestützt  werden,  sondern 
alles  a  priori  erkannt  werden  soll,  wo  alles  noth wendig  ist,  so  erfordert 
das  Princip  der  Verknüpfung  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit, 
mithin  völlige  Gewissheit.*  „Empirische  Begriffe  .  .  .  können  keinen  .  .  . 
Satz  geben,  als  nur  einen  solchen,  der  auch  nur  empirisch  ist,  mithin  niemals 
Nothwendigkeit  und  absolute  Allgemeinheit  enthalten  kann,  dergleichen 
doch  das  Charakteristische  aller  Sätze  der  Geometrie  ist."  S.  47.  „Grössere 
AI  lg.,  als  die  Erfahrung  verschaffen  kann;  mit  dem  Ausdruck  der  Nothw., 
mithin  gänzlich  a  priori,*  9.  718.  Schon  in  derDissert.  von  1770  §  15  D. 
stehen  necessitas  und  universalitcts  nebeneinander.  Eine  peremptorische  Erklä- 
rung gibt  K.  noch  1 798  gegen  Nicolai  ab  (Über  die  Buchmacherei  11  fin.).  „Was 
aber  die  völlige  Unwissenheit  und  ünftlhigkeit  dieser  .  .  .  Philosophen,  über 
Vemunfturtheile  abzusprechen,  klar  beweist,  ist  dass  sie  nicht  zu  begreifen 
scheinen,  was  Erkenntniss  a  priori  (von  ihnen  sinnreich:  das  Vonvorner- 
kenntniss  genannt)  zum  Unterschied  vom  empirischen  eigentlich  sagen  wolle. 
Die  Kritik  d.  r.  V.  hat  es  ihnen  zwar  oft  und  deutlich  genug  gesagt:  dass 
es  Sätze  sind,   die  mit  dem  Bevmsstsein  ihrer  inneren  Nothwendigkeit 


'  Diese  beiden  Merkmale  des  Apriori  auch  bei  Baumgarte n^  Logiea  §  474  ff- 
(de  cognitione  perraiionem\  wie  überhaupt  bei  allen  Wolfianern;  denn  bei  Leibnii 
wurden  beide  unzähligemal  angeführt,  so  z.  B.  in  dem  Ävant-Propos  der  ^<wr.  Ess, 
Vgl.  die  Nachweise  und  Ausführungen  bei  Kantiengiesser,  Dogm.  u.  Skept 
14  ff.  In  ähnlicher  Weise  wie  K.  behandelt  auch  T  e  t  e  n  s ,  Versuch  426  ff.  450  ff. 
die  Allgem.  u.  Nothw.  als  Kriterien  der  Vemunfterkenntniss ;  auch  er  rieht  die 
Mathem.  als  Beweis  herbei.  Dieselben  beiden  Merkmale  der  apriorischen  Erkennt- 
niss finden  sich  schon  in  Piatons  Theätet  und  in  Aristoteles'  Metaphysik, 
von  wo  aus  wie  aus  fruchtbarer  Quelle  der  ganze  Strom  des  Dogmatismus  sich 
durch  die  Jahrhunderte  ergoss.  Schon  dort  ist  es  Ueberzeugung,  dass  es  nicht 
die  Erfahrung  ist,  welche  Sicherheit  und  Allgemeinheit  gibt,  sondern  die  VemuniV 
die  Quelle  eigener  Gesetze  und  Begriffe.  Man  muss,  um  das  Bild  des  „Theätet* 
zu  gebrauchen,  nur  die  Tauben  im  eigenen  Taubenschlag  ergreifen,  man  braucht 
nicht  nach  aussen  Jagd  zu  machen.  So  werden  Vernunft  und  Erfahrang 
schon  hier  in  schroffen  Gegensatz  gebracht. 


Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit»  die  Kriterien  des  Apriori.  207 

[R  697.  H  85.  E  48.]  B  4. 

und  absoluten  Allgemeinheit  (apodiktische)  ausgesprochen,  mithin  nicht 
wiederum  als  von  der  Erfahrung  abhängig  anerkannt  werden,  die  also  an 
sich  nicht  so  oder  auch  anders  sein  können;  weil  sonst  die  Eintheilung 
der  Urtheile  nach  jenem  possirlichen  Beispiel  ausfallen  würde : 

„Brann  waren  Pharaons  Kühe;  doch  auch  von  anderen  Farben." 

Bei  Meli  in  I,  11  findet  sich  zu  dieser  Stelle  noch  eine  Ausführung, 
die  bei  K.  in  dieser  Form  fehlt.  Mellin  nimmt  noch  ein  weiteres,  negatives 
Merkmal  der  apriorischen  Erkenntnisse  an:  Den  umstand,  dass  sich  von 
solchen  keine  ihnen  correspondirenden  Impressionen  angeben  lassen. 
Dem  Gedanken: 

2X2  muss  immer  4  sein; 

2X2  kann  keine  Million  sein; 
können  keine  Immpressionen  correspondiren.  Allgemeinheit  und  Nothwen- 
digkeit sind  Vorstellungen,  die  nicht  durch  Impressionen  in  uns  herein- 
kommen können.  Dies  betont  ganz  besonders  auch  Jakob,  L.  u.  M, 
§  518  ff.,  welcher  (vgl.  §  531)  dies  neben  Kants  Kennzeichen  des  Apriori  als 
Drittes  anfuhrt.  Schmid,  Wort.  9  ff.  nimmt  4  Merkmale  an;  ausser  der 
Nothw.  und  Allgem.  noch  3)  den  Umstand,  dass  eine  Vorstellung  sich  nicht 
unmittelbar  empfinden  und  wahrnehmen  lässt;  4)  den  Umstand,  dass 
eine  Vorstellung  eine  Voraussetzung  für  die  Möglichkeit  der  Er- 
fahrung selbst  ist.  Mellin  (ib.  I,  12)  gedenkt  endlich  noch  eines  weiteren 
Kriteriums,  das  bei  Kant  sonst  sich  häufig  findet:  Die  zeitliche  Vorher- 
bestimmung. „Ohne  allwissend  zu  sein,  könnte  das  Subject  unmöglich  vor- 
herbestimmen, dass  eine  bestimmte  Erfahrung  eine  bestimmte  Beschaffenheit 
haben  werde,  deren  Gegentheil  unmöglich  sei,  und  welche  immer  statt- 
finden müsse,  dass  z.  B.  der  Inhalt  einer  jeden  Pyramide  immer  heraus- 
kommen müsse,  wenn  man  ihre  Grundflache  mit  dem  dritten  Theil  ihrer 
Höhe  multiplizirt.*  Es  gehört  diese  Bestimmung  jedoch  zum  Kriterium  der 
Allgemeinheit.  Reuss,  Anal,  Sens,  §.  23  fügt  als  drittes  Merkmal  die 
„vacuUas  ah  omni  sensibüi^  an;  die  „Unabhängigkeit  von  der  Erfahrung"  ist 
aber  kein  den  beiden  genannten  Kriterien  coordinirtes  Merkmal,  sondern 
diese  selbst  sind  eben  Zeichen  der  Unabhängigkeit  der  betreffenden  Er- 
kenntnisse von  der  Erfahrung  d.  h.  positiv  ausgedrückt  der  Apriorität. 
Nach  F.  J.  Z  i  m  m  e  r  m  a  n n ,  R.  u.  Z.  §  2  genügt  das  Eine  Merkmal  der  Nothw., 
weil  diese  die  Allgem.  schon  in  sich  begreift,  und  K.  stellt  dies  selbst  häufig  * 
so  dar,  z.  B.  Prol.  §  19.  20.  21.  Da  nothwendig  =  objectiv-gültig 
ist,  so  muss  das  Nothwendige  auch  allgemein  sein  in  der  doppelten  Bedeutung 


*  Nach  Göring,  System  IT,  103  trat  beim  alten  Dogmatismus  die  AUg. 
hinter  die  Nothw.  durchaus  zurück.  Hamilton,  Lect,  II,  352  reducirt  Allgem. 
auf  Nothw.  Mi  11  kehrt  den  Process  bekanntlich  um.  (Exam,  of  Hamiltons 
I^kilos.  264.>,—  Konstanz  fugt  als  ein  Merkmal  des  Apriori  hinzu  Witte,  Zur 
Erk.  20  f.  47  ff.  (Vgl.  zur  Aesth.  S.  20).   Vgl.  dag.  Prihonsky,  Antikant  26-33. 


208  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  11. 

B  4.  [R  697.  H  35.  E  48.] 

dieses  Terminus.  Nach  Biehl,  Krit.  I,  325  ist  das  eigentliche  Kriterium 
die  Allgemeinheit,  weil  sie  objectiv  sei,  während  die  Nothw.  als  snbjectiv 
erst  aus  jenerfolge.  Nach  Hodgson,  Time  a,  Space  sinä  Allg,  und  Nothw. 
die  obj.  und  subj.  Seite  derselben  Sache.  Bendavid  (N.  Berl.  Mon.  1800. 
rV.,  389)  bemerkt,  dass  beide  Kennzeichen  gleich  viel  aussagen,  dass  aber 
ihre  Anwendung  im  Einzelnen  verschieden  sei.  „In  positiven,  d.  h.  solchen 
Sätzen,  durch  die  ich  die  Objectivität  meiner  Behauptung  erhärten  will, 
wird  es  unmöglich,  die  Stimmen  aller  Menschen  zu  sammeln  und  zu  er- 
fahren, ob  sie  mir  beipflichten,  und  ob  daher  mein  Satz  allgemein  gültig  ist. 
Ich  muss  also  dessen  Noth wendigkeit  beweisen.  Hingegen  in  negativen 
oder  solchen  Sätzen,  durch  die  ich  zeigen  will,  dass  irgend  eine  Behauptimg 
bloss  subjective  Gültigkeit  bezitze  (d.  h.  falsch  sei),  würde  es  mir  unmöglich 
fallen,  die  Nichtnothwendigkeit  des  Satzes  anders  als  dadurch  zu  beweisen, 
dass  ich  zeige,  er  sei  nicht  allgejnein  gültig.  Bei  der  Bejahung  des  Satzes, 
dass  alle  Winkel  in  einem  Dreieck  180  Grade  betragen,  müssen  wir  uns 
des  Kennzeichens  der  Nothwendigkeit  bedienen.  Hingegen  bei  der  Verneinung 
des  Satzes,  dass  Zucker  eine  angenehme  Empfindung  nothwendig  errege, 
des  Kennzeichens  von  Nichtallgemeingültigkeit."  Schultz,  Prüf.  I,  27  und 
Rehberg,  Met.  u.  Bei.  123  ziehen  die  Nothwendigkeit  als  wichtigeres 
Merkmal  vor,  denn  dass  die  Allgemeinheit  eines  Satzes  eine  absolut«, 
strenge  sei,  hievon  könne  uns  bloss  die  Nothwendigkeit  des  Satzes  versichern. 
Cohen  entwickelt  (10.  93.  206  vgl.  Riehl,  Krit.  325)  die  Ansicht,  Allgem.  und 
Nothw.  seien  gar  nicht  von  K.  als  die  Kriterien  des  Apriori  aufgestellt;  sie 
seien  nur  „äussere  Werthzeichen,  nicht  innere  Kriterien",  ^nur  eine 
Werthangabe,  kein  Massstab",  nicht  eine  Bestimmung,  nur  eine  Be- 
schreibung. Es  liegt  hier  (wie  auch  schon  Witte,  Beitr.  19  bemerkt) 
der  Widerspruch  mit  Kant,  resp.  die  willkürliche  Auslegung  desselben  anf 
der  Hand.  Es  soll  nach  S.  93  die  Allg.  und  Nothw.  kein  Erkennungsmerkmal 
des  Apriori  sein!  Und  K.  wendet  jene  Merkmale  zu  diesem  Zwecke  selbst 
hier  an !  —  Gegen  diese  beiden  Merkmale  des  Apriori  erhob  sich  mannigfacher 
Widerspruch.  Vom  skeptischen  Standpunkt  aus  trat  Aenesidem  dagegen 
auf.  Abi  cht  machte  in  seinem  „Hermias*  und  bes.  in  der  Preisschr.  über 
d.  Fortschr.  d.  Met.  323  ff.  Einwände,  nahm  jedoch  das  Apriori  selbst  an, 
wollte  jedoch  andere  Merkmale,  nämlich  ünempfindbarkeit  und  Unbestimmt- 
heit der  Quantität  und  Qualität  nach  (ib.  326).  Der  Kantianer  Jacobson, 
Auff.  des  Apr.  8,  18  bestreitet,  dass  Allg.  u.  Nothw.  schon  genügen,  um  die 
*  Aprioiität  zu  garantiren.  Dass  die  Nothw.  kein  ausschliessendes  Merkmal 
für  die  Apriorität  sei,  wollen  die  Krit.  Briefe  10  damit  beweisen,  dass  die 
relativ-apriorischen  Sätze,  welche  doch  auch  Nothw.  bei  sich  führen,  in  letzter 
Linie  doch  von  Erfahrung  abstammen.  Auch  die  Allgem.  sei  kein  aus- 
schliessendes Merkmal  (ib.  11),  denn  von  einem  beschränkten  Erfahrungs- 
gebiete lasse  sich  ein  allgemeiner  Satz  bilden:  z.  B.  alle  Mitglieder  dieser 
Gesellschaft  sind  Gelehrte,  was  sowohl  durch  Induction  als  durch  Kenntniss 
der  Statuten    erkannt  werden  könne.     Ausserdem   gebe  es  mathem.  Sätze, 


Aligemeinheit  und  Noth wendigkeit,  die  Kriterien  des  Apriori.  200 

[R  697.  H  35.  E  48.]  B  4. 

welche  im  Sinne  Kants  a  priori  und  doch  nicht  allgemein  seien,  z.  B.  Einige 
Vierecke  sind  Parallelogramme  \  Eine  lesenswerthe  Erörterung  über  Nothw. 
n.  AUg.  s.  in  ßeinholds  Beitr.  zu  Bericht.  I,  32—52.  68—71.  109  ff.  Er 
identificirt  das  Nothw.  u.  AUg.  mit  „dem  im  Vorstellungs  vermögen  Bestimmten," 
d.  h.  mit  dem,  was  in  dem  Vorst.  als  solchem  und  seinen  Functionsbe- 
dingungen  liegt,  d.  h.  mit  dem  Apriorischen.  Reinh.  gebraucht  jedoch  das 
Letztere  als  Merkmal  für  das  Erstere,  also  umgekehrt  als  Kant.  Vgl.  hierüber 
bes.  a.  a.  0.  I,  278  f.  u.  11,  51  ff.  über  den  Unterschied  logischer,  hypo- 
thetischer und  transscendentaler  Nothw.  Id.  Fund,  der  phil.  Wiss. 
21  f.  (Tadel  Locke's  wegen  Vernachlässigung  dieser  beiden  Begriffe.)  Vgl. 
Grohmanu,  Dem  And.  Kants  15  ff.  über  die  verschiedene  Fassung  dieser 
Begriffe  bei  Empiristen,  Dogmatisten  und  Kriticisten.  Maimon,  Krit.  Unters. 
168  ff.  (gut  über  ,objective  Nothw.**  u.  172  ff.  über  AUg.  „als  Folge  der 
Einsicht  in  den  Grund").  Eine  theil weise  polemische  Erörterung  der  Nothw. 
u.  AI  Ige  m.  siehe  bei  Witte,  Beitr.  36—40.  Das  Apriori  sei  allerdings  un- 
abhängig von  der  inductiven  Erfahrung,  aber  nicht  von  der  nicht  inductiven 
Erfahrung  durch  Selbstbesinnung.  Daher  will  W.  auch  statt  „von  aller  Erf. 
miabhängig*'  setzen:  „aus  keiner  Erf.  stammend".  Ueber  AI  lg.,  welche  auf 
den  Raum,  das  Überall,  und  Nothw.,  welche  auf  die  Zeit,  das  Immer,  sich 
bezieht,  s.  dess.  »Zur  Erk.  u.  Eth."  S.  4 — 7. 18.  Eine  „genaue  Untersuchung  der 
Begriffe  Nothw.  u.  AUg.  und  Feststellung  ihrer  wissensch.  Bedeutung"  s. 
bei  Göring,  System  des  Krit.  I,  253—266  (Unterscheidung  subjectiver  und 
objectiver  Nothw.  u.  AUg.).  Ders.  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  386  ff.  525  ff. 
n,  106  ff.  Femer  Windelband,  Gewissheit  der  Erk.  31  ff.  60  ff.  Über 
die  Frage,  ob  K.  den  rechten  Grund  für  die  AUg.  u.  Nothw.  der  Erk.  an- 
gegeben habe,  handelt  E.  H.  Th.  Stenhammar,  akad.  afhandling.  Upsala 
1866.  Über  die  Frage,  ob  Noth  wendigkeit  ein  Zeichen  der  Apriori  tat  und 
nicht  auch  empirisch  erreichbar  sei,  s.  das  besondere  Supplement,  wo 
besonders  Mills  Einwände  gegen  Kant  zu  besprechen  sind.  Nothw.  und 
AUgem.  sind  auch  die  Merkmale  für  das  ethische  und  ästhetische 
A prior L  Ueber  das  Erstere  vgl.  z.  B.  Kant  an  Nicolai,  I.  Th. :  Der  Eudämo- 
nismuÄ  bringe  keine  AUg.  u.  Nothw.  des  sittl.  Handelns  zuweg,  nur  das 
eleu thero nomische  Princip.  Vgl.  ferner  Spicker,  Kant  16.  144,  177. 
ülrici,  Grundpr.  I,  302.  Tombo,  Ks.  Erk.  4.  9.  Caspari,  Grundpr. 
II,  121.  Glogau  in  Fichte's  Zeitschr.  73,  229.  237.  Cantoni,  Kant  171  ff. 
Caird,  Fhü.  of  Kant  220. 

Weil  es  aber  im  Gebrauche  bisweilen  u.  s.  w.  Dieser  Satz  enthält 
offenbar  einen  Druckfehler.  Denn  beidemal  ist  die  Allgemeinheit  bevor- 
zugt als  Merkmal.  K.  wollte  offenbar,  sagen ,  dass  es  bald  leichter  sei,  die 
Zufälligkeit  in  den  Urtheilen,  als  die  empirische  Beschränktheit  der- 
selben, oder  manchmal  einleuchtender  sei,  die  Allgemeinheit  als  die 
Nothwendigkeit  eines  Urtheils  zu   zeigen.     Dann  wird  das  erstemal  die 


^  Yg\.  dagegen  Born  a.  a.  0.  343  ff 

VftihiDger,  Kant-Gommentar.  \j^ 


210  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  IL 

B  4.  [B  697.  698.  H  35.  E  48.] 

Nothwendigkeit  (resp.  Zufälligkeit),  das  anderemal  die  Allgemeinheit 
(resp.  Beschränktheit)  herausgehoben.  Der  Wortlaut  aber  enthält  eine  son- 
derbare Tautologie,  während  unsere  Stellung  nicht  nur  sachlich  richtig  ist, 
sondern  auch  eine  elegante  chiastische  Wendung  Kants  zur  Geltung  bringt 
Dass  hier  ein  blosser  Druckfehler  vorliege,  dafür  ist  im  Text  selbst 
(ausser  dem  bisherigen  logischen  Beweis)  noch  ein  grammatisches  Merk- 
mal :  „Die  emp.  Beschränktheit  derselben";  „  derselben  *  ist  ohne  Beziehung  ru 
etwas  Vorhergehendem  *,  während  unsere  Anordnung  die  natürliche  Beziehung 
(auf  „Urtheilen")  wiederherstellt.  —  Das  Merkmal  der  Nothwendigkeit 
wendet  K.  unzähligemal  an,  z.  B.  B  14,  „mathem.  Sätze  sind  jederzeit  Sätze 
a priori,  weil  sie  Nothwendigkeit  bei  sich  führen,  welche  aus  Erfahrung 
nicht  abgenommen  werden  kann".  „An  beiden  (Sätzen  der  reinen  Natur- 
wissenschaft) ist  die  Nothwendigkeit,  mithin  ihr  Ursprung  a  priori 
klar."  B.  17.  „Nothw.  ist  jederzeit  das  Zeichen  eines  Princips  a  priori,' 
Prol.  §  48.  Anm. 

Ist  leicht  zu  zeigen.  Montgomery,  Es.  Erk.  200:  „Der  Kriticismus 
obgleich  unzweifelhaft  eine  der  grössten  Leistungen  des  menschl.  Intellects, 
hat  sich  doch  die  zu  lösende  Frage,  seiner  vorgefassten  Meinung  gemSss 
kinderleicht  eingerichtet."  Auch  Sig wart,  Gesch.  HI,  39  meint,  K.  sei 
über  die  Frage,  ob  es  Erkenntnisse  a  priori  gebe,  „etwas  leicht  hingegangen'. 
Schon  Werner  a.  a.  0.  70  meint,  dass  dieses  „nicht  leicht,  sondern  un- 
möglich sei". 

Alle  Sätze  der  Mathematik.  „Die  Mathematik  gibt  das  glänzendste 
Beispiel  einer  sich,  ohne  Beihülfe  der  Erfahrung,  von  selbst  erwei- 
ternden reinen  Vernunft."  712.  Diese  fundamentale  Bestimmung  kehrt  zahllos 
oft  wieder.  Es  ist  hier  im  Anschluss  an  eine  B  14  folgende  Bemerkung  zu 
scheiden  zwischen  solchen  Sätzen,  welche  ihrerseits  erst  abgeleitet  sind,  and 
solchen,  welche  Grundsätze  sind.  Auch  diese  und  diese  insbesondere  sind 
apriorisch  und  die  von  ihnen  abgeleiteten  sind  doppelt  apriorisch,  einmal 
indem  sie  überhaupt  abgeleitet  sind  (a  priori  im  relativen  Sinn),  sodann 
weil  die,  von  denen  sie  abgeleitet  sind,  im  strengsten  Sinne  apriorisch  sind. 
Die  Mathem.  hält  sich  fem  von  allem  Empirischen,  „denn  das  mindeste 
Emp.  als  Bedingung  in  einer  mathem.  Demonstration  würde  deren  Würde 
und  Nachdruck  herabsetzen  und  vernichten".  Kr.  d.  pr.  V.  45;  ib.  167:  Diese 
mathem.  Evidenz  steht  nach  Piatons  Urtheil  an  Vortrefflichkeit  noch  über 
ihrem  Nutzen.  Dass  Mathematik,  sowohl  Geometrie  als  Arithmetik, 
Erkenntnisse  a  priori  seien,  haben  zuerst  Piaton  und  Pythagoras  ein- 
gesehen (s.  „Vornehmer  Ton".  Anf.)  Hamann  leitet  die  Apodikticitfit  der 
Mathematik  aus  ihrer  Sinnlichkeit  her  (Metakritik  bei  Rink,  Manch.  125); 
auch  „versteht  es  sich  am  Bande,  dass,  wenn  die  Mathem.  sich  einen  Vorzug 
des  Adels  wegen  ihrer  allgem.  u.  nothw.  Zuverlässigkeit  anmassen  kann, 
auch  die   menschl.  Vernunft  selbst   dem  unfehlbaren  und  untrüglichen  In- 


^  Das  merkte  Tissot  und  übersetzt  daher  S.  35  „d*une  cannai98anc€*^. 


Beispiele  des  Apriori:  Mathematik^  Causalitätsgesetz.  211 

[B  698.  H  85.  K  48.  49.]  B  4.  5. 

stincte  der  Insekten  nachstehen  müsste".  Für  die  rein  empirische  Ent- 
stehung der  Mathem.  steht  ein  Heynig,  Herausf.  113  ff.  ,Die  Mathem. 
gleicht  —  einem  grossen,  abstracten  Denker,  der  sich  ganze  Uebersichten  und 
Idealvorstellungen  von  der  Welt  durch  abstractive  und  subtile  Speculationen 
gebildet  hat,  und  nun  stolz  darauf,  und  den  grossen  Abstand  betrachtend, 
der  zwischen  ihm  als  scientifischen  Denkmeister  und  anderen  empirischen 
and  rhapsodistischen  Gemeinleuten  sich  vorfindet,  nicht  mehr  glauben  und 
wissen  will,  dass  er  so  empirisch  niedrig,  so  sinnlich,  so  concretplump,  so  geistig- 
arm anfieng,  als  der  letzte  aller  Nachtwächter  in  einem  Lande.  ^  Die  Aus- 
fuhrung der  Polemik  im  Einzelnen  ist  nicht  ohne  beachtenswerthe  Gedanken. 
(Vgl.  ib.  S.  209.)  Vgl.  Herder,  Met.  I,  21.  46.  Aehnliche  Bemerkungen 
auch  nicht  selten  bei  Maimon.  Den  Widerspruch,  dass  K.  in  der  Anthropol. 
(§  2)  die  Richtigkeit  der  mathem.  Urth.  an  die  Üebereinstimmung  mit  An- 
deren knüpft,  tadelte  schon  Nicolai,  Gel.  Bild.  121.  Vgl.  dag.  Krit.  d. 
pr.  y.  91,  die  Mathem.  erwarte  den  Beifall  für  die  Allgem.  ihrer  Sätze  nicht 
von  der  Gunst  der  Beobachter,  welche  als  Zeugen  die  Sätze  der 
Geometrie  bestätigen,  üeber  die  Streitfrage,  ob  die  Geometrie  a  priori  sei, 
vgl  Schultz,  Prüf.  I,  19.  80  ff.  und  die  daselbst  besprochenen  Einwürfe 
von  Feder  (Raum  u.  Gaus.  88),  Tittel  (Kant.  Denkf.  63  ff.),  Tiede- 
mann  (Hess.  Beitr.  I,  123),  Reimarus  (Gr.  d.  menschl.  Erk.  95  f.).  Das- 
selbe von  der  Arithmetik  bei  Schultz  Prüf.  I,  215  ff.  —  Die  fernere 
Geschichte  dieser  insbesondere  neuerdings  wieder  stark  ventilirten  Streitfrage 
s.  in  dem  Supplement:  Geschichte  der  Streitigkeiten  über  die 
Apriorität  der  Mathematik  seit  Kant,  worin  auch  die  Entwicklung 
dieser  K.'schen  Lehre  aus  der  Leibniz'schen  heraus  als  Einleitung  dar- 
gestellt wird. 

Seine  Urtheile  a  priori:  der  Sats,  dass  alle  Teränderang  eine  Ursache 
kabe.  In  der  Leipziger  Gelehrten-Zeitung  von  1787,  N.  94,  machte  ein 
Recensent  darauf  aufmerksam,  dass  hier  „ein  gerader  Widerspruch'*  sich 
finde  mit  einer  früheren  Stelle.  Nach  B.  3  ist  der  Satz:  „Eine  jede  Verän- 
derung hat  ihre  Ursache"  zwar  ein  Satz  a  priori,  aber  nicht  rein;  hier 
wird  derselbe  Satz  als  Beispiel  eines  „reinen  ürtheils  a  priori"  angeführt. 
Auf  diesen  Vorwurf  antwortet  K.  am  Schluss  der  Abhandlung:  üeber  den 
Gebrauch  teleologischer  Principien  inderPhilos.  (1788);  er  sagt,  solche  und 
ähnliche  Widersprüche  in  einem  Werk  von  ziemlichem  Umfang,  welche  man 
zu  entdecken  glaube,  ehe  man  es  im  Ganzen  wohl  gefasst  habe,  schwinden 
insgesammt  von  selbst,  wenn  man  sie  in  der  Verbindung  mit  dem  Uebrigen 
betrachte.  K.  löst  nun  den  scheinbaren  Widerspruch  durch  folgende  Distinc- 
tion  der  zwei  Bedeutungen  des  Wortes  von  „rein" :  „In  der  ersteren  Stelle 
hatte  ich  gesagt:  von  den  Erkenntnissen  a  priori  heissen  diejenigen  rein, 
denen  gar  nichts  Empirisches  beigemischt  ist,  und  hatte  als  ein  Beispiel 
des  Gegentheils  den  Satz  angeführt :  alles  Veränderliche  hat  eine  Ursache.  Da- 
gegen führe  ich  S.  5.  [d.  h.  hier]  diesen  Satz  zum  Beispiel  einer  reinen  Erkenntniss 
apriori,  d.i.  einer  solchen,  die  von  nichts  Empirischem  abhängig  ist,  an: 


212  Commentar  zur  Einleitung  6,  Abschn.  IL 

B  5.  [R  698.  H  36.  E  48.  49.] 

zweierlei  Bedeutungen  des  Wortes  rein,  von  denen  ich  aber  im  ganzen 
Werke  es  nur  mit  der  letzteren  zu  thun  habe.  Freilich  hätte  ich  den  Miss- 
verstand durch  ein  Beispiel  der  ersteren  Art  Sätze  verhüten  können ' :  alles 
Zufällige  hat  eine  Ursache.  Denn  hier  ist  gar  nichts  Empirisches  bei- 
gemischt. Wer  besinnt  sich  aber  auf  alle  Veranlassungen  zum  Missver- 
stande ?  **  R  e  i  n  =  „von  der  Erfahrung  unabhängig"  ist  also  die  weitere  Bedeu- 
tung^; denn  darunter  sind  alle  eigentlichen,  absolut-apriorischen  Sätze  umfasst. 
deren  Gegensatz  die  relativ -apriorischen  sind  (nicht  wie  SchmidWört.  8 
unkantisch  ausfuhrt,  die  vermischt-apriorischen ,  so  dass  es  dann  zweierlei 
vermischte  ürtheile  a  priori  gäbe).  Rein  =  ungemischt  hat  eine  engere  Sphäre, 
und  schneidet  aus  jenen  absolut-apriorischen  wieder  einen  kleineren  Theil 
heraus,  bei  dem  nicht  nur  die  Form  der  Verknüpfung,  die  ganze  Entstehung 
der  Verbindung  von  der  Erfahrung  unabhängig  ist,  sondern  bei  dem  auch 
kein  Glied  des  verknüpften  Inhalts  (wie  oben  z.  B.  Veränderung)  empirischen 
Ursprungs  ist*.  Vermöge  dieser  zwei  Bedeutungen  kann  somit  K.  das 
fragliche  Urtheil,  dem  er  das  erstemal  die  Reinheit  abgesprochen  hatte,  das 
zweite  Mal  als  ein  reines  Vernunfturtheil  bezeichnen.  In  der  Kritik  be- 
handelt K. ,  wie  schon  bemerkt,  nur  die  reinen  (ungemischt)  apriorischen 
Ürtheile;  eben  darum,  weil  dies  sich  von  Anfang  an  von  selbst  versteht, 
hat  »rein*  in  der  Kr.,  wie  K.  sagt,  nicht  die  Bedeutung  von  „ungemischt*, 
sondern  von  „unabhängig  von  der  Erfahrung*'  =  a  priori  überhaupt,  xmd  wird 
von  K.  für  das  von  ihm  noch  nicht  gebildete  „apriorisch"  gebraucht*.  Der 
Gegensatz  ist  bei  beiden  Bedeutungen  ein  verschiedener:  Rein  =  unabhängig 
—  Gegensatz  empirisch ;  R  e  i  n  =  unvermischt  —  Gegensatz  gemischt  (unrein). 


^  Wie  dies  z.  B.  Schulze  bei  seiner  Wiedergabe  der  Stelle  in  der  Krit. 
der  theor.  Philoß.  I,  177  thut. 

'  Apriori  =  schlechterdings  von  aller  Erfahrung  unabhängig.  B.  3.  „Unab- 
hängig von  aller  Erfahrung  =  R e i n ".   Von*.  A.  VI.     Somit  ist  Rein  =  Apriori. 

■  Eine  specielle  Analyse  des  Satzes  in  diesem  Sinn  bei  Mellin  I,  14 — 16: 
Verknüpfung  von  Subject  und  Prädikat  (die  Copula),  sowie  der  Prädicat- 
begriff  (Ursache)  sind  allgemein  und  nothwendig.  Dagegen  der  Subject- 
be griff  (Veränderung)  schliesst  die  Zufälligkeit  des  Geschehens  und  den  empi- 
rischen Ursprung  ein.  Auch  „Geschehen"  (Begebenheit)  ist  nach  Krit.  722  Anm. 
ein  empirischer  Begriff^  dagegen  das  Urtheil:  Alles ^  was  geschieht^  hat  eine  Ur- 
sache^ ist  apriorisch^  aber  gemischt. 

*  So  spricht  Kant  auch  von  reiner  Naturwissenschaft,  obgleich  in  ihr  die 
empirischen  Begriffe  der  Materie,  Bewegung  u.  s.  w.  vorkommen.  Es  ist  jedoch 
hier  als  eine  bedenkliche  Inconsequenz  Kants  zu  rügen,  dass  das  CausalitätsgesetZs 
welches  A  189,  B  233  behandelt  wird,  und  also  als  in  der  Kritik  befindlich  an- 
gemischt sein  sollte,  den  Begriff  des  Geschehens  (der  nach  722  Anm.  empirisch 
ist),  in  der  ersten,  den  der  Veränderung  in  der  zweiten  Aufl.  enthält.  Dieselbe  Be- 
merkung macht  mit  Ausdehnung  auf  alle  „Analogien  der  Erfahrung"  auch  C  an- 
te ni,  Kant  175,  der  zwar  146  gegen  Franchi  und  Spickßr  die  K'.sche  Ein- 
theilung  in  *A  priori  puro  e  A  priori  tniaio^  vertheidigt,  aber  K.  mit  Recht  der 
Unklarheit  und  Inconsequenz  dabei  beschuldigt. 


Z^ireicrlei  Bedeutungen  von  „Rein".    Der  Causalitäts begriff.         213 

[R  698.  H  35.  E  49.]  B  6. 

Das  gemischte  Apriori  eine  „aposteriorische  Apriorität"  zu  nennen  und  darin 
eine  eontradictio  in  adjecto  zu  finden,  ist  ein  Einfall  Spickers,  Kant,  S.  20. 
Jener  unterschied  der  zwei  Bedeutungen  fällt  jedoch  hinweg,  wenn  „rein** 
nicht  auf  Urtheile,  sondern  auf  Begriffe  angewandt  wird  *.  Ueber  den 
weiteren  (übrigens  oft  auch  trotz  jener  Distinction  ungenauen)  Gebrauch  des 
Terminus  s.  zu  A  11.  Im  Vergleich  mit  Ks.  eigener  Erklärung  sind  die 
Entschuldigungen  des  scheinbaren  Widerspruchs  von  Meilin  I,  16  und  Reuss, 
Vorl.  n,  9,  misslungen.  Dagegen  ist  Schultz  *s  Auslegung  der  Sache  nach 
richtig  (Prüfung  I,  8):  Ein  Satz  kann  als  Urtheil  betrachtet  rein,  als 
Erkenntniss  überhaupt  angesehen  nicht  völlig  rein  sein  (das  „Urtheil*' 
bezieht  sich  offenbar  auf  die  Verknüpfung  von  Subj.  u.  Präd.;  „Erkenntn. 
überhaupt*  auf  die  Elemente  des  Satzes).  Tiedemann's  Einwände  (Theätet, 
S.  21 1)  hingegen  beruhen  auf  Missverständnissen,  sowie  Ni  c  ol  ai  's  Bemerkungen 
über  diesen  scheinbaren  Widerspruch  Philos.  Abh.  II,  27.  31  und  ebenso  . 
die  der  Kritischen  Briefe  13.  Gegen  letztere  richtig  Born  a.  a.  0.  335. 
Der  Bein^  einer  Ursache  u.  s.  w.  Vorher  sprach  K.  von  einem 
Urtheil.  Nun  geht  er  auf  den  Begriff  der  Ursache  über '.  Nicht  bloss 
das  fragliche  Urtheil  ist  ein  schlechthin  nothwendiges ,  das  also  ein  Anders- 
sein-können  ausschliesst ,  sondern  eine  solche  Nothwendigkeit  liegt  schon  in 
dem  blossen  Begriff  der  Ursache.  Folgende  Parallelstellen  dienen  zur 
weiteren  Erklärung:  Kr.  d.  pr.  V.  S.  88  f.  „Der  Begriff  der  Ursache  ist 
ein  Begriff,  der  die  Nothwendigkeit  der  Verknüpfung  der  Existenz  des 
Verschiedenen,  und  zwar,  sofern  es  verschieden  ist,  enthält,  so:  dass,  wenn 
A  gesetzt  wird,  ich  erkenne,  dass  etwas  davon  ganz  Verschiedenes  B,  noth- 
wendig  auch  existiren  müsse.  Nothwendigkeit  kann  aber  nur  einer 
Verknüpfung  beigelegt  werden,  sofern  sie  a  priori  erkannt  wird;  denn  die 
Erfahrung  würde  von  einer  Verbindung  nur  zu  erkennen  geben,  dass  sie  sei, 
aber  nicht,  dass  sie  so  noth  wendigerweise  sei."  „Der  Begriff  der  Ursache 
enthält  die  Nothwendigkeit  einer  solchen  Verknüpfung  (zwischen  ge- 
wissen Bestimmungen  und  deren  Folge);  eine  Ursache  haben  heisst:  „es  muss 
vor  einer  Begebenheit  etwas  vorhergegangen  sein,  worauf  sie  nothwendig 
folge*.  In  „dem  Begriffe  der  Ursache  liegt  objective  Nothwendigkeit". 
«Das  Wesentliche  des  Begriffs  der  Causalität"  macht  die  in  ihm  enthaltene 
.Nothwendigkeit  der  Verknüpfung"   aus.    D.  h.  wenn  A  gesetzt  wird. 


*  Nach  Schmid,  Wort.  4  f.,  gibt  es,  wie  reine  und  gemischte  Urtheile 
a  priori,  so  auch  reine  und  gemischte  Vorstellungen  a  priori;  indem  eine 
Vorstelinng  ihren  verschiedenen  Bestandth eilen  nach,  theils  a  priori,  theils  a  poste- 
riori sein  kann:  absoluter  Raum,  leere  Zeit,  Substanz  sind  reine  Begriffe  a  priori, 
Körper  ist  ein  gemischter,  indem  in  ihm  eine  Anschauung  a  priori  (Ausdehnung), 
ein  Begriff  a  priori  (Substanz)  und  aposteriorische  Bestimmungen  (Farbe,  Un- 
dorchdringlichkeit  u.  s.  w.)  verbunden  sind.  Beim  Begriffe  der  Veränderung 
(ib.  554)  ißt  der  Inhalt  empirisch,  die  Form  apriorisch.  Vgl.  ib.  100  über  den 
Begriff  der  Pflicht.    Cfr.  Krit.  B.  28.     Lossius  Lex.  I.  346. 

*  Derselbe  Unterschied  zwischen  Satz  und  Begriff  759  f. 


214  Commentar  zur  Einleitang  B^  Abschn.  IL 

B  5.  [B  698.  H  85.  E  49.] 

ist  es  widersprechend,  B,  welches  von  A  ganz  verschieden  ist,  nicht  zu 
setzen.  Das  ist  „die  Nothwendigkeit  der  Verknüpfung  zwischen  A 
als  Ursache  und  B  als  Wirkung*.  Prol.  Vorr.  S.  8  und  bes.  §  29.  Der 
Begriff  der  Ursache  sagt,  „dass  etwas  so  beschaffen  sein  könne,  dass,  wenn 
es  gesetzt  ist,  dadurch  auch  etwas  Anderes  not h wendig  gesetzt  werden 
müsse".  Ausserdem  enthält  der  Begriff  „die  strenge  Allgemeinheit  der  Regel': 
^man  muss  es  (die  Verbindung  von  Ursache  und  Wirkung)  als  immer  und 
nothwendig  sich  auf  die  Art  zutragend  annehmen*,  Kr.  d.  pr.  V.  90  f. 
Krit.  765  f.:  „Ein  Anderes,  was  durch  ein  Ding  allgemein  und  noth- 
wendig gegeben  ist.*  89:  „Der  Begriff  der  Urs.  bedeutet  eine  besondere  Art 
der  Synthesis,  da  auf  etwas  A  was  ganz  verschiedenes  B  nach  einer  Begel 
gesetzt  wird."  Es  handelt  sich  um  einen  „nothwendigen  Erfolg*  der 
Wirkung  aus  der  Ursache,  nicht  bloss  um  ein  äusserliches  „Hinzukommen'. 
91.  „Es  ist  in  dieser  Synthesis  eine  Dignität,  die  man  gar  nicht  empirisch 
ausdrücken  kann*,  nämlich  eben  die  Nothw.  d.  Erfolgens,  91.  136. 

Somit  ist  zu  scheiden  zwischen  der  Nothwendigkeit  jenes  Satzes  und  der  dieses 
Begriffs.  Der  Satz :  „jede  Veränderung  hat  eine  Ursache*  ist  streng  allgemein 
gültig  und  schliesst  ein  Anders-sein-können  absolut  aus.  Es  kann  nicht 
Anders  sein,  als  dass  jede  Veränderung  eine  Ursache  habe.  Die  Noth- 
wendigkeit in  dem  Begriff  der  Ursache  ist  eine  andere,  davon  wohl  zu 
trennende :  in  diesem  Begriffe  wird  ausgesprochen,  dass  die  Verbindung  von 
A  als  Ursache  und  B  als  Wirkung  eine  derartige  sei,  dass  sie  mit  einem 
regelmässigen  Zwange  erfolge.  Dort  war  es  nothwendig,  jede  Veränderung 
als  verursacht  anzusehen;  hier  ist  die  Verknüpfung  zwischen  der  Ursache 
der  Veränderung  und  dieser  selbst  eine  innerlich  nothwendige  und  der^iig 
allgemeine,  dass  immer,  wo  A  ist,  auch  B  sich  findet.  Es  kann  nicht 
anders  sein,  als  dass,  wo  A  ist,  auch  B  sich  findet,  resp.,  dass 
jedesmal  wenn  A  eintritt,  auch  B  folgt.  Ein  solches  nothwendiges 
und  allgemeines  Verhältniss  zweier  Erscheinungen  heisst  ursächlich. 
Dagegen  heisst  das  Gesetz,  dass  überhaupt  alle  Veränderungen  verursacht 
seien,  das  Gesetz  derCausalität  und  dieses  gilt  allgemein  und  ist  noth- 
wendig. Das  Gegentheil  kann  die  Sache  noch  klarer  machen.  Das  Einemal 
bestände  die  Ausnahme  darin,  dass  eine  Veränderung  sich  fände,  ohne  dass 
eine  Ursache  zu  ihr  sich  finden  Hesse.  Das  anderemal  darin,  dass,  wenn  ein 
bestimmtes  A  (z.  B.  Vergiftung)  gesetzt  würde,  B  (der  Tod)  nicht  einträte. 
Dort  würde  die  Ursache  ausfallen,  hier  die  Wirkung.  Dort  ist  es  wider- 
sprechend, eine  Erscheinung  nicht  causal  bedingt  anzusehn,  hier  ist  es 
widersprechend,  wenn  A  gesetzt  ist,  B  nicht  zu  setzen.  Dort  handelt 
es  sich  um  die  äussere  Nothwendigkeit,  dass  alle  Geschehnisse  überhaupt 
causaliter  bedingt  sind:  hier  um  die  innere  Nothwendigkeit  der  Verknüpfung 
zwischen  jeder  einzelnen  Ursache  und  ihrer  specifischen  Wirkung.  Dort  ist 
eine  Nothwendigkeit  des  Erkennens,  hier  eine  Nothwendigkeit  des  Geschehens: 
jenes  betrifft  ein  Principiwn  cognoscendi,  dies  ein  principium  fiendu 
Dort   handelt   es   sich  darum:    Habe  ich  das  Recht,   das  Causalgesetz  als 


Die  Nothw.  d.  Caosalitätsgesetzes  u.  die  d.  Causalitäts  begriff  es.      215 

[B  698.  H  35.  E.  49.]  B  5. 

allgemeinen  and  nothwendigen  Satz  auszusprechen?  Hier  handelt 
es  sich  darum :  Habe  ich  das  Recht,  eine  innere  Nothwendigkeit  des  Zusammen- 
hanges zwischen  Ursache  und  Wirkung  anzunehmen,  und  kann  ich  vielleicht 
gar  diese  Nothwendigkeit  einsehen  und  begreifen?  K.  scheint  diesen  Unter- 
schied hier  und  auch  späterhin  bes.  in  den  Prol.  (wo  es  sich  um  den  Unter- 
schied von  einzelnen  Causalurtheilen  und  dem  allgemeinen  Gausalitäts- 
gesetze  handelt,  vgl.  bes.  Prol.  §  27  ff.)  nicht  zu  beachten.  Genaueres  zu  B  20  u. 
in  der  Analytik.  Beide  Nothwendigkeiten  verwechseln  auch  M ellin  I,  388. 
V,  649;  Schmidt-Phis.  Exp.  4;  Jenisch,  Entd.  46  f.  Hauptm.  31. 
(Urtheil  und  Begriff  vermischt.)  Dagegen  hat  Block,  Ursp.  d.  Erk.  141. 
158  beide  Nothwendigkeiten  richtig  scharf  geschieden,  bestreitet  freilich  Ks. 
Behauptungen.  „Wenn  alles,  was  geschieht,  auch  nothwendig  etwas  voraus- 
setzte, worauf  es  folgt,  so  müsste  es  darum  nicht  nothwendig  auf  dasselbe 
folgen.*  171.  , Abhängigkeit  von  Ursachen  ist  nicht  nothwendige  Be- 
stimmung durch  dieselben.^  Eine  ausfuhrliche  Erörterung  der  gegen  alle 
Zweifel  gefeiten  Gewissheit  des  Causalitäts satzes  s.  bei  Schmidt  u.  Snell, 
Erl.  I,  5  ff.  Vgl.  dag.  Block  a.  a.  0.  153  ff.  Einen  bemerkenswerthen 
Einwand  gegen  die  Nothwendigkeit  und  Apriorität  des  speciellen  Causali- 
tätssatzes  (Jede  Wirkung  folgt  unfehlbar  aus  ihrer  Ursache)  macht  Pistorius 
A.  D.  B.  105,  I,  48:  Das  Gegentheil,  das  Nichteintreten  einer  Wirkung  sei 
denkbar,  also  das  Eintreten  nicht  absolut  nothwendig.  Auch  von  dem  Satz : 
AUes  Geschehene  beruht  auf  Causalverbindung,  gelte  dasselbe.  Das  Gegen- 
theil sei  nicht  undenkbar,  ja  sogar  von  E.  in  der  Behauptung  der  Freiheit 
selbst  angenommen.  Die  specielle  Geschichte  dieser  in  neuerer  Zeit  wieder 
brennend  gewordenen  Streitfrage  s.  in  dem  Supplement:  Geschichte  der 
Streitigkeiten  über  die  Apriorität  der  Causalität  seit  Kant,  nebst 
einer  Einleitung  über  die  historischen  Vorgänger  Kants  hierin,  bes. 
Leibniz. 

Hvine  —  bloss  snbjectlve  Nothwendigkeit.  K.  berührt  hier  den  fun- 
damentalen Unterschied  zwischen  dem  Empirismus  eines  Hume  und  seinem 
eigenen  Bationalismus.  Die  Stelle  erhält  weiteres  Licht  durch  die  Vorrede 
der  Proleg.,  aus  der  die  vorstehende  und  die  in  Abschn.  VI  ein  Auszug  ist. 
Das  Genauere  über  die  Causalität  vgl.  zu  letzterer  Stelle,  wo  alles  auf 
Hume  bezügliche  zusammengestellt  ist.  Dass  hier  von  dem  Begriff,  dort 
von  dem  Satz  der  Causalität  die  Rede  ist,  ändert  sachlich  nichts,  da  K. 
selbst,  wie  bemerkt,  beides  confundirt. 

Aveb  könnte  man  u.  s.  w.  Der  Beweis  der  Wirklichkeit  von  Urtheilen 
a  priori  durch  Hinweis  auf  Beispiele  ist  selbst  ein  aposteriorischer, 
induetiver  Beweis.  K.  weist  hier  noch  auf  einen  anderen  Weg  hin,  um 
zu  zeigen,  dass  es  solche  Grundsätze  a  priori  geben  müsse,  nicht  bloss, 
dass  es  factisch  solche  gibt.  Dieser  neue  Beweis  wird  selbst  a  priori  zu 
führen  sein  ;  denn  nur  durch  apriorische,  deductive  Beweisführung  erhalten 
wir  Nothwendigkeit,  während  jene  Beispiele  apriorischer  Grundsätze  nur 
willkürlich  aufgegriffene  sind.     Solche   apriorische  Grundsätze  muss  es  nun 


216  Commentar  znr  Einleitung  B^  Abschn.  II. 

B  5.  [R  698.  H  35.  36.  E  49.] 

nach  Kant  geben,  wenn  Erfahrung  möglich  sein  soll;  sie  sind  unentbehrliche 
Bedingungen  für  die  Möglichkeit  eines  Systems  gewisser  Erfahrungserkennt- 
nisse.  Ohne  sie  gäbe  es  keine  Gewissheit  der  Erfahrung.  Wenn  alle  all- 
gemeinen Regeln  bloss  empirisch  wären,  theilte  unser  ganzes  Erkenntniss- 
system (wenn  man  es  dann  überhaupt  „System"  nennen  dürfte),  die  mit  der 
^mpirie  verbundene  Zufälligkeit,  Unsicherheit  und  Beschränktheit.  Wenn 
auch  der  Satz  der  Causalität  selbst  nur  eine  auf  Induction  beruhende  em- 
pirische Generalisation  wäre,  für  deren  ausnahmslose  Gültigkeit  keine  Garantie 
bestünde,  wie  könnte  ich  dann  mit  Sicherheit  darauf  rechnen,  dass  niemals 
etwas  eintreten  kann,  wofür  sich  nicht  eine  empirisch  nachweisbare  Ursache 
fände?  Dann  wäre  dem  Mirakel,  dem  Zufall,  der  Willkür,  dem  Chaos  Thür 
und  Thor  geöffnet.  Dann  wäre  die  Naturwissenschaft  eine  chimärische  Sache, 
denn  wer  würde  dem  Naturforscher  dafür  garantiren,  dass  er  für  jede  Er- 
scheinung, für  Blitz  und  Thau,  für  Wind  und  Welle  eine  mathematisch 
bestimmbare  mechanische  Ursache  findet?  Und  wenn  der  Begriff  der  Cau- 
salität nicht  ein  fester,  a  priori  feststehender  Pfeiler  wäre,  sondern  nur  eine 
empirisch  entstandene  und  alle  Zufälligkeit  der  Erfahrungsbegriffe  theilende 
Vorstellung,  wie  könnten  wir  dann  noch  an  eine  Begelmässigkeit  der 
causalen  Beziehungen  mit  jener  absoluten  Ueberzeugung  glauben,  die  uns 
factisch  innewohnt?  Mit  dem  Empirismus  ist  für  K.  also  „zugl.  der  härteste 
Skepticismus  selbst  in  Ansehung  der  ganzen  Naturwissenschaft  eingeführt 
Denn  wir  können,  nach  solchen  Grundsätzen,  niemals  aus  gegebenen  Be- 
stimmungen der  Dinge  .  .  .  auf  eine  Folge  schliessen  (denn  dazu  würde 
der  Begriff  einer  Ursache,  der  die  Noth wendigkeit  einer  solchen  Verknüpfung 
enthält,  erfordert  werden),  sondern  nur  nach  der  Regel  der  Einbildungskraft 
ähnliche  Fälle,  wie  sonst  erwarten,  welche  Erwartung  aber  niemals  sicher 
ist,  sie  mag  auch  noch  so  oft  eingetroffen  sein.  Ja  bei  keiner  Begebenheit 
könnte  man  sagen:  es  müsse  etwas  vor  ihr  vorhergegangen  sein,  worauf 
sie  nothwendig  folgte,  d.  i.  sie  müsse  eine  Ursache  haben,  und  also,  wenn 
man  auch  noch  so  öftere  Fälle  kennete,  wo  dergleichen  vorherging,  so  dass 
eine  Regel  davon  abgezogen  werden  konnte,  so  könnte  man  darum  es  nicht 
als  immer  und  nothwendig  sich  auf  die  Art  zutragend  annehmen,  und  so 
müsste  man  dem  blinden  Zufalle,  bei  welchem  aller  Vernunftgebrauch  auf- 
hört, auch  sein  Recht  lassen,  welches  denn  den  Skepticismus,  in  Ansehung 
der  von  Wirkungen  zu  Ursachen  aufsteigenden  Schlüsse  fest  gründet  und 
unwiderleglich  macht."  Kr.  d.  pr.  V.  S.  89  ff.  „Selbst  in  Ansehung  der  Mathe- 
matik führte  Humens  Empirismus  in  Grundsätzen  auch  unvermeidlich  auf 
den  Skepticismus."  Ib.  90  f  Ja  Kant  fügt  hinzu:  ,0b  der  gemeine 
Vernunft  gebrauch  (bei  einem  so  schrecklichen  Umsturz,  als  man  den 
Häuptern  der  Erkenntniss  [den  Vemunftwissenschafben]  begegnen  sieht,)  besser 
durchkommen,  und  nicht  vielmehr  noch  unwiederbringlicher,  in  eben  diese 
Zerstörung  alles  Wissens  werde  verwickelt  werden,  mithin  ein  allgemeiner 
Skepticismus  nicht  aus  denselben  Grundsätzen  folgen  müsse  .  .  .  das  will 
ich  Jeden  selbst  beurtheilen  lassen.*    Ib.   Es  entstünde  „ein  totaler  Zweifel 


Kothwendigkeit  des  Apriori  für  die  Gewissheit  der  Erfahrang.  217 

[R  698.  H  85.  86.  E  49.]  B  5. 

an  allem,  was  theoretische  Vernunft  einzusehen  behauptet.  Ib.  93  f.    Diese 
schlimmen  Folgen  würden  eintreten,  wenn  man  die  Generalisationen,  welche 
empirisch,  und  zufällig  entstehen,  als  .erste  Grundsätze  gelten  lassen  wurde''. 
Unser  ganzes  System  der  auf  die  Erfahrungswelt  sich  beziehenden  Erkennt- 
nisse würde  wanken,  würde  der  Gewissheit  entbehren,  würde  dem  Zweifel 
verfallen.     Bloss  empirische  Sätze  kann  ich  somit  nicht  zum  Ausgangspunkt 
des  Baisonnements  machen,  das  ganze  Erkenntnissgebäude  würde  theilnehmen 
an   der   denselben   anhaftenden  Zuflllligkeit   und  Beschränktheit,    würde  so 
darunter  leiden,  dass  überhaupt  eine  geregelte,  sichere  Erfahrungserkenntniss 
und  ein  Verlass  auf  dieselbe  aufhören  würde.     Soll  somit  ein  zuverlässiges 
Erfahmngswissen  stattfinden   ui^d  möglich  sein,    so  lässt  sich  a  priori  fest- 
stellen, dass  die  empirischen  Erkenntnisse  in  letzter  Linie  auf  absolutsichere 
Principien  gestützt  und   gleichsam  an  solchen  verankert  werden  müssen. 
Da  nun  die  Erfahrung  selbst  solche  nicht  gibt,  so  muss  die  Vernunft  die- 
selben liefern.  ,  Aus  einem  Erfahrungssatze  Nothwendigkeit  (ex  putnice  aquam) 
auspressen  zu  wollen,   mit  dieser   auch   wahre  Allgemeinheit   (ohne  welche 
kein  Vemunftschluss,  mithin  auch  nicht  der  Schluss  aus  der  Analogie,  welche 
eine  wenigstens  präsumirte  Allgemeinheit  und  objective  Nothwendigkeit  ist, 
und   diese   also  doch  immer  voraussetzt  [möglich  ist]),   einem  Ürtheile  ver- 
schaffen wollen,  ist  gerader  Widerspruch.*    Kr.  d.  pr.  Vem.  Vorr.  fin.    »Der 
Skepticismus    verstattet  schlechterdings  keinen    Probirstein    der   Erfahrung, 
der  immer  nur  in  Principien  a  priori  angetroffen  werden  kann."  Ib.  — Cohen 
bemerkt  (192)  zu  dieser  Stelle:    es  sei  dies  eine  am  Anfang  noch  ganz  un- 
verständliche Bemerkung;   es   trete  hier  die  volle  Kraft  des  Apriori  bereits 
hervor.     »Aber  K.  geht  mit  Fug  nicht  tiefer  auf  die  Sache  ein;  —  zu  be- 
achten ist,  dass  der  Satz  ein  Zusatz  der  2.  Ausgabe  ist  —  denn  die  Erklä- 
rung dieses  Einen  Satzes  ist  die  ganze  Kritik;   sondern  er  bleibt  bei  dem 
Hinweisen  auf  Thatsachen  der  Erkenntniss   stehen.  **     Cohen  sagt  somit,  K. 
habe  hier  die  Analytik  anticipirt,   indem  er  von   der  daselbst  so  viel  be- 
sprochenen „Möglichkeit  der  Erfahrung'    spreche;   allein   so  richtig   das  im 
Allgemeinen  ist,   so  ist  doch  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  die  hier 
erwähnte  , Möglichkeit  der  Erfahrung'  sich  nicht  ganz  deckt  mit  der  in  der 
Analytik  behandelten;    das  geht  aus  der  Erklärung  des  zweiten  Satzes,  der 
mit  »denn*  eingeleitet  ist,  hervor.     Wie   dieser  Satz   aufzufassen  ist,  zeigen 
die  Parallelstellen.     Es  handelt  sich  darum  \   dass  alle  Erfahrung  subjectiv 
ungewiss  werden  würde,   wenn   man   sie   nicht  an  apriorische  Grundsätze 
anknüpft;   man  würde  dem  allgemeinen  Skepticismus  verfallen.     So  wird 


*  Ausserdem  handelt  es  sich  hier  bloss  um  den  apriorischen  Beweis  der 
Kothwendigkeit  des  Vorhandenseins  apriorischer  Elemente,  in  der  Deduction 
aber  um  den  apriorischen  Beweis  der  Gültigkeit  derselben.  Sodann  bezieht 
sich  die  transsc  Deduction  auf  apriorische  Verstandesbegriffe;  also  kann  die 
Beziehang  nur  auf  die  sog.  „Analytik  der  Grundsätze"  stattfinden,  was  beides 
jedoch  K.  selbst  vermischt. 


218  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  IL 

B  5.  [B  698.  H  35.  36.  E  49.] 

von  K.  selbst  der  allgemeine  Ausdruck:  Möglichkeit  der  Erfahrung 
specificirt  als  „Gewissheit  der  Erfahrung*.  Diese  formale  Gewissheit 
der  Erfahrungserkenntniss,  entstehend  durch  Anknüpfung  an  Grandsätze 
a  priori,  ist  ein  auch  von  Leibniz  '  gegen  den  Empirismus  ins  Feld  ge- 
führtes Argument,  das  noch  nichts  specifisch  Kantisches  an  sich  hat,  wie 
das  mit  dem  in  der  Analytik  enthaltenen  „Beweis  aus  der  Möglichkeit  der 
Erfahrung"  der  Fall  ist,  wo  weniger  die  formal-subjective  Gewissheit, 
als  die  objective  Begelmässigkeit  der  Erfahrung  ins  Spiel  kommt. 
Da  aber  K.  selbst  allerdings  beides  nicht  streng  auseinanderhält,  so  mag  in 
der  Stelle  immerhin  ein  Hinweis  auf  die  Analytik  erblickt  werden,  doch 
mehr  auf  die  „Grundsätze",  als  auf  die  „transsc.  Deduction^.  Mellin 
(W.  I,  16)  erklärt  ähnlich  wie  Cohen  (ebenso  Hauptm.  32).  Es  handelt 
sich  aber  hier  noch  nicht  darum,  dass  „in  aller  Erkenntniss  etwas  a  priori 
sein  muss",  sondern  darum,  dass  ausser  den  empirischen  Begeln  der  'Er- 
fahrungserkenntniss  noch  Grundsätze  a  priori  bestehen  müssen,  um  die 
Festigkeit  und  Gewissheit  des  Systems  der  Erfahrungserkenntniss  zu  garan- 
tiren.  Metz,  Darst.  32  meint,  dass  die  Erfahrung  „inwiefern  unter  ihr 
eine  nothwendige  objective  Synthesis  einzelner  Wahrnehmungen  verstanden 
wird",  ebenso  wie  die  Mathematik  und  die  reine  Naturwissenschaft 
beweisen,  dass  es  Sätze  a  priori  gebe.  —  Jakob,  L.  u.  Met.  §  537:  „Ohne 
reine  Erkenntnisse  ist  keine  Wissenschaft  möglich.  Denn  diese  erfordert 
allgemeine  Principien,  folglich  auch  reine  Erkenntnisse."  Vgl.  Born,  ürsp. 
Grundl.  §  9:  Selbst  die  Erkenntniss  des  Daseins  beruht  auf  dem  all- 
gemeinen nothwendigen  Verstandesurtheil :  Alles,  was  ich  empfinde,  ist  da, 
wie  vielmehr  die  Erkenntniss  der  Nothwendigkeit ,  d.  h.  die  Gewissheit. 
Schmid,  W.  463:  „Sollten  wir  die  Bichtigkeit  der  Denkgesetze  selbst  nur 
durch  eine  Art  Induction  erkennen,  so  wäre  in  aller  unserer  Erkenntniss 
der  Wahrheit  ein  ewiger  Zirkel;  denn  nach  welchen  Denkgesetzen  soUen 
wir  die  Denkgesetze  selbst  erkennen"  ?  u.  s.  w.  Als  eine  Ergänzung  zu 
dieser  Stelle  ist  zu  betrachten,  was  K.  Fortschr.  K.  115 — 117,  B.  I,  507  fF, 


'  Dieselbe  Argumentation  findet  sich  häufig  bei  Leibniz^  z.  B.  de  stüo  phüos. 
Nizolii,  (Erdm.  70  B.)  Durch  den  Empirismus  >ea  ratione  prorsua  evertuntur  seien- 
tiae  et  Sceptici  vicere.*  Die  sog.  moralis  certitudo  non  fundata  est  in  sola  in- 
ducHone;  sie  entsteht  nur  »ex  additione  seu  adminictüo  propositionum  universtüium 
non  ah  inductione  singülarium,  sed  idea  universali  seu  definitione  terminorum  pen- 
deniium*,  »Patet,  inducHonem  per  se  nihil producere,  ne  ceriitudinem  qtUdem  mo- 
ralem,  sine  adminiculo  propositionum  ,  ,  ,  ab  ratione  universali  pendentium ;  nam  8t 
essent  et  adminicula  ab  inductione^  indigerent  novis  adminiculis  nee  hdberetur  certi- 
tudo moralis  in  infinitum.  Certitudo  perfecta  ah  inductione  sperari  plane 
non  potest.€  Es  ist  somit  ein  durchaus  Leibniz^scher  Gedanke^  dass  das  schwan- 
kende empirische  Material  erst  durch  die  Durchflechtung  mit  den  normativen 
Gesetzen  der  Logik  und  Mathematik  zur  objectiven,  sicheren  Wissenschaft  erhoben 
werde.  Vgl.  ib.  378  B. :  »La  viritS  des  choses  sensibles  se  justifie  par  leur  Uaison 
qui  dipend  des  virU4s  inteUectueUes,  fondies  en  raison.*^     (Nouv,  EssJ 


Der  prägnante  Begriff  der  „Erfahrung"  als  Basis  der  Kritik  d.  r.  V.     219 

[B  698.  H  35.  86.  E  49.]  B  6. 

ausfuhrt.  K.  fasst  daselbst  auch  die  „Gewissheit  der  Erfahrung^  im  Sinne 
der  Deduction;  der  Empirismus  sei  ein  Widerspruch  mit  sich  selbst;  wenn 
alle  Erkenntniss  bloss  empirischen  Ursprungs  ist,  so  ist  doch  trotz  der 
logischen  Verarbeitung  der  Erfahrung  durch  die  Reflexion,  „  das  Synthetische 
der  Erkenntniss,  welches  das  Wesentliche  der  Erfahrung  ausmacht,  bloss 
empirisch  und  nur  als  Erkenntniss  a  posteriori  möglich/  Dieses  Synthetische 
der  Erfahrung  beweist  ein  apriorisches  Princip,  das  die  Möglichkeit  der  Erf. 
begründet.  Denn  Erf.  ist  ,ein  ganz  gewisses  Erkenntniss  a  posteriori^. 
Das  beweist  die  Einmischung  von  Grundsätzen  a  priori  nach  blossen  Ver- 
standesbegriffen, welche  in  Verbindung  mit  der  sinnlichen  Anschauung  erst 
Erfahrung  möglich  machen.  Hier  versteht  K.  unter  Erfahrung  nicht  den 
Rohstoff  der  Empfindung  und  seine  bloss  logische  Verarbeitung,  sondern  den  In- 
begriff von  Vorstellungen  der  sinnlichen  Anschauung,  die  nach  nothwendigen 
und  allgemeinen  Gesetzen  des  apriorischen  Verstandes  nothwendig,  all- 
fi^emein  und  eben  deswegen  objectiv  gültig  verknüpft  sind.  Diese  2,  resp.  3 
Bedeutungen  von  Erfahrung  sind  ja  bei  E.  streng  zu  scheiden,  denn  K. 
spricht  der  Erfahrung  in  dem  ersten  Sinne  die  Nothwendigkeit  und  Allge- 
meinheit ab,  in  dem  zweiten  dagegen  zu.  Die  erstere  Erfahrung  gibt  nur 
zufllUige,  bloss  für  das  wahrnehmende  Subject  gültige,  also  subjective  Urtheile, 
die  andere  dagegen  objective,  jene  nur  judicia  plurativa,  diese  dagegen  uni- 
rersalia.  Im  letzteren  Sinne  ist  „  Erfahrung  selbst  eine  Erkenntnissart,  die 
Verstand  erfordert,  dessen  Regel  ich  in  mir  a  priori  voraussetzen  muss**. 
Krit.  Vorr.  B.  XVII.  Kant,  Prol.  §  18,  21  a  und  bes.  §  22  Anm.'.  Metz, 
Darst.  31.  Villers,  Phil.  I,  64  ff.  Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  486.  Treschow, 
Vorles.  I,  10.  —  „Die  Erfahrung  verwandelt  sich  für  K.  durch  den  Gebrauch 
der  apriorischen  Formen  geradezu  in  Metaphysik  der  Form  nach.  Diese 
metaphysische  Erfahrung  wurde  daher  nun  die  einzige,  welche  K.  so- 
zusagen officiell  noch  als  Erf.  gelten  lassen  konnte;*  Göring,  System 
II,  163.  Metz,  Darst.  31  bemerkt  ganz  richtig  zu  dieser  Stelle,  dass  K. 
es  nirgends  erwiesen,  sondern  nur  als  eine  von  Jedermann  zugestandene 
Thatsache  vorausgesetzt  und  seinem  ganzen  System  als  Basis  zum  Grunde 
gelegt  habe,  dass  es  eine  solche  allgemeine  und  nothwendige  Erfahrung  gebe^ 
wie  er  sie  hier  annimmt.    Denselben  Gedanken  führt  Reinhold,  Beytr.  I, 


*  Prol.  8  22:  Erfahrung  besteht  in  der  synthetischen  Verknüpfung  der  Er- 
scheinungen (Wahrnehmungen)  in  einem  Bewusstsein,  sofern  dieselbe  nothwendig 
ist.  Daher  sind  reine  Verstandesbegriffe  diejenigen,  unter  denen  alle  Wahrneh- 
mungen zuvor  müssen  subsumirt  werden,  ehe  sie  zu  Erfahrnngsurtheilen  dienen 
können,  und  §  26 :  Mehr  kann  ich  hier  .  .  .  nicht  anführen,  als  nur  dass  ich  dem 
Leser,  welcher  in  der  langen  Gewohnheit  steckt,  Erfahrung  für  eine  bloss  empirische 
Zusammensetzung  der  Wahrnehmungen  zu  halten^  und  daher  daran  gar  nicht 
denkt,  dass  sie  viel  weiter  geht,  als  diese  reichen,  nämlich  empirischen  Urtheilen 
Allgemeingültigkeit  gibt  und  dazu  einer  reinen  Verstandeseinheit  bedarf,  die  a  priori 
vorhergeht,  empfehle:  auf  diesen  Unterschied  der  Erfahrung  von  einem  blossen 
Aggregat  von  Wahrnehmungen  wohl  Acht  zu  haben.     Vgl.  §  36. 


B  &.  [1 


a.-«  H.   TirH.-j  aus.     TT^r  aie  (u^ianriui^  oacb  dem  KADUscben  Begriffe  lengn^'^ 
Rlr  doH  ((ibt  es  in  ihr  auch  keine  Vrtbeile  a  priori.     Diese  Kritik  wird  jefln 
wichtig  erst  fSr  die  Analytik,  wo  das  Nähere  zu  suchen  iat.  Vgl.  Stuji. 
lier  K. 'sehen  Phil,  35:     ,K.  legt,  um  die  ganze  Kette  seiner  Mauptu» 
XU  doduciren,  durchaus  den  Begriff  von  Erfahrung  zu  Cimnde,  den  mntd 
Treu  und  Glauben  annehmen  soll."    Energisch  tritt  gegen  die  angefn^iT^ni 
Stellen    aus   der  Kritik  d.  pr.  V.  Block   auf,   ürap.  d.  Erk.  168  ff.    Antti 
nach  Herbart  VI,  286  liegt  eine  j)rfi(»opHBcJp«i'  drein,  ,dass  die  Erfakinof 
objective  Gültigkeit  habe,    die  in  sich  eine  absolute   Festigkeit  beätte.  und       l-lf 
über  den  Rang  einer  allgemeinen  gleichförmigen  GewOhnnng   der  Henate 
sich  weit   erhöbe."     Vgl.  Backen,   Grundbegr.  d.  Gegenwart  36.    Vgl.  ü). 
28  ff,  über  den  Terminus  .Erfahrung'.    Vgl.  Id.  Phil.  Terminol.  123.  \&. 
126.  145.     Dass  durch   diese  Annahme   einer  mit  apriorischen  Formen  m- 
njiscbten  Erfahrung  die  ganze  Eintheilung  in  apriorische  und  aposteriorisäi» 
Erkenntoiss  wankend  und  schwankend   werde,   bemerkt  Lewes,  Geacb.  II, 
512.  554.     Er  findet  diese  Vennengung   von  Formen   and  Bedingungen  Sei 
Erkenntniss  mit  Erkenntnissen  selbst  als  fllr  die  ganze  Kritik  verhKngnissroll' 
Eine  ausführliche,  jedoch  nicht  von  Uissverständnissen   fireie  Kritik   äiesH 
„seltsamen'    Deduction   findet   sich   bei    Heynig,   Heraosf.    135  —  145.    Er 
findet   die   ganze   Stelle    ,rKtbselhaft° ;    vor  Allem   weil   ihm  der  prägnante 
Sinn  der  .Erfahrung*  nicht  zum  VerstAndniss  kommt.    Da  er  Erf.  in  dem 
gemeinen  Sinne,   den  K.  bisher  festhielt,  nimmt,  so  findet  er  einen  W\iet- 
Spruch  darin,  dass  dieselbe   hier  so   enge    mit  der  apriorischen  Erkenntniss 
liirt  ist,  während  K.  bisher  beide   als  heterogen    behandelte ;   er    fr&gt,  vie 
sich  die  hier   plötzlich    eintretende    .Gewissheit"  verhalte   zn  den  bisher  be- 
handelten Begriffen  der  Allgem.  a.  Nothw. ;  er  findet  es  sonderbar,  der  ^■ 
fahrung  die  Gewissheit  abzusprechen,  da  sie  doch  das  Allergewissest«  sei, 
selbst  wenn  man  ihr  mit  K.  Nothw.  u.  Allgem.  abspreche.  Soll  aber  ,Gew.* 
identisch  sein  mit  Nothw.  u.  Allgem.,  wie  in  aller  Welt  aus  der  bisher  ab 
zufällig  und  verzettelt  erwiesenen  Erfahrung  plötzlich  allgemeine,  notbwendige 
Erkenntniss  werden  könne?     Das   sei  ja  der  reine   Widersprach-       ^AUes 
mögliche  kann  ein  Ding  werden,  nur  nicht  nothwendig,  wenn  es   zufHUig  ist, 
und  nicht  allgemein,  wenn  es  beschrankt  ist.'   Endlich  tadelt  H.  das  "W Örtchen 
.schwerlich";    .dies  ist  sehr  unbestimmt  und  schwankend,  und    so   viel  wie 
gar  nichts  gesagt".     Natürlich  sind  ihm  die  Kegeln  der  Erfahmitg    aus  den 
Erscheinungen  abstrahirte,    also  empirische  Gesichtepunkte,  die    ganz  zuver- 
lässig sind;  „mittelst  ihrer  stoppelt  sich  der  Mensch  sein  Bischen  Erfabmngs- 
erkenntniss   zusammen".     Eine  polemische  Besprechang   der  Stelle     ebenfalls 


1  Genaa  ebenso  ruft  Laurie  (J.  of  np.  Phü.  TL,  224);  „h  not  this  to  beff  the 
quesHpnf 

'  Dieselbe  Bemerkung  macht  Lewea  auch  in  den  „Probhmm  of  LAfe  ««rf 
UifiA",  I,  405,  verfällt  jedoch  dabei  in  den  oben  S.  184.  185.  geriigten  Fehler  von 
Haimon  und  Goring. 


Apriorisch-deductiver  Erweiss  des  Apriori.  221 

[B  698.  H  36.  36.  E.  49.]  B  5. 


.^  ,  ^_  empirischen  Standpunkt  aus  bei  Tiedemann,  Theätet  217—219.     Die 


..-,J 

,y  .  j.^küxe  Tragweite  des  so  bestimmten  Begriffs  der  Er  fahrung  kann  im  Anschluss 
y^  ^/an  eine  Stelle  in  ßeinholds  Beitr.  z.  1.  üebers.  2,  12  ff.  (vgl.  5,  116  ff.) 
,^jj  so  entwickelt  werden :  Erf .  ist  die  Verknüpfung  der  Phänomene  (der  sinnlich 
vorgestellten  Gegenstände)  als  solcher  in  einem  und  demselben  Bewusstsein 
zu  einem  nothwendigen  Zusammenhang.  Vermittelst  der  Zergliederung  dieses 
Begriffes  sucht  E.  in  diesem  Begriffe  die  Bedingungen  der  Möglichkeit  der 
Erfahrung  auf,  welche  nun  freilich  keine  andere  sein  können,  als  die  in 
diesem  Begriff  und  durch  ihn  vorausgesetzt  werden.  K.  unterscheidet  sonach 
den  Inhalt  der  Erfahrung  von  ihrer  Form,  versteht  unter  dem  Inhalt 
die  Erscheinungen  als  solche,  unter  der  Form  aber  die  Verknüpfung 
der  Erscheinungen.  So  liegt  also  in  dem  Begriff  der  Erfahrung,  wie  ihn 
K.  aufstellt  und  hier  voraussetzt,  das  K.'sche  System  in  nuce  enthalten,  aufs 
neue  ein  Beweis,  dass  die  Einleitung  die  genaueste  Analyse  bedarf,  da 
auf  ihr  alles  Folgende  beruht.  Vgl.  Reinhold,  Beitr.  zu  Ber.  I,  287:  „Die 
Erf.  ist  der  eigentliche  letzte  Grund  \  das  Fundament,  über  welchem  das 
herrliche  Lehrgebäude  der  Kr.  d.  r.  V.  aufgeführt  ist.  Die  Vorstellung  der 
Wahrnehmungen  in  einem  gesetzmässigen,  nothwendig  bestimmten  Zusammen- 
hang als  ein  Factum  angenommen  —  ist  die  Basis  des  ganzen  K.'schen 
Systems".  Vgl.  ib.  I.  334.  Man  bemerke  hier  den  Üebergang  von  der  sub- 
jectiven  Gewissheit  zu  der  immanenten  Nothwendigkeit  der  Erfahrung.  Vgl. 
Caird,  Pkü.  of  Kant  220  über  diese  „aignificant  question".  Vgl.  hierüber 
femer  Fortlage,  Philos.  s.  K.  24.  Werner  Phil.  Archiv  II,  4,  70. 
Biedermann,  Deutsche  Philos.  I,  68  f.  Ulrici,  Grundpr.  I,  301. 
Watson,  Jaum.  of  sp.  Phü.  X,  125.  Kritische  Briefe  S.  14  f.  Dag. 
Born,  Phil.  Mag.  II,  354. 

Mltliiii  a  priori  darthnn«  Für  K.  ist  es,  wie  schon  zu  der  bedeutsamen 
Stelle  der  Vorrede  A  VI.  Vm  bemerkt  wurde,  durchaus  Hauptsache,  dass  die 
Thatsache  apriorischer  Erkenntniss  nicht  empirisch  aufgefunden,  sondern 
selbst  a  priori,  d.h.  nothwendig  apodiktisch  deducirt  wird.  Die  Theorie 
des  Apriorischen  muss  selbst  apriorisch  sein.  Schon  der  blosse 
Nachweis  des  Vorhandenseins  einer  apriorischen  Erkenntniss  muss  selbst 
apriorisch  sein.  Der  hier  nur  skizzenhaft  angedeutete  Beweis  ist  ein  Beweis 
ans  Begriffen,  aus  dem  Begriffe  der  Möglichkeit  resp.  Gewissheit  der 
Erfahrung.  Der  Beweis  ist  also  deductiv.  Dieser  Beweis  a  priori  steht 
somit  formal  und  wie  oben  gezeigt,  auch  material  ganz  auf  Leibniz- 
Wolf'sehem  Boden*.     Daher  Tissot  36  richtig   j^dhnontrer  rationelle- 


*  Qenan  dasselbe  mit  denselben  Ausdrücken  sagt  auch  Riehl,  der  Kriticis- 
muB  S.  298.  303.  310.  „Der  Begriff  der  Erf.  ist  der  feste  Grund  [?],  die  einzige  [?] 
Voraussetzung  der  Kantischen  Erkenntnisstheorie^.  Gegen  diese  „whdUy  false  and 
inadmistabU  preimss"  wendet  sich  energisch  Stirling,  Oriticiam  of  Kants  main 
prmeipks.  Joum.  of  apee,  Phil.  XIV,  267. 

'  Man  bemerke  übrigens  wohl,  dass  „a  priori^  hier  nicht  im  streng  K  antisc  hen 


222 


Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  TL. 


B  5.  [R  698.  H  35.  86.  E  49.] 

menf^.  Diese  Methode  hat  im  Anschluss  an  Cohen  besonders  Biehl  be- 
tont, Kritic.  I,  294—311. 

Denn^  wo  wollte  selbst  Erfahrung  u.  s.  w.  Maimon,  Krit.  Unters.  57 
bemerkt  ganz  trocken  und  kurz:  »Hierauf  würde  Hume  erwidern,  dass  in 
der  That  Erf.  keine  absolute  Gewissheit  habe,  sondern  bloss  eine  Näherung 
zur  Gewissheit,  die  einen  subjectiven  Grund  hat,  dessen  Folgen  aber  mit 
den  Folgen  einer  absoluten  Gewissheit  verwechselt  werden  können*.  Den- 
selben Gedanken  fuhrt  gut  aus  Metz,  Darst.  190  ff.  K.  drehe  sich  eigentlich 
im  Zirkel;  denn  bei  seiner  Widerlegung  Hume's  nehme  er  eben  in  seinem 
Begriffe  der  Erf.  das  von  jenem  Bestrittene  glattweg  an.  Vgl.  Krit.  Briefe 
14  f. :  Erfahrungssätze  seien  allerdings  nicht  erste  Grundsätze;  aber  durch 
Hilfe  des  einzigen  und  ersten  sichern  Grundsatzes  —  des  Satzes  vom  Wid. 
—  könne  man  doch  zu  einer  gewissen  Erfahrungserkenntniss  gelangen.  Auch 
Sigwart,  Gesch.  d.  Phil.  III,  39  meint,  derartige  Gründe  hätten  Hume 
wohl  nicht  überzeugt.  Vgl.  bes.  J.  Watson,  Ks.  Reply  to  Hume  (Joum. 
of  8p.  Phü.  X,  113-134). 

Allein  hier  kennen  wir  u.  s.  w.  Unrichtig  verwerthet  Meyer,  Ks. 
Psych.  134  diese  Stelle,  wenn  er  sie  als  Beweis  dafür  ansieht,  dass  K. 
durchaus  nur  den  Nachweis  des  Apriori  habe  auf  dem  Wege  abstrahirender 
Selbstbesinnung  fuhren  wollen.  K.  wolle  »also  offenbar  den  Thatbestand 
des  Apriori  nicht  wieder  a  priori  darthun,  sondern  denselben  nach  den  all- 
gemeinen Kriterien  des  Apriori  auf  dem  Wege  reflectirender  Selbstbesinnung 
finden*'.  Allein  dabei  übersieht  Meyer  das  bedeutsame  «hier";  das  heisst 
„an  dieser  Stelle  der  Kritik",  nicht  aber,  „in  der  Kritik  selbst  überhaupt*. 

Selbst  in  Begriffen  u.  s.  w.  Entsprechend  dem  Umstand,  dass  es  nun 
nicht  mehr  Urtheile,  sondern  Begriffe  sind,  um  deren  Apriorit&t  es 
sich  handelt,  ist  auch  die  Noth  wendigkeit,  welche  zum  Beweise  der  Letzteren 
dienen  soll,  eine  andere.  War  sie  bisher  eine  Noth  wendigkeit  des  Nicht- 
anders-denken-könnens,  so  ist  sie  jetzt  eine  Noth  wendigkeit  des  Nicht- 
hinweg-denken-könnens  (des  Nicht-nicht-denken-könnens).  Man  kann  diese 
Begriffe  nicht  „weglassen";  sie  „dringen  sich  mit  Noth  wendigkeit  auT. 
Jacobson,  Auff.  des  Apriori  S.  5  hält  fälschlich  beide  Nothw.  für  identisch, 
indem  er  sie  durch  ein  „oder"  verbindet.  Diese  Unmöglichkeit  von  etwas 
zu  abstrahiren,  nennt  Witte,  Beitr.  23  ein  Hauptmerkmal  für  die  Merkmale 
der  Nothw.  u.  Allg.  selbst.  K.  wendet  indessen  dasselbe  Kriterium  auch 
aufSätzean.  Kr.  d.  pr.  V.  53 :  „Wir  werden  uns  reiner  Grundsätze  bewnsst.^ 
indem  wir  auf  die  Nothwendigkeit,  womit  sie  uns  die  Vernunft  vorschreibt, 
und  auf  Absonderung  aller  empirischer  Bedingungen  Acht  haben."  Es  ist 
hier  sogleich  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  der  Unterschied  apriorischer 
Begriffe  und  Grundsätze  ein  ganz  fundamentaler,   wenn   auch   von  K. 


(=  unabhängig  von  aller  Erfahrung),  sondern  zunächst  nur  im  Leibniz'schen 
Sinne  (=  deduetiv  erschlossen;  vgl.  oben  S.  191)  zu  nehmen  ist.  Dieser  Ver- 
mischung begegnet  man  nicht  selten  bei  Kant. 


Apriorische  Begriffe:  Raum,  Substanz.  223 

[B  698.  699.  H  36.  E  49.]  B  5.  6. 

oft  und  schwer  yemachlässigter  ist  ^  Die  Hinzusetzmig  apriorischer  Begriffe 
macht  das  EmpfinduDgschaos  zu  einer  geordneten  Erfahrungswelt.  Die 
apriorischen  Grundsätze  machen  die  rationalen  Wissenschaften  aus  und 
dienen  dem  Erfahrungs  wissen  als  Pfeiler  und  Anhaltspunkte.  Auch  diesen 
Gegensatz  hält  K.  später  nicht  fest,  vgl.  die  Analytik.  Dort  handelt  es  sich 
um  die  Allgemeinheit  und  Noth wendigkeit  der  Erfahrung,  welche  durch 
jene  Begriffe  hergestellt  wird,  hier  um  die  allg.  und  nothw.  Erkenntnisse  a 
priori;  dort  also,  wie  oben  S.  186  bemerkt,  um  die  Frage:  wie  ist  Erfahrung 
möglich?  hier  um  die  Frage:  wie  ist  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft 
möglich?    Vgl.  die  „Allgemeine  Einleitung",  S,  5 — 7. 

So  bleibt  doch  der  Baum  fkhrlg.  Mit  denselben  Worten  wird  in  der 
Aesthetik  S.  20  f.  die  Apriorität  des  Raumes  erwiesen.  „Wenn  ich  von 
der  Vorstellung  des  Körpers  .  .  .  was  davon  zur  Empfindung  gehört,  als 
ündurchdringlichkeit,  Härte,  Farbe  etc.  absondere,  so  bleibt  mir  aus  dieser 
empirischen  Anschauung  noch  etwas  übrig,  nämlich  Ausdehnung."  Hier 
¥rird  der  Baum  ein  Begriff  genannt.  Vgl.  darüber  unten  zu  B.  39  f. 
Dass  Baum  und  Substanz  übrig  bleiben,  geben  die  Erit.  Briefe  16  zu, 
aber  nur  weil  sie  in  der  Erfahrung  schon  enthalten  und  mitgegeben  waren ; 
es  beruht  jenes  üebrigbleiben  auf  der  gewöhnlichen  Abstraction.  Eine 
theilweise  treffende  Kritik  dieses  Passus  bei  Heynig,  Herausf.  146  ff.,  wo 
diese  , seltsame  Stelle*  ihre  Würdigung  findet.   Aehnlich  Laurie  a.  a.  0.  224. 

Als  Substanz.  Die  Apriorität  der  Belationskategorien  der  Subsistenz  und 
Inhärenz  wird  bewiesen  durch  die  Unmöglichkeit,  sie  vom  Begriff  eines 
Objects  hinwegzunehmen.  Etwas  sonderbar  ist  die  Ausdrucksweise,  man 
könne  dem  Object  nicht  diejenige  Eigenschaft  nehmen,  dadurch  man 
es  als  Substanz  denke;  man  erwartet  parallel  dem  vorigen  Satz  etwa  den 
Ausdruck,  es  bleibe  nach  Wegnahme  aller  empirischen  Bestimmungen  die 
Substanz  übrig  und  diese  lasse  sich  nicht  hinwegdenken.  Allein  es  besteht 
zwischen  dem  Baum  und  den  Kategorien,  den  Anschauungen  und  den  Be^ 
griffen  a  priori  der  wesentliche  Unterschied,  dass  jene  unbedingt,  diese 
nur  bedingt  nothwendig  sind,  unbedingt  jene,  weil  Baum  und  Zeit  überhaupt 
nicht  wegzudenken  sind,  bedingt  diese,  weil  sie  nur  unter  der  Bedingung, 
dass  ein  Object  überhaupt,  ein  Etwas  gedacht  wird,  als  dessen  nothwendige 
Formen  zu  denken  sind.  Die  Parenthese,  welche  Hejmig  Herausf.  153 
, schlechterdings  ganz  sinnlos*  nennt,  („obgleich  dieser  Begriff  [der  Substanz] 
mehr  Bestimmungen  enthält,  als  der  eines  Objects  überhaupt")  ist  wohl  so  zu 
erklären:  obgleich  der  Begriff  der  Subsistenz  und  Inhärenz  mehr  enthalte  und 
bestimmter  sei,  als  der  des  blossen  Etwas,  so  sei  doch  nicht  der  Letztere,  son- 
dern nur  der  Erstere  nothwendig,  und  mithin  a  priori.  Denn  Etwas  zu  denken, 
ist  nicht  nothwendig;  aber  wenn  Etwas  gedacht  ist,  es   als  Substanz  oder 


^  Dies  hängt  zusammen  mit  dem  Uebelstand^  dass  K. ,  wie  hier  in  der  Einl. 
A  n.  B  mehrfach,  ausser  den  Urt heilen  auch  Begriffe  als  „Erkenntnisse'*  be- 
zeichnet. 


224  Commentar  zur  Einleitung  B,  AbscUn.  IL     Anhang. 

B  6.  [B  699.  H  86.  E  49.] 

Accideuz  zu  denken,  sei  noth wendig.  Nicht  jener  vage  u.  allgemeine,  sondern 
dieser  bestimmte  Begriff  ist  ein  apriorischer.  Vgl.  Prol.  §  39:  ^Die  Kategorien 
machen  als  solche  nicht  den  mindesten  Begriff  von  einem  Objecto  an  sich 
selbst  aus,  sondern  bedürfen,  dass  sinnliche  Anschauung  zu  Grunde  liegt,  und 
dienen  alsdann  dazu,  empirische  Urtheile,  die  ...  unbestimmt  sind,  ...  zu 
bestimmen*  u.  s.  w.  Nach  720  ist  aber  auch  „der  Begriff  des  Dinges  über- 
haupt" a  priori.  Ausführliche  Kritik  s.  bei  Heynig,  Herausf.  158 — 164, 
Seine  Einwände  beziehen  sich  einmal  auf  den  Substanzbegriff  selbst  als  eine 
blosse  Einbildung :  hinter  den  erscheinenden  Eigenschafben  und  Theilen  eines 
„Dinges*  steckt  nichts  mehr;  denn  das  „Ding*  besteht  eben  aus  diesen 
Eigenschaften  und  Theilen ;  er  bekämpft  dieses  „geheimnissvoUe  Etwas* ;  was 
man  Substanz  nenne,  gehe  erst  durch  das  Aggregat  aller  Eigenschaften  eines 
Objects  hervor.  Auch  sei  die  Bestimmung,  welche  Dinge  eine  Substanz 
haben,  sehr  willkürlich,  ob  auch  Steine,  oder  nur  ihre  Theile,  ob  Pflanzen 
u.  s.  w.  Das  Beharrliche  als  Gegensatz  der  Veränderung  sei  blosse  Suppo- 
sition.  Die  Dinge  brauchen  keinen  Träger  ihrer  Eigenschaften.  Kurz  er 
behandelt  die  nothwendige  Kategorie  Kants  als  eine  blosse  naive  Täuschung 
des  unphilosophischen  Bewusstseins.  Ausserdem  passe  der  Begriff  der  Substanz 
nicht  auf  alle  Objecte  unserer  Sinneswelt,  er  sei  also  weder  allgemein  noch 
noth wendig.  Gegen  diese  Substanz  „im  schattigen  Hintergrund*  bringt  er 
noch  mehrere  Einwände  vor.  Zweitens  bekämpft  er  auch  Kants  Argumen- 
tation, der  Begriff  lasse  sich  nicht  wegdenken,  wenn  man  auch  alles  andere 
wegnehme.  Wenn  auch  Substanz  eine  subjective  Täuschung  sei,  die  zu  den 
Objecten  hinzutrete,  so  falle  sie  doch  hinweg,  sobald  man  eben  alle  Eigen- 
schaften wegnehme,  dann  bleibe  von  selbst  nichts  mehr  übrig.  Von  einem 
„Sichaufdringen*  dieses  Begriffes  könne  also  nach  keiner  Seite  hin  die  Rede 
sein.  —  So  findet  er  den  ganzen  1.  u.  2.  Abschnitt  „schwankend,  von  allen 
Beweisen   entblösst,    problematisch    und   hypothetisch    hingezettelt*.    (166.) 

Anhang. 

Wir  theilen  hier  zu  leichterer  Orientirung  die  in  der  Kritik  behandelten 
apriorischen  Besitsthttmer  des  Subjects  mit  im  Anschluss  an  Mellin  I,  18. 

1)  Unmittelbare  Erkenntnisse  a  priori. 

Die  Anschauungen  a  priori;  das  was  in  der  unmittelbaren  Vor- 
stellung der  Objecte  nothwendig  und  allgemein  ist  und  daher 
aus  der  Anschauungsfähigkeit  entspringen  muss. 

a)  was  allen  Objecten  nothwendig  ist:   die  Zeit. 

b)  was  den  äusseren  Objecten  nothwendig  ist:    der  Baum. 

2)  Mittelbare  Erkenntnisse  a  priori. 

a)  Begriffe;  das  was  von  jedem  Objecte  nothwendig  gedacht 
werden  muss,  z.  B.  dass  es  Substanz  sei  oder  Accidenz, 
dass  es  eine  Ursache  habe. 


Controverse  über  den  logischen  Zusammenhang  der  Einleitung.        225 

[R  699.  H  86.  E  49.]  B  6. 

b)  ürtheile 

a)  analytische  z.  B.  das  Ich  ist  Subject  der  Vorstellungen, 
P)  synthetische  z.B.  Alles  was  geschieht,  muss  eine  Ursache 
haben. 

c)  Ideen:    Gott,  Freiheit,  Unsterblichkeit. 
Man  kann  auch  eintheilen  mit  Schmid,  Wort.  6  in 

1)  einzelne  Vorstellungen 

a)  Anschauungen,  b)  Begriffe,  c)  Ideen. 

2)  Verbundene  Vorstellungen  (Sätze) 

a)  analytische,  b)  synthetische. 

Ueber  den  loglsebeii  Zusammenhang  bis  hieher,  insbesondere  in  diesem  II.  Abschn. 
hat  sich  zwischen  Ueberweg  und  Riehl  eine  Differenz  ergeben.  Ueber- 
weg  Gesch.  III,  204  gibt  folgenden  Gang  der  Argumentation:  Erf.  gibt 
niemals  wahre  Allgem. ;  solle  es  nun  wahre  Allgemeinheit  in  Erkenntnissen 
geben,  so  müssen  diese  nicht  empirisch,  also  a  priori  sein,  nun  gibt  es  wirklich 
streng  allgemeine  Ürtheile,  also  sind  diese  Ürtheile  a  priori.  Diese  Dtir- 
stellung  stellt  nach  Riehl,  Krit.  I,  326  f.  (vgl.  298)  den  wirklichen  Beweis- 
gang Kants  auf  den  Kopf.  Denn  die  Allgem.  u.  Nothw.  der  Erkenntniss 
bilde  nicht  die  Grundlage,  sondern  das  Problem  der  Kritik;  sie  sei 
nicht  selbst  ein  Beweisgrund.  Es  wird  nicht  aus  der  Allgemeinheit  auf  die 
Apriorit&t  geschlossen,  sondern  umgekehrt,  aus  dem  Beweise  und  der  Recht- 
fertigung der  Apriorität  auf  die  Allgemeinheit.  Die  Kritik  wäre  mit  der  Ein- 
leitung schon  an  ihrem  Ende  angekommen,  wenn  jener  Beweisgang  richtig 
wäre\  Die  Voraussetzung  allgemein-nothwendiger  Erkenntniss  sei  für  Kant 
kein  unbezweifeltes  Factum  u.  s.  w.  Ein  einfacher  Blick  schon  allein  in 
die  Einleitung  (abgesehen  vom  Gange  der  Kritik  selbst)  beweist,  dass  die 
•Kop&teUung*'  in  diesem  Falle  von  Riehl  vorgenommen  ist.  »Wir  sind  im 
Besitze  gewisser  Erkenntnisse  a  priori*  ist  Ueberschrift  und  Inhalt  des  II. 
Abschnittes.  Und  Allgem.  und  Nothw.  sind  die  Kriterien  und  Beweise  dafür. 
Dieses  unbezwei feite  Factum  ist  der  Grundstein  der  Kritik.  Was  sie  will, 
sagt  schon  Abschnitt  III;  erstens  will  sie  untersuchen,  ob  die  Ausdehnung 
apriorischer  Erkenntniss  auf  das  Transscendente  (die  Metaph.  im  engeren 
Sinn)  möglich  sei;  und  zu  diesem  Zwecke  will  sie  zweitens  untersuchen, 
wie  jenes  Factum  der  vorhandenen  und  unbestrittenen  Erkenntniss  a  priori 


'  Genau  ebenso  Watson  (J.  of  sp,  Phil,  X,  119)  gegen  S.  Laurie  (ib.  VI, 
224):  ffit  waidd  be  very  stränge  ^  if  Kant  had  assunufd  that  which  the  Kritik  was 
maifUff  icritUn  to  esiablish,*'  Watson  kann  aber  dann  doch  die  Thatsache  nicht 
leugnen,  und  findet  darin  „an  imperfection  in  the  exposition  of  the  System^*.  Es 
spielen  lüebei  mehrere  methodologische  Unklarheiten  sowohl  Kants,  als  seiner 
CommeDtatoren  mit,  die  erst  in  dem  Commentar  zur  Analytik  aufgehellt  werden 
können. 

Yftthi&ger,  K«nt-Coinnientftr.  ^5 


226  Commentar  sur  Einleitung  B,  Abschn.  II.    Anhang. 

B  6.  [B  699.  H  36.  E  49.] 

zn  erklären  sei\  Biehl  sagt  dasselbe  dann  doch  auf  S.  S27,  331  und 
337.  Es  handelt  sich  offenbar  nicht  um  das  Ob,  sondern  um  das  Wie  und 
Warum  apriorische  Erkenntniss;  um  das  Ob  handelt  es  sich  nur  bei  der 
transscendenten  Erkenntniss.  Dass  im  Laufe  der  Kritik  dieser  analytische 
Gang  nicht  befolgt  wird,  sondern  der  synthetische,  ändert  an  der  Thatsache 
der  hier  in  der  Einleitung  vorliegenden  Argumentation  nichts.  Für  den 
synth.  Gang  scheint  Riehl  Recht  zu  haben ;  doch  fragt  es  sich  auch  dann  noch, 
ob  nicht  für  K.  die  Allgem.  u.  Nothw.  gewisser  Erkenntnisse  einfache  Vor- 
aussetzung ist,  was  mit  Volkelt,  Ks.  Erk.  195  ff.  zu  bejahen  ist.  In  den 
ProL,  welche  den  analyt.  Lehrgang  befolgen,  sagt  K.  ausdrücklich  (§  4.  5), 
dass  in  der  Mathem.  u.  Naturw.  allg.  u.  nothw.  Erkenntniss  wirklich  sei. 
Vgl.  Riehl  a.  a.  0.  339:  Beim  synth.  Gang  forscht  K.  in  den  Quellen,  ans 
denen  Wissenschaft  entspringt,  bei  dem  analyt.  in  dem  Reservoir  des 
Wissens*.  Vgl.  Göring,  System  11,  169  ff.,  welcher  auch  Ueberwegs 
Meinung  ist,  sowie  Erdmann,  Ks.  Kriticism.  38.  48.  172.  Volkelt,  Ks. 
Erk.  224  f.  und  bes.  193  ff.  Auch  Hegel  sagt  schon  in  der  Encyclop.  1840 
I,  85,  dass  Allg.  u.  Nothw.  bei  K.  „ein  vorausgesetztes  Factum* 
seien*.  Vgl.  Körner  an  Schiller  (Briefw.  I,  440.):  „In  Kants  Schriften 
trifft  man  besonders  zu  Anfange  immer  auf  Sätze,  die  das  Ansehen  von 
willkürlichen  Voraussetzungen  haben. "  Nicht  unrichtig  bemerkt  Schulze, 
Krit.  II,  152,  dass,  während  K.  in  der  Aesth.  u.  Anal,  langsam  und  vorsichtig 
zu  Werke  gehe,  er  gerade  in  der  Einl.  äusserst  rasch  vorgehe,  ohne  den 
Boden  genau  zu  untersuchen,  ob  er  atich  die  Last  des  Gebäudes  trage.  Sehr 
scharf  und  treffend  ist  in  dieser  Hinsicht  Reinholds  damit  im  wesent- 
lichen übereinstimmendes  Gesammturtheil  über  die  Einl.,  Beitr.  zu  Ber.  II, 
418 — 421.  „Die  Voraussetzungen,  auf  welchen  das  in  der  Einleitung 
ohne  Erklärung  und  Beweis  als  ausgemacht  Aufgestellte  beruht,  sind  die 
Begriffe  von  Erfahrung  und  von  absoluter  Nothw.  u.  Allgem.*  Diese 
Begriffe  seien  zwar  die  richtigen,   aber  es  sei  zufällig,   wenn  ein  Leser 


'  Göring,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  409  meint,  wie  auch  Paulsen,  in  der 
IL  Aufl.  habe  K.  statt  der  irüheren  Möglichkeit  überall  die  Wirklichkeit  ein- 
gesetzt, insbes.  in  der  Einl.  Dies  wäre  aber  doch  nur  eine  formelle,  durch  die  ana- 
lytische Darstellung  bedingte  Aenderung.  Sachlich  ist  zwischen  I.  u,  IL  Aufl. 
hierin  keine  Differenz.  Die  blosse  stärkere  Betonung  der  Wirklichkeit  ist  keine 
sachliche  Aenderung. 

*  Oder  wie  Riehl  selbst  337  sich  treffend  ausdrückt:  „Er  prüfte  die  Regeln 
des  reellen  Gebrauchs  der  Begriffe,  um  ihren  imaginären  zu  kritisiren."  Vgl. 
hiezu  femer  Cantoni,  Em.  Kant  168  gegen  Riehl;  Harms,  PhiL  s.  Kant  137; 
Proelss,  ürspr.  d.  Erk.  108.     Hegel,  W.  W.  XV,  557. 

'  lieber  die  speciellere  Streitfrage,  ob  K.  die  objective  Gültigkeit  der 
Mathem.  voraussetze,  eine  Frage,  welche  mit  obiger  verwandt  ist,  kann  erst  in 
der  Aesth.  verhandelt  werden.  Die  Streitfrage  zwischen  Fischer  und  Riehl,  welcher 
Gang  derjenige  der  Entdeckung  des  Apriori  historisch  gewesen  sei  (Riehl  a  a.  0. 
339  ff.  Fischer  III,  297  ff.),  überschreitet  die  Grenzen  der  vorliegenden  Aufgabe. 


Allgem.  n.  nothwendige  Crkenntniss  als  Voraussetzung  der  Kritik.      227 

[B  6d9.  H  86.  K  49.]  B  6. 

gerade  auch  dieselben  habe,  da  E.  dieselben  gar  nicht  beweise.  Aber  wie 
anf  diesen  Begriffen  alles  Folgende  beruhe,  so  beruhe  auf  ihrer  Annahme 
oder  wenigstens  dem  Yerständniss  derselben  die  ganze  Stellung  zur  Kritik. 
,Wer  mit  dem  Locke 'sehen  Begriffe  von  Erfahrung  die  Kritik  studirt, 
wird  sich  von  dem  Einen  Fundamentalsatze:  dass  Erfahrung  (weder 
innere  noch  äussere)  keine  eigentliche  Nothwendigkeit  begründen 
könne,  so  wenig  als  der  Leibnizianer,  der  das  Hervorgehen  eines  jeden 
vorgestellten  Prädicats  aus  der  Vorstellung  des  Subjects  zur  inneren  Er- 
fahrung zählt,  sich  von  dem  anderen  Fundamentalsatze:  dass  es  syn- 
thetische Urtheile  a  priori  gebe,  je  überzeugen  können."  Alles  dies 
beruhe  bei  K.  auf  blossen  Voraussetzungen,  daher  auch  die  K.'sche  Be- 
leuchtung der  Locke^schen  und  Leibniz'schen  Theorien  vom  Ursprung,  der 
Vorstellungen  für  deren  Anhänger  verloren  gehe.  Jene  Voraussetzungen 
müssen  also  unabhängig  von  der  „Kritik"  bewiesen  werden,  sonst  sei  diese 
ein  blosser  Cirkel.  Es  fehle  der  Kritik  somit  an  allgemeingeltenden 
Prämissen,  welche  Reinhold  bekanntlich  in  seiner  „Elementarphilo- 
sophie* gegeben  haben  will,  die  eben  darum  diesen  Namen  führt,  weil  die 
Elemente  bewiesen  und  die  Fundamente  gelegt  werden  sollen,  was  bei 
K.  nicht  der  Fall  sei.  Vgl.  dess.  Fund  am.  d.  philos.  Wiss.  135  ff.  lieber 
die  Einleitung  im  Ganzen  sagt  Cousin,  Phil.  d.  K.  61:  „Cß  qui  y  frappe 
QU  Premier  eoup  d'oeü,  comme  dans  le  diseoura  de  la  mithode,  c^est  la 
hardiesse  et  VSnergie  de  la  pensSe.  Kant  s^y  donne  auvertement  paur  un  vSri- 
table  rSvolutionnaire,  Comme  Descartes,  ü  dMaigne  tous  les  systhnes  an- 
tSrieurs  ä  sa  critique  .  .  ,  on  ne  faxt  pas  les  rSvolutians  avec  de  petites  prS- 
tentions.'' 

UBtenchled  der  beiden  BedaetioneD«  Ausser  den  bisher  bemerkten  treten 
folgende  Differenzen  hervor:  Beide  Darstellungen  beginnen  mit  dem  Grund- 
satz, dass  die  Erfahrung  als  der  durch  den  Verstand  bearbeitete  Rohstoff 
den  Anfang  aller  Erkenntniss  bilde  ^  Allein  in  dem  Gegensatz,  der  jenen 
Grundsatz  ergänzt,  weichen  beide  ab,  indem  je  ein  anderes  Element  jenes 
Satzes  herausgegriffen  und  an  dasselbe  die  Antithese  geknüpft  wird.  In  der 
I.  Aufl.  wird  fortgefahren,  dass  der  Verstand  ausser  jener  Bearbeitung  der 
Empfindung  noch  eine  Quelle  selbständiger,  allgemeiner  und  nothwendiger 
Erkenntnisse  a  priori  sei.  Dann  wird  darauf  hingewiesen,  dass  selbst  die 
Erfahrung  apriorische  Elemente  enthalte.  —  Anders  der  Gang  der  II.  Aufl. 
Der  sich  von  jenem  gemeinschaftlichen  Ausgangspunkt  abzweigende  Gegensatz 
liegt  hier  in  der  Behauptung,  dass  Anfangen  mit  der  Erfahrung  nicht  mit 
Ursprung  aus  der  Erf.  zu  verwechseln  sei.  Ohne  speciellere  Rücksicht  auf 
die   ganz   reine  apriorische  Erkenntniss   wird    sogleich    zu    der   Möglichkeit 


'  Gemeinsam  ist  beiden  Auflagen  erstens  der  Mangel  an  Präcision  in  der 
Unterscheidung  und  Auseinanderbaltung  der  drei  Bedeutungen  von  „Erfahrung**; 
zweitens  die  ungenügende  Unterscheidung  der  „Erfahrung**  im  prägnanten  Sinn 
(als  einer  apriorisch  tingirten  Erkenntniss)  von  der  rein  apriorischen  Erkenntniss. 


228  Commentar  zur  Einleitung  B^  Absclin.  II.     Anhang. 

B  6.  [B  699.  H  36.  K.  49.] 

übergegangen,  dass  der  Erfahrung  selbst  apriorische  Elemente  beigemiscbt 
seien.  Was  somit  hier  bemerkenswerth  ist,  ist  das  Hervortreten  der  der 
Erfahrung  beigemischten  apriorischen  Erkenntniss,  im  Gegensatz  zu  dem 
selbstständigen  Apriori.  Diese  Aenderung  ist  eine  durch  die  in  der  2.  Aufl. 
in  den  Vordergrund  tretende  Deduction  der  Kategorien  bedingte  Verschie- 
bung, die  aber  (vgl.  oben  187)  sogleich  wieder  zurückgenommen  wird.  Sodann 
ist,  wie  schon  Erdmann  Ks.  Kritic.  164  bemerkt,  hier  die  Definition  des  Apriori 
ungleich  präciser.  „In  der  I.  Aufl.  wird  der  Inhalt  dieses  Begrifl^es  nur  gleich- 
sam im  Vorübergehen  bestimmt.  Hier  dagegen  wird  die  Definition  nicht 
bloss  zu  Anfang  sclbstständig  entwickelt,  sondern  auch  sorgfältig  zergliedert. 
Die  absolute  Unabhängigkeit  der  Erkenntniss  a  priori  von  der  Erfahrung, 
der  Gegensatz  der  Kantischen  Fassung  gegen  den  herrschenden  unbestimmteren 
Gebrauch  des  Wortes,  die  Kriterien  desselben  .  .  .  dies  alles  wird  gesondert 
hervorgehoben."  Diese  Aenderung  gehört  zu  den  „rein  immanenten  Klärungen 
der  Gedanken,  die  eine  Inhaltsveränderung  weder  voraussetzen,  noch  be- 
dingen". In  der  I.  Aufl.  wird  von  der  Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit 
auf  die  Unabhängigkeit  von  der  Erfahrung  geschlossen;  in  der  11.  Aufl. 
werden  für  die  letztere,  welche  vorangestellt  wird,  die  ersteren  erst  nachher 
als  Merkmale  aufgefunden.  Neu  ist  in  der  II.  Aufl.  der  sorgsame  Unter- 
schied des  absoluten  und  relativen,  des  reinen  und  gemischten  Apriori. 
Methodologisch  wichtig  ist  aber  vor  allem  die  Differenz,  dass  in  der  I. 
Aufl.  die  Thatsache  der  apriorischen  Erkenntnisse  einfach  vorausgesetzt 
und  behauptet  wird,  während  die  zweite  Auflage  nur  zunächst  ihre  Mög- 
lichkeit aufstellt  und  dann  erst  die  qucestio  facti  erhoben  und  durch  Nach- 
weis, dass  die  Merkmale  der  problematisch  definirten  apriorischen  Erkenntniss 
an  wirklichen  Sätzen  und  Begriffen  (welche  hier  ebenfalls  ausführlicher  un- 
terschieden werden,  als  in  der  I.  Aufl.)  sich  finden,  entschieden  wird.  Diese 
methodische  Verbesserung  wird  noch  erhöht  durch  passende  Einstreuung  von 
Beispielen,  auf  deren  Mangel  in  der  I.  Aufl.  mehrere  Recensenten  aufmerksam 
gemacht  hatten.  Die  Darstellung  der  II.  Aufl.  unterscheidet  sich  also  von 
der  I.  in  dem  I.  Abschnitt  besonders  durch  die  vorsichtigere  Einführung 
des  Apriori.  In  der  I.  Aufl.  wird  dasselbe  ohne  Weiteres  dem  Leser  aufoctroprt. 
In  der  11.  Aufl.  wird  wenigstens  zunächst  die  Frage  aufgeworfen,  ob 
es  apriorische  Erkenntniss  gebe  und  deren  Möglichkeit  nur  vorläufig  in 
Aussicht  genommen.  Erst  dann  wird  die  Antwort  ertheilt,  dass  es  solche 
geben  müsse,  wenn  es  allgemeine  und  noth wendige  Erkenntniss  geben  solle, 
und  daran  schliesst  sich  erst  der  factische  Nachweis  ihres  Vorhandenseins. 
Gänzlich  neu  ist  die  Beziehung  auf  Hume,  die  noch  mehrfach  als  ein 
Zusatz  zur  II.  Aufl.  begegnet,  sowie  der  rudimentäre  apriorische  Beweis  des 
Apriori.  Endlich  ist  es  als  methodische  Verbesserung  zu  verzeichnen,  dass 
in  der  II.  Aufl.  der  Ausdruck  „Vernunft  in  den  beiden  ersten  Abschnitten 
ganz  vermieden  ist,  sowohl  für  immanentes,  als  für  transscendentes  Apriori. 
Erst  mit  dem  aus  der  I.  Aufl.  stammenden  3.  Abschnitt  tritt  dieselbe  auf.  Vorher 
gebrauchte  K.   nur   den   allgemeinen,   neutralen  Ausdruck   „Erkenntnissver- 


Unterschied  der  beiden  Redactionen.     üebergang.  229 

[B  699.  H  36.  E  49.]  B  6. 

mögen*.  Eine  knrze  aber  treffende  üebersicht  der  Veränderungen  der  II. 
Aufl.  in  der  Einl.  s.  in  Reinholds  Recension  der  II.  Aufl.  Beitr.  z.  Bericht. 
n,  418:  bestimmtere  Unterscheidung  zwischen  reiner  und  empir.  Erkenntniss, 
ausführlichere  Behauptung  der  Wirklichkeit  apriorischer  Erkenntniss, 
hellere  Beleuchtung  des  Unterschieds  zwischen  analyt.  u.  synth.  Urth.  u.  s.  w. 

Lofrisehe  Analyse  des  Zasammenhangs  in  Absehnitt  I  n.  II  der  2«  Aufl. 

Nachdem  in  Abschn.  I  der  Unterschied  der  Erfahrungs-  und  der  Vernunft- 
erkenntniss  vorläufig  als  ein  problematischer  aufgestellt  worden  ist,  wird  in 
Abschn.  II  die  thatsächliche  "Existenz  apriorischer  Erkenntnisselemente  nach- 
gewiesen. Abs.  1.  gibt  die  Unterscheidungsmerkmale  des  Gesuchten 
an  (Nothw.  u.  Allgem.),  Abs.  2  wendet  dieselben  an  und  findet  das  Ge- 
suchte (Apriorische  Sätze  und  Begriffe).  Dass  der  Abschnitt  I  den  Anti- 
dogmatismus,  II  den  Idealismus,  III  den  Kriticismus,  IV  den  Transscen- 
dentalismus  »deutlich  im  Keime  enthalten",  ist  eine  spielerische  Behauptung 
bei  Witte,  Beitr.  25. 


Erklänmg  von  A,  S.  2—6  =  B,  Absclm.  m,  S.  6—10. 
Nothwendigkeit  einer  Theorie  des  Aprlori.' 

[R  18.  H  87.  K  50.]  A  2.  B  6, 

[Als  alles  Vorige.]  *  Dieser  Zusatz  der  IL  Aufl.  war  bedingt  durch  die 
vorhergehenden  Aendenmgen  derselben  Aufl.  In  ihnen  wurden  die  Mathematik 
und  die  sogen.  , reine  Naturwissenschaft*  (hierüber  unten  zu  B.  17),  oder  die 
immanente  Metaphysik  als  die  Felder  der  apriorischen  Erkenntnisse  behandelt. 
Jetzt  kommt  die  transscendente  oder  die  eigentliche  Metaphysik  zur  Sprache. 
Bis  jetzt  handelt  es  sich  um  solche  Erkenntniss,  deren  Inhalt  zur  Noth 
auch  die  Erfahrung  lehren  kann  (wenn  sie  auch  nicht  die  apodiktische 
Form  zu  geben  vermag),  und  um  solche  Begriffe  und  Urtheile,  die  sich 
überhaupt  noch  auf  die  Erfahrungswelt  beziehen;  jetzt  um  die  apriorische 

'  In  der  Ueberschrift  bei  K.  gehört  „a  priori",  wie  aus  dem  Folgenden  her- 
vorgeht, zu  „Erkenntnißs",  nicht  zu  „bestimmt";  letztere  Auffassung  bei  D6g6- 
rando,  Vergl.  Gesch.  I,  472  f.,  D,  479;  vgl.  dagegen  ib.  u.  I,  517  Tennemanns 
sittliche  Entrüstung,  die  aber  übel  angebracht  ist,  weil  ja  Kants  Methode  factisch 
doch  eine  apriorische  ist  oder  wenigstens  sein  will :  Die  „ganze  Aprioritätswissen- 
schaft"  ist  selbst  apriorisch,  vgl.  Spicker,  Kant  166,  der  aber  denselben  Fehler 
macht  wie  D^drando. 

*  Diejenigen  Stichworte,  welche  aus  Textstellen  genommen  sind,  die  —  in  im 
üebrigen  gemeinsamen  Abschnitten  —  nur  der  2.  (resp.  1.)  Aufl.  angehören ,  sind 
von  hier  an  immer  durch  eckige  (resp.  runde)  Klammem  kenntlich  gemacht. 


230  CommentÄT  zur  Einleitung  A,  S.  2—6  =  B,  Abschn.  III. 

A  2.  3.  B  6. 7.  LB  IB.  H  87.  E  60.  51.] 

Erkenntniss  von  Dingen,  welche  jenseits  aller  Erfahrung  liegen.  Derselbe 
unterschied  unten  B.  18.  Der  Verstand  glaubt  mit  derselben  apriorischen 
Methode  auch  über  die  Erfahrung  hinaus  dringen  zu  können.  Jenisch 
Entd.  47  nennt  die  erstere  Art  Vorerfahrungserkenntnisse,  die  andere  Ansser- 
erfahrungssätze.  Super-sensible  cognitions  nennt  Letztere  Laurie  a.  a.  0.  225. 

Das  Feld  aller  mSsrlieben  Erfahrungen  yerlassen.  Hiezu  bemerkt  Gör ing, 
System  II,  138,  dass  auch  die  im  zweiten  Abschnitt  besprochenen  streng 
allgemeinen  Erkenntnisse  die  Erfahrung  überschreiten.  E.  hätte  daher 
auch  beide  mit  demselben  Masse  messen,  d.  h.  verwerfen  sollen.  Derselbe 
Gedanke,  aber  mit  entgegengesetzter  Schlussfolgerung  bei  S  p  i  c  ke  r ,  Eant  176  f. 

Die  Nachforschungen  unserer  Yernunft.  Hier  macht  E.  einen  scharfen 
Unterschied  zwischen  Verstand  und  Vernunft.  Jener  geht  auf  ^das  Feld 
der  Erscheinungen*,  diese  geht  „über  die  Sinnenwelt  hinaus*. 
Diesen  Unterschied  macht  E.  häufig,  so  z.  B.  786.  (298.  702).  Die  reine 
Vernunft  im  weiteren  Sinn  zerfällt  in  reine  Anschauung  (Sinn),  Verstand 
und  Vernunft  im  engem  Sinn.  Letztere  heisst  dann  auch  nicht  selten 
„reine  Vernunft"  im  engeren  Sinn,  diejenige  Vernunft,  welche  ganz  und  gar 
„sinnenfrei"  (639)  ist,  so  gleich  unten  u.  B.  20,  aber  auch  nicht  selten 
„reiner  Verstand",  so  Prol.  §  60.  Erit.  268.  295.  Vgl.  über  diesen  Unter- 
schied noch  Prol.  §  39.  40.  41,  wo  die  Ideen  als  Vemunftbegrifife  von  den 
Eategorien  als  Verstandesbegriffen  als  „Erkenntnisse  ganz  verschiedener  Art, 
Ursprung  und  Gebrauch"  geschieden  werden.  E.  legt  auf  diese  Unterscheidung 
daselbst  mindestens  ebenso  hohen  Werth  als  auf  die  der  analytischen  und 
synthetischen  Urtheile.  Die  Terminologie  Eants  in  diesem  Punkte  ist  jedoch, 
wie  Schopenhauer  gezeigt  hat,  ganz  schwankend,  worüber  in  der  Ana- 
lytik und  Dialektik  noch  zu  sprechen  ist.  Wenn  E.  in  der  altersschwachen 
Schrift  gegen  Nicolai,  „Erster  Brief*  1798,  Vernunfturtheile  von  Ver- 
standesurtheilen  so  unterscheidet,  dass  nur  die  ersteren  a  priori,  die  letz- 
teren dagegen  empirisch  seien,  so  Hesse  sich  das  zwar  so  erklären,  dass  dort 
Vernunft  im  weiteren  Sinne  genommen  ist.  Indessen  liegt  in  diesem  Port- 
schritt der  Terminologie  eine  allmälig  fortrückende  Herabsetzung  des  Ver- 
standes gegenüber  der  Vernunft,  welche  ebensosehr  der  Pichte-Schelling- 
sehen  Philosophie  entspricht,  als  sie  Eants  eigenen  Intentionen  von  1781 
widerspricht.     Vgl.  unten  232.  237.  238  und  zu  A  11. 

So  angelesene  Untersnchnngen.  Dies  wiederholt  Eant  mit  Vorliebe.  Vgl. 
zu  den  Stellen  zu  Vorr.  A.  IV  noch  Vorr.  B.  XV  f. :  „wichtigste  Angelegenheiten; 
eines  der  wichtigsten  Stücke  unserer  Wissbegierde".  Die  metaphysischen 
Fragen  sind  die  „höchsten  und  angelegensten  Zwecke  der  Menschheit*. 
463.  Es  handelt  sich  um  „die  höchsten  Zwecke  unseres  Daseins*.  B.  895. 
Anm.  Ueber  den  letzten  Zweck  der  Metaphysik,  die  Moral,  s.  zur  Metho- 
denlehre. Vgl.  Metaph.  4  ff.    [Vgl.  oben  S.  100.] 

[Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit.]  Diese  Zusammenstellung  kehrt  in 
dieser  Wortfolge  sehr  häufig  wieder,  bes.  in  der  IE.  Aufl.,  in  welcher  E.  die 
positive  Seite  seines  Systems  betonen  will,  z.  B.  Vorr.  B,  XXX.  B.  395  Anm. ; 


Verstand  u.  Vernunft.    Gott,  Freiheit  u.  Unsterblichkeit.  231 

[R  —  H  37.  K  51]  B  7. 

.Die  Met.  hat  zum  eigentlichen  Zwecke  ihrer  Nachforschung  nur  drei  Ideen: 
G.,  Fr.  u.  Unst.  .  .  .  Alles,  womit  sich  diese  Wissenschaft  sonst  beschäftigt, 
dient  ihr  bloss  zum  Mitt«el,  um  zu  diesen  Ideen  und  ihrer  Bealität  zu  ge- 
langen. Sie  bedarf  sie  nicht  zum  Behufs  der  Naturwissenschaft,  sondern 
um  über  die  Natur  hinauszukommen/  Kr.  d.  ürth.  B.  465.  (§91)  Metaph.  17: 
•Die  Begrifife,  worauf  Alles  angelegt  zu  sein  scheint,  ist  der  Begriff  von 
einem  Höchsten  Wesen  und  einer  anderen  Welt."  Ib.  18:  Gott  u.  Un- 
sterbl.  sind  ,die  beiden  grossen  Triebfedern,  weshalb  die  Vernunft  aus  dem 
Felde  der  Erfahrung  herausgegangen^.  Auch  Metaphysik  262  sind  nur  diese 
beiden  Begriffe  genannt,  als  ^die  Grenzen  der  Welt  a  parte  ante  und  a  parte 
past^,  d.  h.  Gott  und  die  künftige  Welt.  „Wenn  diese  Grenzen  nicht  wären, 
dann  wären  alle  metaph.  Speculationen  vergebens  und  nicht  vom  geringsten 
Nutzen.  Alle  Speculationen  der  Phil,  haben  ihre  Beziehung  auf  diese  zwei 
Grenzbegriffe. "  „Der  Eine  betrifft  die  Ursache,  der  Andere  die  F  o  lg e  der 
Welt,*  »Die  Erkenntniss  von  Gotc  [auf  diesen  Einen  Begriff  concentrirt  sich 
also  schliesslich  alles]  ist  das  Ziel  und  die  Endabsicht  der  Metaphysik*; 
diese  ,isi  eine  Wissenschaft,  in  der  wir  untersuchen,  ob  wir  eine  Ursache  der 
Welt  einzusehen  im  Stande  sind".  —  Vgl.  ferner  bes.  Fortschr.  K.  156. 
R  I,  553.  Zu  dieser  SteUe  vgl.  Jacobi.  W.  W.  IH,  341.  Baggesen, 
NachL  n,  231.  Schaarschmidt,  Phil.  Mon.  XIV,  12.  Schopenhauer, 
Naehlass  343.  Jacobson,  Auff.  d.  Apriori  17  f.  Spicker,  Kant  168: 
0 Diese  3  Begriffe  waren  die  Quintessenz  der  alten  Metaphysik.* 

[Endabsicht  der  Metaphysik.]  Dass  die  Endabsicht  der  Metaphysik  eine 
transscendente  sei,  ist  ein  bemerkenswerther  Zusatz  der  II.  Aufl.,  weil 
K.  dies  hier  billigt.  In  den  späteren  Schriften  billigt  K.  diese  transscen- 
dente Richtung  immer  mehr.  Insbesondere  die  Schrift  über  die  Fortschr.  d. 
Metaph.  steht  ganz  auf  diesem  Standpunkt.  Die  transscendente  Metaphysik 
ist  gder  grosse,  vielleicht  der  grosseste  ja  alleinige  Endzweck,  den  die  Ver- 
nunft in  ihrer  Speculation  je  beabsichtigen  kann*.  K.  98.  R.  I,  488.  »Der 
Endzweck,  auf  den  die  ganze  Met.  angelegt  ist,  ist  leicht  zu  entdecken,  und 
kann  in  dieser  Rücksicht  eine  Definition  derselben  begründen:  sie  ist  die 
Wissenschaft,  von  der  Erkenntniss  des  Sinnlichen  zu  der  des 
Uebersinnlichen  durch  die  Vernunft  fortzuschreiten.*  Ib.  K.  136. 
R.  I,  530.  »Auf  das  üebersinnliche  in  der  Welt  (die  geistige  Natur  der 
Seele)  und  das  ausser  der  Welt  (Gott)  also  Unsterblichkeit  und  Theologie, 
ist  der  Endzweck  gerichtet."  [, In  Ansehung  dieses  wesentlichen  Zweckes  hat 
die  Met.  bis  auf  Leibnitz  und  Wolffs  Zeiten,  diese  mit  eingeschlossen,  nicht 
die  mindeste  Erwerbung  gemacht.*  Das  kann  nach  Fortschr.  K.  161  R.  I, 
559  ,mit  der  grössten  Gewissheit  dargethan  werden".]  Dies  ist  so  sehr  der 
Fall,  dass,  wie  K.  mehrfach,  bes.  Fortschr.  K.  160  R.  I,  557,  ausführt, 
überhaupt  um  der  bloss  auf  die  Erfahrung  bezüglichen  apriorischen  Er- 
kenntniss willen  nie  Metaphysik  entstanden  wäre.  „Zum  Bebufe  der 
Erkenntniss  solcher  Erfahrungsgegenstände  (bes.  des  Oausalitätssatzes)  ist 
nie  eine  Metaphysik  unternommen  worden."    Man  hat  diese  Principien  daher 


232  Commentar  zur  Einleitung  A,  S..2— 6  =  B,  Abschn.  III. 

B  7.  [R  —  H  37.  K  51.] 

auch  nie  abgesondert  und  eine  besondere  Wissenschaft  för  sie  errichtet, 
„weil  doch  der  Zweck,  den  man  mit  ihnen  hatte,  nur  auf  Erfahrungsgegen- 
stände  gieng,  in  Beziehung  auf  welche  sie  uns  auch  allein  verständlich  ge- 
macht  werden  könnten,  dieses  aber  nicht  der  eigentliche  Zweck  der  Metaphysik 
war.  Es  wäre  also  in  Absicht  auf  diesen  Gebrauch  der  Vernunft  niemals 
auf  eine  Metaph.  als  abgesonderte  Wissenschaft  gesonnen  worden,  wenn  die 
Vernunft  hiezu  nicht  ein  höheres  Interesse  bei  sich'  geftinden  hätte, 
wozu  die  Aufsuchung  und  systematische  Verbindung  aller  Elementarbegriffe 
und  Grundsätze,  die  a  priori  unserem  Erkenntniss  der  Erfahrung  zum  Grunde 
liegen,  nur  die  Zurüstung  war'.  K.  hebt  oft  genug  hervor,  dass  indessen 
auch  diese  theoretischen  Ideen  nur  Mittel  zum  allerletzten  Zwecke  seien, 
zum  Praktischen,  zur  Moral.  Moral  ist  der  eigentliche  Endzweck  des 
Menschen  und  der  Philosophie.  Diese  ist  daher  eigentlich  Weisheits- 
lehre. Man  darf  diese  fundamentale  Bestimmung  nicht  aus  den 
Augen  verlieren,  wenn  sie  auch  erst  gegen  das  Ende  der  Kritik  stärker 
hervortritt. 

[Metaphysik.]  An  dieser  Stelle  wird  Met.  nur  im  transscendenten 
Sinne  gebraucht.  Es  ist  jedoch  dies  wieder  einer  jener  Termini,  welche  bei 
K.  schwankend  gebraucht  werden.  Met.  bedeutet  bald  immanente  bald 
transscendente  Wissenschaft  aus  reiner  Vernunft.  Jene  ist  Met.  im  guten 
Sinn,  die  von  K.  erlaubte,  für  möglich  gehaltene  und  erst  begründete ;  diese 
in  schlechtem  Sinn,  wenn  sie  auch  der  Natur  ihrer  Aufgaben  nach  die  er- 
habenste Wissenschaft  sein  könnte.  E.  selbst  unterscheidet  so,  wenn  auch 
nicht  immer  consequent,  so  bes.  in  der  Vorr.  B.  XVIII,  wo  er  zwei  Theile 
der  Met.  aufstellt,  und  Fort  sehr.  K.  162  R.  I,  559,  wo  er  sagt:  »Wir 
können  die  Erkenntnisse  a  priori,  deren  Erwägung  nur  zum  Mittel  dient 
und  die  den  Zweck  der  Metaphysik  nicht  ausmacht,  diejenige  nämlich,  welche 
obzwar  a  priori  gegründet,  doch  für  ihre  Begriffe  die  Gegenstände  in  der 
Erfahrung  finden  kann,  von  der,  die  den  Zweck  ausmacht,  unterscheiden, 
deren  Object  nämlich  über  alle  Erfahrungsgrenze  hinausliegt,  und  zu  der 
die  Metaphysik  von  der  ersteren  anhebend,  nicht  sowohl  fortschreitet,  als 
vielmehr,  da  sie  durch  eine  unermessliche  Kluft  von  ihr  abgesondert  ist,  zu 
ihr  überschreiten  will.**  Prol.  §  40:  Die  transsc.  Met.  ist  die  Met.  im 
engeren  (engsten)  Sinn.  Vgl.  hiezu  folgende  Parallelstelle  aus  den  Fortschr. 
K.  162  f.  (R.  I,  560),  in  der  der  Gegensatz  der  immanenten  und  transscen- 
denten Metaphysik  stärker  ausgedrückt  ist.  „Was  die  Realität  der  Elemen- 
tarbegriffe aller  Erkenntniss  a  priori  betrifft,  die  ihre  Gegenstände  in  der 
Erfahrung  finden  können,  imgleichen  die  Grundsätze,  durch  welche  diese  unter 
jene  subsumii-t  werden,  so  kann  die  Erfahrung  selbst  zum  Beweise 
ihrer  Realität  dienen,  z.  B.  der  Begriff  einer  Substanz  und  der  Satz, 
dass  in  allen  Veränderungen  die  Substanz  beharre  und  nur  die  Accidenzen 
entstehen  oder  ausgehen.  Dass  dieser  Schritt  der  Metaphysik  reell  und 
nicht  bloss  eingebildet  sei,  nimmt  der  Physiker  ohne  Bedenken  an,  denn  er 
braucht  ihn  mit  bestem  Erfolg  in   aller  durch  Erfahrung  fortgehenden  Na- 


Immanente  und  transscendente  Metaphysik.  233 

[B  19.  H  87.  38.  E  51.]  A  8.  B  7. 

turbetrachtung ,  sicher  nie  durch  eine  einzige  widerlegt  zu  werden,  nicht 
danun,  weil  ihn  noch  nie  eine  Erfahrung  widerlegt  hat,  .  .  .  sondern  weil 
er  ein  unentbehrlicher  Leitfaden  ist,  um  solche  Erfahrung  anzustellen.  Allein 
das,  warum  es  der  Metaph.  eigentlich  zu  thun  ist,  nämlich  für  den  Begriff 
von  dem,  was  über  das  Feld  möglicher  Erfahrung  hinausliegt,  und  für  die 
Erweiterung  der  Erkenntniss  durch  einen  solchen  Begriff,  ob  diese  nämlich 
reell  sei,  einen  Probirstein  zu  finden,  daran  möchte  der  waghalsige  Meta- 
ph jsiker  beinahe  verzweifeln,  wenn  er  nur  diese  Forderung  versteht,  die  an 
ihn  gemacht  wird.  Denn  wenn  er  über  seinen  Begriff,  durch  den  er  Objecte 
bloss  denken  kann,  durch  keine  mögliche  Erfahrung  aber  belegen  kann, 
fortschreitet,  und  dieser  Gedanke  nur  möglich  ist,  welches  er  dadurch  er- 
reicht, dass  er  ihn  so  fasst,  dass  er  sich  nicht  in  ihm  selbst  widerspricht: 
so  mag  er  sich  Gegenstände  denken  wie  er  will,  er  ist  sicher,  dass  er  auf 
keine  Erfahrung  stossen  kann,  die  ihn  widerlege,  weil  er  sich  einen  Gegen- 
stand, z.B.  einen  Geist,  gerade  mit  einer  solchen  Bestimmung  gedacht  hat, 
mit  der  er  schlechterdings  kein  Gegenstand  der  Erfahrung  sein  kann.  Denn 
dass  keine  einzige  Erfahrung  diese  seine  Idee  bestätigt,  kann  ihm  nicht  im 
Mindesten  Abbruch  thun,  weil  er  ein  Ding  nach  Bestimmungen  denken 
wollte,  die  es  über  alle  Erfahrungsgrenze  hinaussetzen.  Also  können  solche 
Begriffe  ganz  leer  und  folglich  die  Sätze,  welche  Gegenstände  derselben 
als  wirklich  annehmen,  ganz  irrig  sein,  und  es  ist  doch  kein  Probirstein 
da,  diesen  Irrthum  zu  entdecken.  Selbst  der  Begriff  desüebersinnlichen, 
an  welchem  die  Vernunft  ein  solches  Interesse  nimmt,  dass  darum  Metaph. 
wenigstens  als  Versuch,  überhaupt  existirt,  jederzeit  gewesen  ist  und  ferner- 
hin sein  wird:  dieser  Begriff,  ob  er  objective  Realität  habe  oder  blosse  Er- 
dichtung sei,  lässt  sich  auf  theoretischem  Wege  aus  derselben  Ursache  durch 
keinen  Probirstein  direct  ausmachen.  Denn  Widerspruch  ist  zwar  in  ihm 
nicht  anzutreffen,  aber  ob  nicht  alles,  was  ist  und  sein  kann,  auch  Gegen- 
stand möglicher  Erfahrung  sein  kann,  mithin  der  Begriff  des  Uebers.  völlig 
leer  sei  ...  lässt  sich  direct  durch  keine  Probe,  die  wir  mit  ihm  anstellen 
mögen,  beweisen  oder  widerlegen." 

Aflf  den  Credit  der  Grundsätze«  Das  Genauere  über  den  transscen- 
denten  Gebrauch  der  immanenten  Grundsätze  a  priori  (deren  Ursprung 
nach  Kant  den  speculativen  Philosophen  nicht  immer  klar  war)  s.  zu 
Vorr.  A.  I  (oben  S.  83—85). 

Das  Gebiliide  der  Metaphysik.  Ein  beliebtes  Bild  Kants,  das  er  auch 
anderwärts  wie  hier,  gerne  ins  Detail  ausmalt.  So  hebt  er  gleich  unten  S.  5 
hervor,  dass  die  menschl.  Vernunft  es  liebe,  „ihr  Gebäude  so  früh  wie 
möglich  fertig  zu  machen,  und  hintennach  allererst  zu  untersuchen ,  ob  auch 
der  Grund  dazu  gut  gelegt  sei".  Eine  noch  viel  detaillirtere  Ausmalung  s. 
am  Anfang  der  Methodenl.  707.  Er  fuhrt  dort  aus,  dass  statt  des  „Thurmes,  * 


*  Vgl.  Prol.  Anh.:   ^Hohe  Thürme  und  die  ihnen  ähnlichen  metaphysischen 
grossen  Männer,  um  welche  beide  gemeiniglich  viel  Wind  ist,  sind  nicht  für  mich. 


234  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  2—6  =  B,  Abschn.  III. 

A  3.  B  7.  [B  19.  H  37.  38.  E  61.] 

der  bis  an  den  Himmel  reichen  sollte*,  der  Vorrath  der  Materialien  doch 
nur  zu  einem  Wohnhause  zureicht,  welches  zu  unseren  Geschäften  auf  der 
Ebene  der  Erfahrung  gerade  geräumig  und  hoch  genug  war,  sie  zu  über- 
sehen". Zu  diesem  Gebäude  (das  er  auch  als  sein  „System  der  Metaphysik^ 
bezeichnet)  „muss  die  Kritik  den  Boden  vorher  so  tief,  als  die  erste  Grund- 
lage des  Vermögens  von  der  Erfahrung  unabhängiger  Principien  liegt,  er- 
forscht haben  (vgl.  Brief  an  Mendelssohn  vom  18.  Aug.  1783),  damit  es 
nicht  an  irgend  einem  Theile  sinke,  welches  den  Einsturz  des  Ganzen  un- 
vermeidlich nach  sich  ziehen  würde".  Kr.  d.  pr.  Vem.  Vorr.  VII.  Sie  ist 
zugleich  (738)  „die  Kritik  der  Vermögensumstände,  ob  wir  überall  bauen  und 
wie  hoch  wir  wohl  unser  Gebäude  aus  dem  Stoflfe,  den  wir  haben  (den 
reinen  Begriffen  a  priori)  auffuhren  können".  Doch  mit  diesem  „bescheidenen 
Wohnhause"  begnügt  sich  K.  nicht;  errichtet  die  Kritik  einerseits  für  die 
immanente  Metaphysik  dieses  bescheidene  aber  feste  Haus,  so  hat  sie  doch 
noch  eine  andere  „Arbeit",  „nämlich,  den  Boden  zu  jenen  majestätischen 
sittlichen  Gebäuden'  eben  und  baufest  zu  machen,  in  welchem  sich 
allerlei  Maulwxirfsgänge  einer  vergeblich  aber  mit  guter  Zuversicht  auf 
Schätze  grabenden  Vernunft  vorfinden  und  die  jenes  Bauwerk  unsicher 
machen"*.     319.     Von    diesem    durch    die    praktische    Vernunft    erbauten 


Mein  Platz  ist  das  frachtbare  Bat  hos  der  Erfahrung"  u.  s.  w.     (Or.  204  Anm.) 
Vgl.  Schillers  Gedicht:  Der  Metaphysiker. 

„Wie  tief  liegt  unter  mir  die  Welt! 

„Kaum  seh^  ich  noch  die  Menschen  unten  wallen! 

„Wie  trägt  mich  meine  Kunst,  die  höchste  unter  allen  ^ 

„So  nahe  an  des  Himmels  Zelt!" 

So  ruft  von  seines  Thurmes  Dache 

Der  Schieferdecker,  so  der  kleine  grosse  Mann, 

Hans  Metaphysicus,  in  seinem  Schreibgemache. 

Sag  an,  du  kleiner  grosser  Mann, 

Der  Thurm,  von  dem  dein  Blick  so  vornehm  niederschauet. 

Wovon  ist  er,  —•  worauf  ist  er  erbauet? 

Wie  kamst  du  selbst  hinauf  —  und  seine  kahlen  Höh'n, 

Wozu  sind  sie  dir  nütz,  als  in  das  Thal  zu  sehn? 

*  Vgl.  dag.  Herder,  Kalligone  Vorw.  XVIII  (Suph.  XXU,  11):  er  nennt  Ks. 
System  einen  babylonischen  Thurm;  aber  die  Sprache  der  Arbeiter  sei  ver- 
wirrt. Jetzt  baue  sich  Jeder  aus  seinem  „unbewussten  und  bewusst-unbewussten 
Ich"  sein  Thürmchen.  (Damit  sind  Fichte,  Schelling  u.  a.  Epigonen  Es.  ge- 
meint.)   Vgl.  Noack,  Fichte  S.  280. 

*  Dagegen  sagt  Schelling,  Vom  Ich  Vorr.  XIII:  „Die  praktische  Philosophie 
Kants  scheint  nicht  ein  und  dasselbe  Gebäude,  sondern  nur  ein  Nebengebäude  der 
ganzen  Philos.  zu  bilden,  das  noch  dazu  beständigen  Angriffen  vom  Hauptgebäude 
aus  blossgestellt  ist."     [W.  W.  I,  154.] 

»  Vgl.  Fortschr.  K.  157,  R  I,  553 :  „Nach  Vollendung  der  Kritik  d.  r.  V.  kann 
und  soll  die  Metaphysik  aufgebaut  werden,  wozu  nunmehr  der  Bauzeug  zusammt 
der  Verzeichnung  vorhanden  ist,  ein  Ganzes,  .  .  .  welches  beständig  bewohnt  und 


Das  Bild  vom  „Gebäude"  der  Metaphysik.  235 

[R  19.  H  37.  38.  E  51.]  A  3.  B  7. 

Palast  ist  wesentlich  zu  unterscheiden  jenes  Luftschloss  der  theo- 
retischen Vernunft,  von  welchem  Kant  Prol.  §  3  sagt:  „Der  Verstand 
baut  sich  unvermerkt  an  das  Haus  der  Erfahrung  noch  ein  viel  weit- 
l&uftigeres  Nebengebäude  an,  welches  er  mit  lauter  Gedanken- 
wesen anfüllt,  ohne  es  einmal  zu  merken,  dass  er  sich  mit  seinen  sonst 
richtigen  Begriffen  über  die  Grenzen  ihres  Gebrauches  verstiegen  habe/ 
Es  kann  zu  ^der  Einrichtung  desselben  uns  an  Bauzeug  nicht  fehlen, 
weil  es  durch  fruchtbare  Erdichtung  reichlich  herbeigeschafft  wird".  Prol. 
§  35:  Die  Vernunft  ist  eben  „ihrer  Natur  nach  architektonisch**  und  da  der 
Empirismus  „keinen  Anfang  einräumt,  der  schlechthin  zum  Grunde  des 
Baues  dienen  könnte",  so  ist  „ein  vollständiges  Gebäude  der  Erkenntniss", 
das  9 das  architektonische  Interesse  der  Vernunft*  verlangt,  nur  beim  Dog- 
matismus möglich.  474.  f.  „Die  menschliche  Vernunft  ist  so  bau  lustig, 
dass  sie  mehrmalen  schon  den  Thurm  aufgeführt,  hernach  aber  wieder  ab- 
getragen hat,  um  zu  sehen,  wie  das  Fundament  desselben  wohl  beschaffen 
sein  möchte.*  Prol.  Vorr.;  ib.:  „Kartengebäude  der  Metaph."  750:  Der  spe- 
culativen  Bauwerke  (wenn  man  überhaupt  solche  errichten  will)  bedarf 
man  nicht  „um  darinnen  zu  wohnen*.  Die  Betrachtung  der  bisherigen  Phi- 
losophie zeigt  „Gebäude,  aber  nur  in  Buinen*.  852,  vgl.  835.  Man  soll 
eben  »am  jenseitigen  Ufer*  (jenseits  der  Erfahrung)  mit  keinen  Materialien 
der  Sinnesvorstellung  bauen;  Entd.  R.  I,  434.  Träume,  e.  Geisters.  Vorr.: 
Zu  den  Gebäuden  der  Phantasten  „zeichnen  die  Philosophen  den  Grundriss, 
und  ändern  ihn,  wie  ihre  Gewohnheit  ist*  *.  Tadelnd  spricht  E.  in  der  Diss. 
§  28  von  dem  „Ingenium  architectonicum,  seu,  si  mavis,  ad  chimaeras  proclive", 
Dass  man  aber  „mit  bloss  negativen  Sätzen  kein  Gehör  findet*,  dass  man  „an 
Stelle  dessen,  was  man  niederreisst,  aufbauen  muss*  erkennt  E.  an  im  Brief 
an  Herz  vom  21.  Febr.  1771.  Wie  sehr  E.  dies  Bild  liebt,  erhellt  daraus, 
dass  er  es  in  der  Vorrede  zum  Beweisgrund  zur  Demonstr.  Gottes  1763 
breit  ausführt.  Nach  den  Tr.  e.  Geist.  I ,  III ,  Anf.  hatte  Wolf  seine  Ord- 
nung der  Dinge  „aus  wenig  Bauzeug  der  Erfahrung,  aber  mehr  er- 
schlichenen Begriffen  gezimmert*.  Er  ist  einer  der  „Luftbaumeister*. 
Vgl.  ib.  Vorrede.  —  Der  Schlussstein  des  ganzen  Gebäudes  der  r.  V.  ist 
der  Begriff  der  Freiheit.  Er.  d.  pr.  V.  Vorr.  4-  An  diesem  Gebäude  braucht 
man  nicht  „wie  bei  einem  übereilten  Baue,  hintennach  Stützen  und  Strebe- 
pfeiler anzubringen*  ib.  12.  Nach  dem  Brief  an  Schütz  (A.  L.  Z.  1786, 
I,  56)   liegt   „in  der  menschl.  Vernunft  das  Bedürfaiss,   mit  dem  Gottes- 


im  baulichen  Wesen  erhalten  werden  muss,  wenn  nicht  Spinnen  und  Waldgeister, 
[nach  dem  Zusammenhang  sind  damit  „Theosophie,  Mystik  und  Pneumatik^  gemeint] 
die  nie  ermangeln  werden,  hier  Platz  zu  suchen,  sich  darin  einnistein  und  es  für 
die  Vernunft  unbewohnbar  machen  sollen.     Dieser  Bau"  u.  s.  w. 

*  Ewig.  Friede  in  d.  Philos.  I,  A. :  der  Dogmatismus  baut  Systeme;  der 
Skeptic.  stürzt;  der  Moderatismus  (die  Populärphilosophie)  „stellt  ein  Dach  ohne 
Hans  zum  gelegentlichen  Unterkommen  auf  Stützen". 


236  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  2—6  =  B,  Abschn.  III. 

[A  3.  B  7.  [B  19.  H  37.  38.  E  51.] 

begriff  wie  mit  einem  Schlusssteine  ihrem  freyschwebenden  Gewölbe  Haltung 
zu  geben".  Nachher  errichtete  jedoch  K.  noch  mehrere  Gebäude,  so  sagt  er 
von  der  Kritik  der  teleol.  Urtheilsk.  (Kr.  d.  Urth.  §  68):  Man  müsse  mit  jeder 
Wissenschaft  als  einem  für  sich  bestehenden  Gebäude  architektonisch  zu 
Werke  gehen,  und  sie  nicht  wie  einen  Anbau  und  als  einen  Theil  eines 
anderen  Gebäudes,  sondern  als  ein  Ganzes  für  sich  behandeln ;  nachher  könne 
man  dann  Uebergänge  errichten,  üeber  ähnliche,  „schwer  zu  erfüllende  Be- 
dingungen für  den  Baumeister  eines  Systems"  s.  Met.  d.  Sitt.  Bechtsl.  Einl. 
in,  Anm.  Im  Zusammenhang  damit  steht  der  Terminus  Architektonik:  K. 
spricht  in  der  Meth.  von  einer  „Architektonik  der  reinen  Vernunft".  Schon 
Leibniz  und  Baumgarten  (Metaph.  §  4)  nannten  die  Ontologie  eine 
philos.  Architektonik,  und  Lambert  schrieb  1771  seine  „Anlage  zur  Ar- 
chitektonik oder  Theorie  des  Einfachen  und  Ersten  in  der  philos.  und 
mathem.  Erkenntniss" ;  Vorr.  XXVIII:  „Es  ist  ein  Abstractum  aus  der  Bau- 
kunst, und  hat  in  Absicht  auf  das  Gebäude  der  menschl.  Erkennt- 
niss eine  ganz  ähnliche  Bedeutung,  zumal  wenn  es  auf  die  ersten  Fun- 
damente,  auf  die  erste  Anlage,  auf  die  Materialien  und  ihre  Zube- 
reitung und  Anordnung  überhaupt,  und  so  bezogen  wird,  dass  man  sich 
vorsetzt,  daraus  ein  zweckmässiges  Ganzes  zu  machen."  Eine  Ausfuhrung 
des  Bildes  s.  bei  Will,  Vorl.  179—182.  Er  bemerkt  gut:  „Wer  wird  sagen 
(und  Herr  Kant  gewiss  selbst  nicht),  dass  er  von  den  Bruchstücken  (der 
eingerissenen  Gebäude)  gar  nichts  mehr  habe  brauchen  können,  und  dass 
nicht  mancher  Stein  nur  anders  zugehauen  und  geformet,  wieder  angewendet 
worden,  ja  manche  Seitenwand,  die  noch  vest  genug  stund,  stehen  geblieben 
sei."  In  der  11.  Ausg.  „sei  verschiedenes  in  der  Einrichtung  und  Austheilung 
der  Gemächer  verändert".  Ebenso  bei  Hauptm.  1  ff.,  wo  das  Bild  des  Ge- 
bäudes zur  ganzen  Stadt  erweitert  ist.  Jenisch,  Entd.  29.  37.  41.  (Der- 
selbe führt  auch  an,  man  habe  Mendelssohns  Morgenstunden  „elegante 
Reparaturen  an  alten  Buinen"  genannt.)  Dag.  Stattler,  Antik.  I,  335:  K. 
riss  das  altmodische  Gebäude  nieder  und  baute  ein  Kartenhaus  dafür.  Eine 
ausfuhrliche,  hierauf  bezügliche  Allegorie  s.  in  Eberhards  Philos.  Magazin 
III,  349 — 357.  Dass  es  dem  K.'schen  Gebäude  an  einem  Fundament  fehle,  be- 
hauptete bekanntlich  selbst  Reinhold,  Beitr.  I,  273.  295.  Pundam.  d.  phil.  Wiss. 
3  ff.  Vgl.  Abicht,  Preisschr.  über  d.  Fortschr.  d.  Met.  239.  Schulze,  Krit. 
II,  163.  Reinhold,  Beiträge,  z.  1.  Uebers.  2.  9.  id.  Verm.  Seh.  H,  228.' 
Heusinger,  Das  id.  ath.  System  Fichte's  30  ff.  Erhardt  bei  Reinhold, 
Fundament  143  ff.  Berg,  Epikritik  Vorr.  IX.  Lange,  Mat.  II,  2.  Men- 
delssohn, Morgenst.  Vorr.  XI  hofft  von  K.,  „er  werde  mit  demselben  Geiste 
wieder  aufbauen,  mit  dem  er  niedergerissen  hat".  —  Kant  will  1)  das  alte 


*  Vgl.  hiezu  Bachmann,  Phil.  m.  Z.  109.  Ferner  Jacobi,  W.  W.  II,  16. 
Baader,  W.  W.  XI,  58.  Baggesen,  Nachl.  II,  98.  Bratuschek,  Phil.  Mon. 
I,  257.  XII,  477  (den  Plan  zu  seinem  Gebäude  habe  K.  aus  Piaton  entlehnt 
u.  8.  w.).    J.  Edmunds,  Joum,  of  spec.  Fhü.  VIII,  350.     Paulsen,  Entw.  192. 


Kothwendigkeit  u.  bisherige  Unterlassung  einer  Theorie  des  Apriori.    237 

[R  19.  H  88.  E  51.  52.]  A  3. 4.  B  7. 

Gebäude  der  Metaphysik  niederreissen;  2)  durch  seine  Kritik  ein  neues  Fun- 
dament legen;  3)  ein  neues  Gebäude  errichten  und  zwar  a)  das  „bescheidene 
Wohnhaus''  für  das  Erf ah rungs gebiet,  b)  den  „majestätischen  Palast'' 
der  Moral.  In  dem  ersteren  Punkte  unterscheidet  er  sich  sehr  von  Leibniz. 
Denn  dieser  sagt  Nouv.  Ess.  219  A.:  Je  voudrois  que  les  homnus  d'espHt 
eherchasaent  de  quoi  satis faire  ä  leur  ambition,  en  s^occupant  plutdt  ä  bätir 
.  .  .  qv^ä  ditruire.  Et  je  soukaiterois,  qiion  rassemblät  pltäöt  aux  Romains, 
qui  faisdent  des  beaux  ouvrages  publics,  qu^ä  ce  roi  Vandale,  ä  qui  sa  mhre 
recommanda  que  ne  pouvant  pas  espSrer  la  gloire  d^ egaler  ces  grands  bdtiments, 
il  en  eherehät  ä  les  ditruire.  Grössere  Aehnlichkeit  als  mit  Leibniz  hat  Kant 
hierin  mit  Descartes,  der  in  dem  II.  Abschn.  des  Discours  de  la  MHhode 
genau  dasselbe  Bild  seitenlang  ausführt  und  die  Absicht  ausspricht,  das 
„bdtiment*^  seiner  Ansichten  vollständig  zu  „abattre  pour  le  rebätir, 
parceque  les  fondements  n'en  soni  pas  bien  fermes^.  Er  will  seine  Grund- 
sätze jfajuster  au  niveau  de  la  raifton".  Er  will  nicht  „bätir  sur  de  vieux 
fondements^.  Und  wie  K.  den  „Plan",  so  gibt  er  in  seiner  Schrift  dem 
Publicum  „le  modkle^  des  neuen  bätiment  u.  s.  w.  Ebenso  in  den  Meditationes 
de  prima  philos.  I:  funditus  omnia  .  .  .  esse  evertenda  atque  a  primis 
fundamentis  denuo  inchoandum  etc. 

Wie  denn  der  Terstand  u.  s.  w.  In  diesem  Falle  also  nicht  die  Vernunft, 
weil  es  sich  noch  um  diejenige  Erkenntniss  a  prioi'i  handelt,  welche  imma- 
nent ist,  und  erst  nachher  Anlass  gibt  zu  transscendenter  Speculation.  Auf 
die  Nothwendigkeit  dieser  Untersuchung  (wozu  man  Witte,  Beitr.  24 
vergleiche)  macht  K.  oft  genug  aufmerksam,  falls  die  trän sscen den te  Meta- 
physik fortschreiten  wolle.  Er  gründet  darauf  auch  deren  Definition,  indem 
er  Fortschr.  K.  161,  R.  I,  558  sagt:  „Weil  zur  Erweiterung  der  Erkenntniss 
über  die  Grenze  des  Sinnlichen  hinaus  zuvor  eine  vollständige  Kenntniss 
aller  Principien  a  priori,  die  auf  das  Sinnliche  angewandt  werden,  erfordert 
wird,  so  muss  die  Metaphysik,  w^nn  man  sie  nicht  sowohl  ihrem  Zwecke, 
sondern  vielmehr  nach  den  Mitteln,  zu  einem  Erkenntniss  überhaupt  durch 
Principien  a  priori  zu  gelangen,  d.  i.  nach  der  blossen  Form  ihres  Verfahrens 
erklären  will,  als  das  System  aller  reinen  Vernunfterkenntnisse  der 
Dinge  durch  Begriffe  definirt  werden."  Gegen  die  Möglichkeit  dieser 
Frage  erklärt  sich  Desduits,  Philos.  de  K.  39. 

Hichts  nattirlleher.  Cohen  192  f.:  Hier  „schildert  K.,  indem  er  das  Wort 
natürlich  in  einem  feinen  Doppelsinne  braucht,  wie  man  die  kritische  Frage 
nach  der  Möglichkeit  solcher  Erkenntniss  schon  längst  natürlich,  weil  ver- 
nünftiger Weise,  hätte  aufwerfen  müssen,  und  wie  sie  natürlich,  weil 
begreiflicher  Weise,  unterbleiben  musste.  In  dieser  Schilderung  des  Wohl 
und  Wehe  der  dogm.  Vernunft,  welche  auch  in  Rücksicht  auf  die  Schreibart 
musterhaft  genannt  werden  kann,  drängen  sich  seine  Grundgedanken ''.  Vgl. 
Göring,  System  I,  6.  Die  Gründe,  welche  die  Unterlassung  begreiflich 
machen,  folgen,  und  es  sind  deren  fünf.  Durch  die  vier  ersten  wird  die 
Vernunft  verleitet  und  durch  den  fünften  in  ihrem  Irrthum  bestärkt. 


238  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  2-6  =  B,  Abschn.  III. 

A4.  B  8.  [B  19.  H  38.  E  62.] 

1)  Das  lockende  Vorbild  der  Mathematik, 

2)  Mangel  der  Widerlegung  durch  Erfahrung, 

3)  Erweiterungstrieb  der  Vernunft, 

4)  Die  Leichtigkeit  der  Vermeidung  logischer  Widersprüche, 

5)  Wirklichkeit  apriorischer  Erkenntnisse  durch  blosse  Zergliederung 
der  Begriffe  und  Verwechslung  dieser  mit  wahrhaft  neuen  und 
eigentlichen  Erkenntnissen. 

Die  wichtigsten  Ursachen  sind  die  erste  und  die  letzte,  die  daher  Schmidt- 
Phis.  in  der  Exp.  6  allein  erwähnt,  ebenso  Hauptm.  34.  Brastberger,  Un- 
tersuchung 15  zählt  1,  4,  5  auf.  Witte,  Beiträge  24:  „Die  Veran- 
lassung zu  dem  Missbrauch  apriorischer  Erkenntniss  liegt  in  der  Ver- 
kennung  des  Unterschiedes  zwischen  den  intuitiven  mathem.  Erkenntnissen 
und  den  discursiven.  Die  Ursache  aber,  dass  dieser  Missbrauch  auch  in 
der  Anwendung  nicht  entdeckt  wird,  ist  die  Vernachlässigung  des  Un- 
terschiedes zwischen  analytischen  und  synthetischen  Urtheilen.*  Ein 
weiterer  6.  Hauptgrund  ist  die  schon  oben  berührte,  hier  jedoch  nicht  an- 
geführte Verwechslung  der  auf  die  Erfahrung  gehenden  Begriffe  a  priori 
und  der  Ideen.  Das  führt  K.  in  den  Fortschr.  K.  164  (R.  1,561)  so  aus: 
Die  Metaphysik  hat  „ Ideen,  die  lediglich  das  Uebersinnliche  zum  Gegenstande 
haben  können,  mit  Begriffen  a  priori,  denen  doch  Erfahrungsgegenstände  an- 
gemessen sind,  im  Gemenge  genommen,  indem  es  ihr  gar  nicht  in  Ge- 
danken kam,  dass  der  Ursprung  derselben  von  anderen  reinen  Begriffen  a 
priori  verschieden  sein  könne:  dadurch  es  denn  geschehen  ist,  welches  in  der 
Geschichte  der  Verirrungen  der  menschlichen  Vernunft  besonders  merkwürdig 
ist,  dass,  da  diese  sich  vermögend  fühlt,  von  Dingen  der  Natur  und  über- 
haupt von  dem,  was  Gegenstand  möglicher  Erfahrung  sein  kann  (nicht 
bloss  in  der  Naturwissenschaft,  sondern  auch  in  der  Mathematik)  einen 
grossen  Umfang  von  Erkenntnissen  a  priori  zu  erwerben,  und  die  Realität 
dieser  Fortschritte  durch  That  bewiesen  hat,  sie  gar  nicht  absehen  kann, 
warum  es  ihr  nicht  noch  weiter  mit  ihren  Begriffen  a  priori  gelingen  könnte, 
nämlich  bis  zu  Dingen  oder  Eigenschaften  derselben,  die  nicht  zu  Gegen- 
ständen der  Erfahrung  gehören,  glücklich  durchzudringen.  Sie  musste  noth- 
wendig  die  Begriffe  aus  beiden  Feldern  für  Begriffe  von  einerlei  Art  halten, 
weil  sie  ihrem  Ursprung  nach  sofern  wirklich  gleichartig  sind,  dass  beide 
a  priori  in  unserem  Erkenntnissvermögen  gegründet,  nicht  aus  der  Erfahrung 
geschöpft  sind,  und  daher  zu  gleicher  Erwartung  eines  reellen  Besitzes  und 
Erweiterung  desselben  berechtigt  zu  sein  scheinen". 

Dass  diese  Untersnehnng  lange  Zeit  unterbleiben  mnsste*  Eine  unge- 
rechte Beschuldigung  (vgl.  Brastberger,  Unters.  17),  wenn  man  an  Gartesius, 
Spinoza,  Leibniz  denkt,  welche  ausführliche  erkenntnisstheoretische  Er- 
wägungen angestellt  haben ;  K.  tadele  seine  Vorgänger,  weil  bei  ihnen  seine 
Untersuchungen  insbes.   seine  transsc.   Deduction  sich  nicht  finden'.     Vgl. 


'  Man  vgl.  hiezu  die  treffende  Stelle  bei  Cousin,  Phil,  de  Kant  61  ff. 


Kants  Ansprach  auf  die  Neuheit  seiner  Untersuchnng'.  239 

[R  19.  H  38.  E  62.]  A  4.  B  8. 

Eberhard,  Phil.  Mag.  I,  23.  Auf  Tetens,  als  Vorgänger  Kants  weisen  bes. 
Schwab  in  der  Preisschr.  über  die  Fortschr.  d.  Met.,  sowie  Nicolai,  Philos. 
Abh.  I,  n.  n,  18  hin.  Vgl.  Kritische  Briefe  17  ff.  Dass  Locke  schon 
yon  der  nämlichen  erkenntnisstheoretischen  Frage  ausgieng  als  Kant,  hat 
schon  Tiedemann,  Geist  der  spec.  Phil.  VI,  261  bemerkt;  auch  er  wollte 
eine  Ausmessung  unserer  Denkkräfte  zu  Stande  bringen,  durch  welche  alle 
philosophischen  Zwiste  sollten  beigelegt  und  der  Philosophie  ein  fester  Grund 
untergelegt  werden.  Warum  aber  Locke's  Unternehmen  im  Sand  ver- 
laufen sei,  untersucht  F.  Herbst,  Locke  u.  Kant,  Stettin  1869.  —  Dass 
auch  vor  K.  kritische  Erkenntnisstheorie  getrieben  worden  sei,  betont  auch 
Dühring,  Krit.  Gesch.  398;  freilich  sei  dies  „Verstandeskritik*,  nicht 
„Vernunft kritik"  gewesen.  Eine  an  Dühring  sich  anschliessende  Aus- 
fohrung  dieses  Gedankens  ist  das  Buch  von  Riehl,  der  Philos.  Kriticismus,  L 
—  Diesen  Ausspruch  und  Anspruch  Kants  auf  Neuheit  hat  bes.  Fischer, 
Gesch.  III,  Einl.  20  ff.  zu  rechtfertigen  gesucht.  Lewes,  Gesch.  II,  487  ff. 
hat  dagegen  beachtenswerthe  Einwände  gemacht:  Das  Problem,  welches  K. 
lösen  wollte,  war  der  ganzen  neueren  Philos.  gemein:  Haben  wir  von  der 
Erf.  unabhängige  Gedanken?  Der  Gedanke  an  eine  Kritik  der  Erkenntniss, 
an  eine  Theorie  der  Erf.  war  nicht  originell.  Wie  die  Unternehmung, 
war  auch  die  Methode  nicht  neu:  sie  war  die  metaphysische.  Endlich 
waren  auch  die  Resultate  nicht  neu'.  Dag.  Harms,  Phil,  seit  K.  131 :  „Schon 
vor  dem  Columbus  kannte  man  Amerika  und  dennoch  hat  er  es  erst  ent- 
deckt.* An  das  »Ei  des  Columbus*  erinnert  Fischer,  III,  17.  „Dass  durch 
blosse  Erfahrung  kein  allgemeingültiges  und  nothwendiges  Erkenntniss  zu 
Stande  komme,  hatten  lange  vor  K.  schon  Descartes,  Spinoza  und  Leibniz  ein- 
gesehen, und  eben  darum  der  Erste  sich  auf  angeborene  Ideen,  der  Zweite 
und  Dritte  auf  die  Evidenz  der  mathem.  Methode,  Ersterer  jener  der  Geo- 
metrie, Letzterer  jener  der  Arithmetik  gestützt,*  Zimmermann,  Ks. 
math.  Vor.  6.  Wie  sich  ein  Leibnizianer  die  Idee  einer  Kritik  der  r.  V. 
denkt,  s.  ausser  in  Eberhards  Zeitschrift  bes.  in  den  Krit.  Briefen  60. 
•.Unreh  Erfahrung  nicht  widersproehen«  Beim  metaphysischen  Dichten 
ist  man  „sicher,  dass  man  nicht  durch  Thatsachen  der  Natur  widerlegt 
werden  kann*.  469:  „Das  Bauzeug  wird  durch  fruchtbare  Erdichtung  her- 
beigeschafft und  wird  durch  Erfahrung  zwar  nicht  bestätigt,  aber  auch 
niemals  widerlegt.*  „Das  ist  auch  die  Ursache,  weswegen  junge  Denker 
Metaphysik  in  ächter  dogmatischer  Manier  so  lieben,  und  ihr  oft  ihre  Zeit 
and  ihr  sonst  brauchbares  Talent  aufopfern.*  Prol.  §  35.  —  „Man  kann  in 
der  Metaphysik  auf  mancherlei  Weise  herumpfuschen,  ohne  aber  zu  besorgen, 
dass  man  auf  Unwahrheit  werde  betreten  werden.  Denn  wenn  man  sich 
nur  nicht   selbst  widerspricht,    welches  in   synthetischen,   obgleich  gänzlich 


»  Vgl.  oben  S.  45.  64.  69.  96.  Diese  Frage  über  die  Originalität  Kants  und 
die  Literatur  über  seine  Vorläufer  wird  eingehender  zu  dem  Schlüsse 
abschnitt  der  Kritik  „Geschichte  der  reinen  Vernunft",  behandelt. 


240  Commentar  zur  Einleitung  A.  S.  2—6  =  B,  Abechn.  III. 

A  4.  B  8.  [R  19  H  38.  E  52.] 

erdichteten  Sätzen  gar  wohl  möglich  ist,  so  können  wir  in  allen  solchen 
Fällen,  wo  die  Begriffe,  die  wir  verknüpfen,  blosse  Ideen  sind,  die  gar  nicht 
(ihrem  ganzen  Inhalt  nach)  in  der  Erfahrung  gegeben  werden  können,  nie- 
mals durch  Erfahrung  widerlegt  werden.  Denn  wie  wollten  wir  es 
durch  Erfahrung  ausmachen:  ob  die  Welt  von  Ewigkeit  her  sei,  oder  einen 
Anfang  habe?  ob  Materie  ins  Unendliche  theilbar  sei,  oder  aus  einfachen 
Theilen  bestehe?  Dergleichen  Begriffe  lassen  sich  in  keiner,  auch  der  grösst- 
möglichsten  Erfahrung  geben,  mithin  die  Unrichtigkeit  des  behauptenden  oder 
verneinenden  Satzes  durch  diesen  Probirstein  nicht  entdecken."  Prol.  §  52  b. 
vgl.  §  42.  —  Ebenso  Fortschr.  R.  I,  491.     Vgl.  oben  S.   23S. 

Der  Beiz^  seine  Erkenntnisse  zu  erweitern.  Kr.  d.  pr.  V.  216:  „Das  was 
zur  Möglichkeit  eines  Vernunftgebrauchs  überhaupt  erforderlich  ist,  nämlich 
dass  die  Principien  und  Behauptungen  derselben  einander  nicht  widersprechen 
müssen,  macht  keinen  Theil  ihres  Interesse  aus;  .  .  .  nur  die  Erweiterung 
wird  zum  Interesse  derselben  gezählt.* 

Seine  Erdichtungen«  Dass  die  alte  Metaphysik  Erdichtungen  statt 
Erkenntniss  gegeben  habe,  ist  ein  stehender  Vorwurf  Kants.  Er  nennt  sie 
mit  Vorliebe  Hirngespinnste.  S.  469  nennt  er  die  Metaph.  ,das  Gebiet 
der  idealisirenden  Vernunft",  wo  man  nur  nöthig  hat  „zu  denken  und  zu 
dichten"  u.  s.  w.  (Inwieweit  K.  selbst  solche  Erdichtungen  gestatte,  darüber 
vgl.  A.  360.  770  ff.)  Dieses  Dichten  ist  identisch  mit  dem  schon  in  der 
Vorrede  gerügten  „Schwärmen".  Prol.  §  35.    Vgl.  oben  S.  127  f. 

Die  Matliematik  —  ein  glänzendes  Beispiel.  Dieser  Gedanke,  dass  die 
Mathematik,  weil  sie  eine  apodiktische  Wissenschaft  sei,  die  Vernunft  ver- 
führe, dieselbe  Sicherheit  mit  derselben  Methode  auch  in  der  Metaphysik 
zu  erwarten,  dass  aber  zwischen  beiden  Wissenschaften  ein  fundamentaler 
Unterschied  sei,  ist  einer  der  Grundgedanken  Kants  und  wird  daher  im  Fol- 
genden noch  oft  variirt,  indem  sich  K.  häufig  gegen  das  durch  die  Mathe- 
matik geschaffene  Präjudiz  für  die  Metaphysik  ausspricht.  Insbesondere 
der  Anfang  der  Methodenlehre  ist  der  Hervorhebung  und  Detaillirung  dieser 
Differenz  gewidmet.  S.  712  sagt  K.:  „Die  Mathematik  gibt  das  glänzendste 
Beispiel  einer  sich,  ohne  Beihilfe  der  Erfahrung,  von  selbst  glücklich  er- 
weiternden reinen  Vernunft.  Beispiele  sind  ansteckend,  vornehmlich  für 
dasselbe  Vermögen,  welches  sich  natürlicherweise  schmeichelt,  eben  dasselbe 
Glück  in  anderen  Fällen  zu  haben,  welches  ihm  in  einem  Falle  zu  Theil 
geworden.  Daher  hofft  reine  Vernunft  im  transscendentalen  Gebrauche 
sich  ebenso  glücklich  und  gründlich  erweitern  zu  können,  als  es  ihr  im 
mathematischen  gelungen  ist,  wenn  sie  vornehmlich  dieselbe  Methode  dort 
anwendet,  die  hier  von  so  augenscheinlichem  Nutzen  gewesen  ist."  Vgl.  be- 
sonders die  Ausführung  dieses  Gedankens  S.  724  ff.  Vgl.  die  Parallelstelle 
in  Fortschr.  K.  100.  R.  I,  491:  „Die  ersten  und  ältesten  Schritte  in  der 
Metaphysik  wurden  nicht  etwa  als  bedenkliche  Versuche  bloss  gewagt,  son- 
dern geschahen  mit  völliger  Zuversicht,  ohne  vorher  über  die  Möglichkeit 
der  Erkenntnisse  a  priori  sorgsame  Untersuchungen  anzustellen.     Was  war 


Die  Mathematik  —  das  Vorbild  der  Metaphysik.  241 

[B  19.  H  38.  E  52.]  A  4.  B  8. 

die  Ursache  von  diesem  Vertrauen  der  Vemnnft  zu  sich  selbst?  Das  ver- 
meinte Gelingen.  Denn  in  der  Mathematik  gelang  es  der  Vernunft,  über 
alle  Erwartung  der  Philosophen,  vortrefflich;  warum  sollte  es  nicht  ebenso 
gut  in  der  Philosophie  gelingen?  Dass  die  Mathematik  auf  dem  Boden  des 
Sinnlichen  wandelt,  da  die  Vernunft  selbst  auf  ihm  Begriffe  construiren, 
d.  h.  a  priori  in  der  Anschauung  darstellen  und  so  die  Gegenstände  a  priori 
erkennen  kann,  die  Philosophie  hingegen  eine  Erweiterung  der  Erkenntniss 
der  Vernunft  durch  blosse  Begriffe,  wo  man  seinen  Gegenstand  nicht  wie 
dort  vor  sich  hinstellen  kann,  sondern  die  uns  gleichsam  in  der  Luft  vor- 
schweben, unternimmt,  fiel  den  Metaphysikern  nicht  ein,  als  einen  himmel- 
weiten Unterschied,  in  Ansehung  der  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori, 
zur  wichtigen  Aufgabe  zu  machen*.  K.  macht  nun  dort  richtiger  als  in  der 
Kritik  einen  genauen  Unterschied  zwischen  immanenter  und  transscendenter 
Metaphysik.  Jene  Erweiterung,  auch  ausser  der  Mathematik,  durch  blosse 
Begriffe,  gieng  anfänglich  gut,  so  lange  man  sich  auf  immanente  Metaphysik 
beschränkte,  wo  die  „Uebereinstimmung  solcher  Urtheile  und  Grundsätze 
mit  der  Erfahrung"  deren  Wahrheitsgehalt  bewies.  Nun  aber  erst  ge- 
schah der  gefährliche  Ueberschritt  zur  eigentlichen  Metaphysik.  „Ob  nun 
zwar  das  Uebersinnliche ,  worauf  doch  der  Endzweck  der  Vernunft  in  der 
Metaphysik  gerichtet  ist,  für  die  theoretische  Erkenntniss  eigentlich  gar 
keinen  Boden  hat,  so  wanderten  die  Metaphysiker  doch  an  dem  Leitfaden 
ihrer  ontologischen  Principien,  die  freilich  wohl  eines  Ursprungs  a  priori 
sind,  aber  nur  für  Gegenstände  der  Erfahrung  gelten  [vgl.  hierüber  die  Anm. 
S.  83  f.  zur  Vorrede  I]  getrost  fort"  u.  s.  w.  „Dieser  Gang  der  Dogmatiker 
vor  noch  älterer  Zeit,  als  der  des  Plato  und  Aristoteles,  selbst  die  eines 
Leibniz  und  Wolf  mit  eingeschlossen,  ist,  wenngleich  nicht  der  rechte,  so 
doch  der  natürlichste  nach  dem  Zwecke  der  Vernunft  und  der  scheinbaren 
üeberredung,  dass  alles,  was  die  Vernunft  nach  der  Analogie  ihres  Ver- 
fahrens, womit  es  ihr  gelang,  vornimmt,  ihr  ebensowohl  gelingen  müsse." 
VgL  hierüber  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  I,  7.:  Erst  allmälig  gelang  es  der 
Kritik,  nachzuweisen,  „warum  eine  anscheinend  gleichartige  Methode  hier 
sicheren  Fortgang,  dort  blindes  Herumtappen  mit  sich  brachte.  Hat  doch 
auch  in  den  neueren  Jahrhunderten  (L.  spricht  von  der  griech.  Philos.)  nichts 
so  sehr  dazu  beigetragen,  die  Philos.,  die  eben  erst  das  scholastische  Joch  ab- 
geschüttelt hatte,  zu  neuen  metaphys.  Abenteuern  zu  verleiten,  als  der 
Bausch,  den  die  staunenswerthen  Fortschritte  in  der  Mathem. 
im  XVIL  Jahrh.  hervorriefen."  Vgl.  ib.  II,  23  von  Leibniz'  „mathe- 
matischem Vorurtheil".  Hiezu  vgl.  man  Wolfs  kurzen  Unterricht  von  der 
mathem.  Methode  (vor  seinen  „Anfangsgründen  der  mathem.  Wissensch.") 
sowie  dessen  Vorrede  zu  seiner  deutschen  Logik;  und  Fülleborns  Aufsatz: 
Zur  Geschichte  der  mathem.  Methode  in  der  Deutschen  Philosophie  (Beiträge 
zur  Gesch.  d.  Philos.  H,  5,  3).  Vgl.  A.  Tabulski,  Ueber  den  Einfluss  der 
Math,  auf  die  geschichtl.  Entw.  der  Philos.  bis  auf  Kant.  Leipzig  1868,  bes. 
S.  28  ff.  Kanne ngiesser,  Dogmat.  u.  Skepticism.  Elberf.  1877,  21  ff.    Bau- 

Vaihlnger,  Kant-Commentar.  16 


242  Commentai'  zur  Einleitung  A,  8.  2  -  6  =  B^  Abschn.  III. 

A  4.  B  8.  [R  19.  H  38.  E  52.] 

meist  er,  Phil,  rat,  %  35  ff.:  „Patet  methodi  mcUhetnaticcte  easdem  esse  leges, 
quae  sunt  methodi  phHosophicae^ ,  .  .  .  „Phüosophus  in  tradendis  veritcUibus 
uti  debet  methodo  mathematica^ .  Die  einzelnen  Merkmale  der  Methoden  sind 
identisch:  1)  Ausgehen  von  klar  definirten  Begriffen,  2)  Ausgehen  von 
axiomatisch  feststehenden  Principien,  3)  Yoranschicken  der  Principia,  um 
daraus  die  Principiata  abzuleiten.  Vgl.  Hagen,  De  Methodo  nuUhematica 
75  ff.  B.  Spener,  Cons,  theol,  lat.  Pars  I,  EL,  1:  „Mathesin  stui  certitudine  et 
demonstrationum  ^ofpaXecqc  omnibus  aliis  scientiis  exemplum  praebere,  quod 
quantum  fieri  potest  imitentur".  Die  Mathematik  gilt  schon  bei  Pia  ton  als 
Vorbild  der  Philosophie,  besonders  im  „Theätet"  und  in  der  „Bepublik''; 
und  dieser  Gedanke  hat  von  da  an  in  mannigfacher  Weise  verhängnissvoll 
gewirkt.  Wie  in  der  neueren  Philos.  die  Mathem.  als  Vorbild  der  Phil,  galt, 
hat  bes.  Baumann,  die  Lehren  von  Baum,  Zeit  und  Mathematik  2  Bde. 
Berlin  1868  dargestellt ;  s.  bes.  über  Cartesius  I,  133 — 155;  bei  Spinoza, 
I,  189-234,  bei  Hobbes  I,  246-271,  289  ff.  321  ff.;  Locke  I,  441  ff. 
bei  Leibniz  H,  99—133.  141  ff.  249  ff.  —  Die  Zurückweisung  des  Vorbildes 
der  Mathematik  seitens  Kant  für  die  Philosophie  war  jedoch  nur  eine  theil- 
weise  und  bezog  sich  nicht  auf  die  apriorische  Gewissheit  und  Methode 
überhaupt,  sondern  nur  auf  deren  Nachahmung  im  Einzelnen.  Für  K.  bleibt 
die  Mathematik  nichtsdestoweniger  das  Vorbild  der  Metaphysik,  zunächst 
der  immanenten.  Das  zeigt  nicht  nur  die  wirkliche  Ausfuhrung,  insbesondere 
die  Analytik,  sondern  E.  erklärt  auch  in  der  Vorr.  zu  den  Met.  Anf.  d.  Nat. 
ausdrücklich,  dass  er  in  denselben  die  mathem.  Methode  nachgeahmt  habe. 
Und  in  der  Vorr.  zur  U.  Aufl.  führt  er  ausdrücklich  aus,  dass  er  die  Mathem. 
nachahme  (B.  XVI).  Und  was  die  transscendente  Metaphysik  betrifft,  so  genügt 
es  auf  S.  463  f.  hinzuweisen,  wo  K.  sagt:  „Die  eigentliche  Würde  der 
Mathem.  beruht  darauf:  dass,  da  sie  der  Vernunft  Leitung  gibt,  die  Natur  .  .  . 
weit  über  alle  Erwartung  der  auf  gemeine  Erfahrung  bauenden  Philosophie 
einzusehen,  sie  dadurch  selbst  zu  dem  über  alle  Erfahrung  erwei- 
terten Gebrauch  der  Vernunft  Anlass  und  Aufmunterung  gibt."  Auch  in 
der  Kr.  d.  Urth.  Einl.  III,  Anm.  folgt  er  in  der  Methode  der  Definition  aus- 
drücklich dem  „Beispiel  des  Mathematikers".  Die  Mathem.  bildet,  wie 
Fischer,  Gesch.  III,  303  ff.,  richtig  ausfuhrt,  für  K.  die  Bichtschnur  der 
Kritik.  Die  Mathem.  ist  eine  feststehende  Wissenschaft,  die  Ontologie  nicht. 
Beide  sollen  erklärt  werden.  Findet  sich  nun,  dass  die  Bedingungen  der 
Einen  unmöglich  mit  den  Ansprüchen  der  anderen  zusammenbestehen  können, 
so  kann  man  sicher  voraussehen,  welche  von  beiden  Wissenschaften  ihren 
Process  verliert.  Die  Alternative  ist  sofort  zu  Gunsten  der  Mathem.  ent- 
schieden. Das  Verhältniss  von  Mathematik  und  Philosophie  beschäftigte  Ks. 
Nachdenken  von  Anfang  an;  da  es  auch  zugleich  f actisch  durch  Leibniz  und 
Wolf  die  methodologische  Hauptfrage  für  die  Philosophie  geworden  war. 
Eine  Uebersicht  über  die  Entwicklung  der  Kantischen  Ansichten  über  dieses 
Verhältniss  siehe  in  der  Anmerkung  zur  Methodenlehre  712  ff.,  wo  auch 
das  Wichtigste  aus  der  Geschichte  der  Philos.  über  dieses  Verhältniss  mit- 


Haaptunterschied  der  Mathematik  und  Metaphysik.  243 

[R  19.  H  38.  E  52.]  A  4.  B  8. 

getheilt  wird.  —  Besonders  Herder,  Metakritik  II,  316  ff.  u.  ö.  wirft  K. 
eine  „üble  Nachahmung  mathem.  Allgemeingültigkeiten*'  vor.  Vgl.  bes. 
Laas,  Ks.  Anal.  221  ff.  Ideal  u.  Pos.  I,  113  ff. 

In  der  Anschannng  darstellen.  Dies  gilt  für  die  moderne  Mathematik 
nicht  mehr,  welche  sowohl  analytische  als  geometrische  Begriffe  behandelt, 
die  sich  schlechterdings  in  keiner  Anschauung  mehr  vorstellen  lassen.  Vgl. 
Prol.  Or.  198.  K.  136:  Die  Metaphysiker  berufen  sich  gerne  auf  die  unmittel- 
bar gewissen  Axiome  der  Mathematik:  ,z.  B.  dass  zweimal  zwei  vier  aus- 
mache, dass  zwischen  zwei  Punkten  nur  eine  gerade  Linie  sei  u.  a.  m.  Das 
sind  aber  Urtheile,  die  von  denen  der  Metaphysik  himmelweit  unterschieden 
sind.  Denn  in  der  Mathematik  kann  ich  alles  das  durch  mein  Denken  selbst 
machen  (construiren) ,  was  ich  mir  durch  einen  Begriff  als  möglich  vorstelle ; 
ich  thue  zu  einer  Zwei  die  andere  Zwei  nach  und  nach  hinzu  und  mache 
selbst  die  Zahl  Vier,  oder  ziehe  in  Gedanken  von  einem  Punkte  zum  anderen 
allerlei  Linien,  und  kann  nur  eine  einzige  ziehen,  die  sich  in  allen  ihren 
Theilen  (gleichen  sowohl,  als  ungleichen)  ähnlich  ist.  Aber  ich  kann  aus 
dem  Begriffe  eines  Dinges  durch  meine  ganze  Denkkraft  nicht  den  Begriff 
von  etwas  Anderem,  dessen  Dasein  noth wendig  mit  dem  ersteren  verknüpft 
ist,  herausbringen,  sondern  muss  die  Erfahrung  zu  Bathe  ziehen,  und  ob- 
gleich mir  mein  Verstand  a  priori  (doch  immer  nur  in  Beziehung  auf  mög- 
liche Erfahrung)  den  Begriff  von  einer  solchen  Verknüpfung  (der  Causalität) 
an  die  Hand  gibt,  so  kann  ich  ihn  doch  nicht,  wie  die  Begriffe  der  Mathe- 
matik a  priori,  in  der  Anschauung  darstellen  und  also  seine  Möglich- 
keit a  priori  darlegen,  sondern  dieser  Begriff,  sammt  den  Grundsätzen 
seiner  Anwendung,  bedarf  immer,  wenn  er  a  priori  gültig  sein  soll,  —  wie 
es  doch  in  der  Metaphysik  verlangt  wird,  —  eine  Rechtfertigung  und  De- 
duction  seiner  Möglichkeit,  weil  man  sonst  nicht  weiss,  wie  weit  er  gültig 
sei,  und  ob  er  nur  in  der  Erfahrung  oder  auch  ausser  ihr  gebraucht  werden 
könne".  Hierauf  beruht  somit  der  Hauptunterschied  der  Mathematik  und 
Metaphysik.  Vgl.  Krit.  S.  712  ff.,  wo  das  Thema  weiter  ausgeführt  wird, 
dajss  die  philos.  Erkenntniss  die  Vernunfterkenntniss  aus  Begriffen,  die  ma- 
thematische die  aus  der  anschaulich-apriorischen  Construction  der  Begriffe  sei. 
»Was  die  Grundidee  der  Metaph.  verdunkelte,  war,  dass  sie  als  Erkenntniss 
a  priori  mit  der  Mathem.  eine  gewisse  Gleichartigkeit  zeigt,  die  zwar,  was 
den  Ursprung  a  priori  betrifft,  sie  einander  verwandt  macht,  was  aber  die 
Erkenntnissart  aus  Begriffen  bei  jener,  in  Vergleichung  mit  der  Art, 
bloss  durch  Construction  der  Begriffe  a  priori  zu  urtheilen,  bei  dieser,, 
mithin  den  Unterschied  einer  philos.  Erkenntniss  von  der  mathem.  anlangt, 
so  zeigt  sich  eine  so  entschiedene  Ungleichartigkeit,  die  man  zwar  jederzeit 
gleichsam  fühlte,  niemals  aber  auf  deutliche  Kriterien  bringen  konnte.* 
844  f.  Weil  die  Leibniz'sche  Philosophie  keinen  Unterschied  zwischen  Sinn- 
lichkeit und  Verstand,  Anschauung  und  Begriff  gemacht  hatte,  musste  auch 
die  Mathematik  als  philosophische  Erkenntniss  gelten.  Baumgarten  sagt 
(Loffica  §  476):  „Omnis  cognitio  a priori  est  cognitio  philo sophica.*^  — 


244  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  2—6  =  B,  Abschn.  IIL 

A  5.  B  8. 9.  [B  20.  H  38.  E  52.] 

Vgl.  über  diese  Stelle  Kr  it.  Briefe    S.  20   ff.  bes.  über  den  Ausdruck   „in 
der  Anschauung  darstellen"  und  dag.  Born,  Phil.  Mag.  II,  368  ff. 

Die  leichte  Taube  u.  s.  w.  Diese  Stelle  spielt,  zusammen  mit  der  fol- 
genden Erwähnung  Piatons,  offenbar  an  auf  Phädon,  109  E,  wo  Piaton 
(vgl.  Schleiermachers  Uebersetzung  II,  3,  110)  ausführt,  die  Menschen 
verhalten  sich  wie  ein  Meerbewohner,  der  das  Meer  für  den  Himmel  halte, 
niemals  aber  an  den  Saum  des  Meeres  gekommen  sei,  noch  über  das  Meer 
aufgetaucht,  um  diesen  Ort  zu  schauen,  wie  viel  reiner  und  schöner  er  ist 
als  bei  ihm.  So  ergienge  es  auch  uns  Menschen.  Wir  nennen  die  Luft 
Himmel  und  vermögen  aus  Trägheit  und  Schwachheit  nicht  hervorzukommen, 
bis  an  den  äussersten  Saum  der  Luft.  „Denn  wenn  jemand  an  die  Grenze 
der  Luft  käme  oder  mit  Flügeln  hin  auffliegen  könnte  (^  ÄT-f|v6?  «c^vo- 
jj.evo<;  ivaTCTolxo)  ...  SO  würde  er  erkennen,  dass  jenes  der  wahre  Himmel  ist 
und  das  wahre  Licht*  u.  s.  f.  ^  Hauptm.  59  wird  das  Bild  vermischt  mit 
der  Taube  Noahs,  die  nirgends  in  den  stürmischen  Gegenden  der  ünge- 
wissheit  Raum  findet,  wo  sie  Fuss  fassen  soll.  Dieselbe  Vermischung  bei 
Ehrenhaus,  Neuere  Philos.  73,  77:  Die  Taube  „Vernunft"  entfliege  der 
bedächtigen  Hand  Kants  und  suche  ihre  Füsse  niederzuset<zen  auf  der  Arche 
des  ewigen  Gottes;  aber  K.  schliesse  sie  wieder  in  den  Käfig  der  Endlich- 
keit ein. 

Anf  den  Flfigeln  der  Ideen.  Lieblingsbild  Kants.  S.  591:  „Ich  werde 
darthun,  dass  die  Vernunft  . . .  vergeblich  ihre  Flügel  ausspanne,  um  über 
die  Sinnenwelt  durch  die  blosse  Macht  der  Speculation  hinauszukommen.** 
638:  „Man  soll  sich  wenigstens  darüber  rechtfertigen,  wie  und  vermittelst 
welcher  Erleuchtung  man  sich  denn  getraue,  alle  mögliche  Erfahrung  durch 
die  Macht  blosser  Ideen  zu  überfliegen."  Daher  ist  die  Kritik  der  reinen 
Vernunft  S.  850  „die  Kritik  der  sich  auf  eigenen  Flügeln  wagenden  Ver- 
nunft" und  „überzeugt",  dass  die  eigentliche  Bestimmung  der  Vernunft 
nicht  sei,  „die  Grenze  der  Erfahrung  zu  überfliegen".  703:  Die  Grund- 
sätze, welche  die  von  der  Kritik  gezogenen  Grenzen  „überfliegen"  wollen, 
heissen  transscendente ,   295,   daher  von  K.  direct  mit  „überfliegend"   über- 


^  Ueber  diese  „cl assische  Stelle"  vgl.  Stein,  Geschichte  des  Piatonis- 
mus  III,  278.  281.  283.  Stein  nimmt  Piaton  energisch  gegen  Kants  Vorwürfe  in 
Schutz  und  meint  im  Gcgentheil,  hier  habe  jede  historische  und  philosophische 
Kritik  der  Kantischen  Philosophie  einzusetzen.  Nicht  wegen  der  Schwierigkeiten, 
die  die  Sinnenwelt  dem  Verstände  bereitet,  habe  Piaton  eine  jenseits  liegende 
Ideenwelt  postulirt,  sondern  weil  er  überzeugt  war,  dass  die  Relativität  der  ein- 
zelnen Dinge  nicht  existiren  könne  ohne  Ideales.  An  einem  „Widerhalte"  fehle 
es  also  Piaton  nicht.  Ausserdem  habe  sich  Piaton  das  Verhältniss  der  Sinnen- 
und  Ideenwelt  nicht  so  dualistisch  gedacht,  wie  es  hier  erscheine.  Piaton  gleiche 
nicht  jener  Taube  Kants,  sondern  einem  Manne,  der  den  Grund  seines  Hauses 
tiefer  legt,  als  die  gewöhnlichen  Bauleute,  üebrigens  stehe  Kant  dem  Platonismus 
näher,  als  es  hiernach  erscheine.  Vgl.  oben  S.  (j9  Anm.  über  da«  Verhältniss  Ks. 
zu  Piaton.     Näheres  zur  Dialektik  S.  313  ff. 


Das  Bild  der  Taube.     Die  Flügel  der  Ideen.  245 

[R  20.  H  38.  E  52.]  A  6.  B  9. 

setzt  (Vorn.  Ton.  Einl.).  „Transcendent*  werden  die  Physicotheologen ;  „nachdem 
sie  eine  gute  Strecke  auf  dem  Boden  der  Natur  und  Erfahrung  fortgegangen 
sind,  .  .  .  verlassen  sie  plötzlich  diesen  Boden  und  gehen  ins  Reich  blosser 
Möglichkeiten  über,  wo  sie  auf  den  Flügeln  blosser  Ideen  demjenigen 
nahe  zu  kommen  hoffen,  was  sich  aller  ihrer  empirischen  Nachsuchung  ent- 
zogen hatte''.  630.  Dieses  Ueberfliegen  seitens  der  Vernunft  ist  „ein  Hang 
ihrer  Natur,  sich  vermittelst  blosser  Ideen  zu  den  äussersten  Grenzen  aller 
Erkenntniss  hinaus  zu  wagen  und  .  .  .  Ruhe  zu  finden".  797.  Dieses  Hinaus- 
fliegen wird  auch  828  als  „her Umschweifen"  bezeichnet,  als  „über- 
steigen" 313.  318.  („Geistesschwung  Piatons";  „hinaufsteigen")  320.  327. 
420.  (überschreiten)  684.  Kr.  d.  pr.  V.  189.  Es  bedarf  eines  mächtigen  Sprungs 
dazu  (630)  über  die  Grenze  der  Erfahrung  hinaus  (637).  In  diesen  Höhen 
wird  es  der  Vern.  „schwindlicht"  689.  Die  Krit.  d.  r.  V.  „beschneidet  dem 
Dogmatismus  gänzlich  die  Flügel  in  Ansehung  der  Erkenntniss  übersinnlicher 
Gegenstände".  (Was  heisst  sich  im  Denken  orientiren?  Schluss.)  Ebenso  am 
Anfang  der  „Bemerkungen  zu  Jakobs  Prüfung"  u.  s.  w.  '  Ewig.  Fried. 
2.  Abschn.  J.  Zus.:  Mit  dem  Begriffe  „Vorsehung  setzt  man  sich  ver- 
messener Weise  Ikarische  Flügel'  an,  um  dem  Geheimniss  ihrer  uner- 
gründl.  Absicht  näher  zukommen".  Grundleg.  K.  93:  „Damit  die  Vernunft 
nicht  kraftlos  .  .  .  ihre  Flügel  schwinge,  ohne  von  der  Stelle  zu  kommen, 
und  sich  unter  Himgespinnsten  verliere".  Recens.  Herders  K.  34:  Die 
menschl.  Vernunft  mag  nun  am  physiologischen  Leitfaden  tappen,  oder 
am  metaphysischen  fliegen  wollen.  Recens.  Herders  K.  35  gegen  die 
, durch  Gefühle  beflügelte  Einbildungskraft".  In  dem  „muthmassl.  Anf. 
der  Menschh."  wagt  K.  selbst  „eine  Lustreise  auf  den  Flügeln  der  Ein- 
bildungskraft, obgleich  nicht  ohne  einen  durch  Vernunft  an  Erfahrung  ge- 
knüpften Leitfaden".  „Was  heisst  sich  im  Denken  orientiren?  Schluss: 
„Das  Genie  gefällt  sich  sehr  in  seinem  kühnen  Schwünge,  da  es  den 
Faden,  woran  es  sonst  die  Vernunft  lenkte,  abgestreift  hat."  Philo s. 
Relig.  77:  „wiefern  sich  die  menschl.  Vernunft  anmasst,  über  die  Grenzen 
aller    mögl.  Erf.    hinaus  ihren  Flug   fortzusetzen,    so   geräth   sie  in  lauter 


*  Daher  klagt  auch  der  Platoiiiker  Schlosser,  wie  K.  selbst  anführt  (Naher 
Absohluss  2.  Abschn.  Einl.)i  sehr  hierüber  und  bejammert  es  sehr,  „dass  allen 
Ahnungen.  Ausblicken  aufs  Uebersinnliche .  jedem  Genius  der  Dichtkunst  die 
Flügel  abgeschnitten  werden  sollen".  Aehnlich  sagt  Baggesen,  Kachl.  I,  104: 
K.  schnitt  eich  die  Flügel^  die  er  bis  dahin  nur  liattQ  hängen  lassen^  als  gefähr- 
liche und  schädliche  Glieder  ab;  andererseits  urtheilt  aber  B.  ähnlich  wie  unten 
Berg:  K.  habe  oft  seine  Flügel  „in  sechsfacher  seraphischer  Breite  ausgespannt^ 
denen  nichts  zum  Fluge  fehlte"  (ib.  102.  103.  105.) 

'^  Aehnlich  Lambert,  Mem.  Ac.  Berl.  1763,  480:  „U  esthien  tyrai  quepour  y 
|znm  üebersinnlichen]  parvenir,  on  faU  souvent  un  vol  d*Icare  qui  se  termine  par 
une  ehalte  fatal&*,  Herbart,  W.  W.  III,  119  nennt  den  intuitiven  Verstand  (die 
intellectuelle  Anschauung)  bei  Kant,  Fichte  u.  s.  w.  „wächserne  Flügel  des 
Ikarus«.     Vgl.  Jacobi,  W.  W.  U,   21,  dag.  Schopenhauer,  W.  a.  W.  I,  501. 


246  Commentar  zur  Einleitang  A^  S.  2 — 6  =  B^  Abschn.  III. 

A  5.  B  9.  [R  20.  H  38.  E  52.] 

Wirbel  und  Meerstrudel,  die  sie  in  einen  bodenlosen  Abgrund  stürzen,  wo 
sie  ganz  verschlungen  wird."  Schon  im  Jahre  1766  sagt  K.  in  den  Träumen 
eines  Geistersehers  II,  2.  Abschn.  Schluss:  ,, Vorher  wandelten  wir  im  leeren 
Raum,  wohin  uns  die  Schmetterlings flügel  *  der  Metaphysik  gehoben 
hatten,  und  unterhielten  uns  daselbst  mit  geistigen  Gestalten.  Jetzt  da  die 
stiptische  Kraft  der  Selbster kenntniss  die  seidenen  Schwingen  zu- 
sammengezogen hat,  sehen  wir  uns  wieder  auf  dem  niedrigen  Boden  der 
Erfahrung  und  des  gemeinen  Verstandes;  glücklich  wenn  wir  denselben  als 
unseren  angewiesenen  Platz  betrachten,  aus  welchem  wir  niemals  ungestraft 
hinausgehen,  und  der  auch  alles  enthält,  was  uns  befriedigen  kann,  so  lange 
wir  uns  am  Nützlichen  halten."  Ibidem  II,  2  Hpt.  spricht  er  von  dem 
Abenteuer,  das  auf  dem  Luftschiff  der  Metaphysik  gewagt  wird  und  nach 
dessen  Beendigung  er  mit  Diogenes  ruft:  „Courage,  meine  Herren,  ich 
sehe  Land."  Und  eben  daselbst  heissts  am  Schluss:  „Es  war  auch  die 
menschl.  Vernunft  nicht  genugsam  dazu  beflügelt,  dass  sie  so  hohe 
Wolken  theilen  sollte*  u.  s.  w.  Das  Bild  findet  sich  schon  bei  Bacon, 
welcher  sagte:  „hominum  inteUectui  non  alae  addendae,  sed  plumbum  potUis 
et  pondera,^  —  Auf  dieses  Lieblingsbild  Ks.,  in  dem  er  die  Falschheit  der 
bisherigen  Metaphysik  und  seine  eigene  Leistung  charakterisirt,  bezieht  sich 
Bild  und  Inschrift  der  im  Jahre  1804  nach  dem  Tode  Kants  von  Abram- 
son  gefertigten  Medaille.  Auf  der  Vorderseite  befindet  sich  Kants  Bildniss 
(nach  Hagemanns  Büste)  mit  der  Umschrift: 

Imanuel  Kant.  Nat.  MDCCXXIV. 

„Auf  der  Eückseite  sieht  man  Minerva,  die  Göttin  der  Weisheit,  kennbar 
durch  Helm  und  Aegide,  auf  einem  Kubus  sitzen,  auf  welchem  sie  sich  zu- 
gleich mit  der  linken  Hand  stützet,  —  das  Bild  der  unerschütterlichen  Festig- 
keit. Mit  der  Rechten  hingegen  hemmt  sie  den  Flug  der  Nachteule,  Bild 
des  regen  Triebes  des  Forschens,  die  sich  zu  hohen  Regionen  emporschwingen 
will,  welches  eben  den  Hauptlehrsatz  dieses  Philosophen  ausspricht.  Noch 
deutlicher  wird  dieses  durch  die  vortreffliche  Umschrift  des  Oberconsistorial- 
raths  Zöllner«  *: 


*  Ueber  dieses  Sinnbild  vgl.  Schiller  an  Körner  (11,  30);  „Wir  drücken 
die  Freiheit  der  Phantasie  aus,  indem  wir  ihr  Flügel  geben,  wir  lassen  die  Psyche 
mit  Schmetterlingsflügeln  sich  über  das  Irdische  erheben,  wenn  wir  ihre  Freiheit 
von  den  Fesseln  des  Stoffs  bezeichnen  wollen."     Vgl.  Fichte,  W.  W.  U,  309. 

•  Zöllner  selbst  sagt  ähnlich  im  Intell.-ßl.  der  Hall.  Allg.  Lit.  Ztg.  1804. 
Nr.  99 :  „Die  emporstrebende  Nachteule  ist  das  Sinnbild  der  übermüthigen,  über 
ihre  Sphäre  hin  ausschweifenden  Speculation  \  Minerva  das  Sinnbild  der  Kantischen 
Philosophie,  welche  jene  auf  die  Grenzen  des  ihr  zukommenden  Gebietes  zurück- 
wies." Eine  Abbildung  der  Medaille  s.  bei  Schubert,  Leben  Kants  zu  S.  210. 
Vgl.  oben  Specielle  Einleitung  S.  41.  Es  ist  sonach  gar  nicht  im  Sinne  Kant«, 
wenn  Schaarschmidt,  Phil.  Mon.  XIV,  2  die  Philos.  mit  einem  Adler  ver- 
gleicht^ mit  Berufung  auf  Kant  und  den  Spruch:  „Nee  söli  cedit". 


Der  leere  Haam  des  reinen  Verstandes.  247 

[B  20.  H  38.  E  52.]  A  5.  B  9. 

Altius  volantetn  arcuit. 
(„Ihren  zu  hohen  Flug  hemmt  sie.**) 

Reicke,  Kantiana  55.  25.  Es  ist  sehr  charakteristisch  für  Kant,  dass  er  auch 
hier  wie  so  häufig  seine  eigene  Methode  als  das  Mittel  zwischen  zwei  Ex- 
tremen darstellt.  Der  Empiriker  tappt,  der  Metaphysiker  fliegt:  siehe 
oben  die  Stelle:  tappen  am  physiologischen  Leitfaden,  fliegen  am  meta- 
physischen. Vgl.  Teleolog.  Principien.  Einl.:  Durch  blosses  empirisches 
Herum  tappen,  ohne  ein  leitendes  Princip,  kann  nichts  Zweckmässiges  ge- 
funden werden.  Eben  dasselbe  tadelt  er  auch  „lieber  Philosophie  überhaupt* 
(K.  150);  das  Herumtappen  unter  Naturformen  ist  nur  empirisch,  führt  nur 
zu  zufälligen  Gesetzen,  es  bedarf  eines  transscendentalen  Princips.  Der  po- 
pulären Philosophie  wird  das  „Tappen  vermittelst  der  Beispiele"  vorgeworfen. 
(Grundl.  z.  M.  d.  S.  K.  33.)  Gegen  „das  Herumtappen  in  Versuchen 
und  Erfahrungen''  s.  den  Aufsatz  über  Theorie  und  Praxis  1793Anf.  Der 
Gegensatz  zwischen  dem  „kühnen  Schwung*  und  dem  Wandeln  „auf  dem 
natürlichen  Fusssteig*  findet  sich  schon  1765  in  der  Ankündigung  seiner 
Vorlesungen.  Richtig  urtheilt  Berg,  Epikritik  103:  „Bei  aller  Einschränkung, 
welcher  sich  die  K.'sche  Philos.  in  objectiver  Hinsicht  unterwirft,  ist  ihr 
Flug  in  subjectiver  Hinsicht  äusserst  kühn.*  Als  Beispiel  einer  unglaublich 
oberflächlichen  Lecture  mag  hier  angeführt  werden,  dass  B.  St.  Hilaire 
(Ueber  Metaphysik,  üebers.  S.  95)  aus  dieser  Stelle  herausfindet.  K.  führe 
Piaton  als  Vorläufer  seiner  Revolution  an  und  nenne  „als  Gewährsmann 
Piaton"  nämlich  für  die  Methode  des  reinen,  rationellen  Denkens,  welche  K. 
einfuhren  wolle!!  —  üeber  das  „Tappen*  vgl.  auch  Fichte,  Nachl.  I,  150. 
m,  354. 

Der  leere  Baam  des  reinen  Terstandes.  Die  Vernunft  soll  nicht  „die 
Grenze  der  Natur  überfliegen,  ausserhalb  welcher  für  uns  nichts  als  leerer 
Raum  ist*.  703.  Durch  die  bisherige,  insbesondere  Hume'sche  Kritik  wird 
„der  eigenthümliche  Schwung  der  Vernunft  nicht  im  mindesten  gestört, 
sondern  nur  gehindert,  und  der  Raum  zu  ihrer  Ausbreitung  nicht  ver- 
schlossen*, 768.  Die  transscendentalen  Ideen  führen  gleichsam  bis  zur  Be- 
rührung des  vollen  Raumes  (der  Erfahrung)  mit  dem  leeren,  (wovon  wir 
nichts  wissen  können,  den  Noumenis);  Prol.  §  57.  Ebenso  ib.  §  59:  „Das 
Feld  der  reinen  Verstandeswesen  ist  für  uns  ein  leerer  Raum,  sofern  es  auf 
die  Bestimmung  der  Natur  dieser  Verstandeswesen  ankommt,  und  sofern 
können  wir  .  .  .  nicht  über  das  Feld  möglicher  Erfahrung  hinauskommen.* 
Vgl.  Krit.  255 :  „Der  Umfang  ausser  der  Sphäre  der  Erscheinungen  ist  (für 
uns)  leer*.  260:  „Der  probl.  Gedanke  intell.  Gegenstände  dient  nur  wie  ein 
leerer  Raum,  die  empirischen  Grundsätze  einzuschränken,  ohne  doch  irgend 
ein  anderes  Object  der  Erk.  ausser  der  Sphäre  der  letzteren  in  sich  zu  ent- 
halten.* 288:  Jene  Vorstellung  (des  Noumenon)  „dient  zu  nichts,  als  einen 
Raum  übrig  zu  lassen,  den  wir  weder  durch  Erfahrung  noch  durch  den  r. 
Verstand  ausfüllen  können*.  Auf  diesem  Bilde  beruht  (Prol.  §  59)  das  für  die 


i_ 


248  Commentar  zur  Einleitung  A^  S.  2—6  =  B,  Abechn.  III. 

A  5.  B  9.  [E  20.  H  38.  39.  E  52.  53.] 

Kritik  fundamentale  „Sinnbild  der  Grenze*.  „Da  eine  Grenze  selbst 
etwas  Positives  ist,  welches  sowohl  zu  dem  gehört,  was  innerhalb  derselben, 
als  zum  Baume,  der  ausser  einem  gegebenen  Inbegriff  liegt,  so  ist  es  doch 
eine  wirkliche  positive  Erkenntniss,  deren  die  Vernunft  bloss  dadurch  theil- 
haftig  wird,  dass  sie  sich  bis  zu  dieser  Grenze  erweitert,  so  doch,  dass 
sie  nicht  über  diese  Grenze  hinauszugehen  versucht,  weil  sie  daselbst 
einen  leeren  Raum  vor  sich  findet,  in  welchem  sie  zwar  Formen  zu 
Dingen,  aber  keine  Dinge  selbst  denken  kann."  Grundl.  K.  93:  „Der  für 
die  Vernunft  leere  Baum  transscendenter  Begriffe  unter  dem  Namen 
einer  intelligibeln  Welt."  Freilich  ist  wohl  zu  bemerken,  dass  dieser  leere 
Baum  für  die  praktische  Philosophie  eine  höchst  positive  Bedeutung 
erhält;  denn  „praktische  Principien  könnten,  ohne  einen  solchen  Baum  [das 
Feld  der  Gegenstände  für  den  reinen  Verstand,  die  keine  Sinnlichkeit  er- 
reichen kann]  für  ihre  nothwendige  Erwartung  und  Hoffiiung  vor  sich  zu 
finden,  sich  nicht  zu  der  Allgemeinheit  ausbreiten,  deren  die  Vernunft  in 
moralischer  Absicht  unumgänglich  bedarf".  Prol.  §  60:  „Die  transscendentalen 
Ideen  [Gott,  Freiheit,  Ünsterbl.]  verschaffen  daher  den  moralischen  Ideen 
ausser  dem  Felde  der  Speculation  Baum"  und  „heben  die  frechen  und  das 
Feld  der  Vernunft  verengenden  Behauptungen  des  Materialismus,  Naturalismus 
und  Fatalismus  auf".  Krit.  Vorr.  B.  XXX :  „Ich  musste  das  Wissen  aufheben, 
um  zum  Glauben  Platz  zu  bekommen."  Vgl.  Kr.  286—288.  Eine  weitere 
Ausführung  am  Anfang  des  Aufsatzes:  Was  heisst  sich  im  Denken 
Orientiren?  Die  Vernunft  soll  sich  logisch  orientiren,  „wenn  sie  von  den 
bekannten  Gegenständen  der  Erfahrung  ausgehend  sich  über  alle  Grenzen 
der  Erfahrung  erweitern  will,  und  ganz  und  gar  kein  Object  der  Anschauung, 
sondern  bloss  Baum  für  dieselbe  findet";  dann  ist  nur  noch  subjective  Orien- 
tirung,  nicht  nach  objectiven  festen  Punkten  möglich.  In  „dem  unermess- 
lichen,  und  für  uns  mit  dicker  Nacht  erfüllten  Baume  des  üeber- 
sinnlichen  muss  sich  die  Vernunft  lediglich  durch  ihr  eigenes  Bedürfniss 
Orientiren".  Den  „leeren  Baum  des  r.  Verst."  nennen  die  Krit.  Briefe 
22  ein  Bild,  „das  mehr  Schatten  als  Licht  hat".  Dasselbe  Bild  findet  sich 
in  Spencers  „First  Principles^.  Vgl.  hiezu  Schillers  Sinngedicht:  Der 
G  e  n  i  US. 

Der  Genius. 

Wiederholen  zwar  kann  der  Verstands  was  da  schon  gewesen. 
Was  die  Natur  gebaut,  bauet  er  wählend  ihr  nach. 

üeber  Natur  hinaus  baut  die  Yemnnft^  doch  nur  in  das  Leere, 
Du  nur,  Genius,  mehrst  in  der  Natur  die  Natur. 

Was  uns  aber  während  dem  Bauen  u.  s.  w.  Cohen  193:  „Wie  kommt 
es  denn  aber,  dass  die  vorkritische  Vernunft  nicht  merkt,  wie  sie  gar  nicht 
von  der  Stelle  rückt,  wie  sie  im  leeren  Baume  des  reinen  Verstandes  immer 
nur  bei  den  selbsteigenen  Begriffen  hangen  bleibt,  .und  die  Aussicht  sich 
nicht  erweitern   kaim?  —  Diese  Frage  ist  es,   welche  zu  dem  Unterschiede 


Die  analytische  Zergliederung  der  Begriffe.  249 

[B  20.  H  39.  E  53.]  A  5. 6. 6  9. 10. 

zwischen  analytischen  und  synthetischen  ürtheilen  führt,  und  ihre  Lösung 
leitet  diese  Unterscheidung  ein." 

Die  Begriffe,  die  wir  schon  ron  Gegenständen  liaben.  Heynig,  Herausf. 
222  ff.  fragt,  was  das  für  Begriffe  sein  sollen.  Reine  Begriffe?  Diese 
gelten  ja  nicht  von  diesen  oder  jenen  empirischen  Objecten,  sondern  nur 
vom  Object  überhaupt,  und  davon  sei  ja  erst  später  die  Rede.  Also  em- 
pirische Begri f f  e?  Aber  diese  geben  ja  doch  keine  „ wirkliche  Erkenntniss 
a  priori*!  Das  sei  Taschenspielerei;  die  Erk.  a  priori  erscheine  hier  plötz- 
lich als  Gespenst.  Aus  empirischen  Begriffen  könne  doch  keine  wahre 
apriorische  Erkenntniss  entstehen;  bei  ihnen  sei  alles  „zum  Greifen  a  pos- 
teriori" u.  s.  w.  Natürlich  meint  K.  „Begriffe,  die  wir  uns  a  priori  von 
Dingen  machen",  vgl.  B.  18.  Bemerkens werth  ist  beidemal  der  Mangel 
des  Artikels:  „von  Gegenständen,  von  Dingen",  d.  h.  offenbar  von  Dingen 
überhaupt,  nicht  von  den  einzelnen  Dingen.  Dass  erst  in  der  Analytik 
diese  Begriffe  abgehandelt  werden,  ist  kein  Einwand.  Auch  die  alte  Leibniz- 
Wolfsche  Metaphysik  hatte  neben  den  apriorischen  Specialbegriffen  z.  B.  dem 
Ich  noch  apriorische  Allgemeinbegriffe  z.B.  Substanz.  Dieselbe  legte  jedoch 
theilweise  auf  die  Apriorität  dieser  Begriffe  weniger  Werth,  als  auf  die 
der  darauf  bezüglichen  Urtheile.  Die  analytische  Zergliederung  war  die 
besonders  von  Leibniz  empfohlene  Methode.  Man  wollte  die  Existenz  Gottes 
aus  dem  Begriffe  des  vollkommensten  Wesens,  die  Unsterblichkeit  der  Seele 
aus  dem  Begriffe  von  einer  einfachen  Substanz,  die  Zufälligkeit  oder  ^ofb- 
wendigkeit  der  Welt  aus  dem  Begriffe  einer  Welt  überhaupt  erweisen. 

Noch  auf  verworrene  Art.  B.  17;  Wir  denken  vieles  „wirklich  in 
einem  Begriff,  obzwar  nur  dunkel",  S.  7:  „Die  Theilbegriffe  liegen  in  dem 
Begriffe,  obschon  verwoiTen".  Kant  zieht  jedoch  den  Terminus  „undeutlich" 
vor.  S.  hieiüber  unten  zu  Aesth.  S.  43.  Nach  B.  23  ist  die  analytische 
Zergliederung  bloss  Mittel  und  „Veranstaltung"  zum  Zweck  der  Metaphysik. 
K.  wirft  dem  Dogmatismus  im  Folgenden  vor,  er  habe  die  Natur  der  ana- 
lytischen Urtheile  verkannt,  habe  aus  ihnen,  die  nur  Mittel  sind,  nicht  bloss 
irrthümlich  den  Zweck  und  die  eigentliche  Methode  der  Erkenntniss  gemacht, 
sondern  auch  diese  analytischen  Urtheile  mit  wahrhaft  synthetischen  ver- 
mischt und  die  letzteren  als  bloss  analytische  betrachtet.  Die  Analysis  ist 
nach  65  „das  gewöhnliche  Verfahren  in  philos.  Untersuchungen",  d.  h. 
„Begriffe,  die  sich  darbieten,  ihrem  Inhalte  nach  zu  zergliedern  und  zur 
Deutlichkeit  zu  bringen".     Vgl.  das  Schill  er 'sehe  Xenion: 

Analytiker. 

Ist  denn  die  Wahrheit  ein  Zwiebel,  von  dem  man  die  Häute  nur  abschält? 
Was  ilir  hinein  nicht  gelegt,  ziehet  ihr  nimmer  heraus. 

Vgl.  auch  das  Gedicht:  „Die  Weltweisen"  und  Schillers  Erklärung  des- 
selben im  Briefwechsel  mit  Goethe  Nr.  113.    Vgl.  Proleg.  Or.  193  ff. 

Sicherer  und  ntitElicher  Fortgang.  Allein  reell  sind  diese  Fortschritte 
doch  nicht.     Denn  „das  ist  eine  harte  Forderung,  die  allein  die  zahlreichen 


250  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  2—6  =  B,  Abschn.  III. 

A  6.  B  10.  [R  20.  H  39.  E  53.] 

vermeintlichen  Eroberer  in  diesem  Felde  in  Verlegenheit  setzen  muss,  wenn 
sie  solche  begreifen  und  beherzigen  wollen".  Fortschr.  K.  162.  R.  I,  560. 
Vgl.  übrigens  Ks.  ürtheil  am  Schluss  der  Prol.  Or.  221.  K.  151:  „Die  ge- 
meine Metaphysik  schaffte  dadurch  doch  schon  Nutzen,  dass  sie  die  Elemen- 
tarbegriffe des  reinen  Verstandes  aufsuchte,  um  sie  durch  Zergliederung 
deutlich  und  durch  Erklärungen  bestimmt  zu  machen.  Dadurch  ward  sie 
eine  Kultur  für  die  Vernunft,  wohin  diese  sich  auch  nachher  zu  wenden 
gut  finden  möchte;  allein  das  war  auch  alles  Gute,  was  sie  that.  Denn 
dieses  ihr  Verdienst  vernichtete  sie  dadurch  wieder,  dass  sie  durch  waghalsige 
Behauptungen  den  Eigendünkel,  durch  subtile  Ausflüchte  und  Beschönigung 
die  Sophisterei,  und  durch  die  Leichtigkeit,  über  die  schwersten  Aufgaben 
mit  ein  wenig  Schulweisheit  wegzukommen,  die  Seichtigkeit  begünstigte, 
welche  desto  verführerischer  ist,  je  mehr  sie  einerseits  etwas  von  der  Sprache 
der  Wissenschaft,  andererseits  von  der  Popularität  anzunehmen  die  Wahl 
hat  und  dadurch  Allen  alles,  in  der  That  aber  überall  nichts  ist.**  Nach 
Prol.  Or.  194  ist  „durch  die  Analysis  nichts  ausgerichtet,  nichts  geschafft 
und  gefordert  worden,  und  die  Wissenschaft  ist  nach  so  viel  Gewühl  und 
Geräusch  noch  immer  da,  wo  sie  zu  Aristoteles  Zeiten  war".  Für  dieses 
„gemeine  Verfahren"  sind  viele  Fragen  ganz  unauflöslich,  welche  Ks.  Ver- 
fahren leicht  löst.  205.  Es  fuhrt  zu  „elender  Tautologie".  597. 

Unter  dieser  Torspiegelnng^.  Durch  die  Metaphysik  werden  „die  Forscher 
mit  unhaltbaren  Vorspiegelungen  von  Einsicht,  wie  so  lange  geschehen  ist, 
hingehalten".  Fortschr.  K.  175,  ß.  I,  573.  Vgl.  hierüber  Dühring,  Natürl. 
Dial.  191  ff.  Eine  Reihe  derartiger  Erschleichungen  d.  h.  Umwandlungen 
analytischer  Sätze  in  synthetische  zählt  die  II.  Aufl.  bei  den  Paralogismen  der 
Psychologie  auf,  B  406  ff  (der  Sache  nach  auch  schon  A  348  ff).  So  macht 
die  dogm.  Metaph.  aus  der  analyt.  Erkenntniss,  dass  das  Ich  ein  logisch 
einfaches  Subject  bezeichne,  den  synth.  Satz,  dass  das  denkende  Ich  eine  ein- 
fache und  daher  unvergängliche  Substanz  sei  u.  s.  w.  So  macht  die  Meta- 
physik aus  der  logischen  Maxime,  zu  dem  Bedingten  das  Unbedingte  zu 
suchen,  den  metaphysischen  und  synthetischen  Grundsatz,  dass  das  Unbedingte 
gegeben  sei  (308  f).  Eine  weitere  sehr  lehrreiche  Ausführung  dieser  Er  sohl  ei- 
chungsmethode  gibt  K.  in  der  Schrift  gegen  Eberhard.  Eberhard  will,  wie 
alle  Metaphysiker  in  der  Leibniz-Wolfschen  Schule  das  nach  Kant  synthe- 
tische Princip  der  Gaus alität  (Jedes  Ding,  jede  Begebenheit  haben  ihren  zu- 
reichenden Grund)  durch  eine  Erschleichung  einführen,  indem  er  es  erstens 
als  identisch  ausgibt  mit  dem  rein  analytischen  Princip  des  logischen 
Grundes  (Jeder  Satz  muss  seinen  Grund  haben,  muss  gegründet  sein),  und 
indem  er  zweitens  dieses  Princip  seinerseits  wieder  nach  dem  Sat^  des  Wider- 
spruchs ableitet  und  somit  eben  als  bloss  analytisch  durch  Zergliederung  erkenn- 
bar darstellt.  (Siehe  Schrift  gegen  Eberhard,  Entdeckung  u.  s.  w.  Ros.  I,  409. 
413.  451.  457.  458).  Auf  diese  Weise  will  Eb.  „den  materiellen  Grundsatz 
der  Causalität  vermittelst  des  Satzes  des  Widerspruchs  einschleichen  lassen", 
ib.  410.    So  treibt  Eb.  nach  Kant  ib.  407  mit  dem  Satze  des  Grundes  sein 


Verwechslang  analytischer  mit  synthetischen  Erkenntnissen.  251 

[B  20.  H  39.  E  53.]  A  6.  B  10. 

Spiel.  „Man  sollte  denken,  er  trage  einen  metaphysischen  Satz  vor,  der 
etwas  a  priori  von  Dingen  bestimme;  und  er  ist  ein  bloss  logischer,  der 
nichts  weiter  sagt  als:  damit  ein  ürtheil  ein  Satz  sei,  muss  es  nicht  bloss 
als  möglich,  sondern  zugleich  als  gegründet  vorgestellt  werden  ...  Er 
wollte  eine  logische  Regel,  die  gänzlich  analytisch  ist  und  von  aller  Be- 
schaffenheit der  Dinge  abstrahirt,  für  ein  Naturprincip,  um  welches  es 
der  Metaphysik  allein  zu  thun  ist,  durchschlüpfen  lassen."  Vgl.  Brief  an 
Reinhold  vom  12.  Mai  1789.  „Es  ist  sehr  gewöhnlich,  dass  die  Taschen- 
spieler der  Metaphysik,  ehe  man  sichs  versieht,  die  Volte  machen,  und  vom 
log.  Grunds,  d.  zur.  Grundes  zum  transc.  der  Causalität  überspringen 
und  den  letzteren  als  im  ersteren  schon  enthalten  annehmen.  **  Vgl.  noch  be- 
sonders Brief  v.  19.  Mai  1789  an  denselben  (wo  gegen  Eberhard  diese  Ver- 
wechslung ganz  speciell  nachgewiesen  wird).  Weitere  beiehrsame  Beispiele  hier- 
für gibt  K.  ebendaselbst  466 :  „Endliche  Dinge  sind  veränderlich.*  „Das  unend- 
liche Wesen  ist  unveränderlich."  Kant  zeigt,  dass  diese  ürtheile  nur  richtig 
sind,  wenn  sie  logisch,  d.  h.  nicht  von  den  Dingen,  sondern  von  ihren 
Begriffen  verstanden  werden,  und  alsdann  sind  sie  ganz  analytisch. 
Diese  Beispiele  sind  „genau  besehen"  analytisch;  aber  Eberh.  möchte  sie 
„für  synthetische  Sätze  durchschlüpfen  lassen".  „Es  war  ihm  daran  gelegen, 
solche  Prädicate  für  seine  Ürtheile  zu  haben,  die  er  als  Attribute  des  Sub- 
jects  aus  dessen  blossem  Begriffe  beweisen  konnte.  Da  dieses  nun,  wenn  das 
Prädicat  synthetisch  ist,  gar  nicht  angeht,  so  musste  er  sich  ein  solches  aus- 
suchen, womit  man  schon  in  der  Metaphysik  gewöhnlich  gespielt  hat,  indem 
man  es  bald  in  logischer  Beziehung  auf  den  Begriff  des  Subjects,  bald 
in  realer  auf  den  Gegenstand  betrachtete,  und  doch  darin  einerlei  Be- 
deutung zu  finden  glaubt,  nämlich  den  Begriff  des  Veränderlichen  und 
Unveränderlichen,  welches  Prädicat,  wenn  man  die  Existenz  des  Subjects  des- 
selben in  die  Zeit  setzt,  allerdings  ein  Attribut  desselben  und  ein  synthetisches 
Urtheil  gibt,  aber  alsdann  auch  sinnliche  Anschauung  und  das  Ding  selber, 
obwohl  nur  als  Phänomen  voraussetzt,  welches  aber  zur  Bedingung  syn- 
thetischer Ürtheile  anzunehmen  ihm  gar  nicht  gelegen  war.  Anstatt  nun  das 
Prädicat  unveränderlich,  als  von  Dingen  in  ihrer  Existenz  geltend  zu 
brauchen,  bedient  er  sich  desselben  bei  Begriffen  von  Dingen,  und  hier 
ist  es  ein  blos  analytisches  Prädicat  aller  Begriffe,  möge  diesen  nun  ein 
realer  Gegenstand  correspondiren  oder  nicht."  „Wenn  man  mit  blossen  Be- 
griffen spielt,  um  deren  objective  Realität  einem  nichts  zu  thun  ist,  so 
kann  man  viel  dergleichen  täuschende  Erweiterungen  der  Wissenschaft 
sehr  leicht  herausbringen,  ohne  Anschauung  zu  bedürfen,  welches  aber  ganz 
anders  lautet,  sobald  man  auf  vermehrte  Erkenntniss  des  Objects  hinaus- 
geht." Auf  diese  Weise  „pflegt  also  die  Metaphysik  zu  täuschen,  indem 
Bestimmungen,  die  auf  das  logische  Wesen  (des  Begriffs)  bezogen,  eine 
gewisse  Bedeutung  haben,  nachher  vom  Realwesen  (der  Natur  des  Objects) 
in  ganz  anderer  Bedeutung  gebraucht  werden".  Dieselbe  Verwechslung  von 
Begriff  und  Sacbe  wirft  Kant  auch  Bau  mg  arten  vor.    Au  derselben  Stelle 


252  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  2—6  =  B,  Abschn.  III. 

A  6.  B  10.  [R  20.  H  39.  E  53.] 

(464)  findet  sich  endlich  noch  folgende  hierhergehörige  Anmerkung.  „Zu  den 
Sätzen,  die  bloss  in  die  Logik  gehören,  aber  sich  durch  die  Zweideutigkeit ' 
ihres  Ausdrucks  für  in  die  Metaphysik  gehörige  einschleichen,  und  so,  ob- 
gleich sie  analytisch  sind,  für  synthetisch  gehalten  werden,  gehört  auch 
der  Satz:  die  Wesen  der  Dinge  sind  unveränderlich,  d.  h.  man  kann 
in  dem,  was  wesentlich  zu  ihrem  Begriffe  gehört,  nichts  ändern,  ohne 
diesen  Begriff  selber  zugleich  mit  aufzuheben.  Dieser  Satz,  welcher  in 
Baumgartens  Metaphysik  §  132  und  zwar  im  Hauptstück  von  dem  Ver- 
änderlichen und  Unveränderlichen  steht,  wo  (wie  es  auch  recht  ist)  Ver- 
änderung durch  die  Existenz  der  Bestimmungen  eines  Dinges  nach  einander 
(ihre  Succession),  mithin  durch  die  Folge  derselben  in  der  Zeit  erklärt  wird, 
lautet  so,  als  ob  dadurch  ein  Gesetz  der  Natur,  welches  unseren  Begriff 
von  den  Gegenständen  der  Sinne  .  .  .  erweiterte,  vorgetragen  würde. 
Allein  dieser  [scheinbar]  metaphysische  Sinnspruch  ist  ein  armer  iden- 
tischer Satz,  der  mit  dem  Dasein  der  Dinge  und  ihren  möglichen  oder 
unmöglichen  Veränderungen  gar  nichts  zu  thun  hat,  sondern  gänzlich  zur 
Logik  gehört  und  etwas  einschärft,  was  ohnedem  keinem  Menschen  zu  leugnen 
einfallen  kann,  nämlich,  dass,  wenn  ich  den  Begriff  von  einem  und  demselben 
Object  behalten  will,  ich  nichts  an  ihm  abändern  d.  h.  das  Gegentheil  von 
dem,  was  ich  durch  jene  denke,  nicht  von  ihm  prädiciren  muss."  Daher 
lassen  sich  durch  Berufung  auf  diesen  rein  logischen,  analytischen  Satz  nicht 
Fragen  entscheiden,  welche  die  Natur  betreffen  und  nur  synthetisch  zu  lösen 
sind.  —  Der  Satz  lautet  bei  Baumgarten :  „Essentiae  rerum,  essentialia  et  at- 
tributa  .  .  .  sunt  absolute  et  interne  immutahiles"  Eine  ausführliche  und 
scharfkritische  Auseinandersetzung  über  diese  Kantische  Stelle  s.  Laas, 
Analog.  §  14,  wo  Bedenken  dagegen  ausgesprochen  werden,  dass  Kant  das 
logische  Axiom  nicht  auch  onto logisch  habe  gewendet  wissen  wollen. 
Apelt,  Metaph.  58  umschreibt:  „Wir  bilden  durch  Zergliederung  Ürtheile, 
welche  wenigstens  der  Form  nach  neues  geben.  An  dieser  ganz  zuverlässigen 
Einsicht  aber  begnügt  man  sich  nicht.  Unvorsichtig  schiebt  man  diesen  Be- 
hauptungen andere  unter,  welche  auch  dem  Inhalt  nach  Neues  geben.  So 
schleichen  sich  unbemerkt  synthetische  Ürtheile  unter  die  analytischen  ein, 
und  man  täuscht  sich  dann  mit  der  Einbildung,  aus  diesen  jene  be- 
wiesen zu  haben."  Vgl.  Laas,  Ks.  Analog.  49:  „Das  Fundament  des 
Gedankenbaues  war  des  Aristoteles  ßeßatoTdtfj  äpy-fj,  das  Frinc.  Ident,  In 
dieser  einen  „Angel"  hing  die  ganze  Metaphysik.  Selbst  das  Leibnizische 
Frinc.  rat.  suff.  hatte  Baumgarten  daran  befestigt.  Genau  betrachtet  waren 
alle  ürtheile,  welche  innere  Berechtigung  hatten,  analytisch  .  .  .  alle  synth. 
Urth.  aber  waren  unkritische  Erschleichungen  und  Selbsttäuschungen. 
Nun  kam"  u.  s.  w.  Laas,  Id.  u.  Pos.  I,  135,  141.  Aehnliche  Stellen  bei 
Herbart,  Einl.  §  30  Anm.,  §  39  Anm.  u.  Metaph.  §  71,  §  128. 


*  Vgl.  Metaph.  48:  Der  synth.  Satz  wird  durch  „den  Doppelsinn  des  Wesens* 
gewonnen.     Vgl.  Brief  an  Reinhold  vom  12.  Mai  1789. 


Analytische  und  synthetische  ürtheile.  253 

[R  20.  21.  H  39.  E  53.]  A  6.  B  10. 

Zu  gegebenen  BegiüTen  a  priori  u.  s.  w.  „A  priori^  kann  gram- 
matisch zu  , Begriffen**  oder  zu  dem  Verbnm  „hinzuthun"  gerechnet  werden. 
Nach  dem  logischen  Zusammenhang  ist  das  Letztere  richtig,  wie  das  auch 
die  Änderung  der  U.  Aufl.  bestätigt.  Diese  „Frage",  welche  sich  der  Dog- 
matismus nicht  „in  Gedanken  kommen  lässt",  wird  nachher  zu  der  Haupt- 
frage: Wie  sind  synthetische  Ürtheile  a  priori  möglich?  Das  volle  Ver- 
ständniss  fiir  diesen  ganzen  Passus  kann  erst  der  folgende  Abschnitt  geben, 
zu  dem  er  eigentlich  (nach  Heynigs,  Herausf.  216  richtiger  Bemerkung)  ge- 
hört. Der  Versuch  v.  Wangenheims,  diese  Schlusssätze,  sowie  die  paral- 
lele Stelle  B  23  gegen  Fries  und  dessen  Auffassung  auszubeuten,  schlägt 
Grapengiesser,  Aufg.  der  Vernunftkr.  67  zurück.  Jener  verwechselt 
analyt.  Methode  mit  analyt.  ürtheile n.  —  Ein  unglaubliches  Missverständ- 
niss  dieser  Stelle  findet  sich  bei  Spicker,  Kant  u.  s.  w.  S.  172  ff.  Kant 
habe  hier  die  synth.  Urth.  a  priori  verworfen!  Er  habe  hier  als  blosser 
Analytiker  gesprochen!  Während  doch  K.  nicht  die  synth.  Urth.  a  priori 
verwirft,  sondern  nur  die  bisherige  Art  ihrer  Erwerbung  durch  Erschleichung 
aus  analytischen.  Das  ist  eine  gewissenlose  Interpretation,  welche 
ein  würdiges  Gegenstück  bildet  zu  Eberhards  horriblem  Missverständniss 
Kants.  (Vgl.  Vaihinger,  Eine  Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena.  Phil. 
Mon.  XV,  513—532.) 


Erklärung  von  A,  S.  6  -10  —  B,  Abschn.  IV,  S.  10- 14. 

Unterschied  analytischer  nnd  synthetischer 

ürtheile. 

Specialliteratur. 

Schulze,  K.  L.  Diss,  exh.  nonnulla  ad  doctrinam  de  judiciis  analyticis 
aiqae  synthet  spectantia,  Frankfurt  a.  0.  1793.  —  Cederschiöld,  F. 
Aph.  phÜos.  discrimen  judic.  Kantii  anal,  et  synth.  proponentes.  Lund  1799.  — 
Positiones  de  judiciis  synth.  a  priori.  Anh.  zur  Theoria  intellecttis  von 
Behr  u.  Schwaiger  (Diss.)  Wirzb.  1793.  —  Krull,  Ks.  Lehre  vom  syn- 
thetischen Urtheil.     Gosl.  1876. 


In  aUen  Urtheilen.  Proleg.  §  2a:  „ürtheile  mögen  einen  Ursprung 
haben,  welchen  sie  wollen,  oder  auch  ihrer  logischen  Form  nach  beschaffen 
sein,  wie  sie  wollen,  so  gibt  es  doch  einen  Unterschied  derselben  dem  In- 
halte nach,  vermöge  dessen  sie  entweder  bloss  erläuternd  sind  und  zum 
Inhalt  der  Erkenntniss  nichts  hinzuthun,"  oder  erweiternd  und  die  gegebene 
Brkenntniss  vergrössern.**     Schultz,  Prüf.  I,   28:   Bisher   wurden   die   Ur- 


254  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10^  =  B,  Abschn.  IV. 

A  6.  B 10.  [R  21.  H  89.  E  53.] 

theile  eingetheilt  nach  dem  Gesichtspunkt:  wie  kommen  wir  zur  Verbin- 
dung des  Prädicats  mit  dem  Subject?  Durch  Empfindung  oder  a  priori? 
Jetzt  dagegen  nach  dem  Gesichtspunkt:  welcher  Art  ist  das  Verhältniss 
des  Subjects  zum  Prädicat?  Ist  dieses  in  jenem  schon  enthalten  oder  nicht? 
Riehl,  Krit.  I,  315  ff.  fügt  in  seiner  Wiedergabe  oder  vielmehr  Bearbeitung 
der  Einleitung  hier  eine  ausfuhrliche  Erörterung  des  ürtheils  im  Anschluss 
an  Kants  Einl.  zur  transc.  Analytik  (A,  69  ff.)  ein.  Allein  diese  Zugabe 
erscheint  malplacirt,  da  sie  Begriffe  voraussetzt,  welche  Kant  erst  später  er- 
örtert, wie  z.  B.  objective  Einheit  des  Bewusstseins.  Es  wird  desshalb  auch 
hier  von  einer  solchen  Erörterung  Umgang  genommen. 

Das  Yerhältiiiss  eines  Snbjects  sum  Prädicat.  Wie  Tiedemann, 
Theiltet.  235  richtig  bemerkt,  scheint  es  anfangs,  als  sollte  „Prädicat"  sich 
nur  auf  Qualitäten  des  Subjects  beziehen ;  es  wären  die  Sätze  ausgeschlossen, 
welche  Verhältnisse  ausdrücken,  in  denen  mehrere  Subjecte  verglichen 
werden.  Da  solche  aber  doch  später  eingeführt  werden  (z.  B.  7  -h  5  —  12), 
so  ist  hier  die  Definition  des  synth.  Urth.  so  zu  verstehen,  dass  auch  die 
Verhältnissurtheile  mit  eingeschlossen  sind. 

Auf  die  Yemeinenden  ist  die  Anwendangr  leicht.  Trendelenburg, 
Log.  Unters.  2.  Aufl.  II,  241 :  „Das  vern.  Urtheil  wird  vorwiegend  als  syn- 
thetisch erscheinen;  denn  Begriffe,  die  ursprünglich  nicht  zusammengehören, 
werden  zusammengebracht,  um  sich  gegen  einander  zu  bestimmen  und  ab- 
zusetzen, z.  B. :  Zwei  Linien  schliessen  keinen  Raum  ein.  Was  dem  Begriff 
der  zwei  Linien  fremd  ist,  das  ist  mit  ihm  in  Verbindung  gesetzt  (syn- 
thetisch)". Derselbe  negative  Satz  ist  nach  Spir,  Denken  U.Wirklichkeit 
II,  40  analytisch.  Dass  die  Einth.  in  anal.  u.  synth.  Urtheile  sich  auch  auf 
hypothetische,  nicht  blos  auf  categorische  Urtheile  erstreckt,  fuhrt 
Schultz,  Prüf.  I,  75  aus. 

Entweder  das  Prädicat  B  u.  s.  w.  I.  K.  erwähnt  die  identischen  (ab- 
solut-identischen) Urtheile*  erst  unten  (B  16);  sie  sind  aber  hier  zur  Uebersicht- 
lichkeit  herbeizuziehen ;  es  sind  solche,  in  welchen  der  Subjectbegriff  einfach 
wiederholt  wird.     Ihre  hergebrachte  Formel  ist: 

A  =  A. 
IL  Die  von  K.  so  genannten  analytischen  Urtheile  kann  man  auch 
relativ-identische  nennen.  Der  beliebige  Begriff  A  bestehe  aus  den  ihn 
constituirenden  Theilbegriffen  a,  ß,  y,  S.  In  dem  analytischen  Urtheil  wird  nun 
nicht  A  =A  (a,  ß,  y>  S)  gesetzt,  sondern  es  wird  einer  der  Theilbegriffe  (oder 
alle  nacheinander)  herausgegriffen  und  von  A  prädicirt.  Wir  erhalten  da- 
durch also  die  Formeln: ' 


*  Vgl.  Schultz,  Prüf.  I,  30  über  total-  und  partial identische  Urtheile, 

*  Schütz  gibt  1785  (A.  L.  Z.  III,  48)  als  allgemeine   Formeln  an:    für  da« 

analyt.  Urtheil: 

A  +  B  H-  C  est  C, 
für  das  synth.  Urtheil : 

A  est  B. 


Identische^  analytische  und  synthetische  Urtheile.  255 

[R  21.  H  39.  E.  53.]  A  6.  B  10. 

A   —   a 

A  -  ß 
A-  Y 

A  -  8 

oder  allgemein,  wenn  p.  ein  in  dem  Begriffe  liegendes  constituii*endes  Merk- 
mal bezeichnet: 

A  —  \k. 

Das  A  ist  gar  nicht  denkbar,  ohne  dass  diese  Merkmale  zugleich  mitgedacht 
werden.  Ich  denke  diese  Merkmale  zwar  nicht  deutlich,  aber  ich  denke 
sie  doch  verworren  mit,  weil  ich  sonst  mir  unter  dem  A  gar  nichts  dächte. 
Ich  würde  einen  Widerspruch  begehen,  wenn  ich  a,  ß,  .  .  .  in  A  denken 
und  doch  das  nämliche  a,  ß,  .  .  .  dem  A  absprechen  wollte  (vgl.  Metz 
Darst.  25).  Die  Merkmale  sind  integrirende  Bestandtheile  des  Begriffs. 
Beim  negativen  analytischen  ürtheil  wird  dem  Subject  A  irgend  ein 
Merkmal  p  abgesprochen,  weil  es  dem  in  dem  Begriffe  A  liegenden  Merkmal 
non  p  widerspricht,  z.  B.  Kein  Körper  ist  einfach;  einfach  =  p  wider- 
spricht dem  Begriffe  „nicht  einfach*  (ausgedehnt,  zusammengesetzt)  = 
non  p,  der  im  Begriff  Körper  (A)  enthalten  ist.  Vgl.  die  alte  scholastische 
Formel:  Quod  in  suhjecto  est  implicite,  in  praedicato  est  explidte. 

in.  Bezeichnen  wir  endlich  mit  a,  b,  c,  d  solche  Merkmale,  welche  erst 
neu  zu  jenem  Begriffe  hinzugefügt  werden,  welche  also  nicht  schon  auf  irgend 
eine  Weise  (also  als  \l  oder  non  p)  in  ihm  „versteckt  liegen**  (Metz,  Darst. 
26  nennt  sie  „heterogene"),  so  erhalten  wir  dadurch  die  Formeln: 

A  —  a 

A  —  b 

A  -  c 

A  -  d 

oder  allgemein,  wenn  m  ein  nicht  in  dem  Begriffe  liegendes  Merkmal,  das 
ihm  aber  doch  hinzugefügt  werden  kann  und  muss,  bezeichnet: 

A  —  m. 

Bei  negativen  synth.  ürth.  wird  dem  A  ein  Merkmal  r  abgesprochen,  von 
dem  wir  aus  dem  blossen  Begriffe  A  nicht  wissen  können,  dass  es  nicht  mit 
dem  A  verknüpft  sein  könne. 

Beispiele« 

I.  (Absolut-)  Identisches  ürtheil: 

Gold  ist  Gold. 

Gott  ist  Gott. 

Der  Körper  ist  ein  Körper. 

Ein  Kubus  ist  ein  Würfel. 

Alle  vollständigen  Definitionen  sind  auch  identische  Urtheile,  wenn  A  — 
(a  4-  ß  -h  Y  +  ^)  gesetzt  wird. 


256  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A  6.  B  10.  [R  21.  H  39.  E  53.] 

n.  Analytisches  (relativ-identisches)  Urtheil: 

Gold  ist  gelb. 

Ein  Dreieck  hat  drei  Seiten. 

Ein  Kreis  ist  rund. 

Ein  Thier  ist  ein  lebendes  Wesen. 

Das  Wasser  ist  flüssig. 

Im  Begriffe:  „Gold"  liegen  etwa  die  Merkmale:  gelb,  hart,  glänzend, 
ausgedehnt.  Jedes  dieser  Merkmale  kann  ich  vom  Golde  aussagen,  indem 
ich  nur  das,  was  im  Begriffe  liegt,  herausnehme  und  vom  Begriffe  prädicire. 
Im  Begriffe  „Gott"  liegen  die  (analytischen)  Theilbegriffe :  allmächtig,  all- 
wissend, übersinnlich,  ewig. 

Gott  ist  allmächtig 
ist   somit    ein   analytisches  ürtheil.     In   dem   Begriffe   Körper    liegen  (nach 
Kant)  die  Merkmale  der  Ausdehnung,  der  ündurchdringlichkeit,  Gestalt  u.  s.  w. 

Der  Körper  ist  ausgedehnt 
oder:  Alle  Körper  sind  ausgedehnt, 
ist  somit  ein  analytisches  Urtheil.  ^  Beispiel  eines  negativen:  Kein  Körper 
ist  einfach'. 

III.  Synthetisches  Urtheil: 

Gold  hat  die  specifische  Schwere  von  19,5;  ist  dehnbar  u.  s.  w. 

Gold  wird  insbesondere  in  Sibirien  oder  Australien  u.  s.  w.  gefunden. 

Gott  ist  ein  existirendes  Wesen  (Gott  ist). 

Alle  (Prol.  §  2  a  „Einige")  Körper  sind  schwer. 

Die  Luft  ist  elastisch. 

Das  Wasser  besteht  aus  Sauerstoff  und  Wasserstoff. 

Die  Thiere  sterben. 

Die  Winkel  im  Dreiecke  sind  =  2  R. 

Der  Kreis  ist  eine  Ellipse,  deren  Brennpunkte  unendlich  nahe  sind. 

Alle  Himmelskörper  gravitiren  (Lange). 

Zwei  gegebene  Figuren  sind  durchgängig  gleich,  weiin  sie  sich  decken. 
Prol.  §  12.  Dag.  nach  G.  Thiele,  Wie  sind  die  synthetischen  Urtheile  u.  s.  w. 
S.  12   ist  dieser  Satz   analyt.     Diese  Aussagen  betreffen  Merkmale,   welche 


*  „Dass  alle  Körper  ausgedehnt  sind,  ist  nothwendig  und  ewig  wahr,  sie 
selbst  mögen  nun  existiren  oder  nicht,  kurz  oder  lange,  oder  auch  aUe  Zeit  hin- 
durch, d.  h.  ewig  existiren."     K.  Entdeckung  R.  I,  463. 

^  Die  Eintheilung  in  offenbare  und  versteckt  analytische  Urtheile  bei 
Forsch ke,  Briefe  65,  bezieht  sich  auf  mehr  oder  weniger  direkte  Merkmale. 
Denn  ausser  der  Unterscheidung  der  identischen  Urtheile  in  total  und  partial 
identische  traf  man  auch  noch  die  Unterscheidung  in  unmittelbar  und  mittel- 
bar analytische.  Die  letzteren  sind  solche,  in  denen  Merkmale  der  Merkmale 
dem  Subjekt  zugeschrieben  werden;  also  z.  B.  die  beiden  Urtheile:  Gold  ist  ein 
Metall  (das  Metall  ist  ein  Körper);  Gold  ist  ein  Körper.  Vgl.  Maass  in  Eber- 
hards Phil.  Mag.  II,  197  u.  A.  L.  Z.  1789,  Is'r.  190,  ö.  706. 


Beispiele  identischer,  analytischer  und  synthetischer  ürtheile.  257 

[R  21.  H  39.  E  53.]  A  6.  B  10. 

in  den  Begriffen  „Gold",  »Gott*',  „Körper**  u.  s.  w.  nicht  an  und  für  sich 
liegen,  die  ich  also  erst  anderwärts  herholen  und  mit  jenen  Begriffen  ver- 
binden muss.  Der  Begriff  wird  dadurch  wirklich,  so  zu  sagen,  bereichert. 
Hier  wird  ein  neues,  fremdes  m  zu  A  hinzugethan,  bei  den  beiden  ersten 
Arten  geschieht  das  nicht ;  das  einemal  wird  nur  A  wiederholt ;  das  andere- 
mal  wird  ein  schon  vorhandenes  ji  deutlich  und  bewusst  herausgestellt;  aber 
*  etwas  Neues  liegt  darin  nicht. 

Weitere  Beispiele: 

Analytisch:  Prol.  §  4  (eigentlich  §  2 c) :  Substanz  ist  dasjenige,  was 
nur  als  Subject  existirt,  dem  die  Eigenschaften  inhäriren.  Das  Ganze  ist 
grösser  als  sein  Theil  (B.  17)  =  alle  Theile  sind  grösser  als  Ein  Theil.  Noth- 
wendige  Wahrheiten  sind  ewig.  Entd.  R.  I,  462. 

Synthetisch:  Die  Substanz  ist  beharrlich. 
Analytisch  sind  die  Sätze: 

Jede  Wirkung  hat  eine  Ursache.    (Vgl.  hiezu  bes.  B  290.) 

Alles  Bedingte  setzt  eine  Bedingung  voraus. 
Synthetisch  dagegen  folgende: 

Jede  Begebenheit  hat  ihre  Ursache. 

Jedes  Bedingte  setzt  ein  Unbedingtes  voraus. 

Analytisch  ist  das  logische  Princip:  Jeder  Satz  muss  einen  zu- 
reichenden Grund  haben ;  dieses  Princip  beruht  auf  dem  Satz  vom  Wid. ;  und 
ist  eben  nach  demselben  aus  dem  Begriffe  eines  Satzes  herauszuziehen; 
dag.  synthetisch  ist  das  materiale  Princip:  Jedes  Geschehen  setzt  eine 
zureichende  Ursache  voraus;  oder:  Ein  jedes  Ding  muss  seinen  Grund  haben. 
(Entd.  Ros.  I,  409.  413.  451.  457.  458.)  —  Logik  §  37  findet  sich  folgende 
Unterscheidung:  „Die  Identität  der  Begriffe  im  analyt.  Urth.  kann  entweder 
eine  ausdrückliche  (explicüd)  crder  eine  nichtausdrückliche  (implicitq) 
sein.  Im  ersteren  Falle  sind  die  analytischen  Sätze  tautologische.  Tautol. 
Sätze  sind  virtualiter  leer  oder  folgeleer;  denn  sie  sind  ohne  Nutzen  und 
Gebrauch.  Dergleichen  ist  z.  B.  der  Satz:  Der  Mensch  ist  Mensch; 
denn  wenn  ich  vom  Menschen  nichts  weiter  zu  sagen  weiss,  als  dass  er  ein 
Mensch  ist,  so  weiss  ich  gar  weiter  nichts  von  ihm.  Implicite  identische 
Sätze  sind  daher  nicht  folge-  oder  fruchtleer,  denn  sie  machen  das  Prädicat, 
welches  im  Begriffe  des  Subjects  unentwickelt  (implicite)  lag,  durch  Ent- 
wckelung  (explicatio)  klar"  ^  Manchmal  nennt  K.  die  analytischen  Ür- 
theile auch  identische;  so  594:  „Wenn  ich  das  Prädicat  in  einem  iden- 
tischen Ürtheile  aufhebe  und  behalte  das  Subject,  so  entspringt  ein  Wider- 
spruch, und  daher  sage  ich;   jenes  kommt  diesem  noth wendiger  Weise  zu.* 


'  Als  Propositiones  identicae  galten  auch  die  Definitionen«  Bau- 
meister^ Institut.  Phil.  rat.  §  222.  Ganz  und  theilweise  identische  Sätze  unter- 
scheidet Baumgarten,  Logica  §  252. 

Yathinge  r,  Eant-Oommentar.  ]^7 


t 


258  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A 6. 7. BIO.  11.  [B  21.  22.  H  39.  40.  E  63.  54.] 

Entd.  R.  I,  464  nennt  K.  den  Satz:   Die  Wesen   der  Dinge  sind  unverän- 
derlich, zuerst  einen  analytischen,  dann  aber  nennt  er  diesen  , metaphysischen. 
Sinnspruch **  einen  „ armen  identischen  Satz ** .  L a a s ,  Analog.  1 50  ff.  Ebenso 
Kr.  d.  pr.  V.  49.  50.    An  anderen  Stellen  spricht  er  sich  aber  dagegen  aus, 
so  Fortschr.  K.*  167,  ß.  I,  565:   „Wenn  man  solche  [analyt.]  ürtheile  iden- 
tische nennen  wollte,  so  würde  man  nur  Verwirrung  anrichten,  denn  der- 
gleichen ürtheile  tragen  nichts  zur  Deutlichkeit  des  Begriffes  bei,  wozu  doch 
alles  ürtheilen   abzwecken  muss,  und   heissen   daher   leer:     z.  B.   ein  jeder 
Körper  ist  ein  körperliches  (mit  einem  anderen  Worte  —  materielles)  Wesen. 
Analyt.  ürtheile  gründen  sich  zwar  auf  der  Identität,  und  können  darin 
aufgelöst  werden,  aber  sie  sind  nicht  identisch,   denn  sie  bedürfen  Zerglie- 
derung,  und  dienen  daher  zur  Erklärung  des  Begriffs;    da  hingegen  durch 
identische  idem  per  idem,   also   gar  nicht  erklärt  werden  würde."     Auch 
Jäsche  in  der  Vorr.  zu  Ks.  Logik  gebraucht  statt  analytisch  „identisch*.  — 
Dass  E X ist ential Sätze  synthetisch  seien,  ist  eine  Hauptlehre  Kants,  s. 
bes.  596  ff.     Der  Satz:  Dieses  oder  jenes  (mögliche)  Ding  existirt,   ist  nicht 
analytisch. .  Was  jedoch  hier  zum  Subjectsbegriff  neu  hinzukommt,  ist  nicht 
bloss  ein  neues,  denselben  etwa  inhaltlich  vergrösserndes  Prädicat,  sondern 
es  ist  die    einfache  Position  des  Dinges  als  existirend.     Der  Gegenstand 
ist,  wenn  ich  dessen  Wirklichkeit  aussage,   nicht  „bloss  in  meinem  Begriffe 
davon  analytisch  enthalten,  sondern  kommt  zu  meinem  Begriffe,  der  eine 
Bestimmung  meines  Zustandes  ist,  synthetisch  hinzu " .    , unser  Begriff  von 
einem  Gegenstande  mag   enthalten,   was  und  wie  viel  er  wolle,    so  müssen 
wir  doch  aus  ihm  herausgehen,   um  diesem  die  Existenz   zu   ertheilen.^ 
(ib.  600.)   „Wie  der  Verstand  auch  (639)  zu  einem  solchen  Begriffe  gelangt 
sein   mag,   so  kann  doch  das  Dasein  des  Gegenstandes  desselben  nicht  ana- 
lytisch in  demselben  gefunden  werden,  weil  eben  darin  die  Erkenntniss  der 
Existenz  des  Objects  bestehe,  dass  dieses  ausser  dem  Gedanken  an  sich 
selbst  gesetzt  ist."    Vgl.  Kr.  d.  pr.  V.  250.'  dem  Begriff  im  Verstände  cor- 
respondirt  ein  Gegenstand  ausser  dem  Verstände  —  dies  ist  synthe- 
tische Erkenntniss.     Zur   „Entdeckung  neuer  Gegenstände"    kann  man 
somit  ebensowenig  durch  Analyse  gelangen,  als  zur  Entdeckung  neuer  Prä- 
dicate  an  schon  bekannten  Gegenständen;  und  ob  durch  irgend  eine  Syn- 
these a  priori,  ist  die  Frage. 

Enthalten  ist.  Inwiefern  dieser  Ausdruck  Ks.  dem  damaligen  Sprach- 
gebrauch widerspricht,  geht  aus  der  Bemerkung  in  Jakobs  Ann.  HI,  190 
hervor.  „Nach  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauph  heisst  ein  Prädicat  ,ent- 
halten*  in  dem  Begriff  einer  Gattung,  wenn  es  allen  darunter  enthaltenen 
Individuis  mit  strenger  Allgemeinheit  zukommt-  Diesem  Sprachgebrauch 
zufolge  ist  das  Prädicat,  welches  die  Summe  der  Winkel  eines  Dreiecks  be- 
stimmt, in  dem  Begriff  eines  Dreiecks  mit  enthalten.  Nach  dem  Kantischen 
liegt  eben  dies  Prädicat  ausser  dem  Begriff  eines  Dreiecks."  Kant  hätte 
diese  Aenderung  wenigstens  anzeigen  sollen. 

Analytisch  nnd  synthetisch«    Den  unterschied  analytischer  und  synthe- 


Definition  der  analytischen  und  synthetischen  ürtheile.  259 

[R  21.  22.  H  39.  40.  K  53.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

tischer  ürtheile  hat  K.   sehr  oft   hervorgehoben.     Wir  stellen  die  einzelnen 
Merkmale  und  Charakteristiken  zusammen: 

Analytisch  (Text  I.  Aufl.):  Das  Prädicat  B  ist  versteckt  in  dem 
Begriffe  A  enthalten.  —  Die  Verknüpfung  des  Prädicats  mit  dem  Subject 
wird  durch  Identität  gedacht.  —  Es  ist  blosse  Erläuterung,  Verständlich- 
machung  oder  Aufklärung.  —  Es  wird  durch  das  Prädicat  nichts  zum  Be- 
griff des  Subjects  hinzugethan,  sondern  dieser  nur  durch  Zergliederung  in 
seine  Theilbegriffe  zerfällt,  die  in  selbigem  schon  (obschon  verworren)  gedacht 
waren.  —  Der  Materie  nach  werden  nur  die  Begriffe,  die  wir  schon  haben, 
auseinandergesetzt,  wenn  auch  der  Form  nach  neue  Einsichten  zu  entstehen 
scheinen.  —  Ich  brauche  aus  dem  Begriffe  nicht  hinauszugehen,  um  das 
Prädicat  zu  finden,  ich  brauche  mir  nur  des  schon  darin  gedachten  Mannig- 
faltigen bewusst  zu  werden.  —  (Text.  II.  Aufl.):  Ich  habe  kein  Zeugniss 
der  Erfahrung  dazu  nöthig.  —  Ich  brauche  das  (eingeschlossene)  Prädicat 
nur  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  herauszuziehen,  denn  Ein  Begriff  ist 
in  dem  Anderen  enthalten.  —  Ich  werde  dadurch  der  Nothwendigkeit  des 
Urtheils  bewusst.  —  Krit.  154:  „Im  anal.  Ürtheile  bleibe  ich  bei  dem  ge- 
gebenen Begriffe,  um  etwas  von  ihm  auszumachen.  Soll  es  bejahend  sein, 
so  lege  ich  diesem  Begriffe  nur  dasjenige  bei,  was  in  ihm  schon  gedacht  war; 
soll  es  verneinend  sein,  so  schliesse  ich  nur  das .Gegentheil  desselben  von 
ihm  aus.*  Cfr.  736:  „Was  ich  in  dem  Begriffe  wirklich  denke,  ist  nichts 
weiter  als  die  blosse  Definition."  718.  Prol.  §  2  a:  Der  Prädicatbegriff 
■war  schon  vor  dem  ürtheile  in  dem  Subjectbegriff  obgleich  nicht  ausdrück- 
lich gesagt,  dennoch  wirklich  gedacht.  —  Analyt.  Urth.  „bringen  den  Ver- 
stand nicht  weiter".  258.  Da  der  Verstand  bei  solchen  Urtheilen  nur  mit 
dem  beschäftigt  ist,  was  in  dem  Begriffe  selbst  als  solchem  liegt,  so  fragt 
er  nicht  nach  dessen  objectiver  Gültigkeit.  Daher  kann  man  wahre 
analytische  ürtheile  von  blossen  Hirngespinnsten  fällen,  also  von  Begriffen, 
welche  unreal  sind:  z.B.  Pegasus  ist  ein  geflügeltes  Ross.  Das  analytische 
Urtheil  vergleicht  Heusinger,  Enc.  I,  272  nicht  übel  mit  dem  Umsetzen 
eines  Goldstückes  in  Scheidemünze.  Besser  sagt  Pistorius,  A.  D.  B.  105, 
28:  Das  Erklären  leistet  dem  Verstände  ohngefähr  die  Dienste,  die  dem 
Auge  eiQ  Vergrösserungsglas  leistet.  K.  selbst  sagt  mit  einem  anderen  Bild 
(Logik,  Einl.  VEH):  „So  wie  durch  die  blosse  Illumination  einer  Karte  zu 
ihr  selbst  nichts  weiter  hinzukommt,  so  wird  auch  durch  die  blosse  Auf- 
hellung eines  gegebenen  Begriffs  vermittelst  der  Analysis  seiner  Merkmale 
dieser  Begriff  selbst  nicht  im  Mindesten  vermehrt."  Nach  Lange,  Mat. 
II,  11  dienen  die  an.  Urth.  „zur  Vermittlung,  Aufklärung  und  Vermeidung 
von  Irrthümem". 

Synthetisch  (Text  I.  Aufl.) :  Das  Prädicat  B  liegt  ganz  ausser  dem 
Begriffe  A,  ob  es  zwar  mit  demselben  in  Verknüpfung  steht.  —  Die  Ver- 
bindung beider  Begriffe  wird  ohne  Identität  gedacht.  —  Es  ist  eine  Erwei- 
terung. —  Es  wird  zu  dem  Begriffe  des  Subjects  ein  Prädicat  hinzugethan, 
welches   in  jenem  gar  nicht  gedacht  war   und  durch   keine  Zergliederung 


260  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A  6.7.  BIO.  11.  [R  21.  22.  H  39.  40.  E  53.  54.] 

-desselben  hätte  können  herausgezogen  werden.  Es  werden  zu  gegebenen 
Begriffen  ganz  fremde  hinzugethan.  —  Ich  muss  aus  dem  Begriffe  hinaus- 
gehen, um  das  Prädicat  mit  ihm  verknüpft  zu  finden.  —  Das  Prädicat  ist 
etwas  ganz  anderes,  als  was  ich  im  Subjectbegriff  überhaupt  denke.  —  Ich 
muss  ausser  dem  Begriffe  des  Subjects  noch  etwas  anderes  haben,  worauf 
,  sich  der  Verstand  stützt,  um  ein  Prädicat,  das  in  jenem  Begriffe  nicht  liegt, 

doch  als  dazu  gehörig  zu  erkennen.  —  Der  Prädicatsbegriff  ist  etwas  ganz 
verschiedenes  und  in  dem  Subjectsbegriflf  gar  nicht  mit  enthalten.  Es  wird 
ausser  dem  Begriff  von  A  ein  demselben  fremdes  Prädicat  aufgefunden,  das 
gleichwohl  mit  dem  ersteren  verknüpft  ist  *.  154  f.:  „Im  synth.  ürth.  soll 
ich  aus  dem  gegebenen  Begriff  hinausgehen,  um  etwas  ganz  Anderes,  als  in 
ihm  gedacht  war,  mit  demselben  in  Verhältniss  zu  betrachten,  welches  daher 
niemals,  weder  ein  Verhältniss  der  Identität,  noch  des  Widerspruchs  ist,  und 
wobei  dem  Urtheile  an  ihm  selbst  weder  die  Wahrheit  noch  der  Irrthum 
angesehen  werden  kann."  Vgl.  718.  764.  (Im  synth.  Urth.  handelt  es  sich 
um  „Eigenschaften,  die  in  dem  Begriffe  nicht  liegen,  aber  doch  zu  ihm  ge- 
hören".) Dass  es  sich  beim  synth.  Urth.  um  etwas  Neues  handle,  s.  48. 
A  850.  Desshalb  bietet  das  synth.  Urtheil  auch  unerschöpflichen  Zuwachs, 
während  die  analytischen  urtheile  über  einen  Subjectsbegriff  sich  bald  er- 
schöpfen und  von  Jedem  a  priori  ausgerechnet  werden  können.  Vgl.  Krit. 
718  f.  720  ff.  Bouterweck,  Aph.  28:  „Nur  durch  synth.  ürth.  vermag 
ich  herauszugehen  aus  dem  Zirkel  des  Schongedachten,  wenngleich 
nicht  Schonentwickelten."  Es  ist  ein  addere,  kein  elicere,  Schmidt- 
Phis.  Expos.  11. 

Nach  Beuss,  Vorl.  II,  4  „liegt  in  einem  synth.  Urth. 

a)  das  Prädicat  ausser  der  Vorstellung  des  Subjects  und  wird  erst 

b)  durch  das  Urtheil  mit  dem  Subject  verknüpft  und  zwar 

c)  so,  dass  diese  Verknüpfung  ohne  Identität  gedacht  wird. 


^  Die  Bestimmung  der  A.  L.  Z.  1791,  Nr.  259,  dass  im  synth.  Urtheil  das 
Prädicat  vor  dem  Urtheile  selbst  in  keinerlei  Verknüpfung  mit  dem  Subject 
stehen  dürfe,  widerspricht  der  K.'schen  Definition  nach  Eberstein,  Gesch.  d.  Log. 
II,  244.  Vgl.  Krit.  Briefe  S.  25.  Die  A.  L.  Z.  will  wohl  nur  sagen,  dass  Subj. 
u.  Präd.  in  logisch  -  analytischer  Beziehung  nicht  mit  einander  in  Verbindung 
stehen  dürfen,  was  nicht  ausschliesst,  dass  sie  in  realer  Beziehung  mit  einander 
verknüpft  sind.  Fortschr.  K.  168  (R.  I,  565):  „Im  synth.  ürth.  wird  gar  nicht 
darnach  gefragt,  ob  das  Prädicat  mit  dem  BegrilBfe  des  Subjects  jederzeit  ver- 
bunden sei,  oder  nicht,  sondern  es  wird  nur  gesagt,  dass  es  in  diesem  Begriffe 
nicht  mitgedacht  werde,  ob  es  gleich  nothwendig  zu  ihm  hinzukommen  muss. 
So  ist  z.  B.  der  Satz:  Eine  jede  dreiseitige  Figur  ist  drei  winklicht  (figura  tri- 
latera  est  triangula)  ein  synthetischer  Satz.  Denn  obgleich,  wenn  ich  drei  gerade 
Linien  als  einen  Raum  einschliessend  [anschaulich]  denke,  es  unmöglich  ist,  dass 
dadurch  nicht  zugleich  drei  Winkel  gedacht  würden,  so  denke  ich  doch  in  jenem 
Begriffe  des  Dreiseitigen  gar  nicht  die  Neigung  dieser  Seiten  gegen  einander., 
d.  i.  der  Begriff  der  Winkel  wird  in  ihm  wirklich  nicht  gedacht." 


Die  beiden  Kriterien  der  analytischen  und  synthetischen  ürtheiie.       261 

[B  21.  22.  H  39.  40.  E  53.  54.]  A  6. 7.  B 10. 11. 

Die  Handlnng,  durch  welche  die  Verknüpfung  zweier  Vorstellungen  vor- 
genommen wird,  heisst  ein  synth.  Urth. ;  die  Handlung,  durch  welche  die 
schon  vorgenommene  Verknüpfung  zweier  Vorstellungen  vorgestellt 
wird,  heisst  ein  anal.  Urth."  üeber  objectiv  und  subjectiv  synthetische 
Sätze  Kr.  233  f.  Vgl.  bes.  Entdeckung  E.  I,  454.  459.  Nach  Schmid,  Wort. 
399  ist  die  Nothw.  im  synth.  Urth.  eine  äussere,  im  analyt.  eine  innere. 
Eine  eingehende  Analyse  des  Gegensatzes  s.  Bendavid,  Urspr.  d.  Erk. 
S.  41  ff.  Aus  dieser  Zusammenstellung  lassen  sich  die  Kriterien  präcis 
herausheben,  welche  für  die  beiden  Urtheilsarten  charakteristisch  sind,  und 
welche  K.  nicht  besonders  bestimmt  hat.  Wie  für  die  empirischen  und 
reinen  Urtheile,  so  erhalten  wir  auch  hier  zwei  Kriterien  für  die  syn- 
thetis  chen: 

1)  Vermittlung 

2)  Neuheit  (Erweiterung),  [vgl.  Proleg.  §  2.] 
für  die  analytischen 

1)  Unmittelbarkeit  [vgl.  Proleg.  §  2.] 

2)  Erläuterung  (Nichts  Neues). 

Das  erstere  Merkmal  bezieht  sich  auf  die  Art  der  Urtheilsbildung,  auf 
die  Form.  Das  Einemal  bedarf  es  zur  Urtheilsbildung  eines  „Dritten*, 
eines  äusseren  Grundes,  der  zur  Verbindung  berechtigt,  der  die  Möglich- 
keit der  Synthesis  enthält,  , vermittelst*  dessen  (Prol.  §  2  c)  das  Prädicat 
dem  Begriffe  zukommt.  Es  bedarf  also  des  Eechtsnachweises  der  Ver- 
bindung. (Diese  Vermittlung  liegt  entweder  in  der  Erfahrung  oder  in 
der  Vernunft,  im  letzteren  Falle  entweder  in  Anschauungen  oder  in 
Begriffen  a  priori.  Prol.  §  2c.)  Das  Zweitemal  bedarf  es  solcher  Um- 
schweife nicht.  Das  Urtheil  folgt  , unmittelbar"  aus  dem  Subjectsbegriff 
selbst  und  man  bedarf  weder  „das  Zeugniss  der  Erfahrung",  noch  irgend 
.sonst  eine  Vermittlung,  als  das  selbstverständliche  Princip  der  Identität,  dass 
A  =  A  ist,  dass  also  wenn  A  a  ist,  audh  a  von  A  prädicirt  werden  kann. 
Es  ist  dasselbe  Verhältniss,  wie  zwischen  sog.  mittelbaren  und  unmittelbaren 
Schlüssen.  Das  andere  Merkmal  bezieht  sich  auf  das  Resultat  der  Urtheils- 
bildung, auf  den  Inhalt.  Das  erstemal  erhalten  wir  wirklich  ^ etwas  Neues", 
wir  erweitem  somit  reell  unsere  Erkenntniss.  Das  anderemal  wird  nur  das 
Vorhandene  klar  gemacht,  gleichsam  aufgewärmt,  und  eine  wirkliche  Be- 
reicherung der  Erkenntniss  ist  darin  nicht  enthalten,  denn  das  Gesagte  ent- 
hält nur  Selbstverständliches.  Das  erstemal  handelt  es  sich  um  zwei 
getrennte,  verschiedene  Begriffe,  das  anderemal  eigentlich  nur  um  Einen 
Begriff  mit  mehreren  constitutiven  Merkmalen.  In  dem  folgenden  Absätze 
der  I.  Aufl.:  »Nun  ist  hieraus  klar"  u.  s.  w.  wird  bei  dem  analytischen 
Urtheil  nur  das  Merkmal  der  Erläuterung,  bei  dem  synthetischen  Urtheil  das 
Kriterium  der  Vermittlung  und  dann  das  der  Erweiterung  herausge- 
hoben. Ueber  das  Merkmal  der  Apriorität  bei  den  analytischen  Urtheilen 
s.  unten  S.  281  f.  Ungenau  ist  es,  mit  Schmid,  Krit.  2  (und  Will,  Vorl.  85) 
die  analyt.  Urth.  zergliedernde,  die  synth.  verknüpfende  zu  nennen. 


262  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A 6. 7.  BIO.  11,  [R  21.  22.  H  89.  40.  K  53.  54.] 

denn  auch  die  analyt.  sind  „verknüpfende".  Doch  findet  sich  diese  Sprech- 
weise auch  bei  Kant,  wohl,  weil  er  den  Ausdruck  „synthetisch"  gewählt 
hatte,  statt  dessen  er  besser  „prosthetisch"  gesagt  hätte  *.  Später  hinzu- 
tretende Bestimmungen  sind,  dass  die  ursprünglichen  Urtheile  synthetisch 
sind,  die  abgeleiteten  analytisch  ';  dass  synthetisch  solche  sind,  wo- 
durch ich  einen  Begriff  hervorbringe  oder  bestimme;  analytisch  wo- 
durch ich  einen  vorhandenen  Begriff  erkläre.  In  der  Logik  §  36 
fügt  K.  noch  folgende  Bestimmungen  hinzu:  „Alles  x,  welchem  der  Begriff 
des  Körpers  (a  +  b)  zukommt,  dem  kommt  auch  die  Ausdehnung  (b)  zu, 
ist  ein  Exempel  eines  analytischen  Satzes.  Alles  x,  welchem  der  Begriff 
des  Körpers  (aXb)  zukommt,  dem  kommt  auch  die  Anziehung  (c)  zu, 
ist  ein  Exempel  eines  synthet.  Satzes.  —  Die  synth.  Sätze  vermehren  das 
Erkenntniss  materialiter,  die  analytischen  bloss  formaliter.  Jene  ent- 
halten Bestimmungen  {determincUiones)\  diese  nur  logische  Prädicate,* 
Vgl.  Fortschr.  K.  149.  R.  I,  545:  Analyt.  Prädicate  sind  keine  Bestim- 
mungen; wir  können  daher  z.  B.  das  höchste  Wesen  seiner  Naturbe- 
schaffenheit nach  nicht  bestimmen;  denn  Un Veränderlichkeit,  Ewigkeit, 
Einfachheit  desselben  sind  keine  synthet.  Bestimmungen.  Ebenso  Krit.  598  über 
den  Unterschied  logischer  und  realer  Prädicate.  „Zum  log.  Präd.  kann  alles 
dienen,  was  man  will,  sogar  das  Subject  kann  von  sich  selbst  prädicirt 
werden  [im  ident.  ürth.],  denn  die  Logik  abstrahirt  von  allem  Inhalte.  Aber 
die  Bestimmung  ist  ein  Prädicat,  welches  über  den  Begr.  d.  Subj.  hinzu- 
kommt und  ihn  vergrösser t.  Sie  muss  also  nicht  in  ihm  schon  enthalten 
sein" .  Das  synth.  Urth.  heisst  daher  auch  „bestimmendes".  Kr.  d.  Ürth. 
§  89.  Ebenso  Metaph.  37.  88.  Ein  anal.  Satz  hat  nach  Entd.  R.  I, 
415  den  logischen  Grund  seiner  Wahrheit  in  sich  selbst,  weil  der  Begriff 
des  Subjects  den  Grund   des  Prädicates   enthält. 

Eine   Erläuterung    gegenüber    den    Missverständnissen    Eberhards,    die 
noch  heute  gegen  allerlei  Missdeutungen  Ks.  Meinung  deutlich    ausspricht. 


*  Es  ist  also  ein  leichtfertiger  Einwurf,  wenn  Spicker,  Kant  u.  s.  w.  19, 
wie  schon  Zeitgenossen  Ks.,  sagt,  jedes  Urtheil  sei  ein  synthetisches,  weil  ja  jedes 
Urtheil  eine  Verbindung  von  Vorstellungen  sei.  „Synthet.  Urtheil"  sei  lediglich  eine 
Tautologie.  Statt  identisch,  analytisch,  synthetisch  schlägt  Jankowski,  Pisticis- 
mus  22,  isothetisch,  ekthetisch,  prosthetisch  vor. 

*  Nach  Gruppe,  Gegenw.  u.  Zuk.  d.  Philos.  195  war  K.  damit  an  der  Schwelle 
einer  wichtigen  Entdeckung:  Jedes  analyt.  Urtheil  ist  früher  einmal  ein  synthet. 
gewesen;  jedes  synthet.  Urtheil  ist  es  nur  einmal  und  wird  sogleich  ein  anal^-- 
tisches;  denn  in  Folge  des  synthet.  Urtlieils  geht  der  Prädicatbegriff  in  den  Sub- 
jectbegriff  über,  und  wird  diesem  einverleibt. 

'  Diese  Definitionen  erinnern  an  Wolfische;  so  benennt  auch  Meier,  Ver- 
nunftlehre §  298  diejenigen  Urtheile,  in  denen  ein  zufälliges  Merkmal  (nicht  ein 
analytisch  nothwendiges)  dem  Subject  hinzugefügt  wird,  determinationes.  Vgl. 
Kant  „Ueber  Philosophie  überhaupt**,  R.  I,  597. 


Eintheilung  der  Urtheilsarten  nach  den  Begriffsmerkmalen.  263 

[B  21.  22.  H  39.  40.  E  63.  54.]  A 6. 7. BIO.  11 

enthält  die  Schrift  gegen  Eberhard  (R,  I,  454  ff.)  \     K.  theilt  daselbst  die 
Prädicate  oder  Merkmale  eines  Begriffs  ein  in  wesentliche  und  in  aus  ser- 
wesentliche.   Die  wesentlichen  Merkmale  eines  Subjects  sind  solche, 
welche  ihm  durch  ein  Urtheil  a  priori  (sei  dieses  nun  analytisch  oder  syn- 
thetisch)   beigelegt    werden,    die    daher    ihm    nothwendig    angehören 
und  von  ihm  unabtrennlich  sind.    Solche  Prädicate  gehören  zum  Wesen, 
zur  inneren  Möglichkeit  des  Subjectbegriffs.    Alle  Urtheile  a  priori  müssen 
demnach  solche  Prädicate  enthalten.    Denn  alle  anderen  in  Urtheilen  einem 
Subjecte  beigelegten  Merkmale  sind  unwesentliche,  solche  die  sich  von  dem 
Begriffe,  unbeschadet  seiner  Integrität,   abtrennen  lassen.    Da  also  die  Prä- 
dicate dieser  Art  nicht   nothwendig  mit  dem  Subjectsbegriff  verbunden 
sind,   so  können  sie  nur  in   empirischen  Urtheilen  demselben  hinzugefugt 
werden.    Solche  Prädicate  können  also  Sätzen  a  priori  nicht  zu  Prädicaten 
dienen.    Diese  ausserwesentlichen  [Text  falsch:  ausserordentlichen]  Merkmale 
sind  theils  innere  (modi),   die  sich  auf  den  Subjectsbegriff  als  solchen  be- 
ziehen, theils  äussere  (rekUiones),  die  sein  Verhältniss  zu  anderen  Begriffen 
bestimmen.     (Als  Beispiel  hiefür  dient  jedes  beliebige  empirische  Urtheil: 
z.  B.  Gold  ist  dehnbar;  Gold  hat  die  specifische  Schwere  von  19,5  —  Urtheile, 
deren  erstes   einen  modus,   das  zweite  eine  relatio  aussagt.)    Wichtiger  ist 
die  Eintheilung  der  wesentlichen  Merkmale,  welche  also  immer  in  Urtheilen 
a  priori  dem  Subject  beigelegt  werden.    Die  wesentlichen  Merkmale  zer- 
fallen nämlich  in  constitutive  (oder  essentielle)  und  in  solche,  welche  Kant 
rationata  nennt.    Die  letzteren  sind  aus  anderen  Merkmalen  desselben  Be- 
griffs erst  gefolgert,  zureichend  gegründete  Folgen  aus  den  ersteren.    Die 
ersteren  sind  also  primitive,    die  zweiten  derivative   oder  secundäre.    Die 
ersteren    sind    wesentliche   Bestandstücke    des   Begriffs    und    machen    sein 
logischesWesen  aus  (essentia);  die  anderen  sind  aus  diesen  erst  abgeleitet 
und   heissen  Attribute.     Diese   Attribute   können   nun   ihrerseits   sowohl 
analytische  als  synthetische  sein.    Beispiele:  Der  Satz:   Ein  jeder 
Körper  ist  theilbar,    enthält  im  Prädicat  ein  Attribut.    Dieses  Attribut 
ist    nun   analytisch  in    dem  grundwesentlichen  Merkmal  der  Ausdehnung 
enthalten  und  wird   aus    ihm    als    nothwendige  Folge   abgeleitet.      Dieses 
Attribut  wird  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  als  zu  dem  Begriffe   des 
Körpers   gehörig  vorgestellt.     Analytische  Sätze   können  somit   „Attribute" 
aussagen.    Dagegen  der  Satz:  Eine  jede  Substanz  ist  beharrlich  gibt 
als  Prädicat  ein  Attribut,   das   zwar   ein   schlechterdings   nothwendiges 
Prädicat  der  Substanz  ist,   das  aber  doch  nicht  in  ihrem  Begriffe  enthalten 
ist  und  durch  keine  Analysis   aus   ihr  zu  ziehen   ist.     (Wie  sich  das  damit 
vereinigen  lasse,  dass  alle  Attribute  aus  Grundmerkmalen  des  Subjects  ab- 
geleitet seien,  sagt  K.  nicht,  sucht  aber  später  (471)  folgende  Vermittlung: 


■  Wozu  man  Metaph.  38  ff.,  sowie  Logik,  Einl.  VIII  und  den  Brief  an 
Reinhold  vom  12.  Mai  1789  vergleiche,  sowie  die  Reinliold'sche  Recension  der 
Eberliard'schen  Zeitschrift  in  der  A.  L.  Z.  1789,  Nr.  174—176. 


264 


Commentar  zur  Einleitung  A.  S.  6 — 10  =  B,  Abschn.  IV. 


A6.7.B10.11.  [B  21.  22.  H  39.  40.  E  53.  54.] 

ein  solches  Prädicat  müsse  nothwendig  auf  irgend  eine  Art  im  Wesen 
des  Subjectsbegriffs  gegründet  sein ,  aber  eben  nicht  nach  dem  Satz  des  Wid. 
Wie  es  nun  als  synthetisches  Attribut  mit  dem  Begriffe  des  Subjects  in 
Verbindung  komme,  d«.  es  doch  durch  Zergliederung  desselben  nicht  daraus 
gezogen  werden  kann,  zeigt  die  Kritik:  nämlich,  dass  es  die  reine  dem  Be- 
griffe des  Subjects  untergelegte  Anschauung  sein  müsse,  an  der  es  allein 
möglich  ist,  ein  synthetisches  Prädicat  a  priori  mit  einem  Begriffe  zu  ver- 
binden. Dies  geht  über  die  Fähigkeit  der  Logik  hinaus,  die  keine  Lösung 
der  Frage  geben  kann,  wie  synthetische  Sätze  a  priori  möglich  seien,  welche 
also  synthetische  Attribute  aussagen.  Man  muss  über  den  Verstand, 
den  die  formale  Logik  allein  behandelt,  zu  der  reinen  Anschauung  hinaus- 
gehen .  .  .  Nur  so  kann  man  zeigen,  wie  synthetische  Attribute  dazu 
kommen,  nothwendige  Prädicate  eines  Begriffes  zu  werden,  da  sie  doch 
nicht  aus  ihm  entwickelt  werden  können.)  Wir  erhalten  somit  folgende 
Eintheilung  der  Merkmale  eines  Subjectsbegriffs  hebst  den  sich 
daraus  ergebenden  ürtheilsarten: 

Merkmale  eines  Subjectsbegriffs. 


I. 

Wesentliche  (ad  esaentiam  pertinentia) 

[»  priori  mit  dem  Siibject  zu  yerblnden] 


IL 

Ausserwesentliche  (extraessenHaUa) 
[empirisch  zu  oonstatlren] 


A. 
Wesentl.  Stücke 

[e»9etUialia,  eonstUutiva] 
aUe  analytlflcli  im 

Subject  enthalten, 
zusammen  =:  eaaentia, 
logisches  Wesen 


B. 
Folgen 

(rationata) 

(Eigenschaften) 

(Attribute) 

[überhaupt  abzuleiten] 


A.  B. 

Innere  (tnodi)    AensBere  (relationesj 


analytische 

[nach  dem  Satz 

des  Widerspruchs 

aus  A  abzuleiten] 


analytische 


synthetische 
[nicht  aus  A  abzuleiten, 
erfordern  einen  anderen 

Yerknüpfungsgrund 

und  zwar  untergelegte 

reine  Anschauung.] 


synthetische      synthetische 
a  priori  a  posteriori 

ürtheile. 


Durch  diese  Erklärung  will  K.  das  Eberhard'sche  Missverständniss  zurück- 
weisen, als  ob  er  unter  synthetischen  Sätzen  a  priori  solche  verstünde,  welche 
überhaupt  Attribute  aussagen.  Die  Attribute  können  theils  analytische 
theils  synthetische  sein.  Anderseits  wollte  Eberhard  zeigen,  dass  die 
synthetischen  Sätze,  da  sie  Attribute  aussagen,   nach  dem  Satz   vom   zu- 


Analytisch  =  logisch;  synthetisch  =  real.  265 

[R  21.  22.  H  39.  40.  K  58.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

reichenden  Grunde  aus  dem  Subjectsbegriff  und  seinen  wesentlichen  Merk- 
malen abgeleitet  werden  können.  Das  wäre  also  doch  nur  eine,  wenn  auch 
mittelbare  analytische  Zergliederung  des  SubjectsbegriflFs.  Aber  der  Satz: 
Ein  jeder  Körper  ist  theilbar,  ist  doch  analytisch,  wenn  auch  sein  Prädicat 
erst  aus  dem  unmittelbar  zum  Begriff  Gehörigen,  nämlich  der  Ausdehnung, 
durch  Analyse  gezogen  worden  ist,  wobei  die  Ausdehnung  den  zureichen- 
den Grund  für  das  Prädicat  der  Theilbarkeit  abgibt.  „Wenn  von  einem  Prä- 
dicate,  welches  nach  dem  Satze  das  Wid.  unmittelbar  an  einem  Begriffe  er- 
kannt wird,  ein  anderes,  welches  gleichfalls  nach  dem  Satze  das  Wid.  von 
diesem  abgeleitet  wird,  gefolgert  wird,  so  ist  das  letztere  Prädicat  ebenso  gut 
von  dem  Begriffe  nach  dem  Satz  des  Wid.  abgeleitet  als  das  erstere.  Das 
erstere  Prädicat  ist  der  Grund  für  das  letztere,  und  doch  ist  der  Satz,  der 
das  letztere  enthält,  auch  nur  analytisch*."  —  Born  bemerkt,  Grundl. 
§  15  (S.  34),  dass  in  den  analyt.  Urtheilen  es  sich  nur  um  ein  logisches 
Wesen  handle,  d.  h.  um  einen  Begriff;  wobei  nicht  gefragt  wird,  ob 
diesem  Begriff  ein  Reales  entspreche  oder  auch  nur  entsprechen'  könne.  In 
den  synth.  ürth.  handelt  es  sich  um  ein  reales  Wesen,  um  den  Inbegriff 
der  wesentlichen  Stücke  eines  Gegenstandes,  nicht  um  den  Inbegriff 
der  nothwendigen  Merkmale  eines  Begriffes.  Ist  im  letzteren  Falle  der 
Begriff  real,  so  auch  das  Prädicat;  ist  er  ideal  oder  gar  widersprechend  (leer), 
so  ist  es  auch  das  Prädicat.  Ganz  anders  beim  synth.  ürtheil.  Wenn  ich 
wissen  will,  ob  ein  synthetisches  ürtheil  wahr  sei,  verlange  ich  nicht 
bloss  zu  wissen,  ob  der  Begriff  des  Prädicats  in  dem  Begriff  des  Subjects 
enthalten  sei,  sondern  ob  das  Prädicat  seinen  realen  Grund  im  Subject 
habe,  das  ist,  ob  wirklich  ausser  meinem  Begriffe  dem  Subject  diese  oder 
jene  Eigenschaft  zukomme.  (Daher  sind  eben  die  Existentialsätze  [Gott  ist] 
synthetische  Sätze.)  Aehnlich  Glaser,  Princ.  Phil.  Kant.  5 :  Est  inter  jud, 
analyt,  et  synthet,  haec  differentia,  ut  jtidiciia  quidem  anal,  explicetur,  utrum 
eogüatianes  nostrae  secum  possint  constare,  judiciis  vero  synth.,  utrum  rerum 
natura  tales  exhibeat  res,  quales  cogitatione  nostra  formavimus.  Quod 
igüur  plane  novum  putabat  discrimen  Kantius,  id  nullum  est  aliud  quam  quod 
vulgo  inter  rationem  formalem  et  realem  constituunt.  Vgl.  Kants  Prol.  §  14: 
Was  den  Dingen  an  sich  selbst  zukomme,  dies  zu  wissen,  kann  niemals  durch 
Zergliederung  unserer  Begriffe  geschehen  (durch  analyt.  Sätze),  »weil  ich  nicht 
wissen  will,  was  in  meinem  Begriffe  von  einem  Dinge  enthalten  sei  (denn 
das  gehört  zu  seinem  logischen  Wesen),  sondern  was  in  der  Wirklichkeit 
des  Dinges  zu  diesem  Begriff  hinzukomme  und  wodurch  das  Ding  selbst  in 


*  Auf  diese  schon  von  Reinhold  vorgebrachten  Erörterungen  erwiderten 
Haas 8  in  Eberh.  Zeitschrift  U,  201  ff.  und  Eberhard  selbst  II,  257  ff.  u.  285  ff. 
(cfr.  U,  29  ff.)  m,  148  ff.  (Maass  III,  181  ff.)  III,  194  ff.  205  ff.  212  ff.  251  ff. 
280  ff.  IV,  208  ff.  Vgl.  Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  52.  B.  Erdmann,  Gott. 
Gel.  Anz.  1880  St.  20,  S.  614.  Vaihinger,  Phil.  Mon.  XV,  518  ff.  -  G.  F.  Meier, 
Vemunftlehre  §  151.  152.    Kritische  ßriefe  S.  25  f. 


1 


266  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6 — 10  =  B,  Abschn.  IV. 

A6.7.  BIO.U.  [R  21.  22.  H  89.  40.  E  58.  64.] 

seinem  Dasein  ausser  meinem  Begriffe  bestimmt  sei\^  Vgl.  Metaph.  37  f. 
Logik  Einl.  VIII;  an  Reinhold  12.  Mai  1789.  Nach  Born  Grundl.  36  (§  17) 
wächst  durch  analyt.  Urth.  unsere  Erkenntniss  nur  an  intensiver  Grösse, 
durch  die  sjnth.  dagegen  an  extensiver.  Bei  den  analyt.  ürth.  handelt  es 
sich  um  eine  Reihe  einander  subordinirter  Begriffe;  die  synth.  Erkennt- 
niss wachst  aus  coordinirten  Begriffen  an.  Die  intensiv-analytische  Grösse 
ist  endlich,  indem  die  Reihe  untergeordneter  Begriffe  begränzt  ist  und  wir 
zuletzt  auf  einfache  Begriffe  kommen  durch  Decomponirung.  Die  extensiv- 
synthetische Grösse  ist  unbegränzt,  weil  die  Reihe  coordinirter  Theilvor- 
stellungen  durch  die  Hinzukunft  jedes  neuen  Partialbegriffs  ins  Unendliche 
ausgedehnt  werden  kann.  Vgl.  ganz  ähnlich  bei  Kant,  Logik  Einl.  VTII. 
Straeter,  Princ.  p.  20  bemerkt  richtig  im  Sinne  Ks.  über  die  analyt.  Urth. : 
yf  Cujus  generisjudicia  quarnquam  a  discipulis  optime  propanuntur,  ut  una  ea^ 
demque  diversis  verUs  expresaa  omnia  sibi  in  dariorem  lucem  proferre  dis- 
cant,  virili  tarnen  atque  apto  ad  vere  cognoscendum  inteUectu  minime  sunt 
digna.^  Vgl.  die  Ausführung  bei  Liebmann,  An.  209:  „Zwei  gerade  Linien 
können  nicht  zwei  ungerade  sein  —  das  ist  analytisch,  weil  es  ohne  Inter- 
vention jeder  Anschauung  bloss  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  einleuchtet. 
In  solchen  Sätzen  bewegte  sich  Wolff  so  gut  wie  Spinoza.  Dagegen  der 
Satz:  Zwei  gerade  Linien  können  sich  nur  in  Einem  Punkte  schneiden  — 
ist  synthetisch.  Denn  im  blossen  Subjectsbegriff  „zwei  gerade  Linien* 
liegt  nicht  einmal  dies  als  logisches  Merkmal,  dass  sie  sich  überhaupt 
schneiden  können,  viel  weniger  die  Anzahl  der  möglichen  Schnittpunkte. 
Nach  dem  principium  identitatis  allein  lässt  sich  also  das  Prädicat  aus 
dem  Subject  nimmermehr  herausklauben.*'  Andererseits  herrscht  auch 
zwischen  dem  Begriff  „zwei  gerade  Linien"  und  der  Aussage  „schneiden  sich 
in  2  oder  3  Punkten"  durchaus  kein  logischer  Widerspruch,  sondern  bloss 
eine  anschauliche  Unvereinbarkeit.  „  Die  Noth  wendigkeit  jenes  Satzes  oder  die 
Unmöglichkeit  seines  Gegentheiles  wird  also  nur  dadurch  erkannt,  aber  auch 
unfehlbar  erkannt,  dass  man  aus  dem  Subjectsbegriff  hinausgeht,  überhaupt 
die  Sphäre  der  (bei  Wolff  und  Consorten  allein  berücksichtigten)  logischen 


^  Wenn  auch  nicht  dem  Zusammenhange  der  Stelle  nacli^  aus  der  dieses  Citat 
stammt,  so  doch  der  Sache  nach  ist  das  Ding  an  sich,  von  dem  Kant  hier  redet 
(vgl.  unten  284),  nicht  das  absolute,  transscendente  Ding  an  sich,  aussermeiner 
Vorstellung,  sondern  das  empirisch-reale  Ding,  ausser  meinem  Begriff. 
Wenn  man  die  angeführten  Stellen  hierüber  vergleicht,  findet  man,  dass  hierin 
eine  unheilbare  Verwirrung  bei  Kant  herrscht,  welche  auf  das  engste  zu- 
sammenhängt mit  den  widerspruchsvollen  Stellen  bei  Kant  über  die  Nominal- 
und  die  Realdefinition  und  über  das  logische  Wesen  und  das  Realwesen. 
Zwischen  diesen  Unterscheidungen  und  der  Unterscheidung  der  analytischen  und 
synthetischen  Ürtheile  besteht  ein  historischer  und  sachlicher  Zusammenhang,  der 
noch  nicht  genügend  aufgeklärt  ist.  Vgl.  Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  99  und 
bes.  Erdmann,  Gott.  Gel.  Anz.  1880,  S.  614,  der  die  Widersprüche  vergeblich 
wegzubringen  sucht.     Hierüber  noch  zu  Kritik  B  300.    (Vgl.  auch  oben  S.  258.) 


Terminologie  von  „analytisch"  und  „synthetisch".  267 

[R  21.  22.  H  39.  40.  K  53.  54.]  A  6.7.  BIO.  U. 

Abstraction  verlässt  und  die  Raum  an  seh  au  ung  hinzunimmt,  welche  dann  so- 
fort das  ein  für  allemal  entscheidende  Wort  spricht.  Eben  hiedurch  aber  wird 
das  Urtheil  synthetisch,  d.  h.  sein  Erkenntnissprincip  und  das  Bindemittel 
zwischen  Subject  und  Prädicat  ist  etwas  ganz  Anderes,  als  die  principia 
identitatis  und  contradictionia.^  —  Die  Relativität  dieses  Unterschiedes  erkennt 
K.  selbst  an,  Krit.  727 flf.  von  der  Definition  empirischer  Begriffe.  „Da  wir 
an  einem  solchen  nur  einige  Merkmale  von  einer  gewissen  Art  Gegenstände  der 
Sinne  haben,  so  ist  es  niemals  sicher,  ob  man  unter  dem  Worte,  das  denselben 
Gegenstand  bezeichnet,  nicht  einmal  mehr,  das  andere  Mal  weniger  Merkmale 
desselben  denkt.  So  kann  der  eine  im  Begriffe  vom  Golde  sich  ausser  dem 
Gewicht,  der  Farbe,  der  Zähigkeit  noch  die  Eigenschaft;,  dass  es  nicht  rostet, 
denken,  der  andere  davon  vielleicht  nichts  wissen  ^  Man  bedient  sich  gewisser 
Merkmale  nur  solange,  als  sie  zum  Unterscheiden  hinreichend  sind;  neue  Be- 
merkungen dagegen  nehmen  welche  weg  und  setzen  einige  hinzu,  der  Begriff 
steht  also  niemals  zwischen  sicheren  Grenzen."  Wennz.  B.  vom  Wasser 
und  dessen  Eigenschaften  die  Rede  ist,  so  wird  man  sich  bei  dem  nicht  auf- 
halten, was  man  bei  dem  Worte  Wasser  denkt  (denn  das  Wort  mit  den 
wenigen  Merkmalen,  die  ihm  anhängen,  ist  nur  eine  Bezeichnung),  sondern 
man  schreitet  zu  Versuchen  fort,   (ib.) 

Was  die  Terminologie  betrifft,  so  sagt  K.  über  den  Ausdruck  „analytisch" 
in  der  Anmerkung  zu  Proleg.  §  5:  „Es  ist  unmöglich  zu  verhüten,  dass,  wenn 
die  Erkenntniss  nach  und  nach  weiter  fortrückt,  nicht  gewisse  schon  clas- 
sisch  gewordne  Ausdrücke,  die  noch  von  dem  Kindheitsalter  der  Wissenschaft 
her  sind,  in  der  Folge  sollten  unzureichend  und  übel  anpassend  gefanden  wer- 
den, und  ein  gewisser  neuer  und  mehr  angemessener  Gebrauch  mit  dem  alten 
in  einige  Gefahr  der  Verwechslung  gerathen  sollte.  Analytische  Methode, 
sofern  sie  der  synthetischen  entgegengesetzt  ist,  ist  ganz  was  Anderes,  als 
ein  Inbegriff  analytischer  Sätze;  sie  bedeutet  nur,  dass  man  von  dem,  was 
gesucht  wird,  als  ob  es  gegeben  sei,  ausgeht  und  zu  den  Bedingungen  auf- 
steigt, unter  denen  es  allein  möglich.  In  dieser  Lehrart  bedient  man  sich 
öfters  lauter  synthetischer  Sätze,  wie  die  mathematische  Analysis  davon  ein 
Beispiel  giebt,  und  sie  könnte  besser  die  regressive  Lehrart,  zum  Unter- 
schiede von  der  synthetischen  oder  progressiven,  heissen.  Noch  kommt 
der  Name  Analytik  auch  als  ein  Haupttheil  der  Logik  vor,  und  da  ist  es 
die  Logik  der  Wahrheit,  und  wird  der  Dialektik  entgegengesetzt,  ohne  eigent- 
lich darauf  zu  sehen,  ob  die  zu  jener  gehörigen  Erkenntnisse  analytisch  oder 
synthetisch  seien.*  Ueber  den  Ausdruck  „synthetisch"  siehe  unten  S.  277. 
Vgl.  Dühring,  De  spatio,  tempore  etc.  S.  20  ff.  Der  Gegensatz  von  analy- 
tisch und  synthetisch  spielt  bei  K.  auch  in  anderer  Hinsicht  eine  grosse 


'  K.  sagt  ausdrücklich  Met aph.  48:  es  handle  sich  um  den  ersten  Be- 
grriff^  denichmirvonDingenmachte.  Dieser  scheint  mit  dem  logischen 
Wesen  des  Begriffs  identisch  sein  zu  sollen,  aber  zwischen  jener  psycho- 
logischen und  dieser  logischen  Theorie  besteht  ein  offenbarer  Widerspruch. 


268  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A6.7.  BlO.ll.  [R  21.  22.  H  39.  40.  E  53.  54.] 

Rolle.  Er  unterscheidet  z.  B.  analytische  und  synthetische  Einheit  (76  flF. 
B  131  flf.  Kr.  d.  Urth.  Einl.  IX.  Anm.  Kr.  d.  pr.  V.  199);  analyt.  und  synth. 
Princip  (Tug.  Einl.  X.);  analyt.  und  synth.  Methode,  (Prol.  §  5,  Anm. 
Logik  §  117);  analyt.  und  synthetische  Eintheilung  (Kr.  d.  ürth.  Einl.  IX. 
Anm.;  jene  ist  logisch,  diese  objectiv  real);  analyt.  und  synth.  Merkmale 
(Logik  Einl.  VIII.) ;  anal,  und  synth.  Deutlichkeit  (ib.);  anal,  und  synth. 
Allgemeinheit  (Logik  §  21).  —  Die  Beziehung  der  synthetischen  Ur- 
th eile  auf  die  in  der  Analytik  behandelte  synthetische  Einheit  des 
Mannigfaltigen,  welche  durch  die  Kategorien  zu  Stande  kommt,  findet 
sich  schon  bei  K.  selbst.  In  der  Schrift  gegen  Eberhard  R.  I,  475  sagt  er 
ausdrücklich:  „Der  Ausdruck  eines  synthetischen  ürtheils  (statt  nicht -iden- 
tisch) fuhrt  eine  Hinweisung  zu  einer  Synthesis  a  priori  überhaupt  mit 
sich  und  muss  natürlicher  Weise  die  Untersuchung,  welche  gar  nicht  mehr 
logisch  sondern  transscendental  ist,  veranlassen,  ob  es  nicht  Begriffe  (Kate- 
gorien) gebe,  die  nichts  als  die  reine  synthetische  Einheit  eines  Mannigfal- 
tigen aussagen*  u.  s.  w.  Vgl.  ib.  I,  463,  469  und  bes.  den  Brief  an  Tief- 
trunk  von  11.  Dec.  1797.  Die  Beziehung  der  synth.  Urtheile  zur  synth. 
Einheit  der  Apperception  wird  bes.  von  Cohen  a.  a.  0.  196  ff.  gepflegt.  Er  de- 
finirt  synth.  Urth.  als  solche,  in  welchen  „die  synth.  Einh.  der  Apperc.  Sub- 
ject  und  Prädicat  zu  einem  Gegenstande  der  Erfahrung  verknüpft." 
Diese  Def.  ist  aber  nur  für  die  von  Kant  als  gültig  anerkannten  synth. 
Urth.  passend  und  kann  also  nicht  so  allgemein  ausgesprochen  werden,  wie 
das  Cohen  thut,  da  Urtheile,  wie  „die  Seele  ist  unsterblich",  welche  synth. 
sind,  doch  nicht  unter  jene  Def.  fallen.  Wenn  Cohen  femer  (S.  200)  sagt,  es 
sei  nicht  befremdlich,  dass  dieser  „entwickelte  Begriff"  des  synth.  Ürtheils 
nicht  von  K.  am  Anfang  der  Kritik  blossgelegt  sei,  denn  die  Def.  dürfe 
diesen  vollen  Inhalt  nicht  wegnehmen,  so  ist  hiegegen  dasselbe  zu  sagen, 
wie  oben:  der  vollere  Begriff  des  synth.  Urth.  ist  zu  eng.  [Vgl.  Riehl,  Krit. 
I.,  320.  Wenn  Riehl  daselbst  (vgl.  328)  die  analytischen  Urtheile  als  Begriffs-, 
die  synth.  alsAnschauungsurtheile  bezeichnet  (auch  als  reproductive  und 
productive),  so  wird  erst  in  der  Analytik  sich  ergeben,  ob  diese  Bezeichnung 
berechtigt  ist  oder  nicht.]  Cohen  beruft  sich  S.  200  auf  die  „etymologische 
Hinweisung".  Vgl.  Kant,  Prol.  §  21  a.  Allein  dieser  etymol.  Zusammenhang 
scheint  zuföllig.    Vgl.  unten  S.  276  f. 

Die  ausführliche  Vorgeschichte  der  Unterscheidung  analytischer 
und  synthetischer  Urtheile,  wo  schon  Piaton,  dann  insbesondere  Locke, 
Hume,  Crusius  u.  A.  zu  behandeln  sind,  wird,  abgesehen  von  den  Erörte- 
rungen zu  B  19,  wo  Kants  Aeusserungen  hierüber  registrirt  sind,  in  einer 
besonderen  Supplementabhandlung  gegeben.  Dasselbe  ist  der  Fall  mit  der 
Geschichte  der  Streitigkeiten  über  jene  Unterscheidung  von 
Kants  Zeit  bis  zur  Gegenwart,  sowie  mit  der  Fortbildung  jenes  Unter- 
schiedes bei  Reinhold,  Maimon,  Beck,  Fichte,  Schelling,  Hegel, 
und  Andern. 


Entwicklungsgescliiclite  d.  Unterschieds  analyt.  u.  8)'nthet.  Urtheile.       269 

[R  21.  22.  H  89.  40.  K  53.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

E  X  c  u  r  s. 

Entwicklung  der  K«'8chen  Unterscheidung  yon  analytischen  nnd  syn- 
thetischen ürtheilen.  Diese  Frage  warf  zuerst  auf  E.  Fischer,  Clavis 
Kantiana  1858,  Eine  weitere  Ausführung  des  Dortigen  gibt  die  Geschichte 
1869,  m,  163.  166.  171.  174  ff.  177  ff.  191.  196  ff.  199  ff.  208  ff.  252. 
254.  258.  305  ff.  Von  Neuem  untersuchten  die  Frage  Cohen,  Die  syste- 
matischen Begriffe  in  Ks.  vorkritischen  Schriften  1873,  S.  6 — 21,  21  —  33; 
Paulsen,  Versuch  u.  s.  w.  1875;  Eiehl,  Der  Kriticismus  I,  253  ff.,  272. 
Erdmann,  Ks.  Proleg.  23.  111.  Caird,  Phü.  of  Kant  1877,  S.  130  f. 
Nach  der  gewöhnlichen  Auffassung  hat  K.  den  Unterschied  erst  1 763  in  der 
Abhandlung  über  die  negativen  Grössen  gefunden.  Deutlich  ist  ihm  aller- 
dings der  Unterschied  erst  damals  aufgegangen.  Allein  schon  (1)  in  der  Schrift 
von  1755  Nova  Dütmdatio  findet  man  die  ersten  Andeutungen  des  Unter- 
schiedes, die  freilich  nur  leise  und  lose  auftauchen  und  bald  wieder  von  dem 
dogmatischen  Vorurtheil  der  zeitgenössischen  Metaphysik  verschlungen  werden, 
dass  alle  wahre  Erkenntniss'eine  analytische  Zergliederung  gewisser  gegebener 
Grundbegriffe  sei.  Schon  Cohen  a.  a.  0.  23  und  noch  mehr  Biehl  253 
haben  hierauf  hingewiesen.  Jener  beruft  sich  auf  Prop.  V,  Schol.,  dieser 
auf  Prop.  IX,  wie  das  auch  Caird,  The  phü,  of  Kant  130  f.  thut.  Aber 
schon  in  Prop.  IV  heisst  es  von  den  Sätzen,  die  nach  dem  zureichenden 
Grunde  gebildet  sind,  dass  dieser  in  ihnen  „nexum  et  coUiffationem  efficit  inter 
sidjectum  et  praedicatum^ ,  während  nach  Prop.  IT  einfache  Identität  be- 
steht in  den  Sätzen,  in  denen  der  Satz  d.  Wid.  herrschend  ist.  Freilich  be- 
herrscht der  Satz  d.  Gr.  dann  auch  die  analyt.  Urtheile,  aber  wenn  man 
diese  Stelle  zusammenhält  mit  Ks.  Aeusserungen  in  der  Schrift  gegen  Eber- 
hard, bes.  am  Schluss,  über  Leibniz  und  seinen. Satz  v.  zur.  Gr.  ^,  kann 
man  den  ersten  Keim  der  Unterscheidung  hier  nicht  verkennend 
Andererseits  enthält  die  Unterscheidung  zwischen  Idealgrund  und  Real- 
grund einen  weiteren  An  las  s  jenes  späteren  Unterschiedes,  wenn  K.  selbst 
1763  auch  beide  Unterschiede  mit  Recht  auseinanderhält.  Das  zeigt  fol- 
gende Stelle  (Prop.  IX):  bei  dem  Grund  der  Wahrheit  handle  es  sich  nur 
um  diejenige  Stellung  des  Prädicats,  welche  durch  die  Identität  der  Be- 
griffe mit  dem  Prädicat  bewirkt  wird ;  das  Prädicat,  das  dem  Subject  schon 


'  R.  I,  478  und  bes.  468.  (Der  Satz  d.  Gr.  sei  die  Hinweisung  auf  das 
zu  suchende  Princip  synthetischer  Urtheile.)  Vgl.  Steckelmacher,  Formale 
Logik  Kants  S.  51,  bes.  über  den  Zusammenhang  des  Princ,  rationis  „determinantis" 
mit  den  synthetischen  =  „bestimmenden"  ürtheilen.    Stadler,  Grundsätze  S.  22. 

'  Ausserdem  wird  dieser  Zusammenhang  angedeutet  durch  die  Aeusserung, 
der  Grund  „bestimme**  das  Subject  in  Ansehung  des  Prädicats,  womit  man  jene 
obigen  Definitionen  zusammenhalte,  dass  synthetische  Urtheile  „bestimmende**  seien. 
Freilich  wird  auch  dieser  Keim  sogleich  wieder  am  Schlüsse  der  Erl.  zu  Prop.  IV, 
vom  dogmat.  Vorurtheil  hinweggeschwemmt. 


270       Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV.    Excurs. 

A 6. 7.  BIO.  11.  [R  21.  22.  H  39.  40.  E  63.  54.] 

anhangt,  wird  nur  offen  dargelegt.     Bei  dem  Grund  der  Wirklichkeit 
wird  gefragt  nach  dem  Woher  der  Verbindung*.    Eine  dritte  Quelle  finde 
sich  in  der  Polemik  in  Prop.  VI  u.  VII  gegen  das  ontologische  Argument, 
d.  h.  gegen  den  Versuch,  das  Dasein  Gottes  analytisch  aas  seinem  Begriffe 
zu  entwickeln.   In  der  (2)  Schrift  über  „die  Spitzfindigkeit  der  4.  syllog.  Fig.* 
1762   findet  Fischer  a.  a,  0.  174  ff.    weitere  Hindeutungen,   was  Cohen 
a.  a.  0.  16  ff.  bestreitet.     Allein  auch  Paulsen  37  weist  darauf  hin,  dass 
K.  dort  die  identischen   ürtheile  behandle,    also   die    rein   logischen  ür- 
theile ,  und  dass  die  synthet.  ürtheile  in  der  Schrift  über  die  negat  Grössen 
ergänzend  hinzugefügt  werden.   Das  Stillschweigen  Ks.  über  die  letzteren  be- 
weist nicht,  dass  ihm  der  Unterschied  nicht  schon  sehr  bedeutsam  erschienen 
sei.    Im  Jahre  1763,    in  der  (8)  Schrift  über  die   „negativen  Grössen", 
tritt   der  Unterschied   zum  erstenmal  scharf  hervor.     K.  unterscheidet  hier 
ernstlich  zwischen  logisch- analytischer  Betrachtung  der  Begriffe  und  realer 
Untersuchung  der  Dinge.    Logischer  Widerspruch  und  reale  Entgegensetzung 
sind  himmelweit  unterschieden,  daher  auch  logische  Auseinandersetzung 
der  Begriffe  und  reale  Setzung  der  Dinge.    Logische  Begründung 
durch  Zergliederung,   wo  der  Grund  die  Folge  nach  dem  Satz  der  Iden- 
tität in   sich  trägt,   ist  vollständig   zu   unterscheiden   von   realer  Verur- 
sachung,  wo   die   Wirkung   nicht   nach   der  Regel   der  Identität  aus   der 
Ursache  fliesst.    Hier  sind  nun  zwei  Gedanken  zu  unterscheiden,  welche,  bei 
K.  unklar  durcheinander  gehend,  bei  seinen  Commentatoren  nicht  beachtet 
sind.    Es  handelt  sich  erstens  um  das  Wesen  der  Verursachung  selbst, 
zweitens  um  Ürtheile  über  Verursachung.    Noch   1755  hatte   K.  die  ob- 
jective  Verursachung  nach  dem  Vorbild   der  Metaphysiker  als  Identität  ge- 
fasst,   d.  h.  Ursache  und  Wirkung   sollten   sich   verhalten   wie   Grund  und 
Folge,  und  da  die  Folge  aus  dem  Grund  nach  der  Regel  der  Identität  fliesst, 
sollte   auch  die  Wirkung   nach   derselben  Regel  aus   der  Ursache   folgen. 
Diese  Auffassung  des  Verursachens,  welche  die  Ursache  anthropomorphisch 
fasst  als  logischen  Grund  (eine  Analogie  dazu  bietet  die  Identificirung  der 
Ursache  mit  dem  Willen),  hieng  zusammen  mit,  ist  aber  zu  unterscheiden 
von  der  Lehre,   causale  Ürtheile,  überhaupt  Ürtheile  über  Causalitäts- 
verhältnisse  seien  durch  Begriffsanalyse  zu  erhalten.     Somit  sagt  die  Schrift 
über  die  neg.  Grössen  eigentlich  zweierlei:  1)  Das  Verhältniss  von  Ur- 
sache und  Wirkung,  d.  h.  dass,  weil  Etwas  ist,  etwas  Anderes  sei,  ist 
logisch  vollständig  unverständlich ;  es  ist  hier  etwas  über  die  Logik  Hinaus- 
liegendes, Reales,  Unauflösliches  ';  2)  Ürtheile  über  causale  Zusammenhänge 


I 


^  Aehnlich  in  Prop.  VIU^  zum  Idealgrand  reiche  die  blosse  identüas  hin. 
Vgl.  Paulsen  a.  a.  0.  34.     Fischer  163. 

*  Eine  interessante  Erläuterung  hierüber  gibt  die  Stelle  der  Kr.  d.  pr.  V.  200: 
„Zwei  in  einem  Begriffe  nothwendig  verbundene  Bestimmungen  müssen  als 
Grund  und  Folge  verknüpft  sein,  und  zwar  entweder  so,  dass  diese  Einheit  als 
analytisch   (logische    Verknüpfung)   oder  als   synthetisch   (reale   Ver- 


Entwicklungsgeschichte  d.  Unterschieds  analyt.  u.  synthet.  Urtheile.       271 

[B  21.  22.  H  39.  40.  E  53.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

lassen  sich  nie  durch  begriffliche  Zergliederung  finden;  sie  sind,  was  K. 
allerdings  verschweigt,  immer  nur  Erfahrungsurtheile.  Jene  ist  analytisch, 
diese  sind  synthetisch.  Weil  die  dogmat.  Metaphysik  den  Realgrund,  die  Ur- 
sache mit  dem  logischen  Grund,  identificirt  hatte,  musste  sie  auch  Urtheile 
über  Reales  durch  logische  Analyse  zu  erhalten  vermeinen.  Man  sollte 
durch  das  Princip  des  zureichenden  Grundes,  das  aber  auf  den  Satz  d.  W. 
reducirt  wurde,  Wirkliches  erhalten.  K.  macht  somit  zwei  bedeutsame 
unterschiede:  er  unterscheidet  das  Gebiet  des  Logischen  und  das  des 
Realen;  das  ist  ein  metaphysischer  Unterschied.  Er  unterscheidet  ana- 
lytische Urtheile  und  synthetische;  dies  ist  ein  erkenntnisstheoretischer 
Unterschied.  Die  alte  Metaphysik  hatte  das  Sein  in  Begriffe  aufgelöst 
und  glaubte  daher  auch,  durch  Auflösung  der  Begriffe  zum  Sein  zu  ge- 
langen. Kant  zeigt,  dass,  weil  Reales  und  Logisches  verschieden  sei, 
analytische  Zergliederung  niemals  zu  Urtheilen  über  Realverhältnisse 
führen  könne.  Genau  dasselbe  und  mit  grösserer  Klarheit  als  1763  sagt  K. 
1766  am  Schluss  der  Tr.  e.  Geisters.  II,  3.  Hauptst. *  und  im  Brief  an 
Mendelss.  8.  April  1766,  sowie  in  der  Dissert.  v.  1770  §  28  fin.  Vgl.  ProL 
§  29,  Krit.  766.  Kant  ist  hier  der  Ansicht,  welche  er  auch  später  beibehält, 
Causalität  als  solche  kann  erkannt  werden,  aber  nie  eingesehen.  Alle 
auf  die  Verursachung  im  Einzelnen  sich  beziehenden  Urtheile  sind  empirischer 
Natur,  und  im  Gegensatz  zu  den  analytischen  Urtheilen  synthetische, 
wenn  auch  dieser  Terminus  sich  hier  nicht  findet.  Dass  das  allgemeine  C  au- 
salitätsgesetz  (alles  Geschehen  setzt  eine  Ursache  voraus)  auch  synthetisch 
sei,  diese  Einsicht  fehlt  hier  wohl  noch.  1755  leitet  K.  das  Gesetzdeszur.  Gr. 
noch  aus  dem  Satz  d.  W.  ab.  Immerhin  aber  kann  man  dies  als  ein  drittes  in 
der  Schrift  über  die  neg.  Grössen  mit  hineinspielendes  Element  ansehen. 
Doch  wird  man  besser  mit  Riehl  256  dies  aus  dem  Spiele  lassen'.  — 


bindnng)^  jene  nach  dem  Gesetz  der  Identität,  diese  nach  der  Causalität 
betrachtet  wird.**  Es  handelt  sich  um  Tugend  und  Glückseligkeit ;  entweder  sind 
beide  identisch,  oder  die  Erstere  bringt  die  Letztere  hervor  als  etwas  Unter- 
schiedenes. Hier  ist  es  die  sachliche  Verknüpfung,  um  welche  es  sich 
handelt,  nicht  ein  Satz,  eine  E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  s.  Es  ist  zu  bemerken,  dass  K.  offen- 
bar anfangs  mehr  die  Sache  als  den  Satz  meint*,  erst  nachher  treten  die  syn- 
thetischen Sätze  in  den  Vordergrund,  und  je  mehr  dies  der  Fall  ist,  auch  der 
Satz  der  allgemeinen  Causalität,  welcher  a  priori  zu  beweisen  ist,  während  die 
sachlichen ,  einzelnen  Verbindungen  causaler  Natur  immer  Sache  der  empirischen 
Constatirung  sind  und  unbegriffen  bleiben,  eine  Unbegreiflichkeit,  welche  auch 
die  Causalverbindung  überhaupt  trifft.  Diese  Erkenntniss  der  synthetischen 
Natur  der  Causalität  im  Jahre  1763  ist  auf  Hume's  Einfluss  zurückzuführen. 

^  In  dem  Tr.  e.  Geist.  II,  2  Anf.  führt  er  aus,  dass  „auf  dem  blossen 
Wege  der  Vernunft"  die  Realität  nie  erreicht  wird;  und  dieser  „blosse  Weg 
der  Vernunft''  ist  dort  identisch  mit  analytischem,  oder  apriorischem,  oder 
rein  logischem  Verfahren. 

'  Man  Tgl.  hiezu  die  Ausführungen  in  den  Vorles.  über  Philos.  Relig.  41,  56 
(62),  wo  analytisch  und  logisch,  synthetisch  und  real  Wechselbegriffe  sind,  Stellen, 


272      Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV.    Excutb. 

A6.7.  BIO.  11.  [R  21.  22.  H  39.  40.  E  63.  54.] 

Einen  bedeutenden  Fortschritt  in  der  Unterscheidung  stellt  (4)  die 
Schrift  über  den  einzig  möglichen  Gottesbeweis  dar,  ebenfalls  1763.  War  es 
bisher  insbesondere  die  Causalität  und  das  Causalurtheil,  so  ist  es  jetzt  die 
Existenz  und  das  Existentialurtheil,  deren  synthetischer  Charakter  erkannt 
wird.  Die  Existenz  selbst,  das  reale  Dasein  hatte  die  alte  Metaphysik  als 
etwas  Logisches  gefasst,  gleichsam  als  eine  nach  dem  Gesetz  der  Identität 
sich  ergebende  Folge  aus  der  begrifflichen  Möglichkeit ;  und  da  die  Existenz 
an  sich  so  vermischt  worden  war  mit  dem  Begrifflichen,  da  man  sie  als  ein 
logisches  Prädicat  eines  möglichen  Begriffes  gefasst  hatte,  glaubte  man  auch 
Existentialurtheile  (z.  B.  Gott  existirt)  auf  analytischem  Wege  durch  Begriffs- 
zergliederung erhalten  zu  können.  Aber  Dasein  ist  total  verschieden  von 
einem  logischen  Prädicat,  und  daher  sind  auch  Existentialurtheile  genau  wie 
Causalurtheile  nur  auf  dem  Erfahrungswege  zu  erhalten.  Wenn  auch  K. 
selbst  zu  Gunsten  des  Gottesbegriffs  eine  Ausnahme  macht  —  doch  unter- 
scheidet sich  sein  Beweis  wesentlich  von  dem  bisherigen  —  so  liegt  doch  der 
ganzen  Schrift  der  fundamentale  Gedanke  zu  Grunde,  dass  Dasein  als  ab- 
solute Position  eines  Dinges  nur  auf  Erfahrung  beruhen  könne.  Dasein  ist 
ebenso  ein  letzter,  unauflöslicher  Begriff,  wie  Causalität,  und  beide  stammen 
aus  der  Erfahrung  oder  vielmehr,  Daseiendes  und  ürsach- Verhältnisse  lassen 
sich  nur  empirisch  constatiren,  nicht  durch  logische  Analyse.  Das  ent- 
hält die  erste  Abtheilung  I,  Nr.  1  u.  2  der  Schrift  ganz  bestimmt.  Auch 
hier  ist  bisher  die  Unterscheidung  nicht  gemacht  worden,  welche  bei  K. 
selbst  noch  unausgewickelt  ist,  zwischen  der  Existenz  selbst,  welche  mehr  als 
logisches  Prädicat  ist,  und  zwischen  unseren  Existentialurtheilen.  (In  der 
II.  u.  III.  Betrachtung  der  ersten  Abth.  finden  wir  dieselbe  Unterscheidung 
zwischen  logischem  und  Realgrund,  wie  früher,  oder  zwischen  „Denk- 
lichem*  und  „Dasein".)  Die  Erkenntniss  dieser  Bedeutung  der  Schrift  fehlt 
bei  Cohen  30  ff.,  der  den  Schwerpunkt  derselben  an  einen  falschen  Ort  ver- 
legt; auch  bei  Pauls en  und  Biehl  ist  dieser  Punkt  nicht  genügend  premirt, 
dagegen  hat  Fischer  denselben  richtig  betont.  Aus  derselben  Zeit  stammt 
endlich  noch  (6)  eine  Schrift,  in  welcher  jener  Unterschied  gefunden  worden  ist: 
die  Preisschrift  über  die  Deutlichkeit  der  Grundsätze  in  der  natürl.  Theologie 
oder  die  Schrift  über  das  Verhältniss  der  mathematischen  zur  philosophischen 
Evidenz.  In  der  hergebrachten  Reihenfolge  ist  diese  Schrift  die  letzte  der 
aufgeführten.  Cohen  a.  a.  0.  16,  30  und  Paulsen  72  wollen  eine  andere  Auf- 
einanderfolge der  Abfassung,  eine  Frage,  auf  welche  hier  nicht  einzugehen 
ist.  Der  wesentliche  Inhalt  der  letzten  Schrift  ist,  dass  die  Mathematik 
-ihre  Begriffe  synthetisch,  d.  h.  willkürlich  bilde,  während  die  Philosophie  die 
gegebenen  Begriffe  in  ihre  einfachen  unauflöslichen  Elemente  aufzulösen  habe. 
Hier  scheint  sich  zunächst  ein  Widerspruch  mit  dem  Bisherigen  zu  ergeben; 


aus  denen  auch  Paulsens  Hypothese,  dass  die  Schrift  über  die  negat.  Grössen  aus 
der  Betrachtung  der  sich  nicht  aufhebenden  Realitäten  in  Gott  entstanden  seien, 
Bestätigung  zu  gewinnen  scheint.     Vgl.  Metaph.  29  bis  32.  35. 


Entwicklungsgeschichte  d.  Unterschieds  analyt.  u.  synthet.  ürtheile.       273 

[B  21.  23.  H  89.  40.  E  63.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

denn  damacli  sollten  ja  die  eigentlich  philosophischen  Ürtheile  synthetischer 
Natur  sein,  wenigstens  diejenigen,  welche  Causalitätsverhältnisse  und  Existi- 
rendes  betreffen.    Kann  man  also  mit  Cohen  14  ff.  diese  Bestimmungen  als 
Vorläufer  des  hier  behandelten  Unterschiedes  analytischer  und  synthetischer 
ürtheile  ansehen?    Man  hat  sich  bis  jetzt  durch  den  identischen  Terminus 
täuschen  lassen  und  auch  eine  identische  Sache  angenommen.    Allen  Einzel- 
erklärungen nach  ist  jedoch  synthetisch  und  analytisch  in  dieser  Schrift  (so- 
wie im  Brief  von  Lambert  v.  13.  Nov.  1765)  identisch  mit  dem  Gegensatz 
von   progressiv  und  regressiv.     Prol.  §  5.  Anm.   sagt  K.   ausdrücklich, 
dass  analytische  Methode,  sofern  sie  der  synth.  entgegengesetzt  sei,  etwas 
ganz  anderes  sei,   als  ein  Inbegriff  analytischer  Sätze;   allerdings  deckt 
sich  das  weitere  nicht  ganz ;  doch  kann  man  durch  Vergleichung  mit  Kritik 
727  ff",  über  den  Unterschied  synthetischer  Definition  in  der  Mathematik  und 
analytischer  in  der  Philosophie  den  Sinn  der  Schrift  von  1764  genauer  fest- 
stellen.    Darnach  handelt  es  sich  dabei  in  erster  Linie  nicht  um    Sätze, 
sondern   um  Begriffe,   nicht  um  Ürtheile,   sondern  um   Objecte.     Die 
Mathem.  erhält  ihre  Begriffe  und  damit  ihre  Objecte  durch  eine  willkürliche 
Zusammensetzung  der  Elemente  (Linie,  Fläche,  Bewegung  u.  s.  w.)  und 
verfährt  insofern  auch  progressiv,   indem  sie   eben  vom  Einfachen  zum 
Complicirten  geht.     Die  Philos.   dagegen  hat    gegebene   Begriffe,  und 
mnss    versuchen,    von   da    regressiv    zu   den    ersten   elementaren  Grund- 
begriffen zu  gelangen,   und   erst  dann  kann  sie  daraus  wieder  zusammen-, 
setzen,  was  aber  erst  in  sehr  später  Zeit  geschehen  kann.    Die  regressive 
Methode,   die    analytische  Methode  in  diesem  Sinne  ist  identisch  mit  der 
empirischen  (Paulsen  83),   die  synthetische  mit  der  rationalen.     Was 
nun  aber  die  Ürtheile  betrifft,  so  ist  diese  Schrift  allerdings  ein  Rückschritt 
gegen   das  bisherige  zu  nennen  (cfr.  Paulsen  80)  und  K.  kommt  zu  keiner 
►  Klarheit.    Man  sieht  nicht  recht,  ob  die  Grundurtheile  der  Philosophie  ana- 
lytische oder  synthetische  (im  späteren  Sinn)  sein  sollen.    Die  mathematischen 
Ürtheile  sind  aber  doch  ihrem  Wesen  nach  noch  analytische,  d.   h.  man 
gewinnt  sie  durch  Begriffszergliederung,   durch  Analyse  der  allerdings  syn- 
thetisch gewonnenen  Begriffe.     Man  wird  jedoch  nicht  sehr  fehl  gehen, 
wenn  man  (im  Anschluss  an  Paulsen  170)  die  Sache  so  fasst,   dass   Ks. 
freilich  nicht  festgehaltene  Meinung  gewesen  sei:  Die  Mathem.  hat  synthe- 
tische Begriffsbildung  (d.  h.  die  Begriffe   entstehen  durch  willkürliche 
Verbindung  elementarer  Grundbegriffe),    besteht   aber  aus    analytischen 
Sätzen,    d.   h.   solchen,    welche   durch  Begriffszergliederung   und  Begriffs- 
vergleichung zu  demonstriren  sind;   die  Philosophie  dagegen  muss  ihre  Be- 
griffe analytisch  bilden,  d.  h.  regressiv  vom  Zusammengesetzten  zu  den 
Grundbegriffen  gehen,  aber  ihre  Sätze  sind  synthetisch  und  im  Grunde 
empirisch*.    Kants  eigene  Unklarheit  hierin  wird  jedoch   eine  exacte  For- 


*  Dies  wird  ausdrücklich  bestätigt  durch  die  von  B.  Erdmann  in  den  Preuss. 
Jahrb.  37,  213  veröffentlichten  Bemerkungen  Kants,  deren  genaue  zeitliche  Bestim- 
Valhlnger,  Kant-Commentar.  lg 


274      Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV.    Excutb. 

A  6.7.  B  10.11.  [R  21.  23.  H  39.  40.  K  63.  54.] 

mnlirnng  nicht  zulassen,  doch  darf  man,  mit  Annäherung  an  den  wirk- 
lichen Thatbestand,  sich  Pischer's  Bestimmung  anschliessen  (306),  Ks.  da- 
malige Ueberzeugung  sei  gewesen,  dass  die  mathematischen  Urtheile  und 
damit  auch  die  apriorischen  analytisch,  dass  die  philosophischen 
dagegen  empirisch  und  synthetisch  seien,  wenigstens  diejenigen,  welche 
Eealerkenntnisse  betreffen,  denn  die  rein  zergliedernden  Urtheile  der  Philos. 
blieben  ja  immerhin  stehen.  Auch  über  den  weiteren  Fortschritt  ist  man 
auf  blosse  Gombination  angewiesen.  Die  nächste  Fortbildung  scheint  aber 
die  Entdeckung  gewesen  zu  sein,  dass  die  mathematischen  Urtheile  nicht 
analytisch,  sondern  synthetisch  seien.  Dies  hat  unter  Allen  nur  Fischer 
260  ff.  306  ff.  richtig  erkannt.  Die  grosse  Erkenntniss,  dass  auch  unter  der 
apriorischen  Erkenntniss  synthetische  Urtheile  seien,  fällt  in  die  Jahre  1 768  ff. 
Er  erkennt  in  der  (6)  Schrift  über  die  Gegenden  des  Raumes  schon  ,  dass  alle 
mathem.  Urtheile  anschauender  Natur  seien,  d.  h.  nicht  auf  Begriffs- 
zergliederung, sondern  auf  Anschauung  beruhen.  Schon  1764  hatte  er  die 
Anschaulichkeit  der  Mathem.  betont,  aber  die  Anschauung  spielte  nicht 
jene  fundamentale  Rolle,  wie  1768,  wo  K.  an  dem  Falle  der  symmetr.  Fi- 
guren erkannt  hatte,  dass  die  Mathem.  nicht  mit  begrifflicher  Analyse 
operire,  sondern  mit  Anschauung.  Und  diese  Erkenntniss  ist  (7)  in  der 
Dissertation  von  1770  in  §  15  C  vollständig  zum  Durchbruch  gekommen. 
In  den  Grundsätzen  der  Geometrie,  in  der  Gonstruction  der  Postulate,  in 
.allen  Beweisen  ist  es  Anschauung,  welch«  die  mathem.  Sätze  vermittelt, 
nicht  begriffliche  Analyse.  Nun  war  es  aber  andererseits  für  K.  fest- 
stehend, dass  die  Mathem.  a  priori  verfahre.  Wenn  sie  aber  auf  Anschauung 
beruht,  so  ist  sie  —  empirisch.  Somit  wird  die  Entdeckung  ergänzt  durch  den 
Nachweis,  dass  die  Anschauung,  welche  der  Mathem.  zu  Grunde  liegt,  eine 
reine,  d.  h.  apriorische  sei.  Diese  Entdeckung  war  der  bedeutsamste 
Schritt  der  ganzen  Entwicklung  Kants.  Fein  und  richtig  sagt  Fischer  308:' 
„Im  letzten  Augenblick  der  vorkritischen  Periode  stand  die  Sache  so,  dass 
der  Grund,  der  die  mathem.  Urtheile  synthetisch  macht,   zugleich  droht. 


mung  übrigens  wohl  unmöglich  ist.  „Alle  analytischen  Urtheile  sind  rational  und  um- 
gekehrt, alle  synthetischen  Urtheile  sind  empirisch  und  umgekehrt."  „Alle  empiri- 
schen Sätze  sind  synth.  und  umgekehrt^  alle  rationalen  Sätze  sind  analytisch." 
„Die  Möglichkeit  anal.  Verbindungen  lässt  sich  a  priori  einsehen^  nicht  aber  die 
synthetischer."  Vgl.  ib.  Nr.  7.  15.  17.  „Anschauungen  der  Sinne  geben  synthetische 
Sätze,  die  objectiv  sind."  „Alle  rationalen  synthetischen  Sätze  sind  snbJeetiTy 
nur  die  analytischen  sind  objectiv."  „Analysis  der  Vernunft:  princ.  contr.  und 
ident,:  objectiv  gültige  Sätze.  —  Synthesis  der  Vernunft:  Verstandesgesetzc 
(axiomata  suhreplionis)  subjectiv  gültige  Sätze."  Vgl.  hiezu  die  für  die  Ent- 
wicklung Kants  sehr  wichtigen,  aber  bis  jetzt  ganz  unau8genützten  §§  24—30  der 
Dissertation  von  1770,  wo  sich  in  §  30  die  (später  als  gültige  synthetische 
Urtheile  a  priori  in  Anspruch  genommenen)  immanent-objectiven  Sätze  von  den 
axiomata  subreptitia  als  den  bloss  subjectiven  und  falschen  (synthetischen)  Principien 
der  Vernunft  abzweigen.    Dort  liegt  auch  die  Wurzel  der  Analytik. 


Entwicklungsgeschichte  d.  Unterschieds  analyt.  u.  synthet.  Urtheile.       275 

[R  21.  22.  H  39.  40.  E  58.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

sie  in  empirische  zu  verwandeln';  um  ihre  Apriorität,  d.  h.  ihre  reine 
Vemunfbrnftssigkeit  zu  begründen,  muss  der  Raum  begriflfen  werden  selbst 
als  eine  Form  der  reinen  Vernunft."  Aber  von  hier  an  weicht  unsere  Dar- 
stellung von  Fischer  vollständig  ab.  Es  fehlt  noch  der  andere  Schritt,  Kant 
steht  noch  mit  dem  andern  Fuss  im  Dogm.,  ja  er  macht  wie  1764  bezüglich 
der  philos.  Erkenntniss  einen  bedenklichen  Rückschritt.  Die  philos.  Grund- 
begriffe ihrerseits  wurden  1 770  als  apriorisch  gefasst  und  genau  im  Gegensatz 
zur  Mathematik,  welche  synthetisch  und  damit  um  ein  Haar  empirisch  wurde, 
werden  die  philos.  Erkenntnisse  apriorisch  und  fast  —  analytisch*.  (Vgl. 
Paulsen  108.)  Dieser  Theil  der  Dissert.  ist  daher  auch  der  unbefriedigendste, 
weil  K.  über  die  Methode,  metaph.  Urtheile  zu  erhalten,  einfach  stillschweigt. 
Hier  war  es  nun  wohl  die  Causalität,  welche  die  Fortbildung  bedingte.  Neben 
dem  intellectuellen  Begriff  der  Causalität  hatte  K.  1770  im  V.  Abschnitt  §  30 
noch  das  allgemeine  Causalitätsaxiom  aufgeführt  (omnia  in  universo  fieri 
secundum  ordinem  natiirae).  Hier  griff  wohl  wieder  die  Einwirkung  Hume's 
ein,  welcher  die  Causalität  bestritt.  Jetzt  machte  K.  den  Unterschied  (Krit. 
765)  zwischen  dem  allgemeinen  Causalitätsaxiom  und  den  speciellen  Causal- 
urtheilen.  Letztere  hatte  er  schon  früher  als  synthetisch  erkannt.  Dass 
auch  das  erstere  synth.  sei,  muss  er  jetzt  erst  klar  erkannt  haben '.  Dasselbe 
war  der  Fall  mit  dem  ebenfalls  am  Schluss  der  Diss.  aufgeführten  Gesetz 
der  Beharrlichkeit  der  Substanz.  Diese  allgemeinen  Gesetze  können  nicht 
empirisch  sein  trotz  Hume;  sie  sind  apriorisch;  und  sie  sind  synthetisch. 


*  Diesen  Standpunkt  nahm  Kant  einmal  ein.  „Es  gibt  synth.  Sätze  aus 
der  Er  f.  als  principia  pf-ima  synthetica.  Dergleichen  sind  auch  die  axiomata  der 
Mathematik  vom  Raum.  Principia  rationalia  können  gar  nicht  synthetisch  sein.** 
jfln  philosophia  non  dantur  principia  synthetica  nisi  a  posteriori."  Vgl.  Nachtrag 
zu  Kants  Werken  v.  B.  Erdmann,  Preuss.  Jahrb.  37,  213.  214.  Vgl.  Erdmann, 
Vorr.  zu  Kants  Proleg.  XCIV.  —  Vgl.  Laas,  Ks.  Analogien  204.  321. 

•  Eine  umgekehrte  Darstellung  der  histor.  Entw.  gibt  Zimmermann,  Ks. 
math.  Vor.  10.  K.  wollte  die  metaphys.  Urtheile  in  die  „gute  Gesellschaft**  der 
Mathem.  bringen.  „Da  dies  nicht  anging,  wenn  die  mathem.  ürth.  analytisch 
waren ,  denn  die  metaph.  waren  anerkanntermassen  synthetisch ,  so  mussten  vor 
Allem  die  math.  ürth.  synthetisch  und  zwar  a  priori  sein,  um  als  stammver- 
wandte Standesgenossen  der  metaph.  gelten  zu  können**  u.  s.  w.  Welche  metaph. 
Urtheile  waren  „anerkanntermassen  synthetisch**?  Zuerst  hatte  K.  die  synthetische 
Natur  der  einzelnen  Causalurtheile  erkannt  (1763),  die  zugleich  empirischer  Natur 
sind.  Vom  allgemeinen  Causalgesetz  ist  noch  gar  nicht  die  Rede.  Und  im  Jahre 
1770  schweigt  K.  ganz  über  die  Natur  der  Urtheile  der  transscendenten  Meta- 
physik, die  ihm  wohl,  da  er  überhaupt  eine  Leibniz'sche  Reaction  erlebte,  analy- 
tisch zu  sein  schienen.  Dass  aber  die  Urtheile  der  immanenten  Metaphysik,  insbes. 
daa  allgemeine  Causalgesetz  synthetisch  a  priori  seien,  ist  eine  Erkenntniss,  die 
im  Schluss  der  Dissertation  nur  potentiell  enthalten  ist  und  die  erst,  durch  die 
ParaUele  mit  den  mathematischen  ürtheilen,  zum  Durchbruch  gekommen  sein  kann. 

'  Vgl.  die  Bestätigung  durch  Kants  Manuscripte  bei  Erdmann,  Vorr.  zu 
Proleg.  LXXXVII.  (XXHI.  CXI.)  -  Windelband,  Gesch.  d.  Phil.  II,  21  ff.  32. 


276       Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV.    Excurs. 
A6.7.  BIO.  11.  [R  21.  22.  H  89.  40.  K  53.  54.] 

Und  von  da  aus  war  der  Weg  nicht  schwer  zu  der  Bestimmung,  dass  auch 
die  transscendente  Metaphysik  insbesondere  im  Existentialurtheil,  das  schon 
früher  als  synthetisch  erkannt  war,  auf  synthetische  Erkenntnisse  a  priori 
Anspruch  macht.  War  einmal  1.  der  allgemeine  Unterschied  analytischer 
und  synthetischer  Urtheile,  sowie  2.  die  synthetische  Natur  der  Mathem.  und 
3.  die  der  metaph.  Naturgesetze  gefunden,  so  war  das  übrige  bald  fertig.  So 
hatte  K.  gefunden,  dass  unbestreitbar  apriorische  Erkenntnisse  synthetisch 
seien:  die  Mathematik,  dass  anerkannte,  und  dass  bestrittene  Erkenntnisse 
synthetisch  a  priori  seien :  die  immanente  und  die  transscendente  Metaphysik. 
Wann  und  aus  welchem  Grunde  hat  nun  K.  die  Terminologie  („analytische" 
und  „synthetische*  Urth.)  ausgebildet?  Ueber  die  Zeit  sind  wir  nicht  untei> 
richtet;  die  Bezeichnung  dürfte  in  die  Jahre  zwischen  1764  und  1770  gefallen 
sein.  Der  Grund  ist  ebenfalls  zweifelhaft.  Es  sind  hier  3  Ansichten  mög- 
lich. Entweder  schloss  sich  die  Bezeichnung  an  an  den  Unterschied  syn- 
thetischer und  analytischer  Methode  der  Begriffsbildung  in  Mathem.  und 
Philos.  aus  dem  Jahre  1764.  So  Cohen,  Fischer,  Paulsen.  Was  hiegegen 
spricht,  wurde  schon  erwähnt.  Dort  handelt  es  sich  um  Begriffe,  hier  um 
Urtheile.  Auch  kehrt  der  Unterschied  in  der  Kritik  727  ff.  wieder  und  be- 
trifft Definitionen,  also  Begriffsbildung,  nicht  Sätze.  Auch  wird  der  Unter- 
schied durchaus  noch  in  diesem  Sinn  in  der  Diss.  §  1,  Anm.  erwähnt.  Im 
Gegentheil  mag  sich  K.  des  Unterschiedes  der  Bedeutungen  erst  durch  die 
neue  Terminologie  bewusst  geworden  sein '.  Eine  zweite  Ansicht,  welche  K. 
in  der  Schrift  gegen  Eberhard  selbst  nahe  legt  und  welche  Cohen  in  seiner 
„Theorie  d.  Erf."  begünstigt,  ist  die  Beziehung  auf  die  später  in  der  Ana- 
lytik behandelte  transscendentale  Synthesis.     Diese   Beziehung  scheint  aber 


^  Auch  lassen  Cohens  und  Paulsens  Ausführungen  (bes.  Paulsen  a.  a.  0. 
167  f.)  ganz  unerklärt,  wie  von  der  synth.  Begriffs bildung  der  Mathem.  aus 
sogar  das  gemeine  Erfahrungsurtheil  synthetisch  genannt  werden  konnte. 
Spuren  eines  derartigen  Zusammenhanges  könnte  man  jedoch  allerdings  finden  in 
dem  VIII.  Abschnitt  der  Einleitung  zur  Logik,  zuerst  wo  anal.  u.  synth.  Merk- 
male abgehandelt  werden,  wo  Begriff  u.  ürtheil  ineinander  spielen  und  dann  be- 
sonders in  dem  Absatz  über  anal,  und  synth.  Deutlichkeit,  wo  die  synth.  Zu- 
sammensetzung des  Begriffs  und  seine  synth.  Erweiterung  (durch  Urtheile) 
ebenfalls  ineinander  übergehen,  und  wo  die  Mathem.  erwähnt  wird.  Der  Ausdruck 
„synthetisch"  wird  ausdrücklich  auch  auf  gegebene,  nicht  bloss  gemachte 
Begriffe  (wie  in  der  Mathem.)  ausgedehnt.  „Dieses  findet  oft  statt  bei  Er- 
fahrungssätzen, wofern  man  mit  den  in  einem  gegebenen  Begriffe  schon  gedachten 
Merkmalen  noch  nicht  zufrieden  ist."  Man  wird  jedoch  selbst  hieraus,  sogar  mit 
Hinzunahme  der  Bestimmungen  in  §  102  ff.  über  synth  et.  u.  analyt.  Definition, 
wo  der  Uebergang  von  der  1763  besprochenen  mathem.  Synthesis  zur  empiri- 
schen klar  scheint,  keine  sicheren  Schlüsse  auf  die  Entstehung  der  Bezeichnung 
ziehen  können,  da  diese  spielenden  Beziehungen  auch  nachträglich  entstanden  sein 
können.  Die  Metamorphosen  der  Kantischen  Terminologie  sind  überhaupt  noch 
in  tiefes  Dunkel  gehüllt,  wie  theilweise  die  seiner  Theorien. 


Entwicklung  der  Terminologie;  „analytisch**,  „synthetisch**.  277 

[R  21.  22.  H  39.  40.  E  53.  54.]  A 6. 7.  BIO.  11. 

K.  selbst  erst  nachträglich  hineingelegt  zu  haben,  wie  er  es  überhaupt  liebte, 
etymologische  Bezüge  zu  erdichten,  wovon  noch  Proben  sich  finden  werden  *. 
Eine  letzte,  bis  jetzt  nicht  vertretene  Ansicht  ist  einfacher.  K.  hatte  1763 
die  logischen  Urtheile  als  , zergliedernde''  bezeichnet;  damit  schloss  er 
sich  durchaus  an  Leibniz  an,  bei  welchem  die  Analysis  auch  die  Bedeutung 
hatte:  Zergliederung  der  Begriffe  in  ihre  Merkmale,  der  Merkmale  in  ihre 
üntermerkmale ,  um  so  Urtheile  zu  erhalten.  Waren  einmal  die  zerglie- 
dernden, rein  logischen  Urtheile  aus  Begriffen  „analytische"  genannt, 
so  ergab  sich  ganz  einfach  für  die  entgegengesetzten  Urtheile,  die  Urtheile 
über  Dinge,  die  Causal-  und  Existentialurtheile,  sowie  für  die  mathematischen 
die  Bezeichnung  der  synthetischen,  da  dieser  Terminus  in  uraltem  Gegensatz 
zu  jenem  erstem  stand.  Damit  war  ja  dann  auch  ausgedrückt,  dass  in 
diesen  Urtheilen  dem  Subjectsbegriffe  ein  neues,  nicht  in  ihm  liegendes  Prä- 
dieat  hinzugefügt  wurde,  wie  Kant  vom  synthet.  Urtheil  mit  etymolo- 
gischer Hinweisung  sagt,  cf.  Metaph.  24.  25.  ff.  Aus  diesem  Ausdruck, 
statt  dessen  allerdings  der  Terminus  „prosthetisch"  richtiger  gewesen  wäre^ 
wenn  nicht  K.  eben  jenen  alten  Gegensatz  vorgezogen  hätte,  entwickelte  sich 
dann  wohl  erst  der  Gedanke,  dass  in  derartigen  Urtheilen  Verknüpfungen 
ausgesprochen  werden,  wie  ja  auch  einige  Kantianer  die  synthetischen  Ur- 
theile unrichtig  „verknüpfende*  nannten.  Und  hier  mochte  dann  der  Hume'sche 
Ausdruck  „eonnexion^  (Enq.  VIL  On  the  idea  of  necessary  connexion)  mit- 
wirken, den  K.  in  der  Vorrede  zu  den  Prol.  mehrfach  mit  offenbarer  Be- 
ziehung auf  die  synthetischen  Sätze  a  priori  wiederholt  (z.  B.  „der  Begriff 
der  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  sei  nicht  der  Einzige,  durch 
den  der  Verstand  a  priori  sich  Verknüpfungen  der  Dinge  denkt") '.  Ur- 
sprünglich handelte  es  sich  aber  wohl  nur  um  die  Hinzusetzung,  nicht 
um  Verknüpfung*.  Was  hinzugethan,  hinzugesetzt  wird,  das  ist 
das  neuePrädicat  zu  dem  Subjectsbegriff.  Daher  sagt  Kant  7:  „die  Hin- 
zufügung eines  solchen  Prädicates  gibt  ein  synthetisches  Urtheil."  [Damit 
steht  allerdings  eine  Auslegung  von  K.  selbst  in  der  Entdeckung  R  I,  475 
im  Widerspruch.  Dort  heisst  es:  „Dass  etwas  ausser  dem  gegebenem  Be- 
griffe noch  als  Substrat  hinzukommen  müsse,  was  es  möglich  macht,  mit 
meinen  Prädicaten  über  ihn  hinauszugehen,  wird  durch  den  Ausdruck 
der  Synthesis  klar  angezeigt."    Das  Hinzugefügte  ist  darnach  die  An- 


*  Ausserdem  bringt  K.  in  der  Analytik  jene  transscendentale  Synthesis  eher 
umgekehrt  so  in  Beziehung,  dass  die  letztere  aas  dem  synthet.  Urtheil  entstanden 
sei,  wiewohl  auch  dies  historisch  wohl  unrichtig  ist.    Vgl.  oben  S.  268. 

*  Dies  leitet  wiedfer  zu  der  transscendentalen  Synthesis  über. 

*  K.  definirt  allerdings  (s.  B.  Erdmann,  Nachtr.  zu  K.  Preuss.  Jahrb.  87.  213) 
„Die  synth.  Urth.  lehren,  was  mit  dem  Begriff  soll  verbunden  gedacht  werden.** 
Aber  ib.  204  spricht  er  auch  von  anal.  Verbindungen.  Born,  Phil.  Mag.  II,  875  f. 
nimmt  Ks.  Terminologie  in  Schutz,  ebenso  Cohen,  Th.  d.  Erf.  203.  Gegen  Eber- 
hard behauptet  K.  selbst  (R.  I,  475),  dass  die  Terminologie  nicht  auf  blosser  „Wort- 
künstelei ^  beruhe,  allerdings  in  dem  schon  oben  S.  268  angeführten  Zusammenhang. 


278  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  AbBchn.  IV. 

A6.7.B10.11.  [B  21.  22.  H  39.  40.  K  53.  54.] 

schauung.    Allein  dieses  Kant'sche  Selbstzeugniss  steht  wie  so  oft  mit  den 
übrigen  Stellen  im  Widerspruch,  so  dass  die  oben  gegebene  Ableitung  nichts- 
destoweniger stehen  bleibt.]    Diese  Auffassung,  welche  auch  Fischer,  Gesch. 
289  neben  der  ersten  hat  (285),  ist  schon  im  Text  der  Kritik  vorbereitet. 
Vgl.  zu  diesem  Ex curs  die  Ergänzungen  S.  288  u.  bes.  zu  Abschn.VI. 


Dnrch  IdentitAt  gedacht.    G.  Scherer,  Kritik  Kants  u.  s.  w.  S.  13:  es 

muss  wohl  besser  heissen  „Durch  partielle  Identität".  Vgl.  Krit.  593  ff. 
(u.  öfter)  „nach  der  Begel  der  Identität". 

Hinansgeheii.  Maass  tadelt  (Eberh.  Phil.  Mag.  II,  190,  vgl.  Eberhard 
selbst  III,  283  über  das  „metaphonsche  Hinausgehen")  diesen  bildlichen, 
unbestimmten  Ausdruck,  der  keinen  festen  Aufschluss  gebe.  Ebenso  tadelt 
Eberhard  ib.  II,  292.  309,  IV,  305  den  bildUchen  Ausdruck:  Das  Merkmal 
liegt  in  dem  Begriffe  oder:  es  ist  in  ihm  „enthalten".  Diese  Terminologie 
sei  zu  unbestimmt.  Vgl.  dag.  Born  und  Abicht,  Phil.  Mag.  II,  8,  302  ff. 
(Bei  Hegel  wurde  daraus  das  Hinausgehen  des  Begriffes  aus  sich  selbst, 
ein  Ausdruck,  dessen  Bildlichkeit  Beneke,  Syst.  d.  Logik  I,  146  tadelt.) 
Auch  Prihonsky,  Anti-Kant  34  nimmt  Anstoss  an  diesen  „Metaphern". 

Alle  Körper  sind  schwer«  Bendavid^  Vorl.  5  gibt  eine  bemerkens- 
werthe  Bestimmung:  In  dem  Begriffe  Körper  liege  dessen  Schwere  nicht; 
denn  Schwere  setzt  noch  den  Bezug  des  Körpers  zu  unserer  Erde  voraus, 
und  er  kann  gedacht  werden  ohne  diesen  Bezug.  Aehnlich  Haupt m. 
38:  „Mein  Begriff  vom  Körper  besteht  ganz  vollkommen,  wenn  schon 
unter  allem  seinem  Mannigfaltigen  die  Schwere  sich  nicht  mitbefindet." 
Schmid,  W.  508:  der  Begriff  vom  Körper  ist  hinlänglich  bestimmt 
(auch  ohne  das  Merkmal  der  Schwere) ;  das  neue  Merkmal  wird,  wenn  es  auch 
zu  dem  Gegenstand  gehört,  doch  nicht  nothwendig  erfordert,  um 
dessen  Begriff  zu  bestimmen.  Besonders  Born  führte  diesen  Gedanken 
weiter  aus,  Grundl.  §  15.  Der  Grundbegriff  (der  erste  Begriff),  dasjenige, 
was  jeder  in  der  Sache  zuerst  wahrnimmt,  ist  denkbar  ohne  die  synth. 
Prädicate.  S.  oben  267.  In  ähnlicher  Weise  neuerdings  Fischer  284:  ,Wenn 
mir  nichts  gegeben  ist,  als  die  Vorstellung  des  Körpers,  so  genügt 
dieses  Datum,  um  zu  urtheilen:  Der  K.  ist  ausgedehnt;  es  genügt  nicht,  um 
zu  urth.:  Der  K.  ist  schwer.  Ich  könnte  die  Vorstellung  des  K.  nicht 
haben  ohne  die  der  Ausdehnung  .  .  .  Dagegen  kann  ich  sie  sehr  wohl 
haben  ohne  die  der  Schwere,  wie  denn  der  mathematische  Be- 
griff des  Körpers  gar  nichts  enthält  von  dieser  Eigenschaft.  Um  zu 
urtheilen,  der  K.  ist  schwer,  muss  ich  den  Druck  des  Körpers  erfahren 
haben  .  .  .  Ich  kann  die  Vorstellung  der  Schwere  nicht  haben  ohne  die  der 
Kraft,  und  die  blosse  Vorstellung  des  Körpers  sagt  mir  nichts  von  Kraft." 
Dass  man  kein  Recht  habe,  zu  sagen:  „Alle  Körper  sind  schwer",  sondern 
nur  „Einige",  behaupten  die  Kritischen  Briefe  28,  nebst  der  Bemerkung, 
dass  überhaupt  nur  Particularsätze  synthetisch  sein  können;   nach  der  bis- 


Synthetisches  Urtheil:    „Alle  Körper  sind  schwer**.  279 

[B  22.  H  40.  41.  E  54.  65.]  A  7.  8.  B  11. 

herigen  Logik  entsprechen  Axiome  den  analyt.,  Theoreme  und  Particular- 
Sätze  den  synth.  Urtheilen.  üeber  die  Aenderung  der  Prol.  §  2,  wo  statt 
„aile"  „einige*'  steht ,  s.  unten  284.  Ein  bemerkenswerther  Zusatz  von 
Cohen  a.  a.  0.  202  ist:  ,In  dem  Begriff  der  Schwere  werden  unmittelbar 
zwei  Körper  gedacht,  die  gegeneinander  gravitiren.  Wenn  ich  daher  sage: 
Der  Körper  ist  schwer,  so  denke  ich  in  dem  Körper  mindestens  zwei 
Körper,  also  die  Körper.  Ich  muss  über  den  Begriff  des  Körpers  hinaus- 
gehen und  ihn  als  Theil  einer  Erfahrung  denken ,  wenn  ich  den  Körper  als 
schwer  prädicire.*'  Vgl.  Riehl,  Kritic.  I,  319.  In  den  Met.  An  f.  d.  Na- 
turw.  Dyn.  Lehrs.  5  Anm.  (Eos.  V,  360)  heisst  es,  die  Anziehungskraft 
gehöre  zum  Begriffe  der  Materie,  sei  aber  nicht  in  demselben  ent- 
halten; der  Satz:  „Alle  Materie  hat  Anziehungskraft **  ist  somit  als  syn- 
thetischer zu  betrachten.  Demgemäss  gibt  K.  für  den  Satz  einen  Beweis, 
der  im  Wesentlichen  darauf  hinausläuft,  dass  diese  Eigenschaft  zur  Mög- 
lichkeit der  Materie  gehöre.  Wenn  nun  Trendelenburg  Log.  Unters. 
II,  241  K.  vorwirft,  mit  dieser  letzteren  Bestimmung  verwandle  er  den  Satz 
in  einen  analytischen,  denn  diese  Folgerung  sei  eben  eine  Analysis  der 
Möglichkeit  der  Materie,  so  beruht  dieser  Einwurf  auf  fundamentalem  Miss- 
verstehen Kants.  Wenn  ein  Prädicat  dem  Subject  erst  durch  Vermittlung 
eines  solchen  die  sachliche  Möglichkeit  analysirenden  Beweises,  wie  sich  ein 
solcher  an  der  angegebenen  Stelle  findet,  beigefügt  wird,  so  ist  der  Satz 
synthetisch.  Kant  lässt  sich  daselbst  auch  des  Weiteren  aus,  warum  die 
Undurchdringlichkeit  dem  Begriff  der  Materie  analytisch,  die  Anziehungskraft 
aber  synthetisch  hinzugefügt  werde ;  diese  Erörterung  gipfelt  darin,  dass  eben 
Undurchdringlichkeit  die  erste  und  eigentliche  Grundvorstellung  der  Materie 
gebe,  während  Anziehungskraft  nicht  unmittelbar  wahrgenommen  werde. 
Vgl.  Riehl,  Kritic.  I,  319.  Dass  Ks.  Beispiele  für  den  Untersch.  anal.  u. 
synth.  Urth.  „übel  gewählt  seien**,  sagt  Herder,  Met.  I,  60.  Kiesewetter, 
Prüf.  I,  51  meint  dag.,  Herder  habe  die  K. 'sehen  Beispiele  „übel  verstanden^. 
(Noch  etwas  anderes  X.)  Dieser  vermittelnde  Factor,  dessen  schon  oben 
gedacht  ist,  wird  auch  das  Dritte  genannt,  dessen  es  zur  Verbindung  zweier 
Begriffe  zu  einem  synth.  Urtheil  bedarf.  155:  „Wenn  man  aus  einem  ge- 
gebenen Begriffe  hinausgehen  muss,  um  ihn  mit  einem  anderen  synthetisch 
zu  vergleichen,  so  ist  ein  Drittes  nöthig,  worin  allein  die  Synthesis 
zweener  Begriffe  entstehen  kann.  Was  ist  nun  dieses  Dritte  als  das  Medium 
aller  synth.  Urth.?*  u.  s.  w.  (ib.  156  ff.)  Es  wird  unten  auch  als  „Hilfs- 
mittel" bezeichnet.  Auch  nach  B.  15  f.  muss  (bei  mathem.  Urth.)  Anschauung 
zu  Hilfe  gezogen  werden.  Auf  dieses  Dritte  muss  sich  der  Verstand 
9 stützen'*  *.    Vgl.  die  Analyse  der  Stelle  bei  Caird  207  ff. 


'  Mit  diesem  „Dritten",  das  für  alle  synthetischen  Urtheile  nothwendig  ist, 
ist  ein  anderes  „Drittes"  nicht  zu  verwechseln,  das  für  die  am  Faden  der  An- 
schauung fortlaufenden  direct- synthetischen  mathematischen  Urtheile  nicht, 
dagegen  für  die  reinen  Yerstandesgrandsätze,  welche  daher  indire et- synthetische 


280  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

(A  8.)  B  11.  [R  (22.)  700. -H  40.  41.  K  54.  55.] 

[Erfahrnn^rsnrtheile  als  solche  sind  insgesammt  synthetisob.]  Dieser  Ab- 
schnitt der  n.  Aufl.  stammt  bis  zu  —  „lehren  würde*  fast  wörtlich  aus 
Proleg.  §  2  c.  Der  Schluss  des  Absatzes  ist  eine  fast  wörtliche ,  vorne  ver- 
kürzte, hinten  erweiterte  Reproduction  des  in  der  I.  Aufl.  Gesagten.  Die  Ver- 
änderungen sind  nur  formeller  Natur  und  kleine  Nachbesserungen  des  Aus- 
drucks \  Die  erheblichste  Aenderung  ist,  dass  statt  »der  Begriff  (A)  be- 
zeichnet die  vollständige  Erfahrung  durch  einen  Theil  derselben"  in  der 
I.  Aufl.  —  in  der  11.  Aufl.  steht  „einen  Gegenstand  der  Erfahrung*, 
was  offenbar  eine  formelle  Verbesserung  ist.  I.  Aufl.  hat  ferner:  „als  zu 
dem  ersteren  gehörig*,  II.  Aufl.  „als  zu  dem  ersteren  gehörten*.  Dies  ist 
eine  Aenderung  des  Sinnes.  In  A  heisst  es,  dass  die  neuen  Theile  im  syn- 
thetischen Urtheile  zu  dem  Subjectsbegriff  „als  zu  ihm  gehörig*  hinzugefugt 
werden;  wie  unten  „ob  zwar  in  jenen  nicht  enthalten,  dennoch  als  dazu 
gehörig,  zu  erkennen*.  In  B  heisst  es,  dass  die  neuen  Theile  andere 
seien,  als  die  waren,  die  zu  dem  Subjectsbegriff  gehörten*.  Einen  grossen 
Werth  legt  Cohen  Ks.  Th.  d.  Erf.  202  darauf,  dass  das  X  in  der  IL  Aufl. 
für  das  empirisch-synth.  Urtheil  weggefallen  und  nur  für  das  synth.  Urth. 
a  priori  aufbehalten  ist.  Allein  darin  ist  eher  eine  formelle  Verschlechterung 
zu  sehen,  weil  der  Zusammenhang  der  Fragen  dadurch  verwischt  wird.  In 
B  wird  noch  hinzugefügt,  dass  Erfahrung  selbst  eine  synthetische  Verbin- 
dung der  Anschauungen  sei.,  und  dies  als  Erklärung  dafür  angegeben,  dass 
aus  der  Erfahrung  neue  synthetische  Merkmale  gezogen  werden  können. 
Ebenso  S.  764:  „Erf.  ist  selbst  eine  solche  Synthesis  der  Wahrnehmungen, 
welche  meinen  Begriff,  den  ich  vermittelst  einer  Erfahrung  habe,  durch 
andere  hinzukommende  vermehrt.*  Desshalb  eben  sei  es  „keiner  Bedenk- 
lichkeit unterworfen,  wie  ich  aus  meinem  Begriffe,  den  ich  bis  dahin  habe, 
vermittelst  der  Erf.  hinausgehen  könne*.  Vgl.  zu  dem  ganzen  Absätze  S. 
721:  „Ich  könnte  meinen  empirischen  Begriff  vom  Golde  zergliedern,  ohne 
dadurch  etwas  weiter  zu  gewinnen,  als  alles,  was  ich  bei  diesem  Worte 
wirklich  denke,  herzählen  zu  können,  wodurch  in  meinem  Erkenntniss  zwar 
eine  logische  Verbesserung  vorgeht,  aber  keine  Vermehrung  oder  Zusatz  er- 
worben wird.  Ich  nehme  aber  die  Materie,  welche  unter  diesem  Namen 
vorkommt,  und  stelle  mit  ihr  Wahrnehmungen  an,  welche  mir  verschiedene 
synthetische,    aber   empirische   Sätze   an  die  Hand   geben   wird.*     Riehl, 


sind,  nothwendig  ist.  733.  736  f.  766.  783.  üebrigens  verwechselt  K.  selbst  beides 
z.  B.  155  ff.  301  f.,  vgl.  217  f.  258  f.  u.  bes.  Grundl.  z.  Met.  d.  Sitten  R.  VBI,  79.  Kriük 
dieses  „Dritten"  als  yffnenstruum  universale^,  yfPanacee"^  bei  Herbart,  W.  W.  III,  389. 

^  Nach  Cohen  a.  a.  0.  202  sind  sie  „höchst  interessanf*  *,  er  hat  dieselben 
aber  gar  nicht  markirt.    Vgl.  Erdmann,  Nachträge  S.  11  (N.  6),  S.  15  (N.  VIII). 

*  B.  Erdmann  hält  in  seiner  Ausgabe  (S.  651)  den  Text  der  ersten  Auflage 
mit  Recht  für  den  besseren;  „eine  falsche  Wendung"  wird  zwar  durch  den  Text 
der  II.  Auflage  nicht  hereingebracht,  aber  eine  richtige  Wendung  (vgl.  die  De- 
finitionen der  synth.  Urtheile  oben  S.  259  f.)  wird  dadurch  verwischt.  Tissot  (42) 
und  Barni  (56)  lassen  das  Sätzchen  einfach  weg!    Ebenso  Born  (10). 


Erfahrungsurtlieile  sind  synthetisch.  Die  Apriorität  d.  analyt.  Urtheile.      281 

[R  (22.)  700.  H  40.  41.  K  54.  55.]  (A  8.)  B  11. 

Krit.  I,  327:  „Der  Gegenstand  erscheint  von  neuen  Seiten,  in  geänderten 
Verhältnissen,  deren  Betrachtung  unser  Wissen  von  ihm  synthetisch  erwei- 
tert.* In  den  Proleg.  §  2c  brachte  Kant  die  synth.  Urtheile  „zuvor  unter 
Klassen '^,  nämlich  er  theilte  ein  in  1)  Erfahrungsurtheile ;  2)  Mathematische 
Urtheile;  3)  Metaphysische  Urtheile.  Hier  in  der  Kritik  behandelt  K.  bei 
den  synth.  Urth.  nur  die  erste  Klasse  ausfuhrlich,  erwähnt  die  dritte,  und 
gibt  dann  in  einem  besonderen  Abschnitt  eine  Aufzählung  der  synthetischen 
Urtheile  a  priori,  die  er  in  3  Klassen  theilt.  Schultz  Prüf.  I,  30:  Da 
jedes  analytische  Urtheil  ein  Urtheil  a  priori  ist,  so  folgt  hieraus,  dass  alle 
empirischen  Urtheile  synthetisch  sind.  Die  Verbindung  des  Prädicats  mit 
dem  Subject  erfolgt  ja  hier  auch  aus  der  Wahrnehmung.  Es  ist  ein 
superficieller  Vorwurf  Spickers,  Kant  u.  s.  w.  19,  ein  Satz  wie:  Es  gibt 
synth.  Urth.  a  posteriori,  deren  Ursprung  empirisch  ist,  sei  eine  reine  Tau- 
tologie. In  dieser  Verbindung  heisst  das:  es  gibt  synth,  Urtheile  von  be- 
schränkter und  bloss  zufälliger  Geltung,  deren  Ursprung  also  in  der  Er- 
fahrung zu  suchen  ist. 

[Ist  ein  Satz 9  der  a  priori  feststeht.]  Alle  analytischen  Urtheile  sind 
a  priori.  Sie  haben  das  Merkmal  der  Nothwendigkeit.  Denn  was  in  dem 
Begriffe  A  liegt,  das  kommt  ihm  auch  selbstverständlich  als  noth wendig 
zu.  Ebenso  das  der  Allgemeinheit;  denn  alle  Exemplare  eines  Begriffs 
haben  eben  als  solche  ohne  Ausnahme  die  Merkmale  des  Begriffs,  unter  den 
sie  fallen.  Prol.  §  .2  b:  „Alle  analytischen  Urtheile  beruhen  gänzlich  auf  dem 
Satze  des  Widerspruchs  und  sind  ihrer  Natur  nach  Erkenntnisse  a  priori, 
die  Begriffe,  die  ihnen  zur  Materie  dienen,  mögen  empirisch  sein  oder  nicht. 
Denn  weil  das  Prädicat  eines  bejahenden  analytischen  Urtheils  schon  vor- 
her im  Begriffe  des  Subjects  gedacht  wird,  so  kann  es  von  ihm  ohne  Wider- 
spruch nicht  verneint  werden;  [im  Gegentheil  „der  Begriff  muss  noth- 
w  endig  vom  Subject  bejaht  werden",  Krit.  150  f.]  ebenso  wird  sein  Gegentheil 
in  einem  analytischen,  aber  verneinenden  Urtheile  noth  wendig  von  dem 
Subjecte  verneint  und  zwar  auch  zufolge  dem  Satz  des  Widerspruchs.  So  ist 
es  mit  den  Sätzen:  Jeder  Körper  ist  ausgedehnt,  und:  kein  Körper  ist  un- 
ausgedehnt (einfach)  beschaffen.  Eben  darum  sind  auch  alle  analytischen 
Sätze  Urtheile  a  priori,  wenngleich  ihre  Begriffe  empirisch  sind;  z.B.  Gold 
ist  ein  gelbes  Metall;  denn  um  dieses  zu  wissen,  brauche  ich  keiner  wei- 
teren Erfahrung,  ausser  meinem  Begriffe  vom  Golde,  der  enthielt,  dass 
dieser  Körper  gelb  und  Metall  sei;  denn  dieses  machte  eben  meinen  Be- 
griff aus,  und  ich  durfte  nichts  thun,  als  diesen  zergliedern,  ohne  mich 
ausser  demselben  wörnach  anders  umzusehen"!  Vgl.  Cohen  a.  a.  0.  201. 
Kiehl,  Krit.  I,  322.  Derartige  Urtheile  gehören  somit,  wie  schon  Heu- 
singer, Enc.  I,  268  richtig  bemerkt.  Neuere  dagegen  wie  z.  B.  Riehl  a.  a. 
0.  322  nicht  genügend  klar  machen,  während  Er d mann,  Gött.  Gel.  Anz. 
1880  S.  632  K.  gegen  seinen  eigenen  Begriff  der  Apriorität  sich  Verstössen 
lässt,  unter  die  relativ- apriorischen,  bei  denen  nur  die  Ableitung 
Sache  der  Vernunft  ist,   der  Inhalt  dagegen   aus   der  Erfahrung   stammt. 


282  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6— 10  =  B,  Abßchn.  IV. 

(A  8.)  B  11.  [B  (22.)  700.  H  40.  41.  E  64.  66.] 

Von  den  früheren  relativ-apriorischen  ürtheilen  unterscheiden  sich  die  hier 
genannten  dadurch,  dass  das  Allgemeine,  was  aus  der  Erfahrung  stammt, 
und  was  dann  zur  Ableitung  des  fraglichen  Urtheils  dient,  dort  ein  allge- 
meines Gesetz,  hier  dagegen  ein  allgemeiner  Begriff  ist.  Dort  wurde  aus 
dem  allgemeinen  (empirischen)  Gesetze:  alle  Körper,  weil  schwer,  stürzen 
um,  wenn  die  Stütze  entzogen  wird,  das  singulare  Urtheil  abgeleitet :  Dieses 
Haus  u.  s.  w.  Hier  dagegen  wird  aus  dem  aus  einer  einzigen  oder  aus  vielen 
Erfahrungen  abstrahirten ,  jedenfalls  empirischen  Begriff  des  Körpers  das 
allgemeine  Urtheil  gebildet,  alle  Körper  sind  ausgedehnt  ^  Tiedemanns 
Einwand  (Theätet  220),  es  gebe  in  den  analyt.  ürtheilen  doch  allgem.  und 
nothw.  Erkenntnisse,  die  aus  der  Ei*fahrung  stammen,  ist  somit  berechtigt. 
Ebenso  was  Reinhold  (jr.)  Th.  d.  Erk.  §  37  Anm.  u.  A.  z.  B.  Spicker, 
Kant  u.  s.  w.  18,  Röder,  Das  Wort  a  priori  §  5  sagen.  Vgl.  Lange,  Mat. 
II,  11:  „Ein  Urtheil  a  priori  kann  zwar  auf  Erfahrung  indirect  gestützt  sein, 
aber  nicht  als  Urtheil,  sondern  nur  insofern  seine  Best  an  dth  eile  Er- 
fahrungsbegriffe sind.  So  viele  anal,  ürtheile"  u.  s.  w.  Dass  es  auch  ana- 
lytische Erfahrungssätze  gebe,  suchen  die  Krit.  Briefe  29  ff.  nach- 
zuweisen. Wenn  ich  ein  bestimmtes  Erfahrungsding  definire,  so  sei  dies 
ein  analytischer  Satz  und  doch  a  posteriori  entstanden.  Vgl.  dag.  Born, 
Philos.  Mag.  II,  376  ff.  Gegen  Spicker  ähnlich  Meinong,  Philos.  Mon. 
XII,  341  und  Pesch,  Haiti,  d.  mod.  Wiss.  14.  Trotta,  Saggio  std  ra- 
tionalismo,  Neapel  1859,  welcher  die  ganze  Einleitung  einer  scharfen  Kritik 
vom  empiristischen  Standpunkt  aus  unterwirft,   macht  S.  23  denselben  Ein- 


*  Selbstverständlich  gibt  es  auch  analytische  Urtheile^  welche  ganz  absolut- 
apriori  sind,  z.  B.  die  Substanz  ist  die  Trägerin  der  Eigenschaften.  Von  diesen 
ist  die  Rede  (vgl.  unten  S.  313)  B  23,  wo  es  sich  um  „Zergliederung  der  Begriffe" 
handelt,  „die  unserer  Vernunft  a  priori  beiwohnen".  Aber  auch  an  sich  ist  die 
Apriorität  aller  analytischen  Urtheile  als  solcher  eine  ganz  andere,  als  die 
Apriorität  der  in  unserer  Vernunft  liegenden  Begriffe  und  Sätze:  jene  ist  relativ, 
hypothetisch,  logisch,  diese  ist  absolut,  transscendental,  jene  ist  Leibnizisch,  diese 
ist  Kantisch.  (Vgl.  oben  S.  191.  193.  203.  221  Anm.)  In  einem  analytischen  Urtheil, 
dessen  Subjects begriff  aus  der  Vernunft  stammt,  sind  somit  diese  beiden  ganz 
heterogenen  Arten  der  Apriorität  verbunden;  dem  Inhalt  nach  handelt  es  sich 
um  Begriffe,  welche  der  Vernunft  materialiter  eingeboren  sind;  der  Form  nach 
um  blosse  'Ableitung,  wobei  die  logische  Vernunft  formaliter  functionirt;  das 
Nicht-zu-Hilfe-nehmen  der  Erfahrung  ist  daher  auch  beidemal  etwas  ganz 
anderes.  Dass  nun  Kant  hierüber  gar  keine  orientirende  Bemerkung  macht,  ja 
offenkundig  beide  Arten  gar  nicht  auseinanderhält,  hat  zur  Verwirrung  bei  ihm 
selbst  —  Quod  pace  tanti  viri  dixerim!  —  und  bei  seinen  Lesern  viel  beigetragen; 
man  vgl.  z.  B.  noch  Ulrici,  Grundpr.  1,303  f.  Schon  die  Zusammenstellung  des 
relativen  und  des  absoluten  Apriori  im  I.  Abschn.  ist  verwirrend,  weil  beide  als 
coordinirte  Arten  einer  und  derselben  Gattung  erscheinen,  während  beide  ganz 
heterogener  Natur  sind,  generisch,  nicht  bloss  specifisch  verschieden;  generisch 
verschieden,  weil  es  sich  das  eine  Mal  um  Logik,  das  andere  Mal  um  Erkenntniss- 
theorie „Transscendentalphilosophie"  handelt.    Aehnliche  Verwechslung  Krit  76. 


Analy tische  Urtheile  und  der  Satz  des  Widerspruchs.  283 

[B  (22.)  700.  H  40.  41.  E  54.  56.]  (A  8.)  B  11. 12. 

wand,  wie  die  oben  Genannten.  Ebenso  Cantoni,  Kant  152  und  Laurie 
a.  a.  0.  227. 

[Denn  ehe  ieh  lur  Erfahrung  irehe*]  Göring,  System  II,  140  wirft  E. 
vor,  Erfahrung  habe  hier  einen  doppelten  Sinn.  Wenn  es  heisst,  vor  der 
Erfahrung  habe  ich  schon  alle  Bedingungen  zum  fertigen  Begriff,  so  sei  hier 
Erf.  Anwendung  eines  solchen  Begriffs  im  Urtheile  auf  Gegenstände.  Nachher 
bedeute  Erf.  aber  „sinnliche  Wahrnehmung' .  Im  Uebrigen  komme  diese 
Aprioritftt  der  anal.  Urth.  darauf  hinaus,  »dass  man  eine  Erfahrung,  die 
man  bereits  gemacht  hat,  nicht  noch  einmal  zu  machen  braucht'.  Vgl.  auch 
a.  a.  0.  159.     Die  weitere  Kritik  Gs.  daselbst  ist  theilweise  sehr  treffend. 

[Xaeh  dem  Satze  des  Ifldersprnchs.]  Vgl.  (ausser  Prolegomena  §  2  b) 
noch  Krit.  S.  150  ff.:  »Von  dem  obersten  Grundsatze  aller  ana- 
lytischen Urtheile."  Der  Satz  des  Widerspruchs  wird  formulirt:  Kei- 
nem Dinge  kommt  ein  Prädicat  zu,  welches  ihm  widerspricht. 
(Eine  andere  gewöhnliche  Formel  wird  von  K.  zurückgewiesen.)  Der  Satz 
heisst  positiv  auch  Satz  der  Identität.  Desshalb  sagt  K.  oben,  die  ana- 
lytischen Urtheile  werden  durch  Identität  gedacht.  Wesshalb,  wenn  ein 
Urtheil  analytisch  ist,  „dessen  Wahrheit  jederzeit  nach  dem  Satze  d.  W. 
hinreichend  erkannt  werden  kann'',  ist  in  der  S.  281  mitgetheilten  Stelle 
der  Prol.  §  2  b  gesagt.  Ist  das  Urtheil  bejahend,  so  muss  das  Prädicat  mit 
einem  der  Merkmale  des  Subjects  identisch  sein;  ist  es  verneinend,  so 
muss  sich  unter  den  Merkmalen  des  Subjects  Eines  finden,  dem  das  Prädicat 
widerspricht.  Fortschr.  K.  150.  E.  I,  545:  „Ein  Widerspruch  findet  in 
einem  Urth.  dann  statt,  wenn  ich  ein  Prädicat  in  einem  Urth.  aufhebe  imd 
doch  eines  im  Begriff  des  Subjects  übrig  behalte,  das  mit  diesem  identisch 
ist '.'  9  Wer  ein  analytisches  Merkmal  einem  Subject  abspricht,  begeht  einen 
Widerspruch ;  dagegen  kann  bei  synth.  Urtheilen  der  eine  Begriff  aufgehoben 
werden,  ohne  dass  der  andere  dadurch  vernichtet  würde '.*  Vgl.  Pörschke, 
Briefe  66.  Weil  die  Logik  das  Analysiren  lehrt,  heissen  die  anal.  Urtheile 
auch  logische.  Ausserdem  ist  die  ganze  Logik  selbst  ein  .System  ana- 
lytischer Regeln  a  priori,  weil  sie  bloss  den  Begriff  des  Begriffes, 
Urtheils,  Schlusses  u.  s.  w.  analytisch  zergliedert.  Beides  wird  oft  auch 
von  K.   selbst  vermischt '.     Der  Satz  d.  W.   ist   zwar  für  die   synth.  Urth. 


*  Kritik  597:  „Der  Vorzug,  dase  das  Prädicat  sich  ohne  Widerspruch  nicht 
aufheben  lasse ^  kommt  den  analyt.  Urtheilen^  als  deren  Charakter  eben  darauf 
beruht,  eigenthümlich  zu,"  ib.  596  über  die  Aufhebung  der  „inneren  Möglichkeit". 

*  Der  eigentliche  Erkenntnissgrund  der  analyt.  Urtheile  ist,  wie 
Jakob  Log.  u.  Met.  §  661  richtig  hinzusetzt,  jederzeit  der  Begriff  des  Subjects. 
Riehl,  Krit.  I,  321:  „Im  analyt.  Urtheil  ist  der  Begriff  des  Subjects  der  Grund 
des  Prädicatsbegriffes.  Aus  dem  blossen  Bewusstsein  des  Subjectsbegriffs  folgt 
das  Prädicat  ohne  Rücksicht  oder  Mithilfe  von  Anschauung  und  Erfahrung.  Mit 
dem  Subject  ist  von  vornherein  das  Prädicat  gegeben.**  Der  Erkenntnissgrund 
für  das  Prädicat,  resp.  für  das  Urtheil,  ist  der  blosse  Begriff.     Vgl.  oben  262. 

'  Dass  die  Logik  eine  rein  analytische  Wissenschaft  sei,  führt  im  Anschluss 


284  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A  8.  B  12.  [R  22.  700.  H  40.  41.  K  54—56.] 

eine  unerlässliche  conditio  sine  qua  non;  aber  nicht  ihr  eigentliches,  materiales 
Princip.  Kein  Satz  kann  richtig  sein ,  in  dem  dem  Subject  ein  Pr&dicat  zu- 
gesprochen wird,  das  einem  seiner  Merkmale  widerspricht.  Ein  solches  ürtheil 
wftre  falsch.  Synthetische  Sätze  können  aber  noch  aus  anderem  Grunde 
falsch  sein;  eben  daher  bedürfen  sie  für  ihre  Wahrheit  ein  besonderes 
Princip.  Eine  Ergänzung  hiezu  geben  die  Fortschr.  K.  118  R.  I,  510,  wo 
auch  der  Satz  des  zureichenden  Grundes  als  Princip  der  analytischen 
Urtheile  behandelt  wird,  nebst  dem  Satz  des  ausgeschlossenen  Dritten. 
Letzterer  beherrscht  die  apodiktischen,  ersterer  die  assertorischen, 
und  der  Satz  des  Widerspruchs  die  problematischen  analytischen  Sätze. 
Vgl.  Logik  Einl.  VII  u.  Brief  an  Reinhold  vom  19.  Mai  1789.  Wie  dies 
gemeint  sei,  zeigt  das  Beispiel.  „Der  Satz:  ein  jeder  Körper  ist  theilbar,  hat 
einen  Grund,  und  zwar  in  sich  selbst  ...  er  kann  als  Folgerung  des 
Prädikats  aus  dem  Begriffe  des  Subjectes,  nach  dem  Satze  des  Wider- 
spruches .  .  .  eingesehen  werden."  Dieser  letztere  Gedanke  ist  schon  in  der 
Schrift  über  die  neg.  Grössen  R.  I,  1 58  und  dann  bes.  in  der  Schrift  gegen 
Eberhard  weiter  ausgeführt;  Ros.  I,  456  ff.  467.  471.  Es  gab  dies  aber 
zu  Missverständnissen  Anlass,  da  nach  Eberh.  der  Satz  v.  Grund  das  Princip 
der  synth.  Urtheile  sein  sollte  ;  s.  dessen  Phil.  Mag.  II,  296.  308  ff. 

[Einen  Gegenstand  der  Erfahrung.]  Zur  (gegenseitigen)  Erläuterung  dient, 
was  K.  sagt,  bei  B.  Erdmann,  Nachtrag  u.  s.  w.  Preuss.  Jahrb.,  37,  213: 
„In  allen  ürtheilen  ist  der  Begriff  vom  Subject  etwas  (a),  was  ich  von 
dem  Subject  x  denke;  und  das  Prädicat  wird  als  ein  Merkmal  von  a  [dem 
Begriff]  in  allen  analytischen,  oder  an  x  [d.  h.  also  an  dem  Ding  selbst, 
wie  es  empirisch  sich  darstellt]  in  dem  synth.  angesehen."    Vgl.  oben  265  f. 

Die  Schwere  Jederzeit  verknüpft  K  Hiezu  bemerkt  Cohen  203:  „Dieses 
Jederzeit  deutet  auf  den  Kant  eigenen  Gedanken  hin,  dass  der  Satz  in  Wahr- 
heit a  priori  bewiesen  werden  könne,  und  daraus  erklärt  sich  die  Aenderung 
des  Satzes  in  den  Proleg.  aus:  alle  Körper  in:  einige  Körper  sind  schwer.* 
Die  erste  Bemerkung  ist  falsch,  die  zweite  unverständlich.  Dagegen  ist  die 
Beobachtung  richtig,   dass   der  hier  sich  findende  Ausdruck:     „Der  Begriff 


an  K.  Schultz  aus  Prüf.  I,  45—54.  Gegen  die  Behauptung^  dass  die  Logik  nur 
analytische  Sätze  enthalte  (s.  A.  L.  Z.  1789  Nr.  175.  8.  587)^  sprach  sich  Maas 8 
in  Eberhards  Phil.  Mag.  11^  316  energisch  aus.  Er  fragt,  ob  der  Satz:  „aus  zwei 
particulären  Vordersätzen  folgt  nichts":  oder:  „der  Untersatz  in  der  1.  Fig.  muss 
bejahen'*  analytisch  sei  ?  Seines  Erachtens  sind  sie  synthetisch  a  priori  und  somit 
ausserdem  ein  Beweis,  dass  es  solche  gibt,  ohne  Beziehung  auf  Anschauung,  was 
K.  in  der  Kritik  leugnet.  Nach  Lange  (auch  schon  nach  Prihonsky,  Anti- 
Kant 42),  Log.  Studien  bes.  S.  9.  25  hat  die  Logik  einen  „Kern  synthetischer 
Sätze".  Vgl.  dag.  Knauer,  Phil.  Mon.  XIII,  362.  Bei  Steckelmacher,  Kants 
formale  Logik,  fehlt  eine  Erörterung  hierüber. 

^  Vgl.  Leibniz,  Ed.  Erdm.  lila:  Quid  extensioni  nos  addamus  ad  ahaoU 
vendam  corporis  notionem?  Quid  nisi  quae  senstis  ipse  testetur.  (Äutographum  Leih- 
nitii.)    Vgl.  Feuerbach,  W.  W.  V,  242. 


Synthetische  Urtheile  a  posteriori  und  a  priori.  285 

[B  22.  700.  701.  H  41.  K  65.  56.]  A  8.  9.  B  12. 

eines  ^Körpers  überhaupt"  erinnere  an  den  Ausdruck  der  Proleg.  §  2a: 
,Der  allgemeine  Begriff  vom  Körper",  lieber  jenes  »Jederzeit"  vgl.  Gö- 
ring,  Krit  Phil.  I,  141. 

[Erfahrnngr  selbst  eine  synthetische  Terbindnng  der  Anschauungen.]  Vgl. 
B  1 6 1 :  ,  Erfahrung  ist  Erkenntniss  durch  verknüpfte  Wahrnehmungen " .  B  2 1 8 : 
, Erfahrung  ist  eine  Synthesis  der  Wahrnehmungen".  Prol.  §  5:  Erf.  ist  selbst 
nichts  anderes,  als  eine  continuirliche  Zusammenfügung  von  Wahrnehmungen. 
Gut  deiinirt  Pörschke,  Briefe  72:  Erfahrung  ist  eine  „  Zusammensetzung 
von  Gegenständen,  von  welchen  keiner  aus  dem  andern  durch  Analysiren 
gefunden  werden  kann,  und  welche  die  Wahrnehmung  zusammenstellet." 
Schulze,  Krit.  L,  185  sagt  im  Sinne  Kants:  der  Erfahrung  gemäss  „erzeugt 
der  Verstand  synth.  Urtheile,  in  welchen  der  Verbindung  des  Prädicats 
mit  dem  Subject  dieselbe  Zufälligkeit  zukommt,  welche  dem  Zugleichsein  der 
Wahrnehmungen  in  der  Erfahrung  anklebt. "  Dass  in  dieser  Combination  der 
Wahrnehmungen  schon  ein  apriorisches  Element  steckt,  darauf  macht  hier  K. 
noch  nicht  aufmerksam.  Vgl.  Kirchner,  Met.  S.  35.  Unten  zu  B  20  folgt 
eine  wesentliche  Ergänzung  zu  diesem  Punkte.  Vgl.  zu  dieser  Stelle 
Cohen,  Erf.  203:  „Von  hier  dringt  die  Frage  wohlvermittelt  zur  Möglich- 
lichkeit  der  Synthesis  a  priori." 

Aber  bei  synthetischen  Urtheilen  a  priori«  Alle  empirischen  Sätze 
sind  synthetisch;  daraus  folgt  nicht,  dass  alle  synthetischen  Sätze 
empirisch  sind.  Es  stünde  um  die  Wissenschaft  schlecht,  wenn  es  nur  analyt. 
and  synth.  Urtheile  a  post.  gäbe;  denn  jene  sind  nichts  werth  und  ohne 
neuen  Inhalt,  diese  aber  ohne  AUgemeinh.  und  Nothwendigkeit.  Die  Existenz 
der  Wissenschaft  hängt  also  an  der  Frage:  Gibt  es  synthetische  Urtheile 
a  priori?  Sc  hall  er,  Ks.  Naturph.  54  bemerkt,  dass  bei  den  synth.  Urth. 
a  priori  eine  Zusammenfassung  zweier  nicht  unmittelbar  durch  den  Begriff 
zusammengehöriger  Bestimmungen  zur  wesentlichen  Einheit  stattfinde.  Hier 
schiebt  Schulze  in  seiner  Krit.  I,  180  im  Sinne  Kants  ein,  man  müsse  die 
synth.  Urtheile  eintheilen  in  zufällige  und  nothwendige;  bei  jenen  kann 
das  Prädicat  dem  Subj.  auch  abgesprochen  werden ;  bei  diesen  ist  das  nicht 
möglich,  ohne  die  „innere  Möglichkeit"  des  Subjectsbegriffes  zu  zerstören.  Er 
wiederholt  dies  11,  146.  Es  fragt  sich  aber,  ob  dies  Kantisch  ist.  Bei  Kant 
besteht  die  Nothwendigkeit  der  synth.  Urth.  a  priori  vielmehr  eben  in 
dem  Zwang,  mit  dem  sich  diese  Urtheile  als  solche  auf-  und  hervor- 
drängen, also  in  der  Verbindung.  Vgl.  gegen  Eberh.  R.  I,  455.  Allerdings 
bemerkt  er,  dass  das  Prädikat  als  zu  dem  Begriff  der  Subjects  „gehörig"  er- 
kannt werde.  Allein  von  jener  Bestimmung,  dass  das  Subject  ohne  Fällung 
jenes  Urtheils  so  zu  sagen  in  seiner  innersten  Möglichkeit  tödtlich  getroffen 
würde,  steht  nichts  hier  \     Diese  falsche  Auslegung  Ks.  rächte  sich  an 


*  Wenn  man  die  S.  263  angeführten  Stellen,  wonach  auch  die  synthetischen 
Attribute  zur  „inneren  Möglichkeit  des  SubjectsbegrifFes"  gehören,  mit  den  hier 
aus  Kant  und  seinen   Erklären!   angezogenen  Citaten  und   mit  den  oben  S.  283 


286  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abschn.  IV. 

A  9.  B  12.  [B  23.  H  41.  E  56.] 

Seh. ;  denn  er  kämpft  a.  a.  0.  II.  146  ff.  gegen  dieses  von  ihm  selbst  gemachte 
Phantasma,  wobei  er  allerdings  Becht  hat,  dass  schon  der  Begriff  der  synth. 
Urth.  a  priori  durch  einen  inneren  Widerspruch  sich  selbst  aufhebe, 
aber  dieser  Begriff,  den  der  sonst  so  scharfsinnige  Mann  bekämpft,  ist  eben 
nicht  der  Kantische.  Denn  K.  sagt  nirgends,  „dass  dadurch,  dass  man 
von  einem  Begriff  dasjenige,  was  nicht  in  ihm  liegt  (das  synthetische  Prä- 
dicat)  wegdenkt,  die  bereits  in  demselben  gesetzten  Merkmale  zugleich  mit 
aufgehoben  werden",  a.  a.  0.  IL,  150.  Bei  Reinhold,  Beitr.  zur  Ber.  I, 
292  findet  sich  allerdings  derselbe  Irrthum,  wahrscheinlich  als  die  Fehler- 
quelle für  Schulze.  Ebenso  Peuker,  Darst.  4.  Richtig  dagegen  Schultz, 
Prüf.  I,  29;  da  das  Prädicat  nicht  im  Subject  liegt,  so  enthält  auch  die 
Nicht  verbin  düng  keinen  Widerspruch.  Dag.  ib.  79  sagt  er  allerdings  von 
mathem.  Sätzen,  dass  die  Sul^ecte,  denen  die  ihnen  zugehörigen  Prädicate 
abgesprochen  würden,  schlechterdings  unmöglich  seien;  auf  ders.  Seite  aber 
findet  er  auch  die  Noth wendigkeit  in  der  Verknüpfung  als  solcher,  nicht 
im  Subject.  Vgl.  ib.  S.  81 — 82.  Richtig  bestimmt  Apelt  Met.  44,  dass 
der  Widerspruch  nicht  den  Subjectsbegriff  betreffe,  sondern  wenigstens 
bei  der  Mathem.  die  reine  Anschauung  Quelle  der  Nothw.  sei.  Wie  die 
Nothw.  des  Caus.-Gesetzes  zu  verstehen  sei,  sagt  K.  selbst,  Kr.  d.  prakt. 
Vem.  93 :  Die  Erscheinungen  müssen  causaliter  verbunden  sein  und  können 
nicht  getrennt  werden,  „ohne  derjenigen  Verbindung  zu  wider- 
sprechen, vermittelst  deren  diese  Erfahrung  möglich  ist."  Ganz  irrig  ist 
Paulsens  Auffassung,  Entw.  156  f. 

Durch  Combination  der  beiden  bisherigen  Eintheilungen  (»der  4  Grund- 
pfeiler der  K.'schen  Kritik  d.  r.  V."  Spicker  14)  erhalten  wir  vier  ürtheils- 
arten: 

1)  Analytische  a  posteriori. 

2)  Analytische  a  priori. 

3)  Synthetische  a  posteriori. 

4)  Synthetische  a  priori. 

(1)  Von  diesen  vier  Fällen  ist  der  erste  imaginär.  Denn  kein  em- 
pirisches Urtheil  ist  analytisch,  weil  es  eben  nicht  durch  Begriffsanalyse,  son- 


über  die  analytischen  Urtheile  aufgeführten  Stellen  vergleicht,  findet  man,  dass 
K.  einerseits  die  synthetischen  Urtheile  a  priori  von  den  analytischen  als  den  auf 
der  ^inneren  Möglichkeit"  des  Sabjects  beruhenden  Ürtheilen  unterscheiden  will, 
ihnen  aber  andererseits  als  apriorischen  eine  Noth  wendigkeit  zuschreibt,  welche 
doch  auch  wieder  auf  der  ^ Möglichkeit"  des  Subjectsbegriifes  zu  beruhen  scheint 
Die  Lösung  dieses  vielleicht  doch  mehr  als  bloss  scheinbaren  Widerspruches  ist 
schon  oben  S.  263  u.  264,  sowie  S.  279  (Anziehungskraft  als  zur  Möglichkeit  der 
Materie  gehörend)  angedeutet,  (wozu  man  noch  die  Bemerkungen  S.  289.  292 
von  Schulze,  Apelt,  Lotze  vergleiche),  kann  aber  erst  in  der  Analytik,  beim 
Beweis  „aus  der  Möglichkeit  der  Erfahrung"  ganz  gegeben  werden.  Man  vgl. 
vorläufig  Riehl,  Kriticismus  I,  168  ff.  Harms,  Gesch.  der  Phil.  134.  Fries, 
Gesch.  d.  Phil.  II,  509.  511.  Deg^rando,  Vergl.  Gesch.  II,  481.  Herbart,  UI,  38a 


Combination  möglicher  ürtlieilßarten.  287 

[R  23.  H  41.  E  56.]  A  9.  B  12. 

dem  durch  Erfahrung  zu  Stande  kommt,  und  alle  analytischen  ürtheile 
sind  a  priori,  weil  das  Urtheil  aus  dem  schon  vorhandenen  Begriffe  ohne 
Zuhilfenahme  der  Erfahrung  gezogen  wird,  [wobei  nur  zu  bemerken  ist,  dass 
wenn  dieser  Begriff  selbst  empirisch  ist,  das  ürtheil  trotz  seiner  analytischen 
Natur  nur  relativ  a  priori,  also  doch  eigentlich  a  posteriori  ist].  K.  zieht 
diesen  ersten  Fall  gar  nicht  in  Betracht,  weil  er  ihn,  wie  bemerkt,  über- 
haupt nicht  als  wirklich  anerkennt. 

(2)  Der  zweite  Fall  ist  ohne  Schwierigkeit.  Alle  analytischen  ürtheile 
sind  a  priori  und  entstehen  einfach  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs.  Prol. 
§.  5.  ,Die  Möglichkeit  analytischer  Sätze  konnte  sehr  leicht  begriffen  werden. 
Denn  sie  gründet  sich  lediglich  auf  dem  Satze  des  Widerspruchs  \' 

(3)  Der  dritte  Fall  betrifft  die  gemeinen  Erfahrungsurtheile.  Ib.  „Die 
Möglichkeit  synth.  ürth.  a  posteriori  d.  i.  solcher,  welche  aus  Erfahrung  ge- 
schöpft werden,  bedarf  auch  keiner  besonderen  Erklärung;  denn  Erfahrung 
ist  selbst  nichts  anderes,  als  eine  continuirliche  Zusammen fügung  (Synthe- 
sis)  der  Wahrnehmungen."     [Vgl.  jedoch  die  Ergänzung  hiezu  bei  B  20.] 

(4)  Ib.  „Es  bleiben  also  nur  synthetische  Sätze  a  priori  übrig,  deren 
Möglichkeit  gesucht  oder  untersucht  werden  muss,  weil  sie  auf  anderen  Prin- 
cipien,  als  dem  Satze  des  Widerspruchs  beruhen  muss."  Schultz  Erl.  16: 
„Insofern  sie  synth.  Sätze  sind,  so  ist  hier  das  Prädicat  nicht  im  Begriff  des 
Subjects  enthalten,  also  kann  auch  jenes  aus  diesem  nicht  durch  den  Satz  d. 
Widerspruchs  abgeleitet  werden,  und  insofern  sie  a  priori  sind,  so  kann 
die  Verknüpfung  des  Prädicats  mit  dem  Subject  auch  nicht  von  der  Erfahrung 
abhängen."  Somit  muss  für  sie  ein  neues  Princip  gefunden  werden,  das 
über  dem  Satz  des  Widerspruchs  und  über  der  Erfahrung  hinaus- 
liegt; oder  über  den  rein  logischen  Verstand  einerseits  und  die  Wahr- 
nehmung andererseits.  Den  Fund  synthetischer  ürtheile  a  priori 
beschreibt  oben  der  Excurs,  bes.  S.  274  ff.  Zuerst  erkanhte  K.  in  der  Mathe- 
matik eine  Synthese  a  priori,  dann  in  der  Oausalität  und  dann  dehnte  er 
diese  Entdeckung  über  eine  Reihe  anderer  Erkenntnisse  aus. 

Hegel  (W.  W.  III,  242)  meint,  der  Begriff  der  synth.  ürth.  a  priori  allein 
mache  schon  Ks.  Philos.  unsterblich.  Eine  Synthesis  a  priori,  d.  h.  die 
Hinzufügung  eines  Prädicats  zu  einem  Subject  vor  und  ausser  aller  Erfahrung 
ist  dagegen  nach  Herder  Met.  I,  62  so  viel  als  0  +  0  d.  h.  Nichts.  Dag. 
Schmidt  und  Schnell  Erl.  99  ff.  In  dem  Aufsatz  „üeber  das  unternehmen  des 
Eriticismus"  u.  s.  w.  in  Reinholds  Beitr.  1802,  3,  17  sucht  Jacobi  ähnlich  zu 
zeigen:  „dass  der  Kriticismus  die  Aufgabe,  welche  er  lösen  wollte,  wie  ür- 


*  Man  bemerke,  dass  der  obigen  Combination  jene  schon  S.  282  gerügte  Ver- 
wechslung Ks.  zu  Grunde  liegt.  Die  Apriorität  bei  Nr.  2  und  bei  Nr.  4  sind  ganz 
verschieden.  Wird  das  eigentliche  Apriori  im  strengen  Sinn  der  Eintheilung  zu 
Grunde  gelegt,  so  gibt  es  analytische  ürtheile  a  posteriori  (bei  denen  der  Subjects- 
begriff  aus  der  Erfahrung  stammt)  und  analytische  a  priori  (bei  denen  derselbe 
aus  der  Vernunft  stammt). 


288  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6 — 10  =  B,  Abschn.  IV. 

A  9.  B  12.  [R  23.  H  41.  E  56.] 

theile  a^  priori  möglich  sind,  nicht  gelöst  hat;  dass  sie  überhaupt  nicht 
gelöst  werden  kann ,  weil  ein  ursprüngliches  Synthesiren  ein  ursprüngliches 
Bestimmen  und  dieses  ein  Erschaffen  aus  Nichts*  sein  würde.*  W.W. 
III,  80. 

Für  die  Theorie  des  synthetischen  ürtheils  a  priori  ist  noch  ein 
bis  jetzt  nicht  geltend  gemachter  historischer  Gesichtspunkt  anzuwenden, 
durch  welchen  Kants  „Revolution*  in  einem  neuen  Lichte  erscheint.  Diese 
Oombination  stellt  nämlich  nichts  weniger  als  eine  grossartige  Vermittlung 
der  englisch-empiristischen  und  der  deutsch-rationalistischen  Philosophie  dar. 
Nach  Locke-Hume  sind  die  wahren,  eigentlichen  werthvollen  Urtheile  syn- 
thetischer* Natur;  und  zwar  sind  dies  die  Erfahrungsurtheile.  Die 
engl.  Philos.  kennt  als  fruchtbare  Urtheile  somit  nur  synthetische  Ur- 
theile a  posteriori.  Analytische  Urtheile  erscheinen  ihr  gänzlich  werth- 
los  für  wahre  Erkenntniss  und  stammen,  soweit  sie  überhaupt  Sinn  haben 
und  Werth  besitzen,  doch  schliesslich  aus  der  Erfahrung.  Umgekehrt  sind  das 
Ideal  der  Leibniz'schen  Philosophie  analytische  Urtheile,  Urtheile  aus  Zer- 
gliederung der  Begriffe  und  zwar  apriorische  Zergliederungen  apriorischer 
Begriffe.  Die  deutsche  Philosophie  kennt  als  eigentliches  Urtheil  nur 
analytische  Urtheile  a  priori.  Alle  Erfahrungsurtheile, •  welche  aller- 
dings synthetisch  sind,  haben  doch  in  letzter  Linie  die  Bestimmung,  durch 
immer  weiteren  Fortschritt  in  analytische  a  priori  umgebildet  zu  werden. 
Die  viritia  de  fait  sind  schliesslich  rationell  zu  demonstriren  und  zwar  in 
letzter  Linie  analytisch  a  priori.  Für  die  vorkantische  Philosophie  und 
für  den  vorkritischen  Kant  sind  »analytisch*  und  a  priori,  „synthetisch* 
und  a  posteriori  Wechselbegriffe*.  Vgl.  Paulsen  a.  a.  0.  154,  der 
dieser  Formulirung  nahekommt.  Kants  grosse  That  besteht  nun  einfach  in 
der  Auseinanderhaltung  jener  Gegensätze,  und  in  einer  neuen  Oombi- 
nation. Er  entdeckt  die  synthetischen  Sätze  a  priori.  Die  apriori- 
schen Urtheile  brauchen  nicht  alle  analytisch  zu  sein,  die  synthetischen 
brauchen  nicht  alle  empirisch  zu  sein.  Man  kann  sagen,  dass  K.  von 
dem  Anfang  der  Sechziger  Jahre  an,  „an  dieser  Schwarte  nagte*,  und  dass 


^  Eine  ähnliche  scharfe  Kritik  hat  die  Aufstellung  synthetischer  Urtheile 
a  priori  häufig  erfahren.  Die  speciellen  Einwände  sowohl  der  Dogmatisten  als 
der  Empiristen  gegen  diese  von  Kant  aufgestellte  Urtheilsgattung^  die  angebliche 
Vorgeschichte  derselben  z.  B.  bei  Piaton  und  Aristoteles,  sowie  die  Darstellung 
der  Weiterbildung  derselben  gehören  zu  den  auf  S.  268  erwähnten  Supplementen. 

'  Wir  gebrauchen  der  Einfachheit  halber  die  K.'schen  Termini. 

•  Genau  in  diesem  Sinne  schreibt  K.  an  Reinhold  am  12.  Mai  1789,  auch 
wenn  die  Unterscheidung  der  synthetischen  von  den  analytischen  Urtheilen 
fichon  vor  ihm  dagewesen  sei,  habe  man  doch  die  Wichtigkeit  dieses  Unterschieds 
nicht  eingesehen,  und  das  kam  daher,  „weil  man  alle  Urtheile  a  priori  zu  der 
letzteren  Art  und  bloss  die  Erfahrungsurtheile  zu  den  ersteren  gerechnet  zu  haben 
scheint,  dadurch  denn  aller  Nutzen  [der  Unterscheidung]  verschwand."  Vgl.  die 
Erörterung  von  Nolen,  La  critique  de  Kant  S.  176  f.    Vgl.  oben  274  Anm. 


Entdeckung  und  Bedeutung  des  synthetischen  Urtheils  a  priori.         289 

[R  23.  H  41.  E  56.]  A  9.  B  12. 

er  gegen  10  Jahre  brauchte,  um  jenes  Vorurtheil  zu  überwinden,  die  genannten 
Gegensätze  decken  sich,  um  zu  finden,  dass  eine  andere  Combination  mög- 
lich oder  vielmehr  wirklich  und  daher  nothwendig  sei.  Nur  unter  diesem 
Gesichtspunkt  erhellt  Kants  ganze  Genialität  und  die  enorme  Bedeutung  der 
Formel:  Wie  sind  synthetische  ürtheile  a  priori  möglich?*  Wie 
bemerkt,  erscheint  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  die  Entdeckung  synth.  Urth. 
a  pr.  als  ein  grossartiger  Compromiss  zwischen  den  sich  befehdenden  vorkan- 
tischen  Schulen.  Zu  bemerken  ist  jedoch  hier  vorläufig,  dass  diese  Ürtheile 
eine  ganze  andere  Beweismethode  als  die  bisherigen  analyt.  Urth.  der  Philos. 
forderten  und  dass  in  dieser  neuen  Beweismethode  (welche  in  der  Deduc- 
tion  der  Grundsätze  ihren  Höhepunkt  erreicht)  nicht  nur  bei  Kant  selbst 
der  „locus  ndnimäe  resistenticte" y  d.  h.  der  schwächste  Punkt  liegt,  sondern 
dass  die  Einfuhrung  dieser  neuen  Methode  eine  Willkür  sog.  philos.  Deduc- 
tionen  bei  den  Nachfolgern  hervorrief,  welche  von  der  strengen  Gedanken- 
haltung der  früheren  Dogmatiker  unvortheilhaft  absticht.  Dass  vor  Kant 
von  Aristoteles,  Locke,  Leibnitz,  Hume  und  allen  andern  die  nothwendigen 
Wahrheiten  mit  den  analytischen  verwechselt  und  die  Thatsache  synth.  Erk. 
a  priori  verkannt  wxurde,  erklärt  Apelt  Met.  41  so:  Gewöhnlich  halte  man 
für  nothwendig  das,  dessen  Gegentheil  man  sich  nicht  denken  kann ;  und  da 
man  glaubt,  dass  alle  ünmöglicheit,  das  Gegentheil  zu  denken,  im  Satze  des 
Wid.  ihren  Grund  habe,  halte  man  eben  alle  nothw.  Erk.  für  analytisch,  allein 
jene  Unmöglichkeit  kann  ihren  Grund  nicht  bloss  in  einem  Widerspruch 
der  Aussage  mit  sich  selbst,  sondern  auch  mit  einem  sonst  feststehenden 
Axiom  oder  Begriff  haben.  Sehr  gut  schildert  Schulze  Krit.  II,  145  die 
eventuelle  Tragweite  der  Entdeckung  der  synth.  Urth.  a  priori:  „Durch  die- 
selbe würden  wir  mit  einer  ganz  neuen  Art  vollkommener  Gewissheit  in  der 
Verbindung  der  Vorstellungen  bekannt  gemacht,  da  die  Logik  sonst  nur  diejenige 
Art  dieser  Gewissheit  kennt,  welche  durch  die  Identität  des  Inhalts  der  Vor- 
stellungen vermittelt  wird,  so  dass  also  die  bisher  in  dieser  Wissensch.  auf- 
gestellten Regeln,  wie  Beweise  zu  führen  seien,  sehr  unvollständig  wären, 
indem  nach  jener  Entdeckung  auch  ein  absolut  nothwendiger  Zusammenhang 
zwischen  Vorstellungen  stattfinden  könnte,  der  sich  gar  nicht  auf  eine  Iden- 
tität dieser  Vorstellungen  in  Ansehung  ihres  Inhalts  stützte.''  Kant  will 
—  was  gegen  neuerdings  hervorgetretene  falsche  Auslegungen  ausdrücklich 
betont  sei  —  die  in  der  bisherigen  Metaphysik  enthaltenen  synthetischen  Sätze, 
so  weit  sie  w  ahr  sind,  beweisen.  Pro  leg.  §  4  sagt  er  ausdrücklich,  ausser  den 
unbestrittenen,  aber  werthlosen  analytischen  Sätzen  zeige  die  bisherige  Metaph. 
auch  synthetische  Sätze,  wie  z.  B.  den  Satz  des  zureichenden  Grundes ;  diese 
räume  man  derselben  gerne  ein,  aber  sie  habe  dieselben  niemals  a 
priori  bewiesen.  Und  dies  wiederholt  K.  formell  in  der  Schrift  gegen  Eber- 
hard B.  I,  447,  460,  462  und  erhebt  aufs  neue  denselben  Vorwurf  in  ver- 


^  Windel  band  (Gesch.  d.  Philos.  11^  50)  nennt  sie  gut  den  Kantischen 
„IdealbegrifF  der  Erkenn tniss'*. 

Valhlnger,  K«iit-Coiimient«r.  X9 


290  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  6—10  =  B,  Abechn.  IV. 

A  9.  B 12. 18.  [R  23.  H  41.  E  66.] 

schärfter  Form.  Er  tadelt  eben  daselbst  (I,  410)  die  bisherigen  Beweisversuche 
jenes  Princips  (aus  und  nach  dem  Satz  d.  W.*)  und  weist  auf  sein  neues  Beweis- 
princip  hin ,  die  Beziehung  auf  sinnliche  Anschauung.  K.  nennt  es  selbst 
einen  „harten  Vorwurf'',  nämlich,  dass  die  bisherige  Metaph.  ihre  synth. 
Sätze  a  priori  nicht  beweisen  könne,  weil  sie  solche,  als  von  Dingen  an  sich 
selbst  gültig,  aus  ihren  Begriffen  beweisen  will.  Metaph.  35:  Der  Satz  vom 
zur.  Gr.  ist  noch  von  keinem  Phil,  bewiesen.  Der  Beweis  von  dem  Satze  ist 
die  crux  phüosophorum,  Kant  will  ihn  bewiesen  haben  und  zwar  synthetisch, 
was  er  am  Schluss  der  Prolegomena  Or.  219  aufs  stärkste  betont,  wo  er 
bekanntlich  seinen  Becensenten  auffordert,  unentbehrliche  synthetische  Sätze 
a  priori  zu  beweisen,  z.  B.  den  Satz  der  Beharrlichkeit  der  Substanz 
oder  der  nothwendigen  Bestimmung  der  V^eltbegebenb^iten  durch  ihre 
Ursache  ^  —  Hamann  bemerkt  in  seiner  seltsamen,  „aber  tiefsinnigen* 
Weise  in  der  Metakritik  über  das  Verhältniss  der  Mathematik  und  Meta- 
physik betreffs  synth.  Urtheile  a  priori  (Bink,  Manch.  125).  „Zwar  sollte 
man  aus  so  manchen  analytischen  Urtheilen  auf  einen  gnostischen  Hass  gegen 
Materie  oder  auch  auf  eine  mystische  Liebe  zur  Form  schliessen :  dennoch 
hat  die  Synthesis  des  Prädikats  mit  dem  Subject,  worin  das  eigentliche 
Object  der  r.  V.  besteht,  zu  ihrem  Mittelbegriff  weiter  nichts,  als  ein  altes 
kaltes  Vorurtheil  für  die  Mathematik  vor  und  hinter  sich,  deren  apodiktische 
Gewissheit  hauptsächlich  auf  einer  gleichsam  kyriologischen  Bezeichnung  der 
einfachsten  sinnlichsten  Anschauung  und  hiernächst  auf  der  Leichtigkeit  be- 
ruht, die  Möglichkeit  derselben  in  augenscheinlichen  Constructionen  oder  sym- 
bolischen Formeln  und  Gleichungen,  durch  deren  Sinnlichkeit  aller  Missver- 
stand von  selbst  ausgeschlossen  wird,  zu  bewähren  und  darzustellen.*'  Die 
Geometrie  stelle  alle  ihre,  selbst  die  idealsten  Begriffe  empirisch  dar;  aber 
die  (Eantische)  Metaphysik  „ missbraucht  alle  Wortzeichen  und  Redefiguren 
unserer  empir.  Erkenntniss  zu  lauter  Hierogljrphen  und  Typen  idealischer 
Verhältnisse  und  verarbeitet  durch  diesen  gelehrten  Unfug  die  Biederkeit  der 
Sprache  in  ein  sinnloses  unbestimmbares  Etwas"  u.  s.  w.     W.  W.  VII,  7. 

(Ausser  dem  Begriffe)  [Ueber  den  Begriff]  A  hinansgehen.  Cohen  a.  a.  0. 
193:  „Was  man  bei  diesem  Hinausgehen  thut,  wie  man  es  anfügt,  wird 
nicht  gesagt  und  kann  nicht  gesagt  werden,  denn  dieses  Sagen  würde  die 
Auflösung  des  Bäthsels  sein  müssen,  sondern  es  wird  nur  eben  gefragt, 
wie  die  Vernunft  zu  solchen  Behauptungen  komme".  Vgl.  unten  Apelt.  Nach 
Spicker  Kant  165  verneint  hier  K.   das   synth.  Urth.  a.  pr.   ausser  der 


^  Einen  eigenthümlichen  Beweis  des  Satzes  v.  zur  Gr.  aus  dem  S.  d.  W. 
versucht  Seile  Berl.  Mon.  1784,  IV,  572  f.  Er  reducirt  den  Satz:  Es  kann  kein 
Ding  existiren,  ohne  zureichend  gegründet  zu  sein,  auf  den  Satz:  Dasjenige,  was 
zum  Dasein  eines  Dinges  gehört,  muss  auch  da  sein;  und  diesen  auf  den  Satz: 
Das  Ding,  was  da  ist,  muss  da  sein  (also  das  Wirkliche  setzt  seine  Möglichkeit  voraus). 

'  Gut  nennt  Caird,  Phil,  of  K.  208  die  Versuche,  synthetische  Prädicate 
aus  dem  blossen  Begriffe  herauszuklauben,  eine  „alchemy  of  reaaon". 


Dos  „ Geheim niss^  der  synthetischen  Urtheile  a  priori.  291 

[R  23.  H  41.  42.  E  66.]  A  9.  B  13. 

Mathem.     Eine  derartige  sinn-  und  gewissenlose  Interpretation  verdient 
eigentlich  kaum  Erwähnung.     Vgl.  oben  253. 

Der  Sats:  Alles^  was  uroBehieht  u.  s.  w.  Wie  beim  Unterschied  aprio- 
rischer und  empirischer  Erkenntniss,  so  wird  beim  Unterschied  analytischer 
und  synthetischer  Urtheile  dieses  beliebte  Beispiel  von  K.  herbeigezogen  und 
zwar  öfter.  Vgl.  301:  „dass  Alles,  was  geschieht,  eine  Ursache  habe,  kann 
gar  nicht  aus  dem  Begriffe  dessen,  was  überhaupt  geschieht,  geschlossen 
werden;  vielmehr  zeigt  der  Grundsatz,  wie  man  allererst  von  dem,  was  ge- 
geschieht, einen  bestimmten  Erfahrungsbegriff  bekommen  könne.*  Vgl.  722 
Anm. :  „  Vermittelst  des  Begriffs  der  Ursache  gehe  ich  wirklich  aus  dem 
empirischen  Begriffe  von  einer  Begebenheit  (da  etwas  geschieht)  hinaus", 
u.  8.  w.  Vgl.  306..  733.  Die  Vorliebe  Ks.  für  die  Gaus,  fiel  schon  Schopen- 
hauer W.  a.  W.  I,  529  auf.  Analytisch  dagegen  ist  das  Urtheil:  Jede  Ursache 
hat  eine  Wirkung.  (Peucker,  Darst.  5.)  Eine  lesenswerthe  Erörterung  über 
die  Streitfrage,  ob  der  Satz  der  Gaus,  synthetisch  oder  analytisch  sei,  nach 
Spinoza,  Hume,  Grusius,  Kant  einerseits  und  Leibniz  andererseits  s.  bei 
Bein  hold,  Fundam.  d.  ph.  W.  88,  daselbst  auch  eine  Polemik  gegen  Hume. 
Ueber  den  Satz  der  Gausalität  sagt  der  Verf.  der  Krit.  Briefe  32:  Das 
gesuchte  unbekannte  X  ist  die  Erfahrung  zusammt  dem  denkenden 
und  combinirenden  Verstände.  Das  Weitere  über  diese  Streitfrage  in  einem 
besonderen  Supplement:  Geschichte  der  Gontroversen  über  den  Ur- 
sprung des  Gausalitätsgesetzes. 

Das  X^  worauf  sieh  der  Verstand  stützt.  Dieselbe  Wendung  schon  in 
den  Tr.  e.  Geisters.  1766  am  Schluss:  „Erfahrungsbegriffe,  darauf  sich  alle 
unsere  Urtheile  jederzeit  stützen  müssen."  In  der  Kritik  findet  sich  der 
Ausdruck  häufig.  Vgl.  z.  B.  47.  Vgl.  oben  5:  „Unterlage,  worauf  der  Ver- 
stand sich  steifen  könnte.''   Ueber  das  X,  Y,  Z,  vgl.  Liebmann,  Anal.  211. 

Fnd  aus  blossen  Begriffen«  D.  h.  hier  eben  ohne  Zuhilfenahme  wirk- 
licher Erfahrung  oder  reiner  Anschauung.  Die  philos.  Erkenntniss  ist  (713  f.) 
überhaupt  die  Vemunffcerkenntniss  aus  Begriffen  (so  schon  Leibniz)  im 
Unterschied  von  der  mathematischen,  die  aus  der  anschaulichen 
Construction  der  Begriffe  entsteht,  und  der  empirischen,  die  aus  Sen- 
sationen entsteht.  Daher  heisst  die  philos.  Erkenntniss  discursiv  (im 
Unterschied  von  intuitiv  und  empirisch)  718  ff.  (Nur  scheinbar  stehen 
damit  die  daselbst  733.  f.  736  f.  [vgl.  301.  306  f.]  folgenden  Bestimmungen 
in  Widerspruch,  dass  nämlich  der  Satz:  Alles,  was  geschieht,  hat  seine  Ur- 
sache, aus  diesen  gegebenen  Begriffen  allein  nicht  gründlich  einzu- 
sehen ist,  dass  überhaupt  Verstandessätze  nicht  direct  aus  Begriffen, 
sondern  immer  nur  indirect  durch  Beziehung  dieser  Begriffe  auf  mögliche 
Erfahrung  errichtet  werden  können.  Das  heisst  nur,  dass  jene  Sätze  nicht 
aus  den  in  dem  Satze  selbst  gegebenen  Begriffen,  sondern  durch  Zuhilfe- 
nahme des  Begriffs  der  möglichen  Erfahrung  eingesehen  werden 
können).  Das  „BäthseP  bestimmt  Apelt,  Met.  48  gut:  „Die  Metaph.  ist 
synthetische  Erkenntniss  und  zwar  nicht  wie  Mathematik   aus  Gonstruction 


292     Commentar  z.  Einleitung  A,  S.  6— 10  =  B,  Abschn.  IV,  u.  zu  B,  Abschn.  V. 
A  9. 10.  B 13.  [R  23.  24.  H  42.  E  56.  67.] 

der  Begriflfe  in  der  Anschauung,  sondern  aus  blossen  Begriffen;  und 
doch  sollen  jene  synth.  Sätze  nicht  aus  blossen  Begriffen,  d.  h.  nicht  ana- 
lytisch erkannt  werden.  Die  Nothwendigkeit  der  Verbindung  in  jenen  Sätzen 
soll  durch  blosses  Denken  eingesehen  werden,  und  doch  nicht  auf  der 
Form  des  Denkens ,  dem  Satz  des  Wid.  beruhen.  Der  Begriff  einer  Erkennt- 
nissweise, die  bloss  aus  Begriffen  entspringt  und  dennoch  synthetisch  ist, 
entschlüpft  uns  also  gleichsam  aus  den  Händen.  Das  Problem  ist:  Wie 
kann  ein  Begriff  mit  dem  andern  nothwendig  verbunden  sein, 
ohne  doch  auch  zugleich  in  demselben  enthalten  zu  sein.*  Vgl. 
ib.  S.  49— -55  eine  sehr  scharfsinnige  Erläuterung  dieses  Gedankens  mit  Be- 
zug auf  Hume's  Causalitätstheorie  und  Kants  vorliegende  Aeusserungen 
über  die  Gaus.  In  seiner  scharf-analytischen  Sprache  definirt  Lotze,  Logik 
S.  78  das  synth.  Urtheil  a  priori  als  ein  solches,  »welches  zwischen  S  und 
einem  zu  dem  Begriffe  von  S  nicht  unentbehrlichen  P  eine  dennoch  be- 
stehende und  nothwendige  Verknüpfung  behauptet,  ohne  sich  auf  die  Er- 
fahrung eines  wirklichen  Vorkommens  derselben  berufen  zu  müssen*,  während 
das  synth.  ürtheil  a  posteriori  uns  „erzählt,  dass  eine  solche  Verbindung  zweier 
für  einander  nicht  nothwendiger  Begriffsinhalte  in  der  Erfahrung  vorliege 
oder  vorgelegen  habe". 

(Wäre  68  einem  von  den  Alten  u.  s.  w.)  Ganz  ähnlich  lässt  sich  E.  ge- 
legentlich der  Theorie  der  Kategorien  aus,  Prol.  §  39:  „Wäre  dergleichen 
jemals  den  Alten  in  den  Sinn  gekommen,  ohne  Zweifel  das  ganze  Studium 
der  reinen  Vernunfterkenntniss,  welches  unter  dem  Namen  Metaphysik  viele 
Jahrhunderte  hindurch  so  manchen  guten  Kopf  verdorben  hat,  wäre  in  ganz 
anderer  Gestalt  zu  uns  gekommen  und  hätte  den  Verstand  der  Menschen 
aufgeklärt,  anstatt  ihn,  wie  wirklich  geschehen  ist,  in  düsteren  und  ver- 
geblichen Grübeleien  zu  erschöpfen  und  für  wahre  Wissenschaft  unbrauchbar 
zu  machen.  ^  Eine  ähnliche  Ausfuhrung  in  Bezug  auf  die  Kritik  der  prakt. 
Vern.  bei  Snell,  Menon  23  und  bei  Kant  selbst  in  der  Kr.  d.  pr.  V.  201. 
Eine  ähnliche,  ebenso  unhistorische  Aeusserung  bei  Fichte,  Nachl.  III,  260: 
„Kant  und  die  Wissenschaftslehre  würden  von  den  Griechen  gefasst  worden 
sein ! "  —  Den  Vorwurf  gegen  die  Alten  weist  Stein,  Gesch.  d.  Piaton.  III, 
280  ff.  als  zu  hart  zurück  und  nimmt  jene  in  Schutz.  Die  Sprache  dieser 
Stelle  findet  Balmes,  Fund.  d.  Philos.  I,  222  „keineswegs  bescheiden*. 

Erklärung  von  B,  Abschnitt  V.  (S.  14-18.) 
Thatsächlicher  Besitz  synthetischer  Urtheile  a  priori. 

B  14.  [B  702.  H  42.  E  57.] 

In  aUen  theoretlsclieii  Wissenschaften  der  Yernnnft.  Die  Mathematik 
ist  auch  eine  Vern unft Wissenschaft,  wie  K.  bes.  in  der  Method.  712  flf.  aus- 
führt.   Sie  ist  es  eben,  weil  sie  apriorischer  Natur  ist.    Die  Beschränkung 


Mathematische  Urtheile  Bind  insgesammt  synthetisch.  293 

[R  702.  H  42.  43.  K  57.]  B  14. 

auf  die  theoretischen  Vemunftwissenschaffcen  ist  nicht  so  zu  verstehen, 
dass  die  praktischen,  z.  B.  die  Moral,  Rechtslehre  u.  s.  w.  nicht  auch  synth. 
ürth.  a  priori  enthielten.  Denn  zu  der  Einsicht,  dass  es  solche  urtheile  in 
den  genannten  Wissenschaften  gebe,  war  K.  damals  (1787)  schon  gekommen. 

L   Mathematik. 

Literatur. 

Ganz  im  Kantischen  Sinne  ist  das  Programm  von  Schütz:  De  syn- 
iheticis  mathematicorum  pronuntiationibus.  Jemie  1 785.  Wiederabg.  in  Opus- 
cula,  Halle  1830.  S.  289-297.  [Ziemlich  unselbständig.]  -  Thiele,  G.:  Wie 
sind  synth.  Urtheile  der  Mathematik  a  priori  möglich?  Diss.  Halle  1869. 
[Mehr  zur  Aesthetik  gehörige,  scharfsinnige  Untersuchung.]  (Die  weitere 
hieher  gehörige  Literatur  besonders  seitens  der  Leibnizianer ,  Eberhard, 
Schwab  u.  A.,  und  seitens  der  Neueren  z.  B.  Zimmermann,  Pommer, 
Benouvier  u.  A.  befinden  sich  in  dem  Supplement  über  die  Streitigkeiten 
betreffs  der  synth.  u.  analyt.  Urtheile.) 


iDScresammt  synthetisch«  Diese  Behauptung  Ks.  ist  nicht  recht  ver- 
ständlich, wenn  man  daran  denkt,  dass  doch  auch  mathematische  Definitionen 
genug  da  sind.  Schon  Seh  äff  er,  Incons.  42  bemerkt,  der  Satz:  jeder 
Triangel  hat  drei  Seiten  und  drei  Winkel,  sei  doch  jedenfalls  analytisch; 
denn  der  ganze  Begriff  eines  Tr.  verschwindet  ja  ohne  jene  Merkmale,  hier 
ist  doch  das  Prädicat  in  dem  Begriff  des  Subjects  enthalten  \  Nach  Kr.  S.  48 
scheint  K.  j&eilich  zu  meinen,  der  Begriff  des  Triangels  enthalte  bloss  die 
Merkmale  von  3  Linien;  diese  Ungenauigkeit  rügt  auch  Schäffer  a.  a.  0.  50 
(vgl.  zu  Aesthetik  48).  Vgl.  auch  Herder,  Metakr.  I,  56:  „Tausend  und 
zehntausend  Urtheile  in  der  Mathem.  sind  analytisch^.  Ebenso  Kritische 
Briefe  S.  39.  Vielleicht  ist  diese  Unebenheit  dadurch  zu  erklären,  dass  bei 
K.  die  im  Jahre  1763  aufgestellte  und  in  der  Methodenlehre  der  Kritik 
S.  727  ff.  festgehaltene  Auffassung  hier  mitwirkt,  dass  die  Mathem.  ihre 
Begriffe  selbst  auch  synthetisch  bilde.  Freilich  hat  der  Ausdruck  „syn- 
thetisch* hier  einen  anderen  Sinn.     (Vgl.  oben  273.  276.) 

In  der  Folge  sehr  wichtlgr.  Die  Ansicht  Ks.,  dass  alle  math.  Urth. 
synthetisch   seien,  hat  Zimmermann  in  der  gleichnamigen  Schrift  (1870) 


'  Ebenso  schon  Pistorius  A.  D.  B.  105,  I,  29.  65.  67.  71.  77 :  Auch  wenn 
wir  aus  der  reinen  Anschauung  nach  K.  den  Begriff  des  Subjects  schöpfen, 
und  alsdann  mit  diesem  Begriff  nach  bloss  logischen  Regeln,  ohne  weiter  der 
reinen  Anschauung  zu  bedürfen,  fortschliessen,  so  wären  solche  Urtheile  und  Fol- 
gerungen noch  immer  analytisch.  (Nur  berührt  hier  Pistorius  noch  einen  anderen 
wunden  Fleck  der  Theorie,  nämlich  den  Ursprung  der  mathematischen 
Begriffe.) 


294  Comxnentar  zur  Einleitung  B,  Abachn.  V. 

B  14.  [R  702.  H  43.  K  57.  58.] 

„Ks.  mathematisches  Vorurtheil"  genannt.  (Vgl.  Fries  über  Ks.  «trans- 
scendentales  Yorurtheil''.)  Derselbe  hat  klar  die  grosse  Tragweite  dieser 
Lehre  Kants  für  dessen  Aesthetik  und  damit  für  die  ganze  Kritik  nachge- 
wiesen, a.  a.  0.  10  ff. 

Nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  eingesehen  werden.  Prol.  §  2  c: 
Synthetische  Urtheile  a  posteriori  und  a  priori  „kommen  darin  überein,  dass 
sie  nach  dem  Grundsatze  der  Analysis,  nämlich  dem  Satz  d.  W.  allein 
nimmermehr  entspringen  können ;  sie  erfordern  noch  ein  ganz  anderes  Princip, 
ob  sie  zwar  aus  jedem  Grundsatze,  welcher  er  auch  sei,  jederzeit  dem  Satze 
des  Widerspruchs  gemäss  abgeleitet  werden  müssen,  denn  nichts  darf 
diesem  Grundsatze  zuwider  sein,  obgleich  eben  nicht  alles  daraus  abgeleitet 
werden  kann.''  Somit  kann  ein  an  sich  synthetisches  Urtheil  doch  auch  auf 
analytischem  Wege,  d.  h.  durch  Zergliederung  schon  vorhandener  aller- 
dings synthetischer  Erkenntnisse  entstehen.  Ist  das  nicht  ein  Widerspruch? 
Sind  dann  nicht  eben  nicht  alle  mathematischen  Sätze  synthetisch?  Vgl. 
Maass  in  Eberhards  Phil.  Mag.  II,  229.  Paulsen  (Entw.  170)  findet: 
,K.  gibt  selbst  entweder  den  Namen  synthetisch  für  Lehrsätze,  oder  den 
Sinn  des  Namens  auf."  Nur  Axiome  und  Grundsätze  können  synthetisch 
sein,  nicht  aber  Lehrsätze,  wenn  diese  aus  jenen  nach  dem  Satz  d.  W.  ab- 
geleitet werden.  Diese  Einschränkung  scheine  gerathen,  um  die  Bezeichnung 
in  ihrem  formellen  Recht  zu  retten.  Kant  braucht  das  keineswegs  zuzugeben. 
Der  Satz:  Die  Winkel  im  Dreieck  sind  =  2  R  ist  nach  ihm  synthetisch. 
Er  ist  allerdings  abgeleitet  aus  dem  Parallelen axiom  (mit  Hilfe  der  be- 
kannten Hilfslinien),  und  ist  insofern  nach  dem  Satz  d.  W.  eingesehen,  in- 
sofern wenn  einmal  die  Gleichheit  des  Falls  resp.  des  Subjects  erkannt  ist, 
auch  das  Prädicat  dem  Subject  nothwendig  nach  dem  Satz  d.  W.  zukommt. 
Die  Winkel  im  Dreieck  bilden  dann  einen  besonderen  Fall  der  Winkel  an 
Parallellinien,  welche  geschnitten  werden  durch  andere  Linien.  Der  Satz  d. 
W.  bildet  bei  der  Ableitung  nun  allerdings  das  Vehikel,  weil,  wenn  einmal 
die  Identität  von  A  und  A^  erkannt  ist,  auch  das  Prädicat  b,  das  dem  A 
zukommt,  dem  A*  zukommen  muss.  Allein  darum  wird  jener  Satz  doch 
selbst  kein  analytischer  im  Sinne  Kants.  Denn  der  analyt.  Satz  hat  die 
Eigenthümlichkeit,  dass  das  Prädicat  aus  dem  Subjectsbegriff  durch  Zerglie- 
derung gezogen  wird.  Das  ist  hier  nicht  der  Fall;  der  synthetische  Satz 
kann  nie  an  sich  selbst  aus  dem  Satz  d.  W.  eingesehen  werden.  Es  ist 
also  einfach  als  ein  CoroUar  Kants  anzusehen,  dass  man  synthetische  Sätze 
nicht  darum  für  analytische  ansehen  darf,  weil  sie  aus  anderen  Sätzen  mit 
Hilfe  des  Satzes  v.  W.  eingesehen  werden.  Ausserdem  nimmt  man  auch  bei 
dieser  Ableitung  doch  immer  die  Anschauung  zu  Hilfe,  was  die  Haupt- 
sache ist;  denn  ohne  sie  kann  die  Identität  von  A  und  A^  nicht  erkannt 
werden.  Dass  in  der  I.  Aufi.  die  Formel  sich  nicht  finde:  alle  mathem. 
Urtheile  sind  synth.  Urth.  a  priori,  ist  insofern  unrichtig,  als  das  mehrfach 
gesagt  wird,  z.  B.  A  S.  46:  Die  Sätze  der  Geometrie  sind  synth.  a  priori. 
Wenn  K.  ib.  25  sagt,  alle  geometr.  Grundsätze  seien  synthetisch,  so  fügt 


Mathematische  Grundsätze  und  Folgesätze.     „Reine^  Mathematik.        295 

[B  702.  703.  H  48.  E  68.]  B  14.  15. 

er  doch  als  Beispiel  den  Satz  hinzu,  in  einem  Dreieck  seien  zwei  Seiten  zu- 
sammen grösser  als  die  dritte,  was  doch  nicht  im  strengsten  Sinne  Grundsatz 
ist.  Die  Beispiele  sind  somit  nicht,  wie  Paulsen  sagt,  bloss  Axiome.  „Grund- 
satz* steht  hier  entweder  einfach  =  Satz,  oder  im  Gegensatz  zu  solchen  Sätzen, 
wie  in  diesem  Falle  etwa  der  Satz  zu  nehmen  wäre:  Auch  im  recht- 
winklichen  Dreieck  findet  jenes  Verhältniss  statt.  Im  Wesentlichen  die- 
selbe Antwort  gibt  schon  Schultz,  Prüf.  I,  74.  Allerdings  gehe  wie  jeder 
Yernunftschluss,  so  auch  jeder  geometrische  Schluss  in  den  geom.  Beweisen 
nach  dem  Satze  der  Identität  vor  sich.  „Allein  man  erwägt  nicht,  dass 
hier  die  Identität  oder  Contradiction  nicht  den  Begriff  des  Subjects, 
sondern  allemal  irgend  ein  Axiom  oder  Postulat  trifft."  Das  Gegentheil 
des  Satzes  „durch  zwei  Seiten  und  den  eingeschlossenen  Winkel  ist  ein 
Dreieck  gegeben •*  —  widerspricht  zwar  dem  Axiom:  „Von  Einem  Punkte 
zum  anderen  ist  nur  Eine  gerade  Linie  möglich;"  und  insofern  ist  der  Satz 
selbst  aus  diesem  Axiom  analytisch  abzuleiten;  allein  das  Prädicat  des 
Satzes  ist  nicht  analytisch  aus  dem  Subject  desselben  herauszubekommen. 
Nach  Schütz  A.  L.  Z.  1785  III,  43  sind  nur  die  Lehrsätze  synth.;  Fol- 
gerungen aus  ihnen  können  freilich  analytisch  sein.  Diese  Aeusserung  ist 
somit  entweder  nach  Obigem  auszulegen  oder  falsch  im  Sinne  Kants.  Schon  Pi- 
storius  in  der  Recens.  der  Prol.  A.  D.  B.  59,  327  berührt  dies;  Corollarien, 
meint  er,  seien  analytisch  aus  den  synthetischen  Theoremen  gezogen,  und 
findet  hierin  keinen  Widerspruch ,  vgl.  dag.  A.  D.  B.  86,  3$9.  —  Dieselbe  Er- 
klärung (mit  demselben  Beispiel)  schon  bei  Beck,  Standp.  358. 

Reine  Mathematik,  deren  Bei^riir  u.  s.  w.  Dies  ist  eine  willkürliche 
Auslegung  des  Beiwortes  „rein"  in  dieser  Verbindung ;  denn  „rein"  ist  hier 
Gegensatz  zu  angewandt  (etwa  wie  abstract  im  Gegensatz  zu  concret)  und 
nicht  zu  empirisch.  Derartige  Willkürlichkeiten,  besonders  auch  in  ety- 
mologischer Beziehung  finden  sich  bei  K  nicht  selten*,  und  seine  Schüler 
canonisirten  dieselben,  wie  dies  z.  B.  Kiesewetter'  in  diesem  Falle  thut 
(Logik  I,  12).  Allerdings  ist  diese  Vermischung  bei  K.  ganz  principiell;  so 
spricht  er  sich  hierüber  in  der  Vorr.  zu  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  ganz 
deutlich  aus,  dass  ihm  angewandt  und  empiris/^h  gleichbedeutend  sind  und 
gemeinsam  dem  „Beinen"  gegenüberstehen.  —  Die  Mathem.  wird  (Krit. 
Briefe  13.  87)  nicht  deswegen  rein  genannt,  „weil  sie  Wahrheiten  in  sich 
fasst,  deren  Erkenntniss  von  aller  Erfahrung  auch  ihrem  ersten  Ursprünge 
nach  unabhängig  ist,  sondern  weil  sie  aus  allgemeinen  Begriffen  ihre  Sätze 
herleitet  und  sie  ohne  Bücksicht  auf  Erfahrung  beweiset" .  Vgl.  dag.  Krause, 
Popul.  Darst.  der  Ki*it.  d.  r.  V.  S.  26.     Hierüber  noch  zur  Aesthetik. 

a«   Arithmetik. 

Der  Satz  7  +  5  =12.  Dieses  Beispiel  sammt  dem  ganzen  Abschnitt 
stammt  aus  den  Prol.  §  2  c ;   diese  letztere  Stelle   ist  aber  selbst   aus  der 


*  Z.  B.  S.  239  (sinnlich  von  Sinn  =  Bedeutung)  179  (constitutiv  von  consUruere!) 


296  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  Y. 

B  15.  [R  703.  H  43.  E  68.] 

Kritik  I.  Aufl.  S.  164  f.  herausgewachsen,  wo  es  heisst:  ,,Dass  7  +  5  =  12 
sei,  ist  kein  analytischer  Satz.  Denn  ich  denke  weder  in  der  Vorstellung 
von  7,  noch  von  5,  noch  in  der  Vorstellung  von  der  Zusamnoiensetzung  beider 
die  Zahl  12.  Dass  ich  diese  in  der  Addition  beider  denken  solle,  davon 
ist  hier  nicht  die  Eede;  denn  bei  dem  analytischen  Satz  ist  nur  die  Frage, 
ob  ich  das  Prädicat  wirklich  in  der  Vorstellung  des  Subjects  denke."  Diese 
Darstellung  unterscheidet  sich  von  der  vorliegenden  nicht  nur  dadurch,  dass 
hier  als  dasjenige  Element,  woraus  der  Begriff  12  entsprungen  sei,  nur  die 
Vereinigung  von  7  und  5  genannt,  nicht  7  für  sich  und  5.  für  sich, 
sondern  auch  insbesondere  dadurch,  dass  hier  an  Stelle  des  neutralen  Aus- 
druckes Vorstellung  durchaus  der  bestimmte  Terminus  Begriff  getreten 
ist.  Vorstellung  konnte  auch  als  Anschauung  verstanden  und  missver- 
standen werden  ^  Dem  gegenüber  wiederholt  hier  K.  immer,  dass  aus  dem 
Begriff  der  Summe  die  neue  Zahl  nicht  analytisch  herausgenommen  werden 
könne.  Der  Begriff  der  Summe  von  7  und  5  (oder :  7  -f-  5)  ist  somit  der 
Subjectsbegriff.  Dieser  Begriff  enthält  nach  K.  nur  die  Aufgabe,  beide 
Zahlen  in  eine  einzige  zu  vereinigen.  K.  nennt  die  Formel  (7  -(-  S)  somit 
einen  Begriff,  den  Begriff  der  Addition  von  7  und  von  5. 
Was  liegt  in  diesem  Begriffe  als  solchem?  Es  liegt  schlechterdings  nichts 
darin,  als  eben  dass  ich  jene  beiden  Zahlen  addiren,  d.  h.  in  eine  einzige 
verwandeln  solle  und  dass  diese  Addition  irgend  einen  neuen  Zahlbegriff 
ergeben  werde.  Will  ich  von  diesem  Begriffe  mehr  erfahren,  als  was  eben 
in  ihm  schon  liegt,  will  ich  also  besonders  wissen,  welches  diese  einzige 
Zahl  sei,  welche  7  und  5  zusammenfasse,  so  muss  ich,  wie  ich  bei  dem 
Begriffe  des  Körpers,  von  dem  ich  mehr  erfahren  wollte,  übergehen  musste 


*  Cohen  204  dagegen  meint,  „dieses  Wort  für  Begriff  ist  vortrefflich  er- 
klärend!" Sehr  beachtenswerth  ist  dagegen  die  Bemerkung  der  A.  L.  Z.  1789, 
II,  629:  Beim  synth.  Urtheil  sei  der  Grund  für  das  Prädicat  nicht  im  Begriff 
enthalten,  wohl  aber  in  der  Vorstellung.  Auf  diesen  Unterschied  komme  alles 
an;  Verstand  und  Sinnlichkeit  sind  ganz  disparate  Vermögen.  Vorstellung 
ist  also  hier  wirklich  als  Anschauung  gefasst.  Vgl.  Göring,  System  II,  130: 
„K.  versteht  unter  Begriff  das,  was  wir  jetzt  Gesammtvorstellung  nennen  . .  .  also 
vielmehr  den  Namen,  als  den  logischen  Begriff.  Diese  Identificirung  von 
Wort  und  Begriff"  u.  s.  w.  Diese  Bemerkung  ist  wichtig.  Kant  scheidet 
zwischen  dem  Begriff  der  Zahl  und  ihrer  Anschauung  in  einer  Weise,  welche 
Bedenken  erregen  kann.  Wenn  der  Begriff  5  enthalten  soll  das  Zusammen  von 
so  und  so  viel  Einheiten,  so  hat  dieses  Merkmal  überhaupt  nur  Sinn,  wenn  es 
anschaulich  vorgestellt  wird :  Für  den  Begriff  bleibt  somit  eigentlich  nur  noch  das 
Wort  fünf.  Eine  gewisse  abstracte  moderne  Richtung  wird  dies  zwar  nicht  an- 
erkennen, aber  die  genaue  psychologische  Analyse  zeigt,  dass  man  unter  fünf  ent- 
weder eine  gewisse  Summe  anschaulich  vorgestellter  Einheiten  versteht  oder  — 
gar  nichts;  m.  a.  W.  wenn  man  sich  eine  Zahl  nicht  anschaulich  vorstellt,  so  ist 
sie  blosses  Wort.  Was  K.  den  Begriff  5  nennt,  ist  ein  blosser  Name,  der  nur 
Inhalt  bekommt,  wenn  er  in  Anschauung  umgesetzt  wird.  Vgl.  Thiele,  a.a.O.  6, 
und  Laae,  Ks.  Anal.  d.  Erf.  S.  323.    Vgl,  bes,  Laurie  a.  a.  0.  228. 


Arithmetik:  7  +  5  =  11  297 

[B  703.  H  43.  E  68.]  B  15. 

zur  empirischen  Anschauung  des  Körpers,  so  hier  von  dem  Begriffe 
jener  Summe  übergehen  zu  ihrer  Anschauung.  Wenn  ich  jenen  Begriff 
bloss  , denke *',  wenn  ich  mich  damit  begnüge,  den  Begriff  im  Denken  zu 
zergliedern,  so  komme  ich  nicht  weiter.  721:  „Ich  kann  aber  von  dem 
Begriffe  zu  der  ihm  correspon  dir  enden  reinen  oder  empirischen  An- 
schauung gehen,  um  ihn  in  derselben  in  concreto  zu  erwägen,  und,  was 
dem  Gegenstande  desselben  zukommt,  a  priori  oder  a  posteriori  zu  erkennen. 
Das  Erstere  ist  die  rationale  und  mathematische  Erkenntniss  durch  die  Con- 
struetion  des  Begriffs,  das  Zweite  die  blosse  empirische  Erkenntniss.'  M ellin 
I,  199  gibt  hiezu  einige  Erläuterungen.  Das  Verhältniss  7  -j-  5  =  12  ist 
allerdings  Gleichheit,  aber  Gleichheit  derObjecte  ist  nicht  Identität 
der  Begriffe,  welche  analytisch  erkannt  werden  kann,  sondern  jene  Gleich- 
heit muss  erst  synthetisch  erkannt  werden.  Die  Grössen  7  +  5  und  12 
sind  gleich  (identisch),  aber  nicht  die  Begriffe.  Denn  unter  7  +  5  denke 
ich  mir  die  Addition  zweier  Zahlen;  unter  12  eine  einzige,  aber  ganz  andere, 
neue  Zahl.  Der  Mathematiker  hat  durch  seine  Construction  die  Objecte 
selbst  vor  sich  und  diese  sind  einander  gleich;  der  Philosoph  will  diese 
Objecte  durch  Begriffe  denken,  und  findet,  dass  diese  nicht  identisch 
sind.  Mellin  Y,  433:  Der  Sache  nach  sind  7  +  5  und  12  einerlei,  aber 
nicht  den  Begriffen  nach.  Beide  sind  Begriffe  von  dem  nämlichen  Gegen- 
stande, aber  sie  geben  ihn  nicht  durch  die  nämlichen  Merkmale  zu 
denken;  also  können  auch  nicht  die  Merkmale  des  einen  Begriffs  in  dem 
andern  Begriff  gefunden  werden.  Dass  die  Zusammensetzung  von  7  und  5 
das  nämliche  gibt,  was  ich  mir  auch  unter  zwölf  denke,  folgt  aus  der  Con- 
struction und  Addition,  nicht  aus  Analyse  der  Begriffe.  Sonst  wäre 
die  Arithmetik  ein  Zweig  der  Logik  (was  allerdings  neuerdings  z.  B.  v.  Boole 
behauptet  wird).  Wenn  der  Mathematiker  von  der  5  eine  Einheit  nach  der  an- 
dern wegnimmt,  und  zur  7  hinzuzählt,  so  ist  auch  dies  nicht  eine  begriffliche 
Analyse  des  Begriffs  von  5,  sondern  eine  Anatomie  des  Objects  5;  ich 
nehme  nicht  die  Merkmale  des  Begriffs,  sondern  die  Theile  des  Objects 
hinweg.  Der  Begriff  einer  bestimmten  Zahl  z.  B.  5  ist,  dass  es  diejenige 
Menge  von  Dingen  einer  Art  ist,  auf  die  ich  komme,  wenn  ich  die  Einheiten 
dieser  Menge  durchzähle.  Ich  erlange  die  Zahl  12  erst  durch  folgende  Operation : 

B  C 
A D 

E F 

Ich  zähle  die  Reihe  A  B  durch,  fange  wieder  von  vorne  an,  zähle  die  Beihe 
C  D  und  fuge  beide  Reihen  wie  in  E  F  zusammen,  damit  erhalte  ich  erst  die 
Zahl  12.  Ich  setze  dabei  immer  eine  Einheit  von  E  F  unter  die  Einheiten 
von  AB  und  CD.  (Mellin  11,  406.)  Fischer  289:  ,7  +  5,  das  Subject 
des  Satzes,  sagt:  summire  die  beiden  Grössen !  DasPrädicat  12  sagt,  dass 
sie  summirt  sind.  Das  Subject  ist  eine  Aufgabe,  das  Prädicat  ist  die 
Lösung.  In  der  Aufgabe  ist  die  Lösung  nicht  ohne  Weiteres  enthalten. 
In  den  Summanden  liegt  nicht  sofort  die  Summe ,   wie  das  Merkmal  in  der 


298  CommAitar  zur  Einleitung  6^  Abschn.  V. 

B  15.  [B  703.  H  43.  E  58.] 

Vorstellung.  Wäre  dies  der  Fall,  so  wäre  es  nicht  nöthig  zu  rechnen. 
Um  das  Urtheil  7  +  5  =  12  zu  bilden,  muss  ich  dem  Subject  etwas  hinzu- 
fugen, nämlich  die  anschauliche  Addition/  Zur  Erläuterung  fugen 
Einige  noch  das  Beispiel  der  lernenden  Kinder  hinzu;  so  Schmidt- 
Phis.,  Expos.  11.  Heusinger,  Enc.  I,  277.  Lange,  Mater.  11,  25  f.  Im 
Uebrigen  vgl.  man  über  die  Streitigkeiten  hierüber  das  schon  erwähnte 
Supplement:  Geschichte  der  Controversen  über  die  Unterscheidung 
anal,  und  synth.  Urtheile. 

Man  mnss  Aber  diese  Begrrlffe  hinausgehen.  Warum  über  ,  diese  Be- 
griffe« ?  Wir  hörten  bisher  nur  von  einem  Begriff,  dem  Begriff  der  Summe 
von  7  und  5.  Dieser  Begriff  besteht  aus  3  Begriffen,  dem  Begriff  der 
Summe,  dem  Begriffe  7  und  dem  Begriff e  5.  Alle  3  Begriffe  zusammen 
ergeben  erst  jenen  G  es  am  mtbe  griff.  Ueber  „diese  in  ihm  enthaltenen  Be- 
griffe'^  muss  ich  hinausgehen  und  zwar  zur  Anschauung  des  in  jenen  Begriffen 
Gedachten.  So  sollte  man  zunächst  auslegen.  —  Allein  E.  sagt,  ich  muss 
zu  der  Anschauung  hinausgehen,  die  einem  von  beiden  correspondirt.  Also 
„diese  Begriffe"  sind  nur  die  Zahlbegriffe  7  und  5.  Man  beobachte  diesen 
Wechsel:  oben  handelte  es  sich  um  den  Begriff  der  Summe  von  7  und  5, 
in  welchem  das  Neue  nicht  liegen  soll;  jetzt  um  die  Begriffe  7  und  5 
selbst^  und  auch  unten  heisst  es:  „Wir  mögen  unsere  Begriffe  (Prol. :  unseren 
Begriff)  drehen,  wie  wir  wollen;  vermittelst  der  blossen  Zergliederung  un- 
serer Begriffe  könnten  wir  die  Summe  niemals  finden. «  Ich  brauche  sogar 
nur  Einen  der  Begriffe  in  die  Anschauung  zu  verwandeln,  die  ihm  cor- 
respondirt. (Vgl.  733 :  „vermittelst  der  Construction  der  (mathem.)  Begriffe 
in  der  Anschauung  des  Gegenstandes  kann  ich  die  Prädicate  desselben  a  priori 
und  unmittelbar  verknüpfen".)  Ich  verwandle  den  Begriff  5  in  die  ihm  cor- 
respondirende  Anschauung,  lege  dem  abstracten  Begriffe  diese  concrete  An- 
schauung unter,  etwa  5  Punkte.  Und  dann  nehme  ich  den  Begriff  der 
Zahl  7  und  thue  die  5  in  der  Anschauung  des  Begriffs  Fünf  mit  enthaltenen 
Einheiten  nach  und  nach  zu  jenem  Begriff  7  hinzu,  und  „sehe*  *  so  die  ge- 
suchte Zahl  12  entspringen.  Ich  habe  den  Begriff  Sieben  =  7  Einheiten 
und  nun  zähle  ich  etwa  andenFingern  ab,  und  weiter:  8,  9,  10,  11,  12. 
Vgl.  240:  „Man  erfordert,  einen  abgesonderten  Begriff  sinnlich  zu  machen, 
d.  i.  das  ihm  correspondirende  Object  in  der  Anschauung  darzulegen  .  .  . 
Die  Mathematik  erfüllt  diese  Forderung  durch  die  Construction  der  Gestalt, 
welche  den  Sinnen  gegenwärtige  (obzwar  a  priori  zu  Stande  gebrachte)  Er- 
scheinung ist.  Der  Begriff  der  Grösse  sucht  in  eben  der  Wissenschaft 
seine  Haltung  und  Sinn  in  der  Zahl,  diese  aber  an  den  Fingern,  den  Ko- 
rallen des  Rechenbrets,  oder  den  Strichen  und  Punkten,  die  vor  Augen  ge- 
stellt werden."  Uebrigens  hätte  K.  die  oben  herausgehobene  Inconvenienz 
leicht  vermeiden  können,  wenn  er  etwa  gesagt  hätte:  der  ganze,  abstracto 


^  Wie  kann  ich  das  sehen^  wenn  nur  Einer  der  Begriffe  in  Anschauung 
umgesetzt  ist?    Meli  in  setzt  eben  daher  richtig  Beide  in  Anschanung  um. 


Zuhilfenahme  der  Anschauung.  299 

[B  708.  H  48.  E  58.]  B  15. 

Begriff  der  Summe  von  7  und  5  muss  in  eine  Anschauung  verwandelt  werden, 
also  die  drei  Begriffe:  Summe,  7,  5;  statt  des  Begriffes  7  nehme  ich  die 
anschauliche  Vorstellung  von  7  Punkten,  ebenso  von  5  Punkten  und 
der  abstracto  Begriff  der  Summe  wird  durch  die  successive  anschauliche 
Operation  des  ELinzufügens  und  Hinzuzählens  ersetzt. 

Etwa  seine  fünf  Finger.  Dass  die  Finger  besonders  zum  Zählen  ver- 
werthet  werden,  belegt  Lange,  Mat.  II,  121  f.  mit  culturhistorischen  Bei- 
spielen mit  Bezug  aufTylor,  Anf.  der  Cultur,  üebers.  I,  238  ff.  Hankel, 
Vorl.  über  complexe  Zahlen  I,  53  sagt  dagegen:  An  den  Fingern  könne  man 
den  Satz  2X2  =  4  wohl  begründen,  aber  den  Satz  1000  X  1000  =  1000000 
so  zu  erweisen,  werde  wohl  vergeblich  sein.  Lange,  Mat.  II,  120  gibt  das 
zu,  bemerkt  aber,  dass  derartige  Operationen  mit  Hilfe  von  Zeichen  voll- 
zogen werden,  welche  die  Anschauungen  von  Dingen  vertreten.  Dass 
K.  hier  die  empirische  Anschauung  herbeizieht,  nicht  wie  er  sollte,  die 
reine,  hat  Lange,  Mat.  11,  27  (vgl.  13  ff.  22)  gar  nicht  anstössig  gefanden. 
Nach  ihm  meint  K. ,  es  genüge  eine  einzige  Erfahrung,  um  an  ihr  die 
Nothwendigkeit  des  Satzes  zu  erweisen.  Vgl.  Cohen,  Erf.  S.  95.  Diese 
Darstellung  ist  durchaus  unkantisch,  wie  aus  der  S.  300  mitgetheilten 
Stelle  der  Methodenlehre  713  f.  hervorgeht.  Dagegen  nach  der  A.  L. 
Z.  1790,  in,  804,  dienen  die  Vorstellungen  der  Finger  und  Punkte  richtig 
bloss  als  empirische  Hilfsmittel,  wodurch  man  sich  die  Darstellung  der 
Zahlen  in  der  reinen  Anschauung  der  Zeit  ^  nur  zu  erleichtern  sucht. 
Vgl.  dag.  die  ironischen  Bemerkungen  von  Bardili,  Erste  Logik  S.  2.  213: 
, empirischer  Gegenschein  einer  reinen  Anschauung,  wie  er  sich  an  den 
5  Fingern  zu  Königsberg  ergibt."  In  der  Methodenlehre  717  u.  734  wird 
ausgeführt,  dass  die  Arithmetik  auf  ostensiver  Erkenntniss,  d.  h.  An- 
schauung beruhe,  indem  sie  durch  symbolisch-charakteristische  Con- 
struction  an  den  Zeichen  die  Begriffe  der  Grössen  und  ihrer  Verhältnisse 
in  der  Anschauung  darlegt.  Genaueres  über  diese  „ostensive"  Methode 
a.  a.  0.  Doch  sei  schon  hier  erwähnt,  dass  Eberhard,  Phil.  Mag.  II,  175 
(vgL  II,  485)  mit  Recht  darauf  aufmerksam  macht,  dass  doch  zwischen  der 
Darstellung  durch  sinnliche  Zeichen  in  der  Algebra  und  zwischen  der  an- 
schaulichen Zeichnung  in  der  Geometrie  ein  wesentlicher  Unterschied  be- 
stehe.   Ebenso  Maass  ib.  II,  230.     Vgl.  Beck,  Standpunkt  360. 

Wie  Segner  in  seiner  Arithmetik.  Segner,  Anfangsgründe  der  Arith- 
metik u.  s.  w.  aus  dem  Latein.,  2.  Aufl.  Halle  1773,  Fig.  2  zu  S.  27  zur 
I^hre  von  der  Multiplication,  Fig.  3  zu  S.  79  zu  dem  Satz  (a  +  b)'  = 
a*  +  b*  -f  2  ab.     Die  Einheiten  sind  als  Punkte  dargestellt. 


*  üeber  diese  angebliche  Beziehung  der  Arithmetik  zur  Zeit  s.  zur  Aesthetik. 
Kant  selbst  scheint  die  empirischen  Punkte  nur  als  Vertreter  reiner  Punkte  zu 
betrachten.  Diese  gehören  zum  Raume^  da  von  einer  (der  Zeitlinie  entsprechenden) 
Anordnung  in  einer  Linie  nicht  die  Rede  ist.  Schopenhauer  nimmt  (Nach- 
lass  105)  statt  der  unstetigen  Punkte  stetige  Linien  zu  Hilfe. 


300  Commentar  zur  Einleitimg  B,  Abschn.  V. 

B  16.  [B  703.  H  43.  44.  E.  58.  59.] 

Dass  7  zn  5  hinzagethau  werdea  sollten.  Die  Textverändemiig  Erdmann 's 
„5  zu  7*  ist  zu  billigen,  nicht  aber  die  von  ,, sollten'*  in  „sollte".  Denn 
K.  spricht  im  Vorhergehenden  von  den  „Einheiten*  der  5.  Die  Parallel- 
veränderung S.  733  aus  „geben*  in  „gebe"  ist  auch  nicht  nöthig,  denn  die 
zwei,  zweimal  genommen,  geben  vier.  Diese  Aenderungen  sind  sachlich 
nicht  geboten. 

Wenn  man  etwas  grossere  Zahlen  nimmt«  Mit  Becht  erinnert  hier 
Cohen  204  an  das  Capitel  von  dem  Schematismus,  wo  (140  f.)  gezeigt 
wird,  dass,  wie  die  kleinen  Zahlen  z.  B.  5  ein  Bild  durch  Darstellung  ein- 
zelner Punkte,  so  die  grösseren,  z.  B.  Tausend,  ein  Schema  haben  müssen, 
welches  die  Einbildungskraft  hervorbringt.    Vgl.  dag.  Laurie  a.  a.  0.  229. 

b.  Geometrie. 

Kein  Grundsatz  der  reinen  Geometrie  analytisch.  Diese  fundamentale 
Bestimmung  wird  oft  wiederholt;  so  unten  S.  47  f.  „Aus  blossen  Begriffen 
kann  gar  keine  synthetische  Erkenntniss,  sondern  lediglich  analytische  er- 
langt werden.  Nehmet  nur  den  Satz:  dass  durch  zwei  gerade  Linien  sieb 
gar  kein  Raum  einschliessen  lasse,  mithin  keine  Figur  möglich  sei,  und  ver- 
sucht ihn  aus  dem  Begriff  von  geraden  Linien  und  der  Zahl  zwei  abzuleiten ; 
oder  auch,  dass  aus  dreien  geraden  Linien  eine  Figur  möglich  sei,  und  ver- 
sucht es  ebenso  bloss  aus  diesen  Begriffen.  Alle  eure  Bemühung  ist  ver- 
geblich und  ihr  seht  euch  genöthigt,  zur  Anschauung  eure  Zuflucht  zu 
nehmen,  wie  es  die  Geometrie  auch  jederzeit  thut."  —  299  f.:  „Zwischen 
zwei  Punkten  kann  nur  Eine  gerade  Linie  sein;  .  .  .  diese  Eigenschaft  der 
geraden  Linien  erkenne  ich  nicht  überhaupt  und  an  sich  aus  Principien 
(d.  h.  aus  Begriffen),  sondern  nur  in  der  reinen  Anschauung."  Vgl.  239  f. 
Besonders  in  der  Methodenlehre  ist  dies  weiter  ausgeführt;  die  Mathematik 
kann  nur  vorwärts  kommen  durch  die  anschauliche  Construction  ihrer  Be- 
griffe. Zur  Construction  eines  Begriffes  bedarf  sie  einer  nicht  empirischen 
Anschauung,  713:  „Ich  construire  einen  Triangel,  indem  ich  den  diesem 
Begriff  entsprechenden  Gegenstand  entweder  durch  blosse  Einbildung  in  der 
reinen,  oder  nach  derselben  auch  auf  dem  Papier,  in  der  empirischen  An- 
schauung, beidemal  aber  völlig  a  priori,  ohne  das  Muster  dazu  aus  irgend 
einer  Erfahrung  geborgt  zu  haben,  darstelle.*  Die  Zeichnung  auf  dem 
Papier  ändert  somit  nichts  an  der  Apriorität,  ebenso  wenig  als  oben  bei  der 
Arithmetik  die  Hinzunahme  von  5  Punkten  oder  gar  5  Fingern.  Es  sind 
dies  nur  Bilder  für  die  reine  a  priori  erzeugte  Anschauung.  Nur 
in  ihr  ist  das  mathematische  Urtheil  möglich.  515  f.:  „Man  gebe  einem 
Philosophen  den  Begriff  eines  Triangels  und  lasse  ihn  nach  seiner  Art 
ausfindig  machen,  wie  sich  wohl  die  Summe  seiner  Winkel  zum  Rechten  ver- 
halten möge.  Er  hat  nun  nichts  als  den  Begriff  von  einer  Figur,  die  in 
drei  gerade  Linien  eingeschlossen  ist,  und  an  ihr  den  Begriff  von  ebenso 
viel  Winkeln.    Nun  mag  er  diesem  Begriffe  nachdenken,  so  lange  er  will. 


Geometrie:    Der  Satz  von  der  geraden  Linie.  301 

[R  708.  704.  H  44.  E  59.]  B  16. 

er  wird  nichts  Neues  herausbringen.  Er  kann  den  Begriff  der  geraden 
Linie  oder  eines  Winkels  oder  der  Zahl  drei  zergliedern  und  deutlich  machen, 
aber  nicht  auf  andere  Eigenschaften  kommen,  die  in  diesen  Begriffen 
gar  nicht  liegen.  Allein  der  Geometer  nehme  diese  Frage  vor.  Er  fUngt 
sofort  an,  einen  Triangel  zu  construiren  ...  Er  gelangt  durch  eine  Kette 
von  Schlüssen,  immer  von  der  Anschauung  geleitet,  zur  völlig  einleuch- 
tenden und  zugleich  allgemeinen  Auflösung  der  Frage."  718  f.:  „Ich  würde 
umsonst  über  den  Triangel  philosophiren ,  d.  h.  discursiv  nachdenken,  ohne 
dadurch  im  mindesten  weiter  zu  kommen,  als  auf  die  blosse  Definition." 
,In  der  reinen  Anschauung  setze  ich,  ebenso  wie  in  der  empirischen,  das 
Mannigfaltige,  was  zu  dem  Schema  eines  Triangels  überhaupt,  mithin  zu 
seinem  Begriffe  gehört,  hinzu,  wodurch  .  .  .  synthetische  Sätze  werden 
müssen."  Die  mathem.  Begriffe  a  priori  „enthalten  eine  reine  Anschauung 
in  sich,  und  können  alsdann  construirt  werden". 

Dass  die  gerade  Linie  u.  s.  w.  „Denn  ich  kann  nicht  sagen,  dass  das 
Merkmal  des  ümschweifes  (des  Längeren)  der  Vorstellung  des  Geraden 
widerspreche  und  dass  dem  Geraden  also  das  Merkmal  des  Kürzeren  noth- 
wendig  zukomme."  Heu  sing  er,  Enc.  I,  276.  Vgl.  Schmid,  Wörterbuch  510. 
Beide  Vorstellungen:  Geradheit  und  Kürze  hängen  zusammen,  sind  aber 
nicht  einerlei.  Born,  Urspr.  Grundl.  des  menschl.  Denkens  S.  32  ff.  Die 
Geradheit  definirt  K.  selbst  Bechtsl.  Einl.  §  E  als  eine  derartige  innere  Be- 
schaffenheit der  Linie,  dass  es  zwischen  zweien  gegebenen  Punkten  nur  eine 
Einzige  geben  kann.  Die  Streitigkeiten  über  diesen  speciellen  Satz  s.  in 
dem  allgemeinen,  schon  erwähnten  Supplement  über  die  Geschichte 
der  Controversen  betreffs  der  analyt.  und  synthet.  ürtheile. 
Ein  anderes  Beispiel  bei  Meilin  I,  271:  „Der  Satz:  zwischen  zwei  Punkten 
ist  nur  Eine  gerade  Linie  möglich,  gründet  sich  weder  auf  den  Begriff  der 
Punkte,  noch  der  geraden  Linie,  sondern  darauf,  dass  es  die  Beschaffenheit 
der  reinen  Anschauung  (Baum)  es  uns  unmöglich  macht,  mehr  als  Eine 
Linie  von  Einem  Punkte  zum  andern  zu  ziehen.  Alle  Linien,  die  wir  uns 
durch  die  Einbildungskraft  zwischen  zwei  Punkten  vorstellen,  fallen  zusammen, 
und  sind  nur  Eine  und  dieselbe  Linie.  Diese  Unmöglichkeit,  uns  mit  aller 
Anstrengung  der  Einbildungskraft  zwei  verschiedene  gerade  Linien  zwischen 
zwei  Punkten  vorzustellen,  macht  es  uns  nun  möglich,  zu  urtheilen:  Zwischen 
zwei  Punkten  ist  nur  Eine  gerade  Linie  möglich."  Schultz,  Prüfung  I,  66: 
Jede  gegebene  gerade  Linie  kann  ohne  Ende  verlängert  werden.  In  dem 
Begriff  der  geraden  Linie  liegt  nicht  im  Mindesten  ihre  unaufhörliche  Ver- 
längerungsfUhigkeit.  Vgl.  dag.  Maass  in  Eberhards  Phil.  Mag.  II,  229.  —  „Es 
wird  niemand  einfallen,  zu  warnen,  man  müsse  mit  dem  Satze  behutsam  sein, 
noch  habe  man  nicht  genug  Erfahrungen  gemacht,  um  die  Behauptung  für 
alle  Fälle  zu  wagen ;  es  könnte  sich  ereignen,  dass  einmal  die  krumme  Linie 
zwischen  zwei  Punkten  die  kürzeste  sei,"  Fischer,  288.  Ein  weiteres  Beispiel 
s.  Gr.  z.  M.  d.  S.  R.  VIQ,  42:  „dass,  um  eine  Linie  nach  einem  sicheren  Princip 
in  zwei  gleiche  Theile  zu  theilen,  ich  aus  den  Enden  derselben  zwei  Kreuz- 


302  Commentar  zur  Einleitang  B,  Abschn.  V. 

B  16.  [B  703.  704.  H  44.  E  59.] 

bogen  machen  müsse,  das  lehrt  die  Math,  durch  synth.  Sätze. '^  Becbtsl. 
§  19:  „Dass  ich,  um  ein  Dreieck  zu  machen,  drei  Linien  nehmen  müsse, 
ist  ein  anal3rtischer  Satz;  dass  deren  zwei  aber  zusammengenommen  grösser 
sein  müssen,  als  die  dritte,  ist  ein  synthetischer  Satz.*  Das  letztere  lehrt 
die  Anschauung;  durch  Vernunftschluss  lässt  sich  das  nicht  beweisen. 
K.  verwendet  die  Lehrsätze  von  der  Geraden  häufig  als  Beispiele;  es  finden 
sich  gelegentlich  noch  folgende  Sätze:  1)  Zwischen  zwei  Punkten  ist  nur  Eine 
Gerade  möglich;  2)  durch  zwei  Gerade  ist  kein  Baum  einschliessbar;  8)  Eine 
Gerade  kann  ins  unendliche  verlängert  werden. 

Angehaunng  mnss  hier  eh  Hilfe  genommen  werden.  Die  Verknüpfung 
der  mathematischen  Begriffe  in  der  Anschauung  geschieht,  sobald  einmal 
diese  herbeigezogen  ist,  unmittelbar,  intuitiv.  Daher  heissen  die  fundamentalen 
mathematischen  Sätze  Axiome.  Denn  „Axiome  sind  synthetische  Grundsätze 
a  priori,  sofern  sie  unmittelbar  gewiss  sind.^  „Die  Mathem.  ist  der 
Axiome  fähig,  weil  sie  vermittelst  der  Construction  der  Begriffe  in  der 
Anschauung  des  Gegenstandes  die  Prädicate  desselben  a  priori  und  unmittelbar 
verknüpfen  kann,  z.  B.  dass  drei  Punkte  jederzeit  in  Einer  Ebene  liegen. ** 
733.  Derartige  Urtheile  bedürfen  keiner  weiteren  Untersuchung:  „denn, 
wenn  sie  unmittelbar  gewiss  sind,  z.  B.:  zwischen  zwei  Punkten  kann  nur 
eine  gerade  Linie  sein,  so  lässt  sich  von  ihnen  kein  noch  näheres  Merkmal 
der  Wahrheit,  als  das  sie  selbst  ausdrücken,  anzeigen.''  261.  Nach  Eberhard 
Phil.  Mag.  II,  164  hatte  schon  Büdiger,  De  sensu  veri  et  falsi  II,  4  und 
Phys,  div.  I,  §  86  auf  die  Sinnlichkeit  als  Quelle  der  mathem.  Gewissheit 
hingewiesen.  Gegen  neuere  bes.  von  Grassmann  und  H a n k e  1  unternommene 
Versuche,  eine  rein  intellectuelle  anschauungslose  Mathematik  zu  begründen, 
wendet  sich  mit  Becht  und  Glück  Lange  Mat.  II,  122.  Im  Uebrigen  vgl. 
über  die  Angriffe  auf  diese  Eant'sche  Lehre  insbes.  durch  die  Leibnizianer 
Eberhard  u.  Schwab  das  schon  erwähnte  Supplement  über  die  Gesch. 
der  Controv.  betreffs  des  Untersch.  anal.  u.  synth.  ürth. 

Einige  wenige  Grundsätie.  Vgl.  164:  „dass  Gleiches  zu  Gleichem 
hinzugethan,  oder  von  diesem  abgezogen,  ein  Gleiches  gebe,  sind  analytische 
Sätze,  indem  ich  mir  der  Identität  der  einen  Grössenerzeugung  mit  der  andern 
unmittelbar  bewusst  bin.  Axiomen  aber  sollen  synth.  Sätze  a  priori  sein.* 
Nach  Entd.  B.  I,  412  gehört  der  Satz:  das  Ganze  ist  grösser  als  sein  Theil, 
eigentlich  nicht  in  die  Mathematik,  sondern  in  die  Philosophie.  Dieses  Axiom 
wird  aus  Begriffen,  also  philosophisch  erwiesen.  Pistorius,  A.  D.  B. 
105,  66  macht  darauf  aufmerksam,  dass  diese  Axiome  —  blosse  Modificationen 
des  Satzes  vom  Widerspruch  —  gern  eins  am  für  Arithmetik  und  Geometrie 
sind.  Der  Nutzen  solcher  Sätze,  den  schon  Wolf,  Phil.  rat.  §  364  betont, 
erhellt  aus  ihrem  Gebrauch  in  der  Mathematik,  wo  Sätze,  wie  A  =  A,  4  =  4 
oft  zur  Anwendung  kommen.  Aus  dem  Satze,  dass  ein  Winkel,  den  zwei 
Figuren  mit  einander  gemein  haben,  sich  selbst  gleich  sei,  erhellt  oft  erst, 
dass  beide  Figuren  ähnlich  oder  congruent  sind.  (Meilin  I,  191).  Dass 
analyt.  Sätze  in  der  Mathem.  auch  als  Principien  dienen,  sucht  gegen  E. 


Rolle  analytischer  Grandsätze  in  der  Mathematik.  303 

[R  704.  H  44.  K  59.]  B  16.  17. 

nachzuweisen  Metz,  Werth  der  Logik  224.  Dagegen  Riehl,  Kritic.  I,  335  f. 
über  den  »rein  logischen  Theil  der  Mathem.^  Sätze,  wie  z.  R  „Gleiches  zu 
Gleichem  ergibt  Gleiches"  sind  jedoch  nach  R.  synthetisch.  Gegen  die 
Bestimmung,  dass  diese  identischen  Sätze  nicht  als  Principien  brauchbar 
seien,  und  dass  sie  in  der  Anschauung  dargestellt  werden  müssen,  wenden 
sich  scharf  die  Kritischen  Briefe  S.  41  £F.  üeber  den  Grundsatz  vom  Ganzen 
und  den  Theilen  vgl.  Balmes,  Fund.  d.  Phil.  I,  226  ff.  und  bes.  Feuer- 
bach, W.  W.  V,  246  (mit  Berufung  auf  Barrow).  Die  Evidenz  dieses 
Satzes  beruht  nach  Leclerc,  Opp.  Phil.  I  (Log.)  206  darauf,  dass  es  sich 
um  „ideae  ahstractae^  handelt,  ^quos  adaequate  novimas  et  immediate  com- 
paramus^.  —  Derselbe  Unterschied  bei  Dugald  Stewart,  Elements  (Einl.). 

Wm  uns  hier  gemeiDiglieh  glauben  macht.  „Hier."  Wo?  Bei  den 
angeführten  analytischen  Sätzen?  Das  hat  ja  aber  gar  keinen  Sinn.  Die 
angeführten  Sätze  sind  analytisch;  und  was  hier  K.  im  folgenden  sagt, 
bezieht  sich  auf  synthetische  Sätze.  Somit  ist  hier  eine  offenbare  Verwirrung 
im  Texte.  Das  Folgende  kaun  sich  nur  auf  die  synthetischen  Sätze  der 
Geometrie  beziehen,  die  im  vorigen  Absatz  behandelt  sind.  Man  könnte  ver- 
sucht sein,  diese  Unebenheit  zu  heilen  durch  eine  neue  Linie.  Diese  Aende- 
rung  ist  aber  unmöglich,  da  »hier*,  „solcher*  auf  unmittelbar  Vorhergehendes 
sich  beziehen.  Somit  ist  der  folgende  Passus  offenbar  an  den  Schluss  des 
vorigen  Absatzes  anzufügen,  und  diese  Bemedur  ist  im  Interesse  des  Sinnes 
ganz  unumgänglich  nothwendig.  Man  wird  sich  hiezu  um  so  eher  entschliessen, 
wenn  man  daran  denkt,  dass  in  den  Prolegomenen,  woraus  auch  dieser  ganze 
Absatz  stammt,  an  der  betreffenden  Stelle  ohnediess  eine  höchst  merkwürdige 
Blattversetzung  stattgefunden  hat.  Vgl.  hierüber:  Vaihinger,  Eine  Blatt- 
versetzung in  Kants  Proleg.  Philos.  Monatsh.  XV,  321  ff.  Es  wäre  zu  verwun- 
dem, wenn  diese  Versetzung  nicht  auch  literarisch  nachgewirkt  hätte,  wie 
jene  Blattversetzung  (vgl.  a.  a.  0.  S.  513—532).  In  der  That  hat  G.  Thiele 
in  der  S.  293  genannten  Abhandlung  S.  4  f.  sich  durch  die  Versetzung  zu 
bedenklichen  Irrthümern  verleiten  lassen.  Er  meint:  „Kant  scheint  hier  nicht 
sicher  zu  sein ,  ob  er  den  Satz  a  =  a  oder  (a  -f  ^)  >a  für  analytisch  oder 
synthetisch  halten  soll."  (Thiele  führt  nun  weiter  aus  —  und  meint  damit 
Ks.  eigentlichen  Sinn  zu  treffen  —  dass  jene  Sätze  synthetisch  seien. 
Dasselbe  sucht  er  von  dem  oben  aus  der  Analytik  angeführten  Satz: 
»Gleiches  zu  Gleichem  hinzugethan  gibt  Gleiches*'  zu  zeigen.  Indem  er  das 
analytische  ürtheil  definirt  als  solches,  „bei  dem  mit  dem  Denken  des  Subjects 
auch  der  Prädicat-sbegriff  nothwendig  mitgedacht  werden  muss",  zeigt  er, 
dass  dies  bei  jenen  ürtheilen  nicht  der  Fall  sei.  Somit  seien  sie  synthetisch. 
Allein  jene  Definition  des  analyt.  Urtheils  ist  nicht  genau  Kantisch.  Es 
handelt  sich  bei  K.  um  die  Möglichkeit,  das  Prädicat  aus  dem  Subject  durch 
Analjsis  herauszuziehen.)  Uebrigens  mag  Thiele  mit  seiner  Meinung,  jene 
Urtheüe  seien  synthetisch,  auch  Recht  haben,  mag  also  K.  hier  selbst  incon- 
sequent  gewesen  sein  —  was  ja  an  sich  nicht  unmöglich  ist  —  so  ist  es  doch 
vollständig  falsch,  aus  dieser  Stelle  auf  ein  , Schwanken"  Ks.  zu  schliessen. 


304  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  V. 

B  71.  [B  704.  H  44.  E  59.  60.] 

Die  streng  philologische  Methode  erfordert  hier  eine  Yersetzang  ohne  „Schwan- 
ken". Die  Besiehung  des  Passus  auf  die  synth.  Urth.  erkannte  nach  dem 
Vorgang  von  Monck  auch  schon  Mahaffy,  Comment.  16,  Nota. 

Die  Zweideutigkeit  des  Ausdrocks.  Vgl.  Mahaffy,  Comment.  16,  Nota: 
„Because  something  is  necessarily  joined  io  a  certain  eoncept,  we  have  no 
right  to  caU  the  assertion  of  this  fact  an  ancdytical  judgment,  tchieh  takes 
place  only  when  we  asaert  something  of  a  eoncept  tohich  we  reaUy  think  therein. 
The  amhiguity  of  expression  alluded  to  hy  K.  appears  to  he  this:  „We 
mustjoin  this  to  the  eoncept",  may  mean,  it  is  a  necessary  part  ofthe  eoncept, 
or  it  is  a  necessary  addition  or  assertion  <ü>out  the  eoncept**^ 

Zwar  nothwendig,  aber  nieht  im  Begriffe  selbst  gedacht.  K.  wiederholt 
mehrfach,  dass  das  fragliche  neue  Prädicat  zu  dem  Subjectsbegriffnoth wendig 
gehöre  bei  den  Urtheilen  a  priori,  bes.  bei  den  mathematischen.  Nur  bei  den 
empirischen  Urtheilen  gehören  beide  Begriffe  zu  einander  „nur  zufällig"  B12. 
Die  Verknüpfung  beider  Begriffe,  die  im  Urtheil  als  zu  einander  gehörig 
zusammengesprochen  werden,  ist  das  einemal  eine  zufällige,  das  anderemal 
eine  noth wendige.   Vgl.  die  Stellen  S.  260.  280.  292  über  das  synth.  Urtheil. 

IL  Natarwissensehaft 

Naturwissenschaft  enthält  synthetische  ürthelle  a  priori.  Es  herrscht 
hier  bei  K.  eine  bis  jetzt  noch  nicht  aufgedeckte  bedauerliche  Unklarheit, 
die  aus  der  Unsitte  Ks.  folgt,  fast  alle  Begriffe  in  mehreren  Bedeutungen 
zu  nehmen  und  überhaupt,  sich  häufig  zu  widersprechen.  Reine  Natur- 
wissenschaft hat  zwei  ganz  verschiedene  Bedeutungen,  die  aus  dem  §  15  der 
Proleg.  sich  ergeben.  „Wir  sind  im  Besitze  einer  reinen  Naturwissenschaft,  die 
a  priori  und  mit  aller  derjenigen  Noth  wendigkeit ,  welche  zu  apodiktischen 
Sätzen  erforderlich  ist,  Gesetze  vorträgt,  unter  denen  die  Natur  steht.  Ich 
darf  hier  nur  diejenige  Propädeutik  der  Naturlehre,  die  unter  dem  Titel 
der  allgemeinen  Naturwissenschaft  vor  aller  Physik  (die  auf  em- 
pirische Principien  gegründet  ist)  vorhergeht,  zum  Zeugen  rufen.  Darin  findet 
man  Mathematik,  angewandt  auf  Erscheinungen,  auch  bloss  discursive  Grund- 
sätze (aus  Begriffen),  welche  den  philos.  Theil  der  reinen  Naturerkenntniss 
ausmachen.  Allein  es  ist  doch  auch  manches  in  ihr,  was  nicht  ganz  rein 
und  von  Erfahrungsquellen  unabhängig  ist;  als  der  Begriff  der  Bewegung, 
der  Undurchdringlichkeit  (worauf  der  empirische  Begriff  der  Materie 
beruht),  der  Trägheit  u.  a.  m.,  welche  es  verhindern,  dass  sie  nicht  ganz 
reine  Naturwissenschaft  heissen  kann;  zudem  geht  sie  nur  auf  die  Gegen* 
stände  äusserer  Sinne,  also  gibt  sie  kein  Beispiel  von  einer  allgemeinen 
Naturwissenschaft  in  strenger  Bedeutung;  denn  die  muss  die  Natur  über- 
haupt, sie  mag  den  Gegenstand  äusserer  Sinne  oder  den  des  inneren  Sinnes 
(den  Gegenstand  der  Physik  sowohl  als  Psychologie)  betreffen,  unter  all- 
gemeine Gesetze  bringen.  Es  finden  sich  aber  unter  den  Grundsätzen  jener 
allgemeinen  Physik  etliche,  die  wirklich   die  Allgemeinheit  haben,  die  wir 


Doppelter  Sinn  von  „reiner  Naturwissenschaft".  305 

[R  704.  705.  H  44.  46.  K  60.]  B  17.  18. 

verlangen,  als  der  Satz:  Dass  die  Substanz  bleibt  und  beharrt,  dass 
alles,  was  geschieht,  jederzeit  durch  eine  Ursache  nach  beständigen  Gesetzen 
vorher  bestinunt  sei  u.  s.  w.  Diese  sind  wirklich  allgemeine  Naturgesetze, 
die  völlig  a  priori  bestehen.*  An  diesem  unzweideutigen  Unterschied 
hat  K.  jedoch  weder  in  der  Kritik,  noch  in  den  Proleg.  festgehalten  und 
dadurch  ohne  Noth  den  Zusammenhang  wesentlich  verdunkelt.  Denn  die 
Sätze,  welche  K.  hier  als  Beispiele  aus  der  reinen  Naturwissenschaft  anfuhrt, 
gehören  nur  der  relativen,  nicht  der  absoluten  an,  mit  welch  letzterer 
ganz  allein  E.  es  in  der  Kritik  zu  thun  hat.  Er  hätte  also  auch  hier  die- 
selben Sätze  anführen  sollen,  wie  in  den  Proleg.,  denn  die  hier  ange- 
führten Sätze  gehören  gar  nicht  in  die  Kritik  herein.  Dass  K. 
hier  gegen  seinen  eigenen  Unterschied  absoluter  und  relativer  reiner  Natur- 
wissenschaft fehlte,  war  die  Folge  seines  weiteren  Unterschiedes  zwischen 
immanenter  und  transscendenter  Metaphysik,  —  ein  Unterschied, 
dessen  Nichtfesthaltung  ebenfalls  zu  bedauerlichen  Unklarheiten  führt.-  K.  hat 
nämlich  offenbar  hier  an  dieser  Stelle  die  eigentlich  wichtigen  Sätze  über 
Substantialität ,  Causalität  u.  s.  w.  zur  Metaphysik  gerechnet  und  sie 
zu  der  folgenden  Nummer  gezählt.  Das  geht  erstens  daraus  hervor,  dass 
er  unten  sagt:  Die  metaphys.  Sätze  gehen  „wohl  gar  so  weit  hinaus,  dass 
die  Erfahrung  selbst  nicht  folgen  kann*,  denn  das  schliesst  ein,  dass  nicht 
alle  metaphys.  Sätze  transscendent  sein  sollen.  Es  geht  aber  zweitens 
ganz  deutlich  aus  der  Parallelstelle  in  den  Prol.  §  4  hervor.  Dort  heisst  es : 
,  Eigentlich  metaphysische  Urtheile  sind  insgesammt  synthetisch  ...  So  ist 
z.  B.  der  Satz:  Alles,  was  in  den  Dingen  Substanz  ist,  ist  beharrlich,  ein 
synthetischer  und  eigenthümlich  metaphysischer  Satz.*  An  derselben 
Stelle  wird  dann  ebensowenig  als  hier  zwischen  immanenter  und  transscen- 
denter Metaphysik  genügend  unterschieden,  wie  es  doch  K.  sonst  thut.  Eben- 
daselbst (in  §  4  und  §  5)  rechnet  er  offenbar  diesen  fraglichen  Satz  nicht 
zur  „reinen  Naturwissenschaft* ,  die  er  neben  der  reinen  Mathematik  als 
gegebene  synthetische  Erkenntniss  a  priori  anführt,  während  es  bei  der  Meta- 
physik (zu  der  er  eben  jenen  Satz  rechnete)  sich  noch  um  die  Möglichkeit 
solcher  Erkenntniss  handle ;  auch  heisst  es  von  der  reinen  Naturwissenschaft, 
dass  sie  wie  die  Mathematik  die  Gegenstände  in  der  Anschauung  dar- 
stelle und  dass  man,  wenn  in  ihnen  eine  Erkenntniss  a  priori  vorkomme, 
die  Wahrheit  oder  Uebereinstimmung  derselben  mit  dem  Objecte  in  con- 
creto zeigen  könne;  das  kann  aber  nur  von  der  reinen  Natur w.  im  rela- 
tiven Sinn  (welche  es  mit  Körpern  zu  thun  hat),  nicht  von  derjenigen  im 
absoluten  Sinn  gelten,  welche  sich  mit  den  allgemeinen  Erscheinungs- 
gesetzen beschäftigt.  Als  daher  K.  in  den  Proleg.  §  4  und  §  5  die  reine 
Naturwissenschaft  als  Beispiel  synthetischer  Erkenntniss  a  priori  auf- 
stellte, dachte  er,  wie  hier,  nur  an  die  relative.  Als  er  aber  an  §  15 
der  Prol.  kam,  Hess  er  diese  fallen  und  zog  aus  der  Metaphysik  (im 
weiteren  Sinn)  die  immanente  heraus  und  bezeichnete  sie  als  „reine  Natur- 
wiflsenschaffc'  im  strengen,  absoluten  Sinne,  und  stellte  nachher  (§  21)  die 

Tai  hing  er,  Xant-OoiimientAr.  20 


306  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  V. 

B  17.  18.  [R  704.  705.  H  44.  45.  K  60.] 

, Reine  physiologische  Tafel  allgemeiner  Grundsätze  der  Na- 
turwissenschaft** auf,  in  welcher  eben  die  Substantialitäts-  und  Causa- 
litätssätze  figuriren,  und  nennt  sie  (§  28)  das  Natursystem  oder  die  ,  all- 
gemeine und  reine  Naturwissenschaft**.  War  schon  dies  eine  höchst  verwirrende 
Ungenauigkeit,  so  ist  es  geradezu  unbegreiflich,  wie  K.  hier  in  der  11.  Aufl. 
jenen  Fehler  nochmals  machen  konnte ;  zumal  er  doch  durch  den  unmittelbar 
folgenden  Abschnitt  (VI)  auf  denselben  aui^erksam  hätte  werden  sollen; 
denn  daselbst  ist  Metaphysik  nur  als  transscendente  genommen  und  die 
immanente  sollte  demnach  mit  der  dort  genannten  reinen  Natur- 
wissenschaft zusammenfallen,  was  aber  doch  wieder  nicht  der  Fall  ist,  da 
er  in  der  betreff.  Anmerkung  die  reine  Naturwissenschaft  noch  im  Sinne  der 
physica  rationalis  auffasst,  d.  h.  im  Sinne  der  Wolf  sehen  Philosophie,  während 
bei  Kant  das,  was  Wolf  Ontologie  nennt,  zur  , reinen  Naturwissenschaft 
überhaupt"  geworden  ist.  Auch  in  dem  weiteren  Verlauf  der  Kr.  zeigt 
sich  dieses  Schwanken.  Wenn  in  6  128  „allgemeine  Naturw.**  uns  noch  im 
Zweifel  lassen  kann,  so  klärt  uns  A  171  (vgl.  158.  162)  vollständig  darüber 
auf,  dass  damit  die  physica  rat,  gemeint  ist.  Dag.  spricht  K.  A.  114.  125  von 
„den  synthet.  Sätzen  einer  allgemeinen  Naturein heit"  und  184.209  von 
den  „reinen  und  völlig  a  priori  bestehenden  Gesetzen  der  Natur*,  dort 
vom  Causalitäts- ,  hier  vom  Substantialitätssatz ,  also  =  imman.  Metaph. 
Vgl.  173.  216.  228.  Zu  329  „Naturbegriffe"  vgl.  Kr.  d.  ürth.  Einl.  IV, 
Transscendentale  Naturbegriffe,  welche  auf  die  Möglichkeit  einer  Natur  über- 
haupt gehen,  ib.  III  (Naturbegriffe  =  Verstandesbegriffe  a  priori)'.  Diese 
Verwirrung  wird  noch  gesteigert  durch  die  Eintheilung  der  Philosophie  in 
der  Methodenlehre,  dort  stellt  sich  (S.  840  ff.)  die  Sache  folgendennassen: 

Philosophie. 

Reine  Philosophie  (Erk.  aus  r.  V.)  Empirische  (angewandte)  Pliilosophie 

(ts  Metaphysik  im  weltesteo  Sinn)  —    n                       m 

— *^  I        — '       II  "^ —  Empirische                  EmpiriBche 

Propädeutik                    Metaphysik  Physiologie         Anthropologie 
(Kritik)                        (im  weiteren  Sinn) 

(System  d.  r.  V.) 

Metaphysik  der  Natur       Metaphysik  der  Sitten 
(Metaphysik  im  engeren  Sinn) 

Trans  SC  endental-  Physiologia  ratiofiälis 

Philosophie 

(Ontologie)  m  — ^« 

Transscendente  Physiologie  Immanente  Physiologie 

Kosmologie  Theologie  Phymea  rat.        Psyehologia  rat, 

(Metaphysik  im  engsten  Sinn) 


*  Kr.  d.  Urth.  Einl.  VI :    „Die  allgemeinen  Gesetze  des  Verstandes,  wdche  zu- 
gleich Gesetze  derNatur  sind,  sind  derselben  ebenso  noth  wendig,  obgleieh  %ub 


„Reine  Natarwissenschaft^  im  relativen  und  absoluten  Sinn.  307 

[B  704.  705.  H  44.  45.  E  60.]  B  17.  18. 

Was  entspricht  nun  in  dieser  Eintheilung  der  „reinen  Naturwissen- 
schaft^ sowohl  im  relativen,   als   im  absoluten  Sinn?     Der  ersteren 
entspricht  die  PAy st ca  rationalis  (obgleich  K.  sich  in  der  Anm.  über  die- 
selbe nochmals  mit  Proleg.  §  15  widerspricht).  Der  „reinen  Naturwissenschaft" 
im  absoluten  Sinn  entspricht  aber  hier  die  Transscendentalphilosophie 
oder  Ontologie,  von  der  er  sagt:  „Sie  betrachtet  nur  den  Verstand  und 
Vernunft  selbst  in  einem  System  aller  Begriffe  und  Grundsätze,  die  sich 
auf  Gegenstände  überhaupt  beziehen,  ohne  Objecte  anzunehmen,  die  gegeben 
wären.*     Dies  entspricht   der   Analytik  in  der    „Kritik   der  reinen  Ver- 
nunft.   Die  Fhysica  rationalis  dagegen  entspricht  den  Metaphysischen  Anfangs- 
gründen der  Naturwissenschaft,  wie  aus  deren  Vorrede  deutlich  hervorgeht. 
(Vgl.  Schmid,  Grit.  S.  8.)    Dort  heisst  es  von  der  Metaphysik  der  Natur: 
,,Sie  kann  entweder  ohne  Beziehung  auf  irgend  ein  bestimmtes  Erfahrungs- 
object,  mithin  unbestimmt  in  Ansehung  dieses  oder  jenes  Dinges  der  Sinnen- 
welt,  von   den   Gesetzen,   die   den  Begriff  einer   Natur  überhaupt  möglich 
machen,  handeln,   und  alsdann  ist  es  der  transscendentale  Theil    der 
Metaphysik  der  Natur ;  oder  sie  beschäftigt  sich  mit  einer  besonderen  Natur 
dieser  oder  jener  Art  Dinge  . . .  und  da  muss  eine  solche  Wissenschaft  noch  immer 
eine  Metaphysik  der  Natur,  nämlich  der  körperlichen  oder  denkenden 
Natur  heissen,  aber  ist  alsdann  keine  allgemeine,  sondern  besondere  meta- 
physische Naturwissenschaft  (Physik  und  Psychologie),   in   der  jene  trans- 
scendentalen  Principien  auf  die  zwei  Gattungen  der  Gegenstände  unserer 
Sinne  angewandt  werden.*^     Jene   allgemeine  Metaphysik   der  Natur   nennt 
er  dann  auch  „reine  Philosophie  der  Natur  überhaupt".    Ist  auch 
das  Nähere  hierüber  erst  zu  der  Eintheilung  in   der  Methodenlehre  beizu- 
bringen, so  geht  doch  aus  dem  Mitgetheilten  mit  völliger  Sicherheit  hervor, 
dass  K.  am  Eingang  der  Kritik  und  Prolegomena  seine  eigene, 
klare  Eintheilung  durch  die  schwankende  Terminologie  verwirrt 
und  den   sachlichen-  Zusammenhang  seiner  eigenen   Exposition 
gründlich  verdorben  hat.   Dieser  ganze  2.  Absatz  über  die  Naturwissen- 
schaft gehört  von  Kants  eigenem  Standpunkt  aus  schlechterdings 
nicht  hierher  und  der  Leser  thut  gut,  denselben  nicht  zu  beachten,  dagegen 
an  Stelle  desselben  sich  folgende  Gedanken  zu  merken :  „BeineNaturwissen- 
schaft    als    allgemeine   reine    transscendentale   Physiologie    der 


Spontaneität  entsprungen^  als  die  Bewegungsgesetze  der  Materie;'*  jene  „kommen 
der  Natur  als  Object  unserer  Erkenntniss  überhaupt  nothwendig  zu.^  Ib.  Einl. 
V:  „Die  allgemeinen  Gesetze,  ohne  welche  Natur  überhaupt  als  Gegenstand  der 
Sinne  nicht  gedacht  werden  kann;  diese  beruhen  auf  den  Kategorien**  u.  s.  w. 
ib.  „aUgemeine  Gesetze  der  Natur,  in  deren  Besitz  der  Verstand  a  priori  ist.^ 
ib.  II:  „Die  Gesetzgebung  durch  Natur  begriffe  geschieht  durch  den  Verstand.^ 
Den  Unterschied  der  allgemeinen  Naturgesetze  und  der  speciellen,  wenn  auch 
apriorischen,  bezeichnet  Kant  Kr.  d.  Urth.  Einl.  V  auch  alstransscendental  und 
metaphysisch.  Die  ersteren  sind  transscendentale  Principien  und  gehören 
in  die  Tranes c.  Phil.;  die  anderen  in  die  Metaphys.  Anfangsgr.  d.  Naturw. 


308  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  V. 

B  17.  18.  [R  704.  705.  H  44.  45.  K  60.] 

Natur  überhaupt  enthält  synthetische  Urtheile  a  priori.  Als 
Beispiele  dienen  die  Sätze  über  die  Beharrlichkeit  der  Sub- 
stanz und  die  Verursachung  alles  Geschehens.  Diese  Sätze  sind 
nothwendig,  also  a  priori,  und  sie  sind  synthetisch,  denn  im  Be- 
griffe der  Substanz  liegt  noch  nicht  die  Beharrlichkeit-  und  im  Begriffe 
des  Geschehens  noch  nicht  die  Verursachung.  Es  sind  also  synthetische 
Sätze  a  priori."  Erst  nach  dieser  Correctur  entsprechen  auch  die  drei 
Urtheilsgattungen  hier  und  die  drei  Fragen  im  folgenden  Abschnitte  den 
drei  Theilen  der  Kritik:  Aesthetik,  Analytik  und  Dialektik.  Will  man  diese 
Veränderung  nicht,  so  hat  man  in  Gedanken  entweder  einen  neuen  Absatz 
zwischen  diesen  und  den  folgenden  einzuschieben,  der  im  Sinne  der  Prol. 
§  4  die  immanente  Metaph.  behandelt ;  oder  man  hat  den  folgenden  Absatz 
in  zwei  Theile  zu  trennen,  deren  einer  die  immanente,  deren  zweiter  die 
transscendente  Metaph.  betrifft  ^  Ganz  im  Einklang  mit  dieser  Auffassung 
und  mit  der  Darstellung  der  Proleg.  befindet  sich  eine  bemerkenswerthe 
Stelle  der  Ports  ehr.  K.  169,  ß.  I,  566.  Dort  heisst  es  von  der  Metaphysik: 
„Weil  die  Fortschritte,  welche  die  letztere  gethan  zu  haben  vorgibt,  noch 
bezweifelt  werden  könnten,  ob  sie  nämlich  reell  seien  oder  nicht,  so  steht 
die  reine  Mathematik  als  ein  Koloss  zum  Beweise  der  Realität  durch  alleinige 
reine  Vernunft  erweiterter  Erkenntniss  da,  trotzt  den  Angriffen  des  kühnsten 
Zweiflers,  und  ob  sie  gleich  zur  Bewährung  der  Rechtmässigkeit  ihrer  Aus- 
sprüche ganz  und  gar  keiner  Kritik  des  reinen  Vemunffcvermögens  selbst 
bedarf,  sondern  sich  durch  ihr  eigenes  Factum  rechtfertigt,  so  gibt  es  doch 
an  ihr  ein  sicheres  Beispiel,  um  wenigstens  die  Realität  der  für  die  Metaphysik 
höchst  nöthigen  Aufgabe:  wie  sind  synth.  Sätze  a  priori  möglich?  darzuthun.* 
Hier  geht  K.  somit  direct  von  der  Mathematik  zur  Metaphysik  über  ohne 
Vermittlung,  so  dass  unter  Metaphysik  immanente  und  transscendente  zu- 
gleich zu  verstehen  ist.  Die  physica  naturalis  wird  an  jener  Stelle  gar  nicht 
erwähnt.  Die  immanente  Metaphysik,  in  welcher  wirklich  reelle  Fortschritte 
sind,  fällt  aber  zusammen  mit  der  reinen  Naturwissenschaft '.  Es  mag  hier 
noch  erwähnt  werden,  dass  die  im  Brief  an  Herz,  21.  Febr.  1772,  neben 
der   Metaphysik    genannte    „Phänomenologie*     offenbar    mit    der    reinen 


*  In  beiden  Fällen  aber  bleibt  doch  die  Inconvenienz,  dass  die  relative  reine 
Naturwissenschaft  überhaupt  hereingebracht  ist  Es  bleibt  somit  das  Beste^  den 
Abschnitt  einfach  in  obiger  Weise  zu  ändern.  Die  beiden  Unterscheidungen  der 
immanenten  Metaphysik  =  reinen  Naturwissenschaft  1)  nach  unten  hin 
von  der  r.  Naturwissenschaft  im  relativen  Sinn^  2)  nach  oben  hin  von  der 
transscendenten  Metaphysik  sind  gleich  wichtig.  Kant  hat  beide  oft 
vernachlässigt. 

*  Wenn  so  „reine  Naturwissenschaft**  und  Metaphysik  der  Erscheinungen, 
immanente  Metaphysik  zusammenfallen,  im  Unterschied  von  der  Metaphysik  des 
Uebersinnlichen,  dann  sagt  Fischer  294  richtig:  „Es  ist  möglich,  dass  die  Unter- 
suchung zu  einem  Ergebniss  führt,  worin  die  erste  bejaht  und  die  andere  verneint 
wird.    Dann  muss  man  nicht  sagen,   dass  K.  die  Metaphysik  als  solche  verneint 


Nothwendige  ,Textcorrectur.  "     309 

[R  704.  705.  H  44.  45.  K  60.]  B  17.  18. 

Naturw.  im  absoluten  Sinn  zusammenfällt,  nicht  wie  Paulsen  149  meint,  mit 
der  , mathematischen  Physik".  Denn  K.  sagt  ausdrücklich:  Phänom.  über- 
haupt. Portschr.  K.  160,  R.  I,  557  nennt  K.  die  reine  Naturw.  =  imm. 
Met.  geradezu  Physik,  und  versteht  darunter,  „in  ihrer  allgemeinsten  Be- 
deutung genommen,  die  Wissenschaft  der  Vernunfterkenntniss 
aller  Gegenstände  möglicher  Erfahrung.*  Diese  ist  offenbar  etwas 
anderes,  als  die  daselbst  K.  128,  R.  I,  521  erwähnte  „rationale  Natur- 
lehre *,  welche  mit  der  speciellen  Naturphilosophie  zusammenfällt,  deren 
einen  Theil  die  metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw.  behandeln,  und  als  die  da- 
selbst (K.  136,  R.  I,  536)  erwähnte  „Metaphysik  der  Natur",  welche 
der  Erklärung  an  jener  Stelle  nach,  in  Uebereinstimmung  mit  der  obigen 
Tabelle  aus  der  Methodologie,  der  Metaphysik  der  Sitten  parallel,  viel  mehr 
iimfasst.  Andere  Abscheidung  (Physik,  Metaphysik)  siehe  Kr.  d.  Ürth.  §  68. 
Bei  den  meisten  Commentatoren  (so  bei  Meli  in  I,  386  ff.,  bei  Erdmann, 
Entw.  m,  1,  50  ff.,  [dag.  Grundriss  §  298,  2]  Schaller,  Ks.  Naturphil. 
56.  82,  Apelt,  Metaph.  60)  herrscht  dieselbe  Unklarheit.  Jakob,  Log. 
und  Met.  §  668.  688  und  Hume  710  hat  die  richtige  Auffassung.  Ebenso 
Buhle,  Entw.  §  19.  §  84.  §  254  ff.  u.  Jenisch,  Entd.  48.  Fischer  290, 
292—295,  350  ersetzt  Ks.  Beispiele  rich.tig  durch  das  der  Causa- 
lität.  Paulsen  78.  148  corrigirt  stillschweigend,  ebenso  Windelband, 
Gesch.  d.  Phil.  11,  55.  Schön,  Phü.  de  K.  70  lässt  die  Naturwissenschaft 
ganz  hinweg  ^  Auch  der  scharfsinnige  Maimon  merkte  die  Verwirrung  schon. 
In  einem  Aufsatze  im  „Journal  für  Aufklärung"  IX,  1.  3  (theilw.  reprodu- 
cirt  in  dem  Anhang  zu  Bartholdy's  üebers.  v.  Bacon's  Org.  S.  316  ff.)  unter- 
scheidet er  folgende  Fragen  der  Einleitung: 

1)  Wie  ist  reine  Mathematik  möglich? 

2)  Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich? 

3)  Wie  ist  Naturwissenschaft  a  priori  möglich? 

4)  Wie  ist  Metaphysik  möglich? 

Maimon  unterscheidet  dann  in  seiner  gewohnten  üngenauigkeit  wieder  nicht 
genau  genug  zwischen  2)  =  Analytik,  3)  =  Metaphys.  An  f.  d.  Naturw.;  er 
merkte  aber  wenigstens  die  vorhandene  Inconvenienz.  Schultz  in  seiner 
Prüf.  I,  236  geht  einfach  von  der  Physik  zur  immanenten  Metaph.  über  und 
ergänzt  so  den  Kant'schen  Text  stillschweigend.     In  den  Proleg.  §  2  u.  4, 


habe^  vielmehr  hat  er  sie  begründet  in  ihren  wohlgemessenen  Grenzen.  Was  er 
Temeint  hat,  ist  die  Metaphysik  in  ihrem  engsten  Verstände,  den  freilich  viele 
für  den  weitesten  halten." 

»  Dasselbe  ist  der  Fall  bei  Fries,  Gesch.  d.  Phil.  II,  508,  vgl.  519.  Wolff, 
Spec.  u.  Phil.  I,  110  verfahrt  wie  Fischer.  Ebenso  Pörschke,  Briefe  über  die 
Metaphysik  d.  Natur  74  f.  Unklar  bei  Adamson,  Ks.  Philos.  61.  101.  Offen- 
bare Vermischung  beider  Arten  bei  Riehl,  Kritic.  I,  332.  Die  meisten  Dar- 
stellungen (so  z.  B.  Biedermann,  Deutsche  Phil.  I,  71,  Cousin,  Phil.deK.hQ 
„la  mScßnique  et  la  haute  physique^^  reproduciren  Ks.  Darstellung  ohne  Weiteres. 


310  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  V. 

B  17.  18.  [R  704.  705.  H  44.  45.  K  60.] 

aus  denen  dieser  ganze  Abschnitt  grossentheils  genommen  ist,  fehlt  ein  be- 
sonderer Absatz,  welcher  die  synth.  Urth.  a  priori  der  Naturwissenschaft 
aufzählt.  Da  nun  dieselbe  aber  doch  in  §  4  fin.  und  §  5  fin.  erwähnt  und 
als  wirklich  vorausgesetzt  ist,  da  die  ganze  üeberschrift  des  2.  Theils  der 
Proleg.:  Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich?  sonst  unmotivirt  ist,  da 
sonst  auch  die  Ausführungen  von  §  5  unverständlich  sind,  so  muss  dieser 
im  Manuscript  vorhandene  Absatz  der  Proleg.  ausgefallen  sein.  Vgl.  über 
diesen  Blattausfall  meine  Abhandlung  über  eine  Blattversetzung  in  Kants 
Prol.  Phil.  Monatsh.  XV,  326  Anm.  u.  329.  Anm.  Warum  K.  ursprünglich 
an  die  matbem.  Physik  gedacht  hat,  erhellt  aus  der  historischen  Thatsache, 
dass  dieselbe  seit  Cartesius  bei  Spinoza  und  Leibniz  stets  als  Stütze  und  Bei- 
spiel demonstrativ-apriorischer  Erkenntniss  angeführt  wird.  „Sie  war  stets 
die  wirksamste  Stütze  und  eigentlich  die  erzeugende  Ursache  des  Rationalismus,* 
Paulsen,  Entw.  10.  Es  sei  nicht  zufällig,  sagt  derselbe,  dass  die  Entwick- 
lung des  Rationalismus  mit  der  Entstehung  dieser  Wissenschaft  gleichzeitig 
sei.  Die  Erkenntnisstheorie  des  Descartes  ist  der  abstracte  Ausdruck  der 
Methode  seiner  Physik.  Man  glaubte,  durch  blosse  Begriffsentwicklung 
eine  Wissenschaft  zu  erhalten,  mit  der  man  die  Dinge  theoretisch  und  prak- 
tisch beherrschte.  So  wurde  sie  das  Ideal  und  man  glaubte,  wahres  Wissen 
des  Wirklichen  sei  rein  verstandesmässige  Entwicklung  aus  Principien  *.  — 
In  der  Vorr.  B  IX  ff.  wird  mathematische  und  empirische  Physik  ver- 
wechselt, die  Verwirrung  ist  also  dort  noch  grösser.  Hierüber  s.  zum  a.  0. 
Vgl.  auch  Windelband,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  250. 

Dass  sie  synthetische  Sätze  sind.  In  Bezug  auf  den  zweiten  Satz  führt 
das  K.  nicht  aus.  Dagegen  Bendavid,  Vorl.  7:  „In  dem  Begriffe  Bewegung 
liegt  bloss  der  Begriff  einer  Wirkung  und  in  dem  Begriffe  der  Mittheilung 
höchstens  der  der  Gegenwirkung;  die  Gleichheit  beyder  liegt  nicht  darin.* 
Ein  derartiges  Gesetz  ist  auch  das  der  Trägheit.  Vgl.  Genaueres  bei 
Apelt,  Met.  60.  Vgl.  zu  der  ganzen  Stelle  Riehl,  Krit.  I,  331  f.  Seh  er  er, 
Kritik  Kants  S.  16  ff.  Es  ist  zu  bemerken,  dass  diese  Sätze  nicht  rein, 
sondern  gemischt  a  priori  sind '.  Vgl.  Vorr.  B.  IX  ,zum  Theil  rein*.  Denn 
Veränderung,  Materie,  Bewegung  u.  s.  w.  sind  keine  Begriffe  a  priori  für 
K.  Alle  Sätze  der  Metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw.  gehören  hieher.  Diese 
beiden  finden  sich  in  denselben  in  der  Mechanik  als  Lehrsatz  2  u.  4,  unter 
dem  Namen:  Erstes  und  drittes  mechanisches  Gesetz.  Die  Beweise  für 
die   Sätze   sind    daselbst    ausgeführt.     Gegen    die  beiden    Urtheile   aus   der 


^  Allerdings  muss  dann  auch  von  einem  „naturwissenschaftlichen  Vonirtheile 
Kants",  vgl.  Riehl,  Kritic.  1,381,  gesprochen  werden,  dessen  historische  Wurzeln 
speciell  aufgedeckt  werden  müssten  \  K.  dachte  wahrscheinlich  hauptsächlich  hiebe! 
an  die  Einleitung  der  Newton*schen  „Principien". 

^  K.  bemerkt  dies  selbst  in  der  oben  mitgetheilten  Stelle  aus  den  Proleg. 
S  15.  Schon  daraus  allein  geht  hervor,  dass  diese  Sätze  gar  nicht  hierher  gehören^ 
da  CS  die  Kritik  nur  mit  den  reinen  zu  thun  hat.     (Vgl.  oben  S.  195  f.  211  f.) 


Kante  „natarwissenschafÜichesVorartheiP'.  Doppelsinn  v.  „Metaphysik".     311 

[B  705.  H  45.  K  60.]  B  18. 

reinen  Naturw.  wendet  sich  Herder,  Met.  I,  59,  indem  er  die  Sätze  für 
identische  hält.  Vgl.  dagegen  Kiesewetter,  Prüf.  I,  47  ff.  u.  Matthiä,  Hugo 
10  ff.,  ebenso  Bardili,  Erste  Logik  259.  —  üeber  den  hierauf  bezüg- 
lichen Streit  zwischen  Wh e well  und  Hansel  s.  Mahaffy,  Comment.  17. 
Nota,  üeberweg,  Gesch.  der  Phil.  III,  207:  ,Die  Gesch.  der  Naturw. 
zeigt  aber,  dass  sich  diese  allgemeinen  Sätze,  wozu  das  Gesetz  der  Erh.  d. 
Kraft  u.  A.  sich  hinzufügen  lassen,  als  späte  Abstractionen  aus  wissen- 
schaftlich durchgearbeiteten  Erfahrungen  ergeben  haben  und  keineswegs  a 
priori  vor  aller  Erfahrung  oder  doch  unabhängig  von  aller  Erfahrung  als 
wissenschaftliche  Sätze  feststanden.*  Nur  insofern  sich  dieselben  aus  allge- 
meinen (aber  auch  empirischen)  Sätzen  ableiten  lassen,  wären  sie  a  priori, 
aber  nur  im  Aristotelischen  Sinn  des  Ausdrucks.  Apelt  (E.  Reinh.  u.  die 
K.'sche  Phil.  5)  macht  den  originellen  Vorschlag,  man  könne  als  Basis  der 
Kantischen  Untersuchung  —  den  Kalender  annehmen;  denn  dieser  beruhe 
auf  astronom.  Rechnungen,  und  diese  auf  metapb.  Grundsätzen  der  reinen 
Naturwissenschaft.  —  Desduits,  Phil,  de  K.  288  f.  bestreitet  die  Apriorität, 
Biedermann,  Deutsche  Philos.  I,  74  die  synth.  Natur  dieser  ürtheile. 
Dag.  Riehl,  Kritic.  I,  332  1.  Vgl.  bes.  noch  Steininger,  Ex,  crit,  de  la 
Pkü.  Aüetn.  {THves  1841),  der  Kant  (mit  Berufung  auf  Newton,  Leibniz, 
Laplace,  Poisson)  empiristisch  bekämpft;    s.  auch  Laurie  a.  a.  0.  230. 

IIL   Metaphysik. 

In  der  Metaphysik.  Abgesehen  von  der  305  besprochenen  Wendung, 
welche  auch  die  immanente  Metaphysik  einschlicsst  („wohl  gar  so  weit  hinaus- 
gehen"), ist  hier  die  transscendente  Metaphysik  gemeint,  deren  Ge- 
genstand nach  S.  B.  7  Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit  sind,  Objecte, 
welche  über  alle  Erfahrung  hinausliegen.  Der  Leser  hat  also  nur  diese 
hier  im  Auge  zu  behalten,  um  den  strengen  und  sachgemässen  Zu- 
sammenhang zu  haben,  wie  er  im  wahren  Sinne  Kants  selbst  gewesen  ist. 
Vorhin  handelte  es  sich  um  die  Vers  tan  desgrundsätze,  welche  die  allge- 
meine Natur  betreffen,  jetzt  um  die  Vernunft  Sätze,  welche  die  Erfahrung 
überschreiten.  764:  „Wir  glauben  auch  a  priori  aus  unserem  Begriffe  hinaus- 
gehen und  unsere  Erkenntniss  erweitern  zu  können.  Dieses  versuchen  wir 
entweder  durch  den  reinen  Verstand  in  Ansehung  desjenigen,  was  we- 
nigstens ein  Object  der  Erfahrung  sein  kann,  oder  sogar  durch  reineVer- 
nnnft  in  Ansehung  solcher  Eigenschaften  der  Dinge  oder  auch  wohl 
des  Daseins  solcher  Dinge,  die  in  der  Erfahrung  niemals  vorkommen  können.** 
Der  reine  Verstand  bezieht  sich  somit  auf  die  sog.  allgemeine  reine 
Naturwissenschaft  (Metaphysik  im  immanenten  Sinn),  die  reine 
Vernunft  auf  die  eigentlich  transscendente  Metaphysik.  Nur  um 
letztere  handelt  es  sich  in  diesem  Absatz  oder  sollte  es  sich  wenigstens 
handeln,  üeber  die  verschiedenen  Bedeutungen  des  Terminus  „Metaphysik" 
3.  die  Bemerkungen   zu  Methodenlehre  840  f.     Vgl.  vorläufig  bes.  Vorr.  B 


312  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  V. 

B  18.  [B  706.  H  46.  E  60.] 

XVIII  ff.  über  die  zwei  Theile  der  Met.  Durch  diesen  Doppelsinn  des  Wortes 
„Metaphysik''  entstanden  bei  den  Zeitgenossen  grosse  Verwirrungen,  so  bes. 
bei  Eberhard,  Phil.  Mag.  I,  307  ff,  II,  273  ff.  Für  Eb.  ist  Met.  Erkennt- 
niss  des  Uebersinnlichen.  Da  nun  K.  diese  leugnet,  speciell,  dass  es  vom 
üebersinnlichen  synthetische  Erk.  a  priori  gebe,  so  geräth  Eb.  in  den  Irr- 
thum,  K.  leugne  alle  synth.  Erkenntniss  in  der  Metaph.,  die  er  II,  341  mit 
Philos.  schlechthin  identificirt.  Natürlich  entstanden  dadurch  zwischen 
Freunden  und  Gegnern  Kants  immer  mehr  Missverständnisse.  Vgl.  A.  L.  Z. 
1790,  S.  579.  Durch  dieses  Schwanken  im  Gebrauch  des  Ausdruckes  .Met.*' 
wurde  auch  Göring,  System  II,  145.  164  zu  theilweise  irrthümlichen  An- 
gaben verleitet '.  Dass  die  Metaph.  nicht  aus  synth.  ürth.  a  priori,  sondern 
aus  analyt.  „Theoremen**  im  Sinne  der  Wolf  sehen  Logik  bestehe,  fuhren  die 
Krit.  Briefe  S.  46  f.  aus. 

Nicht  erläatera^  sondern  erweitern«  Dies  hebt  K.  oft  hervor,  dass  in 
der  Metaphysik  es  sich  nicht  um  analytische,  sondern  um  synthetische  Er- 
kenntniss handle,  und  zwar  in  doppelter  Beziehung:  1)  Die  bisherige  Meta- 
physik war  ihrer  Tendenz  nach  analytisch;  sie  wollte  durch  Zerglie- 
derung zur  Erkenntniss  gelangen,  und  hielt  ihre  Sätze  für  analytische. 
Dieselben  waren  aber  grossentheils  facti  seh  synthetische.  Dies  ist  die 
historische  Seite  der  Sache.  2)  Die  systematische  Seite  der  Sache  ist, 
dass  die  analytische  Zergliederung  der  Begriffe  eine  zwar  nützliche,  aber 
nur  nebensächliche  Beschäftigung  ist,  dass  die  eigentliche  Aufgabe  der  Meta- 
physik Erweiterung  der  Erkenntniss  ist,  welche  nui*  durch  synthetische 
XJrtheilsbildung  erreicht  werden  kann.  Ad.  1)  vergl.  man  die  Bemer- 
kung Kants,  S.  6,  dass  „die  Vernunft  unter  der  Vorspiegelung  analytischer 
Zergliederung  synthetische  Erkenntniss  erschleiche  ^  ohne  es  selbst  zu 
merken."  Vgl.  Liebmann,  Analys.  210:  „Die  Wolfische,  Spinozische,  Car- 
tesianische  Metaphysik  bestand,  ebenso  wie  die  Scholastik  des  Mittelalters 
in  allen  ihren  Lehrsätzen  über  Gott,  Seele  und  Welt  aus  a  priori  dedu- 
cirten  Sätzen,  die  von  ihr  für  analytisch  gehalten  wurden,  weil  sie  die  reale 
Existenz,  im  Sinne  des  ontologischen  Beweises,  für  ein  logisches  Merkmal 
des  Begriffes  hielt,  die  aber  vielmehr  synthetisch  waren,  weil  eben  die  reale 
Existenz  etwas  schlechthin  Ausserlogisches,  vom  Begriff  durchaus  Unab- 
hängiges, im  Schmelztiegel  logischer  Analyse  Unauflösliches  ist.'^   Liebmann 


*  Ebenso  Cousin,  Phü.  de  K,  hl.  Vgl.  Phil.  Mon.  XIV,  2.  üeber  den 
Streit  zwischen  Wyttenbach  und  van  Hemert  hierüber  vgl.  v.  PrantL,  Verh. 
d.  Münch.  Acad.  1877,  273  f.  Vgl.  bes.  noch  die  lichtvolle  Erörterung  von  Schad, 
Harmonie  des  Fichte'schen  Systems  S.  8  ff.,  der  die  abweichenden  Behauptungen 
dem  Kantianer  Fichte  (Met.  sei  möglich)  und  Jakob  (Met.  sei  unmöglich)  durch 
eine  „Verwirrung  im  Begriffe"  erklärt.  Vgl.  Bouterweck,  Abriss  d.  Vorles.  VII ; 
Anfangsgr.  der  specul.  Philos.  158.  Laas,  Ks.  Analogien  205  f.  Vgl.  oben  S.  83. 
111.  118.  230.  232  f.     Vgl.  ferner  unten  zu  Abschn.  VI  der  Einl. 

»  Vgl.  oben  S.  250  ff.  270  ff.  und  bes.  Krit.  598  über  diese  „Illusion,  in  Ver- 
wechslung eines  logischen  Prädicates  mit  einem  realen." 


Synthetische  Sätze  a  priori  in  der  Metaphysik.  313 

[R  706.  H  46.  E  60.]  B  18. 

berücksichtigt  hier  nur  solche  Sätze,  welche  das  Dasein  betreffen,  und  über- 
geht diejenigen,  welche  Eigenschaften  der  Dinge  betreffen  (z.  B.  Unsterb- 
lichkeit, Freiheit  der  Seele,  Endlichkeit  der  Welt).  Derselbe  sagt  ferner: 
,Wenn  nicht  das  einzige,  so  doch  das  Hauptmotiv  für  die  scharfe  und  nach- 
drückliche Auseinanderhaltung  des  analyt.  und  des  synth.  Urth.  war  eben 
bei  E.  die  acht  philosophische  Indignation  über  den  ontologischen  ünfag  in 
der  bisherigen  Metaphysik.  Die  Existenz  ist  kein  logisches  Merkmal;  Exi- 
stentialsätze  sind  nicht  (wie  man  bisher  geglaubt  hat)  analytisch,  sondern 
synth.;  aus  der  essentia  lässt  sich  die  existentia  nicht  analytisch  er- 
schliessen.**  Wie  bemerkt  bezieht  sich  das  aber  nur  auf  den  ontologischen 
Gottesbeweis  (Beweis  der  Existenz  Gottes,  also  eines  neuen  Merkmals,  aus 
dem  Begriffe  desselben).  Ad.  2)  vgl.  ausser  der  Stelle  in  Abschn.  VI  (B.  23) 
noch  Proleg.  §  4,  wo  E.  jedoch  nur  zunächst  von  der  immanenten  Metaphysik 
redet:  ^Man  muss  zur  Metaphysik  gehörige  Urtheile  von  eigentlich 
metaphysischen  Urtheilen  unterscheiden.  Unter  jenen  sind  sehr  viele 
analytisch,  aber  sie  machen  nur  die  Mittel  zu  metaphysischen  Urtheilen 
aus,  auf  die  der  Zweck  der  Wissenschaft  ganz  und  gar  gerichtet  ist 
und  die  allemal  synthetisch  sind.  Denn  wenn  Begriffe  zur  Metaphysik 
gehören,  z.  B.  der  von  Substanz,  so  gehören  die  Urtheile,  die  aus  der  blossen 
Zergliederung  derselben  entspringen,  auch  nothwendig  zur  Metaphysik,  z.  B. 
Substanz  ist  dasjenige,  was  nur  als  Subject  existirt  etc.,  und  vermittelst 
mehrerer  dergleichen  analytischen  Urtheile  suchen  wir  der  Definition  der 
Begriffe  nahe  zu  kommen.  Da  aber  die  Analysis  eines  reinen  Verstandesbe- 
griffs (dergleichen  die  Metaphysik  enthält)  nicht  auf  andere  Art  vor  sich 
geht,  als  die  Zergliederung  jedes  anderen  auch  empirischen  Begriffs,  der 
nicht  in  die  Metaphysik  gehört  (z.  B.  Luft  ist  eine  elastische  Flüssigkeit, 
deren  Elasticität  durch  keinen  bekannten  Grad  der  Eälte  aufgehoben  wird), 
so  ist  zwar  der  Begriff,  aber  nicht  das  analytische  Urtheil  eigenthümlich 
metaphysisch ;  denn  diese  Wissenschaft  hat  etwas  Besonderes  und  ihr  Eigen- 
thümliches  in  der  Erzeugung  ihrer  Erkenntnisse  a  priori ;  die  also  von  dem, 
was  sie  mit  allen  anderen  Verstandeserkenntnissen  gemein  hat,  muss  unter- 
schieden werden;  so  ist  z.  B.  der  Satz:  alles,  was  in  den  Dingen  Substanz 
ist,  ist  beharrlich,  ein  synthetischer  und  eigenthümlich  metaphysischer  Satz. 
Metaphysik  hat  es  eigentlich  mit  synth.  Sätzen  a  priori  zu  thun ,  und  diese 
allein  machen  ihren  Zweck  aus,  zu  welchem  sie  zwar  allerdings  mancher 
Zergliederungen  ihrer  Begriffe,  mithin  analyt.  Urth.  bedarf,  wobei  aber  das 
Verfahren  nicht  anders  ist,  als  in  jeder  anderen  Erkenntnissart,  wo  man 
seine  Begriffe  durch  Zergliederung  bloss  deutlich  zu  machen  sucht.  Allein 
die  Erzeugung  der  Erkenntniss  a  priori  sowohl  der  Anschauung  [Raum 
uad  Zeit],  als  Begriffen  nach  [Eategorien] ,  endlich  auch  synthetischer 
Sätze  a  priori  und  zwar  im  philosophischen  Erkenntnisse  [nicht  etwa  im 
mathematischen]  machen  den  wesentlichen  Inhalt  der  Metaph.  aus."  Ebenso 
Fortschr.  E.  168.  R.  I,  566,  wo  übrigens  die  analytische  Erläuterung  der 
Begriffe  ^ein  sehr  noth  wendiges  Geschäft,  um  sich  zuerst  selbst  wohl  zu  ver- 


314  CJommentar  zur  Einleitung  B,  AbBchn.  V,  VI. 

B  18.  19.  [R  705.  H  46.  E  60.] 

stehen/  genannt  wird.  Vgl.  Proleg.  K.  133,  Or.  194:  „Jene  Zergliede- 
rungen der  Begriffe  sind  nur  Materialien,  daraus  allererst  Wissenschaft 
gezimmert  werden  soll." 

So  weit  hlnansf^ehen.  Erdmanns  Einschiebung  ,über  ihn^  ist  nicht 
begründet,  ja  verderbt  den  Sinn.  Zahllose  Parallelstellen  der  Dialektik  z.  B. 
639  beweisen  dies.  Der  folgende  Satz  erläutert  ja  dies  „so  weit",  nämlich 
über  die  Erfahrung  hinaus,  nicht  über  den  Begriff  hinaus. 

Die  Welt  mnss  einen  Anfangr  haben.  Vgl.  S.  296  u.  426.  Derartige 
weitere  Sätze  sind :  Die  Welt  ist  dem  Räume  nach  in  Grenzen  eingeschlossen. 
Es  gibt  letzte  einfache  Theile.  (Atome,  Monaden.)  Es  gibt  Freiheit.  Es  gibt 
ein  noth wendiges  Wesen.     Die  Seele  ist  unsterblich  u.  s.  w. 

Ans  lanter  synthetischen  Sätien  a  priori«  Es  ist  zu  bemerken,  dass  K. 
hier  gar  nicht  an  die  empiristische  Metaphysik  im  Sinne  Locke's  und 
auch  der  Popularphilosophie  denkt.  Ihre  Sätze  sind  auch  synthetisch, 
aber  wollen  nicht  a  priori  sein,  sondern  Hypothesen  auf  Grund  der  em- 
pirischen Beschaffenheit  der  Welt,  also  z.  B.  der  Schluss  auf  die  Existenz 
Gottes  aus  der  teleologischen  Einrichtung  der  Welt  oder  der  Schluss  auf 
die  Unsterblichkeit  der  Seele  auf  Grund  der  Analogie  mit  dem  Samen- 
korn u.  s.  f.  Derartige  Versuche  verachtet  jedoch  K.  grundsätzlich;  und 
blosse  Meinungen  und  Hypothesen  verdienen  nach  ihm  den  Namen  der 
Metaphysik  gar  nicht,  der  nur  streng  apriorischer  und  „dogmatisch*  auftre- 
tender Erkenntniss  zukommt.  Dieselbe  Erinnerung  findet  sich  schon  bei 
Herder,  Metakr.  Viele  Missverständnisse  entstanden  und  entstehen  durch 
den  K. 'sehen  Sprachgebrauch  von  Metaph.,  wonach  nur  apodiktische 
Wissenschaft  darunter  zu  verstehen  ist.  Vgl.  hierüber  Jakob,  Log.  u.  Met. 
§  454  und  Feder  u.  Meiners,  Phil.  Bibl.  II,  190.    Vgl.  oben  S.  50.  101.  132  f. 


Erklärung  von  B  VI,  S.  19-24 

Nothwendigkeit  einer  Theorie  der  synthetischen 

Erkenntniss  a  priori. 

Aufgabe  der  reinen  Yemnnft.  lieber  diese  Üeberschrift  wurde  S.  119 
zur  Vorrede  bemerkt,  dass  dieser  Titel  involvirt,  dass  die  Auflösung  der 
folgenden  Aufgabe  Sache  der  reinen  Vernunft  sei,  dass  also  demnach 
„Kritik  der  reinen  Vernunft"  als  Genetivus  subjectivus  zu  verstehen  sei, 
wenigstens  wäre  es  grammatisch  wohl  kaum  möglich,  diesen  Genetiy  hier 
nicht  so  aufzufassen,  dass  es  sich  um  eine  Aufgabe  handle,  welche  für  die 
Vernunft  gestellt  werde,  sondern  welche  von  derselben  und  über 
dieselbe  aufgestellt  werde,  nicht  um  eine  Aufgabe,  welche  die  reine  Vernunft 
hat,  sondern  welche  sie  gibt.  Letzteres  würde  allerdings  logisch  dem  Sinne 
des  Abschnittes  entsprechen;  die  grammatische  Auslegung  der  Üeberschrift 


Das  Hauptproblem  oder  die  „Principalaufgabe".  315 

[R  706.  H  46.  E  60.  61.]  B  19. 

in  diesem  Sinne  möchte  wobl  schwerlich  Jemand  vertreten.  Beide  Auffassungen 
stellt  Bendavid  Vorl.  9  unvermittelt  neben  einander,  indem  er  einerseits 
sagt,  reine  Vernunft  enthalte  die  Grundsätze,  vermöge  deren  die  gestellte 
Aufgabe  gelöst  werde,  und  andererseits  die  reine  Vernunft  zum  Gegenstand 
der  Untersuchung  macht.  Mellin  I,  384  hat  die  erstere  Auslegung.  [Derselbe 
bemerkt  auch,  dass  K.  den  Ausdruck  „Aufgabe'^  der  Mathematik  entlehnt 
habe,  vgl.  Lambert  Org.  I,  100  und  fügt  hinzu,  eine  allgemeine  Aufgabe 
enthalte  alle  diejenigen  unter  sich,  von  deren  Begriffen  der  Eine  unter  dem 
Einen  Begriff  der  allgemeinen  Aufgabe  enthalten,  und  der  andere  mit  dem 
anderen  Begriff  der  allgemeinen  Aufgabe  identisch  ist.]  K.  spricht  auch  von 
einer  allgemeinen  praktischen  Aufgabe  der  reinen  Vernunft:  Wir 
sollen  das  höchste  Gut  befördern  helfen.  Hieristes  nach  Ks.  eigener 
Erklärung  (Kr.  d.  pr.  V.  223)  eine  Aufgabe,  welche  bloss  durch  reine  Vernunft 
vorgeschrieben  wird,  welche  durch  die  reine  Vernunft  aufgegeben  ist  (Relig. 
Vorr.  X.  Anm.,  ebenso  Theorie  und  Praxis  I,  A.  Anm.).  Nach  dieser  Analogie 
wäre  die  zweite  Auffassung  des  Genetiv  oben  die  richtigere.  Ist  die  Analogie 
aber  hier  erlaubt?  Aus  der  Parallelstelle  der  Fortschr.  K.  167  R.  I,  565 
,Von  der  allgemeinen  Aufgabe  der  sich  selbst  einer  Kritik  unterwerfenden 
Vernunft"  ist  auch  kein  sicherer  Schluss  zu  ziehen,  ebensowenig  als  aus  dem 
Brief  an  Herz  über  Maimon  vom  26.  Mai  1789  (am  Schluss).  Jedoch  aus 
Metapb.  263  geht  mit  Sicherheit  hervor,  dass  die  erste  Auffassung  die  richtige  ist. 
Die  Formel  einer  einsigen  Aufgabe.  Entd.  (gegen  Eberhard)  B.  I,  451 : 
..Diese  Aufgabe,  in  ihrer  Allgemeinheit  betrachtet,  ist  der  Stein  des  Anstosses, 
woran  alle  metaphysischen  Dogmatiker  unvermeidlich  scheitern  müssen,  um 
den  sie  daher  so  weit  herumgehen,  als  es  nur  möglich  ist;  wie  ich  denn 
noch  keinen  Gegner  der  Kritik  gefunden  habe,  der  sich  mit  der  Auflösung 
derselben,  die  für  alle  Fälle  geltend  wäre,  befasst  hätte.  Wenn  eine  zur 
Reife  gekommene  Kritik  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori  nachgewiesen 
hat,  ist  eine  Rechtfertigung  der  Metaphysik  möglich.*'  Ib.  453.  Da  dies  bis 
jetzt  nicht  geschehen  ist,  so  waren  alle  Metaphysiker  bis  auf  diesen  Zeitpunkt 
vom  Vorwurf  des  blinden  Dogmatismus  oder  Scepticismus  nicht  frei,  sie 
mochten  nun  durch  anderweitige  Verdienste  einen  noch  so  grossen  Namen 
mit  allem  Rechte  besitzen.  Daher  nennt  K.  daselbst  jene  Aufgabe  die 
^Principalaufgabe".  Vgl.  Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  495.  „Hume 
hat  schon  ein  Verdienst,  einen  Fall  anzuführen,  nämlich  den  vom  Gesetze 
der  Causalität,  wodurch  er  alle  Metaphysiker  in  Verlegenheit  setzte.  Was 
wäre  geschehen,  wenn  er  oder  irgend  ein  Anderer  sie  (die  Frage)  im  Allge- 
meinen vorgestellt  hätte.  Die  ganze  Metaph.  hätte  so  lange  müssen  zur 
Seite  gelegt  bleiben,  bis  sie  wäre  aufgelöst  worden. **  Als  Ergänzung  zu 
dieser  Frage  ist  die  Ausführung  auf  S.  639  zu  betrachten,  wo  K.  von  den 
Dogmatikem  verlangt,  sie  sollen  für  ihre  Ideen,  insbesondere  den  Gottesbegriff, 
nicht  neue  Beweise  vorbringen,  denn  solche  seien  alle  Fehlschlüsse  und 
unzureichend,  sondern  sich  nur  „an  die  einzige  billige  Forderung  hält,  dass 
man  sich  allgemein  und  aus  der  Natur  des  menschlichen  Verstandes,  sammt 


316  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  VI. 

B  19.  [B  706.  H  46.  E  6L] 

allen  übrigen  Erkenntnissquellen,  darüber  rechtfertige,  wie  man  es  anfangen 
wolle,  seine  Erkenntniss  ganz  und  gar  a  priori  zu  erweitem  and  bis  dahin 
zu  erstrecken,  wo  keine  mögliche  Erfahrung  und  mithin  kein  Mittel  hinreicht, 
irgend  einem  von  uns  selbst  ausgedachten  Begriffe  seineobjectiveBealität 
zu  versichern''  u.  s.  w.  Ueber  die  nähere  Bestimmung  der  Au^abe  mit  Bezug 
auf  den  Menschen  mit  Ausschluss  anderer  Wesen,  etwa  Gottes,  s.  Portschr. 
d.  Met.  Ros.  I,  568.  Beim  Menschen  ist  zur  Erkenntniss  eine  Verbindung 
von  Begriff  und  Anschauung  noth wendig.  —  Ueber  die  Beduction  auf  eine 
Frage  vgl.  Fichte,  Nachl.  11,  389.     Ueber  die  Allgemeinheit  s.  unten. 

Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  mdglich?    Diese  Haupt-  und 

Grundfrage,  die  in  dieser  Formel  ,mit  schulgerechter  Präcision*  abgefasst 

ist,  drückt  K.  in  den  Prol.  §  5  „der  Popularität  zu  Gefallen*  auch  so  aus: 

Wie  ist  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  [im  weiteren  Sinn] 

möglich? 
wozu  er  bemerkt,  dass  es  sich  selbstverständlich  nur  um  synthetische 
Erkenntniss  handle.  K.  fragt  (vgl.  unten  B.  20)  ähnlich  nach  der  .Möglich- 
keit des  reinen  Vernunftgebrauchs".  Was  den  Inhalt  des  kri- 
tischen Problems  betrifft,  so  ist  eine  kurze  Umschreibung  desselben  streng 
genommen  unmöglich.  Diese,  scheinbar  eindeutige  Formel,  zerfliesst,  wie 
das  bei  Kants  nur  auf  den  ersten  Blick  scharf  bestimmten  Begriffen  und 
klar  gefassten  Sätzen  oft  der  Fall  ist,  bei  näherer  Untersuchung  in  eine 
schillernde  Mannigfaltigkeit  von  Bedeutungen.  Das  Hauptproblem  ist  keines- 
wegs so  »unzweideutig",  so  , sonnenklar",  als  Krause,  Popul.  Darst.  22.  33 
es  darstellt.  Die  verschiedenen  Gesichtspunkte  werden  in  den  folgenden 
Absätzen  unter  Angabe  der  Literatur  einzeln  behandelt.  Eine  übersichtliche 
Zusammenstellung  derselben,  sowie  zugleich  eine  Zurückweisung  der  ein- 
seitigen Auffassungen  wird  das  Verständniss  erleichtern. 

I.  Schon  das  erste  Wort  der  Formel:  »Wie**  schliesst  eine  Zweiheit  ein: 
1)  wie  sind  die  gültigen  synth.  Urth.  a  priori  der  Mathem.  und  reinen 
Naturw.  möglich?  (Frage  nach  dem  Wie  im  engeren  Sinn.)  2)  inwieweit 
sind  solche  Urth.  auch  in  der  transsc.  Metaph.  möglich?  (Frage  nach  dem  Ob.) 

II.  Unter  synthetischen  Urtheilen  a  priori  sind  zu  verstehen:  1)  Ur- 
theile, welche  unabhängig  von  Erfahrung  über  unsere  Erfahrungswelt  neuen 
Aufschluss  geben  (, Erkenntniss"  im  strengen  Sinne),  d.  h.  a)  die  Urtheile 
der  Mathematik  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Dinge;  b)  die  Urtheile  der 
reinen  Naturwissenschaft  (oder  immanenten  Metaphysik).  2)  Die  Urtheile 
der  reinen  Mathematik  an  sich  selbst  (auch  noch  ohne  ihre  Anwendung  auf  die 
Dinge),  die  auch  an  sich  ein  Problem  sind.  3)  Die  Urtheile  der  bisherigen 
transsc.  Metaph.,  welche  ohne  Erfahrung  über  nicht-empirische  Gegenstände 
neuen  Aufschluss  geben  wollen.  Demnach  sind  synth.  Urth.  a  priori  nicht 
schon  identisch  mit  Urtheilen  über  Dinge  (im  Gegensatz  zu  blossen  Ur- 
theilen über  Begriffe),  auch  nicht  identisch  mit  wahren  Urtheilen,  sondern 
sind  ganz  allgemein:  Urtheile,  in  welchen  unabhängig  von  Erfahning 
den  Subjectsbegriffen  nicht  in  ihnen  liegende  Prädicate  zugeschrieben  werden. 


Sinn  des  Problems:   Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich?     317 

[R  706.  H  46.  E  61.]  B  19. 

III.  unter  der  Mttgliehkeit^  nach  welcher  gefragt  wird,  sind  die  all- 
gemeinen Bedingungen  zu  verstehen,  welche  als  Erklämngen  und 
Voraussetzungen  gültiger  und  angeblicher  synthetischer  Urtheile  a  priori 
dienen.  Die  so  gesuchten  allgemeinen  Bedingungen  sind  zweifach:  Es  wird 
gefragt  1)  nach  der  psychologischen  (subjectiven)  Möglichkeit  (durch  welches 
theoretische  Vermögen  sind  jene  oben  definirten  und  specificirten  Urtheile 
ermöglicht?),  2)  nach  der  erkenntnisstheoretischen  (objectiven)  Möglichkeit 
(unter  welchen  Voraussetzungen  sind  jene  Urtheile  gültig?)  \  und  mit  der 
letzteren  Frage  kommen  wir  wieder  auf  die  zwei  sub  I.  besprochenen  Fragen 
nach  dem  Wie  und  nach  dem  Ob. 

Im  Folgenden  behandeln  wir  nun  1)  die  anderen  Formulirungen  des 
Problems  bei  K.,  welche  z.  Th.  enger  gefasst  sind  (indem  sie  bald  die  reine 
Mathematik  an  sich,  bald  die  transscendente  Metaphysik  ausschliessen) ; 
2)  die  fundamentale  Bedeutung  der  Frage  nach  Kant  selbst;  8)  Urtheile 
Anderer  über  die  Tragweite  der  Frage;  4)  die  Literatur  über  das  Problem; 
5)  die  Umdeutungen  des  Problems  bei  den  Epigonen  u.  s.  w. ;  6)  Controverse 
mit  Paulsen  über  den  Sinn  und  die  Entwicklungsgeschichte  des  Haupt-  * 
Problems;  7)  Sonstige  Bemerkungen.  (Ueber  den  Um  fang  des  kritischen 
Problems  siehe  unten.) 

1)  K.  umschreibt  (Vorr.  A.  XI):  „Was  und  wie  viel  kann  Verstand 
und  Vernunft,  frei  von  aller  Erfahrung,  erkennen?"  Hier  ist  die 
Vernunft  im  Allgemeinen  geschieden  in  den  Verstand  und  die  Vernunft  im 
engeren  Sinn.  Eine  etwas  engere  Fassung  gibt  die  Schrift  gegen  Eberhard 
B.  I,  408;  es  handelt  sich  „um  die  Nachforschung  der  Elemente  unserer 
Erkenntniss  a  priori  und  des  Grundes  ihrer  Gültigkeit  in  Ansehung 
der  Objecte  vor  aller  Erfahrung,  mithin  der  Deduction  ihrer  ob- 
jectiven Realität.*'  „Nach  einer  mühevollen  Erörterung  aller  zur  Mög- 
lichkeit synth.  Sätze  a  priori  erforderlichen  Bedingungen  kommt  die  Kritik 
zu  dem  entscheidenden  Schlusssatz:  dass  keinem  Begriffe  (und  Satze)  seine 
obje&tive  Gültigkeit  anders  gesichert  werden  könne,  als  durch  seine  Be- 


^  Der  Uebersichtlichkeit  halber  seien  diese  Bedingungen  hier  aufgezählt: 
a)  für  die  Urtheile  der  Mathematik  ist  die  psychologische  Bedingung:  Raum 
und  Zeit  als  reine  Anschauungen  a  priori;  die  erkenntnisstheoretische  Bedingung: 
Raum  und  Zeit  als  Formen  und  Bedingungen  der  Möglichkeit  alles  empirischen 
Anschauens.  Jenes  erklärt  die  Möglichkeit  der  Urtheile  der  reinen  Mathematik 
an  und  für  sich  selbst^  dieses  die  Möglichkeit  derselben  iu  ihrer  Anwen- 
dung auf  die  Gegenstände,  b)  Für  die  Urtheile  der  reinen  Naturwissen- 
schaft sind  die  psychologischen  Bedingungen  die  sog.  „transscendentalen  Ver- 
mögen'', welche  in  der  „transscendentalen  Apperception^  gipfeln;  ihre  erkenntniss- 
theoretische Bedingung  ist,  dass  sie  die  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erfah- 
rung sind,  c)  Für  die  Urtheile  der  transscendenten  Metaphysik  ist  ihre 
psychologische  Bedingung  das  Vorhandensein  der  reinen  Vernunft  (im  engsten 
Sinn);  da  sie  keine  nothwendigen  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erfahrung 
sind,  haben  sie  jedoch  keinen  Erkenntnisswerth. 


318  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [R  705.  H  46.  E  61.] 

Ziehung  auf  die  Anschauung;*'  nach  452  (ib.)  handelt  es  sich  darum,  , einen 
allgemeinen  Grund  der  Möglichkeit  solcher  Sätze  in  den  wesentlichen  Be- 
dingungen unseres  Erkenntniss Vermögens  einzusehen.''  Dem  entsprechend 
drückt  K.  die  Hauptfrage  (in  der  Kr.  d.  pr.  V.  77)  so  aus: 

Wie  kann  reine  Vernunft  a  priori  Objecte  erkennen? 
(Ib.  200  werden  analytisch  und  logisch,  synthetisch  und  real  voll- 
ständig identificirt.  Nach  Kr.  d.  ürth.  §  76  ist  synthetisch  urtheilen  = 
0  b j  e  c  t  i  V  urtheilen.  Diese  Identificirung  von  synthetisch  und  real  ist  jedoch 
nicht  durchaus  festgehalten.  Hier  in  der  Kritik'  sagen  ja  schon  die  Urtbeile 
der  reinen  Mathematik  an  sich,  welche  synthetisch  sind,  dass  synthetisch  noch 
nicht  sogleich  identisch  ist  mit  real.  Vgl.  hierüber  unter  6),  sowie  bezüglich 
der  später  darüber  hervorgetretenen  Meinungen  das  Supplement  über  die 
Controversen  betreffe  der  analyt.  und  synth.  Ürtheile*.) 

2)  Ueber  das  Problem,  welches  Kant  154  „das  wichtigste  Geschäft 
der  Transscendentallogik''  nennt,  äussert  er  sich  in  den  Prol.  §  5  noch 
weiter  so:  „Auf  die  Auflösung  dieser  Aufgabe  nun  kommt  das  Stehen  oder 
Fallen  der  Metaphysik,  und  also  ihre  Existenz  gänzlich  an.  Es  mag  Jemand 
seine  Behauptungen  in  derselben  mit  noch  so  grossem  Schein  vortragen, 
Schlüsse  auf  Schlüsse  bis  zum  Erdrücken  aufhäufen,  wenn  er  nicht  vorher 
jene  Frage  hat  genugthueud  beantworten  können,  so  habe  ich  Becht  zu 
sagen:  es  ist  alles  eitele  grundlose  Philosophie  und  falsche  Weisheit.  Du 
sprichst  durch  reine  Vernunft,  und  massest  dir  an,  a  priori  Erkenntnisse 
gleichsam  zu  erschaffen,  indem  du  nicht  bloss  gegebene  Begriffe  zergliederst, 
sondern  neue  Verknüpfungen  vorgibst,  die  nicht  auf  dem  Satze  des  Wider- 
spruchs beruhen,  und  die  du  doch  so  ganz  unabhängig  von  aller  Erfahrung 
einzusehen  vermeinest;  wie  kommst  du  nun  hiezu,  und  wie  willst  du  dich 
wegen  solcher  Anmassungen  rechtfertigen  ?  Dich  auf  Beistinunung  der  all- 
gemeinen Menschen  Vernunft  zu  berufen,  kann  dir  nicht  gestattet  werden; 
denn  das  ist  ein  Zeuge,  dessen  Ansehen  nur  auf  dem  öffentlichen  Gerüchte 
beruht.   [Ueber  diese  Anspielung  auf  die  „Schottische  Philos."  s.  unten.] 

Quodcunque  ostendis  mihi  sie,  incredulus  odi. 

Horat.  [Ars  Poet,  188.] 

So  unentbehrlich  aber  die  Beantwortung  dieser  Frage  ist,  so  schwer  ist  sie 
doch  zugleich,  und  obzwar  die  vornehmste  Ursache,  weswegen  man  sie  nicht 
schon  längst  zu  beantworten  gesucht  hat,  darin  liegt,  dass  man  sich  nicht 
einmal  hat  einfallen  lassen,  dass  so  etwas  gefragt  werden  könne,  so  ist  doch 
eine  zweite  Ursache  diese,  dass  eine  genugthuende  Beantwortung  dieser  einen 
Frage  ein  weit  anhaltenderes,  tieferes  und  mühsameres  Nachdenken  erfordert, 

*  Göring,  Viert,  f.  wise.  Phil.  I,  410  meint,  in  der  I.  Aufl.  sei  überall  ein- 
geschärft worden^  dass  Existentialurtheile  synthetisch  seien;  dagegen  in  der  II.  Aufl. 
erhalten  die  synth.  Urtheile  als  solche  den  Rang  von  Existentialurtheilen.  Dies 
ist  nicht  richtig,  weder  in  Bezug  auf  den  Unterschied  der  beiden  Auflagen^  noch 
80,  dass  synthetisch  überhaupt  =:  real  wäre. 


Wichtigkeit  und  Schwierigkeit  des  Hauptproblems.  319 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19. 

als  jemals  das  weitläufigste  Werk  der  Metaphysik,  das  bei  der  ersten  Er- 
scheinung seinem  Verfasser  Unsterblichkeit  versprach.  Auch  muss  ein  jeder 
einsehende  Leser,  wenn  er  diese  Aufgabe  nach  ihrer  Forderung  sorgfältig 
überdenkt,  Anfangs  durch  ihre  Schwierigkeit  erschreckt,  sie  für  unauflöslich, 
und  gäbe  es  nicht  wirklich  dergleichen  reine  synthetische  Erkenntnisse  a 
priori,  sie  ganz  und  gar  für  unmöglich  halten,  welches  dem  David  Hume 
wirklich  begegnete,  ob  er  sich  zwar  die  Frage  bei  weitem  nicht  in  solcher 
Allgemeinheit  vorstellte,  als  es  hier  geschieht  und  geschehen  muss,  wenn  die 
Beantwortung  für  die  ganze  Metaphysik  entscheidend  werden  soll  .  .  .  Wenn 
der  Leser  sich  über  Beschwerde  und  Mühe  beklagt,  die  ich  ihm  durch  die 
Auflösung  dieser  Au%abe  machen  werde,  so  darf  er  nur  den  Versuch  an- 
stellen, sie  auf  leichtere  Art  selbst  aufzulösen.  Vielleicht  wird  er  sich  als- 
denn  demjenigen  verbunden  halten,  der  eine  Arbeit  von  so  tiefer  Nachfor- 
schung für  ihn  übernommen  hat,  und  wohl  eher  über  die  Leichtigkeit,  die 
nach  Beschaffenheit  der  Sache  der  Auflösung  noch  hat  gegeben  werden 
können,  einige  Verwunderung  merken  lassen;  auch  hat  es  Jahre  lang  Be- 
mühung gekostet,  um  diese  Aufgabe  in  ihrer  ganzen  Allgemeinheit  (in  dem 
Verstände,  wie  die  Mathematiker  dieses  Wort  nehmen,  nämlich  hinreichend 
für  alle  Fälle)  aufzulösen.  Alle  Metaphysiker  sind  demnach  von  ihren  Ge- 
schäfben  feierlich  und  gesetzmässig  so  lange  suspendirt,  bis  sie  die  Frage: 
wie  sind  synthetische  Erkenntnisse  a  priori  mögLich?  genug- 
thuend  werden  beantwortet  haben.  Denn  in  dieser  Beantwortung  allein  be- 
steht das  Creditiv,  welches  sie  vorzeigen  mussten,  wenn  sie  im  Namen  der 
reinen  Vernunft  etwas  bei  uns  anzubringen  haben ;  in  Ermangelung  desselben 
aber  können  sie  nichts  Anderes  erwarten,  als  von  Vernünftigen,  die  so  oft 
schon  hintergangen  worden,  ohne  alle  weitere  Untersuchung  ihres  Anbringens, 
abgewiesen  zu  werden.  Wollten  sie  dagegen  ihr  Geschäft  nicht  als  Wissen- 
schaft, sondern  als  eine  Kunst  heilsamer  und  dem  allgemeinen  Menschen- 
verstände anpassender  Ueberredungen  treiben,  so  kann  ihnen  dieses  Gewerbe 
nach  Billigkeit  nicht  verwehrt  werden.  Sie  werden  alsdenn  die  bescheidene 
Sprache  eines  vernünftigen  Glaubens  fuhren,  sie  werden  gestehen,  dass  es 
ihnen  nicht  erlaubt  sei,  über  das,  was  jenseit  der  Grenzen  aller  möglichen 
Erfahrung  hinaus  liegt,  auch  nur  einmal  zu  muthmassen,  geschweige 
etwas  zu  wissen,  sondern  nur  etwas  (nicht  zum  speculativen  Gebrauche, 
denn  auf  den  müssen  sie  Verzicht  thun,  sondern  lediglich  zum  praktischen) 
anzunehmen,  was  zur  Leitung  des  Verstandes  und  Willens  im  Leben 
möglich  und  sogar  unentbehrlich  ist.  So  allein  werden  sie  den  Namen  nütz- 
licher und  weiser  Männer  fuhren  können,  um  desto  mehr,  je  mehr  sie  auf  den 
der  Metaphysiker  Verzicht  thun."  [Diese  letztere  Schilderung  passt  trefflich 
auf  Mendelssohn.]  Ueber  die  Wichtigkeit  des  Problems  s.  Prol.  K.  144, 
Or.  211,  «eigentl.  Aufgabe,  worauf  die  Kr.  ganz  und  gar  hinauslief",  und 
bes.  ib.  146,  Or.  215,  wo  E.  die  Dogmatiker  zur  Lösung  dieser  fundamen- 
talen Angabe  auffordert  in  einem  „Wettstreit  der  Methoden". 

3)  Bichtig   heisst  es  Hauptm.  52:     „Diese  Formel   ist  gleichsam  der 


320  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

Stift  am  Eingange  des  Labyrinths,  an  welchem  der  Anfang  von  Ariadne's 
Faden  geknüpft  ist.  Nun  mag  das  Knäuel  sich  durch  alle  Krümmungen 
links  und  rechts  entwickeln!  Wir  werden,  wenn  wir  daran  folgen, 
uns  immer  wieder  zurecht  und  herauszufind  en  wissen."  Ebenso 
wird  mit  Recht  die  fundamentale  Wichtigkeit  der  Frage  betont  in  der 
Schrift:  Studium  der  K.'schen  Philosophie  41  ff.:  Der  Gesichtspunkt, 
von  dem  K.  ausgeht,  ist  der  Unterschied  analyt.  und  synth.  ürth. ;  das 
Ziel,  auf  das  er  hinsteuert,  die  Lösung  der  Frage  nach  der  Mögl.  synth. 
Urth.  a  priori.  Dies  Ziel  muss  jeder  Leser  unverwandt  im  Auge 
behalten.  „Hat  er  diesen  Gesichtspunkt  nicht  gefasst  oder  verliert  er 
das  Ziel  aus  den  Augen,  so  wird  er  in  der  Folge  vergebens  ar- 
beiten." Ebenso  bemerkt  Straeter,  Princ.  21  über  dieses  „centrum  phüc- 
sophiae  Kantianae^ :  „Mihi  quidem  videntur  neque  ipsius  Kantii  dodrina  neque 
omnia  ex  ejus  principiis  derivata  recentiorum  philosophorum  systemata  ommno 
passe  perspici,  nisi  ülitis  quaestionis  sententia  ac  vi  satis  perspecta.^ 

4)  Das  Problem  ist  trotz  sorgftlltiger  Vorbereitung  und  weiterer  Aus- 
führung häufig  missverstanden  worden,  indem  man  die  Frage  zu  eng  fasste. 
Schwegler,  Geschichte  der  Philosophie  §  37  legt  die  Frage  so  aus: 
„Können  wir  unser  Wissen,  auf  apriorischem  Wege,  durchs  Denken  allein 
über  die  sinnliche  Erfahrung  hinaus  erweitern?  Ist  eine  Erkennt- 
niss  des  Uebersinnlichen  möglich?*  Schw.  beschränkt  die  Frage  auf  die 
transscendenten  Urtheile  der  Metaphysik '.  Andere,  wieRixner  beschränken 
die  „ Urfrage *  auf  die  immanenten  Urtheile  des  reinen  Verstandes.  Denn 
es  geht  aus  dem  Bisherigen  hervor,  dass  es  eine  falsche  Beschuldigung  ist, 
wenn  Rixner,  Gesch.  d.  Phil.  III,  §  137  sagt,  Kant  habe  wie  Hume  das 
Problem  nicht  allgemein  genug  gefasst;  er  habe  nur  gefragt,  wie  synth. 
Urth.  a  priori  über  Gegenstände  der  Erfahrung  möglich  seien,  „wo- 
durch er  der  Vernunft  die  blosse  Erklärung  der  Erfahrungswelt  allein  als 
Aufgabe  anwies  und  ihr  alle  Möglichkeit  der  Erkenntniss  des  Uebersinnlichen 
absprach.**  K.  fragt  nach  der  Möglichkeit  synth.  Erk.  überhaupt;  er 
findet  erst,  dass  solche  nur  bezüglich  der  Erfahrung  möglich  sei.  Eine 
etwas  einseitige  Wendung  gibt  B.  Erdmann  dem  Titel  (und  der  Haupt- 
frage), wenn  er  (Kants  Kritic.  12  vgl.  18)  an  die  Lehre  Kants,  dass  die  Ver- 
nunft nur  dazu  diene,  den  Verstandeserkenntnissen  Einheit  zu  geben  und 
nicht  auf  Gegenstände  gehe,  anknüpft  und  sagt:  „Die  Lösung  des  Problems 
für  die  Vernunft  ist  demnach  eine  nothwendige  Folge  der  Lösung  desselben 
für  den  Verstand.  Der  Schwerpunkt  des  ganzen  Werkes,  der  Gedanke,  in 
dem  alle  (?)  übrigen  Ausfuhrungen  desselben  sich  zusammenfassen  lassen, 
liegt  in  der  Beantwortung  der  Frage:  Wie  lässt  sich  die  objective  Gültig- 
keit der  Verstandesbegriffe  a  priori  begreiflich  machen  ?**    Diese  Darstellung 


^  Ebenso  ungenau  stellt  er,  §  38,  die  Frage  der  Aesthetik  und  Analytik  nach 
„dem  apriorischen  Besitz  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes*'.  K.  fragt  aber 
beidemal  genauer  nach  der  Möglichkeit  synthetischer  rationaler  Urtheile. 


Verschiedene  Auslegungen  des  Hauptproblems.  321 

[R  705.  H  45.  K  61.]  B  19. 

beruht  aber  auf  einer  anticipatorischen  Hereinnahme  einer  Bestimmung, 
welche  zur  Fragestellung  noch  gar  nicht  gehört ;  es  kann  desshalb  die  Haupt- 
frage nicht  in  dieser  Weise  gegen  Kants  eigene  Bestimmungen  auf  den  Ver- 
stand beschränkt  werden,  sondern  sie  muss  die  Vernunft  (im  engeren 
Sinn)  nothwendig  einschliessen.    (Vgl.  zu  A  10  ff.  »Idee  der  Kritik  d.  r.  V.") 

Straeter,  Princ.  21  sagt  unrichtig,  dass  das  synth.  ürth.  a  priori 
far  K.  mit  der  Definition  der  vera  cognitio  ^  zusammen  falle;  (die  WoWsche 
analytisch  formale  Methode  sei  quasi  Manihua  tisui  inventa,  und  genüge 
nicht  für  homines).  Er  fasst  ferner  die  Frage  falsch  auf,  wenn  er  K.  fragen 
lässt:  Qua  ratione  verum  natura  cognosci  polest ,  .  .  .  estne  fons  aliquis  ex- 
perentia  tnelior  judidorum,  quae  synthetice  atque  a  priori  feruntur?  K.  fragt 
nicht  bloss:  Gibt  es  solche  Erkenntniss?  sondern  er  sagt  auch:  Es 
gibt  solche,  aber  wie  ist  sie  möglich?  wie  Straeter  selbst  23  richtig 
bemerkt :  Kaniius  tantum  abtrat,  ut  idem  quod  Dogmatici  faceret  (talia  ju- 
dicia  simpliciter  pronuntiare),  ut  quo  jure,  quod  Uli  fecerunt,  fieri 
passet,  disceptaret  Für  die  Hauptaufgabe  entwickelt  Reinhold,  Briefe 
I,  97  ff.  eine  kürzere  und  einfachere  Formel :  Was  vermag  die  Vernunft? 
Er  zeigt,  wie  diese  Frage,  historisch  durch  die  bisherige  Geschichte  der 
Philos.  vorbereitet,  bei  K.  nothwendig  hervorspringen  musste.  Bisher  habe 
man  der  Vern.  zu  viel  und  zu  wenig  zugemuthet  (vgl.  oben  S.  41).  Vgl. 
desselben  Th.  d.  Vorst.  140  ff.  152  ff.  Eine  Analyse  der  Hauptfrage  siehe  bei 
Brastberger,  Unters.  187  ff.  K.  frage  nicht,  wie  ist  es  möglich,  über 
unsere  Erkenntniss  hinauszukommen  zu  absoluten  Dingen,  sondern, 
,wie  ist  es  möglich,  noch  vor  aller  Wirklichkeit  in  unseren  Vorstellungen, 
noch  vor  aller  Gegenwart  solcher  Dinge,  die  sich  uns  sinnlich  darstellen, 
etwas  zu  erkennen,  das  hernach  in  der  Wirklichkeit  vorkommt  und  vorkommen 
muss,  und  was  verschafft  einer  solchen  Erkenntniss  a  priori  diese  ihre  ob- 
jective  Bealität,  diese  Sinnenwahrheit?''  Dies  ist  zu  enge,  denn  damit  wäre 
die  wenigstens  angestrebte  Metaphysik  im  transsc.  Sinn  aus  der  Frage  aus- 
geschlossen. Ueber  den  Sinn  der  Hauptfrage  vgl.  ferner  Maass  in  Eberh. 
Phil.  Mag.  II,  217.    Vgl.  Schmidt-Phiseldek,  Exposüio  14-15. 

Die  schwierige  „Schulsprache"  der  Hauptfrage  setzt  C lassen,  Physiol.  d. 
Ges.  1  in  die  populäre  Fassung  um :  Wie  können  wir  auf  eine  sichere  und  un- 
zweifelhafte Weise  unsere  Kenntnisse  vermehren?  Witte,  Beitr.  38  (40)  formt 
die  Frage  um:  „Wie  ist  die  Synthesis  in  apriorischen  Urtheilen  möglich?* 
Eine  scharfe  Kritik  der  Frage  bei  Trend elenburg.  Log.  Unters.  2.  Aufl. 
n,  243  f.  Maimon,  Unters.  177 — 179  meint,  es  werde  sowohl  nach  dem 
ersten  Grundsatz  aller  synth.  Erkenntniss  gefragt,  als  auch,  da  dieser  selbst 
synth.  sein  muss,  nach  dessen  eigener  Möglichkeit '.    Die  Fragestellung  gibt 


'  Die  eigentliche  Erkenntniss  (vgl.  jedoch  unten  S.  354)  ist  nach  K.  synthetisch 
a  priori,  aber  nicht  umgekehrt.  —  Ueber  den  gleich  folgenden  Unterschied  der  Frage 
nach  dem  Wie  und  nach  dem  Obs.  oben  S.  225  ff.  und  unten  Anhang  zu  Abschn.  VI. 

'  Vgl.  Haimons  Erörterung  des   Hauptproblems  in   Fichte -Niethhammers 
„Philos.  Journal**  VI,  172  ff.  (doppelte  Bedeutung  des  Apriori  in  der  Frage). 
Vaihinger,  Kant'Commentar.  21 


322  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [B  705.  H  45.  K  61.] 

Schulze,  Krit.  I»  192  zwar  unverändert  wieder,  fugt  aber  aus  eigenen 
Stücken  die  weitere  Frage  als  in  jener  ersten  enthalten  und  also  als  kantisch 
hinzu :  ^ und  wie  Ve rn u n f t  bloss  aus  sich  selbst  etwas  von  Gegenständen 
wissen  könne?"  Das  liegt  aber  schon  in  der  Frage  selbst.  Vgl.  die  obige 
Umschreibung  ders.  Die  Krit.  Briefe  47  finden  die  Aufgabe  unbestimmt; 
es  seien  drei  Bedeutungen  (vgl.  dag.  Born,  Mag.  11,  530)  der  Frage  möglich: 

1)  Wodurch  wird  der  menschl.  Verstand  fähig,  solche  ürtheile  zu 
bilden? 

2)  Wie  kann  er  auf  diese  geführt  werden? 

3)  Wie  kann  er  ihre  Wahrheit  beweisen? 

Sigwart,  Handbuch  §  185:  Sinn  der  Frage:  1)  Gibt  es  solche  ürtheile? 
2)  Aufzählung  derselben.  3)  Ihr  Gebrauch  und  ihre  Grenzen.  Drei  Aufgaben 
(„Stufen")  findet  v.  Wangenheim,  Verth.  Kants  22  ff.  in  dieser  Frage: 
1)  Nachweis  des  Besitzstandes,  2)  des  Werthes,  3)  des  Rechts  der 
Begründung.  Vgl.  Grapengiesser,  Aufg.  der  Vem.  14  ff.  19.  25  ff.  Zwei 
Fragen  findet  Desduits  Phil,  de  Kant  274:  die  possibilitS  (psychoL)  und 
die  legitimitS  d.  synth.  ürth.  a  priori ';  vgl.  Nolen,  Kant  179  (faü  et  droit). 
Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  synthet.  Ürtheile  a  priori  ist  nicht  bloss 


*  Selbstverständlich  ist  diese  Formel  des  Hauptproblems  —  unter  den  be- 
rühmten Stellen  der  Einleitung  die  berühmteste  —  unzähligemal  zum  Gegenstand 
der  Erörterung  gemacht  worden.  Als  Stellen,  welche  zur  weiteren  Erläuterung 
dienen  können,  seien  noch  folgende  erwähnt:  grössere  Abschnitte  bei  Mazzarella, 
Critica  ddla  acienza,  Genom  1860,  S.  295—310  (vgl.  S.  37,  71):  ^llprMema  entieo*'\ 
Riehl,  Kriticl,  315-339:  „das  Problem  der  Kritik";  Caird,  Pha.  ofKant,lf[. 
182-221;  „Problem  of  the  Cri^ique''\  Cantoni,  Em,  Kant,,  143—181:  „PrMema 
e  metodo  deUa  ragion  pura^\  Bertinaria,  in  der  Zeitschr.  La  fiJos.  d.  seuole  ital, 
XXn,  3:  „/Z  prohlema  eritico^  etc.  Harms,  Philos.  s.  Kant  127  — 141:  „daa 
Problem";  Krause,  Popul.  Darst.  d.  Kr.  d.  r.  V.  S.  1—23:  ,J>\e,  Aufgabe  der 
Kritik  d.  r.  V."  —  Ferner  Buhle,  Gesch.  d.  n.  Philos.  VI,  2,  1582;  Dorguth, 
Kritik  d.  Idealismus  257;  E.  Reinhold,  Th.  d.  Erkenntn.  I,  23;  Fries,  Gesch. 
d.  Philos.  II,  507  f.  514  ff.;  Biedermann,  Gesch.  d.  deutsch.  Philos.  I,  66; 
Morel  1,  Modem  Philo»,  I,  240  (Verh.  zu  Hume,  Reid);  S6cr6tan,  PÄtZ.  dt  la 
Liberia  I,  162.  Rosmini,  Origine  deOe  Idee  I,  §  324  ff.  S  342  ff.  und  bes.  §  353  ff. 
Mamiani,  Nuovi  Piclegomeni  105.  (Vgl.  Werner,  Kant  in  Italien  S.  29  ff.  S.  56.) 
Harms,  Anthrop.  20.  Harms,  Gesch.  d.  Logik  218.  Michelis,  Gesch.  d.  Phil. 
286-290;  Spir,  Kl.  Schriften  95.  Spicker,  Kant  111.  Pesch.  Haiti,  d.  med, 
Wiss.  10.  Ritter,  Kant  u.  Hume  16.  Tombo,  Ks.  Erk.  10.  S tau dinger,  Viert 
f.  wiss.  Philos.  V,  244.  Einseitige  oder  falsche  Auslegungen  bei  Busse,  Fichte 
I,  94.  Prihonsky,  Antikant,  37;  Willm,  Philoe,  Aüem,  I,  137.  Deg^rando, 
Vergl.  Gesch.  I,  514  ff.  II,  238.  243  (ib.  dag.  Tennemann);  ülrici,  Grundpr. 
I,  302.  310;  Deutinger,  Princip  121;  Ast,  Gesch.  d  Phil.  III,  205  (5.  Aufl.)  - 
Sengler,  Specul.  Philos.  55  f.  Balfour  im  „Mind"  Vol.  VI,  262.  264;  gegen 
Watson,  ib.  V,  528  ff.  Kritische  Bemerkungen  u.  A.  bei  Jacobi,  W.  W.  IH, 
67  f.  79  f.  B a gg e s en,  Nachl.  I,  158.  233.  431.  Caspari,  Grundprobleme  U,  174  ff. 
üeber  „this  fruitful  queeUan*"  vgl.  bes.  noch  Hodgson  im  „Mind"  II,  118—122. 


Psychologische  und  erkenntnisstheoretische  Auffassung.  323 

[B  706.  H  45.  E  61.]  B  19. 

etwa  psychologisch  zu  yerstehen,  d.h.  nicht  nlir  in  dem  Sinne:  Durch 
welches  Erkenntnissvermögen,  durch  welche  Einrichtung  unserer  subjectiven 
Anlage  sind  wir  in  den  Stand  gesetzt,  a  priori  überhaupt  Urtheile  zu  fällen ; 
sondern  in  erster  Linie  erkenntnisstheoretisch:  wie  kommt  es,  dass 
die  von  uns  a  priori  gefällten  urtheile  gültig  sind;  dass  urtheile,  die 
wir,  ohne  Erfahrung  zu  Bathe  zu  ziehen,  aussprechen,  doch  für  deren  ganzen 
Umfang  gelten?  Dass  wir  der  Natur  gleichsam  also  Gesetze  vorschreiben? 
K.  fragt  nicht  nur  nach  dem  Ursprung,  sondern  auch  nach  der  Methode, 
besonders  nach  der  Möglichkeit  und  Rechtfertigung  der  apriorischen  Urtheile. 
Er  fragt  nicht  nur:  Wie  kommen  wir  zu  solchen  Urtheilen?  sondern  auch: 
woher  kommt  die  Gültigkeit  solcher  Urtheile?  Inwieweit  ist  diese  Gültigkeit 
Torhanden  und  wo  hM,  dieselbe  auf?  Unter  welchen  Bedingungen  sind  sie 
gültig?  Haben  sie,  wie  Meilin  richtig  fragt  (I,  385)  einen  wirklichen 
Gegenstand?  Haben  sie,  (ib.  I,  387)  objective  Gültigkeit?  Mit 
Becht  ergänzt  Villers  die  Frage  in  diesem  Sinne:  und  wann  sind  sie 
gültig?  (Vill.  Phil,  d,  K,  II,  192.  Vgl.  Rink,  Metakrit.  15.)  Allerdings  wird 
auch  die  erstere  Frage  berücksichtigt,  jedoch  ist  sie  nicht  die  Hauptsache. 
Daher  ist  die  Umschreibung  von  Schultz,  Erl.  18:  „Ob  und  in  welcher  Art 
synth.  Erk.  a  priori  möglich  sind  und  wie  man  dieselben  bloss  a  priori  auf 
Gegenstände  anwenden  könne ^  nicht  unrichtig.  Falsch  aber  ist  es,  wenn 
Schmidt-Phis.  in  der  Exp.  13  die  Frage  bloss  fasst:  quaenam  sit  ea 
mentis  hutnanae  ope ratio,  per  quam  illa  efficiantur?  —  wenn  er  bloss  von 
der  Art  der  Synthesis,  nicht  von  ihrer  Gültigkeit  spricht.  In  den  Fortschr., 
B.  I,  495  unterscheidet  auch  Kant  selbst  zwei  Fragen: 

1)  Wie  sind  synth.  Urth.  a  priori  möglich? 

2)  Wie  ist  aus  synthetischen  Urtheilen  eineErkenntniss  a  priori 
möglich?    (Vgl.  hiezu  bes.  Schmid,  K.  L.  E.  Metaph.  S.  11—20,) 

Diese  Doppelfrage  kann  man  wohl  nur  so  auffassen,  dass  zuerst  nach  der 
psychologischen  Möglichkeit  der  synthetischen  Urtheile  überhaupt  und 
dann  nach  ihrer  erkenntniss-theoretischen  Möglichkeit  gefragt  wird, 
d.  h.  nach  der  Möglichkeit,  wie  aus  ihnen  Erkenntniss  der  Gegenstände, 
gegenständliches  auf  Dinge  bezügliches  apriorisches  Wissen  entsteht. 
Die  erste  Frage  wird  aber  dort  weiterhin  nicht  berücksichtigt,  Beweis  genug, 
dass  sie  für  E.  im  Hintergrund  stand;  dass  sie  aber  in  der  Kritik  keines- 
wegs auf  die  Seite  gesetzt  ist,  wird  sich  zeigen.  Vgl.  Windelband, 
Gesch.  d.  n.  Philos.  11,  52.  93  u.  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  237  ff.  260,  wonach 
Paulsen  Entw.  156  f.  zu  ergänzen  ist.  Femer  Smolle,  Ks.  Erkenntnissth. 
vom  psychol.  Standp.  betrachtet,  S.  7  ff.  —  Es  ist  eine  Einseitigkeit,  wenn 
Biehl  die  psychologische  Seite  der  Frage  ganz  leugnet,  Kritic.  I,  289  ff. 
294  ff.  (gegen  Fries),  299  ff.  (gegen  Herbart  W.  W.  HI,  118)  303.  311  f. 
315  ff.  Ist  auch  die  rein  psychologische  Auffassung  ein  schwererer  Irrthum 
als  die  rein  erkenntnisstheoretische,  so  darf  die  psychologische  Seite  doch 
keineswegs  ignorirt  werden.  Beide  Seiten  berücksichtigt  gleichmässig  auch 
Cantoni,  Kant  153  ff.,  der  auf  diese  Weise  zwischen  Fr  auch  i  einerseits. 


324  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [B  705.  H  45.  E  61.] 

Riehl,  Paulsen  und  Cohen  (u.  Stadler)  andrerseits  vennittelt.  Vgl.  wss 
derselbe  S.  148  über  den  Sinn  der  „Möglichkeit"  bei  Kant  überhaupt  sagt, 
mit  Riehl  a.  a.  0.  165  ff.,  302,  327,  mit  Fischer,  Gesch.  III,  281  ff.  und 
Cohen  77.  79.  94.  (Vgl.  unten  zu  Transscendental  B  25.)  Die  Frage  nach 
der  Möglichkeit  ist  allgemein  die  Frage  nach  den  Bedingungen,  und 
diese  sind  hier  theils  psychologische,  theils  rein  erkenntnisstheoretische.  Dieser 
Doppelsinn  der  Frage,  den  auch  Erdmann,  Kritic.  18  richtig  annimmt,  hängt 
zusammen  mit  der  auch  von  Biehl  320.  830  anerkannten  allgemeineren 
Fassung  der  Frage,  mit  ihrer  Ausdehnung  auf  die  wenn  auch  ungültigen 
ürtheile  der  transscendenten  Metaphysik,  sodann  mit  dem  von  Riehl  u.  A. 
nicht  erkannten  umstände,  dass  es  sich  bei  den  mathematischen  ürtheilen 
nicht  bloss  um  ihre  objective  Gültigkeit,  sondern  auch  um  ihre  psycholo- 
gische Möglichkeit  an  sich  handelt.  Diese  Frage  nach  der  psychologischen 
Möglichkeit  ist  jedoch  nicht  Sache  der  empirischen  Psychologie,  sondern  so  zu 
sagen  einer  Art  Transscendentalpsychologie ;  denn  die  empirische  Psychologie 
weist  E.  mehrfach  entschieden  ab  von  seiner  Kritik;  diese  fragt  nach  der 
allmSLligen  Ausbildung  der  Vorstellungen  im  Verlaufe  der  Entwicklung 
des  Subjects,  jene  nach  ihrem  apriorischen  Fundament  im  Subject,  nach 
ihrer  subj.  Möglichkeit.  Die  Verwechslung  der  empirischen  Psychologie, 
welche  ausserhalb  der  Kritik  steht,  mit  der  „Transscendentalpsychologie^ 
innerhalb  derselben  ist  verbreitet  und  hat  mannigfache  Verwirrung  an- 
gerichtet ;  um  so  mehr  als  K.  selbst  jene  transscendental-psychologischen  Un- 
tersuchungen als  unwesentlich  hinstellt,  womit  eben  die  gänzliche 
Verwerfung  der  empirisch  -  psychologischen  Untersuchungen  leicht  ver- 
wechselt wurde  '.  Man  vgl.  hiezu  bes.  die  Episode  der  Vorrede  A,  X,  wo 
die  Frage  der  „objectiven  Gültigkeit"  als  die  wichtigere  von  der  Frage: 
Wie  ist  das  Vermögen  zu  Denken  selbst  möglich?  als  der  un- 
wesentlichen unterschieden  wird.  Letztere  Frage  fällt  vollständig  zusammen 
niiit  der  Frage  nach  der  Fundamentirung  des  Apriori  im  Subjecte. 

5)  Auf  die  Ausbildung  der  nachkantischen  Philosophie  hat  das  K.'sche 
Hauptproblem  einen  positiv  bestimmenden  Einfluss  ausgeübt  (worüber  sich 
bei  Glossner,  Der  mod.  Idealismus  17  ff.  21  ff.  32  ff.  einige  richtige  Be- 
merkungen finden).  Einestheils  suchte  man,  vgl.  oben  S.  288  ff.,  das  als 
berechtigt  anerkannte  Problem  auf  anderem  Wege  zu  lösen,  anderentheils 
wurde  dasselbe  —  von  Fichte,  Schelling,  Hegel  —  entsprechend  der  ganzen 
Methode  ihres  Philosophirens  aus  dem  Erkenntnisstheoretischen   ins  Meta- 


^  In  diesem  Sinne  sagt  K.  auch  Prol.  §  21  a:  es  sei  nicht  vom  Entstehen 
der  Erfahrung  die  Rede^  sondern  von  dem^  was  in  ihr  liegt  (somit,  woraus  sie 
bestehe).  Das  Erstere  gehöre  zur  empir.  Psychologie,  das  Andere  zur  Transscen- 
dentalphilosophie.  Vgl.  Riehl,  Kritic.  202.  Cohen  138.  K.  hält  beides  immer 
streng  auseinander,  aber  innerhalb  der  Transscendentalphilosophie  treibt  Kant 
selbst  Psychologie,  vgl.  z.  B.  Krit.  B  152  f.,  wo  einerseits  (empirische)  Psychologie 
abgewiesen,  andererseits  transscendentale  Psychologie  behandelt  wird. 


Das  „Hauptproblem"  bei  Fichte,  Schelling,  Hegel.  325 

[R  706.  H  45.  K  61.]  B  19. 

physische  umgedeutet.  Fichte,  S.  W.  I,  114  bringt  die  Synthesis  des  Ich 
und  Nicht-Ich  mit  dem  K.'schen  Problem  in  Zusammenhang;  eogerer  An- 
scbluss  an  dasselbe  s.  Fichte,  Nachg.  W.  I,  27.  110.  130  (wozu  man  auch 
Hülsen,  Prüfung  der  Berl.  Preisfrage  195  f.  vergleiche). 

Höchst  willkürlich  deutet  Hegel  (vgl.  dessen  Sämmtl.  Werke  I,  20  ff.) 
im  Kr  it.  Journ.  II,  1,  25  um:  In  dieser  Formel  finde  sich  »ungeachtet  der 
ganz  anders  lautenden  Resultate''  und  ungeachtet  der  Beschränktheit  Ks. 
auf  das  subjectiv-endliche  Denken  die  „wahrhafte  Vernunftidee  ausgediückt". 
Freilich  sei  K.  bei  der  bloss  subjectiven  und  äusserlichen  Bedeutung 
dieser  Frage  stehen  geblieben.  Was  ist  nun  nach  Hegel  die  objectiv-absolute, 
innerliche  Bedeutung  jener  Frage?  „Dieses  Problem  drückt  nichts  anderes 
aus,  als  die  Idee  (!),  dass  in  dem  synthet.  Urtheil  Subject  und  Prädicat,  jenes 
das  Besondere,  dieses  das  Allgemeine,  jenes  in  der  Form  des  Sagens,  dieses 
in  der  Form  des  Denkens  —  dieses  Ungleichartige  zugleich  a  priori  d.  h. 
absolut  —  identisch  ist".  Die  Vernunft  sei  nichts  Anderes  als  diese  Iden- 
tität solcher  Ungleichartigen.  „Man  erblickt  diese  Idee  durch  die  Flach- 
heit (!)  der  Deduction  der  Kategorien  hindurch".  Hegel  geht  dann  auf 
die  synthetische  Einheit  der  Apperception  über,  indem  er  so  synthetische 
ürtheüe  nach  Reinholds  und  Becks  Vorgang  auf  sie  (vgl.  oben  268.  276)  be- 
zieht und  sagt,  K.  habe  sein  Problem  so  gelöst,  „indem  seine  Urtheil e  mög- 
lich seien,  durch  die  ursprüngliche,  absolute  Identität  von  Ungleichai'tigem, 
aus  welcher  als  dem  Unbedingten  sie  selbst  als  in  die  Form  eines  Urtheils 
getrennt  erscheinendes  Subject  und  Prädicat,  Besonderes  und  Allgemeines 
erst  sich  sondert".  Vgl  ib.  38.  Ganz  ähnlich  sind  die  Umdeutungen  der 
Hauptfrage  bei  Schelling  S.  W.  I,  175.  (190.  199.  203.)  294.  310  \  Ueb- 
rigens  verwirft  Hegel,  S.  W.  XVII,  15  die  ganze  Fragestellung,  weil  er  eben 
«rkenntnisstheoretische  Untersuchungen  vor  der  Metaph.  nicht  anerkennt  \ 
Hegelianisirend  ist  die  Auslegung  des  synth.  Urth.  bei  Rosenkranz,  Gesch. 
158,  vgl.  117;  nicht  etwa  die  Bemerkung,  dass  es  eine  Synthesis  der  Sinn- 
lichkeit und  des  Verstandes  darstelle,  wovon  jedoch  bei  K.  sich  auch  nichts 
findet,  sondern  die  Umdeutung,  in  dem  synthetischen  Urth.  werde  Entgegen- 
gesetztes wie  z.  B.  Ursache  und  Wirkung  zur  Einheit  verbunden..  Dieses 
, Wunder"  mache  K.  zum  Gegenstand  seiner  Frage.    „Es  ist  das  Räthsel  der 


*  Vgl.  Ast  (Anhänger  Schellings),  Gesch.  d.  Philos.  §  303  (Identität  von 
Sein  und  Denken),  und  Rixner,  Gesch.  d.  Philos.  III,  285. 

'  Man  vgl.  noch  Hegel,  W.  W.  III,  242,  es  handle  siöh  ujn  den  „Begriff 
von  Unterschiedenem,  das  ebenso  untrennbar  ist,  um  das  Identische,  das  an  ihm 
selbst  ungetrennt  unterschieden  ist";  u.  XV,  558:  „synthet.  ürtheile  a  priori  sind 
nichts  Anderes,  als  ein  Zusammenhang  des  Entgegengesetzten  durch  sich  selbst, 
oder  der  absolute  Begi-iff"  u.  s.  w.  Eine  hegelianisirende  Homilie  über  das  Haupt- 
problem 8.  bei  G.  Biedermann,  Wissenschaftslehre  I,  2  ff.  Begriffs  Wissenschaft 
I,  Vm  ff.  Ks.  Kritik  d.  r.  V.  u.  d.  Hegersche  Logik  S.  8.  —  Fichte,  jr.  Gegens. 
d.  Philos.  II,  14.  262.  Man  vgl.  ferner  z.  B.  Michel  et,  Letzte  Systeme  I,  44  ff. 
u.  Entw.  d.  d.  Philos.  25,  auch  Carri^re,  Reformation,  S.  477  (Bruno). 


y 


326  Commentar  zar  Einleitung  B,  Abscim.  VI. 

B  19.  [B  705.  H  45.  E  61.] 

Welt,  zu  begreifen,  wie  Entgegengesetztes  a  priori,  d.  h.  durch  sich  selbst, 
nicht  nur  als  äusserliches  Compositum,  Eines  ist."  Fichte  d.  S.  gibt  in 
seiner  Charakteristik  S.  181  eine  ähnliche,  wenn  auch  abgeschwächte  specu- 
lative  Umdeutung :  K.  habe  hier  auf  das  Ur-  und  Grundwunder  alles  Seins  (!) 
und  Wissens  hingedeutet  (!),  wie  nämlich  ,das  Mannigfaltige  dennoch 
das  Eine ,  darin  mit  sich  identisch  Bleibende ,  Einheit  umgekehrt  ein  syn- 
thetisches Mannigfaltiges  zu  sein  vermöge,  wie  dieser  ursprünglichste  Gegen- 
satz vereinigt  in  allen  Dingen  zu  begreifen  sei?  —  Und  wenn  auch  die 
Lösung  der  Frage  ihm  nicht  in  höchster  Instanz  gelungen  ist,  dennoch  be- 
währte er  dadurch  seinen  ebenso  tiefen  als  umfassenden  Blick,  gleich  Anfangs 
den  innersten  Mittelpunkt  aller  Speculation  so  scharf  bezeichnet  zu  haben.' 
(Eine  solche  Aus-  und  Umdeutung  zeugt  wahrlich  von  keinem  „ tiefen  Blick*. 
Mit  welchem  Auge  sehen  Rosenkranz  und  Fichte  die  Worte  Kants  an? 
Und  wo  liegt  nur  auch  im  entferntesten  ein  solch  verwegener  Sinn?) 
Schaller,  Ks.  Naturphil.  57  deutet  das  synth.  ürth.  a  priori  so,  dass  in 
ihm  der  abstracte  Gegensatz  des  Seins  und  Denke« s,  des  Objectiven 
und  Subjectiven  enthalten  sei,  und  dass  es  sich  um  die  Möglichkeit, 
^*»> diesen  Gegensatz  aufzulösen,  handle.  Straeter,  Princ.  22  findet  darin 
ausgedrückt,  y^eandem  rebus  quamcia  diversis  inhaerere  vim  ac  rationem,  nuHum- 
que  inter  eaa  quamvis  per  se  f<ibi  aliencts  intercedere  dxscrimen'^ ;  es  sei  die 
konkrete  Identität  der  Dinge  darin  ausgedrückt.  Was  soll  man  von  solcher 
^  bodenlosen  Willkür  der  Auslegung   sagen?    —   üeber  Schleiermachers 

/  Stellung  zu  dem  Hauptproblem  vgl.   Dilthey,  Schleierm.  I,  91  (woselbst 

auch  S.  88 — 92  eine  sorgfältige  Analyse  des  „Problems  des  kritischen  Idea- 
lismus" sich  findet).  Krause  äussert  sich  über  das  Hauptproblem  in  den 
„Grundwahrheiten*  S.  375,  Baader,  W.  W.  I,  7  u.  XI,  413,  Schopen- 
hauer, Satz  V.  Grunde  S.  108,  Welt  a.  W.  u.  V.  I,  570,  H,  37;  NachL 
S.  327  (vgl.  Frauenstädt,  Schopenhauer  S.  659;  Polemik  gegen  Michelets 
Auslegung  der  Frage  in  Fichte's  Zeitschrift,  XXVII,  43  f.)  —  Vgl.  Her- 
barts Problem;  wie  Ein  Begriff  verbunden  sein  möge  mit  einem 
Andern?  Phil.  Stud.  Sep.  Ausg.  67.  Auch  er  fragt  daelbst  nach  einem  „Drit- 
ten*', Vermittelnden  (vgl.  a.  a.  0.  70),  und  bringt  dies  mit  der  Synthesis 
a  priori  ib.  57  in  Zusammenhang  (W.  W.  I,  424  ff,).  Herbart  beschäftigte 
sich  schon  1794  mit  diesem  Problem,  jedoch  noch  ganz  in  der  Manier  Fichte's, 
s.  W.  W.  XII,  4 — 7,  wo  über  dieses  Thema  ein  kleiner  Aufsatz  sich  findet 
(vgl.  hierüber  Zimmermann,  Perioden  Hs.  12  ff.  Capesius,  Herbart 
5  f.).  üeber  scheinbare  Widersprüche  in  der  Forderung  einer  Synthesis 
a  priori  s.  W.  W.  I,  73;  ib.  I,  260  über  die  unrichtige  Behandlung  jener 
Aufgabe  seitens  Kant,  welcher  ib.  I,  258  die  Form  gegeben  wird:  Woher 
kommen  die  Formen  der  Erfahrung  und  mit  welchem  Recht  werden  sie  auf 
Erscheinungen  übertragen?  Diese  „Grundfrage*'  habe  K.  jedoch  nicht  ge- 
nügend aufgelöst  (vgl.  Capesius  a.  a.  0.  56).  Ausfuhrliche  und  interessante 
Analyse  des  Hauptproblems  s.  bes.  W.  W.  III,  387 — 390  (das  Problem  sei 
nicht  gegeben  durch   die  Natur,   aber   geboren  aus  der  Lage  des  mensch- 


Das  „Hauptproblem^  bei  Schopenhauer,  Herbart,  Fries,  Beneke  u.  A.     327 

[R  705.  H  46.  E  61.]  B  19. 

liehen  Wissens).  Capesius  a.  a.  0.  56  —  58  (102),  70  —  72,  76,  78,  wirft 
Herbart  gänzliches  Missverstehen  des  K.'schen  Gnindprobleros  vor  und  er- 
örtert richtig  das  Verhältniss  zur  ^  Methode  der  Beziehungen ''.  Hierüber 
äussert  sich  auch  der  Herbartianer  Drobisch,  Logik  §  144,  gegen  den 
jedoch  Capesius  a.  a.  0.  106  ebenfalls  den  berechtigten  Vorwurf  des  Miss- 
verständnisses erhebt.  Man  vgl.  femer  R.  Zimmermann,  Propädeutik 
S.  48—57,  Volkmann,  Psychologie  U,  277,  Strümpell,  Grundr.  der 
Logik  ß.  118  ff.  128  und  Zacharias,  Metaph.  Differenzen  zwischen  H. 
und  K.  7  ff.;  sowie  Ueberweg- Heinz e,  Gesch.  d.  Phil.  III,  342.  — 
Fries  bespricht  seine  Stellung  zum  Eantischen  Hauptproblem  N.  Krit.  d.  V. 
I,  315  ff.,  II,  5 — 8  und  Metaphysik  S.  116  ff.;  Beneke  in  seiner  Logik 
I,  256.  279.  II,  173,  Metaphysik  38,  229  ff.,  die  Philosophie  V,  34  ff.  73  ff., 
Erkenntnisslehre  7  ff.  39  ff.  und  besonders  scharf  Sittenlehre  IL  B.,  Vorrede 
Vn— XVin  (gegen  Fries,  Anthrop.  II,  Vorr.  XI  und  Bosenkranz,  Kant 
435).  —  Ueber  Sinn  und  Bedeutung  des  Hauptproblems  vgl.  ferner  bes. 
Franchi,  Teorica  del  giudizio  I,  155  ff.  (wo  überhaupt  die  Einleitung  scharf 
kritisirt  wird)  und  der,  wie  schon  Ulrici,  Grundp.  I,  311,  die  Frage  hinzu- 
gefugt wissen  will:   wie  bilden  sich  die   apriorischen   Begriffe?    Du  Prel,^^ 

Philos.  d.  Astronomie  351,  Liebmann,  Analysis  208  ff.,  Stadler,  Phil. 
Mon.  XVII,  330,  Kirchner,  Logik  §  109;  unrichtig  Knauer,  Reflexions- 
begriffe 28.  Ein  weiteres  Beispiel  inexacter  Interpretation  s.  bei  Katzen- 
berger,  das  apr.  u.  id.  Mom.  S.  20,  der  die  Frage  so  umschreibt:  , Welches 
ist  das  apriorische  Element,  ohne  welches  gar  keine  Erfahrungswissenschaft 
auf  gesetzmässige  und  allgemeingültige  Art  hätte  entstehen  können?' 

6)  Paulsen  153  ff.  (vgl.  Riehl,  Krit.  I,  329)  ist  der  Ansicht,  dass  der 
fundamentale  Sinn  der  K.'schen  Untersuchung  wesentlich  und  zum  Schaden 
alterirt  worden  sei  durch  die  Hereinmischung  des  Unterschiedes  von  ana- 
lytisch und  synthetisch  '.  Das  ächte  Problem  Kants  sei  gewesen:  Wie  ist 
Erkenntniss  von  Gegenständen  aus  reiner  Vernunft  möglich? 
Die  Formel:  Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich?  sei 
(S.  173)  ,  missverständlich ",  wenn  sie  sich  auch  im  Allgem.  mit  der  ersten  Frage 
decke,  und  nach  S.  201  sogar  „etwas  scholastisch".  A  priori  und  aus 
reiner  Vernunft  sei  identisch;  es  handle  sich  um  den  Nachweis,  wie 
sich  synthetische  Urtheile  zu  Urtheilen  über  Gegenstände,  zu  realen 
Urtheilen  verhalte?  —  Kants  analyt.  Urtheile  fielen,  wie  sich  oben  ergab, 
anfänglich  zusammen  mit  Urtheilen  aus  reiner  Vernunft  über  blosse  Be- 
griffe durch  deren  Zergliederung.  Dass  Kants  synthetische  Urtheile  ur- 
sprünglich Urtheile  über  Gegenstände  waren,  „Realurtheile*',  ergab  sich 
ebenfalls.  Und  endlich  wurde  der  wahrscheinliche  Ursprung  der  Bezeichungs- 
weise  angegeben.  Auch  fanden  wir  als  Resultat  der  sog.  vorkritischen  Periode 
Kants  die  Ueberzeugung,  dass  es  über  thatsächliche  Verhältnisse  keine  Urtheile 


'  Genau  ebenso  schon  Ulrici^  Grundpr.  I^  310(1845).  Vgl.  auch  Paalsen^ 
in  der  Viert,  f.  wiss.  Philos.  II,  489.  495. 


328  Commentar  zur  Einleitung  B,  Absclin.  VI. 

B  19.  [R  705.  H  45.  K  61.] 

aus  reiner  Vernunft  gebe;  dass  reine  Vernunfturtheile,  insofern  sie  nur  zer- 
gliedernd seien,  zu  causalen  und  existentialen  Sätzen  nicht  hinreichen.  Die  Er- 
kenntniss  des  Wirklichen  aus  Begriflfen,  d.  h.  der  Rationalismus  wurde  geleugnet. 
(Vgl.  Paulsen  a.  a.  0.  34.  41  f.  45.  53.  63  f.  96  f.)  Dann  aber  kam  die  grosse 
Erkenntniss,  dass  die  Mathem.  auch  synth.  und  doch  a  priori  sei.  Hier  greift 
nun  Paulsen  ein,  aber  verkennt  ganz  die  Tragweite  dieser  Entdeckung,  die  er 
hinter  einen  andern,  allerdings  mindestens  ebenso  wichtigen  Punkt  hintansetzt. 
K.  hatte  nämlich  1 770  auch  gezeigt,  dass  die  mathem.  Sätze  strengstens  von  allen 
Gegenständen  gelten  müssen,  weil  diese  nur  durch  die  der  Mathem.  zu  Grunde 
liegenden  Anschauungsformen  Baum  und  Zeit  möglich  sind.  Hier  sind  also 
Vernunfterkenntnisse,  welche  a  priori  ausgesprochen  werden  und  doch  reale 
Verhältnisse  aufs  genaueste  treffen.  In  der  Mathem.  ist  somit  jenes 
Prob  lem  gelöst,  wie  Erkenn  tniss  von  Thatsachen  aus  reiner 
Vernunft  möglich  sei.  „Die  Mathem.  erscheint  im  bestbegründeten  Be- 
sitz reiner  Vernunfterkenntnisse  von  Gegenständen."  (Paulsen  166.)  Es  muss 
hier  aber  aus  der  Aesthetik  antecipirt  werden,  dass  bei  der  Mathem.  zwei 
Punkte  in  Frage  kommen,  einmal:  wie  sind  mathematische  ürt heile  an  sich 
möglich?  Sodann:  wie  kommt  es,  dass  in  ihnen  a  priori  über  die  Gegen- 
stände etwas  ausgemacht  wird?  Die  erste  Frage  verkennt  Paulsen  und  hat 
daher  auch  jene  Ansicht  aufgestellt,  die  Formulirung  des  K.'schen  Problems 
sei  eigentlich  nicht  die  richtige  im  Sinne  Kants.  Er  meint  (166),  nachdem 
K.  wieder  zur  Erkenntniss  gekommen  sei,  dass  es  doch  auch  ausser  der 
Mathem.  in  der  immanenten  Metaphysik  Erkenntniss  von  Gegenständen  aus 
/,  reiner  Vernunft  gebe,   habe    er  die  Frage   der  Möglichkeit  gemeinsam   für 

Mathematik  und  reine  Naturwissenschaft  gefasst,  und  hätte  eigentlich  fragen 
sollen:   wie  ist  die  Erkenntniss  von  Gegenständen  aus  reiner  Vernunft  (die 
^  in  Mathem.  u.  reiner  Naturwiss.  wirklich  ist)   möglich?   (cfr.   ib.    103.   117, 

/"  120.  132.  148.  201  f.  206.  20S.  210.)    Statt  dessen  habe  K.,  weü  Hume  die 

reale  Gültigkeit  der  Mathematik  bestritt,  die  andere  indifferente  Form  gewählt  * 
und  die  Frage  laute  nun:  sind  diese  synthetischen  Erkenntnisse  a  priori 
reale  Erkenntnisse?  Diese  Darstellung  ist  wohl  irrig.  Denn  einmal  war 
die  synthetische  Natur  der  Mathem.  ebenso  bestritten  von  Hume  und  auch 
von  Leibniz  und  noch  vielmehr  die  der  reinen  Naturwissenschaft.    Aber  der 


/ 


'  Auch  abgesehen  von  den  folgenden  Einwänden,  ist  Paulsens  Auffassung 
schon  darum  verdächtig,  weil  seine  eigene  Erklärung  der  Umformung  der  Frag- 
formel ganz  unbefriedigend  ist;  denn  der  Grund,  welchen  P.  für  dieselbe  angibt, 
würde  nur  zureichen  zu  der  neuen  Formel:  Sind  diese  ürtheile  a  priori  auch 
realgültige  ürtheile?  Die  Hereinmischung  des  Synthetischen  ist  durch  den  Grund, 
Hume  habe  die  Realgültigkeit  der  Mathematik  bestritten,  doch  keineswegs  gerecht- 
fertigt. P.  möchte  Kants  Problemstellung  zurückschrauben  auf  den  Standpunkt 
des  III.  Abschnittes  (vgl.  oben  S.  237  ff.),  wo  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  des 
Apriori  gestellt  wird.  Die  im  IV.  Abschn.  sich  hereinschiebende  Eintheilung  der 
analytischen  und  synthetischen  Ürtheile  aus  der  Kritik  hinauswerfen  zu  wollen, 
ist  eine  zu  den  schwersten  Missverständnissen  führende  Verstümmelung  derselben. 


Controrerse  über  Sinn  und  Entwicklung  des  Hauptproblems.  329 

[R  705.  H  45.  E  61.]  B  19. 

fandamentale  Irrtham  dieser  Darlegung  liegt  darin,  dass  nur  die  eine  Seite 
der  Mathem.  berücksichtigt  ist«  ihre  reale  Gültigkeit,  nicht  aber  ihre  syn- 
thetische Anschaulichkeit,  ganz  abgesehen  von  realer  Gültigkeit  \  Der  Her- 
gang ist  vielmehr  wohl  folgender  gewesen.  Nachdem  K.  die  synthetische 
Natur  der  Mathem.  erkannt  hatte  (1770),  musste  er  zu  einer  Umgestaltung 
seines  Problems  schreiten.  Hatte  er  bis  dahin  allerdings  gefragt:  Ist  Er- 
kenntniss  von  Thatsachen  aus  reiner  Vernunft  möglich?  und  hatte  er  diese 
Frage  mit  Nein!  beantwortet,  so  erschloss  sich  ihm  mit  einemmale  eine 
ganz  neue  Gattung  von  Erkenntnissen,  die  in  das  bisherige  Schema  nicht 
passte  (analytisch  -  a  priori,  synthetisch-empirisch)  —  nämlich  eben  die  Ent- 
deckung, dass  die  Urtheile  der  reinen  Mathem.  synthetische  a  priori  seien. 
Hiebei  fiel  die  Beziehung  auf  das  Reale  einfach  heraus.  Wie  sind  nun  diese 
möglich?  Die  Urtheile  der  reinen  Mathem.  beziehen  sich  zunächst  nicht  auf 
egenstände,  machen  für  sich  ein  System  aus,  wie  sind  also  synthetische 
Sätze  a  priori  in  der  Mathem.  möglich?  [Hand  in  Hand  damit  ging  eine 
andere  Veränderung,  welche  Paulsen  ebenfalls  verkennt.  Die  synthetischen 
und  empirischen  Urtheile  der  ersten  Periode  bezogen  sich  alle  auf  einzelne 
Thatsachen,  jetzt  kam  Kant  zur  Erkenntniss,  dass  die  allgemeinen 
Gesetze  der  Erfahrung,  besonders  das  der  Causalität  synthetisch  und  doch 
a  priori  seien.  Auch  von  dieser  Seite  aus  konnte  die  Frage  nicht  bloss  sein : 
wie  sind  Urtheile  aus  r.  V.  über  Gegenstände  möglich?,  sondern  wie  ist 
es  möglich,  allgemeine  synthetische  Erfahrungsgesetze  a  priori  aus- 
zusprechen?] Endlich  stehen  der  Paulsen'schen  Auffassung  als  eine  ganz 
erhebliche  Instanz  die  Urtheile  der  alten  Metaphysik  gegenüber.  Wie  sollten 
Urtheile  wie :  Gott  existirt,  die  Welt  ist  endlich  der  Zeit  nach,  die  Seele  ist 
unsterblich,  terminologisch  fixirt  werden?  Es  sind  nach  K.  nicht  Urtheile 
aus  Begriffen.  Dass  sie  Urtheile  über  Gegenstände  sein  wollen,  genügt  noch 
nicht  zu  ihrer  Charakterisirung.  „Begriffsurtheil"  hat  bei  K.  aber  einen 
doppelten  Gegensatz:  dem  Urtheil  über  Begriffe  steht  das  Realurtheil 
(über  Gegenstände),  dem  Urtheil  aus  Begriffen  steht  zunächst  negativ 
das  Urtheil  nicht  aus  Begriffen  gegenüber.  Jene  Sätze  sind  Urtheile 
über  Gegenstände,  die  .nicht  aus  Begriffen  allein  gefällt  werden  können. 
Wenn  letztere  synthetisch  heissen,  weil  Urtheile  aus  Begriffen  analytische 
sind,  so  nennt  K.  auch  jene  Urtheile  mit  Fug  und  Recht  synthetische  und 


'  Paulsen  könnte  sich  auf  die  Darstellung  in  der  „Metaph."  berufcL  18.  20. 
(vgl.  77),  wo  die  erste,  wichtigste  Hauptfr.  d.  Ontologie  ist :  Wie  sindErk.  apr. 
möglich?  und  wo  die  Mathem.  als  Vorbild  und  die  Metaph.  (vgl.  25—26)  als  ge- 
geben erwähnt  wird.  Allein  S.  24  ff.  holt  K.  die  Eintheilung  in  anal,  und  synth. 
Ürth.  nach  und  formulirt  das  Problem  S.  25  so  wie  in  der  Kritik.  Jene  Formel 
genügte  ihm  also  nicht,  wie  sie  sich  u.  A.  auch  im  Brief  an  Mendelssohn  vom 
6.  April  1766  findet  „ob  man  durch  Vernunfturtheile  a  priori  die  Kräfte  .  .. 
ausmachen  könne".  Dort  sind  aber  „Vernunfturtheile"  wohl  noch  „analytische". 
Vgl.  die  Problemstellung  Kants  bei  Erdmann,  Vorr.  zu  Proleg.  LXXXVII. 


330  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [R  706.  H  45.  E  61.] 

zwar  a  priori.  Nur  so  konnte  die  Kant'sche  Formel  auch  diese  Klasse  mit 
hereinziehen.  Und  wenn  auch  diese  zur  Noth  noch  unter  die  alte  Formel  zu 
bringen  waren,  so  durchbrach  doch  die  Mathematik  die  alte  Formulirung, 
weil  in  ihr  zunächst  nicht  ürtheile  über  Gegenstände,  sondern  in  der 
reinen  Mathem.  Ürtheile  über  reine  Begriffe,  welche  in  reiner  Anschauung 
dargestellt  werden,  enthalten  sind  ^  Dies  ist  somit  der  Grund  der  Umformung, 
und  nicht,  was  Paulsen  angibt.  Ob  dadurch  allerdings  nicht  wieder  Verwirrung 
geschaffen  worden  sei,  ist  eine  andere  Frage,  welche  in  der  Aesthetik  zu  beant- 
worten ist.  Aber  an  dieser  Stelle  dürfen  die  treibenden  Motive  der  Fragestellung, 
resp.  der  Umformung  der  Frage  nicht  verkannt  werden.  Eine  solche  Verkennung 
liegt  aber  in  der  Verwischung  der  specifischen  Bedeutung  von  synthetisch  im 
Unterschied  von  real  durch  Paulsen.  Eben  weil  die  synth.  Ürtheile  der  reinea 
Mathem.  keine  gegenständlichen  im  Sinne  der  Jahre  1762  ff.  sind,  nimmt 
auch  nicht  synthetisch  „überall  stillschweigend  diese  Bedeutung  in  sich  auf*. 
(Paulsen  153.)  Das  synth.  Urtheil  will  nicht  „jederzeit  ein  Urtheil  über 
Gegenstände"  sein,  ausser  der  Begriff  des  Dreiecks  ist  auch  ein  Gegenstand. 
Eben  darum  ist  die  allgemeine  Auslegung  der  Hauptfrage  nicht  richtig: 
Wie  ist  es  möglich,  dass  Urtheilen  aus  reiner  Vernunft  Beziehung  auf  oder 
Gültigkeit  von  Gegenständen  zukommt?  Was  in  dieser  Formel  fehlt,  ist 
eben  die  reine  Mathematik.  Allerdings  im  Briefe  an  Herz  v.  21.  Febr.  1772 
findet  sich  die  alte  Formel,  sogar  mit  Bezug  auf  die  Mathematik.  K.  fragt 
dort  nach  dem  Grunde  der  Gültigkeit  unserer  Vorstellungen  für  die  Gegen- 
stände. Die  sinnlichen  Vorstellungen  und  die  aus  den  sinnlichen  Vor- 
stellungen entstandenen  Grundsätze  haben  eine  verständliche  Gültigkeit  für 
die  Gegenstände,  weil  jene  eben  aus  der  sinnlichen  Anschauung  geschöpft 
sind.  „Aber  die  intellectualen  Vorstellungen,  die  auf  unserer  inneren  Thä- 
tigkeit  beruhen,  woher  kommt  die  Uebereinstimmung ,  die  sie  mit  Gegen- 
ständen haben  sollen,  die  doch  dadurch  nicht  etwa  hervorgebracht  werden, 
und  die  Axiomata  der  reinen  Vernunft  über  diese  Gegenstände,  woher  stimmen 
sie  mit  diesen  überein,  ohne  dass  diese  Uebereinstimmung  (Conformität)  von 
der  Erfahrung  hat  dürfen  Hilfe  entlehnen?  In  der  Mathematik  geht  dieses 
an,  weil  die  Objecte  für  uns  nur  dadurch  Grössen  sind  und  als  Grössen 
können  vorgestellt  werden,   dass  wir  ihre   Vorstellungen  erzeugen   können, 


^  Paulsen  gibt  sich  am  a.  a.  0.  viele  Mühe^  diese  Auffassung  als  ein  „Miss- 
verständniss"  hinzustellen.  Sie  ist  es  nur  dann^  wenn  die  andere  Frage,  die  Frage 
der  Gültigkeit  der  Mathematik  für  die  Erfahrungsgegenstände,  darüber  vernach- 
lässigt wird.  Unsere  Analyse  der  Aesthetik,  insbes.  nach  der  Darstellung  der 
Prolegomena,  wird  darthun,  dass  beide  Fragen  nebeneinander  bestehen,  wenn 
sie  auch  von  K.  in  höchst  verwirrender  Weise  durcheinander  geflochten  sind,  eine 
Verwirrung,  welche  durch  die  auch  von  Paulsen  163  f.  angeführten  Stellen  aus  der 
Analytik  157.  223.  239  nicht  wie  P.  meint,  gelöst,  sondern  gesteigert  wird.  Die 
Formel:  Wie  sind  synthetische  ürtheile  a  priori  möglich?  ermöglicht  die  Auf- 
nahme der  reinen  Mathematik  an  sich.  Dieser  von  Paulsen  (160) 
verworfene  Grund  ist  gerade  ein  Eckstein  der  Kritik  d.  r.  V. 


Bedeutung  des  Synthetischen  im  Hauptproblem.  331 

[R  705.  H  45.  E  61.]  B  19. 

indem  wir  Eines  etlichemal  nehmen,  daher  die  Begriffe  der  Grössen  selbst- 
tbätig  sind  und  ihre  Grundsätze  a  priori  können  ausgemacht  werden.  Allein 
im  Verhältniss  der  Qualitäten  u.  s.  w."  Das  Weitere  gehört  nicht  hierher, 
sondern  an  den  Anfang  der  Deduction  92  ff.  Paulsen  zieht  diese  Formu- 
lirung  entschieden  derjenigen  vor,  welche  in  der  Kritik  vor  uns  steht.  Allein 
gerade  in  jenem  Briefe  ist  eine  Unklarheit,  welche  K.  selbst  weiter  treiben 
musste.  Was  sind  die  besagten  Objecte  der  Mathematik?  Es  scheint  an- 
fänglich, es  seien  die  empirischen  Gegenstände.  Die  Fortsetzung  zeigt  aber, 
dass  es  die  reinen  Objecte  der  Mathematik  selbst  sind,  die  willkürlich  ge- 
machten mathem.  Gegenstände,  z.  B.  das  Dreieck.  Gerade  hier  musste  K. 
die  Erkenntniss  aufgehen,  dass  es  sich  in  der  That  um  zweierlei  handle,  um 
die  Gültigkeit  der  reinen  Mathematik  an  sich  und  um  die  Gültigkeit  der- 
selben für  die  empirischen  Objecte.  Und  die  Verfolgung  des  ersten  Gedankens 
befestigte  ihn  in  der  schon  1770  gewonnenen  Erkenntniss,  dass  die  Urt heile 
der  reinen  Mathematik ,  wie  ihre  Begriffe  synthetisch  gebildet  sind, 
so  auch  ihrerseits,  wenn  auch  in  anderem  Sinne,  synth.  Natur  sind,  d.  h.  dass 
in  ihnen  über  den  Begriff  hinausgegangen  wird,  dass  blosse  Begriffs- 
zergliederung zu  ihnen  nicht  genügt.  Und  daraus  entwickelte  sich  dann  die  neue 
Fragestellung,  bei  welcher  in  erster  Linie  gefragt  wird,  wie  ist  dieses  Hin- 
ausgehen über  den  Begriff  (nicht  zum  Gegenstand,  sondern  zum  Prä- 
dicat)  möglich?  und  zwar  a  priori  möglich ?  Und  dann  kommt  in  zweiter 
Linie  die  aber  darum  nicht  minder  wichtige  Frage,  die  auch  in  der  Hauptfrage 
liegt:  Wie  ist  es  zu  erklären,  dass  mit  diesen  synthetischen  Sätzen  a  priori 
die  Erfahrung  conform  ist?  Dass  jene  Urtheile  von  Gegenständen  gelten, 
ohne  von  ihnen  entlehnt  zu  sein?  Nach  Paulsen  wäre  die  Frage  eigentlich 
nur:  Warum  gelten  Urtheile  aus  reiner  Vernunft  von  Gegenständen? 
Wie  sind  Urtheile  aus  Begriffen  von  Gegenständen  möglich?  Aber  K. 
fragt  bei  dieser  zweiten  Frage  bestimmter:  wie  sind  synthetische  Urtheile 
a  priori,  d.  h.  Urtheile,  die  nicht  aus  Begriffen  sind,  und  die  doch  a  priori 
geMlt  werden,  über  Gegenstände  möglich?  [Damit  geht  allerdings  auch 
eine  Aenderung  des  analytischen  Urtheiles  vor  sich.  Denn  jene  Frage 
scheint  ja  noch  die  Möglichkeit  zu  lassen,  dass  auch  analyt.  Urtheile  sich 
auf  Gegenstände  beziehen.  Wenn  „synthetisch"  und  „auf  Gegenstände  sich 
beziehen"  identisch  wäre,  so  wäre  jene  Frage  eine  Tautologie,  wozu  sie 
auch  bei  Paulsen  wird  (a.  a.  0.  158  verglichen  mit  167).  Allein  es  herrscht 
bierin  so  wenig  Deckung,  dass  man  im  Sinne  Kants  ganz  gut  sagen  könnte, 
auch  analytische  Urtheile  gelten  von  Gegenständen.  In  der 
That,  dasUrtheil:  ^Gold  ist  ein  gelbes  Metall"  gilt  ebenso  sehr  von  Gegen- 
ständen als  das  Urtheil:  „Gold  ist  dehnbar",  obwohl  das  erstere  analytisch, 
das  andere  synthetisch  ist.  Kant  sagt  ja  ausdrücklich,  derartige  analytische 
Urtheile  beruhen  auf  den  empirischen  Begriffen,  wie  sie  uns  die  Er- 
fahrung gibt  (vgl.  oben  282.  287).  K.  hätte  keinen  Anstand  genommen,  dies  ein 
Urtheil  über  Gegenstände  zu  nennen,  aber  ans  Begriffen.  Mit 
dieser  Auffassung  steht  allerdings  die  traditionelle  Auslegung  im  schroffsten 


332  Commentar  zur  Einleitang  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [R  705.  H  45.  K  61.] 

Widerspruch  (vgl.  oben  265).  Paulsen  lehrt  153,  das  analytische  ürtheil  sei 
ein  Urtheil  über  Begriffe.  Kant  premirt  dies  in  der  Einl.  keineswegs,  mag 
das  auch  an  einzelnen  Stellen,  bes.  in  der  Dial.  hervortreten  (vgl.  oben  251). 
Das  anal,  ürtheil  ist  ans  Begriffen,  kann  aber  doch  Ober  Gegen- 
stände sein.  Man  darf  nicht  „über  Begriffe"  und  „aus  Begriffen"  ver- 
wechseln. Analytische Urtheile  über  Gegenstände  sind  nun  einfach  möglich, 
weil  und  insofern  der  analysirte  Begriff  aus  der  Erfahrung  stammt. 
Behandelt  das  analytische  Urtheil  nicht  empirische  Begriffe,  so  bedarf  es 
keiner  Frage;  denn  das  ist  eben  Kants  Grundüberzeugung,  dass  analytische 
Urtheile  aus  nicht  empirischen  Begriffen  keinen  wahren  Erkenntnisswerth  haben 
können.]  So  wenig  ist  also  der  Unterschied  von  analytisch  und  syn- 
thetisch identisch  mit  dem  von  logisch  und  real,  dass  analytische  Urtheile 
real  sein  können  und  dass  synthetische  nicht  real  zu  sein  brauchen  (z.  B. 
die  Welt  ist  endlich).  Dess wegen  soll  nun  aber  keineswegs  geleugnet  werden, 
dass  sich  jener  Unterschied  von  analyt.  und  synthet.  Urtheilen,  wie  er  sich  aus 
dem  Unterschied  logischer  und  realer. Urtheile  entwickelt  hat,  so  auch  in 
denselben  allmälig  wieder  sich  verlor,  wofür  wir  oben  selbst  Stellen  beigebracht 
haben  '.     So   möge   man   die   vorliegende  Hauptfrage  in  ihrer  schneidigen 


^  Diese  Bemerkung  dient  zur  Ergänzung  des  Excurses  (S.  269  ff.)  über  die 
Entwicklung  d»»r  Unterscheidung  der  analytischen  und  synthetischen  Urtheile.  Es 
lassen  sich  in  ihr  offenbar  die  oben  im  Text  angedeuteten  drei  Perioden  unter- 
scheiden. In  der  ersten  Periode  (1762  ff.)  fallt  der  Unterschied  der  analytischen 
und  synthetischen  Urtheile  zusammen  mit  der  Unterscheidung  bloss  logiscb-sub- 
jectiver  Begriffszergliederung  und  real-objectiver  Erkenntniss  der  ThatAachen«,  und 
deckt  sich,  wie  bereits  bemerkt,  mit  der  Unterscheidung  rationaler  und  empirischer 
Urtheile  (vgl.  oben  S.  271  ff.  288).  In  der  zweiten  Periode  (1768  ff.)  wird 
diese  dreifache  Congruenz  gestört  und  aufgehoben  durch  die  neuen  Einsichten 
über  die  Beschaffenheit  der  mathematischen  Urtheile.  Sobald  diese  als  syn- 
thetische (vgl.  oben  S.  274)  erkannt  sind,  fällt  jene  Corigruenz  hinweg;  denn  sie 
sind  nicht  nur  apriorisch,  sondern  —  als  Urtheile  der  reinen  Mathematik  an  sich 
—  nicht  ohne  Weiteres  identisch  mit  Realurtheilen ;  der  Zerfall  dieser  Verbindung 
rousste  aber  befördert  werden,  sobald  die  Urtheile  der  transscendenten  Metaphysik 
auch  als  synthetische  a  priori  erkannt  waren  (vgl.  oben  S.  276)  und  diese  haben 
ja  schon  gar  keinen  realen  Erkenntnisswerth.  Nun  heisst  „synthetisches  Urtheil 
a  priori"  weiter  gar  nichts  als  ein  Urtheil,  in  welchem  ohne  Zuhilfenahme  der 
Erfahrung  dem  Subjectsbegriff  ein  nicht  in  ihm  liegendes  Prädicat  hinzugefügt 
wird,  unangesehen,  ob  dieses  Urtheil  wirklichen  Erkenntnisswerth  besitzt  oder 
nicht  (vgl.  oben  S.  316).  Dies  ändert  sich  nun  aber  wiederum  in  der  dritten 
Periode.  Erstens  hatte  Kant  die  Urtheile  der  transscendenten  Metaphysik  als  ima- 
ginär stigmatisirt,  zweitens  wurden  jene  beiden  oben  gekennzeichneten  Seiten  der 
mathematischen  Urtheile  —  als  abstracter  und  als  concret  -  angewandter  —  von 
Kant  vermischt,  drittens  wurde  durch  falsche  Deutung  des  synthetischen  Urtheils 
(als  eines,  zu  welchem  Anschauung  hinzutritt,  vgl.  oben  S.  277)  und  durch  Ver- 
mischung mit  der  transscendentalen  Synthesis  (vgl.  ob.  S.  268. 276. 325)  der  bisherige 
Sinn  des  synthetischen  Urtheils  a  priori  verwischt,   so   dass  jetzt  das  eigentliche 


Sinn  und  Entwicklung  des  synthetischen  Urtheils.  333 

[R  705.  H  45.  E  61.]  B  19. 

Schärfe  fassen  und  nicht  eine  Umbildung  vornehmen,  welche  nicht  bloss  der 
Mathematik  halber  ganz  unmöglich  ist.    Wenn  Paulsen  170  sagt,  diese  „of- 
ficielle*  Formel  sei  erst  nachher   erfanden  und  eingesetzt,   und  die   Unter- 
suchung sei  so  gut  wie  ganz  ohne  sie  zur  Entscheidung  geführt  worden,  d.  h. 
also,   die  ganze  Unterscheidung  analytischer  und  synthetischer  Urtheile  im 
strengen  Sinne  sei  für  die  Kritik  bedeutungslos  und  bleibe  der  I.  Aufl. 
fast  ganz  fern,  so  ist  dies,  wie  sich  zeigen  wird,  ein  vollständiger  Irrthum. 
Wie  konnte  dann  K.  auch   auf  diese  Unterscheidung  einen  so  hohen  Werth 
legen?    Die  Vermischung  des  Kant 'sehen  Unterschiedes  mit  dem  Hume'schen 
zwischen  Urtheile  über  Begriffe  und  Urtheile  überGegenstände,  zwischen 
logischen  und  Existentialsätzen  ist  nicht  ohne  Weiteres  richtig.     Wie  wenig 
beides  zusammenfällt,  ergibt  sich  auch  aus  Kants  Bemerkung  über  Hume's 
Beurtheilung  der  Mathematik.     Was  er  demselben  vorwirft,  ist  nicht,    die 
Gültigkeit   der  Mathematik   für   die  empirischen  Gegenstände  bestritten 
zu  haben  '  (dieser  Vorwurf  triflFt  nach  K.  eher  Leibniz  und  seine  Anhänger), 
sondern  den  synthetischen  Charakter  der  Mathem.  nicht  erkannt  zu  haben; 
er  habe  geglaubt,  Mathem.  sei  eine  Wissenschaft  aus  Begriffen,  während 
sie  synthetisch  sei;  bes.  Krit.  d.  prakt.  Vem.  90:  „Hume  hielt  dafür,  dass  ihre 
Sätze  anal,  seien ,  d.  i.  von  einer  Bestimmung  zu  anderen  um  der  Identität 
willen,   mithin  nach   dem  Satz  d.  W.  fortschritten ,  welches  aber  falsch  ist, 
indem  sie  vielmehr  synth.  sind."    Die  Geometrie  „geht  von  einer  Bestimmung 
A  zu  einer  ganz  verschiedenen  B ,  als  dennoch  mit  jener   nothwendig  ver- 
knüpft,   über*.     Der  Streit  zwischen  Empirismus    und  Rationalismus   vor 
Kant  war  allerdings:   gibt  es,   wie  es  Urtheile   aus  reiner  Vernunft  über 
„relations  ofideas*'  gibt,  so  auch  Urtheile  aus  reiner  Vernunft  über  Gegen- 
stände?  (Paulsen  172.)    Aber  Kants  neue  Frageformel  schliesst  eben  ein 
(vgl.  unten  S.  838),  dass  Urtheile  aus  reiner  Vernunft  in  zwei  Gattungen  zer- 
fallen, in  analytische  und  synthetische,  und   indem   er  jene  von  der  Frage 
aosschliesst ,   fragt  er  einzig  nach   der  Möglichkeit  dieser.     Nicht  bloss  die 
Aesthetik ,  •  auch  die  Analytik  und  Dialektik   sind  ohne  diesen  Unterschied 
unverständlich,  der  von  dem  Unterschied  logischer  und  realer  Gültigkeit  we- 
sentlich zu  trennen  ist.     K.   fragt  also   nach  der  realen  Gültigkeit  syn- 
thetischer Urtheile  aus  reiner  Vernunft.    Man  kann  im  Sinne  Kants  auch 
fragen:  Wie  können  wir   durch  blosses  Denken   erkennen?     Aber   das 


synthetische  ürtheil  a  priori  (in  der  Mathematik  und  in  der  reinen  Naturwissen- 
schaft) als  gültiges  Erkenntnissartheil  eben  wieder  mit  realem  Urtheil  coincidirt ; 
(vgl.  oben  S.  268  Cohen  u.  Riehl,  u.  bes.  S.  318).  Alle  Schwierigkeiten  sind  da- 
durch freilich  nicht  gelöst,  besonders  nicht  die  auf  S.  266  Anm.  berührten. 

*  Allerdings  that  das  Hnme,  worauf  auch  Paulsen  167  anspielt,  aber  vor- 
zugsweise in  seiner  ersten,  K.  unbekannt  gebliebenen  Hanptschrift.  Im  Gegen- 
theil  lobt  K.  Hnme,  dass  er  die  Mathematik  nicht  in  seinen  Skepticismus  hinein- 
gezogen habe  (s.  bes.  Krit.  d.  pr.  V.  Vorrede  fin.),  wobei  aber  allerdings  wieder 
jene  oben  berührte  Verwechslung  der  reinen  nnd  angewandten  Mathematik  herein- 
spiclt    Vgl.  oben  S.  828,  unten  S.  361  ff. 


334  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  [B  705.  706.  H  45.  E  61.] 

Denken,  das  dabei  zur  Sprache  kommt,  ist  ein  synthetisches,  und  es  theilt 
sich  die  Frage  so:  1)  wie  können  wir  synthetisch  denken?  2)  wie  können 
wir  durch  synthetisches  Denken  Erkenntniss  erhalten?  Die  K.'sche 
Formulirung  der  Frage  ist  also  keineswegs  ,,missyerständlich''  an  sich,  kana 
aber  zu  Missverständnissen  fuhren,  wenn  man  jene  beiden  Fragen  nicht 
trennt  und  dann  auch  natürlich  die  beiderlei  Lösungen  nicht  berücksich- 
tigt. Denn  jene  erstere  Frage  deckt  sich  mit  der  Frage  nach  der  psycho- 
logischen, die  zweite  mit  der  nach  der  „transscendentalen*'  Möglichkeit  der 
synthetischen  ürtheile  a  priori  (vgl.  oben  S.  817). 

7)  Volkelt,  Ks.  Erkenntnissth.  n.  ihren  Grundprinc.  anal.  30  ff.  (11,  84) 
228  sucht  zu  zeigen,  dass  in  der  Formulirung  des  kritischen  Hauptproblems 
die  Frage  nach  der  Ueberwindbarkeit  oder  Unüberwindlichkeit  des  Funda- 
mentalgegensatzes zwischen  dem  Vorstellen  und  dem  Jenseits  (zwischen  Ersch. 
und  Ding  an  sich)  als  wesentlicher  Factor  mitgewirkt  habe.  Der  Beweis 
für  diese  Behauptung  ist  nicht  durchaus  zwingend.  (Derselbe  meint  S.  7,  11. 
K.  hätte  vor  dieser  Frage  erst  das  Verhältniss  von  Vorstellung  und  Ding* 
an  sich  prüfen  sollen,  vgl.  unten  S.  366).  Dass  aber  der  Rationalismus 
(und  zwar  der  immanente,  d.  h.  der  von  K.  in  der  „Mathem.  und  Natur- 
wissenschaft' angenommene)  das  treibende  Element  der  erkenntniss- 
theoretischen Grundfrage  ist  (Volkelt  a.  a.  0.  223.  233  f.),  ist  zwar 
selbstverständlich,  aber  die  Annahme  (a  a.  0.  228  ff.) ,  bei  der  Formulirung 
des  kritischen  Problems  habe  auch  das  skeptische  Erkenntnissprincip  mit- 
gewirkt, ist  bemerkenswerth  \  —  Lange,  Mat.  II,  12  schiebt  nach  dieser 
Frage  folgenden  Passus  ein:  „Antworten  wir;  durch  Offenbarung;  durch 
Eingebung  des  Genius ;  durch  Erinnerung  der  Seele  an  die  Ideenwelt,  in  der 
sie  früher  heimisch  war;  durch  Entwicklung  angeborener  Ideen,  die  von 
Geburt  auf  unbewusst  im  Menschen  schlummern  —  solche  Antworten  be- 
dürfen schon  desshalb  der  Widerlegung  nicht,  weil  die  Metaphysik  thatsäch- 
lich  bisher  in  der  Irre  herumgetappt  hat"  (vgl.  ib.  31).  Diese  an  den  Brief  Ks. 
an  Herz  von  1 772  erinnernde  Stelle  ist  ebenso  treffend,  als  die  nun  folgende 
Widerlegung  der  skeptisch -empirischen  Beantwortung  jener  Hauptfrage: 
Gar  nicht  —  schwach  ist,  ebenso  schwach,  als  Kants  eigene  ähnliche  Ver- 
suche, z.  B.  in  der  Vorr.  zur  Kr.  d.  pr.  V. 

Dass  man  sich  diese  Aufgabe  u.  s.  w.   Fischer  UI,  281  bemerkt:  K.  habe 


'  Dass  schon  in  der  Formulirung,  nicht  erst  in  der  Beantwortung  der  kriti- 
sehen  Grundfrage  eine  Synthese  des  Rationalismus  und  Skepticismus  enthalten 
ist,  —  Kant  nimmt  rationalistisch  das  Apriori  an,  fragt  aber  skeptisch  nach  dessen 
Möglichkeit  und  Umfang  —  liegt  ganz  in  der  Linie  des  S.  49—70  unserer  Ein- 
leitung Ausgeführten:  dass  Kants  System  nicht  bloss  im  grossen  Ganzen,  sondern 
in  jedem  einzelnen  Punkte,  in  Aesthetik,  Analytik,  Dialektik  und  also  auch 
schon  hier  in  der  Einleitung  (vgl.  oben  S.  178.  180  f.  und  ganz  besonders 
288  f.  und  unten  S.  382),  jene  Synthese  darstelle,  ist  ein  durchgehender  Grund- 
gedanke dieses  Commentars. 


Das  „neue  Problem"  und  die  „neue  Wissenschaft".  335 

[R  706.  H  45.  K  61.]  B  19. 

es  sehr  nachdrücklicli  betont,  dass  er  sich  nicht  erst  in  der  Lösung,  sondern 
schon  in  der  F  a  ssun  g  des  Erkenntnissproblems  von  allen  früheren  Philosophen 
unterscheide.  Kant  findet  Fortschr.  der  Met.  Ros.  I,  495  dann  einen  Haupt- 
fortschritt seiner  Lehre.  Vgl.  dazu  Kirchner,  Metaph.  S.  24  ff.  und  bes. 
Harms,  Phil.  s.  Kant  139:  Durch  die  Fragestellung  sei  K.  Gründer  der 
deutschen  Phil,  geworden ;  er  habe  dadurch  auf  allen  Gebieten  des  Erkcnnens 
alle  Kräfte  der  Forschung  in  Bewegung  gesetzt.  Kant  meint  («Von  einem 
neuerd.  erhob,  vom.  Ton  in  der  Phil.*  Anf.),  diese  Frage  nach  der  Mögl. 
sjnth.  Sätze  a  priori  habe  ohne  Zweifel,  obzwar  auf  eine  dunkle  Art,  schon 
Pia  ton  vorgeschwebt '.  Hätte  er,  sagt  K.,  «die  von  ihm  gegebene  Lösung 
eingesehen,  so  hätt«  er  nicht  zur  Schwärmerei  die  Fackel  angesteckt.  Aber 
er  habe  wenigstens  eingesehen,  dass  Mathematik  nothwendig  sei,  und  desshalb 
nicht  auf  einer  empirischen  Anschauung  beruhen  könne*.  Fortschr.  d.  Met. 
Bosenkr.  I,  567  rühmt  K.  Pia  ton,  dass  er,  der  Mathematiker  und  Philosoph, 
durch  diese  Thatsache  (synth.  Erk.  a  priori  in  der  Mathem.)  in  solche  Ver- 
wunderung versetzt  worden  sei,  dass  „er  diese  Kenntnisse  nicht  für  neue 
Erwerbungen  in  unserem  Erdenleben,  sondern  für  blosse  Wiederaufweckung 
weit  früherer  Ideen*  gehalten  habe,  «die  nichts  Geringeres  als  Gemeinschaft 
mit  dem  göttlichen  Verstände  zum  Grunde  haben  könne*.  Ein  blosser 
Mathematiker  und  ein  blosser  Philosoph  (wie  z.  B.  Aristoteles)  hätten  jenes 
Problem  nicht  erfasst,  weil  jener  nicht  das  Subject,  nur  das  Object  behandle, 
und  weil  dieser  den  specifischen  Unterschied  des  empirischen  und  reinen 
Denkens  verkenne.  Vgl.  hiezu  Brief  an  Herz,  vom  21.  Febr.  1772,  worüber 
am  Anfang  der  Deduction  näheres.  Cohen,  Kants  Th.  d.  Erf.  2  paraphrasirt 
die  ELauptfrage  mit  Bezug  auf  Leibniz  mit  folgenden  Worten:  «Hat  Leibniz 
die  Geltung,  welche  er  dem  Apriori  gab  (als  Erkennen  mit  dem  Sein 
zusammenzufallen),  begründet?  Hat  L.  es  auch  nur  denkbar  gemacht,  dass 
wir  mit  unserem  Denken,  mit  allen  unsern  Demonstrationen  eine  Realität  - 
der  Dinge  in  ihrer  behaupteten  Wahrheit  erfassen  können  ?  Kann  das  Apriori 
jenen  Anspruch  behaupten,  den  es  erhebt,  indem  es  über  die  begriffliche 
Gegebenheit  hinaus  in  einer  äusseren  Erfahrung  gelten  will?  —  Diese  Frage 
hat  K.  gestellt.  Mit  dieser  Frage  tritt  K.  ein  in  den  Streit  der  Schulen, 
welchen  Descartes  von  Neuem  angefacht  hat.  Mit  dieser  Frage  greift  K. 
das  Problem  von  den  angeborenen  Ideen  an  und  —  überwindet  es."  Vgl. 
die  Lambert'sche    Hauptfrage'   des    «Neuen  Organon*:    Wie   ist   streng 


^  Man  vgl.  hiezu  Fries^  Gesch.  d.  Philos.  II,  511.  514  und  ganz  beson- 
ders die  treffenden  Bemerkungen  von  v.  Stein,  Gesch.  d.  Plat.  III,  278  ff. 
281.  415,  sowie  Fouillde,  Pküos,  de  PL  II,  472.  Vgl.  oben  8.  289,  unten  S.  388. 

*  üeber  das  Verhältniss  Lamberts  zum  Kantischen  Hauptproblem  vgl.  bes. 
die  wichtigen  Ausführungen  von  Lepsius,  Lambert  66.  76.  79  ff.  82.  84.  105. 
107  ff.  112  (zu  Lambert,  Organon,  Dian.  §  656,  Archit.  §  19.  20).  Lepsius  hat 
die  allmälige  Entwicklung  des  Kantischen  Problems  (durch  Newton,  Locke,  Le- 
dere, Leibniz,  Crusius,  Lambert)  theil weise  aufgedeckt  a.  a.  0.  45  ff.  54  ff. 


336  Commentar  zur  Einleitung  B,  AbBcbn.  VI. 

B  19.  [R  706.  H  46.  E  61.] 

wissensch.  Erkenntniss  a  priori  d.  h.  durch  Ableitung  aus  dem  reinen  Begriff 
möglich?  Zimmermann,  Lamb.  4.  41.  43.  —  Da  die  Frage,  welche  die  Kritik 
behandelt,  bis  jetzt  noch  gar  nicht  aufgeworfen  ist,  so  ist  es  selbstverständlich, 
dass  diese  selbst  eine  ganz  neue  Wissenschaft  ist.  Hierüber  spricht  sich 
K.  in  den  Prol.  Vorr.  17  f.  so  aus:  „Man  ist  es  schon  lange  gewohnt,  alte 
abgenutzte  Erkenntnisse  dadurch  neu  aufgestutzt  zu  sehen,  dass  man  sie  aus 
ihren  vormaligen  Verbindungen  herausnimmt,  ihnen  ein  systematisches  Kleid 
nach  eigenem  beliebigen  Schnitte,  aber  unter  neuen  Titeln  anpasst;  und  nichts 
Anderes  wird  der  grösste  Theil  der  Leser  auch  von  jener  Kritik  zum  voraus 
erwarten.  Allein  diese  Prolegomena  werden  ihn  dahin  bringen,  einzusehen, 
dass  es  eine  ganz  neue  Wissenschaft  sei,  von  welcher  Niemand  auch  nur  den 
Gedanken  vorher  gefasst  hatte,  wovon  selbst  die  blosse  Idee  unbekannt  war, 
und  wozu  von  allem  bisher  Gegebenen  nichts  genutzt  werden  konnte,  als 
allein  der  Wink,  den  Hume's  Zweifel  geben  konnten,  der  gleichfalls  nichts 
von  einer  dergleichen  möglichen  förmlichen  Wissenschaft  ahnete.  Zu  einer 
neuen  Wissenschaft,  die  gänzlich  isolirt  und  die  einzige  ihrer  Art  ist,  mit 
dem  Vorurtheil  gehen,  als  könne  man  sie  vermittelst  seiner  schon  sonst 
erworbenen  vermeinten  Kenntnisse  beurtheilen,  obgleich  die  es  eben  sind,  an 
deren  Realität  zuvor  gänzlich  gezweifelt  werden  muss,  bringt  nichts  Anderes 
zuwege,  als  dass  man  allenthalben  das  zu  sehen  glaubt,  was  einem  schon 
sonst  bekannt  war,  weil  etwa  die  Ausdrücke  jenem  ähnlich  lauten,  nur  dass 
einem  alles  äusserst  verunstaltet,  widersinnisch  und  kauderwelsch  vorkommen 
muss,  weil  man  nicht  die  Gedanken  des  Verfassers,  sondern  immer  nur  seine 
eigene,  durch  lange  Gewohnheit  zur  Natur  gewordene  Denkungsart  dabei 
zum  Grunde  legt.'  Vgl.  Prol.  §  5:  „Man  darf  sich  also  auch  nicht  wundem, 
da  eine  ganze  und  zwar  aller  Beihilfe  aus  anderen  beraubte,  mithin  an  sich 
ganz  neue  Wissenschaft  nöthig  ist,  um  nur  eine  einzige  Frage  hinreichend 
zu  beantworten,  wenn  die  Auflösung  derselben  mit  Mühe  und  Schwierigkeit, 
ja  sogar  mit  einiger  Dunkelheit  verbunden  ist.'  In  den  Briefen  an  Herz 
vom  J.  1773  u.  1776  spricht  K.  von  der  Mühe,  die  ihm  die  Ausarbeitung 
dieser  „neuen  Wissenschaft'  mache.  „Ich  glaube  nicht,  dass  es  Viele  versucht 
haben,  eine  ganz  neue  Wissenschaft  der  Idee  nach  zu  entwerfen,  und  sie 
zugleich  völlig  auszuführen.'  Das  erfordere  Eintheilungen ,  neue  technische 
Ausdrücke  u.  s.  w.  Vgl.  oben  S.  153  ff.,  188,  unten  339  f.  u.  zu  A  10.  13. 
Der  Unterschied  der  analytischen  und  synthetischen  Urthelle  nicht 
frflher.  Prol.  §  5  nennt  K.  diesen  Unterschied  einen  „mächtigen'  und 
Fortschr.  K.  104  R.  I,  495  nennt  er  denselben  den  „ersten  Schritt',  der  in  der 
transscendentAlen  Vernunftforschung  geschehen  ist  *.  Prol.  §  3  enthält  folgende 


66  ff.  112.  Bei  Leclerc,  Opp,  Phü.  I,  380  heisst  es;  Verum  uhi  ad  res  ipaas 
devenimus,  qui  possit  axioma  ex  ahstractis  idefs  coüectum  eis  appUeari,  diffiallimum, 
imo  interdum  impossibile  seitu  est.     Vgl.  zur  Analytik  A  84  ff. 

*  Trotz  dieser  Wichtigkeit  haben  einige  Commentatoren  den  unterschied 
einfach  ignorirt,  z.  B.  der  oberflächliche  Kiesewetter!  Freilich  schrieb  er  auch 
nur  für  „Uneingeweihte**.  Auch  Chaly bau s  schweigt  hierttber  und  noch  Hehrere. 


Neuheit  des  Unterschieds  der  anal,  und  sjnnthet.  ürtheile.  337 

[R  706.  H  45.  K  61.]  B  19. 

Ausfuhrang:  „Diese  Eintheilung  ist  in  Ansehung  der  Kritik  des  menschlichen 
Verstandes  unentbehrlich  und  verdient  daher  in  ihr  cl assisch  zu  sein;  sonst 
wüsste  ich  nicht,  dass  sie  anderwärts  einen  beträchtlichen  Nutzen  hätte. 
Und  hierin  finde  ich  auch  die  Ursache,  wesswegen  dogmatische  Philosophen  \ 
die  die  Quellen  metaphysischer  Ürtheile  immer  nur  in  der  Metaphysik  selbst, 
nicht  aber  ausser  ihr,  in  den  reinen  Vemunftgesetzen  überhaupt  suchten, 
[nach  Meilin,  Bd.  I,  469 :  nicht  in  den  Gesetzen  des  menschlichen  Erkenntniss- 
vermögens, sondern  in  den  metaph.  Begriffen  selbst]  diese  Eintheilung,  die 
sich  von  selbst  darzubieten  scheint,  vernachlässigten,  und  wie  der  berühmte 
Wolf,  oder  der  seinen  Fussstapfen  folgende  scharfsinnige  Baumgarten 
den  Beweis  von  dem  Satze  des  zureichenden  Grundes  [dem  Oausalitätsgesetz], 
der  offenbar  synthetisch  ist,  im  Satze  des  Widerspruchs  suchen  [d.  h.  ihn 
analytisch  aus  diesem  Satze  ableiten]  konnten.  Dagegen  treffe  ich  schon 
in  Locke's  Versuchen  über  den  menschlichen  Verstand  einen  Wink  zu  dieser 
Eintheilung  an.  Denn  im  4.  Buche,  dem  3.  Hauptstücke  §  9  u.  f.,  nachdem 
er  schon  vorher  von  der  verschiedenen  Verknüpfung  der  Vorstellungen  im 
ürtheile  und  deren  Quellen  geredet  hatte,  wovon  er  die  eine  in  der  Identität 
oder  Widerspruch  setzt  (analytische  ürtheile),  die  andere  aber  in  der  Existenz 
der  Vorstellungen  in  einem  Subject  [d.  h.  hier  in  dem  Zusammen  bestehen 
der  Merkmale  in  einem  Object,  einer  Substanz.  K.  citirt  die  üebersetzung 
V.  Poley]  (synthetische  ürth.),  so  gesteht  er  §  10,  dass  unsere  Erkenntniss 
(a  priori)  von  der  letzteren  [dem  Zusammen  der  Merkmale  in  einem  Gegenstand] 
sehr  enge  und  beinahe  gar  nichts  sei.  Allein  es  herrscht  in  dem,  was  er 
von  dieser  Art  Erkenntniss  sagt,  so  wenig  Bestimmtes  und  auf  Regeln 
Gebrachtes,  dass  man  sich  nicht  wundern  darf,  wenn  Niemand,  sonderlich 
nicht  einmal  Hume  Anlass  genommen  hat,  über  Sätze  dieser  Art  Betrachtungen 
anzustellen."  Man  lerne  Derartiges  nicht  von  denen,  welchen  es  nur  dunkel 
vorschwebe,  finde  es  aber  nachher  bei  ihnen  vorgebildet,  wenn  man  es  selbst 
erforscht  habe,  während  solche  die  nicht  selbst  denken,  einen  derartigen 
„Vorspuck  einer  Lehre **  (um  mit  Schopenhauer  zu  reden)  leicht  ausspüren  *. 
Vgl.  Pro  leg.  Vorr.  S.  1.  Was  die  von  Kant  angegebenen  historischen 
Notizen  betrifft,  so  ist  in  Bezug  auf  Hume  noch  herbeizuziehen,  was  K. 
Prol.  §  4  und  Krit.  S.  764  sagt  (die  erstere  Stelle  s.  u.  S.  361  genauer);  Hume 
habe  den  unterschied  f actisch  gemacht,  wenn  auch  nicht  dem  Namen  nach. 
^Hume  hatte  es  vielleicht  in  Gedanken,  wiewohl  eres  niemals  völlig  entwickelte, 
dass  wir  in  ürtheilen  von  gewisser  Art  über  unsern  Begriff  vom  Gegenstande 


'  Vgl.  Fortschr.  K.  104  R.  I.  495:  „Wäre  diese  Unterscheidung  zu  Leibniz's 
und  Wolfs  Zeiten  deutlich  erkannt  worden,  wir  würden  diesen  Unterschied 
irgend  in  einer  seitdem  erschienenen  Logik  oder  Metaphysik  nicht  allein  berührt, 
sondern  auch  als  wichtig  eingeschärft  finden".  Ib.  K.  118.  H.  I.  520:  Es  fehlte  jede 
„deutliche  Kenntniss"  des  Unterschiedes. 

•  „Geschickte  Ausleger  sehen   viele   Entdeckungen  jetzt  ganz   klar   in    den 
Alten ,  nachdem  ihnen  gezeigt  worden,  wonach  sie  sehen  sollen."   Entd.  R.  I,  401. 
Vaililnger,  Eant-Gommentar.  22 


338  Commentar  zur  Einleitung  6,  Abschn.  VI. 

B  19.  [R  706.  H  45.  E  61.] 

hinausgehen.  Ich  habe  diese  Art  von  Urth.  synth.  genannt.*'  Vgl.  Krit. 
d.  prakt.  Vern.  90.  Was  Locke  betrifft,  so  ist  schon  mehrfach  z.  B.  von 
Laas,  Ks.  Analog,  d.  Erf.  286  darauf  aufmerksam  gemacht  worden,  dass 
in  den  Essays  das  8.  Capitel  des  IV.  Buches  viel  mehr  hieher  Gehöriges 
enthalte,  als  die  von  K.  citirte  Stelle.  Locke  spricht  daselbst  von  „trifling 
propositions^ ,  nutzlosen  Sätzen,  den  total  und  partialidentischen.  Vgl. 
Mahaffy,  Comm.  28  Anm.  Genaueres  hierüber  in  dem  schon  erwähnten 
Supplement  über  die  Vorgeschichte  der  Untersch.  anal.  u.  synth. 
Urth  eile.  Hieher  gehört  eine  ausführliche  Aeusserung  Ks.  über  diesen  Gegen- 
stand in  „ Entdeckung '^  Ros.  1, 473  ff.,  vgl.  458,  (gegen  Eberhard  Phil.  Mag.  I, 
311,  317).  Dieselbe  wird  mit  einer  allgemeinen  Bemerkung  darüber  eingeleitet, 
dass  neue  Unterscheidungen  wie  diese  gerne  auch  bei  den  früheren  aufgestöbert 
werden.  In  diesem  Falle  beweise  aber  der  Umstand,  dass  die  aus  jener 
Unterscheidung  fliessenden  wichtigen  Folgen  bis  jetzt  nicht  gezogen  worden 
seien,  während  sie  doch  in  die  Augen  springen,  dass  auch  jene  Unterscheidung 
selbst  bis  jetzt  noch  nicht  gemacht  worden  sei.  Die  Frage,  wie  Erkenntniss 
a  priori  möglich  sei,  sei  allerdings  längstens  vornehmlich  seit  Locke's  Zeit 
aufgeworfen  und  behandelt  worden;  „was  war  natürlicher,  als  dass,  sobald 
man  den  Unterschied  des  Analytischen  vom  Synthetischen  in  demselben 
deutlich  bemerkt  hätte,  man  diese  allgemeine  Frage  auf  die  besondere  ein- 
geschränkt haben  würde:  wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich? 
Denn  sobald  diese  aufgeworfen  worden,  so  geht  Jedermann  ein  Licht  auf, 
nämlich ,  dass  ,das  Stehen  und  Fallen  der  Metaphysik*  lediglich  auf  der  Art 
beruht,  wie  die  letztere  Aufgabe  aufgelöst  würde:  man  hätte  sicherlich  alles 
dogmatische  Verfahren  mit  ihr  so  lange  eingestellt,  bis  man  über  diese 
einzige  Aufgabe  hinreichende  Auskunft  erhalten  hätte,  die  Kritik  der  r.  V. 
wäre  das  Losungswort  geworden,  vor  welchem  auch  die  stärkste  Posaune 
dogmatischer  Behauptungen  derselben  nicht  hätte  aufkommen  können.''  Da 
dies  nicht  geschehen  sei,  so  sei  auch  jener  Unterschied  nicht  gehörig  eingesehen 
worden.  Das  sei  auch  desshalb  nicht  geschehen,  weil  man  Logik  und  Transsc. 
Philos.  nicht  gehörig  geschieden  habe  (vgl.  o.  S.  268).  Die  Eintheilung  hätte 
auch  nicht  genügt,  wenn  man  bloss  in  identische  und  nicht  identische 
Urtheile  eingetheilt  hätte.  Denn  die  letztere  Bezeichnung  enthalte  nicht  die 
mindeste  Anzeige  auf  eine  besondere  Art  der  Möglichkeit  einer  solchen 
Verbindung  der  Vorstellungen  a  priori,  während  der  Ausdruck  »Synthetisch* 
auf  die  „Synthesis  a  priori"  hinweise.  Nach  Zurückweisung  der  Behauptung, 
die  Unterscheidung  finde  sich  bei  Locke,  Reusch,  Crusius  (vgl.  d.  ang.  SuppK), 
sagt  er.  Niemand  habe  diese  Unterscheidung  somit  in  ihrer  Allgemeinheit 
zum  Behuf  einer  Kritik  der  r.  V.  überhaupt  begriffen,  denii  sonst  hätte  man 
die  Mathematik,  mit  ihrem  grossen  Beichthum  an  synthetischen  Erkennt- 
nissen a  priori,  zum  Beispiel  obenan  stellen,  sowie  die  Möglichkeit  derselben 
in  der  Mathem.,  sodann  in  der  Metaphysik,  untersuchen  müssen,  und  fragen, 
warum  diese  so  wenig  synthetische  Erkenntniss  a  priori  habe.  Vgl.  Portschr. 
d.  Metaph.  R.  I,  510.     Vgl.  unten  S.  361  ff.  (über  Hume). 


Das  „Stehen  and  Fallen^  der  Metaphysik.  339 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19. 

Dm  Stellen  und  Fallen  der  Metopbysik.  Vgl.  o.  S.  318.  888.  In  der  Vorr. 
der  Proleg.  fuhrt  K.  dies  femer  aus:  „ Meine  Absicht  ist,  alle  diejenigen,  so 
es  werth  finden,  sich  mit  Metaphysik  zu  beschäftigen,  zu  überzeugen:  dass 
es  unumgänglich  nothwendig  sei,  ihre  Arbeit  vor  der  Hand  auszusetzen,  alles 
bisher  Geschehene  als  ungeschehen  anzusehen  und  vor  allen  Dingen  erst  die 
Frage  aufzuwerfen:  „ob  auch  so  etwas,  als  Metaphysik,  überall  nur  möglich 
sei?*'  Ist  sie  Wissenschaft,  wie  kommt  es,  dass  sie  sich  nicht,  wie  andere 
Wissenschaften,  in  allgemeinen  und  dauernden  Beifall  setzen  kann?  Ist  sie 
keine,  wie  geht  es  zu,  dass  sie  doch  unter  dem  Scheine  einer  Wissenschaft 
unaufhörlich  gross  thut  und  den  menschlichen  Verstand  mit  niemals 
erlöschenden,  aber  nie  erfüllten  Hoffnungen  hinhält?  Man  mag  also  entweder 
sein  Wissen  oder  Nichtwissen  demonstriren,  so  muss  doch  einmal  über  die 
Natur  dieser  angemassten  Wissenschaft  etwas  Sicheres  ausgemacht  werden; 
denn  auf  demselben  Fusse  kann  es  mit  ihr  unmöglich  länger  bleiben.  Es 
scheint  beinahe  belachenswerth ,  indessen  dass  jede  andere  Wissenschaft 
unaufhörlich  fortrückt,  sich  in  dieser,  die  doch  die  Weisheit  selbst  sein  will, 
deren  Orakel  jeder  Mensch  befragt,  beständig  auf  derselben  Stelle  herumzudrehen, 
ohne  einen  Schritt  weiter  zu  kommen.  ...  Es  ist  aber  eben  nicht  so  was 
Unerhörtes,  dass,  nach  langer  Bearbeitung  einer  Wissenschaft,  wenn  man 
Wunder  denkt,  wie  weit  man  schon  darin  gekommen  sei,  endlich  sich  Jemand 
die  Frage  einfallen  lässt:  ob  und  wie  überhaupt  eine  solche  Wissenschaft 
möglich  sei?  ...  Es  ist  niemals  zu  spät,  vernünftig  und  weise  zu  werden; 
es  ist  aber  jederzeit  schwerer,  wenn  die  Einsicht  spät  kommt,  sie  in  Gang 
zu  bringen.  Zu  fragen:  ob  eine  Wissenschaft  auch  wohl  möglich  sei,  setzt 
voraus,  dass  man  an  der  Wirklichkeit  derselben  zweifle.  Ein  solcher  Zweifel 
aber  beleidigt  Jedermann,  dessen  ganze  Habseligkeit  vielleicht  in  diesem 
vermeinten  Kleinode  bestehen  möchte ;  und  daher  mag  sich  der,  so  sich  diesen 
Zweifel  entfallen  lässt,  nur  immer  auf  Widerstand  von  allen  Seiten  gefasst 
machen.  Einige  werden  in  stolzem  Bewusstsein  ihres  alten  und  eben  daher 
für  rechtmässig  gehaltenen  Besitzes,  mit  ihren  metaphysischen  Kompendien 
in  der  Hand,  auf  ihn  mit  Verachtung  herabsehen ;  Andere,  die  nirgend  etwas 
sehen,  als  was  mit  dem  einerlei  ist,  was  sie  schon  sonst  irgendwo  gesehen 
haben^  werden  ihn  nicht  verstehen,  und  alles  wird  einige  Zeit  hindurch  so 
bleiben,  als  ob  gar  nichts  vorgefallen  wäre,  was  eine  nahe  Veränderung 
besorgen  oder  hoffen  Hesse.  Gleichwohl  getraue  ich  mir  vorauszusagen,  dass 
der  selbstdenkende  Leser  nicht  bloss  an  seiner  bisherigen  Wissenschaft  zweifeln, 
sondern  in  der  Folge  gänzlich  überzeugt  sein  werde,  dass  es  dergleichen  gar 
nicht  geben  könne,  ohne  dass  die  hier  geäusserten  Forderungen  geleistet 
werden,  auf  welchen  ihre  Möglichkeit  beruht,  und  da  dieses  noch  niemals 
geschehen,  dass  es  überall  noch  keine  Metaphysik  gebe.*'  Dieser  letzte,  stolze 
Satz  wurde  K.  als  arrogant  angerechnet.  Er  vertheidigt  sich  gegen  diesen 
Vorwurf  in  der  Vorrede  zur  Metaphysik  der  Sitten  (1797),  indem  er 
darauf  hinweist,  dass  es  doch  nur  Eine  wahre  Philosophie  geben  könne, 
und    dass   daher  jeder,    der   ein    neues    System   ankündige,   die    bisherigen 


340  Commentar  zur  Einleitang  B,  Absclm.  VI. 

B  19.  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

verwerfe  als  nichtig,  ohne  ihnen  ihren  propädeutischen  Werth  abzusprechen. 
(Vgl.  Prol.  §.  5;  „man  habe  bis  jetzt  keine  Transscendentalphilos."  Prol.  K.  133 
Or.  194.  a  Diese  Wissenschaft  existirt  noch  nicht.*  K.  134.  Or.  195.  ,,Metaph. 
hat  als  Wissensch.  bisher  noch  gar  nicht  existirt."    Vgl.  oben  S.  318  f. 

Dayid  Hnme.     Zum  Verständniss  dieser  Bemerkungen  über  Hume  bedarf 
es  der  Zusammenstellung  der  Hauptstellen,   an  denen  sich  K.  über  Hume^s 
Philosophie  äussert,  resp.  über  seine  Theorie  der  Causalität.     Schon  in 
der  I.  Aufl.,  in   der  Methodenl.   759  f.,   äussert  sich  K.  hierüber:  „Er  hält 
sich  vornehmlich  bei  dem  Grundsatz   der  Causalität  auf  und  bemerkt 
von  ihm  ganz  richtig,  dass  man  seine  Wahrheit  (ja  nicht  einmal  die  objective 
Gültigkeit  eines  Begriffs  einer  wirkenden  Ursache  überhaupt)  auf  gar  keine 
Einsicht  d.  i.  Erkenntniss  a  priori  fusse,  dass  daher  auch  nicht  im  mindesten 
die   Nothwendigkeit    dieses    Gesetzes,    sondern    eine   blosse    allgemeine 
Brauchbarkeit   desselben  in   dem  Laufe    der  Erfahrung  und  eine  daher  ent- 
springende subjective  Nothwendigkeit,  die  er  Gewohnheit  nennt,  sein  ganzes 
Ansehen  ausmache.     Aus  dem  Unvermögen  unserer  Vernunft  nun,  von  diesem 
Grundsatze  einen  über  alle  Erfahrung  hinausgehenden  Gebrauch  zu  machen, 
schloss  er  die  Nichtigkeit  aller  Anmassungen  der  Vernunft,  überhaupt,  über 
das  Empirische    hinauszugehen.*     (Vgl.   hiezu  S.  745.)     S.   764  ff.   führt  K. 
das  weiter  so    aus:  Hume   habe  zwischen  den  gegründeten  Ansprüchen   des 
Verstandes   auf  apriorische   Erkenntniss    und    den    dialectischen   Anmas- 
sungen   der  Vernunft   keinen  Unterschied  gemacht;   auf  die  letztere   Art 
bezieht  sich  die  oben  erwähnte  Anwendung  der  Gaus,  über  alle  Erfahrung 
hinaus.     Aber   auch  für  das  Erfahrungsgebiet  bestritt  er   die  Möglichkeit 
apriorischer  Erkenntniss;  er   hielt    „die  Vermehrung   der   Begriffe    aus  sich 
selbst,  und   so  zu  sagen,   die  Selbstgebärung  des   Verstandes,    ohne  durch 
Erfahrung  geschwängert  zu  sein,   mithin  alle  vermeintlichen  Principien  der 
Erfahrung  a  priori  [d.  h.  die  allgemeinen  noth wendigen  Gesetze,  welche  von 
der  Erfahrungswelt  gelten,    aber   vor  der  Erfahrung  vorhergehen]   für  ein- 
gebildet", und  hielt  sie  bloss  für  zufällige  Regeln.     Er  habe  sich  zu  dem 
Beweis  dieser   befremdlichen  Behauptung  auf  das  Causalitätsgesetz  bezogen, 
dessen   empirischen  Ursprung   er  festhielt.     Aber  hierin   sei  ihm  eine    neue 
Verwechslung  begegnet.     Nur  die  Erfahrung,  habe  Hume  gesagt,  könno 
uns   lehren,    welche    bestimmte  Wirkung    eine   Ursache   habe,    und    welche 
bestimmte  Ursache  für  ein  Geschehen  anzunehmen  sei.     „Dass  das  Sonnenlicht, 
welches  das  Wachs  beleuchtet,   es  zugleich  schmelze,  indessen  es  den  Thon 
härte,    könne  kein  Verstand   aus   Begriffen,    die   wir  vorher    von   diesen 
Dingen  hatten,  .  .  .  schliessen  und  nur  Erfahrung  könne  uns  ein  solches  Gesetz 
lehren."      Aus  dieser  Zufälligkeit  einer  bestimmten   Ursache    oder    einer 
bestimmten  Wirkung  habe  nun  Hume  irrthümlicherweise  auf  die  Zufälligkeit 
des  allgemeinen  Causalitätsgesetzes  überhaupt  geschlossen,  und  habe 
aus  einem  Verstandesprincip  eine  bloss  subjective  Regel  der  Einbildungskraft 
gemacht.  —  Zu  diesen  Bemerkungen  tritt  nun  jene  berühmte  Stelle  in  der 
Vorrede   der   Pro  leg.,   die  wir  vollinhaltlich   wiedergeben;    „Seit   Locke's 


Home's  Gausalitätstheorie  nach  Kant.  341 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

und  Leibniz's  Versuchen \  oder  vielmehr  seit  dem  Entstehen  der  Metaphysik, 
so  weit  die  Geschichte  derselben  reicht,  hat  sich  keine  Begebenheit  zugetragen^ 
die  in  Ansehung  des  Schicksals  dieser  Wissenschaft  hätte  entscheidender 
werden  können,  als  der  Angriff,  den  David  Hume  auf  dieselbe  machte. 
Er  brachte  kein  Licht  in  diese  Art  von  Erkenntniss,  aber  er  schlug  doch 
einen  Funken,  bei  welchem  man  wohl  ein  Licht  hätte  anzünden  können,  wenn 
er  einen  empfänglichen  Zunder  getroffen  hätte,  dessen  Glimmen  sorgföltig 
wäre  unterhalten  und  vergrössert  worden.  Hume  ging  hauptsächlich  von 
einem  einzigen,  aber  wichtigen  Begriffe  der  Metaphysik,  nämlich  dem  der 
Verknüpfung  der  Ursache  und  Wirkung,  (mithin  auch  dessen  Folge- 
begriffe  der  Kraft  und  Handlung  u.  s.  w.)  aus,  und  forderte  die  Vernunft, 
die  da  vorgibt,  ihn  in  ihrem  Schosse  erzeugt  zu  haben,  auf;  ihm  Bede 
und  Antwort  zu  geben,  mit  welchem  Rechte  sie  sich  denkt: 
dass  etwas  so  beschaffen  sein  könne,  dass,  wenn  es  gesetzt  ist,  dadurch  auch 
etwas  Anderes  nothwendig  gesetzt  werden  müsse ;  denn  das  sagt  der  Begriff 
der  Ursache.  Er  bewies  unwidersprechlich ,  dass  es  der  Vernunft  gänzlich 
unmöglich  sei,  a  priori  und  aus  Begriffen  [?]  eine  solche  Verbindung  zu  denken ; 
denn  [?]  diese  enthält  Nothwendigkeit ;  es  ist  aber  gar  nicht  abzusehen,  wie 
darum,  weil  Etwas  ist,  etwas  Anderes  nothwendigerweise  auch  sein  müsse, 
und  wie  sich  also  der  Begriff  von  einer  solchen  Verknüpfung  a  priori  einfuhren 
lasse  [?].  Hieraus  schloss  er,  dass  die  Vernunft  sich  mit  diesem  Begriffe  ganz 
und  gar  betrüge,  dass  sie  ihn  fälschlich  für  ihr  eigen  Kind  halte,  da  er  doch 
nichts  Anderes,  als  ein  Bastard  der  Einbildungskraft  sei,  die,  durch  Erfahrung 
beschwängert,  gewisse  Vorstellungen  unter  das  Gesetz  der  Association  gebracht 
bat  und  eine  daraus  entspringende  subjective  Nothwendigkeit,  d.  i.  Gewohnheit, 
für  eine  objective  aus  Einsicht  unterschiebt.  Hieraus  seh  1  oss  er,  die  Vernunft 
habe  gar  kein  Vermögen,  solche  Verknüpfungen,  auch  selbst  nur  im  Allge- 
meinen, zu  denken,  weil  ihre  Begriffe  alsdenn  blosse  Erdichtungen  sein  würden, 
UDd  alle  ihre  vorgeblich  a  priori  bestehenden  Erkenntnisse  wären  nichts, 
als  falsch  gestempelte  gemeine  Erfahrungen,  welches  eben  so  viel  sagt,  als 
es  gebe  überall  keine  Metaphysik  und  könne  auch  keine  geben.  —  So  übereilt 
und  unrichtig  auch  seine  Folgerung  war,  so  war  sie  doch  wenigstens  auf 
Untersuchung  gegründet,  und  diese  Untersuchung  war  es  wohl  werth,  dass 
sieh  die  guten  Köpfe  seiner  Zeit  vereinigt  hätten,  die  Aufgabe,  in  dem  Sinne, 
wie  er  sie  vortrug,  wo  möglich  glücklicher  aufzulösen,  woraus  denn  bald 
eine  gänzliche  Reform  der  Wissenschaft  hätte  entspringen  müssen.  Allein 
das  der  Metaphysik  von  jeher  ungünstige  Schicksal  wollte,  dass  er  von  Keinem 
verstanden  würde.  Man  kann  es,  ohne  eine  gewisse  Pein  zu  empfinden,  nicht 
ansehen,  wie  so  ganz  und  gar  seine  Gegner,  Reid,  Oswald,  Beattie'  und 


*  Aus  diesem  Ausdruck  „Versuch"  scliliesst  W.  Bolin,  Leibnitz  ett  förebud 
tili  Kant,  (L,  als  Vorbote  auf  K.)  Helsingfors  1864,  dass  Kant  die  Nouveaux  Essais 
von  L.  gekannt  habe  •,  in  dieser  fleissigen  „akad.  afhandling^  sind  mit  grosser  Be- 
lesenheit viele  (st ringentere)  Zeugnisse  dafür  gesammelt. 

^  Vgl.   oben  S.  318.     Aehnlich  Proleg.  K.  135  ff.  (Orig.  196  ff.)    Das   Ver- 


342  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [R  706.  H  46.  E  61.] 

zuletzt  noch  Priestley  den  Punkt  seiner  Aufgabe  verfehlten,  und  indem  sie 
immer  das  als  zugestanden  annahmen,  was  er  eben  bezweifelte,  dagegen  aber 
mit  Heftigkeit  und  mehrentheils  mit  grosser  Unbescheidenheit  dasjenige 
bewiesen,  was  ihm  niemals  zu  bezweifeln  in  den  Sinn  gekommen  war,  seinen 
Wink  zur  Verbesserung  so  verkannten,  dass  alles  in  dem  alten  Zustande 
blieb,  als  ob  nichts  geschehen  wäre.  Es  war  nicht  die  Frage,  ob  der  Begriff 
der  Ursache  richtig,  brauchbar  und  in  Ansehung  der  ganzen  Naturerkenntniss 
unentbehrlich  sei,  denn  dieses  hatte  Hume  niemals  in  Zweifel  gezogen; 
sondern  ob  er  durch  die  Vernunft  a  priori  gedacht  werde  und,  auf  solche 
Weise,  eine  von  aller  Erfahrung  unabhängige  innere  Wahrheit,  und  daher 
auch  wohl  weiter  ausgedehnte  Brauchbarkeit  habe,  die  nicht  bloss  auf 
Gegenstände  der  Erfahrung  eingeschränkt  sei,  hierüber  erwartete  Hume 
Eröffnung.  Es  war  ja  nur  die  Bede  von  dem  Ursprünge  des  Begriffs,  nicht 
von  der  Unentbehrlichkeit  desselben  im  Gebrauche ;  wäre  jenes  nur  ausgemittelt, 
so  würde  es  sich  wegen  der  Bedingungen  seines' Gebrauches,  und  des  Umfanges, 
in  welchem  er  gültig  sein  kann,  schon  von  selbst  gegeben  haben.  Ich  gestehe 
frei:  die  Erinnerung  des  David  Hume  war  eben  dasjenige,  was  mir  vor 
vielen  Jahren  zuerst  den  dogmatischen  Schlummer  unterbrach  und  meinen 
Untersuchungen  im  Felde  der  speculativen  Philosophie  eine  ganz  andere 
Bichtung  gab.  Ich  war  weit  entfernt,  ihm  in  Ansehung  seiner  Folgerungen 
Gehör  zu  geben,  die  bloss  daher  rührten,  weil  er  sich  seine  Aufgabe  nicht 
im  Ganzen  vorstellte,  sondern  nur  auf  einen  Theil  derselben  fiel,  der,  ohne 
das  Ganze  in  Betracht  zu  ziehen,  keine  Auskunft  geben  kann.  Wenn  man 
von  einem  gegründeten,  obzwar  nicht  ausgefühi*ten  Gedanken  anfängt,  den 
uns  ein  Anderer  hinterlassen,  so  kann  man  wohl  hoffen,  es  bei  fortgesetztem 
Nachdenken  weiter  zu  bringen,  als  der  scharfsinnige  Mann  kam,  dem  man 
den  ersten  Funken  dieses  Lichts  zu  verdanken  hatte.  —  Ich  versuchte  also 
zuerst,  ob  sich  nicht  Hume 's  Einwurf  allgemein  vorstellen  liesse,  und  fand 
bald,  dass  der  Begriff  der  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  bei  weitem 
nicht  der  einzige  sei,  durch  den  der  Verstand  a  priori  sich  Verknüpfungen 
der  Dinge  denkt,  vielmehr,  dass  Metaphysik  ganz  und  gar  daraus  bestehe. 
Ich  suchte  mich  ihrer  Zahl  zu  versichern,  und  da  dieses  mir  nach  Wunsch, 
nämlich   aus    einem   einzigen  Princip,   gelungen   war,    so    ging  ich    an  die 


hältniss,  sowohl 'das  innerlich  -  83'stemati8che  als  das  äusserlich  -  historische,  von 
Kant  zu  der  sog.  Schottischen  Schule  bedürfte  einer  eingehenden  Monographie. 
Einzelnes  findet  sich  bei  mehreren  Geschichtschreibern  der  Philosophie,  z.  B.  Erd- 
mann IIb,  415,  429.  442,  bei  Windelband  II,  54  (dag.  Zart,  Einfluss  der 
engl.  Philos.  225  f.),  ferner  bei  Schopenhauer,  W.  W.  III,  24,  Fries,  Polem. 
Sehr.  I,  337,  Beneke,  Metaph.  274,  Galluppi,  Letlere  ßosof.  225,  und  Saggio 
1, 159  ff.  u.  sehr  häufig,  Hamilton,  Reid715.  752  ff.  (Antwort  auf  vorliegende 
Stelle),  Jouffroy,  Pr6face  zu  der  franz.  Uebers.  v.  Reid  135.  145.  150.  156. 
167  ff.  190.  214;  R^musat,  Essais  de  Phü,  I,  175  ff.  u.  bes.  431— 477  (Deseartes. 
Reid  et  Kant).  Janitsch,  Ks.  ürt heile  über  Berkeley  34  ff.  Caird,  Phil,  of 
Kant^  3,  194,  598.    Rosmini,  Saggio  I,  §  324  ff. 


Der  „dogmat.  Scliluminer" :  Hume's  „Erinnerung",  die  Antinomien.      343 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

Deduction  dieser  Begriffe,  von  denen  ich  nunmehr  versichert  war,  dass  sie 
nicht,  wie  Hume  besorgt  hatte,  von  der  Erfahrung  abgeleitet,  sondern  aus 
dem  reinen  Verstände  entsprungen  seien.  Diese  Deduction,  die  meinem 
scharfsinnigen  Vorgänger  unmöglich  schien,  die  Niemand  ausser  ihm  sich 
anch  nur  hatte  einfallen  lassen ,  obgleich  Jedermann  sich  der  Begriffe  getrost 
bediente,  ohne  zu  fragen,  worauf  sich  denn  ihre  objective  Gültigkeit  gründe, 
diese,  sage  ich,  war  das  Schwerste,  das  jemals  zum  Behuf  der  Metaphysik 
unternommen  werden  konnte,  und  was  noch  das  Schlimmste  dabei  ist,  so 
konnte  mir  Metaphysik,  so  viel  davon  nur  irgendwo  vorhanden  ist,  hiebei 
auch  nicht  die  mindeste  Hilfe  leisten,  weil  jene  Deduction  zuerst  die 
Möglichkeit  einer  Metaphysik  ausmachen  soll.  Da  es  mir  nun  mit  der 
Auflösung  des  Hume'schen  Problems  nicht  bloss  in  einem  besonderen  Falle, 
sondern  in  Absicht  auf  das  ganze  Vermögen  der  reinen  Vernunft  gelungen 
war ;  so  konnte  ich  sichere,  obgleich  immer  nur  langsame  Schritte  thun,  um 
endlich  den  ganzen  Umfang  der  reinen  Vernunft,  in  seinen  Grenzen  sowohl, 
als  seinem  Inhalt,  vollständig  und  nach  allgemeinen  Principien  zu  bestimmen, 
welches  denn  dasjenige  war,  was  Metaphysik  bedarf,  um  ihr  System  nach 
einem  sicheren  Plan  aufeufuhren. "  Hiezu  vgl.  man  Prol.  §  5.  „Wie  ist  es 
möglich,  sagte  der  scharfsinnige  Mann,  da*^,  wenn  mir  ein  Begriff  gegeben 
ist,  ich  über  denselben  hinausgehen  und  eiiit.^  anderen  damit  verknüpfen 
kann,  der  in  jenem  gar  nicht  enthalten  ist,  und  '^war  so,  als  wenn  dieser 
nothwendig  zu  jenem  gehöre?  Nur  Erfahrung  kann  uns  solche  Ver- 
knüpfungen an  die  Hand  geben,  (so  schloss  er  aus  jener  Schwierigkeit,  die 
er  Tür  Unmöglichkeit  hielt)  und  alle  jene  vermeintliche  Nothwendigkeit,  oder 
welches  einerlei  ist,  dafür  gehaltene  Erkenntniss  a  priori  ist  nichts,  als  eine 
lange  Gewohnheit,  etwas  wahr  zu  finden,  und  daher  die  subjective  Noth- 
wendigkeit für  objectiv  zu  halten.'*  (Vgl.  oben  319.)  Diese  Ausführungen  der 
Prol.  finden  ihre  Fortsetzung  ebend.  §  27,  §  29,  §  30  (worüber  in  der  fol- 
genden Anmerkujig)  und  gingen  dann  auszugsweise  in  die  11.  Aufl.  über, 
oben  B  5,  sowie  hier  und  B  127.  In  der  Vorr.  zur  Krit.  d.  p.  V.,  sowie 
daselbst  S.  88  ff.  findet  sich  dann  eine  weitere  an  Prol.  §  29  sich  anschliessende 
Ausführung  über  dasselbe  Thema,  das  von  da  an  zurücktritt  und  nur  noch 
einmal  in  den  »Fortschr."  (vgl.  oben  S.  315  u.  R.  I,  507)  kurz  behandelt  wird. 
Abgesehen  von  der  folgenden  hieher  gehörigen  Auseinandersetzung  über  das 
sog.  Hume'sche  Problem  ist  das  ganze  Verhältniss  Kants  zu  Hume,  d.  h.  die 
Art  der  Einwirkung  Hume's  auf  K.  monographisch  zu  behandeln  in  einem 
besonderen  Supplement,  wo  dann  auch  die  zahlreiche,  einschlägige  Literatur 
besprochen  wird.  Ebenso  ist  daselbst  die  interessante  Streitfrage  über  die 
Zeit  der  Einwirkung  Hume's  auf  Kant  zu  besprechen.  Bezüglich  des  letzteren 
Problems  haben  wir  die  Lösung  S.  48  antecipirt,  dass  eine  zweimalige 
Einwirkung  von  Hume  auf  K.  anzunehmen  sei.  [Mindestens  ebenso  wichtig 
als  ^Hume's  Erinnerung",  die  sich  auch  auf  die  immanente  Metaphysik 
(Analytik)  bezieht,  war  fiir  K.  das  „merkwürdige  Phänomen*  der  Antinomie. 
Von  ihm  sagt  er  Prol.  §  50,  dass  „es  auch  unter  allen  am  kräftigsten  wirkt, 


344  Comxnentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

die  Fhilosophie  ans  ihrem  dogmatischen  Schlummer  zu  erwecken  und 
so  zu  dem  schweren  Geschäfte  der  Kritik  der  Vernunft  zu  bewegen."  Und 
von  demselben  „Phänomen  der  natürlichen  Antithetik  der  Vernunft*  sagt 
K.  in  der  Kritik  407,  dass  die  Vernunft  dadurch  „von  dem  Schlummer 
einer  eingebildeten  üeberzeugung  verwahrt  werde",  sowie  757,  „dass  durch 
diesen  Streit  der  Vernunft  mit  sich  selbst  dieselbe  aus  ihrem  süssen 
dogmatischen  Traume  erweckt  werde",  (wobei  indessen  auch  auf  Hume's 
sceptische  Behandlung  der  transscendenten  Erkenntnisse  angespielt  wird) 
Damit  vergleiche  man  Kr.  d.  pr.  V.  193  ff.:  „die  Ant.  ist  die  wohlthätigste 
Verirrung,  in  die  die  menschliche  Vernunft  je  hat  gerathen  können,  indem 
sie  uns  zuletzt  antreibt,  den  Schlüssel  zu  suchen,  aus  diesem  Labyrinthe 
herauszukommen."  Kr.  d.  Ürth.  B  243  fF. :  ohne  die  Ant.  wäre  nie  die  Unter- 
scheidung von  Ding  an  sich  und  Erscheinung  getroffen  worden. 
Metaph.  21  „die  Dialektik  enthält  einen  Widerstreit,  der  da  zeigt,  dass  es 
unmöglich  ist,  dogmatisch  in  der  Metaph.  fortzugehen".  Derselbe  Gedanke 
findet  in  den  Fortschr.  K.  (164.  R.  I,  562)  folgenden  Ausdruck:  „Ein  sonderbares 
Phänomen  musste  die  auf  dem  Polster*  ihres,  vermeintlich  durch  Ideen 
über  alle  Grenzen  möglicher  Erfahrung  erweiterten  Wissens  schlummernde 
Vernunft  endlich  aufschrecken,  und  das  ist  die  Entdeckung,  dass  zwar  die 
Sätze  a  priori,  die  sich  auf  die  letztere  [die  Erfahrung]  einschränken,  nicht 
allein  wohl  zusammen  stimmen,  sondern  gar  ein  System  der  Naturerkenntniss 
a  priori  ausmachen,  jene  dagegen,  welche  die  Erfahrungsgrenze  überschreiten, 
ob  sie  zwar  eines  ähnlichen  Ursprungs  zu  sein  scheinen,  theils  unter  sich, 
theils  mit  denen,  welche  auf  die  Naturerkenntniss  gerichtet  sind,  in  Wider- 
streit kommen,  und  sich  unter  einander  aufzureiben,  hiemit  aber 
der  Vernunft  im  theoretischen  Felde  alles  Zutrauen  zu  rauben  und  einen 
unbegrenzten  Scepticismus  einzuführen  scheinen."  Vgl.  auch  Ks.  Brief  an 
Bernoulli  v.  16.  Nov.  1781,  womit  man  die  I.  Vorr.  der  Kr.  (vgl.  oben  S.  82) 
vergleiche,  sowie  insbesondere  die  Dissertation,  Abschnitt  I  und  V,  §  28. 
Vgl.  Riehl,  Kritic.  I,  249.  273.  Erdmann,  Kants  Proleg.  Vorr.  LXXXV  ff. 
XCIII.  Dag.  Paulsen,  Vieii;.  f.  wiss.  Phil,  n,  487  ff.,  496.  Janitsch, 
Kants  Urtheile  über  Berkeley  31 ,  48  macht  einen  Vermittlungsvei-such 
zwischen  der  Ansicht  von  Paulsen,  Hume's  Einwirkung,  und  der  von 
Erdmann,  die  der  Antinomien  habe  den  Umschwung  von  1770  herbei- 
geführt. Vgl.  oben  S.  48  und  140,  wonach  der  Einfluss  von  Leibniz  die 
Schwenkung  von  1770  herbeiführte,  wobei  nach  den  hier  angeführten  Stellen 
auch  das  Problem  der  Antinomien  (vgl.  oben  S.  86)  „erweckend"  einwirkte, 
während  „das  Erwachen"  dui'ch  Hume^s  Einfluss  in  die  J.  1762  ff.  u.  1772  fällt.] 
Hrnne,  der  dieser  Aufgabe  am  nächsten  trat.  Hier  iind  an  den  obigen 
Stellen  identificirt  Kant  vollständig  seine  Aufgabe:  Wie  sind  synth.  Urth. 
a  priori  möglich?  mit  dem  sog.  Hu me 'sehen  Problem.  Er  erklärt.,  dass 
seine  Kritik   die  Auflösung  jenes  Problems   enthalte.     Worin    bestand    nun 


*  Vgl.  Ew.  Fr.  in  d.  Phil.  1.  A,  der  Dogm.  ist  ein  „Polster  zum  Einschlafen' 


Zwei  verschiedene  Fassungen  des  sog.  „Hume'schen  Problems".         345 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

nach  Kant  das  Hume'sche  Problem?  Hierüber  herrscht  bei  Kant, 
seinen  Cojnmentatoren  und  den  Historikern  eine  grosse  Unklarheit,  welche 
weder  durch  Fischers  (Gesch.  III,  39)  noch  B.  Erdmanns  sonst  lichtvolle 
EirÖrterungen  (Einl.  zu  Kants  Proleg.  LXXIX — XCIX)  genügend  aufgehellt 
worden  ist.  An  der  vorliegenden  Stelle  scheint  die  Sache  einfach.  Nach  ihr 
fragt  Hume:  Kann  die  Vernunft  a  priori  den  synthetischen  Satz  der  Cau- 
salität  (jede  Veränderung  erfolgt  nach  dem  Gesetze  der  Verknüpfung  von 
Ursache  und  Wirkung)  aufstellen?  Die  Vernunft  kann  nur  analytische 
Sätze  aufstellen  und  auch  diese  sind  nur  relativ  apriorisch.  Die  Vernunft 
kann  also  jenen  Satz  nicht  aufstellen;  sie  hat  kein  Recht,  denselben  zu  be- 
haupten, somit  ist  der  Satz  nicht  nothwendig,  er  hat  nur  den  Schein  der 
Nothwendigkeit  durch  die  Gewohnheit  erhalten.  Hume  habe  somit  erkannt, 
dass  jener  Satz  den  Anspruch  erhebe,  synthetisch  und  a  priori  zu  sein.  Er  habe 
g^efragt:  ist  ein  solcher  Satz  möglich?  Er  habe  gezeigt,  dass  er  aus  Begriffen 
analytisch  nicht  möglich  sei,  weil  er  eben  synthetisch  ist ;  er  habe  behauptet, 
dass  er  als  apriorischer  unmöglich  sei.  Die  Sache  ist  somit  scheinbar  klar 
und  einfach.  Allein  sie  wird  vollständig  unklar  und  verworren,  wenn  wir 
jene  Stellen  der  Proleg.  herbeiziehen.  Ist  dort  das  ,Hume'sche  Problem** 
dasselbe  wie  hier  ?  Nein,  dort  ist  dasselbe  etwas  specifisch  Anderes. 
Beides  hat  man  bisher  gar  nicht  auseinandergehalten.  Anstatt  jene  Stellen 
analytisch  zu  zergliedern,  theilen  wir  in  möglichster  Küi-ze  die  Sache  syn- 
thetisch mit.  Es  spielt  hier  dieselbe  Verwechslung  eine  ominöse  Rolle, 
w^elche  schon  S.  214  zu  der  Einl.  B.  II  gerügt  wurde:  Die  Verwechslung  des 
allgemeinen  Satzes  der  Causalität  mit  dem  Begriff  der  Ursache 
und  den  durch  ihn  bedingten  speciellen  Causalurtheilen '.  In  den 
Prol.  handelt  es  sich  ausdrücklich  um  „den  Begriff  der  Ursache". 

Die  Fragen,  welche  Hume  im  „Essay"  aufwirft,  sind  folgende:  1)  Mit 
w^elchem  Recht  und  Grund  kann  ich  über  einen  gegebenen  Begriff  A  hinaa^- 
If^ehen  und  B  als  mit  ihm  verbunden  behaupten?  2)  Mit  welchem  Recht  und 
Grund  kann  ich  behaupten,  dass  jene  Verbindung  derartig  nothwendig  sei, 
das6  es  widersprechend  ist,  wenn  A  (die  Ursache)  gesetzt  ist,  B  (die  Wirkung) 
nicht  zu  setzen  ?  Der  empirisch  gegebene  Begriff,  über  den  man  hinausgeht,  ist 
fjL)  der  eines  Dinges,  das  als  Ursache  betrachtet  wird.  Was  man  synthetisch 
hinzuthut,  ist  die  Wirkung.  Bei  Hume  findet  sich  als  Beispiel:  Brod  ist 
nahrhaft.  Brod  ist  (l)  der  gegebene  Begriff  A,  über  den  ich  zur  Wirkung  B, 
zur  Ernährung  hinausgehe.  Der  Satz  soll  (2)  eine  nothwendige  Verbindung 
aassagen,  derart,  dass  der  Zusammenhang  zwischen  dem  Essen  des  Brodes 
und  der  Ernährung  allgemein  und  unbedingt  ist.  Bei  Kant,  Krit.  765, 
findet  sich  das  Beispiel:  Das  Sonnenlicht,  indem  es  das  Wachs  beleuchtet, 
schmelzt  es  zugleich.     Hume  fragt  nicht  nur,   mit  welchem  Recht  behaupte 


'  AatTallend  ist  die  Verwechslung  bei  Fischer,  Gesch.  III,  43,  vgl.  mit  44  u. 
160  ff.  178  ff.  305  u.  ö.  Vgl.  auch  Fischer,  Bacon,  2.  Aufl.  786  f.  In  eclatantester 
Weise  geschieht  dasselbe  bei  I.  S.  Beck,  Standpunkt  351,  353,  363  f. 


346  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [R  706.  H  46.  K  61.] 

ich  in  diesem  Satze  einen  nothwendigen  Causalznsammenbang,  sondern  auch : 
kann  ich  die  Wirkung  aus  dem  Begriffe  des  Subjects  errathen,  gesetzmttssig 
schliessen  und  damit  eben  den  Zusammenhang  als  einen  allgemeinen  be- 
haupten? Da  ich  das  nicht  aus  dem  Begriff  des  Subjects  schliessen  kann, 
lehrt  es  mich  die  Erfahrung,  und  diese  lehrt  mich  nur  die  einzelnen  That- 
sachen  des  Aufeinanderfolgens  als  zufällige,  und  die  Nothwendigkeit  ist  somit 
eine  angedichtete.  Hume  fragt  somit  hier  nach  der  Möglichkeit  synthe- 
tischer Ürtheile,  welche  eine  Nothwendigkeit  einschliessen,  indem  ja  in 
dem  Begriff  der  Ursache  ein  nothw.  u.  allgem.  Zusammenhang  zwischen  A 
und  B  behauptet  wird.  Es  handelt  sich  also  hier  nicht  um  das  synthe- 
tische ürtheil  a  priori  Kants,  nicht  um  das  allgemeine  Causal- 
gesetz,  sondern  um  die  Berechtigung,  specielle  Oausalurtheile  zu  fällen, 
ß)  Der  Begriff,  über  welchen  hinausgegangen  werden  soll,  kann  bei  diesen 
speciellen  Causalurtheilen  aber  auch  der  eines  bestimmten  als  Wirkung 
betrachteten  Dinges  sein,  und  es  fragt  sich  dann:  (1)  kann  ich  aus  dem  Begriff 
dieses  bestimmten  Dinges  seine  specifische Ursache  a  priori  errathen?  (2)  Und 
kann  ich  dann  einen  nothwendigen  Zusammenhang  dieser  beiden  Dinge  be- 
haupten? Dieser  zweite  Fall  (ß)  tritt  jedoch  bei  Kant  wie  schon  bei  Hume 
hinter  den  ersteren  zurück,  principiell  sind  aber  beide  Fälle  gleichwerthig. 
Den  ersten  Fall  bespricht  Hume  in  dem  Essay,  übers,  v.  Tennemann  S.  59. 
61.  65.  77.  82.  93.  94.  118.  122.  127  ff  138.  139.  148.  167  u.  ö.;  den 
zweiten  dagegen  ib.  57.  61.  62.  63.  99.  122.  345  u.  ö.  Beide  Fälle  erwähnt 
Kant  Krit.  766. 

Diese  Ürtheile  und  das  auf  dieselben  bezügliche  ,Hume'sche  Problem"  sind 
nun  aber  offenbar  himmelweit  verschieden  von  dem  synthetischen  Satz  a  priori 
und  dem  auf  denselben  bezüglichen  Hume'schen  Problem,  das  hier  in  der  Ein- 
leitung behandelt  wird.  Dies  hat  man  sich  bisher  nicht  klar  gemacht.  Es  han- 
delt sich  beidemal  um  ein  ganz  anderes  «Hinausgehen'^,  und  um  eine  ganz 
andere  Nothwendigkeit,  ganz  anderes  Apriori,  ganz  andere  Synthese. 

A)  Das  Hinausgehen:  Bei  dem  speciellen  Causalurtheil  gehe  ich  über 
den  Begriff  der  Ursache  A  hinaus  zu  dem  Begriff  der  Wirkung  B, 
oder  auch  von  dem  Begriff  des  Dinges  B  zu  dem  Begriff  des  Dinges  A  als 
der  Ursache  jenes  B.  Beidemal  handelt  es  sich  hier  um  bestimmte 
Dinge,  z.  B.,  um  Hume'sche  Fälle  zu  wählen,  um  „Feuer*  oder  „Brod", 
„Verzehren"  oder  , Ernähren"   —  um  ihre  Synthese,  ihren  Nexus. 

Beim  allgemeinen  Causalitätsgesetz  gehe  ich  hinaus  über  den  Begriff 
des  Geschehens  zu  dem  Gesetz  der  Verursachung.  Vgl.  Krit.  301,  ,dass 
Alles,  was  geschieht,  eine  Ursache  habe,  kann  nicht  aus  dem  Begriffe  dessen, 
was  überhaupt  geschieht,  geschlossen  werden".  Der  Satz,  in  dem  das  aus- 
gesagt ist,  ist  nach  Kant  ein  (sei  es  gemischt  oder  ungemischt)  apriorischer 
Satz.  (Vgl.  hierüber  oben  S.  212  Anm.  4.)  In  diesem  synthetischen  Satze 
ist  das  Subject  nach  Kant:  »Das  Geschehen  überhaupt",  das  Prädicat  ist 
die  durchgängige  causale  Bedingtheit.  Dieses  Prädicat  kann  aus  jenem 
Subjecte  nicht  analytisch  gezogen  werden,  wie  K.  schon  im  Abschnitt  TV 


„Erweckung  aus  d.  dogmat.  Schlummer"  d.  Uume  1762  u.  1772,  nicht  1769.     347 

[R  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

(A  9  B  12  vgl.  oben  290.  291)  ausführt,  wo  auch  die  Vorstellung  des 
,,  Geschehens  überhaupt**  als  Subjectsbegriflf  bezeichnet  wird  (wiewohl  aueb 
jene  Stelle  theilweise  von  der  Verwechslung  inficirt  ist).  Vgl.  die  Fortschr. 
d.  Met.  R.  I,  495.  507.  [Hier  ist  nun  die  wichtige  Bemerkung  zu  machen, 
dass  Hume  in  seinem  Essay  dieses  Problem  des  allgemeinen  Causalität^- 
Gesetzes  gar  nicht  stellt.  Er  spricht  nur  an  drei  Stellen  XTennemann 
183.  216.  218)  von  demselben,  in  der  Abhandlung  über  die  „Freiheit  und 
"Noth wendigkeit*,  fuhrt  es  aber  jedesmal  übereinstimmend  mit  der  Formel 
ein:  „It  is  universaüy  aUowed^,  In  dem  ganzen  Essay  wird  aber  schlechter- 
dings nicht  die  Frage  aufgeworfen,  woher  wir  zur  Berechtigung  dieses  allge- 
meinen ürtheils  kommen.  In  dem  Essay  fragt  Hume,  wo  er  von  der 
Causalität  spricht,  nur  nach  der  Berechtigung  des  Causalbegriffes,  der 
zwischen  A.  und  B  eine  nothwendige  Verbindung  behauptet.  Diese  That- 
sache  ist  nun  desshalb  wichtig,  weil  1)  Hume  das  Problem  des  allge- 
meinen Causalgesetzes  nur  in  dem  Treatise  aufwirft  \  2)  Kant  jedoch 
der  allgemeinen  Annahme  nach  dieses  Jugendwerk  Hume's  nicht  gekannt 
hat.  Hat  nun  Kant  aus  unwillkürlichem  Missverständniss  oder  aus  eigener 
Machtvollkommenheit .  logischer  Consequenz  das  Problem  des  allgemeinen 
Causalgesetzes  auf  Hume  zurückgeführt?  Es  besteht  eine  sehr  hohe  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  Kant  die  Kenntniss,  dass  Hume  auch  jenes  allgemeine 
Problem  aufwarf,  aus  der  1772  erschienenen  üebersetzung  des  Werkes  von 
JBeattie  gegen  Hume  (Versuch  über  die  Natur  der  Wahrheit)  geschöpft 
hat,  wo  S.  81  ff.  aus  dem  Treatise  (I,  3,  3)  die  betreffende  Stelle  angeführt 
-wird.  Bei  Beattie  selbst  findet  nun  schon  die  Vermischung  von  Begriff  und 
Gesetz  statt,  während  Hume  beides  a.  a. .0.  streng  auseinanderhält,  später 
aber  auch  allerdings  nicht  genügend  unterscheidet.  Indem  nun  Kant  mit 
dieser  Stelle  aus  Beattie  den  ihm  —  allgemeiner  Annahme  nach  —  allein 
bekannten  Essay  verglich,  entstand  bei  ihm  jene  Verwechslung  der  beiden 
sachlich  verschiedenen  Probleme.  Es  drängt  sich  nun  aber,  wenn  man 
des  S.  48  über  die  doppelte  Einwirkung  Hume's  Gesagten  sich  erinnert, 
unwillkürlich  der  Gedanke  auf,  Kant  habe  in  der  Schilderung  der  Einwir- 
\ung  Hume's  auf  ihn  zwei  zeitlich  auseinanderliegende  Einwirkungen  durch 
eine  leicht  erklärliche  Erinnerungstäuschung  verwechselt.  Es  ist  bekanntlich 
eine  vielbehandelte  und  noch  nicht  zum  Austrag  gebrachte  Frage,  wann  jene 
»vor  vielen  Jahren**  geschehene  Erweckung  Kants  aus  dem  , dogmatischen 
Schlummer**  durch  Hume  stattgefunden  habe?  Die  Einen  setzen  sie  an 
den  Anfang  der  60er  Jahre  (Fischer  u.  Riehl),  Andere  an  ihr  Ende  (Pauls en 
und  Caird),  Andere  endlich  in  das  Jahr  1772  (Dietrich  u.  B.  Erdmann).  Im 
ersten  Falle  hätte  die  Einwirkung  Hume's  die  Schriftengruppe  der  Sechziger 


'  Riehl,  Kritic.  I,  114  hat  diese  Bemerkung  auch  schon  gemacht.  Trotz 
der  scharfsinnigen  Anläufe  ib.  109  ff.  113  ff.  121  ff.  139.  149.  242  ff.  333.  359  f. 
417  hat  jedoch  R.  die  verschiedenen  Probleme  sowohl  bei  Hume,  als  insbesondere 
bei  Kant  nicht  genügend  unterschieden. 


348  Commentar  zur  Einleitung  6,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [E  706.  H  46.  E  61.] 

Jahre,  im  zweiten  die  Dissertation,  im  dritten  die  eigentlich  kritische  Wen- 
dung nach  dem  Brief  an  Herz  von  1772  herbeigeführt.  Alle  Schwierigkeiten 
werden  aber  dui'ch  die  Annahme  gelöst,  dass  Kant  die  Einwirkung  Hume's 
von  1763  und  die  von  1772  in  Eines  vermischt  habe.  Im  Jahre  1763  (vgl. 
oben  S.  271)  lernt  Kant  von  Hume,  dass  die  speciellen  Causalurtheile 
synthetischer  Natur  seien,  im  Jahre  1772  (vgl.  oben  S.  275)  erschütterte 
Hume's  Zweifel  Kants  Üeberzeugungen  über  das  allgemeine  Causal- 
gesetz.  Da  Kant  diese  beiden  Probleme  notorisch  verwechselt  hat,  ist  diese 
entwicklungsgeschichtliche  Hypothese  zur  Erklärung  des  bekannten,  „in  jeder 
Schrift  über  Kant  angeführten**  (vgl.  Erdmann,  Ks.  Proleg.  LXXXII)  Selbst- 
zeugnisses keineswegs  unwahrscheinlich.  In  einer  überraschenden  Weise 
fügt  sie  sich  der  Meinung  Erdmanns  an,  der  (Ks.  Proleg.  XCI)  sagt,  nach 
dem  Briefe  vom  2.  Febr.  1772  sei  der  Einfluss  Hume's  an  Kant  herange- 
treten »und  zwar  gewiss  bald  nach  diesem  Briefe*.  Beattie's  Werk  erschien 
(in  der  genannten  üebersetzung)  zur  Ostermesse  1772!  Aus  demselben 
Werke  schöpfte  ja  auch  K.  theilweise  seine  irrigen  Anschauungen  über  Ber- 
keley, wie  Janitsch,  Ks.  ürth.  über  Berkeley,  Strassb.  1879  nachgewiesen  hat.] 

B)  Die  Nothwendigkeit  ist  ebenso  eine  ganz  andere  in  beiden  Fällen, 
wie  S.  214  ad  B  5  ausführlich  bewiesen  wurde.  Das  einemal  ist  es  noth- 
wendig,  dass  jedes  Geschehen  eine  Ursache  habe,  das  anderemal  ist  die  Ver- 
bindung zwischen  Ursache  und  Wirkung  eine  innerlich  noth wendige.  Es 
sind  somit  beide  Fassungen  des  Hume'schen  Problems  vollständig  ver- 
schieden. Bei  Kant  aber  werden  dieselben  vollständig  identificirt.  Hier 
zwar  bespricht  er  nur  das  Hume'sche  Problem  des  allgemeinen  Causalgesetzes, 
in  den  Proleg.  Vorr.  nur  das  der  speciellen  Causalurtheile.  Dagegen  Proleg. 
§  27  ff.,  sowie  in  der  Krit.  der  pr.  Vern.  geht  beides  in  höchst  verwirrender 
Weise  durch  einander,  auch  in  der  Methodenlehre  759  u.  764  ff.  Dort  sagt  Kant 
aber  ferner :  Hume  habe  das  Herausgehen  aus  dem  Begriffe  eines  Dinges  [eines 
Geschehens]  auf  mögliche  Erfahrung  [d.  h.  auf  eine  in  der  Erfahrung 
aufzufindende  Ursache  jenes  Dinges  oder  Geschehens]  verwechselt  mit  der 
Synthesis  der  Gegenstände  wirklicher  Erfahrung  [d.  h.  mit  dem  Hinaus- 
gehen aus  dem  Begriffe  des  Dinges  A  als  Ursache  zu  dem  Begriffe  des  Dinges 
B  als  Wirkung].  Er  habe  die  Unmöglichkeit  der  letzteren  Synthesis,  wenn 
sie  a  priori  geschehen  solle  —  denn  facti  seh  sei  sie  nur  empirisch  möglich 
—  übertragen  auf  das  erstere  Verhältniss,  das  factisch  a  priori  synthetisch, 
wenn  auch  nur  allgemein  und  unbestimmt  möglich  sei.  Hier  stossen  wir 
nun  aber  noch  auf  einen  dritten,  von  den  beiden  bisherigen  verschiedenen 
Fall.  Bisher  handelte  es  sich  um  folgende  beide  Fälle,  (wobei  wir  für  den 
ersten  das  schon  oben  angeführte  Beispiel  Kants  zur  Verdeutlichung  benutzen): 
1)  Specielles  Cansalartheil  (Judicium  cattsale): 

Sonnenlicht  schmelzt  das  Wachs. 
In  Bezug  auf  derartige  Urtheile  behauptet  Hume:     1)  Ich  kann  weder  aus 
dem  Begriff  des  Sonnenlichtes  die  betreffende  Wirkung,  noch  aus  dem  Begriff 
des  geschmolzenen   Wachses  die   betreffende  Ursache   a  priori   durch  reine 


Die  Hume'schen  Probleme.  349 

[R  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

Denkarbeit  herausziehen;  sondern  nur  die  Erfahrung  lehrt  mich  den  Zu- 
sammenhang dieser  Phänomene  [dies  gibt  Kant  natürlich  zu].  2)  Hume 
ftragt:  woher  stammt  in  dem  (zu  diesem  Zwecke  umgeformten)  Urtheil: 
Sonnenlicht  ist  die  Ursache  des  schmelzenden  Wachses  —  der  Begriff  der 
Ursache  und  die  mit  ihm  behauptete  Nothwendigkeit  des  Zusammenhanges, 
des  Nexus  zwischen  A  u.  B  (vgl.  ob.  S.  215)?  Nach  Hume  aus  der  Gewohn- 
heit, der  Beobachtung  des  constanten  Beisammenseins;  die  Nothwendigkeit 
ist  somit  blosse  Blusion,  „Fiction*.  [Nach  Kant  stammt  diese  Nothwendig- 
keit aus  der  stillschweigend  eingemischten  apriorischen  Kategorie  der  Cau- 
salität,  welche  eben  diese  Nothwendigkeit  enthält,  sonst  ist  aber  das  ürtheil 
synthetisch  a  posteriori.] 

2)  Alli^emeines  Caasalgesetz  („Principium  Causalitatis^  8.  rat.  suffic): 
Alles,  was  geschieht,  hat  eine  Ursache. 

In  Bezug  auf  dieses  allgemeine  Urtheil  fragt  Hume  (jedoch  nur  im 
Treatise),  ob  ein  solches  Urtheil  aus  reiner  Vernunft  gefällt  werden  könne ? 
Es  ist  nach  ihm  ebenfalls  nur  ein  Product  der  Gewohnheit.  [Nach  Kant 
ist  dies  ein  berechtigtes  synthetisches  Urtheil  a  priori.] 

3)  Der  dritte  Fall,  auf  den  wir  in  jener  Stelle  der  Methodenlehre 
764  stossen,  lässt  sich  durch  folgendes  Urtheil  illustriren: 

Das  Schmelzen  dieses  vorher  fest  gewesenen  Wachses 
hat  eine  Ursache. 

An  der  betreffenden  Stelle  spricht  nun  Kant  ebenfalls  von  einem  Hinaus- 
gehen und  zwar  a  priori.  Ich  kann  a  priori  erkennen,  dass  vor  jener 
Erscheinung  irgend  eine  —  freilich  nicht  näher  zu  bezeichnende  Ursache 
—  vorhergegangen  sein  muss.  Dies  ist  eine  „Synthese  a  priori";  ein  „syn- 
thetisches Urtheil  a  priori**  wagt  es  Kant  doch  nicht  zu  nennen,  da  ja  der 
Subjectsbegriff  etwas  ganz  Empirisches  ist.  Dies  ist  nun  offenbar  eine  dritte 
Gattung  von  Causalurth eilen,  welche  Hume  selbstverständsich  auch  auf  die 
Wirkung  der  Gewohnheit  reducirt,  ohne  dass  er  jedoch  ausdrücklich  diesen 
Fall  in  seinem  Essay  erwähnt.  [Für  Kant  dagegen  beruht  der  zweite  Theil 
des  Satzes,  wie  bemerkt,  auf  einer  apriorischen  Hinzu  fugung:  es  ist  eine 
Verknüpfung  aus  reiner  Vernunft.] 

Obgleich  nun  diese  drei  Fälle  alle  aus  den  einzelnen  Stellen  des  Kanti- 
schen Textes  heraus  abstrahirt-  sind,  so  hat  Kant  nicht  nur  nirgends  auf 
deren  Unterschied  aufmerksam  gemacht,  sondern  im  Gegentheil  dieselben 
überall  promiscue  als  das  „Hume'sche  Problem"  bezeichnet,  das  also  jene 
drei  Fälle  umfasst,  wobei  jedoch  zu  beachten  ist,  dass  der  erste  Fall  zwei 
Fragen  enthält,  so  dass  eigentlich  vier  Probleme  vorliegen.  Man  thut  also 
besser,  von  j,den  Hume'schen  Problemen"  zu  sprechen.  Am  schlimmsten 
ist  die  Verwirrung  Proleg.  §  27  ff.  Eine  recht  ungenaue  Stelle  findet  sich 
auch  Proleg.  K.  136,  Or.  199;  (die  Stelle  ist  schon  oben  S.  243  mitgetheilt) 
wo  offenbar  Kant  das  »Herausbringen"  der  speciellen  Ursache  oder  Wirkung 
durch  Erfahrung  selbst  verwechselt  mit  dem  a  priori  möglichen  „Hinaus- 
gehen" zu  dem  „Begriff  einer   Ursache"  überhaupt  (zn  dritter  Fall),  welch 


350  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

letztere  Operation  in  der  klaren  Stelle  722  Anm.  deutlich  geschildert  wird: 
„Vermittelst  des  Begriffes  der  Ursache  gehe  ich  aus  dem  empirischen  Be- 
griffe von  einer  Begebenheit  (da  etwas  geschieht)  hinaus'  u.  s.  w.  Auch 
in  den  oben  mitgetheilten  Stellen  der  Prolegomena  werden  Fall  1)  und  3) 
offenbar  durcheinandergebracht.  Das  Verhältniss  dieser  beiden  F&lle  kann  erst 
zu  der  Analytik  näher  besprochen  werden,  denn  auch  mit  ihnen  beschäftigt 
sich  dieselbe,  wie  sich  zeigen  wird.  Beide  Fälle  haben  das  Gemeinsame, 
dass  sie  sich  auf  die  speciellen  empirischen  Veränderungen  beziehen  und  so 
stehen  beide  dem  allgemeinen  Causalgesetz  zusammen  gegenüber.  Wir 
sprechen  desshalb  auch  im  Folgenden  nur  noch  von  zwei  Problemen,  wobei 
aber  stets  im  Auge  zu  behalten  ist,  dass  der  Fall  der  speciellen  Gausal- 
urtheile  zwei  Unterarten  befasst,  welche  von  Kant  nie  scharf  geschieden 
werden.  Dass  aber  Kant  dieselben  auch  von  dem  allgemeinen  Causalgesetz 
nicht  scharf  unterscheidet,  ist  durch  das  Bisherige  erwiesen. 

Die  Zugeständnisse  und  Vorwürfe  nun,  welche  Kant  Hume  macht,  sind 
ganz  verschieden,  je  nachdem  er  das  eine  oder  das  andere  Problem  be- 
handelt. Wo  K.  von  dem  Problem  der  allgemeinen  Causalität  spricht,  da 
lautet  das  Zugeständniss  dahin,  dassH.  richtig  erkannt  habe,  jener  Satz  sei 
synthetisch,  und  nicht  analytisch  aus  Begriffen  zu  gewinnen,  der  Vorwurf, 
Hume  habe  sich  seine  Aufgabe  nicht  allgemein  genug  gestellt;  denn  wenn 
er  die  Mathematik  auch  als  synthetische  Erkenntniss  a  priori  erkannt  hätte, 
hätte  er  jene  Möglichkeit  einer  Synthesis  a  priori  in  der  Metaphysik 
nicht  geleugnet.  Dieser  Vorwurf  findet  sich  hier  im  Text.  Anders  spricht  Kant 
in  Bezug  auf  das  andere  Problem,  und  auch  hier  sind  Zugeständniss  und 
Vorwurf  an  verschiedenen  Stellen  verschieden.  In  Proleg.  Vorr.  gibt  Kant 
Hume  darin  Recht,  dass  die  Verknüpfung  in  dem  Begriff  der  Causalität 
„a  priori  und  aus  Begriffen  unmöglich*  sei.  [Leider  ist  aber  dieser  Satz  undeut- 
lich. Er  besagt  wohl  theils,  es  sei  unmöglich  aus  A  das  B  herauszubekommen ; 
wohl  theils,  es  sei  unmöglich  dieNothwendigkeit  jener  Verbindung  ana- 
lytisch zu  finden.   Aber  auch  so  bleibt  der  Satz  (vgl.  o.  S.  341)  unklar  *,  was 


'  Die  ganze  Stelle  ist,  wie  auch  die  übrigen  allegirten  Stellen  bis  ins  Ein- 
zelnste hinein  durch  die  fundamentale  Verwechslung  undeutlich;  was  Mellin^ 
Wort.  II,  68,  Erdmann,  Ks.  Proleg.  LXXX.  LXXXII,  XCIV,  Spicker,  121  sagen, 
befriedigt  nicht.  Vgl.  Laas,  Anal.  138.  Was  H.  nach  dieser  Stelle  (vgl.  ob.  S.  341 
mit  340)  „unwidersprechlich  bewiesen^  haben  soll,  ist  gar  nicht  abzusehen,  ja  im 
Gegentheil  geradezu  ein  Widerspruch  mit  der  eigenen  Lehre  Kants.  Denn  K.  lehrt 
ja  gerade,  dass  der  Begriff  der  Ursache  und  der  in  ihr  enthaltenen  Nothwendig- 
keit  der  Verknüpfung  „a  priori  eingeführt  wird**;  denn  „mein  Verstand  gibt  mir 
a  priori  den  Begriff  von  einer  solchen  Verknüpfung  an  die  Hand^.  Proleg.  K.  136. 
Or.  199.  Und  was  heisst:  „aus  Begriffen  eine  solche  Verbindung  denken**? 
Dieser  Ausdruck,  der  hier  wohl  (vgl.  dag.  oben  S.  291)  die  dogmatische  analytische 
Methode  bezeichnet,  bezieht  sich  doch  nur  auf  Urt heile,  nicht  auf  Begriffe, 
und  hier  handelt  es  sich  um  den  Causalbegriff;  daher  lässt  K.  den  Ausdruck 
weiter  unten  wieder  weg.    In  diesem  Satze  scheint  Kant  alle  oben  angeführten 


Causalitäts begriff  und  Causalitäts gesetz.  35I 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

wohl  auch  daher  kommt,  dass  K.  dort  das  specielle  Oausalnrtheil  stillschweigend 
unter  das  Schema  des  synth.  Urtheils  a  priori  bringt  und  nach  dem  allge- 
meinen Caosalsatz  hinüberschielt.  Man  hat  jene  Stelle  ans  den  Prol.  un- 
zfthligemal  citirt  und  ebenso  oft  wohl  miss verstanden,  ohne  es  zu  gestehen ;  die 
^anze  Verwirrung  rührt  von  jener  unheilvollen  Verwechslung  her.]  Dies  ist 
das  Zngeständniss.  Der  Vorwurf  lautet  dahin,  dass  Hume  irrthümlicherweise 
daraus  auf  einen  empirischen  Ursprung  des  Causalbegriffes  aus  Gewohnheit 
und  Einbildungskraft  geschlossen  habe,  dass  er  ihm  die  objective  Noth- 
wendigkeit  genommen  und  sie  in  eine  subjective  Täuschung  verwandelt  habe, 
und  dass  er  damit  alle  apriorischen  Bestandtheile  (, Erkenntnisse'  sagt  K. 
in  Verwechslung '  mit  dem  Gausalitätsgesetz)  geleugnet  habe.  Er  dagegen 
habe  gezeigt,  dass  jener  Begriff  seine  volle  objective  Berechtigung  habe  und 
ein  apriorischer  Besitz  sei,  er  habe  denselben  nebst  noch  anderen  derartigen 
Begriffen  deducirt.  [Wiederum  anders  ist  Zngeständniss  und  Vorwurf  in 
Proleg.  §  27  ff.  Dort  heisst  es,  Hume  habe  mit  Recht  die  Unbegreif- 
lichkeit der  causalen  Verbindung  nachgewiesen.  Kant  findet  sein  eigenes 
Verdienst  darin,  dass  er  gezeigt  habe,  dass  trotzdem  jener  Begriff  zwar 
nicht  im  Gebiet  der  Dinge  an  sich,  aber  doch  in  dem  der  Erscheinungen 
nothwendig  und  berechtigt  sei,  was  Hume  eben  geleugnet  habe.]  Man  sieht, 
wie  verwickelt  diese  Darlegungen  Kants  sind  und  wie  sehr  wenig  sie  Erd- 
manns  Lob  der  „Klarheit'  '  verdienen.  (A.  a.  0.  LXXIX.)  Im  Gegentheil 
ist  keine  einzige  der  bisherigen  Darstellungen  in  diesem  Punkte  klarer  als 
Kant,  bei  dem  so  grosse  Unklarheit  herrscht  und  den  man  hier  zu  verstehen 
glaubte  oder  vorgab. 

.Eine  weitere  und  principielle  Beleuchtung  erhält  nun  jener  Unterschied 
durch  die  beiden  folgenden  Erwägungen.  Einmal  fällt  jener  Unterschied 
zusammen  mit  dem  der  in  der  ,Transsc.  Deduction*  behandelten  causalen 
Urtheile  und  des  in  den  „Grundsätzen*^  erörterten  und  bewiesenen  allge- 
meinen Causalitätsgesetzes.  Dort  handelt  es  sich  um  causale  Urtheile, 
welche  durch  den  Oausalitätsbegrlff  ermöglicht  sind,  hier  um  den  Causali- 
t&tsMts«  Dort  handelt  es  sich  um  die  Frage:  Mit  welchem  Rechte  nenne 
ich   Etwas   die  Ursache  von  etwas  Anderem?    hier  um   die  Frage:    Mit 


vier  Fälle  des  Hume^schen  Problems  durcheinanderzuwirren;  ja  es  spielt  noch 
offenbar  die  weiter  unten  im  Text  aus  Proleg.  §  27  angeführte  Frage  der  Begreif- 
lichkeit herein.    Der  Satz  ist  so,  wie  er  überliefert  ist,  gänzlich  unverständlich. 

*  Diese  schon  auf  S.  222  u.  223  (vgl.  S.  168)  gerügte  Ungenauigkeit  des 
Kantischen  Terminus  nErkenntniss**  (der  auch  noch  anderweitiger  Widersprüche 
halber  einer  monographischen  Behandlung  würdig  wäre)  ist  eine  constante  Be- 
gleiterscheinung der  sogleich  im  Folgenden  weiter  besprochenen  unklaren  Ver- 
EDischnng  von  Begriff  und  Satz  bei  Kant  überhaupt  und  von  Causalitätsbe griff 
und  Gausalitätsgesetz  speciell.  Häufig  nennt  Kant  die  Kategorien  selbst  schon 
„Erkenntnisse  a  priori"  z.  B.  in  der  transsc.  Deduction,  A.  110. 

*  Dasselbe  unverdiente  Lob  ertheilt  Thilo,  Gesch.  d.  Philos.  2.  A.  11,  189 
and  Nolen,  Kant  177. 


352  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

welchem  Rechte  nehme  ich  für  Jedes  beliebige  Geschehen  überhaupt  eine 
Ursache  anV  An  die  Deduction  erinnert  ja  Kant  selbst  in  den  Proleg. 
Vorrede  und  §  27.  Dass  er  aber  auch  trotzdem  beides  verwechselt,  geht  ans 
Proleg.  §  30  hervor,  wo  er  von  den  durch  den  berechtigten  Causal begriff 
ermöglichten  Causalurtheilen  übergeht  zu  den  synthetischen  Grundsätzen 
a  priori,  deren  Gültigkeit  für  das  Erscheinungsgebiet  er  ebenso  sicher,  als 
ihre  Ungültigkeit  über  Erfahrung  hinaus  bewiesen  habe.  Dieselbe  aus  Un- 
klarheit entsprungene  und  zu  Unklarheit  fuhrende  Verwechslung  spielt  aber 
auch  in  der  Kritik  selbst  ihre  verhängnissvolle  Bolle.  In  der  transscenden- 
talen  Deduction  A  112  f.  springt  Kant  von  der  Kategorie  der  Causalität 
und  den  durch  sie  bedingten  speciellen  Causalurtheilen  gänzlich  unver- 
mittelt zu  dem  allgemeinen  Naturgesetz  der  Causalität  über,  von 
welchem  er  ib.  114  (vgl.  117  Anm.)  als  einem  , synthetischen  Satze  der 
allgemeinen  Natureinheit"  spricht  (vgl.  ib.  126  flF.  Verwischung  des  Unter- 
schiedes von  Begriff  und  Urtheil):  und  doch  handelt  es  sich  in  dem  ge- 
nannten Abschnitte  nicht  um  die  Frage,  wie  synthetische  Sätze  a  priori 
möglich  seien,  sondern  um  die  Möglichkeit  der  Anwendung  der  apriorischen 
Begriffe  auf  das  Empirische!  Ebenso  schlimm  steht  es  in  der  transsc. 
Deduction  B,  wo  163  ff.  (vgl.  168)  derselbe  Mangel  sich  in  störendster  Weise 
geltend  macht.  Demgemäss  herrscht  dieselbe  Verwirrung  wieder  in  der  Ana- 
lytik der  Grundsätze  A  188  ff.  B.  233  ff.  Diege  Unklarheit  wird  auch 
dadurch  nicht  gehoben,  dass  Kant  an  manchen  Stellen  die  Kategorien  ^syn* 
thetische"  Vorstellungen  oder  Begriffe  a  priori  nennt,  Krit.  92.  220  vgl. 
bes.  mit  78  f.,  da  im  Gegentheil  dadurch  die  Vermischung  mit  den  syn- 
thetischen Sätzen  a  priori  nur  begünstigt  wird. 

Sodann  steht  jener  Unterschied  in  Beziehung  zu  dem  der  beiden  Fragen: 
wie  istErfahrung  möglich?  und:  wie  sind  synth.  Urtheile  a  priori 
möglich?  Denn  die  erste  Frage  umfasst  auch  die  Causalurtheile ,  welche 
der  Index  einen  objectiven,  d.  h.  allgemeingültigen  und  nothwendigen  Er- 
fahrung sind.  Die  andere  Frage  bezieht  sich  auf  den  Satz  der  Causalität. 
Hier  an  der  Stelle  des  Textes  bringt  K.  richtig  daher  auch  nur  den  letzteren 
in  Zusammenhang  mit  seinem  allgemeinen  Problem  und  lässt  das  andere  ans 
dem  Spiel.  Aber  in  Prol.  §  5  bringt  er  offenbar  beides  durch  einander,  während 
er  in  der  Vorr.  mehr  nur  die  erste  Frage  im  Auge  hat.  So  muss  man  es 
denn  also  in  doppeltem  Sinne  verstehen,  wenn  Kant  in  Hume  seinen  ,Er- 
wecker"  sieht,  in  jenem  doppelten  Sinne,  den  wir  schon  mehrfach  als  die 
Doppelaufgabe  der  Kritik  erkannt  haben,  und  ohne  welchen  jede  Auf- 
fassung der  Kritik  ganz  einseitig  bleibt  \     Kants  Einleitung  kann 


'  Mit  dieser  Darstellung  coincidirt  nur  scheinbar,  was  Fischer,  Gesch.  III, 
310  sagt.  Was  F.  „Erfahrungsurtlieil  a  priori"  nennt,  ist  mit  dem  auf  die  Erf.  be- 
züglichen synth.  Urtheil  a  priori  vermischt.  Dagegen  hat  F.  22.  28.  30  einen  dankens- 
werthen  Anlauf  genommen,  den  er  leider  nicht  fortgesetzt  hat.  Früher  und  später 
vermischt  er  beide  Gesichtspunkte,  16.  25.  286  ff.  30C.  312.  351,  355.  364.  601. 


Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  posteriori  möglich?  353 

[R  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

daher  leicht  irreführen  und  hat  irregeführt,  weil  er  das  andere  Grundproblem 
seiner  Kritik :  wie  sind  objectiv-nothwendige  Erfahrungsurtheile 
möglich?  in  der  Einleitung  nur  ganz  sporadisch  berührt  (nämlich  A  2, 
B  2,  wo  er  von  der  mit  apriorischen  Bestandtheilen  zersetzten  Erfahrungs- 
erkenntniss  spricht,  auch  B  5,  wo  er  von  der  Nothwendigkeit  im  Causal- 
begriff  redet)  '.  Bei  der  gewaltigen  Geistesarbeit ,  welche  Kants  Genie  aus- 
zuführen hatte,  kann  man  es  ihm  trotz  aller  Unklarheit  nicht  verübeln, 
ivenn  er  seine  Argumentationen  nicht  mit  vollendeter  Sicherheit  und  Durch- 
sichtigkeit durchführt,  aber  der  Commentator  hat  die  Pflicht,  die  tieferen 
treibenden  Grundgedanken  des  Autors  blosszulegen  *.  Falsch  ist  aber  z.  B. 
Volkelts  Methode,  in  die  Grundfrage:  Wie  sind  synth.  Urtheile  a  priori 
möglich?  schon  jene  andere  Frage  hineinzulegen.  In  jener  Frage  liegt 
sie  nicht  im  mindesten,  wohl  aber  liegt  sie  daneben,  sobald  man  Kants 
Aeusserungen  streng  philologisch  zusammenstellt,  auffasst,  vei;gleicht  und 
auf  ihren  Gedankengehalt  bis  ins  Detail  prüft.    (Vgl.  unten  358.) 

Nach  dem  Gesagten  ist  somit  die  Frage:  Wie  sind  synthetische  Ur- 
theile a  priori  möglich?  zu  ergänzen  durch  die  Frage:  Wie  sind 
synthetische  Urtheile  a  posteriori  möglich?'  Aber  K.  hat  ja  im 
Abschnitt  IV  der  11.  Aufl.  (oben  285)  bewiesen,  dass  diese  Urtheile  eben 
durch  neue  Erfahrung  möglich  sind!  Diese  Frage  hat  somit  für  Kant 
gar  keine  Schwierigkeiten.  Hier  ist  eben  wieder  ein  Punkt,  wo  der  Com- 
mentator seinen  Autor  besser  verstehen  muss,  als  dieser  sich  selbst  verstand. 
Dort,  .wo  K.  jene  Antwort  gibt:  Durch  Erfahrung,  verstand  er  unter  Er- 
fahrungsurtheilen  das,  was  er  später,  bes.  in  den  Proleg.  „Wahrnehmungsur- 
theil"  heisst.  Erf.  hat  dort  also  nicht  den  prägnanten  Sinn.  Dagegen 
in  der  transsc.  Deduction  (besonders  der  11.  Aufl.)  und  noch  mehr  in  den  Prol. 
vrird  jene  zweite  Frage  factisch  aufgeworfen  und  beantwortet.  Wie  die 
Frage  nach  der  Mögl.  synth.  Urth.  a  priori  nur  eine  andere  Formel  für  die 
Frage  nach  der  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  ist,  so  ist  die  Frage  nach 
der  Mögl.  synth.  Urth.  a  posteriori  nur  eine  andere  Formel  für  das  nun  schon 


'  Vgl.  oben  S.  168.  186  IT.  213  f.  Man  vergleiche  hiezu  den  Excurs  am 
Schlüsse  dieses  Abschnittes,  D  17  ff.,  wo  über  das  „Doppelproblem**  eingehendere 
Rechenschaft  gegeben  wird  Im  Zusammenhang  der  methodologischen  Analyse  der 
glänzen  Kritik  d.  r.  V. 

'  Vgl.  die  treffenden  Bemerkungen  von  Caird,  Joum.  of  spee.  Phil,  1880, 
116,  der  bei  Kant  „a  logical  weakneas^  findet,  for  which  toe  can  easüy  find  excuse 
in  ths  diffictäties  of  one  who  was  the  first  explorer  of  a  neu?  inteUectual  u>ord^  the 
first  to  employ  a  new  method  of  philosophy,  and  who  therefore  coüld  not  he  alwaya 
successfuU  in  freeing  his  mind  frotn  the  trctditional  conceptiom  of  things.  Vgl.  ib. 
133  und  desselben  Phü.  of  Kant  219.  220. 

•  K.  fragt  also  nicht  bloss  nach  der  Möglichkeit  der  reinen  Mathem.,  Naturw. 
rtnd  der  Metaph.,  sondern  auch  nach  der  Möglichkeit  der  gewöhnlichen  Er- 
Tahrungsurtheile,  in  welchen  die  empirischen  Wissenschaften  und 
das  gemeine  Leben  sich  bewegen. 

Yftihinger,  Kant-Coxmnentar.  23 


354  Commentar  zur  Einleitung  6,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [R  706,  H  46.  K  61.] 

mehrfach  als  zweite  Grundfrage  nachgewiesene  Problem :  Wie  ist  Erfahrung 
möglich?  aber  Erf.  in  prägnantem  Sinn,  sowie  auch  hier  bei  synth.  ürtbeilen 
a  posteriori  nur  an  solche  Urtheile  zu  denken  ist,  welche  eben  Bestandtheile 
jener  allgemeinen  und  nothwendigen  Erfahrung  im  Eantischen  Sinne  sind  *. 
Halten  wir  uns  an  die  Kantischen  Beispiele!  In  den  Proleg.  §  20  Anm. 
wird  das  Wahrnehmungsurtheil:  Wenn  die  Sonne  den  Stein  bescheint, 
so  wird  er  warm,  wohl  unterschieden  von  dem  Erfahrungsurtheil:  Die 
Sonne  erwärmt  den  Stein.  Das  erstere  macht  K.  gar  keine  Sorgen.  Aber  in 
dem  zweiten,  das  ausdrücklich  auch  als  synthetisches  bezeichnet  wird, 
ist  eine  objective  Allgemeingültigkeit  und  Nothwendigkeit  enthalten,  welche 
nicht  aus  der  gemeinen  Erfahrung  stammt.  Jener  Unterschied  wird  in  §  18 
als  ein  ganz  fundamentaler  hingestellt.  Nur  von  den  Wahrnehmung s- 
urtheilen  gilt,  was  K.  oben  sagt,  dass  zu  ihrem  Zustandekommen  die  Er- 
fahrung genüge]  sie  sind  wie  K.  Prol.  §  18  sagt,  eine  bloss  logische  Ver- 
knüpfung der  Wahrnehmung  in  einem  denkenden  Subject;  sie  sind  (§  19) 
blosse  Vorstellungsverknüpfungen,  blosse  Verknüpfangen  der  Wahrnehmungen 
in  meinem  Gemüthszustande  (§  20).  Allein  ganz  anders  ist  es,  sobald  die 
Wahmehmungsurtheile,  welche  zunächst  eine  bloss  zuMlige  Verbindung  re- 
präsentiren ,  Anspruch  erheben  auf  objective  Allgemeingültigkeit ;  dann  genügt 
zu  deren  Zustandekommen  die  gemeine  Erfahrung  nicht  mehr.  „Zerglie- 
dert man,''   sagt  E.  §  20,    „alle  seine  synthetischen  Urtheile,   sofern  sie 


*  In  der  Transsc.  Deduction  legt  K.  dagegen  auf  die  synthetische  Natur  jener 
Sätze  keinen  Nachdruck;  er  hat  ja  schon  in  der  Einl.  bewiesen,  dass  alle  em- 
pirischen Sätze  synthetisch  sind.  A priori  sind  dieselben  gar  nicht,  wenn  sie  auch 
ein  apriorisches  Element,  z.  B.  die  Kategorie  der  Causalität,  enthalten,  durch  deren 
Function  sie  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  erhalten.  Dass  der  Erfahrung  ja 
auch  diese  Prädicate  später  beigelegt  werden  —  im  Widerspruch  mit  der  Einl.  — 
wurde  schon  erwähnt.  (S.  165.  177.  187.  205.  215  ff.)  Dadurch  wird  es  erklärt, 
wenn  auch  nicht  entschuldigt,  wenn  manchmal  das  synthetische  Urtheil  a  posteriori 
geradezu  unter  die  apriorischen  gerechnet  oder  mit  ihnen  vermischt  wird,  z.  B. 
bei  Paulsen,  Entw.  157,  Strümpell,  Logik  119  ff.  131.  Fischer  III,  310  (vgl. 
oben  177)  und  besonders  bei  Adamson,  Kant  25.  26,  Watson,  Kant  66^  sowie 
bei  Sigwart,  Gesch.  d.  Philos.  III,  39  und  schon  (im  Anschluss  an  Fichte,  Nachg. 
W.  I,  110  vgl.  Hegel,  W.  W.  XV,  558  u.  s.  w.)  bei  Herbart,  W.  W.  XII,  4; 
bei  Rosmini  und  Mamiani,  s.  Werner,  Kant  in  Italien  33  f.  55  f.  Dies  geschah 
offenbar  aus  dem  Drang,  die  dunkel  gefühlte  und  hier  nachgewiesene  Inconcinnität 
zu  heben,  indem  man  eben  die  factisch  in  der  Kritik  behandelten  synthetischen 
Urtheile  a  posteriori  (mit  ihrem  apriorischen  Zusatz)  unter  die  Klasse  der  syn- 
thetischen a  priori  bringen  wollte,  deren  Möglichkeit  allein  in  der  Einleitung  Ge- 
genstand der  Fragestellung  ist.  Ganz  deutlich  ist  dieses  Motiv  der  Verwechslung 
bei  Cohen,  Th.  d.  Erf.80.  109.  112.  122.  163.  166.  168.  194.  196.  200.  203.  205  ff. 
208. 223  u.  ö.  Die  Verwechslung  ist  den  Commentatoren  um  so  weniger  zu  verübeln, 
als  sie  sich  bei  Kant  selbst  ganz  klar  ausgesprochen  findet,  Entd.  Ros.  I,  470  ff. 
und  bes.  474  f.  (vgl.  oben  S.  277  und  bes.  die  auf  S.  268  angeführten  Stellen) 
sowie  die  „Fortschr.  d.  Met."  R.  I,  508  u.  ö.     Vgl.  den  Excurs,  D  18.  22. 


Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  posteriori  möglich?  355 

[R  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

objectiv  gelten,  so  findet  man,  dass  sie  niemals  aus  blossen  Anschauungen 
bestehen,  die  bloss,   wie  man  gemeiniglich  dafür  hält,   durch  Vergleichung 
in   ein  Urtheil  verknüpft  werden,   sondern  dass  sie  unmöglich  sein  würden, 
wäre  nicht  über  die  von  der  Anschauung   abgezogenen  Begriffe   ein  reiner 
Verstandesbegriff  hinzugekommen,  unter  dem  jene  Begriffe  subsumirt  und  so 
allererst  in  einem  objectiv  gültigen  ürtheil  verknüpft  werden."     Eben  dess- 
halb  heisst  es   ib.  §  20  Anf.:     „Wir  werden  Erfahrung  überhaupt  zerglie- 
dern müssen,  um  zu  sehen,  was  in  diesem  Product  der  Sinne  und  des  Ver- 
standes enthalten  und  wie  das  Erfahrungsurtheil    selbst   möglich 
sei!*    Durch  blosse  Combination   der  Wahrnehmungen   entsteht  nicht  jene 
allgemeine,  nothwendige  Erkenntniss,  welche  allein  objectiv  und  Erfahrung 
sein  kann.    Dass   nun  jene  Erf. -urtheile    auch    synthetisch  sind,    ist 
selbstverständlich,  hat  auch  K.  an  den  genannten  Stellen  gesagt  und  wieder- 
holt es  zum  Ueberfluss  in   §  21  a  und   §  22.     In  der  11.  Aufl.   der  Kritik 
140  ff.  tritt  diese  Lehre  ebenfalls  hervor,   wenn  auch  nicht  so  stark  als  in 
den  Proleg.,   so  doch  stärker  als  in  der  I.  Aufl.  —  eine  Lehre,    die   aber 
aus  der  Deduction  nothwendig  folgt.     Somit  hat  man  allen   Grund, 
im  Sinne  Kants  die  Frage:     Wie    sind    synth.   Urtheile    a  posteriori 
möglich?  hier  einzuschieben.    Dass  das  nicht  geschehen  ist,  ist  Folge  und 
Ursache  vieler  und  schwerer  Missverständnisse  gewesen.   Mit  Bezug  auf  das 
oben  über  das  Hume'sche  Problem  Gesagte  kann  man  als  Normalbeispiel  für 
die  erste  Art  von  Urtheilen  (synth.  a  priori)  das  Causalitätsgesetz  an- 
fuhren, als  Hauptbeispiele  für  die  zweite  Art  (synth.  a  posteriori)  jedes  be- 
liebige Oausalurtheil,  wie:  Die  Sonne  erwärmt  den  Stein.     Wie  kommt 
es,   dass   wir   in   solchen  Erfahrungsurtheilen   eine   Allgemeingültigkeit  und 
Nothwendigkeit   aussprechen?     Wie   sind  solche   Erfahrungsurtheile    mög- 
lich? - 

Man  kann  aufs  Neue  fragen,  warum  K.  das  Verständniss  seines  Werkes 
erschwert  habe  durch  Unterdrückung  dieser  Frage,  welche  die  nothwendige 
Ergänzung  zu  der  aufgestellten  Grundfrage  ist.  Denn  mit  der  einen  Frage 
hebt  er  den  Dogmatismus  aus  den  Angeln  und  mit  der  andern  legt  er  die 
Axt  an  den  Empirismus,  wie  in  der  Einleitung  I  ausgeführt  wurde.  Beide 
Fragen  werden  ja  von  K.  selbst  beantwortet.  Es  hat  hiebei  eine  pädago- 
gische Tendenz  schwerlich  mitgespielt,  aber  jeden  Falls  spielte  eigene  Un- 
klarheit mit,  denn,  wie  schon  bemerkt,  K.  kam  zum  vollen  Bewusstsein 
seiner  Sache  erst  allmälig.  Mitgespielt  mag  auch  haben ,  dass,  nach  Windel- 
band, Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  51,  ihm  die  eigentliche  rationale  Philosophie 
mehr  am  Herzen  lag,  auf  welche  die  erste  Frage  zielt.  Aber  ganz  einseitig 
ist  Windelbands  weitere  Darstellung,  K.  erkenne  die  synth.  Urth.  a  posteriori 
als  zu  Recht  bestehend  an,  seine  Erkenntnisstheorie  befasse  sich  aber  mit 
der  Kritik  derselben  principiell  nicht.  Der  Titel  Kritik  oder  Theorie  der 
Erfahrung  für  Kants  Werk  sei  somit  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  K.  jene 
Urtheile  behandle.  Er  beschäftige  sich  nur  mit  der  ganz  neuen  Art  von 
Erkenntnissen,  welche  er  in  dem  Begriff  der  synth.  Urth.  a  priori  aufstelle. 


356  Commentar  znr  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

Nichts  kann  unrichtiger  und  verfehlter  sein  \  als  diese  Darstellung,  welche 
zwar  auf  Kants  Einleitung  fusst,  aber  die  factische  Untersuchung  der  Kritik 
unberücksichtigt  lässt.  Und  doch  stellt  W.  ib.  65  u.  bes.  73  nothgedrungen 
den  wahren  Sachverhalt  in  der  transsc.  Deduction  ganz  richtig  dar,  ohne  zu 
bemerken,  dass  damit  jene  Stelle  als  principiell  irrthümlich  sich  herausstellt.  * 
Die  Interpretation  der  Kritik  hat  unter  diesem  durch  Kants  Unklar- 
heit selbst  veranlassten  Irrthum  nicht  selten  sehr  stark  gelitten '.  Nur 
die  scharfe  Sonderung  jener  beiden  Fragen,,  jener  beiden  Urtheils- 
gattungen  und  dazu  die  Erkenntniss,  dass  beide  Fragen,  beide  Urtheilsgat- 
tungen  nebeneinander  das  Thema  der  Kritik  bilden,  führt  zur  wahren 
Auffassung  von  Kants  Werk.  Dieser  fundamentale  Punkt  kann  gar  nicht 
genug  betont  werden,  um  so  mehr  als  er  bisher  nur  ganz  sporadisch*  be- 
rücksichtigt wurde  und  auch  dann  nie  ohne  MissverstÄndnisse  und  immer 
ohne  die  principielle  Erkenntniss,  dass  beide  Fragen  gleichmässig  der 
Kritik  zu  Grunde  liegen  und  in  ihr  beantwortet  werden.  Jede  Dar- 
stellung, welche  zur  Einleitung  Kants  eigene  Darstellung  ein- 
fach wiedergibt,  ist  sonach  principiell  unvollständig,  genau 
aus  demselben  Grunde,  warum  Kants  eigene  Darstellung 
es  ist.* 

Diese  Ausführungen  haben  unterdessen  eine  geradezu  überraschende  Be- 
stätigung erfahren  durch  eine  Stelle,  welche  B.  Erdmann  in  seinem  höchst 
interessanten  Schriftchen  „Nachträge  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft* 
Kiel  1881,  S.  21  als  einen  der  handschriftlichen  Zusätze  Kants  zu  seinem 
Handexemplar  mitgetheilt  hat.  Zum  Anfang  der  Analytik  (A  66,  B  90) 
findet  sich  folgende  merkwürdige  Anmerkung: 


'  Von  den  schlimmen  Folgen  bietet  Windelband  11^  46  selbst  ein  Beispiel, 
wo  die  beiden  Urtheilsgattungen  y erwechselt  sind. 

'  Die  Einwände  Witte's  (Beitr.  17  ff.)  gegen  Cohens  Auffassung  der  Kritik 
als  eine  Th.  d.  Erfahrung  sind  also  ebenfalls  hinfällig. 

*  Derselbe  Irrtimm  auch  bei  Harms,  Phil,  seit  K.  132.  Vgl.  dagegen  ib.  135, 
wo  als  das  Problem  der  Kritik  die  synth.  Urth.  überhaupt  gelten,  und  „Gesch.  d. 
Logik",  S.  219.  221.     Vgl.  oben  S.  5  Anm. 

*  Auch  Caird,  Phil,  of  Kant,  206.  219  vertritt  den  Standpunkt,  dass  die 
Einleitung  „preliminary  and  therefore  inexact*^  sei,  insbes.  in  Bezug  auf  die  in  der 
Ein],  behauptete  Unabhängigkeit  der  Synth,  a  posteriori  von  derjenigen  a  priori. 
Dadurch  mache  man  die  Kritik  zu  „a  sealed  book^,  und  eliminire  die  Transscen- 
dentale  Deduction,  welche  doch  ihre  „central  idea**  enthalte.  Nichtsdestoweniger 
kommt  C.  zu  keiner  vollen  Klarheit  und  vermischt  die  verschiedenen  Fragen, 
a.  a.  0.  5—8.  187.  193.  198  ff.  205  ff.  210.  213  ff.  217  (vgl.  Joum.  of  apec.  Phil. 
1880,  118.  133);  er  vermischt  die  synthetischen  Urt heile  a  priori  mit  der  syn- 
thetischen Function  der  Kategorien,  an  sich  und  in  Bezug  auf  das  „Hume'sche 
Problem".  Aber  es  bleibt  sein  Verdienst,  beeinflusst  durch  S.  Beck  und  Cohen, 
die  irreleitende  Unvollständigkeit  der  Kantischen  Exposition  erkannt  zu  haben. 

*  Ebenso  ist  natürlich  auch  jede  Darstellung  falsch,  welche  nur  die  Frage 
nach  der  Mo  gl.  der  Er  f.  betont,  wie  z.  B.  Cohen.    Vgl.  den  Excurs,  D  19.  22. 


Wie  sind  synthetische  ürtheile  a  posteriori  möglich?  357 

[R  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

,Wir  haben  oben  (d.  h.  in  der  Einleitung)  angemerkt,  dass  Erfahrung 
aus  synthetischen  Sätzen  bestehe,  und  wie  synthetische  Sätze  a  po- 
steriori möglich  seyen,  nicht  als  eine  der  Auflösung  bedürfende  Frage 
angesehen,  weil  sie  Pactum  ist.  Jetzt  lässt  sich  fragen,  wie  dieses  Factum 
möglich  sey.  Erfahrung  besteht  aus  ürtheilen,  aber  es  fragt  sich,  ob  diese 
empirische  ürtheile  nicht  ürtheile  a  priori  voraussetzen  [vgl.  B  5,  oben 
S.  215  ff.  Jene  Stelle  der  II.  Aufl.  hat  offenbar  in  dieser  Anmerkung  ihre 
Wurzel.].  Die  Analysis  der  Erfahrung  enthält  erstlich  die  Zergliederung 
derselben,  sofern  darin  ürtheile  sind,  zweitens  ausser  den  Begriffen  a  po- 
steriori auch  Begriffe  a  priori.  Die  Aufgabe  ist  „wie  ist  Erfahrung 
möglich?*  u.  s.  w.  Diese  Bemerkung  (nebst  ihrer  Fortsetzung)  ist  zwar 
erst  im  Commentar  zur  Analytik  erschöpfend  zu  besprechen:  es  erhellt  aber 
aus  derselben  ohne  Weiteres,  dass  unsere  Ausführungen  Kants  Sinn  treffen; 
es  erhellt  ferner  daraus,  dass  Kant  zum  Bewusstsein  dieses  Problemes  erst 
allmälig  gekommen  ist.  Die  Stelle  bildet  die  Brücke  zwischen  der  Deduction 
in  der  Kritik  und  der  in  den  Prolegomena.  Die  Wendung  Kants,  in  der 
£inl.  sei  die  Erfahrung  nicht  zum  Problem  gemacht  worden,  „weil  sie  Factum 
ist*,  ist  Ausrede.  Denn  die  synthetischen  Sätze  a  priori  in  der  Mathematik 
und  Naturwissenschaft  sind  ja  gerade  dess wegen  zum  Problem  gemacht 
worden,  weil  sie  „Factum*  (oben  308)  sind.  —  Eine  andere  wichtige  Bestäti- 
gung gibt  der  Umstand,  dass  Kant  in  der  Deduction  B  141  ff.  das  Urtheil 
„die  Körper  sind  schwer*  erst  durch  die  „Beziehung  auf  die  urspr.  Appercep- 
tion*  und  die  in  ihr  enthaltenen  „Principien*  d.  h.  die  Kategorien  zu  Stande 
kommen  lässt.  Dasselbe  ürtheil  kommt  aber  nach  der  Einleitung  (vgl.  oben 
S.  284)  durch  blosse  Wahrnehmung  zu  Stande  und  bildet  dort  noch  kein 
Problem.  Derselbe  Widerspruch  spielt  in  der  Entd.  R.  I,  470  vgl.  mit  474. 
Und  noch  ein  anderer  Beweis  sei  hier  vorläufig  erwähnt:  In  dem  allerdings 
ungemein  schwierigen  Abschnitt  (A  153  ff.  B  192  ff.):  „Von  dem  obersten 
Grundsatze  aller  synthetischen  ürtheile*  betrachtet  Kant  als  seine  Aufgabe 
den  Nachweis  der  Möglichkeit  aller  synthetischen  ürtheile,  obwohl  er  daselbst 
nur  die  .synthetischen  a  priori  specieller  auszeichnet.  Zufolge  dieser  nach- 
träglichen Aenderungen  erscheint  aber  die  ganze  Anlage  der  Einleitung  als 
eine  verfehlte,  und  die  letztere  wird  von  Kant  selbst  dadurch  —  auch  noch 
durch  mehrere  andere  Lehren  der  Analytik  —  auseinandergesprengt. 

Die  ünvoUständigkeit  der  Fragestellung  '  geht  endlich  aus  der  einfachen 
Erwägung  hervor,  dass,  da  in  der  Einleitung  (vgl.  oben  168.  188.  213.  222  ff.) 
neben  apriorischen  Sätzen  auch  apriorische  Begriffe  als  vorhanden  nach- 
gewiesen werden,  doch  auch  nach  deren  Functions-  und  Geltungsgrund  ge- 
fragt werden  sollte.  Dieses  Problem  bildet  nun  aber  den  Inhalt  der  De- 
duction, des  „centralen*  Abschnittes  der  Kritik,  und  wird  z.  B.  A  95  (vgl. 


'  Dieselbe  findet  sich  noch  in  der  Schrift  gegen  Eberhard,  R.  I,  470.  472. 
474,  in  den  Fortschr.  d.  Met.,  R.  I,  495.  565.  566.  567  (vgl.  oben  S.  308)  und  im 
Brief  an  Tieftruuk  R.  XI  a,  186. 


358  Commentar  zur  Einleitung  B<,  Abschn.  VI. 

B  19.  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

110)  ausdrücklich  gestellt:  wie  reine  Verstandesbegriffe  möglich  seien? 
Die  kantische  Fragestellung  der  Einleitung  lässt  somit  ein  Problem  weg,  das 
nicht  nur  in  der  Einleitung  angelegt  ist,  sondern  das  auch  nachher  factisch 
eine  so   grosse  Rolle  spielt.     Die  vielen  hier  mitspielenden  Schwierigkeiten, 
wie  sich  nun  diese  Frage  zu   der  Frage  nach  der  Möglichkeit  synthetischer 
ürtheile  a  posteriori  und  zu  der  allgemeineren  Frage  nach  der  Möglichkeit 
der  Erfahrung  verhalte  und  welche  Beziehung  wiederum  zwischen  dieser  und 
der  Frage  nach   der  Möglichkeit  synthetischer   ürtheile  a  priori  herrsche, 
können  selbstverständlich   erst  im   Commentar  zur  Analytik   zur  Discussion 
kommen,  wo  auf  die  Fragestellung   der   Einleitung  ein  Rückblick  geworfen 
werden  wird  und  wo  in  Bezug  hierauf  einschneidendere  Distinctionen  Platz 
greifen  werden.     Jedenfalls  haben   wir  hier   das  Resultat,   dass  die  Frage- 
stellung der  Einleitung  unvollständig  ist;  dass  die  Frage  nach  der  Möglich- 
keit der  Erfahrung  überhaupt  (vgl.  oben  S.  186 — 189)  und  speciell  nach  der 
Möglichkeit  der  Erfahrungsurtheile  eine  nothwendige  Ergänzung  des  „Trans- 
scendentalen  Problems"  bildet,  vor  Allem  aber,  dass  Kant  unter  dem  Hume- 
schen   Problem   zwei  ganz  verschiedene   Fragen  versteht.     Was  die 
Literatur  in  Bezug  auf  Jenes  bietet,  ist  im  Folgenden  zusammengestellt.  Ausser 
bei  Caird   (und  dem   sich   an   ihn  anschliessenden  Adamson)  ist  jedoch  die 
Erkenntniss  der  Un Vollständigkeit  nirgends  zu  vollem  Durchbruch  gekommen. 
So  ist  es  trotz  der  zum   Theil  scharfsinnigen  Ausführungen  falsch,  mit 
Volkelt,  Ks.  Erk.  227  zu  sagen,  dass  die  Frage  nach  der  Möglichkeit 
der  Erfahrung  schon  in  der  Grundfrage  nach  der  Möglichkeit  nothwendiger 
(synthetischer)  Erkenntniss  liege,  weil  die  nothwendige  (unbewusste)  Ver- 
knüpfung der  Elemente  des  Erfabrungssystems  sich  nicht  trennen  lasse  von 
der  nothwendigen  bewussten  Erkenntniss.   Abgesehen  davon,  dass  hier  zwei 
Gegensätze:  bewusst  —  unbewusst,  synthetisch  a  priori  —  synthetisch  a  posteriori 
vermischt  sind:   eine    „doppelte  Gestaltung"   der  Grundfrage  („wie  ist  das 
bewusste  nothwendige  Erkennen  möglich?"  und  „wie  ist  der  nothwen- 
dige Zusammenhang  der  Erfahrungswelt   möglich?^)  besteht  gar  nicht 
in  dem  Sinne,  dass  diese  Frage  in  jener  enthalten  wäre,  sondern  nur  so, 
dass   dies   die  beiden   Grundseiten  der  Kritik  sind,  von   denen  K.  eben  — 
vielleicht  aus  didaktischen   Gründen  —  nur  die   erstere   in   der  Einleitung 
entwickelt,  die  andere  wird  erst  in  der  Einl.  zur  Deduction  der  Kategorien 
eingeführt,  z.  B.  A  93.  95  u.  ö.  Prol.  §  20  u.  ö.     Sie  wird  aber  mit  Recht 
zur  Erhöhung  des  Verständnisses  am  Anfang  erwähnt,  wie  das  auch  Lange, 
Gesch.  d.  Mat.  11,  11.  22.  28.  thut.     Denn   auch  nach  ihm  handelt  es  sich 
um  eine  Analyse  der  Erfahrung,   in  welcher  ein  begrifflicher  Factor, 
der  aus  uns  stammt,   nachzuweisen  ist.    Es  sei  dies   der  „nächste  Zweck" 
der  Kritik   d.  r.   V.    —   es  ist  aber  nur    eine  der   beiden  Hauptseiten  der 
Kritik.     Reinhold,    Beitr.   z.  l.   Uebers.   2,    12:    „Der  Inhalt  des   ganzen 
Werkes  ist  Antwort  auf  die  Frage:  Wie  ist  die  Erfahrung  möglich?* 
In  welchem  Sinne  diese  Frage  zu  verstehen  sei,  kann  nur  klar  werden,  wenn 
man  daran  denkt,  dass  für  K.  Erf.  der  nothwendige  Zusammenhang  der 


Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erfahrung.  359 

[B  706.  H  46.  E  61.]  B  19.  20. 

Erscheiniingen  in  Einem  Bewusstsein  ist.  Auch  Fichte  (Phil.  Journal.  1797, 
1.  8  ff.)  fasst  das  Problem  der  Philos.  in  die  Formel;  Welches  ist  der 
Grund  aller  Erfahrung?  (Vgl.  hierüber  Heusinger,  Das  id.  ath. 
Syst.  Fichte's  7  ff.)  In  neuerer  Zeit  hat,  wie  schon  in  der  Einleitung  er- 
wähnt, besonders  Cohen  und  nach  ihm  Riehl  diesen  Standpunkt  vertreten, 
l^ach  Göring,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  405  ff.  (üeber  den  Begriff  der  Erf.) 
weiss  die  I.  Aufl.  von  einer  positiven  Theorie  der  Erf.  noch  nichts. 
In  der  I.  Aufl.  habe  K.  nur  eine  negative  Kritik  der  Erfahrung  geben 
wollen,  keine  pos.  Theorie  ders.  ib.  I,  408  f.  412.  413.  ib.  415  über  Riehl 
und  Stadler  417.  526  f.  Die  Frage,  wie  Erf.  möglich  sei,  findet  den  Bei- 
fall G.'s  nicht  im  Geringsten ,  sie  sei  unkritisch ;  vgl.  533.  II,  107  ff.  Eine 
allgemeine  Formel,  welche  beide  Fragen  nach  der  Erkenntniss  aus  reiner 
Vernunft  und  nach  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  umfassen  kann,  s.  bei 
Jakob,  Krit.  Vers,  über  Hume  I,  596:  Wie  ist  Erkenntniss  über- 
haupt möglich?  Diese  Frage  allein  sei  metaphysisch.  Vgl.  hiezu 
noch  Göring,  Viert,  f.  wiss.  Philosophie  I,  528  und  bes.  ÜI,  13. 

Weitere  beachtenswerthe  und  zur  Vergleichung  herbeizuziehende  Stellen 
sind  folgende:  Fichte,  Nachg.  W.  I,  27.  110.  130  ff.;  Schelling,  W.  W. 
1.  Abth.  VI,  79;  Baader,  W,  W.  I,  7  (interessante  Stelle);  über  Schopen- 
hauer vgl.  Bahr,  Schop.  3.  35  ff.  40;  Rosenkranz,  K.\sche  Philos.  157; 
Degerando,  Vergl.  Gesch.  I,  469.  II,  479;  Ulrici,  Grundprincip  I,  302.  310. 
Besonders  zu  erwähnen  sind  die  Bemerkungen  von  Riehl,  Kritic.  I,  286.  310. 
327.  337  ff.  341.  384  f.  442  ff.  Dagegen  herrscht  theilweise  eine  grosse 
Unklarheit  über  das  VerhiÜtniss  der  verschiedenen  Fragen  bei  Wolff,  Spe- 
culation  I,  Vorr.  XX.  XXH.  XXV;  74.  77.  97  ff.  102.  106.  108.  110  f.  116  ff. 
148.  156  ff.  162  ff.  168  ff.  241  ff.  264  ff.  284;  II,  17.  21  f.  41.  92.  95.  229. 
Vgl.  ferner  Dilthey,  Schleiermacher  94;  Pesch,  Moderne  Wissensch.  13. 
14.  34.  Trotz  einzelner  Fehlgriffe  erkennt  doch  (im  Anschluss  an  Caird) 
Adamson,  Kants  Philos.  5.  18.  23.  25.  106  die  irreführende  UnvoUständig- 
keit  der  Kantischen  Einleitung.  Bei  Watson,  Journal  of  spec.  PhiL  1876, 
118  ff.  und  besonders  Kant  and  his  critics  3  ff.  7.  12.  20  f.  34.  60  ff.  66  f. 
138  ff.  226  ff.  sind  die  verschiedenen  Fragen  gänzlich  vermischt.  Cantoni, 
Kant  160  ff. ;  Balmes,  Fundamente  II,  193.  198.  —  Man  vergleiche  den 
Excurs  S.  384  ff.  suh  D  17-22. 

Darch  Gewohnheit  der  Sehein  der  Nothwendigkeit.  Diese  nennt  K. 
oben  B  5  eine  subjective  Nothwendigkeit.  Diese  subj.  psychologische 
Nothwendigkeit  will  er  strengstens  unterschieden  wissen  von  der  objectiven, 
transscendentalen.  Jene  ist  empirisch-anthropologisch,  diese  apriorisch, 
logisch*.  Jene  ist  gefühlte,  diese  eingesehene  Nothw.  (Krit.  d.  prakt. 
Vern.  Vorr.  Schlss.).    Wo  aber  nur  jene  Nothw.  angenommen  wird^  ist  allem 


'  „Logisch"  gebraucht  K.  nicht  selten  gleichbedeutend  mit  „Transscendental"; 
z.  B.  Kr,  d.  ürth.  Einl.  V.  VII:  „die  logische  objective  Nothwendigkeit  kommt 
nicht  heraus,  wenn  die  Principien  bloss  empirisch  sind".     Kr.  d.  pr.  V.  201  u.  ö. 


360  Commentar  znr  Einleitung  B,  Absclin.  VI. 

B  20.  [B  706.  H  46.  E  61.] 

Zweifel,  aller  Ungewissheit  Thür  und  Thor  geöffnet.  K.  aber  will  gewi&se, 
sichere  Erkenntniss;  d.  h.  er  will  den  Empirismus  und  den  Skepticismns, 
des  Ersteren  Consequenz,  überwinden  durch  seine  neue  rationalistische 
Wendung.  Kant  kommt  oft  auf  diesen  Unterschied  zurück,  welcher  trotz 
seiner  fundamentalen  Bedeutung  zu  wenig  bisher  betont  worden  ist,  obwohl 
in  Aesthetik  und  Analytik  häufig  genug  darauf  hingewiesen  wird,  dass  K. 
an  Stelle  der  subjectiven  Noth wendigkeit  eine  objective  setzen  will. 
In  der  Methodenlehre,  759  f.  764  f.  wird  dies  ausdrücklich  im  Gegensatz 
gegen  Hume  betont.  Hume  lehrt  bloss  vermeinte,  zufällige  statt  wahre, 
objective  Nothwendigkeit  der  Causalität.  Jene  beruht  nach  H.  auf  blosser 
Association;  diese  Bestimmungen  werden  wiederholt  in  Uebereinstimmung 
mit  Prol.  Vorr.  S.  8  in  der  II.  Aufl.  S.  127  f.  vgl.  Mellin,  Bd.  IH,  13. 
II,  447.  Ueber  diese  subj.  Nothw.  aus  der  „Beigesellung"  vgl.  K.  Anthr. 
29  B:  über  das  sinnl.  Dichtungsvermögen  der  Association.  Welchen  Werth 
K.  auf  diesen  Unterschied  legt,  beweisen  die  Öfteren  Wiederholungen  in 
den  späteren  Schriften.  Krit.  d.  pr.  Vern.  Vorr.  S.  24  ff.  ib.  S.  88  ff.  90—99, 
bes.  91.  92.  98.  Zum  sicheren  Schliessen  gehört  objective  Nothwendigkeit 
Thiere  haben  nur  subjective,  Menschen  objective  Nothwendigkeit  — 
Leibniz' sehe  Bestimmungen.  Genau  derselbe  Gegensatz  ist  aber  nicht  nur 
für  die  theoretische  Philosophie  wichtig;  sondern  auch  für  die  Moral 
und  Aesthetik.  In  der  Krit.  d.  prakt.  V.  ist  object.  Nothw.  die  Pflicht, 
das  moralische  Sollen,  subjectiv  noth  wendig  das  blosse  Handeln  nach 
technischen  Regeln,  nach  Glückseligkeitsmotiven,  die  daher  auch  nicht 
allgemein  sind;  Kr.  d.  pr.  V.  36,  46.  Kr.  d.  Urth.  Einl;  S.  XII.  Tugendl. 
Einl.  cap.  XV  (Fertigkeit).  (Eine  andere  von  K.  selbst  gelehrte  subj. 
Nothw.  betrifft  die  Postulate,  Annahme  Gottes  u.  s.  w.  Kr.  d.  pr.  V. 
6.  226.  Auch  diese  steht  der  obj.  Nothw.  der  Pflicht  gegenüber.)  In  der 
Kr.  d.  Urth.  §  18—22  wird  derselbe  Unterschied  erörtert,  und  gezeigt,  unter 
welchen  Umständen  die  subj.  Nothw.  des  Geschmacksurtheils  (des  (Jefühls 
und  der  Einbildungskraft)  in  eine  object.  Nothw.  (des  Verstandes) 
verwandelt  werden  könne,  nämlich  durch  Annahme  eines  ästhetischen 
A priori  (die  Idee  des  Gemeinsinns).  Vgl.  ib.  §  66  über  das  Teleologische 
Apriori.  —  In  allen  drei  Gebieten  tritt  Kant  dem  Empirismus  und  seiner 
Lehre  von  der  relativen,  subjectiven  Nothw.  gegenüber:  nach  ihm  gibt  es 
in  allen  drei  eine  absolute,  eine  obj.  Nothwendigkeit,  m.  a.  W.  es  gibt  ein 
theoretisches,  ethisches,  ästhetisches  Apriori.  Die  „Rettung*' 
der  objectiven  Nothwendigkeit  ist  eine  der  Grundtriebfedern 
der  K.' sehen  Philosophie  \  Die  Nothwendigkeit  lässt  sich  nicht  psycho- 
logisch erklären:  „Wenn  ein  Urtheil  sich  selbst  für  allgemeingültig  ausgibt, 
und  also  auf  Nothwendigkeit  in  seiner  Behauptung  Anspruch  macht,  ...  so 


*  Vgl.  hierüber  die  lesenswerthe  Erörterung  von  Mahaffy,  Ä  commen- 
tary^  Intr.  I— XV  (über  ^subjective  and  objective  necessity^  gegen  Mi  11  und  Bain 
als  Nachfolger  Hartley's,  für  Kant  als  Nachfolger  Leibniz'). 


Hume's  ßubjective,  Kants  objective  Nothwendigkeit.  361 

[B  706.  H  46.  K  61.]  B  20. 

wäre  es,  wenn  man  einem  solchen  ürtheile  dergleichen  Anspruch  zugesteht, 
ungereimt,  ihn  dadurch  zu  rechtfertigen,  dass  man  den  Ursprung  des  Urtheils 
psychologisch  erklärt.  Denn  man  würde  seiner  eigenen  Absicht  entgegen 
handeln,  und  wenn  die  versuchte  Erklärung  vollkommen  gelungen  wäre,  so 
würde  sie  beweisen,  dass  das  Urtheil  auf  Nothwendigkeit  schlechterdings 
keinen  Anspruch  machen  kann,  ebendarum  weil  man  ihm  seinen  empirischen 
Ursprung  nachweisen  kann.**  Ueber  Philos.  überh.  Ros.  I,  607.  Vgl.  oben 
S.  204.  209.  215  und  bes.  Riehl,  Kritic.  I,  296  f. 

Dmss  es  auch  keine  reine  Mathematik  gehen  kOnne.  Wenn  K.  hier 
sagt,  Hume  habe  die  Aufgabe  nicht  in  ihrer  Allgemeinheit  gestellt,  so 
meint  er  hier  damit  nicht,  dass  Hume  bloss  den  Begriff  der  Causalität,  nicht 
aber  den  der  Substantialität  u.  s.  w.  in  Betrachtung  gezogen  habe  (Prol. 
Vorr.),  sondern  dass  Hume  die  Frage  nicht  auf  die  Mathematik  ausgedehnt 
habe  \  K.  fuhrt  diesen  ganzen  Gedankengang  in  den  Prol.  §  4  (eig.  §  2,  c,  3) 
genauer  aus:  Die  Vernachlässigung  der  sonst  leichten  und  unbedeutend 
scheinenden  Beobachtung  habe  der  Philosophie  einen  grossen  Nachtheil 
zugezogen.  «Hume,  als  er  den  eine^  Philosophen  würdigen  Beruf  fühlte, 
seine  Blicke  auf  das  ganze  Feld  der  reinen  [synthetischen]  Erkenntniss  a  priori 
zu  werfen,  in  welchem  sich  der  menschliche  Verstand  so  grosser  Besitzungen 
anmasst,  schnitt  unbedachtsamer  Weise  eine  ganze  und  zwar  die  erheblichste 
Provinz  derselben,  nämlich  reine  Mathematik,  davon  ab,  in  der  Einbildung, 
ihre  Natur  und  so  zu  reden,  ihre  Staatsverfassung,  beruhe  auf  ganz  anderen 
Principien,  nämlich  lediglich  auf  dem  Satze  des  Widerspruchs,  und  ob  er 
zwar  die  Eintheilung  der  Sätze  nicht  so  förmlich  und  allgemein,  oder  unter 
der  Benennung  gemacht  hatte,  als  es  von  mir  hier  geschieht,  so  war  es  doch 
gerade  so  viel,  als  ob  er  gesagt  hätte:  reine  Mathematik  enthält  bloss 
analytische  Sätze,  Metaphysik  aber  synthetische  a  priori.  Nun 
irrte  er  aber  hierin  sehr  und  dieser  Irrthum  hatte  auf  seinen  ganzen  Begriff 
entscheidend  nachtheilige  Folgen.  Denn  wäre  das  von  ihm  nicht  geschehen, 
so  hätte  er  seine  Frage  wegen  des  Ursprungs  unserer  synthetischen  Ürtheile 
[a  priori]  weit  über  seinen  metaphysischen  Begriff  (!)  der  Causalität  erweitert 
und  sie  auch  auf  die  Möglichkeit  der'  Mathematik  a  priori  ausgedehnt,  denn 


■  Die  beiden  Arten  der  Verallgemeinerung  sind  wesentlich  zu  trennen, 
wahrend  Erdmann  Prol.  Vorr.  XCIII  beides  verwechselt.  Uebrigens  spricht  K. 
von  der  ersteren  Allg.  auch  oben  im  Text  B  19.  Vgl.  oben  S.  315  und  330. 
Ranze,  Ks.  Kritik  an  Hume  26  ff.  findet  hierin  den  „Cardinalpunkt"  des  K.'schen 
Fortschrittes.  Dass  K.  „das  ganze  Feld"  der  reinen  Vernunft  untersucht,  darauf 
legt  er  im  Gegensatz  zu  Hume's  Mangel,  „den  er  mit  allen  Dogmatikern  gemein 
hatte",  allerdings  grosses  Gewicht.  Krit.  761.  767.  Kr.  d.  pr.  V.  91.  Vgl.  oben 
S.  148  f.  Vgl.  Dilthey,  Schleiermacher,  S.  89;  „Es  wird  ewig  zu  den  belehrend- 
sten Beispielen  genialer  Methoden  gehören,  durch  welche  Mittel  es  K.  gelang,  zu 
einer  völlig  universalen  und  ganz  einfachen  Fassung  des  Problems  durchzu- 
dringen". [?]  Vgl.  Capesius,  Herbart  43.  Vgl.  oben  S.  164  die  Analyse  der  Einl. 
der  Prol.    Vgl.  oben  8.  337.  —  Zimmermann,  Ks.  math.  Vor.  4.  7  ff. 


362  Commentar  zar  Einleitung  B,  Abschn.  VI, 

B  20.  [B  706.  H  46.  K  61.] 

diese  nmsste  er  ebensowohl  synthetisch  annehmen.  Alsdann  aber  hätte 
er  seine  metaphys.  Sätze  keineswegs  auf  blosse  Erfahrung  gründen  können, 
weil  er  sonst  die  Axiome  der  reinen  Mathematik  ebenfalls  der  Erfahrung 
unterworfen  haben  würde,  welches  zu  thun  er  viel  zu  einsehend  war.  Die 
gute  Gesellschaft,  worin  Metaphysik  alsdann  zu  stehen  gekommen  wäre, 
hätte  sie  wider  die  Gefahr  einer  schnöden  Misshandlung  gesichert;  denn  die 
Streiche,  welche  der  letzteren  zugedacht  waren,  hätten  die  erstere  auch  treffen 
müssen,  welches  aber  seine  Meinung  nicht  war,  auch  nicht  sein  konnte,  und 
so  wäre  der  scharfsinnige  Mann  in  Betrachtungen  gezogen  worden,  die  den- 
jenigen hätten  ähnlich  werden  müssen,  womit  wir  uns  jetzt  beschäftigen"  K 


*  Auch  in  der  Krit.  d.  prakt.  V.  Vorrede  lobt  Kant  Hume,  dass  er  seinen 
Empirismus  nicht  auf  die  Mathem.  ausgedehnt  habe,  ebenso  ib.  S.  90  ff.:  «Die 
Mathematik  war  so  lange  gut  weggekommen,  weil  Uume  noch  dafür  hielt,  dass 
ihre  Sätze  alle  analytisch  wären,  d.  i.  von  einer  Bestimmung  zur  anderen,  um  der 
Identität  willen,  mithin  nach  dem  Satze  des  Widerspruchs  fortschritten  (welches 
aber  falsch  ist,  indem  sie  vielmehr  alle  synthetisch  sind,  und,  obgleich  z.  B.  die 
Geometrie  es  nicht  mit  der  Existenz  der  Dinge,  sondern  nur  ihrer  Bestimmung 
a  priori  in  einer  möglichen  Anschauung  zu  thun  hat,  dennoch  ebenso  gut,  wie 
durch  Causalbegriffe,/von  einer  Bestimmung  A  zu  einer  ganz  verschiedenen  B  als 
dennoch  mit  jener  nothwendig  verknüpft  übergeht)".  Wenn  die  Sätze  der  Mathem. 
analytisch  wären,  so  wären  sie  allerdings  auch  apodiktisch;  „gleichwohl  aber 
würde  daraus  kein  Schluss  auf  ein  Vermögen  der  Vernunft,  auch  in  der  Philosophie 
apodiktische  ürtheile,  nämlich  solche,  die  synthetisch  wären  (wie  der  Satz  der 
Causalität),  zu  fällen,  gezogen  werden  können".  Dieser  Schluss  kann  nur  gezogen 
werden,  wenn  die  ürtheile  der  Mathem.  auch  synthetisch  a  priori  sind.  Umge- 
kehrt folge,  sagt  K.,  aus  einer  consequenten  Verallgemeinerung  des  empiristischen 
Princips,  dass  auch  die  Mathematik  bloss  empirisch  sei,  und  das  führe  zum  allge- 
meinen Skepticismus,  den  man  dem  Hume  fälschlich  in  unbeschränkter  Bedeutung 
beilegte;  denn  er  habe  einen  sicheren  Probirstein  der  Erfahrung  in  der  apriori- 
schen Mathematik  übrig  gelassen.  —  Dagegen  ist  nur  einzuwenden,  dass  für  Hume  die 
Mathematik  bloss  relativ  apriorisch  war,  d.  h.  die  mathemat  Grundbegriffe 
stammen  nach  ihm,  wenn  sie  auch  theilweise  verändert  werden  durch  die  Ein- 
bildungskraft, doch  in  letzter  Linie  aus  der  Erfahrung.  Vgl.  Baumann,  Raum. 
Zeit  u.  Mathem.  II,  481  ff.  523  ff.  569  ff.,  wo  auch  die  Stelle,  durch  welche  K.  wahr- 
scheinlich zu  seinem  Irrthum  geführt  worden  ist  (Hume,  Und.  Sect.  IV),  richtig  er- 
klärt ist.  Ueber  Hume's  Ansichten  über  die  Mathem.  vgl.  Paulsen,  Entw.  7.  155. 
164.  167.  Erdmann,  Kants  Proleg.  XCV  Anm.  Kannengiesser,  Dogm.  u.  Skept. 
57.  Dagegen  gründlich  falsch  bei  Spicker,  Kant,  Hume  und  Berk.  110.  117;  bei 
H.  finde  sich  schon  der  K.'8che  Dualismus  zwischen  Apriori  und  Aposteriori, 
Eine  andere  Sache  ist,  dass  K.  factisch  Hume  missverstanden  hat,  indem  er  aller- 
dings meint,  H.  lehre  volle  Apriorität  der  Mathematik.  Dass  diese  vermeintliche 
Lehre  Hume's  einen  sehr  fördernden  Einfluss  auf  K.  ausgeübt  habe,  hat  Ch.  Ritter, 
Kant  und  Hume  1878  nicht  unüberzeugend  nachzuweisen  gesucht.  (Indessen  ist 
hierin  doch  noch  Leibniz's  Einfluss  als  der  stärkere  anzuschlagen.)  Ebenso 
Kunze,  Ks.  Kritik  an  Hume  13  f.  Vgl.  Laas,  Id.  u.  Pos.  I,  129.  Nolen,  Kant 
et  Leibniz  180.  Riehl,  Krit.  I,  69.  96  ff.  Man  vgl.  bes.  die  treffenden  Bemerkungen 


Harne 's  Theorie  der  Mathematik.  363 

[R  706.  H  46.  K  61.]  B  20. 

Also,  hätte  Hume  erkannt,  dass  auch  die  Mathematik  synthetische  Ur- 
theile  enthalte ,  so  hätte  er  sie  mit  der  Metaphysik  zusammengestellt ,  bei 
welcher  er  synthetische  Ui-theile  a  priori  (wenigstens  der  Tendenz  nach)  be- 
merkte; und  hätte  er  das  gethan,  so  hätte  er  seine  Frage,  wie  solche  synth. 
Erk.  a priori  möglich  sei,  allgemeiner  gefasst.  Diese  allgemeinere  Fassung 
der  Frage  hätte  aber  auch  eine  ganz  andere  Beantwortung  derselben  nach 
sich  gezogen.  Er  hätte  nämlich  dann  nicht  die  synthetischen  Urtheile  der 
Metaphysik  (Causalitätsgesetz,  nicht  Causalurtheile)  als  empirisch  angesehen, 
d.  h.  er  hätte  jene  Frage  nicht  negativ  beantwortet,  weil  diese  Antwort 
dann  auch  die  Mathematik  getroffen  hätte,  die  aber  doch  anerkannter  Massen 
apriorisch  ist  und  die  auch  Hume  als  solche  ansah,  wenn  auch  als  ana- 
lytisch. Dann  hätte  nämlich  Hume  erkannt,  dass  die  Mathematik  eine 
apriorische,  reine  Anschauung  voraussetzt  und  er  hätte  geschlossen  (was 
freilieb  kein  nothwendiger  Schluss  gewesen  wäre!),  dass  es  auch  in  Bezug 
auf  die  Metaphysik  solche  apriorische  Elemente  gebe,  und  dann  hätte  er  die 
Frage  ganz  allgemein  behandelt,  wie  es  möglich  sei,  aus  reiner  Vernunft 
über  die  Gegenstände  zu  uii;h eilen,  d.  b.  er  hätte  die  Untersuchungen  der 
Kritik  begonnen.  Daher  sagt  Fischer  (III,  309)  (trotz  Paulsen,  Entw. 
174  Anm.)  richtig:  „Die  Mathematik  ist  die  negative  Instanz, 
an  der  Kant  den  Skepticismus  scheitern  macht.*  Durch  sie  wird 
aber  auch  der  Dogmatismus  gestürzt  (ib.  304),  denn  die  Bedingungen 
der  Mathematik  als  synthetischer  Erk.  a  priori  stimmen  weder  mit  dem 
Skept.  überein,  noch  mit  dem  Dogmat.  —  Krit.  Briefe  50:  „Es  wäre  zu 
vermuthen,  dass  Hume,  wenn  er  auf  diese  Folgerung  gedacht  hätte,  lieber 
die  Möglichkeit  der  reinen  Mathematik,  als  die  Richtigkeit  seiner  Be- 
hauptung Würde  aufgegeben  haben.*  Ebenso  sagt  Compayr^,  Hume  148 
sehr  treffend ;  11  n'est  pas  vrai  de  dire  que  Hume  eüt  rSculS  devant  son  scep- 
ticisme,  s^il  avaü  compris  que  ce  scepticisme  entrainait,  comtne  consSquence,  la 
nigation  des  mathitnatiques  pures;  und  S.  151:  H.  hätte  seinen  Skept.  nicht 
desavouirt,  sondern  sich  im  Sinne  des  Mi  11 'sehen  Sensualismus  geäussert. 
Vgl.  noch  Compayr^'s  Vorrede  zu  seiner  Uebersetzung  von  Huxley,  Hume 
XXX  sq.  Ks.  Irrthum  erkläre  sich  aus  seiner  Unkenntniss  des  Treatise. 
Dasselbe  bemerkt  auch  Gaird,  Kant  215.  219,  und  auf  die  Meinung  Ks. 
„that  Hume  wotdd  have  hesUated  to  carry  out  his  principle,  if  he  had  seen 
its  application  to  mathematics/  gibt  dieser  „Transscendentalist"  die  unbarm- 
herzige Antwort:  But  why  not?  Dagegen  findet  sich  auch  häufig,  nicht 
bloss  in  Bezug  auf  diesen  speciellen  Punkt,  sondern  im  Allgemeinen  die  opti- 
mistischere Ansicht,  Hume  hätte  sich  von  Kant  überzeugen  lassen,  so  Born, 
Pbil.  Mag.  II,  537  hätte  seinen  „kranken  Verstand*  gerne  durch  K.  be- 
richtigen lassen.   Ebenso  ^From  Hum^s  well-knoum  Uberality  of  sentiment  and 


von  Compayre,  Hume  139—160,  der,  wie  Caird,  Kant  215,  219,  bei  Hume  weder 
die  Lehre  von  der  analytischen  noch  die  von  der  apriorischen  Natur  der 
Mathematik  findet.  -  Vgl.  oben  S.  51.  242.  328.  333.  338. 


364  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  VI. 

B  20.  [B  706.  H  46.  E  61.  62.] 

unbiassed  investigation  of  truth,  there  can  he  no  doubt,  teere  he  alive,  but  he 
would  he  glad  to  be  convinced  bij,  and  chearfully  embrace  the  Kantean  philo- 
sophy  nothmthstanding  ihaJt  by  it  his  otcn  argumenta  are  compleUly  over- 
thrown.^  Translators  Preface  zn  j^The  Prindples  of  crttical  Phüosophy*  by 
S.  Beck.  London  1797,  P.  XXIir.  Vgl.  dag.  Herbart,  W.  W.  VI,  286 
und  insbes.  Schulze,  Aenesidem  130—180,  Laas,  Anal.  133.  189.  207. 
Id.  u.  Pos.  I,  16.  Baumann,  Philos.  347.  Spicker,  Kant  108  ff.  Zim- 
mermann, Ks.  math.  Vorurtheil,  28  f.  32  f.  34.  39.     Vgl.  oben  S.  222. 

In  der  Anflösnng  obiger  Aufgabe  ist  zugleich  u.  s.  w.  Erdmann, 
Krit.  182  gibt  diesem  , zugleich"  eine  bedenkliche  Auslegung.  „Die  Grenzbe- 
stimmungen der  Aesthetik  und  Analytik,  dass  die  Formen  der  Sinnlichkeit 
und  des  Verstandes  lediglich  Bedingungen  mögl.  Erf.  sind,  beweisen  immer- 
hin zugleich,  in  welchem  Sinne  Math,  und  Natur w.  allein  [nämlich  als 
rationale  Wissenschaften]  möglich  sind."  Erdmann  will  damit  seine  Auf- 
fassung stützen,  dass  der  Hauptzweck  für  E.  die  Grenzbestimmung  sei, 
nicht  die  rationalistische  Begründung  der  reinen  Vernunftwissenschaften. 
Allein  das  „zugleich"  steht  ja  offenbar  in  einem  ganz  anderen  Zusammen- 
hang: die  Auflösung  der  all  gem.  Frage  involvirt  zugleich  die  Auf- 
lösung der  speciellen  Fragen.  Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  reinen 
Vernunftwissenschaften  wird  nicht  als  Nebensache,  sondern  als  Hauptsache 
hingestellt.     Auch  die  Metaphysik  fällt  darunter. 

Die  eine  theoretische  Erkenntniss  a  priori  enthalten.  Auch  in  den 
Prol.  §  5  bemerkt  K. ,  dass  nur  allein  von  der  theoret.  Erkenntniss  hier 
die  Rede  sei.  Dass  aber  die  obige  Formel:  Wie  sind  synth.  ürth.  a  priori 
möglich?  noch  allgemeiner  sei  und  auch  die  moralischen  und  ästhe- 
tischen ürtheile  in  sich  einschliesse,  bemerkt  K.  in  der  Kritik  deif  ürtheilskr. 
§  36,  wo  er  jene  Frage  „Das  allgemeine  Problem  der  transsc.  Phil.*  nennt, 
und  dann  diese  ganz  allgemeine  Frage  gliedert  in  die  beiden  Fragen: 

1)  Wie  sind  synthetische  Erkenntnissurtheile   a  priori  möglich? 

2)  Wie  sind  synthetische  Geschmacks  ürtheile  a  priori  möglich? 
Auch  die  Geschmacksurt heile  sind  synth.,  denn  sie  gehen  über  Begriff 
und  Anschauung  eines  Objects  hinaus  und  thun  das  Gefühl  der  Lust  oder 
Unlust  hinzu,  sie  sind  ürt.heile  a  priori,  weil  sie  den  Anspruch  auf  Allge- 
meingültigkeit und  Noth wendigkeit  erheben.  Vgl.  W.  v.  Humboldt,  An- 
sichten u.  s.  w.  1880,  S.  22.  —  Auch  bei  den  moralischen  ürtheilen  resp. 
Imperativen  begegnen  wir  derselben  Fragestellung.  Nach  mancherlei  Vor- 
bereitungen auf  S.  39  ff.  erhebt  Kant  in  der  Grundl.  z.  Met.  d.  S.  Ed.  Kirchm. 
S.  72  (R.  VIII,  41.  76)  die  parallele  Frage  (vgl.  schon  oben  S.  293): 

3)  Wie  sind  synthetische  praktische  Sätze  a  priori  möglich? 
(Wie   ist  der  kategorische   Imperativ  möglich?    ib.  K.   82.  92. 

R.  VIII,  87.  97.) 
Das  kategorische  Sollen  stellt  einen  synthet.  Satz  a  priori  vor,  dadurch,  dass 
über  meinen  durch  sinnliche  Begierden   afficirten  Willen  noch  die  Idee  des 
reinen  Willens  hinzukommt  (ib.  K.  S.  43.  75.  83).   Die  weitere  Ausführung  s. 


Ausdehnung  der  zwei  Probleme  auf  Ethik,  Acsthetik  u.  s.  w.  365 

[B  706.  H  46.  E  61.  62.]  B  20. 

Kritik  d.  prakt.  Vera.  Or.  56.  77.  79  f.  114  f.  216.  Ib.  199  ff.  und  Met.  d. 
Sitt.  Tugendl.  Einl.  IX  und  X.  Eine  weitere  ähnliche  Frage  ist:  Wie  ist  das 
höchste  Gut  (Verbindung  von  Tugend  und  Glückseligkeit)  praktisch  möglich? 
(Cfr.  Relig.  Vorr.  X  Anm.)  In  der  Metaphysik  der  Sitten,  Rechtsl.  §  6  findet 
sich  endlich  die  Frage:  4)  Wie  ist  ein  synthetischer  Bechtssatz  a  priori 
möglich?  Und  diese  Frage  hat  weiter  ausgedehnt  auch  auf  das  Staatsrecht 
Tieftrunk,  Recht  und  Staat.  Zerbst  1796.  Vgl.  Jakob,  Annalen  III,  73  f.' 
Jedesmal  werden  den  synthetischen  Sätzen  a  priori,  den  ästhetischen, 
moralischen  und  juridischen,  analytische  gegenübergestellt,  die  nicht  wie 
jene  einer  (transscendentalen)  Deduction  bedürftig  sind.  Endlich  wird  5)  die- 
selbe Frage  auch  in  der  Beligions lehre  gestellt;  s.  Bei.  innerh.  d.  Gr.  d. 
r.  V.  Vorr.  X  Anm.,  wo  der  Satz:  „es  ist  ein  Gott"  als  synthetischer  Satz 
a  priori  eingeführt  und  gefragt  wird: 

Wie  ist  ein  solcher  Satz  a  priori  möglich? 
Derselbe  geht  über  den  in  der  Moral  enthaltenen  Pflichtbegriff  hinaus  und 
kann  also  aus  der  Moral  nicht  analytisch  entwickelt  werden.  Der  Satz 
erweitert  sich  über  das  moralische  Gesetz  u.  s.  w.  Man  bemerke,  dass 
der  Begriff  des  synth.  Urtheils  hier  modificirt  ist.  Vgl.  Behberg,  Berl. 
Mon.  23,  110  f.  —  Vgl.  Braune,  der  einheitl.  Grundgedanke  der  3  Kritiken 
Kants  19  ff.  37  ff.  Desduits,  La  philosopkie  de  K,  d'aprh  les  trois  cri- 
tiques.  Paris  1876.  Man  vgl.  bes.  Vorrede  u.  Einl.  zur  Kritik  der  Urth., 
der  letzten  der  drei  Kritiken,  und  den  Aufsatz  „üeber  Philos.  überh."  (R.  I, 
579  ff.),  sowie  die  Darstellung  bei  Windelband,  Gesch.  II,  53  f.  164, 
Uebrigens  ist  in  den  anderen  „Kritiken'  offenbar  auch  der  Unterschied 
synthetischer  Grundsätze  a  priori  (transscendentaler  Sätze)  und  synthetischer 
Urtheile  a  posteriori  mit  apriorischem  Zusatz  zu  machen.  In  der  Kr.  d. 
praktischen  Vera,  überwiegt  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  synthetischer 
Grundsätze  a  priori  (vgl.  Kr.  d,  pr.  V.  79  f.  160  f.  Deduction  des  Ge- 
setzes) über  die  Frage:  wie  ist  das  sittliche  Erfahrungsurtheil  möglich,  das 
auf  Nothw.  u.  AUg.  Anspruch  erhebt?  Es  ist  dies  die  sittliche  Beurthei- 
Inng  im  Einzelnen  (Kr.  d.  pr.  V.  105  ff.  Kr.  d.  r.  V.  454  ff.).  Umgekehrt 
ist  es  der  Natur  der  Sache  nach  in  der  Kritik  der  Urtheil^kraft ;  hier  über- 
wiegt sowohl  das  ästhetische  als  teleologische  Detailurtheil  über  das  syn- 
thetische Gesetz;  an  Stelle  des  letzteren  treten  die  in  §  5.  6.  9.  17.  22.  25 


^  Ebenso  F.  C.  Weise  in  seiner  Grundwissenschaft  des  Rechts.  Tüb.  1797. 
Er  stellt  sich  die  Aufgabe :  wie  ist  ein  Erkenntniss  des  Rechts  aus  reiner  Vernunft 
möglich?  wie  ist  ein  synthetischer  Rechtssatz  a  priori  möglich?  Die  transscen- 
dentale  Rechtslehre  bestimmt  Ursprung,  Umfang  und  objective  Gültigkeit  des 
reinen  Erkenntnisses  vom  Rechte,  wodurch  dasselbe  als  Gegenstand  völlig  a  priori 
gedacht  wird.  Wie  derselbe  auch  die  Theorie  des  Schematismus  in  der  Rechts- 
lehrc  anwendet,  s.  unten  zu  A  137  ff.  Vgl.  Jakob,  Ann.  III,  339  und  529.  „Ein 
Grundsatz  des  Rechts  soll  mir  ein  Merkmal  des  Rechts  angeben,  das  in  dem 
blossen  Begriffe  desselben  nicht  enthalten  ist.'*  —  Ueber  die  Logik  unten  376. 


366  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  20.  [B  706.  H  46.  E  61.  62.] 

gegebenen  Definitionen;  nur  in  §  87  ist  von  einem  Grundsatz  die  Rede. 
Sonst  aber  bandelt  es  sich  immer  um  die  einzelnen  Geschmacks-  und  Zweck* 
mässigkeitsurtheile,  welche  aber  doch  auf  Nothw.  u.  Allg.  Anspruch  machen. 
Diese  entsteht  durch  den  Zusatz  eines  apriorischen  Begriffs  und  daher  wird 
hier  nach  der  Deduction  dieser  Begriffe  gefragt.  Einl.  A  XXV.  XXIX. 
XXXn.  Dies  ist  identisch  mit  der  Deduction  der  Geschmacksurtheile  §  31, 
bei  denen  es  sich  auch  um  Beurtheilung  des  Empirischen  handelt  §  31, 
vgl.  §  67.  Dass  Kant  in  der  oben  angeführten  Stelle  §  36  die  Frage  nach 
diesen,  welche  dem  oben  S.  349  charakterisirten  dritten  Fall  entsprechen, 
jedenfalls  aber  zu  den  synth.  ürtheilen  a  posteriori  mit  apriorischem  Zusatz 
gehören,  mit  dem  Problem  der  synthetischen  Sätze  a  priori  verwechselt,  ist 
nur  ein  weiterer  Beweis  der  Unklarheit  Kants  hierin.  Dieselbe  Verwechs- 
lung bei  Windelband,  Gesch.  II,  54.  164  vgl.  mit  109.  110.  133,  und 
bes.  in  Bezug  auf  die  moralischen  Urtheile  bei  Strümpell,  Logik  121  ff. 

Es  ist  eine  sehr  richtige  Bemerkung  von  Harms  (vgl.  oben  334  Volkelt), 
Phil.  s.  Kant  140  f.,  dass  K.  vor  der  speciellen  Lösung  seiner  Frage  auf 
allen  einzelnen  Gebieten  die  allgemeinen  Bedingungen  und  Voraussetzungen 
seiner  Lösung  hätte  abhandeln  sollen.  Er  hätte  hier  insbesondere  seinen 
idealen  Begriff  der  wahren  Erkenntniss  besprechen  müssen.  Vgl  des- 
selben ijüeber  den  Begriff  der  Wahrheit".  Abh.  der  Berl.  Acad.  1876, 
S.  187  ff.    Vgl.  unten  den  Excurs,  C  16. 

Reine  Mathematik  nud  reine  NatnrwisBensohaft.  Wie  Kant  ausdrücklich 
bemerkt,  ist  die  Auflösung  der  Frage  für  die  Mathem.  und  reine  Naturw.  nicht 
so  noth wendig,  als  für  Metaph.  Vgl.  Prol.  §  40:  „Reine  Mathematik  und 
reine  Naturwissenschaft  hätten  zum  Behuf  ihrer  eigenen  Sicherheit 
und  Gewissheit  keiner  dergleichen  Deduction  bedurft,  als  wir  bisher  von 
beiden  zu  Stande  gebracht  haben;  denn  die  erstere  stützt  sich  auf  ihre 
eigene  Evidenz  * ;  die  zweite  aber,  obgleich  aus  reinen  Quellen  des  Verstandes 
entsprungen,  dennoch  auf  Erfahrung  und  deren  durchgängige  Bestätigung, 
welcher  letzteren  Zeugniss  sie  darum  nicht  gänzlich  ausschlagen  und  ent- 
behren kann,  weil  sie  mit  aller  ihrer  Gewissheit  dennoch,  als  Philosophie  es  der 
Mathematik  niemals  gleich  thun  kann.  Beide  Wissenschaften  hatten  also  die 
gedachte  Untersuchung  nicht  für  sich,  sondern  für  eine  andere  Wissenschaft, 
nämlich  Metaphysik,  nöthig."  Ib.  §  44:  „Vernunft  verrichtet  ihr  Geschäft 
sowohl  in  der  Math,  als  Naturw.  auch  ohne  alle  diese  subtile  Deduction 
ganz  sicher  und  gut.*  Ganz  ebenso  Fortschr.  R.  I,  563.  567.  —  Die  Zu- 
sammenstellung   der    Mathematik   uud    Naturwissenschaft   als   fester 


^  Vgl.  oben  210.  260.  Proleg.  §  6  nennt  K.  die  Mathem.  eine  „grosse  und 
bewährte  Erkenntniss";  sie  ist  ein  „Koloss",  vgl.  oben  S.  308.  Durch  die  obigen 
Bemerkungen  Ks.  darf  man  sich  nicht  über  das  „selbständige  Interesse"  täuschen 
lassen^  das  K.  der  Stabillsirung  der  Mathem.  und  reinen  Naturwissenschaft  gegen- 
über skeptischen  Anzweifelungen  und  dem  Beweis  ihrer  Gültigkeit  gegenüber 
einfacher  dogmatischer  Behauptung  widmet;  vgl.  unten  den  Excurs  S.  395  ff. 


Mathematik,  Naturwissenschaft  und  Metaphysik.  367 

[B  706.  707.  H  46.  K  62.]  B  20.  21. 

Pfeiler  gegenüber  dem  Skepticismus  stammt  höchst  wahrscheinlich  aus 
Beatties'  oben  S.  347  erwähntem  „Versuch  über  die  Wahrheit*,  wo  den- 
selben der  Abschnitt  S.  124 — 170  gewidmet  ist.  Dadurch  erklärt  sich  viel- 
leicht auch  die  Verwirrung  im  Begriffe  der  reinen  Naturwissenschaft  *  bei  Kant. 

Ton  diesen  Wissenschaften,  da  sie  wirklich  gegeben  sind  u.  s.  w.  Diese 
Wendung  ist  noch  keine  Folge  der  analytischen  Behandlung.  Erst  in  den  Prol. 
wird  auf  das  gemeinschaftliche  Problem  die  analytische  Methode  angewandt, 
wo  beständig  darauf  hingewiesen  wird,  dass  es  sich  darum  handle,  nach 
analytischer  Erklärung  der  gegebenen  synth.  Erkenntnisse  a  priori,  auch 
die  Möglichkeit  der  übrigen  abzuleiten  und  so  nach  Entdeckung  jenes 
Princips  den  Umfang  derjenigen  Erkenntnisse  darzustellen ,  die  aus  der  näm- 
lichen Quelle  d.  r.  Vern.  entspringen,  üeber  dieses  analytische  Verfahren  sagt 
Kant,  Prol.  §5:  Die  allgem.  Betrachtungen  , werden  im  analyt.  Verf.  nicht 
allein  auf  Facta  angewandt,  sondern  gehen  sogar  von  ihnen  aus,  anstatt 
dass  sie  im  synthet.  Verf.  gänzlich  in  abstracto  aus  Begriffen  abgeleitet 
werden  müssen^.  So  fragt  K.  bei  der  Mathematik,  Prol.  §  6:  „Setzt  dieses 
Vermögen,  da  es  sich  nicht  auf  Erfahrung  fusst,  noch  fussen  kann,  nicht 
irgend  einen  Erkenntnissgrund  a  priori  voraus,  der  tief  verborgen  liegt,  der 
sich  aber  durch  diese  seine  Wirkungen  offenbaren  dürfte,  wenn  man  den 
ersten  Anfängen  derselben  nur  fleissig  nachspürte?*  —  Ueber  die  sich  hieran 
anschliessende  methodologische  Controverse  s.  den  Anhang  zu  VI,  B,  Nr.  7  ff. 

Bisheriger  schlechter  Fortgang  der  Metaphysik.  Eine  Ausführung  dieses 
Gedankens  s.  in  der  Vorrede  II  und  bes.  in  Prol.  §  4:  „Wäre  Metaphysik, 
die  sich  als  Wissenschaft  behaupten  könnte,  wirklich,  könnte  man  sagen: 
hier  ist  Metaphysik,  die  dürft  ihr  nur  lernen,  und  sie  wird  euch  unwider- 
stehlich und  unveränderlich  von  ihrer  Wahrheit  überzeugen;  so  wäre  diese 
Frage  unnöthig,  und  es  bliebe  nur  diejenige  übrig,  die  mehr  eine  Prüfung 
unserer  Scharfsinnigkeit,  als  den  Beweis  von  der  Existenz  der  Sache  selbst 
beträfe,  nämlich:  wie  sie  möglich  sei,  und  wie  Vernunft  es  anfange,  dazu 
zu  gelangen?  Nun  ist  es  der  menschlichen  Vernunft  in  diesem  Falle  so 
gut  nicht  geworden.  Man  kann  kein  einziges  Buch  aufzeigen,  so  wie  man 
etwa  einen  Euklid  vorzeigt,  und  sagen:  das  ist  Metaphysik,  hier  findet  ihr 
den  vornehmsten  Zweck  dieser  Wissenschaft,  das  Erkenntniss  eines  höchsten 
Wesens  und  einer  künftigen  Welt,  bewiesen  aus  Principien  der  reinen  Ver- 
nunft. Denn  man  kann  uns  zwar  viele  Sätze  aufzeigen,  die  apodiktisch 
gewiss  sind  und  niemals  bestritten  worden ;  aber  diese  sind  insgesammt  ana- 


*  Was  K.  in  der  Anmerkung  zu  dieser  Stelle  über  die  „reine  Naturwissen- 
schaft" sagt,  wurde  schon  oben  S.  306  besprochen.  Man  könnte  versucht  sein, 
die  Frage  nach  der  „reinen  Naturwissenscliaft"  im  relativen  Sinn,  in  dem  sie  aucli 
in  der  Anmerkung  Ks.  zu  dieser  Stelle  gemeint  ist,  dadurch  gerechtfertigt  zu 
finden,  dass  ja  die  Möglichkeit  derselben  auf  der  factisch  in  der  Kritik  behandelten 
»reinen  Naturwissenschaft"  im  absoluten  Sinn  beruht.  Das  würde  aber  die  Ver- 
wirrung nur  steigern. 


368  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  21.  [B  707.  H  46.  E  62.] 

lytisch  und  betreffen  mehr  die  Materialien  und  den  Bauzeug  zur  Metaphysik, 
als  die  Erweiterung  der  Erkenntniss,  die  doch  unsere  eigentliche  Absicht  mit 
ihr  sein  soll.  Ob  ihr  aber  gleich  auch  synthetische  Sätze  (a.  B.  den  Satz' 
des  zureichenden  Grundes)  vorzeigt,  die  ihr  niemals  aus  blosser  Vernuiift, 
mithin,  wie  doch  eure  Pflicht  war,  a  priori  bewiesen  habt,  die  man  euch 
aber  doch  gerne  einräumt;  so  gerathet  ihr  doch,  wenn  ihr  euch  derselben 
zu  eurem  Hauptzwecke  bedienen  wollt,  in  unstatthafte  und  unsichere  Be- 
hauptungen."    Vgl.  oben  S.  90—92.  231.  249.  308. 

Metaphysik  bisher  nicht  wirklich  Torhanden.  Proleg.  §  4:  „Ueberdriissig  des 
Dogmatismus,  der  uns  nichts  lehrt,  und  zugleich  des  Skepticismus,  der  uns  gar 
überall  nichts  verspricht,  auch  nicht  einmal  den  Buhestand  einer  erlaubten 
Unwissenheit,  aufgefordert  durch  die  Wichtigkeit  der  Erkenntniss,  deren  wir 
bedürfen,  und  misstrauisch  durch  lange  Erfahrung  in  Ansehung  jeder,  die 
wir  zu  besitzen  glauben,  oder  die  sich  uns  unter  dem  Titel  der  reinen  Ver- 
nunft anbietet,  bleibt  uns  nur  noch  eine  kritische  Frage  übrig,  nach  deren 
Beantwortung  wir  unser  künftiges  Betragen  einrichten  können:  Ist  überall 
Metaphysik  möglich?  Aber  diese  Frage  muss  nicht  durch  skeptische 
Einwürfe  gegen  gewisse  Behauptungen  einer  wirklichen  Metaphysik 
(denn  wir  lassen  jetzt  noch  keine  gelten),  sondern  aus  dem  nur  noch 
problematischen  Begriffe  einer  solchen  Wissenschaft  beantwortet  werden. 
In  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  bin  ich  in  Absicht  auf  diese  Frage 
synthetisch  zu  Werke  gegangen,  nämlich  so,  dass  ich  in  der  reinen  Vernunft 
selbst  forschte  und  in  dieser  Quelle  selbst  die  Elemente  sowohl,  als  auch  die 
Gesetze  ihres  reinen  Gebrauchs  nach  Principien  zu  bestimmen  suchte.  Diese 
Arbeit  ist  schwer  und  erfordert  einen  entschlossenen  Leser,  sich  nach  und 
nach  in  ein  System  hineinzudenken,  was  noch  nichts  als  gegeben  zum  Grunde 
legt,  ausser  die  Vernunft  selbst,  und  also,  ohne  sich  irgend  auf  ein  Factum 
zu  stützen,  die  Erkenntniss  aus  ihren  ursprünglichen  Keimen  zu  entwickeln 
sucht."  Scharfsinnige  Bemerkungen  zu  der  Frage:  Wie  ist  Met.  möglich? 
siehe  beiMaimon,  Transsc.  335—338;  auch  dass  die  4  Fragen  trotz  ihrer 
äusseren  Aehnlichkeit  doch  nicht  denselben  Sinn  haben,  zeigt  Maimon, 
Logik 412  ff.—  Kants  Ansichten  über  die  Möglichkeit  und  Wissenschaftlichkeit 
der  Metaphysik  waren  einem  bemerkenswerthen  Wechsel  unterworfen.  Schon 
in  seiner  Erstlingsschrift  hatte  er  dieselbe  sehr  stark  angezweifelt,  also  am 
Ende  der  Vierziger  Jahre.  In  den  Fünfziger  Jahren  dagegen,  in  seinen  offi- 
ciellen  Schulschriften,  besonders  in  der  Nova  dilucidatio  und  in  dem  Aufsatz 
über  den  Optimismus,  treibt  er  selbst  Metaphysik.  In  den  Sechziger  Jahren 
kommt  er  davon  zurück  und  sucht  eine  neue  Methode  der  Metaphysik,  kommt 
jedoch  hiebei  bis  dicht  an  die  Grenze  des  Skepticismus  und  zur  Erkenntniss : 
Es  gibt  keine  Metaphysik.  (Vgl.  Paulsen,  Entw.  88  f.  90  f.  93.)  1770 
dagegen  gibt  es  auf  einmal  wieder  Metaphysik  in  des  Wortes  verwegenster 
Bedeutung  (ib.  1 16).  Erst  im  Laufe  der  Siebziger  Jahre  kommt  K.  zu  jener 
fundamentalen  Unterscheidung  immanenter  und  transscendenter  Metaphysik 
und  behauptet  ebenso  fest  die  Möglichkeit  der  Ersteren,  als  die  Unmöglichkeit 


Metaphysik  als  „Katuranlage^.  369 

[B  707.  H  46.  47.  E  62.]  B  2L 

der  Letzteren.  Im  Jahre  1766  in  den  , Träumen  eines  Geistersehers",  wo 
Kants  Empirismus  schon  zum  Kriticismus  geworden,  um  bald  darauf  in  sein 
Gegentheil  umzuschlagen,  hatte  'er  eine  andere  Eintheilung.  Da  hat  die 
Metaphysik  zweierlei  Vortheile.  Erstens  „den  Aufgaben  ein  Genüge  zu 
thun,  die  das  forschende  Gemüth  aufwirft,  wenn  es  verborgenen  Eigen- 
schaften der  Dinge  durch  Vernunft  nachspäht.  Aber  hier  täuscht  der  Aus- 
gang nur  gar  zu  oft  die  Hoffnung."  Der  andere  Vortheil  ist,  „einzusehen, 
ob  die  Aufgabe  aus  demjenigen,  was  man  wissen  kann,  auch  bestimmt  sei 
und  welches  Verhältniss  die  Frage  zu  den  ErfahrungsbegriflPen  habe,  darauf 
sich  alle  unsere  Urtheile  jederzeit  stützen  müssen.  Insofern  ist  die  Meta- 
physik eine  Wissenschaft  von  den  Grenzen  der  menschlichen 
Vernunft  —  dies  ist  der  wichtigste  Nutzen."  Diese  Theilung  in  Meta- 
physik und  Erkenntnisstheorie  steht  zwischen  den  beiden  Perioden 
mitten  inne,  der  der  fünfziger  Jahre  und  der  des  Jahres  1770,  wo  K.  beide- 
mal jene  Metaphysik  noch  als  möglich  und  erreichbar  annahm  und  ist  ein 
Vorspiel  zu  der  Theilung  in  der  Kritik,  nur  dass  hier,  wenn  auch  die  trans- 
scendente  Metaphysik,  wie  dort  fällt,  doch  noch  eine  immanente  Metaphysik 
bleibt,  an  welche  K.  1766  noch  nicht  dachte.     Vgl.  oben  8.  48.  59.  157. 

Metaphysik  als  Hatnranlage.  Ueber  diese  Frage  der  Möglichkeit  der 
Metaphysik  als  Natur anl.  vgl.  Prol.  §  5:  „um  aber  von  diesen  wirklichen 
und  zugleich  gegründeten  reinen  Erkenntnissen  a  priori  zu  einer  möglichen, 
die  wir  suchen,  nämlich  einer  Metaphysik  als  Wissenschaft,  aufzusteigen, 
haben  wir  nöthig,  das,  was  sie  veranlasst,  und  als  bloss  natürlich  gegebene, 
obgleich  wegen  ihrer  Wahrheit  nicht  unverdächtige  Erkenntniss  a  priori 
jener  zum  Grunde  liegt,  deren  Bearbeitung  ohne  alle  kritische  Untersuchung 
ihrer  Möglichkeit  gewöhnlichermassen  schon  Metaphysik  genannt  wird,  mit 
einem  Worte  die  Naturanlage  *  zu  einer  solchen  Wissenschaft  unter 
unserer  Hauptfrage  mit  zu  begreifen,  und  so  wird  die  transscendentale 
Hauptfrage,  in  vier  andere  Fragen  zertheilt,  nach  und  nach  beantwortet 
werden."  Vgl.  noch  bes.  Proleg.  §  40,  §  57  u.  §  60  (vgl.  unt.  373).  Der  Aus- 
druck erinnert  an  die  vor  Kant  hin  und  wieder  behauptete  logica  innata. 
Kant  denkt  sich  jedoch  mehr  dabei  als  ein  blosses  Vermögen;  nämlich 
schon  bestimmte,  wenigstens  vermeintliche  Erkenntnisse.  „Metaphysik  als 
Naturanlage"  heisst  es  hier,  während  nachher  von  „Natur anläge  zur  Meta- 
physik" gesprochen  wird.  Die  Krit.  Briefe  34  finden  hier  „ Begriffsverwir- 
rung".  Es  liegt  darin  allerdings  eine  üngenauigkeit ,  da  eben  das  Erstere 
mehr  als  das  blosse  Vermögen  ausdrückt.  —  „Man  kann  von  einer  ,Natur- 
anl.  z.  Met.*  reden,  wenn  man  auch  in  dieser  Anlage  nur  eine  Neigung 
zur  Selbsttäuschung,  statt  mit  Kant  ein  Mittel  zur  Befriedigung  moralischer 
Bedür&isse  entdecken  kann.     Dem  maasslosen  und  verkehrten  menschlichen 


'  Offenbar  entspringt  diesC  selbst  aus  der  „jedem   Menschen  beraerklichen 
Anlage  seiner  Natur,  durch  das  Zeitliche  (als  zu  den  Anlagen  seiner  ganzen 
Bestimmung  unzulänglich)  nie  zufrieden  gestellt  werden  zu  können".  Vorr.  B  XXXIII. 
Vftihinger,  Eant-Commentar.  24 


370  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  21.  22.  [B  707.  H  47.  E  62.] 

Wollen  dient  die  Willkür  des  Denkens;  der  unendlichen  Zusammensetzung 
der  Wünsche  entspricht  die  unbeschränkte  Zusammensetzungsföhigkeit  der 
Begriffe,"  sagt  Riehl,  Kritic.  I,  330. 

Die  menschliche  Yernunft  greht  nnanfhaltsam  u.  s.  w.  Dies  nennt  Schopen- 
hauer das  ^^metaphysische  Bedürfniss*'.  Der  Mensch  ist  ,,ein  animal  meta- 
physieum  und  unterscheidet  sich  dadurch  vom  Thier".  Dieses  met.  Bedürfniss 
ist  ebenso  un vertilgbar ,  wie  irgend  ein  physisches.  Welt  a.  W.  u.  V.  II, 
175-177.  189  f.  Par.  u.  Par.  I,  160.  Vierf.  Wurzel  122.  Vgl.  Caird, 
Kant  218  über  den  „^eculative  instincf^. 

Durch  elgrenes  Bedürfniss  getrieben.  Ueber  das  Bedürfniss  der  reinen 
Vernunft  s.  näheres  in  der  Dialektik  (häufig  z.  B.  S.  450)  u.  Krit.  d.  prakt. 
Vern.  255.  „Das  Bedürfniss  der  r.  V.  in  ihrem  speculativen  Gebrauch 
führt  auf  Hypothesen."  Diese  Bedürfnisse  der  r.  V.  hängen  mit  „noth- 
wendigen  Problemen"  z.  B.  dem  eines  schlechthin  noth wendigen  Wesens 
zusammen.  Das  Bedürfniss  der  prakt.  Vern.  führt  nicht  auf  Hypo- 
thesen, sondern  auf  Postulate,  d.  h.  schlechterdings  noth  wendige  An- 
nahmen. Es  sind  dies  die  objectiven  Vernunft bedürfnisse,  bes. 
Gott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit,  welche  Gegenstände  K.  hier  auch  be- 
handelt, aber  vom  theoretischen,  nicht  vom  praktischen  Gesichtspunkt 
Ob  aus;  K.  scheidet  das  berechtigte  Bedürfniss  und  die  Grenze  seiner  Con- 
sequenzen  von  unberechtigter  Ausdehnung  desselben.  Vgl.  ,  Theorie  und 
Praxis"  I,  A  Anm.  Weiteres  s.  besonders  in  dem  Aufsatz:  „Was  heisst  sich 
im  Denken  orientiren?"  am  Anfang,  wo  das  Recht,  aus  Bedürfniss  An- 
nahmen zu  machen,  erörtert  wird.  Wie  aus  dem  Bedürfniss  der  Ver- 
nunft, der  reinen,  empirischen  und  praktischen,  eine  dreifache  Theologie 
entspringe,  darüber  vgl.  Metaph.  81.  268  ff.  lieber  diese  Naturanlage  zur 
Met.  vgl.  Villers,  Phil.  I.Band,  Erster  Abschnitt:  „IdSe  de  la  phüosophie, 
comtne  disposition  naturelle  et  h esoin  de  Vhomme,^  Diese  Naturanlage 
berührt  auch  Aristoteles  mit  den  Eingangsworten  seiner  Metaphysik. 
Vgl.  hiezu  auch  Bahr,  Schopenh.  6  ff.     Vgl.  oben  83  (235). 

Irgend  eine  MetaphysUt  ist  zn  aller  Zeit  gewesen,  843:  ,,Die  menschl. 
Vernunft  hat,  seitdem  dass  sie  gedacht  oder  vielmehr  nachgedacht  hat,  nie- 
mals einer  Metaphysik  entbehren,  aber  gleichwohl  sie  nicht  genugsam  ge- 
läutert von  allem  Fremdartigen  darstellen  können.  Die  Idee  einer  solchen 
Wissenschaft  ist  eben  so  alt,  als  speculative  Menschen  Vernunft ,  und  welche 
Vernunft  speculirt  nicht,  es  mag  nun  auf  scholastische  oder  populäre  Art 
sein?"  Fortschr.  R.  I,  488.  „Alle  Menschen  nehmen  mehr  oder  weniger  an 
der  Metaph.  Theil."  ,Alle  Welt  hat  irgend  eine  Metaphysik  zum  Zwecke 
der  Vernunft."  Ib.  R.  I,  574.  Daher  wird  auch  Met.  immer  bleiben  (da  sie 
auch  älter  ist,  als  alle  übrigen  Wissenschaften),  „wenn  gleich  die  üebrigen 
insgesammt  in  dem  Schlund  einer  Alles  vei-tilgenden  Barbarei  gänzlich  ver- 
schlungen werden  sollten."  Vorr.  B.  XIV.  Genau  ebenso  Vorr.  B.  XXX 11. 
Vgl.  die  oben  S.  100  mitgetheilten  Stellen.     Vgl.  auch  S.  90. 

Ans   der  Natnr  der  allgemeinen  Mensohenyernnnft«    Fischer,  Gesoh. 


Vertheilung  der  vier  Fragen  auf  die  Theile  der  Kritik.  371 

[R  707.  708.  H  47.  K  62.  68.]  B  22. 

III,  302:  „Es  werden  auch  hier  in  der  menschl.  Vernunft  gewisse  Bedingungen 
vorhanden  sein  müssen,  aus  denen  allein  sich  das  Factum  einer  solchen 
Trugwissenschaft  erklärt/  Vgl.  ib.  298  ff.  (435)  die  Erörterung  über  die 
Aufsuchung  der  Bedingungen  zu  einer  Thatsache  überhaupt  und  303  ff.  über 
die  Bedingungen  der  mathemat.  und  physikalischen  (im  Sinne  Kants)  Er- 
kenntniss,  welche  zugleich  die  Möglichkeit  metaph.  Erkenntniss  ausschliessen, 
so  dass  uns  die  Wahl  zwischen  Mathematik  und  (transsc.)  Metaphysik  bleibe: 
entweder  fällt  jene  oder  diese.  Nun  stehe  aber  jene  sicher,  also  müsse  diese 
fallen.  So  scheitert  an  der  Mathematik  der  Dogmatismus,  an  ihr 
scheitert  aber  auch  der  Skepticismus  (ib.  309)  vgl.  oben  51. 

Katiirlictae  Fragen.  Vgl.  o.  82  die  Stellen  zu  Vorr.  Alu.  Vorr.  B  XXXII. 
Diesen  Ausdruck  hat  in  neuerer  Zeit  Düh ring  adoptirt  und  dadurch  wieder 
verbreitet  insbesondere  in  seiner  „Natürlichen  Dialektik".    Berlin  1865. 

Entweder  im  Wissen  oder  Niebtwissen.  Prol.  Vorr.  4.  „Man  mag  also 
entweder  sein  Wissen  oder  Nichtwissen  demonstriren,  so  muss  doch  einmal 
über  die  Natur  dieser  angemaassten  Wissenschaft  etwas  Sicheres  ausgemacht 
werden^     Vgl.  Metaph.  S.  20.     Vgl.  oben  339,  unten  374. 

Diese  letzte  Frage.  J.  Erdmann,  Entw.  III,  51  ff.  meint,  der  vierten 
Frage  entspreche  die  Methodenlehre.  Und  in  den  Proleg.  entspreche  ihr 
der  Abschnitt,  welcher  (Prol.  Or.  188  ff.)  die  Auflösung  der  „allgemeinen 
Frage"  enthalte.  Erdm.  hat  diese  Auslegung  nicht  näher  begründet,  und 
im  Grundriss  §  298,  2,  wie  es  scheint,  zurückgenommen.  Mussmann,  Imm. 
Kant  30  ff.,  ist  der  Ansicht,  dass  die  3.  und  4.  Frage  in  der  Dialektik  be- 
antwortet seien  und  fügt  hinzu,  jene  beiden  Hauptfragen  seien  in  diesem 
Theile  nur  indirect  beantwortet.  Auch  habe  K.  durch  seine  Kritik  der 
Ideen  ihren  Grund  als  Naturanlage  sehr  erschüttert  und  also  auch  in  dieser 
Beziehung  der  Frage  nicht  Genüge  gethan.  Man  sieht  hieraus,  dass  diese 
den  Proleg.  entnommene  Fragestellung  nicht  eigentlich  auf  die  Kritik  zuge- 
schnitten ist.  Die  erste  Frage  entspricht  allerdings  der  Aesthetik;  die 
zweite  Frage,  wenn  sie  nach  den  obigen  Ausführungen  rectificirt  und  nicht 
von  den  specifisch  naturwissenschaftlichen,  sondern  von  den  allgemeinen 
Naturprincipien  verstanden  wird,  entspricht  der  Analytik.  Hier  ist  die  Be- 
ziehung eine  zweifellose  und  nothwendige.  B.  Erdmann,  Krit.  182  meint: 
Aesth.  und  Analytik  „lassen  sich  in  einer  Hinsicht  auch  als  Begründungen 
der  Möglichkeit  der  Mathem.  und  Naturw.  auffassen".  Nein,  sie  müssen 
80  aufgefasst  werden,  allerdings  neben  der  Grenzbestimmung.  Die  Beziehung 
auf  jenen  Hauptpunkt  ist  keineswegs  „gelegentlich"  in  der  I.  Aufl.  (A.  24. 
39.  46),  worüber  später,  und  bei  der  Analytik  ist  das  vollends  klar,  dass 
die  Ableitung  der  Naturgesetze  mindestens  so  wichtig  ist  als  die  Grenzbe- 
stimmung. Dagegen  macht  die  dritte  und  vierte  Frage  in  jeder  Hinsicht 
Schwierigkeiten.  Erstens  ist  schon  die  Fragestellung  formell  bedenklich. 
Die  beiden  ersten  Fragen  beziehen  sich  auf  wirkliche  Wissenschaften  und 
der  Sinn  der  Frage  ist:  Wie  ist  es  zu  erklären,  dass  wir,  wie  es  factisch 
geschieht,  in  Mathem.  und  Naturwissenschaft  gültige  synth.  ürth.  a  priori 


372  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  22.  [B  708.  H  47.  E  63.] 

fallen?  Demgemäss  hat  auch  die  allgemeine  Frage:  wie  sind  synth.  ürth. 
a  priori  möglich?  einen  entsprechenden  Sinn.  Der  Sinn  der  dritten  Frage 
ist  dagegen  ein  ganz  anderer.  Hier  ist  der  Sinn:  Wie  war  die  bisherige 
angebliche  metaphysische  Wissenschaft  möglich?  Die  Frage  nach  der 
Möglichkeit  hat  hier  also  eine  andere  Bedeutung.  Dort  wurde  nach  der 
objectiven  Möglichkeit  eines  wirklich  Gültigen  gefragt;  hier  nach  der  sub- 
jectiven  Möglichkeit  eines  angeblich  Gültigen,  factisch  aber  Irrthümlichen. 
Somit  föUt  diese  Frage  eigentlich  gar  nicht  unter  die  allgemeine  Frage. 
Die  vierte  Frage:  Wie  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft  möglich?  soll  heissen, 
wie  ist  eine  künftige  Metaphysik  als  wirkliche  Wissenschaft  möglich ?  Aber 
eigentlich  lautet  diese  Frage  nicht,  wie,  sondern  ob  eine  Metaphysik  als 
Wissenschaft  möglich  sei?  So  wird  die  Frage  nach  Prol.  §  4  gestellt.  Somit 
hat  bei  dieser  Frage  die  sog.  allgemeine  transscendentale  Frage  wieder  einen 
anderen  Sinn,  was  eine  logisch  sehr  bedenkliche  Ungenauigkeit  ist  *.  Die  vier 
Fragen  sind  somit  folgendermaassen  anzufassen: 

I.  Wie  ist  die  wirkliche  synth.  Erk.  a  priori  möglich? 

1)  wie  ist  sie  in  reiner  Mathem.  möglich? 

2)  wie  ist  sie  in  reiner  Naturw.  möglich? 

n.  3)  Wie  war  die  bisherige  angebliche  metaphysische  synth. 

Erk.  a  priori  möglich?  (als  Naturanlage), 
in.  4)  Wie   wird   die   künftige  wahre   metaphys.   synth.  Erk.  a 

priori  möglich  sein  *?  (Vgl.  oben  S.  81.) 
J.  Erdmann,  Entw.  III,  1,  52  ff.  bemerkt  richtig,  dass  die  Eintheilung 
der  Prolegomena  der  Fragestellung  genauer  entspreche.  Allein  das  kommt 
nur  daher,  dass  die  specialisirte  Fragestellung  überhaupt  erst  nachträglich 
aus  den  Proleg.  herübergenommen  wurde.  In  ihnen  entsprachen  die  ein- 
zelnen Theile  allerdings  der  nach  analytischer  Methode  geführten  Unter- 
suchung. Aber  die  Eintheilung  in  der  Kritik  beruht  auf  der  synthetischen 
Anlage.  Dort  konnten  daher  auch  die  einzelnen  Theile  coordinirt  sein 
und  nacheinander  jene  Fragen  beantworten.  In  der  Kritik  ist  die  Eintheilung 
dagegen  in  ihrer  Art  feiner  und  ruht  auf  der  Berücksichtigung  der  or- 
ganischen Gliederung  der  Aufgabe  und  des  Gegenstandes.  In  der  Kritik  ist 
die  Eintheilung  dichotomisch;  statt  der  in  den  Prol.  befolgten  und  aucli 
in  der  Einl.  B  angelegten  Coordination  haben  wir  in  ihr  Subordination: 
I.  Transsc.  Elementarlehre. 

A)  Transsc.  Aesthetik. 

B)  Transsc.  Logik. 

a)  Transsc.  Analytik. 

b)  Transsc.  Dialektik. 
II.  Transsc.  Methodenlehre. 


*  Diese  Inconeequenz  fand  ihren  Tadler  schon  in  Sigwart,  Gesch.  d.  Phil. 
III,  40,  und  oben  368  in  Maimon;  vgl.  oben  S.  316  ff.  und  den  Ezcnrs,  A  5. 

'  Vgl.  Reinhold,  Missverständn.  11,73—158:  „Darstellung  der  Fundamente 


Unklarheit  der  Fragen  nach  der  Möglichkeit  der  Metaphysik.         378 

[B  708.  H  47.  E  68.]  B  22. 

Nach  den  vier  Fragen  dagegen  gliedert  sich  die  Eintheilung  so: 

I.  Transsc.  Aesthetik  (Möglichkeit  der  reinen  Mathematik). 

n.  Transsc.  Analytik  (Möglichkeit  der  reinen  Naturwissenschaft). 

III.  Transsc.  Dialektik  (Möglichkeit  der  Metaphysik  überhaupt). 

lY.  Transsc.  Methodenlehre  (Möglichkeit  der  Metaphysik  alst 
Wissenschaft). 
Ob  aber  die  Identificirung  der  -Methodenlehre  mit  der  Beantwortung  der 
4.  Frage  richtig  sei,  unterliegt  sehr  dem  Zweifel  trotz  J.  Erdmanns  Vorgang. 
Denn  grosse  Schwierigkeiten  und  Bedenken  ergeben  sich  bei  dem  Versuch 
der  Vertheilung  der  3.  und  4.  Frage  auf  die  einzelnen  Theile  der  Kritik. 
Zwar  die  dritte  Frage  scheint  ohne  Weiteres  der  Dialektik  zu  entsprechen, 
wie  das  auch  in  den  Proleg.  §  40  gesagt  wird.  Vgl.  dazu  Prol.  40.  Anm. 
,Die  uns  jetzt  vorgelegte  dritte  Frage  betrifft  also  gleichsam  den  Kern  und 
das  Eigenthümliche  der  Metaphysik,  nämlich  die  Beschäftigung  der  Vernunft 
bloss  mit  sich  selbst  und,  indem  sie  über  ihre  eigenen  Begriffe  brütet,  die 
unmittelbar  daraus  vermeintlich  entspringende  Bekanntschaft  mit  Objecten, 
ohne  dazu  der  Vermittelung  der  Erfahining  nöthig  zu  haben,  noch  überhaupt 
durch  dieselbe  dazu  gelangen  zu  können.*  —  „Wenn  man  sagen  kann,  dass  eine 
Wissenschaft  wenigstens  in  der  Idee  aller  Menschen  wirklich  sei,  sobald 
es  ausgemacht  ist,  dass  die  Aufgaben,  die  darauf  fuhren,  durch  die  Natur 
der  menschlichen  Vernunft  Jedermann  vorgelegt  und  daher  auch  jederzeit 
darüber  viele,  obgleich  fehlerhafte  Versuche  unvermeidlich  sind,  so  wird 
man  auch  sagen  müssen:  Metaphysik  sei  subjective  (und  zwar  noth wendiger 
Weise)  wirklich,  und  da  fragen  wir  also  mit  Recht,  wie  sie  (objective) 
möglich  sei?*  Ib.  §  57  sagt  er,  dass  die  Dialektik  der  r.  V.  ihren  guten  sub- 
jectiven  Gfrund  habe,  und  dann  heisst  es  weiter:  „Allein  Metaphysik  führt  uns 
in  den  dialektischen  Versuchen  der  reinen  Vernunft  (die  nicht  willkürlich  oder 
muthwilliger  Weise  angefangen  werden,  sondern  dazu  die  Natur  der  Vernunft 
selbst  treibt)  auf  Grenzen,  und  die  transscendentalen  Ideen,  eben  dadurch, 
dass  man  ihrer  nicht  Umgang  haben  kann,  dass  sie  sich  gleichwohl  niemals 
wollen  realisiren  lassen,  dienen  dazu,  nicht  allein  uns  wirklich  die  Grenzen 
des  reinen  Vernunftgebrauches  zu  zeigen,  sondern  auch  die  Art,  solche  zu 
bestimmen;  und  das  ist  auch  der  Zweck  und  Nutzen  dieser  Naturanlage 
unserer  Vernunft,  welche  Metaphysik,  als  ihr  Lieblingskind,  ausgeboren  hat, 
dessen  Erzeugung,  so  wie  jede  andere  in  der  Welt,  nicht  dem  ungefähren 
Zufalle,  sondern  einem  ursprünglichen  Keime  zuzuschreiben  ist,  welcher  zu 
grossen  Zwecken  weislich  organisirt  ist.  Denn  Metaphysik  ist  vielleicht  mehr, 
wie  irgend  eine  andere  Wissenschaft,  durch  die  Natur  selbst  ihren  Grund- 
zügen nach  in  uns  gelegt  und  kann  gar  nicht  als  das  Product  einer  be- 
liebigen Wahl,  oder  als  zufällige  Erweiterung  beim  Fortgange  der  Erfahrungen 
(von  denen  sie  sich  gänzlich    abtrennt)   angesehen   werden."     Dann   §  60: 


der  künftigen  und  der  bisherigen   Metaphysik."     Ueber  die  Vertheilung  der 
Fragen  auf  die  Theile  der  Kritik  vgl.  auch  Cantoni,  Kant  180. 


374  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  22.  [R  708.  H  47.  E  63.] 

„So  haben  wir  Metaphysik,  wie  sie  wirklich  in  der  Naturanlage  der 
menschlichen  Vernunft  gegeben  ist,  und  zwar  in  demjenigen,  was  den 
wesentlichen  Zweck  ihrer  Bearbeitung  ausmacht,  nach  ihrer  subjectiven 
Möglichkeit  ausführlich  dargestellt.  Da  wir  indessen  doch  fanden,  dass  dieser 
bloss  natürliche  Gebrauch  einer  solchen  Anlage  unserer  Vernunft.,  wenn 
keine  Disciplin  derselben,  welche  nur  durch  wissenschaffcliche  Kritik  möglich 
ist,  sie  zügelt  und  in  Schranken  setzt,  sie  in  übersteigende,  theils  bloss 
scheinbare,  theils  unter  sich  sogar  strittige,  dialektische  Schlüsse  ver- 
wickelt** u.  s.  w.  und  am  Schlüsse  der  Darstellung  der  Dialektik  in  den 
Prol.  §  60  fin,  heisst  es:  „Und  so  endige  ich  die  analytische  Auflösung  der 
von  mir  selbst  aufgestellten  Hauptfrage:  wie  ist  Metaphysik  überhaupt 
möglich?  indem  ich  von  demjenigen,  wo  ihr  Gebrauch  wirklich,  wenigstens 
in  den  Polgen  gegeben  ist,  zu  den  Gründen  ihrer  Möglichkeit  hinaufstieg.* 
Dem  Wortlaut  der  Kritik  nach  könnte  man  freilich  denken,  die  Antwort 
auf  die  Frage  nach  der  Mögl.  d.  Met.  als  Naturanlage  sei  durch  die  Ein- 
leitung zur  Dialektik  gegeben;  denn  dort  wird  gezeigt,  wie  die  Fragen 
der  r.  V.  entspringen,  wie  dies  auch  B.  Erdmann,  Krit.  183  so  auflFasst. 
Darnach  würde  die  Ideenlehre  der  dritten  Frage,  die  eigentliche  Dialektik 
der  vierten  Frage  correspondiren.  In  dieser  Auffassung  wird  man  bestätigt, 
wenn  man  im  Text  weiter  liest,  durch  den  Versuch  diese  Fragen  zu  beant- 
worten, entstehen  Widersprüche  u.  s.  w.  und  man  müsse  das  Wissen  oder 
Nichtwissen  hierin  endlich  zur  Entscheidung  bringen.  Das  sei  Gegenstand 
der  vierten  Frage.  Dann  würde  die  eigentliche  Dialektik  diese  vierte 
Frage  entscheiden  und  zwar  negativ.  Denn  die  reine  Vernunft  kann  ja 
ihre  Erkenntniss  nicht  über  Erfahrung  hinaus  erweitern.  *  Allein 
dieser  Auffassung  steht  die  Fragestellung  entgegen:  Wie  Met.  als  Wissen- 
schaft möglich  sei?  Dann  müsste  nicht  nach  der  Wie- Möglichkeit,  sondern 
nach  der  Ob-Möglichkeit  gefragt  sein.  Und  dann  heisst  es  ja  weiter, 
dass  K.  wirklich  eine  wissenschaftl.  Metaphysik  gründen  wolle,  eine  Metaphysik, 
die  erst  auf  die  Kritik  der  r.  V.  folgen  soll.  Somit  ist  hier  kein  rechter 
Zusammenhang,    keine   Harmonie,   kein   festes   Band   noch   Ziel. 

Durch  die  Prolegomena  wird  die  Verwirrung  nur  noch  grösser.  Denn 
die  dritte  Frage  betrifft  dort  die  ganze  Dialektik,  und  für  die  vierte  bleibt 
der  ganze  Spielraum  oifen.  Auch  geht  aus  §  4  u.  5  hervor,  dass  K.  meint,  wirk- 
lich nach  Zurückweisung  der  falschen  Metaphysik  eine  neue  zu  gründen. 
Welche  ist  aber  diese?  Ein  Licht  auf  dieses  Chaos  fUUt  durch  die  Beobach- 
tung, dass  K.  in  der  Einl.  der  Prol.,  aus  der  die  ganze  Fragestellung  stammt, 
unter  Metaphysik  auch  die  immanente  mitversteht,  und  unter  Naturwissen- 
schaft nur  die    specielle   und   relative.     Dann  waren  Ks.  Gedanken  bei  der 


*  Einen  positiv  wissenschaftlichen  Gehalt  hat  die  Dialektik  nicht  oder 
höchstens  nur  einen^  wie  Erdmann  Krit.  183  bemerkt,  „dürftigen".  In  diesem  Sinn 
ist  jenes  bekannte  Wort  Hegels  zu  verstehen,  ^durch  Kant  sei  der  merkwürdige 
Fall  eingetreten,  dass  ein  gebildetes  Volk  eine  Zeit  lang  ohne  alle  Metaphysik  war." 


Möglichkeit  der  immanenten  „Metaphysik^.  875 

[R  708.  H  47.  K  63.]  B  22. 

ersten  Niederschrift  in  den  Proleg. :  Mathematik  und  (specielle)  Naturwissen- 
schaft haben  synth.  Erk.  a  priori,  welche  wirklich  sind.    Metaphysik  machte 
'»isher    auf    solche  Anspruch;    diese    falsche   Metaphysik    wird  in   der 
Dialektik  widerlegt,  in  der  Analytik  wird  die  wahre  begründet.     Wie 
Mihon  bemerkt,   schob   nun  K.   der  speciellen  Naturw.   in  §  15   die   allge- 
meine unter,  d.  h.  eben  die  Analytik.    Als  er  nun  an  die  Beantwortung 
«ier   vierten  Frage  kam,   sah  er   sich   in   Verlegenheit.     Denn  was   ist  die 
Antwort  in  den  Proleg.  *  ?    Metaphysik  als  Wissenschaft  ist  möglich  einzig  und 
allein   durch  die  Kritik   und  speciell  fällt  sie  ihm   offenbar  ziisammen   mit 
der  Analytik,*  wenigstens  inhaltlich,   wenn   auch  nicht  in   formeller  Aus- 
fuhrung  (wobei   freilich   auch  Aesthetik  und  Dialektik  berührt  werden,   so 
dass  die  ganze  Kritik  als  diese  Wissenschaft  gelten  müsste).    In  der  Kritik 
der  r.  V.  verbesserte  K.  jenen  Fehler  bezüglich  der  Naturwissenschaft  nicht 
nur   nicht,   sondern   er  verwirrt  die  Sache  aufs  Neue,   insofern   er  über  die 
vierte  Frage  sich  zweideutig  ausspricht.  Diese  ganze  Fragestellung  ist  somit 
pine    ganz    unglückliche   Veränderung,   über   deren   innere  Wider- 
sprüche K.  selbst  und  seine  Anhänger  ohne  Weiteres  hinweggegangen  sind. 
Ganz  unglücklich  ist  die  Hereinmischung  der  speciellen  reinen  Naturwissen- 
schaft,  welche  in  den  Proleg.   (gegen  B.  Erdmann,   Prol.  XXX)   ein   ganz 
neues  Element  ist,   und  von  da  aus  sich  in  Einleitung  B  einschlich.     Eine 
Sanirung  dieser  Inconvenienzen  vom  Kantischen  Standpunkte  aus  ist  nur  ober- 
dächlich  möglich.     Wohl  kann  man  die  Sache   so   darstellen:     Wirkliche 
Wissenschaften  sind  Mathematik  und  reine  allgemeine  Naturwissen- 
schaft  (d.   h.   immanente    Metaphysik).     Wie   sind    sie   möglich? 
Anspruch  auf  wissenschaftliche  Geltung  erhebt  die  Metaphysik  (die  trän s- 
^^cendente).     Ist  sie  möglich? 

1)  Wie  ist  reine  Mathematik  möglich? 

2)  Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich? 

3)  Ist  Metaphysik  möglich? 

Aber  so  einfach  diese  Sanirung  erscheint,  so  ist  doch  dagegen  zu  erinnern, 
da-ss  K.  ja  noch  ein  System  der  Metaphysik  versprochen  hatte,  welches  nicht 
in  der  Kritik  schon  enthalten  sein  sollte;  wohin  sollte  das  nun  kommen,  da 
die  immanente  Metaphysik  schon  da  war,  und  die  transscendente 
Metaphysik  unmöglich  ist?  Und  dann  ist  vor  Allem  an  Ks.  Unsicherheit 
darüber  zu  erinnern,  dass  die  Grundsätze  der  immanenten  Metaphysik  (Sub- 
stantialität,  Causalität)  ihm  wohl  einerseits  als  gegebene  reine  Natur- 
wissenschaft erscheinen,  andererseits  aber  seiner  Ansicht  nach  nur  unbe- 
wiesene Annahmen  waren,  die  er  erst  auf  seine  Weise  nach  kritischer  Me- 
thode beweisen  wollte.    So  erschien  ihm  einerseits  reine  allgemeine  Natur- 


^  Die  ganze  Antwort  auf  diese  Hauptfrage  nimmt  nicht  mehr  als  Eine 
Seite  ein,  während  wir  in  ihr  die  Hauptsache  erwarteten.  Das  war  nothwendig, 
weil  eben  K.  seine  eigene  Anlage  in  §  15  abgebrochen  und  eine  ganz  andere 
dafür  gesetzt  hatte.     Was  im  II.  Abschnitt  der  Prol.  steht,   sollte  jetzt  kommen. 


376  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  22.  [R  708.  H  47.  E  63.] 

Wissenschaft  als  wirklich  (immanente  Metaph.) ;  andererseits  wollte  er  erst 
eine  solche  begründend  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  fällt  eben  die 
vierte  Frage:  Wie  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft  möglich?  vollständig 
zusammen  mit  der  zweiten  Frage,  wie  sie  in  §  15  der  Proleg.  ausgelegt  ist : 
Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich?  Nur  dass  die  letztere  Frage  sich 
analytisch  auf  die  Thatsache  der  vorhandenen  Grundsätze,  die  erstere 
dagegen  zetetisch  auf  die  erst  gesuchten  Beweise  jener  Grundsätze  und 
auf  deren  Vollständigkeit  beziehte  Es  handelt  sich  daher  factisch 
nicht,  wie  B.  Erdmann  Krit.  180  sagt,  um  den  positiven  Nachweis  der 
Möglichkeit  von  drei  apriorischen  Wissenschafben  der  theoretischen  Vernunft, 
sondern  nur  um  den  derjenigen  von  zwei:  Mathematik  und  reine  Na- 
turwissenschaft  =  immanente  Metaphysik.  — 

Da  die  Logik  auch  Wissenschaft  a  priori  ist,  so  könnte  man  auch  nach 
deren  Möglichkeit  gefragt  wissen  wollen.  Allein  nach  K.  sind  deren  Vor- 
schriften analytisch*;  auch  ihr  oberster  Grundsatz,  der  Satz  d.  Widerspr. 
ist  selbst  ein  analytischer  Satz.  Anders  betrachteten  jedoch  Fichte  und 
Schelling  im  Anschlüsse  an  M  a  i  m  o  n ,  Beck  u.  A.  die  Sache  und  sie 
warfen  die  Frage  auf:  Wie  ist  reine  Logik  möglich?  Auch  die 
Logik  wird  somit  in  die  transscendentale  Frage  hereingezogen.  Die  logischen 
Hauptsätze  müssen  noch  aus  höheren  Principien  abgeleitet  und  insbesondere 
in  ihrer  Gültigkeit  für  alles  Denken  und  Gedachte  deducirt  werden.  Die 
Frage,  inwieweit  diese  Fortbildung  im  Sinne  Kants  oder  wenigstens  durch 
Consequenz  geboten  sei,  ist  hier  nicht  zu  erörtern.  Vgl.  die  Bemerkungen 
J  ä  s  c  h  e  's  hierüber  in  der  Vorrede  zu  Kants  Logik.  Li  neuerer  Zeit  ist 
die  Frage  von  Steckelmacher,  B.  Erdmann,  Schuppe  u.  A.  be- 
sprochen worden;  vgl.  Näheres  darüber  in  der  Einl.  zu  der  Analytik. 

Wie  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft  möglich?  Man  darf  nicht  aus 
dem  Auge  verlieren,  dass  K.  in  Bezug  auf  die  Metaphysik  zwei  ganz  ver- 


^  Es  ist  somit  nicht  ganz  richtige  wenn  Windelband,  Viert,  f.  wiss.  Philos. 
L  250-,  sagt^  die  „reine  Naturwissenschaft^  (=  immanente  Metaphysik)  sei  von 
Kant  erst  in  der  Analytik  „geschaffen  worden**,  und  erst  in  der  Einleitung  B  be- 
trachte K.  dieselbe  als  vorhanden.  Dem  Inhalte  nach  war  jene  Wissenschaft,  wie 
W.  selbst  bemerkt,  schon  zum  grössten  Theil  in  der  alten  Ontologie  und  Natur- 
philosophie vorhanden;  Kants  Neuerung  besteht  in  der  formellen  Abschnümng 
jener  Wissenschaft  von  diesen  beiden  Disciplinen,  in  ihrer  Systematisirung  und 
vor  Allem  im  Beweis  der  einzelnen  Sätze.  Dadurch  erklärt  sich,  dass  er  diese 
Wissenschaft  bald  als  schon  vor  ihm  vorhanden  und  gegeben,  bald  als  eine  erst 
zu  begründende  ansieht.  —  Vgl.  hiezu  oben  S.  308  und  den  „Excurs",  A  5. 

^  Ueber  diese  Nothw.  des  stricten  gültigen  Beweises  und  Ks.  erstmalige 
Leistung  eines  solchen  s.  Prol.  K.   146  und  bes.  134.     (Or.  212.  194.)    Oben  289. 

*  Vgl.  oben  S.  283  Anm.  3.  —  Auch  die  Leibnizianer  meinten,  Logik  sei 
doch  auch  „eine  theoretische  Wissenschaft  der  Vernunft"  (vgl.  oben  S.  292),  es 
müsste  somit  auch  nach  ihrer  Möglichkeit  gefragt  werden.  Vgl.  [Hausius]  Raum 
und  Zeit  S.  96-,  im  Anschluss  an  Eberhard. 


Unmöglichkeit  der  transscendenten  „Metaphysik".  377 

[R  708.  H  47.  E  68.]  B  22. 

• 

schiedene  Tendenzen  befolgt:  1)  für  die  immanente  Metaphysik  will  er 
eine  neue  Methode  auffinden.  („Tractat  von  der  Methode*'  Vorr.  B.)  Dies 
gilt  für  die  Metaphysik  im  guten  Sinn.  2)  für  die  transscendente 
Metaphysik  (Met.  im  zweifelhaften  Sinn)  dagegen  will  er  eine  streng  me- 
thodische Grenz bestimmung  aufstellend  Aus  den  vorliegenden  Erör- 
terungen geht  aufs  Neue  das  schon  mehrfach  Gesagte  hervor ,  dass  E.  sich 
selbst  nicht  immer  klar  war  über  diesen  Unterschied  und  dass  das  Wort 
,  Metaphysik  **  ihn  selbst  zu  Missverständnissen  führte.  Er  spricht  hier  so, 
als  ob  die  transscendente  Metaphysik  die  einzige  wäre,  um  welche  es 
sich  handelt,  als  ob  seine  ganze  Aufgabe  darin  bestehe,  zu  entscheiden,  ob 
eine  solche  möglich  sei.  Auch  lässt  er  durchblicken,  dass  dieselbe  unmöglich 
sei,  und  dass  man  es  nur  zu  einer  strengen  Grenzbestimmung  bringen  könne  *. 
Man  muss  sich  durch  diese  eigene  Unklarheit  Kants  nicht  selbst  zu  der  Un- 
klarheit über  Kants  Unternehmen  verführen  lassen.  •  Es  geht  nicht  bloss  aus 
dem  weiteren  Verlauf,  sondern  auch  schon  aus  dem  Bisherigen  hervor,  dass 
K.  auch  eine  Neubegründung  der  immanenten  Metaphysik  wollte,  die  er  oben 
mit  der  reinen  Naturwissenschaft  verwechselt.  Jener  Verwechslung  zwischen 
specieller,  wenn  auch  apriorischer  Naturwissenschaft  (physica  pura)  und  all- 
gemeiner Naturwissenschaft  =  immanenter  Metaphysik  entspricht  hier  ganz 
genau  und  natürlich  die  Verwechslung  von  immanenter  und  transscendenter 
Metaphysik.  Dort  ist  es  das  Wort  „Naturwissenschaft" ,  hier  das  Wort 
„Metaphysik",  was  bei  Kant  selbst  die  bedauerliche  Unklarheit  hervorbringt, 
die  in  dieser  Einleitung  der  II.  Aufl.  herrscht.  Wie  die  zweite  Frage: 
Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich  ?  (in  der  Kritik  wie  in  den  Proleg.) 
(in  der  Analytik)  übergeht  in  die  Frage:  Wie  ist  immanente  Metaphysik, 
d.  h.  apriorisch-synthetische  Erkenntniss  der  Erfahrungswelt  möglich?  —  so 
geht  die  vierte  Frage :  Wie  ist  [transscendente]  Metaphysik  als  Wissenschaft 
möglich?  im  Verlauf  des  Werkes  über  in  die  Frage:  Wie  ist  [immanente] 
Metaphysik  als  Wissenschaft  möglich  ?  Man  kann  auch  sagen,  jene  Frage :  Wie 
ist  Met.  als  Wissenschaft  möglich ?  wird  beantwortet:  Gar  nicht  oder  nur 
als  immanente.  Dann  wäre  Metaphysik  neutral  zu  fassen.  Jedoch  ist. diese 
letztere  Darstellung  der  Sache  nur  propädeutisch  erlaubt,  sachlich  dagegen 
unrichtig,  denn  hier,  wo  K.  jene  Frage  aufstellt,  spricht  er  nur  von  trans- 


^  In  den  Proleg.  tritt  die  rationalistische  Seite ^  d.  h.  die  immanente 
Metaphysik  in  den  Vordergrund,  während  die  restrictive  Tendenz  (gegen  die 
transc.  Met.)  in  der  Kritik  öfter  betont  ist.  —  Vgl.  oben  S.  232.  305  ff.  368. 

'  In  dieser  Grenzbestimmung  würde  dann  die  Metaphysik  bestehen, 
welche  möglich  ist.  So  M ellin,  Wort.  I,  392,  so  oben  369,  so  Fischer  245.  254. 
257  f.,  80  Krit.  851.  Sie  würde  dann  zusammenfallen  mit  der  in  der  Dialektik 
gegebenen  kritischen  Behandlung  der  Fragen  über  Gott  u.  s.  w.  Vgl.  Fortschr. 
R  I,  563,  sowie  oben  S.  89.  91.  113.  231  ff.  308  ff.  311  ff.  319  über  den  Unter- 
schied immanenter  und  transscendenter  Metaphysik.  Grosse  Unklarheit  über  die 
„neue  Metaphysik"  z  B.  beiWolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  109  ff.  122  ff.  264  ff.  u.  bes. 
bei  Fischer  III,  126.  259.  269.  309  f.  432,  454.  634. 


378  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  22.  [R  708.  H  47.  E  63.] 

scendenter  Metaphysik  \  Es  ist  schlechterdings  unmöglich,  diese  Unklarheit 
hinwegzudeuteln,  sie  lässt  sich  nur  bedauern.  Man  kann  sich  über  die  Un- 
klarheit eines  so  grossen  Geistes  bei  so  wichtigen  Punkten  verwundem  — 
ähnliche  Beispiele  werden  uns  noch  mehrere  begegnen  und  zeigen,  dass  K. 
trotz  seines  Scharfsinnes  doch  sehr  bedeutende  innere  Unklarheiten  seines 
Systems  hat.  —  Die  Frage:  Wie  ist  Met.  als  Wissenschaft  möglich?  ist  der 
eigentliche  Gegenstand  und  Endzweck  der  Vernunftkritik  nach  Born,  Philos. 
Magazin  II,  3,  539.  Vgl.  auch  Laas,  Ks.  Analog.  205.  Jenisch,  Entd. 
209.  Bahr,  Schopenh.  S.  10.  Kunze,  Kant  über  Hume  34.  Weber,  J., 
Disquisitio  critica:  Estne  metaphysica  possihilis?  Landsh.  1795. 

Wie  Ist  Metaphysik  m5«rHoh?  Diese  Frage '  hätte  Kant  um  des  Paral- 
lelismus willen  auch  so  ausdrücken  können: 

Wie  ist  reine  Philosophie  möglich? 
Denn  Metaphysik  ist  nach  S.  800  f.  840  f.  848,   sowie  oben  B  19.  20  soviel 
als  „reine  Philosophie". 

Einen  groben,  ja  beinahe  unglaublichen  Irrthum  auf  Grund  eines  ganz 
falschen  Begriffs  der  Metaphysik  begeht  Fischer  292  ff.  Nach  ihm  ist 
synthetisch  a  priori  und  metaphysisch  identisch.  Metaphysik  im 
weitesten   Verstände  sei  die  allgemeine  und   nothwendige  Erkenntniss   der 


'  Dagegen  in  den  folgenden  drei  Absätzen  des  Textes  spricht  K.  wieder  von 
der  Wissenschaft,  zu  welcher  die  Kritik  führe;  er  meint  damit  aber  nicht  die 
Kritik  selbst,  welche  ihrerseits  selbst  „einie  neue  Wissenschaft"  ist  (vgl.  oben  S.  339) 
sondern  vor  Allem  die  neu  zu  begründende  immanente  Metaphysik,  an  welche 
sich  dann  die  Grenzbestimmung  u.  s.  w.  anlehnt.     Vgl.  den  Excurs,  A  5. 

*  Die  Frageformel:  Wie  ist  .  .  .  .  möglich?  wurde  damals  allgemein 
Mode,  und  kehrt  in  den  verschiedensten  Variationen  in  der  damaligen  Literatur 
wieder.  Ueber  Kants  eigene  Anwendung  derselben  s.  oben  S.  5.  187.  189.  316  ff. 
353  ff.  364  ff.  Sie  findet  sich  dann  z.  B.  bei  Reinhold:  Wie  ist  Vernunft, 
Bewusstsein  möglich?  dann  bes.  bei  Fichte:  Wie  ist  Offenbarung  möglich?  (W. 
W.  V,  63.  78.  106.  139.  160);  Wie  ist  Wissenschaft  möglich?  (W.  W.  I,  43.  vgl. 
I,  456);  Wie  ist  Gemeinschaft  freier  Wesen  möglich?  (W.  W.  III,  85),  wozu  man 
Schad,  Fichte's  System  15.  17.  355  vergleiche.  Dann  bei  Schelling:  Wie  ist 
Philosophie  der  Kunst  möglich?  (W.  W.  (1)  V,  364,  während  bei  Hegel  sich  die 
Formel  verliert.  Man  vgl.  z.  B.  ferner  Abicht,  Phil.  Journ.  II,  109  (zu  Pörschke): 
Wie  ist  wissenschaftliche  Aesthetik  möglich?  oder  [Zachariae].  Abhandl.  über 
philos.  Gegenst.  1—32:  W^ie  ist  Geschichte  als  Wissenschaft  möglich?  In  der 
Zwischenzeit  wird  die  Formel  wenig  angewendet,  z,  B.  von  Böhmer  in  Fichte's 
Zeitschrift  XXXI,  85:  Wie  ist  Freiheit  möglich?  Neuerdings  dagegen  findet  sie 
sich  wieder  häufiger;  man  vgl.  z.  6.  Krause,  Popul.  Darst.  S.  22  und  bes.  Cohen« 
Vorr.  zu  Lange's  Gesch.  d.  Mat,  4.  Auil.  XII:  Wie  ist  Religion  nach  Art  der 
Wissenschaft  möglich?  —  Eine  boshafte  Anwendung  der  Formel  macht  W^rede, 
Antilogie  des  Realismus  (Leibniz)  und  Idealismus  (Kant)  Halle  1791,  S.  103—107: 
Wie  ist  überhaupt  Kritik  der  reinen  Vernunft  möglich?  Antwort: 
Jedenfalls  nicht  in  Kantischer  Weise,  da  Subject  und  Object  der  Kritik,  Richter 
und  Partei  identisch  sind.     Vgl.  oben  S.  108. 


Coordinatioii  d.  Mathematik  mit  d.  Metaphysik  (gegen  K.  Fischer).      379 

[R  708.  H  47.  K  63.]  B  23. 

Dinge,  sofern  sie  synthetisch  ist.  Daher  umfasse  Metaphysik  in  diesem  Sinne 
auch  die  Mathematik,  und  daher  könne  die  Gesammt frage  der  Vernunft- 
kritik  kurzweg  so  ausgedrückt  werden :  Ist  überall  Metaphysik  möglich 
und  wie?  —  üeber  diese  Verdrehung  würde  K.  sich  noch  im  Grabe  um- 
drehen. Es  ist  ein  Verstoss  gegen  das  ABC  der  K.'schen  Philosophie.  Für 
diese  Auffassung  kann  Fischer  auch  nicht  eine  einzige  Stelle  aus  K.  bei- 
bringen. Dagegen  gibt  es  zahllose  Stellen,  welche  das  Gegentheil  besagen. 
Allerdings  befasst  K.  Mathematik  und  Metaphysik  (sowohl  die  der  Er- 
scheinungen, als  die  des  Uebersinnlichen)  unter  einem  gemeinsamen  Begriff 
zusammen;  aber  dieser  heisst  nicht  Metaphysik  im  weitesten  Sinne,  wie 
Fischer  sagt,  sondern  Vernunfterkenntniss  *.  „Alle  Vernunfterkennt- 
niss  ist  nun  entweder  die  aus  Begriffen  oder  aus  der  Construction  der 
Begriffe;  die  erstere  heisst  philosophisch,  die  zweite  mathematisch", 
837.  Ausfuhrlich  wird  das  erörtert  712  ff.,  wo  ebenfalls  „Vernunft- 
erkenntniss'' der  allgemeinere  Begriff  ist.  Mathematik  und  Metaphysik 
sind  „himmelweit  unterschieden".  Prol.  K.  136,  Orig.  198*.  Wenn  aber  K. 
844  sagt:  „Alle  reine  Erkenntniss  a  priori  macht  also  vermöge  dem  beson- 
deren Erkenntnissvermögen,  darin  es  allein  seinen  Sitz  haben  kann,  eine  be- 
sondere Einheit  aus,  und  Metaphysik  ist  diejenige  Philosophie,  welche 
jene  Erkenntniss  in  dieser  systematischen  Einheit  vorstellen  soll" ,  so 
wird  hieraus  Fischer 's  Darstellung,  auch  631  f.  nicht  gerechtfertigt.  Denn 
1)  geht  aus  dem  ganzen  vorhergehenden  Zusammenhange  hervor,  dass  K. 
nur  alle  philosophische  Erkenntniss  a  priori  meint,  die  er  unmittelbar 
vorher  auf  das  allerschärfste  von  der  Mathematik  unterschied ;  2)  sagt  K. 
ausdrücklich  nicht  etwa,  dass  Metaphysik  diejenige  Wissenschaft  sei, 
sondern  diejenige  Philosophie,  welche;  Philosophie  hat  K.  aber  immer  von 
Mathematik  strengstens  getrennt;  3)  folgt  unmittelbar  darauf  (vgl.  841) 
die  Eintheilung  dieser  Metaphysik  in  einen  speculativen  und  praktischen 
Theil,  in  Metaphysik  der  Natur  und  der  Sitten,  und  von  jener  sagt  K.  wört- 
lich:  „Sie  enthält  alle  reinen  Vernunftprincipien  aus  blossen  Begriffen  (mit- 


'  Das  Sonderbarste  der  Fischer'schen  Darstellung  ist,  dass  F.  S.  293.  295 
davon  Kenntniss  zeigt  und  doch  (unter  dem  Einlluss  der  unten  erörterten  typo- 
graphischen Anordnung  der  Inhaltsangabe  der  Prolegomena?)  sich  zu  seinem  Irr- 
thum  verleiten  lässt,  so  dass  er  die  Mathematik  der  Metaph3'3ik  bald  coordinirt^ 
bald  subordinirl,  während  bei  Kant  nur  Coordination  stattfmdet. 

'  Fortschr.  K.  lOOR.  1,490:  Die  Metaplij'^sik  enthalte  nicht  mathematische 
Sätze,  d.  i,  solche,  welche  durch  die  Construction  der  Begriffe  Vernunfterkenntnisse 
hervorbringen  (nur  die  Principien  der  Möglichkeit  reiner  Mathematik  überhaupt, 
Raum  n.  Zeit),  vgl.  Krit.  149.  Im  Gegensatz  zum  Mathematiker  heisst  510  der  Philo- 
soph der  „Forscher  der  Begriffe".  Kr.  d.  pr.  V.  91.  Met.  d.  Sitten,  Rechtsl.  Einl. 
II.  Sittenl.  S  19.  Vorr.  zu  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  K.  176.  Vgl.  hiezu  Pauls en. 
Entw.  78.  Anm.  In  Prol.  §  1  wird  endlich  die  Unterscheidung  aufs  klarste  ge- 
macht. Vgl.  Ulrich,  Instit,  §  12.  18  über  die  früheren  Bestimmungen  hierüber 
bei  Wolf  u.  A.    Vgl.  besonders  die  Stellen  oben  S.  243. 


380  Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI. 

B  22.  [B  708.  H  47.  E  68.] 

hin  mit  Ausschluss  der  Mathematik)'*  841.  K.  hat  niemals  Meta- 
physik so  gefasst,  dass  Mathematik  darunter  fallen  könnte.  Für  K.  ist 
synthetisch  a  priori  niemals  identisch  mit  metaphysisch,  sondern 
immer  ein  weiterer  Begriff,  der  Mathematik  und  Metaphysik  unter  sich  befasst. 
Wie  kam  Fischer  zu  einem  solchen  Irrthum?  Die  Lösung  liegt  in 
seiner  Umformung  der  allgemeinen  Frage:  Wie  sind  synth.  Urth.  a  priori 
möglich?  in  die  Formel:  Ist  überall  Metaphysik  möglich  und  wie? 
Wir  finden  in  den  Proleg.  §  4  folgende  üeberschrift:  „Der  Prolegomenen 
allgemeine  Frage:  Ist  überall  Metaphysik  möglich?*  Aber  die  Proleg. 
umfassen  ja  auch  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Mathematik.  Hat 
somit  Fischer  doch  Recht?  Es  scheint  so,  wenn  wir  die  Inhaltsangabe 
der  Proleg.  ansehen,  wie  sie  sich  in  der  von  Fischer  (III,  S.  88)  benützten 
älteren  (sowie  auch  der  neueren,  welcher  Kirchmann  wörtlich  nachdruckt) 
Hartenstein  ausgäbe  darstellt : 

Allgemeine  Frage:  Ist  überall  Metaphysik  möglich? 
I.  Theil.     Wie  ist  reine  Mathematik  möglich? 
II.  Theil.    Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich? 
III.  Theil.    Wie  ist  Metaphysik  überhaupt  möglich? 

Hier  haben  wir  wohl  den  Schlüssel  zu  Fischers  Darstellung:  nach  ihm  um- 
fasst  Metaphysik  im  weitesten  Sinne  1)  Mathematik,  2)  reine  Naturwissen- 
schaft =  Metaphysik  der  Erscheinungen,  3)  eigentliche  Metaphysik  des  Trans- 
scendenten.  2  und  8  zusammen  sind  nach  ihm  Metaphysik  im  engeren  Sinn, 
3  allein  ist  Metaphysik  im  engsten  Sinn.  Aber  diese  Darstellung  Harten- 
steins, wornach  die  allgemeine  Frage:  Ist  überall  Metaphysik  möglich?  die 
3  Specialfragen  umfasst ,  ist  grundfalsch.  Zum  Nachweis  dessen  bedarf  es 
einer  weiteren  Ausholung.  In  den  Prol.  finden  sich  zwei  Paragraphen  mit 
ähnlicher  Üeberschrift.  §  4  heisst:  „Der  Prolegomenen  allgemeine  Frage: 
Ist  überall  Metaphysik  möglich^"  §  5  heisst:  „Prolegomena.  Allgemeine 
Frage:  Wie  ist  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  möglich?"  Wie  verhalten 
sich  diese  beiden  „allgemeinen  Fragen*?  Sind  sie  identisch?  Oder  ist  hier 
eine  Inconsequenz  der  Darstellung?  Oder]vielleicht  eine  doppelte  *  Redaction? 
Keines  von  alledem!  Die  beiden  Fragen  haben  einen  total  verschiedenen 
Sinn.  Nachdem  K.  in  §  1  und  2  (nebst  3)  eine  „Vorerinnerung  von  dem 
Eigenthümlichen  aller  metaphysischen  Erkenntniss*  gegeben  hat,  d.  h.  nach- 
dem er  darin  einfach  definitorisch  festgestellt,  dass  alle  Metaphysik  es  mit 
synthetischen  Urtheilen  a  priori  zu  thun  hat  (wie  auch  die  Mathematik,  die 
zur  Gegenüberstellung  herbeigezogen  wird),  und  dass  also  metaph.  Erk. 
unter  den  höheren  Allgemeinbegriff  der  synth.  Erk.  a  priori  falle  (nicht 
aber,  dass  sie  vollständig  mit  ihr  zusammenfalle),  geht  er  zu  der  „all- 
gemeinen Frage  der  Prolegomenen*,  d.  h.  zu  ihrer  wesentlichen,  wich- 
tigsten eigentlichen  Frage  in  §  4  über:  Ist  nun  eine  so  als  synthetisch 


'  So  erklärt  Pauls en,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  II,  485.  —  Vgl.  oben   S.  164 
die  Analyse  der  Einleitung  der  Prolegomena. 


Anordnung  der  Fragen  in  den  Prolegomena.  381 

[R  708.  H  47.  E  63.]  B  22. 

a  priori  definirte  Metaphysik  überhaupt  möglich  V  Die  Prolegomena  sind 
ja  solche  „za  einer  jeden  künftigen  Metaphysi  k,'  die  als  Wissenschaft 
wird  auftreten  können".  Dieser  Paragraph  gehört  nebst  1—3  noch  zur 
allgemeinen  Einleitung.  Daher  beginnt  der  §  5  mit  der  üeberschrift : 
^Prolegomena"  —  Zeichen,  dass  hier  die  Prolegomena  nun  eigent- 
lich erst  anfangen.  (Eben  aus  diesem  Grunde  ist  Erdmann 's  Aen- 
derung  der  üeberschrift  dieses  §  in  seiner  Ausgabe  in  die  mit  der  Üeber- 
schrift von  §  4  parallelen  Worte:  „Der  Prolegomenen  allgemeine  Frage" 
unrichtig  und  irreführend.)  Der  Anfang  der  Prolegomena  im  eigentlichen 
Sinn  wird  nun  dadurch  gemacht,  dass  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der 
Metaphysik  unter  die  viel  allgemeinere  Formel  gebracht  wird:  Wie  ist 
Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  möglich?  Wie  sind  synthetische  Sätze 
a  priori  überhaupt  möglich?  Denn  es  wird  von  K.  betont,  dass  Mathe- 
matik und  reine  Naturvrissenschaft  auch  synth.  Sätze  a  priori  enthalten, 
bei  denen  es  sich  nur  darum  handelt,  zu  zeigen,  wie  sie  möglich  sind  (denn 
sie  sind  wirklich),  während  es  bei  der  Metaphysik  sich  noch  erst  um  das 
Ob  handelt.  „Allgemein"  hat  also  beidemal  einen  ganz  andern  Sinn.  In 
§  4  ist  es  so  viel  wie  universalis  oder  besser  capitalis  oder  essentialis, 
in  §  5  soviel  ala  generalis,  dort  gleich  hauptsächlich,  hier  gleich  ver- 
allgemeinert.    Jetzt  stellt  sich  die  Eintheilung  der  Prolegomena  so  dar: 

(§  4)  Der  Prolegomenen  allgemeine  (eigentliche  Haupt- J  Frage: 
Ist  überall  Metaphysik  möglich? 

(§  5)  Prolegomena.  Allgemeine  (d.  h.  verallgemeinerte)  oder  „Tran s- 
scendentale  Hauptfrage".     Frage: 

Wie  ist  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  möglich? 
oder:  Wie  sind  synthetische  Sätze  a  priori  möglich? 
I.  Theil.   Wie  ist  reine  Mathematik  möglich? 
IL  Theil.   Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich  ? 
III.  Theil.  Wie  ist  Metaphysik  überhaupt  möglich?  (=  §  4). 
Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  ist  der  allgemeine  Begriff  und  befasst  auch 
die  Mathematik  unter  sich;  denn  diese   ist  ja   eine   „Vernunfterkenntniss". 
Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  (hier  ist 
,ireine  Vernunft"  im  weitesten  Sinn)  nennt  K.  die  ;,transscendentale  Haupt- 
frage",   weil  diejenige  Untersuchung  überhaupt  transscendental  heisst,  die 
sich  mit  der  Möglichkeit  apriorischer  Erkenntniss  überhaupt  beschäftigt,  und 
dazu  gehört  auch    die    Mathematik.     Hartenstein  liess  somit  die   allge- 
meine, verallgemeinerte  Frage  weg,  so  dass  die  Frage  des  §  4  durch  die  An- 
ordnung als  verallgemeinerte  Frage  erscheinen  musste.   B.  Erdmann  drückt 
sich   vorsichtig  aus,   indem   er  §  4  und  §  5   als  „Allgemeine  Fragen"    zu- 
sammenfasste.     Haben  wir  nun  auch  die  Lösung  des  Räthsels,  wie  Fischer 
auf  seine  ganz  unkantische  Darstellung  kam?  Schöpfte  er  seine  Behauptung 
etwa  aus  der  von  ihm  benützten  Hartenstein'schen  Ausgabe,  d.  h.  aus  der 
blossen  Inhaltsangabe? 

Der  dogmatische  Gebrauch.     Wie  schon  in  der  Vorrede,  so  findet  sich 


382  Commentar  zur  Einleitung  B^  Abschn.  VI. 

B  22.  28.  [B  708.  709.  H  47.  48.  E  68.  64.] 

auch  in  der  Einleitung  überall  Bücksichtnabme  auf  die  beiden  entgegen- 
gesetzten Systeme,  denen  Kant  seinen  Kriticismus  entgegenstellt.  Der 
Dogmatismus  wird  bes.  seiner  Methode  nach  gekennzeichnet  S.  3— 5  und 
an  der  vorliegenden  Stelle;  seinem  Object  nach  B  18.  21,  A  2.  3;  der 
Skepticismus  seiner  Methode  nach  hier  u.  B  19.  20;  seinem  Objecte 
nach  B.  19.     Vgl.  oben  S.  334.     Erdmann,  Prol.  XXX. 

Nicht  mit  Objecten  d«r  Yemnnfty  sondern  bloss  mit  sich  selbst  ^  Zu- 
nächst ist  hier  eine  stilistische  Ungenauigkeit  hervorzuheben.  Das  Subject 
des  Causalsatzes  wechselt:  „sie"  ist  zuerst  die  Vlr^issenschaft,  wird  aber 
im  Verlaufe  offenbar  für  ;,Vernunft"  gebraucht.  Was  die  Sache  betrifft, 
so  vgl.  man  A  12.  13:  Es  handle  sich  hier  nicht  um  die  Natur  der  Dinge, 
welche  unerschöpflich  ist,  sondern  um  den  Verstand,  der  über  die  Natur 
der  Dinge  urtheilt.  Dies  ist  die  grosse  Wendung,  welche  Ks.  Philosophie 
bezeichnet,  dass  er  an  Stelle  der  objectiven  Untersuchung  die  subjective 
Behandlung  setzt.  Diese  Wendung  war  durch  Leibniz  vorbereitet;  denn 
schon  er  sagt  auf  den  Vorwurf  Locke's,  dass  die  Nothwendigkeit  der  Zu- 
stimmung zu  gewissen  Sätzen  sich  eher  aus  der  Betrachtung  j^de  la  nature 
des  chosea'^  ableiten  lasse,  als  aus  dem  Umstände,  j,que  ces  propositions  sont 
gravies  naturellement  dans  Vesprit^  —  zur  Erwiderung:  „Lfa  nature  des 
choses  et  la  riature  de  Vesprit  y  concourent  —  Souvent  la  considSration  de  la 
nature  des  choses  West  autre  chose  que  la  connaissance  de  la  nature  de  notre 
esprit  et  des  idies  innSes,  qu'on  rCa  point  besoin  de  chercher  au  dehors.^ 
(Ed.  Erdm.  211  B.)  Dass  die  Vernunft  es  nur  mit  sich  selbst  zu  thun  habe, 
finden  die  Kr  it.  Briefe  55  nicht  nur  überh.  unrichtig,  sondern  auch  im 
Widerspruch  mit  den  obigen  Erklärungen,  dass  Gott,  Unsterblichkeit,  Welt 
u.  s.  w.  Objecte  der  Metaphysik  seien.  Es  steht  auch  im  Widerspruch  mit 
Vorr.  B,  VIII,  X,  wo  von  der  Logik  gesagt  wird ,  in  ihr  habe  die  Vernunft 
es  mit  sich  selbst  zu  thun,  sonst  aber  auch  mit  Objecten.  Vgl.  ib.  XXIII: 
Met.  habe  es  mit  Objecten  zu  thun.  —  Ueber  „diese  Wissenschaft"  s.  oben 
S.  149.  150,  S.  375  Anm.  und  die  Bemerkungen  zu  A  12. 

Nicht  der  Zweck  ^  sondern  nur  eine  Yeranstaltang  u.  s.  w.  Als  ,der 
Zweck  der  eigentlichen  Metaphysik*  erscheinen  hier  synthetische  ürtheile 
a  priori  im  Gegensatz  zu  bloss  analytischen;  derselben  Bestimmung  begeg- 
neten wir  oben  S.  249  ff.  259  ff.  289.  313  f.,  332.  368.  Eine  sachlich  ganz 
andere,  aber  formell  ähnlich  lautende  Bestimmung  ist:  „der  eigentliche  Zweck 
der  Metaphysik*  ziele  auf  die  apriorische  Erkenntniss  des  U  eher  sinnlichen. 


*  Diese  Aufgabe  ist  nach  Cousin,  Phil,  de  Kant  60  »A  la  fois  irh  raste  et  trh 
bornee*.  Ueber  diene  Richtung  auf  das  Subjective  vgl.  Schelling,  W.  W.  X,  89 
(im  Gegensatz  zu  Spinoza's  Objectivismus) ,  Mi  dielet,  Letzte  Sj'steme  L  47* 
Fichte  jr.,  Gegens.  II.  15.  259.  Vgl.  oben  S.  106  über  die  Selbsterkenntniss. 
Solchen  Stellen  gegenüber  ist  es  unverständlich,  wie  Manche  leugnen  mögen, 
dass  die  Vernunft  in  der  „Kritik"  ein  bestimmtes  Seelenvermögen,  eine  ^psycho- 
logische Potenz"  bedeute.    Vgl.  oben  S.  116—128,  und  zu  A  11. 


Doch  auch  Möglichkeit  transscendenter  Metaphysik?  383 

[B  709.  H  48.  E  64.]  B  28.  S4. 

Während  im  ersten  Falle  die  analytische  Zergliederung  der  Begrilffe  es 
war,  welche  als  „Mittel*,  „ Veranstaltung*'  u.  s.  w.  galt,  wird  im  zweiten 
Falle  dasselbe  von  der  apriorischen  Erkenntniss  des  Sinnlichen  gesagt. 
Vgl.  oben  S.  231.  232.  237.  368.  Dort  ist  die  zu  gründende  Metaphysik 
jedenfalls  vornehmlich  als  immanente,  hier  ausschliesslich  als  transscendente 
gedacht.  Gemeinsam  ist  beidemal  der  Terminus  „Erweiterung*,  nur  hat 
er  dort  zum  Gegensatz  die  bloss  analytische  Erläuterung,  hier  die  Beschrän- 
kung auf  das  Immanente;  in  ersterer  Bedeutung  finden  wir  ihn  hier,  in 
letzterer  oben,  wo  die  Frage  nach  der  Metaphysik  als  Wissenschaft  gestellt 
wurde.  (Vgl.  oben  S.  240,  314  und  unten  zu  A  12.)  Jene  verschiedenen 
Aeusserungen  über  den  „eigentlichen  Zweck"  der  Metaphysik  liegen,  wie 
schon  S.  231  bemerkt,  zeitlich  auseinander,  indem  jene  positive  Vorliebe  für 
das  Transscendente  von  der  2.  Aufl.  der  Kritik  an  mehr  in  den  Vordergrund 
trat,  ohne  jedoch  in  der  1.  Aufl.  derselben  zu  fehlen.  Dass  an  der  vor- 
liegenden Stelle  diese  positive  Bedeutung  schon  hereinspiele  *,  soll  nicht  mit 
Bestimmtheit  behauptet,  kann  aber  auch  nicht  widerlegt  werden.  Neben 
der  Neubegründung  der  immanenten  Metaphysik,  neben  der  Grenzbestim- 
mung und  neben  der  bloss  kritischen  Behandlung  der  transscendenten  Probleme 
lag  Kant  doch  auch  die  positive  Neubegründung  der  transscendenten  Meta- 
physik auf  dem  Boden  der  Ethik  am  Herzen,  zu  der  der  kritische  Idealismus 
und  die  Ideenlehre  die  ermöglichende  Vorbereitung  und  Vorbedingung  war. 
Die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Metaphysik  beantwortet  sich  eben  nicht 
nur,  wie  wir  oben  S.  377  sahen:  „nur  als  immanente,  transscendente  ist 
ausgeschlossen",  sondern  auch  dahin,  dass  auf  der  Basis  der  Ethik  der  Ueber- 
gang  zum  Uebersinnlichen  möglich  sei.  Sollte  Kant  auch  an  dieser  Stelle  die 
positive  Neubegründung  der  transscendenten  Metaphysik  nicht  im  Auge  ge- 
habt haben,  so  schob  er  doch  später  diese  Seite  seines  Gedankencomplexes 
in  den  Vordergrund,  wozu  ihm  eben  die  schwankende  Terminologie,  besonders 
von  „Metaphysik"  die  Möglichkeit  bot.  Der  Mangel  genauer  Definition  und 
constanter  Festhaltung  der  Termini,  der  fliessende  Uebergang  der  Vorstellungs- 
kreise in  einander,  das  unmerkliche  Hinüber-  und  Herüber  gleiten  in  ab- 
weichende Gedankenbahnen  erschwert  die  Eruirung  und  Constatirung  der 
Kantischen  Meinung  oft  ungemein. 

Im  dogrmati sehen  Yerfahren»  Schon  zweimal  in  diesem  Abschnitt  ist 
»der  dogm.  Gebrauch"  verworfen  worden.  Vgl.  hierüber  die  Allgem.  Einl.  II, 
§  2.  4.  5.  Krit.  762:  „Durchgängiger  Zweifel  an  aller  dogm.  Phil.,  die  ohne 
Kritik  ihren  Gang  geht."  ib.  855  f.  Die  dogmat.,  d.  h.  objective  Auflösung 
der  dialect.  Widersprüche  ist  unmöglich  484.    758.  Prol.   §  42.     Oben  ist 


*  Nach  Cohen,  Vorr.  zu  Lange's  Gesch.  d.  Mat.  4.  Aufl.  XI  ist  das  der  Fall. 
Aber  diese  Entscheidung  übersieht  die  dargelegten  Verwechslungen  Kants:  „die 
Metaphysik  als  Wissenschaft"  ist  meistens  die  immanente,  seltener  die  transscen- 
dente Metaphysik ..  oft  aber  auch  die  zwischen  beiden  liegende,  auf  der  Grenz- 
bestimmung ruhende  Dialektik. 


384     Commentar  zur  Einleitung  B,  Abschn.  VI.  Anhang  zu  Abschn.  V  u.  VI. 

B  24.  [R  709.  H  48.  t.  64.] 

dogmatisch  =  rationalistisch  ohne  Kritik,  hier  =  objectiv,  statt  subjectiv. 
In  einem  anderen  Sinn  ist  die  Krit.  selbst  dogmatisch,  Von*.  B  XXXV  =  d  e- 
monstrirend  und  zwar  streng  a  priori.  Wieder  in  einem  anderen 
Sinne  ist  sie  nicht  dogmatisch  737,  d.  h.  sie  gibt  keine  direct-synthe- 
tischen  Sätze  aus  Begriffen.     Vgl.  oben  S.  29.  33.  44.  82  ff.,  338. 

Stamm  und  Woriel.  Ein  ähnliches  Bild  s.  Proleg.  Anh.  Or.  216,  es  liege 
„in  der  Kritik  etwas,  wodurch  ein  wichtiger,  aber  jetzt  abgestorbener  Zweig 
menschlicher  Erkenntniss  neues  Leben  und  Fruchtbarkeit  bekommen  könne*. 

Anhang   zu  Abschnitt  V  und   VI   und   Excurs. 

In  Parallele  mit  dem  Anhang  S.  224  —  228  zum  Abschn.  I  u.  11  der 
Einleitung  B  sind  hier  dieselben  beiden  Themata  wie  dort  zu  behandeln: 
Der  Unterschied  der  beiden  Redactionen,  und  die  Controverse  über  Kants 
Fragestellung  und  Resultat,  Voraussetzungen  und  Gedankengang.  Diese 
beiden  Fragen  hängen  hier  auf  das  Engste  zusammen. 

Was  den  Unterschied  der  beiden  Redactionen  betrifft,  so  sind 
(vgl.  oben  S.  160)  die  beiden  Abschnitte  V  u.  VI  in  der  2.  Aufl.  ganz  neu 
hinzugekommen.  Sie  sind  jedoch  aus  dem  kurzen  Absatz  der  1.  Aufl.  (A  10): 
„Es  liegt  hier  ein  gewisses  Geheimniss  verborgen"  u.  s.  w.  als  deift  Keim 
herausgewachsen  (vgl.  Erdmann,  Prol.  XXX,  Kritic.  179.  181),  und  zwar 
schon  in  den  Prolegomena,  aus  deren  §§  2  c,  4,  5  diese  beiden  Abschnitte 
V  und  VI  entstanden  sind.  Wie  schon  S.  295  f.  bemerkt,  behielt  K.  bei 
dieser  Herübernahme  theilweise  den  Wortlaut  bei.  Der  Abschnitt  V  der 
Kritik  entspricht  dem  §  2  c,  nebst  dem  durch  die  Blattversetzung  (Philos. 
Monatsh.  XV,  321  ff.)  in  §  4  hineingerathenen  Abschnitt  jenes  §;  der  Ab- 
schnitt VI  gibt  den  Gedankengang  der  §§  5  u.  4  der  Prol.  (vgl.  Erdmann, 
Krit.  184,  vgl.  oben  343;  die  nicht  herübergenommenen  Stellen  sind  in  den 
Commentar  hineingearbeitet  worden).  Während  in  A  das  Problem  der  syn- 
thetischen Urtheile  a  priori  nur  ganz  allgemein  gestellt  wird,  wird  in  B 
überhaupt  zuerst  (V)  der  detaillirte  Nachweis  des  Vorhandenseins  synthet. 
Erkenntnisse  a  priori  geführt  (parallel  der  Aenderung  im  Abschn.  II  d.  Einl.  B, 
vgl.  oben  S.  228),  und  dann  (VT)  das  Problem  ganz  allgemein  formulirt, 
sodann  aufs  Neue  specificirt.  (Ueber  diese  Specification  und  das  Verhältniss 
der  Prol.  u.  Kritik  s.  oben  S.  371  ff.,  sowie  S.' 304— 310  über  die  „reine  Natur- 
wissenschaft" und  das  Verhältniss  der  Prol.  u.  Kritik  hierin ;  vgl.  auch  S.  380.) 

So  viel  über  das  äusserliche  Verhältniss  der  beiden  Redactionen.  Ist 
durch  diese  Aenderungen  der  Sinn  sowohl  in  sachlicher  als  in  metho- 
discher Beziehung  in  irgend  einer  Weise  verändert  worden? 

I.  In  Bezug  auf  den  „Hauptzweck**  hat  B.  Erdmann,  Krit.  179  ff.  die 
veränderte  Fragestellung  der  II.  Aufl.  dahin  untersucht,  ob  in  ihr  factisch,  wie 
es  den  Anschein  habe,  die  noologistisch-scientifische,  die  rationalistische 
Seite  der  Kritik  mehr  hervortrete,  als  in  der  I.  Aufl.  Auf  den  ersten  Blick 
erscheine   die  Veränderung  der  Entwicklung    des   positiven   theoretischen 


Kein  Unterschied  d.  beiden  Kedactionen  d.  Einleitung  i.  „Hauptzweck^.     385 

Elementes  der  Kritik  d.  r.  V.,  d.  h.  dem  Betonen  der  Anbahnung  einer  sy 
stematischen  Metaphysik  als  Wissenschaft,  wie  dies  in  der  Vorr.  B  geschehe 
conform.  Denn  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Metaphysik  als  Wissen 
Schaft,  auf  welche  die  ganze  neue  Fragestellung  hinzielt,  ist  ja  in  der  II.  Aufl 
hinzugekommen,  wenigstens  der  Form  nach.  Erdmann  sucht  durch  ver 
schiedene  Gründe  zu  beweisen,  dass  dies  keine  rationalistische  Ver 
Schiebung  des  Standpunktes  involvire;  so  spreche  K.  auch  hier  z.  B.  B 
22  von  der  Grenzbestimmung;  die  Gliederung  der  4  Fragen,  insbesondere 
über  die  Möglichkeit  der  Metaph.,  habe  keine  Wirkung  für  die  Eintheilung 
der  Kritik  gehabt  u.  s.  w.  Was  das  Letztere  betrifft,  so  vgl.  man  das 
hierüber  S.  371  ff.  Gesagte,  worin  zugleich  liegt,  dass  dies  kein  Beweis  gegen 
die  rationalistische  Tendenz  ist;  und  in  Bezug  auf  das  Erstere  genüge  die 
Bemerkung,  dass  in  beiden  Auflagen  sich  Hinweise  auf  Beides  finden,  auf 
Orenzbestimmung  und  auf  Neubegründung  der  Metaphysik.  Allerdings  findet 
in  der  Einl.  der  IL  Aufl.  keine  rationalistische  Verschiebung  statt, 
sondern  nur  eine  Umarbeitung  zum  Zwecke  der  Erläuterung  (welcher 
freilich  durch  die  gerügten  Unklarheiten  wesentlich  beeinträchtigt  war),  nach 
E.,  weil  K.  an  den  Missverständnissen  z.  B.  von  Tiedemann  und  Seile  gesehen 
hätte,  wie  wenig  man  ihn  verstand.  Dies  ist  zuzugeben,  aber  aus  einem 
ganz  andern  Grunde.  Nicht  insofern,  als  in  der  I.  Aufl.  die  rationalistische 
Seite  fehlte,  sondern  insofern,  als  in  beiden  Auflagen  die  rationa- 
listische Seite  so  gut  vertreten  ist,  wie  die  der  Grenzbestimmung, 
wie  eine  einfache  Vergleichung  der  beiderseitigen  Textwort;e  ergibt.  Vgl. 
oben  S.  382.  Erdmann  führt  aber  a.  a.  0.  182  nur  die  Stellen  über  die 
Grenzbestimmung  an,  berücksichtigt  also  nur  die  Verwandtschaft  mit  dem 
Skepticismus.  Auch  die  übrigen  der  circa  acht  dortigen  Beweise  erscheinen 
nicht  stichhaltig.  Es  wurde  schon  S.  66  ff.  diese  Einseitigkeit  zurückge- 
wiesen. Sie  ist  theils  aus  der  Parteistellung,  d.  h.  dem  Verlangen  entsprungen, 
Kants  Kritik  für  die  Gegenwart  mundgerecht  zu  machen  und  die  Rückkehr 
auf  Kant  motivirt  erscheinen  zu  lassen  (vgl.  oben  die  Anm.  S.  67),  theils 
nur  eine  Beaction  auf  das  von  Anderen  vertretene  entgegengesetzte  Extrem. 
So  sehr  Letzteres  eine  »irrige  Auffassung*  ist  (Erdmann  a.  a.  0.  175),  so  ist 
doch  die  Annahme,  der  „Aufbau  einer  wissenschaftlichen  Metaphysik"  sei  für 
Kant  bloss  „selbstverständliche  Consequenz'',  nicht  „specifisches  Merkmal'' 
seiner  Tendenz  (a.  a.  0.  177),  eine  ebenso  einseitige  Auffassung.  In  Bezug 
auf  den  sog.  „Hauptzweck*  kehren  die  beiden  unzertrennlichen  Merk- 
male, sowohl  die  positive  Neubegründung  der  immanenten  Metaphysik,  als 
die  negative  Grenzbestimmung  gegen  die  Transscendenz ,  nur  beide  in  ver- 
stärktem Maasse,  in  dem  Text  der  2.  Aufl.  zurück.  Der  sachliche  Ge- 
dankengehalt bleibt  somit  ganz  derselbe,  auch  insofern,  als  die  verschie- 
denen, nachgewiesenen  Unklarheiten  der  2.  Aufl.  der  Sache  nach  schon  im 
Text  von  A  zu  finden 'sind.     Hierüber  noch  unten  sub  5,  S.  409. 

IL  Wichtiger  und  schwieriger  ist  die  Frage,  ob  nicht  durch  die 
Aenderungen  der  2.  Aufl.  in  der  Einleitung  Kants  methodischer  Ge- 
dankengang eine   wesentliche,    tiefstgreifende  Aenderung  erfahren  habe. 

Valhlnger    Kant-Comxnentftr.  25 


386  Anhang  zu  Abschnitt  V  u.  VI  und  Ezcors. 

Nach  der  Einleitung  B  ist  die  Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen  Natur- 
wissenschaft ganz  fraglos:  Kant  stellt  dieselbe  als  eine  selbstverständliche 
Voraussetzung  hin.    Es  fragt  sich  nun: 

1)  Besteht  in  diesem  Punkte  ein  wesentlicher  Unterschied  zwischen 
der  Einleitung  A  und  B  ?  d.  h.  fehlte  jene  Voraussetzung  etwa 
in  der  Einleitung  A? 

Dies  erweitert  sich  zu  der  überaus  wichtigen  Frage: 

2)  Hat  Kant  nicht  schon  in  der  Einleitung,  sei  es  nun  nur  in  ß, 
oder  auch  in  A,  ganz  einfach  vorausgesetzt,  was  er  doch  erst 
beweisen  sollte  ?  und  welche  methodische  Bolle  spielt  jene  Voraus« 
Setzung  überhaupt  im  weiteren  Entwicklungsgange  der  Kritik? 

Diese   beiden    Fragen   hängen   nicht  bloss    aufs   engste  zusammen, 
sondern  auch  von  einander  ab. 

Paulsen  (Entw.  173)  ist  nun  der  Ansicht,  durch  die  Prolegomena  sei 
eine  falsche  Wendung  in  die  2.  Aufl.  hereingekommen.    In  der  1.  Aufl.  habe 
K.  die  Thatsächlichkeit  synth.  Urtheile  a  priori  in  Mathem.  und  reiner 
Physik  mehr  so  verstanden,  dass  solche  Urtheile  vorhanden  seien,  welche 
beanspruchen,  Erkenntniss  von  Gegenständen  zu  sein.    Erst  nachher  sei 
diese  Thatsächlichkeit  in  eine  Gültigkeit  verwandelt  worden.    Die  ur- 
sprüngliche Frage  sei   gewesen:   Sind   diese  Urtheile   gültig?    Unter 
welchen  Umständen,  unter  welcher  Bedingung  sind  sie  gültig?    Jetzt  frage 
dagegen  Kant:  Wie  entstehen  sie?   »Der  Anlage  der  Untersuchung  nach 
sind  sie  thatsächlich  nur  als  vorliegende  psychologische  Gebilde,  deren  Er- 
kenntnisswerth  eben   in  Frage  gezogen  werden  soU.^    Nachher  ,  bringen  sie 
gleichsam  einen  Rechtstitel  mit,   auf  den  sie  sich  der  Kritik  gegenüber  be- 
rufen: sie  seien  in  der  Mathem.  und  reinen  Physik  stets  als  Erkenntnisse 
anerkannt  worden '^ .   Die  Gültigkeit  sei  somit  ursprünglich  einBestandtheil 
des  Problems  gewesen,   nicht   eine  Voraussetzung.     Dann  würde  die 
Kritik  nicht  mehr  Bichterin  sein,  sondern  bloss  die  Aufgabe  haben,   die 
Entstehung  der  synth.  Sätze  a  priori  zu  erklären.     Damit  sei  die  «trans- 
scendentale  Frage"  ganz  beseitigt.     Diese  falsche  Wendung  findet  sich  nach 
Paulsen  hauptsächlich  in  den  Prolegomena  und  in  der  2.  Aufl.  der  Kritik, 
somit  vorzugsweise  in  der  Einleitung  B  und  fiele  überhaupt  der  analytischen 
Methode  der  populären  Prolegomena  zur  Last.     (Dass  diese  Positionen  von 
P.   den  oben   S.   328   f.   dargelegten  und   beurtheilten  Ansichten  Paulsens 
theilweise  nicht  ganz  entsprechen,  sei  nur  nebenbei  bemerkt.)  • 

Diese  von  Paulsen  am  schär&ten  formulirte  Ansicht  theilen :  Windel- 
band \  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  250,  Gesch.  d.  n.  Philos.  ü,  52.  55;  Gö- 
ring.  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  409  ff.  (vgl.  oben  S.  169  u.  226  Anm.  1); 
Riehl,  Kritic.  I.  bes.  S.  841  (weitere  Stellen  s.  oben  S.  225  f.  und  bes. 
unten  S.  403). 

Dagegen  findet  Erdmann,   Prol.  XXX,  XCVI   , keine  Spur  von  in- 


^  Einer  brieflichen^  eingehenderen  Darlegung  seiner  Ansicht  verdankt  der 
Verf.  die  Anregung  zu  der  vorliegenden  Ausführung  dieses  Ezeurses. 


Die  Streitfrage  über  Kants  methodischen  Gedankengang.  387 

haltlicher  Veränderung'*,  die  Wirklichkeit  synthetischer  Urtheile  a  priori  sei 
beidemal  für  E.  sachlich  nicht  zweifelhaft  (vgl.  dess.  Kriticismus  Ks.  172. 
186;  vgl.  oben  S.  226).  Kant  geht  von  ihrer  Gültigkeit  aus  auch  nach 
Laas,  Ks.  Anal.  10.  12.  14.  137.  207.  225.  320;  Capesius,  Herbart  61; 
Ueberweg,  Logik  §  129.  131;  Holder,  Ks.  Erk.  Th.  14;  Harms,  Phil. 
8.  Kant  130  f.  135  ff.  137.  189;  ebenso  nach  Volkelt,  Cantoni  u.  A., 
worüber  oben  S.  226  und  unten  S.  414.  416.  Insbesondere  hat  aber 
K.  Fischer  in  seiner  viel  verbreiteten  Gesch.  d.  n.  Philos.  III,  282  f.  288. 
291.  298—305.  309  seiner  Darstellung  die  Einleitung  B  und  überhaupt  die 
Prolegomena  (theilweise)  zu  Grunde  gelegt.  (Vgl.  oben  S.  45  Anm.  2,  S.  162 
Anm.  1,  S.  188.  371.)  Darüber  nun  wird  Fischer  von  Paulsen,  Riehl  und 
Windelband  hart  angelassen,  des  Missverständnisses,  ja  der  Entstellung  des 
Kantischen  Gedankenganges  beschuldigt. 

Diese  in  der  angegebenen  Weise  sich  erweiternde  Controverse  ist  für 
das  Verständniss  der  ganzen  Kantischen  Vemunftkritik,  ihrer  Probleme  und 
ihrer  Methode,  ihrer  Tendenz  und  ihrer  Resultate  fundamental,  ja  geradezu 
von  vitalem  Interesse.  Sie  bedarf  hier^  obgleich  mehrere  Detailpunkte  nur 
antecipatorisch  behandelt  werden  können ,  einer  eingehenden  Discussion, 
welche  nicht  nur  die  auf  S.  225  ff.  an  ihrem  Ort  angesponnene  Frage  über 
den  logischen  Zusammenhang  der  Abschnitte  I  und  II  der  Einl.  B,  d.  h. 
über  Kants  Voraussetzungen  unter  Berücksichtigung  der  im  Commentar 
zu  Abschn.  III— VI  gewonnenen  Resultate  weiterführt,  sondern  auch  die 
oben  S.  316 — 336  gegebene  Erläuterung  des  Hauptproblems  wesentlich 
ergänzt.  Diese  Discussion  ist  um  so  unentbehrlicher,  als  bei  einigen  Com- 
mentatoren  (theilweise  auch  bei  Kant  selbst)  hier  sowohl  mehrere  methodo- 
logische Verwechslungen  als  entwicklungsgeschichtliche  Ungenauigkeiten  mit- 
spielen. Ja,  es  herrscht  in  diesem  Punkte  eine  fast  unglaubliche  Verwirrung 
und  doch  ist  ohne  genaueste  Einsicht  hierein  kein  Verständniss  der  Kritik 
und  ihres  Hauptproblems  möglich.  Wir  acceptiren  daher  gerne  den  Aus- 
spruch Fischers  (III,  351,  vgl.  300)  als  Motto  für  diesen  Excursr  „Vor 
Allem  begreife  man  diese  Frage  in  ihrem  richtigen  Verstände, 
weil  man  sonst  im  Unklaren  bleibt  über  den  Geist  der  folgenden 
Untersuchung.*^ 

Statt*»  cantroversiae :  Es  bestehen  zwei  diametral  verschiedene  An- 
sichten über  Kants  sowohl  ursprünglichen,  als  eigentlichen  Ge- 
dankengang. 

Erste  Ansicht  (Paulsen,  Riehl,  Windelband):  Das  Factum,  von 
welchem  Kant  als  feststehender  Thatsache  ausgeht,  ist:  es  liegen  als  psycho- 
logische Gebilde  in  drei  Wissenschaften  synthetische  Urtheile  a  priori  vor, 
welche  Anspruch  auf  Gültigkeit  erheben.  Kant  fragt:  in  welchen  dieser 
drei  Wissenschaften  sind  derartige  Urtheile  zulässig  und  gültig?  Kant 
entscheidet:  Nur  in  zwei  Wissenschaften  sind  jene  Urtheile  gültig,  zu- 
lässig und  rechtmässig,  in  der  dritten  nicht.  Somit  hat  die  Kritik  die  Auf- 
gabe, den  Anspruch  synthetischer  Urtheile  a  priori,  wo  er  sich  auch  erhebt, 
einer   Prüfung  zu  unterwerfen,   die    aber   nur  für  Mathematik  und   reine 


388  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Naturwissenschaft  (dagegen  nicht  für  Metaphysik)  rechtfertigend  ausfällt.  — 
Durch  die  Darstellung  der  Prolegomena  und  der  Einleitung  B  sei  dieser 
echte  Gedankengang  Kants  verdunkelt  worden,  so  dass  sich  die  folgende 
falsche  Ansicht  bilden  konnte,  welche  ein  absolutes  Missverständniss  der 
Kritik  d.  r.  V.  sei,  indem  sie  Kant  das  voraussetzen  lasse,  was  er  erst  be- 
weisen wolle. 

Zweite  Ansicht  (Fischer) ':  Das  vorausgesetzte  Factum  ist:  es 
gibt  synthetische  Urtheile  a  priori  nicht  nur  als  psychologische  Gebilde, 
sondern  deren  erkenntnisstheoretische  Gültigkeit  ist  in  Mathematik  und  reiner 
Naturwissenschaft  ganz  unzweifelhaft.  Auf  dieses  Factum  stützt  sich  Kant 
bei  der  Beantwortung  der  Frage:  warum  sind  diese  Urtheile  möglich  und 
gültig?  sind  sie  auch  in  der  Metaphysik  zulässig?  Indem  Kant  jene  Gültig- 
keit erklärt,  entscheidet  er  zugleich,  dass  derartige  Urtheile  in  der  Meta- 
physik unmöglich  sind,  da  bei  dieser  Pseudowissenschafb  ein  analoger  Recbt- 
fertigungsgrund  fehlt. 

Hier  sind  nun  die  beiden  Fragen  nach  dem  Materialgehalt  der 
kritischen  Grundfrage  und  nach  der  Methode  der  Lösung  derselben  gar 
nicht  geschieden.  Indem  wir  diesen  Unterschied  machen,  behandeln  wir  das 
Erste  zuerst. 

A.  Inhalt  der  Problemstellnng.  Für  die  Entscheidung  dieser  ersten 
wichtigen  Frage  kommen  verschiedene  Punkte  in  Betracht:  Wir  versuchen 
den  Knäuel  der  Verwirrung  in  einzelne  Fäden  zu  zerlegen. 

1)  Was  die  historisch-psychologische  Entwicklung  Kants  in  Bezug  auf 
das  Hauptproblem  der  synthetischen  Urtheile  a  priori  betrifft,  so  war  für 
K.  die  Gültigkeit  der  Mathematik  für  die  Erscheinungswelt  (sowie  ihre  Ge- 
wissheit als  synthetisch-apriorische  Wissenschaft  an  und  für  sich)  *  wohl  nie- 


^  Es  ist  hier  jedoch  sogleich  vorauszuschicken,  dass  Fischer  diese  Ansicht 
nur  an  einzelnen  Stellen  vertritt,  während  er  an  anderen  umgekehrt  die  erstere 
vorträgt.  Die  dabei  spielenden  Homonymien  werden  unten  aufgedeckt.  Jedenfalls 
kämpfen  Paulsen,  Riehl,  Windelband  gegen  diese  Ansicht,  für  welche  sie  Fischer 
als  Typus  verantwortlich  machen.  Man  sieht,  welcher  Knäuel  von  Missverstand- 
nissen hier  aufzulösen  ist :  Zuerst  eigene  schwankende  Unklarheit  von  Kant  selbst^ 
dann  die  einseitigen  und  inconsequenten  Darstellungen  bei  den  Auslegern  und 
zuletzt  sogar  wieder  gegenseitige  missverständliche  Auffassungen  unter  den 
Xetzteren ! 

"  Wie  schon  mehrfach  (vgl.  oben  316.  317.  324.  328  ff.  330.  333)  berührt 
worden  ist,  ist  die  Gewissheit  der  Mathematik  an  sich  als  idealer  Wissenschaft, 
vornehmlich  der  Raumgebilde,  und  die  objective  Gültigkeit  derselben  für  die 
realen  Gegenstände  bei  Kant  und  seinen  Commentatoren  fast  durch^ngig  ver- 
mischt worden.  Diese  heillose  Verwechslung  im  Begriffe  der  Mathe« 
matik  —  neben  der  oben  S.  304  ff.  aufgedeckten  Verwechslung  im  Be- 
griffe der  VatnrwissenBehaft  und  der  S.  371  ff.  besprochenen  Verwir- 
rung im  Begriffe  der  Metaphysik  einer  der  dunkelsten  Flecken  der 
Kritik  d.  r.  V.  —  wird  im  Commentar  zur  transsc.  Aesthetik  eingehend  besprochen. 
Hier  sprechen  wir,  aber  bloss  der  Einfachheit  halber,   nur  von  der  realen 


Das  „Conformitätsproblem"  im  Jahr  1772.  389 

mals,  und  die  Möglichkeit,  gültige  Naturgesetze  a  priori  aufzustellen,  wenig- 
stens seit  1770  nicht  zweifelhaft.  (Vgl.  oben  S.  367  über  das  Verhältniss 
zu  Beattie;  vgl.  auch  Lepsius,  Lambert  S.  82.  86.)  Dagegen  wurde  die 
Möglichkeit  gültiger  synthetischer  Urtheile  a  priori  in  der  (transscendenten) 
Metaphysik  für  ihn  immer  mehr  in  das  Gebiet  des  Zweifels  gerückt.  Daraus 
folgt,  dass,  wenn  Kant  Schwierigkeiten  fand,  diese  für  ihn  kaum  darin  be- 
standen haben  können,  ob  jene  Gültigkeit  wirklich  stattfinde.  Die  wahre 
Schwierigkeit  wird  für  Kant  vielmehr  darin  bestanden  haben,  warum  wir 
(in  Mathematik  und  reiner  Naturwissenschaft)  Aussagen  (synthetische) 
a  priori  machen  können,  welche  für  die  doch  von  uns  unabhängigen  Dinge 
factisch  Gültigkeit  besitzen.  Diese  Erwartung  wird  denn  auch  vollständig 
bestätigt  durch  den  Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772,  in  welchem  die 
„transscendentale  Frage"  zum  Erstenmal  aufgeworfen  wird  und  wo  sie  in 
ihrer  unmittelbaren  Ursprünglichkeit  erscheint.  Kant  fragt  daselbst  nicht, 
ob  zwischen  Verstandesurtheilen  und  Gegenständen  Conformität  herrsche, 
sondern  er  fragt  nach  dem  Grund  der  Conformität  apriorischer 
Urtheile  mit  den  Dingen.  Er  fragt  nicht,  ob  es  apriorische  Erkenntniss 
gebe  —  er  setzt  diese  als  gültige  Erkenntniss,  nicht  bloss  als  psychologische 
Thatsache  voraus  —  sondern  er  fragt  nach  der  Erklärung  jener  Conformität. 
Er  fragt  nach  dem  8i6tt,  nicht  nach  dem  Stt.  Er  kann  „die  Conformität  der 
reinen  Verstandesprincipien  mit  den  Objecten"  „nicht  verstehen".  „Woher 
stimmen  die  Axiome  der  reinen  Vernunft  mit  den  Gegenständen  überein  ?" 
Die  „Frage",  welche  ihm  dunkel  erscheint  und  Schwierigkeiten  macht,  ist 
die:  „woher  kommt  die  Uebereinstimmung  der  Begriffe  a  priori  mit  den 
GegenstÄnden?"  Er  bespricht  die  bisher  aufgestellten  Hypothesen  zur  Er- 
klärung dieser  „Gültigkeit",  verwirft  sie  als  supernaturalistische,  will  aber 
seinerseits  „die  reine  Verstandeseinsicht  dogmatisch  begreiflich  machen", 
d.  h.  eine  natürliche  Erklärung  derselben  geben.  Jene  Gültigkeit  ist 
das  aufzudeckende  „Geheimniss".der  Metaphysik.  Schon  diese  Stellen  lassen 
logischerweise  nur  den  einzigen  Rückschluss  zu,  ja  involviren  unmittelbar, 
dass  jene  Gültigkeit  für  Kant  feststand,  und  dass  er  (wenigstens  zunächst) 
nur  nach  ihrem  Grunde  fragt.  Obgleich  daran  kein  Zweifel  sein  kann, 
mag  doch  noch  als  auf  den  stringentesten  Beweis  auf  die  bei  Erdmann 
Proleg.  LXXXVn  mitgetheilte  Stelle  aus  Kants  Aufzeichnungen  (nach  1770) 
hingewiesen  werden,  wo  Kant  ausdrücklich  die  Wirklichkeit  apriorischer 
Erkenntniss  (im  Sinne  der  Gültigkeit)  annimmt,  und  nach  dem  Wie  =  Warum, 
nicht  nach  dem  Ob  fragt.     (Vgl.  oben  330.) 

Hiegegen  ist  es  kein  stichhaltiger  Einwand,  wenn  Windelband, 
Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  250  sagt,  Kant  selbst  habe  ja  erst  die  „reine  Natur- 
wissenschaft" geschaflPen,  ihre  Gültigkeit  könne  also  vor  1781  kein  Problem 
für  ihn  gewesen  sein.     Das  ist  schon   durch   die  oben  mitgetheilten  Stellen 


Gültigkeit  der  Mathematik,  weil  nur  diese  für  das  „transscendentale  Problem"  Bedeu- 
tung hat,  obgleich  Ks.  eigene  Fragestellung  in  der  Einleitung  eben  in  Folge  jenes 
Qoiproquo  mehr  die  Natur  der  Mathematik  als  idealer  Wissenschaft  berücksichtigt. 


390  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

widerlegt,  wo  Kant  von  den  reinen  Verstandesaxiomen  u.  s.  w.  spricht, 
welche  mit  der  späteren  sog.  „reinen  Natorw."  zusammenfallen,  und  welche 
1772  für  ihn  ohne  Weiteres  gültig  sind.  Wie  femer  schon  oben  S.  376 
Anm.  1  bemerkt  wurde,  galt  jene  Wissenschaft  für  K.  als  eine,  wenigstens 
ihren  Grundzügen  nach  gegebene,  deren  wichtigste  Sätze  selbst  „der  gemeine 
Verstand '^  von  jeher  angenommen  hatte.  Nur  insofern  K.  diese  Wissenschaft 
erweitert  und  ihre  einzelnen  Sätze  auf  eine  ganz  neue  Art  beweist,  will  er 
sie  auch  neu  „begründen*  (vgl.  oben  S.  808  Anm.  2  Fischer);  und  diese 
Aufgabe  verschmilzt  dann  (worüber  Näheres  unten  stU)  5)  mit  der  anderen, 
nachzuweisen,  dass  jene  Sätze  auch  factisch  a  priori  als  gültige  aufgestellt 
werden  können.  Die  ursprüngliche,  den  Philosophen  im  Tiefsten  aufwühlende 
Frage  war  aber  die  von  diesen  beiden  sehr  zu  unterscheidende  Aufgabe: 
die  Erklärung,  warum  jene  apriorischen  Sätze  a  priori  und  doch  gültig 
sein  können.  Und  dass  K.  an  der  Gültigkeit  der  Mathematik  wenigstens 
nie  gezweifelt  habe ,  gibt  auch  Windelband  a.  a.  0.  I,  239  selbst  zu :  aber 
damit  war  diese  Gültigkeit  eine  der  Erklärung  sehr  bedürftige  Thatsache. 

2)  Diesem  historischen  Hergang  entspricht  die  factische  Darstellung  in 
der  Kritik  d.  r.  V.,  aus  welcher  wir  zum  Beweis  die  prägnantesten  Stellen 
herausnehmen  (und  zwar  aus  beiden  Auflagen,  jedoch  durch  A  und  B  ge- 
kennzeichnet, worüber  unten  sub  9).  In  der  Aesthetik,  nach  dem  Nach- 
weis der  Apriorität  der  Baumanschauung,  sagt  Kant  (A  26),  dass  „es  sich 
nun  verstehen  lasse**  [der  Ausdruck  entspricht  genau  den  Worten  im 
Brief  an  Herz],  warum  wir  in  der  Mathematik  a  priori  über  die  Dinge 
urtheilen  können  '.  Die  transsc.  Deduction,  dieser  „centrale*  Abschnitt  der 
Kritik,  will  in  erster  Linie  nicht  beweisen,  dass  die  Kategorien  gültig 
sind  (von  der  oben  S.  351  nachgewiesenen  Verwirrung  von  Satz  und  Begaff 
bei  K.  kann  hier  abgesehen  werden),  sondern  erklären,  wie  und  warum 
sie  gültig  sind.  Dies  ist  die  „Schwierigkeit",  dies  das  „Räthsel*  (A  89, 
B  163).  Ebenso  heisst  es  A  210  vom  Satz  der  Causalität:  „Wie  ein  solcher 
Satz  völlig  a  priori  möglich  sei,  dies  erfordert  gar  sehr  unsere  Prüfung, 
wenn  gleich  der  Augenschein  beweiset,  dass  er  wirklich  und  richtig  sei.** 
(Vgl.  oben  S.  320.  321.)  Wenn  Kant  somit  A  10  von  dem  „Geheimniss', 
das  in  den  synthetischen  Urtheilen  a  priori  steckt,  spricht,  so  ist  das  nicht 
bloss  die  Frage,  wie  wir  logisch  und  psychologisch  dazu  kommen  können, 
solche  ürtheile  aus  nicht  in  einander  enthaltenen  Begriffen  zu  bilden,  son- 
dern vielmehr  und  in  allererster  Linie  jenes  eben  auch  im  Briefe  an  Herz 
mit  demselben  Ausdruck  eingeführte  „Geheimniss"  der  Metaphysik:  wir 
fällen  factisch  gültige  ürtheile  a  priori  über  die   Gegenstände';  wie  ist 

^  Man  vergleiche  die  transscen dentale  Erörterung  B  39  ff.,  wo  dies  noch 
schärfer  hervortritt  als  in  A  (aber  nur  schärfer,  nicht  als  neuer  Gedanke);  darnach 
gibt  Kant  eine  Erklärungsart  (B  41)  für  die  geometrische  Erkenntniss;  er 
macht  die  Geometrie  „begreiflich"  und  zeigt  in  diesem  Sinne  die  Möglichkeit 
der  Mathematik.  Vgl.  B  49,  wonach  Kants  Zeittheorie  die  „Möglichkeit"  der  all- 
gemeinen Bewegungslehre  erklärt. 

*  Daher   spricht  K.  auch  häufig,   vgl.  oben  S.  319,  von  synthetischen  Er- 


Kant  will  die  Gültigkeit  des  Apriori  erklären.  391 

diese  frappirende  Thatsache  möglich?  Diese  Thatsacbe,  die  That- 
Sache  der  Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft,  die 
Möglichkeit  also,  gültige  synthetische  Urtheile  a  priori  zu  flLllen  —  ist 
das  unbegreifliche,  das  Erklärungsbedürftige.  Daher  sagt  Kant 
B  19,  wo  er  die  Hauptfrage  bespricht:  »Auf  der  Auflösung  dieser  Aufgabe 
oder  einem  genugthuenden  Beweise,  dass  die  Möglichkeit,  die  sie  er- 
klärt zu  wissen  verlangt,  in  der  That  gar  nicht  stattfinde  ^  be- 
ruht nun  das  Stehen  und  Fallen  der  Metaphysik.*  Und  A  762  heisst  es: 
,Wir  sind  wirklich  im  Besitze  '  synthetischer  Erkenntniss  a  priori,  wie  dieses 
die  Verstandesgmndsätze,  welche  die  Erfahrung  antecipiren,  darthun.  Kann 
Jemand  nun  die  Möglichkeit  derselben  sich  gar  nicht  begreiflich 
machen,  so  mag  er  zwar  anfangs  zweifeln,  o  b  sie  uns  auch  wirklich  apriori 
beiwohnen"  u.  s.  w.  Ebenso  sagt  Kant  Vorrede  A  X  von  der  Transsc. 
Deduction:  „Diese  Betrachtung  soll  die  objective  Gültigkeit 
der  reinen  Verstandesbegriffe  darthun  '  und  begreiflieh  machen.*^ 
Die  dogmatischen  Philosophen  hatten  diese  Gültigkeit  auf  Treu  und  Glauben 
angenommen  und  gar  nicht  zum  Problem  gemacht;  ihm  aber  erschien  sie 
von  jeher  als  ein  „Geheimniss" ;  und  erst  nach  der  von  ihm  gegebenen  Er- 
klärung brauchen  wir  uns  über  jene  Gültigkeit  des  Apriori  für  die  Dinge 
nicht  mehr  zu  „wundem''  (A  114).  Daher  sagt  Kant  auch  in  der  Vorrede 
B  XVni,  nachdem  er  sich  mit  Copernikus  verglichen:  „Nach  dieser 
Veränderung  der  Denkart  kann  man  die  Möglichkeit  einer  Er- 
kenntniss a  priori  ganz  wohl  erklären."  Vor  dieser  neuen  Betrach- 
tungsweise „sehe  ich  nicht  ein,  wie  man  (in  der  Mathematik)  a  priori 
etwas  von  der  Beschaffenheit  der  Gegenstände  wissen  könne"  und  auch  bei 
der  Frage  nach  der  Gültigkeit  der  Verstandesbegriffe  „bin  ich  wiederum  in 
Verlegenheit  wegen  der  Art,  wie  ich  a  priori  hievon  etwas  wissen  könne". 
Aber  wenn  ich  die  neue  Theorie,  die  von  K.  gefundene  causa  vera  *  kenne  — 


kenntnissen  a  priori  als  wirklichen,  nicht  bloss  von  synthetischen  Urtheilen 
a  priori,  deren  Gültigkeit  erst  fraglich  ist.  Dass  gleichwohl  die  allgemeine  Frage- 
stellung sich  auf  die  Möglichkeit  synthetischer  urtheile  a  priori  bezieht,  erklärt 
sich  theils  ans  dem  eben  berührten  Doppelsinn  der  Frage,  theils  aus  den  schon 
mehrfach  (z.  B.  oben  S.  276  u.  bes.  330  ff)  besprochenen  Gründen:  der  Verwechs- 
Inng  der  realgültigen  Mathematik  mit  der  idealen  (vgl.  z.  B.  B  14  ff.  mit  B  40  ff.) 
und  der  Ausdehnung  der  Frage  auf  die  urtheile  der  transscendenten  Metaphysik. 
In  den  Vorlesungen  über  Metaphysik  S.  20  heisst  die  Formel:  Wie  sind  Er- 
kenntnisse a  priori  möglich?    Vgl.  dag.  Paulsen  a.  a.  0.  173. 

'  Ueber  einen  anderen,  hier  mit  hereinspielenden  Sinn  s.  unten  sub  5. 

'  Natürlich  nicht  erst  seit  dem  Jahre  1781,  d.  h.  seit  Kant  neue  Beweise 
dafür  aufstellte  in  der  Analytik.  Denn  „der  gemeine  Verstand"  hatte  ja  von  jeher 
die  wichtigsten  derselben  gekannt.    Vgl.  Dietrich,  K.  u.* Newton,  bes.  S.  123  f. 

*  Hierüber  s.  unten  S.  396  Anm.  3. 

^  Es  ist  wohl  zu  beachten,  dass  in  Kants  eigenem  Sinn  seine  Erklärung 
nicht  auf  einer  Hypothese,  sondern  einer  caitsa  verä  beruht.  Er  spricht  sich 
selbst  darüber  häufig  und  stark  aus  (vgl.  oben  S.  132  f.  u.  bes.  Vorr.  B  XXII 


392  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

dass  die  Gegenstände  nach  unserem  Erkenntnissvermögen  sich  richten  —  „so 
kann  ich  mir  diese  Möglichkeit  ganz  wohl  vorstellen''  und  , ich  sehe 
sofort  eine  leichtere  Auskunft"  (Vorr.  B  XVII). 

Aus  den  Gründen,  die  wir  unten  sub  9,  S.  417  besprechen,  können  wir 
diesen  Stellen  der  Kritik  d.  r.  V.,  in  ihren  beiden  Auflagen,  auch  einige 
prägnante  Stellen  der  Prolegomena  anfügen.  Nach  §  4  (finis)  sind  Mathematik 
und  reine  Naturwissenschaft  „durchgängig  anerkannte  und  unbestrittene "^ 
Erkenntnisse  a  priori;  ebenso  nach  §  5  ist  ihre  „Gewissheit  unstreitig'  und 
im  Verlaufe  des  §  wird  ihre  Wirklichkeit  noch  mehrfach  betont  (vgl.  die 
Stelle  oben  S.  319).  Das  Problem  ist  „die  Untersuchung  ihrer  Möglichkeit" 
d.  h.  die  „Erklärung",  das  „Begreiflichmachen"  dieses  Factums  (vgl.  die 
Stellen  oben  S.  287).  Die  „Wirklichkeit"  dieser  Wissenschaften  —  darin  be- 
steht das  Factum  —  wird  dann  §  5  (finis)  bestimmter  in  der  „Uebereinstim- 
mung  der  Erkenntniss  a  priori  mit  dem  Object  in  concreto"  gefunden  — 
und  der  „Grund"  dieser  Uebereinstimmung  wird  gesucht.  Dadurch  wird 
die  „Natur"  dieser  Wissenschaften  „aufgeklärt".  —  Die  apodiktische  Gewiss- 
heit der  Mathematik  ist  eine  „Wirkung"  einer  gesuchten  „Ursache",  eben 
jener  cattsa,  welche  die  Uebereinstimmung  erklären  soll  (§  6).  Dies  ist 
„die  erste  und  oberste  Bedingung  ihrer  Möglichkeit" ;  und  diese  „erklärt* 
jene  Möglichkeit,  und  „macht^  jene  gültige  Wissenschaft  „möglich"  (§  7). 
Aus  §  9  folgt,  dass  die  Thatsache  ohne  die  „einzige  Art"  der  Erklärung  „un- 
begreiflich" bleibt.  Nur  durch  jene  Erklärung  kann  die  Möglichkeit  der 
,\virklich"  angetroffenen  synthetischen  Erkenntniss  a  priori  „begriffen"  werden 
(§  10).  „Unsere  transscendentale  Deduction"  u.  s.  w.  „erklärt"  die  Möglich- 
keit der  Mathematik  (§  12),  d.  h.  (nach  §  11)  nur  so  wird  es  „ganz  begreif- 
lich", wie  ich  „vor  aller  Bekanntschaft  mit  den  Dingen,  ehe  sie  nämlich  uns 
gegeben  sind,  wissen  kann,  wie  ihre  Anschauung  beschaffen  sein  müsse"  — 
damit  ist  eben  das  „Unbegreifliche",  das  „Geheimniss"  erklärt.  Dieses  Pro- 
blem spielt  dann  in  Anm.  I  zu  §  13  noch  eine  grosse  Rolle  (worüber  übri- 
gens noch  unten  sub  10)  und  es  wird,  wie  noch  in  Anm.  HE  daraufhingewiesen, 
dass  jene  „Uebereinstimmung",  dass  eben  „die  Möglichkeit,  jene  Sätze  von 
allen  Gegenständen  der  äusseren  Anschauung  a  priori  zu  wissen",  nur  auf 
Kantische  Art  „zu  begreifen",  sogar  „leicht  zu  begreifen  sei". 

Der  Besitz  der  reinen  Naturwissenschaft  als  wirklicher  gültiger  Wissen- 
schaft wird  ferner  §  15  ff.  nochmals  feierlichst  bestätigt;  von  da  an  tritt 
aber  eine  Folge  jener  verhängnissvollen  Verwechslung  der  Naturphilosophie 
im  engeren  Sinn  mit  der  immanenten  Metaphysik  ein:  Diese  besteht  darin, 
dass  an  Stelle  der  Erklärung  der  wirklichen  Naturwissenschaft  der  Beweis 
der  Gültigkeit  derselben  und  ihrer  einzelnen  Sätze  tritt,  worüber  sub  5  und  10. 
Nur  an  einzelnen  Stellen  bricht  jener  ursprüngliche  und  mit  Recht  von  uns 
erwartete  Gedankengang  —  gleichsam  nach  unterirdischem  Laufe  —  wieder 
hervor,  so  §  36:  hier  wird  die  Kantische  Theorie  dargelegt  und  dann  heisst 


Anm.)*    Auch  nach  Vorr.  A  XI  ist  nur  ein  Theil   des   psychologischen  Beiwerks 
hypothetisch. 


Die  Gültigkeit  des  Apriori  als  antithetisches  Problem.  393 

es:  «denn  wie  wäre  es  sonst  möglich,  diese  Gesetze  .  .  .  .  a  priori  zu 
kennen?  Eine  solche  ....  Uebereinstimmung  ....  kann  nur  aus 
zweierlei  Ursachen  stattfinden '^  u.  s.  w.  und  dann  wird  die  Kantische  Theorie 
wieder  als  die  einzig  mögliche  Erklärung  dieser  Uebereinstimmung 
dargestellt.  Wir  sehen  hier  absichtlich  von  zweideutigen  Stellen  ab,  so  z.  B. 
von  §  39,  wo  von  den  Kategorien  die  Bede  ist,  welche  unnütz  sind  ohne 
^Erklärung*'  ihres  Gebrauchs  oder  von  der  Vorrede  der  Prolegomena 
(vgl.  oben  die  Stelle  348),  wonach  K.  sein  Hauptverdienst  darein  setzt,  die 
Kategorien  deducirt,  d.  h.  gezeigt  zu  haben,  , worauf  sich  ihre  objective 
Gültigkeit  gründe*.  Doch  ist  bei  unbefangener  Auslegung  gerade  in  letzterer 
Stelle  der  Sinn  klar:  seine  Frage  zielt  wenigstens  nach  diesen  Ausdrücken 
(trotz  des  sonst  theilweise  anders  lautenden  Textes)  nicht  dahin,  o  b  diese  Be- 
griffe objectiv  gültig  seien,  sondern  worauf  sich  die  Gültigkeit  derselben 
, gründe",  die  also  eben  ein  vorausgesetztes  Factum  war,  dessen  Erklä- 
rung gesucht  wird:  es  ist  das  fundamentum  für  etwas  Bestehendes,  das  auf- 
gedeckt werden  soll  (was  auch  aus  Prol.  §  60  folgt)  —  dass  K.  aber  auch 
zugleich  ein  Fundament  für  theils  bestrittene,  Jbheils  noch  nicht  bestehende 
Erkenntnisse  legen  will,  wird  unten  stib  3  u.  5  ergänzt  werden. 

Kant  spricht  in  diesen  Stellen  von  der  „Verlegenheit",  der  „Schwierig- 
keit", welche  die  Gültigkeit  des  Apriori  bereite,  ja  er  steigert  die  Ausdrücke 
bis  zum  „Räthsel",  zum  „Geheimniss",  sogar  zum  „Wunder".  Jene  That- 
Sache  bedarf  ja  nicht  bloss  im  gewöhnlichen  Sinne  der  Erklärung,  sie  ist 
nicht  bloss  in  dem  Sinne  ein  Problem,  dass  sie  wie  alle  complicirten  That- 
sachen  überhaupt  einer  causalen  Erklärung,  der  Reduction  auf  das  Einfache 
und  hier  vor  Allem  auf  die  Bedingungen  bedarf:  sondern  sie  ist  eine  merk- 
würdige, wunderbare,  paradoxe  Thatsache.  Die  Thatsache,  welche  Kant 
erklären  will,  ist,  um  mit  der  modernen  Logik  (Drobisch,  Logik 
§  142)  zu  reden  —  ein  antithetisches  Probletii.  „Die  wichtigsten  Probleme 
der  Philosophie  sind  antithetische",  bemerkt  Drobisch  dazu  und  gibt  mehrere 
Beispiele.  In  den  Augen  Kants  war  jene  von  ihm  als  unzweifelhaft  ange- 
nommene Thatsache  ein  solches  antithetisches  Problem.  Zu  einem  antithe- 
tischen Problem  wird  eine  Thatsache,  wenn  sie  nicht  nur  als  eine  erklärungs- 
bedürftige  und  von  aufzusuchenden  Bedingungen  abhängige  erkannt  ist, 
sondern  wenn  sie  auch  mit  anderen  (wirklich  oder  anscheinend)  festbegrün- 
deten Sätzen  resp.  Thatsachen  im  Widerspruch  steht:  wenn  sie  also  „unbe- 
greiflich" in  doppelter  Potenz  ist.  Der  in  unserem  Falle  spielende  Wider- 
spruch wird  von  Kant  am  besten  in  der  Vorrede  B,  am  Anfang  der 
Deduction  A  84  ff.,  auch  A  129,  B  166  und  in  den  oben  angeführten  Stellen 
der  Proleg.  §  11,  §  12  Anm.  I.  III.  entwickelt': 

1)  Wir  haben  factisch  apriorische  Erkenntnisse  von  den  Gegenständen. 

2)  Die  Gegenstände  sind  von  uns  unabhängig,  ja  unser  Erkennen 
ist  sogar  von  ihnen  abhängig. 


*  Man  kann  die  Sache  verschieden  formuliren.    Wir  wählen  für  Frage  und 
Beantwortung  die  einfachste  Formel. 


394  Excurs.     Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Das  „Räthsel",  „Geheimniss",  , Wunder"  best-and  für  Kant  darin,  dass  wir 
über  die  von  uns  unabhängigen  Gegenstände  nichtsdestoweniger 
a  priori  gültige  Aussagen  machen  können. 

Genau  nach  der  Vorschrift  der  Lösung  antithetischer  Probleme  (D ro- 
bisch, Logik  §  143.  144)  löst  Kant  sein  antithetisches  Problem  durch 
^Distinction"  und  „Begriffser Weiterung*  (resp.  „Aufhebung  einer  Prämisse*'): 
Die  a  priori  erkannten  Gegenstände  sind  keine  Gegenstände  an  sich,  sondern 
Erscheinungsdinge;  sie  sind  eben  nicht  unabhängig  von  uns,  sondern  sie 
richten  sich  nach  unserem  Verstand,  dem  „Urheber  der  Erfahrung*. 

Wir  haben  somit  das  wichtige  Resultat:  Kaut'S  ursprüngliches  und 
eigentliches  Problem,  das  ür-  und  Grundproblem  der  Kritik  d.  r.  V.  ist  ein 
antithetisches  Problem;  es  ist  das  antithetische  Problem:  Warum  kann  ich  gül- 
tige (synthetische)  ürtheile  a  priori  über  die  Gegenstände  fällen?  Kant  setzt 
mehrfach  sein  Verdienst  darein,  diese  Frage  als  Erster  aufgeworfen  zu  haben 
(vgl.  oben  S.  334  „das  neue  Problem*);  er  tadelt  Prol.  K.  142  Anm.  die  Dog- 
matiker,  dass  sie  dieses  Problem  („das  Begreifen*)  „noch  nicht  aufgelöset, 
ja  nicht  einmal  aufgeworfen  haben*.  Das  d-aofidCeiv  über  eine  bis  dahin  als 
selbstverständlich  hingenommene  Thatsache  war  die  Veranlassung  zur  Kritik 
d.  r.  V.  und  wie  immer  der  Ausgangspunkt  wissenschaftlicher  Umwälzungen. 
Diese  Thatsache  ist  die  factisehe  Gültigkeit  a  priori  gefällter  Ürtheile  (sowie 
die  Gültigkeit  apriorischer  Begriffe).  Wie  in  aller  Welt  ist  eine  so  seltsame, 
widersinnige  und  wunderbare  Thatsache  nur  möglich?  Der  gemeine  Verstand 
und  die  bisherige  Philosophie  hatten  unbedenklich  von  jeher  die  Gesetze  der 
Substantialität  und  Causalität  ausgesprochen  und  (zunächst  im  Erfahrungs- 
gebiet) angewandt;  und  wunderbar!  —  die  Gesetze  trafen  ausnahmslos  zu, 
und  doch  war  Niemanden  das  darin  liegende  Wunder  aufgefallen  \  Niemand 
erkannte  diese  mysteriöse  Paradoxie,  dass  wir  über  die  von  uns  unabhängigen 
Dinge  aus  eigener  Machtvollkommenheit  a  priori  gültige  Aussagen  machen 
können.  Und  war  das  Wunder  Einem  oder  dem  Andern  aufgefallen,  wie 
dem  Piaton  (über  seine  Lösung  vgl.  oben  335  und  Prol.  K.  142  Anm.), 
Malebranche  oder  Crusius,  so  wurden  seltsame  Erklärungen  darüber  auf- 
gestellt, noch  seltsamer  und  mystischer  als  die  mysteriöse  Thatsache  selbst. 

Es  ist  sonach  eine  fundamentale  Verkennung  des  centralen  Punktes 
der  Kritik  d.  r.  V.,  wenn  man,  wie  es  die  oben  genannten  Gegner  Fischers 
thun,  folgenden  Einwand  gegen  dessen  Darstellung  erhebt:  wenn  Kant  die 
Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft  vorausgesetzt  hätte, 
hätte  er  seine  Kritik  nicht  zu  schreiben  gebraucht:  dann  wäre  diese  mit 
ihrem  Anfang  schon  beim  Ende  angelangt.  Im  Gegentheil:  Das  eigentliche 
kritische  Problem  beginnt  erst  mit  dieser  Voraussetzung,  und  besteht  gar 


'  Dasselbe  gilt  natürlich  von  der  Mathematik  und  von  den  Raiimbestim- 
mungen  überhaupt,  wozu  man  besonders  Proleg.  §  11  vergleiche,  wonach  das,  was 
Kant  „gerne  wissen  möchte"  (eben  jene  Möglichkeit  apriorischer  Bestimmung), 
durch  seine  Theorie  „ganz  begreiflich"  wird.  Dies  „Räthsel"  betont  auch  Lange, 
Gesch.  d.  Mat.  II,  11,  sowie  Caird  als  „secrei"'  (unten  stib  11). 


Kant  will  die  Gültigkeit  des  Apriori  beweisen.  395 

nicht  ohne  sie;  das  Problem:  warum  kann  ich  gültige  Urtheile  a  priori 
über  die  Dinge  fUllen?  Die  so  vorausgesetzte  Gültigkeit  ^  ist  gerade  das  aller- 
tiefste  Problem  Kants,  sie  ist  für  ihn  ein  erklärungsbedürftiges  Phänomen, 
ein  seltsames  RäthseL  Er  fragt  nach  der  Auflösung  des  Bäthsels,  nach  der 
Vera  causa  dieser  Thatsache.  —  Paulsen  erhebt  ferner  folgenden  Einwand: 
jene  Sätze  gelten  ja  doch  auch  ohne  diese  Erklärung  und  kommen  auch  ohne 
sie  in  tägliche  Anwendung,  somit  sei  diese  ganze  Erklärung  eigentlich  un- 
nöthig.  Dies  ist  schon  darum  kein  genügender  Einwand,  weil  diese  Argumen- 
tation ja  alle  Wissenschaft  treffen  würde,  sei  es  z.  B.  astronomischer  oder 
physiologischer  Phänomene^  für  welche  doch  auch  sowohl  aus  rein  theoreti- 
schem Interesse  die  Erklärung  gesucht  wird,  als  um  Störungen  dort  zu  ver- 
stehen, hier  zu  heben  oder  zu  vermeiden.  Uebrigens  hat  Kant  jenen  Ein- 
wurf sich  als  Selbsteinwand  gemacht  und  zugleich  beantwortet :  Man  könnte 
ja  dieser  Frage  überhoben  zu  sein  glauben,  da  jene  Sätze  wirklich  gelten 
(A  209);  war  das  Resultat  des  Aufwands  und  der  Zurüstung  werth?  (A  236). 
Er  beantwortet  diesen  auch  in  den  Prolegomena  (vgl.  oben  308  und  bes.  366), 
sowie  noch  A  233  aufgeworfenen  Einwand  dahin,  dass  ohne  die  Lösung 
dieser  Au%abe  die  Anmaassungen  der  transscendenten  Metaphysik  (vgl.  oben 
die  „Störungen'')  nicht  zurückgewiesen  werden  könnten.  Allein  das  Problem 
hatte,  wie  aus  dem  Brief  an  Herz,  dem  Anfang  der  Deduction  u.  s.  w.  her- 
vorgeht, für  K.  auch  seinen  selbständigen  Beiz,  und  seine  Lösung  auch  ohne 
jene  praktische  Wendung  wissenschaftlichen  Werth  genug  * ;  denn  es  bleibt 
doch  (natürlich  nur  im  Sinne  Kants)  ein  stupendes  Wunder,  dass  wir  apriori 
gültig  über  die  Gegenstände  urtheilen  können.  Kant  fragt  nach  der  Er- 
klärung dieser  Thatsache,  nach  dem  Wamm  dieses  Dass. 

3)  Hätte  Kant  es  bloss  mit  den  Dogmatikern  zu  thun  gehabt,  so  wäre 
dies  (nebst  dem  stib  5  Behandelten)  das  einzige  Problem  der  Kritik  d.  r.  V. 
geblieben.    Er  fand   es  auch  ganz  von  dem  dogmatischen  Boden  aus  •,   auf 

'  Die  bisherigen  Aasführangen  sind  vollständig  genügend^  nm  von  der 
Thatsächlichkeit  dieser  Voraussetzung  zu  überzeugen.  Doch  vergleiche  man  zum 
Ueberfluss  für  die  Gültigkeit  der  Mathematik  noch  die  Stellen  und  Bemerkungen 
oben  8.  96  Anm.,  162.  163.  164.  187.  210.  240.  335  und  ganz  besonders  308;  für 
die  Gültigkeit  der  reinen  Naturwissenschaft  S.  200  ff.  211  ff.  232  f.  304 
bis  310.  344.  375;  für  beides  S.  85  Anm.,  197  ff.  238  (Realität  der  Fortschritte, 
reeller  Besitz  u.  s.  w.),  241.  292  ff.  344.  357.  366  f.  371  f.  374  f.  381 ;  femer 
besonders  „Entdeckung",  Ros.  I,  444:  „Vorlesungen  über  Metaph."  20  ff.  und  zahl- 
lose andere  Stellen  z.  B.  „Fortschr."  Ros.  I,  493  (vgl.  Dietrich,  K.  und  Newton 
S.  123).  507.  Nach  allen  diesen  Stellen  war  jene  Gültigkeit  für  Kant  keines- 
wegs problematisch  —  wohl  aber  ein  Problem. 

»  Vgl.  Proleg.  §  12  finis:  Ohne  Kants  Theorie  würde  die  Möglichkeit  der 
Mathematik  „zwar  eingeräumt,  aber  keineswegs  eingesehen  werden  können". 
Man  vergl.  femer  Prol.  §  4  (finiaj  u.  §  5  (init.)^  wonach  die  Untersuchung  der  Mög- 
lichkeit des  Wirklichen  „dennoch"  noth wendig  ist,  um  die  Bedingungen  des  Ge- 
brauchs, den  Umfang  und  die  Grenzen  zu  bestimmen. 

•  Vgl.  oben  S.  28.  33.  Es  wurmte  ihm,  dass  (vgl.  oben  S.  343)  „Jedermann 
sich   der  Begriffe  getrost  bediente,   ohne   zu  fragen,   worauf  sich   ihre  objective 


396  Exciirs.     Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

dem  er  im  Jahre  1770  stand,  und  er  fand  es  wahrscheinlich  ganz  selbständig 
in  jenem  schon  oben  angezogenen  Briefe  an  Herz.  Der  übermächtige  Einflnss 
der  Leibniz'schen  Nouveaux  Essais  wirkte  so  stark,  dass  ihm  das  Apriori 
und  dessen  Gültigkeit  nnumstösslich  feststand.  Nor  wer  an  dieser  That- 
sache  als  unerschütterlicher  festhielt,  konnte  überhaupt  jenes  Problem  des 
Warum  dieser  Gültigkeit  auf  werfen.  Wer  an  dieser  Gültigkeit  zweifelt, 
wird  in  erster  Linie  die  Thatsache  selbst  zu  erweisen  bestrebt  sein:  dass 
Kant  in  jenem  Briefe  dieses  Bestreben  nicht  zeigt,  sondern  nur  nach  dem 
Warum  der  rohen  Thateache  fragt,  ist  ein  Beweis,  dass  ihm  eben  diese  That- 
sache um  jene  Zeit  als  etwas  Fragloses  feststand.  Aber  Kant  hatte  es  auch 
mit  den  empiristischen  Skeptikern  zu  thun  und  darum  musste  ihm  auch 
daran  liegen,  jene  Thatsache  '  überhaupt  erst  nachzuweisen :  denn  diese  Partei 
bestritt  das  Vorhandensein  eines  gültigen  Apriori;  und  Manche  giengen  so 
weit  (was  übrigens  auch  einzelne  eklektische  Philosophen  thaten),  die  stricte 
Gültigkeit  der  mathematischen  und  selbst  einiger  mechanischer  Grundsätze 
(z.  B.  des  Continuitätsgesetzes)  für  die  physischen  concreten  Erscheinungen 
zu  bestreiten  (vgl.  oben  S.  366  Anm.),  wenn  gleich  sie  deren  abstracte  Wahr- 
heit zugaben.  Diese  Bestreitung  war  Kant  persönlich  immer  ganz  absurd 
(„absonum^^  „Chikane'O  erschienen.  Aber  da  es  einmal  so  zu  sagen  solche 
Käuze  gab,  so  musste  auf  sie  Bücksicht  genommen  werden,  und  desshalb 
musste  Kant  bestrebt  sein,  jene  Gültigkeit  des  Apriori  nicht  bloss  schon  zu 
erklären ,  sondern  auch  erst  zu  beweisen ".  Die  Ausfuhrung  geschah  aber 
nicht  so,  als  ob  Kant  zuerst  die  Gültigkeit  bewiesen  und  dann  erklärt  hätte. 
Denn  logisch  genommen  bringt  es  der  Gang  der  Argumentation  naturge- 
mäss  mit  sich,  dass  der  Nachweis,  warum  jene  apriorischen  Urtheile  und 
Begriffe  gültig  seien,  zugleich*  auch  den  Beweis,  dass  sie  factisch  gültig 


Gültigkeit  gründe".  Es  waren  übrigens  schon  mehrere  Dogmatiker  auf  dieses 
Problem  gekommen,  vgl.  oben  S.  335  und  Paulsen,  Entw.  12  ff.  176.  Dass 
Kant  das  Problem  noch  ohne  skeptische  Beeinflussung  fand,  hat  Erdmann  (vgl. 
oben  S.  347)  wahrscheinlich  gemacht.    Dag.  Dietrich,  K.  u.  Newton  S.  122.  248. 

'  Man  bemerke  wohl,  dass  es  sich  hier  um  die  Thatsache  der  Gültigkeit 
des  Apriori  handelt,  nicht  um  die  Thatsache  der  Apriori  tat  gewisser  Sätze. 
Beides  wird,  wie  unten  sub  11  erörtert  wird,  auch  bei  Kant  selbst  häufig  gänzlich 
verwechselt,  und  diese  Verwechslung  spielt  theilweise  auch  in  der  oben  darge- 
stellten Controverse  mit,  wovon  wir  aber  hier  abstrahiren  müssen;  sie  ist  eine 
Folge  der  Gleichstellung  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft. 

^  Dies  geschah  bezüglich  der  Mathematik  schon  in  der  Dissertation.  In 
§  14,  6  wird  das  „neceasario  consentire^  der  „mottts"  mit  den  „axianuUa  de  tempore''. 
obwohl  die  Annahme  des  Gegentheils  f^absonum"  ist,  deductiv  bewiesen.  Ebenso 
wird  das  y^necessario  consentire^  in  §  15  E  bezüglich  der  Geometrie  bewiesen, 
(^»to^u«'*);  sonst  wäre  der  „wau«  geometriae  parum  tutus*^.  Dieser  Beweis  ist  aber 
ebensogut  auch  eine  Erklärung  der  Gültigkeit,  wenn  diese  vorausgesetzt  ist  Und 
es  ist  beachtenswerth,  dass  in  der  Dissertation  der  Beweis,  in  der  Kritik  die 
Erklärung  in  den  Vordergrund  tritt  (während  in  den  Prolegomena  Beides  zu- 
gleich berücksichtigt  wird,  vgl.  unten  sub  10). 

'  Diese   Auffassung  wird  vollständig  bestätigt  durch   Prol.   §  13  Anm.  I, 


Die  Gültigkeit  des  Apriori  als  hypothetisches  Problem.  397 

seien,  mit  einschloss  ^  Der  modus  explicandi  enthält  zugleich,  falls  die  ex- 
plicatio  deductiv  aus  einer  causa  vera  et  res  recUis  geschieht,  die  probatio 
des  Explicandum,  wenn  dieses  angezweifelt  wird. 

Diese  Seite  seiner  Leistung  hebt  nun  Kant  besonders  an  den  Stellen 
hervor,  wo  er  sein  Verhältniss  zum  Skepticismus  bespricht,  nirgends  deut- 
licher als  Krit.  d.  pr.  V.  93  f.,  wo  er  zeigt,  wie  er  durch  seine  „Deduction* 
den  ,  totalen  Zweifel  **  an  der  Gültigkeit  der  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft .aus  dem  Grunde  heben''  und  diese  Erkenntniss  als  a  priori  gültige 
»retten*  (vgl.  Prol.  §  27,  §  30),  oder  „sichern" ,  wie  es  an  andern  Stellen 
heisst,  z.  B.  Prol.  §.13  Anm.  I.  ÜI.,  oder  auch  „darthun*  konnte '.  Und 
da  dieser  Beweis  mittelst  derselben  Argumentation  geführt  wird,  wie  die 
Erklärung,  so  dient  das  Principium  eocpUcandi  zugleich  als  Principium  probandi. 

Diese  Frontveränderung  Kants  ist  logisch  so  zu  präcisiren:  die 
Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft,  welche  (nach 
Nr.  1.  2)  für  Kant  selbst  ein  abgolntes  Problem  war,  wird  für  die  Kritik 
d.  r.  V.  ein  hypothetisches  Problem.  Die  Logik  (vgl.  Drobisch,  Logik  §  140 
und  141 ;  vgl.  oben  S.  164)  unterscheidet  oder  (da  diese  Unterscheidung  sowie 
die  obige  Charakterisirung  des  antithetischen  Problems  sich  u.  W.  nur  bei 
Drobisch  findet)  sollte  wenigstens  unterscheiden  zwischen  absoluten  und 
hypothetischen  Problemen:  ein  absolutes  Problem  entsteht,  „wenn  eine  un- 
mittelbar gewisse  und  daher  nicht  aufzuhebende  Thatsache  (Factum)  ge- 
geben ist,  die  jedoch  zu  einer  Ergänzung  durch  Denken  nöthigt,  ohne  welche 
sie  als  unbegreiflich  erscheint ;  beim  hypothetischen  Problem  wird  nicht 
bloss  ein  unmittelbar  feststehendes  Factum,  das  uns  ein  Problem  aufgibt, 
resp.  sich  selbst  als  Problem  darstellt,  erklärt,  sondern  es  wird  durch  die 
Erklärung,  d.  h.  durch  die  Ableitung  aus  gewissen  Erklärungsgründen 
(aus  causae  verae  reales)  zugleich  erst  über  das  wirkliche  Vorhandensein 
einer  solchen  als  möglich  angesetzten,  also  noch  problematischen  Thatsache 
entschieden:  die  Erklärungsgründe  sind  zugleich  Beweisgründe.  Ge- 
nau so  verhält  es  sich  in  dem  vorliegenden  Falle:  es  ist  die  (nicht  durcb 
bloss  empirische  Gonstatirung  nachweisbare)  Thatsache  absolut  allgemeiner 
und    stricter   Gültigkeit   apriorischer  Behauptungen   in   der  concreten  Er- 


wo  es  in  dieser  Aufeinanderfolge  heisst:  „so  ist  ganz  leicht  zu  begreifen  und 
zugleich  miwidersprechlich  bewiesen"  u.  s.  w.  Genau  dieselbe  Aufeinander- 
folge findet  sich  Vorr.  B  XVIII :  erklären,  beweisen.  Selten  umgekehrt,  so  Vorr. 
A  X:  Gültigkeit  dartbun  und  begreiflich  machen.  Mehrfach  findet  sich  die  Ver- 
bindung: das  apriorische  Erkennen  sei  nicht  allein  möglich,  sondern  auch 
nothwendig  z.  B.  A  129.  A  155.     „Zugleich**  auch  bei  Riehl  340  Anm. 

^  Zugleich  schliesst  jener  Nachweis  und  dieser  Beweis  die  Prämissen  ein, 
aus  denen  dann  auf  die  Ungültigkeit  der  transscendenten  Metaphysik  geschlossen 
wird«     Vgl.  unten  süb  5. 

'  Auch  Dietrich,  Kant  und  Newton  6.  124  betont  dies  richtig:  Obgleich 
K.  selbst  niemals  an  der  Gültigkeit  zweifelte,  „mussten  die  skeptischen  Bedenken 
gegen  die  objective  Geltung  der  metaph.  Grundsätze  beschwichtigt  werden**.  Vgl. 
noch  ib.  124  ff.  u.  bes.  8.  134  ff. 


398  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

scbeinungswelt,  um  welche  es  sich  handelt.  Für  Kant  ist  dies  eine  fest- 
stehende Thatsache  und  er  denkt  daher  in  erster  Linie  an  die  Erklärung 
des  „Geheimnisses*;  für  die  Skeptiker  ist  diese,  die  Gültigkeit,  zweifelhaft 
oder  sogar  gar  nicht  vorhanden:  also  muss  Kant  die  dadurch  problema- 
tisch gewordene  Thatsache  nicht  bloss  erklären,  sondern  auch  beweisen  '. 
Der  Natur  der  Sache  nach  geht  dieser  Beweis  (da  er  empirisch  nicht  zu 
führen  ist)  nicht  der  Erklärung  vorher,  sondern  folgt  unmittelbar  aus  oder 
liegt  unmittelbar  in  der  Erklärung  der  Thatsache,  falls  wenigstens  diese  Er- 
klärung aus  causae  verae  et  reales  stringent  abgeleitet  ist. 

Da  ein  Werk  wie  die  Kritik  d.  r.  Y.  nicht  bloss  wie  ein  mathemati- 
scher Beweis  ausgedacht  wird,  sondern  in  dem  Kopfe  eines  Genies  wie  Kant 
auch,  wie  jedes  Geisteswerk,  still  reift  und  synthetisch  wächst,  —  auch 
Dietrich,  K.  u.  Newton,  Vorr.  Vn  vergleicht  das  Werden  der  Kritik  mit 
einem  „Naturprocess"  —  so  braucht  dies  Alles  (so  wenig  wie  die  nachher 
besprochenen  Punkte)  Kant  so  klar  zum  Bewusstsein  gekonmien  zu  sein,  wie 
das  bei  dem  analytischen  Beobachter  der  Fall  ist;  eben  darum  schieben  sich 
diese  beiden  Argumentationszielpunkte  abwechselnd  vor  und  lösen  sich  gleich- 
sam ab ;  es  sind  zwei  zusammengehörige  Brennpunkte  einer  Ellipse,  während 
die  einseitige  Betrachtung  Fischers  i|pd  seiner  Gegner  je  nur  einen  Punkt 
ins  Auge  fasst  und  die  ganze  Fülle  der  durch  die  Peripherie  der  Kritik 
eingeschlossenen  Gedanken  radial  je  auf  diesen  Einen  bezieht,  anstatt  jene 
zusammengehörige  Zweiheit ,  jenen  naturgemässen  Dualismus  zu  erkennen, 
und  damit  eben  zu  sehen,  dass  die  Argumentation  diese  zweiseitige  oder 
zweischneidige  Bedeutung  hat:  es  bewährt  sich  ja  hierin  wieder  die  in  der 
Einleitung  ausgesprochene  Ueberzeugung,  dass  der  Ariadnefaden  durch  das 
Labyrinth  der  Kritik  d.  r.  V.  die  zweischneidige  Beziehung  derselben  zum 
Dogmatismus  und  zum  Skepticismus  ist,  welche  ihrerseits  wieder  eine  doppel- 
sinnige ist:  theils  Anerkennung,  theils  Bekämpfung,  welche  beide  sich  syn- 
thetisch zur  Fortbildung  verbinden.  Der  Beweis  der  Gültigkeit  bricht 
dem  Skepticismus  die  Spitze  ab,  die  Erklärung  der  Gültigkeit  holt  ein 
Versäunmiss  der  Dogmatiker  nach:  und  wie,  beiläufig  bemerkt,  letztere  auf 
ein  Element  des  Empirismus  sich  stützt,  so  ist  jener  nicht  ohne  rationalisti- 
sche Annahme  geführt.  —  Ist  also  jene  Doppelbeziehung  Kant  selbst  nicht 
zu  vollem  Bewusstsein  gekommen  (obwohl  er  die  allgemeine  Vermittlung 
von  Dogmatismus  und  Skepticismus  mit  vollstem  Bewusstsein  verfolgte),  so 
erklärt  sich  daraus  auch,  dass  eben  an  vielen  Stellen  von  der  Erklärung 
des  Wamm  leise  und  unmerklich  zum  Beweise  des  Dass  übergegangen 
wird,  so  dass  es  der  Leser  oft  eben  so  wenig  deutlich  merkt,  als  es  von 
Kant  mit  Bewusstsein  beabsichtigt  ist.    Ja  man  kann  diesen  Wechsel ',  dieses 


»  Vgl.  oben  S.  320  Amn.,  321,  323.  Das  apodiktische  Datum  ist  (vgl.  oben 
S.  164)  ein  problematisches  Däbile  geworden. 

•  Sehr  gut  kann  man  denselben  an  den  oben  S.  317  f.  mitgetheilten  Stellen 
verfolgen^  wo  zuerst  nach  dem  ^Grund^  der  Gültigkeit  gefragt  und  dann  diese 
erst  „gesichert",  dann   aber  wieder  „eingesehen"  werden   soll.    Vgl.  femer  341 


Das  Schwanken  zwischen  Erklärung  und  Beweis  bei  Kant.         399 

Schwanken,  dieses  gegenseitige  Sich- Verdrängen  und  abwechselnde  Sich- Vor- 
drängen mit  den  bekannten  optischen  Wettstreitphänomenen  ver- 
gleichen —  eine  Vergleichung,  welche  auch  in  Bezug  auf  den  Streit  über  den 
Hauptzweck  der  Kritik  d.  r.  V.  ihren  eigenthümlichen  Werth  behauptet. 
Dieser  üebergang  lässt  sich  z.  B.  gut  bei  dem  Begriffe  der  Deduction 
verfolgen.  Nach  A  85  ist  die  Deduction  „die  Erklärung  der  Art,  wie  sich 
Begriffe  a  priori  auf  Qegenstände  beziehen '^j  nach  A  128  ist  ihre  , Leistung^, 
.»die  objective  Gültigkeit  der  reinen  Begriffe  a  priori  begreiflich  zu 
machen'*  (»um  dadurch  ihren  Ursprung  und  Wahrheit  festzusetzen''  — 
die  Erklärung  führt  den  Beweis  mit  sich!).  Dagegen  heisst  es  A  111: 
die  Kategorien  „haben  also  a  priori  objective  Gültigkeit:  welches  dasjenige 
war,  was  wir  eigentlich  wissen  wollten^;  damit  ist  also  der  Beweis  der 
Gültigkeit  die  „ eigentliche '^  „Leistung''  der  Deduction.  Dieser  unklare 
Wechsel  geht  durch  die  ganze  Deduction  von  vorne  bis  hinten: 
80  findet  sich  z.  B.  das  „Beweisen"  A  84,  „Darthun"  A  90.  186;  das  „Er- 
klären* A  87.  110  „begreiflich  machen"  A  89.  94.  Ebenso  in  der  zweiten 
Auflage:  nach  B  144.  151.  161.  162  handelt  es  sich  um  „Beweis",  nach 
B  145.  160.  163  um  „Erklärung"  eines  „Befremdlichen".  Diesem  Hinweis 
auf  das  antithetische  Problem  begegnen  wir  auch  bei  den  Grundsätzen; 
die  „befremdliche  Antecipation",  A  167,  in  der  wk  durch  Erkenntniss 
a  priori  „der  Erfahrung  vorgreifen",  wird  A  175  auch  als  etwas  „Auf- 
fallendes" und  „Bedenkenerregendes"  bezeichnet,  und  es  handelt  sich 
nach  A  150.  153  um  Erklärung,  dagegen  an  vielen  anderen  Stellen  148. 
158.  171  ff.  232  ff.  um  Beweis,  während  Beides  A  210  hinter  einander  sich 
findet,  wie  ja  auch  —  nur  in  umgekehrter  Folge  —  nach  A  56  die  „trans- 
scendentale"  Untersuchung  dahin  zielt,  zu  erkennen,  „dass  und  wie  gewisse 
Vorstellungen  .  .  .  a  priori  .  .  .  möglich  seien".  Und  in  der  „Metaphysik" 
S.  29  steht  unmittelbar  hintereinander:  „die  Erklärung  der  Möglichkeit 
der  reinen  Verstandesbegriffe  nennen  wir  die  Deduction"  ;  „die  Deduction  .  .  . 
ist  ein  Beweis  von  der  Gültigkeit  der  reinen  Verstandesbegriffe".  Getrennt 
treten  beide  auf,  jene  in  offenbarster  Weise  besonders  in  der  Vorr.  z.  d. 
Metaph.  Auf.  der  Naturw.  Bos.  V,  816  (^^Erklärmigsgriind^^  ^^der  befremd- 
lleken  Elnstlmmnng  der  ErsohelDungen  su  den  YerstandeBgesetsen^Of  ^^^^ 
in  der  Vorr.  z.  Kr.  d.  pr.  Vern.  XXV  O^Bewels  der  ITeberetnstimmaiig  mit 

dem  ObJect'O- 

Beide  methodologisch  verschiedene  Aufgaben  fasst  Kant  gerne,  z.  B.: 
A  96.  283.  733  u.  ö.  (vgl.  oben  S.  28  ff.  308.  315.  318;  auch  S.  54  Anm.  und 
S..  57)  in  dem  beliebten  Ausdruck  „Rechtfertigung"  zusammen,  so  dass  man 
ihm  mit  Paulsen  (Entw.  173)  in  dieser  Beziehung  allerdings  einen  „Doppel- 
sinn" vorwerfen  muss. 

4)  Es  erklärt  sich  nun  aus  diesem  Sachverhalt  das  auffallende  Schwanken 


bis  348  (351),  vgl.  auch  oben  S.  335  die  Stelle  aus  Cohen  —  Stellen,  in  welchen 
80  za  sagen  durch  eine  unmerkliche  Umdrehung  der  Coulissen  der  ganze  Anblick 
der  Bühne  total  verändert  wird. 


400  Excurs.     Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

und  die  verwirrende  Zweideutigkeit,  welche  in  der  Literatur  *  angetroffen 
wird:  die  einseitigen  Vorurtheile,  die  unvollständigen  Auffassungen  corrigiren 
und  ergänzen  sich  selbst  —  freilich  zum  Schaden  der  Klarheit  und  Conse- 
quenz;  es  sind  aber  auch  diese  Inconsequenzen  der  beste  Beweis  fiir  die 
Richtigkeit  der  obigen  Darstellung,  zugleich  aber  auch  dafür,  dass  der 
Kantische  Text  solche  Schwankungen  enthält,  die  sich  naturgemäss  bei  den  secun- 
dären  Schriftstellern  in  erhöhtem  Maasse  finden,  die  man  aber  bei  den  Letz- 
teren nur  entdecken  kann,  wenn  man  sie  bei  Kant  selbst  kennt.  So  geht 
zwar  Fischer,  dessen  grosse  und  unvergessliche  Verdienste  um  die  Kritik 
d.  r.  y.  durch  die  folgenden  Bemerkungen  nicht  im  geringsten  geschmälert 
werden  sollen,  davon  aus,  dass  Kant  nur  die  Erklärung  der  allgemein  an- 
erkannten Thatsache,  der  Gültigkeit  des  mathem.  und  naturwissenschaftlichen 
Erkennens  geben  wollte,  aber  im  Verlaufe  der  Darstellung  tritt  an  Stelle 
der  Erklärung  der  Beweis  dieser  Gültigkeit.  Dadurch  entsteht  ein  Schillern 
und  Schwanken  der  Darstellung,  das  zuerst  bei  einem  aufmerksameren  Leser 
geradezu  Schwindel  verursacht  —  bis  er  dem  Quiproquo  auf  die  Spur  kommt. 
Die  erstere  Darstellung  findet  sich  bei  Fischer,  III,  15  —  26.  30  ff.  269. 
281  ff.  298  ff.  810.  338  ff.»  350  ff.  354.  390.  432.  618.  Nach  diesen 
Stellen  steht  die  Sache  einfach  so,  dass  die  Gültigkeit  der  Mathematik  und 
reinen  Naturwissenschaft,  ihre  Natur  als  wahre,  echte,  bereciitigte,  anerkannte 
Erkenntniss  durchaus  unzweifelhaft  ist.  Es  handelt  sich  bloss  darum  —  aber 
darin  freilich  besteht  auch  das  von  Fischer  bes.  30  ff.  280  in  üebereinstim- 
mung  mit  der  obigen  Darstellung  (avb  1  u.  2)  mit  Recht  stark  betonte 
eigentliche,  ursprüngliche  „transscendentale  Hauptproblem*  —  dieses  unleug- 
bare und  auch  anerkannte  Factum,  das  zunächst  in  diesem  Sinne  Voraus- 
setzung ist  (281),  zu  erklären,  d.  h.  die  Bedingungen  aufzusuchen,  welche 
es  —  als  factisch  vorhandenes  —  möglich  machen.  Dieser  ersteren  Dar- 
stellung steht  aber  nun  .die  andere  schroff  gegenüber,  welche  sich  auf 
S.  288.  291.  301  ff.  406  ff.  findet.  Darnach  erheben  erst  Mathematik  und 
reine  Naturwissenschaft  Anspruch  auf  Gültigkeit  und  die  Kritik  entscheidet 
erst  über  ihre  Rechtmässigkeit.  — 

Man  fragt  billig,  wie  es  denn  nur  möglich  sei,  einen  derartigen  logi- 
schen Fehler  zu  begehen?  wie  möglich,  dass  der  Leser  ihn  nicht  sofort  be- 
merkt? wie  möglich,  dass  Fischers  Gegner  nur  die  erstere  Darstellung  bei 
ihm  fanden?  Es  war  das  nur  dadurch  möglich,  dass  beide  Darstellungen 
unmerklich  in  einander  übergehen,  einander  unhörbar  ablösen.  Und  dies  ist 
wieder  nur  möglich  durch  mehrere  Homonymien,   d.  h.  durch   den  Um- 


*  Ein  derartiges  Beispiel  ist  sehr  instructiv  und  es  verlohnt  sich,  ein  solche« 
im  Einzelnen  mit  den  betreffenden  Autoren  in  der  Hand  zu  verfolgen,  welcher 
unmaassgebliche  Vorschlag  dem  Leser  hiemit  gemacht  sein  möge,  damit  er  sehe, 
wodurch  die  in  der  Kantliteratur  so  unerschöpflichen  Missverständnisse  entstehen, 
und  welche  unsägliche  Mühe  es  kostet,  in  diesem  Chaos  Ordnung  zu  schaffen. 

'  Ueber  den  an  dieser  Stelle  mitspielenden  Streit  zwischen  Fischer  und 
Trendelenburg  s.  den  Commentar  zur  Aesthetlk. 


Das  Schwanken  zwischen  Erklärung  und  Beweis  bei  Fischer.       401 

stand,  dass  begrifflich  verschiedene  Vorstellungen  dieselbe  sprachliche  Uni- 
form tragen.  Diese  doppeldeutigen  Worte  vermitteln  jenen  leisen  Uebergang; 
sie  sind  gleichsam  die  Verbindungswege,  auf  welchen  der  Gedankenzug  von 
einem  auf  das  andere  Geleise  ohne  Geräusch  hinübergleitet.  Es  sind  das 
die  beiden  Begriffe:  ^Thatsache*  und  „erklären*;  dazu  kommt  noch  eine  Reihe 
anderer  die  Verwirrung  begünstigender  Begriffe.  Fischer  gebraucht  den  Aus- 
druck „Thatsache"  sehr  häufig:  aber  an  den  ersteren  Stellen  verbindet  er 
damit  naturgemäss  stets  die  Vorstellung  der  Gültigkeit:  es  ist  die  That-* 
Sache  der  Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft,  der  in 
ihnen  factisch  vorliegenden  Erkenntnisse,  welche  der  Erklärung  unter- 
worfen werden  soll;  so  S.  15  ff.,  80  ff.,  281  ff,  298  ff.,  310,  851,  432.  Der 
Gegensatz  oder  die  Ergänzung  zur  „Thatsache"  ist  hier  beständig  „Erklärung*; 
das  „Thatsächliche*  ist  vielleicht  auch  „unerklärlich*  (S.  31)  u.  s.  w.  Den 
Uebergang  von  dieser  ersten  Bedeutung  macht  nun  Fischer  hauptsächlich 
S.  300  ff.:  „Thatsache*  erhält  da  ganz  unmerklich  ejne  viel  weniger  weit- 
tragende Bedeutung;  es  ist  nicht  mehr  die  objective  Gültigkeit,  sondern 
bloss  das  psychologische  Vorkommen  synthetischer  Urtheile  a  priori,  das 
jetzt  „Thatsache*  genannt  wird  ^  Dasselbe  findet  sich  noch  287  f.,  291, 
303  f.,  350,  433  f.,  454;  da  nun  „Thatsache*  jetzt  viel  weniger  in  sich 
schliesst,  verräth  der  Autor  diesen  Wechsel  dadurch,  dass  er  jetzt  vom 
„blossen  Factum*,  von  der  „nackten  Thatsache*  spricht  808.  304.  454.  Der 
Gegensatz  zu  „Thatsache*  ist  nicht  mehr  „Erklärung*,  sondern  (287  f.,  291, 
301,  303,  433  f.)  Entscheidung  der  Rechtmässigkeit  jener  „blossen*  d.  h. 
bloss  psychologischen,  nicht  schon  erkenntnisstheoretischen  Thatsache ;  Gegen- 
satz von  „thatsächlich*  oder  „factisch*  ist  „rechtmässig*  (304.  350).  Dieses 
Schwanken  hängt  nun  damit  zusammen,  dass  (ganz  nach  Analogie  unserer 
obigen  Darstellung)  doch  auch  die  Skeptiker  berücksichtigt  werden  müssen, 
30  f.  280,  vor  Allem  aber  damit,  dass  auch  die  synthetischen  Urtheile  a  priori 
■der  transscendenten  Metaphysik '  als  „thatsächliche*  eingeführt  werden  und 
«ine  Entscheidung  über  ihre  Rechtmässigkeit  herausfordern.  Dies  ist  auf 
S.  290  f.  295.  301  f.  433.  454  der  Fall.  Daraus  entstand  dann  jene  Dar- 
stellung, welche  Fischer  S.  302  ff.  309  gibt:  darnach  stellt  die  Kritik  die 
Alternative  zwischen  Mathematik  und  Physik  einerseits  und  Metaphysik 
andererseits;  alle  drei  Wissenschaften  sind  thatsächlich,  d.  h.  psychologische 
Thatsachen;  es  fragt  sich,  welche  dieser  thatsäch liehen  Wissenschaften  auch 


*  Dieses  Schwanken  bemerkte  zum  Theil  auch  schon  Volkelt,  Ks.  Erk.- 
Th.  S.  199  Anm.  Dieses  Schwanken  ist  nichts  als  die  Folge  desselben  Schwankens 
bei  Kant  selbst  im  Terminus  „Wirklichkeit**,  „wirklich"  B  20  ff.,  vgl.  oben  die 
fiteilen  8.  208  „Factum  der  Mathem."  „Gültigkeit"  357  und  bes.  S.  873  (über 
„subjective  Wirklichkeit")  u.  S.  374.  Aehnliche  Verwirrung  bei  Üeberweg,  Gesch. 
<i.  Phil.  5.  A.  III,  195,  auch  bei  Erdmann,  Ks.  PpoI.  Einl.  S.  28—30. 

'  An  einzelnen   Stellen   (vgl.  259.  269)  spielt   noch   die  Verwechslung  der 
{gültigen)  immanenten  und  (ungültigen)  transscendenten  „Metaphysik"  herein  — 
«ine  Gleichnamigkeit,  welche  viel  Unheil  angerichtet  hat  in  der  Kantliteratur. 
Yalhinger,  Eant-Gommentar.  26 


402  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

eine  rechtmässige  Existenz  führen,  d.  h.  eben,  welche  gültig  sind,  welche  nicht? 
Man  sieht  den  Widersprach  mit  der  früheren  Darstellung:  nach  der  ersteren 
Darstellung  steht  die  , Rechtmässigkeit **  der  Mathematik  und  reinen  Natur- 
wissenschaft gar  nicht  in  Frage,  ihre  Gültigkeit  ist  Thatsache  —  diese  Thatsache 
bedarf  der  Erklärung.  Der  späteren  Schilderung  (S.  302  ff.)  zufolge  wird  erst 
diese  Rechtmässigkeit  nicht  nur  bewiesen,  sondern  sogar  erst  entschieden,  es  ist 
ja  ein  negativer  Ausfall  dieser  Entscheidung  an  sich  nicht  unmöglich  ^ 
Dieses  Schwanken  drückt  sich  auch  aus  in  dem  fast  yerhängnissvoUen  Gebrauch 
des  juristischen  Bildes,  des  Processbildes :  nach  S.  283  ist  die  quaestio  facti 
eben  Feststellung  der  Thatsache  im  Sinne  der  Gültigkeit,  quaeatio  juris  ist 
(vgl.  oben  S.  162  Anm.)  der  „Nachweis,  kraft  welches  Rechtes  dieselbe  exi- 
stirt',  d.  h.  die  Frage:  »wie  ist  die  Thatsache  der  Erkenntniss  möglich?" 
Ganz  anders  (jedoch  theilweise  z.  B.  S.  291  schwankend)  nachher,  nach  jenem 
Wechsel  des  Begriffes  der  „Thatsache*:  S.  288.  291.  304  (354.  433  f.).  Da 
fragt  es  sich,  ob  jene  Wissenschaften  (es  ist,  wie  bemerkt,  die  Metaphysik 
hinzugetreten)  mit  Recht  existiren?  ob  sie  also  gültig  sind?  Auch  der  schon 
bei  Kant  als  zweideutig  stigmatisirte  Terminus  , Rechtfertigung*,  »Deduction" 
kehrt  hier  in  demselben  Schwanken  wieder*.  Dieses  Schwanken  wird  nun 
weiter  verdeckt  durch  eine  zweite  Haupthomonymie :  durch  den  Doppelsinn  des 
Ausdruckes  „erklären*.  Während  nämlich  an  allen  Stellen  des  ersten  Ge- 
dankenganges die  Erklärung  in  der  Entdeckung  der  causa  vera  et  realis  jener 
Gültigkeit,  also  ihrer  erkenntnisstheoretischen  Bedingungen  besteht, 
verlangt  auch  die  psychologische  Facticität  der  Metaphysik,  d.  h.  ihrer  synthe- 
tischen Ürtheile  ihre  Erklärung,  natürlich  hier  nur  ihre  psychologische  Er- 
klärung. Diese  Art  der  , Erklärung*  findet  man  auf  S.  302.  303.  304.  434. 
454  f.  Der  Uebergang  findet  eben  wieder  auf  S.  300  ff.  statt.  So  bedürfen 
allerdings  alle  drei  Wissenschaften'  der  „Erklärung*,  aber  in  einem  ganz 
anderen  Sinne,   denn  dort  wird  nach  dem  Grund  der  objectiven  Gültigkeit, 


^  Während  das  Schwanken  zwischen  Erklärung  und  Beweis  die  bei  Kant 
selbst  vorliegende  Doppelseitigkeit  widerspiegelt,  geht  Fischers  Darstellung  a.  a.  0. 
übrigens  in  seiner  Behauptung  jener  Alternative  weit  über  den  Sinn  Kants 
hinaus,  nnd  gibt  eine  zwar  ebenso  fein  aasgedachte,  als  wirklich  glänzend  durchge- 
führte, aber  unkantische  Schilderung:  Kant  hat  nirgends  zwischen  Mathematik 
und  Physik  einerseits  und  Metaphysik  andererseits  ein  Entweder  —  Oder  auf- 
gerichtet; die  Metaphysik  setzt  nicht  Bedingungen  voraus,  welche  Mathematik  nnd 
reine  Naturwissenschaft  unmöglich  machen  würden ;  die  Bedingungen  der  Mathe- 
matik und  reinen  Naturwissenschaften  erklären  noch  nicht  allein  die  metaphy- 
sischen Verirrungen  u.  s.  w.   Wie  Fischer,  auch  F.  Schultze,  Phil.  d.  Nat,  ü,  8  ff. 

'  Gelegentlich  findet  sich  der  Ausdruck  „begründen**,  der  ebenso  beides 
—  Erklärung  und  Beweis  —  bedeuten  kann,  das  Erstere  bei  der  Mathematik 
Fischer  315,  das  Zweite  bei  der  immanenten  Metaphysik  294  (vgl.  oben  S.  308 
Anm.  2,  S.  375-376).  Vgl.  ffischer,  V,  5  ff.,  Ac.  Reden  86  f.  Bei  Kant  selbst 
findet  sich  einmal  der  neutrale  Ausdruck  „die  Möglichkeit  erforschen"  A  65. 

'  Vgl.  die  ganz  unklare  Stelle  bei  Fischer  295,  womach  die  Aufgabe  der 
Kritik  in  der  „Erklärung  der  Metaphysik  überhaupt**  bestehen  soll«    Vgl.  ib.  269. 


Das  Schwanken  zwischen  Beweis  und  Erklärung  bei  Riehl.         403 

hier  nur  nach  dem  des  psychologischen  Vorhandenseins  gefragt;  nach  dem 
psychologischen  Grund  wird  übrigens  auch  bei  den  beiden  ersten  gefragt, 
wie  oben  S.  317*  323  erörtert  wurde  uiid  wie  auch  Fischer  S.  434  gelegent- 
lich erkennt.  Ausserdem  wird  bei  den  beiden  ersten  Wissenschaften  der 
Beweis  der  Gültigkeit,  bei  der  Metaphysik  der  Beweis  der  Ungültigkeit, 
d.  h.  die  Widerlegung  der  Gültigkeit  gefordert.  Somit  verlangen  Mathematik 
und  reine  Naturwissenschaft  in  erster  Linie  Erklärung  ihrer  Gültigkeit 
(dazu  noch  Erklärung  ihrer  psychologischen  Thatsächlichkeit)  und  dann  den 
Beweis  dieser  Gültigkeit  —  beide  heterogene  logische  Aufgaben  verwechselt 
Fischer.  Die  Metaphysik  verlangt  den  Beweis  ihrer  Ungültigkeit  und 
dazu  noch  die  Erklärung  ihrer  psychologischen  Thatsächlichkeit  -—  letztere 
beiden  Aufjgaben  unterscheidet  Fischer,  freilich  spät  genug  S.  434  u.  454. 
Bei  Riehl,  dem  Gegner  Fischers,  findet  sich  nun  aber  ganz  genau 
in  dieser  Beziehung  dieselbe  Inconsequenz  \  nur  dass  Biehl  umgekehrt  im 
Verlaufe  der  Darstellung  dem  Beweis  der  Gültigkeit  der  Mathematik  und 
reinen  Naturwissenschaft  deren  Erklärung  als  schon  gültiger  unterzu- 
schieben gezwungen  ist:  so  corrigirt  sich  der  Fehler  auch  hier  von  selbst, 
leider  auf  Kosten  der  Klarheit  durch  ein  Quiproquo.  Trotzdem  Biehls  Aus- 
fuhrungen über  Kants  Problem  und  Methode  eine  Fülle  der  feinsten  und 
fruchtbarsten  Gedanken  enthalten  (bes.  Kritic.  I,  5  fp.  166  ff.  202  ff.  274  ff. 
315  ff.,  vgl.  desselben  j^BegrifS  der  Philos."  S.  61  ff.),  herrscht  doch  auch 
hier  fast  dasselbe  Schwanken  wie  bei  Fischer.  Wie  oben  bemerkt,  will 
Kant  nach  Biehl  die  Gültigkeit  der  betreffenden  Wissenschaften  erst  beweisen. 
Demgemäss  sind  nach  S.  327.  330.  331.  332  die  synthetischen  Urtheile  a  priori 
in  Mathematik  und  reiner  Naturwissenschaft  bloss  psychologische  Facta,  ihre 
Grültigkeit  ist  noch  zu  „bezweifeln^.  Ganz  anders  S.  337.  371.  405:  ,Kant 
zweifelt  nicht  an  der  Sicherheit  der  Fundamente  der  positiven  Wissenschaft* ; 
wir  „setzen**  die  Uebereinstimmung  der  Verstandesgesetze  mit  der  Natur 
, voraus",  wir  „postuliren"  sie  u.  s.  w.  Eben  daher  wird  die  Gültigkeit  der 
Mathematik  u.  s.  w.  bald  bewiesen,  bald  bloss  erklärt.  Sie  wird  »be- 
wiesen*, „demonstrirt" ,  »gezeigt*,  nach  Vorr.  V,  S.  205.  311.  312.  325. 
330.  331.  332.  341.  342.  343.  352,  375.  405.  444.  Sie  wird  aber  .erklärt" 
nach  S.  61,   , eingesehen*  nach  S.  333,  es  handelt  sich  um  ihre  „Denkbar- 


^  Dieselbe  Unklarheit  findet  sich  häufig  in  der  Literatur,  besonders  der 
neueren:  wir  beschränken  uns  hier  auf  folgende  Hinweise  auf  wichtigere  Werke: 
Windelband,  Geöch.  d.  n.  Phil.  II,  52;  Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  49 ;  Erd- 
mann, Prol.  Einl.  8.  35.  36.  38.  90.  92.  96  (bald  „Nachweis",  bald  „Erklärung"). 
Bei  Paulsen,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  II,  484  ff.  ist  die  Gültigkeit  bald  das  ,j>ro' 
bandum'*  („demonstrandum**')^  bald  factisch  das  explicandum^  ebenso  Cohen,  Ks. 
Th.  d.  Erfahrung  S.  33.  206.  208  vgl.  mit  210,  212  ff.  232.  238  (unklar  90.  91. 
207) ;  übrigens  vermischt  man  meistens  die  beiden  unten  auh  5  auseinandergehal- 
tenen Arten  des  formellen  und  des  materiellen  Beweises.  Theilweise  richtig 
Stadler,  Erk.  10  ff.  28.  140  (76.  93).  Nur  scheinbar  ähnlich  Harms,  Phil. 
8.  Kant  174,  Volkelt,  Ks.  Erk.  217  (vgl.  unten  suh  12  Anm.  am  Ende).  Vgl.  die 
Literatur  oben  320-324. 


404  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

keit%  ihren  „Grund"  nach  S.  329.  337.  So  kommt  es,  dass  „Erklärung", 
, Begreif lichmachung*'  u.  s.  w.  einerseits,  und  „Beweis"  ruhig  neben-  resp. 
hintereinander  stehen  ohne  jede  weitere  methodologische  Aufklärung:  S.  170. 
288.  292.  303.  327.  339.  340.  371.  An  anderen  Stellen  finden  wir  jene 
schon  oben  gekennzeichneten  neutralen  Ausdrücke  der  „Begründung*,  der 
„Prüfung"  (315.  827.  337),  der  „Untersuchung",  „Frage  nach  der  Gültig- 
keit" u.  s.  w.  21.  63.  97  ff.  167.  304.  310.  311.  442;  oder  jene  „Recht- 
fertigung" 2.  327.  334.  372,  „Deduction"  372.  388  u.  s.  w. 

*  5)  Es  war  nothwendig,  diesen  Weichselzopf  von  Missverständnissen  und 
Homonymien  (bei  Kant  selbst,  wie  in  der  secundären  Literatur)  zu  entwirren, 
um  den  eigentlichen  Sinn  der  „Hauptfrage"  zu  eruiren,  oder  vielmehr  um 
die  verschiedenen  Aufgaben,  welche  in  jener  neutralen,  indifferenten 
und  darum  so  vieldeutigen  Formel  liegen  (Wie  sind  synth.  Urtheile  a  priori 
möglich?)  analytisch  zu  zerfasern.  Und  doch  wurde  bisher  absichtlich  der 
durchsichtigeren  und  einfacheren  Darstellung  halber  von  einer  weiteren  min- 
destens ebenso  wichtigen  Seite  der  Frage  abstrahirt,  wenn  sie  auch  hin  und 
wieder  bisher  leise  sich  vorschob,  eine  Frage,  ohne  deren  Berücksichti- 
gung das  bisherige  ganz  einseitig  und  unvollständig  wäre,  welche  aber  in 
der  oben  angeführten  Literatur  fast  durchaus  mit  den  bisherigen  Fragen  ver- 
mischt ist  \  Wenn  wir  die  oben  S.  289.  290.  291  (vgl.  819)  angeführten 
Stellen  aus  Kant  betrachten,  so  erkennen  wir,  dass  Kant  noch  ganz  andere 
Tendenzen  hat  als  die  bisher  aufgedeckten:  er  will  Sätze  wie  das  Causali- 
tätsgesetz,  welche  die  bisherige  Metaphysik  gar  nicht  oder  unzureichend  be- 
wies, auf  neue  Art  beweisen.  Es  handelt  sich  also  jetzt  nicht  mehr  wie 
vorhin  darum,  die  Gültigkeit  einer  ganzen  Wissenschaft  en  bloc  (formell) 
zu  beweisen,  sondern  (wiewohl  auch  diese  beiden  Aufgaben  bei  K.  nicht 
selten  vermischt  werden)  darum,  eine  Reihe  einzelner  Sätze  inhaltlich  zu 
demonstriren,  und  hiebei  kommt  es  Kant  nicht  bloss  darauf  an,  überhaupt 
diese  Sätze  zu  beweisen,  sondern  er  betont  auch,  dass  seine  Beweisart  eine 
neue  sei,  d.  h.  er  legt  einen  hohen  Werth  auf  die  Neuheit  seiner  Methode 
und  damit  wendet  er  sich  wiederum  gegen  die  Dogmatiker  und  ihre  bis- 
herige Beweisart.  Dies  ist  die  neue  „transscendentale"  Methode  des  Be- 
weises der  Sätze  der  (immanenten)  Metaphysik:  man  vgl.  oben  S.  6.  8. 
26  f.  33  f.  34  (Anm.  1);  bes.  44.  69.  119.  155  und  noch  376.  Es  ist  dies 
also  die  neue  Methode,  welche  Kant  überall  in  seinen  früheren  Schriften 
gesucht  hatte,  deren  Entdeckung  zur  Neubegründung  der  immanenten  Meta- 
physik führte:  Die  Hauptfrage  wird  jetzt  zum  methodologischen  Problem« 


^  Diese  Seite  des  Kantischen  Unternehmens  ist  sogar  oft  gänzlich  ignorirt, 
z.  B.  bei  Beneke.  In  der  interessanten  Stelle  über  Kants  „kritische  Methode^ 
Logik  11,  166  fehlt  sonderbarerweise  gerade  die  reelle  Synthese^  während  lo- 
gische Analyse,  logische  Synthese  und  reelle  Analyse  erwähnt  sind.  Vgl.  ob.  122. 
Katurgemäss  tritt  dieses  methodologische  Problem  erst  in  der  sog.  Analytik  der 
Grundsätze  klar  hervor,  während  die  beiden  bisher  besprochenen  Aufgaben  —  Er- 
kläning  und  Beweis  der  Gültigkeit  —  mehr  die  Aesthetik  und  die  Analytik  der 
Begriffe  beherrschen. 


Kant  will  Erkenntniss  a  priori  erwerben.  ^  405 

In  der  Kritik  tritt  diese  Seite  ausser  im  Abscbn.  VII  der  Einleitung  und  in 
der  Vorrede  B  noch  oft  deutlich  hervor  z.  B.  bes.  A  216  ff.,  wozu  man 
Proleg.  §  26  vergleiche.  Von  hier  aus  betrachtet  erhält  die  Frage  nach  der 
Möglichkeit  synthetischer  Sätze  a  priori  einen  anders  gefärbten  Sinn.  Es  ist 
nicht  die  Cabinetsfrage,  „ob  sie  überhaupt  gültig  sind";  und  der  Beweis 
(probatio),  da'ss  sie  es  sind;  es  ist  nicht  (wie  auch  bei  der  Mathematik)  die 
allgemeine  und  rein  formelle  Frage:  „warum  sind  die  Gültigen  gültig?" 
Sondern  es  handelt  sich  (hier  jetzt  mit  Ausschluss  der  Mathematik)  um  den 
speciellen  und  materialen  Beweis  (demonstratio)  der  Sätze  selbst.  Auf  das- 
selbe Ziel  läuft  eine  scheinbar  sehr  verschiedene  Gedankenreihe  hinaus:  Für 
Kant  war  (vgl.  Prol.  §  1.  2  und  besonders  oben  S.  289  Anm.)  das  syn- 
thetische ürtheil  a  priori  das  Ideal  der  Erkenntniss.  Und  er  fragt:  Wie 
lässt  sich  (trotz  der  Leugnung  dieser  Möglichkeit  durch  die  Skeptiker,  gegen 
welche  Kant  wieder  hiemit  sich  wendet)  dieses  Ideal  „realisiren"  ?  *  Wie  kann 
ich  solche  gewünschten  synthet.  Urtheile  a  priori  (natürlich  gültige)  be- 
kommen? Mag  man  nun  von  diesem  Idealbegriff  der  Erkenntniss  aus- 
gehen und  nach  dessen  Verwirklichung  fragen,  oder  mag  man  von  wirk- 
lichen, als  synthetisch  a  priori  erkannten  Sätzen  ausgehen  und,  das  Ideal 
einer  neuen  Beweisart  im  Auge,  den  materialen  und  speciellen  Beweis  für 
solche  suchen  und  damit  auch  die  allgemeine  Methode,  um  überhaupt  gültige 
synthetische  Urtheile  a  priori  aufzustellen  —  in  beiden  Fällen  erhält  nun 
jene  Frage  folgenden  Sinn :  was  muss  ich  thun,  um  synthetische  Urtheile 
a  priori  zu  erhalten  und  sie  beweisen  zu  können?  Welcher  Weg  '  führt  zu 
diesem  gewünschten  Ziele?  also  nicht  mehr  wie  oben:  wie  kam  ich  dazu, 
apriorische  Urtheile  fällen  zu  können?  sondern:  wie  werde  ich  dazu 
kommen?  Die  „Möglichkeit",  nach  welcher  in  jener  neutralen  Haupt- 
frage gefragt  wird,  hat  somit  zwei  ganz  verschiedene  Bedeutungen:  soweit 
nach  der  „Möglichkeit"  der  in  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft 
gegebenen  synthetischen  Erkenntniss  a  priori  gefragt  wird,  ist  Möglich- 
keit =  Bedingungen  des  vorgefundenen  Wirklichen;  im  anderen 
Falle,  wo  nach  der  Möglichkeit,  solche  Erkenntnisse  erst  zu  erhalten, 
gefragt  wird,  ist  Möglichkeit  =  Bedingungen  der  Verwirklichung 
des  Gesuchten.  Dort  frage  ich  nach  den  rückwärts  liegenden  Bedingungen 
=  X,  welche  mir  erklären,  wie  und  dass  ein  vorhandenes  A  möglich 
geworden  ist.     Hier  frage  ich  nach   den  Bedingungen  =  X,   welche   es 


*  Vgl.  die  treffende  Darstellung  Windelbands,  Gesch.  11,  50. 

'  Hieher  gehören  jene  Formulimngen  des  Kantiscben  Problems,  welche  wir 
z,  B.  auch  gelegentlich  bei  Fischer  ni,  269  treffen:  „Wie  ist  wahres  Erkennen 
möglich?"  u.  S.  254:  Die  Kr.  d.  r.  V.  sei  das  „Organon"  zur  wahren  Erkenntniss. 
Eben  dahin  gehören  alle  Stellen,  wo  Kant  sein  Werk  selbst  so  nennt,  vgl.  zu 
A  11  ff.  n.  A  82,  Stellen,  in  denen  diese  Seite  der  Kritik  —  die  Methode  der 
Erwerbung  apriorischer  Erkenntniss  —  aufs  stärkste  betont  ist.  Vgl. 
auch  Fischer  IV,  359  u.  ö.,  womach  die  Naturwissenschaft,  das  neue  System  der- 
selben erst  aufgefunden  und  „dargethan"  werden  soll,  und  Stadler,  Erk.  48.  82, 
womach  es  „gewonnen"  werden  soll. 


406  «       Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

mir  in  Zukunft  ermöglichen  sollen^  ein  gewünschtes  A  erst  zu  verwirklichen, 
d.  h.  welche  ich  vorher  erfüllen  muss,  damit  das  gewünschte  A  wirklich 
werden  kann.  Diese  beiden  logisch  heterogenen  Fragen  lassen  sich 
sprachlich  ganz  gleichlautend  durch  die  gemeinsame  Formel  ausdrücken: 
Wie  ist  A  möglich?  Erst  die  bestimmtere  Auslegung*  determinirt  den 
Sinn.  Diese  Zweideutigkeit'  der  Möglichkeitsfrage,  welche  die  bisherige 
Logik  übersah,  ist  nun  in  der  Eantischen  Möglichkeitsfrage  da.  Diese  Zwei- 
deutigkeit hat  den  Sinn  vieler  Stellen  bei  Kant  selbst  und  bei  secundären 
Schriftstellern  schwankend,  unklar  und  verschwommen  gemacht  und  die  all- 
gemeine babylonische  Sprachverwirrung  in  der  Kantliteratur  um  ein  gut 
Theil  vermehrt.  Zu  jenem  Gegensatz  der  Frage  nach  der  Wie-  und  Ob- 
Möglichkeit  tritt  hier  somit  ein  zweiter  Gegensatz,  für  den  wir,  Mangels 
einer  besseren  Bezeichnung,  etwa  die  Termini  Real-  und  Ideal-Möglich- 
keit gebrauchen  können  (in  dem  oben  genau  definirten  Sinne).  Es  besteht 
hier  nur  der  Unterschied,  dass  der  erstere  Gegensatz  auch  grammatisch  unter^ 
schieden  wird:  Wie  ist  A  möglich?  und  Ist  A  möglich?  (indirect:  ob  A 
möglich  sei?)'.  Der  zweite  Gegensatz  dagegen  hat  den  Fehler,  dass  beide 
Fälle  grammatisch  bei  kürzester  Formulirung  identisch  sind,  auch  wenn 
man  die  „Möglichkeit''  durch  Umschreibungen  mit  „können"  umgehen  wollte. 
Die  Verwirrung*  bei  Kant    wurde  nun  durch  jene  schon  mehrfach 


^  Eine  jedoch  nicht  zwingende  grammatische  Differenz  bestünde  darin,  dass 
nur  im  ersten  Falle  der  Artikel  gebraucht  würde:  Wie  sind  die  eynth.  ürth. 
a  priori  möglich?  Im  zweiten  fragt  man  dagegen:  Wie  sind  83'nthetische  ürth. 
a  priori  möglich?     (Vgl.  Fischer  281.) 

'  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet  ist  es  somit  kein  '„Gewinn", 
und  das  Gegentheil  einer  „Erleichterung^,  dass  Kant  „eine  Menge  von  Unter- 
suchungen^ (B  19)  unter  jene  „einzige"  Hauptformel  fasste^  welche  überdies  die 
0 b -Möglichkeit  nicht  einschliesst.  Eine  grammatisch  amphibolische  Formel 
(bei  welcher  ohnedies  noch  so  viele  andere  Unklarheiten  mitspielen)  ist  doch  nicht 
der  richtige  Ausdruck  logischer  Allgemeinheit,  welcher  im  Gegentheil  eine 
grammatisch  scharfe  Formel  zum  Ausdruck  verhelfen  sollte,  statt  einer  verschwom- 
menen, bei  welcher  die  nachher  aufgezählten  Detail  fragen  nicht  mehr  bloss  Spe- 
cies  jener  generellen  Frage  sind.  Insofern  entspricht  die  Zusammenziehung  der 
vielen  Fragen  in  Eine  eigentlich  dem  bekannten  Sophisma  napa  Ta  icXtio»  ^po>- 
TY^jjiaxa  iv  icoulv  (Arist,  Soph,  El.  Cap.  V).  Man  sieht  auch,  dass  der  ganze  und 
volle  Sinn  der  Frage  erst  durch  die  oben  vorgenommene  neue  Analyse  der 
Antwort  sich  zutreffend  entwickeln  lässt. 

'  Bei  Kant  ist  freilich,  wie  oben  mehrfach  gezeigt,  die  Ob-Frage  (bei  der 
transscendenten  Metaphysik)  auch  unter  jener  neutralen  Hauptfrage  mit  eio- 
begriffen. 

*  Schon  theilweise  in  den  oben  S.  391,  393  angeführten  Stellen  spielt  diese 
Verwirrung  herein,  welche  am  stärksten  in  der  Vorrede  B  zum  Vorschein  kommt, 
wo  zwischen  Erklärung  und  Neubegründung  (im  obigen  Sinne)  beständig 
gewechselt  wird.  Die  letztere  Seite  tritt  besonders  da  herein,  wo  die  Metaphysik 
mit  der  Mathematik  und  Physik  in  der  Absicht  zusammengestellt  wird,  um  ihr 
denselben   Weg,  dieselbe  Methode  wie  diesen  Disciplinen  anzuweisen,  damit 


Apriorische  Erkenntniss  als  methodologisches  Problem.  407 

gerügten  Verwechslnngen  in  den  Begriffen  ^reine  Naturwissenschaft'  und 
,  Metaphysik*  begünstigt  und  zu  einer  hohen  Vollendung  gebracht.  Wie 
nachgewiesen,  versteht  Kant  unter  „reiner  Naturwissenschaft*  bald  die  Me- 
taphysik der  äusseren  Natur,  bald  die  allgemeine  Metaphysik  der  Natur 
(=  immanente  Metaphysik).  Wie  sich  nun  in  Prol.  §  15  ff.  genau  ver- 
folgen lässt,  fragt  er  im  Hinblick  auf  die  Erstere  nach  deren  Real-Möglich- 
keit;  im  Hinblick  auf  die  Letztere  schiebt  sich  jener  Frage  aber  bald  die 
nach  der  Ideal-Möglichkeit  unter,  d.  h.  dort  fragt  er:  Warum  kann  ich 
solche  Urtheile  fällen?  Hier  aber:  Auf  welchem  Wege  kann  ich  synthe- 
tische Urtheile  a  priori  darthun,  beweisen,  erreichen?  Dazu  kommt  aber 
die  zweite  Verwirrung  gleichsam  eine  Tonlage  hCher.  Im  Verhältniss  zur 
gegebenen  speciellen,  äusseren  Naturphilosophie  ist  reine  Naturwissenschaft 
als  immanente  Metaphysik  das  Gesuchte:  aber  an  den  oben  S.  895  Anm.  an- 
gegebenen Stellen  ist  die  gegebene  „reine  Naturwissenschaft*,  welche  Er- 
klärung verlangt,  eben  die  immanente  Metaphysik;  und  dann  wird  nach 
deren  Beal-MOglichkeit  gefragt;  und  die  transscendente  Metaphysik  ist  es  dann, 
deren  Ideal- Möglichkeit  discutirt  (und  geleugnet)  wird.  Hierin  offenbart 
sich  weiter  nun  eben  wieder  jenes  oben  S.  376.  390  dargelegte  und  besonders 
in  den  beiden  Vorreden  herrschende  Schwanken  Kants  in  Bezug  auf  die  im- 
manente Metaphysik ;  sie  ist  ihm  bald  etwas  Gegebenes ,  bald  etwas  zu 
Gründendes  oder  wenigstens  neu  zu  Begründendes ;  im  ersteren  Falle  stellt  er 
die  Frage  nach  ihrer  Real-,  im  zweiten  nach  ihrer  Ideal-Möglichkeit.  An 
vielen  anderen  Stellen  (z.  B.  oben  S.  339,  368  und  bes.  Proleg.  K.  146.  147, 
Or.  213 — 215)  wird  endlich  bei  der  immanenten  Metaphysik  auch  desshalb 
nach  ihrer  Ideal-Möglichkeit  gefragt,  weil  Kant  dann  jenen  scharfen  Schnitt 
zwischen  immanenter  und  transscendenter  Metaphysik  nicht  macht,  der  von 
ihm  an  massgebenden  Stellen  ausgeführt  ist  —  weil  er  beides  auf  das  un- 
klarste vermischt  \ 

Wie  nun  oben  (stib  3)  der  Erklftrungsgrund  der  Gültigkeit  »zu- 
gleich*' deren  Beweis  mit  sich  brachte  —  das  principium  explicandi  diente 
zugleich  als  principium  probandi  —  so  wird  hier  jene  causa  vera,  welche 
die  Gültigkeit  erklärt,  zum  principium  demonstrandi  und  überhaupt  zum 
methodischen  Organ  der  Ideal-Möglichkeit  —  zum  principium  inveniendi. 
Derselbe  Grund,  welcher  jene  Gültigkeit  (insofern  sie  gegeben  ist)  erklärt 
und    erklärend   bewies    (insofern  sie   bezweifelt  ist)  —  es  ist  das  grosse 

auch  sie  WisscHSchaft  werden  kann.  Es  bleibt  der  Detailerklärung  vorbehalten, 
dieses  beständige  Schaukeln  zwischen  der  Methode,  die  Möglichkeit  verlangter 
Erkenntniss  zu  finden,  und  der  Erklärung  schon  vorhandener,  im  Einzelnen 
nachzuweisen.  Man  sieht,  wie  wenig  einfach  und  daher  wie  dunkel  (nicht 
bloss  grammatisch,  sondern  bes.  logisch !)  und  schwierig  Ks.  Argumentationen  sind. 
*  üeber  die  dadurch  bei  Kant  und  in  der  secundären  Literatur  entstandene 
horrible  Verwirrung  s.  oben  S.  371  ff..  Man  vergl.  ferner  z.  B.  noch  Harms,  Phil, 
s.  Kant  S.  160.  168.  183  f.  189.  190.  271  -  wo  eine  Verwirrung  in  dieser  Hin- 
sicht herrscht,  aus  welcher  kein  Mensch  klug  werden  kann.  Vgl.  ferner  Heb  er- 
weg,  Gesch.  d.  Philos.  5.  A.  III,  197  ff. 


408  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Princip  der  Möglichkeit  der  Erfahrung'  —  wird  jetzt  zum  Beweis- 
grund, zum  argumentum  der  einzelnen  (schon  bisher  bekannten)  Sätze  (z.  B. 
des  Causalitätsgesetzes)  und  fernerhin  zum  methodischen  Princip,  wie  wir 
die  gewünschten  übrigen  synthetischen  Erkenntnisse  a  priori  auffinden,  von 
unächten  unterscheiden ,  sowie  nach  ihrem  Gültigkeitsumfang  (in  der 
, Grenzbestimmung'')  auf  das  genaueste  abstechen  können.  Es  wird  also 
zum  positiven  Princip ',  zum  methodischen  Leitfaden  der  „neuen*  von 
Kant  gegründeten  (immanenten)  Metaphysik.  Endlich  dient  dasselbe  Princip 
auch  als  negativer  Entscheidungsgrund  —  sAs  principium  judicandi  —  in 
dem  „Process'' ,  in  der  Frage  nach  der  0  b- Möglichkeit  der  transscendenten 
Metaphysik,  während  für  die  Frage  nach  der  psychologischen  Möglichkeit  der 
Letzteren  weitere  positive  Ursachen  aufzufinden  sind  (vgl.  oben  S.  402  f.).  Die 
Unterscheidung  der  psychologischen  von  der  erkenntniss theoretischen 
Möglichkeit,  welche  Fischer  III,  434  als  »factische*  und  „juristische*  be- 
zeichnet—  eine  Unterscheidung,  welche  schon  oben  S.  317  gemacht  wurde  — 
tritt  als  dritte  hinzu  zu  den  beiden  bisherigen  Gegensätzen  der  Ob-  und 
•Wie- Möglichkeit,  der  Ideal-  und  Beal- Möglichkeit.  In  jener  scheinbar 
einfachen  und  doch  so  elastisch  geheimnissvollen, Frage  nach  der  „Möglich- 
keit* synthetischer  Urtheile  a  priori  sind  alle  diese  verschiedenen  „Mög- 
lichkeiten* unterschiedslos  vermischt:  — sie  enthält  somit  ein  absolutes 
(speciell  antithetisches),  ein  hypothetisches  und  ein  methodologisches 
Problem  —  und  in  der  Ausführung  der  Kritik  sind  jene  3  resp.  5  ver- 
schiedenen Begriflfsreihen,  die  wir  als  explicare,  probare,  demonstrare,  invenire^ 
judicare  bezeichnet  haben,  in  einem  einzigen  schwer  entwirrbaren  Argumen- 
tationskneuel  verknüpft. 

In  der  Literatur  ist  das  methodologische  Problem  verhältnissmässig  viel 
zu  wenig  hervorgetreten,  bis  Paulsen  (vgl.  oben  S.  67)  mit  anerkennens- 
werthester  Energie  diesen  Theil  der  Kantischen  Aufgabe  hervorhob,  die  Neu- 
begründung  der  immanenten  Metaphysik.     Und   gegenüber   gegentheiligen 


^  Dieses  Princip  ist  offenbar  das  wichtigste  jener  „fruchtbaren  Principien**^ 
deren  Kant  nach  dem  Brief  an  Herz  v.  1776  (vgl.  oben  S.  154)  „habhaft  ge- 
worden". Dass  es  immer  dasselbe  Princip  sei,  drückt  Kant  deutlich  ans 
(vgl.  schon  oben  S.  396  Anm.  3),  so  A  39:  die  Grenzbestimmimg  geschieht  eben 
dadurch;  A  219  „zugleich  Restriction" ;  A  762  (Grenzbestimmung  abhängig- 
von  Einsicht  in  die  Aechtheit);  Prol.  §  26:  „Man  muss  auf  den  Beweisgrund  Acht 
geben,  der  die  Möglichkeit  der  Erkenntniss  a  priori  entdeckt  und  alle  solche 
Grundsätze  zugleich  .  .  .  einschränkt."  Prol.  §  4:  Die  Erklärung  dessen,  was 
man  wusste,  werde  zugleich  einen  Umfang  vieler  (neuer)  Erkenntnisse  a  priori 
darstellen. 

'  Insofern  Kant  in  der  Kritik  nicht  bloss  dieses  Princip  im  Allgemeinen 

aufgestellt,  sondern  nach  ihm  auch  jene  Sätze  aufgefunden  und  bewiesen  hat,  ist 

!  die  Kritik  nicht  bloss  ein  „Tractat  von  der  Methode"  (Vorr.  B),  sondern  auch 

schon  das  System  der  durch  diese  Methode  gefundenen  Erkenntniss.  Vgl.  noch 
unten  zu  Einl.  Abschn.  VU.  Letzteres  betont  besonders  Dietrich,  Kant  und 
Newton  135.  256.  266,  aber  auch  Ersteres,  5.  10.  70.  73.  155  u.  ö. 


Mehrheit  der  Probleme  und  der  Resultate.  400 

9 

Auffassungen  machte  er  auch  mit  Recht  (Viert,  f.  wiss.  Phil.  II,  489)  darauf 
aufinerksam,  dass  schon  die  Art  der  Fragestellung  (wie  sind  .  .  .  möglich?) 
als  formell  passende  Antwort  verlange:  Erkenntnisse  aus  reiner  Vernunft 
sind  (darum)  insofern  möglich,  (weil)  als  —  diese  oder  jene  bestimmte  Be- 
dingung zutrifft.  Die  Frage  verlangt  eine  positive  Antwort.  Andererseits 
ist  es  zwar  unstreitig  unrichtig,  wenn  Erdmann  (Kritic.  184)  die  „wissen- 
schaftliche Neubegründung  der  Metaphysik''  als  einen  der  Kantischen  Haupt- 
zwecke leugnet;  es  ist  aber  auch  sehr  richtig,  dass  er  die  antidogmatische  Grenz- 
bestimmung betont.  Allerdings  erfordert  nämlich  jene  Fragestellung  zunächst 
eine  positive  Antwort;  indessen  ist  nachgewiesen,  dass  K.  in  jener  Frage- 
stellung nicht  nur  die  0  b-Möglichkeit  der  transscendenten  Erkenntniss  auch 
mit  einschliesst,  sondern  dass  auch  vermöge  jenes  schwankenden  Terminus 
, Metaphysik'  der  beständige  Wechsel  des  Fragesinnes  ermöglicht  wird. 
Und  wenn  Kant  (vgl.  oben  S.  389)  das  „Stehen  und  Fallen  der  Metaphysik" 
von  der  Beantwortung  seiner  Frage  abhängig  macht,  so  macht  jene  constante 
Amphibolie  es  ebensogut  möglich,  in  der  Antwort  das  „Stehen", 
als  das  „Fallen"  der  Metaphysik  zu  finden  —  das  „Stehen"  der  im- 
manenten, das  „Fallen"  der  transscendenten. 

Wie  leicht  K.  zwischen  beiden  wechselt,  beweist  besonders  die  schon 
mehrfach  angezogene  Stelle  aus  Proleg.  K.  146  f.,  Or.  212  ff.,  wo  er  den 
Dogmatikem  zuerst  entgegenruft:  Eure  bisherigen  Beweise  für  die  syn- 
thetischen Urtheile  a  priori  taugen  nichts ;  ich  habe  neue  stringente  Beweise 
—  um  zuletzt  zu  sagen:  synthetische  Urtheile  a  priori  in  der  Metaphysik 
sind  überhaupt  unmöglich. 

Betrachtet  man  letzteres  Resultat  unter  dem  oben  S.  66  ff.  einge- 
nommenen Standpunkt,  womach  Kants  Kriticismus  *  eine  gleichmässige  Ver- 
mittlung zwischen  Dogmatismus  und  Skepticismus  sei,  so  scheint  es,  als 
überwiege  hier  die  rationalistische  Seite  entschieden  über  das  skeptische 
Element  in  Kant:  nimmt  doch  jene  unter  den  oben  aufgezählten  fünf  Auf- 
gaben allein  für  sich  vier  in  Anspruch,  so  dass  für  das  letztere  nur  ein 
Fünftel  des  Gesammtgewichtes  übrig  bliebe.  Indessen  hat  die  Grenzbestim- 
mung für  sich,  obgleich  sie  dem  Volumen  nach  einen  so  geringen  Bang  ein- 
nimmt, doch  ein  so  grosses  specifisches  Gewicht,  dass  sie  den  ersteren  vier 
Aufgaben  die  Wage  hält.  Sie  ist,  um  ein  anderes  Bild  zu  gebrauchen, 
nicht  bloss  das  Salz  in  der  Speise,  sondern  ein  wesentlicher  Bestandtheil.  Wie 
wichtig  diese  Grenzbestimmung  sei,  folgt  ja  auch  aus  der  Entwicklungsge- 
schichte: denn  im  Jahre  1772  ff.  lernte  Kant  von  Hume  definitiv  die  Beschrän- 
kung auf  den  Erfahrungsumfang ,  zu  derselben  Zeit,  als  es  ihm  —  wohl 
ebenfalls  unter  Hume'schem  Einfluss  —  gelang,  allmälig  die  Lösung  des 
(antithetischen)  Correspondenzproblems  (Uebereinstimmung  der  Erfahrung 
mit  dem  Apriori)  anzufinden. 

Dies  Correspondenzproblem  war  das  eigentlich  „transscendentale"  Ur- 


*  Man  beachte  wohl^  dass  es  sich  hier  noch  immer  um  den  Kriticismus 
m  Ganzen  handelt^  nicht  etwa  bloss  um  die  Deduction. 


410  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

problem,  aus  dem  sich  die  übrigen  logisch  nnd  zeitlich'  entfalteten ;  letzteres 
nachzuweisen  ist  eine  Aufgabe  der  Entwicklungsgeschichte,  für  deren  dunkele 
Partien  zwischen  1770  u.  1781  durch  die  obige  Analyse  wohl  Aufschlüsse  zu 
entnehmen  sind,  üeber  den  besprochenen  Erweiterungen  des  ursprünglichen 
Grundrisses  darf  jedoch  ein  anderer,  gleichsam  ein  querer  Einbau  nicht 
ignorirt  werden:  die  Kreuzung  nämlich  jenes  Correspondenzproblems  mit 
dem  Unterschied  der  analytischen  und  synthetischen  Urtheile,  aus  welcher 
erst  die  vorhandene  Frageformel  entstanden  ist.  Wann  und  wie  auch  diese, 
schon  oben  274  ff.  288  ff.  329  ff.  berücksichtigte  Kreuzung  entstanden  sein 
mag  —  jedenfalls  wurde  das  Problem  dadurch  viel  complicirter.  Dies  hat 
Paulsen  (vgl.  oben  327  ff.)  scharüsinnig  erkannt;  er  glaubte  durch  Entfer- 
nung jener  Unterscheidung  eine  Vereinfachung  vornehmen  zu  können.  Aber 
die  von  ihm  gewollte  Beduction  ist,  wie  nachgewiesen,  unmöglich;  und  die 
Vereinfachung  ist  den  Ausführungen  der  Kritik  gegenüber  (bes.  in  Aesthetik 
und  Dialektik)  nicht  durchfuhtbar,  so  wünschenswerth  sie  wäre.  Was  schon 
aus  der  Geschichte  des  Hauptproblems  hervorgeht,  das  zeigt  auch  seine 
Analyse:  es  stecken  in  ihm  eben  zwei  Hauptfragen  (welche  beüe  sich  in 
angegebener  Weise  wieder  dreifach  verzweigen):  Erstens  das  Problem,  das 
aus  den  Abschnitten  I^III  entsteht:  worauf  gründet  sich  die  Gültigkeit  des 
Apriori?  Zweitens  das  Problem,  das  aus  IV,  V  resultirt:  wodurch  wird 
die  Synthesis  (das  Hinausgehen  a  priori)  möglich?  (A  9.  B.  16  vgl.  oben 
326  Anm.).  Das  Problem  der  Gültigkeit  des  Apriori  und  das  Problem 
der  Möglichkeit  der  Synthesis  (a  priori)  sind  im  Abschnitt  VI  zu  dem. 
Problem  verschmolzen:  Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori  möglich? 
Kant  wie  seine  Gommentatoren  schieben  aber  nicht  selten  das  eine  oder  das 
andere  Problem  einseitig  vor,  während  beide  in  Fragestellung  und  Ausfah- 
rung zu  einer  unauflöslichen,  freilich  unklar  verworrenen  Einheit  verquickt 
sind.  Die  logische  Analyse  muss  aber  (wie  die  organische  Chemie  ein  or- 
ganisches Product)  das  Hauptproblem  in  jene  beiden  Grundbestandtheile 
auflösen,  deren  Eines,  das  Problem  der  Synthesis,  vor  Kants  Auge  schon 
1763  aufleuchtete  (vgl.  oben  270  ff.),  während  das  andere,  das  Problem 
der  Correspondenz,  ihm  erst  1772  in  seiner  ganzen  Tiefe  aufgieng.  Für 
den  Unterschied  beider  Probleme  ist  es  sehr  bemerkenswerth,  dass  auch  auf 
das  Problem  der  Synthesis  jene  charakteristischen  Ausdrücke  angewendet 
werden,  die  wir  oben  bei  dem  Correspondenzproblem  fanden.  So  spricht 
Kant  A  7.  764,  Prol.  §  7  von  der  „Schwierigkeit",  „Bedenklichkeit*;  und  wenn 
er  A  9  nach  dem  X  fragt  „worauf  sich  der  Verstand  stützt,  wenn  er  ausser 
dem  Begriff  von  A  ein  demselben  fremdes  Prädicat  aufzufinden  glaubt, 
das  gleichwohl  damit  verknüpft  sei"  —  so  ist  offenbar  das  Problem  der 
Svnthesis  auch  als  ein  antithetisches  bezeichnet.  Nur  auf  dieses  Hinaas- 
gehen  an  sich  bezieht  sich  auch  das  „Räthsel",  das  Cohen  und  Apelt  290. 
291  (vgl.  325)  in  den  synthetischen  Urtheilen  a  priori  fanden.  Auf  jedes 
der  beiden  verschiedenen  Räthsel  für  sich  (deren  Unterschied  auch  S.  345  ff. 
betont  wurde)  wendet  K.  auch  jenen  bezeichnenden  Terminus  an,  worauf 
sich  der  Verstand  .stützen"  oder  „steifen"  könne  —  bei  den  apriorischen 


Das  Doppelräthsel  im  ^Hauptproblem^.    Zusammenfassung.  411 

ürtheilen  A  4.  47,  bei  den  synthetischen  häufig,  bes.  A  7  ff.  (vgl.  oben  291). 
So  waren  es  ursprünglich  zwei  ganz  verschiedene  Bftthsel,  die  Kant  „nicht 
einsehen"  konnte  (oben  274  Anm.),  die  er  sich  gerne  , deutlich,  begreiflich 
machen  lassen*  wollte,  und  welche  in  dem  „Geheimniss"  A  10  (vgl.  ob.  390) 
zusammengeflossen  sind  und  sich  durchkreuzen,  wie  in  jenen  seltsamen  in- 
einandergesteckten ,  durchwachsenen  Gebilden,  welche  man  Zwillings- 
crystalle  nennt. 

Erst  durch  diese  Analyse  ist  die  ebenso  berühmte,  als 
geheimnissvolle  Frage  nunmehr  vollständig  und  definitiv  ent« 
räthselt.  Sie  enthält  ein  System  von  Bedeutungen,  das  auf  Grund  der 
gegebenen  logischen  Entwicklung  sich  sogar  graphisch  darstellen  liesse. 

Man  sieht,  wie  nothwendig  es  ist,  überall  jene  drei  (auch  schon  von 
Erdmann,  Ks.  Prol.  Yorr.  67  untei*schi^denen)  Reihen  ins  Auge  zu  fassen: 
die  Entwicklungsgeschichte  Kants,  seine  allgemeine  Tendenz, 
und  den  speciellen  Gedankengang  der  kritischen  Schriften ;  nur  so  kann 
die  Interpretation  hoffen,  ein  treues,  unverfälschtes  Gesammtbild  der  Kan- 
tischen Philosophie  zu  geben. 

6)  In  Bezug  auf  die  bisher  discutirten  Streitfragen  haben  wir  somit 
(indem  wir  von  anderen  Fragen  und  von  der  Inconsequenz  der  hier  als 
Typen  genommenen  Combattanten  der  Einfachheit  halber  abstrahiren)  folgen- 
des Resultat.  Die  historisch -psychologische  Entwicklung  Kants  und  der 
logische  Zusammenhang  seiner  Darstellung  zeigt:  Fischer  hat  Recht,  wenn 
und  insoweit  er  die  Aufgabe  der  Erklärung  der  Gültigkeit  der  Mathematik 
u.  s,  w.  in  den  Vordergrund  stellt.  Da  es  aber  unrichtig  ist,  jenes  Pactum 
der  Gültigkeit  als  ein  absolut  unzweifelhaftes  hinzustellen,  was  es  bei  der 
Bekämpfung  durch  die  Skeptiker  ja  nicht  war,  so  ist  der  Ausschluss  des  B  e- 
weises  jener  Gültigkeit  ungerechtfertigt.  Daraus  folgt:  nach  der  ersten 
Seite  hin  sind  die  synthetischen  ürtheile  a  priori  in  Mathematik  u.  s.  w. 
far  Kant  schon  erkenntnisstheoretisch  gültig,  nach  der  zweiten  nur  erst 
psychologische  Thatsachen  (vgl.  oben  S.  323).  Die  andere  Partei  hat  Recht, 
jene  Ergänzung  zu  fordern,  hat  aber  wieder  darin  unrecht,  dass  sie  diese 
Aufgabe  des  Beweises  der  Gültigkeit  für  die  eigentliche  hält,  dass  sie  eben 
daher  meinte,  mit  deren  Voraussetzung  sei  „die  Kritik  eigentlich  schon  am 
Ende  angekommen'  —  denn  im  Gegentheil  besteht  die  ursprüngliche  Auf- 
gabe derselben  in  der  Erklärung  dieser  Gültigkeit;  sie  bleibt  es  auch 
dann,  wenn  diese  Grültigkeit  nicht  mehr  allgemein  anerkannte  Voraus- 
setzung sein  darf,  sondern  erst  bewiesen  werden  muss:  die  Erklärung  führt 
den  Beweis  mit  sich.  Wird  somit  die  erste  Ansicht  bestätigt,  ohne  dass 
dadurch  die  zweite  ausgeschlossen  wird  —  indem  diese  die  Ergänzung  für 
jene  bildet,  —  ist  somit  das  „Resultat*  hier  wirklich  eine  „Resultante",  so 
haben  endlich  beide  Theile  darin  Unrecht,  dass  bei  ihnen  die  dritte  oben 
nachgewiesene  Aufgabe  —  die  Entdeckung  einer  neuen  Methode  zur  Auf- 
findung wahrer  Erkenntniss  (resp.  die  Aufstellung  des  Systems  derselben)  — 
nicht  bloss  in  höchst  verwirrender  Weise  vermischt  wird  mit  den  obigen 
Aufgaben,  sondern  auch  ungebührlich  zurücktritt:  bei  Fischer  hinter  die 


412  Ezcurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Erklärung  —  bei  seinen  Gegnern  hinter  den  Beweis  der  Gültigkeit  der 
Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft. 


B.  Methode  der  Problemldsnng.  Der  bisher  durchschrittene  Aufgaben- 
kreis  enthält  alle  wesentlichen  Probleme,  in  deren  Lösung  Kants  Kriti- 
cismus  besteht  (vgl.  jedoch  noch  unten  sttb  18.  19.  21)  Es  ist  versucht  worden, 
mit  Hilfe  logischer  resp.  methodologischer  Kategorien  den  Problemkneuel 
zu  entwirren  und  die  sehr  heterogenen  logischen  Gedankenfäden  einzeln 
herauszuziehen,  ohne  jedoch  ihr  natürliches  Ineinandergreifen  zu  vernach- 
lässigen —  ein  Ineinandergreifen,  welches  bei  Kant  selbst  freilich  das  Gegen- 
theil  klarer  und  zielbewusster  Methode  war :  denn  bei  ihm  wird  aus  dem 
kunstreichen  polyphonen  Satz  ein  für  den  Anfänger  betäubendes  Stimmen- 
gewirre,  aus  dem  selbst  das  geschärftere  Ohr  nur  mit  Mühe  die  einzelnen 
Stimmen  heraushören  und  sie  zu  einem  leidlich  harmonischen  Ganzen  ver- 
binden kann. 

Nachdem  so  der  Materialgehalt  der  kritischen  Grundfrage  con- 
statirt  ist,  treten  wir  in  eine  neue  Untersuchung  ein,  welche  zunächst  die 
äussere  Form  betrifft,  wie  Kant  jenen  kritischen  Aufgabenkreis  in  Be- 
handlung nahm.  Wir  werden  aufs  Neue  mit  Unklarheiten  Kants  und  mit 
Missverständnissen  seiner  Ausleger  einen  schweren  Kampf  zu  führen  haben. 
Es  handelt  sich  um  den  Unterschied  der  Lösungsmethode  in  der  Kritik  d. 
r.  Y.  und  in  den  Prolegomena.  Constatiren  wir  zuerst  den  Sachverbalt  bei 
Kant  selbst,  um  dann  die  bisherigen  Darstellxmgen  zu  prüfen  und  auch 
diese  Controverse  der  Entscheidung  näher  zu  bringen. 

7)  Kant  selbst  hat  mehrfach  darauf  hingewiesen,  dass  die  E[ritik  nach 
synthetischer  Methode  angelegt  ist,  die  Prolegomena  dagegen  nach  ana- 
lytischer. (Vgl.  obenS.  136.  UO.  U3.  164.  226.  267.  273.  367.  372.  374. 
Proleg.  Vorr.  finis  und  §  4.  5.  Vgl.  die  Zusammenstellung  in  Phil.  Mon. 
XVI,  57  ff.)  Die  analytische  Methode  \ geht  von  dem  Gegebenen  aus 
und  geht  von  ihm  rückwärts  (daher  , regressive"  Methode)  zu  seinen  Be- 
dingungen: a  principiatis  ad  principia.  Die  synthetische  Methode  da- 
gegen weist  erst  diese  Bedingungen  selbständig  auf,  geht  von  ihnen  aus 
vorwärts  („  progressiv '')  zu  dem  aus  ihnen  Entstehenden  (a  principiis  ad 
principiata) ]  sie  construirt  so  das  Gegebene  aus  jenen  Bedingungen, 
während  im  ersten  Falle  umgekehrt  die  Bedingungen  aus  dem  Gegebenen 
heraus  .analysirt  werden.  In  der  analytischen  Darstellung  ist 
somit  das  Gegebene  als  Fuss-  und  Ausgangspunkt  der  Argu- 
mentation benützt.  Diese  allgemeinen  methodologischen  Kategorien  an- 
gewandt auf  den  vorliegenden  Fall  besagen :  In  den  Prolegomena  legt  Kant 
die  Gültigkeit  der  Mathematik  imd  reinen  Naturwissenschaft  als  unumstöss- 
liches,  unbezweifelbares  Factum '  zu  Grunde:  fussend  auf  dieser  Thatsache 


^  Dies  ist  die  Eine  Darstellung;  eine  andere  folgt  unten  suh  10. 

'  Es  handelt  sich   um   das  objective  Factum  der  nachweisbaren  Gültigkeit 


Synthetische  und  analytische  Problemlösung.  413 

analysirt  Kant  dieselbe,  um  in  ihr  selbst,  durch  sie  selbst,  „vermittelst  der 
That  selbst*  *  ihre  Bedingungen  zu  entdecken.  Diese  Bedingungen  sind  die 
Erklärungsgründe  (principia  easendi)  für  jenes  an  sich  unbegreifliche 
Factum,  während  dieses  selbst  der  Erkenntnissgrund  (prindpium  cogno- 
scendi)  für  jene  Erklärungsgründe  ist.  Es  ist  der  feste  Rahmen,  an  welchen 
das  ganze  Argumentationsgewebe  angeknüpft  wird.  —  Anders,  ja  entgegen- 
gesetzt die  Kritik.  Sie  constatirt  zuerst  das  Vorhandensein  und  das  Zu- 
sammenwirken der  Bedingungen,  welche  sie  ganz  selbständig,  ohne 
jenes  Pactum  irgendwie  innerhalb  ihrer  Argumentationskette  zu  berück- 
sichtigen, auffindet:  dann  zeigt  sie,  dass  aus  den  so  bestimmten  Be- 
dingungen jenes  Pactum  nicht  nur  vollständig  und  einzig  erklärt  werde, 
sondern  sogar  mit  Nothwendigkeit  in  jenen  Bedingungen  enthalten  sei  und 
aus  ihnen  folge;  mit  anderen  Worten:  jene  Bedingungen  sind  somit  hier 
sowohl  die  Erklärungsgründe  (principia  essendi  =  explicatio)  als  die 
Beweisgründe  (principia probandi)  für  jenes  Pactum.  Insofern  ist  das  syn- 
thetische Verfahren  vollständiger  und  wissenschaftlich  befriedigender  (Rieh  1 
339  ff.)  —  weil  eben  jenes  Factum,  auf  dem  die  Prolegomena  fassen,  kein 
ganz  unbezweifeltes  Pactum  ist,  sondern  an  den  Skeptikern  seine  energischen 
Bezweifler  hat. 

8)  Ziehen  wir  im  Hinblick  auf  das  obige  Resultat  auch  hierin  das 
Facit,  so  ergibt  sich  in  Bezug  auf  die  obschwebende  Controverse  Folgendes : 

Ist  die  synthetische  Darstellung  die  wissenschaftlichere  —  weil  sie 
auch  zugleich  den  Beweis  des  Pactums  liefert  —  so  haben  die  Gegner 
Fischers  wenigstens  darin  Recht,  dass  sie  bei  einer  auf  wissenschaftlichen 
Wei-th  Anspruch  machenden  Reproduction  des  Kantischen  Gedankeliganges 
auf  die  Befolgung  eben  der  synthetischen  Methode  dringen  *.  Wenn  somit 
Fischer  HI,  298  —  in  einer  sonst  glänzend  geschriebenen  Stelle  —  beide 
Methoden  als  gleichwerthig  hinstellt,  ist  er  in  diesem  Falle  wenigstens 
im  Irrthum:  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  eben  jenes  Factum  wegen 
seiner  Anzweifelung  durch  die  Skeptiker  einen  Beweis  verlangt.  Diesen 
Beweis  kann  jene  analytische  Methode  nicht  erstellen.  Für  eine  voll- 
ständige und  auf  Richtigkeit  Anspruch  machende  Darstellung  des  Kantischen 
Gedankenganges  darf  jene  Gültigkeit  nicht  den  Puss-  und  Ausgangs- 
punkt der  Argumentation  bilden,  sondern  muss  vielmehr  bewiesen 
werden  und  somit  ein  Bestandtheil  der  allgemeinen  Aufgabe  sein,  deren  erste 
und  eigentliche  Spitze   allerdings   auf  die  Erklärung  jener  Gültigkeit  ge- 


fiir  die  Gegenstände^  nicht  etwa  bloss  um  das  psychologische  Pactum 
des  Gefühls  oder  Bewusstseins  der  Evidenz. 

*  Proleg.  §  5  (finis), 

'  Eine  andere  Streitü-age  (vgl.  oben  226  Anm.  3)  ist,  ob  die  analytische 
Methode  Kants  eigenen  Entwicklungsgang  darstelle,  was  nach  Fischer  der  Fall 
ist,  nach  Riehl  dagegen  nicht.  Aus  den  suh  1  und  2  besprochenen  Gründen  scheint 
hier  Fischer  Recht  zu  haben:  Die  Kritik  stellt  S5'nthetisch  dar,  was  Kant  ana- 
lytisch gefunden  hat. 


414  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

richtet  ist.  —  Was  nun  freilich  Fischer  betrifft,  so  herrscht  bei  ihm  jene 
oben  8tib  4  aufgewiesene  Verwirrung,  durch  welche  seine  principiell  verfehlte 
Stellung  wieder  factisch  corrigirt  wird :  denn  vermittelst  jener  Homonymien 
der  „Thatsache*  u.  s.  w.  kommt  es  doch  darauf  hinaus,  dass  jene  Gültig- 
keit erst  zu  beweisen  ist  (bei  der  factischen  Ausführung  der  Aesthetik 
spielt  dann,  wie  Paulsen  174  richtig  bemerkt,  noch  Fischers  einseitige  [nicht 
falsche,  wie  P.  meint]  Ansicht  von  der  Mathematik  herein).  Wenn  wir  je- 
doch von  diesen  Inconsequenzen  Fischers  absehen,  so  ist  seine  ursprüngliche 
Anlage  allerdings  der  Typus  für  eine  Beihe  von  Darstellungen  geworden, 
welche  eben  darum  einseitig  und  irrig  sind  und  gegen  welche  die  oben  ge- 
nannten Oegner  Fischers  mit  Becht  ankämpfen,  wenn  auch  aus  dem  un- 
richtigen Grunde,  dass  ,mit  der  Voraussetzung  jener  Gültigkeit  die  Kritik 
an  ihrem  Ende  angekommen''  sei,  da  doch  im  Gegentheil  die  Thatsache 
dieser  Gültigkeit  das  eigentliche  ürproblem  der  Kritik  d.  r.  V.  ist.  Wer 
somit  die  Methode  der  Prolegomena  der  Darstellung  zu  Grunde  legt,  oder 
gar  —  was  sich  auch  findet  —  deren  Methode  in  die  Kritik  hineinlegt, 
resp.  in  ihr  finden  will,  verfehlt  Kants  Argumentation  vollständig.  In  der 
Kritik  (und  eben  damit  in  dem  originären  wissenschaftlichen  Text)  benützt 
Kant  nicht  die  thatsächliche  Gültigkeit  der  Mathematik  u.  s.  w.,  um  daraus 
deren  Bedingungen  (reine  Anschauungen,  reine  Apperception  u.  s.  w.,  vgl. 
oben  S.  817  Anm.)  zu  erschli essen,  sondern  jene  Bedingungen  werden 
selbständig  aufgestellt:  theils  durch  Analyse  des  Bewusstseins  gefanden, 
theils  als  Voraussetzungen  postulirt  (s.  unten  sub  12.  14).  Der  Beweis  jener 
Gültigkeit  springt  erst  am  Schluss  der  Argumentation  zugleich  mit  der 
Erklärung  als  Frucht  heraus,  nicht  aber  ist  jene  Gültigkeit  Mittel  der 
Argumentation,  Ausgangs-  oder  Fusspunkt  ^ 

Dies  hat  im  Wesentlichen  auch  Cantoni  schon  richtig  erkannt,  der 
auch  in  Bezug  auf  die  Wasfrage  der  richtigen  Entscheidung  nahe  war.  Er 
sagt  I,  180:  „Kant  riconosce  sin  dal  principio  la  validitä  detta  maUmatica 
e  della  fisica  pura,  e  solo  vuole  spie  garst  (explieare)  Vuna  e  Vdltra  dai  loro 
principj,  provando  anche  cosl  U  valore  obieUivo  di  questi,^  P.  148.  162. 
163.  165.  167  tritt  allerdings  das  „provare  che^  des  „vcUore  obiettivo^  ein- 
seitig in  den  Vordergrund.  Dagegen  macht  Cantoni  S.  168  ganz  richtig 
gegen  Biehl  geltend,  dass  die  „validitä  di  quelle  due  scteme"  für  Kant 
immer  ein  „fatto  incontestahüe^  war,  dass  die  eigentliche  Aufgabe  der  Kritik 
die  Erklärung  ihrer  Möglichkeit  ist;  dass  aber  Kant  „non  fonda  in  ultimo 
la  Solutions  trascendentale  sulla  validitä  della  mat.  e  della  fis.  pura,  ma  sufV 
esperiema  (den  Begriff  der  „Erfahrung*) ;  poichi  la  validitä  di  quelle  scieme 
h  pro V ata  della  validitä  di  questa.^  Jene  Gültigkeit  ist  also  selbst  nie 
Argumentationsmittel,  sondern  Ziel  der  Erklärung  und  des  Beweises. 

9)  Jetzt  erst,  auf  Grund  der  bisherigen  Eesultate,  lässt  sich  die  fernere 


^  Letzteres  behauptet  (um  auch  ein  Beispiel  aus  der  älteren  Literatur  hier 
aufzuführen)  irrthümlich  auch  Jenisch,  Entdeckungen  Kants  163.  171,  während 
er  das  Erstere  richtig  einsieht  (167)  170  ff.    Vgl.  ib.  247.  250.  254  ff. 


Die  Einldtang  B  ist  keine  analytische  Verschiebung.  415 

Streitfrage  beantworten,   wie   sich  die  I.  und  die  II.  Auflage  der  Kritik  in 
der  Einleitung  zu  einander  verhalten.    Es  behaupten  Göring,  Paulsen, 
Riehl,  Windelband/:  A  und  B  unterscheiden  sich  sehr  wesentlich,  indem  B 
durch  die  Einfügungen   aus  den   Prolegomena  im  Sinne   der    analytischen 
Methode  verändert  ist.    Diese  Ansicht  enthält  einen  thatsächlichen  und  einen 
methodologischen  Irrthum.     Erstens    haben    auch  in   A   die   synthetischen 
XJrtheile  a  priori  nicht  bloss  den  Werth  psychologischer  Gebilde,  nach  deren 
Gültigkeit  erst  gefragt  wird.     Die  Mathematik  ist  nach  A  4  ,im  alten  Be- 
sitze der  Zuverlässigkeit* ;  aber  nicht  bloss  sie  (nach  Erdmann,  Prol.  XXX, 
dag.  Eritic.  181),  sondern  nach  A  9  ist  auch  der  Causalitätssatz  eine  gültige 
Antecipation  der  Erfahrung ;  auch  ist  die  Hereinmischung  der  reinen  Natur- 
wissenschaft (im  höheren  Sinn)  trotz  Windelband,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  250 
nichts  Neues,  da  dieselbe  in  A  2,  3,  5,  6,  9  schon  potentiell  enthalten  war, 
so  dass  man  in  ihrer  terminologischen  Heraushebung  in  der  Einleit.  B  (denn 
im  späteren  Text  kommt  sie  auch  in  A  vor)  nur  eine  immanente  Klärung 
(fireilich  abgesehen  von  der  Verwirrung  o.  304),  also  eine  formelle  Verbesse- 
rong  sehen  kann,     und  dass  das  A  10   erwähnte   „Geheimniss''  der  synthe- 
tischen Urtheile  a  priori  identisch  ist  mit  dem  oben  besprochenen  antithetischen 
Problem,  wurde  schon  sub  2  bewiesen.   Somit  sind  die  Unterschiede  der  beiden 
Redactionen  hierin  rein  formeller  Natur.     Die  energische  Yorschiebung  der 
Gültigkeit  der  Mathematik  u.  s.  w.   ist  noch  keine   methodologische   Yer- 
schiebung,  wenn  auch  nach  Windelbands  (vgl.  Erdmann,  Proleg.  XXXII) 
richtiger  Bemerkung  „die  psychologische  Veranlassung  zu  der  ersteren  in  der 
2.  Aufl.  in  dem  Besultate  der  1.  Aufl.  liegen'  mag.   Neben  diesem  factischen 
Irrthum  über  diesen  bestverkannten  Abschnitt  liegt  aber  noch  ein  methodo- 
logisches Missverständniss  der  Obengenannten  vor,  das  sie  eben  dazu  brachte, 
jene  Behauptung  der  Gültigkeit  in  A  zu  verkennen,  und  die  unverkennbare 
Behauptung    derselben   in  B   als  eine  materielle  Aenderung   auf  die  Ein- 
schiebsel aus   den  analytisch  gehaltenen  Prolegomena  zurückzuführen    und 
.  somit   ,aus  dem  echten  Gedankengang  der  Kritik  wieder  hinauszuwerfen^. 
Diese  Constatirüng  der  Gültigkeit  (die  sich,  wie  gezeigt,  auch  in  A  findet) 
ist  doch  offenbar  nur  eine  vorläufige,  nicht  eine  definitive,  d.  h.  diese 
Gültigkeit  wird  als  Zielpunkt  der  Erklärung  (und  des  Beweises)  hingestellt, 
nicht  aber  als  Stützpunkt  der  Argumentation.     Diese  vorläufige  Behaup- 
tung der  Gültigkeit  verführte  die   Gegner  Fischers  und  der  Einleitung  B 
dazu,  in  letzterer  eine  analytische  Verschiebung  zu  sehen  und  überhaupt  die 
acweite  Auflage  dieser  analytischen  Wendung  zu  beschuldigen.  Allein  in  der 
eigentlichen  Untersuchung  der  Kritik,  auch  in  B,  dientdiese  Gültigkeit  nie- 
mals *  als  Argumentations mittel.     Es  liegt  hier  m.  a.  W.  die  Verwechslung 
der  allgemeinen  Problem  Stellung  mit  der  analytischen  Problem  1  ö  s  u  n  g  vor : 


*  Mit  Ausnahme  einer  einzigen  flüchtigen  Erwähnung  B  128,  welche  daher 
nicht  als  Gegeninstanz  zu  verwenden  ist,  wie  das  bei  Volkelt  S.  203  geschieht, 
und  bei  welcher  zudem  die  unten  sub  13  besprochene  Verwechslung  stattfindet. 
tJcbcr  A  24.  39.  47,  B  40  vgl.  den  Commentar  zur  Aesthetik. 


416  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

• 

Die  Einfuhrung  des  Problems  hat  nämlich  mit  der  analytischen  AusfÜhning 
der  Lösung  den  nur  äusserlichen  Umstand  gemein,  dass  beidemal  die 
Wirklichkeit  (hier:  die  Gültigkeit)  als  Factum  aufgestellt  wird,  aber  dort 
doch  nur  mit  der  allgemeinen  Forderung,  es  zu  erklären  (auf  irgend  welche 
Weise,  analytisch  oder  synthetisch),  hier  aber  eben  nach  Art  der  analytischen 
Methode  zugleich  als  Ausgangspunkt  der  Argumentation.  Dass  somit  in 
der  Einleitung  der  Kritik  jene  Gültigkeit  als  etwas  Unzweifelhaftes  hin- 
gestellt wird,  sollte  doch  nicht  dazu  verleiten  *,  darin  die  analytische  Me- 
thode zu  finden,  vgl.  oben  S.  367;  denn  dort  wird  diese  Gültigkeit 'eben  als 
das  zu  Erklärende  hingestellt:  dann  erst  handelt  es  sich  darum,  wie  diese 
Erklärung  geschehen  soll ,  analytisch  oder  synthetisch  ?  d.  h.  so,  dass  jene 
Gültigkeit  nun  als  Stützpunkt  benützt  wird  oder  erst  als  Zielpunkt  der 
deductiven  synthetischen  Darstellung  gilt '.  Gerade  in  dem  Umstand,  dass 
jene  Gültigkeit  in  A  und  B  als  fest  hingestellt  wird,  liegt  eine  Bestätigung 
unserer  oben  aus  ganz  anderen  Stellen  und  Gründen  erwiesenen  Behauptung, 
dass  diese  Gültigkeit  in  erster  Linie  für  Kant  als  etwas  zu  Erklärendes 
galt,  dass  ihr  Beweis  erst  in  zweiter  Linie  steht.  (Ganz  auf  dieselbe  Weise 
wird  auch  das  Problem  der  transscendentalen  Deduction  eingeleitet.)  Es  ist 
nach  dem  Gesagten  ganz  natürlich,  dass  Kritik  und  Prolegomena  dieselbe 
Einleitung  haben  und  haben  müssen,  dass  beidemal  die  Gültigkeit  als  fest 
angenommen  wird:  beide  Schriften  lösen  ja  dasselbe  Problem  (in  erster  Linie 
die  Erklärung  jener  Gültigkeit,  wie  Cohen  S.  207  richtig  bemerkt  *,  dann 
aber  auch  den  Beweis  und  —  last  not  leaat  —  die  neue  Methode),  sie  lösen 
es  aber  auf  entgegengesetztem  Wege ;  die  Trennung  ihres  bis  dahin  gemein- 
samen Weges,  die  Bifurcation,  findet  erst  da  statt,  wo  es  sich  darum  handelt, 


*  Auch  Volkelt,  Ks.  Erk.  196  f.  fasst  sogleich  jene  provisorische  Voraus- 
setzung als  Argumentationsmittel  und  Beweisgrund.  Vgl.  auch  das  Schwanken 
bei  Staudinger,  Viert,  f.  wissensch.  Philos.  V,  245.  251.  Derselbe  Irrthum  bei 
Ueberweg,  Gesch.  d.  Phil.  5.  A.  III,  255  Anm. 

*  Kant  selbst  äussert  sich  in  diesem  Sinne  Prol.  §  5  Anf.:  „es  sind  deren  genug 
und  zwar  mit  unstreitiger  Gewissheit  gegeben  und  da  die  Methode,  die  wir  jetzt 
befolgen,  analytisch  sein  soll,  so  werden- wir  davon  anfangen,  dass  dergleichen 
synthetische  Erkenntniss  wirklich  sei.^  Also  die  vorläufige  Behauptung  der 
„Wirklichkeit",  und  das  Ausgehen  von  ihr  in  der  Argumentation  sind  wohl 
zu  unterscheiden.  Die  analytische  Methode  besteht  (vgl.  ib.  §  4  fin,)  eben  darin, 
dass  sie  sich  auf  ein  „Factum  stützt".  (Vgl.  oben  S.  368.)  Jene  vorläufige  Be- 
hauptung der  These  ist  daher  auch  kein  „Mangel  an  Genauigkeit",  wie  Volkelt  195 
ungenau  meint. 

'  Auch  Erdmann,  Ks.  Proleg.  XXX  erkennt  dies  richtig,  unterschätzt  da- 
gegen den  methodologischen  Gegensatz  der  Kritik  und  der  Proleg.,  auch  XXXII, 
vgl.  Kritic.  186,  woselbst  auch  er  indess  meint,  die  Fragestellung  der  Prolego- 
mena sei  nur  für  ein  analytisches  Verfahren  berechnet;  sie  scheint  ihm  ib.  184 
überhaupt  kein  „adäquater  Ausdruck  der  thatsächlichen  Argumentationen  der  Kr. 
d.  r.  V."  zu  sein,  was  beides  zu  der  Ansieht  der  wesentlichen  Identität  der  Einl. 
A  und  B  nicht  recht  stimmt. 


Zwei  verschiedene  „analytische  Methoden''.  417 

via  jenes  gemeinsame  Problem  gelöst  werde:  analytisch  oder  synthetisch, 
and  erst  von  da  an  geht  die  eine  Schrift  rechts,  die  andere  links.  Aber 
Tor  der  Gabelung  liegt  noch  das  gemeinsame  Stück:  „Mathematik  und 
reine  Naturwissenschaft  sind  gültige  Wissenschaften  a  priori:  wodurch  er- 
klärt sich  das?"  *  Diese  methodologische  Verwechslung  der  Bolle,  welche 
die  Gültigkeit  in  der  Problemstellung  und  in  der  Problemlösung  spielt, 
steigert  sich  bei  Biehl,  Kritic.  339  zu  der  Identification  der  analytischen 
Methode  mit  der  Frage  nach  dem  Wie,  der  synthetischen  Methode  mit  der 
Frage  nach  dem  Ob.  Aber  die  Frage  nach  dem  Wie,  Warum  der  Gültig- 
keit kann  auch  synthetisch  beantwortet  werden,  und  das  geschieht  in 
der  Kritik.  Es  zeigt  sich  hier,  wie  die  materielle  Seite,  das  Was  der 
Eantischen  Untersuchung,  mit  der  formellen  Seite,  dem  Wie  der  Unter- 
suchung in  irriger  Weise  vermengt  wird  ':  wenn  der  Gegenstand  der  Unter- 
suchung auch  das  Wie  oder  Warum  einer  Thatsache  ist,  so  kann  diese 
Untersuchung  selbst  doch  mit  gänzlicher  Ignorirung  dieser  Thatsache  (wenn 
sie  auch  in  der  Einleitung  noch  so  sehr  als  sicher  aufgestellt  wird)  rein 
deduetiv  synthetisch  verfahren,  ein  Verfahren,  bei  dessen  richtiger  Hand- 
habung der  Beweis  jener  Thatsache  zusammt  ihrer  Erklärung  das  Besultat  ist. 


Hier  fügen  sich  nun  vor  dem  weiteren  Vordringen  zwei  Einschiebungen 
ein,  eine  sachliche  und  eine  literarische.  Was  die  Erstere  betrifft,  so 
knüpft  dieselbe  an  die  Anmerkung  1  oben  stib  7  S.  412  über  eine  andere 
Art  analytischer  Methode  an;  sie  bildet  zugleich,  wie  sich  ergeben  wird, 
eine  Parallele  zu  Nr.  5. 

10)  Kant  hat  noch  eine  andere,  ganz  verschiedene  Darstellung  des 
analytischen  Verfahrens.  Beide  Darstellungen  gehen  in  höchst  ver- 
wirrender Weise  durcheinander  und  sein  eigener  Gebrauch  ist  „in  einige 
Gefahr  der  Verwechselung  gerathen"  (Prol.  §  5  Anm.),  und  somit  keines- 
wegs „einfach*  (Erdmann,  Proleg.  Vorr.  I).  Er  verwechselt  nämlich,  wie 
das  die  Logik  bis  heute  fast  durchgängig  thut,  (man  vgl.  beispielshalber 
Drobisch,  Logik  §  139  mit  141)  zwei  ganz  verschiedene  analytische  Methoden, 
die  wir  als  die  mathematische  und  als  die  naturwissenschaftliche 
bezeichnen  können*.     Die  mathematische  Analysis  nimmt  das  Gesuchte 


*  Bei  der  Herübernahme  (der  Partien  aus  den  Prolegomena  in  die  Ein- 
leitung B  hat  daher  auch  Kant  vorsichtig  alle  jene  auf  die  analytische  Methode 
bezüglichen  Stellen  weggelassen,  während  er  natürlich  die  Behauptung  der  Wirk- 
lichkeit jener  Wissenschaften  beibehielt.  Eben  desshalb,  weil  das  Problem  dasselbe 
ist,  nur  die  Lösungsmethode  eine  andere,  durften  wir  oben  sub  2)  auch  die  Stellen 
ans  den  Prolegomena  herbeiziehen. 

'  Genauer  ausgedrückt  besteht  jene  Verwechslung  speciell  bei  Riehl  darin: 
er  parallelisirt  den  Gegensatz  des  absoluten  und  [hypothetischen  Problems  mit 
dem  Gegensatz  der  analytischen  und  synthetischen  Methode.  Zwischen  beiden 
Gegensatzpaaren  besteht  aber  keine  Coincidenz. 

•  In  jenem  Falle  wäre  Euclids  Methode,  in  diesem  die  Newton'sche  das 

Vftlhinger,  Kant-Commentar.  27 


418  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

hypothetisch  '  als  gegeben  an;  aus  dieser  Voraussetzung  sucht  man  dann 
die  Bedingungen  zu  eruiren,  welche  jenes  hypothetisch  Angenomnoiene  er^ 
möglichen  würden;  durch  successive  Fortsetzung  dieser  Operation  findet  man 
zuletzt  eine  bestimmte  Bedingung  (oder  einen  bestimmten  Bedingungs- 
complex),  welche  zu  jener  Ermöglichung  erforderlich  ist.  Lässt  sich  nun 
diese  Forderung  (oder  der  darin  ausgesprochene  Satz)  unabhängig  von 
jener  Kette  als  möglich  oder  als  erfüllt  (oder  als  gültig)  erweisen,  so  wird 
die  Argumentation  wieder  umgekehrt,  man  steigt  wieder  abwärts  und  das 
zuerst  nur  hypothetisch  als  gegeben  angenommene  Gesuchte  wird  nun 
als  wirklich  oder  möglich  erwiesen.  Anders  die  naturwissenschaftliche 
Analysis:  sie  geht  von  einem  assertorisch  Gegebenen  aus,  von  einer 
unzweifelhaften  Thatsache  und  sucht  deren  Bedingungen  (Erklärungsgründe) 
durch  successive  Zerfaserung  jener  Thatsache  zu  eruiren.  Ein  Beispiel  für 
die  mathematische  Analysis  ist  die  Aufgabe  (vgl.  Drobisch  a.  a.  0.  §  139): 
Wie  ist  es  möglich,  in  einem  gegebenen  Kreis  ein  Quadrat  zu  beschreiben? 
Man  nimmt  hypothetisch  an,  die  Aufgabe  sei  gelöst,  und  findet  durch 
„Analyse**  deren  Bedingungen:  zwei  auf  einander  senkrechte  Durchmesser 
eines  Kreises.  Diese  Bedingungen  sind  nun  als  möglich  resp.  wirklich  un- 
abhängig von  jener  Argumentation  vorhanden;  (ein  anderes  nicht  mathe- 
matisches Beispiel  s.  bei  Sigwart,  Logik  11,  243).  —  „Als  Muster  für  die  Ab- 
leitung der  Erklärungsgründe  einer  Erscheinung  durch  analytische  Methode 
[d.  h.  durch  die  naturwissenschaftliche  Analysis]  ist  Newtons  Be- 
gründung des  Gravitationsprincipes  anzusehen ;  die  Erscheinung  [die  asser- 
torische Thatsache]  ist  hier  die  Bewegung  der  Planeten"  u.  s.  w.  Drobisch, 
Logik  §  141.  Der  Unterschied  beider  Methoden  besteht  somit  darin,  dass 
der  Ausgangspunkt  derselben  beidemal  verschieden  ist:  das  Erstemal  ein 
hypothetisch  Angenommenes,  dessen  Wirklichkeit  und  Möglichkeit  aber 
noch  unsicher  ist;  das  Zweitemal  eine  assertorische,  gewisse  Thatsache, 
deren  Wirklichkeit  als  solche  unbestritten  ist.  Ist  der  Ausgangspunkt  so 
ein  i.verschiedener ,  so  ist  doch  von  da  an  die  Methode  —  die  analytische 
Zerfaserung  desselben  —  gemeinsam;  aber  es  bleibt  der  charakteristische 
Unterschied,  dass  das  Erstemal  der  Ausgangspunkt  eine  Voraussetzung 
(oTcod-esic),  das  Anderemal  eine  Thatsache  (äicXö»«;  ov)  ist.  Sodann  ist  nicht 
zu  verkennen,  dass  die  erstere  Methode  eher  zur  Lösung  von  Aufgaben, 
die  andere  eher  zur  Erklärung  von  Thatsachen  dient. 

Dieser,  bei  dem  Mangel  anderweitiger  Darstellung  hier  ausführlicher 
erörterte  Unterschied  zeigt  sich  nun  auch  an  den  Stellen,  an  welchen  Kant 
in  den  Prolegomena  über  seine  analytische  Methode  sich  äussert.  Die  meisten 
Stellen  betreffen    die   naturwissenschaftliche  Analysis,  welche  man  daher  bis 


Muster.     Zum  Letzteren  vgl.  unten  S.  432  sub  15).    Ein  Hinweis  auf  diesen  Unter- 
schied findet  sich  neuerdings  in  Wundts  Philos.  Studien  I,  92  ff.  96. 

*  So  wird  in  allen  Darstellungen  die  analytische  Methode  der  Alten  de- 
finirt.  Vgl.  z.  B.  Chasles^  Apergu  historique  sur  Vorigine  .  .  .  des  n\&hod€9  en 
giometrie  p.  5:  regarder  la  chose  cherchde  comme  si  die  ^it  donnie  etc. 


Verwechslung  beider  analytischen  Methoden  bei  Kant.  419 

jetzt  auch  allein  berücksichtigte;  so  §  4  finia,  (§  5  init.):  „die  Pr.  stützen 
sich  auf  etwas,  was  man  schon  als  zuverlässig  kennt,  von  da  man  mit 
Zutrauen  ausgehen  und  zu  den  Quellen  aufsteigen  kann,  die  man  noch 
nicht  kennt  und  deren  Entdeckung  .  .  .  das,  was  man  wusste,  erklären  .  .  . 
wird.*  „Es  trifft  sich  aber  glücklicher  Weise,  dass  .  .  .  wir  mit  Zuver- 
sicht sagen  können,  dass  gewisse  reine  synthetische  Erkenntnisse  a  priori 
wirklich  und  gegeben  seien**  u.  s.  w.;  „durchgängig  anerkannt**,  „unbe- 
stritten** vgl.  oben  sub  2  S.  392.  Dieser  Darstellung  entsprechen  auch  dann 
die  schon  S.  367  angeführten  weiteren  Stellen  der  Prol.;  in  letzteren  werden 
•dann  eben  dieErklärungsgrüpde  für  jenes  Factum  aufgestellt  und  damit 
zugleich  die  Bedingungen  für  die  noch  fraglichen  (resp.  unmöglichen)  syn- 
thetischen Erkenntnisse  a  priori  eruirt. 

Aber  andere  Stellen  lauten  anders.  So  heisst  es  §  5  Anm.  von  der 
analytischen  Methode:  „sie  bedeutet,  dass  man  von  dem,  was  gesucht 
wird,  als  ob  es  gegeben  sei,  ausgeht  und  zu  den  Bedingungen  auf- 
steigt, unter  denen  es  allein  möglich.**  Als  Beispiel  wird  „die  mathematische 
Analysis**  erwähnt.  Allein  demgemäss  müssten  Fragestellung,  Ausgangs- 
punkt und  Resultat  anders  sein.  Es  müsste  sich  erstens  um  eine  Aufgabe  ^ 
handeln,  welche  gelöst  werden  soll,  nicht  um  eine  Erklärung,  mithin  um 
Etwas,  dessen  Wirklichkeit  und  Möglichkeit  noch  unsicher  ist;  es  müsste 
zweitens  der  Ausgangspunkt  darin  bestehen,  dass  dieses  G-esuchte  hypo- 
thetisch als  wirklich  angenommen  wird;  es  müsste  drittens  als  Resultat 
sich  ergeben,  dass  dieses  Gesuchte  möglich  oder  wirklich  ist.  Das  ist  aber 
denn  doch  ein  total  verschiedener  Gedankengang  als  der  obige  —  und  doch 
ist  er  in  den  Text  der  Prolegomena  gleichsam  wie  ein  Korn  von  fremdem 
Metall  hie  und  da  hineingesprengt.  So  heisst  es  —  um  nur  die  deutlichste 
Stelle  anzuführen  —  am  Anfang  von  §  10:  „Diese  Voraussetzung  ist  schlechter- 
dings nothwendig,  wenn  synthetische  Sätze  a  priori  als  möglich  einge- 
räumt .  .  .  werden  soll(en).**  Die  Detailerörterung  der  vorhergehenden 
beiden  Paragraphen,  welche  im  Gommentar  zur  Aesthetik  gegeben  wird, 
•(besonders  in  Betreff  der  mehrfach  besprochenen  Verwechslung  der  reinen  und 


*  Diesen  Ausdruck  wiederholt  Kant  factisch  mit  Vorliebe  in  den  Prole- 
gomena und  in  der  Kritik.  Vgl.  oben  S.  314  f.  334.  „Aufgabe"  ist  hier  also  im  ma- 
Ihematischen  Sinn  zu  verstehen.  Prol.  K.  144.  Or.  200.  —  Besonders  kehrt  der 
Ausdruck  an  jenen  Stellen  wieder,  wo  Kant  sein  Verhältniss  zu  Hume  erörtert, 
so  B  19  (oben  S.  344),  so  Proleg.  Vorrede  (4mal),  so  Prol.  §  5;  dafür  steht  auch 
mehrfach  „Frage**  (Prol.  §  4.  §  5.  Fortschr.  R.  I,  495)  und  besonders  „Problem** 
(Prol.  Vorr.  §  30).  Sonst  findet  sich:  „Angriff",  „Aufforderung",  „Erinnerung", 
„Wink",  „Zweifel",  „Anfechtung",  „Schwierigkeit".  Nach  den  ersteren  Stellen 
(bes.  R.  I,  495)  hat  Hume  ganz  in  dem  oben  erörterten  Sinne  die  „Frage"  auf- 
gestellt, jedoch  negativ  beantwortet.  Andere  Stellen,  besonders  die  auf  den  Be- 
griff der  Causalität  bezüglichen,  haben  jedoch  einen  anderen  Sinn,  z.  B.  „Frage 
nach  dem  Ursprung"  des  Causalbegriffes.  Vgl.  oben  349.  Es  zeigt  sich  in  diesen 
Aeudserungen  über  das  Verhältniss  zu  Hume  wieder  das  gewohnte  und  hinläng- 
lich  gekennzeichnete,  unleidliche^  verworrene  und  verwirrende  Schwanken  Kants. 


420  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

angewandten  Mathematik)  würde  hier  yiel  zu  weit  fahren:  aber  so  viel  ist 
klar,  dass  diese  Stelle  jenem  andern  Gedankengang  angehört,  den  wir  als 
mathematische  Analysis  'bezeichnen.  Aus  dieser  Wendung  geht  ja  hervor, 
dass  die  Fragestellung  in  der  Aufgabe  bestehen  musste:  auf  welche  Weise 
werde  ich  die  von  mir  gewünschten,  gesuchten  synthetischen  Sätze  a  priori 
aufstellen  können?  Es  musste  dann  jene  hypothetische  Umwendung  ge- 
macht werden:  Ich  nehme  das  Gesuc&te  an,  als  ob  es  gegeben  wäre;  ich 
mache  diese  Voraussetzung.  Dann  werden  durch  Zerfaserung  die  Be- 
dingungen eruirt,  welche  dieses  hypothetische  Factum  möglich  machen  wür- 
den, die  „Voraussetzung",  welche  nothwendig  ist,  falls  solche  synthetische 
Sätze  a  priori  möglich  werden  sollen.  Daraufhin  muss  gezeigt  werden: 
diese  so  eruirte  Voraussetzung  ist,  wie  sich  ganz  unabhängig  davon  nach- 
weisen lässt,  Wirklich.  Daraus  folgt,  dass  jene  Aufgabe  nicht  chimärisch, 
sondern  lösbar  ist,  dass  ich  in  der  Lage  sein  werde,  synthetische  Urtheile 
a  priori  aufzustellen. 

Es  ist  ganz  unmöglich,  nun  im  Einzelnen  zu  zeigen^  wie  diese  beiden 
Gedankengänge  ineinander  verschlungen  sind  *  in  einer  ganz  untrennbaren 
Weise ;  so  geht  Kant  sogleich  an  der  oben  aus  §  1 0  angeführten  Stelle  sofort 
zu  dem  Falle  über,  dass  solche  Sätze  „wirklich  angetroffen"  werden  können, 
und  dies  entspricht  ganz  dem  Uebergang  gegen  den  Schluss  von  §  5,  wo 
Kant  so  beginnt:  „Indem  wir  jetzt  zu  dieser  Auflösung  schreiten,  und  zwar 
nach  analytischer  Methode,  in  welcher  wir  voraussetzen,  dass  solche  Er- 
kenntnisse aus  reiner  Vernunft  wirklich  seien"  [man  beachfe  den  Conjunc- 
tiv]  .  .  .  Während  diese  Wendung  nun  offenbar  ganz  der  „mathematischen 
Analysis"  entspricht,  schliesst  die  Periode  (um  den  merkwürdig  verschlungenen 
Gedankenknoten  daselbst  in  möglichst  einfacher  Weise  aufzulösen)  mit  der 
„naturwissenschaftlichen  Analysis* ;  denn  hier  ist  es  die  „Wirklichkeit",  die 
„Facta",  von  denen  „alsdann  zu  dem  Grunde  ihrer  Möglichkeit  auf  dem 
analytischen  Wege  fortgegangen  werden  kann". 

Wenn  nun  somit  der  ersteren  Darstellung  nach  etwas  „gesucht  wird, 
von  dem  man,  als  ob  es  gegeben  sei,  ausgeht",  §  5  Anm.,  was  ist  dies 
„Gesuchte"?  Gegen  das  Ende  von  §  5  heisst  es:  dass  wir  eine  „mögliche 
Erkenntniss  a  priori",  „nämlich  eine. Metaphysik  als  Wissenschaft"  „suchen* 
und  aus  einem  guten  Theil  des  Paragraphen  springt  (trotz  des  Wechsels 
von  „Suchen"  und  „Untersuchen"  am  Anfang  desselben,  vgl.  dag.  Erd- 
mann, Prol.  Vorr.  XXV  Anm.)  dieser  Sinn  der  Frage:  Wie  sind  syn- 
thetische Erkenntnisse  a  priori  möglich?  hervor,  nämlich  [der  Sinn:  Wie 
kann  ich  in  der  Metaphysik  synthetische  Erkenntnisse  a  priori  erreichen? 
Diese  Aufgabe  soll  nun  mit  Hilfe  jener  „mathematischen"  Analysis  gefunden 
werden,  indem  „wir  voraussetzen^  dass  solche  Erkenntnisse  aus  reiner 
Vernunft  wirklich  seien".  Hier.  (§  5)  mischt  sich  nun  der  andere  Ge- 
dankengang durch  eine  neue  eigenartige  Verwechslung  ein.  Es  taucht  einen 
Augenblick  der  Gedanke  auf,  dass  es  wohl  richtiger  sei,  jene  hypothetische 


^  Auch  bei  Fischer  III,  301  ff.  spielt  diese  Verwechslung  herein. 


Verwirrung  Kants  in  den  „Prolegomena".  421 

, Voraussetzung* :  es  gibt  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft,  nicht  so  allge- 
mein zu  machen,  sondern  dahin  einzuschränken,  dass  es  solche  über  an- 
schauliche Gegenstände  gebe,  weil  hier  die  Controle  des  aus  jenem 
ganzen  mathematisch-analytischen  Verfahren  gewonnenen  Resultates  möglich 
sei.  Dies  verquickt  sich  nun  aber  sofort  mit  dem  zweiten  Hauptgedanken* 
gang,  dass  in  Mathematik  und  reiner  Naturwissenschaft  solche  Erkenntniss 
unbestreitbar  sei:  die  bloss  hypothetische  „Voraussetzung*  auch  hierin 
wird  sofort  zum  unbestreitbaren  „Factum*.  Jener  so  geschwind  ange- 
sponnene und  wieder  fallen  gelassene  Gedanke,  auch  in  der  Mathematik  die 
apriorische  Erkenntniss  nur  als  hypothetische  „Voraussetzung*  anzuneh- 
men, taucht  aber  wieder  auf  in  §  9  finiSj  §  10  init,  * 

Und  daraus  erklärt  sich  dann  auch,  dass  §  10  finis,  auch  Prol.  K.  142. 
Or.  207  und  besonders  §  13  Anm.  I  als  Folge  aus  den  bisherigen  Erörte- 
rungen erst  der  Beweis  der  objectiven  Gültigkeit  der  Mathematik  geliefert 
wird.  Welchen  Sinn  hätte  es  denn,  diesen  Beweis  in  den  Prolegomena  zu 
liefern,  welche  doch  die  Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen  Naturwissen- 
schaft als  „unbestritten*,  „durchgängig  anerkannt*  u.  s.  w.  als  Ausgangs- 
punkt nehmen?  Letzteres  ist  der  Ausgangspunkt  für  die  „naturwissen- 
schaftliche* Analysis.  Ersteres  dagegen,  jener  „Beweis*,  gehört  wiederum 
dem  Gedankengang  der  „mathematischen*  Analysis  an,  bei  welcher  eine  der- 
artige gültige  Erkenntniss  in  der  Mathematik  zuerst  bloss  als  hypothe- 
tische „Voraussetzung*  hingestellt  und  erst  dann  aus  den  analytisch  ge- 
fundenen Bedingungen  einer  solchen  Erkenntniss  als  „möglich  und  gültig* 
(§  9  finis)  erwiesen  wird '. 

Es  liegt  endlich  auf  der  Hand,  dass  die  hier  aufgedeckte,  in  den  ersten 
Gedankengang  eingebettete  heterogene  Argumentation  vollständig  unsere 
obigen  Ausführungen  sab  3  und  5  bestätigt:  einmal  das  Schwanken  Kants 
in  Bezug  auf  die  Gültigkeit  der  Mathematik  u.  s.  w.  (welche  bald  zu  er- 
klären, bald  auch  zu  beweisen  ist) '.  Sodann  aber  deckt  sich  jener  Gedanken- 
faden, wornach  die  Aufgabe,  synthetische  Erkenntniss  a  priori  zu  er  reich  6'n, 


^  Ausserdem  findet  sich  daselbst  noch  der  andere  Gedanke,  dass  nach  Auf- 
findang  der  allgemeinen  Bedingungen  für  jene  hypothe|ti8ch  angenommene  Er- 
kenntniss a  priori  damit  sich  nicht  bloss  die  gewünschte  mögliche  ergebe,  son- 
dern auch  die  vorhandene  wirkliche  erkläre.  —  „Aufgaben^  im  mathematischen 
Sinn  finden  sich  auch  in  der  Kr.  d.  pr.  V.  §  5.  §  6. 

'  Da  jedoch  dieser  Gedankengang  offenbar  eine  secundäre  Rolle  JBpielt,  folgt, 
dass  der  Zielpunkt  des  ursprünglichen  Gedankenganges  —  die  Erklärung  — 
ftir  Kant  im  Vordergründe  stand,  was  ganz  mit  unseren  8ub  2  und  3  gewonnenen 
Resultaten  zosammenstimmt. 

*  Es  kommt  hiebei  ausserdem  noch  folgender  Unterschied  sehr  in  Betracht : 
die,  empiriBch  constatirbare  und  controlirbare,  objective  Gültigkeit  z.  B.  trigono- 
metrischer Berechnungen  (Sätze  von^  „Triangel^)  ist  zu  erklären;  dagegen  ist 
die,  empirisch  nicht  constatirbare,  objective  Gültigkeit  mathematischer  Behaup- 
tangen,  wie  z.  B.  der  unendlichen  Theilbarkeit  (vgl.  Prol.  §  13  I,  Krit.  A  165  u.  ö.X 
za  beweisen«     Hierüber  Näheres  zur  transsc.  Aesthetik. 


422  Exciirs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

gestellt  wird,  vollständig  mit  j^nem  oben  sub  5  aufgewiesenen  Problem  Kants, 
wornach  er  nach  der  Ideal- Möglichkeit  synthetischer  Erkenntnisse  a  priori 
fragt.  Dieser  Gedankengang  tritt  desshalb  naturgemäss  mehr  im  zweiten,, 
der  Analytik  entsprechenden  Theil  der  Prolegomena  hervor,  obgleich  auch 
dieser  Theil  mit  der  Wirklichkeit  dieser  Art  Erkenntniss  beginnt,  um  aber 
bald  darauf  in  den  oben  bezeichneten  Gedankengang  überzugehen  ',  nicht 
ohne  dass  an  einzelnen  Stellen  auch  der  erstere  Gedanke  wieder  zum  Vor- 
schein kommt  (vgl.  oben  392  f.)  —  so  dass  von  diesem  Gesichtspunkt  aus 
eine  gewaltige  Verwirrung  bei  Kant  sich  zeigt.  Wenn  aber  der  Gewinn 
an  Einsicht  mit  dem  Verlust  des  traditionellen  Mythus  von  Kants 
„musterhafter  Genauigkeit**,  »Schärfe**,  „Klarheit**  u.  s.  w.  bezahlt  wird,  so 
ist  das  Plus  doch  immer  noch  auf  unserer  Seite. 

11)  Zur  literarischen  Vervollständigung  ist  hier  femer  Folgendes  zu 
bemerken :  Dass  die  oben  S.  386  f.  und  sab  Nr.  4,  6  u.  8  behandelte  Contro- 
verse  nicht  aus  zufölligen  Missverständnissen  entstand,  sondern  durch  die 
Natur  der  Vorlage  noth wendig  hervorgerufen  wird,  dafür  zeugt  der  Um- 
stand; dass,  unabhängig  von  ihr,  in  England  eine  ganz  ähnliche  Streitfrage 
seit  einigen  Jahren  spielt.  Gegen  die  Behauptung  von  Green,  Contemparary 
Review  1877,  XXXI,  26,  Kant  frage:  How  is  knowledge  possible?  nicht:  Js 
knotvledge passible'i  machte  ßalfour  Einwendungen  im  Min d  1878,  Vol.  III,. 
481,  und  auf  widersprechende  Bemerkungen  von  Caird  im  Mind  1879,. 
Vol.  IV,  112  ff.  antwortete  derselbe  ib.  115.  Gegen  Balfours  Positionen, 
welche  in  sein  Buch :  Defence  of  philosophical  doubl,  Chapt  VI  übergiengen,. 
erhob  Watson  im  Mind  1880,  Vol.  V,  528—548:  „the  Method  of  Kanf^ 
neue  Einwendungen,  die  in  seinem  Werke:  Kant  and  his  english  Critics, 
Glasgow  1881,  S.  2  ff.  wieder  abgedruckt  sind.  Das  letzte  Wort  blieb  Bal- 
four,  der  Watson  im  Mind  1881,  Vol.  VI,  260  ff.  antwortet.  Die  Streit- 
frage zwischen  Balfour  einerseits  und  den  „Transscendentalisten**  Green,. 
Caird,  Watson  andererseits  ist  theils  eine  sachliche  über  die  Aufgabe  der 
Philosophie,  theils  eine  rein  exegetische;  nur  die  letztere  beschäftigt  uns. 
Von  sonstigen  bes.  bei  Watson  hereinspielenden  Missverständnissen  (vgl.  oben 
S.  359)  absehend ,  beschränken  wir  uns  auf  die  beiden  „differeni  vietcs'^ : 
Nach  den  „Transscendentalisten**  handelt  es  sich  für  K.  um  die  „explana- 
tion  of  ihefact  of  knowledge*^,  nicht  um  ^the  proof,  that  knowledge  is  pos- 
sible*^ ;  die  Ej-itik  ist  „theory  of  a  process,  tohich  taithottt  theory  u>e  (dready 
perform'*:    Kant  will  nicht  justify  beliefs,   but  account  for  their  «ri- 


*  Vgl.  z.  B.  S  17,  wornach  die  Gesetze  erst  „gesucht",  „abgeleitet"  werden 
sollen  u.  ö.  —  Man  erkennt  nun  auch  klar,  dass  diese  Hereinmischung  der  mathe- 
matischen Analysis  kein  blosser  Zufall,  sondern  die  nothwendige  Folge  daTon  ist^ 
dass  Kant  eine  neue  Methode  sucht^  die  sich  in  der  „Aufgabe":  Wie  sind  synth. 
Urtheile  a  priori  möglich?  zuspitzt.  Zur  Lösung  dieser  „Aufgabe"  dient  eben  sehr 
gut  das  mathematisch  -  analytische  Verfahren.  Ohne  diese  Seite  wären  also  die 
Prolegomena  ein  sehr  yerstümmelter  Auszug  der  Kritik,  während  wir  jetzt  Er- 
klärung, Beweis  und  neue  Methode  —  die  drei  Hauptseiten  der  Kritik  — 
auch  in  den  Prolegomena  haben. 


Die  Streitfrage  über  Kants  methodischen  Gang  in  England.  423 

stence;  er  will  explain  an  assutned  fact.  Diese  „assumptions*^  sind  die 
Mathematik  und  reine  Naturwissenschaft  (wobei  aber  besonders  bei  Watson 
die  synthetischen  Urtheile  a  posteriori  mit  apriorischem  Zusatz  zufolge  der 
S.  359  gerügten  Verwechslung  auch  noch  hereingemischt  *  werden).  Üeber 
diese  Erkenntnisse  will  die  Kritik  j,cast  a  netc  light'^  (Watson,  Kant  S.  6), 
^but  it  will  in  no  way  äUer  their  nature  or  validity^.  Nach  der  „critical. 
explanation*^  bleiben  die  erklärten  Thatsachen  j^just  as  they  teere  hefore^. 
Denn  über  diese  haben  wir  vorher  so  gut  wie  keinen  Zweifel;  wenn  der 
Skeptiker  verlangt,  der  Philosoph  solle  diese  Erkenntnisse  prove,  so  ist  er 
j^unreasonabW^  (ib.  7).  Es  sind  not  propositionSy  which  the  philosopher  seeks 
to  prove,  hut  data  tchich  he  assumes  (ib.  5).  Kant  fragt  nach  dem  How 
und  Why  (ib.  11.  22);  „Ae  sought  for  a  hypothesis  adequate  to  ao 
eount  for  the  facts'^  ib.  13.  „Kant  therefore  invariahly  assumes  the  truth 
of  the  mathematical  and  physicaJ  sciences  and  only  asks,  how  we  are  to  ex- 
plain the  fact  of  such  knawledge  from  the  nature  of  knowledge  itself^  ib.  15. 
Für  jenes  „secref^  will  er  „the  ground^  finden  ib.  15.  16.  „To  prove, 
what  no  one  denies*^,  wäre  Kant  „mere  folly"*  erschienen  ib.  16.  Ein  System, 
das  diese  „undoubted  truths'^  nicht  erklären  kann,  ist  falsch.  Watson  (der 
Hauptvertreter  dieser  Ansicht)  widerspricht  sich  aber  (ganz  ebenso  wie 
Fischer),  indem  er  doch  an  vielen  Stellen  auch  den  Beweis  jener  Annahme 
bei  Kant  findet.  Nach  Watson,  Kant  8.  22.  23.  25.  27  will  Kant  -jene  all- 
gemeinen Gesetze  doch  „prove**;  er  will  prove,  that  there  are  universal 
and  necessary  principles^  (ib.  9.  11);  dieselben  sollen  aufgesucht  (7)  und 
„established'^  werden  „upon  a  secure  foundation^  (ib.  11);  es  handelt  sich 
doch  um  ihre  „truth'^  (ib.  28).  Ganz  wie  Kant  selbst  gebraucht  Watson 
mit  Vorliebe  den  Ausdruck  justify,  7.  10.  29  (vgl.  11  prove  the  right  to 
existX  ^6^'  sowohl  die  Erklärung  als  den  Beweis  der  Gültigkeit  bezeichnen 
kann.  Ueber  dieses  Schwanken  wundert  sich  schon  Balfour,  Mind  Vol.  VI, 
263  f.  Inwiefern  dies  nun  aber  kein  absoluter  W^iderspruch  sei,  folgt  aus 
dem  oben  Gesagten  *.  Diese  Unklarheit  bei  Watson  ist  nur  ein  neuer  Be- 
weis für  unsere  Auffassung,  wornach  Kant  in  erster  Linie  die  Erklärung 


*  Diese  fatale  Verwechslung  wird  bei  Watson  durch  den  amphibolischen 
Begriif  der  „Erfahrung^  vermittelt,  der  bei  ihm  bald  die  synthetischen  Grundsatze 
a  priori  (also  besonders  die  sog.  „Analogien  der  Erfahrung"),  bald  die  Erfah- 
rungsnrt heile  (im  prägnanten  Sinne  im  Gegensatz  zu  blossen  Wahrnehmungs- 
urtheilen)  bezeichnet.  Eine  Ahnung  dieser  Verwechslung  zeigt  Green,  Äcademy 
1881  Nr.  489  (über  Watson).  Diese  Verwechslung  stammt,  wie  so  manche  andere 
Irrthümer,  aus  Fischers  Darstellung,  welche  (in  der  englischen  Uebersetzung  durch 
Uahaflfy)  nicht  nur  (neben  Cohen)  die  Hauptquelle  der  neuern  englischen  exe- 
getischen Kantliteratur  geworden  ist^  sondern  wohl  auch  zur  Begründung  des 
sogen.  „Transscendentalismns'^  den  Anstoss  gegeben  hat. 

•  Üebrigens  hat  Green  in  seinem  Referat  über  Watson,  Äcademy  1881 
^r.  489  auch  erkannt,  dass  aus  der  Erklärung  auch  der  Beweis  der  Thatsache 
folgt:  sind  die  Bedingungen  der  Möglichkeit  nachgewiesen,  so  kann  be  no  further 
question,  whether  such  a  nature  exists. 


424  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

der  Gültigkeit  der  Mathem.  u.  s.  w.  im  Auge  hat,  welche  aber  den  Beweis 
derselben  nothwendig  involvirt  (über  das  dritte,  die  neue  Methode,  ist  bei 
Watson  dieselbe  Unklarheit  wie  bei  Fischer).  Schlimmer  ist,  dass  Watson 
aber  noch  einen  anderen  Fehler  mit  Fischer  gemein  hat,  er  betrachtet  jene 
Gültigkeit  als  Argumentation smittel,  als  „rational  hasis*^,  was  doch  in 
der  Kritik  selbst  nicht  der  Fall  ist,  sondern  nur  in  den  analytisch  angelegten 
und  daher  methodisch  nicht  so  zwingenden  Prolegomena.  Watson  sagt  (ib.  6), 
jene  als  gültig  angenommenen  Erkenntnisse  seien  „the  aetual  premisaea 
of  Kant^ ;  they  are  the  facts,  frotn  which  we  atart,  not  the  conduaions 
we  desire  to  reach  12.  Sie  sind  the  data,  from  which  Kant  atarta  (dieser 
Terminus  ist  häufig  vgl.  ib.  10.  12),  und  damit  wir  nicht  im  Zweifel  ge- 
lassen werden,  wird  das  dahin  erklärt,  dass  (ib.  31)  „from  the  facta  that  we 
have  acientific  knowledgey  we  are  enabled  to  reaaon  back  to  the  functiona  of 
thought  hy  which  auch  knowledge  ia  made  poaaible^ ;  so  finden  wir  „the  eaaen- 
tial  conditiona*^  jener  Gültigkeit  (ib.  12).  Dies  ist  aber,  wie  gezeigt,  nicht 
der  Gang  der  Kritik,  welche  diese  Bedingungen  ganz  unabhängig  von  jener 
Voraussetzung  der  Gültigkeit  (mit  Hilfe  der  unten  S.  425  ff.  besprochenen 
Prämissen)  auffindet  und  erst  aus  diesen  Bedingungen  jene  Gültigkeit  erklärt 
und  ableitet.  (Ueber  eine  weitere  hier  hereinspielende  Verwechslung  vgl. 
unten  S.  447.)  Balfour  wirft  daher  (ib.  264  f.)  Watson  vor,  nach  seiner 
Darstellung  schliesse  Kant  in  einem  Cirkel,  da  er  ja  jene  Prämissen,  auf 
welchen  die  Ableitung  der  transscendentalen  Functionen  fussen  soll,  ja  doch 
auch  wieder  beweisen  wolle.  Balfour  selbst  hat  —  und  dies  facht«  den  Streit 
an  —  trotz  der  Einleitung,  welche  mehr  nach  dem  Warum  der  Gültigkeit 
fragt,  die  Kritik  d.  r.  V.  auf  die  Frage  nach  dem  Dass  hin  untersucht. 
Diese  , Umformung",  welche  Balfour,  Mind  Vol.  III,  481  ff.  IV,  115. 
VI,  262  f.  vornahm,  ist  nach  all  unsern  Ausfuhrungen  somit  nicht  unerlaubt, 
insofern  Kant  allerdings^  trotzdem  er  zunächst  nach  dem  Warum  fragt,  doch 
auch  das  Dass  beweisen  will.  Und  insofern  sucht  auch  der  Kriticismos 
(der  „Transscendentalismus")  die  Aufgabe  zu  lösen,  „to  foumiah  the  rational 
foundaiUm  of  acience**,  „to  eatahliah  the  principlea  which  acience  aaaumea*^. 
(was  schon  in  das  Dritte,  die  neue  Methode,  hinüberspielt).  Gefährlich  für 
den  Kriticismus  kann  aber  die  Meinung  werden,  der  wir  oben  im  Streit 
zwischen  Fischer  und  seinen  Gegnern,  so  auch  hier  begegnen,  Kant  benütze 
jene  Gültigkeit  als  Argumentationsmittel,  als  „aetual  premiaa'^.  Diese  Dar- 
stellung ist  aber  nicht  bloss  irrig,  sondern  desshalb  auch  gefährlich, 
weil  die  Skeptiker  und  Empiristen  sich  der  Drohung  Balfours  mit  Recht 
und  Fug  anschliessen  müssten,  dann  die  Kritik  d.  r.  V.  einfach  links  liegen 
zu  lassen  und  die  Detailprüfung  derselben  als  ,  irrelevant*  gar  nicht  erst  zu 
beginnen ;  denn  es  ist  dann  für  sie„  entirdy  unneceaaary  to  waate  time  ,  ,  .  to 
trouhle  himaelf  dbout  the  matter*^.  Gerade  bei  dieser  Controverse  zeigt  sich, 
welche  fundamentale  Wichtigkeit  der  hier  besprochene  Punkt  besitzt,  und 
wie  sehr  eine  Aufklärung  über  denselben  bei  Anhängern  und  Gegnern 
Kants  noth  thut,  damit  —  abgesehen  von  historisch-philologischer  Bichtig- 
steUung  der  wahren  Meinung  Kants  —  die  sachliche  Discussion  zur  frucht- 


Die  Prämissen  der  Argumentation  in  der  Kr.  d.  r.  V.  425 

baren   Fortbildung  und  zur   Verständigung  führe.     Man    kann  doch  über 
Kant  nicht  streiten,  so  lange  man  ihn  nicht  versteht. 


C.  Die  Prämissen  (Toranssetznngen)  der  Kritik  d.  r.  Y.  Wir  haben 
bis  jetzt  den  Inhalt  der  Problemstellung,  sowie  die  (äusserliche)  Me- 
thode der  Problemlösung  kennen  gelernt:  es  ist  nun  unsere  Aufgabe, 
die  (inneren  und)  eigentlichen  Prämissen  der  Argumentation  aufzufinden. 

12)  Bei  der  Auflösung  der  verschiedenen  Aufgaben  macht  Kant  näm- 
lich gewisse  Voraussetzungen,  welche  als  Prämissen  in  seine  Argumen- 
tation eingehen  und  welche  —  auch  im  synthetischen  Gange  der  Kritik 
—  Stützpunkte  des  Gedankenganges  sind.  Eine  grosse  Verwirrung  entstand 
dadurch,  dass  man  diese  dem  Gedankengang  als  Mittel  eingewobenen  Voraus- 
setzungen oft  verwechselte  mit  jenen  oben  aufgewiesenen  „Voraussetzungen"^: 
Mathematik  und  reine  Naturwissenschaft  sind  gültige  Wissenschaften.  Diese 
sind,  wie  gezeigt,  nur  provisorischer  Natur  und  dienen  eben  nur  zur  Ex- 
position des  Problems,  dagegen  werden  sie  im  factischen  Gedankengange 
der  Kritik  niemals  als  Stützpunkte  und  Hilfsmittel  ^  gebraucht.  Jene  Ver- 
wechslung wurde  durch  die  äusserliche  Aehnlichkeit  der  beiden  methodisch 
ganz  heterogenen  „Voraussetzungen*  begünstigt,  wodurch  die  Controverse 
um  so  complicirter  geworden  ist.  Diese  wirklichen  Prämissen  gipfeln  in 
dem  Satze:  strenge  Allgemeinheit  und  Noth wendigkeit  stammen  nicht  aus 
der  Wahrnehmung  (=  Erfahrung  im  gewöhn  1.  Sinn),  sondern  aus  der  reinen 
Vernunft.  Diese  allgemeine  Voraussetzung  gabelt  sich  in  die  beiden  Prä- 
missen ',  dass  weder  Sätze  oder  Begriffe  wie  der  der  Causalität ,  noch  dass 
die  „Erfahrung*  im  prägnanten  Sinne  durch  blosse  Combination  sinnlicher 
Eindrücke  entstehen  kann. 

In  jener  gemeinschaftlichen  Voraussetzung  besteht  nun  das,  was  man 
als  Kants  dogmatisch -rationalistisches  „Vorurtheil"  (als  petUio  principit) 
bezeichnet  hat  (vgl.  Erdmann,  Ks.  Proleg.  Vorr.  S.  84,  Volkel^,  Ks.  Erk. 
189  ff.  222.  225,  Watson,  Kant  10,  Cohen,  Ks.  Th.  d.  Erf.  93.  103,  Ul- 
rici,  Grundpr.  I,  299,  und  bes.  Bahnsen,  Altpr.  Monatsschr.  XVIII,  446  ff. 
über  diese  „urdogmatische  Befangenheit",  den  „unerschütterlichen  Respect 
vor  den  Attributen  der  Allg.  und  Nothw.*,  den  „Fels  des  Apriori,  auf  den 
sich  Kant  postirf,  der  aber  ein  „haltloses  Fundament'  ist;  das  Apriori  als 
das  Noli  me  tätigere  bei  Kant.  Vgl.  oben  S.  31  ff.  bes.  32  Anm.  85  Anm.  2. 
54  ff.   61  Anm.  1.   89.   97.    107  ff.   170  Anm.  1.   206  ff.   398).      Jedenfalls 


^  „Nicht  als  Beweismaterial,  sondern  als  Object  der  Kritik*',  Windelband, 
Gesch.  II,  52. 

*  Dies  hat  auch  Volkelt,  Ks.  Erkenntnissth.  S.  195  Anm.  (abgesehen  von 
der  unten  429  gerügten  Verwechslung)  richtig  erkannt;  vgl.  ib.  194.  195  Anm. 
214  ff.  219.  221.  222,  wo  „die  gemeinsame  Wurzel"  der  beiden  Voraussetzungen 
zwsT  richtig  betont^  ihre  verschiedenartige  Function  jedoch  zu  wenig  getrennt 
wird.    Daraus  folgt  dann  eine  irrthümliche  Darstellung,  z.  B.  S.  200  f. 


426  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

bilden  diese  beiden  Prämissen  factisch  das  Hauptfundament,  die  Ecksteine 
des  ganzen  Argumentationsgebäudes;  sie  haben  jedoch  eine  verschiedene 
Function. 

Die  Prämisse:  , Begriffe  und  Urtheile,  welche  Nothwendigkeit  und 
Allgemeinheit  enthalten,  stammen  nicht  aus  Erfahrung",  wird  (vgl.  206  ff.) 
überall  ins  Spiel  gebracht,  wo  es  sich  eben  darum  handelt,  ^den  reinen 
Verstandesbegriffen  ihren  Ursprung  a  priori  zu  retten"  (vgl.  oben  S.  33 
gegen  Hume).  Wo  die  logisch-psychologische  Analyse  bei  irgend  einem  Satz 
oder  Begriff  jene  beiden  Merkmale  zeigt,  ist  der  nicht-empirische  Ur- 
sprung, der  Ursprung  also  aus  der  reinen  Vernunft  (vgl.  oben  S.  189) 
für  Kant  selbstverständlich.  An  entscheidenden  Stellen  der  Kritik  tritt  diese 
Argumentation  auf:  da  ist  jene  Prämisse  ^  der  eigentliche  nervus  probandi; 
und  jenes  Begriffspaar  ist  das  untrügliche  chemische  Reagenzmittel,  um 
Apriorisches  von  Empirischem  zu  unterscheiden.  (Man  vgl.  z.  B.  die  »me- 
taphysische" Deduction  von  Raum  und  Zeit,  der  Kategorien,  Grund- 
sätze und  Ideen,  ferner  A  86  f.  90  f.  106.  112.  159). 

In  diesem  Sinne  ist  es  also  zu  verstehen,  wenn  Kant  *  in  den  Proleg. 
§  ^  (vgl.  oben  S.  368)  von  der  synthetischen  Darstellung  der  Kritik  sagt, 
„das  Systen^  lege  noch  nichts  als  gegeben  zum  Grunde,  aoMier 
die  Ternanft  selbst  [nach  dem  Zusammenhang  bestimmter:  die  reine 
Vernunft] ';  auf  ein  Factum  „stütze"  sich  dasselbe  nicht  (vgl.  ob.  sub  Nr.  7), 
d.  h.  eben  nicht  auf  die  f actische  Gültigkeit  der  Mathematik  u.  s.  w.  (wohl 
aber  auf  das  Bewusstsein  ihres  apriorischen  Ursprungs  als  ein  „Factum 
der  Vernunft"  vgl.  Kr.  d.  pr.  V.  §  6  Anm.  §  7  Anm.  R.  VIII,  140.  142.) 
Es  bleibt  also  nach  Kants  unzweideutigem  Eingeständniss  als  Voraus- 
setzung übrig,  auf  welche  er  sich  stQtzt:  die  reine  Vernunft;  dies 
tritt  auch  an  jener  bemerkenswerthen  Stelle  der  Vorrede  (XXIII)  zur  Kritik 
d.  prakt,  Vernunft  hervor,  wo  Kant,  offenbar  durch  Angriffe  z.  B.  von  Seile 
und  Andern  auf  diesen  schwachen  Punkt  aufmerksam  gemacht,  in  einer 
seltsamen  Mischung  von  Angst  und  Selbstgewissheit  bemerkt: 
„Was  Schlimmeres  könnte  aber  diesen  Bemühungen  wol  nicht  begegnen,  als 
wenn  Jemand  die  unerwartete  Entdeckung  machte,  dass  es  überall  gar  keine 
Erkenntniss  a  priori  [nach  dem  Zusammenhang  nur  =  reine  Vernunft]  gebe, 
noch  geben  könne.  Allein  es  hat  damit  keine  Noth.  Es  wäre  ebenso  viel, 
als  ob  Jemand  durch  Vernunft  beweisen  wollte,  dass  es  keine  Vernunft 
gebe"  u.  s.  w.    (Forts,  der  Stelle  s.  oben  S.  204.  217.  334.  360.)   Man  ver- 


*  In  sehr  treffender  Weise  hat  schon  Buhle,  Gesch.  d.  Philos.  VIII,  471  ff. 
(=  Gesch.  d.  n.  Philos.  VI,  2.  583  ff.)  auf  die  fundamentale  Wichtigkeit  dieses 
vorausgesetzten  „Grundsatzes''  als  „Leitfaden^  aufmerksam  gemacht. 

■  Vgl.  auch  ähnlich  in  den  von  Erdmann  1882  herausgegebenen  „Reflexio- 
nen" Kants  I,  S.  70  Nr.  24. 

'  In  dem  Titel  Kritik  der  reinen  Vernunft  liegt  schon  diese  dogma- 
tische Voraussetzung,  wenn  auch  gemildert  durch  die  dem  Skepticismus  ent- 
stammende „Kritik".  Schon  im  Titel  liegt  somit  jene  so  oft  betonte  „Vermitt- 
lung".   Vgl.  oben  121.  157. 


Die  Rolle  der  beiden  Haupt-Prämissen.  427 

gleiche  hiezu  die  unten  zu  A  11  angeführten  Stellen  aus  Schmidt-Phiseldeck, 
Herder,  Jacohi  u.  A.  —  Nach  den  angegebenen  Kriterien  stellt  Kant  die 
apriorischen  Elemente  heraus  (wie  er  das  auch  mit  dem  praktischen 
Apriori  thut,  vgl.  die  , Voraussetzung"  Kritik  A  807):  aber  er  muss  noch 
ein  weiteres  Princip  hinzunehmen,  um  nun  auch  ihre  objective  Gültig- 
keit zu  erklären  und  zu  beweisen. 

Viel  wichtiger  *  ist  daher  die  Function  der  anderen  Voraussetzung, 
(welche  der  ^transscendentalen"  Deductionzu  Grunde  liegt):  , Erfahrung 
im  prägnanten  Sinne  kommt  nicht  durch  blosse  Combination  sinnlicher  Ein- 
drücke zu  Stande."  Diese  Prftmisse'  (petUio prindpii  vgl.  oben  178.  220.  222) 
nämlich  —  in  entsprechender  Umformung  —  ist  es,  durch  welche  die  ob- 
jecÜTe  Gliltigkelt  jener  (durch  die  erstere  Prämisse  zunächst  nur  als  snb- 
JeetlT-apriorlseh  erwiesenen)  reinen  Vemunftelemente  erklärt  und  bewiesen 
wird,  durch  welche  auch  jene  sub  5  behandelte  Aufgabe,  solche  Erkenntnisse 
aufaustellen,  gelöst  wird.  Jene  apriorischen  Begriffe  und  Urtheile  sind  gültig, 
weil  sie  die  Erfahrung  möglich  machen;  darin  liegt  auch  der  Beweis  ihrer 
bestrittenen  Gültigkeit.  Die  neue  Beweisart  der  uralten  Erkenntnisse 
a  priori,  z.  B.  des  Causalitätsgesetzes,  beruht  auf  der  ,  Möglichkeit  der  Er- 
fahrung" ;  und  sie  ist  der  Leitfaden  zur  Auffindung  des  vollständigen  Systems 
des  gültigen  Apriori  (vgl.  auch  Kritik  A  94).  Die  „Möglichkeit  der  Er- 
fahrung" ist  das  Princip  für  Erklärung,  Beweis  und  Methode*. 

In  diesem  Sinne  wurden  oben  S.  225  ff.  Allgemeinheit  und  Noth wendig- 
keit als  , Beweisgrund",  „Voraussetzung",  S.  219  ff.  Erfahrung  als  „Basis" 
der  Kritik  aufgewiesen,  letztere  als  Argumentationsmittel  für  die 
(ebenfalls  oben  S.  225)  als  das  zu  Erklärende  (resp.  zu  Beweisende)  ange- 
nommene vorläufig  vorausgesetzte  Gültigkeit  der  Mathematik  und  reinen 
Naturwissenschaft. 


*  Darum  ist  aber  der  Werth  der  ersten  Prämisse  nicht  zu  unterschätzen^ 
wie  das  bei  Cohen  (vgl.  oben  208),  Riehl  198.  325,  Caird,  Kant  206.  219.  220 
geschieht. 

'  Eine  „willkürliche  Voraussetzung"*  nach  Zimmermann,  Ks.  math.  Vor. 
88,  dag.  Gottschick.  Schleierm.  u.  Kant  8.  4. 

•  An  einzelnen  Stellen  dient  das  Princip  der  Möglichkeit  der  Er- 
fahrung jedoch  auch  dazu^  um  schon  die  Apriori tät^  den  nichtempirischen 
Ursprung  gewisser  Begriffe  zu  beweisen  (also  nicht  erst  die  Gültigkeit  schon 
anderwärts  als  a  priori  erkannter  Vorstellungen).  Dann  functionirt  diese  zweite 
Prämisse  also  für  die  erste.  Dies  ist  der  Fall  z.  B.  A  112.  A  93  (^Begriffe,  die 
den  objectiven  Grund  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  abgeben,  sind  eben  darum 
noth  wendig'');  auch  B  5  ist  dieser  Gedanke  ausgesprochen  (vgl.  oben  217  Anm.): 
Damach  erfordert  die  „Möglichkeit  der  Erfahrung"  das  Vorhandensein  apriorischer 
Elemente  und  (nach  A  93)  dient  sie  auch  dazu,  als  Kriterium  dieselben  im  Ein- 
zelnen als  solche  zu  erkennen.  Damit  träten  die  Kriterien  der  Nothwendigkeit 
und  Allgemeinheit  in  den  Hintergrund.  Allein  da  dies  nur  ganz  vereinzelt 
der  Fall  ist,  mnssten  eben  oben  208  Cohens  und  Riehls  Behauptungen  (vgh 
auch  Caird,  Kant  206.  219  f)  bekämpft  werden.  Von  diesem  Beweis  der  Apriorität 
(nicht  der  Gültigkeit)  sprechen  auch  Harms  und  Volkelt  (vgl.  oben  403  Anm.). 


428  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

13)  Ueberblicken  wir  nun  die  Literatur ,  so  ist  es  eigentlich  nur 
Reinhold,  welcher  (vgl.  oben  219.  221  und  besonders  226  f.)  diesen  Sach- 
verhalt annähernd  richtig  erkannt  hat.  In  der  neuem  Literatur  dagegen 
herrscht  hierin  grosse  Unklarheit,  weil  jene  beiden  heterogenen  , Voraus- 
setzungen'' verwechselt  werden.  So  fehlt  bei  Riehl  der  betreffende  Unter- 
schied: indem  er  richtig  erkennt  (S.  826.  331.  341.  352),  dass  die  Gültig- 
keit der  Mathem.  u.  s.  w.  in  der  Kritik  nicht  Stütz-  und  Ausgangspunkt 
ist,  verwechselt  er  damit  die  viel  unschuldigere  Annahme  Kants: 
Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  stammen  nicht  aus  Erfahrung.  Diese 
Annahme  geht  aber  bei  Kant  factisch  in  die  Argumentation  als  selbstver- 
ständliche Prämisse  ein ;  daher  es  irrig  ist,  wenn  Biehl  auch  ihr  den  Werth 
eines  methodischen  Ausgangspunktes  und  Beweismittels  bei  Kant  abspricht 
(a.  a.  0.  198.  298.  326  f.  341  u.  ö.)  \  Denn  mittelst  jener  Annahme  be- 
weist Kant  überall  die  Thatsache  der  Apriorität,  d.  h.  zunächst  dass 
die  betreffenden  Begriffe  und  Sätze  nicht  aus  der  Wahrnehmung  stammen, 
sondern  aus  der  „reinen  Vernunft".  Letztere  zunächst  rein  psychologische 
Thatsache  darf  aber  nicht  mit  der  Thatsache  der  objectiven  Gültigkeit 
verwechselt  werden",  was  bei  Riehl  a.  a.  0.  292.  341.  342—345.  355  ff.  372. 
405.  443  (vgl.  auch  298)  geschieht.  (Vgl.  oben  S.  396  Anm.  1  u.  S.  400  f. 
über  Fischer.)  Denn  f[ir  die  Erklärung  und  den  Erweis  der  objectiven 
Gültigkeit  genügt  natürlich  nicht  jene  Annahme  (Allgem.  u.  Nothw.  stammen 
aus  der  Vernunft),  sondern  hier  tritt  jene  auf  die  „Möglichkeit  der  Erfah- 
rung" sich  stützende  Argumentation  ein.  Diesen  Stützpunkt  und  Beweis- 
grund hat  nun  —  und  dies  ist  ein  grosses  Verdienst  —  Biehl  nach  seiner 
methodischen  Wichtigkeit  scharf  und  oft  betont  (nicht  bloss  „leichthin*, 
Volkelt,  Kant  203):  17  f.  150.  166-170.  194.  198.  226  f.  279.  293  f.  298. 
302  f.  310  f.  367  f.  375.  384  ff.  392.  396.  401.  405.  423.  Riehl  hat  sich 
hierin  an  Cohen*  angeschlossen  und  hat  seinerseits  bei  Cantoni,  Kant  168 
Zustimmung  gefunden.  Richtige  Würdigung  hievon  ferner  bei  Laas,  Ks. 
An.  d.  Erfahrung  und  bei  Dietrich,  K.  u.  Nevrton  124.  137.  265.  Vgl. 
Erdmann,  Ks.  Prol.  Vorr.  XXXV  über  den  „Hebel  des  Beweisapparates*. 
Borschke,  Locke  im  Licht  d.  K.'schen  Phil.  S.  12.  29.  81. 

Jener  Verwechslung  begegnet  man  auch  sonst  häufig,  z.  B.  bei  Ueber- 
weg,  Geschichte  der  Philosophie,  5.  Aufl.  III,  255  Anm.;  ebenso  ib.  S.  195 
vgl.  ib.  204  Anm.  1  über  Kants  Voraussetzung  als  icp&xov  ^'(i^do;;  Caspari, 


*  Wenn  nach  Riehl  310  doch  der  Begriff  der  reinen  Erkenntniss  „Ausgangs- 
punkt^ genannt  wird,  so  wird  dies  wohl  nur  so  zu  verstehen  sein,  er  bilde  das 
Problem ;  sonst  läge  eben  ein  Widerspruch  vor.  Auch  bei  Witte,  Zur  Erk.  3  f. 
dieselbe  Verwechslung. 

'  Es  kann  nicht  genug  vor  dieser  ominösen  Verwechslung  ge- 
warnt werden,  welche  das  Verständniss  Kants  unmöglich  macht 

»  Vgl.  Cohen,  Ks.  Th.  d.  Erf.  80.  126.  129.  153.  185.  205.  237  u.  ö.  und 
besonders  die  bestimmteren  Auseinandersetzungen  über  die  „transscendentale 
Methode''  in  desselben  „Ks.  Ethik"*  8.  20  ff. 


Definitive  Prämissen  und  provisorische  Voraussetzungen.  429 

Grondprobleme  II,  189;  in  auffallendster  Weise  ferner  bei  Volkelt,  Kant 
198 — 203:  „Nothwendigkeit  und  Gesetzmässigkeit  als  unbewiesener  Aus- 
gangspunkt der  Eantischen  Aprioritätslehre*,  besonders  S.  194.  196.  198. 
203  ff.  214  ff.  217.  225:  auch  dort  wird  die  Voraussetzung  der  Exposition: 
Mathematik  und  reine  Naturwissenschaft  sind  gültig,  verwechselt  mit 
der  Voraussetzung  der  Argumentation:  Allgem.  u.  Nothwend.  stammen 
aus  der  reinen  Vernunft.  (Dagegen  ist  ib.  199.  200.  203  die  »Erfahrung" 
richtig  als  Stützpunkt  der  Argumentation  erkannt.)  In  dem  Streit  zwischen 
Balfour  und  Watson  spielt  eine  andere  Verwechslung  in  ominöser  Weise 
hinein,  wo  (vgl.  bes.  Witson,  Kant  25.  31  und  *  oben  225  Anm.  und  dazu 
Green,  Äcaderny  Nr.  489)  die  vorausgesetzte  Gültigkeit  der  Mathem.  und 
Naturwissenschaft,  welche  Erklärungsthema  u.  s.  w.  ist,  mit  der  Gültig- 
keit der  „Erfahrung",  welche  ArgumentaticJhsmittel  ist,  vermischt  wird. 
Diese  Vermischung  und  Verwechslung  wird  daselbst  (wie  schon  bei  Fischer, 
vgl.  oben  S.  189)  vermittelt  durch  den  vieldeutigen  Begriff  der  „Erfahrung", 
welcher  unrichtigerweise  auch  im  ersteren  Sinne  genommen  wird :  als  System 
der  in  der  Erfahrung  gültigen  Wissenschaften,  speciell  als  jene  „reine 
Naturwissenschaft";  während  er  nur  die  ürtheile  der  alltäglichen  Empirie 
umfasst.     (Hierüber  weiteres  noch  unten  S.  447.) 

Bei  Kant  selbst  findet  sich  letztere  Verwechslung  im  Begriffe  der  „Er- 
fahrung" nicht,  wohl  aber,  wie  wir  sehen  werden,  im  Begriffe  der  „Natur" ; 
dagegen  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Darstellung  der  Einleitung  (in  A  und 
noch  mehr  in  B)  die  erstere  Verwechslung  nur  begünstigt,  deren  Unrichtigkeit 
erst  aus  der  factischen  Argumentation  der  Kritik  selbst  hervor- 
geht. Denn  Kant  selbst  macht  in  der  Einleitung  so  wenig  auf  den  me- 
thodologisch ganz  verschiedenen  Werth  der  Abschnitte  U  u.  V  aufmerksam, 
dass  er  im  Gegentheil  offenbar  beides  selbst  verwechselt  (vgl.  oben  390 
Anm.  2,  396  Anm.  1,.  415  Anm.  1  und  die  aus  Kant  angeführten  schwan- 
kenden Stellen  oben  S.  31.  33.  187.  217  Anm.  228);  denn  beides  (vgl.  oben 
S.  162)  erscheint  zunächst  ganz  gleichwerthig :  allein  die  Behauptung  der 
«Thatsächlichkeit"  apriorischer  Erkenntniss  in  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft =  objective,  erkenntnisstheoretische  Gültigkeit  in  V  •  bildet,  wie 
bemerkt,  nur  eine  provisorische  Voraussetzung  zum  Zweck  der  Expo- 
sition des  Problems,  während  die  in  II  auf  Grund  des  Zutreffens  der  Kri- 
terien :  Allgemeinheit  un^  Nothwendigkeit  behauptete  „Thatsächlichkeit"  des 

'  Vgl.  Watson  in  Joum,  of  spectU.  [Philoe,  X,  119.  Durch  diese  Unter- 
scheidung löst  sich  iein  daselbst  behaupteter  Widerspruch  Ks. 

'  Auch  im  Y.  u.  VI.  Abschn.  findet  noch  ein  unklares  Schwanken  statt. 
An  anderen  Stellen  hat  K.  beides  sehr  wohl  geschieden;  so  Fortschr.  R.  I.  495 
(▼gl.  oben  323)  und  505;  auch  Proleg.  §  81  unterscheidet  er  „Unabhängigkeit 
von  Erfahrung**  und  „Gültigkeit  a  priori".  An  vielen  Stellen  ist  aber  beides 
schwer  zu  trennen,  obwohl  ja  schon  die  Theorie  der  Ideen  diese  Scheidung  noth- 
wendig  macht,  welche  oben  S.  817.  828  scharf  getroffen  wurde.  Man  kann  dabei 
80  trennen,  dass  Kant  das  Erstere  gegen  den  Empirismus,  das  Zweite  gegen  den 
Skepticismus  „retten"  will.  —  Scharf  scheidet  Kant  bes.  oben  238. 


430  Excurs,    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V, 

Apriori  bloss  jenen  subjectiv-psychologischen  Werth  hat,  dafür  aber  eine 
definitive, 'in  die  eigentliche  Argumentation  eingehende  Voraussetzung 
bildet. 

14)  Ehe  wir  von  hier  aus  zu  einer  weiteren,  ungemein  schwierigen 
Untersuchung  fortgehen,  liegt  es  im  Interesse  der  Vollständigkeit,  hier  auch 
auf  die  wichtigsten  übrigen  Voraussetzungen  Kants  wenigstens  kurz  auf- 
merksam zu  machen,  welche  er  mehr  oder  weniger  ungeprüft  annimmt, 
und  welche  um  so  schwieriger  aufzufinden  sind,  als  er  sie  so  zu  sagen  sub- 
cutan  einfuhrt.  Eine  vollständige  Zusammenstellung  kann  sich  erst  aus  der 
methodischen  Analyse  des  Details  ergeben,  durch  welche  jede  einzelne  heraus- 
präparirt  werden  kann.  Versuche  der  Zusammenstellung  sind  hin  und  wieder 
gemacht  worden,  so  schon  von  Aenesidem-Schulze,  dann  u.  A.  von 
R^musat\  von  Beneke  (Lo^k  II,  174  ff.  209  ff.  und  sonst  häufig),  von 
Thomas,  (Kant  und  Herbart,  1840,  S.  8  ff.),  Ueberweg  (Logik  §  131). 
Neuerdings  haben  Cantoni  (Kant  S.  166),  Stirling  (Journal  of  specid. 
Phüos.  XIV,  267;  vgl.  auch  oben  S.  221  Anm.),  Volkelt,  (Ks.  Erkenntnisa- 
theoriß  1879),  Weber,  (Zur  Krit.  d.  K.'schen  Erkenntnissth.,  Halle  1882, 
S.  12 — 33)  Kants  (oft  als  solche  sehr  schwer  erkennbare)  Prämissen  zu  eru- 
iren  gesucht.  Die  wichtigsten  sind  jedenfalls  jene  schon  oft  behandelten 
Lemmata  aus  der  Psychologie'  und  Logik',  welche  das  ganze  Grefüge  des 
Kriticismus  als  „scholastischer  Apparat**'  (Feder,  Leben  S.  117)  beeinfiussten  ^. 
Hieher  gehört  besonders  Kants  Ansicht  über  das  Verhältniss  von  Sinnlich- 
keit und  Verstand  (vgl.  unten  zu  A  16),  der  Gegensatz  von  Stoff  und 
Form  (vgl.  oben  182,  und  zu  A  20),  sowie  die  damit  zusammenhängende 
Annahme,  dass  aller  Stoff  uns  nur  durch  Sinnlichkeit  gegeben  werden 
könne*.  Weniger  auf  der  Oberfläche  läge  jener  ideale  Begriff  der  Erkennt- 
niss,  welchen  Harms  (vgl.  oben  366)  als  Kants  Voraussetzung  hervorhebt. 
Noch  tiefer  lägen  jene  beiden  von  Volkelt  behaupteten  Voraussetzungen 
Kants,  in  denen  er  sich  an  Rationalismus  und  Skepticismus  anschliesst,  dass 
das  Denken  Seinswerth  besitze,  und  dass  wir  dcw^h  andererseits  nicht  über 
unsere  Vorstellung  hinauskommen  —  wiewohl  hier  Voraussetzung  und 
Resultat  theil weise  vermischt  zu  sein  scheinen.  Eher  erkennbar  ist  wieder 
jene  Annahme  wirkender  Gegenstände  (vgl.  oben  172),  jene  „dualisHeoi  as- 


*  Phüos»  Allem.  XI.  XIX  (7  Voraussetzungen ^Ks.),  Lewes,  Problems  of 
Life  I,  440.  445,  femer  Fries,  Gesch.  d.  Philos.  II,  577  ff. 

'  Diese  hat  besonders  die  Herbart'sche  Schule  herausgestellt.  Vgl.  Zim- 
mermann, Ks.  raath.  Vorurtheil  17.  Auch  Windel  band,  Gesch.  II.  56  und 
besonders  Lieb  mann  in  Fichte^s  Zeitschr.  65,  82  über  diese  „fehlerhafte  Opera- 
tionsbasis". —  Vgl.  unten  zu  B  25. 

'  Zu  diesen  würde  besonders  der  Unterschied  der  anal.  u.  synth.  Urtheile 
gehören.    Logik  a  secure  starting-point  für  K.  Caird  227. 

*  Man  vgl.  besonders  J.  B.  Meyer,  Ks.  Psychologie,  Berlin  1870,  und 
G.  Schenke,  Die  logischen  Voraussetzungen  und  ihre  Folgerungen  in  Ks.  Er- 
kenntnisstheorie, Halle  1876,  In.-Diss. 

*  Vgl.  Witte,  Beitr.  41.    Sigwart,  Gesch.  lU,  42.  65. 


Die  übrigen  Prämissen.    Kants  „apriorische  Methode ''.  431 

sumption^,    und  zwar  die  Voraussetzung  ihrer  Mehrheit,   wie  Er d mann, 
Ks.  Proleg.  Vorr.  52.  55.  60  ff.  71  ff.  richtig  betont*. 

In  diesem  Theile  der  methodologischen  Analyse  ist  noch  Vieles  zu 
thun,  und  diese  Aufgabe  ward  hier  auch  erwähnt,  um  der  weiteren  Er- 
klärung feste  Ziele  vorzustecken. 

15)  Und  noch  ein  ähnlicher  Punkt  ist  hier  einzuzeichnen,  der  mit 
dem  vorigen  ein  zusammenhängendes  Paar  bildet.  Auch  ihn  brauchen  wir 
—  unter  Zusammenfassung  des  Bisherigen  —  hier  nur  zu  erwähnen,  nicht 
selbst  zu  erwägen.  Worin  besteht  jene  von  Kant  gewollte  und  seinem 
Selbstzeugniss '  nach  von  ihm  befolgte  apriorische  Methode?  Kant 
macht  ja  den  Anspruch,  in  seiner  kritischen  Untersuchung  gegenüber  der 
gewöhnlichen  empirischen  Methode  (besonders  Locke's  und  Hume's,  aber 
auch  Aristoteles'  und  Leibniz')  eine  apriorische  Methode  befolgt  zu 
haben,  wesshalb  seine  Resultate  unumstösslich  seien.  Offenbar  sind  in  dieser 
angeblichen  apriorischen  Methode  zwei  Momente  zu  unterscheiden  (auf  welche 
die  oben  S.  83  Anm.  2  angeführten  fünf  Punkte  Mellins  passend  reducirt 
werden) : 

1)  formell:  syllogistisch  deductive,  also  apriorische  Ab- 
leitung der  Conclusionen  aus  allgemeinen  Principien ; 

2)  materiell:  allgemein-nothwendige,  d.  h.  apriorische 
Gewissheit  dieser  Principien  selbst,  d.  h.  eben  der  oben  auf- 
gezählten Voraussetzungen. 

Die  Prüfung  der  apriorischen  Methode  wird  also  sowohl  die  formelle 
Bichtigkeit  jener  Argumentation,  als  insbesondere  die  materielle  Wahrheit 
dieser  Prämissen  ins  Auge  zu  fassen  haben  —  und  bekanntlich  haben  die 
Kantgegner  gar  Vieles  nach  beiden  Seiten  hin  zu  moniren  gehabt.    Es  wird 


^  Unten  ad  A  16  sind  auch  die  in  der  Einleitung  enthaltenen  axi oma- 
tischen Voraussetzungen  zusammengestellt,  bei  der  Uebersicht  der  wichtigsten 
Definitionen^  welche  später  eine  wichtige  Rolle  spielen.  —  Vgl.  ferner  Fries 
über  Kants  transscendentales ^  Zimmermann  über  sein  mathematisches^  oben 
S.  310  über  sein  naturwissenschaftliches  „Vorurtheil". 

*  Man  vergleiche  hiezu  in  diesem  Bande  S.  33—36  (apodiktisch,  rational, 
dogmatisch,  „aus  Principien",  zu  Letzterem  vgl.  noch  40.  124  ff,  126.  129.  131. 
154.  247,  sowie  zu  A  13.  14  „architektonisch").  Dann  S.  50  Anm.  54  Anm.  55.  68. 
101.  106  (Selbsterkenntniss,  dazu  noch  S.  107  ff,  117  ff.  314.  378.)  119.  120.  132  ff. 
134  ff.  143.  (Vollständigkeit  vgl.  36.  131.)  148  f.  153.  215  ff.  221  f.  229  Anm. 
239.  Wichtig  ist  die  Bemerkung,  dass  bei  Kant  selbst  oft  (vgl.  auch  oben  Erd- 
mann  S.  68)  die  von  ihm  selbst  in  der  Kritik  befolgte  Methode  mit  der  von 
ihm  in  der  Kritik  begründeten  Methode  („Tractat  von  der  Methode")  ver- 
mischt wird;  vgl.  oben  83  ff.  132  ff.  135.  186.  225.  Bei  manchen  Stellen  (z.  B. 
40.  77.  101.  148)  sind  diese  beiden  Seiten  daher  oft  schwer  oder  gar  nicht  aus- 
einanderzuhalten —  eine  Schwierigkeit,  welche,  nebenbei  bemerkt,  auch  in  dem 
Diseours  und  den  Meditationen  von  Descartes  vorhanden  ist.  Endlich  ist  auch 
die  hier  behandelte  apriorische  Methode  (im  Gegensatz  zur  empirischen)  wohl 
zu  unterscheiden  von  der  oben  «tt6  7  — 10  behandelten  synthetischen  Methode 
der  Kritik  (im  Unterschied  von  der  analytischen  der  Prolegomena). 


432  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

sich  dann  weiter  fragen,  inwieweit  jenes  Princip  der  ^Erfahrung*  wirklich 
eine  so  dominirende  Rolle  spiele,  inwiefern,  wie  Viele  ^  behaupten  und  Kant 
selbst  sagt  (vgl.  oben  221.  222  Anm.  857),  der  Hauptinhalt  der  Kritik  eine 
Analyse  des  Erfahrungsbegriffs  sei  (d.  h.  eine  analytisch -deductive 
Ausspinnung  aus  dem  als  sicher  angenommenen  prägnanten  Begriff  der  ,£r- 
fahrung'');  und  wenn  aus  diesem  Begriff  die  wichtigste  Prämisse  gebildet 
ist,  welches  in  logischer  Abfolge  die  anderen  seien? 

Fraglich  ist  es  sodann,  ob  wir  (mit  Fischer,  Harms,  Biehl  u.  A.)  die 
Ausschliessung  jedweder  empirischen,  inductiven,  psychologischen  Selbst- 
besinnung (als  bloss  , rhapsodisch^)  in  jenen  Begriff  der  von  Kant  befolgten 
9 kritischen  Methode''  (ein  mehrsinniger  Ausdruck!'  vgl.  z.  B.  oben  S.  44) 
au&ehmen  müssen,  oder  ob  es  (nach  J.  B.  Meyer,  Cohen  u.  A.)  nicht  noth- 
wendig  ist,  soweit  zu  gehen.  Es  herrscht  ja  gerade  hierin  ein  wirres  Durch- 
einander von  streitenden  Stimmen  (vgl.  oben  S.  66.  106.  125.  135.  171. 
186.  209.  222.  323  ff.)  Worin  bestehen  femer  jene  durch  Kant  selbst  von 
seinem  sicheren  Verfahren  wohl  unterschiedenen  psychologischen  Hilfshypo- 
thesen?  (Vgl.  oben  S.  391  Anm.  4.) 

Es  erhebt  sich  dann  weiterhin  die  Frage:  worin  besteht  jene  so  oft 
gerühmte  ,natur wissenschaftliche^  Methode  Kants,  seine  (von  der 
materiellen  Beeinflussung,  vgl.  oben  310  Anm.,  sehr  zu  unterscheidende) 
methodische  Mitgift  von  Newton?  Vielleicht  in  der  Methode  des  Rück- 
schlusses? (Vgl.'  oben  S.  44  Anm.  2.  S.  135  Anm.  188  und  oben  stdb  10; 
Riehl,  Kritic.  221.  228.  234  ff.  241  ff.  247  f.,  Fischer  HI,  211  u.  ö.  und 
besonders  Dietrich,  Kant  und  Newton  S.  11.  70.  73.  125.  155)».  Be- 
steht nicht  auch  eine  Analogie  mit  der  „mathematischen  Methode*? 
(Vgl.  oben  S.  92.  153.  242.  290.)  Worin  besteht  ferner  jenes  , chemische", 
(S.  185)  ,isolirende%  abstrahirende  Verfahren?  (Vgl.  oben  135.  168.  223.) 
Ist  sein  Verfahren  direct  oder  (nach  Watson)  indirect?  Verfährt  er  vielleicht 
auch  (besonders  am  Anfang)  nach  der  Methode  propädeutischer  Accommo- 
dation,  wie  Aeltere  (Beck)  und  Neuere  (Watson)  meinen?  (Vgl.  oben  S.  66. 
188.  355.)  Scheut  er  sich  somit  auch  nicht  hin  und  wieder  vor  der  ctrgu- 
mentatio  ad  hominem,  so  dass  wir  hier  sämmtliche  methodologischen  Kunst- 
mittel verwerthet  fänden  und  die  Analyse  der  Kritik  einen  wahren  Cursus 
der  Logik  darstellte? 

Wie  verhalten  sich  endlich  diese  einzelnen  Voraussetzungen  und 
Methoden  zu  jenen  vielen  Problemen,  die  wir  bei  Kant  fanden  und 
noch  finden  werden?  Wie  sind  sie  auf  dieselben  zu  deren  Lösung  verwendet 
und  vertheilt? 


*  Besonders  Cohen,  Riehl,  Stadler  a.  d.  a.  0.     Volkelt  unten  440. 

'  Vgl.  Windelbands  richtige  Bemerkungen  Gesch.  ü,  49  ff  Es  bedürfte 
einer  eingehenden  Monographie  über  Kants  sog.  „Kritische  Methode". 

'  Liebmann  in  Fichte's  Zeitschrift  LXV,  81  findet  Identität  der  analytisch- 
regressiven  Methode  Newtons  mit  der  Kantischen.  Fischer  V,  5  ff.  12.  23  nennt 
Ks.  Methode  inductiv.  Vgl.  dag.  Zimmermann,  Ks.  math.  Vor.  16.  27  f.  34^ 
Vgl.  auch  Montgomery,  Ks.  Erk.  27.  83.  197  u.  ö. 


Das  Problem  der  Erfahrung.  433 

16)  Die  bisherigen  Aus-  nnd  Anführungen  genügen,  um  da.s  Urtheil 
zu  rechtfertigen,  dass  die  exaete  methodologische  Analyse  der  Kritik 
d.  r.  V.  noch  sehr  im  Argen  liegt.  Hier  am  allerwenigsten  finden  wir 
Schärfe,  Klarheit  und  Einstimmung  in  der  Literatur.  Und  doch  muss  das 
Ganze  der  Kritik  d.  r.  Y.  vom  methodologischen  Gesichtspunkt  aus  ana- 
lysirt  und  vermessen  werden:  was  ist  Problem?  was  Voraussetzung? 
was  Conclu^ion  der  Argumentation?  was  ihre  Methode?  Aber  gerade 
die  Ausschöpfung  des  Inhalts  der  Kritik  durch  diese  einfachsten  methodo- 
logischen Kategorien  wird  ungemein  erschwert  durch  den  unglaublich  com- 
plicirten  Inhalt,  den  merkwürdig  verschlungenen  Gang  dieses  Werkes.  Zu 
der  Schwierigkeit  der  Beduction  auf  die  einfacheren  Schemata  kommt  aber, 
dass  dieses  Werk  verwickeitere  methodologische  Formen  zeigt,  welche  in  der 
Logik  ungenügend  und  zum  Theil  gar  nicht  berücksichtigt  sind.  So  kommt 
es,  dass  es  nirgends  so  wie  hier  an  abschliessenden  Resultaten  von  Vor- 
arbeitem  fehlt,  ja  dass  der  Leser,  anstatt  in  diesem  Punkte  auf  den  Text 
und  seinen  gesunden  Verstand  angewiesen  zu  sein,  durch  die  Literatur  eher 
gehemmt  und  verwirrt,  als  gefördert  und  aufgeklärt  wird.  Eine  methodo- 
logische Analyse  des  Ganzen  der  Kritik  ist  aber  zum  historischen  Verstand- 
niss  und  als  Grundlage  für  die  sachliche  Beurtheilung  absolut  unentbehrlich. 
Sie  muss  ebensosehr  die  Basis  der  folgenden  Detailerklärung  bilden,  als 
durch  sie  Bestätigung  finden.  Die  obige  Erörterung  dient  daher  nicht  bloss 
zur  Erklärung  der  Kantischen  Einleitung,  sondern  ist  auch  ein  wichtiges 
Glied  der  allgemeinen  Grundlegung,  auf  welcher  das  ganze  Gebäude  unseres 
Oommentars  aufgebaut  werden  muss  —  wie  die  Kritik  selbst  über  diesem 
Grundriss  errichtet  ist. 

D.    Das  Problem  der  Erfahmng. 

1 7)  Mit  dieser  methodologischen  Analyse  en  gros  wären  wir  nun  offen- 
bar eigentlich  zu  Ende.  Allein  wenn  sich  die  Sache  so  verhält,  wie  sie  suh  12 
dargestellt  wurde,  wie  stimmt  dann  damit  unsere  oben  5  ff.  (54  ff.  168. 
184)  186  ff.  (205.  223.  285)  352  ff.  gegebene  Darstellung  überein?  An 
diesen  Stellen  wurde  die  Erfahrung  (im  prägn.  Sinne)  als  Problem  der 
Kritik  d.  r.  V.  angenommen,  während  wir  hier  (u.  S.  219  ff.)  dieselbe  als 
Basis  gefunden  haben.  Ist  dieser  Widerspruch  nicht  eine  methodologische 
Unmöglichkeit?  Damit  rühren  wir  an  eine  neue,  ungemein  verwickelte 
Angelegenheit,  deren  Schwierigkeiten  sich  wieder  auf  das  Deutlichste  in  den 
Widersprüchen  der  secundären  Literatur  spiegeln;  denn  wir  fragen  billig: 
wie  verhält  sich  denn  methodologisch  die  (besonders  seit  Cohen,  aber  schon 
auch  seit  Fischer)  so  ungemein  häufig  gewordene  Fragestellung:  Wie  ist 
Erfahrung  möglich?  zu  dem  Problem  der  synthetischen  ürtheile 
a  priori,  wie  wir  es  bisher  kennen  gelernt  haben?  Kann  man  ohne  Weiteres 
die  eine  Frage  der  andern  substituiren  oder  gar  mit  ihr  identificiren? 
Oder  inwiefern  sind  denn  beide  Fragen  —  unserer  Darstellung  nach  — 
coordinirt?  Wie  können  wir  hoffen,  irgend  einen  Schritt  zu  machen,  und 
Kant  zu  verstehen,  wenn  über  das  Problem  seiner  Kritik  ein  so  merkwürdiges 
Schwanken  besteht?    Da  der  Commentar  zur  „Einleitung*  die  allgemeine 

Valhlnger,  Kant-Commentar.  28 


434  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Grundlegung  der  Interpretation  enthalten  soll,  kann  man  mit  Recht  hier- 
über Aufschluss,  sowie  Rechtfertigung  unserer  Darstellung  erwarten,  obwohl 
es  unmöglich  sein  dürfte,  diese  schwierigste  Frage  schon  hier  zum  Abschluss 
zu  bringen,  um  so  mehr  als  sich  hier  methodologische  Unklarheiten  mit 
entwicklungsgeschichtlichen  Schwierigkeiten  verbinden. 

18)  Wenn  wir  auf  das  Ergebniss  von  Nr.  12  zurückgreifen,  so  be- 
merken wir  eine,  in  der  Logik  bisher  u.  W.  nicht  genügend  beachtete  eigen- 
thümliche  Erscheinung.  Wir  sehen,  welche  Rolle  die  „Erfahrung'^  spielt: 
sie  ist  explicatives,  demonstratives,  methodisch-constructives  Princip  für  die 
synthetische Erkenntniss  a  priori;  die  in  dem  prägnanten  Sinn  vorhandene, 
aber  eben  nicht  durch  blosse  Wahrnehmungscombination  entstandene  .Er- 
fahrung'^, —  ein  Factum,  an  welchem  Kant  nicht  zweifelt,  —  wird  von  ihm 
mit  jenem  Problem  der  synthetisch  -  apriorischen  Erkenntniss  in  Verbindung 
gebracht  und  zu  dessen  Lösung  verwendet.  In  dieser  Verwendung  besteht 
das  Originale  und  Geniale  der  Kantischen  Conception.  Indem  jene  syn- 
thetischen Begriffe  und  Urtheile  a  priori  als  die  unumgänglichen  nothwen- 
digen  Bedingungen  dieser  factisch  vorhandenen  Erfahrung  aufgezeigt  werden, 
werden  sie  aus  bloss  luftigen  Behauptungen  sozusagen  Theile,  ja  Träger  der 
festen  Erde:  dem  unkritischen  Dogmatiker  gegenüber  wird  ihre  Gültigkeit 
erklärt;  dem  unkritischen  Skeptiker  gegenüber  wird  ihre  Gültigkeit  be- 
wiesen; und  dem,  der  eine  neue  kritische  Methode  der  Metaphysik  ver- 
langt, wird  durch  jenes  Princip  das  Ideal  der  Erkenntniss  realisirt. 

Nun  lässt  sich  aber  offenbar  die  Sache  auch  vom  anderen  Ende 
anfassen:  man  wird  dasselbe  Resultat  erhalten,  wenn  man  —  die  Frage 
aufwirft,  wie  Erfahrung  möglich  sei?  I)a  diese  ein  Factum  ist,  da 
dies  Factum  nicht  durch  blosse  Combination  von  Wahrnehmungen  möglich 
ist  (nach  Kants  Voraussetzung,  da  er  das  Hume'sche  Expediens,  die  Ge- 
wohnheit, als  ungenügend  zurückweist),  so  wird  sich  die  Frage  erheben,  wie 
es  möglich  sei?  d.  h.  zunächst,  wie  es  zu  erklären  sei?  Die  Lösung 
dieses  Problems  wird  offenbar  dazu  führen,  apriorische  Elemente  zu  entdecken 
(sei  es  , synthetische"  Urtheüe  oder  Begriffe  a  priori,  vgl.  oben  S.  352)  und 
so  wird  rückwärts,  auf  diesem  Gedankenpfad  dasselbe  gefunden  werden, 
wie  auf  dem  bisher  betretenen;  der  Aspect  ist  ein  anderer,  der  Gegenstand 
ist  derselbe. 

WeuD  eine  bis  dahin  räthselhafte  und  daher  zweifelhafte  Annahme 
dadurch  erklärt,  bewiesen  (und  ermöglicht)  wird,  dass  sie  als  Conditio  sine 
qua  non  einer  unumstösslichen,  bisher  noch  unerklärten  Thatsache  nach- 
gewiesen wird,  so  kann  der  objective  Sachverhalt  offenbar  auf  doppeltem 
Wege,  sagen  wir  zur  Verdeutlichung  von  zwei  verschiedenen  Personen 
gefunden  werden:  von  Demjenigen,  der  sich  jene  räthselhafte  Annahme, 
wie  von  Demjenigen,  der  sich  diese  unerklärte  Thatsache  zum  Problem 
macht.  Diese  Umdrehung  der  Frage  kann  natürlich  auch  von  einer  und 
derselben  Person  ausgehen. 

Ich  nenne  diese  Umdrehung  —  in  Ermangelung  eines  anderen  Aus- 
druckes —  die  methodische  Problemconversion.     Die   durch  sie  ent- 


Die  Problemconversion  und  die  Verwirrung  bei  Kant.  435 

stehende  secundäre  Frage  steht  in  naturgemässer  Correlation  '  zur  pri- 
niären. 

Diese  methodische  Problem conversion  findet  nun  in  unserem 
Falle  statt,  sowohl  rein  methodisch,  als  historisch.  Nachdem  nämlich  Kant 
schon  in  der  Deduction  A  95.  119  ff.  methodisch  diese  Conversion  (»von  unten 
auf*)  vorgenommen  hatte,  bildete  er  dieselbe  noch  deutlicher  in  den  Prole- 
gomena  aus,  um  historisch  zuletzt  geradezu  die  zweite  correlative  Frage- 
stellung der  ersteren  zu  substituireu,  freilich  ohne  eigentliche  methodische 
Klarheit  über  dieses  sein  Thun.  Es  ist  diese  historische  Frontveränderung 
Kants  schon  oben  S.  189  und  355  vorläufig  angedeutet  worden.  Nachdem 
Kant  sein  ursprüngliches  Problem:  Erklärung,  Beweis,  Aufstellung 
synthetischer  Erkenntniss  a  priori  —  im  Laufe  der  Zeit  durch  das 
Princip  der  , Möglichkeit  der  Erfahrung"  gelöst  hatte,  machte  er  allmälig 
jene  Conversion  und  schob  an  Stelle  des  ersteren  Problems  das  correlative 
Problem  der  .Erfahrung  vor  (vgl.  oben  189).  Wie  das  so  häufig  bei 
Kant  der  Fall  ist  (wie  auch  die  Kantianer  Cohen,  Caird,  Watson  u.  A.  in 
anderen  Fällen  betonen)  erklären  sich  auch  hier  die  Widersprüche  bei  Kant 
durch  historische  Vertheilung  auf  verschiedene  Entwickelungsph^sen  — 
eine  Methode,  die  auch  bei  anderen  Philosophen,  z.  B.  Spinoza,  mit  Erfolg 
angewandt  wurde. 

Dass  Kant  über  das  methodologische  Verhältniss  der  beiden  Fragen 
selbst  sehr  im  Unklaren  war,  zeigt  besonders  die  Darstellung  der  Prole- 
gomena.  Hier  verwechselt  nämlich  Kant,  ganz  wie  die  heutigen  Kantianer, 
beide  Fragestellungen  selbst.  Er  wirft  daselbst  §  36  (nach  Kos.  §  37)  die 
Frage  auf:  Wie  ist  Natur  selbst  möglich?  , Natur"  hat  nun  für  Kant 
ganz  denselben  Inhalt  wie  „Erfahrung",  nur  dort  in  mehr  objectiver,  hier 
in  mehr  subjectiver  Form;  worüber  sich  Kant  §  17  ziemlich  klar  äussert. 
Da  Natur,  resp.  Erfahrung  erst  durch  das  Apriorische  möglich  gemacht  wird, 
so  lautete  auf  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Natur  resp.  der  Erfah- 
rung die  Antwort:  durch  die  synthetischen  Functionen  a  priori.  So  weit 
entspricht  der  Sachverhalt  vollständig  unserer  obigen  Darstellung :  die  Frage 
nach  der  Möglichkeit  der  Erfahrung,  resp.  der  Natur,  geht  »von  unten" 
aus,  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  apriorischen  Begriffe  und  Sätze  geht 
demnach  „von  oben"  aus;  aber  beide  Argumentationen  beschreiben  schliess- 
lich, wenn  auch  von  entgegengesetzter  Richtung  aus,  denselben  Weg. 

Diesen  Sachverhalt  entstellt  nun  aber  Kant  selbst  durch  eine  störende 
Verwechslung,  welche  der  Begriff  der  »Natur"  ihm  ermöglicht,  während  der 
Begriff  der  »Erfahrung"  hauptsächlich  erst  bei  den  heutigen  Kantianern  zu 
derselben  Verwechslung  missbraucht  wird.     »Natur"  bedeutet  ihm  nämlich 


*  Diesen  Ausdruck  gebraucht  auch  der  Einzige,  der  diesen  Sachverhalt 
vorübergehend  geahnt  zu  haben  scheint^  Adamson  in  dem  eben  erschienenen 
XIII.  Bande  der  Eneydopaedia  Britannica^  pag.  850  a^  wo  er  bei  der  Frage  nach 
der  Gültigkeit  der  Kategorien  von  der  „corrdaiive  difficulty*"  der  Möglichkeit  der 
Brfahrungsobjecte  spricht. 


436  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

offenbar  bald  den  gesetzmässigen  Zusammenhang  der  Naturerscheinungen, 
bald  den  , Inbegriff  der  Regeln",  den  die  reine  Naturwissenschaft  enth&lt. 
Die  Frage:  wie  ist  Natur  möglich?  hat  demnach  den  doppelten  Sinn: 

1)  Wie  ist  die  reine  Naturwissenschaft  möglich? 

2)  Wie  ist  der  gesetzmässige  Zusammenhang  der  Erscheinungen 
selbst,  d.  h.  wie  ist  Erfahrung  möglich? 

Jene  Frage  hat  deh  Sinn,  wie  es  möglich  sei,  a  priori  synthetische 
Gesetze  der  Natur  zu  erkennen? 

Diese  Frage  hat  den  Sinn:  woher  der  allgemein-noth wendige  Zusam* 
menhang  in  den  Erscheinungen  selbst,  woher  die  Einheit  der  Erfahrung 
selbst  komme?     ^ 

Auf  die  erste  Frage  lautet  die  Antwort:  weil  und  insofern  sie  Be- 
dingungen der  Erfahrungseinheit  sind.  i 

Die  zweite  Frage  wird  beantwortet  durah]  den  Hinweis  auf  die  den 
rohen  Wahmehmungsstoff  zur  „Erfahrung"  umformenden  synthetisch-apriori- 
schen Functionen. 

Man  sieht,  dass  inhaltlich  beide' Argumentationen  dieselben  erkennt- 
nisstheoretischen Factoren  oder  Processe  bebandeln,  dass  aber  der  formelle 
Ausgangspunkt  der  beiden  Fragen  ein  anderer,  vielmehr  ein  geradezu 
diametral  entgegengesetzter  ist.  Wer  die  erste  Frage  stellt,  hat  ein 
Interesse  an  der  synthetischen  Erkenntniss  a  priori,  dem  Inhalt  der  vor- 
nehmen Vernunftwissenschaft  (vgl.  oben  S.  97);  er  will  sie  rotten,  indem 
er  sie  erklärt  und  erweist.  Die  zweite  Fragestellung  aber  findet  in  der  all- 
täglichen Erfahrung  ein  Problem :  seine  Lösung  fuhrt  auf  jene  synthetischen 
Functionen  a  priori  als  condUiones  sine  quibus  non.  Beide  Fragestellungen 
dürfen  somit  nicht  vertauscht  werden,  so  wenig  „oben*  und  „unten^ 
identisch  sind. 

Daraus  erklärt  sich  nun  auch,  dass  Kant  „Transscendentalphilosophie*, 
welche  ursprünglich  die  Möglichkeit  der  apriorischen  Erkennimiss  be- 
handelt, auch  als  Theorie  „der  Möglichkeit  der  Natur  überhaupt*'  bezeichnen 
kann,  (W.  W.  Ros.  VI,  387.  Riehl,  Kritic.  168.  204  f.)  wie  ja  auch  die 
Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  als  ihr  „Jiöcfaster  Punkt*  be- 
zeichnet wird,  (Ros.  I,  507,  vgl.  oben  189)  genau  so,  wie  Prol.  §.  36  die 
Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Natur  als  „höchster  Pu^t**  bezeichnet  wird, 
„den  transscendentale  Philosophie  nur  immer  berühren  mag,  und  zu  welchem 
sie  auch  als  ihrer  Grenze  und  Vollendung  geführt  w«td«n  muss." 

Wir  haben  Kant  schon  so  oft  bedenklichster  Coi^fusionen  zeihen  müssen, 
dass  uns  diese  neue  nicht  Wunder  nehmen  kann,  ^ß  ist  hier  jedoch  noch 
nicht  der  Ort,  jene  Stellen  der  Prolegomena  (bes^'§  14 — 17  u.  §.  36,  vgl. 
auch  Kritik  A  113  ff.,  B  163  ff.)  bis  ins  Detail  zu  zergliedern:  es  ist  dort 
ein  Nest  von  Verwechslungen  der  verzweifeltsten  Art,  über  welche  eben  nur 
ein  strammgläubiger  Anhänger  oder  ein  oberflächlicher  Gegner  Kants  sich 
hinüberlesen  kann.  Es  genügt  hier,  darauf  aufmerksam  gemacht  zu  haben, 
dass  Kant  daselbst  das  ursprüngliche  Problem  und  das  durch  Gonversion 
entstandene  Problem  gänzlich  verwechselt  und  beide  zu  einem  fast  Unverstand- 


Das  dreifache  Problem  der  Erfahrung.  437 

liehen  Gedankencomplex  verquickt,  was  auch  sonst  häufig  der  Fall  ist,  z.  B. 
in  der  Vorr.  zu  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  Ros.  V,  313  fP. 

Dagegen  hat  Kant  in  den  „Fortschr."  (Ros.  T,  507.  508)  das  Verhält- 
niss  beider  Fragen  trotz  einzelner  Ungenauigkeiten  klar  dargestellt :  Würde 
man  das  Problem  der  synthetischen  Erkenntnisse  a  priori  nicht 
anerkennen,  so  würde  ^eine  andere  schlechterdings  unauflösliche  Aufgabe 
eintreten*,  nftmlich  eben  das  Problem  der  Möglichkeit  der  Erfah- 
rung. An  jener  Stelle  ist  methodologisch  offenbar  die  „Conversion*  vor- 
genommen. 

19)  Als  ob  es  aber  mit  all  diesen  Verwicklungen  noch  nicht  genug 
wäre,  —  die  Situation  wird  noch  immer  cemplicirter.  Die  Frage:  wie  ist 
Erfahrung  möglich?  ist  keine  eindeutige;  das  Problem  der  Erfahrung  ist  ein 
mehrgliedriges  Problem.  Diese  Thatsache  kann  man  in  diesem  Falle  eher 
bei  einem  Kantianer  als  bei  Kant  selbst  entdecken ;  und  zwar  bei  demjenigen, 
welcher  die  »Kritik  der  reinen  Vernunft*  vorzugsweise  als  „Theorie  der  Er- 
fahrung' fasst,  bei  Cohen.  Bei  genauerer  Analyse  seines  bedeutsamen  und 
einflussreichen  Werkes  bemerken  wir  ein  bedenkliches  (zu  den  früher  nach- 
gewiesenen und  unten  noch  nachzuweisenden  Verwechslungen  hinzutretendes) 
Schwanken  über  die  eigentliche  methodologische  Aufgabe  der  „Theorie  der 
Erfahrung''  bei  Kant.  Nach  S.  245,  femer  z.  B.  98.  138.  186  handelt  es 
sich  um  die  „Erklärung'  der  unzweifelhaft  vorhandenen,  gültigen  „Erfahrung'' 
(im  prägnanten  Sinne)  *.  Aber  eine  andere  Darstellung  finden  wir  S.  112. 
228,  femer  z.  B.  140.  231;  darnach  ist  die  „Darlegung*,  der  „Nachweis" 
der  Gültigkeit  der  Erfahrung  das  Ziel  der  Argumentation.  Endlich  gibt 
es  bei  Cohen  noch  eine  drittle  Darstellung,  die  wir  offenbar  methodologisch 
von  den  beiden  ersten  unterscheiden  müssen:  er  spricht  von  der  „gesuchten 
Erkenntniss,  deren  Möglichkeit  begründet  werden  soll",  von  der  „Construction" 
der  Erfahrung,  welch  letztere  zu  erreichender  „Zweck"  ist',  bes.  S.  170,  so- 
wie S.  80.  104.  112.  121.  137.  142.  145.  153.  168.  169.  181.  228.  233.  Ohne 
methodologische  Aufklärung  springt  die  Darstellung  in  logischen  Rössel- 
sprüngen von  dem  einen  Problemfeld  auf  das  andere  über.  Die  zahlreichsten 
Stellen  sind  aber  diejenigen,  in  welchen  Unklarheit,  Schwanken,  Unsicherheit 
und  Vieldeutigkeit  herrschen.  Es  ist  wichtig,  folgende  Stellen  mit  den  obigen 
zu  vergleichen:  S.  3.  4.  94.  98.  100.  102.  114.  120.  122—124.  135.  154. 
182.  200.  205.  230.     Vgl.  auch  desselben  Ks.  Ethik  S.  24  f. 

Wir  constatiren  mit  Vergnügen,  dass  diese  drei,  bei  Cohen  rein 
empirisch  aufgefundenen,  bei  ihm  nirgends  in  ihrem  Unterschied  hervor- 
gehobenen Probleme  sich  in  einem  vollständigen  Parallelismus  mit  den  oben 
nachgewiesenen  drei  Problemen  befinden,  welche  bei  der  Frage  nach  der 
Möglichkeit  der  synthetischen  Urtheile  a  priori   sich   durch  successive 


'  Das  „ejcpiam"  der  Erfahrung  betont  auch  Adamson,  Encycl,  Brit  XIII, 
850.  851.    Vgl.  auch  oben  S.  188.  189  Fischer  und  Villers. 

*  Diese  Frage  betont  auch  Zimmermann,  vgl.  oben  S.  186,  sowie  B.  Erd- 
mann, Ks.  Proleg.  XXXVI  sq.     Vgl.  auch  Dietrich,  K.  u.  Newton  S.  135. 


438  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Analyse  des  Kantischen  Textes  ergaben ;  diese  drei  Probleme  sind :  Erkläning, 
Beweis  und  constructive  Methode. 

Es  fragt  sich  nun :  sind  diese  drei  Seiten  auch  wirklich  bei  Kant  selbst 
vorhanden?  ist  auch  bei  ihm  das  Problem  der  Erfahrung  ein  so  zu  sagen 
dreikantiges?  Es  ist  das  allerdings  der  Fall,  wenn  auch  hier  die  Aus- 
bildung naturgemäss  keine  so  vollkommene  war,  wie  bei  dem  ursprünglichen 
Problem.  Das  Erste  und  auf  der  Hand  liegende  ist,  dass,  wie  oben  sub  18 
bemerkt,  die  „Erfahrung'  als  erklärungs bedürftiges  Factum  sich  dem 
Nachdenken  aufdrängt,  als  ein  Factum,  für  welches  die  Ursachen  aufisufinden 
sind  ^  Ja  man  kann  sagen,  auch  die  „Erfahrung*  ist  für  Kant  ein  anti- 
thetisches Problem:  denn  es  ist  (vgl.  oben  Einl.  S.  6  f.)  räthselhaft,  wie 
die  „Erfahrung**  zu  den  factisch  ihr  inhärirenden  Prädicaten  der  Noth- 
wendigkeit  und  Allgemeinheit  (=  Objectivität)  gelange,  da  die  gemeinen 
Erfahrungsquellen  davon  doch  zugestandenermaassen  nichts  enthalten  *;  und 
die  Erklärung  ist  eben  nur  durch  die  „Ergänzung"  (vgl.  Drobisch,  Logik 
§.  144)  möglich,  dass  noch  andere  Bedingungen  in  der  „Erfahrung*  ent- 
halten sind,  als  auf  den  ersten  Blick  in  ihr  enthalten  zu  sein  scheinen. 

Aber  Kant  durfte  die  Voraussetzung:  es  gibt  allgemeingültige,  noth- 
wendige,  also  objective  Erfahrung,  nicht  so  ohne  Weiteres  machen,  ange- 
sichts der  Skeptiker,  angesichts  eines  Hume  und  seines  „schrecklichen  Um- 
sturzes**. Wir  sehen  daher  Kant  bemüht,  auch  zu  beweisen,  dass  es 
solche  Erfahrung  wirklich  gibt;  er  zeigt  nicht  bloss,  warum  und  wie  dieselbe 
als  vorhandene  zu  erklären  sei.  So  wird  ihm  die  Erfahrung  aus  einem 
Erklärungs-  zu  einem  Beweisthema.  Wie  bemüht  er  sich  z.  B.  beim 
Causalitätsgesetz  A  189  ff.  jene  Annahme  erst  zu  beweisen,  dass  die 
„Erfahrung**  eine  nicht  aus  der  Wahrnehmung  stammende  Allgemeinheit 
und  Nothwendigkeit  enthalte !  ' 


^  Diese  Frage  betont  z.  B.  auch  Hegel ^  Encj'^cl.  §  40. 

'  In  diesem  Sinne,  nicht  in  dem  von  Cohen  —  vgl.  oben  S.  179  —  an- 
gegebenen ist  die  Erfahrung  ein  „Räthsel"  für  Kant.  An  jener  Stelle  —  B  1  — 
hat  Erfahrung  gar  nicht  den  prägnanten  Sinn,  sondern  ist  beidemal  nur  so  viel 
als  Wahrnehmung.  Auch  Caird,  Kant  198  spricht  von  dem  „secret^  der  Er- 
fahrung; Stadler,  Ks.  Teleol.  S.  8  von  dem  zu  erklärenden  „Wunder"  der 
Natureinheit.  Im  Kantischen  Sinne  ist  wohl  auch  das  Goethe'sche  Räthselwort 
gemeint  (Sprüche  in  Prosa:  Aphorismen):  „Wenn  Künstler  von  Natur  sprechen, 
subintelligiren  sie  immer  die  Idee,  ohne  sichs  deutlich  bewusat  zu  sein.  Ebenso 
gehts  Allen,  die  ausschliesslich  die  Erfahrung  anpreisen:  sie  bedenken  nicht, 
dass  die  Erfahrung  nur  die  Hälfte  der  Erfahrung  ist." 

'  Daher  darf  man  eben  nicht  ohne  Weiteres  über  Kants  Unternehmen  ein 
Verwerfungsurtheil  fällen,  wenn  man  diese  seine  Voraussetzung  nicht  theilt,  eben- 
sowenig als  man  gleichsam  nach  der  Leetüre  dieser  Einleitung  mit  Kant  fertig  zu 
sein  glauben  darf,  wenn  man  das  Problem  —  die  Erklärung  synthetischer  Urtheile 
a  priori  —  für  cliimärisch  hält,  weil  man  solche  nicht  anerkennt.  Denn  wie 
Kant  durch  den  Nachweis  der  Gültigkeit  dieser  Urtheile  zugleich  die  Berechtigung 
der  Frage  nach  dem  Warum  derselben  zu  führen  sucht,  so  ist  er  auch  bemüht, 
die  Richtigkeit  jener  Voraussetzung  im  Laufe  der  Kritik  selbst  zu  beweisen. 


Erfahrung  als  Prämisse  und  als  Problem:  der  „Cirkel".  439 

Und  endlich  finden  wir  bei  Kant  auch  den  dritten  Gedankengang:  es 
besteht  (vgl.  oben  360)  der  Wunsch  ans  der  schwankenden,  unsicheren  sub- 
jectiven  Wahrnehmung  objectivgültige  Erkenntniss  zu  machen;  was  muss 
ich  thun,  um  dieses  Ziel  zu  erreichen?  , Erfahrung''  („Erkenntniss*  A  121) 
soll  werden;  was  muss  geschehen  zur  Realisirung  dieses  Verlangens?  Wie 
muss  ich  es  anstellen,  um  —  so  zu  sagen  —  aus  dem  Mehl  der  Wahr- 
nehmung das  tägliche  Brod  der  Erfahrung  zu  backen?  Dieses  Ziel  ist 
ja  ein  im  Sinne  Kants  wohl  berechtigtes  gegenüber  den  idealistischen  und 
skeptischen  Ansichten  eines  Berkeley  und  Hume,  welche  eben  die  Unmög- 
lichkeit des  Ueberganges  auf  eine  höhere  Stufe  der  Objectivität  läugnen 
und  auf  dem  Boden  der  subjectiv  zufölligen  Wahrnehmung  stehen  bleiben. 
So  weist  Kant  z.  B.  Proleg.  §.  26  (vgl.  28)  darauf  hin,  was  vorausgesetzt 
werden  muss,  wenn  „die  empirische  Bestimmung  .  .  .  objectiv-gültig,  mithin 
Erfahrung  sein  soll''.  Koch  deutlicher  wird  z.  B.  §  39  darauf  hingewiesen, 
dass  Kategorien  dazu  dienen,  den  empirischen  Urtheilen  Allgemeingültigkeit 
zu  verschaffen  und  Erfahrungsurtheile  möglich  zu  machen  —  so  dass  also 
«Erfahrung*  hier  als  das  Gesuchte  erscheint,  was  gemacht  werden  soll,  was 
ermöglicht  werden  soll,  ein  Sinn,  der  auch  Prol.  Anh.  (Or.  204.  R.  HI, 
153.  K.  140)  aus  der  bekannten  Anmerkung  hervorleuchtet,  in  welcher  das 
Trans^cendentale  als  das  bezeichnet  wird,  was  vor  der  Erfahrung  zwar  vor- 
liergeht,  „aber  doch  zu  nichts  Mehrerem  bestimmt  ist,  als  lediglich  Er- 
fahrungserkenntniss  möglich  zu  machen '. 

Jene  drei  Seiten  der  Frage  sind  somit  auch  bei  Kant  selbst  vertreten, 
freilich  in  rudimentärer  Form ;  aber  immerhin  sind  sie  da,  und  auch  Cohen 
hätte  sie  nicht  ganz  willkürlich  aufgestellt,  wenn  bei  Kant  nicht  selbst  eine 
Aufmunterung  dazu  vorläge.     Freilich  ist  es  ein  Fehler,   dass  er  die  drei 
Fragen  nicht  unterschieden  hat,   aber  auch  bei  Biehl  und  Stadler  ist  das- 
selbe Schwanken.    Nach  Stadler,  Beine  Erk.  43.  87,  Ks.  Teleol.  8  handelt 
es  sich  um  die  „Erklärung*  des  „Wunders"  der  Erfahrung,  nach  Ks.  Teleol.  1 
«oll   sie   „geprüft',   nach  R.  Erk.  116  f.    126.  152,  Ks.  Teleol.  6.  8.  10.  14 
fioll  sie  möglich   gemacht  werden.     Nach  Riehl,   Kritic.    167.   168.  170. 
286  handelt  es  sich  um  die  „Begreiflichkeit  der  Erfahrung",   nach  197  soll 
sie  „untersucht",  nach  446  „bewiesen"  werden;  nach  282  „construirt",  nach 
344  „zusammengesetzt",   nach   169,   214,  375,  388    „begründet",   nach  276 
„bestimmt"  werden;  nach  62.  167.  171  handelt  es  sich  um  ihre  „Elemente" 
oder  „Grundlagen".    Man  kann  den  Wechsel  auch  sonst  häufig  beobachten, 
so  z.  B.  bei  Zimmermann,  Ks.  mathem.  Vorurtheil:  nach  S.  17.  30  handelt 
es   sich  um  „Begreiflichmachung"  („Realgrund");   nach  S.  31.  33  (39)  soll 
der  Erfahrung  erst  „Gewissheit  verschafft"  werden. 

20)  Durch  diese  neue  Gomplication  entsteht  nun  ein  methodologisch 
sehr  verzwicktes  Yerhältniss  der  verschiedenen  Voraussetzungen  und  Probleme 
bei  Kant.  Die  „Erfahrung"  ist  nach  Nr.  12.  13  Erklärungs mittel;  nach 
vorgenommener  Conversion  ist  sie  Erklärungs thema:  in  beiden  Fällen  ist 
sie  Voraussetzung,  dort  aber  eine  solche,  welche  zur  Erklärung  dient,  hier 
eine,  welche  Erklärung  selbst  fordert.     Sodann  war  die  „Erfahrung"  nach 


440  Excurß.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

Nr.  12.  13  Beweismittel,  jetzt  wird  sie  dagegen,  da  jene  Voraussetzung 
willkürlich  erscheint,  selbst  zum  Beweis  thema  (wie  schon  oben  S.  189  Anm. 
angedeutet  wurde);  sie  ist  also  jetzt  Resultat  der  Argumentation,  oben 
war  sie  deren  Voraussetzung.  Und  während  die  , Erfahrung*  endlich 
8ub  12.  13  Constructions mittel  für  die  synthetische  Erkenntniss  a  priori 
war,  wird  letztere  selbst  zum  Mittel  für  die  „Erfahrung*,  welche  jetzt  ihrer- 
seits Constructions  thema  geworden  ist. 

Diesen  Wechsel  hat,  aber  nur  in  Bezug  auf  den  zweiten  Punkt,  den 
Beweis,  Volkelt,  Ks.  Erk.  S.  200  flf.  bemerkt,  ohne  jedoch  den  metho- 
dologischen Grund  davon  zu  ahnen;  er  bringt  denselben  in  irrthümlichen 
Zusammenhang  mit  dem  Gegensatz  analytischer  und  synthetischer  Dar- 
stellung, ein  Gegensatz,  mit  welchem  jene  Problemconversion  methodologisch 
keineswegs  identisch  ist.  Das  Streben,  synthetisch  zu  verfahren,  bewirke 
nicht  nur,  dass  Kant  die  fundamentale  Voraussetzung  —  die  „Erfahrung*  — 
nicht  besonders  hervorhebe,  sondern  verhülle  ihm  auch  dieselbe,  ja  verkehre 
ihm  zuweilen  die  ganze  sachliche  Oonstellation  der  Untersuchung  ins  aus- 
drückliche Gegentheil.  Manchmal  werde  die  „Erfahrung*  nicht  als  Factum 
vorausgesetzt,  sondern  ihr  Gegentheil,  die  zusammenhanglose  Wahrnehmung. 
„Hiemach  bestünde  also  das  Problem  nicht  etwa  darin,  den  nothwendigen 
Zusammenhang  der  Erscheinungen  als  Factum  auf  seine  Bedingungen  hin  zu 
analysiren  [dies. ist  hier  in  dem  Sinne  gemeint,  dass  „Erfahrung*  Beweis- 
mittel für  das  Apriori  sei],  sondern  darin,  ihn  als  etwas  zunächst  Proble- 
matisches durch  einen  Beweis  in  seiner  Thatsächlichkeit  sicherzustellen.' 
V.  nennt  dies  „eine  Verdunkelung  jener  Voraussetzung*.  Ebenso  bemerkt 
derselbe  S.  202:  „was  in  Wahrheit  Voraussetzung  ist,  gibt  sich  für  ihn 
den  Schein  eines  Beweis  ziel  es*. 

Ehe  wir  weiter  gehen,  sei  folgende  Zwischenbemerkung  eingeschoben: 
Wenn  sich  das  alles  so  verhält  —  und  es  verhält  sich  so  —  ist  denn 
dann  das  Verfahren  der  Kritik  d.  r.  V.  nicht  ein  —  circulus  vitiasus?  Es 
wird  ja  die  Möglichkeit  apriorischer  Erkenntniss  auf  den  Begriff  der  „Er- 
fahrung* basirt.  Dieser  archimedische  Punkt  wird  aber  selbst  wieder  ge- 
stützt und  worauf?  eben  auf  das  Apriori,  das  ja  erst  durch  ihn  erwiesen 
werden  sollte.  Ist  dies  somit  nicht  ein  Cirkel?  Dieser  Vorwurf  gegen  Kant 
ist  vielstimmig  und  alt ;  wir  erwähnen  ihn  hier,  nicht  um  ihn  hier  zu  prüfen, 
sondern  um  dessen  spätere  Prüfung  vorzubereitend  Schon  Ulrich  erhob  ihn 
1785  (vgl.  dag.  Kant  in  der  Vorr.  z.  d.  metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw. 
Ros.  V,  314),  sodann  Reinhold  (vgl.  oben  227),  Fries  (vgl.  dag.  Cohen  126), 
Schopenhauer  (dag.  Riehl,  Kritic.  420  u.  Laas,  Ks.  Anal.  193).  Fischer 
ni,  301  ff.  sucht  den  Vorwurf  als  bloss  scheinbaren  nachzuweisen.  Paulsen 
erhebt  ihn  wieder  Entw.  175  u.  bes.  Kirchmann,  Erl.  zu  Ks.  Logik  §  93 
(Anm.  83);  dann  finden  wir  ihn  bei  Laas  (vgl.  Phil.  Monatsh.  1876,  XII,  461); 
bei  Göring,    Viert,   für  wiss.  Philos.   XII,   15  und    bei   Bahnsen,   Altpr. 


*  Einen  „beträglichen  Zirkel"  wirft  Kant  selbst  den  früheren  Dogmatikem 
(vgl.  oben  894)  vor.    Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772. 


Correlation  und  Coordination  des  Erfahrungsproblems.  441 

Monatsschr.  XVIIT,  456  (vgl.  auch  Knttner,  Ks.  Ans.  über  d.  Materie  68). 
Der  Vorwurf  spielt  eine  grosse  Rolle  in  dem  Streit  zwischen  Balfour,  Caird 
und  Watson  (s.  Mind,  1881,  VI,  261  und  Caird,  Kant  219).  Cantoni 
hat  geradezu  den  Cirkel  als  das  charakteristische  Verfahren  K'ants 
(apologetisch)  bezeichnet,  vgl.  dessen  Kant  162  f.  170.  173.  Und  wenn  man 
bedenkt,  dass  Kant  bei  einer  andern  Gelegenheit  (Grundl.  z.  Met.  d.  S. 
Res.  Vin,  83)  einen  Cirkel  zugibt  und  vertheidigt  (wie  dasselbe  auch  Des- 
cartes  im  Discours  de  la  Methode  (finis)  thut),  dass  Fichte  an  vielen  Stellen 
auf  die  Nothwendigkeit  des  Cirkels  hinweist,  wird  man  gespannt  sein  dürfen 
auf  das  Resultat  der  speciellen  methodologischen  Analyse  der  Kritik.  Sollte 
es  vielleicht  einen  solchen  berechtigten,  ja  am  Ende  nothwendigen  Cirkel 
geben?  Und  hat  das  Kant  etwa  andeuten  wollen,  wenn  er  Krit.  737  sagt, 
der  Grundsatz  der  Causalität  (den  er  daselbst  als  Beispiel  für  die  synthe- 
tischen Sätze  a  priori  anfuhrt),  habe  ^die  .besondere  Eigenschaft,  dass 
er  seinen  Beweisgrund,  nämlich  Erfahrung,  selbst  zuerst  möglich  macht 
und  bei  dieser  immer  vorausgesetzt  werden  muss"? 

21)  Durch  die  bisherigen  Ausführungen  (bes.  suh  18)  wurde  es  gerecht- 
fertigt, dass  die  Erfahrung  nicht  bloss  als  Voraussetzung,  sondern  auch  als 
Problem  der  Kritik  zu  betrachten  ist,  woran  wir  sub  1 7  noch  Anstoss  nehmen 
mussten.  Man  hat  sonach  das  Recht,  das  Problem  der  Erfahrung  dem  ur- 
sprünglichen Problem  der  Erkenntniss  a  priori  durch  jene  onethodische 
Conversion  zu  substituiren  und  es  in  diesem  Sinne  als  das  zweite  Haupt- 
problem Kants  zu  bezeichnen,  das  zum  ersten  in  Natürlicher  Correlation 
steht.  Was  wir  noch  jetzt  erklärend  zu  rechtfertigen  haben,  ist  die  in  diesem 
Commentar  186  ff.  352  ff.  befolgte  Darstellung:  Die  Coordination  beider 
Probleme.  Zunächst  durften  wir  nur  sagen:  das  Problem  der  Erfahrung 
ist  die  methodische  correlative  Kehrseite  des  Problems  der  apriorischen 
Erkenntniss.  Was  berechtigt  zu  jener  Darstellung  derselben,  so  zu  sagen, 
als  Pendants,  als  zweier  coordinirter  Probleme?  Denn  eine  derartige 
parallele  Zusammenstellung  der  beiden  Probleme  nebeneinander  ist  me- 
thodologisch wohl  von  dem  bisherigen  Resultat  zu  unterscheiden,  womach 
beide  Probleme  für  einander  vicariren  können,  weil  sie  dieselbe  Gedanken- 
linie, nur  von  den  beiden  entgegengesetzten  Endpunkten  aus  beschreiben. 

Die  Berechtigung,  resp.  Nöthigung,  beruht  auf  folgenden  Erwägungen. 
K.  fragt  in  der  Einleitung  zunächst  nach  der  Möglichkeit  der  synthetischen 
Urtheile  a  priori.  Aus  der  bisherigen  Analyse  wissen  wir  schon  die  Antwort: 
sie  sind  möglich,  weil  und  insoweit  sie  die  „Erfahrung"  möglich  machen; 
diese  «Erfahrung*'  wird  von  Kant  auch  häufig  „Einheit  der  Erfahrung^  u.  s.  w. 
genannt.  Also  jene  synthetischen  Urtheile  a  priori  sind  möglich,  weil  und 
insoweit  sie  Bedingungen  für  die  Erfahrung  sind.  Soweit  stehen  wir  noch 
auf  dem  alten  Boden:  von  hier  aus  ist  die  „Möglichkeit  der  Erfahrung* 
zunächst  bloss  dienendes  Glied  der  Argumentation  und  das  Problem  der 
Erfahrung  ist  nur  als  Conversion  des  Erster en  zu  fassen  und  zuzulassen. 
Allein  wir  erhalten  einen  anderen  Aspect,  wenn  wir  uns  des  oben  S.  357  f. 
Gesagten  erinnern :  zu  Erfahrungsurtheilen  genügen  nämlich  vollständig  schon 


442  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

die  Kategorien;  dazu  bedarf  es  [nicht  erst  der  Grundsatze.  Und  umge- 
kehrt: in  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  synthetischen  SAtze  a  priori 
sind  noch  nicht  mit  einbegriffen  die  doch  schon  in  der  Einleitung  erwähnten 
apriorischen  Begriffe*  d.  h.  die  Kategorien,  nach  deren  Anwendungsrecht 
doch  auch  gefragt  sein  sollte.  Dieser  Umstand  aber  (der  mit  dem  äusserst 
verwickelten  *  Verhältniss  der  Analytik  der  Begriffe  und  der  Urtheile  zu- 
sammenhängt) nöthigt  uns,  das  Problem  der  Erfahrungsurtheile  als  ein  me- 
thodisch vollständig  ebenbürtiges  und  selbständiges  herauszuheben  und  nebe  n 
das  Problem  der  synthetischen  Urtheile  a  priori  zu  stellen. 

Hand  in  Hand  damit  geht  eine  charakteristische  Veränderung  bei  Kant. 
Es  kam  ihm  das  Problem  der  Erfahrungsurtheile  durch  die  wirkende  Macht 
der  inneren  Gonsequenz  erst  allmälig  zum  Bewusstsein,  bes.  in  den  Prolego- 
mena.  Und  in  diesen  tritt  an  die  Stelle  der  Möglichkeit  der  Erfahrungs- 
einheit, welche  fast  ausschliesslich  in  der  ersten  Aufl.  der  Kritik  betont 
wird,  die  Möglichkeit  der  Erfahrungsurtheile.  Sobald  Kant  sich  klar 
machte,  was  denn  jener  Ausdruck  der  „Einheit  der  Erfahrung",  welche 
ohne  Kategorien  nicht  möglich  sein  sollte,  eigentlich  bedeute,  musste  diese 
„Erfahrungseinheit"  in  die  einzelnen  Erfahrungsurtheile  sich  auflösen, 
welche  eben  (vgl.  S.  352)  der  äusserliche  Ausdruck,  der  Index  der  objectiven 
allgemein  gültigen,  einheitlichen  Erfahrung  sind.  Wo  er  jene  Erfahrungs- 
einheit exemplificirt,  da  tritt  fast  immer  das  „Erfahrungsurtheil*  hervor. 
Möglich,  dass  jene  Erfahrungsein  he it  sich  weiter  erstreckt  und  tiefer  greift 
—  jedenfalls  sind  die  Erfahrungsurtheile  der  erkennbarste  Ausdruck  jener 
Erfahrungseinheit.  Und  sowie  die  Bestimmung  eintritt,  |dass  zu  der  Con- 
stitution der  letzteren  die  blossen  Kategorien  hinreichen  —  noch  ohne  die 
Grundsätze,  die  synthetischen  Urtheile  a  priori  •  —  so  treten  sie  als  syn- 
thetische Urtheile  a  posteriori  den  letzteren  ebenbürtig  zur  Seite  und  bilden 
ein  besonderes  Problem. 

Dieselbe  Coordination  findet  sodann,   wie  oben  S.  365  f.  gezeigt. 


^  Man  vergleiche  dazu  besonders  die  Bemerkungen  oben  351  über  die  Ver- 
mischung von  Begriff  und  Satz  bei  Kant,  welche  ein  Hauptfehler  der  Kritik 
ist  und  aus  welcher  sich  der  oben  dargestellte  Mangel  der  Exposition  zum  Theil 
erklärt.  Vgl.  auch  unten  zu  A  11  ^  B  25.  Dazu  kommt  die  Zuspitzung  der  Unter- 
suchung auf  die  apriorische  Wissenschaft  der  immanenten  Metaphysik,  bei 
welcher  es  sich  natürlich  um  Urtheile  handelt. 

'  Hierüber,  sowie  über  alle  diese  Punkte,  vergleiche  man  noch  den  Com- 
mentar  zur  Analytik.  Ebendaselbst  werden  auch  alle  einschlägigen  Parallelstellea 
aus  den  Prol.  und  „Fortschr.**  (z.  B.  R.  I,  506—509)  eingehend  besprochen;  das 
hier  Gesagte  dient  noch  bloss  zur  Einleitung,  ist  jedoch  schon  vollständig  ver- 
ständlich, wenn  man  die  Ausführungen  oben  S.  213—215.  340—358.  365  f.  genau 
und  eingehend  herbeizieht. 

'  Der  Umstand,  dass  Kant  sich  in  dieser  Beziehung  häufig  widerspricht, 
ändert  an  dieser  Darstellung  nicht  das  Mindeste.  Wie  sich  zeigen  wird,  ist  es 
gänzlich  unmöglich,  zwischen  der  Analytik  der  Begriffe  und  der  Grundsätze 
Harmonie  zu  stiften. 


Nothwendige  Corrector  der  Kantischen  „Einleitung^.  443 

auch  in  den  beiden  anderen  „Kritiken''  statt;  und  zwar  so,  dass  in  diesen 
Fällen  ein  der  obigen  Go'rrelation  entsprechendes  Verhältniss  gar  nicht 
möglich  ist.  Dieser  Parallelismns  mit  den  beiden  andern  Kritiken  ist  für 
die  Kritik  d.  r.  V.  daher  von  grosser  Wichtigkeit,  indem  er  zur  Bestätigung 
der  Entdeckung  dient,  dass  Kant  beide  Urtheilsgattungen  zwar  sachlich 
unterscheidet,  aber  forniell  vermischt,  wie  schon  S.  354  Anm.  bemerkt 
wurde  —  eine  Vermischung,  deren  hauptsächlichste  Quelle  die  principielle 
Verwechslung  der  Causalurtheile  und  des  Gausalitätsgesetzes  ist,  welche  oben 
S.  344 — 352  aufgedeckt  worden  ist. 

Dazu  treten  femer  folgende  Gründe.  Zwischen  den  synthetischen  Er- 
kenntnissen a  priori  und  dem  Princip  ihrer  Möglichkeit,  der  „Erfahrung*', 
sind  von  Kant  noch  eine  ganze  Reihe  von  Mittelgliedern  eingeschoben, 
welche  richtiger  als  die  gemeinschaftliche  Bedingung  für  jene  apriori- 
schen Urtheile  wie  für  die  Erfahrungsurtheile  («mit  kategorialem  Skelett 
im  Leibe"  v.  Leclair)  betrachtet  werden:  die  transscen dentale  Apper- 
ception  und  die  mit  ihr  zusammenhängenden  transscendentalen  Functionen 
(Apprehension,  Reproduction,  Becognition,  Einbildungskraft  u.  s.  w.),  sowie 
die  von  ihr  abhängenden  Verbindungs formen,  eben  die  12  Kategorien.  Von 
diesen  gemeinschaftlichen  Bedingungen  aus  führen  (vgl.  Krit.  A  102)  ^  zwei 
(sich  fieilich  oft  wieder  höchst  unklar  kreuzende)  Wege:  erstens  zu  den 
allgemeinen  synthetischen  Urtheilen  a  priori  (z.  B.  dem  Causalitätsgesetz), 
zweitens  zu  den  speciellen  synthetischen  Urtheilen  a  posteriori  (z.  B.  den 
Caosalurtheilen  vgl.  oben  S.  848  ff.). 

Aus  diesen  Gründen  versteht  man  Kant  wirklich  besser,  als  er  sich 
selbst  —  wenigstens  in  seiner  Einleitung,  aber  auch  später  —  verstand, 
wenn  man  sagt:  das  Problem  der  Kritik  d.  r.  V.  sind  die  synthetischen 
Urtheile  überhaupt  (vgl.  oben  854  und  356  Anm.  8),  oder  kürzer:  Die 
Erkenntniss  (vgl.  oben  8.  5  Anm.  und  859).  Es  gibt  zwei  Hauptarten 
der  Erkenntniss:  synthetische  Urtheile  a  priori  (=  Erkenntnisse  aus 
reiner  Vernunft)  und  synthetische  Urtheile  a  posteriori  (=  „Erfah- 
rungsurtheile"). Beide  Arten  werden  zum  Gegenstand  der  kritischen  Unter- 
suchung gemacht  \ 

Dass  dadurch  freilich  die  Positionen  der  Einleitung  auseinanderge- 
sprengt werden,  wurde  schon  oben  S.  857  gesagt,  und  haben  auch  die  eng- 
lischen, unbefangenen  Kantschriftsteller,  z.  B.  Lewes  (oben  S.  220)  und  selbst 
Caird  und  Adamson  (oben  S.  856  fP.)  erkannt.  Die  beiden  Letzteren  haben 
auch  richtig  gesehen,  dass  es  unmöglich  ist,  die  kantische  Einleitung  als  den 
zutreffenden  Ausdruck  der  eigentlichen  kritischen  Untersuchung  anzunehmen. 

Freilich,  da  die  Kritik  erst  allmäligdie  systematische  Gleichberechti* 
gtrng  des  Problems  der  Erfahrungsurtheile  erkennen  lässt,  weil  Kant  eben 


^  Auch  A  75  sind  beide  geschieden.  Dagegen  sind  sie  verwechselt  auch 
A  719  ff.  und  bes.  A  764  ff. 

'  Darin  besteht  auch  jenes  oben  S.  5  ff.  54  ff.  sowie  855  dargelegte  Doppel- 
Terhältniss  Kants  zum  Rationalismus  und  zum  Empirismus. 


444  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

historisch  *  von  dem  Problem  der  reinen  Vemunfburtheile  ausging,  so  könnte 
man  in  Anlehnung  an  das  bekannte  Wort  Jacobi's  fiber  die  Dinge  an 
sich  sagen: 

Ohne  die  Kantische  „Einleitung"  kommt  man  in  die  Kritik 
d.  r.  V.  nicht  hinein,  mit  ihr  aber  kann  man  nicht  in 
derselben  verharren. 

Fasst  man  jedoch,  wie  man  muss,  den  Kriticismus  als  Ganzes,  so  ver- 
hält es  sich  vielmehr  so,  dass  man  mit  der  Kantischen  Einleitung  in  den 
eigentlichen  Inhalt  der  Kritik  d.  r.  V.  gar  nicht  einzudringen  im  Stande  ist. 
Das  haben  eben  auch  die  Kantianer  selbst  behauptet,  schon  Beck,  heute 
z.  B.  Caird  und  Adamson  und  eigentlich  auch  Cohen,  nur  dass  Letzterer 
trotz  der  offenbarsten  Widersprüche  darin  Kants  Tiefsinn  findet,  worin  jene 
unbefangeneren  Britten  Kante  Unklarheit  sehen. 

Kants  Einleitung  ist  also  im  Interesse  der  Erklärung  des  ganzen 
inneren  durchschnittlichen  Inhalte  der  Kritik  in  der  angegebenen  Weise  zu 
ergänzen  und  zu  ersetzen  —  trotzdem  sie  zum  äusseren  Gange  derselben 
passt.  Kante  Kriticismus  ist  eben  eine  Reihe  successiver,  sich  ergänzender, 
fortbildender,  sich  auch  wiederholender  und  daher  sich  oft  widersprechender 
Darstellungen,  enthalten  theils  schon  in  den  einzelnen  Theilen  und  Auflagen 
der  Kritik  d.  r.  V.  selbst,  theils  in  den  übrigen  kritischen  Schriften.  Ans 
diesen  schillernden  und  schwankenden,  streitenden  und  sich  verbessernden 
Darstellungen  das  durchschnittliche,  schematische  Iformalbild  des  Kriticis- 
mus herauszupräpariren,  ist  daher  eine  mögliche  und  nothwendige  Aufgabe 
des  Geschichtschreibers  der  Philosophie,  welcher  den  Gehalt  der 
mächtigen  Gedankenmassen  richtig  wiedergeben  will:  das  ermöglicht  aber 
nur  die  mikroskopische  (nicht  mikro logische)  Arbeit  der  Philologen. 
Ohne  gewissenhafteste  Detailforschung  mussten  jene  schweren  Irrthümer  über 
Bedeutung  und  Inhalt  der  Einleitung  entetehen,  die  wir  früher  kennen 
lernten  und  die  uns  jetzt  noch  einmal  beschäftigen  müssen. 

22)  Die  ausserordentliche  Complicirtheit  der  Kantischen  Gedanken- 
gänge erklärt  und  entschuldigt  nun  auch  die  geradezu  babylonische  Sprach- 
verwirrung der  Kantliteratur  über  diese  Punkte,  wie  diese  selbst  umgekehrt 
ein  S3rmptom  jener  Complicirtheit  bei  Kant  ist.  Es  herrscht  hierin  ein  er- 
schrecklicher Mangel  an  Klarheitebedürfniss,  ein  chaotisches  Durcheinander, 
welches  nur  durch  seine  Wirklichkeit  glaublich  wird,  welches  aber  um  so 
gefährlicher  ist,  als  man  diese  Verwirrung  bisher  gar  nicht  beachtete,  viel- 
leicht auch  der  Schwierigkeit  der  Sache  halber  sich  nicht  unabsichtlich,  viel- 
leicht sogar  vorsichtig  einer  entecheidenden  Behandlung  überhob.  Ein  Fort- 
schritt ist  aber  nicht  möglich,  ohne  dass  man  neben  der  Erklärung  der 
Kritik    der   reinen  Vernunft  selbst   auch   die  Widersprüche  in   der   Kant- 


'  Darin  besteht  jene  von  Adamson  Mind  Vol.  VI,  8.  559  mit  Recht  verlangte 
historische  Erklärung  der  Kritik  (und  ihrer  Widersprüche);  eine  individnal- 
historische  (vgl.  oben  Vorrede  F.  VII),  welche  von  der  von  Fischer  (oben  8.  25) 
geforderten  universalhistorischen  wohl  zu  unterscheiden  ist 


Verwirrung  in  der  Literatur.  445 

literatnr  entschlossen  im  hellsten  Tageslicht  objectiver  Forschung  zer- 
gliedert. 

Wie  schon  S.  353 — 359  bemerkt  wurde,  werden  die  sub  18—21  be- 
handelten Fragen  in  der  Literatur  unterschiedslos  vermischt.  Wo  man  auf 
diese  beiden  Probleme  —  Problem  der  reinen  Vemunfberkenntniss  und  der 
Erfahrung  —  zu  sprechen  kommt,  begegnet  man  dem  unklarsten,  schlechtver- 
deckten methodologischen  Schwanken.  Fast  durchgängig  findet  Identification 
beider  Probleme  statt.  Entweder  man  geht  mit  Kant  von  den  synthetischen 
ürtheilen  a  priori  aus  und  vermischt  damit  die  „Erfahrung*  \  oder  man 
geht  von  der  „Erfahrung"  aus  und  identificirt  mit  ihr  das  erstere  Problem. 
Das  Eine  findet  bei  Fischer,  das  andere  bei  Cohen  statt,  bei  jen^m  zeigt 
sich  daher  das  Bestreben,  durch  unklare  Bedewendungen  und  schwankende 
Begriffe  die  „ Erfahrung'  auf  die  synthetische  Erkenntniss  a  priori  zu  redu- 
ciren,  während  bei  diesem  das  Umgekehrte  stattfindet. 

Was  Fischer  betrifft,  so  wurde  auf  seine  Irrthümer  hierin  schon 
S.  352.  354  hingewiesen.  Man  vgl.  Fischer  lU,  15  ff.  28.  39.  254.  267. 
269.  312  f.  364.  482.  601.  IV,  3  ff.  Sehr  charakteristisch  ist  die  Art  und 
Weise,  wie  S.  284—292.  294  die  Verwechslung  zu  Stande  kommt.  Fischer 
beginnt  S.  284  mit  dem  Unterschied  der  analytischen  und  synthetischen 
Urtheile,  fügt  erst  dann  die  Bestimmung  des  Apriorischen  hinzu  und  de- 
finirt  „Erkenntniss"  286  als  „ein  synthetisches  Urtheil,  welches  den  Charakter 
der  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  hat",  oder  287  als  ein  Urtheil,  „welches 
eine  nothwendige  und  allgemeingültige  Verknüpfung  verschiedener  Vor- 
stellungen bildet,  also  zugleich  synthetisch  und  apriorisch  ist".  Diese  Definition 
des  synthetischen  Urtheils  a  priori  ist  aber  falsch,  weil  zu  weit.  Denn  bei 
Kant  besteht  dasselbe  nicht  bloss  in  der  allgemeingültigen  Verknüpfung 
verschiedener  Vorstellungen,  sondern  in  der  apriorischen  Synthese  von 
Begriffen,  welche  selbst  ihrerseits  a  priori  sind,  wie  oben  S.  195  f. 
211  f.  ausführlich  erörtert  wurde.  Diese  letztere  Bestimmung  lässt  nun 
Fischer  hinweg  und  damit  ist  der  Irrthum  eingeleitet.  Jene  zu  weite  Definition 
erlaubt  es  Fischer  nachher  (bes.  350  ff.),  auch  das  synthetische  Urtheil 
a  posteriori,  welches  eine  kategoriale  Synthese  einschliesst ,  also  das  „Er- 
fahrung surtheil"  als  synthetisch  a  priori  zu  bezeichnen.  Für  Kant  aber 
sind  nur  die  Erfahrungsgrundsätze,  nicht  das  Erfahrungs urtheil  n syn- 
thetisch a  priori",  (obgleich  das  Letztere  auch  eine  „Synthesis  a  priori"  durch 
die  kategoriale  Function  einschliesst.)  Der  Ausdruck  „Erkenntniss"  schliesst 
beides  ein ',   manchmal  gebraucht  Fischer  auch  den  Ausdruck  „Erfahrung" 


'  Man  kann  häufig  lesen,  dass  in  dem  Problem  der  synthetischen  Urtheile 
a  priori  alle  Probleme  gipfeln.  So  elastisch  dieses  Problem  ist,  wie  wir  oben 
sahen,  so  ist  diese  z.  B.  von  Knauer,  Gesch.  d.  Phil.  168,  Ktrchner,  Logik  80, 
Kunze,  Kant  13  ausgesprochene  Ansicht  doch  den  obigen  Ausführungen  nach 
nicht  richtig. 

*  Ganz  so  auch  bei  Cohen,  z.  B.  243;  sowie  bei  Zimmermann,  Ks.  matb. 
Vorurtheil  3.  14.  30.  32,  während  ib.  S.  34  Beides  richtig  geschieden  ist. 


446  Ezcurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

selbst  für  beides,   welche  Vermischong  schon  ^  oben  S.  188  f.  gerügt  wurde 
und  sich  leider  häufig  findet,  z.  B.  auch  bei  Biehl  S.  340. 

Was  bei  Fischer  der  Fall  ist,  findet  sich  nun  auch  bei  Cohen,  worauf 
schon  oben  S.  354  Anm.  gebührend  aufmerksam  gemacht  wurde.  Man  kann 
verfolgen,  wie  Cohen  z.  B.  40.  47.  48.  80.  121.  166.  181  u.  ö.  die  ^transscenden- 
tale  Frage'  gftnzlich  verschieden  formulirt,  ganz  beliebig  bald  so,  bald  so;  wie 
Erfahrung,  apriorische  Erfahrung,  Erkenntniss,  synthetische  Uftheile  a  priori, 
Synthesis  a  priori,  Kategorien,  Sätze  —  Alles  —  in  unklarster  Weise  durch- 
einandergeht. Wohl  hat  er  die  Wichtigkeit  des  Problems  der  Erfahrung 
eingesehen:  aber  überall  verwechselt  er  damit  die  Frage  nach  den  synthe- 
tischen Urtheilen  a  priori,  und  hat  weder  von  der  ursprünglichen  Cor- 
relation  noch  von  der  späteren  Co  Ordination  beider  Fragen  eine  richtige 
Vorstellung.  Das  ist  um  so  schlimmer,  als  die  , Theorie  der  Erfahrung"* 
eine  sehr  grosse  Wirksamkeit  ausübt,  so  dass  man  gerade  diese  prin- 
cipielle  Unklarheit  bei  allen  denjenigen  findet,  welche  sich  durch  das 
nichtsdestoweniger  höchst  bedeutende  Buch  beeinflussen  Hessen.  Diese  Wirk- 
samkeit bis  ins  Einzelne  zu  verfolgen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Wir  müssten 
unsern  Weg  bis  zu  den  unbedeutendsten  Programmen  und  Dissertationen 
fortsetzen. 

Die  selbständigsten  von  Cohen  beeinflussten  Kantianer '  sind  Riehl 
und  Stadler.  Der  Erstere  scheint  Kritic.  I,  166 — 171  wenigstens  das  Ver- 
hältniss  der  Correlation  der  beiden  Probleme  erkannt  zu  haben;  leider  sind 
viele  andere  Stellen,  so  62,  206  ff.  248,  282,  286,  340,  388  f.  dagegen  un- 
klar und  unbestimmt.  Aber  richtig  erkennt  er  wieder  205  f.,  dass  Kants 
Darlegung  «in  ihren  scholastischkünstlichen  Wendungen  den  inneren  Zu- 
sammenhang mehr  verdeckt  als  enthüllt".  Also  nicht  bloss  Gegner  Kants, 
wie  Lewes  (Problems  oflife  I,  442)  finden  in  der  Einleitung  „confused  staie' 
ments*'.  Auch  Stadler  kommt  hierüber  zu  keiner  Klarheit.  Es  scheint 
zwar  am  Anfang  von  „Ks.  Teleologie"  S.  1,  als  erkenne  er  die  Coordination 
der  beiden  Fragen  und  die  Unklarheit  der  Proleg.  §  37;  aber  im  weiteren 
Verlauf  verschwindet  dieser  vereinzelte  Lichtblick.  Ib.  S.  5  ff.  scheint  die 
Correlation  beider  Fragen  geahnt  zu  sein.  Allein  in  dem  späteren  Werke 
, Reine  Erkenntnisstheorie'  werden  beide  Fragen  S.  5.  43.  126.  140  (Anm.  «^O) 
offenbar  verwechselt.  Dagegen  erkennt  Stadler  S.  87  f.  ganz  richtig,  «dass 
auch,  die  sog.  synthetischen  Urtheile  a  posteriori  einer  Erklärung  ihrer 
Möglichkeit  bedürfen'',  nur  dass  er  in  der  Anmerkung  dazu  (S.  149)  die  ent- 
gegengesetzte Behauptung  Kants  in  der  Einleitung  (vgl.  oben  S.  285  mit 
353)  falsch  auslegt.  Da  er  dabei  den  Hauptwerth  auf  das  Synthetische 
legt,   was  nach  S.  354  oben  Anm.  eher  nebensächlich  ist^,    so  erkennt  er 


'  Dieselbe  liegt  auch  der  falschen  Recapitulation  zu  Grunde^  welche  Fischer 
V,  5—8  von  der  Kf.  d.  r.  V.  gibt. 

•  Dieselbe  Verwirrung  auch  in  desselben  „Ks.  Ethik"  S.  24  f. 

'  Gänzlich  unklar  ist^  was  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  125  ff.  131  (11.  22. 
28.)  sagt. 

^  Es  spielt  hier  ein   erst  im   Commentar   zur  Analytik  zu  besprechender 


Verwirrung  in  der  Literatur.  447 

seltsamerweise  nicht  die  Identität  dieses  Problems  mit  dem  Problem  der 
Erfahrungsurtheile,  das  er  doch  S.  110  f.  127  ff.  bei  den  speciellen  Cau- 
salurtheilen  abhandelt,  wobei  aber  Caasalbegriff  nnd  Causalitätsgesetz  nicht 
genug  geschieden  sind  (vgl.  ib.  S.  143  ff.).  Und  doch  war  er  der  Erkennt- 
niss  des  Richtigen  sehr  nahe,  indem  er  S.  10.  27.  28  als  Thema  der  Kritik 
die  ,nothwendigen  ürtheile''  bezeichnet,  worunter  er  beide  Ürtheilsgattiingen, 
die  synthetischen  a  priori  und  die  ,Erfahrangsurtheile"  zusammenfasst* 
Andererseits  werden  aber  diese  Erfahrungsnrtheile  zu  der  Erfahrungsein- 
heit  in  keinen  Zusammenhang  gebracht,  welche  nach  S.  48.  53  f.  58.  64. 
67  f.  85.  87.  98.  106.  116  f.  126.  131.  139.  142  f.  148  das  Ablertungs- 
prineip  für  die  „Grundsätze  der  reinen  Erkenntnisstheorie "  ist.  So  kommt 
auch  dieser  scharfsinnige  Denker  zu  keiner  Klarheit,  wiewohl  er  mit  aner- 
kennenswerther  Unbefangenheit  dem  Kanttext  keineswegs  sclavisch  gegen- 
übersteht (ib.  Vorr.  IV  u.  S.  144). 

Bei  den  englischen  Kantschriftstellern,  welche  aus  Fischer  nebst  Cohen 
schöpften,  (vgl.  oben  423  f.)  ist  die  , Erfahrung"  immer  so  gefasst,  dass  sie 
die  Grundsätze  miteinschliesst ,  und  dass  die  Frage  nach  der  Möglichkeit 
der  Erfahrung  mit  der  nach  den.  synthetischen  Urtheilen  a  priori  einfach 
identificirt  werden  kann.  Da  geht  dann  Experience,  Natur e,  scientific 
hnmoledge,  Natur  (=  Erfahrung)  und  Naturwissenschaft  u.  s.  w.  in  heil- 
losester Weise  durcheinander.  In  der  denkbar  willkürlichsten  Weise  springt 
man  durch  äquivoke  Begriffe  von  dem  Einen  auf  das  Andere  über,  womit 
dann  die  beständige  Vermischung  der  kategorialen  Functionen  mit  den 
Grundsätzen  Hand  in  Hand  geht.  Besonders  bei  Watson  ist  dies  der  Fall, 
welcher  die  „special  facts  of  ordinary  knotvledge^  und  die  „Laws  of  the  mathe- 
matics  and  physical  science"  mit  grosser  Consequenz  confandirt,  seinem  Gegner 
BalfouT  aber,  welcher  daran  Anstand  nimmt,  den  Mangel  an  „thorough  fami- 
liarUy  wüh  the  suhject^  vorwirft  1  Wie  richtig  sagt  dagegen  der  Letztere: 
^Cansistency  isnotto  he  expected  in  Kant:  but  we  have  some  right,  to  ask  that 
Jds  modern  exponents  shotUd  do  something  more  than  repeat  his  inconsistencies 
in  a  crude  and  unquaUfied  form^.    Vgl.  oben  423.  424.  429. 

Man  muss  somit  Cantoni  Recht  geben,  welcher  (wie  schon  Witte, 
Beitr.  Vorr.  VII)  meint,  die  secundäre  Literatur  trage  vielmehr  zur  Ver- 
dunkelung als  zur  Erklärung  Kants  bei,  und  klagt,  die  „discordanza^  ins- 
besondere „fra  i  Tedeschi"  verwirre  den  Leser  vollständig,  aber  man  darf 
zur  Entschuldigung  nicht  vergessen,  dass  daran  Kants  eigene,  grosse  Ver- 
wirrung die  meiste  Schuld  trägt,  eine  Verwirrung,  welche  im  Dötail  auf- 
zudecken sehr  viel  Zeit  und  Mühe  erfordert. 

28)  Fassen  wir  alles  Bisherige  zusammen,  so  ist  wenigstens  dies  un- 
zweifelhaft: Kants  Kritik  d.  r.  V.  ist  ein  ausserordentlich  complicirtes  Gewebe 
von  zusammenhängenden  Problemen,  bei  dessen  Analyse  an  Stelle  der  bis- 
herigen synkretistischen  Methode  eine  viel  schärfere  Differenziirung  der  einzel- 


Doppelsinn  von  synthetisch  herein^  über  den  man  vorlänfig  Caird^  Kant  228  ff. 
vergleiche. 


448  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V. 

nen  Gedankenfaden  zu  treten  hat.     Erörtern  wir  diese  drei  Punkte   noch 
im  Einzelnen: 

a)  Die  Kritik  d.  r.  Y.  lässt  sich  nicht  auf  ein  einziges  Problem  redu- 
ciren^  sondern  sie  ist  ein  merkwürdig  kraus  verschlungener  Knftuel  von  Pro- 
blemen (von  denen  wir  indessen  bisher  keineswegs  alle  herausgestellt  haben, 
sondern  nur  diejenigen,  welche  aus  der  Erklärung  der  Einleitung  B  I— VI 
sich  ergaben).  Ihre  Zusammenstellung  ergibt  sich  aus  dem  sub  2.  3.  5.  17. 
18.  19.  21  Gesagten.  Diesem  verfilzten  Problemgeflechte  entspricht  das 
, Beweisgestrüpp"  (Laas),  jenes  methodologische  „Argumentationslabjrinth'^, 
wie  es  ausser  sub  7.  9.  10.  12.  13.  14  besonders  sub  16.  20  dargestellt  wurde. 
So  entsteht  bei  Kant  „the  tangled  knot  of  his  theory" ,  (wie  ein  Kantianer  ^ 
sich  ausdrückt),  den  aufzudröseln  („to  unravel^)  unendlich  schwierig  ist 
Die  prononcirte  Voranstellung  des  sog.  Hauptproblems  hat  immer  dazu  ver- 
fuhrt, die  Argumentation  der  Kritik  d.  r.  Y.  sozusagen  für  geradlinig  und 
einfach  zu  halten,  während  die  Gedankenwelt  derselben  ein  Ganzes  reich 
verketteter,  in  Wechselwirkung  stehender  und  durcheinanderlaufender  Fäden 
ist;  denn  es  sind  nicht  blos  mehrere  zu  unterscheidende  Gedankenfaden, 
sondern  diese  stehen  auch  wieder  untereinander  in  engster  Beziehung,  in 
functioneller  Abhängigkeit.  So  vielgliedrig  das  Problembündel  ist,  so 
polyphonisch  verschlungen  ist  die  Beweisführung.  Es  ist  gänzlich  unmöglich, 
die  Kritik  d.  r.  Y.  sozusagen  auf  Eine  Linie  anzutragen;  nur  ein  mehr- 
axiges  Coordinatensjstem  von  Problemen  ist  im  Stande  den  Reichthum  der- 
selben aufzunehmen.  Und  da  diese  Probleme  aufis  innigste  ineinandergreifen, 
so  kann  man  eher  von  einem  Organismus  derselben  sprechen,  in  welchem  alle 
Theile  von  einander  abhängig  sind,  weil  sie  alle  aus  dem  sub  2  behandelten 
Urproblem  wie  aus  ihrer  Mutterzelle  im  Laufe  der  Entwickelung  entstanden 
sind,  theils  aus  innerer  logischer  Consequenz  theils  zufolge  äusserer  An- 
stösse.  Nur  ist  wohl  zu  beachten,  dass  die  Argumentationen  der  Kritik 
d.  r.  .Y.  keineswegs  immer  ein  solch  harmonisch-organisches  Ineinander 
darstellen,  sondern  häufig  ein  verworrenes  Durcheinander,  dessen  methodo- 
logische Analyse  daher  doppelt  und  dreifach  schwierig  ist.  Weil  die  Kritik 
d.  r.  Y.  weder  äusserlich  noch  innerlich  (historisch  und  logisch)  ein  einheit- 
liches Werk  ist,  darum  ist  sie  ein  so  anerkannt  , dunkles"  Buch,  ein  Laby- 
rinth, dessen  verschlungener  Bau  durch  die  bestechende  „Architektonik*  der 
gleichmässigen  Fa^ade  verdeckt  wird.  Rechnet  man  dazu  jene  schlüpfrige 
Yieldeutigkeit  aller  Termini  bei  Kant  *  und  so  viele  andere  die  Dnnkel- 
heit  vermehrende  Momente,  —  wahrlich  —  so  ist  die  Kritik  d.  r.  Y.  „insta- 
bilis  tellus,  innabilis  unda^ ,  so  ist  ihre  Bewältigung  eine  viel,  viel  müh- 
seligere Aufgabe,  als  man  oft  glaubt. 


^  F.  Adler,  Discourse  zum  Kant- Jubiläum,  abgedr.  im  „Index"  8.  Dec.  1881 
(Hoston). 

^  Mit  Recht  redet  Liebmann,  in  Fichte's  Zeitschr.  LXY,  101  von  Kants 
„vieldeutigem  Lapidarstil",  den  „in  ein  lakonisches,  ja  orakelhaftes  Dunkel  ge- 
hüllten Conceptionen"  desselben. 


„The  tangUd  knot  of  Ks.  theory."'    Methode  der  ^uflösang.  449 

b)  Das  gewöhnliche  Bestreben  der  Erklärer  Kants  ist  gegenüber  der 
nothwendigen  analytischen  Differenziirung  auf  synthetische  Vereinfachung 
gerichtet;  daraus  entspringt  leicht  grosse  Verwirrung,  von  der  wir  sub  4. 
8.  11.  22  überraschende  Proben  gefunden  haben.  Entweder  werden  die  ver- 
schiedenen Probleme  der  Kritik  d.  r.  V.  in  synkretistischer  Weise  mit 
einander  verwechselt,  so  dass  Erklärung,  Beweis,  Neubegründung  u.  s.  w., 
dass  synthetisch  a  priori  und  a  posteriori  beständig  durch  einander  gehen, 
oder  es  wird  willkürlich  von  allem  übrigen  abstrahirt  und  nur  Ein  Problem 
herausgegriffen.  Im  ersteren  Falle  entsteht  ein  unlogisches^  disharmonisches 
Stimmengewirre ;  und  wer  das  Zweite  thut,  will  so  zu  sagen  eine  Oper 
durch  einen  Klavierauszug  ersetzen.  Durch  das  Herausgreifen  Einer  Seite 
erklären  sich  die  so  stark  abweichenden  Darstellungen  Kants,  wie  schon 
oben  S.  59  ff.  bei  Erörterung  des  sog.  Hauptzweckes  ausgeführt  wurde, 
während  S.  49  ff.  die  merkwürdige  Verschlungenheit  des  Kriticismus  dar- 
gestellt worden  ist. 

c)  Der  falschen  Methode  gegenüber,  welche  bald  synkretistisch  die 
Probleme  verwechselt,  bald  in  willkürlicher  Abstraction  einseitig  nur 
Eines  herausgreift,  muss  somit  bei  dem  dargelegten  Sachverhalt  auf  die 
richtige  Methode  gedrungen  werden,  welche  in  scharfer  Differenziirung 
der  Probleme  besteht,  deren  organisches  Zusammenwirken  auch  organisch 
darzustellen  ist.  Analyse  und  Synthese  sind  auch  hier  nicht  zu  trennen, 
wenn  man  exaet  verfahren  will.  Nichts  ist  aber  gefährlicher,  als  die  Voraus- 
setzung, der  unendliche  Reichthum  der  Kantischen  Argumentationen  lasse 
sich  mit  einigen  wenigen  einfachen  *  Schlagworten  abmachen.  Das  ist  ebenso- 
wenig möglich,  als  der  fliessenden  Bewegung  der  Curven  mit  Elementar- 
Mathematik  beizukommen  ist.  Noch  schlimmer  aber  ist  die  andere  Voraus- 
setzung, die  wir  mit  dem  protestantischen  Grundsatz  der  Perspicuüas  der 
Bibel  vergleichen  können,  jene  Voraussetzung,  die  Kritik  d.  r.  V.  sei  ein, 
wenn  auch  dunkel  geschriebenes,  so  doch  logisch  klar  gedachtes  Werk. 
In  beiden  Punkten  hat  Volkelt  in  anerkennenswerther  Weise,  wenn  auch 
mit  ganz  unzulänglichen  Mitteln  die  Zerstörung  vielverbreiteter  Vorurtheile 
begonnen.  'Die  Kritik  d.  r.  V.  ist  viel  complicirter,  als  man  gemeinhin 
glaubt;  und  es  herrscht  in  ihr  viel  mehr  immanente  Unklarheit,  als  viele 
Kantianer  zugeben  wollen.  Beides  erklärt  sich  zum  Theil  aus  dem  allmäligen 
Anschiessen  und  Anwachsen  der  Gedanken  im  Geiste  Kants ;  daher  die  philo- 
logische Methode  überall  die  rein  logische  Analyse  durch  historisch-psycho- 
logische' Untersuchung  zu  ergänzen  hat.  Darum  ist  auch  vor  dem  Vorurtheil ' 
zu  warnen,  „die  Kantfrage  sei  durch  die  bisherige  Literatur  zu  befriedigendem 
Abscbluss  gebracht".    Die  dargelegten  Verwirrungen  zwingen  zu  der  gegen- 


*  Auch  Windel  band,  Gesch.  d.  n.  Philos.  II,  49  wendet  sich  gegen  die 
Meinung,  „Kants  Entwicklungsgang,  der  Grundstock  seiner  Ansichten ,  und  seine 
Methode  lassen  sich  in  eine  einfache  Formel  bringen".  Vgl.  ib.  13 — 16.  42. 
47  flF.  53. 

«  Rehmke  über  Volkelt  in  den  Gott.  Gel.  Anz.  1882,  Nr.  5,  S.  152. 
Valhinger,  Kant-Coxnmentar.  29 


450  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

theiligen  Annahme :  besteht  doch  schon  über  die  Probleme,  welche  sich  Kant 
stellt,  die  grösste  Unklarheit.  Es  sind  ja  sehr  verschiedene,  wenn  auch  eng 
zusammenhängende  kritische  Untersuchungen,  die  Kant  unter  dem  Gesammt- 
titel:  Kritik  der  reinen  Vernunft  zusammenfasst,  den  er  im  folgenden 
VII.  Abschnitt  einführt. 


Erklärung  von  A,  S.  10—16  =  B,  Absclin.  VII, 

S.  24-30. 

Idee  und  Eintheilung  der  ^^Kritlk  der  reinen 

Vernunft". 

A 10.  B  24.  [B  24.  H  48.  E  64.] 

Idee  einer  Wissenschaft  ^  die  Kritik  der  reinen  Ternnnft  [lieissei 
kann].  Vgl.  B.  Erdmann  in  der  Deutschen  Bundschau,  VIII,  2,  S.  253  bis 
278:  ,Die  Idee  von  Ks.  Kritik  d.  r.  V.*'  Erdmann  sucht  (vgl.  oben  62.  67  f. 
384  f.  auch  364.  371.  409)  nachzuweisen,  dass  „die  Idee  der  Kr.  d.  r.  V. 
die  nothwendige  und  allgemeingültige  Grenzbestimmung  der  Begriffe  des 
reinen  Verstandes"  sei,  indem  er  die  Termini  »Idee*',  , Wissenschaft*,  »Kri- 
tik", „reine  Vernunft"  u.  s.  w.  analysirt  und  eine  kurze  Entwicklungs- 
geschichte Kants  gibt.  Hiegegen  ist  an  dieser  Stelle  (Weiteres  in  einem 
eigenen  Excurs  über  den  „Hauptzweck")  zu  bemerken:  1)  aus  unserer  bis- 
herigen Analyse  der  Einleitung,  besonders  S.  385  ff.  folgt,  dass,  wenn  Kant 
sagt:  „Aus  diesem  allem  ergibt  sich  nun  die  Idee"  u.  s.w.,  damit  eben 
der  ganze  detaillirte  Problembestand  gemeint  ist,  der,  wie  mannigfaltig  er 
auch  sei,  sich  doch  immer  nur  auf  die  zwei  zusammengehörigen  Hauptfragen 
reduciren  lässt :  Wie  ist  immanente  Vernunfterkenn tniss  möglich  ?  Ist  trans- 
scendente  Vernunfterkenntniss  möglich?  obgleich  Kants  eigene  Unklarheit 
bald  die  eine,  bald  die  andere  mehr  vorschiebt.  (Vgl.  auch  Fischer  IH,  77.) 
2)  Dieselbe  Unklarheit  wird  durch  die  folgenden  Untersuchungen,  besonders 
über  den  Titel,  aufgedeckt;  es  kommen  eben  immer  dieselben  beiden  Seiten 
zum  Vorschein :  Kant  will,  wie  er  schon  im  Brief  an  Herz  von  1 772  sagt 
(vgl.  oben  153),  „die  reine  Verstandeseinsicht  dogmatisch  begreiflich 
machen  und  deren  Grenzen  zeigen".  Will  man  Beides  in  „einen  einigen, 
obersten  und  inneren  Hauptzweck "  (A  832  f.)  zusammenfassen :  so  ist  dieser 
die  Beurtheilung  der  Erkenntniss  a  priori,  ihre  Untersuchung,  ihre  Prü- 
fung, ihre  Theorie;  diese  Theorie  befasst  gleichmässig  jene  beiden  Seiten 
in  sich,  deren  keine  —  trotz  aller  Widersprüche  Kants  an  einzelnen  Stellen 


Die  „Idee"  einer  Kritik  der  reinen  Vernunft.  451 

[B  24.  H  48.  E  64.]  A 10. 11.  B  24. 

oder  vielmehr  wegen  derselben  —  vom  Commentator  einseitig  als  Haupt- 
zweck herausgehoben  und  zur  Grundlage  der  Interpretation  gemacht  werden 
darf.  3)  Jene  Beurtheilung  (in  ihren  beiden  Seiten)  ist  Kants  „Idee" ;  in 
diese  „Idee''  als  den  „Plan"  darf  die  vollzogene  Grenzbestimmung  auf  die 
Erfahrung,  das  Resultat  der  Untersuchung  nicht  schon  aufgenommen 
werden.  Es  handelt  sich  hier  immer  noch  um  die  Frage  nach  den  Grenzen 
(als  um  die  Eine  der  beiden  Hauptseiten),  noch  nicht  um  die  Antwort. 
4)  Was  Seite  67  Anm.  I  und  384  bemerkt  wurde,  dass  Erdmanns  einseitige 
Auffassung  seiner  Parteistellung  entspringe,  zeigen  die  Bemerkungen  des- 
selben a.  a.  0.  258.  273:  demnach  liegt  die  „Führung  Kants"  für  die  „philo- 
sophische Arbeit  unserer  Tage"  eben  in  der  Grenzbestimmung,  im  Gegensatz 
zum  Dogmatismus.  Hat  Kant  —  unserer  Auffassung  nach  —  mit  dem  Dog- 
matismus aber  eine  Hauptseite,  Bettung  des  Rationalismus,  gemein,  so  könnte 
er  eben  im  Sinne  Erdmanns  nicht  dieser  „Führer"  sein.  Diese  Voraus- 
setzung, Kant  müsse  auch  für  die  gegenwärtige  und  zukünftige  Philosophie 
, Führer"  sein,  beeinträchtigt  die  Unbefangenheit  der  Auffassung. 

Zur  Sache  selbst  ist  noch  zu  bemerken:  Wissenschaft  hat  bei  Kant 
den  prägnanten  Sinn,  welcher  oben  S.  33.  35.  124.  132  ff.  336.  431  zur  Be- 
handlung kam:  d.  h.  die  Ausführung  muss  ex  principiis  geschehen.  Aber 
nicht  bloss  die  Ausführung,  auch  die  „Idee",  der  Plan  selbst  ist  ein  aus 
der  Vernunft  selbst  geschöpfter  Begriff,  nicht  bloss  eine  vage  Vorstellung ; 
über  diesen  prägnanten  Sinn  s.  die  unten  S.  479  mitgetheilten  Stellen  Krit. 
644  ff.  und  bes.  832  ff.  Jener  Vernunftbegriff  enthält  den  Zweck  eines 
Ganzen,  aus  dem  sich  die  Theile  a  priori  ableiten  lassen.  Vgl.  Erdmann,  Nach- 
träge S.  58  über  die  Idee  als  „deductiv  bestimmende  Apperceptionsmasse". 
(Es  heisst  Jede  Erkenntniss  rein  u.  s.  w.)  Diese  Stelle  ist  in  der 
II.  Aufl.  weggelassen:  mit  Recht,  weil  sie  ungenau  war.  Sie  wurde  ersetzt 
durch  die  Bemerkungen  der  Einl.  B,  Abschn.  I  u.  II,  wo  sich  schärfere  Be- 
stimmungen finden,  wenn  sie  auch  erst  durch  die  S.  195.  211  angeführten 
Nachträge  erhellt  werden.  Rein  hat  nach  jenen  Stellen  die  beiden  Bedeu- 
tungen: unabhängig  von  Erfahrung,  unvermischt  mit  Erfahrung. 
Hier  aber  wurde  nur  die  letztere  Definition  verwendet.  Zunächst  wird 
überhaupt  rein  (jedoch  sogleich  mit  Bezug  auf  Erkenntniss)  definirt  als  un- 
vermischt mit  Fremdartigem.  Dann  wird  „schlechthin  rein"  identificirt  mit 
„völlig  a  priori",  während  man  erwarten  konnte,  es  sollte  zunächst  von  der 
Erkenntniss  die  apriorische  ausgeschieden  werden,  und  diese  dann  erst  in 
reine  und  gemischte  eingetheilt  werden.  Dies  geschieht  auch  factisch  in  den 
beiden  folgenden  Sätzchen,  jedoch  so,  dass  „rein"  jetzt  den  Gegensatz  des 
absoluten  Apriori  zum  relativen  bezeichnet.  Der  Satz:  „Besonders  aber" 
war  somit  eine  unreine  Vermischung  der  beiden  Bedeutungen.  Somit  ist  die 
Weglassung  genügend  begründet ;  aber  die  II.  Aufl.  enthält  trotzdem  Schwie- 
rigkeiten. Ein  besonderes  Supplement  behandelt  die  verschiedenen  Be- 
deutungen von  „Rein"  bei  K.  und  gibt  eine  üebersicht  sämmtlicher 
Stellen,  die  diesen  Ausdruck  definiren. 


452  Commentar  zur  Einleitang  A^  8.  10—16  =  B^  Abschn.  VIL 

AlO.U.  B24.  [R  S4.  H  48.  49.  E  64.] 

Der  Terminus  i,rein^  ist  ein  uralter.  Es  ist  jenem  besonderen  Supple- 
ment vorbehalten,  die  Entwicklungsgeschichte  dieses  Terminus  von  Thaies, 
Anaximenes,  Heraclit,  An  ax  im  an  der,  Anaxagoras  an  durch 
Piaton  und  Aristoteles  hindurch  bis  auf  Leibniz  und  Kant  zu  ver- 
folgen. Daselbst  wird  dann  auch  der  frühere  Gebrauch  der  „pure  raison^ 
der  „pura  ratio^  bei  Leibniz  und  seiner  Schule  (im  Anschluss  an  die  vöirjot^ 
Piatons)  behandelt,  wo  der  Sinn  ein  anderer  als  bei  Kant  ist,  wie  ja  auch 
a  priori  daselbst  einen  anderen  Sinn  hat,  wenn  auch  spätere  Schriftsteller 
wie  Lambert  sich  der  K.'schen  Terminologie  annähern  und  ihr  vorarbeiten. 
Bei  den  Oriechen  spielt  das  xad-apov,  tiXtxpivs^,  &n6Xt>Tov,  fixpatov  in  erkenntniss- 
theoretischer und  metaphysischer  Hinsicht  eine  höchst  bedeutende,  bis  jetzt 
noch  nicht  genügend  gewürdigte  Rolle.  Ihm  steht  gegenüber,  wie  bei  K. 
das  oo^pLifi«;»  das  Vermischte;  das  Sinnliche  ist  eine  unreine  Beimischung, 
wovon  man  sich  Xoetv,  nach  Kant  „befreien",  „säubern",  „läutern",  „waschen*, 
muss.  Besonders  in  der  „Republik"  von  Piaton  spielt  das  xaO«p6v  eine  grosse 
Rolle.  Im  Anschluss  an  Republ.  IX  (9)  572  A  könnte  man  Kritik  d.  r.  V. 
übersetzen:  „4j  toö  XofWTtxoö  ahxob  xaO-'  äbxb  {jlovov  xa^apou  xpiat^". 

Ternunft  das  Termögen  u.  s.  w.  Man  darf  diese  Definition  noch  nicht 
so  verstehen,  als  werde  die  Vernunft  bestimmt  als  ein  Vermögen,  welches 
selbst  apriorische  Erkenntniss  enthalte.  Der  Sinn  der  Definition  wird  klar 
durch  die  übrigens  nicht  ganz  in  sich  harmonischen  Bestimmungen  am  An- 
fang der  Dialektik  (299  AT.);  darnach  ist  Vernunft  überhaupt  dasjenige  Ver- 
mögen, welches  die  allgemeinen  Obersätze  aufsucht  und  aufstellt,  aus  denen 
das  Einzelne  dann  deductiv  abgeleitet  wird.  „Ich  bestimme  mein  [einzelnes] 
Erkenntniss  durch  das  Prädicat  der  [allgemeinen]  Regel,  mithin  a  priori  durch 
die  Vernunft"  304.  Es  f^Ut  somit  dieses  Apriori  vollständig  zusammen  mit 
dem  relativen  Apriori  oben  192.  In  der  Dialektik  wird  erst  davon  dann 
der  „reine  Gebrauch  der  Vernunft"  unterschieden;  in  diesem  Falle  ist  sie  selbst 
ein  eigener  Quell  von  Begriffen  und  ürtheilen,  „die  lediglich  aus  ihr  ent- 
springen". Diese  Bestimmung  ist  nun  identisch  mit  dem  folgenden  Satze, 
wonach  reine  Vernunft  die  Principien  enthalte,  etwas  absolut  a  priori  zu 
erkennen  \  Somit  wird  hier  rein  identificirt  mit  absolut  in  dem  Gegensatz 
von  relativem  und  absolutem  Apriori  ',   was  freilich  eine  neue  Anwendung 


*  Ebenso  Met.  d.  Sitten,  Einl.  I.:  Vera,  das  Vermögen  der  Principien. 
Fortschr.  Ros.  I,  490:  Vern.  das  Vermögen  der  Erkenntniss  a  priori,  d.  h.  die 
nicht  empirisch  ist.  Ib.  I,  568:  das  Vermögen,  unabhängig  von  Erf.  mithin  Ton 
SinnenvorstellQngen,  Dinge  zu  erkennen.  Diese  Principien,  welche  in  der  Vern. 
liegen,  sind  die  äpx»^  Ävaico^ctxtot  der  Alten.  —  Statt  Kr.  d.  r.  Vernunft  will 
Riehl  194.  300.  310  Kr.  d.  r.  Erkenntniss  (so  Kant  selbst  Prol.  §  21  a)  setzen, 
um  die  psychologische  Auffassung  als  eines  Vermögens  auszuschliessen.  Vgl. 
hiegegen  schon  oben  323  f.  382  Anm.  —  Richtiger  ist  die  Bemerkung  Riehls  315, 
der  Titel  verbiete,  den  Idealismus  als  wesentlichste  Angelegenheit  Ks.  zu  fassen. 
*  Vgl.  auch  Vorr.  B  VIII,  wo  zuerst  überhaupt  apriorische  Erkenntniss  und 
dann  reine  besprochen  wird. 


Schwankender  Sinn  von  »Rein",  „Vernunft",  „Reine  Vernunft**.         453 

[B  24;  H  48.  49.  E  64.]  A10.U.B24. 

des  Begriffes  ist,  die  mit  den  sonstigen  Definitionen  nicht  stimmt.  Allerdings 
ist  zu  sagen,  dass  »rein"  in  der  Bedeutung  „von  der  Erf.  unabhängig" 
=  a  priori  niemals  bei  Kant,  wie  man  etwa  oben  aus  S.  212  schliessen  könnte, 
auch  mit  dem  relativen  Apriori  zusammenfällt,  sondern  immer  nur  die 
ganz  unabhängige  Erkenntniss  a  priori  bedeutet.  Immerhin  bleibt  aber 
hier  die  Inconsequenz  bestehen  '. 

Es  wäre  jedoch  vollständig  irrthümlich  und  verhängnissvoll,  aus  der 
Aehnlichkeit  der  hiesigen  Definitionen  und  der  in  der  Dialektik  zu  schliessen, 
es  handle  sich  hier  nur  um  die  dort  vom  reinen  Verstand  unterschiedene 
reine  Vernunft.  Es  ftthrt  dies  auf  eine  jener  Ungenauigkeiten ,  die  bei 
E.  nicht  selten  sind.  Trotz  der  Identität  der  Definition  ist  hier  doch  in  die 
reine  Vernunft  alles  Apriorische  eingeschlossen,  das  der  Sinne,  das  des 
Verstandes  und  das  der  Vernunft;  im  engern  Sinn,  also  auch:  Kritik  der 
reinen  Sinnlichkeit,  Kritik  des  reinen  Verstandes,  Kritik  der  reinen  Vernunft 
(im  eng.  Sinn).  (Vgl.  Vorr.  A  XI,  wo  aber  die  reine  Sinnlichkeit  fehlt,  die 
nicht  mit  Erdmann,  Krit.  12  aus  dem  Titel  ausgeschlossen  werden  darf.) 
Es  geht  das  aus  dem  Bisherigen  und  aus  der  vorliegenden  Stelle  mit  Sicher- 
heit hervor.  Sonach  wäre  Kritik  d.  r.  ?•  soviel  als  Beurtheilung  und  Prü- 
fung aller  Erkenntnisse,  zu  denen  der  Mensch  strebt,  ohne  die  Erfahrung 
zu  Bathe  zu  ziehen,  die  nicht  aus  der  Erfahrung  stammen  oder  stammen 
sollen,  sondern  aus  dem  Subject  selbst,  mit  andern  Worten,  Kritik  der 
absolut -apriorischen  Erkenntniss'.  So  klar  dieses  zu  sein  scheint,  so  liegt 
doch  noch  eine  weitere  Schwierigkeit  vor.  In  der  Vorrede  A  (vgl.  oben  116  ff.) 
wird  Kritik  d.  r.  V.  bestimmt  als  Kritik  des  Vemunftvermögens  in  An- 
sehung aller  Erkenntnisse,  zu  denen  sie  [es],  unabhängig  von  aller 
Erfahrung,  streben  mag.  Ebendaselbst  spricht  Kant  von  der  Vernunft 
im  erfahrungsfreien  Gebrauch.  Der  Verdacht,  dass  es  sich  dort  um 
die  über  alle  Erfahrung  hinausgehende  Erkenntniss  handle,  wird  bestätigt 
durch  den  Hinweis  auf  die  Metaphysik,  welche  daselbst,  oben  86  ff.,  nach  dem 
ganzen  Zusammenhange  nur  die  transscendente  sein  kann.  Somit  hat  Kr.  d. 
r.  V.  dort  einen  ganz  anderen  Sinn,  nämlich  Kritik  der  über  die  Erf.  hinaus- 
gehenden Erkenntniss.    Von  apriorischer  Erkenntniss  überhaupt  ist  daselbst 


^  Durch  diese  Bemerkungen  sind  auch  die  verschiedenen  Missverständnisse 
erledigt^  welche  sich  über  diese  Stelle  bei  Thilo,  Gesch.  d.  Phil.  2.  A.  II,  191, 
bei  VoLkelt  225,  bei  Laurie  a.  a.  0.  232  finden,  auf  welche  im  Detail  einzu- 
gehen sich  jedoch  nicht  verlohnt.  —  Gleich  nachher  findet  sich  der  Ausdruck: 
„reine  Erkenntnisse  a  priorf,  der  bei  Kant  unzähligemal  wiederkehrt.  In 
dieser  Formel  ist  „rein**  einfach  tautologisch  mit  „a  priori".  Der  Grund  dieses 
Ueberflusses  ist  wohl  der  oben  S.  169  u.  212  angegebene,  der  Mangel  eines  Ad- 
jectivs  von  a  priori.  Statt  jener  Formel  findet  sich  auch:  „reine  Erkenntniss" 
und  „Erkenntniss  a  priori"  —  also  grosse  Willkür  der  Terminologie. 

•  üeber  den  Begriff  der  r.  V.  vgl.  noch  Schmid,  Wort.  562  ff.  Jenisch, 
Entd.  118  ff.  Falsch  z.  B.  bei  Saint  es,  Kant  89,  welcher  nur  die  transscen- 
dente Vernunft  darunter  versteht     Cantoni,  Kant  174—179. 


454  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

A 10. 11.  B  24.  [R  24.  H  48.  49.  E  64.] 

keine  Rede.  Es  wäre  bei  Kants  Nachlässigkeit  in  seiner  Terminologie  wunder- 
bar, wenn  er  nicht  seine  zwei  Bedeutungen  von  „reiner  Vernunft*  (1)  =  von 
der  Erf.  d.  h.  ihrem  Inhalt  unabhängige  Erkenntniss  überhaupt,  incl.  reine 
Sinnlichkeit  und  reiner  Verstand,  (2)  =  von  der  Erf.  unabhängige,  insbe- 
sondere aber  über  dieselbe  d.  h.  ihren  Umfang  hinaus  gehende  Erkenntniss 
excl.  reine  Sinnlichkeit  und  reiner  Verstand  =  ,das  oberste  Erkenntniss- 
vermögen" 702  mit  einander  verwechselt  hätte,  wenn  er  also  den  Titel 
seines  Werkes  genau  definirt  hätte.  Factisch  wird  dieser  Titel  in  jenen 
zwei  Bedeutungen  gebraucht  ^  Das  hängt  aber  nur  mit  Kants  schon 
oben  nachgewiesenen  Unklarheiten  zusammen  über  die  Metaphysik,  womach 
dieselbe  bald  als  immanente,  bald  als  transscendente  gemeint  ist.  Kant  ver- 
wechselt reine  =  von  der  Erfahrung  unabhängige  Erkenntniss,  die  sich  al^er 
doch  noch  auf  Erfahrungsgegenstände  beziehen  kann,  mit  der 
von  der  Erf.  unabhängigen  Erkenntniss,  die  über  alle  Erfahrungs- 
gegenstände hinausgeht.  M.  a.  W.  rein  hat  noch  eine  neue  Bedeutung 
=  erfahrungsfrei,  d.  h.  über  die  Erf.  hinausgehend  ihrem  Umfang 
nach*.  Auf  S.  20—22  der  Einl.  B  finden  sich  beide  Bedeutungen  von  r.  V. 
bald  nacheinander.  Zuerst  spricht  K.  vom  „reinen  Vernunftgebrauch*,  wo 
wie  schon  B  5  der  erstere  Sinn  gemeint  ist,  dann  von  den  (transscenden- 
ten)  Fragen,  welche  reine  Vernunft  sich  aufwirft,  und  dies  heisst  der  „über 
alle  Erfahrungsgrenzen  versuchte  Gebrauch",  während  der  erstere  B  21  jetzt 
„Erfahrungsgebrauch"  genannt  wird  und  von  diesem  heisst  es  sogar,  indem 
„Kritik"  mit  „Disciplin"  identificirt  wird:  eine  Kritik  der  Vernunft  im  em- 
pirischen Gebrauche  sei  unnöthig  710!  Ueber  Vernunft  und  reine 
Vernunft  vgl.  noch  bes.  Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  154 ff.  Beiträge  z.  l.  Uebers. 
1801,  I,  135  ff. 


^  Ganz  besonders  in  der  Methodenlehre  (Krit.  710  f.  712  f.  735  f.  752.  760  ff. 
782  ff.)  herrscht  ein  beständiges  (durch  den  Doppelsinn  von  „transscendental" 
verstärktes)  Hin-  und  Herschwanken.  Mit  dieser  terminologischen  Nachlässigkeit., 
welche  theils  Ausdruck  sachlicher  Unklarheit  ist,  theils  auf  Kants  Entwicklungs> 
stufen  zurückzuführen  isi^  hängt  zusammen  der  wechselnde  Gebrauch  von  Verstand 
und  Vernunft,  der  schon  oben  123.  166.  230.  237.  239.  311  gerügt  wurde  und  der 
auch  in  vielen  oben  (z.  B.  S.  29.  86.  112)  mitgetheilten  Stellen  Ks.  sich  zeigt: 
Verstand  und  Vernunft  werden  bald  in  willkürlichster  Weise  promiscue  gebraucht, 
bald  strengstens  geschieden.  Im  ersteren  Falle  umfasst  Kritik  d.  r.  V.  auch  die 
positive  Analytik ;  im  zweiten  ist  sie  nur  negativ  ^  Dialektik  (Analytik  ist  dann 
nicht  selten  =  Kritik  d.  r.  Verstandes.  Krit.  283.  Ros.  I,  403,  dag.  Krit.  63). 
Vgl.  auch  oben  28.  82  ff.  107  ff  Reine  Sinnlichkeit  (Mathematik)  gehört  endlich 
meistens  auch  zur  reinen  Vernunft  (oben  379  ff.,  unten  469)  und  damit  Aesthetik 
zur  Kritik  d.  r.  V.  Ohne  Kenntniss  dieses  beständigen  Schwankens  ist  Kant  ganz 
unverständlich.  Vgl.  oben  S.  152—157  (auch  127.  132.  163)  zur  Geschichte 
des  Titels,  und  die  Analyse  desselben  S.  116—122.  Vgl.  Schopenhauer,  W.  W.  II. 
511.  570.  573.  619. 

'  An  vielen  Stellen  der  Kritik  und  der  Proleg.  kann  man  über  die  Bedeu- 
tung zweifelhaft  sein,  trotz  des  Zusammenhanges. 


Doppelsinn  des  Titels.    Kritik  desselben.  455 

[R  ^.  H  48.  49.  E  64.]  A 10. 11.  B  24. 

Bei  den  verschiedenen  Commentatoren  sind  dann  auch  beide  Bedeutungen 
vertreten,  zum  Beweis,  dass  hier  K.  selbst  zu  (Jndeutlichkeit  Veranlassung 
gegeben  hat.  Buhle,  Transc.  Phil.  §  17.  20.  28  versteht  unter  Kr.  d.  r.  V. 
zunächst  nur  die  Dialektik,  und  lässt  die  weitere  Bedeutung  nur  nach- 
träglich zu.  Kiesewetter,  Prüfung  der  Herd.  Met.  I,  8  f.  spricht  von  der 
Kritik  der  r.  Y . ,  welche  ohne  Erfahrung  über  Erfahrung  hinaus  gehen 
will,  berücksichtigt  also  nur  die  Dialektik,  wie  er  dies  ganz  klar  auch  thut 
in  den  „Wicht.  Wahrh.  d.  krit.  Philos."  4.  Aufl.  I,  252.  In  neuerer  Zeit 
findet  sich  vorwiegend  nur  die  andere  Deutung;  so  bei  Grapengiesser, 
Aufg.  der  Vern.  S.  16,  so  bei  Riehl,  Kritic.  I,  315  (Prüfung  der  Gültig- 
keit der  reinen  Erkenntniss).  Vgl.  hieiüber  M  e  1 1  i  n  ,  Wort.  1 ,  856  f.  V, 
756  f.  V  i  1 1  e  r  s ,  in  Binks  Mancherlei  1 1 :  „ Untersuchung  des  von  der  Erf. 
nnabh.  Theils  der  menschl.  Erkenntniss."  (Rink  daselbst  scheint  die  andere 
Bedeutung  zu  acceptiren).  Er d mann,  Kritic.  12.  Richtig  bei  Barni, 
Vorw.  ni,  Treschow,  Vorl.  I,  17.  Bei  Abicht  und  Born,  Philos. 
Magazin  II,  528  wird  die  Bedeutung  entwickelt,  womach  r.  V.  im  weiteren 
Sinn  zu  verstehen  ist.  Ebenso  bei  Mahaffy,  Comment.  5.  Dies  ist  wohl 
auch  Kants  Meinung  in  den  meisten  Fällen  gewesen ,  nicht  ohne  dass  er  je- 
doch an  Stellen,  an  denen  er  die  ganze  Kritik  meint,  doch  auch  die  engere 
Bedeutung  im  Sinne  gehabt  hätte  '. 

Zweideutigkeit  im  Titel ,  „Verwirrung  im  Hauptbegriff  des  Werks" 
will  Herder,  Metakr.  II,  337  ff.  bemerkt  haben;  der  Namen  sei  ein  „Miss- 
begriff" ;  es  bezieht  sich,  was  er  sagt,  offenbar  auf  die  herausgehobenen  zwei 
Bedeutungen  von  r.  V.,  vgl.  Kiesewetter,  Prüfung  d.  H.  Met.  I,  11  ff. 
und  Ja  sehe  in  Rinks  Mancherlei  61.  Nach  Herder  a.  a.  0.  341  ist  das 
Werk  nichts  als  eine  „kritische  Logik,  angewandt  auf  einige 
metaph.  Begriffe";  es  sei  eine  „Zwittergestalt  von  Logik  und  Meta- 
physik* '.     Von  dem  Titel  meint  Villers    (in  Reinholds  Leben  412),   er   sei 


*  Diese  letztere  einseitige  Auffassung  auch  bei  Fichte,  Nachl.  I,  108.  324  f. 
Herbart,  Einleit.  §  150  Anm.  u.  W.  W.  III,  130.  Rein  hold  in  seinen  „Briefen" 
hatte  diese  einseitige  Auffassung  schon  vorbereitet.  Vgl.  ferner  Willm,  Phil. 
AU.  l^  84,  Dorguth,  Schopenh.  5,  Noack,  Lexicon  471,  Riehl  337,  Knauer, 
Phil.  Mon.  XVI.  149  (die  Kr.  d.  r.  V.  führe  als  Ganzes  mit  Unrecht  diesen  Namen !). 
Vgl.  oben  117.  320.    Andere  von  Kant  beabsichtigte  Titel  s.  Phil.  Mon.  XVI,  60. 

'  Vgl.  Herders  Bemerkungen  über  den  Titel  oben  S.  123.  Vgl.  auch  dessen 
Kalligone  Vorr.  XI  (Suph.  XXU^  7):  Kr.  d.  leeren  Vern.  Aehnlich  äussert  sich 
Jacobi  an  versch.  Stellen.  —  Ueber  den  Titel  überhaupt  und  seine  einzelnen  Be- 
standthelle  ist  unglaublich  viel  zusammengeschrieben  worden.  Man  vgl.  die  Citate 
oben  S.  73.  116—122.  Aus  der  Literatur  sei  von  allgemeineren  Aeusserungen 
noch  angeführt:  Schleiermacher,  Dial.  §  210  (S.  144),  Schelling,  W.  W. 
1.  Abth.  IV,  350  ff.,  Beneke,  Logik  IL  166^  ferner  De gerando,  Vergl.  Gesch. 
I,  470.  472,  Bartholm^ss,  Hist.  Phil,  All.  II,  353,  Foreign  Revieio  IV,  (1829) 
59  ff.  63,  FouilUe,  Revue  Phil.  1881,  339  ff.  -  Ueber  die  „Selbstprüfung"  vgl.  die 
scharfen  kritischen  Bemerkungen  oben  S.  108  (106).  124  u.  378.   Femer  Fichte, 


456  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10-16  =  B,  Abßchn.  VII. 

AIO.ILB^.  [B  2^.  H  48.  49.  E.  64.] 

, capable  d'induire  en  erreur*^,  denn  „ ü  annonce  lapartie  pour  le  tout".  Der 
wahre  Titel  sei:  Neue  Theorie  des  menschl.  Yorstellungsvermögens,  wie  auch 
Beinhold  seinen  Versuch  betitelt  habe.  Allerdings  ist  der  Titel  unvollständig, 
da  er  die  Kritik  der  Erf.  nicht  berücksichtigt.  Villers  scheint  aber  zu  meinen, 
dass  E.  das  Vorstellungsvermögen  überhaupt  bebandle ,  was  jedoch  un- 
richtig ist,  insofern  die  empirische  Vorstellung  bei  K.  zu  kurz  kommt.  (Vil- 
lers in  den  Lettres  Westph.  1797,  vgl.  Neue  Berl.  Monatschr.  5,  415,  findet 
in  dem  Titel  Krit.  d.  r.  V.  eine  vortreffl.  Definition  des  Wortes  >  Wissen- 
schaft".) 

Wenn  man,  abgesehen  von  dem  von  Paulsen  fölschlich  in  ^^Kritlk^^ 
hineingelegten  Doppelsinn  (Unterscheidung,  Beurtheilung),  ganz  abgesehen 
von  dem  noch  zu  besprechenden  zweifelhaften  Verhftltniss  der  „Kritik*  zur 
„Transsc.  Philosophie"  und  zum  „System  der  Metaphysik"  u.  s.  w.,  daran 
denkt,  welche  verschiedenen  Bedeutungsmöglichkeiten  in  dem  Titel  des 
Buches  liegen,  so  erhält  man  ein  merkwürdiges  Bild  von  Kants  ungenauer 
Terminologie: 

1)  Einmal  ist  der  Genetivus  „der"  doppelsinnig,  und  kann  subjectiv 
und  objectiv  sein.     (Vgl.  oben  S.  117  ff.) 

2)  Sodann  hat  „rein"  4  verschiedene  Bedeutungen  bei  Kant: 

I.  =  von  der  Eyf.  unabhängig:    Gegensatz  „empirisch", 
a.  =  absolut  unabhängig  von  Erf.:    Gegensatz  „relativ", 
ß.  =  unvermischt  mit  Erf.:  Gegensatz  „gemischt". 
IL  =  über  den  Erfahrungsumfang    hinausgehend 
(=  transscendent) :     Gegensatz  „immanent". 

3)  Endlich  hat  „Yernonlt"  3  verschiedene  Bedeutungen,  eine  weiteste, 
eine  weitere  und  eine  engere.     (Vgl.  oben  454  Anm.) 

Zum  Missverständniss  des  Inhaltes  hat  der  Terminus  „Kritik" 
sehr  vieles  beigetragen  (über  ihn  vgl.  oben  121  f.).  „Kritik"  hat  bei 
Kant  bald  mit  Bezug  auf  die  Dialektik  den  prägnanten  Sinn  einer  „Dis- 
ciplin",  bald  ist  sie  mit  Bezug  auf  die  Analytik  ^  „kritische  Unter- 
suchung"; so  nennt  Kant  sein  Werk  selbst  Krit.  A  89.  237.  Im  letzteren 
Falle  ist  Kritik  auch  eine  positive  Theorie  und  weist  die  Möglichkeit 
der  immanenten' Vernunfterkenntniss  nach;  im  ersteren  Falle  ist  sie  rein 
negativ  und  weist  nur  die  Unmöglichkeit  transscendenter  Erkenntniss  nach^ 
Im  weiteren  Publikum  hat  sich  mit  grösster  Zähigkeit  das 
Letztere  festgesetzt;  dasselbe  verbindet  mit  dem  Namen  Kants,  mit 
dem  Titel  der  „Kritik"  durchgängig  die  negative  Vorstellung  des  „AUes- 
zermalmenden"    (Mendelssohn),   der  Vernichtung  der  Metaphysik.     Gegen 


Nachl.  I,  324  (Widerspruch  im  Titel);  ähnlich  Fichte  jr.,  Gegens.  II,  14.  260. 
Eine  Controverse  darüber  s.  in  A  b  i  c  h  t  s  Philos.  Journal  L  Int.  El.  S.  15.  ü,  19. 
Scharfe  Bemerkungen  über  den  „unglücklich  gewählten"  Titel  bei  Bachmann^ 
Hegel  S.  136  (dag.  Schramm,  Beitr.  z.  Gesch.  d.  Philos.  25  f.). 

'  Genau  so  auch  Sigwart,  Gesch.  III,  149.     Vgl.  oben  450. 


Bedeutung  des  Titels.    Erweiterung  desselben.  457 

[B  24.  H  48.  49.  E  64.]  AlO.  11.6  34. 

dieses  darch  den  Titel  genährte  Vorurtheil  ist  schwer  anzukämpfen, 
nm  so  mehr,  als  Kant,  wie  nachgewiesen,  durch  einzelne  Stellen  dazu  zu 
berechtigen  scheint  und  sich  über  seine  Aufgabe  ja  schon  in  der  Einleitung 
so  widerspruchsvoll  äussert,  da  in  ihr  „Kritik  d.  r.  V."  bald  neutral  =  „Be- 
nrtheilung  d.  r.  V.  nach  Gültigkeit  und  Grenzen",  bald  nur  positiv  =  »Vor- 
bereitung zum  System  d.  r.  V.",  bald  nur  negativ  =  «Läuterung  d.  r.  V. 
von  Irrthümern*  ist.  (Die  bloss  negative  Seite  betont  besonders  Beneke, 
Philos.  XI.  Bei  dieser  negativen  Auffassung  ist  ausserdem  der  positive 
Aufbau  der  Metaphysik  auf  der  Ethik  nicht  berücksichtigt:  vgl.  oben  S.  9. 
63.  234.  383.)  Man  könnte  Lust  bekommen,  durch  Oombination  auszurechnen, 
wie  viel  verschiedene  Bedeutungen  somit  der  Titel  haben  kann!  Man  kann 
ebenso  Stellen  zusammensuchen,  um  zu  zeigen,  dass  der  Titel  dieses  be- 
rühmten Werkes  einen  höchst  schwankenden  Sinn  hat! 

Der  Titel  erhielt  später  noch  eine  Verschiebung  durch  die  zwei  folgen- 
den Kritiken.  In  der  Vorr.  zur  Kritik  der  ürth.  wird  der  Begriff  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft*  erweitert;  reine  Vernunft  umfasst  nämlich 
in  noch  weiterem  Sinne  unter  sich  den  theoretischen  Verstand,  die  praktische 
Vernunft,  und  die  ästhetisch-teleologische  Urtheilskraffc.  Nach  der  Einl.  A 
XXin  f.  ib.  besteht  die  Krit.  d.  r.  V.  aus  drei  Theilen ,  der  Kritik  des  reinen 
Verstandes,  der  reinen  ürtheilskraft  und  der  reinen  Vernunft  [im  engeren 
Sinn] '.  Kritik  der  reinen  Vernunft  im  engem  Sinne  ist  vollständig  identisch 
mit  Kritik  der  praktischen  Vernunft;,  und  was  factisch  jetzt  unter  dem 
Namen  Kr.  d.  r.  V.  läuft,  sollte  nach  Vorr.  Ill  fF.  eigentlich  Kritik  des 
reinen  Verstandes  heissen'.  Krit.  der  r.  V.  im  weitesten  Sinne  oder 
„überhaupt  ist  die  « Untersuchung  des  Vermögens  der  Erkenntniss  aus 
Principien  a  priori*,  wozu  Verstand,  Vernunft  und  ürtheilskraft  gehören. 
In  dem  Titel  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  des  Hauptwerkes  steht  also  reine 
Vernunft  eigentlich  für  reinen  Verstand.  Man  wird  daran  freilich  wieder 
irre  durch  das  daselbst  Folgende,  wornach  doch  auch  die  Krit.  d.  r.  V.  im 
engeren  Sinn  (das  Werk  unter  diesem  Titel)  eine  Kritik  der  r.  V.  im 
Sinne  der  transscendenten  Vernunft  sein  soll.  —  Wieder  anders  ist  das  Ver- 
hältniss  in  der  Vorr.  und  Einl.  zur  Krit.  d.  prakt.  Vernunft  dargestellt ,  wo 
von  der  ürtheilskraft  noch  keine  Rede  ist,  sondern  nur  die  Vernunft  in 
theoretische  und  praktische  eingetheilt  wird,  wo  aber  der  Ausdruck  r.  V. 


*  Dieselbe  Erweiterung  auch  in  der  ersten  Redaction  der  Einleitung:  „Ueber 
Philosophie  überhaupt"  Ros.  I,  611-617.  Vgl.  unten  zu  A  14.  15.  B  28.  29  die 
parallele  Erweiterung  der  Transsc.  Philos.    Vgl.  oben  364. 

'  Eine  weitere  Steigerung  dieser  Verwirrung  besteht  darin,  dass  diese  drei 
Vermögen  schon  in  dem  Hauptwerk  die  Analytik  der  Begriffe,  die  der  Grundsätze 
und  die  Dialektik  bestimmen!    Krit.  A  130. 

•  Oder  Kritik  der  reinen  speculativen  (hier  =  theoretisch,  so  A  10.  15) 
Vernunft  Nach  Sigwart,  Gesch.  HI,  36  wäre  der  richtige  Titel:  Kr.  d.  theo- 
retischen Vernunft;  rein  darf  aber  nicht  weggelassen  werden  =  apriorisch. 


458  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

A 10. 11.  B  24.  [R  24.  25.  H  48.  49.  E  64.  66.] 

theilweise  ganz  dunkel  und  widerspruchsvoll  ist.  Vgl.  Vorr.  zur  Gmndl. 
z.  Met.  d.  Sitten,  Ros.  VIII,  3  ff. 

An  manchen  Stellen  sagt  K.  schlechtweg  „Kritik  der  Vernunft* 
so  schon  oben  Einl.  B  22.  Krit.  762.  Prol.  Or.  189.  192  (Kirchm.  180.  132) '. 
In  diesen  Fällen,  sowie  wenn,  wie  so  oft  Vernunft  =  reine  Vernunft  ist,  ist 
Vem.  eben  im  prägnanten  Sinne  zu  verstehen. 

Nachahmungen  des  Titels:  Zuerst  von  Abicht,  Revidierende  Kritik 
der  speculierenden  Vernunft.  Altenb.  1799 — 1801.  Dann  bekanntlich  von 
Fries,  Neue  oder  anthropologische  Kritik  der  Vernunft.  3  Bände.  1.  Aufl. 
1807,  2.  Aufl.  Heidelb.  1828  f.«  Ferner  von  Krause,  Erneute  Vemunft- 
kritik  I.  Theil  der  Vorles.  üb.  die  Grundw.  d.  Wissensch.  Leipz.  1829.  2.  Aufl. 
Prag  1868.  Endlich  von  Ed.  Schmidt,  Ideen  zu  einer  erneuten  Kritik  d. 
V.  I.  Theil  Krit.  d.  Urtheilskraft.  Berlin  1831.  (Nur  die  zwei  mittleren 
Werke  sind  von  Bedeutung.)  J.  Dietzgen,  das  Wesen  der  menschl.  Kopf- 
arbeit. Eine  abermalige  Kritik  der  r.  V.,  Hamburg  1869.  An  einer  Kritik 
der  unreinen  Vernunft  arbeitete  Feuerbach  (nach  Erdmann,  Grundriss 
n,  §  340,  3).  Vgl.  neuerdings  Wolff,  H.,  Logik  und  Sprachphilosophie. 
Eine  Kritik  des  Verstandes.     Leipz.  1880. 

Welche  die  Principien  enthält.  Krit.  Briefe  58  tadeln  den  Wechsel 
von  ,an  die  Hand  gibf  mit  dem  Ausdruck  „enthält*';  das  letztere  gehe 
weiter  als  das  erstere  und  spreche  das  Vorhandensein  fertiger  Erkennt- 
nisse a  priori  in  der  Vernunft  aus.  —  Dies  ist  eine  insofern  richtige  Beob- 
achtung, als  der  Ausdruck  „enthalten"  etwas  ganz  anderes  besagen  soll. 
Wie  schon  bemerkt,  bezieht  sich  der  erste  Satz  auf  das  relative,  logische 
Apriori,  der  zweite  auf  das  absolute,  eigentliche;  hier  „enthält  die  Ver- 
nunft selbst  den  Ursprung  gewisser  Begriffe  und  Grundsätze"  vgl.  299.  Dort 
gibt  sie  nur  die  Methode  an,  die  allgemeinen  Sätze  zu  finden,  welche  aber 
ihrerseits  aus  der  Erfahrung  stammen  können.  Kants  Ausdrucksweise  ist 
somit  hier  scharf  und  bezeichnend,  aber  an  andern  Stellen,  so  B  166, 
Proleg.  K.  137.  Or.  199  ist  „9.n  die  Hand  geben"  =  enthalten.  Anders 
A  90.     Vgl.  Born  und  Abicht,  Philos.  Mag.  II,  543. 

Dass  die  Thatsache  der  reinen  Vernunft,  die  hier  apodiktisch  behauptet 
wird ,  eine  blosse  unbewiesene  Hypothese  sei,  wird  natürlich  von  allen 
Gegnern  des  Apriori  vertreten ;  s.  speciell  Krit.  Briefe  58.  Ib.  62 :  Wozu 
sollte  uns  eine  Kritik  über  einen  Gegenstand  nützen,  wenn  er  bloss  ein  Him- 
gespinnst  unserer  Phantasie  wäre?'  Vgl.  dag.  Born  und  Abicht,  Phil. 
Mag.  II,    541  f.   552.     Derselbe  Vorwurf  bei   Herder,   Metakr.  11,    340 


»  „VerDunftkritik"  R.  I,  554.  608. 

'  Ueber  die  Aenderung  des  Titels  bei  Fries,  siehe  Grapengiesser,  Aufg.  der 
Vern.  Kritik  S.  32  f.  44.  Vgl.  Phil.  Mon.  XIU,  198.  400.  Vgl.  femer  bes.  „Abhandl. 
der  Fries'schen  Schule"  II,  171  ff. 

•  Oder  ein  „Fabelwesen"?  Vgl.  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  I,  59.    Laas,  Id.  u. 

Pos.  I,  69. 


Vernunft  als  Voraussetzung.     „Kritik",  „Organon",  „System".  459 

[B  25.  H  49.  E  65.]  A 11.  B  2i. 

(^Piction  einer  r.  V.  vor  aller  Erfahrung  und  einer  Synth,  a  priori"). 
Ib.  342:  Die  Krit.  d.  r.  V.  ist  „eine  sich  selbst  setzende  und  sich  selbst  auf- 
hebende Dichtung,  ein  Spiel  mit  sich  selbst".  Vom  Standpunkt  des 
Empirismus  aus  ist  die  ganze  Kritik  der  r.  V.  ein  höchst  merkwürdiges  Ge- 
bäude auf  einer  sehr  zweifelhaften  Grundlage,  denn  jener  gibt  weder  die 
reinen  Vernunf  turtheile  (synth.  a  priori)  noch  die  allgemeine  und 
nothwendige  Erfahrung  (im  Sinne  Kants)  zu.  lieber  die  Frage,  ob 
derartige  Gebilde  in  Wirklichkeit  existiren,  geht  K.  ziemlich  leicht 
hinweg  —  er  setzt  beides  einfach  voraus  und  nimmt  es  als  zugestanden  an. 
Vgl.  dazu  oben  S.  425  ff.  Daher  sagt  Schmidt-Phiseldek,  Expos.  16 
ganz  richtig  von  der  Transsc.  Phil.:  „fundamentale  principium,'  quo  haec 
scientia  nititnr^  sie  polest  enuntiari :  inest  tnenti  humanae  ratio 
puraJ^  Dies  ist  Voraussetzung,  nicht  Problem  Kants.  Gegen  die  Bemerkung 
seines  Interlocutors ,  Krit.  d.  r.  V.  sei  „Kritik  eines  Dinges,  das  nicht  ist", 
bemerkt  J  a  c  o  b  i  in  dem  Gespräch  :  David  HnmeS.  123  „dergleichen 
Dinge  bedürfen  der  Kritik  am  mehrsten".  Es  folgt  daselbst  (W.  W.  II, 
218  ff.)  ein  lesenswerther  Excurs  über  den  Begriff  der  r.  V. 

Ein  Or|[r&non  der  Yernnnft  u.  s.  w.  Ks.  Erklärungen  hier  über  die  ver- 
schiedenen Theile  der  Philosophie  sind  keineswegs  harmonisch,  sondern  im 
Gegentheil  so  widersprechend  unter  einander,  dass  dieser  Abschnitt  aus  ver- 
schiedenen Stücken  zusammengesetzt  erscheint,  ganz  abgesehen  davon,  dass 
die  hiesigen  Erklärungen  den  sonstigen  Darstellungen  nicht  entsprechen.  Es 
sind  im  Folgenden  3  verschiedene  Schichten  zu  unterscheiden. 

Die  erste  Darstellung,  welche  bis  zu  den  Worten  geht:  „welches 
schon  sehr  viel  gewonnen  ist,"  enthält  folgende  Eintheilung: 

1)  Kritik  der  reinen  Vernunft  (=  Propädeutik), 

2)  Organon  der  reinen  Vernunft, 

3)  System  der  reinen  Vernunft  (=  Doctrin). 

1)  Kritik  wäre  eine  Untersuchung  und  Beurtheilung  der  r.  V.,  ihrer 
Quellen  und  Grenzen. 

2)  Organon  wäre  der  auf  1)  gegründete  Inbegriff  der  Methode  und 
Principien,  wie  nun  eventuell  reine  Erkenntniss  erworben  wird. 

3)  System  wäre  eventuell  die  Erweiterung  der  Erkenntniss  durch  reine 
Vernunft,  unter  Anwendung  der  Resultate  von  2).  Diese  Stufenordnung  wird 
aber  schon  innerhalb  dieser  Darstellung  durchbrochen  durch  die  Bemerkung, 
die  Kritik  sei  noch  nicht  Doctrin,  sondern  eine  Propädeutik  zum 
System;  während  man  erwartet,  sie  sei  zunächst  eine  Vorbereitung  zum 
Organon  und  dadurch  erst  zum  System.  (Andernfalls  müsste  man  an- 
nehmen, dass  K.  hier  unter  Kritik  im  weiteren  Sinn  Kritik  und  Organon 
zusammenfasst.  Jedenfalls  hat  K.  historisch  beides  zusammengenommen.) 
Diese  Dreitheilung  erhält  ihre  historische  Erklärung  durch  die  Dissertation. 
In  ihr  unterscheidet  K.  dieselben  drei  Theile.  Erstens  eine  Propädeutik, 
welche  den  Unterschied  der  sensuellen  und  intellectuellen  Erkenntniss  lehren 
soll  (a.  a.  0.  §  8.  §  30)  und  von  der  jene  Abhandlung  selbst  ein  Specimen 


460  Commentar  zur  Einleitang  A,  S.  10— 16  =  B,  Abschn.  VII. 

A11.12.B25.26.  [B  26.  H  49.  E  66.] 

ist  (vgl.  Brief  an  Lambert  v.  2.  Sept.  1770);  zweitens  eine  dort  bald 
Metaphysik  bald  Ontologie  genannte  Wissenschaft,  welche  als  „arganon 
omnium  inteüectualium^  bezeichnet  wird,  eine  Wissenschaft,  die  sich  mit  den 
reinen  Begriffen  und  Gesetzen  des  Intellects  befasst,  (und  welche  mit  der 
Geometrie,  dem  prototypon  sensitivae  cogvitionis  parallelisirt  wird;  §  7),  von 
der  es  heisst,  sie  enthalte  die  ^principia  usus  ifUelleetus  puri^  §  8.  efr.  §  9 
und  §  23;  drittens  die  eigentlich  materiale,  transscendente  Metaphysik 
§  22  Schol.  §  23.  Nur  aus  dieser  Scheidung,  welche  Paulsen  Entw.  113 
richtig  in  der  Diss.  getroffen  hat,  ist  die  hiesige  Stelle  zu  erklären,  sowie 
der  Widerspruch  der  Ausführung  mit  diesem  Programm,  wie  überhaupt  viele, 
fast  die  meisten  Widersprüche  Kants  aus  der  Confundirung  seiner  eigenen 
aufeinanderfolgenden  Ansichten  sich  erklären. 

Die  zweite  Darstellung,  deren  Text  zwischen  der  ersten  und 
dritten  enthalten  ist  und  sich  dann  später  fortsetzt,  geht  von  dem  Begriff 
des  Transscendentalen  aus.  Transscendentalphilosophie  wäre  darnach  die 
vollständige  Theorie  der  apriorischen  Erkenntniss.  Hier  theilt  nun  Kant 
aufs  Neue  ein: 

1)  Kritik  der  r.   V.  ist  nur  der  synthetische  Theil  dieser  Theorie: 
sie  ist  der  Plan  zu  der  vollständigen  Theorie. 

2)  Transscendentalphilasophie  enthält  auch  den  analytischen  Theil 
und  ist  das  System  aller  Principien  der  r.  V. 

Es  ist  falsch,  mit  Schmidt-Phis.  Exp.  17  das  System  der  Transsc.-Phil.  ohne 
Weiteres  mit  dem  System  der  ersten  Darstellung  zu  identificiren,  denn 
jenes  ist  nur  immanent,  während  dieses  auch  transscendent  sein  kann. 

Die  dritte  Darstellung  (von  „Eine  solche  Kritik*  —  „gebracht  zu 
werden")  geht  auf  die  erste  zurück,  verändert  aber  deren  Eintheilung  durch 
eine  wesentliche  Bemerkung.    Es  folgen  jetzt: 

1)  Kritik, 

2)  Organon  resp.  Kanon, 

3)  System. 

Die  Kritik  ist  eine  Vorbereitung  zum  Organon.  Da  aber  Organon  der 
Inbegriff  der  Principien  ist,  nach  denen  reine  Erkenntniss  erworben  wird, 
und  da  ja  diese  Möglichkeit  erst  erwogen  wird,  so  muss  auch  statt  eines 
Organons  ein  Kanon  in  Aussicht  genommen  werden,  d.  h.  ein  Inbegriff  der 
Grundsätze  des  richtigen  Gebrauchs  eines  Erkenntnissvermögens  überhaupt, 
also  hier  der  reinen  Vernunft.  Nur  im  ersteren  Falle  (beim  Organon)  würde 
das  System  der  Philosophie  der  reinen  Vernunft  in  Erweiterung  der 
Erkenntniss  bestehen,  im  zweiten  Falle  dagegen  wäre  sein  Inhalt  eventuell 
Begrenzung. 

Wenn  Kant  hier  einen  Kanon  der  reinen  speculativen  Vernunft  in  sichere 
Aussicht  stellt  und  doch  796  derselben  einen  solchen  abspricht,  so  löst  sich 
der  Widerspruch  so,  dass  hier  unter  reiner  Vernunft  auch  der  reine  Ver- 
stand mit  inbegriffen  ist,  für  den  es  auch  nach  796  einen  Kanon  gibt,  wäh- 
rend für  die  reine  Vernunft  im  Sinne  übersinnlicher  Erkenntniss  es  aller- 


Schwankende  Darstellung:   „Organon",  „Kanon"  u.  b.  w.  461 

[R  25.  H  49.  E  65.]  A11.12.B25.26. 

dixLgs  keinen  Kanon  gibt,  sondern  nur  für  dieselbe  in  praktischer  Hinsicht. 
Dann  wäre  zu  unterscheiden 

a)  Kanon  der  reinen  Vernunft  (im  weiteren  Sinn  =  Verstand 
und  Vernunft), 

b)  Kanon  des  reinen  Verstandes, 

c)  Kanon  der  reinen  Vernunft  und  zwar  der  praktischen. 
Vgl.  Schmid  W.  138.  Lossius  I,  647  ff. 

In  diese  Darstellungen  Einheitlichkeit  hineinzubringen,  ist  nicht  möglich. 
Kant  dachte  bald  an  die  immanente,  bald  an  die  transscendente  Metaphysik; 
diese  beiden  Gebiete  verwechselt  K.  selbst  oft  genug  in  dem  gemeinsamen 
Ausdruck  „System  der  Metaphysik".  Durch  das  wechs  eis  weise  Vor- 
schieben dieser  beiden  Systeme  entstand  an  dieser  Stelle  eine  grosse  Ver- 
wirrung, welche  der  oben  373  ff.  nachgewiesenen  Verwirrung  correspondirt, 
welche  jedoch,  nebst  ihren  Nachwirkungen  in  der  secundären  Literatur,  im 
Einzelnsten  noch  weiter  zu  analysiren  nicht  der  Mühe  werth  ist,  zumal  für 
jeden  aufmerksamen  und  unbefangenen  Leser  der  allgemeine  Hinweis  genügt; 
um  die  Verwirrung  selbst  im  Detail  zu  verfolgen.  Meilin  in  den  Marg. 
I,  7  lässt  die  Erste  und  Dritte  Darstellung  einfach  weg. 

Was  den  Unterschied  von  Organ on  und  Kanon  betrifft,  so  hat  Or- 
gan o  n  immer  den  Sinn  einer  positiven  methodischen  Anweisung  zur  E r- 
weiterung  unserer  Erkenntniss,  zur  Erwerbung  neuen  Wissens,  so  46.  52. 
53.  60  f.  62.  (Werkzeug,  um  seine  Kenntnisse  auszubreiten  und  zu  erweitern) 
63  f.  795.  Vgl.  K.  an  Mendelssohn  (8.  April  1766).  Kiesewetter,  Log.  I,  12. 
,Man  nennt  eine  Wissenschaft  ein  Organon,  wenn  man  sie  als  eine  Quelle 
anderer  Erkenntnisse  anzusehen  hat."  Kanon  ist  der  Inbegriff  der  Grund- 
sätze a  priori  des  richtigen  Gebrauchs  eines  Erkenntnissvermögens.  795. 
130  f.  Kant  gibt  in  der  Methodenl.  einen  Kanon  des  praktischen  (reinen) 
Vemunftgebrauchs.  Der  Kanon  betreffe  mehr  das  Sub  j  ect  oder  den  richtigen 
Gebrauch  des  Erkenntnissvermögens  durch  dasselbe,  das  Organon  mehr  das  * 
Object,  oder  die  richtige  Behandlung  der  Erkenntnisse  selbst.  Meilin  I,  853. 
Die  Ideen  dienen  zum  Kanon  des  Verstandsgebrauchs  329.  (Der  Ausdruck 
Kanon  wurde  zuerst  von  Epikur  gebraucht  für  seine  Logik.  Diog.  Laert. 
X,  13,  Kant,  Logik  Einl.  I.)  In  der  Methodenlehre  tritt  noch  hinzu 
die  Disciplin,  welche  nicht  zur  Erweiterung,  sondern  zur  Grenzbestim- 
mung dient  795.  Vgl.  bes.  den  Abschnitt  »Die  Disciplin  der  reinen  Vernunft" 
709  ff..  Kr.  d.  ürth.  B.  392.  202.  [Mit  der  Disciplin  ist  im  Wesentlichen 
identisch  der  Terminus  Katharktikon,  den  K.  schon  im  2.  Briefe  an 
Mendelssohn  gebraucht  (die  Scheineinsicht  eines  verderbten  Kopfes  braucht 
ein  Katharkt.  Vgl.  den  Schluss  der  »Krankheiten  des  Kopfes)  und  den  er 
in  der  Kritik  auf  S.  53  und  486  wiederholt.     Vgl.  „Medicina  mentis"  *  von 


^  Vgl.  Bardili's  Grundriss  der  Ersten  Logik  1800:  „keine  Kritik,  sondern 
eine  Medicina  mentis,  brauchbar  hauptsächlich  für  Deutschlands  kritische  Philo- 
sophie**. 


462  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abßchn.  VII. 

A11.12.B25.26.  [E  26.  H  49.  E  66.] 

Tschimhatisen  (1687).  Krit.  757.  „Heilmittel  wider  den  dogm.  Eigendünkel^ 
Logik,  Einl.  II.]  Kant  sagt  von  der  Aesthetik  46,  sie  sei  eine  Theorie, 
die  zum  Organ on  dienen  solle*.  Von  der  Analytik  spricht  er  als  einem 
Kanon,  und  von  der  Dialektik  als  einer  Disciplin,  765,  so  dass  diese 
drei  Theile  der  Kritik  die  drei  Stufen  der  kritischen  Theorie  darstellen. 

üeber  den  zweiten  Unterschied  des  Textes,  den  von  Doctrin*  und  Kritik 
s.  709  f.  und  den  Brief  an  Lichtenberg,  sowie  Vorrede  zur  Kr.  d.  ürth. 
Schluss,  wo  K.  die  Absicht  ausspricht,  „ungesäumt  zum  Doctrinalen  zu 
schreiten",  nachdem  das  kritische  Geschäft  beendigt  sei.  Vgl.  Krit.  d.  Urth. 
§  79.  Einl.  III.  (S.  XX).  Die  Analytik  der  Grundsätze  heisst  jedoch  schon 
„Doctrin  der  ürtheilskraft".  132.  136.  Doctrin  ist  dogmatische  Unterweisung 
aus  Principien  a  priori  (Logik,  Einl.  I).  Der  Gegenstand  der  Doctrin  seien 
die  Erkenntnisse  selbst,  die  aus  reiner  Vernunft  entspringen,  der  der 
Kritik  der  Boden,  aus  welchem  sie  hervorspriessen ,  Mellin  I,  851.  Die 
Krit.  soll  nicht  aus  der  Quelle  der  Vernunfterkenntnisse  schöpfen,  sondern 
sie  nur  reinigen  (ib.  I,  852).  Fortschr.  K.  113.  R.  I,  504:  Doctrin 
ist  daselbst  identisch  mit  Analytik,  Disciplin  mit  Dialektik.  Ebenso 
Krit.  B.  421  ist  Doctrin  Gegensatz  zu  Disciplin  in  Bezug  auf  die 
ration.  Psychologie.  Es  herrscht  somit  im  Gebrauch  der  Termini  Organon 
und  Kanon,  Doctrin  und  Kritik  eine  sehr  verwirrende  Willkür  bei 
Kant,  in  welche  schwerlich  Ordnung  hineinzubringen  ist. 

Der  Ausdruck  op'^rxvov  wurde  zum  ersten  Male  gebraucht,  um  des 
Aristoteles  logische  und  erkenntnisstheoretische  Schriften  zusammenzu- 
fassen, die  ein  Werkzeug,  eine  Vorbereitung  für  die  Metaphysik  bilden 
sollten.  Im  XVII.  Jahrh.  nannte  Bacon  sein  Werk:  Novum  organon,  indem 
er  an  Stelle  der  apriorisch-deductiven  Methode  die  experimentell-inductive 
Methode  als  Verfahren  der  Philosophie  geltend  machte.  Im  XVIII.  Jahrh. 
wandte  Lambert  den  Ausdruck  wieder  an,  indem  er  sein  logisch-erkenntniss- 
theoretisches Werk  Neues  Organon  nannte;  es  erschien  1764  und  übte 
auf  Kant  einen  grossen  Einfluss  aus.  Im  K. 'sehen  Sinne  schrieb  F.  C.  Weise: 
Vergl.  Darstellung  der  reinen  Verstandes-  und  Vernunftbegriffe  als  Organon 
eines  ausf.  Dogm.  Systems  der  Transsc.  Philo s.,  Heidelb.  1821,  und 
schon  1801  Krug,  Entwurf  eines  neuen  Organons  der  Philosophie. 
Aehnliche  Titel  von  Wagner  1830,  Carus  1856  u.  A. 

Alle  reine  Erkenntnis»  •  •  •  erworben  •  •  •  Dies  scheint  eine  contradiciio 
in  adjecto  zu  sein  ;  denn  das  Apriorische  soll  ja  schon  in  uns  liegen.  Es  muss 
aber  doch  noch  erworben  werden ,  nicht  nur  etwa  weil  das  Apriorische 
nur  unbewusst  in  uns  ist ,  sondern  weil  das  Kantische  Apriori  factisch*  erst 


*  lieber  die  Bezeichnung  der  Kritik  selbst  als  Ganzen  als  Organon  vgl.  Phil. 
Monatsh.  XVI,  64.     Hamann,  W.  W.  VI,  224.  181,  bei  Gildemeister  V,  74. 

*  Krit.  Briefe  60  tadeln  den  Ausdruck  „Doctrin",  da  es  sonst  eine  „Wissen- 
schaft" gebe,  die  keine  „Doctrin"  ist,  was  gegen  den  Sprachgebrauch  sei.  Vgl, 
dag.  Born  und  Abicht,  Phil.  Mag.  II,  546  f. 


Frage  nach  Ursprung,  Inhalt,  Gültigkeit  und  Grenzen  der  Vernunft.     463 

[B  26.  H  49.  E  65.]  A 11.  B  25. 

nach  gewissen  allgemeinen  Grundsätzen  zu  finden  und  zu  beweisen  ist ; 
worüber  die  Analytik  Aufschluss  gibt.  Vgl.  oben  121 ;  auch  Vorr.  B  VIII. 
Vgl.  besonders  oben  S.  404  ff.  417  ff. 

Die  avsfilhrliclie  Anwendung.  Krit.  Briefe  59:  „Anwendung  eines 
Organons**  könne  unmöglich  ein  System  sein.  Vielleicht  habe  K.  „Aus- 
führung" schreiben  wollen.    Dag.  Born  und  A  b  i  c  h  t ,  Phil.  Mag.  11,  544  f. 

System  der  reinen  Yemonft.  Hier  kann  unbeschadet  des  Sinnes  der 
Genetiv  subjectiv  oder  objectiv  sein:  das  System,  welches  die  reine  Vernunft 
selbst  errichtet,  oder  das  System,  welches  bezüglich  der  reinen  Vernunft- 
erkenntnisse entworfen  wird.  Vgl.  oben  116  ff.  Witte,  Beitr.  25  macht  die 
Unterscheidung,  das  System  der  Phil,  gehe  auch  auf  den  apriorischen  In- 
halt, nicht  nur  auf  die  Form,  wie  die  Kritik;  vgl.  ib.  S.  30. 

Quellen  und  Grenzen  u.  s.  w.  Vgl.  A  153:  Nach  Beantwortung  der  Frage 
von  der  Möglichkeit  synthetischer  Erkenntniss  a  priori  kann  die  Transsc.  Logik 
„ihrem  Zwecke,  nämlich  den  Umfang  und  die  Grenzen  des  reinen  Ver- 
standes zu  bestimmen,  vollkommen  ein  Genüge  thun*.  —  762:  »Wir  sind 
^rklich  im  Besitze  synthetischer  Erkenntniss  a  priori,  wie  dieses  die  Ver- 
standesgrundsätze, welche  die  Erfahrung  anticipiren,  darthun.  Kann  Jemand 
nun  die  Möglichkeit  derselben  sich  gar  nicht  begreiflich  machen,  so  mag  er 
zwar  anfangs  zweifeln,  ob  sie  uns  auch  wirklich  a  priori  beiwohnen,  er  kann 
dieses  aber  noch  nicht  für  eine  Unmöglichkeit  derselben  ....  ausgeben. 
Er  kann  nur  sagen,  wenn  wir  ihren  Ursprung  und  Echtheit  einsehen, 
so  würden  wir  den  Umfang  und  die  Grenzen  unserer  Vernunft  bestimmen 
können."  —  57:  „Urspr.,  Umf.  und  objective  Gültigkeit.*  Ebenso 
schon  oben  B  23  f.:  Ursprung  und  Gültigkeit.  Kr.  d.  pr.  Vorr.  15: 
^Möglichk.,  Umf.,  Grenzen."  ib.  18:  „Quelle,  Inhalt,  Grenzen",  ib.  22:  „Be- 
dingungen, Umfang,  Grenzen."  Kr.  d.  Urth.  Vorr.  „Möglichkeit  und  Grenzen." 
Logik,  Einl.  III,  „Quelle,  Umfang,  Grenzen^'.  Gültigkeit  und  Schranken 
schon  im  Brief  an  Lambert  v.  2.  Sept.  1770.  Umfang,  Ab th eilung, 
Grenzen,  Inhalt  im  Brief  an  Herz  v.  24.  Nov.  1776.  Die  Krit.  untersucht 
(840)  „das  Vermögen  der  Vernunft  in  Ansehung  aller  reinen  Erkennt- 
niss a  priori",  oder,  wie  K.'gleich  unten  sagt,  eine  Untersuchung,  „welche 
die  Berichtigung  und  den  Probierstein  des  Werthes  oder  Unwerthes  aller 
Erkenntnisse  a  priori  abgeben  soll".  Urth.  Einl.  XX:  „Ihr  Feld  erstreckt 
sich  auf  alle  Anmaassungen  unserer  Erkenntnissvermögen ,  um  sie .  in  die 
Grenzen  ihrer  Eechtmässigkeit  zu  setzen" ;  das  geschieht  durch  eine  Kritik 
derselben  „in  Ansehung  dessen,  was  sie  a  priori  leisten  können".  Fischer 
274:  „Jede  Grenzbestimmung  ist  zugleich  ausschliessend  und  ein- 
schliessend;   der  Gott  Terminus,   wenn   er   die  Eigenthumsgrenze   setzt, 


'  Ganz  ebenso  Krit.  Vorr.  A  VI.  „Regeln  und  Grenzen"  ib.  Vlll.  „Umfang" 
=  „Grenzen  und  Gliederbau«  Vorr.  B  XXII.  Vgl.  die  Stellen  oben  38.  317.  320. 
:340.  342.  343.  „Umfang  und  Grenzen"  auch  bei  Tetens,  Versuche  I,  334. 
rfOrigin,  cei-tainty,  extent  of  knotvledge^  bei  Locke,  Ess.  I,  1,  §  2. 


464  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

A 11.  B  26.  [R  26.  H  49.  E  66.] 

unterscheidet  zugleich  das  M§in  und  Nicht-Mein.  So  enthält  die  Grenz- 
bestimmung  der  Vernunfterkenntniss  die  doppelte  Aufgabe  zu  zeigen,  welche 
Erkenntniss  durch  Vernunft  möglich  und  welche  nicht  möglich  ist.*  Dieses 
Suchen  nach  den  Quellen  der  Erkenntniss  u.  s.  w.  nennt  Herbart,  Kant- 
rede von  1811  S.  6  die  von  K.  angestrebte  , Wissenschaftlichkeit".  Zeller, 
Gesch.  474  bemerkt  richtig,  dass  Umfang  (Möglichkeit)  sich  auf  die  Analytik, 
Grenzen  sich  auf  die  Dialektik  beziehe;  jene  gibt  den  Nachweis  der  Be- 
dingungen des  erfahrungsmässigen ,  diese  den  Nachweis  der  Unmöglichkeit 
eines  die  Erfahrung  überschreitenden  Erkennens.  Man  beachte,  dass  demnach 
die  Aufgabe  der  Kritik  der  r.  V.  eine  doppelte  ist.  Die  Eine  wird  immer 
übereinstimmend  mit  Feststellung  der  Grenzen  der  Erkenntniss  a  priori 
bezeichnet;  die  andere  umfasst  Bestimmung  des  Ursprungs  (was  also 
Paulsen  unrichtig  leugnet  Entw.  194)*  und  der  Quelle,  des  Umfangs 
und  Inhalts  (quantitative,  rein  äusserliche  Bestimmung),  vor  Allem  aber 
Aufklärung  über  die  Möglichkeit,  Bedingungen  und  objective 
Gültigkeit  der  reinen  Vernunfterkenntnisse.  Man  erkennt  leicht  hier 
wieder  die  zweischneidige  Tendenz  des  Kriticismus,  in  dem  letzteren  die 
rationalistische,  in  dem  ersteren  die  Kichtung  auf  die  Grenzbestim- 
mung. Jene  zerfUUt  in  die  rein  äusserliche  Bestimmung  der  Quelle  und 
des  Umfangs  (Apriorismus)  und  in  Erklärung  der  Gültigkeit  (»trans- 
scendentale"  Frage  im  engeren  Sinn.  Vgl.  oben  409,  unten  471).  Man 
sieht  also  auch  hierin  die  Einseitigkeit  der  Auffassungen  bei  Paulsen,  Erd- 
mann u.  A.  (Man  beachte  auch  die  Stelle  762,  wornach  die  Grenzbestim- 
mung abhängt  von  der  Deduction  der  Gültigkeit.  Vgl.  oben  343.) 
Er d mann,  Deutsche  Rundschau  VIII,  262  sucht  Alles  auf  die  Grenzbe- 
stimmung zu  reduciren,  was  nach  dem  Gesagten  nicht  angeht. 

Propädeutik.  Es  ist  bekannt,  dass  Kant  in  der  „Erklärung  in  Be- 
ziehung auf  Fichte's  Wissenschaftslehre"  vom  7.  Aug.  1799  (Hart.  VIII,  600. 
Kirchm.  VIII,  293)  sich  hierüber  ganz  entgegengesetzt  äusserte.  sHiebei 
muss  ich  noch  bemerken,  dass  die  Anmaassung  mir  die  Absicht  unterzu- 
schieben, ich  habe  bloss  eine  Propädeutik  zur  Transscendentalphilosophie, 
nicht  das  System  dieser  Philosophie  selbst  liefern  wollen,  mir  unbegreiflich 
ist.  Es  hat  mir  eine  solche  Absicht  nie  in  Gedanken  kommen  können,  da 
ich  selbst  das  vollendete  Ganze  der  reinen  Philosophie  in  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  für  das  beste  Merkmal  der  Wahrheit  derselben  gepriesen 
habe.**  Hier  fragt  es  sich,  hatte  K.  allmälig  (wie  Rosenkr.  Gesch.  XII,  190 
annimmt)  vergessen,  dass  die  Metaphysik  eine  noch  nicht  gemachte 
Arbeit  sei  und  seine  Kritik  als  Metaphysik  angesehen,  oder  hat  er  vielleicht 
allmälig  eingesehen,  dass  die  Metaphysik,  die  von  seinem  Stand- 
punkte  aus   möglich   war,  eine  in  seiner  Kritik  schon  lange  gemachte 


'  Vgl.  oben  183.  Auch  Riehl  442  läugnet  diese  Fr&ge^  an  deren  Vorhanden- 
sein für  Kant  nach  den  obigen  peremptorischen  Erklärungen  kein  Zweifel  seio 
kann,  bes.  wenn  man  dazu  noch  vergleicht  A  3.  6.  B  23.  A  56.  57.  78. 


Kritik  als  l'ropädentik  zu  einem  System?  46S 

[E  25.  H  49.  E  66.]  All.  B26. 

Arbeit  sei?  J.  Er  dm  an  n,  Gesch.  d.  n.  Phil.  III,  48  und  ßiehl,  Krit.  I, 
204  meinen,  Kant  habe  in  jener  Erklämng  Kritik  zwar  mit  Trans  sc. -Phil., 
aber  nicht  mit  System  der  Metaph.  identificirt.  lieber  diese  Auslegung, 
sowie  die  ganze  Frage  s.  die  Ausfuhrungen  zum  Schluss  der  Yorr.  B.  Gegen 
Fichte 's  Ausführungen,  Kant  habe  bloss  eine  Prop.  geben  wollen,  treten 
alle  engeren  Kantianer  auf,  so  z.  B.  Heusinger  in  seiner  Schrift:  «Ueber 
das  idealistisch-atheistische  System  Fichtes^,  1799  S.  26—40:  „üeber  das 
Vorgeben,  dass  das  von  K.  aufgestellte  System  propädeutisch  sei  und  einer 
tieferen  Begründung  nur  vorgearbeitet  habe.*^  Die  Kritik  gebe  vollständig 
die  Principien  der  Metaphysik;  diese  letztere  bestehe  aber  nur  in  einer 
systematischen,  auch  die  Folgerungen,  Definitionen  u.  s.  w.  umfassenden 
Darstellung  und  Ausnützung  jener  Principien;  a  parte  ante  sei  somit  diese 
Metaphysik  vollendet,  wenn  auch  nicht  a  parte  post.  Aber  unter  „System 
der  reinen  Vernunft"  verstehe  Kant  nicht  eine  Arbeit,  welche  zur  principiellen 
Begründung  des  menschl.  Wissens  irgend  etwas  beitrage.  Was  K.  System 
nenne,  sei  allerdings  noch  nicht  da  der  Ausführung,  jedoch  dem  Wesen  nach ; 
was  Fichte  so  nenne,  sei  etwas,  was  K.  nie  gewollt  habe  und  auch  nie 
billigen  würde,  denn  Fichte  wolle  eigentlich  eine  andere  Kritik  der  r.  V. 
In  ähnlicher  Weise  replicirte  J  äs  che  (Stimme  eines  Arktikers  anonym  1799) 
S.  47  ff.  K.  habe  sich  (52)  nicht  ein  System  gedacht,  in  welchem  irgend  ein 
neues  Princip  nothwendig  sei,  sondern  er  habe  dasselbe  vollständig  begründet. 
Freilich  ist  er  sich  nicht  ganz  klar;  nach  S.  50  lasse  es  K.  unentschieden, 
ob  ein  System  möglich  sei,  ja  er  scheine  anzudeuten,  dass  er  diese  Möglich- 
keit nicht  annehme  (hier  beruft  sich  Jäsche  auf  die  Stelle,  wo  K.  sagt,  «es 
stehe  noch  dahin,  ob  eine  solche  Erweiterung  der  Kenntniss  möglich  sei," 
wo  also  K.  die  transscendente  Metaph.  meint).  Nach  S.  53  f.  ist  ihm  das 
System  identisch  mit  den  Metaph.  Anf.  d.  Naturw.  und  der  Met.  d.  Sitten. 
Man  sieht,  die  Kantianer  waren  einigermassen  in  derselben  Verlegenheit, 
wie  K.  selbst.  Mag  nun  Transsc.-Phil.  mit  dem  System  der  r.  V.  identisch 
sein  oder  nicht,  so  hat  K.  jedenfalls  die  Kritik  nur  als  Propädeutik 
bezeichnet,  hier,  sowie  noch  einmal  ausdrücklich  in  der  Vorrede  B  43.  K. 
verspricht  späterhin  mehrfach  dies  System  zu  liefern  und  thut  es  doch  nicht. 
Da  erhebt  sich  aber  eben  die  Frage,  was  denn  K.  als  Inhalt  dieses  Systems 
sich  gedacht  habe,  ob  denn  die  Kritik  überhaupt  noch  zu  weiteren  Aus- 
führungen in  einem  System  Anlass  geboten  habe?  wie  sich  K.  die  auch  in 
den  Proleg.  noch  versprochene  „künftige*'  Metaphysik  als  Wissenschaft 
gedacht  habe,  und  ob  hier  nicht  bei  K.  selbst  eine  fundamentale  Unklar- 
heit über  seine  eigenen  Ziele  obwalte,  indem  er  ein  System  der  Metaphysik 
noch  verspricht,  nachdem  er,  was  das  Transscendente  betrifft,  dessen  Un- 
möglichkeit nachgewiesen,  und  was  das  Inmianente  betrifft,  dessen  wesent- 
lichen Inhalt  schon  in  der  Kritik  ausgeführt  hat?  Die  Antwort  hierauf  in 
den  Bemerkungen  zum  Schluss  der  Vorr.  B.  Als  den  Inhalt  und  die  Auf- 
gabe dieser  künftigen  Metaphysik  gibt  Reinhold  an  (Fortschr.  249), 
sie   müsse   , keineswegs  wie   die   bisherige,  weder  als  die  Wissenschaft  der 

Vai hinger,  Kant-Oommentar.  30 


466  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  ß,  Absclin.  VII. 

All.  B26.  [R  25.  H  49.  E  65.] 

Dinge  überhaupt^  noch  der  Dinge  an  sich,   sondern  als  die  Wissen- 
schaft der  reellen  vorgestellten  Objecte  in  Rücksicht  auf  ihre  im  Vorstellungs- 
vermögen  gegründeten  und  insofern  nothwendigen  und  allgemeinen  Prädicate 
*  auftreten".     Diese  Veränderung  des  bisherigen  Begriffes   der  Metaphysik 

durch  K.  bespricht  derselbe  auch  in  d.  Beitr.  z.  Bericht.  II,  73  ff.  bes.  152  ff. 
,,Met.  ist  nicht  die  Wissenschaft  der  Dinge  an  sich,  sondern  die  Wissenschaft 
der  Dinge  unter  den  im  transscendentalen  Vorstellungsvermögen  gegründeten 
[nothwendigen  und  allgemeinen  vgl.  Pölitz.  Lehrbuch  322  ff.]  Merkmalen.*' 
Vgl.  dag.  Verm.  Schrift.  II,  13  ff.,  wo  Met.  wieder  im  dogmatischen  Sinne 
d.  h.  dort  im  Anschluss  an  Fichte  als  Wissenschaft  des  Absoluten  be-< 
stimmt  wird.  Nach  Stadler,  Grunds.  5  hat  man  seit  Kant  unter  Meta- 
physik nichts  anderes  zu  verstehen,  als  „das  Problem  der  Möglichkeit  wissen- 
schaftlicher Erfahrung''.  Eberhard,  Phil.  Mag.  I,  23  bemerkte  schon 
1789  richtig,  zu  der  Errichtung  des  von  K.  verheissenen  metaph.  Lehrge- 
bäudes könne  kein  Anschein  sein,  „da  ihm  seine  Kritik  schon  zum  Voraus 
den  Zugang  zu  allen  Materialien,  die  dazu  nöthig  wären,  versperrt  hat'. 
„Vergebens  unterscheidet  K.  selbst  seine  Kritik  als  Propädeutik  von  der 
künftigen  Wissenschaft.  Die  unselbständigen  Kantianer,  die  Nachbet.er  Kants 
sahen  das  Gerüste  für  das  Gebäude  selbst  an  und  können  sich  nicht  genug 
wundern,  dass  Niemand  neben  ihnen  auf  demselben  wohnen  will,"  Bein- 
hold, Verm.  Sehr.  II,  228.  Dies  war  überhaupt  ein  Hauptstreitpunkt 
zwischen  den  Kantianern  strenger  Observanz  und  den  Fortbildnern.  Vgl. 
Grohmann,  Dem  Andenken  Kants  140.  Natürlich  sahen  alle  folgenden 
Philosophen,  bes.  Hegel,  Logik  V — XIII,  in  ihren  „Systemen"  die  Erfüllung 
des  von  K.  gegebenen  Versprechens,  wohl  keiner  mit  so  viel  Selbstgewissheit 
als  Biedermann,  nach  welchem  K.  hier  direct  auf  seine  „Begriffswissen- 
schaft" hinweist  („Kants  Krit.  d.  r.  V."  8).  —  Vgl.  zu  dieser  Frage  oben 
S.  149.  375. 

[In  Ansehnngr  der  Specalation  nur  negativ.]   Dieser  Zusatz  der  II.  Aufl. ' 


'Derselbe  lautete  nach  Erdmann,  Nachträge  S.  11  ursprünglich:  „hu- 
ränglich  und  unmittelbar^.  Diese  Wendung  liess  auch  noch  eine  andere 
Auffassung  zu:  darnach  konnte  der  „positive  Nutzen^  auch  in  dem  in  Aussicht 
gestellten  immanenten  System  der  Transscen  dental -Philosophie  bestehen,  welches 
dann  mittelbar  aus  der  Kritik  hervorgehen  sollte.  Vielleicht  weil  letzteres,  wie 
mehrfach  erörtert,  schon  in  der  Kritik  enthalten  war,  jedenfalls  aber,  um  be- 
stimmt die  auf  die  Moral  gebaute  transscendente  Metaphysik  (vgl.  oben  383)  zu 
betonen,  wählte  Kant  die  vorliegende  Wendung.  Die  erstere  Wendung  und  Auf- 
fassung passt  jedoch  zum  Text  von  A  viel  besser,  da  die  Kritik  ja  als  „Profm- 
deutik"  bezeichnet  ist.  Insofern  widerspricht  die  zweite  Wendung  dem  Zusammen- 
hang. —  „Speculation"  hat  natürlich  wie  alle  Termini  Ks.  mehrere  Bedeutungeu^ 
worüber  zu  Krit.  634  fT.  804  ff.  Hier  =  theoretische  Erkenntniss  des  Trans- 
scendenten;  ebenso  oben  A  5. \  dag.  oben  457.  Dass  die  Rettung  der  Meta- 
physik durch  die  Moral  schon  in  der  Kr.  d.  r.  V.  enthalten  sei,  kann  man  ange- 
sichts der  Ausführungen  A  795—831    nicht  leugnen.     Kant  will   nur  die  theo- 


Kur  negativer  Nutzen  der  Kritik?  467 

[B  25.  H  49.  E  65.]  All.  12.  B  26. 

ist  höchst  bemerkenswerth.  Er  hängt  zusammen  mit  den  Aasfuhrungen  der 
Vorrede  B,  dass  nämlich  die  Kritik  negativ  sei  nur  in  Beziehung  auf  die 
Anmaassung  theoretischer  Erkenntniss  über  die  Grenzen  der  Erfahrung 
hinaus,  dass  dieselbe  aber  direct  positiven  und  sehr  wichtigen  Nutzen 
habe,  „sobald  man  überzeugt  wird,  dass  es  einen  schlechterdings  noth wendigen 
praktischen  Gebrauch  der  reinen  Vernunft  (der  moralischen)  gebe,  in 
welchem  *  sie  sich  unvermeidlich  über  die  Grenzen  der  Sinnlichkeit  erweitert" 
u.  s.  w.  (a.  a.  0.  XXV).  Vgl.  Erdmann  Kants  Krit.  173.  Das  Nähere  hierüber 
zur  Vorrede  B  und  zu  S.  711,  wo  es  heisst,  die  Krit.  soll  die  Vernunft  von 
Ausschweifung  und  Irrthum  abhalten  und  ihren  Verirrungen  abhelfen.  Daher 
heisst  die  Kritik  auch  Disciplin.  —  Krit.  Briefe  60:  Beurtheilung  der 
reinen  Vernunft  ist  aber  selbst  schon  Speculation.  Ebenso  wendet  Herbart 
gegen  das  Unternehmen,  erst  die  Grenzen  des  menschl.  Erkenntnissvermögens 
auszumessen  und  dann  die  Metaphysik  zu  kritisiren,  Einl.  §  149  ein,  es  liege 
ja  vor  Augen,  dass  bei  jener  Untersuchung  desErk.  Verm.  lauter  meta- 
physische Begriffe  angewendet  werden  müssen;  ebenso  bes.  schon  Aene- 
sidem.     Vgl.  auch  oben  125  Beneke;  auch  S.  45  Anm.  1. 

TraBsscendental«  Nach  der  Erklärung  an  dieser  Stelle  ist  transsc. 
Erk.  einfach  soviel  als  Theorie  des  Apriori.  Transsc.-Philos.  ist  die 
systematische  Zusammenstellung  und  Behandlung  der  Begriffe  und 
Erkenntnisse  a  priori.  Dieser  Grundbegriff  der  K.'schen  Philosophie  und  der 
Kritik  insbesondere  bietet  bei  weitem  das  schwierigste  terminologische 
Problem  bei  Kant,  ja  in  der  ganzen  neueren  Philosophie  dar.  Kant 
gibt  späterhin  noch,  andere  sehr  abweichende  Definitionen  dieses  Begriffes ; 
er  verwendet  ihn  auch  leider  für  transscendent,  was  doch  der  Tendenz 
nach  eine  ganz  andere  Bedeutung  hat:  Transscendente  Philos.  ist  die 
über  den  Umfang  der  Erf.  ins  Uebersinnliche  hinausfliegende  Erkenntniss. 
Transscendentale  Erkenntniss  und  Philos.  ist  nach  dieser  Stelle  nur  die 
Theorie  der  Möglichkeit  apriorischer  Erkenntniss,  wird  jedoch  späterhin  auch 
für  die  apriorische  Erkenntniss  selbst  gebraucht  ^.  Es  ist  am  besten,  zunächst 
nur  die  hier  entwickelte  Bedeutung  im  Auge  zu  behalten,  die  späteren  Be- 
deutungen werden  sich  im  Laufe  der  Sache  ergeben.  Ein  besonderes  Supple- 
ment wird  sich  mit  diesem  merkwürdigen,  ja  räthselhaften  Terminus,  und 
seiner  Geschichte  vor  Kant  und  seiner  Beception  durch  Kant  beschäftigen. 
Daselbst  werden  auch  die  theilweise  horribeln  Missdeutungen  dieses  Begriffs  • 


retische  Begründung  der  transscendenten  Metaphysik  vernichten,  nicht  aber  sie 
selbst:  nur  dies  ist  der  Sinn  der  „Grenzbestimmung^. 

*  Ebendesshalb  ist  auch  am  Anfang  des  vorigen  Satzes  das  „hier**  von  Kant 
eingeschoben  worden.   Vgl.  noch  unten  S.  475. 

^  Und  zwar,  insofern  sie  sich  gleichwohl  auf  Erfahrung  bezieht  und  die- 
selbe sogar  möglich  macht.  So  oben  S.  34.  Diese  Bedeutung  ist  aber  in  dieser 
Stelle  noch  gar  nicht  enthalten,  wie  Born,  Philos.  Mag.  II,  549,  Laurie  a.  a.  0. 
233,  Riehl,  Krit.  204  auslegen. 


468  Commentar  zur  Einleitung  A,  Ö.  10—16  =  6,  Abechn.  Vll. 

A 11. 12.  B  25.  [R  26.  H  49.  E  65.] 

und  des  Ausdrucks  Transsc.-Phil.  die  ihnen  gebührende  Würdigung  finden: 
bei  keinem  Ausdruck  so  wie  bei  diesem  zeigt  sich  die  namenlose  Willkür 
vieler  Commentatoren  bis  auf  den  heutigen  Tag.  So  meint  z.  B.  Schopen- 
hauer (und  nach  ihm  Fischer  19),  Kant  nenne  seine  Philos.  Transsc.- 
Philos.,  weil  sie  über  die  bisherigen  falschen  Systeme ,  über  Dogm.  und 
Skeptic.  hinausgehe!  Und  das  ist  noch  ein  gelindes  Missverständniss ;  es 
finden  sich  noch  ganz  andere  etymologische  Monstra  K 

So  könnte  man  nach  der  Pseudomethode  derartiger  Auslegungen  an 
dieser  Stelle  versucht  sein,  folgende  Construction  a  priori  etymologisch 
zu  bilden:  Transscendental  heisse  etymologisch  das  auf  das  Transscendente 
bezügliche  (vgl.  ähnliche  lateinische  Bildungen  auf  -alis).  Nun  könne  das 
Transscendente  zwei  Bedeutungen  haben,  das  was  den  Umfang  der  Er- 
fahrung überschreite,  und  das  was  über  ihrem  Inhalt  hinausliege.  Ersteres 
sei  die  Erkenntniss  des  Uebersinnlichen ;  letzteres  die  Erkenn tniss  aus  reiner 
Vernunft,  also  die  Erkenntniss  a  priori.  Transscendental  heisse  also  sowohl 
das  auf  die  übersinnliche  als  das  auf  die  apriorische  Erkenntniss  Bezügliche. 
Kant  gebrauche  „transscendental*'  in  diesen  beiden  Bedeutungen,  jedoch  ver- 
wende er  es  (neben  transscendent  =  übersinnliche  Erkenntniss  selbst)  vorzugs- 
weise für  das  auf  die  apriorische  Erkenntniss  Bezügliche,  speciell  für  die 
Erkenntniss,  welche  sich  eben  mit  der  apriorischen  Erkenntniss  beschäftige; 
es  sei  somit  „transscendental'  in  erster  Linie:  Das  auf  das  Apriori 
Bezügliche.  Die  Gonsequenzen  sind  richtig,  aber  die  Prämissen  sind  gänz- 
lich falsch.  Dies  ist  nicht  der  historische  Ursprung  des  Ausdruckes  in  der 
Scholastik  und  bei  Kant.  Und  doch  hätte  eine  derartige  Ableitung  noch 
den  Vorzug  didactischer  Klarheit,  und  wenigstens  theilweiser  Richtigkeit, 
(in  der  Auslegung  des  Sinnes  an  dieser  Stelle)  gegenüber  den  wüsten,  un- 
glaublich willkürlichen  und  falschen  Auslegungen,  Missdeutungen  und  Miss- 
handlungen, denen  dieser  Begriff  bis  heute  ausgesetzt  war  und  ist.  Zunächst 
halte  man  also  an  der  an  dieser  Stelle  klar  von  K.  selbst  entwickelten  Be- 
deutung fest ,  womach  Transsc.  -Phil,  so  viel  ist ,  als  Theorie  der 
Möglichkeit  apriorischer  Erkenntniss,  oder  kürzer  Theorie 
des  Apriori.  Und  Transscendental  selbst  wird  nach  dieser  Stelle  immer 
nur  eine  Erkenntniss  genannt,  und  zwar  eben  diejenige,  welche  die  Möglich- 
keit apriorischer  Erkenntniss  zum  Gegenstand  hat,  noch  nicht  diese 
•  letztere  selbst. 

Ganz  in  dem  entwickelten  Sinne  werden  dann  auch  die  einzelnen 
T  heile  der  Transscendental-Philosophie  (deren  Hauptinhalt  die  Kritik  d.  r.  V. 
gibt),    „transscendental''    genannt.     Nach   A  16   gehört  die   Sinnlichkeit 


*  Etymologische  Spielereien  —  ein  „Erbfehler"  der  Philosophie  —  sind  hier 
gar  nicht  am  Platze.  Es  handelt  sich  um,  freilich  sehr  mühsame,  positiv  historische 
terminologische  Forschung,  wie  sie  bes.  durch  E  u  c  k  e  n  in  verdienstvollster  Weise 
inaugurirt  worden  ist.  Auch  mit  der  Wendung  Hegels,  W.  W.  XV,  559,  der 
Ausdruck  sei  „barbarisch*',  ist  man  dieser  Untersuchung  nicht  enthoben. 


9 Transscen dental''.     Eine  enorme  Inconsequenz  Kants.  469 

[B  26.  H  49.  E.  65.]  A  IL  IS.  B  25. 

zar  Transscendental-Philosophie,  sofern  sie  Vorstellungen  a  priori  enthält  u.  s.  w. 
und  A  21  heisst  die  transscendentale  Aesthetik  die  Wissenschaft  von 
allen  Principien  der  Sinnlichkeit  a  priori.  Aehnlich  wird  A  57  ff.  die 
transscendentale  Logik  bestimmt,  und  von  ihrem  ersten  Theil,  der  trans- 
scendentalen  Analytik,  heisst  es  A  62  ff.,  sie  sei  die  Zergliederung 
unseres  gesammten  Erkenntnisses  a  priori  u.  s.  w.  Nach  dieser  Analogie 
müsste  die  transscendentale  Dialektik  sein:  die  Kritik  des  sich  an  die 
aprloriseheu  Principien  anhaftenden  Scheins  und  der  grundlosen  Anmaassung, 
nämlich  dieselben  unbeschrilnkt  auf  Gegenstände  überhaupt  hyperphysisch 
anzuwenden.  So  wird  sie  auch  A  64  bestimmt.  Allein  später,  wo  der  Ter- 
minus in  den  heterogensten  Bedeutungen  in  unglaublichster  Willkür  ange- 
wandt wird,  ist  sie  dazu  da,  ,den  Schein  transsceDdenter  ürtheile  auf- 
zudecken!! So  bes.  A  297.  308  \  Letztere  Bedeutung  gewann  bei  Kant  und 
seinen  Nachfolgern  die  Oberhand ;  so  hat  Fischer  sie  adoptirt  III,  478  (auch 
445,  dag.  455.  464).  Was  soll  man  zu  dieser  bis  jetzt  merkwür- 
digerweise gänzlich  unbeachtet  gebliebenen  enormen  Naohlässig- 
keit  in  der  Benennung  der  einzelnen  Thelle  der  Kritik  sagen? 

Transscendental  I.  und  IL  Auflage.  Nach  Cohen,  a.  a.  0.  36,  soll 
die  Wendung  der  II.  Aufl.  nur  eine  „Erläuterung"  der  Bestimmung  der 
I.  Aufl.  sein  '.  Wenn  K.  hätte  „erläutern*  wollen,  so  hätte  er  doch  den  Text 
der  I.  Aufl.  als  Thema,  das  zu  erläutern  war,  mit  herübergenommen.  Viel- 
mehr ist  hier  eine  Aenderung.  Diese  Aenderung  ist  auch  nicht  bloss 
eine  „genauere  Formulirung",  Erdmann,  Krit.  166.  K.  spricht  statt  von 
Begriffen  von  Erkenntnissart.  Begriffe  sind  aber  noch  keine  ürtheile, 
noch  keine  Erkenntniss,  jedenfalls  lag  dieser  Sinn  nahe,  auch  wenn  „Be- 
griffe* nach  dem  veralteten  Stil  „Erkenntniss*  bedeuten  sollte,  was  aber 
unwahrscheinlich  ist  nach  der  Parallelstelle  in  dem  Brief  an  Herz  vom 
21.  Febr.  1772:  „Ich  suchte  die  Transsc.-Phil. ,  nämlich  alle  Begriffe  der 
gänzlich  reinen  Vernunft  in  eine  gewisse  Zahl  von  Kategorien  zu  bringen.* 
Laune  a.  a.  0.  238  meint:  „77<ß  word  Begriff  is  loosely  used'^  und  setzt 
richtig  hinzu:  „An  illustration  is  wanted  heref'  Umgekehrt  schliesst  „Er- 
kenntnissart* nur  ürtheile  ein,  nicht  Begriffe  (doch  ist  der  Gebrauch  von 
^ Erkenntniss*  schwankend;  vgl.  oben  351).  und  doch  wird  gleich  unten 
A  16  die  Sinnlichkeit  desshalb  zur  Transsc.-Phil.  gerechnet,  weil  sie  „Vor- 
stellungen a  priori  enthält,  welche  die  Bedingungen  ausmachen,  unter 
denen  uns  Gegenstände  gegeben  werden*  ;  ganz  ebenso  wird  in  der  im  üb- 
rigen sehr  verworrenen  Stelle  A  56  als  Gegenstand  der  transsc.  Untersuchung 
angegeben,  „dass  und  wie  gewisse  Vorstellungen  (Anschauungen  oder 
Begriffe)  lediglich  a  priori  angewandt  werden".  (Daher  ist  auch  die  Er- 
läuterung von  Cohen  S.  79  unrichtig,  worüber  noch  zur  Aesthetik.)  Die 
Aenderung  der  II.  Aufl.  hängt  wohl  zusammen  mit  der  Bestimmung  B  39 


^  Vgl.  oben  88  f.  dag.  34.    Beide  Bedeutungen  scheinen  A  888  verbunden. 
*  Cohen,  Ks.  £th.  28:  A  »ungenügend*,  B  „bringt  die  Hauptsache  hinzu*« 


470  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abßchn.  VII. 

A 11. 12.  B  25.  [R  25.  H  49.  E  65.] 

über  tr.  (worüber  Näheres  ebenfalls  zur  Aesthetik).  Hier  genügt  die  Be- 
merkung, dass  man  richtig  geht,  wenn  man  als  das  gemeinsame  Resultat 
von  A  und  B  fest  hält:  Transscendental-Philosophie  ist  die  Theorie  des 
A priori,  mag  dieses  nun  in  BegrifiFen  oder  in  ürtheilen  bestehen.  Man 
beachte  jedoch ,  dass  diese  Definition  zunächst  nur  für  diese  Stelle  gilt. 
Anderwärts  vrird  anders  definirt.    (Vgl.  auch  unten  481  Anm.  1.) 

Dass  das  Wörtchen  „überhaupt'  bedeutsam  ist  und  daher  keineswegs 
weggelassen  werden  darf,  folgt  aus  S.  844,  wo  es  von  der  Transsc-Phil.  heisst, 
sie  „betrachte  Verstand  und  Vernunft  in  einem  System  aller  Begriffe  und 
Grundsätze,  die  sich  auf  Gegenstände  überhaupt  beziehen,  ohne  Objecte 
anzunehmen,  die  gegeben  wären  (Ontologia)."  Aus  der  Erörterung  über  den 
Begriff  Transsc.  wird  die  Bedeutung '  dieses  Zusatzes  erhellen.  Er  darf  daher 
nicht  mit  Kehrbach  und  Erdmann  der  IL  Aufl.  weggenommen  werden, 
in  welcher  er  allerdings  unpassend  gestellt  ist  ^;  dagegen  muss  das  Wort 
nach  „Gegenständen*  gesetzt  werden,  statt  vor  „beschäftigt*. 

[Transscendeiital  II«  AdH.]  Um  diese  Stelle  hat  Cohen  Kts.  Th^  d. 
Erf.  35  ff.  eine  Wolke  von  Missverständnissen  und  dunkler,  gesuchter  Wen- 
dungen verbreitet.  Er  sagt:  „Wenn  ti*ansscendental  die  Erkenntnissart 
genannt  wird,  sofern  sie  a  priori  möglich  sein  soll,  so  wird  damit  das 
a  priori  selbst  als  nur  dadurch  möglich  bezeichnet,  dass  es  in  einer  trans- 
scendentalen  Erkenntnissart  erkannt  wird.*  Nun  bezieht  sich  aber  doch 
offenbar  grammatisch  und  logisch  transscendental  gar  nicht  auf  „Erkennt- 
nissart*, sondern  auf  die  mit  der  a  priori  möglich  sein  sollenden  Erkennt- 
nissart beschäftigten  Erkennt niss  d.  h.:  tr.  heisst  die  Theorie  der  apriori- 
schen Erkenntnissart.  „Man  muss,  heisst  es  weiter,  auch  den  Ausdruck: 
Erkenntniss  a  r  t  betrachten.  Die  transsc.  Erkenntniss  hat  keine  anderen 
Objecte  als  die  metaphysische ;  aber  der  Methode ,  der  Art  nach  ist  sie 
von  dieser  unterschieden.  Sie  erweist  das  a  priori  erst  in  seiner  Möglich- 
keit. Daher  und  so  erfüllt  sie  den  Begriff  desselben.*  „Tr.  ist  das  Comple- 
ment  zu  a  priori*,  das  sei  in  dem  Satze  Ks.  deutlich  ausgesprochen.  Auch 
hier  bezieht  wieder  Cohen  in  demselben  sehr  seltsamen  grammatischen  Irr- 
thum  tr.  auf  „Erkenntniss  art*,  statt  auf  „Erkenntniss*.  Sodann  mischt  er 
einen  erst  später,  und  zwar  ganz  anders  als  er  es  darstellt,  gemachten  Unter- 
schied zwischen  metaphysischer  und  transscendentaler  Erkenntniss  herein,  der 


'  Riehl  204  erläutert:  „also  auf  mögliche  Erfahrung  %  im  Gegensatz  zu  be- 
stimmten Gegenständen,  zu  wirklicher  Erfahrung.  Dass  dies  nur  theilweise  richtig 
ist,  wird  später  gezeigt  werden.    Cohen  36  lässt  „überhaupt"  weg. 

'  Erdmann  in  seiner  Ausgabe  S.  663  sagt  richtig:  „Es  ist  als  Bestimmung 
zu  ^beschäftigt^  so  ungehörig,  wie  es  in  dem  Text  der  ersten  Auflage  als  Bestim- 
mung zu  ,Gegen8tänden^  nothwendig  war".  Dann  ist  es  auch  in  der  II.  Autl. 
nothwendig.  Auch  nach  Erdmann,  Nachträge  S.  11  sollte  es  „nach  Kants  In- 
tention bestehen  bleiben".  Vgl.  Cantoni,  Kant  162.  Die  Wendung  in  B  „mög- 
lich sein  soll"  kann  sich  sowohl  auf  das  antithetische,  als  auf  das  hypothetische, 
als  auf  das  methodologische  Problem  beziehen.    (Vgl.  oben  393.  397.  404.) 


„Tranescen  dental".  471 

[R  -  H  49.  E  65.]  B  25. 

hier  nur  verwirren  kann.  Endlich  reducirt  sich  der  mysteriös  eingeführte 
p^esucht  mathematisch  exacte  Ausdrack  des  „Complementes^  ganz  simpel  darauf, 
dass  hier  (worauf  der  Ton  zu  legen  ist)  transscendentale  Erkenntniss  soviel 
ist  als  Theorie  der  Erkenntniss  a  priori.  Nur  in  diesem  allgemeinen 
und  ganz  klaren  Sinn  ist  hier*  transsc.  Erk.  zu  verstehen :  Cohen  aber  legt 
eben,  indem  er  jene  Unterscheidung  hier  herein  mischt,  etwas  ganz  besonderes 
hinein:  nach  ihm  soll  metaph.  Erkenntniss  (von  der  hier  doch  kein  Wort 
steht)  sein  die  Erkenntniss,  dass  ein  Begriff  a  priori  sei,  transsc.  aber  die 
Erkenntniss,  wiefern  dieser  apriorische  Begriff  möglich  sei,  d.  h.  mit 
welchem  Hechte  er  gültig  sei.  Nun  aber  beruht  diese  Auffassung  auf 
einer  weiteren  auffallenden  grammatischen  Ungenauigkeit  des  Interpreten: 
Kant  sagt  nicht:  transsc.  sei  die  Erkenntniss  von  der  Erkenntnissart  a  priori, 
wiefern  diese  (nämlich  die  apriorische  Erkenntnissart)  möglich  sei; 
sondern  er  sagt,  transsc.  sei  die  Erkenntniss  von  der  Erkenntnissart  von 
Gegenständen,  insoferne  diese  (d.  h.  die  Erkenntnissart  von  Gegenständen) 
a  priori  möglich  sein  solle;  das  heisst  doch  mit  anderen  Worten  plan 
und  deutlich,  mit  derjenigen  Erkenntnissart,  welche  (bisher  aufge- 
tauchten  Ansprüchen  gemäss)  a  priori  sei.  Nach  Cohen  will  K.  nachweisen, 
inwiefern  die  (schon  als  solche  festgestellte)  apriorische  Erkenntniss  als 
wirkliche  Erkenntnissart  von  Gegenständen  möglich  d.  h.  gültig  sei';  factisch 
aber  sagt  Kant  hier  nur,  er  wolle  erkennen,  was  es  mit  der  behaupteten 
apriorischen  Erkenntniss  auf  sich  habe.  Natürlich  schliesst  diese 
Frage  auch  jene  erstere  mit  ein,  aber  sie  ist  weiter',  und  steht  nicht  in 
jenem  von  Cohen  irrigerweise  hereingebrachten  Gegensatz.  Endlich  verkennt 
Cohen  den  Sinn  des  Gegensatzes  zwischen  Gegenständen  und  Erkenntniss- 
art, wenn  er  a.  a.  0.  sagt:  „also  nicht  der  Gegenstand,  sei  es  einer  An- 
schauung, sei  es  eines  Begriffes,  nicht  der  Gegenstand  ist  a  priori, 
sondern  die  Erkenntniss  art."  Merkwürdige  Interpretation !  K.  will 
einfach  dasselbe  sagen,  was  er  als  charakteristisches  Zeichen  seiner  kritischen 
Methode  überall  und  immer  betont,  dass  die  transsc.  Erk.  nicht  mit  den 
Objecten,  sondern  mit  dem  S u b j  e c t  es  zu  thun  habe.  Dieser  Irrthum 
Cohens  wird  auf  S.  37  in  höchst  perniciöser  Weise  fortgesetzt,   wo  er  sagt 


'  Man  beachle  wohl^  dass  es  sich  darum  handelt^  zu  eriiiren^  wie  Kant  hier 
tr.  definirt.  Es  ist  eine  methodisch  unrichtige  Verwerthung  von  Parallelstellen, 
wenn  ganz  abweichende  Definitionen  resp.  Gebrauchsweisen  des  Begriffs  unter- 
schiedslos mit  der  hiesigen  Stelle  vermischt  werden. 

'  Vgl.  hiezu  Cohen  S.  121  u.  93.  Ganz  unsachgemäss  und  ganz  unrichtig 
herbeigezogen  sind  die  Tüfteleien  und  Spielereien  über  den  Sinn  des  Ausdruckes 
„möglich"  bei  Cohen  a.  a.  0.  94.  Vgl.  ferner  ib.  40.  41.  45.  47—50  (an  einzelnen 
Stellen  auch  die  richtige  Auslegung).  Vgl.  Göring,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  III,  10. 
Vgl.  oben  824^  und  besonders  405  ff. 

'  Sie  umfasst  nicht  bloss  im  engeren  prägnanten  Sinn  die  Frage  nach  der 
Gültigkeit,  sondern  auch  die  nach  Ursprung,  Umfang,  Grenzen  u.  s.  w. 
Vgl.  oben  463  f.  -  Vgl.  zu  dieser  Stelle  Fries,  Gesell.  IL  547,  Reinh.  200  ff. 


472  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

A 12.  B  25.  [B  26.  H  49.  K  65.] 

(mit  Bezug  auf  die  Frage,  ob  der  Baum  ein  wirklicher  Gegenstand  sei): 
„Nach  den  apriorischen  Objecten  wird  nicht  gefragt,  sondern  nach 
den  Begriffen  a  priori  von  Objecten.*  —  Was  Witte,  Beitr. 
1 9  gegen  Cohen  sagt,  ist  noch  verworrener,  als  Cohens  eigene  Aeusserungen. 
Auch  die  Beschränkung,  welche  Cohen  S.  80  anbringt,  dass  es  sich  um  die 
Möglichkeit  apriorischer  Erkenntniss  innerhalb  einer  möglichen  Er- 
fahrung handle,  ist  in  dieser  Stelle  noch  gar  nicht  begründet;  auch  nach 
S.  45  soll  „das  Lösungswort  schon  hindurchschimmern*'.  Dadurch  wurde 
wohl  auch  die  gänzlich  falsche  üebersetzung  und  Auslegung  der  Stelle  bei 
Caird  200  hervorgerufen.  Cohen  hat  den  Begriff  „transscendental"  miss- 
verstanden, wie  sich  noch  oft  zeigen  wird,  weil  er  die  verschiedenen  theils 
gröberen,  theils  feineren  Nuancen  der  Bedeutung  des  Terminus  nicht  unter- 
scheidet und  AUes  in  die  unklare  und  verwaschene  Gesammtvorstellung  «das 
Transscendentale"  zusammenwirft. 

Ein  System  solcher  BegrilTe.  Dass  hier  durch  die  Aenderung  der  ü.  Aufl. 
der  Zusammenhang  gestört  sei ,  ist  offenbar ,  wie  auch  schon  G  r  a  p  e  n- 
g  i  e  s  s  e  r ,  Aufg.  der  Vernunftkr.  20  richtig  nachweist.  Nach  der  Aenderung 
der  II.  Aufl.  hätte  es  heissen  müssen :  „Ein  System  solcher  Erkenntnisse*. 
Dass  K.  plötzlich  von  „Begriffen*'  rede,  bemerkten  schon  die  Erit.  Briefe  61 
und  fragen  daher:  Wovon  sollen  sie  denn  Begriffe  sein?  und  beantworten 
also  unrichtig:  „Nicht  von  den  Gegenständen,  nicht  von  unseren  Erkennt- 
nissen, sondern  von  der  Art,  wie  wir  erkennen.*'  So  scheine  es  nach  dem 
Zusammenhang.  Femer  heisst  es  daselbst:  „Wie  können  Sie  nun  behaupten, 
dass  ein  System  solcher  Begriffe  sowohl  die  analyt.  als  die  synth.  Erkennt- 
nisse a  pr.  völlig  enthalte,  da  doch  in  der  Transsc.-Phil.  bloss  von  der 
Erkenntniss a r t  die  Rede  sein  soll?" 

Transscendentalphllosophie«  Diese  ist  nach  dieser  Stelle  diejenige  philo- 
sophische Wissenschaft,  welche  eine  Theorie  der  apriorischen ^  Erkenntniss 
gibt.  Dazu  gehört  also  nicht  nur  eine  Erklärung  der  Möglich- 
keit apriorischer  Erkenntniss  von  Gegenständen ,  sondern  auch  eine 
systematische  Aufzählung  dieser  Begriffe;  ferner  (nach  dem  Folgenden) 
eine  Analyse  der  apriorischen  Begriffe  (Auflösung  ihres  Merkmal- 
bestandes in  analytische  ürtheile),  sowie  die  Becension  der  aus  ihnen 
abgeleiteten  Begriffe,  vor  Allem  aber  die  ganze  Aufzählung  und 
Theorie  der  an  jene  apriorischen  B  e g r i f  f e  sich  anschliessenden  syntheti- 
schen ürtheile  a  priori.  Transsc-Philos.  ist  damit  eben,  indem  sie  eine 
Theorie  der  apriorischen  Erkenntniss  und  ihrer  Möglichkeit  ist,  zu- 
gleich das  System  der  apriorischen  Erkenntniss  selbst. 
Das  konnte  K.  aber  nicht  mehr  ausfuhren,  da  er  überhaupt  alle  Möglich- 
keit dazu  abgeschnitten  hatte,  und  so  fiel  ihm  im  Laufe  der  Zeit  Kritik 
zusammen  mit  Transscendentalphilosophie  im  Sinne  einer  Theorie  der 
apriorischen  Erkenntniss,  und  damit  eines  vollständigen  Systems 
apriorischer  Erkenntniss  selbst.  Die  Kritik  war  ursprünglich  nur 
ein  T heil  der  Transscendentalphilosophie,  d.  h,  einer  Theorie  der  aprionachen 


Transscendentalphilosophie ?    System  der  reinen  Vernunft?  473 

[B  26.  H  49.  E  65.]  A 12.  B  25. 

Erkenntniss.  Im  Verlaufe  wurde  die  Kritik  aus  einem  T heil  der  Transsc- 
Phil,  zu  dem  Ganzen  derselben  \  die  Kritik  galt  selbst  als  System  der  vom 
Kantischen  Standpunkt  ans  möglichen  Metaphysik,  als  System  der  reinen 
Vernunft :  T h e i  1  und  Ganzes,  Bedingung  und  Bedingtes  fiel 
zusammen. 

Nach  Fries  (vgl.  Meyer,  Ks.  Psych.  19)  ist  die  Transsc.  -  Phil,  die 
anthropologische  Selbstbeobachtung,  von  der  die  ursprünglich  „metaphysi- 
sehe'  Erkenntniss  a  priori  zu  unterscheiden  ist.  Diese  sei  das  eigentlich 
Apriorische,  jene  nur  die  psychol.  Beflection  auf  dieses.  Dies  widerspricht 
aber,  wie  Fries  übrigens  wusste,  eigenen  späteren  Bestimmungen  Kants 
bes.  Krit.  pag.  56  f. 

Grapengiesser  (a.  a.  0.  19)  macht  noch  folgende  gänzlich  unparlamen- 
tarische Bemerkungen  zu  dem  Wort  Transsc.-Phil. :  „Das  unselige  Wort !  Diese 
Bezeichnung  Kants,  die  in  der  That  bei  ihm  selbst  nicht  recht  klar  ist,  ist 
zum  wahren  Popanz  geworden.  Alle  philos.  Schwätzer  in  unseren  Tagen, 
um  ihr  Gerede,  das  sonst  wohl  als  Unsinn  erscheinen  könnte,  als  eine  ab- 
sonderliche Weisheit  zu  schildern,  behaupten,  dass  ihre  Phil,  nicht  gewöhn- 
lich ,  sondern  eben  —  Transsc.-Philos.  sei.  Sie  wissen  aber  nicht  zu  sagen, 
was  das  Wort  in  der  That  ursprünglich  bei  K.  bedeutet.*  Vgl.  a.  a.  0.  115. 
„Ein  Manoeuvre,  das  heute  bei  den  unklaren  Geistern  nicht  selten  vorkommt, 
ist,  sich  hinter  das  Transscendentale  zu  verstecken;  sie  missbrauchen 
dieses  Wort,  um  ihre  Unklarheit  damit  zu  verdecken,  weil  sie  meinen,  die 
Anderen  wüssten  ebensowenig,  was  das  Wort  bedeute,  wie  sie  selber."  So 
schlimm  steht  es  doch  nicht  durchaus;  diese  maasslose  Polemik  geht  über 
die  erlaubte  Grenze  hinaus  und  fällt  auf  ihren  Urheber  selbst  zurück. 

Weil  eine  solehe  Wissenschaft  u.  s.  w.  Es  sei  hier  nur  die  Parallel- 
stelle erwähnt  aus  den  Fortschr.  d.  Met.  Einl.,  die  Trans  sc. -Phil,  „enthält 
die  Bedingungen  und  Elemente  aller  unserer  Erkenntniss  a  priori.*  Eine 
Zusammenstellung  der  verschiedenen  Aeusserungen  über  diese  Wissenschaft, 
die  untereinander  nicht  harmoniren,  folgt  später. 

Ist  diese  , Transscendentalphilosophie*  identisch  mit  dem  „System 
der  Philosophie  der  reinen  Vernunft*?  Dem  Wortlaut  nach  an  dieser 
Stelle  ist  gegen  diese  Identificirung  kein  Grund  vorhanden.  Transsc.-Phil.  ist 
die  vollständige  Theorie  der  apriorischen  Erkenntniss  und  das  System 
würde  wohl  damit  zusammenfallen.  Dass  die  Kritik  erst  in  einem  System  der 
Transsc. -Phil,  ihre  Vervollständigung  finde,  hebt  K.  mehrfach  hervor, 
so  S.  82,  wo  er  den  „kritischen  Versuch*  dem  vollständigen  System  der 
Transsc.-Phil.  gegenüberstellt;  vgl.  Prol.  §  39.  An  anderen  Stellen  wird 
die  Kritik  als  Vorbereitung  zum  „System  der  reinen  Vernunft*  bezeichnet, 
so  Vorr.  A  15.  Vorr.  B  22.  42  f.  Einl.  B  22.   Krit.  707  f.  855  f.    Neutral 


'  In  den  Briefen  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772  und  aus  dem  Jahre  1773  iden- 
tificirt  K.  Transsc.  -  Phil.  a.  Kritik  d.  r.  V.  Vgl.  oben  S.  154.  Dagegen  Meta- 
physik 18.  —  Vgl.  auch  Meyer,  Ks.  Psych.  29  ff.  34.  299. 


474  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  Vü. 

A 12.  B  25. 26.  [B  25.  H  49.  E  65.] 

ist  die  Stelle  852  ,  wo  einfach  „System*  steht.  Wieder  andere  Stellen  sind 
klarer  Beweis,  dass  in  Ks.  Vorstellung  das  System  der  Transscen- 
dentalphilosophie  und  das  System  der  reinen  Vernunft 
«  in  Eins  zusammenschmolz:   genau  dasselbe,  was  er  82  als  Transsc-Phil.  be- 

zeichnet, heisst  83  System  der  r.  V.  Die  nothwendige  „Analyse  und  Ab- 
leitung" rechnet  er  bald  zur  Transc.-Phil.,  bald  zum  System  der  r.  V.  Vorr. 
A  15.  Einleit.  A  14.  Krit.  204.  Ganz  anders  wird  das  Verhältniss  von 
Kritik,  Transsc-Phil.  und  System  behandelt  in  der  Methodenl.  (vgl.  obiges 
Schema  auf  S.  306),  wo  der  Kritik  das  System  gegenübertritt  und  dies 
nun  seinerseits  in  Transsc-Phil.  und  Physiologie  eingetheilt  wird.  Man  sieht 
hieraus,  dass  K.  sich  absplut  unklar  war  über  das,  was  über  seine  Kritik 
hinauslag,   und  was  er  nach  ihr  noch  vornehmen  sollte. 

Riehl,  Kritic  I,  12.  203  f.  und  schon  J.  Erdraann,  Entw.  IIT  a,  48 
machen  zwischen  der  Transsc-Philos.  =  Wissenschaftstheorie  und  dem  ver- 
sprochenen System  der  Wissenschaft  noch  einen  Untei'schied.  Der  Text  dieser 
Stelle  ist  zu  unklar,  als  dass  man  nicht  auch  hiezu  berechtigt  wäre,  umso- 
mehr  als  durch  andere  Orte  diese  Unterstellung  bestätigt  wird.  Bald  ist 
Kritik  ein  Theil  der  Transsc-Philos.,  und  dann  ist  letztere  Vorbedingung 
zum  System  der  Metaphysik,  und  dieses  ist  dann  =  Metaphysik  der  Natur 
und  der  Sitten  (so  Kant  selbst  in  dem  bei  Erdmann,  Nachtr.  12  mitgetheilten 
Einleitungsentwurf).  Bald  ist  aber  Kritik  Vorbedingung  zur  Transsc- 
Philos.  und  dann  ist  letztere  identisch  mit  dem  System  der  immanenten 
Metaphysik,  deren  Haupttheil  in  der  Kritik  aber  schon  gegeben  ist.  Es  ist 
unmöglich,  in  diesem  Chaos  Ordnung  zu  schaffen  bei  Kants  terminologischer 
Licenz  und  sachlicher  Unklarheit,  wenn  man  sich  nicht  an  die  von  uns 
mehrfach  gegebene  Normaldarstellnng  hält,  wornach  Kant  in  der  Kritik  d.  r.  V. 
auf  Gnind  kritischer  Untersuchung  (insbes.  der  Mathematik)  ein  System  der 
immanenten  Metaphysik  =  Naturwissenschaft  und  eine  Gren2bestimmung 
gegenüber  der  transscendenten  Metaphysik  und  eine  Kritik  der  letzteren  gibt. 
Zu  einer  solchen  von  allen  diesen  Verwirrungen  abstrahirenden  Normal- 
dai*stellung  fordert  Kant,  Krit.  834  selbst  auf:  man  soll  „eine  Wissenschaft 
nicht  nach  der  Beschreibung,  w^elche  der  Urheber  derselben  davon  gibt, 
sondern  nach  der  Idee,  welche  man  aus  der  natürlichen  Einheit  der  Theile, 
die  er  zusammengebracht  hat,  findet,  bestimmen". 

Transseendentale  Kritik.  Hier  und  noch  einmal  unten  „transseendentale 
Sinnenlehre**  wird  das  Adjectiv  gebraucht,  sonst  in  diesem  Abschnitt 
immer  nur  Transsc-Philos.  Es  heisst  dieser  Ausdruck  also  hier:  eine 
kritische,  d.  h.  prüfende  Theorie  der  Möglichkeit  apriorischer  Erkenntniss, 
ihres  Werthes  und  Unwerthes.  Die  Transscendentale  Kritik  *,  welche  Kant 
geben  will ,  ist  eine  kritische  Theorie ,  weil  es  sich  in  ihr  nur  um 
Prüfung  handelt,  ob  und  wie  apriorische  Erkenntniss  überhaupt  möglich 


'  Der  Ausdruck  ist  selten   bei   Kant;   er  findet  sich   z.  B.  noch   Krit  752. 
In  anderem  Sinne  (=  transscendent)  A  296! 


„Erweiterung"  der  Erkenntniss?  475 

[R  26.  26.  H  49.  E  66u  66.]  A 12.  B  26. 

sei.  Es  handelt  sich  in  ihr  nicht  darum,  selbst  synthetische  Erkenntniss 
a  priori  aufzustellen  (nicht  „um  die  Erweiterung  der  Erkenntniss  selbst"), 
sondern  erst  um  die  V  o  r  f  r  a  g  e  ,  ob  eine  solche  Erweiterung  möglich  sei. 
Insofern  stimmt  diese  Stelle  ganz  zusammen  mit  der  obigen,  wo  der  Kritik 
die  Beurtheilung,  dem  System  und  der  Doctrin  die  wirkliche  auf  jene 
Beurtheilung  gegiündete  Aufstellung  apriorischer  Erkenntniss  zuge- 
schrieben wird,  während  dem  Organon  nur  zuMlt,  eine  Anweisung  zu 
sein,  wie  dann  die  auf  Grund  jener  Beurtheilung  als  m^öglich  erkannte 
apriorische  Erkenntniss  wirklich  aufgestellt  werden  kann;  es  stimmt  aber 
nicht  zusammen  weder  mit  dem  unmittelbar  vorhergehenden  Satz,  wor- 
nach  Kritik  den  synthetischen  Theil  schon  ausführt,  noch  mit  der  factischen 
Ausführung,  in  welcher  über  die  blosse  Vorfrage  weit  hinausgegangen  wird. 
Eine  neue  Schwierigkeit  ist  diese:  offenbar  werden  hier  „Erweiterung** 
und  „Berichtigung*  in  dem  Sinne  einander  gegenübergestellt,  dass  die 
transscendentale  Kritik  die  Vorfrage  lösen  soll,  wie  reine  Erkenntniss  mög- 
lich sei  (nach  Ursprung,  Umfang,  Inhalt,  Gültigkeit  und  Grenzen) 
und  dass  das  eigentliche  System  der  reinen  Philosophie  die  als 
möglich  nachgewiesenen  und  in  ihrer  Berechtigung  erklärten  synthetischen 
Erkenntnisse  a  priori  selbst  aufstellen  solle.  Diese  „Erweiterung"  ist 
jedoch  nicht  identisch  mit  der  im  folgenden  Satze  behandelten  und  der 
, Begrenzung"  gegenübergestellten  „Erweiterung".  Die  hier  be- 
sprochene Erweiterung  der  Erkenntniss  selbst  ist  eben  das  als  möglich  an- 
gesehene und  daher  versprochene  System  der  reinen  Vernunft. 
Nun  aber  kann  der  Inhalt  dieses  Systems  (welches  analytische  und  syntheti- 
sche Sätze  umfasst,  also  auch  „Erweiterung"  wieder  in  einem  anderen  Sinn !) 
zum  letzten  eigentlichen  Resultate  haben  eine  „Erweiterung"  *  oder 
eine  blosse  „Begrenzung"  d.  h.  in  diesem  Falle  eine  (unmögliche)  Erweite- 
rung über  den  Umfang  aller  Erfahrung  hinaus  oder  B e- 
gränzung  d.  h.  eben  die  Ueberzeugung ,  dass  wir  nicht  über  die  Erf. 
hinaus  können  und  eben  damit  die  Beschränkung  auf  die  innerhalb  des 
Erfahrungsgebietes  noch  immer  mögliche  synthetische  Erkenntniss  a  priori. 
(Der  Ausdruck  Kants  ist  hier  jedoch  ungenau  ;  der  Sinn  ist  jedoch  un- 
zweifelhaft.) Wie  verhält  sich  nun  hiezu  der  Gegensatz  A  11:  „Erweite- 
rung" und  „Läuterung"?  Ist  er  identisch  mit  „Erweiterung  — 
Berichtigung"  oder  mit  „Erweiterung  —  Be-grenzung?"  Nach 
den  Zusätzen  der  IL  Aufl.  mit  letztcrem  Gegensatz.  Man  könnte  aber  zweifeln, 
ob  dies  der  Sinn  der  I.  Aufl.  ursprünglich  gewesen  sei.  Eine  aufmerksame 
Leetüre  jener  wie  dieser  Stelle  zeigt,  dass  hier  wie  so  oft  bei  Kant  zwei 
Gedankenreihen  durcheinandergehen,  welche  durch  jenen  Doppelgegensatz 
bezeichnet  werden  können.  Auf  der  Einen  Seite  (auch  später  hat  „Erw." 
bald  den  einen,  bald  den  andern  Sinn)  wird  eine  „Erweiterung"  in  Aus- 


*  Diese  auch  als  „bis  dahin  erstrecken"   u.  s.  w.,  so  A  659  im  Unterschied 
von  dem  synthetischen  „Erweitern".     Vgl.  oben  314. 


476  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abßchn.  VII. 

A 12. 13.  B  26.  [B  26.  H  49.  50.  E  66.] 

sieht  gestellt  (im  Gegensatz  zur  berichtigenden  Beartheilung), 
ein  System  der  reinen  Vernunft;  zu  ihm  gibt  es  ein  Or  g  a  n  o  n ; 
•  auf  der  andern  Seite  eine  Begrenzung  (im  Gegensatz  zur  speculativen 

Erweiterung);  zu  ihr  gibt  es  nur  einen  Kanon.  Somit  ist  dies  nur 
die  alte,  fatale  Verwechslung  immanenter  und  transscendenter 
Metaphysik.  Im  praktischen  Gebiet  ist  übrigens  dann  eine  solche  ^  Erweite- 
rung" möglich,  wie  in  der  Krit.  d.  pr.  V.  u.  d.  ürth.  oft  betont  wird. 

Eine  solehe  Kritik«  Was  die  wirkliche  Ausführung  betrifft,  so  hat  K. 
schon  in  der  Kritik  selbst  den  Unterschied  fallen  lassen  zwischen  Kritik 
einerseits  und  Organon  resp.  Kanon  andererseits.  Ueberall  wird  die  Kritik 
nicht  bloss  als  Vorbereitung  zum  System  der  Philosophie  selbst  behandelt, 
ohne  jene  oben  eingeschobene  Zwischenstufe,  die  ganz  in  die  Kritik  herein- 
genommen ist,  sondern  schliesslich  auch  als  dieses  System  selbst. 

Nicht  die  Natur  der  Dinge ^  sondern  der  Terstaud  ^  Die  kritische 
Methode  besteht  na<;h  484  darin,  dass  man  die  Fragen  nicht  obiectiv, 
sondern  nach  dem  subjectiven  Erkenntnissgrund  behandelt;  diese  Methode 
macht  nach  B  22  f.  die  ganze  Kritik  aus.  Da  nun  transscendental 
auch  diejenige  Behandlung  bezeichnet,  die  sich  nicht  mit  Gegenständen  be- 
schäftigt, sondern  mit  unserer  apriorischen  Erkenntniss  von  denselben, 
so  ist  transscendental  ein  ünterbegriff  von  kritisch;  denn  dies 
letztere  bezeichnet  die  subjectiv-erkenntnisstheoretische  Behandlung  überhaupt, 
transscendental  dagegen  nur  diejenige,  die  sich  auf  unser  apriorisches 
Erkenntnissvermögen  bezieht.  Dasselbe  geht  auch  aus  dem  folgenden  Sätzchen 
hervor :  der  Verstand  wird  nur  in  Ansehung  seiner  Erkenntniss  a  priori  be- 
trachtet. Gruppe,  Wendepunkt  363 :  „Schon  der  Titel  enthält  eine 
Warnung.  Was  kann  es  fbr  Resultate  geben,  wenn  man  eine  Unters,  der 
Erkenntniss k r ä f t e  anstellen  will,  unabhängig  von  den  Objecten?''  Dag. 
Riehl  169  f.  gut  über  den  Unterschied  von  Vernunft  kr itik  und  Vernunft- 
dogmatik.  Vgl.  oben  S.  8.  26.  38.  43  S,  Kant  grenzt  hier  successiv  seine 
Aufgabe  ab:  er  behandelt  nicht  Gegenstände,  sondern  nur  Erkenntniss, 
nicht  alle  Erkenntniss,  sondern  nur  apriorische,  nicht  alle  apriorische,  son- 
dern nur  synthetische,  u.  s.  w. 

Der  Verstand  nur  In  Anselinng  seiner  Erkenntniss  a  priori.  Brast- 
b  e  r  g  e  r ,  Unters.  1 5,  meint,  dass  Kant  streng  genommen  auch  genauer 
nach  der  Herkunft  der  empirischen  Erkenntnisse  hätte  for- 
schen sollen.  Denselben  Vorwurf  erhob  auch  Jacobi^  sowie  besonders 
Schopenhauer.  Aehnlich  Eberhard,  Phil.  Mag.  I,  370.  387,  wo 
besonders  Leibniz'  Theorie  hierüber  mit  der  K.*schen  mangelhaften  ver- 
glichen wird.  Dieselbe  Forderung  stellte  auch  schon  Nicolai  auf,  Philos. 
Abh.  n,  38  „damit  die  Abstraction  einer  reinen  Vernunft  nicht  ganz  ein- 
seitig vorgenommen,  sondern   auch  die  andere  Seite  der  Seelenkräfte  er- 


'  Vgl.  oben  373.  382.    Man   beachte  auch  dad  Schwanken  zwischen  trans- 
scendenter und  immanenter  Metaphysik  an  diesen  Stellen. 


Keine  „Kritik  der  Erfahrnug"?  477 

[B  26.  710.  H  50.  E  66.]  A 13.  B  26. 27. 

wogen  werde ^.  Denn  wenn  man  die  Eine  Seite  ausschliesse,  so  sei  das,  „wie 
wenn  jemand  von  den  beiden  Beinen,  welche  die  Natnr  dem  Menschen 
gegeben  hat,  Eins  unthätig  machen  wollte,  nm  besser  zu  gehen ^.  Goethe 
(Eckerm.  11,  72)  meint,  „dass  wie  K.  eine  Kr.  der  Vemnnffc  geschrieben  habe, 
so  auch  eine  KritikderSinne^  nothwendig  sei^.  Vgl.  Witte,  Maimon  89. 
Vorstud.  76  ff.  (vgl.  D  a  n  z  e  1 ,  Goethe's  Spinozismus  1843.).  W.  G  ö  r  i  n  g, 
Baam  und  Stoff;  Ideen  zu  einer  Kritik  der  Sinne,  Berlin  1876.  Die 
Einschränkung  der  Kritik  auf  den  apriorischen  Bestandtheil  des  Erkennens 
rechtfertigt  B i e h  1 ,  Krit.  I,  338 :  Die  Frage  Herbarts,  woher  die 
besonderen  Verhältnisse  der  Dinge  kommen,  gehöre  nicht  in  eine  Kritik, 
sondern  in  eine  ausfuhrliche  Theorie  derErkenntniss;  dass  Fichte 
dann  auch  das  Empirische  aus  dem  Apriori  habe  herausklauben  wollen,  sei 
natürlich  in  Kants  unternehmen  nicht  begründet,  —  allein  das  schliesst 
die  Nothwendigkeit  einer  Theorie  der  empirischen  Sinnlichkeit  keineswegs  aus, 
die  denn  auch  Kant  nach  Biehl  I,  338,  II,  a  17  implicite  gegeben  hat, 
während  nach  I,  12.  13.  178.  279.  337  Kant  wegen  des  Unterlassens  der- 
selben getadelt  wird.  (Vgl.  Windelband,  Gesch.  II,  5 1  mit  74.  76.)  Es  darf 
jedoch  hiebe!  die  Ableitung  der  speciellen  Naturgesetze  aus  den  allgemeinen 
nicht  verwechselt  werden  mit  den  empirischen  Specialurtheilen;  inwiefern 
Kant  eine  Theorie  der  letzteren  gegeben  hat,  darüber  s.  oben  S.  353.  443 
(die  ersteren  suchte  er  in  den  Metaph.  Anf.  d.  Naturw.  abzuleiten).  Eine 
„Kritik  der  Erfahrung"  verlangte  auch  Sniadecky  (Phil.  Mon.  X,  227),  sowie 
Zimmermann,  Phil.  u.  Erf.  18.  Eine  „Kritik  der  reinen  Erfahrung''  im 
Gegensatz  zu  Kant  entwickelt  Avenarius,  Philos.  als  Denken  d.  Welt. 
Leipz.  1876  (Vorr.  IV). 

[Nleht  eine  Kritik  der  Bücher.]  Dieser  Zusatz  der  IL  Aufl.  verdankt 
seine  Einschiebung  dem  Ausfall  der  Vorr.  A,  wo  dieser  Gedanke  schon  auf 
S.  VI  ausgesprochen  war  *.  Hier  ist  derselbe  vermehrt  um  den  wichtigen  Zu- 
satz, dass  mit  der  ^ Kritik'  auch  eine  neue  Grundlage  für  Kritik  neuer  Werke 
und  überhaupt  für  kritische  Geschichtschreibung  der  Philosophie  gewonnen 
sei.     In  diesem  Sinne  paraphrasirt  Schmid  Wort.  168:     „Sie  gibt  neue  und 


*  Denselben  Gedanken  äussert  Qoethe  in  den  „Sprüchen  in  Prosa **:  Jungen 
Künstlern  empfohlen:  „Kant  hat  uns  aufmerksam  gemacht,  dass  es  eine  Kritik 
der  Vernunft  gebe,  dass  dieses  höchste  Vermögen,  was  der  Mensch  besitzt,  Ursache 
habe,  über  sich  selbst  zu  wachen.  Wie  grossen  Vortheil  uns  diese  Stimme  ge- 
bracht, möge  Jeder  an  sich  selbst  geprüft  haben.  Ich  aber  möchte  in  eben  dem 
Sinne  die  Aufgabe  stellen,  dass  eine  Kritik  der  Sinne  nöthig  sei"  u.  s.  w.  Eine 
„Kritik  des  gemeinen  Menschenverstandes'*  verlangt  Goethe  in  den  „Maximen  u. 
Ketlexionen%  7.  Abschn.  Kant  wollte  dieselbe  schon  1765  geben.  Vgl.  oben  S.  121. 
In  ähnlicher  Weise  will  Montgomery,  Mind  IV,  200  an  die  Stelle  der  Kantischen 
Hauptfrage  die  Frage  setzen :  How  are  aynthetical  sensatiofts  ....  poasible  ? 

*  Vgl.  oben  S.  122  f.  (Ganz  anders  im  Jahre  1765  oben  S.  121.)  Aehnlich 
Descartes  (vgl.  oben  237)  und  Hume.  —  Ursprüngliche,  kürzere  Form  des  Zu- 
satzes bei  Erdmann,  Nachtr.  S.  15  (IX). 


478  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

B  27.  [B  710.  H  50.  E  66.] 

wichtige  Gesichtspunkte  an,  aus  denen  ein  künftiger  Geschichtschreiber  der 
Phil,  seinen  Vorrath  von  Zeugnissen  und  Materialien  zweckmässiger  über- 
sehen kann,  mn  nicht  bloss  Geschichte  individueller  Ueberzeugungen  einzelner 
Männer  und  Schulen,  sondern  eine  pragmatische  Geschichte  des  Ganges  mensch- 
licher Vernunft  und  des  Erfolges  ihrer  speculativen  Bemühungen  zu  liefern.* 
Derartige  Gesichtspunkte  gibt  E.  in  dem  Schlussabschnitt  der  Kritik  ^Die 
Geschichte  der  reinen  Vernunft"  an.  Und  einen  eigenen  Versuch  einer 
derartigen  pragmatischen  Behandlung  der  bisherigen  Philosophen  von  dem 
Standpunkt  der  Kritik  aus  gibt  K.;  abgesehen  von  einzelnen  historischen 
Winken ,  die  in  der  ganzen  Kritik  und  in  den  Pf  oleg.  zerstreut  sind  —  be- 
sonders am  Schluss  der  Schrift  gegen  Eberhard,  Entdeckung  Res.  I, 
478  ff.,  wo  er  seine,  vom  objectiv-historischen  Gesichtspunkt  aus  sehr  anfecht- 
baren Interpretationsversuche  der  Leibniz'schen  Philosophie  mit  der  Be- 
merkung schliesst,  die  Kritik  der  r.  V.  sei  „der  Schlüssel  aller  Auslegungen 
reiner  Vernunftproducte  aus  blossen  Begriffen",  während  die  bisherigen 
Historiker  ohne  diesen  Leitfaden  ihre  Autoren  nicht  verstanden  haben.  Eine 
ebenso  historisch  bedenkliche  Auslegung  gibt  Kant  von  P 1  a  t  o  n  s  Liehre  in 
der  Schrift  gegen  Schlosser  (Von  einem  vornehmen  Ton  u.  s.  w.).  Vgl. 
Metaph.  6  f.:  Die  Systeme  der  Phil,  als  Geschichte  des  Gebrauchs  unserer 
Vernunft  und  Objecte  der  Uebung  unserer  kritischen  Fähigkeiten. 
Aehnlich  Fortschr.  K.  166  R.  I,  564:  Es  wird  nun  möglich,  zu  beurtheilen. 
wie  „der  reelle  Besitz  zu  einer  Zeit  oder  in  einer  Nation  sich  zu  dem  in 
jeder  andren,  imgleichen  zu  dem  Mangel  der  Erkenntniss,  die  man  in  ihr 
sucht,  verhalte,  und  da  es  in  Ansehung  des  Bedürfnisses  der  reinen  Vernunft 
keinen  Nationalunterschied  geben  kann,  an  dem  Beispiele  dessen,  was  in 
einem  Volke  geschehen,  verfehlt  oder  gelungen  ist,  zugleich  der  Mangel  oder 
Fortschritt  der  Wissenschaft  überhaupt  zu  jeder  Zeit  und  in  jedem  Volke 
nach  einem  sicheren  Maasstab  beurtheilt  werden  und  so  die  Aufgabe  als 
eine  Frage  an  die  Menschenvernunft  überhaupt  aufgelöst  werden  kann.*'  Vgl. 
besonders  oben  S.  26  f.  36  f. 

Der  Erste,  der  die  kritischen  Gesichtspunkte  auf  die  Geschichte  an- 
wandte, war  Reinhold  in  seinen  Briefen,  bes.  VII  und  VIII.  Einen  be- 
achtenswerthen  Versuch  der  Anwendung  auf  die  griech.  Pbiilos.  machte 
Maimon  in  dem  Anhang  zu  Bartholdy's  Uebersetzung  von  Bacons  Novum 
Organon  1793  S.  167—216.  Später  schrieben  besonders  Tennemann  und 
Buhle  Geschichte  der  Phil,  vom  Kant'schen  Standpunkte  aus.  Die  Ver- 
dienste der  K. 'sehen  Eintheilung  in  Dogmat.,  Skeptic,  Kritic.  für  die  Ge- 
schichtschreibung würdigt  bes.  P  a  u  l  s  e  n  ,  Entw.  98  f.  Vgl.  oben  S.  26. 
Auf  Kant  zugespitzte  Darstellungen  der  Geschichte  der  neuern  Philosophie 
sind  sehr  häufig;  besonders  Rosenkranz,  J.  Erdmann,  Fischer,  dann  Riehl, 
Cantoni,  Caird  in  den  Einleitungen  zu  ihren  Werken  über  Kant,  neue^ding^ 
Noire  in  M.  Müllers  englischer  Uebersetzung  der  Kr.  d.  r.  V.  sind  zu  er- 
wähnen. Kants  System  zum  „Probirstein  des  philosophischen  Gehalts  aller 
Werke''  zu  nehmen,  muss  jedoch  zu  tendenziöser,  unexacter  und  unkritischer 


„Kritische**  Geschichtschrei bung?    „Idee"  eines  Systems  d.  r.  V.?       479 

[B  710.  26.  H  50.  E  66.]  A 13.  B  27. 

Geschichtschreibung  fuhren,  besonders  wenn  man  ältere  Philosophen  ä  tont 
prix  als  Vorläufer  Ks.  und  seines  Kriticismus  darstellen  will. 

Herbart,  Eantrede  von  1811,  S.  8  ff.  meint:  Kant  habe  damit  nicht 
bloss  für  seine  Zeit,  sondern  für  alle  Jahrhunderte  gearbeitet,  dass  er  nicht 
die  Widersprüche  bisheriger  Metaphysiker ,  sondern  die  Met.  selbst  fasste; 
aber  doch  habe  K.  vielleicht  die  verunglückten  Versuche  seiner  Vorgänger 
mit  der  Met.  selbst  verwechselt.  W.  W.  XII,  143  f.  vgl.  oben  122  Anm.  3. 
Aehnlich  äussert  sich  Herbart  auch  W.  W.  III,  130,  und  in  den  „Reliquien" 
327:  Kant  kritisire  die  vorangegangenen  Systeme.  Aehnlich,  nur  schärfer 
Schopenhauer,  W.W.  II,  565.  571.  574—578.  587.  602  ff.  und  besonders 
„Nachlass*  323:  Der  „ächte  Titel"  wäre  eigentlich  „Kritik  des  occidentali- 
sehen  Theismus".     Vgl.  auch  Lasson,  Phil.  Mon.  XIII,  227. 

Die  Idee  einer  Wissenschaft  *•  Man  kann  übrigens  auf  K.  selbst  an- 
wenden, was  er  in  der  Methodenl.  834  sagt:  „Niemand  versteht  es,  eine 
Wissenschaft  zu  Staude  zu  bringen,,  ohne  dass  ihm  eine  Idee  zum  Grunde 
liege.  Allein  in  der  Ausarbeitung  derselben  entspricht  das  Schema,  ja  sogar 
die  Definition,  die  er  gleich  zu  Anfange  von  seiner  Wissenschaft  gibt,  sehr 
selten  seiner  Idee"  u.  s.  w.  Das  trifft  vollständig  zu,  wenn  man  daran  denkt, 
dass  K.  über  die  Aufgabe  der  Kritik  und  Transsc.-Phil.  sich  hier  und  sonst 
so  schwankend  äussert  und  seine  versprochene  Metaphysik  nicht  lieferte. 

ArehitelLtonisch.  System«  Idee.  lieber  Architektonik  als  streng 
wissenschaftliche  Baukunst  der  Erkenntniss  oder  „Kunst  der  Systeme" 
A  832  ff.  u.  oben  233  ad  „Gebäude".  Das  Beiwort  „architektonisch" 
gebraucht  K.  mehrfach,  es  steht  im  engsten  Zusammenhang  mit  dem  Ausdruck 
System,  mit  dem  es  zusammen  zu  erörtern  ist :  Die  Architektonik  ist 
die  Kunst  systematischer  Vereinheitlichung  der  Erkenntniss.  Ein 
System  ist  die  Einheit  der  mannigfaltigen  Erkenntnisse  unter  einer  Idee. 
Die  Idee  ist  der  Vernunftbegriff  von  der  Form  eines  Ganzen,  sofern  durch 
denselben  der  Umfang  des  Mannigfaltigen  sowohl  als  die  Stelle  der 
Theile  unter  einander  bestimmt  wird.  Es  entsteht  dadurch  Sicherung  der 
Vollständigkeit,  und  die  schon  in  der  Vorrede  erwähnte  Articulation, 
welche  bedingt,  dass  wesentliche  Vollständigkeit  so  erreicht  wird,  dass  kein 
äusserer  Zuwachs  mehr  stattfinden  kann;  cfr.  644  ff.  Anhang  „über  den 
regulativen  Gebrauch  der  Ideen".  (Vgl.  zu  Vorr.  A,  XIII.)  Aus  dem  Princip 
des  in  der  Idee  enthaltenen  Zweckes  entspringt  a  priori  eine  Mannigfaltig- 
keit und  Ordnung  der  Theile,  welche  architektonische  Einheit  aus- 
macht. Nur  architektonisch,  durch  Ableitung  von  einem  einzigen  obersten 
und  inneren  Zwecke,  kann  Wissenschaft  entspringen,  wo  das  Ganze  von 
allem  Anderen  sicher  und  nach  Principien  (s.  zu  Vorr.  A,  VI)  unterschieden 
ist.  Der  Gegensatz  ist  die  technische  Einheit,  welche  bloss  empirisch  und 
somit  zufällig  entsteht.     [Ebenso  gibt  es   eine   architektonische   Auf- 


'  Das  „nur^  der  Aufl.  A  ist  wohl  weggelassen,  weil  in  der  Kritik  schon  das 
Meiste  gethan  ist,  die  die  „vollständige  Idee^^  der  Transsc.-Phil.  ist ,  unten  A  14. 


480  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

A  13.  B  OT.  [B  26.  27.  H  50.  K  66.  67.] 

merksamkeit,  welche  aus  der  richtig  gefassten  Idee  des  Ganzen  das 
Einzelne  durch  Ableitung  ins  Auge  fasst  (Kr.  d.  pr.  Y.  Vorr.  18).  ,Archit. 
Verknüpfung*  Kr.  319.  Da  die  Vernunft  ihrer  Natur  nach  das  Vermögen 
der  Erkenntnisse  a  priori  ist,  so  ist  sie  auch  ihrer  Natur  nach  archi- 
tektonisch und  hat  ein  arch.  Interesse,  das  nicht  empirische,  sondern 
reine  Vernunfteinheit  a  priori  fordert  Kr.  474.]  — -  Mellin  I,  354  erlftatert 
die  Stelle  so:  der  Plan  ist  architektonisch  d.  h.  die  Kritik  »gibt  aus  einem 
Vernunftprincip,  nämlich,  dass  ein  sehr  wichtiger  Theil  unserer  Erkenntniss 
aus  dem  Erkenntnissvermögen  selbst  hervorgeht,  und  dass  die  Nothwendig- 
keit  der  ganzen  Erfahrung  sich  darauf  gründet,  den  Plan  zu  einer  Wissen- 
schaft von  den  Erkenntnissen,  die  unmittelbar  aus  dem  ErkenntnissvermOgen 
erzeugt  werden,  oder  von  der  Möglichkeit,  dem  Umfang,  der  Vollständigkeit 
und  Gültigkeit  solcher  Erkenntnisse,  die  bei  der  Erzeugung  der  Erfahrung 
derselben  jederzeit  vorhergehen  und  zu  Grunde  liegen,  und  daher  Erkennt- 
nisse a  priori  heissen."  —  Fortschr.  K.  166  (R.  I,  564):  ,Durch  die  Idee 
einer  Metaph.  wird  zugleich  a  priori  bestimmt,  was  in  ihr  alles  anzu- 
treifen  sein  kann  und  soll,  und  was  ihren  ganzen  möglichen  Inhalt  ausmacht^*' 
Logik  §  3.  Ferner  bes.  Ros.  I,  612  und  Krit.  A  57.  64  f.  67  über  .Idee' 
und  »Plan*,  auch  oben  91,  124.  143  f.  149.  153  f.  336  u.  ö. 

Da  die  Transsc.  Philos.  erst  auf  die  Kritik  folgen  soll,  ist  es  con- 
sequent,  dass  Kant  in  der  2.  Aufl.  die  Ueberschriften :  »Idee*  und  .Ein- 
theilung  der  Transsc.-Phil.*  (vgl.  oben  159)  wegliess,  zumal  auch  A  10  von 
einer  „Idee**  der  Kr.  d.  r.  V.  die  Rede  war,  oben  S.  450;  auch  nach  S.  336 
oben  ist  die  Kr.  d.  r.  V.  selbst  schon  eine  Wissenschaft,  hier  nur  der  Plan 
zu  einer  solchen;  (es  wäre  daher  gut  gewesen,  wenn  K.  seinen  bei  Erd- 
mann, Nachtr.  12  mitgetheilten  Entwurf  darin  ausgeführt  hätte,  über  diesen 
^^Zweck**  der  Kritik  einen  abgesonderten  Abschnitt  einzufügen).  Im  ersteren 
Falle  ist  sie  mit  Transsc.-Philos.  identificirt,  im  letzteren  nur  ein  Theil  der- 
selben, also  wieder  das  unangenehme  Schwanken.  Nach  Vorr.  B  ist  die 
Kritik  der  ganze  ,Vorriss"  zum  System  der  Metaphysik.  „Fortschr."  R.  I, 
553,  K.  157  heisst  es  ganz  ähnlich:  „die  Metaphysik  ist  hierbei  selbst  nur 
die  Idee  einer  Wissenschaft  als  System,  welches  nach  Vollendung  der 
Kr.  d.  r.  V.  aufgebaut  werden  kann**  u.  s.  w.  Damach  fallen  Metaphysik 
und  Transsc.-Phil.  zusammen.  Wie  schon  bemerkt,  stimmt  das  nicht  zu 
anderen  Stellen.  —  Vgl.  Zimmermann,  Ks.  math.  Vor.  19  f. 

[8ie  ist  das  System,]  Den  Satz:  Sie  ist  das  System  u.  s.  w.  beziehen 
die  Krit.  Briefe  64  auf  »Kritik*  und  zeigen  das  Schwankende  der  Dar- 
stellung des  Verb,  von  Krit.  und  Transsc.-Phil.  Aber  die  Beziehung  auf 
Transsc.-Phil.  ist  wohl  richtiger.  Allerdings  fährt  K.  fort:  »diese  Kritik': 
allein  jener  Satz  ist  Einschiebsel  der  11.  Aufl.,  woraus  sich  die  grammatische 
Ungenauigkeit  erklärt. 

Analjsis  und  Ableitung.  Schon  S.  150,  zur  Vorr.  A,  wurde  bemerkt, 
dass  diese  beiden  Stücke  in  der  Kritik  noch  nicht  gegeben  werden.  A  64  f. 
u.  80  f.  lässt  sich  K.  des  Näheren  aus  über  die  Ableitung  der  secundären 


Verliältnifis  der  Kritik  zum  System.  481 

[B  26.  27.  H  50.  51.  E  67.]  A18.14.B27.28. 

Begriffe  ans  den  Stammbegriffen.  lieber  die  wenig  davon  verschiedene 
Analjsis  204.  Prol.  §  39  Anm.  sagt  K.,  wenn  man  diese  Ableitung  und 
Analjsis  vollständig  ausführe,  ,,so  wird  ein  bloss  analytischer  Theil  der 
Metaphysik  entspringen,  der  noch  gar  keinen  synthetischen  Satz  enthält,  und 
vor  dem  zweiten  (synthetischen)  vorhergehen  könnte,  und  durch  seine  Be- 
stimmtheit und  Vollständigkeit  nicht  allein  Nutzen ,  sondern  vermöge  des 
Systematischen  in  ihm  noch  überdem  eine  gewisse  Schönheit  enthalten  würde/ 
Ein  System  solcher  analytischen  Sätze  nannte  man  schon  vor  K.  „philo- 
Sophia  definitiva^j  vergl.  das  so  lautende  Buch  von  Baumeister 
(1735  u.  ö.);  K.  selbst  gebraucht  diesen  Terminus,  Proleg.  §  4:  „Wenn  man 
die  Begriffe  a  priori,  welche  die  Materie  der  Metaphysik  und  ihr  Bauzeug 
ausmachen,  zuvor  nach  gewissen  Principien  gesammelt  hat,  so  ist  die  Zer- 
gliederung dieser  Begriffe  von  grossem  Werthe;  auch  kann  dieselbe  als  ein 
besonderer  Theil  (gleichsam  als  phüosophia  definUiva),  der  lauter  analytische 
zur  Metaphysik  gehörige  Sätze  enthält,  von  allen  synthetischen  Sätzen,  die 
die  Metaphysik  selbst  ausmachen,  abgesondert  vorgetragen  werden.  Denn 
in  der  That  haben  jene  Zergliederungen  nirgend  anders  einen  beträchtlichen 
Nutzen,  als  in  der  Metaphysik,  d.  i.  in,  Absicht  auf  die  synthetischen  Sätze, 
die  aus  jenen  zuerst  zergliederten  Begriffen  '  sollen  erzeugt  werden.^  In  den 
Met.  An  f.  der  Natur  w.  Vorr.  legt  K.  einen  grossen  Werth  auf  die 
Analysis  des  Begriffes  der  Materie  und  erklärt  dies  für  ein  , Geschäft 
der  reinen  Philosophie".  Vgl.  Lambert's  Brief  an  Kant  v.  13.  Nov.  1765 
finis.  lieber  Analysis  in  der  Phil.  vgl.  die  diesbezüglichen  Schriften  über 
eine  darüber  gestellte  Preisaufgabe  der  Berliner  Academie  von  Beinhold 
1805,  Franke,  1805,  Mangras  1808,  Hoffbauer  1810  und  Bardili's 
Schüler  in  dessen  2.  Heft  der  Phil.  Elem.-Lehre  1806. 

Aber  diese  Wissensehaft  noch  nicht  selbst.  Eine  ganz  andere  Dar- 
stellung des  Verhältnisses  von  Kritik  und  Transscendental-Philos.  gibt  Beck 
in  seinem  Auszug  I,  6  u.  7.  Nach  ihm  geht  die  Kritik  weiter  als  die 
Transsc-Phil.,  und  begreift  diese  in  sich.  Nach  ihm  ist  nämlich  die  Kritik 
bis  zur  Analytik  identisch  mit  Transsc-Phil.  Von  da  an  werde  sie  eigentlich 
Kritik  der  reinen  Vernunft  im  engeren  Sinn.  Wenn  auch  diese  Darstellung 
der  K. 'sehen  widerspricht,  so  deckt  sie  doch  eine  Schwierigkeit  in  der  letzteren 
auf.  Nach  K.  ist  Transsc-Phil.  ^das  System  aller  Principien  der  reinen 
Vernunft."  Wenn  man  nun  hierunter  die  eigentliche  nach  K.  mögliche 
Metaphysik,  insbesondere  die  Analytik*  versteht,  so  würde  allerdings  die 
Kritik  weiter  gehen.  Aber  auch  wenn  man  das  Princip  des  Unbedingten 
noch  zu  jenen  Principien  rechnet,  so  gehört  doch  die  eigentliche  Kritik  der 


^  Insofern  heissen  diese  Begriffe  wohl  oben  A  13  und  unten  A  14  nPi*ii^~ 
cipien  der  Synthesis  a  priori".  Insofern  passte  oben  469  der  Text  A  „Begriffe" 
besser  zum  Kachfolgenden. 

'  Die  Aesthetik  gehört  auch  zur  Transsc-Fhilos.,  dann  fällt  freilich  letztere 
nicht  mit  dem  System,  sondern  eher  mit  der  Kritik  zusammen.  Vgl.  oben  S.  881. 
Yaihlnger,  Kmt-OommentMr.  31 


482  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Abschn.  VII. 

A 14.  B  28.  [E  27.  H  61.  K  67.] 

Irrthümer  nicht  in  das  System  selbst  herein '.  Beck  hat  also  Recht  mit 
seiner  Auffassung,  dass  Kritik  in  diesem  Sinne  weiter,  nicht  enger  als  Transsc.- 
Philos.  ist.  Nur  ist  daran  zu  erinnern,  dass  K.  selbst  der  Kritik  insofern 
dieses  weitere  Ziel  steckt,  als  er  oben  sagt,  dass  sie  der  Doctrin  als  be- 
richtigende Disciplin  vorhergebt.  Somit  ist  die  Kritik  enger  als  Transsc.- 
Phil.,  insofern  sie  in  Ableitung  und  Analysis  nicht  soweit  geht  wie  diese*; 
sie  ist  aber  auch  weiter  als  dieselbe,  als  sie  (in  der  Dialektik)  die  Irr- 
thümer der  bisherigen  Methode  eingehend  aufdeckt,  was  nicht  in  die  eigent- 
liche Transsc.-Phil.  gehören  würde.  Das  Verhältniss  von  Kritik  und  Transsc.- 
Phil.  wird  also  aus  dem  von  K.  Gesagten  nicht  recht  klar.  Diese  Verwirrung 
von  Kritik  der  r.  V.  und  Transsc-Phil.  bemerkten  schon  die  Krit.  Briefe 
62  ff.  und  zeigten  bis  ins  Einzelste  die  inneren  Inconsequenzen  dieses  Ab- 
schnittes in  dieser  Hinsicht.  „Soll  ein  wirklicher  Unterschied  da  sein,  so 
muss  die  Kritik  sich  mit  den  Principien  der  r.  V.  beschäftigen,  und 
die  P  h  i  1  0  s.  die  Anwendung  dieser  Principien  auf  die  Gegenstände  der 
Vernunft  einschliessen."  Jenes  wäre  Logik,  dieses  ein  System  von 
Wahrheiten,  das  nach  den  Regeln  der  Logik  zu  errichten  ist.  Sehr  gut 
weist  alle  jene  Inconsequenzen  im  .Detail  auch  nach  Grapengiesser, 
Aufg.  der  Vernunftkr.  19  ff.  Derselbe  findet  den  Grund  dieser  Verwirrung 
in  der  irrigen  Meinung  Ks.,  als  sei  die  Transsc.-Phil.  wesentlich  eine  andere 
Erkenntnissart,  als  die  der  Kritik  der  Vern.,  nämlich  a  priori.  Die  Aende- 
rungen  der  II.  Aufl.  sollen  die  Meinung  zerstören,  als  hätte  K.  noch  nicht 
Alles  gegeben.  (Die  letztere  Erklärung  ist  offenbar  falsch,  die  erstere  ist 
unklar.)  Fries  habe  erst  Klarheit  in  die  Sache  gebracht.  Nach  ihm  sei 
Metaph.  das  System  unserer  philos.  Erkenntnisse.  Die  Krit.  der  V.  aber 
sei  die  alleinige  Begründerin  der  Philos. ,  und  darum  gehöre  zu  ihr  die 
Transsc.-Phil.  als  Theil,  welche  speciell  die  Berechtigung  apriorischer  EJrkennt- 
niss  nachweise.  Als  einen  unterschied  der  Kritik  und  der  Transsc-Phil.  gibt 
dagegen  Schulze  Krit.  I,  190  im  Sinne  Ks.  noch  an,  dass  jene  sich  mit 
der  Bestimmung  der  Realität  der  Erkenntnisse  a  priori  befasse.  Man 
erkennt  hieraus  das  Schwankende  aller  dieser  Termini  bei  Kant. 

Dass  die  Erkenntnlss  a  priori  völlig  rein  sei.  Nachdem  Kant  von 
seinem  Zwecke  die  blosse  Analysis  der  Begriffe  ausgeschieden  hat, 
scheidet  er  hier  ferner  das  Empirische  aus.  Ausser  dem  folgenden  Beispiel 
vgl.  Aesthetik  41,  wo  K.  die  Bewegung  als  empirisch  aus  seiner  Theorie 
des  Apriori  ausschaltet.  Es  handelt  sich  also  im  Gegentheil  nur  um  Syn- 
th e  s  i  s  und  zwar  um  rein  -apriorische  im  strengsten  Sinne,    lieber  dieses 


^  Wie  auch  faciisch  Jacob,  Log.  u.  Met.  S.  356  und  379  scharf  trenn t,  indem 
er  das  Eine  zur  kritischen  Zergliederiing  =  pos.  Theorie,  das  Andere  zur  kriu 
Ben rt heil ung  =  Disciplin  rechnet. 

^  Kant  schwankt  auch  darin,  ob  die  Kritik  diese  synthetische  Erkenntnlss 
schon  gebe  oder  erst  vorbereite  —  in  dem  ganzen  Abschnitt  VH  herrscht  eben 
bis  ins  Kleinste  hinein  eine  grosse  Unklarheit.     Vgl.  noch  A  152. 


Aussohlnss  der  Moral  aus  der  Transscendentalphilosophie?  483 

[R  27.  71L  H  5t  K  67.  68.]  A 14. 15.  B  28. 

völlig  reine  Apriori  s.  oben  S.  195  f.  211  f.  Ebenso  ist  es  in  der  Krit.  der 
prakt.  Vem.  45 ,  wo  keine  sinnlichen  Antriebe  beigemischt  sein  dürfen, 
9 sowie  das  mindeste  Empirische  als  Bedingung  in  einer  mathematischen 
Demonstration  ihre  Würde  und  Nachdruck  herabsetzt  und  vernichtet.*  Dass 
K.  alles  Empirische  aus  seiner  kritischen  Betrachtung  ausschliessen  wollte, 
tadeln  lebhaft  ßeinhold  (jr.)  Theorie  d.  Erk.  §  25,  Spicker,  Kant  16.  20. 
Die  Omndsfttze  der  Moralität  gehören  nleht  In  die  Transscendental- 
pliilosoplile.  Dasselbe  bemerkt  Kant  auch  in  der  Methodenlehre  801,  wo 
er  von  der  Moral  spricht  als  einem  der  Transsc.-Philos.  „fremden  Gegen- 
stand* und  in  einer  Anm.  hinzufügt,  dass  alle  praktischen  Begriffe  auf 
Gegenstände  des  Wohlgefallens  und  Missfallens  d.  i.  der  Lust  und  Unlust, 
also  auf  „Gegenstände  unseres  Gefühls"  gehen;  das  Gefühlsvermögen  gehöre 
aber  nicht  zur  Erkenntnisskraft,  mithin  nicht  in  den  Inbegriff  der  Transsc- 
Phil.,  „welche  lediglich  mit  reinen  Erkenntnissen  a  priori  zu  thun  hat* ;  cfr. 
343  und  besonders  569,  (wo  schon  Uebergang  zum  Folg.  stattfindet).  Vgl. 
Vorr.  zur  Krit.  der  prakt.  Vem.  18  Anm.  Bemerkenswerth  ist  nun 
die  Version  der  11.  Aufl.,  welche  den  Uebergang  bildet  zu  der  späteren 
Auffassung,  nach  welcher  auch  die  moralischen  und  ästhetischen,  ja  sogar 
die  juridischen  Urtheile  in  die  Transsc.-Philos.  gehören,  wie  oben  S.  364 
festgestellt  wurde.  Diese  Aenderung  ist  der  unterdessen  eingetretenen  Be- 
schäftigung Kants  mit  der  Moral  zuzuschreiben  '  und  es  geht  ihr  die  unten 
in  der  Einl.  zur  Aesth.  getroffene  Aenderung  in  der  11.  Aufl.  in  Bezug  auf 
die  Aesthetik  ganz  parallel,  \^lche  auch  in  der  I.  Aufl.  aus  der  Transsc- 
Phil.  ganz  ausgeschlossen,  aber  dann  doch  wieder  in  der  II.  in  sie  zuge- 
lassen wurde '.  Man  kann  indessen  auch  wohl  zwei  Bedeutungen  von 
Transsc.-Phil.  annehmen,  eine  engere  und  eine  weitere.  In  dem  weiteren 
Sinne  will  auch  Buhle  seinen  „Entwurf  der  Transsc.-Phil.*  1798  ver- 
standen wissen.  (Vorr.)  Aehnlich  schliesst  K.  aus  der  Metaphysik  die 
Moral  aus;  Fortschr.  K.  100  B.  I,  490:  „Sie  enthält  keine  praktischen 
Lehren  der  reinen  Vernunft ,  aber  doch  die  theoretischen ,  die  dieser  ihrer 
Möglichkeit  zum  Grunde  liegen.*'  Vgl.  hierüber  schon  den  Brief*  an  Herz 
aus  dem  Jahre  1773  („die  obersten   praktischen   Elemente  sind  Lust  und 


*  Vgl.  Erdmann,  Ks.  Kritic.  171  über  die  „kleine  Differenz". 

*  Kr.  d.  Urth.  §  29:  Die  Modalität  der  Geschmacksurtheile  ist  Nothwen- 
digkeit.  Diese  „macht  an  ihnen  ein  Princip  a  priori  kenntlich  und  hebt  sie 
aus  d«r  empirischen  Psychologie  .  .  .  um  sie  in  die  Klasse  derer  zu  stellen,  welche 
Princlpien  a  priori  zum  Grunde  haben,  als  solche  aber  sie  in  die  Transscendental- 
philosopliie  herüberzuziehen*'.  Ib.  §  29  Anm.:  „Die  empirische  Exposition  der 
ästhetischen  Urtheile  mag  immer  den  Anfang  machen,  so  ist  doch  eine  transscen- 
dentale  Erörterung  dieses  Vermögens  möglich;  denn  ohne  dass  der  Geschmack 
Principien  a  priori  hätte,  könnte  er  unmöglich  die  Urtheile  anderer  richten"  u.  s.  w. 
ib.  Einl.  VIl  ausführlich  und  bes.  Anthrop.  §  65.  66. 

'  Anders  freilich  schon  im  Briefe  an  Herz  von  1772,  wo  die  „intellectuelle 
praktische  Erkenntniss"  zar  Kr.  d.  r.  V.  gehört.     Vgl.  A  54.  841.  —  Der  Gedanke 


484  Oommentar  ssur  Einleitung  A,  S.  10—16  ^  B,  Abschn.  VII. 

A15.16.B28.29.  [B  27.  28.  H  61.  E  67.  68.] 

Unlust,  welche  empirisch  sind.**)    [Dass  sie  auch  nicht  mathematische  Sätze 
enthalte,  darüber  s.  oben  S.  379  f.]  Aus  der  Transscendentalphilosophie  sind 
auch  alle  empirischen  Begriffe  der  Natur  ausgeschlossen ,  z.  B.  Materie 
s.  Einl.  zu  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  und  besonders  Bewegung  und  V e r- 
änderungs.  Aesth.  41.    Das  würde  „die  Einheit  des  Systems  verletzen*  171. 

Die  Be^lffe  der  Lust  und  Unlust.  Grapengiesser,  Aufg.  der  Ver- 
nunftkritik 30  legt  hier  Werth  auf  den  Unterschied  von  „Begriffen*,  die  nicht 
(als  empirische)  hereinkommen  sollen,  und  von  völlig  reiner  „Erkenntniss^: 
Empirische  Begriffe  machen  ein  reines  Erkennt niss  nicht  empirisch.  Dieser 
Einwand  ist  identisch  mit  dem  oben  (vgl.  S.  213)  gemachten  und  hebt  sich 
von  selbst  dadurch,  dass  K.  eben  noch  eine  genauere  Distinction  aufstellt 
zwischen  völlig  reiner  und  nicht  ganz  reiner,  gemischter  Erkenntniss  a  priori. 
Ueber  den  Ausschluss  der  Neigung  hier  vgl.  Bachmann,  Philos.  m.  Zeit  74. 

Die  EintheiluDg  dieser  TVissenschaft.  Die  Erit.  Briefe  67  beziehen 
dies  auf  Transsc.-Phil.  „nach  dem  Zusammenhang'.  Die  Beziehung  auf  Küt- 
d.  r.  V.  ist  aber  geboten  durch  das  Sätzchen:  die  Wissenschaft,  welche  wir 
jetzt  vortragen.  Dagegen  ist  im  Folgenden  wieder  von  der  Transsc.-Pbil. 
die  Rede.  Somit  ist  die  Beziehung  wohl  so  zu  fassen:  diese  Wissenschaft 
d.  h.  die  Transsc.-Phil.,  deren  synthetischen  Theil  die  Kritik  der  r.  V.  be- 
handelt. Tissot,  57  übersetzt  „science  de  la  raison  pure",  , Kritik*  setzen 
Schmidt-Phiseldek  19,  Meilin,  Marg.  §  33,  und  Born  22. 

Elementarletare  und  Methodeoletare.  Das  Nähere  über  diese  Eintheilnmg 
siehe  am  Beginn  der  Methodenl.  S.  707  IF.  Die  Elem.lehre  behandelt  die 
Materialien  der  reinen  Vernunft ,  die  Methodenlehre  die  formalen 
Bedingungen  ihrer  Verbindung  zu  einem  vollständigen  System  der  reinen 
Vernunft.  Die  erstere  bringt  das  Bauzeug  zusammen  und  grenzt  es  ab, 
die  zweite  stellt  den  Plan  zu  dem  neuen  Gebäude  fest  (was  aber  f actisch 
nicht  der  Fall  ist).  Dieselbe  Eintheilung  hat  die  Kritik  der  prakt.  Ver- 
nunft; dagegen  nicht  die  Kritik  der  ästh.  Urtheilskraft  (§  60),  wohl 
aber  die  der  teleologischen.  Hamann,  in  seiner  Becension  (Reinhold, 
Beitr.  1801 ,  II,  209  =  W.  W.  VI,  50)  sagt,  diese  Eintheilung  finde  statt 
nach  Maassgabe  des  Bestimmbaren  und  seiner  Bestimmung,  wohl  mit 
ironischem  Bezug  auf  Kr.  266.  Riehl  300  bemerkt  richtig,  diese  Grundein- 
theilung  sei  die  gebräuchliche  der  Logik;  daher  die  Kritik  eben  als  eine 
Logik  des  Erkennens  aufzufassen  sei.  Man  vgl.  Kants  Logik  Einl.  11  und 
§  94  ff.  Daraus,  aus  Krit.  708,  Kr.  d.  pr.  V.  269  ergibt  sich,  inwiefern  die 
Eintheilung  „aus  dem  allgemeinen  Gesichtspunkte  eines  Systems  überhaupt* 
gemacht  ist:  für  das  aufzustellende  System  der  reinen  Vernunft 
bedarf  es,  wie  för  jede  andere  Wissenschaft  1)  Material,  2)  Methode.  Damit 
deckt  sich  die  Ausführung  freilich  nicht  ganz,  ausserdem  ist  die  Kritik  d.  r.  V. 
als  Ganzes  eine  Methodenlehre  (Vorr.  B  XXII  u.  bes.  A  83.) 


in  der  II.  Aufl.,  dass  das  Empirische  das  zu  überwindende  Hindemiss  sei,  wurde 
später  der  Grundgedanke  der  ethischen  Metaphysik  Fichte's. 


Die  Eiiitheilungsgründe  der  Kritik  d.  r.  V.  485 

[B  28.  H  51.  62.  E  68.]  A 15.  B  29. 

Grttnde  der  UuterabtheiliiDgeii«  Der  Grund  der  Haupteintheilung  wurde 
eben  angegeben;  die  »hier  noch  nicht  vorgetragenen  Gründe**  der  Unter- 
abtheilungen sind  theils  psychologische,  theils  logische,  theils  meta- 
physische. Das  folgt  auch  aus  der  ^Idee  des  Ganzen**,  welche  (vgl.  ob.  451. 
479)  die  Eintheilung  im  Einzelnen  a  priori  bestimmt.  Diese  Idee  ist:  Eine 
Untersuchung  der  Erkenntnissvermögen  zum  Zweck  einer  Methodo- 
logie für  immanente  Vernunfterkenntniss  und  einer  Disciplin  für  die  trans- 
scendente  Metaphysik.  Vgl.  ferner  oben  S.  371  ff.  über  die  Vertheilung 
der  vier  Fragen  nach  den  Wissenschaften  auf  die  Theile  der  Kritik;  über 
die  Combination  letzteren  Gesichtspunktes  mit  dem  psychologischen  s.  Wolff, 
Specul.  I  110,  Windelband,  Gesch.  II,  55.  Den  psychologischen  Gesichts- 
punkt setzt  Riehl  I,  206.  212.  809  u.  bes.  300  viel  zu  sehr  hinter  den 
logischen  als  bloss  , subsidiär**  zurück.  Vgl.  bes.  ferner  unten  493  f.  Vgl. 
auch  Caird,  Kant  189.  222. 

Zwei  Stämme  ans  Einer  Wurzel.  Mit  dieser  Eintheilung  deckt  sich  nur 
dem  Wortlaut  nach  die  Eintheilung  auf  S.  835,  wo  K.  „die  Architektonik 
aller  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft  entwerfen  will  und  von  dem  Punkte 
anfängt,  wo  sich  die  allgemeine  Wurzel  unserer  Erkenntnisskraft  theilt  und 
zwei  Stamme  auswirft,  deren  Einer  Vernunft  ist.*  Denn  K.  fdhrt  fort:  „Ich 
verstehe  aber  hier  unter  Vernunft  das  ganze  obere  Erkenntnissvermögen 
und  setze  also  das  Rationale  dem  Empirischen  entgegen.**  Zu  dem  Rationalen 
gehört  aber  dort  auch  die  mathematische  Erkenntniss,  und  diese  hängt 
von  der  reinen  Sinnlichkeit  ab,  die  eben  ihrerseits  zu  jener  Vernunft 
im  weiteren  Sinne  gehört.  An  jener  Stelle  wird  das  Rationale  dem  Empiri- 
schen entgegengestellt,  hier  aber  Verstand  der  Sinnlichkeit;  innerhalb 
dieser  beiden  theilt  sich  aber  nun  erst  wieder  das  Rationale  vom  Empi- 
rischen ab.  —  Das  Bild  des  „Stammes**  z.  ß.  auch  842.  „Stammbaum*  des 
r.  Verstands  82.  „Stajnmbegriffe**  B.  111.  „Stammleiter  der  Vernunftbegriffe ** 
299.     (Vgl.  oben  150;  auch  97.) 

Gemeinschaftliche^  aber  uns  unbekannte  Wurzel«  Diese  Stelle  wurde  und 
wird  von  den  Fortbildnern  der  K.'schen  Philos.  häufig  angeführt,  insofern 
dieselben  diese  gemeinschaftliche  Wurzel  gefunden  haben  wollten.  Zu  dem 
Wörtchen  „vielleicht**  bemerkt  der  Hegelianer  Erdmann,  Entw.  HI,  1.  52, 
,es  zeigt,  wie  sehr  K.  die  Aufgabe  ahndete,  zu  deren  Lösung  die  Philosophie 
seiner  Zeit  berufen  *.**  Vgl.  ib.  419,  „aber  er  gibt  sich  keine  Mühe  weiter, 
die  gemeinsch.  Wurzel  zu  finden,  ja  mit  einer  Art  Verdruss  spricht  er  sich 
gegen  Reinhold  über  dessen  Versuch  aus,  weiter  aufwärts  zu  gehen  und  ein 
gemeinschaftliches  Fundament  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  zu  suchen.** 
Um  zum  vollen  Verständniss  der  historischen  Tragrweite  dieser  berühmten 
Stelle  zu  gelangen,  sehe  man  nach,  was  derselbe  femer  a.  a.  0.  415.  418-— 422. 
494—496.  500.  517.  534—536.  555—557  über  die  Bestrebungen  von  Rein- 


'  üeber  das  „vielleicht"  vgl.  L  e  w  e  s ,  Gesch.  der  Phil.  I,  Prol.  §  61.    Falsch 
übersetzt  Meiklejohn:  „prohably*'  statt  „perhaps".  Vgl.  Mahaffy,  Comm.  4. 


486  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Absclin.  VII. 

A 15.  B  39.  [B  28.  H  52.  E  68.] 

hold,  Beck  und  Maimon,  sowie  von  Fichte  sagt,  diese  „Wurzel"  auf- 
zufinden. Eine  vortrefiPliche  Ergänzung  dazu  bilden  die  Bemerkungen  Fischers, 
Gesch.  V,  10.  15.  20  über  den  Einfluss  dieses  , bedeutsamen  Wortes"  auf 
die  spätere  Identitätsphilosophie.  Dazu  vgl.  man  Michelet,  Letzte  Sy- 
steme I,  51.  Thilo,  Gesch.  d.  Phil.  2.  A.  II,  247  ff.  298  f.  (K.  habe  auch 
das  Mittel  angedeutet,  um  jene  Wurzel  zu  finden:  den  intuitiven  Verstand). 
Sigwart,  Gesch.  III,  41.  60.  Besonders  auch  Windelband,  Gesch.  II,  79 
(161.  164).  203. 

Nach  Holder,  Ks.  Erk.  4,  vgl.  S.  18,  46  ff.,  70  ff.  hat  Kant,  ohne  es 
ausdrücklich  auszusprechen,  selbst  die  Einbildungskraft  als  diese  gemein- 
same Wurzel  aufgefunden.  Dass  das  der  Fall  ist,  geht  aus  manchen  Stellen 
der  Kritik  hervor  z.  B.  A  78,  wo  er  die  Einb.  eine  „blinde  obgleich  unent- 
behrliche Function  der  Seele  nennt,  ohne  die  wir  überall  gar  keine  Erkennt- 
niss  haben  würden,  der  wir  uns  aber  selten  nur  einmal  bewusst  sind.  ^  Vgl. 
A.  110.  123  und  bes>  B  151.  152,  wo  von  der  Einb.  ausdrücklich  gesagt  ist, 
sie  gehöre  theils  zur  Sinnlichkeit,  theils  zum  Verstände,  sie  sei  sowohl 
passiv  als  spontan.  Vgl.  hiezu  Anhang  zur  Dial.  S.  649:  Man  müsse 
anfängüch  so  vielerlei  Kräfte  annehmen,  als  Wirkungen  sich  hervorthun. 
Man  müsse  jedoch  diese  anscheinende  Verschiedenheit  so  viel  als  möglich 
verringern,  die  versteckte  Identität  hervorsuchen.  Einbildung  liege  viel- 
leicht gar  dem  Verstand  und  der  Vernunft  zu  Grunde.  Man  müsse  also 
nach  der  gemeinsamen  Grundkraft  ^  suchen.  Vgl.  zu  der  später  ausfuhrlich 
zu  besprechenden  Frage  der  Berechtigung  dieser  Scheidung  vorläufig  J.  B. 
Meyer,  Kants  Psychol.  73  ff.  175.  Cohen,  Th.  d.  Erf.  164  (auch  137.  146) 
(gegen  Meyers  Meinung,  die  „Seele"  sei  jene  gemeinsch.  Wurzel).  Thiele, 
Ks.  int.  Ansch.  7.  Jahn,  Ueb.  die  K.'sche  Unterscheidung  von  Sinn,  Ver- 
stand und  Vernunft.  Jena  1875.  Spicker  K.  Hume  und  Berk.  16.  20.  28. 
Dass  diese  Wui*zel  die  Einbildungskraft  sei,  ahnte  auch  Jacobi,  Unt.  d. 
Krit.  Reinh.  Beitr.  1801  3.  9.  23.  28.     (W.  W.  III,  70-  ff.) 

Diesen  dualistischen  Gegensatz  von  Sinnl.  und  Verst.  suchte  zuerst 
Fichte  dahin  aufzulösen ,  dass  er  behauptete ,  es  werde  überhaupt  nichts 
von  Aussen  gegeben,  weder  halb  noch  ganz,  sondern  alle  Objecte  werden 
von  uns  selbst  gemacht.  Journal  1797  I,  40.  Vgl.  die  Einleitung  zur 
Wissens ciaftslehre'.     Auch  Fries  suchte  nach  dieser  gemeinsamen 


.  *  Aehnlich  Eberhard,  N.  Th.  d.  Denkens  und  Empfindens  1776,  bes.  S.  17. 
23.  30  u.  ö.,  worauf  K.  offenbar  anspielt.  Jene  Schrift  war  Beantwortung  einer 
von  der  Academie  gestellten  (auch  von  Herder  beantworteten)  Preisfrage.  Auch 
bei  Teten 8  finden  sich  ähnliche  Stellen.  Die  Bestrebungen,  für  Sinnlichkeit  und 
Verstand  eine  gemeinsame  Wurzel  zu  suchen  (also  nicht  Eins  auf  das  Andere  xn 
reduciren),  sind  somit  schon  vor  Kant  dagewesen. 

«  Vgl.  Fichte,  W.  W.  II,  106.  Nachg.  W.  II,  104.  III,  350  (wichtige  Stellen). 
Dazu  Trendelenburg ,  Rede  auf  F.  7  f.  u.  besonders  Löwe,  F.  10  f.,  auch  Thüo 
a.a.O.  298  f.  —  Baader,  W.  W.  XI,  227.  Sengler,  Specul.  Philos.  61  (die 
Wurzel  sei  die  Freiheit), 


Die  ^gemeinschaftliche  Wurzel"  von  Sinnlichkeit  und  Verstand.         487 

[B  28.  H  52.  E  68.]  A 15.  B  29. 

Wurzel  und  glaubte  sie  in  dem  Begriff  der  ,receptiven  Spontaneität**  zu 
finden.  Cohen  sucht  (a.  a.  0.  83)  diese  Stelle  dafür  auszubeuten  und  dahin 
auszudeuten,  dass  die  transsc.  Aesthetik  ohne  die  transsc.  Logik  nicht  zu 
verstehen  sei.  K.  habe  doch  selbst  nach  dieser  „gemeinsch.  Wurzel"  gesucht; 
sie  habe  ein  Motiv  seines  Denkens  abgegeben.  Und  es  sei  nicht  denkbar, 
«dass  wir  die  Lehre  vom  Gegebensein  der  Vorstellungen  verstehen 
sollten,  ohne  Hinzunahme  der  Lehre  von  dem  Gedachtwerden  der- 
selben." Cohen  a.  a.  0.  168  findet  es  richtig,  dass  K.  hier  von  zwei 
Stummen  und  einer  gemeinsch.  Wurzel  redet,  während  er  sonst 
den  Ausdruck  gebraucht ,  Sinn  und  Verstand  seien  zwei  Quellen;  (z.  B. 
A  50,  ,zwei  Grundquellen "  271);  hier  fehle  das  Gemeinschaftliche.  Lange, 
Gesch.  d.  Mat.  II,  31  f.:  „Heutzutage  kann  diese  Vermuthung  bereits  als 
bestätigt  angesehen  werden;  nicht  durch  die  Herbar  tische  Psychologie  oder 
die  HegeTsche  Phänomenologie  des  Geistes,  sondern  durch  gewisse  Experi- 
mente der  Sinnesphysiologie,  welche  unwidersprechlich  beweisen, 
dass  schon  in  den  anscheinend  ganz  unmittelbaren  Sinneseindrücken  Vor- 
gänge mitwirken,  welche  durch  Elimination  oder  Ergänzung  gewisser  logischer 
Mittelglieder  den  Schlüssen  und  Trugschlüssen  des  bewussten  Denkens  auf- 
fallend entsprechen."  L.  tadelt  dann  K.,  dass  er  nicht  in  der  Einheit  von 
Sinnlichkeit  und  Denken  die  Lösung  des  Problems  gesucht  habe,  dass  er 
trotz  der  Bestimmung,  dass  beide  zusammenwirken,  doch  in  platonischer 
Weise  noch  an  einem  reinen,  von  aller  Sinnlichkeit  freien  Denken  festge- 
halten habe.  Dieser  Vorwurf  gegen  K. ,  wie  der  obige  Ergänzungsversuch 
unterliegen  gleichstarken  Zweifeln,  jener  ob  er  gerecht,  dieser  ob  er  im  Sinne 
Kants  sei.  Vgl.  Quäbiker,  Krit.  phil.  ünt.  I,  12,  wo  auch  die  „moderne 
Sinnesphysiologie''  herbeigezogen  wird.  Dag.  Jacobson,  Eateg.  u.  ürth. 
S.  25.  Kirchner,  Metaph.  31  f.,  wo  auch  auf  die  Phantasie  und  die 
Lehre  vom  Schematismus  hingewiesen  wird.  —  E  e  h  m  k  e  ,  Welt  als  Wahrn. 
und  Begriff  S.  320  f.:  „Diese  Ahnung  einer  gemeinsch.  Wurzel  menschl. 
Erkenntniss  möchte  sich  wohl  bestätigen  können,  aber  freilich  durch  ein 
ganz  Anderes  und  auf  einer  ganz  anderen  Seite,  als  wo  K.  suchte.**  Die 
crem.  Wurzel  sei  die  Wahrnehmung*. 

Es   ist   nach  den  bisherigen  Ausführungen  sehr  fraglich,    ob   man   mit 
Volkelt,  Ks.  Erk.  152   diese  Stelle  mit  den  Aeusserungen  Kants  in  der 


*  Weitere  beachtenswerthe,  jedoch  theil weise  zweifelhafte  Bemerkungen  zu 
dieser  Stelle  bei  Riehl  L  309.  Caird,  Kant  223.  Stadler,  Ks.  Teleol.  3.  Stau- 
dinger, Viert,  f.  wies.  Philos.  V,  247.  252  (die  Empfindung  sei  die  Wurzel). 
Femer  bes.  Mainzer,  Einbildungskr.  S.  67;  Weber,  Ks.  Erkenntnissth.  13.  15. 
16.  73  (jene  Wurzel  sei  bei  K.  das  sog.  „Gemüth").  Kuttner,  Ks.  Ans.  tiber  d. 
Materie  61.  Weiteres  im  Gommentar  zur  Analytik,  bes.  ob  die  Einbildungskraft 
jene  „Wurzel"  sei,  oder  nicht  bloss  ein  „Bindeglied"?  ob  diese  Unterscheidung 
der  Stämme,  wie  Einige  meinen,  bloss  zum  Zweck  der  Untersuchung  in  isollrender 
Abstraction  gemacht  sei?  u.  s.  w.,  welche  systematische  Tragweite  für  Kants 
Erkenntnisstheorie  also  diese  Stelle  habe? 


488  Commentar  zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =.  B,  Abschn.  VII. 

A15.  B^.  [B  28.  H  52.  E  68.] 

Krit.  der  Urth.  zusammenstellen  darf:  dort  spricht  K.  §  56  und  ib. 
Anm.  und  §  61  (R.  IV,  218.  221.  246)  davon,  dass  im  Uebersinnlichen 
der  Vereinigungspunkt  aller  unserer  Vermögen  zu  suchen  sei.  Allein  einmal 
ist  zu  bemerken,  dass  a.  a.  0.  B.  IV,  218.  246  das  Beich  der  Dinge  an 
sich  (ausdrücklich  als  das  der  0  b  j  e  c  t  e)  als  der  Harmonisirungsponkt 
gemeint  ist,  nichtdasSubject,  genau  wie  das  üebersinnliche  ib. 
R.  IV,  14  als  Einheitspunkt  von  Natur  und  Freiheit,  R.  IV,  275. 
305  u.  ö.  von  Mechanismus  und  Teleologie  gefasst  wird.  Aehnlich 
ist  der  Fall  bei  jenen  beiden  Stellen  der  Kritik  A  358  ff.  B  427,  wo  die 
Identität  der  Noumena  von  Materie  und  Seele  mit  den  Ausdrücken  « könnt« 
doch  wohl  zugleich*  u.  s.  w.  und,  wie  hier,  mit  „vielleicht  nicht  so 
ungleichartig*  als  möglich  hingestellt  wird  \  Wo  aber,  wie  ürth.  §  56  Anm. 
(B.  IV,  221)  ausdrücklich  „das  übersinnliche  Substrat  aller  Vermögen  des 
Subjects*  als  Einheitspunkt  genannt  ist,  „worauf  in  Beziehung  alle  unsere 
Erkenntnissvermögen  zusammenstimmend  zu  machen,  der  letzte  durch  das 
Intelligible  unserer  Natur  gegebene  Zweck  ist,*  da  ist  der  Einheitspunkt 
wieder  ins  üebersinnliche,  in  das  Beich  der  Dinge  an  sich  verlegt.  Dass 
aber  K.  hier  die  gemeinschaftliche  Wurzel  jener  beiden  Stämme  im  Ich  an 
sich  gesucht  habe,  ist  trotz  des  Ausdruckes  „unbekannt*  nicht  anzunehmen, 
da  die  spärlichen  Andeutungen,  welche  sich  später  finden,  auf  die  Einbildungs- 
kraft hinweisen,  die  noch  in  das  Gebiet  der  inneren  Erscheinung  föllt.  Und 
was  endlich  die  Stelle  in  der  Vorr.  zur  Grundl.  z.  M.  d.  S.  (B.  VIII,  8)  be- 
trifft, so  heisst  es  nicht,  wie  Volkelt  citirt,  dass  theor.  und  praktische  Ver- 
nunft „aus  einem  gemeinsch.  Princip  entspringen,*  sondern  dass  „ihre  Ein- 
heit in  einem  gemeinsch.  Princip  müsse  dargestellt  werden,  weil  es  doch  am 
Ende  nur  Eine  und  dieselbe  Vernunft  sein  kann,  die  bloss  in  der 
Anwendung  verschieden  sein  muss.*  Hier  wird  die  Identität  der  frag- 
lichen Vermögen  schon  vorausgesetzt;  in  unserem  Falle  handelt  es 
sich  bloss  um  eine  vage  Vermuthung,  dass  Sinnl.  und  Verstand  eine  gemein- 
schaftliche Abstammung  haben  —  dass  aber  diese  Stelle  hier ,  wie  die 
eben  allegirten  eine  monistische  Tendenz  Ks.  überh.  verrathe,  ist  un- 
leugbar.    Vgl.  SmoUe,  Ks.  Erkenntnissth.  psychol.  betr.  S.  11  ff. 

Hamann  in  der  Metakritik:  Entspringen  aber  Sinnlichkeit  und  Verst. 
als  zwei  Stämme  aus  Einer  gemeinschaftl.  Wurzel  —  „zu  welchem  Behuf 
nun  eine  so  gewaltthätige ,  unbefugte,  eigensinnige  Scheidung  desjenigen, 
was  die  Natur  zusammengefügt  hat!  Werden  nicht  alle  beiden  Stämme 
durch  eine  Dichotomie  und  Zweispalt  ihrer  gemeinsch.  Wurzel  ausgehen  und 
verdorren?  Sollte  sich  nicht  zum  Ebenbilde  unserer  Erkenntniss  ein  einziger 
Stamm  besser  schicken,  mit  zwei  Wurzeln,  einer  obern  in  der  Luft  und 
einer  untern  in  der  Erde?  Die  erste  ist  unserer  Sinnlichkeit  Preis  ge- 
geben, die  letzte  hingegen  unsichtbar  und  muss  durch  den  Verstand  gedacht 
werden,  welches  mit  der  Priorität  des  Gedachten  und  der  Posteriorität  des 


'  Pamit  bringet  auch  Börse hke^  Locke  ü  unsere  Stelle  in  Zasammenhang. 


Die  ffgemeinschaftliclie  Wurzel^  von  SiDnlichkeit  und  Verstand.         489 

[B  28.  H  58.  E  68.]  A15.B29. 

Gegebenen  oder  Genommenen  .  .  .  mehr  übereinstimmt/  Noch  stärker 
wendet  sich  Hamann  nachher  gegen  diese  Trennung  mit  den  bekannten 
Worten:  er  möchte  „dem  Leser  die  Angen  öffnen,  dass  er  vielleicht  sähe  — 
Heere  von  Anschauungen  in  die  Veste  des  reinen  Verstandes  hinauf  —  und 
Heere  von  Begriffen  in  den  tiefen  Abgrund  der  fühlbarsten  Sinnlichkeit 
herabsteigen,  auf  einer  Leiter,  die  kein  Schlafender  sich  träumen  lässt, 
und  den  Beihentanz  dieser  Machanaim  oder  zwejer  Yemunftheere  —  die 
geheime  und  ärgerliche  Chronik  ihrer  Buhlschaft  und 
Notbzucht'u.  s.  w.'  Ln  Anschluss  hieran,  sowie  im  Gegensatz  zu  dieser 
Stelle,  .und  zu  der  Ausfuhrung  Krit.  S.  50  von  „den  zwei  Gmndquellen  des 
Gemüths**  ruft  Herder  (Met.  I,  161)  aus:  «Und  diese  zwei  Grundquellen 
fliessen  nebeneinander?  Zwei  Stämme  menschl.  Erk,  stehen  nebeneinander? 
Welch  Geschöpf  hat  denn  die  Natur  aus  zwei  verschiedenen  Stämmen,  deren 
vielleicht  gemeinschaftl.  Wurzel  uns  völlig  unbekannt  wäre,  zusammen- 
geleimet?  Schon  die  beiden  Cotyledonen  der  Pflanze  zeigen  ihre 
einhellige  Tendenz  zum  Ganzen;  die  Eine  spriesst  in  die  Luft,  die  Andere 
in  den  Boden ;  beide  Sprösslinge  bilden  die  Pflanze  ...  Bei  T  h  i  e  r  e  n 
streben  alle  ihre  Empfindungen  und  Kräfte  in  Einen  Instinct ;  sie  wissen  von 
keinen  gesetzlichen  Widersprüchen  ihrer  Natur  aus  Natur,  der  Natur  ent- 
gegen. Der  Mensch  allein  sollte  ein  so  zusammengeflicktes  Geschöpf 
sein,  dessen  beide  Enden  .  .  zu  einander  nicht  gehörten?^  Vgl.  die  weitere 
Ausfahrung  ib.  II,  331,  wo  diese  Spaltung  irrthümlich  auf  Hume  zurück- 
geführt wird.  9 Beide  Stämme  stehen  wurzellos  als  Trauergestalten  da."  Von 
dieser  Spaltung  seien  alle  anderen  kantischen  Spaltungen  und  Dichotomien 
ausgegangen.  Man  hätte  Kants  Philos.  daher  nicht  die  „  zermalmende ', 
sondern  die  , zerspaltende'  nennen  sollen.  Herder  weist  auf  die  Leibniz- 
schen  „notiones  eonfusae^  hin  als  Vereinigungspunkt.  Bei  K.  aber  sei  „die 
Seele  ein  Land  voll  Klüfte,  eine  traurige  Mondkarte.' 

Slnnliehkelt  —  Yerstand.  Eine  weitere  Ausführung  dieses  fundamentalen 
Gegensatzes  s.  im  Anfang  der  Aesth.  (19)  und  der  Analytik  (50).  Richtig 
bemerkt  Erdmann  Entw.  III,  1,  52:  „Mit  der  ersteren  Bestimmung 
trennte  er  sich  von  L  e  i  b  n  i  z ,  dem  ja  auch  die  sinnliche  Erkenntniss 
Product  der  Selbstthätigkeit  war.  Ebenso  aber  trennt  er  sich  mit  der  zweiten 
Bestimmung  von  den  Engländern,  welche  die  Begriffe  nur  als  schwache 
Spuren  der  Eindrücke  ansehen,  und  also  den  gleichen  Fehler  begehen,  indem 
auch  sie  nur  Eine  Quelle  der  Erkenntniss  annehmen.'  Weiteres  bei  Fischer 
274  ff.;  damit  scheide  sich  K.  streng  von  seinen  Vorgängern  in  beiderlei 
Richtung.  Man  hatte  die  Erkenntniss  der  Dinge  gesucht  und  das  Vermögen 
dazu  vorausgesetzt ,  und  man  hatte ,  da  die  wahre  Erkenntniss  nur  Eine 
sei ,  vorausgesetzt ,  dass  es  auch  nur  Ein  Erkenntnissvermögen  gebe.  Aus 
der  gemeinschaftlichen  Voraussetzung  von  der  Einheit  des  Erkennt- 
nissvermögens gehen  die  entgegengesetzten  Richtungen  hervor,  Dog- 


^  W.  W.  VU,  10.  12.  (=  Rink,  Manch.  128.  130.) 


490  Commentar  zur  Einleitung  A^  S.  10—16  =  B,  Abechn.  VIL 

A15.B29.  [R  28.  H  53.  E  68.] 

matismus  und  Euipirismos ,  denn  von  den  beiden  Verhaltungsweisen  des 
Subjects  zu  den  Gegenständen,  dem  Denken  und  Wahrnehmen,  wählt  jeder 
dies  Eine  zum  ausschliesslichen  Erkenntnissvermögen.  Das  andere 
ist  dann  nur  eine  graduelle  Abschwächung  des  Ersten,  eine  unvollkommene 
Verdoppelung,  eine  quantitative  Herabsetzung.  Die  Dogmatisten  wählen  den 
Verstand,  Sinnlichkeit  ist  niederer  Vei-stand,  der  aufgeklärteste  Begriff  ist 
die  deutlichste  Vorstellung.  Den  Empiristen  ist  der  sinnliche  Eindruck  die 
deutlichste  Vorstellung,  der  Begriff  nur  eine  abgeschwächte  Wahrnehmung, 
gleichsam  ihre  letzte  Spur.  Jenen  ist  die  Sinnlichkeit  ein  verworrener  Ver- 
stand, diesen  der  Verstand  eine  undeutliche,  abgeschwächte  Sinnlichkeit.  Aber 
nach  Kant  unterscheiden  sich  beide  Vermögen  qualitativ.  Dieser 
so  begriffene  Unterschied  zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  sei  die  erste 
Einsicht  der  kritischen  Philosophie*.  Nach  §  8  der  Dissertation 
ist  diejenige  Wissenschaft  eine  Propädeutik  zur  Metaphysik,  quae  discrimen 
docet  sensitivae  cognitionis  ab  intelleetualu  Freilich  ist  hiebei  nicht 
aus  dem  Auge  zu  verlieren,  dass  dieser  Unterschied  im  Jahre  1770  noch 
viel  bedeutsamer  war  als  im  Jahre  1781;  denn  damals  war  der  Verstand 
das  Vermögen  der  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich,  die  Sinnlichkeit  das  der 
Erscheinungserkenntniss ;  jetzt  dient  auch  der  Verstand  nur  der 
Erfahrung.  Daher  ist  auch  die  Betonung  des  Unterschiedes  in  der 
Aesth.  42  ff.  archaistisch  (s.  das.)  Jetzt  ist  ebenso  wichtig  der  Unterschied 
zwischen  a  priori  und  a  posteriori,  und  zu  dem  ei'steren  gehört  auch 
die  reine  Sinnlichkeit  neben  dem  reinen  Verstand ,  so  dass  beide 
viel  mehr  zusammenrücken.  Fischers  Darstellung  ist  somit  durch  diese 
Restriction  wesentlich  zu  ergänzen.  Vgl.  die  Bemerkungen  in  der  Einlei- 
tung oben  S.  58.  Ueber  die  allmälige  Entwicklung  dieser  Unterscheidung 
bei  Kant  s.  Paulsen,  Entw.  87  gegen  Fischer,  Gesch.  III,  176.  259. 
Vgl.  Cohen,  System.  Id.  17.  Die  qualitative  Unterscheidung  von  Sinnl. 
und  Verst.  balinte  schon  Lambert  an  nach  Zimmermann,  L.  67.  40  ff. 
70.  Dag.  E  u  c  k  e  n ,  Terminol.  142.  Kurz  aber  scharf  bemerkt  Schwab 
Preisschr.  üb.  d.  Fortschr.  d.  Met.  128:  „K.  hat  an  eben  denselben  Klippen 
gescheitert,  an  denen  so  viele  Metaphysiker  vor  ihm  gescheitert  und  alle 
angestossen  haben.  Diese  Klippen  sind  von  jeher  Verstand  und  Sinn- 
lichkeit gewesen.  Ohne  sich  in  die  schwerere  Untersuchung  einzulassen, 
ob  Sinnl.  und  Verst.  wesentlich  von  einander  unterschieden  seien  (welches 
um  so  nöthiger  gewesen  wäre,  da  berühmte  Philosophen  z.  B.  Locke,  Gondillac, 
Helvetius,  alles  in  der  Seele  auf  Empfindung  reduciren),  nimmt  er  solches 
als  einen  allgemein-geltenden  Grundsatz  an  und  baut  sein  ganzes  System 
darauf.     Nun  wird  alles  auf  das  genaueste  bestimmt  u.  s.  w. 

Dass  K.  den  so  definitiven  Unterschied  hier  als  ungeprüfte  Vor  aussetzung 
annimmt,  wurde  schon  oben  S.  430  bemerkt   und   Mrlrd  bes.  noch  getadelt 


'  Weiteres  über  die   historische   Entwicklung  der   Unterscheidung  bes.  bei 
Windelband,  Gesch.  II,  82  ff.  40  f.,  Riehl  208.  212,  Caird,  Kant  170-178. 


DaaliBtischer  Unterschied  v.  SiDRlkhkeit  tt.  Verstand  als  Voraiiesetznng.     491 

[B  88.  H  62.  E  68.]  AiS.B  29.30. 

.von  Löwe,  Logik  (1881)  S.  229  f.  als  petUio  principü  (bes.  dass  aller  Stoff 
aus  der  Sinnlichkeit  stamme),  sehr  scharf  femer  von  Weber,  Ks.  Erkenn t- 
nissth .  S.  12—16,  sowie  treffendst  von  Montgomery,  Ks.  Erkenntnissl. 
84.  96.  106  ff.  u.  ö.,  ferner  von  Witte,  Beitr.  40  f.,  Rehmke,  Welt  als 
Wahm.  318  (als  platonischer  Dualismus).  In  einem  sehr  beachtenswerthen 
Abschnitt  über  „Unterstanding  and  Sense'^  sucht  Caird,  Kant  222—231 
nachzuweisen,  dass  diese  jfiasia'^  (228),  die  ^cwnmon  Opposition'^  225,  j^the 
ordinary  contrast'^  228  bloss  eine  vorläufige,  zum  Zweck  der  Untersuchung 
propädeutisch  gemachte  „hypothesis'^  sei,  indem  es  K.  liebe,  von  der  ge- 
wöhnlichen, dualistischen  Vorstellungsweise  (219.  225)  auszugehen  und  diese 
erst  im  Verlaufe  in  ihrer  Unwahrheit  nachzuweisen.  So  gehe  auch  die  Ein- 
leitung (und  die  Aesthetik)  von  der  gewöhnlichen  Meinung  aus,  dass  die 
Sinnlichkeit  für  sich  schon  „Objecte  gebe^,  während  Kant  nachher  zeige, 
dass  auch  der  Verstand  zu  diesem  zu  gebenden  „Object"  noth wendig  sei. 
Diese  auch  von  Anderen  (vgl.  oben  432.  487)  gemachte  Bemerkung  wird  in 
den  folgenden  Theilen  genau  geprüft  werden. 

Uns  GegenstXnde  gr^geben«  Ueber  dieses  „Geben"  vgl.  » Entdeckung' 
(Ros.  1 ,  436) :  „Die  Gegenstände  als  Dinge  an  sich  geben  den  Stoff  zu 
empirischen  Anschauungen  (sie  enthalten  den  Grund,  das  Vorstellungsver- 
mögen, seiner  Sinnlichkeit  gemäss  zu  bestimmen),  aber  sind  nicht  der  Stoff 
derselben.*  Die  Krit.  Briefe  67  tadeln  den  Ausdruck,  dass  die  Sinnlichkeit 
selbst  als  solche  Gegenstände  gebe.  Der  Ausdruck  „durch  die  Sinnlichkeit 
gegeben **  scheint  hier  allerdings  diesen  Sinn  zu  haben,  nicht  etwa  den, 
dass  die  Gegenstände  durch  das  Medium  der  Sinnlichkeit  sich  uns 
in  anderer  Form  selbst  geben.  Letzteres  ist  aber  die  Meinung  Kants,  es  sollte 
also  hinzugefugt  sein,  dass  die  Sinnlichkeit  Gegenstände  nur  gebe,  wenn  sie 
durch  sie  afficirt  ist  \    Vgl.  Born-Abicht,  Philos.  Mag.  II,  553  ff. 

Yorstellniigen,  welche  die  Bedln9ang(eu)  ansmachen.  Die  Krit.  Briefe 
68  tadeln  von  ihrem  Leibniz'schen  Standpunkt  aus ,  dass  gewisse  sinnliche 
Vorstellungen  selbst  die  Bedingungen  u.  s.  w.  sein  sollen,  anstatt  des  sinn- 
lichen Vorstellungs Vermögens.  Vgl.  Born-Abicht,  Philos.  Mag. 
II,  555  f. 

Zur  TraBsscendentalphilosophie  gehören.  Was  in  der  Sinnlichkeit  nicht 
a  priori  ist,  gehört  somit  zur  (empirischen)  Physiologie  und  Psychologie. 
Dass  beide  Forschungs weisen  schliesslich  zusammentreffen  sollen,  spricht  be- 
kanntlich Schiller  in  folgenden  zwei  Epigrammen  aus: 

(Zu  Schelling,  Ideen  zur  Philosophie  der  Natur.) 
Naturforscher  und  Transscendentalphüosophen. 

Feindschaft  sei  zwischen  euch;  noch  kommt  das  Bündniss  zu  frühe, 
Wenn  ihr  im  Suchen  euch  trennt^  wird  erst  die  Wahrheit  erkannt. 


'  Ueber  dieses  „Geben^,  die  Gegenstände  an  sich  und  die  empirischen  Ge- 
genstände, und  die  darauf  bezüglichen  Controversen  aiehe  zu  Aesthetik  A  19  f. 


492  Commentar    zur  Einleitung  A,  S.  10—16  =  B,  Absckn.  VIL 

A16.B30*  [B  S8.  H  52.  E.  68.] 

Die  voreiligen  Verbindungsstifter. 

Jeder  wandle  für  sich'  und  wisse  nichts  von  dem  Andern; 
Wandeln  nur  beide  gerad,  finden  sich  beide  gewiss. 

Zorn  ersten  Theile  der  Elementarlehre  gehören.  Dieser  Satz  lässt  eine 
dreifache  Auslegung  zu.  Entweder  ist  die  Sprechweise  archaistisch  zu  fassen  % 
und  der  Satz  heisst  so  viel  als:  den  ersten  Theil  der  El.  au  sm  achen '. 
Oder  es  heisst:  einen  Theil  des  ersten  Theiles  der  Elem.  ausmachen;  oder 
endlich  könnte  man  ein  Komma  ausgefallen  denken  und  der  Satz  hiesse: 
zum  ersten  Theile,  d.  h.  zur  Elementarlehre  gehören.  Die  letztere  Auslegung 
ist  aber  wegen  des  in  allen  Ausgaben  fehlenden  Kommas  unwahrscheinlich, 
die  erste  dagegen  ist  durch  den  folgenden  Satz  nahegelegt ',  welcher  erklärt, 
warum  die  Sinnenlehre  den  ersten  Theil  der  El.  ausmachen  muss,  weil 
sinnliche  Anschauung  dem  Denken  vorhergeht.  Die  zweite  Auslegung, 
obgleich  grammatisch  die  nächstliegende,  wird  aber  durch  den  folgenden 
Zusatz  unwahrscheinlich  und  kann  deshalb  auch  nicht  durch  den  seltsamen 
Umstand  gestützt  werden,  dass  dieselbe  einer  Reihe  anderer  Stellen  in  der 
Kritik  der  pr.  Vem.  sehr  entsprechen  würde  *.  Denn  K.  sagt  daselbst  160 
wörtlich:  „Die  Analytik. der  theoretischen  reinen  Vernunft  wurde  in  trans- 
scendentale  Aesthetik  und  Logik  eingetheilt,  die  Logik  in  die  Analytik  der 
Begriffe  und  Grundsätze.^  Dass  man  es  hier  nicht  etwa  mit  einem  Schreib, 
fehler  zu  thun  hat,  zeigen  die  Bemerkungen  ib.  S.  159  (die  Analytik  geht 
von  der  Sinnlichkeit  aus)  sowie  72.  31;  K.  stellt  daselbst  in  der  Elementar- 
lehre einfach  Analytik  als  Regel  der  Wahrheit  und  Dialektik  als 
Darstellung  und  Auflösung  des  Scheins  einander  gegenüber.  Dieser  enorme 
Gedächtsniss fehler  enthält  aber  andererseits  eine  beachtenswerthe  Correctur 
der  K.'schen  Eintheilung  der  Kritik  d.  r.  V.  Die  Eintheilung  in  der  Kritik 
der  prakt.  Vernunft  ist  systematisch  betrachtet  durchsichtiger:  es  ist 
sicher  richtiger,  Aesthetik  und  die  Lehre  von  den  Kategorien  und  Grund- 


*  Aehnliche  Beispiele,  wo  „gehören  zu**  nicht  den  Bestandtheil  einer 
Sache,  sondern  die  Sache  selbst  bilden  heisst,  s.  Grimm,  Wort.  IV,  2522  ff.  Die 
Uebersetzung  „appartenir  ä",  bei  T  i  ss  o  t  57  ist  daher  falsch.  Richtig  bei  Sc  hm  id  t- 
Phiseldeck  S.  19.  Mellin,  Marg.,  §  33  setzt  anstatt  Theil  der  Elem.:  „Theü 
der  Transsc.**  Richtig  bei  Schmidt,  Krit.  d.  r.  V.  S.  12  und  in  M.  Müllers,  da- 
gegen falsch  in  Borns  Uebersetzung. 

'  Ganz  so  heisst  es  wörtlich  A  22. 

'  Trotz  des  auffallenden  ümstandes,  dass  der  Schluss  des  vorhergehenden 
Satzes  „gehören  zu**  im  gewöhnlichen  Sinne  verwendet. 

*  Man  könnte  die  zweite  Auslegung  etwa  auch  so  begründen  wollen:  Da 
oben  nur  Sinnlichkeit  und  Verstand,  nicht  aber  die  Vernunft  genannt  ist,  die 
Betrachtung  dieser  aber  doch  auch  einen  sehr  wichtigen  Theil  der  Kritik  aus- 
macht, so  wäre  unter  dem  zweiten  Theil  der  Elem.  die  Dialektik  zu  verstehen,  und 
dann  würden  Theorie  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  den  Ersten  ausmachen. 
Allein  die  Begründung  im  Folgenden  spricht  doch  immer  wieder  für  die  erete 
AuBlegung. 


Ein  GedächtnisBf  ehler  Ks.in  Bezug  auf  die  Eintheilutig  d.  Kr.  d.  r.  V.    493 

[B  28.  H  62.  K  68.]  A16.BdO. 

Sätzen  zusammen  zu  nehmen,  und  ihnen  beiden  die  Dialektik  als  Lehre 
vom  Schein  gegenüberzustellen,  als  die  A  e  s  t  h  e  t  i  k  der  Logik  gegenüber- 
zustellen, und  diese  erst  in  Analytik  und  Dialektik  zu  theilen.  Denn  gerade 
die  Dialektik  steht  in  der  Antinomienlehre  der  Aesthetik  (als  Lehre  der 
Wahrheit)  als  eine  Theorie  des  auf  Raum  und  Zeit  bezüglichen  Scheins 
gegenüber.  Auch  ist  die  Aesthetik  eine  Analytik  des  sinnlichen  Erkenntniss- 
vermögens.    Die  Kritik  der  r.  V.  theilt  ein: 

L  Elementarlehre. 

L  Aesthetik, 
n.  Logik. 

L  Analytik, 
n.  Dialektik. 

n.  Hethodenlehre. 
Nach  der  Kritik  der  prakt.  V.  sollte  jedoch  die  Eintheilung  der  Kritik  der 
r.  V.  folgende  sein: 

I.  Elementarlehre. 

I.  Analytik, 

I.  Aesthetik  (Sinne), 
IL  Logik  (Verstand), 
n.  Dialektik. 

n.  Hethodenlelire. 
Unzweifelhaft  ist  letztere  Eintheilung  sachlich  richtiger ,  als  die  factisch 
befolgte  * ;  aber  auch  historisch  wäre  sie  richtiger  gewesen.  Es  geht  näm- 
lich (nach  Kant  selbst  bes.  Krit.  246.  334  und  ö.)  die  Analytik  der  0  n- 
t o  1  o g i e  der  alten  Metaphysik  parallel,  und  die  Dialektik  der  Psy- 
chologie, Kosmologie  und  Theologie;  die  erstere  behandelte 
bekanntlich  die  allgemeinen  Grundbegriffe  und  Orundgesetze  alles  Seienden, 
darunter  auch  Baum  und  Zeit,  die  drei  anderen  wandten  die  allgemeinen 
Grundlagen  auf  jene  drei  speciellen  Gebiete  an.  Somit  umfasste  die  Analytik 
auch  die  Theorie  von  Baum  und  Zeit  und  Ks.  Verdienst  ist  hiebei,  diese 
als  sinnliche  Anschauungen  von  den  Begriffen  getrennt  zu  haben;  jedoch  zu 
einer  Herauslösung  aus  der  Analytik  überhaupt  lag  kein  Grund  vor.  Die 
beiden  Schemata  der  Eintheilung  unterscheiden  sich  nun  sehr  wesentlich 
darin,  dass  das  erstere  (in  der  Kritik  der  r.  V.)  sich  an  die  (Baumgarten'sche) 
Logik  (oder  Theorie  der  facultas  cognoscendi)  anschliesst,  während  das 
zweite  die  Metaphysik  zu  Grunde  legt.  Dort  wird  die  Kritik  der  r. V. 
(wie  es  auch  ausdrücklich  mehrfach  geschieht),  mit  der  Wolf  sehen 
Logik  parallelisirt,  hier  dagegen  mit  der  Metaphysik  desselben.  Jenes 
Schema  legt  die  Eintheilung  der  Erkenntniss  vermögenzu  Grunde,  dieses 
die  der  Erkenntniss  o  b  j  e  c  t  e.  Dass  K.  das  zweite  Schema  später  bevorzugt, 
ist  wohl  auch  ein  Hinweis  darauf,  dass  ihm  seine  Kritik  selbst  immermehr 


'  Einige  Anhänger  Ks.   haben  daher  auch  dieselbe  befolgt,  so  z.  B.  Jacob 
in  seiner  „Logik  und  Metaphysik^. 


494  SehliusbemerkaBgeB. 

als  das  von  seinem  Standpunkt  aus  allein  mögliche  System  der  Metaphysik 
erschienen  ist.  Die  factische  Dintheilung  der  Kritik  der  r.  V.  erklärt  sich 
übrigens  auch  historisch  aus  der  Entwicklungsgeschichte  Kants.  In  der 
Dissertation  standen  gegenüber  Sectio  III;  De  principiis  formae  mundi  sen- 
sibilis  (Baum  und  Zeit)  und  Sectio  IV:  de  principio  fortnae  mundi  inteRigibüis 
(Gott).  Jene  wurde  später  zur  Aesthetik,  diese  nebst  SecHo  V  zur  Analytik 
und  Dialektik,  d.  h.  zur  Logik. 

Schlussbemerkungeii. 

Die  Fnndamentalposltlonen  der  Einleitung.  Die  Einleitung  enthält  eine 
Reihe  von  Nominal  -Definitionen  und  Axiomen  oder  Principien 
(nebst  facti  sehen  Behauptungen),  aufweichen  alles  Folgende  fast  genauso 
beruht ,  wie  die  Mathematik  auf  den  ihrigen ,  wie  Spinoza 's  Ethik 
auf  den  entsprechenden  Bestimmungen  der  Einleitung.  Man  könnte  fast  den 
Versuch  machen,  more  geotnetrico  aus  diesen  vorläufigen  Aufstellungen  die 
Hauptresultate  der  Kritik  deductiv  abzuleiten.  Es  ist  höchst  wichtig, 
zu  erkennen ,  dass  in  dieser  Einleitung  schon  ein  Theil  des  Kantischen  Sy- 
stems in  nuce  enthalten  ist,  nicht  so,  als  ob  K.  die  Hauptresultate  vorläufig 
dargestellt  hätte,  sondern  indem  in  den  Definitionen  und  Axiomen  Vieles 
eingewickelt  liegt.  Eine  methodologische  Zerfaserung  der  Kritik  nach  dieser 
Seite  hin  würde  dies  bald  zeigen.  Hier  kann  zunächst  nur  auf  jene  Elemente 
deutlich  hingewiesen  werden.     (Vgl.  auch  oben  S.  172.) 

L  Nominaldefinitionen.  Diese  sind  an  sich  willkürlich.  Vgl.  dazu 
Ks.  Logik  §  106.  Entdeckung  R.  I,  458.  Cohen,  Erf.  194.  Es  handelt 
sich  hier  um  etwa  ein  Dutzend  wichtiger  Definitionen,  welche  genau  im 
Auge  zu  behalten  sind.  K.  fahrt  sie  meist  mit  Ausdrücken  ein,  wie  „heisst^, 
„sollen  heissen",  „könnte  man  heissen^,  „wie  man  sich  ausdrückt',  „darunter 
verstehen*,  „wird  genannt",  „nenne  ich*.  Eine  strenge  Grenze  zwischen 
Nominaldefinitionen  und  Realaxiomen  (Principien)  ist  jedoch  nicht  zu  ziehen. 

I.  Erkenntnisse  a  priori  und  a  posteriori;  jene   von 
der  Erfahrung  schlechthin  unabhängig,  ddese  von  ihr  erborgt.    (Hier 
Erfahrung  =  sinnliche  Eindrücke.)    Vgl.  oben  S.  165  ff. 
II.  Sinne   und  Verstand;  jene    empfangende ,   diese   denkend 
verarbeiteade  Thätigkeit.    S.  165  ff. 

III.  Rein;  von  der  Erfahrung  unabhängig ;  nicht  mit  der  Erfahnug 
vermischt.     8.  169.  195.  211  ff.  453  ff. 

IV.  Erfahrung;  eine  Erkenntnis»  der  Qegenstände,  in  der  der  rohe 
Stoff  sinnlicher  Eindrücke  durch  den  reinen  Verstand  verarbeitet 
ist.  (Gegensatz  von  Stoff  und  Fon»  S.  182)  Dies  £e  prägnante 
Bedeutung;  die  laxere  mb  I.  S.  177.  219.  353.  433  ff. 

V.  Analytische   und   Synthetische    Urtheile;  jene    den 

Begriff  zergliedernd,  diese  das  Prädicat  neu  hinzusetzend.    S.  253  ff. 

VI.  Vernunft,    reine   Vernunft;    Venoiögea  der  Erkeiutnisä 


Fandamentalpositioneii  der  Eüüeitung.    Ihre  Abfassungszeit.  4d5 

a  priori ;  ErkenntnissTermögen,   das  über  die  Erfabmng  hinaus- 
schweift.   S.  453  ff. 
VII.  Kritik  der  reinen  Vernunft ;  Wissenschaft,  welche  Quelle, 
Umfang,  Inbalt,  Gültigkeit,  Grenzen  der  sub  VI  definirten  reinen 
Vernunft  untersucht.    S.  463  f.  (116  ff.  458  ff.) 
Vin.  Transscendentale  Erkenn t'niss;   Erkenntniss  von  der 
Möglichkeit   der    apriorischen    Erkenntnissart   von    Gegenständen 
überhaupt.    S.  467  ff. 
IX.  Transscendentalphilosophie;  System  der  Begriffe  und 
Erkenntnisse  a  priori  von  Gegenständen  überhaupt.     8.  472  ff. 
X.  Metaphysik;  System  der  Erkenntnisse  a  priori ;  Wissenschaft 

des  Uebersinnlichen.    S.  371  ff. 
XL  Dogmatisch;   metaphysisches  Verfahren   ohne   vorhergehende 
Prüfung.     S.  381  ff. 
n.  Grundsätze.     (Frincipien,  Axiome,  Voraussetzungen.) 

I.  Alle  unsere  Erkenntniss  fängt  mit  der  Erfahrung  an,  es  ent- 
springt aber  nicht  alle  aus  ihr.    S.  178  ff. 
IL  Blosse  Erfabrungsurtheile   -=    Wahmehmungsurtheile   haben  nur 
zufällige  Gewissheit  und  particuläre  Gültigkeit.     S.  197  ff. 

III.  Nothwendigkeit  und  strenge  Allgemeinheit  sind  unfehlbare  Merk- 
male vorhandener  Erkenntnisse  und  Begriffe  a  priori.    S.  206  ff. 

IV.  Die  Erkenntniss   entspringt    aus   zwei    Quellen,    Sinnlichkeit    und 
Verstand.    S.  184  ff.  485  ff. 

V.  Durch  die  Sinnlichkeit  werden  uns  die  Gegenstände  gegeben,  durch 

den  Verstand  werden  sie  gedacht.     S.  489  ff. 
VI.  Die  Empfindungen  entstehen  durch  Einwirkung  von  Gegenständen. 
S.  172  ff.  

m.  Facta.     (Diese  bilden  dann  die  eigentlichen  Probleme  S.  388  ff.) 
I.  Die   ürtheile  der  Mathematik  sind  synthetisch  und  erfordern  An- 
schauung ;  sie  sind  ausserdem  a  priori,  und  sind  apodiktisch  gewiss. 
IL  Metaphysik  enthält  als  immanente  unbestreitbare  gültige  syn- 
thetische Sätze  a  priori, 
ni.  Metaphysik  als  transscendente  macht  auf  solche  Anspruch ; 
sie  sind  jedoch  zweifelhaft. 
Dies  sind  etwa    die  Fundament  a  1- Begriff  e    und   Sätze  der 
Einleitung.     Wie  auf  ihnen    das  Folgende,    insbesondere  die    Lösung  der 
Probleme  aufgebaut  ist,  wurde  oben  S.  425  ff.  gezeigt. 

Heber  die  Abfassungszeit  der  Eloleitung  A«  Ist  die  Einleitung  A.  etwa 
der  am  spätesten  niedergeschriebene  Theil  der  Kritik?  Hiefür  spräche 
zunächst  die  allgemeine  Erfahrung  jedes  Schriftstellers,  dass  Einleitungen 
zuletzt  geschrieben  werden;  dazu  kommen  bestimmtere  philologisch  fest- 
stellbare Kriterien;  das  Wichtigste  ist,  dass  die  Aesthetik  ihrerseits  wieder 
eine  neue  Einleitung  bringt ,  welche  so  wenig  Rücksicht  auf  die 
eigentliche  Einleitung  nimmt,  dass  in  ihr  z.  B.  S.  20  „rein^  nochmals  definirt 


496  Schlassbemerkutig«!!. 

wird.  Diese  Einl.  der  Aesth.  f&ugt  ganz  von  vorne  an,  als  ob  bisher  nichts 
gesagt  wäre.  Sodann  spricht  die  knappe,  energische  Sprache,  die  klare  Dar- 
stellong  dafür,  dass  der  Verf.  hier  Bestimmungen  trifft,  die  ihm  darch  die 
Niederschrift  der  eigentlichen  Kritik  vollständig  geläufig  geworden  sind. 
Schon  Cohen,  Ks.  Th.  d.  Erf.  103  hat  die  Möglichkeit  der  späteren  Abfassung 
der  Einl.  A  —  wenigstens  später  als  die  Aesth.  —  als  denkbar  hingestellt ;  er 
schliesst  dies  daraus,  weil  in  der  Aesthetik  das  Apriori  noch  einen  Bei- 
geschmack des  Angeborenseins  habe,  was  in  der  Einl.  A  nicht  mehr  der  Fall 
sei.  (?)  Freilich  kann  man  sich  dann  nur  wundem,  dass  K.  die  Fragestel- 
lung so  einseitig  aufstellt,  wie  das  oben  mehrfach  gezeigt  worden  ist 
(vgl.  S.  433  ff.) ;  da  er  aber  in  den  Prolegomena  und  in  der  II.  Aufl.  der  Kritik 
diese  Einseitigkeit  auch  nicht  aufhob,  so  spricht  dieser  Umstand  nicht  gegen 
die  spätere  Abfassung.  Dagegen  könnte  man  sagen,  dass  Kant  seine  Ein- 
leitung eben  nicht  radical  umgestalten  wollte,  obwohl  ihm  unmittelbar  nach 
1781  (vgl.  oben  357)  die  Unvollständigkeit  derselben  klar  war.  Und  diese 
UnVollständigkeit  —  erklärt  sie  sich  vielleicht  doch  am  besten  dadurch,  dass 
Kant  die  Einleitung  A  noch  vor  Vollendung  der  Analytik  niederschrieb? 
Es  ist  das  nicht  unmöglich,  (da,  wie  wir  später  sehen  werden,  die  verschie- 
denen Theile  der  Kritik  aus  sehr  verschiedenen  Jahren  stammen  müssen); 
etwas  Sicheres  wird  sich  jedoch  hierüber  schwerlich  ausmachen  lafisen. 


Inhalt. 


Seite 
Torwort:   Allgemeiner  Zweck.  —  Zwölf  specielle  Gesichtspunkte  .      III  — XIV 
Vorbemerkungen:    Art  der  Citirung.   —    Einrichtung  des   Com- 

mentars XV-XVI 

I.  Allgemeine  Einleitimg 1-22 

§  1.    Allgemeine  Bedeutung  der  Kr.  d.  r.  V.  —  Vergleiche 

mifc  ähnlichen  Erscheinungen 1  —  3 

§2.  Historische  Bedeutung  der  Kr.  d.  r.  V.  —  Rationa- 
lismus und  Empirismus.  —  Vermittlung  durch  Kant 

—  Problem  der  reinen   Vernunft  und  Problem  der 
Erfahrung.  —  Ks.  Philosophie  als  Uebergang  zwischen 

zwei  Perioden.  —  Historische  Wirkungen      ....  3  —  11 

§  3.    Die  actuelle  Bedeutung  der  Kantischen  Philosophie. 

—  Die  „Umkehr  zu  Kant**.  —  Der  Neukantianismus.  11  —  14 
§  4.    Allgemeine  Literatmübersicht.  —  Eintheilungsgründe. 

—  Tabellarische  Darstellung.  —  Die  wichtigsten  Er- 
läuterungSBchriften;  Kritik  derselben.  —  Kants  eigene 

Werke  zur  Erläuterung 14  —  22 

n.  Spedelle  Einleitimg 28—70 

Bogmatismvg^  Skeptleismus  und  Kritielsmng« 

Literatur 23-25 

§  1.    Vorbemerkungen:    Gesichtspunkte  der  Charakteristik 

für  die  drei  Richtungen  der  Philosophie    ....  25 — 28 

S  2.    1.  Der  Dogmatismus  nach  Methode  und  Object.  — 

Beweisstellen  aus  Kant 28  —  30 

S  3.    11.  Der  Skepticismus  (Empirismus)  nach  Methode 

und  Object.  —  Beweisstellen  aus  Kant 30—32 

§  4.    ni.  Der  Kriticismus  nach  Methode  und  Object.  — 

Beweisstellen  aus  Kant 32  —  35 

S  5.  Specielleres  Verhältniss  des  Kriticismus  a)  zum  Dog- 
matismus, b)  zum  Skepticismus 35  —  36 

Va  ihm  gor»  Eftnt-Oommentftr.  32 


498  Inhalt. 


fiMta 


§  6.    Die  hifitorischen  Vertreter  des  Dogmatismus  und  Skep- 

ticismus 36 — 37 

§  7.  Allgemeines  Verhältniss  der  drei  Standpunkte.  —  Kritik 
d.  r.  y.  als  der  wahre  „Mittelweg"  zwischen  zwei  Ge- 
gensätzen. —  Das  Bild  vom  Ocean.  —  Aussprüche 
Anderer  Über  jene  Vermittlung.  —  Sonstige  Anwen- 
dung des  Vermittlungsschemas  bei  Kant    .    .    .  :37  — 43 

§  8.  Speci eller  Gegensatz  des  Kriticismus  einerseits  und 
des  Dogmatismus  und  Empirismus  andererseits: 
Kants  subjectivistische  Wendung.  —  Die  dogma- 
tische und  die  kritische  Methode.  —  Das  Bild  vom 
Schwimmenlemen.  —  Die  leges  subjeeti 43—46 

§  9.  Kants  eigener  Entwicklungsgang  durch  Dogmatismus 
und  Empirismus  hindurch  zum  Kriticismus.  —  Zwei- 
maliger Entwicklungsprocess     .     . 47—49 

§  10.  Der  Kriticismus  als  Vermittlung  zwischen  Dog- 
matismus und  Skepticismus.  Allgemeine  Gesichts- 
punkte. —  Die  Vermittlungsformel  und  die  neue 
Combination  der  Gegensätze.  —  Vier  Vermittlungs- 
punkte       49  —  5:] 

§  11.  Dieselbe  Vermittlung  specieller  betrachtet.  —  Fünf 
weitere  Vermittlungspunkte.  —  Hauptmerkmalformel 
des  Kriticismus 54—58 

§  12.  Kants   durchgängige  Vermittlungstendenz.    —   Neun 

Vermittlungsversuche 58  —  59 

§  13.  Die  verschiedenen  Ansichten  über  den  Grundcharakter 
der  Kritik  d.  r.  V.  —  Falsche  Subsumtionsversuche. 

—  Einseitige   Heraushebung   der  Hauptmerkmale.  — 
Sechs  verschiedene  Hauptauffassungen  der  Kr.  d.  r.  V. 

—  Erste  Periode.  —  Zweite  Teriode 59  —  66 

§  14.  Fortsetzung:  Dritte  Periode.  —  Die  Controversen  über 

den  „Hauptzweck".  —  Entscheidung:  organische  Auf- 
fassung      66-70 

Commentar. 

I.  Commentar  zu  Titelblatt,  Motto  und  Widmung    .        7S— 80 

A.  Titelblatt:   Titel.   -   1.  und  2.  Auflage.  —  Verhältniss 

zur  Buchhandlung .  73—75 

B.  Motto:  Uebersetzung.  —  Verhältniss  zu  Bacon.  —  Andere 

Motti       75-77 

C.  Widmung:   Dedicationen.   —    Verhältniss   zu   Zedlitz.  — 

üeber  den  Text 77-80 

II.  Commentar  zur  Vorrede  der  ersten  Auflage    .   .       81-157 

Disposition  der  Vorrede  81.  —  Die  Fragen  der  Vernunft  82. 
—  Die  Verlegenheit  der  Vernunft  83.  —  Immanente  und 
transscendente  Grundsätze  83.  —  Dunkelheit^  Widersprüche 
und  Irrthnmer  der  Vernunft  85.  —  Der  Probirstein  der  Br- 


Inhalt.  499 

.  Seite 
fahrung  86.  —  Die  Metaphysik  ein  Kampfpiatz;  Krieg  und 

Frieden  in  der  Philosophie  86.  —  Etymologie  von  „Meta- 
physik** 88.  —  Die  „Königin  der  Wissenschaften**  89.  — 
Die  allgemeine  Verachtung  der  Metaphysik  90.  —  Die  Meta- 
physik eine  „Geliebte**  92.  —  Despotismus  und  Anarchie^ 
Dogmatlker  und  Skeptiker  98.  —  Verhältniss  zu  Locke  96. 

—  Die  Aristokratie  der  Vernunft  und  der  Pöbel  der  Er- 
fahrung 97.  —  Indifferentismus;  der  neue  Weg:  die  gänz- 
liche „Umschaffung**  98.  —  Die  Wichtigkeit  der  Metaphysik 
100.  —  Die  Unzulänglichkeit  der  Popularphilosophie  102. 
■—  Der  Zweifel,  das  „Zeitalter  der  Kritik**,  die  Aufklärung 
102.  —  Unabhängigkeit  und  Unumschränktheit  der  freien 
Kritik  (Verh.  zu  Lessing)  104.  — 

Die  Selbsterkenntniss  der  Vernunft  106.  —  Das  Bild 
des  Processes:  der  Gerichtshof,  das  Rechtsbuch,  die  Par- 
teien, das  Streitobject,  die  Zeugen  und  Documente,  die  Ent- 
scheidung, die  Acten  107—116.  —  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft =  Selbstprüfung  des  erfahrungsfreien  Erkenntniss- 
vermögens 116 — 120.  —  Sinn  des  Ausdruckes  „Kritik**  120. 

—  Kritik  der  Vernunft  überhaupt,  nicht  der  philosophischen 
Systeme  122.  —  Das  Verfahren  „aus  Principien** :  die  aprio- 
rische Methode  der  Kritik  124.  —  Der  „kritische  Weg**  Ks. 
und  seine  allgemeinen  Resultate:  Abstellung  der  Irrungen, 
nicht  durch  den  Vorwand  des  Unvermögens,  sondern  durch 
Nachweis  des  „Selbstmiss verstände»**  der  Vernunft ;  Unter- 
drückung der  „Schwärmerei**,  „Zauberkünste**  und  „Blend- 
werke**; die  Auflösung  aller  Aufgaben  125— 130.  —  All- 
gemeinurtheile  von  Anhängern  und  Gegnern  über  die  Kr. 
d.  r.  V.  130.  —  Das  Verhältniss  zur  Logik  131.  — 

„Hypotheses  non  fingo^-^  apodiktische  Resultate:  Alles 
oder  Nichts  182.  —  „Verbotene  Waare**  134.  —  Apriorische 
Auffindung  des  Apriori  134.  —  Das  „  Rieh tmass**  136.  — 
Discnrsive,  nicht  intuitive  Deutlichkeit  137.  —  Der  erste 
Entwurf  der  Kritik  und  die  zwölljährige  Arbeit  an  ihr  138. 

—  Ueber  die  Popularisirung  der  Kritik  140.  —  Abt  Ter- 
rasson  142.  —  Der  Gliederbau  des  Systems  143.  —  Auf- 
forderung zur  Mitarbeit  und  zur  stück  weisen  Prüfung  143. 

—  Dauerhaftigkeit  der  Resultate  146.  —  Unbedingte  Voll- 
ständigkeit: Alles  oder  Nichts  148.  —  Die  Kr.  d.  r.  V.  als 
Vorbereitung  zu  einer  künftigen  Metaphysik  149.  — 

Chronologie  der  Drucklegung  der  Kr.  d.  r.  V.  150.  •— 
Chronologie  der  Entstehung  der  Kr.  d.  r.  V.  von  1770—1781 
152.  —  Die  „Kritik  der  Vernunft**  Anno  1765  und  Anno 
1781 :  Kants  Entwicklung  155—157. 

m.  Commentar  zur  Einleituiig  (a  und  B) 168-496 

Vorbemerkungen:  1)  Allgemeine  Literatur  zur  „Einleitung** 

158.  —  2)  Die  Einleitung  in  der  I.  und  in  der  II.  Auflage 

159.  —  3)  Gliederung   der  Einleitung  nach  der  IL  Auflage 


^ 


500  Inhalt. 

Seite 
160.  —  4)  Bemerkungen  zu  der  Gliederung  der  Einleitung 
162.  —   5)  Einleitung  der   Prolegomena  163.   -   6)  Allge- 
meine ParallelBtellen  aus  Ks.  Werken  164. 

Erklärung  von  A^  S.  1  und  2. 

Die  Erkenntnlgg  a  priori 166-169 

Specialliteratur  165.  —  Erfahrung  und  Vernunft  165.  —  Das 
Apriori  nicht  aus  der  Erfahrung  „erborgt**  166.  —  Arten 
des  Apriori  168. 

(I.)  Erklärung  von  B^  Abschnitt  I. 

üntersehied  reiner  und  empirlselier  Erkenntniss      169—197 

„Rein**,  „apriorisch**,  „aposteriorisch**,  „rational**  169.  —  An- 
fang aller  Erkenntniss  mit  der  Erfahrung  170.  —  Die  „Er- 
weckung** des  Erkenntnissvermögens  171.  —  Das  Problem 
der  AiTection  durch  „Gegenstände**  172.  —  Die  „Rührungen** 
der  Sinne  und  der  „Rohstoff**  der  Empfindung  175.  —  Drei- 
facher Sinn  von  „Erfahrung**  176.  —  Keine  zeitliche  Prio- 
rität des  Apriori  178.  —  Alle  Erkenntniss  hebt  zwar  mit 
der  Erfahrung  an,  aber  nicht  alle  Erkenntniss  entspringt 
aus  der  Erfahrung  178.  —  Vergleichung  mit  der  „Leibniz- 
schen  Clausel**  188.  —  Die  chemische  Zerlegung  der  Er- 
fahrung selbst  184.  —  Methode  der  Absonderung  des  Apriori 
185.  —  Die  Doppelfrage  der  Kritik  d.  r.  V.;  das  Problem 
der  Erfahrung  186.  —  Die  von  der  Erfahrung  unabhängigen 
Erkenntnisselemente  l69.  —  Der  Begriff  des  Apriori  190. 

—  Relatives  und  absolutes  Apriori  192.  —  Reines  und  ge- 
mischtes Apriori  195.  —  Logische  Analyse  des  Abschnittes 

196.  - 

(II.)  Erklärung  von  B,  Abschnitt  II. 

Thatsftclilioher  Besitz  aprioriseher  Erkenntoiss    .      197— 2S9 

Zufälligkeit   der  Erfahrung  und  Noth wendigkeit  des  Apriori 

197.  —  Hypothetische  und  absolute  Kothwendigkeit  199.  — 
Comparative  und  strenge  Allgemeinheit  201.  —  Beispiele 
202.  —  Tafel  der  ürtheilsarten  203.  —  Subjective  und  ob- 
jective  Allgemeinheit  204.  —  Der  besondere  Erkenntniss- 
quell des  Apriori  205.  —  Nothwendigkeit  und  Allgemein- 
heit, die  Kriterien  des  Apriori  206.  —  Ein  Druckfehler  209. 

—  Beispiele  des  Apriori:  Mathematik  210.  —  CausaJitäts- 
gesetz  211.  —  Zweierlei  Bedeutungen  von  „Rein**  211.  — 
Der  Causalbe griff  213.  —  Unterschied  der  „Nothwendig- 
keit** beim  Causal begriff  und  beim  Causalitätsgesetz 
213.  —  Nothwendigkeit  des  Apriori  für  die  Gewissheit  der 
Erfahrung  215.  —  Der  prägnante  Begriff  der  „Erfahrung** 
als  Basis  der  Kr.  d.  r.  Y.  219.  —  Apriorisch-deductiver 
Erweis  des  Apriori  221.  —  Apriorische  Begriffe:  Raum, 
Substanz  224.  — 

Anhang:  Uebersicht  der  apriorischen  Besitsthümer  224. 


Inhalt.  501 

Seite 
Controyerse  ttber   den   logischen  Zusammenhang  der  £in- 

leitong,  über  Voraassetznng  und  Problem  225.  —  Unter- 
schied der  beiden  Redactionen  227.  —  Logische  Analyse  229. 

(III.)  Erklärung  von  A,  S.  2—6  =  B,  Abschnitt  III. 

N othweBdigkeit  einer  Theorie  des  Apriori    ...     229  -  253 

üebergang  229.  —  Verstand  und  Vernunft  230.  —  Gott,  Frei- 
heit und  Unsterblichkeit  230.  —  Die  Endabsicht  der  Meta- 
physik 281.  —  Immanente  und  transscendente  Metaphysik 
232.  —  Das  Bild  vom  „Gebäude"'  der  Metaphysik  233.  — 
Verhältniss  zu  Descartes  237.  —  Nothwendigkeit  einer 
Theorie  des  Apriori  und  Gründe  bisheriger  Unterlassung 
derselben  237.  —  Kants  Anspruch  auf  die  Neuheit  seiner 
Untersuchung  238.  —  Motive  der  Transscendenz  289.  — 
Die  Mathematik,  das  Vorbild  der  Metaphysik  240.  —  Kants 
mathematische  Vorliebe  242.  —  Hauptunterschied  der  Ma- 
thematik und  Metaphysik:  Die  Anschauung  243.  —  Das 
Bild  von  der  „Taube"  244.  —  Die  „Flügel  der  Ideen"  244 

—  „AUitu  volantem  areuit**  247.  —  Der  „leere  Raum"  des 
Verstandes  247.  —  Die  analytische  Zergliederung  der  Be- 
griffe 249.  —  Verwechslung  analytischer  mit  synthetischen 
Erkenntnissen  250.  —  Üebergang  258. 

(IV.)  Erklärung  von  A,  S.  6—10  =  B,  Abschnitt  IV. 

Unterseliied  analytischer  und  synthetiseiier  Urtlieile     258  —  292 

Specialliteratur  258.  —  Üebergang  254.  —  Identische,  analy- 
tische und  synthetische  Urtheile  254.  —  Beispiele  255.  — 
Definitionen  der  analytischen  und  synthetischen  Urtheile 
258.  -  Die  beiden  Kriterien  260.  —  Eintheilung  der  Ur- 
theilsarten  nach  den  Begriffsmerkmalen  262.  —  Tafel  264. 

—  Verhältniss  des  Analytischen  und  Synthetischen  zum 
Unterschied  von  Logisch  und  Real  265.  —  Weitere  Merk- 
male 266.  —  Terminologie  von  „analytisch"  und  „synthe- 
tisch" 267.  - 

Exenrs:  Entwicklung  der  Unterscheidung  von 
analytischen  und  synthetischen  Urtheilen  bei 
Kant  (von  1755-1781)  269-276.  —  Entwicklung  der  Ter- 
minologie-, Widersprüche  276.  — 

Synthetisches  Urtheil;   „alle  Körper  sind  schwer"  278. 

—  Der  vermittelnde  Factor,  das  „Dritte"  =  X  279.  — 
Die  Erfahrungsurtheile  sind  synthetisch  280.  —  Die  Apriori- 
tät  der  analytischen  Urtheile:  Widerspruch  Kants  281.  — 
Analytische  Urtheile  und  der  Satz  des  Widerspruchs  283. 

—  Die  synthetischen  Urtheile  a  posteriori  und  a  priori 
285.  —  Combination  möglicher  Urtheilsarten  286.  —  Be- 
griff, Entdeckung  und  Bedeutung  des  83mthetischen  Urtheils 
a  priori  287.  —  Urtheile  darüber  von  Gegnern  und  An- 
hängern 289.  —  Das  „Geheimniss"  der  synthetischen  Ur- 
theüe  a  priori  890.  -  Die  „Alten"  292, 


502  Inhalt 


Seite 


(V.)  Erklärung  von  B,  Abschnitt  V. 

Tbatsichlicher  Besitz  sjnthetisoher  Urtheile  a  priori     292  -  814 

Uebergang  292.  — •  I.  Mathematik.  Literatnr  293.  —  Mathe- 
mathische GrandsätKe  und  Folgesätze:  scheinbarer  Wider- 
spruch 294.  —  „Reine''  Mathematik  295.  —  a)  Arithmetik. 
Der  Satz:  7  -f  5  =  12  295.  —  Zuhilfenahme  der  Anschau- 
ung und  der  „Finger"  298.  —  b)  Geometrie.  Begriff  und 
Anschauung  300.  —  Der  Satz  von  der  geraden  Linie  301. 
Rolle  analytischer  Grundsätze  in  der  Mathematik  302.  — 
Umstellung  im  Text  303.  — 

II.  Naturwissenschaft.  Doppelter  Sinn  von  „reiner 
Naturwissenschaft*':  relativer  und  absoluter  Sinn;  Verwir- 
rung Kants;  nothwendige  Textcorrectur  304—310.  —  Die 
Beispiele;  Ks.  „naturwissenschaftliches  Vorurtlieil"  310.  — 

III.  Metaphysik.  Doppelsinn  von  Metaphysik:  im- 
manent und  transscendent  311.  —  Synthetische  Sätze  a  priori 
in  der  Metaphysik  312.  —  Werthlosigkeit  der  Analysis  313. 

—  Vernachlässigung  der  empiristischen  Metaphysik  314. 

(VI.)  Erklärung  von  B,  Abschnitt  VI. 

Notliwendlglcoit  einer  Theorie  der  syntlietischen  Er- 

kenntniss  a  priori      814  —  3^4 

Die  „Aufgabe  der  reinen  Vernunft"  314.  —  Die  allgemeine 
Formel  der  Principalaufgabe  315.  —  Sinn  des  Hauptpro- 
blems: Wie  sind  synthetische  Urtheile  a  priori 
möglich?  316.  —  1)  Andere  Formeln  bei  Kant  317.  — 
2)  Aeusserungen  Kants  über  die  Wichtigkeit  und  Schwie- 
rigkeit des  ^Hauptproblems"  318.  —  3)  Urtheile  Anderer 
über  die  Tragweite  der  Frage  319.  —  4)  Verschiedene  ein- 
seitige Auslegungen  des  Hauptproblems  320.  —  Die  Literatur 
322.  —  Psychologische  und  erkenn  tniss  theo  retische  Auf- 
fassung; Transscendentalpsychologie  323.  —  5)  Das  Haupt- 
problem bei  den  Nachkantianern;  bei  Fichte^  Schelling^ 
Hegel  325  —  bei  Schopenhauer^  Herbart^  Fries^  Beneke  326. 
6)  Controverse  über  Sinn  und  Entwicklung  des  Hauptpro- 
blems: Die  ursprüngliche  Formel  und  die  Umformung;  das 
Problem  der  Apriorität  und  das  Problem  der  Synthesis; 
Bedeutung  des  Synthetischen  im  Hauptproblem;  Entwick- 
lungsphasen des  synthetischen  Urtheils ;  voller  Sinn  d.  Haupt- 
problems 327—334.  —  7)  Weitere  Bemerkungen  zum  Haupt- 
problem 334.  —  Das  ^nene  Problem";  Vorgänger  in  der 
Problemstellung  335.  —  Nothwendigkeit  einer  „neuen  Wis- 
senschaft" 336.  —  Neuheit  des  Unterschieds  der  analyti- 
schen und  synthetischen  Urtheile;  etwaige  Vorgänger  337. 

—  Das  n  Stehen  und  Fallen"  der  Metaphysik^  abhängig  von 
der  Beantwortung  des  Hauptproblems  339.  — 

Harne  als  Vorgänger  in  der  Problemstellung;  Hume*s 
Causalitätstheorie   nach   Kant   340*   --   Der  «dogmatiBche 


iBkalt.  508 

Seite 
Schlammer^ :  Home's  ,»£riniierang^  im  VerhältnisB  zu  der 

„Erweckung''  durch  die  Antinomien  348.  —  Die  iwei  ganz 
verschiedenen  Fassungen  des  sog.  „Hum^'sehen  Problems**: 
die  „Nothwendigkeif*  nnd  das  „Hinausgehen**  beim  Causal- 
urtheil  und  beim  Causalitätsgesetz  344.  —  Die  „Er- 
weckung aus  dem  dogmatischen  Schlummer**  durch  Hume 
zuerst  1762,  dann  1772,  nicht  1769;  die  Gontroverse  über 
die  Zeit  der  Einwirkung  347.  —  Die  Hume'schen  Pro- 
bleme*, grosse  Verwirrung  Kants  848.  -^  Caüsal  begriff 
und  Causalurtheil  einerseits,  Causalitätsgesetz  anderer- 
seits: Kategorien  und  Grundsatze  851.—  Das  Problem  der 
synthetischen  Urtheile  a  posteriori:  die  „Erfahrungs- 
urt heile**;   Verwirrung  bei  Kant  und  den  Kantianern  852. 

—  Nothwendige  Ergänzung  der  Kantischen  Einleitung  855. 

—  Selbstzeugnisse  Kants  für  das  Problem  der  synthetischen 
Urtheile  a  posteriori  855.  —  Sprengung  der  Einleitung 
durch  Kant  selbst  857.  —  Resultat  357.  ~  Literatur  über 
die  Frage  nach   der  Möglichkeit  der  Erfahrung  858.  — 

Hume's  subjective,  Kants  objective  Koth wendigkeit  859. 

—  Hume's  Theorie  der  Mathematik  861.   — -  Das  Haupt- 
problem in  erweiterter  Anwendung  364.  —   Ausdehnung  • 
der  beiden  Hume'schen  Probleme  auf  Ethik  und  Aesthetik 
865.  —  Mathematik,  Naturwissenschaft  und  Metaphysik  366. 

—  Bisheriger  schlechter  Fortgang  der  Metaphysik  867.  — 
Metaphysik  als  „Naturanlage**  und  „Bedürfniss**  869.  — 
Schwierigkeiten  der  Vertheilung  der  vier  Fragen  auf  die 
T heile  der  Kritik  871.  —  Unklarheit  der  Fragen  nach 
der  Möglichkeit  der  Metaphysik  878.  —  Möglichkeit  der 
immanenten,  Unmöglichkeit  der  transscendenten  Metaphysik 
375.  -*  Falscher  Begriff  von  „synthetisch  a  priori**  und 
„Metaphysik**  bei  Fischer;  Co  Ordination  der  Mathematik 
mit  der  Metaphysik:  Anordnung  der  Fragen  in  den  Pro- 
legomena  878.  —  Subjectivistisclie  Wendung  Kants  882.  — 
Möglichkeit  transscendenter  Metaphysik  auf  ethischer  Basis 
388.  —  Das  dogmatische  Verfahren  883.  — 

Anhang  zn  Abgelmltt  Y  nnd  YI  nnd  Exenrs  .    .    .     884  —  450 

Aeusserlicher  Unterschied  der  beiden  Redactionen  384.  —  Keine 
sachliche  Aenderung  des  Sinnes ,  kein  Unterschied  im 
„Hauptzweck**  884.  —  Gontroverse  über  die  Aenderung  des 
methodischen  Gedankenganges  in  der  II.  Aufl.  Erweiterung 
dieser  Streitfrage  386.  —  Status  cantroversiae  387.  — 

Methodologische  Analyse  der  Kr»  d«  r.  Y. 

A.  Inhalt  der  Kantischen  Problemstellung.  §  1.  Das 
„Conformitätsproblem**  im  Jahre  1772;  Frage  nach  dem 
Grund  der  Gültigkeit  des  Apriori  888.  —  $  2.  Dasselbe 
Problem  in  der  Kr.  d.  r.  V.  Kant  will  die  Gültigkeit  des 
Apriori  erklären.    Erster  Sinn  des  Hauptproblems  390. 

—  Dasselbe  Problem  in  den  Prolegomena  39i2.  —  Die  Gül- 


504  ^^•^^ 

tigkeit  des  Apriori  als  „Räthsel^,  als  ftnUtlietlMkei  Pro- 
blem: die  paradoxe  Thatsache  nnd  ihre  Erkliknmg  893.  — 
Verkennangen  der  Frage  nach  dem  War  am  der  Gültigkeit 
394.  —  S  3.  Skeptische  Bezweifelang  eines  gültigen  Apriori: 
Frage  nach  dem  Dass  der  Gültigkeit;  K.  will  die  Gültigkeit 
des  Apriori  beweisen  („retten^).  Zweiter  Sinn  des  Haapt- 
problems  395.  —  Die  Gültigkeit  des  Apriori  wird  aas  einem 
absoluten  za  einem  hTpatbetiseheB  Problem  397.  —  Das 
Schwanken  Kants  zwischen  Erklärang  and  Beweis  der 
Gültigkeit  des  Apriori  398.  —  S  4.  Dasselbe  Schwanken  bei 
K.  Fischer;  Homonymien  400.  —  Dasselbe  Schwanken  bei 
Riehl  403.  —  S  5.  Dritter  Sinn  des  Hauptproblems:  Kant 
will  Erkenntniss  a  priori  erwerben :  das  metbedologlsebe 
Problem  403.  —  Das  Lösangsprincip,  die  „Möglichkeit  der 
Erfahrang**  407.  —  Die  Mehrheit  der  Probleme  and  der 
Resultate:  Rationalismus  und  Grenzbestimmang408.  — 
Durchkreuzung  des  Problems  der  Gültigkeit  des  Apriori 
durch  das  Problem  der  Synthesis:  das  Doppelräthsel 
im  Hauptproblem  410.  —  S  6.  Resultat  und  Entschei- 
dung der  Controverse  zwischen  Fischer  und  seinen  Gegnern 

411.  - 

B.  Methode  der  Kantischen  Problemlösung. 
Uebergang  412.  —  §  7.  Unterschied  der  synthetischen  und 
der  analytischen  Methode :  Kritik  d.  r.  Y.  und  Prolegomena 

412.  —  S  8.  Entscheidung  der  Controverse:  a)  Nothwendig- 
keit,  die  analytische  Methode  aus  der  wissenschaftlichen 
Darstellung  auszuschliessen  (gegen  K.  Tischer)  413.  —  S  9. 
b)  Die  Einleitung  6  enthält  keine  analytische  Verschiebung 
415.  —  S  10.  Zwei  verschiedene  analytische  Methoden: 
mathematische  und  naturwissenschaftliche  417.  ^  Ver- 
wechslung beider  bei  Kant,  dadurch  Verwirrung  in  den 
Prolegomena;  Verhältniss  dieser  zur  Kr.  d.  r.  V.  419.  ~ 
§11.  Die  Streitfrage  über  Kants  methodischen  Gedanken- 
gang in  England  422.  — 

G.  Die  Prämissen  (Voraussetzungen) der  Kritik 
d.  r.  V.  —  S  12.  Dogmatisches  Vorurtheil  Kants  425.  — 
Erste  Hauptprämisse:  Koth wendigkeit  u.  Allgemeinheit 
stammeb  aus  der  Vernunft  426.  —  Zweite  Hauptprämisse: 
der  prägnante  Begriff  der  „Erfahrung^;  Rolle  beider  Prä- 
missen 427.  —  S  13.  Literatur.  Verwechslungen,  bes.  der 
subjectiven  Apriorität  mit  der  objectiven  Gültigkeit  428.  — 
Unterschied  definitiver  Prämissen  und  provisorischer  Voraus- 
setzungen; Kants  eigene  Unklarheit  429.  —  S  14.  Die  üb- 
rigen Voraussetzungen  Kants:  psychologische,  logische  und 
metaphysische  Lemmata  430.  —  S  15.  Kants  „apriorische, 
kritische,  transscendentale**  Methode  432.  —  $  16.  Notli- 
wendigkeit  und  Schwierigkeit  einer  ezacten  methodolo- 
gischen Analyse  der  Kr.  d.  r.  V.  433.  -- 

D.    Das  Problem   der  Erfahrung.     S   17.    Neue 


Seite 


Inhalt.  505 

Belte 
Schwierigkeiten.   Verhältniss  dieses  Problems  zum  Problem 

synthetischer  Urtheile  a  priori  433.  —  8  18..  Die  methodische 

Problemconversion :  dieCorrelation  beider  Probleme  434. 

—  Verwechslung  beider  Probleme  bei  Kant  435.  —  S  lö. 
Das  Problem  der  Erfahrung  als  dreigliedriges:  Erklä- 
rung, Beweis,  Methode;  Cohen  und  Kant  437.  —  §  20.  Ver- 
zwicktheit der  Argumentation :  Vertauschung  yon  Prämisse 
und  Problem  439.  —  Circulua  vitiosusf  440.  —  §  21.  Die 
Correlation  des  Erfahrungsproblems  wird  zur  Co  Ordi- 
nation 441.  —  Gründe  dazu  441.  —  Correctur  der  Kanti- 
schen Einleitung:  das  Problem  der  synthetischen  Urtheile, 
sowohl  a  priori  als  a  posteriori  443.  —  S  22.  Verwirrung 
in  der  bisherigen  Literatur  444.  —  §  23.  Das  Problemge- 
flechte der  Kr.  d.  r.  V.  Falsche  und  richtige  Methode  der 
Auflösung  desselben  448.  — 

(Vn.)  Erklärung  von  A,  S.  10—16  =  B,  Abschnitt  VII. 

Idee  und  SintheilnBg  der  ,,Kritik  der  reinen  Yemunft''     450—496 

Die  „Idee"  einer  Kr.  d.  r.  V.  450.  —  „Rein",  „Vernunft",  „reine 
Vernunft",  schwankende  Bedeutung  dieser  Termini  451.  — 
Der  Doppelsinn  des  Titels  453.  —  Literatur  zum  Titel,  Kritik 
desselben  455.  —  Tafel  der  Bedeutungsmöglichkeiten  des 
Titels  456.  —  Doppelsinn  von  „Kritik" ;  das  historische 
Vorurtheil  der  rein  negativen  Auffassung  456.  —  Erweite- 
rungen der  Bedeutung  des  Titels  bei  Kant  457.  —  Nach- 
ahmungen des  Titels  458.  —  „Reine  Vernunft"  als  unbe- 
wiesene Voraussetzung  Kants  458.  —  Schwankendes  Ver- 
hältniss von  „Kritik",  „Ürganon",  „Kanon",  „System"  u.  s.  w. 
459.  —  „Erwerbung"  der  Erkenntniss  a  priori  462.  —  Frage 
nach  Ursprung,  Inhalt,  Gültigkeit  und  Grenzen  der  Ver- 
nunft^ Doppeltendenz  des  Kriticismus  463.  —  Kritik  als 
„Propädeutik"  zu  einem  System  der  Metaphysik?  464.  — 
Nur  „negativer  Nutzen"  der  Kritik?  466.  —  Sinn  von  „trans- 
scendentaler  Erkenntniss"  =  Theorie  des  Apriori;  andere 
Bedeutungen  467.  —  Enorme  Inconsequenz  Kants  in  der 
Benennung  der  Theile   der  „transscendentalen"  Kritik  468. 

—  Unterschied  von  A  und  B  469.  —  Irrthümliche  Aus- 
legung von  „transscendental"  durch  Cohen  470.  —  Trans- 
scendentalphilosophie  und  ihr  Verhältniss  zum  System  d. 
r.  V.  472.  —  Schwanken  Kants,  Normaldarstellung  474.  — 
„Erweiterung",  „Berichtigung",  „Begrenzung"  der  Erkennt- 
niss 475.  —  Nicht  Untersuchung  der  Dinge,  sondern  des 
Verstandes  476.  —  Nur  Theorie  des  Apriorischen?  Keine 
„Kritik  der  Erfahrung"?  476.  —  „Nicht  eine  Kritik  der 
Bücher";  Maassstab  für  „kritische"  Geschichtschreibung? 
477.  —  „Architektonisch";  „Idee"  eines  Systems  479.  — 
Analysis  und  Ableitung  im  „System"  480.  —  Schwankendes 
Verhältniss  von  „Kritik"  und  „Transscendentalphilosophie" 
481.  —  Ausschluss  der  Moral?  483.  — 


506  Inhalt. 

Seite 

Die  Eintheilungsgründe  der  Kritik  484.  —  „Gemein- 
schaftliche^ aber  unbekannte  Wurzel  von  Sinnlichkeit  und 
Verstand";  historische  und  systematische  Bedeutung  der 
Stelle  485.  —  Moderne  Auffassungen  487.  —  Monistische 
Tendenz  Kants  487.  —  Kritik  durch  Hamann  und  Herder 
488.  —  Verhältniss  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  bei 
Kant  489.  —  Ihre  dualistische  Unterscheidung  als  Voraus- 
setzung Kants  491.  —  Ein  Gedächtnissfehler  Kants  bezüg- 
lich der  Stellung  der  Transscendentalen  Aesthetik  in  dem 
Eintheilungsschema  der  Kr.  d.  r.  V.  492.  — 

Schlussbemerkungen:  Die  Fundamentalpositionen 
der  Einleitung-,  L  Definitionen^  IL  Axiome,  III.  Facta  494. 
—  Abfassungszeit  der  Einleitung  A  495. 


i 


Oorrigenda. 


n 

n 


Seite  18,  Linie  3  toxi  unten  lies  „Desdouits**  statt  „Desduits^. 

„     21,     „     13    „     oben.    Von  K.  Fischers  Werk  erscheint  1882  eine  dritte 

Auflage.    (Die  Citate  in  dem  vorliegenden  Bande 
geben  noch  die  Seitenzahlen  der  2.  Aufl.  an.) 
21,     „     19    „         „       Cohens  Werk  erschien  1871,  nicht  1873. 
70,     „     19    „         y,       lies  „des  letzten  Bandes**  statt  „dieses  Bandes". 

78,  „    31     „         r,        n     „geistlichen**  statt  „geistigen**. 

79,  „     10    „         „        „     „1778**  statt  „1787**   und  dementsprechend   ib. 

Linie  12:   „und  auf  welche  offenbar  Ks.  Wid- 
mung anspielt**. 

99,     „      1     „         „        „     „A  IV**  statt  „A  VI". 
128,     „      6    „     unten     „     „i.  D.«  statt  „i.  d.** 
134,     „     11     „     oben       „     „1764**  statt  „764**. 
206,     „     11     „     unten      „     „Versuche,  I**. 
220,     „      2    „         „        „     „442**  statt  „405". 
253,     „     10    „    oben       „     „den**  statt  „der**. 
804,     „      1    „       „  „     „B  17**  statt  „B  71". 

312,     „      6    „     unten     „     „der"  statt  „dem". 
396,     „     14    „        „         „     „13"  sUtt  „11". 


« 

» 
n 
n 


Infolge  der  Aufforderung  am  Schluss  der  Vorrede  pag.  XIII.  XIV 
zum  Ersten  Bande  meines  Kant-Commentars  sind  mir  seit  Erscheinen  der 
Ersten  Hälfte  desselben  aus  dem  In-  und  Auslande  sehr  zahlreiche,  die  Kantische 
Philosophie  betreffende,  Zusendungen  (nebst  brieflichen  Mittheilungen,  Nach- 
trägen, Anfragen  u.  s.  w.)  zugegangen.  Dies  ermuthigt  mich  zur  ausdrück- 
lichen Wiederholung  jener  Bitte,  mit  der  Bemerkung,  dass  ich  nicht  bloss 
die  Verfasser  von  separat  erscheinenden  Schriften,  sondern  auch  insbesondere 
von  schwerer  zu  beschaffenden  Arbeiten  (Dissertationen,  Programmen,  Journal- 
aufsätzen,  grösseren  oder  kleineren  Becensionen  u.  s.  w.)  um  gefällige  Eis- 
Sendung  derselben  ersuche:  da  nur  auf  solche  Weise  die  wünschenswerthe 
und  programmgemässe  Vollständigkeit  in  der  Hereinarbeitung  der 
Literatur  zu  erreichen  ist. 

Diese  Bitte  erstreckt  sich  auch  auf  Arbeiten  aus  früherer  Zeit, 
und  besonders  auf  die  ausser  deutschen  Autoren. 

Eventuell  sich  ergebende  Doubletten  werde  ich  der  Bibliothek  des 
hiesigen  Philosophischen  Seminars  übermachen ,  oder  auf  Wunsch  retoumiren. 

Die  Eingänge  und  Mittheilungen  jeder  Art  werde  ich  in  den  Vorreden 
zu  den  folgenden  Bänden  dankend  registriren. 

Zusendungen  bitte  ich  an  mich  (Universität  Strassburg  i.  E.)  oder  an 
die  Verlagshandlung  (W.  Spemann  in  Stuttgart)  zu  richten. 

H.  VaUunger. 


COMMENTAE 


ZU 


KANTS 


KRITIK  DER  REINEN  VERNUNFT. 


ZUM  HUNDERTJÄHRIGEN  JUBILÄUM  DERSELBEN 


HERAUSGEGEBEN 

VON 


Dr.  H.  VAIHINGER, 

A.  0.  PROFESSOR  DEE  PHILOSOPHIE  AN  DER  UNIVERSITÄT  HALLE. 


Die  Sehrißen  KanVs  sind  doch  eintnal  der  Codex,  i 

den    man  nie    in  philosophischen   Angelegenheiten,    so  j 

wenig  als  das   Corpus  Juris    in  juristischeft  aus  der 

Ilaud  legen  darf. 

W,  V.  Humboldt, 


ZWEITER  BAND. 


"»-i-i- 


STUTTGART,  BERLIN,  LEIPZIG. 

UNION  DEUTSCHE  VERLAGSaESELLSCHAPT. 

1892. 


ItHE  NEW  YORK 

PUBLIC  LIBR^ 


ANO 

tüUNOATIONS. 

1898. 


Das  Uebersetzungsrecht  in  fremde  Sprachen  vorbehalten. 


Druck  der  Union  Deutsche  Verlagsgesellscbaft  in  Stnttgaxt. 


Vorwort. 


Grösser,  viel  grösser  als  ich  einst  dachte,  ist  die  Pause  zwischen, 
dem  Ersten  und  dem  Zweiten  Bande  dieses  Commentars  geworden. 
Nicht  die  Ausdehnung  und  Schwierigkeit  der  Arbeit  selbst  waren  es 
jedoch  eigentlich,  welche  der  Fortsetzung  hindernd  im  Wege  standen, 
sondern  äusserliche  Umstände,  in  erster  Linie  die  zeitraubende  und 
kraftabsorbirende  academische  Lehrthätigkeit.  Die  Sammlung  des  Ma- 
terials hat  in  der  Zwischenzeit  nie  geruht,  wovon  ja  auch  gelegent- 
liche Veröffentlichungen  Kunde  gaben.  Die  eigenthche  Ausarbeitung 
dieses  Bandes  hat  aber  kaum  zwei  Jahre  in  Anspruch  genommen. 
Das  Erscheinen  dieses  Bandes  hat  übrigens  der  Setzerausstand  des 
vorigen  Jahres  noch  um  ein  halbes  Jahr  verzögert. 

Ich  bin  Optimist  genug,  um  zu  hoffen,  dass  diese  lange  Pause 
dem  zweiten  Bande  nicht  geschadet,  sondern  nur  genützt  habe.  Ein- 
mal erwächst  daraus  der  grosse  Vortheil,  dass  die  Literatur  bis  auf 
den  heutigen  Tag  berücksichtigt  werden  konnte ;  und  gerade  die  letzten 
10  Jahre  haben  vieles  werthvoUe  Material  gebracht.  Ich  erwähne  die 
von  B.  Erdmann  herausgegebenen  und  musterhaft  bearbeiteten  „Re- 
flexionen Kants  zur  Kr.  d.  r.  V.";  die  von  Reicke  zugänglich  ge- 
machten Inedita:  das  üptts  postumum,  die  Losen  Blätter  aus  Kunts 
Xachlass,  die  17  Briefe  von  Beck  an  Kant;  die  von  Dilthey  in  Rostock 
ausgegrabenen  Stücke:  die  8  Briefe  Kants  an  Beck  und  die  Abhand- 
lung Kants  gegen  Kästner,  die  Lehre  vom  Raum  betreffend;  ich  er- 
wähne femer  die  neue  Ausgabe  der  Kr.  d.  r.  V.  von  Adickes.  Femer 
brachten  die  Zwischenjahre  die  neuen,  theilweise  wesentlich  umgearbei- 
teten Auflagen  der  Kantwerke  von  K.  Fischer,  Cohen,  Caird;  so- 
dann erläuternde  Beiträge  von  Adickes,  Drobisch,  B.  Erdmann, 
Hegler,  Münz,  Riedel,  Thiele,  von  Cesca,  Morris,  Wallace 
und  vielen  Anderen.  Auch  waren  in  der  Zwischenzeit  die  Freunde 
der  Kantischen  Philosophie  nicht  müssig :  speciell  die  Transsc.  Aesthetik 
und  die  mit  ihr  zusammenhängenden  Lehren  fanden  Fortbildung  durch 
Bilharz,  Böhringer,  Classen,  Dorner,  Heymans,  König, 
A.  Krause,   Lasswitz,   Mainzer,   Michaelis,   0.  Schneider, 


IV  Vorwort.. 

Stadler,  Staudinger,  Witte  u.  A.;  aber  auch  die  Gegner  der 
Blantischen  Philosophie  ruhten  nicht:  für  unsere  Aufgabe  kommen  be- 
sonders in  Betracht  Bergmann,  Bolliger,  Laas,  Stumpf,  sowie 
die  „Kritik  der  Kantischen  Philosophie"  von  K.  Fischer.  Endlich 
verdanken  Wundts  System  der  Philosophie  und  der  Schlussband  von 
Riehls  Philos.  Kriticismus  derselben  Zeit  ihre  Entstehung.  Die 
Hereinarbeitung  all  dieser  (und  vieler  anderer)  neuer  Erscheinungen 
dürfte  den  Werth  des  Werkes  erhöht  haben,  so  dass  die  Verzögerung 
demselben  nach  dieser  Seite  hin  nur  zu  Gute  gekommen  ist. 

Hat  so  die  Verzögerung  des  Werkes  zu  einer  materiellen  Be- 
reicherung desselben  geführt,  so  hat  dieselbe  auch  —  wenigstens  wünscht 
und  hofft  der  Verfasser,  dass  man  das  finden  möge  —  dem  Werke  zur 
formellen  Vervollkommnung  gedient.  Zehn  Jahre  dürfen  doch  an  einem 
Autor  nicht  spurlos  vorübergehen.  Dem  Ersten  Bande  konnte  nicht 
mit  Unrecht  vorgeworfen  werden,  dass  der  Stoff  nicht  überall  gleich 
zweckmässig  disponirt  sei,  dass  hie  und  da  auf  Unwesentliches  zu  viel 
eingegangen  sei,  dass  der  Commentar  zu  wenig  zusammenhängende 
Erörterungen  biete.  HoffentUch  findet  der  Leser,  dass  in  allen  diesen 
Punkten  der  vorliegende  Band  einen  Fortschritt  aufweise  und  sich  dem 
im  Vorwort  zum  Ersten  Bande  entworfenen  Ideale  eines  Kantcommentars 
etwas  mehr  annähere. 

Auf  Sigwarts  freundlichen  Bath  hin  habe  ich  in  diesem  Bande 
vor  Allem  mehrere  zusammenhängende  Excurse  eingeschoben,  um  ins- 
besondere dem  dritten  jener  berechtigten  Einwände  zu  begegnen.  Zwar 
setzt  auch  dieser  Band  am  Anfang  zunächst  mit  vielen  Einzelerklärungen 
der  von  Kant  in  seiner  Einleitung  selbst  neu  eingeführten  Begriffe  ein 
(S.  1 — 130);  aber  die  etwas  ermüdende  Breite  dieser  doch  nicht  zu 
umgehenden  vorläufigen  Einzelerörterungen  wird  doch  unterbrochen 
durch  zusammenhängende  Abhandlungen  über  ebenso  wichtige  als  auch 
interessante  Punkte,  so  S.  35 — 55  durch  den  Excurs  über  das  Punda- 
mentalproblem  der  afficirenden  Gegenstände,  S.  69 — 79  durch  die  Dis- 
cussion  über  die  grundlegenden  Prämissen  der  Transsc.  Aesthetik. 
S.  89 — 101  durch  den  Excurs  über  die  vielbehandelte  Frage,  wie  sich 
Kants  Apriori  zum  Angeborenen  verhalte?  Mit  S.  130  schliessen  diese 
mehr  formellen  Einleitungsfragen  und  beginnt  die  eigentliche  sachliche 
Discussion:  „was  sind  nun  Raum  und  Zeit?"  Der  Excurs  über  die 
dabei  mögUchen  Fälle  (S.  134 — 151)  behandelt  eine  der  wichtigsten 
und  zugleich  reizvollsten  Kantcontroversen,  und  wenn  auch  gegen  Tren- 
delenburgs  bekannte  ,,dritte  Möglichkeit"  formelle  Einwände  gemacht 
werden  mussten,  so  behält  derselbe  sachlich  doch  Recht,  ja  der  Vor- 
wurf, Kant  habe  nicht  alle  Möglichkeiten  berücksichtigt,  wurde  noch 
erweitert.  Damach  folgt  S.  156 — 253  die  specielle  Erörterung  der  fünf 
resp.  vier  berühmten  Kantischen  Raumargumente,  wobei  auf  deren  detail- 
lirte  logische  Analyse  der  Hauptwerth  gelegt  wurde;  auf  diese  Weise 
suchte  der  Commentar  die  vielen  Streitigkeiten  über  den  Sinn  der  ein- 
zelnen Argumente  (insbesondere  zwischen  Trendelenburg  und  K.  Fischer) 
zur  Entscheidung  zu  bringen.  Der  Excurs  über  den  Raum  als  un- 
endhche  gegebene  Grösse  (S.  253 — 261)  bot  Gelegenheit,  Dilthey's 
oben  erwähnten  wichtigen  Kantfund  zu  verwerthen.     Die  Erläuterung 


Vorwort-  V 

der  Transsc.  Erörterung  (S.  203—286)  suchte  ein  vielumstrittenes  Ge- 
biet von  Missverständnissen  zu  befreien,  an  denen  Kants  eigene  Ver- 
wechslung des  Problems  der  reinen  und  der  angewandten  Mathematik 
schuldig  ist  5  die  Aufdeckung  dieser  durchgängigen  und  verhängniss- 
vollen Verwechslung  betrachtet  dieser  Band  als  eine  seiner  Hauptauf- 
gaben. Die  Analyse  der  „Schlüsse  über  den  Baum"  schloss  die  Auf- 
gabe ein,  den  berühmten  Streit  zwischen  Trendelenburg  und  K.  Fischer 
zur  definitiven  Entscheidung  zu  bringen  (S.  290 — 326)-,  die  Manen 
Trendelenburgs  werden  mit  derselben  zufrieden  sein.  Ebendaselbst  war 
der  Ort  für  eine  ebenso  fundamentale,  aber  mehr  formelle  Untersuchung, 
in  welcher,  nach  genauer  Unterscheidung  der  Prämissen  und  der  eigent- 
lichen Beweisgänge  der  Transsc.  Aesthetik,  die  Rolle  der  Mathematik 
in  derselben  festgestellt  werden  musste  —  also  eine  vollständige  methodo- 
logische Analyse  der  Transsc.  Aesthetik  (S.  329—  342),  eine  Portsetzung 
und  Bewährung  der  schon  Band  I,  S.  384—450  gegebenen  allgemeinen 
methodologischen  Analyse  der  ganzen  Kr.  d.  r.  V.  Mit  diesen  „Schlüssen" 
haben  wir  den  Höhepunkt  der  Kantischen  Argumentation  erreicht;  was 
folgt,  sind  Ausführungen,  Bestätigungen  und  Recapitulationen.  Auf 
den  Parallelabschnitt  über  die  Zeit  (S.  368 — 410),  der  indessen  doch 
nicht  etwa  bloss  das  über  den  Raum  Gesagte  wiederholt,  folgt  die  Er- 
örterung der  allgemeinen  Resultate  der  Transsc.  Aesthetik  (S.  410— -441), 
woran  sich  ein  Excurs  über  die  historische  Entstehung  der  Kantischen 
Raum-  und  Zeitlehre  anschUesst  (S.  422 — 436),  für  dessen  Anregung 
ich  B.  Erdmann  Dank  auszusprechen  habe.  Die  Erläuterung  der  „All- 
gemeinen Anmerkungen"  (S.  441 — 516)  hatte  noch  mit  vielen  formellen 
Unklarheiten  und  sachlichen  Schwierigkeiten  der  Kantischen  Darstel- 
lung zu  kämpfen,  konnte  aber  wenigstens  in  dem  Excurs  über  Kant 
und  Berkeley  (S.  494 — 505)  Kants  Ablehnung  des  Vergleiches  seiner 
Lehre  mit  der  Berkeley'schen  bestätigen.  Der  Anhang  über  das  Para- 
doxon der  symmetrischen  Gegenstände  (S.  518 — 532)  wird  als  nicht  un- 
willkommene Ergänzung  erscheinen,  ebenso  die  Aufzählung  der  Special - 
literatur  (S.  533 — 548),  besonders  zu  den  Eberhard'schen  Streitigkeiten 
und  zu  der  Controverse  zwischen  Trendelenburg  und  K.  Fischer. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  überall  hiebei  die  hauptsächliche 
Literatur  eingehend  berücksichtigt  wurde ;  ebenso  selbstverständlich  ist 
aber  auch,  dass  dabei  sehr  oft  an  den  bisherigen  Auffassungen  scharfe 
Kritik  geübt  werden  musste.  Es  ist  mir  deshalb  ein  Bedürfniss,  hier 
im  Voraus  die  generelle  Erklärung  abzugeben,  dass  ich  auch  den  Werken 
derjenigen  Autoren,  die  ich  oft  hart  bekämpfen  musste,  tiefsten  Dank 
schulde.  Solchen  Dank  spreche  ich  Männern  wie  Cohen,  B.  Erd- 
mann, K.  Fischer,  Riehl,  Stadler,  Thiele,  Volkelt,  Windel- 
band sehr  gerne  aus.  Insbesondere  aus  den  um  Kant  so  verdienten 
Werken  von  B.  Erdmann  und  A.  Riehl  habe  ich  so  vieles  gelernt, 
dass  es  mich  drängt,  dieselben,  da  ich  sie  im  Werke  selbst  oft  auch 
bekämpfen  musste,  an  dieser  Stelle  als  diejenigen  zu  nennen,  denen  der 
Commentar  und  sein  Verfasser  das  Meiste  verdanken. 

Aber  noch  einem  anderen  Herzensbedürfniss  möchte  ich  hier  Aus- 
druck verschaflFen.  Der  Commentar  hat  an  der  Kr.  d.  r.  V.  so  scharfe 
immanente  Kritik  geübt,  dass  fast  keine  Seite  sich  findet,  auf  welcher 


VI  Vorwojdb. 

nicht  Kant  Unklarheiten  und  Widersprüche,  Lücken  und  Irrthümer 
vorgeworfen  würden.  Das  könnte  den  Anschein  erwecken,  als  ginge 
über  der  Kritik  des  Einzelnen  der  Eindruck  der  Gesammtgrösse  des 
Kantischen  Geistes  verloren.  Nichts  wäre  irriger  als  dies.  Vielleicht  darf 
ich  daran  erinnern,  dass  ich  anderwärts  Kants  Kr.  d.  r.  V.  das  genialste 
und  zugleich  das  widerspruchvollste  Werk  der  ganzen  Geschichte  der 
Philosophie  genannt  habe.  Tritt  im  Commentar  selbst  naturgemäss  die 
letztere  Hälfte  dieses  Urtheils  stärker  hervor,  so  sei  es  gestattet,  liier 
die  erstere  Hälfte  mit  besonderem  Nachdruck  zu  wiederholen.  Die  un- 
vergleichliche Grösse  Kants  und  seiner  theoretischen  Pliilosophie  —  von 
seiner  erhabenen  Moral,  seiner  feinsinnigen  Aesthetik,  seiner  ins  Tiefe 
gehenden  Religionslehre  gar  nicht  zu  sprechen  — ,  diese  Grösse  Kants 
ist  mir  nie  aus  dem  Sinn  gekommen,  auch  da  nicht,  wo  ich  ihn  am 
heftigsten  bekämpfte,  ja  da  gerade  am  wenigsten ;  denn  der  Leser  darf 
mir  glauben:  ich  würde  meine  Kraft  nicht  der  historisch-kritischen 
Analyse  eines  Werkes  widmen,  wenn  ich  dieses  Werk  nicht  trotz  aller 
seiner  Mängel  im  Einzelnen  für  ein  XT^[ia  eig  aei  hielte.  Voll  und 
ganz  unterschreibe  ich  daher  die  Worte,  welche  R.  Haym,  den  schon 
die  Einleitung  zum  Ersten  Bande  neben  Zeller  und  Drobisch  als  einen 
der  AViedererwecker  der  Kantischen  Philosophie  rühmte,  1856  in  seinem 
„W.v. Humboldt^  äussert:  „Kant  hat  durch  die  Schärfe  und  Gründlichkeit 
nicht  seines  Denkens  allein,  sondern  auch  durch  die  Grösse  seines  sitt- 
lichen Charakters  den  Grund  einer  neuen  Wissenschaft  und  einer  neuen 
Lebensordnung  gelegt."  Der  Vorwurf,  den  derselbe  gegen  Herder 
erhebt,  „die  erste  Bedingung  einer  erfolgreichen  Kritik,  die  Achtung 
vor  dem  Werth  und  Gehalt  des  fremden  Werkes"  sei  ihm  abgegangen, 
kann  also  diesen  Commentar  nicht  treffen. 

Diesen  Commentar  nannte,  ich  oben  eine  historisch -kritische  Ana- 
lyse. Hier  muss  ich  mich  nun  einer  Unvorsichtigkeit,  die  ich  in  der 
Vorrede  zum  Ersten  Bande  begangen  habe,  schuldig  bekennen:  ich 
sprach  daselbst  Anderen  das  Wort  „Kantphilologie"  nach.  Cohen  hatte 
1871  (Th.  d.  Erf.  Vorr.  VH)  zuerst  von  der  „philologischen  Genauig- 
keit" ge8])rochen,  mit  welcher  Kant  behandelt  werden  müsse;  187G 
sprachen  Laas  (Ks.  Analog,  d.  Erf.  S.  2,  277,  356)  und  Liebmann 
(Z.  Anal.  d.  Wirkl.  S.  214),  Riehl  (Philos.  Kriticismus  I,  17)  und 
Windelband  (Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  232)  von  „Kantphilologie"  im 
Sinne  einer  gründlichen  und  sorgfältigen  Erforschung  Kants.  Paulsen 
sprach  über  dieselbe  (Viert,  f.  wiss.  Philos.  11,  497)  1878  das  treffende 
Wort  aus:  „Die  wirkliche  und  wahre  Philologie  befreit  von  dem  Joch 
der  Autorität,  welches  ein  unsicher  und  halb  aufgefasster  Gedanken- 
kreis aufzuerlegen  pflegt."  Und  1881  nennt  B.  Erdmann  (Nachtrage 
zu  Kants  Kr.  d.  r.  V.  S,  58)  die  Kr.  d.  r.  V.  „ein  Werk,  das  die 
philologische  Erklärung  des  Einzelnen  durchaus  fordert,  so  gerecht- 
fertigt der  Anspruch  des  Philosophen  ist,  man  solle  es  aus  der  Idee 
des  Ganzen  heraus  zu  verstehen  suchen."  Als  ich  mich  im  Anschlud:^ 
an  diese  Vorgänger  auch  des  Ausdruckes  „Kantphilologie"  bediente, 
konnte  es  meinem  damals  noch  harmloseren  Gemüthe  nicht  beifallen, 
dass  man  den  Ausdruck  in  einem  ungünstigen  Sinne  auslegen  könnte. 
Was  sollte  denn  der  Ausdruck  anderes  besagen,  als  Uebertragung  der 


Vorwort.  VII 

exacten  Methode,  wie  sie  in  den  anderen  historischen  Wissenschaften 
gehandhabt  wird,  auf  das  Kantstudium?  Dabei  schwebte,  worauf  speciell 
hingewiesen  war,  als  Vorbild  jene  objective  streng  sachliche  und  bis 
ras  Einzelnste  pünktliche  Methode  vor,  wie  sie  Zell  er  in  mustergültiger 
Weise  in  die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  eingeführt  hat. 
Mit  Einem  Worte:  Kant  sollte  ähnlich  behandelt  werden,  wie  Piaton 
oder  Aristoteles.  Um  dies  zu  bezeichnen,  dazu  mochte  der  Name  „Kant- 
philologie" übel  gewählt  sein;  aber  es  konnten  nur  solche  an  demselben 
Anstoss  nehmen,  „für  welche,"  wie  B.  Erdmann  treffend  bemerkt  hat, 
^die  philologische  Methode  nicht  die  selbstverständliche  Grundlage 
wissenschaftlicher  Geschichtsforschung  ist." 

Die  geschichtliche  Erforschung  der  früheren  philosophischen  Systeme 
hat  aber  der  Portbildung  der  Philosophie  selbst  zu  dienen;  zu  dieser 
sein  bescheiden  Theil  beizutragen,  möchte  sich  der  Commentar  nicht 
nehmen  lassen;  in  diesem  Sinne  glaube  ich  denselben  als  eine  historisch- 
kritische Untersuchung  bezeichnen  zu  dürfen.  Die  bis  ins  Einzelne 
gehende  logische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  V.  ist  ja  zwar  auch  schon  ohne 
diese  kritische  Tendenz  ein  werthvoUer  Selbstzweck;  wer  die  Argu- 
mentationen Kants  mit  logischem  Blicke  bis  ins  Einzelnste  verfolgt, 
wird  schon  durch  diese  rein  formale  Gymnastik  methodisch  geschult; 
auch  wird  der  Verfasser  gelegentlich  einige  der  dabei  gewonnenen 
logischen  Resultate  in  allgemeineren  „Logischen  Untersuclmngen"  zu  ver- 
werthen  suchen.  Aber  die  logische  Analyse  der  Kantischen  Argumen- 
tation kann,  wenn  sie  gelungen  ist,  auch  hoffen,  die  sachlichen  Probleme 
selbst  zu  fördern.  Treffend  hat  Windelband  als  die  Hauptaufgabe 
der  Geschichte  der  Philosophie  bezeichnet:  die  Geschichte  der  Pro- 
bleme und  Begriffe;  nur  so  aufgefasst,  könne  das  historische  Studium 
die  systematische  Arbeit  unterstützen.  Genau  in  diesem  Sinne  ist  dieser 
Commentar  einst  entworfen  worden,  genau  diese  Absicht  verfolgt  er 
noch  jetzt.  Und  wer  den  Commentar  in  diesem  Geiste  benützt,  in  dem 
er  abgefasst  ist,  der  wird  in  demselben  auch  nicht  mehr  „das  philo- 
sophische Pathos"  vermissen.  Das  echte  philosophische  Pathos  entlädt 
sich  in  fortgesetzter  geistiger  Arbeit  an  den  philosophischen  Problemen; 
fruchtbare  Arbeit  an  denselben  ist  aber  nur  möglich  auf  historisch- 
kritischer  Basis.  Und  Arbeit,  die  aus  solchem  philosophischem  Trieb 
entsteht,  hat  auch  die  Blraft,  bei  Anderen  geistige  Arbeit  und  philo- 
sophisches Interesse  zu  wecken. 

Nach  diesen  verschiedenen  Herzensergüssen  bleibt  mir  nur  noch 
übrig,  für  die  vielfache  thätige  Theilnahme  zu  danken,  welche  dem 
Commentar  von  Anfang  an  von  den  verschiedensten  Seiten  zu  Theil 
geworden  ist.  Insbesondere  habe  ich  für  viele  auf  Kant  bezügliche 
Zusendungen  aus  aller  Herren  Ländern  zu  danken;  eine  Aufzählung 
der  einzelnen  Namen  würde  aber  mehrere  Seiten  in  Anspruch  nehmen, 
ich  muss  mich  daher  mit  diesem  generellen,  aber  darum  nicht  minder 
herzlichen  Danke  begnügen.  Es  wurde  mir  so  die  Aufgabe  erleichtert, 
die  möglichste  Vollständigkeit  der  Literatur  zu  erreichen.  Absolute 
Vollständigkeit  ist  allerdings  ein  unerreichbares  Ideal.  Um  aber  wenig- 
stens das  Erreichbare  leisten  zu  können,  wiederhole  ich  hier  die  Bitte, 
mich  durch  Zusendung  der  Kantiana  (auch  aus  älterer  Zeit)  zu  unter- 


VIII  Vorwort. 

stützen,  insbesoudere  durch  Zusendung  der  oft  sonst  schwer  oder  gar 
nicht  zu  beschaffenden  Programme,  Dissertationen,  Joumalaufsätze, 
Recensionen  u.  s.  w.,  die  sich  direct  oder  auch  indirect  auf  Kant  be- 
ziehen. Insbesondere  ersuche  ich  die  SpecialcoUegen  an  den  anderen 
Universitäten,  die  rechtzeitige  Uebersendung  der  daselbst  gearbeiteten 
Kantdissertationen  an  mich  wie  bisher  gütigst  zu  bewirken,  resp.  zu 
veranlassen. 

Fül*  solche  und  andere  thätige  Theilnahme  danke  ich  im  Voraus 
herzlich;  mir  selbst  aber  wünsche  ich,  dass  es  mir  vergönnt  sein  möge, 
den  Commentar  bald  zu  Ende  zu  bringen.  Wenn  nicht  wiederum 
unerwartete  und  unerwünschte  Hindemisse  eintreten,  glaube  ich  die 
beiden  noch  ausstehenden  Bände,  welche  gerade  die  wichtigsten  Theile 
der  Kr.  d.  r.  V.  zum  Gegenstand  haben  werden,  in  verhältnissmässig 
kurzer  Zeit  fertigstellen  zu  können. 


Halle  a.  S.,  im  September  1892. 


H.  V. 


Commentar  zur  Transscendentalen  Aesthetik. 


Torbemerkungen«  üeber  den  Sinn  des  Titels;  „Transsc.  Aesth."  vgl. 
I,  467  ff  sowie  unten  zu  A  21.  üeber  die  Stellung  derselben  als  „Erster 
Theil  deiTranssc.  Elementarlehre"  vgl.  I,  484  f.,  492  f.  —  Die  hier  beginnende 
Paragraphen-Eintheilung  bat  Kant  erst  in  der  2.  Aufl.  hinzugefügt,  hat  sie 
aber  nur  theil  weise  durchgeführt,  nämlich  bis  zur  „Deduction  der  Kategorien* 
(§  27):  »Nur  bis  hierher  halte  ich  die  Paragraphen-Abtheilung  für  nöthig, 
weil  wir  es  mit  den  Elementarbegriffen  zu  thun  hatten*  u.  s.  w.  Schütz 
hatte  in  der  AUg.  Lit.-Zeit.  1785,  III,  41  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass 
diese  Aenderung  nützlich  wäre,  schon  um  Bückverweisungen  zu  ermög- 
lichen. So  hat  sich  denn  Kant  dieser  , Sitte  der  Zeit  anbequemt*  (Erd- 
mann, Ks.  Kriticismus  114.  164).  Aber  die  unvollkommene  Durchführung 
der  allerdings  nicht  unerheblichen  Aeusserlichkeit  erregte  besonders  bei  den 
Wolffianem,  deren  Stärke  gerade  in  diesem  Punkte  gelegen  war,  Anstoss; 
so  tadelt  Schwab  noch  im  Jahre  1796  in  seiner  Preisschrift  182 — 134  Kant 
hierüber  ebenso  ausführlich  als  heftig  und  lobt  im  Gegensatz  zu  Kants 
,freyem  philosophischem  Gang*  die  verschmähte  „Pedanterey*  Wolffs.  — 
Dass  die  Paragraphen-Eintheilung  spec.  in  der  Aesthetik  einen  sachlichen 
Fortschritt  bedeute,  behauptet  Cohen,  Erf.  2.  A.  217  (253).  Dass  sie  im 
Einzelnen  nachlässig  durchgeführt  ist,  beweist  A  dick  es  S.  76  N. 

§  1. 

Einleitnng. 

Yorbemerkung.  Dieser  einleitende  Paragraph  gibt  eine  Reihe  wich- 
tiger Definitionen  und  grundlegender  Voraussetzungen.  Dieselben  sind  unten 
(zu  A  26)  in  dem  Excurs:  Methodologische  Analyse  der  Transsc. 
Aesthetik  übersichtlich  zusammengestellt  und  in  ihrer  Bedeutung  für  den 
systematischen  Aufbau  der  Kantischen  Lehre  gewürdigt. 

Auf  welche  Art  u.  s.  w.  Dieser  erste  Satz  ist  formell  schlecht 
gebaut,  weniger  wegen  der  Wiederholung  des  Wortes  „Mittel*  in  ver- 
schiedenen Beziehungen,  als  weil  die  Ergänzung  zu  „diejenige*  nicht  deutlich 
hervortritt:  es  ist  wohl  „Art*  zu  ergänzen,  wie  auch  Meilin  I,  702  bemerkt. 
Vaihinger,  Kant-Commentar.    11.  1 


2  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  83.  [B  31.  H  55.  K  71.] 

Sachlich  bietet  der  Satz  zn  verschiedenen  Bemerkungen  Anlass:  1)  Kant 
spricht  hier  von  verschiedenen  „Arten**  der  Erkenntniss,  resp.  der  Be- 
ziehung einer  Erkenntniss  auf  Gegenstände.  Was  für  ,  Arten'  mag  er  damit 
im  Auge  haben?  Er  spricht  in  mehrfachem  Sinne  von  solchen  (A  6,  Prol. 
§  1.  2;  A  844;  Prol.  §  57;  A  157).  Am  ehesten  passt  aber  hieher  die  Ein- 
theilung  der  „Erkenntniss arten'',  welche  sich  A  68,  A  262  =  B  318,  Proleg. 
§  43,  sowie  §  56  findet,  in  Sinnlichkeit,  Verstand  und  Vernunft.  Ausser 
diesen  mag  Kant  auch  noch  an  die  übrigen,  nach  anderen  Eintheilungs- 
principien  entstehenden  Arten  gedacht  haben,  deren  mehr  als  zwanzig  auf- 
gezählt werden  bei  Mellin,  Wörterb.  II,  377  ff.  Kunstsprache  I,  82.  11,  28, 
sowie  bei  Schmid,  Wörterb.  222  ff.     Vgl.  Nathan,  Ks.  Logik  S.  51  f. 

2)  Kant  nennt  hier  die  Anschauung  eine  Art  der  Erkenntniss. 
Ebenso  auch  A  320.  Diese  Bezeichnung  widerspricht  a'ber  direct  den  sonstigen 
bekannten  Erklärungen  Kants,  besonders  am  Anfang  der  Analytik  A  51,  dass 
nur  die  Vereinigung  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  „Erkenntniss'  gebe. 
Dieser  Widerspruch  ist  schon  früh  den  Commentatoren  aufgefallen.  So  sagt 
Mellin  11,  383:  „Zu  den  Erkenntnissen  wird  auch  die  blosse  Anschauung 
gerechnet,  aber  etwa  so,  wie  man  die  Eins  zu  den  Zahlen  rechnet;  sie  ist 
ein  nothwendiger  Bestandtheil  aller  Erkenntniss,  aber  die  Anschauung  ohne 
Begriff  ist  blind;  man  kann  daher  nur  uneigentlich  sagen,  das  An- 
schauen sei  die  eine  Art  zu  erkennen.'  Vgl.  auch  Beck,  Auszug  III,  367. 
Auch  Jacob  in  seinen  anonym  erschienenen  „Briefen  eines  Engländers* 
(1792)  tadelt  S.  173  ff.  223  f.  diesen  „zweideutigen  Gebrauch'.  „Es  hängt 
dem  Worte  Erkenntniss  unstreitig  in  den  Kantischen  Schriften  eine 
gewisse  Ambiguität  an,  welcher  nicht  mit  der  gehörigen  Sorgfalt  vorgebeugt 
ist.  Denn  einmal  wird  behauptet,  dass  die  Anschauung  eine  Erkenntniss  sei, 
und  dann  heisst  es  doch  durch  die  ganze  Kritik,  dass  zu  jeder  Erkenntniss 
Anschauung  und  Begriff  in  Verbindung  gehören.'  Dieser  letztere  Sprach- 
gebrauch sei  aber  nicht  zu  billigen,  da  doch  auch  die  Tbiere,  welche  ohne 
Begriff  auskommen  müssen ,  eine  gewisse  Erkenntniss  der  Dinge  hätten.  — 
Der  Widerspruch  löst  sich  am  einfachsten,  wenn  wir  bei  Kant  eine  weitere 
und  eine  engere  Bedeutung  des  Ausdruckes  „Erkenntniss'  an- 
nehmen :  an  dieser  Stelle  hier  ist  Erkenntniss  im  weiteren  Sinne  genommen, 
an  den  anderen  im  engeren.  Eine  andere  Lösung  gibt  Arnoldt,  R.  u.  Z. 
50  ff.  Hiezu  vgl.  auch  Primavesi-Baur,  Beiträge  S.  17 — 34.  —  Hiemit 
sind  zu  vergleichen  die  weiter  unten  folgenden  Erörterungen  über  die 
„Gegenstände'  der  Anschauung. 

3)  Kant  spricht  davon,  dass  die  Anschauung  sich  auf  die  Gegenstände 
unmittelbar  beziehe.  Was  soll  dies  heissen:  „Die  Erkenntniss,  die  An- 
schauung bezieht  sich  auf  Gegenstände'?  Mellin  I,  702  gibt  eine  ganz 
falsche  Erklärung.  Die  Ausdrucksweise  ist  absichtlich  ganz  allgemein  und 
neutral  gehalten  und  hat  den  Sinn,  dass  eine  Vorstellung  einen  realen  Inhalt 
und  Werth  habe,  nicht  bloss  leer  sei.  Vgl.  dazu  die  Bestimmungen  hierüber 
in  der  Analytik  A  155  f.     lieber   die  Unklarheit  des  Wortes  „beziehen'  in 


Die  Anschauung.  3 

[R  31.  H  55.  E  71.]  A 19.  B  88. 

diesem  Zusammenhang  klagt  auch  schon  Bendavid  in  seiner  Preisschrift 
,Ueber  den  Ursprung  der  Erkenntniss'  (1803)  S.  10.  84.  Vgl.  dazu  auch 
Jacobs  anonyme  „Briefe  eines  Engländers^  S.  223  f.  Spicker,  Kant, 
S.  64  f.  Der  Ausdruck  wurde  dann  mit  besonderer  Vorliebe  von  Rein  hold 
angewendet;  Aenesidemus  189  ff.  klagt  über  „die  äusserst  schwankende, 
unbestimmte  und  zweideutige  Bedeutung*  dieses  Begriffes  bei  Reinhold,  was 
dessen  Anhänger  Visbeck  135  ff.  nicht  zu  entkräften  vermag.  Ausführlich 
beschäftigt  sich  Beck,  Ausz.  III,  8  ff.  106  ff.  mit  dem  Sinne  des  Ausdruckes. 
Vgl.  Rehmke,  Welt  265  ff. 

4)  Dass  die  Anschauung  sich  unmittelbar  auf  die  Gegenstände 
beziehe,  ist  eine  wichtige  Bestimmung,  deren  nothwendige  Ergänzung  die 
Behauptung  ist,  dass  das  Denken  sich  nur  mittelbar  auf  die  Gegen* 
stände  beziehe.  Kant  wiederholt  diese  Bestimmungen  oft:  so  gleich  unten 
B41.  A  68.108.  320.  So  heisst  es  A  374:  das  Wirkliche  sei  das  unmittel- 
bar  durch  empirische  Anschauung  Gegebene.  Vgl.  Cohen,  2.  A.  236.  269; 
und  bes.  desselben  „Infin.  Methode"  S.  17 — 20.  Mellin  I,  256  f.  Der  Sinn 
davon  ist,  dass  zur  Anschauung  nichts  Anderes,  nichts  Weiteres 
erforderlich  ist,  als  die  Affection  durch  den  Gegenstand  selbst.  So  Lossius 
I,  298.  In  welchem  Sinne  nun  im  Gegensatze  dazu  das  Denken  als  ein 
bloss  mittelbares  Vorstellen  bezeichnet  wird,  darüber  gleich  unten.  (Mittel- 
bar =  per  coneeptua.    Nachgel.  Werk  XIX,  445). 

5)  Dass  „alles  Denken'  nur  „als  Mittel  auf  die  Anschauung 
abzwecke",  oder,  wie  es  gleich  nachher  am  Schlüsse  dieses  Absatzes  heisst, 
dass  »alles  Denken  sich  zuletzt  auf  Anschauung  beziehen  müsse*^, 
das  ist  ein  Satz,  in  welchem,  wie  schon  Jacobi  (W.  W.  II,  32)  betont,  ein 
Hauptprincip ,  resp.  ein  Haupt r es ul tat  der  Kantischen  Philosophie  aus- 
gesprochen ist.  Offenbar  ist  dieser  ausserordentlich  wichtige  Satz  hier  nicht 
als  eine  peiitio  principii  axiomatisch  als  Prämisse  an  die  Spitze  der  Unter- 
suchung gestellt,  sondern  kann  nur  als  eine  antecipatorische  Bemerkung 
gefasst  werden.  —  Diese  Lehre,  dass  ,  alles  Denken  sich  auf  Anschauungen 
bezieben  müsse"  (dass  das  Denken  ohne  Anschauung  werthlos  sei),  nennt 
Lange  in  seiner  Gesch.  d.  Mat.  II,  32  „ vortrefflich '.  Sie  ist  gegen  den 
Dogmatismus  gerichtet,  welcher  begriffliches  Denken  über  alle  Anschauung 
und  Anscbauungsmöglichkeit  hinaus  für  das  Erkenntnissorgan  hält.  Die 
Stelle  enthält  somit  die  erste  Hälfte  des  bekannten  Satzes  A  51:  „Gedanken 
ohne  Inhalt  sind  leer,  Anschauungen  ohne  Begriffe  sind  blind."  Vgl. 
Mellin  I,  262.  Vgl.  Kants  Reflexionen  I,  1,  S.  86.  Vgl.  auch  Krit. 
A719  =  B747.  —  Vgl.  Cohen,  1.  A.  82;  2.  A.  107.  189.  Denselben 
Sinn  hat  auch  der  Zusatz,  welchen  Kant  zu  dem  Worte  „Anschauung" 
hier  in  seinem  Handexemplar  gemacht  hat  und  welchen  B.  Erdmann  in 
seinen  Nachträgen  zu  Kants  Kr.  d.  r.  V.  (1881)  S.  15  mittheilt:  (An- 
schauung) „ist  dem  Begriffe,  der  bloss  Merkmal. der  Anschauung  ist,  ent- 
gegengesetzt. Das  Allgemeine  muss  im  Einzelnen  gegeben  werden.  Dadurch 
hat's  Bedeutung.' 


4  §  !•    Einleitung. 

A 19.  B  38.  [R  81.  H  55.  E  71.] 

Bemerkenswerth  sind  die  Verhandlungen ,  welche  über  diesen  ersten 
Satz  zwischen  Sigm.  Beck  und  Kant  stattgefunden  haben.  Bei  der  Aus- 
arbeitung seines  ,  Erläutern  den  Auszuges*  blieb  Beck  mit  seiner  schwer- 
fUUigen  Gewissenhaftigkeit  sogleich  an  diesem  ersten  Satze  hängen.  In 
seinem  Briefe  an  Kant  vom  11.  XI.  91  (Altpreuss.  Mon.  XXII,  407)  sagt  er: 
„Die  Kritik  nennt  die  Anschauung  eine  Vorstellung,  die  sich  unmittelbar 
auf  ein  Object  bezieht.  Eigentlich  wird  aber  doch  eine  Vorstellung  aller- 
erst durch  Subsumtion  unter  die  Kategorien  objectiv.  Und  da  auch  die 
Anschauung  diesen  gleichsam  objectiyen  Charakter  auch  nur  durch  Anwen- 
dung der  Kategorien  auf  dieselbe  erhält,  so  wollte  ich  gerne  jene  Bestimmung 
der  Anschauung,  wonach  sie  eine  auf  Objecte  sich  beziehende  Vorstellung 
ist,  weglassen.  Ich  finde  doch  in  der  Anschauung  nichts  mehr,  als  ein  vom 
Bewusstsein  begleitetes  und  zwar  bestimmtes  Mannigfaltige,  wobej  noch 
keine  Beziehung  auf  ein  Object  stattfindet.'  Die  letztere  komme  doch  erst 
durch  die  Urtheilskraft  zu  Stande,  welche  die  Anschauung  dem  reinen  Ver- 
standesbegriff subsumirt.  Zu  dieser  Stelle  machte  Kant  die  Randbemerkung: 
,Die  Bestimmung  eines  Begriffs  durch  die  Anschauung  [umgekehrt?]  zu 
einer  Erkenntniss  des  Objects  gehört  für  die  urtheilskraft,  aber  nicht  die 
Beziehung  der  Anschauung  auf  ein  Object  überhaupt;  denn  das  ist  bloss 
der  logische  Gebrauch  der  Vorstellung,  dadurch  diese  als  zum  Erkenntniss 
gehörig  gedacht  wird.  Dahingegen,  wenn  diese  einzelne  Vorstellung  bloss 
aufs  Subject  bezogen  wird,  der  Gebrauch  ästhetisch  ist  (Gefühl)  und  die 
Vorstellung  kein  Erkenntnissact  werden  kann."  Dazu  vergleiche  man  Kants 
Brief  an  Beck  vom  20.  I.  92  (her.  v.  W.  Dilthey  im  Archiv  f.  Gesch.  d. 
Philos.  II,  622):  hier  kommt  er  dem  Beck'schen  Einwurfe  mehr  entgegen 
und  gibt  zu,  dass  auch  schon  jene  Beziehung  der  Anschauung  auf  ein  Object 
überhaupt  eine  kategoriale  Function  einschliesse.  Weitere  Ausführungen 
darüber  in  Becks  Brief  an  K.  vom  31.  V.  92  (Altpr.  Mon.  XXII,  409  ff.: 
vgl.  auch  den  Brief  vom  10.  XI.  92  a.  a.  0.  420):  „Ich  meine,  dass  man 
in  der  transsc.  Aesth.  die  Anschauung  gar  nicht  erklären  dürfe  durch  die 
Vorstellung,  die  sich  unmittelbar  auf  einen  Gegenstand  bezieht,  und  die 
da  entsteht,  indem  der  Gegenstand  das  Gemüth  afficirt.  Denn  in  der 
Transc.  Logik  kann  erst  gezeigt  werden,  wie  wir  zu  objectiven  Vorstellungen 
gelangen."  Diese  Darstellung  hat  Beck  auch  in  seinem  Auszug  S.  7  f.  fest- 
gehalten. Diese  ganze  Streitfrage  wird  am  einfachsten  entschieden,  wenn 
„Gegenstand"  bald  in  laxerem,  bald  in  strengerem  Sinne  genommen  wird. 
Vom  „Gegenstand''  im  eigentlichen,  im  strengeren  Sinne  j^önnte  ja  aller- 
dings erst  in  der  Analytik  die  Rede  sein ,  nachdem  die  Kategorien  ihre 
Schuldigkeit  gethan  haben.  Aber  einen  Gegenstand  im  laxeren  Sinne  kann 
man  auch  den  noch  nicht  kategorial  verarbeiteten  Anschauungen  zugestehen. 
In  diesem  letzteren  Sinne  gebraucht  hier  Kant  offenbar  den  Ausdruck 
„Gegenstand'',  und  diese  Unterscheidung  mag  er  auch  in  jener  oben  mit- 
getheilten  Randbemerkung  gemeint  haben.  Uebrigens  wird  hierüber  sogleich 
unten  S.  17 — 18  weiter  die  Rede  sein. 


Die  Anschauung  und  ihr  Gegenstand.  5 

[R  81.  H  55.  E  71.]  A 19.  B  88. 

■  Diese  einfache  Distinction  hilft  vollständig  über  die  von  Beck  erhobenen 
Schwierigkeiten  hinweg,  mag  nun  Kant  selbst,  als  er  die  Stelle  niederschrieb, 
dieselbe  deutlich  im  Bewnsstsein  gehabt  haben  oder  nicht.    Auf  keinen  Fall 
aber  ist  die  Ansicht  Becks  richtig,  welche  derselbe  nun  —  ausgehend  von 
dem  Wortlaut  dieser  Stelle  —  entwickelt;   in  dem  III.  Bande  seines  „Aus- 
zuges", „welcher  den  Standpunkt  darstellt,  aus  welchem  die  Kritische  Philo- 
sophie zu  beurtheilen  ist",  behauptet  Beck  nämlich:   Kant  habe  absichtlich 
nicht  sogleich    am   Anfang  die  ganze  Tiefe  und   Höhe  seiner  Philosophie 
enthüllt,   um   die  Leser  von  dem   gewöhnlichen  Standpunkt    „nach   und 
nach"  auf  den  „transscendentalen  Standpunkt"  zu  führen  (6).    Ebenso  im 
Brief  an  Kant  vom   17.  VI.  94  (Altpr.  Mon.  XXII,  431).    Weiteres  dann 
III,  845—347.    Dieser  „einzig  mögliche  Standpunkt"  besteht  nach  Beck  in 
der  Stellung,  welche  Kant  in  der  Deduction  der  Kategorien  (nach  der  2.  Aufl.) 
eingenommen  hat.     Nun  hat  Kant  daselbst    allerdings   einige   wesentliche 
Punkte  anders  bestimmt  als  in  Einleitung  und  Aesthetik ;  aber  diese  Unter- 
schiede sind  nicht  auf  eine  bewusste  pädagogische  Tendenz  Kants  zurück- 
zuführen, sondern  darauf,   dass  Kant  in  der  Deduction,   dem  zuletzt  ab- 
geschlossenen Theile  seines  Werkes,  über  jene   anfänglichen  Bestimmungen 
selbst  hinausging,   theil weise  sogar  mit  denselben  in  Widerspruch  gerieth. 
Die  innere  sachlich-historische  Entwicklung  Kants  hat  also  zu  jenen  Er- 
weiterungen, Vertiefungen  und  Widersprüchen  geführt.   Diese  historische 
Theorie,  welche  dem  heutigen  Stande  der  Kantwissenschaft  entspricht,  ist    • 
selbstverständlich  richtiger  und  natürlicher,  als  jene  künstlich*ersonnene  und 
pedantisch  durchgeführte  Accommodationstheorie  Becks.    Beck  hat  von 
jenem  „transcendentalen  Standpunkt"  aus  in  dem  erwähnten  dritten  Bande 
bes.  Einleitung  und  Aesthetik  „revidirt"  S.  345  ff.   Wir  werden  im  Folgenden 
auf  diese  „Commentation"  nur  eingehen,  insoweit  daraus  direct  oder  indirect 
Gewinü  für  das  wirkliche  Verständniss  des  Textes  und  seiner  Beziehungen 
zu  den  späteren  Theilen  der  Kr.,  sowie  für  die  Einsicht  in  die  historische 
Weiterentwicklung  der  Philosophie  zu  gewinnen  ist. 

Anschauung.  Kant  gebraucht  hier  und  fernerhin  immer  „Anschauung" 
im  weitesten  Sinne,  nicht  bloss  von  Gesichtsvorstellungen,  sondern  von 
Affectionen  aller  Sinne  überhaupt.  Vgl.  dazu  Meilin,  Wörterb.  I,  257  (und 
V,  108).  Ueber  diese  „uneigentliche  und  tropische"  Benennung  s.  Bendavid, 
ürspr.  d.  Erk.  34.  Lossius,  Lex.  I,  298.  Krug,  Lex.  I,  160.  Kiese- 
wetter, Logik  I,  34.  Metz,  Logik  214.  Weishaupt,  Die  Kantischen 
Anschauungen  und  Erscheinungen,  1788,  S.  5  ff.,  führt  aus,  das  Wort  „An- 
schauung" sei  der  K/schen  Schule  eigenthümlich  statt  des  sonst  üblichen 
„Empfindung".  Kant  habe  wohl  deshalb  den  ersteren  Ausdruck  gewählt,  um 
die  Zusammensetzung  „reine  Anschauung"  bilden  zu  können,  da  doch  „reine 
Empfindung"  nicht  möglich  gewesen  wäre.  Jacob  bemerkt  in  Kosmanns 
Magazin  I,  4,  auch  videre^  intuerij  l^tlv  werden  schon  in  dieser  allgemeinen 
Bedeutung  genommen  für  alle  äusseren  und  inneren  Sinne.  In  der  That 
gebraucht  auch  Piaton ,  Rep.  507  D  523  E  o'kc  statt  aio6-y)oic  als  stellver- 


6  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  88.  [R  81.  H  55.  E  71.] 

tretend  für  alle  Wahrnehmungen.  —  Gegen  den  Kantischen  Sprachgebrauch 
hat  sich  Herder,  Met.  I,  78  ff.,  heftig  ereifert.  Doch  ist  der  K.'sche  Sprach- 
gebrauch heute  ziemlich  allgemein  geworden;  und  da  weitaus  der  grOsste 
Theil  unserer  Empfindungen  dem  Gesichtssinn  angehört,  so  ist  gegen  diese 
Denominatio  a  potiori  nicht  viel  einzuwenden.  Vgl.  auch  Grimms  Deutsches 
Wort.  I,  436.     Ks.  Anthr.  §  17.     Volkmann,  Psych.  §  37. 

Der  Gegenstand  wird  uns  dadurch  gegeben,  dass  er  uns  affteirt. 
Die  Schwierigkeit  der  vielbesprochenen  Stelle  besteht  in  dem  Ausdruck 
„Gegenstand*^.  Der  Ausdruck  ist  uns  oben  schon  einmal  entgegengetreten 
und  hat  uns  schon  dort  Schwierigkeiten  gemacht,  welche  gelöst  wurden 
durch  die  Unterscheidung  von  Gegenstand  im  laxeren  und  im  strengeren 
Sinn;  aber  in  beiden  Bedeutungen  trat  uns  der  „Gegenstand'^  entgegen  als 
Inhalt  der  Anschauung;  im  ersten  Theil  dieses  Satzes  tritt  er  uns  noch 
in  derselben  Bedeutung  entgegen;  aber  im  zweiten  Theil  desselben  tritt 
derselbe  nun  auf  als  Ursache  der  Anschauung,  und  daraus  entwickebi 
sich  nun  ganz  neue  Schwierigkeiten,  die  sich  nur  durch  eine  neue  Distinction 
desselben  Ausdruckes  werden  lösen  lassen. 

Wenn  man  den  Satz  zunächst  seinem  Wortlaute  nach  nimmt,  so 
sagt  er  offenbar:  Wir  erhalten  dadurch  die  Vorstellung  von  Gegenständen, 
d.  h.  den  Inhalt  der  Anschauung,  dass  eben  diese  selben  Gegenstände  auf 
uns  eine  Affection  ^  ausüben.  Von  den  Gegenständen  und  ihrem  Ver- 
hältniss  zu  unserer  Vorstellung  derselben  wird  also  hier  ganz  im  Sinne 
des  gemeinen  Mannes  gesprochen  (vgl.  dazu  Weishaupt,  Ansch.  u.  Ersch. 
S.  23  ff.). 

Es  fragt  sich  bloss:  ist  das  wirklich  Kants  Meinung  und  Absicht 
gewesen,  als  er  diese  Stelle  niedergeschrieben  hat?  Mit  Ja!  beantwortet 
diese  Frage  neuerdings  z.  B.  Drobisch,  Ks.  Dinge  an  sich  S.  8.  37;  ebenso 
bes.  neuerdings  Böhringer,  Ks.  erk.-theor.  Idealismus,  1888,  S.  78 — 80. 

Aber  andere  Stellen,  zunächst  eben  der  Transsc.  Aesthetik  selbst,  fordern 
zu  einer  ganz  anderen  Auslegung  auf:  aus  dem  Folgenden,  bes.  A  S.  26  ff. 
34  ff.  38.  41  ff.  geht  hervor,  „dass  überhaupt  nichts,  was  im  Räume  an- 
geschaut wird,  eine  Sache  an  sich  sei,  sondern  dass  uns  die  Gegenstände 
an  sich  gar  nicht  bekannt  seien,  und,  was  wir  äussere  Gegenstände 
nennen,  nicht«  anderes  als  blosse  Vorstellungen  unserer  Sinnlichkeit  seien, 
deren  Form  der  Raum  ist,  deren  wahres  Correlatum  aber,  d.  h.  das  Ding 
an  sich  selbst  dadurch  gar  nicht  erkannt  wird^  (29).  „Erscheinung  hat 
jederzeit  zwei  Seiten,  die  eine,  da  das  Object  an  sich  selbst  betrachtet 
wird  (unangesehen  der  Art,  dasselbe  anzuschauen),  die  andere,  da  auf  die 
Form  der  Anschauung  dieses  Gegenstandes  gesehen  wird,  welche  nicht  in 
dem  Gegenstande  an  sich  selbst,  sondern  in  dem  Subject,  dem  derselbe 
erscheint,  gesucht  werden  muss*^  (38).     Aus  diesen  Stellen  geht  hervor,  dass 


*  Ueber   diesen  Ausdruck   vgl.   Comm.  I,  175  f.   (über  »Rühren").    Mellin 
I,  89  weist  den  Ausdruck  schon  bei  Cudworth  nach. 


Der  empirische  und  der  transscendente  Gegenstand.  7 

[R  31.  H  56.  E  71.]  A 19.  6  88. 

Kant,  wie  so  viele  Ausdrücke,  so  auch  den  hier  in  Frage  kommenden  Aus- 
druck y Gegenstand"  in  einem  zweifachen  Sinne  gebraucht: 

1)  Gegenstand  =  empirisches  Object,  wie  es  in  unserer  empiri- 
schen Vorstellung  uns  gegeben  wird. 

2)  Gegenstand  =  transscendentes  Object,  wie  es  an  sich  ist  ohne 
unsere  subjective  Yorstellungsweise. 

In  diesem  Sinne  wird  , Gegenstand"  schon  erklärt  z.  B.  von  Schmid 
in  seinem  Wörterbuch  S.  260  ff. ,  von  Schultz  in  seiner  Prüfung  der 
Kantischen  Kr.  d.  r.  V.  II,  279. 

Wenn  wir  die  so  gewonnene  Einsicht  auf  die  vorliegende  Stelle  an- 
wenden, so  würde  also  in  ihr  nicht  gesagt,  dass  der  Gegenstand  in  der« 
selben  Bedeutung  uns  erst  afficire  und  dann  von  uns  vorgestellt  werde, 
sondern  wir  müssen  eben  „Gegenstand"  in  doppelter  Bedeutung  nehmen: 
der  Gegenstand  qua  Ding  an  sich  afficirt  uns,  dadurch  erhalten  wir  eine 
Vorstellung,  und  in  dieser  Vorstellung  wird  uns  der  Gegenstand  qua  Er- 
scheinung gegeben.  Der  Gegenstand  wird  uns  also  nicht  in  derselben 
Weise  , gegeben",  wie  er  uns  „afficirt";  als  , gegebener"  ist  er  empirische 
Vorstellung,  als  «afficirender"  ist  er  transscendentes  Ding  an  sich;  in  jenem 
Sinne  ist  er  Product,  in  diesem  Producent.  Dass  freilich  beide  „Gegenstände" 
in  einem  und  demselben  Satze  ohne  jede  Aufklärung  nebeneinander  stehen, 
ist  sehr  verwirrend  —  eine  Verwirrung,  welche  sich  freilich  häufig  bei  Kant 
findet,  und  z.  B.  sogleich  in  dem  folgenden,  zweiten  Absatz  sich  wiederholt  ^ 

Diese  Auslegung  finden  wir  auch  in  der  That  bei  neueren  Kant- 
forschern. Holder  macht  in  seiner  „Darstellung  der  Kantischen  Erkenntniss- 
theorie" (1874)  S.  6  ff.  auf  die  Doppelbedeutung  von  „Gegenstand"  am  An- 
fang der  Aesthetik  aufmerksam.  (Holder  fügt  die  richtige  Bemerkung 
hinzu,  dass  Kant  diese  empirischen  Gegenstände  mit  Vorliebe,  wenn  auch 
nicht  ausschliesslich  als  „Objecte"  bezeichne.  Es  ist  indessen  hiezu  zu  be- 
merken, dass  jfOhjectum^  auch  schon  in  der  Dissertation  von  1770  [§  3.  4. 
5.  10.  11]  dieselbe  Doppelbedeutung  hat,  wie  „Gegenstand",  —  bald  das 
Atficirende,  bald  das  Resultat  der  Affection;  bald  das  Producirende ,  bald 
das  Product.  Wenn  dann  Holder  im  Anschluss  an  jene  seine  Bemerkung 
den  Vorschlag  macht,  den  Ausdruck  „Gegenstand"  oder  „Object"  für  die 
Welt  der  Erscheinungen  zu  reserviren,  für  die  von  unserer  Vorstellungswelt 


^  Man  könnte  zur  Vertheidigung  Ks.  sagen  wollen,  er  habe  das  Recht  gehabt, 
sich  hier  am  Anfang  des  Werkes  unbestimmt  und  neutral  auszudrücken;  im 
Verlauf  desselben  ergebe  sich  ja,  dass  der  gebende  Gegenstand  an  sich  und  der 
gegebene  Gegenstand  für  uns,  welche  hier  identisch  erscheinen,  durchaus  zu  trennen 
seien.  So  z.  ß.  Wernicke  in  dem  unten  S.  17  erwähnten  Manuscript:  „Was  im 
Eingange  der  Kritik  als  Eins  erscheint,  zerfällt  im  Laufe  der  Untersuchung  in 
Verschiedenes";  so  auch  Staudinger,  Noumena  .33.  65.  —  Aber  in  so  funda- 
mentalen Definitionen,  wie  sie  hier  von  K.  gegeben  werden,  dürften  eben  keine 
solche  unbestimmten  Ausdrücke  vorkommen,  welche  das  Verständniss  von  vorne- 
herein erschweren,  wenn  nicht  irreführen. 


8  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  88.  [B  31.  H  55.  E  71.] 

unterschiedenen,  dieselbe  bedingenden  Realitäten  dagegen  stets  der  Bezeich- 
nung „Dinge*',  »Dinge  an  sich*  sich  zu  bedienen,  so  ist  dieser  an  sich 
empfehlenswerthe  Vorschlag  ^  darum  nicht  durchführbar,  weil  Kant  sich 
selbst  nicht  an  diese  feste  Terminologie  gehalten  hat.) 

Auch  H.  Wolff  ( 9 Zusammenhang  uns.  Vorst.  mit  Dingen  ausser  uns", 
1874,  S.  34.  129)  hat  richtig  erkannt,  dass  E.  hier  „Gegenstand'  in  zwei 
ganz  verschiedenen  Bedeutungen  gebraucht,  die  er  als  „erstes  Object'  und 
„zweites  Object'  unterscheidet  ^  Biedermann,  Christi.  Dogm.  2.  A.  I,  61  ff. 
unterscheidet  „metaphysischen  und  physischen  Gegenstand '.  Auch  D robisch, 
Fortb.  d.  Ph.  d.  Herbart  8.  8,  nennt  den  Namen  der  Gegenstände  hier 
„doppeldeutig*.  Vgl.  Lehmann,  Ks.  Lehre  vom  D.  a.  s.  Diss.  Berl.  S.  5 — 8. 
E.  V.  Hartmann,  Transc.  Real.  XVIL  61.  Staudinger,  Noumena  2.  29. 
33.  39.  65.  113  unterscheidet  den  transsubjectiven  Gegenstand,  auf  welchen 
ich  die  Erscheinung  beziehe ,  und  den  apperceptiven  (kategorialen ,  empiri- 
schen) Gegenstand,  durch  welchen  ich  das  Mannigfaltige  einheitlich  zu- 
sammenfasse und  eben  auf  jenen  beziehe. 

Benno  Erdmann  war  auf  den  Doppelsinn  von  „Gegenstand"  schon 
aufmerksam  geworden  in  seiner  Dissertation  („Die  Stellung  des  Dinges  an 
sich  in  Kants  Aesthetik^  u.  s.  w.  1873,  S.  8.  9.  11.  18.  24),  und  hat  sich 
darüber  weiter  ausgelassen  in  seiner  „Einleitung*'  zu  Ks.  ProUgomena 
pag.  XLV.  Lin.  LIX.  LXVIII,  sowie  in  seiner  Schrift  über  Ks.  Kriticismus 
S.  19.  41.  45.  109.  Mit  Recht  bemerkt  E.  dazu  in  der  Einl.  zu  den  Prol.  XLV, 
darin  liege  „die  Voraussetzung  einer  Vielheit  wirkender  Dinge  an  sich, 
deren  jedes  einer  bestimmten  Erscheinung  entspricht.  Diese  Voraussetzung 
wird  als  solche  nicht  ausgesprochen,  sie  ist  jedoch  in  dem  Doppelbegriff  des 
Gegenstandes  enthalten,  von  dem  Kant  ausgeht*.  „Ohne  diese  als  selbst- 
verständlich geltende  Annahme  der  Existenz  einer  Mehrheit  wirkender  Dinge 
an  sich  würde  die  Aesthetik  sinnlos  sein*'  (ib.  IL).  „Diese  Voraussetzung 
ist  das  Fundament  der  Aesthetik  und  der  Analytik  (ib.  LH),  sowie  auch 
der  Dialektik"  (ib.  LV.  LIX).  [üeber  diese  „Voraussetzung*  Kants  vgl.  auch 
die  Erläuterungen  zum  folgenden  Satze,  S.  14—16,  wo  die  Dinge  an  sich 
als  CorreUUa  der  Sinnlichkeit  auftreten.] 

Gegen  diese  völlig  zutreffenden  Erklärungen  hat  Emil  Arnoldt  in 
seiner    Gegenschrift    „Kants    ProUgomena    nicht    doppelt    redigirt"    (1879) 


^  Schon  Schopenhauer  hat  diesen  Sprachgebrauch  durchzuführen  gesucht; 
ebenso  £.  v.  Hartmann,  Transac.  Real.  XVIII.  Vgl.  Lehmann,  Ks.  Lehre  vom 
D.  a.  8.  8  ff. 

'  Ganz  ähnlich  unterschied  schon  1798  Garve,  Princ.  d.  Sittenl.  194  ,0b- 
jecte  erster  Ordnung*  und  „Objecte  zweiter  Ordnung*.  (Vgl.  auch  Bouterweck, 
Anfangsgründe  [1800]  203.)  Auf  dasselbe  zielt  auch  Lichtenbergs  bekannte 
Unterscheidung ,  der  in  seinen  Verm.  Schriften  (1844)  S.  84  ff.  im  Anschluss  an 
Kants  Distinction  zwischen  „ ausser  uns*  im  transscendentalen  und  im  empirischen 
Sinne  (A  373)  jene  als  „Dinge  praeter  noa'*,  diese  als  „Dinge  extra  nos* 
bezeichnet. 


Dinge  an  sich  ak  Yoraussetzung.    Das  Gemüth.  9 

[R  81.  H  65.  E  71.]  A 19.  B  83* 

S.  45 — 53  sich  ebenso  wortreich  als  unzutreffend  ausgesprochen.  Dass  diese 
Voraussetzung  afificirender  Dinge  an  sich  hier  so  nackt  ausgesprochen  ist, 
war  ja  den  idealistischen  Kantianern  von  jeher  sehr  unbequem.  Was  nun 
aber  Arnoldt  selbst  weiter  ausfährt,  kommt  trotz  aller  Verclausulirungen 
und  Bedewendungen  genau  auf  dasselbe  hinaus,  was  Erdmann  gesagt  hatte: 
dass  eben  den  Empfindungen  resp.  den  Empfindungsgegenständen  afficirende 
transscendente  Oegenstftnde  entsprechen  ^ 

Diese  Polemik  von  Arnoldt  (welcher  übrigens  die  von  ihm  bekämpfte 
Unterscheidung  selbst  1870  in  seiner  Abh.  über  die  transsc.  Ideal,  d.  Baumes 
S.  56  vertreten  hatte)  würde  somit  an  sich  nutzlos  sein,  wenn  sie  nicht  auf 
einen  tiefen  Schaden  des  Kantischen  Systems  hinweisen  würde.  Amoldts 
Polemik  gegen  die  afficirenden  Dinge  an  sich  ist  von  dem  Bestreben  dictirt, 
Kant  von  dem  eben  angedeuteten  Widerspruch  zu  befreien.  Wenn  wir  aber 
diesem  Bestreben  folgen,  so  müssen  wir  zu  jener  ersteren  Auslegung  zurück- 
kehren, wonach  als  afficirende  Gegenstände  hier  eben  die  Dinge  des  gewöhn- 
lichen Menschenverstandes  zu  verstehen  sind.  Aber  diese  Annahme,  die  denn 
auch  Arnoldt  gelegentlich  selbst  vertritt,  führt  uns  in  noch  tiefere,  ebenfalls 
schon  angedeutete  Schwierigkeiten  hinein  —  Schwierigkeiten,  welche  eine  eigene 
selbständige  Untersuchung  erfordern:  s.  hierüber  den  unten  folgenden  Excurs. 

Gemfith«  „ Gemüth '^  ist  ein  Lieblingsausdruck  Kants,  über  dessen 
Gebrauch  er  sich  aber  in  der  Kr.  d.  r.  V.  nicht  weiter  äussert.  Dagegen 
spricht  er  sich  darüber  aus  gleich  am  Anfang  der  kleinen  Schrift  an  Söm- 
mering:  üeber  das  Organ  der  Seele  (1796):  „Unter  Gemüth  versteht  man 
nur  das,  die  gegebenen  Vorstellungen  zusammensetzende  und  die  Einheit  der 
empirischen  Apperception  bewirkende  Vermögen  (anitnus)  und  nicht  die 
Substanz  (anima),  nach  ihrer  von  der  Materie  ganz  unterschiedenen  Natur, 
von  der  man  alsdann  abstrahirt;  wodurch  das  gewonnen  wird,  dass  wir  in 
Anschauung  des  denkenden  Subjects  nicht  in  die  Metaphysik  überschreiten 
dürfen''  u.  s.  w.  Weiter  und  dem  Kantischen  Sprachgebrauch  entsprechender 
ist  die  Definition  in  der  Anthropologie  §  22:  „Gemüth  als  ein  blosses  Ver- 
mögen zu  empfinden  und  zu  denken'',  werde  aber  irriger  Weise  „als  be- 
sondere im  Menschen  wohnende  Substanz  angesehen".  Nach  dieser  Defini- 
tion ist  „Gemüth"  eigentlich  einfach  so  viel  als  „Vorstellungsfähigkeit",  wie 
denn  Kant  auch  gleich  im  nächsten  Absatz  hier  diesen  Ausdruck  synonym  mit 
„Gemüth"  gebraucht:  im  ersten  Absatz  lässt  er  das  „Gemüth",  im  zweiten 
die  „Vorstellungsfähigkeit"  durch  den  Gegenstand  afficirt  werden  (vgl.  B  72 
und  A  114).  Den  Ausdruck  „Gemüth"  zieht  also  Kant  wegen  seiner  Neu- 
tralität und  Un Verbindlichkeit  vor;  den  Ausdruck  „Seele"  will  er  vermeiden*, 

'  Insofern  bildet  allerdings ,  wie  E.  v.  Hartmann ,  Transsc.  Real.  50  ff.  aus- 
führt, das  „Affidren''   die  .Brücke*  zwischen  Immanentem  und  Transscendentem. 

*  Nur  ansnahmsweise  gebraucht  K.  den  Ausdruck  „Seele'  im  empirischen 
Sinne ;  so  A  34  =  Inbegriff  der  inneren  Erscheinungen.  Daher  unterscheidet  er 
Prol,  §  49  genau  Seele  als  „Gegenstand  des  inneren  Sinnes"  von  dem  unbekannten 
zu  Grunde  liegenden  Wesen  an  sich. 


10  §  1.    Einleitung. 

A19.  B83.  [R  31.  H  56.  E  71.] 

weil  dieser  leicht  metaphysische  Begriffe  und  Ansprüche  erweckt.  So  stellt 
E.  auch  A  22  Beides  gegenüber:  „Der  innere  Sinn,  vermittelst  dessen 
das  Gemüth  sich  selbst  oder  seinen  inneren  Zustand  anschauet,  gibt 
zwar  keine  Anschauung  von  der  Seele  selbst,  als  einem  Object'  u.  s.  w. 
Denn  , Seele*  ist,  nach  A  860,  „ein  Name  für  den  transscendentalen  Gegen- 
stand des  inneren  Sinnes'',  von  dem  wir  nichts  wissen  können.  Schon  in  der 
„Nachricht  von  der  Einrichtung  seiner  Vorlesungen  im  Winter  1765—1766" 
sagt  er  von  der  Psychologie:  sie  sei  die  Erfahrungswissenschaft  vom  Men- 
schen; „denn  was  den  Ausdruck  der  Seele  betrifft,  so  ist  es  in  dieser 
Abtheilung  noch  nicht  erlaubt,  zu  behaupten,  dass  er  eine  habe*.  Aehnlich 
noch  in  dem  Nachgel.  Werke  Eants  XIX,  575.  Statt  des  alten  Ausdruckes 
„Seelen vermögen*  gebraucht  Kant  daher  consequenter  Weise  den  Terminus 
„Vermögen  des  Gemüths*  oder  kürzer  „Gemüthskräfte*.  Das  System  dieser 
„Gemüthskräfte*  entwickelt  Kant  bes.  in  der  Abhandlung  „üeber  Pbilos. 
überhaupt*,  Ros  I,  615  ff.  üeber  die  spätere  Geschichte  des  Terminus 
„Gemüth*  nach  Kant,  bes.  bei  Fichte,  der  ihm  erst  den  emotionellen  Sinn 
gegeben  hat,  vgl.  Wundt,  Phil.  Stud.  VI,  335  ff. 

Eberhard  hat  (Phil.  Arch.  I,  2,  78)  daran  erinnert,  dass  schon 
Voltaire  sich  ganz  wie  Kant  gegen  das  Wort  Seele  ausgesprochen  hat;  er 
will  dasselbe  nicht  gebrauchen,  weil  man  kein  Wort  gebrauchen  soll,  das 
man  nicht  versteht;  er  will  dafür  lieber  das  Wort:  facuUS  pensante  setzen 
{Oeuvres  Ed.  de  Gotha  XLV,  847).  Spöttelnd,  aber  wider  Willen  ganz  zu- 
treffend bemerkt  Eb.  dazu:  „Zu  einer  solchen  Philosophie,  zu  der  sich  ein 
jeder  philosophe  ignorant  bereits  aufs  Gerathewohl  bekannte,  eine  völlig 
wissenschaftliche  Theorie  zu  erschaffen,  das  konnte  nur  dem  Tiefsinn,  der 
vielumfassenden  Speculation,  dem  Mathe  und  der  Beharrlichkeit  eines  grossen 
deutschen  Philosophen  aufbehalten  sein.* 

Denselben  Sprachgebrauch  haben  nun  auch  die  Anhänger  Kants;  so 
Mellin  II,  858;  Kiesewetter,  Logik  1,34;  vgl.  Reinhold,  Th.  d.  Vorst. 
212  ff.  Die  Kantianer  acceptirten  den  bequemen  Ausdruck  allgemein ;  so 
übersetzt  Tennemann  regelmässig  Hume's  „mt'nd*  mit  Gemüth ;  auch  Anti- 
kantianer  bedienten  sich  desselben  gerne;  so  z.  B.  Brastberger  in  seinen 
Untersuchungen  zur  Kr.  d.  r.  V.  S.  48.  Doch  haben  Andere  ihn  —  mit 
Becht  —  heftig  angegriffen,  so  z.  B.  Weishaupt,  Ansch.  u.  Ersch.  S.  9  ff. 
So  hat  sich  der  Ausdruck,  eben  weil  er  nicht  metaphysische  Nebengedanken 
wie  der  Ausdruck  „Seele*  einschliesst ,  bis  heute  erhalten.  Auch  die  Neu- 
kantianer, z.  B.  Lange  in  seiner  „Geschichte  des  Materialismus*,  sowie 
Cohen  haben  den  Ausdruck  wieder  in  Curs  gesetzt.  Schopenhauer,  Welt 
II,  666  sagt:  „Die  Kr.  d.  r.  V.  lässt  nicht  zu,  dass  man  ohne  Umstände 
von  der  Seele  als  einer  gegebenen  Realität,  einer  wohlbekannten  und  gut 
accreditirten  Person  rede,  ohne  Rechenschaft  zu  geben*  u.  s.  w.  Schopen- 
hauer verwendet  aber  statt  „Gemüth*  mit  Vorliebe  den  Ausdruck  „Intellect*, 
den  auch  Lieb  mann  acceptirt  hat  (dag.  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  518.  648; 
331.  445).     Lange  hat  „Organisation*  dafür  eingesetzt  (dag.  Cohen  2.  A. 


Das  „Gemüth'*  im  Gegensatz  zur  ,  Seele  **.  11 

[B  81.  H  55.  E  71.]  A 19.  B  33. 

210.  285.  410;  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  615;  v.  Scbubert-Soldern,  Erk.- 
Theorie  264  ff.;  Heinze,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  178  ff.;  Witte,  Phil. 
Monatsh.  1878,  483  ff.). 

Eine  irrige  Consequenz  hat  Eiehl  aus  dem  Kantischen  Sprachgebranch 
gezogen;  er  sagt  Krit.  I,  8,  308:  »Wie  kann  man  von  einer  Eantischen 
Psychologie,  einer  psychologischen  Kritik  reden,  da  doch  Kant  den  Begriff 
einer  Seelensnbstanz  für  gänzlich  anerweislich  erklärt?*'  (Vgl.  264.  289. 
302.  309.  324  über  „das  psychologische  Vorurtheil  gegen  die  Methode  des 
Kantischen  Kriticismus'*.)  Diese  Behanptang  ist  aber  viel  zu  weitgehend. 
Wenn  Kant  die  rationale  Psychologie  leugnet,  so  bleibt  doch  noch  die 
empirische  übrig  (nach  Lange's  bekanntem  Ausdruck  die  „Psychologie  ohne 
Seele'),  und  in  diesem  Sinne  sind  genug  psychologische  Voraussetzungen  in 
Kants  Kriticismus,  welcher  ganz  auf  der  Basis  der  alten  Wolffischen  Ver- 
mögenspsychologie aufgebaut  ist. 

Wie  nun  aber  Kant  den  Begriff  der  Seele  als  unkritisch  verwirft,  so 
muss  er  es  sich  gefallen  lassen,  dass  dieselbe  Kritik  sich  gegen  seinen  Begriff 
des  Gemüthes  wendet.  Es  ist  besonders  Aenesidemus  (140.  154  ff.  165  ff. 
340),  welcher  in  diesem  Begriff  innere  Widersprüche  der  Kantischen  Philo- 
sophie auffindet.  Kant  habe  sich  nirgends  darüber  erklärt,  was  eigentlich 
das  Oemüth  sein  solle,  ob  ein  Bing  an  sich,  oder  ein  Noumenon  (blosses 
Gedankending)  oder  eine  Idee.  Nehme  man  das  Gemüth,  die  Quelle  der 
nothwendigen  synthetischen  Urtheile,  als  ein  Ding  an  sich,  so  entspreche 
dies  zwar  der  „gewöhnlichen  Denkarf*,  aber  es  „ widerspreche  dem  ganzen 
Geiste  der  kritischen  Philosophie'^,  weil  ja  dann  die  Kategorien  Ursache  und 
Wirklichkeit  in  jenem  Begriffe  auf  ein  Ding  an  sich  angewendet  seien,  welche 
doch  nur  empirische  Gültigkeit  haben  sollen.  Diese  Annahme  eines  Gemüthes 
widerspreche  dem  Abschnitt  über  die  Paralogismen  der  reinen  Vernunft. 
(Aehnlich  Eberhard,  Archiv  I,  4,  68.)  Fasse  man  aber  das  Gemüth  als 
blosses  Gedankending,  so  schwebe  ja  die  ganze  Kritik  d.  r.  V.  in  der 
Luft.  Fasse  man  das  Gemüth  als  eine  Idee  —  und  so  habe  es  Kant  wohl 
gemeint  —  dann  ergeben  sich  dieselben  Schwierigkeiten.  Dieselben  Ein- 
wände machte  Aenesidem  (98  ff.  167)  auch  gegen  Reinholds  „Vorstellungs- 
vermögen* geltend  (vgl.  dessen  Th.  d.  V.  212  ff.  530  ff.).  Was  Maimon, 
Logik  355,  Mellin  V,  344,  Fichte,  W.  W.  I,  10 — 16  gegen  Aenesidem  in 
diesem  Punkte  vorbringen,  kann  seine  Einwände  keineswegs  entkräften. 
(An  einer  anderen  Stelle,  II,  476'— 479,  äussert  sich  F.  doch  skeptischer  über 
das  ^Gemüth'  ;  vgl.  dazu  Cohen,  2.  A.  581.)  Gegen  die  „Transscendenz  des 
Subjects"  wendet  sich  neuerdings  besonders  auch  wieder  im  Anschluss  an 
Schuppe  und  Laas  v.  Schubert-Soldern.  Vgl.  bes.  Schuppe,  Log.  63  ff. 
73  ff.  gegen  die  „Isolirung*  des  Subjects.  Auch  die  Jacob'schen  Annalen 
erhoben  III,  186  gegen  Kant  den  Vorwurf,  er  lege  ungeprüft  den  meta- 
physischen Begriff  eines  Subjects  zu  Grunde.  „Denn  ein  solches  Subject 
(unserer  Gedanken  und  Erkenntnisse)  ist  uns  weder  durch  den  inneren, 
noch  durch  äussere  Sinne  gegeben.^     Dadurch  werde  die  Kritik  selbst 


12  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  33.  [B  81.  H  56.  E  71.] 

metaphysisch  und  verliere  die  Befugniss,  über  metaphysische  Fragen  in 
oberster  Instanz  zu  entscheiden. 

Eine  eigenthümliche  Bemerkung  findet  sich  in  Jacobs  Annalen  1797, 
III,  190 :  es  sei  nicht  klar,  ob  der  Ausdruck  Gemüth  einen  Gemeinbegriff  oder 
einen  Einzelbegriff  bezeichnen  solle,  d.  h.  ob  so  viele  Gemüther  als  Menschen 
sind,  oder  ob  für  sämmtliche  menschliche  Individua  nur  ein  einziges  Gemüth 
gedacht  werden  soll?  Diese  Frage  ist  offenbar  aus  dem  Kreise  der  Beck- 
Fichte'schen  Kantianer  heraus  gestellt;  sie  leitet  über  zu  der  Fichte'schen 
Weiterbildung  des  Kantianismus ,  denn  Fichte  fasst  das  »Ich*^  bekanntlich 
(nach  Windelbands  treffendem  Ausdruck ,  Gesch.  d.  n.  Philos.  II ,  206. 
211  u.  ö.)  als  „ überindividuell ".  Auch  Windelband  selbst  legt  Kant  so 
aus  und  spricht  ib.  S.  76  u.  Ö.  von  einer  „über individuellen  Organi- 
sation", welche  Kant  gelehrt  habe.  Die  Kantische  Lehre  mag  zu  dieser 
Consequenz  führen,  aber  bei  Kant  selbst  ist  hievon  nichts  zu  finden;  Kant 
nimmt  offenbar  ebenso  viele  „Gemüther"  als  Menschen  an.  —  Auch  Cohen 
fasst  das  Gemüth  oder  das  Subject  nicht  individuell,  aber  auch  nicht  über- 
individuell als  Weltvernunffc,  sondern  in  seinem  specifisch  „erkenntnisskriti- 
schen Sinne".  Er  sagt  (Ks.  Begründung  der  Aesthetik  S.  106):  „es  ist  das 
in  der  Wissenschaft  objectiv  gewordene  Bewusstsein."  Aehnlich  heisst  es  bei 
Liebmann  (An.  d.  Wirk.  1.  A.  206) :  „der  Gattungstypus  der  menschlichen 
Intelligenz." 

Ueber  „Gemüth"  (und  „Seele")  vergleiche  man  ferner  Herder,  Met.  I,  79 
(dagegen  Noire,  Aphorismen  28);  Baader,  W.W.  XI,  303;  Witte,  Wesen 
d.  Seele  22  ff.,  Zur  Erk.  94;  Knauer  in  Phil.  Mon.  XVI,  21.  Wolff,  Spec. 
u.  Phil.  I,  166.  Avenarius,  Weltbegriff  (1891),  S.  106.  118.  Hegler, 
Psych,  in  Ks.  Ethik  (1891),  S.  52  ff. 

Die  Fähigkeit»  TorstellungeiL  durcli  die  Art,  wie  wir  von  degen- 
stSnden  afflcirt  werden,  zu  bekommen,  heisst  Sinnlichkeit.  Diese 
fundamentale  Definition  der  Sinnlichkeit  findet  sich  schon  in  der  Dissertation 
von  1770,  sogleich  am  Anfang  des  §  3:  „Sensualitas  est  receptivitas 
BÜbjecti,  per  quam  possihile  est,  ut  Status  ipsius  repraesentalivus  objecti  aUcujus 
praesentia  certo  modo  afficiatur."  Man  erkennt  unmittelbar,  dass  die  Stelle 
der  Kritik  eine  wörtliche  Wiederholung  der  Dissertation  ist:  selbst  der 
Ausdruck  „certo  modo*'  findet  sich  hier  in  der  Kritik  in  dem  vorhergehenden 
Satze,  in  welchem  gesagt  wird,  dass  der  Gegenstand  das  Gemüth  ,auf 
gewisse  Weise*  afficire.  Ebenso  A  493.  —  Die  Definition  wird  ihrer 
Wichtigkeit  halber  von  Kant  sehr  häufig  ganz  in  derselben  oder  in  einer 
ähnlichen  Form  wiederholt.    So  z.  B.  unten  A  44.     Vgl.  Holder  S.  6. 

Uebrigens  ist  bei  dieser  Definition  der  Sinnlichkeit  nur  die  erkennt- 
nisstheoretische Bedeutung  derselben  berücksichtigt.  An  anderen,  späteren 
Stellen  hat  Kant  den  Ausdruck  „Sinnlichkeit"  dahin  erläutert,  dass  er 
darunter  die  niedere  Grundlage  im  Menschen  versteht,  sowohl  im 
Erkennen  als  im  Wollen.  Er  unterscheidet  in  diesem  Sinne  gelegentlich 
eine  sensualüas  repraesentativa  und  appetüiva.     Vgl.  A  583.     Vgl,  hierüber 


Die  Sinnlichkeit  als  ein  „Vermögen".  13 

[B  31.  H  65.  E  71.]  A 19.  B  38. 

Schmid,  Wörterb.  S.  484  ff.  und  Mellin  V,  311  ff.  Von  dieser  Bedeutung 
der  Sinnlichkeit  konnte  Kant  an  dieser  Stelle  ruhig  absehen.  Dasselbe  gilt 
von  der  Ein th eilung  der  Sinnlichkeit  in  Sinn  und  Gefühl,  welche  am  besten 
am  Anfang  der  Bechtslehre  (Ein!.  I/Anm.)  entwickelt  ist  (vgl.  Tugendl. 
Einl.  Xn,  a). 

Die  Sinnlichkeit  ist  die  niedere  Grundlage  im  Menschen  gegenüber 
Verstand  und  Vernunft  —  Bestimmungen,  welche  Kant  von  früheren  Dog- 
matisten  herübergenommen  hat;  schon  bei  den  Alten,  bes.  bei  Piaton, 
findet  sich  ja  dieselbe  Eintheilung  des  Menschen  gleichsam  in  zwei  Etagen, 
dann  bei  den  Neueren  besonders  wieder  bei  Leibniz,  sowie  bei  Wolff. 
Besonders  der  Letztere  hat  ja  die  ^facultcUes  animae  humanae^  ganz  nach 
diesem  Schema  eingetheilt.  Zur  pars  ivferior  des  Er kenntniss Vermögens 
gehört  die  facultas  sentiendi  {Psyckol.  empir.  §  54);  Wolff  definirt: 
Sensus  est  facultas  percipiendi  ohjecta  externa,  mutationem  organis  seiv- 
sortis  inducentia.  Ganz  ähnlich  definirt  Kant  hier  die  Sinnlichkeit  als  die 
„Fähigkeit,  Vorstellungen  zu  bekommen"  durch  Affection  seitens  der 
Gegenstände.    Vgl.  auch  Hegler,  Psych,  in  Ks.  Ethik  (1891),  S.  49  ff.« 

Den  zufälligen  Umstand,  dass  Kant  hier  an  dieser  Stelle  gerade  die 
Sinnlichkeit  nicht  ausdrücklich  als  ein  „Vermögen^  bezeichnet,  hat  sich 
Cohen  zu  Nutze  gemacht.  Man  macht  Kant  bekanntlich  mit  Recht  den 
Vorwurf,  dass  er  in  den  psychologischen  Grundlagen,  auf  welche  er  seine 
kritische  Erkenntnisstheorie  aufgebaut  hat,  sich  unkritisch  an  die  Wolffische 
Vermögenslehre  angeschlossen  habe.  Vgl.  oben  S.  10. 11.  Vgl.  Herbart,  W.  W. 

1,  55.  259-  in,  128.  Vgl.  auch  Drobisch,  Psych.  §  127.  Kantianern  wie 
Cohen,  welche  im  üebrigen  auf  dem  Boden  der  modernen,  besonders  durch 
Herbart  vom  Vermögensbegriff  befreiten  Psychologie  stehen,  ist  dieser  Vor- 
wurf stets  sehr  unbequem  gewesen.  Da  hier  nun  Kant  nur  den  Aus- 
druck „Fähigkeit",   nicht  „Vermögen**  gebraucht,   triumphirt  Cohen  (S.  16, 

2.  Aufl.  108;  dag.  347):  „Es  steht  nichts  von  Kraft  oder  Vermögen  in 
dieser  Bestimmung.  Das  wird  nicht  nur  apologetisch  hinweggedeutet:  es 
ist  ausdrücklich  vermisst  worden.  Der  Kantianer  Krug  hat  an  diesem 
dehnbaren  unparteiischen  Ausdrucke  Anstoss  genommen.**  Krug  hat  nämlich 
in  seiner  „ Fundamentalphilosophie **  3.  Aufl.  S.  160  in  einer  Anmerkung 
factisch  den  Ausdruck  „Fähigkeit**  an  dieser  Kantischen  Stelle  bemängelt; 
da  die  Sinnlichkeit  auch  activ  sei,  nicht  bloss  passiv,  so  „scheint  das  Wort 
Vermögen  schicklicher  zu  sein*.  Es  ist  aber  rein  zufällig,  dass  Kant 
gerade  an  dieser  Stelle  nicht  diesen  Ausdruck  gewählt  hat:  an  anderen 
Stellen  der  Kr.  d.  r.  V.  bedient  er  sich  desselben  ganz  ungenirt:  so  besonders 
gleich  am  Anfange  der  Analytik  (A  51),  woselbst  er  von  „Sinnlichkeit**  und 
„Verstand**  sagt:  „beide  Vermögen  oder  Fähigkeiten  können  auch  ihre 
Functionen  nicht  vertauschen** ;  so  bes.  ferner  A  494,  wo  Kant  ausdrücklieh 
vom  „sinnlichen  Anschauungs vermögen**  spricht  (vgl.  A  94).  Vgl.  die  Ein- 
leitung zur  Kr.  d.  Urtheilskraft  III,  wo  Kant  von  der  „Kritik  der  Erkenntniss- 
vermögen **  spricht,  „was  sie  a  priori  leisten  können**,  und  woselbst  er  diesen 


14  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  38.  [R  31.  H  56.  E  71.] 

Ausdruck  sehr  oft  ohne  alle  Restriction  wiederholt.  Vgl.  Anthropologie 
§  18  und  Reflexionen  II,  N.  314.  Es  ist  also  allerdings  eine  blosse  «apo- 
logetische Hinwegdeutung",  wenn  Cohen  (S.  15,  2.  Aufl.  S.  107)  sagt,  man 
solle  hier  nicht  an  „SeelenvermÖgen^  denken;  |,dies  ist  um  so  mehr  statt- 
haft, als  wir  durch  die  Kantischen  Definitionen  an  jenen  Ausdruck  gar  nicht 
erinnert  werden.  Kant  geht  nicht  von  der  Sinnlichkeit  aus  als  einem 
Princip,  aus  dem  er  seine  Psychologie  ableitet,  sondern  er  geht  Ton  den 
Vorgängen  selber  aus,  nicht  von  einem  Organ."  üeber  „Vermögen*  vgl. 
übrigens  auch  Mellin  II,  518  ff.  V,  811  fl^.,  der  als  „echter  Kantianer*'  ganz 
derb  von  „Erkenntniss vermögen"  und  seinen  einzelnen  Arten  spricht. 
Insofern  liegt  in  der  Annahme  der  Sinnlichkeit  auch  schon  wiederum  die 
von  Kant  sonst  verpönte  Anwendung  des  Causal-  und  des  Sub^tanzbegriffes, 
ganz  so  wie  oben  in  der  Annahme  des  „Gemüths*.  Dies  hat  nach- 
gewiesen A.  V.  Leclair,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  VII,  274 — 278,  wo  das  „kate- 
goriale  Gepräge"  dieser  und  ähnlicher  erkenntnisstheoretischer  Begriffe  unter- 
sucht wird. 

•  Wunderlich  ist  auch,  was  Cohen  S.  16  (2.  Aufl.  S.  108)  in  die 
Wendung  „Die  Art,  wie  wir  von  Gegenständen  afflcirt  werden"  hineinlegt. 
Diese  Wendung  „die  Art  wie"  ist  bei  Kant  sehr  beliebt  und  eine  etwas 
pedantische  Wendung  statt  —  „dadurch,  dass",  sagt  aber  etwas  mehr 
als  die  letztere ,  insofern  in  jener  eben  nicht  bloss  die  nackte  Thatsache, 
sondern  eine  bestimmte  Modalität  derselben  bezeichnet  werden  soll.  Vgl. 
z.  B.  unten  A  44,  B  67  f.,  wo  die  Wendung  auf  kleinem  Räume  5  mal 
nach  einander  gebraucht  wird.  Vgl.  z.  B.  auch  A  251  und  Reflexionen, 
II,  Nr.  817.  Anthropol.  §  7  Anm.  Auch  Thiele  (Ks.  intellectuelle  An- 
schauung S.  4.43)  legt  in  diese  Wendung  zu  viel  hinein ;  Kant  wolle  damit 
darauf  hinweisen,  dass  „der  bestimmte  Inhalt  der  Anschauungen  den  be- 
stimmten Einwirkungen  der  Gegenstände  entspricht". 

Auch  in  dieser  Definition  der  Sinnlichkeit  bildet  die  schon  oben  S.  6  ff. 
erörterte  Existenz  afficirender  Dinge  an  sich  ein  analytisches  Merk- 
mal, eine  nicht  weiter  bewiesene  Voraussetzung  (bes.  deutlich  bei  Rein- 
hold, Th.  D.  Erk.  279  ff.);  diese  Definition  war  daher  denjenigen  sehr  un- 
bequem, welche  die  Affection  durch  unabhängige  Dinge  an  sich  perhorres- 
cirten  und  möglichst  Alles  aus  dem  Ich  selbst  hervorgehen  lassen  wollten. 
Dies  zeigt  sich  bes.  bei  Beck,  welcher,  während  er  oben  S.  4  die  Ein- 
führung des  empirischen  (durch  Kategorien  bestimmten)  Gegenstandes  gleich 
am  Anfang  bekämpft,  hier  sich  gegen  die  Einfuhrung  des  transscendenten 
(afficirenden ,  unsere  Sinnlichkeit  bestimmenden)  Gegenstandes  sträubt.  In 
einem  verloren  gegangenen  Brief  vom  9.  XII.  91  hatte  er  offenbar  Einwände 
erhoben;  darauf  antwortet  ihm  Kant  am  20.  I.  92  (Archiv  II,  623  f.): 
„Vielleicht  können  Sie  es  vermeiden,  gleich  anfänglich  Sinnlichkeit  durch 
Receptivität ,  d.  i.  die  Art  der  Vorstellungen,  wie  sie  im  Subjecte  sind, 
sofern  es  von  Gegenständen  afficirt  wird,  zu  definiren,  und  es  in  dem 
setzen,    was   in    einem   Erkenntnisse   bloss   die  Beziehung   der   Vorstellung 


Dinge  an  sich  als  Correlate  der  Sinnlichkeit.  15 

[R  31.  H  55.  K  71.]  A 19.  B  88. 

aufs  Subject  ausmacht''  u.  s.  w.  Was  aber  weiter  folgt,  ist  ganz  unklar 
und  ,in  Eile  abgefasst^. 

In  seinem  Auszug  I,  6  ff.  Hess  Beck  zunächst  die  alten  Bestimmungen 
Kants  stehen;  aber  Auszug  III^  45  ff.  368  ff.,  Grundriss  59  ff.  hebt  er  die- 
selben wieder  auf  und  löst  die  Beceptivität  der  Sinnlichkeit  auf  in  die  spon- 
tane Thätigkeit  des  , ursprünglichen  Vorstellens**.  Wirkliche  Affection  des 
Sabjects  durch  Dinge  an  sich  fällt  damit  natürlich  ebenfalls  hinweg,  und 
es  bleibt  nur  eine  Affection  desselben  durch  (durch  das  Denken  selbst  erst 
erdachte  und  gemachte)  Erscheinungen  =  Vorstellungen.  (Vgl.  hierüber  noch 
den  unten  folgenden  Excurs.) 

Es  war  vollständig  gerechtfertigt,  wenn  Schultz  in  seinem  Berichte 
hierüber  sagte,  Beck  wolle  „die  Sinnlichkeit  wegexegisiren'.  In  zwei  von 
grosser  Verworrenheit,  ja  man  möchte  versucht  sein,  zu  sagen,  von  Unred- 
lichkeit zeugenden  Briefen  an  Kant  vom  20.  und  24.  VI.  97  sucht  sich  Beck 
dagegen  zu  vertheidigen  (Altpr.  Mon.  XXII,  435  ff.) ;  er  habe  zwischen  Sinn- 
lichkeit und  Verstand  immer  scharf  geschieden  u.  s.  w.,  ohne  den  Haupt- 
punkt zu  berühren,  dass  eben  nach  Kant  Sinnlichkeit  ist:  wirkliche  Recep- 
tivität  des  Subjects  gegenüber  den  afficirenden  Dingen  an  sich;  nach  Beck 
aber  nur  eine  scheinbare  gegenüber  blossen  Erscheinungen.  Kant  hatte  seine 
Definitionen  buchstäblich  gemeint;  Beck  wiederholte,  so  oft  er  konnte,  die 
buchstäbliche  Auffassung  sei  falsch,  bleibe  im  Dogmatismus  stecken,  den 
,Oeist  der  kritischen  Philosophie'  habe  nur  Er  erfasst. 

Kant  ergriff  aber  noch  einmal  Gelegenheit,  gegen  jene  Auffassung  der 
Sinnlichkeit  zu  protestiren.  In  einem  „Entwurf  der  Transscendentalphilo- 
sophie"  1798,  S.  52  ff.  hatte  Buhle  die  Bestimmungen  von  Beck  in  gemil- 
derter Form  wiederholt.  Eine  Recension  in  der  „Erlanger  Litt.  Zeit.*  vom 
11.  Januar  1799  schloss  sich  diesen  Bestimmungen  an  und  forderte  Kant  auf, 
dazu  endlich  öffentlich  Stellung  zu  nehmen.  Dies  rief  seine  bekannte  „Er- 
klärung in  Beziehung  aufFichte's  Wissenschaftslehre"  vom  7.  August  1799 
hervor.  Darin  heist  es  u.  A. :  „  Da  der  Becensent  behauptet,  dass  die  Kritik 
in  Ansehung  dessen,  was  sie  von  der  Sinnlichkeit  wörtlich  lehrt,  nicht 
buchstäblich  zu  nehmen  sei,  sondern  ein  Jeder,  der  die  Kritik  verstehen 
wolle,  sich  allererst  des  gehörigen  (Beck'schen  oder  Fichte'schen)  Stand- 
punktes bemächtigen  muss,  weil  der  Kantische  Buchstabe  ebenso  wie  der 
Aristotelische  den  Geist  tödte;  so  erkläre  ich  hiermit  nochmals,  dass  die 
Kritik  allerdings  nach  dem  Buchstaben  zu  verstehen  und  bloss  aus 
dem  Standpunkte  des  gemeinen,  nur  zu  solchen  abstracten  Untersuchungen 
hinlänglich  cultivirten  Verstandes  zu  verstehen  ist." 

Ist  nach  dieser  Erklärung  Kants  Lehre  von  der  „Sinnlichkeit"  buch- 
stäblich zu  verstehen,  so  ist  auch  die  Annahme  „afficirender  Gegenstände" 
buchstäblich  zu  nehmen.  Beides,  die  „receptive  Sinnlichkeit'*  und  die 
„inteUigible  Ursache  der  Erscheinungen**  hat  ja  Kant  als  nothwendige 
Correlate  in  ausdrückliche  Verbindung  gebracht  in  der  bekannten  Stelle 
A  494  =  B  522;   es   handelt   sich   da  nicht  bloss,    wie  z.  B.   Lehmann, 


16  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  38.  [E  31.  H  56.  K  71.] 

Ks.  Lehre  vom  D.  ä.  s.  S.  11  annimmt,  um  eine  blosse  „Hilfshjpothese",  auch 
nicht  wie  Drobisch  Ks.  Dinge  an  sich  S.  9  annimmt,  um  ,,eine  nur  denk- 
nothwendige  Voraussetzung  des  Begriffes  der  Receptivität,  ohne  welche 
diese  ganz  sinnlos  würde*',  sondern  um  eine  „selbständige,  von  unserem  Denken 
unabhängige  Existenz  dieses  transscendentalen  Objects*'.  In  diesem  Sinne 
sagt  ja  Kant  auch  (gegen  Eberhard,  Ros.  I,  436):  es  sei  ^die  beständige 
Behauptung  der  Kritik,  dass  Gegenstände  als  Dinge  an  sich  den  Grund 
enthalten,  das  Vorstellungsvermögen  seiner  Sinnlichkeit  gemäss  zu  be- 
stimmen **.  Ueber  diese  Voraussetzung  Kants  vgl.  noch  bes.  W.  Münz, 
Grundl.  d.  K.'schen  Erk.-Theorie,  S.  56—78.     Rehmke,  Welt  16  ff. 

Zeller  hat  daher  vollständig  Recht,  wenn  er  (Deutsche  Phil.  486)  das 
Ding  an  sich  als  eine  Voraussetzung  Kants  bezeichnet,  und  es  ist 
Stadler  nicht  gelungen,  diese  durchaus  zutreffende  Behauptung  zu  wider- 
legen. (Kants  Teleol.  S.  13).  Daher  sagt  auch  Riehl,  Krit.  I,  442  ff. 
ganz  richtig:  „Der  Nachweis  der  Existenz  der  Dinge  liegt  in  diesen  Er- 
klärungen nicht,  vielmehr  ihre  Voraussetzung.*  Ebenso  ib.  443.  Vgl. 
ib.  II,  a,  32  f.:  „Die  Empfindung  entsteht  nach  Kant  durch  wirkliche 
(nicht  scheinbare  oder  eingebildete)  Affection  unserer  Sinnlichkeit, 
welche  deshalb  receptiv  heisst,  von  aussen,  d.  i.  durch  eine  Existenz,  die 
von  unserer  eigenen  verschieden  und  unabhängig  ist.  In  diesem  Sinne  nennt 
K.  die  Empfindung:  gegebe n.** 

Auch  Volkelt,  Ks.  Erkenntnisstheorie  S.  100  bemerkt  hiezu  sehr 
treffend:  „Das  Ding  an  sich  wird  so  gedacht,  dass  es  an  der  Sinnlich- 
keit des  Subjects  sein  Gegenüber  hat  und  nun  auf  diese  einen  gewissen 
Ein  flu  SS  ausübt,  sie  rührt  oder  afficirt.  So  entstehen  also  die  äusseren 
Erscheinungen  aus  dem  Zusammenwirken  des  Dinges  an  sich  mit  der 
sinnlichen  Seite  des  Subjects.  Die  Erkenntnisstheorie,  die  sich  in  diesen 
Sätzen  ausspricht,  muss  auf  dem  (sonst  von  Kant  eingenommenen)  Stand- 
punkte des  absoluten  Skepticismus  als  durchaus  transscendent  und  daher 
vollständig  problematisch,  als  ebenso  wahrscheinlich  wie  unwahrscheinlich 
gelten.  Allein  Kant  kümmert  sich  um  die  Consequenzen  dieses  Stand- 
punktes nicht,  sondern  gehorcht  einfach  den  Forderungen  seines  Denkens, 
welches  ihn  nöthigt,  nach  einer  Ursache  des  unserem  Belieben  völlig  ent- 
zogenen Empfindungsstoffes  zu  fragen,  und  ihn  diese  Ursache  in  dem  Zu- 
sammenwirken des  unbekannten  Dinges  an  sich  mit  der  sinnlichen  Seite 
des  Subjects  finden  lässt.''     Vgl.  auch  Bergmann,  Metaph.  151  ff. 

Vermittelst  der  Sinnlichkeit  werden  uns  Gegenstände  gegeben. 
Dieser  Satz  hat  (vgl.  Comm.  I,  491)  nach  zwei  Seiten  hin  viel  Anstoss 
gegeben:  einmal  wird  eingewendet,  dass  Kant  sich  widerspricht,  indem  ja 
nach  seiner  späteren  Lehre  ein  „Gegenstand**  nicht  schon  durch  die  Sinn- 
lichkeit, sondern  erst  durch  den  Verstand  zu  Stande  kommt.  Und  zweitens 
wird  der  Ausdruck  bemängelt,  dass  uns  der  Gegenstand  „gegeben**  werde. 

Den  ersteren  Einwand  erhob,  wie  wir  schon  S.  4  erfuhren,  Beck 
(vgl.  dazu  seinen  Auszug  III,   366  ff.).    Und  besonders  energisch  hat  dann 


Kann  die  Sinnlichkeit  schon  , Gegenstände '^  geben?  X7 

[E  31.  H  55.  K  71.]  A 19,  B  33. 

Schopenhauer  in  seiner  Krit.  d.  Kant.  Phil.  520.  565  sich  tadelnd  über 
diese  Wendung  ausgesprochen:  denn  der  sinnliche  Eindruck  sei  eine  blosse 
Empfindung,  welche  erst  durch  Anwendung  der  Yerstandesfunction  der  Causa- 
lität  durch  den  Intellect  in  einen  eigentlichen  Gegenstand  verwandelt 
werde.  Auch  Andere  haben  sich  ähnlich  ausgesprochen,  so  Sigwart, 
Gesch.. III,  41.  50;  vgl.  Abb.  d.  Friesischen  Schule  X,  7  flf.;  femer  Holder 
in  seiner  „Darstellung' '  (1874)  S.  7  N.,  und  bes.  S.  42  f.:  „hier  tritt  der 
bloss  vorläufige  Charakter  der  transsc.  Aesthetik  deutlich  zu  Tage.  .  Dieser 
Ausdruck  ist  (auf  Grund  der  Transsc.  Analytik)  dahin  zu  restringiren,  dass 
nur  die  zu  Gegenständen  zusammenzusetzenden  Elemente  im  strengen 
Sinne  gegeben  werden,  während  die  Gegenstände  (Objecte)  selbst  immer 
schon  auf  einer  durchaus  vollzogenen  (noth wendigen,  kategorialen)  Ver- 
knüpfung dieser  Elemente  beruhen.'*  Aehnlich  Arnoldt,  Ks.  Prol.  49. 
Es  ist  nun  ganz  richtig,  dass  nach  der  Analytik  der  empirische  Gegenstand 
im  strengen  Sinne  des  Wortes  erst  durch  die  Mitwirkung  der  Kate- 
gorien zu  Stande  kommt.  Was  wir  nur  durch  die  Sinnlichkeit  erhalten 
(ohne  Mitwirkung  der  Kategorien),  ist  nur  im  weiteren,  laxeren  Sinne  em- 
pirischer Gegenstand  zu  nennen  ^     Vgl.  oben  S,  4. 

Doch  kann  man  hier  Kant  keinen  Vorwurf  darüber  machen,  dass  er 
hier  noch  nicht  auf  die  Mitwirkung  der  Kategorien  aufmerksam  gemacht 
hat.  Es  wäre  dies  an  dieser  Stelle  eine  unnöthige  Ueberlastung  gewesen. 
Er  konnte  es  hier  ruhig  der  weiteren  Leetüre  des  Lesers  überlassen,  durch 
die  späteren  Theile  diese  vorläufigen  Bemerkungen  zu  ergänzen.  Und  in 
diesem  Sinne  sind  auch  einige  briefliche  Aeusserungen  Kants  gegenüber 
Beck  gehalten;  dieser  nahm  an  den  vorläufigen  Bestimmungen  dieses  §  1 
gewaltigen  Anstoss  und  plagte  den  alten  Mann   mit  allerlei  dai*auf  bezüg- 

^  Es  ist  wichtig,  das  Verhältmss  dieser  Unterscheidung  zweier  Bedeutungen 
von  .Gegenstand"  zu  der  oben  S.  7  getroffenen  Distinction  von  zwei  Bedeutungen 
desselben  Ausdruckes  festzustellen.  Oben  unterschieden  wir  den  „transscendenten* 
und  den  , empirischen*  Gegenstand.  Hier  wird  (wie  schon  S.  4)  vom  „empirischen 
Gegenstand"  selbst  ein  strengerer  und  ein  laxerer  Sinn  angenommen;  Gegenstand 
im  strengeren  Sinne  ist  der  kategorial  bestimmte^  im  laxeren  Sinne  der  durch 
Kategorien  noch  nicht  bestimmte,  der  also  nur  das  Rohmaterial  enthält  zu  jenem 
durch  die  Verstandesformen  erst  bestimmten,  eigentlichen,  geformten  Gegenstande, 
während  das  blosse  Rohmaterial  an  sich  noch  nicht  umgeformt,  noch  „unbestimmt" 
(vgl.  unten)  ist,  und  nur  im  uneigentlichen  Sinne  schon  als  Gegenstand  bezeichnet 
wird.  Wir  habe*:  aomit  im  Ganzen  drei  verschiedene  Bedeutungen  des  Ausdruckes 
„Gegenstara'  constatirt:  unbestimmter  Gegenstand,  bestimmter  Gegenstand,  Ding 
an  sich.  In  derselben  Weise  ist  der  Unterschied  auch  schon  richtig  gemacht 
worden  von  AI.  Wernicke  in  einem  mir  zur  Verfugung  gestellten  Manuscripte 
von  IF^l  („Ks.  Theorie  des  Gegenstandes  und  des  Dinges  an  sich"),  dem  ich  mannijr- 
fache  Anregung  verdanke.  Derselbe  bemerkt  richtig:  „Was  im  Eingange  der 
Kricik  ala  Eins  erscheint,  zerfällt  im  Laufe  der  Untersuchung  in  begrifflich  Ver- 
lächiedenes.  ,Gegenstand'  erscheint  zunächst  als  identisch,  löst  sich  aber  dann 
weiterhin  in  jene  drei  Bedeutungen  auf." 

Vaihinger,  Kant-Cominentar.    II.  2 


20  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  33.  [R  31.  H  55.  K  71.] 

Buchte  Beck  das  Gegebene  los  zu  werden,  indem  er  es  als  das  Product  des 
„ursprünglichen  Yorstellens'^  fasste.  Fichte  vollends  entwickelt  einen  förm- 
lichen Hass  gegen  das  ,  Gegebene^  —  ihm  ist  Alles  vom  Ich  gesetzt,  erzeugt, 
geschaffen.  (Weiteres  hierüber  s.  besonders  in  dem  unten  folgenden  Excurs 
über  den  «^^cirenden  Gegenstand ''.) 

Massvoller,  aber  untereinander  in  einem  interessanten  Gegensatz 
stehend,  sind  die  Einwände  von  Schopenhauer  und  Herbart.  Beide  sind 
von  Fichte  ausgegangen,  aber  der  Erstere  hat  in  diesem  Punkte  von  seinem 
idealistischen  Lehrer  mehr  bewahrt  als  der  Letztere,  der  sich  entschieden 
dem  Realismus  zuwendete.  Schopenhauer  (Kr.  d.  K.  Phil.  509.  519.  521.  524) 
findet  die  Kantische  Wendung,  die  Anschauung  sei  gegeben,  „nichtssagend, 
wunderlich '^,  und  tadelt  Kant,  dass  er  „diesen  unbestimmten  und  bildlichen 
Ausdruck*  nicht  weiter  erkläre.  (Vgl.  dagegen  Cohen  S.  175,  2.  A.  185. 
240.  359  ff.;  Philos.  Monatsh.  1890,  818  ff.)  Herbart  tadelt  Kant,  dass  er 
dieses  Gegebene  nicht  näher  analysirt  habe ;  er  wäre  dann  darauf  gefuhrt 
worden,  von  diesem  Gegebenen  auf  das  Nicht-Gegebene,  auf  die  Welt  des 
Wahrhaft-Realen  zu  schliessen;  denn  jenes  „ Gegebene '^  unserer  Erfahrung 
erkläre  sich  eben  nur  durch  eine  bestimmte  Beschaffenheit  des  nicht- 
gegebenen,  aber  wahrhaft  seienden  Realen.  (Vgl,  bes.  W.  W.  IV,  68  ff*  Vgl.  dazu 
Strümpell,  Herbarts  Metaphysik  S.  84ff\  Liebmann,  Epigonen  8.  112  ff.)  Aach 
Schleiermacher  (Dialektik  §  106  ff.)  schliesst  vom  „Gegebenen"  aufs  Reale. 

Endlich  ist  noch  zu  bemerken,  dass  in  dem  Kantischen  Ausdruck  des 
Gegebenseins  der  Anschauungen  resp.  der  Gegenstände  stets  mit  Recht 
die  Anerkennung  oder  besser  die  Voraussetzung  der  Existenz  der 
Dinge  an  sich  gefunden  worden  ist.  Denn  sind  jene  Anschauungen  nicht 
von  uns  selbst  producirt,  sondern  uns  gegeben,  so  mag  zwar  die  Qualität 
derselben  von  unserer  subjectiven  Beschaffenheit  abhängen,  aber  dass  uns 
überhaupt  Anschauungen  „  gegeben  **  werden,  setzt  ein  von  uns  unabhängiges 
„gebendes"  Sein  voraus.  Auch  mag  die  Form  jener  Anschauungen  rein 
subjectiv  sein,  aber  dass  wir  überhaupt  etwas  erhalten,  was  wir  in  die 
apriorische  Form  fassen  können,  —  dieser  aposteriorische  Factor  setzt  eben 
ein  von  uns  unabhängiges  Sein  an  sich  voraus,  dessen  Einwirkung  auf  uns 
jenes  empirische  Material  verdankt  wird.  Dass  der  Ausdruck  „gegeben^ 
diese  weittragende  Bedeutung  hat,  ist  oft  bemerkt  worden,  bes.  energisch 
von  Sigwart,  Gesch.  III,  59.  68.  149,  sowie  von  Riehl  (vgl.  oben  S.  16). 
Es  führt  dies  auf  die  Frage,  welche  schon  oben  S.  8.  15  berührt  worden  ist, 
und  welche  unten  in  einem  eigenen  Excurs  abgehandelt  werden  muss.  lieber 
dies  „Problem  des  Gegebenseins"  vgl.  bes.  Riedel,  Die  Bedeutung  des 
D.  a.  s.  in  der  K.'schen  Ethik.  Progr.  Stolp  1888,  S.  4  ff.  19  ff.  Knauer, 
Phil.  Mon.  1885,  479—491.  E.  v.  Hartmann,  Tr.  Real.  73.  Staudinger, 
Noumena  25.  33.  65.  66.  86.  107.  127  ff.:  „Die  Empfindungen  werden  uns 
durch  Etwas  gegeben.  Die  Empfindung  enthält  also  schon  die  Beziehung 
eines  transsubjectiven  Etwas  auf  uns.*  (Insofern  sei  dieses  gebende  Etwas 
auch  „eine  Bedingung  der  möglichen  Erfahrung*,) 


Das  , Gegebene**  und  die  Dinge  an  sich.  21 

[E  31.  H  55.  K  71.]  A 19.  P  33, 

Dass  dies  im  Sinne  Kants  sei,  beweist  besonders  schlagend  eine  wenig 
bekannte  Stelle  aus  der  Grundl.  z.  Met.  d.  Sitten,  3.  Abschn.  (Ros.  VIII,  84 ; 
Hart.  IV,  299) :  „Sobald  dieser  Unterschied  der  Erscheinungen  und  der  Dinge 
an  sich  selbst  (allenfalls  bloss  durch  die  bemerkte  Verschiedenheit  zwischen 
den  Vorstellungen,  die  uns  anderswoher  gegeben  werden,  und  dabei  wir 
leidend  sind,  von  denen,  die  wir  lediglich  aus  uns  selbst  hervorbringen  und 
dabei  wir  unsere  Thätigkeit  beweisen)  einmal  gemacht  ist,  so  folgt  von 
selbst,  dass  man  hinter  den  Erscheinungen  doch  noch  etwas  anderes,  was 
nicht  Erscheinung  ist,  nämlich  die  Dinge  an  sich,  einräumen  und  annehmen 
müsse,  ob  wir  gleich  uns  von  selbst  bescheiden,  dass,  da  sie  uns  niemals 
bekannt  werden  können,  sondern  immer  nur,  wie  sie  uns  af&ciren^  wir 
ihnen  nicht  näher  treten,  und,  was  sie  an  sich  sind,  niemals  wissen  können/ 
Und  angesichts  solcher  und  hundert  ähnlicher  Stellen  haben  noch  heute 
gewisse  „Kantianer*  den.Muth,  zu  behaupten,  Kant  habe  nicht  im  Ernste 
von  unbekannten  Dingen  an  sich  gesprochen,  welche  uns  afficiren! 

Dieser  K9.ntische  Schluss  vom  „Geg ebenen'  auf  ein  unabhängiges 
transscendentesSein  wird  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  wieder 
bemängelt  und  zuiiickgewiesen ;  so  in  einem  an  Fichte  erinnernden  Sinne 
von  Schuppe  (bes.  Logik  142  ff.:  „Das  Gegebene  und  die  Denkarbeit"), 
A.  V.  Leclair,  Behmke,  v^  Schubert-Soldern  („Ueber  Transscendenz 
des  Objects  und  des  Subjects«,  1882,  S.  27  ff.;  Grundl.  d.  Erk.-Theorie,  1884, 
S.  5  ff.).  Mehr  im  Anschluss  an  Protagoras  und  Hume  von  Laas.  (Vgl. 
Keibel,  Werth  und  Ursprung  der  philos.  Transscendenz.  1886.)  — 

Es  ist  hiebei  noch  folgendem  Missverständniss  vorzubeugen :  Die  Wen- 
dung, dass  die  Gegenstände  (oder  wie  es  im  dritten  Absatz  heisst,  die  Materie 
der  Erscheinung  :=  Empßndungen)  uns  gegeben  werden,  könnte  dahin  aus. 
gelegt  werden,  das  Subject  thue  seinerseits  gar  nichts  dabei,  es  werde  ihm 
nur  etwas  „gegeben'' ;  aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  diese  Materie  der 
Erscheinungv  die  Empfindungen,  doch  auch  vom  Subject  gemacht  sind  und 
nur  als  Keactionen  des  Subjects  auf  die  Affection  hin  in  uns  selbst  ent- 
stehen. Die  Affection  ruft  in  uns  eine  doppelte  Eeaction  hervor:  1)  Das 
Subject  reagirt  auf  dieselbe  durch  die  qualitativen  Empfindungen;  2)  es 
kleidet  diese  qualitativen  Empfindungen  dann  sogleich  in  die  quantitativen 
Formen.  Die  erstere  These  nimmt  Kant  als  Lemma  aus  der  Philosophie 
seiner  Zeit  herüber,  wie  noch  in  der  später  folgenden  methodologischen 
Analyse  der  Transsc.  Aesth.  zu  besprechen  sein  wird. 

Von  neueren  Kritikern  bemerkt  hiezu  H.  Wolff,  „Zusammenhang 
unserer  Vorst.  u.  s.  w."  S.  28:  „Wie  Kant  noch  sagen  kann,  dass  uns  durch 
die  Sinnlichkeit  Gegenstände  gegeben  werden,  dass  wir  durch  die  Sinnlich- 
keit Vorstellungen  empfangen,  bekommen,  weiss  ich  kaum  zu  deuten. 
Das  Empfangen  und  Gegebenwerden  bezeichnet  immer  eine  Passivität, 
während  im  Grunde  genommen  alle  Vorstellungsmomente  mit  den  Dingen 
in  Wirklichkeit  gar  nichts  zu  schaffen  haben,  nur  active  Producte  der 
subjectiven  Vernunft  sind,  die  also  im  besten  Falle  durch  das  Afficirt werden 


22  §  1-    Einleitung^ 

A 19.  B  83.  [B  31.  H  55.  E  71.] 

zu  bestimmten  selbstthätigen  Aeusserungen  nur  veranlasst  wird.^  In  ähn- 
licher Weise  behauptet  B olliger,  Antikant  197  (34.  262.  274):  „Kant  hat 
die  Aporie,  die  im  Begriff  des  Recipirens  liegt,  nie  genug  gefühlt/ 
Gegen  Ausdinick  und  Begriff  des  Gegeben-werdens  polemisirt  auch  bes. 
R.  Hoppe,  Pers.  Denkthätigkeit  30—35.  102.  104.  106.  109.  170.  176. 
186  ff.  191,  und  findet  darin  die  Wurzel  aller  Ean tischen  Irrthümer.  Vgl. 
Riehl,  Krit.  II,  a,  84;  Watson,  Kant  330;  v.  Leclair,  Krit.  Beitr.  9:  Kant  habe 
hier  „die  Rolle  des  gegebenen  Stoffes  gar  zu  stiefmütterlich  behandelt*^. 

Sinnlichkeit  und  Terstand.  Der  Gegensatz  der  passiven  Sinnlich- 
keit und  des  activen  Verstandes  ist  ein  fundamentaler  Ai*tikel  der  Kantischen 
Philosophie  \  der  besonders  in  der  Einleitung  zur  Analytik  wiederholt 
wird.  Dieser  Gegensatz  wird  daselbt  (A  50)  noch  des  Naheren  entwickelt. 
Eingehend  beschäftigt  sich  damit  auch  der  §  7  der  Anthropologie.  —  Die 
Verstandesthätigkeit ,  welche  hier  erwähnt  wird,  ist  hier  übrigens  nicht 
genauer  specificirt,  ob  es  die  gewöhnliche  logische  oder  schon  die  trans- 
scendentale  ist.  M ellin  I,  487  ff.  denkt  nur  an  die  erstere.  Aber  die  Aus- 
drucksweise ist  wohl  mit  Absicht  so  allgemein  gehalten,  dass  Beides  darunter 
befasst  sein  kann.  Ebenso  war  es  in  der  Einleitung,  vgl.  Gomm.  I,  165.  176. 
Dass  Sinnlichkeit  und  Verstand  specifisch  verschieden  seien,  hat  Kant  dann 
unten  A  42  ff.  gegen  Leibniz  weiter  ausgeführt.  Die  Leibnizianer  nahmen 
daher  auch  an  dieser  schroffen  Entgegensetzung  grossen  Anstoss,  nicht  minder 
die  Anhänger  Locke's,  denen  Sinnlichkeit  und  Verstand  ebenfalls  nicht  so 
schroff  getrennt  erschien.  In  diesem  Sinne  äussern  sich  z.  B.  Garve  (vgl. 
Stern,  Garve  u.  Kant  63  ff.)  und  Platner,  Aphorismen  §  651  ff.  697. 

Der  hier  entwickelte  schroffe  Gegensatz  von  Sinnlichkeit  und  Verstand, 
Anschauung  und  Begriff  fand,  aus  den  schon  oben  erörterten  Gründen,  nicht 
den  Beifall  von  S.  Beck.  Ihm  waren  ja  Sinnlichkeit  und  Verstand  nicht 
heterogen,  er  suchte  „ihre  gemeinschaftliche  Wurzel*^  im  „ursprünglichen 
Vorstellen"  (vgl.  Comm.  I,  485  ff.),  und  so  wusste  er  auch  den  Gegensatz 
von  Anschauung  und  Begriff  in  einen  bloss  graduellen  Unterschied  aufzu- 
lösen. Schon  in  dem  Brief  an  Kant  vom  11.  XI.  91  ist  ihm  Anschauung  = 
durchgängig  bestimmte  Vorstellung ;  Begriff  =  nicht  durchgängig  bestimmte 
Vorstellung  (Altpr.  Mon.  XXII,  407).  Kant  geht  in  seiner  Antwort  vom 
3.  VII.  92  (Archiv  II,  628)  nicht  näher  auf  diesen  Gegensatz  ein,  und  bemerkt 
nur:  „Was  Sie  von  Ihrer  Definition  der  Anschauung:  sie  sei  eine  durch- 
gängig bestimmte  Vorstellung  in  Ansehung  eines  gegebenen  Mannigfaltigen, 
sagen,   dagegen  hätte  ich  nichts  weiter  zu  erinnern,  als:   dass  die  durch- 

*  Vgl.  Comm.  I,  485 — 491.  Der  Unterschied  ißt  eine  der  wichtigsten  Voraus- 
setzungen der  Kantißchen  Philosophie.  Vgl.  daiüber  auch  W.  Münz,  Die  Grund- 
lagen der  K.'schen  Erkenntnisstheorie,  2.  A.  1885,  S.  28 — 35.  52.  Vgl.  Zahn,  Die 
K.'sche  Unterscheidung  von  Sinn,  Verstand  und  Vernunft.  Diss.  Jen.  1875,  S.  1^21. 
Noire,  Lehre  Ks.  91  ff.  Besonders  Herbart  hat  diese  Kantische  Prämisse  an- 
gegriffen vom  Standi)unkt  der  Psychologie  aus;  in  eigenthümlicher  AVeise  auch 
Schopenhauer. 


Die  Passivität  der  Sinnlichkeit  und  die  Activität  des  Verstandes.  23 

[B  81.  H  65,  E  71.]  A 19.  B  33. 

gängige  Bestimmung  hier  objectiv,  und  nicht  als  im  Subject  befindlich  ver- 
standen werden  müsse  (weil  wir  alle  Bestimmungen  des  Gegenstandes  einer 
empirischen  Anschauung  unmöglich  kennen  können),  da  dann  die  Definition 
doch  nicht  mehr  sein  würde,  als:  sie  ist  die  Vorstellung  des  Einzelnen  Ge- 
gebenen/ Kant  weist  also  hier  wieder  auf  den  objectiven,  realen  Factor 
hin,  das  Gegebene,  das  vom  afficirenden  Dinge  an  sich  herkommt.  Beck 
hat  den  Wink  nicht  befolgt ;  vgl.  darüber  Auszug  I,  VII.  8.  Im  III.  Band, 
S.  45  ff.  366  ff.,  bes.  402  ff.  bekämpft  er  den  Eantischen  Unterschied  heftig ; 
er  hebt  die  Unterscheidung  von  Anschauung  und  Begriff  wieder  auf,  „ver- 
mischt beide',  wie  er  selbst  sagt,  und  löst  die  sinnlichen  Anschauungen  in 
lauter  Verstandeshandlungen  auf.  Auch  Maimon  war  mit  dem  Kantischen 
Gegensatz  der  receptiven  Sinnlichkeit  und  des  spontanen  Verstandes  nicht 
zufrieden,  und  löste  diesen  qualitativen  Gegensatz  in  den  rein  quantitativen, 
graduellen  Gegensatz  unvollständigen  und  vollständigen  Bewusstseins  auf. 
Von  Beck  und  Maimon  beeinflusst,  hat  dann  Fichte  die  Sinnlichkeit  als 
gehemmte  Verstandeshandlung  aufgefasst,  woraus  dann  wieder  Schellings 
und  Hegels  Speculationen  hervorgegangen  sind.  In  diesem  Sinne  klagt  auch 
Thiele,  Kant  I,  b,  809,  dass  Kant  beides  (wenigstens  noch  1770)  nicht  „in 
einen  inneren,  fanctionellen  Zusammenhang  gebracht  habe".  Vgl.  hiezu 
auch  die  feinsinnigen  Bemerkungen  von  Gaird,  Grit.  PhU,  I,  283 — 285, 
welcher  den  Gegensatz  Beider  in  der  Aesthetik  mehr  nur  als  provisorisch 
ansieht.    Vgl.  desselben  PhU.  of  Kant  222—231. 

Während  diese  Einwände  gegen  den  Gegensatz  der  receptiven  Sinnlich- 
keit und  des  activen  Verstandes  darauf  zielen,  die  erstere  in  den  letzteren 
ganz  aufzulösen,  haben  andere  Einwände  die  Tendenz,  die  Sinnlichkeit,  ohne 
sie  in  den  Verstand  aufzulösen,  doch  nicht  als  rein  passiv  zu  fassen,  sondern 
ihr  auch  zugleich  Activität  zu  gönnen.  Solche  Einwände  sind  auch  schon 
zu  Kants  Zeiten  hie  und  da  erhoben  worden,  doch  sind  sie  naturgemäss 
neuerdings  in  stärkerem  Masse  hervorgetreten.  So  wendet  sich  J.  B.  Meyer, 
Ks.  Psychologie  S.  175 — 177,  gegen  jene  schroffe  Trennung:  ein  passives  und 
ein  actives  Moment  sei  zwar  in  unserem  Erkenntnissvermögen  zu  unter- 
scheiden; aber  auch  die  Sinnlichkeit  sei  activ,  auch  der  Verstand  passiv; 
daher  sei  es  falsch,  Passivität  und  Activität  auf  Sinnlichkeit  und  Verstand 
zu  vertheilen,  und  diese  „ungerechtfertigte  Trennung"  durch  eine  unnöthige 
Verbindung  vermittelst  der  Einbildungskraft  wieder  gut  zu  machen  ^  Vgl. 
auch  Weber,  Kritik  der  K.'schen  Erk.-Theorie  S.  12—16.  —  Vgl.  hiegegen 


^  Manchmal  hat  Kant  übrigens  der  Sinnlichkeit  eine  gewisse  Activität  zu- 
gestanden, Reflex.  II,  N.  315.  942;  Nacbgel.  Werk  XXI,  564.  Vgl.  auch  B.  Erd- 
manus  Mittheil,  in  den  Philos.  Monatsh.  1884,  S.  75.  Vgl.  Comm.  I,  176.  Vgl.  auch 
die  treffenden  historischen  Ausführungen  von  Windel  band,  Viert,  f.  wiss.  Phil. 
I,  239  ff.  über  die  Entstehung  des  „Widerspruches**  bei  K.,  dass  er  die  Sinnlichkeit 
einerseits  rein  receptiv  fasst,  andererseits  ihr  in  der  Form  doch  ein  actives  Element 
vindicirt.  Es  sei  hier  eine  „Kreuzung  zweier  Gesichtspunkte"  (des  phänomenalisti- 
schen  und  des  rationalistischen). 


24  §  1.    Einleitung. 

A 19.  B  33.  [R  31.  H  56.  E  71.] 

bes.  Cohen,  2.  A.  344  ff.,  bes.  über  den  Begriff  der  „Receptivitäf  im  Unter- 
schied Yon  der  , Passivität^.  Noch  scharfer  Montgomery  (Kants  £r> 
kenntnisslehre  widerlegt  vom  Standpunkte  der  Empirie  S.  92  ff.  105  ff.), 
welcher  seine  ganze  Kantkritik  in  folgenden  Worten  zusammen fasst:  «Der 
Grundirrthum  lag  in  der  gewaltsamen  Spaltung  des  Erkenntnissvermögens 
in  eine  passive  und  in  eine  active  Hälfte,  und  dann  in  der  Zutheilung  der 
gesammten  passiven  Rolle  an  die  sinnliche  Wahimehmung,  des  gesammten 
activen  Spiels  der  Erkenntniss  hingegen  an  das  abstracte  Erkennen.  Diese 
ganz  willkürliche  Eintheilung  ist  der  wesentliche  Grund,  warum  trotz  aller 
Klarsichtigkeit,  trotz  des  concentrirtesten  Fleisses  der  grossartige  psycho- 
logische Scharfsinn  Kants  dennoch  am  Erkenntnissproblem  scheiterte. '^  Vgl. 
auch  Ferrier,  Institutes  284,  und  besondei*s  auch  die  ausfuhrliche  Erörte- 
rung bei  Lewes,  Gesch.  d.  Philos.  II,  536  ff.,  und  Löwe,  Logik  229  über 
diese  Voraussetzung  Kants  gleich  am  Anfang  seines  Werkes.  Auch  A dickes 
68 N.  Eingehende  Kritik  auch  bei  Bergmann,  Metaph.  25  ff.  105 — 111. 
125;  besonders  wendet  sich  B.  gegen  die  Passivität  der  Anschauung,  27. 
103.  214.  Vgl.  auch  Hegler,  Ks.  Psych,  i.  d.  Ethik  64  ff.  A.  Fouillee, 
Revue  Philos.  1891,  434  ff. 

Alles  Denken  muss  sich  direct  oder  indirect  auf  Anschauungen 
beziehen.  Nach  den  oben  gegebenen  Erläuterungen  beziehen  sich  nur  die 
Anschauungen  unmittelbar  auf  den  Gegenstand;  alles  Denken  bezieht  sich 
auf  die  Gegenstände  nur  mittelbar,  indem  sich  das  Denken  zunächst  nur 
auf  die  Anschauungen  bezieht.  Die  Beziehung  des  Denkens  auf  die  An- 
schauungen kann  nun,  nach  dieser  Stelle,  hinwiederum  eine  doppelte  sein, 
eine  directe  oder  indirecte.  Was  damit  gemeint  sein  soll,  ist  nicht  auf  den 
ersten  Blick  klar.  Kant  hat  wohl  darum  in  der  2.  Auflage  den  Ausdruck 
„indirect"  durch  den  Zusatz  erläutert  „vermittelst  gewisser  Merkmale*. 
(Dieser  Zusatz  bezieht  sich  offenbar  nur  eben  auf  den  Ausdruck  „indirect"; 
B.  Erdmann  hat  allerdings  in  seiner  Ausgabe,  vgl.  auch  desselben  Eriti- 
cismus  S.  229,  das  von  Kant  nach  „Merkmale"  gesetzte  Komma  weggelassen, 
was  vermuthen  lässt,  dass  er  den  Zusatz  auf  Beides,  sowohl  die  directe  als 
die  indirecte  Beziehung,  bezieht.)  Indessen  ist  auch  der  neue  Zusatz  nicht 
ohne  Weiteres  klar.  Mellin  I,  264  (cfr.  740)  gibt  folgende  Erklärung: 
„Wenn  der  Verstand  denkt,  so  stellt  er  sich  entweder  geradezu  einen  ge- 
wissen Gegenstand  durch  seine  Merkmale  vor,  d.  i.  er  macht  sich  einen  Begriff 
von  ihm;  oder  die  Begriffe,  die  er  denkt,  beziehen  sich  im  Umschweife 
durch  Merkmale,  die  wieder  Begriffe  sind,  doch  zuletzt  auf  Anschauungen.* 
In  Kants  Logik,  Einl.  VIII,  findet  sich  auch  ein  Unterschied  zwischen  unmittel- 
baren und  mittelbaren  Merkmalen,  ein  Unterschied,  welcher  auch  schon  im 
§  1  der  Schrift  über  die  „Syllog.  Figuren"  (1762)  gemacht  wird  und  welcher 
bei  Mellin  IV,  252  ff.  weiter  ausgeführt  wird;  durch  solche  mittelbare  Merk- 
male kann   sich   auch  der  abstracteste  Begriff  auf  Anschauungen  beziehen. 

Anschauung,  mithin  bei  uns  Sinnlichkeit.  Diese  Restriction  ist  eine 
Anspielung  auf  die  eigenthümliche  Lehre  Kants,  dass  unsere  Anschauungsart 


Sinnlichkeit  —  die  specifisch  menschliche  Anschauungsart.  25 

[R  31.  H  56.  E  71.]  A 19.  B  3ä. 

nicht  die  einzig  mögliche  sei,  dass  es  noch  andere  Anschauungsarten  geben 
könne.  Unsere  menschliche  Anschauung  ist  eine  sinnliche,  d.  h.  sie  kommt 
nur  dadurch  zu  Stande,  dass  wir  afßcirt  werden  und  so  sinnliche  Vor- 
stellungen erhalten.  Es  könnte  aber  —  dies  ist  Kants  Meinung  —  auch 
eine  unsinnliche,  d.  h.  intellectuelle  Anschauung  geben,  welche  ohne 
Affection  zu  Stande  käme,  welche  ohne  Vermittlung  der  Sinne,  ohne 
dieses  Medium  für  uns  da  wäre.  Schon  in  der  Aesthetik,  und  zwar  schon 
in  der  ersten  Auflage,  tritt  diese  Ansicht  Kants  mit  aller  Bestimmtheit  auf. 
So  A  27.  42.  84.  35.  51.  Ganz  in  diesem  Sinne  sagt  Kant  in  seiner  Kr.  d. 
ürth.  A  341 :  „Wir  mussten  in  der  Kr.  d.  r.  V.  eine  andere  mögliche  An- 
schauung in  Gedanken  haben,  wenn  die  unserige  als  eine  besondere  Art, 
nämlich  der,  für  welche  Gegenstände  nur  als  Erscheinungen  gelten,  ge- 
halten werden  sollte.'  Uns  Menschen  kann  also  keine  Anschauung  anders 
gegeben  werden,  als  dass  uns  die  Dinge  an  sich  afficiren.  Andere  Wesen  könnten 
vielleicht  auch  ohne  solche  AfTectionen  Anschauungen  von  Dingen  erhalten. 
Wie  sich  Kant  diese  andersartige,  unsinnliche,  intellectuelle  Anschauung 
gedacht  hat  (wenigstens  später),  geht  aus  dem  hervor,  was  er  in  der  2.  Aufl. 
am  Schluss  der  Aesthetik  hinzugefugt  hat ,  B  72.  Die  intellectuelle  An- 
schauung dachte  sich  Kant  positiv  so,  dass  durch  sie  der  angeschaute 
Gegenstand  selbst  hervorgebracht  wird.  Während  also  die  sinnliche 
Anschauung  auf  Affection  beruht,  würde  die  intellectuelle  auf  Pro- 
duction  beruhen.  Auch  in  .letzterem  Falle  würde  uns  der  Gegenstand 
9 gegeben **,  aber  nicht  von  aussen,  sondern  durch  unsere  eigene  Thätigkeit. 
Diese  positive  Bestimmung  ist  aber  erst  in  der  2.  Auflage  so  stark  hervor- 
getreten. 

Von  hier  fällt  nun  auch  Licht  auf  den  Zusatz,  welchen  Kant  in  seinem 
Handexemplar  oben  zu  dem  Worte  „afficire^  gemacht  hat,  wie  Erdmann  in 
seinen  Nachträgen  S.  15  berichtet:  „Wenn  die  Vorstellung  nicht  selbst  an 
sich  die  Ursache  des  Objectes  ist.''  Die  Beziehung  auf  die  intellectuelle 
Anschauung  ist  hier,  obgleich  B.  Erdmann  selbst  eine  andere  Erklärung 
gibt,  ganz  offenbar.  Kant  hat  diesen  geplanten  Zusatz  in  der  2.  Auflage 
dann  doch  wirklich  nicht  gemacht,  dafür  aber  an  jener  Stelle  jene  Ein- 
schränkung eingeschoben,  dass  der  Gegenstand  „uns  Menschen  wenig- 
stens'' nur  dadurch  gegeben  werden  könne,  dass  er  das  Gemüth  afßcire. 
(Vgl.  dazu  Er d mann,  Kriticismus  S.  229.)  —  In  diesem  Sinne,  dass  wir 
Menschen  auf  sinnliche  Affection  angewiesen  seien,  sagt  auch  der  Kantianer 
W.  V.  Humboldt  in  seinen  „Ansichten  über  Aesth.  u.  Liter."  S.  5:  „Die 
sinnliche  Anschauung  ist  das^  dessen  der  sinnliche  Mensch  nie  entbehren  kann." 

Auf  die  Bedeutung  dieses  „mithin  bei  uns"  und  jenes  „uns  Menschen 
wenigstens"  hat  bes.  G.  Thiele  hingewiesen  in  seiner  Schrift  über  „Kants 
intellectuelle  Anschauung"  (1876)  S.  1  ff.,  woselbst  dieser  ganze  erste  Absatz 
der  Aesthetik  eingehend  erörtert  wird.  Beachtenswerthe  Bemerkungen  hier- 
über auch  in  dem  Vortrag  von  Rupp  über  Kant  (1857)  S.  89  ff.  „über  den 
halb   ausgeschriebenen  und  halb   unterdrückten  Gedanken".     Ueber  diesen 


26  §  1-    Einleitung. 

A19.6  88.34.  [B  81.  H  66.  66.  E  71.] 

, verführerischen  Ausdruck*'  vgl.  auch  Cohen,  2.  A.  117;  über  diesen 
,, mystischen"  Gedanken  vgl.  Laas,  Id.  u.  Pos,  III,  332.  342.  439. 

Nach  einer  anderen  Seite  hin  bemängelt  Massonius,  Aesth.  S.  117 — 134 
die  Stelle:  E.  spreche  hier  wie  überall  in  der  Aesthetik  von  «uns*',  «unserer 
Sinnlichkeit*'  u.  s.  w.,  er  behandle  die  Mehrheit  denkender  Wesen  ohne 
Weiteres  als  eine  selbstverständliche  Voraussetzung,  was  um  so  un- 
berechtigter sei,  als  eigentlich  strenggenommen  der  Solipsismus  eine  noth- 
wendige  Folgerung  aus  der  Transsc.  Aesth.  sei. 

Es  kann  uns  auf  andere  Weise  kein  Gegenstand  gegeben  werden. 

Hiezu  bemerkt  Witte,  Beiträge  S.  40:  „Nicht  für  die  endliche  Erkenn t- 
niss,  sondern  für  die  Erkenntniss  vom  Endlichen  gilt  es,  dass  Sinnlichkeit 
und  Verstand  deren  einzige  Grundlagen  sind.  Das  Ergebniss,  dass  wir 
über  die  Endlichkeit  nicht  hinaus  können,  ist  hier  also  schon  vorausgesetzt, 
d.  h.  es  liegt  eine  petitio  principii  vor.  So  lange  es  aber  nicht  erwiesen 
ist,  dass  es  nur  Erkenntniss  vom  Endlichen  gibt,  bleibt  die  Möglichkeit,  dass 
uns  nicht  sinnliche  Gegenstände  gegeben  werden,  bestehen."  Witte  nennt 
dies  „eine  Lücke  bei  Eanf.  In  demselben  Sinne  sagt  Stuckenberg,  Liffi 
of  Kant  278 :  y,One  of  the  first  aeniences  of  the  Kritik  also  coniains  the  cofi- 
clusion  of  the  tohole  investigation :  that  an  object  can  in  no  toise  he  given  to 
the  mind  except  through  the  senses.^  Ebenso  Bergmann,  Kriticismus  15  und 
bes.  Metaph.  29.  42.  440  ff.  Sigwart,  Gesch.  III,  42.  49.  65.  Löwe,  Logik 
S.  229.  Weber,  Krit.  d.  K.'schen  Erk.-Theorie  S.  30.  33.  50  sagt,  damit 
sei  „Kant  schon  gleich  an  der  Schwelle  seiner  Philosophie  in  einen  der 
grössten  und  verhängnissvollsten  Irrthümer  gerathen*'.  Ganz  so  auch  schon 
K.  C.  F.  Krause,  Zur  Gesch.  d.  n.  Philos.  (1889)  S.  100.  Vgl.  Hemann, 
Ersch.  d.  Dinge  154—170  über  „die  sinnliche  Erkenntniss  des  Intelligibeln^. 
Von  anderer  Seite  wird  der  Einwand  erhoben,  Kant  habe  nicht  berück- 
sichtigt, dass  in  und  mit  dem  Sinnlichen  sich  zugleich  ein  Unsinnliches  und 
Geistiges  der  Vernunft  offenbare;  diese  Position  nehmen  ein  Hegel  and 
seine  Schule,  wonach  das  Begriffliche  an  den  Dingen  der  Vernunft  unmittel- 
bar einleuchtet ;  ähnlich  v.  Kirchmann  und  neuerdings  Rehmke  (,.Welt 
als  Wahrnehmung  und  Begriff''),  bes.  S.  106.  So  auch  vom  aristotelisch- 
thomistischen  Standpunkt  aus  Glossner,  Der  mod.  Idealismus  67  ff.  G.  Scherer. 
Kritik  S.  21. 

Die  Wirkung  eines  Gegenstandes  auf  die  YorstellangsfSliig* 
keit ...  ist  Empfindung.  In  diesem  Absatz  handelt  es  sich  besonders  um 
drei  Begriffe:  1)  Empfindung,  2)  empirische  Anschauung,  3)  Erscheinung, 
Jedem  Begriff  ist  ein  Satz  gewidmet;  aber  jeder  Satz  enthält  zahlreiche 
Schwierigkeiten.  In  dem  ersten  Absätze  hatte  Kant  den  Ausdruck  ^Em- 
pfindung"  nicht  gebraucht;  er  sprach  von  „Anschauungen''  und  »Vor- 
stellungen". Beim  weiteren  Fortgang  werden  genauere  Bestimmungen 
noth wendig:  „Vorstellungen"  ist  ein  zu  allgemeiner,  farbloser  Ausdruck; 
und  der  „Anschauungen"  gibt  es  verschiedene,  reine  und  empirische.     Auf 


Die  Empfindung:  sensatio  praesentiam  ohjecH  arguit.  27 

[B  31.  H  55.  56.  E  71.]  A 19.  B  34. 

diesen  unterschied  hatte  der  erste  Absatz  keine  Rücksicht  genommen :  seine 
vorlftofigen  Bestimmungen  begnügten  sich  damit,  zu  sagen,  Anschauungen 
beziehen  sich  unmittelbar  auf  den  Gegenstand  und  werden  durch  Ein* 
Wirkung  des  letzteren  gegeben.  Aber  diese  letztere  Bedingung  beschränkt 
sich  im  Kantischen  Sinne  streng  genommen  ja  nur  auf  die  empirischen  An- 
schauungen: ausser  diesen  gibt  es  ja  auch  reine  Anschauungen,  welche 
nicht  den  Affectionen  ihre  Entstehung  verdanken.  Von  den  letzteren  ist 
in  den  beiden  folgenden  Absätzen  die  Bede.  Der  empirischen  Anschau- 
ung ist  dieser  Absatz  gewidmet:  der  erste  Satz  desselben  gibt  die  Be- 
dingung derselben  an:  die  Empfindung.  Der  zweite  Satz  gibt  ihre  De- 
finition.    Der  dritte  Satz  gibt  ihren  Gegenstand:  die  Erscheinung. 

Die  Empfindung  ist  also  dasjenige,  was  der  Gegenstand  in  uns 
zuerst  wirkt,  wenn  er  unsere  „Vorstellungsfähigkeit**  oder,  wie  es  oben 
hiess,  unser  „Geinüth*  (oder  noch  specieller  unsere  „Sinnlichkeit")  afficirt. 
In  diesem  Sinne  wird  Empfindung  auch  sonst  häufig  von  Kant  definirt. 
Schon  die  Bestimmungen  der  Dissertation  von  1770  §  4  laufen  darauf 
hinaus:  „quodcunque  in  cognitione  est  sensUivi,  pendet  a  speciali  indole  sub- 
jecti,  quatentis  a  praesentia  objectorum  hujus  vel  alius  tnodificationis 
capax  est."'  Mit  der  „Affection"  durch  das  Object  hängt  also  zusammen  die 
„Modification*'  desSubjects,  was  auch  in  der  Kr.  d.  r.  V.  gelegentlich  wieder- 
kehrt; so  A.  320:  „Empfindung  ist  eine  Perception,  die  sich  lediglich  auf 
dasSubject,  als  die  Modification  seines  Zustandes,  bezieht.^  '  In  den  „Fortschr. 
d.  Metaph.  (Ros.  I,  508)  definirt  Kant:  „Das  Empirische,  d.  i.  dasjenige,  wo- 
durch ein  Gegenstand  seinem  Dasein  nach  als  gegeben  vorgestellt  wird, 
heisst  Empfindung  {sensatio,  impressio).^  In  diesen  Definitionen  hebt  Kant 
immer  zwei  Punkte  hervor,  wenn  auch  bald  der  E i n e ,  bald  der  Andere 
mehr  hervortritt:  1)  die  Empfindung  ist  eine  blosse  Modification  des 
Subjects,'   2)  aber  hervorgerufen  durch  die  Einwirkung  eines  Obj  ectiven. 

Dass  also  hier  wiederum,  wie  schon  dreimal  oben  (vgl.  S.  6 — 9,  14—16, 
20 — 21)  ganz  deutlich  und  unmiss verständlich  die  Einwirkung  von  Dingen 
an  sich  von  Kant  vorausgesetzt  wird,  ist  ebenso  klar,  als  es  naturgemäss 
den  einseitigen  idealistischen  Auslegern  Kants  unbequem  ist ;  dieselben  haben 
daher  auch  an  dieser  Stelle  wieder  —  freilich  erfolglos  —  herumgemäkelt. 
(Vgl.  auch  Jacobson,  Kategorien  und  ürth.  Diss.  Kön.  1877,  S.  7  —  8, 
15.  Cohen,  2.  A.  488).  Auch  aus  den  übrigen  Parallelstellen  geht  ja  jene 
realistische  Voraussetzung  Kants  mit  Sicherheit  hervor;  so  spricht  Kant  in 
der  Dissertation   §  4  von  der  „praesentia  ohjecti^  in  der  oben  schon  mit- 

^  In  diesem  Sinne  sind  die  empirischen  Gegenstände  Modificationen 
unserer  Sinnlichkeit.  Darüber,  ob  Kant  diesen  Ausdruck  gebraucht  habe^ 
stritten  einst  Eberhard  und  Reinhold,  der  dies  entschieden  in  Abrede  stellte ! 
Der  Ausdruck  findet  sich  aber  thatsächlich  A  46 ,  A  139  und ,  unter  specieller  Be- 
rufung auf  die  Tr.  Aesthetik,  A  490.    Vgl.  Cohen,  2.  A.  156,  sowie  150—151. 

'  Vgl.  hiezu  Engelmann,  Ks.  Lehre  vom  Ding  an  sich  S.  8—11.  Rehmke, 
Physiologie  und  Kantianismus  S.  10—14. 


28  §  1-    Einleitung. 

A19.20.B34.  [B  31.  H  56.  56.  E  71.] 

getheilten  Stelle  (so  auch  §  8:  ohjecti  praesentia  affict),  und  fährt  dann 
bald  darauf  fort:  „Sensatio  praesentiam  alicujus  arguit,  sed  quoad 
qualitatem  petidet  a  natura  suhjectiJ'  Noch  deutlicher  ebendaselbst  §  11 : 
^ySenauaUa  cancepius  8.  apprehensUmea ,  ceu  c  aus  ata  testantur  de  prae- 
sentia objecti,  quod  contra  idealismumj'  und  ganz  so  heisst  es  am 
Anfang  der  Analytik  A50:  „Empfindung  setzt  die  wirkliche  Gegenwart 
des  Gegenstandes  voraus/  Dass  dieser  „wirkt'',  dass  er  eine  „Wirkung" 
ausübt,  ist  an  unserer  Stelle  deutlich  ausgesprochen.  Dass  der  Gegenstand 
damit  als  die  Ursache  der  Empfindung  in  Anspruch  genommen  wird,  ist 
darin  implicite  enthalten,  wenn  es  auch  manchen  „Kantianern^  noch  so  un- 
bequem  sein  mag.  Zudem  wird  —  zum  üeberfluss  —  ja  an  anderen 
Stellen  dieser  Ausdruck  von  Kant  selbst  gebraucht;  so  bes.  A494:  „Das 
sinnliche  Anschauungsvermögen  ist  eigentlich  nur  eine  Receptivität,  auf  ge- 
wisse Weise  mit  Vorstellungen  afficirt  zu  werden Die  nichtsinnliche 

Ursache  dieser  Vorstellungen  ist  uns  gänzlich  unbekannt.  Indessen 
können  wir  die  intelligible  Ursache  der  Erscheinungen  überhaupt  das 
transscendentale  Object  nennen.*  Vgl.  noch  A  50,  B  207.  Ferner  Reflex. 
I,  1,  S.  86.  II,  N.  314,  315,  817,  318.    Lose  Blätter,  I,  38. 

Bemerkens werth  ist  ferner  in  diesem  Satze  der  Ausdruck  „Vorstellungs- 
f^higkeit".  Wie  schon  oben  bemerkt,  ist  dieser  Ausdruck  für  Kant  synonym 
mit  „Gemüth'',  hat  aber  den  Vorzug  grösserer  Deutlichkeit.  „Vorstellung' 
ist  für  Kant  (wie  für  die  Kunstsprache  der  ganzen  neueren  Philosophie) 
der  weiteste  Ausdruck  und  umfasst  alle  Zustände  der  theoretischen  Seite 
des  Menschen.  Sehr  entschieden  äussert  sich  Kant  hierüber  A  320:  „Die 
Gattung  ist  Vorstellung  überhaupt  {repraesentcUioy^  „Vorstellung*  ist  der 
Gattungsbegriff  für  alle  jene  Zustände,  und  unter  ihm  sind  nun 
eine  Menge  einzelner  „Vorstellungs arten''  befasst,  unter  denen  sich  natürlich 
auch  in  erster  Linie  die  Empfindung  findet.  Sofern  nun  im  Subject 
diese  Fähigkeit,  Vorstellungen  zu  haben,  vorhanden  sein  muss,  spricht  Kant 
auch  von  „Vorstellungsfähigkeit*  oder  „Vorstellungsvermögen".  (VgL  Kr. 
d.  Urth.  S.  5  „Das  ganze  Vermögen  der  Vorstellungen".)  Dieses  ist  dem- 
gemäss  der  Gattungsbegriff  zu  den  einzelnen  Vermögen  der  Sinnlichkeit, 
des  Verstandes  und  der  Vernunft.  Wenn  Kant  also  hier  die  Empfindung 
eine  Wirkung  des  Gegenstandes  auf  die  VorstellungsfRhigkeit ,  nicht  wie 
oben  im  ersten  Absätze,  auf  die  Sinnlichkeit  nennt,  so  setzt  er  einfach  das 
genus  statt  der  species,  totura  pro  parte.  (Was  Mellin  VI,  73  hierüber 
sagt,  ist  daher  ganz  falsch.) 

In  Folge  dieses  Zusammenhanges  wird  es  auch  klar,  in  welchem 
Sinne  und  mit  welchem  Rechte  Reinhold  seine  neue  Darstellung  der 
Kantischen  Erkenntnisstheorie  1789  als  „Theorie  des  menschlichen  Vor- 
stellungsvermögens"  bezeichnete.  Er  ging  bei  dieser  Bezeichnung  von  dieser 
Stelle  aus,  wie  denn  überhaupt  dieses  ganze  Werk  auf  dieser  Einleitung  zur 
transsc.  Aesthetik  aufgebaut  ist  und  deren  Schwierigkeiten  zu  heben,  deren 
Dunkelheiten   aufzuhellen   sucht,  besonders  durch  scharfe  Disünctionen   der 


Empfindung,  Gefühl,  Anschauung,  Wahrnehmung.  29 

[R  31.  32.  H  56.  E  71.]  A  20.  B  34. 

verschiedenen  Bedeutungen  der  Ausdrücke.  So  untersclieidet  Reinhold 
S.  195—220  dreierlei  Bedeutungen  von  »Vorstellungs vermögen".  Vgl.  Erd- 
mann, Gesch.  d.  n.  Phil.  III,  a,  420.    Renouvier,  Essais  I,  102  ff. 

Kant  unterscheidet  endlich  aufs  bestimmteste  zwischen  „Empfindung' 
und  a Gefühl*  —  zwei  Ausdrücke,  welche  vor  ihm  (und  leider  auch  oft  seit 
ihm)  promiscue  gebraucht  worden  sind.  Schon  in  den  Reflexionen  II,  N.  314. 
315  finden  wir  bei  Kant  eine  genaue  Unterscheidung  der  beiden  Seiten; 
wenn  auch  unter  anderem  Namen ;  später  hat  Kant  sich  hierüber  besonders 
in  der  Einleitung  zu  seiner  Kr.  d.  ürtheilskraft  geäussert.  Entsprechend  der  oben 
(S.  13)  angeführten  Diremtion  der  Sinnlichkeit  in  Sinn  und  Gefühl  erklärt 
er  daselbst  §  3:  »Wir  verstehen  unter  dem  Worte  Empfindung  eine  ob- 
jective  Vorstellung  der  Sinne;  und,  um  nicht  immer  Gefahr  zu  laufen, 
missgedeutet  zu  werden,  wollen  wir  das,  was  jederzeit  bloss  subjectiv  bleiben 
muss  und  schlechterdings  keine  Vorstellung  eines  Gegenstandes  ausmachen 
kann,  mit  dem  sonst  üblichen  Namen  des  Gefühls  benennen."  Vgl. 
Anthrop.  §  8.  Dazu  Fetzer,  Phil.  Leitbegriffe  83  ff.  Staudinger,  Nou- 
mena  35. 

Die  empirische  Anschauung.  Nachdem  im  ersten  Satze  die  Em- 
pfindung definirt  worden  ist,  wird  diese  Definition  sogleich  dazu  verwendet, 
den  Begriff'  der  Anschauung  näher  zu  begrenzen.  Der  Satz,  in  welchem 
das  nun  geschieht,  leidet  nicht  an  übermässiger  Klarheit.  Ist  der  Gegensatz 
zu  der  ^ empirischen''  Anschauung  hier  die  „intellectuelle".  welche  den 
Gegenstand  selbst  hervorbringt?  Ist  es  vielmehr  die  „reine*'  Anschauung, 
welche  sich  überhaupt  auf  keinen  wirklichen  Gegenstand  bezieht?  -^  Ist 
der  Gegenstand,  auf  den  sich  die  empirische  Anschauung  bezieht,  der  in  dem 
vorigen  Satze  erwähnte  afficirende  Gegenstand?  oder  ist  es  der  im 
folgenden  Satze  erwähnte  empirisch  vorgestellte  Gegenstand?  Eine 
runde  Antwort  -  auf  diese  Fragen  lässt  sich  nicht  geben ,  da  der  Text  zu 
schwankend  und  unbestimmt  ist.  Vgl.  dazu  unten  33.  Man  hat  auch 
(s.  den  anonymen  Versuch  „über  Raum  und  Zeit"  1790,  S.  127—129)  einen 
Widerspruch  finden  wollen  zwischen  der  oben  gegebenen  Bestimmung,  die 
Anschauung  beziehe  sich  auf  den  Gegenstand  „unmittelbar",  und  der  vor- 
liegenden, sie  beziehe  sich  auf  denselben  „durch  Empfindung",  also  durch 
ein  ^Mittel".  Vgl.  oben  S.  1  (unten).  Dass  der  Widerspruch  nur  scheinbar  ist, 
ergibt  sich  aus  dem  oben  S.  24  Gesagten.  Vgl.  hiezu  Pflüger,  Unters, 
üb.  d.  Einl.  u.  d.  1.  Abschn.  d.  tr.  Aesth.  Marb.  1867,  woselbst  man  S.  5 — 9 
mehrere  schwierige  Punkte  dieser  Einleitung  instructiv  behandelt  findet. 

Auch  sonst  Hessen  sich  hier  noch  mancherlei  Ausstellungen  machen. 
Einmal  ist  der  Unterschied  zwischen  Empfindung  und  Anschauung 
nicht  schai'f  genug  entwickelt.  Dies  hat  Cohen  gefühlt;  aber  was  er  S.  109 
darüber  sagt,  ist  nicht  recht  verständlich.  (Vgl.  auch  desselben  „Infiu.  Methode", 
&  106 — 108).  Aus  den  Kantischen  Bestimmungen  dieser  Einleitung  geht 
nur  80  viel  hervor:  Anschauung  ist  eine  Vorstellung,  die  sich  unmittelbar 
auf  den  -Gegenstand  bezieht.    Diese  Beziehung  auf  den  Gegenstand  ist  bei 


30  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [B  32.  H  56.  E  71.] 

uns  Menschen  durch  Empfindung  vermittelt.  Also  zuerst  entsteht  durch 
eine  Affection  eine  Empfindung  und  daraus  erst  weiterhin  —  auf  welche 
Weise,  wird  noch  nicht  gesagt  —  Anschauung.  Anders  unterscheidet  Bein- 
hold in  seinen  Briefen  I,  313  (vgl.  Jen.  A.  L.  Z.  1790,  I,  93):  „Sinnlich 
heisst  jede  Vorstellung,  welche  durch  die  Art,  wie  die  Beceptivität  afficirt 
wird,  entsteht.  Sie  heisst  Empfindung,  inwiefern  sie  auf  das  Vor- 
stellende, Anschauung,  inwiefern  sie  auf  das  Vorgestellte  bezogen  wird." 
Damit  stimmt  allerdings  überein  eine  Anmerkung  Kants  in  seinem  Hand- 
exemplar (Erdmann,  Nachträge  N.  12):  Anschauung  bezieht  sich  aufs  Object, 
Empfindung  bloss  aufs  Subject.    Vgl.  dagegen  oben  S.  29. 

Wünschenswerth  wäre  es  auch  gewesen,  wenn  Kant  den  Terminus 
,, Wahrnehmung"  hier  eingeführt  und  erklärt  hätte.  Anderwärts  erklärte 
er  Wahrnehmung  als  eine  mit  Bewusstsein  verbundene  Empfindung,  so  auch 
im  Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge  N.  64).  Vgl.  Lose  Blätter,  I,  34. 
39.  180. 

Auch  schon  Zeitgenossen  Kants  waren  von  diesen  Definitionen  wenig 
befriedigt.  So  erhebt  ein  Anonymus  in  Jacobs  Annalen  III,  190  gegen 
dieselben  mehrere  Einwände:  durch  die  Quasierklärung  von  „Anschauung*' 
werde  nicht  entschieden,  ob  dadurch  eine  besondere  Klasse  von  Vorstellungen 
oder  vielmehr  ein  besonderer  Bestand th eil  aller  Vorstellungen,  der  aber 
selbst  noch  nicht  eigentliche  Vorstellung  ist,  bezeichnet  werden  solle. 
(Dieser  Vorwurf  ist  vom  Standpunkt  der  Analytik  aus  erhoben.)  Bei  der 
Erklärung  des  Begriffs  der  „emp.  Ansch.**  suche  man  vergebens  das  Merk- 
mal, wodurch  sich  diese  Species  von  ihrem  Geschlecht&begriff  unter- 
scheiden u.  s.  w.  Weiteres  bei  Biedermann,  Christ.  Dogm.  2.  A.  I, 
111  ff.  Enoch,  Begr.  d.  Wahrn.  32  ff.,  38  ff.,  80  ff.  Empfindung  und 
Wahrnehmung  sucht  im  Sinne  Kants  neu  zu  fassen  C lassen,  Physiologie 
d.  Gesichtssinns,  S.  6.  68  —  78;  Einfluss  Kants  180  —  211.  Vgl.  ferner 
Rehmke,  Welt,  45—60.  81.  141-153.  Göring,  Krit.  Philos.  II,  156. 
Cohen,  2.  A.  107—110.  Bergmann,  Metaph.  93  ff.  127.  208.  212. 
E.  L.  Fischer,  Th.  d.  Gesichtswahrn.  (1891),  153  ff.  201. 

Der  unbestimmte  Gegenstand  einer  empirischen  Ansehaniuig 
heisst  Erscheinung.  Auch  dieser  scheinbar  so  einfache  Satz  bietet  mannig- 
fache Schwierigkeiten  dar.  Vor  allem:  was  soll  heissen  ^der  unbestimmte 
Gegenstand*.  Schon  Weishaupt,  Ansch.  und  Ersch.  S.  28  klagt  über  die 
„Dunkelheit''  dieser  Definition,  und  meint  dann,  es  solle  das  so  viel  heissen, 
als  dass  der  eigentliche  Gegenstand,  das  Ding  an  sich,  sich  von  uns  nicht  be- 
stimmen lasse.  So  auch  Born,  Sinnenlehre  S.  1  ff.  (Vgl.  Eberstein  11, 
77  f.)  Es  liegt  auf  der  Hand ,  dass  diese  Auslegung  sehr  schief  ist.  Eine 
ganz  andere  Erklärung  gibt  Meli  in  II,  401:  ^Kant  setzt  in  der  Erkläning 
des  Begriffs  der  Erscheinung  noch  das  Prädicat  ,unbestimmt'  hinzu,  um 
dadurch  das  Gedachte  auszuschliessen ;  nicht  der  Gegenstand,  insofern  er 
schon  durch  Prädicate  bestimmt  wird,  sondern  so  wie  er  sich  in  der  An* 
schauung  darstellt,  heisst  die  Erscheinung.''   Ebenso  ib.  I,  331,  II,  290.  836, 


Der  , unbestimmte'*  Gegenstand  der  Anschauung.  31 

[B  82.  H  56.  E  71.]  A  20.  B  84. 

V,  312.  Aehnlich  Beck,  Ausz.  III,  370.  —  Dasselbe  wiU  wohl  Cohen  2.  A. 
S.  109  sagen  (vgl.  150.  178.  186.  240.  292.  362.  373):  ,Darauf  kommt  es  an, 
den  Nachdruck  zu  legen:  dass  der  Gegenstand  als  Gegenstand  der  An- 
schauung unbestimmt  ist,  und  dass  diese  Unbestimmtheit  seinen  Begriff, 
den  Begriff  der  Erscheinung  bildet.  Der  Gegenstand  bleibt  unbestimmt,  so 
lange  er  innerhalb  der  Sinnlichkeit  gegeben  ist.**  Dasselbe  ^  wiederholt  Cohen 
in:  Ks.  Begründung  d.  Ethik  22.  Ebenso  Riehl,  Krit.  I,  276.  285.  371, 
welcher  die  Stelle  A  51  damit  in  Zusammenhang  bringt:  „Anschauungen 
ohne  Begriffe  sind  blind.^     Ebenso  Arnoldt,  Ks.  Proleg.  S.  49. 

Diese  Auslegung  des  Wortes  „  unbestimmt '^  scheint  zunächst  viel  zu 
viel  in  diesmi  vagen  Ausdruck  hineinzulegen.  Es  erscheint  ja  viel  ein- 
facher und  näherliegend,  „unbestimmt  im  Sinne  von  „beliebig"  zu  nehmen, 
also:  Jeder  beliebige  Gegenstand  einer  emp.  Ansch.  überhaupt,  d.  h.  ohne 
specielle  Bestimmung,  was  dies  für  ein  Gegenstand  im  Einzelnen  sein  soll, 
heisst  Erscheinung.*^  Aber  jene  erstere  Auslegung  wird  durch  zahlreiche 
Stellen  Kants  gestützt.  So  heisst  es  A  69  =  B  94:  „Denken  ist  das 
Erkenntniss  durch  Begriff,  Begriffe  aber  beziehen  sich,  als  Prädicate  mög- 
licher Urtheile,  auf  irgend  eine  Vorstellung  von  einem  unbestimmten 
Gegenstände.*^  Auch  nach  A  92.  108.  254  ist  die  Aufgabe  des  Denkens, 
^dem  Mannigfaltigen  einer  möglichen  Anschauung  einen  Gegenstand  zu 
bestimmen**.  Nach  A  266  „verlangt  der  Verstand  zuerst,  dass  etwas  gegeben 
sei,  um  es  auf  gewisse  Weise  bestimmen  zu  können**.  Nach  A  373  „heisst 
die  Empfindung,  wenn  sie  auf  einen  Gegenstand  überhaupt,  ohne  diesen  zu 
bestimmen,  angewandt  wird,  Wahrnehmung**.  Vgl.  ferner  A  493,  B.  128. 
143.  422  N.,  Prol.  §  19.  20.  39;  Reflex.  I,  1,  S.  82;  Nachgel.  Werke  XIX, 
561.  578.  580.  619;  XXI,  594. 

Man  könnte  nun  freilich  einwenden :  jene  von  Mellin  und  Beck,  Cohen, 
Biehl  und  Arnoldt  (vgl.  auch  Staudinger,  Noumena  52)  gegebene  Erklärung 
scheitere  schon  an  der  Erwägung,  dass  für  Kant  auch  der  durch  die  Ka- 
tegorien bestimmte  Ansch auungsgegenstand  ja  doch  noch  immer  „Erschei- 
nung'  ist,  nicht  bloss  der  „unbestimmte** ;  es  könne  also  der  Name,  der  dem 
Ganzen  gegeben  wird,  nicht  auf  einen  Theil  desselben  beschränkt  werden. 
Allein  diesem  Einwand  begegnet  Arnoldt  mit  der  Unterscheidung  von  „Er- 
scheinung** =  unbestimmte  Anschauung  und  „Phänomen**  =  kategorial  be- 
stimmte Anschauung.  Diese,  von  demselben  auch  schon  in  seiner  Ab- 
handlung über  Ks.  transsc.  Ideal.  50  —54  entwickelte  Auffassung  wird  auch 
von  Cohen  getheilt,  bes.  Ks.  Ethik,  S.  22  (nebst  Polemik  gegen  Harms, 
Philos.  s.  Kant  187  fif.).  Diese,  auf  den  ersten  Blick  auffallende  Auffassung 
ist  aber  wohl  begründet.  Kant  sagt  A  248 :  ^ Erscheinungen,  sofern  sie  als 
Gegenstände   nach    der   Einheit   der   Kategorien    gedacht    werden,    heissen 


*  Im  hellsten  Widerspruch  damit  identificirt  Cohen,  2.  A.  334  den  ,un- 
bestimmten  Gegenstand"  mit  dem  „ unbestimmbaren  afficirenden,  transscenden- 
talen  X.« 


32  §  1.    Einleitung. 

AgQ.B34.  [R  38.  H  66.  E  71.] 

Phänomene".  Wenn  nun  auch  der  Ausdiiick , Phänomene"  sonst  von  Kant  nicht 
auf  die  kategorial  bestimmte  Anschauung  beschränkt  wird,  so  wird  doch  aller- 
dings der  Ausdruck  , Erscheinung"  von  Kant  häufig  mit  Vorliebe  in  besonderen 
Zusammenhang  mit  der  Sinnlichkeit  als  solcher  gebracht,  in  ausdrücklicher 
Unterscheidung  vom  Verstand.  So  z.  B.  A  92  =  B  124:  ,£s  sind  zwei 
Bedingungen,  unter  denen  allein  die  Erkenntniss  eines  Gegenstandes  möglich 
ist,  erstlich  Anschauung,  dadurch  derselbe,  aber  nur  als  Erscheinung 
gegeben  wird;  zweitens  Begriff,  dadurch  ein  Gegenstand  gedacht  wird,  der 
dieser  Anschauung  entspricht."  Ueberall,  auch  in  dem  Abschnitt  über  die 
Phänomena  und  Noumena  (A  235  ff.  =  B  294  ff.)  und  in  dem  Abschnitt 
über  den  transsc.  Idealismus  in  den  Antinomien  (A  490  ff.  =  B  518  ff.) 
findet  man  bei  aufmerksamer  Leetüre  jenen  Gebrauch  des  Ausdinckes  «Er- 
scheinung" ;  so  auch  deutlichst  A  111.  125;  vgl.  Nachgel.  Werke  XIX, 
293.  426.  573.  Dazwischen  hinein  aber  gibt  es  auch  genug  Stellen,  in  denen 
auch  die  kategorial  bestimmte  Anschauung  schlechtweg  als  Erscheinung  be- 
zeichnet wird.  So  hat  denn  offenbar  auch  der  Ausdruck  «Erscheinung*' 
zweierlei  Bedeutungen :  Erscheinung  im  engeren  Sinne  ist  nur  die  begrifflich 
noch  unbestimmte  Anschauung.  Erscheinung  im  weiteren  Sinne  ist  auch  die 
kategorial  bestimmte  Anschauung.  Diese  Doppelbedeutung  hängt  zusammen 
mit  dem  Doppelsinn,  welcher,  wie  wir  sahen,  den  Ausdrücken  «Erfahrung^ 
(vgl.  Gomm.  I,  165.  177)  und  „Erkenntniss"  (vgl.  oben  S.  2)  zukommt. 
Diese  —  bis  jetzt  nicht  hinlänglich  beachtete  —  Doppelbedeutung  von  Er- 
scheinung ist  nicht  so  schlimm,  wie  das  Harms  a.  a.  0.  darstellt,  aber 
immerhin  noch  störend  genug.  Uebrigens  ist  dieser  doppelte  Sprachgebrauch 
bei  Kant  historisch  begründet:  aus  den  unten  zu  A  21  angeführten  Stellen 
der  Dissertation  und  der  Reflexionen  geht  hervor,  dass  Kant  die  „Erschei- 
nung" =  apparentia  als  etwas  Mittleres  zwischen  Empfindung  und  Er- 
fahrung fasste;  die  durch  Begriffe  bearbeitete  „Erscheinung"  wird  daselbst 
erst  zur  „Erfahrung"  im  strengen  Sinne  des  Wortes. 

Mit  dieser  eben  getroffenen  Distinction  hängt  nun  eben  die  «richtige 
Unterscheidung  zusammen,  welche  uns  schon  oben  S.  4  und  S.  17  aufgestossen 
ist.  Es  ist  das  die  Doppelbedeutung  von  „Gegenstand"  im  strengen  und  im 
laxeren  Sinn.  „Gegenstand"  im  strengen  Sinne  ist  erst  das  kategorial  be- 
stimmt« Empfindungsmaterial ;  aber  auch  dieses  letztere  wird  für  sich  schon 
„Gegenstand"  genannt,  diesesmal  im  laxeren  Sinne.  In  diesem  Sinne  wird 
eben  auch  hier  in  dieser  Stelle  vom  ,, unbestimmten  Gegenstand  einer  em- 
pirischen Anschauung"  gesprochen.  — 

Eine  neue,  weitere  Schwierigkeit  ist  nun  aber  folgende:  Kant  spricht 
hier  (und  auch  sonst  sehr  oft,  schon  die  oben  S.  4  und  S.  16  bespro- 
chenen Stellen  schlössen  dies  ja  ein)  von  der  Erscheinung  als  dem  Gegen- 
stand einer  emp.  Anschauung.  Mag  nun  „Gegenstand"  im  laxeren  oder 
im  strengeren  Sinn  hier  von  uns  verstanden  werden,  so  erhebt  sich  fol- 
gende Frage :  wie  kann  überhaupt  der  anschaulichen  Vorstellung  ein  Gegen- 
stand derselben   gegenüber  gestellt  werden,   da   es  doch,  wie  Jeder  weiss, 


Was  heisst:  „Gegenstand"  einer  Anschauung?  33 

[R  32.  H  66.  E  71.]  A  20.  B  84. 

eine  Hauptlehre  Kante  ist,  dass  die  Erscheinungen  identisch  sind  mit 
unseren  Vorstellungen,  dass  eben  unsere  anschaulichen  Vorstellungen  —  die 
Erscheinungen  sind.  So  sagt  Kant  unten  in  der  Aesthetik  A  45,  man  müsse 
,,die  empirische  Anschauung  als  Erscheinung  ansehen'^  Das  Ergebniss  der 
transsc.  Aesthetik  recapitulirt  Kant  A  490  selbst  dahin,  ,,dass  alles,  was  im 
Räume  oder  der  Zeit  angeschaut  wird,  nichts  als  Erscheinungen,  d..  i.  blosse 
Vorstellungen  sind';  und  er  fährt  dann  daselbst  493  fort:  „Denn  an  sich 
selbst  sind  die  Erscheinungen,  als  blosse  Vorstellungen,  nur  in  der  Wahr- 
nehmung wirklich,  die  in  der  That  nichts  anderes  ist,  als  die  Wirklichkeit 
einer  empirischen  Vorstellung,  d.  i.  Erscheinung/^  So  auch  Prol.  S.  63. 
Wenn  nun  also  die  Erscheinungen  =  unsere  Vorstellungen  oder  sinnliche 
Anschauungen  sind,  wie  kann  Kant  dieselben  Erscheinungen  auch  noch 
als  „Gegenstände  der  empirischen  Anschauung"  bezeichnen?  und  diese 
Ausdrucksweise  findet  sich  bei  Kant  ja  nicht  bloss  an  dieser  Stelle:  so  er- 
läutert K.  auch  unten  A  35  die  „Erscheinungen"  durch  den  Zusatz  „Gegen- 
stände der  sinnlichen  Anschauung" ;  und  so  heisst  es  auch  schon  A  26 : 
„die  Dinge  erscheinen  uns,  d.  h.  sie  sind  Gegenstände  der  Sinnlichkeit",  so 
auch  Vorr.  B  XXVI,  B  207.  225 ;  Prol.  §  36.  Das  sagt  doch ,  dass  Kant 
einen  unterschied  machen  wolle  zwischen  den  Erscheinungen  einerseits  und 
zwischen  unseren  Vorstellungen  andererseits,  was  doch  der  oben  besprochenen 
Identification  vollständig  widerspricht;  denn  die  Erscheinungen  sind  ja  jetzt 
nicht  die  Vorstellungen  selbst,  sondern  erst  deren  Objecte,  deren  Gegen- 
stände, auf  welche  jene  sich  beziehen. 

Meli  in  hat  sich  auf  verschiedene  Weise  zu  helfen  gesucht.  Nach 
I,  702  nennen  wir  eine  durch  Affection  uns  gegebene  Vorstellung  „in  Be- 
ziehung auf  unser  Subject,  d.  h.  wenn  wir  unser  Subject  als  Quelle  der- 
selben ansehen,  eine  Anschauung;  in  Beziehung  aber  darauf,  dass  wir 
doch  nicht  Urheber  des  Stoffes  sind,  den  wir  in  der  Anschauung  empfinden, 
d.  h.  dass  ein  unbekannter  Stoff  die  Quelle  von  dem,  was  wir  wahrnehmen, 
ist,  Gegenstand".  Diese  Auslegung  erscheint  nicht  Kantisch;  auch  hat 
Mellin  keine  Kantische  Stelle  dafar  beigebracht. 

Näherliegend  und  plausibler  ist  eine  andere  Erklärung  Mellins,  I, 
257  ff.,  268,  IV,  58 :  Eine  Anschauung  und  ihr  Gegenstand  seien  allerdings 
eigentlich  identisch.  Wenn  ich  nun  aber  doch  von  einem  Gegenstand  der 
Anschauung  spreche,  so  ist  dies  der  kategoriale  Gegenstand,  d.  h.  die  durch 
die  verstandesmässige  Sjnthesis  mit  Hülfe  der  Kategorien  in  die  Mannig- 
faltigkeit der  Empfindungen  hineingebrachte  und  hineingedachte  objective 
Einheit.  Allein  diese  Erklärung  passt  nicht  für  diese  Stelle;  denn  hier  ist 
ja,  wie  wir  eben  festgestellt  haben,  nur  von  der  „unbestimmten"  Anschauung 
die  Rede,  also  von  derjenigen,  die  mit  den  Kategorien  noch  in  gar  keine 
Berührung  getreten  ist. 

Wiederum  zwei  andere  Erklärungen  bietet  uns  Holder,  Darst.  S.  7. 
Er  unterscheidet  zwischen  „Anschauung"  als  Product  der  Anschauungs- 
thätigkeit,  und  „Anschauung"  als  Anschauungsthätigkeit  selbst.  Im  ersteren 
Yaihinger,  Kant-Commeiitar.    II.  3 


34  §  1*    Einleitung. 

A20.Ba4.  [B  32.  H  66.  E  71.] 

Falle  ist  die  Erscheinung  identisch  mit  der  Anschanong,  im  zweiten  Falle 
wird  sie  der  letzteren  dualistisch  gegenübergestellt.  In  diesem  Falle  ist 
also  „Gegenstand"  der  Anschauung  so  viel  wie  Inhalt  derselben.  Es  ist 
dies  der  Gegenstand,  dem  die  Scholastiker  die  „intentionale  Inexistenz^*  in 
dem  psychischen  Acte  zuschrieben  (weiteres  hierüber  bei  Brentano,  Psych.  I, 
115  ff.)..  Wenn  man  ,, diesen  Bewusstseinsinhalt  Object  nennt,  so  erh&lt  er 
eine  ihm  geliehene  abstracte  Verselbstständigung",  wie  £.  v.  Hartmannn, 
Transsc.  Real.  XVIII  sich  ausdrückt.  Dass  Kant  diese  Verwendung  des 
Ausdruckes  „Gegenstand"  gekannt  und  gebilligt  habe,  könnte  z.  B.  die 
Stelle  A  108  beweisen.  Vgl.  auch  Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  280  ff.  und  dazu 
Dilthey,  Archiv  f.  G.  d.  Phil.  II,  602.  Wenn  dies  nun  auch  die  einfachste  und 
für  Kant  günstigste  Erklärung  der  Stelle  wäre,  so  kann  man  dieselbe  doch 
aus  den  weiter  unten  besprochenen  Gründen  nicht  ohne  Weiteres  acceptiren. 

Holder  bietet  nun,  wie  gesagt,  noch  eine  andere  Erklärung  dar.  Er 
nimmt  hier  eine  „zeitweilige  Accomodation  an  den  Standpunkt  des  gewöhn- 
lichen Bewusstseins"  an.  Aber  ein  solches  Herabsteigen  auf  den  Boden  des 
Common -sense  passt  ganz  und  gar  nicht  hierher,  wo  Kant  doch 
grundlegende  Definitionen  für  sein  ganzes  Werk  gibt  —  da  kann  er  sich 
doch  nicht  „populär",   sondern  da   muss  er  sich  „scientifisch"  ausdrücken. 

Dagegen  liegt  die  Vermuthung  nahe ,  dass  Kant  hier  der  Erscheinung 
jene  eben  von  der  empirischen  Vorstellung  unabhängige  Existenz  zugesteht, 
von  der  wir  in  dem  unten  folgenden  Excurs  allerdings  sehen  werden,  dass 
sie  sich  sowohl  factisch  vielfach  bei  Kant  findet,  als  auch  logisch  mit  Noth* 
wendigkeit  aus  seinen  Prämissen  sich  ergibt.  Gleich  am  Anfang  des  fol- 
genden Absatzes  stossen  wir  ja  auf  eine  Wendung,  welche  dasselbe  ein- 
schliesst,  nämlich  auf  die  Worte  „dass  in  der  Erscheinung  der  Empfindung 
etwas  correspondire".  Diese  eigenthümliche  Wendung  wird  daselbst  näher 
besprochen  werden,  und  wir  werden  eben  auch  da  das  sonderbare  Schillern 
der  Ausdrucksweise  zu  constatiren  haben,  das  wir  auch  hier  beobachten, 
indem  die  Erscheinung  bald  unselbstständig  mit  der  Anschauung  identificirt, 
bald  ihr  als  etwas  Selbstständiges  gegenüber  gestellt  wird. 

Scharfe  Kritik  dieser  Stelle  von  diesem  Standpunkt  aus  bei  Bolliger, 
Anti-Kant  185,  der  sich  übrigens  eng  an  Schopenhauers  Krit.  d. 
K.'schen  Philos.  527  ff.  anschliesst,  woselbst  gegen  den  „Gegenstand  der  Vor- 
stellung" als  einen  „Zwitter"  angekämpft  wird.  Bolliger  unterwirft  über- 
haupt diese  Definitionen  Kants  einer  scharfen  Kritik,  und  wirft  Kant  vor, 
gleich  am  Anfang  eine  Reihe  von  Definitionen  „axiomatisch"  festgestellt  zu 
haben,  anstatt  dieselben  auf  Grund  eingehender  Untersuchungen  zu  be- 
gründen (197.  236  ff.  407);  es  sei  das  um  so  verhängnissvoller,  als  der 
erste  Absatz  des  §  1  „die  Exposition  der  Aesthetik  nicht  nur,  sondern  auch 
der  Logik  in  nuce  enthalte",  lieber  die  „Menge  unerwiesener  Behauptungen" 
hier  s.  auch  K.  C.  F.  Krause,  Zur  Gesch.  d.  n.  Philos.  (1889)  S.  99  ff. 

Der  Ausdruck  Erscheinung  tritt  an  dieser  Stelle  zum  ersten 
Male   in  der  Kr.  d.  r.  V.  auf.     (Nur  in  der  Einleitung  A  2  war  einmal 


Die  sErscheinung".    Das  Problem  der  afficirenden  Gegenstände.  35 

[B  32.  H  56.  K  71.]  A  20.  B  34. 

„von  den  Gegenständen,  die  den  Sinnen  erscheinen**  die  Rede.)  Man 
würde  jedoch  irregehen  (so  Behmke,  Welt  141  ff.),  wenn  man  dem  Ausdruck 
„Erscheinung''  schon  an  dieser  Stelle  jene  tiefgehende  und  so  überaus  wich- 
tige Bedeutung  zuschreiben  wollte,  welche  er  im  Gegensatz  zum  Ding  an 
sich  später  gewinnt.  Von  diesem  Gegensatz  ist  in  dieser  Definition  noch 
gar  nicht  die  'Rede.  (Vgl.  R.  Lehmann,  Ks.  Lehre  vom  D.  a.  s.  Diss.  Berl. 
S.  6  ff.).  Diese  Definition  ist  in  Ansehung  gerade  dieser  Hauptfrage  noch 
ganz  neutral,  sie  ist  rein  psychologisch,  und  lässt  es  noch  ganz  unent- 
schieden, welchen  erkenntniss-theoretischen  Werth  denn  nun  dieser 
.,Gegenstand  einer  empirischen  Anschauung"  haben  solle  —  ob  wir  in  ihm 
den  Gegenstand  selbst  ergreifen,  wie  er  wirklich  ist,  ob  nur  ein,  wenn 
auch  treues,  Abbild  desselben,  ob  überhaupt  kein  Bild,  sondern  eine  ganz 
heterogene  Wirkung  desselben  in  uns  u.  s.  w.  Es  ist  wohl  zu  bemerken, 
dass  wenn  in  den  folgenden  Absätzen  des  §  1,  sowie  im  ersten  und  zweiten 
Raumargument  von  §  2,  von  „Erscheinungen^*  die  Rede  ist,  immer  nur 
jene  neutrale  Bedeutung  darunter  zu  verstehen  ist.  Erst  im  §  3  mundet 
diese  neutrale  Bedeutung  allmälig  in  die  prägnante  Bedeutung  ein,  welche, 
wie  daselbst  auch  ausdrücklich  geschieht,  durch  den  Gegensatz  zum  Ding 
an  sich  charakterisirt  ist,  und  welche  Kant  selbst,  am  Schluss  des  §  3,  als 
den  „transscendentalen  Begriff  der  Erscheinung**  bezeichnet.  Erst 
von  diesem  Begriff  der  Erscheinung  gilt,  was  B.  Erdmann,  Krit.  45  sagt, 
dass  er  „unter  der  Voraussetzung  der  Dinge  an  sich  gebildet  sei**.  Dagegen 
ist  der  hier  gebrauchte  neutrale  Begriff  der  Erscheinung,  dessen  sich  Kant 
übrigens  neben  dem  prägnanten  auch  später  noch  oft  bedient,  in  diesem 
Punkte  ganz  unverbindlich.  Auch  die  neuere  philosophische  Sprache  bedient 
sich  des  Ausdrucks  „Erscheinung**  in  diesem  neutralen  Sinne  mit  Vorliebe; 
sie  spricht  von  den  physischen  und  psychischen  „Erscheinungen**,  ohne  damit 
weiter  sagen  wollen,  als  was  Kant  hier  als  „Gegenstand  der  empirischen 
Anschauung"  bezeichnet.  —  üeber  das  Wort  und  den  Begriff  „Erscheinung** 
vgl.  übrigens  auch  Grimm,  D.  Wort.  III,  958. 

Excurs. 

Die  afficirenden  Gegenstände. 

Es  ist  nun  Zeit,  dass  wir  die  schon  mehrfach  (S.  6. 14.  20.  27)  besprochene 
Prämisse  Kants  von  afficirenden  Gegenständen  im  Zusammenhang 
erörtern.  Dass  Kant  solche  Gegenstände,  die  uns  afficiren  und  dadurch 
Vorstellungen  in  uns  hervorbringen,  als  eine  nicht  weiter  abgeleitete  Voraus- 
setzung annimmt,  wurde  schon  im  Commentar  zur  Einleitung  I,  172 — 175 
erwähnt.  Es  wurde  daselbst  aber  auch  schon  auf  die  fundamentale  Schwierig- 
keit aufmerksam  gemacht,  in  welche  sich  die  Vernunftkritik  durch  diese 
Voraussetzung  verwickelt  hat:  nach  den  späteren  Bestimmungen  derselben 
können  diese  afficirenden  Gegenstände  nicht  sein  die  empirischen  Objecto: 
denn  diese  sind  nur  unsere  Vorstellungen ;  sie  können  aber  auch  nicht  trans- 


36  Excurs.    Die  afBcirenden  Gegenstände. 

scendente  Dinge  an  sich  sein ,  da  der  Schluss  auf  die  ganze  Existenz  und 
Causalität  solcher  Dinge  an  sich  nach  der  Analytik  der  Yerstaudesbegriffe 
absolut  ungültig  und  bedeutungslos  ist.  Wir  haben  daselbst  auch  schon 
Aeusserungen  von  Brastberger,  Eberhard,  Schwab,  Schulze  hierüber 
kennen  gelernt,  müssen  nun  aber  dieses  wichtige  Thema  an  dieser  Stelle  im 
Zusammenhang  erörtern,  denn  hier,  im  Eingang  zur  Aesthetik,  tritt  jene 
Voraussetzung,  welche  wir  damals  nur  in  den  vorläufigen  Bestimmungen 
der  Einleitung  kennen  lernten,  in  der  systematischen  Dai*stellung  als 
integrirendes  Element  der  Argumentation  zum  ersten  Male  auf.  Sie  ist,  wie 
wir  sahen,  sowohl  direct  ausgesprochen,  als  indirect  in  den  Begriffen  der 
Sinnlichkeit,  der  Empfindung,  des  Gegebenseins  u.  s.  w.  enthalten. 

Das  Beste,  was  nun  hierüber  gesagt  worden  ist  —  vielleicht  das  Beste 
und  Wichtigste,  was  überhaupt  jemals  über  Kant  geäussert  worden  ist  — 
verdankt  die  Geschichte  der  Philosophie  Jacobi  ^  Wir  meinen  natürlich 
den  Anhang  zu  seinem  „David  Hume  über  den  Glauben;  oder  Realismus 
und  Idealismus.  Ein  Gespräch"  1787  (s.  die  „Beylage"  207—230;  cfr.  W.  W. 
II,  289 — 310).  Der  „Geist  des  Systems"  besteht,  wie  Jacobi  mit  Gitaten 
belegt,  in  der  Lehre:  wir  haben  es  nirgends  mit  Gegenständen,  sondern  nur 
mit  unseren  Vorstellungen  zu  thun.  „Der  Eantische  Philosoph  verlässt  daher 
ganz  den  Geist  seines  Systems,  wenn  er  von  den  Gegenständen  sagt,  dass 
sie  Eindrücke  auf  die  Sinne  machen,  dadurch  Empfindungen  erregen, 
und  auf  diese  Weise  Vorstellungen  zuwege  bringen;"- jene  angeblichen 
afficirenden  „Gegenstände"  müssten  sein:  entweder  empirische  oder  tr&ns- 
scendentale.  Beides  ist  aber  „nach  dem  Kantischen  Lehrbegriff"  aus- 
geschlossen: denn  der  empirische  Gegenstand  ist  ja  gar  nicht  ausser 
uns  vorhanden,  sondern  ist  mit  unserer  Vorstellung  identisch;  wenn  wir 
zu  den  Anschauungen  noch  solche  empirische  Gegenstände  extra  annehmen, 
so  ist  dies  eine  blosse  „Zuthat"  unseres  in  Kategorien  denkenden  Ver- 
Standes,  hinzugedacht 9  also  wiederum  eine  blosse  Vorstellung.  Was 
aber  den  transsendentalen  (besser:  transscendenten)  Gegenstand  betrifft, 
so  ist  dieser  uns  gänzlich  unbekannt;  wir  können  also  auch  gar  nicht 
wissen  noch  sagen,  ob  und  wie  er  Ursache  sei  und  wirke.  Ja,  streng  ge- 
nommen, ist  derselbe  —  ebenfalls  „nach  dem  Eantischen  Lehrbegriff*  —  ein 
rein  „problematischer  Begriff",  „welcher  auf  der  ganz  subjectiven  .  . .  Form 
unseres  Denkens  beruht"  —  er  ist  also  bloss  erdacht 5  ein  von  unserer 
Vernunft  ersonnenes  Unbedingtes,  also  wiederum  blosse  Vorstellung. 

Auf  diesen  Nachweis  folgt  die  oft  citirte  Stelle:  „Indessen  wie  sehr 
es  auch  dem  Geiste  der  Kantischen  Philosophie  zuwider  sein  mag,  von  den 
Gegenständen  zu  sagen,  dass  sie  Eindrücke  auf  die  Sinne  machen,  und  auf 


^  Es  sind  besonders  in  neuerer  Zeit  wieder  verschiedene  Versuche  gemacht 
worden,  diese  Kantkritik  Jacobi*s  zu  erschüttern,  so  bes.  von  Riehl,  Krit.  I,  432, 
B.  Erdmann,  Proleg.  LIII,  LXIV;  Krit.  40  ff.,  Kuno  Fischer,  Krit  d.  K-'schen 
Philos.  24  ff.,  Drobisch,  Ks.  Dinge  an  sich,  S.  14  ff.  Diese  Versuche  können 
jedoch  erst  in  einem  späteren  Zusammenhang  besprochen  werden. 


Das  Jacobrscbe  Dilemma.  37 

diese  Weise  Vorstellxuigen  zuwege  bringen,  so  lässt  sieb  docb  nicbt  recbt 
ersehen,  wie  ebne  diese  Voraussetzung  auch  die  Kantische  Philosophie  zu 
sich  selbst  den  Eingang  finden  und  zu  irgend  einem  Vortrag  ihres  Lehr- 
begriffs gelangen  könne.  Denn  gleich  das  Wort  Sinnlichkeit  ist  ohne  alle 
Bedeutung,  wenn  nicht  ein  distinctes  reales  Medium  zwischen  Realem  und 
Realem,  ein  wirkliches  Mittel  von  Etwas  zu  Etwas  darunter  verstanden 
werden,  und  in  seinem  Begriffe,  die  Begriffe  von  aussereinander  und 
verknüpft  sein,  von  Thun  und  Leiden,  von  Causalitftt  und  Depen* 
denz,  als  realen  und  objectiven  Bestimmungen  schon  enthalten  sein  sollen, 
und  zwar  dergestalt  enthalten,  dass  die  absolute  Allgemeinheit  und  Noth- 
wendigkeit  dieser  Begriffe  als  frühere  Voraussetzung  zugleich  mitgegeben  sei. 
Ich  muss  gestehen,  dass  dieser  Anstand  mich  bei  dem  Studio  der  Kantischen 
Philosophie  nicht  wenig  aufgehalten  hat,  so  dass  ich  verschiedene  Jahre 
hintereinander  die  Kr.  d.  r.  V.  immer  wieder  von  vorne  anfangen  musste, 
weil  ich  unaufhörlich  darüber  irre  wurde,  dass  ich  ohne  jene  Voraus- 
setzung in  das  System  nicht  hineinkommen,  und  mit  jener  Voraus- 
setzung darin  nicht  bleiben  konnte. ''' 

Jacobi  fuhrt  nun  weiter  aus:  einmal,  was  jene  Voraussetzung  aHes 
in  sich  schliesse;  sodann,  dass  diese  Voraussetzung  eben  mit  dem  Geist  des 
Kantischen  Systems  unvereinbar  sei.  »Wie  kämen  wir  in  der  Kantischen 
Philosophie  zu  einem  solchen  Dinge?  Etwa  dadurch,  dass  wir  uns  bei  den 
Vorstellungen,  die  wir  Erscheinungen  nennen,  passiv  fühlen?  Aber  sich 
passiv  fühlen  oder  leiden,  ist  nur  die  Hälfte  eines  Zustandes,  der  allein 
nach  dieser  Hälfte  nicht  denkbar  ist.  Auch  würde  hier  ausdrücklich 
gefordert,  dass  er  allein  nach  dieser  Hälfte  nicht  denkbar  sei.  Also  empfän- 
den wir  Ursache  und  Wirkung  im  transscendentalen  [transseendenten]  Ver- 
stände ,  und  könnten ,  vermöge  dieser  Empfindungen ,  auf  Dinge  ausser  uns 
nnd  ihre  nothwendigen  Beziehungen  auf  einander  im  transscendentalen 
[transseendenten]  Verstände  schliesse n.  Da  aber  der  ganze  transscendentale 
Idealismus  hiemit  zu  Grunde  ginge,  und  alle  Anwendung  und  Absicht  ver- 
löre/so  muss  sein  Bekenner  schlechterdings  jene  Voraussetzung 
fahren  lassen. '^  Er  solle  es  nicht  einmal  wahrscheinlich  finden,  dass 
es  Dinge  an  sich  gebe.  , Sobald  er  es  nur  wahrscheinlich  finde,  nur  von 
ferne  glauben  will,  muss  er  aus  dem  transsc.  Idealismus  herausgehen,  und 
mit  sich  selbst  in  wahrhaft  unaussprechliche  Widersprüche  gerathen.  Der 
transsc.  Idealist  muss  also  den  Muth  haben,  den  kräftigsten  Idealismus,  der 
je  gelehrt  worden  ist,  zu  behaupten,  und  selbst  vor  dem  Vorwurf  des 
speculativen  Egoismus  sich  nicht  zu  fürchten/ 

Mit  diesem  —  man  möchte  sagen  —  mephistophelischen  Rath  hat 
Jacobi  das  Schicksal  der  deutschen  Philosophie  bestimmt:  die  Beck,  Mai- 
mon  und  Fichte  haben  jenen  Muth  gehabt,  und  besonders  Fichte  hat  sich 
(W.  W.  I,  4SI;  II,  445  u.  ö.)  mit  Vorliebe  auf  diese  Stelle  als  auf  die 
Quelle  seiner  Philosophie  berufen.  Und  Jacobi  seinerseits  pries  Fichte  als 
den  „consequenten*  Denker,  bei  dem  »die  Kantische  Lückenbüsserei  aufhöre" 
(W.  W.  m,  10  ff.) 


38  Excui'8.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

Von  seinem  eigenen  Standpunkt  aus  lobt  aber  Jacobi  später  (bes. 
1815  in  der  , Einleitung*'  II,  22  ff.  34  ff.)  jene  Kantiscbe  „Inconsequenz*^ 
(vgl.  W.  W.  III,  76.  356.  365.  460) ,  dass  Kant  trotz  jener  idealistiscben 
Spitze  seines  Systems  von  dem  „Naturglauben''  an  die  Dinge  ausgebe  und 
macbt  Kant  nun  gerade  den  umgekehrten  Vorwurf,  dass  er  diesen  Natur- 
glauben hinterher  selbst  „ vertilge'  :  Kant  gehe  damit  also  von  einem  »höheren 
Vermögen''  aus,  , welchem  sich  das  Wahre  in  und  über  den  Erscheinungen 
auf  eine  den  Sinnen  und  dem  Verstände  unbegreifliche  Weise  kundthut*'. 
„Auf  ein  solches  höheres  Vermögen  stützt  sich  denn  die  K.'sche  Philosophie 
auch  wirklich;  und  nicht  nur,  wie  es  scheinen  möchte,  bloss  am  Ende 
[in  der  Kr.  d.  praktischen  Vernunft],  sondern  auch  am  Anfange,  wo 
jenes  höhere  Vermögen  den  Qrund  und  Eckstein  des  Gebäudes  wirklich  l^t 
mit  der  absoluten  Voraussetzung  eines  Dinges  an  sich,  welches  sich  weder 
in  den  Erscheinungen,  noch  durch  sie  dem  Erkenntnissvermögen  offenbart, 
sondern  allein  mit  ihnen,  auf  eine  den  Sinnen  und  dem  Verstände  unbegreif- 
liche, durchaus  positive  oder  mystische  Weise."  Diese  dem  natürlichen 
Menschen  unzweifelhafte  Offenbarung  der  Dinge  durch  die  Wahrnehmung 
habe  Kant  freilich  dann  doch  nicht  anerkannt,  sondern  habe  die  uralte 
falsche  Voraussetzung  der  Schulen  angenommen,  dass  die  Wahrnehmung 
kein  Bild  der  Dinge  gebe;  und  in  Verfolg  dieses  Gedankens  kam  er  dann 
auf  seinen  verkehrten  Idealismus:  „Die  Kantische  Lehre  geht  unwidersprech- 
lieh  von  dem  Naturglauben  an  eine  unabhängig  von  unseren  Vorstellungen 
vorhandene  materielle  Welt  aus,  und  vertilgt  ihn  nur  hintenach  durch 
die  Lehre  von  der  absoluten  Idealität  alles  Räumlichen  und  Zeitlichen,  der- 
gestalt, dass  man,  ohne  von  dem  Naturglauben  als  einer  festen  und 
bleibenden  Grundlage  auszugehen,  nicht  in  das  System  hinein,  mit  ihm 
aber  darin  nicht  verharren  und  sich  niederlassen  kann."  So  verwickele  der 
Begriff  der  Dinge  an  sich  Kant  in  die  grössten  Widersprüche:  aber  gerade 
„diese  Chamäleonsfarbe  zwischen  Idealismus  und  Realismus  sei  ihm  beim 
Publice  nützlich  gewesen"  (W.  W.  III,  76). 

Seitdem  Jacobi  im  Jahre  1787  den  fundamentalen  Widerspruch  des 
Kantischen  Systems  in  so  scharfsinniger  Weise  ans  Licht  gestellt  hatte, 
wurde  derselbe  Vorwurf  vielfach  wiederholt.  Wir  gehen  auf  die  unter- 
geordneteren dieser  Aeusserungen  ^  nicht  ein ,  sondern  weisen  nur  auf  den 
hin,  der  den  Vorwurf  in  der  schneidigsten  und  einschneidendsten  Weise  so 
formulirt  hat,  wie  er  dann  in  der  Geschichte  der  Philosophie  als  Ferment 
weiterwirkte.  Es  ist  Schulze  in  seinem  „Aenesidem"  (1792)  S.  261  ff.  273. 
294  ff.  375  ff.  -     „Die  Vernunftkritik   stellt  den  Satz:   alle  menschliche  Er- 

*  So  von  Eberhard,  Pistorius,  Garve,  Weishaupt  u.A.  Letsterer 
bemerkt  (Ansch.  u.  Ersch.  S.  10)  treffend  zu  den  hier  am  Anfang  vorkommenden 
afficirenden  Dingen  an  sich:  ,Wir  werden  erfahren,  dass  von  einer  anderen  Seite 
alles  wieder  genommen  wird,  was  man  uns  von  dieser  Seite  gegeben  hat.* 

'  Vgl.  dazu  bes.  Liebmann,  Kant  u.  d.  Epigonen  S.  49:  „Was  Aen.  gegen 
das  Ding  an  sich  sagt,  ist  so  richtig  und  treffend,  dass  wir  es  geradezu  unter- 
schreiben können."     Aehnlich  v.  Leclair,  Realismus  83  ff. 


Aenesidems  Kritik  der  einwirkenden  Objecte.  39 

kenntniss  hebt  mit  der  Einwirkung  objectiv  vorhandener  Gegenstände  auf 
unsere  Sinne  an,  und  diese  Gegenstände  geben  den  ersten  Anlass  dazu,  dass 
sich  unser  Gemüth  äussert  —  nicht  nur  ohne  allen  Beweis  und  als  einen 
an  sich  völlig  ausgemachten  und  unbestreitbar  gewissen  Satz  auf,  und  wider- 
legt mithin  diese  Hirngespinnste  des  Skepticismus  und  Idealismus  durch 
einen  bittweise  angenommenen  Satz  [peiUio  principU],  dessen  Wahrheit  beide 
leugneten;  sondern  ihre  eigenen  Resultate  heben  auch  die  Wahrheit  jenes 
bittweise  angenommenen  Satzes  gänzlich  auf . .  .  Doch  dass  die  Vernunft- 
kritik  ihr  System  auf  bittweise  angenommene  Sätze  erbauet,  dies  hat  sie 
mit  allen  Systemen  des  Dogmatismus  gemein.  Sollte  aber  sogar  die  Wahr- 
heit der  Sätze,  welche  ihren  Speculationen  als  Prämissen  zu  Grunde  liegen, 
demjenigen  widersprechen,  was  sie  durch  die  sorgfältigste  Prüfung  des 
menschlichen  Erkenntnissvermögens  gefunden  und  ausgemacht  haben  will: 
so  könnte  sie  nicht  einmal  so  viel  Ansprüche,  als  dasjenige  System  des 
Dogmatismus,  in  welchem  ein  solcher  Contrast  zwischen  den  Prämissen 
und  Resultaten  nicht  vorkommt,  auf  Gewissheit  und  Wahrheit  machen. 
Nun  vergleiche  man  aber  nur  die  Resultate  der  Vemunftkritik  mit  den 
Prämissen  in  derselben,  so  wird  man  den  zwischen  denselben  vorhandenen 
Widerspruch  leicht  ausfindig  machen  können.  Nach  der  transsc.  Deduction 
der  reinen  Yerstandesbegriffe,  welche  die  Vemunftkritik  geliefert  hat,  sollen 
Dämlich  die  Kategorien  Ursache  und  Wirklichkeit  nur  auf  empirische 
Anschauungen,  nur  auf  etwas,  so  in  der  Zeit  gewahrgenommen  worden  ist, 
angewendet  werden  dürfen,  und  ausser  dieser  Anwendung  sollen  die  Kate- 
gorien weder  Sinn  noch  Bedeutung  haben.  Der  Gegenstand  ausser  unseren 
Vorstellungen  (das  Ding  an  sich),  der  nach  der  Vernunftkritik  durch  Ein- 
fiuss  auf  unsere  Sinnlichkeit  die  Materialien  der  Anschauungen  geliefert 
haben  soll,  ist  nun  aber  nicht  selbst  wieder  eine  Anschauung  oder  sinnliche 
Yorstellung,  sondern  er  soll  etwas  von  demselben  realiter  Verschiedenes  und 
Unabhängiges  sein ;  also  darf  auf  ihn  nach  den  eigenen  Resultaten  der  Ver- 
nunftkritik  weder  der  Begriff  Ursache,  noch  auch  der  Begriff  Wirklich- 
keit angewendet  werden;  und  ist  die  transsc.  Deduction  der  Kategorien, 
welche  die  Vernunftkritik  geliefert  hat,  richtig,  so  ist  auch  einer  der  vor- 
züglichsten Grundsätze  der  Vernunftkritik,  dass  nämlich  alle  Erkenntniss 
mit  der  Wirksamkeit  objectiver  Gegenstände  auf  unser  Gemüth  anfange, 
unrichtig  und  falsch. '  „Die  Vernunftkritik  legt  also  ihren  Specula- 
tionen den  Satz  zum  Grunde,  dass  alle  Erkenntniss  durch  die  Wirk- 
samkeit objectiver  Gegenstände  auf  das  Gemüth  anfange,  und  bestreitet 
liintenher  selbst  die  Wahrheit  und  Realität  des  Satzes/  Nimmt  man  aber 
das  letztere  Resultat  an,  demgemäss  es  gar  keine  Dinge  an  sich  geben 
könnte,  so  wird  der  Kriticismus  zum  extremsten  Subjeotivismus ,  der  alles 
in  blossen  Schein  verwandelt.  « Hätte  die  Vernunftkritik  es  gleich  auf  der 
«rsten  Seite  angezeigt,  dass  sie  unter  den  Gegenständen,  die  unsere 
^inne  afficiren  und  Vorstellungen  bewirken,  eigentlich  nichts  weiter  versteht, 
als  wieder  nur  Vorstellungen  von  Dingen  ausser  uns"  —  so  würde  man 
49ich  nicht  durch  das  ganze  Buch  erst  hindurcharbeiten  müssen,  um  erst  im 


40  Excurs.    Die  afßcirenden  Gegenstände. 

Verlauf  desselben  auf  dies  Resultat  zu  stossen.  Aber  ,der  unbefangene 
Leser**  wird  dnrcb  jene  von  Anfang  an  so  oft  wiederholte  Behauptung  yon 
,  afficirenden  Gegenständen  **  u.  s.  w.  „ irregeführt ''^  und,  während  er  dahinter 
den  „gewöhnlichen'  Sinn  sucht:  es  gebe  wirklich  reelle  Gegenstände,  mit 
denen  unser  Gemüth  in  ^ reellem  Zusammenhang"  stehe,  müsse  er  nachher 
zu  seinem  masslosen  Erstaunen  erfahren,  dass  Kant  unter  diesen  Gegen- 
ständen doch  wieder  nur  blosse  Vorstellungen  verstehe.  Indessen,  wenn 
auch  Kants  System  auf  diese  Consequenz  führe,  so  habe  doch  Kant 
selbst  unter  jenen  «affieirenden  Gegenständen '^  sich  wirkliche  Dinge  an  sich 
vorgestellt,  und  habe  eben  damit  jenen  fundamentalen  Widerspruch  begangen. 
Reinhold  habe,  wie  Schulze  295 — Sil  eingehend  ausführt,  versucht,  diesen 
Vorwurf  der  Kantgegner  zu  entkräften,  aber  er  habe  sich  mit  seinen 
Distinctionen  von  bloss  vorgestellten  und  wirklichen  Dingen  an  sich  nur 
noch  tiefer  in  jenen  unentwirrbaren  Widerspruch  verstrickt. 

Durch  diese  scharfen  Angriffe  wurde  das  Heer  der  Kantianer  ins 
Wanken  gebracht,  und  gerieth  theils  in  vollständige  Verwirrung,  theils 
wurde  es  auf  einen  ganz  anderen  Weg  gedrängt,  durch  dessen  Einschlagen 
sich  die  Kantische  Philosophie  aber  zuletzt  selbst  auflöste  ^ 

Jene  Verwirrung  zeigt  sich  besonders  typisch  bei  Beinhold,  wie  eben 
erwähnt  wurde.  In  seinen  Erörterungen  hierüber  (Th.  d.  V.  230  ff.  242  ff. 
248  ff.  256  ff.  279  ff.  299  ff.)  vermeidet  er  zwar  immer  die  Wendung ,  dass 
die  Dinge  an  sich  uns  afficiren  und  uns  den  Stoff  der  Empfindungen  geben, 
aber  er  kann  doch  nicht  umhin,  zuzugestehen,  dass  dem  Stoff  der  Vor- 
stellungen Dinge  an  sich  „zum  Grunde  liegen '.  Diese  sollen  nun  freilich 
gar  nicht  vorstellbar  sein,  man  könne  nicht  das  Geringste  von  ihnen  aus- 
sagen; wenn  man  sie  sich  als  wirkend  vorstelle,  so  sei  das  nur  von  uns  so 
gedacht  u.  s.  w.  Aber  hinter  allen  diesen  Verclausulirungen  gähnt  doch  der 
Abgrund  jenes  fundamentalen  Widerspruches  immer  wieder  auf;  und  so 
erklärt  es  sich,  dass  Reinhold  dann  später  unter  dem  Einflüsse  Fichte's  «das 
leidige  Ding  an  sich,  welches  durch  die  Phantasie  ebenso  nach- 
drücklich geschützt,  als  es  von  der  Vernunft  gründlich  ange- 
fochten wird",  wie  er  sich  schon  1791  (Fundament  S.  66)  trefflich  aus- 
drückte, gänzlich  —  eben  als  blosses  Phantasieproduct  —  fallen  Hess. 

Diesen  Ausweg  schlugen  nun  die  selbständigeren  Kantiuier  ein.  Die 
A.  L.  Z.  sah  sich  schon  1788,  II,  112  in  der  Recension  des  Jacobi'schen 
Buches  dahin  gedrängt,  die  Einwirkung  der  Dinge  an  sich  zu  leugnen,  und 
in  diesen  Einleitungsworten  der  Aesthetik  nur  den  Sinn  zu  sehen, 
dass  die  Eindrücke  von  Gegenständen  auf  die  Sinne  nur  ein  Verhältniss 
empirischer  Vorstellungen  von  Gegenständen  zu  anderen  empirischen  Vor- 
stellungen von  Gegenständen  {den  Sinnen,  die  eben  auch  empirische  Gegen- 
stände sind)  ausdrücken.  Ganz  ähnlich  antwortete  Jacob  gegen  Jacobi,  in 
Cäsars  Denkwürdigkeiten  V,  230  ff.  (vgl.  Eberstein  II,  160—164).    Auch  er 


^  Vgl.  zum  Vorhergehenden  und  Folgenden  auch  die  geistvollen  Ausführungen 
von  Dilthey  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  Philos.  ü,  601  ff.  646  ff. 


Das  Ding  an  sich  als  y^— a  bei  Maimon.  41 

legt  den  Anfang  der  Aesthetik  dahin  aus,  dass  , Gegenstände  des  äusseren 
Sinnes  den  inneren  Sinn  afBciren" ;  fragt  aber  Jemand:  ist  denn  aber  auch 
ein  wirklicher  objectiver  Grund  da?  so  sage  er:  ich  weiss  es  nicht.  Damit 
wird  also  das  Ding  an  sich  ganz  kaltgestellt,  das  Afficiren  ist  yon  ihm  auf 
die  Erscheinungsdinge  übertragen,  es  hat  also  auch  keine  Function  mehr. 
Wie  Organe,  welche  nicht  mehr  functioniren ,  verkümmern  und  absterben, 
80  schrumpft  auch  bei  den  Kantianern  das  Ding  an  sich  immer  mehr  zu- 
sammen, bis  es  zuletzt  sich  in  Nichts  auflöst.  Es  dauerte  nicht  lange,  bis 
dieser  Bruch  mit  dem  Ding  an  sich  zum  Ernst  gemacht  wurde. 

Im  Jahre  1790,  in  welchem  auch  B  rast  berger  die  am  Anfang  der 
Kritik  behauptete  Affection  des  Gemüths  durch  Gegenstände  als  eine  bloss 
gedachte  hinstellte  (vgl.  Comm.  I,  172  ff.),  begann  Maimon  in  seiner 
^Transscendental-Philosophie'^  (161  ff.  203.  419;  vgl.  dazu  Kants  Brief  an 
B.eYz  vom  26.  Mai  1789)  seinen  Kampf  gegen  das  Ding  an  sich  und  seine 
Einwirkung.  Kant  gebrauche  allerdings  sehr  oft  das  Wort  ^gegeben'*  von 
der  Materie  der  Anschauung,  das  bedeute  aber  bei  ihm  „ nicht  etwas  in 
uns,  das  eine  Ursache  ausser  uns  hat*'.  Der  Schluss  auf  eine  nicht- wahr- 
genommene Ursache  sei  aber  sehr  unsicher;  man  könne  „das  Ding  an  sich 
ausser  der  Vorstellungskraft  nicht  als  Ursache  erkennen,  indem  hier  das 
Schema  der  Zeit  fehlt";  , gegeben"  bedeute  (vgl.  oben  S.  19)  vielmehr 
9 bloss  eine  Vorstellung,  deren  Entstehungsart  in  uns  unbekannt  ist",  etwas, 
,von  dem  wir  bloss  ein  unvollständiges  Bewusstsein  haben.  Diese  Un Voll- 
ständigkeit des  jBewusstseins  aber  kann  von  einem  bestimmten  Bewusstsein 
bis  zum  völligen  Nichts  durch  eine  abnehmende  unendliche  Reihe  von  Graden 
gedacht  werden,  folglich  ist  das  bloss  Gegebene  (da^enige,  was  ohne  alles 
Bewusstsein  der  Vorstellungskraft  gegenwärtig  ist)  eine  blosse  Idee  von  der 
Grenze  dieser  Reihe,  zu  der  (wie  zu  einer  irrationalen  Wurzel)  man  sich 
immer  nähere,  die  man  aber  nie  erreichen  kann."  Nach  den  , Streifereien"  48, 
ist  das  Ding  an  sich  ein  „Unding",  das  freilich  von  einem  Reinhold,  der 
darin  Dogmatiker  sei,  angenommen  werde  (217.  269).  In  der  kritischen 
Philosophie  dürfe  man  (Krit.  Unt.  191)  von  dem  Ding  an  sich  nur  so 
sprechen,  wie  die  Algebra  von  VlTa  spreche,  „aber  nicht,  um  dadurch  ein 
Object  zu  bestimmen,  sondern  gerade  umgekehrt,  um  die  Unmöglichkeit  eines 
solchen  Objects,  dem  dieser  Begriff  zukommt,  darzuthun".  Von  diesem 
Standpunkt  aus  unterwirft  Maimon  (Krit.  Unt.  59  ff.)  diese  Einleitung 
zur  Aesthetik  einer  eingehenden  Kritik,  resp.  er  modelt  sie  nach  jenem 
Standpunkt  um;  die  Begriffe:  Empfindung,  Anschauung,  Sinnlich- 
keit werden  anders  definirt;  insbesondere  aber  solle  man  „das  Wort  affi- 
ciren, welches  ein  Leiden  durch  die  Wirkung  einer  äusseren  Ursache  be- 
deutet, vermeiden,  weil  hier  gar  nicht  die  Rede  sein  kann  von  dem, 
wodurch  eine  Erkenntniss  bewirkt  wird,  sondern  von  dem,  was  darin 
enthalten  ist". 

Davon  geht  auch  Beck  aus,  aber  er  geht,  wie  wir  sehen  werden,  dann 
doch  einen  anderen  Weg  als  Maimon.  Das  Allgemeine  über  Beck  haben  wir 
schon  oben  darzustellen  gehabt  (S.  14.  15.  20.  23).   Wir  sahen  da,  wie  Beck, 


42  Ezcurs.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

unter  Verwerfung  des  Dinges  an  sich  (Auszug  III,  23 — 30.  159.  246.  266) 
alle  wahre  Affection  leugnet,  die  Sinolichkeit  asf  die  spontane  Thätigkeit 
des  yiuqiraiigliflliea  VoEStellein*  zurückfährt  und  demnach  alle  Defini- 
tionen dieser  Einleitung  ummodelt.  Kant  selbst  habe  seinen  Leser 
nicht  sogleich  Anfangs  auf  diesen  „transscendentalen  Standpunkt"  stellen 
wollen,  und  deshalb  in  dieser  Einleitung  noch  die  Sprache  des  ge- 
meinen Lebens  und  des  gewöhnlichen  Dogmatismus  gesprochen; 
erst  „nach  und  nach"  fahre  Kant  den  Leser  auf  die  volle  Hohe,  und  da 
fallen  dem  Leser  erst  die  Schuppen  yon  den  Augen :  da  erkenne  er,  dass  es 
keine  Dinge  an  sich  gebe,  die  auf  uns  einwirken,  dass  wir  es  überall  nur 
mit  unseren  Vorstellungen  zu  thun  haben.  „Lediglich  um  der  Verständlich- 
keit willen  nimmt  die  Kritik  die  Sprache  des  Realismus  an"  (Aaszug 
III,  80)  am  Anfang,  denn  sonst  würde  Niemand  ihn  verstanden  haben. 
wenn  er  sogleich  mit  diesem  Resultat  begonnen  hätte  ^  Wer  nun  freilich 
dieses  Resultat  gewonnen  habe,  und  nicht  wisse,  dass  Kant  hier  am  Anfang 
sich  dem  gewöhnlichen  Leser  „anbequeme",  dem  müsse  diese  „Intro- 
duction"  der  Aesthetik  ein  „Gegenstand  der  Anfechtung"  sein;  habe 
man  aber  einmal  jenen  Unterschied  der  exoterischen  Form  und  des  esoteri- 
schen Inhalts  erfasst,  dann  verstehe  man,  dass  Kant  nur  um  der  Schwachen 
willen  („zu  Gunsten  der  schwachen  Brüder",  wie  Born  einmal  sich  aus- 
drückt) hier  am  Anfang  von  Affection  des  Subjects  durch  Gegenstände  an 
sich  spreche :  für  den  starken  Geist  des  wahren  Transscendental-Philosophen 
könne  doch  kein  Zweifel  sein,  dass  es  keine  Dinge  an  sich  gebe,  also  auch 
keine  Affection  durch  solche.  Aber  an  Stelle  dieser  Auffassung  tritt  bei 
Beck  nun  eine  andere,  gewissermassen  entgegengesetzte :  darnach  muss  aller- 
dings eine  Affection  angenommen  werden,  und  wenn  Kant  von  einer  solchen 
spricht,  hat  er  ganz  Recht;  aber,  da  es  Dinge  an  sich  nicht  gibt,  so  folgt, 
dass  „dieser  mich  afficirende  Gegenstand  —  Erscheinung  und  nicht  Ding 
an  sich  ist".  „Das  Object,  das  die  Empfindung  in  uns  hervorbringt,  ist  die 
Erscheinung."  (in,  156.  159.  163.  172.  868.  369;  vgl.  den  Brief  an  Kant 
vom  20.  VL  1797,  in  Reioke's  Altpr.  Mon.  XXII,  435  ff.,  bes.  438  ff.,  wo 
Beck  auf  diese  Weise  das  Jacobi*sche  Dilemma  zu  lösen  sucht.)  Damit  sind 
wir  nun  aber  in  den  seltsamsten  Cirkel  hineingerathen.  Zuerst  bringen  wir 
durch  ursprüngliches  Vorstellen  die  Vorstellungen  der  Gegenstände,  d.  h.  die 
Erscheinungen  selbst  hervor,  und  dann  afficiren  uns  wieder  diese  von  uns 
doch  nur  vorgestellten  Erscheinungen,  und  dadurch  erhalten  wir  Empfin- 
dungen !  Einen  solchen  Widerspruch,  der  noch  schlimmer  ist  als  der  ursprüng- 
liche Kantische,  haben  wir  also  für  diesen  eingetauscht  —  eine  wahre  „Ab- 
surdität", wie  Ueberweg  (Gesch.  d.  Phil.  III,  5.  A.  §  21)  mit  Recht  bemerkt. 
Kein  Wunder,   dass  Beck  selbst  später  (1800)  in  einem  Briefe  an  Pörschke 


^  Mit  Recht  bemerkt  Ueberweg  in  8.  Gesch.  d.  Philcs.  III,  5.  A.  §  21  hieza: 
„was  freilich  eine  wunderliche  Didaktik  wäre,  die  das  richtige  Verständniss  nicht 
erleichtem,  sondern  nahezu  unmöglich  machen  würde.*  Vgl.  Erdmann,  Krit  41 
Über  diesen  angeblichen  „pädagogischen  Betrug*. 


Becks  „einzig  mögUcher  Standpunkt''.  43 

bekennt,  er  habe  sich  in  seinem  ^^Standpunkt^  ^über  die  Dinge  an  sich 
zn  krass  ansgedrückf"  (s.  Altpr.  Monatsschr.  1880 ,  S.  298).  Hatte  er 
doch  in  jenem  Werke  (158  ff.)  die  Frage  nach  den  Dingen  an  sich  für  gänz- 
lich ^widersinnig"  erklärt;  hatte  er  doch  sogar  die  Aeussemng  gewagt, 
,jene  Frage  nach  einer  Verknüpfung  zwischen  Vorstellung  und  Object  sei 
aller  Bedeutung  beraubt,  und  ihre  innere  Wichtigkeit  sei  ganz  und  gar  nicht 
grösser,  als  die  der  Frage,  ob  der  heilige  Geist  vom  Vater  und  Sohne  oder 
nur  vom  Vater  allein  ausgehe.  Beide  Fragen  sind  nämlich  aller  Verständ- 
lichkeit ganz  und  gar  beraubt' .  „Erscheinungen  sind  die  Objecte  unserer 
Erkenntniss,  die  auf  uns  wirken  und  Empfindungen  in  uns  hervorbringen. 
Dabei  ist  nun  gar  nicht  an  Dinge  an  sich  zu  denken.  Wer  diese  Meinung 
der  Behauptung  der  Kritik,  dass  uns  die  Objecte  afficiren,  unter- 
legt, beweiset  damit,  dass  er  den  Standpunkt  nicht  erreicht  hat,  aus  welchem 
diese  Kritik  beurtheilt  werden  muss.*" 

Diese  Auffassung  führt  ja  nun  aber  ganz  auf  den  Standpunkt  des 
fjre wohnlichen  Menschenverstandes,  des  Common  Sense  zurück?  Dies  ist  denn 
auch  in  der  That  die  Meinung  Becks.  Er  sagt  (Standp.  Ill,  158,  vgl. 
151  ff.  168):  „Der  kritische  Idealismus  ist  mit  dem  gemeinen  Menschensinne 
ganz  einverstanden.  Vollkommen  so  wie  dieser  sagt  er,  dass  die  Gegen- 
stände uns  afficiren  und  Empfindungen  in  uns  erzeugen."  Der  transsc. 
Idealismus  sichere  aber  erst  den  gemeinen  Menschenverstand  in  seinen 
Bechten,  dadurch,  dass  er  auf  das  „ursprüngliche  Vorstellen''  zurückgehe, 
dessen  nach  dem  Princip  der  Causalität  synthetisch  verknüpfte  Vorstellungen 
durch  eine  „ursprüngliche  Anerkennung^  objectiv  gemacht  werden,  und  also 
eben  das  ausmachen,  was  der  gemeine  Menschensinn  die  Welt  nennt.  Eine 
andere  Welt  gebe  es  nicht,  „ursprünglich''  seien  aber  nicht  die  Dinge, 
sondern  nur  das  Vorstellen.  Dieses  „setzt''  in  ursprünglicher  Synthesis 
und  ursprünglicher  Anerkennung  die  Erscheinungen;  und  diese  sind  es,  die 
uns  nun  afficiren  als  Holz,  Stein,  Licht  u.  s.  w.  Vom  „transsoendentalen 
Standpunkt **  aus  ist  alles  dies  ein  „ursprünglich  gesetztes  Etwas",  vom 
empirischen  Standpunkt  aus  ist  es  für  uns  da  und  afficirt  uns  und  gibt  uns 
Empfindungen. 

So  hat  denn  die  immanente  Weiterentwicklung  der  Kantischen  Ge- 
danken zu  einem  Standpunkt  geführt,  der  nicht  nur  den  ursprünglichen 
Kantischen  Lehren  schnurstracks  widerspricht ,  sondern  der  auch  in  sich 
gänzlich  widerspruchsvoll  ist.  Wir  sind  jetzt  in  einen  seltsamen  Girkel  ein- 
geschlossen :  die  Erscheinungen  werden  von  uns  im  ursprünglichen  Vorstellen 
erst  gesetzt;  und  diese  von  uns  gesetzten  Erscheinungen  müssen  uns  doch 
erst  afficiren,  ehe  wir  gerade  von  ihnen  bestimmte  Vorstellungen  erhalten 
können;  sie  existiren  also,  ehe  sie  existiren.  Beck  meint  zwar  (156):  „Da 
fehlt  nun  viel  daran,  dass  wir  in  diesen  Aussagen  uns  widersprechen  sollten.'' 
Aber  wir  Anderen  finden  in  einer  solchen  Lehre  allerdings  einen  absoluten 
Widerspruch. 

Einen  ähnlichen  Standpunkt  nehmen  die  von  Beck  theilweise  inspirirten 
Jacob'schen  AnnaleD  ein;  bes.  II,  99.  G91  ff.     Der  ehrliche  Mellin  polemisirt 


44  Excurs.    Die  afficirenden  Gegenstande. 

gegen  diese  Stellen  (Wort.  I,  131  ff.),  wird  aber  in  den  Annalen  III,  656  ff. 
zurechtgewiesen.  Meilin  verlor  in  dem  Oewirre  von  Stimmen  und  Gegen- 
stimmen den  Kopf  und  lehrte  bald  die  Affection  durch  die  Dinge  an  sich, 
bald  die  durch  Erscheinungen  (vgl.  I,  88  f.  131  ff.  267  f.  490.  708 ;  II,  703. 
714  f.  786;  V,  311  ff.).  Es  ist  jämmerlich  anzusehen,  wie  er  sich  windet 
und  dreht,  um  um  die  Widersprüche  herumzukommen,  und  sich  doch  immer 
tiefer  in  dieselben  verstrickt.  Die  Annalen  III ,  656  ff.  suchen  den  Wider- 
spruch zu  lösen  durch  Unterscheidung  einer  Sinnlichkeit  im  trans- 
scendentalen  und  im  empirischen  Sinne;  von  jener  seien  die  empiri- 
schen Gegenstände  abhängig,  von  dieser  unabhängig.  Die  empirischen 
Gegenstände  afficiren  nur  die  empirische  Sinnlichkeit,  sind  aber  von  jener 
transscendentalen  Sinnlichkeit  gesetzt.  Von  den  Dingen  an  sich  wird  dabei 
gänzlich  abgesehen.  Dies  führt  nun  schon  zum  Fichte'schen  Standpunkt  über. 
Bei  Fichte  zeigte  sich  von  Anfang  an  das  Bestreben,  das  , leidige 
Ding  an  sich''  abzuschütteln.  Schon  in  der  „Kritik  aller  Offenbamng* 
(W.  W.  V,  25) ,  in  der  er  sich  noch  auf  den  Boden  der  Kr.  d.  r.  V.  stellt 
(1792),  erfindet  er  (für  den  Willen)  an  Stelle  einer  „positiven  Affection  der 
Receptivität  durch  gegebene  Materie*  den  Begriff  einer  „negativen  Af- 
fection, einer  Niederdrückung,  einer  Einschränkung  des  Empfindungsver- 
mögens'. Der  Gedanke,  dass  das  Ich  durch  nichts  ausser  ihm  afficirt  werden 
könne,  dass  es  das  Nicht-Ich  vielmehr  selbst  erst  setze,  kommt  deutlich  zum 
Durchbrach  in  der  Recension  des  Aenesidemus  (1794).  Vgl.  W.  W.  I,  17  ff. 
Kants  Unterscheidung  zwischen  Dingen  an  sich  und  Erscheinungen  „sollte 
daher  gewiss  nur  vorläufig  und  für  ihren  Mann  gelten'.  In  der 
„Grundlage  der  ges.  Wissenschaftslehre'  (1794)  wird  die  Behauptung  nackt 
hingestellt:  Die  Annahme  wirkender,  afficirender  Dinge  an  sich  gelte,  nur 
,auf  der  Stufe  der  Reflexion,  auf  welche  Kant  sich  gestellt  hatte',  nicht 
aber  auf  dem  eigentlichen  transscendentalen  Standpunkte  (W.  W.  I,  174.  186). 
Die  Einwirkung  eines  Realgrundes  auf  das  Ich  sei  schlechthin  undenkbar. 
Die  Thätigkeit  des  Ich,  des  reinen,  nur  durch  intellectuelle  Anschauung  zu 
erfassenden  Ich  sei  das  einzig  ursprüngliche;  durch  seine  Denkhandlungen 
setze  es  erst  in  verschiedenen  Setzungen  die  Welt  der  Erscheinungen,  und 
nur  das  empirische,  individuelle  Ich  fasse  diese  dann^ nachträglich  als  Dinge 
an  sich  auf  u.  s.  w.  Dies  sei  der  Geist  der  Kantischen  Philosophie;  Kants 
Verdienst  sei,  die  Philosophie  vom  „todten  Ding  an  sich'  befreit,  und  damit 
die  Vernunft  entfesselt  zu  haben.  Wer  einen  gegebenen  Stoff  annehme,  ver- 
stehe vom  Geist  der  kritischen  Philosophie  und  von  echter  Wissenschaft 
nichts  (II,  482  ff.).  Die  Behauptung:  der  Stoff  wird  gegeben,  sei  gänz- 
lich unverständlich.  Wie  soll  denn  eigentlich  der  Intelligenz  der  Stoff  ge- 
geben werden?  Dass  die  Kantianer  dies  immer  wiederholen,  beweise  nur, 
dass  sie  von  wahrer  Philosophie  nichts  verstünden.  Besonders  wird  dies 
(II,  444—458,  vgl.  482  ff.)  in  der  bekannten  Streitschrift  gegen  Schmidt 
ausgeführt.  In  unzähligen  Variationen  wiederholt  Fichte  denselben  Vorwurf 
gegen  die  Kantianer,  sie  hätten  Kant  völlig  missverstanden,  wenn  sie  ihn 
ein   afficirendes  Ding  an  sich   annehmen   Hessen.     Auch   in  Fichte*s  Brief- 


Fichte  eliminirt  das  „leidige",  ,todte  Ding  an  sich'.  45 

Wechsel  mit  Beinhold  wird  dieses  Thema  erörtert  (Beinholds  Leben  S.  165  ff, 
174.  184  ff.).  Als  Beinhold  sich  zar  „ Wissenschaftslehre''  bekehrt  hatte, 
sendet  ihm  Fichte  „den  feurigsten  Glückwunsch''  dazu,  dass  er  den  „bösen 
Schaden  seines  Systems",  den  „gegebenen  Stoff"  losgeworden  sei.  „Wenn 
Sie  aus  Ihrem  bisherigen  System  den  gegebenen  Stoff  weglassen,  so  erhält 
es  eine  ganz  andere  Bedeutung,  und  Alles,  was  Sie  darin  sagen,  steht  auf 
einem  ganz  anderen  Gesichtspunkte,  auf  dem  es  Wahrheit  ist."  Der  so 
leicht  bestimmbare  Beinhold  hat  sich  auf  diesen  Standpunkt  „hinauf- 
geschwungen", aber  es  kommt  ihm  das  Bedenken,  ob  denn  dies  in  der  That 
auch  der  Sinn  Kants  sei,  wie  Fichte  immer  behaupte?  Es  bestehe  doch 
wohl  ein  Widerspruch  zwischen  Kants  Kr.  d.  r.  V.  und  der  Wissenschafts- 
lehre in  diesem  Hauptpunkte? 

Diesen  Bedenken  hatte  Beinhold  öffentlichen  Ausdruck  gegeben  in  den 
„Vermischten  Schriften"  1797,  II,  840  ff.  Fichte  thue  sowohl  sich  als  Kant 
Unrecht,  wenn  er  behaupte,  Kant  lehre  genau  dasselbe  wie  er.  Kant  nehme 
,,ein  vom  Ich  Verschiedenes"  an,  und  suche  es  „ausser  dem  Ich".  Erst  Fichte 
habe  gefunden,  dass  man  ohne  das  Ding  an  sich  auskommen  könne.  Wolle 
man  Kant  auch  so  auslegen,  so  müsse  man  der  Kritik  „Gewalt  anthun". 

Diese  ehrlichen  Bedenken  sucht  Fichte  in  seinem  Brief  an  Beinhold 
vom  4.  Juli  1797  zu  zerstreuen.  Er  nimmt  8  Fälle  an:  Entweder  habe 
Kant  wirkende  Dinge  an  sich  angenommen;  so  lassen  ihn  die  Kantianer 
sagen.  Oder  er  habe  dieselben  geleugnet;  dies  sei  seine,  Fichte^s,  Mei- 
nung. Oder  Kant  habe,  wie  man  vermittelnd  annehmen  könne,  „sich  die 
Frage  über  den  Ursprung  der  äusseren  Empfindung  nicht  bestimmt  vor- 
gelegt." Das  Dritte  will  Fichte  allenfalls  gelten  lassen,  das  Erste  aber 
nie:  Kant  habe  auch  nicht  „die  leiseste  Andeutung"  gegeben,  dass  er  den 
Ursprung  der  äusseren  Empfindung  „in  Etwas  an  sich  vom  Ich  Verschie- 
denem" setze.  Dass  Kant  dies  gethan  hätte,  „halte  ich  für  unmöglich,  dem 
ganzen  Kantischen  System  in  allen  seinen  Punkten  und  den  hundert  mal 
wiederholten  klaren  Aussprüchen  Kants  widersprechend". 

Fichte  fährt  fort:  „Indem  Sie  dies  lesen,  mögen  Sie  vielleicht  un- 
willig werden,  vielleicht  sich  sagen:  Hat  denn  dieser  Fichte  auch  nicht 
einmal  den  Anfang  der  Kr.  d.  r.  V.,  nicht  den  ersten  Perioden  der 
Einleitung,  nicht  §  1  der  tr.  Aesthetik  gelesen?  Haben  Sie  Geduld 
bis  auf  meine  Abhandlung.     Ich  erkläre  daselbst  diese  Stellen." 

Diese  Abhandlung  ist  die  „Zweite  Einleitung  in  die  Wissenschafts- 
lehre" (1797),  W.  W.  I,  453-518.  Fichte  wirft  (480)  die  „lediglich  histo- 
rische" Frage  auf:  Hat  Kant  wirklich  die  Erfahrung,  ihrem  empi- 
rischen Inhalte  nach,  durch  etwas  vom  Ich  Verschiedenes  be- 
gründet? So  hätten  allerdings  (ausser  Beck)  bis  jetzt  alle  Kantianer  Kant 
verstanden.  Aber  schon  Jacobi  habe  in  seinem  „Idealismus  und  Bealis- 
mus"  (1787)  gezeigt,  dass  diese  Auslegung  eine  „falsche  Behandlung  des 
kritischen  Idealismus"  sei  (11,  445  Anm). 

Kant  selbst  habe  also  jenen  Widerspruch  nicht  begangen;  freilich, 
jene  seine  „Ausleger  lassen  ihn  die  Grundbehauptung  seines  Systems  über  die 


46  Excurs.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

(nur  immanente,  empirische)  Gültigkeit  der  Kategorien  überhaupt  (spec.  der 
Cansalität)  für  diesesmal  vergessen,  nnd  ihn  durch  einen  beherzten 
Schluss,  aus  der  Welt  der  Erscheinungen  heraus,  bei  dem  an  sich  ausser 
uns  befindlichen  Dinge  anlangen/'  So  aber  schliessen  nur  die  Kantianer, 
nicht  aber  Kant  selbst.  Nur  auf  Bechnung  jener,  nicht  dieses,  komme 
;, diese  abenteuerliche  Zusammensetzung  des  gröbsten  Dogmatismus,  der 
Dinge  an  sich  Eindrücke  in  uns  machen  lässt,  und  des  entschiedensten 
Idealismus,  der  alles  Sein  nur  durch  das  Denken  der  Intelligenz  ent- 
stehen lässt".  Die  Kantianer,  welche  jene  Existenz  und  Einwirkung  realer 
Dinge  an  sich  annehmen,  können  den  „natürlichen  Hang  zum  Dogmatismus 
nicht  überwinden",  „so ,  dass  sie  bis  diesen  Tag,  nachdem  sie  etwas  fahlbar 
gerüttelt  wurden,  sich  den  Schlaf  noch  nicht  aus  den  Augen  reiben  können, 
sondern  lieber  mit  Händen  und  Füssen  nach  den  unwillkommenen  Ruhe- 
störern um  sich  schlagen''.  Aber  Kant  selbst  könne  unmöglich  jene  wider- 
spruchslose Verbindung  selbst  gehabt  haben.  Eine  solche  „Absurdität"  sei 
Kant  nicht  zuzutrauen.     Und  darauf  folgt  jene  bekannte  Stelle: 

„So  lange  demnach  Kant  nicht  ausdrücklich  mit  denselben  Worten 
erklärt,  er  leite  die  Empfindung  ab  von  einem  Eindruck  des 
Dinges  an  sich,  oder  dass  ich  meiner  Terminologie  mich  bediene:  die 
Empfindung  sei  in  der  Philosophie  aus  einem  an  sich  ausser 
uns  vorhandenen  transscendentalen  Gegenstande  zu  erklären, 
so  lange  werde  ich  nicht  glauben,  was  jene  Ausleger  uns  von  Kant  berichten. 
Thut  es  aber  diese  Erklärung:  so  werde  ich  die  Kr.  d.  r.  V.  eher  für  das 
Werk  des  sonderbarsten  Zufalls  halten,  als  fär  das  eines  Kopfes."  ^ 

Solche  theatralische  Donnerworte  und  Keulenschläge  charakterisiren 
den  ganzen  Fichte.  Mit  zorniger  Miene,  verächtlichem  Blick  und  gewaltiger 
Stimme  sucht  er  jeden  Gegner  von  vorneherein  zurückzuschrecken.  Aber 
ruhige  Vernunft  und  nüchterne  Gelassenheit  wird  sich  durch  solchen  un- 
philosophischen Furor  teutonicus  nicht  imponiren,  nicht  von  der  kalten 
Prüfung  der  Sachlage  wegtreiben  lassen.  Hören  wir  weiter,  wie  Fichte  nun 
den  Anfang  der  Einleitung  (s.  Comm.  I,  172  ff.)  und  den  Eingang 
der  tr.  Aesthetik,  den  ihm  die  Ausleger  Kants  schon  damals  entgegen 
hielten,  vom  Halse  zu  schaffen  sucht.  Fichte  decrctirt:  „Dieses  werden  ungefähr 
alle  die  Stellen  sein,  die  die  Gegner  fär  sich  anfuhren  können.  Hierbei  —  bloss 
Stellen  gegen  Stellen,  Worte  gegen  Worte  gehalten,  und  von  der  Idee  des 
Ganzen,  welche  meiner  Voraussetzung  nach  jene  Ausleger  noch  gar  nicht 
hatten,  abstrahirt  —  frage  ich  zuvörderst:  wenn  diese  Stellen  mit  den  spä- 
teren unzähligemal  wiederholten  Aeusserungen ,  dass  von  einer  Einwirkung 
eines  an  sich  ausser  uns  befindlichen  transscendentalen  Gegenstands  gar  nicht 

^  Unter  gänzlichem  Missverständniss  dieses  Textes  und  der  ganzen  Frage 
hat  K.  Fischer,  Kritik  d.  K/schen  Philos.  (1883)  S.  73.  77  diese  Fichte^sche 
(ebenso  wie  das.  S.  65  die  Beck*sche)  Polemik  gegen  die  Causalität  der  Dinge  an 
sich  in  eine  Polemik  gegen  die  Causalität  der  Dinge  im  Räume  verwandelt.  Gerade 
diese  letztere  von  Fischer  so  bekämpfte  Causalität  haben  ja  eben  Beck  und  Fichte 
gelehrt!    Vgl.  auch  Bergmann,  Metaph.  155  ff. 


Wie  Fichte  Kants  Einleitung  zur  Aesthetik  auslegt.  47 

die  Bede  sein  könne ,  wirklich  nicht  zu  vereinigen  wären:  wie  geschah  es 
denn,  dass  diese  Aasleger  den  wenigen  Stellen,  die  nach  ihnen  einen 
Dogmatismus  lehren,  lieber  die  ungezählten  Stellen,  die  einen  tr. 
Idealismus  lehren,  als  umgekehrt  den  letzteren  die  ersteren,  aufopfern 
wollten?''  Es  beliebt  hier  Fichte,  das  wirkliche  Zahlenverhältniss  umzu- 
kehren. Von  afficirenden  Dingen  an  sich  redet  Kant  tausendmal;  die  Unmög- 
lichkeit der  Existenz  und  Einwirkung  von  Dingen  an  sich  dagegen  ist  eine 
Consequenz,  welche  der  Leser  Kants  allerdings  aus  der  Kategorienlehre 
ziehen  muss,  welche  Kant  selbst  aber  nur  selten  und  auch  dann  nur 
schüchtern  andeutet.  Man  braucht  übrigens  gar  nicht  mit  den  Kantianern 
die  Einen  Stellen  den  Anderen  „aufzuopfern**,  sondern  man  constatirt  mit 
Aenesidem  und  anderen  wahrhaft  „kritischen"  Kantlesern  eben  einfach 
einen  Widerspruch,  einen  Widerspruch,  in  den  freilich  nicht  bloss  Kant 
allein  verfallen  muss,  sondern  Jeder,  der  seine  Wege  wandelt,  auch  — 
Fichte  selbst. 

Man  kann  indessen  nach  Fichte's  Meinung  jenen  Widerspruch  Kants 
nicht  nur  durch  „Aufopferung"  dieser  Stellen  hier  am  Eingang  der 
Kritik  vermeiden,  sondern  viel  einfacher  durch  eine  andere  Auslegung 
derselben ;  dann  lassen  sich  jene  „entgegengesetzt  scheinenden  Aeusserungen" 
Kants  „vereinigen".    Hören  wir  Fichte,  den  Ausleger': 

„Kant  redet  in  diesen  Stellen  von  Gegenständen.  Was  dieser  Aus- 
druck bei  ihm  bedeuten  solle,  darüber  haben  ohne  Zweifel  wir  nichts  zu 
bestimmen,  sondern  die  eigene  Erklärung  Kants  darüber  anzuhören."  Nun 
citirt  Fichte  einige  Stellen  aus  Kant  über  den  kategorialen  Gegenstand  (aus 
der  Deductiou  A,  aus  der  Unterscheidung  der  Phänoraena  und  Noumena,  aus 
der  Antinomienlehre),  aber  —  wohlgemerkt  —  nicht  nach  Kant  selbst, 
sondern  aus  Jacobi's  Abhandlung!  (Die  Kr.  d.  r.  V.  war  ihm  also  offenbar 
ziemlich  fremd  geworden.)  Und  nun  fragt  Fichte  triumphirend :  „Was  ist 
also  der  Gegenstand?"  Und  antwortet:  „Das  durch  den  Verstand  der 
Erscheinung  Hinzugethane,  ein  blosser  Gedanke.  —  Der  Gegenstand  afßcirt 
—  etwas,  das  nur  gedacht  wird,  afficirt.  Was  heisst  denn  das?  Wenn  ich 
nur  einen  Funken  Logik  besitze,  nichts  anderes,  als:  es  afficirt,  inwiefern 
es  ist,  also  es  wird  nur  gedacht  als  afficirend."  Aber  —  wenn  dies 
die  Consequenz  jener  Stellen  ist,  so  besteht  eben  zwischen  Anfang  und  Fort- 
setzung der  Kantischen  Kritik  jener  von  Jacobi,  Aenesidem  u.  A.  hervor- 
gehobene Widerspruch.  Uebrigens  hat  Fichte  übersehen,  dass  an  denselben 
Stellen  Kant  mehrfach  unzweideutig  vom  Ding  an  sich  spricht. 

Fichte  fährt  aber  fort  in  seiner  Erklärung.  Was  ist  denn,  fragt  er, 
die  Sinnlichkeit,  welche  Kant  definirt  als  „Fähigkeit,  durch  die  Art,  wie 
wir  durch  die  Gegenstände  afficirt  werden,  Vorstellungen  zu  bekommen?" 
Pichte  gibt  folgende  Antwort:  „Da  wir  die  Aifection  selbst  nur  denken, 
denken  wir  ohne  Zweifel  das  Gemeinsame  derselben  auch  nur;  sie  ist  auch 


'  Diese  Auslegung  hat  dann  auch  Schelling  adoptirt,  bes.  in  seiner  hämi- 
schen Recension  von  Villers,  s.  W.  W.  I,  Abth.  V,  197  flF. 


48  Excurs.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

nur  ein  blosser  Gedanke.  Wenn  du  einen  Gegenstand  setzest  mit  dem  Ge- 
danken, dass  er  dich  afficirt  habe,  so  denkst  du  dich  in  diesem  Falle 
afficirt,  und  wenn  du  denkst,  dass  dies  bei  allen  Gegenständen  deiner 
Wahrnehmung  geschehe,  so  denkst  du  dich  als  afficirbar  überhaupt,  oder 
mit  anderen  Worten:  du  schreibst  dir  durch  dieses  dein  Denken  Becepti- 
vität  oder  Sinnlichkeit  zu.  So  wird  der  Gegenstand  als  gegeben  auch  nur 
gedacht;  und  so  ist  die  aus  der  Einleitung  (der  Kr.  d.  r.  Y.)  entlehnte 
Stelle  auch  nur  aus  dem  System  des  nothwendigen  Denkens  auf  dem 
empirischen  Gesichtspunkte  entlehnt,  der  durch  die  darauf  folgende 
Kritik  erst  erklärt  und  abgeleitet  werden  sollte.' '  Da  haben  wir  also  wieder 
jenen  Gedanken  einer  pädagogischen  Accommodation  Kants  an  den  gemeinen 
Standpunkt.  Wenn  man  auch  diese  Eingangsstellen  durch  diesen  bedenk- 
lichen Ausweg  wegschaffen  wollte  —  dann  bleiben  ja  noch  jene  Hunderte 
von  Stellen,  welche  die  ganze  Kritik  durchziehen,  und  welche  beweisen,  dass 
die  Annahme  wirkender  Dinge  an  sich  nicht  bloss  eine  propädeutisch 
angelegte  Leiter  ist,  auf  welcher  Kant  den  gewöhnlichen  Leser  auf 
die  Höhe  seines  Standpunktes  allmälig  erheben  will,  sondern  ein  syste- 
matisch nothwendiger  Pfeiler,  welcher  sein  ganzes  erkenntnisstheore- 
tisches Gebäude  trägt. 

Was  Fichte  weiter  in  jener  Stelle  sagt,  kommt  auf  Rechnung  seines 
eigenen  Systems.  Er  sucht  plausibel  zu  machen,  dass  und  wie  man  ohne 
eine  Affection  durch  Dinge  an  sich  auskommen  könne  —  aber  während 
er  das  Wort  vermeidet,  kommt  er  doch  immer  wieder  auf  die  Sache  zurück: 
er  redet  von  einer  „Beschränktheit^*  und  „Bestimmtheit"  des  Ich.  „Diese  Be- 
stimmtheit kann  nicht  abgeleitet  werden,  denn  sie  ist  das  Bedingende  aller 
Ichheit.  Hier  hat  sonach  alle  Deduction  ein  Ende.  Diese  Bestimmtheit 
erscheint  als  das  absolut  Zufällige,  und  liefert  das  bloss  Empirische 
unserer  Erkenntniss.'*  „Das  ursprüngliche  Gefühl  des  Süssen,  Bothen, 
Kalten  u.  s.  w.  dürfe  man  nicht  vergessen";  wenn  man  dies  vergesse,  so 
führe  das  auf  einen  bodenlosen  transsc.  Idealismus  und  eine  unvollständige 
Philosophie,  die  die  bloss  empfindbaren  Prädicate  der  Objecte  nicht  erklären 
kann.  „Auf  diesen  Abweg  scheint  mir  Beck  zu  gerathen."  Jenes  ursprüng- 
liche Gefühl  ist  aber  da ;  „diese  ganze  Bestimmtheit,  sonach  auch  die  durch 
sie  mögliche  Summe  der  Gefühle,  ist  anzusehen  als  a  priori,  d.  b.  absolut 
und  ohne  alles  unser  Zuthun  bestimmt;  sie  ist  die  Kantische  Recepti- 
vität  und  ein  besonderes  aus  ihr  ist  ihm  die  Affection.  Ohne  sie  ist 
das  Bewusstsein  allerdings  unerklärbar."  Aber  „dieses  ursprüngliche  Gefühl 
aus  der  Wirksamkeit  eines  Etwas  weiter  erklären  zu  wollen,  ist  der  Dog- 
matismus der  Kantianer,  den  sie  gerne  Kant  aufbürden  möchten.  Dieses  ihr 
Etwas  ist  nothwendig  das  leidige  Ding  an  sich.  Bei  dem  unmittelbaren 
Gefühle  hat  alle  trän sscendentale  Erklärung  ein  Ende."  Das  empirische 
Ich  erkläre  sich  allerdings  jenes  Gefühl  durch  die  Annahme  einer  aus- 
gedehnten Materie,  einer  Körperwelt.  Diese  Erklärungshülfe  sei  dem  Trans- 
scendentalphilosophen  verschlossen.  Er  müsse  sich  mit  dem  Factum  jener 
„Bestimmtheit"  zufrieden  geben  und  sie  nicht  noch  weiter  erklären  wollen. 


Nach  Beck  und  Fichte  sind  die  Erscheinungen  das  Afficirende.  49 

Dass  Fichte  selbst  sich  nicht  damit  zufrieden  gab,  ist  bekannt  —  er  sta- 
tuirte  einen  „unbegreiflichen  Anstoss"  auf  das  Ich.  Und  in  der  That  —  wenn 
das  Empirische  unserer  Erkenntniss  „ohne  unser  Zuthun"  bestimmt  wird, 
mnss  es  irgendw^o  andersher  bestimmt  werden.  Jene  „Summe  empirischer 
Gefühle'^  in  uns  constatiren,  und  sie  nicht  von  Einwirkungen  gewisser  von 
uns  verschiedener  Dinge  an  sich  ableiten,  heisst:  einen  Gedanken  anfangen 
und  ihn  in  der  Mitte  abbrechen.  Den  Gedanken  in  der  Schwebe  zu  halten, 
ist  ein  brodloses  Kunststück. 

Aus  diesen  Verbandlungen  müssen  wir  nun  aber  noch  einen  sehr 
wichtigen  Punkt  herausgreifen.  Bei  Fichte  wie  schon  bei  Beck  tritt  immer 
mehr  an  Stelle  der  von  ihnen  geleugneten  Affection  durch  die  Dinge  an 
sich  —  welche  ihnen  eben  Undinge  sind  —  die  Affection  durch  die  Er- 
scheinungen; bei  Beiden  jedoch  nicht  ganz  in  derselben  Weise.  Für  Fichte 
ist  das  reine,  ursprüngliche  Ich  etwas  ,Ueberindividuelles"  (Windelband), 
wenigstens  wird  es  ihm  immermehr  zum  überindividuellen  Kern  des  empi- 
rischen Ich.  Jenes  überindividuelle  Ich  setzt  aus  sich  heraus  resp.  sich 
gegenüber  durch  seine  Thathandlnngen  die  gesammte  empirische  Vor- 
stellungswelt,  zu  der  aber  auch  das  empirische  Ich  gehört;  das 
empirische  endliche  Ich  ist  auch  ein  Theil  der  durch  das  nnendliche  Ich 
gesetzten  Erscheinungswelt.  In  dieser  Erscheinungswelt  hängt  Eine  Er- 
scheinung mit  der  anderen  nach  dem  Gesetz  der  Gausalität  zusammen ;  in 
diesen  Causalring  ist  auch  das  empirische  Ich  eingeschlossen ;  es  unterliegt 
also  auch  den  causalen  Einwirkungen  der  Einzeldinge,  erhält  durch  die- 
selben Eindrücke,  und  durch  diese  —  Empfindungen.  Jene  vom  überindivi- 
duellen Ich  gesetzten  und  darum  abhängigen  Erscheinungen  sind  vom  indi- 
viduellen Ich  unabhängig,  stehen  diesem  endlichen  Wesen  als  endliche  Wesen 
gegenüber  und  beide  stehen  im  Gausalnexus. 

Aehnlich,  aber  doch  anders  stellt  sich  die  Sache  bei  Beck.  Er  hat 
jenen  faustischen  Gedanken  eines  überindividuellen  Ich  noch  nicht  erfasst. 
Das  Ich,  von  dessen  ^ursprünglichem  Vorstellen '^  er  spricht,  ist  zwar  das 
reine  Ich  Kants,  aber  doch  noch  ganz  individuell  gefasst.  Wenn  er  die  Er- 
scheinungen durch  dieses  ursprüngliche  Vorstellen  entstehen,  und  dann  doch 
wieder  auf  das  Subject,  das  jenes  ursprüngliche  Vorstellen  ausübt,  rück- 
wärts einwirken  lässt,  so  bewegt  er  sich  hier  in  einem  Cirkel,  den  nur  der- 
jenige durchbrechen  kann,  der  mit  Fichte  jenes  reine  Ich  überindividuell 
fasst  und  vom  individuellen  Ich  unterscheidet ;  für  Fichte  bleibt  dann  freilich 
immer  noch  die  unlösbare  Frage  übrig,  wie  es  denn  jenes  reine  Ich  an- 
fange, das  Nicht-Ich  aus  sich  heraus*  resp.  sich  gegenüberzusetzen?  Aber 
wenn  auch  die  theoretische  Begründung  eine  andere  ist,  factisch  kommen 
Beide,  Fichte  und  Beck,  doch  auf  dieselbe  Consequenz :  die  Erscheinungs- 
gegenstände als  solche  afficiren  uns,  und  nur  von  diesen  könne  auch 
hier  in  der  Einleitung  zur  Aesthetik  allein  die  Red-e  sein. 

Da  ist  es  nun  bemerkenswerth,  dass  auch  neuere  Kantianer  die  transscen- 
dente  Affection  leugnen  und  an  ihrer  Stelle  die  empirische  Affection  geradezu  an- 
nehmen.  Diese  empirische  Affection  muss  ja  natürlich  überall  da  auftreten,  wo 
Vaihinger,  Kant-Commentar.    II.  4 


50  Excurs.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

m 

durch  die  kritische  Gewissenhaftigkeit  die  transscendente  Affection  durch  das 
Ding  an  sich  als  widerspruchsvoll  ausgeschlossen  ist.  Das  Ding  an  sich  wird  ja 
auch  von  neueren  Kantianern  als  reine  Illusion  oder  Fiction  verworfen  als  ein 
innerer  Widerspruch  im  Kantischen  System.  Schon  Schopenhauer,  von 
welchem  der  Neukantianismus  mehr  gelernt  hat,  als  er  zugestehen  will,  hat  über- 
all gegen  die  Kantische  Ableitung  des  Begriffes  an  sich  aus  dem  Causalscblnss 
gewettert,  und  demgemäss  auch  die  causale  Einwirkung  des  Dinges  an  sich 
als  widerspruchsvoll  verworfen ;  aber  er  hat  keinen  Anstoss  daran  genommen, 
die  (in  Folge  jener  Leugnung  der  transscendenten  Affection  nothwendig 
anzunehmende)  empirische  Affection  des  Subjects  durch  die  empirischen 
Gegenstände,  welche  doch  erst  die  Vorstellungen  jenes  Subjects  sind,  an 
vielen  Stellen  seiner  widerspruchsvollen  Werke  geradezu  anzunehmen  und 
damit  für  jenen  W^iderspruch  einen  noch  viel  härteren  einzutauschen.  Dies 
haben  die  Führer  des  Neukantianismus  aus  Schopenhauer  herübergenommen; 
und  da  nun  Schopenhauer  selbst  wieder  viel  mehr  als  er.  zugestehen  will, 
dem  Einflüsse  Fichte's  verdankt,  so  ist  dieses  neukan tische  Lehrstück  in 
directer  Linie  auf  Fichte  und  dessen  Genossen  Maimon  und  Beck  zurück- 
zuführen. 

In  diesen,  wie  fast  in  allen  anderen  Punkten  hat  der  Neukantianismus 
eigentlich  nur  dieselbe  Gedankenentwicklung  durchgemacht,  wie  sie  von 
den  Kantianern  der  Neunziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  durchgemacht 
wurde,  nur  dass  bei  diesen  die  ganze  Bewegung  eine  viel  ursprünglichere, 
frischere  und  gewaltigere  war:  wir  haben  desshalb  auch  diese  Bewegung 
an  der  Quelle  aufgesucht,  und  sind  dadurch  in  den  Stand  gesetzt,  das 
Spiegelbild  dieser  ursprünglichen  Bewegung,  das  unsere  Zeit  uns  darbietet 
oder  vielleicht  besser  gesagt  dargeboten  hat,  viel  kürzer  abzuhandeln. 

Jene  Verwerfung  der  Affection  durch  die  Dinge  an  sich  und  dafür 
die  Annahme  der  empirischen  Affection  durch  die  Erscheinungen  treffen  wir 
-z.  B.  bei  Lieb  mann  und  F.  A.  Lange,  den  verdienst-  und  geistvollen 
Begründern  des  Neukantianismus.  In  theoretisch  tieferer  Begi'ündung  finden 
wir  dasselbe  dann  besonders  bei  Cohen  und  in  der  ganzen  Cohen'schen 
Schule,  bei  Stadler,  Lasswitz,  Staudinger,  Natorp,  Böhringer  U.A.; 
ferner  bei  Arnoldt,  Krause,  Classen.  Alle  diese  verlangen  einstimmig, 
wenn  Kant  hier  am  Anfang  der  Aesthetik  von  einer  Affection 
der  Sinnlichkeit  durch  Gegenstände  spreche,  die  uns  die  Empfin- 
dungen Verschaffe,  so  dürfe  man  darunter  schlechterdings  nur  die  empirische 
Affection  verstehen,  wie  sie  auch  von  der  Physiologie  angenommen  wird, 
die  Reizung  der  Organe  durch  die  bewegte  Materie,  welche  letztere  eben 
für  den  „Transscendentalphilosophen",  den  „Erkenntnisskritiker''  wiederum 
sich  in  blosse  Vorstellung  des  transscendentalen  Subjects  auflöse. 

Cohen  sagt  geradezu  (I.A.  15.  2.  A108):  „In  der  Auf  lösung  dieses 
Cirkels  besteht  die  Kantische  Philosophie*,  nämlich  eben  des  Cirkels,  dass 
der  Gegenstand  von  uns  dadurch  angeschaut  wird,  dass  er  uns  gegeben 
wird ,  und  doch  wieder  uns  nur  dadurch  gegeben  wird ,  dass  er  an- 
geschaut wird.     Um   diesen  Cirkel   am  Anfang  zu  vermeiden,    könne    man 


Neul:antianer  setzen  an  Stelle  der  transscendenten  Aüection  die  empirische.       51 

mit  Kant  sagen:  ,,Das  Gegebensein  des  Gegenstandes  ist  nur  dadurch 
möglich,  dass  er  das  Gemüth  auf  gewisse  Weise  afficirt/'  Wie  da- 
durch das  „Cirkel'  —  die  Wendung  stammt  anscheinend  aus  Fichte 's 
Kecension  des  Aenesidemus  (W.  W.  I,  20)  —  vermieden  werden  soll,  ist  ab- 
solut nicht  zu  ersehen.  Im  Afficirtwerden  durch  Objecto,  die  nach  Cohens 
Lehre  doch  wieder  von  uns  in  letzter  Linie  abhängig  sind,  besteht  ja  der- 
selbe Cirkel.  und  diesen  Cirkel  kann  die  Kantische  Philosophie,  wie  sie 
von  Cohen  verstanden  wird,  auch  nicht  , auflösen'^.  Cohen  und  sein  Kant 
kommen  aus  diesem  Zauberkreis  nicht  hinaus  —  weil  eben  Cohen  von  vorne- 
herein die  Affection  durch  Dinge  an  sich  eliminirt  resp.  sich  in  wider- 
spruchsvollster Weise  hierüber  äussert;  vgl.  2.  A.  106.  150.  165.  334  ff. 
Besonders  auffallend  ist  die  unklare  Wendung  339:  ,,Die  Erscheinung  setzt 
das  afßcirende  Etwas  nicht  sowohl  voraus,  als  sie  es  vielmehr  selbst 
gibt.^  Der  transscendente  Gegenstand,  welcher  die  Voraussetzung  der  Er- 
scheinung ist,  und  der  empirische,  welcher  ihr  Inhalt  ist,  müssen  eben  gerade 
streng  auseinandergehalten  werden.  Ferner  ib.  363.  424.  489.  502  ff.  518. 
595 — 616:  Die  Lehre  von  den  Dingen  an  sich  sei  ein  blosses  „Gerücht",  ja 
., Gerede* ;  K.  habe  den  Begriff  derselben  nur  „geduldet** ;  er  habe  ihn  aber 
., berichtigt" :  denn  er  fasse  die  D.  a.  s.  als  blosse  „Ideen*.  Vgl.  desselben 
„Infin.  Methode",  S.  145  f.  In  diesem  Sinne  hat  dann  Lasswitz,  Ks.  Lehre 
u.  s.  w.  103  ff.  122  ff.,  gelassen  das  grosse  Wort  ausgesprochen:  „Es  ist 
ein  Unglück,  dass  man  überhaupt  von  Dingen  an  sich  gesprochen  hat"  (124). 
Dafür  finden  sich  bei  ihm  alle  jene  Widersprüche  der  Früheren  beisammen. 

So  wären  wir  denn  wieder  genau  in  dieselbe  Situation  gerathen,  in 
welcher  die  Kantfrage  in  den  90  er  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  sich 
befand.  Während  die  Einen  sich  an  Kants  so  oft  wiederholten  Aeusserungen 
über  die  afficirenden  Dinge  an  sich  halten,  sehen  die  Anderen  darin  ein 
grobes  Missverständniss  des  Kantischen  Textes;  von  afficirenden  Dingen  an 
sich  habe  Kant  nie  im  Ernste  gesprochen.  Wo  der  Wortlaut  doch  dazu 
zu  führen  scheine,  sei  dies  entweder  eine  blosse  Anbequemung  an  den  Dogma- 
tismus, blosse  fa^on  de  parier,  oder  —  und  das  ist  nur  für  uns  das  Wichtigste  — 
es  seien  an  solchen  Stellen  (so  auch  hier  in  der  Einleitung  zur  Aesthetik) 
unter  den  afficirenden  Gegenständen  gar  nicht  die  Dinge  an  sich  zu  ver- 
stehen, sondern  die  empirischen  Dinge,  die  Erscheinungen.  Diese  Auslegung 
aber  stürzt  sich,  um  die  Scylla  der  transscendenten  Affection  zu 
vermeiden,  in  die  Charybdis  der  empirischen:  statt  eines  Wider- 
spruches, den  wir  los  sind,  erhalten  wir  einen  neuen,  der  womöglich  noch 
schlimmer  ist:  denn  diese  empirischen  Gegenstände  sind  nach  Kants  tausend- 
fach wiederholten  Versicherungen  „nichts  ais  unsere  Vorstellungen"  —  wie 
können  und  sollen  diese  vorgestellten  Gegenstände  uns  erst  afficiren,  damit 
wir  eben  ihre  Vorstellungen  erhalten,  in  denen  sie  nur  bestehen?  Wie 
will  man  einem  Manne,  wie  Kant,  einen  so  handgreiflichen  Widerspruch 
aufbürden  ? 

Wollten  wir  uns  auf  diese  Weise  aus  der  Schlinge  ziehen,  so  würden 
wir  denselben  Fehler  machen,  den  so  viele  Kantianer   alter  und  neuer  Zeit 


52  Excurs.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

in  Bezug  auf  die  transscendente  Affection  begehen :  Kant  könne  die  Affection 
des  Subjects  durch  Dinge  an  sich  nicht  gelehrt  haben,  weil  er  damit  ja 
sich  selbst  widersprechen  würde.  Die  empirische  Affection  des  Subjects 
durch  die  Erscheinungen  mag  den  sonstigen  Erklärungen  Kants  wider- 
sprechen ,  aber  das  überhebt  uns  nicht  der  Untersuchung ,  ob  Kant  selbst 
sie  denn  nicht  am  Ende  auch  gelehrt  habe,  ob  also  jene  Kantianer  alter 
und  neuer  Zeit  nicht  doch  am  Ende  mit  ihrer  Behauptung  einer  empirischen 
Affection  auf  Kants  Bahnen  wandeln. 

Und  das  ist  denn  nun  auch  in  der  That  der  Fall.  Kant  hat  aller- 
dings allen  Ernstes  gelegentlich  die  empirische  Affection  gelehrt,  natürlich 
nicht  an  Stelle  der  transscendenten  —  denn  deren  Annahme  bei  Kant 
steht  für  uns  hinreichend  fest  — ,  sondern  neben  der  transscendenten. 

Vor  den  hieher  gehörigen  Stellen  ist  weitaus  die  wichtigste  die 
„Widerlegung  des  Idealismus',  welche  Kant  in  die  2.  Aufl.  seiner  Kr. 
d.  r.  y.  (B  274  ff.)  eingeschaltet  hat.  In  diesem  merkwürdigen  Abschnitte 
treffen  wir  nämlich  genau  dieselbe  Annahme  eines  Gegenstandes,  welcher 
unabhängig  ist  von  unserer  Vorstellung  und  doch  nicht  identisch  ist  mit 
dem  Ding  an  sich ;  denn  jener  Gegenstand  ist  „im  Raum".  Auf  die  Unter- 
suchung dieser  äusserst  schwierigen  Stelle  ist  natürlich  hier  noch  nicht 
einzugehen.  Wir  haben  dieselbe  übrigens  schon  anderwärts  eingehend  zu 
besprechen  gehabt,  s.  Strassburger  Abhandlungen  zur  Philosophie,  1884, 
S.  85— 164  ^  Es  ergab  sich  da,  dass  Kant  nicht  erst  in  der  2.  Aufl.. 
sondern  schon  in  der  1.  Aufl.  zwei  widersprechende  Auffassungen  über  das 
Verkältniss  der  materiellen  Aussen  weit  zu  unseren  Vorstellungen  hat:  nach 
der  einen  ist  die  Körperwelt  blosse  Vorstellung,  nach  der  anderen  ist  sie 
etwas  von  der  empirischen  Vorstellung  Unabhängiges.  Nach  der  ersteren 
Auffassung  afficiren  uns  die  Dinge  an  sich:  nach  der  anderen  afficiren  uns 
auch  die  phänomenalen  Gegenstände.  Kant  lehrt  also  eine  doppelte 
Affection,  eine  transscendente  und  eine  empirische. 

Die  eingehende  Untersuchung  und  Begründung  davon,  welche  übrigens 
schon  a.  a.  0.  geliefert  worden  ist,  kann  hier  im  Gommentar  naturgemäss 
erst  an  späteren  Stellen,  spec.  zu  dem  Abschnitt:  „Widerlegung  des  Idealis- 
mus*' gegeben  werden.  Hier  an  dieser  Stelle  müssen  wir  jenes  Resultat 
antecipiren,  uns  klar  machen,  was  darin  liegt,  und  die  Consequenzen  für 
die  Aesthetik  daraus  ziehen.  So  viel  sehen  wir  schon  hier,  dass  diese  Auf- 
fassung theil weise  einmündet  in  jene  Auslegung,  welche  Beck  und  Fichte 
dem  K.'schen  System  gegeben  haben.  In  der  That  haben  diese  nur  das- 
jenige consequent  entwickelt,  was  in  den  K.'schen  Prämissen  liegt.     Aach 

^  Eine  ganz  vorzügliche  Auseinandersetzung  über  die  von  unserem  empiri- 
schen Vorstellen  unabhängige  und  doch  nicht  mit  dem  Ding  an  sich  identische. 
zwischen  Beiden  in  der  Mitte  schwebende  Erscheinung  Ks.  hat  Falckenberg. 
Gesch.  d.  n.  Philos.  1886,  268—272  gegeben.  Vgl.  auch  Witte,  Wesen  d.  Seele, 
1888,  39  ff.,  Volkelt,  Erf.  u.  Denken,  1886,  177  fF.  über  dieses  .MittelgebietV  Ueber 
diese  „Zweideutigkeit"  Ks.  vgl.  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  345.  E.  König,  Phil.  Mon. 
1884,  246  ff. 


Das  Trilemma  der  afficirenden  Gegenstände.  53 

dies  ist  a.  a.  0.  ausführlich  schon  nachgewiesen  worden.  Dieselben  sahen 
die  Nothwendigkeit  einer  empirischen  Affection  des  empirischen  Ich  durch 
die  empirischen  Gegenstände  im  Räume  ein,  und  waren  sich  nur  nicht  recht 
klar  darüber,  dass  Ks.  System  auch  zugleich  die  transscendente  Affection 
des  Ich  an  sich  durch  die  Dinge  an  sich  voraussetze.  Sie  zogen  die  Con- 
Sequenz,  Hessen  aber  die  Voraussetzung  fallen.  Sie  thaten  das  von  ihrem 
Standpunkt  aus  mit  Recht:  denn  jene  doppelte  Affection  bringt  K.  in  noch 
härtere  Widersprüche  mit  sich  selbst. 

Wir  erhalten  somit  für  Kants  Philosophie  in  Bezug  auf  die  von  der- 
selben hier  gleich  am  Anfang  gelehrten  afficirenden  Gegenstände 
folgendes  Trilemma: 

1)  Entweder  versteht  man  unter  denselben  die  Dinge  an  sich;  dann 
gerathen  wir  auf  den  von  Jacobi,  Aenesidem  u.  A.  schon  aufgedeckten 
Widerspruch,  dass  wir  die  Kategorien  Substantialität  und  Causalität,  welche 
doch  nur  innerhalb  der  Erfahrung  Sinn  und  Bedeutung  haben  sollen,  ausser- 
halb derselben  anwenden.     (Vgl.  oben  S.  9.  36  ff.) 

2)  Oder  wir  verstehen  unter  den  afficirenden  Gegenständen  die  Gegen- 
stände im  Räume;  da  nun  diese  nach  Kant  aber  doch  nur  Erscheinungen 
sind,  also  unsere  Vorstellungen,  so  gerathen  wir  auf  den  Widerspruch,  dass 
dieselben  Erscheinungen,  die  wir  erst  auf  Grund  der  Affection  haben,  uns 
eben  jene  Affection  verschaffen  sollen.    (Vgl.  oben  S.  7.  9.  15.  42  ff.) 

3)  Oder  wir  nehmen  eine  doppelte  Affection  an,  eine  transscendente 
durch  die  Dinge  an  sich  und  eine  empirische  durch  die  Gegenstände  im 
Räume,  so  gerathen  wir  auf  den  Widerspruch,  dass  eine  Vorstellung  des 
transscendentalen  Ich  nachher  für  das  empirische  Ich  ein  Ding  an  sich 
sein  soll,  dessen  Affection  nun  im  Ich  ausser  und  hinter  jener  transscenden- 
talen Vorstellung  des  Gegenstandes  noch  eine  empirische  ebendesselben 
Gegenstandes  hervorrufen  soll. 

Wir  hätten  hier  die  Schwierigkeit,  dass  etwas,  was  für  den  Einen 
Theil  unseres  Wesens  Vorstellung  ist,  für  den  anderen  Theil  unseres  Wesens 
ein  Ding  wäre,  das  in  diesem  Theil  wieder  eine  neue  Vorstellung  hervor- 
ruft, ohne  dass  wir  doch  dieser  Spaltung  in  unserem  Wesen  bewusst  wären, 
ohne  dass  wir  eine  Ahnung  davon  hätten,  dass  wir  zwei  so  verschieden- 
artige und  verschiedenwerthige  Vorstellungen  aus  uns  producirten.  Aus 
dieser  Schwierigkeit  könnte  allerdings  noch  Ein  Ausweg  hinausfähren  — 
aber  hier  müssen  wir  uns  mit  der  Andeutung  begnügen,  dass  die  K.'sche 
Freiheitslehre  uns  auf  diesen  Weg  leiten  kann,  welcher  freilich  zuletzt 
auch  nur  aufs  Neue  in  das  Dickicht  unlösbarer  Schwierigkeiten  hinein- 
fuhren wird. 

Was  die  Aesthetik  betrifft,  so  werden  wir  am  besten  thun,  sogleich 
hier  vorläufig  diejenigen  Stellen  derselben  im  Zusammenhang  anzuführen,  in 
welchen  schon  hier  die  von  der  Vorstellung  unabhängige  Existenz  des  Gegen- 
standes im  Räume  und  die  durch  ihn  ausgeübte  empirische  Affection  mehr 
oder  weniger  gelegentlich  zum  Durchbruch  kommt.  Das  Nähere  ist  zu  den 
betreffenden  Stellen  selbst  ausgeführt. 


54  Excura.    Die  afficirenden  Gegenstände. 

1)  Kant  redet  sogleich  im  Abs.  2  und  3  des  §  1  der  Aesthetik  von 
der  Erscheinung  als  einem  „Gegenstand  der  empirischen  Anschauung^,  von 
demjenigen,  „was  in  der  Erscheinung  der  Empfindung  correspondirt',  d.  i. 
der  Materie.  Wie  in  dem  Commentar  dazu  gezeigt  wird,  kann  man  schwer- 
lich umhin,  darin  schon  die  leise  Anerkennung  der  Unabhängigkeit  der  Er- 
scheinung von  unseren  empirischen  Vorstellungen  zu  sehen.  —  Auch  der 
8.  Absatz  der  transsc.  Erörterung  des  Raumbegriffs  und  die  darauf  folgenden 
Schlüsse  a  und  b  sprechen  von  den  „afficirenden  Objecten"  in  einer  Weise, 
dass  man  darunter  sehr  wohl  die  empirischen  Objecte  verstehen  kann  („Die 
Receptivität  von  Gegenständen  afficirt  zu  werden,  geht  vor  allen  Anschauungen 
dieser  Objecte  vorher").     Vgl.  oben  S.  34,  unten  S.  57  f. 

2)  In  dem  Passus  A  28 — 29 ,  der  in  der  2.  Auflage  etwas  verändert 
wurde  (B  44—45),  wird  die  Erscheinung  als  ein  n^ing  an  sich  selbst  im 
empirischen  Verstände"  bezeichnet ,  „welches  doch  jedem  Auge  in  An- 
sehung der  Farbe  anders  erscheinen  kann".  Es  heisst  in  A  ausdrücklich, 
die  Farben  seien  nur  „Modificationen  des  Sinnes  des  Gesichts,  welches 
vom  Lichte  auf  gewisse  Weise  afficirt  wird".  Ganz  anders  als 
mit  Farben,  Geschmack,  Geruch  u.  s.  w.  ist  es  mit  dem  Raum.  Dieser 
„gehört  noth wendiger  Weise  zur  Erscheinung" ;  er  ist  die  Form  unserer 
Sinnlichkeit  überhaupt,  während  die  Farbe  sich  nur  auf  den  ein- 
zelnen Sinn  des  Gesichts  bezieht.  (Vgl.  oben  S.  44  den  Unterschied 
der  Jacob'schen  Annalen  zwischen  transscendentaler  und  empirischer  Sinn- 
lichkeit.) Zu  jener  gehört  als  „wahres  Correlatum"  das  Bing  an  sich 
selbst  im  transseendentalen  Sinne,  zu  diesem  das  Ding  an  sich  im  empiri- 
schen Sinne. 

3)  Damit  ist  zusammenzuhalten  der  Passus  A  44  =  B  61,  wo  derselbe 
Unterschied  gemacht  ist  zwischen  dem,  was  der  Sinnlichkeit  überhaupt  zu- 
zuschreiben ist,  d.  h.  der  Raum-  und  Zeitanschauung,  und  denjenigen 
Empfindungen,  welche  aus  den  verschiedenen  Beziehungen  der  empirischen 
Objecte  zu  den  einzelnen  Sinnen  entstehen.  Diesen  empirischen  Objecten 
wird  auch  da  eine  relative  Selbständigkeit  zugesprochen  gegenüber  unserer 
Empfindung,  so  dem  Regentropfen  im  Gegensatz  zum  Regenbogen.  In  diesem 
Sinne  eben  acceptirt  Kant  den  alten  Unterschied  der  primären  und  der 
secundären  Qualitäten. 

4)  Damit  hängt  zusammen,  dass  nun  Kant  mit  Vorliebe  die  Ausdrücke 
objectiv,  wirklich,  real  auf  die  Erscheinungen  anwendet.  Wenn  er  dem 
Räume  und  der  Zeit  in  Ansehung  der  sinnlichen  Gegenstände  „objective 
Gültigkeit"  zuschreibt,  wenn  er  diese  Gegenstände,  sowie  Raum  und  Zeit 
selbst  in  Ansehung  ihrer  als  « wirklich"  bezeichnet  und  dies  in  den  ver- 
schiedensten Wendungen  wiederholt,  so  erhalten  diese  Wendungen  unter  dem 
neuen  Gesichtspunkt  eine  tiefere  Bedeutung.  Die  Erscheinungsgegenstände 
werden  damit  ausser  das  empirische  „Subject"  hinausgeschoben  und  sind 
mehr  als  blosse  „Beschaffenheiten  des  Sinnes",  wie  z.  B.  Farbe,  Wohlgeruch; 
diese  sind  nur  subjectiv,  jene  sind  „Objecte" ;  diese  empirischen  Objecte  im 
Räume  sind  allen  empirischen  Subjecten  gemein,  und  in  diesem  Sinne  ^all- 


Die  Affection  durch  empirische  Gegenstände  in  der  tr.  Aesthetik.  55 

gemein*',  jene  blossen  , Sinnesbeschaffenheiten ^  eben  sind  nur  für  jedes  einzelne 
empirische  Sabject  vorhanden. 

5)  Damit  erhält  nun  wieder  der  Gegensatz  der  empirischen  Realität 
und  der  transseendentalen  Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit  einen  anderen 
Sinn :  für  das  empirische  Ich  ist  die  Aussenwelt  real,  für  das  transscendentale 
Ich  aber  ideal.  Unser  empirisches  Ich  findet  die  räumliche  Aussenwelt  als 
eine  von  dem  transseendentalen  Ich  für  uns  unbewusst  geschaffene  vor;  an 
dieser  empirisch  vorhandenen  Aussenwelt,  welche  vom  transseendentalen  Ich 
erst  gesetzt  ist,  entzündet  sich  sogar  erst  unser  empirisches  Bewusstsein. 

6)  Für  das  empirische  Ich  ist  daher  (wie  auch  Beck  und  Fichte  ge- 
schlossen haben)  eigentlich  der  Raum  aposteriorisch,  und  nur  für  das  trans- 
scendBntale  apriorisch.  Dieser  empirischen  Entstehung  der  Raumvorstellung 
trägt  Kant,  wie  wir  sehen  werden,  zwar  nicht  in  der  Aesthetik  selbst,  aber 
in  einigen  anderen  Stellen,  Rechnung.  Ganz  ausdrücklich  spricht  Kant  in 
den  Met.  Auf.  d.  Nat.  I,  1,  2  (Ros.  V,  821.  330.  361.  376.  427)  von  dem 
„empirischen  Raum*^ :  „Der  Raum,  in  welchem  wir  über  die  Bewegungen 
Erfahrung  anstellen  sollen,  muss  empfindbar  sein."  Dieser  Raum  ist  „ein 
Object  der  Erfahrung*^!  Und  in  dem  Opus  Poatumum  XX,  113 — 115, 
vgl.  XIX,  593.  597,  XIX,  110  unterscheidet  Kant  demgemäss  ganz  scharf 
zwischen  dem  apriorischen  Raum,  welchen  er  spaiium  insensihile,  inteUigibile, 
cogitahüe  nennt,  und  dem  aposteriorischen  Raum,  dem  spaiium  perceptibih. 
Unter  Bezugnahme  auf  jene  Stellen  aus  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  sagte 
schon  ein  Kantianer  von  1788  (Goth.  Gel.  Zeit.  St.  21,  S.  171  ff.):  „es  kömmt 
der  grösste  Galimathias  heraus,  wenn  man  annimmt,  dass  K.  den  äusseren 
materiellen  oder  empirischen  Raum  leugne.  Aber  Licht  und  Klarheit  ver- 
breiten sich  sogleich  durch  seine  ganze  Theorie,  sobald  man  sich  überzeugt 
hat,  dass  er  jenen  Raum  annimmt,  und  noth wendig  annehmen  muss^  aber 
davon  in  seiner  Kr.  d.  r.  Y.  ganz  abstrahirt.*^  So  günstig  konnten  wir 
freilich  die  Sachlage  nicht  auffassen  —  es  liegt  vielmehr  eben  ein  krasser 
Widerspruch  Ks.  vor. 

7)  Aus  allem  diesem  folgt  endlich  eine  wichtige  Consequenz  für  das 
Verständniss  der  Polemik  Kants  gegen  Berkeley.  Kant  bekämpft  B  68 
dessen  Idealismus,  weil  er  die  Dinge  an  sich  leugne ;  aber  (wie  aus  der  An- 
merkung zu  jener  Stelle  geschlossen  werden  kann)  er  bekämpft  denselben 
auch,  weil  er  jenen  Unterschied  nicht  macht.  Man  kann  sagen:  für  Berkeley 
sind  die  Dinge  im  Räume  vom  empirischen  Ich  abhängig,  für  Kant  vom 
transseendentalen.  Daher  sind  sie  für  jenen  bloss  Schein,  für  diesen  Er- 
scheinung, Erscheinung  hier  in  dem  „objectiven'  Sinne  genommen,  so  dass 
diese  Erscheinungsgegenstände  dem  empirischen  Ich  gegenüber  selbständig 
und  unabhängig  sind.  In  diesem  Sinne  konnte  und  musste  sich  Kant  mit 
Fug  und  Recht  gegen  Berkeley's  Traumidealismus  aussprechen,  dem  er  andern- 
falls ohne  jene  Unterscheidung  sehr  nahe  stand.  (Weiteres  s.  Strassb. 
Abh.  146  ff.) 


56  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  71.] 

In  der  Erscheinung  nenne  ich  das  9  was  der  Empfindung  cor- 
respondirt,  die  Materie  derselben.  Mit  diesem  Satze  leitet  Kant  nun 
seine  fundamentale  Unterscheidung  von  Materie  und  Form  der  Erscheinung 
ein.  Wir  könnten  sofort  zu  der  Besprechung  dieser  Unterscheidung  uns 
wenden,  wenn  nicht  dieser  erste  Satz  sogleich  eine  beträchtliche  Schwierig- 
keit enthalten  würde.  Diese  Schwierigkeit  liegt  in  dem  eigenthümlichen 
Ausdrucke  „correspondirt".  „In  der  Erscheinung  correspondirt.etwas  der 
Empfindung '^  —  was  soll  das  heissen?  Wenn  wir  uns  zunächst  aller  sub- 
jectiven  Auslegungen  enthalten  und  Kant  selbst  als  Ausleger  seiner  Worte 
anhören  wollen,  so  finden  wir  sogleich  im  folgenden  Satze  eine  Erläuterung. 
Da  heisst  es,  da  die  Form,  in  die  die  Empfindungen  gestellt  werden, 
nicht  selbst  wieder  Empfindung  sein  könne,  so  sei  uns  nur  die  Materie  der 
Erscheinungen  a  posteriori  gegeben.  Hier  wird  also  mit  dürren  Worten 
„Empfindungen"  mit  „Materie  der  Erscheinung"  identificirt.  Vgl,  auch 
Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  496:  „Das  Empirische  aber  in  der  Wahrnehmung, 
die  Empfindung  oder  der  Eindruck  (impreasio)  ist  die  Materie  der  An- 
schauung." Ib.  509.  Dann  wäre  es  aber  doch  mindestens  vorsichtiger  ge- 
wesen, nicht  davon  zu  sprechen,  dass  der  Empfindung  in  der  Erscheinung 
etwas  „correspondire",  sondern  dass  eben  die  Empfindung  die  Materie  der 
Erscheinung  sei  (vgl.  Eberhard,  Mag.  I,  379).  Denn  der  Ausdruck  »cor- 
respondiren"  schliesst  doch  ein,  dass  es  zweierlei  gebe:  1)  die  Empfindung, 
2)  die  Materie  der  Erscheinung;  nur  in  diesem  Falle  hat  ja  der  Ausdruck 
„correspondiren"  überhaupt  einen  Sinn.  (Kant  selbst  erläutert  den  Ausdruck 
so,  wenn  er  A  104  sagt:  „Was  versteht  man  denn,  wenn  man  von  einem 
der  Erkenntniss  correspondirenden,  mithin  auch  davon  unterschie- 
denen Gegenstand  redet?")  Nun  aber  sollen  doch  nach  den  folgenden  Er- 
klärungen „Empfindung"  und  „Materie  der  Erscheinung"  ein  und  dasselbe 
sein.  Und  so  drückt  das  auch  in  der  That  Kant  an  anderen  Stellen  aus. 
So  identificirt  er  A  42  Empfindung  und  Materie,  so  heisst  es  A  50:  „Man 
kann  die  Empfindung  die  Materie  der  sinnlichen  Erkenntniss  nennen",  so 
auch  ProL  §  11.  Man  könnte  nun  sagen,  der  Ausdruck  „correspondiren*' 
sei  nicht  zu  pressen.  Der  Terminus  „Empfindung"  und  die  Wendung  «Ma- 
terie der  Erscheinung"  seien  eben  nur  zwei  verschiedene  Ausdrücke  für  einen 
und  denselben  Werth,  der  eine  vom  subjectiven,  der  andere  vom  objectiven 
Gesichtspunkt  aus;  beide  Ausdrücke  seien  aber  ganz  äquivalent  und  ver 
tauschbar,  und  insofern  könne  man  ja  wohl  sagen,  das  Eine  „correspondire^ 
dem  Andern.  In  diesem  Sinne  legt  auch  Meli  in  die  Stelle  aus  II,  404: 
IV,  57;  V,  813.  Diese  Auslegung  stimmt  im  Wesentlichen  überein  mit 
jener  oben  S.  4.  17  besprochenen  laxeren  Auffassung  vom  „Gegenstand  der 
Anschauung",  wonach  eben  Gegenstand  nur  so  viel  als  „Inhalt"  sein  sollte: 
wir  können  dies  den  intentionalen  Gegenstand  nennen.    (Vgl.  S.  34.) 

Indessen  gibt  Kant  an  anderen  Stellen  eine  ganz  andere  Erklärung 
des  Ausdruckes  „correspondiren",  die  zu  einer  zweiten  Auslegung  drängt. 
In  der  Analytik,   in  der  er  A  104  jene  schon   oben   angeführte  Frage  auf- 


Was  kann  in  der  Erscheinung  der  Empfindung  „corresj^ondiren*?  57 

[R  82.  H  56.  E  71.]  A  20.  B  34. 

wirft,  was  man  denn  „unter  einem  der  Erkenntniss  correspondirenden 
Gegenstande  verstehe ''^  gibt  er  als  Antwort  seine  ihm  specifisch  an- 
gehörende neue  Theorie  des  Gegenstandes.  Jener  ^correspondirende  Gegen- 
stand^ ist  nichts  als  die  von  uns  durch  die  Synthesis  des  Verstandes  (resp. 
der  Einbildungskraft)  a  priori  in  das  „Gewühle  der  Empfindungen"  hinein- 
gebrachte und  hineingedachte  Einheit,  die  wir  eben  als  festen  einheitlichen 
Kern  der  Vielheit  der  wechselnden  Empfindungen  in  Gedanken  gegenüber- 
stellen. Dieser  kategoriale  Gegenstand  ist  nach  A  108  also  nur  „der 
Begriff  von  etwas,  darin  die  Erscheinungen  (=  Anschauungen)  nothwendig 
zusammenhängen",  also  bloss  etwas  Gedachtes,  ein  blosses  „Constructions- 
gebilde  der  productiven  Einbildungskraft"  (Wernicke),  also  etwas, 
was  nur  durch  unser  Denken  geschaffen  ist  und  nur  in  unserem  Denken 
Existenz  hat.  In  diesem  Sinne  heisst  es  auch  A  176:  „Das  Reale,  was  den 
Empfindungen  überhaupt  correspondirt,  stellet  nur  etwas  vor,  dessen 
Begriff  an  sich  ein  Sein  enthält,  und  bedeutet  nichts  als  die  Synthesis 
in  einem  empirischen  Bewusstsein  überhaupt,"  und  bes.  A  191  wird  klar 
gesagt,  dass  daher  „die  Erscheinung,  ohn erachtet  sie  nichts  weiter  als 
ein  Inbegriff  dieser  Vorstellungen  ist,  als  der  Gegenstand  derselben  be- 
trachtet wird  u.  s.  w."  Der  Gegenstand  in  diesem  Sinne  ist  nur  eine  Hypo- 
stasimng  des  Verstandesgesetzes  der  Einheit. 

Allein  noch  in  demselben  Zusammenhang,  ebenfalls  in  der  Analytik, 
gibt  es  Stellen,  welche  immer  mehr  zu  einer  dritten  Auslegung  drängen. 
Im  Grundsatz  der  Antecipationen  heisst  (A  166)  „das  Reale,  welches  der 
Empfindung  an  dem  Gegenstande  entspricht",  die  „realitas  phaenomenon'^ . 
Nun  steht  an  Stelle  dessen  in  der  2.  Aufl.  allerdings  (B  207) ,  dass  das 
Reale  selbst  „Gegenstand  der  Empfindung  ist" ;  allein  im  Context  der  1.  Aufl. 
wird  nochmals  der  Ausdruck  wiederholt:  „Was  in  der  empirischen  An- 
schauung der  Empfindung  correspondirt,  ist  Realität  {realitaa  phaenomenany , 
und  von  dieser  wird  gleich  nachher  gesagt,  dass  sie,  die  empirische  Realität, 
als  Ursache  der  Empfindung  betrachtet  werden  könne.  In  diesem  Falle  muss 
jene  empirische  Realität  also  eine  von  der  Empfindung  unabhängige  Existenz 
führen.  Dies  wird  denn  auch  an  anderen  Stellen  zugestanden.  In  der 
Methodenlehre  A  723  =  B  751  wird  auch  der  Unterschied  von  Materie  und 
Form  der  Erscheinung  gemacht,  und  da  heisst  es  von  ersterer:  „Die  Materie 
(das  Physische)  oder  der  Gehalt,  welcher  ein  Etwas  bedeutet,  das  im  Räume 
und  der  Zeit  angetroffen  wird,  mithin  ein  Dasein  enthält  und  der  Empfindung 
correspondirt."  Und  diese  Bemerkung  führt  uns  dann  zu  jenen  zwei- 
deutigen Stellen  der  Paralogismen  A  374  ff.,  wo  es  heisst,  „unseren  äusseren 
Anschauungen  correspondire  etwas  Wirkliches  im  Räume",  „unsere  äusseren 
Sinne  haben  ihre  wirklichen  correspondirenden  Gegenstände  im  Räume". 
Vgl.  auch  Met.  Anf.  d.  Naturw.  I,  1,  2  (Ros.  V,  321);  und  diese  Auffassung 
hat  ja  dann  in  der  in  B  eingeschobenen  „Widerlegung  des  Idealismus"  ihre 
Hauptstütze  gefunden.  Nach  dieser  Auslegung  ist  der  Ausdruck  „correspon- 
diren"  also  ernst  zu  nehmen;   es  handelt  sich   nicht  mehr  um  einen  bloss 


58  §  !•    Einleitung. 


A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  71.] 

gedachten,  sondern  um  einen  realen  Unterschied;  es  gibt  zweierlei:  1)  die 
Empfindung,  2)  den  empirischen  Gegenstand  =  Erscheinung.  Im  letzteren 
ist  Form  und  Materie  zu  unterscheiden;  die  Materie,  desselben  „entspricht^, 
„correspondirt"  nur  unserer  Empfindung,  ist  aber  nicht  mit  derselben  identisch. 
Diese  Auffassung  wurde  uns  schon  am  Schluss  des  vorigen  Absatzes  nahe- 
gelegt, und,  wie  der  dazwischenliegende  Excurs  bewiesen  hat,  hat  Kant 
thatsächlich  bald  in  schwankenden,  vieldeutigen  Wendungen,  bald  deutlich 
und  in  allem  Ernst  diese  von  der  Empfindung  unabhängige  empirische  Existenz 
der  Erscheinung  gelehrt,  der  ja  dann  auch  eine  eigene  empirische  Affection 
auf  uns  zugeschrieben  wird.  In  diesem  Sinne  nimmt  denn  auch  Cohen 
diese  Stelle  (1.  A.  41,  2.  A.  150):  „Was  correspondirt  denn  nun  wohl  an 
der  Erscheinung  der  Empfindung?  Offenbar  der  afficirende  Gegenstand,  so- 
fern wir  von  demselben  afficirt  werden*'  u.  s.  w.  Bei  Cohen  aber  geht  ja 
eben  die  Affection  nur  vom  empirischen  Gegenstande  aus,  nie  vom  Dinge 
an  sich.  (Ebenso  Stadler,  Mat.  59.)  Diese  Auslegung  scheint  auch  schon 
Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  230  ff.  zu  begünstigen.  Und  in  diesem  Sinne 
richtet  auch  J.  H.  Pichte,  Charakteristik  d.  n.  Phil.  2.  A.  186  an  Kant 
die  tadelnde  Frage:  „Kann  dieses  Wort,  wenn  es  hier  Sinn  haben  soll, 
anders  als  in  völlig  Locke'schem  Sinne  gefasst  werden?" 

Kant  hat  nun  ja  aber  die  Affection  durch  den  empirischen  Gegenstand 
und  die  durch  das  Ding  an  sich,  wie  wir  sahen,  häufig  nicht  streng  aus- 
einandergehalten, und  so  ist  zu  erwarten,  dass  er  auch  hier  bei  dem  der  Em- 
pfindung Con*espondirenden  gelegentlich  an  den  transscendenten  Gegen- 
stand gedacht  haben  werde,  so  dass  wir  also  noch  eine  vierte  Auslegung 
haben.  Dies  ist  auch  in  der  That  der  Fall;  nicht  bloss  etwa  nur  in  der 
Dissert.  von  1770,  woselbst  in  dem  dieser  Stelle  entsprechenden  §  4  beides 
ganz  unklar  durcheinander  geht,  sondern  auch  noch  in  der  Kr.  d.  r.  V. 
selbst;  denn  A  143  heisst  es:  „Da  die  Zeit  nur  die  Form  der  Anschauung, 
mithin  der  Gegenstände  als  Erscheinungen  ist,  so  ist  das,  was  an  diesen  der 
Empfindung  entspricht,  die  transscendentale  Materie  aller  Gegenstände, 
als  Dinge  an  sich.''  Unter  Beinifung  auf  diese  Stelle  hat  denn  auch  Mellin 
II,  286  das  Correspondirende  auf  das  afficirende  Ding  an  sich  bezogen;  so 
hat  auch  der  Kantianer  M.  Reuss  (1789)  in  seiner  AnaJytiea  SensualUatis 
purae,  §  11,  die  materia  durch  die  causa  sensationis  erklärt,  worüber  er  von 
Stattler,  im  „Kurzen  Entwurf  der  unausstehlichen  Ungereimtheiten  der 
K. 'sehen  Philosophie"  (1791)  S.  53  ff.  hart  angelassen  wird. 

So  haben  wir  denn  auch  hier,  bei  der  Frage  nach  dem  der  Empfindung 
„Correspondirenden*,  wie  oben  S.  32  ff.  bei  der  Frage  nach  dem  »Gegen- 
stand der  Anschauung^,  genau  dieselben  vier  Möglichkeiten  gefunden:  die 
Beziehung  auf  den  intentionalen ,  oder  auf  den  kategorialen ,  oder  auf  den 
empirischen  oder  auf  den  transscendenten  Gegenstand. 

In  derselben  durchaus  unklaren  Weise  haben  denn  nun  auch  Kants 
Anhänger  den  fraglichen  Ausdruck  gebraucht.  Insbesondere  Rein  hold. 
welcher  sich  sehr  häufig  in  ganz  unbestimmter  Weise  des  Ausdruckes  „ent- 


Die  Materie  oder  das  Mannigfaltige  der  Erscheinung.  59 

[B  32.  H  56.  E  71.  72.J  A  20.  B  34. 

sprechen"  bedient.  Vgl.  bes.  Th.  d.  Vorst.  230  ff.  und  in  seinen  Recensionen 
in  der  A.  L.  Z.,  bes.  1789,  II,  595.  Diese  unklaren  Wendungen  haben  ihm 
seine  und  Kants  Gegnec  mit  Recht  vorgerückt,  so  z.  B.  Schwab  (Phil.  Mag. 
III,  131):  der  Begriff  des  Entsprechens  sei  bildlich,  schwankend,  und  nirgends 
erklärt.  Was  Forberg  dagegen  zu  Gunsten  Reinholds  vorbringt  (Fund.  197), 
hilft  der  Sache  resp.  dem  Worte  nicht  auf. 

Weiteres  über  die  Wendung  bei  Zeller,  D.  Phil.  425;   Riehl,  Krit. 

1,  345.  431;  Spicker,  Kant  23.  131;  Naturw.  u.  Phil.  21.  38.  40;  Engel- 
mann, Ding  an  sich  9.   Besonders  Rehmke,  Welt  29.  82.  149—151.   Cohen, 

2,  A.  424.  607,  Dass  hier  ein  „Widerspruch"  obwalte,  hat  auch  Spencer, 
Psychol.  §399  (Deutsch  II,  S.  369— 370)  gesehen:  Zuerst  werden,  wie  auch 
am  Schluss  des  vorhergehenden  Absatzes,  „Erscheinung'  und  „Empfindung'' 
unterschieden,  dann  werden  sie  wieder  identificirt.  Dadurch  erhalte  auch 
die  „Form"  etwas  Schwankendes:  im  ersten  Fall  stelle  sie  sich  als  etwas 
Objectives,  im  zweiten  als  etwas  Subjectives  dar. 

Dasjenige 9  welches  macht,  dass  das  Mannigfaltige  geordnet 
werden  kann,  ist  die  Form  der  Erscheinung.  An  diesem  Satze  fUllt  zu- 
nächst die  etwas  umständliche  Ausdrucksweise  auf:  „Dasjenige,  welches 
macht,  dass/  Es  ist  dies  eine  sehr  beliebte  Wendung  Kants.  So  heisst 
es  gleich  unten  A42:  „Empfindung  ist  das  in  unserer  Erkenntuiss,  was 
da  macht,  dass  sie  Erkenntniss  aposteriori  heisst";  und  diese'Parallelstelle 
könnte  die  Auslegung  B.  Erdmanns  (Axiome  der  Geometrie  S.  142)  un- 
wahrscheinlich erscheinen  lassen,  dass  in  dem  Ausdruck  „welches  macht, 
dass"  die  Form  als  Thätigkeit  gedacht  werden  soll.  Indessen  zeigt  Kants 
Reflexion  II,  N.  942,  dass  man  dies  allerdings  auch  hineinlegen  kann. 
Dazu  stimmen  auch  andere  Stellen,  z.  ß.  Proleg.  §  18:  „ursprünglich  erzeugte 
Begriffe ,  welche  es  eben  machen,  dass  das  Erfahrungsurtheil  objectiv 
gültig  ist".  (Viel  zu  viel  legt  jedenfalls  Stumpf,  Raum  vorst.  15,  in  diese 
Wendung  hinein.)  Auch  die  Kantianer  ahmten  diese  Ausdrucks  weise  gerne 
nach;  so  z.  B.  Mellin  I,  708. 

In  diesem  Satze  wird  nun  auch  der  später  so  oft  gebrauchte  Ausdruck 
„das  Mannigfaltige"  eingeführt,  dem  in  der  Dissert.  von  1770  die  varia 
entsprechen  (bes.  §  4).  Vgl.  Mellin  IV,  57.  Meistens  gebraucht  übrigens 
Kant  späterhin  den  Ausdruck  „das  Mannigfaltige  der  Anschauung"  (z.  B. 
A  105),  und  bes.  in  der  Transsc.  Deduction  (bes.  B)  spielt  das  „Mannig- 
faltige* in  diesem  Sinne  eine  bedeutsame  Rolle;  denn  es  ist  ihr  „oberster 
Grundsatz" :  „dass  alles  Mannigfaltige  der  Anschauung  unter  Bedingungen 
der  ursprünglich-synthetischen  Einheit  der  Apperception  stehe"  (§  17,  §  20); 
auch  heisst  es  ebendaselbst  (§  17):  „Der  oberste  Grundsatz  der  Möglichkeit 
aller  Anschauung  in  Beziehung  auf  die  Sinnlichkeit  war  laut  der  transsc. 
Aesthetik,  dass  alles  Mannigfaltige  derselben  unter  den  formalen  Bedingungen 
des  Raumes  und  der  Zeit  stehe."  Vgl.  A  94:  über  „die  Synopsis  des  Mannig- 
faltigen a  priori  durch  den  Sinn."  Vgl.  auch  Cohen,  2.  A.  S.  161  und 
bes.  Watson,   Kant  330.     Zur  ganzen  Stelle  vgl.  Volkelt  214  und  bes. 


60  §  1.    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [B  32.  H  56.  E  72.] 

auch  Spencer,  Psych.  §  399.  Richtig  bemerkt  Spicker,  Kant  23,  dass  es 
statt  „das  Mannigfaltige  der  Erscheinung'^  hier  streng  genommen  ,das 
Mannigfaltige  der  Eindrücke^  heissen  müsste:  „Der  Qedanke  sowohl  als  der 
Ausdruck  ist  sehr  unklar.  ** 

Dass  bei  jeder  Wahrnehmung  ein  Mannigfaltiges  gegeben  werden  muss, 
hat  auch  den  Sinn,  dass  es  nichts  schlechthin  Einfaches  in  derselben  geben 
kann,  womit  Kant  die  Monadologie  und  Atomistik  ausschliesst ;  s.  den  Beweis 
der  zweiten  Antithese  A  435  =  B  345. 

In  diesem  Sinne  hat  auch  Reinhold  ein  eigenes  Theorem  von  der 
Mannigfaltigkeit  des  Stoffes  und  Einheit  der  Form  in  jeder  Vor- 
stellung aufgestellt.  In  der  'Recension  der  Th.  d.  Vorst.  in  der  Jenaer 
A.  L.  Z.  1791,  Nr.  26  wurde  der  Beweis  aber  angegriffen,  worauf  Ehrhard 
die  Vertheidigung  Reinholds  in  dessen  „Fundament''  S.  139  ff.  übernahm. 
Ehrhard  wollte  den  betreffenden  Beweis  aus  einem  directen  in  einen  apa- 
gogischen  verwandelt  wissen.  Reinhold  versprach  daselbst  (S.  1 72  f.)  denn 
auch  einen  neuen  Beweis  des  Theorems,  hat  ihn  aber  nicht  geliefert,  trotz- 
dem er  noch  1792  von  Bartoldy  an  sein  Versprechen  erinnert  wurde  in  einem 
Briefe  (s.  Reinholds  Leben,  S.  362),  in  welchem  B.  beachtenswerthe  Einwände 
gegen  das  Theorem  erhebt. 

Dem  Mannigfaltigen ,  wenn  auch  nicht  Ungeordneten ,  so  doch  Noch- 
nicht-geordneten  gegenüber  stehen  die  Formen  der  Coordination  desselben; 
so  werden  Raum  und  Zeit  ausdrücklich  in  der  Dissertation  §  4  ff.  bezeichnet; 
sie  stehen  der  materiaj  den  varia  gegenüber  als  die  forma,  nempe  sensibüium 
species,  quae  prodU,  quatenus  varia,  quae  sensus  afficiunt,  ncUurali  quadam 
anitni  lege  coordinantur.  (Diesen  Ooordinationsformen  der  Sinnlichkeit  gegen- 
über erscheint  dann  die  logische  Thätigkeit  an  einzelnen  Stellen  als  Function 
der  Subordination,  während  nach  anderen  Stellen  die  Subordination  Sache 
der  Zeit  ist.)    Dieselben  Bestimmungen  treffen  wir  häufig  in  den  Reflexionen 

1,  N.  30,  65.  143;  II,  N.  270—273.  275.  277.  303.  336.  372.  1475.  Dass 
Raum  und  Zeit  Formen  der  Zusammenstellung  sind,  kehrt  dann  oft 
wieder  in  dem  Nachgel.  Werke,  z.  B.  XIX,  297.  298.  450.  572.  617.  628; 
XXI,  546.  553.  563.  564.  In  der  Dissertation  hatte  er  (vgl.  oben)  mehrfach 
diese  Formen  der  Coordination  mit  Vorliebe  als  leg  es  (insitae)  bezeichnet 
(z.  B.  §  13.  15  D ,  E).  Es  ist  nicht  recht  einzusehen ,  warum  er  diesen 
treffenden    Ausdruck    1781    nicht   mehr   anwandte.     Vgl.  hierüber   Cohen, 

2.  A.  159. 

In  Bezug  auf  den  Text  erhebt  sich  noch  die  Frage :  Hat  die  Aendemng 
von  „geordnet  angeschauet  wird*  in  den  Ausdruck  der  2.  Auflage: 
„geordnet  werden  kann"  —  eine  besondere  Bedeutung?  In  der  2.  Auf- 
lage ist  das  Wort  „ angeschauet '^  weggelassen ;  diesem  Umstand  ist  kaum 
eine  besondere  Bedeutung  beizumessen ;  die  Ausdrucksweise  der  1.  Auflage 
war  pleonastisch ;  die  2.  Auflage  hat  also  vereinfacht.  Eher  könnte  man 
vermuthen,  dass  die  Ersetzung  des  „wird"  durch  „werden  kann"  von  sach- 
lichem Werthe   sei;   man  könnte  sagen,    der  Ausdruck  der  1.  Auflage  in- 


Die  Fonu  oder  das  Coordinationsprincip  der  Erficheinung.  61 

[R  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

volvire  eine  active  ordnende  Thätigkeit  der  Form  selbst,  wie  sie  dieser  auch 
in  der  Dissert.  von  1770 ,  §  4,  §  15  D  ausdrücklich  zugeschrieben  wird ;  in 
der  2.  Auflage  sei  diese  Beziehung  weggefallen ;  und  dazu  miisste  man  dann 
mit  B.  Erdmann ,  Kants  Reflex.  S.  145 ,  ergänzen ,  dass  diese  Ordnung  erst 
Sache  des  spontanen  Verstandes  sei,  nicht  schon  der  Sinnlichkeit,  was 
allerdings  mit  den  Aenderungen  der  Deduction  in  der  2.  Auflage  zusammen- 
stimmen würde  (vgl.  dazu  Keflex.  II,  N.  940).  Die  Passivität  der  Form  be- 
tont K.  auch  B  129:  „Das  Mannigfaltige  der  Vorstellungen  kann  in  einer 
Anschauung  gegeben  werden,  die  bloss  sinnlich,  d.  i.  nichts  als  Empfäng- 
lichkeit ist,  und  die  Form  dieser  Anschauung  kann  a  priori  in  unserem 
Vorstellungs vermögen  liegen,  ohne  doch  etwas  anderes,  als  die  Art  zu  sein, 
wie  das  Subject  afficirt  wird."  Aber  die  einheitliche  Verbindung  setze  einen 
Actus  der  Spontaneität  des  Verstandes  voraus,  welcher  auch  nach  B  146 
das  Mannigfaltige  der  Anschauung  „verbindet  und  ordnet''.  (Vgl.  dazu 
Staudinger,  V.  f.  w.  Philos.  VII,  19.)  Schon  in  der  Deduction  A  120 
war  übrigens  die  ordnende  Synthesis  des  Mannigfaltigen  ausdrücklich  dem 
Sinn  ab-  und  dem  „thätigen  Vermögen  der  Einbildungskraft"  zugesprochen 
worden. 

Auf  keinen  Fall  ist  richtig,  was  Cohen  aus  der  vorliegenden  Stelle 
herausgelesen  hat.  Er  sagt  (1.  A.  42;  2.  A.  151):  „Man  achte  auf  den 
Ausdruck.  Kant  sagt  nicht:  dasjenige,  welches  das  Mannigfaltige  in  ge- 
wissen Verhältnissen  ordnet,  sondern:  welches  macht,  dass  es  geordnet 
werden  kann.  Die  Möglichkeit  in  der  Erscheinung,  dass  das  Mannig- 
faltige, welches  sie  vermöge  der  Empfindung  allein  darbieten  würde,  ge- 
ordnet angeschaut  werde,  dieses  potentielle  Verhältniss  wird  Form  genannt' 
u.  s.  w.  Damit  will  also  wohl  Cohen  sagen:  in  dem  Mannigfaltigen  selbst 
liege  die  Möglichkeit  seiner  formellen  Ordnung  potentiell  angelegt.  Aber 
wenn  irgend  etwas  unkantisch  ist,  so  ist  es  diese  Auslegung,  welche  durch 
die  folgenden  Erläuterungen  Kants,  besonders  aber  durch  den  unmittelbar 
folgenden  Satz  unmöglich  gemacht  wird,  und  welche  auch  durch  den  Wort- 
laut dieses  Satzes  in  keiner  Weise  gefordert  wird.  Der  Satz  will  eben 
sagen :  die  Form  ermögliche  es,  dass  das  Mannigfaltige  geordnet  werde,  dass, 
wie  es  gleich  nachher  heisst,  „die  Empfindungen  in  gewisse  Form  gestellt 
werden  können";  diese  Form  ist  nach  dem  Folgenden  etwas  zum  Mannig- 
faltigen äusserlich  Hinzukommendes.  Nach  Cohen  aber  würde  Kant  sagen, 
dass  diese  Form  im  Mannigfaltigen  selbst  liege,  wenigstens  potentiell  — 
diese  Auslegung  ist  aber  aus  den  genannten  Gründen  gänzlich  zu  verwerfen. 
Vgl.  zu  dieser  „klassischen"  Stelle  auch  Jen.  A.  L.  Z.  1789,  N.  10,  und  Eber- 
hard, Phil.  Mag.  I,  378.  394. 

Materie  und  Form  der  Erscheinung.  Dieser  fundamentale  Unter- 
schied wird  von  Kant  sehr  oft  wiederholt.  Vgl.  A  42;  A  50;  A  86; 
A  167;  A  723. 

üeber  diesen  Gegensatz  von  Materie  und  Form  äussert  sich  Kant 
selbst  näher  in  dem  Anhang  zur  Analytik,  in  der  „Araphibolie  der  Reflexions- 


62  §  1.    Einleitung. 

A  20.  B  84.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

begriffe",  A  366:  „Dieses  sind  zwei  Begriffe,  welche  aller  andei'en  Reflexion 
zum  Grande  gelegt  werden ,  so  sehr  sind  sie  mit  jedem  Gebrauch  des  Ver- 
standes unzertrennlich  verbunden.  Der  Erstere  (Materie)  bedeutet  das  Be- 
stimmbare überhaupt,  der  Zweite  (Form)  dessen  Bestimmung. '^  Vgl.  Cohen, 
2.  A.  173. 

Entsprechend  dieser  Erklärung  spielt  denn  auch  diese  Unterscheidung 
bei  Kant  eine  sehr  bedeutsame  Bolle,  nicht  bloss  hier  in  der  transsc 
Aesthetik,  sondern  auch  in  der  Analytik,  sowie  besonders  in  der  Methoden- 
lehre; nicht  bloss  in  der  Kr.  d.  r.  V.,  sondern  auch  in  den  beiden  anderen 
Kritiken,  sowie  überhaupt  in  seiner  kritischen  Philosophie,  was  im  Einzelnen 
zu  verfolgen  eine  verdienstvolle  Aufgabe  wäre.  Schon  in  der  Inaugural- 
Dissertation  von  1770  tritt  der  Gegensatz  hervor,  bes.  §  2  und  §  4,  wie 
auch  schon  aus  dem  Titel  derselben  hervorgeht.  Daraus  erklärt  sich  dann 
auch  die  Bezeichnung  seines  Systems  als  formaler  Idealismus  (Proleg. 
§  49;  Anhang  Or.  208;  Krit.  B  518  K):  K.  stellt  die  aus  dem  Subject 
stammenden,  daher  idealen  Formen  des  Erkennens  heraus,  mit  welchen 
der  Inhalt  erfasst  und  bearbeitet  wird. 

üeberall,  wo  Kant  sich  des  Gegensatzes  bedient,  wird  derselbe  in 
folgender  Weise  charakterisirt :  ' 

Materie.  Form. 

Das  Bestimmbare  —  das  Bestimmende. 

Der  passive  Factor  —  der  active  Factor. 

Das  Mannigfaltige  —  das  Einheitliche. 
Das  Ungeordnete 

(oder  wenigstens  das  Nicht-  —  das  Ordnende. 
Geordnete) 

Das  Gegebene  —  das  Hinzugethane, 

Das  Empirische  —  das  Apriorische. 

Das  Zufällige  —  das  Nothwendige. 

Das  Variable  —  das  Constante. 

Die  Kantianer  suchten  sich  und  Anderen  diesen  Gegensatz  durch 
mannigfache,  nicht  immer  glücklich  gewählte  Bilder  zu  veranschaulichen. 
So  vergleicht  Mellin  I,  266  die  reine  Anschauung  mit  einem  Gewand, 
und  dieses  Bild  der  Einkleidung  wird  sehr  oft  in  der  Kant- Literatur 
wiederholt;  so  z.  B.  bei  Lewes,  Gesch.  d.  Philos.  (deutsch)  II,  516.  Ein 
ebenso  beliebtes  Bild  ist  das  Gefäss,  das  sich  auch  bei  Mellin  findet  (I,  H). 
Nahe  verwandt  damit  ist  die  Vergleichung  mit  Gussformen,  die  sich  bei 
Pistorius  findet  (A.  D.  B.  59,  332;  82,  434),  oder  gar  mit  dem  Teig,  der 
in  einer  Form  gebacken  wird  (Stumpf,  Raumvorst.  13). 


'  Vgl.  Garve,  A.  D.  B.  Anh.  zu  37—52,  840.  Körner  an  Schiller  II,  16. 
Abicht,  Philos.  Jounial  III,  78.  85.  Villers,  Ph.  de  Kant  II,  13  ff.  Morris, 
Kant  50  ff. 


Materie  und  Form:  Bilder;  Geschichtliches.  63 

[B  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

£in  sehr  drastisches  Gleichniss  vergleicht  die  Form  mit  dem  Petschaft 
und  die  Materie  mit  dem  Siegellack.  Dieses  Gleichniss  findet  sich  z.  B.  bei 
Kiese wetter,  Wichtigste  Wahrheiten  der  neueren  Philosophie  S.  26.  Des- 
selben Gleichnisses  bediente  sich  Villers,  Philosophie  de  Kant  II,  202  (le  cachet 
und  la  cire)j  übersetzt  in  Binks  »Mancherley''  S.  29.  Villers  selbst  sagt 
aber,  das  sei  eine  ^comparaison  imparfaite'^ ,  Schon  Garve  (A.  D.  B.  Anh. 
zu  37—52,  841)  bediente  sich  des  Vergleiches  mit  ^Stempeln",  die  allen 
Empfindungen  , aufgedrückt^  werden. 

Häufig  vergleicht  man  auch  die  Formen  der  Sinnlichkeit  mit  Gläsern, 
durch  welche  hindurch  wir  die  Dinge  in  veränderter  Weise  zu  sehen  ge- 
nöthigt  sind.  So  Villers,  Philos,  de  Kant  II,  202  (vgl.  dagegen  Schelling, 
W.  W.  I,  V,  193  ff. ,  der  diese  Bilder  tadelt).  Auch  der  Naturforscher 
Seh  leiden  (Anhänger  von  Fries)  gebraucht  das  Bild  mit  Vorliebe:  »R.  u. 
Z.  sind  gleichsam  die  gefärbte  Brille,  welche  wir  Alle  von  der  Wiege 
bis  zum  Grabe  tragen,  ohne  sie  jemals  ablegen  zu  können.''  So  auch 
Chalybäus,  Spec.  Philos.  20.  21.  29.  Noch  Riehl,  Krit.  II,  a,  108  bedient 
sich  des  Bildes  der  „blauen  Brille''.  Vielfach  findet  sich  auch  das  ganz 
einfache  Bild  der  Einfassung  oder  Einrahmung  des  Inhalts  in  die 
Formen.  So  ist  dies  angedeutet  bei  Zeller,  Gesch.  d.  deutsch.  Philos.  428. 
—  Andere  Bilder  z.  B.  bei  Bora,  Mag.  I,  334;  üle,  Baumth.  41. 

Es  bleibt  Hegels  Verdienst,  den  denkbar  rohesten  Vergleich  ge- 
funden zu  haben  (Gesch.  d.  Phil.  III,  568):  ^Es  sind  da  draussen  Dinge  an 
sich,  aber  ohne  Zeit  und  Baum.  Nun  kommt  das  Subject,  und  hat  vorher 
Zeit  und  Baum  in  ihm*,  als  die  Möglichkeit  der  Erfahrung,  sowie,  um  zu 
essen,  es  Mund  und  Zähne  u.  s.  w.  hat,  als  Bedingungen  des  Essens.  Die 
Dinge,  die  gegessen  werden,  haben  den  Mund  und  die  Zähne  nicht,  und 
wie  es  den  Dingen  das  Essen  anthut,  so  thut  es  ihnen  Raum  und  Zeit  an; 
wie  es  die  Dinge  zwischen  Mund  und  Zähne  legt,  so  in  Baum  und  Zeit!" 
Vgl.  dazu  Paulsen,  Entw.  195  f.  — 

Einen  Vorgänger  in  der  erkenntnisskritischen  Anwendung  der  beiden 
Begriffe  hat  Kant  in  Lambert,  welcher  in  seinen  Briefen  an  Kant  vom 
3.  Februar  1766  (vgl.  auch  schon  den  Brief  vom  13.  November  1765)  die 
Frage  aufwirft:  „ob  oder  wiefern  die  Kenntniss  der  Form  zur  Kenntniss 
der  Materie  unseres  Wissens  führe".  Ihm  scheint  die  Frage  „aus  mehreren 
Giünden  erheblich.'  Die  weitere  Ausführung  daselbst  entfernt  sich  sehr 
weit  von  den  späteren  Kantischen  Ausführungen,  aber  man  darf  wohl  an- 
nehmen, dass  Kant  durch  jene  Briefstelle  auf  seinen  Weg  geführt  oder  we- 
nigstens in  demselben  bestärkt  worden  sei.  Jedenfalls  darf  man  mit  Biehl 
(Krit.  I,  182),  dem  diese  Stelle  auch  schon  aufgefallen  ist,  wohl  sagen,  dass 
damit  Lambert  eine  „echt  kritische  Frage"  aufgeworfen  habe:  „Wir  werden 
die  Methode  Lamberts  nicht  unterschätzen  dürfen.  Sie  ist  ein  Anfang  von 
Erkenntnisskritik,  wenn  auch  diese  nicht  selbst."  Uebrigens  hat  Lambert 
den  Unterschied  auch  in  seinen  Schriften  betont,  besonders  eingehend  in  der 
„Architektonik'  II,  1771,  S.  233—253,  und  dadurch  wohl  auch  in  diesem 


64  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

Punkte  auf  Tetens,  Versuche,  1776,  I,  336  ff.  512,  eingewirkt.   Vgl.  Windel- 
band, Gesch.  d.  n.  Phil.  I,  546.  560;  II,  29. 

Inwieweit  nun  jene  Lambert'schen  Stellen  Kant  beeinÜusst  haben, 
darüber  lassen  sich  nur  Vermuthungen  aufstellen,  da  das  vorhandene  Material 
darüber  zu  keinen  sicheren  Schlüssen  die  Grundlage  bietet.  Die  neueren 
Mittheilungen  aus  Kants  Handschriften  gaben  darüber  nichts  Nennens- 
werthes.  Vgl.  z.  B.  Kants  Reflexionen  II,  N.  315.  N.  1201.  1202.  1217. 
Diese  Stellen  fallen  wohl  in  die  Zeit  um  1770;  denn  sie  enthalten  nichts 
Anderes,  als  die  Dissertation  aus  jenem  Jahre.  Ergiebiger  sind  die  ^ Vor- 
lesungen über  Metaphysik",  woselbst  Kant  S.  75 — 77  eine  weitgehende  Be- 
kanntschaft mit  dem  früheren ,  besonders  dem  scholastischen  Gebrauch  der 
Ausdrücke  niateria  —  forma  verräth.  Auch  in  dem  Nachgel.  Werke  wieder- 
holt Kant  mit  Vorliebe  die  scholastische  Formel:  forma  dat  esse  rei;  so 
XIX,  78.  273.  275  f.  280.  293.  477.  624.  Diese  Formel  erörtert  auch  schon 
Lambert,  Archit.  II,  239. 

Auch  in  der  oben  erwähnten  Stelle  aus  der  „Amphibolie  der  Re- 
flexionsbegriffe" macht  Kant  einige  Andeutungen  über  die  Verwendung 
dieses  fundamentalen  Gegensatzes  bei  früheren  Philosophen,  bei  den  „Lo- 
gikern", sowie  bei  Leibniz.  Es  wäre  eine  dankenswerthe  Arbeit,  diesen 
Gegensatz  in  der  Geschichte  der  Philosophie  historisch  zu  verfolgen..  Die 
Pythagoreer,  Piaton,  Aristoteles,  die  Neuplatoniker,  dieSchola* 
stiker,  Bruno,  Leibniz,  Kant  —  dies  sind  die  wichtigsten  hierbei  in 
Frage  kommenden  Erscheinungen.  (Vgl.  dazu  auch  Windelband,  Gesch. 
d.  n.  Phil.  I,  391.)  Was  die  Kantische  Verwendung  des  Gegensatzes  vor 
allen  früheren  unterscheidet,  ist  der  Umstand,  dass  Kant  die  Form,  die 
formale  Beschaffenheit  der  Dinge  überall  ins  Subject  selbt  hinein  verlegt. 
Einige  Andeutungen  über  jene  historischen  Beziehungen  finden  sich  bei  Cohen 
in  seiner  Behandlung  dieser  Stelle  2.  A.  S.  88  f.  151  ff.  (Aristoteles,  Schola- 
stiker,  Leibniz).  „Historisches  über  die  Unterscheidung  von  Materie  und 
Form  des  Vorstellens"  gibt  auch  Stumpf,  Psychol.  u.  Erkenntnisstheorie, 
München  1891  (Abb.  d.  Bayer.  Ak.),  S.  45 — 47  (Aristoteles,  Descartes,  Leibniz. 
Crusius,  Lambert,  Tetens). 

Auf  jenen  Satz  der  „Scholastiker"  beruft  sich  Kant  auch  ausdrücklich 
gegenüber  dem  (im  Sinne  von  Hamann  und  Jacobi  gemachten)  Vorwurf 
von  J.  G.  Schlosser  (im  Anhang  zu  seiner  Uebersetzung  der  Platonischen 
Briefe,  1795,  S.  180  ff.  191  ff.),  sein  System  sei  nichts  als  eine  aForm- 
gebungsmanufactur".  Dagegen  wendet  sich  Kant  in  der  Abhandlung 
„Ueber  den  vornehmen  Ton*'  u.  s.  w.  Ros.  I,  639.  An  dieser  bis  jetzt  kaum 
beachteten,  sehr  interessanten  Stelle  heisst  es:  „In  der  Form  besteht  da» 
Wesen  der  Sache  (forma  dat  esse  rei,  hiess  es  bei  den  Scholastikern), 
sofern  dieses  durch  Vernunft  erkannt  werden  soll.  Ist  diese  Sache  ein 
Gegenstand  der  Sinne,  so  ist  es  die  Form  der  Dinge  in  der  Anschauung 
(als  Erscheinungen)  und  selbst  die  reine  Mathematik  ist  nichts  Anderes  als 
eine  Formenlehre    der   reinen   Anschauung;  sowie   die  Metaphysik, 


Das  scholastische  Princip:  forma  dat  esse  rei.  65 

[B  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

als  reine  Philosophie,  ihr  Erkenntniss  zu  oberst  auf  Denkformen  gründet, 
unter  welche  nachher  jedes  Object  (Materie  der  Erkenntniss)  subsumirt 
werden  mag.  Auf  diesen  Formen  beruht  die  Möglichkeit  alles  synthetischen 
Erkenntnisses  a  priori,  welches  wir  zu  haben  doch  nicht  in  Abrede  ziehen 
können.  —  Den  Uebergang  aber  zum  Uebersinnlichen ,  wozu  uns  die  Ver- 
nunft unwiderstehlich  treibt,  und  den  sie  nur  in  moralisch  praktischer  Rück- 
sicht thun  kann,  bewirkt  sie  auch  allein  durch  solche  (praktische  Gesetze), 
welche  nicht  die  Materie  der  freien  Handlung  (ihren  Zweck),  sondern  nur 
ihre  Form ,  die  Tauglichkeit  ihrer  Maximen  zur  Allgemeinheit  einer  Gesetz- 
gebung überhaupt,  zum  Prinzip  machen.  In  beiden  Feldern  (des  Theoretischen 
und  Praktischen)  ist  es  nicht  eine  plan-  oder  gar  fabrikenmässig  (zum 
Behuf  des  Staats)  eingerichtete  willkürliche  Formgebung,  sondern  eine  (vor 
aller,  das  gegebene  Object  handhabenden  Manufactur,  ja  ohne  einen  Ge- 
danken daran,  vorhergehende)  fleissige  und  sorgsame  Arbeit  des  Subjects, 
sein  eigenes  (der  Vernunft)  Vermögen  aufzunehmen  und  zu  würdigen' .  In 
diesem  Schlusssatz  (welcher  falsch  ausgelegt  werden  könnte)  will  Kant 
sagen:  jene  seine  Aufstellung  der  Formen  (der  Anschauung,  des  Denkens, 
des  Handelns)  sei  nicht  etwas  willkürlich  Gemachtes,  und  nur  äusserlich 
Erfundenes,  sondern  mit  Noth wendigkeit  aus  dem  Innern  Geschöpftes,  etwas 
erst  durch  fleissige  Arbeit  im  Subject  selbst  Aufgefundenes.  (Vgl.  Cohen, 
Erf.  S  164.  228).  — 

Heftig  opponirt  Herder  gegen  die  Unterscheidung  (Metakr.  I,  84  ff.): 
9 Die  Namen  Materie  und  Form  haben  in  der  Metaphysik  so  viel  leere  Be- 
griffe und  Wortkriege  verursacht,  dass  wir  uns,  wenn  von  irgend  einer 
Sache  etwas  Bestimmtes  gesagt  werden  soll,  vor  ihnen  zu  hüten  haben.'' 
^Die  innige  Konkurrenz,  in  der  bei  jeder  sinnlichen  Empfindung  das  Aeussere 
und  das  Innere  zusammentrifft,  wird  durch  die  symbolische  Unterscheidung 
der  Materie  und  Form  nicht  bezeichnet;  denn  nicht  todte  Materie  ist's,  was 
die  Sinne  geben;  und  was  der  innere  Sinn  sich  zueignet,  d.  h.  nach  inneren 
Kräften  und  Gesetzen  in  sich  verwandelt,  drückt  das  grobe  Töpferwort 
Form  nicht  aus." 

In  ähnlicher  Weise  hat  dann  Beneke  sich  ausgesprochen;  so  „Er- 
kenntnisslehre'' 154  ff.;  Logik  I,  145  ff.;  Kant  40  ff.:  Materie  und  Form 
seien  Gleichnisse,  von  der  Aussen  weit  entlehnte  räumliche  Bilder,  welche 
gar  nicht  geeignet  seien,  auf  geistige  Processe  angewendet^zu  werden. 
Kant  treibe  hier  nicht  Wissenschaft,  sondern  Mythologie:  diese  besteht 
eben  in  der  Vertauschung  des  Bildes  mit  der  Sache. 

Bolliger,  Anti-Kant  188.  259—267.  387  ff.  führt  aus,  Kant  habe 
den  antiken  Dualismus  wiederholt.  (Aehnlich  auch  schon  Gruppe, 
Wendepunkt  1834.  157  ff.,  246  ff.,  353.  368.  413.)  „Seit  Empedokles  den 
unglücklichen  Weg  des  Dualismus  betrat,  ist  das  Uebel  nicht  wieder  aus- 
zurotten gewesen;  in  Logik,  Psychologie,  Ethik,  Metaphysik  macht  es  sich 
breit."  „Aber  das  Menschengeschlecht  hat  an  dualistischen  Phantasien 
ein    ganz  merkwürdiges  Wohlgefallen,   und    glaubt  damit  das  Erklärungs- 

Yaihinger,  Kant-Commentar.    IT.  5 


66  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

bedürfniss  zu  befriedigen.''  „Diesen  chroniscben  Dualismus,  resp.  die  chro- 
nische Krankheit  der  Unterscheidung  von  Stoff  und  Kraft  in  ihrem  ganzen 
historischen  Verlaufe  und  zumal  ihren  Nachwirkungen  bei  Kant  zu  be- 
leuchten",  die  kantischen  Gedanken  im  Lichte  der  Geschichte,  , unter  dem 
ganzen  Drucke  hereditärer  Belastung  darzustellen'',  „wäre  ein  ver- 
dienstliches Unternehmen".  „Für  Kant  hat  leider  der  antike  Dualismus, 
der  in  der  Geschichte  der  Philosophie  in  allen  möglichen  ziemlich  ungleich- 
artigen und  doch  immer  verwandten  Formen  wiederkehrt,  in  ungebrochener 
Kraft  fortbestanden.  £r  wiederholt  auf  dem  Boden  des  subjectiven  Idealismus 
den  dualistischen  Fehler  des  platonisch-aristotelischen  Objectivismus.  Auf 
dem  veränderten  Boden  entspricht  Kants  Ding  an  sich  durchaus  dem  Stoff- 
prinzip der  Alten,  entsprechen  seine  apriorischen  Vernunftformen  (Raum, 
Zeit  und  Kategorien)  den  Ideen  Piatons,  dem  Kraft-  oder  Formprincip  des 
Aristoteles,  den  Süvajietc  oder  dem  Xofo?  der  Stoiker.  Wie  das  Formprincip 
der  Alten  berufen  ist,  die  formlose  Materie  zu  gestalten  und  dadurch  die 
objective  Welt  hervorzubringen ,  so  müssen  Kants  Vernunftformen  das 
wesenlose  X  des  Dinges  an  sich,  von  dem  sich  wie  von  der  Materie  der 
Alten  kein  Was,  sondern  nur  ein  Dass  angeben  lässt,  bebrüten,  um 
so  die  geordnete  Phänomenal  weit  hervorzubringen.  Und  wie  es  bei  den 
Alten  discutirt  wurde,  ob  man  nicht  die  wesenlose  Materie,  das  (itj  ov  ganz 
entbehren  und  rein  aus  dem  Formprincip  die  Welt  deduciren  könne,  was 
z.  B.  der  Neuplatoniker  Porphyr  energisch  bejahte,  so  musste  unter  den 
Kantianern  bald  die  Frage  entstehen,  ob  man  nicht  das  inactive  (nicht  cau- 
sale)  und  darum  ganz  wesenlose  Ding  an  sich  wegwerfen  und  aus  blossen 
Formen  des  Geistes  die  Phänomenal  weit  arbeiten  könne.  So  könnte  man 
fast  Zug  für  Zug  eine  Parallele  zwischen  kantischem  und  antikem  Dualismas 
nachweisen.  Freilich  ist  der  dualistische  Objectivismus  doch  viel  ehr- 
würdiger als  sein  modernes  Gegenstück.  Wenn  der  göttliche  allmächtige 
Logos  eine  formlose  Materie  bebrüten  und  zu  dieser  geordneten  Welt  aus- 
gestalten soll,  so  ist  das  eine  zwar  falsche,  aber  doch  imposante  Vorstellung. 
Wenn  aber  die  armselige  reine  Vernunft,  welche  nicht  die  Heerschaaren 
göttlicher  Kräfte,  sondern  nur  leere  Formen  der  Sinnlichkeit  und  des  Ver- 
standes zu  ihren  Dienern  hat,  die  Rolle  des  göttlichen  Logos  übernimmt, 
so  ist  das  zur  In*thümlichkeit  auch  noch  ärmlich  und  beinahe  lächerlich.*" 
In  diesem  Sinne  nennt  B.  auch  187  Kants  „ Erkenntnissapparat "  einen  ^kos- 
mogonischen  Apparat". 

Diese  im  Allgemeinen  richtige  Darstellung  ist  jedoch  dahin  zu  corri- 
giren,  dass  dem  Materialprincip  der  Alten  bei  Kant  zunächst  nicht  die 
Dinge  an  sich ,  sondern  die  durch  dieselben  bewirkten  Empfindungen  ent- 
sprechen; in  diesem  Sinne  sagt  ja  auch  Kant  gegen  Eberhard  (W.  W. 
Ros.  III,  852):  „Die  Gegenstände  als  Dinge  an  sich  geben  den  Stoff  zu 
empirischen  Anschauungen,  aber  sie  sind  nicht  der  Stoff  derselben.'  Im 
Uebrigen  ist  die  Vergleichung  des  erkenntniss-theoretischen  Dualismus  mit 
dem  kosmologischen  ganz  richtig  und  belehrend;   das  chaotische  Sinnen- 


Der  Kantische  Dualismus  von  Form  und  Stoff.  67 

[R  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

material  bedarf  nach  Kant  eines  ausser  und  über  ihm  liegenden  ordnenden 
Princips,  durch  das  es  erst  zum  Kosmos  der  „Erfahrung"  wird.  In  ihm 
selbst  kann  nach  Kant  dies  Princip  nicht  liegen;  in  Bezug  auf  die  Welt 
hatte  Kant  in  seiner  „Naturgeschichte  des  Himmels''  den  Dualismus  über- 
wunden; aber  in  Bezug  auf  das  Erkennen  blieb  er  im  alten  Dualismus 
stecken  und  verhalf  demselben  zu  einer  neuen  Blüthe. 

Gegen  diesen  Kantischen  Dualismus  von  Form  und  Stoff  polemisirt 
nun  Bolliger  a.  a.  0.  259—267  weiterhin  noch  sehr  entschieden;  erfindet 
schon  in  den  Ausdrücken  dieser  Stelle  Unklarheiten  genug;  dieselbe  , leidet 
nicht  eben  an  übergrosser  Klarheit'' ;  und  er  schliesst  seine  einschneidende 
Kritik  mit  den  Worten:  „Wir  mögen  die  Sache  nehmen,  wie  wir  wollen,  so 
erweist  sich  die  Vorstellung  abgelöster  apriorischer  Formen  als  eine  Fiction, 
ja  selbst  für  eine  Fiction  zu  schlecht;  sie  können  nämlich  auch  nicht  einmal 
fingirt  werden.  Formen  und  Verhältnisse  irgend  welcher  Dinge  sind  an 
diese  selbst  gebunden.''  Er  findet  in  Kants  Formen  „absurde  metaphysische 
Dichtungen".  Aehnlich  Mc  Cosh  in  seinem  Criticism  ofthe  critical  philosophy 
19  ff.  In  ähnlicher  Weise  sind  diese  Kantischen  Grundbestimmungen  sehr  oft 
angegriffen  worden;  so  z.  B.  von  Lewes,  Gesch.  d.  Phil.  II,  513.  556  ff.,  wo 
besonders  gegen  die  Verwandlung  einer  rein  logischen  Trennung  in  eine  reale 
angekämpft  wird.  Vgl.  auch  Pfleiderer,  Eudäm.  41  ff.  111  über  die  „Arbeits- 
tbeilung"  zwischen  Form  und  Stoff.  Scharf  Ueberweg,  Logik  §  38:  „Der 
berechtigte  Gedanke,  dass  in  der  Wahrnehmung  ein  subjectives  und  ein 
objectives  Element  zu  unterscheiden  sei,  nahm  eine  höchst  unglück- 
liche und  ganz  von  der  Wahrheit  ablenkende  Wendung,  indem 
Kant  jenes  Element  die  Form,  dieses  den  Inhalt  der  Wahrnehmung  nannte." 
Treffend  ist  die  Tragweite  dieser  Voraussetzung  auch  geschildert  hei  Münz, 
Grundl.  d.  K.'schen  Erk.-Theorie ,  S.  35—55.  Scharfe  Kritik  auch  bei 
Spencer,  Psychol.  §  399,  und  neuerdings  bei  Avenarius,  Weltbegriff  (1891) 
S.  49  f.,  und  bei  Stumpf,  Psychol.  u.  Erk.-Theorie,  München  1891,  S.  17—29. 

Bemerkenswerthe  Gründe  gegen  die  Trennung  von  Form  und  Stoff 
bringt  auch  schon  Seile  (De  la  Realite  592  ff.)  und  im  Anschluss  an  ihn 
die  A.  D.  B.  107,  192—211.  Beides  lasse  sich  schlechterdings  nicht  trennen. 
Seile  und  die  A,  D.  B.  leugnen  nicht,  dass  der  subjective  und  der  objec- 
tive  Factor  zu  unterscheiden  seien,  und  dass  aus  beider  Verbindung  die 
wirkliche  Erfahrung  bestehe,  aber  sie  leugnen  die  Trennbarkeit  (ähnlich 
wie  später  Schleier  mach  er).  Man  erhalte  immer  nur  Producte,  nicht 
Educte,  um  chemisch  zu  reden;  z.  B.  der  Kaum  sei  immer  schon  ein 
Product  von  Subject  und  Object,  nicht  aber  ein  elementares  Educt.  — 
Dass  Stoff  ohne  Form ,  Form  ohne  Stoff  blosse  Abstractionen  seien ,  geben 
allerdings  neuere  Kantianer,  wie  Cohen  und  Caird  zu,  entfernen  sich  damit 
aber  auch  weit  von  Kant.  — 

Eine  Weiterbildung  der  Lehre,  allerdings  noch  in  engem  Zusammen- 
hang mit  Kant  selbst,  versuchte  schon  Reinhold,  dessen  berühmter  „Satz 
des  Bewusstseins"  sich  im  Wesentlichen   um  das  Verhällniss  von  Form  und 


68  §  1.    Einleitung. 

A  20. 6  34.  [R  32.  H  56.  K  72.] 

Stoff  der  Vorstellung  drehte.  Vgl.  dazu  Dilthey,  Arch.  f.  G.  d.  Phil.  II, 
602  ff.    Platner,  Aphor.  3.  A.  §  87.  124.  656  ff.  697. 

Von  Reinhold  beeinflusst,  hat  besonders  auch  Schiller  sich  viel  mit 
dem  Gegensatz  von  Form  und  Stoff  abgegeben.  Er  steht  hierin  zuerst 
unter  dem  Einfluss  Reinhold 's;  vgl.  Briefwechsel  mit  Körner,  II,  11.  Später 
hat  Schiller,  wohl  unter  dem  Einfluss  Fichte's,  den  Gegensatz  von  Stoff- 
trieb und  Form  trieb  aufgestellt. 

Die  weitere  Rolle  des  Gegensatzes  von  Stoff  und  Form  in  der  Geschichte 
der  nachkantischen  Philosophie  kann  hier  nicht  verfolgt  werden.  Es  genagt 
der  Hinweis,  dass  Fichte  (im  Anschluss  an  Beck  und  Maimon,  welche  den 
absoluten  Gegensatz  in  einen  relativen  verwandelten,  und  zugleich  unter 
Ausnützung  der  Kantischen  Idee  der  intellectuellen ,  d.  h.  ohne  Affection 
stattfindenden  Anschauung)  den  Gegensatz  insofern  los  zu  werden  suchte, 
als  er  allen  Stoff  in  Formhandlungen  des  Subjects  aufzulösen  suchte.  Er 
löste  gewissermassen  alles  Materielle  in  Formelles  auf,  wie  manche  Nach- 
folger Piatons  und  Aristoteles'  alles  Potentielle  in  Actuelles.  (Vgl.  Busse, 
Fichte  I,  100  ff.;  ferner  Baader,  W.  W.  XI,  60.)  In  diesem  Sinne  sagt 
Riehl,  Kr.  I,  200.  324.  345.  400.  418.  433.  446:  „Die  Methode  Kants  besteht 
in  der  durchgeführten  Trennung  der  Form  vom  Inhalte  des  Erkennens'. 
Diese  Trennung  wieder  aufgehoben  zu  haben,  sei  der  Hauptfehler  der 
Nachkantianer:  „Das  stoffsetzende  und  weltproducirende  Denken  blieb  den 
nachfolgenden  Philosophen  zu  erfinden  überlassen.'' 

Kant  selbst  hat  sich,  natürlich  unter  versteckter  Beziehung  auf 
Fichte,  zugleich  aber  doch  auch  offenbar  von  demselben  beeinflusst,  über 
diese  Versuche  in  einer  äusserst  interessanten  Stelle  seines  Opus 
Postumum  (Reicke  XXI,  366)  noch  folgendermassen  ausgesprochen:  „Wenn 
die  Grenze  der  Transscendentalphilosophie  überschritten  wird,  so  wird  das 
angemasste  Princip  transscendent ,  d.  h.  das  Object  wird  ein  Unding,  und 
der  Begriff  von  ihm  widerspricht  sich  selbst;  denn  er  überschreitet  die 
Grenzlinie  alles  Wissens:  das  ausgesprochene  Wort  ist  ohne  Sinn.  —  Hier 
müssen  wir  uns  nun  erinnern,  dass  wir  den  endlichen,  nicht  den  unendlichen 
Geist  vor  uns  haben.  Der  endliche  Geist  ist  derjenige,  der  nicht  anders 
als  nur  durch  Leiden  thätig  wird,  nur  durch  Schranken  zum  Absoluten 
gelangt,  nur,  insofern  er  Stoff  empföngt,  handelt  und  bildet.  Ein  solcher 
Geist  wird  also  mit  dem  Triebe  nach  Form  oder  nach  dem  Absoluten 
einen  Trieb  nach  Stoff  oder  nach  Schranken  verbinden,  als  welche  die 
Bedingungen  sind,  ohne  welche  er  den  ersten  Trieb  weder  haben  noch  be- 
friedigen könnte.  Inwiefern  in  demselben  Wesen  zwei  so  entgegengesetzte 
Tendenzen  zusammen  bestehen  können,  ist  eine  Aufgabe,  die  zwar  den  Meta- 
physiker,  aber  nicht  den  Transscendentalphilosophen  in  Verlegenheit  setzen 
kann.  —  Dieser  gibt  sich  keineswegs  dafür  aus,  die  Möglichkeit  der  Dinge 
zu  erklären,  sondern  begnügt  sich  die  Kenntnisse  festzusetzen,  aus  welchen 
die  Möglichkeit  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  begriffen  wird.  Und  da 
nun  Erfahrung  ebenso  wenig  ohne  jene  Entgegensetzung,  als  ohne  absolute 


Die  Form  als  das  ordnende  Princip.  g9 

[R  32.  H  56.  K  72.]  A  20.  B  34* 

Einheit  desselben  möglich  wäre,  so  stellt  er  beide  Begriffe  mit  vollkommener 
Befngniss  als  gleich  nothwendige  Bedingungen  der  Erfahrung  auf,  ohne 
sich  weiter  um  ihre  Vereinbarkeit  zu  kümmern/  — 

Im  Gegensatz  zu  jener  dogmatischen  Weiterbildung  des  Gegensatzes 
von  Form  und  Stoff  wird  neuerdings  eine  kritische  Vertiefung  desselben 
angestrebt,  so  schon  (im  Anschluss  an  Herbart)  von  Lotze  (z.  B.  Logik 
§  326.  334  u.  ö.),  so  von  Wundt,  System  1889,  S.  109  ff.  240  ff.  Logik, 
I,  458  ff. ;  und  vorher  schon  von  Schuppe,  Erk.  Logik  S.  15  ff.,  Glogau, 
Abriss,  I,  77  ff.  262.  273.    Helmholtz,  Thats.  i.  d.  W.  14  f. 

Das,  worin  sich  die  Empflndangen  allein  ordnen  können,  kann 
nieht  selbst  wieder  Empfindung  sein.  Zunächst  könnte  hier  der  Aus- 
druck auffallen:  «Die  Empfindungen  ordnen  sich*.  Man  könnte  darin 
eine  gewisse  Selbständigkeit  der  Empfindungen  erblicken  und  das  so  aus- 
legen, als  ob  die  Empfindungen  in  sich  selbst  die  Tendenz  zur  Anordnung 
hätten.  In  diesem  Sinne  scheint  auch  in  der  That  Cohen  (1.  A.  44  f.,  2.  A. 
154)  diese  reflexive  Ausdrucksweise  auszubeuten:  „Kant  nennt  Form  der 
Erscheinung  das  Verhältniss,  unter  welchem  das  Mannigfaltige  der  Em- 
pfindung in  unserer  Anschauung  sich  zur  Erscheinung  ordnet.'^  Er  spricht 
von  einer  „sich  vollziehenden  Ordnung*^.  Auf  diese  reflexive  Ausdrucks- 
weise ist  aber  darum  kein  besonderer  Ton  zu  legen,  weil  sie  überall  sonst 
durch  die  passive  Ausdrucksweise  von  Kant  selbst  ersetzt  wird:  es  heisst 
ja  gleich  darauf  nicht,  dass  die  Empfindungen  sich  selbst  in  gewisse  Form 
stellen ,  sondern  dass  sie  „gestellt  werden '^ ;  auch  heisst  es  ausdrücklich 
A86:  „Die  Erfahrung  enthält  zwei  sehr  ungleichartige  Elemente,  eine  Ma- 
terie zur  Erkenntniss  aus  den  Sinnen  und  eine  gewisse  Form,  sie  zu 
ordnen'.  Die  Form  selbst  ist  also  das  ordnende  Princip;  die 
Formen  sind,  wie  Cohen  S.  155  selbst  zugeben  muss,  „die  ordnenden 
Elemente". 

Das  ordnende  Princip  also  kann  nicht  in  den  Empfindungen 
selbst  liegen  —  dies  besagt  dieser  bedeutungsvolle  Vordersatz,  der  in  dem 
darauf  folgenden  Schlüsse  die  entscheidende  Rolle  spielt.  In  den  Empfin- 
dungen selbst  liege  kein  Grund  dafür  vor,  dass  sie  sich  uns  als  geordnete, 
räumlich  und  zeitlich  vertheilte,  darstellen;  das  liege  nicht  in  ihnen  als 
solchen.     Warum  nicht?    Das  sagt  Kant  nicht  direct. 

Auch  Cohen  hat  sich  diese  Frage  aufgeworfen  und  beantwortet  (1.  A. 
43,  2.  A.  152):  „es  könnte  der  Satz  des  begründenden  Satzes  der  sein,  dass 
die  Form,  weil  in  ihr  das  Mannigfaltige  der  Empfindung  geordnet  wird, 
nicht  selbst  Empfindung,  d.  h.  nicht  selbst  Wirkung  des  afficirenden  Gegen- 
standes auf  die  Sinnlichkeit  sein  könne.*  Aber  diese  —  natürliche  —  Deutung 
genügt  ihm  doch  nicht,  weil  sonst  „der  Form  der  Verdacht  des  ordnenden 
Organes  bliebe'^.  In  der  2.  Aufl.  seines  Buches  S.  155  gibt  er  dann  darauf 
eine  andere  „transscendentale'^  Antwort,  welche,  wie  so  Vieles  bei  Cohen,  sehr 
schwer  verständlich  ist.  Da  wir  hier  einen  Commentar  zu  Kant,  nicht  zu 
Cohen  schreiben,  können  wir  auf  die  Stelle  nicht  eingehen,  sondern  kehren 


70  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  84.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

zu   Kant   selbst  zurück:    Warum    also   kann    das   formale   Verhältniss   der 
Empfindungen  nicht  selbst  Empfindung  sein? 

Man  könnte  zunächst  meinen,  der  Satz  ergebe  sich  analytisch  aus  der 
vorhin  getrofifenen  Unterscheidung  zwischen  Materie  und  Form  der  Er- 
scheinung. Allein  man  kann  diese  Unterscheidung  als  eine  rein  formale 
sehr  wohl  zugeben,  ohne  darum  die  Consequenz  daraus  zu  ziehen,  dass  die 
Form  der  Erscheinung  nicht  selbst  auch  in  der  Empfindung  mitgegeben 
sein  kann.  Es  liegen  in  diesem  letzteren  Satze  zwei  Behauptungen  mehr, 
als  in  jener  Unterscheidung  von  Materie  und  Form.  Erstens:  die  Be- 
hauptung, dass  jene  beiden  Seiten  der  Erscheinung,  die  Materie  und  die 
Form,  sich  nicht  bloss  logisch  unterscheiden,  sondern  auch  realiter  trennen 
lassen.  Zweitens:  dass  diese  trennbaren  Elemente  auch  einen  verschiedenen 
Ursprung  haben ,  resp.  dass  die  Form  nicht  denselben  Ursprung  haben 
könne,  wie  die  Materie. 

Was  die  erste  Behauptung  betrifft,  so  kann  dieselbe  allerdings  auch 
schon  als  in  dem  vorigen  Satz  miteingeschlossen  aufgefasst  werden.  Es  ist 
ja  in  dem  vorigen  Satze  als  solchem  nicht  gesagt,  ob  die  Unterscheidung 
von  Form  und  Inhalt  eine  bloss  logische  oder  eine  reale  sein  solle.  Dass 
wir  nun  an  der  Erscheinung  jene  beiden  Seiten  unterscheiden  können, 
bestreitet  Niemand;  wohl  aber  ist  es  zweifelhaft,  ob  wir  denn  berechtigt 
seien,  die  logische  Unterscheidung  in  eine  reale  Trennung,  die  ä^aipssi;  in 
einen  x^piafj.o<;  zu  verwandeln.  Auf  diese  sachliche  Frage  kann  hier  nicht 
näher  eingegangen  werden;  es  genüge  die  Bemerkung,  dass  jene  reale 
Trennbarkeit  der  beiden  Seiten  auch  schon  vor  Kant  behauptet  wurde;  sie 
liegt  z.  B.  bei  Cartesius  und  Malebranche  offen  vor;  letzterer  z.  B.  unter* 
scheidet  ganz  scharf  zwischen  den  beiden ,  übrigens  gemeinsam  von  Gott 
gegebenen  Elementen :  der  reinen  Idee  der  Ausdehnung  und  der  verworrenen 
Sinnesempfindung.  Und  die  nachkantische  Philosophie,  ja  auch  die  neuere 
Sinnesphysiologie  hat  diese  reale  Trennbarkeit  fast  allgemein  aoceptirt:  es 
gilt  meistens  als  selbstverständlich ,  dass  zwischen  den  rein  qualitativen 
Empfindungsinhalten  und  dem  quantitativen  Factor  nicht  bloss  streng  zu 
unterscheiden  sei,  sondern  dass  auch  beide  sehr  wohl  von  einander  realiter 
trennbar  seien,  ja  ursprünglich  nichts  mit  einander  zu  thun  hätten.  Es  ist 
wohl  die  Autorität  Kants  gewesen ,  welche  diese  Behauptung  so  ohne  Wei- 
teres als  selbstverständliche  Voraussetzung  erscheinen  Hess.  Mit  Recht  hat 
eine  andere  Richtung,  welche  von  Stumpf  am  consequentesten  ausgebildet 
worden  ist,  diese  Voraussetzung  angezweifelt,  und  jene  Trennbarkeit  ge- 
leugnet. Dort  gilt  als  selbstverständlich,  dass  sowohl  der  Raum  ohne  Em* 
pfindungsqualitäten,  als  Empfindungsqualitäten  ohne  Raum  vorstellbar  seien, 
und  dass,  selbst  wenn  beides  in  unserem  Bewusstsein  nicht  mehr  getrennt 
vorgestellt  werden  könnte,  besonders  wenn  wir  die  Empfindungen  nicht 
raumlos  vorstellen  können,  weil  die  nackten  Empfindungen  gleichsam  sogleich 
nach  der  Geburt  in  die  Windeln  von  Raum  und  Zeit  gelegt  werden,  doch 
beides  ursprünglich  in  der  Psyche    getrennt  gewesen  sei.     Insbesondere  die 


Trennbarkeit  von  Form  und  Stoff.  71 

[R  82.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

rein  qualitative  Natur  der  Empfindungen  als  solcher  gilt  dabei  als  selbst- 
verständlich. Was  jene  psychologische  Richtung  dagegen  —  mit  Grund  — 
einwendet,  dies  anzuführen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Hier  ist  es  bloss 
unsere  Aufgabe,  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  diese  gänzlich  un- 
bewiesene Prämisse  bei  Kant  hier  (aber  besonders  auch  wieder  unten  im 
ersten  Raumargument)  eine  auschlaggebende  Rolle  spielt:  „Die  Empfindungen 
(der  Inhalt)  und  das  Räumliche  (die  Form)  sind  realiter  von  einander  ab- 
trennbar; die  rein  qualitativen  Empfindungen  sind  ohne  Raum  vorstellbar, 
und  können  ohne  Raum  in  uns  factisch  eine  reale  psychische  Existenz  • 
fuhren.*^  Kant  hat  dieser  Voraussetzung  einen  besonders  kräftigen  Ausdruck 
verliehen  an  einer  in  der  2.  Aufl.  erst  eingeschobenen  Stelle  über  die  Ante- 
eipationen  der  Wahrnehmung,  B  207,  wo  er  sagt:  „Da  nun  Empfindung  an 
sich  gar  keine  objective  Vorstellung  ist  (vgl.  B  45)  und  in  ihr  weder  die 
Anschauung  von  Raum  noch  von  der  Zeit  angetroffen  wird ,  so  wird  ihr 
zwar  keine  extensive,  aber  doch  eine  intensive  Grösse  zukommen.''  Hiei*in 
haben  wir  ganz  deutlich  die  Prämisse:  Empfindungen  als  solche  sind 
schlechthin  unräumlich.  Dazu  tritt  nun  als  ergänzendes  Gegenstück 
die  weitere  Prämisse:  Die  Raumanschauung  als  solche  hat  schlechter- 
dings nichts  mit  Empfindung  zu  thun. 

Dass  nun  nämlich  die  Form  auch  einen  anderen  Ursprung  habe, 
als  die  rein  qualitativen  Empfindungen,  das  ist  die  zweite  Behauptung, 
welche  in  unserem  Satze  liegt.  An  sich  Hesse  sich  ja  auch  folgendes  Ver- 
hältniss  denken:  die  Materie  der  Erscheinung  und  ihre  Form  werden  uns 
aus  derselben  Quelle,  auf  demselben  Wege  gegeben.  Dies  Hesse  sich  immer 
noch  mit  der  vorigen  Behauptung  vereinigen,  dass  Form  und  Inhalt  realiter 
trennbar  sind.  Aber  dieser  an  sich  denkbare  Fall  wird  nun  durch  diese 
zweit«  Behauptung  ausgeschlossen,  dass  die  Form  der  Empfindung  nicht 
selbst  wiederum  Empfindung  sein  könne,  d.  h.  also  einen  anderen  Ursprung 
haben  müsse,  als  die  Empfindung.  Diese  Behauptung,  so  weitgehend,  so 
weittragend  sie  ist,  ist  nun  aber  von  Kant  in  keiner  Weise  bewiesen  worden. 
Er  führt  sie  einfach  ein,  als  ob  sie  sich  von  selbst  verstände.  Sie  ist 
eine  petitio  principii 

Diese  Prämisse,  wird  von  Kant  von  Anfang  als  ganz  selbstverständlich 
eingeführt.  Schon  die  Schrift  von  1768  schliesst  mit  den  Worten:  „Der 
absolute  Raum  ist  kein  Gegenstand  einer  äusseren  Empfindung",  und  dem- 
entsprechend sagt  die  Dissertation  von  1770  einfach  (§  4):  Kam  per  fortnam 
seu  speciem  objecta  sensus  non  feriunt  ^',  ideoque  ut  varia  objecti 
8en8um  afficientia  in  totum  aliquid  repraesentationis  coalescant,  opus  est  in- 
terna mentia  principio^  per  quod  varia  illa  secundum  stabiles  et  innatas  legcs 
speciem  quandam   induant,     Aebnlich  §  12  in.;    §  15  A.;   endlich  §  15  fin. : 


*  Wie  sehr  in  diesem  Satze  die  alte  Scholastik  nacliklingt,  ist  unmittelbar 
einleuchtend;  auch  der  Scholastik  ist  die  forma  =  sjyecies  nichts  Sinnliches.  Vgl. 
über  den  Satz  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  176  ff.  295. 


72  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  K  72.] 

Sensatio  enim  materiam  dat,  non  fortnam  cogniiionis  humanae. 
Beidemal  wird  diese  Prämisse  als  selbstverständlich  zum  Beweise  verwendet, 
ohne  jeden  Beweis,  ohne  jeden  Gedanken,  dass  das  Gegentheil  der  Behauptung 
ebenso  stattfinden  kann.  An  der  vorliegenden  Stelle  der  Krit.  ist  diese 
überaus  wichtige  Prämisse  nicht  einmal  so  deutlich  und  selbständig  hervor- 
gehoben, wie  in  der  Dissertation ;  sie  wird  hier  ganz  stillschweigend  ein- 
geführt und  beherrscht  unmerklich  die  ganze  Argumentation.  Dieselbe 
spielt,  wie  wir  sehen  werden,  besonders  im  ersten  Raumargument  wieder 
eine  Hauptrolle,  bildet  aber  auch  dort  wieder  ein  ganz  selbstverständliches 
Glied  der  Argumentation.  An  anderen  Stellen  wird  die  Prämisse  deutlicher 
herausgehoben,  so  z.  B.  Reflex.  II,  N.  278.  334.  336.  403;  ferner  z.  B. 
Anthrop.  §  7.  Vgl.  Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  496.  Vgl.  auch  Gomm.  I,  207 
und  die  daselbst  angeführten  Stellen  von  Meilin,  Jacob,  Schmid,  Reuss; 
vgl.  auch  Villers  (bei  Rink  20;  Phil,  de  Kant  I,  224);  alle  diese  bedienen 
sich  der  Argumentation,  der  Raum  könne  schon  darum  keine  empiiische 
Vorstellung  sein,  weil  der  Raum  doch  nichts  sei,  das  auf  die  Sinne  wirken 
könne ;  es  fehle  also  an  einer  entsprechenden  objectiven  Impression ;  es  lasse 
sich  doch  nicht  denken ,  dass  der  Raum  als  solcher  die  Sinne  afßciren 
könnte  (wobei  aber  schon  eine  unnatürliche  Trennung  der  physischen  Dinge 
von  ihrem  Räume  vorgenommen  ist;  wenn  man  diese  Trennung  nicht  erst 
vollzieht,  verliert  jene  Argumentation  ihre  Bedeutung). 

Besonders  oft  hat  Kant  die  Prämisse  wiederholt  in  dem  Opus  Postufnum, 
XIX,  569  ff.  614-621.  623.  627.  628;  XX,  91;  XXI,  115.  339.  356.  360. 
535.  538  ff.  543  ff.  550.  553.  558.  567-569.  679—582.  585.  595.  603.  In 
allen  möglichen  Variationen  wird  da  die  These  wiederholt:  Raum  und 
Zeit  sind  nicht  Gegenstände  der  Anschauung,  sondern  Anschau- 
ungen selbst';  sie  sind  nicht  Entia  per  se^  nichts  Existirendes,  nichts,  was 
unseren  Sinn  afficiren  kann,  nichts  Empfindbares,  kein  Sinnenobject ,  daher 
auch  keine  Objecta  apprehensionis ,  keine  apprehensibeln  Gegenstände;  eben- 
dah^  auch  keine  abgeleitete  Anschauungen,  sondern  ursprüngliche,  und 
Acte  unserer  Vorstellungsthätigkeit,  Geschöpfe  unseres  Vorstellungsverraögens, 
also  nicht  von  aussen  gegeben,  sondern  von  innen  u.  s.  w.  Immer  wird 
wiederholt:  Raum  und  Zeit  sind  kein  Empfindungsinhalt,  sondern  Formen 
der  Anschauung.  In  diesem  Sinne  spricht  Kant  daselbst  XX,  113  von  dem 
spatium  insensibilef  d.  h.  von  dem  Räume,  «von  welchem  keine  Wahr- 
nehmung möglich  ist".     (Vgl.  oben  S.  55.) 

Diese  Stellen  werfen  auch  Licht  auf  einen  bis  jetzt  nicht  beachteten 
Passus  der  Kr.  d.  r.  V.  selbst,  A  291  =  B  347,   wo  es  heisst:    »Die  blosse 

'  Wenn  dann  doch  wieder  daselbst  an  einigen  Stellen  der  Raum  ein  Gegen- 
stand der  äusseren  Anschauung  genannt  wird,  so  ist  da  Gegenstand  bald  = 
immanenter  Inhalt  der  Vorstellung  (vgl.  oben  S.  34,  so  XIX,  569.  571 ;  XXI,  360>; 
bald,  entsprechend  der  oben  im  Excurs  besprochenen  Verselbständigung  der  empiri- 
schen Dinge,  der  der  empirischen  Vorstellung  gegenüberstehende  Erscheinungs- 
raum; so  XIX,  76  N;  XXT,  110.    Vgl.  hiezu  Krause,  Kant  wider  Fischer  S.  56  f. 


Kants  Prämisse:  „Sensatio  materiam  dat,  non  formam".  73 

[B  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

Form  der  Anschauung  ohne  Substanz  ist  an  sich  kein  Gegenstand,  sondern 
die  bloss  formale  Bedingung  desselben  (als  Erscheinung),  wie  der  reine  Baum 
und  die  reine  Zeit,  die  zwar  Etwas  sind,  als  Formen  anzuschauen,  aber 
selbst  keine  Gegenstände  sind,  die  angeschauet  werden/  Solche  „leere  An- 
schauung ohne  Gegenstand"  nennt  er  daselbst  dann  (wie  schon  in  der  Dis- 
sertation §  14,  6)  en8  imaginarium.  Einem  solchen  geht  aber  die  Haupt- 
eigenschaft eines  ms  per  ae  ab  —  zu  wirken  und  in  uns  Empfindungen 
hervorzurufen.  In  diesem  Sinne  sind  auch  die  Anmerkungen  zur  zweiten 
Antithesis  A  429  ff.  =  B  457  ff.  gemeint,  woselbst  es  auch  heisst,  der  Raum 
sei  9 die  Form  der  äusseren  Anschauung,  nicht  aber  ein  Gegenstand,  der 
äusserlich  angeschaut  werden  kann"  ^ 

In  dieser  Prämisse  haben  wir  somit  eine  sehr  verhängnissvolle  petitio 
principii  erkannt  (so  auch  Adickes  68.  71).  Diese  Prämisse  versteht  sich 
nun  ja  aber  keineswegs  von  selbst.  Denn  zugleich  mit  und  an  den  Empfin- 
dungen könnten  uns  ja  formale  Anordnungen  derselben  direct  oder  indirect 
mitgegeben  werden.  Wenn  das  Object  die  Kraft  hat,  durch  seine  Einwirkung 
auf  uns  in  uns  jene  qualitativen  Empfindungen  hervorzurufen,  warum  soll 
es  denn  nicht  auch  die  Kraft  haben,  durch  dieselbe  Affection  uns  Formal- 
elemente zu  geben?'  Und  wenn  unsere  Sinnlichkeit  die  Fähigkeit  besitzt, 
uns  in  Folge  jener  Einwirkungen  qualitative  Empfindungen  zu  verschaffen, 
warum  soll  dann  derselben  die  Fähigkeit  versagt  sein,  uns  in  Folge  der- 
selben Ursache  Eindrücke  quantitativer,  formaler  Natur  zu  verschaffen? 
Mit  den  materialen  Empfindungen  kann  uns  also  wohl  zugleich  ihre 
formale  Ordnung  gegeben  werden. 

Ein  Kantianer  könnte  nun  versucht  sein,  darauf  zu  erwidern:  gut, 
damit  ist  aber  zugegeben,  dass  diese  Ordnung  nicht  selbst  mit  den  Empfin- 

'  Diesen  Gedanken  hatte  K.  Fischer,  2.  A.  338  ff.  ausführlich  entwickelt: 
der  Raum  kann  kein  Gegenstand  unserer  äusseren  Anschauung  sein,  der  uns  ge- 
geben wäre;  dabei  war  ihm  die  seltsame  Wendung  entschlüpft:  „Wie  kann  uns 
überhaupt  der  Raum  gegeben  sein?  Er  müsste  doch  wohl  von  aussen  gegeben 
sein?  Also  mflsste  er  ausser  uns  sein,  also  in  einem  anderen  Orte,  in  einem 
anderen  Räume  als  wir;  und  in  der  That,  nichts  Ungereimteres  lässt  sich  sagen. '^ 
Gegen  die  erste  Hälfte  des  Satzes  wendete  Trendelenburg  (Beitr.  256)  ein,  der 
Raum  sei  uns  nach  Kant  ja  doch  gegeben ,  nämlich  von  innen ;  gegen  die  zweite 
Hälfte,  dieser  Schluss  sei  „dialektisch  und  leer*  und  sei  unkantisch.  Vgl.  dazu 
Fischer,  2.  A.  335;  Trendelenburgs  Entgegnung  S.  30  ff.;  Quäbiker,  Phil.  Mon. 
IV,  247;  Bratuschek,  ib.  V,  286.  290.  322;  Grapengiesser  78;  Cohen,  Zeitschr.  f. 
Volk.  VII,  275  f.  In  der  neuen  Auflage  (vgl.  S.  340)  hat  K.  Fischer  den  ominösen 
Passus  weggelassen. 

*  Denselben  Einwand,  nur  in  umgekehrter  Fassung,  erhob  schon  Pistorius 
in  der  A.  D.  B.  88,  I,  105  gegen  Schmid,  welcher  in  seinem  Wörterb.  Anh.  627 
einen  Hauptgrund  für  die  Apriorität  des  Raumes  in  dem  Umstände  fand,  dass  sich 
aus  dem  Einfluss  des  Object«  an  sich  selbst  auf  die  Sinnlichkeit  die  Raumvorstellung 
nicht  erklären  lasse.  Das  sei  zu  viel  bewiesen ;  denn  dieselbe  Unerklärbarkeit  treffe 
ja  auch  die  Empfindungen. 


74  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  84.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

düngen  identisch  ist,  also  nicht  Empfindung  ist,  also,  da  Empfindang  = 
Wirkung  eines  Gegenstandes  auf  uns  ist,  auch  nicht  durch  Gegenstände 
in  uns  gewirkt  ist,  also  aus  uns  selbst  stammt. 

Wollte  ein  Kantianer  dies  im  Ernste  sagen,  und  meinen,  Kant  habe 
das  gemeint  in  diesem  Satze,  dann  müssten  wir  Beiden,  dem  Kantianer  und 
ihrem  Meister,  eine  schlimme  Quaternio  terminorum  vorwerfen.  Denn 
dann  würde  mit  dem  Ausdrucke  ,, Empfindung*'  ein  Doppelspiel  getrieben 
werden.  Empfindung  wäre  dann  1)  so  viel  als:  alles  dasjenige,  was  ein 
Gegenstand  in  uns  wirkt,  was  die  Gegenstände  durch  ihre  Affection  in  uns 
setzen,  der  gesammte  Yorstellungsgehalt ,  der  uns  durch  jene  Affection  von 
aussen  gegeben  wird.  Empfindung  wäre  aber  auch  2)  so  viel  als  nur  das- 
jenige von  unseren  empirischen  Vorstellungen,  was  übrig  bleibt,  wenn  ich 
die  Form  davon  wegnehme,  wenn  ich  von  dieser  Form  abstrahire  —  das 
Material.  Wenn  ich  nun  sage:  Was  die  Empfindungen  ordnet,  kann  nicht 
selbst  Empfindung  sein,  dann  nehme  ich  Empfindung  im  zweiten  Sinne, 
und  sage  eben  nichts  weiter  als:  wenn  ich  in  meinen  empirischen  Vor- 
stellungen zwischen  Material  und  Form  unterscheide  und  wenn  ich  die 
materialen  Elemente  derselben  „Empfindungen"  nenne,  dann  sind  die 
Formen  nicht  auch  Empfindungen  in  diesem  engeren  Sinne.  Was  sie  sonst 
seien,  darüber  wird  damit  nichts  präjudicirt ;  vor  allem  darüber,  ob  dieser 
Ordnungsfactor  von  aussen  stammt  oder  von  innen,  wird  damit  nicht  das 
Geringste  ausgesagt.  Wenn  ich  aber  sage:  Was  die  Empfindungen  ordnet, 
kann  nicht  selbst  Empfindung  sein  und  stammt  daher  auch  nicht  von 
aussen,  so  gleite  ich  damit  hinterrücks  in  die  erste  Bedeutung  von 
Empfindung  hinüber  und  erschleiche  dadurch  jenes  Resultat:  ich  begehe 
also  den  Fehler  einer  förmlichen  Quaternio  terminorum. 

Man  mag  also  die  Sache  betrachten,  wie  man  will  —  wir  haben  es 
hier  mit  einer  petitio  principii  zu  thun.  Der  Kantleser  steht  hier  an  einem 
wichtigen  Scheidewege:  gibt  er  Kant  diese  Prämisse  ebenso  leicht  zu,  als 
dieser  sie  macht,  so  entfernt  er  sich  mit  jedem  Schritte  mehr  von  dem 
natürlichen  Wege.  Der  Abwege  sind  es  aber  immer  mehr  als  des  richtigen 
Weges,  und  so  führt  jene  verhängnissvolle  Prämisse  zu  allen  jenen  Irr- 
thümern,  in  welche  die  von  Kant  direct  und  indirect  beeinflusste  Raum- 
theorie verfallen  ist.  Denn  jene  Prämisse  liegt  auch  solchen  Raumtheorien 
zu  Grunde,  welche  im  Uebrigen  von  der  Kantischen  differiren,  aber  in  diesem 
Hauptpunkte  doch  von  derselben  beeinflusst  sind,  und  dies  gilt  fast  von 
allen  neueren  Raumtheorien.  So  ist  es  z.  B.  sogleich  mit  Herbart.  Wäh- 
rend dieser  sonst  an  der  Kantischen  Philosophie  überhaupt  und  besonders 
an  seiner  Raumtheorie  scharfe  Kritik  übte,  hat  er  diese  Prämisse  ungeprüft 
hingenommen ,  ja  sie  oft  ausdrücklich  gelobt.  So  sagt  er  z.  B.  W.  AV. 
III,  119  (vgl.  I,  65—68.  71.  175.  184.  190;  III,  12.  129;  IV,  21  ff.  68.  316»: 
„Die  sinnlichen  Gegenstände  werden  uns  bekannt  durch  Empfindungen;  aber 
die  für  uns  höchst  wichtige  A.nordnung  dieser  Gegenstände,  dass  sie  Raum 
und  Zeit  theils  einnehmen,   theils  zwischen  sich  leer  lassen,  findet  man  in 


Herbart  und  Schopenhauer  für  Kants  Prämisse.  75 

[R  32.  H  56,  E  72.]  A  20.  B  34. 

keiner  EmpfinduDg ,  sobald  man  das  Empfundene  analysirt  und  es  in  seine 
kleinsten  Tbeile  hinein  zu  verfolgen  sucht.  .  .  .  Diesen  Gedanken  (zwar  nicht 
deutlich  ausgesprochen  und  mit  grossen  Irrthümern  amalgamirt)  Hess  Kant 
einwirken  auf  die  alte  Ontologie.  Sogleich  treten  Raum  und  Zeit,  die  Be- 
stimmungen des  Simultanen  und  Successiven,  welche  ziemlich  weit  nach 
hinten,  unter  den  relativen  Prädikaten  ihren  Platz  gehabt  hatten,  an  die 
Spitze  der  ganzen  Reihe.  Sie  erscheinen  nun  als  ein  Zusatz  zur  Empfin- 
dung, der,  da  er  in  ihr  nicht  gegeben  werde,  also  nicht  mit  ihr  von  aussen 
komme,  doch  aber  unleugbar  vorhanden  sei,  nothwendig  unabhängig  von 
ihr  und  von  allen  ihren  äusseren  Bedingungen  sein  müsse.  Kam  er  nun 
nicht  von  aussen,  so  musste  er  ja  wohl  liegen  im  Inneren.  Die  Sinnlichkeit 
musste  besondere  Formen  der  Auffassung  in  sich  tragen,  nach  denen  alles, 
was  empfunden  werden  sollte,  sich  fügen  und  schieben  mochte,  wenn  man 
schon  nicht  begrifif,  wie  es  dazu  kommen  könne. '^ 

Wenn  also  auch  Herbart  am  Schluss  die  Art  und  Weise  bemängelt, 
wie  Kant  jene  Prämisse  verwendet  habe,  so  billigt  er  doch  eben  ausdrück- 
lich jene  Prämisse  selbst,  und  der  Kantianer  Cohen  (Erf.  1.  A.  89,  2.  A. 
205.  260)  lobt  daher  auch  diese  „treffenden  Worte'',  in  denen  Herbart  den 
^wichtigen  Gedanken  von  der  noth wendigen  Einschränkung  des  Empfindungs- 
inhaltes in  lehrsamer  Deutlichkeit  ausgesprochen  habe*'.  Cohen  sucht  auch 
daselbst  2.  A.  200—209  die  K.'sche  Ansicht  aufs  Neue  zu  begründen,  dass 
in  der  Empfindung  als  solcher  „die  Anschauung  nicht  enthalten  sei^,  dass 
man  die  Raumanschauung  „nicht  zur  Empfindung  nivelliren  dürfe'',  dass, 
.wenn  die  Empfindungen  zum  Räume  reifen  sollen",  es  dazu  eines  ,. neuen*', 
.ursprünglichen"  Elementes  bedürfe,  das  nicht  weiter  ableitbar  ist  —  eine 
Ansicht,  welche  Cohen  daselbst  nicht  ungeschickt  mit  der  modernen  empiristi- 
schen  Theorie,  mit  dem  „genetischen  Gesichtspunkt"  zu  versöhnen  sucht. 

Sehr  entschieden  hat  auch  Schopenhauer  diese  Prämisse  ausgesprochen, 
besonders  in  dem  bekannten  §  21  seiner  Schrift  über  den  Satz  vom  Grunde. 
„Die  Empfindung  ist  selbst  in  den  edelsten  Sinnesorganen  ein  an  sich  selbst 
stets  subjectives  Gefühl,  welches  als  solches  gar  nichts  Objectives,  also  nichts 
einer  Anschauung  Aehnliches  enthalten  kann."  „Die  Empfindung  in  der 
Hand,  auch  bei  verschiedener  Berührung  und  Lage,  ist  etwas  viel  zu  Ein- 
förmiges und  an  Datis  Aermliches,  als  dass  es  möglich  wäre,  daraus  die 
Vorstellung  des  Raumes  zu  construiren."  So  ist's  auch  beim  Gesichtssinn; 
auch  „diese  Empfindung  ist  durchaus  subjectiv,  d.  h.  nur  innerhalb  des 
Organismus  und  unter  der  Haut  vorhanden.  Auch  würden  wir,  ohne  den 
Verstand,  uns  jener  nur  bewusst  werden  als  besonderer  und  mannigfaltiger 
Modification  unserer  Empfindung  im  Auge,  die  nichts  der  Gestalt,  Lage, 
Nähe  oder  Ferne  von  Dingen  ausser  uns  Aehnliches  wären."  Schopenhauer 
wiederholt  mehrfach:  „Was  für  ein  ärmliches  Ding  ist  doch  die  blosse 
Sinnesempfindung."  „Die  Anschauung  ist  im  Wesentlichen  das  Werk  des 
Verstandes  [der  nach  Schs.  Terminologie  auch  die  Kantische  „reine  Sinnlich- 
keit" umfasst],  dem  dazu  die  Sinne  nur  den,  im  Ganzen  ärmlichen  Stoff  in 


76  §  1.    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

ihren  Empfindungen  liefern;  so  dass  er  der  werkbildende  Künstler  ist,  sie 
nnr  der  das  Material  darreichende  H  andlanger.'^  C^g^-  &^ch  Liebmann, 
Obj.  Anblick  S.  1  ff.     Noire,  Lehre  Ks.  161  ff.) 

Diese  Prämisse  haben  denn  auch  fast  alle  neueren  Raumtheorien  un- 
geprüft von  Kant  herübergenommen.  Auch  Lotze  hat  dieselbe  im  Wesent- 
lichen acceptirt,  hat  aber  wenigstens  die  Correctur  angebracht,  dass  den 
qualitativen  Empfindungen  gewisse  freilich  ebenfalls  wieder  rein  qualitative 
Zeichen  („Localzeichen^)  mitgegeben  sind,  aus  denen  die  Seele  die  be- 
stimmte Raumordnung  nachher  construiren  resp.  reconstruiren  kann.  In- 
dessen ist  doch  auch  nach  Lotze  eben  die  Function  der  Raumsetzung  über- 
haupt etwas,  was  die  Seele  zum  qualitativen  Empfindungsinhalt  aus  ihrem 
eigenen  Fond  hergibt.  (Vgl.  dazu  auch  Spir,  Denken  und  Wirklichkeit 
I,  150  ff.)  Jene  Pr&misse  theilt  auch  Wundt,  Logik  I,  458  ff.:  auch  ihm 
sind  die  Empfindungen  rein  „intensive  Grössen",  denen  gegenüber  die  Raum- 
form geradezu  als  »a  priori  gegebene  Function  unseres  Bewusstseins'  be- 
zeichnet wird. 

Erst  neuerdings  hat  man  begonnen,  jene  Prämisse  in  Zweifel  zu  ziehen; 
schon  F.  A.  Lange  fand  sie  „bedenklich",  hat  sich  aber  dann  doch  wieder 
beruhigt.  Er  sagt  Gesch.  d.  Mater.  II,  33:  „Bedenklich  ist  der  Satz,  in 
welchem  K.  zeigen  will,  dass  die  ordnende  Form  das  Apriorische  sein  müsse; 
der  Satz  nämlich,  dass  Empfindung  sich  nicht  wieder  an  Empfin- 
dung ordnen  könne.  ...  Wie  sich  Empfindung  an  Empfindung  wohl  der 
Intensität  nach  messen  kann,  so  kann  sie  sich  auch  in  der  Vorstellung  eines 
Nebeneinanderseins  nach  den  bereits  vorhandenen  Empfindungen  ordnen. 
Zahlreiche  Thatsachen  beweisen,  dass  sich  die  Empfindungen  nicht  nach  einer 
fertigen  Form,  der  Raumvorstellung,  gruppiren,  sondern  dass  umgekehrt 
die  Raum  Vorstellung  selbst  durch  unsere  Empfindungen  bedingt  wird. .  .  . 
Unsere  Empfindungen  finden  kein  fertiges  Coordinatensystem  im  Geiste  vor, 
an  dem  sie  sicher  ordnen  könnten,  sondern  ein  solches  System  entwickelt 
sich  erst  in  grosser  Un Vollkommenheit  aus  der  natürlichen  Concurrenz  der 
Empfindungen  auf  unbekannte  Weise."  Diesen  Einwand  weist  Lange  aber 
dann  selbst  wieder  als  ungenügend  zurück  (ib.  S.  35),  weil  es  sich  nicht  um 
die  Entwicklung  der  Raumvorstellung  handle,  sondern  darum,  wanim 
wir  überhaupt  räumlich  auffassen,  und  dies  könne  allerdings  nur  aus  den 
„organischen  Bedingungen"  unserer  Natur  folgen;  und  in  diesem  Sinne 
dürfte  es  kaum  möglich  sein,  „an  der  Apriorität  von  Raum  und  Zeit  zu 
zweifeln".  (Vgl.  dazu  Stadler,  Reine  Erk.  59.  143.  Heinze,  Viert,  f.  wiss. 
Phil.  I,  179  ff.)  Diese  „organischen  Bedingungen"  sind  aber  doch  eine 
äusserst  abgeschwächte  Ausgabe  der  Kantischen  Apriorität.  Vgl.  oben  S.  10. 
—  Dann  hat  auch  v.  Kirch  mann,  Erl.  S.  5  die  K.'sche  Voraussetzung  an- 
gegriffen,  im  Anscbluss  an  ihn  auch  Wi essner,  Realität  d.  Raumes  25  ff. 

Mit  grosser  Klarheit  und  Entschiedenheit  spricht  sich  Riehl  gegen 
die  Prämisse  aus ;  er  sagt  Krit.  II,  a,  104 :  „Wäre  die  Bemerkung,  dass  die 
Verhältnisse  der  Empfindungen  nicht  selbst  wieder  empfunden  werden,  richtig, 


Riehl  und  Stumpf  gegen  Kants  Prämisse.  77 

[R  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  34. 

so  wüi'de  der  Schluss  auf  die  reine  Apriorität  der  f^orm  unserer  Wabr- 
nehmang  nicht  zu  umgehen  sein.  Denn  die  einzige  Wechselwirkung  zwischen 
Bewusstsein  und  Realität  ist  in  der  That  die  Empfindung.  Also  würde  die 
Form  der  Wahrnehmung  nicht  die  Form  der  Wirklichkeit  sein,  und  die 
Form  der  Wirklichkeit  nicht  wahrgenommen  werden  können.  Allein  jene 
Bemerkung  ist  falsch,  die  Verhältnisse  der  Empfindungen,  ihre  bestimmte 
Coexistenz  und  Folge,  machen  auf  das  Bewusstsein  Eindruck,  gleichwie  die 
Empfindungen  selbst;  wir  fühlen  diesen  Eindruck  in  dem  Zwange,  den  die 
Bestimmtheit  der  empirischen  Mannigfaltigkeiten  dem  wahrnehmenden  Be- 
wusstsein auferlegt.  Freilich  genügt  für  die  Auffassung  dieser  Verhältnisse 
die  blosse  Affection  des  Bewusstseins  durch  dieselben  noch  nicht ;  aber  diese 
Afifection  genügt  auch  nicht  für  die  Erfassung  der  Empfindung  selbst. 
Hierin  besteht  also  kein  Unterschied  zwischen  Materie  und 
Form  der  Erscheinung.  Es  scheint,  dass  K.  unter  dem  Einfluss  des 
Aristotelischen  Dualismus  dieser  beiden,  nur  durch  willkürliche  Ab- 
straction  trennbaren  Begriffe  sich  die  Form  als  ein  schaffendes,  der  Materie 
unabhängig  gegenüberstehendes  el^oc  dachte.  Uns  gilt  die  Form  nur  als 
abstracter  Terminus  für  das  Geordnetsein  der  Wahmehraungselemente.  — 
Der  Beweis  für  die  reine  Apriorität  von  R.  u.  Z.  wurde  von  K.  nicht 
erbracht.  Diese  Vorstellungen  sind  a  priori  nur  soweit  es  jede 
andere  ist,  soweit  sie  unter  der  allgemeinen  Bedingung  des  Bewusstseins, 
seiner  synthetischen  Einheit  stehen.*'  —  Eine  solche  realistische  Rückbildung 
Ks.  bietet  auch  Staudinger,  Noumena^  S.  126 — 144,  welcher  deshalb  auch, 
116—121.  138,  gegen  die  Heraussonderung  der  „reinen  Anschauung*'  oppo- 
nirt;  Kant  habe  darin  eine  blosse  „transscendentale  Abstraction*'  zu  einer 
«activen  Anschauung**  hypostasirt.     Vgl.  auch  Massonius,  Aesth.  45  ff. 

Mit  besonderer  Energie  ist  diese  Prämisse  Kants  bekämpft  worden 
von  Stumpf,  Ueber  den  psychologischen  Ursprung  der  Baum  Vorstellung, 
1873,  bes.  S.  12 — 30;  seine  These  lautet:  „Dass  der  Raum  nicht  selbst 
Empfindungsinhalt  sein  könne,  wie  die  anderen,  ist  nicht  im  Mindesten  ein- 
leuchtend. Können  nicht  beide  Inhalte,  Raum  und  Qualität,  durch  unmittel- 
bare Empfindung  in  gleicher  Weise  gegeben  sein  (mögen  nun  die  Qualitäten 
gleich  im  Räume  geordnet  erscheinen  oder  erst  später  von  uns  eingeordnet 
werden)?**  Von  diesem  Standpunkt  werden  daselbst  auch  die  Theorien  von 
Herbart,  Bain  und  Lotze  bekämpft,  in  welche  jene  Kantische  Prämisse  ja 
ungeprüft  übergegangen  ist.  Vgl.  auch  dazu  v.  Schubert-Soldern,  Erk.- 
Theorie  279  ff.,  sowie  besonders  Schuppe,  Erk.-Logik  15  ff.  60  ff.  168  ff.  325. 
Bergmann,  Metaph.  77.  89.  125. 

Jene  Kantische  Prämisse  hatte  ferner,  wenn  auch  nur  indirect,  be- 
hauptet, die  Materie  der  Empfindungen  sei  eine  chaotische  Masse  ohne 
alle  Ordnung,  ohne  allen  Zusammenhang.  Diese  Seite  der  Kantischen  Prä- 
misse hat  besonders  Schleiermacher  weiter  ausgebildet;  der  Kantische 
Gegensatz  von  Stoff  und  Form  kehrt  bei  ihm  unter  dem  Namen  der  organi- 
schen und  der  intellectuellen  Function  wieder;  die  organische  Function  gibt 


78  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [B  32.  H  56.  E  72.] 

als  solche  „nur  ein  chaotisches  Mannigfaltiges  von  Eindrücken**  (Dial.  §§  108. 
118.  185).  In  dieser  Annahme  Schis,  sieht  aber  Ueberweg  mit  Recht  »einen 
noch  nicht  völlig  überwundenen  Rest  des  Kantischen  Snbjectivismns'' ;  vgl. 
Ueb's.  Logik  §  441,  woselbst  (vgl.  auch  §  38)  sich  eine  ausführliche  und 
überzeugende  Widerlegung  jener  Kant-Schleiermacher'schen  Annahme  findet 
Vgl.  Drews,  Raum  und  Zeit  47.     Vgl.  auch  Volkelt,  Kant  215. 

Daher  ist  uns  zwar  die  Materie  aller  Erscheinung  nur  a  posteriori 
gegeben,  die  Form  derselben  muss  aber  im  Gemttthe  bereit  liegen. 
Dass  dieser  Schlusssatz  nicht  zwingend  ist,  folgt  schon  aus  dem  bisher  Ge- 
sagten. Wenn  wir  den  ganzen  Schluss  in  die  strenge  Schulform  bringen, 
erhellt  seine  Mangelhaftigkeit  noch  deutlicher: 

Obersatz: 

Die  Empfindung  entsteht  durch  Wirkung  eines  Gegenstandes  auf 
die  Vorstellungsfähigkeit,  d.  h.  ist  a  posteriori  gegeben. 

Untersätze: 

a)  Die  Materie  aller  Erscheinung  ist  Empfindung. 

b)  Die  Form  aller  Erscheinung  kann  nicht  selbst  Empfindung  sein. 

Schlusssätze: 

a)  Also  ist  die  Materie  aller  Erscheinung  a  posteriori  gegeben, 

b)  aber  die  Form  derselben  ist  nicht  a  posteriori  gegeben  (sondern 
muss  a  priori  im  Gemüthe  bereit  liegen). 

Der  Obersatz  ist  schon  in  dem  vorhergehenden  Absatz  ausgesprochen 
worden,  wenigstens  seiner  ersten  Hälfte  nach;  seine  zweite  Hälfte,  .die 
Empf.  ist  a  posteriori  gegeben",  ist  zwar  daselbst  nicht  ausdrücklich  aus- 
gesprochen worden;  aber  sie  ist  gerechtfertigt  durch  die  in  der  Einleitung 
gegebenen  Definitionen  von  a  posteriori  und  a  priori,  welche  Comm.  I,  169  if. 
erläutert  worden  sind. 

Der  Untersatz  a  ist  die  Wiedergabe  des  Satzes,  mit  welchem  Kant 
diesen  Abschnitt  beginnt:  „In  der  Erscheinung  nenne  ich  dasjenige,  was  der 
Empfindung  correspondirt,  die  Materie  derselben.*^  Wir  haben  gesehen,  dass 
Kant  an  anderen  Stellen  „Empfindung"  und  ., Materie  der  Erscheinung" 
ideutificirt,  und  daran  halten  wir  uns  hier.  In  diesem  Untersatze  ist  nun 
Alles  enthalten:  Kant  unterscheidet  an  der  Erscheinung  eine  Materie  und 
eine  Form,  —  eine  Unterscheidung,  gegen  welche  zunächst  nichts  zu  sagen 
wäre.  Nun  aber  wird  ganz  ohne  jeden  Beweis  die  Materie  der  Erscheinung 
mit  der  Empfindung  als  Ganzem,  ohne  jede  Einschränkung  identificirt.  Darin 
liegt  aber  ohne  Weiteres,  dass  dann  die  Form  Nicht- Empfindung  ist,  somit 
auch  nicht  durch  Wirkung  des  Gegenstandes  auf  uns  entstanden  ist,  somit 
nicht  a  posteriori  ist,  somit  nur  a  priori  sein  kann.  In  jener  Definition, 
welche  die  Materie  der  Erscheinung  und  die  Empfindung  identificirt,  liegt 
somit  eine  gewaltige  Petitio  principii,  für  welche  Kant  nicht  den  ge- 
ringsten Beweisversuch  beigebracht  hat.  Aus  ihr  folgen  dann  die  Schloss- 
Sätze  von  selbst.   Ebenso  Spicker,  Kant  23  f.   Auch  v.  Kirchmann,  Erl.  5 


Erster,  allgemeiner  Beweis  für  die  Apriorität  der  Form.  79 

[R  32.  H  56.  E  72.]  A20.B34. 

ündet  hier  eine  Erschleichung ,  was  Grapengiesser,  Erkl.  15  vergeblich 
wegzudiscutiren  sucht.  Vgl,  auch  die  treffenden  Bemerkungen  bei  Volkelt  215. 
Kant  nimmt  eben  in  jenem  Satze  ohne  Weiteres  an,  was  er  erst  beweisen 
sollte:  dass  nur  die  Eine  Hälfte  der  Erscheinung  der  Empfindung,  also  der 
Affection  durch  Gegenstände  ihre  Entstehung  verdanken  kann,  die  andere 
aber  nicht,  und  so  ist  in  jener  Definition  eigentlich  schon  die  ganze  transsa 
Aesthetik  stillschweigend  antecipirt. 

Der  Untersatz  b  ist  nur  die  negative  Wendung  dessen,  was  der 
Untersatz  a  schon  enthält.  Wenn  eben  nur  die  Materie  der  Erscheinung  = 
Empfindung  ist,  so  ist  die  Form  Nicht -Empfindung,  woraus  dann  der 
Schlusssatz  sich  ergibt,  dass  sie  anderwäi*ts  herstammen  muss.  Wenn  ich 
von  der  Empfindung  =  Materie  der  Erscheinung  alles  Formelle  aus- 
geschlossen habe,  dann,  aber  auch  nur  dann,  kann  ich  sagen:  dasjenige, 
worin  sich  die  Empfindungen  ordnen,  könne  nicht  selbst  wieder  Empfindung 
sein,  sondern  das  müsse  eine  „im  Gemüthe  bereitliegende  Form''  sein. 

In  dem  eben  formulirten  Schlüsse  ist,  vermöge  jener  Petitio  principiif 
nun  schon  im  Sinne  Kants  ein  Beweis  für  die  Apriorität  von  Raum  und 
Zeit  gegeben,  und  zwar  ein  erster  allgemeiner  Beweis  (etwa  als  Form- 
beweis zu  bezeichnen),  zu  dem  sich  die  späteren  Beweise  als  specielle  ver- 
halten. So  haben  das  auch  die  Kantianer  stets  betrachtet :  z.  B.  Schultz  in 
seinen  Erläuterungen  S.  20  ff.  nennt  diese  Stelle  ausdrücklich  einen  Beweis, 
der  dann  in  den  Einzelbeweisen  „ umständlicher  auseinandergesetzt  wird" ; 
ebenso  Lossius,  Lex.  III,  514  f.  In  diesem  Sinne  betrachtete  auch  Feder, 
Raum  u.  Gaus.  S.  2.  8  u.  Ö.  die  Stelle  richtig  (trotz  des  Widerspruches  der 
A.  L.  Z.  1788,  I,  251).  Ganz  in  diesem  Sinne  erklärt  auch  Holder  (S.  8  f.) 
diese  Stelle.  Ebenso  auch  schon  Zeller,  D.  Philos.  425.435;  auch  Riehl, 
Krit.  II,  a.  104. 

Die  Materie  der  Erscheinung  ist  uns  nur  a  posteriori  gegeben. 
Hierzu  vergleiche  man  die  Parallelstelle  A  167:  „Da  an  den  Erscheinungen 
etwas  ist,  was  niemals  a  priori  erkannt  wird,  und  welches  daher  auch  den 
eigentlichen  Unterschied  des  empirischen  von  dem  Erkenntniss  a  priori  aus- 
macht, nämlich  die  Empfindung  (als  Materie  der  Wahrnehmung),  so  folgt, 
dass  diese  es  eigentlich  sei,  was  gar  nicht  antecipirt  werden  kann''  u.  s.  w. 

Eine  etwas  auffallende  Erläuterung  zu  dieser  Stelle  gibt  K.  Fischer 
in  seiner  Kritik  d.  K.  Phil.  6  ff.  Er  sagt,  den  Kantischen  Ausdruck  „Die 
Materie  der  Erscheinung  ist  a  posteriori  gegeben''  dürfe  man  nicht  ver- 
tauschen mit  dem  Ausdruck  empirisch.  Zwar  setze  Kant  beide  Ausdrücke 
selbst  gelegentlich  identisch ,  so  sogleich  A  1 ,  aber  nur  für  die  aus  der 
Empfindung,  dem  Material,  erst  mittelst  der  reinen  Formen  entstandene 
Erfahrung,  aber  nicht  für  das  Empfindungsmaterial  selbst,  dem  er  nur  das 
Prädicat  a  posteriori  ertheile.  Denn  es  leuchte  ein,  „dass  die  Eindrücke, 
da  sie  den  Stoff  aller  Erscheinung  und  Erfahrung  ausmachen ,  zu  den  Be- 
dingungen und  Elementen  der  Letzteren  gehören,  also  zwar  in  ihr  enthalten 
sind,   aber  nicht  durch  sie  gemacht  werden;   nicht  sie  gehen  aus  der  Er- 


80  §  1-     Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

fahrung  hervor,  sondern  diese  aus  ihnen.  Empirisch  ist,  was  uns  durch  die 
Erfahrung  gegeben  wird;  nun  sind  die  Empfindungen  das  Material  der  Er- 
fahrung, also  zu  derselben,  nicht  durch  sie  gegeben.  Ausdrücklich 
lehrt  Kant  [vgl.  oben  S.  29]:  Die  Anschauung,  welche  sich  auf  den  Gegen- 
stand durch  Empfindung  bezieht,  heisst  empirisch.  Der  empirische  Gegen- 
stand setzt  die  Empfindung  voraus.  Obwohl  sich  dieses  Verhftltniss  der 
Empfindung  zur  Erfahrung  von  selbst  versteht,  so  ist  es  doch  sehr  nöthig. 
die  richtige  Vorstellung  desselben  einzuschärfen,  da  man  unzählige  Male  zu 
lesen  findet:  Kant  habe  gelehrt,  dass  die  Form  der  Erkenntniss  a  priori. 
'  der  Stoff  derselben  a  posteriori  oder  empirisch  sei.  Kant  soll  widersinniger 
Weise  gelehrt  haben,  dass  der  Stoff  zur  Erfahrung  durch  Erfahrung  ge- 
geben sei!"  u.  s.  w.  Diese  Schwierigkeit  löst  sich  aber  doch  sehr  einfach: 
„Erfahrung*^    hat  eben   bei  Kant   mehrere  Bedeutungen,   wie  schon  Comm. 

1,  165  f.  177  ff.  nachgewiesen  wurde,  und  bedeutet  bald  das  blosse  Emptin- 
dungsmaterial,  bald  die  aus  demselben  durch  Mitwirkung  der  Anschanungs- 
und    Denkformen    entstandene    Erkenntniss.     (Dies    verkennt    auch    Cohen 

2.  A.  227.)  In  jenem  ersteren  Sinne  ist  also  nach  Kants  eigenem  Sprach- 
gebrauch die  Materie  der  Erscheinung  allerdings  „empirisch*^  gegeben,  was 
man  allerdings  —  und  dagegen  wendet  sich  eigentlich  Fischer  —  zunächst 
nicht  so  wenden  darf,  die  Materie  der  Erscheinung  sei  uns  durch  die 
empirischen  Gegenstände  im  Räume  selbst  gegeben.  Das  ^Gebende' 
sind  ja  die  Dinge  an  sich.  (Dass  indessen  K.  jene  von  Fischer  verpönte 
Lehre  dann  doch  auch  selbst  aufgestellt  hat ,  wurde  oben  S.  52  ff.  be* 
sprochen.  Wenn  dies  eine  „Kopf Stellung^  seiner  Lehre  ist,  so  hat  er  sie 
selbst  vorgenommen.) 

Treffend  bemerkt  Biehl,  Krit.  1,  345  zu  dieser  Stelle :  gin  ihr  liegt  die 
Anerkennung  des  empirischen  Erkenntnissfactors  neben  und  gleichbedeutend 
mit  dem  ideellen  ausgesprochen;'  er  findet  darin  ^eine  Grundlage  des 
Realiamus  Kants,  der  Gegenseite  seines  Phänomenalismus''.  Er  fuhrt  dies 
a.  a.  0.  432  ff.  weiter  aus:  „Wenn  bewiesen  werden  kann,  dass  das  Wissen 
a  priori,  das  dem  Subject  entstammende  Wissen  nur  die  Form  des  Er- 
kennens  betrifft,  so  ist  damit  allein  schon  bewiesen,  dass  der  Inhalt  des 
Erkennens  von  einer  Existenz  herrühren  muss,  die  von  derjenigen  des  Sab- 
jects  verschieden  und  unabhängig  ist.  Nun  führt  die  Kritik  in  der  Thal 
diesen  Beweis;  sie  zeigt,  dass  wir  nur  formale  Erkenntniss  a  priori  aus 
uns  erzeugen;  also  beweist  sie  unter  Einem  die  unabhängige,  von  uns 
unterschiedene  Existenz  der  Dinge.''  Riehl  erinnert  dabei  auch  an  die  ähn- 
lichen Ausführungen  Schopenhauer's,  Par.  u.  Par.  I,  *,  99.    Vgl.  oben  S.  l<i. 

Die  Form  der  Erscheinnng  liegt  im  Gemüthe  a  priori  bereit« 
Die  Form  wird  hier  als  ein  fertiges  receptaculum  betrachtet,  welches  die 
Empfindungen  in  sich  aufnimmt,  als  ein  Geföss,  das  bereit  liegt  zur  Auf- 
nahme, noch  ehe  die  Empfindungen  selbst  da  sind.  Diese  Stelle  war 
denjenigen  Kantianern  daher  von  jeher  unangenehm,  welche  den  grellen 
Widerspruch  dieser  Lehre   mit  den  Thatsachen  der  empirischen  Psychologie 


Die  im  Gemüth  a  priori  , bereit  liegende'  Form.  81 

[R  32.  H  56.  K  72.]  A  20.  B  34. 

einsahen,  und  weder  diese  empirischen  Thatsachen  verkennen,  noch  jene  Kan- 
tische Theorie  aufgeben  wollten.  Besonders  hat  Cohen  sich  alle  erdenk- 
liche Mühe  gegeben,  durch  gewagte  Interpretationen  dieser  Stelle  und  dieses 
Zusammenhanges  den  Sinn  dieser  unzweideutigen,  derben  Erklärungen  ab- 
zuschwächen, und  zwar  in  doppelter  Weise:  einmal  wendet  er  sich  gegen  die 
Auffassung  der  Form  als  eines  von  der  Materie  getrennten  Behältnisses, 
sodann  gegen  die  Auffassung,  jene  Form  liege  als  etwas  Fertiges  in  uns. 
Cohen  hat  dem  ersteren  Zweck  viele  Seiten  seines  Werkes  gewidmet 
(1.  A.  S.  41-47;  2.  A.  S.  144-157.  159  ff.,  173  ff.,  190.  210  ff.,  334.  853. 
584—589.  Vgl.  dagegen  Witte,  Beiträge  S.  15.  f.,  Spicker,  Kant  24  f.) 
Er  gibt  zu,  dass  die  Ausdrucksweise  Kants  „der  psychologische  Ausdruck 
der  Form*  den  »Verdacht*  nahelegt,  es  handle  sich  hier  um  „eine  Art 
Substrat,  in  welchem  sich  die  Empfindungen  ordnen *,  um  ein  „ordnendes 
Organ''.  Aber  das  ist  nach  Cohen  nur  Schein.  Durch  künstliche  Auslegung 
(vgl.  besonders  146  gegen  Krug's  Einwände)  sucht  er  sogar  die  ordnende, 
raumgebende  Function  vom  Subject,  vom  „Gemüth*'  soweit  wegzurücken, 
dass  sie  zuletzt  ganz  aus  demselben  hinausfällt,  nur  damit  die  Form  nicht 
als  ein  subjectives  Organ  gefasst  werden  muss,  als  eine  Form ,  in  welche 
wir  erst  die  Empfindungen  fassen.  Es  geht  sogar  soweit,  jene  Form  geradezu 
dem  Subject  abzusprechen.  Er  meint  noch  Kantisch  zu  reden,  wenn  er 
sagt:  Anfänglich  seien  Form  und  Materie  der  Erscheinung  untrennbar  bei 
einander,  erst  nachher  werden  sie  künstlich  getrennt.  „Die  Form  wird  von 
der  Erscheinung  abstrahirt.**  Kant  selbst  würde  dazu  sagen:  So  wie  sich 
die  Erscheinung  unserem  gewöhnlichen  Bewusstsein  darstellt,  so  ist  sie 
allerdings  die  Verbindung  von  Stoff  und  Form.  Beide  bilden  Ein  Ganzes 
und  unser  wissenschaftliches  Bewusstsein  kann  dann  dieses  Ganze  auch 
in  seine  Elemente  auflösen  und  die  Form  von  der  Erscheinung  abstrahiren. 
Aber  die  Erscheinung  würde  jenes  Ganze,  diese  Einheit  nicht  für  unser 
gewöhnliches,  empirisches  Bewusstsein  bilden  können,  wenn  nicht  unser 
ursprüngliches  Bewusstsein  Beides  erst  verbunden  hätte,  wenn  nicht  der 
Stoff  der  von  aussen  zugekommenen  Empfindungen  erst  (sagen  wir  geradezu  — 
unbewusst)  durch  die  Form  in  gewisse  Ordnung  gestellt  worden  wäre, 
und  damit  das  geschehen  konnte,  dazu  eben  musste  jene  Form  „im  Ge- 
müthe  bereit  liegen".  Wo  hätte  sie  denn  sonst  hergenommen  werden 
sollen?  Wenn  sie  nicht  von  aussen  stammt,  muss  sie  von  innen  stammen, 
muss  sie  eben  „im  Gemüthe  bereit  liegen**.  Cohen  mag  sich  gegen  diesen 
Ausdruck  noch  so  sehr  sträuben  —  er  steht  da,  und  wenn  er  nicht  da 
stünde,  so  müsste.er  aus  dem  ganzen  Zusammenhange  doch  mit  Nothwen- 
digkeit  geradezu  ergänzt  werden.  Und  diese  bereitliegende  Form*  ist  aller- 
dings eine  Art  Behältniss,  in  welches  die  Empfindungen  gebracht,  in  welchem 
sie  geordnet  werden.  Cohen  will  dem  nun  entgehen  durch  die  eigenthüm- 
liche  Wendung:  die  Form  sei  nur  als  Gepräge,  nicht  als  Schmelztiegel  an- 
zusehen. Es  ist  das  nur  eine  bildliche  Wendung  für  die  begriffliche  Be- 
hauptung, Kant  verstehe  unter  Form  nur  die  Form  der  Erscheinung,  nicht 

Vaihi liger,  Eant-Commentar.    IL  6 


82  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  34.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

aber  ein  formendes  Organ  des  Subjecis.  Aber  woher  bat  denn  dann  die  Er- 
scheinung jenes  „Gepräge"  ?  Dazu  bedarf  es  ja  eines  „ Prägestockes "  (um 
das  Bild  Cohens  fortzusetzen)  und  dieser  „Prägestock"  ist  eben  die  Form, 
welche  dem  von  aussen  kommenden  Stoff  vom  Subject  erst  aufgedrückt 
wird.  Die  Form  ist  eben  damit  naturgemäss  Beides:  Gepräge  und  Präge- 
stock: die  Form  als  formirende  Thätigkeit  (der  „Prägestock")  stammt 
aus  dem  Subject;  die  Form  als  Beschaffenheit  der  Erscheinung,  a1^ 
„erscheinende  Beschaffenheit^  (Cohen)  ist  eben  nur  die  Folge  jener  Prägung. 
Diesen  Doppelsinn  des  Ausdruckes  „Form"  macht  sich  Cohen  zu 
Nutze,  indem  er  alle  Stellen,  in  welchen  Kant  von  Form  im  ersten  Sinne  spricht, 
durch  die  zweite  Bedeutung  erklärt,  ohne  zu  bedenken,  dass  doch  dieser 
zweite  Sinn  den  ersten  nothwendig  voraussetzt  und  einschliesst.  Wenn 
wir  also  Kants  Meinung  dahin  präcisiren,  dass  er  unter  Form  versteht  eine 
lebendige  Function  des  Subjects,  ein  ordnendes  Organ  desselben,  also  auch 
eine  Art  Substrat,  in  dem  sich  erst  die  Empfindungen  ordnen  —  so  ist  das 
nicht  bloss  „eine  aufsteigende  Deutung,  an  der  wir  sogleich  Anstoss  nehmen 
müssen"  (Cohen  S.  152),  sondern  die  einzig  legitime  Erklärung. 

Der  Ausdruck  „Bereitliegen"  legt  nun  aber  die  Auffassung  nahe, 
dass  Kant  da  von  fertigen  Formen  spreche,  dass  Raum  und  Zeit  als  ein 
für  allemal  fertige  Gefässe  in  uns  liägeu,  bereit  zur  Aufnahme  von 
Empfindungen.  Den  fortgeschritteneren  Kantianern  war  diese  unpsychologische 
Vorstellung  allerdings  sehr  unbequem;  und  so  sucht  auch  Cohen  (1.  A.  46, 
2.  A.  156)  den  Verdacht  abzuwehren,  dass  das  Bereit  liegen  eine  fertige 
Form  bedeuten  könnte.  Und  er  beruft  sich  zu  diesem  Zweck  auf  eine 
Stelle  aus  der  Analytik  (B  160),  wo  es  heisst:  „Raum  und  Zeit  sind  nicht 
bloss  als  Formen  der  Anschauung,  sondern  als  Anschauung  selbt  vor- 
gestellt." Diese  Gleichstellung  beweise,  dass  das  „Bereitliegen"  nicht  so 
viel  als  „fertig"  sei:  „denn  die  Anschauung,  auch  die  reine,  entsteht.* 
„Solche  Irrungen  sind  nur  möglich,  wenn  man  die  transsc.  Aesthetik  ohne 
die  transsc.  Logik  behandelt,  wenn  man  die  Einheit  der  Kantischen  Kritik 
zerschneidet. "  Dagegen  ist  zunächst  zu  bemerken,  dass  jene  aus  der  Analytik 
angezogene  (nach  Laas,  Id.  u.  Pos.  Itl,  422  von  Cohen  „vergewaltigte*')  Stelle 
weder  für  noch  gegen  jene  Auslegung  zu  verwenden  ist,  da  in  ihr  über 
die  ganze  Frage  gar  nichts  gesagt  ist;  denn  das  ist  eben  die  Frage,  ob 
auch  die  reine  Anschauung  „entstehe".  Nach  unserer  Stelle  scheint  das 
eben  nicht  so,  sondern  dieselbe  liegt  schon  „bereit".  Nun  brauchte  man 
ja  allerdings  dies  „Bereitliegen*'  nicht  zu  pressen.  Dies  „Bereitliegen*  könnte 
an  sich  ein  actuelles  oder  auch  ein  potentielles  sein;  und  für  diese 
Potentiairtät  sprechen  sich  denn  auch  eine  grosse  Anzahl  von  beacht«ns- 
werthen  Stimmen  aus. 

So  sagt  J.  B,  Meyer  (Kants  Psychologie  S.  164  f.):  „Die  ursprüng- 
liche Form  unseres  Anschauens  und  Denkens  sitzt  nicht  als  fertiger  Begriff 
in  unserer  Seele,  sondern  als  eine  Actionsform,  die  sich  äussern  muss. 
sobald    ein    gegebener   sinnlicher    Erfahrungsstoff    ihre    Thätigkeit    erregt. 


Actuelles  oder  potentielles  , Bereitliegen'*  der  Form?  83 

[R  32.  H  56.  K  72.]  A  20.  B  34. 

Dieser  Besitz  unserer  Seele  wird  also  nicht  von  ihr  aus  der  Erfahrung 
erworben,  sondern  nur  seine  Aeusserung  durch  die  Erfahrung  erregt." 
Aehnlich,  nur  mehr  physiologisch  gewendet,  F.  A.  Lange,  Gesch.  d.  Mat. 
II,  15.  34  ff.,  44  ff.  Liebmann,  Obj.  Anblick  S.  100.  So  fasst  auch 
Volkelt  Kant  232  das  Apriorische  als  „gesetzmässige  Functionsanlage" 
auf,  und  wendet  sich  damit  gegen  „die  unlebendige  Auffassung,  wonach 
das  Apriorische  ein  in  uns  liegendes  Fertiges  ist^.  Auch  nach  Thiele 
(Ks.  intell.  Ansch,  S.  85)  handelt  es  sich  nur  um  ein  potentielles  Zugrunde- 
liegen. Es  könne  sich  hier  höchstens  um  eine  „nachlässige  Ausdrucks- 
weise, die  in  der  Kritik  bekanntlich  nicht  allzu  selten  ist,  handeln".  Aehnlich 
Staudinger,  V.  f.  wiss.  Philos.  VII,  34.  Auch  Holder,  15.  53  fasst  den 
Ausdruck  „bereit  liegen"  bloss  als  „vorläufig*.  Auch  Riehl,  Kriticismus  I, 
324  fvgl.  401)  meint:  „Wir  haben  es  metaphorisch  zu  verstehen,  wenn 
K.  von  bereitliegenden  Formen  der  Ansch.  spricht.  Denn  nur  der  Grund 
ihrer  Entstehung  liegt  nach  ihm  im  empfänglichen  Bewusst^sein ,  und  der 
Raum  ist  nicht  fertig  in  diesem  Bewusstsein  gegeben,  sondern  er  entspringt 
in  der  formalen  Synthesis  der  Eindrücke  nach  dem  Gesetze  unseres  Vor- 
stellens"  *.     Aehnlich  auch  Morris ^  Kant  57  f. 

Wenn  diese  Auffassung  riclitig  wäre^  so  würden  allerdings  alle  Ein- 
wände hinfällig  sein,  welche  vom  Anfang  an  in  so  zahlreicher  Weise  gegen 
diese  Stelle  erhoben  worden  sind,  unter  der  Voraussetzung,  K.  lehre  hier 
das  Bereitliegen  fertiger  Formen.  In  diesem  Sinne  waren  ja  die  Einwände 
gehalten,  welche  schon  von  den  ersten  Gegnern  der  Kr.  d.  r.  V.  ausgesprochen 
wurden,  so  von  Pistorius,  Feder,  im  Anschluss  an  diesen  von  Tittel 
(Ks.  Denkformen  S.  90),  von  Eberhard  u.  s.  w.  Dieser  Angriff  ist  besonders 
heftig  erneuert  worden  von  Herbart,  bes.  W.  W.  V,  505  ff.,  VI,  115. 
(Vgl.  Volkmann ,  Psych.  II,  6  ff.).  „Zu  erklären ,  wie  dieses  Streben  (nach 
räumlicher  Anordnung)  und  Wirken  in  die  Vorstellungen  komme,  das  war 
die  Aufgabe;  aber  ein  paar  unendliche  leere  Gefässe  hinzustellen,  in  welche 
die  Sinne  ihre  Empfindungen  hineinschütten  sollen,  ohne  irgend  einen  Grund 
der  Anordnung  und  Gestaltung,  das  war  eine  völlig  gehaltlose,  nichtssagende, 
unpassende  Hypothese."  Schon  die  Fragestellung  Ks.  in  der  Aesthetik:  „Was 
sind  Raum  und  Zeit?"  schliesse  diesen  Irrthum  ein.  „So  wird  das  Leere 
dem  Vollen  vorangeschickt;  das  Nichts  wird  zur  Bedingung  des  Etwas. 
Gewiss  die  seltsamste  und  ungereimteste  aller  Täuschungen."  Dagegen 
Cohen,  2.  A.  147  ff. 

Aus  neuerer  Zeit  ist  besonders  bekannt  geworden  durch  den  Fischer- 
Trendelenburg'schen    Streit   die   Stelle    des   Letzteren   in   den  Log.  Unters. 


*  Mit  diesen  Worten  weist  Riehl  auf  die  später  auftretende  Lehre  Kants 
hin,  dass  der  apriorische  Raum  selbst  erst  einer  synthetischen  Function  sein 
Dasein  verdanke.  Ueber  diese,  der  transsc.  Aesthetik  widersprechende,  aber  aller- 
dings Riehls  Auffassung  begünstigende  Lchrmeinung  Kants  werden  wir  unten  zum 
vorletzten  Raumargument  zu  verhandeln  haben. 


84  §  1-    Einleitung. 

A20.B84.  [B  32.  H  56.  E  72.] 

2.  A.  S.  166:  „Kants  Ansiebt  ist  schier  ein  Wunder  zu  denken.  In  uns 
ruht  als  fertige  Form  der  unendliche  Raum  und  die  unendliche  Zeit,  in 
uns  den  endlichen  Wesen,  die  fertige  Form  wie  ein  starrer  Guss.  Ist  es 
denn  gar  nicht  zu  sagen ,  aus  welchem  Fluss  diese  starren  Formen  ent- 
standen sind?"  (y^}'  dagegen  Arnoldt,  R.  u.  Z.  125  ff.  und  bes.  Cohen, 
2.  A.  148  ff.).    Vgl.  auch  Lotze,  Grundz.  d.  Met.  §  51. 

Diese  Einwände  der  Kantgegner  stützen  sich  nun  eben  hauptsächlich 
auf  die  vorliegende  Stelle.  Und  in  der  That  ist  es  bei  unbefangener  Lee- 
türe derselben  nicht  möglich,  die  Vorstellung  fertiger  bereitliegender  Formen 
zurückzuweisen  ^  Insbesondere  spricht  für  diese  Auffassung  noch  besonders 
die  Schluss Wendung  dieses  Absatzes.  Aus  dem  „Bereitliegen*  folgt  nun 
nämlich,  wie  es  zum  Schlüsse  heisst,  die  Möglichkeit  einer  gesonderten 
Betrachtung  jener  Form.  Nach  dem  Wortlaute  dieser  Stelle  ist  die 
Möglichkeit  dieser  gesonderten  Betrachtung  die  directe  Folge  jener  Aprio- 
rität.  (lieber  diese  Methode  der  Absonderung  s.  unten  zu  A  22.)  Es  liegt 
darin  indirect  eingeschlossen,  dass  eine  solche  gesonderte  Betrachtung  der 
Empfindungen  nicht  möglich  ist,  da  ja  diese  eben  nicht  „a  priori  bereit 
liegen".  Daraus  folgt,  dass  Cohen  (I.A.  45;  2.  A.  154)  nicht  den  Sinn 
Kants  trifft,  wenn  er  meint,  es  handle  sich  bei  der  Unterscheidung  von  Ma- 
terie und  Form  der  Erscheinung  nur  um  eine  methodische  Analyse,  um 
eine  logische  Abstraction,  um  eine  künstliche  Trennung  beider  Elemente,  und 
Kant  meine  keineswegs,  dass  nun  auch  realiter  jene  Formen,  unabhängig  von 
den  Empfindungen,  in  uns  „bereit  liegen*.  Aber  gerade  nur  dieses  »Bereitliegen' 
ermöglicht  jene  gesonderte  Betrachtung,  und  von  hier  aus  muss  man  dann  weiter 
schliessen,  dass  dieses  „Bereitliegen"  doch  sich  auf  eine  fertige,  actuelle  Form  be- 
ziehen muss ;  denn  wenn  die  Form  bloss  als  Potenz  bereit  liegen  sollte,  so  Hesse 
sie  sich  nicht  „abgesondert  von  aller  Empfindung  betrachten".  Nur  eine 
fertig  und  unmittelbar  bereitliegende  Form  erlaubt  eine  solche  eingehende 
ruhige  Betrachtung ,  nicht  eine  noch  unfertige  Potenz ;  nur  auf  jene,  nicht 
auf  diese  kann  es  sich  beziehen,  dass  sie  „als  a  priori  gegeben"  dar- 
gestellt werden  kann  (B  37).  Wie  auch  andere  Stellen  Kants  über  diese 
Frage  lauten  mögen ,  diese  Stelle  beweist ,  dass ,  als  Kant  sie  niederschrieb, 
er  jedenfalls  an  eine  fertige  Form  in  uns  dachte. 

Dass  Kant  in  der  That  an  dieser  Stelle  von  fertigen  Formen  gesprochen 
hat,  gaben  ja,  wie  wir  eben  sahen,  auch  Einige  derjenigen  zu,  welche  der 
Ansicht  sind,  Kant  habe  nicht  eigentlich  fertige  Formen  gelehrt;  er  habe, 
so  sagen  sie,  sich  hier  eben  „vorläufig",  ,, metaphorisch"  ausgedrückt. 
Man  dürfe  aber  eben  diese  Stelle  nicht  isolirt  für  sich  ins  Auge  fassen, 
man  müsse  hinter  dem  Buchstaben  den  Geist  suchen,  und  diesen  habe  Kant 


*  Uebrigens  spricht  auch  Schopenhauer  in  der  Schrift  über  den  Satz  vom 
Grunde  (§21)  den  Formen  ^ein  bereits  fertiges  und  aller  Erfahrung  vorher- 
gängiges Dasein'*  zu,  ja  er  spricht  von  ;,dem.  dem  Verstand  a  priori  bewussten 
Räume"  I 


Riehl  sucht  Kant  gegen  Herbart  zu  vertheidigen.  g5 

[R  32.  H  56.  K  72.]  A  20.  B  34. 

an  anderen  Stellen  deutlicher  zum  Ausdruck  gebracht  als  hier.  Man  beruft 
sich  zu  diesem  Zwecke  auf  verschiedene  Stellen,  insbesondere  auf  diejenigen, 
in  denen  Kant  die  Theorie  des  Angeborenseins  der  apriorischen  Formen 
zumckweist  und  das  Erworbensein  derselben  behauptet.  Diese  Stellen  werden 
wir  gleich  unten  in  einem  eigenen  kleinen  Excurs  betrachten ,  und  wollen  hier 
zunächst  nur  Eine  Stelle  ins  Auge  fassen,  auf  die  sich  besonders  Riehl  für 
seine  Auslegung  berufen  hat  (ebenso  Cohen,  2.  A.  540  gegen  Trendelenburg). 

Die  Stelle  findet  sich  in  den  Antinomien ,  in  den  Anmerkungen  zur 
zweiten  Antithesis  (A.  429.  481.  433),  woselbst  es  heisst:  „Die  empirische 
Anschauung  ist  nicht  zusammengesetzt  aus  Erscheinungen  und  dem  Baum 
(der  Wahrnehmung  und  der  leeren  Anschauung).  Eines  ist  nicht  des  an- 
deren Correlatum  der  Synthesis,  sondern  nur  in  einer  und  derselben  empi- 
rischen Anschauung  verbunden,  als  Materie  und  Form  derselben.  Will 
man  eines  dieser  zween  Stücke  ausser  dem  anderen  setzen  (Raum  ausserhalb 
aller  Erscheinungen),  so  entstehen  daraus  allerlei  leere  Bestimmungen  der 
äusseren  Anschauung,  die  doch  nicht  mögliche  Wahrnehmungen  sind,  z.  B. 
Bewegung  oder  Ruhe  der  Welt  im  unendlichen  Räume**  u.  s.  w. 

Riehl  führt  (Kriticismus  I,  348  Anm.)  diese  Stelle  speciell  gegen 
Herbarts  Einwände  ins  Feld:  „Diese  Stelle  hat  Her  hart  jedenfalls  nicht 
gesehen,  als  er  die  Behauptung  wagte,  Kant  stelle  das  Leere  dem  Vollen 
voran,  ein  unendliches  leeres  Gefäss  habe  er  im  Gemüthe  bereit,  um  die 
Dinge  hineinzuschütten*'.  Allein  diese  Stelle,  wenn  in  ihr  Kant  wirklich 
seine  eigene  Meinung  ausspricht  (er  könnte  ja  vielleicht  auch  nur  den  Ver- 
treter der  Antithesis  so  sprechen  lassen)  beweist  nur,  dass  er  sich  —  seiner 
Gewohnheit  gemäss  —  widerspricht  *.  Herbarts  Vorwurf  bezieht  sich  aber  auf 
den  vorliegenden  Text,  und  ist  in  Bezug  auf  diesen  auch  berechtigt,  mag 
Kant  sonst  auch  noch  so  sehr,  im  Widerspruch  mit  dieser  Stelle,  eine  ent- 
gegengesetzte Auffassung  vertreten  haben.  Ausserdem  kommt  in  Betracht, 
dass  Kant  an  jener  Stelle  die  Annahme  eines  leeren  Raumes  ausserhalb 
der  Welt  zurückweisen  will;  und  wenn  die  Stelle  in  diesem  kosmolo- 
gi sehen  Sinne  genommen  wird,  so  Hesse  sich  mit  der  Stelle  aus  der  Dialektik 
immer  noch  die  hier  in  der  Aesthetik  vertretene  Annahme  vereinigen,  dass 
der  Raum  im  erkenntnisstheoretischen  Sinne  eine  ursprünglich  inhalts- 
leere, in  uns  bereitliegende  Form  sei  ^ 


*  Den  vorliegenden  Widerspruch  hat  schon  Feder,  Raum  S.  92 — 94  mit 
Recht  gerügt,  wogegen  Schaumann,  Aesth.  S.  175 — 180  K.  vergeblich  vertheidigte. 
Vgl.  auch  Massonius,  Aesth.  S.  90. 

'  Aehnlich  unterscheidet  auch  Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  389  if.,  zwischen  dem 
eigentlich  „leeren**  Räume  und  dem  „blossen"  Räume;  die  Vorstellung  des 
ersteren  ist  für  uns  aposteriorisch,  die  des  letzteren  apriorisch.  Reinhold  denkt 
sich  diesen  allerdings  auch  nur  als  potentiell;  vgl.  darüber  den  unten  folgenden 
Excurs  über  das  Angeborene.  —  Vgl.  auch  Kants  Opus  Postumum,  Reicke  XIX,  76  N. 
Cohen,  2.  A.  127  (gegen  Wundts  und  Zöllners  Verwechslung  von  leerem  und 
reinem  Raum). 


86  §  1-    Einleitung. 

A20.B34.  [B  32.  H  56.  E  72.] 

Damit  stimmt  nun  auch  vollständig  überein  der  Gebrauch  des  Terminus 
a  priori  in  der  Aesthetik.  Wir  haben  über  den  Ausdruck,  der  an  dieser 
Stelle  innerhalb  der  Aesthetik  zum  erstenmale  auftritt,  der  aber 
schon  in  Vorrede  A  und  Einleitung  A  und  B  von  Kant  mehrfach  gebraucht 
worden  war,  in  dem  Commentar  zu  jenen  Theilen  hinreichend  über  Wort 
und  Sache  gesprochen  (vgl.  I,  134.  166  ff.,  169  ff.,  178.  189  ff.,  197  ff., 
281  ff.,  322  ff.,  388  ff.)  \  Wir  haben  auch  schon  daselbst  auf  die  verschie- 
denen Bedeutungen  des  Ausdruckes  bei  Kant  hingewiesen,  sowie  auf  die 
entsprechenden  verschiedenen  Auslegungen  desselben.  Für  unseren  Zweck 
an  dieser  Stelle  müssen  wir  diejenigen  Stellen,  zunächst  der  Aesthetik,  ins 
Auge  fassen,  durch  welche  jene  Auffassung  der  Formen  als  bereit- 
liegender, fertiger  Vorstellungen  bestätigt  wird.  Wie  auch  Kant 
über  diese  Formen  sonst  in  abweichender  Weise  sich  geäussert  haben  mag. 
wie  er  auch  sonst  oder  später  das  Apriori  gefasst  haben  mag  —  hier  kommt 
es  darauf  an,  zu  zeigen  —  was  eben  von  Vielen  geleugnet  wird  — ,  dass 
Kant  factisch  an  vielen  Stellen  jene  Auffassung  der  Formen  nicht  bloss  als 
zeitlich  vorhergehender,  sondern  auch  als  von  vorne  herein  fertig  in 
uns  vorhandener  unzweideutig  gelehrt  hat.  Beides  (besonders  das  zeit- 
liche Vorhergehen,  das  freilich  nach  Harms,  Ph.  s.  K.  154,  dem  Geist  der 
K. 'sehen  Philos.  widersprechen  soll)  ^  tritt  bei  den  Anschauungsformen  stärker 
hervor  als  bei  den  Denkformen. 

So  heisst  es  sogleich  im  folgenden  Absatz,  dass  „die  reine  An- 
schauung a  priori  auch  ohne  einen  wirklichen  Gegenstand  der 
Sinne  oder  Empfindung  als  eine  blosse  Form  der  Sinnlichkeit  im  Gemüthe 
stattfindet'* ;  so  heisst  es  in  der  transsc.  Erörterung  des  Raumes  (B  40) : 
„Diese  Anschauung  muss  a  priori,  d.  h.  YOr  aller  Wahrnehmung 
eines  Gegenstandes  in  uns  angetroffen  werden,  mithin  reine,  nicht 
empirische  Anschauung  sein;*'  und  eben  auf  diese  bezieht  sich  auch  die 
Frage  daselbst:  „Wie  kann  nun  eine  äussere  Anschauung  dem  Gemüthe 
beiwohnen,  die  vor  den  Objecten  selbst  vorhergeht,  und  in  welcher 
der  Begriff  der  letzteren  a  priori  bestimmt  werden  kann?'*  Und  gleich 
darauf,  im  Schluss  b,  erhalten  wir  darauf  die  Antwort:  „Weil  nun  die 
Receptivität  des  Subjects,  von  Gegenständen  afficirt  zu  werden,  nothwendiger 
Weise   vor  allen  Anschauungen  dieser  Objecte  vorhergeht,  so  lässt  sich  ver- 


^  Vgl.  K.  Merkel,  üeber  die  Entstehung  und  inhaltliche  Veränderung  der 
beiden  philos.  Ausdrücke  a  priori  und  a  posteriori.  Diss.  Hai.  1885.  —  Bau- 
mann, R.  u.  Z.  11,  245. 

*  So  sagt  neuerdings  auch  noch  Windelband,  Gesch.  d.  Philos.  1891. 
8.  420.  424:  „Apriorität  ist  bei  Kant  kein  psychologisches,  sondern  ein  rein 
erkenntnisstheoretisches  Merkmal :  es  bedeutet  nicht  ein  zeitliches  Voi^ 
hergehen  vor  der  Erfahrung,  sondern  eine  sachlich  über  alle  Erfahrung 
hinausgehende  und  durch  keine  Erfahrung  begründbare  Allgemeinheit  und  Noth- 
wendigkeit  der  Geltung  von  Vernunftprincipien.  Wer  dies  sich  nicht  klar  macht 
hat  keine  Hoffnung,  Kant  zu  verstehen." 


Apriori  bedeutet  hier  zeitliches  Vorhergehen  und  actuelles  Bereitliegen.       87 

[R  82.  H  66.  E  72.]  A  20.  B  34. 

stehen,  wie  die  Form  der  Erscheinungen  vor  allen  wirklichen  Wahr- 
nehmungen, mithin  a  priori  im  Gemüthe  gegeben  sein  könne/^ 

Damit  stimme  auch  die  Prolegomena  überein.  Auch  im  §  7  wird  a 
priori  erläutert  durch:  „vor  alier  Erfahrung  oder  einzelnen  Wahr- 
nehmung*';  nach  §8  findet  die  ursprüngliche  Anschauung  apriori  „ohne  einen 
weder  Yorher  noch  jetzt  gegenwärtigen  Gegenstand  statt".  Nach 
§  9  findet  reine  Anschauung  statt  „ehe  mir  noch  der  Gegenstand  vor- 
gestellt wird'*  und  „gehet  vor  der  Wirklichkeit  des  Gegenstandes 
vorher'*.  Auch  §  10  sagt:  Die  reinen  Anschauungen  a  priori  sind  blosse 
Formen  unserer  Sinnlichkeit,  die  Tor  aller  empirischen  Anschauung, 
d,  i.  „der  Wahrnehmung  wirklicher  Gegenstände  vorhergehen  müssen". 
Und  nach  §  11  geht  „die  blosse  Form  der  Sinnlichkeit  vorder  wirk- 
lichen Erscheinung  der  Gegenstände  vorher,  indem  sie  dieselbe  in 
der  Tbat  allererst  möglich  macht". 

Mit  diesen  Stellen  der  Aesthetik  (welche  sich  übrigens  noch  vermehren 
Hessen)  vergleiche  man  ferner  noch  z.  B.  folgende  Stellen :  „Baum  und  Zeit 
sind  rein  von  allem  Empirischen  und  werden  völlig  a  priori  im  Ge- 
müthe vorgestellt"  (A  155  =  B  194);  A  267  =  B  324:  „Die  Form  der 
Anschauung  (als  eine  subjective  Beschaffenheit  der  Sinnlichkeit)  geht  vor 
aller  Materie  (den  Empfindungen)  vorher,  mithin  R.  u.  Z.  vor  allen  Er- 
scheinungen und  allen  Datis  der  Erfahrung  ...  Da  die  sinnliche  Anschauung 
eine  ganz  besondere  subjective  Bedingung  ist,  welche  aller  Wahrnehmung 
a  priori  zum  Grunde  liegt  und  deren  Form  ursprünglich  ist:  so  ist  die 
Form  für  sich  allein  gegeben"  u.  s.  w.  Vgl.  auch  A  373:  „R.  u.  Z. 
sind  Vorstellungen  a  priori,  welche  uns  als  Formen  unserer  sinnlichen  An- 
schauung beiwohnen,  ehe  noch  ein  wirklicher  Gegenstand  unseren 
Sinn  durch  Empfindung  bestimmt  hat."  Dazu  vergleiche  man  folgende 
Stelle  aus  den  „Fortschr.  d.  Met.",  Ros.  I,  496:  „Eine  Anschauung,  die 
a  priori  möglich  sein  soll,  kann  nur  die  Form  betreffen,  unter  welcher  der 
Gegenstand  angeschaut  wird:  denn  das  heisst,  etwas  sich  a  priori 
vorstellen,  sich  vor  der  Wahrnehmung,  d.  i.  dem  empirischen 
Bewnsstsein  und  unabhängig  von  demselben  eine  Vorstellung 
davon  machen."  Dass  die  reine  Anschauung  vor  aller  Wahrnehmung 
schon  als  eine  eigene  Vorstellung  vorhergehe,  wird  daselbst  noch  oft 
wiederholt.  Vgl.  Kants  Reflexionen  II,  N.  395:  ,,Wie  sind  Anschauungen 
a  priori  möglich?  Nicht  anders,  als  dass  die  Form  etwas  durch  Sinne  an- 
zuschauen ohne  Materie,  d.  i.  als  ein  gegebenes  Object  der  Sinne  für 
sich  vorgestellt  werden  kann."  (In  dieser  Loslösbarkeit  sieht  Kant 
daselbst  sogar  einen  Beweis  ihrer  Subjectivität  N.  402:  „dass  R.  u.  Z.  An- 
schauungen ohne  Dinge  sind,  bedeutet,  dass  sie  keine  objectiven  Vor- 
stellungen, sondern  subjective  sein  müssen.") 

Diese  Stellen  beweisen  unzweideutig,  dass  Kant  eine  zeitlich  in  uns 
vorhergehende,  actu eil  fertige  Anschauungsform  gelehrt  habe.  Dies  schliesst 
nun  aber  bei  Kant  gar  nicht  aus,  dass  er  an  anderen  Stellen  unter  der  An- 


88  §  1.    Einleitung. 

A  20.  B  a4.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

scbauung  a  priori  nur  eine  potentielle  Anlage  verstanden  habe,  welche  zwar 
vor  aller  Erfahrung  vorhergeht,  aber  ohne  sie  auch  ganz  werthlos  ist.  In 
der  That  leidet  die  ganze  K.'sche  Aprioritätslehre  im  Allgemeinen  und  seine 
Kaumtheorie  speciell  an  der  beständigen  Verwechslung  und  Vermischung 
jener  beiden  Auffassungen  des  Apriori.  Die  Einsicht  in  diese  durchgängige 
Vermischung  des  actuell-bewussten  und  des  potentiell-unbewussten  Apriori 
bildet  zu  vielen  Unklarheiten  und  Schwierigkeiten  der  tr.  Aesthetik  den 
wichtigsten  Schlüssel.  Wenn  Kant  den  Raum  eine  Anschauung  a  priori 
nennt,  hat  man  darunter  bald  zu  verstehen  den  mathematischen  Baum 
als  eine  fertige  Vorstellung,  bald  die  Form  der  Räumlichkeit  überhaupt 
als  eine  potentielle  Functic^nsweise.  Dies  haben  auch  viele  Kritiker  Ks. 
in  alten  und  neuen  Zeiten  herausgefunden,  und  auch  selbständige  Kan- 
tianer, wie  Reinhold  und  Beck,  haben  dies  getadelt. 

Man  kann  mit  Kurth,  Dittes  als  philos.  Kritiker  (des  Werkes  von 
Lasswitz  über  Kant),  Dresden  1886,  S.  27  flF.  eine  dreifache  Auffassung 
des  Raumes  unterscheiden :  R  ^  =  (unbewusste,  potentielle)  transscendentale 
Anschauungsform,  welche  vor  aller  Erfahrung  da  ist;  R2  =  die  besondere 
räumliche  Gestalt,  welche  mit  einem  sinnlichen  Empfindungscomplex  zu- 
sammen die  empirische  Anschauung  ausmacht  und  insofern  in  der  Erfahrung 
enthalten  ist  (deren  gibt  es  unbestimmt  viele,  also  =  n  Rj);  R3  =  die 
Vorstellung  des  unendlichen  mathematischen  Raumes,  welche  erst  aus  der 
Erfahrung  gewonnen  ist,  indem  R2  aus  der  empirischen  Anschauung  heraus- 
•  gelöst  und  in  infinitum  erweitert  wird.  Dann  ist  Kant  vorzuwerfen,  dass 
er  R|  und  R3  fast  immer  durcheinander  geworfen  hat.  Insbesondere  hat 
er  das  Vorhandensein  vor  aller  Erfahrung,  das  natürlicherweise  nur  dem 
R|  zukommen  kann,  immer  wieder  auf  R 3  übertragen;  er  hat  immer  wieder 
dem  Raum  des  Mathematikers,  welcher  doch  erst  durch  Abstraction  und 
Erweiterung  aus  den  empirischen  Räumen  (n  R2)  entstehen  kann,  die  volle 
Apriorität  zugeschrieben.  Vgl.  Herbart,  W.  W.  VI,  115.  Cohen,  2.  A.  584  f. 
Kant  that  dies  bekanntlich,  weil  er  des  Glaubens  lebte,  die  Noth wen- 
digkeit und  Apriorität  der  Sätze  der  reinen  Mathematik  allein  auf  diese 
Weise  retten  zu  können.  Gerade  diese  Rücksicht  auf  die  Mathematik  be- 
stärkte ihn  aber  in  jener  Vermischung  von  Rj  und  R3;  denn  Kant  ver- 
wechselte, wie  wir  sehen  werden,  das  Problem  der  Gültigkeit  der  reinen 
Mathematik  als  solcher  mit  dem  Problem  ihrer  gültigen  Anwendung  auf 
die  empirischen  Objecte.  Für  die  Gültigkeit  dieser  Anwendung  der  Sätze 
der  Mathematik  auf  alle  empirischen  Gegenstände  genügte  die  Annahme 
von  R^:  die  Raumgesetze  müssen  auf  alle  Dinge  im  Räume  (n  R2)  An- 
wendung finden,  weil  dieselben  erst  durch  Rj  zu  dem  geworden  sind,  was 
sie  sind.  Aber  um  die  Apriorität  der  reinen  Mathematik  als  solcher  be- 
haupten zu  können,  dazu  musste  die  actuelle  Apriorität  auch  von  B3  an- 
genommen werden.  Die  später  folgende  Untersuchung  über  Ks.  Verwechs- 
lung jener  beiden  Probleme  der  Mathematik  wird  also  auf  diese  Ver- 
wechslung der   beiden  Fassungen  des   Apriori    rückwärts  Licht   werfen. 


Kant  über  das  Angeborene  1770.  89 

Excurs. 

Wie  verhält  sich  Kants  Apriori  zum  Angeborenen? 

An  dieser  Stelle  nun  verlangt  die  Frage  Beantwortung,  wie  sich  Kants 
apriorische  Formen  zu  dem  Angeborenen  verhalten?  In  der  Kr.  d.  r.  V. 
hat  Kant  dieses  doch  naheliegende  Thema  mit  merkwürdigem  Stillschweigen 
übergangen;  er  hat  sich  aber  an  anderen  Orten  zur  Genüge  darüber  ge- 
äussert. In  der  Dissertation  §  15  ün.  heisst  es  nach  der  Erörterung  von 
Raum  und  Zeit:  „Tandem  quasi  sponte  cuilibet  oborilur  quaestU),  utrum  con- 
ceptus  uterque  sit  connatus  an  acquisitus.  Posterius  quidem  per  demon- 
strata  jam  videtur  refutcUum,  prius  atäemy  quia  viam  sternü  phüosophiae 
pigrorum  ulteriorem  quanUibet  indagationem  per  citationem  causae  primae 
irritam  declarantis^  non  ita  temere  admittendum  est  Verum  conceptus  uterque 
procul  dubio  acquisitus  est,  non  a  sensu  quidem  objectorum  {sensatio  enim 
materiam  dat,  non  formam  cognitionis  humanae)  abstr actus,  sed  ab  ipsa 
mentis  actione,  secundwn  perpetuas  leges  sensa  sua  coordinante,  quasi  typus 
immutahilis  ideoque  intuitive  cognoscendus,  Sensationes  enim  excitant  hunc  mentis 
actum,  non  influunt  intuitum,  neque  aliud  hie  connatum  est,  nisi  lex 
animi,  secundum  quam  certa  ratione  sensa  sua  e praesentia  objecti  conjungit.^ 
Dazu  §  4fin. :  Per  formam  seu  speciem  objecta  sensus  non  feriunt;  ideoque 
ut  varia  objecti  sensum  afficientia  in  totum  aliquid  repraesentationis  coalescant, 
opus  est  interno  mentis  principio,  per  qiiod  varia  illa  secundum  stabiles  et 
innatas  leges  speciem  quandam  induant.  Und  von  der  Zeit  heisst  es  §  14,  5:^ 
Conceptus  temporis  tantummodo  lege  mentis  interna  nititur,  neque  est  intuitus 
quid  am  connatus,  adeoque  nonnisi  sensuum  ope  actus  iUe  animi,  siia  sensa 
coordinanti^ ,  elicitur.  Ganz  in  derselben  Weise  heisst  es  daselbst  §  8  von 
den  metaphysischen  Begriffen  (den  späteren  Kategorien) :  Cum  itaque  in  meto- 
physica  non  reperiantur  prindpia  empirica,  conceptus  in  ipsa  obvii  non  quaerendi 
sunt  in  sensibus,  sed  in  ipsa  natura  inteüectus  puH,  non  tanquam  conceptus 
connati,  sed  e  legibus  menti  insitis  {attendendo  ad  ejus  actiones  occasione 
experientiae)  abstracti,  adeoque  acquisiti, 

Kant  bekämpft  also  hier  ganz  entschieden  die  Lehre  von  den  an- 
geborenen Ideen:  insbesondere  Raum  und  Zeit  sind  keine  angeborenen  Vor- 
stellungen. Er  bekämpft  aber  auch  die  entgegengesetzte  Lehre,  dass  der- 
artige Vorstellungen  aus  der  Erfahrung  abgezogen  und  erworben  seien.  (Vgl. 
dazu  bes.  noch  §  14,  1.)  Kant  sucht  vielmehr,  entsprechend  seiner  all- 
gemeinen Vermittlungstendenz  (Comm.  1 ,  58  if.),  einen  Mittelweg  zwischen 
Cartesius  und  Locke.  Er  gibt  dem  Ersteren  zu,  dass  R.  u.  Z.  nicht  aus 
Prfahrung  stammen,  sondern  aus  —  wie  er  ausdrücklich  sagt  —  ange- 
borenen Geistesgesetzen  hervorgehen;  aber  auch  nur  diese  Gesetze  der 
Coordination  sind  angeboren,  als  Functionsformen  des  menschlichen  Gemüthes, 
nicht  die  fertigen  bewussten  Vorstellungen  von  Raum  und  Zeit  selbst.  Diese 
werden  erst  im  Laufe  der  Zeit  gebildet,  sie  werden  erst  aus  unseren  inneren 
Actionsformen,  durch  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf  dieselben,  abstrahirt, 


90  Excurs.    Yerhältniss  des  Apriori  zum  Angeborenen. 

und  insofern  sind  sie  erworbene  Vorstellungen.  Diese  spätere  Entstehung* 
und  die  Erwerbung  gibt  Kant  Locke  zu,  aber  der  Ort,  woher  die 
Erwerbung  stammt,  ist  das  Innere;  in  diesem  Inneren  finden  wir  die 
Thätigkeit  des  Geistes  bei  der  Coordination  der  an  sich  formlosen  Eindrücke. 
Diese  letzteren  bilden  nur  den  Anlass  dafür,  dass  jene  Functionsweise  des 
Gemüths  ins  Spiel  kommt;  dieses  Spiel  beobachten  wir  und  bilden  uns 
daraus  die  fertigen  bewussten  Vorstellungen  von  B.  u.  Z.  (Vgl.  Biehl,  Krit. 
I,  280;  II,  1,  114.)  Es  fragt  sich  aber  doch  sehr,  ob  diese  Bestimmungen 
vereinbar  sind  mit  den  in  der  Dissertation  entwickelten  Beweisen  dafür,  dass 
R.  u.  Z.  intuüus  puri  seien;  schon  hier  findet  dasselbe  Schwanken  statt, 
welches  wir  soeben  in  der  Kr.  d.  r.  V.  rügten,  zwischen  der  Apriorität  der 
Räumlichkeit  (der  angeborenen  Grundlage)  und  der  Apriorität  der  mathe- 
matischen Raumanschauung  (der  angeborenen  Vorstellung).  — 

Mit  dieser  Vermittlung  zwischen  Gartesius  und  Locke  (vgl.  Rieh], 
Krit.  I,  24.  162.  218;  II,  a,  114)  kommt  aber  Kant  nicht  weit  über  Leibniz 
hinaus.  Denn  was  hier  Kant  vorträgt,  ist  im  Grunde  die  These  der  Xou- 
veaux  Essais  von  Leibniz,  deren  Einwirkung  auf  Kants  Dissertation 
wir  ja  schon  mehrfach  behaupten  mussten  (Oomm.  I,  48.  167.  168.  171  f[. 
183).  In  der  ganzen  Schilderung,  welche  Kant  entwirft,  ist  eigentlich  kein 
Zug,  der  sich  nicht  auch  schon  in  jenem  Werke  nachweisen  Hesse.  Schon 
Leibniz  sagt  ausdrücklich,  dass  die  angeborenen  Ideen  trotzdem  erlernt 
werden  müssten:  „Nous  apprenotis  les  idSes  et  les  viriUs  innies ^  soii  ett 
prenant  garde  ä  leur  source,  soit  en  les  vMfiant  par  VexpSrience;  ei  je  ne 
saurais  admettre  Öette  proposition:  tout  ce  qu'on  apprend,  n^est  pas  inniJ^ 
(p.  41  der  Original ausg.)  Auf  die  Nouveaux  Essais  beruft  sich  in  Bezug  auf 
diese  Frage  auch  schon  Herz,  Betracht.  60—64,  dessen  Zeugniss  für  den  Zu- 
sammenhang der  K.'schen  Lehre  mit  der  Leibniz'schen  aus  naheliegenden 
Gründen  sehr  ins  Gewicht  fÄllt.  (Anders  B.  Erdmann,  Reflex.  II,  XLVIIL) 
Vgl.  Windelband,  Gesch.  d.  Philos.  S.  366  f.  424  N. 

In  der  Kr.  d.  r.  V.  selbst  hat  Kant,  wie  schon  bemerkt,  auffallender 
Weise  das  Thema  nirgends  direct  berührt.  Indirecte  Hinweise  kann  man 
manche  finden;  so  kann  man  mit  Riehl,  Krit.  I,  303.  323  und  Lasswitz 
139.  174  den  Anfang  der  Kritik  B,  „dass  alle  Erkenntniss  mit  der  Er- 
fahrung anfange",  dahin  deuten  (vgl.  Comm.  I,  170);  vor  allem  alle  jene 
Stellen ,  in  welchen  Kant  darauf  hinweist ,  dass  die  apriorischen  Vermögen 
bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  zur  Functionirung  erweckt  werden  (Comm. 
I,  171  f.;  Riehl  I,  372);  doch  finden  sich  in  der  Kritik  solche  Stellen  nur 
in  Bezug  auf  die  Kategorien.     Vgl.  jedoch  Refl.  II,  N.  513. 

Auch  in  den  Prolegomena  wird  das  Thema  nur  selten  angeschlagen; 
so  heisst  es  §  43  in  Bezug  auf  die  Ideen:  ,,Da  ich  den  Ursprung  der 
Kategorien  in  den  4  logischen  Functionen  aller  ürtheile  des  Verstandes  ge- 
funden hatte,  so  war  es  ganz  natürlich,  den  Ursprung  der  Ideen  in  den 
3  Functionen  der  Vernunftschlüsse  zu  suchen ;  denn  wenn  einmal  solche 
reine  Vernunftbegriffe  gegeben  sind,  so  könnten  sie,  wenn  man  sie  nicht 
etwa  für   angeboren   halten  will,   wohl   nirgends   anders  als  in  derselben 


Kant  über  das  Angeborene  1790.  91 

Vernunfthancllung  angetroffen  werden"  u.  s.  w.  Aehnlich  lautet  eine  Stelle 
in  der  Kr.  d.  pr.  Vern.  R.  VIII,  286  in  Bezug  auf  die  Kategorien.  Vgl. 
dazu  Riehl,  Krit.  I,  307. 

Eingehender  und  mit  besonderer  Beziehung  auf  die  Anschauungsformen 
hat  sich  Kant  über  die  Frage  bekanntlich  erst  1790  geäussert  in  der  Replik 
gegen  Eberhard:  „üeber  eine  Entdeckung"  u.  s.  w.  An  einer  sehr  oft 
citirten  Stelle  sagt  er  da  (Or.  68;  Ros.  I,  444  ff.)  ^:  „Die  Kritik  erlaubt 
schlechterdings  keine  anerschaffene  oder  angeborene  Vorstellungen;  alle 
insgesammt,  sie  mögen  zur  Anschauung  oder  zu  Verstandesbegriffen  gehören, 
nimmt  sie  als  erworben  an.  Es  gibt  aber  auch  eine  ursprüngliche  Er- 
werbung (wie  die  Lehrer  des  Naturrechts  sich  ausdrücken),  folglich  auch 
dessen,  was  vorher  gar  nicht  existirt,  mithin  keiner  Sache  vor  dieser  Hand- 
lung angehört  hat.  Dergleichen  ist  .  .  .  erstlich  die  Form  der  Dinge  in  R. 
u.  Z.,  zweitens  die  synthetische  Einheit  des  Mannigfaltigen  in  Begriffen; 
denn  keine  von  beiden  nimmt  unser  Erkenntnissvermögen  von  den  Objecten, 
als  in  ihnen  an  sich  selbst  gegeben  her,  sondern  bringt  sie  aus  sich  selbst 
a  priori  zu  Stande.  Es  muss  aber  doch  ein  Grund  dazu  im  Subjecte  sein, 
der  es  möglich  macht,  dass  die  gedachten  Vorstellungen  so  und  nicht  anders 
entstehen,  und  noch  dazu  auf  Objecte,  die  noch  nicht  gegeben  sind,  bezogen 
werden  können ,  und  dieser  Grund  wenigstens  ist  angeboren  ...  es 
ist  die  blosse  eigenthümliche  Receptivität  des  Gemüthes,  wenn  es  von 
etwas  (in  der  Empfindung)  afficirt  wird,  seiner  subjectiven  Beschaffenheit 
gemäss  eine  Vorstellung  zu  bekommen.  Dieser  erste  formale  Grund, 
z.B.  die  Möglichkeit  einer  Raumanschauung,  ist  allein  angeboren, 
nicht  die  Raumvorstellung  selbst.  Denn  es  bedarf  immer  Eindrücke,  um 
das  Erkenntniss vermögen  zuerst  zu  der  Vorstellung  eines  Objects  (die  jeder- 
zeit eine  eigene  Handlung  ist)  zu  bestimmen.  So  entspringt  die  formale 
Anschauung,   die   man   Raum    nennt,    als    ursprünglich    erworbene 

*  Die  Stelle  ist  eine  Antwort  auf  Eberhards  Frage  im  Philos.  Mag.  I,  387—391: 
Was  ist  der  Grund  der  Wirklichkeit  unserer  Vemunfterkenntniss  oder  unserer 
Erkenntniss  a  priori  ?  Kant  habe,  fahrt  E.  aus,  diese  Frage  gar  nicht  beantwortet. 
Nehme  er  nun  an,  dass  die  Anschauungsformen  selbst  ursprünglich  uns  anerschaffen 
seien,  so  denke  er  sich  damit  eine  qualitaa  occulta.  Nehme  er  aber  an,  —  und 
das  sei  wohl  seine  eigentliche  Meinung,  —  dass  nur  ihre  Gründe  angeboren  seien, 
80  sei  dies  im  Wesentlichen  identisch  mit  der  Leibniz'schen  Lehre.  Diese  Aehn- 
lichkeit  sei  auch  schon  einem  seiner  nEpitomatoren"  aufgefallen,  Schmid.  In  der 
That  hat  der  Letztere  in  seinem  Wörterbuch,  im  Artikel  A  priori  (4.  Aufl.  S.  11 — 18) 
treffend  die  These  durchgeführt:  „Offenbar  und  auffallend  ist  die  Ueber- 
einstimmung  dieser  K.'schen  Theorie  mit  Leibnizens  Lehre  von  an- 
geborenen Begriffen,  wie  man  sie  in  den  neuen  Versuchen  über  den 
menschlichen  Verstand  am  deutlichsten  und  vollständigsten  ent- 
wickelt findet."  „Kant  hat  diese  vernachlässigte  Lehre  wieder  aus  dem  Staub 
hervorgezogen.*  Schmid  hat  also  den  historischen  Zusammenhang  der  Kantischen 
Lehre  mit  den  Nouveaux  Essais  schon  ganz  richtig  erkannt !  Ebenso  der  Kantianer 
Seh  au  mann,  Aesth.  25 — 28,  ebenso  der  Kantianer  Abicht,  vgL  Comm.  I,  172. 
Vgl.  auch  Feder,  Raum  11—21. 


92  Excurs.    Verhältniss  des  Apriori  zum  Angeborenen. 

Vorstellung  (der  Form  äusserer  Gegenstände  überhaupt) ,  deren  Grund 
gleichwohl  (als  blosse  Receptivität)  angeboren  ist,  und  deren  Er- 
werbung lange  vor  dem  bestimmten  Begriff  von  Dingen,  die  dieser 
Form  gemäss  sind,  vorhergeht;  die  Erwerbung  der  Letzteren  ist  acqui- 
sitio  derivativa,  indem  sie  schon  allgemeine  transscendentale  Verstandes- 
begriffe  voraussetzt,  die  ebensowohl  nicht  angeboren,  sondern  erworben 
sind,  deren  acquUüio  aber,  wie  jene  des  Raumes,  ebensowohl  originaria 
ist  S  und  nichts  Angeborenes ,  als  die  subjectiven  Bedingungen  der  Spon- 
taneität des  Denkens  .  .  .  voraussetzt.  Üeber  diese  Bedeutung  des  Grundes 
der  Möglichkeit  einer  reinen  sinnlichen  Anschauung  kann  Niemand  zweifel- 
haft sein^  .  .  . 

Diese  Stelle  von  1790  steht  inhaltlich  ganz  in  Uebereinstimmung  mit 
den  oben  mitgetheilten  Stellen  von  1770.  Hinzugekommen  ist  hier  nur  der 
Vergleich  mit  dem  juristischen  Begriff  der  acquisitio  originaria,  womit  Kant 
nach  Eberhard  (Phil.  Arch.  II,  1,  52  „die  Sache  in  ein  wohlthätiges  Dunkel 
unter  den  gelehrten  Schatten  Ehrfurcht  gebietender  Kunstwörter  stellt "*. 
Indessen  wird  es  nicht  schwer,  dieses  Dunkel  zu  lichten.  Jener  Begriff  spielt 
schon  im  römischen  Hecht  eine  Rolle  (Cicero,  De  offic,  I,  7),  und  ist 
dann  besonders  von  Grotius  {De  jure  belli  et  pacis  II,  3),  sowie  von 
Pufendorf  {Jus  naturae  et  gentium  IV,  6)  ausgebildet  worden.  (Vgl.  Mellin 
II,  440  ff.)  Kant  selbst  hat  sich  über  den  Begriff  weitläufiger  geäussert  in 
seiner  Rechtslehre  §  10  (vgl.  §  6.  13.  28.  52  über  die  Bedeutung  des  ,üi> 
sprünglichen"):  ^Nichts  Aeusseres  ist  ursprünglich  mein;  wohl  aber  kann  es 
ursprünglich,  d.  h.  ohne  es  von  dem  Seinen  irgend  eines  Anderen  abzuleiten, 
erworben  werden"  u.  s.  w.  Das  Tertium  comparationis  liegt  eben  in  der 
negativen  Bestimmung,  dass  dasjenige,  was  dem  Subject  als  Besitzthum 
zuwächst,  nicht  von  einem  Anderen,  Fremden  genommen  ist.  Die 
positive  Quelle  der  ursprünglichen  Erwerbung  ist  in  den  juristischen  Fällen 
die  Besitznahme  einer  Sache,  die  Niemand  Anderem  vorher  gehört  hat;  in 
den  erkenntniss-theoretischen  Fällen  besteht  die  ursprüngliche  Erwerbung 
darin,  dass  ich,  was  ich  erwerbe,  nicht  „von  den  Objecten  als  in  ihnen 
an  sich  selbst  gegeben,  herzunehmen"  brauche,  sondern  in  mir  selbst 
finde,  indem  ich  es  „aus  mir  selbst  zu  Stande  bringe'^.  Auf  dieses 
innere  Functioniren  richte  ich  meine  Aufmerksamkeit  und  abstrahire  mir 
aus  demselben  erst  die  betreffende  Vorstellung.     Somit  ist  diese  Vorstellung 


^  Der  Gegensatz  des  Ursprünglichen  und  des  Abgeleiteten  spielt  bei  Kant 
(wie  bei  frülieren  Philosophen)  überhaupt  eine  grosse  Rolle.  Er  unterscheidet  auch 
(B  71)  einen  intuitus  originarius  und  derivativus.  Vgl.  Borns  Werk:  üeber  die 
ursprünglichen  Grundlagen  des  menschl.  Denkens,  1791  (§§  9.  11.  12).  Das  .Ur- 
sprüngliche"* wurde  Schlag-  und  Lieblingswort  besonders  bei  Beck,  in  Jacobs 
Annalen,  z.  B.  II,  395—397,  sodann  auch  bei  Fichte.  Auch  K.  Fischer  (Kant, 
3.  A.  330)  nennt  R.  u.  Z.  „ursprüngliche  Vorstellungen'  =  apriorische.  Vgl.  auch 
Cohen,  2.  A.  198  ff.  350  ff.  (Unterscheidung  des  .Ursprünglichen*  und  des  ,An^üig* 
liehen**).  Ganz  so  gebraucht  K.  den  Ausdruck  originarius  Dissert.  §  14,  6,  §  15,  E,  a.  ö. 
Auch  den  absoluten  Raum  heisst  Kant  1768  so. 


Acqumtio  originaria.  93 

nicht  angeboren,  sondern  „ursprünglich  erworben '',  aber  wohl  ist  der  formale 
Grund  zu  jener  Vorstellung  in  mir  angeboren. 

Danach  kann  der  Sinn  dieser  Erläuterung  nicht  zweifelhaft  sein,  ebenso 
wenig  aber,  dass  diese  Auffassung  im  Wesentlichen  mit  der  Leibniz'schen 
identisch  ist,  wie  eben  schon  sowohl  der  Kantianer  Schmid,  als  der  Anti- 
kantianer  Eberhard  ganz  richtig  bemerkt  haben  und  wie  dies  auch  Kant 
selbst  in  der  Schlussanmerkung  II  (Ros.  I,  480)  zugibt.  Nicht  die  formale 
Vorstellung  des  reinen  Baumes,  wie  ihn  der  Geometer  braucht,  ist  selbst  schon 
angeboren ;  wohl  aber  ist  angeboren  die  positive  Fähigkeit  dazu,  die  Fähigkeit, 
die  rein  qualitativen,  formlosen  Eindrücke  in  räumliche  Formen  zu  bringen. 
Indem  das  Gemüth  diese  raumsetzende  und  ordnende  Thätigkeit  ausübt, 
achtet  es  eben  auch  zugleich  auf  diese  seine  eigene  Thätigkeit  und  dadurch 
eben  wird  die  formale  Baumvorstellung  erworben  ^  Wie  und  wann  aber 
diese  Erwerbung  stattfinde,  gerade  diese  Hauptfrage  hat  Kant  nicht  näher 
beantwortet;  denn  was  soll  die  Bemerkung  heissen^  dass  sie  vor  dem  be- 
stimmten Begriffe  von  Dingen,  die  dieser  Form  gemäss  sind,  vorhergeht? 
Das  heisst  also  wohl,  die  bestimmten  Begriffe  der  Einzeldinge,  welche  Sache 
der  acquisitio  derivativa  sind,   werden  später  erworben,    als  jene   formale 

'  Eine  interessante  Ergänzung  hiezu  bildet  eine  bis  jetzt  ganz  unbeachtet 
gebliebene  Stelle  der  Kr.  d.  r.  V.,  im  Beweis  der  2.  Analogie  d.  Erf. ,  A  196  = 
B  241:  ff  Es  gehet  aber  hiermit  [mit  dem  Begnff  resp.  Gesetz  der  Causalität]  so, 
wie  mit  anderen  reinen  Vorstellungen  a  priori,  z.  B.  Raum  und  Zeit,  die  wir  darum 
allein  aus  der  Erfahrung  als  klare  Begriffe  herausziehen  können,  weil  wir  sie  in 
die  Erfahrung  gelegt  hatten  und  diese  daher  durch  jene  allererst  zu  Stande 
brachten."  Diese  Stelle  ist  aus  zwei  Gründen  beachtenswerth :  einmal  wird  als 
Quelle  der  später  gebildeten  formalen  Raumvorstellung  nicht  das  Achten  auf  die 
innere  raumsetzende  Function  angegeben,  sondern  die  äusseren  raumbegabten  Pro- 
ducte  selbst,  was  jedenfalls  natürlicher  ist  (womit  auch  die  Stelle  A  293  =  6  349 
übereinstimmt:  «Wenn  nicht  ausgedehnte  Wesen  wahrgenommen  werden,  kann 
man  sich  keinen  Raum  vorstellen.*  Vgl.  Cohen,  2.  A.  105.  Vgl.  auch  Refl.  II,  1196). 
Sodann  wird  hier  die  bewusste  Raumvorstellung  von  der  unbewussten 
apriorischen  Raumfunction  deutlich  unterschieden:  denn  «klar*  ist  nach  der 
Terminologie  des  vor.  Jahrb.  so  viel  als  bewusst;  sein  Gegensatz  ist  „dunkel";  die 
ursprüngliche  Raum  Vorstellung  oder  Raumfunction  läge  also  unbewusst  in  uns; 
die  bewusste  Raumvorstellung  wäre  erst  ein  Product  der  Erfahrung  und  Abstraction. 
In  diesem  Sinne  kann  auch  ProL  §  6  aufgefasst  werden,  wo  es  von  dem  Raum 
als  Erkenntnissgrund  a  priori  heisst,  dass  „er  tief  verborgen  liege,  sich  aber 
durch  seine  Wirkungen  offenbare*.  Vgl.  dazu  die  treffenden  Bemerkungen  Vol- 
kelts  über  „Es.  Stellung  zum  Unbewusst-Logischen*,  Philos.  Monatsh.  1873,  IX,  49  ff. 
—  Hieher  gehört  auch  eine  erst  neuerdings  bekannt  gewordene  Aeusserung  Ks. 
gegen  Kästner  (Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  III,  87) :  dass  der  Raum  von  sinnlichen 
Vorstellungen  abstrahirt  sei,  könne  auch  für  den  Metaphysiker  gelten;  „denn 
ohne  Anwendung  unseres  sinnlichen  Vorstellungsvermögens  auf  wirkliche  Gegen- 
stände der  Sinne  würde  selbst  das,  was  in  diesem  [Text  irrig:  diesen]  a  priori 
enthalten  sein  mag,  uns  gar  nicht  bekannt  [bewusst]  werden.  Das  darf  aber 
nicht  so  verstanden  werden,  als  sei  jene  Raumvorstellung  durch  die  Sinnen  Vorstellung 
allererst  entstanden  und  erzeugt  worden.* 


94  Excurs.    Verhältniss  des  Apriori  zum  ÄDgeborenen. 

Raum  Vorstellung ,  deren  ursprüngliche  Erwerbung  wohl  darum  schon  sehr 
frühe  stattfinden  kann,  weil  das  Gemüth  dabei  nur  auf  seine  eigene  Function 
gelegentlich  äusserer  Eindrücke  zu  achten  hat.  Die  Stelle  (vgl.  über  dieselbe 
auch  Riehl  I,  324)  ist  dunkel,  kann  aber  nichts  an  dem  oben  hinreichend 
festgestellten  Sinne  des  ganzen  Passus  ändern. 

Der  Sinn  dieser  berühmten  Stelle  verträgt  sich  nun  allerdings  schlechter- 
dings nicht  mit  dem  Sinn  der  oben  S.  86  f.  angeführten  Stellen,  vor  Allem 
nicht  mit  der  vorliegenden  Textstelle.     Dass  hier  ein  Widerspruch  vorliege, 
haben  Gegner  Kants  von  Anfang   an   mit  Recht  behauptet,   Niemand  aber 
treffender  und  eindringlicher,   als  Schwab   im  Phil.  Mag.  IV,  225  in  dem 
kleinen,  aber  schwerwiegenden  Aufsatz:  „Ist  H.Kant,  in  seiner  Streitschrift 
gegen  H.  Eberhard,   seinem   in  der  Kr.  d.  r.  V.  aufgestellten  Begriffe  vom 
Raum  getreu  geblieben?"    Er  führt  da  aus:  K.  unterscheidet  in  der  Streit- 
schrift die  Gründe  des  Raumes  und   die  Raumvorstellung  selbst;  jene  sind 
angeboren,   diese  erworben;   er  unterscheidet  zwar  wiederum  die  ursprüng- 
liche  und  die   abgeleitete  Erwerbung;   allein   auch   zur  Ersteren   muss  das 
Erkenntnissvermögen   durch  Eindrücke  bestimmt  werden.    Es  ist  nun   die 
Frage,  wovon  Kant  gesprochen  habe,  als  er  in  der  Kr.  d.  r.  V.  vom  Räume 
behauptete,    er  sei  eine  Anschauung  a  priori  u.  s.  w.  —  ob  von  jenen  an- 
geborenen Gründen   des  Raumes  oder   von    dieser  ursprünglich   erworbenen 
Raumvorstellung?     Im   ersteren  Fall   aber  konnte  Kant  doch  nicht  sagen, 
dass   der  Raum   eine  Anschauung   sei;    denn   alle  Anschauung  ist  nach  der 
K. 'sehen   Philosophie   sinnlich ;   die   angeborenen   Gründe   des  Raumes   aber 
können  nicht  sinnlich  sein.   Auch  Hess  sich  von  diesen  angeborenen  Granden 
des  Raumes  nicht  sagen,   dass  sie   als   eine  unendliche   Grösse  vorgestellt 
werden.   Im  zweiten  Fall  ^  aber  lässt  sich  nicht  mehr  absehen,  wie  der  Raum 
noch   eine   reine  Anschauung  a  priori   heissen   kann,    welche   aller  äusseren 
Anschauung   zu  Grunde   liegt;   denn  die  Raumvorstellung   ist  ja  in  diesem 
Fall   durch   äussere  Eindrücke   bestimmt ;   also  nicht  mehr  rein ;    rein  ist  ja 
nach  Kant  eine  Vorstellung,  in  der  nichts,  was  zur  Empfindung  gehört,  an- 
getroffen wird.     Diejenige  Vorstellung,    an  welcher  die  Empfindung  einigen 
Antheil  hat,  ist  also  nicht  rein;  wenn  a  priori  dasjenige  ist,  was  von  aller 
Ei*fahrung  (und  nach  B  2  selbst  von  allen  Eindrücken  der  Sinne)  un- 
abhängig ist,   so  ist  die  in  oben  beschriebener  Weise  erworbene  Raumvor- 
stellung nicht  a  priori.    Denn  bei  ihr  sind  ja  Eindrücke  die  Voraussetzung 
ihrer  Entwicklung,   und  wenn   das  zugegeben   werde,   so  werde  sich  auch 
schwerlich   das  Zugeständniss   umgehen   lassen,   dass  die  Eindrücke,  durch 
deren  Einwirkung  jene  angeborenen  Gründe   des  Raumes  sich  in  eine  sinn- 
liche Anschauung  verwandeln,   hiebei  sich  bestimmend  einmischen,   so  dass 
also   die  (wenn  auch  ursprünglich)  erworbene  Vorstellung  doch   keineswegs 
mehr  eine  „reine  Anschauung  a  priori**  genannt  werden  könne. 


^  Schwab  meint,  Kant  habe  wohl  diesen  Fall  in  der  Kr.  d.  r.  V.  im  Auge  gehabt ; 
denn  er  nenne  in  der  Streitschrift  die  ursprünglich  erworbene  Raumvorstellung  die 
„Form  äusserer  (Tegenstände"*,  und  von  dieser  spreche  er  ja  eben  in  der  Kr.  d.  r.  \  . 


Die  acquisitio  originaria  widerspricht  der  tr.  Aesthetik.  95 

Diese  treffenden  Ausführungen  schliesst  Schwab  mit  den  ebenso  treffen- 
den Worten:  „Debrigens  hat  das,  was  H.  Kant  in  seiner  Streitschrift  über 
den  Raum  sagt,  meinen  ganzen  Beifall,  ob  ich  wohl  nicht  einsehe,  wie  sich 
diese  Theorie  in  seiner  Philosophie  rechtfertigen  lässt.  Sie  ist  aber  nicht 
neu,  und  H.  Kant  hat  sich  auch  in  diesem  Punkt,  wie  in  mehreren  anderen, 
der  Leibniz- Wölfischen  Philosophie  genähert.  Ob  er  sich  nicht  aber  da- 
durch von  der  Kr.  d.  r.  V.  entfernt  habe,  dies  ist  eine  Frage,  die  nun  der 
Leser  nach  den  vorgelegten  Acten  leicht  entscheiden  kann."  Schwab  hat 
das  Thema  dann  noch  einmal  behandelt  in  seiner  noch  heute.  werthvoUen 
Schrift:  „Von  den  dunkeln  Vorstellungen."  1813.  j,Dunkle  Vorstellungen" 
ist  der  damalige  Terminus  statt  „unbewusst",  und  da  zeigt  er,  dass  gewisse 
Begriffe  unbewusst  in  der  Seele  schlummern,  bis  sie  durch  die  Erfahrung 
erweckt  werden;  das  sei  Leibnizens  und  Kants  Meinung  gewesen.  Ueber 
Kant  bandelt  Schwab  S.  45—53  und  zeigt,  dass  Kant  eben  in  jener  Stelle 
der  „Entdeckung"  nur  die  Leibniz'sche  Lehre  vom  „virtuellen  Vorhandensein" 
gewisser  Begriffe  weiter  ausgebildet  habe,  und  daher  auch  „Unrecht  gehabt 
habe,  die  angeborenen  Vorstellungen,  wenigstens  im  Leibniz'schen  Sinne,  zu 
verwerfen.  Es  ist  aber  dieses  nicht  das  einzige  Beispiel,  dass  Kant  über 
gewisse  Gegenstände  der  speculativen  Philosophie  sich  schwankend  bald 
so.  bald  anders  ausdrückte,  zum  Beweis,  dass  er  in  Ansehung  derselben  nicht 
ganz  ins  Reine  gekommen  war." 

Einen  Beweis  dieser  „schwankenden"  Ausdrucks  weise  haben  wir  eben 
in  der  oben  erwiesenen  Thatsache,  dass  die  verschiedenen  Stellen  über  die 
Apriorität  der  Rauravorstellung  sich  widersprechen.  Wahrend  in  der  Dis- 
sertation von  1770  diese  unvereinbaren  Behauptungen  neben  einander  stehen, 
finden  wir  sie  später  auf  die  Kr.  d.  r.  V.  und  auf  die  Streitschrift  gegen 
Eberhard  vertheilt:  der  Wortlaut  nicht  bloss,  sondern  auch  der  Geist 
der  transsc.  Aesthetik  lassen  sich  nicht  mit  der  Lehre  von  der 
Erwerbung  der  Raumvorstellung  vereinigen.  Uebrigens  hatten  schon 
vor  Kants  Aeusserung  von  1790  einige  selbständigere  Kantianer  jene  —  un- 
mögliche —  Versöhnung  der  transsc.  Aesthetik  mit  der  empirischen  Psycho- 
logie versucht,  so  1789  Schaumann  in  seinem  beachtenswerthen  „Kritischen 
Versuch"  „lieber  die  transsc.  Aesthetik",  bes.  S.  29  (vgl.  Comm.  I,  191),  so  in 
demselben  Jahre  Reinhold  in  seiner  „Theorie  des  Vorstellungsvermögens", 
S.  389  ff.  Den  stärksten  und  zugleich  glücklichsten  Ausdruck  hat  Reinhold 
seiner  Auffassung  verliehen  a.  a.  0.  306:  „Man  kann  die  Vorstellungen 
a  priori  als  anatomische  Präparate  des  menschlichen  Gemüthes 
ansehen.  Sie  haben,  wie  die  wirklichen  anatomischen  Präparate,  insoferne 
nnr  ein  künstliches  Dasein,  als  sie  ihren  Gegenständen  nach  nur  zum  Be- 
hufe  der  Wissenschaft  von  dem  Ganzen,  der  Vorstellung  a  posteriori, 
woran  die  Formen  der  Receptivität  und  Spontaneität  sich  allein  zuerst  in 
ihrer  natürlichen  Bestimmung  äussern,  abgesondert  vorhanden  sind."  Zum 
Zustandekommen  jenes  Ganzen  konnten  aber  jene  Formen  nur  im  Zusammen- 
hang mit  dem  Stoff  beitragen,  ohne  den  sie  nichts  sind,  durch  den  sie 
aber  nicht  sind.   Man  könne  die  apnorischen  Formen  herausheben  aus  ihrer 


96  Excurs.    Yerhältniss  des  Apriori  zum  Angeborenen. 

Verbindung  mit  dem  Stoff  und  als  eigene  Vorstellungen  hinstellen;  aber 
ursprünglich  seien,  sie  keineswegs  Vorstellungen  im  eigentlichen  Sinne, 
sondern  Beschaffenheiten  des  Vorstellungsvermögens:  —  alles  dies 
widerspricht  aber  der  tr.  Aesthetik  selbst  schnurstracks:  denn  für  diese 
sind  R.  u.  Z.  wirklich  apriorische  Vorstellungen,  deren  »Grund''  nicht  bloss 
in  uns  angeboren  ist,  sondern  welche  selbst  als  solche  fertig  in  uns  „bereit 
liegen''.  Kant  kann  das  Angeborene,  nicht  nur  im  abgeschwächten  Leibniz*- 
schen  Sinne,  sondern  im  ursprünglichen  Sinne  der  Cartesianer  (und  sog. 
„Neuplatoniker"),  von  seiner  transsc.  Aesthetik  nicht  abschütteln. 

Vgl.  hiezu  ferner  Eberhard,  Mag.  III,  70—75;  Archiv  II,  1,  52.  119. 
Weiteres  aus  jener  Zeit  über  das  Verhältniss  des  Kantischen  Apriori  zum 
Angeborenen  und  über  die  acquisitio  originaria  s.  bei  Mellin  I,  227 — 231. 
Schmid,  Wort.  11  ff.  49  f.  Lossius,  Lex.  I,  257—289.  Born,  Magazin  IL  3. 
248  ff.  Eberstein  II ,  184.  241.  Schaumann ,  Aesth.  24  ff.  Im  Anschluss 
an  Kants  Erklärung  von  1790  haben  dann  besonders  Beck  und  Fichte 
ihre  Baumtheorien  ausgebildet.  — 

Auch  in  der  neueren  Kantliteratur  ist  diese  Frage  vielfach  discutirt 
worden.  Doch  hat  die  Discussion  darüber ,  wenigstens  bei  den  hervor- 
ragenden Kantianern  der  Gegenwart,  einen  anderen  Charakter  angenommen. 
Dass  Kant  sich  in  seinen  Aeusserungen  widersprochen  habe,  wenn  er  in  der 
Streitschrift  gegen  Eberhard  bloss  die  Anlage  zum  Raum,  nicht  die  Raum- 
vorstellung selbst  angeboren  sein  lässt,  wie  das  doch  in  der  Aesthetik  der 
Fall  ist  —  das  wollen  sie  nicht  Wort  haben ;  Kant  habe  nie  fertige  Formen 
gemeint,  immer  nur  die  Anlage  dazu.  Aber  auch  diese  positive  Anlage  zum 
Raum  ist  den  fortgeschritteneren  Kantianern  unbequem,  seitdem  die  neuere 
«mpirische  Psychologie  auch  nicht  mehr  eine  solche  Raumanlage  stehen  lassen 
will,  sondern  das  Räumliche  auf  diese  oder  jene  Weise  aus  den  blossen 
Empfindungen  als  solchen  erklären  will.  Diese  sog.  empiristische  Raum- 
theorie ist,  allerdings  in  sehr  verschiedener  Ausbildung,  z.  B.  von  Herbart. 
Bain,  Wundt  aufgestellt  worden.  Mit  dieser  suchen  jene  freieren  Kantianer 
Fühlung.  Dass  sie  damit  das  specifisch  Kantische  preisgeben,  wollen  sie 
ebenfalls  nicht  Wort  haben;  denn  sie  geben  nun  dem  Apriori  einen  ganz 
anderen  Sinn.  Es  sei  ein .  vollständiges,  allerdings  durch  Kants  unvorsichtige 
Ausdrucksweise  verursachtes  Missverständniss  des  Apriori,  wenn  man  das- 
selbe psychologisch  auslege;  es  handle  sich  dabei  um  gar  nichts  Anthropo- 
logisches, nicht  um  ein  Vorhergehen  irgend  einer  Vorstellung  oder  Function 
vor  der  Erfahrung,  insbesondere  nicht  um  irgend  eine  angeborene  Vor- 
stellung oder  auch  nur  Anlage  zu  einer  Vorstellung,  sondern  um  die 
logische  Priorität,  um  dasjenige,  was  die  logische  Bedingung  der  Mög- 
lichkeit der  Erfahrung  ausmacht;  was  sie  dann  die  transscendentale 
Auffassung  des  Apriori  nennen.  Diese,  später  noch  weiter  zu  besprechende 
Auffassung  des  Apriori  lässt  sich  ja  nun  allerdings  mit  jener  empirischen 
Raumtheorie  sehr  wohl  vereinigen,  aber  sie  lässt  sich  leider  nicht  mit  der 
genuinen  Kantischen  Theorie  vereinigen;  sie  ist  eine  Vergeistigiing ,  aber 
auch  eine  gänzliche  Verflüchtigung  derselben.     Während  wir  also  oben  nur 


Riehl  sucht  das  ,  Angeborene"  ganz  zu  eKminiren.  97 

einen  Widerspruch  bei  Kant  zu  statuiren  hatten,  gerftth  diese  moderne  Aus- 
legung in  einen  offenbaren  Widerspruch  mit  Kant.  Und  da  nun  jene 
Kantianer  doch  wieder  sich  auf  die  Kantischen  Originalstellen  berufen 
müssen,  so  fallen  sie  doch  theilweise  wieder  in  jene  von  ihnen  selbst  ver- 
worfene, von  Kant  aber  factisch  vertretene  Theorie  zurück;  theilweise  aber 
deuten  sie  Kant  in  ihrem  Sinne  um,  oder  machen  ihm  auch  Vorwürfe,  dass 
er  miss verständliche  Ausdrücke  gebraucht  habe  u.  s.  w. 

Es  trifft  dies  insbesondere  zu  bei  dem  systematisch  bedeutendsten 
Werke  dieser  Richtung,  bei  dem  I.  Band  des  geistvollen  „Philosophischen 
Kriticismus*  von  Riehl.  Er  beruft  sich  mit  besonderer  Vorliebe  auf  jene 
Kantische  Stelle  aus  der  Streitschrift  gegen  Eberhard,  legt  dieselbe  aber 
dahin  aus,  dass  Kant  in  ihr  den  gftnzlich  empirischen  Ursprung  der 
Anschauungs-  und  Denkformen  als  seine  eigentliche  Meinung  ausgesprochen 
habe ;  die  von  Kant  daselbst  behauptete  angeborene  Anlage  zum  Raum  wird 
also  ganz  eliminirt.  So  sagt  Riehl  I,  280:  Die  Kategorien,  ebenso  wie  die 
reinen  Anschauungen  sind  „demnach  weder  als  Vorstellungen  noch  in  der 
Gestalt  von  Anlagen  oder  Einrichtungen  dem  Bewusstsein  angeboren" ; 
ebenso  307 :  „Die  Begriffe  a  priori  sind  weder  als  Begriffe  noch  als  Anlagen 
angeboren' ;  wenn  Kant  einmal  (A  66)  von  „Keimen  und  Anlagen  der  reinen 
Begriffe  im  menschlichen  Verstände"  spreche,  so  sei  dies  ein  „ungeeigneter 
und  provisorischer  Ausdruck*  (324);  denn  „die  Begriffe  a  priori  haben  keinen 
anderen  Ursprung  als  die  empirischen"  (373).  Wann  also  „wird  die  Be- 
hauptung verstummen,  K.  habe  von  Einrichtungen  des  Verstandes,  d.  h.  von 
angeborenen  Begriffen  gehandelt,  während  nach  ihm  alle  Begriffe  erworben 
sind?"  (298).  Denn,  „wo  immer  Kant  im  Zusammenhang  seiner  Unter- 
suchung  auf  die  Ursprungsfrage  trifft,  da  erklärt  er  sich,  was  man  bisher 
ganz  übersehen  hat,  unzweideutig  für  die  empiristische  Theorie  .  .  .  ^  Das 
Bewusstsein  der  reinen  Begriffe  ist  erworben  und  enthält  ebenso  wie  die 
Vorstellung  des  Raumes  nichts  Angeborenes.  Bloss  die  Quelle  dieser  Be- 
griffe und  Anschauungen  liegt  ...  in  der  allgemeinen  Form  des  .  .  .  Be* 
wusstseins"  (7).  In  dieser  Schlusswendung  ist  aber  doch  eben  jene  angeborene 
Einrichtung  wieder  anerkannt,  welche  eben  geleugnet  wurde,  jener  „Grund", 
wie  die  Schrift  gegen  Eberhard,  jene  „leg es  mentis  innatae^,  wie  die  Dis- 
sertation sich  ausdrückte.  Oanz  so  heisst  es  dann  ja  auch  wieder  bei  Riehl 
(324),  der  „Grund  ihrer  Entstehung  liege  im  empfänglichen  Bewusstsein", 
sie  „entspringen  aus  den  Gesetzen  des  Be wusstseins"  (367)  —  das  aber  sind 
ja  eben  jene   oben  geleugneten  „angeborenen  Einrichtungen".    Dies   ist  ja 


'  Nach  Helmholtz  dagegen  (Optik  456  u.  ö.)  ist  Kant  im  Gegentheil  der 
erste  Vertreter  der  Dativistischen  Theorie,  weil  er  R.  u.  Z.  „als  gegebene 
Formen  aller  Anschauung  hinstellt,  ohne  weiter  zu  untersuchen,  wie  viel  in  der 
näheren  Ausbildung  der  einzelnen  räumlichen  und  zeitlichen  Anschauungen  aus  der 
Erfahrung  hergeleitet  sein  könne**.  Damit  stimmt  auch  überein  6.  Erdmann, 
Axiome  der  Geometrie  S.  105.  Vgl.  Tobias,  Grenzen  der  Philos.  104 — 177.  Kant 
selbst  erklärt  sich  in  der  Einleitung  zur  Transsc.  Deduction  A  86  =  B  118  aus- 
drücklich gegen  ,eine  empirische  Deduction  der  Formen  der  Sinnlichkeit*. 
Vaihinger,  Kant-Gomraentar.    II.  7 


98  ExcuTs.    Yerhältniss  des  Aprioii  zum  Angeborenen. 

auch,  wie  festgestellt  wurde,  der  Sinn  jener  acquisitio  originaria,  die  mit  der 
derivativa  nicht  identificirt  werden  darf.  Dies  geschieht  aber  seitens  Riehl 
in  jenen  zuerst  mitgetheilten  Stellen,  in  denen  eben  das  specifisch  Kantische 
aufgegeben  war  —  die  Ueberzeugnng,  dass  die  Seele  aus  ihrem  eigenen 
Fonds  die  rein  qualitativen  Empfindungen  in  die  Raum  form  bringe,  mit 
derselben  „bekleide'',  wie  es  in  der  Dissertation  heisst  (indttere).  Die  neuere 
empiristische  Ableitung  des  Baumes  gibt  aber  eine  solche  ursprungliche 
Ausstattung  des  „Gemüthes'',  eine  solche  anfänglich  latente,  aber  als  positive 
Anlage  vorhandene  Function  der  räumlichen  Synthesis  nicht  mehr  zu,  son- 
dern will  aus  den  Verhältnissen  der  raumlosen  Empfindungen  selbst  die 
Räumlichkeit  erklären.  Wer  also  diese  Meinung  theilt,  wird  sich  auch  auf 
die  Kantische  acquiaiiio  originaria  nicht  mehr  berufen  können.  (Vgl.  Riehl 
ib.  I,  17.  24.  55  f.  67.  303-307.  311.  322.  349  f.  364.  378  f.  400.  II,  a, 
8.  112  ff.  142.)  Sehr  zutreffend  bemerkt  daher  Riehl  später  anderwärts 
(Viert,  f.  wiss.  Phil.  II,  216  ff.):  „Den  Begriff  einer  ursprünglichen  Er- 
werbung dürfte  wohl  Niemand  für  eine  Lösung  der  psychologischen  Frage 
halten;  auch  gebraucht  ihn  K.  thatsächlich  mehr  als  Gleichniss,  wie  als 
Erklärung.« 

Eine  ähnliche  Stellung  zum  Angeborenen  nimmt  nun  auch  schon 
Cohen  ein.  Er  hat  die  Frage,  wie  sich  das  Apriori  zum  Angeborenen  ver^ 
halte,  besonders  bei  den  Anschauungsformen,  sehr  eingehend  behandelt; 
1.  Aufl.  S.  1—3.  87—105.  2.  Aufl.  29  ff.  (über  Cartesius;  dazu  vgl.  Natorp, 
Descartes  110  ff.)  43  ff.  (über  Locke)  70  ff.  90  ff.  160.  195-238.  252  ff.  372. 
Er  stellt  das  Problem  auf:  »Was  würde  der  Leser  auf  die  Frage  antworten: 
Sind  Raum  und  Zeit  nach  K.  angeboren?"  Auch  er  hat  zwei  ganz  ver- 
schiedene Antworten  auf  die  Frage.  Wer  das  Apriori  richtig  versteht,  weiss, 
dass  dasselbe  mit  dem  Angeborenen  gar  nichts  zu  schaffen  hat.  Die  Gleich- 
setzung beider  Termini  verfehlt  vielmehr  das  Verständniss  des  Apriori.  Die 
Bestimmung  des  Angeborenen  stammt  aus  einer  vorkantischen  Fassung  des 
Problems  der  Erkenntnisslehre.  Die  Frage:  angeboren  oder  erworben?  ist 
eine  vorkritische  Disjunction,  welche  Kant  überwunden  hat.  (195.  196.  Vgl. 
Cohen,  Ks.  Ethik,  S.  26.)  Denn  Kant  versteht  im  tiefsten  oder  höchsten 
Sinne  unter  seinem  Apriori  „die  formalen  oder  constituirenden  Bedingungen 
der  Erfahrung",  aber  wohlgemerkt  nicht  die  psychologischen  Bedingungen 
derselben  in  uns,  sondern  die  logischen  Voraussetzungen  derselben  an  sich. 
Dieses  Apriori  ist  nicht  äquipollent  mit  dem  Angeborenen,  deckt  sich  nicht 
mit  ihm  (215).  Es  kümmert  uns  daher  gar  nicht,  ob  angeboren  oder  nicht: 
was  wir  zur  Herstellung  der  Erfahrungseinheit  brauchen,  das  ist  A  priori  (255). 
Das  ist  „der  schlichte  transcendentale  Standpunkt*'  (230).  Wer  dagegen 
„die  Tendenz  der  K.'schen  Lehre  in  der  Richtung  des  Angeborenen  ver- 
folgt" (237),  „verfehlt  das  Verständniss  des  Apriori"  (196).  Als  warnende 
Beispiele  solchen  Miss  Verständnisses  werden  gebrandmarkt:  J.  B.  Meyer 
(Ks.  Psychol.  131),  Lotze  (Metapb.  202),  Helmholtz  (Thats.  d.  Wahrn.  62). 

Während  nach  dieser  Darstellung  die  Bestimmung  „angeboren"  „in 
bündiger  Weise   aus  der  Kantischen  Lösung   ausgeschlossen   wurde"  (196), 


Cohen  kommt  doch  wieder  auf  das  , Angeborene"  zurück.  99 

gibt  Cohen  noch  eine  ganz  andere  Darstellung,  nach  welcher  das  Apriori 
doch  wieder  als  „angeboren^'  zu  bezeichnen  ist,  natürlich  nur  der  Anlage 
nach,  nicht  als  fertige  Vorstellung.  Jene  Kantische  Stelle  aus  der  Ent- 
deckung ist  doch  zu  deutlich,  als  dass  sie  ohne  Weiteres  wegzudisputiren 
wäre.  Aber  es  ist  belehrend  zu  sehen,  wie  Cohen  diese  neue  Darstellung 
mit  der  vorigen  zu  vereinigen  sucht.  Er  schlägt  dazu  nicht  weniger  als 
drei  Wege  ein,  die  natürlich  bei  ihm  selbst  unmerklich  mit  einander  ab- 
wechseln oder  in  einander  übergehen,  deren  Verschiedenheit  aber  vor  schärferer 
Analyse  sich  nicht  verstecken  kann.  Einer  der  drei  Wege  wird  nur  an- 
deutungsweise eingeschlagen  (253  f.) :  Kant  habe  sich  in  jener  Stelle  der 
„Entdeckung"  aus  pädagogischen  Gründen  so  ausgesprochen;  einem  Eberhard 
gegenüber  sei  diese  Auffassung  seines  Apriori  als  „Zugeständnisse  zweck- 
mässig gewesen.  Der  zweite  Weg  führt  zu  der  Auffassung,  Kant  habe  eben 
erst  allmälig  den  strengen  Begriff  des  Transscendentalen  entwickelt;  in  der 
Dissertation  von  1770  fehle  das  kritische  Apriori  noch  gänzlich;  in  der 
Transsc.  Aesthetik  sei  es  noch  nicht  ganz  zum  Durchbruch  gekommen ;  erst 
in  der  Analytik,  und  zwar  eigentlich  erst  in  der  2.  Aufl.  derselben  sei  Kant 
zum  vollen  Bewusstsein  seiner  Entdeckung  gelangt  (195.  217.  253).  So 
erkläre  sich  Kants  „Schwanken"  hierin  genügend,  so,  wenn  er  im  Anfang 
der  Aesthetik  von  den  „im  Gemüth  bereit  liegenden  Formen"  spreche,  so, 
wenn  er  in  der  Schrift  gegen  Eberhard  in  die  Schulsprache  der  alten  Meta- 
physik zurückfalle.  Aber  noch  einen  dritten  Weg  schlägt  Cohen  ein,  und 
auf  diesem  gewinnt  nun  das  vorher  von  ihm  so  verschmähte  und  geschmähte 
„Angeborene"  auch  bei  ihm  einen  positiven  Sinn.  Wenn  man  jenes  trans- 
scendentale  Apriori  psychologisch  betrachte  —  und  diese  psychologische  Be- 
trachtung lasse  sich  eben  doch  nicht  umgehen  —  dann  stelle  es  sich  uns 
dar  als  das  „Ursprüngliche",  das  sich  „der  entwicklungsgeschichtlichen 
Genese  entziehe  und  als  etwas  Letztes  und  Eigen thümlich es  anzuerkennen 
sei"  (198).  Diese  „ursprünglichen  Elemente  unseres  Bewusstseins"  (199.  202) 
werden  dann  weiterhin  zweitens  erkannt  als  „die  ursprüngliche  Thätigkeits- 
form  unserer  Sinnlichkeit"  (213).  Bei  diesen  beiden  Auffassungen,  die  auch 
als  Vorstufen  des  eigentlichen  transscendentalen  Apriori  im  strengen  Sinne 
charakterisirt  werden,  besteht  nun  nach  S.  214  ja  allerdings  „der  Schein 
der  Identität  des  Apriori  mit  dem  Angeborensein";  aber  nach  S.  254  darf 
diese  letztere  Bezeichnung  doch  „getrost"  angewendet  werden  —  und  damit 
sind  wir  wieder  bei  der  vorher  so  verschmähten,  ja  verspotteten  acquisitio 
originaria,  bei  dem  „angeborenen  Grund"  Kants,  bei  der  lex  menti  insUay 
conncUa  angelangt,  wie  Robinson. 

Diese  Rückkehr  zu  den  ursprünglichen  Kantischen  Bestimmungen  ist 
nur  zu  billigen.  Ohne  dieses  Einlenken  stünde  nicht  nur  das  Apriori  gar 
zu  sehr  in  der  Luft,  sondern  ohne  dasselbe  wäre  auch  die  Differenz 
von  Kant  gar  zu  auffallend,  und  so  wollen  wir  es  als  das  Ergebnis» 
dieser  trotzdem  anregenden  und  gedankenreichen  Ausführungen  Cohens 
und  Riehls  betrachten,  dass  das  Apriori  Kants  eben  doch  unleugbar 
mit  dem  Angeborenen  grosse  Verwandtschaft  besitze ;  mag  auch  die  Transsc. 


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V.  *-^' 


100  Excurs.    Verhältniss  des  Apriori  zum  Angeborenen. 

Analytik  uns  später  zu  einer  anderen  Ausbildung  der  Aprioritätslehre  bei 
Kant  fuhren,  die  Aesthetik  zeigt  dieses  ihr  fremde  Element  noch  nicht  im 
Geringsten;  ihr  ist  das  Apriori  mit  dem  Angeborenen  im  Wesentlichen 
identisch. 

Ganz  in  diesem  Sinne  bemerkt  durchaus  zutreffend  Volkelt,  Ks.  £rk. 
231  ff.:  „Wir  dürfen  es  als  unk  antisch  zurückweisen,  wenn  gewisse  Kant- 
forscher von  dem  Apriori  das  Merkmal  der  psychologischen  Ursprünglichkeit 
fernhalten."  ^  „Dies  alles  sind  Unterscheidungen,  die  Kant  nicht  kennt.  Es 
ist  ein  überscharfsinniges  Missdeuten  seiner  Bestrebungen,  die  Ansicht 
dass  die  apriorischen  Vorstellungen  der  Empfindung  ihren  Ursprung  ver- 
danken, für  verträglich  mit  seiner  Aprioritfttslehre  zu  halten."  Also  diese 
„überkritische  Wegdeutung  alles  Angeborenen''  ist  unkantisch.  Vgl.  des- 
selben „Erfahrung  und  Denken"  S.  493  ff.  über  das  Verh&ltniss  des  „erkennt- 
niss-theoretischen  und  des  psychologischen  Apriori".  Vgl.  jetzt  auch  die 
durchaus  zutreffenden  Ausführungen  von  Stumpf,  Psychologie  und  £rk.- 
Theorie,  München,  1891,  S.  27—29. 

Diese  Auffassung  stimmt  denn  auch  vollständig  überein  mit  der  Auf- 
fassung Liebmanns,  welcher  hier  in  erster  Linie  gehört  zu  werden  das 
Recht  hat.  In  seiner  „Analysis  der  Wirklichkeit"  (1.  A.  1876,  S.  191—240 
„Die  Metamorphosen  des  Apriori")  hat  derselbe  die  beiden  Seiten  des  Kanti- 
schen Apriori,  von  welchen  Cohen  und  Riehl  die  Eine,  die  psychologische, 
so  gerne  eliminiren  möchten ,  als  gleich  nothwendig  anerkannt ,  und  bean- 
sprucht damit  auch,  den  „Geist"  der  Kantischen  Lehre  wiederzugeben.  Er 
zeigt,  dass  das  Kantische  Apriori  einerseits  eine  Fortbildung  der  Leibniz'schen 
angeborenen  Ideen  ist,  andererseits  einen  neuen  selbständigen  Inhalt  besitzt 
als  „Grundnormen  des  erkennenden  Bewusstseins".  In  jenem  Sinn  kommt 
dem  Apriori  eine  „individuell-psychologische",  in  diesem  eine  „metakosmisch- 
transscendentale"  Bedeutung  zu.  „In  jener  Hinsicht  können  die  Erkennt- 
nisse a  priori  nach  wie  vor  mitLeibniz  als  eotmaissafices  viritteües  und 
idSes  innies  bezeichnet  werden." 

Weitere  theils  historische,  theils  systematische  Ausfuhrungen  über 
dieses  Thema  s.  z.  B.  J.  Horowicz,  De  Aprioriiatis  Kaniii  in  philosophia 
prineipio,  et  in  quo  quum  cum  dognuUicarum  dodrinarum  de  innatis  ideis 
principiis  congruat,  tum  ab  iis  di ff  erat.  Königsb.  Diss.  1872,  16—24.  31  ff.; 
Fischer,  3.  A.  345;  Lotze,  Logik  §  824  ff.;  Classen,  Einfluss  Kants,  S.  41.  69; 
Witte ,  Vorstudien  72  ff. ;  derselbe  in  den  Philos.  Monatsh.  1881 ,  602-613 
über  das  „virtuelle  Apriori";  v.  Leclair,  Krit.  Beiträge,  S.  1 — 24;  Eucken, 
Gnindbegr.  d.  Gegenwart  69 — 78;  Lasswitz  174;  Volkmann,  Psychol.II,  282 ff.: 
Engelmann,  Ding  an  sich,  S.  19  ff.  29;  Aug.  Müller,  Grundl.  d.  K. 'sehen 
Philos.  in  der  Altpr.  Mon.  VI,  5  u.  6;  bes.  auch  Spaventa,  Kant  e  V  em- 
pirismo,  1880,  Masci,  Le  forme  deW  intuitione,  1881,  S.  67;  Tocco,  Feno- 
msni  et  nomneni,  in  der  Filosofia  delle  ScuoU  italiane,  1881,  12  ff.  —  Spencer, 


*  Volkelt  wendet  sich  speciell  gegen  Cohen,  femer  gegen  Stadler.  Grunds. 
32.  41.  59  f.,  und  Harms,  Phil.  s.  Kant  150  fi.  173. 


^Rein*  ,im  transscendentalen  Verstände*.  101 

Princ,  of  Psychologe  §  208,  §  332  (deutsch  I,  486  ff.,  II,  193)  betrachtet  das 
Apriori  (bes.  die  Baumvorstellung)  als  das  Resultat  der  Vererbung:  was 
frühere  Generationen  erwerben  mnssten,   sei  den  jetzigen  schon  angeboren. 


[R  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  84. 

Ich  nenne  alle  Yorstellongen  rein  u.  s.  w.  Ueber  die  verschiedenen 
Bedeutungen  des  Terminus  „Rein"  s.  den  Ersten  Band  dieses  Commentars 
169.  195.  211,  312.  451.  Zwei  Bedeutungen  von  „rein"  wurden  dort  bei 
Kant  festgestellt:  a)  rein  =  unabhängig  von  Erfahrung;  b)  rein  =  un- 
gemischt mit  Erfahrung.  Der  Ausdruck  „rein"  ist  hier  neutral  gebraucht 
und  bezieht  sich  wohl  auf  jene  beiden  Bedeutungen,  um  so  mehr,  als  diese 
beiden  Bedeutungen  bei  Vorstellungen  zusammenfallen,  während  sie  bei 
Urtheilen  auseinanderfallen  können.  In  der  Parallelstelle  der  Dissertation 
§  12  wird  purus  durch  sensationibus  vacuus  erklärt.  Was  der  Zusatz: 
„im  transscendentalen  Verstände"  besagen  solle,  ist  nicht  ohne  Weiteres 
klar.  Kant  gebraucht  auch  sonst  diese  Wendung,  so  A  266.  An  dieser 
Stelle  dürfte  der  Zusatz  wohl  sagen  wollen,  dass  der  Ausdruck  „rein''  nicht 
etwa  im  moralischen  Sinne  oder  sonst  einem  Sinne  zu  verstehen  sei,  nicht  in 
dem  Sinne ,  wie  ihn  die  Ethik ,  Aesthetik ,  Chemie  oder  andere  Wissen- 
schaften gebrauchen,  sondern  in  derjenigen  Bedeutung,  welche  dieses  Wort 
„rein''  in  der  Theorie  des  Apriorischen  hat  und  haben  muss:  denn 
das  ist  ja,  wie  Comm.  I,  467  ff.  festgestellt  wurde ,  zunächst  der  Sinn  des 
Ausdruckes  „transscendental".  Dieser  Unklarheiten  halber  ist  Gr.  Knauer 
recht  zu  geben,  welcher  (Conträr  und  contrad.  S.  4)  den  ganzen  Satz  weg- 
wünscht. 

Cohen  (1.  A.  45,  2.  A.  155)  hat  in  den  Zusatz  wieder  wunderliche 
Andeutungen  hineingelegt:  „Fasst  man  diese  Abstractionen  reiner,  von  allem 
Empfindungsinhalte  freier  Vorstellungen  in  der  derben  Realität  leerer  Gefässe, 
welche  im  Gemüthe  zum  Hineinschütten  bereit  liegen,  dann  beachtet  man  die 
Parenthese  nicht:  im  transscendentalen  Verstände,  in  welchem  nämlich  nur 
nach  der  Möglichkeit  der  apriorischen  Erkenntnissart  gefragt  wird,  und  in 
welchem  bereits  das  Lösungswort:  —  Erscheinung  hindurchschimmert." 
Was  Cohen  mit  diesen  dunkelklingenden  Worten  will,  geht  aus  dem 
hervor,  was  er  vorher  und  nachher  sagt.  Darnach  will  er  eben  beweisen, 
Kant  verstehe  unter  „reinen  Vorstellungen"  nicht  im  Gemüth  fertig  bereit- 
liegende Formen,  die  als  Organe  zur  Aufnahme  der  Empfindungen  dienen, 
sondern  er  verstehe  darunter  eben  blosse  erlaubte  Abstractionen  aus  dem 
Ganzen  der  Erscheinung,   die  aber  für  sich  keine  eigene  Existenz  haben. 

Auch  den  zweiten  Satz  sucht  Cohen  in  seinem  Sinne  auszudeuten. 
Besonders  gefällt  ihm,  dass  hier  nicht  von  der  „ordnenden"  Form  die  Rede 
ist:  „also  nicht  mehr  geordnet,  sondern  angeschaut  wird  das  Mannig- 
faltige der  Erscheinungen  in  der  reinen  Form  sinnlicher  Anschauungen." 
Aber  die  „ordnende  Form"  ist  ja,  wie  wir  sahen,  durch  andere  Stellen 
garantirt.  Darum  ist  es  auch  irrig,  wenn  Cohen  daselbst  fortfährt:  „Der 
Act  der  Anschauung  selbst  wird  Form  genannt,  die  Form  und  Methode  der 


102  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  84.  [R  82.  H  56.  E  72.] 

reinen  Anschauung/'  Sondern  Kant  sagt  vielmehr:  der  Act  der  Anschauung 
vollzieht  sich,  indem  wir  das  Mannigfaltige  der  Erscheinungen  in  jener 
reinen  Form  in  gewissen  Verhältnissen  anschauen.  Die  Form  bleibt  eben 
immer  doch  das  Geföss,  in  welchem  wir  dem  Mannigfaltigen  erst  Ordnung 
zu  geben  im  Stande  sind. 

Nachdem  nun  in  den  beiden  ersten  Sätzen  die  Apriorität  der  Form 
betont  worden  ist,  wird  in  den  folgenden  deren  Anschauungsnatur  ins 
Licht  gestellt. 

Reine  Anschauung.  Dass  Kant  hier  von  ,,reiner  Sinnlichkeit'\ 
,, reiner  Anschauung"  spricht,  das  ist  uns  zwar  heute  geläufig,  diese  Zu- 
sammensetzung hat  aber  damals  die  lebhaftesten  Bedenken  hervorgerufeD. 
Da  man  Anschauung  allgemein  auf  Empfindung  zurückführte,  so  wandte  man 
ein,  der  Begriff  einer  reinen  Anschauung  sei  in  sich  widerspruchsvoll.  Sowohl 
die  Anhänger  von  Leibniz  als  die  von  Locke  erhoben  daher  lebhaften  Wider- 
spruch gegen  Begriff  und  Ausdruck  der  reinen  Sinnlichkeit,  der  Sinnlichkeit 
a  priori  u.  s.  w.  Im  Namen  jener  sprach  sich  schon  Pistorius,  A.  D.  B. 
105,  I,  29  gegen  dieses  „Surrogat  der  Wahrnehmung"  aus,  und  nachher  hat 
besonders  Eberhard  die  ganze  Theorie  heftig  bekämpft:  denn  für  die  Leib- 
nizianer  war  nur  der  Verstand  ein  rationales  Vermögen,  und  die  Sinnlich- 
keit nur  eine  Trübung  der  ratio  pura.  Eine  settsuälitas  pura,  ein  intuitus 
purus  war  ihnen  daher  ein  Greuel,  während  diese  Zusammensetzung  den 
Anhängern  Locke's  eine  Thorheit  erschien,  da  es  für  sie  keine  reine  Er- 
kenntniss,  am  allerwenigsten  aber  reine  Sinnlichkeit  geben  konnte.  Im 
Namen  der  Letzteren  sagt  z.  B.  Seile,  De  la  realiU  587,  in  einer  anderen 
Sprache,  z.  B.  im  Französischen  wäre  eine  solche  Verbindung  gar  nicht 
möglich.  Denn  dort  erinnere  sensibilit^  sofort  an  Sensation,  Empfindung, 
und  ein  empfindungsfreies  Empfindungsvermögen  sei  Unsinn.  Dagegen  im 
Deutschen  sei  das  Wort  Empfindung  nicht  von  demselben  Wortstamme  wie 
Sinnlichkeit  (das  Vermögen  der  Empfindung)  und  nur  desshalb  habe  Kant 
jene  Zusammensetzung  wagen  können  ^  Besonders  scharfe  Kritik  auch  bei 
Gruppe,  Wendepunkt,  246  ff.,  368:  Anschauung  a  priori  sei  eine  contra- 
dictio  in  adjecto  u.  s.  w.  Vgl.  Tourtual,  Die  Sinne,  22.  Volkmann. 
Psych.  3.  A.,  II,  116  bemerkt  treffend:  um  das  erkenntnisstheoretische 
Problem  zu  lösen,  fingire  Kant  mit  der  reinen  Anschauung  einen  psycho- 
logischen Begriff,  durch  den  er  alle  weiteren  Untersuchungen  mit  Einem 
Male  abschneide.     Aehnlich  Riehl  unten  S.  106. 

Die  Anhänger  Kants  nahmen  ihn  gegen  solche  Angriffe  in  Schutz. 
Eine  in  ihrer  Art  vortreffliche  Erörterung  über  die  reine  Sinnlichkeit 
enthalten  die  ., Briefe'*  Reinholds  I,  308  ff.,  wo  er  zu  zeigen  versucht,  dass 


*  Denselben  Voni'urf  erhebt  Herder,  wenn  er  (Suphan  XXII,  334,  hand- 
schriftlich) Ks.  ,.Transsc.  Aesthetik*  umschreibt  durch:  ,.eine  übersinnliche,  allem 
Gefühl  entnommene  Gefühlslehre'.  —  Vgl.  Reimarus,  Menschl.  Erk.  17  und 
dagegen  A.  L.  Z.  1788,  IV,  833. 


Die  , reine  Anschauung".  103 

[R  32.  H  56.  K  72.]  A  20.  B  34. 

die  Sinnlichkeit  nicht  bloss  als  empirische,  sondern  auch  als  reine,  d.  h.  „ohne 
Reizbarkeit  der  Organisation"  zu  denken  sei.  Weiteres  über  die  reine  An- 
schauung sowie  über  die  ganze  Stelle,  s.  Mellin  I,  264  ff.,  703.  Vgl.  auch 
Körner  im  Briefwechsel  mit  Schiller  II,  56.  Uebrigens  hat  auch  Schopen- 
hauer den  Ausdruck  reine  Sinnlichkeit  bemängelt  (W.  a.  W.  I,  13),  „da 
Sinnlichkeit  schon  Materie  voraussetzt".  Er  hat  daher  Raum  und  Zeit  dem 
Verstände  (Intellect)  zugewiesen,  dagegen  den  Ausdruck  „reine  Anschauung" 
ohne  Skrupel  beibehalten.  Ueber  die  „Rangerhöhung  der  Sinnlich- 
keit" zur  „reinen"  s.  auch  Cohen,  2.  A.  88—100.  107—114.  117.  151. 
167.  169.  170.  173.  176.  193.  209-211.  329.  344  ff.  605.  Derselbe  über 
die  „reine  Anschauung"  217  ff.  228.  231—234.  237  f.  347.  586.  Vgl. 
Natorp,  Descartes,  S.  151.  Statt  „reine  Anschauung"  will  Witte,  Vorstudien 
S.  80,  lieber  setzen:  unmittelbare  Gesammt-Vorstellung.  Vgl.  auch  Lotze, 
Logik,  §  357. 

Eine  beachtenswerthe,  bis  jetzt  aber  nicht  hinreichend  beachtete  Er- 
gänzung seiner  Lehre  von  der  reinen  Anschauung  bietet  Kant  B  207  in  der 
Einleitung  zu  den  Antecipationen  der  Wahrnehmung:  „Vom  empirischen 
Bewusstsein  zum  reinen  ist  eine  stufenartige  Veränderung  möglich,  da  das 
Reale  desselben  ganz  verschwindet  und  ein  bloss  formales  Bewusstsein 
(a  priori)  des  Mannigfaltigen  in  Raum  und  Zeit  übrig  bleibt:  also  auch 
eine  Synthesis  der  Grössenerzeugung  einer  Empfindung,  von  ihrem  Anfange, 
der  reinen  Anschauung  =  0  an,  bis  zu  einer  beliebigen  Grösse  der- 
selben". Vgl.  Cohen,  2.  A.,  435.  Anthropol.  §  17  definirt  Kant  die  reine 
Anschauung  als  „unmittelbare  Vorstellung  des  gegebenen  Objects  ohne  bei- 
gemischte merkliche  Empfindung"  und  meint,  dass  unter  allen  Sinnen  der 
Gesichtssinn  derselben  am  nächsten  komme. 

Die  reine  Form  der  Sinnliehkeit  als  reine  Anschauung.  Aus  diesen 
und  den  folgenden  Bestimmungen  entsteht  eiüe  nicht  unerhebliche  Schwierig- 
keit: Kant  sprach  bisher  von  der  Form,  in  welcher  wir  das  Mannigfaltige 
anschauen;  als  Anschauung  wurde  gleich  am  Anfang  der  tr.  Aesthetik 
diejenige  Vorstellung  bezeichnet,  welche  sich  auf  die  Gegenstände  unmittelbar 
bezieht.  Von  der  Form  dieser  Anschauung  war  nun  in  den  vorhergehenden 
Sätzen  die  Rede.  Wie  kann  nun  die  Form  unserer  Anschauungen 
selbst  auch  als  eine  Anschauung  bezeichnet  werden?  Zumal  da  diese 
reine  Anschauung,  auch  ohne  wirklichen  Gegenstand,  im  „Gemüthe  statt- 
findet", also  sich  überhaupt  nicht  auf  einen  Gegenstand  zu  beziehen  braucht? 
Schon  die  ersten  Kantianer  haben  diese  Schwierigkeit  gefühlt.  So  sagt 
Schmid  in  seinem  Wörterbuch  S.  59;  „Die  reine  Form  ist  zwar  im  Be- 
wusstsein jedesmal  mit  einer  gegebenen  Materie  verbunden,  kann  aber  auch 
abgesondert  von  dieser,  in  abstracto  betrachtet  und  noch  immer  Anschauung 
genannt  werden,  weil  sie  einen  Bestandtheil  des  Anschaulichen  ausmacht.** 
Dieser  Grund  würde  aber  doch  verständigerweise  vielmehr  jene  Bezeichnung 
verbieten:  Niemand  wird  doch  dem  Theil  und  dem  Ganzen  denselben  Namen 
geben.  —  Einen  anderen  Grund  gibt  Schulz  in  seinen  Erläuterungen  S.  20 


104  §  1.    Einleitung. 

A  80.  B  84.  [B  32.  H  56.  E  72.] 

an:  ,,Da  die  Form  der  Erscheinung  vor  aller  Empfindung  vorhergehen 
muss,  so  muss  sie  eine  Vorstellung  a  priori  sein,  die  bereits  in  unserem 
Gemüthe  selbst  liegt,  und  da  sie  sieh  auf  die  zu  empfindenden  Gegenstände 
unmittelbar  bezieht,  so  muss  sie  auch  selbst  Anschauung  sein."  Allein 
auch  dieser  Grund  erregt  Bedenken :  die  reine  Form  der  Anschauung  braucht 
sich  ja,  wie  pachher  ausdrücklich  gesagt  wird,  auf  gar  „keinen  wirklichen 
Gegenstand"  zu  beziehen,  „findet  auch  ohne  einen  solchen  statt".  Wir 
können  sie  ja,  wie  Kant  sogar  A  42  sagt,  „vor  aller  wirklichen  Wahrneh- 
mung erkennen  und  sie  heisset  darum  reine  Anschauung".  Gerade  also 
der  Umstand,  dass  sie  eine  reine  Anschauung  ist,  und  sich  zunächst  auf 
gar  keinen  Gegenstand  bezieht,  schliesst  jene  Erklärung  von  Schulz  aus, 
welche  auch  Arnoldt,  R.  u.  Z.  111  zu  haben  scheint,  wenn  er  die  reine  An- 
schauung sich  auf  empirische  Objecte  beziehen  lässt.  Kant  hat  eben  jene 
Definition  der  Anschauung,  dass  sie  sich  auf  ihren  Gegenstand  unmittelbar 
beziehe,  offenbar  nur  auf  die  empirische  Anschauung  gemünzt,  von  welcher 
er  in  jenem  Zusammenhange  allein  sprach,  '(Vgl.  Pflüger,  Aesth.  6. 
Hehmke,  Welt,  29.  Cohen,  2.  A.  109.)  Auf  die  reine  Anschauung  will 
jene  Definition  nicht  recht  passen;  zwar  muss  sich  diese,  wenn  sie  über- 
haupt auf  einen  Gegenstand  bezogen  wird ,  auf  denselben  auch  unmittelbar 
beziehen;  aber  sie  braucht  doch,  weil  sie  vor  allen  Gegenständen  und 
ohne  solche  möglich  ist  (vgl.  oben  S.  86  ff.)  überhaupt  zunächst  auf  keinen 
Gegenstand  bezogen  zu  werden  (vgl.  Proleg.  §  8).  Auch  nach  dem  Brief 
an  Reinhold  vom  12.  Mai  1789  (R.  XI,  98)  ist  bei  der  reinen  Anschauung 
„kein  Object  gegeben". 

Sogleich  der  Schluss  dieses  Absatzes  besagt  ja  aufs  deutlichste,  dass 
diese  reine  Anschauung  auch  „ohne  Empfindung"  „im  Gemüthe  stattfindet", 
auch  „ohne  einen  wirklichen  Gegenstand"  in  uns  vorhanden  ist.  Diese 
Form  ist  also  nicht  bloss  etwas  künstlich  erst  aus  der  Erscheinung  Abstra- 
hirtes,  was  nur  an  der  Erscheinung  stattfände,  wie  Cohen  willkürlich  aus- 
legt, sondern  sie  ist  etwas  für  sich  allein,  unabhängig  von  der  Materie 
und  vor  aller  Erscheinung  in  uns  Existirendes.  und  zwar  ezistirt  in  uos 
vor  allen  Erscheinungen  nicht  nur  etwa  bloss  die  potentielle  Form,  so  dass  dann 
die  mathematische  reine  Anschauung  erst  eine  Folge  späterer  Abstracüon 
aus  den  durch  jene  Form  geformten  empirischen  Anschauungen  wäre  —  so 
könnte  man  etwa  die  Stelle  A  26  auslegen  wollen,  wo  es  heisst,  dass  die 
reine  Anschauung  da  ist,  „wenn  man  von  den  Gegenständen  abstrahirt"  (so 
Arnoldt,  Raum  und  Zeit,  S.  27),  —  sondern  es  liegt  in  uns  schon  von 
vorneherein  eine  fertige,  actuelle  Anschauung,  wie  schon  oben  S.  82  ff.  be- 
wiesen worden  ist.  Vgl.  A  52  und  A  373 ;  ganz  genau  äussert  sich  ja  Kaut 
schon  in  der  Dissertation,  §  12:  Raum  und  Zeit,  die  objeda  der  Maihisis 
pura,  sunt  omnia  intuitt4S  non  solum  principia  fonnalia,  sed  ipsa  inUtiius 
originarii;  sie  sind  also  eben  nicht  bloss  Formen  der  Anschauung,  sondern 
zugleich  auch  schon  Inhalte  solcher,  nicht  bloss  Erkenntnissbedingungen, 
sondern   auch   schon    Erkenntniss gegen  stände.     Es   wird    uns   in   diesem 


Die  Anschauungdformen  sind  zugleich  anschauliche  Vorstellungen.        105 

[B  82.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  84. 

Sinne  nach  B  805  „durch  die  reinen  sinnlichen  Formen  ein  Object  gegeben'^ 
und  in  diesem  Sinne  ist  auch  im  letzten  Absatz  dieses  §  1  die  eigenthüm- 
liche  Zusammenstellung  zu  verstehen:  „Wir  werden  alles,  was  zur  Empfin- 
dung gehört,  abtrennen,  damit  nichts  als  reine  Anschauung  und  die  blosse 
Form  der  Erscheinung  übrig  bleibe." 

Die  Anschauungsformen  werden  also  auch  in  diesem  Zusammenhange 
(wie  oben  S.  80)  ganz  unzweideutig  als  actuelle  Vorstellungen  gefasst, 
und  nicht  bloss  als  potentielle  Anlagen.  Diejenigen,  denen  diese  Thatsache 
unbequem  ist,  suchen  sich  über  die  Stelle  durch  allerlei  Deutungen  hinweg- 
zuhelfen; so  sagt  Cohen,  2.  A.  204,  „der  B.  sei  nicht  sowohl  selbst  Vor- 
stellung, als  Vorstellungsmitter' ;  und  (1.  A.  46;  2.  A.  156):  „So  sehr  ist  Kant 
bei  der  yorläufigen  Bestimmung  dieser . . .  Gedanken  frei  von  der  Annahme  der 
Form  als  eines  Organes,  einer  Kraft  im  Gemüthe,  oder  eines  substantialisirten  Be- 
hältnisses in  der  Seele,  dass  er  ganz  unbefangen  die  Form  der  Sinnlichkeit, 
welche  im  Gemüthe  bereit  liegen  soll,  mit  der  Anschauung  selbst  gleich- 
setzt ...  die  Anschauung,  auch  die  reine,  entsteht."  (V^gl*  oben  S.  82.) 
Gerade  diese  letztere  Behauptung  wird  von  Cohen  ohne  Beweis  hingestellt. 
Nach  dieser  Stelle  ist  die  Form  im  Gemüthe  schon  da,  braucht  nicht  erst 
zu  entstehen,  und  eben  weil  sie  schon  da  ist,  kann  sie  Kant  eine  An- 
schauung nennen,  welche  immer  etwas  Buhendes  und  Fertiges  bedeutet. 
Der  Inhalt  dieser  ruhenden  Anschauung  ist  eben  der  mathematische  Baum. 
Dies  ist  auch  einzuwenden  gegen  Beinhold's  Bemühungen  (Th.  d.  Vorst. 
389  fif.),  die  lästige  „reine  Anschauung*'  ganz  zu  eliminiren.  Nicht  der 
Raum  selbst  sei  schon  eine  Anschauung,  sondern  nur  die  bewusste  Vor- 
stellung vom  Baume ;  jene  sei  nur  eine  potentielle  Form.  Dasselbe  gilt 
gegen  Beck's  analoge  Bestrebungen,  der  Baum  und  Zeit  nicht  als  reine 
Anschauungen,  sondern  als  ursprüngliches  Anschauen  selbst  fasst  (vgl. 
Jacob's  Annalenll,  88).  Dies  ist  Correctur,  nicht  Interpretation.  A.  Krause, 
Kant  wider  K.  Fischer,  S.  89.  56  sucht  sich  zu  helfen  durch  Unterscheidung 
des  Doppelsinnes  von  Anschauung:  „Die  Wörter  auf  ung  im  Deutschen  be- 
deuten sowohl  die  Thätigkeit  als  deren  Product.  Die  reine  Form  der  Sinn- 
lichkeit ist  kein  Gegenstand,  sondern  eine  Fähigkeit.*'  Ebenso  Cohen, 
Infin.  Methode,  S.  17 — 20:  „Die  Anschauung  darf  als  nichts  Anderes  gedacht 
werden,  denn  als  Anschauen.'*  Vgl.  ib.  106 — 107,  124  ff.  Dass  K.  aber 
diese  beiden  Bedeutungen  von  Anschauung  mit  einander  confundire,  hat 
schon  J.  E.  Erdmann,  G.  d.  n.  Phil.  III,  a,  55  bemerkt.    Vgl.  oben  S.  33  f. 

Biehl,  Krit.  I,  345  erläutert  apologetisch  den  Ausdruck  „reine  An- 
schauung" mit  folgenden  Worten:  „Eine  Vorstellung,  die  ihrer  Natur  nach 
zu  den  sinnlichen  Vorstellungen  gehört,  ohne  doch  Empfindung  zu  ent- 
halten, ist  formale  oder  reine  Anschauung.  Der  Ausdruck  reine  An- 
schauung soll  diese  Vorstellung  nach  zwei  Seiten  hin  begrenzen:  er  soll 
sie  von  der  Empfindung  unterscheiden,  dem  Inhalt  der  empirischen  Anschau- 
ung, und  von  der  begrifflichen  Vorstellung,  deren  Wesen  die  Allgemein- 
heit bildet."     Anschauung    bedeutet   also    Nicht -Empfindung    und   Nicht- 


106  §  1.    Einleitung. 

A  20.  B  84.  [R  82.  H  56.  E  72.] 

BegriflP,  aber  sie  bedeutet  keineswegs  die  Vorstellung  eines  Bildes  oder  Ge- 
fässes.  Derselbe  macht  aber  I,  353  folgende  Einwände  gegen  den  Terminus, 
in  welchem  er  II,  a,  106  die  Einführung  einer  „neuen  psychologisch  unfass* 
baren  Vorstellungsciasse"  sieht:  „Der  Ausdruck  reine  Anschauung  hat, 
vom  Baumschema  gebraucht ,  unleugbar  etwas  Künstliches ,  da  wir  nicht 
dieses  Schema  selbst  anschauen,  sondern  nur  in  der  Anschauung  bethätigen 
und  ihm  gemäss  Anschauungen  einheitlich  verknüpfen/'  Und  weiter  354: 
„Das  Schema  des  Baumes  kann  so  wenig  wie  das  der  Zeit  eigentlich  an- 
geschaut werden,  da  es  Bedingung,  nicht  Gegenstand  einer  An- 
schauung ist.  Zur  Bezeichnung  der  Vorstellung  einer  blossen  Form 
erscheint  der  Ausdruck  unpassend."  (Riehl  sucht  denselben  dann  zu  erläutern 
durch  den  auch  sonst  von  B.  u.  Z.  gebrauchten  Ausdruck  einer  „blossen 
Idee";  das  hat  aber  nichts  mit  einander  zu  schaffen.  Vgl.  darüber  unten 
zu  A  25.)  Bichtig  hat  schon  Holder,  Darst.  12  gesehen,  dass  für  Kant 
hier  die  Form  der  Anschauung  eben  als  eine  für  sich  construirbare 
selbständige  anschauliche  Vorstellung  gilt.  A dickes  68  N  bemerkt:  „Auch 
hier  zeigt  K.  sich  wieder  als  echter  Bationalist,  indem  er  nicht  nur  eine 
apriorische  Form  der  Anschauung  annnimmt,  sondern  auch  eine  apriorische 
Erkenntniss  dieser  apriorischen  Form,  die  reine  Anschauung."  Besonder 
scharf  hat  Spencer,  Psych.  §  399  (Deutsch  II,  364  ff.)  sich  dagegen  aus- 
gesprochen, dass  nach  Kant  der  Baum  nicht  bloss  Form  der  Anschauung, 
sondern  auch  Inhalt  einer  solchen  sein  solle.  Auch  Stumpf,  Psych,  u. 
Erk.-Th.  S  18  N.  hebt  diesen  Widerspruch  Ks.  hervor. 

Dass  Kant  selbst  auch  diese  Schwierigkeiten  gesehen  hat,  beweist  eine 
wenig  beachtete  *  Anmerkung  in  der  zweiten  Bearbeitung  der  Deduction, 
welche ,  wie  man  wohl  vermuthen  darf,  auf  Einwände  des  mathematisch 
geschulten  Erläuterers  Schulz  zurückzuführen  sind,  der  ja,  wie  wir  eben 
sahen,  hierin  mit  Becht  Schwierigkeiten  fand.  In  der  Anmerkung  zu  B  160 
unterscheidet  Kant  genau  zwischen  „Form  der  Anschauung' '  und  „for- 
maler Anschauung",  und  identißcirt  diese  letztere  „anschauliche  Vor- 
stellung" ausdrücklich  mit  dem  ,,Baum  als  Gegenstand  vorgestellt,  wie  man 
es  wirklich  in  der  Geometrie  bedarf.  Dieser  Unterschied  wird  dort  als 
schon  in  der  Aesthetik  gemacht  vorausgesetzt,  aber  seine  Erklärung  werde 
nun  erst  in  der  Analytik  gegeben.  In  Anlehnung  an  die  sonstigen  Be- 
stimmungen der  Analytik  (insbesondere  auch  an  die  Lehre  vom  inneren 
Sinn  und  vom  Verstand ,  s.  Proleg.  §  38)  wird  ausgeführt ,  dass  jene  Form 
der  Anschauung  als  solche  „bloss  Mannigfaltiges"  enthalte  und  dass  es  erst 
einer  Zusammenfassung  dieses  Mannigfaltigen  zur  Einheit  bedürfe  und  zwar 
durch  den  Verstand  ;  erst  dadurch  entstehe,  wie  jede  andere  Anschauung, 
so    auch  jene    anschauliche    Bauravorstellung.      Auf    diesen    synthetischen 


*  Gegenüber  dem  Einwand  Jacobi's.  \V.  W.  III,  77.  78,  dass  Kant  hier  ganz 
Verschiedenes  confundire,  haben  schon  Hegel  und  J.  E.  Erdmann,  Gesch.  d.  n. 
Phil.  III,  a,  57  auf  diese  Stelle  hingewiesen. 


„Form  der  Anschauung*^  und  «formale  Anschauung'^.  107 

[R  32.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  85. 

Prozess  ist  ausführlicher  noch  unten  einmal  beim  vorletzten  Raumargument 
zurückzukommen.  (Vgl.  dazu  auch  die  belehrenden  Bemerkungen  von 
B.  Erdmann,  Kants  Reflexionen  II,  S.  110  f.)  So  viel  geht  schon  hier 
hervor,  dass  Kant  in  der  ersten  Auflage  in  der  Aesthetik  (deren  Wortlaut 
er  hierin  aber  auch  in  der  zweiten  Auflage  stehen  Hess)  ohne  Weiteres 
sorglos  „Form  der  Anschauung*'  und  „Anschauung"  selbst  identiflcirt  hatte 
—  eine  Identification,  die  sich  auch  ausdrücklich  in  der  Anmerkung  zur 
zweiten  Antithese,  A  429  ff.  findet  — ,  während  er  in  der  zweiten  Auflage 
beides  erst  genauer  scheidet.  Auch  in  der  Gegenschrift  gegen  Eberhard, 
Ros.  I,  444  f.  macht  er  denselben  Unterschied  in  ähnlicher  Weise.  Eb. 
hatte  es  zweifelhaft  gefunden  (Mag.  I,  391),  ob  Kant  unter  Form  der 
Anschauung  die  Schranken  der  Erkenntnisskraft  (d.  h.  in  Kantischer 
Sprache:  die  Receptivitätsform  der  Sinnlichkeit)  oder  die  Bilder  von  R.  u. 
Z.  verstehe  (d.  h.  eben  die  anschaulichen  Vorstellungen  von  R.  und  Z.  selbst). 
Kant  findet  diesen  Zweifel  „erklärlich",  erklärt  sich  aber  ausdrücklich  dahin, 
dass  er  nur  das  erstere,  nicht  das  letztere  darunter  verstanden  habe.  Nur 
jenes  sei  angeboren,  der  erste  formale  Grund  der  Möglichkeit  einer  Raumes- 
anscbauung,  nicht  die  Raumvorstellung  selbst;  diese  sei  erst  erworben. 
(Vgl.  oben  S.  91  f.)  Diese  Stellen  scheinen  die  Auffassungen  von  Cohen 
und  Riehl  zu  bestätigen;  aber  sie  beweisen  nur,  dass  Kant  sich  wieder 
einmal  widersprochen  hat.  Diesen  fundamentalen  Widerspruch  Ks.  in  Bezug 
auf  die  Apriorität  des  Raumes  haben  wir  ja  schon  oben  S.  88  hinreichend 
erörtert,  und  werden  auf  denselben  noch  mehrfach  stossen,  besonders  beim 
vorletzten  Raumargument.    Vgl.  auch  F.  A.  Lange,  Log.  Stud.  132  fp. 

Durch  diese  Identification  der  Form  der  Anschauung  mit  der 
reinen  Anschauung,  dem  Gegenstand  der  Mathematik,  entsteht  ein  eigen- 
thümliches  Doppel verhältniss  der  „reinen  Anschauung"  zur  empirischen. 
Auf  der  Einen  Seite  steht  die  reine  Ajischauung  qua  Gegenstand  der 
Mathematik  in  vollstem  Gegensatz  zur  empirischen  Anschauung, 
aus  welcher  niemals  die  apodiktischen  Sätze  der  Mathematik  abzuleiten 
wären;  dieser  Gegensatz  wird  ausdrücklich  betont,  z.  B.  in  der  transsc. 
Erörterung  des  Raumes  und  in  der  zweiten  Hälfte  der  Ersten  all- 
gemeinen Anmerkung  zur  Aesthetik.  Auf  der  anderen  Seite  aber  bildet 
die  reine  Anschauung  qua  Form  der  Sinnlichkeit  einen  Bestandtheil 
der  empirischen  Anschauung;  in  diesem  Sinne  ist  es  möglich,  dass, 
wie  gleich  hier  sowie  im  letzten  Absätze  dieses  Einleitungsparagraphen 
ausgeführt  wird,  aus  der  empirischen  Anschauung  die  reine  Anschauung, 
die  doch  eigentlich  ihr  Gegentbeil  ist,  herausgezogen  werden  kann.  Man 
kann  dieses  eigenthümliche  Doppelverhältniss  auch  dahin  dcfiniren,  dass  der 
Gegensatz  der  reinen  Anschauung  im  ersten  Fall  ist  die  ganze  Erscheinung, 
im  zweiten  die  halbe,  die  Materie  derselben. 

Die  Absonderung  der  reinen  Anschauung  aus  der  Torstellung 
des  Körpers.  Kant  gibt  nun  sofort  eine  Erläuterung  des  Gesagten:  er 
will  erhärten,    dass  die  Form   der  Anschauung  wirklich  als  eine  besondere 


108  §  1-    Einleitung. 

A  20.  B  35.  [R  32.  H  56.  E  72.] 

reine  Anschauung  in  unserem  Oemüthe  bereit  liegt.  Zu  diesem  Zwecke 
analysirt  er  „die  Vorstellung  eines  Körpers^'  in  einer  Weise,  welche  Holder, 
Darst.  S.  9  in  folgender  Weise  hübsch  umschreibt:  „Haben  wir  aus  dem 
Gesammtinhalt  unseres  Bewusstseins  unsere  Anschauungen  dadurch  aus- 
geschieden, dass  wir  von  all  dem  absehen,  was  erst  durch  denkende  Re- 
flexion entstanden  ist  (von  allen  Begriffen),  so  dürfen  wir  nur  weiter  von 
dem  abstrahiren,  was  sich  uns  unmittelbar  zu  empfinden  gibt,  um  die  Form 
uuserer  Anschauungen  rein  für  sich  vor  uns  zu  haben."  Es  sind,  genauer 
gesagt,  3  Elemente,  welche  Kant  in  „der  Vorstellung"  des  Körpers  scharf 
unterscheidet,  eine  Unterscheidung,  welche  er  auch  in  der  Einl.  B  5,  6  (vgl. 
A  106)  schon  getroffen  hat  (vgl.  Comm.  I,  223).  Diese  3  Elemente,  welche 
durch  successive  Abstraction  gewonnen  werden,  sind,  der  von  Kant  selbst 
eingehaltenen  Reihenfolge  nach,  folgende: 

1)  Logische  Elemente, 

2)  Empfindungselemente, 
8)  Beine  Anschauung. 

Genau  dieselben  Elemente,  in  derselben  Reihenfolge,  auch  unten  am 
Schluss  des  §  1. 

Sachlich  richtiger  und  übersichtlicher  ist  folgende  Eintheilung: 
I.  Empirische,   materielle  Elemente  (Empfindungen,    Undurch- 
dringlichkeit*, Härte,  Farbe  u.  s.  w.). 
II.  Reine  formelle  Elemente: 

a)  ästhetische,  d.h.  die  Anschauungsformen,  nebst  Ausdehnung, 
Gestalt  u.  s.  w. ; 

b)  logische,  d.h.  die  Verstandesformen  (Substanz,  Kraft,  Theil- 
barkeit  u.  s.  w.). 

Mit  den  ästhetischen  Elementen  hat  es  die  transsc.  Aesthetik,  mit  den 
logischen  die  transsc.  Analytik  zu  thun ;  bei  dem  Begriff  der  Substanz 
liegt  das  auf  der  Hand ;  „Kraft' ^  geht  zurück  auf  die  Causalitätskategorie; 
„Theilbarkeit*'  ist  wohl  zurückzuführen  auf  das  „Axiom  der  Anschauung" 
(A  162  ff.). 

Die  Unterscheidung  jener  3  Elemente  in  der  Vorstellung  des  Körpers 
und  überhaupt  aller  empirischen  Gegenstände  ist  ganz  fundamental. 
Um  in  den  Sinn  der  K. 'sehen  Erkenntnisstheorie  einzudringen,  ist  es  noth- 
wendig,  diesen  Unterschied  stets  im  Auge  zu  behalten.  Vgl.  dazu  W^olff. 
Zus.hang  uns.  Vorst.  u.  s.  w.  138  f.  Gegen  die  Stelle  bes.  Spicker, 
Kant  25  f.    Nach  Schneider,  Entw.  d.  Aprior.  27  „spiegelt  sich  in  diesen 

^  Mo  Cosh  in  seinem  CfHticisnt  of  the  crit.  phil.  23  erhebt  hierzu  den  Einwand: 
y,It  IS  raiher  stränge  to  find  impenetrahility  here,  as  ü  implies  both  extention 
and  force,  which,  in  his  System,  are  supposed  to  he  imposed  a  priori  by  the  mind 
itself^  Die  Stellung  der  Undurchdringlichkeit  bei  Kant  ist  allerdings  eine 
schwankende;  wo  Kant  seine  Verwandtschaft  mit  Locke  bespricht,  Proh  §  13» 
Anm.  II,  wird  dieselbe  ausdrücklich  nicht  zu  den  Empfindungen,  sondern  zum  Räume 
gerechnet,  wie  dies  allerdings  auch  bei  Locke  ähnlich  der  Fall  gewesen  war. 


Auflösung  des  Körpers  in  lauter  subjective  Element«.  109 

[B  82.  H  56.  E  72.]  A  20.  B  35. 

yorlättUgen  Definitionen  der  ganze  Inhalt  der  Aesth.  wieder."   Vgl.  Rehmke, 
Welt  28  ff.,  33.  175.    Cohen,  2.  A.  110. 

Einen  interessanten  Einblick  in  die  Entstehung  dieser  Unterscheidung 
gewähren  die  Entwürfe  Kants  in  den  Reflexionen  II,  N.  274 — 278;  sie 
stammen  aus  dem  Anfang  der  70er  Jahre;  damals  unterschied  Kant 
drei  Stufen: 

1)  Empfindung, 

2)  Erscheinung, 

3)  Begriff. 

Die  Empfindungen  werden  „gegeben"  und  enthalten  die  „Materie 
aller  Erkenntniss" ;  sie  entstehen  „durch  Rührung  der  Sinne".  Wenn  die 
Empfindungen  geordnet  werden  nach  der  Form  von  Raum  und  Zeit,  so  ent- 
stehen  die  Erscheinungen.  Diese  sind  also  Empfindungen  verbunden 
mit  „intuitiver  Form".  Wenn  nun  wiederum  diese  Erscheinungen  „durch 
die  Vernunft  allgemein  gemacht"  werden,  so  entstehen  Begriffe;  wie  oben 
die  „intuitive  Form",  so  tritt  hier  die  „rationale  Form"  hinzu. 

Diese  Entwürfe  entsprechen  ganz  genau  dem ,  was  K.  in  der  Disser- 
tation §  4,  5  ausgeführt  hat,  woselbst,  worauf  auch  Paulsen,  Entw.  104 
aufmerksam  macht,  folgende  Stufenfolge  der  Bearbeitung  der  sinnlichen 
Erkenntniss  aufgestellt  wird: 

1)  senaatiOf  d.  i  die  einzelne  materiale  Empfindung. 

2)  apparentia  oder  Erscheinung,  d.  h.  die  durch  die  ursprünglichen 
Gesetze  der  sinnlichen  Coordination  geordneten  Empfindungen  (vgl.  oben  S.  32). 

3)  experientia  oder  Erfahrung,  d.  h.  die  durch  den  Intellect  im 
logischen  Gebrauch  auf  Begriffe  gebrachten  und  in  ein  System  der  Sub- 
ordination eingeordaeten  Anschauungen.  Jede  einzelne  Erfahrung  ist  durch 
diese  3  Proceduren  hindurchgegangen.  Ganz  ähnlich  wird  auch  in  den 
Fortsehr.  der  Met.  Ros.  I,  509  unterschieden  zwischen  Empfindung,  Wahr- 
nehmung, Erfahrung.  — 

Hiezu,  zu  dieser  Analyse  des  Erfahrungsohjects,  in  lauter 
subjective  Elemente,  gehört  nun  eine  beachtenswerte  Ausfuhrung  von 
Stadler,  Reine  Erk.  38:  „Die  Untersuchung  geht  naturgemäss  aus  von 
der  Ansicht  des  gemeinen  Realismus,  die  den  Gegenstand  als  wirklich 
gegeben  betrachtet.  Der  Ausgangspunkt  wird  Ursache  einer  Täuschung, 
die  sich  mit  der  weiteren  Reflexion,  sogar  nachdem  sie  als  Täuschung  ent- 
hüllt ist,  unauflöslich  verkettet.  WenÄ  sich  nämlich  nach  und  nach  alle 
Bestimmungen  des  Objects  als  Bestimmungen  des  Subjects  zu  erkennen 
geben,  so  erscheint  das  dem  Verstände  nicht  als  ein  Auflösen  des 
Gegenstandes  in  das  Bewusstsein,  sondern  nur  als  ein  Ablösen  der 
Eigenschaften  von  einem  realexistirenden  Etwas.  Zuletzt  ist  alles,  was  ihm 
anhängt,  abgepflückt,  aber  es  muss  doch  das  geblieben  sein,  dem  es  anhing. 
Der  Verstand  vergisst,  dass  sein  Object  ja  von  Anfang  an  nur  eine  hypo- 
thetische Existenz  besass.  Wie  im  Auge  ein  Nachbild  bleibt,  während  der 
Gesichtseindruck  aufgehört  hat,  so  dauert  im  Bewusstsein  eine  Vorstellung 


110  §  1.    Einleitung. 

A  20.  B  35.  [B  32.  H  56.  E  72.] 

fort,  deren  Gegenstand  es  selbst  vernichtete.  Gerade  die  Einsicht,  dass  die 
meisten  für  objectiv  gehaltenen  Qualitäten  nar  subjective  Eindrücke  sind, 
erzengt  im  Verstände,  wie  durch  Contrast Wirkung  das  negative  Streben, 
sich  Eigenschaften  zu  denken,  die  er  seinem  Etwas  gleichsam  hinter  dem 
Bücken  des  Subjects  anheften  könnte.  Das  Unternehmen  misslingt,  wie  es 
auch  in  Angriff  genommen  werde,  auch  der  vorsichtigste  Versuch  fuhrt 
jedesmal  durch  Empfindung,  Raum  und  Zeit  in  das  Subject  zurück.  Das 
Etwas  zerfliesst  zu  einem  Nichts,  wie  es  überhaupt  vorgestellt  werden  soll. 
—  Das  Ding  an  sich  ist  nichts  weiter  als  der  Ausdruck  für  das  vergeb- 
liche Bemühen  des  Verstandes,  dieses  sich  ihm  natürlich  darbietende  un- 
mögliche Problem  zu  lösen.  Von  einer  Wirkung  der  Causalitätskategorie 
ist  beim  Ursprung  dieses  rein  negativen  Begriffes  gar  nicht  die  Bede, 
während  er  freilich  später  vor  den  erkenntnisstheoretischen  Grundgesetzen 
eine  schärfere  Zuspitzung  erhält.  Wer  sein  Wesen  und  seine  Entstehung 
begreifen  will,  suche  sich  dasselbe  zunächst  aus  der  Aesthetik  allein  klar 
zu  machen^  ohne,  wie  es  stets  geschieht,  die  tr.  Logik  schon  vorauszusetzen. 
Das  Ding  an  sich  wurzelt  ganz  in  der  Aesthetik  und  lässt  sich  daraus 
widerspruchlos  entwickeln.**  —  „Die  Missverständnisse,  welche  unseren 
Grenzbegriff  fortwährend  begleiten,  wären  unmöglich,  wenn  man  darauf 
achten  wollte,  dass  das  Ding  an  sich  gerade  an  dieser  Stelle  der 
erkenntnisstheoretischen  Entwicklung  geboren  wird.** 

Diese  feinsinnigen  Ausführungen  Stadlers  finden  ihr  eigenartiges 
Gegenstück  in  den  ebenso  fein  ausgedachten  Darlegungen  Heblers  in  seinen 
Philos.  Aufs.  S.  127  ff.  Auch  H.  will  nachweisen,  dass  bei  der  Conception 
des  Begriffes  vom  D.  a.  s.  nicht  dem  Causalitätsbegriff  die  Erzeugerrolle 
zufalle,  sondern  dass  derselbe  als  „Residuum  des  analysirten  Erfakrungs- 
objects**  zu  fassen  sei.  „An  der  Vorstellung,  als  Erscheinung,  dem  gemeinen 
Erfahrungsobject  ist  Etwas,  was  sich  nicht  abziehen,  nicht  aus  dem 
blossen  Vorstellungsvermögen  herleiten  lässt.  Das  Ding  an  sich  ist  und 
bleibt  immer  von  dem  Erfahrungsobject  hinlänglich  unterschieden :  1)  dadurch, 
dass  es  nicht  das  ganze  Erfahrungsobject,  sondern  dieses  nur  nach  Abzug 
alles  Phänomenalen  ist,  und  2)  dadurch,  dass  es,  weil  es  nur  durch  das 
Medium  des  letzteren  für  uns  ist,  uns  nach  seinem  wahren  Wesen  verborgen 
bleibt.**  „Hiermit  wären  wir  nun  zum  D.  a.  s.  ohne  Causalschiuss  und 
überhaupt  ohne  speciell  darauf  gerichteten  Schluss  gekommen.**  ^ 

In  diesem  Begriffe  sieht  nuh  H.  aber  keine  Illusion,  sondern  im 
Gegentheil  einen  legitimen  Begriff,  und  vertritt  demgemäss  auch  die  Meinung, 
dass  in  Ks.  Aesthetik  jenes  auf  jene  Weise  abgeleitete  D.  a.  s.  von  Kant 
durchaus  als  real  angenommen  werde. 

'  Aehnlich  auch  Riehl,  Erit.  I,  433  f.:  „Die  Anerkennmig  der  Dinge  ergab 
sich  für  Kant  aus  der  Analyse  der  Vorstellungen  und  der  Prüfung  der  Beschaffen- 
heit der  Vorstellungselemente."  K.  habe  die  D.  a.  s.  nicht  auf  dem  Wege  eines 
eigentlichen  Causalitäisschlusses  , ermittelt**,  sondern  (207)  durch  Decomposition 
der  Erscheinung;  vgl.  dag.  oben  S.  16.  20.    Aehnlich  Schopenhauer  oben  S.  50. 


Das  Ding  an  sich  als  unauflöslicher  Rest.  Hl 

[R  32.  H  56.  E  72.]  A  21.  B  85. 

Abgesehen  von  dieser  allerdings  fandamentalen  Differenz  betreffend 
die  Realität  des  in  der  geschilderten  Weise  gewonnenen  Begriffes,  sind 
nun  die  sonst  übereinstimmenden  Ausführungen  von  Hebler  und  Stadler 
immerhin  beachtenswerth :  nicht  durch  Causalschluss  sei  das  D.  a.  s.  in  der 
Aesthetik  gewonnen,  sondern  es  sei  das  Residuum  der  erkenntnisstheoreti- 
schen Entkleidung  des  Erfahrungsgegenstandes.  nDer  Gegenstand  verlor 
zuerst  seine  Farbe,  seine  Härte,  seinen  Ton  an  die  wahrnehmende  Seele, 
dann  zeigte  sich,  dass  er  ihr  auch  sein  räumliches  Verhältniss  und  seinen 
Platz  in  der  Zeit  verdanke."  Aber  nun  bleibt  doch  noch  ein  Etwas  übrig, 
das  Ding  an  sich,  sei  dies  nun  nach  Heb  1er  das  wahrhaft  Reale,  aber 
Unbekannte,  sei  es  nach  Stadler  ein  „imaginärer,  unwirklicher  Begrifft'  von 
einem  „trügerischen  Rückstand  des  unaufgelösten  Objects'^  Man  kann  sich 
nun  aber  nicht  des  Eindruckes  erwehren,  als  sei  dies  im  Wesentlichen 
identisch  mit  dem  Substanzbegriff,  und  wir  hätten  dann  eben  die  im 
Text  vorliegende  Elementenreihe:  1)  Empfindungen,  2)  Anschauungsformen, 
3)  Begriffsformen.  Dann  wäre  das  D.  a.  s.  eben  doch  durch  eine  Kategorie 
gewonnen,  aber  nicht  durch  die  der  Causalität,  sondern  durch  die  der  Sub- 
stantialität.  Für  Stadler  würde  daraus  nun  vollends  die  Nichtigkeit  des 
Begriffes  vom  D.  a.  s.  folgen,  während  Hebler  dann  doch  den  Widerspruch 
zugeben  müsste ,  dass  Kant  eine  Kategorie ,  welche  zunächst  nur  für  das 
Erscheinungsding  gilt,  doch  dann  widerrechtlich  wiederum  über  die  Grenzen 
der  Erfahrung  hinaus  anwendet.  Dazu  kommt  aber  noch,  dass  doch  Kant 
mehrfach  besonders  gleich  am  Anfang  die  Affection  durch  die  Dinge  an 
sich  voraussetzt,  in  einer  Weise,  welche  zeigt,  dass  bei  dem  Begriff  der- 
selben nicht  nur  die  Substantialitätskategorie,  sondern  auch  die  Cau- 
salitätskategorie  wesentlich  mit  wirksam  gewesen  ist^  Vom  Standpunkt 
der  Substanzkategorie  aus  ist  das  Ding  an  sich  der  nicht  mehr  ins  Subject 
auflösbare  letzte  unbekannte  Rest  in  den  Erscheinungen,  welcher  dann  nach 
der  Cansalitätskategorie  als  das  Afficirende  gefasst  wird,  durch  das  wir 
überhaupt  zu  Empfindungen  gelangen. 


Transscendentale  Aesthetik«  Der  Sinn  dieses  complexen  Terminus 
ergibt  sich  schon  aus  dem ,  was  Comm.  1 ,  467  ff.  zum  Ausdrucke  „trans- 
scendentaV'  gesagt  worden  ist.  „Transscendentale  Aesthetik"  ist  einerseits 
ein  Theil  der  allgemeinen  Transscendentalphilosophie,  und  zwar 
derjenige,  welcher  diejenigen  apriorischen  Elemente  unseres  Erkennens 
behandelt,  welche  im  Sinnlichen  liegen  ;  oder  sie  ist  andererseits  ein  Theil 
der  Sinnenlehre  überhaupt,  und  zwar  derjenige,  der  sich  mit  den 
apriorischen  Principien  des  Sinnlichen  beschäftigt;  (nach  A  51  = 
B  75  ist  Aesthetik  „die  Wissenschaft  der  Regeln  der  Sinnlichkeit  überhaupt''). 


*  Vgl.  hiezu  oben  S.  6  ff.  14  ff.  20  f.  27  ff.  35  ff.,  sowie  auch  bes.  die  schon 
oben  S.  8  erwähnte  Monographie  von  B.  E  r  d  m  a  n  n ,  Die  Stellung  des  Dinges  an 
sich  in  Ks.  Aesthetik  u.  s.  w.  1873. 


112  §  1.    Einleitung. 

A  21.  B  85.  [R  82.  H  56.  E  72.] 

Jene  beiden  Elemente  enthält  aucli  schon  gewissermassen  die  erste  H&lfte 
des  Titels  der  Inaugural-Dissertation  von  1770 :  De  forma  et  prindpüs  mundi 
sefisünlis  =  Die  Formalprincipien  der  Sinnenwelt.  Da  Kant  nun,  wie  schon 
Comm.  1 ,  467  ff.  bemerkt  worden  ist ,  den  Ausdruck  .^transscendental"  von 
der  Theorie  des  Apriorischen  auf  das  Apriorische  selbst  ausdehnt,  so  ist  auch 
der  bei  Kant  und  den  Kant-Schriftstellern  gelegentlich  gebrauchte  Ausdruck, 
Baum  und  Zeit  seien  „die  transse^ndentalen  Elemente  der  Sinnlichkeit'* 
(so  B.  Erdmann,  Phil.  Mon.  1884,  S.  76)  hinlänglich  gerechtfertigt,  obgleich 
K.  selbst  A  56  sagt,  weder  der  Raum  noch  eine  geometrische  Bestimmung 
desselben  sei  eine  trahsscendentale  Vorstellung,  sondern  nur  die  Er  kenn  t- 
niss,  dass  diese  Vorstellungen  gar  nicht  empirischen  Ursprungs  seien,  dass 
sie  sich  aber  gleichwohl  auf  Oegenst&nde  der  Erfahrung  beziehen  können. 
(Diese,  bes.  von  Cohen,  2.  A.  217.  270,  hochgeschätzte,  später  ausfuhrlich  zu 
besprechende  bekannte  Stelle  ist  im  üebrigen  sehr  verworren.) 

In  wunderlicher  Weise  spielt  Cohen  mit  dem  Ausdrucke  „transscenden- 
tale  Aesthetik''.  Er  sagt  (1.  A.  79  jQT.,  2.  A.  186  fr.):  „Der  Zusammenhang 
zwischen  den  Lehren  über  die  beiden  Erkenntnissprincipien  (zwischen  transsc. 
Aesthetik  und  transsc.  Logik)  lässt  sich  schon  an  dem  Namen  der  ersteren 
aufzeigen.  Der  Name  transsc.  Aesthetik  bezeichnet  die  Bichtung  und  den 
Gehalt  der  Lehre  auf  eine  ebenso  deutliche  als  strenge  Weise  in  dreifacher 
Hinsicht;  und  in  jeder  derselben  wird  jener  Zusammenhang  ersichtlich.*' 
In  dreifacher  Hinsicht  enthalte  jener  Name  ein  Hinausweisen  der  Aesthetik 
auf  die  Logik.  Erstens  sei  dies  in  dem  Ausdruck  „transscendentar'  ent- 
halten. Was  Cohen  hierüber  sagt,  beruht  auf  den  schon  Comm.  I,  470 ff. 
gerügten  Missverständnissen  Cohens  in  Betreff  dieses  Ausdruckes.  Zweitens 
verweise  der  Begriff  der  Sinnlichkeit  als  einer  Erkenntnissquelle,  „das  zweite 
Bezeichnende  an  jenem  Namen",  uns  ebenfalls  an  die  transsc.  Logik;  und 
drittens  sei  der  Terminus  ,, Aesthetik"  bedeutsam,  weil  die  alsfr^xa  sogleich 
an  die  voY)Te£  erinnern.  Das  Wahre  hieran  ist  nur,  dass  die  Lehre  von  den 
apriorischen  Elementen  der  Sinnlichkeit  naturgemäss  zur  Ergänzung  die 
Lehre  von  den  apriorischen  Elementen  des  Verstandes  fordert.  Diese  banale 
Wahrheit  wird  aber  von  Cohen  daselbst  in  der  Form  wunderlich  spielerischer, 
seltsamer  Andeutungen  vorgetragen,  welche  dem  geraden,  natürlichen  Sinne 
Kants  ganz  ferne  gelegen  sind. 

Anmerkung  Kants  über  die  ^yAesthetik^^  Diese  Anmerkung  bietet 
in  mehrfacher  Hinsicht  reichen  Stoff  zur  Besprechung.  Kant  fühlt  das  Be- 
dürfiiiss,  seine  ungewöhnliche  Terminologie  zu  rechtfertigen;  denn  er  ver- 
wendet den  Ausdruck  „Aesthetik"  in  einem  ganz  anderen  Sinne,  als  seine 
Zeitgenossen.  Wie  er  selbst  bemerkt,  diente  der  Ausdruck  „Aesthetik" 
damals  schon  ganz  allgemein  zur  Bezeichnung  der  Lehre  vom  Schönen,  oder 
der  Geschmackslehre.  Der  Ausdruck  ,, Aesthetik"  für  diese  philosophische 
Wissenschaft  war  damals  allerdings  nur  in  Deutschland  gebräuchlich. 
In  England  gebrauchte  man  den  Ausdruck  „criticism".  In  Frankreich  sprach 
man  von  der  „thSorie  des  beaux  arts^.    Der  in  Deutschland   damals  schon 


Kants  »Transscendentale  Aesthetik*  und  Baumgartens  „Aesthetica*^.       113 

[R  33.  H  56.  E  72.]  A  21.  B  35. 

ganz  übliche  Ausdruck  ,,Aesthetik^^  (welchen  unterdessen  die  anderen  Kultur- 
nationen adopürt  haben)  stammt  von  Baumgarten  her. 

„Der  vortreffliche  Analyst  Baumgarten"  wird  von  Kant  auch 
sonst  h&ufig  angezogen.  Alexander  Gottlieb  Baumgarten  (1714 — 1762)  war 
bekanntlich  einer  der  bedeutendsten  Schüler  Christian  Wolffs.  Baumgarten 
hat  bedeutenden  Einfluss  auf  Kant  ausgeübt  in  allen  Gebieten  der  Philo' 
Sophie.  Bekanntlich  hielt  auch  Kant  seine  Vorlesungen  mit  Vorliebe  nach 
Baumgartens  Werken.  (Vgl.  Ks.  „Nachricht  von  der  Einrichtung  seiner  Vor- 
lesungen" 1765/6.)  Man  erkennt  daraus,  wie  hoch  ihn  Kant  geschätzt  haben 
muss,  welcher  sowohl  sachlich  als  auch  insbesondere  im  Punkte  der  Termino- 
logie stark  durch  Baumgarten  beeinflusst  worden  ist.  Schon  in  der  Dis- 
sertation von  1770  nennt  er  ihn  den  „perspicadssimus  coryphaeua  tnetaphysi- 
cortitn*^ ;  in  den  Proleg.  §  3  nennt  er  ihn  „den  scharfsinnigen  Baumgarten" ; 
ebendaselbst  §  39  rühmt  er  seine  „gute  Ontologie".  Kant  nennt  denselben 
hier  einen  „Analysten",  weil  seine  Hauptstärke  in  der  Zergliederung,  in  der 
logischen  Entwicklung  der  Begriffe,  ihres  Inhaltes  und  ihres  Zusammenhanges 
bestand.  An  der  letztgenannten  Stelle  wird  seine  Metaphysik  eben  wegen 
der  darin  sich  findenden  vollständigen  „Zergliederung  der  Begriffe"  gerühmt, 
welche  den  (von  Kant  schon  in  der  Einleitung  zur  Kr.  d.  r.  V.,  Comm.  I,  480, 
erwähnten)  analytischen  Theil  der  Metaphysik  ausmacht.  In  dieser  weit- 
getriebenen, scharfsinnigen  Analyse  liegt  aber  auch  seine  Schwäche  (vgl. 
Mellin  1 ,  469)  ^  Weiteres  über  ihn  s.  bes.  J.  E.  Erdmann ,  Gesch.  d.  n. 
Philos.  II,  2,  375  ff.,  derselbe  in  seinem  Grundriss  d.  Gesch.  d.  Philos.  §  290, 10. 
Zell  er,  Gesch.  d.  deutschen  Philos.  285.  Rosenkranz,  Gesch.  d.  Kanti- 
schen Philos.  51.     Vgl.  Riehl,  Krit.  I,  14. 

Baumgarten  wollte  „die  kritische  Beurtheilung  des  Schönen 
unter  Vernunftprincipien  bringen  und  die  Regeln  derselben  zur 
Wissenschaft  erheben".  Dieser  Wissenschaft  gab  er  den  Namen  der 
„Aesthetik".  Dieser  Name  wurde  allgemeiner  gebraucht,  seitdem  Baumgarten 
1750  sein  Hauptwerk  darüber  eben  unter  dem  Titel  j,Aesthetica"  heraus- 
gegeben hatte.  Sache  und  Namen  taucht  aber  schon  15  Jahre  früher  auf 
in  Baumgartens  Erstlingsschrift  vom  Jahre  1735:  „Meditationes  phüosophicae 
de  nonnuüis  ad  poema  pertinentibus.^  Baumgarien  fasste  daselbst  die  uns 
seltsam  berührende  Idee,  die  Geschmackslehre  als  einen  Theil  der  Erkenntniss- 
lehre zu  behandeln,  und  der  Logik,  als  der  Lehre  vom  denkenden  Erkennen, 
eine  Wissenschaft  vom  sinnlichen  Erkennen  an  die  Seite  zu  stellen  (in 
diesem  Sinne  nennt  er  jene  in  seiner  Aesthetica  §  13  die  soror  natu  major). 
Er  suchte  dann  für  diese  neue  Wissenschaft  nach  einem  Namen,  Meditationes 

^  In  diesem  Sinne  spricht  Kant  einmal  (in  der  Schrift  gegen  Eberhard, 
Ros.  I,  466)  von  dem  , lieben  Baumgarten,  der  auch  Begriff  för  Sache  nimmt*. 
Dazu  vgl.  man  das  Urtheil  in  Kants  Reflexionen  II,  N.  220  (vgl.  N.  96):  „Der 
Mann  war  scharfsichtig  im  Kleinen,  aber  nicht  weitsichtig  im  Grossen;  ein  guter 
Analyst,  aber  nicht  architektonischer  Philosoph.  Anstatt  seiner  Aesthetik  passt 
sich  besser  das  Wort  Kritik  des  Schönen.** 

Vaihinger,  Kant-Commentar.    II.  8 


114  §  1.    Einleitung. 

A  21  B  35.  [R  88.  H  56.  E  72.] 

S.  39  (§  CXVI):  „Existente  definitione,  terminua  definitus  excogüari  faeile 
polest.  Graeci  jam  phüosophi  et  patres  inter  a\z^x6L  xal  yov)tdi  sedtUo  semper 
distinxerunt .  .  .  Sint  ergo  voYjia  eognoscenda  faeidtate  superiore  ohjectum 
logices,  alc^ia  morrjjjLTig  alod-rjxtxTjg  sive  AESTHETICAE."  Er  definirt 
sie  auch  als  „scientia,  quae  dirigat  facuUatem  cognoscitivam  inferiorem/'  Man 
sieht  heraus,  wie  Baumgarten  die  Wissenschaft  des  Schönen  in  die  pedantische 
Systematik  der  Wolffischen  Philosophie  einzwängen  wollte,  und  wie  er  nor 
aus  dieser  Systematisirungssucht ,  durch  welche  er  dieser  Wissenschaft  eine 
ganz  schiefe  Stellung  gab,  auf  jenen  Namen  „Aesthetik"  gefuhrt  wurde. 
Wunderlicher  Weise  ist  nun  gerade  dieser  Name  an  der  Wissenschaft  bis 
heute  hängen  geblieben,  während  die  Begründung  dieser  Bezeichnungs- 
weise —  jene  Parallele  mit  der  Logik  als  Theil  der  Gnoseologie  —  gänzlich 
fallen  gelassen  worden  ist;  war  sie  doch  auch  so  unglücklich  wie  möglich. 
Das  Verdienst  Baumgartens  beschränkt  sich  fast  auf  die  Erfindung  dieses 
Namens ;  denn  die  Sache,  die  Wissenschaft  der  Aesthetik  hat  durch  ihn  sehr 
wenig  gewonnen;  ihn  gar  den  ,, Begründer  der  Aesthetik"  zu  nennen,  ist 
ganz  ungerechtfertigt;  waren  doch  Engländer,  Franzosen  und  Schweizer  mit 
der  wissenschaftlichen  Untersuchung  der  Grundbegriffe  der  Aesthetik  längst 
vorangegangen.  Was  er  selbst  wollte,  war,  die  Geschmacksurtheile  unt«r 
strenge  und  allgemeingültige  Regeln  zu  bringen,  welche  aus  Vemnnft- 
principien  beweisbar  seien.  Baumgarten  sagt  in  diesem  Sinne  ausdrucklich 
in  der  Aesthetica  §  5 :  „Nostra  ars  demonstrari  potestJ^ 

„Allein  diese  Bemühung  ist  vergeblich"  —  ist  Kants  Urtheil. 
Wir  sehen  zunächst  von  den  Aenderungen  der  2.  Auflage  ab,  und  beschränken 
uns  auf  die  Besprechung  der  unbedingten  Verwerfung  jedes  apriorischen 
Elementes  in  der  Aesthetik ;  diese  scharfe  Verurtheilung  der  rationalistischen 
Aesthetik  der  Wolffischen  Schule  stimmt  ganz  überein  mit  den  vorkritischen 
Aeusserungen  Kants  über  dieses  Thema,  insbesondere  mit  dem  Standpunkt 
welchen  er  1764  in  seiner  Schrift:  „Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 
Schönen  und  Erhabenen"  eingenommen  hatte.  Er  hatte  sich  damals  der 
rationalistischen  Metaphysik  ab-  und  dem  englischen  Empirismus  zugewandt 
(Vgl.  Commentar  I,  47  ff.  Falkenheim,  Die  Entstehung  der  Kantischen 
Aesthetik  [1890]  S.  5  ff.)  Von  diesem  empirisch-psychologischen  Standpunkt 
aus  beschäftigte  er  sich  damals  —  mehr  in  geistreich  plaudernder,  als  in 
wissenschaftlich  untersuchender  Weise,  mehr,  wie  er  selbst  sagt,  als  Beob- 
achter, denn  als  Philosoph  —  mit  den  ästhetischen  Problemen,  in  deren 
Untersuchung  Engländer  und  Franzosen  schon  so  viel  geleistet  hatten.  Und 
an  diese  englischen  und  französischen  Vorgänger  schloss  er  sich  auch  an: 
Sbaftesbury  und  Rousseau  wurden  seine  Führer.  (Vgl.  auch  die  „Nachricht 
von  der  Einrichtung  der  Vorlesungen"  von  1765  über  die  „Abstechung  der 
Kritik  des  Geschmackes  von  der  der  Vernunft".) 

In  dem  Briefe  an  Herz  vom  7.  Juni  1771  spricht  er  gelegentlich 
vorübergehend  auch  von  der  „Geschmackslehre"  in  einer  Weise,  dass  man  an- 
nehmen kann,  er  habe,  entsprechend  seiner  ganzen  Leibnizisch-rationalistischeu 


Meinungsänderung  Kants  über  die  Geschmackslehre.  115 

[R  38.  H  56.  E  72.]  A  21.  B  85« 

Wendung  in  dieser  Zeit,  auch  für  die  Oescbmackslehre  wieder  apriorische 
Prindpien  gesucht.  Jedenfalls  aber  hatte  er,  als  er  1781  die  erste  Auflage 
der  Er.  d,  r.  Y.  veröffentlichter  diese  Hoffnung  ganz  aufgegeben,  wie  aus 
dieser  Stelle  hervorgeht.  Zur  Erläuterung  dieser  Stelle  kann  trefflich  ein 
Passus  dienen,  welcher  in  der  von  Jäsche  1800  herausgegebenen  Logik  Kants 
glücklicher  Weise  enthalten  ist.  Es  heisst  da  in  der  Einleitung  I:  „Die 
Aesthetik  enthält  die  Regeln  der  Uebereinstimmung  des  Erkenntnisses  mit 
den  Gesetzen  der  Sinnlichkeit;  die  Logik  dagegen  die  Regeln  der  Ueberein- 
stimmung des  Erkenntnisses  mit  den  Gesetzen  des  Verstandes  und  der  Ver- 
nunft. Jene  hat  nur  empirische  Principien  und  kann  also  nie 
Wissenschaft  oder  Doctrin  sein"  u.  s.  w.  „Der  Philosoph  Baum- 
garten in  Frankfurt  hatte  den  Plan  zu  einer  Aesthetik  als  Wissenschaft 
gemacht.  Allein  richtiger  hat  Home  die  Aesthetik  Kritik  genannt,  da  sie 
keine  Regeln  a  priori  gibt"  u.  s.  w.  Natürlich  drückt  diese  Stelle  (zu 
welcher  noch  Einl.  V,  VHI  zu  vergleichen  ist)  nicht  Kants  Meinung  vom 
Jahre  1800  aus,  sondern  Jäsche  hat  kritiklos,  wie  er  war,  hier  eine  Be- 
merkung Kants  abgedruckt,  welche,  dem  ganzen  Tenor  nach,  weit  vor  das 
Jahr  1781  zu  setzen  ist.  (Vgl.  hierüber  Nathan,  Ks.  Logik  S.  32,  und 
B.  Erdmann  in  den  Gott.  Gel.  Anz.  1880,  S.  612,  und  desselben  „Re- 
flexionen Kants"  1,  26.)    Vgl.  auch  M ellin  I,  84.  469. 

Diese  wenn  auch  nur  nebenbei  hingeworfene  Bemerkung  Kants  über 
die  Unmöglichkeit  der  Aesthetik  als  Wissenschaft  erregte  bald  das 
Nachdenken  und  den  Widerspruch.  Besonders  Heydenreich,  sonst  ein 
Anhänger  Kants,  liess  in  dem  Philos.  Magazin  von  Abicht  und  Born  (1790) 
einen  Aufsatz  erscheinen :  „Genauere  Prüfung  des  Kantischen  Einwurfes  gegen 
die  Möglichkeit  einer  philosophischen  Geschmackslehre".  Weiteres  vgl.  hierüber 
bei  Krug,  Lexicon  H,  229  ff.  422;  I,  62. 

Unterdessen  aber  war  Kant  durch  eigenes  Nachdenken  auf  andere 
Meinung  gekommen;  und  die  ersten  Spuren  dieser  Meinungsänderung 
haben  wir  eben  in  der  entsprechenden  Textänderung  der  2.  Auflage. 
Indem  Kant  das  Wort  „vornehmsten"  einschiebt,  statuirt  er,  dass  die 
Theorie  des  Geschmacks  doch  apriorische  Quellen  habe,  wenn  diese  auch 
nicht  zu  „bestimmten"  apriorischen  Geschmacksgesetzen  führen.  Ueber 
diese  „spätestens  Anfang  1787"  eingeschobenen  Aenderungen  vgl.  B.  Erd- 
mann, Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  von  Kants  Kritik  der  Urtheilskraft 
XVn.  Dieselben  stehen,  wie  schon  Comm.  I,  864.  483  bemerkt  worden  ist, 
mit  anderen  gleichzeitigen  sachlichen  Aenderungen  in  Kants  System  in  Zu- 
sammenhang. Während  er  ursprünglich  die  Transscendentalphilosophie  auf 
die  Erkenntnisstheorie  beschränkte,  dehnte  er  dieselbe  später  auf  die  Theorie 
des  W^illens,  sowie  auf  die  Theorie  des  Geschmackes  aus.  Nachdem  er,  wie 
im  Erkenntnissvermögen,  so  auch  im  Begehrungsvermögen,  apriorische  Ele- 
mente entdeckt  hatte,  glaubte  er  solche  auch  in  dem  dritten  Hauptvermögen 
der  menschlichen  Seele  zu  finden,  im  Gefühls  vermögen.  Diese  seine  Ent- 
deckung hat  er  selbst  anschaulich  geschildert  in  dem  bekannten  ersten  Briefe 


116  §  1.    Einleitung. 

A  21.  B  35.  [R  33.  H  57.  E  73.] 

an  Reinhold  vom  18.  Dec.  1787 :  „Ich  beschäftige  mich  jetzt  mit  der  Kritik 
des  Geschmacks,  bei  welcher  Gelegenheit  eine  andere  Art  von  Principien 
a  priori  entdeckt  wird,  als  die  bisherigen  ...  ob  ich  es  zwar  sonst  für 
unmöglich  hielt"  n.  s.  w.  Diese  Stelle  gibt  in  ihrem  weiteren  Verlaufe 
einen  vollständig  deutlichen  Commentar  zu  den  vorliegenden  Text&nderangen 
der  2.  Auflage,  welche  am  Anfang  desselben  Jahres  1787  erschienen  war. 
(Vgl.  auch  die  Losen  Blätter  I,  S.  9.  254.)  üebrigens  erschien  das  in  jenem 
Briefe  angekündigte  Werk  bekanntlich  erst  1790  unter  dem  Titel:  „Kritik 
der  Urtheilskraft".  lieber  die  apriorischen  Elemente  des  Geschmacksnrtheiles 
s.  daselbst  die  Einleitung  IV.  V.  VIT;  sodann  §  12,  §  30  ff.,  §  37  u.  ü. 
Freilich  ist  der  apriorische  Charakter  der  Geschmacksurtheile  kein  so  strenger, 
als  der  der  theoretischen  und  praktischen  Grundsätze;  bei  jenen  spielt  das 
Empirische  eine  viel  grössere  Rolle  als  bei  diesen;  und  so  erklärt  sich,  wie 
Kant  auch  in  der  2.  Auflage  in  dieser  Anmerkung  die  Stelle  stehen  lassen 
konnte,  dass  die  Kritik  des  Geschmacks  doch  keine  „wahre  Wissenschaft*' 
sei.  —  Weiteres  hierüber  bei  B.  Erdmann  in  seiner  Einleitung  zu  seiner 
Ausgabe  von  Kants  Kr.  d.  Urth.  S.  17  ff. ;  in  desselben  „Kants  Kriticismns  in 
der  ersten  und  zweiten  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V."  171;  Falkenheim,  Die 
Entstehung  der  K.'schen  Aesthetik  (1890)  S.  13  ff. ,  woselbst  aber  zwischen 
dem  Text  der  1.  und  2.  Auflage  nicht  hinreichend  unterschieden  wird: 
Pluntke,  Die  Aesthetik  und  die  Philosophie  (1875)  S.  4.  18. 

Die  Meinungsänderung  Kants  hat  nun  sofort  ihren  entsprechenden 
Ausdruck  gefunden  in  der  Aenderung  der  terminologischen  Bestimmungen. 
In  der  ersten  Auflage  hatte  Kant  den  Vorschlag  gemacht,  den  von  Baum- 
garten  geprägten  Ausdruck  zwar  beizubehalten,  aber  nicht  für  die  Theorie 
des  Schönen,  sondern  für  die  Erkenntnisstheorie.  Ihm  selbst  lag  dieser 
Terminus  sehr  bequem.  Er  hatte  in  seiner  Inauguraldissertation  von  1770 
eine  neue  Theorie  der  sinnlichen  Erkenntniss  aufgestellt,  er  hatte  diese  scharf 
geschieden  von  der  Theorie  der  Verstandeserkenntniss.  Was  ist  natürlicher, 
als  dass  er,  bei  der  systematischen  Darstellung  seiner  neuen  Theorie  in  der 
Kritik  d.  r.  V.,  nach  einem  Ausdruck  suchte,  welcher  der  Logik  als  der 
Theorie  der  Verstandeserkenntniss  parallel  liefe?  Der  deutsche  Ausdruck 
„Sinnenlehre^S  welchen  er  am  Schluss  der  Einleitung  gebraucht,  erschien 
ihm  wohl  zu  farblos,  und  so  stiess  er,  bei  dem  Versuch  der  Uebersetzung 
dieses  Ausdruckes  ins  Griechische,  auf  den  schon  von  Baumgarten  geprägten, 
aber  in  anderem  Sinne  verwendeten  Ausdruck  „Aesthetik'^  Baumgarten 
verstand  ja  darunter  allerdings  auch  die  Lehre  von  der  sinnlichen  Erkennt- 
niss ;  aber  er  schränkte  die  Bedeutung  sogleich  wieder  ein ,  indem  er  nur 
die  Erkenntniss  des  sinnlich  Schönen  behandelte,  resp.  indem  er  eben  das 
Schöne  als  die  Vollkommenheit  der  sinnlichen  Erkenntniss  fasste.  Diese 
letztere  wunderlich  pedantische  Auffassung  Hess  Kant  unter  dem  Einflus^ 
der  Engländer  und  Franzosen  fallen;  aber  er  gebrauchte  in  seiner  vor- 
kritischen Zeit  (vgl.  die  oben  S.  114  mitgetheilte  Stelle  aus  dem  Programm 
von  1765)  ebenfalls  den  Ausdruck  „Aesthetik"  für  die  Kritik  des  Geschmacks. 


[B  33.  H  57.  E  73.]  A  21.  B  35* 

(Vgl.  auch  „Beweisgrund"  Ros.  I,  276.)  Jetzt  aber,  1781,  erschien  es  ihm 
vergeblich,  die  Theorie  des  Schönen  mit  derselben  wissenschaftlichen  Strenge 
zu  bebandeln,  wie  die  Theorie  des  Wahren  oder  die  Theorie  des  Denkens 
(Logik),  und  so  schien  es  ihm  doppelt  leicht,  den  Ausdruck  „Aesthetik"  für 
die,  dieser  parallelgehende,  Theorie  der  sinnlichen  Erkenntniss  zu  verwenden. 
Man  kann  auch  sagen,  Kant  habe  den  von  Baumgarten  richtig  erkannten 
Gedanken,  dass  es  einer  eigenen  Theorie  der  sinnlichen  Erkenntniss  neben 
der  Theorie  der  Verstandeserkenntniss  bedürfe,  in  der  richtigen  Weise  erst 
ausgeführt.     (Vgl.  Comm.  I,  493.) 

Dass  man  mit  diesem  Ausdrucke  nun  „der  Sprache  und  dem  Sinne 
der  Alten  näher  traf  —  diesen  Gedanken  entlehnte  Kant  auch  dem- 
selben Autor.  Schon  oben  S.  114  wurde  die  betreffende  Stelle  aus  Baumgarten 
angeführt.  Der  Gegensatz  findet  sich  bekanntlich  zuerst  bei  den  Eleaten 
(auf  welche  auch  Kant  in  seiner  Dissertation  §  12  anspielt),  sodann  bei 
Empedocles,  Demokrit  und  hat  dann  besonders  in  der  Platonischen 
Philosophie  eine  weltgeschichtlich  bedeutsame  Rolle  gespielt.  An  Stelle  des 
Gegensatzes  von  alz^xd  und  vov^xd  findet  sich  dann  auch  häufig  der  Gegen- 
satz der  <patv6{i6va  und  vcoopieva,  auf  welchen  sich  Kant  auch  schon  in  der 
Dissertation  §  3  beruft :  prius  scholitf  veterum  phaenofnena^  posterius  noumena 
audiehat  K  Einige  wunderliche  Bemerkungen  über  diese  Stelle  findet  man 
bei  Cohen,  l.  A.  82;  2.  A.  189. 

Während  Kant  aus  den  eben  entwickelten  Gründen  in  der  1.  Auflage 
den  radicalen  Vorschlag  gemacht  hatte,  die  Baumgarten'sche  „Benennung 
wieder  eingehen  zu  lassen'^  hat  er  unterdessen,  wie  wir  sahen,  seine  Einsicht 
dahin  erweitert,  dass  die  Lehre  vom  Geschmacke  doch  auch  einige  apriorische 
Bestandtheile  habe  und  daher,  in  seinem  Sinne,  auch  des  Ehrennamens  einer 
„Wissenschaft"  nicht  so  ganz  unwürdig  sei.  Und  so  will  er  denn  die  Baum- 
garten'sche  Verwendung  des  Ausdruckes  „Aesthetik''  auch  wieder  in  Gnaden 
annehmen,  und  gestatten,  dass  sie  neben  der  seinigen  zur  Verwendung 
komme.  Der  Terminus  „Aesthetik"  soll  sowohl  in  erkenntniss- theoretischer 
Hinsicht  die  Lehre  vom  sinnlichen  Erkennen  bezeichnen,  als  wie  bisher  die 
Lehre  vom  Geschmack.  Die  Art  und  Weise,  wie  Kant  diesen  —  unprakti- 
schen —  Vorschlag  macht,  ist  ein  neuer  Hinweis  darauf,  dass  diese  Stelle 


*  Aehnlich  Prot,  §  32,  wonach  die  Unterscheidung  schon  „von  den  ältesten 
Zeiten  der  Philosophie  her"  sich  bei  ,den  Forschem  der  reinen  Vernunft **  gefunden 
habe.  Vgl.  Krit.  A  257.  Uebrigens  hat  Kant,  allem  Anschein  nach,  die  Ausdrücke 
aus  dem  Studium  der  alten  Skeptiker  entnommen,  speciell  aus  Sextus  Empiricus, 
mit  dem  Kant  nothwendig  bekannt  gewesen  sein  muss,  wie  aus  vielen  Judicien 
hervorgeht  —  eine  Abhängigkeit,  welche  noch  nicht  näher  untersucht  ist.  Die 
antike  Skepsis  war,  möchte  man  sagen,  auf  jenen  Gegensatz  der  ahd^td  xal  vo-r^rd 
aufgebaut  Vgl.  Natorp,  Forschungen  zur  Geschichte  des  Erkenntnissproblems 
im  Alterthum  (1884)  S.  96.  114.  130  if.  144.  183.  236.  240.  244.  267.  277  f.  288. 
Die  directe  Beeinflussung  Kants  durch  Sextus  behauptete  auch  schon  Galuppi  in 
Ht^inen  Considerazioni  sull  xdeälismo  transscendentale  (1.  A.  1829;   3.  A.  1857)  §  24. 


118  §  1.    EinleituDg. 

A  21.  B  35.  [B  33.  H  57.  E  73.] 

auf  dem  Uebergang  von  seiner  Yorkritischen  empiristischen  Auffassang  der 
Aesthetik  zu  seiner  kritischen  geschrieben  ist.  Denn  er  sagt:  ,,Aesthetik'' 
solle  sowohl  im  ,,transscendentalen  Sinne"  als  „iii  psychologischer  Bedeutung" 
genommen  werden.  Aber  der  späteren  Darstellung  nach,  in  der  Kr.  d.  ürth. 
(Einl.  lY  u.  V),  hat  es  auch  die  Kritik  der  ästhetischen  Urtheilskrafi  mit 
einem  a  priori  gesetzgebenden  Vermögen,  also  mit  einem  ,,transscendentalen 
Princip"  zu  thun.  In  der  Kr.  d.  r.  V.  selbst  A  801  wird  das  „Transscenden- 
tale"  ausdrücklich  dem  „Psychologischen,  d.  i.  Empirischen"  gegenübergestellt. 
Demnach  war  er  sich  an  dieser  Stelle  noch  nicht  ganz  und  definitir  klar 
über  den  wissenschaftlichen  Charakter  der  Geschmackslehre.  (VgL  hieza 
Falkenheim  a.  a.  0.  17  ff.,  auch  Ks.  Beflexionen  I,  N.  362.) 

Die  Art  und  Weise  nun,  in  welcher  Kant  dann  seine  beiden  Bedeutun- 
gen von  Aesthetik  neben  einander  gebraucht  hat,  ist  eigenthümlich.  £r  hat 
nämlich  das  Substantiv  „Aesthetik"  fast  ausschliesslich  „im  transscendentalen 
Sinne",  das  Adjectiv  „ästhetisch"  meistentheils  für  die  Wissenschaft  des 
Schönen  verwendet.  Einmal  spricht  K.  freilich  auch  von  der  „transsc. 
Aesthetik  der  Urtheilskraft"  (Kr.  d.  U.  §  29  Anm.)  und  andererseits  wird 
das  Adjectiv  „ästhetisch"  auch  einmal  im  erkenntniss-theoretischen  Sinne 
verwendet :  wenn  Kant  die  „ästhetische  Deutlichkeit"  der  logischen  gegenüber- 
stellt. Vgl.  dazu  Comm.  I,  136  ^  Sonst  dient  das  Adjectiv  hauptsächlich 
der  Lehre  vom  Oeschmacksurtheil ,  und  über  die  letztere  Verwendung  gibt 
er  selbst  Rechenschaft  in  der  Einleitung  VII  zur  Kr.  d.  Urth. '  „Was  an 
der  Vorstellung  eines  Objects  bloss  subjectiv  ist,  d.  h.  ihre  Beziehung  auf 
d^s  Subject,  nicht  auf  den  Gegenstand  ausmacht,  ist  die  ästhetische  Be- 
schaffenheit derselben;  was  aber  an  ihr  zur  Bestimmung  des  Gegenstandes 
(zum  Erkenntnisse)  dient  oder  gebraucht  werden  kann,  ist  ihre  logische 
Gültigkeit."  Es  wird  dann  die  Räumlichkeit,  sowie  die  qualitative  Empfin- 
dung zur  zweiten  Gattung  geschlagen,  die  Beziehung  auf  Lust  und  Unlust 
zur  ersten,  so  dass  wir  hier  also  wieder  der  schon  oben  S.  29  besprochenen 
Einth eilung  der  Sinnlichkeit  in  Sinn  und  Gefühl  begegnen.  Vgl.  Kr.  d.  Urth. 
§  1.  In  diesem  Sinne  spricht  nun  Kant  von  der  „Kritik  der  ästhetischen 
Urtheilskraft".  Nach  dem  Gesagten  bezöge  sich  der  Ausdruck  „ästhetisch" 
somit  auf  die  Lust-  und  Unlustgefiihle ,  speciell  bei  der  Beurtheilung  des 
Schönen  und  Hässlichen,  somit  auf  die  Gefühlsseite  des  Empfundenen. 
Wenn  als  Gegensatz  zu  „ästhetisch"  in  diesem  Sinne  hier  „logisch"  figurirt, 
so  umfasst  hier  „logisch"   die  gesammte  Erkenntnissseite  des  Gegenstandes, 

*  Einmal  spricht  Kant  Krit.  A  57  =  B  81  von  „Begriffen,  aber  weder 
empirischen  noch  ästhetischen  Ursprungs **.  In  welchem  Sinne  wird  da  der 
Ausdruck  gebraucht? 

*  Vgl.  dazu  die  Abhandlung  „Ueber  Philosophie  überhaupt*  Res.  I,  595  ff., 
wo  Kant  entwickelt,  dass  und  warum  er  in  der  „Transsc  Aesthetik*  doch  nicht 
von  „ästhetischen  Urtheilen"  gesprochen  habe,  weil  alle  ästhetischen  ürtheile, 
sowohl  die  ästhetischen  Sinnesurtheile,  als  die  ästhetischen  Reflexionsurtheile  nichts 
mit  dem  Eikenntnissvermögen  zu  thun  haben,  sondern  mit  Lust  und  Unlust. 


Die  verschiedenen  Bedeutungen  von  »Aesthetik"  bei  Kant.  119 

[B  38.  H  57.  K  73.]  A21.  B36. 

sowohl  die  sinnliche  als  die  verstandesmässige  Erkenntniss  desselben.  In 
einem  ähnlichen  Sinne  werden  rational  und  ästhetisch  einander  gegenüber- 
gestellt im  Streit  d.  Fac.  (Res.  X,  283).    Vgl.  oben  S.  4. 

Eine  andere,  aber  damit  verwandte  Bedeutung  gewinnt  der  Ausdruck 
„ästhetisch"  in  der  Moral.  In  der  Kr.  d.  pr.  V.  (B.  VIII,  248.  255  u.  ö.) 
sind  „ästhetische"  Beweggründe  (so  viel  als  „pathologische")  solche,  welche 
auf  dem  sinnlichen  Bedürfniss  beruhen.  Ihnen  sind  die  „reinen  praktischen" 
entgegengesetzt.  In  der  Tugendlehre  ist  (§  XII  bis  §*XIV  der  Einleitung)  in 
diesem  Sinne  von  einer  „Aesthetik  der  Sitten"  die  R«de.  Vgl.  §§  46.  47. 
Die  Verwandtschaft  dieser  Verwendung  des  Ausdruckes  mit  der  vorigen 
liegt  darin,  dass  beide  Mal  „ästhetisch"  sich  auf  die  Gefühle  bezieht.  Vgl. 
auch  Rechtslehre  §  49  A. 

Man  könnte  nunmehr  den  Versuch  machen,  im  Anschluss  an  Kants  An- 
deutungen Aufgabe  und  Eintheilung  der  „Aesthetik"  überhaupt  folgender- 
massen  auszuführen :  „Aesthetik"  überhaupt  sei  die  Lehre  von  der  Sinnlich- 
keit (im  Gegensatz  zur  Logik,  als  der  Wissenschaft  vom  Denken).  Wie  nun  die 
Sinnlichkeit  zerfällt  in  den  auf  das  Objective  gerichteten  Sinn  und  in  das 
aufs  Subjective  gehende  Gefühl,  so  zerfällt  die  Aesthetik  im  weiteren  Sinne 
in  die  Aesthetik  des  Sinnes  und  in  die  Aesthetik  des  Gefühls  resp. 
des  Geschmacks  ^  Jeder  dieser  beiden  Theile  muss  nun  wieder  in  zwei 
üntertheile  zerfallen,  je  nachdem  die  transscendentale  oder  die  empirische 
Seite  behandelt  wird.  Es  würde  somit  zu  unterscheiden  sein  eine  trans- 
scendentale Aesthetik  des  Sinnes  von  einer  empirischen  Aesthetik  der  sinn- 
lichen Empfindungen.  Von  dieser  letzteren  spricht  auch  Mellin  I,  84.  Wir 
würden  heutzutage  die  „Psychologie  der  Sinne"  als  empirische  Aesthetik 
bezeichnen  wollen  ^.  Ebenso  müsste  man  dann  in  der  Aesthetik  des  Gefühls 
resp.  Geschmacks  eine  transscendentale  und  eine  empirische  Hälfte  unter- 
scheiden. Damach  wäre  auch  die  Darstellung  bei  Mellin,  Wörterb.  I,  77  ff., 
Kunstspr.  I,  8  zu  corrigiren.    Vgl.  auch  Krug,  Lex.  I,  62. 

Die  Nachkantianer  haben  sich  nicht  an  Kants  Terminologie  gehalten. 
Der  Ausdruck  „Aesthetik"  wurde  selbst  von   den  meisten  Kantianern   auf 


^  Diese  Eintheilung  wird  denn  auch  bestätigt  durch  Kants  Reflexionen  11, 
N.  322:  „Aesthetik  ist  die  Philosophie  über  die  Sinnlichkeit,  entweder  der  Er- 
kenntniss oder  des  Gefiihls.''  Nach  Refl.  II,  N.  323  müsste  wohl  auch  noch 
eine  Lehre  von  der  Sinnlichkeit  im  Handeln  hinzukommen? 

'  Dies  war  wohl  auch  die  Absicht  G  o  e  t  h  e's,  wenn  er  von  der  nothwendigen 
,.Kritik  der  Sinne"  spricht.  Vgl.  Comm.  I,  477.  Als  eine  berichtigende  Er- 
gänzung zur  Kantischen  Transsc.  Aesth.  schrieb  Tourtual:  Die  Sinne  des 
Menschen.  Ein  Beitrag  zur  physiologischen  Aesthetik.  Münster  1827  (bes. 
Vonr.  V).  An  die  Stelle  der  Transsc.  Aesthetik  will  der  Kantianer  G  ö  r  i  n  g ,  Raum 
u.  Stoff  VI  ff.  14  ff.  151  eine  neue  „Kntik  der  Sinne"  setzen,  welche  wesentlich  von 
der  .Kritik  der  Vernunft"  zu  scheiden  sei,  aber  auch  nicht  in  die  Physiologie  der 
Sinne  gehöre^  sondern  eine  eigene  neue  Wissenschaft  darstelle.  Bergmann, 
Metaph.  45  ff.  will  eine  „Kritik  des  wahrnehmenden  Bewusstseins". 


120  §  1.    Einleitung. 

A  22.  B  86.  [B  33.  H  57.  E  73.] 

die  Geschmackslehre  beschränkt  (so  bei  Heydenreich,  Hensinger, 
Ast,  Bouterweck,  Pölitz  u.  s.  w.).  Aus  der  Erkenntnisstheorie  ver- 
schwand der  Ausdruck  bald,  da  man  jene  Kantische  Doppelverwendung  natur- 
gemäss  als  höchst  störend  empfinden  musste.  Vgl.  noch  bes.  Zimmermann, 
Gesch.  d.  Aesth.  II,  159  ff.  379  ff.;  und  Lotze,  Gesch.  d.  Aesth.  12.  36  f. 
43  f.     Rosenkranz,  Gesch.  d.  K. 'sehen  Phil.  S.  52. 


Wir  M^erden  in  der  transscendentalen  Aesthetik  die  Sinnlich- 
keit isoliren.  Dieser  bei  Kant  häufig  wiederkehrende  Ausdruck  „isoliren*' 
enthält  einen  deutlichen  Hinweis  auf  seine  decomponirende  Methode,  welche 
darin  besteht,  dass  er  die  einzelnen  „Erkenntnissvermögen"  und  deren 
Functionen  zunächst  jedes  einzeln  flir  sich  betrachtet.  (Vgl.  Comm.  I,  432.) 
Ganz  ähnlich,  wie  hier  am  Anfang  der  transsc.  Aesthetik,  heisst  es  am 
Anfang  der  Analytik,  A  62:  „In  einer  transscendentalen  Logik  iso- 
liren  wir  den  Verstand,  wie  oben  in  der  transscendentalen  Aesthetik 
die  Sinnlichkeit."  (Vgl.  A  51.)  Ebenso  wird  A  805  am  Anfang  der 
Dialektik  die  Vernunft  „isolirt".  —  Den  Ausdruck  „isoliren"  erläutert 
Kant  sogleich  selbst  durch  „absondern"  oder  auch  „abtrennen";  besonders 
der  erstere  Ausdruck  findet  sich  bei  Kant  häufig;  so  zweimal  in  den  gleich 
vorhergehenden  Absätzen,  so  auch  in  der  Einl.  6  21  Anm.  üeber  die 
Wichtigkeit  dieser  isolirenden  Methode  äussert  er  sich  des  Weiteren  an 
einer  bekannten  Stelle  der  Methodenlehre  A  842:  „Es  ist  von  der  äussersten 
Erheblichkeit,  Erkenntnisse,  die  ihrer  Gattung  und  ihrem  Ursprünge  nach 
von  anderen  unterschieden  sind,  zu  isoliren,  und  sorgfältig  zu  verhüten, 
dass  sie  nicht  mit  anderen,  mit  welchen  sie  im  Gebrauche  gewöhnlich  ver- 
bunden sind,  in  ein  Gemische  zusammenfliessen.  Was  Chemiker  beim  Scheiden 
der  Materien,  was  Mathematiker  in  ihrer  reinen  Grössenlehre  thun,  das  liegt 
noch  weit  mehr  dem  Philosophen  ob,  damit  er  den  Antheil,  den  eine  be- 
sondere Art  der  Erkenntniss  am  Verstandesgebrauch  hat,  ihren  eigenen 
Werth  und  Einfluss  sicher  bestimmen  könne."  Und  weiterhin  sagt  dann 
Kant,  es  sei  die  Aufgabe,  die  Metaphysik  „geläutert  von  allem  Fremd- 
artigen darzustellen".  Vgl.  die  Vorrede  zu  den  Met.  Anf.  d.  Nat.  (Ros.  V, 
307,  812.  317)  und  besonders  die  Abhandlung  „über  die  teleologischen 
Principien  in  der  Philosophie",  Ros.  VI,  361. 

Bemerkenswerth  ist  in  dieser  Stelle  der  Vergleich  mit  der  Chemie. 
Dieser  entnimmt  Kant,  wie  schon  Oomm.  I,  185  gelegentlich  erwähnt 
wurde,  gerne  Vergleiche  und  Ausdrücke.  Dort  fanden  sich  „Grundstoff, 
Zusatz,  Absonderung,  Zusammensetzung",  hier  „rein",  „isoliren",  sonst 
„Gemisch,  Elemente,  läutern"  u.  s.  w.  Auch  sonst  begegnet  man  dem  Ver- 
gleich mit  dem  Chemiker  („Chymiker")  häufig,  so  in  der  Anmerkung  zur 
Vorr,  B  20;  so  in  der  Prolegomena  am  Schluss  (nach  §  60),  wo  Kant  he- 
kanntlich  die  Proportion  aufstellt: 

Kritik:  Schul metaphysik  =  Chemie  :  Alchemie. 


Kants  »isolirende  Methode**.  121 

[R  33.  H  57.  E  73.]  A  22.  B  36. 

Vgl.  Gegenschrift  gegen  Eberhard  I,  B,  Anm.  =  Ros.  I,  417  über 
die  Methode  des  „Abstrahirens".  Und  am  Schlüsse  der  Krit.  d.  pr.  Yern. 
(292)  heisst  es:  „ein  der  Chemie  ähnliches  Verfahren,  der  Scheidung  des 
Empirischen  vom  Rationalen." 

Diese  Vorliebe  für  chemische  Ausdrücke  und  Vergleiche  findet  ihre 
Erklärung  durch  eine  Stelle  bei  Jach  mann,  Kant,  8.  19:  „Kant  hatte 
nach  seinem  60.  Jahre  ganz  besonders  die  Chemie  liebgewonnen  und  stu* 
dirte  die  neuen  chemischen  Systeme  mit  dem  grössten  Eifer*'  u.  s.  w.  So 
erklärt  es  sich,  dass  Eucken  constatirt  (Bilder  und  Gleichnisse  in  der  Phi- 
losophie S.  24),  dass  Kant  zuerst  Begriffe  der  neueren  Chemie  zur  Veran- 
schaulichung angewendet  habe. 

Doch  findet  sich  der  Vergleich  auch  gelegentlich  schon  vor  Kant.  So 
bei  Hume,  in  seinen  moraMschen  Essays^  Appendix  Ily  „Of  self-love**:  „The 
Epictirean  may  attempt  hy  a  philosophical  chemistry,  to  resolve  the 
elements  of  the  passion  of  friendship ,  if  I  may  so  speak ,  into  those  of  an 
oiher'\  und  bei  Reid,  Inquiry  45,  der  speciell  die  erkenntnisstheoretische 
Analyse  des  „helief*  mit  der  ^yChemical  analysis"  vergleicht. 

Die  Isolirungsmethode  der  Chemiker  schwebt  also  Kant  als  Muster 
vor.  Aber  in  der  oben  angeführten  Stelle  aus  der  Streitschrift  gegen  Eber- 
hard macht  auch  Kant  darauf  aufmerksam,  dass  der  Philosoph  nicht  rea- 
liter die  verschiedenen  Erkenntnisselemente  von  einander  abtrennen  kann, 
sondern  nur  durch  einen  rein  logischen,  begrifflichen  Abstractionsprozess. 
Die  Absonderung  der  reinen  Sinnlichkeit  besteht  also  näher  in  der  Ab- 
straction  von  den  beiden  anderen  Factoren,  dem  logischen  und  dem  sen- 
suellen. Das  Charakteristische  der  Kantischen  Methode  besteht  eben  in 
diesem  Isolirungsprocess,  wobei  durch  Elimination  der  übrigen  Factoren  je 
Ein  Factor  herausgelöst  und  gleichsam  für  sich  präparirt  wird.  Vgl.  Mellin  I, 
39  ff.  (Artikel  „Absondern".)  .  In  welcher  Weise  (nach  dem  Vorbild  der 
Anatomie)  sich  Reinhold  dies  Absondern  vorstellt,  haben  wir  oben 
S.  95  gesehen.  Gegen  diese  „anatomische  Methode"  Kants  s.  auch  Bach- 
mann, PhiL  m.  Z.  147. 

Diese  „isolirende  Methode"  erregte  nun  schon  damals  mannigfache  Be- 
denken: so  sieht  in  dieser  chemischen  Methode  Reinhard  (System  der 
christl.  Moral  I,  Vorr.)  den  Grundfehler  der  kritischen  Philosophie. 

Diesen  Vorwürfen  gegenüber  ist  zwar  die  Bemerkung  der  Jacob'schen 
Ann.  III,  488 — 493,  die  Analogie  der  chemischen  Scheidung  passe  hier 
nicht,  unrichtig,  da  Kant  selbst  das  Bild  begünstigt.  Dagegen  sind  die 
weiteren  Berichtigungen  beachtenswerth :  R.  bürde  der  krit.  Phil,  das  Unter- 
nehmen einer  reellen  Scheidung  der  Kräfte  auf,  und  sage,  dass  sie  jede 
derselben  für  sich  ins  Spiel  setzen  wolle,  ein  Unternehmen,  das  nur  einem 
Unsinnigen  einfallen  könne.  Es  sei  zunächst  eine  logische,  abstracte  Son- 
derung, und  dann  gerade  sei  es  das  Bestreben  Ks.,  zu  zeigen,  wie  das 
Ganze  der  Erkenntniss  aus  diesen  verschiedenen  Elementen  entstehe. 
K.  habe  zu   diesem  Behufe   gezeigt,  was   die  Sinne,  was  Verstand  und 


122  §  1.    Einleitung. 

A  22.  B  86.  [R  38.  H  57.  E  78.] 

Vernunft  bei  der  Erkenn tniss  thuen  und  wie  durch  das  Zusammenwirken 
derselben  ein  Oanzes  —  Erkenntniss  —  entstehe.  Die  abstracte  Heraus- 
lösung  der  Merkmale  der  einzelnen  Vermögen  habe  zur  Ergänzung  den 
Nachweis  des  Wirkens  derselben  im  concreten  Zusammenhang  des  £r- 
kenntnissprocesses.  —  Zur  Entschuldigung  Reinhards  mag  dienen,  dass  seine 
Vorwürfe  sich  hauptsächlich  auf  die  Scheidung  der  Pflicht  und  der  Neigung, 
der  Tugend  und  der  Glückseligkeit,  sowie  der  theoretischen  und  der  prak- 
tischen Vernunft  beziehen,  sowie  auf  jenen  Zwiespalt,  der  am  Anfang  der 
Vorrede  berührt  und  schon  dort  von  Reinhard  angegriffen  wurde.  (Vgl. 
Commentar  I,  82.)  —  Gegen  Ks.  „Isoliren"-  auch  Platner,  Aph.  ',  §  656. 

Besonders  Hamann  und  seine  Gesinnungsgenossen  Herder  und  Jacobi 
erhoben  heftige  Angriffe  auf  Ks.  Methode;  ihr  Wortführer  wurde  besonders 
Schlosser  und  speciell  gegen  Schlosser's  Angriffe  auf  die  analytische,  iso- 
lirende  Methode  bemerkt  Schiller  (Briefw.  m.  Goethe  Nr.  426):  „Sie  und 
wir  anderen  rechtlichen  Leute  wissen  doch  auch,  dass  der  Mensch  in  seinen 
höchsten  Functionen  immer  als  ein  verbundenes  Ganzes  handelt,  und  dass 
überhaupt  die  Natur  überall  synthetisch  verfährt.  Desswegen  wird  uns 
doch  niemals  einfallen ,  die  Unterscheidung  und  die  Analysis,  worauf  alles 
Forschen  beruht,  in  der  Philos.  zu  verkennen,  so  wenig  wir  dem  Chemiker 
den  Krieg  darüber  machen,  dass  er  diß  Synthesen  der  Natur  künstlicher- 
weise aufhebt.  Aber  diese  Herren  Schi,  wollen  sich  auch  durch  die  Meta- 
physik hindurch  riechen  und  fühlen,  sie  wollen  überall  synthetisch  erkennen, 
aber"  u.  s.  w.  Herder,  Metakr..  I,  88  nennt  die  tr.  Aesthetik,  weil  sie 
mit  solcher  Isolirung  arbeitet,  eine  „sonderbare  Wissenschaft".  Ueber  Ks. 
chemische  und  isolirende  Methode  vgl.  auch  Baader,  W.  W.  XI,  165, 
406,  'ff.,   XVI,  417  (K.  isolire  die  Sinnlichkeit  wie  einen  Robinson  Crusoe). 

Auch  Neuere  haben  an  der  Kantischen  Methode  Anstoß  genommen; 
so  sagt  der  Kantianer  F.  A.  Lange  (Gesch.  d.  Mat.  II,  33):  „Ks.  Methode 
durch  Isolirung  der  Sinnlichkeit  zu  entdecken,  was  für  apriorische  Ele- 
mente in  ihr  enthalten  sind,  kann  gerechte  Bedenken  erwecken,  weil  sie 
auf  einer  Fiction  beruht,  deren  methodischer  Erfolg  durch  nichts  verbürgt 
wird.  In  keinem  Erkenntnissakt  kann  isolirte  Sinnlichkeit  gleichsam  in 
ihrer  Function  beobachtet  werden.  Kant  nimmt  aber  an,  das  könne  ge- 
schehen" und  das  Resultat  ist  die  Trennung  der  apriorischen  Form  vom 
empfindungsmässig  gegebenen  Stoff.  Dieselben  Vorwürfe  bei  Lange*s  Gegner 
Spicker  (Kant  S.  21  ff.  26  ff.),  welcher  diese  „doppelte  Trennung"  für 
den  Grundfehler  Kants  erklärt;  besonders  bekämpft  derselbe  (S.  29  ffl  59) 
die  Trennung  der  „Empfindung"  von  der  „empirischen  Anschauung"  als 
ganz  illusorisch.  Weiteres  bei  Schneider,  Ps.  Entw.  d.  Apriori  6  ff.  122. 
Mainzer,  Einbildungskraft  bei  Hume  und  Kant,  40.  58.  67.  70.  85. 
Biese,  Erkenntnissl.  des  Aristoteles  u.  Kants,  S.  62—68.   Vgl.  oben  65  ff.  71  ff. 

Dagegen  bat  die  Kantische  Methode  einen  grossen  Lobredner  in 
Riehl  gefunden,  welcher  in  seinem  „Philosophischen  Kriticismus"  I,  343  ff. 
(26)   sich   ausführlicher  über   diese   Methode   auslässt:    „Die  Vorstellungen 


Die  „Isolü-ung"  der  Formen  der  Sinnlichkeit.  123 

[R  33.  34.  H  57.  58.  E  73.]  A22.B  36.37. 

sind  das  Material,  das  in  seine  ursprünglich  erzeugenden  Gründe  zerlegt 
werden  soll,  und  diesen  Weg  nimmt  Kant,  den  Weg  einer  rein  begrifflichen 
Analyse  der  Vorstellungen,  um  die  Thatsache  des  Apriori  zu  begründen  .  .  . 
£r  selbst  zieht  die  Vergleichung  mit  der  Chemie  herbei,  um  sein  Verfahren 
zu  kennzeichnen.  Die  Scheidung  von  Stoff  und  Form  der  Erkenntniss,  die 
SonderuDg  der  Bedeutung  der  Objecte  in  Dinge  als  Erscheinungen  und  in 
Dinge  an  sich  selbst  erschien  ihm  im  Bilde  einer  chemischen  Analyse  und 
Beduction  ...  Es  ist  von  Wichtigkeit,  diese  objective,  weil  an  den  Objecten 
des  Denkens,  an  den  Vorstellungen  ausgeübte  Methode  bei  der  Beurtheilung 
des  Kantischen  Gedankenganges  im  Auge  zu  behalten/'  Als  blosse  „wissen- 
schaftliche Abstraction"  betrachtet  auch  Cohen  (2.  A.  92.  102.  103.  110. 
151.  153.  191.  345.  346.  355.  372.  544.  586)  in  diesem  Sinne  Ks.  „isoli- 
rendes*'  Verfahren.  In  diesem  Sinne  nennt  er  mit  Apelt  die  reine  An- 
schauung eine  „heroische  Abstraction".  —  Vgl.  Schneider,  Das  Apriori 
S.  26.    König,  Phil.  Mon.  1884,  243  ff. 

Baum  und  Zeit  als  Principien  der  Erkenntniss  a  priori.  Diese 
Stelle  kann  grammatisch  doppelt  ausgelegt  werden;  entweder  gehört  „a  priori^' 
zu  dem  Worte  „Erkenntniss",  dann  heist  das  so  vLbI  als:  Raum  und 
Zeit  als  Quellen  apriorischer  Wissenschaften,  z.  B.  der  Geometrie;  oder 
das  Wort  „a  priori"  gehört  zu  Principien  —  dieselbe  Wortstellung  findet 
sich  ja  in  dem  vorhergehenden  Absatz ,  woselbst  die  transsc.  Aesthetik  de- 
finirt  wird  als  die  „Wissenschaft  von  allen  Principien  der  Sinnlichkeit 
a  priori"  —  und  dann  ist  der  Sinn :  Baum  und  Zeit  als  apriorische  Prin- 
cipien der  Erkenntniss.  Sachlich  kommen  beide  Auslegungen  auf  dasselbe 
hinaus:  doch  entspricht  die  letztere  mehr  dem  Wortgebrauch  und  der  Ab- 
sicht Kants.    Vgl.  Comm.  I,  229,  Anm.  1. 


Erster  Abschnitt. 
Ton  dem  Banme. 

§  2. 

Metaphysische  Erörterung  dieses  Begriffes. 

Torbemerkung.  Diese  letztere  üeberschrift  ist  Zusatz  der  2.  Aufl.; 
dei'selbe  steht  im  Zusammenhang  mit ,  resp.  im  Gegensatz  zu  dem  unten 
folgenden  Abschnitte,  welchen  die  2.  Auflage  unter  dem  Titel:  㤠 3.  Transscen- 
dentale  Erörterung"  u.  s.  w.  eingeschoben  hat.  Ueber  Sinn  und  Tragweite 
dieser  üeberschrift,  sowie  über  den  umstrittenen  Ausdruck  „Begriff*  an 
dieser  Stelle  s.  unten.  Uebrigens  steht  die  ganze  üeberschrift  streng  ge- 
nommen hier  nicht  an  der  rechten  Stelle,  sondern  würde  weiter  nach  unten 
gehören,  da  ja  der  ganze  erste  Absatz  sich   nicht  bloss   auf  den  Baum, 


124  §  2.    Einleitendes. 

A  22.  B  37.  [R  34.  H  58.  E  73.] 

sondern  aacb  auf  die  Zeit  als  gemeinschaftliche  Einleitung  bezieht. 
Die  Ueberschrift  wird  daher  auch  erst  unten  erklärt  werden. 

Der  äussere  Sinn.  Was  die  Commentatoren  hierüber  sagen,  erhebt 
sich  nicht  viel  über  blosse  Umschreibungen.  So  definirt  Schulz  in  seiner 
,,Prüfung^^  II,  280:  Das  „Vermögen,  durchs  Afficirtwerden  zu  äusseren  empi- 
rischen Anschauungen  zu  gelangen,  heisst  der  äussere  Sinn.' '  Vgl.  Meli  in  II, 
471 ;  V,  295.  Lossius,  Lex.  IV,  168.  In  diesen  rein  formellen  Erläuterungen 
vermisst  man  insbesondere  eine  Aufklärung  darüber,  wie  sich  denn  dieser 
allgemeine  äussere  Sinn  zu  den  5  speciellen  äusseren  Sinnen  verhalte? 

In  der  Anthropologie  §  13  lässt  sich  Kant  so  aus :  „Die  Sinne  werden 
in  die  äusseren  und  den  inneren  Sinn  (sensus  externus,  internus}  ein- 
getheilt;  der  erstere  ist  der,  wo  der  menschliche  Körper  (?)  durch  körper- 
liche Dinge,  der  zweite,  wo  er  (?!)  durchs  Gemüth  afficirt  wird."  (Vgl. 
zu  dieser  etwas  seltsamen  Stelle  Kieser,  Ueber  den  inneren  Sinn.  Bonn. 
Diss.  1873.  S.  21  f.)  Der  äussere  Sinn,  der  (abgesehen  von  den  „Vitalempfin- 
dungen") in  die  bekannten  5  Sinne  zerfallt,  bezieht  sich  nach  Anthropologie  §  14 
„auf  äussere  Empfindung*^  Diese  Bestimmungen  sind  nicht  gerade  sehr  genau 
und  scharf ;  und  auch  sonst  lässt  sich  Kant  wenig  über  diesen  (bisher  wenig 
behandelten)  Punkt  aus.  Nur  so  viel  geht  hieraus,  sowie  aus  den  folgenden 
Paragraphen  der  Anthropologie  (bes.  §  19)  hervor,  dass  der  Singularis  „der 
äussere  Sinn'*  abwechselt  mit  dem  Pluralis  „die  äusseren  Sinne'^  ohne  dass 
Kant  sich  über  das  Verhältniss  des  zusammenfassenden  „äusseren  Sinnes'" 
zu  den  einzelnen  ,, äusseren  Sinnen"  irgendwie  genauer  auslässt.  Auch  in  der 
Kr.  d.  r.  V.  selbst  wechseln  beide  Ausdrücke :  so  heisst  es  A  381  „die  Physio- 
logie der  Gegenstände  äusserer  Sinne".  Vgl.  auch  sogleich  unten  A  26.  Seh  atz 
sagt  in  der  Jenaer  Allg.  Litt.  Zeit.  1785,  III^  53:  „K.  nimmt  das  Wort 
, äusseren  Sinn*  nicht  in  der  gemeinen  Bedeutung,  da  man  fünf  äussere 
Sinne  zählet,  sondern  für  diejenige  Eigenschaft  unserer  Sinnlichkeit,  wonach 
uns  Dinge  als  ausser  uns  erscheinen.  Das  eigentliche  Werkzeug  dieses 
äusseren  Sinnes  ist  also  das  Gefühl;  denn  das  Gesicht  würde  uns,  ohne 
in  Verbindung  mit  dem  Gefühl  zu  treten,  allein  keine  Vorstellung  von 
Erscheinungen,  die  wir  ausser  uns  selbst  setzen  würden,  geben.*'  Dass  aber 
diese  Auslassungen  nicht  im  Sinne  Ks.  sind,  liegt  auf  der  Hand.  —  Vgl. 
hierüber  auch  Schulz,  Prüfung  I,  176  fif«  (gegen  Platners  Behauptung« 
der  Baum  sei  eine  blosse  Gesichtsvorstellung).  Wie  Liebmann,  An.  d. 
Wirk.  1.  A.  156  berichtet,  hat  dagegen  J.  J.  Engel  gegen  Kant  bemerkt, 
dass  der  Baum  zunächst  nur  die  Form  zweier  Sinne  sei,  des  Gesichts  und 
Getasts.  Diesen  Einwand  findet  L.  an  sich  treffend,  rechtfertigt  Kants  all- 
gemeinen Satz  aber  dadurch,  „dass  in  den  Gesichts-  und  Tastraum  die 
Sensationen  der  übrigen  Sinne  eingetragen  werden".  Uebringens  hat  auch 
Schopenhauer  jenen  Einwand  erhoben  und  erledigt  (Satz  v.  Grunde 
§  21).  —  Zu  dieser  Frage  bemerkt  Krause  in  der  Popul.  Darstellung 
S.  43:  „Wohlverstanden!  Wir  haben  nicht  ein  halb  Dutzend  äussere  Sinne. 
welche  auf  Empfindung   hin   Empfundenes   räumlich   wahrnehmen,  sondern 


Der  äussere  und  der  innere  Sinn.  125 

[R  34.  H  58.  K  74.]  A  22.  B  37. 

einen  einzigen  äusseren  Sinn;  und,  welche  Empfindung  auch  komme,  ob 
Licht  oder  Härte,  Ton  oder  Geruch,  so  regt  sie  diesen  einen  äusseren 
Sinn  an." 

Scharfer  bemerkt  Riehl,  Krit.  II,  a,  111  (II,.  b,  292):  „Wäre  der 
Raum  die  Vorstellung  nur  einer  Anschauungsform,  so  müssten  alle  be- 
liebigen Empfindungen  in  gleicher  Weise  räumlich  geordnet  werden  können. 
Thatsächlich  werden  es  aber  unmittelbar  nur  die  Empfindungen  des 
Gesichts,  und  —  wenn  schon  in  bestimmter  Hinsicht  auf  andere  Weise  — 
die  Empfindungen  des  Tastsinnes;  alle  übrigen  dagegen  nur  durch  (organische) 
Association  mit  Tastempfindungen,  die  Töne  z.  B.  durch  Druck-  und  viel- 
leicht auch  Berührungsgefahle  in  den  inneren  Theilen  des  Ohres,  die  Ge- 
schmackseindrücke durch  die  Tastempfindungen  der  Zunge.  Diese  that- 
sächliche  Verschiedenheit  der  Qualitäten  in  ihrer  Beziehung  zur  Baum* 
Vorstellung  ist  für  die  formalistische  Theorie  Kants  vollkommen  unerklärlich. 
Warum  gehören  nur  gewisse  Empfindungen  zum  äusseren  Sinne  und  stehen 
unter  Bestimmungen  seiner  Form?"  Derselbe  fuhrt  11,  a,  157  weiter  aus, 
das  Element  der  Baumanschauung  sei  die  extensive  Lichtempfindung.  Vgl. 
dazu  Biehl's  Aufsatz:  der  Baum  als  Gesichts  Vorstellung  in  der  Viert,  f.  w. 
Phil.  I,  215  ff.  Eingehend  hat  derartige  Einwände  gegen  Kant  auch  er- 
hoben Spencer,  Psychol.  §  330,  §  339  (Deutsch  II,  176  ff.,  360  ff.):  nicht 
alle   Empfindungen    werden    in   die  Baumform    gebracht,    nur   bestimmte. 

Gegen  die  Bezeichnung  des  Baumes  als  äusseren  Sinnes  seitens 
Kant  erklärt  sich  Kuno  Fischer  (2.  A.  346,  3.  A.  343):  Kant  hätte  besser 
gethan,  dem  Vorgang  des  englischen  Philosophen  darin  nicht  zu  folgen,  da 
die  Bezeichnung  die  von  Kant  ja  nicht  getheilte  Annahme  voraussetze,  als 
ob  die  durch  den  äusseren  Sinn  wahrzunehmenden  Dinge  wirklich  schon 
unabhängig  von  uns  ausser  uns  im  Baume  seien,  während  die  äusseren 
Wahrnehm ungsobjecte  ja  erst  eben  durch  unsere  Vorstellung  als  solche  ent- 
stehen. (Aehnlich  Spicker,  Kant  46).  Vgl.  dagegen  Cohen,  85,  2.  A. 
192.  329.  Vgl.  über  die  ganze  Stelle  auch  Baum  an n,  Baum  und  Zeit  II, 
654.  Vgl.  über  diese  „Paradoxie",  dass  der  Baum,  obgleich  eine  Vorstellung 
in  uns,  doch  ausser  uns  zu  sein  scheine,  auch  besonders  Beinhold, 
Th.  d.  Vorst.  396. 

Der  innere  Sinn.  Viel  eingehender  als  über  den  äusseren  Sinn 
äussert  sich  Kant  an  vielen  Stellen  über  den  inneren  Sinn;  aber  diese  seine 
Lehre  vom  inneren  Sinn  ist  auch  einer  der  schwierigsten  Punkte  seiner 
Erkenntnisstheorie.  Diese  Schwierigkeiten  treten  allerdings  erst  später 
hervor  und  sind  daher  auch  erst  später  zu  besprechen.  (Vgl.  sogleich  unten 
zu  B  66  ff.,  sowie  zur  transscendentalen  Deduction ,  besonders  in  der  Dar- 
stellung der  2.  Auflage).  Was  Kant  hier  vom  inneren  Sinne  sagt,  ist  ver- 
hältnissmässig  sehr  einfach.  Er  stellt  sich  den  inneren  Sinn  offenbar 
parallel  dem  äusseren  Sinne  vor  als  eine  Art  Organ,  vermittelst  dessen  wir 
unsere  eigenen  Zustände  auffassen.  Unsere  eigenen,  inneren  Zustände  müssen 
nach  Kant  erst  noch  durch  einen  besonderen  Sinn  erfasst  werden,  den  sie 


126  §  2.    Einleitendes. 

A  22.  B  37.  LR  34.  H  58.  E  74.] 

afficiren  müssen  (sowie  die  Zustände  der  realen  Aussenwelt  den  äusseren 
Sinn),  damit  sie  überhaupt  Gegenstände  unseres  Bewusstseins  werden  können. 
Weil  nun  dieser  innere  Sinn,  als  vermittelndes  Organ,  aber  auch  als  tra- 
bendes Medium,  als  ),einschränkende  Bedingung'*  B  158,  dazwischen  tritt, 
erhalten  wir  eben  nicht  „die  Anschauung  der  Seele  selbst  als  eines  Ob- 
jects^S  d.  h.  wie  sie  an  sich  ist.  Dass  „das  eigentliche  Selbst,  so  wie  es 
an  sich  existiii;,  oder  das  transsceudentale  Subject'",  die  „Seele"  im  eigent- 
lichen Sinn  des  Wortes  uns  durch  den  inneren  Sinn  nicht  gegeben  werden 
kann,  wird  A  360  und  besonders  A  492  deutlich  wiederholt.  „Allein  es  ist 
doch  eine  bestimmte  Form,  unter  das  die  Anschauung  ihres  inneren  Zu- 
standes  allein  möglich  ist"  —  d.  h.  aber  es  gibt  doch  eine  bestimmte 
Form,  [es  heisst  nicht:  allein  er  ist,  sondern  es  ist  doch  eine  bestinmite 
Form,]  es  muss  doch  eine  bestimmte  Form  geben,  unter  der  wir,  wenn  auch 
nicht  die  Seele  selbst,  so  doch  ihre  Zustände  anschauen  können.  Wenn 
wir  unsere  eigenen  inneren  Zustände  anschauen  wollen,  so  muss  es 
durch  dieses  innere  Anschauungsvermögen  geschehen.  Dieses  muss  also 
durch  jene  inneren  Zustände  auch  erst  afficirt  werden.  Daher  sagt  Kant 
in  der  Anthropologie  §  22:  „Der  innere  Sinn  ist  nicht  ein  Bewusstsein 
dessen,  was  der  Mensch  thut,  sondern  was  er  leidet,  wiefern  er  durch 
sein  eigenes  Gedankenspiel  afficirt  wird.  Ihm  liegt  die  innere  Anschauung, 
folglich  das  Verhältniss  der  Vorstellungen  in  der  Zeit  (sowie  sie  darin  zu- 
gleich oder  nacheinander  sind)  zum  Grunde."  Die  Zeitform  ist  die  Bei- 
mischung, der  Zusatz,  welchen  das  Organ  der  inneren  Anschauung  zu  dem 
reinen  Sein  der  inneren  Zustände  hinzuthut,  und  wodurch  eben  dasselbe 
für  uns  erst  zur  inneren  Erscheinung  werden  kann.  (Eine  andere  Aui^assung 
dieses  schwierigen  Punktes  bei  B.  Erdmann,  Krit.  50—52,  speciell  darüber, 
was  den  inneren  Sinn  afficire?  Vgl.  Wille,  Phil.  Mon.  XV,  240.)  Was  die  Com- 
mentatoren  hierüber  sagen,  erhebt  sich  meistens  kaum  über  blosse  Um- 
schreibung des  Kantischen  Textes.  Vgl.  Schulz,  Prüfung  11,  280; 
Jacobs  Annalen  II,  322.  Vgl.  die  Dissertation  von  Abel:  De  sensu 
interno.  1797. 

Die  Lehre,  dass  es  zur  Wahrnehmung  der  psychischen  Vorgänge  auch 
eines  eigenen  inneren  Sinnes  bedürfe,  ist  bekanntlich  nicht  erst  bei  Kant 
aufgetaucht.  Die  Lehre  vom  inneren  Sinn  hat  noch  eine  ältere  Geschichte. 
Vgl.  hierüber  die  reichen  historischen  Nachweise  bei  Volkmann,  Psycho- 
logie II,  S.  180  ff.  Vgl.  auch  Hans  Kieser,  üeber  den  inneren  Sinn. 
Bonner  Dissert.  1873.  Diese  Geschichte  ist  freilich  dadurch  sehr  ver- 
wickelt, dass  der  Ausdruck  »innerer  Sinn",  resp.  ^innere  Sinne*  früher  für 
etwas  anderes  gebraucht  wurde,  nämlich  für  die  sog.  Seelenvermögen, 
speciell  die  vnaginaiio,  memoria,  phantasia  u.  s.  w.  Die  Anwendung  des 
Ausdrucks  „innerer  Sinn"  auf  die  Selbst  wahr  nehmung  ist  erst  später  hervor- 
getreten. Man  spricht  zwar  in  dieser  Hinsicht  auch  schon  von  einer  Lehre 
des  Aristoteles  vom  „inneren  Sinne'',  allein  bei  ihm  findet  sich  der  Ans- 
dnick  nicht.     (Vgl.  Siebeck,  Gesch.   d.   Psychologie  1,   b,  S.  45.  483  und 


Der  innere  Sinn  und  seine  Geschichte.  127 

[B  34.  H  58.  E  74.]  A  22.  B  37. 

bes.  Cl.  Bänmker,  Des  Ar.  Lehre  von  den  äusseren  und  inneren  Sinnes- 
vermögen 1877).  Die  ,y8ensu8  interni"  bei  Deseartes  haben  den  oben  ange- 
deuteten Sinn.  (Vgl.  Koch,  Psych,  d.  D.  170  ff.).  Die  Anwendung  des  Aus- 
druckes 9 innerer  Sinn''  auf  die  Selbstwahrnehmung  unter  Analogie  mit 
den  äusseren  Sinnen  als  Organen  der  Aussenwahrnehmung  findet  sich,  wie 
es  scheint,  ausdrücklich  erst  bei  Locke.  In  seinem  Essay  on  hwnan  under- 
Standing  II,  1,  §  2  ff.  führt  er  folgendes  aus:  Unser  Beobachten  entweder 
der  äusseren  wahrnehmbaren  Dinge  oder  der  inneren  Vorgänge  in  unserer 
Seele  ist  es,  was  den  Verstand  mit  dem  Stoff  zum  Denken  versieht.  Die  £ine 
Quelle  ist  die  Sinnes  Wahrnehmung  (Sensation):  sogelangen  wir  zu  den  Vor- 
stellungen desOelben,  Weissen,  Heissen,  Kalten,  Weichen,  Harten, 
Bittern,  Süssen  u.  w.  w.  Zweitens  ist  die  andere  Quelle  die  Wahr- 
nehmuDg  der  Vorgänge  in  unserer  eigenen  Seele.  Wenn  die  Seele  auf 
diese  inneren  Vorgänge  blickt  und  sie  betrachtet,  so  versehen  sie  den 
Verstand  mit  einer  anderen  Art  von  Vorstellungen,  die  von  Aussendingen 
nicht  erlangt  werden  können;  dahin  gehören  das  Wahrnehmen,  das 
Denken,  Zweifeln,  Glauben,  Begründen,  Wissen,  Wollen.  Diese 
Quelle  von  Vorstellungen  hat  Jeder  ganz  in  sich  selbst,  und  obgleich  hier 
nicht  eigentlich  von  einem  Sinn  gesprochen  werden  kann,  da  sie  ja  mit 
äusseren  Gegenständen  nichts  zu  thun  hat,  so  ist  sie  doch  den  Sinnen 
sehr  ähnlich  und  könnte  ganz  richtig  innerer  Sinn  genannt 
werden.  {y,Iniemal  Sense").  Da  ich  jene  erste  Quelle  schon  „Sensation ** 
nannte,  so  nenne  ich  diese  „Reflexion',  Selbstwahrnehmung.  Be- 
merkenswerth  ist  nur  noch,  dass  dann  Locke  später  II,  14  die  Vorstellung 
der  Zeit  aus  der  Selbstwahrnehmung  ableitet,  während  die  Vorstellung 
des  Baumes  aus  der  Aussenwahrnehmung  entsteht  (II,  13).  Diese  Neben- 
einanderstellung mag  dann  dazu  beigetragen  haben,  dass  Kant  darauf  kam, 
wie  den  Baum  als  die  Form  der  äusseren,  so  die  Zeit  als  die  Form  der 
inneren  Erscheinungen  zu  fassen.  Ueber  die  weitere  Geschichte  dieser  Lehre 
bei  Berkeley  und  Hume  s.  Volkmann,  Gesch.  d.  Psych.  II,  180  ff.  Diese 
beiden  nehmen  die  Sache  und  den  Ausdruck  unbedenklich  von  Locke  herüber. 
Bei  Berkeley  {Treatise,  Sect.  LXXXIX)  wird  der  Ausdruck  „inward  feeling*^ 
gebraucht.    Hume  spricht  von  „the  external  and  intemcA  senses*^  Öfters. 

Der  Gegensatz  von  „Perception"  und  „Apperception"  bei  Leibniz 
deckt  sich  nur  theilweise  mit  jenem  Locke'schen  Gegensatz  von  äusserem 
und  innerem  Sinn.  In  seinen  Nouveaux  Essais  ist  Leibniz  bei  der  betref- 
fenden Stelle  nicht  näher  auf  die  Sache  eingegangen,  spricht  aber  402  B  (Ed. 
Erdmann)  von  ,yle8  sens  externes  et  internes"  Bei  Wolff  fehlt  der  Ausdruck 
„innerer  Sinn",  wie  es  scheint,  ganz.  Auch  Baumeister  in  seinen  De- 
finüiones  phüosophicae  ex  systemate  Wolffii  gebraucht  den  Ausdruck  nicht; 
wo  er  von  der  Sache  spricht,  §  692,  steht  der  Ausdruck  j^apperceptio".  In 
der  Wolffischen  Schule  wird  der  Ausdruck  nicht  gebraucht.  Es  gibt  aller- 
dings ein  Göttinger  Programm  von  Feder  von  1768:  „De  sensu  intemo", 
aber   er  versteht  darunter  die  damals  aufkommende  Lehre  vom  „common  . 


128  §  2.    Einleitendes. 

A  22.  B  37.  [B  34.  H  58.  K  74.] 

sense^^  der  Engländer.  (Vgl.  auch  Baumgarten,  Metaph.  §  396.)  Dagegen 
hat  die  eklektische  Psychologie  jener  Zeit  den  Locke'schen  Gegensatz  un- 
verändert aufgenommen  und  ihr  hat  sich  Kant  darin  unbedenklich  an- 
geschlossen. Speciell  hat  sich  Kant  hierin  wie  in  so  vielen  seiner  psycho- 
logischen Voraussetzungen  an  Tetens  gehalten.  (Vgl.  B.  Erdmann ,  Krit. 
51.  251.) 

In  diesem  Sinne  gebraucht  K.  den  Ausdruck  in  seinen  früheren 
Schriften  öfters,  so  z.  B.  in  der  Schrift  gegen  die  syllog.  Figuren,  Ros.  I,  73: 
„Vermögen  des  inneren  Sinnes,  d.  h.  seine  eigenen  Vorstellungen  zum  Objecte 
seiner  Gedanken  zu  machen".  (Vgl.  dazu  Bergmann,  Logik  216.)  lieber  die  wei- 
tere Entwicklung  der  Sache  bis  zur  kritischen  Zeit  s.  Reflexionen  I,  S.  49, 
N.  66.  70.  108.  II,  313.  324.  364.  384  ff.  1291.  1326.  Vgl.  dazu  Kants 
Vorl.  über  Metaphysik,  101.  127.  130.  133.  200  f.,  211.  213.  221.  253  f.,  255. 
304.  Vgl.  B.  Erdmann,  Phil.  Mon.  XIX,  136.  XX,  76.  Dass  die  „Zeit 
die  Form  der  inneren  Sinnlichkeit"  sei,  tritt  zuerst  im  Brief  an  Herz  vom 
21.  Februar  1772  auf.  Uebrigens  gebraucht  K.  gelegentlich  auch  den 
Plural:  die  inneren  Sinne,  so  Reflex.  II,  324;  so  auch  in  der  Kritik,  gleich 
unten  A  38:  „Der  Gegenstand  der  inneren  Sinne"  (cf.  A  381).  Damit  schliesst 
sich  Kant  an  den  oben  besprochenen  früheren  Sprachgebrauch  an;  es  liegt 
also  in  der  Stelle  A  38  auch  wohl  kein  „Schreibfehler  Kants"  vor,  wie 
Seydel  meint  (Grenzboten,  1883  S.  590). 

Mit  Rücksicht  auf  die  schwankende  Terminologie  jener  Zeit  in  Bezug 
auf  diesen  Ausdruck  sagt  Ulrich  in  seinen  Institutiones  Logicae  et  Meta- 
physicae  (1785),  in  welchen  er  sich  in  diesem  Punkte  ganz  an  Kant 
anschloss  (§  46.  52):  „Ambiguum  sensus  interni  vocahulum,  quo  ei  ipsas 
quctsdam  non  setisus,  sed  intelUctus  jamjam  functioneSf  judicia  et  ratiocmia 
temere  quidam  (e.  gr,  Helvetius)  complectuntur ,  quodque  pluribus  non  ndnus 
ambiguae  potestatis  vocabulis  permutari  videmus  (e.  gr.  reflexionis,  Selbstgefühl, 
Bewusstsein)  —  adeo  in  arctum  angustumqtte  eoncludimus,  ut  sU  ea  pars  na- 
turae  sentientis,  quae  intueatur  ea,  qucte  non  sunt  in  spatio,  non  extra  nos, 
et  extra  se  posita,  {temporis  lege  et  forma,)  veluti  ipsos  diversos  animi 
Status,  ipsas  intellectus  functiones  et  actus,  conatus,  aciiones  et  peissiones,  im- 
petum  ac  vitn  quandam,  qua  in  aliquid  ferimur,  facUitatem  ac  difficuUatem, 
voluptatem  ac  taedia^ 

Volkmann,  Psychologie  II,  185,  macht  die  durchaus  zutreffende,  all- 
gemeine Bemerkung:  „Die  Glanzperiode  in  der  Geschichte  des  inneren  Sinnes 
bildet  die  Kantische  Auffassung  desselben.  Kant  vermittelt  gewissermassen 
zwischen  der  Locke'schen  und  Leibniz'schen  Anschauungsweise;  jener  nähert 
er  sich  dadurch,  dass  er  den  inneren  Sinn  wieder  in  die  strenge  Parallele  zu 
dem  äusseren  zurückversetzt:  mit  dieser  stimmt  er  darin  überein,  dass  er  den 
Ursprung  der  allgemeinen  Erkenntnissbegriffe  nicht  aus  dem  inneren  Sinne 
in  der  Locke'schen  Bedeutung,  sondern  aus  dem  Verstände  ableitet.** 

Gegen  Kants  Lehre  vom  inneren  Sinn,  die  er  an  dieser  Stelle  so  un- 
genirt  einführt,  ist  oft  Opposition  erhoben  worden ;  vgl.  z.  B.  Baader,  W.  W. 


Der  innere  und  der  äussere  Sinn.  129 

[B  84.  H  58.  K  74.]  A23.B87. 

IV^  93—106.  XI,  32.  86.  208  ff.,  XVI,  454.  Die  schärfsten  und  gelungensten 
Angriffe  gegen  die  Lehre  sind  jedoch  von  Herbart  ausgegangen,  besonders  in 
seiner  Psychologie  II,  1,  Cap.  5,  §  115 — 128   „Von  der  Apperception ,  dem 
inneren  Sinn  und  der  Aufmerksamkeit'*.     Besonders    richtig  und  für  uns 
wichtig  ist  Herbarts  Bemerkung  daselbst  (W.  W.  VI,   189):    „dass   Kant 
den  inneren  Sinn  in  die  ersten  Zeilen  bringe,   nicht  eben  in  der  Meinung, 
ein   Problem  aufzustellen,  sondern  vielmehr  den  Grundstein  zu  allem 
Nachfolgenden  zu  legen.'*    In  der  That  bildet  Ks.  Lehre  vom  inneren  (wie 
vom  äusseren)  Sinn  hier  an  dieser  Stelle  eine  Prämisse,  welche  trotz  ihrer 
ausserordentlichen  Tragweite   ohne  jeden  Beweis  als   selbstverständlich  ein- 
geführt ist,    und  zwar  eine  Prämisse  in   zwei  Sätzen,   von  welchen  jeder 
gleich  problematisch  ist,  obgleich  beide  gleichermassen  assertorisch,  ja  apo- 
diktisch eingeführt  werden:  1)  es  bedarf  eines  eigenen  inneren  Sinnes,  um 
die  inneren  Zustände  wahrnehmen  zu  können;   2)  die  Form   dieses  inneren 
Sinnes  ist  die  Zeit.     In  der  That  eine  schwerwiegende  Doppelprämissel 
Gegen  jene  Angriffe  (welche  auch   von  den  Herbartianern  wiederholt 
wurden,  so  von  Drobisch,  Psych.  §  56,   vod  Volkmann  a.  a.  0.,  auch  von 
Nicht-Herbartianern,  so  von  Bergmann,  Metaph.  214  f.,  225.  233)  haben 
die  Kantianer  ihren  Meister   zu   vertheidigen   gesucht,   bes.  J.   B.  Meyer, 
Ks.  Psych.  241  f.,   268—286,   welcher  übrigens  im  Anschluss  an  Fries  Ks. 
Lehre  einigermassen   modificirt,   sowie   Cohen,   2.  A.  328  ff.,   bes.  335.  — 
Vgl.  Carus,  Gesch.  d.  Ps.  497.    Fortlage,  Psych.  I,  18.    Thiele,  I,  b,  299. 
Aeusserlich  kann  die  Zeit  nicht  angeschaut  werden,  so  wenig 
wie   der  Baum  als   etwas   in   uns.     Mit  diesen    Worten  (welche  von 
Mellin  11,  471  falsch  erklärt  werden)  will  K.  offenbar  sagen:  unsere  inneren 
Zustände  sind  nur  in  der  Zeitform,   nicht   in   der  Raumform    anschaubar: 
daher  ist  eben  der  Raum  nicht  in   uns,   oder  unsere  Bewusstseinszustände 
tragen  ihn  nicht  an  sich,  ebensowenig  als  die  physischen  Erscheinungen  die 
Zeit  äusserlich   an   sich   tragen,    und    diese   richtige   Erklärung  hat  Mellin 
selbst  anderwärts  (III,  486)  aufgestellt.    Wie  stimmt   dies  aber  zu  Kants 
sonstigen  Aeusserungen,  z.  B.  „alle  Dinge  sind  im  Räume,  der  Raum  aber  ist 
in  uns*';  A  373:  „Der  Gegenstand  heisst  ein  äusserer,  wenn  er  im  Räume, 
und   ein   innerer  Gegenstand,  wenn   er  lediglich  im  Zeitverhältnisse  vor- 
gestellt wird;  Raum  aber  und  Zeit  sind  beide  nur  in   uns  anzutreffen'*? 
Offenbar  hat  hier  das  „in  uns'*  einen  anderen  Sinn,  als  in  unserer  Stiel le  (wie 
auch  „ausser  uns"  nach  A  378  einen  doppelten  Sinn  hat,  einen  empirischen 
und    einen   transscendentalen).     Das    „in    uns"    an    unserer    Stelle   ist   das 
empirische  Innere;  in  unserem  Innern,  sofern  es  selbst  Erscheinung  ist, 
findet   sich    nur  die  Zeit-    und  nicht  die  Raum  form ;  aber  beide   sind   „in 
uns",  sofern  sie  Formen  unseres  Gemüths  sind,  wobei  eben  das  diese  Formen 
als  Eigenthümlichkeit  an  sich  tragende  Ich,  das  Subject,  nicht  das  gemeine» 
sondern  das  reine,  transscendentale  Ich  ist.     Vgl.  Mellin  III,  481 — 486 
(Artikel   „Inneres").     Ulrich,   Instit.  S.  36.  54.  55.     Vgl.   auch   die   schon 
oben  S.  125  angeführte  Stelle  von  Reinhold,  Th.  d.  Vorst.  396. 
Vaihinger,  Eant-Gommentar.    U.  9 


130  §  2.    Einleitendes. 

A  23.  B  87.  [H  34.  H  68.  E  74.] 

Diesen  Gegensatz  des  äusseren  und  des  inneren  Sinnes,  von  denen  jener 
das  Ministerium  des  Aeusseren  j  dieser  das  des  Inneren  im  Reich  der  Er- 
kenntniss  spielt,  haben  die  Commentatoren  oft  und  mit  Vorliebe  ausgeführt. 
Eine  besonders  gute  Umschreibung  der  Stelle  liefert  Holder  S.  9  (15,  16): 
„Entsprechend  den  zwei  Klassen,  in  welche  alle  unsere  Anschauungen  zerfallen, 
wird  jener  Abstractionsprocess  von  der  Empfindung  auf  zwei  Grundformen 
unserer  Anschauungen  uns  führen.  Als  eine  Welt  farbiger  Gestalten,  wider- 
st andleistender  Körper  stehen  unsere  äusseren  Anschauungen  vor  uns, 
welche  auf  Grund  unserer  Gesichts-  und  Tastempfindungen  entstanden  sind; 
die  letzte  Grundform,  in  welcher  sie  sich  darstellen,  ist  der  Raum.  Um- 
gekehrt findet  sich  in  unserem  Bewusstsein  eine  Kette  von  AnscbauungeD, 
welchen  die  sinnliche  Frische,  die  plastische  Gestaltung  des  ersteren  fehlt, 
welche  als  Selbstanschauungen,  als  Wahrnehmungen  des  eigenen  Seelen- 
zustandes,  sich  uns  darstellen:  ihre  Grundform  ist  die  Zeit.^' 

In  den  Reflexionen  finden  sich  einige  beachtenswerthe  Stellen  zur 
Entwicklung  der  Lehre  vom  äusseren  und  inneren  Sinn.  Nach  Refl.  I, 
N.  87.  88  erhalten  wir  den  Raum  durch  das  Gesicht,  die  Zeit  durch  das 
Gehör,  die  Substanz  durch  das  Gefühl.  Nach  Refl.  II,  N.  396  (397).  632 
enthält  der  Raum  die  Form  aller  Coordination  in  der  Anschauung,  die  Zeit 
die  der  Subordination.  (Vgl.  oben  S.  60.)  Nach  N.  400  ist  der  Raum  die 
Bedingung  der  unendlichen  Aggregation,  die  Zeit  die  der  unendlichen  Appo- 
sition. Vgl.  ferner  ib.  N.  399.  404.  405.  506.  In  dem  von  B.  Erdmann 
mitgetheilten  Manuscript  (Phil.  Mon.  XX,  76)  heisst  es:  „Die  Zeit  ist  die  Be- 
dingung des  Spiels  der  Empfindung,  der  Raum  aber  des  Spiels  der  Gestalten.'' 

Eine  kurze  Geschichte  der  Lehren  von  der  Sinnlichkeit,  Tom 
äusseren  und  vom  inneren  Sinn  gibt  Rein  hold,  Briefe  I,  Nr.  10  u.  11, 
S.  316  ff. :  „Die  reine  Sinnlichkeit,  das  eigentliche  Vermögen  afficirt  zu 
werden,  das  weder  dem  Verstände,  noch  der  Organisation,  sondern  dem 
Vorstellungsvermögen  zukommt,  war  also  zwischen  dem  Verstände  und  dem, 
was  man  sonst  Sinnlichkeit  nannte,  vertheilt,  und  zwar  so,  dass  von  ihren 
beiden  Bestandtheilen  der  eine  (der  innere  Sinn)  mit  dem  Verstände, 
und  der  andere  (der  äussere  Sinn)  mit  der  Organisation  oder  eigent- 
licher mit  seinen  fünf  empirischen  Modificationen ,  den  fünf  Sinnen,  zu- 
sammen genommen  wurde"  u.  s.  w.  Reinhold  verfolgt  dies  besonders  durch 
die  griechische  Philosophie. 

In  dem  Unterschied  des  äusseren  und  inneren  Sinnes  findet  Bilharz, 
Erläuterungen  161  „eine  der  unglücklichsten,  verwirrendsten  Unterscheidunj^en 
Kants"  u.  s.  w.  Auch  Bergmann,  Sein  und  Erkennen,  S.  72  ff.  86.  lt)8 
hat  gegen  die  Stelle  heftig  opponirt.  Andererseits  hat  Noire  in  seinen 
verschiedenen  Schriften  den  Unterschied  des  äusseren  und  inneren  Sinnes, 
als  dem  fundamentalen  Gegensatz  von  Bewegung  und  Empfindung  ent- 
sprechend, mit  Vorliebe  entwickelt. 

Was  sind  nun  Raum  und  Zeit?  Diese  allgemeine  Frage  theilt  sieb 
nun  sogleich  in  mehrere  Unterfragen,  deren  Gliederung  nicht  ohne  Weitere» 


Die  Problemstellung:  Was  sind  Baum  und  Zeit?  131 

[B  34.  H  58.  E  74.]  A28.B37. 

auf  der  Hand  liegt,  so  wichtig  gerade  eine  solche  logisch  genaue  Problem- 
gliedemng  ist.  Die  verschiedenen  möglichen  Fälle  werden  von  Kant  an 
mehreren  Stellen  auch  in  verschiedenartiger  Gliederung  aufgezählt  ^  In  der 
Dissertation  schon  heisst  es  §  14,  5:  Tempus  non  est  objectivum  aliquid  et 
reale,  nee  suhstantia,  nee  aceidens,  nee  relatio,  sed  subjectiva  con- 
ditio. Ebendaselbst  §  15D:  Spatiutn  non  est  aliquid  objectivi  et  realis, 
nee  substantia,  nee  aceidens,  nee  relatio;  sed  subjeetivum  et  ideale. 
Und  ebendaselbst  §  15E:  Quamquam  eonceptus  spatii  ut  objectivi  cUicujus 
et  realis  entis  vel  affectionis  sit  imaginarius  u.  s.  w.  Vgl.  dazu  Kants 
Reflexionen  II,  N.  393.  395.  706.  1124.  Lose  Blätter  I,  S.  249  f.  Brief  au 
Herz  vom  21.  Febr.  1772.  Hier  in  der  Kr.  d.  r.  V.  sind  folgende  Stellen 
zu  beachten:  A  25:  „Der  Raum  stellet  gar  keine  Eigenschaft  irgend 
einiger  Dinge  an  sich  oder  sie  in  ihrem  Verhältniss  auf  einander  vor, 
d.  i.  keine  Bestimmung  derselben,  die  an  den  Gegenständen  selbst  haftete. 
Denn  weder  absolute  noch  relative  Bestimmungen  können  vor  dem  Da- 
sein der  Dinge  angeschaut  werden."  Von  der  Zeit  heisst  es  A  32:  „Die 
Zeit  ist  nicht  etwas,  was  für  sich  selbst  bestünde,  oder  den  Dingen  als 
objective  Bestimmung  anhinge."  Nachher  heisst  es:  „als  eine  den 
Dingen  selbst  anhangende  Bestimmung  oder  Ordnung."*  Und  A  35  wird 
weiter  von  der  Zeit  gesagt:  „Wir  streiten  ihr  allen  Anspruch  auf  absolute 
Realität,  da  sie  den  Dingen  als  Bedingung  oder  Eigenschaft  anhinge. 
...  sie  kann  den  Gegenständen  an  sich  selbst  weder  subsistirend  noch 
inhärirend  beigezählt  werden."  Vgl.  dazu  ferner  A  38  N.  u.  A  39.  B  70 
wird  von  „Ungereimtheiten"  gesprochen,  „in  die  man  sich  alsdann  ver- 
wickelt, indem  zwei  unendliche  Dinge,  die  nicht  Substanzen,  auch  nicht 
etwas  wirklich  den  Substanzen  Inhärirendes,  dennoch  aber  Existirendes 
sein  müssen ,  übrig  bleiben".  Diesen  Stellen  liegt  folgende  gemeinsame 
Gliederung  zu  Grunde: 

*  Eine  Uebersicht  der  verschiedenen  Möglichkeiten  findet  sich  in  jener  Zeit 
häufig,  besonders  in  Folge  des  bekannten  L ei bniz-Clar keuschen  Streites. 
Uebrigens  findet  sich  eine  solche  auch  schon  bei  Gassendi,  Dephil,  Epic.  T,  613. 
Opp.  Phil.  I,  182.  Ganz  dieselbe  Zusammenstellung  wie  Kant  hat  schon  Cr usius, 
Notw.  Vemunftwahrheiten,  §  49  ff. :  „Raum  ist  kein  vollständiges  Ding,  keine  an- 
klebende Eigenschaft,  auch  kein  blosses  Verhältnisse  —  Andere  Gliederungen  bei 
Jacob,  Metaph.  S.  262;  bei  Weishaupt,  Zweifel  über  die  Kantischen  Begriffe 
von  Zeit  und  Raum,  S.  20  ff.  —  Liebmann,  Obj.  Anblick  178:  »Der  Raum  ist 
Eigenschaft,  namenloses  Realprincip,  ein  Verhältniss,  eine  Substanz  oder  endlich 
gar  Nichts.  Die  Reihe  der  Möglichkeiten  dürfte  damit  so  ziemlich  erschöpft  und 
durchgerathen  sein.*  Ueber  diese  ontologischen  Kategorien  und  ihre  eventuelle 
Anwendbarkeit  auf  den  Raum  vgl.  auch  Lotze,  Metaph.  S.  196.  Diese  ganze 
Fragestellung  verwirft  (vgl.  oben  S.  83)  Herbart,  W.  W.  V,  505,  weil  damit 
R.  u.  Z.  schon  zu  selbständigen  Objecten  hypostasirt  werden,  während  sie  blosse 
»Möglichkeiten*  seien ;  vgl.  noch  unten  Herbarts  Polemik  gegen  das  zweite  Raum- 
argument. Vgl.  Cohen,  2.  A.  147;  Massonius,  Aesth.  68  ff.  Ueber  die  Zeitfrago 
speciell  s.  Döring  in  der  Viert,  f.  wiss.  Phil.  1890,  395  ff. 


132  §  2.    Einleitendes. 

A  28.  B  87.  [R  84.  H  58.  K  74.] 

I.  Sind  Baum  und  Zeit  etwas  Objectives?  {objedivuin  et  reale). 

A)  Sind  sie  selbst  Substanzen?  (substantia). 

B)  Sind  sie  etwas  den  Substanzen  Inbärirendes? 

a)  als  (absolute)  Eigenscbaftsbestimmungen?  {aecidem), 
ß)  als  (relative)  Verbältnissbestimmungen?  (relaUo). 

II.  Sind  sie  etwas  bloss  Subjectives?  (subjecHvum  et  ideale). 

Am  besten  kommt  diese  Gliederung  zum  Vorschein  in  den  beiden  zuerst 
angeführten  Stellen  aus  der  Dissertation.  In  der  dritten  oben  angeführten 
Stelle  aus  der  Dissertation  scheint  „affectio*'  im  Gegensatz  zu  f,en8^  die  beiden 
Möglichkeiten  des  „accidens^  und  der  „relatio''  zusammenfassen  zu  sollen, 
und  würde  also  dem  entsprechen,  was  Kant  sonst  im  Gegensatz  zu  „Sub- 
stanzen'' bezeichnet  als  „das  den  Substanzen  Inhärirende".  Dafür  spricht 
die  Definition ,  welche  die  Metaphysiker  von  affectio  geben ;  so  z.  B.  B  a  u- 
m  eist  er,  Definitiones  Phil.  Wolff,  N.  375.  Doch  kann  affectio  vielleieht 
ungenauer  Weise  auch  nur  das  Eine  Glied  jener  Disjunction,  die  Eigenschaft 
(=  aecidem)  bezeichnen  sollen,  wie  dies  Fischer,  Kant,  2.  Aufl.  8.  335  N. 
annimmt.  Solche  üngenauigkeiten  sind  bei  Kant  häufig  (so  behandelt  er 
z.  B.  an  der  angeführten  Stelle  der  Dissertation  §  15  D  doch  nicht  jene  drei 
Möglichkeiten,  sondern  nur  zwei:  Baum  als  Substanz  =  receptactdum,  und 
Baum  als  Verhältniss  =  relatio;  den  dazwischen  liegenden  Fall,  Baum  = 
Eigenschaft,  führt  er  daselbst  gar  nicht  aus).  In  der  Stelle  A  25  werden 
die  beiden  Fälle:  Eigenschaft  und  Yerhältniss  als  „absolute"  und  „relative 
Bestimmungen''  bezeichnet;  der  erste  Fall,  Baum  =  Substanz,  ist  dort  un- 
genauer Weise  ausgefallen,  während  er  in  der  Parallelstelle  über  die  Zeit 
richtig  mit  aufgeführt  ist.  Auch  der  Terminus  „Bestimmung"  ist  nicht 
gleichmässig  gebraucht;  (er  entspricht  dem  lateinischen  Terminus  „determi- 
natio^ ;  so  Baumgarten,  Metaphysica  §  41). 

Abgesehen  von  der  Annahme  der  Subjectivität  von  Baum  und  2^it, 
für  welche  Kant  selbst  sich  entscheidet,  sind  es  somit  drei  Möglichkeiten, 
welche  in  Betracht  kommen,  wenn  man  Baum  und  Zeit  als  etwas  Objectives 
betrachtet:  sie  sind 

1)  entweder  Substanzen, 

2)  oder  Eigenschaften, 
8)  oder  Verhältnisse. 

Jene  Subjectivität  mit  eingeschlossen,  sind  es  vier  Möglichkeiten.  Vgl. 
dazu  Fischer,  Kant,  2.  A.  333  ff.,  3.  A.  339;  Trendelenburg,  Beiträge 
III,  227.  256;  Biehl,  Krit.  I,  312;  II,  a,  80  ff.,  woselbst  diese  „schul- 
gerechte  Form  des  Problems"  besprochen  und  die  erste  Theorie  auf  Car- 
tesius,  die  zweite  auf  Spinoza,  die  dritte  aufLeibniz  bezogen  wird  (der 
Gegensatz  von  Substanz  und  Attribut  habe  jedoch  auf  den  Baum  angewendet 
keinen  Sinn).  Nur  drei  Möglichkeiten  (ein  „Trilemma")  nimmt  an  Gott- 
schick, Zeitschr.  f.  Philos.  79.  152  ff.,  indem  er  Eigenschaft  und  Verhältniss 
unter  der  Inhären z  zusammenfasst.    Uebersichtlicher  ist  deren  Trennung,  wie 


Was  sind  Raum  und  Zeit?    Kants  Tetralemma.  133 

[B  84.  H  58.  E  74.]  A  28.  B  87. 

oben,  so  dass  wir  es  also  mit  einem  Tetralemma  (im  weiteren  Sinne,  s.  üeber- 
weg,  Logik  §  123)  zu  thun  haben. 

Die  vorliegende  Stelle  legt  übrigens  noch  eine  andere  Gliederung,  als 
die  oben  gegebene,  nahe: 

I.  Sind  Raum  und  Zeit  etwas  Subsistirendes? 
IT.  Sind  sie  nur  etwas  Inhärirendes? 

A)  Inhäriren  sie  den  Dingen  an  sich? 
a)  Als  Eigen  Schaftsbestimmungen? 
ß)  Als  Verhältnissbestimmungen? 
ß)  Inhäriren  sie  dem  Subjecte? 

Diese  Gliederung  wird  denn  auch  ausdrücklich  angegeben,  z.  B.  von 
Brastberger,  Untersuchungen  über  Ks.  Kr.  d.  r.  V.  S.  44,  sowie  bes.  in 
dem  anonymen  Werke  „Hauptmomente  der  kritischen  Philos."  S.  81.  Und 
auch  den,  allerdings  im  Uebrigen  th eilweise  sehr  wunderlichen  Ausführungen 
von  Cohen,  Ks.  Theorie  d.  Erf.  I.A.  51  if.,  2.  A.  166  ff.  liegt  die  richtige 
Einsicht  in  diese  Eintheilung  zu  Grunde,  welche  auch  Erdmann,  Kriticismus 
S.  19  vertritt.  Es  lässt  sich  auch  gar  nicht  leugnen ,  dass  der  vorliegende 
Text  diese  Gliederung  näher  legt,  als  die  vorhin  angegebene;  indessen  ist 
jene  erstere  Gliederung,  welche  in  den  Parallelstellen  befolgt  ist,  doch  die 
natürlichere.  Es  ist  auch  logisch  zweckmässiger,  die  eigene  Lösung  Kants 
als  die  Eine  Hauptmöglichkeit  zu  fassen,  und  alle  anderen  bisherigen  Lösungen 
als  Einzelfälle  einer  zweiten  möglichen  Hauptauffassung  darzustellen. 

Interessant  sind  die  historischen  Notizen,  welche  Kant  zu  der  Frage: 
„Ist  der  Raum  etwas  Wirkliches?  Substanz,  Accidenz,  Relation?'*  in  einem 
Fragment  der  „Losen  Blätter"  I,  249  f.  hinzufügt:  „Hohbes:  [spatium]  est 
phantctsma  rei  existentis  tanquam  externae,  Cartesius  spatium  habet  pro 
abstracto  extensionis  materiae.  His  accedit  Leibniz.  Clarke  vero  defendit 
realUcttem  spcUii.  Netoton:  est  sensorium  omnipraesentiae  divinae.  Epicur 
behauptete  die  subsistirende ,  Wolf  die  inhärirende  Realität  des  Raumes."^ 
„Clarke  hielt  [die  Zeit]  vor  real  als  reine  Zeit ;  Leibniz  vor  einen  empiri- 
schen Begriff  der  Succession."  Bemerkenswerth  ist  hieraus  besonders  der 
mehrfache  Hinweis  auf  den  grossen  Streit  zwischen  Leibniz  und  Clarke, 
dessen  Studium  (bes.  seit  1765)  für  Kants  Entwicklung  entscheidend  ge- 
worden zu  sein  scheint;  auch  für  die  mit  der  Aesthetik  unmittelbar  zu- 
sammenhängende Antinomienlehre  bekam  Kant  aus  diesem  Streite  die 
lebhafteste  Anregung.  — 

Kant  behandelt  hier  von  vorneherein  das  Problem  der  Zeit  ganz  ebenso 
wie  das  des  Raumes,  ohne  sich  über  die  Berechtigung  dieser  parallelen 
Stellung  näher  auszulassen.  Schon  in  der  Abhandlung  über  die  Negativen 
Grössen  machte  Kant  die  Behandlung  der  Zeit  von  der  des  Raumes  abhängig, 


*  Nach  Wulff  ist  der  Raum  ^ein  bloss  der  empirischen  Anschauung  (Wahr- 
nehmung) gegebenes  Nebeneinandersein  des  Mannigfaltigen  ausser  einander",  sagt 
Kant  gelegentlich,  in  der  Vorrede  zur  Met.  d.  Sitten  (1),  Res.  IX,  7. 


134  §  2.    Einleitendes.    Ezcurs. 

A  28.  B  87.  [R  84.  H  58.  E  74.] 

Ros.  I,  116  (vgl.  Dietrich,  K.  u.  Newton  244).  Es  hat  nicht  an  Stimmen 
gefehlt,  welche  diese  Zusammenstellung  verwerfen.  So  tadelt  der  Kantianer 
Göring,  Raum  und  Stoff  15,  diese  „lockere  und  doch  so  gefährliche  Ver- 
bindung". Schon  Feder  hat  davor  gewarnt  (Phil.  Bibl.  III,  133  f.).  Vgl. 
auch  Platner,  Aphor.  3.  A.  §  805.  Gegen  diese  parallele  Stellung  von 
R.  und  Z.  äussert  vom  Kantischen  Standpunkte  selbst  aus  erhebliche  Zweifel 
auch  Riehl,  Krit.  I,  353  f.  „Damit  die  Zeit  Anschauung  genannt 
werden  konnte,  musste  sie  erst  in  das  Bild  einer  Linie  übersetzt  werden. 
Der  Ausdruck  ist  nicht  bloss  metaphorisch,  sondern  geradezu  irreführend. 
Ich  zweifle  auch,  ob  die  Zeit  in  derselben  Bedeutung  sinnlich  heissen 
dürfe,  wie  der  Raum  .  .  .  Kant  selbst  empfindet  diesen  Unterschied.  Während 
er  den  Raum  mit  Recht  den  Sinnen  zuweist,  schwebt  die  Zeit  in  einer 
unbestimmten  Mitte  zwischen  einer  rein  sinnlichen  und  rein  begrifflichen 
Vorstellung  [in  der  Lehre  vom  Schematismus]  .  .  ."  Auch  Lotze  hat  sich 
gegen  die  von  K.  behauptete  „Ebenbürtigkeit"  der  Zeit  mit  dem  Räume 
ausgesprochen,  Metaph.  S.  289.  Diesen  Einspruch  hat  R.  Geijer  bestritten, 
und  gegen  diesen  wieder  Hoff  ding  aufrecht  erhalten  (Phil.  Monatsh.  1888, 
428  ff.).     Gegnerisch  auch  Bergmann,  Metaph.  210. 

Ein  anderes,  aber  damit  zusammenhängendes  Problem  ist,  ob  nicht 
vielleicht  die  Zeit  besser  vor  den  Raum  gestellt  würde.  In  der  Kr.  d.  r.  V. 
stellt  Kant  die  Zeit  immer  in  die  zweite  Linie,  ohne  darüber  jemals  sich 
rechtfertigend  zu  äussern.  In  der  Dissertation  dagegen  stellte  er  die  Zeit 
voran  als  die  allgemeinere  und  fundamentalere  Anschauungsform  (vgl.  hie^ 
über  noch  unten  zu  A  34,  Schluss  c  betreffs  der  Zeit).  Neuerdings  ist  diese 
Priorität  der  Zeit  wieder  mehrfach  behauptet  worden,  so  von  Wundt, 
Logik  I,  S.  428  ff.;  vgl.  auch  desselben  „System",  127  ff.;  von  Riehl,  Krit. 
II,  a,  115,  weil  die  Vorstellung  des  Raumes  erst  mittelst  der  Zeitvorstelluog 
erworben  werde  (Bain).  Vgl.  auch  B.  Erdmann,  Axiome  d.  Geom.  121. 
Engelmann,  Ding  an  sich,  S.  14 — 22.  Spir,  Denken  und  Wirklichkeit 
1 ,  263  ff. ,  II ,  3 — 14  (nebst  scharfer  Kritik  der  K.'schen  Zeittheorie  über- 
haupt). —  Diese  Priorität  der  Zeit  auch  bei  Taine,  die  entgegengesetzte 
bei  Magy;  vgl.  hierüber  Luguet,  Notion  d^espace,  Paris  1875,  S.  107  ff. 

Excurs. 

Die  möglichen  Fälle. 

Hier  liegt  nun  die  Frage  sehr  nahe,  ob  Kant  in  seiner  Fragestellung 
denn  auch  alle  Möglichkeiten  berücksichtigt  habe?  Dass  dies  nicht  geschehen 
sei,  dass  K.  eine  Hauptmöglichkeit  übersehen  habe,  war  die  Behauptung  von 
Trendelenburg.  Dieser  Angriff  war  die  Ursache  des  Trendelenburg- 
Fischer'schen  Streites  (vgl.  dazu  die  Literaturübersicht).  Derselbe 
wird  in  der  Geschichte  der  deutschen  Gelehrtenstreitigkeiten  stets  eine  her- 
vorragende Stellung  einnehmen  wegen  der  Bedeutung  des  Streitobjects,  wegen 
der  weittragenden  Consequenzen  der  verschiedenen  Beantwortung  der  Streit- 


Die  Controverse  zwischen  Trendelenburg  und  Kuno  Fischer.        135 

frage,  wegen  der  Ausdehnung  des  Streites  auf  andere  mehr  oder  minder 
wichtige  Punkte,  wegen  der  hervorragenden  Stellung  der  beiden  Kämpfer, 
wegen  der  Menge  der  beiderseitigen  Streitgenossen,  wegen  der  Theilnahme 
weiterer  Kreise,  und  nicht  zum  Letzten  wegen  der  persönlichen  Erbitterung 
der  Kämpfenden.  Heute,  nach  mehr  als  20  Jahren,  darf  die  Letztere  als 
verraucht  gelten ;  wir  wenigstens  sind  in  der  glücklichen  Lage,  ohne  jegliche 
Voreingenommenheit  uns  rein  an  die  Sache  halten  zu  können,  um  die  es 
uns  einzig  und  allein  zu  thun  ist.  Und  so  können  wir  hoffen,  aus  dem 
hitzigen  Streit  jener  Tage  den  rein  wissenschaftlichen  Ertrag  für  die  Gegen- 
wart zu  gewinnen. 

Wie  eben  angedeutet,  hat  sich  nun  aber  der  Streit  auch  auf  andere, 
mehr  oder  minder  wichtige  Punkte  ausgedehnt:  und  hiebei  handelte  es  sich 
immer  wieder  darum ,  ob  K.  Fischer  in  seine  Darstellung  der  Kantischen 
Lehre  von  R.  u.  Z.  Unkantisches  aufgenommen  habe,  ob  seine  Darstellung 
eine  authentische  oder  eine  gefärbte,  ja  verfälschte  und  verfälschende  sei? 
Wie  es  zu  gehen  pflegt,  ist  im  Verlaufe  des  Streites  dieser  ursprüngliche 
Nebenpunkt  immer  mehr  in  den  Vordergrund  getreten,  wahrend  „jene 
Hauptfrage  immer  mehr  zur  Nebenfrage  zusammengeschrumpft  ist^'  (Cohen, 
Z.  f.  V.  7,  251).  Jene  rein  interpretatorischen  Einzel controversen  kommen 
jedoch  gerade  für  unseren  Gommentar  sehr  in  Betracht,  und  so  sind  denn 
dieselben  auch  an  den  betreffenden  Orten  gebührend  berücksichtigt  und  von 
unserem  Standpunkt  aus  entschieden  worden.  Die  Behandlung  der  ursprüng- 
lichen Hauptfrage  aber  hat  an;  dieser  Stelle  zu  beginnen,  wird  sich  aber  auf 
mehrere  andere  Hauptstellen  weiter  unten  ausdehnen  müssen. 

Ehe  wir  in  diese  Behandlung  eintreten,  muss  eine  nothwendige  Vor- 
bemerkung vorausgesendet  werden.  Nur  ein  in  der  Sache  Unkundiger  oder 
ein  in  literarischen  Streitigkeiten  Unerfahrener  wird  erwarten,  dass  wir  auf 
die  Frage:  Wer  hatte  Recht?  Trendelenburg  oder  K.  Fischer?  die  runde 
Antwort  abgeben  können:  Dieser  oder  Jener.  Denn  mehr  noch  als  sonst 
bei  derartigen  Streitigkeiten  sind  die  Streitschriften  beider  Gegner  ein  ver- 
filzte« Gewebe  von  Wahrheit  und  Irrthum,  von  Scharfsinn  und  Kurzsichtig- 
keit. Wir  haben  demnach  die  Aufgabe,  Sonne  und  Schatten  nach  Gerechtig- 
keit auf  beide  Parteien  zu  vertheilen,  und  nur  vorher  noch  mit  allem 
Nachdruck  zu  wiederholen,  dass  ein  einfaches  Ja  oder  Nein  die  Oberfläch- 
lichkeit sowohl  des  Fragers  als  des  Beantworters  verrathen  würde.  — 

Trendelenburg  bemerkt  in  den  Beiträgen  3,  227  zu  dieser  Stelle : 
„Diesen  Fragen  liegt  eine  Eintheilung  zum  Grunde,  in  welcher  sich  die 
Möglichkeit ,  den  Kaum  aufzufassen ,  so  gliedert :  der  Raum  ist  entweder 
objectiv,  sei  es  als  wirkliches  Wesen,  sei  es  als  Bestimmung  an  einem 
wirklichen  Wesen,  oder  er  haftet  nur  an  der  subjectiven  Beschaffenheit 
unseres  Gemüths.  Die  dritte  Möglichkeit  ist  nicht  bedacht.^^  Diese 
berühmte  „dritte  Möglichkeit^'  besteht  nach  den  sonstigen  Erklärungen  Trs. 
darin:  Der  Raum  ist  objectiv  und  subjectiv  zugleich;  in  Trs.  eigenen 
Worten  (223):  „In  der  Lehre  von  R.  u.  Z.  wird  es  diese  drei  Ansichten 
geben   können:    Entweder   R.  u.  Z.   sind   nur  objectiv,   Erfahrungsgegen- 


136  Excars.    Die  möglichen  Fälle. 

stände,  oder  sie  sind  nur  subjectiv,  nur  Formen  in  unserem  Geiste,  oder 
sie  sind  subjectiv  und  objectiv  zugleich,  dem  Vorstellen  nothwendig, 
in  den  Dingen  wirklich."  Diese  „dritte  Möglichkeit"  wird  (246)  dahin  er- 
läutert: „sie  spricht  dem  B.  und  der  Z.  einen  apriorischen  Ursprung  in  der 
Vorstellung,  aber  zugleich  eine  Geltung  in  den  Dingen  zu".  (Vgl.  Trend,, 
Entg.  S.  2.) 

Diese  Ausführung  (welche  übrigens  noch  nicht  in  den  Log.  Unters, 
enthalten  ist)  besticht  zunächst  durch  ihre  scheinbare  logische  Prägnanz,  bei 
näherem  Hinsehen  entpuppt  sie  sich  als  sehr  unlogisch.  K.  wirft  hier  an 
dieser  Stelle  —  um  diese  handelt  es  sich  zunächst  —  die  Frage 
nach  der  Geltung,  nach  dem  Bealitätswerth  von  B.  u.  Z.  auf.  Und  da  gibt 
es  —  wenigstens  zunächst  —  nur  zwei  Möglichkeiten:  entweder  haben  B. 
u.  Z.  reale  Gültigkeit,  Gültigkeit  für  die  Dinge  „an  sich",  d.  h.  sie  sind 
objectiv  und  real;  oder  sie  haben  keine  reale  Gültigkeit,  und  dann  haben 
sie  eben  nur  ideale  Gültigkeit,  d.  h.  sie  haften  nur  am  Subject,  d.  h.  sie 
sind  nur  subjectiv  und  nicht  real.  Diese  Disjunction  ist  trotz  Trs.  Einspruch 
(222)  nicht  „unvollständig";  die  „stillschweigende  Voraussetzung"  (245) 
derselben  ist  ganz  berechtigt  bei  Kant;  denn  jene  dritte  Möglichkeit  Trs. 
kann  es  da  überhaupt  gar  nicht  geben:  „objectiv  und  subjectiv  zugleich" 
hiesse  ja:  der  Baum  ist  erstens  etwas  Beales,  und  dazu  zweitens  etwas 
nicht-Beales,  d.  h.  also,  er  wäre  A  und  non-A  zugleich.  Das  ist  also  voll- 
ständiger Widerspruch. 

Die  Frage  lautet  also  nicht  mehr:  Wie  ist  es  möglich,  dass  K.  an 
dieser  Stelle  jene  „dritte  Möglichkeit  nicht  bedachte"?  sondern:  Wie  ist  es 
möglich,  dass  Trendelenburg,  um  mit  Kant  zu  reden,  „ein  Denker  von  Ge- 
werbe", der  Verfasser  „Logischer  Untersuchungen",  einen  solchen  Fehler 
gegen  das  erste  Gesetz  der  Logik  machen  konnte? 

Bei  aufmerksamer  Leetüre  der  oben  mitgetheilten  Worte  Trs.  entdeckt 
man  bald  die  Fehlerquelle. 

Tr.  hat  zwei  ganz  heterogene  Probleme,  zwei  Fragen,  welche  in  ganz 
verschiedenen  Ebenen  liegen ,  mit  einander  verwechselt ,  nämlich  die  hier 
allein  und  zunächst  in  Betracht  kommende  Geltungsfrage  mit  der  hier 
zunächst  gar  nicht  in  Betracht  kommenden  Ursprungsfrage.  Ob  die  ent- 
ferntere Schuld  dieser  Verwechslung  nicht  auf  Kant  selbst  abzuwälzen  sei, 
steht  hier  zunächst  nicht  in  Frage;  sondern  wir  haben  jetzt  nur  bei 
Trendelenburg  jene  verhängniss volle  Verwechslung  zu  verfolgen,  und  da 
finden  wir,  dass  das  Medium  derselben  der  Terminus  „subjectiv"  ist. 
Subjectivität  des  Baumes  bedeutet  bei  Tr.  bald ,  dass  der  Baum  „vom 
Objectiven  ausgeschlossen  sei"  (225),  dass  er  keine  „Geltung  für  die  Dinge'* 
habe  (227),  dass  er  ihnen  also  „abzusprechen"  sei,  dass  ihm  also  Idealit<ät 
(225)  zuzuschreiben  sei.  In  diesem  Zusammenhange,  in  welchem  es  sich  nor 
um  den  Geltungswerth  des  Baumes  handelt^  ist  subjectiv  =  ideell  (=  nur 
subjectiv).  Bald  aber  bedeutet  bei  Tr.  Subjectivität  des  Baumes  so  viel  als, 
dass  er  seinen  „Ursprung  in  der  Thätigkeit  unseres  Geistes"  habe  (223), 
dass  „er  in  uns  dem  Wahrnehmen  und  Erfahren  vorangehe"  (226);  in  diesem 


Trendelenburgs  „Dritte  Möglichkeit  ist  formell  logisch  unrichtig.        137 

ZasammeDhange,  in  welchem  es  sich  um  die  Ursprungs  frage  handelt,  ist 
subjectiv  =  a  priori  (225). 

Diese  beiden  ganz  heterogenen  Bedeutungen  von  „subjectiv^'  sind  in 
jener  Aufz&hlung  der  drei  Möglichkeiten  von  Tr.  promiscue  gebraucht  worden. 

Jene  drei  Möglichkeiten  waren: 

1)  der  Raum  objectiv, 

2)  der  Baum  nur  subjectiv, 

3)  der  Baum  subjectiv  und  objectiv  zugleich. 

In  dem  Gegensatz  der  beiden  ersten  Möglichkeiten,  wie  sie  von  Kant 
selbst  aufgestellt  worden  sind ,  handelt  es  sich  um  Bealität  (Objectivitftt) 
oder  Idealität  des  Baumes:  im  letzteren  Falle,  im  Falle  der  Idealität,  ist 
derselbe  ideell  =  nur  subjectiv.  Subjectiv  ist  also  hier  eben  =  nur  sub- 
jectiv, wie  ja  Kant  selbst  ganz  deutlich  erklärt,  indem  er  eben  in  seinem 
Texte  selbst  das  Bedeutsame  „nur''  mit  aufgenommen  hat.  In  diesem  Gegen- 
satz handelt  es  sich  zunächst  nur  um  die  Geltungs frage.  Aber  in  der 
dritten  Möglichkeit,  welche  Trendelenburg  hinzufügen  zu  müssen  glaubte, 
liegt  ja  die  Sache  ganz  anders.  Hätte  „subjectiv''  hier  dieselbe  Bedeutung 
wie  oben,  so  hiesse  die  dritte  Möglichkeit  ja:  der  Baum  ist  zugleich  real 
und  nicht-real,  zugleich  reell  und  ideell  —  und  dies  ist  ein  offenbarer  Wider- 
spruch. „Subjectiv"  hat  hier  eben  die  andere  Bedeutung  =  apriorisch,  und 
nun  hat  die  Behauptung  einen  Sinn,  und  zwar  eben  den  Sinn,  welchen  Tr. 
oft  genug  in  allen  möglichen  Variationen  wiederholt:  der  Baum  ist  erstens 
apriorisch,  hat  seinen  Ursprung  im  menschlichen  Subject  —  als  Vor- 
stellang;  was  aber  seine  Geltung  betrifft,  so  ist  er  zweitens  trotzdem 
zugleich  real.     (Vgl.  die  oben  S.  135 — 186  mitgetheilten  Stellen  Trs.) 

Hier  sieht  man  nun  auf  den  ersten  Blick,  dass  das  dritte  Glied  gar 
nicht  auf  dieselbe  Linie  mit  den  beiden  ersten  Gliedern  zu  stellen  ist:  denn 
in  den  beiden  ersten  Möglichkeiten  handelt  es  sich  nur  um  die  Geltung, 
in  dem  dritten  aber  um  Ursprung  und  Geltung.  Jene  Trendelenburg'sche 
Zusammenstellung  ist  also  in  dieser  Form  eigentlich  nur  ein  Wort-  oder 
Begriffsspiel,  bei  welchem  die  stilistische  Zuspitzung  mit  der  logischen 
Schärfe  in  umgekehrtem  Verhältniss  steht.  Aber  gerade  diese  Verbindung 
einer  bestechenden  Form  mit  einem  undurchdachten  Inhalt  verschaffte  dem 
Begriffsspiel  überall  leichten  Eingang  und  wird  wohl  auch  in  Zukunft  den- 
selben Effect  haben.  Und  doch  beruht  es  auf  einem  groben  Verstoss  gegen 
eine  wichtige  Begel  der  formalen  Logik:  auf  der  Vermischung  verschiedener 
Eintheilungsprincipien ! 

Der  logische  Fehler  Trendelenburgs  liegt  also  in  der  Vermischung 
der  Geltungsfrage  und  der  Ursprungsfrage.  Die  dritte  Möglichkeit 
in  dem  Sinne,  in  welchem  er  sie  aufstellt,  ist  somit  aus  diesem  Grunde  ganz 
unberechtigt.  Was  er  sonst  noch  vorbringt,  ist  unten  in  einem  anderen 
Contexte  zu  prüfen ;  dort  wird  auch  der  Zusammenhang  jener  beiden  Fragen 
in  Betracht  kommen ;  insbesondere  die  Hauptfrage ,  ob  Kant  Becht  habo^ 
aus  dem  apriorischen  Ursprung  der  Baumvorstellung  ohne  Weiteres  auf  die 
Idealität  des  Baumes   zu  schliessen;    wir  werden   dort   auch  Tr.   durchaus 


138  Excurs.    Die  möglichen  Fälle. 

Becbt  geben  müssen,  wenn  er  in  diesem  Beweis  eine  ,,Lücke^'  findet.  Aber 
hier,  wo  es  sieb  um  die  von  Kant  aufgeworfene  Frage  bandelt:  Was  sind 
Baum  und  Zeit?  sind  sie  etwas  Reales  oder  etwas  Ideelles  (=  nur  Sab- 
jectives)?  hier,  wo  es  sich  nur  um  die  Geltung  bandelt,  musste  jene 
Trendelenburg'scbe  „dritte  Möglichkeit^'  als  ein  logisch  ganz  unberechtigtes 
Gebilde  zurückgewiesen  werden. 

Man  sollte  nun  denken,  dass  jene  Quelle  des  Trendelenburg'schen 
Fehlers  dem  aufmerksameren  Nachdenken  nicht  lange  hätte  verborgen  bleiben 
können.  Aber  in  der  Hitze  des  Streites  übersah  man  gerade  diese  Haupt- 
sache; ja  selbst  die  Gegner  Trs.  Hessen  sich  durch  jene  formell  zugespitzte 
Aufstellung  blenden.  Aus  allem  wenigstens,  was  K.  Fischer  gegen  Tr. 
vorgebracht  hat  (Log.  u.  Met.  2.  A.  174  ff.;  Gesch.  III,  Vorrede  IV  ff. ;  Anti- 
Tr.  46  ff.),  geht  hervor ,  dass  er  jene  Verwechslung  der  Geltungs-  und  der 
Ursprungsfrage  nicht  nur  nicht  durchschaute,  sondern  selbst  theilte.  Ja, 
er  hat  durch  seine  Darlegungen  in  der  Log.  u.  Met.  (1865)  den  Fehler, 
welchen  Tr.  in  den  Beiträgen  (1867)  beging,  offenbar  mitverschuldet  \ 

Jene  Verwechslung  liegt  aber  bei  Trendelenburg  offen  da,  und  viele 
St.ellen  zeigen  deutlich,  wie  sehr  er  beides  in  einen  falschen  Zusammenhang 
brachte,  so  bes.  Beiträge  3,  222.  Auf  dieser  falschen  Verbindung  beruht 
folgende  Hauptstelle  (223):  „Hiernach  unterscheiden  sich  drei  Ansichten  in 
voller  Schärfe.  Denn  es  ist  etwas  Anderes,  ob  man  den  Raum  u.  d.  Z.  für 
nur  objectiv  hält,  wie  der  Empirismus  die  Vorstellung  des  R.  u.  d.  Z. 
erst  aus  dem  Aeusseren  empfängt  und  entnimmt,  und  gegen  diese  Möglich- 
keit wendet  sich  Kant;  oder  ob  man  sie  für  nur  subjectiv  hält,  so  dass 
sie  nichts  sind,  als  in  unserem  Geist  bereit  liegende  Formen,  und  diese  An- 
schauung behauptet  Kant;  oder  ob  man  sie,  wie  die  Logischen  Unter- 
suchungen [also  Trendelenburg  selbst]  ausführen,  für  subjectiv  und 
objectiv  zugleich  hält,  dergestalt,  dass  sie  aus  einer  für  den  Geist  and 
die  Dinge  geltenden  ursprünglichen  Thätigkeit  entstanden,  beides,  snb* 
jective  und  objective  Bedeutung  haben."  Wie  in  dieser  Stelle  die  Geltungs- 
und  die  Ursprungsfrage  durcheinander  gewürfelt  werden,  liegt  auf  der  Hand. 

Gerade  diese  letzte  Stelle  aus  Tr.  bietet  uns  nun  den  Anlass,  die  Ver 
schiedenheit  und  den  eventuellen  Zusammenhang  der  Geltungs-  und  der 
Ursprungsfrage  hier  zu  erörtern ,  und  auf  Grund  dieser  Erörterung  die 
möglichen  Ansichten  über  den  Raum  neu  zu  disponiren.  Aus  dem  bisher 
von  uns  gegen  Tr.  Ausgeführten  geht  hervor,  dass  es  vom  Standpunkt  der 
Geltungsfrage  (zunächst)  nur  zwei  Ansichten  geben  kann: 


^  Grapengiesser  S.  14  hat  denselben  jedoch  theilweise  erkannt,  und  tadelt 
S.  39  die  »Confusion*  Trs,  welche  auch  Bergmann,  Phil.  Monatsh.  V,  274  offen 
zugibt.  Unverständlich,  wie  so  häufig,  Cohen,  Th.  d.  Erf.  70  ff.;  vgl.  gegen  Cohen 
auch  E.  V.  Hartmann,  Real.  121.  Ganz  richtig  hat  diesen  Punkt  auch  erkannt 
C  e  8  c  a ,  Doitrina  Kantiana  146.  Dass  jene  beiden  Probleme  —  das  des  Ursprangs 
und  das  der  Gültigkeit  —  genau  zu  trennen  seien,  hat  besonders  stark  und  deut- 
lich auch  Lotze  wiederholt  betont;  vgl.  bes.  Metaphysik,  S.  194  ff.  Vgl.  auch 
schon  Herbart,  W.  W.  VI,  116. 


Richtige  Gliederung  der  Möglichkeiten.  139 

I.  Der  Raum  ist  etwas  Reales. 

IL  Der    Raum    ist    etwas   Nicht-Reales,    somit   nur   Vorgestelltes, 
Ideelles. 

Vom  Standpunkte  der  Ursprungs  frage  gibt  es  (zunächst)  ebenfalls 
nur  zwei  Hauptansichten: 

I.  Die  Raumvorstellung  des  Menseben  ist  aas  der  Erfahrung  entstan- 
den, d.  h.  in  und  mit  den  Empfindungen  resp.  Wahrnehmungen  als 
solcben  schon  mitgegeben,  also  empirisch  resp.  aposteriorisch. 
II.  Die  Raumvorstellung  des  Menseben  ist  nicht  in  und  mit  den 
Empfindungen  mitgegeben,  sie  kommt  zu  diesen  erst  hinzu  aus  dem 
inneren  Fonds  des  vorstellenden  Subjects,  ist  also  aprioriscb. 

Die  beiden  Fragen  und  deshalb  aucb  die  auf  dieselben  gegebenen  Ant- 
worten sind  von  einander  so  wenig  abhängig,  dass  vielmehr  folgende  vier 
Combinationen  möglieb  sind: 

1)  Der  Raum  ist  seiner  Geltung  nacb  real,  seine  Vorstellung  in  uns 
ihrem  Ursprung  nach  aposteriorisch. 

2)  Der  Raum  ist  seiner  Geltung  nach  ideal,  seine  Vorstellung  ihrem 
Ursprung  nach  aposteriorisch. 

3)  Der  Raum  ist  seiner  Geltung  nach  real,  seine  Vorstellung  ihrem 
Ursprung  nacb  apriorisch. 

4)  Der  Raum  ist  seiner  Geltung  nach  ideal,  seine  Vorstellung  ihrem 
Ursprung  nach  apriorisch. 

Es  ist  leicht,  zu  diesen  vier  Combinationen  die  entsprechenden  histori- 
schen Typen  aufzufinden: 

1)  Die  erste  Ansicht  ist  die  des  gewöhnlichen  Menschenverstandes, 
sowie  des  Empirismus,  voran  von  Locke. 

2)  Die  zweite  Ansicht  ist  die  von  Berkeley. 

3)  Die  dritte  Ansicht  ist  die  von  Trend elenburg. 

4)  Die  vierte  Ansicht  ist  die  E antische. 

Aus  dieser  Aufstellung  (welche  übrigens  auch  schon  Arnoldt  a.  a.  0. 
119  ff.  im  ^Wesentlichen  richtig  aufgefunden ,  aber  nicht  weiter  gegen  Tren- 
delen burgs  Trilemma  verwerthet  hat)  ergibt  sich  nun  auch,  in  welch  ver- 
kehrter Weise  Tr.  in  seiner  oben  zuletzt  aufgeführten  Stelle  das  Geltungs- 
und das  Ursprungsproblem  durcheinander  geworfen  hat.  Wer  die  Objectivität, 
d.  fa.  die  Realität  des  Raumes  behauptet,  kann  bezüglich  des  Ursprungs  der 
menschlichen  Raumvorstellung  noch  jene  zwei  entgegengesetzten  Ansichten 
haben ,  er  kann  hierin  Apriorist  (wie  Trendelenburg  selbst)  oder  Empirist 
sein.  Tr.  freilich  stellt  nun  als  erste  Möglichkeit  hin:  „Der  Raum  ist  nur 
objectiv,"  und  dies  sei  die  Ansicht  des  Empirismus.  Dieses  „nur  —  objectiv'' 
hat  streng  genommen  keinen  Sinn;  denn  Niemand  kann  lehren,  dass  der 
Raum  bloss  etwas  Objectives  sei  und  nicht  auch  zugleich  eine  Vorstellung 
in  uns ;  in  der  Meinung,  welche  aber  Tr.  mit  dem  Ausdrucke  verbindet,  sind 
wieder  Geltung  und  Ursprung  zusamraengekoppelt.     K.  Fischer  (Gesch.  III, 


140  Excurs.    Die  möglichen  Fälle. 

Vorr.  IX)  umschreibt  dies  so:  „blosse  Objectivität"  bedeute,  dass  beide  (R. 
u.  Z.)  in  der  Natur  der  Dinge  ursprünglich  gegründet  seien,  unabhängig 
von  unserer  Anschauung.  In  dieser  Umschreibung  sind  Geltung  und  Ur- 
sprung wieder  in  verschwommener  Weise  verquickt.  Durch  dieses  unrein- 
liche Ineinanderfliessenlassen  beider  an  sich  heterogenen  Gebiete  kann  also 
nur  Verwirrung  entstehen.  Trennt  man  die  beiden  Bedeutungen,  welche  in 
dem  „nur  —  objectiv"  stecken,  so  erhalten  wir  a)  die  reale  Geltung,  b)  den 
aposteriorischen  Ursprung.  Wird  diese  Trennung  vollzogen,  so  findet  man 
eben  auch  den  Fall,  welchen  Trendelenburg  selbst  eben  deshalb  ganz  über- 
sehen hat:  die  Berkeley 'sehe  Ansicht,  welche  die  Negation  der  realen  Geltung 
mit  dem  aposteriorischen  Ursprung  verbindet.  Ebenso  zweideutig,  wie  jenes 
„nur  objectiv",  ist  nun  auch  das  „nur  —  subjectiv",  der  zweite  Trendelen- 
burg'sche  Fall.  In  diesem  „nur  —  subjectiv"  sind  wiederum  zwei  Be- 
deutungen innig  versohlungen:  a)  die  Leugnung  der  realen  Geltung,  d.  h. 
die  Idealität ;  und  b)  der  apriorische  Ursprung.  Hebt  man  die  unnatürliche 
Verbindung  auf,  so  findet  man  auch  von  dieser  Seite  aus  wieder  jenen  von 
Tr.  übersehenen  Fall  der  Berkeley'schen  resp.  Hume'schen  Ansicht,  welche 
die  Idealität  des  Raumes  mit  der  Aposteriorität  seiner  Vorstellung  verbindet. 

So  ist  es  denn  zunächst  Trendelenburg  selbst,  dem  der  Vorwurf  einer 
übersehenen  Möglichkeit  zu  machen  ist;  und  dieses  Ueb ersehen  hängt  bei 
ihm,  wie  wir  sahen,  mit  einem  auffallenden  logischen  Versehen  zusammen. 

Wie  steht  es  nun  mit  Kant  selbst?  Hat  er  selbst  vielleicht  jene  vier- 
gliederige  Combination  erkannt?  Arnoldt  hat  zwar,  a.  a.  0.  119,  das 
plausibel  zu  machen  gesucht,  aber  davon  kann  keine  Rede  sein.  Kant 
spricht  nirgends,  weder  direct,  noch  indirect,  von  einer  solchen  Combination. 
Auch  hat  er  factisch  nicht  alle  Fälle  berücksichtigt.  Er  wendet  sich  wohl 
gegen  den  empirischen  Realismus  Locke's,  wie  gegen  den  empirischen  Idealis- 
mus Berkeley's  und  bekämpft  deren  Raumtheorien';  aber  den  dritten  Fall 
hat  er  allerdings ,  wie  wir  unten  zu  A  26  (Schluss  a)  zu  erörtern  haben 
werden,  so  gut  wie  unberücksichtigt  gelassen.  Den  Grund  dieser  Nicht- 
Berücksichtigung hat  Trendelenburg  ganz  richtig  eingesehen :  weil  in  Kants 
Denken  Apriorität  und  exclusive  Subjectivität  aufs  engste  mit  einander  ver- 
wachsen waren:  diese  Gedankenverbindung  war  ihm  zu  einer  „indissoluble 
association^  geworden.  Also  sachlich  hat,  wie  wir  sehen  werden, 
Trend elenburg  doch  Recht.  Aber  die  formale  Einkleidung  seines  Ein- 
wurfes in  das  Gewand  jener  „dritten  Möglichkeit"  mussten  wir  als  unlogisch 
zurückweisen,  weil  in  jener  Formel  die  Geltungs-  und  die  Ursprungsfrage 
in  unklarster  Weise  vermischt  waren. 


*  Kant  hat,  wie  wir  oben  S.  71  if.  sahen,  dabei  ohne  Weiteres  die  Voraus- 
setzung gemacht,  dass  der  Raum  nicht  durch  Empfindung  gegeben  sein  könne. 
Insofern  vermisst  Pflüger,  Aesthetik,  S.  12.  40,  mit  Recht  in  Kants  Disjnnction 
das  Glied:  „oder  sind  R.  u.  Z.  Wirkungen  von  Gegenständen  auf  unsere  Vor- 
stellungsfähigkeit, sofern  wir  von  denselben  afficirt  werden,  d.  h.  sind  sie  Empfin- 
dungen?** 


Noch  eine  weitere  Möglichkeit.  141 

Diese  Vermischung  kann  man  auch  schon  bei  Kant  selbst  finden.  Denn 
den  zweiten  Hanptfall,  den  der  Idealität,  hat  er  so  ausgedrückt,  dass  der 
Leser,  der  an  Kants  Sprache  gewöhnt  ist,  ohne  Weiteres  die  Idealität  mit 
der  Apriorität  verquickt  finden  muss:  denn  er  drückt  den  Fall  so  aus,  dass 
B.  u.  Z.  „nur  an  der  Form  der  Anschauung  allein  haften'^  u.  s.  w.  „Form 
der  Anschauung'*  heisst  aber  bei  K.  immer  so  viel  als  apriorische  Form 
der  Anschauung,  und  so  würde  denn  Kant  hier  selbst  die  Ursprungs-  und 
die  Greltungsfrage  in  unklarer,  ungeklärter  Weise  mit  einander  vermischen. 
Allerdings  brauchen  wir  den  vorliegenden  Ausdruck  nicht  in  jener  starken 
Weise  zu  pressen ;  dann  wäre  hier  bei  Kant  nur  vob  der  Geltung  die  Rede, 
und  dann  bliebe  ihm  jener  Vorwurf  erspart  —  aber  nur  um  einem  anderen, 
noch  schwereren  Platz  zu  machen. 

Diesen  Vorwurf  hat  Trendelenburg,  welcher  doch  diese  Stelle  gründ- 
licher ansehen  musste,  nicht  erhoben,  obgleich  der  Vorwurf  sowohl  dem 
Logiker  als  dem  Historiker  hätte  nahe  liegen  müssen.  Kant  hat  hier  näm- 
lich noch  eine  weitere,  sehr  wichtige  Möglichkeit  übersehen,  auf  welche 
wir  in  der  obigen  Entwicklung  zunächst  keine  Rücksicht  genommen  haben, 
welche  aber  jetzt  für  sich  zu  discutiren  ist.  Wir  sagten  oben:  bezüglich 
der  Oeltung  gibt  es  „zunächst  nur  zwei  Ansichten": 

I.  Der  Raum  ist  etwas  Reales,  Objectives. 

II.  Der   Raum    ist   etwas   Nicht- Reales ,    somit    nur   Vorgestelltes, 
Ideales,  Subjectives. 

Zwischen  diesem  A  und  non-A  scheint  es  kein  Drittes  geben  zu  können: 
der  Raum  ist  entweder  real  —  oder  nicht-real.  Man  kann  hier  wieder  die 
Unzulänglichkeit  solcher  nach  dem  Gesetz  des  ausgeschlossenen  Dritten  auf- 
gestellten Disjunctionen  recht  deutlich  sehen:  die  Disjunction  hat  nur  dann 
Gültigkeit,  wenn  statt  „real"  gesetzt  wird  „absolut-real".  Denn  es  könnte 
ja  doch  sein,  dass  der  Raum  theils  real,  theils  nicht-real  wäre. 

Der  Fall  ist  ja,  im  Gegensatz  zu  den  beiden  anderen  Fällen,  leicht 
auszudenken.  Ist  der  Raum  nach  der  ersten  Annahme  real,  so  heisst  das: 
unserer  Raum  Vorstellung  entspricht  in  der  absoluten  Wirklichkeit  ein  ganz 
ebenso  geartetes  räumliches  Verhältniss  der  realen  Dinge.  Ist  der  Raum 
nach  der  zweiten  Annahme  nicht-real,  ideal,  so  heisst  das:  unserer  Raum- 
vorstellung entspricht  in  der  absoluten  Wirklichkeit  gar  nichts;  wir  haben 
in  der  Raum  Vorstellung  es  mit  einem  rein-subjectiven  Gebilde  zu  thun.  Nun 
ist  aber  doch  noch  folgender  Fall  denkbar:  unserer  Raum  Vorstellung  ent- 
spricht in  der  absoluten  Wirklichkeit  ein  zwar  nicht  ebenso  geartetes,  aber 
doch  analoges  Verhältniss  der  Dinge  an  sich.  Es  gibt  doch  zwischen  Alles 
und  Nichts  ein  Mittelding:  weder  Alles,  noch  nichts,  aber  Einiges.  Man 
kann  sich  nun  dieses  analoge  Verhältniss  der  Dinge  an  sich  wiederum 
verschieden  ausmalen,  darauf  kommt  es  aber  hier  zunächst  gar  nicht  an, 
sondern  nur-^uf  die  allgemeine  Möglichkeit,  dass,  wie  wir  den  Fall  ausdrücken 
können,  der  Raum  theils  real,  theils  ideal,  oder  wenn  wir  so  sagen  wollen, 
theils  objectiv,  theils  subjectiv  sei  in  dem  eben  festgelegten  Sinne. 


142  Excors.    Die  möglichen  FäUe. 

Dass  Kant  diese  Möglichkeit  übersehen  hat,  kann  ans  nicht  Wander 
nehmen:  wer  eine  neue  philosophische  Theorie  aufstellt,  wird  im  Eifer,  in 
der  Begeisterung  weder  nach  rechts,  noch  nach  links  blicken';  jene  rechts 
oder  links  liegenden  Wege  werden  ihm  von  vorneherein  als  Irrwege  er- 
scheinen ;  anstatt  den  Anderen  zuzurufen,  dass  sie  auf  falschen  Wegen  gehen, 
geht  der  grosse  Mann  mit  der  berechtigten  Einseitigkeit  eines  Genies  seinen 
eigenen  neuen  Weg  —  wenn  er  auch  jenen  Anderen  wieder  als  ein  Irrweg 
erscheinen  muss.  Solche  Rücksichtslosigkeit  ist,  wie  gesagt,  das  Vorrecht 
genialer  Naturen.  Dafür  ist  es  wieder  das  Vorrecht  der  gesunden  Durch- 
schnittsmenschen, zwischen  allen  jenen  Irrwegen  die  goldene  Mittelstrasse  zu 
wandeln,  und  die  Einseitigkeitsfehler  jener  stürmischen  Genies  in  ruhiger, 
nüchterner  Prüfung  zu  erkennen. 

Auf  dieses  letztere  Vorrecht  hat  Trendelenburg,  der  es  sonst  wohl  zu 
wahren  wusste,  in  diesem  speciellen  Falle  verzichtet.  Dieses  üebersehen  ist 
um  so  wunderlicher,  als  ja  nicht  bloss  schon  Leibniz  jenen  dritten  Fall 
angenommen  hatte,  sondern  auch  Herbart  und  Lotze  denselben  neuerdings 
wieder  vertreten.  Es  ist  merkwürdig,  dass  man  in  der  ganzen  Discussion 
über  die  Trendelenburg-Fischer'sche  Streitsache  nicht  auf  diesen  Punkt  zu 
sprechen  kam,  ja  dass  überhaupt  in  der  neueren  Kantliteratur  dieser  nahe- 
liegende Fall  nirgends  gründlich  abgehandelt  worden  ist.  Die  Kantliteratur 
des  vorigen  Jahrhunderts,  welche  der  heutigen  in  vieler  Hinsicht  qualitativ 
überlegen  ist,  hat  diesen  Punkt  sehr  eingehend  erörtert.  Und  mit  Recht. 
Denn  der  Punkt  ist  ausserordentlich  wichtig.  Wenn  Kant  diesen  Fall  nicht 
berücksichtigt  hat,  so  hat  er  nicht  bloss  an  dieser  Stelle  einen  enormen 
Fehler  gemacht,  sondern  sein  ganzes  System  schwebt  dann  in  der  Lnit 
Und  Kant  hat  allerdings  gerade  diesen  Fall  hier,  wie  sonst,  mit  Still- 
schweigen übergangen.  Seine  Aesthetik  ruht  von  vorneherein  auf  einer  un- 
vollständigen Disjunction.  Man  sieht  —  dieser  Vorwurf  lautet  ganz  ähnlich, 
wie  oben  der  Trendelenburg'sche ;  aber  er  betrifft  jetzt  einen  ganz  anderen  Fall. 

Dass  Kant  jene  Möglichkeit  übersehen  habe,  mussten  ihm  diejenigen, 
die  sich  an  Leibniz  hielten,  bald  zum  Vorwurf  machen  ^.    Niemand  hat  dies 


^  Weniger  günstig  beurtheilt  Ueberweg  jene  Einseitigkeit  Kants;  er  wirft 
es  demselben  (Logik  §  137)  Überhaupt  als  einen  allgemeinen  und  funda- 
mentalen Fehler  seines  Denkens  vor,  unvollständige  Disjunctionen  in 
seinen  Obersätzen  gemacht  und  deshalb  bei  den  entscheidenden  Punkten  seiner 
theoretischen  und  praktischen  Philosophie  immer  die  ,  dritte  Möglichkeit*  Qber- 
sehen  zu  haben. 

*  Schon  Lambert  hat  in  seiner  Recension  (1773)  von  Herz'  Betrachtungen 
(Allg.  D.  Bibl.  20,  228)  auf  diese  Möglichkeit  hingewiesen :  ,Wenn  man  annehmen 
will,  die  Begriffe  von  R.  u.  Z.  seien  Bilder,  unter  welchen  wir  uns  die  Dinge  tot- 
stellen,  so  sind  es  wenigstens  nicht  leere  Bilder,  weil  in  den  Dingen  selbst  noth- 
wendig  etwas  zu  Grunde  Hegt,  das  diesen  Bildern  durchaus  und  nach  allen  Modi- 
ficationen  entsprechen  muss,  so  dass  diese  Bilder  uns  durchaus  statt  dessen  dienen 
können,  was  in  den  Dingen  selbst  dabei  zum  Grunde  liegt.*  Unter  den  existirenden 
Dingen  müssen  solche  Verhältnisse  und  Verbindungen  sein,  welche  mit  den  Äum- 


Lamberts  Einwand:  unser  Raum  ein  SimvUacrum  des  wahren  Raumes.     143 

• 

besser  gethan,  als  Pistorius,  jener  (besonders  unter  den  Zeichen  Sg  und 
Wo  schreibende)  scharfsinnige  Recensent  in  Nicolai's  Allg.  Deutscher  Biblio- 
thek. Von  seinen  Recensionen  kommen  besonders  in  Betracht  die  in  jeder 
Hinsicht  meisterhaften  Besprechungen  von  Schulze's  Erläuterungen,  von 
Jacobs  Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgenstunden  und  von  Schmids 
Abhandlung  gegen  Seile  (Bd.  66 ,  St.  1 ;  87,  St.  2 ;  88 ,  St.  1 ;  vgl.  St.  2, 
S.  153).  Es  heisst  da:  ,R.  u.  Z.  können,  ehe  man  über  ihre  Natur  irgend 
etwas  ausmacht,  vorlaufig  als  Vorstellungen  in  der  menschlichen  Seele  be- 
trachtet werden,  von  denen  es  gleichfalls  vorläufig  kann  angenommen  werden, 
dass  sie  entweder  bloss  subjectiv,  oder  bloss  objectiv,  oder  endlich  beides, 
subjectiv  und  objectiv  zugleich  sind.  Dies  sind  die  drei  Hypothesen ,  die 
über  die  Begriffe  von  R.  u.  Z.  möglich  sind  .  .  .  Man  muss  den  wahren  Sinn 
jeder  von  den  drei  möglichen  Hypothesen  darstellen  und  von  der  sich  auch 
hier  einmischenden  Vieldeutigkeit  befreien."  Die  erste  Hypothese  sei  die 
Eantische,  die  zweite  die  Newton'sche,  die  dritte  die  Leibniz'sche. 
Die  erste,  die  Kantische  Hypothese,  lehrt:  „Dass  wir  die  Subjecte  im 
Räume  anschauen,  dies  rührt  lediglich  von  der  besonderen  Bildung  und  Ein- 


lichen  und  zeitlichen  eine  ,  durchgängige  Vergleichung"  zuliessen.  In  diesem  Sinne 
muss  insbesondere  unser  Raum  ein  „Simulacrum"  des  wahren  Raumes  sein. 
Genau  dasselbe  hatte  Lambert  aber  auch  schon  in  seinem  Briefe  an  Kant  vom 
Dec.  1770  gesagt,  und  ausdrücklich  gewünscht:  „Ich  dächte,  das  simulacrum 
spatii  et  temporis  in  der  Gedankenwelt  könnte  bei  Ihrer  vorhabenden  Theorie  ganz 
wohl  mit  in  Betrachtung  kommen.*  —  Aehnlich  hatte  auch  Mendelssohn  in 
seinem  Briefe  an  K.  vom  23.  Dec.  1770  bezüglich  der  Zeit  geäussert:  „Die  Zeit 
ist  nach  dem  Leibniz  ein  Phaenomenon  und  hat,  wie  alle  Phänomene,  etwas 
Objectives  und  etwas  Subjectives.*  Schwankend  äussert  sich  Herz  in 
seinen  Betrachtungen,  S.  44.  64.  75.  81.  123. 

üebrigens  hatte  Kant  das  Problem  in  der  Dissertation  gestreift;  er  fragt 
§16  ausdrücklich:  quonam  principio  ipsa  haec  relatio  omnium  substantiarum  nitatur, 
quae  intuitive  spectata  vocatur  spatium  ?  Dem  von  uns  wahrgenommenen  spatium 
entspricht  also  eine  ipsa  substantiarum  relatio.  Er  beantwortet  die  subtilis 
quaestio  dahin,  dass  die  Verbindung  aller  Erscheinungen  im  Raum  ein  Gegenbild 
der  Verbindung  aller  Substanzen  in  dem  Urwesen  sei,  ideoque  spatium,  quod  est 
conditio  universalis  et  neeessaria  compraesentiae  omnium  sensitive  cognita,  diei  potest 
omnipraesentia  phaenomenon.  (§  22  Scholion,)  Doch  will  Kant  auf  solche  indaga- 
tiones  mystieas  (welche  nicht  bloss,  wie  Kant  sagt,  an  Malebranche,  sondern  noch 
viel  mehr  an  Swedenborg  erinnern)  nicht  näher  eingehen;  und  bemerkt  nur  noch 
einmal  (§27)  ausdrücklich,  es  sei  (wie  schon  Euler  gesehen  habe)  dem  intellectus 
humanus  unmöglich,  diejenigen  relationes  externas  bei  den  substantiis  immaterialibus 
zu  erkennen ,  welche  dem  Raum ,  der  Bedingung  der  Beziehung  der  materiellen, 
aber  nur  erscheinenden  Dinge  entsprechen.  —  Kant  erkennt  also  relationes  der 
Dinge  an  sich  an,  welche  dem  Raum  correspondiren,  hält  sie  aber  für  unerkennbar. 
Dem  gegenüber  bleibt  der  Einwand  Lamberts  aber  doch  immer  noch,  ja  um  so 
mehr  im  Recht,  dass  von  den  räumlichen  Beziehungen  der  Erscheinungen  auf  die 
wahren  Beziehungen  der  Dinge  an  sich  —  wenigstens  bis  zu  einem  gewisse  Grade  — 
ein  Analogieschluss  erlaubt,  ja  geboten  ist. 


144  Excurs.    Die  möglichen  Fälle. 

richtung  nnseres  Geistes  her,  ist  lediglich  hierin  und  keineswegs  in  den  Ob- 
jecten,  oder  in  irgend  einer  Beschaffenheit  nnd  in  ihnen  zugehörigem  Prädicat 
begründet." 

Die  andere  Hypothese  will  sagen:  „B.  n.  Z.  sind  für  sich  auch  ausser 
unserer  Vorstellungskraft  und  gänzlich  von  derselben  unabhängige,  för  sieb 
bestehende  Dinge,  etwa  das  Convolut,  worin  die  Dinge  existiren,  oder  es 
sind  wenigstens  beständige  und  inhärirende  Eigenschaften  der  Dinge  an  sich.' 

„Endlich,  wie  ist  die  dritte  Hypothese,  dass  die  Vorstellungen  von 
Raum  und  Zeit  beides  zugleich  subjectiv  und  objectiv  sind,  zu  ver- 
stehen? Ohne  Zweifel  so,  dass  man  zugestellt,  dass  irgend  eine  Eigenheit 
in  der  Natur  der  menschlichen  Vorstellungskraft  den  Grund  enthalte,  warum 
wir  uns  die  Objecto  in  Baum  und  Zeit  vorstellen  müssen ;  aber  da  diese 
Vorstellungen  auch  objectiv  sein  sollen,  so  wird  Obiges  so  eingeschränkt^ 
dass,  jener  Eigenheit  des  menschlichen  Geistes  ohnerachtet,  doch  nie  eine 
Vorstellung  von  B.  u.  Z,  in  demselben  entstehen  würde,  wenn  nicht  in  den 
Gegenständen  selbst  ein  Grund  und  eine  Veranlassung  dazu  läge/ 

Diese  Mittelhypothese  sei  nicht  nur  „eine  verständliche  und  denk- 
bare Hypothese*,  sondern  „sie  wird  uns  auch  bald  die  wahrscheinlichste 
unter  den  dreien  werden,  weil  derjenige,  der  sie  annimmt,  durch  alle  die 
Gründe,  welche  sich  die  Anhänger  der  beiden  anderen  entgegensetzen,  gar 
nicht  in  Verlegenheit  gesetzt  wird,  sondern  alles,  was  beide  Parteien,  an 
deren  Spitze  Newton  und  Kant  stehen,  für  sich  anfuhren,  sehr  gut  erklären, 
und  mit  seiner  Mittelhypothese  vereinigen  kann*.  P.  zeigt  im  Einzelnen, 
dass  diese  Hypothese  sich  nicht  bloss  mit  den  Kantischen  Argu- 
menten für  die  Apriorität  der  Baumvorstellung  ganz  gut  ver- 
trage, sondern  auch  eine  Beihe  von  Vortheilen  biete,  welche  der  Kantischen 
Hypothese  abgehen  *. 

Es  ist  selbstverständlich,  dass  Pistorias  jene  „Mittelhypothese*  auch 
auf  die  Kategorien  und  Ideen  ausdehnt.  Auch  diese  sind  ihm  nicht  bloss 
subjectiv,  sondern  „subjectiv  und  objectiv  zugleich*  in  dem  oben  festgesetzten 
Sinne.  „Analogische  Belationen*  müssen  zwischen  den  Dingen  an  sieb 
bestehen,  wie  wir  sie  z.  B.  im  Causalgesetz  zwischen  den  Erscheinungen  an- 
nehmen. In  der  objectiven  Welt  „muss  Aehnliches  oder  Entsprechendes 
stattfinden  * . 

Es  ist  nun  ebenso  bemerkenswerth  als  natürlich,  dass  in  Bezug  auf 
die  Verstandesbegriffe  sich  die  Annahme  „an alogischer  Belationen*  der 
Dinge  an  sich  immer  mehr  in  die  Annahme   vollständiger  Harmonie   ver- 


^  Eine  naturgemässe  (obgleich  nicht  absolut  nothwendige)  Er^nzung  dieser 
Theorie  ist  es  übrigens,  dass,  wie  die  Gültigkeit  der  Baumvorstellung  ,theils 
subjectiv,  theils  objectiv"  geworden  ist,  auch  ihr  Ursprung  nicht  mehr  rein  im 
Subjectiven  gesucht  werden  kann.  Nach  Pistorius  ist  denn  auch  (ähnlich  wie  bei 
Lotze)  zwar  die  Räumlichkeit  auch  eine  specifische  Function  des  Subjects,  aber 
sowohl  die  allgemeine  Natur  als  die  specielle  Anwendung  jener  Function  wird  durch 
die  Objeete  mitbedingt.  Insofern  haben  die  Vorstellungen  von  R.  u.  Z.  eine  »ver- 
mischte Natur",  sie  sind  theils  apriorisch,  theils  empirisch;  sie  haben  eine  ^ Mittelnatur.* 


Pistorius*  , Mittelh jpoth ese * :  Analögische  Relationen  der  Dinge  an  sich.     1 45 

wandelt.    «Diese  Gesetze  der  Natur  sind  zugleich  Gesetze  des  menschlichen 
Denkens,  die  der  Geist  aus  seiner  Natur  a  priori  schöpft/ 

Während  nun  also  Pistorius  in  Bezug  auf  die  Yerstandesbegriffe  sich 
zur  Annahme  einer  vollständigen  prästabilirten  Harmonie  zwischen 
den  apriorischen  Yerstandesgesetzen  und  den  wirklichen  Verhältnissen  der 
Dinge  an  sich  hinneigt,  bleibt  er  in  Bezug  auf  Baum  und  Zeit  auf  dem 
oben  genau  präcisirten  Standpunkt  einer  bloss  partiellen  Correspondenz 
stehen.  Er  versichert  ausdrücklich  und  mehrfach,  dass  er  B.  u.  Z.  nicht  auf 
die  Dinge  an  sich  selbst  übertragen  wolle,  dass  er  vielmehr  nur  bis  zu  der 
Annahme  gehe,  dass  den  räumlichen  und  zeitlichen  Verhältnissen  der  Er- 
scheinungen gewisse  , analogische  Relationen^  der  unräumlichen  und 
unzeitlichen  Dinge  an  sich  entsprechen. 

Pistorius  beklagt  sich  bitter,  dass  nicht  bloss  Kant  selbst  diese  Hypo- 
these ganz  übergangen  habe,  sondern  dass  auch  seine  Anhänger  auf  die- 
selbe gar  nicht  eingingen.  „Diese  Herren,  so  laut  und  dringend  sie  an- 
fangs um  Prüfung  des  neuen  Systems  angehalten  haben,  scheinen  dergleichen 
jetzt  gar  nicht  zu  lesen  oder  zu  beachten ;  sie  sind  sich  im  Voraus  bewusst^ 
ihre  Sätze  apodiktisch  erwiesen  zu  haben:  was  kann  es  also  anderes  als 
Missverstand  und  schwache  Muthmassung  sein,  was  ihren  Demonstrationen 
entgegengesetzt  wird?*  Einen  Beweis  davon  liefere  eben  Jacob,  der  zwar 
in  seinem  Buche  gegen  Mendelssohn  diese  Mittelhypothese  zu  erwähnen 
scheine,  aber  ganz  und  gar  nicht  in  der  richtigen  Weise. 

Jacob  erwähnt  und  prüft  in  der  That  in  seiner  „Prüfung"  S.  26  die 
von  einem  der  Mitunterredner  vorgebrachte  Möglichkeit,  dass  „die  in  der 
Natur  unserer  Seele  selbst  gegründeten  Vorstellungen  von  K.  u.  Z."  „den 
Dingen  selbst  jedesmal  correspondirten*.  Zu  dieser  Stelle,  welche  noch  unten 
zu  A  26  (Schluss  a)  näher  zu  besprechen  ist ,  bemerkt  aber  Pistorius  ganz 
treffend,  dass  „jener  Einfall  mit  seiner  Mittelhypothese  einige  Aehnlichkeit 
habe,  insofern  nach  beiden  Baum  und  Zeit  nicht  bloss  subjectiv,  sondern 
auch  zugleich  objectiv  angenommen  werden;  aber  sonst  ist  zwischen 
beiden  doch  noch  ein  grosser  Unterschied.  Des  Herrn  Jacob  Zuhörer 
meint,  auch  ausser  der  Seele  existire  Raum  und  Zeit,  als  für  sich  bestehende 
Dinge  oder  als  wesentliche  Eigenschaften  der  Dinge  an  sich ;  nach  meiner 
Hypothese  findet  sich  bloss  in  den  Dingen  an  sich  ein  objectiver  Grund, 
woraus  in  so  gebildeten  und  eingeschränkten  Denkkräften ,  als  die  mensch- 
lichen, die  Vorstellung  von  R.  u.  Z.  resultirt." 

Es  werde  Jacob  „sehr  leicht,  den  Einfall  seines  Zuhörers  von  der  Hand 
zu  weisen*.  Aber  alle  seine  Gegengründe  treffen  jene  Pistorius'sche  Mittel- 
hypothese „nicht  im  geringsten".  Denn  diese  ist  ja  mit  Kant  darin  einig, 
dass  der  Baum  nicht  den  Dingen  an  sich  angehöre,  aber  sie  verlangt  aller- 
dings ein  reales  Aequivalent  für  das  Baumverhältniss  in  den  analogen 
Verhältnissen  der  unräumlichen  Dinge  an  sich. 

Es  ist  nun   allerdings  durchaus  nothwendig,   den  schon  von  Pistorius 
in  dieser  Weise  betonten  Unterschied  jener   beiden  Mittelhypothesen  festzu- 
halten.    Nennen  wir  beide  der  Kürze  halber  die  Trendelenburg'sehe  und 
Taihinger,  Kant-Gommentar.    II.  10 


146  Excurs.    Die  mdglichen  Fälle. 

die  Pistorius'sche.  Die  von  Trendelenburg  wieder  vertretene  Hypothese 
lehrt:  Der  Raum  ist  subjectiv  und  objectiv  zugleich,  d.  h.  er  ist  erstens 
eine  apriorische  Vorstellung ,  und  ihm  entspricht  zweitens  die  objective 
Realität  der  Dinge  gänzlich.  Die  von  Pistorius  vertretene  Hypothese  ge- 
braucht auch  den  Ausdruck:  Der  Raum  ist  subjectiv  und  objectiv  zugleich, 
aber  sie  versteht  darunter,  dass  jener  apriorischen  Raum  Vorstellung  in  uns 
nur  ein  analoges  Yerhältniss  der  un räumlichen  Dinge  an  sich  entspreche. 
Und  was  die  Hauptsache  ist  —  Kant  hat  jene  beiden  Möglichkeiten  über- 
sehen, nicht  bloss  die  Trendelenburg'sche ,  sondern  auch  —  darauf  kommt 
es  hier  an  —  die  Pistorius'sche ! 

Die  Pistorius'sche  Hypothese  ist,  wie  er  selbst  oft  bemerkt,  nichts 
anderes  als  die  Leibniz'sche.  Und  so  ist  zu  erwarten,  dass  auch  die 
anderen  Leibnizianer  jener  Zeit  denselben  Einwand  werden  gemacht  haben. 
Dies  ist  denn  auch  der  Fall.  Insbesondere  Eberhard  und  seine  Freunde 
wurden  nicht  müde,  Kant  jenes  Versäumniss  vorzurücken.  Aber  Pistorius 
hat  jenen  Einwand  nicht  nur  zeitlich  früher  erhoben,  als  jene,  sondern  er 
hat  die  Hypothese  auch  logisch  consequenter  dargestellte  Eberhard  hat 
nämlich  jene  beiden,  oben  scharf  geschiedenen,  ^Mittelbypothesen*  fast  durch- 
gängig mit  einander  vermischt.  Bald  ist  ihm  die  Welt  der  Dinge  an  sich 
unräumlich,  aber  sie  hat  eine  derartige  Verfassung,  dass  ihre  unräumlichen, 
intelligibeln  Verhältnisse  ein  relatives  Analogen  zu  jenen  sinnlichen 
Raumverhältnissen  darstellen.  Bald  sind  ihm  die  Dinge  an  sich  doch  selbst 
auch  räumlich,  so  dass  zwischen  vorgestellter  und  wirklicher  Welt  eine 
mehr  oder  minder  vollständige  Harmonie  besteht. 

Es  kann  hier  nicht  gezeigt,  sondern  nur  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  dieses  Schwanken  Eberhards  nicht  ihm  allein  zur  Last  f^llt,  sondern 
fast  der  ganzen  Leibniz'schen  Schule  eigen thümlich  ist.  Es  ist  dies  schon 
an  einem  anderen  Orte  nachgewiesen  worden,  s.  Strassburger  Abhandlungen 

^  In  einer  ebenso  consequenten  Weise  vertrat  diesen  Standpunkt  übrigens 
auch  Br astberge r,  welcher  unermüdlich  wiederholt,  dass  die  Erscheinungen  und 
ihre  Verhältnisse  in  „Urdingen"  begründet  sein  müssen,  deren  Wesen  uns  «war 
unbekannt  sei,  von  denen  wir  aber  wenigstens  so  viel  sagen  können,  dass  sie  .nach 
Analogie  der  JCrscheinungen**  (430)  zu  denken  sind,  unsere  Erscheinungswelt  ist 
also  nur  ein  subjectiv  gefärbtes  „Nachbild"  jenes  ^fremden  Realgrundes ",  welcher 
als  „Urbild"*  zu  bezeichnen  ist  (56,  256;  78,  265).  Dieser  Realgrund  mnss  der 
Erscheinung  „entsprechen*.  Aber  in  den  Erscheinungen  liege  doch  eine  ,In- 
dication"  (25Ü)  auf  die  Dinge  an  sich  und  deren  Verhältnisse  (deren  speciellere 
Bestimmung  aber  Br.  dem  Dogmatismus  wiederum  heftig  abstreitet;  vgl.  Phil. 
Arch.  I,  4,  91  ff.  II,  1,  70  ff. ;  2,  60  ff.).  Aehnlich  (man  möchte  sagen :  Herbartisch) 
drückt  sich  auch  Bornträger  aus,  welcher  zwischen  subjectivem  und  objectivem 
Schein  unterscheidet,  und  vom  Letzteren  sagt,  „wo  successive  Veränderungen  des 
Scheins  sind,  müssen  sich  auch  successive  Veränderungen  des  erscheinenden 
Dinges  finden".  Aehnliche  Wendungen  gebraucht  auch  Abel  in  seiner  Meta- 
physik S.  94—98.  Eine  ähnliche  Stellung  nahm  auch  Ulrich  ein  (InstUutUmes 
S.  235—240.  260  ff.  312  ff.),  nach  welchem  wenigstens  unseren  zeitlichen  und  causalen 
Vorstellungen  etwas  in  den  Dingen  an  sich  entsprechen  (respondere)  muss. 


Eberhards  Theorie  der  .objectiven  Gründe*  des  Raumes.  147 

zur  Philos.  1884,  S.  108  ff.  Nach  Leibniz  sind  die  Dinge  an  sich  die 
Monaden.  Aber  es  gibt,  schon  bei  Leibniz,  zwei  wesentlich  verschiedene 
Fassangen  des  Monadenbegriffs:  man  kann  sie  als  die  metaphysische  nnd 
als  die  naturphilosophiscbe  Fassung  unterscheiden.  Nach  der  ersteren 
Fassung  sind  die  Monaden  wahrhaft  metaphysische  Punkte,  rein  intelligible 
Substanzen  ohne  jegliche  Materialität.  Diese  immaterielle  Welt  rein  geistiger 
Substanzen  steht  in  gewissen,  ebenfalls  rein  geistigen  Verhältnissen,  die  sich 
in  dem  vorstellenden  Subject,  und  rein  nur  in  diesem,  als  eine  ausgedehnte, 
materielle  Welt  darstellt.     Dies  ist  die  strengere  Fassung  der  Monaden. 

Aber  nach  jener  zweiten,  laxeren  Fassung  stellt  sich  die  Sache  ganz 
anders :  zwar  die  Monaden  als  solche  sind  auch»  noch  immaterieller  Natur, 
aber  ihr  factisches  Zusammen  macht  nun  objectiv  die  materielle  Welt  aus. 
Und  diese  materielle  Welt  ist  eine  objective,  real  vorhandene  Wirkung  jener 
Monaden,  nicht  bloss  eine  subjective  Wirkung  in  uns. 

Man  sieht  nun,  dass  und  wie  jene  beiden  von  Eberhard  vermischten 
Mittelbypothesen  genau  diesen  beiden  Fassungen  der  Monaden  entsprechen, 
und  entsprechen  müssen. 

Jene  unklare  Vermischung  bei  Eberhard  kommt  nun  bei  ihm  in 
drei  verschiedenen  Darstellungs weisen  seines  „Philosophischen  Magazins '^ 
zum  Vorschein. 

1)  An  den  meisten  Stellen  drückt  er  sich  unklar  und  unbestimmt 
aus,  so  bes.  I,  169  ff.  281—289  (ähnlich  auch  Maass  ib.  I,  119.  125).  Mit 
besonderer  Vorliebe  wird  der  unbestimmte  Ausdruck  gebraucht,  die  Vor- 
stellung des  E.  habe  nicht  bloss  subjective,  sondern  » zugleich"  auch  „ob- 
jective Gründe",  I,  248.  258-262.  265.  803—305.  832.  350.  375.  376. 
386.  895.  400.  469;  II,  51.  53.  54.  72.  73.  186;  III,  276-279.  438.  Auch 
der  Leibniz'schen  Formel  begegnen  wir,  der  Raum  sei  ein  Phaenomenon  bene 
fundatum,  I,  399.  40:1.  435;  II,  499. 

2)  An  einzelnen  Stellen  tritt  deutlich  die  Wendung  auf,  dass  jene 
objeetiven  Gründe  gänzlich  unräumlich  seien,  dass  das  Räumliche  nur 
der  menschlichen  Vorstellung  angehöre;  so  I,  146.  305.  308.  478.  479. 

3)  Häufiger  tritt  die  entgegengesetzte  deutliche  Wendung  auf,  so 
I,  121.  148.  268.  480—487;  II,  55  ff.  68;  III,  106.  Es  heisst  da  ausdrück- 
lich: ],Bei  dem  Bilde  des  Raumes  sind  die  objeetiven  Gründe  die  neben  und 
ausser  einander  seienden  Substanzen,  die  durch  gegenseitige  Einwirkung  mit 
einander  verknüpft  sind."  Diese  Monaden  bringen  eben  durch  diese  ihre 
reale  Verknüpfung  objectiv,  also  noch  ohne  vorstellendes  Subject,  ein 
räumlich  ausgedehntes  Zusammengesetztes  hervor  \ 

*  Einmal  tritt  eine  Wendung  auf,  in  welcher  eine  Synthese  jener  beiden 
entgegengesetzten  Auffassungen  versucht  wird.  Diese  Wendung  ist  um  so  merk- 
würdiger, als  sie  später,  vielleicht  unter  dem  Einfluss  dieser  Stelle,  von  Herbart 
acceptirt  worden  ist ;  es  heisst  11 ,  66  f. :  „Die  Bilder  von  R.  u.  Z.  sind  allerdings 
keine  Bestimmungen  von  Dingen  an  sich,  sondern  von  Erscheinungen,  da  sie  ausser 
dem  Objeetiven  noch  etwas  Subjectives  erfordern.  Allein  der  intelligible  Raum 
und   die  intelligible   Zeit  oder   die   Verknüpfung   der   Substanzen  selbst  und 


148  Excurs.    Die  möglichen  Fälle. 

Hieraus  erklärt  sich  nun  auch  die  Stellung  Kants  zu  der  ganzen 
Frage  in  seiner  Streitschrift  gegen  Eberhard.  Da  ihm  bei  diesem  jene  an 
sich  so  berechtigte  Mittelhypothese  in  einer  so  verworrenen  Weise  entgegen- 
getreten war,  glaubte  er  sich  der  Mühe  überhoben,  auf  diese,  seiner  eigenen 
Theorie  so  gefllhrliche  Mittelhypothese  näher  einzugehen.  In  seinen  nach- 
gelassenen Papieren  (bei  Beicke,  Lose  Blätter  I,  150  ff.)  findet  sich  allerdings 
ein  Zettel,  auf  welchem  er  jener  Mittelhypothese  gedenkt  (darüber  unten  zu 
A  26  zum  Schluss  a),  aber  in  der  Streitschrift  selbst  ist  er  über  den  Einwand 
fast  stillschweigend  hinweggegangen  oder  besser  hinweggeglitten.  Er  drehte 
vieiraehr  den  Spiess  um,  und  erhob  gegen  Eberhard  den  Einwand,  die  letzten 
sinnlichen  T heile  der  Materie  mit  den  überhaupt  nicht  mehr  sinnlich  erkenn- 
baren übersinnlichen  Dingen  an  sich  verwechselt  zu  haben  vermittelst  des 
zweideutigen  Ausdruckes  „objectiver  Gründe*  *  (vgl.  darüber  unten  zu 
A  43  ff.  über  Leibnizens  Verfälschung  des  Begriffes  der  Sinnlichkeit).     Kant 


ihrer  successiven  Zustände  sind  allerdings  Bestimmungen  von  Dingen  an  sich* 
Gegen  diese  Wendung,  welche  damals  neu  gewesen  zu  sein  scheint,  polemisirt 
Schultz  in  seiner  Prüfung  II,  11  ff.  18  ff.  98  ff.  105  ff.,  der  aber  wieder  in  Eber- 
stein II,  205  ff.  seinen  Gegner  findet.  Etwas  Aehnliches  wollte  Zwanziger 
S.  11  ff.  Auch  Platner  spricht  in  diesem  Sinne  von  einem  , idealen  Räume*,  im 
Unterschied  vom  „ empirischen"  (Aphor.  3.  A.  437).  Aus  solchen  Ansätzen  heraus 
hat  Herbart  seine  Lehre  vom  intelligibeln  Baume  entwickelt;  dass  er  dabei 
hauptsächlich  von  Eberhard  beeinflusst  gewesen  ist,  ist  sehr  wahrscheinlich ;  in  viel- 
facher Hinsicht  erinnert  Herbarts  Eantkritik  an  die  Eberhard'sche ;  schon  Eb.  ver- 
tritt energisch  das  Princip  der  , mittelbaren  Erfahrung"  (Archiv  I,  1,  86.  119  ff.; 
2,  43;  II,  2,  119);  auch  das  bekannte  Schlagwort,  in  welchem  Herbart  gegen  Kant 
den  Rückschluss  von  den  Erscheinungen  auf  die  Dinge  an  sich  zusammenfasst: 
Wo  Rauch,  da  Feuer  —  findet  sich  schon  bei  Eberhard,  Archiv  H,  4,  53. 

'  Bei  dieser  Gelegenheit  liess  sich  Kant  eine  Unvorsichtigkeit  zu  Schulden 
kommen,  welche  zu  vielen  Miss  Verständnissen  Anlass  gegeben  hat.  Er  sagt  näm- 
lich (Ros.  I,  427):  „Herr  Eberhard  sagt:  Raum  und  Zeit  haben  ausser  den  sub- 
jectiven  auch  objective  Gründe,  und  diese  objectiven  Gründe  sind  keine  Erschei- 
nungen, sondern  wahre  erkennbare  Binge,  ihre  letzten  Gründe  sind  Dinge  an 
sich,  welches  alles  die  Kritik  buchstäblich  und  wiederholenüich  gleichfalls  be- 
hauptet." War  schon  die  Anerkennung  des  vieldeutigen  Ausdruckes  ,  Gründe" 
nicht  vorsichtig,  so  ist  die  Anerkennung  ihrer  „Erkennbarkeit"  offenbar  eine  auf 
Uebereilung  beruhende  Unvorsichtigkeit.  Eberhard  hat  denn  auch  auf  diese  Stelle 
immer  wieder  triumphirend   hingewiesen  (Mag.  III,  214.  259.  272.  299.  412.  434: 

IV,  190.  194.  212.  307.  491.    Archiv  1,2,   41;   4,  64;   II,  2,  103).    Ebenso  wird 

V.  Eberstein  nicht  müde,  darauf  Überall  mit  dem  Finger  hinzudeuten  (II,  ItH. 
183.  189.  224.  248.  259.  399.  454.  495.  502).  Den  Kantianern  war  dies  unbequem, 
und  so  behauptete  der  Receneent  Ebersteins  in  der  A.  L.  Z.  1799,  N.  340,  u.  Intell.- 
Bl.  N.  165,  es  sei  das  ein  „Seh  reib  versehen"  Kants.  Darüber  entstand  eine  lange 
Debatte,  in  welche  sich  auch  Schwab  mischte  (s.  Vorrede  zu  seiner  ,Vergleichung 
des  K.'schen  Moralprincips"  u.  s.  w.  1800,  XIX— XXXVII,  und  desselben:  .üeber 
die  Wahrheit  der  K.'schen  Philos.  und  über  die  Wahrheitsliebe  der  A.  L.  Z,  zu 
Jena"  1803,  S.  2  ff.).  Der  Angriff  der  Anti-Kantianer  auf  die  Stelle  war  kleinlich, 
die  Vertheidigung  derselben  durch  die  Kantianer  sophistisch. 


Unklarheit  Eberhards  u.  A.  über  den  , dritten  Fall".  149 

wies  eben  damit  jenen  oben  ausführlich  erörterten  Fehler  Eberhards  nach, 
dass  er  das  transscendente  Aequivalent  unserer  Raumvorstellung  bald  als 
wirklich  objectives  räumliches  Reales  fasste,  bald  als  rein  geistige,  aber 
in  analogen  Verhältnissen  befasste  Monaden  weit. 

Merkwürdig  ist  das  weitere  Verhalten  Eberhards.  In  den  ersten  Er- 
widerungen that  er,  als  ob  er  das  transscendente  Aequivalent  unserer  vor- 
gestellten Baumwelt  stets  nur  in  dem  rein  geistigen  Sinne  verstanden  hätte. 
Baum  und  Zeit  seien  ihm  allerdings  Phaenomena  bene  fundata  (III,  254. 
274.  412 ;  vgl.  Archiv,  II,  8,  48),  aber  die  diesen  Phänomenen  entsprechende 
Bealität  sei  rein  unsinnlich ,  übersinnlich ,  einfach ,  dies  Einfache  sei  kein 
Theil  der  Erscheinung;  alles  Bäumliche  sei  blosse  Erscheinung  (III,  167. 
170  flF.  251  ff.  420  ff.).  Allein  bald  verfiel  er  doch  wieder  in  die  andere 
Tonart;  so  heisst  es  IV,  82:  „Der  Baum  ist  ein  objectives  Verhältniss,  das, 
ohne  Bücksicht  auf  unsere  Sinnlichkeit,  den  Dingen  an  sich  zukömmt.  Nur 
heisst  das  nicht:  ein  Ding  an  sich  ist  selbst  räumlich  und  ausgedehnt, 
sondern  ein  Ganzes  von  Dingen  an  sich  ist  ausgedehnt."  Vgl.  IV,  496  ff. 
Aehnliches  Schwanken  in  Eberhards  Metaphysik,  1794,  S.  2  ff.  51  ff. 

Während  also  Eberhard  so  über  das  reale  Aequivalent  der  subjectiven 
Baum  Vorstellung  schwankt,  drückt  er  sich  —  was  hier  zur  Ergänzung  noch 
angeführt  sein  mag  —  über  die  prästabilirte  Harmonie  zwischen  den 
Denkformen  und  den  realen  Gesetzen  der  Dinge  an  sich  naturgemäss  immer 
sehr  bestimmt  aus:  dass,  jene  subjectiven  Verstandesbegriffe  auch  zugleich 
objective  Geltung  besitzen,  ist  ihm  unzweifelhaft.  Vgl.  z.  B.  I,  150  ff.,  bes. 
245  ff.;  II,  222  ff.  (wo  Maass  mit  Bezug  auf  Krit.  A  92  ausdrücklich  den 
„dritten  Fall"  der  prästabilirten  Harmonie  fordert  und  vertritt);  III,  182  ff. 
195  ff. ;  IV,  86  ff.  173  ff.  201 ;  und  bes.  Archiv  1 ,  2 ,  85  ff.  (wo  Eberhard 
unter  Polemik  gegen  Krit.  B  166  den  von  Kant  verworfenen  „dritten  Fall* 
als  seine  Meinung  vertritt) ;  vgl.  II,  1,  62  ff.  u.  ö. 

Diesen  „dritten  Fall"  vertritt  nun,  wie  wir  hinreichend  sehen,  Eber- 
hard auch  in  Bezug  auf  die  Baum  Vorstellung,  wobei  es  ihm  aber  passirt, 
dass  er  zwei  sehr  verschieden werthige  Formen  desselben  immer  wieder  mit 
einander  vermischt,  zwei  Formen,  die  wir  der  Kürze  halber  als  die  Tren- 
delenburg'sche  und  als  die  Pistorius'sche  unterschieden  haben. 

Das  Vorhandensein  dieser  Unklarheit  bei  Eberhard  gesteht  übrigens 
sein  Freund  Eberstein  zu,  II,  229  ff.  (cfr.  183.  190.  205.  222.  339;  dazu 
I,  93.  200.  400  über  Cochius,  der  diesen  Fehler  der  Leibnizianer  vermieden 
habe;  cfr.  II,  391  über  Platner). 

Dieselbe  unklare  Vermischung  zeigen  nun  die  meisten  damaligen  Gegner 
Kants.  So  schon  Mendelssohn;  dann  Beimarus  (Menschl.  Erk.  S.  50  ff. 
69  ff.),  Feder,  Baum  u.  Causalität,  S.  61-109;  Phil.  Bibl.  I,  20;  II,  227; 
bes.  III,  131  ff.,  wo  F.  gegen  den  Kantianer  Schaumann  den  „dritten  Fall" 
geltend  macht,  153  ff.  187;  IV,  11.  29.  32.  48  ff.;  ähnlich  Garve;  vgl.  Stern, 
Beziehungen  Garve's  zu  Kant,  S.  53  ff.  57  ff.  Ferner  Tiedemann,  bes.  in 
seinem  „Theätet",  welcher  nach  Vorr.  VIII— XIV  speciell  zu  dem  Zweck 
geschrieben  ist,  um  jenen  von  Kant  übersehenen  „Fall'*  zu  erweisen;  s.  bes. 


150  Excurs.     Die  möglichen  Fälle. 

S.  8.  19—34.  47.  59.  84  ff.,  wo  in  Kants  Eintheilung  eine  ,  Lücke"  gefunden 
wird,  89  (Leibnizisch),  103  ff.  111  ff.  312  ff  402.  481.  Dieselbe  Vermischung 
auch  bei  Seile  in  seinen  „Grandsätzen  d.  r.  Phil.**,  bes.  S.  41  ff.,  und  sonst; 
ebenso  bei  Platner,  Aphor.  3.  A.  I,  Vorr.  XI;  420  ff.  436  ff.;  bei  Weis- 
haupt in  den  in  der  „ Literaturübersicht "  angeführten  Schriften;  vgl.  auch 
desselben  , Wahrheit  und  Vollkommenheit«,  1793,  S.  151.  219  ff.  231  ff.,  so 
bei  Stattler,  Schönberger  u.  v.  A. 

Dass  Kant  jene  beiden  Möglichkeiten,  sowohl  die  Trendelenbnrg'sche 
als  die  Pistorius'sche,  übersehen  hat,  ist  kein  Zweifel.  Der  Nachweis,  dass 
er  die  Trendelenburg'sche  übersehen  hat,  wird  unten  zu  A  26  (Schluss  a) 
geführt  werden,  wo  es  sich  eben  um  den  Zusammenhang  handelt,  in  welchem 
nach  Kant  die  Apriorität  der  Baumvorstellung  und  ihre  Subjectivität 
stehen,  welches  beides  Kant  ohne  Weiteres  gleich  setzt.  Aus  dieser  Gleich* 
Setzung  erklärt  sich  ebenfalls  das  Uebersehen  der  Pistorius 'sehen  Möglichkeit, 
d.  h.  der  Leibniz'schen ,  nach  der  strengeren,  rein  metaphysischen  Fassung 
seiner  Monadenlehre. 

Nun  hat  Kant  allerdings  die  Leibniz'sche  Baumtheorie  in  seiner 
Aesthetik  besprochen  und  sogar  zwei  Mal,  A  39  ff.  und  43  ff.  (vgl.  A  266  ff.), 
aber  beide  Mal  mit  Umgehung  resp.  Verkennung  des  Hauptpunktes.  Gerade 
die  Hauptsache,  die  prästabilirte  Harmonie  zwischen  unserer  Vorstellungs- 
welt und  einer  wenigstens  analog  gestalteten  Real  weit  hat  Kant  in  jener 
Darstellung  übergangen.  Kants  Darstellung  gibt  eben  von  dem  vielseitigen 
und  vielseitig  aufgefassten  Leibniz'schen  System  nur  Eine  Seite,  und  zwar 
diejenige,  welche  Wolff  weiter  ausgebildet  hatte.  Aber  es  gibt  auch  noch 
eine  andere  Form  des  Leibniz'schen  Systems,  auf  welche  eben  Kant  an  diesen 
Stellen  keine  Bücksicht  genommen  hat.  Unter  den  Kritikern  Kants  hat 
Pistorius  diese  genuine  Form  am  reinsten  vertreten.  Und  gerade  diese 
von  Kant  übersehene  Form  ist  dann  für  die  Weiterbildung  der  Philosophie 
von  entscheidendem  Einfluss  geworden;  denn  aus  ihr  haben  Herbart  und 
später  Lotze  ihre  besten  Gedanken  entnommen;  als  Abarten  derselben  sind 
gewissermassen  auch  Wundts  Raumtheorie  und  Spencers  „ Transformations- 
theorie"  zu  betrachten.  Die  geschichtliche  Weiterentwicklung  der  Kantischon 
Raumlehre  hat  also  gerade  an  jene  von  Kant  übersehene  Möglichkeit  an- 
geknüpft. 

Später  hat  Kant  allerdings  sich  dieser  Form  der  Leibniz'schen  Philo- 
sophie anzunähern  gesucht.  In  dem  wichtigen  Anhang  zu  der  Gegenschrift 
gegen  Eberhard  (Ros.  I,  479)  geschieht  dies  (1790)  in  auffallender  Weise: 
L.  habe,  wenn  auch  sein  Begriff  der  Sinnlichkeit  als  einer  , verworrenen, 
aber  doch  relativ  richtigen  Vorstellungsart*  des  Wirklichen  nicht  ganz 
damit  harmonire,  im  Grunde  zwischen  der  Körperwelt  und  der  intelligibeln 
Welt  absolut  unterschieden.  Jene  sei  ihm  schlechterdings  doch  nur  Er- 
scheinung, diese  allein  (nicht  jene)  bestehe  ihm  aus  Monaden.  An  einer 
bis  jetzt  fast  unbeachtet  gebliebenen  Stelle,  Met.  Anf.  d.  Nat.  Ros.  V,  356 — 358 
(Hart.  IV,  399),  hatte  Kant  schon  1786  dieselbe  Auffassung  des  Leibniz*8cben 
Systems  entwickelt  (vgl.  dazu  Fischer,  3.  A.  341  u.  B.  Erdmann,  Krit.  139), 


Kant  u.  Leibsiz.  —  , Metaphysische*  u.  .transscendentale"  Erörterung.     151 

wobei  er  mit  den  merkwürdigen  Worten  schliesst:  „  Daher  war  Leibniz* 
Meinung,  so  viel  ich  einsehe,  nicht,  den  Baum  durch  die  Ordnung  einfacher 
Wesen  neben  einander  zu  erklären  [wie  Wolff],  sondern  ihm  vielmehr  diese 
als  correspondirend,  aber  zu  einer  bloss  intelligibeln  (für  uns  un- 
bekannten) Welt  gehörig  zur  Seite  zu  setzen,  und  nichts  Anderes  zu  be- 
haupten, als  was  anderwärts  gezeigt  worden,  nämlich  dass  der  Raum  sammt 
der  Materie,  davon  er  die  Form  ist,  nicht  die  Welt  von  Dingen  an  sich 
selbst,  sondern  nur  die  Erscheinung  derselben  enthalte  und  selbst  nur  die 
Form  unserer  äusseren  sinnlichen  Anschauung  sei/ 

Aber  in  beiden  Stellen  hat  Kant  doch  wieder  den  Hauptpunkt  um- 
gangen, dass  eben  nach  Leibniz  nicht  bloss  überhaupt  den  Erscheinungen 
intelligible  Dinge  an  sich  „correspondiren^,  sondern  dass  diese  Correspondenz 
derart  ist,  dass  den  von  uns  vorgestellten  räumlichen  Verhältnissen  jener 
gewisse  bestimmte  reale  analoge  Beziehungen  dieser  entsprechen.  Daraus 
ergibt  sich  dann  naturgemäss :  dass  wir  aus  den  Raumverhältnissen  der  Er- 
scheinungen auf  die  wahrhaft  realen  Verhältnisse  der  Dinge  an  sich  wenig- 
stens bis  zu  einem  gewissen  6i*ade  zurückschliessen  können,  eine  Consequenz, 
welche  freilich  Leibniz  selbst,  der  ja  keine  reale  Einwirkung  der  Monaden 
auf  einander  zugestehen  wollte ,  nur  halb  ziehen  konnte ,  welche  aber  dann 
Herbart  und  bes.  Lotze  und  Wundt  gezogen  haben.  — 


[Metaphysische  Erörterung  des  Baumbegriffs.]  Um  diesen  Satz 
in  der  2.  Aufl.  bequem  einschieben  zu  können,  hat  Kant  auch  den  Schluss 
des  vorhergehenden  Satzes  verändern  müssen.  Diese  letztere  Veränderung 
des  Textes  (von  , betrachten"  in  , erörtern*)  hat  nur  rein  formelle  Bedeutung. 
Die  wunderliche  Auslegung,  welche  Cohen  S.  9  in  diese  Aenderung,  speciell 
in  den  Ausdruck  „Begriff"  hineindeutet,  hat  er  in  der  2.  Aufl.  seines  Werkes 
selbst  stillschweigend  weggelassen,  Grund  genug,  nicht  näher  auf  dieselbe 
einzugehen.  Aber  das  Einschiebsel  selbst  als  solches  enthält  eine  wichtige 
Verbesserung  des  Gedankenganges.  (Das  Nähere  s.  in  der  später  folgenden 
„Methodologischen  Analyse  ider  Tr.  Aesth.")  Erst  unter  dem  Einfluss  der 
durch  die  Prolegomena  herbeigeführten  Klärung  seiner  eigenen  Gedanken- 
massen fand  Kant,  dass  er  zwei  wesentlich  verschiedene  Gedankenreihen  in 
der  1.  Aufl.  ohne  schärferen  unterschied  hatte  durcheinander  gehen  lassen. 
Den  Gegensatz  der  beiden  Aufgaben  stellt  das  Nachgel.  Werk  (XXI,  565) 
dahin  dar:  „Dass  B.  u.  Z.  in  dem  Mannigfaltigen,  was  diese  Vorstellungen 
enthalten,  in  zweierlei  Verhältnissen  zum  Subject  gedacht  werden  müssen: 
erstlich,  insofern  sie  Anschauungen  und  zwar  sinnliche  sind;  zweitens, 
wie  das  Mannigfaltige  derselben  überhaupt  synthetische  Sätze  a  priori  mög- 
lich macht"  u.  s.  w.  Ueber  den  unterschied  der  beiden  Erörterungen  vgl. 
femer  Witte,  Beiträge  28  f.  Paulsen,  Entw.  168.  179.  Riehl,  Kritic. 
I,  329  (312).  340  ff.  346  ff.  350  ff.  369.  377. 

Es  entspricht  nun  Kants  Vorliebe  für  systematische  Architektonik,  dass 
er  diesen  Unterschied  sofort  auch  terminologisch  fixirt.  Die  von  Kant  hiefiir 
gewählte  Bezeichnungsweise  könnte  nun  allerdings  Bedenken  erwecken.    Wie 


152  §  2.    Metaphysische  Erörterung. 

A1^.B38.  [B  84.  H  58.  E  74.] 

kann  Kant  seine  jyTransscendentale  Aesthetik''  wiederum  eintheilen  in  eine 
9 metaphysische''  und  in  eine  »transscendentale*  Hälfte?  Wie  unzweckmässig 
ist  es,  der  Hälfte  denselben  Namen  zu  geben,  wie  dem  Ganzen?  Man 
muss  nun  also  zwei  Bedeutungen  von  „transscendental*  unterscheiden,  eine 
weitere  und  eine  engere.  (Vgl.  E.  y.  Hartmann,  Transsc.  Real.  XVI  and 
Bolliger,  Anti-Kant  146,  über  den  „Proteus  des  Transscendentalen'.)  Eine 
ähnliche  Unterscheidung  hat  Kant  dann  in  der  2.  Aufl.  auch  in  der  Analytik 
gemacht:  B  159  (=  §  26)  sagt  Kant:  „In  der  metaphysischen  Deduction 
wurde  der  Ursprung  der  Kategorien  a  priori  überhaupt  .  .  .  dargethan, 
in  der  transscendentalen  aber  die  Möglichkeit  derselben  als  Erkennt- 
nisse a  priori  .  .  .  dargestellt.' 

Wie  schon  B.  Erdmann,  Krit.  187.  280  bemerkt  hat,  entspricht  jedoch 
diese  Eintheilung  der  Kategorienlehre  sachlich  keineswegs  der  vorliegenden 
Eintheilung  der  Baum-  und  Zeitlehre.  Es  ist  deshalb  auch  unzweckmftssig, 
mit  Arnoldt,  Raum  u.  Zeit  61  u.  ö.^  und  Paulsen,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  II,  490, 
statt  »transscendentale  Erörterung"  des  Raumbegriifes  yon  einer  , trans- 
scendentalen Deduction '^  desselben  zu  reden.  Gerade  diejenigen  Stellen,  an 
welchen  Kant  factisch  von  der  „transscendentalen  Deduction  der  Begriffe 
des  Baumes  und  der  Zeit*  spricht,  beweisen  dies:  A  86 — 88,  und  Prcleg, 
§  12.  Es  heisst  da:  „Wir  haben  oben  [in  der  Aesthetik]  die  Begriffe  des 
R.  u.  d.  Z.,  vermittelst  einer  transscendentalen  Deduction  zu  ihren  Quellen 
verfolgt  und  ihre  objective  Gültigkeit  a  priori  erklärt  und  bestimmt.' 
Was  die  vorliegende  Stelle  der  Aesthetik  als  „metaphysische"  Erörterung 
bezeichnet  —  den  Nachweis  des  apriorischen  Ursprungs  —  das  wird  an 
jener  Stelle  der  Analytik  als  der  erste  und  Haupttheil  der  „transscenden- 
talen" Deduction  bezeichnet;  und  diese  steht  daselbst  eben  deshalb  im 
Gegensatz  zur  „empirischen  Deduction".  (Falsch  Cohen  2.  A.  106.)  Diese 
Terminologie  steht  ja  auch  in  Uebereinstimmung  mit  der  schon  in  der  Ein- 
leitung getroffenen  Definition  von  „transscendental",  wonach  der  Ausdruck 
eben  die  Theorie  des  Apriorischen  überhaupt  bedeutet.  (Vgl.  Gomm.  I,  467  ff.) 

Ausserdem  erhebt  sich  die  weitere  Frage,  warum  denn  Kant  jene 
Untersuchung  der  apriorischen  Vorstellungen  als  solcher  eine  „meta- 
physische" nennt?  Was  soll  denn  nun  dieser  Ausdruck  hier?  Werden 
durch  diesen  Gebrauch  des  Ausdruckes  nicht  die  Unklarheiten  vermehrt, 
welche  demselben  ohnedies  anhängen  ?  Vgl.  hierüber  Comm.  I,  88  ff.  148  f. 
281  ff.  241.  389.  367  ff.  371  ff.  376  ff.  459  ff.  464.  470  f.  473  f.  Was  Meilin 
I,  487  hierüber  sagt,  ist  auch  wenig  befriedigend.  Biehl,  Krit.  I,  348: 
„Der  Beweis  der  Thatsache  des  reinen  Erkennens  kann  nur  aus  Begriffen 
[durch  Analyse  der  Vorstellungen]  geführt  werden.  Er  ist  metaphysisch.  Denn 
unter  dem  Ausdruck:  metaphysisch  versteht  Kant  jede  rein  aus  Begriffen 
geführte  Untersuchung."  Allein  dies  trifft  ja  auch  für  die  transscendentale 
Erörterung  zu.     Vgl.   auch   Adickes  72  N. ;   und  Cohen ,   2.  A.  298  (Fries). 

Bei  dieser  Sachlage  ist  es  verwunderlich  und  doch  so  recht  charakte* 
ristisch,    dass  Cohen   den   hier   entwickelten  Gegensatz  der  metaphysischen 


Cohens  »Metaphysiaches"  und  „Transscendentales"  Apriori.  153 

[R  34.  H  58.  K  74.]  A28.B88. 

und  der  transscendentalen  Erörterung  zum  Fundament  seiner  Neubearbeitung 
der  Kantiscben  Lehre  gemacht  hat  ^  Während  bei  Kant  selbst  dieser  Gegen- 
satz eine  ganz  geringe  und  vorübergehende  Rolle  spielt,  hat  Cohen  in  den- 
selben die  allertiefste  Weisheit  Kants  hineingelegt  und  geradezu  das  richtige 
Yerständniss  Kants  von  der  Einsicht  in  jenen  Unterschied  abhängig  gemacht. 
Cohen  selbst  hat  aber  diesen  Unterschied  keineswegs  in  der  Weise  fest- 
gehalten, wie  ihn  Kant  selbst  hier  bestimmt  hat,  sondern  mit  souveräner 
Willkür  seine  eigene  specifische  Auffassung  hineingedeutelt.  Um  diese  letztere 
zu  verstehen,  muss  an  das  erinnert  "werden ,  was  oben  S.  81  u.  S.  96  über 
Cohens  Auffassung  des  Apriori  gesagt  worden  ist,  wozu  auch  unten  die  Be- 
merkungen zum  ersten  Baumargument  über  Cohen  und  Riehls  logische  Auf- 
fassung des  Apriori  zu  vergleichen  sind.  Cohen  selbst  nennt  seine  Auf- 
fassung die  transscendentale  und  unterscheidet  sie  wesentlich  von  der 
, metaphysischen".  Jene  sei  die  höhere,  diese  die  niederere,  jene  vollendend, 
diese  nur  vorbereitend ;  nur  wer  jene  erreiche,  verstehe  Kant ;  wer  nur  auf 
dieser  stehen  bleibe,  verfehle  Kants  Grundgedanken.  Und  diese  Unter- 
scheidung habe  Kant  eben  hier  schon  begründet  und  im  weiteren  Verlaufe 
immer  weiter  vertieft. 

Die  y metaphysische"  Auffassung  des  Apriori  verstehe  dasselbe  als  ein 
ursprüngliches  Element  unseres  Bewusstseins ,  als  ein  (mehr  oder  minder) 
angeborenes  Besitzthum  des  Subjects,  oder  auch  als  eine  ursprüngliche, 
psychologisch  nicht-ableitbare  Form  oder  Function  desselben  —  also  kurz- 
weg als  „Urbestandtheile  des  Bewusstseins"  (75).  Zu  dieser  Auffassung 
stellt  sich  nun  Cohen ,  wie  wir  schon  oben  S.  99  sahen ,  verschieden ;  bald 
erkennt  er  sie  als  eine  noth wendige  Vorstufe  seiner  transscendentalen  Auf- 
fassung an,  bald  verwirft  er  sie  vollständig.  Diese  doppelte  Stellung 
nimmt  Cohen  auch  in  Bezog  auf  die  „metaphysische  Erörterung*  ein,  deren 
Aufgabe  es  eben  sei,  „die  der  psychologischen  Analyse  unzugänglichen,  das 
will  sagen,  als  a  priori  anzuerkennenden  Elemente  des  Bewusstseins  festzu- 
stellen*. Diese  Untersuchung  erklärt  er  für  eine  „nothwendige  Vor- 
bedingung der  transscendentalen*  (74.  77.  81  u.  Ö.).  Aber  an  anderen 
,  Stellen  erklärt  er  jene  metaphysische  Auffassung  des  Apriori  für  eine  Rück- 
ständigkeit ,  für  ein  Hinderniss  der  richtigen ,  der  transscendentalen  Auf- 
fassung —  ganz  entsprechend  seiner  schwankenden  Stellung  zum  Angeborenen. 
Von  diesem  unklaren,  zweideutigen  Sehwanken  sehen  wir  indessen  ab,  und 
coDstatiren  nur  die  eigenthümliche  Terminologie,  dass  Cohen  geradezu  von 
dem  „metaphysischen  Apriori*  spricht  im  Unterschied  vom  transscenden- 
talen.   Die  Veranlassung  zu  dieser  Bezeichnungs weise  hat  Cohen  aus  dieser 

»  Cohen,  Ks.  Theorie  der  Erfahrung,  1.  A.  1871,  S.  35  ff.  47  ff.  87  ff.  Eine 
noch  grössere  Rolle  spielt  der  Unterschied  in  der  2.  Aufl.  despelben  Werkes  (1885), 
S.  73ff.  81.  83.  97.  99  ff.  106.  122.  124.  130  ff.  134  ff.  149  ff.  155.  179  f.  188.  195  ff. 
198-209  ff.  214  ff.  240  ff.  245  f.  249-256.  257  ff.  284.  287  ff  291—299.  351. 
580—587.  —  Vgl.  von  demselben  ,Ks.  Begründung  der  Ethik«,  S.  23  ff.;  ,Begr. 
der  Aesthetik*,  102  ff. 


154  §  ^^'    Metaphysische  Erörterung. 

A  28.  B  38.  [B  34.  H  58.  E  74.] 

Stelle  genommen ;  aber  im  Sinne  Kants  ist  es  gewiss  nicht  gewesen ,  diese 
einmalige  und  sonst  nicht  wiederkehrende  Verwendung  jenes  Gegensatzes  in 
dieser  Weise  zu  gebrauchen  und  zu  verallgemeinern.  Wie  Kant  dazu  kommt, 
den  Ausdruck  „metaphysisch^  in  diesem  Zusammenhang  in  dieser  Weise  zn 
verwenden,  hat  Cohen  übrigens  auch  nicht  gesagt ;  seine  eigene  Verwendung 
desselben  in  der  angeführten  Verbindung  lässt  gelegentlich  darauf  schliessen, 
er  wolle  andeuten,  dass  die  alten  Metaphysiker ,  ein  Cartesius  und  Leibniz, 
das  Apriori  in  jenem  Sinne  eines  Angeborenen  genommen  hätten,  dass  aber 
die  Transscendentalphilosophie  Kants  es  nun  in  ganz  neuer  Weise  verstanden 
und  gelehrt  habe. 

Was  nun  diese  transscendentale  Auffassung  des  Apriori  oder  kurzweg 
„das  transscendentale  Apriori"  betrifft,  so  habe  (583)  dasselbe  gar 
nichts  zu  schaffen  mit  Elementen  unseres  Bewusstseins,  sondern  sei  zu 
fassen  als  der  Inbegriff  der  Elemente  unserer  Erkenntniss  in  dem  schoo 
oben  S.  96  u.  S.  98  hinreichend  gekennzeichneten  Sinne.  Apriori  sei  das- 
jenige, was  als  constituirende  logische  Bedingung  unserer  Erfahrungs Wissen- 
schaft erkannt  werde,  was  sich  als  Bedingung  der  Möglichkeit  der 
Erfahrung  (in  diesem  logischen,  nicht  etwa  im  psychologischen  Sinne) 
herausstelle.  Die  Aufsuchung  dieser  Bedingungen  —  darin  bestehe  Ks.  neue 
„transscendentale  Methode". 

Dabei  bemerkt  man  aber  auf  den  ersten  Blick,  dass  von  dem,  was 
Cohen  als  transscendentale  Methode  ausgibt,  bei  Kant  hier  gar  nichts  zn 
finden  ist.  Was  Kant  selbst  transscendentale  Erörterung  nennt,  bedeutet 
eine  Untersuchung  einer  apriorischen  Vorstellung  darauf  hin,  dass  aus 
derselben  apriorische  Erkenntnisssätze  sich  ergeben.  Es  wird  gezeigt, 
dass  solche  Erkenntnisse  a  priori  sich  eben  nur  dadurch  erklären,  dass  wir 
die  betreffende  Vorstellung  als  einen  ursprünglichen  Bestandtheil  unseres 
Bewusstseins  anerkennen.  Von  einem  logischen  Constituens  der  Erfahrung, 
von  den  logisch  nothwendigen  Voraussetzungen  der  Erkenntniss  ist  dabei  gar 
nicht  die  Rede.  Allerdings  spielt  dies  bei  Kant  später  einmal  eine  bedeut- 
same Rolle,  aber  erst  in  der  Analytik  der  Grundsätze,  woselbst  Kant 
theilweise  diesen  Weg  einschlägt  bei  dem  Beweis  derselben.  Diese  später 
am  gegebenen  Orte  zu  besprechende  Beweismethode  hat  nun  Cohen  heraus- 
gegriffen ;  indem  er  von  den  anderen  wichtigeren  Elementen  des  Kriticismos 
absieht,  vereinfacht  er  denselben  und  so  kann  er  von  der  transscenden- 
talen  Methode  in  diesem  beschränkten  Sinne  als  von  der  „schlichten  Auf- 
gabe der  Kritik"  sprechen  (77.  230.  580),  während  doch  die  Kr.  d.  r.  V,  ein 
äusserst  complicirtes  Gewebe  der  verschiedensten  Tendenzen  und  Aufgaben 
ist.  Den  von  ihm  so  einseitig  herausgegriffenen  Gedanken  hat  er  nun  aber 
verallgemeinert:  er  hat  ihn  übertragen  nicht  nur  auf  die  „transscenden- 
tale Deduction  der  Verstandesbegriffe",  in  welcher  sie  sich  erst  andeutungs- 
weise findet;  er  hat  ihn  auch  übertragen  auf  die  Aesthetik,  und  hat  sich 
nun  eine  erstaunliche  Mühe  gegeben,  den  jener  Beweismethode  ganz  und 
gar  zuwiderlaufenden  Text  der  Aesthetik  nach  jener  Auffassung  umzudeuten. 


„Erörterung*  des  „Begriffes'  vom  Räume.  155 

[B  a4.  H  58.  E  74.]  A  23.  B  38. 

Ausser  der  eben  besprochenen  Eintheilung  hat  sich  nun  Kant  auch 
noch  über  den  logischen  Werth  der  folgenden  Erklärung  des  Baumes 
ausgesprochen.  Er  charakterisirt  dieselbe  als  eine  «Erörterung''  (ex- 
posUio),  üeber  das,  was  er  darunter  versteht,  hat  sich  Kant  ausführlich 
ausgesprochen  in  der  Methodenlehre  A  727  ff. ,  sowie  in  der  Logik  §  99  ff., 
§  105:  Eigentliche  Definitionen  im  strengen  Sinne  des  Wortes  (definitio 
completa)  hat  nur  die  Mathematik,  welche  den  definirten  Gegenstand  in  der 
Anschauung  erst  macht.  Dagegen  bei  gegebenen  Begriffen  ist  man  nie- 
mals sicher,  ob  man  auch  alle  Merkmale  genau  aufgezählt  hat.  Dies  gilt 
sowohl  von  a  posteriori  als  von  a  priori  gegebenen  Begriffen,  speciell 
von  den  Letzteren.  «Kein  a  priori  gegebener  Begriff  kann,  genau  zu  reden, 
definirt  werden*,  „denn  ich  kann  niemals  sicher  sein,  dass  die  deutliche 
Vorstellung  eines  (noch  verworren)  gegebenen  Begriffes  ausführlich  ent- 
wickelt worden,  als  wenn  ich  weiss,  dass  dieselbe  dem  Gegenstande  adäquat 
sei/  „Anstatt  des  Ausdruckes:  Definition  würde  ich  lieber  den  der  Ex- 
position brauchen"  u.  s.  w. 

Dadurch  erhält  die  vorliegende  Stelle  hinreichende  Beleuchtung,  aber 
es  drängen  sich  uns  dafür  folgende  Bedenken  auf:  entsprechen  die  folgenden 
Ausführungen  über  den  Raum  diesem  Bilde?  Sind  dieselben,  wie  die  oben 
gegebene  Darstellung  der  „Exposition*  verlangt,  ,, durch  Analyse*  des  Be- 
griffes vom  Baume  gewonnen?  Ist  denn  das  Folgende  überhaupt  eine, 
wenn  auch  unvollständige,  logische  Definition  des  Baum  begriff  s,  und  nicht 
vielmehr  eine  sachliche  Untersuchung  des  Wesens  der  Raum  vor  Stellung 
(also  eine  Realdefinition ;  vgl.  Ks.  Logik  §  106)  ?  Und  wenn  andererseits 
Kant  in  der  Logik  §  102  sagt,  „analytische  Definitionen  zergliedern,  was 
im  Begriffe  liegt,  synthetische,  was  zu  ihm  gehört',  und  wenn  man 
daran  denkt,  dass  auch  hier  Kant  das  geben  will,  „was  zu  einem  Begriffe 
gehört*,  dann  könnte  man  wieder  versucht  sein,  zu  sagen,  es  handle  sich 
auch  hier  um  eine  synthetische  Definition.  Aber  das  geht  wieder  nicht,  da 
jene  synthetischen  Definitionen  nur  bei  mathematischen  und  bei  empirischen 
Begriffen  möglich  sein  sollen,  aber  nicht  bei  philosophischen.  Dazu  kommt  end- 
lich, dass  der  Begriff  der  „Erörterung*  in  der  „Transscendentalen  Erörterung* 
in  ganz  anderer  Weise  gebraucht  wird ;  auch  dort  ist  es  eine  sachliche  Unter- 
suchung, nicht  eine  analytische  Definition.  Aus  alledem  ergibt  sich,  dass,  von 
dieser  Seite  aus  gesehen,  dieser  höchst  unklare  Zusatz  keine  Verbesserung  ist. 

Mit  der  ungeschickten  Verwendung  des  Ausdruckes  „Erörterung"  seitens 
Kant^  hängt  nun,  wie  angedeutet,  auch  die  ebenfalls  ungeschickte  Verwen- 
dung des  Terminus  „Begriff*  zusammen.  Kant  will,  wie  er  sagt,  „den 
Begriff  des  Raumes  erörtern* ;  und  er  überschreibt  daher  auch  den  ganzen 
Abschnitt:  „Von  dem  Räume.  Metaphysische  Erörterung  dieses  Begriffes." 
Nun  ist  aber,  wie  schon  oben  bemerkt,  das  Folgende  nicht  eine  logische 
Definition  des  Raum  begriff  es,  sondern  eine  sachliche  Untersuchung  der 
Raum  Vorstellung.  Die  Verwendung  des  Ausdruckes  „Begriff*  an  dieser 
Stelle  für  den  Raum  ist  daher,   wie   schon   öfters  gegen  Kant  eingewendet 


156  §2.    Erstes  Raamargumenti 

A  28.  B  38.  [B  84.  H  58.  59.  E  74.] 

worden  ist,  nicht  geschickt.  .Dergleichen  kleine  klassische  üngenauigkeiten 
sind  von  Kants  Untersuchungen  unzertrennlich,''  höhnt  Bolliger  in  seinem 
Anti-Kant  273.  Schon  Meli  in  I,  495,  11,476  hat  hierüber  Skrupel  gehabt. 
Besonders  Üeberweg  in  seinem  Grundriss  der  Geschichte  der  Philosophie 
III,  §  18  hat  Kant  hieraus  einen  Vorwurf  gemacht,  und  dabei  noch  be- 
sonders darauf  hingewiesen,  dass  Kant  doch  im  dritten  und  vierten  Raum- 
argument  selbst  vom  Baume  sage,  er  sei  nicht  ein  Begriff,  sondern  eine 
Anschauung.  ,Im  Gebrauch  der  Termini  ist  Kant  oft  wenig  streng,^  be* 
merkt  üeberweg  mit  Recht;  und  Heinze  fiigt  die  richtige  Eh-länterong 
hinzu:  „Begriff  im  weiteren  Sinne  umfasst  bei  Kant  die  beiden  Klassen: 
Begriff  im  engeren  Sinne  (oder  allgemeine  Vorstellung)  und  andererseits 
Einzelvorstellung  oder  Anschauung/  Diese  Bemerkung  ist  vollständig  zu- 
treffend und  erläutert  Ks.  Sprachgebrauch  hier  hinreichend,  wie  wir  sie  denn 
auch  wieder  sogleich  unten  beim  ersten  Raumargument  bestätigt  finden 
werden.  Indessen  möcht«  man  aus  der  Analyse  des  Ausdruckes  ^Erörterung* 
schliessen,  dass,  wenigstens  an  dieser  Stelle,  bei  Kant  nicht  bloss  ein  laxer 
Sprachgebrauch,  sondern  auch  eine  sachliche  Unklarheit  vorliegt. 

Gegen  jene  Vorwürfe,  speciell  gegen  den  scharf  zugespitzten  Vorwurf 
von  Üeberweg  hat  man  natürlich  auch  Kant  zu  vertheidigen  gesucht. 
Was  aber  Cohen  (1.  A.  31;  2.  A.  127)  dagegen  erwidert,  ist  gänzlich  un- 
verständlich. Auch  was  Holder,  Darst.  S.  12  sagt,  kann  nicht  recht  be- 
friedigen. Dasselbe  gilt  von  K.  Fischer,  Anti-Trendelenburg  S.  58  (jedoch 
richtig  im  Hauptwerk,  2.  A.  264).  Vgl.  auch  Grapengiesser,  Kants 
Lehre  von  Baum  und  Zeit,  S.  77.  Bratuschek,  Phil.  Monatsh.  V,  S.  321. 
Michelis,  Kant,  S.  168.  Steckelmacher,  Ks.  Logik,  S.  13  (dazu  B.  Erd- 
mann, Gott.  Gel.  Anz.  1880,  S.  631).     Adickes,  S.  70  N.    Göring  U,  130. 

Erstes  Raomargument 

Erster  Satz.  These:  Der  Raum  ist  kein  empirischer  Begriff, 
der  von  Kasseren  Erfahrungen  abgezogen  worden.  Dieser  erste  Satz 
enthält  die  propositio,  These,  welche  durch  den  folgenden  Satz  erst  bewiesen 
werden  soll.  Logisch  genauer  gesprochen:  Der  erste  Satz  enthält  das  ^o^ 
je  et  um  probationis^,  der  folgende  zweite  Satz  das  „argumentum  pro- 
bcUionis*',  während  dann  der  dritte  und  letzte  Satz  die  mit  der  Anfangsthese 
übereinstimmende  Schlussfolgerung  ausdrücklich  zieht.  Behauptet  wird 
hier  der  nicht-empirische  Ursprung  der  Raumvorstellung  ^ ;  bewiesen  wird 


*  Nach  Cohen,  2.  A.  94 — 96,  ist  der  Satz  gegen  Hume  gerichtet.  Di« 
bestreitet  C  a  i  r  d ,  Grit.  Phil.  1 ,  289  N :  er  richte  seine  Spitze  gegen  L  e  i  b  n  i  z. 
Das  Eine  schliesst  das  Andere  nicht  aus;  wie  auch  Cohen  a.  a.  0.  91  richtig  be- 
merkt: sowohl  Locke-Hume  als  Leibniz  hielten  den  Raum  für  ein  .AbstractumS 
wenn  auch  in  etwas  verschiedenem  Sinne  (112  f.);  über  den  Gegensatz  gegen  Leibniz 
8.  noch  unten  zu  A  .39-  41.  Aus  den  daselbst  erörterten  entwicklungsgeschichtiicben 
Motiven  folgt  aber,  dass  der  Gegensatz  gegen  Leibniz  hier  entschieden  die  Haupt- 


Der  Raum  ist  kein  empirischer  .Begriff'.  157 

[R  34.  H  59.  E  74.]  A23.B88. 

derselbe  im  Folgenden,  und  zwar  durch  Berufung  auf  die  Nothwendigkeit 
der  Priorität  der  Baum  Vorstellung  vor  der  wirklichen  Wahruehmung.  In 
der  Dissertation  §  15  A  lautet  die  These  so :  Conceptus  spatii  non  abstrahitur 
a  sensationibtis  extemis.  Hier  in  der  Kr.  d.  r.  Y.  enthält  die  These  eigent- 
lich eine  Tautologie:  denn  , nicht-empirisch '^  und  , nicht  von  äusseren  Er- 
fahrungen abgezogen'  sind  Wechselbegriffe.  Vgl.  Ks.  Logik  §  8.  Auch  beim 
ersten  Zeitargument  findet  sich  dieselbe  Tautologie.  Es  ist  deshalb  ganz 
falsch,  wenn  Cohen  in  diesen  beiden  Satzhälften  verschiedenen  Sinn  sucht. 
Seine  diesbezügliche  Auslegung  dieser  Stelle  (1.  A.  7  f. ;  2.  A.  95)  ist  äusserst 
gesucht :  Insbesondere  falsch  ist  hier  die  Verweisung  Cohens  auf  verschiedene 
Bedeutungen  des  Erfahrungsbegriffes,  welche  hier  geheimnissvoll  mitspielen 
sollen :  von  Erfahrung  spricht  hier  Kant  ganz  im  gewöhnlichen  Sinne.  Cohen 
will  aber,  wie  wir  noch  ferner  sehen  werden,  in  diese  Stelle  den  Sinn  hinein- 
legen: aus  der  Erfahrung  im  gewöhnlichen  Sinne  kann  der  Raum  allerdings 
nicht  abgezogen  werden,  wohl  aber  aus  der  Erfahrung  im  Kantischen  Sinne. 
Eine  verworrene  und  verwirrende  Auslegungskunst  1 

Eine  Schwierigkeit  entsteht  hier  nur  durch  den  Gebrauch  des  Aus- 
druckes ^Begriff.  Es  geht  aus  den  nachfolgenden  Sätzen  allerdings  sofort 
hervor,  dass  hier  «Begriff"  nicht  im  streng  logischen  Sinne  zu  verstehen 
ist,  sondern  im  laxeren  psychologischen  Sinne  so  viel  ist  als  « Vor- 
stellung" :  denn  Kant  spricht  ja  noch  in  diesem  ersten  Baumargument  zwei- 
mal ausdrücklich  von  der  „Vorstellung  des  Baumes' ;  und  derselbe  Aus- 
druck wird  dann  in  dem  zweiten  Argument  ebenfalls  zweimal  wiederholt. 
Es  geht  somit  aus  dem  ganzen  Zusammenhange  deutlich  hervor,  dass  Kant 
sich  in  diesen  beiden  ersten  Baumargumenten  nicht  gegen  diejenige  Lehre 
wendet,  welche  im  Baume  einen  „Begriff"  sieht,  im  logischen  Sinne  des 
Wortes,  sondern  gegen  diejenige  Lehre,  welche  die  Baumvorstellung  über- 
haupt aus  der  Erfahrung  ableitet  und  dieselbe  erst  mit  den  Empfindungen 
und  durch  sie  von  aussen  gegeben  werden  lässt.  Gegen  diese  Lehre  wendet 
sich  ja  Kant  mit  den  Worten:  „demnach  kann  die  Vorstellung  des  Baumes 
nicht  aus  den  Verbältnissen  der  äusseren  Erscheinung  durch  Erfahrung 
erborgt  sein",  und  dass  Kant  gegen  diese  „Erborgung"  aufs  Heftigste 
auch  sonst  ankämpft ,  das  wissen  wir  schon  —  vgl.  Commentar  1 ,  166  f. 
Darauf  also  kommt  es  auch  hier  an,  auf  den  empirischen  oder  nicht- 
empirischen Ursprung  der  Baumvorstellung,  nicht  aber  auf  den  rein  logischen 
Charakter  dieser  Vorstellung  selbst  —  dieser  wird  im  dritten  und  vierten 
Baumargument  untersucht. 

Deshalb  ist  der  Gebrauch  des  Ausdruckes  „Begriff"  an  dieser  Stelle 
unpassend  und  kann  leicht  Irrthümer  zur  Folge  haben.     Uebrigens  bedient 


Sache  ist.  Dies  hat  gegen  Cohen  auch  B.  Erdmann  nachgewiesen,  Ks.  Beflexionen 
II»  S.  108.  „Gegensatz  gegen  Leibniz'^  heisst  hier  natürlich  nur:  Gegensatz  gegen  den 
Leibniz  der  Wolffischen  Schule.  —  In  der  Sprache  des  Cartesius  ausgedrückt, 
heisst  obige  These:   Der  Baum  ist  keine  idea  adientitia,  sondern  eine  idea  innaia. 


158  §2.    Erstes  Raumargument. 

A  28.  B  88.  [R  84.  H  59.  E  74.] 

sieb  Kant  auch  sonst  dieser  Ausdrncksform ;  so  sagt  er  z.  B.  A  156:  , Selbst 
der  Kaum  und  die  Zeit,  so  rein  diese  Begriffe  auch  von  allem  Empirischen 
sind"  u.  s.  w.  Auch  schon  in  der  bekannten  Stelle  der  Einleitung  B  6  heisst 
es:  ,Aber  nicht  bloss  in  Urtheilen,  sondern  selbst  in  Begriffen  zeigt  sich 
ein  Ursprung  einiger  derselben  a  priori,*  und  dann  wird  als  Beweis  —  der 
Baum  angeführt.  (Vgl.  Commentar  I,  223.)  Proleg.  §  89  sagt  Kant:  ,& 
gelang  mir  erst  nach  langem  Nachdenken,  die  reinen  Elementarbegriffe  der 
Sinnlichkeit,  Raum  und  Zeit,  von  denen  des  Verstandes  mit  Zuverlässigkeit 
zu  unterscheiden."  Und  gleich  unten  in  der  „Traussc.  Erört."  B  39  werden 
, Begriff"  und  , Vorstellung"  promiscue  gebraucht.  —  Aufklärung  hierüber 
findet  man  auch  in  Kants  Reflexionen  IT,  S.  83  ff.,  woselbst  es  heisst:  ,,es 
gibt  reine  Begriffe  der  Anschauung";  (von  .anschauenden  Begriffen" 
spricht  Kant  schon  in  den  „Träumen  eines  Geistersehers",  W.  W.  Hart. 
II,  346).  Ferner:  „alle  Begriffe  sind  entweder  sinnliche  oder  Vemunft- 
begriffe."  Zu  den  letzteren  werden  dann  auch  R.  u.  Z.  gerechnet.  Vgl. 
ib.  S.  103.  158.  160.  (Vgl.  auch  Erdmanns  Mittheilungen  aus  dem  Königs- 
berger Manuscript  über  Metaphysik,  Phil.  Mon.  1884,  S.  76,  wo  Kant  R. 
u.  Z.  „Kategorien  der  Sinnlichkeit*  nennt.)  In  der  Schrift  vom  Jahr  1768 
nennt  K.  den  Raum  auch  einen  „Grundbegriff".  —  Richtig  weist  Paulsen, 
Entw.  46  (78.  97)  auf  den  früheren  laxeren  Sprachgebrauch  hin,  sowohl  in 
Ks.  eigenen  früheren  Schriften,  als  bei  seinen  Zeitgenossen.  Besonders 
Meier  kommt  in  Betracht;  in  seiner  Vernnnftlehre  §  282,  sowie  im  Auszug 
aus  derselben  §  249  werden  Begriff  und  Vorstellung  so  gut  wie  identificirt; 
ebenso  bei  Reimarus,  Vernunftl.  §  30.  (Paulsen  vermuthet  dabei  Einflnss 
seitens  der  Locke'schen  idea.  Kant  selbst  folgt  diesem  Sprachgebrauch  in 
seinen  Schriften  aus  den  60er  Jahren.)  Diesen  richtigen  Sachverhalt  haben 
auch  schon  Frühere  gesehen.  So  sagt  Tiedemann,  Theätet  S.  59  ausdrück- 
lich: „Die  Empfindung  des  äusseren  Sinnes  kann  ohne  schon  mitgebrachte 
Vorstellung  oder  Begriff  (denn  beyde  Worte  werden  hier  ohne  Unter- 
schied gebraucht)  des  Raums  nicht  vorhanden  sein." 

Trotzdem  nun  diese  Bedeutung  von  „ Begriff '^  aus  dem  Zusammenhang 
unzweideutig  hervorgeht,  hat  der  Ausdruck  doch  mehrfach  zu  irrthümlicher 
Auslegung  Veranlassung  gegeben.  So  gibt  z.  B.  Schaumann,  Transsc. 
Aesthetik  S.  13  den  Sinn  dieser  Stelle  so  wieder:  „Sollte  er  ein  empirischer 
Begriff  sein,  so  müssten,  ehe  man  ihn  erhalten  könnte,  mehrere  Gegen- 
stände schon  wahrgenommen  sein,  in  welchen  er  als  Prädicat  enthalten 
wäre.  Nun  aber  muss,  sobald  man  einen  Gegenstand  als  äusseren  Gegen- 
stand wahrnehmen  soll,  die  Vorstellung  des  Raumes  schon  zum  Grunde 
liegen,  und  es  ist  unmöglich,  ihn  erst  aus  mehreren  Wahrnehmungen  zu 
abstrabiren,  weil  er  bei  der  allerersten  schon  da  sein  muss.*  Diese  Wieder- 
gabe trifft  Kants  Sinn  nicht  genau  und  bringt  eine  schiefe  Wendung  hinein : 
indem  darin  zurückgewiesen  wird,  dass  der  Begriff  des  Raumes  nicht  erst 
aus  mehreren  Wahrnehmungen  abstrahirt  sei,  wird  auf  die  logische  Lehre 
Rücksicht  genommen,   dass  ein  Begriff  aus  vielen  ähnlichen  Dingen  als  Ge- 


Conceptu8  spatii  non  abstrahitur  a  sensationibus  extemis.  159 

[R  34.  H  59.  E  74.]  A  28.  B  88. 

meinsames  abstrahirt  sei.  Ganz  dieselbe  schiefe  Wendung  findet  sieb  auch  bei 
einigen  Neueren,  bei  B olliger,  Anti-Kant  273,  und  besonders  bei  Kuno 
Fischer,  welcher  die  betreffende  Wendung  allerdings  in  der  3.  Auflage 
seines  Werkes  gestrichen  hat  (S.  330).  Aber  in  der  2.  Auflage  S.  316  hiess 
es:  ,Wie  kommen  wir  zu  den  Vorstellungen  von  Raum  und  Zeit?  Nach 
der  gewöhnlichen  und  nächsten  Ansicht  möchte  es  scheinen,  dass  diese  Vor- 
stellungen auf  demselben  Wege  entstehen ,  als  überhaupt  unsere  CoUectiv- 
oder  Gattungsbegriffe.  Von  einer  Menge  einzelner  Dinge,  die  wir  sinn- 
lich wahrnehmen,  abstrahireu  wir  ihre  gemeinschaftlichen  Merkmale  und 
bilden  daraus  ihren  Gesammt-  oder  Gattungsbegriff.  Auf  eben  diese  Weise 
sind  Eaum  und  Zeit  aus  der  Wahrnehmung  geschöpft,  von  sinnlichen  Ein- 
drücken abstrahirt.  Sie  sind  also  abstracto,  aus  der  Erfahrung  abgeleitete 
Begriffe:  das  ist  die  empirische  Erklärung,  welche  die  sensualistischen  Philo- 
sophen ihrer  Zeit  gegeben  haben,  und  die  unsere  sogenannten  Realisten 
nachsprechen,  als  ob  sie  das  Selbstverständlichste  von  der  Welt  wäre*  u.  s.  w. 
Obwohl  Kuno  Fischer  diese  Darstellung  selbst  cassirt  hat,  muss  sie  doch 
besprochen  werden,  da  der  in  ihr  enthaltene  Irrthum  noch  vielfach  verbreitet 
ist.  Ganz  wie  Schaumann,  so  legt  auch  Fischer  hier  den  Ton  auf  die 
logische  Seite:  Der  Raum  ist  nicht  ein  aus  vielen  einzelnen  Wahr- 
nehmungen abstrahirter  allgemeiner  Begriff.  Nicht  darauf  aber  liegt 
bei  Kant  der  Ton,  dass  der  Raum  nicht  aus  vielen  einzelnen  Wahr- 
nehmungen abstrahirt  sei,  sondern  dass  er  überhaupt  aus  keiner  Wahr- 
nehmung, auch  nicht  aus  einer  einzigen,  uns  zukomme,  sondern  dass  wir 
ihn  vor  aller  Wahrnehmung  schon  in  uns  haben:  er  braucht  uns  nicht 
erst  von  aussen  gegeben  zu  werden. 

Es  liegt  hier  eine  Verwechslung  vor,  welche  durch  den  Terminus 
,Abstraction"  verschuldet  wird.  Es  gibt  zweierlei  sehr  verschiedene  Processe, 
auf  welche  der  Ausdruck  „Abstraction*  angewendet  wird:  1)  Aus  einer  Ge- 
sammtanschauung  eines  empirischen  Gegenstandes,  welcher  uns  mehrere 
Qualitäten  darbietet,  heben  wir  willkürlich  Eine  Qualität  heraus,  indem  wir 
dabei  von  den  anderen  Qualitäten  absehen,  von  ihnen  „abstrahiren".  So 
abstrahiren  wir  z.  B.  aus  der  Gesammtanschauung  ,Blut"  die  Qualität  der 
Roths.  In  diesem  Sinne  ist  dann  die  anschauliche  Vorstellung  „Roth"  aus 
dem  sinnlichen  Eindrucke  abstrahirt ,  entlehnt ,  erborgt :  ich  bekomme  sie 
erst  durch  die  äussere  Gesammtanschauung  ^Blut"  ;  ich  habe  sie  aus  dieser 
herausgehoben,  abgelöst,  abgesondert,  isolirt.  2)  Der  zweite  Fall  ist,  dass 
ich  mehrere  Gegenstände  sehe,  welche  in  Bezug  auf  die  Farbe  im  Wesent- 
lichen gleich  sind:  dann  werde  ich  das  diesen  mehreren  Gegenständen  Ge- 
meinsame, die  rothe  Farbe,  herausheben,  und  mir  den  Allgemeinbegriff 
des  Rothseins  oder  des  rothen  Körpers  bilden:  und  dann  habe  ich  einen 
Ällgemeinbegriff,  bei  welchem  das  Wesentliche  ist,  dass  ich  ihn  eben  aus 
mehreren  ähnlichen  Vorstellungen  als  Gemeinsames  herausgenommen  habe. 

Nun  ist  gar  kein  Zweifel,  dass  Kant  hier  nur  an  den  ersteren 
Process  denkt:   schon  aus   dem   einfachen  Grunde,   weil  seine  Gegeninstanz 


160  §2.    Erstes  Raumargument. 

A  28.  B  88.  [B  84.  H  59.  E  74.] 

gegen  die  angefochtene  Theorie  nur  auf  den  ersten  Fall  passt.  Dies  allein 
ist  auch  der  Sinn  der  Sätze  in  der  Dissertation  §  15  A :  conceptus  spotii  non 
abstrahitur  a  sensaiionibus  externis;  spatium  sensibus  hauriri  non  potest. 
Nicht  um  die  Mehrheit  der  empirischen  Gregenstände  handelt  es  sich  dabei, 
nicht  um  ein  diesen  mehreren  Gegenständen  Gemeinsames,  sondern  darum, 
dass  die  Baumvorstellung  überhaupt  nicht  erst  aus  der  von  aussen  ge- 
gebenen empirischen  Anschauung  eines  äusseren  Gegenstandes  herausgelöst 
und  daher  uns  eben  auch  nicht  gegeben  zu  werden  braucht;  denn  jene 
Gesammtanschauung  des  ausgedehnten  Körpers  kommt  ja  eben  nur  dadurch 
zu  Stande,  dass  wir  die  räum-  und  ortlosen  Empfindungen  in  ein  Neben- 
und  Äussere! n ander  verwandeln.  Wie  wenig  der  Plural  „a  sensatioitibus 
extemis"  bedeutet,  der  ja  auch  im  Texte  der  Kr.  d.  r.  V.  sich  findet  (.nicht 
von  äusseren  Erfahrungen  abgezogen"),  das  geht  ja  auch  aus  dem  Parallel- 
argument bei  der  Zeit  hervor,  wo  es  ausdrücklich  heisst:  «Die  Zeit  ist  kein 
empirischer  Begriff,  der  von  irgend  einer  Erfahrung  abgezogen  worden.^ 

Zweiter  Satz:  Beweis.  Denn  damit  gewisse  Empfindungen  u.  s.  w. 
Dieser  Satz  enthält  den  eigentlichen  Nervus  probandi.  Derselbe  beruht 
auf  der  Thatsache,  dass  ich  „gewisse  Empfindungen"  (nicht  alle;  nur  die 
, Organempfindungen "  werden  auf  äussere  Objecte  bezogen,  nicht  aber  die 
„Vitalempfindungen',  vgl.  Anthropologie  §  14)  „auf  etwas  ausser  mich  be- 
ziehe'', also,  wie  man  jetzt  sagt,  „projicire",  und  dass  diese  projicirten 
Empfindungen  sich  mir  in  einem  Ausser-  und  Nebeneinander  darstellen: 
d.  h.  ich  stelle  mir  dieselben  nicht  bloss  qualitativ  unter  einander  ver- 
schieden vor,  sondern  auch  an  verschiedenen  Orten  (local  verschieden). 
In  der  Dissertation  §  15  A  drückt  Kant  diese  Thatsache  so  aus:  pNon  enim 
aliquid  ut  extra  me  positum  concipere  licet^  nisi  iüud  repraesentando  tanquam 
in  locOf  ab  eo,  in  quo  ipae  sunt,  diverso;  neque  res  extra  se  invicem,  nisi 
iÜas  collocando  in  spatii  diversis  locis.**  —  Dass  in  der  zweiten  Auflage  nicht 
bloss  das  Ausser-,  sondern  auch  das  Nebeneinander  erwähnt  ist,  ist  eine 
„geringe  Modification"  (ß.  Erdmann,  Ks.  Krit.  S.  187):  Das  „Aussereinander' 
betrifft  das  Verhältniss  des  Sichausschliessens  der  sinnlichen  Gegenstände: 
das  „Nebeneinander''  ergänzt  diese  Bestimmung  durch  Erinnerung  an 
das  Verhältniss  des  Aneinandergrenzens  derselben. 

Ehe  wir  weitergehen,  muss  der  Ausdruck  beachtet  werden,  „dass  ge- 
wisse Empfindungen  auf  etwas  ausser  mich  bezogen  werden'.  Also 
die  Empfindungen  werden  nicht  bloss  projicirt,  sondern  als  projicirte  noch 
auf  ein  „Etwas"  bezogen.  Diese  Beziehung  unserer  Empfindungen  auf  einen 
Gegenstand  wird  hier  nicht  weiter  verfolgt;  Kant  hat  dieses  Problem  in 
der  Analytik  behandelt  und  geht  mit  Recht  nicht  näher  hier  darauf  ein. 
Er  beschränkt  sich  auf  die  Thatsache,  dass  ich  aus  meinen  inneren  Zu- 
ständen äussere  Gegenstände  mache,  indem  ich  die  Empfindungen  ausser 
mich  hinaus  versetze.  Kant  gebraucht  jedoch  diesen  später  so  beliebt  ge- 
wordenen Ausdruck  hier  nicht.  Dagegen  findet  sich  derselbe  bei  Kantianern, 
so  bei  Krug,  Lexicon  III,  427.     Kant  selbst  hat  den  Ausdruck  aber  auch 


Die  , Beziehung"  der  Empfindungen  auf  „Etwas"  ausser  mich.  161 

[R  34.  H  59.  E  74.]  A  23.  B  38. 

schon  mehrfach  gebraucht  an  einer  interessanten  Stelle  seiner  „Träume* 
(R.  Vn,  a,  68 ;  H.  II,  852) ;  dort  wird  das  Problem  der  „Versetzung*  innerer 
Bilder  nach  aussen  eingehend  behandelt;  der  „Ort  der  Empfindung*  sei  eine 
guothwendige  Bedingung  der  Empfindung,  ohne  welche  es  unmöglich  wäre, 
die  Dinge  als  ausser  uns  vorzustellen.  Hierbei  wird  es  sehr  wahrscheinlich, 
dass  unsere  Seele  das  empfundene  Object  dahin  in  ihrer  Vorstellung  ver- 
setze, wo  die  verschiedenen  Bichtungslinien  des  Eindrucks,  die  dasselbe 
gemacht  hat,  wenn  sie  fortgezogen  werden,  zusammenstossen*  u.  s.  w.  Tgl. 
dazu  Thiele,  Philos.  Ks.  I,  b,  50.  276  ff.  292  ff. 

Die  Beziehung  der  projicirten  Empfindungen  auf  Gegenstände  wird 
von  den  Commentatoren  hier  mehr  oder  weniger  als  selbstverständlich  an- 
genommen;  so  bei  ß einhold,  Theorie  des  Vorst.- Vermögens  895  ff,,  so  bei 
Metz,  Darstellung  des  K/schen  Systems  44  („Beziehung  gewisser  Empfin- 
dungen in  mir  auf  gewisse  Dinge  ausser  mir*).  Ulrich  in  seinen  In- 
stituHones  §47  lässt  sich  darüber  so  aus:  „Omnis  sensatio  externa  est  Status 
quidam  seu  affectio  animi  mei.  Huic  vero  sua  sponte  adjunctum  est  invictum 
aliquod  de  caussa  s,  objecto  quodatn  extra  nos  posito  Judicium,^  Er  will  aber 
diese  Erscheinung  (mit  Recht)  an  dieser  Stelle  nicht  weiter  verfolgen.  Es 
ist  darum  auch  unvorsichtig,  hier  schon  von  einer  causalen  Beziehung  zu 
sprechen,  wie  das  z.  B.  auch  die  anonymen  „Hanptmomente  der  kritischen 
Philosophie*  S.  84  thun:  „ich  stelle  meiner  Empfindung  etwas  ausser 
ihr  gegenüber,  von  welchem  ich  annehme,  dass  es  die  Ursache  dieser 
Wirkung  ist* ;  dies  wird  dann  auch  „Gegenstand*  genannt.  Viel  rich- 
tiger ist  hier  die  vorsichtige  Zurückhaltung  Kants  selbst.  (Nur  in  dem 
Nachgel.  Werke  XIX,  576  heisst  es  einmal,  dass  „wir  etwas  ausser  uns 
setzen,  wovon  wir  afficirt  werden,  d.  i.  als  Erscheinung  im  Raum  und  in 
der  Zeit*.)     Ueber  den  Ausdruck  „Beziehen*  s.  oben  S.  2. 

Man  kann  das  Stillschweigen  Kants  hier  über  diese  Frage  auf  zwei 
verschiedene  Arten  zurechtlegen:  entweder  versteht  Kant  unter  dem 
„Etwas*,  auf  welches  die  Empfindungen  bezogen  werden,  das  Ding  an  sich, 
die  letzte  Ursache  der  Affection;  er  glaubte  dann  auf  dasselbe  nicht  ein- 
gehen zu  müssen,  da  dessen  Voraussetzung  durch  Kant  schon  in  dem  Vor- 
hergehenden hinreichend  deutlich  gemacht  war,  wobei  freilich  noch  die  Frage 
bleibt,  wie  denn  das  empfindende  Individuum  selbst  zur  Annahme  eines 
solchen  komme;  denn  das  Individuum  muss  doch,  um  die  Empfindungen 
auf  dasselbe  beziehen  zu  können,  erst  zu  dessen  Annahme  auf  irgend  eine 
Weise  geführt  werden.  Oder  aber  —  Kant  versteht  unter  dem  Etwas  nur 
den  zu  der  Empfindung  von  uns  hinzugedachten  kategorialen  Gegenstand, 
den  wir  nur  durch  unsere  apriorische  Denkfunction  erzeugen;  dann  aber 
erhebt  sich  die  Frage,  wie  denn  dieses  Etwas  schon  bei  der  Entstehung  der 
Wahrnehmung  eine  Rolle  spielen  kann,  da  es  doch,  nach  den  späteren  Dar- 
stellungen des  Sachverhaltes,  erst  später  zu  der  Wahrnehmung  hinzugefügt 
wird,  die  ihrerseits  allein  schon  durch  Verbindung  von  empirischem  Empfin- 
dungsmaterial   und   reiner  Anschauungsform   entsteht.     Hier   aber    scheint 

Yaihinger,  Kant-Commentar.    11.  11 


162  §  2.    Erstes  Raumargument. 

A23.  B38.  [R  84.  H  59.  E  74.] 

doch  zum  Zustandekommen   der  Wahrnehmung   eben  schon  jenes  ^ Etwas* 
im  Voraus  nothwendig  zu  sein.     Vgl.  dazu  bes.  A  234  (B  309) ! 

Auf  diese  Weise  betrachtet,  erscheint  Kants  Stillschweigen  über  diesen 
Punkt  nicht  mehr  auf  Voi*sicht,  sondern  auf  Unklarheit  zurückgeführt  werden 
zu  müssen.     Vgl.  auch  oben  S.  4.  17.  32  ff.  56  ff. 

In  dieser  Weise  hat  denn  nun  auch  Schopenhauer  dieses  Thema 
weitergesponnen  ^  Er  hat  dies  gethan  in  dem  berühmten  §  21  seiner  Schrift 
über  den  Satz  vom  Grunde  (vgl.  auch  die  Schrift  „Ueber  das  Sehen  und 
die  Farben",  Cap.  I,  sowie  Welt  a.  W.  I,  14;  II,  13.  22  ff.).  Er  wirft  da 
Kant  vor,  in  der  Transsc.  Aesthetik  die  objective  Anschauung  ohne  Weiteres 
nur  durch  Verbindung  von  Empfindung  und  reiner  Anschauung  abgeleitet 
zu  haben,  anstatt  zu  erkennen,  dass  in  diesem  Process  der  Objectivirung 
der  rein  subjectiven  Empfindung  schon  die  Causalfunction  eine  entscheidende 
Rolle  spiele.  „Kant  hat  diese  Vermittelung  der  empirischen  Anschauung 
durch  das  uns  vor  aller  Erfahrung  bewnsste  Causalitätsgesetz  entweder  nicht 
eingesehen,  oder,  weil  es  zu  seinen  Absichten  nicht  passte,  umgangen.'  .Die 
Wahrnehmung  ist  bei  Kant  etwas  ganz  Unmittelbares,  welches  ohne  alle 
Beihilfe  des  Causalnexus  und  mithin  des  Verstandes  zu  Stande  kommt '': 
dies  belegt  Schop.  mit  der  Stelle  A  367  ff. ,  woselbst  Kant  diese  Meinung 
allerdings  unzweideutig  ausspricht.  Darnach  ist  die  ,  Wahrnehmung  äusserer 
Dinge  im  Baume  aller  Anwendung  des  Gausalgesetzes  vorhergängig ;  es  geht 
also  dieses  nicht  in  jene  als  Element  und  Bedingung  derselben  ein'.  Schop. 
drückt  dies  auch  so  aus,  dass  für  Kant  eigentlich  empirische  Anschauung 
mit  der  Empfindung  zusammenfalle,  was  aber  wiederum  falsch  ist,  da  ja 
nach  Kant  zur  blossen  rohQn  Empfindung  noch  die  reine  ordnende  Form 
hinzukommen  muss.  Aber  diese  reine  Anschauungsform  ist  eben  nach 
Schop.  nicht  Sache  einer  „reinen  Sinnlichkeit',  sondern  auch  schon  des 
„Intellectes",  dessen  Formen  eben  Baum,  Zeit  und  Causalität  sind.  Indem 
Schop.  diese  Formen  so  in  Eine  Linie  stellt  und  Einem  Vermögen,  dem 
Verstände,  zuschreibt,  drückt  er  damit  eben  schon  aus,  dass  die  Causalität 
immer  mit  Baum  und  Zeit  zugleich  ins  Spiel  komme.  Ja,  seiner  Theorie 
nach,  kommt  sogar  die  Causalität  zuerst  und  in  erster  Linie  ins  Spiel  bei 
der  Verwandlung  der  rein  subjectiven  Empfindung  in  die  objective  An- 
schauung. Er  betrachtet  diese  seine  Lehre  als  eine  nothwendige  Fortbildung 
der  Kantischen  selbst,  welche  er  „äusserst  fehlerhaft"  nennt;  dieselbe  habe 
seitdem  in  der  philosophischen  Literatur  immer  fortbestanden  (speciell  bei 
Schelling  und  Fries),  und  „Keiner  habe  sich  getraut,  sie  anzutasten' ;  ,ich 
habe  hier  zuerst  aufzuräumen  gehabt,  welches  nöthig  war,  um  Licht  in  den 
Mechanismus  unseres  Erkennens  zu  bringen*. 

Schopenhauer  geht  hiebei  von  der  schon  oben  S.  75  gekennzeichneten 
Prämisse  aus,  der  von  der  Empfindung  dargebotene  Stoff  sei  etwas  ,Aerm- 


^  üebrigens   findet   sich   diese   Fortbildung   Ks.   schon   bei   Fichte.    Vgl- 
Dilthey,  Sitz.-Ber.  d.  Berl.  Acad.  1890,  S.  981.  998. 


Mitwirkung  der  Causalität  nach  Schopenhauer  u.  A.  1(33 

[B  84.  H  69.  E  74.]  A  23.  B  88. 

liches*',  die  Hauptsache  thue  erst  der  „Intellect*  hinzu;  „erst  wenn  der 
Verstand  ...  in  Thätigkeit  geräth  und  seine  einzige  und  alleinige  Form, 
das  Gesetz  der  Causalität  in  Anwendung  bringt,  geht  eine  mächtige  Ver- 
wandlung vor,  indem  aus  der  -subjectiven  Empfindung  die  objective  An- 
schauung wird.  Er  nämlich  fasst,  vermöge  seiner  selbsteigenen  Form,  also 
a  priori,  d.  h.  vor  aller  Erfahrung  (denn  diese  ist  bis  dahin  nicht  möglich) 
die  gegebene  Empfindung  des  Leibes  als  eine  Wirkung  auf  (ein  Wort, 
welches  er  allein  versteht),  die  als  solche  noth wendig  eine  Ursache  haben 
muss.  Zugleich  nimmt  er  die  ebenfalls  im  Intellect,  d.  h.  im  Gehirn  prä- 
disponirt  liegende  Form  des  äusseren  Sinnes  zu  Hilfe,  den  Baum,  um  jene 
Ursache  ausserhalb  des  Organismus  zu  verlegen:  denn  dadurch  erst  ent- 
steht ihm  das  Ausserhalb,  dessen  Möglichkeit  eben  der  Baum  ist;  so  dass 
die  reine  Anschauung  a  priori  die  Grundlage  der  empirischen  abgeben  muss." 
,Der  Baum  macht  das  Nach-aussen- Verlegen  einer  Ursache,  die  sich  darauf 
als  Object  darstellt,  allererst  möglich."  „Zwischen  Empfindung  und  An- 
schauung ist  eine  grosse  Kluft;"  jene  ist  Sache  der  Sinne,  diese  „das  schöne 
Werk*  ist  Sache  des  Verstandes  ;  daher  spricht  Seh.  von  der  „Intellectualität 
der  empirischen  Anschauung",  wobei  eben  die  intellectuelle  Function  der 
Causalität  die  Hauptrolle  spielt. 

Während  nach  Kant  die  Causalität  bloss  dazu  nothwendig  ist,  um  in 
die  aus  Empfindung  und  reiner  Anschauung  entstandenen  Wahrnehmungen 
erst  gesetzmässig  geordneten  Zusammenhang  zu  bringen,  welche  bei  Kant 
, Erfahrung"  heisst  —  ist  bei  Schopenhauer  die  Causalität  nicht  bloss  für 
den  Zusammenhang  der  Wahrnehmungen,  sondern  schon  für  deren  Zu- 
standekommen nothwendig  (worin  derselbe  auch  den  wahren  Beweis  für 
die  Apriorität  der  Causalität  sieht).  Diese  Theorie  Schs.  von  der  Mitwir- 
kung der  Causalitätsfunction  beim  Zustandekommen  der  objectiven  An- 
schauung ist  sowohl  von  Philosophen  als  von  Naturforschern  acceptirt  und 
weiter  ausgebildet  worden.  Unter  den  Letzteren  ist  in  erster  Linie  Helm- 
holtz  zu  nennen,  welcher  in  seiner  Physiol.  Optik  §  26  ff.  (vgl.  seinen  Vor- 
trag „Ueber  das  Sehen  des  Menschen"  40  ff.)  jene  Theorie  in  originell  aus- 
geprägter Weise  vertritt.  Er  betont  besonders  den  auch  von  Schopenhauer 
angedeuteten  Umstand,  dass  jene  Anwendung  der  Causalfunction  eine  un- 
bewusste  ist,  und  speciell  als  ein  unbewusster  Schluss  bezeichnet  werden 
kann.  Auch  Zöllner  in  seinem  Kometenbuch  hat  dies  ausgeführt  S.  344  ff.; 
El.  Theorie  d.  Materie,  Vorr.  68  ff.;  Wiss.  Abh.  I,  218.  226.  237;  II,  184. 
202.     Dagegen  Wundt,  Logik  I,  454  f. 

Unter  den  Philosophen  hat  besonders  0.  Liebmann  jene  Theorie  aus- 
gebildet *  in  dem  geistvollen  Werke:    „Ueber   den   objectiven  Anblick. 

*  Auch  Cohen,  2.  A.  355.  365.  454,  findet  dieselbe  richtig,  aber  nicht  neu, 
da  K.  die  Sache  in  der  Deduction  der  Kategorien  erörtert  habe,  wo  sie  auch  erst 
hingehöre.  K.  habe  die  Lehre  von  der  Sinnlichkeit  hier  absichtlich  „isolirt".  Vgl. 
oben  S.  123.  Auch  Z  e  1 1  e  r  stimmt  hierin  mit  Helmholtz  überein ;  vgl.  dazu  Planck 
in  d.  Viert,  f.  wiss.  Philos.  HI,  17  ff.  152  ff.  Vgl.  Thiele,  Philos.  Ks.  I,  b,  298  ff.  309  ff. 


164  §2.    Erstes  Raumargument. 

A88.B88.  [B  34.  H  59.  E  74.] 

Eine  kritische  Abhandlung*,  1869  (vgl.  desselben  Werk:  Zur  Analysis  der 
Wirklichkeit,  1.  A.  48  ff.  128—169).     Liebmann  erkennt  an,  dass  , Schopen- 
hauer Kanten  in  diesem  Punkte  wirklich  corrigirt  hat''  (112) ;  in  dem  ersten 
Raumargument  habe  Kant  nur  die  Hftlfte  dessen  gesagt,  was  zu  sagen  war ; 
denn   er   habe   die   Function    der  Causalität   hier   übergangen.     Das   erste 
Raumargument   „spreche  sich   so   aus:   Die  Vorstellung  des  Raumes  über- 
haupt, als  desjenigen ,  das  nach  Höhe ,  Breite  und  Tiefe  yon  der  empirisch- 
realen, materiellen,  wahrnehmbaren  Welt  angefüllt  wird,  ist  nicht  ein  Pro- 
duct  der  Erfahrung,  sondern  eine  Voraussetzung  derselben".  —  Aber  diese 
Localisation  —  und  das  eben  habe  Kant  übersehen  —  setzt  voraus,  dass  das 
empfindende  Subject  überhaupt  einen  Anstoss  erhält,   seine   rein  subjective 
Empfindung  zu  objectiviren ,   und  hier  setzt  eben  die  » Denkform'  der  Cau- 
salität  ein.     Und  „ vermöge  des  Schlusses  nach  der  Kategorie  der  Causalität 
füllt  sich  für  das  Subject  der  Raum   an.     Jetzt  muss  die  Helligkeit,  der 
Klang,  die  Wärme,  der  Druck,  die  es  empfindet,  von  aussen  her  gekommen, 
d'opad'sv  ins  Bewusstsein  getreten  sein".    Liebmann  geht  indessen  darin  über 
Seh.  hinaus,  dass  nach  ihm  auch  noch  die  Denkform  der  Substantialität 
hier  nothwendig  ist  „als  Bedingung  der  Möglichkeit  einer  objectiven  Sinnes- 
anschauung" (126),   was  entschieden   consequenter  ist,   als  Schs.  Reduetion 
aller  Substanz  auf  blosse  Causalität.     Der  „intellectuelle  Mechanismus",  der 
also  beim  Zustandekommen    des   , Mirakels"    des   objectiven   Anblickes   zu- 
sammenwirkt, besteht  1)  aus  dem  sensualen  Factor,  2)  aus  dem  intellectuellen : 
letzterer  zerfdllt  a.  in  die  beiden  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit,  b.  in 
die  beiden  Denkformen  Causalität  und  Substantialität ;  dazu  tritt  dann  aber 
nach  Liebmann  3)  der  „transscendente  Factor",  d.  h.  die  Relation  zwischen 
dem  unbekannten  Etwas,  das  der  Aussen  weit  zu  Grunde  liegt,  und  dem  un- 
bekannten Etwas,  das  uns  selbst  zu  Grunde  liegt.    Aus  alle  diesem  ergibt  sich 
als  „Formel  für  die  Genesis  des   objectiven  Anblicks":    „Der  transscendente 
Factor   nöthigt   dem   sensualen  Licht-  und   Farbenempfindungen   ab,   deren 
Inhalt  vom  intellectuellen  Factor  in  räumliche  Form  objectivirt  wird."    (157.) 

Eingehend  ist  diese  Frage  neuerdings  behandelt  worden  von  Schneider, 
Ps.  Entw.  d.  Apriori  79 — 109:  „Der  Raum  im  thierischen  Innewerden  und 
im  natürlichen  menschlichen  Bewusstsein."  (Vgl.  desselben  Transscendental- 
psychologie,  1891,  S.  45  ff.  52  ff.)  Dass  die  apriorische,  schöpferische  Kraft 
den  Raum  producirt,  glaubt  er  bloss  durch  die  Causalfunction  „erklären"  zu 
können.  Dies  verficht  Schneider  gegen  Riehl  und  Classen  (Physiologie  des 
Gesichtssinns  69.  157);  und  im  Anschluss  an  Schopenhauer,  Helmholtz, 
Wundt,  Sigwart,  Liebmann,  Lange,  v.  Hartmann  führt  er  näher  aus,  dass 
wir  bei  der  Projection  der  Empfindung  speciell  mit  einem  Causalschluss 
operiren.  Bei  der  Verräumlichung  der  Sensibilität  erscheint  somit  die  Ver- 
standesthätigkeit  als  wesentlich:  „Das  optische  Ich  und  das  logische  Ich 
fallen  zusammen." 

Classen,  Phys.  d.  Ges.  157  ff.,  ist  ein  Gegner  dieser  Auffassung:  pDie 
Empfindung  ist  nach  Kant  allerdings  die  Wirkung  eines  Gegenstandes  auf 


Der  apriorische  Factor  der  Anschauung.  1(55 

[R  34.  H  59.  K  74.]  A  23.  B  38. 

unsere  Vorstellungsfähigkeit,  sofern  wir  von  demselben  affioirt  werden  [vgl. 
ol..«i  S.  26].  Trotzdem  schliessen  wir  in  der  Wahrnehmung  niemals  von 
der  Wirkung  auf  ihre  Ursache  zurück ;  denn  die  Wirkung  kommt  uns  selbst 
gar  nicht  zum  Bewusstsein,  sondern  durch  die  Wirkung  kommt  uns  der 
Gegenstand  unmittelbar  zum  Bewusstsein.*  Schneider  a.  a.  0.  102  ff.  sucht 
dies  zu  widerlegen;  er  hält  im  Gegentheil  die  intellectuelle  Form  der  Cau- 
salität  für  den  Kern  der  ^Thathandlung  der  Verräumlichung*  der  Eindrücke. 
Auf  jeden  Fall  bat  Kant  selbst  „die  grosse  Lehre  von  der  Intellectualität 
der  Sinneswahmehmungen*  (Dilthey,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  II,  649)  in 
diesem  Sinne  noch  nicht  innerhalb  seiner  Transsc.  Aesthetik  aufgestellt; 
in  welchem  Sinne  die  Analytik  den  ,Satz  der  Intellectualität*'  aufstellt, 
wii'd  daselbst  zu  erörtern  sein.  — 

Also  Thatsache  ist,  dass  wir,  indem  wir  die  Empfindungen  auf  ^ Etwas** 
ausser  uns  beziehen,  das  Ausser-  und  Nebeneinander  der  Empfindungen  zu 
Stande  bringen.  Nennt  man  das  Erstere  die  Protection  der  Empfindungen, 
so  könnte  man  das  Zweite  in  der  Kürze  als  Disjection  (oder  auch  Dis- 
location)  derselben  bezeichnen.  Diese  räumliche  Projection  und  locale  Dis- 
jection (Juxtaposition)  der  Empfindungen  ist  nun  —  nach  Kants  Argumen- 
tation —  nur  möglich,  wenn  »die  Vorstellung  des  Raumes  schon  zum 
Grunde  liegt*;  das  heisst  doch  wohl:  ich  könnte  die  Empfindungen  nicht 
in  den  Kaum  hinausversetzen  und  nicht  in  demselben  vertheilen ,  wenn  ich 
nicht  dazu  die  Baum  Vorstellung  schon  gleichsam  parat  hätte,  wenn  ich  sie 
nicht  schon  zur  Verfügung  hätte.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  jene 
Thatsache  erklärbar.  Für  jene  Thatsache  muss  dies  als  Ursache  an- 
gesetzt werden.  Hiebei  ist  nun  aber  stillschweigende  Voraussetzung,  dass 
eben  die  Empfindungen  selbst  als  solche  raumlos ,  ortlos  sind ,  dass  sie  erst 
durch  die  Baum  Vorstellung  in  räumliche  verwandelt,  transformirt 
werden  müssen.  Also  jene  oben  S.  72  besprochene  scharfe  Scheidung  von 
Inhalt  und  Form  der  Erscheinung  wird  hier  benützt  als  eine  ausserordent- 
lich wichtige,  aber  latent  bleibende  Prämisse.  (Vgl.  Cohen,  2.  A.  202.) 
Man  sieht,  wie  aus  jener  Annahme,  die  man  doch  nur  als  eine  petitio  prin- 
ciijii  charakterisiren  kann,  alsbald  sehr  weittragende  Consequenzen  gezogen 
werden.  Was  dort  nur  im  Allgemeinen  behauptet  war  —  dass  die  Form, 
welche  die  Empfindungen  ordnet,  „a  priori  im  Gemüthe  bereitliegen  müsse '^ 
5, und  abgesondert  von  aller  Empfindung  betrachtet  werden  können  müsse"  — 
das  wird  hier  am  Beispiel  des  Raumes  speciell  gezeigt.  (Vgl.  Volk elt  216.) 
Die  allgemeine  Raumvorstellung  ist  also  eine  Voraussetzung  für  „alle  con- 
crete  Localisirung**  (Ueberweg);  „die  allgemeine  Vorstellung  des  Raumes  ist 
die  Bedingung  aller  bestimmten  Raumanschauungen "  (Zeller,  Gesch.  der 
deutschen  Phil.  427).  Ich  kann  also  überhaupt  „keine  Empfindung  äusserer 
Dinge  ohne  die  Vorstellung  des  Raumes'  haben  (Schultz,  Erl.  S.  22),  Aus 
dieser  Priorität  der  Letzteren  folgt  dann  eben  unmittelbar  ihr  nicht- 
empirischer Ursprung.  Das  Argument  sagt  also  aus:  Der  Raum  sei  nicht 
ein  Theilinhalt  der  Wahrnehmung,  speciell  der  Gesichts-  und  etwa  noch  der 


l(3t)  §2.    Erstes  Raumargument 

A  23.  B  38.  [R  34.  H  59.  E  74.] 

Tastwahrnehmung,  sondern  eine  zu  dem  Empfindungsinhalt  hinzukommende 
Form.  (Vgl.  Liebmann,  Anal.  d.  Wirkl.  216  Anm.  In  dieser  Form  könnte 
auch  ein  ganz  anderer  qualitativer  Empfindangsinhalt  erscheinen,  „der  Inhalt 
ganz  anderer,  uns  unbekannter  Sinne,  etwa  eines  direct  magnetischen  Sinnes^.) 

Hiezu  vergleiche  man  folgende  Stelle  aus  Kants  Opus  Postumum  (XXI. 
550) :  „Baum  und  Zeit  sind,  obzwar  a  priori  in  der  reinen  Anschauung  ge- 
geben, dennoch  als  synthetisch  bestimmende  Erkenntniss,  Gründe,  welche 
nicht  aus  der  Erfahrung,  sondern  für  und  zum  Behuf  derselben,  nämlich 
als  subjectives  Princip  für  die  Möglichkeit  derselben,  die  Regel  geben.* 
Dieser  Gegensatz  —  „nicht  aus  der  Erfahrung,  sondern  für  die  Mög- 
lichkeit der  Erfahrung"  —  wird  überhaupt  daselbst  sehr  oft  wiederholt, 
z.  B.  XIX,  126.  263.  265  f.  272.  273.  282.  286  ff.  426.  458.  618  f.;  XX,  426; 
XXI,  84.  379.  887.  In  demselben  Werke  (XIX,  627  vgl.  620)  findet  sich 
folgende  beachtenswerthe  Formulirung:  „Raum,  Zeit  als  subjective  Formen, 
sind  nicht  abgeleitete  Erkenntnissstücke  (repraeseiitatio  derivaliva),  sondern 
ursprünglich  (repraesentatio  primaria)  in  dem  Vorstellen  gegeben.*  Ygl. 
a.  a.  0.  434.  624.  627:  „Das  Aggregat  der  Wahrnehmungen  zum  Bebufe 
der  Möglichkeit  der  Erfahrung  setzt  jene  Anschauung,  das  Formale  TOr 
•  dem  Materialen,  voraus." 

Zu  diesem  Zweck  also  muss  „die  Vorstellung  des  Raumes  schon 
zum  Grunde  liegen".  Diese  Wendung  wiederholt  Kant  nachher  noch 
mehrfach  in  dem  parallelen  Zeit-,  sowie  im  zweiten  Raumargument;  dazu 
vergleiche  man  die  merkwürdige  Stelle  A  267  (merkwürdig,  weil  sie  wahr- 
scheinlich eine  der  ältesten  Partien  der  Kr.  d.  r.  V.  ist),  in  welcher  jener  Aus- 
druck in  mehreren  Variationen  gebraucht  wird,  und  wo  es  dann  heisst,  die 
sinnliche  Anschauung  sei  eine  subjective  Bedingung,  „welche  aller  Wahr- 
nehmung a  priori  zum  Grunde  liegt  und  deren  Form  ursprünglich  ist*. 
Und  in  den  Prolegomena  §  13  Anm.  I  heisst  es:  „Die  Form  der  sinnlichen 
Anschauung,  die  wir  a  priori  in  uns  finden,  enthält  den  Grund  der  Mög- 
lichkeit aller  äusseren  Erscheinungen  (ihrer  Form  nach).*  „Die  Sinnlich- 
keit ...  ist  die  subjective  Grundlage  aller  äusseren  Erscheinungen.*  Ebenso 
lautet  die  Anmerkung  Kants  in  seinem  Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge 
Nr.  XV):  „Der  Raum  ist  nicht  ein  von  der  Erfahrung  hergenommener  Be- 
griff, sondern  ein  Grund  möglicher  äusserer  Erfahrung.*  Und  ganz  in 
demselben  Sinne  heisst  es  schon  in  der  Dissertation  §  15  c :  „Conceptus 
spaiii .  .  .  est  sensationibus  non  conftatus,  sed  omnis  aensationis  extemae  forma 
fundamentalisJ^  Also  die  Raumvorstellung  liegt  allen  äusseren  Anschau- 
ungen als  eine  apriorische  Vorstellung  zu  Grunde.  Die  Raumvorstellung 
ist  gleichsam  das  Fundament,  auf  welchem  erst  das  Gebäude  der  äusseren 
Erfahrungen  aufgebaut  werden  kann;  und  dieses  Fundament  ist  im  Subjeet 
gelegt,  insofern  eben  die  Raumvorstellung  eine  apriorische  ist. 

Dem  gegenüber  erscheinen  Cohens  Bemerkungen  hierüber  höchst  wunder- 
lich. Er  sagt  (1.  A.  8;  2.  A.  95  f.):  „Man  darf  über  dieses  Schon  zum 
Grunde  liegen  nicht  flüchtig  hinweggehen  ...  In  welcher  Weise  die  Vor- 


Die  Vorstellung  des  Raumes  muss  „zum  Grunde  liegen**.  167 

[B  84.  H  59.  E  74.]  A2d.B88. 

Stellung  des  Raumes  der  Vorstellung  von  der  örtlichen  Verschiedenheit  der 
Empfindungen  .  .  .  zum  Grunde  liege  und  liegen  könne,  wo  der  Raum  diesen 
seinen  Grund  (?!)  habe,  ob  im  Object  oder  im  Subject  .  .  .  dies  Ä.lles  ist 
durch  den  ersten  Satz  noch  nicht  ausgemacht.  Dahingegen  ist  dies  gesagt: 
dass  den  äusseren  Vorstellungen  der  Raum  zum  Grunde  liege,  dass  er  dem- 
nach (!)  irgendwie  in  der  Erfahrung  enthalten  sein  müsse  (!),  ...  es  wird 
anf  eine  Erfahrung  hingewiesen,  in  welcher  der  Raum  seinen  Grund  hat." 
Und  in  dieser  Weise  lässt  sich  Cohen  noch  öfters  aus  über  „den  vorsichtigen 
Ausdruck  des  zum  Grunde  Liegens"  (99).  In  der  That,  eine  wunderliche 
Auslegung!  Eine  Auslegung,  welche  Kant  genau  das  Gegentheil  dessen 
sagen  lässt,  was  er  in  Wirklichkeit  sagt.  Aehnlich  wunderlich  Stadler, 
Reine  Erk.  59.    Vgl.  dazu  auch  Witte,  Beiträge  18.    Vgl.  oben  157. 

Von  den  meisten  Commentatoren  wird  denn  auch  der  Ausdruck  „zum 
Grunde  liegen"  umschrieben  durch  ^vorhergehen",  „vorausgehen",  oder  ähn- 
liche Wendungen;  so  bei  Schulz,  Erläuterungen  S.  22;  in  den  anonymen 
„Hauptmomenten"  S.  84;  Jacob,  Prüfung  der  Morgenstunden  S.  25.  26. 
30;  Metz,  Darstellung  des  K. 'sehen  Systems  44 ;  Lossius,  Lexicon  III,  514. 
515;  Tiedemann,  Theätet  S.  58;  Weishaupt,  Zweifel  u.  s.  w.  S.  15; 
Eberhard,  Philos.  Archiv  I,  1,  91;  Schulze,  Kritik  der  theor.  Philosophie 

I,  202.  (In  recht  grober  und  banaler  Weise  fassten  vulgarisirende  Kantianer 
dies  Prioritätsverhältniss  der  Raum  Vorstellung  zur  Erfahrung,  so  Bendavid, 
Vorl.  S.  14;  Heusinger,  Enc.  I,  285.) 

Der  Ausdruck  „vorhergehen"  statt  „zum  Grunde  liegen"  ist  übrigens 
auch  durch  Kants  eigenen  Gebrauch  als  Kantisch  bezeugt;  so  sagt  Kant  in 
den  Prolegotnefia  §  10:  Reine  Anschauungen,  welche  den  empirischen  An- 
schauungen „zum  Grunde  liegen",  sind  blosse  Formen  unserer  Sinnlichkeit, 
„welche  vor  aller  empirischen  Anschauung,  d.  i.  der  Wahrnehmung  wirk- 
licher Gegenstände  vorhergehen  müssen".   Dazu  stimmt  auch  die  Reflexion 

II,  N.  336:  „Ist  der  Raum  vor  den  Dingen?  Allerdings.  Denn  das  Gesetz 
der  Co  Ordination  ist  vor  den  Dingen  und  liegt  ihnen  zum  Grunde." 
Ebenso  N.  348:  „Der  Raum  geht  vor  den  Dingen  vorher;  daher  kann  er 
kein  Prädicat  der  Dinge,  sondern  nur  ein  Gesetz  der  Sinnlichkeit  sein, 
welches  als  die  Condition  aller  möglichen  Erscheinungen  freilich  vor  allem 
Wirklichen  vorhergeht."  N.  350:  „Priorität  des  Raumes  vor  den  Er- 
scheinungen." if.  1428:  „Die  Zeit  und  der  Raum  gehen  vor  den  Dingen 
vorher.  Das  ist  ganz  natürlich;  beide  nämlich  sind  subjective  Bedingungen, 
unter  welchen  nur  den  Sinnen  Gegenstände  können  gegeben  werden.  Objectiv 
genommen  würde  dieses  ungereimt  sein."  Vgl.  das  nachgel.  Werk  XXI,  353. 
361 :  „Die  reine  Anschauung  a  priori  muss,  nach  Lichtenberg  und  Spinoza, 
vor  der  empirischen  (der  Wahrnehmung)  vorangehen."  Im  Anschluss  an 
Kants  Inaug.-Dissertation  von  1770  behauptet  auch  Tetens  in  seinen  „Philos. 
Versuchen"  (vgl.  0.  Ziegler,  Tetens'  Erk.-Th.  Diss.  Lips.  1888,  S.  49.  54), 
„dass  die  Verhältnisse  von  R.  n.  Z.  wohl  noch  vor  dem  Gewahrnehmen  der 
auf  einander  bezogenen  Sachen  vorhergehen." 


1(38  §  2.    Erstes  Raumargument. 

A  23.  B  38.  [R  34.  35.  H  59.  K  74.  75.] 

Ebenso  bemerken  fast  alle  Gommentatoren  ausdrücklich,  dass  —  was 
trotz  Cohens  Bestreitung  allerdings  selbstverständlich  ist  —  die  RaumTor- 
stellung  im  Subjecte  vorhergehen,  oder  „zum  Grunde  liegen  muss*.  So 
z.  B.  Brastberger  in  seinen  Untersuchungen  über  die  Kr.  d.  r.  V.  8.  47; 
9  Der  Raum  kann  nicht  als  Resultat  der  Wahrnehmung,  nicht  als  entsprungen 
aus  derselben  und  als  erzeugt  durch  sie  angesehen  werden,  sondern  muss 
als  ihre  Bedingung  in  dem  Gemüthe  zum  Voraus  schon  liegen."  So 
Jacob  in  seiner  Schrift  gegen  Mendelssohn  S.  25:  „Raum  und  Zeit  müssen 
Vorstellungen  sein,  welche  in  der  Natur  der  menschlichen  Seele 
selbst  schon  zum  Grunde  liegen  und  welche  allen  übrigen  Vorstellungen 
vorhergehen  oder  alle  anderen  Vorstellungen  möglich  machen.^  So  Lossius 
III,  514;  so  Villers  in  Riaks  „Mancherley"  S.  21;  Kiese wetter,  Fass- 
liebe  Darstellung  S.  29.  30.  32;  Ulrich  in  seinen  histitutiones  S.  6.  7: 
„Visorum  ac  sensorum  externorum  spatium  forma  quaedam  est,  subjeciiva 
Uta  quidem,  non  cum  ipso  demum  viso  impresso  et  adventitia,  sed  insita 
animo  nostro,  omnique  viso  extrinseco  superior  et  prior'*;  Tiedemann, 
Theätet  S.  59;  Schulze,  Kritik  der  theoret.  Philos.  I,  207;  Cousin,  Philos, 
de  Kant  S.  77. 

Wenn  nun  demgemäss  von  Anfang  an  alle  Gommentatoren  das  zeit- 
liche Vorhergehen  der  Raumvorstellung  im  Subjecte  vor  der 
Wahrnehmung  gelehrt  haben  —  dieses  zeitliche  Vorhergehen  wird  be- 
sonders betont  von  Jacob  — ,  so  haben  mehrere  derselben  doch  allerdings 
hinzugefügt,  dieses  Vorhergehen  sei  nur  ein  potentielles;  actuell  werde 
die  Raumvorstellung  doch  erst  durch  den  Act  und  in  dem  Act  des  Wahr- 
nehmens selbst.  So  Brastberger,  Untersuchungen  S.  47;  Schmid,  Cr.  d. 
r.  V.  S.  18:  „Die  empirische  Wahrnehmung  von  Etwas  als  ausser  mir  und 
aussereinander  setzt  schon  die  Vorstellung  vom  Raum  voraus *",  und  ebenso 
ist's  mit  der  Zeit,  »obgleich  diese  Vorstellungen  selbst  ohne  vor- 
hergegangene empirische  Wahrnehmungen  nicht  klar  bei  uns 
werden".  Die  Jenaer  Allg.  Lit.-Zeit.  1788,  I,  251  erläutert:  ,Der 
allerersten  Unterscheidung  zweyer  Dinge,  als  ausser  einander,  sey  sie  auch 
noch  so  dunkel,  muss  ja  eben  schon  die  Vorstellung  des  Raumes,  wena 
auch  noch  so  wenig  entwickelt,  selbst  sogar  vor  aller  Benennung,  zum 
Grunde  liegen.*  In  der  That  lässt  sich  auch  die  Apriorität  der  Raumvor- 
stellung in  diesem  ersten  Raumargument  wohl  als  eine  potentielle  fassen  — 
eine  Auslegung,  welche  freilich  bei  den  beiden  letzten  Raumargumenten 
nicht  mehr  möglich  ist  und  in  der  Transsc.  Erörterung,  bei  der  Ableitung 
der  Mathematik  aus  der  apriorischen  Raumanschauung,  vollständig  scheitert. 

Dritter  Satz :  Schlussfolgerung.  Demnach  kann  die  Yorstelliuig 
des  Baumes  nicht  u.  s.  w.  Dieser  mit  „demnach"  eingeleitete  Satz  ent- 
hält die  Schlussfolgerung  aus  dem  vorhergehenden  Satze.  Diese,  mit  dem 
Inhalt  des  ersten  Satzes,  der  These,  sachlich  gleichlautende  Schlussfolgerong 
ist  ebenfalls  nur  negativ  ausgedrückt  (,,der  Raum  ist  nicht  aus  der  äusseren 
Erfahrung   erborgt*') ;    und    an    dieselbe    schliesst    sich    dann    in    dem    mit 


Die  Raumvorstellang  macht  die  Erfahrung  „allererst"  möglich.  169 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  23.  B  38. 

,, sondern"  eingeleiteten  Adversativsätzchen  eine  nochmalige  Wiederholung  des 
Beweisgrundes  in  umschreibender  Form  („Die  äussere  Erfahrung  ist  allererst 
durch  die  Raum  Vorstellung  möglich"). 

Diese  ganze  Schlussfolgerung  ist  in  der  Dissertation  §  15  A  so  aus- 
gedrückt: „Possibüüas  ergo  perceptionum  externarum  qua  talium  supponit 
coneeptum  spcUii,  nan  creat;  9icuti  etiam,  qucte  sunt  in  spatio,  sensus  afficiunt, 
spaiium  ipsutn  sensibus  hauriri  non  potest/'  Charakteristisch  ist 
die  Ausdrucksweise  der  Prolegomena  %  1  di,  Anm.  I :  „Der  Raum  in  Gedanken 
macht  den  physischen  Raum,  d.  i.  die  Ausdehnung  der  Materie  selbst  mög- 
lich." In  der  mehrerwähnten  Stelle  der  Kr.  d.  r.  V.  A  267  drückt  sich  Kant 
so  aus :  „Die  Form  der  Anschauung  (als  eine  subjective  Beschaffenheit  der 
Sinnlichkeit)  geht  vor  aller  Materie  (der  Empfindungen),  mithin  Raum  und 
Zeit  vor  allen  Erscheinungen  und  allen  datis  der  Erfahrung  vorher  und 
macht  diese  vielmehr  allererst  möglich  .  .  .  Der  Intellectualphilosoph 
(Leibniz)  konnte  es  nicht  leiden,  dass  die  Form  vor  den  Dingen  selbst 
vorhergehen  und  fieser  ihre  Möglichkeit  bestimmen  sollte"  u.  s.  w. 

Bemerkenswerth  ist  in  dieser  Parallelstelle  die  Wiederkehr  des  be- 
zeichnenden Wörtchens  „allererst",  welches  Kant  für  die  Charakteristik 
seines  Apriori  mit  Vorliebe  verwendet.  So  heisst  es  auch  in  den  Prolego- 
mena §  11:  „Die  blosse  Form  der  Sinnlichkeit  geht  vor  der  wirklichen  Er- 
scheinung der  Gegenstände  vorher,  indem  sie  dieselbe  in  der  That  allererst 
möglich  macht."  Ebenso  ebendaselbst  §  13  Anm.  I:  „Die  Sinnlichkeit  macht 
durch  ihre  Form  äusserer  Anschauung,  den  Raum,  die  Gegenstände  als 
blosse  Erscheinungen  selbst  allererst  möglich."  Dieses  Wörtchen,  das 
auch  schon  Crnsius  (z.  B.  Vernunftwahrh.  §  49)  genau  in  demselben  Sinne 
und  in  derselben  Verbindung  mit  „möglich  machen"  anwendet,  kehrt  bei 
Kant  unzählige  Mal  wieder.  In  der  Kantliteratur  wird  der  Ausdruck  auch 
mit  Vorliebe  angewendet;  z,  B.  in  der  Jen.  Allg.  Lit.-Zeitung  1790, 
Nr.  282,  S.  510;  bei  Schulze,  Kritik  der  theoret.  Philos.  II,  205.  210.  211. 
Ferner  besonders  von  Schopenhauer  und  von  dem  ganzen  von  ihm  beein- 
fiussten  Neukantianismus  (Liebmann,  Cohen).  Vgl.  ferner  z.  B.  Göring, 
Raum  u.  Stoff  95.    Riehl,  Krit.  I,  373. 

Aus  diesen  und  vielen  anderen  Parallelstellen  geht  der  Sinn  der  Stelle 
unzweideutig  hervor:  die  Vorstellung  des  Raumes  wird  nicht  erst  durch 
vorhergegangene  Erfahrung  ermöglicht,  sondern  die  äussere  Erscheinung  ist 
selbst  erst  ermöglicht  durch  die  Raum  Vorstellung.  Es  handelt  sich  also 
nicht  um  ein  Hervorgehen  der  Raum  Vorstellung  aus  der  Erfahrung, 
sondern  um  ein  Vorhergehen  derselben  vor  dieser.  Nicht  aus  der  Er- 
fahrung also  brauche  ich  die  Raumvorstellung  erst  abzuziehen,  nicht  ei*st 
von  ihr  zu  lernen,  zu  erfahren,  dass  es  einen  Raum  gibt;  denn  um  jene 
Erfahrung  haben  zu  können,  dazu  muss  ich  ja  schon  die  Raumvorstellung 
haben.  Diese  geht,  wie  jede  Bedingung  ihrem  Bedingten,  so  der  Er- 
fahrung voraus.  Bündig  und  gut  drückt  das  Fischer,  2.  A.  S.  318  f.^  so 
aus,  der  Raum  sei  nicht  das  Product  der  Erfahrung,  sondern   deren  Be- 


170  §2.    Erstes  Raumargument. 

A  23.  B  88.  [R  35.  H  59.  E  75.] 

dingUDg.  Nicht  in  der  Erfahrung  „ist  der  Baum  enthalten  und  dann  davon 
abgezogen  worden"  (Schmidt,  Wörterbuch  S.  441),  sondern  die  Erfahrung  ist 
erst  im  Räume  enthalten  und  wird  erst  durch  ihn  erhalten;  und  wenn 
der  Raum  nicht  „abgezogen  ist  aus  der  Erfahrung  des  äusseren  Sinnes  und 
aus  den  Verhilltnissen  der  Dinge  in  demselben,  so  ist  er  auch  nicht  durch 
Einwirkung  gewisser  Objecte  auf  unser  Gemüth  entstanden",  wie  Schulze 
in  seiner  Kritik  der  theoret.  Philosophie  I,  207  im  Sinne  Kants  weiter  aus- 
fuhrt. Und  Tiedemann,  Theätet  59,  folgert:  „Wir  bringen  also  den  Raum 
zu  der  Empfindung  schon  mit  und  er  liegt  vor  aller  Empfindung  in  unserem 
Gemüthe ;"  und  ib.  S.  67 :  „Er  ist  eine  unserem  Gemüthe  vor  allen  Empfin- 
dungen anklebende,  folglich  aus  uns  in  die  Gegenstände  hinübergetragene 
Vorstellung."  — 

Nach  der  üblichen  Terminologie  kann  man  das  Resultat  auch  so  zu- 
sammenfassen: Der  Raum  ist  nicht  von  der  Erfahrung  abstrahirt.  In- 
dessen ist  Kant  kein  Freund  dieses  Sprachgebrauches,  den  er  in  der  Schrift 
gegen  Eberhard  (Ros.  I,  416)  ausdrücklich  zurückweist  —  allerdings  aus 
nicht  stichhaltigen  Gründen,  die  uns  also  auch  nicht  abhalten  können,  jener 
Ausdrucks  weise  uns  zu  bedienen.  Vgl.  oben  159.  Ausserdem  hat  Kant  jene  Aus- 
drucksweise selbst  adoptirt  in  seinem  Aufsatze  gegen  Kästner,  vgl.  oben  S.  93. 

Daselbst  sind  auch  noch  andere  Stellen  mitgetheilt,  aus  denen  hervor- 
geht, dass  Kant  gelegentlich  unterschieden  hat  zwischen  der  unwillkürlich 
entstandenen  Anschauung  der  Aussenwelt,  bei  welcher  die  Raumanschauung 
als  unbewusster  apriorischer  Factor  mitwirkt,  und  zwischen  der  aus  den 
so  entstandenen  sinnlichen  Vorstellungen  erst  nachträglich  abstrahirten 
aposteriorischen  bewussten  Raum  Vorstellung.  Dies  ist  auch  der  Sinn  der 
Reflexion  II,  N.  336:  „Ist  der  Raum  vor  den  Dingen?  Allerdings.  Denn 
das  Gesetz  der  Coordination  ist  vor  den  Dingen  und  liegt  ihnen  zum  Grunde. 
Allein  ist  der  Raum  ohne  Dinge  empfindbar,  oder  kann  man  ihn  nur 
durch  die  Dinge  bemerken?  Ja."  Cohen,  dem  diese  Stelle  auch  schon 
aufgefallen  ist,  macht  dieselbe  dafür  geltend  (2.  A.  105),  dass  nach  Kant 
der  Raum  unbeschadet  seiner  Apriorität  empirisch  abgeleitet  werden  muss. 
Dies  hat  nur  Sinn  in  der  eben  entwickelten  Weise,  wenn  die  Apriorität  als 
unbewusste,  die  empirische  Ableitung  als  bewusste  unterschieden  werden. 
In  der  That  Hesse  das  erste  Argument  als  solches  diese  Auslegung  zu;  das 
„zum  Grunde  liegen"  wäre  ein  unbewusstes,  was  nicht  ausschliesst,  dass  wir 
aus  den  so  entstandenen  sinnlichen  Anschauungen  der  Gegenstände  die  Raum- 
vorstellung für  unser  Bewusst^sein  nachträglich  abstrahiren.  Aber  bei  dieser 
Auffassung  Hesse  sich  die  Apriorität  der  Mathematik  nicht  halten.  Kant 
hat  sie  also  entweder  nicht  gehabt,  oder,  wenn  er  sie  gehabt  hat,  —  was 
allerdings  die  oben  mitgetheilte  Stelle  beweist  —  dann  hat  er  sich  eben 
widersprochen.  Diesen  fundamentalen  Widerspruch  haben  wir  ja  schon  oben 
S.  88,  93  hinreichend  kennen  gelernt. 

Wenn  wir  nun  das  Resume  dieser  Erklärungen  ziehen,  so  finden  wir 
bestätigt,  was  wir  schon  anfangs  vorläufig  hinstellten  (s.  oben  S.  156):  Das 


Die  Priorität  des  Raumes  als  Beweisgrund  für  seine  Apriorität.        171 

[B  35.  H  59.  K  75.]  A  28.  B  88. 

eij^^entlicbe  Beweis  thema  (objectum  prohationis)  ist  der  nicht-empirische,  somit 
apriorische  Ursprung  der  Baum  Vorstellung ,  die  Apriorität  des  Raumes. 
Der  Beweisgrund  {argumentum  prohationis)  liegt  in  der  Noth wendigkeit  der 
Priorität  der  Baumvorstellung  vor  jeder  wirklichen  Wahrnehmung.  — 

Diese  unsere  Darstellung  wäre  nun  gänzlich  verfehlt,  wenn  Cohens 
Auslegung  dieses  ersten  Baumargumentes  richtig  wäre.  Nach  ihm  (1.  Aufl. 
7  ff.  13  ff.  26  ff. ;  2.  Aufl.  96  ff.)  verhält  sich  die  Sache  vielmehr  folgender- 
massen:  Im  ersten  Baumargument  will  Kant  nur  beweisen,  dass  die 
Raumvorstellung  „jeder  einzelnen  Wahrnehmung  örtlicher  Verschiedenheit 
vorhergehe",  also  die  „relative  Priorität  der  Baumvorstellung  vor  der 
Vorstellung  des  Bäumlichen" ;  „nach  dem  ersten  Satze  war  von  dem  Baume 
nur  eine  relative  Priorität  aus  den  einzelnen  Localisirungen  geschlossen 
worden**.  (S.  96.  97.  103.  120.  123.)  Erst  das  zweite  Argument  beweise 
die  Apriorität  der  Baumvorstellung  (S.  103.  119.  120);  im  ersten  Argu- 
ment aber  „ist  von  einem  a  priori  noch  gar  nicht  die  Bede"  (96).  Ueber- 
haupt  sei  der  erste  Satz  eigentlich  nur  negativ;  „nur  den  negativen  Satz 
wollt«  Kant  beweisen:  der  Baum  ist  kein  empirischer  Begriff**  (97).  Doch 
wird  dann  dem  Satze  noch  eine  gewisse  Positivität  zugeschrieben,  im  Unter- 
schiede von  der  Fassung  in  der  Dissertation  von  1770;  neu  sei  hier  der 
Ausdruck  „zum  Grunde  liegen**;  dieser  Ausdruck  sei  von  „vielsagender, 
vielversprechender  Positivität**. 

An  dieser  Darstellung  Cohens  (welche  schon  von  Thiele,  Ks.  int. 
Ansch.  S.  186  angegriffen  worden  ist,  sowie  von  Witte,  Beiträge  S.  27)  ist 
alles  falsch.  Die  Behauptung,  in  dem  ersten  Argument  sei  noch  nicht  von 
Apriorität  die  Bede,  lässt  sich  ja  aufs  einfachste  widerlegen  durch  den  Hin- 
weis auf  das  entsprechende  Zeitargument ;  da  heisst  es  ja  ausdrücklich,  dass 
„die  Vorstellung  der  Zeit  a  priori  zum  Grunde  liege**;  da  haben  wir  ja  den 
vermissten  Ausdruck  in  optima  forma !  (Cohen  hat  dies  allerdings  bemerkt, 
aber  äusserst  gezwungen  erklärt,  2.  A.  182.)  Auch  haben  alle  namhaften 
Ausleger  den  Satz  immer  so  verstanden,  vorab  der  berufenste  derselben, 
Schultz,  in  seiner  Prüfung  I,  114.  Der  Satz  ist  also  auch  nicht  bloss 
negativ,  und  wenn  auch  die  negative  Ausdrucks  weise  überwiegt,  so  doch 
sachlich  für  Kant  „nicht-empirisch**  und  ,, apriorisch**  ganz  identisch.  Vgl. 
Comm.  I,  169  ff.  191  ff.  Zu  seiner  ungenauen  Auslegung  hat  sich  Cohen 
verführen  lassen  durch  seine  Tendenz,  in  den  Ausdruck  a  priori  mehr  hinein? 
zulegen,  als  Kant  selbst. 

Damit  fällt  nun  auch  das  andere  Missverständniss  Cohens,  Beweistheraa 
sei  bloss  die  Priorität  der  Baumvorstellung  vor  den  einzelnen  räumlichen 
Wahrnehmungen;  das  ist  aber  nicht  das  Beweisthema,  sondern  vielmehr 
der  Beweisgrund,  was  eben  Cohen  so  gründlich  verkannt  hat.  Bichtiger 
sein  Anhänger  Stadler,  Beine  Erk.-Th.  31  ff. '  — 


*  Recht  hat  dagegen  Cohen,  wenn  er  (1.  A.  63,  2.  A.  162  ff.)  es  Trendelen- 
bürg.  Log.  Unters.  2.  A.  162,  nicht  durchgehen  läset,   welcher  sagt,  hier  sei  be- 


172  §2.    Erstes  Raumargument. 

A  23.  B  38.  [R  35.  H  69.  E  75.] 

Uebrigens  wird  diese  psychologische  Priorität  der  allgemeinen  Raom- 
vorstellung  vor  jeder  einzelnen  Localisirung ,  welche  Cohen  mit  Recht  im 
ersten  Argument  findet  (nur  dass  er  sie  irriger  Weise  für  das  probandum 
hält  statt  für  das  probans)  —  diese  psychologische  Priorität  wird  nachher 
von  Cohen  selbst  wieder  wegdisputirt.  lieber  diese  eigenthümliche  Stellung- 
nahme Cohens  haben  wir  uns  ja  schon  oben  mehrfach  orientirt,  S.  96, 
S.  98  f.,  S.  152  ff.  Wir  fanden  da,  dass  Cohen  jene  psychologische  zeitliche 
Priorität  dann  doch  nicht  recht  will  gelten  lassen,  dass  er  dieselbe  als  bloss 
,, metaphysisches  Apriori*'  verdächtigt  und  heruntersetzt,  um  an  Stelle  dieser 
niedrigen  Auffassung  die  erhabenere  „transscendentale^*  zu  setzen,  wonach 
Kant  nimmermehr  die  Raumvorstellung  als  etwas  den  einzelnen  Wahr- 
nehmungen zeitlich  Vorhergehendes  habe  fassen  wollen,  sondern  vielmehr 
als  einen  logisch  noth wendigen  constituirenden  Factor  der  Erfahrungs- 
erkenntniss  ^ 

Ganz  in  diesem  Cohen'schen  Sinne  sagt  auch  Adamson,  Kant  144  f.: 
„R.  u.  Z.  sind  nicht  rein  subjective  Gespenster,  mit  deren  Hülfe  die  Einzel- 
intelligenz in  das  subjective  Flickwerk  von  Sinnlichkeitsacten  Ordnung 
zaubert,  sondern  Bedingungen,  unter  denen  die  Materie,  das  Aeussere  als 
solches,  für  jedwelche  Intelligenz  möglich  ist.  Das  ist  der  eigentliche 
Kern  seines  Beweises,  dem  unglücklich  psychologischen  Anstrich 
zum  Trotz,  welchen  er  bei  Kant  eingestandener  Maassen  hat."  So  auch 
Morris,  Kant  61.  Auch  Harms  in  seiner  Gesch.  d.  Log.  S.  219  sagt: 
„Nicht  nach  der  zeitlichen  Priorität  ist  das  Apriori  benannt,  sondern  nach 
seiner  von  der  Erfahrung  unabhängigen  Gültigkeit.'^  Aehnlich  Caird,  Crit 
Phil,  I,  287.     Windelband,  Gesch.  d.  Phil.  420.  426. 

Dieselbe  Auffassung,  womöglich  noch  schärfer  ausgeprägt,  finden  wir 
bei  Riehl,  Krit.  I,  347  if . ;  auch  Riehl  dehnt  jene  Auffassung  auf  sämmt- 
liche  vier  Beweisgründe  aus;  „Die  Sätze ,  womit  die  Thatsache  bewiesen 
wird,  dass  die  Vorstellung  des  Raumes  a  priori  sei ,  ...  sind  das  reine  £r- 
gebniss  einer  Analyse  der  Vorstellung  selbst,  ohne  alle  Beziehung  auf 
ihren  subjectiven  Ursprung."  „Man  hat  die  Beweisgründe  Kants  nicht 
immer  richtig  verstanden,  weil  man  in  ihnen  bereits  den  Ursprung  der 
Raum  Vorstellung  aus  der  Form  des  Bewusstseins  sah,  oder  sie  psychologisch 
deutete.  In  Wahrheit  enthalten  sie  nichts,  was  nicht  unmittelbar  aus  der 
Analyse  der  RaTimvorstellung  folgt.  Ohne  noch  zu  entscheiden,  ob  der  Raum 
selbst  ein  Ding  oder  Unding  sei,  ob  er  subjectiv  oder  objeetiv  entspringe, 
erläutern   sie   nur  seine  Vorstellung.     Die  Apriorität,    die   sie  lehren, 


wiesen,  der  Raum  sei  etwas  Subjectives  und  ein  a  priori.  Von  der  Subjectivitat 
=  Idealität  ist  hier  noch  nicht  die  Rede,  nur  von  der  Apriorität.  Vgl.  Grapen- 
giesser,  R.  u.  Z.  45  f. ;  Tiebe  a.  a.  0.  10  ff. 

'  Ganz  dieselbe  Auffassung  speciell  des  Sinnes  von  Apriori  in  diesem  ersten 
Raumargumente  hatte  übrigens  auch  schon  Schaumann.  Transsc.  Aesth.  (1789) 
S.  29,  wie  schon  Comm.  I,  191  ausführlicher  erörtert  worden  ist. 


Cohen  und  Riehl  gegen  das  psychologische  Apriori.  173 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  23.  B  88. 

bedeutet  nicht  den  Ursprung  aus  dem  Bewusstsein,  noch  weniger 
ein  zeitliches  Vorangehen  der  Baumvorstellung  vor  den  Empfindungen  äusserer 
Dinge.  Sie  bedeutet  nur,  dass  die  Raumvorstellung  die  Vorstellung  von 
Dingen  im  Baume  begründe,  dass  der  absolute  Baum  die  Voraussetzung  des 
relativen  sei,  dass  alle  Körperräume  Besonderungen  des  Raumes  seien.  Baum 
gehört  zur  allgemeinen  Form  der  Erfahrung,  er  ist  mithin  unabhängig  von 
der  besonderen  Erfahrung  vorzustellen,  die  besondere  Erfahrung  dagegen  als 
abhängig  und  umfasst  von  ihm." 

Diese  Auffassung  steht  im  Zusammenhang  mit  der  ganzen  von  Biehl 
vertretenen  Darstellung  der  Kantischen  Transscendentalphilosophie.  (Vgl. 
dazu  oben  S.  97  f.)  Von  Anfang  bis  Ende  kämpft  Biehl  gegen  die  psycho- 
logische Auffassung  des  Apriori  und  für  die  logische  ,,transscendentale" 
Auslegung  desselben.  Vgl.  a.  a.  0.  T,  7.  185.  280.  305  ff.  321  ff.  873;  ferner 
II,  a,  8  ff.  86  f.  98  ff.  Es  sei  eine  „gänzliche  Verkennung  des  Kantischen 
Sinnes  des  Apriori",  wenn  man  dasselbe  psychologisch  deute.  Bei  Kant  wie 
bei  Wolff  betreffe  der  Ausdruck  a  priori  niemals  „die  psychologische,  sondern 
stets  die  logische  Nothwendigkeit  einer  Erkenntniss.  Es  ist  keine  Bezeich- 
nung des  Ursprungs,  sondern  des  Erkenntnissgrundes  einer  Vorstellung". 
Apriori  ist  eben  in  diesem  Sinne  eine  Erkenntniss,  „deren  objective  Gültig- 
keit unabhängig  von  der  Erfahrung  eingesehen  und  bewiesen  werden  kann". 
In  diesem  Sinne  legt  nun  also  Biehl  auch  die  vorliegenden  Textstellen  aus; 
wenn  Kant  sage:  der  Raum  ist  eine  Anschauung  a  priori,  so  wolle  er 
damit  nicht  etwa  sagen:  die  Raumvorstellung  entspringt  nicht  aus  der 
Erfahrung  der  Einzeldinge,  sondern  aus  dem  Bewusstsein.  Nicht  diesen 
subjectiv-psychologischen  Ursprung  der  Raumvorstellung  wolle  Kant 
darthun,  er  wolle  vielmehr  sagen :  die  Raumvorstellung  ist  die  nothwendige 
logisch-objective  Voraussetzung  der  Denkbarkeit  der  Einzeldinge,  und 
in  diesem  objectiven  Sinne  eine  Bedingung  zur  Möglichkeit  der  Er- 
fahrung. 

Wo  Kant  von  solchen  Bedingungen  zur  „Möglichkeit  der  Erfahrung" 
rede,  da  sei  dieser  Ausdruck  schlechterdings  nicht  „in  subjectivem  Sinne" 
zu  nehmen.  „Kant  gebraucht  jenen  Terminus  durchaus  objectiv.  Mög- 
lichkeit der  Erfahrung  bedeutet  demnach  für  Kant  das  Wesen  oder  den 
Begriff  der  Erfahrung,  und  die  Bedingungen  einer  möglichen  Erfahrung 
dürfen  nicht  ohne  Weiteres  den  subjectiven  Erkenntnissquellen,  aus  denen 
Erfahrung  entspringt,  gleichgesetzt  werden"  (17  f.).  Diesen  Begriff  der 
Möglichkeit  habe  Kant  aus  Wolff  herübergenommen.  Dies  wird  166  ff. 
weiter  ausgeführt.  Bei  Wolff  ist  „Möglichkeit  nicht  psychologisch  und 
genetisch,  sondern  logisch  und  objectiv  zu  fassen.  Genau  denselben  Begriff 
von  Möglichkeit  hat  Kant  beibehalten.  Seine  Untersuchung  stützt  sich  auf 
die  Möglichkeit  der  Erfahrung"  .  .  .  Diese  „ist  das  Princip  der  gegenständ- 
lichen Erkenntniss  a  priori,  der  Erkennbarkeit  der  Dinge  aus  Begriffen. 
Man  würde  nun  Kant  gänzlich  miss verstehen,  wenn  man  unter  dieser  Mög- 
lichkeit unser  Vermögen ,   Erfahrung  zu   erwerben ,   verstünde ,   wenn   man 


174  §  2.    Erstes  Raumargumeiit. 

A  S3.  B  88.  [R  35.  H  69.  E  75.] 

Möglichkeit  anthropologisch,  als  Befähigung  des  Menschen  znr  Erfahrung, 
nicht  logisch  als  Begriff  der  Erfahrung  erfasste.  Es  handelt  sich  für  Kant 
nicht  um  die  Entstehungsgiünde  der  Erfahrung,  sondern  um  ihre  Erkenntniss- 
principien,  darum,  was  im  Begriffe  Erfahrung  gedacht  wird"  u.  s.  w. 

Es  ist  für  uns  nun  sehr  wichtig  zu  entscheiden,  ob  diese  Auffassung 
richtig  ist,  um  so  wichtiger,  als  —  was  wohl  zu  bemerken  ist  —  hier  der 
nachher  so  ungemein  wichtig  werdende  Terminus  der  „Möglichkeit  der 
Erfahrung"  zum  ersten  Mal  in  der  Kr.  d.  r.  V.  auftritt  (abgesehen 
von  der  im  Comm.  I,  215 — 222  besprochenen  vorläufigen  Erwähnung  in  der 
Einleitung  B  5).  lieber  die  Bedeutung  und  Wichtigkeit  dieses  Princips  haben 
wir  uns  schon  mehrfach  auszusprechen  gehabt  (Comm.  I,  6  ff.  317.  408.  427). 
Wir  haben  gesehen,  dass  dasselbe  dazu  dient,  zu  erklären  und  zu  beweisen, 
warum  resp.  dass  die  nicht  aus  der  Erfahrung  stammenden  Begriffe  a  priori 
doch  für  alle  Erfahrungsgegenstände  gelten  —  nämlich  weil  nur  unter  ihrer 
stillen  Mithilfe  dieser  ganze  gesetzliche  Zusammenhang  der  Erfahrungs- 
welt zu  Stande  kommt.  Dies  ist,  wie  wir  sehen  werden,  der  Sinn  der  be- 
rühmten „Transscendentalen  Deduction  der  Verstandesbegriffe".  Man  sieht 
schon  jetzt,  dass  jene  oben  entwickelte  Cohen-Riehrsche  Fassung  des  Princips 
der  Mögl.  d.  Erf.  sich  in  der  Analytik  der  Begriffe  nicht  bestätigt,  weil 
ja  eben  deren  subjective  Mitwirkung  zur  Entstehung  der  Erfahrung 
den  Grund  für  ihre  nachträgliche  allgemeine  Anwendbarkeit  auf  alle  Er- 
fahrungsdinge abgibt. 

Dagegen  hat,  wie  wir  sehen  werden  (vgl.  schon  Comm.  I,  404  Anna.), 
jene  Cohen-Riehrsche  Auffassung  der  Mögl.  d.  Erf.  allerdings,  indessen  auch 
nur  theilweise,  Berechtigung  für  die  Analytik  der  GmndsStze  (bes. 
für  die  „Analogien  der  Erfahrung").  Da  will  Kant  —  entsprechend  seinem 
„methodologischen  Problem**  (Comm.  I,  404  ff.)  —  eine  neue  Methode  finden, 
um  die  „synthetischen  Sätze  a  priori",  z.  B.  das  Causalitätsgesetz ,  rein 
deductiv  zu  beweisen,  ohne  Berufung  auf  die  erst  inductiv  festzustellenden 
tausend  Fälle  der  thatsächlichen  Geltung  desselben.  Der  Eerngedanke  dieses 
Beweises  ist:  diese  Gesetze  gelten,  weil  ohne  sie  gesetzmässige  Erfahrun^r. 
und  damit  strenge  Naturwissenschaft  gar  nicht  möglich  ist.  Dieser  Beweis 
verläuft  allerdings  aus  dem  logisch-objectiven  Begriff  der  Erfahrung  herans  — 
hier  ist  alles  Subjective,  Psychologische  ausgemerzt;  und  darin  eben  sehen 
Cohen,  Riehl  u.  A.  den  Kern  der  „transscendentalen  Methode". 

Ist  es  nun  aber,  wie  wir  schon  S.  154  sahen,  unrichtig,  diesen  Gedanken- 
gang der  Analytik  der  Grundsätze  auf  die  Analytik  der  Begriffe  aus- 
zudehnen, so  ist  es  vollends  unmöglich,  denselben  aus  der  Analytik  in  die 
Aesthetik  hinüberzutragen.  Diesen  Uebertragungsversuchen  liegt  immer 
wieder  die  irrige  Voraussetzung  zu  Grunde,  das  Kant'sche  Gedankensyst«in 
sei  einfach  und  „ schlicht"  (Cohen),  während  es  doch  im  Gegentheil  ein 
äusserst  complicirtes  Gewebe  ist  (Comm.  I,  448).  Auch  die  einzelnen  Theile 
der  Kr.  d.  r.  V.  dürfen  keineswegs  in  jener  Weise  einfach  auf  einander  redncirt 
werden.    Der  Terminus  , Möglichkeit  der  Erfahrung"  hat  in  den  verschiedenen 


Welchen  Sinn  hat  hier  der  Beweis  aus  der  »Möglichkeit  der  Erfahrung*?     175 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  23.  B  38. 

Theilen  verschiedene  Bedeutungen,  eine  andere  in  der  Analytik  der  Grund- 
sätze, eine  andere  in  der  Analytik  der  Begriffe,  eine  andere  in  der  Aesthetik. 
Dass  jene  späteren  Bedeutungen  des  Princips  der  Mögl.  d.  Erf.  nicht  auf 
die  Aesthetik,  und  also  speciell  auch  nicht  auf  diese  erste  Stelle,  in  welcher 
der  Ausdruck  auftritt  ^  ühertragbar  sind,  lehrt  ja  schon  folgende  einfache 
Betrachtung.  Sowohl  in  der  Analytik  der  Begriffe,  als  in  der  der  Grundsätze 
hat  , Erfahrung''  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  hier:  nämlich  jene  strin- 
gente  Bedeutung,  von  welcher  schon  Comm.  I,  165.  176.  215  ff.  425  ff.  u.  ö. 
die  Hede  war,  —  streng  gesetzmässiger  Zusammenhang  der  Einzel  dinge. 
Aber  davon  ist  hier  in  der  Aesthetik  noch  gar  nicht  die  Rede.  Es  ist  ja 
die  stets  wiederholte  Lehre  Kants,  dass  jener  strenge  Zusammenhang  =  Er- 
fahrung erst  den  kategorialen  Functionen  verdankt  werde,  nicht  aber  schon 
den  Anschauungsformen.  Diese  bringen  mit  dem  Empiindungsmaterial  zu- 
sammen erst  die  Wahrnehmung  hervor,  noch  nicht  die  gesetzmässige 
Erfahrung  (vgl.  oben  S.  80.  109).  Schon  aus  diesen  Gründen  ist  es  "gänzlich 
unberechtigt,  jene  späteren  Bedeutungen  des  Princips  der  Mögl.  d.  Erf.  in 
die  Aesthetik  herüberzutragen ;  denn  wenn  hier  davon  die  Bede  ist,  dass 
,die  äussere  Erfahrung  nur  durch  die  Raumvorstellung  allererst  mög- 
lich sei',  so  ist  dabei  die  Erfahrung  nicht  im  stringenten  Sinne  gemeint, 
sondern  hier  ist  Erfahrung  eben  so  viel  wie  Wahrnehmung*.  Ganz  in 
diesem  Sinne  heisst  es  im  Schluss  b)  betreffs  des  Baumes,  dass  er  „die  sub- 
jective  Bedingung  der  Sinnlichkeit  sei,  unter  der  allein  uns  äussere  An- 
schauungmöglichist*.  (A26==B  42.)  Und  gleich  nachher  spricht  Kant 
von  der  „subjectiven  Bedingung,  unter  welcher  wir  allein  äussere  An- 
schauung bekommen  können '^;  „die  Bedingungen  der  Sinnlichkeit  sind 
Bedingungen  der  Erscheinungen*,  und  nachher  wird  der  Baum  noch- 
mals , die  subjective  Bedingung  aller  äusseren  Erscheinungen"  genannt, 
insofern    die  Gegenstände   uns    allein   so    „Objecte    der  Sinne"    werden 


^  Der  Ausdruck  findet  sich  innerhalb  der  Aesthetik  noch  einmal  in  der 
, metaphysischen  Erörtenmg  des  Begriffes  der  Zeit",  N.  3,  wo  es  heisst:  „Diese 
Grundsätze  [über  die  Zeit]  gelten  als  Regeln,  unter  denen  überhaupt  Erfahrungen 
möglich  sind,  und  belehren  uns  vor  denselben,  und  nicht  nur  durch  dieselben.* 
Diese  Lehre  gehört  streng  genommen  nicht  in  die  Aesthetik  hinein,  sondern  gehört 
erst  zum  .allgemeinen  Grundsatz  der  Analogien  der  Erfahrung"  (A  176  =  B  218). 
—  Dann  ist  A  28  =  B  44,  sowie  B  78  davon  die  Rede ,  dass  der  Raum  nebst  der 
aus  ihm  abgeleiteten  Mathematik  nur  für  „Objecto  möglicher  Erfahrung*  gelten 
könne,  dass  also  der  Raum  „nur  in  Ansehung  aller  möglichen  äusseren  Erfahrung* 
real  sei,  dagegen,  wenn  man  „die  Bedingung  der  Möglichkeit  aller  Erfahrung  weg- 
lasse*, nichts  sei.  Diese  letztere  Verwendung  des  Ausdruckes  hat  mit  der  ersteren 
aber  direct  nichts  zu  schaffen :  denn  es  handelt  sich  dabei  nur  um  die  Geltungs- 
grenzen,  nicht  um  den  Geltungs g r u n d. 

*  Nur  einmal,  in  der  späten  Schrift  über  die  Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  507 
werden  R.  u.  Z.  als  Principien  a  priori  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  im  strengen 
Sinne  des  Wortes  bezeichnet.  —  Vgl.  femer  oben  S.  157.  163.  166.  169. 


176  §2.    Erstes  Raumargumeut 

A  23. 6  38.  [R  35.  H  59.  E  75.] 

können;  durch  den  Raum  „ist  es  allein  möglich,  dass  Dinj^e  für  uns  äussere 
Gegenstände  seien"  (wohei  natürlich  „Gegenstand'  wieder  nicht  im 
prägnanten  Sinne  zu  nehmen  ist.  Vgl.  oben  S.  4.  1 7).  Nach  A  48  :=  B  65 
ist  „die  subjective  Bedingung,  a  priori  anzuschauen,  zugleich  die  allgemeine 
Bedingung  a  priori,  unter  der  allein  das  Object  der  äusseren  Anschauung 
selbst  möglich  ist*. 

Damit  werden  auch  alle  Folgerungen  hinfällig,  welche  aus  jener 
falschen  Auslegung  gezogen  worden  sind,  speciell  die  Folgerung,  die  hier 
gelehrte  Apriorität  der  Raumvorstellung  sei  nicht  im  subjectiven,  sondern 
im  objectiven  Sinne  zu  verstehen';  es  handle  sich  nicht  darum,  dass  die 
Raumvorstellung  in  uns  innerlich  als  eine  nicht  aus  der  Empfindung  stam- 
mende Vorstellung  psychologisch  vor  aller  Wahrnehmung  vorhergehe  —  das 
sei  vielmehr  eine  ganz  falsche  Auslegung  (obgleich  es  doch  schon  in  der 
Dissertation  §14,1  ganz  deutlich  heisst:  idea  temporis  non  oritur . . .  a 
sensibus)  —  sondern  es  handle  sich  nur  darum,  dass  die  Raumvorstellong 
von  uns  als  ein  logisch  nothwendiges  Bestandstück  der  Erfahrung  erkannt 
werde.  Diese  Auslegung  ist  dem  ganzen  Zusammenhange  nach  völlig  un- 
möglich, zumal  ja  Kant  mehrfach  ausdrücklich  von  den  subjectiven  Be- 
dingungen der  äusseren  Anschauung  spricht  (vgl.  die  eben  mitgetheilten 
Stellen).  Man  kann  Niemand  verwehren,  in  jenem  Gedanken  etwas  sehr 
Wichtiges  zu  finden,  aber  wohl  muss  man  sich  dagegen  verwahren,  dass 
Kant  selbst  dies  hier  habe  sagen  wollen.  Er  hätte  es  ja  sagen  können 
und  auch  vielleicht  in  Consequenz  seiner  „Analytik  der  Grundsätze*  sagen 
sollen  —  das  Alles  kann  man  jener  Auffassung  zugestehen;  aber  nimmer- 
mehr kann  man  ihr  zugestehen,  dass  Kant  das  hier  oder  anderwärts  gesagt 
habe,  weder  direct  noch  indirect:  ihm  handelt  es  sich  hier  in  der  That  um 
die  anthropologische  Befähigung  des  Menschen,  äussere  Erfahrung  überhaupt 
erst  zu  machen,  und  diese  Befähigung  setzt  nach  ihm  eine  „a  priori  in 
unserem  Gemüthe  bereitliegende*,  uns  „a  priori  beiwohnende"  Vorstellung 
des  Raumes  voraus  als  eine  „subjective*  Bedingung  unserer  Anschauung. 

Wie  unmöglich  es  ist,  von  dieser  in  der  That  unumgänglichen  Auf- 
fassung   innerhalb    des    Kantischen    Gedankenkreises    loszukommen,    dafür 


^  Für  diese  seine  Auffassung  beruft  sich  Riehl  1 ,  347  f.  (vgl.  238.  249.  262. 
300)  auch  besonders  auf  die  Schrift  Kants  von  1768  über  die  Gegenden  im  Ranme. 
Auch  in  dieser  handle  es  sich  nicht  um  den  psychologisch-subjectiven  ünpnmg  der 
Raumvorstellung,  sondern  darum,  dass  der  absolute  Baum  die  objectiv  nothwendige 
Voraussetzung  aller  Dinge  sei.  In  dieser  Weise  müsse  man  auch  die  vier  Rams- 
beweise  in  der  Kritik  auffassen.  Allein  da  bringt  Riehl  denn  doch  die  vorkzitische 
Abhandlung  von  1768  in  zu  nahen  Zusammenhang  mit  der  kritischen  Raumtfaeorie. 
worüber  das  Nähere  nicht  hier,  sondern  unten  zu  A  39  ff.  =  B  56  ff.  zu  verhandeln 
ist.  Ausserdem  hat  doch  Kant  auch  schon  in  der  Abhandlung  von  1768  gesagt 
„er  sei  kein  Gegenstand  der  äusseren  Empfindung',  sondern  ein  „Grundbegriff^ 
u.  8.  w. ,  womit  doch  der  Ursprung  aus  der  Erfahrung  abgewiesen  und  der  so? 
dem  Subject  angenommen  zu  sein  scheint. 


Missverständnisse  und  Einwände.  177 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  23.  B  88. 

spricht  der  bemerkenswerthe  Umstand,  dass  Biehl  dann  doch  factisch  selbst 
die  psychologische  Auffassung  wieder  einfuhren  muss.  Er  unterscheidet 
S.  442:  ,Apriori  ist  objectiv  genommen  die  Erkenntniss,  welche  von 
der  Erfahrung  unabhängig  eingesehen  und  bewiesen  werden  kann/  „A 
priori  ist  subjectiv  genommen  derjenige  Theil  der  Erkenntniss,  der 
unabhängig  von  der  Erfahrung  erworben  wird,  der  rein  aus  der  Gesetz- 
lichkeit des  Bewnsstseins  stammt  und  hervorgebracht  wird.*  „Die  Kritik 
schliesst  von  dem  nachgewiesenen  Apriori  in  objectiver  Bedeutung  auf  den 
apriorischen  Ursprung  aus  dem  Bewusstsein.*'  Da  kommt  also  doch 
wieder  der  oben  so  scharf  verpönte  „Ursprung  aus  dem  Bewusstsein"  wieder 
herein.  Und  ebenso  wird  S.  433  das  „Wissen  a  priori*,  als  „das  dem  Subjecte 
entstammende  Wissen*  definirt.  Und  in  demselben  Sinne  führt  dann  Riehl  II,  a, 
107.  110  (vgl.  I,  350)  weiter  aus:  die  reine  Apriorität  der  Raumvorstellung 
müsse  durch  den  Ursprung  derselben  aus  dem  Subject  erklärt  werden. 

Verwandt  mit  der  Cohen-Riehrschen  Auffassung  ist  das  Missverständ- 
niss,  welches  schon  zu  Lebzeiten  Kants  auftauchte,  es  handle  &ich  in  diesem 
ersten  Argumente  um  die  logisch-begriffliche,  discursive  Beurtheilung  der 
Aussenverhältnisse,  während  es  sich  factisch  um  die  anschauliche  Wahr- 
nehmung derselben  handelt.  So  kämpft  Seile  (Acad,  de  Berlin  1786-:-87, 
p.  588)  gegen  das  von  ihm  in  dieser  falschen  Form  wiedergegebene  Argu- 
ment: pour  savoir  q'une  Sensation  repr^sente  un  objet  comme  existant  hors 
de  nous ,  ü  faut  que  le  reprSsentation  de  Vespace  pr4ckde  etc.  und  erläutert 
das  weiterhin  mit  den  Worten:  pour  avoir  une  notion  ou  une  reprSsentafian 
mSdiate  d'un  objet  qui  nou^  a  4t4  donnS  par  intuition  externe^  ü  nous  faut 
le  caractbre  de  Vespace  four  former  cette  notion,  Aehnlich  finden  wir 
diesen  Irrthum  bei  Bendavid,  Vorlesungen  14,  Heusinger,  Encyolop.  I, 
285,   sowie  bei  Lossius,   Lex.  III,  503,  und  bei  Feder,  Raum  S.  21—25. 

Gegen  dieses  wichtige  Raumargument  sind  nun  aber  auch  von  Anfang 
an  die  gewichtigsten  Einwände  gemacht  worden.  Schon  Grarve  nannte  in 
seiner  grossen  Recension  (A.  D.  B.  Anh.  zu  37 — 52,  858)  den  Recurs  Kants 
auf  eine  apriorische  Anschauung  ein  asyluni  ignorantiae.  (Vgl.  Stern,  Bez. 
Garve's  zu  Kant  60  f.)  Dann  versuchte  Feder  in  seiner  Schrift  „Ueber 
Raum  und  Causalität*  (1787)  Kants  Behauptung  der  Apriorität  der  Raum- 
vorstellung zu  widerlegen  und  eine  empiristische  Ableitung  derselben  zu 
geben,  speciell  aus  der  Verbindung  von  Gesichts-  und  Tastempfindungen. 
Gegen  diese  Ableitung  bemerkt  die  A.  L.  Z.  1788,  I,  252:  „dass  der  Sinn 
des  Gesichts  die  Vorstellung  vom  Raum  nicht  erzeugt,  lehrt  das  Beispiel 
der  Blindgeborenen  S   welchen  durch  den  Mangel  des  Gesichts  nicht  das 


*  Der  Fall  vom  Blindgeborenen  wurde  damals  auch  sonst  häufig  in  die 
Diflcussion  hereingezogen;  vgl.  A.  L.  Z.  1785,  III,  53;  HI,  266  (gegen  Platner);  1788, 
IV,  219.  Feder,  Raum,  45.  85.  Dass  Kant  sich  mit  dem  Problem  beschäftigt 
hat,  beweist  auch  ein  neuerdings  von  6.  Erdmann  im  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos. 
II,  249  ff.  veröffentlichter  Brief  Kants  an  ßorowski  von  1761. 

Vaihinger,  Kant-Commentar.    IT.  12 


X78  §2.    Erstes  Raumargument. 

A23.B88.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

mindeste  vom  Begriff  des  Baumes  abgeht,  und  was  das  Gefahl  betrifft, 
so  wird  zwar  die  Vorstellung  des  R.  hauptsächlich  durch  und  an  den  Ein- 
drücken dieses  Sinnes  entwickelt,  aber  darum  doch  nicht  hervorgebracht.' 
Vgl.  oben  S.  124.  Weitere  Discussion  dieser  Einwände  bei  Schultz,  Prüfung 
1,  113  flf.;  II,  224  ff.    Schopenhauer,  Grund  §  21. 

Besonders  eindringlich  wurde  der  Kampf  von  der  Eberhard 'sehen 
Zeitschrift  geführt.    Was  daselbst  Maass  I,  123  ff.  gegen   dieses  Argu- 
ment  vorgebracht   hat,   ist   seitdem   oft,   aber   nicht   immer   in    derselben 
Klarheit  und  Schärfe  wiederholt  worden.  Er  sagt:  »Die  Wahrheit  des  Unter- 
satzes in  diesem  Schlüsse  räume  ich  ein,  und  bin  überzeugt,   dass  die  Vor- 
stellung des  Raumes  zu  Grunde  liege,  sobald  wir  uns  irgend  etwas  als  ausser 
uns  oder  als  ausser  einander  gedenken.    Aber  mit  dem  daraus  hergeleiteten 
Schlusssatze,  dass  der  Raum  demnach  kein  empirischer  Begriff  sei,  sondern 
vor  aller  Erfahrung  in  der  Seele  vorhergehe,   bin  ich  deswegen  noch  nicbt 
einverstanden,   weil  der  Obersatz,   worauf  er  sich  stützt,   nach  meinem  Be- 
dünken unrichtig  ist.     Dieser  Obersatz  lautet:  Eine  Vorstellung  A,  die  bei 
einer  Vorstellung  B  nothwendig  zum  Grunde  liegt,  ist  nicht  aus  B  genommen, 
sondern  muss  vor  derselben  dasein.     Allein   wenn  B  nicht  gedacht  werden 
kann  ohne  A,  oder  wenn  A  dem  B  nothwendig  zu  Grunde  liegt,  so  ist  frei- 
lich nothwendig,   dass  A   gesetzt  werde,  sobald  B  gesetzt  wird.    Aber  es 
gibt  zwei  Fälle:  „entweder  geht  A  vor  B  vorauf,  oder  es  wird  zugleich 
mit  demselben  gegeben,  und  nachher  durch  Abstraction  davon  abgesondert, 
und  allein  gedacht.    Der  Satz:  die  Vorstellung  A  (die  bei  B  nothwendig  zn 
Grunde  liegt)  kann   nicht  aus  B  genommen  sein,   sondern   muss  vor  dem- 
selben vorangehen,    ist   augenscheinlich   unrichtig,    und   mithin   auch  alles, 
was  daraus  hergeleitet  wird.     Wenn  also  auch  die  Vorstellung  des  Ranmes 
bei  jeder  Empfindung,  die  ich  auf  etwas  als  ausser  mir  beziehe,   und  worin 
ich  etwas  als   ausser  einander  gedenke,  nothwendig  zum  Grunde  liegt,  so 
folgt  daraus  doch  nicht,   dass  sie  vor  den  Empfindungen  des   ausser  mir 
und  ausser  einander  Befindlichen  voraufgehe;   sie  kann  auch  zugleich  mit 
demselben   gegeben,   und   nachher   durch  Abstraction   zu  einer    besondeien 
Vorstellung  gemacht  werden.    Der  Raum  kann  also  gar  wohl  ein  empirischer 
Begriff  sein.''      Dieser   Einwand    besagt    also,    dass   Kant   einen   Fall,  eine 
Möglichkeit  der  Erklärung  übersehen  hat  —   wie  wir  solches   üebersehen 
und   Uebergehen   anderer   Möglichkeiten    auch   schon  oben   einmal  (S.  142) 
bei  Kant  angetroffen  haben,   und  auch  später  wiederum   antreffen  werden. 
(Diese  Eigenthümlichkeit  des   Kantischen  Denkens  —  die  Unvollständigkeit 
der  Disjunction  —  hat  auch   schon    [Jeberweg,   Logik,  3.  A.  §  137  scharf 
herausgehoben.)     Scharfe  Einwände   auch  bei  Schulze,   Krit.  d.  th.  Philos. 
II,  202  ff. 

Dieser  selbe  Einwand  ist  nun  seitdem  unzählige  Mal  wiederholt  worden. 
oft  fast  mit  denselben  Worten;  so  sagt  z.  B.  v.  Kirch  mann,  Erl.  6:  ,Älle^ 
dings  muss  man  die  Vorstellung  des  Raumes  haben,  damit  man  etwas  ausser 
und  neben  einander  vorstellen  kann,   aber  dies  hindert  nicht,  dass  die  Vor- 


Un widerlegte  Gegner.  179 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  28.  B  88. 

Stellung  des  Raumes  zugleich  mit  der  Vorstellung  des  Materialen  bei  der 
Wahrnehmung  eines  Dinges  der  Seele  gegeben  wird."  Dagegen  Grapen- 
f^iesser,  Erkl.  17.  (Vgl.  dazu  auch  Hoppe,  Pers.  Denkthätigkeit  188  ff. 
Michelis,  Kant  57  ff.  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  186  ff.  294  ff.)  Eine  ähnliche 
scharfe  Kritik  bei  Beyersdorff,  Die  Raumvoi*stellungen,  S.  22—26. 

Es  ist  im  Grande  derselbe  Einwand ,  nur  in  anderer  Form ,  wenn 
Ueberweg  (Gesch.  d.  Phil.  III,  §  18)  nach  Darlegung  des  Argumentes 
hinzufugt:  ^was  freilich  ein  Cirkelschluss  ist.''  Er  meint  offenbar,  der 
ciretdus  in  demonstrando  (vgl.  Ueberweg,  Logik,  3.  A.  §  137)  bestehe  in 
Folgendem :  Kant  wolle  die  Apriorität  der  Raumvorstellung  durch  den  Hin- 
weis auf  deren  nothwendige  Priorität  bei  jeder  „concreten  Localisirung'' 
beweisen;  aber  dass  alle  concrete  Localisirung  die  Raumvorstellung  voraus- 
setze, sei  ein  Satz,  der  selbst  nur  durch  die  Annahme  der  Apriorität  der 
Raumvorstellung  zu  beweisen  sei  (resp.  diese  Annahme  schon  als  unbewiesene 
Voraussetzung  enthalte).  Kant  beweise  also  die  Apriorität  durch  die  Priorität, 
die  Priorität  durch  die  Apriorität     Vgl.  auch  Scherer,  Kritik  25  ff. 

Cohen  (2.  A.  96.  129)  meint  dagegen:  „Wie  Ueberweg  zu  diesem 
Urtheil  kommt,  lässt  sich  begreifen.  Er  meint  nämlich,  dem  Gedanken  von 
der  Priorität  des  Raumes  liege  der  von  der  Apriorität  desselben  zum  Grunde. 
Und  80  sei  das  Schon-zum-Grunde-liegen  des  Raumes  durch  einen  Cirkel  be- 
wiesen, nämlich  durch  die  vorausgesetzte  Annahme  der  Apriorität.  Aber 
von  einem  a  priori  ist  an  dieser  Stelle  noch  gar  nicht  die  Rede.  Man  kann 
sagen,  die  Erklärung  sei  noch  nicht  vollständig.  Sie  ist  es  in  der  That  nicht, 
so  lange  die  Art  des  Zu-Grunde-Liegens  nicht  angegeben  ist :  aber  man  darf 
nicht  durch  eigenes  Hinzufügen  diesen  Satz  zum  Cirkelschluss  machen. '^ 
Indessen  beruht  dieser  Widerlegungsversuch  Cohens  auf  einer  ganz  irrigen 
Auslegung  des  Argumentes,  welche  schon  oben  S.  171  zurückgewiesen  wurde. 
Dieser  Vertheidigung  gegenüber  bleibt  somit  Ueberwegs  Einwand  bestehen. 
Vgl.  Caird,  Phil,  of  Kant  237. 

Tiefer  ist  Riehl  (Krit.  II,  a,  99)  auf  jenen  schweren  Vorwurf  Ueber- 
wegs eingegangen:  ^Ich  finde  nicht,  dass  sich  diese  Sätze,  wie  Ueberweg 
meint,  im  Cirkel  bewegen.  Es  wird  durch  dieselben  nur  behauptet,  dass 
die  Erkenntniss  der  räumlichen  und  zeitlichen  Verhältnisse  als  solcher  die 
Vorstellungen  von  Raum  und  Zeit  schon  voraussetze;  und  zwar  aus  dem 
Grunde,  weil  diese  Verhältnisse  nur  als  Bestimmungen  und  Lagen  in  Raum 
und  Zeit  vorstellbar  sind  .  .  .  Wer  diesen  Beweisgrund  Kants  bestreiten 
wollte,  müsste  zeigen,  dass  die  Vorstellung:  Etwas  sei  ausser  uns  nicht 
bereits  die  Vorstellung  des  Raumes  einschliesse ,  die  des  Nacheinanderseins 
nicht  die  Vorstellung  der  Zeit;  er  müsste  zeigen,  wie  es  möglich  sei,  aus 
der  äusseren  Erfahrung  das  Raumbewusstsein  abzuleiten,  —  ohne  wirklich 
in  einen  Cirkel  zu  gerathen."  Indessen  beruht  auch  diese  Zurückweisung 
in  ihrer  spedelleren  Ausführung  auf  einer  Auffassung  dieses  ersten  Raum- 
argumentes, gegen  welche  wir  schon  oben  S.  173  Bedenken  geltend  machen 
mussten.     Vgl.  ferner  Riehl  I,  41.     F.  A.  Lange,  Log.  Studien  130.  — 


180  §  2.    Erstes  Raumargument. 

A28.B88.  [R  35.  H  59.  E  75.] 

Weitere  kritische  Besprechungen  des  ersten  Eaumargumentes  findet 
man  bei  v.  Hartmann,  Transsc.  Real.  143  ff.  Pflüger,  Aesthetik,  S.  13—16. 
Sidg  wick  im  Mind  XXIX,  87  f.  Spencer,  Psych.  I,  §  833  ff.  §  399.  Rehmke, 
Welt  154  ff.  Göring,  Krit.  Philos.  I,  295.  R.  Proelss,  ürspr.  d.  menschl. 
Erk.  115  ff.  Thiele,  Philos.  Ks.  I,  b,  276—278.  293—299.  Massonius,  Aesth. 
46  ff.  Gruppe,  Wendepunkt  249— 251.  v.  Schubert-Soldern,  Erk.-Theorie 
271  ff.  Lotze,  Phil.  s.  Kant  §  14.  Drobisch,  Psychol.  §  23.  Wundt, 
Logik  I,  452  ff.  458 ;  vgl.  Phys.  Psych.  1.  A.  491.  631.  685  (dagegen  wieder 
Cohen,  2.  A.  97  f.,  woselbst  auch  Stumpfs  Einwände  besprochen  werden). 
H.  Schwarz,  Das  Wahrnehmungsproblem  (1892)  S.  37  ff. 

Als  ein  fundamentaler  Einwand  gegen  dieses  Argument  ist  sodann 
Herbarts  Frage  zu  betrachten  (W.  W.  VI,  308):  „Woher  die  bestimmten 
Gestalten  bestimmter  Dinge?  .  .  .  Diese  Frage  ist  nach  der  Kantischen  An- 
sicht schlechterdings  unbeantwortlich.*'  lieber  diese  „Grundfrage'*  vgl. 
dann  bes.  noch  Herbarts  Einl.  in  Philosophie  §  150  (W.  W.  I,  258;  vgl. 
I,  67.  176.  190.  275;  III,  12;  IV,  316;  VI,  122).  In  der  That  ist  hier  eine 
sehr  bedenkliche  Lücke  der  Beweisführung.  Nach  Kants  Darlegung  in  diesem 
Raumargument  bedarf  es  zur  objectiven  Anschauung  zweier  Elemente:  1)  die 
raumlosen,  ungeordneten,  rein  qualitativen  Empfindungen,  welche  uns 
a  posteriori  gegeben  werden;  2)  die  reine  Raumanschauung,  welche  uns 
a  priori  gegeben  ist.  Aber  hier  fehlt  ein  wichtiges  Element:  warum  stelle 
ich  mir  diesen  Gegenstand  viereckig,  jenen  dreieckig,  diesen  rund,  jenen 
oval  vor?  In  der  allgemeinen  reinen  Raumanschauung  kann  dazu  selbst- 
verständlich der  Grund  nicht  liegen;  aber  in  den  Empfindungen  kann  er 
nach  Kants  Erklärungen  auch  nicht  liegen,  da  ja  diese  rein  qualitativ  nicht 
bloss,  sondern  auch  ganz  ungeordnet,  oder  wenigstens  nicht-geordnet  sind, 
und  deren  Coordination  doch  eben  erst  durch  die  apriorische  Raumfonn 
hergestellt  wird.  Warum  aber  diese  sich  bei  diesem  Empfindungscomplei 
als  Viereck,  bei  jenem  als  Dreieck,  bei  diesem  als  Kreis,  bei  jenem  als  Oval 
modificirt  und  speeificirt,  dafür  fehlt  bei  Kant  der  Grund  vollständig,  oder 
wenigstens  schweigt  Kant  darüber  hier,  wo  wir  die  Angabe  des  Grundes  mit 
Recht  erwarten,  vollständig. 

Jene  Herbart^sche  Frage  hat  natürlich  nicht  erst  Herbart  gestellt;  ein 
80  naheliegender  Einwand  wurde  schon  vorher  erhoben.  Insbesondere  die 
Eberhard'sche  Zeitschrift  (von  welcher  übrigens,  wie  oben  S.  148  bemerkt. 
Herbart  beeinflusst  gewesen  zu  sein  scheint)  hat  jenen  Einwand  unzählige 
Mal  gemacht.  Ebenso  hat  schon  Feder  denselben  erhoben.  Die  Kantianer 
stellten  sich  zu  dieser  Frage  verschieden.  Diejenigen  derselben,  welche  mit 
der  Vulgarphilosophie  Fühlung  behielten,  nahmen  ohne  Weiteres  an,  da>< 
jene  Bestimmtheit  durch  die  Empfindungen  mitgegeben  sei;  so  z.  B.  Mellin 
11,286:  „Mau  kann  sagen,  an  den  Erscheinungen  wird  die  Form  angeschaut 
und  die  Materie  empfunden,  obwohl  das  Bestimmte  der  Form,  dass  sie 
nämlich  so  und  nicht  anders  ist,  als  etwas  Empirisches,  oder  durch  die 
Materie  Bezeichnetes,  ebenfalls  empfunden  wird"  —  dies  ist  aber  eine  eigen- 


Herbarts  Problem  der  Beßtimmtheit  der  Erscheinungen.  181 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  23.  B  88. 

m richtige  Zuthat,  von  welcher  bei  Kant  wenigstens  hier  nichts  steht.  Auch 
Keinhold  scheint  dieselbe  Meinung,  wie  Mellin,  gehabt  zu  haben,  drückt 
sich  aber  sehr  vorsichtig  hierüber  aus .  (Th.  d.  Vorst.  299  ff.) ,  man  erkennt 
aber,  dass  auch  ihm  das  „Bestimmte'^  von  der  Seite  der  Dinge  an  sich 
herstammt.    Vgl.  Schulze,  Kr.  d.  tb.  Ph.  II,  192. 

Die  entschiedeneren  Kantianer,  welche  von  den  Dingen  an  sich  nichts 
wissen  wollten,  suchten  dagegen  vielmehr  das  „Bestimmte"  auf  die  Pro- 
ductivität  des  Ich  zurückzuführen,  so  Beck.  Ebenso  machte  auch  der  Halb- 
kantianer Bardili  in  seiner  Schrift:  „Ueber  die  Gesetze  der  Ideenassociation*^ 
Tüb.  1796,  den  Versuch,  auch  das  Bestimmte  aus  der  allgemeinen  Raum- 
und  Zeit  Vorstellung  abzuleiten,  wogegen  sich  aber  Jacobs  Annalen  II,  364 
entschieden  erklären,  da  dazu  die  allgemeinen  Formen,  worin  alles  vorgestellt 
wird,  nimmermehr  hinreichen.  So  neuerdings  auch  der  Schopenhauerianer 
Frauenstädt,  Briefe  an  Schop.  143. 

Auch  Cohen  scheint  heutzutage  hierin  dieselbe  Stellung  einzunehmen 
wie  Beck.  Er  sagt  (Th.  d.  Erf.  1.  A.  142,  2.  A.  322)  zunächst,  es  sei 
„schlechterdings  falsch,  die  Kantische  Antwort  auf  diese  Frage  in  der  Tr. 
Aesthetik  zu  suchen".  Dieselbe  sei  vielmehr  erst  in  der  Analytik  ge- 
geben, und  laute,  dass  „erst  die  Synthesis  das  Object,  den  bestimmten  Raum 
gibt".  Er  verweist  zu  diesem  Zwecke  auf  die  Transsc.  Deduction  B,  §  17, 
wo  es  einmal  heisst:  „Um  aber  irgend  etwas  im  Raum  zu  erkennen,  z.  B. 
eine  Linie,  muss  ich  sie  ziehen,  und  also  eine  bestimmte  Verbindung  des 
gegebenen  Mannigfaltigen  synthetisch  zu  Stande  bringen,  so  dass  die  Ein- 
heit dieser  Handlung  zugleich  die  Einheit  des  Bewusstseins  (im  Begriff  einer 
Linie)  ist,  und  dadurch  allererst  ein  Object,  ein  bestimmter  Raum  erkannt 
wird.*  Und  dann  verweist  Cohen  noch  auf  §  26,  wo  Kant  die  Entstehung 
der  empirischen  Anschauung  eines  Hauses  erörtert.  Diesen  Stellen  nach 
scheint  allerdings  das  , Bestimmte"  der  reinen  productiven  Synthesis  seine 
Entstehung  verdanken  zu  sollen,  wobei  freilich  Kant  auch  auf  »das  gegebene 
Mannigfaltige*  hinweist,  in  welchem  wir  es,  im  Einverständniss  mit  dem 
freilich  von  Kant  und  seinen  Freunden  verachteten  gesunden  Menschen- 
verstand, suchen  würden.     Vgl.  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  427. 

Diese  letztere  Stellung  nimmt  denn  nun  ausser  Lieb  mann  (Obj.  Anbl. 
153)  auch  Riehl  ein,  welche  Beide  wir  ja  auch  sonst  mit  Erfolg  bestrebt 
sahen ,  die  Kantische  Transscendentalphilosophie  mit  den  Ergebnissen  der 
empirischen  Wissenschaften  zu  versöhnen.  Riehl  weist  (I,  279.  305.  306. 
352.  384.  391.  418.  [430  mit  Rücksicht  auf  Schopenhauer]  433;  II,  a,  33.  90) 
auf  eine  Stelle  der  Transsc.  Deduction  A  127  hin,  wo  es  heisst:  „Empirische 
Gesetze  als  solche  können  ihren  Ursprung  keineswegs  vom  reinen  Verstände 
herleiten,  so  wenig  als  die  un  ermessliche  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  aus  der  reinen  Form  der  sinnlichen  Anschauung 
binlänglich  begriffen  werden  kann."  Ebenso  weist  Riehl  auf  die  Stelle 
A  431  hin:  „Dinge  als  Erscheinungen  bestipsmen  den  Raum,  d.  i.  unter  allen 
möglichen  Prädicaten  desselben  (Grösse  und  Verhältniss)  machen  sie  es,  dass 


Ig2  §2.    Erstes  Ramnargument. 

A  23.  B  88.  [R  35.  H  59.  E  75.] 

diese  oder  jene  zur  Wirklichkeit  gehören.*  '  In  diesen  Stellen  (wie  auch 
schon  in  der  Dissertation  §  4)  lehre  Kant,  dass  die  bestimmten  räumlichen 
Verhältnisse  oder  Gestalten  der  Dinge  durch  die  Erfahrung  suggerirt  sein 
müssen;  „die  bestimmten  räumlichen  Gestalten  der  Dinge,  ihr  Maass  and 
ihre  Lage  können  aus  dem  blossen  Vorstellungsschema  nicht  völlig  begriffen 
werden;  sie  rühren  von  den  Dingen  selbst  her,  sie  bilden  den  rein  empiri- 
schen Bestand theil  der  Raumvorstellungen ,  der  dem  Bewusstsein  gegeben, 
nicht  aus  ihm  hervorgebracht  ist."  Aber  wir  fragen  billig,  in  welcher  Weise 
sollten  denn  vom  Kantischen  Standpunkt  aus  jene  speciellen  Baumverhält- 
nisse in  und  mit  den  Empfindungen  gegeben  werden,  da  diese  doch  ganz 
ungeordnet,  ganz  raumlos  sein  sollen?  Aber  abgesehen  von  diesem  materialen 
Bedenken  —  warum  streift  denn  Kant  dies  so  wichtige  Problem  nur  nebenbei, 
in  einer  dazu  später  gestrichenen  Stelle?  Schliesslich  muss  doch  Riehl  selbst 
II,  a,  90  hier  wenigstens  eine  „Lücke  der  Beweisführung*  anerkennen ;  der- 
selbe behandelt  dann  daselbst  weiterhin  die  Frage  des  Verhältnisses  zwischen 
Raum  form  und  Rauminhalt  eingehender,  und  weist  dann  noch  auf  eine 
andere,  spätere  Stelle  Kants  hin,  aus  der  sich  für  denselben,  wenn  er  con- 
sequent  gewesen  wäre,  ein  Wechselverhältniss  von  beiden  ergeben  hätte, 
A  155,  wo  es  heisst,  dass  R.  u.  Z.  zwar  „völlig  a  priori  im  Gemüthe  vor- 
gestellt werden*,  dass  aber  ihre  Vorstellung  ein  blosses  „Schema*  sei,  »das 
sich  immer  auf  die  reproducti  ve  Einbildungskraft  bezieht,  welche  die  Gegen- 
stände der  Erfahrung  herbeiruft,  ohne  die  sie  keine  Bedeutung  baben 
würden*.  Riehl  fügt  hinzu:  „Ich  vei*zichte  darauf  zu  untersuchen,  ob  diese 
Aeusserung  mit  der  Behauptung  einer  rein  productiven  Einbildungskraft 
vereinbar  sei.* 

Jenes  Herbart'sche  Bedenken  hat  Niemand  stärker  als  Lotze  in  seiner 
Berechtigung  gefühlt.  Er  spricht  oft  von  diesem  Punkte;  so  heisst  es  in 
seiner  grossen  Metaphysik,  §  105  (S.  202.  218.  222):  „Es  ist  ganz  unzulässig, 


*  Es  wäre  hier  auch  zu  erinnern  an  eine  Stelle  der  Met.  Anf.  d.  Naturw.  II. 
Lehrs.  5,  Anm.  (Res.  V,  361) :  „Es  ist  klar,  dass  die  erste  Anwendung  unserer  Be- 
griffe von  Grössen  auf  Materie,  durch  die  es  uns  zuerst  möglich  wird,  unsere 
äusseren  Wahrnehmungen  in  den  Erfahrungsbegriff  [Text:  in  dem  Erfahrungs- 
begriffe] einer  Materie  als  Gegenstandes  Überhaupt  zu  verwandeln ,  nur  auf  ihrer 
Eigenschaft,  dadurch  sie  einen  Raum  erfüllt,  gegründet  sei,  welche  vermittelst  des 
Sinnes  des  Gefühls  uns  die  Grösse  und  Gestalt  eines  Ausgedehnten,  mithin 
von  einem  bestimmten  Gegenstande  im  Räume  einen  Begriff  verschafit,  der 
allem  Uebrigen,  was  man  von  diesem  Dinge  sagen  kann,  zum  Grunde  gelegt  wird.' 
Freilich  nimmt  Kant  hier  die  Materie  selbst  als  das  Afficirende  an,  nicht  mehr  die 
Dinge  an  sich.  (Vgl.  oben  S.  55.)  Das  „Bestimmte"  stammt  also  hier  von  den 
emi)irischen  Gegenständen  im  Räume.  Diese  Stellung  nehmen  natürlich  auch  die 
jenigen  ein,  welche  Kant  überall  so  empirisch  auslegen  (vgl.  oben  S.  50),  so  bes. 
Krause,  Popul.  Darstellung  45.  59  u.  ö.  Vgl.  hiegegen  Mourly  Vold,  Krauses 
Darstellung  der  K.'schen  Raumtheorie  und  der  K.'schen  Lehre  von  den  Gegen- 
ständen.    Christiania  1885,  bes.  S.  8.  18  ff. 


Lotze's  Theorie  der  «Localzeichen*.  183 

[R  86.  H  59.  E  75.]  A  23.  B  8a. 

so  wie  namentlich  die  populären  Darstellungen  aus  seiner  Schule  förmlich 
in  diesem  Gedanken  schwelgten,  die  Dinge  an  sich  als  völlig  fremdartig  den 
Formen  zu  fassen,  in  denen  sie  uns  doch  erscheinen  sollen;  für  die  be- 
stimmten Orte,  Gestalten  und  Bewegungen,  welche  wir  die  Erscheinungen 
im  Räume  einnehmen,  behaupten,  oder  ausfuhren  sehen,  ohne  sie  nach 
unserem  Gefallen  ändern  zu  können,  muss  es  Bestimmungsgründe  in 
dem  Reiche  der  Dinge  an  sich  geben;  sind  die  Dinge  nicht  selbst 
räumlicher  Gestalt  und  nicht  in  Raumbeziehungen  zu  einander  befasst,  so 
müssen  sie  in  irgend  einem  Netze  anderer  veränderlicher  intelligibler 
Beziehungen  zu  einander  stehen,  deren  jeder  dann,  wenn  sie  von  uns  in 
die  Sprache  räumlicher  Vorstellungen  übersetzt  werden,  eine  bestimmte 
räumliche  Beziehung  mit  Ausschluss  jeder  anderen  entspricht.  Wie  wir  die 
uns  angeborene  und  folglich  immer  sich  selbst  gleiche  Anschauung  des 
Raumes,  die  wir,  wie  man  sagt,  zu  den  Erfahrungen  mit  hinzubringen,  so 
anzuwenden  im  Stande  sind,  dass  die  einzelnen  scheinbaren  Dinge  ihre  be- 
stimmten Plätze  in  ihr  finden,  diese  ganze  Frage  ist  von  Kant  nicht 
beantwortet  worden." 

Lotze  selbst  hat  diese  schwerwiegende  Frage  zu  beantworten  gesucht 
durch  seine  berühmte  Theorie  der  „Localzeichen",  d.  h.  bestimmter,  aber 
schlechterdings  rein  qualitativer  Kennzeichen  der  Empfindungen,  die  wir 
bei  der  Construction  der  bestimmten  Configurationen  der  einzelnen  Er- 
scheinungsgegenstände benützen.  Diese  Kennzeichen  sollen  uns  bloss  dazu 
beföhigen,  die  einzelnen  Empfindungen  in  bestimmter  Weise  zu  gruppiren, 
dass  wir  diese  Gruppirung  aber  gerade  in  der  Raumform  vornehmen ,  dies 
schrieb  Lotze  —  darin  Kantianer  —  einer  apriorischen  Function  der  Seele 
zu.  Auch  ihm  erscheint  eben  die  Raumanschauung  ein  der  Seele  ursprüng- 
lich angehöriges  Eigenthum  zu  sein ,  aber  Lotze  musste  zugestehen ,  dass 
wir  für  die  specielle  Vertheilung  und  Anordnung  der  Empfindungen  die 
Einwirkungen  der  Dinge  an  sich  herbeiziehen  müssen,  deren  eigenartige 
objective  Verhältnisse  unter  einander  wir  eben  durch  jene  freilich  ziemlich 
mysteriösen  „Localzeichen"  errathen  sollen.  Vgl.  auch  Lotze,  De  la  for- 
rnatiun  de  la  uotion  (Vespace  {Le  theorie  des  signes  locaux).  Revue  Philos,  1^11^ 
345-365  (Kleine  Schriften  IH,  372—396). 

Diese  seine  Theorie  der  Localzeichen  fasste  Lotze  als  eine  Ergänzung 
der  Kantischen  Lehre  auf.  Doch  wäre  es  ein  Irrthum ,  zu  meinen ,  Kant 
selbst  hätte  ohne  Inconsequenz  diesen  Weg  einschlagen  können.  Wenn  er 
gintelligible  Beziehungen  der  Dinge  an  sich"  angenommen  hätte,  welche 
unseren  räumlichen  Bildern  entsprechen,  so  hätte  er  eben  damit  seine  Haupt- 
lehre der  absoluten  Unerkennbarkeit  der  Dinge  an  sich  aufgeben  müssen. 
Dieses  Theorem  zwang  ihn  geradezu  dazu,  der  Empfindung  jede  derartige 
Bedeutung  abzusprechen,  wie  ihr  dieselbe  durch  Lotze's  Theorie  zuerkannt 
wird.  So  kommt  es^  dass  Kant  diese  Möglichkeit,  welche  schon  oben  S.  142  S, 
hinreichend  erörtert  wurde,  vollständig  übergehen  musste.  —  Auch  Helm- 
holtz  hat  die   K.'sche   Raumtheorie  in   diesem  Sinne   corrigirt:   er  spricht 


184  §  2.    Zweites  Raumargument. 

A  24.  B  38.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

(Thatsachen  in  der  Wahrnehmung,  S.  64)  von  „topogenen  Momenten' 
in  dem  Eealen:  „Von  ihrer  Natur  wissen  wir  nichts;  wir  wissen  nur,  dass 
das  Zustandekommen  räumlich  verschiedener  Wahrnehmungen  eine  Ver- 
schiedenheit der  topogenen  Momente  voraussetzt.  Diese  bestimmen,  an 
welchem  Ort  im  Räume  uns  ein  Object  erscheint. '^  In  diesem  Sinne  geben 
uns  unsere  Empfindungen  ein  der  wahrhaft  realen  Ordnung  der  Dinge  ent- 
sprechendes „Zeichensystem ^  (ib.  12  ff.).  Damit  bringt  H.  in  Zusammen- 
hang (ib.  23  ff.),  dass  mit  der  a  priori  gegebenen  allgemeinen  Raumform 
deshalb  noch  nicht  die  speciellen,  gerade  unseren  Raum  charakterisirenden 
Eigenthümliehkeiten  a  priori  gegeben  sind.  Vgl.  Cohen,  2.  A.  284.  Vgl 
hierüber  auch  Schwertschlager,  Kant  und  Helmholtz,  S.  76  ff.  Speciell 
diesem  „Problem  der  formalen  Bestimmtheit  der  Erscheinungen **  ist  gewidmet 
die  Abhandlung  von  B.  Wenderhold,  Zur  Metaphysik  und  Psychologie  des 
Raumes,  Diss. ,  Halle  1882,  S.  1 — 31,  welcher  für  jene  Bestimmtheit  ein 
„transscendentales'*  Princip  sucht,  und  dasselbe  theils  in  zeitlichen  Differenzen, 
theils  in  Lotze^schen  Localzeichen  findet.  Vgl.  Staudinger,  Nonmena  131  ff. 
Ueberweg,  Logik  §  38.  Ueberhorst,  Entst.  d.  Gesichtswahrn.  168. 
Bergmann,  Metaph.  169.  327.  451.  479.  Spencer,  Psych.  II,  §  410—412. 
Stumpf,  Psych,  u.  Erk.-Th.  (1891)  21.  25. 

Zweites  Baumarg^ament. 

Zunächst  ist  zu  bemerken,  dass,  während  das  erste  Raumarg'ument  hsX 
eine  wörtliche  Wiedergabe  des  schon  in  der  Dissertation  1770  enthaltenen 
ersten  Raumbeweises  ist,  dieses  zweite  Raumargument  in  der  Dis- 
sertation fehlt  und  somit  erst  1781  hinzugekommen  ist.  Eine  Spur  des 
hiesigen  Gedankenganges  könnte  man  höchstens  in  einer  beiläufigen  Be- 
stimmung des  §  5  finden,  wo  es  von  der  Form  heisst,  dass  sie  auch 
„absque  omni  sensatione"  gefunden  werden  könne,  also  auch  von  den  Empfin- 
dungen unabhängig  sein  muss.  Aber  diese  beiläufige  Bemerkung  ist  nicht 
weiter  verwerthet.  Das  Argument  fehlt  also  1770  ganz  —  eine  bis  jetzt 
nicht  beachtete  Differenz  ^ 

Daraus  erklärt  sich  aucb,  dass  die  Darstellungen  der  Eantischen  Raum- 
lehre,   welche   sich   an  die  Dissertation   anschliessen ,   dieses  zweite  Raum- 

^  Schon  J.  Weiss  hat  übrigens  in  der  Leipz.  Diss.  von  1872,  Es.  Lehre  von 
R.  u.  Z.,  13 — 14,  auf  diesen  „bisher  übersehenen  Punkt**  aufmerksam  gemacht 
Er  findet  zwar  Spuren  der  Sache  in  der  Dissertation  §  12.  14  b.  §  15  E,  bemerkt 
aber  auch,  dass  der  Beweis  hier  in  dieser  Form  ganz  neu  ist;  er  will  daraus  deo 
Schluss  ziehen,  dass  Kant  sein  «Apriori"  erst  nach  der  Dissertation  entdeckt  habe. 
Die  Abhandlung  von  Weiss  gibt,  was  hier  ein  für  allemal  bemerkt  sei,  eise 
detaillirte,  ziemlich  sorgfältige  Vergl eich ung  der  Dissertation  und  der  Aesthetik. 
—  Eine  solche  gibt  (ausser  Cantoni,  Kant  I,  184  ff.  und  Wolff,  Spec.  n.  Phil. 
I,  79—85)  auch  Cohen,  Die  systematischen  Begriffe  in  Ks.  vorkritischen  Schriften 
im  Verhältniss  zum  kritischen  Idealismus,  Marburg  1873,  S.  48 — 58,  woselbst  S.  58 
auch  auf  jenen  „auffallenden*  Unterschied  aufmerksam  gemacht  wird. 


Vorläufiges.  185 

[B  35.  H  59.  E  75.]  A  24.  B  88. 

argument  der  Kr.  d.  r.  V.  entweder  ganz  weglassen  oder  mit  dem  ersten 
vermischen.  Dies  ist  insbesondere  bei  Kuno  Fischer  der  Fall,  dessen  Um- 
schreibung daher  hier  sehr  ungenau  geworden  ist.  Kuno  Fischer,  welcher 
sich  ganz  an  die  Dissertation  hält,  deren  Unterschiede  von  der  Kr.  d.  r.  Y. 
er  auch  in  anderer  Hinsicht  ganz  verkennt  ^  hat  in  seiner  Wiedergabe  der 
Kantischen  Raumlehre  das  erste  und  zweite  Raumargument  vollständig  in 
einander  überfliessen  lassen,  sowohl  in  der  2.  Auflage  (S.  816  ff.)  als  in  der 
3.  Auflage  seines  Werkes  (S.  330  f.).  Selbst  wenn  beide  Raumargumente 
so  wenig  verschieden  wären,  dass  man  sie  unterschiedslos  in  einander  über- 
fliessen lassen  dürfte  —  was  keineswegs  der  Fall  ist  — ,  so  wäre  doch  eine 
Bemerkung  hierüber  am  Platze  gewesen,  damit  der  Leser,  welcher  den  Autor 
selbst  mit  dem  Commentator  vergleicht,  orientirt  würde. 

Dieses  zweite  Raumargument  besteht  nun,  wie  das  erste,  aus  drei 
Sätzen.  Diese  drei  Sätze  stehen  —  wenigstens  auf  den  ersten  Blick  —  in 
demselben  Verhältnisse  zu  einander,  wie  die  drei  Sätze  des  ersten  Raum- 
argumentes. Der  erste  Satz  enthält  die  These,  die  zu  beweisende  Be- 
hauptung über  die  Natur  des  Raumes:  er  ist  eine  allen  äusseren  Anschau- 
ungen zum  Grunde  liegende  Vorstellung  a  priori.  Der  zweite  Satz  muss 
den  eigentlichen  Beweisnerv  enthalten:  die  Nicht- Hin wegdenkbarkeit  des 
Raumes.  Der  dritte,  mit  „also''  eingeleitete  Satz  gibt  die  mit  der  Anfangs- 
these übereinstimmende  Schlussfolgcrung  aus  der  im  zweiten  Satz  angeführten 
Thatsache.  Indessen  ist,  wie  wir  sehen  werden,  der  logische  Bau  des  Argu- 
mentes beträchtlich  complicirter,  als  es  hier  am  Anfang  erscheint. 

Erster  Satz.  Zunächst  ist  die  Wendung  auffällig:  „Der  Raum  ist 
eine  nothwendige  Vorstellung,  a  priori."  Sollte  dies  etwa  ein  Pleonas- 
mus sein,  da  doch  Nothwendigkeit  das  Merkmal  der  Apriorität  ist?  (Vgl. 
Gommentar  I,  206.)  Aber  man  beachte  das  Komma,  welches  Kant  zwischen 
„Vorstellung"  und  „a  priori"  gesetzt  hat  (von  B.  Erdmann  in  seiner  Aus- 
gabe weggelassen).  Sollte  das  etwa  den  Sinn  nahelegen:  „eine  nothwendige 
Vorstellung  und  daher  a  priori"?  Auf  jeden  Fall  gilt  hier  nicht,  was 
Cohen  (1.  A.  S.  51  f.)  hineintiftelt :  „Es  ist  dies  sehr  charakteristisch  für  den 
Gedanken ,  welchen  Kant  mit  seinem  a  priori  verband  ...  So  wenig  deckt 
ihm  noth wendig  den  Begriff  des  a  priori.  Es  heisst  tiefer  erfasst:  der 
Raum  ist  eine  nothwendige,  allen  äusseren  Anschauungen  zum  Grunde 
liegende  Vorstellung,  weil  er  a  priori  ist,  d.  h.  weil  er  die  Bedingung 
der  Möglichkeit  der  Erscheinungen  ist."  Diese  wunderliche  Umdrehung  des 
Kantischen  Gedankenganges  (denn  die  Apriorität  soll  ja  erst  bewiesen  werden 
und  ist  nicht  selbst  ein  Beweismoment)  hat  Cohen  in  der  2.  Auflage  seines 


*  Diese  Vermengung  hat  ihm  schon  Trendelenburg,  Beitr.  249,  Entg. 
9.  13.  29,  mit  Recht  vorgeworfen.  Vgl.  Fischers  Anti-Trend.  IS.  55;  Bratuschek, 
Phil.  Mon.  V,  304  f.  320.  321;  Michelis  171  ff.  175  f.;  Cohen,  Zeitschr.  f.  V.  Vü, 
265  f.  2ö7.  276.  Besonders  Paulsen  147,  Riehl  I,  265  und  B.  Erdmann,  Proleg. 
LXXXIV,  Krit.  XLIX  sq.  haben  den  Unterschied  von  Diss.  u.  Krit.  d.  r.  V.  betont. 


186  §2.    Zweites  Raumargument. 

A  24.  B  88.  [R  36.  H  59.  E  75.] 

Werkes  S.  104  durch  die  gerade  entgegengesetzten  Worte  ersetzt:  ,Wie 
wenig  ausgeprägt  der  Werth  des  a  priori  hier  noch  ist,  kann  man  an  seiner 
epezegetischen  Verwendung  sehen/  Auch  dies  ist  falsch:  die  Apriorität  ist 
ja  das  Wesentlichste,  gerade  das  zu  Beweisende,  und  der  Ausdruck  ist  nicht 
„epexegetisch";  es  heisst  ja  doch  auch  in  dem  Parallelargument  über  die 
Zeit  ganz  deutlich  und  breit:  „Die  Zeit  ist  also  a  priori  gegeben."  üebrigens 
bietet  die  Erklärung  des  Satzes  noch  weitere  Schwierigkeiten  dar,  welche 
aber  erst  durch  das  Folgende  aufgehellt  werden  können. 

Bemerkenswerth  ist  die  Wendung,  dass  die  Raum  Vorstellung  allen 
äusseren  Anschauungen  zu  Grunde  liege,  nicht  bloss  also,  (wie  Krause, 
Popul.  Darst.  48  hinzufügt),  dem  Tastsinne  allein  oder  dem  GesichtssioDe 
allein.     (Vgl.  oben  S.  124.) 

Zweiter  Satz.  Der  Sinn  dieses  Satzes  ist  schon  an  und  für  sich  klar, 
und  wird  durch  die  Parallelstellen  noch  deutlicher.  Der  Satz  besteht  aus 
zwei  Hälften,  deren  Unterschied  wohl  zu  merken  ist,  zumal  er  für  den  Bau 
des  entsprechenden  Zeitargumentes  von  grösserer  Wichtigkeit  werden  wird: 
a)  Man  kann  sich  niemals  eine  Vorstellung  davon  machen,  dass  kein  Raum 
sei,  d.  h.  wir  können  die  Baumvorstellung  nicht  loswerden;  ß)  man  kann 
sich  denken,  dass  keine  Gegenstände  im  Räume  angetroffen  werden,  d.  L  man 
kann  die  Gegenstände  aus  dem  Räume  wegdenken,  er  ist  von  diesen  Gegen- 
ständen unabhängig  und  bleibt  eben  auch  ohne  sie  in  uns.  Diese  beiden 
Gedanken  treffen  wir  nun  auch  in  den  folgenden  Parallelstellen.  Schon  in 
der  Einleitung  B,  S.  6  wurde  auf  diese  Thatsachen  hingewiesen.  (Vgl. 
Commentar  1 ,  222  f.)  Eine  ganz  ähnliche  Stelle  fand  sich  ja  auch  schon 
oben  in  der  Einleitung  zur  Aesthetik  A  21  (vgl.  oben  S.  108).  In  den  Pro- 
legomena  §  10  heisst  es:  „Wenn  man  von  den  empirischen  Anschauungen 
der  Körper  und  ihren  Veränderungen  (Bewegung)  alles  Empirische,  nämlich 
was  zur  Empfindung  gehört,  weglässt,  so  bleiben  noch  Raum  und  Zeit 
übrig,  welche  also  reine  Anschauungen  sind,  die  jenen  a  priori  zum  Grande 
liegen  und  daher  selbst  niemals  weggelassen  werden  können.'  Vgl.  auch 
die  Schrift  gegen  Eberhard  (Ros.  I,  469):  „Jetzt  werde  ich  durch  die  Kritik 
angewiesen,  alles  Empirische  oder  wirklich  Empfindbare  im  Baum  und  der 
Zeit  wegzulassen,  mitbin  alle  Dinge  ihrer  empirischen  Vorstellung 
nach  zu  vernichten,  und  so  finde  ich,  dass  R.  u.  Z.,  gleich  als  einzeke 
Wesen,  übrig  bleiben,  von  denen  die  Anschauung,  vor  allen  Begriffen  von 
ihnen  und  der  Dinge  in  ihnen,  vorhergeht.''  Also  man  muss  sich  immer 
eine  Vorstellung  vom  Räume  „machen*'  (in  diesem  harmlosen  Ausdruck 
findet  Cohen,  1.  A.  13.  23.  52.  112,  das  Construiren  angedeutet;  dagegen 
Laas,  Id.  u.  Pos.  m,  425). 

Von  alledem  ist  offenbar  der  Sinn  folgender:  Bei  successiver  Abziebong, 
Abstraction  aller  Qualitäten  bleibt  ein  fester,  unauflöslicher  Rest  übrig,  die 
Raum  Vorstellung,  welche  sich  nicht  mehr  hinwegdenken  lässt.  Die  Gegen- 
stände, die  Erscheinungen  kann  man  sich  ganz  gut  aus  dem  Räume  hinweg* 
denken,    aber   den   Raum   selbst  nicht.     In   dieser  Nicht-Hiuweg-Denk- 


Wir  können  die  Vorstellung  des  Baumes  nicht  weglassen.  187 

[R  35.  H  69.  E  75.]  A  24.  B  38. 

barkeit  liegt  die  vis  probandi^.  Was  die  Erfahrung  gibt  und  uns  Yon 
aussen  darbietet,  lässt  sich  ebenso  gut  wieder  hinwegdenken;  nicht  aber  so 
das,  was  uns  unsere  innere  subjective  Natur  unseres  Bewusstseins  gibt,  und 
das  ist  der  Fall  bei  der  Raumvorstellung.  Diese  ist  untrennbar  mit  unserem 
Bewusstsein  verbunden,  mit  unserem  Ich  verknüpft.  „Wir  bringen  den 
Baum  und  die  Zeit  überallhin  mit,  sie  sind  ein  unverftusserliches ,  uns 
inhärirendes  Besitzthum.  Man  annihilire  in  Gedanken  die  ganze  Aussen- 
weit  sammt  allen  inneren  Vorgangen:  dennoch  werden  als  leere  reine  An- 
schauungsformen der  Raum  und  die  Zeit  fortfahren  zu  bestehen*^  (Montgomery, 
Kant  44).    lieber  die  Trennung  von  Form  und  Stoff  dabei  vgl.  oben  S.  70  ff. 

Ganz  in  diesem  Sinne  ist  auch  eine  Anmerkung  Kants  in  seinem 
Handexemplar  gehalten  (Erdmann,  Nachtrüge  N.  XVII,  vgl.  N.  XXXII): 
„Der  Raum  und  die  Zeit  führen  in  ihrer  Vorstellung  zugleich  den  Begriff 
der  Noth wendigkeit  mit  sich.  Nun  ist  dieses  keine  Nothwendigkeit  eines 
Begriffes.  Denn  wir  können  beweisen,  dass  sich  die  Nichtexistenz  desselben 
[des  Raumes]  nicht  widerspreche.  Auch  kann  Nothwendigkeit  nicht  in  der 
empirischen  Anschauung  liegen.  Denn  dies  kann  zwar  den  Begriff  der  Exi- 
stenz, aber  nicht  der  noth  wendigen  Existenz  mit  sich  führen.  Also  ist  diese 
Nothwendigkeit  gar  nicht  im  Objecte  —  objectiv;  folglich  ist  sie  nur  eine 
dem  Subject  nothwendige  Bedingung  vor  allen  Wahrnehmungen  der 
Sinne.** 

In  demselben  Sinne  äussern  sich  ältere  und  neuere  Commentatoren ; 
z.B.  M  ellin,  Wörterbuch  I,  265  (vgl.  I,  79):  ,,Die  reine  Anschauung  ist,  wo  ich 
mich  auch  hinwende,  wenn  ich  mir  nur  derselben  bewusst  werden  will,  immer 
da  .  .  .  ich  kann  mir  den  Raum  nicht  mit  wegdenken,  er  gehört  nämlich 
zu  meinem  Gemüth  ..  .,  wir  können  diesem  Räume  und  dieser  Zeit  nicht 
entlaufen;  sie  begleiten  uns  wie  unser  Schatten,  und  wir  können  sie  durch 
keine  Anstrengung  der  Denkkraft,  selbst  nicht  der  dichtenden  Phantasie, 
aus  unserem  Erkenntnissvermögen  verbannen.'  Schultz  in  den  Erläute- 
rangen  S.  22  sagt  einfach:  „es  sind  Vorstellungen,  die  uns  nothwendig  an- 
kleben.'    Schopenhauer,  W.  a.  W.  II,  38.     F.  I,  18—20.     II,  46. 

Liebmann  in  der  bekannten  Schrift  „Kant  und  die  Epigonen*'  S.  21 
drückt  sich  so  aus:  „Mit  Raum  und  Zeit  würde  nicht  nur  die  empirische  Welt, 
sondern  zugleich  unser  Intellect,  ja  unser  Ich  hin  wegfallen ,  von  ihm  selbst 
hinweggedacht  werden,  was  unmöglich  ist  ...  Raum  und  Zeit  kann  ich 
mir  aus  dem  Subject.unserer  Erkenntniss  nicht  hin  wegdenken,  ohne  dieses 
zugleich  selbst  zu  vernichten  .  .  .  Was  sich  so  verhält,  ist  dem  Subject 
wesentlich,  d.  i.  a  priori.**  In  ähnlicher  Weise  äussert  sich  Cohen  (1.  Aufl. 
S.  13;  2.  A.  S.  103  f.):  ,,Man  versuche,  den  Begriff  vom  Raum  zu  drehen  (?  !), 
aber  er  bleibt   stehen.     Man   muss   sich   durchaus   eine   Vorstellung   davon 


*  Diese  (absolute)  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung  wurde  schon  vor 
Kant  betont,  z.  B.  von  Mosheini;  s.  dessen  Cudworth,  Syst.  Intell,  cap.  V,  3.  4,  1: 
;;«€«  ex  anüno  meo^  qulcquid  etiam  moliar,  hanc  notionem  ej teere  raieo.*^ 


|gg  §  2.    Zweites  Raumargument. 

A  ^.  B  88.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

machen,  dass  Eaum  sei  ...  Diese  Thatsache  des  Bewusstseins,  dass  der 
Raum  allem  uoserem  Vorstellen  anhaftet,  macht  ihn  zum  Apriori",  und 
nachher  fragt  derselbe  in  diesem  Sinne:  nWie  kommt  es,  dass  wir  nns 
von  der  Vorstellung  des  Raumes  nicht  losmachen  können?  Welcher 
sonderbaren  Eigenschaft  verdankt  jene  Vorstellung  diese  feste  Nothwen- 
digkeit?  und  derselbe  (1.  A.  S.  24;  2.  A.  S.  119):  .Jene  Vorstellung  allein, 
im  Gegensatz  zu  allen  anderen,  behauptet  sich  im  Bewusstsein/' 
„Alle  Gegenstände  kann  ich  aus  meinem  Räume  weisen,  mein  Raum  bleibt'S 
er  hat,  wie  Cohen  (1.  A.  S.  28;  2.  A.  S.  123)  sich  gut  ausdrückt,  eine  „be- 
ständige  Gegenwärtigkeit". 

In  sehr  drastischer  Weise  hat  Kuno  Fischer  (Kant,  2.  A.  318) 
dieses  Argument  wiedergegeben;  er  hat  die  betreffende,  oft  citirte  Stelle  in 
der  S.  Auflage  (S.  380)  allerdings  gestrichen,  aber  sie  verdient  als  Beweis 
einer  äusserst  plastischen  Ausdrucksweise  dauernde  Aufbewahrung.  „Wir 
mögen  es  anstellen,  wie  wir  wollen,  Raum  und  Zeit  begleiten  uns  überall, 
unsere  wahrnehmende  Vernunft  geht  ohne  sie  keinen  Schritt.  Man  kann 
diese  Vorstellungen  nie  los  werden;  wer  es  versucht,  dem  geht  es  wie  dem 
Manne  bei  Chamisso  mit  dem  Zopf:  er  dreht  sich  rechts,  er  dreht  sich  links, 
der  Zopf,  der  hängt  ihm  hinten." 

Die  Nothvvendigkeit,  welche  in  dieser  Weise  von  der  Raumvor- 
Stellung  ausgesagt  wird,  ist  die  des  Nicht-hinweg-denken-könnens  (des  Nicht- 
nicht-denken-könnens).  (Vgl.  dazu  Kants  Reflexionen  U,  N.  392 :  „Der  Raum 
ist  zu  aller  Zeit,  d.  i.  nothwendig."  Volkelt,  Ks.  Erk.  197.  220.)  Die 
andere,  bei  Kant  ebenfalls  eine  grosse  Rolle  spielende  Nothwendigkeit,  die 
des  Nicht- anders-denken-könnens,  kommt  hier  beim  Räume  nicht  in 
Betracht,  wie  schon  Commentar  I,  222  bemerkt  worden  ist.  Es  ist  daher 
nicht  richtig,  wenn  einige  Gommentatoren  die  letztere  Nothwendigkeit  (die 
sich  auf  ürtheile,  nicht  aber  wie  hier,  auf  Vorstellungen  bezieht)  hier  an 
dieser  Stelle  hereinraischen.  So  sagt  Mellin  II,  473:  „Man  kann  sich  ver 
mittelst  der  Einbildungskraft  gar  nicht  vorstellen,  dass  gar  kein  Raum  da 
wäre  oder  dass  er  anders  beschaffen  sein  könnte,  als  er  wirküch  isC* 
Kant  spricht  aber  hier  nicht  davon,  dass  wir  den  Raum  nicht  als  anders 
beschaffen  vorstellen  können,  sondern  dass  wir  diese  Vorstellung  über- 
haupt nicht  wegschaffen  können.  Auch  Schultz  in  seiner  Prüfung 
I,  84  hat  jenen  Gedankengang:  „Wir  können  uns  von  jedem  Körper  vor- 
stellen ,  dass  er  nicht  da  wäre ;  aber  dass  kein  Raum ,  und  in  demselben 
keine  Punkte,  gerade  Linien  und  ebene  Flächen  wären,  oder  dass  er  statt 
dieser  Grenzen  andere  hätte,  diese  Vorstellung  ist  uns  schlechterdings  un- 
möglich.'* 

In  diesem  Sinne  legt  auch  Stadler  (Phil.  Monatsh.  1881,  333  ff.) 
dieses  Argument  aus,  wenn  er  versucht,  mit  seiner  Hülfe  die  Angriffe  von 
Helmholtz  auf  Kant  zu  bekämpfen :  „Vor  allem  ist  wichtig,  die  Bedeutung 
recht  scharf  zu  fassen,  in  welcher  K.  den  Raum  eine  nothwendige  Vor- 
stellung genannt  hat.     Er  verstand  darunter,   dass  wir  uns  von  der  Raum* 


Der  Raum  ist  nothwendig,  die  Erscheinungen  in  ihm  zufällig.  189 

[R  36.  H  69.  E  76.]  A  24.  B  38. 

anschaüUDg  und  ihren  Grundeigenschaften  nnter  keinen  Umständen  frei 
machen  können.  Sie  bezeichnet  die  Grenze  unserer  Abstractionsfähigheit 
einerseits,  unserer  schöpferischen  Phantasie  andererseits.  Wir  vermögen 
wohl,  unsere  Aufmerksamkeit  auf  Ausdehnungen  von  weniger  als  drei  Dimen- 
sionen zu  richten;  allein  auch  diese  erscheinen  uns  nur  als  Grenzen  des  un- 
veränderten gewöhnlichen  Raumes.  Von  einer  vierten  Dimension  kann  aber 
auch  die  geübteste  mathematische  Einbildungskraft  sich  nicht  die  mindeste 
Anschauung  machen.  Wenn  also  die  Noth wendigkeit  des  Kantischen  Raumes 
dadurch  angegriffen  werden  soll,  dafis  man  auf  die  sinnliche  Vorstellbarkeit 
anderer  Rftume  hinweist,  so  muss  in  erster  Linie  gezeigt  werden,  dass  die 
alte  Raumanschauung  auch  wirklich  den  neuen  Vorstellungen  nicht  zu 
Grunde  liegt.  Ich  glaube  nicht,  dass  dies  Helmholtz  gelungen  ist.'' 
K.  Fischer,  Kritik  d.  K.  Phil.  9  ff.  meint  ähnlich:  „Jene  Einwürfe,  die  auf 
die  Möglichkeit  anderer  Raumanschauungen  eine  andere  Art  der  Geometrie 
und  ihrer  Axiome  gründen,  sind  so  wenig  geeignet,  die  Lehre  Kants  zu  wider- 
legen, dass  sie  vielmehr  auf  diese  Lehre  sich  berufen  können  und  sollen.'* 
Diesen  Einwurf,  welcher  auf  „die  relative  Geltung  der  geometrischen  Axiome" 
begründet  ist,  sucht  F.  daselbst  im  Einzelnen  zu  widerlegen.  Aebnlich 
Riehl,  Krit.  II,  a,  118.  Vgl.  dagegen  Laas,  Analogien  211  ff.,  der  die 
metamathematischen  „öden  Denkbarkeiten"  doch  dazu  geeignet  findet,  „dem 
Glauben  an  die  Apriorität  des  Raumes  im  Sinne  einer  absoluten  Nothwen- 
digkeit  Terrain  streitig  zu  machen".  — 

Die  Noth  wendigkeit  des  Raumes,  von  welcher  hier  die  Rede  ist,  steht 
nun  offenbar  im  Gegensatz  zu  der  Zufälligkeit  der  Erscheinungen  in  ihm. 
Diese  als  empirisch  Gegebene  sind  auch  wieder  wegzu nehmen;  jener, 
als  eine  a  priori  uns  gegebene  oder  besser  von  uns  gemachte  Vorstellung, 
lässt  sich  eben  daher  auch  nicht  wieder  aus  unserem  Bewusstsein  entfernen. 
Dies  wäre  aber  der  Fall,  wenn  der  Raum  eine  von  den  Erscheinungen  „ab- 
hängende Bestimmung"  wäre;  dann  wäre  er  bloss  zufällig  wie  alle  die 
anderen  empirischen  Bestimmungen  der  Erscheinungen.  Diese  Seit«  des 
Gedankenganges  wird  besonders  betont  bei  Schulze,  Kritik  d.  theoret. 
Philos.  I,  208;  Schultz,  Prüfung  I,  90.  165;  Tiedemann,  Theätet  S.  67; 
Metz,  Darstellung  45;  Villers  in  Rinks  Mancherley  S.  19;  „Haupt- 
momente" S.  85;  Lewes,  Gesch.  d.  Philos.  II,  516;  Krug  im  Philos.  Lexi- 
con  III,  429:  „Raum  und  Zeit  können  nicht  Eigenschaften  der  Dinge  sein; 
denn  diese  werden  mit  den  Dingen  selbst  aufgehoben ,  wie  die  Flüssigkeit 
oder  Festigkeit  oder  Gestalt  oder  Farbe  eines  Körpers  mit  dem  Körper 
selbst,  nach  dem  Grundsatze:  Sublata  re  tollitur  qualitas  rei.  Man 
kann  aber  jedes  Ding  mitsammt  seinen  Eigenschaften  wenigstens  in  Gedanken 
aufheben,  ja  die  ganze  Welt  auf  diese  Art  vernichten;  und  dennoch  bleibt 
uns  die  Vorstellung  von  Raum  und  Zeit  übrig." 

Dieser  ganze  Beweis  hat  es  besonders  gegen  die  Leibniz'sche  Theorie 
abgesehen.  K.  Fischer  stellt  daher  2.  A.  334;  3.  A.  340,  den  Gedanken  richtig 
so  dar:  „Wären  Raum  und  Zeit  Eigenschaften,  welche  den  Dingen  anhängen. 


190  §  2.    Zweites  Raumargument. 

A  24.  B  38.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

oder  wären  sie,  wie  Leibniz  wollte S  Verhältnisse,  welche  die  Dinge  änsserlich 
ordnen,  so  könnten  sie  in  beiden  Fällen  nicht  ohne  die  Dinge  vorgestellt 
werden,  so  wäre  die  Abstraction  von  den  Dingen  zugleich  die  Abstraction 
von  Baum  und  Zeit,  und  mit  der  Vorstellung  von  jenen  wären  aach  diese 
Vorstellungen  aufgehoben.  Das  aber  ist  unmöglich.  Wir  können  von  den 
Dingen  abstrahiren,  niemals  von  Baum  und  Zeit:  Beweis  genug,  dass  diese 
beiden  Vorstellungen  nicht  mit  den  Dingen  gegeben  sind,  denn  sonst  mussten 
sie  auch  mit  den  Dingen  aufgehoben  sein." 

Man  hat  schon  früher  den  Einwand  gemacht,  man  könne  doch  factisch 
den  Raum  sich  hinwegdenken ;  man  könne  vom  Räume  abstrahiren.  So  z.  B. 
Brastberger  in  seinen  Untersuchungen  S.  48.  Dagegen  wendet  sich 
Mellin  I,  261  und  II,  473:  „Es  lässt  sich  freilich  durch  Begriffe  der 
Raum  hinweg  denken,  aber  es  ist  hier  davon  die  Rede,  dass  man  ihn  in 
der  Anschauung  nicht  wegschaffen  kann ;"  d.  h.  ein  „reales  Wegdenken 
des  Raumes  durch  die  Einbildungskraft'*  ist  trotz  „der  logischen  Ab- 
straction von  ihm*'  nicht  möglich.  (Aehnlich  auch  Cohen,  2.  A.  104.  121.) 
Diese  Unterscheidung  ist  ganz  zutreffend.  Dass  der  Raum  wegzudenken 
sei,  logisch,  gibt  K.  nicht  bloss  zu,  sonderen  verlangt  es  unten  sogar  selbst 
A.  28,  wo  er  die  Raumanschauung  andern  Wesen  abspricht.  Eingehende 
Polemik  auch  bei  Schulze,  Krit.  d.  theor.  Philos.  11,  205  ff. 

Eingehender  hat  sich  auch  Lotze,  theil weise  in  zustimmendem  Sinne 
mit  dem  Argument  beschäftigt  (Metaph.  S.  199—201;  Phil.  s.  Kant  §  15); 
doch  ist  seine  Auffassung  desselben,  wenn  auch  feinsinnig  wie  immer,  so 
doch  nicht  von  Irrthümern  frei ;  vgl.  dazu  Beyersdorff,  Die  Raum  vorstell  angen, 
S.  26—32.     Heymans,  Ges.  u.  El.  d.  wiss.  Denkens,  1890,  I,  205.  252.  263. 

Einen  eigenthümlichen  Einwand  erhebt  Bolliger,  Antikant  33.  2H. 
386.  390  gegen  dieses  Argument,  das  er  überhaupt  274  ff.  unbarmherzig 
zerfasert:  Jene  absolute  Nicht-Hinweg-Denkbarkeit  des  Raumes  rühre  eben 
daher,  dass  im  Räume  sich  uns  das  A\)solute  offenbare.  Aehnlich  mystisch 
Th.  Weber,  Metaph.  II,  69.    Weitere  Einwände  bei  v.  Kirch  mann,  Erl.  7; 


^  Dies  hat  Kant  auch  im  Auge,  wenn  er  in  einer  Anmerkung  zu  seinem 
Handexemplar  sagt  (vgl.  B.  Erdmann,  Nachträge  N.  XIY):  ,Der  Raum  ist  kein 
Begriff  von  äusseren  Verhältnissen,  wie  Leibniz  meint,  sondern  das,  was  derMdg- 
lichkeit  äusserer  Verhältnisse  zum  Grunde  liegt."  Durch  die  Beziehung  auf  Leibniz 
wird  der  Text  noch  deutlicher;  denn  dieser  sah  ja  eben  (nach  Kant)  den  Ramn 
als  eine  von  den  Dingen  respi.  Verhältnissen  , abhängende  Bestimmung'  an;  nnd 
zwar  sowohl  in  dem  Sinne,  dass  der  objective  Raum  durch  jene  Verhältnisse  erst 
entstehe,  als  in  dem  Sinne,  dass  unsere  Raumvorstellung  erst  von  denselben  ab- 
geleitet sei.  Wenn  der  Raum  so  von  den  Dingen  abhängt  und  durch  sie  erst 
gegeben  ist,  so  ist  er  auch  mit  ihnen  aufgehoben;  während  Kant  lehrt^  der 
Raum  kann  nicht  von  den  Dingen  abhängen,  nicht  erst  mit  den  Erscheinnngen 
gegeben  werden,  weil  er  dann  auch  mit  ihnen  aufgehoben  würde.  Nun  bleibt  er 
aber  stehen,  auch  wenn  die  Dinge  in  ihm  fallen,  also  ist  er  unabhängig  von 
diesen.  —  Scharfe  Einwände  macht  Maass  im  Phil.  Mag.  I,  126  ff. 


Missverständniase  und  Einwände.  191 

[B  35.  H  59.  E  75.]  A24.B38. 

dagegen  Grapengiesser,  Erkl.  18.  Scharfe  Kritik  auch  bei  Beyers- 
dorff,  Die  Raumvor^tellungen,  S.  26—32,  bei  Baumann,  R.  u.Z.  II,  655. 
£.  y.  Hart  mann,  Transsc.  Real.  145  ff.  erhebt  ebenfalls  treffende  Einwände. 
Ebenso  Pflüger,  Aesthetik  16-19.  Sidgwick  im  Mind  XXIX,  88  ff. 
Proelss,  ürspr.  d.  menschl.  Erk.  118.  Stumpf,  Urspr.  d.  Raumvorst.  S.  19 
(vgl.  oben  S.  70.  77);  dagegen  wieder  Cohen,  2.  A.  105;  hiegegen  wiederum 
sehr  treffend  Stumpf,  Psych,  u.  Erk.-Th.  (1891)  8.  19  f.  v.  Schubert- 
Soldern,  Erk.-Theorie  272  ff.  Bergmann,  Sein  und  Erkennen  102  ff., 
169  ff.  Schuppe,  Logik  174.  Wundt,  Logik  I,  449.  A.  Schmid,  Zu 
Ks.  Lehre  v.  Raum.    Dias.    Leipzig  1890,  8—12.  18. 

Gegen  dieses  Argument,  das  allerdings  „nicht  einer  gewissen  und 
keineswegs  geringen  Scheinbarkeit  entbehre**,  polemisirt  auch  Riehl,  Krit.  II, 
a,  101  ff.  mit  folgenden  treffenden  Worten:  „Kann  unser  Bewusstsein  die 
Zumuthung,  die  ihm  K.  hiemit  stellt,  wirklich  in  der  von  ihm  angegebenen 
Weise  erfüllen?  Kann  es  sämmtliche  Empfindungen,  die  des  eigenen  Leibes 
xmd  die  reproduoirten  eingeschlossen,  wegnehmen,  und  doch  die  Vorstellungen 
von  R.  u.  Z.  in  Gedanken  übrig  behalten?  Ich  glaube,  in  diesem  Falle 
miissten  auch  die  Vorstellungen  Raum  und  Zeit  bis  auf  ihren  Namen  dahin- 
schwinden. Um  uns  auch  nur  in  Gedanken  eine  Vorstellung  von  R.  u.  Z. 
bilden  zu  können,  bedürfen  wir  jederzeit  eines  Materials  von  Empfindungen, 
es  sei  von  gedachten,  reproducirten ,  oder  den  beständigen  Empfindungen 
unseres  Leibes.  Ohne  dieses  Material  sind  R.  u.  Z.  nicht  einmal  Abstracta, 
sondern  blosse  Namen  für  an  sich  unvorstellbare  Schemata  möglicher  Ver- 
hältnisse von  Empfindungen."  Aehnlich  Spencer,  ,,Gi*undlagen  der  Psych.", 
§  330  ff.,  §  399.    Für  Kants  Beweis  Liebmann,  An.  d.  W.  216  N. 

Unrichtig  ist,  in  diesem  (und  in  dem  ersten  vgl.  oben  172  N.)  Argument 
schon  einen  Beweis  für  die  Subjectivität  des  Raumes  sehen  zu  wollen; 
es  handelt  sich  erst  um  die  Apriorität;  (aus  dieser  wird  erst  im  „Schluss  a" 
auf  die  Subjectivität  geschlossen).  Auf  jener  fehlerhaften  Auslegung  be- 
ruhen die  Einwände  von  Trendelenburg  (Log.  Unters.  2.  A.  I,  162)  und 
Ueberweg  (Grundriss  III,  §  18).  In  diesem  Sinne  hat  Cohen,  2.  A.  105—107 
(124,  129)  mit  Recht  jene  Einwände  zurückgewiesen. 

üeber  die  hier  angewendete  Methode  Kants  bemerkt  J.  B.  Meyer, 
Ks.  Psychologie  S.  167:  „Ganz  anders  (als  bei  inductiver  Feststellung  der 
Elemente  und  Gesetze  unseres  Seelenlebens)  verhält  es  sich  mit  der  Ent- 
deckung, dass  die  Raumanschauung  eine  ursprüngliche  Zuthat  unseres  Geistes 
zur  Erfahrung  ist.  Wir  brauchen  dazu  zwar  keine  Summe  von  Beobachtungen, 
von  inneren  Wahrnehmungen,  es  genügt  die  einfache  Selbstbesinnung, 
uns  zu  vergegenwärtigen,  dass  wir  den  Raum  gar  nicht  hinwegdenken 
können,  weil  er  die  Form  unserer  Anschauung  selber  ist."  Vgl.  dazu  Witte, 
Beiträge  37,  Zur  Erk.  19,  welcher  für  jene  Selbstbesinnung  gar  „eine  eigenthüm- 
liehe  transscendental-psychologische  Grundkraft"  erfindet!  Dagegen  Schnei- 
der, Psych.  Entw.  d.  Apriori  S.  6fF.  löst  dieselbe  in  die  gewöhnliche  Reflexion 
und  Abstraction  auf.   Ebenso  Zimmermann,  Ks.  Mathem.  Vorurtheil,  S.  48. 


192  §2.    Zweites  Raumarg^ument. 

A  24.  B  89.  [B  36.  H  59.  E  75.] 

Dritter  Satz.  Dieser  Schlusssatz,  der  sich  durch  das  y,also"  als 
Schlussfolgerung  zu  erkennen  gibt,  bietet  der  Erklärung  mannigfache  Schwierig- 
keiten dar.  Zunächst  ist  eine  kleine  Ungenauigkeit  des  Textes  zu  bemerken : 
es  muss  heissen:  er  wird  also  als  die  Bedingung  der  Unmöglichkeit  der 
äusseren  Erscheinungen  angesehen.  Das  Wort  „äussere"  hat  Kant  weg- 
gelassen. Was  nun  die  eigentlichen  Schwierigkeiten  betrifft,  so  fragt  sich 
zunächst,  wie  sich  die  beiden  Hälften  des  Satzes,  welche  durch  „und"  ver- 
bunden sind,  zu  einander  verhalten?  Geben  beide  Hälften  einen  und  den- 
selben Gedanken  in  doppelter  Form  wieder?  Man  könnte  freilich  auf  den 
Gedanken  kommen  (wie  das  wohl  bei  Cohen,  1.  A.  S.  13 ;  2.  A.  S.  103  der 
Fall  ist),  die  erste  Satzhälfte  gebe  eine  nochmalige  Zusammenfassung  des 
ersten  Raumargumentes,  und  nur  die  zweite  beziehe  sich  auf  das  zweite 
Raumargument:  denn  wenn  in  der  ersten  Hälfte  der  Raum  als  die  „Be- 
dingung der  Möglichkeit  der  Erscheinungen"  bezeichnet  wird,  so  scheint  dies 
ja  dasselbe  sagen  zu  wollen,  was  im  ersten  Raumargument  stand,  durch  den 
Raum  werde  erst  die  äussere  Erfahrung  möglich.  Allein  abgesehen  davon, 
dass  hiegegen  doch  die  grammatische  Verbindung  der  ganzen  Periode  spricht, 
und  dass  ein  derartiger  Gedankengang  Kants  doch  als  sehr  unzweckmässig 
erscheinen  muss,  so  geht  schon  aus  dem  Parallelargument  bei  der  Zeit  her- 
vor, dass  diese  Auslegung  falsch  ist:  denn  dort  wird  von  der  Zeit  gesagt: 
.„sie  selbst  kann  als  die  allgemeine  Bedingung  ihrer  Möglichkeit  [der 
Erscheinungen]  nicht  aufgehoben  werden^';  daraus  geht  hervor,  dass  aach 
beim  Räume  die  Bezeichnung  desselben  als  der  „Bedingung  der  Möglichkeit 
der  Erscheinungen"  wirklich  zum  zweiten  Argument  gehört. 

Nun  aber  erhebt  sich  die  Frage:  Ist  denn  diese  mit  der  These  im 
ersten  Satz  genau  übereinstimmende  Schlussfolgerung  ein  nothwendiges  Er- 
gebniss  aus  dem  Beweisnerv  des  zweiten  Satzes?  Dieser  sagte  ja,  dass  der 
Raum  nicht  hin  wegzuschaffen  sei,  nicht  aufgehoben  werden  könne;  alles 
kann  man  sich  aus  ihm  wegdenken,  nur  ihn  selbst  nicht.  Aber  inwiefern 
ist  denn  dies  nun  ein  Beweis  dafür,  dass  der  Raum  eine  Bedingung  der 
Erscheinungen  ist,  statt  von  ihnen  abzuhängen?  Der  Satz  —  wir  können 
den  Raum  absolut  nicht  los  werden  —  involvirt  als  Folgerung  doch  nicht 
ohne  Weiteres  —  also  ist  er  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Erschei- 
nungen; sondern,  wie  wir  bisher  sahen,  jene  Thatsache  involvirt  unmittelbar 
nur  die  Apriorität  der  Raumvorstellung  als  solcher.  So  fassten  ja  auch  viele 
Erklärer  Kants  die  Stelle ,  besonders  Schultz,  der  berufenste  Erklärer  Kants, 
bei  dessen  ,, Erläuterungen' '  Kant  selbst  mitwirkte.  Schultz  (a.  a.  0.  22) 
sagt  einfach:  wir  können  Raum  und  Zeit  nicht  wegdenken;  „aber  Vor* 
Stellungen,  die  uns  ganz  nothwendig  ankleben^  sind  nicht  Producte  der  Er- 
fahrung, sondern  Vorstellungen  a  priori."  Diese  Folgerung  zieht  ja  nun 
Kant  selbst  auch  in  seinen  Text;  er  sagt  ja:  „Der  Raum  ist  eine  Vorstellung 
a  priori",  aber  gibt  vorher  und  nachher  noch  Bestimmungen,  welche  Schulu 
ganz  einfach  weggelassen  hat,  Bestimmungen,  welche  sagen :  „Der  Raum  ist 
also  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Erscheinungen;    er  liegt  noth- 


Die  Nothwendigkeit  des  Raumes  für  die  Subjecte  und  für  die  Objecto.     193 

[E  35.  H  69.  E  75.]  A  24.  B  89. 

wendiger  Weise  äusseren  Erscheinungen  zu  Grande."  Diese  Bestimmungen 
sind  Zusätze,  über  welche  wir  Rechenschaft  verlangen. 

Bei  näherem  Zusehen  ergibt  sich  denn  auch,  dass  hier  in  der  That 
zwei  Gedanken  mit  einander  verkoppelt  sind,  welche  einer  schärferen  Schei- 
dung bedürfen.  Wir  müssen  offenbar  den  Schlusssatz  in  folgende  zwei  Be- 
standtheile  auseinanderlegen:  a)  der  Raum  ist  eine  Vorstellung  a  priori; 
b)  der  Raum  liegt  nothwendiger  Weise  äusseren  Erscheinungen  zu  Grunde; 
er  ist  die  Bediogung  der  Möglichkeit  der  Erscheinungen.  Der  erstere  Ge- 
danke behauptet  die  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung  an  und  für  sich 
und  als  solcher  im  Sinne  der  Nicht-Hinweg-Denkbarkeit;  wir  können  dafür 
auch  setzen  die  Nothwendigkeit  für  mich,  für  das  vorstellende  Subject. 
Der  zweite  Gedanke  aber  behauptet  die  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung 
für  die  äusseren  Erscheinungen,  für  die  vorgestellten  Objecte.  (In  diesem 
Sinne  sagt  Kant  auch  in  den  Reflex.  II,  N.  398:  „R.  u.  Z.  sind  das  Noth- 
wendige  in  der  Anschauung",  nämlich  eben  in  den  angeschauten  Objecten.) 
Diese  beiden  Noth wendigkeiten,  welche  Kant  ganz  ebenso  wie  hier  im  Schluss- 
satz auch  schon  im  ersten  Satze  ohne  scharfe  Scheidung  neben  einander 
stellte,  müssen  wir  nun  terminologisch  von  einander  unterscheiden  und  können 
sie  am  besten  als  absolute  und  als  relative  Nothwendigkeit  bezeich- 
nen (oder  auch  als  subjective  und  als  objective). 

Streng  genommen  folgt  nun,  wie  wir  schon  sahen,  aus  dem  den  Beweisnerv 
enthaltenden  zweiten  Satze  nur  die  absolute  Nothwendigkeit  der  Raum- 
vorstellung als  solcher,  und  damit  eben  die  Hauptsache,  auf  die  es  hier 
ankommt,  die  Apriorität  derselben:  denn  diese  Nothwendigkeit  ist  ja  das 
Merkmal  der  Apriorität  (vgl.  Gomm.  I,  206.  222  ff.).  Die  relative  Noth- 
wendigkeit der  Raumvorstellung  für  die  Erscheinungen  kann  man  aber, 
wenn  sie  auch  nicht  direct  aus  jenem  Beweise  folgt,  doch  als  eine  nahe- 
liegende Folgerung  aus  demselben  ansehen,  als  ein  CoroUar.  Denn  wenn  der 
Raum  eine  mein  Bewiisstsein  noth  wendig  begleitende  „a  priori  mir  gegebene'* 
Vorstellung  ist,  welche  ich  nicht  los  werden  kann,  welche  in  mir  festhaftet, 
auch  wenn  ich  ihren  Inhalt  gleichsam  vollständig  hinausgepumpt  habe,  dann 
ist  eben  diese  mich  so  hartnäckig  verfolgende  Raumvorstellung  auch  eine 
nothwendige  Bedingung  meines  Vorstellens  von  äusseren  Erscheinungen; 
dann  kann  ich  mir  keine  Dinge  anders  vorstellen  als  im  I{aume,  dann  be- 
gleitet sie  auch  alle  meine  Vorstellungen  von  Gegenständen,  ist  deren  dauern- 
der Hintergrund,  deren  constante  Folie,  also  eben  das,  was  „nothwendiger 
Weise  äusseren  Erscheinungen  zum  Grunde  liegt." 

In  diesen  Zusammenhang  muss  man,  obgleich  der  Text  dazu  nicht 
direct  anleitet,  doch  die  beiden  Nothwendigkeiten  bringen,  so  dass  also  die 
relative  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung  aus  ihrer  absoluten  folgt. 
So  ist  denn  die  relative  Nothwendigkeit  hier  nur  eine,  wenn  auch  nahe- 
liegende und  nicht  zu  umgehende,  Folgerung  aus  der  absoluten;  sie  wird 
nun  aber  von  Kant  viel  mehr  in  den  Vordergrund  gestellt,  als  ihr  logischer 
Werth  es  erlaubt.     Dadurch  hat  Kant  den  Leser  über  den  Sinn  des  ganzen 

Vaihinger,  Kant-Commentar.    II.  13 


194  §  2.    Zweites  Rauinargument. 

A24.B39.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

Argumentes  selbst  getäuscht.  Ja  es  gewinnt  sogar  den  Anschein,  als  ob  die  rela- 
tive Nothwendigkeit  auch  ein  Beweis  für  die  Apriorität  sein  solle  —  eine 
Auffassung,  welche  allerdings  durch  das  entsprechende  Zeitargument  gestützt 
wird,  und  so  kommt  es  dann,  dass  in  der  Kantliteratur  dasselbe  oft  miss- 
verstanden  worden  ist.  Die  Einen  begnügen  sich  damit,  die  absolute  Noth- 
wendigkeit hervorzuheben,  auf  welche  es  allerdings  in  erster  Linie  abgesehen 
ist,  weil  aus  ihr  allein  eben  die  Apriorität  folgt;  aber  sie  übergehen  die 
relative,  auf  welche  Kant  doch  aus  jener  schliesst.  Die  Anderen  machen 
den  weit  grösseren  Fehler,  nur  die  relative  Nothwendigkeit  zu  berücksich- 
tigen, auf  welche  es  doch  gar  nicht  in  erster  Linie  ankommt;  denn  nicht 
auf  sie  zielt  der  Beweis,  und  sie  beweist  ja  auch  ihrerseits  nicht  die  Apriorität 
der  Baumvorstellung,  welche  doch  letztes  Beweisziel  ist.  Aber  die  Meisten 
begnügen  sich  damit,  den  Eantischen  Text  mit  geringen  Variationen,  ohne 
genaue  Unterscheidung  jener  beiden  Punkte,  wörtlich  wiederzugeben.  Und 
bei  den  Wenigsten  findet  sich  eine  deutliche  Unterscheidung  derselben. 

Nur  die  absolute  Nothwendigkeit  wird  in  Betracht  gezogen  —  ausser 
bei  den  oben  S.  187  f.  angefahrten  Erklärern  —  von  Lossius,  Lexicon  ÜI, 
515;  Born,  Sinnenlehre  71,  und  Versuch  über  die  ursprünglichen  Grund- 
lagen S.  88;  Tiedemann,  Theätet  S.  68  ff.;  Heusinger  ,  Encyclop.I,  286; 
Schultz,  Prüfung  der  Kantischen  Cr.  d.  r.  V.  I,  84 — 96;  v.  Eberstein, 
Gesch.  d.  Log.  II,  10;  Feder,  Raum  und  Causalität  S.  26  ff.;  Allgem. 
Lit.  Zeit.  1788,  I,  258;  Schulze,  Krit.  d.  theoret.  Philos.  I,  207;  U,  206: 
Schulze  sagt  ausdrücklich:  „In  jenem  Argumente  ist  von  einer  absoluten 
und  nicht  von  einer  relativen  (nur  in  Beziehung  auf  etwas  Anderes,  das 
gesetzt  worden  ist,  stattfindenden)  Nothwendigkeit,  den  Baum  als  etwas 
Wirkliches  zu  denken,  die  Bede'  ;  und  er  beruft  sich  ausdrücklich  hieför  auf 
Schultz,  Prüfung  I,  84;  II,  158.  178;  und  richtet  seine  Kritik  auch 
nur  gegen  die  Behauptung  der  absoluten  Nothwendigkeit  des  Raumes. 
So  auch  Schopenhauer  öfters,  bes.  W.  W.  VI,  46;  Deussen,  Metaph. 
§  50  nennt  das  Argument  in  diesem  Sinne  den  Beweis  j^tx  adhaesione'. 
Auch  bei  neueren  Erklärern  finden  wir  dieselbe  Auffassung ;  z.  B.  —  ausser 
bei  den  obengenannten  —  bei  Erdmann,  Gesch.  d.  Philos.  II,  §  298,  3: 
bei  Holder,  S.  10;  Stadler,  Reine  Erk.  32  (dazu  S.  57.  138.  die  merk- 
würdig unkantische  Erläuterung:  , Allerdings  kann  ich  aus  B.  u.  Z.  alle 
Gegenstände  wegnehmen,  ohne  genöthigt  zu  sein,  sie  selbst  wegzudenken: 
aber  sowie  ich  das  thue,  werden  auch  die  Einheitsanschauungen  völlig 
bedeutungslos,  ich  besitze  nicht  mehr  die  mindeste  Erkenntniss  in  ihnen,  ich 
kann  gar  nichts  über  sie  aussagen,  sie  sind  gleichsam  blind*  u.  s.  w.  Jene 
reinen,  empfindungsleeren  Anschauungen  enthalten  ja  die  ganze  Mathematik!) 

Nun  gibt  es  aber  Erklärer,  welche  in  dem  Argument  nur  die  Behaup- 
tung der  relativen  Nothwendigkeit  der  Baumvorstellung  finden:  z.  B. 
Weishaupt,  Zweifel  S.  14.  16;  Jacob,  Logik  u.  Metaphysik  256.  260. 
261;  derselbe  in  seiner  Widerlegung  Mendelssohns,  S.  21.  24.  29;  Maimon, 
Untersuchungen  73.  74;  Will  ich,   Elements  S.  71   (Space  and  Time  muä 


Die  absolute  und  die  relative  Nothwendigkeit  ^s  Raumes.  195 

[R  35.  H  69.  E  75.]  AS4.B89. 

he  thought  aa  ihe  substratutn  of  all  sensible  objects).  Ausdrücklich  findet 
ßeneke,  Metaphysik  226  in  diesem  Argument,  das  er  daselbst  eingehend 
bekämpft,  die  , relative  Nothwendigkeit"  des  Raumes.  Unter  den  Neueren 
z.  B.  Thiele,  Int.  Ansch.  187,  ist,  wie  es  scheint,  auch  Lotze,  Metaphysik, 
S.  200,  welcher  das  Argument  in  diesem  Sinne  billigt  und  tiefer  begründet. 
Auch  Rehmke,  Welt  157.  So  scheint  dies  auch  der  Fall  zu  sein  bei 
Riehlf  welcher  Erit.  I,  347  dieses  Argument  in  speciellere  Beziehung  zu 
der  Schrift  von  1768  bringt,  in  welcher  es  heisst,  „dass  der  absolute  Raum 
unabhängig  von  dem  Dasein  aller  Materie  und  selbst  als  der  erste  Grund 
aller  Möglichkeit  ihrer  Zusammensetzung  eine  eigene  Realität  habe."  «Nur 
durch  den  absoluten  und  ursprünglichen  Raum  ist  das  Yerhältniss  körper- 
licher Dinge  möglich."  Damit  «übereinstimmend"  sei  aber  „der  zweite  Satz 
der  Kritik,  der  die  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung  erläutert  und  er- 
klärt: der  Raum  wird  als  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Erscheinungen 
angesehen".  Auch  schon  Eberhard,  Phil.  Magaz.  II,  79  hat  die  relative 
Auffassung,  und  behauptet,  es  folge  aus  der  Nothwendigkeit  der  Raum  Vor- 
stellung für  alle  äusseren  Anschauungen  nur,  dass  diese  nicht  ohne  jene 
sein  kann;  es  seien  aber  dann  noch  zwei  Fälle  möglich;  der  Raum  kann 
entweder  vor  ihnen  oder  mit  ihnen  zugleich  da  sein.    (Vgl.  oben  S.  178). 

Bei  den  meisten  Erklärern  geht  Beides  unklar  durcheinander:  bei 
Brastberger,  Untersuchungen  S.  44. 48. 49 ;  bei  M e t z ,  Darstellung  S.  44 ; 
bei  Krug,  Handbuch  I,  263;  bei  Bendavid,  Vorlesungen  S.  14;  Beck, 
Auszug  I,  10. 

Beide  Arten  der  Nothwendigkeit  sind  gleichmässig  ausdrücklich  berück- 
sichtigt bei  Seile,  Abh.  d.  Berliner  Akad.  1786—1787,  589  f.^  Ebenso  bei 
Cousin  78;  Lewes,  Gesch.  d.  Philos.  II,  516.  —  Wundt,  System  148. 

Die  Nothwendigkeit  ist  nun  hier  das  Merkmal  der  Apriorität. 
Allein  in  der  Einleitung  B  4  (vgl.  Commentar  I,  206  ff.)  hat  Kant  auch  die 
Allgemeinheit  als  ein  solches  gleichgeordnetes  Merkmal  der  Apriorität 
aufgestellt.  Wie  verhält  es  sich  hier  mit  dieser?  Im  Text  ist  von  derselben 
allerdings  die  Rede;  es  heisst  ja:  »Der  Raum  ist  eine  .  .  .  Vorstellung,  die 
allen  äusseren  Anschauungen  zum  Grunde  liegt."  Diese  Allgemeinheit  bezieht 
sich  also  auf  die  Objecte:  alle  Objecte  müssen  im  Räume  vorgestellt  werden; 
sie  entspricht  also  der  relativen  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung. 


^  Gegen  die  relative  Nothwendigkeit  bemerkt  Seile  daselbst,  dass  für  den 
Körper  die  ündurchdringlichkeit  eine  ebenso  nothwendige  Vorstellung,  ein  ebenso 
integrirendes  Merkmal  sei,  als  die  Aasdehnnng  im  Räume.  Wenn  man  die  Idee 
eines  Körpers  haben  will,  sind  diese  beiden  Merkmale  schlechterdings  nothwendig. 
Also  wäre  dnrch  diesen  Beweis  zu  viel  bewiesen.  Umgekehrt  sei  aber  auch  der 
Raum  nicht  ohne  Körper  vorstellbar  —  hiemit  wendet  sich  Seile  gegen  die  Un- 
abhängigkeitsauffassung. Was  endlich  die  absolute  Nothwendigkeit  des 
Raumes  betrifft  —  man  kann  ihn  nicht  wegdenken  —  so  wolle  das  nur  sagen, 
dass  man  sich  das  Mögliche  nicht  als  Nicht-möglich  vorstellen  könne;  denn  der 
R.  sei  nichts  als  die  ideale  Möglichkeit  des  Körpers. 


196  §2.    Zweites  Raumargument. 

A  24.  B  39.  [R  35.  H  59.  E  75.] 

Es  Hesse  sich  aber  auch  eine  andere  Art  der  Allgemeinheit  der 
Eaumv orstellung  denken :  sie  muss  bei  allen  Menschen ,  allen  vorstellenden  menseb- 
lichen  Subjecten  sich  finden ;  und  diese  Allgemeinheit  entspricht  offenbar  der 
oben  so  genannten  absoluten  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung.  In  der 
Eantliteratur  wird  die  Allgemeinheit  in  diesem  Sinne  fiir  die  Raumvorstellung 
in  Anspruch  genommen,  z.B. bei  Bendavid,  Vorlesungen S.  14;  Weishaupt, 
Zweifel  S.  15.  Beide  Arten  der  Allgemeinheit  werden  hervorgehoben  bei 
Jacob,  Grundriss  der  Log.  u.  Met.  257.  261;  Krug,  Lexicon  ÜI,  430.  Un- 
bestimmt äussern  sich  Mellin  II,  473;  Brastberger,  Untersuchungen  48 : 
Jacob,  Gegen  Mendelssohn  24;  Villers  bei  Rink  „Mancherley*  22: 
Thanner,  Transsc.  Idealismus  S.  28.  — 

Aber  nun  erhebt  sich  eine  neue  Schwierigkeit.  Ist  denn  dasjenige, 
was  wir  oben  als  „relative  Nothwendigkeit  des  Raumes*,  nämlich 
für  die  Erscheinungen,  kennen  gelernt  und  bezeichnet  haben,  nicht  genau  das- 
selbe, was  schon  das  erste  Raumargument  gelehrt  hatte?  War  denn  nicht 
das  Resultat  desselben  gewesen:  die  äussere  Erfahrung  ist  nicht  ohne  Raum- 
Vorstellung  möglich,  d.  h.  diese  ist  die  Bedingung  der  Möglichkeit  jener? 
Und  ist  dies  nicht  ganz  genau  dasselbe,  wie  das,  was  nun  hier  gelehrt  wird, 
der  Raum  sei  eine  Vorstellung  a  priori,  welche  nothwendiger  Weise  allen 
äusseren  Erscheinungen  zum  Grunde  liege  und  die  , Bedingung  der  Möglichkeit' 
jener  sei?  Diese  Fragen  scheinen  auf  den  ersten  Blick  eine  bejahende  Antwort 
zu  verlangen.  Allein  bei  genauerem  Zusehen  bemerkt  man  doch  bald  den 
feinen  Unterschied:  der  Sinn  des  ersten  Raumargumentes  war  doch  gewesen: 
die  Erscheinungen  sind  nicht  da  vor  unserer  Raum  Vorstellung ,  so  dass  diese 
erst  aus  diesen  Erscheinungen  abstrahirt  werden  müsste;  vielmehr  ist  die 
Raumvorstellung  zuerst  da,  sie  geht  vorher  und  die  Erscheinungen  folgen 
nach,  weil  sie  ja  durch  jene  bedingt  sind.  Der  Sinn  des  zweiten  Raum- 
argumentes  aber  (wie  er  besonders  auch  aus  dem  Parallelargument  bei  der 
Zeit  sich  ergibt,  „nur  in  der  Zeit  ist  die  Wirklichkeit  der  Erscheinungen  mög- 
lich. Die  Zeit  ist  die  allgemeine  Bedingung  ihrer  Möglichkeit*)  ^  ist  offenbar 
folgende :  Die  Erscheinungen  sind  nicht  da  ohne  die  Raum  Vorstellung,  d.  b. 
ich  kann  die  Erscheinungen  nicht  ohne  den  Raum  vorstellen,  also  der  Raum 
ist  ein  nothwendiger  Bestandtheil  der  Erscheinungen  und  etwas  Ausser- räum- 
liches, Unräumliches  ist  gar  nicht  vorzustellen.  Ich  kann  nicht  etwa  diesen 
Bestandtheil  des  Raumes  heraustrennen,  so  dass  dann  die  Erscheinungen  selbst 
noch  übrig  blieben;  wohl  aber  kann  ich  das  umgekehrte  Experiment  machen: 
ich  kann  die  Erscheinungen  wegnehmen,  der  Raum  bleibt  doch;  er  ist  also 
nicht  bloss  vor  ihrer  Entstehung  da,  er  bleibtauch  nach  deren  Aufhebung. 

Also  nach  dem  Ersten  Raumargument  ist  der  Raum  ein  unumgäng- 
liches Präcedens,   nach    dem  Zweiten  ein  unerlässliches  Ingrediens  der 


'  In  diesem  Sinne  wohl  heisst  auch  A374  (vgl.  A429N.)  der  Raum  ,die  Vor- 
stellung einer  blossen  Möglichkeit  des  Beisammenseins".  Vgl.  dazu  Cohen,  2.  A 
213.  335.  347.  362.  452. 


Verhältniss  des  ersten  und  zweiten  Raumargumentes.  197 

[R  35.  H  69.  E  75.]  A  24.  B  89. 

Erscheinungen.  Dort  handelt  es  sich  nm  das  Dass  der  Erfahrung,  hier 
um  das  Wie  der  Erscheinung;  dort  um  die  Existenz,  hier  um  die  Essenz 
der  Wahrnehmung ;  dort  um  die  Wahrnehmungsthätigkeit,  hier  um  das 
Wahmehmungsobject  ^ 

Demgemäss  muss  der  beidemal  gebrauchte  Ausdruck  „zum  Grunde  liegen" 
jedesmal  einen  etwas  anderen  Sinn  haben,  dort  mehr  einen  psychologisch- 
subjectiven,  hier  mehr  einen  logisch-objectiven.  Dort  ist  die  Raumvorstellung 
eine  constaute  Constructionsbedingung  der  zu  vollziehenden  äusseren  Wahr- 
nehmung ,  hier  ein  constantes  Substrat  der  vollzogenen  äusseren  Wahr- 
nehmung. In  diesem  Zusammenhange  und  auf  diese  Weise  gewinnt  denn  auch 
jene  von  Cohen  und  Riehl  vertretene  Auffassung,  die  oben  S.  172  ff.  entwickelt 
worden  ist,  eine  relative  Berechtigung.  Es  wird  hier  allerdings  von  Kant 
der  Gedanke  angeschlagen,  der  Raum  sei  ein  objectiv-noth wendiges 
Bestandstück,  aber  nicht  der  , Erfahrung",  wie  Cohen  und  Riehl  sagen, 
sondern  der  »Erscheinungen"  —  aber  dieser  Gedanke,  dass  wir  die  Erschei- 
nungen nicht  ohne  Raum  vorstellen  können,  dass  diese  die  noth wendige 
Folie  für  jene  sei ,  ist  doch  aufs  engste  verbunden  mit»  dem  Gedanken  der 
Apriorität  im  Subject,  was  gerade  Cohen  und  Riehl  perhorresciren.  —  Man 
vergleiche  dazu  die  Analyse  des  entsprechenden  Zeitargumentes. 

Trotz  jener  tiefen  Verschiedenheit  des  ersten  und  zweiten  Raum- 
argumentes bilden  diese  beiden  Argumente  offenbar  ein  zusammengehöriges 
Paar.  Es  ist  streng  genommen  Ein  Theorem  mit  zwei  Beweisen,  von 
denen  der  erste  als  ein  indirecter,  der  zweite  als  ein  directer  bezeichnet  werden 
kann.  Dieses  Theorem  heisst  einfach:  Der  Raum  ist  eine  Vorstellung 
a  priori.  Das  Theorem  ist  das  erste  Mal  negativ,  das  andere  Mal  positiv  aus- 
gedrückt; dass  aber  beide  Mal  dasselbe  gemeint  ist,  geht  ja  schon  daraus  hervor, 
dass  , nicht-empirische  Vorstellung"  und  , Vorstellung  a  priori"  ganz  identisch 
sind,  oder  dass,  wie  Holder  S.  10.  11  sich  ausdrückt,  , empirisch"  und  »noth- 
wendig  a  priori"  contradictorische  Gegensätze  sind.  Holder  fasst  daselbst 
auch  das  Verhältniss  der  beiden  Argumente  ganz  in  dem  eben  entwickelten  Sinne : 
es  ist  „eine  doppelte  Erwägung,  durch  welche  die  Apriorität  von  Raum  und 
Zeit  erwiesen  wird:  einmal  dass  die  Anschauung  räumlicher  und  zeitlicher  Ver- 
hältnisse nur  einem  Subject  möglich  ist,  welches  die  Formen  von  Raum  und 
Zeit  bereits  in  sich  hat,  sodann  dass  Raum  und  Zeit  die  einzigen  Vorstel- 
lungen sind ,  von  welchen  wir  niemals  zu  abstrahiren  vermögen ,  welchen 
somit  eine  in  unserer  subjectiven  Organisation  begründete  Nothwendigkeit 
für  uns  zukommen  muss."  Abgesehen  davon,  dass  Holder  die  relative  Noth- 
wendigkeit ganz  ignorirt  hat,  ist  diese  Darstellung  ganz  zutreffend  und  auch 
jedem  unbefangenen  Leser  einleuchtend.  Die  falsche  Auffassung  Cohens, 
der  den  Sinn  des   ersten  Argumentes  gänzlich  verkennt,   wurde  schon  oben 


^  Cohen,  2.  A.  103:  »Nicht  bloss  das  Örtliche  Verhältniss,  die  Lage  der 
Gegenstände  setzt  den  Raum  voraus,  sondern  der  Gegenstand  selbst  wird  durch 
die  Vorstellung  des  Raumes  bedingt;**  u.  s.  w. 


198  §2.    Zweites  Raumargument. 

A  84.  B  39.  [B  35.  H  69.  E  75.] 

S.  171  zurückgewiesen,  ebenso  oben  S.  185  die  unzulängliche  Darstellung  von 
Kuno  Fischer,  welcher  beide  Argumente  unterschiedslos  miteinander  ver- 
mischt: Das  gemeinsame  Resultat  ist  ja  allerdings,  dass  Raum  und  Zeit 
ursprüngliche  Vorstellungen  sind;  allein  die  Beweise  dafür  müssen  wie 
bei  Kant  selbst  scharf  getrennt  werden.  Vgl.  darüber  auch  R^musat,  Phüos. 
Allem,  XIV,  10.  — 

Gegen  dieses  zweite  Argument  hat  Herbart  an  einer  vielcitiirten 
Stelle  (Psych.  II,  §  144  =  W.  W.  VI,  307)  folgenden  Einwand  vorgebracht 
(derselbe  findet  sich  übrigens  fast  wörtlich  ebenso  bei  Eberhard,  Phil. 
Mag.  II,  80.  88;  III,  435—438;  Phil.  Archiv  I,  1.  94  (zu  Seile,  vgl.  oben 
S.  195  Anm.);  2.  58;  vgl.  auch  Brastberger,  Unters.  48):  „Was  Kants  Beweis 
von  der  Noth wendigkeit  der  Vorstellung  des  Raumes  und  der  Zeit  anlangt, 
so  ist  dieser  Beweis  in  der  Form  falsch,  denn  er  ist  nicht  mehr  noch  weniger 
als  ein  Syllogismus  mit  vier  Hauptbegriffen.  Der  Syllogismus 
steht  so: 

Was  Erfahrung  lehrt,  enthält  nie  das  Merkmal  der  Nothwendigkeit. 

Der  Raum  und  die  Zeit  sind  nothwendige  Vorstellungen. 

Also  sind  Raum  und  Zeit  nicht  aus  der  Erfahrung  gelernt. 

Der  Untersatz  dieses  Syllogismus  beruht  auf  dem  misslingenden  Ver- 
suche, Raum  und  Zeit  wegzudenken ;  welches  in  der  That  nicht  thunlich  ist. 
Aber  woher  diese  Unmöglichkeit,  und  die  entgegenstehende  Nothwendigkeit? 
Raum  und  Zeit  reprftsentiren  die  Möglichkeit  des  Körpers  und  der  Begeben- 
heiten ;  jene  wegdenken,  heisst,  dies  aufheben.  Nun  versteht  sich  von  selbst, 
dass,  nachdem  einmal  die  Wirklichkeit  der  Körper  und  Begebenheiten 
wahrgenommen  ist,  es  der  Gipfel  der  Ungereimtheit  sein  würde,  diese  Wirk- 
lichen für  unmöglich  zu  erklären.  Nachdem  die  Erfahrung  irgend  ein 
Wirkliches  gezeigt  hat,  wird  allemal  der  Ausdruck  der  blossen  Möglichkeit 
dieses  Wirklichen  ein  noth  wendiger  Gedanke.  In  diesem  Sinne  also  lehrt 
die  Erfahrung  allerdings  das  Nothwendige ;  in  diesem  Sinne  ist  der  Obersatz 
des  Syllogismus  falsch,  aber  auch  in  diesem  Sinne  ist  er  weder  von  Leibniz 
noch  von  Kant  ursprünglich  gedacht  worden.  Also  haben  wir  eine  Ver- 
wechselung von  Begriffen  vor  Augen ,  die  wir  dem  grossen  Denker  nur  als 
eine  Uebereilung  anrechnen  können.^ 

An  einer  anderen  Stelle  (Metaph.  I,  §  7  =  W,  W.  III,  80)  hat  Herbart 
diesen  seinen  Einwand  selbst  in  folgender  Weise  zusammengefasst :  « Spreche 
man  nicht  von  einem  absoluten  Räume,  als  Voraussetzung  aller  gemachten 
Gonstructionen !  Möglichkeit  ist  nichts  als  Gedanke,  und  sie  entsteht  dann, 
wenn  sie  gedacht  wird;  der  Raum  aber  ist  nichts,  als  Möglichkeit,  denn  er 
enthält  nichts  als  Bilder  vom  Sein;  und  der  absolute  Raum  ist  nichts,  als 
die,  hinterher,  nach  vollzogener  Construction,  aus  ihr  abstrahirte  allgemeine 
Möglichkeit  solcher  Gonstructionen.  —  Die  Nothwendigkeit  der  Vorstellung 
des  Raumes  hätte  nie  in  der  Philosophie  eine  Rolle  spielen  sollen.  Den 
Raum  wegdenken,  heisst  die  Möglichkeit  des  zuvor  als  wirklich  Gesetzten 
wegdenken;  es  versteht  sich,  dass  das  unmöglich,  und  das  Gegentheil  noth- 


Herbart  wirft  Kant  eine  Quatemio  terminorum  vor.  199 

[B  86.  H  69.  E  76.]  A  24.  B  89. 

'wendig  ist.*  (Vgl.  auch  I,  184;  V,  505 — 506.)  Die  Herbartianer  haben 
diesen  Einwand  oft  wiederholt;  so  Thilo,  Gesch.  d.  Philos.  II,  192  ff.; 
so  Drobisch,  welcher  in  seiner  Psychol.  §  23  denselben  weiter  ausfährt 
and  in  seiner  Logik  §  103  diesen  Kantischen  Beweis  als  Beispiel  eines  Fehl- 
schlusses aus  vier  Hauptbegriffen  oder  einer  ,, Erschleichung*'  anführt  —  ein 
Ausdruck,  welchen  auch  Herbart  selbst  (V,  209)  gebraucht. 

Einen  solchen  Einwand  eines  solchen  Gegners  gegen  ein  solch  fundamen- 
tales Theorem  Kants  konnten  die  Anhänger  des  Letzteren  nicht  unbeantwortet 
lassen.  Insbesondere  Liebmann  und  Cohen  haben  diese  Antwort  auf  sich 
genommen;  (auch  Frauenstädt,  Briefe,  143  ff.,  und  Spir,  Denken  u.  Wirkl. 
n,  26).  Was  aber  Cohen  sagt  (1.  A.  25;  2.  A.  119—122.  147),  ist  zwar 
recht  interessant,  leider  aber  mehr  oder  minder  unverständlich.  (Vgl.  dazu 
Laas,  Id.  u.  Pos.  UI,  420.  424  ff.)  Was  dagegen  Liebmann  (Kant  u.  d. 
Epigonen  21)  entgegnet,  verdient  alle  Beachtung.  Er  sagt:  .Hierauf  ist  zu 
erwidern :  1)  Dass  wir  die  Bedingungen  der  Möglichkeit  eines  von  uns  als 
wirklich  anerkannten  für  nothwendig  erklären,  lehrt  uns  nicht  die  Er- 
fahrung, sondern  wir  fordern  es  nach  subjectiven  Denkgesetzen.  2)  Nicht 
deshalb  allein  sind  Haum  und  Zeit  noth wendige  Vorstellungen,  weil  ohne 
sie  die  Körperwelt  unmöglich  wäre,  sondern  vor  allen  Dingen  deshalb, 
weil  ohne  sie  unsere  eigene  Intelligenz,  das  Subject  der  Erkennt- 
niss,  mein  eigenes  Ich,  unmöglich  wäre.  Wir  können  ohne  Baum  und 
Zeit  nicht  nur  Nichts,  sondern  auch  nicht  vorstellen;  sie  sind  fortwährend 
in  aller  geistigen  Thätigkeit  gegenwärtig  u.  s.  w.  Kurz,  wenn  man  die 
Eantische  Beweisführung  einmal  in  die  Form  eines  Syllogismus  drängen  will, 
so  würde  derselbe  so  lauten: 

Alles,  was  ich  mir  aus  dem  Subject  der  Erkenntniss  nicht  hinwegdenken 
kann,  ohne  zugleich  dieses  Subject  selbst  zu  vernichten,  ist  ihm  wesentlich,  d.  i. 
a  priori. 

Raum  und  Zeit  kann  ich  mir  aus  dem  Subject  der  Erkenntniss  nicht  hinweg- 
denken, ohne  dieses  zugleich  selbst  zu  vernichten. 

Also  etc.* 

Diese  Entgegnung  sucht,  wie  es  scheint,  den  Kern  des  Herbart'schen 
Einwandes  in  der  Verwechslung  dessen,  was  wir  oben  als  relative  und  als 
absolute  Nothwendigkeit  unterschieden  haben.  Herbart  sehe  nicht  ein,  dass 
diese  letztere,  die  absolute  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung  für  das 
Subject,  den  eigentlichen  Hauptbeweis  in  dem  Argumente  ausmache,  nicht 
aber  jene  erstere,  die  relative  Nothwendigkeit  des  Raumes  für  die  Objecte; 
indessen  sei  auch  die  Einsicht  in  diese  relative  Nothwendigkeit  nicht  Sache 
der  Erfahrung,  sondern  der  Vernunft. 

Diese  Entgegnung  hat  insofern  den  Nagel  auf  den  Kopf  getroffen,  als 
allerdings,  wie  wir  wissen,  die  absolute  Nothwendigkeit  den  Kern  des  Kan- 
tischen Argumentes  ausmacht;  wenn  also  Herbart  die  Apriorität  aus  der 
relativen  Nothwendigkeit  bewiesen  findet,  so  verkennt  er,  wie  wir  dies  oben 
bei  manchen  der  Kantgegner  sahen,  den  eigentlichen  Sinn  des  Argumentes. 


200  §  2.    Zweites  Raumargument 

A  d4.  B  89.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

Der  Herbart'scbe  Einwand  scheint  aber  mehr,  ja  vielleicht  etwas  anderes 
sagen  zu  wollen:  denn  H.  spricht  doch  eben  auch  von  der  «Unmöglichkeit» 
Raum  und  Zeit  wegzudenken'',  und  dies  eben  ist  ja  eben  die  absolute 
Noth wendigkeit  der  Raumvorstellung  für  dasSubject;  in  dieser  absoluten 
Noth wendigkeit  sucht  er  richtig  den  Mittelbegriff  des  Schlusses.  Aber  er 
leitet  diese  Nicht-Hinweg-Denkbarkeit,  also  eben  die  absolute  Nothwendigkeit 
der  Raumvorstellung,  seinerseits  —  von  seinem  eigenen  psychologischen 
Standpunkt  aus,  nicht  im  Namen  Kants  —  von  der  relativen  Nothwendigkeit 
ab,  von  der  Nothwendigkeit  der  Raum  Vorstellung  fiir  die  Objecto,  also 
von  der  Erfahrung,  betrachtet  sie  als  ein  Product  der  Empirie,  welche  in 
diesem  Sinne  auch  das  Noth  wendige  lehre.  Eben  deshalb  eigne  sich  die  so 
entstandene  und  abzuleitende  Nothwendigkeit  der  Raumvorstellung  nicht 
zum  Mittelbegriff  des  Kantischen  Schlusses,  weil  in  dessen  Obersatz:  die 
Erfahrung  lehrt  nichts  Nothwendiges  —  die  Nothwendigkeit  in  einem  allen 
Erfahrungsursprung  ausschliessenden  Sinne  genommen  sei. 

Also  Herbarts  Einwand  richtet  sich  gegen  die  Meinung,  die  Nicht- 
Hinweg-Denkbarkeit des  Raumes  könne  man  als  Merkmal  der  Apriorität  ge- 
brauchen :  denn  die  empirisch  entstandene  Nothwendigkeit  der  Nicht-Hinweg- 
Denkbarkeit  habe  mit  der  nichtempirischen  Nothwendigkeit  des  (prätendirten) 
echten  Apriori  nichts  zu  thun. 

Nun  mag  Herbart  darin  sachlich  vollständig  Recht  haben,  yon  dem 
Boden  der  wissenschaftlichen  Psychologie  aus  kann  man  sogar  gar  nicht  anders 
urtheilen,  aber  die  Gerechtigkeit  erfordert,  zu  sagen,  dass  Herbart  in  der 
formellen  Begründung  seines  Einwandes  sich  selbst  —  einer  QuaUrmo 
terminorum  schuldig  macht.  Er  wirft  Kant  eine  solche  vor  in  Bezug  auf 
den  Terminus  „Nothwendigkeit'';  er  selbst  hat  eine  solche  begangen  mit  dem 
B vieldeutigen  Ausdruck"  (Sigwart,  Logik  I,  222)  der  » Möglichkeit*.  Herbart 
sagt:  der  Raum  repräsentirt  die  Möglichkeit  der  Wirklichkeit  der  Körper; 
jenen  wegdenken,  heisst  diese  aufheben;  hier  ist  Möglichkeit  so  viel  als 
reale  Bedingung.  Wenn  es  aber  dann  bei  H.  weiter  heisst:  der  Ausdruck 
der  blossen  Möglichkeit  dieses  Wirklichen  wird  allemal  ein  noth  wendiger 
Gedanke,  man  kann  sich  doch  die  Möglichkeit  des  Wirklichen  nicht  als  un- 
möglich denken,  —  so  ist  hier  Möglichkeit  in  rein  logischem  Sinne  ge- 
nommen: was  möglich  ist,  ist  natürlich  nicht  unmöglich.  Ist  aber  Möglichkeit 
wieder  im  Sinne  einer  realen  Bedingung  gemeint,  so  ist  der  Satz  Herbarts 
factisch  falsch;  was  die  Möglichkeit  eines  Wirklichen  ausmacht,  ist  noth- 
wendig  nur,  insofern  man  dieses  Wirkliche  setzt  oder  setzen  will;  sieht  man 
aber  von  demselben  ab,  so  wird  auch  die  Möglichkeit  hinfällig  und  ist  dann 
keineswegs  „ein  nothwendiger  Gedanke".  Das  Papier  bildet  die  Möglichkeit 
des  Schreibens,  das  Auge  die  Möglichkeit  des  Lesens.  Zum  Schreiben  ist 
das  Papier,  zum  Lesen  das  Auge  nothwendig,  aber  Papier  und  Auge  sind 
nicht  nothwendig,  wenn  ich  weder  schreiben  noch  lesen  will.  Sie  sind  nur 
relativ  nothwendig,  nicht  absolut  nothwendig.  Ebenso  ist  innerhalb  jener 
Herbart'schen   Argumentation   der    Raum    die  Möglichkeit  der   Dinge  und 


Relative  und  absolute,  discursive  und  intuitive  Nothwendigkeit.  201 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  24.  B  89. 

somit  ein  nothwendiger  Gedanke,  aber  nur  relativ  für  die  Dinge,  nicht 
überhaupt.  Wenn  ich  keine  Dinge  setzen  will,  kann  ich  mir  den  Raum 
ganz  mhig  ohne  jede  Beschwerde  wegdenken,  wie  ich  mir  Papier  und  Auge 
wegdenken  kann,  wenn  überhaupt  in  der  Welt  nicht  geschrieben  oder  ge- 
sehen werden  muss.  Aus  der  relativen  Nothwendigkeit  kann  man  also  die 
absolute  nicht  ableiten,  wie  das  Herbart  doch  will  —  in  seinem  eigenen 
Namen,  denn  er  will  ja  das  von  ihm  als  Thatsache  zugestandene  Miss- 
lingen  des  Versuchs  erklären,  den  Raum  wegzudenken. 

Die  psychologische  Ableitung  der  Nichthinwegdenkbarkeit  des  Raumes, 
welche  Herbart  gibt,  schliesst  also  selbst  eine  Quatemio  terminorum  ein. 
Dies  schliesst  nun  aber  nicht  aus,  dass  jene  Thatsache  auf  anderem  Wege 
doch  psychologisch  abzuleiten  wäre,  etwa  aus  dem  Princip  der  Gewohnheiti 
der  ^indissoluble  association'^.  Wenn  nun  eine  solche  rein  psychologische 
Ableitung  angenommen  wird,  so  ist  es  der  logischen  Kunstsprache  nicht 
entsprechend  den  dann  von  Kant  begangenen  Fehler  als  einen  „Schluss  mit 
vier  Hauptbegriffen*  zu  bezeichnen,  sondern  Kants  These  würde  dann  auf 
einer  falschen  Erklärung  jener  Thatsache  beruhen ;  statt  jene  Thatsache  eben 
rein  psychologisch-genetisch  zu  erklären,  nimmt  Kant  als  Erklärungsgrund 
für  dieselbe  eben  eine  apriorische  Form  resp.  Function  des  Subjects  an.  Er 
hat  von  vorneherein  erklärt,  dass  er  die  Nothwendigkeit  =  Nicht-Hinweg- 
Denkbarkeit  gewisser  Vorstellungen  als  das  Zeichen  ihrer  Apriorität  betrachte. 

Wir  haben  nun  schon  Coram.  I,  222  (168.  187.  197.  206)  gesehen, 
dass  die  Nothwendigkeit  in  diesem  Sinne  als  Nicht-Hinweg-Denkbarkeit 
wesentlich  zu  unterscheiden  ist  von  der  Nothwendigkeit  des  Nicht-ander s- 
sein-könnens;  jene  bezieht  sich  auf  Vorstellungen,  diese  auf  Sätze. ^  Und 
dies  führt  uns  nun  auf  eine  andere  Seite  des  Herbart'schen  Einwandes:  H. 
wirft  Kant  auch  vor,  den  ursprünglichen  und  eigentlichen  Begriff  der  Noth- 
wendigkeit (im  Obersatz)  mit  einer  ganz  anderen  Nothwendigkeit  (im  Unter- 
satz) verwechselt  zu  haben.  Wenn  H.  sagt,  Leibniz  (und  Kant  selbst  ur- 
sprünglich) habe  die  Nothwendigkeit  in  einem  ganz  anderen  Sinne  verstanden^ 
so  meint  er  eben  damit  offenbar  die  Nothwendigkeit  eines  Satzes,  dass  sein 
Inhalt  so  und  nicht  anders  gedacht  werden  kann,  —  eine  solche  Noth- 
wendigkeit lehre  die  Erfahrung  nie,  denn  was  sie  gibt,  kann  auch  immer 
anders  gedacht  werden.  Dieser  echten  Notwendigkeit  habe  Kant  die  unechte 
Nothwendigkeit  des  Nicht-Hinweg-Denken-Könnens  untergeschoben, 
welche  sich  doch  empirisch  erklären  lasse.  Darin  besteht  nach  Herbarts  Ur- 
theil  Kants  Quatemio. 


*  Ueber  diesen  Unterschied  vgl.  oben  S.  187  f.  In  demselben  Sinne  unter- 
scheidet Liebmann,  V.  f.  w.  Phil.  1,  205  (An,  d.  Wirkl.  2.  A.  77),  die  intuitive 
Nothwendigkeit  des  Anschauens  von  der  discursiven  Nothwendigkeit  des  Denkens; 
dort  handelt  es  sich  um  die  Unmöglichkeit  der  Abwesenheit,  hier  um  die  Unmög- 
lichkeit des  Gegentheils.  Dieses  „zweifache  Apriori*  behandelt  ausführlich  Fort- 
lage, Z.  f.  Phü.  1880,  Bd.  77,  S.  149  ff.    Vgl.  Volkelt,  Ph.  Mon.  XVI,  355. 


202  §  2-    I^rittes  Raumargument  (A). 

A  24.  [R  35.  H  59.  E  75.] 

Aber  auch  dagegen  gilt  wiederum  dasselbe,  was  gegen  Herbarts  Ein- 
wand 3chon  oben  gesagt  wurde:  die  Bezeichnung  des  Kantischen  Fehlers  als 
„Quatemio^*  ist  nicht  zutreffend,  sondern  H.  musste  von  einer  falschen  Theorie 
Kants  sprechen,  welche  eben  darin  besteht,  dass  Kant  auch  die  Nothwendig- 
keit  im  Sinne  der  Nicht-Hinweg-Denkbarkeit  als  Merkmal  der  Apriorit&t 
betrachtet,  womit  er  allerdings  über  den  Cartesianisch-Leibnizischen  Begpriff 
des  Angeborenen  hinausging.  (Vgl.  Comm.  I,  206  Anm.)  Was  man  Kant 
aber  mit  Recht  vorwerfen  kann,  ist,  dass  er  diese  beiden  Arten  der  Noth- 
wendigkeit  nicht  gleich  in  der  Einleitung  hinreichend  geschieden  hat.  Er 
hätte  dadurch  viele  Missverständnisse  seiner  Lehre  von  vorneherein  unmög- 
lich gemacht.  Wir  begegnen  hier  also  dem  alten  Fehler  Kants,  der  uns 
schon  so  oft  aufgehalten  hat  —  der  Verwechslung  verschiedener  Begriffe. 
Insoweit  Herbart  diese  „Verwechslung*  rügt,  ist  also  sein  Einwand  doch 
in  letzter  Linie,  auch  von  dieser  Seite  aus  betrachtet,  sachlich  vollständig 
zutreffend,  mag  er  auch  formell  zu  beanstanden  sein. 

Drittes  Eaumarg^iment  (nach  A;  fehlt  in  B). 

Dieser  Passus  ist  in  der  2.  Auflage  ganz  weggelassen  worden;  an 
seine  Stelle  ist  die  „Transscendent9.1e  Erörterung  des  Raumes"  getreten.  Es 
ist  dies  ganz  entschieden  eine  formelle  Verbesseining  der  Gedankenganges. 
Denn  dieser  Absatz  steht  ja,  wie  man  auf  den  ersten  Blick  bemerkt,  den  vier 
anderen  keineswegs  gleich ;  er  enthält  nichts,  was  die  Raumvorstellung  selbst 
als  solche  charakterisirt  (was  sich  schon  äusserlich  darin  zeigt,  dass  er  nicht, 
wie  die  vier  anderen,  mit  den  Worten  beginnt:  »Der  Raum  ist"  u.  s.  w.); 
sondern  dieser  Absatz  enthält  die  Erklärung  einer  Thatsache,  der  Apo- 
dicticität  der  Geometrie,  aus  der  durch  die  beiden  ersten  Argumente 
festgestellten  Theorie  der  Apriorität  des  Baumes.  Diese  Frage  durch- 
bricht aber  den  logischen  Zusammenhang  hier  in  sehr  störender  Weise  und 
so  ist  es  nur  zu  billigen,  dass  Kant  jene  formelle  Verbesserung  getroffen 
hatte.  Dazu  kommt,  was  Paulsen,  Entw.  168  sagt:  „Die  2.  Auflage  hat 
diese  Ausführungen  in  besondere  Abschnitte  gebracht:  mit  Recht,  denn  sie 
sind  der  Nerv  der  Sache."  Wir  gehen  deshalb  auch  hier  nicht  näher 
auf  den  Inhalt  dieses  Absatzes  ein,  da  die  ganze  Frage  bei  der  „transscen- 
dentalen  Erörterung''  ausführlich  zur  Sprache  kommen  wird. 

Natürlich  wird  in  denjenigen  Werken  der  Kantliteratur,  welche 
vor  dem  Erscheinen  der  2.  Auflage  (Mai  1787)  gedruckt  wurden,  dieser 
Absatz  als  ein  mit  den  anderen  vier  Argumenten  coordinirtes  directes  Ar- 
gument behandelt,  so  z.  B.  bei  Schultz  in  seinen  1784  erschienenen  .Er- 
läuterungen'' S.  22  (im  Anschluss  an  ihn  auch  noch  1805  Lossius  in  seinem 
Lexicon  III,  515),  sowie  bei  Feder,  Raum  und  Caussalität  1787,  S.  30  ff., 
woselbst  dieser  , Achilles"  der  Kantischen  Raumbeweise  sehr  eingehend  be- 
sprochen wird.  Der  ganze  Woi*tlaut  zeigt  ja  aber,  dass  es  sich  hier  zunächst 
nicht  um  einen  Beweis   für  die  Apriorität  des  Raumes  handelt,  sondern 


Die  logische  Doppelf unction  des  dritten  Argumentes  (A).  203 

[B  35.  H  59.  E  75.]  A  24. 

dass  im  Gegentheil  diese  schon  als  bewiesen  angenommen  wird,  um  aus  ihr 
die  Apodicticität  der  Mathematik  za  erklären.  So  auch  Cohen  S.  14  (2.  Aufl. 
S.  106.  123),  Volkelt,  Ks.  Erk.  196,  Anm.     Romundt,  Ref.  d.  Phil.  24  f. 

Da  nun  diese  Apodicticität  der  Mathematik  für  Kant  als  unumstöss- 
lieh  es  Factum  gilt,  das  auf  andere  Weise  gar  nicht  erklärbar  ist,  so  kann  man 
allerdings  nun  in  dieser  Erklärung  auch  einen  indirecten  Beweis  für  die 
Apriorität  der  Raum  Vorstellung  sehen.  Insofern  erfüllt  der  Absatz  eine 
logische  Doppelfunction:  Zuerst  handelt  es  sich  um  die  Anwendung 
einer  bisher  gewonnenen  Theorie  zur  Erklärung  einer  Thatsache,  und  dann 
wird  diese  Thatsache  ihrerseits  rückwärts  als  Beweis  eben  für  jene  Theorie 
angesehen  ^  eine  ganz  natürliche  methodologische  Wendung.  (Vgl.  darüber 
Band  I,  396  Anm.  2.)  Auch  Pflüger,  welcher  a.  a.  0.  19 — 24  das  Argu- 
ment ausführlich  analysirt,  hat  diese  sowohl  progressive  als  regressive  Natur 
desselben  eingesehen.  Schon  im  zweiten  Satze  des  Argumentes  macht  Kant 
(wie  schon  Volkelt  a.  a.  0.  gesehen  hat)  die  letztere  Wendung,  indem  er 
zeigt,  dass,  wenn  der  Raum  eine  aposteriori  erworbene  Vorstellung  wäre, 
wie  viele  wollen,  die  apodictische.  Natur  der  Geometrie  nicht  Statt  haben 
könnte:  also  muss  eben  der  Raum  eine  apriorische  Vorstellung  sein.  (Indirecte 
Beweisform.)  Wenn  man  nun  das  Argument  von  dieser  Seite  aus  betrachtet  als 
Beweis  fassen  will,  so  gehört  es  doch  nicht  in  dieselbe  Linie  mit  den  anderen 
Beweisen ;  denn  die  anderen  Beweise  gehen  von  der  Natur  der  Raumvorstellung 
selbst  aus,  während  dieser  erst  von  der  Natur  der  Geometrie  ausgeht,  also 
viel  v^eiter  hergeholt  ist,  und  eben  darum  hat  das  Argument  auch  die  Form 
eines  indirecten  Beweises  bekommen,  während  die  anderen  Beweise  direct 
sind.  Es  empfahl  sich  also  in  jeder  Hinsicht,  das  Argument  hier  wegzunehmen. 

In  der  Dissertation  §  15  C  finden  sich  dieselben  beiden  Beispiele, 
welche  Kant  auch  hier  anführt:  Hunc  intnÜKtn  purum  in  axiomatibus  geo» 
metriae  et  qucUibet  constructione  postulatorum  s.  etiam  prohUmatum  mentali 
animadvertere  procHve  est.  Non  dari  enim  in  spatio  plures,  quam  tres 
dimensiones;  inter  duo  puncto  non  esse  nisi  rectam  unicam;  e  dato 
in  superficie  plana  puncto  cum  data  recta  circulum  describere  etc.  non  ex 
universali  spatii  notione  concludi,  sed  in  ipso  tantum,  veluti  in  concreto 
cerni  potest."  Diese,  durch  das  Postulat  der  Kreisbeschreibung  verstärkten 
Beweise  erfüllen  jedoch  in  der  Dissertation  eine  andere  Beweisfunction  als 
in  der  Kritik,  in  letzterer  dienen  sie  zum  Beweis  der  Apriorität,  in  ersterer 
zum  Beweis  der  Anschaulichkeit  des  Raumes. 

B.  Erdmann  macht  in  seinen  „Axiomen  der  Geometrie^  S.  172  darauf 
aufmerksam,  dass  Kant  hier  nur  von  den  geometrischen  Grundsätzen 
spricht,  deren  apodictische  Gemässheit  sich  unmittelbar  auf  die  Apriorität  des 
Raumes  stütze;  die  einzelnen  Lehrsätze  der  Geometrie  dagegen  werden 
deductiv  aus  jenen  Grundsätzen  erst  gefolgert  und  ihre  Gültigkeit  sei  somit 
nur  eine  mittelbare,  und  diese  letztere  Meinung  findet  Erdmann  überein- 
stimmend mit  der  auf  ganz  anderer,  auf  empiristischer  Grundlage  aufgebauten 
Raumtheorie  von  v.  Helmholtz. 


204  8  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument, 

A24..B89.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

YierteB  (=  2.  Aufl.  drittes)  Eamnarg^imient. 

Auch  hier,  wie  beim  ersten  und  beim  zweiten  Raumargament,  enthält 
der  erste  Satz  die  zu  beweisende  These.  Die  drei  folgenden  Sätze  enthalten 
den  Beweis  oder  vielmehr  die  Beweise.  Der  fünfte  Satz  ,  Hieraus  folgt, 
dass''  u.  s.  w.  zieht  die  mit  der  These  übereinstimmende  Schlussfolgerung. 
Der  sechste  und  letzte  Satz  gibt  eine  Anwendung  dieser  These,  welche  aber, 
wie  wir  sehen  werden,  streng  genommen  nicht  in  diesen  Zusammenhang 
hereingehört. 

Auch  in  der  Dissertation  von  1770  findet  sich  schon  dieses  Argu- 
ment, in  dem  Abschnitt  B  des  §  15;  Conceptus  spath  est  singtäaris  reprae- 
sentatio,  omnia  in  se  comprehendens ,  non  sub  se  continena  notio  äbstradaet 
communis,  Quae  enim  dicis  spatia  plura,  non  sont  nisi  ejusdem  immensi 
spatii  partes,  certo  positu  se  invicem  respicientes,  neque  pedem  ctMeutn  eon- 
cipere  tibi  potes,  nisi  anibienti  spatio  quaquaversum  conierminum*'  („ohne  ihn 
durch  den,  ihn  von  allen  Seiten  umgebenden  Raum  zu  begrenzen"  übersetzt 
Tieftrunk,  Ks.  kleine  Schriften  I,  528).  Die  These  entspricht  dem  Sinne, 
wenn  auch  nicht  dem  Wortlaute  nach,  ganz  der  Darstellung  in  der  Er.  d. 
r.  V.;  und  der  Beweis  der  Dissertation  enthält  die  beiden  unten  folgen- 
den Beweisgänge  des  vierten  Argumentes  in  nuce  in  sich,  und  gibt  dazn 
noch  ein  Beispiel  zur  Illustration,  das  in  der  Kr.  d.  r.  Y.  fehlt. 

Dieses  Lehrstück   ist   wohl   nicht   ohne   Einfluss   von  Lambert  ent 
standen,  der  in  seinem  Brief  v.  13.  Nov.  1765  an   Kant  schreibt:     .Raum 
und  Dauer  ist  kein   Oenericum;   es   ist   nämlich   nur  Ein   Raum    und  Eine 
Dauer,  so  ausgedehnt  auch  beide  sein  mögen. '^     Vgl.   auch   den  Brief  vom 
3.  Febr.  1766:   ^Einfache  Begriffe  (wie  R.  u.  Z.)  sind  individuale  Begriffe.* 

Viele  Parallelstellen  zu  dieser  These  finden  sich  in  Kants  Nachgel. 
Werke,  bes.  XXI,  558.  564  ff.,  570.  586.  587.  589.  590  ff.:  die  Anschauung 
des  Raumes  ist  kein  Begriff,  keine  gemeingültige  Vorstellung,  die  in  Vielen 
anzutreffen  ist,  nota  i.  e,  repraesentatio  pluribus  communis,  son- 
dern Anschauung,  d.  i.  repraesentatio  singularis. 

Den  Uebergang  von  dem  Bisherigen  zum  Folgenden  macht  Kuno 
Fischer  treffend  mit  folgenden  Worten  (2.  A.  321):  Bisher  wurde  nach- 
gewiesen, dass  Raum  und  Zeit  ursprüngliche  Vorstellnngen  sind,  d.  h. 
apriorische.  Aber  „Vorstellung  ist  ein  *  Wort  von  weitem  umfang.  Wir 
wissen  noch  nicht,  was  für  Vorstellungen  Raum  und  Zeit  sind?  Es  gibt  ver- 
schiedene Vorstellungsarten  der  menschlichen  Vernunft,  verschiedene  Klassen 
von  Vorstellungen.    In  welche  dieser  Klassen  gehören  Raum  und  Zeit?* 

In  der  That,  in  den  zwei  ersten  Beweisen  war  (abgesehen  von  der 
ungeschickten  Verwendung  des  Terminus  „Begriff"  im  ersten  Argumente 
vgl.  oben  S.  157)  nur  von  der  „Vorstellung  des  Raumes"  die  Rede,  und  der 
zweite  Beweis  nennt  den  Raum  ausdrücklich  zweimal  eine  „VorstelLong 
a  priori  •*. 


Der  Raum  ist  kein  „discursiver*  BegriflF.  205 

[R  35.  H  59.  E  75.]  A  24.  B  89. 

Nun  wissen  wir  schon  (vgl.  oben  S.  28),  dass  „Vorstellung**  bei  Kant 
alle  theoretischen  Zustände  und  Acte  der  Seele  überhaupt  bezeichnet,  und 
es  bleibt  noch  fraglich,  zu  welcher  Art  der  allgemeinen  Gattung  »Vor- 
stellung" der  Raum  gehöre.  Den  OberbegrifF  „Vorstellung"  haben  wir,  und 
zwar  specificirt  als  „Vorstellung  a  priori",  aber  es  bedarf  noch  einer  ge- 
naueren Analyse,  um  die  besondere  Art  der  Vorstellung  zu  finden.  War 
also  bisher  Beweisthema  die  Apriorität  der  Raumvorstellung,  so  ist  es  jetzt 
deren  Anschaulichkeit  oder  Intuitivita t. 

Erster  Satz:  These.  Dieser  erste  Satz  stellt  nun  eine  bestimmte 
Behauptung  darüber  auf,  zu  welcher  Art  von  Vorstellungen  der  Raum  ge- 
höre. Die  Auswahl  ist  nun  in  diesem  Fall  nicht  sehr  gross.  Es  gibt  nur 
die  beiden  Hauptarten,  welche  hier  in  Betracht  kommen  können,  An- 
schauungen und  Begriffe.  Wir  können  auch  mit  K.  Fischer  (2.  A.  321) 
sagen:  »Vor  allem  müssen  zwei  Klassen  unterschieden  werden.  Es  kommt 
darauf  an,  was  wir  vorstellen.  Das  Vorgestellte  kann  ein  einzelnes  Object 
sein,  oder  ein  allgemeines.  Ein  einzelnes  Object  z.  B.  ist  dieser  Mensch, 
dieser  Stein,  diese  Pflanze  u.  s.  f.;  ein  allgemeines  Object  ist  die  Gattung 
Mensch,  Stein,  Pflanze  u.  s.  f.  Die  Vorstellung  des  einzelnen  Dinges  ist 
Anschauung,  die  der  Gattung  ist  Begriff."  In  der  Logik  Kants  heisst  es 
denn  auch  sogleich  im  §  1:  »Alle  Erkenntnisse,  d.  h.  alle  mit  Bewusstsein 
auf  ein  Object  bezogene  Vorstellungen  sind  entweder  Anschauungen  oder 
Begriffe.  Die  Anschauung  ist  eine  einzelne  Vorstellung  (repraesentatio  singu- 
Zam),  der  Begriff  eine  allgemeine  (repraesentatio  per  notas  commuties)  oder 
reflectirte  Vorstellung  (repraesentatio  discursiva).  Die  Erkenntniss  durch 
Begriffe  heisst  das  Denken  (cognitio  discursiva).  Der  Begriff  ist  der  An- 
schauung entgegengesetzt;  denn  er  ist  eine  allgemeine  Vorstellung  oder  eine 
Vorstellung  dessen,  was  mehreren  Objecten  gemein  ist,  also  eine  Vorstellung, 
sofern  sie  in  verschiedenen  enthalten  sein  kann."  Ebenso  heisst  es  in  der 
Kritik  A  320:  „Die  Anschauung  bezieht  sich  unmittelbar  auf  den  Gegen- 
stand und  ist  einzeln,  der  Begriff  mittelbar,  vermittelst  eines  Merkmals,  was 
mehreren  Dingen  gemeinsam  sein  kann."  Jede  dieser  beiden  Vorstellungs- 
klassen  hat  also  ihre  besonderen  Eigenthümlichkeiten ;  und  es  handelt  sich 
nun  für  Kant  darum,  bei  der  Raum  Vorstellung  die  charakteristischen  Merk- 
male der  einen  oder  der  anderen  Gattung  zu  finden,  um  sie  einer  von  Beiden 
definitiv  zuweisen  zu  können.  Vgl.  Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  12. 
Vgl.  oben  S.  3.  24. 

Das  Resultat  dieser  Untersuchung  anticipirt  nun  die  These,  indem  sie 
sagt:  »Der  Raum  ist  kein  discursiver  Begriff."  Meilin  II,  130  bemerkt 
hiezu:  »Es  möchte  hiebe!  vielleicht  Jemand  denken,  dass  es  folglich  wohl 
auch  Begriffe  geben  könne,  die  nicht  discursiv  sind,  allein  das  ist  nicht 
möglich.  Der  Verfasser  der  Kritik  bezeichnet  nur  eine  Eigenschaft  des 
Begriffs  durch  das  Beiwort  discursiv,  gerade  so  wie  man  sagt:  ich  bin  ein 
sterblicher  Mensch,  ohne  dass  daraus  folgt,  dass  es  auch  Menschen  gebe,  die 
nicht  sterblich  sind."    Diese  Bemerkung  Mellins  (cfr.  ib.  II,  474)  kann  richtig 


206  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

Aa4.B39.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

sein,  braucht  das  aber  keineswegs.  Denn  Kant  verwendet  ja,  wie  wir  oben 
S.  156  ff.  sahen,  den  Ausdruck  , Begrifft  auch  in  weiterem  Sinn;  nnd  so  legt 
Schmid  in  seinem  Wörterbuch  S.  98  ^Begriff"  im  weitesten  Sinn  aus  = 
,jedes  Product  der  Thätigkeit  des  Vorstellungsvermögens,  wodurch  ein 
Mannigfaltiges  Einheit  bekommt",  und  davon  unterscheidet  er  erst  dann  den 
adiscursiven  Begriff*  im  engeren  Sinne. 

In  Uebereinstimmung  mit  der  zeitgenössischen  und  auch  heute  noch 
gebräuchlichen  Terminologie  gibt  Kant  dem  begrifflichen  Denken  die  Bezeich- 
nung der  discursiven  Erkenntniss  im  Unterschied  von  der  intuitiven. 
Diesen  Unterschied  trafen  wir  schon  in  der  Vorrede  All;  vgl.  Commentar  I, 
186.  Wir  treffen  ihn  wieder  am  Anfang  der  Analytik  A  68,  sowie  in  der 
Methodenlehre  A  734.  Der  Unterschiod,  der  auch  in  der  Dissertation  von 
1770  erwähnt  ist,  ist  am  ausführlichsten  entwickelt  in  der  Logik,  Einl.  V, 
Vni,  sowie  §  1  ff.  Vgl.  auch  die  Abhandlung  über  den  „Vornehmen  Ton** 
u.  8.  w.  Ros.  I,  621;  Kr.  d.  pr.  Vern.  R.  VIII,  280.  Kr.  d.  Urth.  §  77, 
§  91  (Anhang).  Proleg.  §  46,  §  57.  (Ueber  den  Sinn  des  Ausdruckes 
„discui'siv**  vgl.  Mellin  II,  130  ff.;  Schmid,  Wörterbuch  98;  Krug,  Lex. 
Suppl.  I,  296;  Schulze,  Krit.  d.  theor.  Philos.  II,  207;  Hauptmomente  S.  88  f.) 

Kant  zieht  den  Ausdruck  „discursiver  Begriff '^  dem  Ausdruck  «all- 
gemeiner Begriff**  vor.  Dies  nämlich  will  die  etwas  eigenthümliche  Wendung 
sagen :  „ discursiver  oder  wie  man  sagt,  allgemeiner  Begriff*  (bei  der  Zeit 
heisst  es:  ^oder  wie  man  ihn  nennt*).  Schon  Mellin  11,  130  hat  dies 
richtig  gesehen.  Eine  Stelle  in  Kant,  Logik  §  1  klärt  uns  auf;  da  heisst 
es:  9 Es  ist  eine  blosse  Tautologie,  von  allgemeinen  oder  gemeinsamen 
Begriffen  zu  reden  —  ein  Fehler,  der  sich  auf  eine  unrichtige  Eintheilnng 
der  Begriffe  in  allgemeine,  besondere  und  einzelne  gründet.  Nicht  die  Be- 
griffe selbst  —  nur  ihr  Gebrauch  kann  so  eingetheilt  werden.*  Indessen  ist 
doch  nach  den  obigen  Ausführungen  der  Ausdruck  „discursiver  Begriff'  auch 
eine  Tautologie,  so  dass  diese  Antipathie  Kants  keinen  rechten  Sinn  hat. 
Dazu  kommt,  dass  Kant  sich  sonst  gar  nicht  genirt,  die  Verbindung  «all- 
gemeiner Begriff*  zu  gebrauchen,  so  wenig,  dass  er  am  Ende  dieses  selben 
Absatzes  selbst  davon  spricht,  die  geometrischen  Grundsätze  werden  nicht 
aus  „allgemeinen  Begriffen  von  Linie  und  Triangel*  abgeleitet.  Vgl.  hiezn 
auch  Grapengiesser,  Raum  und  Zeit  S.  71.  Bratuschek  in  den  Philos. 
Monatsh.  V,  311,  und  besonders  auch  Krugs  Logik  S.  82  f.  u.  Steckel- 
macher, Ks.  Logik  S.  12,  der  auch  auf  die  Stellen  A  280  und  B  134  N. 
aufmerksam  macht,  wo  Kant  von  „allgemeinen*  und  ^gemeinsamen*  Be- 
griffen spricht.  Doch  ist  in  der  ersten  Stelle  , allgemein*  im  Gegensatz  zu 
„besonderer  Begriff*  so  viel  wie  höherer  und  niederer;  vgl.  B.  Erdmann,  Gott. 
Gel.  Anz.  1880,  S.  612.  Uebrigens  sagt  Kant  auch  in  der  Deduction  A  106: 
„Der  Begriff  ist  seiner  Form  nach  jederzeit  etwas  allgemeines  und  was  zur 
Regel  dient.* 

Als  das  Allgemeine,  das  den  Inhalt  der  Raumvorstellung  ausmachen 
müsste,  wenn  diese  ein  Begriff  wäre,  wird  von  Kant  angegeben:    »Verhält- 


Ob  nach  Kant  alle  Begriffe  «Gattungsbegriffe''  seien?  207 

[B  36.  H  69.  E  76.]  A  24.  B  89. 

nisse  der  Dinge  überhaupt''.  Einen  wunderlichen  Tiefsinn  legt  Cohen 
(1.  A.  28;  2.  A.  119.  122.  128)  in  dieses  „überhaupt"  hinein:  ,Man  weiss 
jetzt  bereits,  dass  in  diesem  Ausdruck  das  überhaupt  einen  strengen  Sinn 
hat,  der  sich  schärfer  bestimmen  wird  bei  der  Lehre  von  den  Kategorien. '^ 
Dieses  „überhaupt''  ist  hier  natürlich  ein  ganz  unschuldiger,  neutraler  Aus- 
druck, aber  beachtenswerth  ist,  dass  Kant  in  dem  Beweise  selbst  diese 
Ad  sieht  eigentlich  nicht  widerlegt,  denn  von  den  Verhältnissen  der  Dinge 
ist  nachher  gar  nicht  mehr  die  Bede.  Der  scharfsinnige.  Schulze  in  seiner 
Kritik  d.  theor.  Philos.  I,  208  sucht  auf  eigene  Faust  zwischen  dieser  These 
Tuid  dem  wirklichen  Beweis  folgenden  Zusammenhang  herzustellen:  „Der 
Baum  kann  keine  allgemeine  Vorstellung  von  Verhältnissen  der  Dinge 
überhaupt  sein;  denn  nach  unserer  (nach  Kants)  Vorstellung  von  ihm  ist 
er  ein  einzelnes,  von  allen  anderen  Objecten  unabhängiges  Ding.'  Vgl. 
dazu  ib.  II,  207  ff.  Vgl.  auch  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  189.  Was  aber 
Kant  damit  meint,  geht  aus  mehreren  Parallelstellen  hervor.  Besonders 
deutlich  ist  die  Stelle  unten  A  89  f. :  „Wenn  ihnen  Baum  und  Zeit  als  von 
der  Erfahrung  abstrahirte,  obzwar  in  der  Absonderung  verworren  vorgestellte 
Verhältnisse  der  Erscheinungen  neben  oder  nacheinander  gelten,  so 
sind  die  Begriffe  a  priori  von  Baum  und  Zeit  dieser  Meinung  nach  nur  Ge- 
schöpfe der  Einbildungskraft,  deren  Quell  wirklich  in  der  Erfahrung  gesucht 
werden  muss,  aus  deren  abstrahirten  Verhältnissen  die  Einbildung 
etwas  gemacht  hat,  was  das  Allgemeine  derselben  enthält.'' \ 

An  Stelle  des  Ausdruckes  „allgemeiner  Begriff,  den  Kant  selbst 
gebraucht,  setzt  K.  Fischer  den  Terminus  „Gattungsbegriff  (2.  A. 
8.  316.  821  ff.,  8.  A.  S.  881  ff.).  Gegen  diese  Vertauschung  der  beiden 
Ausdrücke  hat  nun  Trendelenburg  heftigen  Protest  erhoben  (Beitr.  252  ff., 
Entgegnung  16  ff.  24  ff.).  Darüber  entstand  nun  ein  von  beiden  Parteien 
mit  ungemeiner  Erbitterung  geführter  Streit,  welcher  um  so  mehr  den  Ein- 
druck der  Sonderbarkeit  macht,  als  es  sich  in  Wirklichkeit  um  einen 
ganz  nebensächlichen  Punkt  drehte.  Kuno  Fischer  hatte  offenbar  ur- 
sprünglich jenen  vielumstrittenen  Ausdruck  ganz  harmlos  gebraucht  in  Ueber- 
einstimmung  mit 'vielen  Logikern,  welche  zwischen  Begriff,  Allgemein- 
begriff, Gattungsbegriff  keinen  oder  keinen  scharfen  Unterschied 
machen.  (Vgl.  K.  Fischer,  Logik  und  Metaphysik,  2.  A.  S.  6.  9.  10.) 
Trendelenburg,  welcher  an  anderen  Punkten  seines  Angriffes  glücklicher 
war,  eröffnete  nun  gegen  diesen  Ausdruck  ein  gänzlich  wirkungsloses  Feuer. 
Sein  Haupteinwand  bestand  in  der  Berufung  auf  Kants  Logik,  woselbst  es 
im  §  10  heisst:  „Der  höhere  Begriff  heisst  in  Bücksicht  seiner  niederen 
Gattung;  der  niedere  in  Ansehung  seiner  höheren  Art";  und  daraus  zog 
er  den  an  sich  allerdings  berechtigten  Schluss,  dass  nach  dieser  Stelle 
Gattungsbegriffe  nur  solche  Begriffe  heissen  sollten,   welche  noch  Arten 


^  Wie   man   auch   aus   dieser   Stelle   sieht,    wendet   sich    der  Satz   gegen 
Leibniz.    Vgl.  Cohen,  2.  Aufl.  110  ff.,  und  Caird,  Cnt.  Phil.  I,  290. 


208  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  24.  B  89.  [R  36.  H  59.  E  75.] 

unter  sich  haben,  nicht  aber  solche,  welche  nur  noch  Individuen  unter 
sich  haben.  In  diese  Stelle  verbiss  sich  nun  auch  Fischer  in  seiner  Duplik 
S.  6  ff.  und  suchte  durch  allerlei  Auslegungskünste  zu  beweisen,  dass  auch 
trotz  ihr  oder  vielmehr  nach  ihr  im  Sinne  Kants  jeder  Begriff  ein  Grattnngs- 
begriff  sei.  Vgl.  dazu  ib.  S.  30.  58.  In  der  Literatur  dieses  damals  so 
berühmten  Streites  wurde  dieser  Punkt  dann  noch  Öfters  behandelt,  aber 
nirgends  richtig:  vgl.  Bratuschek  310  f.;  Schlötel  87;  Cohen  277  ff.  279. 
282.  285;  Quäbiker  412  f.;  Michelis  154  ff.  162.  163;  Grapengiesser 
71  ff.;  Michelet  72;  Prantl  in  Lit.  Centr.  Bl.  1870,  N.  18.  In  dem  ganzen 
Streite  wurde  von  Anfang  an  übersehen,  dass  der  Ausdruck  ,  Gattung'  und 
^Gattungsbegriff^  bald  in  einem  weiteren,  bald  in  einem  engeren  Sinn  ge- 
braucht wird:  im  weiteren  Sinne  versteht  man  unter  Gattung  überhaupt 
das  Allgemeine  im  Gegensatz  zum  Einzelnen,  im  engeren  Sinne  versteht 
man  unter  Gattung  nur  den  Gegensatz  zur  Art.  Das  ergibt  sich  bei  ruhiger 
Betrachtung  der  Streitacten  bald,  und  das  hätten  die  Streitenden  ja  auch 
schon  in  jedem  ordentlichen  Lehrbuche  der  Logik  finden  können,  z.  B.  bei 
Ueberweg  §  58.  Noch  deutlicher  und  schärfer  als  dieser  hat  schon  der 
alte  Krug  diesen  wichtigen  Unterschied  entwickelt,  sowohl  in  seinem  gHand* 
buch  der  Philosophie'  I,  §  141,  als  in  seinem  Lesicon  II,  226.  Offenbar 
hatte  Fischer  den  Ausdruck  , Gattungsbegriff'  ursprünglich  im  weiteren, 
laxeren  Sinne  gebraucht,  während  sich  der  Einwand  von  Trendelenbnrg 
nur  auf  die  Gattungsbegriffe  im  engeren  Sinne  bezog,  wie  er  sogar  selbst 
andeutet,  indem  er  in  den  Beiträgen  S.  254  sagt:  ^wenn  anders  die  Gattungen 
im  eigentlichen  Sinne  genommen  werden'.  (Vgl.  dazu  dessen  Logische 
Untersuchungen,  2.  A.  II,  228.)  In  diesem  eigentlichen  engeren  Sbne 
spricht  auch  Kant  in  seiner  Logik  §  9,  worauf  sich  Trendelenburg  berufen 
hatte,  von  der  , Gattung^.  Es  bedurfte  aber  gar  nicht  der  Berufung  auf 
Kants  Logik;  denn  auch  schon  in  der  Kritik  der  r.  V.  selbst  entwickelt 
Kant  dasselbe  und  noch  viel  ausführlicher,  nämlich  in  dem  ,  Anhang  znr 
transscen dentalen  Dialektik'  A  650  ff.  Uebrigens  gebraucht  K.  daselbst  aach 
den  Ausdruck  „Gattung'  gelegentlich  im  weiteren  Sinne,  ganz  identisch 
mit  dem  „Allgemeinen'  überhaupt;  ja  er  scheint  einmal  (A  653)  den  gBe- 
griff  der  Gattung'  und  den  „allgemeinen  Begriff'  ausdrücklich  zu  identi* 
üciren.  Aber  auch  wenn  er  das  nicht  thun  würde,  so  würde  das  der  Be- 
rechtigung der  Verwendung  des  Ausdruckes  seitens  Fischers  in  unserem 
Zusammenhange  keinen  Abbruch  thun,  da  eben  hier  von  ihm  deutlich  rail- 
gemeiner  Begriff'  und  „Gattungsbegriff"  terminologisch  gleichgesetzt  werden, 
was  dem  logischen  Sprachgebrauche  nach  immerhin  erlaubt  ist.  Es  ist  daher 
nicht  zu  tadeln,  wenn  Fischer  in  der  dritten  Auflage  sich  des  mit  Unrecht 
angegriffenen  Ausdruckes  wieder  ungenirt  bedient:  der  Raum  ist  kein 
Gattungsbegriff.  (Weiteres  hierüber  noch  unten  beim  letzten  Baum- 
argument.)  —  Vgl.  auch  A,  Schmid,  Ks.  Lehre  v.  Raum,  13  f.  16. 

Während  sich  dieser  eben  erwähnte  Streit  auf  einen  eigentlich  ganz 
irrelevanten   Punkt  bezog,   ist  eine  damit  verknüpfte  Streitfrage  viel  wich- 


Ob  nach  Kant  alle  Begriffe  «abstrahirf  seien?  209 

[B  85.  H  69.  K  75.]  A  24.  B  39. 

tiger.  Fischer  hatte,  2.  A.  S.  321  ff.,  bei  den  Gattungsbegriffen,  von  denen 
er  sprach,  die  Bestimmung  hinzugefügt,  dass  dieselben  von  den  £inzeldingen 
abstrahirt  seien:  „Wäre  der  Baum  ein  Grattungsbegriff,  so  müsste  er 
abstrahirt  sein  von  den  yerschiedenen  Bäumen,  wie  der  Begriff  Mensch 
abstrahirt  ist  von  den  verschiedenen  Menschen'  (ib.  S.  325.  Diese  Dar- 
stellung kehrt  wieder  in  der  3.  A.  S.  331  f.).  Hiegegen  wendet  sich  Tren- 
delenburg in  den  Beiträgen  S.  252f.:  „Kant  würde  nie  anerkennen,  was 
doch  als  kantisch  gegeben  wird:  denn  Kant  weiss  wohl,  dass  es  Gattungs- 
begriffe gibt,  die  nicht  abstrahirt  sind.**  Diesen  Einwand  wiederholt 
dann  Trendelenburg  in  seiner  Entgegnung  S.  18  f.  24  f.  und  bringt  „Beispiele 
des  Gegentheils'  herbei:  erstens  die  mathematischen  Grössenbegriffe: 
„die  mathematischen  Begriffe  sind  Begriffe  aus  Construction,  nicht  aus  Ab- 
straction';  zweitens  die  Kategorien:  „kein  Stammbegriff  des  Verstandes 
ist  abstrahirt,  er  ist  a  priori'.  Gegen  diese  Einwände  wehrt  sich  Fischer 
in  seiner  Duplik,  S.  12—23.  66—68.  (Vgl.  dazu  Bratuschek  312  ff.; 
Quäbiker  412  ff.;  Grapengiesser  73  f.;  Michelis  166  ff.  159  ff.; 
Cohen  282  ff.  287  ff.;  Michelet  73;  Schlötel  85  f.;  Prantl,  Lit. 
Centr.  Bl.  1870 ,  N.  13.)  Fischers  Berufung  auf  Kants  Logik  §  6,  wo  K. 
allerdings  sagt:  „zu  jedem  Begriffe  gehöre  Abstraction^,  ist  insofern  formell 
ungerechtfertigt,  da  Kant  daselbst  den  Terminus  „abstrahiren^  in  einem 
ganz  anderen  Sinne  nimmt,  wie  Fischer.  Aber  sachlich  ist  die  Berufung 
auf  jene  Stelle  doch  richtig,  da  nach  Kant  zu  jedem  Begriffe  vor  allem 
gehört  „Komparation  und  Beflexion'^,  was  mit  der  Abstraction  im  Fischer'schen 
Sinne  zusammenfällt.  Und  auch  im  Einzelnen  operirt  Fischer  mit  Glück, 
indem  er  nachweist,  dass  „Grössengattungsbegriffe  als  Grössen  construirt 
werden,  aber  als  Gattungsbegriffe  absti'ahirt  werden  müssen'.  Auch 
bezüglich  der  Kategorien  weist  Fischer  den  Geg[ner  siegreich  zurück:  denn 
Kant  hat  ausdrücklich  in  seiner  Logik  §  5  behauptet,  dass  alle  Begriffe, 
wenn  logisch  genommen,  ganz  abgesehen  von  ihrem  psychologisch-erkennt- 
nisstheoretischen Ursprung,  durch  Beflexion  auf  mehrere  Einzelobjecte  ent- 
stehen; und  dass  dies  auch  von  den  Kategorien  gilt,  hat  Fischer  (S.  19 
seiner  Duplik)  geschickt  nachgewiesen.  (Vgl.  dazu  auch  Steckelmacher, 
£[s.  Logik  S.  13  und  dagegen  B.  Erdmann  in  den  Gott.  Gel.  Anz.  1880, 
S.  631.)  Er  zeigt,  dass  Kant  zweierlei  wohl  unterscheide:  1)  den  Ursprung 
einer  Vorstellung,  als  Vorstellung  ihrem  Inhalt  nach,  im  erkenntnisstheo-» 
retischen  Sinne;  2)  den  Ursprung  des  Begriffes,  welcher  jenen  Vorstellungs- 
inhalt in  begriffliche  Form  bringt  im  logischen  Sinne.  (In  ersterer  Hinsicht 
seien  nun  die  Kategorien  apriorischen  Ursprungs,  in  zweiter  Hinsicht 
seien  ihre  Begriffe  von  den  Einzel  Vorstellungen  abstrahirt.)  Es  mag  ja 
fraglich  sein,  ob  es  Kant  selbst,  sowie  auch  Fischer  wirklich  gelungen  sei, 
diesen  Unterschied  streng  und  consequent  durchzuführen;  jedenfalls  hat 
Kant  jenen  Unterschied  gemacht. 

Dieser  wichtige  Unterschied    wirft  nun  ein  helles  Licht  auch  auf  das 
Yerhältniss  der  einzelnen  Raumargumente.     Offenbar  hat  Kant  in  den  beiden 
Yaihinger,  Kant-Commentar.    U.  14 


210  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  ^.  B  89.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

ersten  Argumenten  den  erkenntnisstheoretischen  Ursprung  der 
Raumvorstellung  erörtert,  und  die  Frage  dahin  beantwortet:  Die  Baumvor- 
Stellung  hat  ihren  letzten  Ursprung  im  menschlichen  Subjecte  selbst,  nicht 
in  den  von  aussen  in  dasselbe  eindringenden  Eindrücken.  Aber  in  den 
beiden  letzten  Argumenten  wird  nur  der  logische  Werth  der  Raumvor- 
Stellung  erörtert:  ist  dieselbe  Anschaung  oder  Begriff?  Hat  sie  die  logischen 
Eigenschaften  der  Anschauung  oder  des  Begriffes?  Und  Kant  beantwortet 
die  Frage  dahin,  dass  er  die  Raumvorstellung  aus  dem  Gebiete  der  Begriffe 
hinausweist  und  in  das  Gebiet  der  Anschauungen  versetzt.  — 

Mit  dieser  eben  behandelten  Controverse  war  nun  noch  eine  weitere 
Streitfrage  verknüpft.  Trendelenburg  (Entgegnung  S.  24  f.)  wollte  die  Aus- 
drucksweise Fischers,  „alle  Gattungsbegriffe  seien  abstrahirt  ans  den 
vielen  Einzelobjecten'^,  deshalb  vor  allem  nicht  zulassen,  weil  dies  nicht 
auf  die  Kategorien  passe.  Nun  sei  es  aber  doch  „Kants  wesentliche, 
vorzüglichste  Absicht^  gewesen,  die  Anschauungen  des  Raumes  von  den 
Kategorien,  den  Stammbegriffen  des  Verstandes,  zu  scheiden.  Da  nun  jene 
Fischer'sche  Schilderung  der  Begriffe  auf  die  Kategorien  nicht  passe,  so  werde 
auch  damit  diese  Absicht  Kants  verfehlt,  die  Vorstellung  des  Raumes  als 
apriorische  Anschauung  von  den  Vorstellungen  der  Kategorien  als  aprio- 
rischen Begriffen  zu  scheiden.  Man  müsse  also  die  Schilderung  der  Be- 
griffe so  geben,  dass  sie  auch  auf  die  Kategorien  passe;  das  sei  aber,  ans 
dem  angegebenen  Grunde,  mit  der  Fischer'sohen  Schilderung  derselben  nicht 
der  Fall.  Nachdem  diese  letztere  Streitfrage  sich  zu  Gunsten  Fischers  ent- 
schieden hat,  erhebt  sich  nun  die  Frage,  ob  es  denn  in  der  That  auch  richtig 
sei,  dass  Kant  hier  die  Raumanschauung  von  den  kategorialen  Begriffen  in 
erster  Linie  habe  unterscheiden  wollen.  Im  Texte  selbst  ist  diese  Absiebt 
von  Kant  jedenfalls  mit  keinem  Worte  angedeutet,  um  so  weniger,  als  ja 
Kant  an  dieser  Stelle,  in  der  Aesthetik,  die  Kategorien  nicht  voraussetzen 
kann,  deren  Existenz  er  erst  in  der  Analytik  erweist.  Dies  wendet  auch 
Fischer,  Duplik  S.  22,  mit  Recht  ein  und  bemerkt:  ;,In  der  Kantischen 
Lehre  von  Raum  und  Zeit  ist  von  den  Kategorien  als  solchen  nirgends  die 
Rede,  sondern  von  den  Begriffen  überhaupt.  Unter  diese  fallen  auch  die 
Kategorien;  sie  sind,  logisch  genommen,  allgemeine  oder  abstracte  Begriffe, 
wie  alle  übrigen."  Auch  in  diesem  Punkte  können  wir  nicht  umhin,  Fischer 
Recht  zu  geben.  (Vgl.  hiezu  Bratuschek  815  f.;  Grapengiesser  75; 
Cohen  287  ff ;  Adickes  74  N.) 

Allerdings  stellte  sich  Kant  auch  die  Aufgabe,  Raum  und  Zeit  als 
Anschauungen  a  priori  von  den  Begriffen  a  priori  zu  scheiden.  £r 
selbst  betont  diese  Scheidung  als  sein  Verdienst  A  81  gegenüber  Aristoteles, 
welcher  Beides  vermischt  habe ;  und  sagt  ausdrücklich  in  den  Proleg,  §  39: 
„Es  gelang  mir  erst  nach  langem  Nachdenken,  die  reinen  Elementarbegriffe 
[vgl.  hiezu  oben  S.  158]  der  Sinnlichkeit,  Raum  und  Zeit,  von  denen  des 
Verstandes  mit  Zuverlässigkeit  zu  unterscheiden  und  abzusondern.'  Zn 
dieser  Sonderung  hat  gewiss  auch  dieses  vierte  Raumargument  (nebst  dem 


Der  Raum  als  repraeseniatio  Singular is.  211 

[B  35.  H  59.  E  75.]  A  25.  B  89. 

folgenden  fünften)  sein  Theil  beizutragen ;  aber  noch  wichtiger  dafür  ist  die 
Transscendentale  Erörterung  und  die  Erkenntniss  der  synthetischen  Beschaffen- 
heit der  anschaulich  zu  construirenden  mathematischen  ürtheile.  Gewiss 
wollte  Kant  diese  Sonderung  durchführen  gegenüber  der  Vermischung  Beider 
bei  Aristoteles  und  wohl  auch  bei  Lambert,  aber  hier  an  dieser  Stelle 
handelt  es  sich  ihm  in  erster  Linie  darum,  die  Haumvorstellung  als  eine 
Anschauung  zu  charakterisiren  gegenüber  der  Leibniz'schen  Lehre  (wie 
sie  wenigstens  Kant  auffasste),  welche  die  mathematischen  Erkenntnisse  auf 
blosse  Begriffsanalysen  reducirte  und  damit  auch  die  Raumvorstellung 
als  blossen  Begriff  fasste.  — 

Noch  ein  Ausdruck  spielte  endlich  in  dem  Fischer-Trendelen- 
burg'schen  Streite  eine  Rolle.  Fischer  hatte  sich  (2.  A.  S.  322)  die  Wen- 
dung entschlüpfen  lassen:  «Raum  und  Zeit  sind  Anschauungen,  weil  sie 
Einzelvorstellungen,  nicht  Collectiv-  sondern  Singularbegriffe  sind." 
Diesen  Ausdruck  griff  nun  Trendelenburg,  Beiträge  S.  255,  diesmal  mit  Recht, 
als  missverständlich  an.  Kuno  Fischer  berief  sich  dagegen  auf  die  Ausdrücke 
der  lateinisch  geschriebenen  Dissertation,  in  der  allerdings  einmal  (§  15,  c) 
der  Baum  ein  „concepUts  singularis^  genannt  wird;  dass  aber  die  Ueber- 
setznng  dieser  Ausdrücke  fraglich  sei  (wie  denn  auch  factisch  die  vorhan- 
denen üebersetzungen  von  Tieftrunk,  Kirchmann  u.  A.  schwanken),  bemerkte 
Trendelenburg  mit  Recht  in  seiner  Entgegnung  S.  29,  und  Fischers  Ant- 
wort in  seiner  Duplik  S.  57  drehte  sich  nur  um  Worte.  (Vgl.  dazu  B  r  a- 
tusehek  330  f.;  Grapengiesser  S.  77,  Michelet  S.  73;  Schlötel 
S.  86  f.)  Fischer  hat  daher  Recht  daran  gethan,  in  der  neuen  Auflage  den 
ominösen  Ausdruck  ,Singularbegriff^  wegzulassen;  dagegen  hat  er  mit 
Recht  den  Ausdruck  „Einzelvorstellung^  für  Anschauung  beibehalten, 
welchen  Trendelenburg  in  seinem  üebereifer  ganz  mit  Unrecht  ebenfalls  an- 
gezweifelt hatte.  Uebrigens  war  auch  der  Ausdruck  » Singularbegriff*  bei 
dem  schwankenden  Kantischen  Sprachgebrauch  nicht  so  schlimm;  sagt  doch 
Kant  selbst  in  den  Reflexionen  II,  N.  834:  „der  Raum  ist  kein  allgemeiner, 
sondern  einzelner  Begriff."     Vgl.  oben  155 — 158.  204. 

Zweiter  Satc:  Einzigkeit  des  Baumes.  Der  Sinn  dieses  Satzes  ist 
offenbar:  Der  Baum  ist  etwas  Einziges,  ein  Unicum:  es  gibt  nur  einen 
einzigen  Raum,  nicht  mehrere.  Wegen  dieser  Einzigkeit  des  Raumes,  seiner 
Singularität,  seiner  Natur  als  Individuum  kann  die  sich  auf  ihn  beziehende 
Vorstellung  eben  nur  eine  Anschauung,  eine  „singularis  repraeseniatio^^  . 
(Dissert.  §  15  B)  sein,  nicht  etwa  ein  Begriff;  denn  ein  Begriff  bezieht  sich 
ja  immer  auf  mehrere  Objecte,  die  noch  dazu,  wie  Bendavid,  Vorles.  S.  14  richtig 
bemerkt,  meistens  unter  einander  qualitativ  ^in  etwas  verschieden*  sind; 
hier  haben  wir  aber  nur  ein  einziges ,  zudem  in  sich  ganz  gleichartiges 
Object.  Ein  Einziges  kann  eben  aus  diesem  Grunde  nur  Gegenstand  der 
auf  das  Einzelne  gehenden  Anscbauungsthätigkeit  sein.  Dass  der  Satz 
diesen  Sinn  haben  muss,  dass  insbesondere  das  Wort  „einig*  hier  den  Sinn 
von  , einzig*  haben  muss,  das  erhellt  ja  auch  aus  dem  parallelen  Zeitargument: 


212  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  89.  [B  35.  H  59.  E  75.] 

„die  Vorstellung,  die  nur  durch  einen  einzigen  Gegenstand  gegeben  werden 
kann,  ist  Anschauung.^  Und  in  der  Dissertation  §  15  E  heisst  es:  „spaHurn 
per  essentiam  non  est  nisi  u  nie  um,  omnia  omnino  externa  senaibäia  com- 
plectens,*^  Auch  in  dem  Nachgel.  Werke  XX,  110  wird  der  Baum  .einzig  in 
seiner  Art"  genannt.  Einmal  heisst  es  daselbst  (XXI  586):  ,Das  Unend- 
liche ist  einzeln.'' 

Aber  hiegegen  kann  man  einen  naheliegenden  Einwand  machen,  welcher 
bei  Kant  denn  auch  als  Selbsteinwand  gemacht  wird.  Der  Einwand 
lautet:  Man  spricht  aber  doch  von  vielen  Bäumen,  von  diesem  und  von  jenem 
Baum ;  es  gibt  also  doch  nicht  bloss  einen  einzigen  Baum.  Ist  nun  nicht 
doch  die  Baumvorstellung  ein  allgemeiner  Begriff,  der  das  Gemeinsame  dieser 
verschiedenen  Bäume  zusammenfasst?  Sind  diese  vielen  einzelnen  Bäume 
nicht  etwa  die  mehreren  Arten  der  Gattung  Baum  oder  die  vielen  Exem- 
plare desselben,  wie  ja  der  Begriff  „Mensch"  viele  einzelne  Menschen  und 
mehrere  Menschenrassen  unter  sich  befasst? 

All  dieses  verneint  Kant.  Vielmehr  ist  der  Baum  ein  Einzelnes  (wie 
etwa  ein  einzelner  Mensch)  und  jene  vielen  Bäume  sind  nur  Theilstücke 
dieses  Einen  Baumes.  Es  gibt  nur  diesen  Einen  Baum,  nicht  mehrere.  Es 
ist  nicht  so,  als  ob  die  Baumvorstellung  als  abstracter  Gattungsbegriff  sich 
wiederfände  an  mehreren  Bäumen  in  concreto,  so  wie  der  Begriff  „Mensch* 
an  vielen  Menschenrassen  und  Menschen  in  concreto.  (Vgl.  dazu  M ellin. 
II,  474.)  Ein  Begriff  ist  ja  ein  Zusammen  gewisser  abstracter  Merkmale, 
die  sich  an  vielen  Einzeldingen  jedesmal  finden,  weshalb  durch  den  Begnf 
diese  einzelnen  Gegenstände  begrifflich  gedacht  werden.  Aber  der  Baum 
ist  ja  selbst  eine  concrete  Vorstellung,  eine  unmittelbare  Anschauung,  and 
dient  nicht  dazu,  als  Allgemeinbegriff  sich  an  verschiedenen  Bäumen  finden 
zu  lassen ,  sondern  diese  Bäume  sind  nur  Stücke  jener  individuellen ,  aber 
universalen  Baumanschauung.  Die  Einzelräume  sind  dem  allgemeinen 
Einen  Baume  nicht  als  einem  Begriffe  subordinirt,  sondern  als  einer  An- 
schauung inordinirt.  Es  handelt  sich  dabei  um  ein  Worin,  nicht  um  ein 
Worunter. 

Sehr  treffend  spricht  Kant  diesen  Gegensatz  in  seinem  Nachgel.  Werke 
XXI,  587  ff.  so  aus:  Die  unbeschränkte  Grösse  der  Baumanschauung  ist  nicht 
Allgemeinheit  (universalitaSf  d.  h .  omnitudo  conceptus),  sondern  die  All- 
heit (universitas,  d.  h.  omnitudo  complexus).  Beides  unterscheidet  Kant  auch 
(a.  a.  0.  592)  als  ,,discursive  und  intuitive  AUgemeinheit".  Vgl.  auch  a.  a.  0. 
561.  570.  60S.  Dazu  XIX,  302:  „Die  discursive  Allgemeinheit  (Einheit  in 
Vielem)  ist  von  der  intuitiven  (Vieles  in  Einem)  zu  unterscheiden.' 

Allerdings  spricht  Kant  einmal  gleich  unten,  A29,  von  den  ^Arten 
des  Baumes'',  so  dass  es  scheint,  als  wäre  Baum  ihm  doch  ein  Gattungs- 
begriff; allein  wir  können  zu  Gunsten  Kants  annehmen,  er  habe  damit  sagen 
wollen,  jene  verschiedenen,  aus  dem  allgemeinen  Baum  herausgeschnittenen 
Theile  des  Baumes  (die  er  daselbst  auch  „Bestimmungen  des  Baumes*  nennt), 
seien  wieder  untereinander,  je   nach  ihrer  Form,    in  verschiedene  Gruppen 


Man  kann  sich  nur  einen  ^ einigen*  Raum  vorstellen.  213 

[B  35.  H  59.  E  75.]  A  »S.  B  89. 

einzTxtheilen.  Jedenfalls  gibt  Tiedemann  in  den  Hessischen  Beitr&gen  1785, 
S.  125,  Kants  Sinn  richtig  wieder,  wenn  er  sagt:  ,Es  gibt  keine  specifisch 
verschiedenen  Bänme ;  jeder  besondere  Raum  ist  Baum  überhaupt/  Schütz, 
A.  L.  Z.  1785  in,  53  erläutert:  „Unter  dem  allgemeinen  BegriflF  der  Farbe 
sind  viele  Farben  enthalten;  nicht  aber  sind  diese  bloss  Theile  einer 
wesentlich  einzigen  Farbe.* 

Eine  erklärende  Weiterbildung  dieses  Argumentes  bei  Lotze,  Mikrok. 
m,  494  ff.  (vgl.  Metaphysik,  S.  197-199,  Grundzüge  d.  Met.  §  50).  L.  geht 
aus  von  dem  allgemeinen  Gesetz  des  räumlichen  Nebeneinander.  Man  kann 
dies  verschieden  ausdrücken,  etwa  so,  „dass  jeder  Punkt  von  jedem  andern  aus 
durch  eine  und  nur  durch  eine  gerade  Linie  erreicht  werden  könne*  u.  s.  w.  Der 
logischen  Form  nach  ist  dieser  Ausdruck  ein  allgemeines  Gesetz;  die 
Eigenthümlichkeit  seines-  Inhalts  unterscheidet  ihn  jedoch  wesentlich  von 
dem  Bildungsgesetz,  welches  jeder  Allgemeinbegriff  seinen  besonderen  Bei- 
spielen vorschreibt.  Der  Allgemeinbegriff  verlangt  nur,  dass  jedes  seiner 
Exemplare  für  sich  genommen  eine  bestimmte  Gruppe  von  Merkmalen 
in  bestimmter  Weise  verknüpft  enthalte ;  er  ordnet  die  einzelnen  Beispiele 
sich  selbst,  dem  Allgemeinbegriff  unter,  stiftet  aber  keine  Verbindung 
zwischen  ihnen.  Dagegen  das  Gesetz  des  Nebeneinander  bringt  seine  ver- 
schiedenen Fälle  in  gegenseitige  Verknüpfung.  Denn  jenes  Gesetz  stiftet  ein 
Netz  von  Beziehungen  aller  Punkte.  Es  verknüpft  seine  einzelnen  An- 
wendungsfälle zu  einem  Ganzen;  es  gestattet  keinen  isolirten  Fall  u.  s.  w. 
Dadurch  werde  der  Baum  zu  einem  „Bilde **  und  darauf  beruht  es,  dass  wir 
fiir  ihn  den  Namen  einer  Anschauung  (und  zwar  einer  unendlichen)  statt 
der  ein  wesentlich  anderes  Verhalten  bezeichnenden  Benennung  eines 
Begriffes  vorziehen. 

Dass  die  so  entstandene  Einzigkeit  der  Baumvorstellung  das  nicht 
beweise,  was  K.  darin  findet,  fuhrt  aber  gegen  K.  treffend  aus  Biehl,  Krit. 
II,  a,  106.  186:  „B.  u.  Z.  sind  einzig  in  ihrer  Art,  weil  sie  Grössenbegriffe 
sind.  Wo  immer  das  Bewusstsein  gleichartige  Elemente  zur  Einheit 
eines  Begriffes  verbunden  denkt,  muss  dieser  Begriff  als  wesentlich  einziger 
gedacht  werden.  In  der  That  Hesse  sich  die  nämliche  Eigenschaft  mit  den 
nämlichen  Worten,  die  K.  gebrauchte,  auch  von  den  Begriffen  der  Materie, 
der  Kraft,  ja  der  Eealität  überhaupt  beweisen,  wie  Her  hart  zeigt  (W.  W. 
V,  510).  Die  Einzigkeit  dieser  Vorstellungen  ist  nichts  als  der  Beflex  der 
Einheit  des  Bewusstseins  in  ihrer  synthetischen  Erzeugung.''  Vgl.  auch 
Trendelenburg,  Log.  Unters.  2.  A.  163:  dagegen  Cohen  2.  A.  127. 

Man  kann  Kants  These  noch  erweitern  und  schliesslich  noch  pointirter 
auch  folgendermassen  ausdrücken,  wie  das  Kuno  Fischer  (2.  Aufl.  328  ff., 
3.  Aufl.  337  ff.,  vgl.  auch  Zeller,  Deutsche  Philos.  428)  gethan  hat:  „Sollen 
diese  Vorstellungen  (Baum  und  Zeit)  Gattungsbegriffe  sein,  so  muss  sich  der 
Baum  zu  den  verschiedenen  Bäumen  verhalten,  wie  der  Gattungsbegriff 
Mensch  zu  den  verschiedenen  Menschen  arten  und  Individuen ;  dann  muss  der 
Baum  das  gemeinsame  Merkmal  aller  verschiedenen  Bäume  sein;"  „so  müssten 


214  §  2.     Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  89.  [B  36.  H  59.  E  75.] 

die  Räume  dem  Räume  untergeordnet  sein,  wie  die  Arten  der  Gattung,  so 
müsste  der  Raum  sie  unter  sich  begreifen,  während  er  sie  doch  in  sich 
begreift/'  „Der  Gattungsbegriff  Mensch  enthält  die  verschiedenen  Menschen- 
arten  und  Individuen  nicht  in  sich,  sondern  unter  sich.  Mit  Raum  und  Zeit 
verhält  es  sich  umgekehrt;  sie  begreifen  die  Räume  und  Zeiten,  so  viele 
deren  sind,  nicht  unter  sich,  sondern  in  sich;  daher  sind  sie  keine  Begriffe." 
Dies  alles  sagt  zwar  Kant  nicht  ausdrücklich  hier ;  es  ist  aber  in  Kants  Sinn 
gesagt.  Auch  hat  Kant  in  der  Dissertation  (vgl.  die  oben  S.  204  mitgetheilte 
Stelle)  diese  scharf  pointirte  Darstellung  selbst  gegeben,  indem  er  sagt: 
„c<mceptt*8  spatii  est  singularis  repraeaentatio  omnia  in  se  campreJiendens,  nan 
8ub  se  eantinens  notio  ahstrada  ei  communis"  Vgl.  ib.  §  12:  Intuituspurus 
(humanus)  non  est  conceptus  universalis  s.  logicus,  sub  quo,  sed  singularis, 
in  quo  sensibilia  quaelibet  cogitantur.  Wunderlicherweise  hat  Kant  diese  glück- 
liche Wendung  in  der  Kr.  d.  r.  V.  weggelassen.  In  der  zweiten  Auflage 
derselben  hat  Kant  allerdings  im  fünften  Argument  dies  Verhältniss  besprochen, 
aber  wie  wir  unten  S.  240  f.  sehen  werden,  in  einem  ganz  anderen  Sinne;  es 
ist  daher  ganz  falsch,  wenn  Kuno  Fischer  sich  für  jene  seine  Darstellung 
auf  dies  fünfte  Argument  beruft,  das  er  irriger-  und  ungenauerweise  mit 
dem  vierten  vermischt. 

Der  Vollständigkeit  halber  muss  hier  folgende  Bemerkung  eingeschoben 
werden.  Ursprünglich  hatte  K.  Fischer  in  diesem  Zusammenhange  das  Ter- 
hältniss  des  Gattungsbegriffes  zu  dem  Einzelnen  illustrirt  durch  die  Erinne- 
rung an  das  Verhältniss  von  Nenner  und  Zähler.  Diesen  Vergleich  griff 
Trendelenburg  an,  Beitr.  253  ff.;  Fischer  replicirte  darauf  in  seinem 
Kant  2.  Aufl.  S.  822.  Dagegen  dann  wieder  Trend  eleu  bürg  in  seiner 
Entgegnung  S.  21  ff.  26;  dann  wieder  Fischer  in  seiner  Duplik  S.  28; 
dazu  Bratuschek  317  f.;  Grapengiesser  74;  Michelis  168  f.  Da 
Fischer  in  der  3.  Auflage  den  unglücklichen  Vergleich  selbst  aufgegeben  hat, 
sind  wir  eines  näheren  Eingehens  darauf  überhoben. 

Bei  K.  Fischer  findet  sich  noch  eine  fernere  Erweiterung  der  Kanti- 
sehen  Gedankenreihe,  welche  zwar  bei  Kant  selbst  nicht  einmal  angedeutet 
ist,  die  aber  doch  wohl  im  Sinne  Kants  ausgesponnen  ist  (2.  Aufl.  321  f.: 
8.  Aufi.  331):  Der  allgemeine  Raum  verhält  sich  den  einzelnen  Räumen 
gegenüber  nicht  als  der  an  Inhalt  ärmere,  wie  das  bei  einem  Allgemeinb^riff 
gegenüber  den  ihm  untergeordneten  Arten  und  Exemplaren  regelmässig  der 
Fall  ist,  vielmehr  hat  der  Raum  überhaupt  ganz  genau  denselben  reichen 
Inhalt,  wie  der  einzelne  bestimmte  Raumtheil.  Der  Raum  ist  also  nicht  in 
den  Einzelräumen  als  deren  allgemeines  Merkmal  so  enthalten,  dass  diese 
als  specifische  Arten,  als  Exemplare  noch  einige  individualisirende  Merkmale 
dazu  hätten,  also  an  Inhalt  reicher  wären. 

Mit  diesem  Gedankengang  ist  nun  noch  ein  anderer  bei  Fischer 
verquickt,  welchen  —  offenbar  im  Anschluss  an  ihn  —  Holder  in  seiner 
Darstellung  S.  11  kurz  und  scharf  so  wiedergibt:  „Jeder  Begriff  setzt  eine 
Mannigfaltigkeit  von  Einzelvorstellungen  voraus,  von  welcher  er  abstrahirt 


Einzigkeit  und  Einheitlichkeit  der  Raumvorstellung.  215 

[R  36.  H  59.  60.  E  75.]  A  25.  B  39. 

ist,  und  in  welchen  er  als  Theil  [Fischer  sagt:  als  Theil Vorstellung]  sich 
vorfindet.  Banm  und  Zeit  dagegen  bilden  je  eine  ursprüngliche  Einheit,  in 
welcher  erst  die  einzelnen  Bäume  und  Zeiten  als  Theile  derselben  vorgestellt 
werden.*'  Während  nun  Holder  ausdrücklich  bemerkt,  dass  er  damit  den 
Sinn  gerade  dieses  Argumentes  wiedergeben  wolle,  bezieht  Fischer  selbst 
(3.  Aufl.  332.  833)  diese  Darstellung  bald  auf  dieses,  bald  auf  das  nächste 
Argument.  Bei  Fischer  selbst  heisst  es  (3.  Aufl.  331):  „Die  abstracten 
Begriffe  sind  Theilvorstellungen  der  Anschauung ;  sie  sind  in  der  Anschauung 
enthalten.''  Ist  der  Baum  ein  Gattungsbegriff,  „dann  muss  der  Baum  das 
gemeinsame  Merkmal  aller  verschiedenen  Bäume  sein,  also  eine  Theilvor- 
stellung  derselben  bilden.  Aber  die  Sache  steht  umgekehrt.  Der  Baum  ist 
nicht  in  den  Bäumen,  so  viele  ihrer  sind,  enthalten,  sondern  diese  in  ihm.'' 
Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  dass  diese  an  sich  niedliche  Antithese  im 
Kantischen  Texte  sich  nicht  findet,  sondern  eine  allerdings  nicht  gerade  un- 
kantisohe  Erweiterung  desselben  darstellt,  die  aber  jedenfalls  nicht  auf  Kants 
eigene  Bechnung  geschrieben  werden  darf.  Ob  diese  Darstellung  sich  im 
fünften  Argumente  findet,  wie  Fischer  auch  will,  darüber  s.  unten  S.  248. 

Eine  damit  nahe  verwandte  Darstellung  findet  sich  nun  schon  bei 
einigen  älteren  Commentatoren,  so  bei  Jacob  in  seiner  Gegenschrift  gegen 
Mendelssohn  S.  23;  bei  Kiese wett er  in  seinem  Versuch  S.  28;  bei  Schau- 
mann S.  45;  bei  Schmid,  Wörterbuch  S.  56,  sowie  bei  Eberstein,  Gesch.  d. 
Logik  U,  10;  am  besten  ist  dieselbe  von  dem  anonymen  Verfasser  der 
„Hauptmomente"  S.  89  so  wiedergegeben  worden :  „Allgemeine  oder  discursive 
Begriffe  werden  in  jeglichem  besonderen  Gegenstande  ganz  und  gar  wieder 
angetroffen.  .  .  .  Hingegen  das  Einzelne  passt  nicht  mit  allem  seinem 
Mannigfaltigen  in  den  allgemeinen  Begriff  hinein.  Es  enthält  mehr,  als 
der  allgemeine  Begriff  zu  fassen  vermag.  Das  ist  nun  aber  bei  dem  Baum 
als  einer  reinen  Anschauung  ganz  anders.  Der  allgemeine  Baum  ist  nicht 
in  jedem  einzelnen  Baume  ganz  enthalten,  wohl  aber  ist  der  einzelne  Raum- 
theil  mit  allem  seinem  Mannigfaltigen  in  dem  allgemeinen  Baume  ent- 
halten." Auch  diese  ganz  plausible  Erörterung  ist  eine  Erweiterung  des 
Kantischen  Textes,  gegen  welche  allerdings  wohl  Kant  selbst  kaum  etwas 
einzuwenden  gehabt  hätte. 

Dritter  und  yierter  Satz:  Die  urspriiiigliehe  Einheitlichkeit  der 
BaumyorsteUiing.  Der  dritte  und  vierte  Satz  gehören ,  wie  sich  zeigen 
wird,  zusammen.  Das  Wörtchen  „auch",  das  dem  „erstlich"  in  dem  vorher- 
gehenden Satze  entspricht,  zeigt  nun  an,  dass  hier  ein  neuer  Gedanke 
kommt.  Dies  hat  auch  der  scharfsinnige  Maass  erkannt,  der  in  Eberhards 
Magazin  I,  135.  137  ausdrücklich  zwei  Schlüsse  unterscheidet  und  hier  einen 
„zweyten  Beweisgrund"  beginnen  lässt.  Kant  weist  offenbar  hier  einen 
zweiten  Einwand  zurück,  der  gegen  seine  Theorie  erhoben  werden  kann. 
Dieser  im  dritten  Satz  erhobene  und  im  dritten  und  vierten  zurückgewiesene 
Einwand  lautet:  Du  hast  eben  gesagt,  die  einzelnen  Bäume  seien  Theile 
des  alleinen  Baumes ;  damit  gibst  Du  zu,  dass  dieser  alleine  Baum  aus  diesen 


216  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  26.  B  89.  [B  36.  H  59.  60.  E  75.] 

Theilen  zusammengesetzt  ist;  nnd  diese  Bestand tbeile  geben  vor  der  Vor- 
stellung des  alleinen  Raumes  vorher.  Die  Raumvorstellung  ist  also  nur 
ein  Aggregat  aus  den  Einzelvorstellungen  jener  vielen  Räume. 

Aber  auch  dagegen  ist  Kant  gewappnet.  Allerdings  bat  der  Raum 
Tbeile;  aber  es  ist  nicht  so,  als  ob  die  allgemeine  Raumvorstellung  erst 
möglich  würde  durch  Zusammensetzung  aus  diesen  vielen  Einzelräumen  als 
seinen  „Bestandtheilen*^  sondern  umgekehrt :  Diese  Einzelräume  sind  ^ur 
möglich  in  jenem  allgemeinen  Räume  0. 

Und  dazu  gibt  der  vierte  Satz  sofort  eine  Erläuterung:  Der  Raum 
ist  aber  „wesentlich  einig"  —  hier  hat  „einig**  offenbar  einen  anderen  Sinn 
als  oben;  oben  war  „einig"  =  „einzig";  hier  ist  „einig"  =  „einheitlich". 
(Vgl.  Amoldt,  R.  u.  Z.  118.)  Auch  in  den  Vorl.  über  Metaphysik,  S.  60. 
62  unterscheidet  Kant  in  diesem  Sinne  zwischen  ,, einzeln"  und  „einig".  Also 
der  Raum  ist  etwas  Einheitliches ;  und  wenn  man  von  „Räumen"  spricht, 
wenn  man  —  so  ist  der  Text  weiterhin  zu  paraphrasiren  —  diesen  all- 
gemeinen Ausdruck  gebraucht,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass  die  Vor- 
stellung solcher  Räume  nur  durch  Einschränkung  der  einheitlichen  Raum- 
vorstellung möglich  ist.  (Aehnlich  auch  Schulze,  Krit.  d.  Philos.  I,  208.) 
Es  ist  also  auch  nicht  so,  als  ob  die  allgemeine  Raum  Vorstellung  erst  ent- 
stände durch  Zusammensetzung  aus  jenen  einzelnen  Theilen,  sondern  im 
Gegentheil:  diese  Tbeile  entstehen  erst  durch  Einschränkung  des  allge- 
meinen Raumes.  Die  Tb  eilräume  sind  somit  nichts  Anderes,  als  Raum- 
theile.  Sie  sind  nicht  selbständige  constitutive  Bestandtheile,  sondern 
unselbständige  Th eilstücke,  oder  wie  Stadler,  Reine  Erk.  32  sich  aus- 
drückt: Die  einheitliche  Raumanschauung  erscheint  als  Gegebenes,  ihr 
Theil  als  Gewordenes. 

Also  der  Raum  ist  nicht  eine  mosaikartige  Zusammensetzung.  Die 
Theilstücke  des  Raumes  sind  seine  Eintheilungen ,  nicht  seine  Bestandtheile. 
d.  h.  Tbeile,  die  sein  Bestehen  bedingen,  wie  das  der  Fall  wäre,  wenn  er 
erst  aus  ihnen  zusammengesetzt  wäre,  wenn  er  ihr  gemeinsames  Resultat 
wäre,  wenn  das  unendliche  Raumgewand  der  Welt  gleichsam  aus  einzelnen 
Raumlappen  und  Raumfetzen  zusammengeflickt  wäre.  Diese  Theilstücke,  die 
wir  in  ihm  unterscheiden,  sind  nicht  vor  ihm,  dem  Ganzen,  da,  sondern  nur  in 
ihm.  Es  ist  dies  eigentlich  eine  Uebertragung  des  ersten  Raumargumentes 
von  den  Dingen  im  Räume  auf  seine  Tbeile.  Damals  hiess  es:  Die  einzelnen 
Erscheinungen  sind  nicht  vor  der  Raumvorstellung  da,  sondern  nur  durch 
sie  und  in  ihr  vorstellbar;  jetzt  heisst  es:  Die  einzelnen  Raumtheüe  sind 
nicht  vor  dem  allgemeinen  einheitlichen  Räume  da,  sondern  sie  sind  nnr 
durch  ihn  und  in  ihm  möglich. 


*  Dass  diese  Theile  des  Raumes  nicht  etwa  als  einfache,  als  Pmikte  gedacht 
werden  dürfen,  sondern  als  wirkliche  Räume,  betont  die  Dialektik  in  der  2.  Anti- 
nomie (Antithese).  Vgl.  femer  A  170  (B  211).  Vgl.  auch  B  419:  Die  Punkte  sind 
nur  Grenzen,  nicht  Theile  des  Raumes.    Vgl.  Diss.  §  15,  C,  Anm. 


Alle  Theilräume  sind  nur  Raum th eile.  217 

[R  36.  H  59.  60.  E  75.]  A  25.  B  89. 

Diese  Raumtbeile  sind  nun  auch  nicht  actuell  da,  ehe  der  ganze  Raum 
da  ist,  sondern  sie  liegen  potentiell  in  ihm  und  lassen  sich  aus  ihm  heraus- 
schneiden; sie  sind  nicht  selbständige  Objecte,  sondern  unselbständige  Theile 
eines  Objects;  sie  sind  secundär,  nur  der  alleine  Raum  ist  primär.  Somit 
ist,  wie  Schultz  in  seinen  Erläuterungen  sagt  (S.  28),  „hier  das  Ganze  nicht 
durch  die  Theile,  sondern  die  Theile  bloss  durch  das  Ganze  möglich'^  Jeder 
bestimmte  Raumtheil  ist  nicht  eigentlich  etwas  Positives,  sondern  etwas 
Negatives,  durch  Determination  entstanden  (Spinoza:  omnis  determinatio  est 
negatio) ;  nur  der  Eine  und  ganze  Raum  ist  etwas  Positives  ^  Daher  können 
auch,  wie  in  den  „Hauptmomenten''  S.  90  richtig  hinzugefügt  wird,  ,jene 
Theile,  die  einzelnen  Räume  nur  in  dem  Ganzen  des  Raumes,  nicht  aber 
abgetrennt  von  ihm  gedacht  werden."  In  der  A.  L.  Z.  1790,  III,  796  heisst 
es:  „Bei  Verstandesbegriffen  erfordert  die  Vorstellung  der  Theile  nicht  erst 
die  Vorstellung  des  Ganzen.  Wir  können  uns  aber  keine  Linie,  keinen  Punkt, 
keine  Figur  denken,  ohne  sie  uns  schon  als  Etwas  im  unendlichen  Räume 
vorzustellen."  Im  Sinne  Kants  und  zur  Erläuterung  desselben  fügt  Metz 
in  seiner  Darstellung  S.  46  folgendes  hinzu:  „Daher  auch  der  Geometer, 
wenn  er  den  Gegenstand  seiner  Wissenschaft  vorstellig  machen  will,  nicht 
von  Punkten,  Linien,  Flächen  anftngt,  sondern  unmittelbar  die  Vorstellung 
des  Baumes  als  eines  einzelnen  Ganzen  zum  Grunde  legt,  zu  den  Flächen 
als  Grenzen  des  mathematischen  Körpers  übergeht  und  von  diesen  auf  Linien 
und  Punkte  kommt.  Diese  Theile  denkt  er  sich  nicht  als  Bestandtheile,  als 
mehrere  einzelne  Räume,  die  wir  nach  und  nach  durch  die  Zusammensetzung 
in  ein  Ganzes  vereinigten."  —  Ein  anderer  Kantianer,  Watson,  Kant  273, 
drückt  sich  so  aus:  UndifferenticUed  space  is  priori  to  positions,  i,  e.  litni" 
tations  of  space  (was  freilich  Spencer,  Mind,  1890,  307  für  eine  sinnlose 
Phrase  erklärt;  vgl.  desselben  Psychol.  II,  §  399). 

Dazu  vergleiche  man  Kants  Reflexionen  II,  N.  348.  352 — 354:  „Man 
kann  sich  nur  Räume  gedenken,  insofern  man  aus  dem  allgemeinen  Räume 
etwas  ausschneidet."  „Was  nur  durch  Einschränkung  getheilt  werden 
kann^  ist  nicht  möglich  durch  Zusammensetzung;  also  nicht  der  Raum." 
Die  „Idee  des  Ganzen  oder  der  Dispertibilität"  geht  beim  Raum 
„in  Ansehung  der  Theile"  vorher.  Ferner  N.  392.  393:  „Ein  Totum  syn- 
theticum  ist,  dessen  Zusammensetzung  sich  der  Möglichkeit  nach  auf  die 
Theile  gründet,  die  auch  ohne  alle  Zusammensetzung  sich  denken  lassen. 
Ein  Totum  analyticum  ist,  dessen  Theile  ihrer  Möglichkeit  nach  schon  die 
Zusammensetzung  im  Ganzen  voraussetzen.  Spatium  et  tempus  sind  ^o^a 
analytiea,  die  Körper  synthetica,**    „Totum  analyticum  nee  est  compositum 


*  Eine  eigenthümliche  Ergänzung  dieses  Argumentes  bietet  die  aus  den 
70er  Jahren  stammende  Reflexion  Kants  II,  N.  403:  „Weil  wir  nicht  bloss  den 
Raum  des  Objects,  was  unsere  Sinne  röhrt,  sondern  den  ganzen  Raum  anschauend 
erkennen,  so  muss  der  Raum  nicht  bloss  aus  der  wirklichen  Röhrung  der  Sinne 
entspringen,  sondern  vor  ihr  vorhergehen." 


218  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  39.  [B  36.  H  59.  60.  E  75.] 

ex  substantiis  nee  ex  accidentibus,  sed  totum possibüium  relationum"  N.  612 : 
„Ein  jedes  quantum  continuum  als  ein  solches  ist  das,  wodurch  eine  Menge 
homogener  Theile  gesetzt  wird;  folglich  geht  es  noth wendig  vor  der  Zu- 
sammensetzung vorher."  N.  618.  1455.  —  Man  vergleiche  auch  die  An- 
merkung zur  Thesis  der  zweiten  Antinomie  (A  438,  B  466):  ,,Den  Raum  sollte 
man  eigentlich  nicht  Compositum^  sondern  Totum  nennen,  weil  die  Theile  des- 
selben nur  im  Ganzen  und  nicht  das  Ganze  durch  die  Theile  möglich  ist'* '. 

Es  erhebt  sich  nun  aber  die  Frage,  was  beweist  dies  alles  dagegen, 
dass  der  Raum  ein  Begriff  ist?  Ist  denn  ein  Begriff  mosaikartig  aus  seinen 
Bestandtheilen  zusammengesetzt,  welche  ihm  vorhergehen?  Es  will  dies  doch 
nicht  ohne  Weiteres  einleuchten,  zumal  Kants  Text  keine  genauere  Auskunft 
darüber  gibt.  Sollte  denn  jene  Schilderung,  welche  Kant  von  der  Raum- 
vorstellung abwehrt,  von  einem  Begriffe  gelten,  das  Zusammengesetzt  werden 
aus  einzelnen  Bestandtheilen?  Von  einem  gewöhnlichen  Gattungsbegriff 
scheint  dies  nicht  zu  gelten,  und  so  könnte  es  vielleicht  einen  Ausweg  aus 
dieser  Schwierigkeit  geben,  wenn  wir  andere  Begriffe  fänden,  auf  welche 
jene  Schilderung  passen  würde. 

Nun  gibt  es  allerdings  noch  eine  andere  Art  von  Begriffen;  das  sind 
die  sog.  Collectivbegriffe.  Sigwart,  Log.  II,  220  spricht  von  der 
„umfassenden  Synthese,  welche  zu  den  CoUectivbegriffen  führt.  Alle  Collectiv- 
begriffe setzen  ein  Ganzes,  das  aus  einer  Vielheit  discreter,  für  sich  als 
Einheiten  gedachter  Theile  besteht;  ein  Ganzes  aus  Stücken  oder  Individuen." 
Beispiele:  „Baumgruppe,  Hügelreihe,  Sonnensystem,  Familie,  Wald,  Heerde, 
Staat."  Aebnlich  Drobisch,  Logik  §  29.  Diese  Theorie  der  Collectivbegriffe, 
welche  schon  bei  Locke  angelegt  ist,  ist  bei  manchen  älteren  Logikern  nicht 
deutlich  ausgeprägt;  z.  B.  bei  £ant,  Schulze,  Bach  mann,  ja  selbst  bei 
Ueberweg  ist  die  Sache  ganz  vernachlässigt.  K.  Fischer,  Kant  2.  A. 
S.  816  u.  322,  identificirt  Gattungs-  und  Collectivbegriffe  ohne  Weiteres. 
Dasselbe  thut  Cousin,  Kant  S.  78.  (Einen  Anklang  an  diese  Eintheilung 
der  Begriffe  könnte  man  in  Kants  Eintheilung  der  Einheit  in  die  distributive 
und  coUective  finden,  A  582,  643;  vgl.  Mellin  II,  243;  Lossius  II,  140; 
Schmid,  Wörterb.  107.) 

Derartige  Begriffe  könnte  nun  Kant  im  Auge  gehabt  haben,  als  er 
von  Begriffen  sprach,  welche  aus  „Bestandtheilen,  die  vorhergehen,  zusammen- 
gesetzt sind."  Auch  ein  zeitgenössischer  Commentator  hat  die  Stelle  schon 
so  erklärt,  Feder,  Raum  und  Caus.  S.  10;  er  lässt  Kant  sagen:  „Es  gibt 
gar  keinen  solchen  allgemeinen  Begriff  vom  Baume,  w^ie  es  andere  allgemeine 
Begnffe  gfibt,  die  aus  mehreren  einfachen  Begriffen  zusammenge- 
setzt, oder  aus  mehreren  ähnlichen  Empfindungen  abgezogen  sind, 
z.  B.  vom  Staat,  vom  Menschen"  (bei  Feder  sind  die  Beispiele  irrthümlich 
umgestellt).    Also  Feder  unterscheidet  da  auch  zwei  wesentlich  verschiedene 


^  Doch  will  Kant  „ allenfalls **  die  Bezeichnung  des  Raumes  als  „Compositum 
ideale*^  zulassen.    Vgl.  darüber  unten  S.  224  ff. 


Der  Raum  kein  Compositum,  sondern  ein  Totum.  219 

[B  36.  H  59.  60.  E  76.]  A  26.  B  89. 

Begnfiisarten,  und  für  dasjenige,  was  die  neueren  Logikern  „GoUectivbegriff*^ 
oennen,  bringt  er  genau  dasselbe  Beispiel  bei,  wie  heute  Sigwart:  den  Be- 
griff des  Staates. 

Allein  diese  Erklärung  ist  doch  sehr  weit  hergeholt  und  macht  keinen 
befriedigenden  Eindruck.  Sollte  Kant  das  gemeint  haben,  so  müsste  er  doch 
hier  oder  sonst,  etwa  in  seiner  Logik,  davon  eine  Andeutung  haben  fallen 
lassen.  Von  einer  solchen  Unterscheidung  der  Begriffe  ist  doch  hier  nicht 
die  geringste  Spur  zu  finden,  und  so  müssen  wir  uns  schon  dazu  verstehen, 
die  Stelle  so  auszulegen,  dass  sie  auf  alle  Begriffe  passt.  In  welchem  Sinne 
könnte  nun  noch  gesagt  sein  —  was  hier  indirect  gesagt  ist  —  dass  jeder 
Begriff  aus  „Bestandtheilen"  „zusammengesetzt"  ist,  welche  ihm  vorhergehen? 
£in  Begriff  ist  in  doppelter  Hinsicht  ein  Ganzes:  1)  hinsichtlich  des  Um- 
fanges;  2)  hinsichtlich  des  Inhaltes.  In  ersterer  Hinsicht  müssten  die 
betreffenden  Bestandtheile  sein  die  einzelnen  Exemplare,  in  zweiter  Hinsicht 
die  Merkmale  des  Begriffes.  Die  erstere  Auffassung  hat  z.  B.  Metz  in 
seiner  „Darstellung"  S.  46:  Da  werden  die  einzelnen  Exemplare,  welche 
unter  den  Begriff  fallen,  als  die  Theile  betrachtet,  die  ihm  vorhergehen  und 
ans  denen  er  zusammengesetzt  ist.  Eine  solche  Auffassung  hat  bis  jetzt 
noch  kein  Logiker  vertreten;  auch  in  Kants  Logik  findet  sich  davon  keine 
Spur  und  so  müssen  wir  auch  auf  diese  Auslegung  Verzicht  leisten,  obgleich 
sie  sich  auch  bei  Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  13  findet. 

Als  letzte  Auslegung  bietet  sich  nun  nur  noch  die  Beziehung  auf  das 
Ganze  des  Begriffsinhaltes  und  auf  dessen  Theile  dar,  d.  h.  die  Merkmale 
des  Begriffes.  Kann  man  nun  diese  als  „Bestandtheile*'  bezeichnen,  welche 
dem  Begriff  „vorhergehen"  und  aus  denen  er  „zusammengesetzt**  ist?  Diese 
Auffassung  des  Verhältnisses  der  Merkmale  zum  Begriffsganzen  finden  wir 
nun  z.  B.  in  Meiers  von  Kant  viel  benutzter  „Vernunftlehre"  §  146:  „Ein 
Merkmal  muss  allemal  ein  Theil  derjenigen  Erkenntniss  sein,  welche  durch 
dasselbe  von  anderen  unterschieden  werden  soll ...  Eine  Erkenntniss 
wird  aus  ihren  Merkmalen,  wie  ein  Ganzes  aus  seinen  Theilen, 
zusammengesetzt."  Auch  Lambert  im  ,, Neuen  Organen**  I,  S.  7  nennt 
die  Merkmale  ausdrücklich  „Theile**  eines  Begriffes,  und  spricht  daselbst 
8.42  von  der  „Zusammensetzung**  der  Merkmale  zu  Begriffen.  Auch  Platner 
in  seinen  Aphorismen  §  883  spricht  davon,  dass  die  Begriffe  aus  ihren  Merk- 
malen „zusammengesetzt**  seien.  Denselben  Ausdruck  gebraucht  auch  Krug, 
Fundamentalphilosophie,  S.  173,  Handbuch  der  Phil.  I,  §  127,  und  Logik 
§  28;  und  Tieft runk  in  seiner  Logik  §  34  nennt  die  Merkmale  ausdrück- 
lich die  „Bestandtheile**,  aus  denen  die  Begriffe  „zusammengesetzt**  seien, 
bedient  sich  somit  genau  der  Kantischen  Ausdrücke  hier.  Und  zum  Ueber- 
flusse  kann  auch  der  Ausdruck  ,, Bestandtheile**  =  Merkmale  bei  Kant  selbst 
nachgewiesen  werden;  in  seiner  Logik,  Einl.  V  gibt  er  die  ,, Merkmale**  der 
Tugend  an,  welche  zu  den  „zusammengesetzten**  Vorstellungen  gehört,  und 
sagt  dann :  „Lösen  wir  so  den  Begriff  der  Tugend  in  seine  einzelnen  Bestand- 
theile auf**  u.  s.  w. 


220  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  89.  [R  36.  H  59.  60.  E  75.] 

So  wird  denn  das  auch  hier  Kants  Meinung  gewesen  sein  (vgl.  Cohen, 
2.  A.  123).  Wir  haben  somit  hier  einen  zweiten  Beweisgang  vor  uns,  in 
welchem  Kant  die  Rauravorstellung  scharf  von  den  Begriffen  scheidet  ^ 

Wir  können  nun  auch  die  beiden  Beweisgänge  mit  einigen  wenigen 
Worten  pointirt  so  zusammenfassen:  Im  ersten  Beweisgang  dieses  vierten 
Argumentes,  das  die  Anschaulichkeit  der  Baum  Vorstellung  zum  Thema  hat, 
wird  darauf  hingewiesen:  der  Raum  muss  Anschauung  und  kann  nicht  Be- 
griff sein;  denn  der  Begriff  enthält  das  Einzelne  unter  sich,  nicht  in  sieh, 
wie  das  bei  der  Raum  Vorstellung  der  Fall  ist.  Im  zweiten  Beweisgang 
aber  wird  erwiesen:  der  Raum  muss  Anschauung  und  kann  nicht  BegnfT 
sein;  denn  beim  Begriff  gehen  seine  Theile  vorher,  während  sie  beim  Räume 
erst  in  ihm  möglich  sind^  erst  aus  ihm  durch  Einschränkung  gewonnen 
werden  können,     (üeber  die  darin  liegende  Quaternio  s.  unten.) 

Der  erste  Beweisgang  bezieht  sich  somit  auf  den  umfang,  der 
zweite  auf  den  Inhalt  des  Begriffs.  In  beiden  Beziehungen  wird  der  Ranm- 
vorstellung  der  Begriffscharakter  abgesprochen.  — 

Diese  Argumentation  Kants  hat  nun  Jacobi  (Spinoza,  1.  Aufl.  118; 
2.  Aufl.  173)  mit  der  Lehre  des  Spinoza  von  der  unendlichen  Substanz 
parallelisirt ,  welche  auch  vor  den  Theilen  existire,  die  nur  nach  ihr  und 
als  deren  Einschränkungen  gedacht  werden  können.  Diese  Parallele  ist  trotz 
dem  Widerspruch  der  A.  L.  Z.  1786,  I,  294  ganz  zutreffend.  Auch  hat 
neuerdings  Windelband  diesen  Wink  Jacobi*s  benützt  zur  Darstellung  Spinoza's, 
vgl.  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  432  und  den  betreffenden  Abschnitt  in  desselben 
Gesch.  d.  n.  Philos.  I,  186  ff.  Diese  Zusammenstellung  erscheint  ganz  sach* 
gemäss,  wenn  man  findet,  dass  Kant  selbst  in  der  Kr.  d.  ürth.  §  77  sagt: 
Der  Raum,  obgleich  nur  die  formale  Bedingung,  nicht  der  Realgrund  der 
Erzeugungen,  habe  mit  diesem,  der  dem  Zusammenhang  nach  Gott  ist, 
,, darin  einige  Aehnlichkeit ,  dass  in  ihm  kein  Theil  ohne  in  Verhältniss  anf 
das  Ganze  (dessen  Vorstellung  also  der  Möglichkeit  der  Theile  zum  Grnnde 
liegt)  bestimmt  werden  kann".  Dieser  Gedanke  muss  Kant  sehr  werthvoU 
erschienen  sein,  denn  schon  in  der  Kr.  d.  r.  V.  finden  wir  ihn  mehrfach;  so 
in  dem  Abschnitt  vom  „Transscendentalen  Ideal",  A  578  =  B606:  „Alle 
Mannigfaltigkeit  der  Dinge  ist  nur  eine  ebenso  vielfältige  Art,  den  B^iff 
der  höchsten  Realität,  der  ihr  gemeinschaftliches  Substratum  ist,  einzu- 
schränken, 80  wie  alle  Figuren  nur  als  verschiedene  Arten,  den  unendlichen 
Raum  einzuschränken ,  möglich  sind" ;  und  A  619  =  B  647 :  „So  wie  der 
Raum,  weil  er  alle  Gestalten,  die  lediglich  verschiedene  Einschränkungen 
desselben  sind,  ursprünglich  möglich  macht,  ob  er  gleich  nur  ein  Principium 
der  Sinnlichkeit  ist,  dennoch  aber  darum  für  ein  schlechterdings  nothwendiges 
für  sich  bestehendes  Etwas  und   einen   a  priori   an  sich  selbst  gegebenen 


^  Eine  etwas  wunderliche  Weiterbildung  der  Kantischen  Lehre  bietet  Göring, 
Raum  und  Stoff  179  ff.  226  ff.  230  ff. ,  der  für  die  allbefassende  Raumvorstellong 
doch  wieder,  gegen  Kants  Terminologie,  den  Ausdruck  Begriff  einfahrt. 


Spinozas  unendliche  Substanz  und  Kants  unendlicher  Raum.  221 

[R  36.  H  59.  60.  E  75.]  A  25.  B  89. 

Gegenstand  gehalten  wird/^  so  geht  es  auch  ganz  natürlich  zu,  dass  jene 
,Jdee  eines  allerrealsten  Wesens'^  als  ein  wirklicher  Gegenstand  vorgestellt 
werde,  obgleich  sie  doch  ,,nar  als  formale  Bedingung  des  Denkens  in  meiner 
Vernunft  anzutrefifen  sei".     (Vgl.  oben  S.  217.)  — 

Gegen  dieses  ganze  Argument  hat  bes.  scharf  polemisirt  Drobisch, 
Psych.  §  24;  treffend  bemerkt  auch  E.  von  Hart  mann  (Transsc.  Real.  156): 
„Ks.  Behauptung,  dass  ich  alle  endlichen  Räume  nur  als  Einschränkungen 
des  einigen  ganzen  Raumes  vorstelle,  ist  um  nichts  besser,  als  die  Be- 
hauptung wäre,  dass  ich  alle  endlichen  Dinge  nur  als  Einschränkungen  des 
Universums  vorzustellen  vermöge,  und  deshalb  das  Letztere  eine  Anschauung 
a  priori  sei."  Aehnlich  meint  Adickes  74  N:  „Haben  diese  Beweisgründe 
Beweiskraft,  so  muss  die  Materie  ebensogut  eine  ursprüngliche  Anschauung 
sein,  wie  der  Raum.  Denn  auch  sie  ist  einig,  uneingeschränkt,  und  ihre 
Theile  entstehen  nur  durch  Einschränkung"  u.  s.  w.  Gegen  das  Argument 
spricht  sich  auch,  allerdings  mit  wunderlichen  Einwänden,  Bilharz  aus 
in  seinen  Erläuterungen  163  ff.  YgL  auch  Pflüger,  Aesthetik  S.  24—28. 
Energische  Kritik  auch  bei  Montgomerj,  Kant  97ff. :  „Es  ist  das  ganz 
dasselbe,  als  ob  er  behauptet  hätte,  das  allgemeine  Dreieck  sei  eine  An- 
schauung, welche  vor  allen  besonderen  Dreiecken  existire  und  daher  den- 
selben zu  Grunde  liege;  als  ob  er  überhaupt  den  alten  Realismus  ver- 
theidigte  und  nicht  vielmehr  seine  ganze  Kritik  hauptsächlich  darum 
geschrieben  hätte,  um  die  Universalia  ante  rem  oder  extra  rem  gründlich 
auszurotten"  u.  s.  w.  — 

Hier  ist  nun  eine  sehr  wichtige  Bemerkung  einzuschieben,  obgleich 
diese,  wie  es  scheint,  durch  Kants  Text  nicht  unmittelbar  verlangt  wird. 
Aber  wenn  man  das  von  Kant  Gesagte  genauer  überdenkt,  so  ist  der  Ge- 
danke nicht  abzuweisen,  dass  in  demselben  eigentlich  schon  die  Unendlich- 
keit des  Raumes  mitgesetzt  ist,  obgleich  das  hier  nicht  ausdrücklich  ge- 
sagt ist.  Aber  wenn  jeder  Raumtheil  seine  Entstehung  nur  der  Einschränkung 
des  „einigen"  Raumes  verdankt,  so  liegt  doch  darin  (wie  ja  auch  Lotze, 
vgl.  oben  S.  213,  verlangt)  unmittelbar  involvirt,  dass  dieser  Raum  als  un- 
endlich vorzustellen  ist ;  denn  jeder  denkbar  grösste  Raum  ist  ja  doch  immer 
wieder  als  Theil  eines  noch  grösseren  Raumes,  entstanden  durch  dessen  Ein- 
schränkung vorzustellen,  und  so  immer  wieder  aufs  Neue  —  in  infinitum. 
Man  möchte  sich  daher  wundern,  dass  diese  Unendlichkeit  hier  nicht  erwähnt 
ist,  dass  es  nicht  heisst:  jeder  Theil  des  Raumes  beruht  lediglich  auf  Ein- 
schränkung des  einigen,  uneingeschränkten  und  damit  eben  unend- 
lichen Raumes. 

Dass  nun  dies  auch  wirklich  Kants  Meinung  gewesen  sei,  folgt  einfach 
aus  der  Stelle  der  Dissertation,  welche  wir  schon  oben  S.  204  angeführt 
haben;  da  hiess  es  ja  ausdrücklich:  „quae  enim  dicis  spatia  plura,  non  sunt 
nisi  ejusdem  spatii  immens i  partes/'  (Dasselbe  wird  bei  der  Zeit  gesagt 
ib.  §  14,  N.  2;  vgl.  auch  Thiele,  Kant  I,  b,  312);  und  es  ist  nur  eine  Er- 
läuterung dieses  Satzes,  wenn  dann  Kant  im  CoroUarium  zu  §  15  sich  über 


222  §  2-    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  26.  B  89.  [R  36.  H  59.  60.  E  75.] 

Raum  und  Zeit  so  vemebmen  lässt:  „En  itaqtie  hina  cognüionis  sensitivae 
principiGf  non,  quemadmodum  est  in  intellectucdibu8,'C0nc^tu8  generales,  sed 
intuitus  singulares,  attamen  puri;  in  quibus,  non  sicut  leges  rationis  prae- 
cipiunt,  partes  et  potissimum  simplices  continent  ratianem  po89ibüit€tHs  com- 
positi,  sed,  secundum  exemplar  intuitus  sensitivi,  infinit  um  eonUnet  rationetn 
partis  cujusque  cogitabilis  ac  tandem  simplicis  8,  potius  termini.  Nam  nonnisi 
dato  infinit 0  tarn  spatio,  quam  tempore,  spatium  et  tempus  quodlibet  definUum 
limitando  est  assignabüey  et  tam  punctum  quam  momentum  per  se  cogitari  non 
possunt,  sed  non  concipiuntur  nisi  in  dato  jam  spatio  ei  tempore,  tamquam 
horum  termini/^  In  beiden  Stellen  ist  also  der  Gedanke,  dass  die  Tbeile 
nur  durch  Einschränkung  entstehen,  unlöslich  verknüpft  mit  dem  Ge- 
danken der  Unendlichkeit.  Ganz  dasselbe  finden  wir  auch  in  den  Losen 
Blättern,  I,  S.  250,  da  heisst  es:  „Alle  gegebenen  Grössen  des  Raumes 
sind  Theile  eines  grösseren.  Infinitudo/'  Und  ebenso:  „Alle  Tbeile  des 
Raumes  sind  wiederum  Räume.  Gontinuität.*'  (Dieselben  beiden  Sätze  aucfa 
von  der  Zeit.) 

Besonders  häufig  wird  derselbe  Gedanke  wiederholt  in  dem  Nacbgel. 
Werke  XIX,  570.  571.  574;  XXI,  538  ff.  542.  544.  548.  553  f.  565  ff.  570. 
604 :  „Raum  und  Zeit  sind  von  der  eigenthümlichen  Art,  dass  beyde  immer 
nur  als  Theile  eines  noch  grösseren  Ganzen  vorgestellt  werden  müssen, 
welches  so  viel  sagt,  als:  Raum  und  Zeit  sind  Gegenstände  der  reinen 
Sinnenanschauung,  deren  Grösse  als  unendlich  vorgestellt  wird."  Derselbe 
Gedanke  wird  oft  auch  so  ausgedrückt,  dass  dem  Raum,  weil  er  Ganzes 
oder  eine  „unbedingte  Einheit"  sei,  das  Prädicat  der  Unendlichkeit 
gebühre.  Einmal  heisst  es  (XXI,  542):  „Beide,  Raum  und  Zeit,  sind  un- 
endlich, weil  sie  absolute  Einheit  enthalten  und  vice  versa." 

In  der  Kant-Literatur  hat  dieser  Gedanke  mehrfach  Ausdruck  ge- 
funden: Vgl.  Meli  in  II,  474,  sowie  Schulz,  Prüfung  I,  99.  Richtig  aacb 
bei  Morris,  Kant  63.  Diese  Auffassung  liegt  auch  der  Polemik  von 
Pistorius  gegen  dieses  Argument  zu  Grunde  (A.  D.  B.  66.  105).  Eine 
wunderliche  Stellung  nimmt  hier  Kuno  Fischer  ein.  Sowohl  in  der  2.  als 
in  der  3.  Auflage  seines  Werkes  hat  er  die  richtige  Einsicht,  dass  die  Un- 
endlichkeit unmittelbar  involvirt  ist  in  der  Entstehung  der  einzelnen  Ranm- 
theile  durch  Einschränkung  (2.  A.  320;  3.  A.  333).  Allein  die  Stellung, 
welche  K.  Fischer  dieser  Erwägung  gibt,  ist  eine  falsche.  Fischer  findet 
diesen  Gedankengang  erst  im  letzten  Raumargument.  Aber  der  Gedanke 
der  Unendlichkeit  ist  schon  mit  dieser  Stelle  hier  nothwendig  verknüpft, 
und  es  ist  nichts  als  eine  Ungenauigkeit  Kants,  dass  er  nicht  hier  schon 
den  Ausdruck  der  Unendlichkeit  eingeführt  hat,  der  ihm  auf  der  Zunge  oder 
besser  auf  der  Feder  liegen  musste.  Und  zwar  ist  die  Unendlichkeit  des 
Raumes  nicht,  wie  das  Fischer  irriger  Weise  thut  (aus  später  zu  erörternden 
Gründen)  als  ein  Beweisthema  zu  fassen,  sondern  sie  ist,  wenigstens  zu- 
nächst hier,  eine  blosse  Xebenbestimmung  zu  dem  Gedanken,  dass  die 
Theile  dem  Ganzen  nicht  vorhergehen,  sondern  das  Ganze  den  Theilen. 


Unendlichkeit  und  Stetigkeit  der  Raumanschauung.  223 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  25.  B  89. 

Ganz  so  wie  mit  der  Unendlichkeit  des  Raumes,  verhält  es  sich  nun 
auch  mit  seiner  Stetigkeit.  Auch  diese  ist  in  den  von  Kant  selbst  ent- 
wickelten Bestimmungen  involvirt,  wenn  Kant  sie  auch  hier  nicht  besonders 
heraushebt,  wie  auch  Stadler,  Reine  Erk.-Th.  S.  33.  86.  138  richtig  erkannt 
hat.  Wie  eng  die  Stetigkeit  des  Raumes  mit  diesem  Argument  zusammen- 
hängt, geht  aus  den  Stellen  hervor,  wo  dieselbe  später  herbeigezogen  wird; 
besonders  A  170  ist  hiefiir  beweisend.  Die  Continuität  ist  dort  mit  dem 
Gedanken  der  Entstehung  der  Raumtheile  durch  Einschränkung  unmittel- 
bar verbunden.  So  war  dies  in  der  That  auch  schon  in  der  Dissertation 
von  1770  der  Fall  gewesen.  Hier  wurde  die  Continuität  von  Raum  und 
Zeit  sogleich  in  die  Erörterung  hineingezogen ;  jedoch  wurde  dieselbe  nur 
bei  der  Zeit  ausführlich  bewiesen.  Der  des  Raumes  wurde  nur  in  der  An- 
merkung zu  §  15  0  mit  einigen  Worten  gedacht:  „Quod  spatium  neceaaario 
condpiendum  sit  tatiquam  quantutn  continuum,  quam  faciU  sit  demonstratu, 
hie  praetereo.  Inde  autem  fit,  ut  simplex  in  spatio  non  sit  pars,  sed  ter- 
minus.  Terminus  artem  generaliter  est  idinquanto  continuo^  quodrationem 
continet  limitum"  etc. 

Dieser  Begriff  der  Stetigkeit  steht  nun  in  engster  Verbindung  mit 
dem  eben  behandelten  Begriff  der  Unendlichkeit.  Diesen  Zusammenhang 
betont  schon  Villers  in  Rinks  „Mancherley"  S.  20,  besonders  aber  Krug 
in  seinem  Lexicon  III,  428,  sowie  in  seinem  Handbuch  der  Philos.  I,  263, 
indem  er  an  den  Satz  der  Scholastiker  erinnert:  Spatium  et  tempus  est 
unum,  continuum,  infinitum.  Und  auch  Fischer  in  seiner  Darstellung 
(2.  Aufl.  319;  3.  Aufl.  333)  stellt  die  Sache  so  dar. 

Wenn  das  der  Fall  ist,  dann  erbebt  sich  die  Frage,  warum  denn  Kant 
nicht  auch  in  der  Kr.  d.  r.  V.  sogleich  an  dieser  Stelle  die  Stetigkeit  des 
Raumes  (welche  doch  mit  dessen  sonst  von  Kant  so  betonter  unendlicher 
Theilbarkeit  enge  zusammenhängt)  wenigstens  mit  erwähnt  habe?  Man  kann 
sagen:  In  der  Aesthetik  hier  handelt  es  sich  ja  nur  um  den  Beweis,  dass 
Raum  und  Zeit  reine  Anschauungen  sind,  und  daher  wird  zu  diesem  Zweck 
nur  das  unumgänglich  Nothwendige  herbeigezogen.  Beweiswerth  haben  für 
diesen  Zweck  nur  die  Priorität  des  Ganzen  vor  den  Theilen  und  die  Ent- 
stehung dieser  Theile  durch  Einschränkung;  nur  diese  Gedanken  gehören 
direct  in  das  Argument  herein.  Die  indirect  in  jener  Thatsache  enthaltene 
Eigenschaft  der  Stetigkeit  hatte  hier  weiter  keine  Bedeutung,  und  so  konnte 
diese  erst  in  der  Analytik  resp.  Dialektik  zur  Sprache  kommen. 

Fünfter  Satz:  Schlussfolgerung  auf  die  Anschauungsnatur  des 
Raumes.  Diese  Schlussfolgerung,  dass  der  Raum  eine  unmittelbare  Vor- 
stellung, eine  Anschauung  sein  muss,  beruht  eben  darauf,  dass  nur  bei  einer 
solchen  jene  Verhältnisse  stattfinden  können,  wie  sie  beim  Räume  sich  finden. 
1)  Nur  eine  Anschauung  bezieht  sich  auf  ein  Einzelnes,  niemals  ein  Begriff; 
ein  solcher  bezieht  sich  immer  auf  Mehreres;  2)  nur  bei  einer  Anschauung 
geht  das  Ganze  vor  den  Theilen  vorher,  niemals  bei  einem  B^riff;  bei 
diesem  gehen  stets  die  Theile  vorher.    Wo  jene  beiden  Eigenthümlichkeiten 


224  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  26.  B  89.  [B  36.  H  60.  E  76.] 

sich  finden,  kann  nur  von  einem  in  tut,  nicht  von  einem  begriflflichen 
discurrere  die  Rede  sein.  Da  aber  der  Raam  nicht  die  Charakteristica 
des  Begriffs  an  sich  trägt,  muss  er  Anschauung  sein.  Der  Begriff  hat  Eigen- 
schaften, welche  der  Raum  nicht  hat;  der  Raum  hat  Eigenschaften,  welche 
kein  Begriff  hat. 

Wenn  nun  Kant  hier  wie  oben  in  der  These  den  Raum  eine  An- 
schauung nennt,  so  erhebt  sich  die  Frage,  wie  sich  das  zu  jener  oben 
S.  3  behandelten  Definition  Kants  von  der  Anschauung  verhalte,  nach 
welcher  die  Anschauung  unmittelbar  sich  auf  die  Gegenstände  bezieht? 
Also  muss  sich  auch  die  Raumvorstellung  unmittelbar  auf  die  Gregenstände 
beziehen?  Aber  die  Raum  Vorstellung  hat  keinen  andern  Gegenstand  als  sich 
selbst  —  den  Raum.  In  diesem  Sinne  fasst  Weishaupt  die  Sache  und  sagt 
(Zweifel  8.  16) :  der  Raum  sei  eine  Anschauung,  weil  er  selbst  eine  unmittel- 
bare Vorstellung  ist.  Andere,  so  Weber,  Versuch  S.  8,  sowie  Lossius, 
Lexicon  III,  514  denken  an  die  Gegenstände  im  Räume:  „Da  die  Raum- 
vorstellung sich  auf  die  zu  empfindenden  Gegenstände  unmittelbar  bezieht, 
so  muss  sie  auch  selbst  Anschauung  sein.*'  Damit  sind  wir  nun  wieder  bei 
einer  Schwierigkeit  angelangt,  auf  welche  wir  schon  einmal  oben  S.  103  ff. 
gestossen  sind.  Schon  damals  fanden  wir  es  verwunderlich,  mit  welchem 
Recht  Kant  die  „Form  der  Anschauung'  sofort  auch  als  ;, Anschauung^  be- 
zeichne, und  constatirten,  dass  Kant  in  der  zweiten  Auflage  (B  160)  beides 
genauer  unterschied.  Damit  sind  auch  die  Fragen  gelöst,  welche  eben  zu 
dieser  Stelle  erhoben  worden  sind.  — 

Aber  es  erhebt  sich  nun  eine  neue  Schwierigkeit.  Wie  schon  oben 
S.  106  angeführt  wurde,  nimmt  Kant  in  späteren  Theilen  seines  Werkes  an, 
dass  die  anschauliche  Vorstellung  des  Raumes  durch  verstandesmässige  Zu- 
sammenfassung desjenigen  Mannigfaltigen  entsteht,  welches  in  der  .Form 
der  Anschauung'  enthalten  ist.  Man  könnte  nun  wohl  fragen,  was  deui 
das  für  ein  „Mannigfaltiges^  sein  soll,  von  welchem  Kant  mehrfach  (so 
bes.  A  76.  98.  101.  107,  B  136-138,  B  150-155,  B  160,  B  202  f.  mit 
ausdrücklicher  Beziehung  auf  die  Aesthetik)  spricht,  ohne  es  jemals  näher 
zu  charakterisiren.  (Vgl.  dazu  Thiele,  Ks.  int.  Ansch.  8.  44  und  Cohen,  2.  A. 
213  ff.  223  ff.,  welcher  aber  dieses  apriorische  Mannigfaltige  mit  dem  oben 
S.  59  besprochenen  empirischen  Mannigfaltigen  verwechselt.)  Aber  sehen 
wir  auch  davon  ab,  so  drängt  sich  uns  doch  folgender  Widerspruch  aaf: 
Kant  polemisirt  hier  dagegen,  dass  der  Raum  als  zusammengesetzt  he 
trachtet  werde,  und  in  der  Analytik  lehrt  er  doch  ausdrücklich,  dass  die 
formale  Anschauung,  die  anschauliche  Vorstellung  des  Raumes  erst  einer 
verstandesmässigen  Synthesis  ihr  Dasein  verdanke.  So  heisst  es  A  162  = 
B  203:  jede  specielle  extensive  Grösse,  wie  die  universalen  Anschauungen  vod 
Raum  und  Zeit  entstehen  „durch  Synthesis  des  Mannigfaltigen,  d.  i.  darch 
Zusammensetzung  des  Gleichartigen'';  „eine  extensive  Grösse  nenne  ich 
diejenige,  in  welcher  die  Vorstellung  der  Theile  die  Vorstellung  des  Ganzen 
möglich  macht  und  also  noth wendig  vor  dieser  vorhergeht^   —  also  wört- 


Die  Raumanschauung  als  Product  einer  synthetischen  Function.  225 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  25.  B  39. 

lieh   das  Gegentheil  der  hiesigen  Bestimmungen!  *     So  heisst  es  be- 
sonders B  136,   Anm.:    „Der  Raum   und   die  Zeit  und  alle  Theile  derselben 
sind  Anschauungen,  folglich  einzelne  Vorstellungen  [conceptus  singulares,  vgl. 
oben  S.  204.  211]  mit  dem  Mannigfaltigen,  das  sie  in  sich  enthalten,  mitbin 
nicht  blosse  Begriflfe,  durch  die  eben  dasselbe  Bewusstsein  als  in  vielen  Vor- 
stellungen, sondern  viele  Vorstellungen  als  in  Einer  und  deren  Bewusstsein 
•enthalten,    mithin   als   zusammengesetzt,   folglich   die  Einheit  des  Be- 
wusstseins    als  synthetisch   aber   doch   ursprünglich    angetroffen   wird."     In 
diesem  schlechtgebauten  Satze  wird  gesagt:  1)  der  Raum  ist  eine  Anschauung 
oder  eine  Einzel  Vorstellung,  also  kein  Begriff;  und  dazu  wird  wiederholt,  was 
wir    oben   gehört   haben:   beim  Begriff  wird   dasselbe  Bewusstsein  in  vielen 
Vorstellungen,  den  Arten  und  Exemplaren,  angetroffen,  bei  der  Anschauung 
sind  umgekehrt  viele  Vorstellungen  in  Einer  enthalten.     2)  Mithin,  da  eben 
in  der  Raumanschauung  viele  Vorstellungen   in  Einer  enthalten  sind,   sind 
diese  zusammengesetzt  zu  jener ,   ist  jene  zusammengesetzt  aus  diesen ,   und 
dabei  ist  die  synthetische  Function  des  Bewusstseins  thätig.     üebrigens  gilt 
jene    Zusammensetzung  nicht  bloss   von   der   Raumanschauung   als  Ganzer, 
sondern  auch  wiederum  von  jedem  besonders  ins  Auge  gefassten  Theile  der- 
selben, z.  B.  einer  Linie;  diese  muss,  wie  Kant  mehrfach  A  141.  157.  162  f. 
234,  B  138.  J54.  203  wiederholt,  erst  „gezogen,  d.  h.  durch  eine  bestimmte 
Verbindung  des   gegebenen  Mannigfaltigen   synthetisch  zu  Stande  gebracht 
werden".  (Vgl.  dazu  Cohen,  2.  A.  417  f.,  Riehl,  Krit.  II,  a,  114,  Schneider, 
Das  Apriori  134,  Schulz,  Prüfung  II,  40  über  diesen  „Schein Widerspruch**.) 
Also  selbst  bei  so  beschränkten  und  bestimmten  Theilen  der  universalen  Raum- 
anschauung bedarf  es  einer  synthetischen  Function,  vollends  also  bei  jener  all- 
umfassenden Raumanschauung  selbst.  Ohne  diese  Syntbesis  ist  der  Raum  noch 
„keine  bestimmte  Anschauung**,  ist  ,,noch  gar  keine  Erkenntniss'* ;  erst  durch 
sie  wird  der  Raum  zum  bestimmten  anschaulichen  Erkenntnissgegenstand ;  erst 
durch  sie  wird  er  aus  einer  bloss  unbewussten  potentiellen  Form  zur  wirk- 
lichen  „Vorstellung   mit   Bewusstsein'*,   wie   „Anschauung**   A  320   generell 
charakterisirt  wird.    Kant  gibt  auch  nähere  Andeutungen  über  die  Ai*t  dieser 
synthetischen  Function,   indem   er   sie,   unter   dem  Namen   der  „figürlichen 
Synthesis**  mit   der   productiven  Einbildungskraft  identificirt  (B  151 — 154). 
Vgl.  Anthrop.  §22:  Raum-  und  Zeitanschauung  verdanken  ihre  Entstehung 
der   Einbildungskraft   (facultas   imaginandi) ;    diese    „als  ein    Vermögen   der 
Anschauungen  auch  ohne  Gegenwart  des  Gegenstandes'*,  ist  in  diesem  Falle 
„productiv,  d.  h.  ein  Vermögen  der  ursprünglichen  Darstellung  des  letzteren 
{exhibitio   originariay\     Vgl.   dazu   Mainzer,    Einbildungskraft    bei   Hume 


*  In  höchst  wunderlicher  Weise  machen  sich  diese  beiden  entgegengesetzten 
Auffassungen  zusammen  geltend  in  der  Antinomienlehre  A  505,  B  533,  wo  es  aller- 
dings ,von  den  Theilen  einer  gegebenen  Erscheinung"  heisst,  dass  sie  , allererst 
durch  den  Regressus  der  decomponirenden  Syntbesis  und  in  demselben  ge- 
geben werden*.  Decomposition  ist  doch  das  gerade  Gegentheil  von  Syntbesis! 
Vaihinger,  Kant-Commentar.    n.  15 


226  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  89.  [B  36.  H  60.  E  76.] 

und  Kant,  S.  39  ff.  Frohschammer,  Einb.kraft  in  der  Philos.  Ks.  1879, 
S.  8—18:  Die  Raumpotenz  „actualisirt"  sich  nur  durch  die  Einb.kraft  zur 
Raumanschauung.  Vgl.  Caird,  Crit.  FhiL  I,  310  ff.  über  die  theils  un- 
bewusste,  theils  bewusste  synthetische  Function  des  Verstandes  hiebei.  In 
diesem  Sinne  nennt  Kant  den  Raum  resp.  die  Zeit  besonders  in  seinen  früheren 
Entwürfen  ein  „Compositum  ideale'*.  Vgl.  Reflexionen  II,  398.  409.  410. 
465.  618.  680  ff.  985.  „R.  u.  Z.  sind  composita  idealia,  weder  von  Sub- 
stanzen, noch  von  Accidentieu,  sondern  von  Relationen,  die  vor  Dingen 
vorhergehen"  (409).  Einmal  (410)  heisst  es  gar:  „R.  u.  Z.  sind  beide  nichts 
als  Zusammensetzungen  sinnlicher  Eindrücke  (!).  Diese  Zusammensetzung 
geht  ins  unendliche,  ist  aber  niemals  unendlich.**  Vgl.  auch  bes.  die  Vor 
lesungen  über  Metaph.  S.  59  ff.  Auch  noch  in  der  Kr.  d.  r.  V.  A  438, 
B  466  (Anm.  zur  2.  Antinomie)  heisst  es:  „Der  Raum  würde  allenfalls  ein 
compositum  ideale,  aber  nicht  reale  heissen  können.  Doch  dieses  ist  nur 
Subtilität."     (Vgl.  oben  S.  218  Anm.) 

Die  Hauptsache  hiebei  ist  nun,  dass  die  Einheitlichkeit  der  anschau- 
lichen Raumvorstellung,  die  hier  in  der  Aesthetik  als  etwas  Selbstverständ- 
liches, Ursprüngliches  dargestellt  wird,  doch  erst  gemacht  werden  muss,  und 
zwar  nicht  durch  die  Sinnlichkeit  selbst,  sondern  durch  die  Activität  und 
Froductivitftt  des  Verstandes,  welcher,  als  Einheitsfunction  des  Bewusstseins, 
auch  erst  alle  Einheitlichkeit  in  die  Vorstellungen  hineinbringen  kann.  Ueber 
diese  Discrepanz  äussert  sich  Kant  selbst  B  160  Anmerkung:  „Diese  Einheit 
hatte  ich  in  der  Aesthetik  bloss  zur  Sinnlichkeit  gezählt,  um  nur  zu  be- 
merken, dass  sie  vor  allem  Begriffe  vorhergehe,  ob  sie  zwar  eine  Sjnthesis, 
die  nicht  den  Sinnen  angehört,  durch  welche  aber  alle  Begriffe  von  Raum 
und  Zeit  zuerst  möglich  werden,  voraussetzt.  Denn  da  durch  sie  (indem  der 
Verstand  die  Sinnlichkeit  bestimmt)  der  Raum  oder  die  Zeit  als  Anschau- 
ungen zuerst  gegeben  werden,  so  gehört  die  Einheit  dieser  Anschauung 
a  priori  zum  Räume  und  der  Zeit,  und  nicht  zum  Begriffe  des  Verstandes.'* 
(Vgl.  auch  Kants  Nachgel.  Werk  XXI,  548.)  Also:  wenn  es  auch  erst  einer 
synthetischen  Function  des  Verstandes  bedarf,  um  aus  dem  blossen  Mannig- 
faltigen der  Form  der  Anschauung  formale  Anschauung,  anschauliche  Vor- 
stellung des  Raumes  selbst  erst  zu  machen,  so  gehört  dieses  Product  jener 
synthetischen  Thätigkeit  des  Verstandes,  eben  die  anschauliche  Vorstellung 
des  Raumes,  doch  nicht  in  die  Lehre  vom  Verstand  selbst  (nur  dessen 
Thätigkeit  ist  da  zu  besprechen),  sondern  in  die  Lehre  von  der  Sinnlich- 
keit, in  welcher  von  jener  vorhergehenden  synthetischen  Function  abgesehen, 
und  ohne  Weiteres  deren  Product,  die  anschauliche  Raumvorstellung,  als 
gegeben  hingenommen  wird,  und  auch  hingenommen  werden  kann. 

Aehnliches  sagt  Kant  auch  in  dem  Briefe  an  Beck  vom  8.  VII.  92 
(Archiv  II,  628).  Da  spricht  er  von  „dem  Subjectiven  der  Anschauung,  welches 
zwar  a  priori  in  uns,  aber  nicht  gedacht  (denn  nur  die  Zusammensetzung 
als  Handlung  ist  ein  Product  des  Denkens),  sondern  in  uns  gegeben  sein 
muss,    mithin   eine   einzelne   Vorstellung  und    nicht   Begriff   {repraesentatio 


Der  Raum  als  Compositum  ideale.  227 

[B  36.  H  60«  K  76.]  A  25.  B  89. 

communis)  sein  muss/  Sache  des  synthetisch en  Denkens  ist  eben  nur  die 
Zusammensetzung;  das  was  zusammengesetzt  wird,  „das  Gleichartige' S  wird 
nicht  vom  Denken  selbst  darin  hervorgebracht,  sondern  wird  ihm  von  der 
reinen  Sinnlichkeit  als  Gleichartiges,  eben  zur  Zusammensetzung,  übergeben. 
Gerade  diesen  fundamentalen  Unterschied  verkannte  Beck.  Die  von  ihm 
mehrfach  (Auszug  III,  369;  Grundriss  S.  61)  citirte  Anmerkung  hat  Beck 
dahin  missverstanden,  als  ob  der  Verstand  nicht  bloss  jenes  ihm  von  der 
Sinnlichkeit  gegebene  Mannigfaltige  zusammensetze,  sondern  selbst  hervor- 
bringe; und  so  ist  es  natürlich,  dass  ihm  die  Raumanschauung  dann  voll- 
ständig mit  der  Kategorie  der  Grösse  zusammenfällt  (Auszug  III,  140  ff. 
149  ff.  170  flf.  198.  259.  846.  367.  Vgl.  dazu  Dilthey  im  Archiv  f.  Gesch. 
d.  Phil.  II,  645  f.).  Dazu  vgl.  man  Kants  Brief  an  Tieftrunk  vom  11.  Diez. 
1797,  in  welchem  Kant  sich  über  diese  „Zusammensetzung' '  weiter  auslässt 
und  den  Beck^schen  Standpunkt  hierin  einigermassen  zu  billigen  scheint. 
Weitere,  wichtige  Ausführungen  hierzu  gibt  K.  in  den  „Fortschr.  d.  Met." 
Ros.  I,  502.  508  (vgl.  Riehl  I,  381).  Eine  ähnliche  Auffassung  wie  bei  Beck 
findet  sich  jetzt  bei  Thiele,  Philos.  Ks.  I,  b,  289.  299.  310—313. 

Auch  in  dem  Nachgel.  Werke  finden  sich  hierüber  mehrere  bemerkens- 
werthe  Stellen;  so  heisst  es  z.  B.  XXI,  560:  „Raum  und  Zeit  sind  Producte 
(aber  primitive  Producte)  unserer  eigenen  Einbildungskraft,  mithin  selbst* 
geschaffene  Anschauungen,  indem  das  Subject  sich  selbst  afficirt";  ib.  586: 
„Die  Vorstellung  derselben  ist  ein  Act  des  Subjects  selbst  und  ein  Product 
der  Einbildungskraft";  dazu  XIX,  569.  576.577:  „Unsere  Sinnenanschauung 
ist  zuerst  nicht  Wahrnehmung,  denn  vor  ihr  geht  ein  Princip  voraus,  sich 
selbst  zu  setzen  und  sich  dieser  Position  bewusst  zu  werden,  und  die  Form 
dieser  Setzung  des  Mannigfaltigen  als  durchgängig  Verbundenen  sind 
die  reinen  Anschauungen."  Vgl.  XXI,  567:  „R.  und  Z.  sind  keine  spürbaren 
Gegenstände,  die  ausser  meiner  Vorstellung  existiren,  sondern  selbst  Ge* 
schöpfe  meines  Vorstellungsvermögens,  also  nicht  ein  Ding  an  sich,  aber 
im  Verhältniss  dieser  Vorstellung  zum  Subject  ist  es  doch  etwas  Gegebenes 
{dabile)^  welches  dem  denkbaren  (^cogitabile)  entspricht." 

In  diesem  Sinne  sagt  der  Kantianer  Edmund  König  in  seiner  „Ent- 
wicklung des  Causalproblems  seit  Kant^^  1890  S.  77:  „Die  reine  Anschauung, 
namentlich  die  Raumanschauung,  ist, nicht  als  eine  starr  gegebene  Mannig- 
faltigkeit zu  denken;  wiederholt  wird  in  der  Kr.  d.  r.  V.  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Auffassung  eines  räumlichen  Gebildes  stets  eine  Function  der 
Synthesis  einsehliesse ,  und  wenn  der  Raum  als  die  Form  des  äusseren 
Sinnes,  somit  wie  es  scheint,  als  etwas  fertig  und  ohne  Zuthun  der  Denk- 
thätigkeit  Gegebenes  definirt  wird,  so  haben  wir  dabei  nicht  sowohl  an 
den  Raum  der  Geometrie,  sondern  an  jene  transscendentale  Bedingung  zu 
denken,  welche  als  Function  der  Synthesis,  durch  die  der  Geometer  Fi- 
guren vorzeichnet,  das  Gesetz  vorschreibt."  Ganz  dasselbe  habe  auch  Tren- 
delenburg mit  seiner  „constructiven  Bewegung"  gewollt.  Vgl.  auch 
Adamson,  Kant  29  f.     Göring,  Raum  und  Stoff  41.   242.     Arnoldt,  R. 


228  §  2.    Viertes  (B  drittes)  RaumargumeDt. 

A  25.  B  89.  [B  36.  H  60.  E  76.] 

u.  Z.  27  f.  51  f.  54.,  und  bes.  Riehl,  Krit.  I,  195.  305.  324.  351.  356.  373. 
378.  381.400:  „Die  Erklärung,  wie  die  Raumvorstellung  überhaupt  entsteht, 
hat  Kant  mindestens  ebenso  bestimmt  gegeben,  wie  die  Physiologie.  Die 
Baum  Vorstellung  entspringt  aus  dem  formalen  Grund  der  Sinnlichkeit,  durch 
die  synthetische  Einheit  des  Bewusstseins ;  sie  ist  das  Product  beider  Be- 
standtheile:  der  Form  der  Sinnesthätigkeit  und  der  Einheitsfunction  des 
Bewusstseins."  „Die  Lehre  von  den  Anschauungsformen  weist  mithin  notb- 
wendig  auf  die  Lehre  der  Denkfunctionen  hin,  die  Aesthetik  wird  erst  in 
der  Logik  vollendet;  weil  ohne  logische  Function  keine  Anschauung  des 
Raumes  möglich  ist."  Doch  erhebt  Riehl  II,  a,  111  auch  Einwände.  V^l. 
ferner  Lange,  Log.  Stud.  135.  148. 

Während  so  die  Anhänger  in  jenen  Bestimmungen  der  Analytik  eine 
wesentliche  Ergänzung  zu  den  Aufstellungen  der  Aesthetik  finden,  sehen 
Kants  Gegner  einen  unlösbaren  Widerspruch  zwischen  beiden  Darstellungen : 
insbesondere  bemerkt  E.  v.  Hartmann,  Krit.  Grundl.  154  zu  jener  Anmer- 
kung B  160:  ,, Diese  Erklärungen  genügen,  um  Kants  Schlussfolgerung  in 
ihr  Gegen th eil  zu  verkehren.  Wenn  der  einige  Raum  als  gegebenes  Ganzes 
erst  Product  einer  vom  Verstände  ausgeführten  Synthese  des  räumlichen 
Mannigfaltigen  ist,  so  ist  er  später  als  diese,  aber  nicht  früher;  es  müssen 
dann  die  durch  die  sinnliche  Auschauungsform  allein  aus  der  Empfindung 
formirten  endlichen  Anschauungen  (das  räumliche  Mannigfaltige)  das  frühere 
sein,  aus  welchem  erst  der  einige  Raum  sich  bilden  kann,  und  nimmermehr 
können  sie  ihrer  Entstehung  nach  blosse  Einschränkungen  dessen  sein,  was 
erst  vermittelst  ihrer  zu  Stande  kommen  kann,  indem  der  Verstand  sieh 
dieses  ihm  gegebenen  Stoffes  combinatorisch  bemächtigt.  Kant  hat  leider 
nicht  bemerkt,  dass  er  in  dieser  Anmerkung  zur  2.  Aufl.  der  Analytik 
selbst  seine  frühere  verkehrte  Auffassung  überwunden  und  berichtigt  hat. 
In  der  Eberhard'schen  Kritik  erntet  er  die  Frucht  seiner  Verwirrung  von 
Raum  und  Räumlichkeit  und  in  der  Entgegnung  auf  dieselbe  erklärt 
er  ausdrücklich  [vgl.  oben  S.  91.  107],  Eberhard  habe  wissen  müssen,  dass  es 
ihm  (Kant)  nie  eingefallen  sei,  die  Anschauungsformen  des  Raumes  und  der 
Zeit  als  der  Seele  innewohnende  Bilder  aufzufassen,  da  sie  vielmehr  nnr 
innewohnende  passive  Beschafifenheiten  (Receptivitäten)  des  Gemüts  seien, 
auf  gewisses  Afficirtwerden  hin  Vorstellungen  von  einer  gewissen  Vorstellungs- 
form zu  bekommen.  Nur  der  erste  formale  Grund  der  Möglichkeit  einer 
Raumanschauung  sei  das  Angeborene,  nicht  die  Raum  Vorstellung  selbst.  Erst 
in  den  Anschauungen,  welche  aus  diesem  Grunde  hervorquellen,  seien  Bilder 
möglich  (W.  W.  Ros.  I,  445  f.).  Es  ist  klar,  dass  Eberhard  sich  dadurch  hat 
irre  machen  lassen,  dass  Kant  in  der  Aesth.  das  Wort  Raum  sehr  gewöhn- 
lich für  die  reine  Anschauungsform  des  Raumes,  d.  h.  für  Räumlichkeit 
setzt.  Unzweideutig  aber  ist  die  Erläuterung  Kants,  welche  da5  hieran:» 
hervorgegangene  Missverständniss  widerlegt.  Kant  gesteht  hier  der  Sache 
nach,  wenn  auch  nicht  den  Worten  nach,  dasselbe  zu,  wie  in  jener  Anmer- 
kung  (B    161),    dass   nämlich   nur  die    Räumlichkeit,    nicht   der  Raum 


Widersprüche  in  Kants  Raumlehre.  229 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  25.  B  39. 

a  priori  genannt  werden  könne,  nnd,  füge  ich  hinzu,  auch  diese  nicht  als 
bewusster  Begriff,  sondern  als  unbewusste  synthetische  Function.  Nach 
diesem  Zugeständnisse  hätte  aber  Kant  die  Nummern  3  und  4 
der  Begründung  der  Apriorität  des  Raumes  in  der  2.  Aufl.  con- 
sequenter  Weise  streichen  müssen,  da  in  denselben  von  der  synthetisch 
durch  den  Verstand  construirten  Anschauung  des  einigen  Raumes,  und 
gar  nicht  von  der  räumlichen  Anschauungsform  die  Rede  ist."  Diese  Kritik 
müssen  wir,  als  mit  unseren  früheren  Ausführungen  (S.  88.  93.  107.  168.  170) 
übereinstimmend,  als  durchaus  zutreffend  anerkennen.  Scharfe  Kritik  auch  bei 
Montgomery,  Kant  96  f.  106  ff.  Vgl.  auch  Spicker,  Kant  56  ff.  (scharfe 
Kritik  des  ganzen  Argumentes)*.     Windelband,  Gesch.  d.  Philos.  423. 

Kant  hat  also  die  Vorstellung  des  reinen  (absoluten,  unendlichen) 
Raumes  in  der  Aesthetik  der  blossen  Sinnlichkeit  als  solcher  zugeschrieben. 
In  der  Analytik  dagegen  schreibt  er  dieselbe  Vorstellung  dem  Zusammen- 
wirken von  Sinnlichkeit  und  Verstand  zu.  Angesichts  dieser  Inconsequenz 
werden  wir  nns  über  eine  weitere  Inconsequenz  desselben  nicht  wundern. 
In  der  Dialektik,  zwar  nicht  ausdrücklich,  aber  der  Sache  nach,  direct  aber 
in  den  Met.  Anf.  d.  Natur w.  (I,  1.  2. und  IV,  Allgem.  Anm.  Ros.  V,  322. 
427  ff.)  wird  dieselbe  Vorstellung  der  Vernunft  zugeschrieben.  „Der  ab- 
solute Raum  kann  kein  Gegenstand  der  Erfahrung  sein;  denn  der  Raum 
ohne  Materie  ist  kein  Object  der  Wahrnehmung,  und  dennoch  ist  er  ein 
nothwendiger  Vernunftbegriff,  mithin  nichts  weiter  als  eine  blosse 
Idee."  „Der  absolute  Raum  ist  also  nicht  als  ein  Begriff  von  einem  wirk- 
lichen Object,  sondern  als  eine  Idee  .  .  .  nothwendig."  (Vgl.  auch  Kr.  d. 
ürth.  §  26.  27.) 

Wir  haben  dabei  nun  angenommen,  dass  der  absolute  Raum  im  Sinne 
Kants  mit  dem  Raum  als  transscendentaler  Form  der  Sinnlichkeit  zusammen- 
falle. Diese  Identification,  welche  auch  Riehl  und  B.  Erdmann  vertreten,  ist 
auch  kaum  zu  umgehen,  wenn  nach  der  Darstellung  in  der  Tr.  Aesthetik 
der  Raum  als  „reine  Anschauung",  d.  h.  als  eben  nicht  bloss  als  Form  der 
Anschauung,  sondern  schon  als  formale  Anschauung  gefasst  wird.  Der  Wider- 
spruch zwischen  Aesthetik  und  Dialektik,  dass  nach  jener  die  Vorstellung 
des  unendlichen  Raumes  reine  Anschauung,  nach  dieser  Vernunftbegriff 
sein  soll,  ist  dabei  freilich  sehr  hinderlich;  denn  als  irrelevant  und  bloss 
formell  kann  man  jenen  Widerspruch  doch  nicht  ansehen :  ein  Vernunftbegriff 
ist  doch  nicht  sinnlich,  wie  es  doch  die  reine  Raumvorstellung  nach  Kant 
sein  soll.     Dazu  kommt  die  weitere  Schwierigkeit,  dass  nach  den  Met.  Anf. 

^  Nach  Stadler,  Reine  Erk.  75  (40.  139),  ist  aber  jene  „Inconsequenz  blosser 
Schein";  und  Mahaffy,  CriL  Phil.  I,  59.  84  sagt:  „This  remarh',  thoitgh  contained 
in  a  footnote,  and  not  brought  promlnently  fonvard  by  Kantj  is  of  the  greatest 
importance  owing  to  recent  objections,  wkich  asscrt,  that  Kant  unphilosophicalhj  iso- 
lated  the  mental  faculties,  and  regarded  them  as  acting  separatelg.  He  found  it 
necessary  to  treat  them  logically  as  if  they  tvere  sejKiratef  biit  was  not  so  stupid  an 
observer  as  to  mistake  piain  factsJ^ 


230  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  89.  [E  86.  H  60.  E  76.] 

der  Nat.  Ros.  V,  822  jenem  absoluten  Raum  (welchen  Kant  Y,  427  einen 
„sonderbaren  Begriff**  nennt),  „logische  Allgemeinheit"  zukommt,  was  doch 
gerade  hier  in  der  Aesthetik  von  der  reinen  Anschauung  des  Raumes  aus- 
drücklich geleugnet  wird.  Oleichwohl  ist  nicht  recht  einzusehen,  worin 
dieser  absolute  Raum  der  Physiker  von  jener  reinen  Raumanschaaung  der 
Mathematiker,  von  welcher  die  Aesthetik  hier  spricht,  sich  noch  unter- 
scheiden sollte.  Man  hat  um  so  mehr  Veranlassung,  diese  letztere  mit 
dem  absoluten  Raum  zu  identificiren ,  als  sie  ja,  wie  der  Zusammenhang 
der  Abhandlung  von  1768  mit  der  Dissertation  von  1770  lehrt,  direct  ans 
diesem  herausgewachsen  ist.  Auch  identificirt  Kant  in  der  Kr.  d.  r.  V. 
an  der  einzigen  Steile,  wo  er  in  ihr  den  absoluten  Raum  erwähnt,  in 
der  Anmerkung  zur  ersten  Antinomie  (A  431,  B  459)  offenbar  denselben 
mit  der  reinen  Anschauung  der  Aesthetik  (schwankt  aber  allerdings  in  der 
Auffassung  derselben  als  „Form  der  Anschauung"  und  „formaler  Anschau- 
ung" unklar  hin  und  her.  Vgl.  dazu  oben  S.  107  u.  S.  224).  Und  wo  er  in 
der  Kritik  (A  200.  215)  von  der  absoluten  Zeit  spricht,  sagt  er  von  ihr 
ganz  in  derselben  Weise,  wie  von  der  reinen  Form  der  Anschauung,  sie  sei 
„kein  Gegenstand  der  Wahrnehmung".  Auch  bei  Schulz,  dem  Freund  Kants, 
findet  sich  dieselbe  Identification  häufig.  Vgl.  auch  Kants  Reflexionen  II, 
N.  851.  413.  1418  ff.  1423.    Lose  Blätter  I,  76  f. 

Ganz  anders  liegt  die  Sache,  wenn  man  als  ursprünglich  nur  die 
„Anlage"  zur  Raum  an  schauung  betrachtet  (vgl.  oben  S.  91  ff.).  Dann  ent- 
wickelt sich  aus  dieser  Anlage  in  Verbindung  mit  den  Empfindungen  der 
empirische,  relative  Raum,  und  erst  aus  diesen  empirischen  Räumen  „ab- 
strahiren"  (R.  V,  322.  433)  wir  dann  den  reinen  absoluten  Raum.  In  dieser 
Weise  schildert  denn  auch  Kant  in  den  Anf.  d.  Nat.  die  Entstehung  des 
absoluten  Raumes.  Die  Idee  desselben  gilt  ihm  daselbst  keineswegs  als  an- 
geboren, noch  als  a  priori,  sondern  als  herausgewachsen  aus  dem  logiseben 
Bedürfniss  der  Naturwissenschaft.  Diese  (sachlich  ganz  correcte)  Auffassung 
hat  aber  eine  bedenkliche  Consequenz;  wenn  der  absolute  Raum  des  Phy- 
sikers so  entstanden  ist,  warum  soll  der  reine  Raum  des  Mathematikers  nicht 
auch  so  entstanden  sein?  Zieht  Kant  diese  Consequenz,  dann  fUllt  auch  die 
Apriorität  der  Mathematik,  und  damit  das  ganze  auf  derselben  so  künstlich 
errichtete  Kantische  Lehrgebäude.  Vgl.  auch  Kuttner,  Ks.  versch.  An- 
sichten üb.  d.  Wesen  d.  Materie,  Diss.,  Halle,  1881,  S.  68  ff. 

Riehl,  dem  jene  Stellen  aus  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  auch  schon 
aufgefallen  sind,  vermischt  Krit.  I,  352  ff.  diese  Fassung  der  Raumvorstellnng 
als  Idee  =  Vernunftbegriff  mit  der  Fassung  der  Raum  Vorstellung  als  ideal  = 
blosse  Vorstellung,  worüber  unten  zu  A  27  weiter  zu  verhandeln  ist.  Ihm 
gefcillt  aber  diese  Bezeichnung  des  Raumes  als  „Idee"  sehr  gut,  viel  besser  als 
der  von  Kant  in  der  Aesthetik  gebrauchte  Ausdruck  ,, reine  Anschauung",  und 
er  bemerkt  dann  daselbst  355  Anm.  ferner,  der  Nachdruck  der  Unterschei- 
dung (in  dem  vorliegenden  Argument)  falle  mithin  auf  die  Unterscheidung 
der  Raumvorstellung  von  einem  Verstandesbegriff  (denn  diesem  entspreche 


In  welchem  Sinne  wird  der  Raum  Anschauung  a  priori  genannt?        231 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  25.  B  39. 

ein  Gegenstand,  dem  Vernunftbegriff  aber  nicht),  nicht  auf  die  von  einem 
Begriffe.  „Es  wäre  vielleicht  besser  gewesen,  R.  u.  Z.  sinnliche  Begriffe 
zum  Unterschied  von  Denkbegriffen  zu  nennen,  statt  reine  Anschauungen. 
Uebrigens  gebrauchen  auch  die  Prolegomena  den  Ausdruck  Elementar- 
begriffe  der  Sinnlichkeit."  Aber  dass  die  letztere  Bezeichnung  nur  eine 
Keminiscenz  Kants  an  eine  frühere  Epoche  seiner  Raumlehre  sei,  wurde 
oben  S.  158  gezeigt.  Und  wenn  Kant  R.  u.  Z.  im  Sinne  Riehls  als  „sinn- 
liche Begriffe"  hätte  bezeichnen  sollen,  hätte  er  ja  seine  ganze  Aesthetik 
umschreiben  müssen,  deren  Lehre  er  allerdings,  wie  eben  gezeigt,  selbst 
später  umgestossen  hat.  — 

Die  Schlussfolgerung  Kants  in  dem  vorliegenden  Argument  lautet  nun 
genauer  dahin,  dass  die  Raumvorstellung  eine  apriorische,  nichtempirische 
Anschauung  sein  müsse.  Aber  nun  erhebt  sich  die  Frage,  ob  denn  die  vor- 
hergehenden Beweisgänge  dieses  Argumentes  zugleich  auch  die  Apriorität 
der  Raumvorstellung,  nicht  bloss  deren  Anschaulichkeit  beweisen  sollen  ?  Kant 
selbst  weist  mit  keinem  Worte  auf  diesen  Zusammenhang  hin.  Man  könnte 
versucht  sein,  einen  solchen  Zusammenhang  selbst  herzustellen.  Man  könnte 
zwar  nicht  von  der  Einzigkeit,  wohl  aber  von  der  Einheitlichkeit  des  Raumes 
ausgehen  und  so  argumentiren :  wenn  die  einzelnen  Räume  auf  Einschränkung 
des  Einen,  uneingeschränkten  Raumes  beruhen,  so  muss,  da  uns  die  em- 
pirische Anschauung  immer  nur  einen  beschränkten  Horizont  gibt,  die  An- 
schauung des  unbeschränkten  Raumes  eine  reine  sein,  unzweifelhaft  könnte 
Kant  so  argumentirt  haben,  aber  wir  müssen  uns  sagen,  dass  wir  das  bloss 
im  Sinne  Kants  sagen  würden,  nicht  auf  Grund  seines  Wortlautes  hier.  In 
einer  ähnlichen  Weise  Hess  auch  Fischer  in  der  That  in  der  2.  Aufl.  seines 
Werkes  S.  334  f.  Kant  argumentiren:  der  unbegrenzte  Raum  kann  niemals 
Gegenstand  unserer  empirischen  Anschauung  sein,  da  diese  stets  eine  be- 
grenzte ist.     In  der  3.  Aufl.  findet  sich  diese  Stelle  jedoch  nicht  mehr. 

Jedenfalls  hat  es  Leser  gegeben,  welche  angenommen  haben,  Kant 
wolle  in  der  That  in  diesem  Argumente  auch  die  Apriorität  mit  beweisen; 
so  ist  dies  der  Fall  bei  dem  sonst  scharfsinnigen  Brastberger,  Unter- 
suchungen S.  50.  Aber  er  bekennt  auch,  dass  jenes  Argument  die  Apri- 
orität nicht  beweisen  könne,  wenn  Kant  das  auch  wolle.  Auch  bei 
Villers  in  Rinks  Mancherley  S.  20/1  findet  sich  dieselbe  Auffassung.  In 
diesem  Sinne  polemisirt  besonders  auch  gegen  dies  Argument  Beyersdorff, 
Die  Raum  Vorstellungen,  S.  32—35. 

Einen  sehr  willkommenen  Anhalt  für  die  Entscheidung  dieses  Zwei- 
fels finden  wir  nun  in  der  Dissertation.  Sowohl  bei  Erörterung  der  Zeit 
als  des  Raumes  geht  da  Kant  so  vor,  dass  er  zuerst  die  Apriorität  und 
sodann  die  Anschaulichkeit  und  zwar  jede  für  sich  beweist,  und  diese 
beiden  Beweise  entsprechen,  wie  wir  sahen,  theilweise  den  Argumenten  der 
Kritik.  Bei  der  Zeit  heisst  es  ausdrücklich  (§  14,  3):  ,J(ha  itaque  tem- 
poris  est  ttituüus,  et  quoniam  ante  omnem  sensationein  concipitur,  tanquam 
<;onditio  respectmnn  in  sensibilihus   ohviormn,   est  intuitus  non  senstiaiis,  sed 


232  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  25.  B  39.  [R  36.  H  60.  E  76.] 

purus"  Aohnlich  §  15  C  über  den  Raum:  „Conceptus  spaiii  itaqut  est 
intuitus  piirus;  cum  sit  conceptus  singularis,  sensationibus  non  con flatus,  sed 
omnis  sensationis  externae  forma  fundamentalis,^^  Man  sieht  beidemal  die 
reinliche  Trennung  der  beiden  Gesichtspunkte;  nachdem  im  ersten  Beweise 
die  Apriorität,  im  zweiten  die  Anschaulichkeit  des  Raumes  bewiesen  worden 
war,  wird  das  Resultat  gezogen  und  dabei  werden  jene  beiden  Fragen  hübsch 
gesondert.  Dass  hier  in  der  Kritik  diese  Sonderung  nicht  ebenso  deutlich 
durchgeführt  wird,  ist  ein  entschiedener  Fehler.  Es  müsste  in  irgend  einer 
Weise  darauf  hingewiesen  sein,  dass  die  hier  eingeführte  Behauptung  der 
Apriorität  nicht  auf  Grund  dieses  eben  behandelten  Argumentes  selbst  auf- 
gestellt  wird,  sondern  nur  als  Recapitulation  der  beiden  ersten  Raumargu- 
mente gerechtfertigt  ist.  Für  diese  Auffassung  spricht  auch  das  ent- 
sprechende Zeitargument,  in  welchem  die  Apriorität  im  eigentlichen  Beweise 
gar  nicht  vorkommt.   Dieselbe  Auffassung  hat  auch  Fischer,  3.  Aufl.  S.  332. 

Auch  der  Schluss  des  Satzes  bietet  noch  Schwierigkeiten.  Die  erste 
Auflage  sagt:  „allen  Begriffen  von  denselben  muss  Anschauung  zum  Grunde 
liegen",  die  zweite  sagt  „von  demselben".  „Denselben"  bezöge  sich  auf 
die  vorher  erwähnten  ,, Räume",  „demselben"  auf  den  allgemeinen  Raum 
selbst.  Die  letztere  Bezeichnung  dürfte  wohl  die  natürlichere  sein.  Doch 
haben  namhafte  Commentatoren  die  Beziehung  auf  die  Einzelräume  ange- 
nommen, z.  B.  Schulze,  Kritik  d.  th.  Philos.  I,  209;  Maimon,  Unter- 
suchungen S.  74.  Aehnlich  auch  Beck,  Auszug  I,  10.  Auf  einer  ähnlichen 
Auslegung  beruht  vielleicht  die  wunderliche  Stelle  bei  Reinhold,  Th.  d. 
Vorst.  394  f. 

Zieht  man  aber  die  Lesart  der  2.  Auflage  als  die   von  Kant  gewollte 
vor,  wie  das  die  meisten  Erklärer  thun,   so   erhebt   sich    eine  Doppelfrage: 
einmal,   warum  ist   denn   von  Begriffen   des   Raumes   im   Plural   die  Rede? 
Wenn  das  nicht  doch   auf  die  Pluralität  der  Räume  in   ihm  zielen  soll,  so 
müsste   „Begriffe"   so   viel   sein   als   ,,die   begrifflichen  Bestimmungen"  und 
Erörterungen  der  Eigenschaften  des  Raumes.     Sodann    könnte   man   fragen, 
wie   denn   der   Raum   nun    doch   zu   einem   Begriffe   oder  gar   zu  Begriffen 
komme,    nachdem    doch    von   der   Raumvorstellung  alle   Begrifflichkeit  zu- 
rückgewiesen worden   war»   nachdem   ihre   Anschaulichkeit   so   stark   betont 
worden    war.      Darauf   antworten    die    Commentatoren,    z.    B.    Jacob  in 
seinem  Grundriss  S.  260:    ,,Der  Raum  ist  Anschauung,  ob  sich  gleich  manche 
gemeinsame   Merkmale   von   den   einzelnen   Theilen   dieser   Anschauung  ab- 
ziehen ,   und    daraus   allgemeine   Begriffe   von   den  Eigenschaften  und   Ver- 
hältnissen des  Raumes  bilden  lassen,  wie  dieses  bei  allen  Anschauungen  der 
Fall  ist,  wenn  sie  der  Verstand  bearbeitet."    Dasselbe  sprach  schon  Mellin 
aus  (IT,  476;  vgl.  I,  495).     Ebenso  Schaum  an n,  Aesthetik  47,  51.    Aehn- 
lich Holder  in  seiner  Darstellung  S.  12:    ,,Auch  von  Raum  und  Zeit  werden 
allerdings  Begriffe  gebildet,    sobald  man  ihr  Wesen   in  bestimmten  Worten 
auszudrücken  versucht;  ihr  Wesen  selbst  aber,  die  ursprüngliche  Gestalt, 
in   der   sie   im   Bewusstsein    auftreten,   ist    Anschauung".     Ganz    in  diesem 


Der  Raum  als  intuitus,  quem  aequitur  concepius.  233 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  26.  B  39. 

Sinne  sagt  auch  Kant  selbst  in  der  „Transsc.  Erört."  B  40:  „Der  Raum 
muss  ursprünglich  Anschauung  sein^S  d.  h.  nachher  kann  wohl  ein 
Begriff  von  ihm  gebildet  werden,  aber  von  Hause  aus  ist  er  Anschauung. 
Er  genügt  zur  Erklärung  der  synthetischen  Natur  der  Geometrie  nicht,  wie 
es  dort  weiter  heisst,  dass  er  „blosser  Begriff**  sei,  d.  h.  nur  Begriff  (also 
von  der  Raumvorstellung  lässt  sich  auch  ein  Begriff  bilden),  aber  nur  Be- 
griff darf  der  Raum  nicht  sein,  sondern  vor  allem  muss  diesem  Begriff 
eine  Anschauung  zu  Grunde  liegen.  Vgl.  auch  Kants  Reflexionen  II,  N.  335: 
„Der  Raum  ist  kein  Vernunftbegriff,  aber  die  Metaphysik  sucht  den  Ver- 
nunftbegriff davon.'*  Einen  charakteristischen  Ausdruck  hat  Kant  dafür  in 
seinem  nachgel.  Werk  XXI,  565  f.  gefunden:  Der  Raum  ist  Anschauung 
(intuitus),  noch  nicht  Begriff  (conceptus),  d.  ist  die  Vorstellung  des  Einzelnen, 
noch  nicht  die,  welche  vielen  gemein  ist;  er  ist  ijituitus,  quem  aequitur 
conceptus.  In  diesem  Sinne  bemerkt  B.  Erdmann  in  seinen  „Axiomen  der 
Geometrie**  S.  36:  „Die  Wahrheit  der  Classificirung  der  Raumvorstellung 
als  einzigartiger  Raum  an  schauung  lässt  sich  nach  Kants  epochemachenden 
Untersuchungen,  die  wenigstens  in  diesem  Punkt  allen  Angriffen  siegreich 
widerstanden  haben,  nicht  mehr  bezweifeln.  Jedoch  ebenso  sicher  ist,  dass 
sie  nicht  die  volle  Wahrheit  enthält.  Gerade  mathematische  Betrachtungen 
lehren,  dass  der  Raum  unbeschadet  dieses  seines  ursprünglichen  Charakters 
auch  als  ein  Begriff  aufgefasst  werden  kann,  der  sich  als  ein  wohlbestimmtes 
Glied  in  eine  grosse  Reihe  entsprechender  Begriffe  einordnen  lässt.**  Vgl. 
dazu  desselben  „Kriticismus**,  S.  187,  Anm.  Aehnlieh,  aber  weitergehend 
Riehl,  Krit.  II,  a,  116.  Vgl.  dazu  Schneider,  Das  Apriori,  109  ff.  — 
Vgl.  Wundt,  Logik  I,  449—450,  und  dagegen  Cohen,  2.  A.  127. 

Sechster  Satz:  Bestätigung^  aus  dem  Yerfahren  der  Geometrie* 
Der  Sinn  dieses  Satzes  als  solcher  ist  sehr  klar:  er  enthält  die  von  Kant  so 
oft  wiederholte  Lehre,  dass  die  mathematischen  ürtheile  nicht  auf  Begriffen, 
sondern  auf  Anschauungen  basiren.  (Dass  diese  Sätze  auch  apriorische  und 
apodiktische  seien,  gehört  nicht  eigentlich  in  diesen  Zusammenhang.)  Kant 
wendet  sich  damit  gegen  die  Lehre  von  Leibniz;  denn  nach  diesem  ist  der 
Raum  als  ordo  coexisteiHium  ein  blosser  Verstandesbegriff  und  aus  diesem 
Begriff  fliesse  analytisch  die  Mathematik.  Daher  haben  auch  die  Leibnizianer 
diese  Folgerung  heftig  bekämpft,  voran  die  Eberhard'sche  Zeitschrift,  bes. 
Maass  und  Schwab.  Speciell  gegen  diesen  Satz  hat  Oavrier  noch  1808  seine 
Schrift:  Theorie  der  Parallelen  (06  S.)  geschrieben. 

Die  Frage  ist  nun,  ob  dieser  mit  „So  werden  auch"  u.  s.  w.  ein- 
geleitete Satz  seinem  logischen  Werthe  nach  hier  als  Folgerung  oder  als 
Beweismoment  anzusehen  ist?  Für  die  letztere  Auffassung  spricht  die 
Parallelstelle  bei  der  Zeit:  „Auch  würde  sich  der  Satz,  dass  verschiedene 
Zeiten  nicht  zugleich  sein  können,  aus  einem  allgemeinen  Begriff  nicht  her- 
leiten lassen.  Der  Satz  ist  synthetisch  und  kann  aus  Begriffen  allein  nicht 
entspringen.  Er  ist  also  in  der  Anschauung  der  Zeit  unmittelbar  enthalten." 
Diese  Auffassung  theilt  auch  Schultz  in  seinen  Erläutei'ungen  S.  23,  welcher 


234  §  2.    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  26.  B  89.  [E  36.  H  60.  E  76.] 

geradezu  einen  eigenen,  besonders  aufgezählten  Beweis  hieraus  macht;  und 
ihm  schliesst  sich  Lossius  III,  515  an.  Allein  für  diese  Auffassung  spricht 
weder  der  Wortlaut  der  Stelle  selbst,  noch  die  naheliegende  Parallele  mit 
dem  dritten  Raumargument  (A).  Auch  in  diesem  wurden  ja  Eigenschaften 
der  mathematischen  Urtheile  ins  Feld  geführt,  aber  ausdrücklich  im  Sinne  der 
Folgerung  (vgl.  oben  S.  203).  Diese  Auffassung  findet  sich  u.  A.  bei 
Brastb erger,  Untersuchungen  S.  44,  sowie  in  den  „Uauptmomenten'' 
S.  91,  welche  beide  die  Wiedergabe  dieses  Satzes  mit  „daher**  einleiten. 
£ine  Mittelstellung  zwischen  diesen  beiden  Auffassungen  zwischen  Beweis- 
grund und  zwischen  Folgerung  nimmt  die  Darstellung  der  Dissertation 
§15  0  ein;  wir  können  sie  logisch  als  Bestätigung  bezeichnen:  „Hunc 
vero  intuitum  purum  in  axiomatihus  geometriae  et  qualihet  comtmctione posixt- 
latorum  mentali  animadveriere  proclive  est.*^  (Die  Fortsetzung  davon  s.  oben 
S.  203  in  dem  dritten  Raumargumente  nach  der  1.  Aufl.)  Wenn  nun ,  wie 
bemerkt,  dieser  Satz  dem  ursprünglichen  dritten  Raumargument  parallel  geht, 
und  wenn  dieses  in  der  2.  Auflage  gestrichen  resp.  in  die  Transscendentale 
Erörterung  verwandelt  worden  ist,  so  fragt  sich,  warum  Kant  nicht  in  der 
2.  Auflage  auch  diese  Stelle  gestrichen  hat,  da  doch  der  Inhalt  derselben 
sogleich  in  der  Transscendental-Erörterung ,  und  damit  am  richtigen  Orte, 
wiederkehrt.  Wenn  man  zusieht,  wie  Kant  das  bei  der  Zeit  gemacht  hat 
(s.  unten  zu  A  31,  B  47),  so  kann  man  auch  hier  nur  sagen:  der  Grand  war 
eben  Nachlässigkeit  und  Bequemlichkeit;  nichts  anders.  Dagegen  sagt  Cohen 
(1.  Aufl.  S.  28;  2.  Aufl.  123):  „Hier  ist  die  Bezugnahme  auf  die  Mathematik 
an  ihrem  Platze;  nach  dem  zweiten  Satze  [d.  h.  Beweise]  war  sie  noch 
nicht  hinlänglich  vorbereitet.  Darum  ist  der  dritte  Satz  der  1.  Ausg.  ge- 
strichen worden;  aber  was  sich  darauf  Bezügliches  in  dem  vierten  Satze  fand, 
ist  in  der  2.  Ausg.  beibehalten  worden."  Die  Bezugnahme  auf  die  Mathe- 
matik war  nach  dem  zweiten  Beweis  so  gut  vorbereitet  wie  hier,  darin 
liegt  also  keine  stichhaltige  Entschuldigung. 

Eine  werthvolle  Ergänzung  und  Erläuterung  zu  dieser  Stelle  bilden  die 
Ausführungen  der  Methodenlehre  A  712  ff.  =  B  740  ff.  über  den  charakteristi- 
schen Unterschied  des  mathematischen  Verfahrens  vom  philosophischen.  Der 
Unterschied  wird  von  K.  kurz  so  formulirt,  dass  die  Mathematik  auf  dem 
„intuitiven  Vernunftgebrauch  durch  die  Construction  der  Begriffe"  beruht, 
die  Philosophie  auf  „dem  discursiven  Vernunftgebrauch  vermittelst  blosser 
Begriffe."  Eben  deshalb  kann  ein  Philosoph  mit  dem  „Begriff  des  Triangels" 
nichts  anfangen  (denn  bloss  analytische  Sätze,  die  er  etwa  herausbringen 
kann,  sind  werthlos);  während  der  Mathematiker  jenen  Begriff  ,,constniirt*\ 
d.  h.  demselben  eine  Anschauung  a  priori  unterlegt,  „entweder  durch  blosse 
Einbildung  in  der  reinen,  oder  nach  derselben  auch  auf  dem  Papier,  in  der 
empirischen  Anschauung,  beidemal  aber  völlig  a  priori,  ohne  das  Muster 
dazu  aus  irgend  einer  Erfahrung  erborgt  zu  haben".  (Von  dieser  Con- 
struction a  priori,  welche  nachher  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  ist  hier  in 
der  Aestbetik  merkwürdiger  Weise  noch  gar  nicht  die  Rede.    Nur  im  dritten 


Die  Rolle  von  Anschauung  und  Verstand  in  der  Geometrie.  235 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  26.  B  89. 

Argument  der  ersten  Auflage  [vgl.  oben  S.  208]  war  dieselbe  ursprünglich  er- 
wähnt gewesen,  aber  nicht  am  richtigen  Orte.)  Damit  bringt  Kant  auch 
gelegentlich  (Tugendlehre,  Einl.  XIII)  in  Zusammenhang,  dass  für  einen 
und  denselben  mathematischen  Satz  eine  Mehrheit  von  Beweisen  möglich 
ist ;  das  sei  bei  Beweisen  aus  Begriffen  nicht  möglich,  wohl  aber  bei  solchen 
aus  der  Construction  der  Begriffe  in  der  Anschauung,  „weil  in  der  An- 
schauung a  priori  es  mehrere  Bestimmungen  der  Beschaffenheit  eines  Ob- 
jectes  geben  kann,  die  alle  auf  denselben  Grund  zurückführen.*'  Eine  be- 
lehrende Parallelstelle  bieten  die  Reflexionen  Kants,  II,  N.  355  und  356: 
„Die  synthetischen  Sätze  des  Raumes  liegen  nicht  in  dem  allgemeinen  Be- 
giiffe  des  Raumes,  so  wenig  wie  die  chemischen  Erfahrungssätze  vom  Golde 
im  allgemeinen  Begriff  desselben,  sondern  werden  aus  der  Anschauung  des- 
selben gezogen,  oder  in  der  Anschauung  desselben  gefunden." 

Kant  sagt:  Die  geometrischen  Grundsätze  werden  aus  der  Anschauung 
abgeleitet;  sie  sind  also  nicht,  wie  Helmholtz  („Das  Denken  in  der 
Medicin*')  Kant  sagen  lässt,  „durch  transscendentale  Anschauung  gegeben.'* 
Diesen  Ausdruck  hat  auch  schon  Riehl,  Krit.  II,  a,  113  zurückgewiesen.  — 
Kant  hat  sogar  an  mehreren  Stellen  betont,  dass  es  zu  der  Aufstellung  jener 
Grundsätze  aus  der  Anschauung  der  Mitwirkung  des  Verstandes  bedürfe ;  so 
heisst  es  A  159,  die  mathematischen  Grundsätze  a  priori  seien  aus  reinen 
Anschauungen,  aber  „vermittelst  des  Verstandes**  gezogen.  Nach  B  147  sind 
sogar  die  reinen  Verstandesbegriffe  dazu  nothwendig.  Aber  trotzdem  so 
der  Verstand  zu  den  mathematischen  Grundsätzen  nothwendig  ist,  gehören 
dieselben  doch,  wie  K.  auch  A  149  wiederholt,  nicht  zu  den  Grundsätzen 
des  reinen  Verstandes,  weil  ihr  Substrat  eben  doch  die  Anschauung  ist;  so 
hiess  es  auch  schon  Diss.  §  5:  quae  in  geometria  reperiuntWj  formae  sensi- 
tivae  principia,  quantumcunque  iniellectus  circa  illa  versetur,  argimientanäo 
a  sensitive  datis  (per  intuiium  pumm)  secundtim  regulas  logicas,  tarnen  7ion 
excedunt  sensitioorum  classem.  Vgl.  daselbst  §  15,  C:  , ^Ceter um  geometria  pro- 
positiones  suas  universales  non  demonstrat,  ohjectum  cogitando  per  concep- 
tum  universalem^  quod  fit  in  rational ibus ,  sed  illud  oculis  subjiciendo  ^^^r 
intuitum  singularem,  quod  fit  in  sensitivis'"  und  dazu  das  Corollar  ebenda- 
selbst :  Ergo  omnes  affectiones  primitivae  hortnn  conceptuvm  (spatii  et  temporis) 
sunt  extra  can^ellos  rationis,  ideoque  nullo  modo  intellectualiter  explicari 
possunt.  Nihilo  tarnen  minus  sunt  s  übst  rata  intellectus,  e  datis  intuitive 
primis,  secundum  leg  es  logicas,  consectaria  concludentis ,  maxima  qua  fiei-i 
potest  certitudine.  Diese  Rolle  des  Verstandes  bei  der  Ausbildung  der 
mathematischen  Lehren  betont  Kant  bes.  Proleg.  §  38. 

Solchen  Stellen  zufolge  würde  sich  Kant  wohl  gegen  die  Consequenz 
gesträubt  haben,  welche  Schopenhauer  aus  der  hier  vorgetragenen  Lehre 
Kants  gezogen  hat.  Er  wirft  nämlich  der  Geometrie,  welche  sich  an  Eu- 
klides  angeschlossen  hat,  vor,  in  den  Beweisen  der  einzelnen  Sätze  an  Stelle 
der  rein  anschaulichen  Evidenz  die  logische  gesetzt,  und  damit  an  Stelle 
directer  Beweisführung   aus   der  Anschauung   den   verkehrten  Umweg  über 


236  §  '^'    Viertes  (B  drittes)  Raumargument. 

A  26. 6  39.  [B  36.  H  60.  E  76.] 

begriffliche  Opeiationen  eingeschlagen  zu  haben.  Vgl.  Satz  vom  Grunde 
§  89;  Welt  als  Wille  T,  75;  82.  ff.,  und  in  der  daselbst  angegängten  Kritik 
d.  K/schen  Philosophie  519  wirft  er  Kant  vor,  er  sei  „mit  seinen  Gedanken 
nicht  zu  Ende  gekommen*';  denn  nachdem  er  besonders  A  87  gesagt  habe, 
dass  „die  geometrische  Erkenntniss,  weil  sie  sich  auf  Anschauung  a  priori 
gründet,  unmittelbare  Evidenz  hat'S  hätte  er  auch  die  ganze  Euklidische 
Demonstrirmethode  verwerfen  müssen.  (Schon  Schulze,  Kr.  d.  th.  Philos.  II, 
241  habe  auf  diese  Consequenz  hingewiesen.)  Vgl.  Welt  II,  142  f.,  Parergall, 
24;  Memorabilien  538;  Briefw.  mit  Becker  69  f.  Vgl.  Kosack,  Systematische 
Entwicklung  der  Geometrie  aus  der  Anschauung.  Progr.  Nordhausen  1853. 
J.  C.  Becker,  Reform  des  mathematischen  Unterrichts.  Progr.  Wertheim  l^SSO. 
Windelband,  Gesch. d. n. Ph. II,  56.  B.Erdmann,  Axiome d. Geometrie S.  29. 

Ein  sehr  beUchtenswerther  Einwand  findet  sich  bei  Riehl,  Krit.  II,  a,  10">. 
Er  lässt  Kant  an  dieser  Stelle  sagen:  „Die  wesentlichen  Eigenschaften  vod 
R.  u.  Z.,  so  die  Anzahl  ihrer  Dimensionen  u.  s.  w.  .  .  .  können  nicht  aus  all- 
gemeinen Begriffen  (etwa  dem  Begriff  der  mehrfach  ausgedehnten 
Mannigfaltigkeit)  abgeleitet,  sondern  nur  in  R.  u.  Z.  selbst,  gleichwie 
in  concreten  Dingen,  mithin  anschaulich  erkannt  werden,**  macht  aber  S.  107 
dagegen  den  treffenden  Einwand:  „dass  die  Grundeigenschaften  von  B.  u.Z. 
nur  noch  anschaulich,  nicht  discursiv  erkennbar  sind,  vermag  doch  nicht  ihre 
Vorstellungen  von  den  übrigen  Begriffen  zu  unterscheiden,  da  schliesslich  die 
Grundlagen  aller  Begriffe  anschaulich  sein  müssen.  Uebrigens  Hesse  sich  noch 
im  Speciellen  zeigen,  dass  diese  anschauliche  Erkenntniss  der  fundamentalen 
Eigenschaften  von  R.  u.  Z.  keine  aprioristisch  anschauliche  ist,  dass  z.  B. 
der  Begriff  der  Richtung  von  bestimmten  Bewegungsgefuhlen  des  Körpers 
ausgeht,  und  die  empirische  Grundlage  des  geometrischen  Coordinaten- 
Systems,  worauf  der  Beweis  der  nur  dreifachen  Abmessung  des  Baumes 
beruht,  der  Gleichgewichtssinn  unseres  Körpers  ist." 

Sachlich  beachtenswerth  ist  auch  die  Bemerkung  von  B.  Erdmann 
zu  dieser  Stelle  in  seinen  „Axiomen  der  Geometrie**,  S.  171:  „Eben  jene 
Eigenschaften  des  Raumes,  die  Kant  benutzt  hat,  darzuthun,  dass  seine  Vor- 
stellung eine  anschauliche,  keine  begriffliche  sei,  sind  in  etwas  anderer  Be- 
tonung zugleich  beweiskräftig  für  die  eigenartige,  freie  [von  jeder  besonderen 
Erfahrung  unabhängige]  Entwicklung  der  Geometrie  selbst  unter  der  Vor- 
aussetzung, dass  die  Raum  Vorstellung  empirischen  Ursprungs  sei.  Die  Geo- 
metrie bedarf  keiner  besonderen  Erfahrung,  sie  begnügt  sich  mit  der  Ranm- 
vorstellung  als  solcher,  weil  man  sich  eben,  um  mit  Kant  zu  reden,  nur 
einen  einigen  Raum  vorstellen  kann  und  man,  wenn  man  von  vielen  Räumen 
redet,  darunter  nur  Theile  eines  und  desselbigen  alleinigen  Raumes  verstehen 
kann."  Diese  letztere  von  Kant  so  betonte  Eigenthümlichkeit  des  Raumes 
Hesse  sich  also  auch  von  der  Basis  der  empirischen  Raumtheorie  aus  ver- 
stehen, und  auch  diese  verbürge  eben  damit  die  Unabhängigkeit  der  Geo- 
metrie von  jeder  besondern  Erfahrung,  die  also  nicht  den  aprioristischen 
Ursprung  der  Raumgeometrie  beweise. 


UebergaDg  zum  letzten  Raumargument.  237 

[R  36.  H  60.  E  76.]  A  25. 

Fünftes  (=  2.  Aufl.  viertes)  Raumargnment. 

Torbemerkungeii.  Die  erste  und  zweite  Auflage  differiren  in  Bezug 
auf  dieses  Argument  sehr  wesentlich.  Mit  Ausnahme  des  ersten  Satzes  ist 
das  ganze  Argument  in  der  zweiten  Auflage  ein  anderes  geworden.  Jedes  dieser 
Argumente  muss  daher  für  sich  behandelt  werden ;  und  erst  wenn  der  Sinn 
jedes  Einzelnen  für  sich  genau  eruirt  ist,  kann  das  gegenseitige  Verhältniss 
der  Beiden  festgestellt  werden.  Eine  Vermischung  beider  Argumente,  wie 
sieh  dies  manchmal,  z.  B.  bei  Cohen  findet,  darf  durchaus  nicht  zugelassen 
werden.  Peinliche  Scheidung  ist  die  Vorbedingung  einer  scharfen  Analyse. 
Im  Uehrigen  kann  sogleich  bemerkt  werden:  das  vorhergehende  Argument 
bewies,  der  Begriff  habe  Eigenschaften,  welche  die  Raumvorstellung  nicht 
habe,  also  sei  sie  kein  Begriff;  dieses  Argument  beweist,  dass  Eigenthüm- 
lichkeiten,  welche  nur  bei  Anschauungen,  nicht  bei  Begriffen  vorkommen, 
sich  beim  Eaum  finden;  also  sei  er  eine  Anschauung. 

Erste  Bedaction  (A).  Das  Argument  besteht  in  der  ersten  Auflage 
aus  drei  Sätzen,  deren  logischer  Zusammenhang  nicht  ohne  Weiteres  klar  ist, 
vor  allem,  weil  hier  die  sonst  üblichen  Conjunctionen  ,,denn"  und  „also" 
fehlen.  Trotzdem  kann  bei  aufmerksamer  Beobachtung  kein  Zweifel  über 
diesen  Zusammenhang  stattfinden.  Der  Schlüssel  zu  demselben  liegt  hier  — 
wie  das  so  oft  bei  verwickeiteren  Gedankengängen  der  Fall  ist  —  im  Schluss- 
satze: „Kein  Begriff  von  [räumlichen]  Verhältnissen  würde  ein  Principium 
der  Unendlichkeit  derselben  bei  sich  führen";  ein  solches  Principium  liegt 
nur  in  der  Anschauung,  in  deren  Natur  der  grenzenlose  Fortgang  ge- 
gründet ist.  Also  ist  es  offenbar  wiederum  der  Gegensatz  von  Begriff 
und  Anschauung,  um  den  es  sich  handelt,  wie  im  vorigen  Argument, 
und  daraus  folgt  als  eigentliches  Beweisthema  der  Satz:  der  Raum  ist  kein 
allgemeiner  Begriff  von  Verhältnissen,  sondern  —  eine  Anschauung.  Diese 
These  ist  somit  genau  dieselbe  wie  im  vorigen  Argument.  Was  wir  hier 
haben,  ist  nicht  eine  neue  These,  sondern  ein  neuer  Beweis  für  die  alte 
These.  Worin  besteht  nun  der  neue  Beweisgrund?  Offenbar  darin,  dass 
der  Raum  als  unendliche  Grösse  vorgestellt  wird.  Diese  Unendlichkeit  der 
Raumvorstellung  lässt  sich  ja,  wie  der  Schlusssatz  deutlich  sagt,  nicht  er- 
klären, wenn  dieselbe  als  Begriff  gefasst  wird,  sie  lässt  sich  nur  erklären, 
wenn  die  Raumvorstellung  als  Anschauung  charakterisirt  wird.  Also  der 
Beweisgrund  ist  die  Thatsache  der  Unendlichkeit  der  Raumvorstellung.  Diese 
Thatsache  ist  in  dem  ersten  Satze  ausgedrückt. 

Wie  verhält  sich  nun  dazu  der  Mittelsjitz?  Derselbe  besagt,  dass  durch 
einen  allgemeinen  Begriff  vom  Raum  „in  Ansehung  der  Grösse  nichts  be- 
stimmt würde".  Wäre  die  Raumvorstellung  ein  Allgemeinbegriff,  der  das- 
jenige enthielte,  was  den  einzelneu  Räumen  und  räumlichen  Verhältnissen 
gemeinsam  ist  (was  also  z.  B.  einem  Fuss  und  einer  Elle  gemeinsam  ist), 
—  so  würde  in  diesem  gemeinsamen  Merkmalbestand  über  die  Grösse  der 


238  §  2.    Erste  Auflage:  Fünftes  Raumargument. 

A  26.  [B  86.  H  60.  E  76.] 

Baumvorstellang  nichts  gesagt  sein  können :  denn  die  einzelnen  Räume  haben 
ja  eine  sehr  verschiedene  Grösse.  So  enthält  ja  auch  z.  B.  der  Allgemeinbegriff 
„Stein*'  kein  Grössenmerkmal  in  sich.  Wäre  also  die  Raumvorstellnng  über- 
haupt derjenige  Allgemeinbegriff,  der  nur  das  Oemeinschaftliche  der  verschieden 
grossen  Räume  in  abstracter  Form  zusammenfassen  würde,  so  könnte  in 
diesem  Allgemeinbegriff  auch  über  die  Grösse  der  Raumvorstellung  keine 
Bestimmung  getroffen  sein.  Nun  aber  ist  eben  thatsächlich  in  unserer 
Raum  Vorstellung  über  die  Grösse  des  Raumes  eine  Bestimmung  und  daza 
eine  sehr  wichtige  getroffen :  ,  ,Der  Raum  wird  als  eine  unendlicheGrÖsse 
gegeben  vorgestellt.'*  Ein  allgemeiner  Begriff  vom  Räume  kann  nun  über 
die  Grösse  desselben,  wie  wir  eben  sahen,  keine  Bestimmung  entlialten, 
„denn  die  differente  Raumgrösse  der  einzelnen  Anschauungen  gibt  kein 
identisches  GrössenmerkmaP'  (6.  Erdmann,  Eriticismus  S.  165;  Eants  Re- 
flexionen II,  S.  110  Anm.);  und  noch  viel  weniger  kann  ein  solcher  All- 
gemeinbegriff gar  die  Bestimmung  der  unendlichen  Grösse  enthalten. 

Demnach  ist  der  Zusammenhang  genauer  folgender:  Die  stillschweigend 
involvirte  These  des  Argumentes  ist:  die  Raumvorstellnng  ist  Anschauung, 
nicht  Begriff.  Der  Beweisgrund  für  dieselbe  ist  die  Thatsache,  dass  der 
Raum  als  unendlicheGrÖsse  vorgestellt  wird.  (Erster  Satz.)  Dies  kann 
nicht  erklärt  werden ,  wenn  die  Raumvorstellung  ein  Begriff  ist.  Ein  All- 
gemeinbegriff vom  Räume,  der  das  Gemeinsame  verschieden  grosser  Räume 
zusammenfassen  würde,  würde  überhaupt  nichts  Gemeinsames  bestimmen 
können  in  Ansehung  der  Grösse  jener  allgemeinen  Raumvorstellnng. 
(Zweiter  Satz.)  Und  gar  die  Bestimmung  der  Unendlichkeit  für  jene 
Raumvorstellung  kann  sich  niemals  aus  einem  Allgemeinbegriff  räumlicher 
Verhältnisse  ergeben,  sondern  nur  aus  einer  ins  Grenzenlose  fortgehenden 
Anschauung.  (Dritter  Satz.)  Für  diesen  Zusammenhang  spricht  auch  fol- 
gende Stelle  der  Prolegomena.  Im  §  12  heisst  es  da:  „Dass  man  verlangen 
kann,  eine  Linie  soll  ins  Unendliche  gezogen  oder  eine  Reihe  Veränderungen 
solle  ins  Unendliche  fortgesetzt  werden,  setzt  doch  eine  Vorstellung  des 
Raumes  und  der  Zeit  voraus,  die  bloss  an  der  Anschauung  hängen  kann, 
nämlich  sofern  sie  an  sich  durch  nichts  begrenzt  ist;  denn  aus  Begriffen 
könnte  sie  nie  geschlossen  werden.'^  Diesen  Zusammenhang  hat  nun  Kant 
selbst  verdunkelt  (auch  B.  Erdmann,  Eriticismus  165  wirft  der  Argu- 
mentation Mangel  an  „Durchsichtigkeit"  vor),  einmal  durch  die  knappe 
Ausführung  seiner  Gedanken,  sodann  besonders  durch  eine  eigentbümliche 
Inconsequenz  der  Darstellung:  bei  den  vorhergehenden  Beweisen  (mit  Aus- 
nahme des  dritten)  enthält  der  erste  Satz  jedesmal  die  zu  beweisende  These; 
während  hier  der  erste  Satz  nicht  die  These,  sondern  den  Beweisgrund  aus- 
spricht. Diese  Ungenauigkeit  ist  auch  in  die  2.  Auflage  übergegangen,  und 
hat  bei  den  Commentatoren  bisher  grosse  Verwirrung  angerichtet,  wie  gleich 
nachher  (S.  253  f.)  besprochen  werden  wird. 

Die  Commentatoren  haben  nun  fast  durchgängig  die  erste  Redaction 
dieses  Argumentes  gar  nicht  in  Betracht  gezogen,  und  sich  nur  an  die  zweite 


Erste  Redaction:  Der  Raum  Anschauang,  weil  grenzenlos.  239 

[B  86.  712.  H  60.  E  76.]  A  25.  B  89. 

Auflage  gehalten.  Nur  diejenigen  Commentatoren ,  deren  Werke  vor  1787 
erschienen,  hahen,  da  sie  nur  den  Wortlaut  der  ersten  Auflage  vor  sich 
hatten,  sich  auf  denselben  einlassen  müssen.  Schulz  (Erl.  23;  vgl.  auch 
Lossius,  Lex.  III,  516)  hat  den  Sinn  des  Argumentes  verkannt,  weil  er  es 
irrthümlicber  Weise  mit  dem  letzten  Zeitargument  zusammenwirft,  was  (vgl. 
unten)  gänzlich  irrig  ist.  Dagegen  ganz  richtig  Kants  scharfsinniger  Gegner 
Feder  (Raum  S.  10  f.). 

In  der  neueren  Kant-Literatur  ist  die  erste  Redaction  selten  berück- 
sichtigt worden;  eine  rühmliche  Ausnahme  macht  Cohen,  welcher  an 
mehreren  Stellen  auf  den  Wortlaut  derselben  eingeht.  (1.  Aufl.  S.  29  f.; 
50.  65;  2.  Aufl.  S.  125  f.  129.  166.)  Cohen  hat  (bes.  1.  Aufl.  S.  30;  2.  Aufl. 
S.  126)  Eines  richtig  gesehen,  nämlich  dass  die  These  bewiesen  werden  soll, 
dass  der  Raum  Anschauung  ist  und  nicht  Begrifi^.  Aber  in  diese  richtige 
Einsicht  mischt  sich  ein  Irrthum,  wenn  er  sagt,  man  „dürfe  diesen  Satz 
nicht  als  einen  besonderen  Satz,  sondern  nur  als  die  Bestätigung  des 
dritten  ansehen.^  Aus  den  obigen  Ausführungen  geht  der  Irrthum  Cohen's 
hervor:  dieses  Argument  ist  nicht  eine  „Bestätigung*^  des  vorigen,  sondern 
es  gibt  einen  neuen  Beweisgrund  für  dieselbe  These.  Im  Uebrigen  ist 
seine  Construction  des  Zusammenhanges  möglichst  wunderlich.  In  dem  ersten 
Satze  des  Argumentes  findet  er  eine  „dem  Räume  als  reiner  Anschauung  wider- 
strebende, anstössige  Thatsache'',  welche  Kant  als  Frage  und  Selbstein wurf 
gemeint  habe  u.  s.  w.  Unsere  oben  gegebene  Analyse  des  Zusammenhanges 
überhebt  uns  der  Nothwendigkeit,  hierauf  uns  hier  näher  einzulassen.  Vgl, 
auch  Wallace  in  der  Academy,  Apr.  1882,  S.  518.  (Gegen  Max  MüUer's 
Uebersetzung  der  Stelle.)  Nach  A  dick  es  74  N.  ist  die  Fassung  von  A  vor- 
zuziehen, weil  nur  sie  wirklich  einen  neuen  Gesichtspunkt  bringe. 

Zweite  Redaction  (B).  Auch  hier  wollen  wir  zuerst  den  Zusammen- 
hang aus  dem  Kantischen  Wortlaut  selbst  herausstellen,  ehe  wir  auf  die 
Auffassungen  anderer  £rklärer  eingehen.  In  der  zweiten  Auflage  besteht 
das  Argument  aus  4  Sätzen.  Wäre  der  Sinn  und  Zusammenhang  derselben 
so  ohne  Weiteres  klar,  so  würde  nicht  so  viel  Streit  gerade  über  dieses 
Argument  entstanden  sein.  Die  allgemeine  Absicht  des  Argumentes  lässt 
sich  auch  hier  wiederum  am  leichtesten  aus  dem  Schlusssatz  finden, 
welcher  hier,  im  Gegensatz  zur  ersten  Auflage,  den  Vorzug  besonderer  Klar- 
heit hat  (wie  schon  Cohen,  1.  A.  S.  30,  2.  A.  S.  126  richtig  bemerkt  hat). 
Hier  sagt  Kant  ja  ganz  deutlich,  was  er  in  dem  Argument  bewiesen  haben  . 
will:  dass  die  Raumvorstellung  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung 
sei.  Wir  haben  hier  somit  dasselbe  Beweisthema  wie  in  der  ersten  Auf- 
lage, und  somit  auch  dasselbe,  wie  in  dem  vorhergehenden  Argument.  Aber 
es  ist  auf  den  ersten  Blick  klar,  dass,  wenn  auch  das  Beweis thema  das- 
selbe ist  wie  in  der  ersten  Auflage,  doch  der  Beweisgrund  nicht  derselbe 
geblieben  ist.  Zwar  wird  auch  hier  wiederum  wie  in  der  ersten  Auflage, 
im  ersten  Satze  mit  denselben  Worten  die  Unendlichkeit  der  Raum  Vor- 
stellung als  Thatsache  ins  Feld  geführt  zum  Beweis  für  jene  These,   aber 


240  §  2.    Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  89.  40.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

diese  Thatsache   wird   doch   hier  offenbar  in  einem  ganz  anderen  Sinne  ver- 
werthet,  als  vorhin. 

Zu  welchem  Zwecke  und  in  welchem  Sinne  Kant  hier  die  Unendlichkeit 
der  Raumvorstellung  einführt,  das  geht  aus  den  beiden  Mittelsätzen  hervor. 
Der  erste  Mittelsatz  gibt  im  Allgemeinen  an,  was  bei  einem  Begriff  sich  finde 
und  nicht  finde;  der  zweite  Mittelsatz  wendet  diese  allgemeine  firwSgung  auf 
die  Raum  Vorstellung  im  Speciellen  an,  um  nach  jenem  Maassstabe  zu  prüfen, 
ob  die  Raumvorstellung  denn  ein  Begriff  sei  und  sein  könne,  oder  nicht. 

Es  wird  also  zu  diesem  Zweck  etwas  aus  der  allgemeinen  Theorie 
des  Begriffes  von  Kant  angeführt,  was  ganz  allgemein  bekannt,  was  gang 
und  gäbe  ist;  was  also  auch  in  Kants  Logik  behandelt  sein  muss.  In  der 
That  finden  wir  die  betreffende  Lehre  daselbst  an  zwei  Stellen  erörtert:  in 
der  Einleitung  VIII  und  im  §  7.  Es  handelt  sich  dabei  um  das  Verhältniss 
des  Allgemeinbegriffes  zu  den  Vorstellungen  der  Einzeldinge.  Dieses  Ver- 
hältniss kann  nun  von  zwei  Seiten  her  betrachtet  werden:  entweder  man 
setzt  die  Einzel  Vorstellungen  voraus  und  fragt,  wie  sich  zu  diesen  der  All- 
gemeinbegriff verhalte,  oder  man  schlägt  den  umgekehrten  Weg  ein.  Wenn 
man  die  vielen  Einzelvorstellungen  voraussetzt,  so  ist  der  Allgemeinbegriff, 
wie  es  hier  heisst,  „als  ihr  gemeinschaftliches  Merkmal*  in  ihnen  ent- 
halten, oder  wie  Kant  es  in  der  Logik  ausgedrückt  haben  will,  jener  All- 
gemeinbegriff kehrt  als  „Theilbegriff*  in  allen  diesen  Einzelvorstellungen  als 
gemeinsames  Element  wieder.  Nehmen  wir  mit  Meli  in  VI,  279  ein  Bei- 
spiel: „Ein  jeder  Begriff,  z.  B.  Metall,  ist  in  der  Vorstellung  der  Dinge  ent- 
halten ,  als  Theilbegriff ....  Das  Silber  z.  B.  ist  ein  vollkommenes  Metall 
von  weisser  Farbe  und  einem  schönen  Glänze.  Hier  haben  wir  die  Theil- 
begriffe:  Metall,  Farbe,  Glanz,  vollkommen,  weiss,  schön;  unter  ihnen  findet 
sich  also  auch  der  Theilbegriff  Metall."  „Der  Begriff:  Metall  gehört  also 
zu  dem  Inhalt  der  Begriffe  Silber,  Gold,  Kupfer"  u..  s.  w.  als  Theilbegriff 
derselben,  und  findet  sich  in  allen  denselben  als  gemeinschaftliches  Element, 
und  ist  somit  in  ihnen  enthalten. 

Anders  stellt  sich  das  Verhältniss  dar,  wenn  man  .den  entgegengesetzten 
Weg  einschlägt,  wenn  man  von  dem  Allgemeinbegriffe  selbst  ausgeht:  dann 
sind  die  Einzeldinge  unter  ihm  enthalten:  denn  (so  heisst  es  in  K.s 
Logik  §  8)  „so  wie  man  von  einem  Grunde  überhaupt  sagt,  dass  er  die 
Folge  unter  sich  enthalte,  so  kann  man  auch  von  dem  Begriffe  sagen,  dass 
er  als  Erkenntnissgrund  alle  diejenigen  Dinge  unter  sich  enthalte,  von 
denen  er  abstrahirt  worden ;  z.  B.  der  Begriff  Metall  das  Gold,  Silber,  Kupfer 
u.  s.  w.  Denn  da  jeder  Begriff,  als  eine  allgemeingültige  Vorstellung,  das- 
jenige enthält,  was  mehreren  Vorstellungen  von  verschiedenen  Dingen  ge- 
mein ist,  so  können  alle  diese  Dinge,  die  insofern  unter  ihm  enthalten 
sind,  durch  ihn  vorgestellt  werden.  Und  eben  dies  macht  die  Brauchbar- 
keit eines  Begriffes  aus."  Diese  Kantischen  Bestimmungen  entsprechen  durch- 
aus der  traditionellen  und  der  zeitgenössischen  Logik;  man  vergleiche  z.  B. 
G.  F.  Meier's  Vernunftlehre,  Halle,  1752,  S.  168  ff.    C.  Meilin  IV,  247  ff. 


Aus  der  Kantisclien  Theorie  des  Begriffs.  241 

[R  712.  H  60.  K  76.]  B  39.  40. 

Diese  Bestimmungen  (welche  zum  Theil  dem  oben  beim  vorigen  Argu- 
ment S.  204.  214  Vorgetragenen  entsprechen)  erweitert  nun  Kant  in  seiner 
Kr.  d.  r.  V.  hier  durch  einen  eigenthümlichen  Zusatz  (vgl.  Adickes  74  N.) :  der 
Einzelvorstellungen ,  in  denen  ein  Allgemeinbegriff  immer  wieder  als  deren 
Theilbegriff  wiederkehrt ,  können  es  unzählige  sein.'  Ganz  abgesehen  da- 
von, dass  es  unzählige  Metall  arten  geben  könnte,  so  gibt  es  ja  unzählige 
Metallgegenstände,  in  denen,  resp.  in  deren  Vorstellung  eben  jener 
Allgemeinbegriff  immer  wieder  als  Theilbegriff  enthalten  ist;  denn  er  ist  ja 
deren  ,, gemeinschaftliches  Merkmal^.  Eben  darum  können  und  müssen  es 
auch  unzählige  Dinge  resp.  Vorstellungen  von  Einzeldingen  sein,  welche 
unter  jenem  Allgemein  begriff  enthalten  sind  resp.  enthalten  sein 
können.  Ganz  dasselbe  will  Kant  A  71  sagen,  wo  er  dem  allgemeinen 
Ur theil  die  „Unendlichkeit"  prädicirt.  In  diesem  Sinne  also  spricht  Kant 
von  einer  »unendlichen  Menge  von  verschiedenen  möglichen  Vorstel- 
lungen*', in  denen  jeder  Begriff  enthalten  sein  kann,  und  welche  daher 
auch  unter  ihm  enthalten  sein  müssen.  Aber  in  einem  anderen  Sinne  ist 
clie  Unendlichkeit  von  dem  Wesen  der  Begriffe  abzuweisen:  kein  eigentlicher 
Begriff  »als  ein  solcher**,  d.h.  keine  Vorstellung  als  Begriff  im  logischen 
Sinne  betrachtet,  enthält  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich. 
Ein  Begriff  selbst  ist  in  unendlich  vielen  Einzelvorstellungen  enthalten,  und 
enthält  darum  auch  diese  unter  sich;  aber  er  kann  nicht  auch  unendlich 
viele  Einzelvorstellungen  in  sich  enthalten;  das  liegt  nicht  in  der  Natur 
eines  Begriffes  —  als  solchen.*  Offenbar  will  hier  Kant  den  Ausdruck 
„Begriff«  premiren;  er  nimmt  ihn  in  dem  streng  logischen  Sinn  gegenüber 
■dem  (oben  S.  158  erwähnten)  laxeren  Gebrauch  des  Ausdruckes.  Er  will 
sagen:  keine  Vorstellung,  sofern  sie  als  logischer  Begriff  betrachtet  wird, 
ihrer  formellen  Beschaffenheit  nach  als  Begriff,  kann  jene  Eigenschaft 
haben.  Eine  Vorstellung,  welche  diese  Eigenschaft  hat,  muss  jedenfalls 
ihrer  Form  nach  etwas  anders  sein,  auf  keinen  Fall  kann  sie  sein  ein  Be- 
griff —  als  ein  solcher. 

Dieser  Kantische  Zusatz  —  als  solcher  —  hat,  was  hier  einge- 
schoben sei,  auch  schon  Cohen  beschäftigt.  Er  gibt  nicht  weniger  als  drei 
Erklärungen   davon.     In   seiner   Abhandlung:     „Zur    Controverse    zwischen 


*  Wer,  wie  z.  B.  Brastberger,  Unters.  45,  gerade  diesen  springenden  Punkt 
weglässt,  muss  darum  eben  auch  den  wesentlichen  Unterschied  dieses  und  des 
vorigen  Argumentes  verkennen. 

^  Sachlich  bemerkenswerth  ist  der  Einwand  E.  von  Hartmanns  (Transsc. 
Keal.  157):  ,Ks.  Behauptung,  dass  ein  Begriff  nicht  eine  unendliche  Menge  von 
Vorstellungen  in  sich  enthalten  könne,  ist  ebenso  unrichtig,  wie  seine  Behauptung, 
<ia88  eine  Anschauung  als  unendliche  Grösse  gegeben  vorgestellt  werden  könne. 
Eine  matliematische  unendliche  Reihe  ist  offenbar  ein  Combinations begriff,  nicht 
eine  Anschauiuig,  denn  sie  ist  eine  Summe  von  höchst  abstracten  Gliedern.  Nichts- 
destoweniger enthält  ein  solcher  Begriff  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen 
in  sich,  nämlich  die  Glieder  der  Reihe."     Vgl.  unten  S.  259. 

Yaihiuger,  Kant-Commentar.    II.  16 


242  §  2.    Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  89.  40.  [R  712.  H  60.  E  76.] 

Trendelenburg  und  Fischer^  (Zeitschr.  f.  Völkerpsych.  VII,  284)  findet  Cohen 
in  dem  Zusatz  eine  lange  Gedankenreihe  condensirt:  ^Nacb  diesem  Wortlaut 
ist  anzunehmen,  dass  Kant  gedacht  habe:  zwar  gibt  es  auch  Begriffe,  welche 
nicht  aus  den  einzelnen  Merkmalen  zusammengefasst  sind  (d.  h.  welche 
nicht  aus  den  unter  ihnen  enthaltenen  verschiedenen  Einzeldingen  abstrahirt 
sind).  Von  diesen  läge  nun  doch  die  Vermuthung  nahe,  als  ob  sie  ihre 
Vorstellungen  in  sich  enthielten,  wie  der  Baum,  als  unendlich  gegebene 
Grösse.  Aber  auch  von  solchen  apriorischen,  nicht  durch  Abstraction  oder 
Zusammensetzung  entstandenen  Begriffen  gilt  es,  dass  kein  Begriff  als  ein 
solcher,  seine  Vorstellungen  in  sich  enthalte."  Dieser  erkünstelt«  Zu- 
sammenhang findet  in  dem  Texte  Kants  gar  keine  Stütze.  In  seinem 
Werke  „Kants  Theorie  der  Erfahrung"  gibt  Cohen  in  den  beiden  Auf- 
lagen (1.  A.  S.  30;  2.  A.  S.  125)  noch  zwei  andere  Erklärungen,  welche 
sich ,  soweit  sie  überhaupt  zu  verstehen  sind,  der  richtigen  Auffassung  an- 
nähern mögen. 

Nachdem  nun  Kant  in  dieser  Weise  ein  wichtiges  Capitel  aus  der 
Theorie  der  Begriffe  in  gedrängten  Worten  wiedergegeben  hat,  macht  er 
die  Nutzanwendung  davon  auf  die  Raum  Vorstellung  —  die  Baum  Vorstellung 
hat  gerade  die  Eigenthümlichkeit,  dass  sie  eine  unendliche  Menge  von  Vor- 
stellungen in  sich  enthält  —  die  unendlich  vielen,  die  unzähligen  Baum- 
theile :  in  der  unendlichen  Baum  Vorstellung  sind  unzählige  Baumtheile  zugleich 
enthalten.  (Diese  „Theile^  dürfen  nicht  mit  B.  Erdmann,  Kants  Befi.  IT,  HO, 
als  „Theilvorstellungen''  bezeichnet  werden,  weil  dieser  Ausdruck  bei  Kant 
so  viel  als  Merkmale  bedeutet.  Vgl.  unten  zum  fünften  Zeitargument.)  Die 
Vorstellungen,  welche  im  Baume  enthalten  sind,  sind  natürlich  anschauliche 
Theile  desselben;  vgl.  Ad  ick  es  74  N. 

Diese  Eigenthümlichkeit  der  Baumvorstellung  genügt  nun  vollständig, 
um  von  ihr  aussagen  zu  lassen,  dass  sie  jedenfalls  kein  Begriff  sein  kann: 
denn,  wie  nachgewiesen,  kein  Begriff  kann  eine  solche  Eigenthümlichkeit  an 
sich  haben. ^  Und  da  es  nun  nur  zwei  Hauptarten  von  Vorstellungen  gibt, 
so  bleibt  nur  Eine  Möglichkeit  übrig :  ist  die  Baumvorstellung  nicht  Begriff, 
so  muss  sie  Anschauung  sein. 

Will  man  das  Argument  nun  in  die  strenge  logische  Form  bringen, 
so  ist  der  Kern  desselben  einfach  und  kurz  der  Syllogismus: 

Obersatz: 

Kein  Begriff  hat  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich. 
Untersatz: 

Der  Baum  hat  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich. 
Schlusssatz: 

Also  ist  der  Baum  kein  Begi'iff. 

Dieser  Schluss  verläuft  nach  der  zweiten  aristotelischen  Schlussfigur, 
nach  dem  ersten  Modus  derselben  (Cesare).  Alles  andere,  was  in  der  Kan- 
tischen Argumentation  steht,  ist  nur  Schale  um  diesen  Kern.  Eine  ein- 
gehendere Analyse   wird   sogleich   zeigen,   dass   in   der  That  alle  sonstigen 


Der  Raum  hat  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich.        243 

[R  712.  H  60.  K  76.]  B  39.  40. 

Ausführungen  Kants  nur  Erweiterungen  und  Erläuterungen  des  obigen 
Schlusses  resp.  seiner  drei  Sätze  sind. 

Der  Untersatz  wird  näher  begründet  durch  den  Zusatz:  „denn  alle 
Theile  des  Raumes  ins  Unendliche  sind  zugleich.**  Und  die  Voraus- 
setzung für  diesen  Satz  bildet  wiederum  der  erste  Satz  der  ganzen  Argu- 
mentation: „Der  Raum  wird  als  eine  unendliche  gegebene  Grösse  vorge- 
stellt." Dieser  Satz  bildet  somit,  wie  schon  oben  S.  222  gegen  Fischer  be- 
merkt wurde,  kein  selbständiges  Beweis t h e m a ,  sondern  ist  nur  dienendes 
Glied  im  Beweise.  Fischers  Auffassung  verschiebt  somit  das  ganze  feine 
Beweisgewebe  Kants.  Richtig  ist  dagegen  die  Bemerkung  von  B.  Erd- 
mann, Kriticismus  S.  165,  dass  durch  diese  Stelle  dieser  Beweis  „das  in 
dem  vorhergehenden  Argument  gewonnene  Resultat  zu  Grunde  legt"  — 
denn  da  fanden  wir  ja,  vgl.  oben  S.  221  ff.,  die  Unendlichkeit  des  Raumes 
und  damit  auch  die  unendliche  Menge  seiner  durch  Einschränkung  ent- 
standenen Theile  als  ein  Ergebniss. 

Der  Obersatz  ist  ebenfalls  erweitert.  Man  könnte  gegen  den  Obersatz 
einwenden :  aber  jeder  Begriff  hat  es  doch  mit  einer  unendlichen  Menge  von 
Vorstellungen  zu  thun.  Allerdings,  sagt  Kant,  aber  der  Begriff  (weil  in  einer 
unendlichen  Menge  von  verschiedenen  Vorstellungen  als  deren  gemeinschaft- 
liches Merkmal  enthalten)  enthält  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen 
unter  sich;  nicht  aber  enthält  er  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen 
in  sich;  und  nur  um  dieses  letztere  Verhältniss  handelt  es  sich  in  dem  vor- 
liegenden Schluss.  Dieser  Zusammenhang  w^ird  Kant  deutlich  angezeigt  durch 
den  Anfang  des  Satzes:  „Nun  muss  man  zwar  einen  jeden  Begriff"  u.  s.  w. 

Endlich  ist  auch  der  Schlusssatz  erweitert  durch  die  positive  Er- 
gänzung, dass,  wenn  die  Raumvorstellung  nicht  Begriff  ist,  sie  Anschauung 
(a  priori)  sei. 

Bemerkens werth  ist  in  dem  Schlusssatz  der  bisher  unbeachtet  gebliebene 
Zusatz,  dass  die  ursprüngliche  Vorstellung  vom  Räume  Anschauung 
a  priori  sei.  (Vgl.  oben  S.  92.  233.)  Damit  kann  doch  Kant  nur  sagen  wollen: 
wenn  auch  über  den  Raum  in  bewusster  wissenschaftlicher  Reflexion  be- 
griffliche Bestimmungen  aufgestellt  werden  können,  so  sind  das  doch 
nur  spätere  Reflexionen,  welche  schon  eine  vorhergehende  Raumvorstellung 
voraussetzen,  und  diese  vorhergehende  Raumvoi'stellung  ist  eben  die 
apriorische  Anschauung,  welche  schon  unbewusst  in  jedem  Menschen 
vorhanden  ist.  Wahrscheinlich  ist  dieser,  der  zweiten  Auflage  angehörige 
Zusatz  „ursprüngliche"  —  schon  eine  Antwort  Kants  auf  Einwände,  welche 
ihm  gegen  die  erste  Auflage  gemacht  worden  waren,  indem  man  sagte,  es 
gebe  doch  einen  Begriff  vom  Räume.  Wohl,  sagt  Kant,  einen  solchen  Be- 
griff kann  sich  der  Gelehrte,  der  Philosoph  oder  Mathematiker  später  bilden; 
aber  die  ursprüngliche  Raum  Vorstellung  ist  die  allen  Menschen  von  Hause 
aus  angehörige  apriorische  Anschauung. 

Auch  hier,  wie  in  dem  vorigen  Argument,  folgert  aber  Kant  („mit 
dem  naivsten  Also   der  Welt"    spöttelt  Bolliger  in   seinem  Antikant  278, 


244  §  2.    Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  39.  40.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

wo  die  ganze  Argumentation  des  Beweises  zerblättert  wird)  nicht  nur,  dass 
die  Raumvorstellung  Anschauung,  sondern  auch  dass  sie  Anschauung  a  priori 
sei.  Und  so  erhebt  sich  auch  hier  (wie  oben  S.  231)  die  Frage,  ob  denn 
die  Apriorität  der  Raumvorstellung  auch  etwa  durch  dieses  Argument  mit 
bewiesen  werden  soll,  oder  ob  der  Zusatz  „a  priori"  nur  etwa  als  Recapi- 
tulation  der  beiden  ersten  Raumargumente  zu  fassen  sei?  Aus  denselben 
Gründen,  wie  beim  vorigen  Argument,  wird  auch  hier  zu  folgern  sein,  dass 
das  Letztere  der  Fall  ist.  Aber  viele  Erklärer  haben  von  Anfang  an  das 
Erstere  angenommen;  so  z.  B.  Feder,  Raum  und  Gaus.  S.  8.  11.  53, 
welcher  ausdrücklich  sagt,  dass  „die  Unendlichkeit  des  Raumes  zum  Beweise 
seines  nicht  empirischen  Ursprunges  dienen  solle'';  so  Kiese  wette  r  S.  29  f.: 
;^da  der  Raum  unendlich  gross  ist,  so  kann  er  nicht  durch  die  Empfindung 
gegeben  werden,  weil  sonst  eine  unendliche  Zeit  zu  seiner  Wahrnehmung 
erforderlich  wäre,"  so  auch  Villers  in  Rinks  „Mancherley"  S.  21.  Auch 
in  weiteren  Kreisen  muss  diese  Auslegung  verbreitet  gewesen  sein;  dies  ist 
zu  schliessen  aus  einem  bekannten  humoristischen  Epigramm  Goethe's  in 
der  Sammlung  „Vielen  und  Einer",  in  welchem  auch  die  Apriorität  und 
Subjectivität  der  Raum  Vorstellung  aus  deren  Unendlichkeit  abgeleitet  wird: 

Raum  und  Zeit,  ich  empfind'  es,  sind  blosse  Formen  des  Denkens. 
Da  das  Eckchen  mit  dir,  Liebchen,  unendlich  mir  scheint. 

Dieselbe  Auffassung  findet  sich  auch  bei  Neueren.  Wenn  z.  B. 
Ueberweg  in  seinem  Grundriss  III,  §  18  zu  diesem  Argufnente  sagt:  ,Die 
Unendlichkeit  der  Ausdehnung  liegt  nur  in  der  Reflexion,  dass  wir,  soweit 
wir  auch  gelangt  sein  mögen,  immer  noch  weiter  fortschreiten  könnten,  dass 
also  keine  Grenze  eine  schlechthin  un überschreitbare  sei;  hieraus  folgt  aber 
keineswegs,  dass  der  Raum  eine  bloss  subjective  Anschauung  sei*  —  so 
liegt  diesem  Einwände  doch  die  Auffassung  zu  Grunde,  dass  Kant  mit  der 
Unendlichkeit  die  Subjectivität  und  als  deren  Bedingung  die  Apriorität 
der  Raumvorstellung  habe  beweisen  wollen.  Dass  aber  dies  nicht  der  Fall 
sei,  dass  also  eine  „verfrühte  Polemik"  vorliege,  hat  gegen  Ueberweg  schon 
Cohen  richtig  bemerkt  (1.  A.  32;  2.  A.  129).  —  In  jenem  Sinne  polemisirt 
aber  auch  gegen  Kant  Beyersdorfi*,  Die  Raum  Vorstellungen,  S.  36.  Vgl. 
Deussen,  Metaph.  §  54.    Frauenstädt,  Briefe  129. 

Doch  liegt  jener  Gedankengang  nicht  ausserhalb  der  Linie  des  Kan- 
tischen Denkens  und  möglicher  Weise  zielt  hierauf  die  nur  halb  lesbare  An- 
merkung Kants  in  seinem  Handexemplar  hinter  dem  fünften  Raumargument 
(Ei'dmann,  Nachträge  N.  XVI):  Beweis  der  Idealität  des  Raumes  aus  dem 
synthetischen  Satze  a  priori  von  der  [Unendlichkeit  desselben  ?].  Auf  jeden 
Fall  aber  findet  sich  dieser  Gedanke  mehrfach  in  dem  Nachgel.  Werke  XX, 
95  N.,  XXI,  546.  547:  „Der  Raum  ist  ein  Ganzes,  doch  von  der  besonderen 
Art,  dass  es  nur  als  Theil  eines  noch  grösseren  Ganzen,  mithin  nur  als  unend- 
lich, vorgestellt  werden  kann,  eine  Beschaffenheit  des  Objects,  die  ihm  nur 
als  Erscheinung  (Qualität  des  Subjects)   zukommen  kann."     »Dies   beweiset 


Missverständnisse.  245 

[R  712.  H  60.  E  76.]  B  39.  40. 

die  Idealität,  desselben";  „da  es  dann  eine  Ungereimtheit  sein  würde,  wenn 
die  Formen  des  Raumes  und  der  Zeit  als  Beschaflfenbeiten  der  Dinge  an 
sieb  und  nicbt  als  blosse  Erscheinungen  angenommen  würden."  (Man  siebt 
bier  auch  wieder,  dass  für  Kant  Apriorität  und  Idealität  obne  Weiteres 
zusammenfallen.) 

Dieses  Argument  ist  von  Anfang  an  zahlreichen  Miss  Verständnissen 
ausgesetzt  gewesen;  besonders  kehren  zwei  Missverständnisse  immer  wieder. 
Beide  Fehler  finden  sich  vereinigt  in  der  sonst  so  exacten  „Darstellung"  von 
Holder  S.  11:  „Diese  Betrachtung  geht  davon  aus,  dass  ein  Begriff  nur 
eine  bestimmte  Anzahl  von  Vorstellungen  als  Merkmale  in  sich  enthalten 
kann,  während  Raum  und  Zeit  vorgestellt  werden  als  eine  unendliche 
Anzahl  von  Raum-  und  Zeitt heilen  in  sich  begreifend."  Kant  spricht  erstens 
nicbt  von  einer  „bestimmten"  Anzahl  von  Vorstellungen,  die  nur  im  Begriffe 
enthalten  wären ;  es  handelt  sich  bei  Kant  nicht  um  den  Gegensatz  von  b  e- 
stimmter  und  unendlicher  Anzahl  von  Vorstellungen,  welche  in  einer 
anderen  Vorstellung  enthalten  seien  oder  nicht ;  sondern  es  handelt  sich  bei 
Kant  vielmehr  um  den  Gegensatz  von  Unter-sich-enthalten  und  In-sich- 
enthalten.  Gemeinsam  ist  beiden  Fällen  des  Gegensatzes  die  Unendlich- 
keit resp.  ünzählbarkeit  der  enthaltenen  Vorstellungen,  nur  dass  sie  das 
eine  Mal  sich  unter  dem  Begriff,  das  andere  Mal  sich  in  der  Anschauung 
enthalten  finden.  Dies  ist  der  erste  Fehler  der  Hölder'schen  Darstellung ^ 
Der  zweite  Fehler  derselben  ist,  dass  er  die  Merkmale,  welche  der  Begriff 
in  sich  enthält,  im  Auge  hat,  statt  der  Exemplare,  die  er  unter  sich 
enthält-;  denn  eben  um  solche  handelt  es  sich,  d.  h.  um  Vorstellungen,  in 
denen  der  Begriff  selbst  als  Merkmal  steckt;  solche  Vorstellungen  kann  der 
Begriff  unendlich  viele  unter  sich  enthalten.  Dagegen  die  Vorstellungen, 
deren  der  Begriff  eben  nicht  unendlich  viele  in  sich  enthalten  kann,  sind 
nicbt  näher  charakterisirt,  und  es  ist  jedenfalls  falsch,  daraus  „Merkmale" 
zu  machen.  Will  man  aus  dem  negativen  und  unbestimmten  Satze  Kants 
eine  positiv-bestimmte  Behauptung  herausnehmen,  so  braucht  man  sieh  nur 
an  das  Folgende  zu  halten:  darnach  handelt  es  sich  eben  nicht  um  den 
logischen  Inhalt,  um  die  Merkmale,  sondern  um  das  mathematische 
In-sich-Enth alten  von  Theilen  —  dies  wird  dem  Begriffe  abgesprochen.  Um 
das  erstere  Verhältniss  —  um  Merkmale  —  handelt  es  sich  hier  gar  nicht. 

Eine  treffliche  Erläuterung  der  Kantischen  Gedanken  dagegen  treffen 
wir   in   Sigwarts  Logik  I,   50  f.   274  ff.    299.   304.     Unter  Berufung    auf 


'  Dieser  Fehler  findet  sich  auch  schon  bei  Metz,  Darst.  S.  48;  dann  bei 
Trendelenburg,  Log.  Unt.  *  I,  157  („Das  Wesen  des  Begriffes  ist  Bestimmtheit**); 
bei  Grapengiesser,  R.  u.  Z.  48.  72  f.  75  f.;  Bilharz,  Erl.  16.  18;  Adamson, 
Kant  29. 

'  Dieser  Fehler  findet  sich  auch  schon  bei  Maimon,  Ki*it.  Unters.  74;  bei 
Aenesidem-Schulze,  Krit.  d.  th.  Phil.  II,  214;  bei  Ueberweg,  Gesch.  d.  Phil. 
IlT,  §  18  Anm.  Den  Fehler  des  Letzteren  hat  schon  mit  Recht  Cohen  (I.A.  31; 
2.  A.  128)  gerügt. 


246  §  2.     Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  89.  40.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

diese  Stelle  spricht  er  von  der  Allgemeinheit  des  Begriffes  als  seiner 
wesentlichsten  Eigenschaft,  die  eben  darin  besteht,  unbestimmt  oft,  ja  un- 
endlich oft  reproducirt  und  auf  einzelne  Fälle  angewendet  zu  werden.  Ist 
einmal  der  Begriff  losgerissen  von  der  Einzelanschauung,  so  hat  er  eine  un- 
beschränkte Anwandlungsfähigkeit  auf  unzählige  beliebige  Fälle.  Sigwart 
lobt  dabei  ausdrücklich  die  Vorsicht  Kants,  dass  er  nur  von  einer  unend- 
liehen  Menge  möglicher  Vorstellungen  rede:  denn  es  sei  »der  Natur  des 
Begriffes  gegenüber  gleichgültig,  ob  in  vielen  wirklichen*:  d.  h.  ob  von 
dieser  Möglichkeit  auch  wirklich  überhaupt  oder  oft  Gebrauch  gemacht  wird. 
„Die  Fähigkeit  irgend  einer  Vorstellung,  eine  allgemeine,  d.  h.  auf  eine 
unbegrenzte  Vielheit  von  Einzel  Vorstellungen  anwendbare  zu  werden,  ist 
schon  mit  ihrer  Natur  als  Vorstellung  gegeben.*  Diese  „numerische  All- 
gemeinheit", vermöge  der  dieselbe  Vorstellung  in  einer  unbestimmten 
Menge  einzeln  angeschauter  Dinge  wiedergefunden  wird,  ist  für  das  Wesen 
des  Begriffes  völlig  gleichgültig ;  es  ist  ein  und  derselbe  Begriff',  der  in  allen 
Exemplaren  gedacht  wird,  und  sein  Wesen  verändert  sich  nicht,  ob  es  von 
einem  oder  von  hundert  Dingen  prädicirt  werden  kann.  Das  dem  Begriff 
Entsprechende  kann  in  Millionen  Exemplaren  vorhanden  sein/  (In  ähnlichem 
Sinne  sagt  auch  Zell  er  in  seiner  Gesch.  d.  deutschen  Phil.  428:  „Der  Be- 
griff befasst.  die  Einzel  Vorstellungen  als  die  Subjecte,  deren  Prädicat  er 
ist,  unter  sich.")  Ebenso  nett  als  scharf  fasst  Cousin,  Kant  S.  80  das 
Argument  mit  den  Worten  zusammen:  man  müsse  unterscheiden  zwischen 
dem  „Lifini  de  Bepresentaiion^  und  dem  „Infini  rSel*^ ;  jene  ist  Sache  eines 
Begriffes,  diese  Sache  der  Eaumanschauung,  z.  B. :  „la  hlancheur  represente 
la  qualiU  d'etre  hlanc  dans  tous  les  objects  possibles;  eile  est  donc  d^une  re- 
prSsentation  infin i e,  Mais  ce  nest pas  lä  Vi nfini  reel,  celui  de  Vespace ; 
Vespace  est  infini,  parce  que  tous  les  corps  2^ossible8  sont  renfennSs  dans 
son  seinJ^ 

Eine  grosse  Rolle  hat  dies  Argument  in  dem  Fische r-Trendelen- 
burg'schen  Streite  gespielt,  eine  grosse,  aber  keine  rühmliche.  Besonders 
ist  der  Fischer'schen  Darstellung  Ungenauigkeit  und  Willkür  vorzuwerfen. 
Die  hauptsächlichste  Quelle  seiner  Irrthümer  hiebei  entspringt  offenbar  aus 
der  unkritischen  Vermischung  der  einzelnen  Argumente.  Speciell  wird  von 
Fischer  dieses  Argument  nicht  genügend  unterschieden  von  dem  vorigen 
Raumargument,  und  —  was  der  eigentliche  Hauptfehler  ist  —  es  wird  ohne 
Weiteres  zusammengeworfen  mit  dem  letzten  Zeitargument.  Dass  und  warum 
gerade  diese  Vermischung  irreführend  ist,  wird  bei  der  Analyse  des  Letzteren  sich 
zeigen;  hier  ist  aber  schon  auf  folgende  wichtige  Fehlerquelle  aufmerksam  zu 
machen:  hauptsächlich  aus  dem  letzten  Zeitargument  nimmt  Fischer  (nach  der 
Darstellung  in  seiner  2.  A.  S.  324  Anm.  3)  folgenden  an  sich  richtigen  Lebrpunkt 
herüber:  jeder  Begriff  ist  eine  Theilvorstellung.  „Die  Anschauung 
oder  Einzel  Vorstellung  vereinigt  alle  Merkmale  in  sich;  wird  nun  ein  oder 
das  andere  Merkmal  davon  abgesondert  und  für  sich  vorgestellt,  so  wird 
von  dem  Inbegriff  der  Merkmale  ein  Theil  vorgestellt;   eben  dies  nennt  die 


Trendelenburg  wirft  K.  Fischer  eine  Quaternio  ierminorum  vor.  247 

[R  712.  H  60.  E  76.]  B  39.  40. 

Logik  Theilvorstellung.  Daher  jedes  gemeinschaftliche  Merkmal  verschiedener 
Vorstellungen,  d.  h.  jeder  Gattungsbegriff,  eine  Theilvorstellung  ist**  u.  s.  w. 
(Anti-Trendelenburg,  S.  26).  Diese  schon  oben  S.  215  erwähnte  Auffassung 
legt  Fischer  nun  dem  vorliegenden  Argument  zu  Grunde;  sie  ist  nun  zwar 
an  sich  ganz  richtig,  hat  aber  mit  dem  Kern  dieses  Argumentes  gar  nichts 
zu  schaffen. 

Auf  Grund  dieser  Auffassung  gab  nun  Fischer  (1.  A.  S.  298  ff.)  den 
Sinn  des  Argumentes  folgendermasscn  wieder:  „Kaum  und  Zeit  wären 
Gattungsbegriffe,  wenn  sie  Theil Vorstellungen  wären,  Merkmale  von  Räumen 
und  Zeiten.  Aber  es  ist  umgekehrt:  sie  sind  nicht  Theil  Vorstellungen,  son- 
dern das  Ganze.  Der  Raum  enthält  alle  Räume,  die  Zeit  enthält  alle  Zeiten 
in  sich:  sie  sind  nicht  Theilvorstellungen,  also  nicht  Gattungsbegriffe." 
Gegen  diese  Darstellung  erhob  Trendelenburg  in  seinen  „Historischen  Bei- 
trägen** TU,  255  folgende  Einwände:  „In  Kant  habe  ich  dieses  Argument 
nicht  gefunden  und  ich  vermisse  das  Citat;  ich  halte  es  auch  darum  nicht 
für  Kantisch,  weil  es,  formal  geprüft,  den  Fehler  einer  Quaternio  terminorum 
enthält  Der  Schlu?s,  nackt  ausgedrückt,  lautet  so:  alle  Merkmale  sind 
Theile,  aber  der  Raum  ist  das  Ganze  (kein  Theil);  also  ist  der  Raum  kein 
Merkmal,  und,  inw^iefern  nach  Fischers  Annahme  jedes  Merkmal  Gattungs- 
begriff ist,  der  Raum  kein  Gattungsbegriff.  In  diesem  Schluss  spielt,  ab- 
gesehen von  anderen  Schwierigkeiten,  in  Theil  und  Ganzem  eine  Doppelheit 
des  Begriffes,  eine  Homonymie;  denn  das  Merkmal  ist  ein  Theil  eines  Be- 
griffes, also  ein  Theil,  logisch  genommen,  in  Gedanken  aufgefasst;  aber 
der  Raum  ist  das  Ganze,  sinnlich  genommen.  Durch  diesen  Doppelsinn 
reisst  das  Band,  das  der  Schluss  im  Mittelbegriff,  dem  Begriff  Theil,  zu 
knüpfen  gedachte,  entzwei."  Gegen  diese  scharfen  Vorwürfe  erwiderte 
Fischer  (2.  A.  S.  324)  ganz  kurz,  indem  er  als  Belegstelle  für  seine  Dar- 
stellung, deren  Echtheit  Trendelenburg  angezweifelt  hatte,  denselben  verwies 
auf  dieses  letzte  Raumargument,  sowie  auf  das  letzte  Zeitargument. 

Nun  wiederholte  aber  Trendelenburg  („K.  Fischer  und  sein  Kant" 
S.  IC  f.  23 — 28)  seine  Einwände,  indem  er  sie  zugleich  näher  begründete 
und  positiv  ergänzte.  Er  sucht  nachzuweisen,  dass  Fischer  in  seiner  Dar- 
stellung den  Mittelbegriff  der  Kantischen  Argumentation  ganz  und  gar  ver- 
fehlt habe.  In  Fischers  Wiedergabe  sei  der  Terminus  medius:  Theil  resp. 
Ganzes ;  bei  Kant  selbst  sei  Mittelbegriff  der  Begriff  der  Unendlichkeit. 

Obgleich  nun  Trendelenburg  bei  diesem  Nachweise  selbst  mehrere 
nebensächliche  Verstösse  machte,  auf  welche  näher  einzugehen  kaum  lohnen 
würde,  so  ist  seine  Polemik  im  Hauptpunkte  doch  durchaus  berechtigt, 
Natürlicli  konnte  Fischer  nicht  die  Antwort  schuldig  bleiben.  Er  wiederholt 
in  seinem  „  Anti-Trend elen bürg**  S.  25 — 38  seine  falsche  Darstellung  mit  einer 
wahrhaft  imponirenden  Sicherheit. 

Die  oben  S.  242  f.  gegebene  logische  Analyse  des  Argumentes  entscheidet 
den  ganzen  Streit  mit  Einem  Male.  Auf  den  ersten  Blick  sieht  man,  dass 
die    Fischer*sche   Darstellung   falsch   ist,    während    Trendelenburg  hier  im 


248  §  2.    Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  39.  40.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

Wesentlichen  das  Richtige  getroffen  hat.  Der  Mittelbegriff  des  Kantiscben 
Schlusses  muss  aber  genauer  angegeben  werden,  als  das  seitens  Trendelen- 
burgs  geschah;  er  sagt:  „Bei  Kant  ist  der  Terminus  medius  des  Schlusses 
der  Begriff  der  unendlichen  Vorstellungen  oder  der  verwandte  Begriff  des 
Uneingeschränkten."  Vielmehr  ist  der  Mittelbegriff  ganz  genau:  „eine  un- 
endliche Menge  von  Vorstellungen  in  sich  enthalten."  Diese  Eigenschaft  (M) 
wird  dem  Begriff  (P)  abgesprochen,  der  Raumvorstellung  (S)  dagegen  zu- 
gesprochen. Darum  ist  S  kein  P:  darum  ist  die  Raumvorstellung  kein 
Begriff. 

Dass  dies  der  Kern  des  Schlusses  ist,  dass  und  wie  alles  andere 
sich  nur  als  Schale  zu  diesem  Kern  verhalte,  wurde  oben  hinreichend  nach- 
gewiesen. 

Nun  vergleiche  man  damit  die  Fischer'sche  Wiedergabe  des  Schlusses. 
Er  gibt  (in  seinem  Anti-Trendelenburg  S.  31—33)  dafür  zwei  verschiedene 
Formen  an: 

I. 
Kein  Begriff  ist  ein  Ganzes. 
Der  Raum  ist  ein  Ganzes. 

Also  ist  der  Raum  kein  Begriff. 

II. 

Jeder  Begriff  ist  eine  Theilvorstellung. 
Der  Raum  ist  keine  Theilvorstellung. 


Also  ist  der  Raum  kein  Begriff. 

Beide  Schlüsse  verlaufen  nach  der  zweiten  aristotelischen  Schlussfigur; 
der  erste  nach  deren  erstem  Modus:  Cesare;  der  zweite  nach  deren  zweitem 
Modus:  Camesires,  Fischer  nennt  Beide  auch  Einen  Schluss,  insofern  der 
Obersatz  I  und  der  Obersatz  II  sich  als  Bejahung  und  Verneinung  derselben 
Aussage  gegenüberstehen. 

Dass  nun  diese  Darstellung  falsch  ist,  sieht  man  auf  den  ersten  Blick, 
wenn  man  sie  mit  der  oben  S.  242  f.  gegebenen  Analyse  vergleicht.  Es  ist 
unmöglich,  Fischers  Darstellung  und  Kants  Text  in  Zusammenhang,  geschweige 
zur  Deckung  zu  bringen. 

Die  Frage  ist  nur,  wie  denn  K.  Fischer  auf  diese  wunderliche  Dar^ 
Stellung  gekommen  ist.  Wie  schon  oben  S.  246  angedeutet  worden  ist^ 
Hess  K.  Fischer  dazu  vor  Allem  verführen  durch  die  irrige  Zusammenstellung 
dieses  Raumargumentes  mit  dem  letzten  Zeitargument*,  daraus  entnahm  er 
den  angeblichen  Mittelbegriff  der  „Theilvorstellung".  In  seinem  Anti-Tren- 
delenburg S.  82  f.  sucht  er  aus  dem  vorliegenden  Baumargument  selbst 
diesen  angeblichen  Mittelbegriff  herauszubekommen.  Er  schlicsst  sich  zn 
diesem  Zweck  an  den  Kantischen  Satz  an:  „Nun  muss  mau  zwar  einen  jeden 
Begriff  als  eine  Vorstellung  denken,  die  in  einer  unendlichen  Menge  von 
Vorstellungen  als  ihr  gemeinschaftliches  Merkmal  enthalten  ist",  und  fährt 
erläuternd  fort:   „Das  gemeinschaftliche  Merkmal  ist  nicht  der  Inbegriff  aller 


K.  Fischer  hat  dies  Argument  gänzlich  miss verstanden.  249 

[R  712.  H  60.  K  76.]  B  89.  40. 

Merkmale  der  Einzelvorstellung,  sondern  ein  Theil  davon,  eines  oder  einige, 
nie  alle.  Jeder  Begriff  ist  eine  Theilvorstellung.  Es  gilt  demnach  von  jedem 
Begriff,  was  vom  Raum  nie  gilt:  es  ist  keine  Theilvorstellung;  es  ist  also 
kein  Begriff."  Man  sieht  nun,  worin  der  Fehler  liegt:  Fischer  sucht  den 
Mittelbegriff  in  einem  Satz,  welcher  —  gemäss  der  oben  gegebenen  Analyse  — 
gar  nicht  zu  dem  eigentlichen  Schlüsse  gehört ;  der  bloss  der  Erläuterung 
halber  eingeschoben  ist,  im  Gegensatz  zu  der  allein  wesentlichen  Behauptung: 
„kein  Begriff  enthält  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich."' 
Und  jenen  nebensächlichen  Satz  presst  Fischer  dazu  noch  auf  eine  eigen- 
thüraliche  Weise,  um  aus  ihm  etwas  herauszubekommen,  was,  wenn  es  auch 
an  sich  richtig  ist,  doch  ganz  und  gar  nicht  hieher  gehört,  nämlich:  dass 
jeder  Begriff,  im  Verhältniss  zu  der  Anschauung,  eine  Theilvorstellung  des 
Letzteren  sei.  Davon  steht  aber  bei  Kant  selbst  hier  kein  Wort;  es  ist 
das  vielmehr  eine  ganz  entfernte  Folgerung,  die  uns  auf  etwas  ganz  Ent- 
legenes fuhrt. 

Auf  ebenso  wunderliche  Weise  ist  auch  der  Correlatbegriff  „des  Ganzen" 
gewonnen.  Dazu  knüpft  Fischer  an  die  Sätze  an:  „der  Kaum  wird  als 
eine  unendlich  gegebene  Grösse  vorgestellt";  er  „enthält  eine  unendliche 
Menge  von  Vorstellungen  in  sich" ;  und  alle  seine  „Theile  ins  Unendliche 
sind  zugleich".  Diese  Sätze  erläuternd,  sagt  Fischer:  „Etwas,  das  alle  Theile 
zugleich  oder  als  gegebene  in  sich  begreift,  ist  ein  Ganzes,  und  lässt  sich 
mit  keinem  anderen  Worte  bezeichnen.  Wenn  eine  unendliche  Grösse  als 
gegeben  oder  eine  gegebene  Grösse  als  unendlich  vorgestellt  wird,  so  wird 
sie  als  Ganzes  vorgestellt"  u.  s.  w.  Es  ist  aber  zunächst  hier  (weiteres 
hierüber  s.  noch  unten  S.  261)  zu  rügen,  dass  Fischer  hier  den  Begriff  des 
„Ganzen"  einfuhrt,  über  dessen  dialectische  Natur  doch  Kant  sich  später 
hinreichend  äussert  (A  483 ;  A  505  u.  ö.).  Es  ist  doch  mindestens  fraglich, 
ob  diese  Folgerung  in  Kants  Sinne  sei;  es  könnte  leicht  nachgewiesen  werden, 
dass  sie  ganz  gegen  seinen  Sinn  ist.  Nach  Kants  originärer  Darstellung  ist 
aber  Mittelbegriff  nicht  der  Begriff  des  „Ganzen",  sondern  der  Begriff:  „un- 
endlich viele  Vorstellungen  in  sich  enthalten"  —  welcher  dem  Begriffe  ab-, 
der  Baum  Vorstellung  zugeschrieben  wird. 

Die  Aenderungen,  welche  Fischer  am  Kantischen  Texte  vorgenommen 
hat,  sind  somit  materiell  unrichtig.  Aber  Trendelenburg  erhob  gegen  Fischers 
Darstellung  den  viel  schlimmeren  Vorwurf,  dass  sie  formell  eine  Quaternio 
t  er  minor  um  enthalte.  Fischer  sagte,  resp.  lässt  Kant  sagen:  Kein  Begriff 
ist  ein  Ganzes,  sondern  eine  Theilvorstellung;  der  Raum  ist  ein  Ganzes, 
aber  keine  Theilvorstellung  also  u.  s.  w.  Was  soll  heissen:  der  Begriff  ist  kein 
Ganzes,  sondern  eine  Theilvorstellung?  Fischer  erklärt  sich  in  den  oben 
S.  215  und  S.  247  angeführten  Stellen  hinreichend  darüber:  *  er  sagt  ferner 
(a.  a.  0.  S.  32  f.):  „Kein  Begriff  kann  als  Ganzes,  als  Inbegriff  aller 
Merkmale,  sondern  muss  als  eines  oder  einige  Merkmale,  die  von  dem 
Inbegriff  aller  (d.  h.  von  der  Anschauung)  abgezogen  sind,  gedacht  werden," 
darum  ist  der  Begriff*  eben,   im   Gegensatz  zur  completen   Vorstellung  des 


250  §  2.    Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  39.  40.  [B  712.  H  60.  K  76.] 

Anschauungsgegenstandes,  nur  eine  Theil Vorstellung.  —  Ganz  anders  wird 
der  Begriff  des  Ganzen  beim  Baume  bestimmt;  er  heisst  ein  Ganzes  (a.  a.  0. 
S.  32),  weil  „er  alle  seine  Theile  zugleich  oder  als  gegebene  in  sich  be- 
greift **.  Sonach  ist  im  Obersatze  Ganzes  =  Inbegriff  aller  Merkmale,  im 
Untersatz  ist  Ganzes  =  Inbegriff  aller  Theile.  Dort  ist  es  das  Ganze  des 
Inhaltes,  hier  das  Ganze  des  Umfanges.  Im  Obersatz  ist  darnach:  Theilvor- 
Stellung  so  viel  „Theil  eines  Inbegriffes  von  Merkmalen*,  im  Untersatz  ist 
Theil  Vorstellung  =  „Theil  einer  Grösse".  Die  Quaternio  ierniinontm  ist 
somit  ganz  unstreitig  vorhanden  ',  und  Trendelenburg  hat  dieselbe ,  wenn 
auch  formell  nicht  ganz  zutreffend,  so  doch  sachlich  vollständig  richtig  auf- 
gedeckt, wenn  er  sagt:  Theil  werde  das  einemal  „logisch  genommen^,  das 
anderemal  „sinnlich  genommen*^. 

Mit  diesem  Resultate  könnten  wir  schliessen,  wenn  nicht  Fischer  ver- 
sucht hätte,  seiner  Quaternio  terminomm  durch  verschiedene  Wendungen 
aufzuhelfen.  Den  hauptsächlichsten  Versuch  macht  Fischer  dadurch,  dass 
er  jene  oben  angeführte  Darstellung  in  eine  andere  Darstellung  hinüber- 
gleiten lässt,  welche  sich  der  richtigen  scheinbar  nähert,  aber  nur  um  sich 
um  so  weiter  von  ihr  zu  entfernen.  Auf  S.  34— 36  des  „  Anti-Trendelenburg*" 
findet  sich  nämlich  folgende  Darstellung  des  Kantischen  Argumentes,  die  wir 
sogleich  in  die  gehörige  logische  Form  stellen: 

Was  eine  unendliche  Menge  von  verschiedenen  möglichen  Vorstellungen  in 

sich  enthält,  ist  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung. 
Der  Raum  enthält  eine  solche  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sieh. 

Also  ist  der  Raum  kein  Begriff,  sondern  Anschauung. 

Das  ist  ein  Schluss  nach  dem  zweiten  Modus  der  ersten  Figur  {Celarent). 
Der  Mittelbegriff  ist  hier:  „eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich 
haben"  —  genau  so  wie  oben  (S.  242  und  S.  248)  in  unserer  Darstellung. 
Die  Veränderung  der  bei  Kant  sich  findenden  Schlussform  Cesare  in 
Celarent  begründet  nach  den  Regeln  der  Logik  bekanntlich  keinen  wesent- 
lichen Unterschied  der  Behauptung.  Aber  trotz  dieser  formellen  Ueberein- 
Stimmung  ist  auch  diese  Darstellung  Fischers  falsch.  Es  erläutert  nämlich 
den  Obers  atz  so:  Jede  einzelne  empirische  Vorstellung  (=  Anschauung) 
enthält  eine  Fülle  von  Merkmalen,  die  sich  durch  logische  Determination 
niemals  vollenden  lassen.  In  diesem  Sinne  haben  die  Anschauungen  unend- 
lich viele  Vorstellungen  in  sich,  dagegen  eine  begriffliche  Vorstellung  ist 
nicht  so  gut  gestellt;  sie  enthält  nicht  in  jenem  Sinne  unendlich  viel  Vor- 
stellungen in  sieb.     (Vgl.  auch  a.  a.  0.  S.  57.)     Für   diesen  bekannten  Satz 


*  Eine  gewisse  f^ntschuldigung  liegt  für  K.  Fischer  in  dem  Umstand,  dass 
in  der  That  auch  Kant  selbst  einen  ähnlichen  Fehler  begangen  hat:  in  d»?m 
vorigen  Argument  (vgl.  oben  S.  219  f.)  stellt  ja  Kant  die  Theile  des  Raumes  mit 
den  Bestandtheilen  =  Merkmalen  eines  Begriffes  in  eine  Linie,  obgleich  es  sich 
beim  Raum  um  ein  concret-intuitives ,  beim  Begriff  um  ein  abstract-logisches  Ver- 
hältniss  handelt,  welche  gar  nicht  mit  einander  vergleichbar  sind. 


Ein  , Knäuel  falscher  Vorstellungen**  bei  K.  Fischer.  251 

[R  712.  H  60.  K  76.]  B  39.  40. 

citirt  nun  Fischer  folgenden  Satz  aus  Kants  Logik  (§  15  Nota):  ^Da  nun 
einzelne  Dinge  oder  Individuen  durchgängig  bestimmt  sind,  so  kann  es  auch 
nur  durchgängig  bestimmte  Erkenntnisse  als  Anschauungen,  nicht  aber 
als  Begriffe  geben;  in  Ansehung  der  Letzteren  kann  die  logische  Be- 
stimmung nie  als  vollendet  angesehen  werden."  Ein  merkwürdiges  Citat! 
»In  Ansehung  der  Letzteren"  heisst  doch  „in  Ansehung  der  Begriffe". 
Fischer  bezieht  aber  offenbar  „Letztere"  auf  Anschauungen.  Trotz  dieser 
irrigen  Beziehung  kann  diese  Stelle  Kants,  im  Zusammenhang  richtig  ver- 
standen, doch  für  jenen  Lehrsatz  geltend  gemacht  werden,  dass  die  Vorstellungen 
der  Einzeldinge  =  Anschauungen  eine  unübersehbare  Fülle  von  Merk- 
malen an  sich  haben,  im  Gegensatz  zur  Armuth  der  Begriffe.  Aber 
dieser  Obersatz  hat  mit  Kants  originärer  Darstellung  in  unserem  vorliegen- 
den Baumargumente  gar  nichts  mehr  zu  thun  ;  für  Kant  handelt  es  sich 
ja  um  die  sinnlichen  T heile  der  Anschauung,  nicht  um  ihre  Merkmale. 
Derselbe  Fehler  haftet  dem  Fischer'schen  Untersatze  an,  welchen  F.  selbst 
so  erklärt:  „Rechts  und  links,  oben  und  unten,  vorn  und  hinten,  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Richtung  und  Gestaltung,  die  unendlich  vielen  ver- 
schiedenen Vorstellungen,  die  hier  möglich  sind,  wird  Niemand  Theile  des 
Baumes,  wohl  aber  Eigenschaften  oder  Merkmale  desselben  nennen.  Der 
Raum  begreift  diese  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  nicht  unter  sich, 
sondern  in  sich."  Aber  Kant  spricht  doch  ganz  deutlich  davon,  dass  er 
unter  den  unendlich  vielen  Vorstellungen,  welche  der  Raum  in  sich  enthlUt, 
dessen  „Theile"  versteht,  und  sonst  nichts.  In  diesem  Schlüsse  versteht 
Fischer  darunter  „Merkmale",  Mit  dem  wirklichen  Sinne  der  Kantischen 
Argumentation  hat  diese  Auslegung  also  nichts  mehr  gemein.  Das  Wunder- 
samste an  dieser  Auslegung  ist  nun  aber,  dass  Fischer  sie  als  Erläute- 
rung seiner  ersten  Erklärung  betrachtet,  während  sie  doch  in  der  Tbat 
eine  ganz  neue,  aber  freilich  ebenso  falsche  zweite  Auffassung  bildet.  Welcher 
„Knäuel  falscher  Vorstellungen,  den  wir  hier  zu  entwirren  hatten,"  um  mit 
Fischer  (a.  a.  0.  S.  39)  selbst  zu  reden!  Doch  hatte  die  Analyse  desselben 
für  uns  den  Vortheil,  dass  der  Sinn  des  K.'schen  Argumentes  aufs  Neue 
eindeutig  eruirt  wurde. 

Aus  der  zahlreichen  Literatur,  die  sich  an  diesen  Streit  angeschlossen 
hat,  ist  auch  in  Beziehung  auf  diesen  Punkt  nicht  viel  zu  lernen.  Das  Beste 
hat  hierüber  noch  Bratuschek  gesagt  a.  a.  0.  S.  318—320;  er  weist  im 
Anschluss  an  Trendelenburg  Fischers  Quaternio  ziemlich  deutlich  nach.  Was 
Grapengiesser  (S.  72  f.  75—77),  Michelis  (S.  163—168),  Michelet 
(S.  73)  sagen,  hat  wenig  oder  nichts  zu  bedeuten  und  wirkt  eher  noch  mehr 
verwirrend.  Vgl.  übrigens  auch  Cohen,  2.  A.  128  und  in  der  Zeitschr.  f. 
Volk.  VII,  284.  Berg  mann,  Philos.  Monatsh.  IV,  409  Anm.  Fischer  selbst 
hat  in  der  neuen  Auflage,  S.  331  ff.  seine  falsche  Darstellung  ruhig  wieder 
vorgebracht. 

Der  Vollständigkeit  halber  ist  hier  nur  noch  zu  erwähnen,  dass  eine 
Stelle  aus  diesem  Argumente  auch  noch  nach  einer  anderen  Seite  hin  Gegen- 


252  §  2.     Zweite  Auflage:  Viertes  Raumargument. 

B  89,  40.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

stand  des  Streites  zwischen  Fischer  und  Trendelenburg  war.    Es  handelt 
sich  dabei   um   die  schon  oben  S.  207  besprochene  Controverse,   ob  Fischer 
das  Recht  gehabt  habe,  statt  des  bei  Kant  selbst  sich  findenden  Ausdruckes 
„Begriff*  in  diesem  Zusammenhange  den   Ausdruck  „Gattungsbegriff* 
zu  gebrauchen.    Dieser  —  wie  wir  sahen,  gänzlich  untergeordnete  —  Streit 
wurde  schon    oben   dahin  entschieden,   dass  „Gattungsbegriff**,   im  weiteren 
Sinne  gebraucht,  ganz  wohl  für  „Begriff**  gesetzt  werden  könne.    Wir  mussten 
Trendelenburg,   der   dies   mit   ganz  unnöthigen  Bedenken   bestritt,  unrecht 
geben.     Zur  Stärkung  seiner  Position   berief  sich  nun  Fischer  (2.  Auflage 
S.  323  Anm.)   auch   auf  den  Passus  dieses  Argumentes:   „Man  mnss   einen 
jeden  Begriff  als  eine  Vorstellung  denken,  die   in   einer  unendlichen  Menge 
von  yerschiedenen  möglichen  Vorstellungen  als  ihr  gemeinschaftliches  Merk- 
mal enthalten  ist.**    Trendelenburg  bemerkte  dagegen  (Entgegnung  S.  18): 
„Weder  das  Wort  noch  der  Sinn  des  Gattungsbegriffes  findet  sich  in  dieser 
Stelle.     Das  Erste  sieht  jeder;   das  Zweite   ergibt  sich   aus  dem  Begriff  der 
Gattung,'*   und  nun  beruft  er  sich   auf  die   oben  S.  207    angeführte   Stelle 
aus  Kants  Logik,   wonach  es  keine  Gattung  ohne  darunter  stehende  Arten 
gebe.     „Wo   mithin   die   unendlichen   möglichen   Vorstellungen,   welche   ein 
Begriff  unter  sich   begreift,   nur  Individuen  sind  und  keine  Arten,   da  ist 
auch   der  Begriff  kein  Gattungsbegriff.     Kants  Ausdruck,   —   in   einer  un- 
endlichen Menge  von  verschiedenen  möglichen  Vorstellungen,  kann  nur  auf 
die  unter  dem  Begriff  befassten  Individuen  gehen,  nicht  auf  Arten,  welche 
nicht   als  unendlich   viele  gedacht  werden**;    somit   könne  —  gemäss   dieser 
Stelle  —  auch  nicht  jeder  Begriff  als  ein  Gattungsbegriff  bezeichnet  werden. 
Diesem  Einwände  gegenüber  hatte  Fischer  leichtes  Spiel.  In  seiner  Antwort 
(Anti-Trendelenburg  S.  6  —  11.  16)  lässt  er  es  zwar  nicht  an  einer  Reihe  von 
blossen   Fechterstreichen   fehlen,    aber    es   findet   sich    darunter  doch    auch 
die  treffende  Gegenbemerkung:    ,,Darf  man  fragen,   warum   die  Arten  nicht 
als  unendlich   viele  gedacht  werden   dtirfen?  warum   nicht  unendlich   viele 
Arten    sein    können?     Kant  redet  von    einer   unendlichen  Menge   verschie 
dener   möglicher  Vorstellungen.**    In    der   That   lässt   sich    aus    dem  Wort- 
laut des  Kantischen  Satzes  heraus  nicht  widerlegen,   dass  er   unter  den  un- 
endlich vielen,  unter  dem  Begriff  enthaltenen  Vorstellungen  nicht  auch  könnte 
Arten  verstanden  haben  (wie  das  z.  B.  auch  B.  Erdmann  annimmt,  Kants 
Refl.  II,  110),  um  so  mehr,  als  Kant  in  seiner  Logik  (§  11)  lehrt,    es  lasse 
sich  jeder  Begriff  in  infinitum  in  Arten,  Unterarten  u.  s.  w.  spalten,  indem 
immer  noch  specifische  Unterschiede  vorhanden  sein  können.     Ob  nun  Kant 
auch  diese,  mit  Sigwart  (Logik  I,  299)  zusprechen,  generi  sehe  Allgemein- 
heit (die  sich  auf  qualitativ  verschiedene  Arten  bezieht)  oder  nur  jene  nu- 
merische Allgemeinheit  (die   sich   auf  die  blosse  Quantität  der  Individuen 
bezieht)   gemeint   habe,   lässt   sich   nicht   ausmachen   und  ist  auch  ziemlich 
gleichgültig.     (Vgl.  auch   Bratuschek   310  ff.;    Grapengiesser    72  f.: 
Michelis  155  f.;  Cohen  283;  Michelet  73;  Schlötel  85.)     Vgl.  B.  Erd- 
mann, Logik  I,  156. 


Der  Raum  als  eine  unendliche  gegebene  Grösse.  253 

[R  36.  712.  H  60.  E  76.]  A25.B  39.40« 

Yerhältniss  beider  Redactionen:  Unterschiede  und  Gemeinsames. 

Nachdem  nun  der  Sinn  der  beiden  Redactionen  zuerst  einzeln  für  sich  fest- 
gestellt worden  ist,  ist  es  nun  auch  erst  möglich,  das  Verhältniss  beider 
Redactionen  scharf  zu  präcisiren.  Nach  der  obigen  Analyse  ist  es  nun  nicht 
mehr  schwer,  sowohl  Gemeinsames  als  Verschiedenes  genau  herauszustellen. 
Gemeinsam  ist  beiden  Redactionen  die  allgemeine  Tendenz  der  Argu- 
mentation, welche  aber  in  der  2.  Aufl.  schärfer  hervortritt,  das  Beweis- 
thema: die  Raumvorstellung  ist  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung.  (Vgl. 
oben  S.  239.)  Auch  der  Beweisgrund  scheint  derselbe  zu  sein,  beginnen 
doch  beide  Auflagen  mit  demselben  Factum:  der  Raum  wird  als  eine  un- 
endliche Grösse  vorgestellt.  Aber  die  Unendlichkeit  des  Raumes  wird  beide- 
mal in  ganz  verschiedenem  Sinne  verwerthet.  Die  Unendlichkeit,  von  welcher 
in  A  die  Rede  ist,  ist  die  Grenzenlosigkeit,  die  Unendlichkeit  nach  aussen 
hin.  In  B  ist  von  der  Unendlichkeit  nach  innen  hin  die  Rede,  von  den 
unendlich  vielen  Theilen  des  Raumes,  von  deren  Zahllosigkeit,  Unzählbarkeit. 
In  A  handelt  es  sich  also  um  den  continuirlichen  Fortgang,  in  B  um  die 
discrete  Theilung,  dort  um  die  Grösse,  hier  um  die  Zahl.  In  A  ist  das 
Beweismoment  die  Unendlichkeit  der  Grösse  des  Raumes,  in  B  die  Unend- 
lichkeit der  Zahl  seiner  Theile,  oder,  um  mit  Schulze,  Kr.  d.  theor.  Philos. 
II,  211  zu  sprechen,  es  ist  zu  unterscheiden  zwischen  Unendlichkeit  der 
Grösse  des  Raumes  dem  Umfange  nach,  und  zwischen  Unendlichkeit  der 
Theile  des  Raumes  dem  Inhalte  nach.  Es  ist  sonach  irrig,  beide  Dar- 
stellungen in  einander  überfliessen  zu  lassen.  Besonders  Cohen  (1.  A.  S.  30; 
2.  A.  S.  126)  thut  dies  ganz  ausgesprochenermassen  und  findet  in  beiden 
Redactionen  ,, den  selben  Gedanken",  nur  in  der  ersten  Auflage  „schwerer 
und  dunkler  ausgedrückt".  Beide  Auflagen  enthalten  vielmehr  trotz  des 
gleichlautenden  Eingangssatzes  ganz  verschiedene  Gedankengänge,  so  dass 
auch  Erdmanns  Ausdruck,  das  Argument  sei  „in  der  ersten  Bearbeitung 
schwerfällig  formulirt"  (Kants  Reflexionen  II,  S.  110)  und  habe  in  B  „eine 
schärfere  Fassung  erhalten"  (Kriticismus  S.  187),  noch  zu  wenig  sagt. 

Excurs. 

Der  Raum  als  eine  unendliche  gegebene  Grösse. 

Dieser  gleichlautende  Eingangssatz*  selbst  bietet  sowohl  formelle 
als  materielle  Schwierigkeiten  dar.  Die  formelle  Schwierigkeit  besteht  in  dem 
schon  oben  S.  238  tadelnd  hervorgehobenen  Umstände,  dass  die  Stellung  und 
Fassung  des  Satzes  auf  den  ersten  Blick  leicht  dazu  verführen  kann,  diesen 


*  Nach  A  wird  der  Raum  „als  unendliche  Grösse  gegeben  vorgestellt",  nach 
B  als  „unendliche  gegebene  Grösse''.  Man  hat  darin  sachliche  Unterschiede  finden 
wollen,  z.  B.  Zahn,  Die  K/sche  Unterscheidung  von  Sinn  u.  s.  w.  S.  19  f.,  welche 
die  Formulirung  von  A  vorzieht,  weil  da  das  Gegebensein  erst  aus  der  Unendlich- 
keit erschlossen  werde.  Diese  Auslegung  ist  gezwungen.  Kant  meint  in  A  das- 
selbe wie  in  B. 


254  Excurs.    Der  unendliche  Raum  als  gegeben. 

ersten  Satz,  entsprechend  den  Anfangssätzen  der  anderen  Argumente,  für 
die  in  dem  Argument  zu  beweisende  These  zu  halten.  Der  logische  Werth 
des  Satzes  ist  aber  beidemal  vielmehr  ein  ganz  anderer:  nicht  die  zu  l>e- 
weisende  These  spricht  der  Satz  aus,  sondern  ein  Factum,  das  als  Grundlage 
des  Beweisgrundes  dienen  soll.  In  Folge  jener  Voranstellung  des  Satzes  — 
in  scheinbarem  Parallelismus  mit  den  Thesen  der  anderen  Argumente  —  ist 
der  richtige  Zusammenhang  häufig  verkannt  worden.  So  ist  dies  z.  B.  der 
Fall  bei  M ellin  II,  475  f.  In  neuerer  Zeit  hat  besonders  Kuno  Fischer  den 
richtigen  Zusammenhang  verkannt.  Er  hat  sich  ebenfalls  durch  jene  parallele 
Voranstellung  des  Satzes  täuschen  lassen,  und  behandelt  demgemäss  die  Un- 
endlichkeit von  Kaum  und  Zeit  als  eine  besondere  These,  verkennt  also  den 
dienenden  Charakter  der  Unendlichkeitsvorstellung  in  der  Kantischen  Argu- 
mentation (vgl.  oben  S.  222.  248).  Da  aber  Fischer  dann  doch  andererseits 
wieder  richtig  erkennt,  dass  die  Unendlichkeitsvorstellung  in  diesem  Argu- 
ment ein  Beweismittel  für  die  Anschauungsnatur  des  Raumes  ist,  so  lässt 
er  dieses  Argument  sogar  zwei  verschiedene  Beweisziele  haben:  einmal  soll 
das  Argument  beweisen,  dass  der  Raum  eine  Anschauung  ist  (3.  Aufl. 
S.  383  Anm.),  und  sodann,  dass  derselbe  eine  unendliche  Grösse  ist  (3.  Anfl. 
S.  334  Anm.).  Durch  diese  Darstellung  wird  der  wahre  logische  Zusammen- 
hang verdeckt. 

Grösser  sind  die  materiellen  Schwierigkeiten  des  Satzes.  Der  Satz 
behauptet  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  als:  der  Raum  wird  als  eine  un- 
endlich gegebene  Grösse  vorgestellt.  Damit  wird  die  actuelle  Unendlich- 
keit der  Raum  Vorstellung  behauptet,  welche,  im  Anschluss  an  Kant,  von 
Ulrich,  Instit.  S.  54.  232  so  ausgedrückt  wird:  „spatiutn  cum  Omnibus 
figuris  et  formt s  harwnque  variationibus  est  magnum  et  infinitum  quasi 
theatrum  in  nohis'^ ;  ja  Mellin  II,  475  wagt  sogar  den  Ausdruck:  Der 
Raum  ist  ein  unendliches  Individuum.  Aber  diese  Behauptung  der  actnellen 
Unendlichkeit  der  Raumvorstellung  in  diesem  Satze  hat  von  Anfang  an 
Bedenken  und  Anstoss  erregt.  So  meint  Schulze  in  seiner  Kritik  d.  theor. 
Philos.  II,  212  f.,  Kant  könne  hier  nicht  von  der  absoluten  Unendlichkeit, 
sondern  nur  von  der  comparativen  sprechen,  und  er  beruft  sich  zu  diesem 
Zwecke  auf  die  Antinomienlehre  (A  428  ff.,  B  456  ff.);  ausserdem  fugt  er 
die  beachtenswerthe  Bemerkung  hinzu,  dass  die  Vorstellung  der  Unendlich- 
keit, da  sie  alle  Grenzen  der  Erfahrung  überschreite,  doch  nicht  der  „An- 
schauung** zugeschrieben  werden  könne,  wie  Kant  das  hier  thue,  sondern 
nach  Kants  eigener  sonstiger  Lehre  der  „Vernunft**,  „welche  ja  in  ihren  Ideen 
die  Schranken  der  Sinnlichkeit  zu  überschreiten  trachtet".  Auch  Mellin 
V,  618  f.  ruft  die  Antinomien  zur  Erläuterung  und  Abschwächung  des 
„gegeben**  zu  Hülfe. 

Sehr  nachdrücklichen  Einspruch  erhob  Kästner  im  Eberhard'schen 
Philos.  Mag.  II,  407 — 419.  In  kui'zen,  scharfen  Sätzen  widerlegt  er  Kant 
und  formulirt,  zum  Theil  vortrefflich,  die  entgegengesetzte  Ansicht,  welche 
er  mit  den  Worten  des  Mathematikers  Jos.  Raphson  (1696)  wiedergibt: 
es   gebe   nur   ein  actu  finitum,  sed  indeterminabile ,   quod  ad   infinitum 


Kant  vertheidigt  sich  vergeblich  gegen  Kästner.  255 

semper  semperque  progrediens;  aber  ein  infinüum  actu  könne  es  nie  werden. 
Hiijxis  modi  infinitum  non  datiir  aparte  rei,  sed  tantum  aparte  cogltantis. 
Hiegegen,  sowie  gegen  Eberhards  eigene  ähnliche  Einwände  11,  84  u.  ö. 
wendet  sich  eine  grosse  Recension  ia  der  Jen.  A.  L.  Z.  1790,  III,  785 — 814. 
Dieselbe  stammt  von  Job.  Schultz  und  enthält,  wie  neuerdings  von  Reicke  und 
Dilthey  entdeckt  worden  ist,  grosse  Stücke  aus  Ks.  eigener  Feder.    Der  Origi- 
nalaufsatz Ks.  ist  mitgetheilt  im  Archiv  f.  G.  d.  Ph.  1889,  III,  79 — 90,  speciell 
S.  87—89.     K.  sucht   sich   gegen  Kästner   zu   helfen  durch  Unterscheidung 
des  Standpunktes  des  Metaphysikers  und  des  Mathematikers:  „Die  Metaphysik 
muss  zeigen,   wie  man  die  Vorstellung  des  Raumes  haben,   die  Geometrie 
aber  lehrt,  wie  man  einen  beschreiben,  d.  h.  in  der  Vorstellung  a  priori 
darstellen  könne.     In  jener  wird   der  Raum,   wie  er  vor  aller  Bestimmung 
desselben   einem  gewissen  Begriffe  vom  Object  gemäss,   gegeben   ist,  be- 
trachtet, in  dieser  wird  einer  gemacht.     In  jener   ist  er  ursprünglich  und 
nur  ein  einiger  Raum,  in  dieser  ist  er  abgeleitet  und  da  gibt  es  viel  Räume^ 
von  denen  aber  der  Geometer,    einstimmig  mit   dem  Metaphysiker,   zufolge 
der  Grundvorstellung  des  Raumes  gestehen   muss,   dass  sie  nur   als  Theile 
des  einigen  ursprünglichen  Raumes  gedacht  werden  können.    Nun  kann  man 
eine  Grösse,  in  Vergleich  mit   der  jede  anzugebende  gleichartige  nur  einem 
Theile  derselben  gleich  ist,  nicht  anders  als  unendlich  benennen.    Also  stellt 
sich  der  Geometer,  so  gut  wie  der  Metaphysiker,  den  ursprünglichen  Raum 
als  unendlich  vor  und  zwar  als  unendlich-gegeben  vor.     Denn   das  hat  die 
Raum  Vorstellung   (und  überdem   noch   die  der  Zeit)   Eigenthümliches,   der- 
gleichen in  gar  keinem  anderen  Begriffe  angetroffen  wird,  an  sich :  dass  alle 
Räume   nur  als  Theile  eines  einzigen  möglich  und  denkbar  sind.'*     K.  geht 
also  hier  zur  Bestimmung  des  Begriffes  des  Unendlichen  auf  die  im  vorigen 
Argument  (vgl.  S.  221  f.)  behandelte  Thatsache  zurück,  dass  alle  Räume  immer 
nur  Theile  des  Einen  Raumes  sind,  worin  eben  dessen  Unendlichkeit  ausge- 
sagt ist.     Hierauf  sucht  nun  Kant  auch   das   im   letzten  Argument  (A)  an- 
geführte Kriterium    der  Unendlichkeit,   die   Grenzenlosigkeit   im  Fortgange 
zurückzuführen.     „Dass  eine  Linie  ins  Unendliche  fortgezogen  werden  kann, 
wie  der  Geometer  sagt,  heisst  so  viel  als:   der  Raum,   in   welchem   ich   die 
Linie  beschreibe,  ist  grösser,  als  eine  jede  Linie,  die  ich  in  ihm  beschreiben 
mag;  und  so  gründet  der  Geometer  die  Möglichkeit  seiner  Aufgabe,   einen 
Raum   (deren   es    viele   gibt)    ins  Unendliche   zu   vergrössern,    auf  der   ur- 
sprünglichen Vorstellung  eines  einigen,  unendlichen,  subjectiv  gegebenen 
Raumes.     Hiemit  stimmt  nun  ganz  wohl  zusammen,  dass  der  geometrisch 
und  objectiv   gegebene   Raum  jederzeit   endlich  sei;   denn   er   wird  nur 
dadurch    gegeben,    dass    er    gemacht    wird."     Scheint    Kant   hiernach    die 
Bestimmung  aufrecht  erhalten  zu  wollen,   dass  der  Raum  als  unendlich  ge- 
geben sei,  so  gibt  doch  die  Fortsetzung  wieder  eine  (schon  in  dem  Vorher- 
gehenden  vorbereitete)  Abschwächung :    „Dass   der   metaphysisch,   d.  i.    ur- 
sprünglich, aber  bloss  subjectiv  gegebene  Raum  ....  unendlich  sei,   damit 
wird  nur  gesagt:  dass  er  in  der  reinen  Form  der  sinnlichen  Vorstellungsart 
des  Subjects  als  Anschauung  a  priori  besteht,  folglich  in  dieser,  als  einzelne 


256  Excurs.    Der  unendliche  Raum  als  gegeben. 

Vorstellung,  die  Möglichkeit  aller  Räume,  die  ins  Unendliche  geht,  ge- 
geben ist.*^  Aber  doch  sei  wieder  das  „actu  infinituvi  a  parle  cogiiantis 
keine  erdichtete  Vorstellungsart"  u.  s.  w.  Man  bemerkt  das  beständige 
Schwanken  zwischen  zwei  Meinungen:  1)  Die  Raumanschauung  sei  uns  als 
unendliche  wirklich  gegeben;  2)  diese  Unendlichkeit  sei  nur  eine  gedachte. 
Ueber  dieses  Schwanken  ist  K.  bezüglich  des  Raumes  auch  nie  hinausgekommen ; 
und  dieses  Schwanken  steht  in  natürlichem  Zusammenhang  mit  dem  oben 
S.  107  u.  230  aufgedeckten  Schwanken  zwischen  dem  Raum  als  formaler 
Anschauung  und  als  Form  der  Anschauung.  Ebenso  schwankend  äussert  sich 
das  Nachgel.  Werk  XIX,  574.  577.  620.  623;  XXI.  540.  552.  554.  586.  591. 

Viele  Ausleger  suchen  den  Kantischen  Widerspruch  dadurch  hinweg- 
zubringen, dass  sie  den  Ausdruck  „gegeben"  möglichst  abschwächen;  so 
%.  B.  auch  Holder  in  seiner  Darstellung  S.  11/2:  es  sei  nicht  so  zu  ver- 
stehen, „als  ob  der  unendliche  Raum  und  die  unendliche  Zeit  als  etwas 
Fertiges  in  uns  gegeben  wären  (wie  allerdings  der  erste  Satz  ungenau 
sich  ausdrückt);  vielmehr  besteht  ihre  Unendlichkeit  genauer  darin,  dass 
wir  bei  der  Construction  unserer  Raum-  und  Zeitvorstellung  keinen  der 
Funkte,  an  welchen  w^ir  Halt  machen,  als  absolute  Grenze  anzusehen 
vermögen.^ ^  Allerdings  spreche  Kant  den  letzteren  Gedanken  hier  in  der 
transsc.  Aesthetik  nur  in  der  ersten  Auflage  aus,  aber  es  liege  in  ihm  doch 
«in  wesentlicher  Bestandtheil  der  Kantischen  Auffassung  von  Raum  und 
Zeit.  Mit  Krause,  Popul.  Darst.  45  könnte  man  versuchen,  den  Schwierig- 
keiten so  zu  entgehen:  der  Raum  wird  gegeben  genannt,  weil  er  nicht 
willkürlich  gemacht  wird,  sondern  unwillkürlich  eintritt  auf  Empfindung 
hin,  und  unendlich,  weil  er  niemals  verweigert  werden  kann,  weil  er 
immer  wieder  eintritt,  sobald  wir  etwa  mit  ihm  aufhören  wollten.  Dass 
dies  nicht  kantisch  sei,  weist  richtig  nach  Mourley  Vold  in  den  Ver- 
handlungen der  Acad.  zu  Christiania  1885,  S.  10 — 11.  —  Caird,  Grit, 
Phil.  I,  291 — 295  sucht  die  Stelle  aus  dem  provisorischen  Gharakter  der 
Aesthetik  zu  erklären  (um  denselben  zu  wahren,  habe  K.  auch  den  Passus 
von  A  über  den  „grenzenlosen  Fortgang"  in  B  weggelassen,  Phü,  of  Kant  265; 
denn  erst  in  der  Analytik  ^^we  have  to  consider  in  the  doingy  that  tchich 
ihe  Aesthetik  generally  regards  as  done^'  ib.  271).  Mahaffy,  Grit.  Phil.  I,  62 
macht  darauf  aufmerksam,  dass  Kant  sich  bei  der  Zeit  vorsichtiger  aus- 
drückt: yjHence  time  is  originally  given  as  unlimited,  Avagueness  in  absenee 
of  limits  mag  he  given,  though  proper  infinity  cannot.  1  think^  Kants  op- 
ponents  should  have  given  him  the  benefit  of  this  reasondble  explanation." 

Auch  Gehen  hat  diese  Frage  eingehender  behandelt,  und  kommt  auf 
dieselbe  an  mehreren  Grten  zurück.  Besonders  sind  es  die  Einwände  von 
Ueber  weg  und  von  Trendelenburg,  welche  er  zurückweist.  Ueberweg  be- 
merkt an  der  mehrfach  erwähnten  Stelle:  „Actuell  erstreckt  sich  der  Raum, 
den  wir  uns  vorstellen,  nicht  ins  Unendliche,  sondern  nur  höchstens  bis  zu 
dem  angeschauten  Himmelsgewölbe  hin.  Die  Unendlichkeit  der  Ausdehnung 
liegt  nur  in  der  Reflexion,  dass  wir,  wie  weit  wir  auch  gelangt  sein 
mögen,   immer   noch  weiter  fortschreiten  können,   dass   also  keine  Grenze 


Gegner  und  Vertheidiger.  257 

-eine  schlechtbin  unüberschreitbare  sei."     Dagegen  bemerkt  Cohen    (1.  Auf! 
S.  32;   2.  Aufl.  8.  129),  jene   „K^flexion",   von   welcher  üeberweg   spreche 
könne  nur  sein  das  wissenschaftliche  Sich-bewusst-werden  von  der  „Grenzen 
losigkeit  im  Fortgange  der  Anschauung'*,  von  welcher  Kant  ja  selbst  spreche 
und  welche   „tief  und  scharf  die  construirende,   die   reine  Anschauung   be 
zeichne."  —  Trendelenburg  in  seinen  „Logischen  Untersuchungen"  (2.  Aufl 
3,  167  f.)  bemerkt:    „Bei  Kant  liegt  eigentlich  im  Beiwort  ein  Widerspruch 
wenn  er  sagt:    der  Baum  wird  als  eine  unendliche  Grösse  gegeben  vorge 
«teilt.    Denn  das  Gegebene  ist  sonst  das  Begrenzte.    Der  Widerspruch  scheidet 
aus,   wenn   die   fertige  Unendlichkeit  in   ihre   Quelle   zurückgeht,   in   den 
Oedanken  einer  ursprünglichen  und  darum  sich  nicht  hemmenden  Thätigkeit." 
Auch    hiegegen    macht    Cohen    (1.   A.   S.    65;   2.   A.   S.   129.   166)    darauf 
aufmerksam,  dass  ja  gerade  Kant  selbst  von  der  Grenzenlosigkeit  im-  Fort- 
gange der  Anschauung  spreche  S  dass  gerade  die  Kantische  reine  Anschau- 
ung „ursprüngliche  und  darum  sich  nicht  hemmende  Thätigkeit"  sei.    Ueber 
diesen   „Fortgang"   vgl.   auch   Kants   Reflexionen   II,   N.  642,   1436.     Lose 
Blätter  I,  251. 

Aber  die  unmittelbare  Nebeneinanderstellung  von  „unendlich"  und 
„gegeben"  bleibt  doch  unbequem;  , Jedem  Kenner  der  Antinomienlehre  muss 
der  Widerspruch  anstössig  sein,  in  den  sich  Kant  durch  die  Verbindung  der 
Begriffe  unendlich  und  gegeben  mit  jenem  Kapitel  gesetzt  haben  würde,  welches 
er  nichtsdestoweniger  als  indirecten  Beweis  seiner  transsc.  Aesthetik  be- 
zeichnet hat"  (Cohen,  2.  A.  S- 125).  So  sucht  denn  Cohen  jenen  Widerspruch 
vollends  ganz  wegzubringen;  die  blosse  Erläuterung  des  Satzes  durch  den 
Verweis  auf  die  in  der  ersten  Redaction  angeführte  „Grenzenlosigkeit  im 
Fortgange  der  Anschauung"  scheint  ihm  dazu  nicht  genug.  Cohen  fasst  zu 
jenem  Zweck  diesen  ersten  Satz  (wie  schon  oben  S.  239  angedeutet  worden) 
nicht  als  ein  directes  Glied  der  ganzen  Argumentation,  sondern  als  —  einen 
Selbsteinwurf,  der  dem  folgenden  Gedankengange  zu  Grunde  liege.  Bisher, 
in  den  3  (resp.  4)  ersten  Argumenten,  habe  sich  der  Raum  erwiesen  aller- 
dings als  eine  reine  Anschauung,  aber  noch  kenne  man  den  vollen  Werth 
eines  solchen  nicht;  unserer  einigen  Raumanschauung  könnte  doch  noch 
eine  unendliche  Räumlichkeit  real  correspondiren ;  dafür  scheine  sogar  zu 
sprechen,  dass  der  Raum  als  eine  unendlich  gegebene  Grösse  vorgestellt 
werde;  diese  Thatsache  widerstrebe  dem  Räume  als  reiner  Anschauung,  und 
weise  vielmehr  darauf  hin,  dass  die  Einigkeit  der  Raumesvorstellung  nicht 
auf  der  Reinheit  einer  intuitiven  Anschauung  beruht,  sondern  nur  der  Ab- 
druck  sei  eines   äusseren  Gegenstandes,   der  sie   kraft  Afl'ection   hervorrufe 


*  Aehnliches  wendet  gegen  Trendelenburg  auch  Lotze  ein,  Metaph.  S.  200  f., 
welcher  eine  „billige  Auslegung  Kants**  verlangt.  Vgl.  ib.  278  ff".  Vgl.  Beyers- 
dorfF,  Raumvorstellungen,  S.  30.  Vgl.  Cohen,  2.  A.  S.  199.  247  gegen  die  Einwände 
von  Herbart  (W.  AV.  VI,  115.  329;  XII,  377)  und  S.  220  gegen  Mill.  Treffende 
Einwände  im  Anschluss  an  Herbart  auch  bei  Drob i seh.  Psych.  §  24.  Vgl.  auch 
Schuppe,  Logik  170. 175. 423.  Wun dt,  Logik  1,449.  Cantoni,  Kant  I,  210— 224. 
Vaihinger,  Kant-Gommentar.    II.  17 


258  Excurs.    Der  unendliche  Raum  als  gegeben. 

u.  s.  w.  So  sei  also  jener  erste  Satz  von  der  unendlich  gegebenen  Raam- 
Vorstellung  als  eine  Frage  zu  fassen,  als  ein  Einwand,  auf  den  erst  die 
Portsetzung  des  Argumentes  die  Antwort  ertheile.  An  dieser  wunderlichen 
Auffassung  hat  Cohen  eine  solche  Freude,  dass  er  sie  mehrmals  wiederholt: 
zuerst  entwickelt  er  sie  1.  A.  S.  29  f.,  2.  A.  S.  125  f.,  und  dann  finden 
wir  sie  wieder  1.  A  S.  81.  50.  65,  2.  A.  S.  128  f.  166;  da  sagt  er  sogar, 
dieses  4.  Argument  gebe  auch  zugleich  die  Antwort  auf  jene  oben  S.  130  ff. 
behandelte  Frage:  „Was  sind  nun  Raum  und  Zeit?  Sind  es  wirkliche 
Wesen?"  ,,Dies  ist  die  Frage.  Ihre  Lösung  erkennen  wir  ausdrücklich 
in  dem  vierten  Satze.  Dieser  nämlich  ging  von  der  Vorstellung  des  Raumes 
als  einer  Art  von  Wesen,  einer  unendlichen  gegebenen  Grösse  aus,  löste 
dieselbe  aber  in  die  einige  Anschauung  auf,  deren  Unendlichkeit  nur  im 
endlosen  Fortgange  bestehe." 

So  hat  denn  auch  Cohen  den  Widerspruch  nicht  hinwegzubringen  ver* 
mocht.  Dieser  Widerspruch  kehrt  bei  Kant  immer  wieder.  £s  hat  deshalb 
auch  keinen  Werth,  wenn  man  sich  auf  anderslautende  Stellen  Kants  be- 
ruft: dies  macht  den  Widerspruch  ja  nur  um  so  offenbarer.  Eine  solche 
Stelle  enthalten  auch  Kants  Metaph.  Anf.  d.  Naturw.  I,  1.  3:  „Der  absolute 
Raum  ist  an  sich  nichts  und  gar  kein  Object,  sondern  bedeutet  nur  einen 
jeden  anderen  relativen  Raum,  den  ich  mir  ausser  dem  gegebenen  jederzeit 
denken  kann,  und  den  ich  nur  über  jeden  gegebenen  ins  Unendliche  hinaus- 
rücke, als  einen  solchen,  der  diesen  einschliesst,  und  in  welchem  ich  den 
ersteren  als  bewegt  annehmen  kann."  Während  Spicker,  Kant  S.  136  in 
dieser  Stelle  „eine  ganz  andere  Fassung"  des  Raumbegriffes  findet,  sagt 
Stadler,  Ks.  Th.  d.  Materie,  S.  26  (vgl.  desselben  Reine  Erk.  Th.  33)  mit 
Beziehung  auf  diese  Stelle:  „Hätte  man  sich  beim  Studium  der  Kr.  d.  r.  V. 
von  diesen  Stellen  helfen  lassen,  so  wäre  Kants  Lehre  vom  Räume  weniger 
miss verstanden  worden.  Hier  lernen  wir,  auf  welche  Weise  der  Raum  als 
eine  unendliche  gegebene  Grösse  vorzustellen,  und  dass  das  Princip  der  Un- 
endlichkeit nur  im  grenzenlosen  Fortgange  der  Anschauung  zu  suchen  ist. 
Hätte  Herbart  an  diese  Stelle  sich  erinnert,  er  würde  sein  Bild  von  den 
leeren  Gefdssen  schwerlich  gewagt  haben.  In  der  That  w^ird  hier  die  Form, 
wie  wir  es  deutlicher  nicht  wünschen  können,  als  ein  Fortgang,  als  eine 
Handlung,  d.  h.  ein  Process  erklärt.  Dieser  Process  ist  aber  nichts  anderes, 
als  was  in  der  Antinomienlehre  Regressus  in  hidefinitvm  genannt  wurde, 
d.  h.  das  endlose  Aufsteigen  vom  Bedingten  zu  seiner  Bedingung.  So  hat 
man  auch  daran  zu  wenig  gedacht,  dass  Ks.  Raumtheorie  in  der  Auflösung 
der  kosmologischen  Idee  ihre  werthvollste  Erläuterung  besitzt .  .  .  Nun  ist 
der  Trieb  in  unsere  Vernunft  gelegt,  eine  solche  Reihe  in  ihrer  Totalitit 
vorzustellen,  obgleich  sich  der  Vernunft  selbst  der  gesuchte  Abschluss  als 
unerreichbar  darstellt.  Die  Vorstellung  dieser  unerreichbaren  Grenze  nenni 
K.  Idee.  Auch  die  Idee  des  absoluten  Raumes  erfüllt  ihre  nothwendige 
regulative  Aufgabe."  Sehr  gut.  (Vgl.  oben  S.  230.)  Aber  Kant  betrachtet 
eben  hier  und  auch  sonst  diesen  absoluten,  unendlichen  Raum  nicht  als 
„Idee",  sondern  als  „gegeben". 


Vertheidiger  und  Gegner.  259 

Eine  scharfe  Kritik  an  der  Kantischen  widerspruchsvollen  Position  übt 
E.  V.  Hartmann,  Transsc.  Realismus  157:  „Als  gegebene  Grösse  ist  der 
Raum  immer  endlich,  und  es  ist  ein  logischer  Widerspruch,  dass  irgend 
etwas  als  unendliche  Grösse  gegeben  sein  oder  vorgestellt  werden  könne, 
weil  alsdann  eine  vollendete  Unendlichkeit  gegeben  wftre.  Nun  habe  ich 
allerdings  far  meinen  subjectiven  Vorstellungsraum  volle  Freiheit,  die  Grenze 
immer  weiter  herauszuverlegen ,  aber  damit  erlange  ich  nur  den  negativen 
BegrifF,  dass  für  meinen  jederzeit  endlich  gegebenen  subjectiven  Vorstellungs- 
raum keine  Grenze  der  möglichen  Erweiterung  in  mir  zu  finden  ist,  und 
dieser  Begriff  als  begleitende  Vorstellung  dem  endlich  gegebenen  Räume 
hinzugefügt,  macht  die  Unendlichkeit  des  Raumes  aus,  die  demnach  wie 
jede  Unendlichkeit  nur  als  potentielle  zu  fassen  ist.  Die  Unendlichkeit  des 
Raumes  ist  also  nicht  reine  concrete  Anschauung,  sondern  Begriff:  denn  sie 
beruht  erstens  auf  der  Verstandessynthese  des  Fortganges,  der  Bewegung, 
und  zweitens  auf  der  begleitenden  Vorstellung  der  Negation  der  Grenze, 
d.  h.  auf  einer  Kantischen  Kategorie.  Also  ist  der  unendliche  Raum  jeden- 
falls Begriff  und  enthält  als  Begriff  eine  unendliche  Menge  möglicher  Theil- 
vorstellungen  in  sich."  (Vgl.  oben  S.  241  Anm.)  Vgl.  übrigens  auch  schon 
Schopenhauer,  Kritik  d.  K. 'sehen  Philos.  592  ff.  Vgl.  auch  den  Streit 
zwischen  Lotze  und  Renouvier  über  die  Actualität  resp.  Potentialität  des 
unendlichen  Raumes.  Auch  Spicker,  Kant  182  f.  weist  darauf  hin,  dass 
die  Unendlichkeit  nicht  in  der  Anschaung,  sondern  im  Denken  liege:  ,,Kant 
selbst  ist  der  Ausdruck  gedacht  entwischt:  gleichwohl  wird  der  Raum  so 
gedacht,  nämlich  als  eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen  in  sich 
enthaltend.  Er  hätte  sagen  müssen:  Gleichwohl  wird  der  Raum  so  ange- 
schaut u.  s.  w."  Derselbe  Einwand  bei  v.  Kirch  mann,  Erl.  8;  dagegen 
Grapengicsser,  Erkl.  20.  Eine  scharfe  Kritik  dieses  Lehrstückes  auch  bei 
Montgomery,  Kant  100  ff.  (vgl.  dazu  Volkelt,  Kant  190).  M.  hebt  her- 
vor, „dass  Kant  gegen  sein  eigenes  Erkenntnissprincip  sündigt,  wenn  er 
einen  einigen,  allbefassenden  unendlichen  Raum  annimmt.  Denn  dies  sein 
Erkenntnissprincip  besage,  dass  nur  das,  was  in  der  Sinnlichkeit  sich  dar- 
stellt, Gegenstand  der  Erkenntniss  werden  könne.  Er  dürfe  daher  lediglich 
eine  Erkenntniss  von  bestimmten  Räumen  zugeben,  und  verwechsele  unsere 
unbegrenzte  Fähigkeit,  alle  möglichen  besonderen  Räume  zu  erzeugen ,  mit 
der  Unendlichkeit  des  Raumes  selber."  Vgl.  ferner  Engelmann,  Ks.  Lehre 
vom  Ding  an  sich,  S.  17.  29.     Vgl.  bes.  auch  Sigwart,  Logik,  II,  59. 

Fruchtbar  ist  die  Frage,  welche  B.  Erdmann  zu  Kants  Reflexionen  II, 
N.  357  aufgeworfen  hat:  ob  dieser  von  Kant  hier  behauptete  ,, unendlich 
gegebene"  Raum  identisch  sei  mit  der  ,,Form  der  Anschauung"  oder  mit  der 
„formalen  Anschauung"  —  ein  Gegensatz,  der  oben  S.  103  ff  u.  S.  256  hin- 
reichend auseinandergesetzt  worden  ist.  Erdmann  selbst  nimmt  das  Erstere 
an ;  aber  es  muss  wohl  im  Gegentheil  das  Zweite  angenommen  werden,  wie 
schon  oben  S.  256  angedeutet  wurde.  Jene  bloss  potentielle  „Form  der  An- 
schauung" ist  weder  endlich  noch  unendlich;  sie  ist  nur  die  „Bedingung" 
des   räumlichen  Anschauens  überhaupt;   aber    aus  dieser  potentiellen  Form 


260  Excurs.    Der  unendliche  Raum  als  gegeben. 

entstellt  nun  zweierlei:  verbindet  sich  jene  Form  mit  den  durch  Affection 
entstandenen  Empfindungen,  so  entstehen  die  empirischen  Anschauungen  der 
äusseren  Gegenstände,  wobei,  w^ie  hier  antecipatorisch  zu  bemerken  ist,  zu- 
gleich der  Verstand  durch  seine  kategorialen  synthetischen  Functionen 
mitwirkt.  Wird  jene  Form  aber  selbständig  für  sich  herausgegriffen  und 
zur  bestimmten  reinen  Anschauung  ausgebildet,  so  entsteht  eben  die  reine 
Anschauung  des  geometrischen  Raumes  als  solchen,  wobei  wiederum  jene 
synthetische  Function  bedingend  mitwirkt.  (Vgl.  oben  S«  224  f.)  Nun  ist  diese 
synthetische  Function,  welche  auch  mit  der  productiven  Einbildungskraft 
identificirt  wird,  bei  jenen  empirischen  Anschauungen  der  äusseren  Gegen- 
stände an  das  bestimmte  begrenzte  Material  gebunden,  das  ihr  durch  die 
Empfindung  gegeben  wird.  Dagegen  ist  die  productive  Synthesis  bei  der 
Ausgestaltung  der  reinen  Raum  an  schauung  an  gar  keine  Grenzen  gebunden; 
das„Mannigfaltige^^  was  hier  in  Betracht  kommt,  gibt  gar  keine  Veranlassung, 
irgendwo  innezuhalten,  im  Gegentheil,  überall  und  immer  ist  wieder  die 
Gelegenheit  zu  neuer  Synthesis  vorhanden ;  also  braucht  diese  auch  nirgends 
aufzuhören,  und  ihr  Product  ist  eben  der  —  unendliche  Raum.  Jene  syn- 
thetische productive  Function  erlaubt  und  fordert  in  diesem  Falle  den 
,,Progressus  in  infinÜMn'',  s.  Kants  Refl.  II,  N.  358—360.  410—412;  „Der 
Raum  ist  unendlich  progressive,  aber  nicht'  collective."  Vgl.  N.  1420 — 1425. 
1436 — 1450  (schwankende  Aeusserungen  über  das  infinitum  quantum  da  tum 
und  dabile),  sowie  Kants  Aeusserungen  in  seiner  Metaphysik- Vorlesung  über 
Maximum  und  Illimitatum,  Phil.  Mon.  1884,  S.  83.  Vgl.  Pölitz,  Kants  Me- 
taphysik S.  65  f.  Diese  synthetische  Function  ist  immer  schon  in  Thätigkeit 
getreten  und  vollzogen,  wenn  wir  die  reine  geometrische  Raumanschauung 
haben;  durch  jene  wird  ja,  wie  in  der  oben  S.  226  besprochenen  Stelle  ge- 
sagt wird,  ,,der  Raum  als  Anschauung  zuerst  gegeben";  wird  nun  jene 
productive  Synthesis  in  ihrer  Thätigkeit  nirgends  aufgehalten,  so  ist  damit 
eben  auch  der  Raum  als  unendliche  Anschauung  gegeben.  Aber  es 
bleibt  darin  doch  immer  der  üble  Widerspruch  bestehen,  dass  jener  pro- 
gressus  in  infinitum  als  vollendet  gedacht  werden  soll  —  ein  Widerspruch, 
der  auch  in  widersprechenden  Wendungen  der  eben  erwähnten  Stellen  aus 
Kants  Reflexionen  deutlich  zum  Vorschein  kommt. 

In  den  eben  citirten  Reflexionen  Kants  II,  N.  357  ff.  (vgl.  N.  415) 
erhalten  wir  übrigens  nun  auch  eine  interessante  Andeutung,  welche  ge- 
eignet ist,  auf  den  schon  oben  S.  243  angeführten  Zusatz  der  2.  Aufl.,  — 
denn  alle  Theiie  des  Raumes  ins  Unendliche  sind  zugleich  —  Licht  zu 
werfen.  Dort  heisst  es:  „Durch  das  Zugleich  ist  das  Gegebensein  ange- 
zeigt." „Die  omnitudo  collectiva  oder  Totalität  beruht  auf  der  positione  simul* 
ianea,^^  „Die  Zeit  ist  in  Ansehung  der  potentialeu  Simultaneität  unend- 
lich. Daher  stellen  wir  uns  den  Raum  actualiter  unendlich  vor."  Dai'aus 
ist  zu  schliessen,  dass  die  Setzung  der  Raumtheile  durch  die  synthetisch- 
productive  Function  nicht  eigentlich  ein  Nacheinander  von  Zeit momenten 
erfordert,  sondern  in  Gleichzeitigkeit  vollzogen  wird.  Allein  dies  steht 
wiederum  im  Widerspruch   mit  den    ganz  anders  lautenden  Erklärungen  in 


Infinitum  quantum  datum  oder  dahile'f  261 

der  These  der  ersten  Antinomie  A  428,  wonach  eben  die  unendlich  vielen  Theile 
der  Welt  „nicht  als  zugleich  gegeben  angesehen  werden"  können.  Dies 
schliesst  ja  auch  schon  der  Begriff  des  progressus  in  infinitum  ein.  Gleich- 
wohl ist  jene  Bestimmung  der  positio  simultanea  eine  dankenswerthe  Er- 
läuterung des  Textes  hier:  die  unendlich  vielen  Theile  der  gegebenen 
Raumanschauung  sind  ja  auch  allerdings  als  zugleich  vorhanden  zu  denken, 
wenn  auch  die  dazu  nöthige  synthetische  Function  ein  Nacheinander  der 
Acte  erfordert. 

Auch  in  dem  Fischer-Trendelenburg'schen  Streite  hat  die 
Auslegung  des  Satzes  vom  unendlich  gegebenen  Räume  eine  Rolle  gespielt, 
wie  schon  oben  S.  247  ff.  bemerkt  worden  ist.  Fischer  zog  (2.  Aufl.  S.  322) 
aus  dem  Satze  vom  ,, unendlichen  gegebenen  Räume"  die  Bestimmung,  dass 
der  Raum  ein  Ganzes  sei.  Gegen  diese,  auch  schon  oben  von  uns  ver- 
worfene Bestimmung  hat  schon  Trendelenburg  mit  Recht  sich  gewendet. 
Er  sagt  in  seiner  Entgegnung  S.  25:  „Es  ist  misslich,  den  unendlichen 
Raum  dasGanzezu  nennen,  da  sich  uns  mit  einem  Ganzen  die  Vorstellung 
des  Umgrenzten  verknüpft."  Fischers  Vertheidigung  (Duplik  S.  30—32) 
ist  oben  S.  249  wiedergegeben  und  seine  Behauptung  schon  dort  hio reichend 
zurückgewiesen  worden.  lieber  die  Anwendung  der  Begriffe  omnitudo  und 
totalitas  auf  den  Raum  vgl.  übrigens  auch  Kants  schwankende  Aeusserungen 
in  seinen  Reflexionen  II,  N.  358  ff.  607  ff.  1422  ff.,  besonders  aber  Kr.  d. 
ürth.  §  26,  wonach  die  Zusammenfassung  beim  Unendlichen  zu  einem  Ganzen 
eine  die  mathematische  Grössenschätzung  überragende  „intellectuelle"  Thfttig- 
keit  der  Vernunft  ist  (also  eine  „Idee");  das  Unendliche  wird  übrigens  auch 
danach  als  „gegeben  gedacht";  doch  nennt  K.  dies  selbst  ,, einen  in 
sich  selbst  widersprechenden  Begriff"!  — 

Uebersicht  der  Raumargumente.  Auf  Grund  der  speciellen  Analyse 
der  einzelnen  Rauraargumente  sind  wir  nun  in  den  Stand  gesetzt,  das  gegen- 
seitige Verhaltniss  und  den  Zusammenhang  derselben  genauer  zu  bestimmen. 
Auf  den  ersten  Blick  ist  klar,  dass  die  beiden  ersten,  sowie  die  beiden  letzten 
Argumente  je  ein  zusammengehöriges  Paar  bilden;  dies  wurde  oben  auch 
schon  mehrfach  S.  197.  205.  210.  237  erörtert.  Die  beiden  ersten  Argumente 
wollen  die  Ansicht  von  der  empirischen  Natur  der  Raumvorstellung  wider- 
legen und  ihren  apriorischen  Charakter  darthun.  Die  beiden  letzten 
Beweise  wollen  dagegen  die  Ansicht  von  der  discursiven  (begreiflichen) 
Natur  der  Raum  Vorstellung  zurückweisen  und  ihren  intuitiven  Charakter 
erweisen.  'Vgl.  den  Entwurf  in  den  Reflexionen  II,  N.  334:  „Der  Raum 
ist  kein  Erfahrungsbegriff.  Er  ist  auch  kein  Vernunftbegriff."  Das 
Problem  der  beiden  ersten  Argumente  ist  der  erkenntnisstheoretische 
Ursprung  der  Raum  Vorstellung ,  das  der  beiden  letzten  deren  logischer 
Werth. 

Zwischen  den  beiden  ersten  Argumenten  für  sich  besteht  ferner  der 
Unterschied,  dass  das  erste  auf  indirectem,  das  zweite  auf  directem 
Wege  sein  Ziel  erreicht:  der  directeste  Weg  für  den  Beweis  der  Apriorität 
besteht  ja  in  dem  Nachweis  von  der  Nothwendigkeit  der  betreffenden  Vor- 


262  Uebersicht  der  Raumargumente. 

» 

Stellung  selbst,  diesen  Weg  schlägt  das  zweite  Argument  ein,  während  das 
erste  den  Umweg  einschlägt,  über  die  „Möglichkeit  der  Erfahrung*  —  die 
Baum  Vorstellung  ist  eine  unentbehrliche  Voraussetzung  für  das  Znstande- 
kommen unserer  Wahrnehmung. 

Auch  den  unterschied  der  beiden  letzten  Argumente  kann  man  in 
ähnlicher  Weise  bestimmen:  das  vorletzte  Argument  zeigt,  dass  der  Kaum 
kein  Begriff  sei,  direct  durch  den  Hinweis  darauf,  dass  der  BaumTorstellaDg 
Eigenschaften  fehlen,  welche  jeder  Begriff  hat:  die  Allgemeinheit  und  die 
Zusammengesetztheit,  sondern  sie  hat  die  Prädicate  der  Einzigkeit  und  Ein- 
heitlichkeit. Im  letzten  Argument  dagegen  wird  zu  demselben  Zwecke  ein 
Umweg  eingeschlagen,  und  es  wird  ein  entfernteres  Merkmal  des  Raumes, 
die  Unendlichkeit,  zum  Beweis  verwerthet. ' 

Uebersicht  der  Baumargumente. 

Erstes  Theorem  (phjectum  probationis) : 

Der  Raum  ist  nicht  eine  empirische,  sondern   eine  aprio- 
rische Vorstellung. 

Beweise  (argumenta  pröhatioma)  \ 

A  u.  B  I.  Indirecter  Beweis:    Aus   der  Priorität  der  Raumvorstellung 

vor  jeder  äusseren  Wahrnehmung. 
A  u.  B  II.  Directer  Beweis:   Aus  der  Nothwendigkeit  der  Raumvor- 
stellung.   Biese  ist  näher  zu  bezeichnen: 

a)  als  absolute  Nothwendigkeit  für  das  vorstellende  Subje ct. 
Dazu  kommt  als  Folgerung  (oder  als  Nebenbeweis?): 

b)  die  relative  Nothwendigkeit  für  die  vorgestellten  Objecte. 
[FolgeiTing  AIII:  Die  Apodicticität  der  Geometrie:  in  B  weggefallen.] 

Zweites  Theorem  {phjectum  probationis) : 

Die  Raumvorstellung  ist  ursprünglich  nicht  Begriff,  son- 
dern Anschauung. 

Beweise  (argume'nta  2>rohQtiom8) : 
A  IV  =  B  in.    Directe  Beweise : 

a)  aus  der  Einzigkeit  der  Raumvorstellung  (die  Einzelräume  sind 
nicht  Exemplare,^  wie  sie  ein  Begriff  unter  sich  hat,  sondern 
Theile,  wie  sie  nur  eine  Anschauung  in  sich  haben  kann); 

b)  aus  der  Einheitlichkeit  der  Raumvorstellung  (die  Einzeliüame 
sind  nicht  selbständige  vorhergehende  Bestandtheile,  wie  die 


*  Hiezu  vergleiche  man :  Schulz,  Erläut.  S.  23  ff. ;  Schmid,  Wörterb.  441: 
Thanner,  Idealismus  28;  Mirbt,  Kant  73;  Fischer  (vgl.  oben  S.  204.  209  f): 
Cohen,  Zeitschr.  f.  V.  VII,  279;  Cohen,  Th.  d.  Erf.  1.  Aufl.  S.  28.  50:  2.  Aufl. 
S.  123.  166;  Holder,  Darstellung  S.  10  f;  Zeller,  D.  Philos.  427;  Arnoldt. 
R.  u.  Z.  118;  v.  Hartmann,  Transsc.  Realismus  142  (unrichtig);  Witte,  Beitrage 
27  ff.  Ganz  andere  und  falsche  Beurtheilung  und  Eintheilung  der  Argumente  bei 
Görin g,  Raum  u.  Stoff  36  ff.  Eigenartig  bei  Deussen,  Metaph.  §  48  ff.  —  Den 
^Entwurf  einer  anderen  Anordnung  der  Raumargumente''  macht  Kant  in  seinem 
Handexemplar  (Erdmann ,  Nachträge  N.  13).  Schon  aus  der  Zeit  der  70er  Jahre 
haben  wir  einen  Entwurf  in  den  Reflexionen  II,  N.  334. 


Rolle  der  „Transscendentalen"  Erörterung.  263 

Merkmale,  aus  denen  ein  Begriff  zusammengesetzt  wird;   son- 
dern unselbständige   Theilstücke,   welche  erst  aus  der  Einen 
Raumvorstellung  herausgeschnitten  werden). 
[Dazu  c)  eine  Bestätigung  aus  der  synthetischen  Natur  der  Geometrie.] 

AV  =  B  IV.    Indirecte  Beweise  (aus   der  Unendlichkeit  der  Raum- 
vorstellung) : 
Erste  Auflage:  Aus  der  Grenzenlosigkeit  derselben.   (Dies  ist  eine 

Grössenbestimmung,  wie  sie  kein  Begriff  enthalten  kann.) 
Zweite  Auflage:  Aus  der  Unzählbarkeit  der  Raumtheile.    (Kein 
Begriff  kann  eine  solche  unendliche  Menge  von  Voi-stellungen  in 
sich  haben;  nur  unter  sich  hat  er  eine  solche.) 


§  3. 

Transscendentale  Erörterung  des  Baumbegriffs. 

In  welchem  Sinne  die  »Transsc.  Erörterung*'  der  „metaphysischen" 
gegenübersteht,  wurde  oben  S.  151  ff.  hinlänglich  besprochen.  Die  metapb. 
Er  ort.  untersuchte  den  Vorstellungswerth  der  Raum  Vorstellung  und  erweist 
dieselbe  als  „a  priori  gegebene"  Vorstellung.  Die  transsc.  Er  ort.  zeigt, 
dass  und  wie  aus  diesem  Begriffe  noch  etwas  „anderes  Apriorisches,  nämlich 
synthetische  Erkenntniss  a  priori"  folge  (vgl.  B  132).  Ueber  das  Verhält- 
niss  dieser  transsc.  Erörterung  des  Raumes  zu  der  transsc.  Deduction 
der  Kategorien   vgl.  schon   oben  S.  152.  —  Vgl.  Cantoni,   Kant  I,  161  ff. 

Was  die  allgemeine  Tendenz  des  Abschnittes  betrifft,  so  ist  beachtens- 
werth,  was  Paulsen,  Entw.  179  sagt:   er  betrachtet  (vgl.  Comm.  I,  67  ff.) 
den    Rationalismus    als    den   eigentlichen   Hauptzweck    der   Kr.  d.  r.  V., 
dem    der   Idealismus   nur    als    „nothwendige    Voraussetzung    zu 
dienen  habe."     „Namentlich  die  transsc.  Deduction,  sowohl  die  etwas  ver- 
kümmerte in  der  Aesthetik,  als  die  ausgeführte  in  der  Analytik,  hat  nichts 
Anderes  zu  ihrem  Gegenstand  als  den  Nachweis,   dass   wir  reine  Vernunft- 
erkenntniss  von  allen  Dingen  als  Erscheinungen  haben  können."     Paulsen 
beruft  sich  (185)  hauptsächlich  auf  den  Anhang  in  den  Prolegomena,  woselbst 
K.  selbst  sagt:  „Mein  sog.  Idealismus  ist  also  von  ganz  eigcnthümlicher  Art, 
nämlich  so,  dass  er  den  gewöhnlichen  umstürzt,  dass  durch  ihn  alle  Erkennt- 
niss a  priori,   selbst   die  der  Geometrie,   erst   objective  Realität   bekommt." 
Dagegen  Erdmann,  Krit.  188.     Wir   haben   schon    Comm.  I,  70   zu  dieser 
Streitfrage  Stellung  genommen.    Rationalismus,  Idealismus,  Empirismus  u.  s.  w. 
sind  einzelne  Seiten  an  dem  Kriticismus,  nicht  er  selbst.     Dass  die  transsc. 
Erörterung  den  Rationalismus  besonders  hervorhebt,  liegt  in  ihrer  Aufgabe ; 
Ks.  System  im  Ganzen  ist  deshalb   noch   nicht    einseitig   als   Rationalismus 
zu  bezeichnen;  mit  solchen  exclusiven  Auffassungen  verschliesst  man  sich  das 
Verständniss   der  Totalität   des   kritischen   Systems.     Dies   gilt   auch   gegen 
Adickes  71.  76. 

Paulsen,   Entw.  168    will    nun    folgenden    wesentlichen    Unterschied 
der  beiden  Auflagen  herausfinden:    ,.Es  ist  bemerkenswerth,   dass  die  trans- 


204  §  3.     Raum:  transscendentale  Erörterung. 

B  40.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

scendentalen  Erörterungen  der  1.  Aufl.  das  Resultat  nicht  in  die  Formel 
ziehen:  folglich  sind  unter  dieser  Bedingung  synthetische  Urtheile 
a  priori  in  der  Mathematik  möglich.  Erst  die  2.  Aufl.  benutzt  die  Frage- 
stellung für  die  Antwort.  Es  darf  daraus  wenigstens  dies  entnommen 
werden,  dass  die  Formel  ihm  bei  der  ersten  Bearbeitung  noch  weniger  ge- 
läufig war."  Allerdings  fehlt  in  den  correspondirenden  Nummern  3  der 
1.  Aufl.  jene  Formel,  allein  sie  findet  sich  ja  (abgesehen  von  der  vorüber- 
gehenden halben  Erwägung  in  dem  Zeitargument  N.  4)  zweimal  sehr  deut- 
lich und  ausführlich  in  A :  38  ff.  und  46  ff.  Die  Behauptung  Paulsens  ist 
also,  wie  schon  Comm.  1,  833  bemerkt  werden  musste,  thatsächlich  irrig. 
Seitdem  hat  nun  (1889)  Adickes  in  seiner  Ausgabe  der  Kr.  d.  r.  V.  (bes. 
S.  75.  82.  86.  89)  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht,  dass  alle  Abschnitte 
und  Stellen,  in  welchen  das  synthetische  Urtheil  erwähnt  wird,  in  dem  ur- 
sprünglichen Entwurf  d.  Kr.  d.  r.  V.  gar  nicht  schon  enthalten  gewesen 
seien,  sondern  erst  nachher  in  den  Context  desselben  eingeschoben  worden 
seien.  Diese  Hypothese  ist,  wenigstens  in  der  Form,  in  welcher  sie  vorge- 
tragen ist,  sehr  unwahrscheinlich,  wie  schon  aus  den  Erörterungen  über  die 
Entstehung  des  Unterschiedes  des  analytischen  und  synthetischen  ürtheils  I, 
269  ff.  288  f.  327  ff.  hervorgeht.     Vgl.  Archiv  f.  G.  d.  Ph.  IV,  727. 

Dieser  ganze  Abschnitt  ist  in  der  2.  Aufl.  erst  eingefügt  worden.  Er 
ist  eine  Erweiterung  des  dafür  weggelassenen  dritten  Raumargumentes  der 
1.  Aufl.;  vgl.  oben  S.  202.  Aus  der  in  den  beiden  ersten  Argumenten  be- 
wiesenen Apriorität  der  Raum  Vorstellung  wurde  da  die  Apodicticität  der 
Geometrie  erklärt.  Die  Gründe,  warum  diese  Argumentation  nicht  an  jene 
Stelle  gehört,  wurden  dort  hinreichend  entwickelt.  Dazu  tritt  noch  eine 
kleine  Ungenauigkeit  der  ersten  Auflage:  Kant  sagte  da,  auf  die  Apriorität 
der  Raumvorstellung  gründe  sich  auch  die  Möglichkeit  der  geometriscfaeD 
Constructionen  a  priori  (vgl.  oben  S.  203);  aber  das  gehörte  noch  nicht 
dahin;  denn  zur  Construction  wird  ja  Anschauung  erfordert  (s.  Krit,  A  712  f. 
718);  davon  aber,  dass  die  Raum  Vorstellung  Anschauung  sei,  war  ja  bis 
dahin  keine  Rede  gewesen.  Davon  ist  erst  nachher  die  Rede  und  so  wird 
denn  auch  am  Schlüsse  des  vorletzten  Raumargumentes  wieder  auf  die 
Eigenthümlichkeit  der  Geometrie  hingewiesen,  ihre  Sätze  nicht  aus  Begriffen, 
sondern  aus  Anschauungen  zu  erweisen.  Auch  diese  Bemerkung  war,  wie 
wir  sahen  S.  234,  dort  eigentlich  deplacirt,  und  hätte  daher  consequenter 
Weise  in  der  zweiten  Auflage  ebenso  gestrichen  werden  müssen,  wie  das 
dritte  Argument;  denn  auch  sie  wird  in  der  „Transscendentalen  Er- 
örterung" erst  im  richtigen  Zusammenhang  vorgebracht.  Es  ist  daher  auch 
irrig,  wenn  A dickes  75  zur  Unterstützung  seiner  eben  erwähnten  Hypo- 
these behauptet,  im  dritten  und  vierten  Argument  von  A  sei  nur  von  Xoth- 
wendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  die  Rede  gewesen:  Kant  spricht  auch 
von  der  Anschaulichkeit  der  geometrischen  Urthoile,  und  weist  damit  deut- 
lich schon  hier  auf  deren  synthetische  Natur  hin,  nicht  nur  auf  ihre 
apriorische. 


Erste  und  zweite  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V.    Die  Prolegomena.  265 

[R  713.  H  60.  K  76.]  B  40. 

Man  würde  jedoch,  wie  aus  dem  Folgenden  hervorgehen  wird,  diese 
„Transsc.  Erörterung"  ganz  missverstehen  (so  z.  B.  Adickes  75  N.),  wenn 
man  in  ihr  nur  eine  Erweiterung  des  in  der  zweiten  Auflage  weggefallenen 
ursprünglichen  dritten  Raumargumentes  sehen  wollte.  Dieses  (nebst  der 
Schlussbemerkung  des  urspünglichen  vierten  Raumarguments)  bezieht  sich 
nämlich  nur  auf  die  reine  Mathematik  als  solche.  Nun  aber  bezieht  sich  — 
dies  nachzuweisen  '  wird  unsere  Hauptaufgabe  sein  —  die  transsc.  Er- 
örterung selbst  auch  auf  die  angewandte  Mathematik.  Diese  war  nun 
auch  schon  in  der  ersten  Auflage  gleich  unten  im  Schluss  b  erwähnt  worden. 
In  der  Transsc.  Erörterung  von  B  sind  also  das  (in  B  weggefallene)  dritte 
Raumarguraent  von  A,  und  der  (auch  in  B  erhaltene)  Schluss  b  nach  A 
von  Kant  in  Eine  Erörterung  zusammengefasst  worden.  Er  spricht  sowohl 
von  der  reinen,  als  von  der  angewandten  Mathematik,  und  zwar  promiscue, 
wie  das  auch  schon  in  A  in  den  beiden  wichtigen  Parallelstellen  A  38  ff. 
und  A  46  ff.  der  Fall  gewesen  war.  Die  Transsc.  Erörterung  enthält  somit 
inhaltlich  nichts  Neues  gegenüber  der  ersten  Auflage,  ist  aber  formell  sehr 
wichtig  geworden  wegen  ihrer  prononcirten  Stellung.  Diese  ihre  prononcirte 
Stellung  verdankt  die  Transsc.  Erörterung  jedenfalls  der  Einwirkung  der 
Prolegomena.  (Vgl.  Er d mann,  Ks.  Krit.  187  ff.)  Wie  sich  Kritik  und 
Prolegomena  sachlich  hierin  verhalten,  ist  unten  zu  erörtern;  das  metho- 
dische Verhältniss  ist  sogleich  hier  zu  erwägen. 

Schon  im  ersten  Bande  dieses  Commentares  wurde  ausführlich  dar- 
gethan,  wie  sich  Prolegomena  und  Kritik  im  Allgemeinen  zu  einander  ver- 
halten. Es  wurde  I,  412  ff.  ausgeführt,  inwiefern  die  Kritik  synthetisch 
verfährt,  während  die  Prolegomena  den  analytischen  Weg  einschlagen.  Die 
Kritik  untersucht  die  Bedingungen  unserer  Erkenntniss,  um  diese  aus  jenen 
dann  abzuleiten;  jene  bedingenden  Factoren  werden  ganz  selbständig  erst 
untersucht  und  für  sich  festgestellt,  und  erst  dann  gezeigt,  wie  aus  solchen 
Factoren  unsere  Erkenntniss  sich  zusammensetze.  Die  Prolegomena  nehmen 
gerade  diese  unsere  Erkenntniss  (ein  gegebenes  Factum)  als  Ausgangspunkt 
und  suchen  die  erklärenden  Bedingungen  zu  dieser  Thatsache.  Dieser  Unter- 
schied gilt  für  beide  Auflagen  der  Kritik,  mit  geringen  Ausnahmen.  Zu 
diesen  Ausnahmen  gehört,  wie  schon  I,  415  Anm.  angedeutet  wurde,  eben 
die  vorliegende  Stelle.  Denn  in  diesem  Abschnitte  verlässt  Kant  ja  den 
synthetischen  Weg.  In  dem  dritten  Raumargument,  wie  es  die  erste  Auf- 
lage darbot,  hatte  Kant  noch  den  synthetischen  Weg  eingehalten  (wenn  auch 
mit  merklicher  Hinneigung  zum  analytischen) ;  er  ging  ja  daselbst,  wie  er 
selbst  in  der  Logik  §  117  von  der  synthetischen  Methode  sagt,  aprincipiis 
ad  principiata:  d.  h.  von  der  Apriorität  der  Raumvorstellung  ging  er  zur 
Apodicticität  der  Mathematik  als  ihrer  Folge  (vgl.  dazu  B.  Erdmann, 
Ks.  Prolegomena  Einl.  XXXII,  Kriticismus,  S.  187).  Diese  dem  synthetischen 
Gang  angemessene  Darstellung  verliess  er  in  der  „Transscend.  Erört.*,  wie 
sie  von  der  zweiten  Auflage  dargeboten  wird.  Denn  in  ihr  geht  Kant  ja 
von  der  Thatsache  der  Apodicticität    der   Mathematik   aus,   um   von   dieser 


26G  §  3-    Kaum:  transscendentale  Erörterung. 

B  40.  41.  [R  712.  H  60.  K  76.] 

aus  auf  die  Apriorität  der  Raum  Vorstellung  zu  schliessen,  indem  er  die 
quaesita  für  jenes  datum  aufstellt.  Er  fragt  ja:  Wie  muss  die  Raum- 
Vorstellung  gedacht  werden,  damit  die  thatsächlich  vorhandene  apriorische 
Erkenntniss  der  Mathematik  genügend  erklärt  werde?  (Es  handelt  sich  um 
eine  Erklärung,  welche,  um  mit  den  alten  Methodologen  zu  sprechen,  zum 
GcuCeo^cc'-  ta  cpaiv6{ieya  genügend  ist.)  Indem  also  Kant  diesen  analytisch  ge- 
führten Abschnitt  einschiebt,  setzt  er  hier  ganz  frisch  ein,  und  thut,  als  ob 
bisher  gar  nichts  geschehen  wäre.  Dies  neue  Einsetzen  erhöht  den  Reiz  der 
Darstellung;  und  so  wird  wohl  Kant  auch  an  diese  Stelle  gedacht  haben, 
wenn  er  in  der  Vorrede  B  42  sagte,  er  habe  bei  seinen  , Weglassungen ^ 
und  „Einschaltungen"  auch  gelegentlich  „die  Methode  des  Vortrages*  ver- 
ändert, um  grössere  „Fasslichkeit"  zu  erreichen.  Denn  die  analytische 
Methode  hat  ja  den  Vorzug  grösserer  Popularität  (vgl.  die  Stellen  darüber 
in  den  Phil.  Monatsh.  XVI,  57  f.).  Was  aber  die  Dai*stellung  so  an  Popu- 
larität gewann,  das  verlor  sie  an  Strenge  und  logischer  Klarheit.  Hierüber 
vgl.  man  den  methodologischen  Excurs  unten  zu  A  26  (hinter  dem  Schlüsse  b). 

Die  Transsc.  Erörterung  zerfällt  in  vier  Absätze. 

Der  erste  Absatz  gibt  eine  vorläufige  Uebersicht  über  den  Gang 
der  Argumentation:  1)  Nachweis  wirklicher  synth.  Erkenntnisse  a  priori; 
2)  Erklärung  ihrer  Möglichkeit. 

Der  zweite  Absatz  führt  dieses  Programm  aus.  In  der  Geometrie 
ist  jene  Wirklichkeit  gegeben';  sie  ist  eine  Exposition  der  Eigenschaften  der 
Raumvorstellung  (hiegegen  opponirt  heftig  Bolliger,  Antikant  184.  380), 
und  zwar  sind  ihre  Sätze  a)  synthetisch  und  b)  doch  a  priori.  (Zu  diesem 
„doch"  vgl.  Comm.  I,  288.)  Diese  beiden  Eigenthümlichkeiten  müssen  er- 
klärt werden.  Nach  analytischer  Methode  verfahrend,  fragt  Kant :  was  muss 
die  Raumvorstellung  sein,  wenn  jene  Sätze  über  den  Raum  möglich  sein 
sollen  ? 

Ad  a)  wenn  synthetische  Sätze  über  ihn  möglich  sein  sollen  —  und 
sie  sind  wirklich  — ,  so  darf  er  nicht  sein  —  Begriff,  so  muss  er  sein  — 
Anschauung^     Dies  ist  eine  Wiederholung  dessen,  was  schon  der  Schlnss 


'  Herbart  urtheilt  einmal:  „Als  Kant  die  Geometrie  aus  der  reinen  An- 
schauung des  Raumes  erklärte,  da  vergass  er  die  Musik  mit  ihren  synthetischen 
Sätzen  a  priori  von  Intervallen  und  Aecorden.*  Dazu  bemerkt  Stumpf,  Ton- 
psychologie I,  Vorr.  VIII:  »Wir  werden  zwar  nicht  in  diesem  Punkte,  aber  in 
genug  anderen  die  Ton*  und  Raum  Vorstellungen  einander  analog  finden.  Man 
könnte  in  der  That  den  ganzen  ersten  Theil  der  Transscend.  Elem.-Lehre  so  xu 
sagen  in  Musik  setzen." 

'  Eine  Anschauung  a  priori,  setzt  Kant  in  der  Abhandlung  über  den  »Vor- 
nehmen Ton"  u.  s.  w.  Ros.  I,  623  f.  (vgl.  Kr.  d.  Urth.  §  62;  Proleg,  Ros.  III.  155 
Anm.)  auseinander,  brauche  man  jedenfalls,  um  die  synth.  ürtheile  der  Math,  za 
erklären;  wenn  man  nun  nicht  mit  ihm  eine  sinnliche  annehme,  so  müsse  man 
mit  Piaton  eine  übersinnliche,  intellectuelle,  von  Gott  abgeleitete  annehmen. 
Platon  sei  zu  loben,  dass  er  die  Nothwendigkeit  einer  Anschauung  a  priori  filr  die 


Erklärung  der  synthetisch-apriorischen  Urtheile  in  der  Geometrie.        267 

[R  713.  H  61.  K  77.]  B  40.  41. 

des  vorletzten  Raumargumentes  ausgesprochen  hatte  (vgl.  oben  S.  233  ff.). 
Zur  Sache  vergleiche  man  Laas,  Analogien  209  ff.  323  und  bes.  Bolliger, 
Antikant  377  ff.,  welcher  den  Zusammenhang  zwischen  Anschaulichkeit  und 
synthetischen  Urtheilen  vermisst;  ferner  v.  Kirchmann,  Erl.  S.  9.  13,  und 
dagegen  Grapengiesser,  Erkl.  22.  28.  Rehmke,  Welt  175  ff.  Nach 
Bergmann,  Metaph.  126  f.  beweisen  Ks.  Beispiele  vielmehr  die  Intel- 
lectualität  des  Raumes.     Maass  in  Eberhards  Magazin  I,  129 — 133. 

Ad  b)  Um  die  Apodicticität  der  geometrischen  Urtheile  möglich  zu 
machen,  dazu  darf  die  Raumvorstellung  nicht  sein  eine  empirische,  sie  muss 
sein  eine  apriorische.  Sonach  muss  der  Raum  sein  eine  Anschauung 
a  priori;  nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  jenes  Factum  überhaupt  „be- 
greiflich*, es  muss  ein  „apriorisches  Bindeglied*  für  die  synthetischen  Sätze 
a  priori  da  sein  (Holder,  14)  —  die  reine  Anschauung.  Das  im  ersten  Ab- 
sätze gestellte  Problem  ist  gelöst  und  soweit  ist  der  Gedankengang  ganz 
durchsichtig  und  abgeschlossen  ^ 

Hier  ist  nun  besonders  an  die  scharfe  Kritik  zu  erinnern,  welche 
Helm  hol  tz  an  diesem  Zusammenhang  geübt  hat  (vgl.  oben  S.  184).  Immer 
wieder,  besonders  aber  in  den  „Thatsachen  in  der  Wahrnehmung",  S.  22  ff. 
51  ff*,  macht  er  darauf  aufmerksam,  dass  die  Apriorität  oder  „Transscen- 
dentalität**  der  allgemeinen  Raumanschauung  gar  nicht  nothwendig  zusammen- 
hängt mit  der  Annahme  der  Apriorität  der  speciellen  Raumaxiome.  Diese 
können  aus  der  Erfahrung  stammen,  wenn  jene  auch  als  apriorische  An- 
schauungsform anerkannt  wird.  Vgl.  Helmholt z,  Ueber  den  Ursprung  und 
die  Bedeutung  der  geometr.  Axiome,  Popul.-wiss.  Vorträge  III,  p.  21.  Vgl. 
auch  Riemann,  , Ueber  die  Hypothesen,  welche  der  Geometrie  zu  Grunde 
liegen*,  Habil.schrift  1854,  Abh.  d.  Kgl.  Gesellsch.  der  Wissensch.  Göttingen 


Mathematik  eingesehen  habe;  nur  habe  er  mit  jener  seiner  Annahme  der  Schwärmerei 
Thür  und  Thor  geöffnet.  Dasselbe  gelte  mutatis  mutandis  auch  von  des  Py t ha- 
ger as  Zahlenlehre.  Gegen  die  historische  Richtigkeit  dieser  Barstellung  erhob 
aber  Schlosser  Einspruch  in  seinem  , Schreiben"  u.  s.  w.,  S.  78  ff. 

*  Ueber  das  Beispiel  Kants:  Der  Raum  hat  nur  drei  Abmessungen,  vgl. 
Bolliger,  Antikant  378  f.,  welcher  daselbst  eine  analytische  Ableitung  des  nach 
Kant  synthetischen  Satzes  versucht.  Denselben  Satz  sucht  Riehl,  Krit.  11,  a,  167 
als  einen  Satz  nicht  der  reinen,  sondern  der  empirischen  Anschauung  zu  erweisen. 
Vgl.  über  das  Thema  auch  Renouvier,  Essais  I,  290,  und  Cohen,  2.  A.  212  ff., 
sowie  Liebmann,  Raumcharakteristik  und  Raumdeduction  in  der  V.  f.  wiss. 
Philos.  I,  201  ff.,  der  auch  an  §  9  der  „Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der 
lebendigen  Kräfte"  erinnert,  woselbst  K.  sich  gegen  die  mathematisch-logischen 
Ableitungs versuche  der  Dreidimensionalität  des  Raumes  erklärt  und  bemerkt: 
7 Daher  beruht  die  Noth wendigkeit  der  dreifachen  Abmessung  vielmehr  auf  einer 
gewissen  anderen  Noth  wendigkeit,  die  ich  noch  nicht  zu  erklären  im  Stande  bin." 
K.  sucht  diese  Nothwendigkeit  daselbst  in  dem  Gravitationsgesetz.  In  seiner  kriti- 
schen Periode  nimmt  K.  die  Dreidimensionalität  des  Raumes  als  eine  nicht  weiter 
erklärbare  nothwendige  Eigenthümlichkeit  unserer  Raumanschauung  hin.  Vgl. 
Diss.  §  15,  C,  D.    (Vgl.  oben  S.  203.) 


268  §  8.    Raum:  transscendenfcale  Erörterung. 

B  41.  [R  713.  H  61.  K  77.J 

Bd.  XIII ;  Gesammelte  Werke,  herausg.  von  Weber,  p.  254.  Vgl.  dagegen 
Cohen,  2.  A.  214.  222  ff.  (gegen  Riemann)  227—238.  Vgl.  ib.  218  fif.  über 
den  Streit  zwischen  Mill  und  Wh e well  über  die  reine  Anschauung  als 
Bedingung  der  Mathematik.  Gegen  Mills  Einwände  auch  Konig,  Philos. 
Mon.  1884,  234  ff.  Hey m ans,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  1888,  429  ff.,  und  ein- 
gehend in  den  „Ges.  u.  El.  d.  wiss.  Denkens*,  1890,  I,  200  ff.  Lange,  Log. 
Stud.  130  ff.    Wundt,  Logik  I,  445  f.    Lasswitz,  Die  Lehre  Kants  141  ff. 

Zur  Sache  vgl.  ferner  auch  die  scharfe,  th  eil  weise  treffende  Kritik  von 
Beyersdorff,  Die  Raumvorstellungen,  S.  37 — 51,  welcher  besonders  betont, 
dass  die  Apriorität  der  Raumvorstellung  eine  ganz  andere  ist,  als  die  der 
mathematischen  Sätze,  daher  diese  letztere  nicht  aus  der  ersteren  abgeleitet 
werden  kann.  Auf  diesen  wichtigen  Punkt  ist  auch  schon  Comm.  I,  222 
aufmerksam  gemacht  worden:  die  Vorstellung  ist  a  priori,  insofern  sie  vor 
der  Erfahrung  vorhergeht;  der  Satz  ist  a  priori,  insofern  er  ohne  Erfahrung 
gilt.  (Darauf  kommt  im  Wesentlichen  auch  Cohens  Unterscheidung  des 
metaphysischen  und  des  transscendentalen  Apriori  hinaus;  vgl.  oben  S.  152  flf.) 
Dass  Kant  diesen  „Doppelsinn"^  des  Ausdruckes  Apriori  hier  missbraucht 
hat,  daraufhatte  auch  schon  Zimmermann,  Ks.  mathem.  Vorurtheil,  1871, 
S.  30  aufmerksam  gemacht,  welcher  daselbst  S.  15  ff.,  31  f.  diese  Stelle 
scharf  angreift.  (So  auch  schon  Maass  in  Eberhards  Magazin  I,  129--183 
und  auch  der  anonyme  Verfasser  des  Versuches  „Ueber  Raum  und  Zeit*  1790, 
S.  33  ff.)  Vgl.  auch  Röder,  Das  Wort  Apriori,  Frankf.  1866,  S.  12-19, 
welcher  die  Lösung  des  Problems  nicht  bei  Kant,  sondern  bei  Spinoza  findet. 
Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  445  ff.  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  176  ff.  194  ff. 
V.  Schubert-Soldern,  Erk.  Theorie,  270.  305  ff.  Lotze,  Phil.  s.  Kant  §  18. 
Wundt,  Studien  I,  108  ff.  127.  — 

Der  dritte  Absatz  (vgl.  darüber  auch  Thiele,  Ks.  int.  Ansch.  199  ff.; 
Cohen,  2.  A.  60.  66. 144-145.  158.  161  ff.;  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  504)  beginnt 
nun  aber  eine  Gedankenreihe,  welche  weit  über  das  Bisherige  hinausgeht, 
welche  sogar  etwas  ganz  Neues  enthält,  und  insofern  ganz  unerwartet  ist, 
als  ja  das  im  ersten  Absatz  gestellte  Problem  gelöst  ist.  Was  dort  gesagt 
worden  ist,  sollte  vollständig  genügen.  Aber  es  wird  nun  doch  noch  eine  neue 
Frage  aufgeworfen.  Die  Frage  knüpft  allerdings  an  an  den  Satz  des  zweiten 
Absatzes:  der  Raum  ist  eine  Anschauung  a  priori,  „welche  vor  aller  Wahr- 
nehmung eines  Gegenstandes  in  uns  angetroffen  wird".  Aber  daraus 
entwickelt  sich  ein  ganz  neues  Problem:  wie  kann  denn  eine  solche  vor 
den  Objecten  selbst  vorhergehende  Anschauung  dem  Gemüthe  bei- 
wohnen, „in  welcher  doch  der  Begriff  der  Letzteren  a  priori  be 
stimmt  werden  kann?"  Was  soll  das  heissen?  Offenbar  findet  Kant 
darin  etwas  Erklärungsbedürftiges,  dass  wir  über  die  Objecte  apriorische 
Aussagen  —  natürlich  mathematischer  Natur  —  machen  können  mittelst 
der  Raum  Vorstellung,  welche  doch  vor  jenen  Objecten  „unserem  Gemüthe 
beiwohnt".  Das  Neue  ist  die  Bezugnahme  auf  die  Objecte.  Bisher  war 
nur  davon  die  Rede,  dass  die  Sätze  der  Geometrie  ohne  Zuhülfenahroe  der 


Kant  geht  von  der  reinen  Mathematik  zur  angewandten  über.  269 

[R  713.  H  61.  K  77.]  B  41. 

Erfahrung  und  vor  ihr  aus  der  reinen  Raumanschauung  abgeleitet  wei'den ; 
insofern  bietet  die  Geometrie  synthetische  Sätze  a  priori;  nach  dem  zweiten 
Absatz  handelt  es  sich  in  der  Mathematik  um  eine  „Erkenntniss  vom 
Räume",  jetzt  dagegen  um  eine  Erkenntniss  der  Objecte;  nun  ist  von 
der  Gültigkeit  dieser  Sätze  nicht  mehr  an  sich,  nicht  in  abstracto,  sondern 
in  concreto  von  den  Objecten  die  Rede.  Und  nun  lautet  die  Frage:  wie 
das  aber  möglich,  da  doch  jene  Raumanschauung  vor  den  Objecten  in  uns  ist? 

OflFenbar  haben  wir  hier  genau  das  antithetische  Problem  vor  uns, 
welches  Band  I,  388  ff.  entwickelt  worden  ist  —  das  Grundproblem  der 
ganzen  Kantischen  Philosophie.  Es  ist  ein  Widerspruch  da,  der  gelöst  werden 
muss.  Wie  kann  das,  was  in  jener  apriorischen  Raumanschauung  liegt, 
gültig  sein  für  die  Objecte,  die  uns  doch  erst  a  posteriori  gegeben  werden?* 

Dieser  Widerspruch  wird  gelöst  in  dem  folgenden  Satze:  „offenbar 
nicht  anders",  als  sofern  jene  Raumanschauung  die  Form  der  äusseren  An- 
schauung der  Objecte  ist.  Jene  Raumanschauung  ist  die  „Form  des  äusseren 
Sinnes"*,  d.  h.  „die  formale  Beschaffenheit,  von  den  Objecten  afficirt  zu 
werden  und  dadurch  Anschauung  derselben  zu  bekommen."  Nach  den 
früheren  Erklärungen  über  Form  des  äusseren  Sinnes  (oben  S.  59  ff.  u.  S.  124) 
heisst  das  nun  ja,  dass  die  Vorstellung  der  empirischen  Objecte  für  uns  nur 
dadurch  zu  Stande  kommt,  dass  sie,  d.  h.  als  Objecte  an  sich  uns  afficiren', 
und  dass  wir  eben  jene  Affectionen  in  der  Form  des  äusseren  Sinnes  em- 
pfangen, eben  als  räumliche.  Die  empirischen  Objecte  sind  nur  dadurch 
räumliche  für  uns,  dass  wir  sie  in  die  Raumform  bringen,  dass  ihre  Raum- 
form aus  uns  stammt.  Damit  ist  nun  jenes  Räthsel  gelöst.  Bringen  wir 
die  Affectionen  erst  in  die  Form  der  in  uns  liegenden  Raumanschauung,  so 
müssen  alle  sich  aus  dieser  Raumanschauung  ergebenden  Raumgesetze  sich 
auch  auf  jene  empirischen  Objecte  anwenden  lassen ;  so  ist  es  natürlich,  dass 
wir  „den  Begriff  der  Letzteren  a  priori  bestimmen  können",  obgleich  jene 
Raumanschauung  a  priori  „unserem  Gemüthe  beiwohnt"  '*. 


^  Montgomery,  Kant  89,  stellt  Kants  Argumentation  richtig  so  dar:  „Der 
augenfällige  Widerspruch  zwischen  der  Apriori-Beschaffenheit  [und  Gültig- 
keit!] der  geometrischen  Constructionen  und  der  scheinbaren  objectiven  Existenz 
des  Raumes  würde  sich  nur  auf  eine  einzige  Art  lösen,  nämlich  wenn  es  sich  bei 
näherer  Untersuchung  ergeben  sollte,  dass  auch  die  Grundanschauung,  dass  auch 
der  Raum  subjectiven,  idealen  Ursprungs  ist." 

'  J.  Weiss,  Ks.  Lehre  von  R.  u.  Z.  (Diss.  Leipz.  1872)  S.  18—21  legt  Werth 
darauf,  dass  der  Raum  in  A  nur  als  Form  der  Erscheinungen  des  äusseren  Sinnes, 
erst  in  ß  als  Form  des  äusseren  Sinnes  selbst  bezeichnet  wird.   Cantoni,  Kant  I,  195. 

^  Man  beachte  hier  wieder  die  oft  gerügte  Unklarheit  in  Begriff  der  Objecte; 
vgl.  oben  S.  6  ff.  54;  Cohen,  2.  A.  165  nimmt  hier  ausdrücklich  empirische 
Objecte  an;  ebenso  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  345. 

^  In  diesem  Sinne  ist  es  wohl  aufzufassen,  wenn  Riehl,  in  Uebereinstimmung 
mit  Cohen,  sagt  (Krit.  I,  346.  350.  352;  II,  a,  107):  „Die  Thatsache  der  Apriorität  der 
Raumesanschauung  wird  durch  die  Transsc.  Erörterung  erklärt."     „Der  Ursprung 


270  §  3.    Raum:  transscendentale  Erörterung. 

B  41.  [R  713.  H  61.  K  77.] 

Diese  Auffassung  wird  vollständig  bestätigt  durch  folgende  Parallel- 
stelle aus  der  Einleitung  zur  transsc.  Deduction  der  Kategorien  A  89:  ,AVir 
haben  oben  an  den  Begriffen  des  Raumes  und  der  Zeit  mit  leichter  Mühe 
begreiflich  machen  können,  wie  diese  als  Erkenntnisse  a  priori  sich  gleich- 
wohl auf  Gegenstände  nothwendig  beziehen  müssen  und  eine  synthetische 
Erkenntniss  derselben,  unabhängig  von  aller  Erfahrung,  möglich  machten. 
Denn  da  nur  vermittelst  solcher  reinen  Formen  der  Sinnlichkeit  uns  ein 
Gegenstand  erscheinen,  d.  i.  ein  Object  der  empirischen  Anschauung  sein 
kann,  so  sind  R.  u.  Z.  reine  Anschauungen,  welche  die  Bedingung  der  Mög- 
lichkeit der  Gegenstände  als  Erscheinungen  a  priori  enthalten  und  die  Syn- 
thesis  in  denselben  hat  objective  Gültigkeit."  Ebendaselbst  (A  87)  heisst 
es:  „Wir  haben  oben  die  Begriffe  des  R.  u.  d.  Z.,  vermittelst  einer  trans- 
scendentalen  Deduction,  zu  ihren  Quellen  verfolgt  und  ihre  objective 
Gültigkeit  a  priori  erklärt  und  bestimmt.  Gleichwohl  geht  die  Geometrie 
ihren  sicheren  Schritt  durch  lauter -Erkenntnisse  a  priori,  ohne  dass  sie  sich 
wegen  der  reinen  und  gesetz massigen  Abkunft  ihres  Grundbegriffes  vom 
Räume  vor  der  Philosophie  einen  Beglaubigungsschein  erbitten  darf.  Allein 
der  Gebrauch  dieses  Begriffs  geht  in  dieser  Wissenschaft  auch  nur  auf 
die  äussere  Sinnenwelt,  von  welcher  der  Raum  die  reine  Form  ihrer  An- 
schauung ist,  in  welcher  also  alle  geometrische  Erkenntniss,  weil  sie  sich 
auf  Anschauung  a  priori  gründet,  unmittelbare  Evidenz  hat,  und  die  Gegen- 
stände durch  die  Erkenntniss  selbst  a  priori  (der  Form  nach)  in  der  An- 
schauung gegeben  werden."  Dazu  gehören  dann  die  weiteren  Stellen  A  90: 
„Denn  dass  Gegenstände  der  sinnlichen  Anschauung  der  im  Gemüth  a  priori 
liegenden  formalen  Bedingungen  der  Sinnlichkeit  gemäss  sein  müssen,  ist 
daraus  klar,  weil  sie  sonst  nicht  Gegenstände  vor  uns  sein  würden;'  A  93: 
„Es  ist  aber  aus  dem  Obigen  klar,  dass  die  Bedingung,  unter  der  allein 
Gegenstände  angeschaut  werden  können,  in  der  That  den  Objecten  der  Form 
nach  a  priori  im  Gemüth  zum  Grunde  liegt.  Mit  dieser  formalen  Bedingung 
der  Sinnlichkeit  stimmen  also  alle  Erscheinungen  nothwendig  überein,  weil  sie 
nur  durch  dieselbe  erscheinen,  d.  i.  empirisch  angeschaut  und  gegeben  werden 
können."  Vgl.  auch  A  110.  111.  117  Anm.  127.  128.  In  diesen  schon  in  der 
ersten  Aufläge  enthaltenen  Stellen  ist  genau  dasselbe  gesagt,  was  in  dem 
dritten  Absatz  der  Transsc.  Erörterung  steht  —  es  kann  auch  Beides  überein- 
stimmen, weil  eben,  wie  bemerkt,  die  Transsc.  Erört.  inhaltlich  nicht«  Neues 
gibt,  was  nicht  schon  in  der  ersten  Auflage  der  Aesthetik  gestanden  hätte. 

von  R.  u.  Z.  aus  der  subjectiven  Form  des  sinnlichen  Bewusstseins  erklärt  allein 
die  reine  Apriorität  ihrer  Vorstellung.  Die  ti^anssc.  Idealität  erklärt  die  reine 
Apriorität  der  Raum-  und  Zeitanschauung.  *  Aber  nicht  die  Transsc.  Erörterung 
als  solche  gibt  jene  Erklärung,  sondern  nur  dieser  dritte  Absatz  derselben,  und 
gerade  dieser  gehört,  wie  wir  bei  der  unten  folgenden  „Methodologischen 
Analyse'*  sehen  werden,  im  Grunde  gar  nicht  in  die  Transsc.  Erörterung  herein. 
Der  üebergang  von  der  „reinen  Anschauung**  zur  „Form  der  Anschauung'  konnte 
vielmehr  erst  im  Schlüsse  b  gemacht  werden,  wie  sich  daselbst  ergeben  wird. 


Missverständliche  und  berechtigte  Einwände.  271 

[R  713.  H  61.  K  77.]  B  41. 

Auf  eine  dieser  eben  angezogenen  Stellen,  und  zwar  auf  die  erste,  hat 
sich  auch  Arnoldt,  R.  u.  Z.  S.  32  berufen,  um  seine  Auffassang  der  Stelle 
zu  stützen.  Arnoldt  hat  den  Sinn  dieser  „transscen dentalen  Deduction  des 
Raumes*  (ib.  58  ff)  insofern  richtig  erkannt,  als  er  bemerkte,  dass  Kant  hier 
von  der  objectiven  Gültigkeit  der  Mathematik  für  die  empirischen  Gegen- 
stände redet  ^  Er  formulirt  (ib.  23.  25  ff.)  ganz  richtig  den  Schluss  Kants 
dahin:  B.  u.  Z.  sind,  obwohl  a  priori,  dennoch  objectiv  gültig,  wenn  sie 
nur  subjective  Anschauungsformen  sind.  Darin  ist  der  Kern  der  Sache 
richtig  getroffen ^  Fussend  auf  dieser  richtigen  Auslegung,  hat  Arnoldt 
S.  32—35.  122  f.  auch  gegen  Trendelenburgs  irrige  Auslegung  der  Stelle 
mit  Glück  polemisirt.  (Vgl.  auch  Cohen,  Erf.  1.  A.  75—77;  2.  A.  163—165; 
Gottschick  in  d.  Z.  f.  Philos.  79,  154.) 

Gegen  diese  Stelle  hat  nämlich  Trendelenburg,  Beitr.  3,  228  oppo* 
nirt,  spec.  gegen  den  darin  enthaltenen  Schluss  auf  die  blosse  Subjectivität 
des  Baumes.  »Dies  bloss  und  nur,^  diese  ausschliessenden  Bestimmungen 
tragen  gar  nichts  zur  Erklärung  dessen  bei,  was  erklärt  werden  soll,  und 
sind  nur  durch  einen  Spimng  hineingekommen  .  .  .  Das  für  das  Subjective 
eifersüchtige  Bloss  und  Nur  thut  nichts  zur  Sache."  In  einem  (etwas 
schwerfälligen,  hier  dem  Sinne  nach  erläuterten)  Zwischensatz  erklärt  Trend, 
dazu :  Die  Möglichkeit,  dass  der  Raumanschauung  trotz  ihrer  Apriorität  ein 
realer  Raum  der  Dinge  an  sich  entspreche,  sei  doch  auch  zu  berück- 
sichtigen, und  auch  vom  Standpunkt  dieser  Theorie  aus  stelle  sich  ja  der 
Raum  neben  seiner  Realität,  zugleich  als  apriorische  Anschauung  dar,  und 
nur  dies  könne  gefordert  werden  zur  Erklärung  der  Geometrie  als  einer 
Wissenschaft  a  priori,  nicht  mehr,  nicht  jene  exclusive  Subjectivität.  Trend, 
macht  diesen  Einwand  von    der  Meinung   aus,   Kant   habe   hier   die  reine 


^  Genauer  genommen  unterscheidet  Arnoldt  a.  a.  0.  29  ff.  40  ff.  66  ff.  zwischen 
objectiver  Gültigkeit  der  Mathematik  und  Anwendung  der  Mathematik  auf  empirische 
Objecte;  nur  von  der  Ersteren  sei  hier  die  Rede,  noch  nicht  von  der  Letzteren. 
Diese  Unterscheidung  hat,  wenn  sie  richtig  verstanden  wird,  eine  gewisse  Berech- 
tigung, wie  weiter  unten  zu  A  47  (Anm.  I  zur  Aesth.)  weiter  auszuführen  ist.  Die 
Art  aber,  wie  A.  unterscheidet,  ist  falsch ;  an  dieser  Stelle  handelt  es  sich  factisch 
um  die  Anwendung  der  Mathematik  auf  , Objecte",  wie  ja  deutlich  im  Texte  steht. 
Arnoldt  hat  zum  Glück  jene  seine  falsche  Auslegung  nicht  consequent  festgehalten, 
sondern  bezieht  die  Stelle  dann  doch  wieder  auf  die  angewandte  Mathematik,  und 
um  dieser  „glücklichen  Inconsequenz**  willen  konnte  seine  Auslegung  oben  doch 
als  richtig  bezeichnet  werden. 

2  Vgl.  auch  Krit.  A  239  f.  „obgleich  —  dennoch\  Vgl.  Dissertation  §  14,  6 
und  bes.  §  15  „quanquam  —  tarnen''.  Vgl.  bes.  noch  die  Erklärungen  über  „trans- 
scendental*  Krit.  A  56:  „gleichwohl*;  Froley,  205  „zwar  —  doch**,  lieber  dieses 
„dennoch*  vgl.  auch  Riehl,  Krit.  II,  a,  HO.  Montgomery,  Erk.  43  und  bes.  Comm. 
I,  388—395. 

'  Das  nur  hat,  wie  man  sich  leicht  aus  dem  Text  überzeugen  kann,  übrigens 
eine  andere  grammatische  Function,  als  das  bloss.  Trs.  Einwand  trifft  nur  das 
letztere. 


272  §  '^-    Raum:  transscendentale  Erörterung. 

B  41.  [R  713.  H  61.  K  77.J 

Mathematik  im  Auge.  Und  von  diesem  Standpunkt  aus  ist  der  Einwand 
Trs.  ganz  berechtigt  und  nichts  gegen  denselben  einzuwenden.  Kant  aber 
hatte,  wie  dargelegt,  in  diesem  Absatz  gar  nicht  mehr  die  reine,  sondern 
schon  die  angewandte  im  Auge.  Nun  scheint  der  Schluss  Kants  doch  ganz 
stichhaltig ;  wenn  die  Sätze  vom  Eaume  auch  von  den  Objecten  gelten,  ohne 
aus  diesen  abstrahirt  zu  sein,  so  müssen  diese  Objecte  eben  erst  durch  jene 
apriorische  Raumanschauung  räumlich  geworden  sein,  so  ist  der  Raum  und 
die  Objecte  im  Kaume  mit  ihm  bloss  im  Subject.  Die  Anwendbarheit  der 
Mathematik  ist  ihm  der  Beweis  für   die   blosse  Subjectivität   des   Baumes. 

Allein  auch  gegen  diesen  Beweis  bleibt,  wie  noch  unten  zu  Schluss  a 
zu  erörtern  ist,  Trends.  Einwand  bestehen.  Dass  der  Raum  für  die  von 
uns  vorgestellten  empirischen  Objecte,  die  Erscheinungen  gilt,  mag  im  Sinne 
Kants  beweisen,  dass  die  Letzteren  eben  ihre  Form  der  formalen,  im  Subjecte 
liegenden  Raumanschauung  verdanken;  aber  er  kann  nie  und  nimmer  be- 
weisen, dass  die  Dinge  an  sich  nicht  doch  auch  zugleich  im  Räume  sein 
könnten.  Dies  hat  auch  Volkelt,  Ks.  Erk.  Th.  46  ff.  mit  Recht  gegen 
Cohen,  Erf.  48  ff.  2.  A.  163  ff.  geltend  gemacht:  „Dieser  Kantforscher 
macht  einen  übereilten  Schluss,  wenn  er  meint,  dass  darum,  weil  das  Kan- 
tische Apriori  als  formale  Beschaffenheit  des  Subjects  die  Objecte  erzeuge, 
construire,  die  Subjectivität  des  Raumes  eine  ausschli essende  sein  müsse. 
Denn  wenn  auch  der  Raum,  in  welchem  uns  die  Objecte  erscheinen,  durch 
die  formale  Beschaffenheit  des  Subjectes  construirt  ist,  warum  soll  es  nicht 
eine,  den  Dingen  an  sich  anhaftende  Form  des  Raumes  geben?  „Kant  schiebe 
hier  wie  selbstverständlich  das  Wörtchen  „bloss"  ein,  aber  dieses  subjectivistische 
Resultat  sei  ganz  plötzlich,  ohne  jede  Vermittlung  und  Begründung  ausge- 
sprochen." Staudinger,  Noumena  121 — 125  macht  gegen  Ks.  Beweis  den 
eben  dahin  zielenden  Einwurf  des  „Cirkels".  Im  Wesentlichen  kommt  hierauf 
auch  hinaus,  was  Helmholtz,  Tbats.  in  d.  Wahrnehmung,  S.  55 — 68  hier 
gegen  Kant,  resp.  gegen  Krause  und  Land  einwendet:  auch  wenn  seine 
Lehre  vom  transscendentalen  Ursprung  der  geometrischen  Axiome  richtig 
wäre  (was  sie  nach  H.  nicht  ist,  vgl.  oben  S.  267),  so  würden  diese  i-ein 
apriorischen  Axiome  deshalb  noch  keine  Geltung  haben  für  die  Verhältnisse 
der  objectiven  Welt;  die  aus  diesen  zu  ziehende  „physische  Geometrie*  müsste 
nicht  noth wendig  mit  jenen  übereinstimmen;  denn  diese  physische  Geometrie 
wäre  ja  bedingt  durch  die  realen  Verhältnisse  der  wahren  Welt  der  Dinge 
an  sich,  die  uns  zwar  als  solche  unbekannt  ist,  aber  doch  gewisse  der  em- 
pirischen Welt  entsprechende  „topogene  Momente"  aufweisen  muss.  (Vgl. 
oben  S.  184.) 

Aus  der  Erkenntniss,  dass  es  sich  hier,  im  dritten  Absatz,  um  die 
angewandte  Mathematik  handelt,  vorhin  im  zweiten,  um  die  reine,  fliesst 
nun  eine  weitere  wichtige  Unterscheidung.  Ist  das  Zu-Erklärende  ein  doppeltes, 
80  inuss  auch  das  Erklärungsprincip  ein  doppeltes  sein.  Das  £rkl&rungs> 
princip  ist  beidemal  die  Apriorität  der  Raumanschauung;  aber  diese  moss 
in    beiden    Füllen    einen    anderen   Sinn    haben.     Für    die    Apodicticität    der 


Anschauung  a  priori  und  apriorische  Anschauungsform.  273 

[R  718.  H  61.  K  77.]  B  41. 

geometrischen  Sätze  als  solcher  genügte  die  Apriorität  der  Raumanschauang, 
wie  sie  im  zweiten  Absatz  festgestellt  worden  ist:  die  Raamvorstellang 
darf  nicht  ans  der  Erfahrung  stammen,  darf  ,nicht  empirische  Anschauung 
sein";  sie  muss  , ursprüngliche ',  „ reine'  Anschauung  sein,  muss  also  aus 
dem  Subject  selbst  entspringen.  Genügt  das  auch  für  den  zweiten  Fall? 
Die  weit  schwerer  wiegende  apodictische  Gültigkeit  der  geometrischen  Sätze 
für  die  Objecte  wird,  doch  durch  jene  einfache  Apriorität  der  Bauman- 
schauung noch  nicht  erklärt.  Dazu  muss  dieselbe  mehr  sein  —  sie  muss 
die  9 dem  Gemüth  beiwohnende'  Form  des  äusseren  Sinnes  sein;  sie  darf 
nicht  bloss  apriorische  Anschauung  sein,  sie  muss  apriorische 
Anschauungsform  sein,  d.  h.  sie  muss  die  Form  sein,  welche  alle  empi- 
rischen Objecte  als  unsere  Anschauungen  erst  annehmen  müssend  Und  in 
diesem  Sinne  spricht  denn  auch  dieser  dritte  Absatz  von  dem  Baum  als 
9 apriorischer'  Form  des  äusseren  Sinnes  überhaupt.  Die  Apriorität  in 
diesem  Sinne  hat  eine  viel  tiefer  gehende  Bedeutung.  (Weiteres 
über  diesen  äusserst  wichtigen  Unterschied  s.  noch  unten  S.  279  f.)  ^ 

Der  vierte  Absatz  weist  —  gewissermassen  triumphirend  —  darauf 
hin,  dass  die  Möglichkeit  der  Geometrie  als  einer  synthetischen  Erkenntniss 
a  priori  einzig  und  allein  durch  die  bisher  vorgetragene  Theorie  der  Baum- 
vorstellung begreiflich  gemacht  sei.  Allein  in  diesen  harmlosen  Worten 
liegt  eine  grosse  Schwierigkeit.  Die  Geometrie  stellte  sich  uns  in  doppelter 
Hinsicht  als  eine  synthetische  Erkenntniss  a  priori  hin;  erstens,  insofern 
ihre  Sätze  an  sich   apodictische   Gültigkeit   beanspruchen;   z.  B.  jene  oben 


^  Unter  ,  Anschauung  a  priori"  versteht  Kant  daher  bald  den  mathematischen 
Raum  als  eine  fertige  Vorstellung,  bald  die  Form  der  Räumlichkeit  über- 
haupt als  eine  potentielle  Functionsweise.  Dass  Kant  diese  beiden  Auffassungen 
des  Apriori  beständig  vermischt,  dann  wurde  schon  oben  S.  88  die  Hauptquelle 
aller  Unklarheiten  der  Transsc.  Aesthetik  erkannt.  Während  Kant  aber  oben  in 
der  Einleitung  die  Anschauungsform  ohne  Weiteres  als  Anschauung  fasst, 
geht  er  hier  umgekehrt  von  der  Anschauung  ohne  Weiteres  zur  Anschauungs- 
form über  —  beide  Mal  ohne  genaue  Unterscheidung  und  ohne  zureichende  Be- 
gründung. Diese  Vermischung  hängt  nun  also  aufs  Engste  zusammen 
mit  der  durchgängigen  Vermischung  des  Problems  der  reinen  und  der  an- 
gewandten Mathematik:  zur  Erklärung  jener  dient  eben  das  actuell-bewusste, 
zur  Erklärung  dieser  das  potentiell-unbewusste  Apriori.  Ohne  eine  actuelle  fertige 
reine  Anschauung  des  Raumes  fiele  die  Apriorität  der  reinen  Mathematik  gänzlich 
dahin;  ohne  die  bereitliegende  potentielle  Anschauungsform  der  Räumlichkeit, 
durch  welche  die  Empfindungen  in  räumliche  Anschauungen  verwandelt  werden, 
wäre  die  Gültigkeit  der  reinen  Mathematik  für  die  empirischen  Objecte  unerklärbar. 
*  Diese  Unterscheidung  mag  auch  Arnoldt  im  Auge  gehabt  haben,*  wenn 
er,  freilich  sehr  unkantisch  im  Ausdruck,  zwischen  apriorischer  Vorstellung 
und  apriorischer  Anschauung  des  Raumes  unterscheidet  (R.  u.  Z.  26  ff.  47  ff.). 
Unter  Anschauung  a  priori  versteht  Arnoldt  die  „objectivgültige".  Diese  Unter- 
scheidung spielt,  wie  wir  unten  S.  297  f.  sehen  werden,  eine  fundamentale  Rolle 
in  dem  Kampfe  Anioldts  und  anderer  Kantianer  gegen  Trendelenburg. 
Vaihinger,  Kant-Commentar.    U.  18 


274  §  3.    Raum:  transscendeiitale  Erörterung. 

B  41.  [B  713.  H  61.  K  77.] 

angeführten  Sätze  , zwischen  zween  Punkten  ist  nur  eine  gerade  Linie*; 
oder:  „Der  Raum  hat  nur  drei  Abmessungen".  Diese  Sätze  gelten  von  dem 
Raum  als  solchem,  von  dem  mathematischen  Raum;  sie  sind  als  apodictische 
nicht  empirisch  gefunden,  sondern  sie  sind  a  priori  ans  der  apriorischen 
Raumanschauung  gewonnen.  Aber  noch  in  einem  zweiten  Sinne  haben 
die  geometrischen  Sätze  sich  uns  als  apriorische  erwiesen;  sie  gelten  nicht 
bloss  an  sich,  vom  mathematischen  Räume  und  von  den  mathematischen 
Figuren;  sondern  sie  gelten  auch  von  den  Objecten  im  Räume  und  werden 
über  diese  a  priori,  vor  aller  Erfahrung  derselben  ausgesprochen. 

In  welchem  Sinne  ist  nun  die  Geometrie  , begreiflich'  gemacht?  In 
dem  ersten?  oder  in  dem  zweiten?  Man  muss  annehmen,  dass  Kant  Beides 
gemeint  hat,  und  sein  Fehler  besteht  eben  darin,  dass  er  diese  doppelte 
Beziehung  nicht  näher  ausführt,  ja  dass  er  sich  offenbar  derselben  gar  nicht 
bewusst  geworden  ist,  oder  vielmehr,  dass  er  das  Bewusstsein  davon  nicht 
festgehalten  hat,  dass  ihm  die  Unterscheidung,  die  er  an  manchen  Stellen 
ganz  klar  gemacht  hat,  immer  wieder  aus  den  Händen  oder  vielmehr  ans 
dem  Sinn  geschlüpft  ist.  Dies  wird  nachher  noch  näher  zu  erörtern  sein. 
Hier  ist  nur  noch  auf  Folgendes  aufmerksam  zu  machen:  in  dem  Schlusssatz 
macht  Kant  eine  bemerkenswerthe  Anspielung.  Man  hatte  seiner  neuen 
Raumtheorie  vorgeworfen,  sie  habe  die  grösste  Aehnlichkeit  mit  der  Leib- 
niz'schen  oder  mit  der  Berkeley'schen.  Kant  verfehlt  nicht,  auf  das 
Charakteristische  seiner  Theorie  aufmerksam  zu  machen:  nur  diese  seine 
Theorie  sei  im  Stande,  die  Geometrie  begreiflich  zu  machen.  Dies  hatte  er 
indessen  auch  schon  gleich  in  der  ersten  Auflage  betont,  A  38  ff.  (auch  46  ff.): 
er  hatte  da  speciell  gegenüber  Leibniz  auf  jenen  Vorzug  seiner  Theorie 
aufmerksam  gemacht;  und  auch  an  jener  Stelle  vermischt  er,  wie  wir  sehen 
werden,  das  Problem  der  reinen  und  das  der  angewandten  Mathematik,  genau 
wie  hier.  In  den  Proleg,  wirft  er  ebenso  dem  Berkeley'schen  Idealismus  vor, 
dass  er  die  Mathematik  unmöglich  mache.  (Vgl.  dazu  die  Erklärung  zur 
Anm.  III  zur  Aesthetik,  B  70.) 

Diese  Stelle  („nur  unsere  Erklärung  macht  die  Möglichkeit  der 
Geometrie  begreiflich")  wurde  auch  in  den  Trend  eleu  bürg- Fi  seherischen 
Streit  hineingezogen.  Fischer  hatte  (Log.  u.  Met.  2.  A.  175)  dafür  die 
Wendung  eingesetzt:  ,Wäre  der  Raum  etwas  Reales  an  sich,  so  würde  daraus 
die  Unmöglichkeit  der  Mathematik  folgen."  Diese  Wendung  griff  Trend. 
(Beiträge  8,  244)  als  nicht  „behutsam"  an.  „Kant  kann  nur  meinen:  so 
bliebe  die  Möglichkeit  der  Mathematik  unerklärt.  Thatsachen,  deren  Mög- 
lichkeit noch  nicht  begreiflich  geworden,  sind  darum  nicht  unmöglich.* 
Fischer  vertheidigte  jene  seine  Wendung  als  kantisch  (Gesch.  III,  2.  A.  338—340, 
3.  A.  342;  Anti-Trend.  48 — 51),  nach  Kants  wahrer  Meinung  sei  die  Mathe- 
matik ohne  seinen  Idealismus  nicht  bloss  , unerklärt",  sondern  auch  ,aner 
klärlich  und  darum  unmöglich."  Vgl.  dazu  Arnoldt,  B.  u.  Z.  39—41. 
Der  ganze  Streit  hierüber  leidet  an  dem  Mangel  der  Unterscheidung  der 
reinen   und  der  angewandten   Mathematik.     Nach    Kants  Meinung  ist  die 


Excurs.    Analyse  der  Proleyomena  §  6.  275 

reine  Mathematik  auch  ohne  seine  Theorie  möglich,  bleibt  aber  unerklärt; 
dagegen  sei  die  Thatsache  der  zutreffenden  Anwendung  derselben  ohne 
seine  Theorie  nicht  zu  begreifen,  und  das  (von  Hume  u.  A.)  bestrittene 
Recht  jener  Anwendung  sei  ohne  seine  Theorie  nicht  zu  erweisen,  und  in 
diesem  Sinne  sei  angewandte  Mathematik  unmöglich.  Vgl.  übrigens  auch 
Comm.  I,  390,  Anra.  1.  392.  394  ff.  400  Anm.  2.  401.  Bratuschek,  Phil. 
Mon.  V,  298—300.     Cohen  in  d.  Zeitschr.  f.  Volk.  VII,  263  ff. 

Excurs. 

Reine  und  angewandte  Mathematik. 

Die  Vermischung  der  beiden  Probleme,  des  Problems  der 
reinen  Mathematik  als  solcher,  und  ihrer  Anwendung  auf  die 
empirischen  Objecte,  ist  nun  ein  umstand  von  so  grosser  Tragweite 
für  Verständniss  und  Beurtheilung  der  Aesthetik  und  weiterhin  des  ganzen 
Kriticismus,  dass  wir  dieser  Vermischung  noch  tiefer  auf  den  Grund  gehen 
müssen.  Wir  thun  dies  zunächst  am  besten  durch  eine  Analyse  der 
entsprechenden  Paragraphen  (§  6  ff.)  in  den  Prolegomena.  Wir 
dürfen  erwarten,  daselbst  dieselbe  Verwirrung  zu  finden,  weil  ja,  wie  schon 
oben  S.  265  bemerkt,  die  Transsc.  Erörterung  in  ihrer  Form  auf  die  Ein- 
wirkung der  1783  erschienen  Prolegomena  zurückzufuhren  ist. 

Die  Ueberschrift  des  Ersten  Theiles  derselben  hat  allerdings  den  Titel : 
„Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?"  lieber  dessen  Sinn  und  Entstehung 
s.  Comm.  I,  272  ff.  293  ff.  316  ff.  und  bes.  327  ff.  371  ff.  388  ff.  396.  412  ff. 
Schon  damals  mussten  wir  mehrfach  (816.  317.  323—324.  328-333.  388.  391) 
darauf  hinweisen,  dass  Kant  in  dieser  Fragestellung  jene  beiden  Probleme 
unklar  zusammen gefasst  habe.  Was  dort  im  Zusammenhang  mit  der 
historischen  Entstehung  des  Kriticismus  nur  vorläufig  erörtert  werden 
konnte,  ist  hier  aus  dem  logischen  Zusammenhang  der  Dai'stellnng  in  den 
Prolegomena  *  ausführlicher  nachzuweisen,  und  dieser  Nachweis  wird  zur  Be- 
stätigung unserer  bisherigen  Analyse  der  Transsc.  Erörterung  dienen. 

§6. 

In  diesem  Paragraph  wird  das  Problem,  welches  durch  die  Existenz 
der  reinen  Mathematik  aufgegeben  ist,  mit  grosser  Klarheit  und  Schärfe 
gestellt.  Wir  haben  in  der  Mathematik  synthetische  Erkenntniss  von  apo- 
dictischer  Gewissheit.  »Setzt  dieses  Vermögen,  da  es  nicht  auf  Erfahrung 
fusst,  nicht  irgend  einen  Erkenntnissgrund  a  priori  voraus,  der  tief  verborgen 
liegt,  der  sich  aber  durch  diese  seine  Wirkungen  offenbaren  dürfte,  wenn 
man  den  ersten  Anfängen  derselben  nur  fleissig  nachspürte?"  Wir  haben 
also  Wirkungen;  wir  suchen  die  Ursache.  Die  Data  sind  gewiss,  aber  un- 
begreiflich ohne  eine  Ergänzung  durch  ihre  Bedingung.    (Vgl.  Comm,  I,  367.) 


*  üeber  die  in  den  Prolegomena  angewendete  analytische  Methode  s.  die 
atiBfÜhrlichen  Erörterungen  Comm.  I,  417—422.  üeber  das  Sachliche  vgl.  daselbst 
392.  394  N.  395.  396.  397.  421  N. 


276  Excurs.    Reine  und  angewandte  Mathematik. 

§7. 

In  diesem  Paragraph  erhalten  wir  noch  nicht  die  Lösung  des  Problems 
selbst,  sondern  das,  was  Kant  in  seiner  Logik  §  38  die  Resolution  nennt: 
„Zum  Problem  gehört  1)  die  Quästion,  die  das  enthält,  was  geleistet 
werden  soll;  2)  die  Resolution,  die  die  Art  und  Weise  enthält,  wie  das 
zu  Leistende  könne  ausgeführt  werden,  und  3)  die  Demonstration,  dass, 
wenn  ich  so  werde  verfahren  haben,  das  Geforderte  geschehen  werde.*  (Vgl. 
Sigwart,  Logik  II,  250.) 

Kant  macht  zunächst  eine  „Beobachtung  in  Ansehung  der  Natur  der 
Mathematik.*  Dieselbe  muss  ihre  Begriffe  in  reiner,  nicht-empirischer  An- 
schauung darstellen:  ihre  Urtheile  sind  intuitiv.  Damit  haben  wir  „schon 
eine  Leitung  auf  die  erste  und  oberste  Bedingung  ihrer  Möglichkeit,  näm- 
lieh:  es  muss  ,ihr  irgend  eine  „reine  Anschauung  zum  Grunde  liegen,  in 
welcher  sie  alle  ihre  Begriffe  in  concreto  und  dennoch  a  priori  darstellen 
oder  construiren  kann.*  Die  Mathematik  wäre  „erklärt*  (vgl.  Conun.  I, 
391  ff.),  wenn  „wir  diese  reine  Anschauung  und  die  Möglichkeit  einer  solchen 
ausfinden  könnten*.  Die  Frage  ist:  gibt  es  eine  Vorstellung,  welche  dieser 
Forderung  Genüge  leisten  kann? 

§  8. 
In  diesem  Paragraphen  erwarten  wir  die  Antwort  auf  jene  Frage, 
und  wir  erwarten  als  Antwort  auf  dieselbe  eine  Ausfährung  des  Inhalts, 
dass  die  gesuchten  apriorischen  anschaulichen  Vorstellungen  seien:  Raum 
und  2eit;  dieselben  seien  erstens  apriorischer  Natur,  seien  zweitens  An- 
schauungen. Wir  erwarten  die  Beweise  für  das  Erste,  wie  für  das  Zweite 
in  der  Weise,  wie  sie  in  der  Kritik  in  der  „Metaphysischen  Erörterung* 
gegeben  worden  sind.  Durch  eine  solche  Ausfuhrung  >vürden  wir  zunächst 
vollständig  befriedigt  sein.  Statt  dessen  erhalten  wir  eine  Ausfuhrung,  in 
welcher  Kant  unmerklich  in  ein  ganz  neues  Fahrwasser  hinübergleitet.  Kant 
wirft  am  Anfang  des  Paragraphen  die  Frage  auf:  „Wie  ist  es  möglich, 
etwas  a  priori  anzuschauen?*  Der  Sinn  dieser  Frage  ist,  nach  der  sich  daran 
anschliessenden  Erläuterung,  folgender:  wie  ist  eine  reine  Anschauung  über- 
haupt denkbar?  Eine  solche  „müsste  alsdann  ohne  einen  weder  vorher  noch 
jetzt  gegenwärtigen  Gegenstand,  worauf  sie  sich  bezöge,  stattfinden.*  Würde 
Kant  hier  sogleich  von  der  Vorstellung  von  R.  u.  Z.  sprechen,  so  würde  er, 
in  Uebereinstimmung  mit  seinen  sonstigen  Erklärungen  über  dieselben,  eben 
ausführen  müssen,  dass  das  allerdings  bei  der  reinen  Anschauung  von 
R.  u.  Z.  der  Fall  sei.  Das  behauptet  er  ja  tausend  und  abertausend  Mal. 
Statt  so  auf  die  Sache  selbst  loszugehen,  schiebt  er  eine  Erörterung  über 
den  Begriff  der  reinen  Anschauung  ein,  vermittelst  welcher  er  die  Discnssion 
in  ein  ganz  anderes  Problem  einmünden  lässt:  Anschauung  könne  nicht  ohne 
Gegenstand  stattfinden.  Also  erhebe  sich  jetzt  die  Frage:  „wie  kann  An- 
schauung des  Gegenstandes  vor  dem  Gegenstande  selbst  vorhergehen?' 
Aber,  fragen  wir  erstaunt,  welches  Gegenstandes  denn?  Von  Gegenständen 
war  doch  bis  jetzt,   und  bei  der  ganzen  Problemstellung  in  §  6  gar  nicht 


Analyse  der  Prolegomena  §  7 — 9.  277 

die  Rede.  Es  handelte  sich  um  die  reine  Mathematik,  nm  deren  apriorische 
Urtheile,  die  sich  nach  §  7  auf  eine  reine  Anschauung  beziehen  sollten. 
Diese  Anschauung  muss,  wie  am  Anfang  von  §  8  noch  angedeutet  wird, 
ohne  Gegenstand  stattfinden.  Aber  jetzt  heisst  es:  sie  finde  vor  dem 
Gegenstand  statt.  Aus  der  Art,  wie  Kant  dann  weiterhin  im  §  9  über 
diesen  Gegenstand  spricht,  geht  hervor  ^  dass  er  die  real-empirischen  Gegen- 
stände meint.  Man  bemerkt:  Kant  ist  plötzlich  unmerklich  aus  dem  Problem 
der  reinen  Mathematik  als  solchen  in  das  der  Anwendung  derselben  auf 
die  empirischen  Objecte  hinübergeglitten.  Nun  ist  eine  ganz  neue  „Quästion* 
aufgestellt.  So  bildet  dieser  Paragraph  gleichsam  die  Weiche,  vermittelst 
welcher  wir  von  dem  Geleise  der  reinen  Mathematik  in  das  der  angewandten 
übergeführt  werden. 

§  9. 

Mit  diesem  Paragraphen  sind  wir  nun  ganz  in  dem  Geleise  der  Frage, 
wie  ich  vor  einem  Gegenstand  doch  Anschauung  desselben  haben  kann; 
wie  ich,  ehe  ich  den  Gegenstand  selbst  bekommen  habe,  über  denselben 
a  priori  bindende  Aussagen  machen  kann  ?  Dieser  §  9  verhält  sich  zu  der 
am  Schluss  von  §  8  aufgestellten  Frage,  wie  sich  §  7  zu  dem  Problem  des 
§  6  verhielt.  Wie  im  §  7  die  Bedingungen  vorläufig  discutirt  wurden, 
welche  zur  Lösung  des  Problems  vom  §  6  nothwendig  sind,  so  geschieht  es 
hier:  es  wird  im  Allgemeinen  gezeigt,  welche  Vorausssetzungen  nothwendig 
sind,  um  die  Lösung  des  Problems  von  §  8  (Schluss)  zu  ermöglichen. 

Eine  Anschauung  der  Dinge  a  priori  würde  zunächst  nicht  möglich 
sein,  wenn  wir  es  mit  Dingen  an  sich  zu  thun  hätten;  ^denn  was  in  dem 
Gegenstande  an  sich  selbst  enthalten  sei,  kann  ich  nur  wissen,  wenn  er  mir 
gegenwärtig  und  gegeben  ist."  Wie  freilich  in  diesem  Falle  die  Eigenschaften 
der  Gegenstände  an  sich  in  meine  Vorstellungskraft  „  hinüber  wandern*  könnten, 
ist  auch  unbegreiflich;  das  ist  aber  eine  Sache  für  sich.  Jedenfalls  könnte 
ich  von  Dingen  an  sich  nur  eine  empirische  Anschauung  haben,  d.  h.  nicht, 
ehe  mir  der  Gegenstand  ,  vorgestellt*,  d.h.  gegeben  würde.  (Anmerkungs- 
weise fügt  Kant  die  Bemerkung  ein,  dass  allerdings  in  Einem  Falle  es  doch 
eine  Anschauung  a  priori  von  Dingen  an  sich  geben  könnte,  nämlich  wenn 
jene  Anschauung  a  priori  „auf  Eingebung  beruhen  würde*  —  eine  Möglich- 
keit, welche  Kant  offenbar  mit  einer  Art  verächtlichen  Abscheus  von  sich 
weist.     Vgl.  unten  S.  299  u.  303.) 

Aus  diesen  Negationen  ergibt  sich  die  Position  von  selbst,  welche  denn 
auch  deutlichst  herausgestellt  wird:  „Es  ist  also  nur  auf  eine  einzige  Art 
möglich,  dassmeine  Anschauung  vor  der  Wirklichkeit  des  Gegenstandes 
vorhergehe,  und  als  Erkenntniss  a  priori  stattfinde,  wenn  sie  nämlich 
nichts  anderes  enthält,  als  die  Form  der  Sinnlichkeit,  die  in 
meinem    Subject    vor    allen    wirklichen    Eindrücken    vorhergeht. 


*  Es  geht  daraus  auch  hervor,  dass  es  sich  bei  diesem  ^ Gegenstand"  nicht 
etwa  um  die  idealen  Gegenstände  der  reinen  Mathematik  als  solcher  handelt,  von 
welchen  oben  S.  271  Anm.  1  und  bes.  unten  zu  A  47  die  Rede  ist. 


278  Excurs.    Reine  und  angewandte  Mathematik. 

dadurch  ich  von  Gegenständen  afficirt  werde  u.  s,  w.  (Zu  diesem 
Paragraphen  vgl.  Cohen,  Erf.  2.  A.  175.  Grapengiesser,  R.  u.  Z.  62  f. 
Sidgwick  im  Mind.  XXIX,  89-91.     Massonius,  Aesth.  S.  24—44.) 

§  10. 

Nachdem  nun  die  beiden  Probleme  gestellt  (§  6,  §  8)  und  deren 
Bedingungen  discutirt  (§7,  §9)  worden  sind,  erwarten  wir  die  eigent- 
liche Lösung.  Aber  wir  müssen  noch  eine  andere  Erwartung  hegen:  es 
sind  zwei  Probleme  gestellt,  wir  müssen  auch  zwei  Lösungen  haben;  und 
jene  beiden  Probleme  gingen  unmerklich  und  unterschiedslos  in  einander 
über,  also  wird  diese  unklare  Vermischung  auch  bei  den  Lösungen  statt- 
finden. (Hiezu  vgl.  man  die  oben  S.  88,  273  gegebenen  Ausfuhrungen.)  Diese 
dreifache  Erwartung  wird  nicht  getäuscht.  Der  §  10  erfüllt  alle  unsere 
Hoffnungen  und  Forderungen. 

Im  ersten  Absatz  wird  die  Voraussetzung  aus  §  9  nochmals  wieder- 
holt, aber  diese  Voraussetzung  wird  dann  auf  die  Möglichkeit  synthetischer 
Sätze  a  priori  in  einem  Sinne  bezogen,  der  eher  an  §  6  und  7  als  an  §  8 
und  9  anklingt. 

Der  zweite  Absatz  bringt  nun  endlich  die  Lösung.  Die  erste  grossere 
Hälfte  des  Absatzes  bezieht  sich  ebenso  deutlich  auf  das  erste  Problem,  da>; 
der  reinen  Mathematik  als  solcher,  wie  die  zweite  kleinere  Hälfte  auf  das 
zweite  Problem,  das  der  Gültigkeit  der  reinen  Mathematik  für  die  Dinge. 
In  jener  ersten  Hälfte  wird  ganz  deutlich  und  eindeutig  entwickelt,  dass  .die 
reine  Mathematik*'  Raum  und  Zeit  als  Anschauungen  a  priori  voraussetze; 
die  reine  Anschauung  gebe  der  Mathematik  „Stoff  zu  synthetischen  Urtheilen 
a  priori^.  Damit  ist  jenes  erste  Problem  für  sich  vollständig  gelöst.  Nun  muss 
aber  das  zweite  Problem  an  die  Reihe  kommen ;  dessen  wird  mit  den  Schluss- 
worten des  Paragraphen  gedacht:  „Raum  und  Zeit  beweisen  eben  dadurch,  dass 
sie  reine  Anschauungen  a  priori  sind,  dass  sie  blosse  Formen  unserer  Sina- 
lichkeit  sind,  die  vor  aller  empirischen  Anschauung,  d.  i.  der  Wahrnehmung 
wirklicher  Gegenstände  vorhergehen  müssen,  und  denen  gemäss  Gegenstände 
a  priori  erkannt  werden  können,  aber  freilich  nur  wie  sie  uns  erscheinen/ 
Das  letztere  ist  nur  möglich,  wenn  Raum  und  Zeit  „blosse  Formen  unserer 
Sinnlichkeit"  sind ;  das  ist  zunächst  einleuchtend.  Aber  merkwürdig  ist  die 
Wendung,  dass  die  Vorstellungen  von  R.  u.  Z.  eben  dadurch,  dass  sie 
reine  Anschauungen  a  priori  sind,  auch  beweisen  sollen,  dass  sie  auch  blosse 
Formen  der  Sinnlichkeit  seien.  Dies  „eben  dadurch*  will  uns  ganz  und 
gar  nicht  einleuchten,  und  ist  nur  geeignet,  das  Ueberfliessen  beider  Probleme 
in  einander  zu  ermöglichen  und  zugleich  zu  verdecken.  Aber,  wenn  R.  u.  Z. 
„blosse  Formen  unserer  Sinnlichkeit"  sind,  dann  ist  es  allerdings  erklärt,  wie 
die  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf  die  Dinge  möglich  ist:  diese 
empirischen  Dinge  sind  eben  der  Jurisdiction  der  Mathematik  unterworfen, 
weil  sie  ja  erst  durch  die  Anschauungsformen  von  R.  u.  Z.  hindurchgegangen 
sind.  Der  Erklärungsgrund  und  zugleich  der  Rechtsnachweis  fiir  die  Anwen- 
dung der  reinen  Mathematik   auf  die   empirischen  Gegenstände  ist  geliefert. 


Analyse  der  Prolegomena  §  10  und  11.  279 

§  11. 

Dieser  Paragraph  ist  für  die  bei  Kant  herrschende  Verwirrung  wieder 
charakteristisch;  derselbe  beginnt  mit  den  Worten:  » Die  Aufgabe  des  gegen- 
wärtigen Abschnittes  ist  also  aufgelöst.  Keine  Mathematik  ist,  als  synthe- 
tische Erkenntniss  a  priori,  nur  dadurch  möglich,  das^  sie  auf  keine  andere, 
als  blosse  Gegenstände  der  Sinne  geht,  deren  empirischer  Anschauung  eine 
reine  Anschauung  (des  Raumes  und  der  Zeit)  und  zwar  a  priori  zum  Grunde 
liegt,  und  darum  zum  Grunde  liegen  kann,  weil  diese  nichts  anderes  als 
die  blosse  Form  der  Sinnlichkeit  ist,  welche  vor  der  wirklichen  Erscheinung 
der  Gegenstände  vorhergeht,  indem  sie  dieselbe  in  der  That  allererst  möglich 
macht."  Die  , Aufgabe  des  gegenwärtigen  Abschnittes''  war,  wie  aus  der 
Einleitung  der  Prolegomena  (vgl.  Comm.  I,  164.  415)  und  aus  §  6  hinreichend 
hervorgeht,  zunächst  nur  die  reine  Mathematik  als  solche  gewesen.  Wenn 
es  aber  jetzt  heisst,  dass  , reine  Mathematik  als  synthetische  Erkenntniss 
a  priori  nur  dadurch  möglich  sei,  dass  sie  auf  blosse  Gegenstände  der  Sinne 
gehe*,  so  heisst  das  so  viel  als:  Die  reine  Mathematik  nicht  als  solche, 
sondern  als  objectiv  gültige  Wissenschaft,  welche  über  die  Verhältnisse  der 
Dinge  synthetische  Aussagen  a  priori  macht,  ist  nur  dadurch  möglich,  dass 
eben  diese  Dinge  keine  Dinge  an  sich,  sondern  nur  Erscheinungen  sind. 
Jene  Wendung:  „reine  Mathematik  als  synthetische  Erkenntniss  a  priori'' 
ist  aber  zweideutig  und  unbestimmt,  indem  sie  den  Eindruck  macht,  es 
handle  sich  um  die  reine  Mathematik  als  solche,  während  es  sich  doch  nach 
dem  zweiten  Theil  des  Satzes  um  deren  Gültigkeit  für  die  Objecte  handelt. 
Vermittelst  dieser  zweideutigen  Wendung  vermischt  Kant  den  Unterschied 
der  beiden  Probleme  in  verwirrendster  Weise,  und  gleitet  hier,  wie  so  oft 
anderwärts,  unmerklich  von  dem  einen  ins  andere  über. 

Die  Fortsetzung  des  Paragraphen  ist  zunächst  im  Sinne  des  zweiten 
Problems  gehalten  und  wiederholt  Bisheriges  (vgl.  dazu  Gottschick  in 
d.  Z.  f.  Phil.  79,  156):  wir  können  „a  priori  und  also  vor  aller  Bekanntschaft 
mit  den  Dingen  wissen,"  wie  ihre  Anschauung  beschaffen  sein  muss;  das  ist 
begreiflich,  sobald  R.  u.  Z.  „für  nichts  weiter,  als  formale  Bedingungen 
unserer  Sinnlichkeit,  die  Gegenstände  aber  bloss  für  Erscheinungen  gelten: 
denn  alsdann  kann  die  Form  der  Erscheinung,  d.  i.  die  reine  Anschauung 
allerdings  aus  uns  selbst,  d.  i.  a  priori  vorgestellt  werden."  Mit  der  letzteren 
Wendung  ist  wieder  leise  der  Uebergang  zum  ersten  Problem  gemacht^  und 
zur  reinen  Anschauung  als  solcher,  welche  der  reinen  Mathematik  als  solcher 
zu  Grunde  liegt,  von  welcher  der  §  12  nun  wieder  ausführlich  handelt. 
Der  Passus  ist  auch  recht  geeignet,  eine  weitere  Zweideutigkeit  aufzudecken, 
vermittelst  deren  Kant  mehrfach  (bes.  oben  in  §  8)  von  dem  einen  zum 
anderen  Problem  hinübergleitet. 

Diese  Zweideutigkeit  besteht  in  dem  Gebrauch  des  Terminus  a  priori, 
Anschauuung  a  priori  (vgl.  hierüber  schon  oben  S.  273).  Bald  ist  „An- 
schauung a  priori",  wie  in  der  Schlusswendung  jenes  Passus  eine  Vorstellung, 
welche  »aus  uns  selbst",  unabhängig  von  Erfahrung,  d.  h.  von  den  Ein- 


280  Excui*s.    Reine  und  angewandte  Mathematik. 

drücken  äusserer  Gegenstände  stattfindet ;  und  in  diesem  Sinne  sind  R.  n.  Z. 
Anschauungen  a  priori,  welche  eben  darum  die  reine  Mathematik  als  solche 
ermöglichen.  Bald  bedeutet  , Anschauung  a  priori ''^  wie  unmittelbar  vorher, 
dass  wir  ^b.  priori  und  also  vor  aller  Bekanntschaft  mit  den 
Dingen  wissen',  wie  sie  beschaffen  sind.  Dort  handelt  es  sich  um  eine 
innere  Noth wendigkeit,  hier  um  eine  äussere  Antecipation.  (Auch  der  Aus- 
druck, „das  Vermögen  a  priori  anzuschauen',  nimmt  an  dieser  Zweideutig- 
keit Theil.  In  diesem  Paragraphen  wird  derselbe  im  zweiten  Sinne  gebraucht, 
in  der  Krit.  A  46  im  ersten.)  Wenn  R.  u.  Z.  Anschauungen  a  priori  im 
zweiten  Sinne  genannt  werden,  heisst  das  nicht  bloss,  dass  ihre  Vorstellung 
aus  uns  selbst,  nicht  von  aussen  stammt,  sondern  dass  wir  vermittelst  ihrer 
Aussagen  über  die  Dinge  schon  vor  -der  Bekanntschaft  mit  diesen  machen 
können:  in  diesem  Falle  handelt  es  sich  also  um  die  Anwendung  der 
Sätze  der  reinen  Mathematik  auf  die  Objecte. 

§  12. 

Dieser  Paragraph  behandelt  nun,  wie  schon  bemerkt,  wieder  die  reine 
Mathematik  als  solche.  „Zur  Erläuterung  und  Bestätigung'  gibt  Kant  drei 
Beispiele  vom  „Verfahren  der  Geometiie":  1)  Die  Deckung  congruenter 
Figuren;  2)  den  Satz  von  der  Dreidimensionalität  des  Raumes;  3)  die  Fort- 
setzung einer  Linie  oder  Reihe  ins  unendliche.  Es  wird  gezeigt,  dass  der 
Geometer  diese  Sätze  nur  vermittelst  einer  Anschauung  und  zwar  nur  ver- 
mittelst reiner  Anschauung  a  priori  beweisen  kann.  „Also  liegen  docb 
wirklich  der  Mathematik  reine  Anschauungen  a  priori  zum  Grunde,  welche 
ihre  synthetischen  und  apodictisch  geltenden  Sätze  möglich  machen;  und 
daher  erklärt  unsere  transscendentale  Deduction  der  Begriffe  [im]  Baum  und 
Zeit  zugleich  die  Möglichkeit  einer  reinen  Mathematik,  die  ohne  eine  solche 
Deduction,  und  ohne  dass  wir  annehmen :  alles,  was  unseren  Sinnen  gegeben 
werden  mag,  werde  von  uns  nur  angeschaut,  wie  es  uns  erscheint,  nicht  wie 
es  an  sich  selbst  ist,  zwar  eingeräumt,  aber  keineswegs  eingesehen  werden 
könnte.'  Es  braucht  wohl  nicht  erst  darauf  aufmerksam  gemacht  zu  werden, 
dass  Kant  in  dem  letzteren  Satze  wieder  ebenso  plötzlich  als  unmerklich  in 
das  andere  Problem  hinübergeglitten  ist. 

§  13. 

Dieser  Paragraph  knüpft  an  den  Schluss  des  vorhergehenden  an.  Zur 
Erklärung  der  Gültigkeit  der  reinen  Mathematik  für  die  Objecte  ist  die 
Voraussetzung  nothwendig,  dass  diese  Objecte  nicht  Dinge  an  sieb,  sondern 
nur  Erscheinungen  sind,  dass  eben  R.  u.  Z.  nur  „formale  Beding^ingen  unserer 
Sinnlichkeit'  sind.  Zum  Beweis  für  diese  „Ab Würdigung  des  Raumes 
und  der  Zeit  zu  blossen  Formen  unserer  sinnlichen  Anschauung*^ 
bringt  Kant  in  diesem  Paragraphen  das  bekannte  viel  citirte  Beispiel  der 
symmetrischen,  aber  incongruenten  Gegenstände  vor.  Auf  die  Details  dieses 
Paragraphen  brauchen  wir  hier  somit  nicht  näher  einzugehen. 


Analyse  der  Prolegomena  §11 — 13.  281 

Anni.  I. 

Von  den  drei  wichtigen  Anmerkungen,  welche  K.  dem  ersten  Theile 
der  Prol,  hinzugefügt  hat,  kommt  für  uns  vor  allem  die  erste  in  Betracht ; 
in  ihr  behandelt  Kant  das  zweite  Problem  mit  seltener  Klarheit.  Vielleicht 
ist  diese  Klarheit  darauf  zurückzufahren,  dass  Kant,  wie  B.  Erdmann  plau- 
sibel gemacht  hat,  die  Anmerkungen  I — III  dem  Text  seiner  Proleg.  erst 
nachher  hinzugefügt  hat  als  Antwort  auf  Angriffe  und  Missverständnisse 
(s.  Erdmanns  Einl.  zu  seiner  Ausg.  d.  Proleg,  S.  20.  21.  68.  78).  In  jener 
ominösen  Garve-Feder*schen  Eecension  hatte  er  diesen  Punkt  gar  nicht  be- 
rücksichtigt gefunden,  obgleich  er  ihn  in  der  1.  A.  A  39  und  bes.  A  46  be- 
handelt hatte.  Freilich  litt  diese  Behandlung,  wie  schon  bemerkt,  auch 
schon  an  jener  von  uns  eben  jetzt  aufgedeckten  fundamentalen  Unklarheit. 
So  sieht  er  sich  denn  jetzt  veranlasst,  mit  aller  Energie  jenes  Problem  der 
objectiven  Gültigkeit  der  Mathematik  zu  erörtern  und  seinen  Idealismus  als 
die  einzig  mögliche  Lösung  dieses  Problems  hinzustellen. 

Schon  in  den  ersten  Worten  gibt  er  das  Thema  seiner  Erörterung 
und  seine  eigene  These  mit  möglichster  Deutlichkeit  an:  ^Die  reine  Mathe- 
matik und  namentlich  die  reine  Geometrie  kann  nur  unter  der  Bedingung 
allein  objective  Gültigkeit  haben,  dass  sie  bloss  auf  Gegenstände  der  Sinne 
gehty  in  Ansehung  deren  aber  der  Grundsatz  feststeht,  dass  unsere  sinnliche 
Vorstellung  keineswegs  eine  Vorstellung  der  Dinge  an  sich  selbst,  sondern 
nur  der  Art  sei,  wie  sie  uns  erscheinen."  Die  ganze  Anmerkung  ist  ferner- 
hin nur  eine  klai'e  Ausführung  dieses  Gedankens.  Es  sei  merkwürdig,  „dass 
selbst  Mathematiker,  die  zugleich  Philosophen  waren,  zwar  nicht  an  der 
Richtigkeit  ihrer  Sätze,  sofern  sie  bloss  den  Raum  beträfen, 
aber  an  der  objectiven  Gültigkeit  und  Anwendung  dieses  Be- 
griffes selbst  und  aller  geometrischen  Bestimmungen  desselben 
auf  Natur  zu  zweifeln  anfingen."  Gegen  solche  „Chikanen  einer  seichten 
Metaphysik"  sei  der  Geometer  nun  durch  die  Kantische  Lehre  definitiv  ge- 
sichert. (Vgl.  dazu  Trendelenburg,  Hist.  Beitr.  III,  246.)  In  der  von  uns 
gesperrt  gedruckten  Stelle  haben  wir  nun  endlich  eine  klare  Unterscheidung 
der  beiden  Fragen :  1)  Die  geometrischen  Sätze,  sofern  sie  bloss  den 
Raum  betreffen.  2)  Die  objective  Gültigkeit  und  Anwendung 
derselben  auf  Natur. 

Anm.  II. 

Auf  diese  den  „Idealismus"  betreffende  Anmerkung  brauchen  wir  hier 
nicht  einzugehen. 

Anm.  III. 

Auch  diese  Anmerkung  bezieht  sich  auf  die  Idealismusfrage;  Kant 
kommt  mehrfach  darauf  zu  sprechen,  dass  nur  seine  idealistische  Theorie 
,die  Anwendung  der  Mathematik   auf  wirkliche  Gegenstände"   garantire. 


282  Excurs.    Reine  und  angewandte  Mathematik. 

Diese  ausfiibrliche  Analyse  der  PröUgamena  war  noth wendig:  denn  in 
der  Unterscheidung  des  Problems  der  reinen  und  der  angewandten  Mathe- 
matik liegt  der  Schlüssel  zu  der  ganzen  Aesthetik  (vgl.  oben  S.  88). 
Wer  diesen  Unterschied  nicht  einsieht,  versteht  nicht  die  transscendentale 
Erörterung,  versteht  damit  auch  nicht  die  transsc.  Aesthetik,  und  damit 
wiederum  nicht  die  Grundlage  des  ganzen  Kriticismus. 

Dass  die  transsc.  Erörterung  —  der  noeud  vital  der  Transsc.  Aesthetik  — 
nur  durch  diese  Unterscheidung  Sinn  bekommt,  haben  wir  gesehen.  Man 
erkennt  auch  leicht,  inwiefern  nun  die  transsc.  Erörterung  als  ein  aller- 
dings sehr  knapper  Auszug  der  §  6 — 11  der  Prolegomena  zu  betrachten 
ist:  der  zweite  Absatz  entspricht  dem  ersten  Problem,  dem  der  reinen  Ma- 
thematik als  solchen;  der  dritte  Absatz  dem  zweiten  Problem,  dem  der 
angewandten.  Was  die  Analyse  der  transsc.  Erört.  als  solcher  selbstftndig 
ergab,  wird  durch  die  der  Prolegomena  somit  lediglich  bestätigt. 

Diesen  Thatbestand  hat  Kant  selbst  in  unerquicklichster  Weise  ver- 
dunkelt. Diese  Verdunkelung  hat  drei  Ursachen:  Einmal  die  schwankende 
und  unklare  Darstellung  selbst,  deren  beständiges  Hinüber-  und  Herüber- 
gleiten von  dem  Einen  Problem  in  das  Andere  wir  soeben  sattsam  kennen 
gelernt  haben;  sodann  die  unglückliche  Fragestellung:  wie  ist  reine  Mathe- 
matik möglich?,  deren  miss verständliche  Formulirung  wir  Band  I,  327  ff. 
388  ff.  hinreichend  aufgedeckt  haben ;  drittens  besonders  den  Umstand,  dass 
Kant  von  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  später  noch  einmal  spricht, 
nämlich  in  der  Analytik,  in  den  „Axiomen  der  Anschauung'^  (A  162  ff. 
B  202  ff.)^  Der  Grundsatz  derselben  lautet:  „alle  Anschauungen  sind  exten- 
sive Grössen";  und  von  diesem  heisst  es  dann:  „Dieser  transscendentale 
Grundsatz  der  Mathematik  der  Erscheinungen  gibt  unserer  Erkenntniss 
a  priori  grosse  Erweiterung.  Denn  er  ist  es  allein,  welcher  die  reine  Mathe- 
matik in  ihrer  ganzen  Präcision  auf  Gegenstände  der  Erfahrung  anwendbar 
macht,  welches  ohne  diesen  Grundsatz  nicht  so  von  selbst  erhellen  möchte, 
ja  auch  manchen  Widerspruch  veranlasset  hat."  Empirische  Anschauung 
sei  nur  durch  die  reine  möglich ;  was  Geometrie  also  von  dieser  sage,  gelte 
auch  von  jener;  die  Ausflüchte,  als  wenn  Gegenstände  der  Sinne  nicht  den 
Regeln  der  Construction  im  Räume  gemäss  sein  dürften,  seien  blosse  Cfai- 
kanen.  „Denn  dadurch  spricht  man  dem  Räume  und  mit  ihm  zugleich  aller 
Mathematik  objective  Gültigkeit  ab  und  weiss  nicht  mehr,  warum  und 
wieweit  sie  auf  Erscheinungen  anzuwenden  sei."  Auf  diese  Weise  sei 
„Geometrie  selbst  nicht  möglich". 

Man  sieht,  dass  hierin  auch  nicht  das  Mindeste  mehr  gesagt  ist,  ak 
in  dem,  was  wir  bisher  kennen  gelernt  haben,  dass  vielmehr  diese  Stelle 
wortwörtlich   mit  den  bisherigen  Stellen  übereinstimmt,   sowohl  mit  denen 


»  Hieher  gehören  auch  die  Stellen  A  87.  150.  156—158.  178.  Vgl.  auch 
Kants  Reflexionen  (zur  Kr.  d.  r.  V.)  11,  S.  274.  296.  298;  daselbst  unterscheidet 
Kant  streng:  „1)  Möglichkeit  der  reinen  Mathematik.  2)  Möglich- 
keit der  anjfewandten." 


Schwanken  Kants.  283 

ans  der  Krit.  d.  r.  V.  (also  mit  der  transsc.  Erörterung,  mit  A  26.  39—41. 
47 — 48),  als  besonders  mit  denen  aus  den  Prolegomena.  Es  ist  also  eben 
einfach  gar  nicht  wahr,  dass  erst  jener  Grundsatz,  und  zwar  er  allein, 
die  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf  Objecte  ermögliche.  Dazu 
brauchen  wir  (wie  auch  aus  den  oben  S.  270  mitgetheilten  Stellen  der  De- 
duction  A  87  hervorgeht)  die  Analytik  gar  nicht  abzuwarten,  das  steht 
schon  des  Weiten  und  Breiten  in  der  Aesthetik^ 

Wir  haben  hier  also  wieder  eine  jener  zahllosen  Ungenauigkeiten  resp. 
Widersprüche,  wie  sie  uns  bei  Kant  auch  bisher  auf  Schritt  und  Tritt  be- 
gegnet sind.  An  der  Genialität  des  Mannes  brauchen  wir  desshalb  nicht 
zu  zweifeln :  es  gehört  eben  zur  „psyehologie  des  granda  hommes*^  dass  geniale 
Geistesbegabung  im  Grossen  solche  auffallende  Verwirrung  in  Einzelfragen 
nicht  ausschliesst,  ja  vielleicht  fordert. 

Uebrigens  ist  schon  in  der  Dissertation  von  1770  dasselbe  Schwanken 
bemerkbar.  So  heisst  es  daselbst  §  15  C :  „Geometria  prindpiis  utitur  nan 
indubitatis  aolum  ac  diacursims,  sed  suh  obtutum  merUis  caderUibus,  et  evi- 
dentia  in  demonstrationibus ,  {quae  est  claritas  certae  cognitionis ,  quatenua 
(tssimüatur  aenauali,)  non  aolum  in  ipaa  est  maxima,  aed  et  unica,  quae  datur 
in  aeientiia  puria,  omniaque  evidentiae  in  aliia  exetnplar  et  medium;  quia 
cum  geometria  apatii  relationea  contempletur,.  cujua  conceptua  ipaam  omnia 
intuüus  aenaualia  formam  in  ae  continet,  nihil  poteat  in  perceptia  aenau  externo 
darum  eaae  et  perapieuum,  niai  mediante  eodem  intuitu,  in  quo  eontemplando 
acientia  iüa  veraaturJ'  Man  erkennt  leicht,  wie  auch  hier  reine  Mathematik 
und  deren  Anwendung  in  Eins  zusammengeworfen  werden.  Scheinbar  nur 
auf  die  reine  Mathematik  bezieht  sich  folgende  Stelle  §  15  D :  „Si  omnea 
apatii  affectionea  nonniai  per  experientiam  a  relationibua  externia  mutuatae  aunt, 
(,,entlehnt",  „erborgt"  sind),  axiomatibua  geometricia  non  ineat  univeraalitaa 
niai  comparativa,  qwilia  acquiritur  per  inductionem  h,  e,  aeque  lote  patena,  ac 
obaervatur,  neque  neceaaitaa,  niai  aecundum  atabiliUM  naturae  legea,  neque  pi'ae- 
dsio,  niai  arbitrario  conficta,  et  apea  eat,  ut  fit  in  empiricia,  apatium  tili' 
quando  detegendi  aliia  affectionibua  primitivia  praeditum,  et  forte  etiam  bili- 
neum,  rectilineum"  An  der  Parallelstelle  der  Kr.  d.  r.  V.  A  89 — 41  handelt 
es  sich  aber  vor  Allem   um  die  Anwendung  der  Mathematik.     Auf  jeden 


'  Es  ist  deshalb  auch  nicht  richtig,  wenn  Pauls en,  Entw.  164  meint,  die 
These  von  der  Anwendbarkeit  der  Mathematik  müsse  erst  aus  dem  System  der 
Grundsätze  an  ihren  richtigen  Ort,  die  Aesthetik,  „zurückversetzt  werden",  wo  die- 
selbe fehle.  Sie  ist  in  der  Aesthetik  enthalten,  und  nicht  bloss  versteckt,  sondern 
offen.  Vgl.  auch  A  dick  es,  Ks.  Systematik,  S.  51  f.  und  in  seiner  Ausgabe  der 
Kr.  d.  r.  V.,  S.  190  N.  Besonders  aber  hat  sich  Arnold t,  R.  u.  Z.  41  f.,  durch 
jenen  „Grundsatz"  dazu  verführen  lassen,  die  Lehre  von  der  Anwendung  der  Mathe- 
matik in  der  Aesthetik,  und  sogar  in  den  Prolegomena  (gegen  Trendelenburg, 
Beitr.  3,  246)  direct  hinwegzudisputiren.  (Vgl.  oben  S.  271  Anm.  1.)  Derselbe 
Irrthum  bei  Stadler,  Reine  Erk.  76  f  147  (vgl.  desselben  Ks.  Th.  d.  Materie 
S.  79),  insbesondere  aber  bei  Fischer,  Gesch.  111,  2.  A.  Vorr.  V  (gegen  Trendelen- 
burg).   Das  Richtige  findet  sich  bei  Riehl,  Krit.  I,  406  f 


284  Excurs.    Reine  und  angewandte  Mathematik. 

Fall  bezieht  sich  die  folgende  Stelle  nur  auf  die  angewandte  Mathematik: 
§  15  E:  „Cum  nihil  omnino  sensibus  sit  dabiUy  nisi  primitivis  spatii  axia- 
matibus  ejusque  consectariis  (geometria  praecipiente)  conformiter^  —  quan- 
quam  horum  principium  non  sit  nisi  subjectivum^  —  tarnen  neeessario  hisce 
conseniiet,  quia  hactenus  sibimet  ipsi  consentü.  Et  lege$  sensualitaiis 
erunt  leges  naturae,  quatenus  in  sensus  cadere  potest.  Natura  itaque 
geometriae  praeceptis  ad  amussim  iubjecta  est,  quoad  omnes  affeetiones  spatü 
ibi  demonstratas ,  non  ex  hypothesi  ficta,  $ed  intuitive  data,  tanquam  con- 
ditione  subjectiva  omnium  phaenomenorum,  quibus  unquam  natura  sensibus 
patefieri  potest.  Gerte,  nisi  conceptus  spatii  per  mentis  naturam  originarie 
datus  esset  (ita,  ut,  qui  relationes  quascunque  alias,  qtuim  per  ipsum  prae- 
cipiuntur,  mente  effingere  aüaboraret,  operam  luderet,  quia  hoc  ipso  coneeptu 
in  figmenti  sui  subsidium  uti  coactus  esset),  geometriae  in  philosophia 
naturali  usus  parum  totus  foret;  dubitari  mim  passet,  an  ipsa  natio 
haec  ab  experientia  depromta  („entlehnt^^)  satis  cum  natura  consentiat.^^ 
(Dieses  consentire  auch  §  14,  6  in  Bezug  auf  die  Zeit;  das  Gegentheil  als 
„absonum^^.) 

Mit  ziemlicher  Klarheit  macht  Kant  den  unterschied  in  der  Abhand- 
lung über  die  „Fortschr.  d.  M."  Ros.  I,  495  ff.  Er  unterscheidet  daselbst  drei 
Schritte  in  der  Geschichte  der  Transscendentalphilosophie:  1)  den  Unterschied 
analytischer  und  synthetischer  Urtheile;  2)  die  Frage:  wie  sind  synthe- 
tische Urtheile  a  priori  möglich?  3)  die  Frage:  wie  ist  aus  synthe- 
tischen Urtheilen  eine  Erkenntniss  a  priori  möglich?  Die  letztere, 
etwas  sonderbare  Frage  deckt  sich  jedoch  (vgl.  Comm.  I,  323—324)  voll- 
ständig mit  unserer  oben  unterschiedenen  zweiten  Frage,  wie  aus  Kants 
eigenen  weiteren  Bemerkungen  hervorgeht.  K.  unterscheidet  hier  somit  scharf 
zwischen  synthetischen  Urtheilen  a  priori  und  synthetischen  Erkennt- 
nissen a  priori;  jenes  bezieht  sich  auf  die  „Urtheile  der  reinen  Mathematik*', 
dies  auf  ihre  Anwendung  in  der  Erfahrungswelt.  Die  weitere  Ausfuhrung 
daselbst  entspricht  ganz  dem  Gange  der  Prolegomena,  an  welche  jene 
Schrift  sich  eng  anschliesst.  Uebrigens  hält  Kant  den  Unterschied  dann 
weiterhin  doch  wieder  nicht  fest. 

Angesichts  dieser  Sachlage  ist  es  kein  Wunder,  dass  die  secundäre 
Literatur  in  diesem  Punkte  meistens  grosse  Verwirrung  zeigt.  Es  war  dies 
schon  in  der  Literatur  des  vorigen  Jahrhunderts  der  Fall.  Nur  bei  einigen 
Autoren  findet  sich  das  Richtige.  Dass  es  sich  um  zwei  ganz  heterogene 
Gedankenreihen  handle,  hat  z.  B.  Metz  in  seiner  Darstellung  54  richtig 
erkannt.  Er  sagt:  „Sind  R.  u.  Z.  Prädicate  aller  Erscheinungen,  so  haben 
sie  eben  deswegen  objective  Realität,  denn  was  dem  noth wendigen  Merk- 
male eines  Dinges  zukommt,  kommt  dem  Dinge  selbst  zu*'  (nota  notae  est 
nota  rei)  .  .  .  Die  Anwendbarkeit  der  Mathematik  (welche  selbst  von 
den  grössten  Mathematikern  für  eine  bloss  ideale  Wissenschaft  gehalten 
wurde)  auf  die  wirkliche  Welt  ist  nach  der  Kantischen  Aesthetik  gerettet 
und  über  alle  Einwendungen  erhaben."  „Zugleich  wäre  es  verständlich, 
woher  die   anschauende  Gewissheit  (Evidenz)   komme,   welche   allen  Sätzen 


Widersprüche  der  Ausleger.  285 

und  Demonstrationen  der  Mathem.  anklebt^'  n.  s.  w.  Selbst  der  sonst  so 
schwache  Heusinger  hat  trotz  anfänglicher  Vermischung  beider  Fragen 
ihren  unterschied  doch  sehr  scharf  bestimmt  (Encycl.  I,  280  ff.). 

Von  den  Neueren  hat  besonders  E.  Fischer  nur  das  Problem  der 
reinen  Mathematik  als  solcher  berücksichtigt  (1.  A.  269.  293.  314.  839; 
2.  A.  307.  328  ff.).  Seine  Darstellung  ist  dann  für  viele  andere  massgebend 
geworden.  Dagegen  legt  Cohen  überall  (bes.  2.  A.  22-24.  222.  238.  416 
bis  422)  den  Hauptwerth  auf  die  angewandte  Mathematik  als  wichtigtes 
Fundament  der  mathematischen  Naturwissenschaft.  Vgl.  desselben  ,Jnfin. 
Methode",  S.  131-133. 

Die  eigenthümliche  Stellung,  welche  Paulsen  in  dieser  Frage  einnimmt, 
im  Zusammenhang  mit  seiner  falschen  Auffassung  des  synthetischen  ürtheils, 
haben  wir  schon  Bd.  I,  327  ff.  dargestellt  und  widerlegt.  Paulsen  identificirt 
das  synthetische  ürtheil  a  priori  ohne  Weiteres  mit  dem  realgültigen,  während 
doch  in  der  reinen  Mathematik  als  solcher  diese  reale  Gültigkeit  noch  gar 
nicht  in  Frage  kommt;  er  geht  dabei  davon  aus  (Entw.  7.  136.  155.  174), 
Kant  habe  vor  allem  Hume's  Angriffe  auf  die  Gegenständlichkeit  der  Ma- 
thematik, d.  h.  auf  deren  objective  Gültigkeit  fiir  die  Dinge  zurückschlagen 
wollen ,  habe  also  vor  allem  das  Recht  der  angewendeten  Mathematik  be- 
weisen wollen.  Allein  dieser  Ausgangspunkt  ist,  sowohl  was  Hume  als  was 
Kant  betrifft,  falsch,  wie  wir  damals  gesehen  haben.  Von  jenem  falschen 
Punkte  ausgehend,  sucht  nun  Paulsen  zu  erweisen,  es  habe  sich  für  Kant 
stets  nur  um  die  angewandte  Mathematik  gehandelt,  so  in  der  Abhandlung 
von  1768  (Entw.  141.  142),  so  in  der  Dissertation  von  1770  (ib.  119.  120. 
136—138),  so  im  Brief  an  Herz  von  1772  (ib.  151),  so  in  der  Kr.  d.  r.  V. 
(155.  160  ff.  164  f.  168.  174  f.),  so  in  den  ProUgomena  (161.  165.  175.  185). 
So  richtig  die  Erkenntniss  Paulsens  ist,  dass  es  sich  in  der  Aesthetik  facti  seh 
um  die  angewandte  Mathematik  handelt,  so  unrichtig  ist  die  Meinung  des- 
selben, es  handle  sich  nur  um  diese.  Vielmehr  war  für  Kant  auch  die 
reine  Mathematik  als  solche  ein  ebenso  wichtiges  Problem.  Dass  dieselbe 
nach  Kants  mehrfach  wiederholten  Aeusserungen  (z.  B.  A  157)  an  und  für 
sich,  ohne  Anwendung,  „Beschäftigung  mit  einem  blossen  Hirngespinnst'* 
wäre,  ändert  daran  nicht  das  Geringste;  die  Frage  bleibt  bestehen,  wie  ich 
ein  solches  System  streng  zusammenhängender  Sätze  synthetisch  a  priori  zu 
Stande  bringen  kann.  Diese  Frage  hat  Paulsen  vollständig  ignorirt.  Die- 
selbe Einseitigkeit  hat  auch  Wallace,  Kant  S.  162. 

Dass  es  sich  wirklich  um  jene  beiden  Probleme  handelt,  hat  Biehl 
richtig  erkannt.  Derselbe  erinnert  auch  (Krit.  I,  59)  daran,  dass  schon 
Locke  (IV,  4,  §  6)  beide  Probleme  geschieden  habe,  zeigt  (69.  88  ff.  96  ff. 
100  ff.  103),  dass  Hume  die  Anwendbarkeit  der  Mathematik  auf  die  wirk- 
lichen Dinge  (bes.  die  Gültigkeit  der  unendlichen  Theilbarkeit)  bestritten 
habe,  und  bemerkt  (98)  richtig:  „Ohne  Zweifel  war  für  Kant  dieses  Di- 
lemma zwischen  Mathematik  und  Naturphilosophie  [mit  dem  sich  derselbe 
schon  in  seiner  Monadologia  physica  1756  beschäftigt  habe]  mit  ein  Motiv 
zur  Ausbildung  der  Lehre,  dass   der  allgemeine  Raum   ausschliesslich  eine 


280  §  3.    Raum:  transacendentale  Erörterung.  —  Schlüsse. 

Vorstellungsform  sei."  In  der  Darstellung  der  Kantischen  Lehre  berück- 
sichtigt Riehl  daher  auch  vorzugsweise  dieses  letztere  Problem  (l,  317.  329. 
331.  341.  405  flf.;  n,  a,  88.  109  f.),  aber  er  hat  doch  auch  (347.  350  f.) 
bemerkt,  dass  auch  die  reine  Mathematik  als  solche  ein  Problem  für  sich 
sei,  dessen  Lösung  Kant  geben  wollte  (vgl.  dagegen  Comm.  I,  323 — 324). 
Mit  vollendeter  Klarheit  hat  bes.  G.  Thiele  den  Unterschied  entwickelt  in 
seiner  Dissertation:  Wie  sind  die  synthetischen  Urtheile  der  Mathematik 
a  priori  möglich?  (Halle  1869):  „Dies  Problem  zerfllllt  in  die  zwei:  Wie 
kann  unser  Denken  a  priori  zu  den  synthetischen  Urtheilen  der  Mathematik 
kommen  ?  und :  Wie  können  diese  subjectiv  gefundenen  Sätze  objective  Gültig- 
keit haben ?"  Scharf  unterscheidet  auch  Desdouits,  La  phUoa.  de  Kantf 
Paris  1876,  S.  274  flf.  zwischen  possibilitS  und  valeur  der  Mathematik. 

Auch  E.  V.  Hartmann  (Transsc.  Beal.  162)  hat  hier  richtig  gesehen: 
„Es  handelt  sich  hier  um  zwei  völlig  von  einander  zu  trennende  Probleme, 
nämlich  um  das,  was  die  Geometrie  für  Figuren  unserer  Einbildungskraft, 
und  um  das,  was  sie  für  Figuren  der  Wahrnehmung  ist'*  u.  s.  w.  Weiteres 
u.  A.  bei  Dietrich,  Kant  und  Newton  119.  Kerry,  Viert,  f.  wissensch. 
Ph.  1891,  S.  148  ff.    Natorp,  Descartes,  S.  49.  91.  155. 


Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

Diese  Schlüsse^  „aus  obigen  Begriffen'*,  d.  h.  aus  den  bisher  aufge- 
fundenen und  festgestellten  Bestimmungen  über  das  Wesen  des  Raumes 
zerfallen  in  fünf  Absätze,  von  denen  aber  nur  die  beiden  ersten  durch 
Buchstaben  a  und  b  nummerirt  sind.  In  der  That  enthalten  auch  nur  diese 
beiden  principielle  Schlussfolgerungen:  Der  erste  Absatz  (a)  folgert  aus 
dem  Umstand,  dass  der  Baum  eine  Anschauung  a  priori  ist,  dass  derselbe 
den  Dingen  an  sich  nicht  angehören  kann.  Der  zweite  Absatz  (b)  trifit 
die  Bestimmung,  dass  der  Baum  nur  die  Form  unserer  äusseren  Anschauung 
sei,  und  erklärt  daraus  die  Gültigkeit  der  reinen  Geometrie  für  die  em- 
pirischen Gegenstände.  Der  dritte  unterscheidet  auf  Grund  davon  zwischen 
empirischer  Bealität  und  transscendentaler  Idealität  des  Baumes.  Der  vierte 
Absatz  enthält  eine  „Anmerkung*  ^  in  welcher  die  apriorische  Rauman- 
schauung  von  den  subjectiven  Sinnesempfindungen  unterschieden  wird,  und 
der  fünfte  Absatz  fügt  die  wichtige  Bestimmung  hinzu,  dass  die  Unter- 
scheidung von  Erscheinung  und  Ding  an  sich  nicht  empirisch,  sondern 
transscendental  zu  verstehen  sei. 

Es  ist  zu  beachten,  dass  an  dieser  Stelle,  und  zwar  zuerst  sogleich 


^  Es  wäre  zweckmässig  gewesen,  wenn  Kant  für  diese  , Schlüsse'^  so  wie 
er  es  bei  der  „Zeit"  that  (§  6),  einen  eigenen  Paragraphen  angesetzt  hätte.  (Vgl« 
Adickes  76  N.)  —  Es  ist  sehr  zu  beachten,  dass,  wenn  Kant  von  Schlüssen  ,ao8 
obigen  Begriffen"  redet,  die  , Transacendentale  Erörterung'  nicht  zu  diesen 
n obigen  Begriffen"  zu  rechnen  ist,  da  dieselbe  in  A  ja  noch  fehlte. 


Schluss  a:  Der  Raum  keine  Bestimmung  der  Dinge  an  sich.  287 

[B  36.  H  61.  E  77.  78.]  A  26.  B  42. 

im  Schluss  a,  der  Ausdruck:  Ding  an  sich  bei  Kant  zum  ersten  Male 
sich  findet,  unter  anderen  Ausdrücken  kam  die  Sache  natürlich  schon  in 
der  Dissertation  vor,  so  §  4  im  Gegensatz  von  apparere  und  esse,  §  11  als 
jjobsoluta  objectorvm  quaHtas",  §  13  als  „existentia  in  se".  Der  später  so 
berühmt  und  so  verhängnissvoll  gewordene  Ausdruck:  Ding  an  sich  tritt 
hier  aber  als  ein  Novum  auf.  Vgl.  Mellin  I,  131  ff.,  II,  108  ff.  Liebmann, 
K.  u.  .die  Epig.  35.  Lehmann,  Ks.  Lehre  y.  D.  a.  s.  Diss.  Berl.  S.  8:  es  habe 
sich  für  diesen  Ausdruck  erst  allmälig  die  feste  Bedeutung  eines  Terminus 
aus  dem  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  entwickelt.  Nach  Liebmann  stammt 
der  Begriff  aus  der  Leibniz- Wolffischen  Philosophie,  nach  Lehmann  aus  der 
Locke'schen.  Cohen  (2.  A.  167. 518)  hat  den  „ominösen  Ausdruck"  zum  ersten 
Male  erst  unten  A  42,  in  der  gegen  Leibniz  gerichteten  Anmerkung,  gefunden, 
und  meint  daher  auch;  „der  Anlass,  von  Dingen  an  sich  zu  reden,  lag  somit 
in  der  Bezugnahme  auf  Leibniz".    Vgl.  hie  zu  unten  S.  358  Anm.  2. 

Erster  Absatz  (Schlnss  a). 

Dieser  Absatz  will  nachweisen,  dass  der  Raum  weder  eine  Eigen- 
schafts- noch  eine  Verhältnissbestimmung  der  Dinge  an  sich  sei  (die 
natürlich  hier  wiederum  als  real  existirend  von  Kant  vorausgesetzt  werden; 
gegen  Krause,  Kant  wider  Fischer  S.  86);  hierzu  vergleiche  man  das  Schema 
S.  132  ^  Wenn  der  Raum  das  wäre,  so  würde  er  „an  den  Gegenständen 
selbst  haften'^,  und  würde  er  das  thun,  so  würde  er  auch  „bleiben^^  ganz 
abgesehen  von  dem  anschauenden,  vorstellenden  Subjecte.  Aber  all  das  ist 
nicht  der  Fall:  der  Raum  ist  „weder  eine  absolute  noch  eine  relative 
Bestimmung  der  Dinge  an  sich",  d.  h.  eben  weder  Eigenschaft  eines 
jeden  derselben  für  sich,  noch  ein  Verhältniss  derselben  unter  einander^. 
Dies  ist  der  Inhalt  dieser  Folgerung.  Wie  aber  ist  sie  gewonnen?  Den 
Berechtigungsgrund  zu  dieser  weittragenden  Folgerung  soll  der  nächste  Satz 
geben:  objective  Bestimmungen  der  Dinge  (absolute  oder  relative)  lassen 
sich  eben  nicht,  wie  das  beim  Raum  der  Fall  ist,  a  priori  anschauen;  wir 
haben  also  hier  folgenden  Schluss  vor  uns: 

Obersatz: 

Objective  Bestimmungen  der  Dinge  selbst  können  nicht  vor  dem 
Dasein  der  Dinge  a  priori  angeschaut  werden. 
Untersatz: 

Der  Raum  wird  vor  dem  Dasein  der  Dinge  a  priori  angeschaut. 
Schlussatz: 

Also  ist  der  Raum  keine  objective  Bestimmung  der  Dinge  selbst. 


'  Dass  hier  der  Fall  der  Substantialität  des  Raumes  übergangen  ist,  ist 
natürlich  blosse  Nachlässigkeit  Kants.  Anders  Gottschick  in  d.  Z.  f.  Phil.  79,  154 : 
Der  Fall  habe  in  dem  philosophischen  Gesichtskreis  der  Zeit  keine  Bedeutung  gehabt. 

'  In  höchst  confuser  Weise  bezieht  Arnoldt,  R.  u.  Z.  104  ff.,  .absoluf  auf 
die  Dinge  an  sich,  „relativ**  auf  die  Erscheinungen! 


288  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Kaum. 

A  26.  B  42.  [R  36.  H  61.  E  77.  78.] 

In  diesem ,  nach  dem  Modus  ,,Cesare'*  verlaufenden  Schlüsse  ist  der 
Untersatz  eben  das  Resultat  der  bisherigen  Untersuchungen,  spedell  der 
5  resp.  4  Raumargumente.  Insofern  ist  das  Ganze  wohl  als  „Schluss  aus 
obigen  Begriffen*'  aufzuführen.  Aber  der  Obersatz'  ist  neu  hinzugekommen: 
keine  objective  Bestimmungen  der  Dinge  lassen  sich  a  priori  ansebauen, 
oder,  wie  es  eingehender  heisst:  „vor  dem  Dasein  der  Dinge,  welchen  sie 
zukommen^'  —  natürlich  vor  ihrem  Dasein  für  uns,  d.  h.  vor  der  Wahr- 
nehmung derselben,  bevor  wir  von  ihrem  Dasein  Kunde  bekommen. 

Der  Schluss  Kants  lässt  sich  übrigens  (woran  auch  schon  Arnoldt 
R.  u.  Z.  103  erinnert  hat)  auch  in  folgender  Form  darstellen: 

Obersatz: 

Alles,  was  a  priori  angeschaut  werden  kann,  kann  nicht  den  Ding«rn 
selbst  als  solchen  angehören. 
Untersatz: 

Der  Raum  ist  eine  apriorische  Anschauung. 
Schlusssatz: 

Also  kann  der  Raum  nicht  den  Dingen  selbst  angehören. 

In  diesem  nach  „Celarent"  verlaufenden  Schlüsse  ist  der  Obers  atz 
durch  conversio  siinplex  aus  dem  Obersatz  des  vorigen  Schlusses  gewonnen. 
Der  Sinn  desselben  ist:  Etwas,  was  a  priori,  d.  h.  überhaupt  vor  aller 
Wahrnehmung  in  uns  liegt  als  eine  a  priori  uns  angehörende  Anschauung, 
das  kann  überhaupt  niemals  irgend  welchen  Objecten  selbst  angehören, 
das  kann  überhaupt  niemals  objective  Eigenschaft  „irgend  eines  Dinges" 
sein.  Kant  fragt  nach  dem  Realitätswerth  einer  apriorischen  Anschaung, 
einer  anschaulichen  Vorstellung,  welche  die  Eigenthümlichkeit  hat,  dass  wir 
sie  a  priori,  d.  i.  vor  aller  Wahrnehmung  eines  Gegenstandes  in  uns  an- 
treffen. Kant  meint,  sie  könne  nichts  Wirkliches  zum  Inhalt  haben:  denn 
von  wahrhaft  Wirklichem  und  dessen  Bestimmungen  können  wir  keine  zu* 
treffende  apriorische  Vorstellung  haben. 

Wohl  zu  beachten  ist,  dass  der  Obersatz  dieses  Schlusses  in  seinen 
beiden  Formen  nur  negativ  ist  und  dass  dem  entsprechend  auch  der  Schluss- 
satz  diese  Negation  ausspricht:  der  Raum  gilt  nicht  von  Dingen  an  sich. 
Bei  jenem  negativen  Obersatz  ist  aber  natürlich  eine  positive  Aussage  mit 
eingeschlossen  und  daher  zu  subintelligiren :  die  Aussage,  dass  eine  solche 
apriorische  Vorstellung  zwar  nicht  von  Dingen  an  sich  gelten  könne,  aber 
natürlich  nur  von  Erscheinungen.  Diese  positive  Seite  des  Schlusses  bildet 
dann  weiterhin  die  Grundlage  des  Schlusses  b.  Hier  im  Schluss  a  hat  Kant 
sich  nur  auf  die  negative  Form  jener  Argumentation  beschränkt. 

Wie  geläufig  der  Schluss  von  der  Apriorität  auf  die  Subjectivität  Kant 
geworden  ist,  beweisen  mehrfache  Wiederholungen  desselben;  z.  B.  am  Schluss 
des  Briefes  an  Reinhold  vom   7.   März  1788  (reine  Anschauung  sei  nur  als 


*  Von  Trendelenburg,  Beitr.  3,  229,  wunderlicher  Weise  als  Untewati 
bezeichnet!    Vgl.  dagegen  Arnold t,  R.  u.  Z.  103. 


Der  Schluss  von  der  Apriorität  auf  die  Subjectivität  des  Raumes.        289 

[R  36.  H  61.  K  77.  78.]  A26.B48. 

Form  des  Subjects  denkbar),  besonders  aber  die  bald  darauf  geschriebene 
Stelle  in  der  Streitschrift  gegen  Eberhard  (Ros.  I,  469):  Die  reinen  An- 
schauungen, die  vor  den  Dingen  vorhergehen,  seien  ,, nimmermehr  anders, 
als  blosse  subjective  Formen  meiner  Sinnlichkeit,  nicht  als  Formen  der 
Dinge  an  sich  selbst,  mithin  blosser  Erscheinungen  zu  denken^^  Die  kür- 
zeste und  deutlichste  Wiederholung  findet  sich  aber  Proleg,  §  10  (fin.),  wo 
Kant  mit  dürren  Worten  sagt,  dass  Raum  und  Zeit  „eben  dadurch,  dass  sie 
reine  Anschauungen  a  priori  sind,  beweisen,  dass  sie  blosse  Formen  unserer 
Sinnlichkeit  sind"  u.  s.  w.  (Vgl.  oben  S.  278.)  Ebenso  wird  es  gleich  unten 
A  27  als  selbstverständlich  angenommen ^  dass  „wir  die  besonderen  Be- 
dingungen der  Sinnlichkeit  nicht  zu  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Sachen, 
sondern  nur  ihrer  Erscheinungen  machen  können",  und  dass  ebendeshalb  der 
Raum  nicht  die  „Dinge  an  sich  selbst"  befassen  könne.  In  den  „Losen 
Blättern",  mitgeth.  von  Reicke  in  der  Altpr.  Monatsschr.  XXVIII  (1891) 
S.  419  heisst  es:  „Die  Anschauungsform  der  Gegenstände  in  R.  u.  Z.,  weil 
sie  a  priori  und  als  nothwendig  vorgestellt  wird,  beweiset  ihre  Sub- 
jectivität" u.  s.  w. 

Aber  dieser  Schluss  ist  nicht  im  geringsten  zwingend.  Denn  ganz 
abgesehen  von  Denen,  welche  auf  Grund  der  wissenschaftlichen  Psychologie 
den  Untersatz  verwerfen ,  wird  der  Obersatz  auch  bei  Rationalisten  selbst 
Widerspruch  herausfordern.  Man  wird  in  ihm  einePetitio  jonwci/ni findend  Wa- 
rum sollte  denn  eine  apriorische  Anschauung,  wie  die  Raum  Vorstellung,  nicht 
auch  doch  noch  zugleich  als  objective  Eigenschaft  den  Dingen  angehören 
können?  Wir  wollen  ja  zugestehen,  dass  es  gegen  die  lex  paraimoniae  in 
der  Natur  verstösst,  wenn  das  der  Fall  wäre;  aber  wir  können  doch  min- 
destens verlangen,  dass  der  Autor  etwas  nicht  als  eine  unumstössliche  Prämisse 
behandle,  was  in  der  That  im  günstigsten  Falle  nur  einige  Wahrscheinlich- 
keit für  sich  hat.  Wir  wollen  zugestehen,  dass  es  unwahrscheinlich  wäre, 
dass  eine  a  priori  angeschaute  Bestimmung  zugleich  auch  noch  den  Dingen 


^  Man  könnte  den  Beweisfehler  auch  als  Quaternio  bezeichnen;  denn  die 
Dinge,  vor  deren  Dasein  der  Raum  a  priori  angeschaut  wird  und  von  denen  der 
Untersatz  spricht,  sind  Erscheinungsdinge ;  dagegen  die  Dinge,  deren  Bestimmungen 
nicht  a  priori  angeschaut  werden  können  und  von  welchen  der  Obersatz  spricht, 
sind  die  realen  Dinge  an  sich.  Deshalb  beweist  das  Argument  auch  nur  die  Sub- 
jectivität des  Raumes  in  Ansehung  der  Dinge  im  Räume,  nicht  aber  in  Ansehung 
der  Dinge  an  sich.  So  scheint  übrigens  auch  schon  Brastberger  den  Fehler 
aufgefasst  zu  haben;  vgl.  den  folgenden  Excurs  S.  317.  Aehnlich  auch  Beyer«» 
dorff.  Die  Raum  Vorstellungen  S.  52  ff.  In  diesem  Sinne  bemerkte  auch  Wytten- 
bach,  Kant  sei  durch  die  von  Niemand  geleugnete  Thatsache,  dass  alle  Sinnes- 
wahmehmung  an  R.  u.  Z.  gebunden  ist,  zu  dem  Schlüsse  verleitet  worden,  dass 
alles  Nicht-Sinnliche  nicht  an  R.  u.  Z.  gebunden  sei ;  das  sei  ebenso  unbedacht  und 
verfehlt,  wie  wenn  man  z.  B.  folgendermassen  schliessen  wollte:  «Alle  Hunde  haben 
vier  Fasse;  folglich  hat  Alles,  was  nicht  Hund  ist,  nicht  vier  Füsse."  (Prantl, 
Sitz-Ber.  d.  Münch.  Akad.  1877,  S.  285.)  —  Vgl.  auch  oben  S.  54,  N.  1. 
Yaihinger,  Kant-Commentar.    II.  19 


290  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

A  26.  B  42.  [B  86.  H  61.  E  77.  78.] 

selbst  angehören  würde,  aber  wir  wollen  wenigstens  nicht  eine  Unwahr- 
scheinlichkeit  in  eine  Unmöglichkeit  verwandelt  sehen.  Es  werden  aber  Viele 
gerade  das  Gegentheil  des  im  Obersatz  Gesagten  wahrscheinlich  finden;  sie 
werden  sogar  eine  besondere  Teleologie  der  Natur  darin  erblicken,  dass  die 
a  priori  angeschaute  Bestimmung  auch  zugleich  den  Dingen  selbst  angehöret 
Für  Kant  dagegen  ist  es  selbstverständlich',  dass  das  Apriorische  zu- 
gleich rein  subjectiv  sei. 

Excurs. 

Der  Streit  zwischen  Trendelenburg  und  Fischer. 

Dieser  Fehler,   den  unsere  Analyse   auf  diese  Weise  aufgedeckt  hat, 
ist  nun  genau  derselbe,  welchen  Trendelenburg  der  Kantischen  Argumen- 
tation vorgeworfen  hat.  Tr.  hat  diese  richtige  Erkenntniss  nur  dadurch  wieder 
verdorben,   dass   er  sie  in  jene  Form   einer  „dritten  Möglichkeit"  kleidete, 
deren  logische  Mangelhaftigkeit  wir  oben  Seite  136  ff.  aufdecken  mussten.  Wenn 
also  auch  jene  „dritte  Möglichkeit"  nach  Trends.  Formulirung  fällt,  so  bleibt 
doch  die  „Lücke".     Was  Trend,  über  die  Schlussgerechtigkeit  dieser  Argu- 
mentation als  solcher  sagt,  ist  grossen theils  zutreffend.    Kant  schloss,  sagt  er 
(Beitr.  3,  228,  vgl.  216  f.  240.  Log.  Unters.  1.  A.  126  ff;  2.  A.  157  ff.),  in  dieser 
Weise :  „Raum  und  Zeit  sind  a  priori,  weil  nothwendig  und  allgemein,  und 
wenn  a  priori,  so  sind  sie  subjectiv,  also  nur  subjectiv."     Trend,  sucht  dies 
durch  specielle  Analyse  der  vier  Raumbeweise  zu  zeigen  (L.  ü.  1.  A.  128;  2.  A. 
162);   aber   diese  haben  ja   an   sich   noch  nichts  mit  diesem  weittragenden 
Schlüsse  hier  zu  thun  (vgl.  oben  S.  171,  N.  191).  Nach  Trends,  richtiger  Einsicht 
haben  wir  die  „entscheidende  Hauptstelle"   aber  eben   doch  hier  vor  uns. 
(Vgl.  jedoch  auch  schon  oben  S.  271.)    Ist  nun,  fragt  Trend.  229,  „dieser  Be- 
weis Kants  bündig?   und  gibt  es  ausser  jenem  apriori  einen  Grand  for  die 
Unmöglichkeit,  dass  Raum  und  Zeit  objective  Geltung  haben?"    „Die  Kraft 
dieses  Argumentes   (dass  der  Raum  nur  subjectiv  sei,   weil  er  a  priori  ist) 
bestreiten  die  logischen  Untersuchungen,  weil  er  eine  Lücke  enthält;  denn 
die  Möglichkeit,  dass  das  apriori,  im  Geiste  subjectiv,  doch  zugleich  objec- 
tive Geltung  habe,   ist  ausser  Acht  gelassen'^  (230).     „Wenn  K.  so  schloss, 
...  ist  die  Lücke  augenscheinlich.    Denn  an  und  für  sich  ist  kein  Hindemiss 
da,  dass  das  Nothwendige  und  Allgemeine,  woraus  der  apriorische  Ursprang 
erschlossen  ist,  nicht  auch  den  Dingen  nothwendig  sei''  (228).    Nach  Trend, 
beweist  also  die  Apriorität  nicht  die  Subjectivität.    „Das  apriori  drückt  einen 
Ursprung  in  unserem   Erkennen   aus.    Die  Form   des  Raumes,    die  Form 
der  Zeit  .  .  .  haben  einen  Ursprung  in  der  Thätigkeit  unseres  Geistes  .  .  . 
insofern   sind   sie   subjectiv.     Aber  das  hindert  nicht,  dass   ihnen  etwas  in 


*  Diese  „Teleologie"  nimmt  in  der  That  an  Volkelt,  Erfahrung  u.  Denken. 
S.  502  ff.     Gisevius,  Ks.  Lehre  13. 

^  So  drückt  dies  auch  aus  Spir,  Denken  und  Wirklichkeit  I,  11  ff.,  welcher 
daselbst  auch  diese  Annahme  Ks.  vertheidigt. 


Trendelenburgs  Angriff  auf  Kant.    Fischer  vertheidigt  Kant.  291 

den  Dingen  entspreche"  (223 ;  cfr.  222.  225.  230).  „Wir  dürfen  also  keines- 
wegs Raum  und  Zeit  den  Dingen  absprechen,  weil  K.  sie  im  Denken 
fand"  (226).  In  diesem  Sinne  gab  Trendelen  bürg  seiner  Abhandlung  in 
seinen  „Historischen  Beitragen  znr  Philosophie"  (III.  Band,  1867)  den  ganz 
zutreffenden  Titel:  „Ueber  eine  Lücke  in  Kants  Beweis  von  der  ausschliessen- 
den  Subjectivität  des  Raumes  und  der  Zeit." 

Unsere  obige  Analyse  der  vorliegenden  Stelle  gibt  diesem  Einwände 
Trs.  f^egen  dieselbe  vollständig  Recht.  In  diesem  Beweis  als  solchem  ist 
jene  „Lücke"  entschieden  vorhanden.  Der  Einwurf  Trs.  gegen  die  vorlie- 
gende Stelle  ist  also  sachlich  ganz  berechtigt;  man  beachte  aber  unseren 
vorsichtigen  Ausdruck:  ,,gegen  die  vorliegende  Stelle".  Denn  es  fragt  sich 
nun,  ob  Kant  nicht  an  einer  anderen  Stelle,  sei  es  der  Aesthetik,  sei  es 
der  Kr.  d.  r.  V.  oder  seiner  anderen  Werke,  das  hiesige  Versehen  wieder 
gut  gemacht,  die  hier  gelassene  Lücke  wieder  ergänzt  habe?  Diese  Frage 
hat  Tr.  selbst  aufgeworfen  und  auch  mit  Entschiedenheit  verneint.  Er  sagt 
(Log.  Unt.  1.  A.  129,  2.  A.  163;  Beitr.  3, 225):  „Wenn  wir  nun  den  Argumenten 
zugeben,  dass  sie  den  R.  u.  die  Z.  als  subjective  Bedingungen  darthun,  die 
in  uns  dem  Wahrnehmen  und  Erfahren  vorangehen,  so  ist  doch  mit  keinem 
Worte  bewiesen ,  dass  sie  nicht  zugleich  auch  objective  Formen  sein  können. 
Kant  hat  kaum  [die  erste  Auflage  hat  „nicht  einmal"]  an  die  Möglichkeit 
gedacht,  dass  sie  beides  zusammen  seien." 

Diesen  mächtigen  Angriff  gegen  Kant  nahm  nun  K.  Fischer  auf  ^  In 
seiner  Log.  u.  Met.  2.  A.  (1866)  wendet  er  sich  zunächst  gegen  die  Redaction 
jenes  Angriffes,  wie  sie  in  den  Log.  ünt.  2.  A.  (1862)  vorlag. 

I.  An  erster  Stelle  gehört  hierher  folgende  Gegenbemerkung  Fischers 
(S.  178):  „So  wenig  wird  die  objective  Geltung  des  Raumes  durch  seinen 
Charakter  als  blosse  Anschauung  beeinträchtigt,  dass  sie  vielmehr  erst  da- 
durch erklärt  wird :  die  einzig  mögliche  Objectivität,  die  es  überhaupt  gibt  .  .  . 
Diese  Geltung  von  R.  u.  Z.  in  Rücksicht  aller  Erscheinungen  nannte  Kant 
deren  empirische  Realität."  Dies  wiederholt  F.  in  der  Gesch.  III,  Vorr.  V,  VI. 
Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  dass  dieser  Einwand  die  Streitfrage  gar  nicht 
trifft,  da  er  eine  fierdgctoK;  sl;  äXXo  ^ivoc  enthält '.    Trend,  bemerkt  ganz  richtig 


*  Die  weitere  Literatur  über  diesen  berühmten  Streit  s.  in  der  Literatur- 
angabe am  Schlüsse  dieses  Bandes. 

'  Es  ist  charakteristisch  für  die  Kantianer,  dass  dieselbe  Ausflucht  auch 
schon  im  vorigen  Jahrhundert  genau  in  derselben  Weise  genommen  worden  ist,  so 
von  Schulz  in  seiner  Recension  des  Eberhard'schen  Magazins  (A.  L.  Z.  1790,  III, 
785  ff.,  vgl.  Prüfung,  II,  180  ff.),  wogegen  sich  Eberhard  im  Mag.  IV,  246  in 
treffenden  Worten  wendet.  Auch  eine  wahrscheinlich  von  Reinhold  herrührende 
Recension  der  Weishaupt'schen  Schriften  in  der  A.  L.  Z.  1788,  III,  10  ff.  bediente 
sich  derselben  Ausrede  gegen  den  Vorwurf  der  Subjectivität.  Vgl.  auch  Rein- 
hold, Beitrage  II,  202  ff.  Vgl.  dazu  auch  die  treffenden  Gegenbemerkungen  des 
wackeren  v.  Eberstein,  II,  75  f.  114.  393.  394:  .Die  fatale  Subjectivität  lehnen 
die  Kantianer  ja  nur  durch  eine  andere  Bedeutung  des  Wortes  objectiv  von  sich 
ab.*    Vgl.  auch  Eberhard  im   Phil.  Arch.  I,  1,   103   über  Kants   „subjective  Ob- 


292  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

in  seiner  Entgegnung,  S.  4  f.:  „Wer  sich  mit  Kants  Lehre  irgendwie  be- 
schäftigt hat,  erinnert  sich,  dass  das,  was  K.  innerhalb  seiner  Lehre  em- 
pirische Objectivität  nennt  (Anwendung  auf  Erscheinungen),  gerade  durch  die 
ausschliessende  Subjectivität  von  B.  u.  Z.  bedingt  ist  und  deswegen  fi&r 
nicht  hieb  er  gehört."  (üeber  diese  missbräuchliche  Verwendung  des  Ter- 
minus „Objectivität'^  bei  Kant  vgl.  auch  Beneke,  Kant  36  f. ;  Metaphysik  234 
Vgl.  Riehl,  Krit.  II,  a,  109  f.  Bratuschek,  Phil.  Mon.  V,  296.  Seligkowitz 
in  d.  Viert,  f.  wiss.  Phil.  XVI  [1892],  S.  89  f.  mit  Bezug  auf  Schulze- 
Aenesidems  und  Piatners  Einwände  gegen  K.)    Vgl.  unten  S.  349.  355  ff. 

Ausserdem  ist  dabei  übersehen,   dass,  wenn  Kant  dem  R.  und  der  Z. 
allerdings  in  Bezug  auf  die  Ersch ein ungs weit  „objective  Gültigkeit,  Realität'^ 
zuschreibt  (A  27,  34  ff.  öfters),  er  denselben  doch  auch  ausdrücklich  und  wört- 
lich die  „objective"  Gültigkeit  im  absoluten  Sinne  abspricht    Kant 
hat  ja  selbst  diese  Wendung  mehrfach  gebraucht,  so  A  32:  „Die  Zeit  ist  nicht 
etwas,  was  für  sich  selbst  bestünde  oder  den  Dingen  als  objective  Bestim- 
mung anhinge'S   ebenso  A  37  Anm. ;   ebenso  A47:  „Setzet,   R.  u.  Z.  seien 
an  sich    selbst   objectiv   und  Bedingungen   der  Möglichkeit   der  Dinge   an 
sich  selbst;"   B  70:   wenn  man  jenen  Vorstellungsformen   objective   Rea- 
lität beilegt,  so  werde  alles  in  blossen  Schein  verwandelt;  B  72:  „Es  bleibt 
nichts  übrig,   wenn  man  sie  [R.  u.  Z.]  nicht  zu  objectiven  Formen  alier 
Dinge  machen  will,   als  dass  man  sie  zu  subjectiven  Formen  macht."     An- 
gesichts solcher  Stellen  war  es  doch  geradezu  eine,  wenn  auch  subjectiv  nicht 
beabsichtigte,  so  doch  objective  Fälschung  des  Thatbestandes,  nicht  bloss  dem 
Sinne,  sondern  auch  sogar  dem  Wortlaut  nach,  wenn  gesagt  werden  konnte, 
„objective  Geltung"  könne  im  Sinne  Kants  keinen  anderen   als  den  empiri- 
schen   Sinn    haben!     Dieser    misslungene  Fischer'sche   Rettungsversuch  ist 
nichtsdestoweniger   oft   wiederholt   worden;   vgl.   Arnoldt,   R.  u.  Z.  8—15: 
Cohen  70,  2.  A  163.  170.    419.  502   (vgl.  Philos.  Monatsh.  1890,  304  ff.): 
Qrapengiesser  S.  17.  18;  Witte  a.  a.  0.  52;  Masci,  Polemica  9—48;  Mahaffv, 
Grit.  Phil.  I,  68.  Vgl.  Wundt,  Phys.  Psych.  1874,  S.  691  u.  Philos.  Studien, 
VII,  1891,  41—42.  Vgl.  Knauer,  Reflexionsbegriffe  35.   Vgl.  auch  den  Streit 
Wyttenbachs   und   van   Hemerts  über   „objectiv"   bei  Prantl,   Sitz.-Ber,  der 
Ak.  München  1877,  279.     Vgl.  Renouvier,  CHt.  Philos,  1880,  83  ff.  und  da- 
gegen treffend  Lotze,  Revue  Philos.  1880,  481  ff.  (Kl.  Sehr.  III,  492  ff.). 

II.  Ferner  erhebt  Fischer  folgenden  allgemeinen  Einwand  (Log.  u.  Met. 
176 — 178):  nach  Trs.  Annahme  gebe  es  zwei  Originalräume,  den  subjectiven 
und  den  objectiven.  Es  könne  aber  nicht  zwei  Originalräume  geben.   „Wenn  es 


jectivität",  wie  Seile  sich  ausdrückte.  Ein  Recensent  von  dessen  Abhandlung 
gegen  Kant  (vgl.  oben  S.  195  und  unten  S.  315)  entblödet  sich  nicht,  zu  sagen: 
„Es  ist  ganz  falsch,  dass  Kant  behauptet  hätte,  R.  u.  Z.  hätten  nur  subjective 
Realität.  Die  ganze  Kr.  d.  r.  V.  beschäftigt  sich  damit,  die  objective  Realität 
dieser  Vorstellungen  zu  beweisen!'  (Kossmanns  Allg.  Mag.  I,  2,  204.)  Uebrigens 
verschmäht  auch  Kant  selbst  nicht  diesen  Ausweg;  s.  seine  Bemerkungen  gegen 
Eberhard  gleich  am  Anfang  des  Briefes  an  Reinhold  vom  19.  Mai  1789. 


Fischer  vertheidigt  Kant  ohne  Erfolg.  293 

vom  Raum  zwei  Exemplare  gibt,  so  ist  eins  davon  sicherlich  aus  zweiter 
Hand."  Aber  diese  ganze  Argumentation  leidet  an  dem  Fehler  der  Petitio 
principiif  welche  in  dem  begründenden  Satze  enthalten  ist:  ,,da  der  Raum 
nur  einer  sein  kann,  da  es  nicht  zwei  Originalräume  gibt.'*  Dies  ist  ja 
eben  die  Tr.'sche  Annahme  (vgl.  dessen  Beiträge  3,  262  f.) ,  deren  logische 
Berechtigung  durch  diese  apodiktischen  Verneinungen  nicht  widerlegt  ist. 
Dasselbe  gilt  auch  von  dem,  was  Riehl,  Krit.  II,  a,  107  ff,  gegen  Trend,  im 
Sinne  Kants  ausfuhrt. 

III.  Weiter  heisst  es  zu  Gunsten  Kants  bei  Fischer  (Log.  u.  Met.  175): 
„In  der  Vemunftkritik  .  .  .  wurde  die  Unmöglichkeit  einer  transscendentalen 
Realität  des  Raumes  bewiesen.  Diesen  Beweis  wollen  die  Log.  Unt.  ver- 
missen. In  der  That  ist  er  gefuhrt.  Denn  gesetzt,  er  sei  unabhängig  von 
der  Anschauung  etwas  an  sich,  so  könnte  dieser  Raum  uns  nur  durch  Er- 
fahrung gegeben,  so  müsste  er  ein  Erfahrungsobject  und  die  mathematischen 
Einsichten  Erfahrungsurtheile  sein,  die  als  solche  weder  allgemein  noch  noth- 
wendig  sein  können.  Wäre  der  Raum  etwas  Reales  an  sich,  so  würde 
daraus  die  Unmöglichkeit  der  Mathematik  folgen."  Die  auf  die  Schluss- 
wendung bezügliche  rein  formelle  Controverse  haben  wir  schon  oben  S.  274 
besprochen.  Was  das  Materielle  betrifft,  so  enthält  diese  Stelle  zunächst 
einmal  eine  ignoratio  elenchi,  welcher  wir  bei  Fischer  (unten  S.  301)  noch 
einmal  begegnen  werden;  vgl.  Quäbiker  in  den  Phil.  Mon.  IV,  410.  Cohen 
in  der  Zeitschr.  f.  V.  7,  259.  Denn  es  handelt  sich  ja  nicht  darum,  dass 
K.  die  Unmöglichkeit  eines  realen  Raumes  bewiesen  habe,  oder  habe  be- 
weisen wollen,  sondern  ob  er  die  Unvereinbarkeit  der  Apriorität  und  der 
Realität  des  Raumes  nachgewiesen  habe.  Dies  ist  das  punctum  quciestionisl 
(Vgl.  Trend.  Beitr.  3,  246.) 

Die  Fischer'sche  Stelle  enthält  aber  noch  einen  weiteren  Fehler,  näm- 
lich nichts  weniger  als  eine  Petitio  principii,  Fischer  sagt,  dass,  wenn  der 
Raum  etwas  Reales  wäre,  er  uns  „nur  durch  Erfahrung  gegeben  sein  könnte'^ 
In  dieser  harmlosen  Folgerung  steckt  ja  eben  die  bestrittene  Voraussetzung, 
welche  Fischer  auch  S.  176 — 178  mehrfach  ebenso  harmlos  wiederholt, 
indem  er  ausführt:  wenn  es  einen  realen  Raum  gebe,  könnte  die  An- 
schauung des  Raumes  nur  empirisch  entstehen ;  denn  es  könne  nur  Einen 
Originalraum  geben ,  entweder  nur  einen  apriorischen  oder  einen  realen, 
nicht  aber  zwei  zugleich  (vgl.  oben  sub  II).  Wenn  der  Raum  etwas 
Reales  an  sich  ist,  kann  er  (resp.  seine  Vorstellung)  ja  trotzdem  zu- 
gleich auch  eine  apriorische  Anschauung  sein  —  genau  so,  wie  er,  wenn  er 
(resp.  seine  Vorstellung)  auch  eine  apriorische  Anschauung  ist,  trotzdem 
zugleich  etwas  Reales  an  sich  sein  kann,  d.  h.  es  kann  jener  apriorischen 
Raumvorstellung  ein  realer  Raum  an  sich  entsprechen.  Diesen  Sachver- 
halt hat  schon  Trend.  (Beitr.  3,  243 — 246)  richtig  eingesehen ,  wenn  auch 
mangelhaft  dargestellt.  Richtig  bemerkt  auch  Bratuschek  (Phil.  Mon.  V, 
292  f.):  „Die  Lücke  in  der  Kantischen  Beweisführung  findet  sich  in  der 
Fischer'schen  Reproduktion  somit  einfach  wiederholt."  Vgl.  Quäbiker, 
Phil.  Mon.  IV,  240.     Schlötel  87. 


294  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Uod  dieselbe  Argumentation  gilt  auch  gegen  die  zweite  Hälfte  der 
Fischer*schen  Stelle:  die  mathematischen  Einsichten  würden  zu  Erfalirungs- 
urtheilen,  oder  wie  Fischer  S.  177  pathetisch  ausruft:  „Wo  bleibt  noch  die 
Möglichkeit  der  reinen  Mathematik?*'.  Es  ist  dies  nicht  im  mindesten  noth- 
wendig ;  gibt  es  auch  einen  realen  Kaum  an  sich ,  so  kann  es  doch  auch 
zugleich  eine  entsprechende  apriorische  Vorstellung  desselben  geben,  ans  wel- 
cher sämmtliche  mathematische  Sätze  a  priori  abgeleitet  werden  können,  was 
auch  Trend.  (Beitr.  3,  246.  cfr.  228)  selbst  richtig  gegen  F.  bemerkt  hat 
Vgl.  dazu  oben  S.  271.     Vgl.  auch  Volkelt  60. 

IV.  Aber  nicht  bloss   die  Möglichkeit  der   reinen,  sondern  auch  die 
der  angewandten  Mathematik  wird  von  Fischer  gegen  Trend,  zum  Zeug- 
niss  eingeführt.    „Wenn  also/'  heisst  es  Log.  u.  Met.  178,  „aus  Raam  und 
Zeit  als  blosser  Anschauung   die  Apriorität  der  [reinen]   Mathematik  sich 
rechtfertigt,   so  wird   aus  demselben  Grunde  die  objective  Geltung  der 
Mathematik  so  wenig  beeinträchtigt  oder  in  Frage  gestellt,  dass  sie  viel- 
mehr erst  dadurch  erklärt  und  gesichert  wird.*'     Es  bezieht  sich   dies  aaf 
Trs.  Angriff  (Log.  Unt.  2.  A.  160):  „Indem  K.  durch  das  Apriori  von  R. 
u.  Z.  die  Frage,  wie  eine  reine  Mathem.  möglich  sei,  beantwortet,  also  die 
reine  Mathem.    erklärt,   versperrt  er,   das  Apriori  zu  einem  nur  sabjec- 
ti  ven  machend,  der  Erklärung  der  angewandten  Mathematik  den  Weg.'* 
(Eine    weitere   Ausführung    davon  gibt   Trend,  in   der  3.   Aufl.    der   Log. 
Unters.  I,  311.     Vgl.  dagegen  Arnoldt,  B.  u.  Z.  90  ff.)     In   der  Gesch.  d. 
Philos.  III,  2.  A.  Vorr.  V,  heisst  es  weiter  bei  Fischer:  „Es  ist  keineswegs 
richtig,  dass  nach  K.  Baum  und  Zeit  nur  subjectiv  seien  in  einem  die  Ob- 
jectivität  ausschliessenden  Sinn ;  es  ist  ebenso  unrichtig,  dass  K.  sich  die  Er- 
klärung der  angewandten  Mathematik  versperrt  habe,  da  er  ja  gerade  diese 
Erklärung  in   dem  ersten  mathematischen  Grundsatz  des  reinen  Verstandes 
ausdrücklich  gegeben  haben  will.    Er  sagt  von  dem  Axiom  der  Anschauung 
(A  164):    Dieser  Grundsatz  ist  es  allein,  welcher  die  reine  Mathematik  in 
ihrer   ganzen   Präcision   auf    Gegenstände   der  Erfahrung  möglich   macht. ^' 
Fischer  hätte  nicht  so  weit  zu  greifen  gebraucht,  um  diese  Lehre  bei  Kant 
zu  finden ;  sie  ist^  wie  wir  sahen  (S.  282  f.),  schon  in  der  Aesthetik  da,  was 
freilich  K.  selbst  durch  seine  schiefe  Formulirung  seiner  ersten  Hauptfrage 
selbst  verdeckt  hat. 

Ob  Trend,  hiedurch  geschlagen  sei,  diese  Frage  haben  wir  schon 
oben  (S.  272)  aufgeworfen.  Es  scheint  so  (auch  hat  es  Arnoldt,  R.  a. 
Z.  36  behauptet),  aber  es  scheint  auch  nur  so.  Denn  mit  dem  Aus- 
druck der  objectiven  Geltung  wird .  hier  von  F,  dasselbe  Spiel  getrieben,  wie 
oben  (S.  291  f.).  Nicht  um  die  objective  Geltung  für  die  Erscheinungen  han- 
delt es  sich,  sondern  um  diejenige  für  die  Dinge  an  sich.  Das  hatte  Trend, 
auch  gesagt  in  den  Log.  Unt.  2.  A.  160  ff.:  „Es  ist  der  spannende  Nerv 
in  allem  Erkennen ,  dass  wir  das  Ding  erreichen  wollen ,  wie  es  ist ;  wir 
wollen  das  Ding,  nicht  uns.*'  Nach  Kants  Ansicht  aber  ist  die  Mathematik 
nicht  von  den  Dingen  an  sich  gültig,  sie  gibt  uns  keine  Erkenntniss  der 
Dinge  an  sich  und   ihrer  Verhältnisse;  ihre  Anwendung  auf  die  Dinge  an 


r 


Der  Kampf  um  die  Mathematik.    Ai-noldt  greift  ein.  295 

sich  ist  uns  allerdings  versperrt.  Diese  ist  nach  Tr.  nur  dann  garantirt,  wenn 
dem  apriorischen  Raum  in  uns  ein  realer  Raum  entspricht  ^  Dies  ist  auch 
ein  ganz  berechtigter  Gedanke,  nur  hätte  Tr.,  was  er  meint,  deutlicher  sagen 
müssen.  Er  hat  es  nämlich  dadurch  undeutlich  gemacht,  dass  er  einen 
zweiten,  an  sich  richtigen  Gedankengang  dazwischen  hineinschiebt.  Er  will 
nämlich  auch  beweisen,  dass  auch  das,  was  Kant  auf  dem  Boden  seiner  idea- 
listischen Theorie  „Anwendung  der  Mathematik"  heisst,  nämlich  auf  Er- 
scheinungen, unmöglich  ist.     (Vgl.  dazu  Beitr.  3,  217,  223,  246.) 

Kant  würde  sagen,  meint  Trend.,  nicht  die  Dinge,  sondern  nur  die 
Erscheinungen  braucht  die  Mathematik  in  ihren  Gesetzen  aufzufassen.  „Wir 
nehmen  diese  Berichtigung  auf  und  gehen  in  sie  ein.  Die  Dinge  werden 
Erscheinungen,  indem  sie  die  Sinne  afficiren  und  in  uns  Vorstellungen  wecken, 
und  dies  geschieht,  indem  der  Geist  sie  in  seine  Formen,  in  R.  u.  Z.  fasst  .  .  . 
Wären  nun  R.  u.  Z.  nur  Formen  des  subjectiven  Geistes,  so  könnte  die 
Mathematik  nur  das  erfassen,  was  an  den  Erscheinungen  unser  eigenes  Er- 
kenntnissvermögen aus  sich  hergibt  [die  Form],  aber  die  andere  Hälfte  der 
Erscheinung  [die  Materie]  müsste  sie  unberührt  lassen;  es  wäre  also  ange- 
wandte Mathematik,  welche  doch  nur  dadurch  die  Erscheinung  begreifen 
und  zum  Gehorsam  bestimmen  könnte,  dass  sie  in  ihr  beide  Elemente  er- 
fasste,  unmöglich.  Indem  die  Dinge  zu  Erscheinungen  werden,  folgen  sie 
den  Gesetzen  von  R.  u.  Z.,  und  indem  sie  sich  in  R.  u.  Z.  fassen  lassen, 
muss  dies  ihrer  eigenen  Natur  nach  möglich  sein.  Es  wäre  nicht  denkbar, 
dass  sie  mit  den  Formen  von  R.  u.  Z.  eine  Gemeinschaft  eingehen,  wenn  sie 
nicht  selbst  in  irgend  einer  Weise  an  R.  u.  Z.  Theil  hätten."  (Vgl.  oben 
S.  182.)  Auch  gegen  diese  Argumentation  lässt  sich  sachlich  nichts  Stich- 
haltiges vorbringen,  wenn  man  auch  mit  Arnoldt,  R.  u.  Z.  84—89  mit 
Recht  in  der  Wiedergabe  der  Kantischen  Theorie  die  strenge  Kanticität  des 
Ausdruckes  vermisst.  Vgl.  auch  Grapengiesser  42—45.   Tiebe  5 — 6.  9 — 10. 

V.  Mit  dem  vorigen  Argument  hängt  nun  der  Einwand  zusammen, 
welchen  Arnoldt  (unabhängig  von  Fischer)  erhoben  hat  und  welcher  den 
Kern  seiner  Abhandlung  bildet :  „Kants  transscendentale  Idealität  des  Raumes 
und  der  Zeit.  Für  Kant  gegen  Trendelenburg.' ^  In  diesem  äusserst  schwer- 
fälligen und  schwerverständlichen  Opus  kehrt  in  den  mannigfachsten  Varia- 
tionen folgender  (bes.  S.  25 — 32  ausgeführter)  Grundgedanke  wieder  (derselbe 
findet  sich  auch  bei  Grapengiesser  S.  22  und  Cohen,  2.  A.  161  ff.):  Trend, 
hat  Kants  Schluss  auf  die  Idealität  unrichtig  dargestellt;  Kant  schloss 
nicht,  wie  Trendelenburg  ihn  schliessen  lässt:  „Raum  und  Zeit  sind 
a  pripri,  weil  noth wendig  und  allgemein,  und  wenn  a  priori,  sind  sie  sub- 
jectiv,  also  nur  subjeetiv;'*  sondern  Kant  schloss  nach  Arnoldt  in 
Wirklichkeit  folgendermassen:  „R.  u.  Z.  sind  a  priori,  weil  nothwen- 


*  Eine  nicht  besonders  geschickte  Wendung  hat  Ueberweg  (Logik  §  44) 
diesem  Gedanken  gegeben,  indem  er  das  Newton'sche  Gravitationsgesetz  gegen  die 
Idealität  des  Raumes  ins  Feld  führt.  Liebmann,  Anal.  d.  Wirk.  64  ff.  hat  diese 
Wendung  treffend  widerlegt. 


296  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

dig  und  allgemein,  und  sie  sind,  obwohl  a  priori,  dennoch  objectiv  gültig, 
wenn  transscendentaHdeal,  wenn  nur  subjectiv;'^  d.  h.  trotz  ihrer  Apriorität 
haben  R.  u.  Z.  objective  Gültigkeit  für  die  Erscheinungen,  aber  nur  dann, 
wenn  sie  keine  Gültigkeit  haben  für  die  Dinge  an  sich. 

Kant  hat  allerdings  so  geschlossen,  und  zwar,  wie  wir  gesehen  haben, 
in  der  Transsc.  Erörterung,  oder  vielmehr  besser:  in  dem  dritten  Absatz 
derselben  (vgl.  oben  S.  268  f.).  Richtig  ist  auch,  dass  Trend,  diese  Schlussweise 
Kants  nicht  erkannt  hat  (vgl.  oben  S.  271).  Aber  richtig  ist  eben  auch,  dass 
Kant  selbst  diese  seine  Schlussweise  verdeckt  hat  durch  seine  beständige  Ver- 
wechslung der  Frage  nach  der  reinen  und  der  angewandten  Mathematik, 
so  dass  man  es  Trend,  nicht  übel  zu  nehmen  braucht,  dass  er  jene  Stelle 
nicht  richtig  ausgelegt  hat,  zumal  dasselbe  auch  von  K.  Fischer  gilt. 

Ist  es  somit  unrichtig,  diesen  Fehler  Trs.  zu  einem  Capital  verbrechen 
desselben  zu  machen,  so  ist  es  doppelt  und  dreifach  unrichtig  von  Arnoldt,  diese 
Schlussweise  Kants  gegen  Trs.  Vorwurf  der  „Lücke"  als  angeblichen  Gegen- 
beweis ins  Feld  zu  führen.  Denn  erstens,  was  das  Sachliche  betrifft,  so 
schliesst  die  Gültigkeit  jener  Anschauungsformen  für  die  Erscheinungen  deren 
absolute  Realität  im  Gebiet  der  (nach  Kant  selbst  ja  unbekannten)  Dinge 
an  sich  doch  nicht  im  geringsten  aus.  Man  mag  mit  Arnoldt  dieser  An- 
sicht das  Prädicat  der  „Seltsamkeit"  geben,  aber  logisch  unmöglich  ist  die* 
selbe  nicht  im  geringsten,  und  damit  bleibt  eben  die  „Lücke".  Dazu  kommt 
zweitens,  dass  Trend,  an  den  oben  sub  IV  erörterten  Stellen  jenen  Gedanken- 
gang Kants  doch  de  facto  berücksichtigt  hat.  Drittens  schliesst  ja  der  um- 
stand, dass  Kant  in  der  Transsc.  Efört.  jene  von  Arnoldt  vertretene 
Schlussweise  einschlägt,  nicht  im  geringsten  aus,  dass  er  an  einer  anderen 
Stelle,  also  an  der  von  uns  hier  besprochenen,  im  Schluss  a  jene  von 
Trendelenburg  vertretene  Sohlussweise  hat. 

Das  leugnet  nun  freilich  Arnoldt  und  behauptet,  auch  in  diesem 
„Schluss  a"  schliesse  Kant  nach  seiner,  Arnoidts,  Weise,  nicht  nach  Tren- 
delen burg*scher  Manier.  Das  muss  nun  ausgemacht  werden,  denn  jene 
beiden  Schlussweisen,  die  Trendelenburg'sche  und  die  Arnoldt'sche,  sind  total 
verschiedener  Natur;  und  es  muss  das  auch  ausgemacht  werden  können, 
wenn  überhaupt  eine  Kant-Interpretation  als  wissenschaftliche  Methode  existirt. 

Es  ist  leicht  nachzuweisen,  dass  Arnoldt  sich  geirrt  hat;  und  es  ist 
auch  leicht  nachzuweisen,  wie  er  zu  seinem  Irrthum  gekommen  ist.  Arnoldt 
hat,  wie  wir  gesehen  haben  (S.  271),  den  3.  Absatz  der  Transsc.  Erörterung 
richtig  ausgelegt,  aber  er  thut  unrecht  daran,  den  dort  aufgefundenen  Be- 
weis Kants  auf  diese  Stelle  hier  zu  übertragen.  Er  sagt  S.  123:  „Nach  der 
Transsc  Erörterung  zieht  Kant  die  Schlüsse  aus  obigen  Begriffen  und 
stellt  in  dem  ersten  Schlüsse  unter  Nr.  a  das  negative  Ergebniss  fest,  das, 
was  der  Raum  nicht  ist.  Andeutend  reproducirt  er  dabei,  wenn  man  will, 
den  ganzen  [eben  in  der  Transsc.  Erörterung  enthaltenen]  Beweis  für  die 
Transsc.  Idealität  des  Raumes",  der  also  eben  auf  der  objectiven  Gültigkeit 
der  Geometrie  für  die  Erscheinungsobjeete  beruhe.  Hier  ist  aber  Arnoldt 
ein  sehr  fataler  Fehler  begegnet:  ,, Schlüsse  aus  obigen  Begriffen"  —  so  hiess 


Arnoldt  kämpft  fQr  Kant  mit  Missverständnissen.  297 

es  schon  in  der  ersten  Auflage,  in  welcher  die  ganze  Transsc.  Erörterung 
noch  gar  nicht  stand !  Also  bezieht  sich  die  Wendung  ,ySchlüsse  aus  obigen 
Begriffen'*  auch  gar  nicht  auf  dieselbe,  sondern  nur  auf  die  speciellen  Raum- 
beweise. Nun  war  allerdings  in  der  1.  Auflage  unter  diesen,  sub  N.  3, 
auch  die  Aprioritftt  der  Geometrie  eingeführt  worden,  aber  man  erinnert 
sich  (vgl.  oben  S.  202  u.  S.  265),  dass  es  sich  da  eben  nur  um  die  Apriorität 
der  reinen  Mathematik  als  solcher  handeln  konnte,  nicht  um  deren  objec- 
tive  Gültigkeit  für  die  Erscheinungen,  wie  im  3.  Abs.  der  Transsc.  Erörte- 
rung. Also  kann  auch  dieses  letztere  Argument  nicht  als  eine  schon  vorher 
verhandelte  Vorbedingung  des  Schlusses  a  gelten,  und  Trendelenbbrgs  Aus- 
legung (Beitr.  3,  230)  bleibt  so  schliesslich  doch  in  Ehren:  „Wenn  die  Thesis, 
dass  der  Raum  keine  Eigenschaft  vorstelle,  welche  an  den  Dingen  selbst 
haftet,  als  Schluss  aus  dem  Vorangehenden  betrachtet  werden  soll,  so  geht 
der  Beweis  dahin,  dass  der  Raum  nur  subjectiv  sei,  weil  er  a  priori 
ist,  und  die  Kraft  dieses  Argumentes  bestreiten  die  Log.  Unters.,  weil  es 
eine  Lücke  enthält;  denn  die  Möglichkeit,  dass  das  apriori,  im  Geiste  sub- 
jectiv, doch  zugleich  objective  Geltung  [für  die  Dinge  an  sich]  habe,  ist 
ausser  Acht  gelassen.'* 

Es  ist  aber  noch  ein  anderer  Gegengrund  gegen  Arnoidts  Auffassung 
geltend  zu  machen:  das  Argument,  welches  er  im  Schlüsse  a  finden  will, 
findet  sich  allerdings  hier,  aber  nicht  im  Schluss  a,  sondern  ganz  deutlichst 
im  Schlüsse  b.  Es  ist  somit  äusserst  unwahrscheinlich,  dass  auch  der  Schluss  a 
dasselbe  Argument  enthalten  werde.  Dazu  kommt,  dass  dieser  Gedanke 
—  die  objective  Gültigkeit  der  Mathematik  für  die  Erscheinungsobjecte  —  von 
Kant  weder  dort  im  Schluss  b,  noch  überhaupt  in  diesem  Zusammenhang 
als  ein  Beweismoment  eingeführt  wird,  wie  das  doch  Arnoldt  haben  will. 
Damit  hat  aber  Arnoldt  den  ganzen  Gedankengang  der  Aesthetik  ihrem 
methodischen  Zusammenhange  nach  gänzlich  verkannt,  worüber  gleich  nach- 
her beim  ,  Schlüsse  b**  ausführlich  zu  sprechen  ist. 

Was  so  durch  Berücksichtigung  der  vorhergehenden  und  nachfolgenden 
Stellen  gewonnen  ist,  das  wird  durch  eine  Analyse  der  vorliegenden  Stelle 
selbst  bestätigt.  Es  handelt  sich  dabei  vor  Allem  um  die  Auslegung  der 
Worte  Kants:  „Denn  weder  absolute  noch  relative  Bestimmungen 
können  vor  dem  Dasein  der  Dinge,  welchen  sie  zukommen,  mit- 
hin nicht  a  priori  angeschaut  werden. '^  Der  Sinn  des  Satzes  erhellt 
aus  unserer  oben  (S.  288)  gegebenen  Analyse:  Was  wir  a  priori  anschauen 
können,  das  kann  nicht  den  Dingen  an  sich  angehören,  sondern  —  dies  ist 
natürlich  zu  ergänzen  (vgl.  oben  S.  288  und  Arnoldt  109)  —  nur  den  Erschei- 
nungen (Obers atz).  Weil  nun  eben  der  Raum  —  so  schliesst  Kant  weiter —  a 
priori  angeschaut  werden  kann  (Untersatz),  kann  er  nicht  den  Dingen, 
sondern  muss  nur  den  Erscheinungen  angehören  (Schlusssatz).  Dass  der 
Raum  eine  Anschauung  a  priori  sei,  wurde  vorher  bewiesen;  natürlich  nur 
eine  Anschauung  a  priori  in  dem  Sinne  der  4  speciellen  Raumbeweise,  dass 
er  eben  eine  von  der  Erfahrung  unabhängige  anschauliche  Vorstellung  sei. 
Arnoldt  aber  meint  (S.  115.  119.  122.  123),  der  Terminus:  Anschauung 


298  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

a  priori  in  den  Prämissen  habe  schon  die  tiefere  Bedeutung,  dass  die  Raam- 
yorstellung  die  objectiv-gültige  Anschauungsform  fär  die  Erscheinungen  sei; 
und  er  findet  (S.  25 — 32)  sogar  darin  die  Quelle  des  Trendelenburg'schen  Miss- 
Verständnisses,  dass  derselbe  nicht  die  (von  uns  oben  S.  273.  279  besprochene) 
Unterscheidung  des  Raumes  als  apriorischer  Vorstellung  und  apriori- 
scher objectiv-gültiger  Anschauung  gemacht  habe.  Diese  Unter- 
scheidung ist,  wie  wir  sahen,  sachlich  richtig,  aber  an  dieser  Stelle  handelt 
es  sich,  dem  Wortlaut  und  dem  Zusammenhang  nach,  nur  darum,  dass  der 
Raum  eine  von  der  Erfahrung  unabhängige  anschauliche  Vorstellung  sei. 
Nur  so  viel  kann  der  Untersatz  sagen;  man  mische  doch  nicht  den  3.  Ab- 
satz der  Transsc.  Erörterungen  hinein,  sondern  vergegenwärtige  sich,  dass 
der  Schluss  a  ja  geschrieben  war,  ehe  die  Transsc.  Erörterung  bestand,  dass 
Anschauung  a  priori  —  der  Terminus  medius  —  also  nur  in  dem  durch 
die  speciellen  Raumbeweise  festgesetzten  Sinne  verstanden  sein  kann.  Dass 
die  Anschauung  a  priori  in  diesem  Sinne  auch  zugleich  eine  subjective  An- 
schauungsform in  jenem  weittragenden  Sinne  sei,  das  kann  hier  noch  nicht 
mitenthalten  sein,  weil  es  ja  erst  bewiesen  werden  muss ;  dieser  Beweis  soll 
ja  erst  jetzt  geliefert  werden.  Diesen  Beweis  haben  wir  aber  in  dem  hier 
im  Schluss  a  von  Kant  entwickelten  Gedanken,  dass  eine  Vorstellung,  welche 
wir  a  priori  vor  allem  Dasein  der  Dinge  in  uns  antreffen,  keinen  wahren 
Realitätswerth  haben  kann,  dass  sie  sich  nicht  auf  Dinge  an  sich  beziehen 
kann,  dass  sie,  wie  daraus  folgt  und  im  Schluss  b  auch  wirklich  gefolgert 
wird,  sich  nur  auf  Erscheinungen  beziehen  kann.  Es  ist  also  eine  vollständige 
ignoratio  elenchij  welche  wir  Arnoldt  vorwerfen  müssen,  obgleich  derselbe 
noch  vor  Kurzem  (Altpr.  Monatsschr.  1888,  XXV,  S.  21.  47)  seine  Dar- 
legungen von  1870  für  „unwiderleglich**  erklärt  hat.  (Derselbe  Fehler 
bei  Paulsen,  Entw.  189,  sowie  bes.  bei  Cohen,  Erf.  2.  A.  163.  171.  Ebenso 
bei  Caird,  Phil  of  Kant  258  ff.,  und  Cnt.  Phil,  of  Kant  I,  306  ff.,  Masci, 
Polemica  68—80.) 

Der  Vollständigkeit    halber    ist    hier    noch    folgendes    zu    bemerken: 
wir  haben  oben  (wie  auch  oben  S.  288)  zu  dem  negativen  Obersatz  Kants 

—  objective  Bestimmungen  der  Dinge  lassen   sich  nicht  a  priori  anschauen 

—  die  positive  Ergänzung  hinzugefugt:  sondern  nur  subjective.  Man 
könnte  den  Satz  auch  in  anderer  Weise  ergänzen:  objective  Bestimmungen 
der  Dinge  lassen  sich  nicht  a  priori  anschauen,  sondern  nur  a  posteriori. 
Diese  Ergänzung  ist  an  sich  nicht  unlogisch,  aber  in  diesem  Zusammenhange 
hier  wenigstens  nicht  von  Bedeutung.  Deshalb  sind  auch  die  Einwinde 
Trendelenburgs  (Beitr.  3,  229)  gegen  diese  Wendung  ohne  Bedeutung;  er 
sagt:  „Dieser  Satz  ist  gesetzt,  aber  weder  bewiesen,  noch  leuchtet  er  wie 
ein  Grundsatz  aus  sich  ein;  er  gehört  zu  solchen  in  Kants  Kritik,  weiche 
aus  der  gewöhnlichen  Betrachtungsweise  des  Empirismus  stillschweigend 
entlehnt  sind.  Aber  selbst  dieser  kann  man  seine  Schwäche  klar  machen. 
Allem  Dasein  der  Dinge  gehen  Bedingungen  voran ,  welche  auch  vor  dem 
Dasein  der  Dinge  können  erkannt  werden,  das  Eisen  z.  B.  vor  dem  Seh  wert, 
dem  es  als  Bestimmung  zukommt.    Nichts  hindert  daher,  dass  B.  u.  Z.  als 


Der  Kantiäche  Beweis  ist  nicht  mehr  zu  retten.  299 

solche  Bedingungen  vor  dem  Dasein  der  Dinge,  welchen  sie  .  .  .  zukommen, 
a  priori  können  angeschaut  werden.^  Allerdings  beginnt  Kant  den  §  9  der 
Prolegomena  (vgl.  über  denselben  auch  Massonius,  Aesth.  28  flF.  Vgl.  auch 
oben  S.  277)  mit  den  Worten:  „Müsste  unsere  Anschauung  von  der  Art  sein, 
dass  sie  Dinge  vorstellte,  so  wie  sie  an  sich  selbst  sind,  so  würde  gar  keine 
Anschauung  a  priori  stattfinden,  sondern  sie  wäre  allemal  empirisch.  Denn 
was  in  dem  Gegenstande  an  sich  selbst  enthalten  sei,  kann  ich  nur  wissen, 
wenn  er  mir  gegenwärtig  und  gegeben  ist.^  Aber  Kant  föhrt  dann  foi*t: 
„Freilich  ist  es  mir  auch  alsdann  unbegreiflich,  wie  die  Anschauung  einer 
gegenwäiügen  Sache  mir  diese  sollte  zu  erkennen  geben,  wie  sie  an  sich  ist, 
da  ihre  Eigenschaften  nicht  in  meine  Vorstellungskraft  hinüberwandern 
können ;  allein  die  Möglichkeit  davon  eingeräumt,  so  würde  doch  dergleichen 
Anschauung  nicht  a  priori  stattfinden,  d.  i.  ehe  mir  noch  der  Gegenstand 
vorgestellt  würde."  Diese  Möglichkeit  ist  also  für  Kant  selbst  doch  eine  Un- 
möglichkeit, üebrigens  hat  auch  Arnoldt  104 — 117  ^egen  Trend,,  freilich  in 
seiner  Weise,  schon  polemisirt,  ebenso  Grapengiesser  S.  22—25.  Vgl. 
dagegen  auch  Bergmann,  Phil.  Mon.  V,  276  f.  Cohen,  Erf.  1.  A.  77—79. 
2.  A.  171.  .  Bejersdorff,  Die  Raumvorstellungen,  8.  54.  Indessen  ist 
hervorzuheben,  dass  dieses  Missverständniss  Trendelenburgs  an  der  Richtig- 
keit seines  Einwurfes  bezüglich  der  „  Lücke  **  nicht  das  Geringste  ändert. 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  fünf  von  Fischer  und  Arnoldt  vorgebrachten 
Gründe  die  Scblussgerechtigkeit  der  Kant'schen  Argumentation  nicht  zu 
stützen  im  Stande  waren  \     Im  Gegentheil!  immer  deutlicher  wurde  unsere 


^  Man  könnte  versucht  sein,  noch  folgenden  Weg  zur  Rettung  des  Kantischen 
Beweises  einzuschlagen:  Kants  eigentliche  Tendenz  in  seinen  4 — 5  Raumargumenten 
sei  nicht  auf  die  Raumvorstellung,  sondern  auf  den  Raum  selbst  gegangen; 
nicht  von  jener  habe  er  zeigen  wollen,  dass  sie  als  apriorische  und  anschauliche 
Vorstellung  zu  charakterisiren  sei,  sondern  von  dem  Raum  selbst  habe  er  beweisen 
wollen,  dass  er  immer  nur  als  eine  Anschauung  a  priori  zu  denken  sei;  d.  h. 
wenn  ich  das,  was  wir  Raum  nennen,  untersuche,  finde  ich,  dass  es  eben  nur  eine 
Anschauung  a  priori  sein  kann,  etwa  ebenso,  wie  ich,  wenn  ich  das,  was  wir  Farbe 
nennen,  untersuche,  finde,  dass  es  eben  nur  subjectiv  ist.  Würde  nun  Jemand 
doch  wieder  etwa  die  Dinge  selbst  als  räumlich  fassen  wollen,  so  würde  man  ihm 
einfach  sagen,  dass  genau  dieselbe  Argumentation  auch  diesen  Raum  treffen  würde : 
auch  er  würde  doch  wieder  nur  Anschauung  a  priori  sein  können,  und  so  in  in- 
finitum.  —  Wenn  dies  die  Meinung  Kants  gewesen  sein  sollte  —  und  manche 
Stellen  bei  den  Kantianern  (so  bei  Arnoldt,  Cohen,  Fischer,  F.  A.  Lange,  Riehl  u.  A.) 
klingen  so  — ,  dann  würde  damit  der  Kantischen  Argumentation  doch  nicht  auf- 
geholfen werden  können.  Denn  dann  stäke  der  Fehler  in  den  4-5  Raumargu- 
menten selbst:  dann  würde  eben  in  denselben  das,  was  man  immer  nur  von 
unserer  Vorstellung  des  Raumes  beweisen  kann,  nämlich,  dass  sie  Anschauung 
a  priori  sei,  auf  denRaum  selbst  übertragen.  ^-  Es  könnten  nun  die  Kantianer 
einwenden,  darin  bestehe  eben  die  Natur  alles  Räumlichen,  immer  nur  Vorstellung 
zu  sein ;  man  könne  daher  eben  nicht  mehr  zwischen  der  Vorstellung  des  Raumes 
und  dem  Räume  unterscheiden,  Raum  sei  eben  immer  nur  Vorstellung ;  es  sei  das 
ähnlich  wie  bei  der  Farbe;  man  könne  nicht  zwischen  Vorstellung  der  Farbe  und 


300  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Erkenntniss,  dass  Kants  Argumentation  an  der  vorliegenden  Stelle  eine  Lücke 
hat,  dass  an  ihr  ein  „Sprung"  vorliegt,  wie  auch  Thiele  in  seiner  Dissertation 
über  die  Synth.  Urth.  a  priori  S.  36  zugibt.  Dies  ist  bewiesen,  aber  weiter 
ist  auch  nicht  bewiesen.  Nun  erhebt  sich  die  Frage:  hat  Kant  nicht  an 
anderen  Stellen  jene  Lücke  ausgefüllt?  Nach  Trendelenburg:  Nein!  Sollte 
er  diese  Lücke  am  Ende  wirklich  ganz  und  gar  übersehen  haben?  Nach 
Trendelenburg:  Ja!  Dieser  Theil  seines  Angriffe  ist  also  noch  zu  untersuchen. 
Auch  hierauf  haben  die  Vorkämpfer  Kants  Antwort  gewusst. 

Fischer  führt  aus  (Log.  u.  Met.  2.  A.  178  f.;  vgl.  Gesch.  III,  Vorr.  VI): 
„Die  Log.  Unt.  behaupten,  um  kantisch  zu  reden,  die  transscendentale  Realit&t 
in  R.  und  Z.,  d.  h.  dass  sie  unabhängig  von  aller  Anschauung  Objecto  an 
sich  sind.  Auch  diese  Vorstellungsweise  hat  K.  so  wenig  übersehen,  dass 
er  vielmehr  ihre  Unmöglichkeit  von  allen  Seiten  dargethan  und  erleuchtet 
hat,  direct  und  indirect,  und  nicht  bloss  in  der  transsc.  Aesthetik.  Aus  dieser 
Vorstellungsweise  fliess^  die  Antinomien,  die  unmöglichen  Weltbegriffe. 
Darum  erklärt  K.  ausdrücklich  die  Antinomien  für  einen  indirecten  Beweis 
der  Aesthetik:  sie  beweisen,  dass  R.  und  Z.  blosse  Anschauungen  sein  müssen, 
weil  sie  unmöglich  Objecte  an  sich  sein  können.  Und  ebenso  lässt  er  die 
Möglichkeit  der  Freiheit,  worauf  seine  Sittenlehre  beruht,  für  die  Tr.  Aesthetik 
zeugen  . . .  wäre  die  Zeit  nicht  blosse  Anschauung  ....  so  wäre  jede  Art 
der  Freiheit  unmöglich.  Und  ebenso  lässt  K.  die  unendliche  Theilbarkeit  der 
Materie  für  die  Tr.  Aesthetik  zeugen.  .  .  .  Die  Freiheit  beweist,  dass  die  Zeit 
blosse  Erscheinungsform  (Anschauung)  ist.  Die  Materie  beweist  dasselbe 
vom  Raum.  Wie  also  konnten  die  Log.  Unters,  die  Beweise,  dass  Baum 
und  Zeit  blosse  Anschauungen  seien,  in  der  Kantischen  Kritik  vermissen, 
als  ob  sie  hier  gar  nicht  vorhanden  wären?  Sie  sind  vorhanden  in  der 
Tr.  Aesthetik,  in  der  Widerlegung  der  rationalen  Kosmologie,  in  den  met 
Anf.  der  Naturwissenschaft,  in  der  Kr.  d.  prakt.  Vernunft." 


der  Farbe  selbst  unterscheiden,  Farbe  sei  eben  immer  nur  Vorstellung,  niemals 
etwas  Objectives,  und  so  auch  der  Raum;  das  eben  habe  Kant  beweisen  wollen 
und  deshalb  habe  auch  der  Beweis  der  Subjectivität  des  Raumes  keine  Lücke.  — 
Darauf  wäre  aber  zu  erwidern,  dass  dann  auch  im  günstigsten  Falle,  wie  bei  der 
Farbe,  nur  geschlossen  werden  könnte :  Alles,  was  wir  Raum  heissen,  ist  als  solches 
subjectiv,  wie  alles,  was  wir  Farbe  heissen,  Als  solches  subjectiv  ist  Aber  wie  der 
subjectiven  Farbe  gewisse  objective  Verhältnisse  zu  Grunde  liegen,  so  müssen  auch 
dem  subjectiven  Räume  gewisse  objective  Beziehungen  der  Dinge  an  sich  zu  Grunde 
liegen,  und  damit  kommen  wir  auf  die  Leibniz-Herbart-Lotze^sche  Metaphysik.  — 
Aber  Kants  Beweis  verläuft  gar  nicht  in  dieser  eben  angenommenen  Form,  und 
hat  gar  nicht  die  ihr  eben  zugeschriebene  und  geliehene  Tendenz.  Kant  will  die 
, Vorstellung  des  Raumes"  als  ^a  priori  gegeben**  darstellen  im  Gegensatz  zu 
der  aposteriorischen  Vorstellung,  besonders  zum  Zweck  der  Erklärung  der  Apriorität 
der  reinen  Mathematik;  Kant  müsste  seinen  ganzen  rationalistischen  Apriorismus 
erst  aufgeben,  ehe  er  jenen  Gedankengang  einschlüge,  der  ja  zudem  den  Raum 
mit  den  Sinnesqualitäten  in  Eine  Linie  stellt,  was  Kant  ausdrücklich  von  sich 
ablehnt. 


Fischer  führt  vergeblich  die  Antinomien  ins  Feld.  301 

• 

Der  Kern  dieser  Vertheidigung  steckt  in  dem  Hinweis  auf  die  Anti- 
nomien. Die  Vertheidigung  ist  auf  den  ersten  Anblick  sehr  bestechend, 
verfehlt  aber  doch  gerade  die  Hauptsache.  Der  Angriff  Trs.  steckt  nämlich  in 
folgender  kurzen  Argumentation:  Kant  schliesst  aus  der  Apriorität  der  Raum- 
anschauung  auf  deren  ausschliessliche  Subjectivität,  d.  h.  auf  deren  Idealität; 
dieser  Beweis  zieht  aber  aus  einer  richtigen  Voraussetzung  (Aprioriät  des 
Raumes)  eine  falsche  Consequenz  (dessen  Idealität);  denn  mit  der  Apriorität 
der  Raumvorstellung  ist  auch  die  Realität  eines  Raumes  an  sich  ganz  gut 
verträglich.  Hier  habe  also  ,, Kants  Beweis  von  der  ausschliessenden  Sub- 
jectivität  des  Raumes  und  der  Zeit  eine  Lücke'*  —  wie  der  Titel  des  Auf- 
satzes in  den  Beiträgen  lautet.  Diese  ,,Lücke"  wäre  eben  nur  dadurch 
auszufüllen,  dass  Kant  nachwiese,  dass  aus  der  Apriorität  der  Raumvorstel- 
lung die  Idealität  des  Raumes  absolut  nothwendig  folgte,  resp.  dass  die 
Apriorität  der  Raumvorstellung  sich  mit  der  Realität  des  Raumes  absolut 
nicht  verträgt.  Einen  solchen  Nachweis  geben  aber  die  Antimonien  nicht, 
und  können  ihn  auch  gar  nicht  geben,  weil  sie  ihn  überhaupt  ihrer  ganzen 
Bestimmung  nach  nicht  geben  wollen.  Sondern  was  wollen  sie?  Sie  wollen 
zeigen,  dass  die  Annahme  der  Realität  der  Raum-  und  Zeitwelt  auf  Wider- 
sprüche führen,  dass  daher  der  Welt  in  Raum  und  Zeit  nur  Idealität  zuzu- 
schreiben sei.  Wir  haben  also  in  den  Antinomien  allerdings  einen  neuen 
Beweis  für  die  Idealität  von  R.  und  Z. ;  in  diesem  Sinne  also,  auch  eine  Er- 
gänzung des  in  der  Tr.  Aesthetik  gegebenen  Beweises;  aber  diese  Ergänzung 
besteht  in  einem  neuen  (indirecten)  Beweis,  nicht  in  einer  Aufbesserung 
jenes  als  unzulänglich  erkannten  directen  Beweises.  Diese  beiden  Dinge  hat 
K.  Fischer  verwechselt.  Kant  hat  natürlich  daran  gedacht,  dass  R.  und  Z. 
objectiv  sein  könnten,  und  der  Widerlegung  dieser  Annahme  ist  ja  ein  grosser 
Theil  seines  Kritidsmus,  sind  auch  die  Antinomien  gewidmet.  Ja  schon  in 
der  Aesthetik  selbst  A  39  ff.,  wo  K.  gegen  Newtons  und  Leibniz'  Raum- 
theorie polemisirt,  wird  von  ihm  die  Annahme  der  Objectivität  des  Raumes 
widerlegt.  Aber  K.  hat  allerdings  nicht  daran  gedacht;  dass  der  in  der 
Aesthetik  im  Schluss  a  hiefür  gegebene  und  zugleich  als  YoUstKndig  aus- 
gegebene Beweis  —  aus  der  Apriorität  der  Raumanschauung  —  als  solcher 
ganz  unzulänglich  ist,  da  diese  Apriorität  der  Raumanschauung  die  Realität 
eines  Raumes  an  sich  nicht  im  geringsten  logisch  ausschliesst,  wie  Kant 
eben  an  dieser  Stelle  stillschweigend  angenommen  hat.  (Vgl.  hiezu  Bratn- 
schek  in  den  Philos.  Mon.  V,  291—297  und  bes.  Volkelt  66—68.  Ganz 
irrig  ist  Lotze's  Meinung,  Metaph.  S.  201,  K.  habe  in  der  Aesth.  nur  die 
Apriorität,  noch  nicht  die  exclusive  Subjectivität  des  Raumes  beweisen 
wollen.) 

Man  wende  also  auch  nicht  etwa  ein,  Kant  habe  jene  Trendelenburg- 
sehe  Möglichkeit  von  seinem  Standpunkte  aus  gar  nicht  zu  berücksichtigen 
gehabt,  da  ja  bei  der  Annahme,  der  Raum  sei  neben  seiner  Apriorität  in 
uns  auch  noch  objectiv  real,  alle  jene  Schwierigkeiten  sich  wiederholen 
würden,  welche  er  in  seiner  Antinomienlehre  eben  habe  vermeiden  wollen. 
Nicht  darum  handelt  es  sich,  ob  die  Annahme  der  Objectivität  des  Raumes 


302  Excurs.    Der  Trendelenburg-Pischer'sche  Streit. 

selbst  anf  innere  Widersprüche  führe,  sondern  ob  die  Annahme  der  Objectivitftt 
mit  der  Annahme  der  Aprioritftt  der  Raumvorsteilnng  im  Widerspruch  stehe? 
Man  kann  nur  sagen,  dass  Kant,  welcher  ja,  nach  B.  Erdmann,  ursprünglich 
hauptsächlich  durch  die  Antinomien  auf  seinen  Idealismus  gebracht  worden 
ist,  eben  aus  diesem  Grunde  von  der  Richtigkeit  und  Nothwendigkeit  des- 
selben so  innerlich  durchdrungen  war,  dass  er  die  Annahme  der  Objeetivität 
des  Raumes  gar  keiner  Beachtung  mehr  würdigte.  Diese  Entschuldigung 
gilt  aber  nur  vom  historischen  Gesichtspunkte  aus,  sachlich  bleibt  doch 
der  Vorwurf,  dass  die  systematische  Darstellung  seiner  Lehre  hier  eine 
Lücke  zeigt,  welche  Kant  nur  durch  einen  Sprung  überbrückt. 

Trendelenburg  ist  somit  in  dieser  Richtung  gerechtfertigt.  Aber  was 
er  in  diesem  Punkte  gegen  Fischer  zu  seiner  Rechtfertigung  selbst  vorgebracht 
hat  (Beitr.  3,  281 — 240 ;  Entgegnung  6 — 8),  ist  logisch  schwach  und  unklar; 
in  der  Hitze  und  Aufregung  des  Streites  fiel  ihm  der  Ariadnefaden  durch 
das  verworrene  Labyrinth  von  Bede  und  Gegenrede  selbst  aus  der  Hand; 
er  liess  sich  des  Weiteren  und  Breiteren  darauf  ein,  zu  beweisen,  1)  dass 
die  Kant'schen  Antinomien  überhaupt  keine  wahren  Antinomien  seien,  2)  dass, 
wenn  sie  es  wären,  sie  nicht  dadurch  gelöst  würden,  dass  Raum  und  Zeit 
nur  subjectiver  Art  seien.  Darauf  aber  kommt  es  ja  bei  der  ganzen  Frage 
gar  nicht  an,  und  nur  zum  Schluss  berührt  er,  wie  im  Yorüberfluge,  die 
eigentliche  Hauptsache:  „Wir  gewinnen  an  sich  aus  dem  indirecten  Beweise, 
der  durch  die  Auflösung  der  Antinomien  soll  geführt  sein,  nichts  Neues, 
das  den  Beweis  der  Transsc.  Aesthetik  ergänzte  [richtiger  „verbesserte"]: 
Raum  und  Zeit  haben  einen  Ursprung  a  priori ;  also  sind  sie  subjectiv,  nur 
subjeetiv." 

Eine  weitere  Wendung  zu  Gunsten  Kants  ist  folgende  bei  Fischer 
(Log.  und  Met.  175):  „In  seiner  letzten  vorkritischen  Schrift  vom  ersten 
Grunde  des  Unterschiedes  der  Gegenden  im  Raum  hat  Kant  den  R.  als  ur- 
sprüngliche Anschauung  und  zugleich  als  ursprüngliche  Realität  behauptet. 
Diese  Vorstellungsweise  also  war  dem  Geiste  Kants  keineswegs  fremd."  Es 
fragt  sich  zunächst,  ob  diese  Auffassung  jener  Schrift  (deren  entwicklungs- 
geschichtliche  Bedeutung  unten  zu  A  39  zu  behandeln  ist)  die  richtige  ist. 
Trend,  hat  sie  bestritten  (Beitr.  246 — 248),  Fischer  sie  aufrechterhalten 
(Gesch.  ni,  263—265,  3.  Aufl.  282).  Gegen  die  Fischer'sche  Wiedergabe 
des  Gedankenganges  dieser  Schrift  lässt  sich  zwar  viel  einwenden;  aber,  so- 
weit die  halben,  fragmentarischen  Andeutungen  Kants  überhaupt  zu  ver- 
stehen sind,  scheint  er  allerdings  an  etwas  Aehnliches  gedacht  zu  haben. 
Er  spricht  erstens  von  der  ,, eigenen  Realität^'  des  „absoluten  und  ursprüng- 
lichen Raumes*',  und  dann  heisst  es  zweitens  am  Schluss:  „Der  absolute  Raum 
ist  kein  Gegenstand  einer  äusseren  Empfindung,  sondern  ein  Grundbegriff, 
der  also  dieselbe  erst  möglich  macht.*'  Dass  der  Ausdruck  „Begriff"  hier 
im  weiteren  Sinne  =  Vorstellung  zu  nehmen  ist,  und  keine  Instanz  gegen 
die  Anschauungsnatur  des  Raumes  ist,  hat  F.  richtig  gegen  Tr.  dargethan. 
Tr.  hat  auch  nichts  mehr  darauf  erwidert,  was  ihm  Fischer,  Anti-Tr.  46 
triumphirend  vorhält.   Es  scheint  somit  allerdings,  dass  Kant  damals  zugleich 


Die  Schrift  von  1768.    Die  ProUg<mAna,  303 

die  Apriorität  der  Ranmvorstellung  und  die  Bealität  des  Kaumeß  an  sich 
angenommen  habe. 

Damit  w&ren  wir  dem  Kern  der  Frage  schon  näher  gekommen.  Kant 
hätte  denn  doch  irgendeinmal  wirklich  an  jene  Möglichkeit  gedacht  und  sie 
selbst  sogar  yorübergehend  angenommen.  Aber  abgesehen  davon,  dass  jene 
Auslegung  der  Schrift  von  1768  unsicher  ist,  so  würde  die  Schwere  des 
Trendelenburg'schen  Vorwurfes  ja  dadurch  nur  noch  grösser  werden  ^  Denn 
wenn  Kant  jene  Möglichkeit  selbst  einmal  aufgestellt  hat,  warum  schlüpft 
er  über  dieselbe  hier  in  der  Kr.  d.  r.  V.  mit  so  verdächtigem  Stillschweigen 
hinweg?  Wussteer  vielleicht  keinen  stichhaltigen  Einwand  gegen  jene  Theorie? 
Oder  entspringt  das  Stillschweigen  aus  einer  Vergesslichkeit ,  welche  das 
schwierigste  Problem  auf  die  leichte  Achsel  nimmt? 

Hier  kommt  nun  Arnoldt  seinem  Meister  Kant  mit  sehr  beachtens- 
werthen  Gründen  zu  Hülfe.  Er  gibt,  wenn  auch  widerwillig,  S.  37 — 39  die 
Trendelenburg'sche  Möglichkeit  zu,  dass  der  apriorischen  Baumanschauung 
doch  ein  absolut  realer  Raum  entsprechen  könnte.  Er  nennt  die  Möglich- 
keit eine  „leere",  er  nennt  diese  Weltansicht  eine  „seltsame"  —  aber,  immer- 
hin er  gibt  sie  (obgleich  ihm  die  Frage  von  „untergeordneter  Bedeutung" 
erscheint  S.  22;  vgl.  Paulsen  189)  „für  einen  Augenblick"  zu.  Aber  er 
wendet  vom  Kant'schen  Standpunkt  dagegen  ein,  „dass  jede  Uebereinstim* 
mung  zwischen  der  menschlichen  Erkenntniss  von  dem  Gegenstande,  den  die 
Anschauung  a  priori  dai'stellt,  und  der  —  sei  es,  welchem  Wesen  es  sei, 
beizulegenden  —  Erkenntniss  von  dem  anderen  Gegenstande,  welcher  als  dem 
der  apriorischen  Anschauung  entsprechend,  und  als  wirklich  da  seiend  ange- 
nommen wird,  aus  einem  vernunftgemässen  Hergang  nicht  abzuleiten,  und, 
soll  demnach  eine  Uebereinstimmung  dieser  Art  Statt  haben,  nur  als  durch 
übernatürliche  Vermittlung  hergestellt  zu  denken  ist."  A.  beruft  sich 
hiefür  auf  §  8  und  9  der  Prol,  Er  meint  wohl  die  Fortsetzung  jener  oben 
S.  277  angeführten  Stelle,  welche  mit  dem  Gedanken  schloss,  dass  eine  An- 
schauung von  Gegenständen  an  sich  nicht  a  priori  stattfinden  könne,  „d.  h. 
ehe  mir  noch  der  Gegenstand  vorgestellt  würde;  denn  ohne  das  kann  kein 
Grund  der  Beziehung  meiner  Vorstellung  auf  ihn  erdacht  werden,  sie 
müsste  denn  auf  Eingebung  beruhen."  Hier  hat  also  Kant  die  Tren- 
delenburg'sche Möglichkeit  berücksichtigt  und  von  seinem  Standpunkt  aus 
beurtheilt  und  verurtheilt.  (Vgl.  dazu  auch  Massonius,  Aesth.  S.  30  flf.  Vgl. 
oben  S.  277.) 

Auf  diese  Stelle  hatte  übrigens  schon  Thiele  in  seiner  Dissertation 
über  die  Synthet.  Urtheile  a  priori  1869,  S.  36  f.  hingewiesen;  er  hat  auf 
dieselbe  in  seinem  Werke  über  die  Int.  Ansch.  197  wieder  die  Aufmerksam- 
keit gelenkt  und  noch  auf  einige  andere  Stellen  aus  den  Frolegomena ,  in 
welchen  Kant  immer  wieder  hervorhebt,  dass  sich  die  Nothwendigkeit 
der  Uebereinstimmung  zwischen  apriorischer  Baum  Vorstellung  und  den 


*  Was  Trend,  selbst  dagegen  sagt  (Beitr.  8,  246  ff.),  ist  schwach ;  dasselbe 
gilt  von  Bratuschek  (Philos.  Mon.  V,  293.  295). 


304  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

objectiven  Dingen  an  sich  eben  auf  keine  Weise  ausmachen  Hesse.  So  weist 
Kant  darauf  hin  ProL  §  13  Anm.  I:  da  erwägt  er  den  Fall,  ,,dass  die  Sinne 
die  Objecto  vorstellen,  wie  sie  an  sich  sind''.  In  diesem  Falle  würde  die 
Nothwendigkeit  der  Uebereinstimmung  der  Dinge  „mit  dem  Bilde, 
das  wir  von  uns  selbst  und  zum  Voraus  von  ihnen  machen'',  d.  h.  ^niit  der 
apriorischen  Raumanschauung  gar  nicht  eingesehen  werden  können".  Vgl. 
daselbst  Anm.  III,  wonach  es  „unmöglich  wäre,  auszumachen,  ob  nicht 
die  Anschauungen  von  B.  und  Z.,  die  wir  von  keiner  Erfahrung  entlehnen, 
und  die  dennoch  in  unserer  Vorstellung  a  priori  liegen,  blosse  selbstgemachte 
Hirngespinnste  wären,  denen  gar  kein  Gegenstand,  wenigstens  nicht  adäquat 
correspondirte."     Letztere  Stelle  auch  bei  Arnoldt  120. 

Noch  auf  eine  andere  Stelle  der  Prolegotnena  macht  Cohen,  Erf.  1.  A.  73 
(2.  A.  162)  aufmerksam.  In  der  Anmerkung  II  hinter  §  13  der  Proleg,  sagt 
Kant  von  der  Behauptung,  dass  die  Vorstellung  vom  Räume  dem  Ob- 
jecte  völlig  ähnlich  sei  —  es  sei  dies  „eine  Behauptung,  mit  der  ich 
keinen  Sinn  verbinden  kann,  so  wenig  als  dass  die  Empfindung  des 
Rothen  mit  der  Eigenschaft  des  Zinnobers,  der  diese  Empfindung  in  mir  er- 
regt, eine  Aehnlichkeit  habe''.  Kant  spricht  in  dieser  Stelle  zwar  nicbi 
ausdrücklich  von  der  Apriorität  der  Raumvorstellung,  die  er  ja  im 
Gegentheil  hier  mit  den  empirischen  Sinnesqualitäten  zusammenwirft,  wird 
aber  doch  wohl  eigentlich  an  die  Möglichkeit,  dass  der  apriorischen 
Raumvorstöllung  ein  ähnliches  Object  entspreche,  gedacht  haben  \  Vgl. 
auch  E.  V.  Hartmann,  Transsc.  Real.  S.  121.  136.  Thiele,  Int.  Ansch. 
197,  und  schon  in  seiner  Dissertation  S.  38  ff.  Volkelt  55.  Oaird,  Phil. 
of  Kant  261,  CHt.  Phil.  I,  307.  Cesca,  DoUrina  Kantiana  146.  Tiebe  12. 
—  An  eine  ähnliche  Stelle  der  ProU  §  52  c  erinnert  Laas,  Ks.  Analogie  345: 
„Es  ist  offenbar  widersprechend ,  zu  sagen,  dass  eine  blosse  Vorstellungsart 
auch  ausser  unserer  Vorstellung  existire.*  Offenbar  will  Kant  damit  das- 
selbe sagen,  was  er  A  385  so  ausdrückte:  „Der  Raum  ist  nichts  als  eine 
Vorstellung,  deren  Oegenbild  in  derselben  Qualität  ausser  der  Seele  gar  nicht 
angetroffen  werden  kann."      Die   Annahme   einer  solchen   Verdoppelung 


*  Man  kann  in  dieser  Stelle  noch  etwas  Anderes  finden,  wenn  man  sie  in 
Zusammenhang  bringt  mit  dem ,  was  oben  S.  109  ff.  gesagt  worden  ist.  Damach 
erschiene  das  Verfahren  Kants  so,  dass  er  von  dem  gegebenen  Dinge  alles  abzieht» 
was  nur  dem  Subject  angehört,  zuerst  die  Empfindungsqualitäten,  dann  die  An- 
schauungsformen, dann  die  Denkbegriffe,  und  der  unbekannte  Rest  =  X  ist  dann 
das,  was  man  als  ,Ding  an  sich"  bezeichnen  kann.  Was  also  an  dem  gegebenen 
Ding  auf  das  Subject  zurückgeführt  werden  kann,  kann  eben  deshalb  nicht  jenem 
Reste  angehören.  Ist  das  Ding  eben  dasjenige,  was  übrig  bleibt  nach  Abzug  der 
subjectiven  Zuthaten ,  so  hat  es  gar  „keinen  Sinn',  jene  subjectiven  Formen  etm 
auch  in  diesem  Reste  noch  einmal  wiederfinden  zu  wollen.  —  Wenn  dies  der  Ge- 
dankengang Ks.  gewesen  sein  sollte  (vgl.  Schopenhauer,  Par.  I,  99;  Riehl,  Krit. 
I,  429  ff.),  so  bleibt  die  Lücke  auch  in  dieser  Form  des  Beweises  stehen :  denn 
eben  das,  dass  Raum  und  Zeit  nur  subjective  Zuthaten  seien,  welche  wir  ron  dem 
Dinge  einfach  abrechnen  dürfen,  —  eben  das. ist  ja  die  pttitio  principii. 


Kant  vei-wirft  die  «Prästabilirte  Harmonie".  305 

erscheint  also  Kant  hier  ganz  unsinnig.  Auf  diese  Stelle  verweist  auch 
Thiele,  Int.  Ansch.  195.  Diese  „formal-logische  Begründung  des  exclusiven 
Subjectivismus  bei  Kant"  deckt  Yolkelt,  Ks.  Erk.  51  S.  als  ein  „fehler- 
haftes Argument"  auf  und  weist  denselben  Fehler  bei  Berkeley  nach. 

Mit  der  „Eingebung"  auf  gleicher  Stufe  steht  für  Kant  die  intellec- 
taelle  Anschauung.  Auch  eine  solche  würde,  wie  Arnoldt  weiter  im 
Sinne  Kants  ausführt  (54 — 56.  59 — 60.  62.  78.  121),  jenen  Parallelismus 
von  apriorischer  Anschauung  und  Gegenstand  an  sich  ermöglichen.  Aber 
eine  intellectuelle  Anschauung  (einen  intuitiven  Verstand)  hat  der  Mensch 
nach  Kant  nicht;  die  menschliche  Anschauung  ist  sinnlich.  Vgl.  darüber 
oben  S.  25,  sowie  unten  zu  B  68  und  B  71.  Vgl.  auch  „Fortschr."  Ros. 
I,  497.  Und  auch  gegen  diese  Möglichkeit  macht  Kant  (im  Brief  an  Herz 
vom  26.  Mai  1789  mit  Beziehung  auf  Maimon)  geltend:  wenn  wir  eine 
intell.  Ansch.  der  Dinge  an  sich  hätten,  würde  derselben,  da  sie  ja  blosse  Wahr- 
nehmung wäre,  das  Gefühl  der  Noth wendigkeit  abgehen,  das  wir  einmal 
bei  unseren  Erkenntnissen  a  priori  haben. 

Und  noch  eine  dritte  Form  jener  Trendelenburg'schen  Möglichkeit  hat 
Kant  nach  Arnoidts  Ausführungen  (95—97.  99.  119—121,  vgl.  63,  78)  in  Er- 
wägung gezogen.  Wenn  Anschauung  a  priori  (doch  will  Arnoldt  in  diesem 
Falle  lieber  „apriorische  Vorstellung  der  Phantasie"  sagen,  vgl.  oben  S.  273  N.  2). 
und  Gegenstand  an  sich  übereinstimmen,  so  könnte  diese  üebereinstimmung 
ja  auch  auf  einer  prästabilirten  Harmonie  beruhen.  Aber  in  einem 
solchen  System  kommt,  wie  Kant  in  der  Vorrede  zu  den  Met.  Anf.  d.  Naturw. 
(R.  V,  316)  sagt*,  „objective  Nothwendigkeit  nicht  heraus,  sondern  alles 
bleibt  bloss  subjectiv  nothwendige,  objectiv  aber  bloss  zufällige  Zusammen- 
stellung" [Zusammenstimmung?].  Mit  diesen  Worten  wendet  sich  Kant 
gegen  den  (unbekannt  gebliebenen)  Verfasser  einer  Recension  von  ül rieh's 
InstütUiones  Logicae  (1785)  in  der  Jen.  Allg.  Lit.  Zeitung  1785,  Nr.  295. 
Schon  Ulrich  selbst  hatte  in  der  Vorrede  auf  die  Möglichkeit  aufmerksam 
gemacht,  dass  den  apriorischen  Formen  doch  auch  zugleich  reale  Wirklichkeit 
entsprechen  (responäere)  könne,  und  hatte  dies  spec.  in  Bezug  auf  die 
Zeit  (S.  235—240)  behauptet,  sowie  in  Bezug  auf  die  Causalität  (260  flp.  312  ff.). 
Vgl.  oben  S.  146.  Jener  Recensent  zweifelte  bes.  die  Beweiskraft  der  Deduction 
an  und  glaubte  sich,  um  mit  Kant  zu  sprechen  (der  übrigens  das.  was  der 
Recensent  vom  „Prästabilirtsein"  sagt,  missverstand)  in  die  ihm  gewiss  selbst 
„unangenehm  fallende  Nothwendigkeit  versetzt,  wegen  der  befremdlichen 
Einstimmung  der  Erscheinungen  zu  den  Verstandesgesetzen,  ob  diese  gleich 
von  jenen  ganz  verschiedene  Quellen  haben,  zu  einer  prästabilirten  Harmonie 
seine  Zuflucht  zu  nehmen,   einem  Rettungsmittel,   welches   weit  schlimmer 


*  In  derselben  Schrift,  gleich  am  Anfang,  I,  1,  Anm.  2  (Ros.  I,  321),  streift 
Kant  den  Fall  auch  einmal:  „Ob  der  Raum,  die  Form  aller  äusseren  sinnlichen 
Anschauung,  auch  dem  äusseren  Object,  das  wir  Materie  nennen,  an 
sich  selbst  zukomme,  oder  nur  in  der  Beschaffenheit  unseres  Sinnes  bleibe, 
davon  ist  hier  gar  nicht  die  Frage/ 

Vai hinger,  Kant-Commentar.    II.  20 


306  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer  sehe  Streit. 

wäre,  als  das  Uebel,  dawider  es  helfen  soll  und  das  dagegen  doch  wirklich 
nichts  helfen  kann/  Und  nun  gibt  Kant  jenen  oben  angeführten  Einwand 
gegen  diesen  Ausweg  an. 

Kant  hat  jene  Gedanken  an  einer  bekannten  Stelle  der  2.  Aufl.  seiner 
Kr.  d.  r.  V.  weiter  ausgeführt.  Am  Schluss  der  Deduction  in  ihrer  neuen 
Bearbeitung  (B.  166  f.)  bemerkt  Kant:  es  gebe  nur  zwei  Wege,  auf  welchen 
eine  nothwendige  Uebereinstimmung  der  Erfahrung  mit  den  Begrififen  von 
ihren  Gegenständen  gedacht  werden  könne:  entweder  die  Erfahrung  macht 
diese  Begriffe  möglich,  oder  die  Begriffe  machen  die  Erfahrung  möglich. 
„Wollte  Jemand  zwischen  den  zwei  genannten  einzigen  Wegen  noch  einen 
Mittelweg  vorschlagen,  nämlich  dass  die  Kategorien  weder  selbstgedachte 
erste  Principien  a  priori  unserer  Erkenntniss,  noch  aus  der  Erfahrung  ge- 
schöpft, sondern  subjective,  uns  mit  unserer  Existenz  zugleich  eingepflanzte 
Anlagen  zum  Denken  wären,  die  von  unserem  Urheber  so  eingerichtet  worden, 
dass  ihr  Gebrauch  mit  den  Gesetzen  der  Natur,  an  welchen  die  Erfah- 
rung fortläuft,  genau  stimmt  (eine  Art  von  Präformationssjstem  der  reinen 
Vernunft),  so  würde  ....  das  wider  gedachten  Mittelweg  entscheidend  sein,  dass 
in  solchem  Falle  den  Kategorien  die  Nothwendigkeit  mangeln  würde,  die 
ihrem  Begriffe  wesentlich  angehört"  u.  s.  w. 

Auf  diese  Stelle  hatte  nun  freilich  schon  Trendelenburg  seihst  hin- 
gewiesen (Beitr.  3,  240—243),  sie  erörtere  „etwas  jener  dritten  Möglich- 
keit Analoges";  „aber  dieser  Mittelweg  ist  der  gesuchte  Mittelweg  nicht ^ 
u.  s.  w.  Dieser  Einwand  beruht  aber  auf  einer  groben  Vertauscbung  von 
genus  und  species.  Zuerst  warf  Tr.  Kant  vor,  er  habe  nicht  an  die  Mög- 
lichkeit gedacht,  dass  der  Baum  subjectiv  und  objectiv  zugleich  sein 
könnte.  Hier,  wo  Kant  in  der  That  eine  solche  Möglichkeit  aufstellt 
und  zurückweist,  wirft  Tr.  Kant  vor,  dass  er  nicht  an  die  besondere, 
gerade  von  Tr.  selbst  aufgestellte  Theorie  gedacht  habe,  wie  Apriorität  und 
Objectivität  des  Raumes  zugleich  stattfinden  könnten ,  nämlich  durch  jene 
bekannte  Trendelenburg'sche  Bewegung,  welche  sowohl  geistig  als  äusser- 
lich  sein  soll.  Dieser  Einwand  von  Trend,  ist  also  werthlos.  (Vgl.  Grapen- 
giesser  37.) 

Wohl  aber  hätte  Trendelenburg  auf  folgenden  Einwand  kommen  müssen: 
erstens  beziehe  Kant  diesen  Mittelweg  nur  auf  die  Kategorien,  nicht  aber 
auf  Raum  und  Zeit;  zweitens  aber,  auch  wenn  er  denselben  auf  R.  und  Z. 
ausgedehnt  hätte,  so  beweise  ja  diese  Stelle  gerade,  dass  Kant  ursprünglich 
nicht  an  jenen  Mittelweg  gedacht  habe:  denn  die  Stelle  finde  sich  ja  erst 
in  der  zweiten  Auflage  und  verdanke  ihre  Entstehung  jenem  Hinweis  des 
Jenaischen  Recensenten  auf  diesen  Mittelweg. 

Wie  wenig  Kant  in  der  That  ursprünglich  auf  diesen  Mittelw^  ge- 
geben hat,  das  beweist  ja  der  Umstand,  dass  Kant  in  der  1.  Aufl.  der  De 
duction  jenen  Mittelweg  nicht  der  geringsten  Erwähnung  würdigt.  In  dem 
Uebergang  zu  derselben  (A  92)  constatirt  er  nur  jene  beiden  Fälle.  Von  dem 
dritten  möglichen  Fall,  dass  Vorstellungen  und  Gegenstände  zusammentreffen  und 
mit  einander  übereinstimmen  könnten,  weil  beide  ursprünglich  auf  einander 


Fries  u.  A.  über  das  „ Präformationssystem".  307 

angelegt  wären,  ist  hier  nicht  die  ßede^  Diese  Lücke  ist  nun  schon  Fries 
aufgefallen.  Er  fragt  in  der  Vorrede  zum  Bd.  I  der  2.  Aufl.  seiner  neuen 
Kr.  d.  V.  (1828).  pag.  XXIV:  , Woher  wissen  wir  denn,  ob  nicht  irgend 
eine  dritte  höhere  Ursache  möglich  sei,  welche  die  üeberein Stimmung  zwischen 
Vorstellung  und  ihrem  Gegenstand  bestimmt,  indem  sie  beide  möglich  macht?" 
Fries  hat  nun  mit  grossem  Scharfblick  schon  gesehen,  dass  genau  dieselbe 
Nichtbeachtung  der  dritten  Möglichkeit  auch  in  dem  Schluss  a  der  Aesthetik 
vorliegt.  Indem  er  daselbst  den  Schluss  a  analysirt,  sagt  er:  „Beachten 
wir  nun  näher,  welchen  Beweisgrund  Kant  hier  in  dem  denn  [denn  weder 
absolute  noch  relative  u.  s.  w.]  voraussetzt,  so  findet  sich  leicht,  dass  es 
kein  anderer  sein  könne,  als  die  Behauptung,"  dass  eben  nur  jene  beiden 
Fälle  möglich  seien.  , Diese  Behauptung  zugegeben,  so  ist  der  obige  Beweis 
leicht  gerechtfertigt.  Aber  eben  diese  Behauptung  wird  sich  nicht  recht- 
fertigen lassen.*  Denn  es  wäre  eben  jener  dritte  Fall  noch  möglich.  Wäre 
aber  dieser  Fall,  „so  könnten  allerdings  die  Dinge  a  priori  so  angeschaut 
werden,  wie  sie  an  sich  sind.  Dieser  Kantische  Beweisgrund  für  die  Idealität 
von  R.  u.  Z.  wird  also  wohl  verworfen  werden  müssen."  (Aehnlich  II, 
S.  97.)  Fries  nennt  dies  einen  Fehler  Kants,  „den  ich  bey  niemand'  noch 
richtig  beurtheilt  finde."  Dieser  Passus  aus  Fries,  welchen  der  Anhänger 
desselben  Grapengiesser  R.  u.  Z.  S.  59  flf.  „im  Munde  von  Fries  nicht 
begreifen"  konnte,  ist  äusserst  interessant.  Er  hat  nicht  nur  die  Lücke  in 
dem  Schluss  a  richtig  bemerkt,  er  hat  dieselbe  auch  in  den  richtigen  Zu- 
sammenhang gebracht  mit  den  allgemeinen  Anschauungen  Kants,  die  sich 
in  jener  Stelle  A  92  ausprägen,  in  der  Kant  jenen  dritten  Fall  absolut  igno- 
rirt.  Dass  „diese  Annahme  für  Kant  undenkbar  war",  wie  Gottschick, 
Z.  f.  Philos.  79.  156,  bemerkt,  das  ist  ja  eben  Kants  Fehler.  Die  Lücke 
dieser  Stelle  A  92  hat  auch  sehr  treffend  nachgewiesen  Volkelt  S.  56  ff.,  und 
zugleich  erinnert  an  Prol,  §  37  (wo  Kant  aber  jenen  dritten  Fall  wenigstens 
anmerkungsweise  erwähnt)  und  an  die  Vorrede  B  XVI,  woselbst  K.  auch 
wieder  nur  die  bekannten  beiden  Fälle  kennt.  Dieselbe  Alternative  kehrt 
auch  in  der  Schrift  über  die  Fortschr.  d.  Met.  Ros  I,  506  wieder.  Auch 
B.  Erdmann  hat  in  seiner  Dissertation  (1873)  über  das  Ding  an  sich 
S.  6  richtig  darauf  hingewiesen,  dass  Kant  den  Mittelweg  des  Präformations- 
systems in  seinem  Schluss  a  übersehen  hat  und  dass  dieser  Letztere  daher 
eine  Petitio  principii  enthält;  „für  Kant  sind  Apriorität  und  ausschliessliche 
Subjectivität  allerdings  Wechselbegriffe",  sagt  derselbe  in  den  Axiomen  der 
Geometrie  111. 


*  An  einer  versteckten  Stelle  der  1.  Aufl.,  auf  welche  übrigens  schon  B.  Erd- 
mann (Bas  Ding  an  sich-  S.  6)  gestossen  ist,  hat  Kant  allerdings  jenen  Fall  im 
Vorüberfluge  gestreift,  A  129.  Auch  dort  macht  Kant  gegen  den  dritten  Fall  den 
Einwand,  dass  die  üebereinstimmung  der  apriorischen  Vorstellung  mit  der  „Be- 
schaffenheit" der  Dinge  an  sich  nicht  mit  Sicherheit  constatirt  werden  könnte. 

*  Dass  schon  40  Jahre  früher  Eberhard,  Maass,  Feder,  Tiedemann 
u.  A.  diesen  Fehler  Kants  richtig  beurtheilt  haben,  haben  wir  oben  S.  149  hin- 
reichend gefunden  und  werden  wir  gleich  unten  S.  311  ff.  wiederum  finden. 


308  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Kant  hat  also  in  der  ursprünglichen  Darstellung  A  92  jenen  Mittel- 
weg gar  nicht  in  Betracht  gezogen,  hat  ihn  gewissermassen  nur  nothge- 
drungen  erst  später  gelegentlich  erwähnt  und  ist  auch  dann  nur  mit  einer 
Mischung  von  Aergerlichkeit  und  Verachtung  auf  denselben  eingegangen. 
Dies  ist  nun  allerdings  ein  schwerwiegender  Grund  für  Trendelenburg  gegen 
Kant;  und  derselbe  Grund  trifft  auch  jene  oben  mitgetheilten  Stellen  aas 
den  Prolegoniena;  denn  diese  alle  sind  später  als  der  Schluss  a;  Kant  bat 
sich  also  erst  nachträglich  mit  jenem  dritten  Falle  nothgedrungen  abgefunden. 
Und  was  dann  den  weiteren  Ausweg  Arnoidts ^  den  Hinweis  auf  die  sonst 
nöthig  werdende  Annahme  einer  intellectuellen  Anschauung,  betrifft,  so  ist 
dieser  Einwand  einmal  nicht  selbst  von  Kant  erhoben  worden,  sondern  nur 
in  seinem  Sinne  gemacht;  zudem  gehören  auch  die  Ausfuhrungen  über  und 
gegen  die  int.  Ansch.  fast  alle  der  2.  Aufl.  an.  Und  so  bliebe,  trotz  der 
Arnoldt'schen  Rettungsversuche,  jener  Vorwurf  von  Trendelenburg,  bei  seinem 
Schlüsse  a  an  jene  so  wichtige  Möglichkeit  gar  nicht  gedacht  zu  haben  und 
diese  Möglichkeit  auch  sonst  kaum  in  Betracht  gezogen  zu  haben,  doch 
auf  Kant  sitzen. 

Aber  wir  sind  nun  doch  in  der  Lage,  zu  beweisen,  dass  Kant  an  jenen 
Fall  wirklich  gedacht  hat,  dass  er  ihn  auch  bedacht  und  überdacht  hat. 
In  dem  bekannten  Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  17'J2 '  wirft  Kant  die  Frage 
auf,  woher  es  komme,  dass  unsere  apriorischen  Begriffe  und  Axiome  mit 
den  Gegenständen  übereinstimmen?  Seine  eigene  spätere  Antwort  auf  diese 
Gardin alfrage  hat  er  noch  nicht  gewonnen,  aber  die  Beantwortungen  Anderer 
erwägt  er  daselbst:  „Plato  nahm  ein  geistiges  ehemaliges  Anschauen  der 
Gottheit  zum  Urquell  der  reinen  Verstandesbegriffe  ...  an.  Malebranche 
ein  noch  dauerndes  immerwährendes  Anschauen  dieses  Urwesens  . . .  Crusius 
gewisse  eingepflanzte  Kegeln,  zu  urtheilen,  und  Begriffe,  die  Gott  schon,  so 
wie  sie  sein  müssen,  um  mit  den  Dingen  zu  harmoniren,  in  die  mensch- 
lichen Seelen  pflanzte ;  von  welchen  Systemen  man  die  ersteren  den  influxw» 
hyperphysicum^  das  letzte  aber  die  harmoniam  prästabilitam  inieüectuaUm 
nennen  könnte.  Allein  der  J)eus  ex  machina^  ist  in  der  Bestimmung  des 
Ursprungs  und  der  Gültigkeit  unserer  Erkenntnisse  das  Ungereimteste,  was 
man   nur  wählen   kann,    und  hat  ausser  dem   betrüglichen   Cirkel  in  der 


*  Auf  denselben  hat  übrigens  auch  schon  Paulsen,  Entw.  189  hingewiesen: 
femer  Windelband  in  der  Viert,  f.  wies.  Philos.  I,  242,  sowie  Gottschick, 
Z.  f.  Philos.  Bd.  79,  156.  Vgl.  femer  bes.  Volkeil  54 ff.,  welcher  ausführt,  dass 
der  „metaphysische  Dualismus",  den  Kant  in  diesem  Briefe  einnehme,  ihn  ver- 
hindert habe,  den  „idealistischen  Monismus'  zu  würdigen,  welcher  annehme,  ,das3 
die  ursprünglichen  Bewusstseinsformen  mit  den  ebenso  ursprünglichen  Formen  der 
Naturdinge  übereinstimmen*.  Diese  Uebereinstimmung  von  Denken  und  Sein  nimmt, 
im  Anschluss  an  Aristoteles  und  Hegel,  eben  auch  Trendelenborg  an. 

*  Auf  den  Dens  ex  machina  recurrirt  Kant  aber  selbst.  In  dem  Brief  vom 
26.  Mai  1789  an  denselben  Herz  sagt  er,  „von  der  Zusammenstimmung  von  Sinn- 
lichkeit und  Verstand  zu  Einem  Erfahrungserkenntnisse*  können  wir  ,  weiter  keinen 
Grund,  als  den  göttlichen  Urheber  von  uns  selbst  angeben*. 


Der  Brief  vom  21.  Februar  1772.    Ein  „Loses  Blatt^  309 

Schlussreihe  unserer  Erkenntnisse  noch  das  Nachtheilige,  dass  er  in  der 
Grille  [es  muss  wohl  heissen:  Stille]  dem  andächtigen  oder  grüblerischen 
Hirngespinnst  Vorschub  leistet." 

Allein  bei  genauerem  Hinsehen  sind  wir  auch  damit  in  der  Hauptfrage 
keinen  Schritt  weitergekommen.  Im  Gegentheil.  Kant  spricht  in  dem  an- 
gezogenen Briefe  ausdrücklich  nur  von  den  „ In tellectual- Vorstellungen",  von 
den  „reinen  Verstandesbegriffen"  im  Gegensatz  zur  Sinnlichkeit.  In  Bezug 
auf  die  sinnlichen  Vorstellungen  des  Raumes  und  der  Zeit  hat  er  schon  seine 
Lösung  gefunden,  dass  diese  der  „Empfänglichkeit"  des  Subjects  angehören, 
dass  die  sich  auf  dieselben  beziehenden  „aus  der  Natur  unserer  Seele  ent- 
lehnten Grundsätze"  (die  geometrischen)  „eine  begreifliche  Gültigkeit  für  alle 
Dinge  haben,  insofern  sie  Gegenstände  der  Sinne  sein  sollten".  Da  vermissen 
wir  ja  gerade  die  Möglichkeit,  dass  auch  trotz  der  Apriorität  der  Anschauungen 
von  R.  u.  Z.,  und  trotzdem,  dass  sie  von  empirischen  phänomenalen  Gegen- 
ständen gelten,  doch  auch  die  Dinge  an  sich  zugleich  räumlich  und  zeitlich 
sein  könnten.  Der  Vorwurf  bleibt  also  immer  noch  und  immer  unzweideutiger 
auf  Kant  sitzen. 

Aber  wir  haben  nun  doch  noch  eine  Stelle  in  petto,  in  welcher  jene 
Möglichkeit  auch  in  Bezug  auf  Raum  und  Zeit  erwogen  ist;  sie  ßndet  sich 
in  den  von  Reicke  herausgegebenen  „Losen  Blättern  aus  Ks.  Nachlass", 
1.  H.  1889,  S.  151  ff.,  und  steht  auf  einem  Dimissionsattest  vom  22.  März 
1780.  Es  wird  da  zuerst  die  unendlich  oft  wiederholte  Lehre  ausgeführt, 
dass  Raum  und  Zeit  sowie  auch  die  Kategorien  gültige  synthetische  ür- 
theile  von  wirklichen  äusseren  Objecten  ermöglichen,  dass  diese  synthetischen 
Sätze  a  priori  jedoch  nur  von  Erscheinungen  gelten  können,  aber  nicht  von 
Dingen  an  sich  selbst.  „Die  Vernunft,  die  sich  diese  Einschränkung  nicht 
will  gefallen  lassen,  supponirt,  dass  unsere  Erfahrungen  und  auch  unsere  Er- 
kenntnisse a  priori  unmittelbar  auf  Objecte  gehen,  und  nicht  zunächst  auf  die 
subjectiven  Bedingungen  der  Sinnlichkeit  und  der  Apperception  [=  des  Ver- 
standes], und  vermittelst  deren  auf  unbekannte  Objecte,  die  durch  jene  allein 
vorgestellt  werden.  Sie  schlägt  daher  verschiedene  Wege  ein:  1)  den  em- 
pirischen Weg  und  Allgemeinheit  durch  Induction;  2)  den  fanatischen 
der  Anschauung  durch  den  Verstand;  3)  den  der  Vorbestimmung  durch 
angeborene  Begriffe;  4)  die  qualitas  occulta  des  gesunden  Verstandes,  der 
gar  keine  Rechenschaft  gibt.  Wenn  man  diese  einräumt,  so  heben  sie  alle 
Kritik  d.  r.  V.  auf,  und  öffnen  allen  Erdichtungen  ein  weites  Feld.  Daher 
gehört's  zur  Disciplin  der  reinen  Vernunft,  sie  zu  untersuchen  und  nach 
Befinden  dergleichen  Wege  zu  verstopfen."  Von  diesen  vier  Wegen  ist  nachher 
(153  und  155)  nochmals  die  Rede;  nur  der  erste,  der  Empirismus  (von  Locke 
und  Aristoteles)  wird  mit  einigen  wenigen  Worten  bedacht;  der  zweite,  der 
der  „mystischen"  Anschauung,  der  dritte,  auch  der  der  Involution  genannt, 
(vgl:  Kr.  d.  ürth.  §  81),  und  der  vierte,  auch  der  der  „angeborenen  igtio- 
rantia''  genannt,  werden  nur  nochmals  aufgezählt.  Bleibt  das  Kantische 
System  der  „Epigenesis",  die  nicht  „angeborene",  sondern  ursprünglich  „er- 
worbene" Vorstellungen  a  priori  annimmt. 


310  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Aas  diesem  Blatt  ist  allerdings  zu  ersehen,  dass  Kant  die  fragliche 
Möglichkeit,  unter  Nr.  3,  auch  in  Bezug  auf  Baum  und  Zeit  wenigstens  er- 
wogen hat.  Allein  aus  welcher  Zeit  stammt  das  Blatt?  Nicht  aus  1780, 
wie  es  zuerst  erschien  (vgl.  Zeitschr.  f.  Philos.  96,  19),  sondern  das  Blatt 
gehört  dem  ganzen  Tenor  und  Habitus  nach  offenbar  zu  den  Blättern,  die 
sich  auf  die  Gegenschrift  gegen  Eberhard  beziehen,  ist  also  erst  geschrieben, 
nachdem  Kant  erst  durch  fremde  Einwände  auf  jene  Möglichkeit  aufmerk- 
sam geworden  war.     (Vgl.  oben  S.  148,  sowie  oben  S.  305.) 

Wir  sind  jetzt  nun  in  der  Lage,  das  definitive  ürtheil  über  den 
berühmten  Streit  auszusprechen.  Ueber  den  allgemeinen  Charakter  desselben 
haben  wir  uns  schon  oben  S.  135  geäussert,  und  haben  da  auch  gesehen, 
1)  dass  Trendelenburg  seinen  Einwand  gegen  Kant  in  die  unlogische 
Formel  kleidete,  Kant  habe  die  , dritte  Möglichkeit^  übersehen,  dass  der 
Baum  subjectiv  und  objectiv  zugleich  sein  könnte.  Erwies  sich  diese  For- 
mulirung  als  unlogisch,  so  bleibt  doch  —  dies  ist  das  Ergebniss  der  jetzigen 
Untersuchung  —  2)  sachlich  der  Vorwurf  Trendelenburgs  gegen  Kant  zu 
Becht  bestehen,  Kant  habe  in  dem  Schluss  a  und  überhaupt  in  der  Aesthetik 
übersehen,  dass  der  Baum  trotz  seiner  Apriorität  doch  zugleich  objective 
Bealität  haben  könnte.  Piese  Lücke  im  Beweis  der  exclusiven  Subjectivität 
des  Baumes  hat  Trendelenburg  ganz  richtig  erkannt.  3)  Die  Ausdehnung 
dieses  Vorwurfes,  Kant  habe  an  jene  Möglichkeit  überhaupt  nicht  oder 
wenigstens  kaum  gedacht,  musste  dagegen  wieder  eingeschränkt  werden. 
Kant  hat  an  den  Fall,  dass  der  Baum  zugleich  Anschauung  a  priori  und 
absolute  Bealität  wäre,  allerdings  gedacht:  vielleicht  schon  1768,  wahrschein- 
lich 1772,  jedenfalls  1783  ff.  Aber  er  ist  auf  diesen  Fall  früher  nie  ernst- 
lich eingegangen,  und  auch  später  hat  er  ihn  nur  mit  Widerstreben  und 
Missachtung  erwähnt  und  ihn  keiner  eingehenden  Widerlegung  gewürdigt, 
weil  er  ihn  eben  —  und  dies  ist  sein  grösster  Fehler  —  nicht  ernst  nahm. 

Was  nun  Fischer  betrifft,  so  hatte  er,  wie  wir  sahen  (S.  207—211. 
251  f.  302) ,  in  mehreren  Nebenfragen  Becht,  in  welchen  Trendelen bur^g 
sich  Blossen  gegeben  hatte.  Aber  in  Bezug  auf  die  drei  Seiten  der  Haupt- 
frage, die  formale,  die  materiale  und  die  historische,  war  er  nicht  glücklich. 

1)  Den  formalen  Mangel  des  Trendelenburg'schen  Einwandes  sah  er 
so  wenig,  dass  er  einen  Hauptpunkt  desselben  theilte.     (Vgl.  S.  138.) 

2)  Die  materielle  Bichtigkeit  jenes  Einwandes  hat  er  so  wenig  stich- 
haltig angegriffen,  dass  er  vielmehr  den  eigentlichen  Mittelpunkt  desselben 
gar  nicht  traf.     (Vgl.  oben  S.  291  ff.) 

3)  In  Bezug  auf  die  historische  Ausdehnung  jenes  Vorwurfes  ist 
ihm  der  Hinweis  auf  die  Schrift  von  1768  zu  danken ;  aber  er  hat  diese,  an 
sich  precäre  Andeutung  so  wenig  weiter  verfolgt,  dass  er  alle  Stellen  übersah, 
in  denen  Kant  jenen  Fall  doch  wenigstens  einigermassen  in  Betracht  zog. 

Wir  müssen  somit  das  Besultat  der  Untersuchung  in  das  nun  hin- 
reichend motivirte  Urtheil  zusammenfassen:  in  der  Hauptsache,  in  der 
Behauptung  der  Lückenhaftigkeit  der  Kantischen  Beweisfüh- 
rung, hat  Trendelenburg  entschieden  Becht. 


Entscheidung  für  Trendelen  bürg.     Hinweis  auf  Vorgänger  desselben.     311 

Dasjenige  indessen,  was  das  Merkwürdigste  bei  dem  ganzen  Streite  ist, 
haben  wir  bis  jetzt  noch  nicht  besprochen:  das  Aufsehen,  das  der  Trendelen- 
bnrg'sche  Einwand  machte  und  die  Meinung,  derselbe  sei  etwas  ganz  Neues 
und  Unerhörtes.  In  der  That  ist  der  Einwand  doch  so  naheliegend, 
dass  er  eigentlich  Jedem  von  selbst  einfallen  muss,  der  nicht  von  vorneherein 
sich  von  den  transscendentalphilosophischen  Formeln  bestechen  lässt.  Daraus 
folgt,  dass  man  die  Erwartung  aussprechen  kann,  dass  der  Einwand  schon 
lange  vor  Trendelenburg  erhoben  worden  ist.  Nun  haben  wir  schon  oben 
S.  142  ff.  gesehen,  dass  der  Vorwurf  der  ün Vollständigkeit  seiner  Disjunction 
gegen  Kant  schon  im  vorigen  Jahrhundert  erhoben  worden  ist,  und  mit 
dem  Üebersehen  einer  oder  mehrerer  Möglichkeiten  in  der  Aufzählung  der 
denkbaren  Fälle  hängt  ja  der  Vorwurf  einer  Lücke  in  dem  vorliegenden 
Beweise  aufs  engste  zusammen.  Kant  hat  eben  nicht  alle  Fälle  erwogen, 
weil  er  annahm,  dass  aus  der  Apriorität  einer  Vorstellung  deren  Subjectivität 
sich  ergebe,  und  in  dem  Beweise  für  diese  Annahme  eben  fanden  wir  mit 
Trendelenburg  eine  „Lücke".  Wer  also  den  Vorwurf  der  ün  Vollständigkeit 
der  Disjunction  gegen  Kant  erhebt,  wird  die  tiefere  Ursache  dieser  Unvoll- 
stäudigkeit  bald  in  diesem  lückenhaften  Schlüsse  finden.  Der  Vorwurf 
dieser  Lückenhaftigkeit  ist  denn  auch  in  der  That  schon  im  vorigen  Jahr- 
hundert gegen  Kant  von  den  verschiedensten  Seiten  erhoben  worden. 

Der  Vorwurf  wurde  erhoben  einmal  von  den  strengen  Rationalisten, 
welche  mit  dem  alten  Dogmatismus  gewisse  Vorstellungen  als  angeboren 
ansahen,  aber  in  diesem  Angeborensein  nicht  nur  kein  Hinderniss  gegen, 
sondern  eher  eine  Bürgschaft  für  die  reale  Gültigkeit  jener  Vorstellungen 
sahen.  Er  wurde  erhoben  von  den  Empiristen,  welche  den  Ursprung  aller 
Vorstellungen  aus  der  Erfahrung  ableiteten^  und  bei  der  Kritik  der  entgegen- 
stehenden Ansicht  Kants  bald  diesen  schwachen  Punkt  in  dessen  Systeme 
entdeckten,  gegen  den  sie  nun  mit  Vorliebe  ihre  Angriffe  richteten.  Er 
wurde  natürlich  auch  erhoben  von  den  Eklektikern,  deren  Stärke  ja  von 
jeher  in  der  Auffindung  solcher  Schwächen  bei  Anderen  bestanden  hat. 

In  dem  Angriff  auf  diesen  schwachen  Punkt  vereinigten  sich  ferner 
diejenigen,  welche  die  Realität  eines  unserer  subjectiven  Raumvorstellung 
ganz  und  gar  entsprechenden  objectiven  Raumes  annehmen,  mit  denjenigen, 
welche  sich  auf  die  Annahme  beschränken,  der  subjectiven  Raum  Vorstellung 
entspreche  ein  gewisses  analoges  Verhältniss  der  Dinge  an  sich  untereinander ; 
wer  zwischen  diesen  beiden  Annahmen  unklar  hin  und  her  schwankt  (wie 
z.  B.  Eberhard  und  seine  Freunde,  vgl.  oben  S.  147),  wird  natürlich  den 
Vorwurf  ebenfalls  erheben. 

So  finden  wir,  um  sogleich  mit  der  Eber  bardischen  Zeitschrift  anzu- 
fangen, in  dieser  jenen  Vorwurf  mehrfach  direct  und  indirect  erhoben. 
Nach  dem,  was  wir  oben  8.  146  ff.  über  Eberhards  Angriffe  auf  Kants 
Raumlehre  gehört  haben,  werden  wir  nichts  Anderes  erwarten.  Schon  in 
den  dort  mitgetheilten  Stellen  liegt  der  Vorwurf  indirect  enthalten.  Ganz 
deutlich  hat  ihn  Eberhard  erhoben  in  seinen  „Dogmatischen  Briefen*,  im 
Phil.  Archiv  I,  2.  47  ff.,  allerdings  allgemein  in  Bezug  auf  die  synthetischen 


312  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Urtheile  a  priori  überhaupt,  aber  da  unter  diesen  auch  die  geometrischeD, 
auf  die  Raumvorstellung  bezüglichen  sind,  so  gilt  jener  allgemeine  Vorwurf 
eben  auch  für  die  Raumvorstellung.  Die  Apriorität  beweise  nicht  die  Snb- 
jectivität:  „Die  Noth wendigkeit  der  synthet.  Urtheile  a  priori  und  die 
Noth wendigkeit  der  Bestimmungen  der  Gegenstände  können  in  einem  ge- 
meinschaftlichen Dritten  gegründet  sein."  Auch  schon  Eberhard  spricht 
(a.  a.  0.  71.  75)  in  diesem  Sinne  von  den  „Lücken  des  Kantischen 
Systems**. 

Auch  der  scharfsinnige  Maass  hat  diese  Lücke  deutlich  gesehen.    In 
seinem  vortrefflichen  grossen  Aufsatz  „üeber  die  Tr.  Aesthetik"  im  Phil.  Mag.  I, 
117 — 149  sagt  er:    „Der  Geist  des   Kantischen  Systems  führt  unvermeid- 
lich auf  die  Behauptung,  die  auch  Kant  an  mehreren  Orten  äussert,  dass 
wir  von  den  Dingen,    wie   sie   an   sich   sein   mögen,  schlechterdings  nichts 
wissen  u.  s.  w.     Wenn  nun  dies  alles   seine  ^Richtigkeit  hat,   so  dürft«  da- 
durch auch  die  Möglichkeit  und  Wahrheit  der  Behauptung,  dass  B.  und  Z. 
bloss  subjective  Formen  der  Sinnlichkeit  seien,  dass  ihnen  in  den  Dingen 
an  sich  gar  nichts  entspreche,  aufgehoben  werden;  denn  in  Absicht  einer 
Bestimmung  der  Dinge  an  sich  können   wir  weder  etwas  bejahen  noch  ver- 
neinen,   und    ihnen    folglich   auch  das  Prädicat  des  Raumes  und   der  Zeit 
weder  absprechen  noch  zuerkennen.    Hieraus  lässt  sich  zum  Voraus  einsehen, 
dass  die  Beweise  für  die  angeführte  Behauptung  in  der  Tr.  Aesthetik  nicht 
ganz  hinlänglich  seyn,  sondern  höchstens  nur  soweit  reichen   können,  als 
nothwendig  ist,  um  darzuthun,  dass  R.  und  Z.  bey  uns  subjective  Formen 
der  Sinnlichkeit  seyn;  woraus  aber  noch  nicht  erhellt,  dass  sie  bloss  solche 
sind  und  dass  ihnen  in  den  Dingen  ausser  der  Vorstellung  nichts  entspricht." 
Dies   wird   von    M.   im    Einzelnen   geprüft,   und  das  Resultat  ist:  „die  Be- 
hauptung, dass  R.  und  Z.  bloss  subjective  Einrichtungen  unserer  Sinnlich- 
keit seien,  ist  unerwiesen"  (S.  145).    Auch  er  spricht  (ib.  470)  ausdrück- 
lich in  diesem  Sinne  von  den  „Lücken"    der  Tr.   Aesthetik;   er  hatte  diese 
Lücke,  resp.  jenen  Widerspruch  schon   in   den  „Briefen  über  die  Antinomie 
der  Vernunft"  1788  S.  11.  26  berührt;   die  A.  L.  Z.  1789,  I,  S.  159  hatte 
darauf  mit  den  üblichen  Ausflüchten  geantwortet,  worauf  Maass  im  Phil. 
Mag.  I,  340 — 343  seinen  Einwand  wiederholte.     Da  das,  was  Rehberg  in 
der  A.  L.  Z.  1789,  I,  713  gegen  jenen  grossen  Aufsatz  vorbrachte,  wieder 
ganz  schwach  war,  wurde  es  Maass  sehr  leicht  gemacht,  im  Phil.  Mag.  II, 
30  ff.  seinen  fundamentalen  Einwand  aufs  Neue  scharf  zu  wiederholen,  spec. 
mit  Bezug   auf  die  Stelle  Krit.  A  26   (Schluss  a).    Vgl.  gegen  Reh  her  gs 
ebenso  schwache  Duplik  in  der  A.  L.  Z.  1789,  Int.-Bl.  N.    145  die  weitere 
Antwort  von  Maass  im  Phil.  Mag.  II,  507  fp.    Vgl.  hiezu  auch  Schaumann, 
Aesth.  117  ff.     Natürlich  hat  auch  Pistorius  in  seinen  oben  S.  143  ff.  be- 
sprochenen   Ausführungen    diesen    Vorwurf  mehrfach  erhoben.     Ebenso  der 
anonyme  Verfasser  des  Versuches    „Ueber  Raum    und   Zeit"   1790,  S.  54  ff. 
72.  151. 

Gegen  diese  unangenehmen  Mahnungen  erfand   nun  Rein  hold  einen 
apriorischen  Beweis    für   die    absolute  Unräumlichkeit    der  Dinge   an  sich, 


Eberhard,  Maass  u.  A.  gegen  Kant.    Reinhold  für  Kant.  313 

welcher  damals  viel  besprochen  worden  ist.  (Th.  der  Vorst.  244  ff.)  Den  Be- 
weis fiihi*t  Reinhold  vermittelst  des  bekannten  Gegensatzes  von  Form  und 
Stoff  der  Vorstellung:  Die  Form  der  Vorstellung  müsse  eben  dem  Gegen- 
stande an  sich  , mangeln".  Gegen  den  Einwand:  warum  soll  nicht  dem 
Ding  an  sich  eben  dieselbe  Form  zukommen,  die  dasselbe  in  der  blossen 
Vorstellung  hat?  macht  R.  geltend:  „Die  Form  der  Vorstellung  ist  das- 
jenige, wodurch  sich  die  Vorstellung  von  allem,  was  nicht  Vorstellung  ist, 
auszeichnet.  Wenn  also  die  Vertheidiger  der  Vorstellbarkeit  des  Dinges  an 
sich  zugeben,  dass  das  Ding  an  sich  keine  Vorstellung  ist,  so  müssen  sie 
auch  zugeben,  dass  ihm  die  Form  der  Vorstellung  nicht  zukomme.*  Dies 
wird  (ib.  419—421)  spec.  auf  R.  u.  Z.  angewendet,  welche  aus  diesem  Grunde, 
weil  sie  eben  Formen  der  Vorstellung  sind,  nicht  zugleich  „Merkmale  der 
Dinge  an  sich  sein  können."  Vgl.  Beitr.  I,  185  f.  323—333.  Vgl.  die 
Recension  von  Flatt's  Fragm.  Beitr.  (1788)  in  der  A.  L.  Z.  1789,  I,  18  ff. 
wo  derselbe  Beweis  von  Reinhold  so  zusammengefasst  wird:  „Also  nicht  das 
Ding  an  sich  ,  aber  die  Vorstellung  desselben  ist  ein  Unding."  Vgl.  auch 
Fundament  66.  73:  Das  grosse  Hauptresultat  der  Kr.  d.  r.  V.,  dass  Dinge 
an  sich  nicht  erkennbar  sind,  hängt  von  dem  Beweise  der  zwei  Sätze  ab: 
„dass  a  priori  nicht  als  die  Form  der  blossen  Vorstellung  erkennbar  sei", 
und  „dass  die  Form  der  blossen  Vorstellung  nicht  Form  der  Dinge  an  sich 
sein  könne."  Die  beiden  Sätze  (um  die  es  sich  eben  im  Schluss  a  handelt) 
habe  Kant  nur  durch  eine  vollständige  Induction  bewiesen;  er  selbst,  Rein- 
hold, aber  habe  einen  unumstösslichen  apriorischen  Beweis  dafür  geliefert. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  dieser  Reinhold'sche  Versuch  jenen  ein- 
stimmigen Vorwurf  der  Kantgegner,  Raum  und  Zeit  könnten,  unbeschadet 
ihrer  Apriorität,  zugleich  auch  den  Dingen  an  sich  zukommen,  nicht  wider- 
legt, sondern  nur  umgeht.  Dies  fanden  denn  die  Gegner  bald  heraus,  so 
Flatt  (Tüb.  Gel.  Anz.  1790,  Nr.  39;  dag.  wieder  Reinhold,  Beitr.  I, 
419 — 421),  soTiedemann  im  „Theätet",  S.  156  ff.  Ebensowenig  Hess  sich 
der  scharfsinnige  Maass  dadurch  blenden,  welcher  im  Phil.  Mag.  I,  409 — 412 
ausführt,  ein  Gegenstand  an  sich  könne  freilich  nicht  die  Form  einer  Vor- 
stellung qua  Vorstellung  an  sich  haben,  wohl  aber  könnte  eine  „reale 
Bestimmung  desselben  mit  irgend  einem  Prädicate  übereinkommen,  das 
ihm  im  Gemüth  unter  der  Form  der  Vorstellung  beygelegt  wird".  Was 
Reinhold  dagegen  sagt  (A.  L.  Z.  1789,  II,  595),  ist  blosse  Wiederholung, 
und  es  wird  Maass  leicht,  gegen  dieselbe  aufs  Neue  aufzutreten  (Phil.  Mag.  II, 
236 — 243)  mit  der  Behauptung,  der  ganze  angebliche  Beweis  Reinholds  be- 
ruhe auf  der  petitio  principii,  „dass  die  Form  der  Vorstellung,  sofern  diese 
überhaupt  Vorstellung  ist,  alle  üebereinstimmung  desjenigen,  dessen 
wir  uns  in  ihr  bewusst  sind,  mit  dem  Ding  an  sich  aufhebe*. 

Jener  Reinhold'sche  Beweis  wurde  aber  immer  wieder  gegen  jenen 
Einwand  ins  Feld  geführt.  Als  F.  V.  Reinhard  in  der  Vorr.  zum  System 
der  christl.  Moral  I.  Band,  3.  Aufl.  1797  den  Schluss  Kants  aus  der  Apriorität 
auf  die  exclusive  Subjectivität  als  eine  „Erschleichung"  treffend  charakteri- 
sii-t  hatte,  antworteten  die  Jacob'schen  Annalen  III,   482    ganz    mit  jenem 


314  Excui-s.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Reinhold ^schen  Argument:  Der  Raum  sei  der  Actus  des  äusseren  Vorstellens, 
könne  also  nichts  anderes  sein,  als  eben  ein  Act  des  Subjects.  Uebrigens 
brachten  die  Jacob'schen  Annalen  den  Einwand  selbst  an  anderer  Stelle 
(in,  186)  in  folgender  eigenartiger  Pormulirung  vor:  Der  Satz,  dass  die 
reine  Anschauung  lediglich  in  dem  metaphysisch  gedachten  Subjecte  ihren 
Grund  habe,  sei  synthetisch.  Denn  »man  zergliedere  den  Begriff  einer 
Vorstellung  a  priori  so  viel  man  will,  man  wird  nie  auf  das  Prädicat 
kommen,  dass  sie  lediglich  im  Subjecte  der  Erkenntniss  ihren  Sitz  habe/ 
Sonach  sei  jener  Satz  synthetisch.  Kant  aber  beweise  diesen  Satz  gar 
nicht  und  mache  auch  gar  keinen  Versuch  dazu;  damit  ist  eben  die  Lücke 
im  Eantischen  Beweise  zugestanden. 

Besonders  bekämpfte  dann  Schwab  jenen  Reinhold'schen  Beweis.  Er 
sagt  (Phil.  Mag.  III,  148  ff.,  vgl.  369),  jener  Einwurf,  den  R.  sich  selbst 
mache  („Warum  soll  nicht  dem  Ding  an  sich  eben  dieselbe  Form  zu- 
kommen, die  dasselbe  in  der  blossen  Vorstellung  hat?")  „scheint  mir  sehr 
wichtig,  aber  von  ihm  nicht  hinlänglich  beantwortet  zu  sein.  In  der  That 
ist  es  gar  nicht  widersprechend,  dem  Ding  an  sich,  wo  nicht  ganz,  doch  zum 
Theil  eben  die  Form  beizulegen,  die  dasselbe  in  unserer  Vorstellung  hat.' 
„Es  ist  nicht  ungereimt,  zu  sagen,  dass  der  Gegenstand  mit  der  Vorstellung 
coincidire."  Was  Forberg  darauf  erwidert  (in  Reinhold^s  Fundament 
Anhang  S.  183—222,  bes.  188.  189.  191.  215  ff.,)  ist  eine  blosse  Wieder 
holung  der  unbewiesenen  Voraussetzung:  „Die  Form  der  Vorstellung  kann 
unmöglich  zugleich  die  Form  der  Dinge  an  sich  sein"  (a.  a,  0.  215.)  Vgl. 
dagegen  Schwab  im  Phil.  Arch.  I,  1.  25  ff.  (auch  I,  2.  59  ff.)  Schwab  hat 
den  Fehler,  welchen  Kant  macht  und  seine  Anhänger  immer  wieder  aufs 
Neue  machen,  auch  in  Beziehung  auf  die  Kategorien  ganz  deutlich  gekenn- 
zeichnet (Phil.  Mag.  IV,  200;  auf  diese  Stelle  weist  auch  Gesca,  La  doUrina 
Kantiana,  1885,  S.  145  hin)  mit  folgenden  Worten:  „Kant  schliesst  aus  der 
Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  der  höchsten  Grundsätze  des  Verstandes, 
dass  sie  a  priori  und  rein  vor  aller  Erfahrung  im  Gemüthe  vorhanden  sein 
müssen.  Gut!  allein,  dass  sie  bloss  subjective  Bestimmungen  des  Gemütfas 
seien,  das  folgt  so  wenig  daraus,  dass  man  mit  weit  mehr  Grund  schliessen 
kann,  sie  seien  zugleich  in  den  Dingen  an  sich  und  in  dem  Verstand  ge- 
gründet." »Auf  diese  Weise  entsteht  zwischen  dem  ursprünglichen  Subjectiven 
in  der  menschlichen  Seele  und  dem  Objectiven  ausser  ihr  eine  Harmonie, 
welche  anzunehmen  für  den  gemeinen  Menschenverstand  Bedüi*fniss  ist,  und 
die  ebensogut  ein  Postulat  der  reinen  Vernunft  genannt  werden  könnte, 
als  mancher  andere  Satz,  der  in  der  Kantischen  Philosophie  dafür  aus- 
gegeben wird."  Schwab  hat  dies  weiter  ausgeführt  in  der  Abhandlung: 
„Sur  la  correspondance  de  nos  idSes  avec  les  objets",  in  den  Minioires  de  VÄeadhnif 
Royale,  (1788  u.  1789),  Berlin  1793,  S.  417—435.  Dass  Kant  jene  Harmonie 
auch  als  ein  nothwendiges  Postulat  hätte  ansetzen  müssen,  behauptet  auch 
Breyer  in  seinen  Erlanger  Programmen,  betr.  den  »Sieg  der  praktischen 
Vernunft  über  die  speculative"  (1786 — 89):  „Mit  welchem  Rechte  legt  Kant 
der  Idee   der   praktischen   Vernunft  von   der   vollkommenen  Harmonie  der 


Schwab,  G.  E.  Schulze,  Seile  gegen  Kant.  315 

Sittlichkeit  mit  der  Glückseligkeit  objective  Realität  bei,  wenn  er  nicht 
überhaupt  eine  vollkommene  Uebereinstimmung  der  subjectiv-noth- 
wendigen  Gesetze  unserer  Vernunft  mit  dem  Objectiven  voraussetzt?"  Es 
sei  nicht  einzusehen,  warum  nur  in  praktischen  Fragen  „die  subjective  Ver- 
standesnoth wendigkeit  mit  dem  Objectiven  harmoniren  soU^,  und  nicht 
auch  im  theoretischen  Gebiet. 

Dass  auch  G.  E.  Schulze  in  seinem  Aenesidem  gegen  jenen  Bein- 
heldischen  Beweis  auftritt,  ist  natürlich;  s.  S.  273—275.  282  ff.  300  ff.  Er 
wendet  sich  natürlich  auch  gegen  Kant  selbst ,  bes.  8.  149  ff. ;  Kant  habe 
(es  wird  dabei  eben  auf  den  Schluss  a  angespielt)  behauptet,  Vorstellungen 
a  priori  könnten  bloss  die  Formen  der  erscheinenden  Gegenstände  sein. 
Aber  die  „Vorstellungen  und  Begriffe  a  priori  könnten  sich  auch  vermöge 
einer  präformirtenHarmonie der  Wirkungen  unseres  Erkenntniss Vermögens 
mit  den  objectiven  Beschaffenheiten  der  Sachen  ausser  uns  auf  diese  Be- 
schaffenheiten beziehen ;  und  dieser  Harmonie  gemäss  würde  dem  Gemüthe 
durch  die  Anschauungen  und  Begriffe  a  priori,  deren  es  sich  bei  seinen 
Thätigkeiten  bedienen  müsste,  etwas  vorgestellt  werden,  das  nicht  bloss 
subjective  Gültigkeit  in  unserer  Erkenntnissart  hätte,  sondern  das  auch  den 
Beschaffenheiten  des  Dinges  an  sich  entspräche  und  dieselben  repräsentii'te. 
Etwas  Absurdes  oder  Ungedenkbares  enthielte  die  Hypothese  von  einer  solchen 
prästabilirten  Harmonie  zwischen  den  Vorstellungen  a  priori  und  zwischen 
dem  objectiv  Vorhandenen  doch  gewiss  nicht".  Die  Natur  könne  wohl  eine 
solche  Einrichtung  getroffen  haben.  Ausser  dieser  prächtigen  Stelle  (auf 
welche  auch  schon  Volkelt  S.  61  hingewiesen  hat),  vgl.  noch  ib.  222  ff. 
257.  299.  437.  Vgl.  desselben  Kr.  d.  th.  Phil.  H,  224.  Was  gegen  diesen 
Einwand  Meilin,  Wort.  III,  583,  V,  346  und  Fichte  in  seiner  be- 
kannten Recension  des  Aenesidemus  W.  W.  I,  15.  19  vorbringen,  ist  gänzlich 
unzulänglich. 

Der  Kantische  Schlu.ss  von  der  Apriorität  der  Eaumvorstellung  auf 
deren  Subjectivität  fand  einen  heftigen  Gegner  auch  in  Seile.  Selbst 
Empirist,  bekämpfte  er  energisch  Kants  „Rationalismus'',  liess  sich  aber  in 
seiner  Abhandlung:  „De  la  realiii  et  de  Vidialiie  des  objets  de  nos  connaissances^ 
(vgl.  oben  S.  195)  in  eklektischer  Weise  zu  einigen  Zugeständnissen  an 
Kants  Apriorismus  herbei  (wie  dies  damals  vielfach  bei  Empiristen  der  Fall 
war,  z.  B.  bei  Feder  und  Tiedemann),  aber  nur,  um  jetzt  desto  heftiger 
den  Einwand  zu  erheben,  dass  aus  der  Apriorität  noch  keineswegs  die 
Subjectivität  fliesse.  Während  indessen  die  betr.  Abhandlung  an  vielen  Un- 
bestimmtheiten und  Widersprüchen  leidet,  ist  uns  eine  erst  vor  14  Jahren 
bekannt  gewordene  Aeusserung  hierüber  erhalten  geblieben,  welche  sehr  ent- 
schieden ist:  Kiesewetter  nämlich  in  seinem  Brief  an  Kant  vom 
20.  April  1790  (mitg.  von  Reicke  in  der  Altpr.  Mon.  1878,  XV,  212  f.) 
berichtet:  »Prof.  Seile  hat  eine  Abhandlung  gegen  Ihr  System  in  der 
Akademie  vorgelesen  und  wird  sie  auch  drucken  lassen:  er  glaubt,  wie  er 
sagt,  Ihrem  System  dadurch  den  Todesstoss  gegeben  zu  haben.  So  viel 
ich  gehört  habe,  so  zweckt  sein  Hauptargument  dahin,   dass,   gesetzt  auch, 


310  Excurs.    Der  Trendelenburg- Fischer'sche  Streit. 

Sie  hättei^  bewiesen,  Baum  und  Zeit  wären  die  Formen  unserer  Sinnlichkeit, 
Sie  doch  nicht  zeigen  könnten,  dass  sie  nur  Formen  der  Sinnlichkeit  wären, 
weil  es  immer  doch  möglich  sei,  sich  zu  denken,  dass  B.  und  Z.  den 
Dingen  an  sich  zukämen,  welches  Sie  um  so  weniger  leugnen  könnten,  da 
Sie  selbst  behaupteten,  man  könne  von  den  Dingen  an  sich  nichts  wissen, 
und  es  daher  ganz  wohl  möglich  sei,  dass  B.  und  Z.  den  Dingen  an  sieh 
zukämen.  Ueberdies  könne  man  auf  die  Art  allein  die  Frage  beantworten, 
warum  w^ir  gerade  in  diesen  und  keinen  anderen  Formen  anschaaten. 
Seiner  Meinung  nach  wären  H.  und  Z.  zwar  subjectiv  nothwendige  Be- 
dingungen unserer  Anschauungen,  aber  es  correspondiren  ihnen  dem  un- 
geachtet auch  Eigenschaften  der  Dinge  an  sich."  Was  Kant  darauf  er 
widert  hat,  wissen  -wir  nicht.  Was  Kiesewetter  selbst  dagegen  sagt,  ist 
ziemlich  schwach.  „Sollte  es  wahr  sein,  dass  der  ganze  Einwurf  nichts 
Wichtigeres  enthält,  so  finde  ich  ihn  eben  so  schreckhaft  nicht.  Wodurch 
will  Herr  Seile  beweisen,  dass  B.  und  Z.  den  Dingen  an  sich  selbst  zu- 
kommen? [Es  handelt  sich  aber  doch  in  Wahrheit  nicht  um  etwas,  was 
Seile  beweisen  soll,  sondern  um  etwas,  was  Kant  nicht  bewiesen  hat!] 
Und  gibt  er  zu,  dass  B.  u.  Z.  Formen  der  Sinnlichkeit  sind,  wie  will  er  be- 
haupten, dass  sie  doch  von  den  Dingen  an  sich  abhingen;  denn  werden  sie 
uns  durch  die  Objecte  gegeben,  so  gehören  sie  ja  sodann  zur  Materie  der 
Anschauung  und  nicht  zur  Form  derselben."  [Die  Form  könnte  unbeschadet 
ihrer  Apriorität  im  Allgemeinen  doch  im  Speciellen  durch  die  Objecte  mit- 
bedingt sein;  aber  auch  wenn  darin  eine  Inconsequenz  Selle*s  läge,  so  wäre 
dieselbe  doch  keine  Gegeninstanz  gegen  den  Vorwurf,  den  Seile  gegen  Kant 
erhebt,  sein  Beweis  der  Subjectivität  von  B.  und  Z.  habe  ein  Lücke.]  Die 
Antikantianer  begrüssten  diese  Abhandlung  Seile's  natürlich  sehr  sympathisch, 
bes.  Eberhard  im  Phil.  Arch.  I,  1.  81 — 125;  was  in  Kossmanns  Allg. 
Mag.  I,  2.  194 — 208  gegen  den  „  transscendentalen  Bealismus*  Seile's  gesagt 
wird,  ist  schwach.     Vgl.  oben  S.  292  Anm. 

Die  Lückenhaftigkeit  des  K.'schen  Beweises  wird  ferner  behauptet  von 
Ouvrier  in  seiner  Schrift  „Idealismi  examen"  1789,  §17.  Besonders  scharf 
hat  Tiedemann  den  Vorwurf  erhoben  in  seinem  „Theätet**,  bes.  S.  47.  84. 
481;  er  spricht  ausdrücklich  von  ,  einer  nicht  unbeträchtlichen  Lücke  dieser 
Theorie".  Und  zwar  ist  ihm  diese  Lücke  eine  doppelte:  gZugegeben,  dass 
B.  und  Z.  Formen  der  äusseren-  und  inneren  Anschauung  sind",  so  folgt 
daraus  erstens  nicht,  dass  diese  Formen  nur  uns  Menschen  angehören: 
auch  die  Empfindungsart  anderer  denkenden  Wesen  kann  dieselbe  sein;  ,K.  n. 
Z.  könnten  dem  ungeachtet  gar  wohl  Formen  Mex  Sinnlichkeit  sein;  und 
wenn  das  ist,  so  ist  hieraus  allein  nicht  klar,  dass  B.  und  Z.  nur  uns 
Menschen  Gültigkeit  und  Bealität  haben.*  Viel  wichtiger  ist  aber  der 
zweite:  „Auch  könnten  diese  Formen  gar  wohl  mit  den  Formen  der 
Gegenstände  übereinkommen,  mithin  gilt  hieraus  allein  kein  Schluss,  dass 
sie  in  den  Dingen  an  sich  gar  nicht  gefunden  werden.  Immerhin  also  kann 
man  zugeben,  dass  sie  Formen  unserer  Sinnlichkeit  sind,  und  ihre  objectiv»* 
Bealität  dennoch  behaupten." 


8elle,  Tiedemann,  Brastberger,  Platner  gegen  Kant.  317 

Auch  die  „Untersuchungen  über  Kants  Kr.  d.  r.  V."  von  Brast- 
berger (1790),  dessen  kritische  Einwände  gegen  Kant  schon  Comm.  1, 172 — 174 
hervorgehoben  wurden,  sind  speciell  diesem  Nachweis  gewidmet.  Es  ist  der 
stets  wiederkehrende  Grundgedanke  der  Schrift,  dass  Kant  zwar  die  Unab- 
hängigkeit der  Vorstellungen  des  Raumes  und  der  Zeit  von  den  empirischen 
Gegenständen,  also  ihre  Apriorität  erwiesen  habe,  dass  er  aber  kein  Recht 
gehabt  habe,  daraus  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  diese  apriorischen  Vor- 
stellungen unseres  Gemüthes  nicht  doch  zugleich  in  den  Dingen  an  sich 
gegründet  seien  (vgl.  oben  8.  289  N.) ;  er  bezieht  das  sowohl  auf  den  Ursprung 
als  auf  die  Geltung  der  Raum-  und  Zeitvorstellung:  wenn  diese  Vorstellungen 
auch  nicht  durch  die  empirischen  Gegenstände  in  uns  entspringen,  denen  sie 
vielmehr  vorhergehen,  so  könnten  sie  doch  durch  die  Einwirkung  der  Dinge 
an  sich  in  uns  veranlasst  sein;  und  wenn  auch  die  empirischen  Gegen- 
stände ,  denen  die  Raum-  und  Zeitvorstellung  vorhergehe ,  ebendeshalb  als 
blosse  Erscheinungen  zu  fassen  seien,  so  „sei  dadurch  nicht  ausgeschlossen", 
(55.  60.  61.  78)  dass  eben  jene  Dinge  an  sich  ihrerseits  sich  in  gewissen 
„analogen'  Verhältnissen  befinden  (vgl.  dazu  oben  S.  146).  Er  kämpft  mit 
vollstem  Bewusstsein  gegen  jenen  falschen  „Schluss"  Kants  S.  5 — 7.  9—13. 
40.  41.  43.  46.  51.  55.  57.  69.  70;  jene  „Folge  ist  erschlichen",  „es  kann 
wenigstens  noch  ein  Drittes  als  denkbar  vorausgesetzt  werden"  (21.  39); 
in  der  Eintheilung  der  Möglichkeiten  bei  Kant  sei  hier  ein  „fehlendes  Glied" 
(45—47),  und  schon  die  blosse  Denkbarkeit  dieser  Möglichkeit  stürze  Kants 
Subjectivismus  (58)  um,  in  welchem  die  „Hauptsache  seines  Systems"  liege 
(691)  es  fehle  demselben  eben  an  einem  „gültigen  Beweis"  (45.  71).  Dies 
weist  Brastberger  noch  einmal  ausführlich  nach  gegenüber  der  Recension 
in  der  A.  L.  Z.  1792,  Nr.  222,  in  der  Vorrede  zu  seinen  „Untersuchungen 
über  Ks.  Kr.  d.  prakt.  Vernunft"  (1792)  S.  6—40. 

Auch  Platner  in  der  Vorrede  zur  3.  A.  der  Aphorismen  XI  erhebt 
den  Einwand  in  einer  ähnlichen  Form  wie  oben  Maass.  Sein  Recensent  in 
der  A.  L.  Z.  1794,  Nr.  379  f.  meint  freilich:  Da  apodiktisch  erwiesen  sei, 
dass  R.  und  Z.  die  in  der  Natur  der  reinen  Sinnlichkeit  bestimmten  apriorischen 
Formen  der  sinnlichen  Anschauung  seien,  könnten  sie  den  Dingen  an  sich, 
die  eben  nicht  angeschaut  würden,  nicht  zukommen.  Das  ist  aber  eben  die 
gewöhnliche  petitio principii  der  Kantianer,  wie  auch  Heinze,  Platner  S.  13 
bemerkt:  „Es  ist  damit  nicht  bewiesen,  dass  sie  als  Formen  nur  in  der 
reinen  Sinnlichkeit  liegen."  PI.  wiederholt  daher  mit  Recht  seine  Einwände 
in  seinem  „Lehrbuch  der  Logik  und  Met."  (1795),  §  312  ff.  Vgl.  auch 
Seligkowitz  in  der  Viert,  f.  wiss.  Phil.  XVI  (1892),  S.  88  f. 

Auf  all  diese  Einwände  bleiben  die  Kantianer  entweder  die  Antwort 
schuldig,  oder  sie  beschränken  sich  auf  leere  Wiederholungen  der  Kantischen 
Argumentationen,  oder  auf  das  sophistische  Spiel  mit  dem  Worte  „objectiv" 
(vgl.  oben  S.  291  N.  2),  oder,  wenn  sie,  wie  Reinhold,  einen  neuen  Beweis  zu 
geben  versuchen,  so  war  in  demselben  doch  wieder  indirect  dieselbe  petitio 
principii  enthalten,  welche  eben  den  Hauptfehler  jener  Kantischen  Argumen- 
tationen ausmacht.     Schon  v.  Eber  stein  hält  sich  (Gesch.  d.  Log.  u.  Met. 


318  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischersche  Streit. 

II,  308.  387.  391.  485)  darüber  auf,  dass  ,die  Kantianer  sich  auf  diesen  Punkt 
nie  ordentlich  eingelassen  haben",  dass  sie  diese  Einwände  „nie  gründlich 
beantwortet  haben*,  dass  die  Frage  gar  nicht  von  ihnen  erörtert  worden  sei, 
„ob  nicht  den  Formen  der  Sinnlichkeit  etwas  in  den  Dingen^  an  sich  ent- 
sprechen, und  die  Formen  beider  mit  einander  übereinstimmen  können.' 

Wie  schon  oben  S.  145  bemerkt  wurde,  hatte  z.  B.  Jacob  in  seiner 
Prüfung    der  Mendelssohn'schen    Morgenstunden    S.   26    den  Einwand   eines 
Mitunterredners    berücksichtigt,    dass    die  Prädicate   B.   und    Z.    auch   den 
Dingen    an    sich    zukämen    „und   unsere  Vorstellungen   den   Dingen  selbst 
jedesmal   correspondirten'  u.  s.  w.     Auf  diesen  gewichtigen   Einwand  gibt 
Jacob  folgende  Antwort:     „Diese  Hypothese   macht  Ihrem  Scharfsinn  Ehre, 
lieber   L.     Aber  wir  können   hier  schon  deswegen   keine  Bücksicht  darauf 
nehmen,  weil  es  eine  Hjrpothese  ist  (1).     üeberdem  so  sprechen  gerade  alle 
Philosophen  den  Dingen   an  sich  alle  Prädicate   des  Baumes  und  der  Z«it 
ab ;  Sie  werden  sich  erinnern,  dass  die  Monaden  keinen  Baum  einnehmen  (2). 
Gott  kann  nicht  ausgedehnt  sein,  und  in  seinen  Kenntnissen  und  Vorstellungen 
darf  keine  Zeit  gedacht  werden  (3).    Der  Fehler  Ihrer  Hypothese  liegt  darin, 
dass  Sie  sich  die  Sinnen  weit  als  einen  Gegenstand  an  sich  zu  denken  scheinen. 
allein  sie  ist  nichts  als  Phänomen  für  uns,  und  da  alle  Prädicate  nur  von 
Phänomenen  gelten,  so  können  wir  kein  einziges  auffinden,  welches  auf  die 
Objecte  selbst  passte  (4).    Ordnung,  Harmonie  und  Alles,  was  Sie  vorbringen 
mögen,  ist  völlig  ohne  Bedeutung,  wenn  Sie  es  nicht  von  Erscheinungen  in 
der  Sinnen  weit  verstehen  (5).     Sie  müssen  sich  nur  immer   daran   erinnern, 
dass,  w.enn  unsere  äusseren  Sinne  anders  gebaut  wären,   auch   unsere  Vor- 
stellungen von   den  Dingen   ganz   anders  sein  würden  u.  s.  w.  (6).    Wären 
B.  und  Z.  Prädicate  der  Dinge  selbst,  so  müsste  ein  jedes  Wesen,  welches 
sie  erkennen  wollte,  sie  sich  in  dieser  Form  vorstellen ,  also  auch  die  Gott- 
heit, von  der  aber  dieses  auf  keine  Art  gelten   kann,   weil  jede  Succession 
Abwechslung  voraussetzt,  welche  in  die  Idee  von  Gott  nicht  kommen  darf*  (7). 
„Ja  es  lässt  sich  überhaupt  durch  gar  nichts  erweisen,  dass  andere  endliche 
Geschöpfe,  die  wir  nicht  kennen,  nothwendig  an  diese  Form  gebunden  sein 
müssten^  (8).    Dass  in  diesen  8  Gegengründen  kein  halbwegs  stichhaltiger 
Beweis  vorgebracht  wird,  liegt  auf  der  Hand.     Gegen  den  ersten  Gegen- 
grund wendet   sich   schon  Pistorius  (s.  oben  S.  145)   mit  den   treffenden 
Worten:    „Wenn  Jacob  sagt,  dass  er  schon  darum  keine  Bücksicht  daranf 
nehmen  könne,  weil  es  eine  Hypothese  sei,  so  kömmt  es  mir  sehr  sonder- 
bar vor,  wie  er  sich  überreden  könne,  dass  seines  Lehrers  Gedanken  über 
B.  und  Z.  etwas  mehr  als  Hypothese  seien.     Wenn  über  einen  Gegenstand 
mehrere  Vorstellungsarten  stattfinden,  alle  an  sich  möglich  und  gedenkbar, 
wie  dies  hier  in  Bücksicht  auf  B.  und  Z.  unleugbar  der  Fall  ist,  so  kann 
wohl  unmöglich  eine  derselben   im  Voraus  die  Benennung  einer  Hypothese 
von  sich  ablehnen.     Nur  dadurch  kann  sie  sich  über  diesen  Bang  erheben, 
dass  sie  sich  als  die  einzige  beweist,  die  unter  allen  möglichen  zur  Erklärung 
aller  zu  erklärenden  Umstände  hinreicht;  aber  auch  von  ihren  Nebenbuhlerinnen 
zeigt,  dass  sie  dies  nicht  leisten  können,  sondern  dass  ihnen  vielmehr  einige 


Jacob  und  Schultz  für  Kant.  319 

Punkte  gerade  entgegenstehen  und  sie  ansschliessen.  So  lange  aber  irgend 
eine  mögliche  Hypothese  übergangen  worden^  so  behält  diese  noch  immer 
das  Recht  zu  fordern ^  dass  auch  auf  sie  Rücksicht  genommen  und  sie  mit 
ihrem  Anbringen  gehört  werde.  Bevor  dieses  geschehen,  darf  sie  nicht 
präcludirt  werden,  indem  eine  vorläufige  Präclusiverkenntniss  zu  Gunsten 
einer  verschiedenen,  vorgeblich  erwiesenen  Hypothese  nicht  eher  möglich  ist, 
als  bis  die  übergangene  Hypothese  mit  ihren  Ansprüchen  und  Rechtsgründen 
auch  gehört  und  abgewiesen  worden.  Indessen  ist  dies  nicht  der  einzige 
Fall,  wo  sich  das  Kantische  System  dieser  logicalischen  Ungerechtigkeit  zu 
Schulden  kommen  lässt." 

Ebensowenig  Stichhaltiges  hat  Schultz  vorgebracht,  welcher  zu  der 
Frage  mehrfach  Stellung  nimmt  ^  Nachdem  er  (Prüfung  II,  232)  den  Eanti- 
sehen  Schluss  von  der  Apriorität  auf  die  exclusive  Subjectivität  einfach 
wiederholt  hat,  erwägt  er  die  Möglichkeit,  dass  der  Raum  „objectiv  und  sub* 
jeetiv  zugleich  "^  sein  könne,  und  erklärt  dieselbe  ohne  Weiteres  für  einen  offen- 
baren Widerspruch' :  ,Denn  was  einem  Dinge  an  sich  zukommt,  kann  eben 
daher  nicht  von  unserem  Yorstellungsvermögen  abhängig  sein,  und  was  von 
diesem  abhängig  ist,  kann  eben  darum  den  Dingen  nicht  an  sich  zukommen. 
Ein  Begriff  von  etwas,  was  in  dem  angezeigten  Sinne  subjectiv  und  objectiv 
zugleich  ist,  ist  daher  das,  was  der  Begriff  eines  hölzernen  Eisens  ist.  '^  Allein 
Schultz  macht  hier  eine  logisch  bedenkliche  Volte.  „In  dem  angezeigten 
Sinue'  hat  Niemand  behauptet,  dass  der  Raum  , zugleich  objectiv  und  sub- 
jectiv*' sei;  denn  die  Behauptung  „in  diesem  Sinne''  genommen  ist  identisch 
mit  jenem  oben  S.  136  hinreichend  gekennzeichneten  Widerspruch,  dass  der 


^  In  seiner  (später  unten  zu  §  7  zu  erwähnenden)  Recension  der  Dissertation 
von  1770  hatte  Schultz  (1771),  ehe  er  Anhänger  Ks.  wurde,  den  Einwand  selbst 
erhoben.  Er  sagte  da  in  dieser  seiner  , vorkritischen **  Zeit  sehr  treffend:  «Die 
Untersuchung  der  principiorum  fonnae  mundi  betrifft  die  Hauptmaterie  und  ver- 
dient daher  die  strengste  Prüfung.  Die  Art,  auf  welche  der  Verf.  die  Begriffe  des 
Raumes  und  der  Zeit  behandelt,  hat  uns  nicht  nur  wegen  ihrer  Neuheit,  sondern 
auch  wegen  ihrer  Evidenz  vorzüglich  gefallen.  Nur  kommt  es  zuletzt  auf  die 
Hauptfrage  an,  ob  diese  beiden  Begriffe  die  eigenthümlichen  principia  formae  mundi 
sensibiliSf  oder  ob  sie  nicht  vielleicht  ^rtncf^ta  communia  formae  mundi  tarn 
sensibilis  quam  intelligibilis  sind.  Da  der  Verf.  das  Erstere  behauptet,  so 
wünschen  wir  in  allen  Dingen  die  Unmöglichkeit  des  Letzteren  auf  die  strengste 
Art  erwiesen  zu  sehen.  Allein  aus  allen  seinen  Prämissen  folgt  nichts  mehr,  als 
dass  wir  ohne  den  Begriff  des  R.  u.  d.  Z.  keine  anschauende  Erkenntniss  von  der 
Körperwelt  haben  können.  Denn  daraus,  dass  diese  Begriffe  intuitus  sind,  folgt 
noch  nicht,  dass  sie  die  intellectualia  nicht  angehen.  Mithin  bleibt  noch  immerhin 
die  Hauptfrage  unentschieden,  ob  nicht  R.  u.  Z.  die  principia  der  gemeinschaft- 
lichen Form  alles  Existirenden  sind,  ohne  welche  kein  Wesen,  es  sey  materiell 
oder  immateriell,  gedacht  werden  kann.*  Schultz  sucht  dies  sodann  im  Einzelnen 
nachzuweisen,  zuerst  in  Bezug  auf  die  Zeit,  dann  auf  den  Raum.  Vgl.  Ks.  kurze 
und  nichtssagende  Antwort  darauf  im  Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772.  (Vgl. 
dazu  Caird,  CnU  Phil  1,  181.  300.)  Werthvoller  sind  Kants  Erwägungen  hier- 
über in  seinen  nReflexionen**  II,  S.  107  (her.  v.  B.  Erdmann). 


320  Excurs.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

Kaum  zugleich   real   und  nicht  real   sei.     Nur  im  Ausdruck   könnte  man 
diesen  Widerspruch  in  jener  Wendung  finden,   aber  sachlich  ist  es  durch- 
aus kein  Widerspruch,  zu  behaupten,   dass  in   der  Welt   der   objectiven 
Dinge  an  sich  Baum  und  räumliche  Verhältnisse  vorhanden  seien,  und  dass 
zugleich  die  Baum  Vorstellung  in  der  Einrichtung  unseres  Subjects  wurzele. 
Jener  Widerspruch  wird  ja  aber  auch  noch    auf  andere  Weise  vermieden: 
wenn  man  (vgl.  oben  S.  141  ff.)  mit  Leibniz  dem  Raum  eine  theils  subjective, 
theils  objective  Bedeutung  vindicirt,   wenn  also  ein  Theil  der  Bestimtmungen 
des  Baumes  auf  Kosten  des  Subjects,  der  andere  auf  Bechnung  des  Objects 
angesetzt  wird.    Diese  Auffassung  kann  auch  in  die  Formel  gekleidet  wer- 
den, der  Baum   sei  „etwas  Objectives  und  Subjectives  zugleich";   hingegen 
hatte  Schultz  nun  schon  I,  205  eingewendet,   das  sei  „eine  Bastardart  von 
Begriff,   der   ich  keinen  Namen   zu   geben  weiss*      Eberhard   wendet  (Phil. 
Mag.  IV,  81)  mit  Becht  ein:  „Wenn  dieses  eine  Bastardart  sein  soll,  so  sind 
alle  Begriffe  von  Erscheinungen,  so  sind  Begriffe  von  Tönen,  Farben  u.  s.  w. 
Bastardarten."     Was  Schultz  II,  233  erwidert,  ist  ausweichend,  dazu  ist  es 
unklar  mit  dem  Obigen  vermischt.  —  Dass  Schultz  sich  gegen  die  Leibniz- 
Eberhard'sche  Annahme  eines  „intelligibeln  Baumes*  wendet,    wurde  schon 
oben  S.  147  N.  erwähnt.  Dass  ein  solcher  doch  immer  wieder  auf  den  sinnlichen 
Baum  hinauskomme,   ist   von  Seh.   richtig   bemerkt;   seltsam    aber  ist  der 
Einwand   (II,  11  ff.),   nichts  verbürge  die  Pluralität  der  Dinge  an  sich:  es 
könnte  ja  auch  nur   ein  einziges  Ding   an  sich   geben   und   damit  falle  das 
intelligible  Ausser-  und  Nebeneinander   der  Dinge  an   sich  von  selbst  weg. 
Und  dabei  redet  Kant  selbst  oft  von  den  „Dingen  an  sich*  im  Plural;  eine 
Pluralität  von  Dingen  an  sich  ist  ja  auch  schon  durch  die  Mehrheit  der  Sub- 
jecte  gegeben,  deren  Jedem  ja  nach  Kant  auch  ein  „homo  noumenon*'  entspricht. 
Schultz  hat  denn  selbst  wohl    das  Unbefriedigende   solcher  Ausfläcbte 
gefühlt,  und  kommt   noch  einmal   auf  das  Problem   zurück.     Er   sagt  (IL 
290  ff.):  „Ob  überhaupt  eine  Sinnlichkeit  von  der  Art  möglich  ist,  dass  ihre 
ursprünglichen  Formen  zugleich  die  Formen  der  Dinge  an  sich  sind,  dieses 
ist  eine  Frage,    deren  Beantwortung,   sie  möchte  bejahend  oder  verneinend 
ausfallen,  zwar  in  Absicht  auf  die  apodiktische  Gewissheit   der  Kantischen 
Theorie   unserer  Sinnlichkeit   völlig  gleichgültig  sein  würde;   allein   wofern 
sie  sich  a  priori  als  verneinend  erweisen  liesse,  so  würde  der  wissenschaft- 
liche  Vortrag    dieser   Theorie    hierdurch   ungemein   gewinnen.*      Für    ^die 
Kantische   Theorie   unserer   Sinnlichkeit*    ist   die   Beantwortung   der  Frage 
allerdings  insofern  gleichgültig,  als  in  dem  einen  wie  in  dem  anderen  Falle 
Kants  Lehre  von  der  Apriorität  der  Anschauungsformen  als  solcher  bestehen 
bleiben  könnte.  Aber  zur  „Kantischen  Theorie  unserer  Sinnlichkeit*  gehört  doch 
gerade  als  wesentlichstes  Besultat  die  Lehre  von  der  exclusivenSubjectivität 
jener  Formen,  und  diese  Lehre  ist  ja  gerade  mit  der  Verneinung  jener  Frage 
identisch!  Weiter:  „Es  scheint  allerdings,  dass  diese  Frage  durchaus  verneint 
werden  müsse,  indem  es  ganz  unbegreiflich  ist,  wie  die  Form  eines  sinnlichen 
Anschauungs Vermögens  mit  der  Form  der  Dinge  an  sich,  die  von  jenem  nicht 
nur  gänzlich  verschieden,  sondern  als  Dinge  an  sich  zugleich  ganz  unabhängig 


Schultz  hat  das  Problem  verdunkelt  321 

Yon  ihm  sein  müssen,  einerlei  sein  könnte,  unser  Weltweiser  bat  auch  in  der 
That  einen  sehr  deutlichen  Wink  gegeben,  wie  einleuchtend  ihm  die  Unmög- 
lichkeit hieven  sei,  da  er  in  der  Erscheinung  das,  was  der  Empfindung  cor- 
respondirt,  die  Materie,  das  aber,  welches  macht,  dass  das  Mannigfaltige 
der  Erscheinung  in  gewissen  Verhältnissen  geordnet  werden  kann,  die  Form 
der  Erscheinung  nennt,  und  nun  folgenden  Schluss  macht  (vgl.  oben  S.  74  ff.): 
^Da  das,  worinnen  sich  die  Empfindungen  allein  ordnen  und  in  gewisse  Form 
gestellt  werden  können,  nicht  selbst  wiederum  Empfindung  sein  kann,  so  ist 
uns  zwar  die  Materie  aller  Erscheinungen  nur  a  posteriori  gegeben,  die 
Form  derselben  aber  muss  zu  ihnen  insgesammt  a  priori  bereit  liegen/  Er 
folgert  also  aus  dem  blossen  Begriffe  der  Sinnlichkeit,  dass  ibr  nur 
die  Materie  oder  der  Stoff,  nicht  aber  die  Form  der  Anschauung  von  den 
Dingen  an  sich  gegeben  werden  könne,  und  was  heisst  dieses  anders,  als: 
die  Form  der  Sinnlichkeit,  von  welcher  Art  sie  auch  immer  sei,  kann  nie 
die  Form  der  Dinge  an  sich  sein."  Die  von  uns  unterstrichenen  Worte 
zeigen  die  neue  Verwechslung  an,  deren  Schultz  sich  hier  schuldig  macht: 
selbst  wenn  wir  den  (natürlich  unbewiesenen)  Satz  als  bewiesen  an  nehmen 
wollten,  dass  die  Form  der  Erscheinungen  uns  nicht  von  den  Dingen  an  sich 
gegeben  sei,  sondern  somit  ganz  allein  aus  uns  selbst  stamme,  so  bleibt 
ja  noch  immer  die  Möglichkeit,  dass  die  Form  der  Sinnlichkeit  und  die  Form 
der  Dinge  an  sich  von  vorneherein  in  einer  prastabilirten  Harmonie  stehen. 
Also  immer  wieder  die  alte  petitio  principiil 

Indessen  meint  nun  Schultz,  Kant  habe  jenen  Satz,  dass  die  Form  der 
Sinnlichkeit  nie  die  Form  der  Dinge  an  sich  sein  könne,  nicht  allgemein 
für  jede  Sinnlichkeit  überhaupt  bewiesen;  jene  Stelle  enthalte  nur  einen 
Wink;  Kant  selbst  habe  aber  nicht  jenen  „kurzen  Weg  zur  Gründung  seiner 
Theorie"  gewählt,  sondern  einzeln  von  Baum  und  Zeit  gezeigt,  dass  sie  „nicht 
mit  dem  Stoffe  der  Empfindungen  mitgegeben,  mithin  nichts  weiter  als  Vor- 
stellungen der  Form  unseres  sinnlichen  An  seh  auungs  Vermögens  sein  können. 
Also  blieb  die  Frage,  ob  überhaupt  die  Formen  irgend  einer  Sinnlichkeit 
mit  den  Formen  der  Dinge  an  sich  einerlei  sein  könnten,  noch  immer  unent- 
schieden. Herr  Rath  Reinhold  hat  sich  daher  ein  nicht  geringes  Verdienst 
um  die  Philosophie  erworben,  dass  er  in  seiner  Theorie  des  Vorstellungs- 
vermögens die  noth wendige  Verneinung  dieser  Frage  nicht  nur  in  Ansehung 
der  Formen  der  Sinnlichkeit,  sondern  in  Ansehung  der  Formen  des  Vor- 
stellungsvermögens überhaupt  mit  seltenem  Tiefsinn  und  meisterhafter  Zer- 
gliederungskunst aus  dem  blossen  Thema  des  Bewusstseins :  Ich  stelle  mir 
etwas  vor,  zu  erweisen  gesucht". 

Was  es  mit  dem  Reinhold'schen  Beweis  auf  sich  hat,  haben  wir  oben 
S.  312  ff.  gesehen.  Anzuerkennen  ist,  dass  Schultz  doch  zuletzt  noch  überhaupt 
eine  Lücke  hier  bei  Kant  zugibt.  Im  Uebrigen  hat  er,  wie  wir  gesehen, 
nichts  zur  Erhellung  dieses  dunklen  Punktes  beigebracht,  vielmehr  die  Ver- 
dunkelung derFrage  nur  befördert;  es  ist  dies  umso  mehr  zu  betonen, 
als  das  Werk  noch  neuerdings  „ein  Meisterwerk  von  Klarheit  und  Eleganz* 
genannt  worden  (Arch.  f.  Gesch.  der  Phil.  1889,  III,  281).  In  diesem  Punkte 
Yaihinger,  Kant-Commentar.    n.  21 


322  Excure.    Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

wenigstens  hat  der  Lieblingsscbüler  Kants  nicht  klärend,  sondern  verdunkelnd 
gewirkt.  Und  wir  dürfen  mit  Fug  annehmen,  dass,  wenn  es  Schultz  so  miss- 
lungen  ist,  diese  Frage  befriedigend  zu  beantworten,  weder  Kant  selbst  noch 
die  übrigen  Kantianer  eine  befriedigende  Antwort,  eine  zulängliche  Recht- 
fertigung zu  geben  vermochten.  Darauf  deutet  auch  die  schon  von  v.  Eberstein 
bemerkte  allgemeine  Zurückhaltung  der  Kantianer  in  diesem  Hauptpunkte  bin. 
Angeführt  sei  nur  noch  die  Meinung  von  Maimon  (Logik  S.  142),  die  Frage: 
ob  die  Vorstellungen  von  Zeit  und  Raum  in  den  Dingen  an  sich  oder  im 
Erkenntnissvermögen  ihren  Grund  haben,  müsse  unentschieden  bleiben, 
weil  wir  von  den  Dingen  an  sich  und  vom  Erkenntniss vermögen  an  sich 
keinen  bestimmten  Begriff  haben.  Mag  da  unter  , Grund*  bloss  Ursprung 
oder  Geltung  oder  beides  gemeint  sein  —  in  jedem  Falle  ist  damit  das 
Charakteristicum  der  Kantischen  Lehre  aufgegeben,  welche  von  den  Dingen 
an  sich  die  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  bestimmt  negirt,  und  dieselben 
mit  aller  Bestimmtheit  ausschliesslich  dem  Subject  und  seinem  Erkenntniss- 
vermögen  zuweist. 

Uebrigens  haben  einige  Kantianer,  so  Jacob  selbst  in  der  2.  Aafl. 
seiner  Metaphysik,  Heydenreich,  Jenisch  u.  A.  durch  alle  jene  Anfech- 
tungen sich  doch  später  zu  dem  Zugeständniss  verstanden,  dass  man  ans  den 
Verhältnissen  der  Erscheinungen  doch  wenigstens  partiell  auf  correspondirende 
Verhältnisse  der  Dinge  an  sich  schliessen  könne;  durch  diese  Annäherung 
an  den  Leibnizianismus  stellen  solche  Kantianer  den  inneren  und  äusseren 
Uebergang  von  Kant  zu  Herbart  her,  welch  letzterer  ebenfalls  gegen 
die  Bündigkeit  des  Kantischen  Beweises  sich  aussprach  (W.  W.  V,  504—507, 
und  besonders  VI,  116—117  mit  ausdrücklicher  Berufung  aufLeibniz),  im 
Uebrigen  aber  die  Raumvorstellung  selbst  empirisch  zu  Stande  kommen  Hess. 
Herbart  nennt  (V,  507)  Ks.  Behauptung  der  exclusiven  Idealität  des  Raumes 
geradezu  eine  „unkritische  Uebereilung". 

Die  Unzulänglichkeit  des  Kantischen  Beweises  ist  dann  auch  fernerhin 
natürlich  häufig  behauptet  worden;  so  haben  wir  schon  oben  S.  307  Fries 
in   dieser  Hinsicht    auf  der  Seite  der  Kantgegner   getroffen.     Eine  ähnliche 
Stellung  nimmt  Krug,   entsprechend  seinem  „Synthetismus",   Fundaroental- 
lehre  107  ff.  125   ein.     Besonders  Beneke  hat  dann   Kants   Beweis  scharf 
verurtheilt;  schon  1820  in  seiner  kleinen  Erkenntnisslehre  141.  156  sagt  er» 
man  könne  es  ebenso  wahrscheinlich  finden,  dass  „die  Dinge  mit  den  Formen 
unseres  Geistes   übereinstimmen '',   und  ,man  kann  trotz  der   zugestandenen 
Idealität  (als  Geistesformen)  doch  zugleich  die  vollständige  Realität  r&nm- 
lieber  und   zeitlicher  Ausdehnung   behaupten*.     Dieser  Streit   sei   durchaus 
nicht  zu  schlichten;  „und  hat  man  fast  allgemein  dem  Urheber  der  Vernunft- 
kritik  seine  Behauptung  zugestanden,  so  liegt  der  Gimnd  davon  ....  einzig 
und  allein  in  dem  sinnlichen  Bild  von  einer  Form,  in  welche  erst  die  Dinge 
an   sich  als  Materie  zusammengefasst  werden  sollen  und   also  das  Gepräge 
dieser  Form  nicht  an  sich  tragen  können**.   (Vgl.  oben  S.  65.)   Vgl.  desselben 
Metaphysik,  S.  71.  92.  175.  224  ff.  234,  wo  er  sich  selbst  für  ,die  gemässigte 
idealistische  Ansicht"  ausspricht,  dass  die  Dinge  an  sich  in  einem  ^Zusammen* 


Herbart,  Fries,  Beneke,  Schleiermacher,  üeberweg  u.  A.  gegen  Kant.     323 

sich  befinden,  ^ welches  in  dem  räumlichen  Zusammen  abgespiegelt  wird''. 
Daher  könne  der  Baum  auch  nicht  bloss  einen  rein  subjectiven,  sondern  er 
müsse  auch  einen  objectiven  Ursprung  haben. 

Eine  ähnliche  Stellung  nimmt  auch  J.  H.  Fichte,  einer  der  Haupt- 
Vertreter  des'  »Bealidealismus",  ein,  bes.  in  seinen  Beitr.  z.  Charakt.  d.  n. 
Philos.  2.  A.  188  AT.;  vgl.  Gegensätze  u.  s.  w.  I,  172,  II,  186  ff.  264;  Theist. 
Weltansicht  164  ff.;  Fragen  und  Bedenken  131.  Aehnlich  auch  Berg,  Epi- 
kritik  245  ff.  253 ff.;  G essner,  Speculation  und  Traum  (1830)  1, 264,  II,  302  ff.; 
besonders  scharf  und  wörtlich  mit  Trendelenburg's  Formulirung  übereinstim- 
mend Zimmermann,  Untersuchungen  über  Raum  und  Zeit  (Frei bürg  1824) 
S.  13.  16.  22.  31;  vgl.  auch  Ule,  Raum  und  Raumtheorien  (1850)  6.  36. 
38.  42  ff.  Auch  Tourtual,  Die  Sinne  des  Menschen,  1827,  LI  sq.  ent- 
wickelte diese  , mittlere  Ansicht". 

Dass  Raum  und  Zeit  zugleich  vom  menschlichen  Geiste  frei  producirt 
werden  und  in  der  Natur  der  Dinge  sich  finden,  dass  deshalb  Kants  Beweis 
von  der  Apriorität  auf  die  Subjectivität  falsch  sei,  das  war  im  Grunde  auch 
Schellings  und  Hegels  Ansicht  ^  Aber  schon  Fichte  hat  den  Uebergang 
dazu  gemacht;  er  suchte  zwar  zuerst,  wie  wir  oben  S.  315  sahen,  Aenesidems 
Angriff  zurückzuschlagen,  aber  spätere  Stellen  klingen  anders;  so  W.  W. 
I,  190:  ,Es  ist  das  Resultat  unserer  Synthesis,  dass  beide  [der  Idealist  und 
der  Realist]  Unrecht  haben;  dass  jenes  Gesetz  weder  ein  bloss  subjectives 
und  ideales,  noch  ein  bloss  objectives  und  reales  sei,  sondern  dass  der  Grund 
desselben  im  Object  und  Subject  zugleich  liegen  müsse."  Vgl.  W.  W. 
I,  343,  VIII,  415.  —  Schelling  äusserte  sich  in  seinen  früheren  Schriften 
auch  ziemlich  unklar  (vgl.  z,  B.  W.  W.  I,  3.  22  ff.),  gelangte  aber  in  seiner 
letzten  Periode  zu  einem  deutlich  ausgeprägten  Realismus  in  Bezug  auf  den 
Raum,  von  welchem  aus  er  gegen  Ks.  Subjectivitätslehre  entschieden  auftritt 
(W.  W.  I,  10.  315  ff.)  und  auf  welchem  dann  E.  v.  Hartmann  seinen 
,transscendentalen  Realismus"  aufgebaut  hat.  (Vgl.  darüber  auch  Lotze, 
Metaph.  227.)  Vgl.  Hegel,  Enc.  §  244;  Logik  I,  279,  III,  353;  W.  W. 
VII,  44—47.  (Vgl.  M.  Rackwitz,  Hegels  Ansicht  über  die  Apriorität  von 
Zeit  und  Raum  1891,  S.  1—8.  72—82.)  Eine  Weiterbildung  davon  bei 
C.  H.  Weisse,  bes.  .Grundzüge  der  Metaphysik"  (1835)  S.  94.  317.  348. 
508.  559  (Raum  als  subjective  Kategorie  und  zugleich  als  objective  Realität). 

Auch  Schleiermacher  fand  Kants  Beweis  unzulänglich.  Er  sagt 
ausdrücklich  (Dial.  S.  335):  „Raum  und  Zeit  sind  die  Art  und  Weise  zu 
sein  der  Dinge  selbst,  nicht  nur  unserer  Vorstellungen."  Vgl.  ib.  397  über 
die  Identität  des  realen  und  des  idealen  Seins.  In  directem  Anschluss  an 
Schleiermacher  bat  dann  Üeberweg  den  Kantisöhen  Subjectivitätsbeweis 
besonders  heftig  angegriffen,  hauptsächlich  in  seiner  Logik  §  44:  „üeber  die 
Realität  von  Raum  und  Zeit",  woselbst  er  seine  Stellung  gegen  Kant  so 
präcisirt:  „Nur  die  Qualitäten  (Ton,  Farbe,  Wärme  u.  s.  w.)  sind  als  solche 
rein  subjectiv,  jedoch  Symbole  von  Bewegungen;  Raum  und  Zeit  aber  sind 


*  Aehnlich  auch  schon  Bardili,  Philos.  Elem.  II,  114  ff. 


324  Excurg.     Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit. 

subjectiv  und  objectiv  zugleich;"  vgl.  ferner  die  Abhandlungen  üeberwegs 
in  der  Altpr.  Monatsschr.  1869,  VI,  H.  3,  in  Fichte's  Zeitschr.  f.  Philos. 
XXX,  1857,  191—225,  und  in  Henle's  Zeit«chr.  f.  rat.  Medicin  V,  185^ 
268 — 282.  üeberweg  hat  dabei  bes.  daraufhingewiesen,  dass  die  Bestimmt- 
heit der  Empfindungen  und  ihrer  Anordnung  sich  nur  durch  eine  ähnliche 
reale  Ordnung  der  Dinge  selbst  erklären  lasse.  (Vgl.  oben  S.  180  ff.  184.) 
Aehnlich  Czolbe,  Menschl.  Erk.  104. 

Auch  nach  dem  Trend.-Fischer'schen  Streite  ist  der  Vorwurf  der  Lücken- 
haftigkeit des  Beweises  wieder  häufig  wiederholt  worden ;  so  bes.  scharf  tod 
E.  y.  Hartmann,  welcher  „die  dogmatisch  angenommene  Alternative 
ohne  den  geringsten  Schein  von  Begründung'  tadelt  (Transsc.  Beal.  142:  ygl 
119  ff.);  ebenfalls  sehr  gut  auch  von  Volkelt  (Ks.  Erk.  45.  51.  66;  vgl. 
oben  308  N.).  Eine  ausführliche  und  selbständige  „Entwicklung  des  Tr.*schen 
Vorwurfes*  gibt  Massonius,  lieber  Ks.  Transsc.  Aesth.  Diss.  Lips.  l'^i*«'. 
Ebenso  vom  Standpunkt  des  „kritischen  Realismus '^  E.  L.  Fischer,  Grundfr. 
d.  Erk.-Theorie,  S.  116 — 166.  In  erster  Linie  ist  hier  aber  hinzuweisen  ant 
den  Aufsatz  Zellers:  „lieber  die  Gründe  unseres  Glaubens  an  die  Realität 
der  Aussenwelt"  (Vorträge  und  Abhandlungen,  III  1884,  S.  225—285);  er 
nennt  Es.  Behauptung  „übereilt,  da  durchaus  nicht  abzusehen  i.st,  weshalb 
die  Bedingungen  des  äusseren  Daseins  in  den  apriorischen  Gesetzen  unserer 
Vorstellungsthätigkeit  nicht  sollten  zum  Ausdruck  kommen  können,  weshalb 
die  Letzteren  nicht  objective  Geltung  haben  könnten*  (271).  Vgl.  desselben 
Gesch.  d.  deutschen  Philos.  1.  A.  438,  2.  A.  354.  Aehnlich  auch  schon 
Baum  an n,  R.  u.  Z.  II,  654  ff.  674;  Philos.  a.  Orientirung  [mehrfach].  Aueb 
AI.  Wiessner,  in  dem  wunderlichen  Buch:  Die  wesenhafte  oder  absolute 
Realität  des  Raumes,  begründet  auf  einer  Kritik  der  idealistischen  Theorien. 
1877,  S.  22  ff.  30  ff.  64  ff.  150  ff. ;  wunderlich  und  sonderbar  auch  v.  Hellen- 
bach, Vorurtheile  d.  Menschh.  III,  49  ff.  86  ff. ;  v.  Feldegg,  Kosmobiologie 
(1891),  24  ff.  48  ff.;  v.  Varnbüler,  Widerlegung  der  Kr.  d.  r.  V.  (1890). 
S.  35  ff 

Energisch  spricht  sich  auch  Lotze  gegen  die  Kantische  Identification 
der  Apriorität   mit   der  exclusiven  Phänomenalität   des  Raumes  aus.    Zwar 
nimmt  Lotze  selbst  auch  nicht  die  absolute  Realität  eines  ausser  uns  befind- 
lichen dreidimensionalen  Raumes  an,  aber  er  nimmt  doch  an,  dass  den  von 
uns  vorgestellten  räumlichen  Beziehungen  der  Erscheinungen   wahre  intelli- 
gible  Beziehungen  der  Dinge  an  sich  „entsprechen*'  (vgl.  oben  S.  142  ff.).    In 
der  »Phil.  s.  Kant*,   §  17  sagt  er  treffend:    „So   lange  wir  nicht  besonders 
beweisen   können ,    dass  Dinge   ausser  uns   so ,   wie  wir  sie  denken  müssen, 
räumlich-zeitliche  Beschaffenheiten    nicht  vertragen,  so  lange  bleibt  die  ß^ 
hauptung  der  transscendentalen  Bedeutungslosigkeit  von  R.  u.  Z.  ein  nicht 
begründeter  Üeberschuss  der  Behauptung.'^     Er  nennt  Kants  These 
daher  geradezu  eine    „unbesonnene  Uebertreibung' ;    „eine  blosse  Er- 
scheinung in  uns  ist  der  Raum  nicht,  der  nichts  im  Reellen  entspräche :  jeder 
einzelne  Zug   vielmehr  unserer  räumlichen  Anschauungen   entspricht  einem 
Grunde,  den  er  in  der  Welt  der  Dinge  hat;  nur  mit  denjenigen  Eigenschaften. 


Volkelt,  Zeller,  Lotse,  Wundt  gegen  Kant.  325 

die  der  Ranm  in  unserem  Bewasstsein  hat,  kann  er  nicht  ungedacht  und 
unangeschaut  für  sich  bestehen/  '  (Metaphysik  218;  ygl.  202.  222  u.  ö.) 
Für  die  Zeit  dagegen  nimmt  Lotze  ib.  297  die  volle  Objectivität  in  Anspruch. 
(Vgl.  Eyfferth,  Ueber  die  Zeit,  24  ff.)  Vgl.  hiezu  BoUiger,  Antikant  372  bis 
374.  Aehnlich  Beyersdorff,  Die  Raumvorstellungen,  S.  52—59,  und  neuer- 
dings auch  z.  B.  Hamerling  in  seiner  Atomistik  des  Willens ,  1891 ,  I, 
181  ff.  Denselben  Standpunkt  eines  „gemässigten  Idealismus'*  im  Gegensatz 
zum  , extremen  Idealismus **  und  Subjectivismus  Ks.  nimmt  auch  H.  Bender 
ein  in  der  Zeitsehr.  f.  Philos.  1885,  S.  1—48,  und  „Z.  Lösung  des  metaph. 
Problems*,  1886,  24  ff.  65  ff.  Ebenso  Dorner,  Menschl.  Erk.  72  ff.  P.  Wide- 
mann.  Sein  u.  Erk,,  1886.  Vgl.  auch  Liebmann,  An.  d.  Wirkl.  68.  Auf 
jenen  «gemässigten  Idealismus"  (den  man  aber  ebenso  gut  als  „ gemässigten 
Realismus''  bezeichnen  kann)  kommt  auch  Wundt  hinaus,  welcher  (Logik  I, 
461 — 464)  gegen  Kant  ausfuhrt,  die  Raumvorstellung  beruht  zwar  auf  einer 
^subjectiven  psychischen  Synthese" ;  , gleichwohl  kann  ihr  nicht  bloss  die  Bedeu- 
tung einer  subjectiven  Anschauungsform  zukommen,  welcher  die  objective 
Wirklichkeit  in  nichts  entspräche".  Vielmehr  weise  der  „Zwang",  die  Dinge 
in  bestimmte  Raumformen  zu  bringen  (vgl.  oben  S.  182),  auf  „objective 
Bestimmungsgrunde"  hin;  wenn  wir  das  Subjective  abziehen,  „so  bleibt  als 
Rest  die  regelmässige  Ordnung  eines  Mannigfaltigen,  das  aus  einzelnen 
selbständig  gegebenen  realen  Objecten  besteht";  (analog  bei  der  Zeit  ib.  434); 
vgl.  desselben  „System",  147  ff.  Zu  einem  solchen  mehr  oder  weniger  Leib- 
niz'schen  Spiritualismus  bekennt  sich,  Kant  gegenüber,  auch  Bergmann, 
Metaph.  187.  292.  323  ff.,  Logik  71. 

Auch  im  Ausland  ist  ganz  in  demselben  Sinne  oft  ^n  Kant  Kritik 
geübt  worden,  bes.  in  Italien.  Die  Italiener  haben  sich  von  jeher  mit  Kant 
sehr  eingehend,  gründlich  und  fruchtbar  beschäftigt.  Vgl.  auch  K.  Werner, 
Kant  in  Italien.  Wien  1881;  bes.  S.  20—26  über  Galuppi,  S.  30  über 
Rosmini,  S.  58  über  Mamiani.  Nicht  erwähnt  ist  aber  daselbst  Spaventa, 
von  dessen  verschiedenen  Schriften  über  Kant  besonders  hier  zu  erwähnen 
ist:  Kant  e  VempirismOy  1880.  In  dieser  Schrift  wird,  speciell  in  Bezug  auf 
Raum  und  Zeit,  die  These  durchgeführt,  che  Verrore  consiste  nel  credere  che 
la  auhieüiüitä  escluda  affato  Vobietiivüä  e  viceversa.  (Vgl.  auch  desselben  Schrift : 
Tempo  e  spaiio  nella  prima  forma  del  sistema  di  Grioherti,)    Hiegegen  hat  sich 


'  Ueber  Lotze^s  Stellung  zu  dieser  Frage  vgl.  femer  auch  seine  „R^ponse 
ä  M.  Renauvier:  L'infini  aetuel  esi-il  contradictoire»*'  Revue  Philos,  1880,  481  ff. 
(Kleine  Schriften  III,  1891,  492  ff.).  Der  Kern  der  Lotze'schen  Position  ist  in  dem 
treffenden  Satze  enthalten:  „C'est  alors  que  commence  cette  perpHuelle  torture 
de  Veeprit  condamni  ä  la  fois  ä  chercher  dans  les  choses  en  soi  les  conditions  qui 
dHerminent  la  diver eiti  de  Vapparition ,  des  ph^omenes,  et  ä  refuser  ä  ces  meines 
choses  toutes  les  däerminations  de  muUitude,  de  vaH4i4y  de  relation,  qui  leur  seraient 
cependant  necessaires  pour  conditionner  ce  cours  si  variS  des  faits  d*expirienceJ^  — 
Vgl.  auch  J.  Franke ,  Lotze's  Lehre  von  der  Phänomenalität  des  Raumes ,  Diss., 
Halle  1884,  bes.  S.  25;  und  Koppelmann,  Lotze's  Stellung  zu  Ks.  Kriticismus, 
Z.  f.  Philos.  88.  Bd.  (1886)  S.  4  ff.  19—28. 


326  Excurs.  —  §  8.    Schlüsse  in  Bezug  aaf  den  Raum. 

nun   wieder  gewendet  S.  Turbiglio  in  seiner  gründlichen  AnaUsi  storica- 
critica  della  critica  della  ragion  pura^  1881,  S.  44—51.   Cantoni,  Kant  I,  225. 

Auch  die  französische  Literatur  bietet  vieles  treffliche  Material  far 
dieses  Problem  dar.  Erwähnt  sei  nur  Ott,  Critique  de  VidiaUame  1883, 
welcher  sich  bes.  gegen  Renouviers  Kantianismus  in  diesem  Punkte  wendet 
(8.  12.  110.  135.  168.  316.  372). 

Aus  der  englischen  Literatur  verdient  in  erster  Linie  Erwähnung  die 
Kritik  Spencers  (Grundl.  d.  Psych.  I,  §  47;  II,  §  399.  Vgl.  auch  Mind,  1890, 
S.  305  ff.  Vgl.  oben  S.  150.  217).  Vgl.  ferner  Man  sei,  Prijleg.  Log.  82. 
Lewes,  Gesch.  d.  Phil,  deutsch  II,  571.  Wir  schliessen  diese  üebersicht 
mit  dem  Amerikaner  Morris,  welcher  in  seinem  „Kant*  (1882)  S.  72 — 79 
den  Schluss  Ks.  aus  der  Apriorität  auf  die  Subjectivität  eingehend  analvsirt: 
er  schliesst  diese  Analyse  mit  einem  energischen:  Non  stquitur. 

Zweiter  Absatz  (Schluss  b). 

A  26.  B  42.  [R  37.  H  61.  E  78.] 

Dieser  zweite  Absatz  der  „Schlüsse  aus  obigen  Begriffen*^  besteht  ans 
zwei  Sätzen,  welche  getrennt  besprochen  werden  müssen.   Der  erste  Satz  stellt 
die  These  auf,  der  Baum  sei  die  Form  der  äusseren  Anschauung.    (Prägnant 
ist  hiefür  der  Ausdruck  der  Dissertation:  §  15  C:  conceptus  spcUii  (sensatio- 
fiibus  non  con flatus) j  sed  omnis  sensationis  externae  forma  fundamentalis. 
ib  C:  spatii  conceptus  ipsam  omnis  intuitus  sensualis  formam  in  se  eontinetj 
Wie  wird  dieser  vielsagende  Satz  erreicht?    Es   könnte  erscheinen,   als  sei 
dieser  Satz  nichts  als   die  unmittelbare  Folgerung  aus   dem  Schluss  a:  in 
diesem  wurde  gesagt,  was  der  Raum  nicht  ist  —  er  ist  nichts,  was  irgend- 
wie den  Dingen   selbst  angehört ;   daraus   scheint   unmittelbar   zu  folgen, 
was  der  Raum  sein  müsse:  die  Form  der  Erscheinungen,  die  subjectire 
Form  unserer  Sinnlichkeit.    So  fasst  z.  B.  Arnoldt  R.  u.  Z.  123  diese  These 
auf  als   eine  blosse  positive  Ergänzung   zu  dem   negativen  Ergebniss  des 
Schlussesa.    (Vgl.  Cohen,  2.  A.  172.)     Allein  die  beiden  Resultate,  welche 
wir  bisher  erreicht  haben:  1)  der  Raum   ist  eine   reine  Anschauung;  2)  er 
gehört   den  Dingen   an   sich  nicht  an  —  diese  beiden  Sätze   würden  nicht 
genügen,  um  daraus  den  Schluss  ziehen   zu  lassen  —  also  ist  er  die  Form 
des  äusseren  Sinnes.    Weder  von  „Form'',  noch  von  „äusserem  Sinn'  ist  in 
jenen  zwei  Sätzen  die  Rede  gewesen.    Diese  beiden  Bestimmungen  „Form'  und 
„äusserer  Sinn"  sind  etwas  Neues,  was  mit  grosser  Plötzlichkeit  auftritt,  ru 
dessen  Annahme  wir  wohl  überrumpelt,  aber  nicht  überzeugt  werden  sollen. 
Im  Handumdrehen  wird  die  apriorische  Anschauung,  die  nicht  fnr  die 
Dinge  an  sich  gilt,   zur   apriorischen   „Form"  der  Receptivität,  ver- 
mittelst welcher  allein  uns  alle  äussere  Anschauung  möglich  sein  soll.  Für  diese 
Ernennung  zur  „Form",  zum  ,, äusseren  Sinn"  fehlt  die  Prämisse.    Die  Trag- 
weite dieses,   hier  nicht  genügend  gerechtfertigten  üeberganges 
wurde  schon  oben  S.  273.  279.  298  hinreichend  gekennzeichnet  Es 
ist  nöthig,  immer  wieder  den  Finger  auf  diesen  logischen  Schaden  zu  legen. 


Der  Raum  als  die  ^Form*'  der  äusseren  Erscheinungen.  327 

[B  87.  H  6L  62.  E  78.]  A  26.  B  42. 

Es  bleibt  nichts  übrig  als  anzunehmen,  dass  Kant  hier  noch  etwas 
stillschweigend  vorausgesetzt  habe.  Und  das  brauchen  wir  nicht  lange  zu 
suchen.  Das  besteht  eben  in  jenen  Voraussetzungen  Kants  über  die  ,,Form" 
und  den  „äusseren  Sinn",  welche  wir  oben  S.  61  ff.  und  S.  124  ff.  hinreichend 
kennen  gelernt  haben.  Diese  unbewiesenen  Voraussetzungen  werfen  also 
ihre  Schatten  in  diese  Argumentation  hinein,  und  ohne  selbst  dort  irgend- 
wie bewiesen  zu  sein,  werden  sie  hier  als  Beweismittel  verwendet.  (Aehnlich 
A dickes,  S.  77  N.)  Erst  in  den  Proleg.  §  8  ff .  (vgl.  oben  S.  276  ff.)  hat 
Kant  die  „Form**  näher,  aber  nicht  glücklicher  zu  begründen  gesucht.  (Vgl. 
Erdmann,   Nachträge  S.  16.) 

Für  Kant  ist  es  nun  freilich  erwiesen,  dass  die  reine  Anschau- 
ung des  Raumes  zugleich  die  noth wendige  Form  der  äusseren  Anschauung 
sei,  d.  h.  dass  jene  apriorische  Vorstellung  des  Raumes  nicht  anders 
begreiflich  sei ,  als  wenn  wir  in  ihr  eben  zugleich  die  formale  Be- 
schaffenheit haben,  vermittelst  welcher  wir  die  durch  Affection  seitens  der 
Dinge  an  sich  entstandenen  Empfindungen  als  äussere  räumliche  Anschau- 
ungen erfassen.  Die  reine  Anschauung  ist  nur  begreiflich  als  Form 
der  Anschauung.  Dieser  von  Kant  und  seinen  Anhängern  oft  wieder- 
holte Satz  findet  also  hier  seine  freilich  sehr  mangelhafte  Begründung.  Der 
nervus  probandi  dafür  ist  für  die  rein  synthetische  Darstellung ,  nach  der 
Meinung  Kants,  eben  im  Schlüsse  a  enthalten.  So  stehen  wir  denn  hier  an 
dem  entscheidenden  Wendepunkt  der  Argumentation.  Die  Kantianer 
selbst  haben  diesen  Satz  meistens  ohne  jede  Begründung  wiederholt,  häufig  * 
auch  anders  zu  begründen  gesucht.  Vgl.  z.B.  Schultz,  Erl.  24.  Heusinger, 
Enc.  I,  286.  301.  303.  Arnoldt,  R.  u.  Z.  36  f.  Riehl,  Krit.  II,  a,  107  ff. 
(vgl.  dazu  oben  S.  269  Anm.  4).  Schopenhauer,  Kr.  d.  Kantischen  Philos. 
518  f.,  behauptet  geradezu,  „Erkenntnisse  a  priori^'  und  „selbsteigene  Formen 
des  Intellects"  seien  gewissermassen  Synonyma. 

Auch  Kant  selbst  hat  diesen  Satz  oft,  ebenfalls  ohne  Begründung, 
wiederholt.  So  z.  B.  in  den  Reflexionen  II,  397;  in  dem  Nachgel.  Werk 
XXI,  554.  Sehr  bemerkenswerth  ist  der  Einwand,  welchen  Pistorius  (A. 
D.  Bibl.  Bd.  89,  I)  hiegegen  macht:  „Wir  wollen  nur  bemerken,  dass,  wenn 
wir  uns  nicht  gänzlich  irren,  in  dem  Schlüsse  von  der  Nothwendigkeit  ge- 
wisser Vorstellungen  auf  ihren  alleinigen  Grund  im  Erkenntniss vermögen, 
die  objective  Realität  des  Principiums  der  Causalität  vorausgesetzt  werde* ^ 
was  Ks.  späteren  Aeusserungen  über  dessen  rein  subjective  Gültigkeit  wider- 
spreche.    (Vgl.  oben  S.  11.)  — 

Der  zweite  Satz  dieses  Schlusses  b)  will  durch  das  Bisherige  eine  That- 
sache  ,, verstehen"  lehren,  welche  also  ohne  diese  Erklärung  räthselhaft  bleiben 
müsste.  Diese  Thatsache  ist  der  Umstand,  dass  wir  „vor  aller  Erfahrung*' 
über  „die  Verhältnisse  der  Gegenstände**  Aussagen  machen  können,  m.  a.  W., 
dass  wir  über  die  Erfahrungsgegenstände  vor  aller  Erfahrung  gültige  Aus- 
sagen machen  können.  Es  ist  dies  nichts  anderes,  als  das  uns  wohlbekannte 
antithetische  Problem  (Band  I,  390  ff.),  das  Grundproblem  der  K.  d.  r.  V. 


328  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A26.B42.  [R  87.  H  62.  E  78.] 

überhaupt.     Genauer  genommen  wird  diese  Thatsache  in  einer  doppelten 
Wendung   ausgedrückt:    1)  „Die   Form   aller  Erscheinungen  ist  vor  allen 
wirklichen  Wahrnehmungen  im  Gemüthe  gegeben",  d.  h.  concret:   alle  Er- 
scheinungen sind  im  Baume,   müssen  im  Baume  sein;   2)  wir  können  aber 
nicht  nur  allgemein  sagen,  dass  jeder  Gegenstand,  der  uns  vorkommen  kann, 
im  Baume  sein  muss,  sondern  wir  können  auch  sagen,  dass  alle  geometri- 
schen Sätze  nun  von  diesen  Gegenständen  gelten  müssen,  wir  können  eben 
deswegen  „die  Verhältnisse  der  Gegenstände  vor  aller  Erfahrung  bestimmen". 
(So  auch  Schultz,  Erl.  S.  25,  Biehl  I.,  352.)    Inwiefern  lässt  sich  diese  That- 
sache denn  nun  „verstehen"?  (üeber  diese  Wendung  vgl.  Comm.  I,  389 — 390.) 
Weil  eben  schon  erkannt  worden  ist,  dass  der  Baum  nur  subjectiv  ist,  nur 
die  Form  des  äusseren  Sinnes,  und  weil   eben  diese   formale  Beceptivität, 
diese  Beceptivitätsform  allen  concreten  Anschauungen  vorhergehen  muss,  da 
ja  diese  erst  durch  sie  ihrer  formalen  Beschaffenheit  nach  zu  Stande  kommen. 
Eben  weil  der  Baum  nichts  ist  als  eine  Functions  form  unseres  Gemüthes, 
müssen  wir  nothwendig  im  Stande  sein,  die  Aussenf orm  der  empirischen 
Gegenstände  vorherzusagen  und  über  dieselbe  apriorische  Sätze  auszusagen^ 
(Diese    beiden   Bedeutungen    hat   der   hier    zweimal    gebrauchte   Ausdmck 
„Form".)  —  Ueber  die  „Objecte"  hier  vgl.  oben  S.  54. 

Das  hier  Gelehrte  wird  auch  in  dem  Nachgel.  Werke  mehrfach  treffend 
vorgetragen,  XIX,  570.  576;  XXI,  551.  554.  555.  557  ff.  563.  568.  583:  „Die 
Idealität  der  gegebenen  Vorstellung  als  Erscheinung  enthält  den  Grund 
der  Möglichkeit,  dasselbe  a  priori  im  Baum  und  der  Zeit  vorstellig  za 
machen."  „Das  Princip  der  Idealität  des  Banmes  und  der  Zeit  ist  der 
Schlüssel  der  Transscendentalphilosophie,  nach  welchem  das  Erkenntniss  syn- 
thetisch und  a  priori  allein  erweitert  werden  kann."  So  heisst  es  auch  in 
der  Kr.  d.  ü.  §  58  (vgl.  Einl.  IX):  „Die  Idealität  der  Gegenstände  derSmne 
als  Erscheinungen  ist  die  einzige  Art,  die  Möglichkeit  zu  erklären,  dass  ihre 
Formen  a  priori  bestimmt  werden  können." 

Stadler  fasst  (Philos.  Mon.  1881,  337,  339)  diesen  Schluss  in  folgende 
Formel:  „Das  Bewusstsein  der  Nothwendigkeit  entspringt  aus  der  apriori- 
schen Einsicht,  dass  aus  dem  Wechsel  der  Empfindungen  keine  Formen  her- 
vorgehen können,  welche  den  Prinoipien  der  Anschauung  widerstreiten;  dena 
diese  letzteren  enthalten  die  Bedingungen,  unter  denen  es  überhaupt  allein 
möglich  ist,  aus  dem  Wechsel  der  Empfindungen  Formen  zu  prodnciren.'' 
„Wenn  die  Baumanschauung  bei  jeder  einzelnen  Erfahrung  im  Bewusstsein 
schon  vorhanden  sein  muss,  wenn  letztere  nur  als  Etwas  erscheint,  das  in 
sie  aufgenommen  wird ,  so  kann  die  einzelne  Erfahrung  auch  nicht  über 
Eigenschaften  des  Baumes  neuen  Aufschluss  bringen."  Auf  Grund  dieses 
Argumentes  bekämpft  Stadler  daselbst  die  Meinung  von  v.  Helmholtz,  es 
könnten  einmal  Bäume  oder  Gegenstände  in  denselben  gefunden  werden,  auf 
welche  unsere  Mathematik  nicht  passe. 


Das  logische  Gefüge  der  Transsc.  Aesthetik.  329 

Excurs. 

Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

Hier  ist  nun  eine  Stelle,  an  welcher  wir  innehalten  und  gewissermassen 
Athem  schöpfen  müssen.  Hier,  wo  Kant  offenbar  seine  Beweisführung 
scbliesst  und  zu  Folgerungen  übergeht,  müssen  wir  uns  Rechenschaft 
geben  über  den  zurückgelegten  Weg,  über  den  methodischen  Zusammenhang 
der  Schritte,  die  wir  bisher  einzeln  analysirt  haben.  Diese  Einsicht  in  das 
logische  Oefüge  der  gesammten  bisherigen  Argumentation  ist  ebenso  wichtig 
als  schwierig.  Kant  selbst  hat  diese  Einsicht  durch  mancherlei  Unklarheiten 
und  Inconsequenzen  erschwert,  und  daraus  entsprangen  dann  Unklarheiten 
und  Streitigkeiten  seiner  Ausleger.  Für  uns  selbst  sind  die  Schwierigkeiten 
indessen  nicht  mehr  so  gross:  wir  können  uns  stützen  auf  die,  Band  I^ 
384—450  gegebene,  „Methodologische  Analyse  der  Kr.  d.  r.  Y.^^ 
Was  wir  damals  erarbeitet  haben,  davon  können  wir  jetzt  Yortheil  ziehen. 
Es  würde  sogar  genügen,  wenn  wir  den  Leser  einfach  auf  jene  fundamentale 
Untersuchung  verweisen  würden;  denn  alles  Wesentliche  ist  dort  schon  vor- 
weggenommen. Wir  werden  indessen  hier  zunächst  selbständig  vorgehen; 
die  folgende  methodologische  Analyse  setzt  von  Neuem  ein,  und  wird  rück- 
wärts jenen  Excurs  des  I.  Bandes  bestätigen  und  zugleich  ergänzen. 

Der  entscheidende  Gedankengang  der  Tr.  Aesthetik,  ihr  Kern  ist  ent- 
halten in  der  , Metaphysischen  und  Transscendentalen  Erörterung",  sowie 
in  den  „Schlüssen"  bis  zu  dieser  Stelle.  Was  vorhergeht,  sind  Definitionen 
und  Prämissen;  was  folg^,  sind  Folgerungen  und  Scholien.  Nur  jene  da* 
zwischenliegende  Partie  enthält  die  eigentliche  Theorie.  Nach  Kants  Logik 
§  89  sind  von  einer  Theorie  wesentlich  zu  unterscheiden  1)  die  Corollarien 
==  unmittelbare  Folgerungen  aus  der  Theorie;  2)  die  Scholien  =  Erläute- 
rungssätze, die  nicht  als  Olieder  zum  Ganzen  des  Systems  gehören.  (Vgl. 
die  lateinischen  Schriften  Kants  von  1755  und  1756,  in  welchen  er  diese 
logischen  Schemata  sehr  streng  eingehalten  hat.)  Die  folgenden  Theile  der 
Aesthetik  (natürlich  mit  Ausnahme  der  der  Kaumtheorie  entsprechenden 
Theorie  der  Zeit)  sind  also  theils  Corollarien,  theils  Scholien.  Was  wir 
bisher  gehabt  haben,  enthält  die  eigentliche  Theorie.  Diese  zerfällt  (s.  Logik 
a.  a.  0.)  in  Thesis  und  Demonstration.  Die  Demonstration  kommt  zu  Stande^ 
indem  der  Inhalt  der  Thesis  j,aus  unmittelbar  gewissen  Sätzen  durch  eine 
Reihe  von  Folgen  gezogen  wird".  Diese  „unmittelbar  gewissen  Sätze"  (vgL 
Logik  §33  —  35)  sind  nun  die  in  den  Prämissen  und  Definitionen  *  der  Ein- 
leitung ausgesprochenen  „Principien" :  und  zwar  gilt  dies  sowohl  von  der 
Allgemeinen  Einleitung  zur  Kr.  d.  r.  V.,  welche  Bd.  I,  158—496  besprochen 


*  Indem  Kant  gleich  am  Anfang  eine  grosse  Anzahl  von  Definitionen  voran- 
stellt, fehlt  er  gegen  seine  eigene  Regel,  in  der  Philosophie  solle  die  Definition 
das  Werk  eher  schliessen  als  anfangen  (A  780,  ß  758).  Diesen  Tadel  erhebt 
übrigens  auch  ein  Kantianer,  König,  Phil.  Mon.  1884,  243. 


330  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

wurde,  als  von  der  in  diesem  Bande  1 — 184  behandelten  Speciellen  Einleitung 
zur  Transsc.  Aesthetik.  Also  steckt  eben  in  jenen  Definitionen  und  Prä- 
missen schon  die  ganze  Theorie  in  nuce^  (vgl.  oben  S.  34);  sie  bilden  im 
Folgenden  die  verschwiegenen  fufidamefita  probationis. 

Die  Definitionen  und  Prämissen  sind  grösstentheils  schon  Bd.  I, 
425  ff.  430  f.  494  f.  herausgestellt  worden^;  auch  ist  oben  mehrfach  auf 
den  methodologischen  Werth  der  einzelnen  Positionen  der  Einleitung  auf- 
merksam gemacht  worden.  Eine  grün d wesentliche  Prämisse  bildet  die  Vor- 
aussetzung afficirender  Dinge  an  sich,  S.  6—9.  14 ff.  20  f.  23.  27  ff.  109—111 
(vgl.  den  Excurs  über  dieses  Thema,  S.  35 — 55).  Das  Gegenstück  dazu 
bildet  die  Voraussetzung  dessen,  worauf  jene  Affection  ausgeübt  wird,  de:: 
Gemüths,  S.  9 — 12;  ferner  die  damit  zusammenhängende  Voraussetzung  der 
Gemüthskräfte  oder  Seelen  vermögen,  S.  13  f.,  speciell  der  Sinnlich- 
keit und  des  Verstandes,  und  ihres  Unterschiedes,  S.  13  f.  22  ff.  Damit 
hängen  zusammen  die  Definitionen  von  Empfindung  (S.  26 ff.),  Anschauung 
(S.  5.  29)  und  Erscheinung  (S.  30—35) ',  sowie  von  empirischer  An- 
schauung (S.  29  ff.)  und  reiner  Anschauung  (S.  101—107).  Wichtig 
sind  ferner  die  Voraussetzungen,  dass  unsere  Anschauung  nur  sinnlich 
sein  könne  (S.  24 — 26),  dass  es  aber  doch  möglicherweise  noch  eine  andere 
nicht-sinnliche  intellectuelle  Anschauung  geben  könne  (S.  24  ff.). 

Dazu  kommen  nun  folgende  für  die  Aesthetik  besonders  wichtige 
Prämissen:  die  Trennbarkeit  von  Form  und  Materie  in  der  Erschei- 
nung, S.  56—69,  und  damit  zusammenhängend  die  nicht  genug  zn  beachtende 


^  Man  könnte  versucht  sein,  aus  den  Definitionen  und  Prämiesen  die  ganze 
Transsc.  Aesthetik  tnore  geometrico  in  strengstem  Zusammenhang  abzuleiten 
(vgl.  Comm.  I,  494).  Einen  beachtenswerthen  Versuch  dieser  Art  hat  schon  Fülle- 
born,  1797,  in  seinen  .Beiträgen   z.  Gesch.  d.  Philos.*  5.  St.  S.  128  ff.  gemacht 

*  Vgl.  hiezu  jetzt  W.  Münz,  Die  Grundlagen  der  K.*schen  Erkenntnisstheorie, 
2.  A.  1885.  Derselbe  unterscheidet  1)  logische  Prämissen  (Unterschied  des 
analytischen  und  synthetischen  Urtheils,  des  apriorischen  und  aposteriorischen  Ur- 
theils);  2)  psychologische  Prämissen  (Sinnlichkeit  und  Verstand;  Stoff  und 
Form);  3)  metaphysische  Prämissen  (das  Ding  an  sich).  —  Sieben  (fakcheJ 
Voraussetzungen  von  Kants  Aesthetik  zählt  vom  Wundt'schen  Standpunkte  ao^ 
auf  Ad.  Schmid,  Zu  Ks.  Lehre  vom  Raum.  Diss.  Leipz.  1890,  S.  16—20.  — 
Vgl.  übrigens  auch  noch  F.  A.  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  124.  —  Die  wichtigste 
Prämisse  aus  der  Allgemeinen  Einleitung  der  Er.  d.  r.  V.  ist  die  Comm.  I,  206  ffi 
425  ff.  besprochene  Annahme :  strenge  Allgemeinheit  und  Nothwendigkeit  seien  die 
Merkmale   apriorischen  Ursprunges.    Vgl.  oben  S.  78—88.  186  ff.  193—196.  200  f. 

^  Es  ist  wohl  zu  beachten,  dass  nur  die  Definition  der  , Erscheinung'  in 
dem  oben  S.  35  festgesetzten  neutralen  Sinne  eine  Prämisse  bildet^  dagegen  ist 
der  Begriff  der  „Erscheinung"  im  „transscendentaleh  Sinne*  erst  eine  (unten  S.  35^ 
gezogene)  Folgerung.  Dem  entsprechend  besagt  die  oben  an  erster  "Stelle  mit 
aufgezählte  Prämisse  afficirender  Dinge  an  sich  nur^  dass  gewisse  Dinge  un? 
afficiren  müssen,  damit  wir  Empfindungen  bekommen;  aber  dass  diese  Dinge  uns 
gänzlich  unbekannte,  jedenfalls  aber  um*äumliche  Gegenstände  («Dinge  an  sich*  im 
,tran8scendentalen  Sinne")  seien,  ist  erst  eine  Folgerung. 


Definitionen  und  Prämissen.  —  Erste  Auflage.  331 

Doppelprftmisse,  dass  die  Empfindungen  rein  qualitativ  seien  ^,  und  dass 
der  Baum  nicht  empfindbar  sei,  S.  69—80.  Sodann  die  weitere  Doppel- 
prämisse der  Existenz  eines  äusseren,  insbesondere  aber  dereines  inneren 
Sinnes  S.  124 — 130.  Nicht  zu  vergessen  ist  endlich  die  allgemeine  methodo- 
logische Voraussetzung  der  Isolirbarkeit  von  Sinnlichkeit  und  Verstand, 
Form  und  Materie  u.  s.  w.,  S.  107  f.  120—128. 

Den  Anfang  der  eigentlichen  selbständigen  Untersuchung  der  Aesthetik 
hat  Kant  selbst  ganz  scharf  kenntlich  gemacht:  es  ist  das  jene  Stelle,  vgl. 
oben  S.  130,  in  welcher  er  das  Problem  von  Baum  und  Zeit  auf  wirft  und 
die  möglichen  Lösungen  zergliedert.  Unmittelbar  hinter  dieser  Problem- 
stellung, oben  S.  156,  beginnt  die  eigentliche  Untersuchung;  in  welchem 
Sinne  Kant  dieselbe  in  der  2.  Aufl.  als  „Erörterung*  bezeichnet,  wurde  oben 
S.  155  besprochen.  In  welchem  Sinne  er  diese  Erörterung  ebenfalls  erst  in 
B  in  eine  „metaphysische*  und  in  eine  „transscendentale*  spaltet,  wurde 
ebenfalls  oben  S.  151  ff.  263  verhandelt  und  wird  sogleich  unten  noch  einmal 
kritisch  zu  besprechen  sein. 

A.  Der  ursprfingliche  Gedankengang  in  der  ersten  Auflage. 
Der  Gang  ist  hier  folgender:  1)  Die  Untersuchung  setzt  ganz  selb- 
ständig ein;  aus  der  „Beschaffenheit  der  Vorstellung  vom  Raum"  (Vorr. 
B  XXII)  als  solcher  sucht  Kant  den  Lehrsatz  (genauer  eigentlich  den  Doppel- 
lehrsatz) zu  beweisen,  dass  dieselbe  sein  müsse  1)  eine  apriorische,  2)  eine 
anschauliche  Vorstellung.     Eine  genaue  Zusammenstellung   dieser  Beweise 


'  Nicht  zu  verwechseln  ist  damit  die  Annahme,  dass  die  Empfindungen,  weil 
sie  von  unserer  Beschaffenheit  abhängen,  subjectiv  sind.  Diese  allen  Philosophen 
der  neueren  Zeit  seit  Cartesius  gemeinsame  Annahme  der  Subjeetivität  der 
Empfindungen  hat  Kant  zwar  auch  getheilt  (vgl.  A  378:  „Man  kann  doch  ausser 
sich  nicht  empfinden,  sondern  nur  in  sich  selbst*^),  aber  sie  dient  nicht  als  Prämisse 
in  seinem  entscheidenden  Gedankengange;  er  stellt  dies  zwar  so  dar  in  den  Fro- 
legomena  §  13,  Anh.  II,  worüber  die  Bemerkungen  zu  Aesth.  A  28 — 30  unten  zu 
vergleichen  sind,  woselbst  eben  von  der  Subjeetivität  der  Empfindungen  bei  Kant 
die  Rede  ist.  Aber  in  dem  ausschlaggebenden  Passus  der  Aesthetik,  den  wir  hier 
analysiren ,  spielt  jene  Voraussetzung  nicht  die  geringste  Rolle.  Und  in  dem  un- 
mittelbar folgenden  Passus  A  26—28,  in  welchem  die  anthropocentrische  idealistische 
Weltanschauung  auf  Grund  des  Vorhergehenden  entwickelt  wird,  wird  die 
Idealität  der  „ausgedehnten  Wesen'',  der  Dinge  im  Räume  direct  aus  der  Sub- 
jeetivität und  Idealität  des  Raumes  abgeleitet,  ohne  jede  Benützung  des  Mittel- 
gedankens, dass  ja  ohnedies  die  Sinnesqualitäten  nur  subjectiv  seien;  dieser  Ge- 
danke ist  nicht  einmal  urgumentum  auxiliare  dabei.  Kurz,  aber  scharf  hat  Kant 
diese  seine  Argumentation  zusammengefasst  A  374 :  Der  Raum  sei  nichts  Anderes 
als  blosse  Vorstellung,  mithin  bestehe  auch  alles  Wirkliche  in  ihm  nur  aus  Vor- 
stellungen. Vortrefflich  hat  dies  schon  Zell  er  (Gesch.  d.  D.  Philos.  426,  2.  A.  345) 
ausgesprochen:  „So  stark  Kant  auch  die  Subjeetivität  aller  unserer  Wahrnehmungen 
hervorhebt,  so  begründet  er  sie  doch  immer  nur  damit,  dass  die  Formen,  unter 
denen  die  Empfindungen  von  uns  zusammengefasst  werden,  nicht  damit,  dass  auch 
schon  die  Empfindungen  als  solche  durch  apriorische  Vorstellungsgesetze  bestimmt 
werden.»     (Vgl.  Paulsen,  Entw.  188  f.)    Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  37. 


332  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

haben  wir  oben  8.  261—263  gegeben.  Auf  die  Prämissen,  welche  in  diesen 
Beweisen  eine  Rolle  spielen,  wurde  oben  mehrfach  S.  165.  186  ff.  193 — 196. 
200  ff.  aufmerksam  gemacht. 

2)  In  diesen  Beweisgang  hat  Kant  nun  ungenauerweise  Gedanken  hinein- 
geschoben, welche  streng  genommen  absolut  nicht  in  diesen  Zusammenhang 
hineingehören :  er  zeigte,  dass  aus  der  so  nachgewiesenen  Beschaffenheit  der 
Raumvorstellung  sich  die  Eigenthümlichkeit  der  Urtheile  der  reinen  Mathe- 
matik als  solcher  erkläre.  Ueber  die  eigenthümliche  methodologische 
Stellung  dieser  Abschnitte  haben  wir  uns  oben  S.  202  f.  233  f.  hinreichend 
ausgesprochen.  Das  3.  Raumargument  der  ersten  Auflage  steht  den  an- 
deren Argumenten  nicht  gleich,  weder  materiell,  noch  formell;  nicht  mate- 
riell, denn  es  handelt  sich  dabei  nicht  um  die  „Beschaffenheit  der  Vorstellung 
vom  Raum^  selbst,  sondern  um  die  mathematischen  urtheile,  die  ans  ihr 
fliessen.  Aber  auch  nicht  formell;  denn  der  fragliche  Passus  ist  zunächst 
kein  Beweis,  wie  die  anderen  Beweise,  sondern  es  handelt  sich  dabei  um 
eine  Folgerung  (aus  der  allerdings  rückwärts  wieder  ein  indirecter  Beweis 
geschmiedet  werden  kann  S.  203 ;  vgl.  Comm.  I,  434).  Die  Folgerungsnatur 
dieser  Bezugnahme  auf  die  reine  Mathematik  tritt  noch  deutlicher  entgegen 
aus  der  Schlussbemerkung  des  vorletzten  Raumargumentes,  deren  methodo- 
logische Function  8.  233  f.  erörtert  wurde. 

3)  Wir   sehen   nun   zunächst   ab  von  den   Aenderungen  der  2.  Auf- 
lage, speciell  von   der   erst  in  B  eingeschobenen  „transscendentalen  Erörte- 
rung", und  verfolgen  die  1.  Auflage  weiter:  in  ihr  folgten  nun  sogleich  die 
„Schlüsse  aus   obigen  Begriffen^;   zuerst  der  Schluss  a):   der  Raum  bezieht 
sich  nicht  auf  Dinge  an  sich ;  dann  der  Schluss  b) :  der  Raum  ist  die  Form 
der  Erscheinungen  des    äusseren   Sinnes.     In  welchem  Sinne  diese  Thesen 
Schlüsse  aus  „obigen  Begriffen"  seien,   haben  wir  hinreichend  erörtert;  die 
„obigen  Begriffe",  welche  zu  Schluss  a)  verwendet  werden,  bestehen  eben  in 
der  Erkenntniss,   dass  der  Raum  sei  eine  apriorische  und  eine  anschauliche 
Vorstellung;  aber  es  bedurfte  noch  einer  anderen  sehr  vielsagenden  Prämisse, 
um  aus  beiden  Prämissen  zusammen  den  Schluss  zu  ziehen :  Der  Raum  bezieht 
sich  nicht  auf  die  Dinge  an  sich.     Dies  wurde  oben  8.  287 — 290  eingehend 
erörtert.     Dem  Schluss  b)   mussten   wir  S.  326  das  Prädicat  einer  gewissen 
Plötzlichkeit  geben:  Die  „obigen  Begriffe"  und  der  Schluss  a)  bilden  in  ihm 
die  eine  Prämisse,   aber  die   andere  Prämisse,  welche  zu  jenem  Schluss  b) 
berechtigt  hätte,  verraissten  wir   an  Ort  und  Stelle.     Aber  in  den  knappen 
Worten   der   beiden   Schlüsse   fanden  wir   den   innersten   Kern   derTr. 
Aesthetik:  Die  These,  dass  der  Raum  als  Form  der  Erscheinungen  sich  nicht 
auf  Dinge  an  sich  beziehen  könne. 

4)  An  den  Schluss  b)  ist  nun,  wie  wir  oben  fanden  (S.  327)  ein  Zosatz 
angefügt,  welcher  sehr  wesentlich  von  der  These  als  solcher  zu  trennen  ist. 
Dieser  Zusatz  bezieht  sich  auf  die  Möglichkeit,  die  Verhältnisse  der  Er- 
fahrungsgegenstände vor  aller  Erfahrung  zu  bestimmen,  d.  h.  auf  die  Mög- 
lichkeit, vermittelst  der  mathematischen  Sätze  die  Eigenschaften  der  Er- 
fahrungsgegenstände vorherzusagen ,   also  m.  a.  W.  auf  die  Gültigkeit  und 


Logischer  Bau  und  logische  Mängel  der  ersten  Auflage.  333 

Berechtigung  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf  die  empirischen 
Objecte.  Mit  der  These  als  solcher  hat  dieser  Gedanke  nichts  zu  thun,  die 
These  bestünde  auch  ohne  diesen  Zusatz.  Derselbe  ist  vielmehr  nur  eine 
beiläufige  Folgerung  aus  der  These:  Aus  dem  Umstand,  dass  der  Raum 
nichts  ist  als  die  Form  der  Erscheinungen  des  äusseren  Sinnes,  lässt  sich 
nun  auch  verst-ehen,  warum  wir  vermittelst  der  mathematischen  Urtheile 
die  Beschaffenheit  der  Erscheinungsobject  antecipiren  können. 

Wenn  wir  nun  diese  ursprüngliche  Darstellung  in  der  1.  Auflage 
rein  far  sich  ins  Auge  fassen,  noch  ohne  jegliche  Bücksicht  auf  B,  so  finden 
wir  in  derselben  folgende  Schritte  (deren  Zusammenhang  schon  oben  S.  278 
Anm.  erörtert  wurde): 

1)  Kant  beweist  zunächst  als  ersten  Doppel- Lehrsatz,  dass  der  Raum 
sei  eine  apriorische  und  eine  anschauliche  Vorstellung. 

2)  Als  eine  eingeschobene  Folgerung  aus  diesem  Lehrsatz  ergibt  sich  die 
Erklärung  der  Sätze  der  reinen  Mathematik  als  nothwendiger  und  synthetischer. 

8)  Dann  wird  der  zweite  Doppel-Lehrsatz  aufgestellt  und  bewiesen, 
nämlich,  dass  der  Raum  nicht  gelte  für  die  Dinge  an  sich,  sondern  sei  die  Form 
der  Erscheinungen  des  äusseren  Sinnes. 

4)  Als  eine  angehängte  Folgerung  aus  diesem  zweiten  Lehrsatz  ergibt 
sich  die  Erklärung  der  Gültigkeit  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf 
<lie  Erfahrungsgegenstände. 

Wenn  wir  nun  die  Entwicklung  dieser  Gedanken  bei  Kant  eben  wieder 
nur  in  A  prüfen,  so  haben  wir  an  derselben  folgende  formelle  Ausstellungen 
zu  machen:  die  beiden  Folgerungen  sind  nicht  hinreichend  von  den  beiden 
Lehrsätzen,  aus  denen  sie  fiiessen,  geschieden.  Die  erste  Folgerung  ist  recht 
ungeschickt  mitten  in  die  Beweisgänge  des  ersten  Lehrsatzes  hineingesprengt; 
die  zweite  Folgerung  ist  hinten  an  den  zweiten  Lehrsatz  nur  so  beiläufig  an- 
gehängt. Die  beiden  wichtigen  Folgerungen  sollten  vielmehr  deutlich  und 
klar  herausgehoben,  hinter  ihren  Lehrsätzen  für  sich  aufgestellt  und  eben 
als  Folgerungen  gekennzeichnet  sein.  Es  wäre  dies  nothwendig  schon  aus 
dem  rein  formellen  Grunde,  dass  eben  methodologisch  Lehrsatz  und  Folge- 
rung  sich  wesentlich  unterscheiden ,  also  auch  geschieden  werden  müssen ; 
es  wäre  aber  auch  nothwendig  wegen  der  Wichtigkeit  des  Inhalts:  denn 
dass  in  diesen  Folgerungen  1)  die  reine  Mathematik  und  2)  das  Recht  ihrer 
Anwendung  auf  die  Dinge  begründet  wird,  das  ist  doch  wichtig  genug,  um 
diese  Folgerungen  recht  deutlich  und  scharf  herauszuheben. 

B.  Die  Einschaltung  der  transscendentälen  Erörterung  in  der 
zweiten  Auflage«  Diese  Nothwendigkeit  hat  nun  auch  Kant  gefühlt  und 
eben  darum  in  B  die  „transscendentale  Erörterung^  eingeschoben.  Diese 
Einschiebung  erfüllt  ja  jene  von  uns  aufgestellten  Forderungen,  aber  in  einer 
Weise,  welche  vom  Kantischen  Standpunkt  aus  selbst  gar  nicht  zu  billigen 
ist.  Auf  den  ersten  Blick  freilich  nimmt  sich  die  «Transscendentale  Er- 
örterung des  Begriffs  vom  Räume''  sehr  schön  aus.  (Vgl.  P  au  1  s e n ,  Entw.  168.) 
Mit  wünschenswerthester  Deutlichkeit  wird  gezeigt,  dass  aus  der  gegebenen 
^ Erklärungsart "  des   Raumes   sich   die   Möglichkeit    der  Geometrie   ergebe. 


334  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

um  diesen  Nachweis  recht  deutlich  von  der  bisherigen  Untersachung  der 
Raumvorstellung  als  solcher  zu  trennen,  wird  diese  als  metaphysische,  jener 
als  transscendentale  Erörterung  des  Raumbegrififs  bezeichnet.  Die  meta- 
physische Erörterung  untersucht  die  Raumvorstellung  und  stellt  als  Er- 
gebniss  den  Lehrsatz  auf,  dass  dieselbe  sei  apriorisch  und  anschaulich.  Die 
transscendentale  zeigt,  dass  und  wie  aus  dieser  Anschauung  a  priori  synthe- 
tische Sätze  a  priori  fliessen^  zieht  also  eine  Folgerung  aus  jenem  Lehrsatz. 
(Vgl.  oben  S.  151.  263.) 

Nun  wäre  das  Alles  recht  schön  und  gut,  wenn  Kant  nicht  eben  in 
diese  Transsc.  Erörterung  seinen  dritten  Absatz  hineingeschoben  hütt«  (vgl. 
oben  S.  268).  Durch  diesen  hat  er  den  ganzen  Zusammenhang  verdunkelt, 
ja  verdorben.  Denn  das  geht  aus  dem  Bisherigen  klärlichst  hervor,  dass 
die  bis  dahin  in  der  metaphysischen  Erörterung  „gegebene  Erklärungsart' 
der  Raum  Vorstellung  nur  die  Möglichkeit  der  reinen  Mathematik  als 
solcher  „begreiflich  macht":  ist  der  Raum  eine  Anschauung  a  priori,  so 
sind  die  auf  ihn  bezüglichen  Sätze  synthetische  a  priori.  Aus  der  bis  dahin 
gegebenen  Erklärungsart  ergibt  sich  aber  noch  nicht  im  Mindesten  auch 
das  Recht  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf  die  empirischen 
Objecte  im  Räume:  dies  ergibt  sich  erst,  wenn  der  Raum  eben  nicht  bloss 
als  Anschauung  a  priori,  sondern  wenn  diese  Anschauung  a  priori  auch 
zugleich  als  Form  des  äusseren  Sinnes  erkannt  ist.  Dieser  Nachweis 
wird  ja  aber  in  der  Kr.  d.  r.  V.  erst  in  den  Schlüssen  a)  und  b)  geliefert. 

Also  hätte  Kant  nicht  nur  den  dritten  Absatz  aus  der  Transsc.  Er- 
örterung weglassen  müssen,  sondern  er  hätte  auch  au  Stelle  der  zweiten 
Hälfte  des  Schlusses  b)  einen  eigenen  selbständigen  Abschnitt  einschieben 
müssen,  des  Inhalts,  dass  nur  aus  dem  Umstand,  dass  der  Raum  nicht  nur 
als  Anschauung  a  priori,  sondern  auch  als  Form  des  äusseren  Sinnes  er- 
kannt sei,  die  Berechtigung  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf 
die  Objecte  eingesehen  und  bewiesen  werden  könne.  Dass  der  Raum  die 
apriorische  Form  des  äusseren  Sinnes  ist,  bedeutet  sehr  viel  mehr,  als  dass  er 
nur  eine  Anschauung  a  priori  ist.  Und  in  demselben  Maasse  will  es  viel 
mehr  bedeuten,  dass  die  mathematischen  Sätze  auf  die  Objecte  angewendet 
werden  können,  als  dass  sie  nur  für  sich  als  Sätze  vom  Räume  aufgestellt 
werden.     (Vgl.  oben  S.  268  ff.) 

Durch  diesen  Doppelfehler  —  1)  die  Einschiebung  des  dritten  Absatzes 
in  der  Transsc.  Erörterung,  2)  der  Weglassung  eines  eigenen  gesonderten 
Abschnittes  hinter  den  Schlüssen  a)  und  b)  —  durch  diese  beiden  scheinbar 
kleinen  Ungenauigkeiten  hat  nun  Kant  den  ganzen  Zusammenhang  ver- 
dorben und  das  Verständniss  seiner  Aesthetik  erschwert,  ja  im  Grunde  un- 
möglich gemacht.  Man  bezog  die  Transsc.  Erörterung  fast  durchaus  nur 
auf  die  reine  Mathematik  (unter  Ignorirung  des  ominösen  dritten  Absatzes); 
dann  war  es  ganz  richtig,  wenn  man  eben  die  Geometrie  als  synthetische 
Erkenntniss  a  pi^ori  aus  der  „gegebenen  Erklärungsart'  des  Raumes  als 
einer  Anschauung  a  priori  ableitete.  Aber  dann  verkannte  man  die  viel 
wichtigere   andere  Hälfte   der   Sache:    dass    die  Anwendung   jener   reinen 


Die  logische  Yerwirrung  in  der  zweiten  Auflage.  335 

Mathematik  auf  die  Objecte  aus  den  Schlüssen  a)  und  b)  folgt :  hätte  Kant, 
hier,  wie  er  sollte,  den  kurzen  Hinweis  der  1.  Aufl.  darauf  in  der  2.  Aufl. 
weiter  ausgeführt  und  eben  einen  der  Transsc.  Erörterung  parallelen  Ab- 
schnitt über  die  angewandte  Mathematik  eingeschoben,  so  wäre  darüber  nie 
ein  Zweifel  entstanden,  dass  gerade  diese  hier  begründet  wird,  dass  gerade 
diese  der  Tr.  Aesthetik  nicht  minder  am  Herzen  liegt,  als  die  reine  Mathe- 
matik, ja,  dass  sie  geradezu  den  eigentlichen  Herzpunkt  derselben  bildet. 

Wenn  man  aber  die  Transsc.  Erörterung  sowohl  auf  die  reine,  als 
auf  die  angewandte  Mathematik  bezieht,  dann  hat  man  zwar  material  das 
Richtige,  und  eben  das,  was  Kant  gemeint  hat,  aber  der  formell  richtige 
Zusammenhang  der  Gedankenreihen  ist  durch  Kants  eigene  Schuld  voll- 
ständig verschoben;  es  fällt  dann  eben  die  Einsicht  in  die  eigentliche  Ab- 
hängigkeit der  einzelnen  Glieder  der  Argumentationskette  auseinander: 
Zuerst  wird  durch  eine  selbständige  Untersuchung  bewiesen,  dass  der  Kaum 
ist  eine  apriorische  anschauliche  Vorstellung;  und  daraus  wird  folgerungs- 
weise die  Möglichkeit  der  reinen  Geometrie  abgeleitet.  Dann  wird  die 
selbständige  Untersuchung  fortgesetzt  und  bewiesen,  dass  die  Anschauung 
a  priori  vom  Räume  sein  muss  zugleich  die  Form  des  äusseren  Sinnes ;  und 
daraus  erst  ergibt  sich  dann  folgerungsweise  die  Möglichkeit  der  Anwen- 
dung der  Geometrie  auf  Objecte.  Nicht  aber  folgt  diese  schon  aus  dem 
ersten  Doppel-Lehrsatze,  wie  das  doch  nach  Kants  eigener  Darstellung  in 
der  Transsc.  Erörterung  erscheint! 

Die  Darstellungsmängel  der  2.  Aufl.  sind  also  viel  schlimmer  und 
verhängnissvoller,  als  die  der  1.  Aufl.  Die  Transsc.  Erörterung,  in  Bezug 
auf  die  reine  Mathematik  zunächst  sachlich  ^  eine  wesentliche  Verbesserung, 
ist  durch  ihre  Bezugnahme  auf  die  angewandte  Mathematik  im  dritten  Absatz 
zu  einer  vollständigen  Verschlechterung  geworden  (gegen  Riehl  I,  346). 
Denn  vor  den  „Schlüssen*  konnte  von  der  Anwendung  der  Mathematik 
keine  Rede  sein:  jene  erweisen  ja  die  reine  Anschauung  erst  als  Form  des 
äusseren  Sinnes. 

Zu  jener  Verschlechterung  der  Darstellung  Hess  sich  Kant,  bei  dem 
ja  solche  Ungenauigkeiten  an  der  Tagesordnung  sind,  durch  die  Prolegomeua 
bringen.  Die  Transsc.  Erörterung  ist,  wie  wir  sahen,  ein  kurzer  Auszug 
der  §§  6—11  der  Prolegomena;  und  gerade  in  diesen  war,  wie  wir  ferner 
sahen,  jene  Verwirrung  zwischen  der  reinen  und  der  angewandten  Mathe- 
matik besonders  stark.  So  kam  es,  dass  Kant  in  dem  Auszug  dieselbe 
Verwirrung  hat.  Wenn  Kant  freilich  den  Text  der  1.  Aufl.  zuerst  genauer 
angesehen  hätte,  ehe  er  die  Transsc.  Erörterung  einschob,  so  hätte  er  bald 
bemerken  müssen,  dass  er  von  der  angewandten  Mathematik  erst  nach  den 
Schlüssen  a)  und  b)  sprechen  konnte,  an  deren  Ende  dieselbe  ja  auch  schon 
in  A  berücksichtigt  war:  in  dem  Passus,  den  er  —  vom  Standpunkte 
der  Transsc.   Erörterung   aus   eigentlich   überflüssigerweise   —   in  B  stehen 


^  Methodisch  ist  sie  auch  in  Bezug  auf  die  reine  Mathematik  eine  Ver- 
schlechterung, wie  gleich  unten  338—339  gezeigt  werden  wird. 


334  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

Um  diesen  Nachweis  recht  deutlich  von  der  bisherigen  Untersachung  der 
Raumvorstellung  als  solcher  zu  trennen,  wird  diese  als  metaphysische,  jener 
als  transscendentale  Erörterung  des  Raumbegriffs  bezeichnet.  Die  meta- 
physische Erörterung  untersucht  die  Raumvorstellung  und  stellt  ab  Er- 
gebniss  den  Lehrsatz  auf,  dass  dieselbe  sei  apriorisch  und  anschaulich.  Die 
transscendentale  zeigt,  dass  und  wie  aus  dieser  Anschauung  a  priori  synthe- 
tische Sätze  a  priori  fliessen^  zieht  also  eine  Folgerung  aus  jenem  Lehrsatz. 
(Vgl.  oben  S.  151.  263.) 

Nun  wäre  das  Alles  recht  schön  und  gut,  wenn  Kant  nicht  eben  in 
diese  Transsc.  Erörterung  seinen  dritten  Absatz  hineingeschoben  hätt-e  (vgl. 
oben  S.  268).  Durch  diesen  hat  er  den  ganzen  Zusammenhang  verdunkelt, 
ja  verdorben.  Denn  das  geht  aus  dem  Bisherigen  klärlichst  hervor,  dass 
die  bis  dahin  in  der  metaphysischen  Erörterung  „gegebene  Erklftrungsart* 
der  Raum  Vorstellung  nur  die  Möglichkeit  der  reinen  Mathematik  als 
solcher  „begreiflich  macht'':  ist  der  Raum  eine  Anschauung  a  priori,  so 
sind  die  auf  ihn  bezüglichen  Sätze  synthetische  a  priori.  Aus  der  bis  dahin 
gegebenen  Erklärungsart  ergibt  sich  aber  noch  nicht  im  Mindesten  auch 
das  Recht  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf  die  empirischen 
Objecte  im  Räume:  dies  ergibt  sich  erst,  wenn  der  Raum  eben  nicht  bloss 
als  Anschauung  a  priori,  sondern  wenn  diese  Anschauung  a  prioii  auch 
zugleich  als  Form  des  äusseren  Sinnes  erkannt  ist.  Dieser  Nachweis 
wird  ja  aber  in  der  Kr.  d.  r.  V.  erst  in  den  Schlüssen  a)  und  b)  geliefert. 

Also  hätte  Kant  nicht  nur  den  dritten  Absatz  aus  der  Transsc.  Er- 
örterung weglassen  müssen ,  sondern  er  hätte  auch  au  Stelle  der  zweiten 
Hälfte  des  Schlusses  b)  einen  eigenen  selbständigen  Abschnitt  einschieben 
müssen,  des  Inhalts,  dass  nur  aus  dem  Umstand,  dass  der  Raum  nicht  nar 
als  Anschauung  a  priori,  sondern  auch  als  Form  des  äusseren  Sinnes  er^ 
kannt  sei,  die  Berechtigung  der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf 
die  Objecte  eingesehen  und  bewiesen  werden  könne.  Dass  der  Raum  die 
apriorische  Form  des  äusseren  Sinnes  ist,  bedeutet  sehr  viel  mehr,  als  dass  er 
nur  eine  Anschauung  a  priori  ist.  Und  in  demselben  Maasse  will  es  viel 
mehr  bedeuten,  dass  die  mathematischen  Sätze  auf  die  Objecte  angewendet 
werden  können,  als  dass  sie  nur  für  sich  als  Sätze  vom  Räume  aufgestellt 
werden.     (Vgl.  oben  S.  268  ff.) 

Durch  diesen  Doppelfehler  —  1)  die  Einschiebung  des  dritten  Absatzes 
in  der  Transsc.  Erörterung,  2)  der  Weglassung  eines  eigenen  gesonderten 
Abschnittes  hinter  den  Schlüssen  a)  und  b)  —  durch  diese  beiden  scheinbar 
kleinen  Ungenauigkeiten  hat  nun  Kant  den  ganzen  Zusammenhang  ver- 
dorben und  das  Verständniss  seiner  Aesthetik  erschwert,  ja  im  Grunde  un- 
möglich gemacht.  Man  bezog  die  Transsc.  Erörterung  fast  durchaus  nur 
auf  die  reine  Mathematik  (unter  Ignorirung  des  ominösen  dritten  Absatzes): 
dann  war  es  ganz  richtig,  wenn  man  eben  die  Geometrie  als  synthetische 
Erkenntniss  a  priori  aus  der  „gegebenen  Erklärungsart'  des  Raumes  als 
einer  Anschauung  a  priori  ableitete.  Aber  dann  verkannte  man  die  yiel 
wichtigere   andere  Hälfte   der  Sache:    dass    die  Anwendung   jener  reinen 


Die  logische  Verwirrung  in  der  zweiten  Auflage.  335 

Mathematik  auf  die  Objecte  aus  den  Schlüssen  a)  und  b)  folgt :  hätte  Kant, 
hier,  wie  er  sollte,  den  kurzen  Hinweis  der  1.  Aufl.  darauf  in  der  2.  Aufl. 
weiter  ausgeführt  und  eben  einen  der  Transsc.  Erörterung  parallelen  Ab- 
schnitt über  die  angewandte  Mathenoiatik  eingeschoben,  so  wäre  darüber  nie 
ein  Zweifel  entstanden,  dass  gerade  diese  hier  begründet  wird,  dass  gerade 
diese  der  Tr.  Aesthetik  nicht  minder  am  Herzen  liegt,  als  die  reine  Mathe- 
matik, ja,  dass  sie  geradezu  den  eigentlichen  Herzpunkt  derselben  bildet. 

Wenn  man  aber  die  Transsc.  Erörterung  sowohl  auf  die  reine,  als 
auf  die  angewandte  Mathematik  bezieht,  dann  hat  man  zwar  material  das 
Richtige,  und  eben  das,  was  Kant  gemeint  hat,  aber  der  formell  richtige 
Zusammenhang  der  Gedankenreihen  ist  durch  Kants  eigene  Schuld  voll- 
ständig verschoben;  es  fällt  dann  eben  die  Einsicht  in  die  eigentliche  Ab- 
hängigkeit der  einzelnen  Glieder  der  Argumentationskette  auseinander: 
Zuerst  wird  durch  eine  selbständige  Untersuchung  bewiesen,  dass  der  Kaum 
ist  eine  apriorische  anschauliche  Vorstellung;  und  daraus  wird  folgerungs- 
weise die  Möglichkeit  der  reinen  Geometrie  abgeleitet.  Dann  wird  die 
selbständige  Untersuchung  fortgesetzt  und  bewiesen,  dass  die  Anschauung 
a  priori  vom  Räume  sein  muss  zugleich  die  Form  des  äusseren  Sinnes ;  und 
daraus  erst  ergibt  sich  dann  folgerungs weise  die  Möglichkeit  der  Anwen- 
dung der  Geometrie  auf  Objecte.  Nicht  aber  folgt  diese  schon  aus  dem 
ersten  Doppel-Lehrsatze,  wie  das  doch  nach  Kants  eigener  Darstellung  in 
der  Transsc.  Erörterung  erscheint! 

Die  Darstellungsmängel  der  2.  Aufl.  sind  also  viel  schlimmer  und 
verhängnissvoller,  als  die  der  1.  Aufl.  Die  Transsc.  Erörterung,  in  Bezug 
auf  die  reine  Mathematik  zunächst  sachlich  ^  eine  wesentliche  Verbesserung, 
ist  durch  ihre  Bezugnahme  auf  die  angewandte  Mathematik  im  dritten  Absatz 
zu  einer  vollständigen  Verschlechterung  geworden  (gegen  Riehl  I,  346). 
Denn  vor  den  , Schlüssen"  konnte  von  der  Anwendung  der  Mathematik 
keine  Rede  sein:  jene  erweisen  ja  die  reine  Anschauung  erst  als  Form  des 
äusseren  Sinnes. 

Zu  jener  Verschlechterung  der  Darstellung  liess  sich  Kant ,  bei  dem 
ja  solche  Ungenauigkeiten  an  der  Tagesordnung  sind,  durch  die  Prolegomena 
bringen.  Die  Transsc.  Erörterung  ist,  wie  wir  sahen,  ein  kurzer  Auszug 
der  §§  6—11  der  Prolegomena ;  und  gerade  in  diesen  war,  wie  wir  ferner 
sahen,  jene  Verwirrung  zwischen  der  reinen  und  der  angewandten  Mathe- 
matik besonders  stark.  So  kam  es,  dass  Kant  in  dem  Auszug  dieselbe 
Verwirrung  hat.  Wenn  Kant  freilich  den  Text  der  1.  Aufl.  zuerst  genauer 
angesehen  hätte,  ehe  er  die  Transsc.  Erörterung  einschob,  so  hätte  er  bald 
bemerken  müssen,  dass  er  von  der  angewandten  Mathematik  erst  nach  den 
Schlüssen  a)  und  b)  sprechen  konnte,  an  deren  Ende  dieselbe  ja  auch  schon 
in  A  berücksichtigt  war:  in  dem  Passus,  den  er  —  vom  Standpunkte 
der  Transsc.   Erörterung   aus   eigentlich   überflüssigerweise   —   in  B  stehen 


*  Methodisch  ist  sie  auch  in  Bezug  auf  die  reine  Mathematik  eine  Ver- 
schlechterung, wie  gleich  unten  338—339  gezeigt  werden  wird. 


336  Ezcurs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

Hess  (vgl.  B.  Erdmann,  Krit.  188);  dann  hätte  er  sehen  müssen,  dass, 
wenn  er  im  dritten  Absatz  der  Transsc.  Erörterung  von  der  Anschanong 
a  priori  zur  Form  des  äusseren  Sinnes  übergeht,  er  damit  etwas  antecipirt, 
was  im  Texte  ja  erst  in  den  Schlüssen  a)  und  b)  begründet  wird;  dann 
hätte  er  eingesehen,  dass  er  auch  am  Ende  dieser  Schlüsse  einen  eigenen 
neuen  selbständigen  Abschnitt  über  das  Recht  der  angewandten  Mathematik 
einschalten  müsse. 

C.  Die  methodologische  Rolle  der  Mathematik  in  der  Transsc* 
Aesthetik.    1)  Nun  können  und  müssen  wir  auch  die  methodologische  EoUe 
eingehender  besprechen,  welche  die  reine  und  die  angewandte  Mathemathik 
überhaupt   in   dem  ganzen  Zusammenhang  spielen.     Wir   haben   dies   oben 
mehrfach  so  foimulirt,  dass  die  Erklärung  der  Möglichkeit  der  Mathematik, 
sowohl   der  reinen  als  der  angewandten,  als  Folgerungen  aus  den  beiden 
Hauptlehrsätzen  auftreten,   entsprechend  dem  synthetisch-progressiven  Lehr- 
gang.    Das  ist  strenggenommen  nicht  ganz  richtig.     Nur  das  dritte  Baum- 
argument  der  1.  Aufl.  und   auch   dies  nur  in   seinem  Anfang  ist  von  Kant 
als  Folgerung  im   engeren  Sinne  behandelt.     Dort  heisst  es,  dass  sich  auf 
die  Nothwendigkeit  der   Raumvorstellung   die   apodiktische  Gewissheit  der 
geometrischen    Sätze    „gründe".     Aber    nun    fehlt    die    Ausfuhrung    dieses 
Gedankens,  welche  etwa  so  hätte  lauten  müssen:    „Ist  der  Raum  eine  Vor- 
stellung a  priori,    so   müssen    auch   die  Sätze  über  ihn  a  priori  sein;   und 
diese  unsere  Folgerung  flndet  nun  in  der  That  Bestätigung ;  die  Geometrie, 
welche  über  die  Natur  des  Raumes  Sätze  aufstellt,  ist  factisch   eine  aprio- 
rische Wissenschaft.'     Dieselbe    streng    folgernde    Darstellung    müsste   der 
Schluss   des  vorletzten  Raumargumentes,    müsste   die  Transsc.   ErCrterung, 
müsste  der  Endzusatz  zum  Schluss  b)  haben.    Nur  eine   solche  streng  fol- 
gernde  Darstellung   würde  dem   synthetischen   Charakter  der  Kr.  d.  r.  Y. 
entsprechen,   der  ja  von  Kant  stark  betont  wird.     (Vgl.  Comm.  I,  412  ff.) 
Aber  der  Ungeduld  Kants  ist  jener  langsame  und  vorsichtige  Gang,  wie  ihn 
ein  Spinoza  mit  unerschütterlicher  Ruhe  verfolgte,  zu  langweilig,     und  so 
verftillt  er  —  am  stärksten  in  der  Transsc.  Erörterung  —  immer  wieder  in 
eine   andere  Darstellung:   er  setzt  die  Mathematik  als  gegeben  voraus,  und 
freut  sich  nun,   dass  dieselbe  (als  apriorische,   als  synthetische,   als  reine 
und  angewandte)  sich   aus   den   aufgestellten  Thesen  über  den  Baum  ,  ver- 
stehen lässt*.   Ueber  diese  Wendung  des  Schlusses  b)  siehe  Comm.  I,  390, 
392.  394  N.)    Er  verwendet  diese  Thesen  also  zur  Erklärung  der  Mathe- 
matik. 

Zu  dieser  Darstellung  ist  nun  Kant  ja  insofern  berechtigt,  als  er 
schon  in  A,  noch  mehr  aber  und  deutlicher  in  B  eben  die  mathematischen 
Urtheile  als  erklärungsbedürftige  Phänomene  sogleich  in  der  Einleitung 
herausgestellt  hatte.  Es  ist  nun  natürlich,  dass  Kant  die  selbständig  anf 
synthetischem  Wege  gefundenen  Thesen  über  den  Raum  kurzweg  zur  Er- 
klärung jener  Phänomene  verwendet,  anstatt  diese  erst  langsam  als  noth- 
wendige  Folgerungen  zu  deduciren  und  dann  erst  die  Realität  des  so 
Gefolgerten  zu  erweisen. 


Methodologische  Rolle  der  Mathematik  in  der  Transsc.  Aesthetik.        337 

2)  Selbstverständlich  ist  nun,  dass  im  ursprünglichen,  genuinen  Zu- 
sammenhange der  Kr.  d.  r.  V.  die  Mathematik,  sowohl  die  reine  als  die 
angewandte ,  nicht  als  Beweismoment  eingeführt  wird ;  dies  würde  ja  dem 
synthetischen  Gange  widersprechen.  Aus  der  Natur  der  Vorstellung  des 
Raumes  als  solcher  wird  in  der  Kr.  d.  r.  V.  bewiesen,  dass  dieselbe  sein 
müsse  1)  apriorische  Anschauung,  2)  Form  des  äusseren  Sinnes;  und 
daraus  wird  dann  die  Möglichkeit  1)  der  reinen,  2)  der  angewandten  Mathe- 
matik erst  abgeleitet.  In  der  Kr.  d.  r.  V.  ist  die  Natur  der  Mathematik 
somit  ursprünglich  kein  Beweismoment,  sondern  ein  Ergebniss. 

Nun  ist  es  aber  natürlich  und  entspricht  den  Regeln  der  Logik  (vgl. 
-z.  B.  Drobisch  §  140;  Sigwart  §  81),  dass  eine  Folgerung  aus  einer  These, 
wenn  sich  der  Inhalt  dieser  Folgerung  unabhängig  von  dieser  Schlusskette 
als  gültig  erweist,  rückwärts  als  Beweis  für  jene  These  verwenden  lässt. 
Von  dieser  methodologischen  Umkehrung  hat  Kant  —  und  dies  ist  sehr  zu 
beachten  —  schon  in  der  ersten  Auflage  mehrfach  Gebrauch  gemacht. 
Schon  das  dritte  Raumargument  der  ersten  Auflage  hatte,  wie  wir  oben 
S.  203  sahen,  diese  Wendung  genommen,  vielleicht  auch  schon  der  Schluss 
des  vorletzten  Eaumargumentes ;  in  dem  Abschnitt  A  39 — 4L  (Polemik 
gegen  Newton  und  Leibniz)  wurde  dieser  Ton  angeschlagen.  Besonders  aber 
in  dem  Abschnitt  A  47 — 49  hat  Kant  (schon  in  der  1.  Auflage)  jene  üm- 
kebrung  vorgenommen.  Da  nimmt  er  die  Existenz  der  Mathematik  als 
Ausgangspunkt,  zuerst  die  reine,  dann  die  angewandte,  und  fragt  beidemal: 
wie  ist  dieselbe  möglich?  Zuerst  gibt  er  die  Antwort:  die  reine  Mathematik 
ist  nur  möglieb,  wenn  der  Raum  eine  Anschauung  a  priori  ist;  dann  gibt 
<er  die  Antwort:  die  angewandte  Mathematik  ist  nur  möglich,  wenn  diese 
Anschauung  a  priori  die  Form  des  äusseren  Sinnes  ist.  Diesen  Gedanken- 
gang betrachtet  er  daselbst  als  einen  absolut  stringenten  Beweis  für  seine 
Raumtheorie;  und  der  Beweisnerv  liegt  eben  in  der  Existenz  der  Mathe- 
matik. Zu  dieser  methodischen  ümkehrung  war  Kant  auch  berechtigt, 
wenigstens  in  Bezug  auf  die  reine  Mathematik ;  in  Bezug  auf  die  angewandte 
Mathematik  liegt  die  Sache  insofern  anders,  als  ja  eben  die  Berechtigung 
der  Anwendung  der  reinen  Mathematik  auf  „äussere  Objecte*'  bestritten  war. 
(Vgl.  Comm.  I,  226.  388  ff.  396.  421  N.)  Diese  Berechtigung  musste  ja 
erst  eben  auf  dem  Wege  synthetischer  Folgerung  erwiesen  werden.  An  jener 
Stelle  sieht  Kant  von  diesen  „Chikanen^  einer  irregeleiteten  Metaphysik 
ab,  ^  und  nimmt  auch  die  angewandte  Mathematik  als  feste  Operationsbasis, 
um  von  hier  aus  liickwärts  seine  Raumtheorie  zu  beweisen. 

3}  Einzig  diesen  analytischen  Weg  hat  nun  auch  Kant  in  seinen 
Prolegomena  eingeschlagen.  Hier  geht  er  ja  —  unter  Vorschiebung  der 
rationalistischen  Seite  seines  Kriticismus  —  nur  von   der  reinen   und  ange- 


'  Inwiefern  er  dazu  durch  das  von  ihm  gebrauchte  Beispiel  vom  Triangel 
berechtigt  war,  darüber  vgl.  Comm.  I,  421  Anm.  3,  woselbst  das  Schwanken  Kants 
zwischen  Erklärung  und  Beweis  der  Gültigkeit  der  angewandten  Mathematik 
besprochen  wird. 

Vaihinger,  Kant-Commentar.    11.  22 


338  Excurs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

wandten  Mathematik  aus,  nm  von  ihnen  aus  auf  regressivem  Wege  zu  den 
Thesen  über  den  Baum  selbst  zu  kommen.  Wahrend  im  synthetischen  Qang 
aus  den  Thesen  die  Data  als  Folgerungen  abgeleitet  werden,  werden  im 
analytischen  Gang  für  die  Data  jene  Thesen  als  Forderungen  aufgestellt 
und  bewiesen.  Was  dort  gleichsam  als  Nebenproduct  der  ArgumentstioD 
abföUt,  wird  hier  zu  ihrem  Ausgangspunkt.  Dies  hat  ja  auch  unsere 
ausführliche  Zergliederung  der  Prolegomena  §  6 — 13  gezeigt.  Dieser  W^ 
ist  also  kein  neuer,  sondern  schon  die  1.  Auflage  der  Er.  d.  r.  Y.  hatte 
ihn  eben  besonders  zum  Schlüsse  eingeschlagen ;  und  in  diesem  Sinne,  aber 
auch  nur  in  diesem  kann  man  sagen,  dass  die  Mathematik  für  Kant 
auch  in  der  1.  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V.  Beweismoment  und  Argumen- 
tationsmittel ist.  (Vgl.  Comm.  I,  415.  425.)  Ursprünglich  aber  ist  die 
Einsicht  in  ihr  Wesen  für  dieselbe  nur  ein  Ergebniss. 

4)  Aus  diesem  eigenthümlichen  Yerhältniss  erklärt  sich  nun  auch,  wie 
der  oft  gehörte  Vorwurf  gegen  Kant  entstehen  konnte,  er  habe  in  diesem 
Punkte  sich  eines  Cirkels  schuldig  gemacht.  Insbesondere  die  Eber^ 
hard'schen  Zeitschriften '  haben  diesen  Vorwurf  mehrfach  wiederholt,  Mag. 
IV,  184.  193.  231.  360.  Arch.  I,  4.  67:  «Die  Nothwendigkeit  a  priori  des 
Raumes  wird  aus  der  Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit  der  geometrischen 
Wahrheiten  bewiesen,  und  diese  Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit  der 
geometrischen  Wahrheiten  aus  der  Nothwendigkeit  a  priori  der  Anschauung 
des  Raumes/  (Vgl.  auch  Aenesidem  S.  149  und  Materialien  z.  Krit.  Philos. 
CXI.)  Selbst  Anhänger  Kants  haben  diesen  Vorwurf  erhoben,  so  Rein- 
hold,  Fundament  S.  130  (vgl.  Comm.  I,  227).  Dass  Kant  sonst  sich  Tor 
einem  circulus  vUiosus  nicht  gescheut  hat,  haben  wir  Comm.  I,  440  f.  ge- 
sehen (vgl.  Schulze,  Krit.  d.  theor.  Philos.  II,  524;  Paulsen,  175  N.;  Vol- 
kelt 201);  aber  in  diesem  speciellen  Falle  ist,  wie  aus  dem  Bisherigen 
hervorgeht,  der  Vorwurf  nicht  berechtigt. 

5)  Nun*lässt  sich  auch  endlich  die  vielumstrittene  methodologische  Fooc- 
tion  der  Transsc.  Erörterung  in  B  definitiv  bestimmen.  Dieselbe  befolgt 
wie  oben  S.  265  f.  ausführlich  schon  erörtert  wurde,  den  analytischen  Gang. 
Die  Mathematik  wird  darin  als  Ausgangspunkt  benützt,  um  die  Natur  der 
Raumvorstellung  zu  erschliessen ,  um  also  den  Raum  als  eine  Anschanong 
a  priori  zu  beweisen.  Wird  der  Beweis  für  die  apriorische  und  anschau- 
liche Natur  des  Raumes,  wie  er  in  der  »Metaphysischen  Erörterung*  aus 
der  Natur  der  Raumvorstellung  selbst  (Vorr.  B  XXII)  gefuhrt  wurde,  ein 
directer  genannt,  so  kann  dieser  Beweis  in  der  ^Transscendentalen  Er 
örterung"  aus  der  Natur  der  Mathematik  alsindirecter  bezeichnet  werden. 
Speciell  der  2.  Absatz  der  Transsc.  Erörterung  ist  ganz  in  diesem  Sinne 
gehalten.  Aber  sowohl  im  1.  als  im  4.  Absatz  spielt  die  Auffassung  herein, 
dass  die  bisher  schon  bewiesene  Raumtheorie  jetzt  dazu  benützt  wird,  nm 
das  Wesen  der  Mathematik  zu  erklären.  Die  methodologische  Function 
des  Abschnittes  ist  daher  eine  schillernde:  sie  schillert  zwischen  analytischer 
und  synthetischer  Methode  hin  und  her. 

So    stellt    sich  denn   die  Transsc.  Erörterung   auch  vom  rein  metho- 


Analytischer  oder  synthetischer  Gang  der  Transsc.  Erörterung?  339 

dologischen  Gesichtspunkt  ans  als  eine  bedenkliche  Verschlechterung  des 
ursprünglichen  Gedankenganges  heraus,  sowohl  für  die  reine  als  für  die 
angewandte  Mathematik.  In  ihr  durchbricht  Kant  den  ursprünglichen,  streng- 
wissenschaftlichen, rein  synthetischen  Gang  und  schlägt  den  an&lytischen 
Weg  ein,  wodurch  er  den  klaren  Zusammenhang  seiner  Gedanken  selbst 
verdunkelt  hat;  und  er  steigert  diese  Verwirrung  noch  dadurch,  dass  er 
nun  nicht  einmal  wieder  diesen  analytischen  Gang  rein  innehält,  sondern 
zwischen  analytischer  und  synthetischer  Methode  unklar  hin-  und  her- 
schwankt. 

6)  Aus  dem  letzteren  Umstand  erklären  sich  auch  die  entgegengesetzten 
Auffassungen,  welche  dieser  Abschnitt  gefunden  hat.  Indem  Riehl  nur 
die  synthetische  Seite  desselben  ins  Auge  fasst,  sagt  er  richtig  (Krit.  I,  329. 
331.  341.  350.  352;  vgl.  dazu  Comm.  L,  403.  428):  .Die  Transsc.  Erörte- 
rung leitet  die  Idealität  des  Raumes  nicht  von  der  Geometrie,  sondern  für 
dieselbe  ab;*  S.  352:  »Die  Kritik  geht  nicht  von  der  Gültigkeit  der  Geo- 
metrie aus,  sondern  führt  auf  dieselbe '^ ;  Kant  will  diese  Gültigkeit  erst 
beweisen.  Dieselbe  Auffassung  hat  Paulsen,  Entw.  174.  189.  Dagegen 
hat  Volkelt  nur  die  analytische  Seite  im  Auge,  wenn  er  (195  ff.  220; 
vgl.  Comm.  I,  416)  gegen  diese  Auffassung  von  Riehl  polemisirt,  und 
gerade  umgekehrt  hier  die  Mathematik  als  „ Beweisgrund*  der  Apriorität 
des  Raumes  ansieht.  (So  auch  Cohen  27,  Holder  S.  12 — 15,  und  Sommer, 
Neugestaltung  102.  Bes.  auch  Helmholtz,  Thatsachen  in  d.  Wahrn.  S.  22. 
Vgl.  Hey m ans,  Ueber  Ks.  »analytische  Methode"  in  der  Aesth.,  Phil.  Mo- 
natsh.  1889,  24 — 26.)  Wie  Riehl  nur  die  synthetische,  so  sieht  Volkelt  nur 
die  analytische  Seite  des  Abschnittes,  welcher  zwischen  beiden  Wegen  un- 
klar hin-  und  herschwankt.  Dieses  Schwanken  und  Schillern  hat  indessen 
auch  schon  Volkelt  insofern  bemerkt,  als  er  darauf  hinweist,  die  Definition, 
welche  Kant  selbst  von  seiner  ^Transsc.  Erört."  im  ersten  Absatz  gebe,  sei 
, zweideutig",  da  dieselbe  an  sich  sowohl  auf  die  synthetische  als  auf  die 
analytische  Methode  passe.  Kants  eigene  Unklarheit  ist  also  auch  hier 
wieder  die  Ursache  der  Streitigkeiten  über  seine  eigentliche  Meinung  ge- 
wesen.    (Vgl.  Comm.  I,  386  ff.  414  ff.  428  ff.) 

7)  So  herrschten  auch  in  dem  Streit  zwischen  Trendelenburg  und 
Fischer  in  dieser  Hinsicht  auf  beiden  Seiten  Unklarheiten:  unter  den  Vor- 
würfen, welche  Trend,  der  Fischer'schon  Darstellung  der  Kantischen  Lehre 
machte,  war  auch  der  (Beiträge  3,  251  f.),  dass  Fischer  von  der  reinen 
Mathematik  als  Factum  ausgehe  und  die  erste  Aufgabe  der  Transsc.  Sinnen- 
lehre darin  finde,  dies  Factum  zu  begreifen;  erst  von  da  komme  Fischer 
dann  zu  den  inneren  Gründen,  warum  R.  u.  Z.  Anschauungen  a  priori 
seien.  Diese  „ Anlage  dürfte  dem  Gedanken  Kants  nicht  gemäss  sein.  In 
der  Kr.  d.  r.  V.  verfährt  Kant  gerade  umgekehrt.  Er  will  die  Sinneslehre 
untersuchen  und  dabei  geht  ihn  zunächst  die  reine  Mathematik  nichts 
an*^  u.  s.  w.,  „das  ist  die  nothwendige  Abfolge  der  Kantischen  Untersuchung. '^ 
Aber  in  jener  umgekehrten  Ordnung  des  „ Weges '^  sei  Kants  Aestbetik  nicht 
mehr  das  von  Fischer  gerühmte  „Muster  wissenschaftlicher  Genauigkeit  und 


340  £xcur8.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik. 

Methode*.  Es  war  Fischer  ein  Leichtes,  diese  Vorwürfe  zurückza weisen 
(Gesch.  lU,  315  f.) :  zu  jener  seiner  Darstellung  sei  er  durch  die  ProUgomena 
autorisirt,  die  ja  auch  im  didactischen  Interesse  geschrieben  seien.  «Meine 
Darstellung  geht  von  Raum  und  Zeit  als  Bedingungen  der  reinen  Mathe- 
matik, genau  so  wie  die  ProUgomena;  und  dann  begründet  sie  aus  den  ge- 
fundenen Bedingungen  die  Mathematik,  genauso  wie  die  Kritik.'  Darauf 
hat  Tr.  nichts  zu  erwidern  gewusst,  was  ihm  Fischer  (Anti-Tr.  47)  höhnisch 
ankreidet;  auch  Bratnschek  (Phil.  Mon.  V,  808)  gibt  F.  darin  Recht. 

Es  wäre  nun  an  sich  gegen  diese  Bevorzugung  der  analytischen  Me- 
thode nichts  einzuwenden,  so  lange  sie  sich  eben  bloss  als  ein  didaetisches 
Hilfsmittel  gibt;  so  lange  man  sich  klar  bleibt,  dass  die  analytische  Dar- 
stellung dem  originären  Gedankengang  der  Kr.  d.  r.  V.  absolut  nicht  ge- 
recht werden  kann.  Aber  gerade  diese  Einsicht  ist  bei  Fischer  zu  ver- 
missen, wie  sich  auch  aus  seinen  übrigen  Einwänden  gegen  Tr.  ergab  (vgl. 
oben  S.  274.  293  ff.). 

Jener  von  Trendelenburg  selbst  aufgegebene  Einwand  ist  deshalb  auch 
einige  Jahre  später  wieder  selbständig  von  Paulsen,  Riehl,  Göring  und 
Windelband  aufgenommen  worden.  Die  dadurch  entstandene  sehr  ver^ 
worrene  Controverse  haben  wir,  da  sie  vor  allem  auf  dem  unterschied  der 
Einleitung  A  und  B  beruht,  im  I.  Bande  hinreichend  besprochen  S.  386  ff. 
394  ff.  400  ff.  411.  413  ff.  Das  dort  Gefundene  hat  in  der  hier  angestellten 
Untersuchung  lediglich  seine  Bestätigung  und  Fortsetzung  erhalten. 

8)  Aus  der  eben  gegebenen  methodologischen  Analyse  der  Aesthetik 
folgt  nun  auch  nochmals  die  Irrthümlichkeit  des  Arnold t 'sehen  Rettungs- 
versuches „für  Kant  gegen  Trendelenburg".  Was  oben  S.  297  schon  vor- 
läufig gegen  A.  geltend  gemacht  worden  ist,  das  stellt  sich  jetzt  als  definitiv 
stichhaltig  heraus.  Arnoldt  hat  den  ganzen  Zusammenhang  der  Aesthetik 
verkannt,  wenn  er  Kant  in  dem  Schluss  a  die  Idealität  des  Raumes  aus  der 
objectiven  Gültigkeit  der  Mathematik  erschliessen  lässt.  Diese  Gültigkeit  ist. 
wie  wir  sahen,  ursprünglich  an  dieser  Stelle  noch  nicht  vorausgesetzt 
als  ein  Factum,  von  dem  man  zum  Beweis  einer  Theorie  ausgehen  kann, 
sondern  diese  Theorie  wird  selbständig  aufgestellt,  und  dann  erst  jene> 
Factum  hinterher  aus  jener  Theorie  abgeleitet.  Das  haben  wir  zur  Genüge 
bewiesen.  Der  von  manchen  Seiten  (z.  ß.  Caird,  CrU.  Phil.  I,  306 — 809) 
so  hochgestellte  Arnoldt'sche  Rettungsversuch  beruht  also  gerade  seinem 
Baue  nach  auf  einem  gründlichen  Missverständniss  der  ganzen  Kantischen 
Argumentation  in  der  Aesthetik. 

9)  Aus  dem  bisher  Entwickelten  folgt  nun  auch  andererseits  als  natürlich 
die  Erwartung,  dass  Kant,  wenn  es  ihm  nicht  auf  den  streng  synthetischen 
Gang  ankommt,  die  Mathematik  allerdings  als  einen  Hauptbeweis  für 
seine  Raumtheorie  geltend  machen  wird.  Diese  Erwartung  wird  denn  auch 
nicht  getäuscht.  Eine  besonders  deutliche  Stelle  geben  die  von  Reicke 
herausgegebenen  „Losen  Blätter"  I,  18:  „Das  ist  ein  Beweis,  dass  der  Raum 
eine  subjective  Bedingung  sey,  weil,  da  die  Sätze  davon  synthetisch  seyen 
und  dadurch  Objecto  a  priori  erkannt  werden  können,   dieses  unmöglich 


Inwiefern  soll  die  Mathematik  Kants  Raumtheorie  beweisen?  341 

seyn  würde,  wenn  der  Baum  nicht  eine  subjective  Bedingung  der  Vorstellung 
dieser  Objecte  wäre/  Vgl.  ib.  28  und  bes.  151  ff.:  „Ich  frage  Jedermann, 
woher  er  die  mathematischen  und  nothwendigen  synthetischen  Sätze  von 
Dingen  im  Baume  hernehmen  will,  wenn  der  Baum  nicht  schon  in  uns 
a  priori  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  empirischen  Vorstellung  der 
Objecte  wäre  ? "  In  diesen  Stellen  ist  die  a n  g  e  w  a  n  d  te  Mathematik  Beweis 
für  die  Idealität  des  Baumes;  ebenso  in  der  Stelle  der  „ Losen  Blätter'', 
welche  Beicke  in  der  Altpr.  Mon.  XXVIII,  1891,  S.  532  mittheilt:  „Dass 
alle  unsere  Anschauungen  blosse  Formen  der  Dinge  sind,  wie  sie  uns  er- 
scheinen, nicht  wie  sie  sind,  folgt  daraus,  weil  es  sonst  gar  keine  syn- 
thetische Sätze  a  priori  .  .  .  geben  könnte.*'     Vgl.  ib.  547  f. 

In  den  von  Erdmann  herausgegebenen  Beflexionen  Kants  11,  396  findet 
sich  femer  folgende  charakteristische  Stelle  bei  Oelegenheit  der  Besprechung 
des  Antinomien:  , Dadurch  wird  die  Idealität  des  B.  u.  d.  Z.  indirect  be- 
wiesen, weil  Widersprüche  mit  sich  selbst  aus  dem  Gegentheil  erfolgen. 
Aber  ich  habe  sie  auch  direct  bewiesen  und  zwar  daraus,  dass  synthetische 
Erkenntnisse  a  priori  sind,  dass  diese  aber  ohne  Anschauung  a  priori 
unmöglich  sind,  dass  endlich  reine  Anschauunjg^,  wo  die  Form  derselben  nicht 
vor  dem  Object  im  Subject  gegeben  ist,  unmöglich  sei,  folglich  dass  wir 
nur  Erscheinungen  antecipiren  können,  mithin  alle  Gegenstände  der  Sinne 
lauter  Erscheinungen  sind." 

10)  Diese  Stelle  ist  nun  sehr  geeignet,  um  eine  bei  Kant  und  seinen 
Anhängern  häufig  wiederholte  Mischform  des  Beweises  für  die  Idealität  des 
Baumes  kenntlich  zu  machen:  1.  Der  Beweis  setzt  analytisch  ein  mit  der 
reinen  Mathematik  und  leitet  als  Bedingung  dafür  die  reine  Anschauung 
des  Baumes  ab.  2.  Dann  fährt  der  Beweis  aber  synthetisch  fort,  indem 
nun  gezeigt  (factisch  freilich  fast  immer  einfach  postulirt)  wird,  dass  die 
reine  Anschauung  nur  als  »Form  des  Subjects"  denkbar  sei  (vgl.  dazu  oben 
S.  273.  279.  326),  und  daraus  wird  dann  3.  synthetisch  die  Gültigkeit  der 
Anwendung  der  reinen  Mathematik  für  die  Objecte  abgeleitet.  In  dieser 
Mischform  ist  also  nur  die  reine  Mathematik  Ausgangspunkt  und  Beweis- 
moment ;  die  angewandte  dagegen  ist  hier  nur  Folgerung. 

Diese  Mischform  findet  sich  nun  ganz  besonders  deutlich  bei  Schultz, 
dem  Freunde  Kants.  Schon  in  seinen  Erläuterungen  23  ff.,  besonders  aber 
in  seiner  zweibändigen  , Prüfung  der  Kantischen  Kritik''  schlägt  er  diesen 
Weg  ein.  1.  Ihm,  dem  Mathematiker,  ist  die  reine  Mathematik  der  erste 
und  wichtigste  Beweis  für  die  Apriorität  der  Baumvorstellung:  I,  54 — 84, 
II,  44 — 158,  274;  die  eigentlichen  ursprünglichen  synthetischen  4  Argu- 
mente  für   dieselbe   rangiren   ihm    erst   hinter  jenem   analytischen  Beweis. 

2.  Dass  nun  die  Anschauung  a  priori  auch  zugleich  „die  noth wendige  sub- 
jective Form  der  äusseren  Wahrnehmung"  sei,  das  wird  von  Schultz  I,  211, 
II,   232.   272    ohne   weiteren  Beweis    fast    als    selbstverständlich    postulirt. 

3.  Und  aus  dieser  These  wird  nun  II,  284  f.  —  gewissermassen  nur  bei- 
läufig —  die  Folgerung  gezogen:  „Da  alle  äusseren  Erscheinungen 
schlechterdings  im  Baum  sein  müssen,  so  hat  der  Baum  in  Ansehung  aller 


342  Excurs.  —  §  B.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

äusseren  Erscheinungen  objective  Oültigkeit.  Also  sind  alle  Sätze  der  Geo- 
metrie für  alle  äusseren  Erscheinungen  noth wendig  und  auf  das  Präciseste 
gültig,  mitbin  rührt  es  bloss  von  unserer  Schwäche  her,  wenn  bej  der 
Grössenm essung  empirischer  Gegenstände  die  Resultate,  die  wir  gefunden, 
nicht  immer  in  der  grossesten  Schärfe  richtig  sind.  Und  so  ist  mit  apodik- 
tischer Gewissheit  auch  die  Frage  entschieden:  wie  ist  angewandte 
Mathematik  möglich?'' 

Es  liegt  auf  der  Hand,  weshalb  gerade  diese  Mischform  bei  Kant  und 
den  Kantianern  so  beliebt  werden  musste  (in  neuerer  Zeit  besonders  bei 
Biehl,  vgl.  dessen  Krit.  I,  831;  II,  a,  108).  Von  der  reinen  Mathematik 
ging  man  natürlich  gerne  aus,  weil  dieser  Ausgangspunkt  ein  unbestrittener 
war;  dieser  analytische  Gang  war  geeignet,  auf  weiteste  Kreise  ioiponirend 
und  fascinirend  zu  wirken.  Auf  die  angewandte  Mathematik  musste  man 
aber  erst  durch  synthetische  Folgerung  kommen,  weil  ja  eben  die  Gültigkeit 
derselben  vielfach  bestritten  war.  Im  urspünglichen ,  streng  synthetischen 
Gedankengang  Kants  aber  durfte  auch  die  reine  Mathematik  nur  als  Fol- 
gerung, nicht  als  Beweis  fnngiren. 


Dritter  Absatz. 
A  26.  B  42.  [R  87.  H  62.  E  78.] 

In  diesem  wichtigen  Absatz  wird  zwar  eigentlich  kein  einziger  Ge- 
danke vorgebracht,  der  nicht  schon  im  Bisherigen  involvirt  wäre;  aber 
der  Werth  des  Absatzes  besteht  eben  darin,  dass  die  volle  Tragweite  des 
bisher  Gefundenen  dem  Leser  vor  Augen  gestellt  wird  *.  Indem  Kant  den 
Abschnitt  mit  „demnach"  beginnt,  charakterisirt  er  denselben  eben  als 
eine  Beihe  von  Folgerungen  aus  dem  Bisherigen.  Diese  Folgerungen  lassen 
sich  alle  zusammenfassen  unter  dem  Namen  des  sog.  anthropocentri- 
schen  Standpunktes,  dessen  Grundzüge  hier  mit  wenigen,  aber  markigen 
Strichen  gezogen  werden:  wir  können  »nur  aus  dem  Standpunkte  eines 
Menschen  vom  Räume,  von  ausgedehnten  Wesen  u.  s.  w.  reden.* 
Dieses  „nur"  wird  in  diesem  Absatz  nicht  weniger  als  viermal  wiederholt. 
Der  Raum  ist  nur  „die  subjective  Bedingung"  (conditio  subjectiva ,  sagt 


^  Dass  der  Idealismus  von  Kant  hier  erst  in  den  „Schlüssen*  als  eine  Fol- 
gerung eingeführt  wird,  soll  nach  A dickes  S.  76  N.  beweisen,  dass  „ihm  hier 
noch  die  Begründung  der  apriorischen  Erkenntniss  (Rettung  des  Rationaüsmus)  die 
Hauptsache  ist,  nicht  der  Idealismus*.  Aber  diese  Anordnung  ist  durch  den  syn- 
thetischen Gang  der  Darstellung  bedingt;  auch  Spinoza  bringt  oft  gerade  in 
den  Folgerungen  dasjenige  vor,  was  ihm  die  Hauptsache  ist.  Uebrigens  rertritt 
Adickes  eine  vielfach  bestrittene  Anschauung.  Wer  kann  denn  nach  den  Aus- 
führungen Volkelts,  sowie  nach  den  zahlreichen  Nachweisen,  welche  im  eisten 
Bande  dieses  Commentars  gegeben  worden  sind,  ohne  weitere  Begründung 
behaupten,  Kant  habe  entweder  den  Rationalismus  oder  den  Idealismus  als 
„Hauptsache*  betrachtet?  Eine  solche  einseitige  Anschauung  dürfte  durch  die 
neuere  Kantforschung  doch  als  etwas  erschüttert  gelten. 


Die  anthropocentrischen  Folgerungen.  343 

[R  37.  H  62.  K  78.]  A26.27.B43. 

die  Dissertation  §  14,  5  und  §  15  E),  unter  der  wir,  zafolge  der  Aifection 
„von  den  Gegenständen',  empirische  Anschauung  derselben  bekommen  können. 
Das  „Prädicaf  der  Räumlichkeit  kann  den  Dingen  nur  beigelegt  werden, 
, insofern  (vgl.  das  beliebte  „quatenus"  des  Spinoza)  sie  uns  erscheinen".    Der 
Kaum  ist  eben  ,die  beständige  (constante)  Form  unserer  Beceptivitäf*  (vgl. 
dazu  oben  S.  62),   die  reine  Form  unserer  Anschauung  der  Gegen- 
stände und,  wenn  man  von  diesen  abstrahirt,  reine  Anschauung  selbst 
(vgl.  dazu  oben  S.  104).    Diese  „ Bedingung  unserer  Sinnlichkeit''  ist  natürlich 
nicht  eine  „Bedingung  der  Möglichkeit''  der  Dinge  selbst  an  sich,  sondern 
nur  ihrer  Erscheinungen  für  uns  ^    aber  für  diese  ist  der  Baum  auch  das 
unumgänglich  noth wendige  receptaculum:  so  hatten  ja  auch  Newton  und 
Clarke  den  Baum  genannt,   aber   im  absoluten,   objectiven  Sinne.     Diesem 
Newton'schen  Ausdruck  gibt  Kant  eben  jene  seine  subjectivistische  Wendung : 
„Der  Baum  umfasst  alle  Dinge,  die  uns  äusserlich  erscheinen  mögen,  aber 
nicht  alle  Dinge  an  sich  selbst."   —  Der  weitere  Verlauf  der  Stelle  unter- 
scheidet nun  darin  mehrere  Fälle:   die  Räumlichkeit  gilt  nicht  für  alle  Dinge 
an  sich  selbst,  sei  es,  dass  dieselben  [von  irgend  einem  anderen  Wesen  als 
von  uns]  angeschaut  werden,  oder  dass  sie  überhaupt  nicht  angeschaut  werden. 
Den  letzteren  Fall  —  dass  sie  überhaupt  nicht  angeschaut  werden  —  ana- 
lysirt  Kant  nicht;  gerade  auf  diesen  wichtigen  Fall  ist  er  nicht  eingegangen; 
er  hätte  ja  Rechenschaft  darüber  geben  müssen ,   weshalb   wir  denn    den 
Dingen  an  sich,  die  wir  nicht  kennen,  die  Räumlichkeit  absprechen  dürfen. 
Wenn  es  auch  nicht  wahrscheinlich  sein  sollte,   dass  unsere  Anschauungs- 
bedingungen zugleich   Sachbedingungen   sind,    so   hätte   Kant   doch    einen 
zwingenden  Grund  dafür  resp.  dagegen  nicht  angeben  können,  und  so  ist 
zu  verstehen,  dass  er,  wie  Erdmann  in  seinen  „Nachträgen"  S.  18,  sub  XXII 
anführt,  in  seinem  Handexemplar  diesen  Fall  gestrichen  hat.    Der  erstere  Fall 
dagegen  wird  dahin  erweitert,  dass  es  dabei  ganz  gleichgültig  sei,  was  das  für 
Subjecte  sein  mögen;  es.  gelte  das  für  die  Anschauung  seitens  aller  beliebigen 
anderen  Wesen.  Denn  diese  „anderen  denkenden  Wesen"  (Wesen  auf  anderen 
Wohnorten,  höhere  Geister,  Gott)  brauchen  ja  nicht  „an  die  nämlichen  Bedin- 
gungen" gebunden  zu  sein,  nicht  an  diejenigen,  die  uns  „einschränken",  sondern 
an  andere;  oder  vielleicht  auch  an  gar  keine  *.  »Wir  kennen  ja  nichts  als  unsere 
Art,  die  uns  eigenthümlich  ist,  die  auch  nicht  nothwendig  jedem  Wesen, 


'  „Wir  dürfen  die  Bedingungen  unserer  Sinnlichkeit  nicht  für  Bedingungen 
der  Möglichkeit  der  Sachen  ausgeben:  —  dies  ist  die  einfache  Reflexion,  welche 
genügt,  um  den  festgewurzelten  Glauben  an  die  transsc.  Realität  des  Raumes  zu  er- 
schüttern, und  die  transsc.  Idealität  desselben  wenn  nicht  assertorisch  zu  be- 
haupten, doch  in  einem  problematischen  TJrtbeil  auszusagen. '^  Arnoldt,  R.  u.  Z.  58. 

*  Eine  beachtenswerthe  Ergänzung  dieser  Gedanken  bietet  A  557 ;  man  könne 
die  Frage  nicht  beantworten,  ja  dürfe  sie  nicht  einmal  aufwerfen:  „woher  der 
transscendentale  Gegenstand  unserer  äusseren  sinnlichen  Anschauung  gerade  nur 
Anschauimg  im  Räume .  und  nicht  irgend  eine  andere  gebe."  Dieses  „geben"  ist 
übrigens  zu  beachten !    Eigentlich  „geben*  die  Dinge  an  sich  nur  StofiF,  nicht  Form. 


344  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A27.B48.  [B  37.  H  62.  E  78.] 

obzwar  jedem  Menschen,  zukommen  muss"  —  heisst  es  unten  A  42  bei  der 
Zusammenfassung  der  Transsc.  Aesthetik,  wo  dieser,  schon  bei  Leibniz 
sich  häufig  findende  Gedanke  wiederum  verwerthet  wird.  Jedenfalls  sind 
wir  an  jene  Bedingungen  ^gebunden*' ,  diese  Bedingungen  wirken  «ein- 
schränkend"  auf  uns,  d.  h.  sie  erlauben  uns  nicht  über  die  «Schranken* 
unserer  subjectiven  Anschauung,  über  die  g Schranken*^  der  Erscheinung 
hinauszugehen  —  natürlich  zu  den  Dingen,  wie  sie  an  sich  sein  mögen: 
dass  wir  in  solche  ^Schranken*'  eingeschlossen  sind,  ist  eine  Wendung,  welche 
ja  Kant  sehr  liebt  (s.  bes.  die  Schrift  gegen  Eberhard,  Abschn.  C).  Es  ist 
wesentlich  und  zu  beachten,  dass  schon  hier  die  Sinnlichkeit  als  eine  »Ein- 
schränkung' erscheint.  Kant  wiederholt  dies  noch  häufig,  so  z.  B.  A  640 
=  B  669:  das  höchste  Wesen  werde  wohl  nicht  9  allen  Einschränkungen 
unterworfen  sein  müssen,  welche  die  Sinnlichkeit  den  Intelligenzen,  die  wir 
durch  Erfahining  kennen,  unvermeidlich  auferlegt." 

Die  ganze  Natur  ist  also  nur  für  uns  da.  Dies  formulirt  Kant  aus- 
drücklich als  das  Resultat  der  Aesthetik  in  den  Proleg.  §  36  so:  «Wie  ist 
Natur  in  materieller  Bedeutung,  nämlich  der  Anschauung  nach,  als  der 
Inbegriff  der  Erscheinungen,  wie  ist  Baum,  Zeit  und  das,  was  beide  erfüllt, 
der  Gegenstand  der  Empfindung,  überhaupt  möglich?  Die  Antwort  ist: 
vermittelst  der  Beschaffenheit  unserer  Sinnlichkeit,  nach  welcher  sie  auf  die 
ihr  eigenthümliche  Art  von  Gegenständen,  die  ihr  an  sich  selbst  unbekannt 
und  von  jenen  Erscheinungen  ganz  unterschieden  sind,  gerührt  wird.'  &> 
gilt  denn  diese  Raumanschauung  nur  für  diese  empirische  Natur  und  nur 
für  uns  als  empirische  Subjecte,  aber  sie  ist  weder  für  alle  Objecte  an 
sich  gültig,  noch  für  alle  Subjecte. 

Auf  dieses  Resultat  der  Aesthetik  beruft  sich  Kant  häufig  in  den  späteren 
Theilen  der  Kr.  d.  r.  V.:  so  bes.  in  der  Transsc.  Dialektik,  in  den  .Paralo- 
gismen'  A  356:  „Wir  haben  in  der  Transsc.  Aesthetik  unleugbar  bewiesen, 
dass  Körper  blosse  Erscheinungen  unseres  äusseren  Sinnesund  nicht  Dinge  an  sich 
selbst  sind.'  »Für  diesen  Transsc.  Idealism  [der  zugleich  empirischer  Realism 
ist]  haben  wir  uns  schon  am  Anfang  erklärt,*  ib.  A  370.  378.  Ferner 
bei  den  Antinomien  in  dem  bekannten  Abschnitt:  «Der  Transsc.  Idealism, 
als  der  Schlüssel  zur  Auflösung  der  kosmologischen  Dialektik',  A  490 
=  B  518:  »Wir  haben  in  der  Tr.  Aesthetik  hinreichend  bewiesen  u.  s.w.* 
B  148  wird  hervorgehoben,  dass  »die  Transsc.  Aesthetik  die  Grenze  des  Ge 
brauchs  der  reinen  Form  unserer  sinnlichen  Anschauung  bestimmte:  R.  u.  Z. 
gelten,  als  Bedingungen  der  Möglichkeit,  wie  uns  Gegenstände  gegeben 
werden  können,  nicht  weiter,  als  für  Gegenstände  der  Sinne,  mithin  nur  der 
Erfahrung.  Ueber  diese  Grenzen  hinaus  stellen  sie  gar  nichts  vor;  denn  sie 
sind  nur  in  den  Sinnen  und  haben  ausser  ihnen  keine  Wirklichkeit.*  Als 
wesentliche  Ergänzung  hiezu  ist  aber  zu  beachten,  was  A  251  gesagt 
wird:  „Dies  war  das  Resultat  der  ganzen  Tr.  Aesthetik,  und  es  folgt  auch 
natürlicherweise  aus  dem  Begriffe  einer  Erscheinung  überhaupt:  dass  ihr 
etwas  entsprechen  muss,  was  nicht  Erscheinung  ist'  u.  s.  w. 


Der  Mensch  im  Gegensatz  zu  «anderen  denkenden  Wesen ^  345 

[R  37.  H  62.  E  78.]  A27.B48. 

Der  obige  Hinweis  Kants  auf  «andere  denkende  Wesen"  ist  nicht 
etwa  bloss,  wie  man  das  häufig  so  auffasst,  eine  bloss  dialektische  Wendung, 
sondern  durchaus  ernst  gemeint.  Die  Existenz  und  Natur  der  , Geisterwelt" 
war  für  Kant  von  Anfang  an  ein  interessantes  Problem.  In  der  Naturgesch. 
des  Himmels,  R.  VI,  179  ff.  und  bes.  206  ff.  „von  den  Bewohnern  der 
Gestirne"  gibt  K.  «Muthmassungen"  über  die  „ verschiedenen  Grade  der 
Geisterwelt",  die  verschiedenen  , Klassen  vernünftiger  Wesen",  die  „Gattungen 
denkender  Naturen",  über  die  verschiedenen  , Wohnplätze"  dieser  „vernünf- 
tigen Creaturen".  Er  spricht  ausführlich  über  die  Abhängigkeit  der  „gei- 
stigen Fähigkeiten"  der  verschiedenen  Planetenbewohner  von  der  gröberen 
oder  feineren,  schwereren  oder  leichteren  Materie,  je  nach  dem  „Abstand  der 
Wohnplätze  von  der  Sonne".  Die  Bewohner  des  Jupiter  oder  Saturn  gehören 
zu  den  „erhabensten  Klassen  vernünftiger  Creaturen".  Diese  haben  jeden- 
falls eine  andere  Zeitvorstellung,  als  wir,  sind  dem  Tod  nicht  in  demselben 
Maasse  unterworfen  als  wir  u.  s.  w.  Der  Mensch  nimmt  eine  mittlere  Stellung 
zwischen  jenen  voiirefflichsten  und  zwischen  unvollkommeneren  Gattungen 
der  „denkenden  Naturen"  ein.  Diese  Gedanken,  denen  ausdrücklich  „Wahr- 
scheinlichkeit" zugesprochen  wird,  hat  Kant  in  den  „Träumen  eines  Geister- 
sehers u.  s.  w."  in  jener  halb  ernsten,  halb  ironischen  Weise  fortgesponnen, 
welche  diese  merkwürdige  Schrift  kennzeichnet.  (Eine  andere  Ausführung 
dieser  Gedanken  gibt  Du  Prel,  Die  Planetenbewohner  1880,  S.  114 — 175.) 
Vgl.  Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  497:  „Wir  könnten  uns  wohl  eine  unmittel- 
bare Yorstellungsart  eines  Gegenstandes  denken,  die  nicht  nach  Sinnlich- 
keitsbedingungen, also  durch  den  Verstand  die  Objecte  anschaut.  Aber  von 
einer  solchen  haben  wir  keinen  haltbaren  Begriff;  doch  ist  es  nöthig,  sich 
einen  solchen  zu  denken,  um  unserer  Anschauungsform  nicht  alle  Wesen, 
die  Erkenntnissvermögen  haben,  zu  unterwerfen.  Denn  es  mag  sein,  dass 
einige  Weltwesen  unter  anderer  Form  dieselben  Gegenstände  anschauen 
dürften ' ;  es  kann  auch  sein ,  dass  diese  Form  in  allen  Weltwesen ,  und 
zwar  nothwendig  ebendieselbe  ist,  so  sehen  wir  diese  Nothwendigkeit  doch 
nicht  ein."  Auf  die  letztere  Möglichkeit  weist  übrigens  Kant  auch  unten 
in  der  der  2.  Auflage  angehörigen  Anmerkung  11  zur  Aesthetik  hinein,  be- 
merkt aber,  dass  diese  Ausdehnung  der  Raumanschauung  auf  „alles  endliche 
denkende  Wesen"  an  deren  Subjectivität  nichts  ändern  würde'.  Sehr  deutlich 


^  Dieser  Beschränkung  der  A nach auungs formen  auf  die  Menschen,  und  dem 
Zweifel,  ob  dieselben  für  andere  denkende  Wesen  gelten,  steht  eigenthümlich  gegen- 
über die  bekannte  Ausdehnung  der  sittlichen  Vorstellungsformen  auf  „alle  Ver- 
nunftwesen",  vgl.  z.  B.  Grundleg.  z.  Met.  d.  Sitten,  Vorrede  (Ros.  VIII,  5).  Dieser 
Widerspruch  ist  Kant  öfters  vorgeworfen  worden  (vgl.  Tobias,  Grenzen  der  Philos.  327). 

*  Herbart  dagegen  meint  (W.  W.  IV,  248),  jener  Beschränkung  halber  bleibe 
für  Kant  der  Raum  doch  bloss  »subjeetiver  Schein';  erst  wenn  man  zeige,  dass 
das  Zusammen  der  Realen  in  jedem  denkenden  Wesen  wie  in  einem  Spiegel  das 
unreale  Bild  des  Räumlichen  hervorrufe,  fasse  man  den  Raum  als  „objectiven 
Schein*.    Vgl.  Trendelenburg,  Log.  Unt.  I,  203  ff. 


346  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Kaum. 

A  27.  B  48.  [B  87.  H  62.  E  78.] 

erklärt  auch  Kant  in  der  Grundl.  z.  Met.  d.  Sitten,  8.  Abschn.  (R.  VIII,  84). 
lydass  die  Sinnen  weit  nach  Verschiedenheit  der  Sinnlichkeit  in  mancherlei 
Weltbeschauern  auch  sehr  verschieden  sein  kann,  indess  die  Verstandes- 
welt, die  ihr  zum  Grunde  liegt,  immer  dieselbe  bleibt.'  (Vgl.  Lange,  Gesch. 
d.  Mat.  II,  36.  129.)  Kant  hat  also  diese  aus  seiner  vorkritischen  Zeit 
stammende  Idee  auch  in  seiner  „kritischen*'  Zeit  allen  Ernstes  festgehalten. 
Schneider,  Psych.  Entw.  d.  Apriori  S.  22  ff.  macht  zu  dieser  Stelle 
die  treffende  Bemerkung :  „Von  den  anderen  denkenden  Wesen  maasst  sich 
der  kritische  Philosoph  nicht  an,  etwas  zu  wissen;  er  beschrftnkt  sich  auf 
uns  Menschen  so  sehr,  dass  ihm  nach  meinem  Dafürhalten  hieraus  ein  be 
rechtigter  Einwand  erwächst.  Denn  offenbar  kennen  wir  in  den  Thieren 
Wesen,  welche  eine  den  Menschen  entweder  gleiche  oder  wenigstens  ähnliche 
Art  der  Kaum-  und  Zeitanschauung  besitzen,  und  zwar  ohne  dabei  syn- 
thetische Urtheile  a  priori  in  Mathematik  und  Physik  zu  haben.  Kants 
Fehler  ist  es  aber,  den  psychologischen  Gesichtspunkt  zu  sehr  vernachlässigt 
zu  haben;  sonst  hätte  er  diese  thierischen  Vorstellungen  yon  R.  u.  Z.  io 
den  Bereich  seiner  Betrachtungen  mithineingezogen,  und  dann  musste  er  zu 
einem  anderen  Resultate  als  dem  der  blossen  Idealität  jener  Anschauungs- 
formen gelangen.*  Schneider,  ein  gemässigter  Anhänger  Kants,  behandelt 
demgemäss  S.  79  ff.  123  ff.  R.  u.  Z.  ,im  thierischen  Innewerden' .  Aehnlicb 
schon  Kiese  Wetter  1792,  in  Kosmanns  Allg.  Magazin  für  krit.  u.  popul. 
Philos.  I,  2,  36 — 61:  „Ueber  das  Erkenntnissvermögen  der  Thiere  und  der 
Gottheit."  Ueber  Thiere  vgl.  auch  Schopenhauer,  W.  W.  II,  520;  Lange, 
G.  d.  Mat.  II,  46. 

Man  hat  in  der  neueren  Zeit  die  Gedanken  Kants  dahin  erweitert,  dass 
es  ja  auch  denkbar  sei,  dass  andere  Wesen  eine  andere  Form  der  Raum- 
anschauung  haben  könnten,  statt  der  dreidimensionalen  eine  zweidimen- 
sionale oder  vierdimensionale  u.  s.  w.  Einer  der  Ersten,  welcher  diesen 
Gedankengang  einschlug,  ist  F.  A.  Lange,  schon  1866  in  der  1.  Aufl.  seiner 
Gesch.  des  Materialismus,  dann  daselbst  in  der  2.  Aufl.  II,  S.  429  f.  450  f. 
„Es  ist  überflüssig,  solche  Möglichkeiten  weiter  aufzuzählen;  vielmehr  ge- 
nügt es  vollständig  zu  constatiren,  dass  ihrer  unendlich  viele  sind,  und 
dass  die  Gültigkeit  unserer  Anschauung  von  Raum  und  Zeit  für  das  Ding 
an  sich  daher  äusserst  zweifelhaft  erscheint.*'  Lange  hat  daselbst  (450) 
diese  Gedanken  auch  gegenüber  den  Einwänden  von  Lotze  (Logik  S.  217) 
und  Dühring  (Princ.  der  Mechanik  S.  488)  aufrecht  zu  halten  gesucht. 
Weil  unsere  dreidimensionale  Raumanschauung  nur  ein  Specialfall  aller 
denkbaren  Raumanschauungen  ist,  erscheint  dieselbe  Lange  also  schwerlich 
für  die  absolute  Welt  der  Dinge  an  sich  gültig. 

Derartige  Gedanken  haben  dann  bekanntlich  von  mathematischer  Seite 
tJnterstützung  erfahren  durch  die  sog.  metageometrischen  Speculationen 
von  Riemann  und  Helmholtz,  vgl.  oben  267.  Vgl.  B.  Erdmann,  Die 
Axiome  der  Geometrie.  Eine  philosophische  Untersuchung  der  Riemann-Helm- 
holtz'schen  Raumtheorie,  1877,  bes.  S.  109  ff.    Dagegen  Tobias,  Grenzender 


Metageometrische  Specalationen.  347 

[B  87.  H  62.  E  78.]  A27.B43. 

Philosophie,  1875,  S.  38  ff.,  104  ff.  und  Krause,  Kant  und  Helmholtz 
über  den  Ursprung  und  die  Bedeutung  der  Raumanschauung  und  der  geo- 
metrischen Axiome,  1878.  Schwertschlager,  Kant  und  Helmholtz  er- 
kenntnisstheoretisch verglichen,  1883,  S.  46  ff.  Pesch,  S.  J.,  Das  Welt- 
phänomen, S.  100 — 107.  Fr.  Schulze,  Philos.  d.  Naturwissenschaft  II, 
132—153.  Cohen,  Th.  der  Erfahrung,  2.  Aufl.,  223  ff.  Besonders  werthvoll 
und  treffend  sind  Lotze's  Ausführungen  hierüber,  Metaphysik  S.  195. 
233—267.  Vgl.  übrigens  auch  schon  Herbart,  Allg.  Metaph.  II,  253— 262. 
Vgl.  auch  noch  besonders  Wundt,  Logik  I,  439—452.  Auch  Gutberiet, 
Die  neuere  Baumtheorie,  1882,  S.  36. 

Im  Anschluss  an  Gauss,  Biemann  und  Helmholtz  hat  neuerdings  bes. 
Liebmann,  Z.  Analysis  der  Wirklichkeit,  1876,  S.  53  ff.  (vgl.  Viert,  f.  wiss. 
Phil.  I,  203)  den  Gedanken  weiter  ausgebildet,  dass  unsere  menschliche 
Baumanschauung  nur  ein  „Specialfall*  unter  verschiedenen  Möglichkeiten 
sei,  und  findet  in  diesen  „subtilen  Speculationen  der  modernen  Mathematik* 
eine  „Bewährung*  des  Kantischen  Idealismus  (womit  auch  übereinstimmt 
Fortlage,  Jen.  Lit.  Zeit.  1876,  S.  266).  „Da  der  Begriff  eines  Anschauungs- 
vermögens, welches  vollkommen  anders  geartet  ist,  als  das  unserige,  keinen 
logischen  Widerspruch  involvirt  (man  denke  doch  z.  B.  an  die  Fechner'sche 
Flächenintelligenz  oder  an  die  Thiere  mit  Facetten  äugen,  in  deren  seltsame 
Weltanschauung  sich  Niemand  hineinversetzen  kann)  so  ist  klar,  dass  die  Mög- 
lichkeit von  Intelligenzen ,  die  einen  uns  unbegreiflichen  Baum  anschauen, 
sowie  dass  ein  von  unserer  Baumanschauung  völlig  verschiedener  absoluter 
Baum  realiter  existire,  schlechthin  offen  und  unbestreitbar  bleibt*  u.  s.  w. 
Auch  Gauss  habe  die  drei  Dimensionen  des  Baumes  als  eine  „specifische 
Eigen thümlichkeit  der  menschlichen  Intelligenz*  betrachtet. 

Während  viele  Kantianer  mit  Liebmann  in  solchen  Gedanken  eine  Be- 
stätigung der  Kantischen  Baumtheorie  sehen,  finden  Andere  beides  unver- 
träglich und  sind  der  Meinung,  Kant  selbst  würde  solche  Gedanken  weit  von 
sich  gewiesen  haben,  weil  dadurch  die  objective  Gültigkeit  der  Mathematik 
in  seinem  Sinne  ihm  beeinträchtigt  erscheinen  müsste.  So  bes.  Lasswitz, 
Die  Lehre  Kants,  1883,  S.  139—167.    Tobias,  Grenzen  d.  Phil.  64. 

Kant  selbst  würde  wohl  in  dieser,  wie  in  so  vielen  anderen  Fragen  eine 
schwankende  Stellung  eingenommen  haben.  Vgl.  übrigens  oben  S.  267  sowie 
die  wichtige  Bemerkung  in  den  Proleg,  §  12,  „dass  der  vollständige  Baum 
(der  selbst  keine  Grenze  eines  anderen  Baumes  mehr  ist)  drei  Abmessungen 
habe,  und  Baum  überhaupt  auch  nicht  mehr  derselben  haben 
könne*.  Nach  dieser  Stelle  wenigstens  wären  ihm  jene  Gedanken  nicht 
sympathisch  gewesen,  aber  viele  sonstige  Aeusserungen  Kants  aus  früherer 
und  späterer  Zeit  lassen  darauf  schliessen,  dass  ihm  jene  Gedankengänge 
von  Lange  und  Liebmann  ganz  gelegen  gewesen  wären.  ^ 


*  Nur  im  Vorbeigehen  seien  die  wunderlichen  Ausgeburten  der  Zöllner*schen 
Phantasie  erwähnt.   Er  lehrte  mit  Kant  die  Subjectivitat  unserer  Baumanschauung, 


348  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A  27.  B  43.  [R  88.  H  62.  E  79.] 

Seinem  oben  entwickelten  Ergebniss  gibt  nun  Kant  noch  einen  anderen 
Ausdruck:  Jene  Einschränkung  trifft  den,  dem  gewöhnlichen  Bewusstsein 
so  naheliegenden  Grundsatz,  dass  alle  Dinge  im  Räume  seien,  hart;  es  gilt 
jetzt  auch  der  gegentheilige  Satz :  nicht  alle  Dinge  sind  im  Räume ;  es  gibt 
Dinge,  die  nicht  im  Räume  sind.  Eine  ^ allgemeine  Regel '^  gibt  man  aber 
nicht  gerne  auf.  Man  kann  aber  die  Allgemeinheit  jener  Regel  durch 
eine  einfache  logische  Operation  retten:  man  setzt  die  einschränkende  Be 
dingung  zum  Subject  selbst  hinzu,  dann  lässt  sich  jene  Regel  doch  wieder, 
logisch  genommen,  in  der  Form  der  Allgemeinheit  aussprechen.  Wir  hatten 
bisher  den  allgemeinen  Satz :  Alle  8  sind  P ;  da  zeigt  sich ,  dass  wir  jene 
Allgemeinheit  irrigerweise  angenommen  haben ;  es  gibt  S,  welche  nicht  P  sind. 
Jener  Satz:  alle  S  sind  P,  gilt  nämlich  nur  unter  einer  Bedingung  B,  welche 
zwar  in  den  gewöhnlichen  Fällen  zutrifft,  aber  in  aussergewöhnlicben  Fällen 
fehlt,  unser  allgemeiner  Satz:  alle  S  sind  P,  ist  zerstört;  ich  bin  um  eine 
allgemeine  Erkenntniss  ärmer,  und  doch  sind  allgemeine  Sätze  für  unser 
Erkennen  so  wichtig.  Wenn  ich  nun  die  Bedingung  B  sogleich  zum  Subject 
hinzufüge,  dann  bleibt  mir  doch  formell  ein  allgemeiner  Satz:  alle  S, 
insofern  B  bei  ihnen  zutrifft,  sind  P.  Aber  diese  Restriction  darf  ich 
nun  nicht  mehr  weglassen,  sonst  wird  der  Satz  falsch.  (Vgl.  zu  dieser 
logischen  Operation  Kants  Logik  §  21,  Anm.  4,  sowie  auch  Krit.  A  147—149 
über  diese  Restriction  im  Gegensatz  zur  ^Amplification.')  Mit  jener 
Restriction  gilt  der  Satz  aber  auch  ganz  allgemein,  und,  da  wir  es  nur  mit 
den  Fällen  zu  thun  haben,  in  denen  jene  Restriction  sich  findet,  so  haben 
wir  für  unser  empirisches  Erkennen  doch  den  werthvoUen,  allgemeinen  Satz 
gewonnen:  alle  Dinge,  mit  denen  wir  es  zu  thun  haben,  die  jemals  in 
unseren  Anschauungskreis  fallen,  sind  räumlich  und  müssen  es  sein^ 

Das  Resultat  dieser  „Erörterungen"  (vgl.  Cohen,  2.  A.  176!)  wird  nun 


nahm  aber  an,  die  Welt  der  Dinge  an  sich  sei  nicht  onraumlich,  sondern  in  einem 
anderen  als  dem  dreidimensionalen  Räume :  die  Kantischen  Dinge  an  sich  und  die 
Platonischen  Ideen  seien  Gegenstände  einer  , vierten  Dimension" !  Wo  übrigens 
Zöllner  Kant  citirt,  legt  er  ihn  ohne  Ausnahme  falsch  aus;  s.  Theorie  d.  Materie, 
Vorr.  75.  82  ff.  Wiss.  Abhandl.  I,  220.  259.  279.  505.  725;  II,  892  f.;  ÜI,  585.  592. 
Naturwiss.  u.  christl.  Offenb.  71  ff.  lieber  Oetinger  und  Fricker  als  Voii^biger 
der  Idee  einer  vierten  Dimension  s.  Wiss.  Abhandl.  III,  577  ff.,  Über  More  s.  Skalen- 
photometer,  102  ff.  Ueber  die  damit  zusammenhängende  Theorie  der  .symmetn- 
sehen  Gegenstände"  s.  den  später  folgenden  Ezcurs. 

^  Ganz  ähnlich  äussert  sich  Kant  schon  in  der  Dissertation  §  27.  Man 
erkennt  daselbst  auch  leicht,  dass  die  Einschränkung  des  Raumes  auf  das  Sinn- 
liche besonders  im  Interesse  des  Gottesbegriffes  geschehen  ist,  wie  ja  auch  B  70—71 
zeigt.  Dies  tritt  auch  besonders  stark  hervor  bei  M.  H  e  r  z ,  Betrachtungen,  177L 
S.  97—101.  133—135,  woraus  sich  auch  ergibt,  dass  K.  mit  dieser  aEinschränknng' 
sich  speciell  gegen  Grus  ins  wendet,  welcher  (Nothw.  Vem.  Wahrh.  §  48)  jenen 
Satz  allgemein  aufgestellt  hatte.  Vgl.  C.  Festner,  Chr.  Aug.  Crusius  als  Met«- 
physiker.    Diss.    Halle,  1892,  S.  15.  33.  39.  59. 


Die  ^empirische  Realität*'  des  Raumes.  349 

[B  88.  H  62.  E  79.]  A28.B44. 

von  Kant  noch  in  eine  neue,  schärfere  Formel  gebracht.  Die  beiden  Schlu8S- 
sätze  des  Absatzes  geben  diese  neue  Formel  in  doppelter  Redaction.  Jener 
oben  gewonnene  allgemeine  Satz  lehrt  eben,  dass  der  Raum  „in  Ansehung 
alles  dessen,  was  äusserlich  als  Gegenstand  uns  vorkommen  kann**,  ,in  An- 
sehung aller  möglichen  äusseren  Erfahrung*'  (vgl.  Cohen  59,  2.  A.  179) 
,, gültig'  ist;  för  diese  empirischen  Gegenstände  ist  dem  Raum  ,, Realität" 
zuzuerkennen,  d.h.  eben  , Gültigkeit'',  oder  noch  schärfer  „objective  Gültig- 
keit"; es  soll  und  kann  das  eben  nichts  anderes  heissen,  als  dass  der 
Raum  für  alle  Erscheinungen  nothwendig  ist,  da^  sie  erst  durch  ihn  zu 
empirisch  wahrnehmbaren,  sinnlichen  Objecten  für  uns  werden.  Für  diese 
Erscheinungen  ist  der  Raum  nothwendig  und  allgemeingültig,  d.  h.  objectiv, 
real;  in  Bezug  auf  sie  hat  die  Raumvorstellung,  wie  Kant  sonst  wohl  sagt, 
„Bedeutung* ;  eine  Vorstellung  hat  eben  Bedeutung,  wenn  sie  „Beziehung 
auf  Objecte"  hat  (Lossius,  Lex.  I,  478);  sonst  ist  sie  ein  blosses  Product  der 
Einbildung.  In  Ansehung  der  Erscheinungen  ist  er  objectiv,  obwohl  er 
(oder  vielmehr  gerade  weil  er)  eine  subjective  Anschauungsform  ist.  „Ob- 
jective  Realität"  ist  also  hier  so  viel  als  Allgemeingültigkeit ;  der  Raum  ist 
in  empirischer  Hinsicht  ^ objectiv  real";  weil  er  sich  auf  alle  empirischen 
Gegenstände  anwenden  lässt,  weil  diese  Gegenstände  ihm  und  seinen  Ver- 
hältnissen nothwendig  entsprechen,  weil  sie  sogar  ohne  ihn  nichts  sind 
und  nicht  wären.  (Ueber  ^ objectiv*  in  diesem  Sinne  bei  Kant  vgl.  oben 
S.  292).  Der  Ausdruck:  objective  Realität  (Gültigkeit,  Gebrauch  u.  s.  w.) 
in  dem  festgesetzten  Sinne  wird  von  nun  ab  bei  Kant  sehr  oft  wiederholt,  bes. 
unten  A  34  f .  in  dem  entsprechenden  Abschnitt  über  die  Zeit  ^  Diese  em- 
pirische Realität  des  Raumes  schilderte  Kant  schon  sehr  eindringlich  in  der 
Dissertation  §  15E:  Quamquam  conceptus  spatii,  ut  ohjectivi  alicujus  et 
realis  etUiSy  vel  affectioniSy  sit  imaginaritts ,  nikilo  tarnen  secitts  respective  ad 
sensibilia  quaecunque  non  solum  «5/ verissimiis,  sed  et  omnis  veritatis 
in  sensualüaU  extuma  fundamentum.  Nam  res  non  possunt  8ub  Ulla  specie 
sensibus  apparere,  niai  mediante  vi  animi,  omnes  aensationes  secundum  stabilem 
et  naturae  suae  insitam  legem  coordinante.  Ebenso  nennt  er  daselbst  noch 
einmal  Raum  und  Zeit  conceptus  verissimi;  im  Brief  an  Lambert  vom 
2.  Sept.  desselben  Jahres  nennt  er  sie  „in  Betracht  der  Gegenstände  der 
Sinne  sehr  real";  und  in  den  Fortschr.  der  Met.  Ros.  I,  499  heisst  es: 
„Diese  Idealität  des  R.  u.  d.  Z.  ist  gleichwohl  zugleich  eine  Lehre  der  voll- 
kommenen Realität  derselben  in  Ansehung  der  Gegenstände  der  Sinne." 
Ebendeshalb  weist  Kant  daselbst  auch  (vgl.  darüber  das  Nähere  gleich 
nachher)  den  Vergleich   dieser  Anschauungen   mit  den  subjectiven  Sinnes- 


^  Diese  empirische  Objectivität  des  Raumes  schliesst  natürlich  nicht  aus, 
sondern  im  Gegentheil  ein,  dass  er  im  absoluten  Sinne  doch  schliesslich  nur 
Bubjecüv  ist  und  nicht  „objectiv",  was,  in  Üebereinstimmung  mit  Sinn  und  Wort- 
laut Kants ;  schon  oben  S.  292  für  Trendelenburg  gegen  Fischer  hinreichend  er- 
örtert worden  ist.  —  Vgl.  übrigens  auch  oben  S.  54.  55. 


350  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A88.B44.  [B  88.  H  62.  63.  E  79.] 

qualitäten  zurück.  Ausführlicheres  über  die  , empirische  Realität*  von  R. 
u.  Z.  siehe  A  369  £f.,  sowie  A  490  £f.  über  die  empirische  Wahrheit  der  Gegen- 
stände aller  äusseren  und  inneren  Anschauung,  welche  durch  den  Transsc 
Idealismus  nicht  aufgehoben,  sondern  vielmehr  erst  wahrhaft  garantirt  werde. 

Diese  Wirklichkeit  des  Raumes  schildert  auch  Lotze  im  Eant*scfaen 
Sinne  Mikr.  III,  497.  „Nicht  seine  Wirklichkeit  wird  hiedurch  geschmälert, 
sondern  die  Art  derselben  bestimmt.  Sowie  Ereignisse  wirklich  geschehen, 
obgleich  sie  nie  sind,  sowie  das  Licht  wirklich  glänzt,  obgleich  nie  ausser 
dem  Sinn,  der  es  empfindet  ...  ganz  ebenso  hat  der  Raum  Wirklichkeit 
obgleich  er  nicht  ist,  sondern  nur  erscheint."  Es  gebe  eben  verschiedene 
Arten  der  Wirklichkeit.  In  der  That  kann  man  sagen,  dass  Kant  hier 
einen  neuen  Begriff  der  Wirklichkeit  aufgestellt  habe,  den  der  rela- 
tiven Wirklichkeit  im  Gegensatz  zu  der  absoluten ;  die  letztere  gibt  er  preis, 
um  die  erstere  uns  um  so  stärker  zu  sichern.  Dementsprechend  ist  auch 
ein  neuer  Begriff  der  Wahrheit  von  Kant  aufgestellt  worden:  der  Begrif 
der  relativen  Wahrheit.  Man  kann  dies  in  Analogie  mit  dem  Copernikani- 
sehen  System  so  ausdrücken,  dass,  wie  für  uns  als  wahrnehmende  Wesen 
die  Erde  ruht  und  die  Sonne  sich  bewegt,  so  auch  für  uns  als  anschauende 
Wesen  der  Raum  sammt  seinem  ganzen  Inhalt  real  ist.  Kant  hat  also  — 
mit  einem  Wort  —  die  Begriffe  der  Wirklichkeit  und  der  Wahrheit  rela- 
tivirt. 

Aber  dafür  ist  der  Raum  nun  ganz  und  gar  „ nichts'  in  Hinsicht  auf 
die  Dinge  an  sich.  Eine  Vorstellung  ist  »real',  wenn  sie  Gültigkeit  besitzt 
für  die  Dinge ;  sie  ist  „ideal" ,  wenn  sie  in  Bezug  auf  die  Dinge  ungültig 
ist.  War  der  Raum  in  Hinsicht  auf  die  empirischen  Dinge  ,real" ,  so  ist 
er  in  Bezug  auf  die  Dinge  an  sich  „ideal",  d.  h.  ungültig,  mit  Einem  Worte 
nichts,  oder  wie  Schultz,  Erl.  S.  25  sich  kurzweg  ausdrückt:  „Raum  und 
Zeit  sind  idealische  Dinge,  d.  i.  Nichts."  Also  nur  in  Bezug  auf  Ei^ 
fahrungs dinge  ist  der  Raum  etwas;  „lassen  wir  diese  Bedingung  der  Mög- 
lichkeit aller  Erfahrung  weg",  machen  wir  also  nicht  mehr  diese  Restriction 
(vgl.  oben  S.  175  Anm.  1 ;  vgl.  auch  Cohen  60,  2.  A.  179),  so  ist  der  Raum 
nichts.  Den  „Dingen  an  sich  selbst  liegt  er  nicht  zu  Grunde",  in  Bezug  auf 
diese  hat  die  Raum  Vorstellung  den  Courswerth  Null.  Dass  der  Raum  trans- 
scendental-ideal  sei,  ist  die  Folge  des  Schlusses  a;  dass  er  aber  dennoch 
oder  ebendeshalb  empirisch-real  sei,  ist  die  Folge  des  Schlusses  b. 

Während  nun  jene  Gültigkeit  des  Raumes  für  die  empirischen  Gegen- 
stände mit  einem  durchaus  verständlichen  Ausdrucke  „empirische  Rea- 
lität" desselben  genannt  wird,  wird  die  Ungültigkeit  des  Raumes  in  Bezug 
auf  die  Dinge  an  sich  mit  einer  Wendung  gekennzeichnet,  welche  eine  be- 
sondere Erklärung  verlangt:  denn  sie  besteht  aus  zwei  Termini  —  trans- 
scendentale  Idealität  — ,  deren  jeder  seine  besonderen  Schwierigkeiten  hat 
Zunächst  „Idealität".  Dass  diese  Idealität  mit  dem  modernen  Schlagwort 
der  „Idealität  der  Gesinnung"  und  ähnlichen  Wendungen  nichts  zu  thon 
hat,  ist  bekannt.    In   diesem  Zusammenhange  hier  ist   „ideal"  so  viel  als 


Die  gtransscendentale  Idealität **  des  Raumes.  351 

[B  38.  H  68.  E  79.]  A  28.  B  44. 

eine  bloss  subjective  Vorstellung,  welche  in  Bezug  auf  das  Reale  un* 
gültig  ist  (vgl.  idea  im  Gegensatz  zu  res  bei  Cartesius  und  Locke).  Wie 
der  Ausdruck  zu  dieser  Bedeutung  gekommen  sei,  ist  hier  nicht  zu  erörtern. 
Man  vergleiche  darüber  Eucken,  Philos.  Terminologie,  S.  132,  S.  199  ff.  Des- 
selben „Grundbegriffe  der  Gegenwart^,  S.  224  ff.;  auch  Philos.  Monatshefte 
XX,  27  f.  Näheres  auch  in  meiner  Abhandlung:  „Zu  Kants  Widerlegung 
des  Idealismus '^  in  den  „Strassburger  Abhandlungen  z.  Phil.'  1884  S.  94  f. 
Nicht  in  diesem  Ausdruck  liegt  die  Schwierigkeit,  sondern  in  dem  mit  ihm 
zusammengekoppelten. 

unrichtig  ist  es,  wenn  Rieh],  Krit.  I,  351  f.,  Kant  sagen  lässt:  „Trans- 
scendental,  d.  h.  auf  Dinge  überhaupt  angewandt  ist  der  Raum  eine  blosse 
Idee  .  .  .  Die  Idealität  des  Raumes  gilt  nur  für  den  allgemeinen  oder 
reinen  Raum  ...  Nur  der  reine  Raum  ist,  an  sich  genommen,  eine  Idee." 
(Ebenso  auch  Cohen  59,  2.  Ä..  178  f.)  Unter  ^Idee*  versteht  Kant  immer 
einen  Vernunftbegriff  im  Gegensatz  zu  Kategorien  als  Verstandesbegriffen. 
Diese  Verwendung  des  Ausdruckes  „Idee''  bei  Kant  darf  aber  nicht  identi- 
ficirt- werden  mit  seinem  Terminus:  ideal,  Idealität,  Idealismus;  denn  das 
ist  im  Wesentlichen  identisch  mit  »bloss  in  unserer  Vorstellung  befindlich", 
„bloss  unsere  Vorstellung".  Allerdings  wendet  Kant  auch  jenen  Ausdruck  „Idee" 
auf  die  Raum  Vorstellung  an,  aber  in  einem  ganz  andern  Sinne,  wie  oben  229, 
vgl.  258,  festgestellt  worden  ist. 

In  welchem  Sinne  kann  denn  Kant  diese  Idealität  des  Raumes  eine 
ytransscendentale"  nennen?  Mit  der  Bedeutung,  welche  die  Einleitung 
feststellte  (vgl.  Comm.  I,  467  ff.),  „auf  das  Apriori  bezüglich",  oder  „zur 
Theorie  des  Apriorischen  gehörig"  —  mit  dieser  Bedeutung  scheinen  wir 
zunächst  hier  nichts  anfangen  zu  können.  Im  Gegentheil,  der  ganze  Zu- 
sammenhang gibt  uns  eine  ganz  an  der»  Erklärung  an  die  Hand.  Dem  Raum 
wird  „empirische  Realität"  zugeschrieben,  weil  er  real,  d.  h.  gültig  ist  für 
die  empirischen  Dinge,  für  das  Empirische.  So  wird  ihm  also  „transscen- 
dentale  Idealität"  zugeschrieben,  weil  er  ideal,  d.  h.  ungültig  ist  für  die  trans- 
scendentön  Dinge,  für  das  Transscendente.  Diese  Erklärung  wird  hier  ebenso 
durch  den  logischen  Zusammenhang  wie  durch  den  grammatischen  Wortlaut 
gefordert.  Dieselbe  Auslegung  fordern  auch  die  Parallelstellen.  Schon  was 
gleich  unten  A  36  von  der  „transscendentalen  Idealität"  der  Zeit  gesagt  wird, 
lässt  sich  ja  auch  nicht  anders  auslegen.  Zudem  wird  ja  auch  daselbst 
zweimal  die  „absolute  und  transscendentale  Realität"  der  relativen, 
empirischen  entgegengesetzt.  So  heisst  es  auch  A  369:  „Ich  verstehe  unter 
dem  transsc.  Idealismus  aller  Erscheinungen  den  Lehrbegriff,  nach  welchem 
wir  sie  insgesammt  als  blosse  Vorstellungen  und  nicht  als  Dinge 
an  sich  selbst  ansehen,  und  demgemäss  Zeit  und  Raum  nur  sinnliche 
Formen  unserer  Anschauung,  nicht  aber  für  sich  gegebene  Bestimmungen 
oder  Bedingungen  die  Objecte  als  Dinge  an  sich  selbst  sind."  Vgl. 
A  373  den  unterschied  von  „empirisch"  und  „transscendental"-äusserlichen 
Dingen,  d.  h.  von  Erscheinungen  und  Dingen  an  sich.    Und  so  heisst  es  ja 


352  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A28.B44.  [B  38.  H  63.  E  79.] 

dann  auch  an  der  bekannten  Stelle  in  den  „Antinomien*  A  490:  .Wir 
haben  in  der  TransscendentalenAesthetik  hinreichend  bewiesen:  dass  alles, 
was  im  Baume  oder  der  Zeit  angeschauet  wird,  mithin  alle  Gegenstände 
einer  uns  möglichen  Erfahrung,  nichts  als  Erscheinungen,  d.  i.  blosse 
Vorstellungen  sind,  die,  so  wie  sie  vorgestellt  werden,  als  ausgedehnte 
Wesen  oder  Reihen  von  Veränderungen  ausser  unseren  Gedanken  keine  an 
sich  gegründete  Existenz  haben.  Diesen  Lehrbegriff  nenne  ich  den  trans- 
scendentalen  Idealism*.  Aus  allen  diesen  Stellen  leuchtet  dieselbe  Auffassung 
und  Erklärung  des  fraglichen  Ausdruckes  hervor. 

Wenn  das  aber  nun  so  ist,  dann  haben  wir  unsern  Autor  ja  wiederum 
auf  einer  schlimmen  Inconsequenz  ertappt.  (Vgl.  Gomm.  I,  469.)  Ohne 
davon  zu  sprechen,  verwendet  er  einen,  ja  den  Haupt-Terminus  seiner  Phi- 
losophie in  einem  ganz  andern,  als  dem  definirten  Sinne.  Diese  Inoonsequenz 
kommt  am  störendsten  in  der  letzten  der  eben  angeführten  Parallelstellen 
zum  Vorschein :  in  Einem  Athem  wird  da  von  der  „Transscendentalen  Aesthe- 
tik  ** gesprochen,  deren  Resultat  der  gtransscendentale  Idealismus"  ist  —  förwahr 
eine  starke  Amphibolie  der  Ausdrücke!     Man  vergleiche  doch  oben  S.  111! 

Orthodoxe  Kantianer  werden  sich  damit  nicht  zufrieden  geben.  Ge* 
rade  diese  letztgenannte  Parallelstelle  wird  es  ihnen  unwahrscheinlich  machen, 
dass  ihr  Kant  eine  solche  Inconsequenz  begangen  habe;  sie  werden  rasch 
bei  der  Hand  sein,  und  die  Inconsequenz  wegdeuten :  „Transscendentale  Idea- 
lität" des  Raumes  heisse,  der  Raum  sei  eine  blosse  Vorstellung,  aber  weil 
er  a  priori  sei  und  weil  diese  Apriorität  der  Raumvorstellung  apriorische 
Erkenntnisse  (Geometrie)  möglich  mache.  Diese  Auslegung  klingt  nicht  übel, 
und  wir  können  jenen  Kantianern  noch  zu  einer  Stelle  verhelfen,  in  welcher 
Kant  selbst  diese  Auslegung  andeutet.  Proleg.  §  13,  Anm.  III,  spricht  Kant 
wieder  von  seinem  «transscendentalen  Idealismus"  gegenüber  den  mannig- 
fachen wirklichen  oder  eingebildeten  Missverständnissen  seiner  ersten  Kritiker 
und  bemerkt  da:  „Das. Wort  transscendental  aber,  welohes  bei  mir  nie- 
mals eine  Beziehung  unserer  Erkenntniss  auf  Dinge,  sondern  nur  aufe  Er- 
kenntnissvermögen bedeutet,  sollte  diese  Missdeutung  verhüten"  — *  nämlich, 
als  ob  es  sich  bei  Kants  Idealismus  um  die  Leugnung  der  Dinge  an  sich 
handelte.  Also  „transscendental"  soll  auch  hier  nur  bedeuten  ,eine  Bezie- 
hung (unserer  Erkenntniss?)  aufs  Erkenntniss  vermögen",  also  natürlich  mit 
Rücksicht  darauf,  dass  wir  eine  apriorische  Erkenntnissart  von  Gegen- 
ständen haben,  wie  Kant  in  der  Einleitung  sich  ausdrückt '.  und  noch 
deutlicher  ist  ja  jene  bekannte  Anmerkung  zu  dem  Anhang  der  Proleg, 
(Or.  205),  woesheisst:  „transscendental  bedeutet  nicht  etwas,  das  über  alle 
Erfahrung  hinausgeht,  sondern  was  vor  ihr  a  priori  zwar  vorhergeht,  aber 
doch  zu  nichts  Mehrerem  bestimmt  ist,  als  lediglich  Erfahrungserkenntniss 
möglich  zu  machen." 


^  Die  dunklen  und  widerspruchsvollen  Aeusserungen  des  bekannten  Paasiu 
A  56  =  B  80  über  „transscendental'  können  erst  an  Ort  und  Stelle  erklärt  werdai. 


Was  heisst:  „ti-ansscen dentale"  Idealität  des  Raumes?  353 

[B  38.  H  63.  K  7».]  A  28.  B  44. 

Wir  sind  geschlagen.  Aber  wir  haben  dem  Gegner  nur  zum  Triumph 
verhelfen,  um  ihn  desto  kräftiger  zurückweisen  zu  können.  Es  lässt  sich 
nämlich  sehr  einfach  beweisen,  dass  wir  es  hier  wieder  mit  einem  jener  Ge* 
dächtnissfehler  zu  thun  haben,  von  denen  wir  bei  Kant  schon  mehrfach  Proben 
gefunden  haben.  Als  Kant  diese  letztcitirten  Stellen  niederschrieb,  hatte  er 
einfach  vergessen,  dass  er  ursprünglich  in  der  Verbindung,  „transscendentale 
Idealität'  den  Ausdruck  ^transscendental^  in  der  Bedeutung:  auf  das 
Transscendente  bezüglich  gebraucht  hatte,  nicht  aber  in  der  in  der 
Einleitung  festgestellten  Bedeutung:  auf  das  Apriori  bezüglich.  Dass 
Kant  diese  beiden  ganz  heterogenen  Bedeutungen  mit  einander  verwechselt, 
haben  wir  ja  schon  Band  I,  469  gesehen.  Dass  er  sie  hier  ebenfalls  ver- 
wechselt, lä^st  sich,  wie  bemerkt,  auch  stricte  beweisen.  Der  Beweis  kann 
ßowohl  indirect  als  direct  geführt  werden :  Kant  spricht  an  der  Stelle  A  369, 
490,  auch  von  dem  „empirischen  Idealismus*';  nach  dem  Zusammenhang  bezieht 
sich  derselbe  eben  auf  die  empirischen  Dinge  im  Baume;  e  contrario 
bezieht  sich  „transscendental'  in  der  Verbindung  „der  transscendentale  Idea- 
lismus" auf  die  transscendenten  Dinge  an  sich.  Noch  zwingender  ist  aber 
folgender  directer  Beweis :  An  der  oben  mitangeführten  Stelle  A  369  (ebenso 
A  490)  spricht  nämlich  Kant  auch  von  dem  „transscendentalen  Realismus'^, 
„der  Zeit  und  Baum  als  etwas  an  sich  (unabhängig  von  unserer  Sinnlichkeit) 
Gegebenes  ansieht.  Der  transscendentale  Bealist  stellet  sich  also  äussere  Er- 
scheinungen (wenn  man  ihre  Wirklichkeit  einräumt)  als  Dinge  an  sich 
selbst  vor."  In  der  Verbindung  „transscendentaler  Realismus '^  hat  die 
Bedeutung:  aufs  Apriorische  bezüglich,  gar  keinen  Sinn,  sondern  nur  jene 
andere,  schon  oben  zuerst  festgestellte:  aufs  Transscendente,  d.  h.  auf  die 
Dinge  an  sich  bezüglich.  Dies  war  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  Aus- 
druckes in  dieser  Verbindung,  aber  es  entspricht  ganz  der  Sorglosigkeit,  ja 
Nachlässigkeit  Kants  im  Gebrauch  seiner  Terminologie,  dass  er  dies  nachher 
vergass,  und  um  so  eher  die  andere  Bedeutung  in  diese  Verbindung  hinein- 
legte, je  mehr  der  Ausdruck  „transscendental"  =  aufs  Apriori  bezüglich  zum 
Schlagwort  seiner  Philosophie  und  seiner  Schule  wurde. 

Aus  diesem  Sachverhalt  erklären  sich  auch  die  Widersprüche  der  Com- 
mentatoren.  In  der  2.  Auflage  seines  Werkes  über  Kant  S.  348  drückte 
sich  Fischer  etwas  zweideutig  aus;  aber  in  der  3.  Auflage  S.  348  sagt  er 
ganz  entschieden:  „Raum  und  Zeit  sind  als  Dinge  an  sich  oder  in  Anwen- 
dung auf  dieselben  imaginär  .  .  .  Diese  Idealität  ist  transscendental,  weil 
sie  aus  einer  Untersuchung  einleuchtet,  die  sich  auf  unser  sinnliches  Er- 
kenntnissvermögen bezieht  oder  weil  sie  unter  dem  transscendentalen  Ge- 
sichtspunkt entdeckt  wird.*  Paulsen  (Viert,  f.  wiss.  Philos.  11,  487)  er- 
klärt: „Diese  Theorie  nennt  K.  transsc.  Id.,  d.  h.  einen  Idealismus  (Phäno- 
menalismus),  der  objective,  d.  h.  allgemeine  und  nothwendige  Erkenntniss 
möglich  mache."  B.  Erdmann  (Einl.  in  die  Frolegomena  S.  LVIII)  erklärt: 
„Transscenden taler,  d.  i.  aus  der  Kritik  der  Erkenntniss  gefolgerter  Idealis* 
mus**.  Dagegen  Riehl,  Krit.  I,  351:  „Der  Gebrauch  einer  Vorstellung  von 
Yaihinger,  Eant-Commentar.    II.  23 


354  §  3-    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A  28.  B  44.  [B  88.  H  68.  E  79.] 

Dingen  überhaupt  ist  transscendental.  So  angewandt  ist  der  Baum  eine 
blosse  Idee.  Sein  transscendentaler  Gebrauch  ist  imaginär,  sein  Gebrauch 
für  die  Anschauung  der  Dinge  reell;*  IT,  a,  89  (109):  , Nichtigkeit  des  Irans- 
scendentalen  Gebrauchs".  Was  Cohen  (S.  60;  2.  A.  179—180)  hierüber 
sagt,  ist  wieder  fast  ganz  unverständlich.  Richtig  A dickes  S.  78  N.,  auch 
Lotze,  Phil.  s.  Kant  §  16. 

Obgleich  Kant  an  dieser  Stelle  die  „transscendentale  Idealität' 
des  Raumes  lehrt,  hat  er  doch  für  diese  seine  Lehre  nicht  schon  den  Aus- 
druck „transscendentaler  Idealismus*  selbst  gebraucht,  mit  dem  er 
erst  später,  in  der  Dialektik,  diese  seine  Lehre  bezeichnet.  An  zwei  Stellen 
der  Dialektik  ist  dies  geschehen:  zuerst  in  der  Kritik  der  rationalen  Psy- 
chologie, A  869  ff.,  zweitens  in  der  Antinomienlehre  A  490  ff.  Man  wird 
darin,  dass  Kant  jenes  zusammenfassende  Sjstemwort  erst  später  einführte, 
nicht  schon  hier,  schwerlich  weiter  als  einen  blossen  Zufall  zu  sehen  haben.  Es 
ist  jedoch  hier  zu  erwähnen,  dass  B.  Erdmann  auf  diese  äusserliche  Differenz 
—  die  freilich  so  gering  ist,  dass  man  sie  kaum  als  solche  bezeichnen 
kann  —  grossen  Werth  legt:  Einleitung  in  die  Prolegomena  S.  XLIV  ff.  (dazu 
Arnoidts  Gegenschrift  S.  57),  Kriticismus  66,  Beflexionen  II,  Einl.  XXVI, 
XLV.     Vgl.  hiezu  unten  zu  A  41  Anm.  I. 

In   dem   eben  besprochenen   Absatz   findet    sich   noch  eine  Wendung, 
welche  commentirender  Bemerkungen  bedarf.    Kant  behauptet  die  ,  Idealität 
des  Baumes  in  Ansehung  der  Dinge,  wenn  sie  durch  die  Vernunft  an  sich 
selbst  erwogen  werden,  d.  i.  ohne  Bücksicht  auf  die  Beschaffenheit  unserer 
Sinnlichkeit  zu  nehmen".     Wie  kann  nach  den  sonstigen  Lehren  der  Kr. 
d.  r.  V.  „die  Vernunft  die  Dinge  an  sich  erwägen*?    Nach  dem  Zusammen- 
hang, mit  Berücksichtigung  des  Gegensatzes  „Sinnlichkeit'',  kann  Kant  hier 
nur  sagen  wollen:  die  Dinge,  sofern  sie  Objecte  der  Sinnlichkeit  sind,  sind 
räumlich;  sofern  sie  Objecte  der  Vernunft  sind,  sind  sie  unräumlich.    Nun 
entspricht  diese  Auffassung  ganz  der  Dissertation  von  1770,  welche  die  in- 
teüigibilia  und  sensihüia  einander  ganz  in   derselben  Weise   gegenüberstellt. 
Wir  haben  in  dieser  Wendung  hier  somit  noch  eine  jener  Eierschalen,  welche 
sich   in   der  Kr.  d.  r.  V.    noch   mannigfach    finden.     Entweder   stammt  die 
Wendung  und  damit  die  ganze  Stelle  noch  aus  einer  Zeit,  in  der  Kant  noch 
auf  dem  Standpunkt  der  Dissertation  stand  —  und  dann  ist  die  Abfassung? 
der  ganzen  Stelle   und  vielleicht  der  ganzen  Aesthetik   in  die  frühern  70er 
Jahre  zu  setzen ;  oder  die  Wendung  ist  als  eine  archaistische  zu  fassen,  welche 
Kant  noch  in  die  Feder  geflossen  ist,    als  er   über  jenen  Standpunkt  schon 
hin  ausgelangt  war.     Solche    paläontologische  Beste   finden   sich  noch  mehr- 
fach in  der  Aesthetik,   so   A  40—41    (Beurtheilung   der  Gegenstände  nicht 
als  Erscheinungen ,    sondern   im  Verhältniss  auf   den  Verstand) ,   und  A  45 
(über  den  Unterschied  der  Sinnlichkeit  vom  Intellectuellen),     In  Bezug  auf 
das  Ich  kommt  diese  Wendung  sogar  noch  in  B  vor;  z.  B. :  Ich,  nicht  wie 
ich  vor  dem  Verstände  bin,  sondern  wie  ich  mir  erscheine"  (B  155). 

Endlich  ist  noch  zu  bemerken,  dass  Kant  in  seinem  Handexemplar  zu 


Der  Raum  »a  priori  objectiv".  355 

[B  38.  89.  H  6a  E  79.]  A28.B44. 

diesem  Absatz  eine  Reihe  von  Anmerkungen  hinzugefügt  hat  (Erdmann, 
Nachträge  Nr.  XVITI — XXVII),  welche  theils  formelle  Verbesserungen  des 
Textes,  theils  sachliche  Zusätze  enthalten.  Die  ersteren  sind,  mit  Ausnahme 
der  oben  S.  343  besprochenen,  belanglos,  die  zweiten  gehören  zu  den  beiden 
in  der  2.  Aufl.  hinzugesetzten  Anmerkungen  III  und  IV,^  woselbst  sie  auch 
besprochen  werden  werden. 

Vierter  Absatz. 

Erste  Auflage.  Dieser  Absatz,  welcher  von  Kant  selbst  nachher, 
und  bei  der  Zeit  A  86  als  „Anmerkung*  bezeichnet  wird,  knüpft  au 
die  Bestimmung  des  vorigen  an:  der  Raum  besitze  Realität,  d.  i.  objective 
Gültigkeit  in  Hinsicht  auf  die  empirischen  Dinge.  Von  demselben  Raum 
ist  in  dem  ersten  und  zweiten  Absatz  gelehrt  worden,  er  sei  eine  rein  sub* 
jective  Vorstellung.  Der  Raum  ist  demnach  eine  subjective  Vorstellung, 
welche  doch  zugleich  objectiv  heissen  kann.  Diese  paradoxe  Behauptung^ 
löst  sich  so  auf:  Der  Raum  ist  eben  subjec-tiv  angesichts  der  Dinge  an 
sich,  objectiv  angesichts  der  Erscheinungen,  und  in  Hinsicht  auf  die 
letzteren  ist  er  auch  a  priori  gültig  —  also,  um  es  kurz  zu  sagen,  „a  priori 
objectiv*.  In  diesen  Bestimmungen  —  Apriorität  und  Objectivität  —  liegt 
nun  das  Eigenthümliche ,  was  die  subjective  Raumvorstellung  von  anderen 
subjectiven  Vorstellungen  unterscheidet.  Denn  diese  Frage  schwebt  ja  jedem 
einigermassen  in  Philosophie  Bewanderten  nun  auf  der  Zunge,  wie  sich  denn 
die  von  Kant  neu  behauptete  Subjectivität  der  Raum  Vorstellung  zu  der  schon 
bekannten  Subjectivität  gewisser  anderer  Vorstellungen  verhalte?  Solche 
sind  ja  die  sog.  secundären  Sinnesqualitäten,  von  denen  Kant  selbst  die 
Geschmacks-  und  Gesiehtsempfindungen  anführt.  Aber  mit  solchen  soll  die 
Raumvorstellung  nicht  „verglichen*  werden.  Warum  nicht?  Weil  sie,  wie 
Kant  zeigt,  weder  objectiv  noch  apriorisch  sind,  wie  doch  die  Raum- 
vorstellung. —  (Vgl.  übrigens  auch  oben  S.  54  f.) 

Es  wird  also  zuerst  gezeigt,  dass  sie  nicht,  wie  der  Raum,  in  Bezug 
auf  die  Gegenstände,  an  denen  sie  sich  finden,  objectiv  gültig  sind;  d.  h. 
sie  sind  nicht  objective  Bestimmungen  oder  Beschaffenheiten  der  Körper, 
sondern  nur  subjective  Modificationen  oder  Affectionen  der  Sinne.  Dies 
wird  weiterhin  dahin  erläutert,  dass  sie  nicht,  wie  die  Raum  Vorstellung, 
nothwendige  und  allgemeingültige  Bestandtheile   oder  gar  Bedingungen  der 


*  Mit  Unrecht  finden  Einige  hierin  eine  contradictio  in  adjecto,  so  Czolbe, 
Menschl.  Erk.  102;  Michelis,  Kant  40  ff.;  Bilharz,  Erläut.  17.  164  (bes.  über  ,a  priori 
objectiv").  Eine  treffende  Auseinandersetzung  hierüber  bei  Knauer..  Reflexions- 
begriffe 32  ff.:  es  kommt  auf  das  Forum  an;  vor  dem  Forum  aller  Menschen 
ist  der  Raum  objectiv;  vor  dem  Forum  aller  Wesen  überhaupt  ist  er  nur 
subjectiv.  Vgl.  hiezu  auch  oben  S.  292.  Vgl,  Cohen,  2.  A.  177:  „Hier  sehen  wir 
in  glücklicher  Bestimmtheit  das  Subjective  mit  dem  Objectiven  verbunden."  In 
diesem  Sinne  spricht  auch  Herbart,  W.  W.  IV,  248  vom  , objectiven  Schein**. 


356  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A  29.  B  44.  [B  89.  714.  H  63.  E  79.  80.] 

Sinuesobjecte  selbst  sind,  sondern  nur  zuf&Uige  und  individuelle  Zusätze  zu 
denselben:  denselben  also  nicht  ursprünglich  und  eigenthümlich  angehörig, 
sondern  nur,  wie  es  auch  unten  in  der  Parallelstelle  zur  Zeit  heisst  (A  36), 
i,p«'  subreptionetn**  —  durch  Erschleichung  —  „beigefügt". 

Sodann  wird  ausgeführt,  dass  jene  Sinnesqualitäten  auch  nicht,  wie 
das  bei  der  Raum  Vorstellung  der  Fall  ist,  auf  Apriorität  Anspruch  machen 
können.  Sie  sind  weder  a  priori,  noch  kann  man  sich  von  ihnen  a  priori 
eine  Vorstellung  machen ;  vielmehr  beruhen  sie  auf  Empfindung,  sind  somit 
a  posteriori ^  Ganz  anders  die  Raumvorstellung:  sie  hat  nichts  mit  Em- 
pfindung zu  schaffen,  ist  somit  a  priori,  und  man  kann  sich  daher  auch 
vom  Räume  und  von  den  einzelnen  Formgestalten  im  Räume  a  priori  eine 
Vorstellung  machen.  Bemerkenswerth  ist  der  Schlusssatz,  dass  durch  den 
Raum  allein  „Dinge  für  uns  äussere  Gegenstände"  werden  können,  worin 
man  mit  Pünjer,  Religionslehre  Ks.  4,  mit  Recht  eines  der  vielen  Zeugnisse 
für  die  Voraussetzung  der  Dinge  an  sich  erblicken  muss. 

Zweite  Auflage.  In  dieser  Redaction  ist  der  erste  Satz,  der  die 
These  enthält,  stehengeblieben.  Nur  die  Begründung  hat  Kant  anders  for- 
mulirt.  Zwar  kehren  auch  beide  Gedanken  wieder:  1)  nur  der  Raum  macht 
die  objective  Erfahrung  möglich;  2)  nur  der  Raum  macht  dem  Subject 
apriorische  Urtheile  möglich;  aber  hier  spricht  er  umgekehrt  zueist 
von  der  den  Sinnesqualitäten  mangelnden  Apriorität,  speciell  in  der  Forro, 
dass  sich  aus  ihnen  keine  synthetischen  Sätze  a  priori  gewinnen  lassen,  wie 
das  von  der  Raumvorstellung  in  der  Transsc.  Erört.  (§  3)  nachgewiesen  wor- 
den sei  (vgl.  Cohen,  2.  A.  177).  Deshalb  komme  ihnen,  strenggenommen, 
keine  „Idealität"  zu  —  offenbar  will  Kant  hier  diesen  Ausdruck  reserviren 


^  Vgl.  A  175:    „Die  Qualität  der  Empfindung  ist  jederzeit  bloss  empirisch 
und  kann  a  priori  gar  nicht  vorgestellt  werden  (Farben,  Geschmack  u.  s.  w.)*. 
Vgl.  A  723.   —  Nach  Reimarus,   Menschl.  Erk.   17,  müsste  aber  consequent^r 
Weise  auch  die  Anlage  zu  Farbenvorstellungen  reine  Ansch.  heissen;   auch  die 
Farben  seien  nothwendige  Formen  der  Gesichtsvorstellungen.  Aber  dagegen  bemerkt 
die  A.  L.  Z.  1788,  IV,  883:  es  lasse  sich  nicht  jede  Anlage  zu  einer  jeden  Vorstellnng 
abgesondert  von  der  letzteren  vorstellen,  und  so  wie  R.  u.  Z.  von  dem  Mathe- 
matiker selbstthätig  modificiren ;   darauf  beruhe  aber  der  Anspruch  jener  Ankgeo 
auf  den  Titel  wirklicher  Anschauungen  a  priori.  —  Auch  Liebmann,  Analjd. 
216  N.,   wendet  sich  gegen  den  Einwand,   dass   ,mit  gleichem  Rechte  auch  die 
Apriorität  der  Farben  behauptet  werden  könne,   da  ohne  Farbe   die  (Gesichta-.» 
Vorstellung  räumlicher  Gegenstände  auch  unmöglich  sei*.^  Diese  Sorte  von  Apriorität 
sei  eine  ganz  relative  und  secundäre  im  Vergleich  zu  der  des  Raumes,  und  folge 
nur  aus  der  specifischen  Sinnesenergie  der  mit  uns  gleichartig  organisirten  Wesen: 
mau  könne  sich  wohl  denken,  dass  andere  Wesen  andere  specifische  Sinneseneigien 
hätten,  aber  nicht,   dass  sie   die  Aussenwelt  raumlos  anschauen.    (Vgl.  aber  oben 
347.)     Schopenhauer  behauptet  übrigens  in  seiner  Schrift  «über  das  Sehen  und 
die  Farben**  S.  33  f.,  dass  die  Farben  gewissermassen  auch  a  priori  erkannt  werden. 
—  Aehnlich  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  33.  Vgl.  über  diese  Stelle  auch  Tonrtaal. 
Die  Sinne  des  Menschen  XLIX,  24  ff. 


Die  Idealität  des  Raumes  und  die  Subjectivität  der  Empfindungen.       357 

[R  89.  714.  H  68.  64.  E  79.  80.]  A29.644.45. 

für  Vorstellungen,  welche  ideal  =  subjectiv  nnd  zugleich  apriorisch  sind, 
obwohl  er  von  dieser  letzteren  Beschränkung  bisher  nichts  gesagt.  Er  unter- 
scheidet also  eine  Idealität  in  diesem  strengeren  Sinne  („die  constructive 
Idealität  im  echten  transscendentalen  Sinne'S  Cohen  2.  A.  180),  und  eine  Idea- 
lität in  einem  laxeren  Sinne ;  im  letzteren  Sinne  ist  Idealität  so  viel  als  Sub- 
jectivität und  diese  kommt  ja,  wie  nun  weiter  ausgeführt  wird,  den  Sinnes- 
qualitäten gemeinsam  mit  der  Raumvorstellung  zu.  Das  haben  also  beide 
gemeinsam,  dass  sie  „zur  subjectiven  Beschaffenheit  der  Sinnesart  gehören'^ ; 
aber  trotz  dieser  Zugehörigkeit  zu  einem  gemeinschaftlichen  Genus  —  sind  doch 
beide  wieder  specifisch  sehr  verschieden;  denn  innerhalb  der  Subjectivität 
der  „Sinnesart"  ist  nun  zu  unterscheiden  zwischen  der  auf  Apriorität  der 
Anschauung  beruhenden  Subjectivität  der  Raumvorstellung  und  der  auf 
blosser  Empfindung  beruhenden  Subjectivität  der  Sinnesqualitäten;  denn 
letztere  ermöglicht  (,an  sich*',  d.  h.  ohne  Mitwirkung  der  apriorischen  Raum- 
vorstellung) überhaupt  keine  Erkenntniss  eines  „Objects",  und  noch  weniger 
eine  , apriorische '^  —  ,a  priori  objectiv*  ist  ja  nur  die  Raumvorstellung. 
(Vgl.  dagegen  v.  Kirch  mann,  Erläut.  2.  10,  und  dagegen  wieder  Grapen- 
giesser,  Erkl.  10.  24.) 

Dass  nun  der  Raumvorstellung  dieser  Vorzüge  wegen  „Idealität"  zu- 
geschrieben wird,  während  sie  den  Sinnesqualitäten  vorenthalten  wird,  ist 
zwar  laut  obiger  Erklärung  hinreichend  motivirt,  aber  es  wirkt  doch  etwas 
befremdend ;  es  ist  daher  nicht  zu  verwundern,  dass  die  Stelle  den  Erklärern 
Schwierigkeiten  gemacht  hat.  So  hat  Meilin  die  Stelle  ganz  verkannt;  er 
findet  (IV,  770)  hier  den  Gegensatz  von  Idealität  beim  Räume  und  —  Rea- 
lität bei  den  Sinnesqualitäten !  ^  —  Laas  dagegen  wollte  (Id.  u.  Pos.  III, 
339)  statt  „Idealität"  —  „Realität"  lesen,  was  aber  den  Sinn  der  Stelle 
vollends  zerstören  würde.  Ganz  unverständlich  ist  die  Erklärung  bei  Ma- 
haffy,  Grit.  Phil.  I,  68. 

Fünfter  Absatz. 

Nun  wird  die  eigentliche  „Absicht"  der  vorhergehenden  Erörteningen 
erst  deutlich  herausgestellt:  Kant  will  den  im  vorigen  Absatz  schon 
vorläufig  zurückgewiesenen  Vergleich  der  Idealität  der  Raumvorstellung 
mit  der  Subjectivität  der  Sinnesqualitäten  nicht  aufkommen  lassen.  Er 
will  sich  damit  scharf  scheiden  von  Berkeley  and  Hume,  welche 
(bes.  Berkeley,  Principles,  X,  XCIX)  die  quantitativen  Anschauungen 
R.  u.  Z.  von  den  rein  qualitativen  Empfindungen  nicht  hinlänglich  unter- 
scheiden (eine  Unterscheidung,  die  auch  bei  Tetens  mangelte.)    Die  letzteren 


*  Ein  ganz  ähnliches  Missverstandniss  begegnete  Hamilton  in  seiner  Aus- 
gabe von  Reid,  indem  er  meint,  Kant  halte  die  primären  Qualitäten  fiir  mehr 
subjectiv,  als  die  secundären ;  hiegegen  wendet  sich  Fred.  P  u  r  s  e  r ,  in  der  Dubliner 
Zeitschrift  Heitnathena,  1874, 1,  301  ff.:  On  the  Kantian  theory  of  external  perception. 


358  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A2gLB0.B44.45.  [B  39.  H  64.  E  80.] 

werden  ja  „mit  Recht''  nicht  als  „Beschaffenheiten  der  Dinge",  sondern  bloss 
als  „Veränderungen  des  Subjects'^  betrachtet;  da  läge  ja  der  Vergleich  mit 
der  Raum  Vorstellung  sehr  nahe,  da  ja  auch  auf  sie  jene  Beschreibung,  ausser- 
lieh  genommen,  ganz  passt :  denn  auch  sie  gehört  nicht  den  Dingen,  sondern 
dem  Subjecte  an.  Aber  diese  Vergleichung  geht  nicht  an;  jene  Beispiele  der 
Sinnesqualitäten,  Farben,  Geschmack  u.  s,  w.  sind  „unzulänglich".  Man  sagt 
ja  allerdings  auch:  die  Farbe  einer  Rose  ist  nur  eine  subjective  Erscheinung, 
die  Rose  an  sich  selbst  ist  nicht  farbig ^  und  so  fanden  wir  ja  auch  oben: 
die  Räumlichkeit  gehört  nur  zur  Erscheinung ;  die  Dinge  an  sich  selbst  sind 
nicht  räumlich.  Allein  der  Gegensatz  von  Dingen  an  sich  und  Erscheinung 
wird  beidemal  doch  ganz  verschieden  gefasst :  im  empirischen  und  im  „trans- 
scendentalen"  Sinne.  In  Hinsicht  auf  das  Empirisch-Gegebene  ist  die  Rose 
ein  Ding  an  sich  selbst ^  das  jedem  Auge  in  Ansehung  der  Farbe  anders 
•erscheinen  kann.  Allein  in  Rücksicht  auf  das  Transscendente ,  Nicht-Ge- 
gebene (oder  vom  „Standpunkt  der  Transscendentalphilosophie  aus*'  im  Ge 
gensatz  zum  Standpunkt  der  empirischen  Psychologie  ?)  ist  jene  Böse,  da  sie 
noch  im  Räume  ist,  keine  Sache  an  sich,  sondern  „selbst  nur  Erscheinung*' ; 
als  räumlich  ist  sie  nur  „Vorstellung  unserer  Sinnlichkeit",  aber  es  entspricht 
4hr  ein  wirkliches,  jedoch  gänzlich  unerkennbares,  für  uns  aber  auch  nicht 
in  Betracht  kommendes  Ding  an  sich,  das  als  „wahres  Correlatum** 
unserer  Vorstellungen  bezeichnet  wird,  „da  alle  Erscheinungen  Vorstellungen 
sind  und  nicht  etwa  Gegenstände  ausser  und  unabhängig  von  denselben" 
(Fischer,  Kr.  d.  K.  Ph.  19). 

In  diesen  letzten  Worten  des  Abschnittes  wird  die  Realität,  aber  auch 
die  Unerkennbarkeit  des  D.  a.  s.  noch  einmal  deutlich  betont.  Romundt. 
Ref.  d.  Phil.  34:    „Nach  diesem  durch  Absehen  von   der  Sinnenbedingtheit 


*  Vgl.  Fortschr.  d.  Met.  Res.  I,  499:  ,In  der  Sprache  der  Erfahrung 
sind  diese  Gegenstände  der  Sinne  ...  z.  B.  der  Himmel  mit  allen  seinen  Sternen, 
ob  er  zwar  blos  Erscheinung  ist,  wie  Dinge  an  sich  selbst  gedacht."  Diesen  Dingen 
an  sich  selbst  im  empirischen  Sinn  entspricht  denn  auch  wieder  die  .physische 
Erscheinung",  z.  B.  der  Umstand,  dass  der  Himmel  als  ein  Gewölbe  erscheint  Es 
gibt  für  Kant  gewissermassen  eine  doppelte  Wahrheit,  eine  natorwissenschait- 
liche  und  eine  philosophische  (wie  man  im  Mittelalter  die  doppelte  Wahrheit  in 
Theologie  und  Philosophie  unterschied) :  nach  der  naturwissenschaftlichen  Wahrheit 
gibt  es  Atome  im  Räume,  deren  Schwingungen  unsere  Sinne  afßciren,  dagegen 
nach  der  philosophischen  Wahrheit  gibt  es  keine  solche,  weil  der  Raum  sanunt 
Allem  in  ihm  nur  subjective  Erscheinung  ist. 

'  In  diesem  empirischen  Sinne  spricht  auch  schon  Lambert  von  der  ,Be- 
urtheilung  dessen,  was  die  Dinge  an  sich  sind"  (Neues  Organon  U,  246,  Phä- 
nomenologie, §  51;  vgl.  dazu  Eucken,  Philos.  Terminologie,  S.  135).  Wohl  mit 
stiller  Beziehung  auf  Lambert  eben  will  Kant  am  Schluss  des  Abschnitts:  Vom 
Grund  der  Unterscheidung  aller  Gegenstände  überhaupt  in  Phaenomena  und  Nou- 
mena  (A  258,  B  313)  scharf  unterschieden  wissen  zwischen  der  empirischen  und 
der  transscendentalen  Bedeutung  des  An-sich. 


Bing  an  sich  und  Erscheinung.  359 

[R  89.  H  64.  E  80.]  A39.30.B44.45. 

gewonnenen  Begriffe  wird  aber  auch  in  der  Erfahrung  niemals  gefragt :  Die 
Besinnung  verwehrte  Kant  von  der  grünen  Weide  der  Wissenschaften  auf 
die  Dürre  leerer  Speculation  sich  zu  verirren."  Dass  aber  auf  der  anderen 
Seite  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  (im  Plural)  fest  behauptet  und  voraus- 
gesetzt wird,  darauf  muss,  der  unbegreiflichen  Vertuschung  und  Verleugnung 
dieser  Thatsache  gegenüber,  immer  wieder  mit  den  Fingern  hingewiesen 
werden;  diesen  Dingen  an  sich  stehen  eben  die  Erscheinungen  gegenüber 
,im  transscendentalen  Sinn'' ,  welchen  Kant  hier  hinreichend  deutlich  er- 
klärt hat. 

üeber  diesen  „transscendentalen  Begriff  der  Erscheinung"  vgl.  oben 
S.  35.  Diejenigen  Kantianer,  welche  den  Begriff  des  Dinges  an  sich 
als  widerspruchsvoll  erkennen  und  verwerfen,  mussten  naturgemäss  auch 
den  Correlatbegriff  der  „Erscheinung*  verwerfen  und  vermeiden.  Diese  lobens- 
werthe  Consequenz  haben  indessen  nur  Wenige  zu  ziehen  den  Muth  gehabt. 
Am  schneidigsten  geschah  dies  seitens  Lieb  mann,  K.  u.  d.  Epigonen 
S.  27:  „Kant  nennt  die  in  Baum  und  Zeit  gegebene  Mannigfaltigkeit 
von  Datis  der  inneren  und  äusseren  Erfahrung:  Erscheinung.  —  Wie 
kommt  er  darauf?  Was  berechtigt  ihn  dazu?  Die  Welt  darf  und  muss 
-sich  diesen  Titel  verbitten ;  denn  sie  wird  durch  ihn  ihrer  Dignität,  der  ihr 
zugestandenen  empirischen  Realität  d.  i.  Wirklichkeit  verlustig.  In  dem 
Titel:  Erscheinung  würde  offenbar  das  liegen,  dass  etwas  vorausgesetzt  werden 
^olle,  was  erscheint."  „Ein  ausserhalb  von  Baum  und  Zeit  Liegendes  ist  aber 
ein  für  allemal  Unsinn.  Demnach  darf  die  räumlich -zeitliche  Welt  nicht: 
Erscheinung  betitelt  werden."  Vgl.  ib.  S.  88  f.,  wo  Liebmann  Kants  Schluss 
auf  das  Ding  an  sich  als  einen  Trugschluss  der  Fallacia  falsi  medii  charak- 
terisirt.  VgL  Lange,  Gesch.  des  Mat.  II,  49  f.  Lehmann,  Ks.  Lehre  vom 
D.  a.  s.    Dias.  Berl.  S.  6  ,ff. 

Von  diesem  „transscendentalen  Begriff  der  Erscheinung"  kann  man 
etwa  als  »metaphysischen  Begriff«  derselben  diejenige  Bedeutung  unter- 
scheiden, welche  der  Ausdruck  bei  den  Nachkantianern,  bes.  Schelling  und 
Hegel  erhalten  hat^  Demnach  ist  „Erscheinung"  eine  „unabhängig  vom 
subjectiven  Vorstellungsact  sich  vollziehende  Objectivation  [Manifestation] 
eines  metaphysischen  Wesens",  wie  E.  v.  Hartmann,  Transsc.  Real.  S.  2,  28 
•treffend  definirt.  Erscheinung  in  diesem  Sinne  (auch  als  „objective  Erschei- 
nung* bezeichnet)  liegt  allerdings  von  Kants  Denken  weit  ab,  wenigstens 
insofern  in  dieser  „objectiven  Erscheinung"    das  Wesen  des  Dinges  an  sich 

*  Vom  Kantischen  kritischen  Begriff  , Erscheinung*  ist  auch  der  vor- 
kritisch e , -wesentlich  Leibniz'sche  Sinn  der  „Erscheinung"  zu  unterscheiden,  der 
sich  auch  in  Kants  früheren  Schriften  mehrfach  findet:  darnach  erhalten  wir  in 
der  Erscheinung  ein  durch  unsere  Sinnlichkeit  verdunkeltes  Bild  des  wahrhaft 
Seienden.  Vgl.  hiezu  B.  Erdmann,  Ks.  Reflexionen,  II,  S.  80,  woselbst  auf  diese 
Verwendung  aufmerksam  gemacht  wird ;  so  nennt  Kant  (in  der  Monad,  /?%«.)  den 
Raum  das  „phaenomenou  relationis  externae  unitarum  monadum",  die  Bewegung  das 
„phaenomenon  nexua  suhstantiarum  permutati"  (in  der  Nova  Dil).  Vgl.  oben  S.  147. 


360  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A29.80.B44.45.  [R  39.  H  64.  E  80.] 

zum  Ansdmck^  zur  Darstellung  kommen  soll.  Aber  in  dem  Sinne,  dass  die 
Erscheinung  eine  gewisse  vom  empirischen  Subject  unabhängige  Existenz 
hat,  kann  man  allerdings  auch  bei  Kant  von  „objectiver  Erscheinung* 
sprechen,  wie  schon  oben  im  Excurs  S.  52  ff.  bemerkt  worden  ist.  — 

Bemerkenswerth  ist,  dass  dies  die  einzige  Stelle  der  Aesthetik  ist,  in 
welcher  Kant  die  Subjectivität  der  Empfindungen,  der  Materie  unserer  Anschau- 
ungen, erwähnt.  Hierauf  weist  auch  Thiele  hin,  K*s.  int.  Ansch.  S.  43.  Vgl. 
auch  Zeller,  Gesch.  d.  D.  Philos.  426:  „Dass  auch  schon  unsere  Empfin- 
dungen nur  Vorgänge  in  unserem  Bewusstsein  sind,  welche  vermöge  der 
Einrichtung  unserer  Natur  durch  gewisse  äussere  Eindrücke  hervorgerufen 
werden,  dies  hat  Kant  zwar  nicht  ganz  übersehen  [§  4  der  Inaug.-Diss.  be- 
merkt  er:  die  Empfindung,  welche  den  Stoff  der  sinnlichen  Empfindung 
ausmache,  hänge  hinsichtlich  ihrer  Qualität  von  der  Natur  des  empfindenden 
Subjects  abj ;  aber  doch  hat  er  diesen  Punct  nicht  weiter  verfolgt**  u.  s,  w. 
Vgl.  oben  S.  331  N.  Dass  Kant  nicht  von  der  Subjectivität  der  Empfindungen 
ausging,  dafür  spricht  eben  auch  die  vorliegende  Stelle:  er  hat  erst  nach- 
träglich seine  neue  A priori tätstheorie  des  Raumes  mit  der  alten  Subjec* 
tivitätstheorie  der  Empfindungen  in  Verhältniss  gesetzt;  und  er  stellt  bald 
beides  —  die  apriorische  Baumanschauung  und  die  subjectiven  Empfin- 
dungen —  in  dieselbe  Linie  als  bloss  „an  der  subjectiven  Beschaffenheit  der 
Sinnesart '^  hängend,  bald  befestigt  er  zwischen  beiden  eine  Kluft  und  sucht 
der  ersteren  eine  grössere  Dignität  und  mehr  Objectivitätswerth  zuzuschreiben, 
als  den  Empfindungen.     Vgl.  A  44  ff.  und  B.  69  Anm. 

In  den  „Fortschritten  der  Metaphysik"  (W.W.  Ed.  Kirchmann 
V,  4,  S.  108;  Ros.  I,  499)  findet  sich  noch  eine  interessante  Parallelstelle: 
es  wird  ausgeführt,  dass  „dasjenige  Subjec  tive,  was  die  Beschaffenheit  der 
Sinnesanschauung,  in  Ansehung  ihres  Materialen,  nämlich  der  Empfindung 
betrifft,  z.  B.  Körper  im  Licht  als  Farbe,  im  Schalle  als  Töne,  oder  im  Salze 
als  Säuren  u.  s.  w.,  bloss  subjectiv  bleiben,  und  kein  Erkenntniss  des 
Objects,  mithin  keine  für  Jedermann  gültige  Vorstellung  in  der  em- 
pirischen Anschauung  darlegen,  kein  Beispiel  von  jenen  abgeben  können, 
indem  sie  nicht,  so  wie  Raum  und  Zeit,  Data  zur  Erkenntniss  a  priori  ent- 
halten, und  überhaupt  nicht  einmal  zur  Erkenntniss  der  Objecto  gezählt 
werden  können.''  Diese  Stelle  schliesst  sich  eng  an  die  Darstellung  der 
2.  Aufi.  an ;  als  unterscheidende  Merkmale  der  reinen  Formen  von  den  Sinnes- 
qualitäten gelten  hier  ebenfalls  Apriorität  und  Objectivität  =  Allgemein- 
gültigkeit, üeber  das  Letztere  s.  unten  zu  A  44.  Damit  vergleiche  man 
auch  die  Unterscheidung  der  Sinne  in  objective  und  subjective  in  der  Anthro- 
pologie  §  14  ff. ;  vgl.  die  Vorlesungen  über  Metaphysik  S.  142  f. 

Eine  gute  Erläuterung  bieten  die  Losen  Blätter  I,  S.  210,  wo  Kant 
darauf  aufmerksam  macht,  „dass  diese  Form  der  Dinge  in  der  Ei*scheinung 
vor  jeder  anderen,  welche  dasjenige  enthält ,  was  nicht  den  Objecten  ausser 
uns,  sondern  bloss  unserer  Vorstellungsart  anhängt,  dadurch  hinlänglich 
unterschieden  werde,  dass  wir  dadurch  a  priori  die  Erscheinungen  bestimmen 


Objecüvität  des  Raumes  im  Gegensatz  zur  Subjectivität  der  Empfindungen.    36 1 

[B  39.  H  64.  E  80.]  A^.30.B44.45. 

können,  welches  [wir]  bey  einem  Tone  zum  Unterschied  vom  Schalle,  bey 
der  Wärme  zum  Unterschied  von  der  Wahrnehmung  einer  alle  anderen  Ma- 
terie durchdringenden  und  sie  ausdehnenden  Flüssigkeit  nicht  sagen  können, 
mithin  die  Form  der  Erscheinung  den  äusseren  Sinn  überhaupt,  und 
nicht  gewisse  besondere  Arten,  zu  empfinden  und  unmittelbar  wahrzunehmen, 
angehe.  ** 

Eine  abweichende  Darstellung  gibt  K.  in  der  Kr.  d.  Urth.,  Einl.  VII, 
sowie  §  1.  Da  wird  die  Empfindung  in  Hinsicht  auf  objective  Erkenntniss 
ganz  parallel  dem  Räume  behandelt,  welcher,  „seiner  bloss  subjectiven  Qua- 
lität ungeachtet,  gleichwohl  doch  ein  Erkenntnissstück  der  Dinge  als  Er- 
scheinungen'^  ist.  Ganz  dasselbe  gilt  daselbst  auch  von  den  Empfindungen, 
während  denselben  hier  als  ganz  subjectiv  jeder  objective  Erkenntnisswerth 
abgesprochen  wird.  Die  Differenz  erklärt  sich  daraus,  dass  an  jener  Stelle 
die  Empfindungen  sammt  dem  Baum  zusammengenommen  als  Erkenntnis»- 
zustände  von  den  Gefühlen  unterschieden  werden  (vgl.  oben  S.  29);  letzteren 
gegenüber,  welche  gänzlich  subjectiv  sind,  haben  die  ersteren,  welche  in 
letzter  Linie  freilich  auch  nur  subjectiv  sind,  doch  einen  objectiven  Werth, 
wobei  nun  eben  freilich  wieder  die  Raumanschauung  objectiver  ist,  als  die 
Empfindungen.  Kant  hat  dieObjectivitätsscala  der  psychischen  Zustände 
(Gefühle,  Empfindungen,  Raum)  damit  ganz  richtig  gekennzeichnet. 

Feinsinnige  Bemerkungen  über  dieses  Thema  finden  sich  bei  Riehl, 
Krit.  II,  a,  31  ff.:  „Die  Empfindung  kann  nach  Kant  kein  Bestimmungs- 
grund für  ein  objectiv-gültiges  Urtheil  werden,  weil  sie  nur  den  Zustand 
des  urtheilenden  Subjectes  bedeutet,  und  von  dessen  persönlicher  und  gleich- 
sam zufölliger  Lage  abhängt.  Dieselbe  Zufälligkeit  wie  die  Empfindungen 
haben  auch  die  aus  ihnen  gebildeten  Wahrnehmungen,  während  gerade  das 
rein  Formale  in  den  Vorstellungen  von  R.,  Z.  und  Kategorien  diese  zu 
Grundlagen  einer  allgemeinen,  vom  persönlichen  Standpunkt  des  Subjectes 
unabhängigen,  also  insoferne  objectiven  Erkenntniss  geeignet  macht.  In 
diesem  Sinne  unterscheidet  K.  Wahrnehmungsurth eile  und  Erfahrungs- 
urtheile.  (Ueber  diesen  hier  mit  Recht  herbeigezogenen  Unterschied,  Proleg, 
%  18  ff.,  muss  der  Commentar  zur  Analytik  weiter  verhandeln.)  Richtig 
heisst  es  dann  weiter:  „Was  indess  die  Empfindung  bei  Kant  im  Vergleich 
mit  den  Anschauungsformen  dadurch  verliert,  dass  sie  nicht  wie  diese  zu 
einer  Grundlage  für  übereinstimmende  Erkenntniss  geeignet  sein  soll,  gewinnt 
sie  wieder  dadurch,  dass  ihr  auch  nach  der  Lehre  Kants  in  der  Wirklichkeit 
etwas  entspricht,  während  jene  Formen  in  der  Realität  selbst  keine  Correlate 
haben  .  .  .  Obgleich  also  die  Empfindung  ihrer  Beschaffenheit  zufolge 
rein  subjectiv  sein  und  nichts  als  die  Materie  der  Erscheinung  {realitas 
phaenomenon)  bezeichnen  soll,  weist  sie  doch  ihrer  Entstehung  nach  auf 
die  nicht  phänomenale  Realität  zurück  .  .  .  Aus  dieser  Doppelstellung 
der  Empfindung  wird  das  eigenthümliche  Verhältniss  begreiflich,  das  ihr 
nach  K.  in  der  Gesammtheit  der  Erkenntniss  zugeschrieben  wird.**  Weiteres 
über  unsere  Stelle  s.  auch  bei  Thiele,  Kant  I,  b,  290  f.     Windelband, 


362  §  3.    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

AS8-^30344.46.  [B  88.  89.  H  68.  64.  E  76.] 

Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  61;   Gesch.   d.   Phil.   425.     Stumpf,    Ursprung  der 
Raumvorst.  1873,  S.  24  ff. 

Bemerkungen  zum  Tierten  und  fünften  Abschnitt.  Diese  beiden 
zusammeugehörigen  Absätze  bieten  nun,  genauer  angesehen,  mannigfache 
3chwiengkeiten  dar.  Die  Absicht,  welche  Kant  darin  verfolgt,  ist  ja 
sehr  klar:  er  will  die  Subjectivität  der  Raum  Vorstellung  von  der  Subjec- 
tivität  der  gewöhnlichen  Sinnesqualitäten  unterscheiden  und  ihr  eine  höhere 
„Dignitäf  (cfr.  A  92)  zuweisen;  gemeinsam  ist  beiden  die  Subjectivität 
im  weiteren  Sinne,  aber  innerhalb  dieser  Subjectiviät  im  weiteren  Sinne 
macht  nun  Kant  noch  einmal  den  Unterschied  von  Objectivität  und  von  Sub- 
jectivität im  engeren  Sinne!  Dem  Raum  wird  also  eine  Ausnahmestellung 
vindicirt.  Allerdings  ist  er  subjectiv,  ideal  und  nichtig  in  Ansehung  der  Dinge 
an  sich,  aber  er  ist  doch  objectiv,  real  und  gültig  in  Bezug  auf  die  Erscheinungen 
oder  empirischen Objecte,  gegenüber  anderen  Bestimmungen,  die  nicht 
bloss  im  Verhältniss  zu  den  Dingen  an  sich,  sondern  auch  im 
Verhältniss  zu  diesen  empirischen  Objecten  nun  wieder  gänz- 
lich subjectiv  sind.  Diese  letzteren  Bestimmungen,  die  Sinnesqualitäten, 
sind  al$o  gleichsam  subjectiv  in  zweiter  Potenz,  der  Raum  aber  ist 
subjectiv -objectiv.  Man  wird  zugestehen,  dass  diese  Auffassung  schoo 
rein  terminologisch  genommen  schwere  Bedenken  erregt. 

Bei  der  Begründung   dieses  Unterschiedes   schliesst  sich  Kant  nun  an 
die  bekannte  Unterscheidung  der  secundären   und   der  primären  Qualitäten 
an,    eine  „Voraussetzung'    (A   86),  welche,    wie   er  hier  ausdrücklich  sagt, 
„mit  Recht"  gemacht  wird.    Der  „Wohlgeschmack  des  Weines",  die  „Farbe 
der  Rose**  sind  nicht  „Beschaffenheiten  der  Körper"  ,   sondern  gehören  nur 
„dem  geniessenden  Subjecte"   an  und  dessen    „Sinnen";  sie  sind  also  rein 
subjectiv.    Sie  sind  den  Objecten  nicht  noth wendig,  sind  je  nach  dem  Indi- 
viduum verschieden  u.  s.  w.     Was  ist  aber  den  Objecten  nothwendig  und 
eine .  untrennbare ,    wesentliche    Grundlage    derselben  ?     Die    Räumlichkeit. 
Wohl.     Aber  nur  der  Raum  ?     Doch  wohl  auch  Undurchdringlichkeit,  Härte, 
Schwere.  —  kurz,  die  eigentliche  Materialität.    Auch  das  sind  „nothwendige 
Bedingungen,  unter  denen  die  Gegenstände  allein  für  uns  Objecte  der  Sinne 
werden  können".      Eine  Rose    „im  empirischen   Verstände"   ist   doch  nicht 
bloss  eine  bestimmte  Raumg^stalt,   sondern  physisch   erfüllter  Raum.    Dies 
meint  jener  Unterschied    der  primären  und  secundären  Qualitäten,  welchen 
Kant  hier  als  «mit  Recht"  gemacht   anei*kennt.     Wohlweislich   hat  daher 
Kant  hier  nur  von  Wohlgeschmack   und  Farbe  gesprochen,    d.  h.  von  den 
Geschmacks-  und  Gesichtsempfindungen.    Allerdings  in   der  2.  Aufl.  fugt  er 
auch  Gefühlsempfindungen  hinzu,  aber  wohlgemerkt  nicht  alle,  sondern  nur  — 
Wärme !     Die  anderen  Gefühls-  resp.  Tastempfindungen,  eben  Undurchdring- 
lichkeit,  Härte  u.  s.  w.   fallen  also ,   ganz  wie  das  die  historische  Lehre  von 
dem  Unterschied  der  primären  und  secundären  Sinnesqualitäten   behauptet, 
auf  die  objective  Seite  jener  empirischen  Objecte;   Farben,  Töne,    Wohlge- 
schmack, Wärme  .auf  die  subjective,     Dieser  Unterschied  wird  „mit  Recht* 


Die  primären  und  die  secundären  Qualitäten.  368 

[B  88.  89,  H  63.  64.  E  80.]  A28— 30.B44.45. 

gemacht.  Nach  der  bisher  uns  bekannt  gewordenen  Meinung  Kants  müsste 
aber  doch  die  Theilung  anders  gemacht  sein.  Wir  wissen  ja,  dass  ^Undurch- 
dringlichkeit,  Härte,  Farbe  u.  s.  w.*  in  Eine  Linie  gestellt  werden  als  Em- 
pfindungen, und  als  solche  der  Raumanschauung  gegenüber  gestellt 
werden.  (A20;  6.  5;  ygl.  oben  S.  108  N.)  Von  diesem  Standpunkt  aus  kann 
man  doch  nicht  sagen,  dass  die  historische  Unterscheidung  der  primären  und 
secundären  Qualitäten  „mit  Kecht''  gemacht  sei,  da  ja  hier  der  Trennungs* 
schnitt  ganz  falsch  gemacht  ist.  Somit  erscheint  schon  von  dieser 
Erwägung  aus  die  Berufung  auf  jenen  historischen  Unterschied  als  verfehlt. 

Wie  verfehlt  diese  Berufung  ist,  zeigt  sich  aber  sofort  noch  aus  einer 
anderen  Erwägung.  Jene  „mit  Bechf  gemachte  Unterscheidung  der  pri- 
mären und  der  secundären  Qualitäten  beruht  doch  auf  der  Annahme,  dass 
die  primären  Qualitäten  unsere  Sinne  afficiren,  und  dass  dadurch  neben  den 
wahren  Empfindungen  der  primären  Qualitäten  die  unwahren,  rein  subjec- 
tiven  der  secundären  Qualitäten  in  uns  entstehen.  In  der  That  hat  Kant 
in  der  ersten  Auflage  auch  diesen  Bestandtheil  jener  Lehre  mit  herüber- 
genommen; denn  da  stehen  ja  die  merkwürdigen  Worte:  „Farben  sind  nur 
Modificationen  des  Gesichts,  welches  vom  Lichte  auf  gewisse  Weise 
afficirt  wird.*  (Vgl.  dazu  oben  S.  54.)  Das  Licht,  d.  h.  die  Schwin- 
gungen materieller  Theile  ist  also  hier  etwas  Reales,  das  uns  afficirt.  Nun 
aber  sind  doch  alle  Dinge  im  Räume  nur  Erscheinungen,  welche  erst  ihrer- 
seits durch  Affection  seitens  der  unbekannten  Dinge  an  sich  in  uns  entstehen. 
Wie  können  denn  diese  Erscheinungen  wiederum  ihrerseits  „objective  Realität" 
(A  36)  in  Anspruch  nehmen,  sich  als  Objecte  gebahren,  welche  noch  einmal 
auf  uns  wirken  als  Affectionsheerde,  und  uns  nochmals  Empfindungen 
verursachen?  In  welch  missliche  Lage  hat  sich  Kant  somit  gebracht! 
Die  Erscheinungsobjecte  bekommen  jetzt  eine  merkwürdige  Zwischenstellung 
zwischen  den  Dingen  an  sich  und  den  rein  subjectiven  Sinnesqualitäten. 
Wir  haben  erstens  unbekannte  Dinge  an  sich,  die  unsere  Sinnlichkeit  affi- 
ciren  ;  dadurch  entstehen  zweitens  die  Erscheinungsobjecte,  die  unsere  Sinne 
ihrerseits  nochmals  afßciren,  und  dadurch  erhalten  wir  drittens  die  Vor- 
stellung jener  Erscheinungsobjecte  nochmals  plus  den  Sinnesqualitäten.  Jene 
Erscheinungsobjecte  sind  wahre  Zwitter:  einmal  subjective  Erscheinungen 
gegenüber  den  Dingen  an  sich,  andererseits  objective  Dinge  an  sich  gegen- 
über den  Sinnesqualitäten.  In  diesem  Sinne  heisst  es:  Der  Wohlgeschmack 
des  Weines  gehöre  nicht  zu  den  objectiven  Bestimmungen  des  Weines,  auch 
wenn  man  dieses  Object:  Wein  „sogar*  wieder  als  Erscheinung  betrachte. 
So  ist  denn  der  Wein  als  körperliches  Object  und  überhaupt  jedes  empirische 
Object  etwas  halbreales;  ideell  im  Gegensatz  zu  den  eigentlichen  letzten 
Dingen  an  sich,  reell  im  Gegensatz  zu  Wohlgeschmack,  Farbe  u.  s.  w. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  Kant  damit  in  eine  ganz  unhaltbare 
Situation  gerathen  ist;  und  so  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  er  in  der 
zweiten  Auflage  die  Stelle  veränderte,  insbesondere,  um  jene  ominöse 
Affection  der  Sinne  durch  die  Lichtschwingungen  wieder   hinwegzubringen. 


364  §  3-    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A28— 80.B44.45.  [R  38.  39.  H  63.  64.  E  80.] 

In   der  verkürzten  Darstellung  der  2.   Aufl.  ist    davon   keine   Rede  mehr. 
(Vgl.    auch  Cohen,    2.   A.    177.)      Fast  geflissentlich   hebt  jetzt  Kant   das 
Gemeinsame    hervor,     was   Raumvorstellung   und   Sinnesqualitäten    haben, 
nämlich,   dass  sie  beide  „bloss  zur  subjectiveu  Beschaffenheit  der  Sinnesart 
gehören".     Aber  doch  hat  der  Raum  mehr  Objectivitäts werth ,  »weil  er  ein 
Object  und  zwar  a  priori  erkennen  lässt.'*     Also  nicht  mehr  ein  Realitäts- 
unterschied,  sondern  ein  Erkenn tniss unterschied  wird  jetzt  gemacht  und 
damit  will  Kant  wohl  sagen:   die  blossen  Sinnesempfindungen   sind   etwas 
rein  Innerliches,  geben  uns  kein  Ausser-uns;   erst  die  Raumanschauung  er- 
möglicht uns  ja  (vgl.  oben  S.  160.  165),  diese  rein  innerlichen  Empfindungen 
in  ein  Ausser-uns  zu  verwandeln;   erst  dadurch,  dass  die  Raumanschauung 
unsere  rein  innerlichen  Empfindungen  veräusserlicht ,   vergegenwärtigt,  ob- 
jectivirt,    erhalten  wir   empirische   Objecte.      Jetzt  erst  haben  wir  äussere 
Gegenstände,  die  uns  gegenüberstehen.   So   erhalten    wir  Objecte  erst  durch 
die  Raumanschauung,    und  darum  ist  der  Raum    auch  diesen  nothwendig; 
und  darum  sind  wir  ja  auch  im   Stande,    über  diese  Objecte  aprioriscbe 
Aussagen  zu  machen.    So  ermöglicht  es  uns  also  die  Raum  Vorstellung,  um 
hier  Stellen  aus  der  Analytik  herbeizuziehen   zur  Erklärung  der  Ausdrücke 
hier,  „etwas  als  einen  Gegenstand  zu  erkennen"  (A  92),  sie  hat  ^objec- 
tive  Realität,    weil  sie  die  Form   der  Erfahrung  überhaupt  a  priori  in 
sich  enthält"    (A  221).     »Nur  vermittelst  solcher  reinen  Formen  der  Sinn- 
lichkeit kann  uns  ein  Gegenstand  erscheinen,  d.  h.  ein  Object  der  empiriseben 
Anschauung  sein"  A  89.     (Vgl.  Comm.  1 ,  188).    Diese  Darstellung  enthalt 
nun  gar  keinen  Widerspruch  mehr  mit  den  sonstigen  uns  bekannt  gewordenen 
Anschauungen  Kants.  Nur  hätte  dann  Kant  in  der  2.  Auflage  auch  jenes  Znge- 
ständniss  unterdrücken   oder  wenigstens   restringiren  sollen,  dass  die  Unter 
Scheidung  der  primären  und  secundären  Qualitäten,  welche  doch  gar  nicht 
in   sein  System  hereinpasst,    »mit  Recht"  gemacht  sei;   denn  der  von  ihm 
so  gebilligte  Unterschied  zerrinnt  ihm  ja  unter  den  Händen. 

Er  hat  sich  indessen  über  diese  Unterscheidung  nochmals  geäussert, 
A  44  f.,  in  den  „allgemeinen  Anmerkungen  zur  Aesthetik",  in  einer  viel 
gereifteren  Weise ,  so  dass  man  fast  glauben  möchte ,  jene  Stelle  sei  später 
niedergeschrieben  worden,  als  die  vorliegende. 

Nun  lässt  sich  aber  noch  ein  weiterer  Einwand  gegen  Kant  erheben. 
Trotzdem  er  uns  den  Unterschied  der  Raumvorstellung  und  der  Sinnes- 
qualitäten recht  zu  Gemüthe  geführt  hat,  so  lässt  sich  doch  nicht  leugnen, 
dass  die  bekannte  historische  Theorie  der  Sinnesqualitäten,  wie  sie  von 
Cartesius,  Hobbes,  Keppler,  und  bes.  von  Locke  aufgestellt  worden  ist,  dam 
geeignet  ist,  zum  Vergleich  und  zur  Illustration  für  die  Kantische  Baum* 
theorie  zu  dienen.  Wir  haben  ja  doch  die  Proportion:  Wie  sich  nach  der 
Locke'schen  Theorie  die  Sinnesqualitäten  zu  den  empirischen  Objecten  ver- 
halten, so  oder  ähnlich  verhält  sich  nach  der  Kant'schen  Theorie  die  Raum- 
vorstellung  zu  den  transscendenten  Objecten.  Oder  man  kann  auch  so 
formuliren:    Nach  Locke  verhalten   sich    Sinnesqualitäten    und  empirische 


Kant  vergleicht  den  Raum  doch  mit  den  Sinnesqualiiäten.  865 

[B  38.  89.  H  63^  64.  K  80.]  A28— 30.B44.45. 

Objecte  wie  Erscheinung  und  Ding  an  sich.  So  oder  ähnlich  Yerhalten 
sich  nach  Kant  die  ganzen  Dinge  im  Räume  zu  den  wahren  Dingen,  die 
nicht  im  Räume  sind.  Kant  hatte  demnach  keinen  rechten  Grund,  jenen 
Vergleich  mit  solcher  Emphase  zurückzuweisen.  Wenn  er  die  nöthigen 
Cautelen  hinzufügte,  konnte  er  ruhig  sich  jenes  Vergleiches  bedienen. 

In  den  Prolegomena,  welche  allerdings  der  Popularität  manches  Opfer 
bringen  (vgl.  Phil.  Monatsh.  XVI,  59),  hat  Kant  sich  denn  auch  in  einer 
bekannten  Stelle  ohne  Weiteres  des  verpönten  Vergleiches  ^  zur  Erläuterung 
und  Rechtfertigung  seiner  Theorie  bedient  ^,  In  den  Prolegomena '  sagt  eben 
Kant  §  18  Anm.  II :  ^Dass  man,  unbeschadet  der  wirklichen  Existenz  äusserer 
Dinge,  von  einer  Menge  ihrer  Prädicate  sagen  könne :  sie  gehörten  nicht  zu 
diesen  Dingen  an  sich  selbst,  sondern  nur  zu  ihren  Erscheinungen,  und 
hätten  ausser  unserer  Vorstellung  keine  eigene  Existenz,  ist  etwas,  was  schon 
lange  vor  Locke's  Zeiten,  am  meisten  aber  nach  diesem  allgemein  ange- 
nommen xind  zugestanden  ist.  Dahin  gehören  die  Wärme,  die  Farbe,  der 
Geschmack  etc.  Dass  ich  aber  noch  über  diese,  aus  wichtigen  Ursachen,  die 
übrigen  Qualitäten  der  Körper,  die  man  primarias  nennt,  die  Ausdehnung, 


*  Es  ist  deshalb  ein  ganz  ungerechter  Vorwurf,  welchen  Adamson,  Kant 
17.  113.  138  gegen  Zeller  erhebt,  „es  bekunde  eine  seltsam  mangelhafte  Auf- 
fassung der  Grundeigenthümlichkeit  der  Philosophie*,  wenn  er  den  Satz,  dass  Raum 
and  Zeit  Bedingungen  der  Anschauuog  seien,  mit  „dem  Satz,  dass  Farben,  Geräusche 
n.  8.  w.  von  der  Structur  der  Sinnesorgane  abhängen,  auf  gleiches  Niveau  stelle", 
denn  E.  hat  das  selbst  gethan.  Die  Kantianer  suchen  freilich  die  Stelle  der  Prol. 
abzuschwächen^  vgl.  Tobias,  Grenzen  der  Philos.  S.  32  ff.  296  ff.  und  bes.  Witte, 
Vorstudien,  S.  76—84. 

*  Angesichts  dieser  Stelle  ist  es  einseitig,  wenn  Pauls en,  Entw.  186  aus- 
führt: wenn  es  K.'s  Absicht  gewesen  wäre,  den  Phänomenalismus  zu  lehren,  so 
wäre  er  doch  gewiss  davon  ausgegangen,  „dass  der  Zucker  nicht  süss  ist,  als  in 
Berührung  mit  der  Zunge,  und  Zinnober  nicht  roth,  ausser  im  Auge".  Statt  dieser 
, einleuchtenden  Anführungen*  habe  er  seine  „ schwerzugänglichen  Erörterungen* 
gewählt,  weil  er  eben  nicht  den  Phänomenalismus,  sondern  den  Rationalismus 
gelehrt  habe  u.  s.  w.  (Ebenso  Adickes  S.  78,  N.  2.)  Dagegen  ist  zu  sagen,  1.  dass 
Kant  ja  doch  thatsächlich  gelegentlich  die  Subjectivität  der  Empfindungen  zur 
Hechtfertigung  seiner  Lehre  herbeizog;  2.  dass  er  in  der  Kritik  selbst  nicht  von 
diesem  Gesichtspunkt  ausging,  weil  er  den  Phänomenalismus  resp.  Idealismus  eben 
ganz  anders  als  bisher  begi'ünden  und  verstanden  haben  wissen  wollte;  3.  dass 
Kant  Phänomenalismus  und  Rationalismus  zugleich  in  seiner  Lehre  organisch 
verband.    (Vgl.  schon  oben  S.  263  und  S.  342  N.,  sowie  bes.  Comm.  I,  70.) 

*  VgL  über  diese  Stelle  auch  B.  Erdmann,  Einl,  zu  den  Prolegomena, 
S.  LXVIII,  LXX,  und  Kritic.  S.  93,  sowie  Phil.  Mon.  1884,  S.  76,  woselbst  auch 
eine  interessante  Parallelstelle  aus  dem  Königsberger  Metaphysik-Manuscript  mit- 
getheilt  wird:  „Abstrahiren  wir  die  sinnliche  Anschauung,  so  ist  R.  u.  Z.  gar 
nichts,  ebenso  wie  es  keine  Annehmlichkeit  des  Süssen  ohne  Zunge  geben  kann.* 
—  Uebrigens  findet  sich  die  Zusammenstellung  schon  bei  Wolf  f ,  Psych,  rat.  §  103; 
Ontologie  §  548  ff.;  vgL  Bilfinger,  Dilucid.  §  97,  204  ff. 


366  §  B*    Schlüsse  in  Bezug  auf  den  Raum. 

A28-30.644.45.  [B  88.  39.  H  63.  64.  E  80.] 

den  Ort,  und  überhaupt  den  Baum,  mit  Allem,  was  ihm  anhängig  ist  (Un- 
durchdringlichkeit  oder  Materialität,  Gestalt  etc.)  auch  mit  zu  blossen  Er- 
scheinungen zähle,  dawider  kann  man  nicht  den  mindesten  Qrund  der  ünzulfissig- 
keit  anführen ;  und  so  wenig ,  wie  der,  so  die  Farben  nicht  als  Eigenschaften, 
die  dem  Object  an  sich  selbst ,  sondern  nur  dem  Sinn  des  Sehens  als  Modi- 
ficationen  anhängen^  will  gelten  lassen,  darum  ein  Idealist  heissen  kann,  so 
wenig  kann  mein  Lehrbegriff  idealistisch  heissen,  bloss  deshalb,  weil  ich 
finde,  dass  noch  mehr,  ja  alle  Eigenschaften,  die  die  Anschauung 
eines  Körpers  ausmachen,  bloss  zu  seiner  Erscheinung  gehören;  denn 
die  Existenz  des  Dinges,  was  erscheint,  wird  dadurch  nicht  wie  beim  wirk- 
lichen Idealismus  aufgehoben,  sondern  nur  gezeigt,  dass  wir  es,  wie  es  an 
sich  selbst  sei,  durch  Sinne  gar  nicht  erkennen  können.  Ich  möchte  gerne 
wissen,  wie  denn  meine  Behauptungen  beschaffen  sein  müssten,  damit  sie 
nicht  einen  Idealismus  enthielten.  Ohne  Zweifel  müsste  ich  sagen:  dass  die 
Vorstellung  vom  Baume  nicht  bloss  dem  Verhältnisse,  was  unsere  Sinnlich- 
keit -zu  den  Objecten  hat,  vollkommen  gemäss  sei,  denn  das  habe  ich  gesagt, 
sondern  dass  sie  sogar  dem  Object  völlig  ähnlich  sei;  eine  Behauptung,  mit 
der  ich  keinen  Sinn  verbinden  kann,  so  wenig  als  dass  die  Empfindung  des 
Bothen  mit  der  Eigenschaft  des  Zinnobers,  der  diese  Empfindung  in  mir 
erregt,  eine  Aehnlichkeit  habe."  ^     (Vgl.  oben  S.  304.) 

Bekanntlich  hat  Schopenhauer,  im  Anschluss  an  diese  Stelle  der 
Prolegomena,  die  K.'sche  Philosophie  als  die  directe  Fortsetzung  und  Voll- 
endung der  Locke'schen  angesehen.  Er  sagt  (W.  I,  494 — 495):  , Kants 
grösstes  Verdienst  ist  die  Unterscheidung  der  Erscheinung  vom 
Dinge  an  sich  —  auf  Grund  der  Nachweisung,  dass  zwischen  den  Dingen 
und  uns  immer  noch  der  Intellect  steht,  weshalb  sie  nicht  nach  dem,  was 
sie  an  sich  selbst  sein  mögen,  erkannt  werden  können.  Auf  diesen  Weg  geführt 
wurde  er  durch  Locke.  Dieser  hatte  nachgewiesen,  dass  die  secundären 
Eigenschaften  der  Dinge,  wie  Klang,  Geruch,  Farbe,  Härte,  Weiche,  Gl&tte 
u.  dgl.,  als  auf  die  Affectionen  der  Sinne  gegründet,  dem  objectiven  Körper, 
dem  Dinge  an  sich  selbst  nicht  angehörten,  welchem  er  vielmehr  nur  die 
primären  Eigenschaften,  d.  h.  solche,  welche  bloss  den  Baum  und  die  Ün- 
durchdringlichkeit  voraussetzen,  also  Ausdehnung,  Gestalt,  Solidität,  Zahl. 
Beweglichkeit   beilegte.     Allein    diese   leicht  zu  findende  Locke'sche  Untere 


^  Zu  dieser  Stelle  ist  jedoch  an^merken,  dass  auch  in  ihr  Kant,  wie  im 
ursprünglichen  Texte  der  Kr.  d.  r.  V.  den  Ei-scheinungen  eine  Affection  zuschreibt: 
Denn  „der  Zinnober  erregt  ja  die  Empfindung  des  Rothen  in  mir*  —  nach  dem 
Zusammenhang  ganz  deutlich  das  empirische  Object,  der  Körper,  Zinnober  genanüt, 
natürlich  ohne  die  rein  subjective  Eigenschaft  des  Rothseins.  Dies  steht  nun 
T^ieder  mit  dem  Anfang  der  Stelle  in  Widerspruch,  womach  ja  alle  räumlicheB 
Eigenschaften  zur  blossen  Erscheinung  gehören.  Wie  aber  soll  eine  »blosse  E^ 
scheinung"'  in  uns  uns  noch  afficiren  können?  üeber  dieses  Schwanken  hinsichtlich 
der  Realität  der  empirischen  Objecte  ist  Kant  nie  hinausgekommen,  wie  wir  ja 
schon  oben  in  dem  Excurs  S.  52  ff.  gesehen  haben. 


Physiologie  der  Sinne  und  Kantisclie  Raumlehre.  367 

[R  38.  39.  H  63.  64.  E  80.]  A28— 30.B44.45. 

Scheidung,  welche  sich  anf  der  Oberfläche  der  Dinge  hält,  war  gleichsam  nur 
ein  jugendliches  Vorspiel  der  Kantischen.  Diese  nämlich,  von  einem  ungleich 
höheren  Standpunkt  ausgehend,  erklärt  alles  Das,  was  Locke  als  qualitates 
primarias,  d.  h.  Eigenschäften  des  Dinges  an  sich  selbst,  gelten  gelassen  hatte, 
für  ebenfalls  nur  der  Erscheinung  desselben  in  unserem  Auffassungsvermögen 
an  gehörig  und  zwar  gerade  deshalb,  weil  die  Bedingungen  desselben.  Kaum, 
Zeit  und  Causalität,  von  uns  a  priori  erkannt  wei'den.  Also  hatte  Locke 
vom  Dinge  an  sich  den  Antheil,  welchen  die  Sinnesorgane  an  der  Er- 
scheinung desselben  haben,  abgezogen;  Kant  aber  zog  nun  noch  den  Antheil 
der  Gehirn functionen  (wiewohl  nicht  unter  diesem  Namen)  ab;  wodurch 
jetzt  die  Unterscheidung  der  Erscheinung  vom  Dinge  an  sich  eine  unendlich 
grössere  Bedeutung  und  einen  sehr  viel  tieferen  Sinn  erhielt."  In  diesem 
Sinne  nennt  Seh.  Kants  Kr.  d.  r.  V.  geradezu  eine  „Kritik  der  Gehirn- 
functionen**  (W.  II,  13;  vgl.  bes.  ib.  23  ff.  89.  216.  823  f.  666.  VgU 
Par.  I,  18.  93.  Grund  §  34).  Aehnlich  im  Anschluss  an  die  Physiologen 
Johannes  Müller,  Helmholtz,  Fick  („Welt  als  Vorstellung",  1870, 
S.  11  ff.)  u.  A.  sodann  bes.  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  408  ff.:  „Die  Physiologie 
der  Sinnesorgane  und  die  Welt  als  Vorstellung",  wobei  er  Baum  und  Sinnes- 
qualitäten gleichermassen  auf  die  „psychophysische  Organisation"  zurückführt! 
(Vgl.  oben  S.  10.  11.)  Auch  Lotze  stellt  Raum  und  Farben  zusammen.  Log. 
§  324  ff.,  Metaph.  §  99.  113.  114.  Vgl.  Liebmann,  Anal.  d.  Wirkl.  37  ff. 
Dagegen  Joh.  Rehmke,  Physiologie  und  Kantianismus  1883;  (vgl.  „Welt 
als  Wahrnehmung"  47  ff.  183  ff.)  Schwertschlager,  Kant  und  Helmholtz, 
S.  48  ff.  104  ff.  Vgl.  bes.  Helmholtz,  Thatsachen  in  der  Wahrnehmung, 
S.  8  ff.  14.  ff.  42.  Vgl.  auch  Pflüger  a.  a.  0.  31—40;  Stadler,  Teleologie  4; 
Cohen,  2.  A.  231—233.  Hieher  gehört  auch  bes.  die  Abhandlung  von 
Aug.  Müller,  Die  Grundlagen  der  K.'schen  Philos.  vom  naturwissenschaft- 
lichen Standpunkt  aus.  Altpr.  Mon.  1869,  VI,  H.  5  u.  6.  C lassen,  Physio- 
logie des  Gesichtssinns,  zum  erstenmal  begründet  auf  Kants  Theorie  der 
Erfahrung  1876 ;  derselbe ,  Ueber  den  Einfluss  Kants  auf  die  Theorie  der 
Sinneswahmehmung  1886.  (S.  112  ff.  „empirische  Aesthetik".)  Vgl.  Massonius, 
Aesth.  8.  56  ff.  Hemann  Ersch.  d.  Dinge  S.  93—108.  Laas,  Id.  u.  Pos.  III, 
455  ff.;  woselbst  dann  dieser  „semikan tische  Synkretismus"  eingehend  besprochen 
wird  bei  Schopenhauer  (522  ff.),  Joh.  MüUer  (556  ff.),  Lotze  (563  ff.), 
Helmholtz(572  ff.),  Fick  (597  ff.),  F.  A.  Lange  (613  ff.),  Liebmann  (630  ff.). 
Gegen  die  Vermischung  der  Sinnesphysiologie  mit  Kants  Raumlehre  spricht 
sich  auch  der  Kantianer  Tobias,  Grenzen  der  Philos.  108  ff.  142  ff.  aus. 
Vgl.  dazu  auch  oben  S.  119  über  die  Rolle  einer  „empirischen  Aesthetik'' 
innerhalb  Kants  Kr.  d.  r.  V. 


368  §  ^-    ^i*stes  Zeitargument. 


Zweiter  Abschnitt 
Von    der   Zeit. 

Metaphysische  Erörterung  dieses  Begriffes. 

Erstes  Zeitargument. 
AdO.B46.  [R  40.  H  64.  E  81.] 

Dieses  Argument  ist  sachlich  dem  ersten  Raumargument  vollständig 
parallel,  dient  aber  in  einigen  Beziehungen  zur  Erläuterung  desselben,  wie 
bei  den  betreffenden  Gelegenheiten  oben  bemerkt  worden  ist  (S.  157.  160. 
166.  171).  Der  Sinn  ist  klar  und  einfach,  obwohl  sich  Kant  hier  etwas 
kürzer  gefasst  hat,  als  beim  Baum^  Diese  Argumentation  gibt  Kant  in 
drei  Sätzen,  deren  logischer  Werth  folgender  ist:  Der  erste  Satz  enthält 
(wie  beim  ßaum)  die  These,  welche  bewiesen  werden  soll  —  der  nicht- 
empirische Ursprung  der  ZeitYorstellung.  Der  zweite  Satz  entlüilt  (wie 
beim  Baum)  den  Beweisgrund:  die  Noth wendigkeit  der  Zeitvorstellnn^ 
f^r  das  Zustandekommen  der  Wahrnehmung  des  Zugleichseins  und  der  Auf- 
einanderfolge; Der  dritte  Satz  gibt  nicht  wie  beim  Baume,  eine  Wieder- 
holung der  These,  sondern  nur  eine  erläuternde  Umschreibung  des  Beweis* 
ginindes. 

In  der  Dissertation  §  14, 1  liatte  Kant  die  Sache  so  gefasst:  „Idea  tetth 
poris  non  oritur,  sed  supponitur  a  sensibus.  Quaeemm  in  sensui 
incurrunt,  idrum  simul  sint  an  post  se  invicem,  nonnisi  per  ideam  temporis  rt- 
praesentari  polest  \  neque  sticcessio  gignü  conceptum  temporis  ^  sed  ad  iUum 
provocat.  (Deutsch:  Die  Aufeinanderfolge  ist  nicht  der  Ursprung  der 
Baumvorstellung ,  sondern  nur  deren  Veranlassung).  Ideoque  ten^ris 
notioy  veluti  per  experientiam  acquisita,  pessime  definitur  per  seriem  aetuaUum 
post  se  invicem  existentium.  Nam  quid  significat  vocula  posij  non  üUdligo, 
nisi  praevio  jam  temporis  conceptu.  Sunt  enim  post  se  invicem,  quae  existu/il 
iemporibus  diversis^  quemadmodum  simul  sunt,  quae  existunt  tempore 
eodem/^  Und  dazu  die  Erläuterung  §  14,  5:  „Suhstantias  pariter  ac  aed- 
dentia  coordinamus,  tum  secundum  simultaneitatem,  quam  secessionem,  nonnisi 


^  Wenn  K.  sagt:  „Das  Zugleichsein  würde  nicht  in  die  WahmehmuDg 
kommen,  wenn  u.  s.  w.",  so  heisst  das  nicht  etwa:  das  Zugleichsein  sei  schon  da 
auch  ohne  uns,  und  komme  dann  erst  in  uns  hinein,  sondern:  jenes  Zugleich- 
sein,  jene  Aufeinanderfolge  kommt  überhaupt  erst  zu  Stande.  (Die  erstere  Aus- 
legung wäre  allerdings  auch  insofern  möglich,  als  ja  Kant  den  empirischen 
Dingen  gelegentlich  eine  gewisse  selbständige  Realität  verleiht;  vgl.  oben  S.  52 ff- 
und  S.  363.) 


Idea  temporis  non  oritur,  sed  supponitur  a  sensibus.  369 

[R  40.  H  65.  E  81.]  A  30.  B  46. 

per  conceptum  tetnporis;  ideoque  hujus  notio,  tanquam  principium  formae, 
istorum  conceptibus  est  antiquior/'  Vgl.  M.  Herz,  Betrachtungen  S.  47  ff. 
(„Die  Zeit  selbst  kein  Abstractum  der  sinnlichen  Erkenntniss"  u.  s.  w.). 
Einen  besonderen  Werth  legt  Kant  in  der  Dissertation  §  14,  5  darauf, 
dass  auch  das  Yerhältniss  des  Zugleichseins  bei  der  Zeit  zur  Geltung 
kommt;  die  Vernachlässigung  dieses  Umstandes  wirft  er  der  Leibniz'schen 
Schule  vor,  welche  die  Zeit  einfach  als  die  Folge  der  Zustände  definirt 
hatte.  Vgl.  Fischer,  3.  A.  S.  337.  In  der  Kritik  hat  Kant  davon  nicht 
gesprochen.     Vgl.  unten  S.  393  f. 

Beachten s werth  ist,  dass  Kant  einen  anderen  Vorwurf,  den  er  der 
Leibniz'schen  Schule  macht,  in  der  Kritik  nicht  wiederholt  hat,  den 
schweren  Vorwurf  eines  circulus  ritiosus  in  der  Bestimmung  der  Zeit 
und  auch  des  Baumes.  Er  macht  diesen  Vorwurf  schon  in  der  oben  an- 
geführten Stelle  indirect,  dann  direct  zweimal  in  Bezug  auf  die  Zeit, 
§  14,  2  und  §  14,  5,  und  einmal  in  Bezug  auf  den  Raum  §  15,  D.  Er 
sagt:  Leibnüius  et  asseclae  statuunt,  tempus  esse  abstractum  reale  a  succes- 
sione  statuum  intemorum.  Jn  hac  temporis  definitione  —  sieht  er  eben  einen 
circulus  vitiosus.  Wie  gesagt,  Kant  hat  diesen  Vorwurf  in  der  Kritik  selbst 
nicht  wiederholt,  und  das  mit  Recht:  denn  der  Vorwurf  ist,  wenigstens  in 
jener  Form ,  nicht  gerade  sehr  geschickt.  Es  wird  jener  Auffassung  ein 
Cirkel  in  der  Definition  vorgeworfen:  aber  es  handelt  sich  ja  doch  nicht 
um  eine  Definition,  eine  Erklärung  sensu  logico,  sondern  um  eine  causale 
Erklärung  sensu  reali.  Wenn  es  sich  bloss  um  eine  logische  Definition  des 
Raumes  handelt,  so  kann  derselbe  Fehler  ja  auch  vom  Kantischen  Stand- 
punkt aus  gemacht  werden.  Was  Kant  offenbar  wirklich  tadeln  will,  ist 
der  Cirkel  in  der  genetischen  Ableitung.  Jene  Ableitung  sagt :  die  Zeit- 
vorstellung entsteht  erst  aus  der  Vorstellung  der  aufeinanderfolgenden  Dinge. 
Allein  —  wirft  Kant  ein  —  die  Vorstellung  aufeinanderfolgender  Dinge  ist 
nur  möglich,  wenn  eine  Voi'stellung  der  Zeit  schon  vorhergeht.  Die  Vor- 
stellung der  Zeit  aus  der  Vorstellung  wahrgenommener  und  beobachteter 
Zeitfolge  abzuleiten,  ist  verkehrt.  Diese  Umkehrung,  diese  Verwechslung 
von  Ursache  und  Wirkung  ist  aber  doch  nicht  richtig  bezeichnet  mit  dem 
logischen  Ausdruck  eines  circulus  vitiosus,  und  so  mag  Kant  absichtlich 
später  diese  ungenaue  Bezeichnung  weggelassen  haben.  K.  Fischer  (2.  A. 
S.  317.  329  ff.,  3,  A.  S.  330.  337)  hat  sie  jedoch  acceptirt. 

Weitere  Ausführung  des  Argumentes  bei  Stadler,'  Erk.  35  ff., 
Cohen,  2.  A.  182,  Vgl.  Schneider,  Ps.  Entw.  des  Apriori,  25  über  den 
hier  vorliegenden  „psychologischen  Sachverhalt".  Scharfe  Kritik  des  Argu- 
mentes bei  Wundt,  Logik  I,  428—433.  Eine  vollständige  Zerfaserung 
des  ganzen  Argumentes  s.  in  Bolligers  Anti-Kant  S.  385  ff. ;  die  ganze 
Kritik  wird  dahin  zusammengefasst :  „Kant  legt  also  nicht  bloss  einen  That- 
bestand  unrichtig  aus;  er  hat  den  Thatbestand  selbst  der  Wirklichkeit  zu- 
wider erst  fingirt."     Vgl.  auch  Spencer,  Psych.  I,  §  338. 

Vaihinger,  Kant-Gommentar.    II.  24 


370  §4.    Zweites  Zeitargument. 

A  81.  B  46.  [B  40.  H  65.  E  81.] 

Zweites  Zeitargument. 

Dieses  Argument  enthält  dieselben  Schwierigkeiten,  wie  das  ent- 
sprechende Baumargument,  ist  aber  noch  complicirter  gebaut.  Es  besteht 
aus  5  Sätzchen,  von  denen  das  mittelste  die  eigentliche  Schlussfolgerung 
enthält,  auf  welche  es  in  erster  Linie  ankommt:  Die  Zeit  ist  also 
a  priori  gegeben.  Der  Beweis  für  diese  Apriorität  der  Zeitvorstellung 
kann,  wie  wir  schon  vom  zweiten  Baumargument  her  wissen,  nur  in  der  abso- 
luten Nothwendigkeit ,  d.  h.  Nicht-Hinweg-Denkbarkeit  der  Zeit  liegeD. 
Während  diese  Nicht-Aufhebbarkeit  beim  Baume  den  eigentlichen  Beweis- 
nerv bildete,  ist  hier  bei  der  Zeit  diese  absolute  Nothwendigkeit  hinter  die 
relative  zurückgetreten.  In  der  1.  Auflage  kam  jene  wenigstens  noch  am 
Schlüsse  zur  Geltung:  „Die  Erscheinungen  können  insgesammt  wegfallen, 
aber  sie  selbst  —  kann  nicht  aufgehoben  werden."  Darin  steckt  eben  die 
absolute  Nothwendigkeit,  und  zwar  genau  in  derselben  Doppelwendung,  die 
wir  auch  oben  S.  186  beim  Baume  unterschieden,  nur  in  umgekehrter  An- 
ordnung: ß)  man  kann  die  Erscheinungen  „aus  der  Zeit  wegnehmen'; 
a)  die  Zeit  selbst  kann  man  nicht  loswerden.  In  der  2.  Auflage  hat  Kant 
durch  den  Einsatz  „als  die  allgemeine  Bedingung  ihrer  Möglichkeit'  diese 
absolute  Nothwendigkeit  vollends  ganz  in  die  relative  verwandelt,  hat  also 
durch  diesen  Zusatz  den  eigentlichen  Beweisnerv  getödtet.  Denn  alles  andere 
bezieht  sich  nur  auf  die  relative  Nothwendigkeit,  welche  hier  aber  nicht 
bloss  wie  beim  Baum  als  blosses  Corollar  der  absoluten  erscheint,  sondern 
auch  selbständig  bewiesen  wird:  denn  man  kann  „in  Ansehung  der  Erschei- 
nungen überhaupt  die  Zeit  Selbsten  nicht  aufheben*. 

Diese  Hervorkehrung  der  relativen  Nothwendigkeit  der  Zeitvorstellung 
ist  vom  Standpunkt  Kants  selbst  aus  ein  Fehler;  denn  diese  relative  Noth- 
wendigkeit ist  doch  kein  stringenter  Beweis  für  die  Apriorität;  dass  ich 
Erscheinungen  nicht  ohne  Zeit  vorstellen  kann,  beweist  noch  nicht,  dass  die 
Zeitvorstellung  eine  den  Empfindungen  vorhergehende  Vorstellung  ist, 
und  dies  eben  soll  doch  bewiesen  werden,  dass  die  Zeitvorstellung  „a  priori 
gegeben"  ist.  Da  war  das  entsprechende  Baumargument  logisch  viel  besser 
gebaut,  weil  es  den  eigentlichen  entscheidenden  Beweissatz  in  die  Mitte 
nahm,  wenn  auch  in  der  These  und  in  der  Schlussfolgerung  absolute  und 
relative  Nothwendigkeit  nicht  hinreichend  klar  geschieden  waren.  Hier 
aber  gewinnt  es  den  Anschein,  dass  Kant  in  der  That  in  der  relativen  Noth- 
wendigkeit auch  einen  Beweis  für  die  Apriorität  habe  sehen  wollen;  dann 
würden  auch  jene  oben  S.  194  f.  198  f.  wiedergegebenen  Darstellungen,  resp. 
Angriffe  auf  Kants  Darstellung  gerechtfertigt  sein.  Der  Wortlaut  diese» 
Zeitargumentes  legt  diese  Auslegung  in  der  That  sehr  nahe. 

Der    so    aufgefundene    logische   Zusammenhang    lässt    sich    für   das 
zweite  Baum-  und  Zeitargument  in  folgender  Weise  übersichtlich  darstellen: 


Absolute  und  relative  Nothwendigkeit  der  Zeit.  371 

[B  40.  H  65.  K  81.]  A31.B46.47. 

Hauptthese:  Raum  und  Zeit  sind  a  priori  gegeben. 
Beweisnerv:   ihre  absolute  Nothwendigkeit. 

a)  R.  u.  Z.  sind  nicht  aufzuheben,  sie  sind  dem  Subject  nothwendig. 
ß)  Die  Erscheinungen  aber  kann  man  aus  R.  u.  Z.  wegnehmen. 
Nebengedanke  (im  Raumargument  als  C o r o  1 1  a r  aus  der  absoluten  Noth- 
wendigkeit, im  Zeitargument  als  Beweis  fQr  die  Apriorität): 

R.  u.  Z.  sind  in  Ansehung  der  Erscheinungen  nicht  aufzuheben, 
sie  sind  dem  Object  nothwendig. 

Der  unmerkliche  Uebergang  von  der  absoluten  Nothwendigkeit  zur 
relativen  bei  Kant  wird  durch  folgenden  umstand  erleichtert:  Der  Satz  /? 
hat  einerseits  znm  Gegenstück  den  Satz  cc:  die  Erscheinungen  kann  ich 
aus  Raum  und  Zeit  wegnehmen,  aber  diese  letzeren  bleiben  im  Subject 
haften ;  andererseits  kann  jener  Satz  /^  auch  so  gefasst  werden,  dass  er  zu 
dem  Nebengedanken  den  Gegensatz  bildet:  die  Erscheinungen  kann  ich 
wohl  aus  Raum  und  Zeit  wegnehmen,  aber  diese  kann  ich  nicht  aus  den 
Erscheinungen  wegnehmen.  Der  Satz  /j  bildet  somit  gleichsam  die 
Weiche,  vermittelst  welcher  Kant  von  einem  Geleise  auf  das  andere  hin- 
übergleitet. 

Gegen  dieses  Argument  macht  Bau  mann,  Raum,  ZeitundMath.il, 
667  den  sachlichen  Einwand:  j,K.  ging  von  dem  astronomischen  Idealbild 
aus  und  wollte  es  als  eine  reine  Anschauung  des  Gemüths  gleich  der  des 
reinen  Raumes  erweisen;  aber  es  ist  klar,  wenn  man  nach  ihm  selbst  die 
Erscheinungen  aus  der  Zeit  wegdenkt,  so  bleibt  die  Aufeinanderfolge  der 
Vorstellungen;  man  kann  aber  auch  diese  selbst  wegdenken,  dann  bleibt 
nicht  die  Zeit,  sondern  die  einfache  Empßndung  des  Ich  als  seiend,  aber 
ohne  Aufeinanderfolge,  ohne  Verlauf  und  merkliche  Unterschiede;  das  ist 
aber  vielmehr  die  Idee  der  Ewigkeit,  diese  im  wirklichen  Sinne  gefasst,  und 
nicht  mit  der  Unendlichkeit  der  Zeit  verwechselt,  und  ist  nicht  das,  was 
wir  Alle  mit  Zeit  meinen.*  Dagegen  Stadler,  Reine  Erk.  138:  , Gewiss 
bleibt  die  Zeit  so  wenig  wie  der  Raum  als  eine  deutliche  Vorstellung  zurück 
(vgl.  oben  S.  191),  denn  es  liegt  ja  in  der  Natur  der  Verhältnissvorstellung, 
dass  ihre  Function  nur  an  einem  gegebenen  Mannigfaltigen  zu  Tage  treten 
kann.  Aber  der  Sinn  dieses  Bestehen-Bleibens  ist  auch  nur  der,  dass,  wenn 
alle  besonderen  Zeitbestimmungen  weggedacht  werden,  damit  die  Zeit  als 
Ganzes  nicht  aufgehoben  wird;  es  bleibt  die  unbestimmte  allgemeine  An- 
schauung, von  welcher  nur  noch  die  Beharrlichkeit  des  Subjects  einen  eben- 
falls unbestimmten  Theil  abgrenzt."  Weitere  Einwürfe  gegen  das  Argument 
s.  bei  Spicker,  Kant  74,  und  bes. bei  Bolliger,  Anti-Kant  390 — 95;  bei 
V.  Kirchmann,  Erkl.  11  (dagegen  Grapengiesser,  Erkl.  24  ff.);  bes. 
auch  bei  Wundt,  Logik,  I,  429;  Spencer,  Psychol.  II,  §  399. 

Drittes  Zeitargument. 

Wie  beim  Räume  behandeln  wir  auch  hier  diesen  Passus  sachgemäss 
unter   der  „Transsc.  Erörterung",   §  5.    Es  ist   eine  blosse  Ungenauigkeit 


372  §  4-    Drittes  und  viertes  Zeitargument. 

A  81.  B  47.  [B  41.  H  65.  E  82.] 

Kants,  dass  er  nicht  den  Parallelismus  mit  der  2.  Auflage  der  metaphysi- 
schen Erörterung  des  Raumes  soweit  herstellte,  um  auch  diesen  Abschnitt 
hier  wegzunehmen,  und  demgemäss  dann  auch  den  §  5  entsprechend  umzu- 
arbeiten. »Um  kurz  zu  sein*,  wie  Kant  am  Anfang  von  §  5  sagt,  ist  keine 
Entschuldigung,  denn  die  Sache  hätte  an  der  rechten  Stelle  keine  Zeile  mehr 
Baum  eingenommen  (so  auch  A dickes).  Es  ist  deshalb  eine  unzu- 
reichende Entschuldigung  dieser  Nachlässigkeit,  wenn  Cohen,  S.  14  (2,  Aufl. 
S.  106.  181)  bemerkt,  „für  die  Zeit  war  schon  die  transscendentale  Er- 
örterung des  Raumes  vorausgegangen."  Das  überhebt  aber  nicht  der  Pflicht 
der  Vermeidung  einer  solchen  störenden  Inconcinnität.  Mit  Recht  wirft 
deshalb  Paulsen  K.  hier  „ünzuverlässigkeit"  vor  (Viert,  f.  wiss.  Phil.  11, 
490).  —  Ueber  den  letzten  Satz  vgl.  oben  S.  175  Anm.  1. 

Viertes  Zeitargoment. 

Dass  dieses  Argument  dem  vierten  Raumargument  der  1.  Auflage 
(resp.  dem  dritten  Raumargument  der  2.  Auflage)  entspricht,  daran  ist  kein 
Zweifel.  Der  erste  Satz  hier  entspricht  fast  wörtlich  dem  dortigen  ersten 
Satze,  und  enthält  wieder  die  These,  dass  die  Zeit  kein  Begriff,  sondern  eine 
Anschauung  sei.  Das  letztere  ist  hier  abweichend  ausgedrückt:  ^sondern 
eine  reine  Form  der  sinnlichen  Anschauung*.  Da  aber  der  Gegensatz  von 
Begriff  und  Anschauung  die  Hauptsache  ist,  so  hat  es  hier  keinen  rechten 
Sinn,  von  Form  der  Anschauung  zu  sprechen.  In  dieser  störenden  Incon- 
cinnität sieht  Cohen  natürlich  wieder  eine  geheimnissvolle  tiefere  Beziehung. 
Er  sagt  (1.  Aufl.  S.  26;  2.  Aufl.  S.  122):  „Es  darf  nicht  unbeachtet  bleiben, 
dass  der  Beweis  des  dritten  Satzes  vom  Räume  auf  die  Bestimmung  von  der 
reinen  Anschauung  als  einer  reinen  Form  der  Sinnlichkeit  nicht  Bezug  nimmt, 
während  in  dem  homologen  Satze  von  der  Zeit  dieser  bündige  Gedanke  sich 
unmittelbar  ausspricht.  Der  Grund  ist  auch  hier  ohne  Schwierigkeit  zu  er- 
kennen :  dazwischen  liegt  die  Transscendentale  Erörterung,  in  deren  Bereich 
jene  Bestimmung  fällt."  Eine  recht  wunderliche  Entschuldigung!  Kant 
hat  hier  bei  der  Zeit  auf  die  Transsc.  Erörterung  vom  Räume  doch  keine 
Rücksicht  zu  nehmen !  Es  ist  einfach  eine  der  zahllosen  Ungenauigkeiten 
von  Kant. 

Die  beiden  folgenden  Sätze  entsprechen  inhaltlich  ganz  der  ersten 
Hälfte  des  vorletzten  Raumargumentes  (vgl.  oben  S.  211  ff.).  Nur  wäre  zu  er- 
warten gewesen,  dass  Kant  gesagt  hätte:  „Denn  man  kann  sich  nur  eine 
einige  Zeit  vorstellen;  verschiedene  Zeiten  sind  nur  Theile  eben  derselben 
Zeit."  Warum  Kant  den  ersten  Satztheil  unterdrückt  hat,  ist  nicht  recht 
einzusehen.  Es  liegt  eben  wieder  eine  üngenauigkeit  Kants  oder  auch  ein 
Versehen  des  Setzers  vor.  Nur  in  dieser  Vervollständigung  enthält  der  Satz 
den  eigentlichen  Beweisgrund,  den  wir  auch  oben  beim  Räume  getroffen 
haben :  die  Zeit  ist  ein  Unicum;  und  zu  diesem  Beweisgrund  verhält 
sich  der  Satz,  dass,  wenn  man  von  verschiedenen  Zeiten  rede,  man  darunter 


Idea  temporia  est  singtilaris,  non  generalis,  373 

[B  41*  H  65.  E  82.]  A  32.  B  47. 

nur  Theile  einer  und  derselben  Zeit  verstehe ,  bloss  als  ein ,  einen  nahe- 
liegenden Einwand  abwehrender  Zusatz.  Der  nächste  Satz/  der  beim  Baume 
fehlte,  zieht  die  Consequenz  aus  jener  Thatsache,  dass  die  Zeit  ein  ünicum 
ist:  von  einem  ünicum  gibt  es  keinen  Begriff,  nur  eine  Anschauung.  Wun- 
derlich ist  die  Ausdrucks  weise  von  j,der  Vorstellung,  die  nur  durch  einen 
einzigen  Gegenstand  gegeben  werden  kann"  —  als  ob  die  Zeit  Vorstellung 
durch  einen  Gegenstand:  Zeit  gegeben  wäre !    Vgl.  unten  S.  399  Anm.  1. 

Auffallend  ist  nun  im  höchsten  Grade,  dass  die  andere  zweite  Wen- 
dung, welche  das  vorletzte  Raumargument  von  hier  an  nahm,  hier  gänzlich 
fehlt:  wir  erwarten  ja  hier  die  Wendung,  dass  die  Theile  der  Zeit  auch 
nicht  als  Bestandtheile  der  einigen  allbefassenden  Zeit  vorangehen,  son- 
dern nur  in  ihr  gedacht  werden  als  Einschränkungen  der  Einen,  unum- 
schränkten Zeit.  Das  fehlt  hier  ganz,  denn  die  3  Sätzchen,  welche  im 
vierten  Zeitargument  nun  folgen,  entsprechen  ganz  genau  dem  Schlusssatz 
im  vorletzten  Raum argument,  dass  die  geometrischen  Sätze  nicht  auf  Begriffen, 
sondern  auf  Anschauungen  vom  Räume  beruhen.  Etwas  Aehnliches  wird 
hier  gesagt  von  den  Sätzen,  die  sich  auf  die  Zeit  beziehen.  Das  Axiom: 
a verschiedene  Zeiten  können  nicht  zugleich  sein"  —  lässt  sich  nicht  aus 
einem  allgemeinen  Begriff  von  der  Zeit  ableiten,  sondern  ist  nur  möglich, 
wenn  die  Zeitvorstelking  eine  Anschauung  ist.  Dass  jenes  Axiom  also  ein 
synthetischer  Satz  ist,  ist  eine  beim  Räume  an  der  entsprechenden  Stelle 
fehlende  Bemerkung,  welche  nach  Adickes'  freilich  sehr  zweifelhafter  Ver- 
muthung  (vgl.  oben  S.  264)  hier  erst  später  eingeschoben  sei;  unrichtig  ist 
desselben  Behauptung,  dass  dies  Zeitargument  durch  diesen  Zusatz  „aus 
der  Parallele  zu  §  2  ganz  heraustrete" ;  es  fehlte  daselbst  beim  Räume  nur 
das  Wort,  nicht  die  Sache  (vgl.  S.  233).  Und  dass,  was  Adickes  auffallend 
findet,  hier  in  Nr.  4  derselbe  Satz  synthetisch  genannt  wird,  welcher  in 
Nr.  3  als  apodiktisch  bezeichnet  wurde  (,verschiedeDe  Zeiten  sind  nicht  zu- 
gleich"), das  ist  doch  ganz  natürlich:  aus  den  beiden  ersten  Argumenten 
kann  doch  nur  die  apriorische  Natur  der  betr.  Grundsätze  abgeleitet 
werden;  deren  synthetische  Natur  kann  doch  erst  abgeleitet  werden, 
wenn  die  Zeitvorstellung  als  Anschauung  erwiesen  ist,  und  das  geschieht 
ja  erst  in  diesem  Argument. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  das  hier  gewählte  Beispiel  nicht  etwa  ein 
arithmetischer  Satz  ist,  so  wie  es  beim  Raum  ein  geometrischer  Satz  war, 
sondern  ein  Satz,  der  sich  auf  die  Zeit  selbst  bezieht  und  der  daher  auch 
^in  der  Anschauung  der  Zeit  unmittelbar  enthalten  ist".  Natürlich  ge- 
hört die  ganze  Stelle,  wie  beim  Räume,  nicht  eigentlich  hieher,  sondern  in 
die  »Transsc.  Erörterung".  Vgl.  Schneider,  Ps.  Entw.  d.  Apriori.  29. 
Bol liger,  Anti-Kant  396.  Der  Satz,  dass  verschiedene  Zeiten  nicht  zu- 
gleich sind,  ist  nach  Wundt,  Logik  I,  430  fF.  nicht  synthetisch,  sondern  ana- 
lytisch, resp.  tautologisch. 

In  der  Dissertation  findet  sich  das  entsprechende  Argument  §  14,  2: 
Idea  temporis   est   singulariSj  non  generalis,    Tempus  enim  quodlibet 


374  §  4*     Viertes  und  fünftes  Zeitargument. 

A  82.  B  47.  [R  41.  H  65.  E  82.] 

non  cogitatur,  nisi  tanquam  pars  unius  ejusdem  temporis  immensi,  Duos 
annos  si  cogUas,  non  potes  tibi  repraesentare,  nisi  determincUo  ergo  se  invicem 
posüu,  et  si  immediate  se  non  sequantur,  nonnisi  tempore  quodam  intermedio 
sibimet  junctos.  Quodnam  autem  temporum  diversorum  sit  prius,  quodnam 
posterius,  nuüa  ratione  per  nolas  aliquas  intellectui  conceptibiles  defimri 
pdtest,  nisi  in  circtdum  vitiosum  incurrere  velis,  et  mens  iüud  non  discemüj 
nisi  per  intuitum  singularem.  Praeterea  omnia  concipis  actuaHia  in  tempore 
posita,  non  sub  ipsius  notione,  generali,  tanquam  nota  communi,  contenta,  (Vgl. 
Kants  Reflexionen  II,  N.  373.) 

Bemerkenswerth  ist  in  diesem  Passus  der  Hinweis  darauf,  dass  wir 
die  Unterschiede  der  Zeit  nicht  durch  begriffliche  Merkmale,  sondern  nnr 
durch  Anschauung  feststellen  können.  Diese  Bestimmung,  welche  in  der 
Dissertation  beim  Räume  nicht  in  dieser  Weise  ausgesprochen  ist,  und 
welche  Kant  selbst  in  der  Kritik  weggelassen  hat,  hat  Kuno  Fischer  (2.  Aufl. 
S.  325  f.,  3.  Aufl.  S.  334)  aufgegriffen  und  so  weiter  ausgeführt:  gWären 
Raum  und  Zeit  Begriffe,  so  müssten  ihre  Unterschiede  sich  begreifen  und 
logisch  verdeutlichen  lassen.  Der  Unterschied  zwischen  hier  und  dort,  oben 
und  unten,  rechts  und  links,  früher  und  später  u.  s.  f.  ist  nicht  zu  defi- 
niren.  Diese  Bestimmungen  zu  unterscheiden,  hilft  kein  Verstand  der  Ver- 
ständigen, die  subjective  Anschauung  thut  Alles. '^ 

Sachliche  Einwände  bei  Riehl  II,  a,  117,  II,  b,  293,  nach  welchen 
bei  der  Zeitvorstellung  mehr  das  Denken  als  das  Anschauen  betheiligt  ist. 
Auch  Wundt,  Logik  I,  430—433  betont  die  begriffliche  Natur  der  Zeit 
gegen  Kant. 

Fünftes  Zeitargpiment. 

Dieses  Argument  stellt  der  Erklärung  wieder  grosse  Schwierigkeiten 
entgegen,  die  sich  in  der  Litteratur  über  dasselbe  spiegeln.  Wir  sehen  zu- 
nächst von  allen  anderen  Erklärungen  ab  und  suchen  in  den  Sinn  des 
Argumentes  selbst  durch  Analyse  einzudringen.  Hiebei  sehen  wir  auch  zu- 
nächst von  allen  etwaigen  Parallelen  mit  den  Raumargumenten  ab,  um 
unbefangen  die  Bedeutung  dieses  Beweises  aus  seinem  eigenen  Schooss  zu 
eruiren.  Diese  Analyse  beginnen  wir  wieder  am  besten  mit  dem  Scblnss; 
es  ist  eine  wichtige,  werthvoUe,  methodische  Regel  für  die  Analyse  schwieriger 
Partien  philosophischer  Autoren ,  mit  den  Schlusssätzen  derselben  zu  be- 
ginnen, da  der  Autor  natürlicherweise  bald  absichtlich,  bald  unwillkürlich 
in  den  Schlussworten  die  Tendenz  seiner  ganzen  Argumentation  mehr  oder 
weniger  deutlich  zusammenfasst.  Die  Erklärung  findet  nun  hier  besondere 
Schwierigkeiten  endlich  darin,  dass  gerade  der  Schlusssatz  in  beiden  Auf- 
lagen einen  abweichenden  Wortlaut  hat,  während  die  beiden  ersten  Sätze 
beidemal  gleich  lauten.  Wir  halten  uns  naturgemäss  zunächst  an  den  Wort- 
laut der  ersten  Auflage. 

Erste  Redaction  (A).  Aus  den  Schlussworten  des  ganzen  Beweises 
geht   nun  unzweideutig  hervor,   dass  er  dahin  zielt,   die  Zeitvorstellung  als 


Die  Theile  der  Zeit  sind  nur  durch  Einschränkung  möglich.  375 

[B  41.  H  65.  E  82.]  A  32.  B  48. 

Anschauung  zu  charakterisiren  im  Gegensatz  zu  der  Meinung,  dieselbe 
sei  ein  Begriff.  Womit  wird  dies  bewiesen?  Von  dem  dazu  dienenden 
Syllogismus  haben  wir  in  dem  dritten  und  letzten  Satze  offenbar  den  Ober- 
satz, und  aus  diesem  können  wir  leicht  den  ganzen  Syllogismus  selbständig 
ergänzen : 

Eine  Vorstellung,  von  der  die  Theile  (u.  s.  w.)  nur  durch  Einschränkung 
möglich  sind,  ist  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung. 

Die  Zeit  ist  eine  solche  Vorstellung,  von  der  die  Theile  nur  durch  Ein- 
schränkung möglich  sind. 

Also  ist  die  Zeitvorstellung  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung. 

Wenn  wir  nun  damit  den  Text  vergleichen,  so  fällt  sofort  in  die 
Augen,  dass  der  erste  Satz  des  Eantischen  Textes  den  Untersatz  enthält. 
Den  Schlusssatz  hat  Kant  der  Kürze  halber  unterdrückt.  Was  noch  sonst  — 
ausser  dem  oben  dargestellten  Syllogismus  —  in  dem  Kantischen  Texte  ent- 
halten ist,  ist  nur  Schale  um  den  Kern,  und,  mit  dieser  Erkenntniss  aus- 
gerüstet, wird  es  uns  nun  nicht  mehr  schwer  fallen,  jenen  Text  vollständig 
zu  analysiren. 

Schliessen  wir  uns  dabei  der  Reihenfolge  an,  welche  Kant  selbst  ein- 
gehalten hat,  inden  wir  zuerst  den  Untersatz  näher  betrachten.  Der 
Kern  desselben  ist  die  Behauptung:  Die  Zeit  ist  eine  Vorstellung, 
vor  der  die  Theile  nur  durch  Einschränkung  möglich  sind. 
Diese  Eigenthümlichkeit  der  Zeitvorstellung  wird  nun  in  dem  ersten  Satze 
mit  der  Unendlichkeit  derselben  in  Verbindung  gebracht.  In  jener 
Eigenthümlichkeit  besteht  eben  die  Unendlichkeit  der  Zeit.  Der  Umstand, 
dass  jede  einzelne  bestimmte  Zeitgrösse  nur  möglich  ist  durch  Einschränkung 
der  Einen  Zeit,  ist  eben  involvirt  in  dem  Prädikat  der  Unendlichkeit.  Man 
möchte  sagen:  jener  Umstand  sei  die  Folge  dieses  Prädikates,  wenn  nicht 
der  folgende  zweite  Satz  einen  anderen,  ja  gerade  den  entgegengesetzten 
logischen  Zusammenhang  vorschriebe:  daher,  weil  jede  bestimmte  Zeit- 
grösse nur  durch  Einschränkung  der  Einen  Zeit  möglich  ist,  muss  diese 
Zeit  uneingeschränkt  sein,  oder,  wie  Kant  sich  hier  wiederum  ungenau 
Husseit,  „als  uneingeschränkt  gegeben  sein**.  Also  die  Behauptung  der  Un- 
endlichkeit der  Zeit  erscheint  hier  offenbar  demnach  als  eine  Folge  des  Satzes, 
dass  alle  bestimmte  Zeitgrösse  nur  durch  Einschränkung  der  Einen  Zeit  mög- 
lich ist.  Dies  ist  sehr  wichtig  für  das  Verständniss  des  Zusammenhanges:  die 
Behauptung  der  Unendlichkeit  der  Zeit  erscheint  hier  somit  auch  nur  als  eine 
Art  Nebenprodukt  der  Discussion,  und  könnte  daher  auch  eigentlich 
weggeblieben  sein:  der  Kern  des  Syllogismus  bliebe  doch  intact.  Man 
siebt  hieraus  aufs  Neue,  wie  irrig  K.  Fischers  Auffassung  ist  (vgl.  oben 
S.  222  u.  S.  243),  den  Satz  von  der  Unendlichkeit  von  Baum  und  Zeit  als 
«eibständiges  Beweisthema  zu  fassen,  während  er  überall  nicht  zum  eigent- 
lichen Kern  des  Syllogismus  gehört. 

Bemerkens werth  ist  die  Wendung :  „die  ursprüngliche  Vorstellung 
der  Zeit  muss  uneingeschränkt  sein'';   natürlich  gibt  es  auch  Vorstellungen 


376  §  4.    Fünftes  Zeitargument. 

A  32.  B  48.  [B  41.  H  65.  E  82. J 

endlicher  Zeitgrössen,  aber  dies3  sind  erst  secandär;  ursprünglich,  von  Hause 
aus  ist  die  Zeitvorstellung  unendlich.  (Gegen  die  Sache  vgl.  Bolliger, 
Anti  Kant  396  f.)     Vgl.  auch  oben  S.  243. 

Auch  der  Obersatz  hat  eine  kleine,  aber  sehr  bemerkenswerthe  er- 
läuternde Erweiterung  erfahren.  Bei  Begriffen  ist  nämlich  das  Verhältniss 
der  Theile  zum  Ganzen  ein  anderes  als  bei  der  anschaulichen  Zeitvorstellung. 
Bei  dieser  entstehen  die  Theile  erst  durch  Einschränkung  der  Einen  Zeit- 
anschauung; aber  bei  Begriffen,  da  gehen  die  , Theile  der  Vorstellung*  (die 
TheilvorstelluDgen)  der  ganzen  Vorstellung  vorher;  also  beim  Begriffe  sind 
die  Theile  die  Voraussetzung  des  Ganzen,  bei  der  Zeit  aber  ist  das  Ganze 
die  Voraussetzung  der  Theile.  Beim  Begriff  gehen  die  Theile  vorher 
vor  dem  Ganzen,  bei  der  Zeitvorstellung  gehen  sie  erst  aus  dem  Ganzen 
hervor. 

Wie  ist  es  denn  nun  aber  gemeint,  wenn  Kant  sagt,  dass  beim  Begriffe 
die  „Theilvorstellungen"  , vorhergehen",  unter  „Theilvorstel- 
lungen"  versteht  Kant  an  anderen  Stellen  immer  (mit  Ausnahme  von 
Anthropologie  §  3)  Merkmale.  So  finden  wir  das  vor  Allem  in  seiner 
Logik,  Einl.  Cap.  VIII,  sowie  §  7  (vgl.  dazu  Meilin  IV,  247  ff.);  und  so  sagt 
auch  Kant  unten  in  der  Kr.  d.  r.  V.  noch  in  der  Transsc.  Aesthetik  A  42: 
„Merkmale  und  Theilvorstellungen " ;  in  der  Schrift  gegen  Eberhard  S.  52 
nennt  Kant  den  Begriff  des  Einfachen  eine  „Partialvorstellung*,  welche  in 
der  Vorstellung  der  Materie  enthalten  ist.  Nach  Kants  Logik,  Einl.  VIII 
besteht  nun  (mit  Ausnahme  der  einfachen  Begriffe)  jeder  Begriff  aus  einer 
Anzahl  von  Theilbegriffen  oder  Merkmalen.  So  z.  B.  hat  der  Begriff  Mensch 
die  Merkmale  der  Vernünftigen,  des  Thierischen ,  des  Sterblichen  u.  s.  w. 
in  sich.  So  hat  z.  B.  der  Begriff  des  Körpers  (vgl.  oben  S.  108)  die  Merk- 
male: Substanz,  Kraft,  Theilbarkait ,  ündurchdringUchkeit,  Härte,  Farbe^ 
Ausdehnung,  Gestalt  in  sich;  diese  Merkmale  sind  die  Theil begriffe  jenes 
Begriffes,  seine  Theilvorstellungen.  Kant  bezeichnet  diese  ausdrücklich 
mehrfach  als  „Theile**  des  „ganzen  Begriffes".  Natürlich  sind  nicht  mit 
Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  13  (vgl.  oben  S.  219)  die  Theilvorstel- 
lungen als  eine  „wirkliche  Mehrheit  von  Objectsvorstellungen"  aufzufassen, 
sondern  es  sind  eben  die  Merkmale,  wie  ganz  deutlich  auch  aus  Anthropo- 
logie §  6  hervorgeht,  woselbst  es  heisst,  dass  jede  Erkenntniss  aus  Theil- 
vorstellungen „zusammengesetzt"  sei.     (Vgl.  oben  S.  219  f.) 

Wie  aber  kann  nun  Kant  sagen,  dass  diese  Theilvorstellungen  dem 
Begriffe  vorhergehen?  Nach  Kants  Logik,  Einl.  VIII  gilt  dies  aacb 
strenggenommen  nicht  von  allen  Begriffen,  sondern  nur  von  denjenigen,  die 
wir  selbst  machen.  Von  diesen  heisst  es:  „Die  Aggregation  coordinirter 
Merkmale  macht  die  Totalität  des  Begriffes  aus."  Also  bei  solchen  Begriffen 
und  insofern  gehen  die  Theilvorstellungen  dem  ganzen  Begriff  vorher,  üebri- 
gens  betrachtet  Kant  nachher  in  seiner  Logik  §  5  f.  jeden  Begriff  als  er- 
zeugt aus  gegebenen  „Vorstellungen",  auch  sonst  lehrt  K.  in  seiner  Kr.  d. 
r.  V.,  dass  jeder  Analyse  eine  Synthese  vorangegangen  sein   muss,  so  dass 


Letztes  Zeitargument  und  letztes  Raumargument  sind  nicht  identisch.     377 

[R  41.  H  65.  E  82.]  A  82.  B  48. 

es  somit  auch  ganz  mit  Kants  sonstigen  Erklärungen  übereinstimmt,  wenn 
er  liier  lehrt,  dass  bei  „dem  Begriff",  also  bei  jedem  Begriff  seine  Theil- 
vorstellungen  vorhergehen  ^ 

Ganz  dieselbe  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Begriffsganzem  und 
Theilvorstellungen  finden  wir  nun  bei  den  Kantianern ,  so  bes.  ausnihrlich 
bei  Krug,  Logik  §  24  ff.  Vgl.  auch  desselben  „Handbuch  der  Philos.*  T, 
§  126  f.,  sowie  seine  „ Fundamentalphilosophie "  §  79.  Ebenso  bei  Kiese- 
wetter, Grundr.  d.  allg.  Logik  §  22;  bei  Fries,  Logik  §20;  bei  Tief- 
trunk,  Logik  §  34;  bei  Jacob,  Grundriss  der  Logik  und  Metaphysik 
§  106.  129.   Dieselbe  Auslegung  der  Stelle  gibt  auch  Schmid,  Kritik  S.  17. 

Erst  nach  dieser  Analyse  sind  wir  nun  im  Stande,  die  Frage  zu  be- 
antworten, wie  sich  das  fünfte  und  letzte  Zeitargument  zu  dem  letzten  Baum- 
argument verhalte? 

1)  Vergleichen  wir  zunächst  fünftes  Zeitargument  A  mit  fünftem  Baum- 
argument A.  Kern  des  fünften  Baumargumentes  A  s.  oben  S.  237  ff.: 
Kein  Allgemeinbegriff  kann  eine  Grössenbestimmung  enthalten;  wäre  also  die 
Vorstellung  vom  Baume  ein  Allgemeinbegriff,  gewonnen  aus  dem  den  Einzel- 
räumen Gemeinsamen,  so  könnte  in  demselben  nichts  enthalten  sein  über 
die  Grösse  des  Baumes.  Unsere  Baumvorstellung  enthält  aber  factisch  eine 
Grössenbestimmung:  denn  der  Baum  wird  als  eine  unendliche  Grösse  vor- 
gestellt.    Also  ist  der  Baum  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung. 

Kern  des  fünften  Zeitargumentes  A  s.  oben  S.  375:  Bei 
keinem  Begriffe  werden  die  Theile  erst  durch  Einschränkung  gebildet,  son- 
dern da  gehen  sie  vorher.  Bei  der  Zeitvorstellung  ist  das  erstere  der  Fall  — 
daher  wird  sie  auch  als  unendlich  vorgestellt.  Also  ist  die  Vorstellung  der 
Zeit  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung. 

Diese  Confrontirung  lehrt,  dass  beide  Argumente  trotz  ihrer  gleichen 
Bezifferung  ganz  verschieden  sind;  gemeinsam  ist  ihnen  zwar  dieselbe  Ten- 
denz: Baum  und  Zeit  sind  keine  Begriffe ,  sondern  Anschauungen ;  aber 
das  Ziel  wird  auf  ganz  verschiedenem  Wege  erreicht.  Auf  diesem  Wege 
spielt  allerdings  beidemal  die  Vorstellung  der  Unendlichkeit  eine  Bolle,  aber 
beim  Baume  ist  dieselbe  eine  unentbehrliche  Voraussetzung  des  Unter- 
satzes; bei  der  Zeit  dagegen  eine  nebensächliche  Folgerung  aus  dem- 
selben. 

2)  Vergleichen  wir ^ nun  fünftes  Zeitargument  A  mit  letztem  Baum- 
argument B:  der  Kern  des  letzteren  ist  (s.  oben  S.  242):  Kein  Begriff  ent- 
hält eine  unendliche  Menge  von  Vorstellungen   in   sich  (wohl   aber  unter 


^  Möglicherweise  ist  hieher  auch  die  (schon  oben  S.  222  angeführte)  Stelle 
aus  der  Dissertation  (§  15  CoroU.)  zu  ziehen,  wo  es  von  Baum  und  Zeit  heisst, 
es  seien  intuitiis,  in  quibus  non  sicut  leges  rcUionis praecipiunt,  partes  et  potisaimum 
simplices  continent  rationem  possibilitatis  cotnpositi,  sed,  secundtim  exentplar 
intuitus  semitivi,  infinitum  continet  rationem  partis  ctijusque  cogitabilis  ac  tandem 
simplicis  sive  potiu8  termini. 


378  §  4.    Fünftes  Zeitargoment. 

A  82.  B  48.  [B  4L  H  65.  E  82.] 

sieb);  beim  Baume  ist  das  aber  der  Fall;  denn  er  wird  als  unendlich 
vorgestellt;  und  das  beisst  eben:  er  bat  unendlicb  viele  Theile  zugleicb  in 
sieb.     Also  ist  seine  Vorstellung  niebt  Begriff,  sondern  Ansebaaung. 

Aucb  in  dieser  Bedaction  ist  das  letzte  Baumargument  niebt  mit  dem 
fünften  Zeitargument  identiseb.  Zwar  ist  aucb  wieder  gemeinsam  das  Ziel: 
Baum  und  Zeit  sind  niebt  Begriffe,  sondern  Ansebauungen.  Aber  der  We^ 
ist  wiederum  ein  ganz  anderer.  Allerdings  begegnen  wir  auf  diesem  Wege 
wiederum  beidemal  dem  Begriffe  der  ünend liebkeit;  aber  beim  Baume  ist 
derselbe  wieder  eine  Voraussetzung  des  Untersatzes,  bei  der  Zeit  aber 
eben  dessen  Folge.  Wenn  daber  B.  Erdmann,  Kritieismus  S.  165  sagt, 
das  letzte  Baumargument  B  sei  „eine  erläuternde,  klare  Beproduetion  des 
letzten  Beweisgrundes  für  die  Anscbauliebkeit  der  Zeit*',  so  ist  dies  sebwer- 
lieb  zutreffend. 

Aber  das  Argument,  das  wir  bier  bei  der  Zeit  finden,  klingt,  uns  doch 
bekannt.  In  der  That,  aueb  beim  Baume  baben  wir  dasselbe  angetroffen, 
nur  niebt  im  letzten,  sondern  —  als  zweiten  Beweisgang  des  vorletzteo 
Argumentes.  Dort  fanden  wir  ja  —  S.  220  —  genau  dasselbe  als  eigent- 
lieben  Inbalt  des  dritten  und  viei'ten  Satzes  jenes  Argumentes,  welcbe  uns 
bei  der  Analyse  so  grosse  Sebwierigkeiten  macbten  (S.  215 — 223).  Und 
I  nun  können  wir  das,  was   wir  bier  eonstatirt  baben,   aucb  rückwärts  als 

Beweis  verwenden  für  die  Auffassung  jener  Stelle  über  die  ,Bestandtbeile\ 
aus  denen  der  Begriff  „ zusammengesetzt **  ist  und  die  ibm  daber  , vorher- 
geben'' ;  naeb  längerer  Ueberlegung  fanden  wir,  unter  jenen  , Bestand tbeilen^ 
müssten  doeb  Merkmale  gemeint  sein,  und  ganz  genau  dasselbe  finden  wir 
bier,  nur  dass  bier  der  Ausdruck  „Tbeil Vorstellungen''  ganz  unzweideutig 
auf  Merkmale  binweist.  Jene  Auffassung  wird  somit  durch  diese  Stelle 
bestätigt. 

Oben  S.  373  bei  der  Analyse  des  vierten  Zeitargumentes  vermissten  wir 
bei  der  Zeit  den  zweiten  Beweisgang,  den  das  vorletzte  Baumargument  ein* 
gescblagen  hatte.  Wir  verwunderten  uns  dort  böeblicb  über  die  Weglassung : 
um  so  mehr  sind  wir  erfreut,  den  vermissten  Beweis  bier  im  fünften  Zeit- 
argument wieder  zu  finden.  Aber  die  Freude  dieser  Wiedererkennungsscene 
wird  uns  getrübt  durcb  den  Gedanken  an  die  enorme  Ungenauigkeit 
Kants,  die  er  sieb  somit  bier  bat  zu  Schulden  kommen  lassen:  es  fehlt 
vollständig  an  dem  richtigen  Parallelismus  membrorum.  Indessen  — 
wir  sind  solche  Ungenauigkeiten  des  grossen  Mannes  zu  sebr  gewöhnt,  als 
dass  wir  uns  des  Weiteren  daiüber  aufbalten  sollten. 

Wichtig  aber  ist  Etwas,  auf  das  wir  bier  noeb  aufmerksam  machen 
müssen.  Die  Erkennung  des  eigentlichen  Sachverhaltes  wird  uns  nämlich 
erscbwert  durcb  den  umstand,  dass  dieses  fünfte  Zeitargument,  ebenso  wie 
das  letzte  Baumargument,  mit  der  ünendlicbkeit  anfängt.  Bei  dem  letzten 
Baumargument  wurde  ja  der  Satz  vorangesebickt :  der  Baum  wird  als  eine 
unendliche  Grösse  gegeben  vorgestellt.  Und  das  fünfte  Zeitargument  beginnt 
mit  den  Worten:    -Die   ünendlicbkeit   der  Zeit   bedeutet   nichts  weiter* 


Unendlichkeit  und  Continuität  der  Zeit.  379 

[R  4i:  H  65.  K  82.]  A  32.  B  48. 

u.  s.  f.  Dadurch  muss  man  ja  zunächst  nothwendig  verfühi-t  werden,  zu 
meinen,  es  handle  sich  beidemal  um  denselben  Gedankengang.  Dass  aber 
der  Begriff  der  Unendlichkeit  beidemal  eine  ganz  andere  Rolle  spielt,  geht  aus 
der  jedesmaligen  Analyse  hervor:  beim  letzten  Ranmargument  bildet  die  Un- 
endlichkeit eine  nothwendige  Voraussetzung  des  Untersatzes  (S.  243);  beim 
fünften  Zeitargument  dagegen  bildet  der  Begriff  der  Unendlichkeit  eine  neben- 
sächliche Folge  des  Untersatzes  (S.  375)  *.  Aber  wir  erinnern  uns  jetzt,  dass 
wir  diesen  letztgenannten  Zusammenhang  auch  schon  beim  zweiten  Beweisgang 
des  vorletzten  Raumargumentes  angetroffen  haben.  Es  wurde  damals  S.  221  ff. 
gezeigt,  dass  der  Begriff  der  Unendlichkeit  des  Raumes  als  unmittelbare  Folge 
sich  aus  der  Bestimmung  ergebe,  dass  die  Raumtheile  durch  Einschränkung 
des  9 einigen"  Raumes  entstehen.  Dieser  einige  oder  einheitliche  (vgl.  S.  216) 
Raum  erwies  sich  bei  näherer  Besichtigung  sofort  als  ein  unendlicher. 
Genau  diesen  Zusammenhang  haben  wir  hier:  Die  „einige,  zum  Grunde 
liegende  Zeit"  —  diese  einheitliche  Zeitvorstellung  ist  eben  „daher*  eine 
uneingeschränkte,  eine  unendliche.  So  bestätigt  diese  Stelle  auch  hierin  unsere 
Auffassung  des  zweiten  Beweisganges  beim  vorletzten  Rauraargument. 

Dass  mit  diesem  Argument  die  Continuität  aufs  engste  zusammen- 
hängt, wurde  schon  beim  Räume  erwähnt  (S.  223).  Hier  bedarf  es  noch  des 
Hinweises  darauf,  dass,  wie  schon  in  der  Dissertation,  so  auch  in  der  Kritik 
die  Continuität  der  Zeit  wichtiger  und  principieller  ist,  als  die  des  Raumes, 
wovon  der  Grund  jedoch  hier  noch  nicht  anzugeben  ist.  Alles  auf  die  Con- 
tinuität Bezügliche  ist  in  der  Analytik  und  Dialektik  anzubringen,  sowohl 
die  eigene  (mathematische)  Continuität  von  Raum  und  Zeit,  als  die  aus 
ihnen  abzuleitende  (metaphysische)  Continuität  der  Erscheinungen  und 
Vorgänge  (s.  zu  A  170.  210  u.  ö.).  In  der  Dissertation  hatte  Kant  sich  im  An- 
schluss  an  die  Raum-  und  Zeitbeweise  eingehender  auf  die  Sache  eingelassen ; 
und  daher  hat  auch  K.  Fischer  (2.  Aufl.  S.  329  ff.,  3.  Aufl.  S.  337  f.)  die 
Continuität  in  diesem  Zusammenhange  behandelt.  Wir  haben  keinen  Grund, 
uns  hier  darauf  näher  einzulassen. 

Zweite  Bedaction  (B).  Die  durch  die  bisherige  Analyse  aufgeklärte 
Sachlage  wird  nun  wiederum  verdunkelt  durch  die  eigenthümliche  Verän- 
derung des  Textes  in  der  zweiten  Auflage.  Der  erläuternde  Zwischensatz 
„denn  da  gehen  die  Theilvorstellungen  vorher"  ist  ja  ersetzt  durch 
die  Worte:  „Denn  die  enthalten  nur  Theilvorstellungen".  Diese 
Aenderung  ist  nicht  bloss  etwa  formell ,  sondern  dadurch  ist  der  logische 
Zusammenhang  des  ganzen  Argumentes  wesentlich  verschoben.  Nach  dem 
Wortlaute  der  ersten  Auflage  war  der  Sinn:  bei  den  Begriffen  gehen  deren 
Theile,  die  Theilvorstellungen,  dem  Ganzen  vorher;  aber  bei  der  Zeitvor- 
stellung  gehen  die  Theile  erst  aus  dem  Ganzen  hervor.     Dieser  Gegensatz 


*  Vgl.  zu  diesem  Punkte  —  Unendlichkeit  der  Zeitvorstellung  —  die  sach- 
lichen Bemerkungen  von  Höffding  (Phil.  Mon.  1888,  430  ff.)  mit  Bezug  auf  Lotze 
und  Geijer.    Vgl.  auch  Wundt,  Logik  I,  433. 


380  §  4.    Fünftes  Zeitargument. 

A82.B48.  [B  41.  H  65.  E  82.] 

ist  nun  vollständig  verschwunden.  Wer  .sagt:  „denn  die  Begriffe  enibalten 
nur  Tbeilvorstellnngen",  will  als  Gegensatz  dazu  offenbar  etwas  ganz  Anderes 
sagen,  als  vorhin;  er  will  wohl  sagen:  aber  die  Zeit  enthält  nicht  ,nnr 
Theil Vorstellungen",  sondern  etwas  Anderes,  etwas  WerthvoUeres.  Die  Paren- 
these erfordert  als  Ergänzung  offenbar  den  Satz :  aber  die  Zeit  enthält  wirk- 
liche Theile,  nicht  bloss  Theilvorstellungen.  Der  Gegensatz  wäre  somit 
jetzt  der:  Ein  Begriff  enthält  nicht  wirkliche,  anschauliche,  concrete  Theile, 
sondern  nur  uneigentlich  sogenannte,  begriffliche,  abstracte  Theile,  seine 
Merkmale;  diese  sind  eben  nicht  eigentliche  Theile,  sondern  nur  Theilvor^ 
Stellungen. 

Durch  diesen  Einsatz  hat  nun  Kant  seinen  ursprünglichen  Gedanken- 
gang nicht  nur  wesentlich  verändert,  sondern  auch  erheblich  verschlech- 
tert. Der  Zusatz  der  zweiten  Auflage  passt  schlechterdings  nicht  zu  dem 
sonst  beibehaltenen  Wortlaut  der  ersten  Auflage.  Denn  bei  diesem  handelt 
es  sich  um  das  Verhältniss  der  Theile  zum  Ganzen;  wenn  gesagt  wird, 
dass  die  Zeittheile  nur  durch  Einschränkung  der  ganzen  Zeitvorstellung  ge- 
wonnen werden,  so  hat  dazu  nur  der  Gegensatz  Sinn,  dass  bei  Begriffen  das 
Verhältniss  der  Theile  zum  Ganzen  ein  umgekehrtes  sei,  nicht  ein  Hervor- 
gehen, sondern  ein  Vorhergehen.  Ein  anderer  Gegensatz  hat  hier  keinen 
Sinn.  Diesem  einzig  möglichen  Gegensatz  ist  aber  in  der  2.  Auflage  ein 
ganz  anderer  untergeschoben  worden,  zu  dem  im  Context  selbst  nicht  die 
geringste  Handhabe  geboten  wird:  ein  Gegensatz,  der  sich  auf  die  Art  der 
Theile  bezieht.  Die  Parenthese  der  2.  Auflage  hat  somit  den  Gedanken- 
zusammenhang in  unorganischer  Weise  zerrissen;  die  Parenthese  steht  gar 
nicht  im  Gegensatz  zu  dem  Texte.  Dies  zeigt  sich  auch  z.  B.  in  der  Wie- 
dergabe Mellins  (II,  481):  „Begriffe  enthalten  nur  Theilvorstellungen; 
die  Theile  der  Zeit  aber  werden  bloss  durch  Einschränkung  bestimmt;*  — 
das  ist  aber  doch  gar  kein  reiner  Gegensatz:  er  hinkt. 

Die  Frage  ist  nun :  wie  ist  Kant  zu  dieser  Verschlechterung  seines  ur- 
sprünglichen Textes  gekommen?  Die  einzig  plausible  Erklärung  davon 
scheint  folgende  zu  sein :  als  Kant  bei  der  Ausarbeitung  der  2.  Auflage  das 
letzte  Raumargument  vollständig  umgestaltet  hatte,  las  er  auch  das  fünfte 
Zeitargument  flüchtig  durch  \  Nun  kam  es  ihm  nicht  mehr  zum  Bewusstsein, 
dass  dieses  fünfte  Zeitargument  in  Folge  jener  oben  S.  378  gerügten  Unge- 
nauigkeit,  ja  gar  nicht  dem  letzten  Raumargument  entspricht,  sondern  dem 
zweiten  Beweisgang  des  vorletzten  Raumargumentes.  In  Folge  der  falschen 
Stellung  und  Bezifferung  des  fünften  Zeitargumentes  brachte  er  es  jetzt  mit 
dem  letzten  Raumargument  zusammen,  mit  dem  es  doch  gar  nichts  zu  than 
hat.  Er  wollte  dasselbe  nun  auch  dem  umgearbeiteten  letzten  Baum- 
argumente  accomodiren,  d.  h.  ohne  vollständige  Umarbeitung  annähernd 


*  Auch  die  verfehlte  Aenderung  des  „ihr*  in  , ihnen*  im  letzten  Satz^ed 
ist,  wie  auch  Adickes  S.  81  N.  1  bemerkt,  auf  einen  solchen  Flüchtigkeitsfehler 
zurückzuführen . 


Kant  hat  das  fünfte  Zeitargument  in  der  zweiten  Auflage  verschlechtert.     381 

[B  41.  H  65.  E  82.]  A  32.  B  48. 

gleichmachen.  Und  das  erreichte  er  auch  gewissermassen  durch  jene  kleine 
Modification.  Dieselbe  besagt  also :  Ein  Begriff  enthält  nur  Theilvorstellungen, 
die  Zeit  aber  enthält  wirkliche  Theile.  Das  letzte  Baumargument  B  sagte 
(s.  oben  S.  242):  Kein  Begriff  enthält  eine  unendliche  Menge  von  Vorstel- 
lungen in  sich,  wohl  aber  der  Baum;  d.  h.  der  Baum  hat  eben  seine  un- 
endlich vielen  Theile  in  sich ;  diese  bilden  Theile  der  unendlichen  Gesammt- 
vorstellung  Baum;  und  zwar  wirklich  anschauliche  Theile,  welche  concret 
in  der  concreten  Baumanschauung  enthalten  sind ;  auch  im  Begriffe  ist 
allerdings  etwas  enthalten;  das  sind  aber  nicht  wirkliche  Theile,  sondern 
nur  abstracte  Theil Vorstellungen.  In  dieser  Weise  ausgesponnen,  führt 
das  letzte  Baumargument  B  auf  das  fünfte  Zeitargument  B,  aber  identisch 
sind  sie  darum  doch  lange  nicht:  denn  im  fünften  Zeitargument  B  fehlt  ja 
gerade  der  Mittelbegriff  des  letzten  Baumargumentes  B:  der  Begriff  der 
unendlich  vielen  Vorstellungen.  Nicht  darauf  liegt  ja  hier  der  Ton,  auf 
der  unendlichen  Menge  der  etwa  in  der  Zeitanschauung  enthaltenen 
Theile  —  davon  ist  vielmehr  hier  gar  nicht  die  Bede:  der  Ton  liegt  jetzt  nicht 
auf  der  Quantität,  sondern  auf  der  Qualität  der  Theile;  beim  Begriff 
sind  es  nur  abstracte  Theilvorstellungen,  bei  der  Anschauung  aber  wirkliche, 
concrete,  aus  der  concreten  Zeitanschauung  herausgeschnittene,  durch  Ein- 
schränkung gewonnene  Theile.  Dieses  fünfte  Zeitargument  B  ist  also  ein 
neues  Argument,  und  lässt  sich  natürlich  ebenso  auf  den  Baum  über- 
tragen, wie  das  letzte  Baumargument  B  auf  die  Zeit  übertragen  wer- 
den kann. 

Es  kann  uns  nach  alledem  nicht  Wunder  nehmen,  dass  gerade  der  Sinn 
dieses  fünften  Zeitargumentes  bis  jetzt  immer  verfehlt  worden  ist.  Um  nur 
einige  Beispiele  anzuführen,  so  finden  wir  z.  B.,  dass  Schultz  in  seinen  Er- 
läuterungen S.  23  das  fünfte  Zeitargument  A  mit  dem  fünften  Baumargu- 
ment A  in  unklarster  Weise  zusammengeworfen  hat.  Verwechslung  beider 
auch  bei  Cohen  30,  2.  A.  126.  Vgl.  auch  Knauer,  Gesch.  d.  Philos. 
2.  A.  173.  Falsch  auch  Adickes  74  N.  Nur  Einer  scheint  richtig  geahnt 
zu  haben,  dass  das  fünfte  Zeitargument  A  mit  dem  vierten  Baumargument  A 
(resp.  dritten  Baumargument  B)  zusammengehört;  das  ist  Jacob i.  In  seiner 
berühmten  Schrift  „Ueber  die  Lehre  des  Spinoza"  2.  Aufl.  S.  173  f.  stellt 
er  wenigstens  beide  Argumente  als  zusammengehörige  neben  einander,  und 
verwendet  sie  dazu,  um  die  Lehre  des  Spinoza  von  der  substantia  in  finita 
zu  veranschaulichen.     (Vgl.  oben  S.  220). 

Dieses  Argument  wurde  nun  auch  in  den  Fischer-Trendelen- 
burg'schen  Streit  hineingezogen,  und  da  war  nun  des  Missverstehens  natür- 
lich kein  Ende.  Der  erste  Fehler  war,  dass  man  beiderseits  nur  die  Eedac- 
tion  B  berücksichtigte,  welche,  wie  gezeigt,  so  wie  sie  dasteht,  ganz  unlogisch 
ist.  Dass  man  nun  ferner  dies  fünfte  Zeitargument  B  mit  dem  letzten  Bauni- 
argument  B  identificirte ,  das  kann  bei  der  oben  aufgewiesenen  Verwirrung 
Kants  selbst  entschuldigt  werden.  Weniger  entschuldbar  sind  die  übrigen 
Missverständnisse,  besonders  bei  Fischer;  da  seine  Missverständnisse  noch  in 


382  §  4.    Fünftes  Zeitargument. 

A32.B48.  [B  41.  H  65.  K  82.] 

der  neuesten  Auflage  seines  Werkes  wiederkehren,  muss  etwas  näher  auf 
dieselben  eingegangen  werden.  Wie  schon  früher  (S.  215  und  S.  246)  bemerkt, 
berief  sich  Fischer  auf  dieses  fünfte  Zeitargument  für  seine  schon  dort  er- 
wähnte Lehre:  jeder  Begriff  ist  eine  TheiWorstellung.  Dieser  Satz 
bildete  ja,  wie  wir  S.  248  sahen,  den  Obersatz  in  dem  Fischer'schen  Schlüsse, 
dessen  Untersatz  heisst:  Der  Eaum  ist  keine  Theil Vorstellung,  sondern  ein 
Ganzes;  ebenso  ist  dies  bei  der  Zeit  der  Fall;  und  daraus  wird  der  Schluss- 
satz abgeleitet:  also  sind  Raum  und  Zeit  keine  Begriffe,  sondern  An- 
schauungen. 

Für  jenen  Obersatz  beruft  sich  nun  Fischer  (2.  Aufl.  S.  824),  gegen- 
über der  Anzweifelung  der  Echtheit  dieser  Darstellung  bei  Trendelenburg 
(Hist.  Beiträge,  3,  255),  besonders  auch  auf  dieses  Argument,  in  seiner  Fassung 
nach  der  2.  Auflage;  speciell  auf  die  von  ihm  gesperrt  gedruckte  Parenthese: 
„Denn  diese  [Begriffe]  enthalten  nur  Theilvorstellungen.*  Wer 
sieht  aber  nicht  auf  den  ersten  Blick ,  dass  dieses  Citat  jenen  Satz  nicht 
deckt?  Denn  Kant  sagt:  Begriffe  enthalten  Theilvorstellungen.  Aber 
Fischer  sagt:  Begriffe  sind  Theilvorstellungen. 

Fischer  hat  somit  zwei  ganz  verschiedene  Verhältnisse  mit  einander 
verwechselt.  Der  Unterschied  derselben  lässt  sich  am  kürzesten  durch  eine 
Stelle  aus  der  Logik  von  Fries,  2.  A.  S.  107  klarlegen:  ,Die  Form  des 
Begriffes  besteht  in  der  Allgemeinheit  der  Vorstellung,  d.  h.  darin,  dass 
mehrere  andere  Vorstellungen,  denen  er  als  Theil Vorstellung  zukommt,  unter 
ihm  stehen,  er  aber  andere,  die  seine  Theilvorstellungen  sind,  in  sich  ent- 
hält." Bei  Kant  ist  an  dieser  Stelle  nur  von  dem  letzteren  Verhältniss  die 
Eede,  nicht,  wie  Fischer  auslegt,  von  dem  ersteren. 

Wie  so  der  Obersatz  des  Fischer'schen  Schlusses  irrig  ist,  so  verhält  es 
sich  nun  natürlich  auch  mit  dem  Untersatz,  der  natürlich  ebenfalls  unrichtig 
sein  muss.  Fischers  Untersatz  lautet  ja :  Die  Zeit  ist  keine  Theil  Vorstellung, 
sondern  ein  Ganzes.  Es  braucht  nach  dem  oben  S.  249  Gesagten  nicht  näher 
ausgeführt  werden,  dass  und  warum  auch  dieser  Untersatz  unkantisch  ist. 
Allerdings  gebraucht  Kant  hier  den  Ausdruck:  «ganze  Vorstellung*,  aber 
aus  der  oben  S.  375  gegebenen  Analyse  des  Argumentes  geht  hervor,  dass 
Kant  sagen  will:  Eine  Vorstellung,  von  der  die  Theile  nur  durch  Einschrän- 
.  kung  möglich  sind,  ist  als  Ganzes  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung.  Es 
handelt  sich  um  eine  ganz  irrelevante  Nebenbestimmung  des  Obersatzes, 
welche  ebensogut  hätte  wegbleiben  können.  Aehnlich  schon  Trendelenburg, 
Entgegnung  S.  25;  vgl.  dagegen  Grapengiesser  S.  75. 

Uebrigens  hat  auch  Trendelenburg  den  Sinn  des  Argumentes  voll- 
ständig verfehlt.  Derselbe  findet  (Entgegnung  S.  26)  dieses  Argument  e ver- 
wandt" mit  dem  letzten  Raumargument  (vgl.  dazu  Fischers  Duplik  S.  35); 
während  in  dem  letzteren  der  Mittelbegriff  sei  „der  Begriff  der  unendlichen 
Vorstellungen*  (vgl.  oben  S.  248),  bestehe  er  hier  in  dem  „Begriff  des  Unein- 
geschränkten"; „die  Vorstellung  der  Zeit  ist  kein  Begriff,  weil  sie  unein- 
geschränkt, jedoch  kein  Begriff  uneingeschränkt  ist/    Die  gänzliche  Verfehlt- 


Die  synthetisch-apriorischen  Zeitaxiome.  3g3 

[B  716.  H  66.  K  82.]  B  48. 

heit  dieser  Auffassung  leuchtet  aus  der  oben  gegebenen  richtigen  Analyse 
hervor;  Trendelenburg  macht  die  nebensachliche  Bestimmung  der  üneinge- 
schränktheit  der  Zeit  zur  Hauptsache  und  erfindet  dazu  den  Gegensatz  von 
der  Eingeschränktheit  der  Begriffe,  wovon  nicht  das  Geringste  dasteht.  Falsch 
auch  bei  Bratuschek,  Phil.  Mon.  V,  320.     Vgl.  auch  Cohen,  2.  A.  126. 

§5. 

Transscendentale  Erörterung  des  Zeitbegriffes. 

Schon  oben  S.  371  f.  wurde  das  Verhältniss  des  dritten  Zeitargumentes 
zu  dieser  ^Transscendentalen  Erörterung*'  besprochen.  Da  dasselbe  eigentlich 
hieher  gehört,  ist  es  auch  hier  zu  besprechen.  Eant  leitet,  ganz  entsprechend 
der  Argumentation  beim  Räume,  aus  der  Apriorität  der  Zeitvorstellung  die 
Apodicticität  der  Zeitaxiome  ab,  die  dann  wieder  rückwärts  einen  Beweis 
für  die  Apriorität  der  Zeitvorstellung  abgibt.  Jener  Zeitaxiome  sind  es 
hier  zwei:  1)  die  Zeit  hat  nur  Eine  Dimension;  2)  verschiedene  Zeiten  sind 
nicht  zugleich,  sondern  nach  einander  \  Diese  Axiome'  gelten  zunächst  von 
der  Zeitvorstellung  als  solcher;  es  wird  aber  (was  im  dritten  Raumargument 
A  fehlt)  sogleich  hinzugefügt,  dass  diese  Axiome  auch  nothwendige  Regeln 
der  Möglichkeit  der  Erfahrung  sind;  vor  der  Erfahrung,  nicht  erst  durch 
sie  haben  wir  diese  Erkenntnisse,  und  doch  gelten  sie  von  allen  Erfahrungs- 
vorgängen. (Vgl.  oben  S.  175  Anm.  1).  Eine  Parallelstelle  aus  der  Dissertation 
§  14,  5  lautet  hiezu :  Die  Meinung,  dass  die  Zeit  ein  empirischer,  a  successiane 
staiuum  abstrahirter  Begriff  sei,  „ornnem  sanae  rationis  tisum  interturhat,  quod 
non  motus  leges  secundum  tefnporis  mensuram,  sed  tempus  ipsum,  quoad  ipsius 
naturam,  per  observata  in  motu  aut  qualihet  mutaiionum  internarum  serie 
determinari  postuUt,  quo  omnis  regularum  certitudo  plane  aholeturJ' 

Dass  nun  diese  Axiome  über  die  Zeit  synthetischer  Natur  sind,  hat 
Kant  ebenfalls  schon  ausgeführt  im  vierten  Zeitargument  (vgl.  oben  S.  373) ;  es 
folgt  dies  daraus,  dass  die  Zeitvorstellung  Anschauung  ist.  So  haben  wir 
denn  nun  die  beiden  Bestimmungen  bei  einander,  welche  Kant  in  der  trans- 
scendentalen  Erörterung  des  Raumes  viel  schärfer  heraushebt  und  sondert: 
die  Apriorität  der  Zeitvorstellung  erklärt  die  Apodicticität,  die  Anschaulich- 
keit derselben  die  synthetische  Natur  der  Zeitaxiome. 

Zu  der  letzteren  Bestimmung  —  Anschaulichkeit  der  Zeitvorstellung  — 
gehört  nun  dasjenige,  was  Kant  in  diesem  Abschnitte  §  5  noch  hinzusetzt:  dass 


^  Dass  die  Theile  der  Zeit  nach  einander,  die  des  Raumes  zugleich 
sind,  dieser  unterschied  spielt  später  in  der  Dialektik  eine  grosse  Rolle,  bes.  A  412 
=  B4d8,  wo  Kant  das  so  ausdrückt,  dass  die  Zeit  eine  Reihe,  der  Raum  ein 
Aggregat  ist.  Vgl.  auch  A  189.  —  In  diesem  Sinne  wohl  lässt  Ii'ischer  (2.  A. 
327;   3.  A.  335)  Kant  sagen:  „Die  Zeit  scheidet,  wo  der  Ort  vereinigt.* 

'  Dass  jene  beiden  Axiome  im  Grunde  nur  Eines  seien,  behauptet  Beller- 
mann, Beweis  a.  d.  n.  Raumtheorie  u.  s.  w.,  Progr.  1889,  S.  7. 


384  §  5.    Zeit:  transscendentale  Erört«ruDg. 

B  48.  [E  715.  H  66.  E  82.] 

nur  dadurch  unsere  Erfahrungen  und  Vorstellungen  von  Veränderung  und 
damit  auch  von  Bewegung  der  Dinge  möglich  und  begreiflich  werden.  Vgl. 
Dissertation  von  1770,  §  14,  5:  „A  enim  et  non-A  non  repugnant,  nisi  simul 
{h.  e.  tempore  eodem)  cogitata  deeodem,  post  se  autem  {diversis  tempatibusj  eidetn 
competere  possunt,  Inde  possibüitas  tnutationum  nonnisi  in  tetnpore  cogita- 
hüiSj  neque  tempiis  cogüahile  per  mutationes,  sed  vice  versa." 

Jede  Veränderung  schliesst  nämlich  genau  genommen  einen  Wider- 
spruch ein,  enthält  eine  Verbindung  contra dictorisch  entgegengesetzter  Prü- 
dicate.  Dies  wird  an  einem  Beispiel  quantitativer  Veränderung  (=  Bewegung i 
gezeigt.  „Wenn  ich  von  einem  Objecte  Veränderung  des  Ortes  prädicire, 
so  prädicire  ich  von  ihm  das  Sein  am  Orte  A  und  das  Nichtsein  am  Orte  A. 
Allein  dieses  Sein  und  Nichtsein  desselben  Dinges  an  demselben  Orte  zn- 
sammengedacht,  ist  nach  blossen  Begriffen  ein  offenbarer  Widerspruch,  und 
bloss  dadurch  möglich,  dass  ich  mir  dasselbe  als  nach  einander  oder  auf 
einander  folgend  vorstelle.''  (Schultz,  Prüf.  II,  272.)  Dies  geschieht  nun 
eben  in  der  Zeitanschauung:  nur  indem  ich  sage:  der  Körper  war  in  der 
vorhergehenden  Zeit  da  am  Orte  A,  aber  in  der  gegenwärtigen  Zeit  ist  er 
nicht  mehr  da.  „Lassen  wir  das  nicht  mehr  ganz  weg,  so  heisst:  Ein  Körper 
verändert  den  Ort,  so  viel  als:  er  ist  an  einem  Ort  und  ist  nicht  an  diesem 
Ort,  welches  zwei  contradictorisch  entgegengesetzte  oder  sich  einander  völlig 
aufhebende  Prädicate  sind.  Das  Nicht  mehr  macht  also  den  Begriff  der 
Veränderung  erst  möglich,  folglich  der  Zeitbegriff,  durch  welchen  allein  ein 
Nacheinander  gedacht  werden  kann"  (Mellin  I,  574;  V,  728).  Die  letztere 
Wendung  Mellins  verfehlt  aber  den  eigentlichen  Sinn:  es  muss  vielmehr 
heissen:  erst  in  der  Zeitvorstellung,  in  welcher  das  Nacheinander  uns  an- 
schaulich gegeben  ist,  ist  die  Vorstellung  der  Veränderung  möglirh. 
(Veränderung  wird  übrigens  A  82  zu  den  Prädicabilien  der  Modalitat  ge- 
rechnet, gehört  also  eigentlich  erst  in  die  Kategorienlehre). 

Bemerkenswerth  ist,  dass  diese  Bestimmungen  über  die  Veränderung 
gerade  im  Texte  der  2.  Auflage  noch  mehrfach  wiederkehren ;  so  in  der 
Vorbemerkung  zur  2.  Analogie  (Grundsatz  der  Erzeugung),  B  233,  und 
B  291.  Dass  Kant  über  dieses  Thema  zwischen  der  1.  und  2.  Auflage  nach- 
gedacht hat,  beweist  auch  die  Anmerkung  in  seinem  Handexemplar  (Erd- 
mann, Nachträge  CXLIII):  „Können  zwei  entgegengesetzte  Bestimmungen  in 
einer  Veränderung  sich  einander  in  dem  Dinge  an  sich  selbst  w^iderstreitend, 
aber  einstimmig  im  Phänomenon  seyn?** 

Uebrigens  ist  dieser  Punkt  auch  schon  angedeutet  in  der  ersten  Auf- 
lage A  144.  171.  187  ff.  207  und  auch  ausgeführt  A  458—460  (Anmerkungen 
zur  vierten  Antinomie) ;  auch  in  den  Reflexionen  finden  sich  darüber  aus  der 
Zeit  der  70  er  Jahre  beraerkenswerthe  Aussprüche :  II,  N.  374:  ,Was  macht 
das  möglich,  was  nach  dem  blossen  Begriff  eines  Dinges  unmöglich  ist? 
die  Zeit:  deierminationes  oppositae  können  einander  bloss  succediren.  Also 
ist  die  Zeit  nicht  zu  dem  Begriffe  eines  Dinges  an  sich  gehörig,  sondern 
zu   der  Art,    wie   wir   sie   anschauen.*      Kant   findet   also  in  jener  Eigen- 


Ohne  Zeit  keine  Veränderung.    Das  Nirwana.  385 

[R  715.  H  66.  K  82.]  B  48. 

ßchaft  der  Zeit  hier  einen  Beweis  für  ihre  Subjectivität.  Vgl.  N.  375.  377. 
378.  380.  383:  die  Zeit  enthält  den  Grnnd  davon,  quod  mutationes  sint 
possihilea.  Vgl.  dazu  N.  735 — 765.  1081  flf.  1164.  Besonders  interessant 
ist  N.  1187 :  ,Es  wurde  objicirt,  dass  das  unbekannte  Etwas  X,  welches  zu 
Einer  Zeit  die  Erscheinung  des  Eies  hervorbringt,  in  mir  zur  anderen  Zeit 
die  des  Küchleins  hervorbringe:  also  müsse  sich  im  Objecte  etwas  ver- 
ändert haben  [und  also  die  Zeit  objective  Realität  besitzen],  weil  es  nicht 
den  Grund  von  zwei  entgegengesetzten  Bestimmungen  zugleich  enthalten 
könnte.  Ich  antworte:  Es  ist  dasselbe  Object,  welches  den  Grund  der 
Erscheinung  zweier  entgegengesetzter  Zustände  als  successiv  existirender 
hervorbringt,  und  also  die  Erscheinung  einer  Veränderung.  Dieses  ist  nicht 
schwieriger  zu  erklären,  als  wie  Veränderung  möglich  sei,  d.  i.,  da  ein  Ding 
oder  eine  Menge  Dinge  den  Grund  von  zwei  Gegentheilen  enthalten  solle.'' 
Vgl.  auch  Lose  Blätter  I,  S.  21.  Aehnlich  Schopenhauer,  W.  a.  W.  I, 
209.  In  eigen  thümlicher  Weise  hat  Her  hart  die  Lehre  weitergebildet,  dass 
die  Veränderung  Widersprechendes  enthalte:  W.  W.  I,  194—216.  263  ff., 
III,  80  ff.,  IV,  280.  285;  vgl.  dazu  Spir,  Denken  und  Wirklichkeit  I,  266  ff., 
II,  7—12.     Cohen,  2.  A.  182.     Feuerbach,  W.  W.  II,  335. 

Die  Abhängigkeit  der  Veränderung   von   der  Zeit  benützt  Kant  in 
dem  —  wenig  beachteten  —  Aufsatz:  Das  Ende  aller  Dinge  (Ros.  VII,  a, 
409  ff.),  um  den  Unterschied  des  zeitlichen  Lebens  vom  ewigen  zu  erörtern, 
wobei    er   allerdings,    wie   er  selbst  sagt,    „bloss  mit  Ideen   spielen'^   will. 
Wenn  das  ewige  Leben  überhaupt  gedacht  werden  soll,  muss  es  als  unzeit- 
liches  gedacht  werden,  und  da  Veränderung   eben  nur  in  der  Zeit  möglich 
ist,  als  ein  Zustand  der  ünveränderlichkeit  {duraiio  nounienon).  „In  der 
Apokalypse  (X,  5.  6)  bebt  ein  Engel  seine  Hand  gen  Bimmel  und  schwört 
bei  dem  Lebendigen:    dass  hinfort  keine  Zeit  mehr  sein  soll.     Wenn 
man    nicht    annimmt,    dass   dieser  Engel    ,mit   seiner  Stimme   von    sieben 
Donnern'   (v.  3)   habe  Unsinn  schreien    wollen,   so   muss  er  damit  gemeint 
haben,  dass  hinfort  keine  Veränderung  sein  soll;  denn  wäre  in  der  Welt 
noch  Veränderung,  so  wäre  auch  die  Zeit  da,  weil  jene  nur  in  dieser  statt- 
finden kann  und  ohne  ihre  Voraussetzung   gar  nicht   denkbar  ist''  u.  s.  w. 
Auch  die  christliche  Eeligion  stelle  sich  das  ewige  Leben,  sowohl  das  selige, 
aIs  das  unselige,  als  einen  , Mangel  alles  Wechsels"  vor.     Ueber  solche  Ge- 
danken gerathe  nun  leicht  „der  nachgrübelnde  Mensch  in  die  Mystik**;  der 
Mensch  mache  nun  Versuche ,    schon  innerhalb  des  zeitlichen  Lebens  jenen 
Zustand  der  Unzeitlichkeit  und  absoluten  ünveränderlichkeit  hervorzurufen: 
^daher  kommt  das  Ungeheuer  von  System  des  Laokiun   [Kant  verwechselt 
hier  den  Laokiün  =  Laotse  mit  Buddha,  vgl.  Kants  Physische  Geographie 
Ros.  VI,  703.  733  über  Asien]  von  dem  höchsten  Gut,  das  in  Nichts  be- 
steben soll:  d.  h.  im  Bewusstsein,  sich  in  den  Abgrund  der  Gottheit,  durch 
das  Zusammenfliessen    mit   derselben   und    also    durch   Vernichtung    seiner 
Persönlichkeit  verschlungen   zu  fühlen;    von   welchem  Zustande  die   Vor- 
hin pfindung  zu  haben,  sinesische  Philosophen  sich  in  dunkeln  Zimmern  mit 
Taihinger,  Kant-GommentAr.    IL  25 


38(5  §  5-    Zeit:  transscendentale  Erörterung. 

B  48.  [B  715.  H  66.  K  82.] 

geschlossenen    Augen    anstrengen,   dieses   ihr    Nichts    zu   denken   nnd   zu 
empfinden/  — 

Dieser  §  5  hat  übrigens  auch  im  Fischer-Trendelenburg'schen  Streite 
eine  Rolle  gespielt,  gelegentlich  einer  allerdings  erst  später  zu  besprechenden 
Streitfrage:  in  der  Einleitung  zu  dem  „System  der  Grundsätze'  bat  Kant 
(A  152  f.)  nebenbei  bemerkt,  dass  die  übliche  Formel  des  Satzes  Yom  Wider- 
spruche: „es  ist  unmöglich,  dass  etwas  zugleich  sei  und  nicht  sei'  durch 
die  Hereinmischung  der  Zeitbestimmung  „zugleich'  gewissermassen  verun- 
reinigt sei;  der  Satz  des  Widerspruches,  als  ein  blos  logischer  Grundsatz, 
dürfe  nicht  durch  die  Bedingung  der  Zeit  afficirt  werden.  Hiebei  polemistrt 
Kant  gegen  sich  selbst,  denn  in  der  Dissertation  von  1770,  §  14,  5.  6  und 
§  15  hatte  er  selbst  behauptet,  der  Satz  des  Widerspruchs  lasse  sich  ohne 
jede  Zeitbedingung  gar  nicht  aufstellen  noch  anwenden.  Fischer,  welcher 
in  seiner  Darstellung  bekanntlich  Dissertation  und  Kritik  durcheinander 
mengt  (vgl.  oben  S.  185),  sucht  diesen  Unterschied  hinwegzudisputiren,  und 
fügt  demgemäss  auch  in  seine  Wiedergabe  der  Kantischen  Baum-  und  Zeit- 
lehre jene  Lehre  aus  der  Dissertation  ein,  welche  doch  in  der  Analytik  von 
Kant  selbst  revocirt,  resp.  restringirt  worden  ist.  Darüber  von  Trendelen- 
burg zur  Rede  gestellt,  berief  er  sich  denn  nun  in  seiner  „Duplik'  S.  60 
auch  auf  diesen  Passus. 

Er  will  nämlich  in  demselben  jene  Lehre  indirect  ausgesprochen 
finden.  „Wenn  contradictorisch-entgegengesetzte  Prädicate  in  einem  Dinge 
nur  möglich  und  begreiflich  sind  in  verschiedenen  Zeiten,  so  sind  sie 
unmöglich  und  unbegreiflich  in  derselben  Zeit.  Beide  Sätze  haben  voll- 
kommen gleichen  Inhalt.'  —  Ohne  die  Zeitvorstellung  könne  nun  nach 
Kants  Aussage  „kein  Begriff  die  Möglichkeit  einer  Verbindung  contra- 
dictorisch-entgegengesesetzter  Prädicate  in  einem  und  demselben  Objecto  be- 
greiflich machen''.  Also  könne  „ohne  die  Zeitvorstellung  auch  kein  .Begriff 
die  Unmöglichkeit  einer  solchen  Verbindung  begreiflich  machen.  Die 
Möglichkeit  hängt  ab  von  dem  Nacheinander.  Die  Unmöglichkeit  hängt 
ab  von  dem  Zugleich.  Ohne  dieses  Zugleich  kann  kein  Begriff  die  Un- 
möglichkeit einer  Verbindung  contradictorisch-entgegengesetzter  Prädicate 
in  einem  und  demselben  Objecte,  d.  h.  das  logische  Denkgesetz  des  Wider- 
spruchs begreiflich  machen  oder  erklären^. 

In  dieser  Beweisführung  ist,  wie  schon  Bra  tusch  ek,  Philos.  Monatsh.  V, 
306  f.  erkannt  hat,  eine  Lücke.  Aus  diesem  Passus  folgt  allerdings,  dass 
Entgegengesetztes  nicht  zugleich  stattfinden  kann  an  Einem  und  demselben 
Object,  und  natürlich  auch,  dass  die  Vorstellung  dieses  Zugleich  im* 
möglich  ist  ohne  die  Zeitanschauung.  Keineswegs  folgt  aber  daraus^ 
dass  es  nun  auch  Kants  Meinung  sei,  dass  nun  der  Satz  des  Widerspruchs 
als  solcher  sich  überhaupt  nicht  auch  ohne  jenes  „Zugleich'  aussprechen  lasse. 

Auf  diese  Lösung  weist  ja  Kant  selbst  hin  A  152,  wenn  er  sagt: 
wenn  man  das  Wort  zugleich  hinzusetzt,  so  sage  der  Satz  des  Wider- 
spruchs gleichsam:    „Ein  Ding  =  A,   welches  etwas  =  B  ist,,  kann  nicht 


Allgemeine  Bewegungslehre  und  allgemeine  Zeitlehre.  387 

[R  716.  H  66.  E  83.]  B  48.  49. 

zu  gleicher  Zeit  non-B  sein;  aber  es  kann  gar  wohl  Beides  (B  sowohl 
als  non-B)  nacheinander  sein.*  Aber  diese  ganze  Pormulimng  sei  der 
Absicht  des  Satzes  vom  Widerspruche  als  solchen  ganz  zuwider,  und  bringe 
in  ihn  eine  Synthese  hinein,  die  in  ihm  als  rein  analytischem  Grundsatze 
nicht  liege.  Allerdings  gilt  dies  nur  vom  rein  ,, formalen  Grundsatz" ;  in 
der  praktischen  Anwendung ,  wie  eben  z.  B.  hier ,  stellt  sich  -jene  für  die 
Anwendung  bequemere  Formel  und  damit  eben  auch  jene  Einmischung  der 
Zeitvorstellung  bald  wieder  ein.  — 

Noch  bietet  der  §  5  eine  wichtige  Schlussbemerkung  dar:  Diese 
apriorische  Anschauung  der  Zeit  ermöglicht  und  erklärt  nun  auch  erst  die 
sich  auf  die  Bewegung  beziehenden  synthetischen  Sätze  a  priori,  ,,die  all- 
gemeine Bewegungslehre",  die  Phoronomie.  Diese  hatte  ja  Kant  unter- 
dessen 1786  in  den  ,, Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft" 
entwickelt,  und  so  fand  er  hier  eine  willkommene  Gelegenheit,  die  Grund- 
lagen derselben  in  der  Kr.  d.  r.  V.  zu  legen.  Allerdings  ist  der  Begriff 
der  Bewegung  selbst ,  wie  auch  der  Begriff  der  Veränderung  empirisch  * 
(vgl.  Band  I,  196.  211  f.).  Vgl.  auch  Mellin  I,  574.  Nach  Schultz, 
Prüf.  I,  286,  II,  272  ist  es  speciell  die  Mechanik,  auf  welche  Kant  zielt. 
Weiteres  bei  Riehl,  Krit.  II,  a,  86.  94.  110  f.  (R.  u.  Z.  alö  Principien 
der  Begreiflichkeit  der  Bewegung).  Vgl.  auch  Baggesen,  Phil.  Nachlass 
I,  68  ff.  Sachliche  Einwände  gegen  die  Stelle  bei  v.  Kirch  mann,  Erl.  11 
(dagegen  Grapengiesser ,  Erkl.  26).  Vgl.  Schuppe,  Logik  433  ff.  Vgl. 
auch  Wundt,  Logik,  I,  484  ff.  Eingehend  behandelt  auch  Heymans, 
Ges.  u.  El.  d.  wiss.  Denkens,  1890,  I,  259—270  im  Sinne  Ks.  die  Idealität 
der  Zeit  als  Fundament  der  , Kinematik*^. 

Bemerkenswerth  ist  die  Parallele,  welche  hier  von  Kant,  wenn  auch 
nicht  ausdrücklich,  so  doch  sachlich  gestiftet  wird:  wie  oben  (vgl.  S.  266  ff.)  die 
neue  Raumtheorie  ,,die  Möglichkeit  der  Geometrie  als  einer  synthetischen 
Erkenntniss  a  priori  begreiflich"  machte,  so  soll  hier  unser  Zeitbegriff  „die 
Möglichkeit  der  synthetischen  Erkenntnisse  a  priori  der  allg.  Bewegungs- 
lehre erklären".  Diese  Parallele  ist  nun  aber  doch  vom  Kantischen  Stand- 
punkte selbst  aus  verfehlt,  da  doch  Bewegung  erstens  ein  empirischer  Begriff 
ist,  und  dieselbe  zweitens  ausser  der  Zeit  ja  auch  noch  den  Raum  voraussetzt. 
Die  Analogie  geht  also  durchaus  in  die  Brüche.  Vielleicht  hat  Kant  mit 
dieser  Stelle  der  2.  Auflage  einem  Einwurf  begegnen  wollen,  welcher  schon 
gegen  die  erste  von  Garve  gemacht  worden  war.  Dieser  findet  (A.  D.  B. 
Anhang  zu  37 — 53,  S.  859)  eine  Schwierigkeit  darin,  „dass  das  Anschauliche 
der  Zeit  uns  kaum  zu  einem  oder  dem  anderen  Satze,  das  des  Raumes  aber 
zu  einer  ganzen  Wissenschaft  verljolfen  hat". 

Kant  selbst  hat  an  einer  anderen  Stelle  sich  ganz  anders  ausgedrückt. 
In  der  Abhandlung  „über  Philos.  überhaupt"  Ros.  I,   606  sagt  er:    »All- 


*  Daher  sind  die  synthetischen  ürtheile  a  priori  der  allgemeinen  Bewegungs- 
lehre auch  als  , gemischte**  zu  bezeichnen.    Vgl.  Comm.  I,  195  f. 


388  §  ^-    ^^it:  transscendentaJe  Erörterung. 

B  49.  [B  715.  H  66.  K  83.] 

gemeine  Zeitlehre  gibt  nicht  so  wie  die  reine  Banmlehre  (Geometrie) 
genügsamen  Stoff  zu  einer  ganzen  Wissenschaft  her.*'  Er  bringt  das  damit 
in  Zusammenhang,  dass  die  Zeit  nur  Eine  Dimension  habe.  Man  könne 
indessen  aus  dem  letzteren  Umstände  auf  die  ,, Stetigkeit  aller  Veränderangen*' 
schliessen.  (Nach  der  Dissertation  §  14,  6  gehört  die  continuitas  zu  den 
prima  temporis  puri  postfdata.)  Vgl.  Vorrede  zu  den  Met.  Anf.  d.  Nat. 
Bos.  V,  310,  wo  schon  genau  dasselbe  gesagt  worden  war.  Nach  diesen 
Stellen  liegt  die  Sache  ganz  anders.  Darnach  hat  die  Geometrie  als  Wissen- 
schaft vom  Baum  kein  eigentliches  Pendant  an  einer  Wissenschaft 
von  der  Zeit,  weil  die  Zeitanschauung  dazu  zu  arm  ist.  Höchstens  können 
die  paar  Axiome  über  die  Zeit  (vgl.  oben  S.  373.  383)  ein  verkümmertes 
Gegenstück  zu  den  Axiomen  der  Geometrie  abgeben.  Indessen  haben  die 
Anhänger  Kants  diese  Axiome  über  die  Zeit  zu  vermehren  gesucht ;  so  zahlt 
Schultz,  Prüfung  I,  236  f.,  II,  263  ff.  7  Axiome  und  2  Postulate  der 
„Chronometrie  oder  Zeit  Wissenschaft**  auf  (vgl.  dazu  Mellin  VI,  277) ;  und 
Schopenhauer,  W.  a.  W.  II,  55  ff.  zählt  in  seiner  bekannten  Tabelle 
gar  28  Axiome  oder  „Grundwahrheiten**  über  die  Zeit  auf.  Vgl.  Lieb- 
mann, Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  87,  Dagegen  spricht  sich  Wundt,  Logik 
I,  430 — 431-  energisch  gegen  jede  Aufstellung  von  Zeitaxiomen  aus,  sie  seien 
«tiivial**  und  „tautologisch".  Aehnliches  hat  auch  schon  F.  A.  Lange, 
Logische  Studien  139  f.  eingewendet. 

Inzwischen  finden  wir  bei  den  Anhängern  Kants  noch  eine  dritte  Dar- 
stellung, welche  nun  ganz  landläufig  geworden  ist :  darnach  soll  sich  die  Arith- 
metik verhalten  zur  Zeit  wie  die  Geometrie  zum  Räume.  Zum  ersten  Male 
findet  sich  diese  Zusammenstellung  bei  Schultz  in  seinen  bekannten  Er- 
läuterungen S.  24.  Ausser  Pistorius  bemerkte  aber  schon  Eberhard, 
Mag.  II,  178  f.,  dass  diese  Beziehung  der  Arithmetik  auf  die  Zeit  sich 
nicht  selbst  bei  Kant  finde;  sie  widerspreche  auch  den  sonstigen  Lehren 
Kants ;  wenn  man  die  Zahlen  als  durch  zeitliche  Succession  entstanden 
darstelle,  so  übersehe  man  dabei,  dass  diese  subjective  Entstehung  der 
Zahlen  ihre  objective,  logische  Natur  gar  nicht  treffe.  Schultz  antwortete 
darauf  in  der  A.  L.  Z.  1790,  III,  Nr.  283,  S.  806,  und  wies  dabei  zum 
Beweis  für  die  Echtheit  seiner  Darstellung  auf  A  142  ff.  (B  182  ff.)  hin.  Noch 
deutlicher  aber  als  an  jener  Stelle  (welche  gleich  nachher  nochmals  zu  be- 
sprechen ist)  sprach  sich.K.  in  den  Prolegomena  aus;  Schultz  hätte  sich  auf 
Prol.  §  10  berufen  sollen,  woselbst  es  heisst:  , Geometrie  legt  die  reine  An- 
schauung* des  Kaum  es  zum  Grunde.  Arithmetik  bringt  selbst  ihre  Zahl- 
begriffe  durch  successive  Hinzusetzung  in  der  Zeit  zu  Stande,  vornämlich 
aber  reine  Mechanik  kann  ihre  Begriffe  von  Bewegung  nur  vermittelst 
der  Vorstellung  der  Zeit  zu  Stande  bringen.**  Diese  „reine  Mechanik'* 
werden  wir  wohl  mit  der  „allgemeinen  Bewegungslehre*'  identificiren  dürfen, 
von  welcher  hier  in  der  Kritik  §  5  die  Eede  ist.  Um  so  mehr  dürfen  wir 
erstaunt  sein ,  dass  Kant  hier  an  dieser  Stelle  der  Kritik  die  naheliegende- 
Parallele   der  Geometrie   mit  der  Arithmetik   nicht  selbst  gezogen  hat,  um 


Schwankende  Stellung  der  Arithmetik  bei  Kant.  389 

[R  716.  H  66.  K  88.]  B  49. 

so  mehr,  als  doch  von  der  Arithmetik  schon  in  der  Einleitung  Y  (vgl. 
Comm.  I,  295 — 300)  die  Rede  gewesen  war  ^ 

Die  Parallele  von  Geometrie  und  Arithmetik  ist  denn  auch  die  übliche 
Darstellung  geworden,  bes.  durch  Schul  tz,  Prüfung  1, 211—234,  II,  235—263 
(gegen  Einwürfe  Eberhards).  Vgl.  Schmid,  Grit.  17.  Metz,  Darst.  54. 
Dann  hat  bes.  wieder  Schopenhauer  auf  jene  Parallele  gedrungen,  Grund 
§  38,  W.  a.  W.  I,  90,  II,  39—40  (unter  heftiger  Polemik  gegen  Rosenkranz* 
Bestreitung  jener  Parallele);  Par.  II,  52.  Durch  K.Fischers  Darstellung 
(2.  A.  314.  337)  ist  die  Parallele  dann  heutzutage  ganz  allgemein  geworden. 
Vgl.  Cohen,  2.  A.  136.  169.  183.  184.  211.  239.  416.  585.  Lasswitz 
81—84.  Vgl.  femer  Mahaffy  64  fF.  Schneider,  Das  Apriori  181;  Trans- 
scendentalpsychologie  S.  137  ff.  224  ff.;  Bolliger,  Antikant  381.  Vgl.  auch 
Wundt,  Logik  I,  468  ff.  und  auch  Helmholt z'  bekannte  Abhandlung 
„Ueber  Zählen  und  Messen"  in  den  „Philosoph.  Aufsätzen",  Zeller  gewidmet, 
1887,  S.  17  ff.,  und  dazu  Cohen,  Phil.  Monatsh.  1888,  S.  259  ff.  Vgl.  auch 
W.Hamilton:  Essay  on  Algebra  as  the  science  of  pure  time.  (Transactians 
of  the  Royal  Irish  Äcademy,  1835,  Vol.  XVII.  Vgl.  dazu  die  Dubliner  Zeit- 
schrift „Hermathena^,  Vol.  III,  1879,  469  ff.).  Gegen  diese  Kantische  Ab- 
leitung der  Zahl  aus  der  Zeitvorstellung  hat  sich  neuerdings  bes.  B.  Erd- 
mann, Logik,  I,  108  f.  ausgesprochen. 

Kant  hat  sich  nun  aber  über  die  Zahlen  und  die  Zahlenlehre  noch 
an  späteren  Stellen  seiner  Kritik  in  ganz  anderer  Weise  ausgesprochen,  in 
einer  Weise,  dass  man  darauf  schliessen  muss,  die  Zahlen  seien  ihm  vielmehr 
erst  als  ein  Product  der  kategorialen  Synthesis  erschienen,  nicht 
schon  als  einfache  Consequenzen  der  reinen  blossen  Zeitanschauung  ^  Vgl. 
A  78,  wo  das  Zählen  ,,eine  Synthesis  nach  Begriffen"  genannt  wird;  ß  100,  wo 
die  Zahl  mit  der  Kategorie  der  Allheit  in  Verbindung  gebracht  wird ;  A  101 — 


^  Nach  jener  Stelle  der  Einleitung  soll  man  freilich  den  arithmetischen 
Sätzen  die  Anschauung  von  Punkten  oder  gar  Figuren  zu  Grunde  legen.  (Vgl. 
A  140.)  Dies  würde  darauf  führen,  dass  auch  die  Arithmetik  zuletzt  auf  die  An- 
schauung des  Raumes,  nicht  aber  auf  die  der  Zeit  zu  begründen  wäre.  Diese 
Consequenz  hat  denn  auch  F.  A.  Lange,  Log.  Stud.  140  ff.,  in  der  That  gezogen, 
und  schon  vor  ihm  Baumann  (worüber  man  Husserl,  Phil.  d.  Arithm.  I,  32 — 49 
vergleiche).  Vgl.  auch  Stadler,  Erk.  79.  Sachlich  könnte  das  richtig  sein,  aber 
Kantisch  wird  es  schwerlich  sein ,  wie  schon  I,  299  bemerkt  werden  musste.  Ein- 
gehende und  sorgfältige  Erörterung  der  Frage  durch  F.  A.  Tarleton  in  der 
Dubliner  Zeitschrift  „Hermathena",  Vol.  I,  1874,  p.  210-232.  Tarleton  verwirft 
die  Meinung  von  Mahaffy  und  Monck,  Kant  begründe  die  Arithmetik  auf  die 
Raumanschauung,  und  vertheidigt  geschickt  die  These  von  Kuno  Fischer  und 
M ansei,  Kant  begründe  dieselbe  schlechterdings  nur  auf  die  apriorische  Zeit- 
anschauung.   Dagegen  aber  wieder  Mahaffy,  Cn't  Phil,  I,  64  ff. 

*  Hiebei  ist  übrigens  daran  zu  erinnern,  dass  auch  bei  der  Geometrie  neben 
der  Anschauung  der  Verstand  ins  Spiel  kommt;  vgl.  oben  S.  285;  und  zwar  nicht 
nur  die  gewöhnliche  logische,  sondern  auch  die  kategoriale  Verstandesthätigkeit. 


390  §  ^-    Z^it.:  transscendentale  Erörterung.    §  6.    Schlüsse. 

B  49.  [B  716.  H  66.  K  83.] 

104,  wo  das  Zählen  mit  der  ,, Einheit  der  Sjnthesis**  u.  s.  w.  in  Verhindang  ge- 
bracht wird ;  A  142  ff.  (B  182  ff.),  wo  die  Zahl  als  Schema  der  Kategorie  der 
Grösse  betrachtet  wird  (numerus  est  qtMntüas  phaenomenon);  A  164,  wo  die 
Zahlformeln  anf  „Synthesis  der  Einheiten**  zurückgeführt  werden  (vgl.  A  170). 
Dazu  kommen  dann  die  Bemerkungen  in  der  Methodenlehre  A  717—734. 
(Weiteres  hierüber  später  in  dem  Commentar  zur  Analytik,  speciell  zu  der 
Hauptstelle  A  142  ff.  [B  182  ff.].)  —  Vgl.  dazu  auch  Pries,  Neue  Kritik 
II,  118  ff. 

In  ähnlicher  Weise  betrachtete  Kant  die  Sache  schon  in  der  Disser- 
tation. Die  Hauptstelle  lautet  §  12:  Hinc  Mathesis  pura  spatium  considerat 
in  geometria,  tempus  in  mechanica  pura.  Accedit  hisce  conceptus  quidam^  in 
se  quidem  intellectualis;  sed  cujus  tarnen  actuatio  in  concreto  exigU  opi- 
tulantes  notiones  temporis  et  spatii  (successive  addendo  plura  et  juxta  se  simul 
ponendo),  qui  est  conceptus  numeri,  quem  tractat  Arithmetica.  Vgl«  daselbst 
auch  dieselbe  Beziehung  der  Zahl  auf  Raum  und  Zeit  zugleich  §  15  fin. 
Daselbst  §  23  werden  Eaum,  Zeit  und  Zahl  aber  wieder  als  reine  Anschau- 
ungen zusammengestellt.  (Vgl.  auch  §  28.)  Vgl.  Dietrich,  Kant  u.  Newton, 
110.  287.  251. 

Daraus  folgt,  dass  Kant  über  die  Stellung  der  Zahlenlehre  sich  schwan- 
kend geäussert  hat,  und  sich  über  dieselbe  auch  wohl  nicht  klar  geworden 
ist.  In  vortrefflicher  Weise  ist  dies  dargelegt  worden  (vom  Kantischen 
Standpunkte  selbst  aus)  von  C.  Th.  Michaölis,  lieber  Ks.  Zahlbegriff.  Pro- 
gramm der  Charlottenschule  Berlin  1884  (18  S.).  Ks.  Zahlbegriff  schwanke 
hin  und  her  und  sei  ein  doppelter;  bald  ziehe  er  die  Analogie  zwischen 
Arithmetik  und  Geometrie,  so  in  jener  Stelle  der  Proleg,  §  10;  bald  aber 
lehne  er  dieselbe  ab,  so  hier  Kritik  §  5.  Kant  habe  die  Arithmetik  „stief- 
mütterlich behandelt**,  die  „arithmetischen  Grundbegriffe  vernachlässigt*', 
seine  Auffassung  sei  „verfehlt** ;  indessen  habe  das  K.'sche  System  selbst 
„die  Hülfsmittel  gegeben,  jene  verfehlte  Lehre  zu  berichtigen  und  von  Wider- 
sprüchen zu  befreien**:  die  Zahl  sei  nicht  auf  die  Anschauung  der  Zeit, 
sondern  auf  die  Verstandesthätigkeit  der  Kategorien  zu  basiren.  Und  diese 
Auffassung  stimmt  denn  auch,  wie  wir  sahen,  mit  der  Majorität  der  Stellen 
Kants  überein,  und  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  würde  dann  allerdings 
das  Stillschweigen  Ks.  über  die  Arithmetik  hier  in  der  Aesthetik  zu  recht- 
fertigen sein.  Aehnlich  neuerdings  auch  Walter  Brix,  in  Wundts  Philos. 
Studien  VI,  118—121.  156  ff.;  und  besonders  E.  Husserl,  Philos.  d. 
Arithmetik  I,  30  ff.  36  ff.;  Kerry,  Viert,  f.  wiss.  Phil.  1889,  121  ff. 

§  6. 

Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Zeit. 

Diese  „Schlüsse**  zerfallen  ebenfallSi  wie  die  auf  den  Baum  bezüglichen, 
in  fünf  Absätze ;  allein  diese  fünf  Absätze  entsprechen  den  fünf  Absätzen  beim 
Haume  keineswegs  durchaus,  wie  die  specielle  Analyse  alsbald  ergeben  wird. 


Die  Zeit  ist  nar  sabjectiv.  391 

[B  42.  H  66.  E  88.]  A  32.  B  49. 

Erster  Absatz  (Schluss  a).  Dieser  Absatz  entspricht  im  Allgemeinen 
dem  gleichbezifferten  Absatz  beim  Räume,  ist  aber  nach  zwei  Seiten  hin 
erweitert.  Einmal  ist  hier  —  und  das  ist  ein  formeller  Vorzug  —  noch 
ein  Fall  erwogen,  welcher  beim  Räume  (vgl.  oben  S.  287  Anm.  1)  übergangen 
war,  und  welcher  doch  in  dem  oben  S.  132  aufgestellten  Schema  gleich  zuerst 
aufgezählt  worden  war:  die  Möglichkeit,  dass  die  Zeit  etwas  ist,  „was  für 
sich  selbst  bestünde",  also  eine  Substanz.  Das  ist  nicht  möglich;  denn  in 
diesem  Fall  würde  „sie  etwas  sein,  was  ohne  wirklichen  Gegenstand  dennoch 
wirklich  wäre".  Darin  findet  Kant  offenbar  einen  Widerspruch ;  er  meint  das- 
selbe, was  er  unten  A  39  so  ausdrückt :  wer  die  absolute  Realität  des  Raumes 
und  der  Zeit  behaupte,  der  nehme  damit  zwei  ewige  und  für  sich  bestehende 
Undinge  an;  und  ähnlich  spricht  er*B  70  speciell  von  „der  für  sich  be- 
stehenden Realität  eines  Undinges,  wie  die  Zeit".  Ein  Unding  ist  eben 
logisch  ein  in  sich  widerspruchsvolles  Ding,  und  der  Widerspruch  liegt  eben 
in  Folgendem:  ist  die  Zeit  als  solche,  d.  h.  ohne  Dinge  resp.  Vorgänge  in 
ihr,  ein  far  sich  bestehendes  Ding,  so  ist  sie  etwas  Wirkliches,  ohne  dass 
doch  etwas  Wirkliches  in  ihr  wäre.  Alle  äussere  empirische  Wirklichkeit 
ist  aber  erfahrungsgemäss  immer  etwas  Materiell-Wirkliches  und  Wirksames. 
Bei  der  Zeit  würde  das  fehlen ,  und  doch  soll  sie  noch  etwas  Wirkliches 
sein;  so  wäre  sie  dann  etwas  wirkliches  Unwirkliches,  oder  etwas  unwirk- 
liches Wirkliches,  und  das  wäre  ein  barer  Widerspruch. 

Nun  erhebt  sich  aber  die  Frage,  inwiefern  dies  denn  ein  „Schluss  aus 
obigen  Begriffen"  ist?  Inwiefern  ist  dies  denn  in  den  Zeitargumenten 
irgendwie  involvirt?  Man  wird  den  Gedanken  am  besten  mit  dem  zweiten 
Zeitargument  in  Verbindung  bringen,  wonach  die  Zeit  bleibt,  auch  wenn 
man  alle  Erscheinungen  aus  ihr  hinweggenommen  hat.  Dies  muss  doch  als 
zugestanden  angenommen  werden,  wenn  man  jenen  Widerspruch  constatiren 
will:  das  übrig  bleibende  Substrat,  die  Zeit  als  solche,  könne  also  auch 
nicht  als  selbständige  objective  Substanz  gedacht  werden,  da  dies  auf  jenen 
Widerspruch  führe,  sondern  müsse  als  subjective  Form  bestimmt  werden. 
Ob  dies  Kants  Gedankengang  wirklich  gewesen  ist,  lässt  sich  nicht  mit 
Sicherheit  behaupten,  da  er  selbst  hier  viel  zu  kurz  sich  gefasst  hat. 

Die  beiden  anderen  Möglichkeiten  —  Zeit  als  eine  den  Dingen  in- 
bärirende  Eigenschaft  oder  als  ein  sie  ordnendes  Verbal tniss  —  werden 
beide  zusammen  mit  demselben  Argument  zurückgewiesen,  wie  beim  Räume: 
es  ist  die  Priorität  der  Zeit  vor  den  Gegenständen  und  ihre  damit  eng  ver- 
bundene apriorische  Anschaubarkeit  vor  denselben  ^;  dieses  lässt  sich  nicht 
begreifen,  wenn  die  Zeit  überhaupt  etwas  Objectives  ist. 

Dass  es  sich  nur  begreifen  lässt,  wenn  die  Zeit  als  subjective  Be- 
dingung, also  „Form  der  inneren  Anschauung",  allen  Anschauungen 


'  Die  Bemerkung,  die  sich  daran  schliesst,  über  die  synthetischen  Urtheile, 
soll  nach  Adickes  S.  81  N.  späterer  Zusatz  sein  (vgl.  oben  S.  264).  Ein  zwingender 
Onind  zu  dieser  Annahme  ist  nicht  vorhanden. 


392  §  6.    Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Zeit. 

A82.38.B49.  [B  42.  H  67.  E  88.] 

in  uns  vorangeht,  ist  dazu  die  positive  Ergänzung,  welche  oben  beim  Räume 
(vgl.  S.  326)  den  Schluss  b)  bildete.  Hier  ist  dieselbe  richtiger  mit  dem 
Schluss  a)  zusammengenommen,  während  dafür  hier  der  weitere  Gedanke 
des  Schlusses  b)  beim  Baume  übergangen  ist,  dass  erst  dadurch  sich  „ver^ 
stehen  lasse'S  dass  die  Sätze  vom  Räume  auch  a  priori  von  allen  Gegen- 
ständen in  ihm  gelten.  Dieser  Schluss  wird  in  Bezug  auf  die  Zeit  erst  im 
Schlüsse  c)  gezogen. 

Zweiter  Absatz  (Schluss  b).  Dieser  Absatz  beginnt  mit  denselben 
Worten,  wie  der  gleichbezifferte  Absatz  beim  Räume,  hat  aber  factisch  einen 
ganz  anderen  Inhalt.  Der  Ton  im  ersten  Satze  liegt  hier  nicht  wie  beim 
Räume  darauf,  dass  die  Zeit  blosse  Anschauungsform  sei  —  das  sagte 
hier  schon  Schluss  a)  — ,  sondern  'darauf,  dass  die  Zeit  nur  Form  der 
inneren  Anschauuug  ist.  Das  geht  ja  aus  dem  folgenden,  begründenden 
Satze  hervor:  „Denn'*  die  Zeit  hat  mit  den  Hauptbedingungen  der  äusseren 
Erscheinungen,  mit  Gestalt,  Lage  u.  s.  w.  nichts  zu  schaffen,  und  betrifft 
nur  das  Verhältniss  der  inneren,  der  psychischen  Phänomene.  Inwiefern  ist 
dies  ein  ,, Schluss  aus  den  obigen  Begriffen'*?  In  den  fünf  Zeitargumenten 
war  davon  naturgemäss  nicht  die  Rede,  dagegen  wiederholt  Kant  hier  nur, 
was  er  schon  am  Anfange  der  Erörterung  von  Raum  und  Zeit  gesagt  hat 
(A  23;  vgl.  oben  S.  129):  dass  „die  Zeit  äusserlich  nicht  angeschaut 
werden  kann".    Vgl.  dazu  Reflex.  II,  N.  384. 

Damit,  dass  „die  innere  Anschauung  keine  Gestalt  gibt"  (wohl  aber 
ist  sie  „eine  Grösse",  Nachgel.  Werk  XXI,  361),  bringt  nun  Kant  den  Um- 
stand in  Zusammenhang,  dass  wir  die  Zeitfolge  uns  als  eine  fortlaufende 
Linie  versinnlichen.  Dieser  wichtige  Vergleich  ist  weiter  ausgeführt  B  155 
und  B  292.  Vgl.  dazu  auch  Lose  Blätter  I,  54:  ,,Ohne  Raum  würde  Zeit 
selbst  nicht  als  Grösse  vorgestellt  werden  und  überhaupt  dieser  Begriff"  (!) 
keinen  Gegenstand  haben."  Schon  in  den  „Träumen"  (Ros.  VII,  a,  61)  beisst 
es:  ,,so  stellt  der  Geometra  die  Zeit  durch  eine  Linie  vor,  obgleich  R.  u.  Z- 
nur  eine  Uebereinkunft  in  Verhältnissen  haben  und  also  wohl  der  Analogie 
nach,  niemals  aber  der  Qualität  nach  mit  einander  übereintreffen/'  Be- 
achtenswerth  ist  eine  Bemerkung  in  den  Reflexionen  II,  N.  407,  welche  aus 
den  70er  Jahren  stammt:  „Der  Raum  hat  darin  etwas  vor  dem  Begriff  der 
Zeit  Besonderes,  dass  der  Begriff  der  Zeit,  mithin  die  ganze  Sinnlichkeit 
an  den  Bestimmungen  desselben  kann  gedacht  werden."  Daraus,  dass  die 
Zeitvorstellung  dieser  Anlehnung  an  die  Raumyorstellung  bedarf,  leitet  es 
Kant  daselbst  zum  Theil  ab,  dass  „positive  principia  inteUectualia  der  Physik, 
aber  nicht  der  Psychologie  möglich  sind". 

Bemerkenswerth  ist,  dass  Kant  diese  Unselbständigkeit  der  Zeit- 
vorstellung in  der  2.  Aufl.  B  274  ff.  zur  Grundlage  seiner  Widerlegung- 
des  Idealismus  gemacht  hat:  da  die  Zeitvorstellung  sich  gleichsam  an  der 
Anschauung  der  Raum  Verhältnisse  und  der  Dinge  und  Vorgänge  im  Räume 
erst  hin  aufranken  muss,  so  wird  daraus  weiterhin  abgeleitet,  dass  die  inneren 
Vorgänge  in   der  Zeit  die  äusseren  Dinge   im  Räume  voraussetzen,   womit 


Die  Zeitfolge  als  ins  Unendliche  fortlaufende  Linie.  393 

[R  42.  H  67.  E  83.]  A  33.  B  60. 

eben  die  Realität  der  Letzteren  (freilich  nur  deren  empirische  Eealität  als  Er- 
scheinungen) unmittelbar  erwiesen  ist.  Ueber  diesen  Zusammenhang  s.  B  277 
(Anm.  2),  cfr.  B  155;  Lose  Blatter  I,  S.  201,  und  über  die  Abhängigkeit 
der  inneren  Erfahrung  von  der  äusseren  Eiehl,  Krit.  I,  7.  295.  Wegen 
dieser  Abhängigkeit  der  Zeit  vom  Räume  spricht  F.  A.  Lange,  Log.  Stud. 
139  f.  der  Zeit  überhaupt  den  Charakter  der  reinen  Anschauung  ab. 

Wenn  Kant  sagt:  „wir  schliessen  aus  den  Eigenschaften  dieser  Linie 
auf  alle  Eigenschaften  der  Zeit'^  so  ist,  nach  Stadler,  Reine  Erk.  138, 
darunter  nicht  zu  verstehen,  dass  wir  die  Stetigkeit  der  Zeit  nur  aus  der 
des  Raumes  folgern.  Dies  meine  z.  B.  Wundt,  Phys.  Ps.  *  684.  Nach 
Stadler  aber  geht  die  Stetigkeit  der  Zeit  „unmittelbar  aus  ihrer  Eigen- 
schaft als  bedingende  Verhältnissvorstellung  hervor".  —  Uebrigens  vermisst 
Stadler  (a.  a.  0.  86.  149)  bei  K.  hier  die  Bemerkung,  dass  jene  Analogie 
der  Zeit  mit  einer  Linie  nicht  bloss  zulässig,  sondern  auch  „nothwendig  ist, 
weil  wir  uns  sonst  überhaupt  von  der  aus  der  Substanz  sich  ergebenden 
ZeitgrÖsse  keine  Vorstellung  machen  können".   Vgl.  auch  Spicker,  Kant  67. 

Die  Vergleichung  der  Zeit  mit  einer  Linie  schliesst  ein,  dass  die  Zeit 
nur  Eine  Dimension  hat,  was  Kant  schon  oben  im  dritten  Zeitargument 
bemerkt  hat  (vgl.  S.  383).  Die  Zeit  besitzt  „eine,  freilich  sterile  Quasi- 
Dimension", Laas,  Analogien  211.  Ueber  diese  Sterilität  vgl.  oben  S.  388. 
Vgl.  ferner  über  und  gegen  die  ganze  Lehre  Schopenhauer,  W.  a.  W.  11^  55. 
314.  Par.  1,107.  Lotze,  Metaph.  268ff.  Bilharz,  Erläut.  166  ff.  BoUiger, 
Antikant  402.  Besonders  Wundt,  Logik  I,  430  hat  sich  gegen  diese 
„räumlichen  Bilder"  bei  der  Zeitvorstellung  ausgesprochen.  Mit  dieser  Frage 
der  Dimensionen  der  Zeit  hat  sich  Kant  viel  beschäftigt;  so  finden  wir  Be- 
merkungen hierüber  in  den  Reflexionen  II,  N.  365-369.  373.  384.  390.  391. 
Da  statuirt  Kant  bald  e i n  e  Dimension,  bald  zwei,  bald  drei  Dimensionen 
der  Zeit ;  die  Zweiheit  umfasst ,  wie  in  der  Dissertation ,  das  Nacheinander 
und  das  Zugleich,  nach  N.  381.  382  die  zeitliche  Subordination  und  die 
zeitliche  Coordination ;  die  Dreiheit  Gegenwart,  Vergangenheit,  Zukunft,  oder 
auch  Zugleich,  Vorher  und  Nachher.  Kant  knüpft  an  diese  Beziehungen 
daselbst  allerlei  „artige  Betrachtungen".  In  den  Losen  Blättern  I,  S.  45  (98) 
nennt  Kant  sogar  einmal  die  drei  Begriffe  Substanz,  Grund  und  Ganzes 
Functionen  oder  Dimensionen  der  Zeit  —  offenbar  im  Sinne  der  Lehre  vom 
Schematismus  (A  140  ff.).    Vgl.  Schopenhauer,  Nachl.  380. 

In  der  Dissertation  von  1770,  §  15  Coroll.,  heisst  es  schon:  Horum 
quidem  conceptuum  alter  proprie  intuitum  ohjecti,  alter  statum  concernit  in- 
primis  repraesentativum.  Ideo  etiam  spatium  temporis  ipsius  conceptui 
ceu  typ  US  adhibetur^  repraesentando  hoc  per  lineam^  ejusque  terminos 
(momenta)  per  puncta.  Dazu  bringt  §  14,  5,  N.  eine  sehr  bemerkenswerthe 
Ergänzung.  Das  Zugleichsein,  dessen  Nichtberücksichtigung  er  daselbst 
Leibniz  und  seinen  Anhängern  vorwirft  (vgl.  oben  S.  369),  ist  in  diesem  Schema 
nicht  unterzubringen.  Jenes  Schema,  die  Linie,  dient  nur  der  Veranschau- 
lichung der  Succession  als  einer  Punktreihe  {conjunctio  aliqua,  quae  est  per 


394  §  6.    Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Zeit. 

A83.B50.  [B  42.  H  67.  E  88.] 

seriem  tettiporis),  aber  daraus  ergibt  sieb  noch  nicht  die  Simaltaneitftt,  die 
andere  wahrhafte  Relation,  alia  vera  relaiio,  qualis  est  conjunetio  (nnmum  in 
tnamento  eodem.  SimuUanea  enim  perinde  jungurUur  eodem  iemporis  momenio, 
quam  successiva  diversis.  Dieses  neue  Zeitverhältniss  muss  also  auch  be- 
rücksichtigt werden:  ideo,  quamquam  tempus  sit  unius  tantum  ditnenaionis, 
tarnen  ubiquitas  tetnporis  (tä  cum  Newtone  loquar),  per  quam  omnia  sensüUe 
cogitabilia  sunt  aliquando,  addit  quanto  actuaJium  alter  am  dimensionem, 
quatenus  veluti  pendent  ab  eodem  temporis  puncto,  Nam  si  tempus  designes 
linea  recta  in  infinitum  producta,  et  simuUanea  in  quolibet  temporis 
puncto  per  lineas  ordinatim  applicatas:  superficies  quae  ita  generatur,  reprae- 
sentabit  mundum  phaenomenon,  tam  quoad  substantiam,  tarn  quoad  aed- 
dentiam. 

Diese  Bestimmungen  der  Dissertation  bilden  eine  sehr  beachtens- 
werthe  Ergänzung,  welche  Kant  in  der  Kritik  seltsamerweise  fallen  Hess: 
vgl.  oben  S.  369.  (Vgl.  Max  Eyfferth,  lieber  die  Zeit  48  ff.)  Denn  das  liegt 
ja  auf  der  Hand,  dass  die  Veranschaulichung  der  Zeit  durch  eine  ins  Un- 
endliche verlaufende  Linie  ein  sehr  unvollständiges  Bild  derselben  gibt,  da  es 
nur  die  Zeitfolge  berücksichtigt,  während  doch  in  jedem  der  auf  einander 
folgenden  Zeitpunkte  eine  grosse  (vielleicht  ebenfalls  unendliche!)  Anzahl  von 
Ereignissen  zugleich  stattfindet.  Dies  will  Kant  also  in  der  Dissertation 
dadurch  veranschaulichen,  dass  auf  der  Zeitlinie  als  auf  der  Abscisse  Ordi- 
naten  angebracht  werden.  Dadurch  wird  aber  das  die  Zeit  veranschau- 
lichende Schema  aus  einer  Linie  =  Punktreihe  zu  einem  Streifen  oder  Band, 
oder,  wie  man  gemeinhin  sich  ausdrückt,  zu  einem  mehr  oder  minder 
breiten  Fluss,  der  unaufhaltsam  hinrollt,  und  auf  seinem  breiten  Wogen- 
rücken Vieles  zugleich  —  in  Einer  Querlinie  —  mit  sich  reisst.  Auch  Kant 
selbst  spricht  Anthr.  §  58  von  dem  „Strom  der  Zeit". 

Nun  spricht  K.  auch  in  der  Kr.  von  dem  Zugleichsein  als  einem 
modus  der  Zeit,  gleich  unten  B  67,  dann  bes.  A  177.  An  einer  anderen 
Stelle  A  182  aber  heisst  es  wieder  wie  hier :  „Das  Zugleichsein  sei  nicht  ein 
modus  der  Zeit  selbst,  als  in  welcher  gar  keine  Theile  zugleich,  sondern 
alle  nach  einander  sind.'^  Man  erkennt  somit,  dass  durch  Ks.  Zeitlebre  in 
der  Kritik  eine  tiefe  Unklarheit  sich  hindurchzieht  \  Mainzer  will  (Zeitschr. 
f.  Philos.  Bd.  93,  S.  98  ff.)  die  Schwierigkeit  dadurch  heben ,  dass  erst  die 
kategorial  bestimmte  Zeit  jenen  modus  des  Zugleichseins  an  sich  habe.  Diese 
Frage  (wie  auch  die  folgende)  kann  erst  in  der  Analytik  eingehend  besprochen 
werden;  hier  sei  dagegen  nur  so  viel  antecipirt:  1)  Die  Zeit  qua  sabjecfäve 
Function  von  uns  hat  nach  K.  nur  Succession,  aber  2)  qua  objective  Form 
der  Erscheinungen  hat  sie  auch  Zugleichsein.  Mit  der  ersteren  Be- 
stimmung hängt  der  fundamentale  Satz  der  Analytik  zusammen,   dass  alle 


^  Dazu  kommt  die  Unsicherheit  Ks.  über  den  3.  Modus  der  Zeit,  die  Daaer; 
nach  A  182  ist  sie  kein  eigener  Modus,  nach  A  177  ist  sie  einer,  nach  B  67  ist  sie 
aus  den  beiden  andern  Modis  zusammenc^esetzt. 


Kants  Schwanken  über  die  Simultaneität.  395 

[B  42.  H  67.  K  88.]  A  33.  B  50. 

^hensioD  des  Mannigfaltigen   stets  nur  successiv  sein  kann  (A  182. 

vgl.  A  98.  162). 

Es  hat  sich  nun  neuerdings  ein  Streit  darüber  erhoben ,  ob  Kant  nicht 

eine  simultane  Apprehension  lehre.  Gegen  St  Öhr  hat  Witte 
3ehauptet  und  sich  dabei  speciell  auf  die  hier  sich  findende  Wendung 
tzt,  dass  die  Theile  der  räumlichen  Linie  ,,zugleich  sind*'  (K.'scher 
3.   S.    12-13;    Zeitschr.   f.   Philos.   Bd.  94,   S.  255—276).     Mainzer 

O.)  sucht  nachzuweisen,  dass  diese  Wendung  jene  Auslegung  nicht 
sr endig  mache.  In  der  That  ist  diese  Wendung  als  solche  viel  zu  vag 
knap})  hiezu,  aber  andere  Stellen  Es.  können  es  uns  allerdings  nahelegen, 
K.  auch  eine  simultane  Apprehension  angenommen  habe,  aber  natürlich 

im  Widerspruch  mit  jenem  Lehrsatz.  Vgl.  oben  S.  260  f.  Vgl.  Spir, 
en  und  Wirkl.  I,  15.  152;  11,  10.  25,  welcher  darauf  hinweist,  dass 
i  die  Bezeichnung  des  Raumes  als  der  sinnlichen  Form  der  äusseren/ 
hauung  die  simultane  Wahrnehmung  einschliesse ;  sonst  hätte  Kant  nur 
1  dürfen  von  einer  „Disposition  des  Subjects,  den  successiv  gegebenen 
It  ins  Räumliche  zu  übersetzen".  Vgl.  Adickes  in  seiner  Ausg.  d.  Kr. 
366.  Kant  sagt  in  der  That  A  428  =  B  456  auch  ausdrücklich,  dass 
ein  begrenztes  Raumquantum  ,,ohne  successive  Sjnthesis  seiner  Theile 
in  Ganzes  anschauen".  Da  Kant  aber  in  der  Analytik  behauptet,  alle 
rehension  eines  Mannigfaltigen  könne  immer  nur  successiv  stattfinden, 
aben  wir  hier  somit  wieder  den  Fall,  dass  K.  Lehren,  welche  er  in  der 
hetik  (und  Dialektik)  aufgestellt  hat,  in  der  Analytik  zurücknimmt 
umändert '.    Ganz  so  wurde  ja  auch  schon  oben  S.  224  ff.  nachgewiesen, 

Kant  die  Raumanschauung,  welche  nach  der  Aesthetik  (und  Dialektik) 

fertige  ist,  in  der  Analytik  erst  durch  successiveSynthesen  entstehen 
.  Die  Analytik  in  der  Form,  in  der  sie  uns  in  der  ersten  Auflage 
liefert  ist,  ist  denn  auch  wahrscheinlich  der  zuletzt  ausgearbeitete  Theil 
ganzen  Werkes. 

Zum  Schluss  des  Absatzes  gibt  Kant  noch  einen  nachträglichen  Neben- 
eis für  die  Anschaulichkeit  der  Zeitvorstellung:   er  findet  ihn  in  dem 
i   besprochenen  Umstand,   dass   sich   ,,alle   ihre   Verhältnisse    an   einer 
eren  Anschauung  ausdrücken  lassen". 
Dritter  Absatz  (Schluss  c).    Der  Beweis  für  den  Satz,  dass  die 

die  formelle  Bedingung  a  priori  für  alle  Erscheinungen  überhaupt  ist, 
ebensowenig  als  der  vorige  Absatz  ein  „Schluss  aus  obigen  Begriffen", 


*  Nur  vom  Standpunkt  der  Analytik  aus  ist  es  daher  gerechtfertigt,  wenn 
eher  (2.  A.  340;  3.  A.  343)  bei  Kant  die  Antithese  ausführt:  «Wir  können  die 
mgrösse  nur  mit  Hülfe  der  Zeit,  und  die  Zeitgrösse  nur  mit  Hülfe  des  Raumes 
teilen."  Dass  wir  zur  Anschauung  des  Raumes  die  zeitlich  auf  einander  folgende 
thesis  der  Theile  bedürfen  (vgl.  auch  Morris,  Kant  66),  gilt  nach  der  oben 
^etheilten  Stelle  A  428  nur  für  ein  unbegrenztes  Raumquantum,  aber  nicht  für 
begrenztes. 


396  §  6.    Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Zeit. 

A  34.  B  50.  [B  43.  H  67.  E  84.] 

wenn  darunter  bloss  die  bekannten  fünf  Argumente  verstanden  werden, 
sondern  basirt  auf  der  schon  gleich  am  Anfang  A  23  getroffenen  vorläufigen 
Bestimmung:  „Aeusserlich  kann  die  Zeit  nicht  angeschaut  werden,  so  wenig 
wie  der  Baum  als  etwas  in  uns/  Vgl.  oben  S.  129.  Der  Baum  also  ist 
nur  auf  äussere  Erscheinungen  eingeschränkt,  (obwohl  er  nach  dem  vorigen 
Absatz  zur  Veranschaulichung  der  inneren  Anschauungsform  noth- 
wendig  ist).  Dass  die  Zeit  dagegen  ihr  Machtgebiet  nicht  bloss  auf  die 
inneren  ^  sondern  auch  auf  die  äusseren  Erscheinungen  erstreckt,  wurde 
schon  oben  in  der  „Transsc.  Erört.  der  Zeit*  in  Bezug  auf  die  Bewegung 
speciell  erwiesen,  und  wird  hier  allgemein  damit  bewiesen,  dass  ja  alle 
Vorstellungen,  also  auch  diejenigen,  welche  äussere  Phänomene  zum  Inhalt 
haben ,  ihrerseits  wiederum  qua  Vorstellungen  psychologische  Phänomene 
sind,  die  daher  auch  unter  die  Zeitform  fallen.  (Vgl.  hierüber  besonders 
Schneider,  Ps.  Entw.  d.  Apriori  S.  24  ff.  über  diese,  jener  Ueberordnung 
der  Zeit  zu  Grunde  liegenden  „psychologischen  Beobachtungen*.)  und  so 
stehen  auch  die  äusseren  Erscheinungen  unter  der  Bedingung  der  Zeit,  nur 
indirect,  nicht  direct,  wie  die  inneren.  (Vgl.  Einl.  in  die  Rechtslehre  I, 
Ros.  IX,  13.)  Damit  löst  sich  auch  der  scheinbare  Widerspruch  dieses 
Absatzes  mit  der  Behauptung  in  dem  vorigem  Absätze:  ,die  Zeit  kann 
keine  Bestimmung  äusserer  Erscheinungen  sein* ;  allerdings  kann  sie  es 
nicht  direct  sein,  wohl  aber  indirect:  den  äusseren  Erscheinungen  ist  das 
Raumverhältniss  das  Natürliche,  das  Zeitverhältniss  ist  nur  auf  sie  über- 
tragen —  was,  nebenbei  bemerkt,  sachlich  freilich  auf  unlösbare 
Schwierigkeiten  führt.  Strümpell,  Psychol.  Pädag.  8  erläutert  dies  im 
Sinne  Herbarts  so:  „Das  Bewusstsein  der  Zeitlichkeit,  d.  h.  des  Wechsels 
unserer  eigenen  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  gleitet  auch  auf  das 
räumliche  Bild  über,  dessen  Veränderung  niemals  als  ein  äusseres  Zeit- 
liches würde  zum  Bewusstsein  kommen  können,  wenn  nicht  ein  rein  Innerliches 
zuvor  als  ein  Zeitliches  vorgestellt  wäre." 

Schon  in  der  Dissertation  §  15  Cor  oll.  ist  das  mit  folgenden  Worten 
angedeutet:  Tempus  universali  atque  rationali  coneepiui  magis  appropinquat, 
complectendo  omnia  omnino  suis  respectibus,  nempe  spatium  ipsum  et  prae- 
terea  accidentia,  quae  in  relationibus  spatii  comprehensa  non  sunt,  tat  coffi* 
tationes  animi  {cogitationes  hier  im  Cartesianischen  Sinne,  womach  cogitare 
sämmtliche  Bewusstsein  szust  an  de  unifasst).  Damit  hängt  es  wohl  auch  zu- 
sammen, dass  Kant  in  der  Dissertation  die  Zeit  vor  dem  Räume  behandelte. 
In  der  Kritik  selbst  hat  Kant  dies  allerdings  aufgegeben.  (Vgl.  oben  S.  134. 
Vgl.  auch  J.  Weisz,  Ks.  Lehre  von  R.  u.  Z.  Diss.  Leipz.  1872,  S.  3 — 5.)  Die 
Umstellung  beider  in  der  Kritik  scheint  den  Grund  zu  haben ,  dass  die 
Argumente  für  die  reine  Anschauungsnatur  beim  Räume  unmittelbarer  ein- 
leuchten, als  bei  der  Zeit  (welche  ja,  wie  sich  oben  zeigte,  zu  ihrer  Veran- 


'  Den  Inbegriff  der  inneren  Erscheinungen  nennt  Kant  hier  „Seele*.     Vgl- 
hierüber  oben  S.  9  Anm.  2. 


Stellung  der  Zeit  im  Yerhältniss  zum  Räume.  397 

[B  43.  H  67.  K  84.]  A  34.  B  50. 

ilicbang  erst  noch  des  Raumes  bedarf);  auch  mochte  die  Idealität  der 
ren  Erscheinungen  für  Kant  wichtiger  sein,  als  die  der  inneren,  welch 
)re  ja  auch  viel  grössere  Schwierigkeiten  hat,  auch  von  Kant  (in  der 
leitslehre)  nicht  consequent  durchgeführt  wird. 

Nichtsdestoweniger  kann  die  Umstellung  insofern  befremden,  als  gerade 
ündamentale  Bedeutung  der  Zeitform  später  immer  stärker  hervortritt, 
sich  dieselbe  sogar  als  die  Grundlage  der  ganzen  Analytik  entpuppt, 
hat  Kant  in  der  ersten  Redaction  der  Transsc.  Deduction  der 
egorien  A  98  selbst  so  ausgedrückt:  „Unsere  Vorstellungen  mögen 
)ringen ,  woher  sie  wollen ,  so  gehören  sie  doch  als  Modificationen  des 
üths  zum  inneren  Sinn,  und  als  solche  sind  alle  unsere  Erkenntnisse 
:zt  doch  der  formalen  Bedingung  des  inneren  Sinnes,  nämlich  der  Zeit, 
rworfen,  als  in  welcher  sie  insgesammt  geordnet,  verknüpft  und  in  Yer- 
lisse  gebracht  werden  müssen.*'  —  Ueber  den  Zusammenhang  der  Zeit 
der  Lehre  vom  Schematismus,  sowie  mit  der  trausscend.  Apper- 
tion  später.  Auf  diese  noth wendige  Ergänzung  der  Tr.  Aesthetik  durch 
Tr.  Logik  in  diesem  Punkte  weist  bes.  auch  Cohen  hin  (S.  61.  85; 
..  191;  vgl.  181.  184). 

Der  Absatz  schliesst  mit  dem  Gedanken,  dass  daher  alle  Gegenstände 
Zeitgesetzen  unterworfen  sind,  d.  h.  mit  den  Zeitgesetzen  übereinstimmen 
sen,  ein  Gedanke,  welcher  in  der  Dissertation  §  14,  6  des  Weiteren  so 
geführt  ist:  „Quanquam  autem  tempus  in  se  et  absolute  posiium  sif  ens . 
finarium,  tarnen,  quatenus  ad  immutahilem  legem  sensibüium  qua  talium 
inet,  est  conceptus  verissimus  (vgl.  oben  S.  349),  et  per  omnia  possi- 
\  sensuum  objecta  in  infinitum  j^dtens  intuitivae  repraesentationis  conditio, 
i  enim  simtätanea  qua  talia  sensihus  obvia  fieri  non  possint,  nisi  ope  temporis, 
ftiiones  autem  non  sint,  nisi  per  tempus  cogitabiles  (vgl.  oben  S.  384),  patet: 
c  concept um  universalem  phaenomenorum  formam  contiyiere,  adeoque  omnes 
nundo  eventus  observäbiles ,  omnes  motus  omnesque  internas  vicissitudines 
pssario  cum  axiomatibus  de  tempore  cognoscetidis  partimque  a 
Is  pxpositis  consentire,  quoniam  nonnisi  sub  hlsce  conditionibus  sensuum 
cta  esse  et  coordinari  possunt. 

Zur  Sache  vgl.  A.  Krause,  Kant  wider  Fischer  78  ff.  88.  Dagegen 
Kirchmann,  Erl.  12,  welcher  meint,  dass  die  Zeit  auch  den  äusseren 
cheinuDgen  unmittelbar  zukomme;  (dagegen  Grapengiesser,  Erkl.  26  f.) 
3h  Trendelenburg,  Log.  Unters.  2.  A.  II,  164,  wendet  sich  gegen 
Argument  mit  folgenden  sehr  beachtenswerthen  Worten  :  „  Die  Kantische 
sieht  entfernt  sich  von  dem  gemeinen  Bewusstsein,  indem  sie  die  Zeit 
Dingen  der  äusseren  Anschauung  entzieht,  und  in  diese  nur  mittelbar 
einwirft,  wenn  sie  als  Erscheinungen  durch  den  inneren  Sinn  und  die 
jtände  der  Seele  hindurchgehen.  Nach  einer  solchen  Vorstellung  lässt 
1  nicht  einmal  das  Gesetz  des  Falles  verstehen ,  in  welchem  R.  u.  Z.  für 
i  fallenden  Körper  selbst  in  ein  bestimmtes  Verhältniss  treten,  noch  viel 
aiger   die    Entwicklung   des  organischen  Lebens,    das  sich  an  bestimmte 


398  §  6.    Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Zeit 

Ld4-36.B61— 53.[R  43.  44.  H  67.  68.  E  84.  85.] 

Stadien  des  Ablaufes  bindet.  Daher  setzt  die  gewöhnliche  Vorstellang  die 
Zeit  als  die  Dinge  bestimmend  und  regierend,  und  lässt  sie  in  den  Dingen 
ebenso  einwohnen,  wie  der  Kaum  dieselben  umfasst.  Wenigstens  müsste 
erklärt  werden,  wie  denn  durch  mittelbare  Uebertragung  die  Form  des  inneren 
Sinnes  jemals  als  unmittelbar  in  allen  Dingen  erscheinen  könne.  Diese  Er- 
klärung ist  nirgends  gegeben  worden."  Vgl.  dagegen  Arnoldt,  R.  u.  Z.  90, 
Grapengiesser  48  ff.  und  Cohen,  2.  A.  340  u.  343  über  diese  ,Ueber- 
ordnung  des  inneren  Sinnes  über  den  äusseren.'  Auch  Wundt,  Logik  I,  434 
opponirt  energisch;  vgl.  dagegen  Cohen  2.  A.  184.  Vgl.  auch  Lieb  mann, 
Anal.  d.  Wirkl.  80  ff. 

Vierter  Absatz«  Dieser  Absatz  entspricht  durchaus  der  ersten  grösseren 
Hälfte  des  dritten  Absatzes  beim  Räume;  vgl.  oben  S.  342  ff.  Nur  ist  hier 
stärker  als  oben  die  uns  schon  bekannte  Lehre  Kants  betont,  dass  unsere 
Anschauungsform,  die  eben  nur  uns  Menschen  „ eigen thümlich  ist',  eine 
sinnliche,  d.h.  aufAffection  beruhende  ist,  woraus  indirect  folgt,  dass  es 
also  auch  eine  nicht  auf  Affection  beruhende  geben  muss,  die  sog.  intellec- 
tuelle.  Vgl.  oben  S.  25.  Im  Uebrigen  haben  wir  hier  die  der  Raumtheorie 
genau  entsprechende  Begründung  der  absoluten  Subjectivität  *  der  Zeit  —  eine 
Lehre,  mit  welcher  Kant  den  früheren  Idealismus  eines  Leibniz  und  Berkeley 
weit  übertrumpft  *. 

Fünfter  Absatz.  Die  erste  grössere  Hälfte  dieses  Absatzes  enthält 
genau  dasselbe  wie  die  zweite  kleinere  Hälfte  des  dritten  Absatzes  beim 
Räume,  vgl.  oben  S.  349  ff.  Nur  Eine  ungenaue  Wendung  fällt  auf:  »Eigen- 
schaften der  Dinge  an  sich  können  uns  durch  die  Sinne  auch  niemals  ge- 
geben  werden*    —    als  ob   uns   die  Zeit  durch  ,die  Sinne  gegeben*,  und 


^  Man  beachte  die  genaue  Unterscheidung,  welche  Kant  selbst  trifft  zwisch^ 
„objectiver  Gültigkeit  in  Ansehung  der  Erscheinungen*'  und  ,objectiy,  wenn 
man  von  der  Sinnlichkeit  .  .  .  abstrahirt  und  von  Dingen  überhaupt  redet*.  Damit 
vergleiche  man  den  oben  S.  291  f.  besprochenen  Einwand  K.  Fischers  gegen 
Trendelenburg,  Kant  spreche  von  „objectiver"  Gültigkeit  immer  nur  im  empirischen 
Sinne!    (Vgl.  auch  oben  S.  349  Anm.) 

'  Die  Subjectivität  der  Zeit  hatte  eigentlich  auch  Spinoza  gelehrt,  der 
sie  für  eine  Folge  der  imaginath  erklärte.  Vgl.  Herder,  Gott,  1. — 3.  Gesprach. 
Vgl.  Kömer  an  Schiller  (Briefw.  I,  145):  „üeber  die  Zeit  dachte  Sp.  richtig.  Er 
sah  sie  für  eine  Bestimmung  abhängiger,  beschränkter,  veränderlicher  Wesen  an, 
deren  das  unabhängige  selbständige  Wesen  nicht  fähig  ist.  Eben  dieses  würde 
er  vom  Räume  eingesehen  haben,  wenn  die  Begriffe  über  das  Wesen  der  Materie 
zu  seiner  Zeit  mehr  aufgehellt  gewesen  wären. **  Vgl.  auch  Pollock,  Spinoza  18*5. 
394.  —  üeber  das  Verhältniss  zur  Aristotelischen  Lehre  vgl.  Eucken,  Meth.  d.  Ar. 
Forschung  24.  Vgl.  hierüber  auch  Schopenhauer,  W.  a.  W.  II,  40.  43;  Par.  I,  4.  68. 
90;  II,  43.  —  Die  Veranlassung  zu  der  Theorie  der  Phänomenalität  der  inneren 
Erscheinungen  nahm  K.  vermuthlich  aus  Leibnizens  Lehre,  dass  die  inneren 
Sinnesvorstellungen  nicht  minder  verworrene  Verstandesvorstellungen  sind  als  die 
äusseren,  wie  schon  in  Jacobs  Ann.  III,  397  angedeutet  wird.  Nach  Reinhold, 
Briefe  I,  243  soll  auch  schon  Locke  das  .ziemlich  bestimmt  angedeutet  haben!' 


Die  Subjectivität  der  Zeit  und  die  Einwände  gegen  dieselbe.  399 

[R  46.  H  69.  K  86.]  A  36.  B  58. 

vielmehr  reine,  also  nicht-gegebene  sinnliche  Anschauung  wäre!  (Eine 
irliche  Ausdeutung  und  Ausbeutun^f  der  wunderlichen  Stelle  ^  liefert 
Idt,  R.  u.  Z.  59.  101.  Vgl.  Massonius,  Aesth.  S.  63.)  —  Der  Schluss 
bsatzes  entspricht  ganz  dem  vierten  und  fünften  Absatz  beim  Baume, 
eiche  Kant  ja  auch  selbst  verweist.  Zum  Texte  ist  nur  noch  zu  be- 
D,  dass  es  offenbar  heissen  muss:  , ausser,  sofern  sie  bloss  empirisch 
.  i.  man  den  Gegenstand  selbst  bloss  als  Erscheinung  ansieht. **  Das 
fehlt  in  allen  Ausgaben.  —  Der  Ausdruck  ,8ubreptionen  der 
idung'^  (vgl.  oben  S.  356)  findet  sich  auch  in  den  Reflexionen  I,  1, 
jjvitium  subreptionis f  dadurch  man.  das  Wasser  kälter  als  die  Luft, 
ie  Keller  im  Sommer  wärmer  als  im  Winter  hält.*     Vgl.  ib.  S.  82. 

§  7. 
Erläuterung  zur  Zeittheorie  (Confxitatio  dubiorum). 

Torbemerkungen.    Die  Erläuterung  zur  Zeittheorie  ist  natürlich  nur 
beiden  ersten  Absätzen  des  §  7  enthalten;  die  beiden  letzten  Absätze 
)en   haben  damit   absolut  nichts  zu  schaffen.     (Bilharz,   Erl.  19  zieht 
ii'rig  zusammen.)     In  jenen  beiden  Absätzen  weist  nun  Kant  einen 
vurf  von   einsehenden    Männern**    gegen   seine  Theorie    zurück, 
jr    nur  deshalb    schon  in  der   1.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V.  berücksichtigt 
1  konnte,  weil  ja  Kant  jene  Theorie  schon  eilf  Jahre  früher  in  seiner 
tation   öffentlich    vorgetragen  hatte.    Er  hatte   dieselbe  einer  Anzahl 
elehrten  mitgetheilt,  von  denen  Einige  nicht  säumten,    ihre  Bedenken 
Kants  neue  Theorien  zu  äussern.    Besonders  Lambert  und  Mendels- 
thaten  dies  und  zwar  brieflich,  zur  grossen  Freude  von  Kant,  welcher 
im  21.  Febr.  1772  an  Herz  schreibt:    »Ein  Brief  von  Mendelssohn 
Li  am  her  t   verschlägt  mehr,    den  Verfasser   auf   die  Prüfung  seiner 
i  zurückzufuhren,  als  zehn  solche  Beurtheilungen  mit  leichter  Feder*  — 
9  nämlich,  zum  Aerger  Kants,  die  Gelehrtenzeitungen  von  Göttingen 
Breslau   gegen  die   im  Kantischen  Sinne  geschriebene  Schrift  seines 
gers  Marcus  Herz  („Betrachtungen   aus  der  speculativen  Weltweis- 
1771)  gebracht  hatten.     Jene  Einwände  dagegen  von  Mendelssohn  und 
jrt  waren  ihm  sehr  werthvoU;   und  ein   Einwurf  derselben  war  ihm 
wichtiger,   als  er  auch   von  Schultz  gemacht  wurde.     „Dieser  Ein- 
schreibt er  in  demselben  Brief  an  Herz,  „hat  mich  in  einiges  Nach- 
1  gezogen,  weil  es  scheint,  dass  er  der  wesentlichste  ist,  den  man  dem 
?griffe  machen  kann,   der  auch  Jedermann  sehr   natürlich    befallen 
—  was  Kant  wörtlich  auch  hier  in  der  Kr.  d.  r.  V.  wiederholt. 


*  Eine  ähnliche  seltsame  Wendung  fanden  wir  auch  oben  S.  873.  Vgl. 
lie  oben  S.  343  Anm.  3  angeführte  Stelle.  Sonst  betont  doch  Kant  aus- 
ch,  dass  die  Gegenstände  uns  nur  den  Stoff  „geben",  nie  aber  die  Form. 
}en  S.  66.  73  N.  91.  321. 


400  §  7.    Erläuterung  zur  Zeittheorie. 

A  36.  B  58.  [B  45.  H  69.  E  86.] 

Lambeirts  Einwand  in  seinem  Brief  an  Kant  vom  Anf.  Dec.  1770  (vgl. 
seine  Recension  über  Herz  in  d.  AUg.  D.  Bibl.  20,  228  oben  S.  142  f.)  lautet: 
„Alle  Veränderungen  sind  an  die  Zeit  gebunden,  und  lassen  sich  ohne  Zeit 
nicht  gedenken.  Sind  die  Veränderungen  real,  so  ist  die  Zeit  real, 
was  sie  auch  immer  sein  mag.  Ist  die  Zeit  nicht  real,  so  ist  auch 
keine  Veränderung  real.  Es  däucht  mich  aber  doch,  dass  auch  selbst 
ein  Idealist  wenigstens  in  seinen  Vorstellungen  Veränderungen, 
ein  Anfangen  und  Aufhören  derselben  zugeben  muss,  das  wirklich 
vorgeht  und  existirt.  Und  damit  kann  die  Zeit  nicht  als  etwas  Nicht- 
Reales  angesehen  werden. '  Diese  Realität  könne  freilich  nicht  näher 
bestimmt  werden;  sie  sei  etwas  Einfaches,  in  Absicht  auf  alles  übrige 
Heterogenes,  und  bleibe  am  besten  unbenannt,  undefinirt,  müsse  aber  ge- 
dacht werden.  Dauer  (nach  Lambert  der  der  Zeit  übergeordnete  Begriff) 
sei  von  der  Existenz  unzertrennlich,  möge  diese  Dauer  nun  eine  absolute 
(unendliche)  oder  (relative)  endliche  sein.  Endliche  Dauer  heisst  Lambert 
Zeit,  absolute  —  Ewigkeit.  Die  endlichen  Dinge  „sind  nach  der  Zeit  ge- 
ordnet, sofern  sie  anfangen,  fortdauern,  sich  ändern,  aufhören  etc.  Da  ich 
den  Veränderungen  die  Realität  nicht  absprechen  kann  ...  so 
kann  ich  .  .  .  auch  nicht  sagen,  dass  die  Zeit  .  .  .  nur  ein  Hülfsmittel  zum 
Behuf  der  menschlichen  Vorstellungen  sei."  Er  wiederholt  diesen  Gedanken 
nochmals:  Mit  den  Veränderungen  sind  auch  die  Zeit  und  Dauer 
etwas  Reelles.  Mit  der  Zeit  werden  auch  die  Veränderungen  zum  Schein. 
Sollte  aber  auch  Kants  Theorie  richtig  sein,  so  würden  Zeit  und  Baum  doch 
reeller  Schein  sein,  „wobei  etwas  zum  Grunde  liegt,  das  sich  so  genau 
und  beständig  nach  dem  Schein  richtet,  als  genau  und  beständig  die  geo- 
metrischen Wahrheiten  immer  sein  mögen.  Die  Sprache  des  Scheins  wird 
also  ebenso  genau  statt  der  unbekannten  wahren  Sprache  dienen.*  (.^ 
ständiger  Schein  ist  für  uns  Wahrheit,  wobei  das  zu  Grunde  Liegende  nie 
oder  nur  künftig  entdeckt  wird.")  Aber,  fügt  er  hinzu,  und  kehrt  damit 
zu  seinem  eigentlichen  Einwurf  zurück,  „ich  muss  doch  sagen,  dass  ein  so 
schlechthin  nie  trügender  Schein  wohl  mehr  als  nur  Schein  sein  dürfte.* 
Den  Einwand  Lamberts  rühmt  K.  auch  gegen  Herz  (a.  a.  0.)  noch  einmal 
besonders,  ebenso  noch  gegen  Bernoulli  (16.  November  1781),  dem  er  auch 
ausdrücklich  sagt,  dass  er  Lamberts  Einwand  in  seiner  Kritik  auf 
S.  36 — 38  beantwortet  habe.  (Aus  jener  Briefstelle  ist  zu  vermuthen, 
dass  wohl  auch  Sulz  er  ähnliche  Einwände  erhob.) 

Mendelssohn  schrieb  an  Kant  Ende  December  1770;  er  formulirt 
seinen  Einwand  folgendermassen :  „Dass  die  Zeit  bloss  Subjectives  sein  sollte, 
kann  ich  mich  aus  mehreren  Ursachen  nicht  bereden.  Die  Succession  ist 
doch  wenigstens  eine  nothwendige  Bedingung  der  Vorstellungen  endlicher 
Geister.  Nun  sind  die  endlichen  Geister  nicht  nur  subjectiv,  sondern  auch 
Objecte  der  Vorstellungen  sowohl  Gottes,  als  ihrer  Nebengeister,  mithin  die 
Folge  auf  einander  auch  als  etwas  Objectives  anzusehen.  Da  wir  übrigens 
in  den   vorstellenden  Wesen   und  ihren  Veränderungen  eine  Folge  zugehen 


Einwürfe  von  Lambert,  Mendelssohn,  Schultz  gegen  Kants  Zeittheorie.     401 

[B  45.  H  69.  E  86.]  A  36.  B  53. 

müssen,  warnm  nicht  auch  in  dem  objectiven  Muster  und  Vorbilde  der  Vor- 
stellungen in  der  Welt?**  Und  dazu:  „Die  Zeit  ist,  nach  dem  Leibniz,  ein 
Phänomen,  und  hat,  wie  ^lle  Phänomene,  etwas  Objectives  und  etwas  Sub- 
jectives.  Das  Subjective  davon  ist  die  Continuität,  die  man  sich  dabei  vor- 
stellt, das  Objective  hingegen  ist  die  Folge  von  Veränderungen,  die  von 
einem  Grunde  gleich  weit  entfernte  Rationata  sind.*  Vgl.  oben  S.  143  u.  320. 
(Vgl.  hiezu  die  übrigens  nicht  zutreffenden  Bemerkungen  von  v.  Kirchmann 
in  seinen  Erläuterungen  zu  Kants  Verm.  Sehr.  S.  59.) 

Johannes  Schultz,  der  spätere  Professor  der  Theologie  und  Mathe- 
matik in  Königsberg,  der  bekannte  Verfasser  der  1785  erschienenen  „Er- 
läuterungen über  des  HeiTn  Professor  Kant  Kr.  d.  r.  V.",  damals  noch 
Pastor  zu  Löwenhagen  bei  Königsberg,  nach  Kants  ürtheil  (a.  a.  0.)  „der 
beste  philosophische  Kopf,  den  ich  in  unserer  Gegend  kenne*,  recensirte 
Kants  Dissertation  in  den  Kanter'schen  „Königsbergischen  Gelehrten  und 
Politischen  Zeitungen",  94.  u.  95.  Stück  vom  22.  u.  25.  Nov.  1771,  S.  369—371 
u.  373—375.  (Vgl.  oben  S.  319.)  Nach  den  Mittheilungen  R.  ßeicke's, 
denen  diese  Notiz  zu  verdanken  ist,  äusserte  sich  Schulz  über  diesen 
Punkt  wörtlich  so :  „Uns  dünkt  zuvörderst,  dass  in  dieser  Materie  vor  allen 
Dingen  die  genaueste  Betrachtung  des  Unterschiedes  der  äusserlichen  und 
innerlichen  Empfindungen  unausbleiblich  nothwendig  ist,  welche  der  Herr 
V.  indessen  gänzlich  übergangen.  Daher  kommt  es,  dass  er  §  10  allen  in- 
tuitum  intellectualium  für  uns  unmöglich  hält.  Ein  Satz,  der  durch  die  ganze 
Abhandlung  zum  Grunde  liegt,  und  gleichwohl  unserer  Meinung  nach  un- 
erweislich ist.  Denn  vermöge  der  innerlichen  Empfindung  beschaut  die  Seele 
sich  selbst,  und  Alles,  was  gegenwärtig  in  ihr  vorgehet,  nämlich  sie  empfindet 
unmittelbar  die  Gegenwart  aller  Veränderungen,  die  in  ihr  wirklich  ge- 
schehen, sie  mögen  herrühren,  woher  sie  wollen,  und  entweder  Eindrücke 
von  äusseren  Dingen  oder  reine  Vorstellungen  des  Verstandes  oder  Volitiones 
sein,  und  ist  sich  daher  derselben  bewusst.  Dieser  intuitus  ist  deshalb 
nichtsdestoweniger  leidend,  denn  die  Seele  wird  hier  ebensowohl  von  der 
Gegenwart  der  inneren  Objecte  afficirt,  als  es  bei  der  äusserlichen  Empfindung 
von  der  Gegenwart  der  äusseren  geschieht." 

Den  Einwand  von  Schultz  referirt  Kant  selbst  in  dem  Briefe  an 
M.  Herz  vom  21.  Febr.  1772,  indem  er  ihn  als  identisch  mit  dem  Lam- 
bert'schen  anerkennt:  „Veränderangen  sind  etwas  Wirkliches  (laut  dem 
Zeugniss  des  inneren  Sinnes) ;  nun  sind  sie  nur  unter  der  Voraussetzung  der 
Zeit  möglich;  also  ist  die  Zeit  etwas  Wirkliches,  was  den  Bestimmungen 
der  Dinge  an  sich  selbst  anhängt.**  Diese  Kant  selbst  angehörige  Zusammen- 
fassung vom  Jahre  1772  stimmt  nun  fast  wortwörtlich  mit  der  hier  in  der 
Kritik  1781  gegebenen  Fassung  überein. 

In  demselben  Briefe   an  Herz   beantwortet  nun  Kant  den  Ein- 
wurf mit  folgenden  Worten:    „Es   ist  kein  Zweifel,   dass   ich  nicht  meinen 
eigenen  Zustand  unter  der  Form   der  Zeit  gedenken  sollte,   und  dass  also 
die  Form  der  inneren  Sinnlichkeit  mir  nicht  die  Erscheinung   von  Verände- 
Yaihinger,  Kant-Gommentar.    II.  26 


402  §  7.    Erläuterung  zur  Zeittheorie. 

A  36.  B  63.  [B  45.  H  69.  E  86.] 

rungen  gebe.  Dass  nun  Veränderungen  etwas  Wirkliches  seien,  leugne 
ich  ebensowenig,  als  dass  Körper  etwas  Wirkliches  sind,  ob  ich  gleich 
darunter  nur  verstehe,  dass  etwas  Wirkliches  der  Erscheinung  correspon- 
dire.  [Vgl.  oben  S.  350.]  Ich  kann  nicht  einmal  sagen,  die  innere  Er- 
scheinung verändere  sich  [d.  h.  verändere  sich  wirklich,  objectiv,  an  sich 
betrachtet];  denn  wodurch  wollte  ich  diese  Veränderung  beobachten,  wenn 
sie  meinem  inneren  Sinn  nicht  erschiene.** 

Diese  Beantwortung  des  gemeinsamen  Einwandes  wiederholt  eigentlich 
doch  nur  die  angegriffene  Behauptung;  denn  Kant  sagt  nur,  die  inneren 
Veränderungen  sind  bloss  als  Erscheinungen  wirklich,  haben  bloss  Er- 
scheinungsrealität; sie  werden  durch  das  Medium  des  inneren  Sinnes  wahr- 
genommen, sind  also  nicht  in  ihrem  wahren  Esse  uns  zugänglich.  Er  fugt 
hier  noch  eine  interessante  Bemerkung  hinzu.  „Wollte  man  sagen,  dass 
hieraus  folge:  Alles  in  der  Welt  sei,  objectiv  und  an  sich  selber,  unver- 
änderlich, so  würde  ich  antworten:  weder  veränderlich  noch  unveränder- 
lich ,  so  wie  Baumgarten ,  Metaphys.  §  18  sagt  * :  Das  absolut  Unmögliche 
ist  weder  hypothetisch  möglich  noch  unmöglich;  denn  es  kann  gar  nicht 
unter  irgend  einer  Bedingung  betrachtet  werden;  so  auch:  Die  Dinge  der 
Welt  sind,  objectiv  oder  an  sich  selbst,  weder  in  einerlei  Zustand  in  ver- 
schiedenen Zeiten  [d.  h.  unveränderlich],  noch  in  verschiedenem  Zustand 
[d.  h.  veränderlich] ;  denn  sie  werden  in  diesem  Verstände  gar  nicht  in  der 
Zeit  vorgestellt.^*  Diese  Bemerkung  beruht  auf  demselben  methodologischen 
Kunstgriff,  den  K.  in  der  Dialektik  angewendet  hat,  und  worüber  er  sich 
Kritik  A  502  ff.  und  ProL  §  52  b  und  §  52  c  des  Näheren  auslässt:  Zwei 
entgegengesetzte  Urtheile  sind  alle  beide  falsch,  wenn  ihre  Entgegensetzung, 
die  Disjunction,  auf  einer  falschen  Voraussetzung  beruht;  diese  falsche  Voraus- 
setzung ist  hier,  dass  die  Welt  an  sich  überhaupt  etwas  mit  der  2^it  zu 
schaffen  habe ;  denn  nur  unter  dieser  Voraussetzung  kann  ich  sagen ,  die 
Welt  an  sich  ist  entweder  unveränderlich  oder  veränderlich.  Diese  beiden 
*  Begriffe  setzen  aber  die  Zeit  voraus  (vgl.  die  obige  Umschreibung  beider). 
Nun  aber  hat  die  Welt  an  sich  mit  der  Zeit  überhaupt  nichts  zu  tfaun. 
Daher  ist  die  Folgerung,  die  Dinge  an  sich  seien  unveränderlich,  unstatthaft, 
eine  unerlaubte  Consequenz,  da  ja  eben  dieses  Urtheil  gegen  die  Voraus- 
setzung verstösst,  dass  die  Zeit  auf  die  Welt  der  Dinge  an  sich  überhau])t 
und  in  keiner  Weise  Anwendung  finde.  Der  ganze  Gedanke  ist  durchaus 
im  Sinne  der  Kritik  gehalten  und  kann  daher  als  Ergänzung  zur  Transsc. 
Aesthetik  gelten.  Auch  in  den  Reflexionen  finden  sich  Spuren,  dass  Kant 
über  das  Problem  nachgedacht  hat;  s.  11,  N.  885.  386.  418. 

Erster  Absatz.  Die  Beantwortung  des  Einwurfs  in  der 
Kritik  —  unterscheidet  sich  nun  nicht  unerheblich  im  Gange  von  der  vom 
Jahre  1772.    Damals  ging  K.  von  den  Veränderungen  aus  (dem  Untersatz 


*  Original :    ,y(thAolute    impossihiUa   nee   hypothetice  possibilia    ^unt    nee   im- 
possibilia/* 


Kant  beantwortet  die  Einwürfe  gegen  seine  Zeittheorie.  403 

[R  45.  H  69.  E  86.]  A37.B63.54. 

jenes  Einwandes)  und  gab  deren  Wirklichkeit  zu,  nur  ist  nach  ihm  diese 
Wirklichkeit  bloss  eine  Erscheinungsrealität.  Hier  geht  er  von  der  Zeit 
aus  (dem  Schlusssatz)  und  gibt  deren  Wirklichkeit  zu.  Allein  diese 
„Wirklichkeit  der  Zeit"  wird  nun  von  Kant  folgendermassen  commentirt: 
Die  Zeit  ist  wirklich;  sicher;  aber  diese  Wirklichkeit  kommt  hier  nicht 
der  Zeit  sammt  ihrem  ganzen  Inhalt  und  Reichthum  an  Veränderungen  zu, 
sondern  der  factisch  in  mir  liegenden  Vorstellungsfunction,  der  inneren  An- 
schauungsform. Die  Zeit  als  diese  Form,  als  diese  Function,  als  diese  sub- 
jective  Thätigkeit  —  diese  Zeit  ist  wirklich;  denn  ich  habe  diese 
Function  factisch.  Dies  der  Inhalt  des  ersten  Satzes.  Die  beiden 
folgenden  sind  Folgerungen  („also")  daraus:  „Sie  hat  also  subjective  Realität" 
u.  s.  w.  „Subjective  Realität"  ist  hier  nicht  identisch  mit  empirischer 
Realität  =  „Realität,  aber  nur  für  Erscheinungen",  sondern  nach  Ks.  eigener 
Erklärung  ist  dieser  Ausdruck  nur  eine  Ausführung  und  Folge  des  im 
ersten  Satze  Gesagten  und  heisst:  „Realität,  aber  nur  als  factisch  dem  Subject 
eigenthümliehe  Form."  Der  Satz  will  also  sagen:  in  meiner  inneren  Er- 
fahrung habe  ich,  finde  ich  die  Zeitvorstellung  als  eine  reell  dem  Subject 
angehörige  Form,  und  bin  mir  bewusst,  einen  Vorstellungsinhalt  in  ihr  (als 
Modificationen  meines  Subjects)  zeitlich  verlaufend  zu  haben.  Diese  for- 
melle Function  ist  eine  reelle  Thatsache  des  Bewusstseins.  Somit 
schlägt  hier  K.  den  Einwand  nicht  zurück  durch  eine  Wendung  des  Begriffs 
„Wirklichkeit"  =  empirische  Wirklichkeit  des  Vorgestellten,  wie  1772,  son- 
dern durch  Beziehung  der  Wirklichkeit  auf  die  Zeit  als  formelle  Function 
des  Vorstellen s.  Somit  wiederholt  die  Antwort  auch  hier  eigentlich  nur 
die  ursprüngliche  Behauptung,  dass  die  Zeit  subjectiv  sei ;  aber  das  erste  Mal 
sagt  Kant:  Die  Veränderungen  in  der  Zeit  sind  wirklich,  das  ist  aber 
nur  eine  Erscheinungs Wirklichkeit.  Das  zweite  Mal:  die  Zeit  ist  wirklich, 
aber  die  Zeit  nur  als  innerer  Sinn.  Dort  behauptet  er  die  blos  empirische 
Wirklichkeit  des  Zeit  Inhalts  gegenüber  der  Behauptung  der  absoluten 
Realität  desselben;  hier  behauptet  er,  die  Zeit  als  subjective  Form  sei 
wirklich,  gegenüber  der  Behauptung,  sie  sei  als  Ob  je  et  wirklich  und  darum 
sei  auch  ihr  Inhalt  wirklich.  Kant  stellt  Behauptung  gegen  Behauptung, 
nicht  aber  einen  Vertheidigungsgrund  gegen  einen  Einwand.  Seine  Meinung 
ist  jedoch  ganz  klar.  Aus  der  Wirklichkeit  der  Form  als  Form,  als  for- 
meller Function  leitet  K.  eben  die  Un Wirklichkeit  dieser  Form  im  Ver- 
bal tniss  zu  den  Dingen  an  sich,  ihre  Ungültigkeit  in  Bezug  auf  die  absolute 
Realität  ab,  sowie  die  nur  empirische  Wirklichkeit  derselben,  d.  h.  ihre 
Gültigkeit  für  die  Erscheinungen. 

Denselben  Inhalt  haben  auch  die  Anmerkungen  Kant's  hiezu  in  seinem 
Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge  XXIX  und  XXXI).  Dass  übrigens  diese 
Lehre  von  der  Idealität  der  inneren  Vorgänge  „befremdlich-auffallend*  sei, 
gibt  Kant  noch  in  den  Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  500  zu. 

Kant  gibt  nun  dazu  an  unserer  Stelle  hier  noch  folgende  Erläuterungen: 
Würde  diese,  wirklich  vorhandene  Vorstellungsform  nicht  von  mir  selbst 


404  §  7«    Erläuterung  zur  Zeittheorie. 

A  87.  B  54.  [R  45.  H  69.  E  86.] 

und  Anderen  zu  meinem  inneren  Vorstellungsiühalt  hinzugebracht,  dessen 
Bewusstsein  also  von  ihr,  d.  h.  von  der  Natur  des  inneren  Sinnes  abhängt, 
so  würde  das,  was  uns  sich  jetzt  als  zeitlich  verlaufende  Veränderungen 
darstellt,  sich  uns  jedenfalls  ohne  diese  Zeitform  geben,  die  nur  die  Be- 
dingung unserer  Sinnlichkeit  ist.  Da  sie  aber  die  Bedingung  unserer  Er- 
fahrungen ist,  so  ist  sie  nur  für  die  Erscheinungswelt  gültig,  nicht  für  die 
Welt  der  Dinge  an  sich. 

Dazu  fügt  die  Anmerkung  unter  dem  Text  folgendes  hinzu:  Aller- 
dings sind  meine  Vorstellangen  in  zeitlicher  Folge,  aber  das  sind  sie  nur 
für  mich,  für  mein  Bewusstsein.  Die  Zeitfolge  meiner  Vorstellungen 
ist  keine  letzte,  unbedingte  Realität,  sondern  sie  ist  bedingt  durch  meine 
innere  Vorstellungsform,  in  die  ich  den  Vorstellungsinhalt  erst  fasse.  Eben 
deshalb  ist  die  Zeit  nichts  Objectives,  weder  Substanz  noch  Accidens. 

Kant  schliesst  dann  den  Absatz  mit  folgenden  Erwägungen:  Nimmt 
man,  oder  vielmehr  nähme  man  von  der  inneren  Anschauung,  der  Anschauung 
der  Innenwelt  die  blos  unserer  Sinnlichkeit  angehörige  Bedingung,  d.  h.  eben 
die  Zeitform  weg,  so  hört  auch  damit  die  Rolle  des  Zeitbegriffs  überhaupt 
auf;  die  Zeit  hängt  nicht  an  den  Objecten  (auch  nicht  an  den  psychischen 
Objecten,  d.  h.  den  Subjecten  als  selbständigen  Wesen  betrachtet),  sondern 
nur  am  Subject,  das  diese  Objecte  (und  darunter  auch  sich  selbst)  vorstellt, 
eine  Vorstellung,  die  immer  durch  jene  Form  vermittelt  sein  muse,  die  sich 
zwischen  das  Object,  wie  es  an  sich  ist,  und  das  Subject,  das  die  Objecte 
sich  zum  Bewusstsein  bringen  will,  hineinschiebt. 

Eine  werthvolle  Ergänzung  hiezu  bieten  die  Erörterungen  in  den  Losen 
Blättern  I,  S.  98—100  über  den  paradoxen  Satz:  »Die  Zeit  ist  in  mir 
und  ich  bin  in  der  Zeit.  Das  continens  ist  zugleich  das  contentum^. 
„Die  Zeit  ist  als  ein  Inbegriff  von  Verhältnissen  in  mir,  d.h. 
ich  muss  mein  Dasejn  voraussetzen,  um  die  Zeit  (als  Bestimmung  dieses 
meines  Daseyns)  denken  zu  können.  Gleichwohl  sage  ich  doch  auch:  ich 
bin  in  derZeit,  d.  h.  ich  muss  die  Zeit  voraussetzen,  um  sie  durch  mein 
Daseyn  empirisch  bestimmen  zu  können.  Wäre  nun  mein  Daseyn  hier 
in  derselben  Bedeutung  zu  verstehen,  so  wäre  hierin  ein  Widerspruch. 
Also  muss  mein  Daseyn,  welches  ich  voraussetze,  in  anderer  Bedeutung  ge- 
nommen werden,  als  eben  dasselbe,  wenn  ich  es  nur  als  Bestimmung  der 
Zeit  betrachte."  Also  müsse  mein  Dasein  als  eines  Dinges  an  sich  unter 
schieden  werden  von  meinem  Dasein  als  Erscheinung;  jenes  Ding  an  sieh 
ist  „nicht  in  der  Zeit  bestimmt*  und  „unerkannt*,  aber  bei  dieser 
Erscheinung  „muss  die  Zeit  vorausgesetzt  werden,  mich  als  mein  Daseyn  zu 
bestimmen.*  „Das  erste  bedeutet:  alle  Dinge  ausser  mir  sind  Erscheinungen, 
denn  die  Bedingung,  ihr  Dasein  zu  bestimmen,  ist  in  mir;  das  zweite: 
Ich  selbst  bin  Erscheinung,  und  die  Zeit,  die  blos  in  mir  ist,  kann  nur  mir 
selbst  zur  Bedingung  dienen,  sofern  ich  mein  reines  Ich  davon  unterscheide.* 
„Also  dass  ich  in  der  Zeit  bin,  welche  doch  ein  blosses  Verhältniss  in  mir 
ist,  folglich  das  confinefis  ein  contenium  und  ich  in  mir  selber  bin,  das  zeigt 


Kant  findet  seine  Gegner  im  vulgären  Idealismus  befangen.  405 

[R  45.  46.  H  69.  E  86.  87.]  A37.d8.B54. 

schon  an,  dass  ich  mich  in  zweifacher  Bedeutung  denke."  Vgl. 
hiezu  die  oben  S.  129  gegebenen  Ausführungen. 

Die  Vorstellung  der  Zeit  als  einer  formalen  Function  des  trans- 
scendentalen  Subjects  muss  übrigens  leicht  zu  dem  Einwände  führen ,  dass, 
da  diese  Function  doch  selbst  vom  Sabject  jetzt  und  dann,  also  zeitlich 
ausgeübt  werde,  die  Ausübung  der  Function  selbst  seitens  des  Subjects  die 
Realität  der  Zeit  voraussetze.  Man  müsste  sich  also  die  Ausübung  dieser 
Function  selbst  ausserzeitlich  vorstellen,  was  aber  ohne  Widerspruch  doch 
auch  nicht  denkbar  ist. 

Gegen  die  „spitzfindige  Art**,  auf  die  sich  Kant  dem  obige;i  Einwurf 
, entwindet"  vgl.  Spicker,  Kant  70  f.,  und  bes.  Laas,  Analogien  S.  270 
bis  274,  der  seine  ausführliche  Kritik  dahin  zusammenfasst:  „Was  Kant 
seiner  Entgegnung  als  Bericht  über  die  ihm  entgegenstehende  Ansicht  zum 
Grunde  legt,  erschöpft  Lamberts  Einwände  nicht;  und  was  er  davon  mit- 
theilt, widerlegt  er  nicht  ausreichend."  Vgl.  auch  Bilh  arz,  Erläuterungen  169. 
Eine  ausführliche,  treffende  Kritik  liefert  auch  Spir,  Denken  u.  Wirklich- 
keit I,  263  ff.  (2.  A.  I,  207  ff.):  „Kant  unterschied  nicht  die  Vorstellung 
selbst  als  einen  objectiven  Vorgang  von  demjenigen,  was  in  ihr  vorgestellt 
wird".  Aehnlich  Döring,  in  Viert,  f.  wiss.  Phil.  1890,  400  ff.  Berg- 
mann, Metaph.  293  ff.  —  Vgl.  Cohen,  2.  A.  329. 

Zweiter  Absatz.  Im  zweiten  Absatz  sucht  Kant  die  Ursache 
festzustellen,  weswegen  dieser  Einwurf  gegen  die  Idealität  der.  Zeit  von 
Vielen  so  einstimmig  gemacht  wird,  trotzdem  doch  von  denselben  gegen  die 
Idealität  des  Raumes  nichts  Einleuchtendes  eingewendet  wird,  und  hofft 
durch  Aufdeckung  jener  Ursache  auch  den  Einwand  ein  für  allemal  abzu- 
schneiden. Schon  in  dem  mehrfach  erwähnten  Briefe  an  Herz  ging  er  so  vor: 
„Warum  (sagte  ich  zu  mir  selber)  schliesst  man  nicht  diesem  Argumente 
parallel:  Körper  sind  wirklich  (laut  dem  Zeugniss  der  äusseren  Dinge);  nun 
sind  Körj.er  nur  unter  der  Bedingung  des  Raumes  möglich;  also  ist  der  Raum 
etwas  Objectives  und  Reales,  was  den  Dingen  selber  inhärirt?  Die  Ur- 
sache liegt  darin,  weil  man  wohl  bemerkt,  dass  man  in  Ansehung  äusserer 
Dinge  aus  der  Wirklichkeit  der  Vorstellungen  auf  die  der  Gegen- 
stände nicht  schliessen  kann;  bei  dem  inneren  Sinne  aber  ist  das  Denken 
oder  das  Existiren  des  Gedankens  und  meiner  Selbst  einerlei."  Vgl.  dazu 
B.  Erdmann  in  den  Phil.  Mon.  1833,  S.  136  f. 

Die  Ursache  jener  ungleichen  Behandlung  von  Zeit  und  Raum  seitens 
seiner  Gegner  findet  Kant  in  der  Befangenheit  derselben  in  den  Vorurtheilen 
des  vulgären  oder  problematischen  Idealismus.  *  Gegen  diesen  wendet  er  sich 
ja  auch  später,  Kritik  A  367  ff.,  B  275  ff.,  und  macht  daselbst  diesem  ge- 
meinen Idealismus  auch  denselben  Vorwurf  der  ungleichen  Behandlung  der 


*  Vgl.  B.  Erdmann,  Ks.  Proleg,  LXXVIl.  K.  gebraucht  hier  den  Auedruck 
Idealismus  noch  ganz  im  hergebrachten  Sinne  ohne  jeden  Zusatz.  Vgl.  Strassb. 
Abhandl.  1884,  S.  115. 


406  §  7.    Erläuterung  zur  Zeittheorie. 

A  88.  B  55.  [R  46.  H  70.  E  87.] 

äusseren  und  der  inneren  Erscheinungen.  Die  gemeinen  Idealisten  glauben, 
die  Wirklichkeit  äusserer  Gegenstände  sei  nicht  streng  zu  beweisen,  die 
inneren  Vorgänge  dagegen  seien  unmittelbar  sicher.  {Cogito ,  ergo  sttm.  D» 
oninibus  aliis  dubitandum).  Den  inneren  Vorgängen  schreiben  jene  falschen 
Idealisten  eine  primäre  und  apodiktische  Sicherheit  zu,  die  Realität  der 
Aussen  weit  erscheint  ihnen  dagegen  als  problematisch,  ja  es  erscheint  ihnen 
wohl  möglich,  dass  es  in  Wahrheit  äussere  Gegenstände  gar  nicht  gibt,  dass 
diese  blosser  „Schein"  sind. 

Was  Kant  sonst  gegen  diese  ihm  höchst  antipathische  Form  des  Idea- 
lismus einyvendet,  ist  an  den  genannten  Stellen  nachzusehen.  Hier  begnügt 
Kant  sich  einfach  darauf  hinzuweisen ^  dass  dieser,  seinen  Zeitgenossen  ge- 
läufige, aber  darum  nicht  minder,  ja  vielmehr  eben  darum  um  so  eher 
falsche  Gedankengang  es  ist,  aus  dem  jene  Bekämpfung  seiner  Lehre  stammt. 
Darauf  weist  er  auch  A  491  hin,  wo  er  dem  „längst  so  verschrieenen  em- 
pirischen Idealismus"  vorwirft:  „was  die  Erscheinungen  des  inneren  Sinnes 
in  der  Zeit  betrifft  an  denen,  als  wirklichen  Dingen,  findet  er  keine 
Schwierigkeit;  ja  er  behauptet  sogar:  dass  diese  innere  Erfahrung  das  wirk- 
liche Dasein  ihres  Objects  (an  sich  selbst),  (mit  aller  dieser  Zeitbestim- 
mung), einzig  und  allein  hinreichend  bestimme."  (Vgl.  Beck,  Standpunkt  246.) 

Dieser  falsche  Idealismus  unterscheidet  nicht  zwischen  „Schein*  und 
„Erscheinung",  und  hat  eben  deshalb  nicht  den  richtigen  Begriff  von  „Er- 
scheinung", im  Unterschied  von  den  Dingen  an  sich.  Kant  setzt  seinen 
eigenen  Idealismus,  welcher  zwischen  Erscheinung  und  Ding  an  sich  den 
richtigen  Schnitt  macht,  jenem  falschen  Idealismus  entgegen.  Während 
dieser  letztere  die  apodiktische  Wahrheit  und  Gewissheit  der  Innenwelt 
schroff  von  der  problematischen  Natur  der  Aussenwelt  trennt,  erkennt  eben 
der  wahre  Idealismus  in  Beiden  nur  Erscheinungen,  aber  Erscheinungen,  welchen 
reale,  wenn  auch  unbekannte  (oder  wenigstens  „ihrer  Beschaffenheit  nach 
problematische")  Dinge  an  sich  entsprechen.  Trotzdem  sie  aber  nur  Er- 
scheinungen sind,  ist  ihre  Wirklichkeit  als  Vorstellung  in  uns  unbestreitbar, 
d.  h.  als  Modificationen  unseres  Subjects,  das  beide  Vorstellungsweisen  gleich- 
berechtigt und  gleich  gewiss  in  sich  entwickelt,  und  beiden  seine  subjectiven 
Formen  aufprägt,  die  ihnen  daher  auch  in  diesem  Sinne  „wirklich  und  noth- 
wendig  zukommen."  Weitere  Erläuterungen  hierüber  bei  Meilin,  III,  846. 
Erläuternd  bemerkt  auch  Körner  an  Schiller  II,  136.  „Ohne  die  Zeit 
\  würde  der  Mensch  zwar  sein,  aber  nicht  erscheinen.   Nicht  seine  Wirk- 

lichkeit,, sondern  seine  Erscheinung  ist  von  der  Bedingung  der  Zeit  ab- 
hängig." —  »Der  Mensch  ist  nicht,  sondern  erscheint,  wenn  er  sich 
verändert. " 

Bemerkenswerth  ist  in  diesem  Passus  die  Wendung,  dass  „die  Be- 
schafl'enheit  der  Objecte  an  sich  jederzeit  problematisch  bleibe*.  Es 
stimmt  dies  nicht  ganz  dazu,  dass  Kant  bisher  den  Dingen  an  sich  doch 
ganz  apodiktisch  die  Bäumlichkeit  und  Zeitlichkeit  abgesprochen  hat. 
Nach  dieser  Stelle  müsste  er  aber  sagen:  man  kann  ihnen  jene  Eigenschaften 


Der  falsche  und  der  wahre  Idealismus.    Schein  und  Erscheinung.        407 

[R  46.  H  70.  K  87.]  A  38.  B  55. 

weder  zu-  noch  absprechen.   Vgl.  oben  S.  312.   Dieses  Schwanken  ist  immer- 
hin sehr  der  Beachtung  werth. 

Der  Schluss  des  Absatzes   enthält   aber  jedenfalls  die   Anerkennung, 
dass  jedem  einzelnen  Erscheinungsgegenstand  je  ein  Ding  an  sich  entspreche. 
Es  liegt  darin,  wie  B.  Er  dm  an  n,  S.  6,  Proleg.  XLV  sich  ausdrückt:  „die 
Voraussetzung   einer  Vielheit   wirkender  Dinge   an  sich,   deren  jedes 
einer  bestimmten  Erscheinung  entspricht.*    Diese  natürliche  Auslegung  der 
Stelle   hat  Amol  dt   in   seiner  Gegenschrift  S.  47 — 53   angefochten.     (Vgl. 
oben  S.  6—9.)     Nach  ihm  ist  diese  Stelle  „kein  Beleg"  für  jene  Auffassung. 
Man  könne,  nach  Kants  sonstigen  Erklärungen,  über  das  den  Erscheinungen 
zum  Grunde  Liegende  nichts  aussagen,   weder  Dasein,    noch  Vielheit,  noch 
Causalität  u.  s.  w.     Er   gesteht   aber  dann  doch  nicht  blos  zu,    dass  Kants 
Ausdrücke   hier    „gewagt"  seien  —  denn   sie  enthalten  ja  gerade  das,   was 
Arnoldt  als  unkantisch  ansetzt  —  sondern  er  gibt  dann  im  Verlaufe  seiner 
Erklärung   doch   wieder  die  angefochtene  Sache  selbst  zu,    so  dass  sein 
Einwand    in   sich  selbst  zusammenfällt.     Uebrigens  findet  sich  eine  ähnliche 
falsche  Auslegung  der  Stelle  schon  bei  Meilin,  III,  847,  welcher  —  ganz 
im  Gegensatz  zum  Wortlaut  der  Stelle  bei  Kant  selbst  —  hier  die  Ansicht 
findet:  „Der  Gegenstand  mit  allen  seinen  Beschaffenheiten  ist  problema- 
tisch,   man  kann  nicht  entscheiden,   ob  er  wirklich  oder  auch  nur  möglich 
ist.*    Nach  dem  Wortlaut  und  Sinn  Kants  ist  nicht  die  Existenz,  sondern 
die  Beschaffenheit  des  Gegenstandes  an  sich  „problematisch*;  wenn  er 
jenes   meinen   würde,    würde    sein  Gegensatz   von   Ding   an   sich    und  Er- 
scheinung ja    auch    ganz    sinnlos    werden;    diese    Unterscheidung   ist    aber 
durchaus  ernst  gemeint  und  „in  dieser  Unterscheidung  liegt  der  Schwer- 
punkt der  Kantischen  Philosophie*  (Spicker,  Kant  S.  12).   Kant  sagt  hier 
genau  dasselbe,  was  er  in  der  Vorrede  B.  XXVII  so  ausdrückt:  „Die  Kritik 
lehrt   das   Object   in   zweierlei   Bedeutung   nehmen,    nämlich   als   Er- 
scheinung, oder  als  Ding  an  sich  selbst."     Vgl.  Riehl,   Kritic.  I,  10,  313. 
Es    ist   selbstverständlich,    dass   auch  diese    „Erläuterung*  der  Lehre 
von  der  Idealität  der  Zeit  keinen  Eingang  verschaffen  konnte.   Gerade  gegen 
diese  Lehre    erhob   sich   von  Anfang  an  —  man  möchte  sagen  —  ein  Ent- 
rüstungssturm. Was  in  den  „Kritischen  Beiträgen  zur  Gesch.  d.  Gelehrs."  1789, 
IV,  1,  S.  262  gesagt  wurde,  war  im  Sinne  der  meisten  Leser  gesprochen  und 
gilt  noch  heute:  „Dies  ist  Etwas  von  dem  allerabenteuerlichsten  in  der  ganzen 
Welt,  und  musste  die  Philosophen  nothwendig  an  sich  selbst  irre  machen." 
Vortrefflich  und  von  dauernder  Gültigkeit  sind  die  Einwendungen  von 
Pistorius,    dem   Recensenten    in    der  A.  D.  B.    gegen    die   Idealität    der 
inneren  Erscheinungen ;  es  ist  seitdem  nichts  Besseres  dagegen  gesagt  worden. 
Er  führt  (daselbst  59,   845)  aus:    Dann  wäre  nichts  als  Schein  da,   und  es 
bliebe  kein  reelles  Object  übrig,   dem   etwas  erschiene.     „Wie  ist    es  zu 
denken,   dass  Vorstellungen,   die  man  doch  immer  als  reell  oder  als  Dinge 
an  sich  selbst  voraussetzen  muss,   wenn  man  überhaupt  erklären  will,   wie 
ein  Scheinen  möglich  sei,  selbst  nur  ein  Schein  sein  können,  und  was  das- 


408  §  '7*    Erläuterung  zur  Zeittheorie. 

A  38.  B  65.  [B  46.  H  70.  E  87.] 

jenige  dann  ist,  wodurch  und  warum  dieser  Schein  existire?'  Derselbe  nennt 
(ib.  66,  93)  dies  die  beträchtlichste  Schwierigkeit,  die  er  in  Kant 
fand.  „Wie  ist  überhaupt  Schein  möglich,  wenn  das,  wodurch  alles  Scheinen 
möglich  wird  (was  folglich  immer  vor  allem  Schein  vorausgesetzt  werden 
muss  und  also  nicht  selbst  Schein  sein  kann),  mit  einem  Wort,  wenn  Vor- 
stellung und  Denken  selbst  Schein  sein  sollten?*  Er  fuhrt  das  weiter  so 
aus:  Nach  K.  sind  die  Vorstellungen  nicht  wahre,  d.  h.  mit  dem  Subjeet 
gleichartige  Wirkungen  desselben,  sondern  nur  scheinbare  Wirkungen,  d.  h. 
nur  solche,  wie  sie  einem  dritten  Subjeet  erscheinen,  oder  wie  dieses  dritte 
Subjeet  sie  sich  vorstellt.  So  verlieren  wir  uns  von  einem  Schein  in  den 
anderen,  und  gerathen,  was  selbst  unsere  individuelle  Existenz  betrifiFt,  in 
eine  so  missliche  und  schwebende  Lage,  dass  wir  uns  an  nichts  halten  nnd 
auf  nichts  fussen  können.  „Die  Existenz  des  inneren  Subjects  wird  ebenso 
problematisch,  als  die  der  äusseren  Objecte.  Es  kann  also  nach  diesem 
Systeme  sehr  wohl  sein,  dass  es  nichts  als  Schein  bis  in's  Unendliche 
gibt.  Was  wir  nach  gemeinem  Sprachgebrauch  unsere  Seele  nennen,  ist 
dann  nur  ein  logisches,  d.  h.  scheinbares  Subjeet,  nicht  eine  wahre  für  sich 
bestehende  Substanz  —  ein  Fluss  von  Vorstellungen,  der  ent- 
springt, man  weiss  nicht  woher,  strömt  fort,  man  weiss  nicht 
für  wen  und  wozu,  und  fliesst  ab,  man  weiss  nicht  wohin? 
Wodurch  sollen  die  Vorstellungen  Schein  werden?  Durch  eine  neue  Vor- 
stellungskraft. Aber  wenn  diese,  um  auch  Erscheinung  zu  sein,  einer  neuen 
Vorstellungskraft  bedarf,  so  erhalten  wir  einen  regressus  in  infinitum^*. 
Vgl.  hiezu  B.  Erdmann,  Kriticismus  106—107. 

Gegen  die  Subjectivität  der  Zeit  wendet  sich  auch  Ulrich,  Inst. 
§  238,  239.  Erscheinungen  sind  nichts  anderes  als  gewisse  Vorstellungen, 
in  einem  Bewusstsein  vereinigt,  mithin  sind  sie  ohne  ein  Bewusstsein, 
welchem  sie  erscheinen,  gar  nichts.  Unser  Bewusstsein  selbst  kann  keinem 
anderen  Bewusstsein  erscheinen,  sei  also  ein  Ding  an  sich.  Nun  sei  in 
unserem  Bewusstsein  Succession,  also  sei  die  Zeit  objectiv.  Selbst  der 
vollkommenste  Verstand  müsse  die  successiven  Thätigkeiten  unseres  Ver- 
standes als  successive  anschauen.  Vgl.  oben  S.  146.  305.  Vgl.  hieiüber 
auch  Abicht's   Philos.  Journal  II,  194  flF. 

Unter  denjenigen,  welche  in  neuerer  Zeit  ähnliche  Einwände  erhoben 
haben  (z.  B.  Trendelenburg,  E.  v.  Hartmann  u.  A.)  sei  noch  auf  Riehl 
hingewiesen.  Er  sagt  (Krit.  I,  354):  „Vielleicht  liegt  in  diesem  von  Kant 
nicht  genug  aufgehellten  Punkte  [spec.  ist  die  Lehre  vor  der  Zeit  als 
Schema  gemeint]  der  Anstoss,  den  Viele  an  seiner  Idealitätslehre  der  Zeit 
nehmen,  welche  die  Idealitätslehre  des  Raumes  in  der  Hauptsache  richtiiT 
finden.  Vom  Räumlich- werden  der  Empfindungen  in  der  Vorstellung  lässt 
sich  ein  deutlicher  Begriff  gewinnen,  nie  aber  vom  Zeitlich-werden  der  Vor- 
gänge erst  in  der*  Auffassung.  Der  Wechsel  der  Vorgänge  wird 
nicht  im  formalen  Bewusstsein  erzeugt,  sondern  ist  dem- 
selben gegeben.**  —  Vgl.  auch  Lazarus,  Ideale  Fragen  181  ff. 


Alte  und  neue  Einwände  gegen  Kants  Zeittheorie.  409 

[R  46.  H  70.  K  87.]  A  38.  B  5B. 

Gegen  die  Idealität  der  Zeit  drängt  sich  aber  besonders  folgender, 
übrigens  auch  von  Lotze  angedeuteter  Einwand  auf:  Während  die  Idealität 
des  Kaumes  immer  noch  eine  caasale  Welterklärung  möglich  macht,  ist 
eine  solche  bei  der  Idealität  der  Zeit  völlig  ausgeschlossen.  Wenn  das 
absolut  reale  Sein  und  Geschehen  nicht  mehr  zeitlich  gedacht  werden  soll, 
so  hört  überhaupt  alle  Möglichkeit  auf,  sich  die  Welt  und  die  Weltgeschichte 
begreiflich  zu  machen.  Wenn  aber  andererseits  die  Antinomien  wiederum 
die  Annahme  der  Objectivität  der  Zeit  verbieten,  so  ist  aus  Beidem  zusammen 
zu  schliessen,  dass  sowohl  die  übliche  Vorstellung  der  Objectivität  der  Zeit, 
wie  die  Kantische  Lehre  ihrer  Subjectivität  gleichermassen  unzulänglich  sind. 

Die  Idealität  der  Zeit  ist  denn  auch  von  den  W^enigsten  der  Kantianer 
ernstlich  durchgeführt  worden.  Auch  solche,  welche  dem  Phänomenalismus 
sonst  nicht  abgeneigt  waren,  wie  z.  B.  Lotze,  nahmen  die  volle  Objectivität 
der  Zeit  an  (Metaph.  S.  297);  vgl.  oben  S.  325.  Nur  Schopenhauer  hat 
gerade  diese  Lehre  Kants  mit  Energie  aufrecht  erhalten  und  mit  neuen  Gründen 
zu  stützen  gesucht.  In  dem  ^Versuch  über  Geistersehen"  (Par.  I,  305)  hat  er 
sich  sogar  gelegentlich  auf  die  Natur  gewisser  Träume  berufen,  in  denen 
wir  aus  Anlass  eines  objectiv  zufälligen  ümstandes  eine  lange  Geschichte 
träumen,  deren  Ende  eben  mit  jenem  Umstand  abschliesst.  Diese  „empirische 
Bestätigung*  der  Idealität  der  Zeit  hat  Du  Prel  weiter  ausgeführt  in 
seinem  originellen  „Oneirokritikon",  Deutsche  Viertjschr.  1869,  II,  188 — 241. 

K.  Fischer,  Kritik  der  K.  Phil.  10  ff.  schildert  und  bekämpft  die 
aus  »der  natürlichen  Weltansicht"  erhobenen  Einwürfe:  »Weil  die  Aesthetik 
behauptet,  dass  ß.  u.  Z.  blosse  Anschauungen  der  menschlichen  Vernunft 
und  unabhängig  von  dieser  nichts  sind,  ist  sie  unter  allen  Kantischen  Lehren 
den  in  unserer  natürlichen  Denkweise  festgewurzelten  Bedenken  am  meisten 
ausgesetzt  gewesen.  Demnach  können,  wie  es  scheint,  R.  u.  Z.  in  die  Welt 
erst  mit  unserer  Vernunft,  also  mit  dem  Dasein  der  Menschheit  eintreten, 
und  weder  vor  deren  Entstehung  gegeben  sein,  noch  nach  deren  Unter- 
gange  fortdauern.  Nun  müssen  wir  uns  das  Menschengeschlecht  als  ent- 
standen und  vergänglich  vorstellen,  während  wir  das  Universum,  das  die 
Bedingungen  des  Ursprungs  wie  der  Zerstörung  der  Erde  und  ihrer  Be- 
wohner in  sich  enthält,  unmöglich  ohne  R.  u.  Z.  vorstellen  können.  Es 
erscheint  daher  höchst  ungereimt,  jene  beiden  Grundbedingungen  alles 
natürlichen  Daseins  in  die  Einrichtung  und  die  Schranken  der  menschlichen 
Vernunft  einschliessen  zu  wollen,  als  ob  sie  deren  Besitz  und  Monopol 
wären.  Hat  doch  Kant  selbst,  bevor  er  seine  neue  Lehre  von  der  Idealität 
von  R.  u.  Z.  einführte,  die  mechanische  Entstehung  und  Entwicklung  des 
Kosmos,  die  Naturgeschichte  des  Himmels,  der  Erde  und  ihrer  organischen 
Geschöpfe  gelehrt.  Mit  dieser  entwicklungsgeschichtlichen  Welt- 
ansicht steht  nun  die  idealistische  Lehre  von  R.  u.  Z.  allem  Anscheine 
nach  im  offenbarsten  Widerstreite.  Freilich  muss  der  Philosoph  diesen  Wider- 
streit nicht  empfanden  haben,  da  er  ihn  nirgends  zum  Gegenstande  einer 
besonderen   Erörterung   und   Aufklärung   gemacht   hat.     Indessen  beharren 


410  §  7.    Erläuterung  zur  Zeittheorie. 

A  38.  B  55.  [B  46.  H  70.  E  87.] 

jene  Einwürfe  des  natürlichen  Bewusstseins,  das  sich  mit  seinen  Vorstellan^en 
von  B.  u.  Z.  in  die  Kantischen  schlechterdings  nicht  zu  finden  weiss  .  .  . 
aber  Kants  Lehre  von  R.  u.  Z.  ist  die  Grundlage  seiner  Erkenntnisslebre 
und  der  Weg  zu  seiner  Freiheitslehre.  Man  wird  daher  von  der  kritischen 
Philosophie  nichts  übrig  behalten,  wenn  man  diese  Lehre  verwirft.' 

K.  Fischer  sucht  nun  eingehend  nachzuweisen,  dass  ^zwischen  Kants 
naturgeschichtlicher  Weltansicht  und  seiner  Vernunftkritik  kein  Widerstreit' 
bestehe.  Er  sucht  zu  zeigen,  dass  den  apriorischen  Weltbedingungen  Kants 
nur  irrthümlicherweise  anthropologische  oder  psychologische  Geltung  zuzu- 
schreiben sei;  der  naturgeschichtliche  Mensch,  wie  ihn  die  Anthropologie 
betrachtet,  sei  nicht  der  Eigenthümer  von  R.  u.  Z.;  »diese  sind  nicht  von 
ihm  abhängig,  sondern  er  ist,  wie  alle  Erscheinungen  überhaupt,  durch  sie 
bedingt.  Wenn  R.  u.  Z.  die  reinen  Anschauungen  der  menschlichen  Ver- 
nunft genannt  werden,  so  muss  man  wohl  unterscheiden,  in  welchem  Sinne 
dieses  Wort  zu  nehmen  ist:  es  bezeichnet  den  Menschen  als  das  Subject 
des  Erkennens,  nicht  als  eines  der  Erkenntnissobjecte.  Als  Subject 
alles  Erkennens  ist  unsere  Vernunft  die  Bedingung  aller  Objecte  überhaupt, 
der  gesammten  Sinnenwelt,  worin  im  Laufe  der  Zeit  das  natürliche  Menschen- 
geschlecht erscheint  und  sich  in  einer  Zeitfolge  entwickelt  .  .  .  Aber  das 
Subject  des  Erkennens  ist  nicht  in  der  Zeit,  sondern  diese  ist  in  ihm,* 
Aber  der  „natürliche"  Verstand  wird  doch  immer  wieder  sagen:  aber  .das 
Subject  des  Erkennens"  ist,  lebt  und  entwickelt  sich  doch  auch  in  der  Zeit, 
und  ist  in  seinem  Sein  und  Werden  abhängig  von  der  Existenz  und  Ent- 
wicklung des  naturgeschichtlichen  Objects.  Will  man  also  jenen  circulus 
vitiosus,  in  welchen  nach  Fischer  nur  Schopenhauer,  nicht  Kant  verfallen 
sei^  vom  Standpunkt  des  Letzteren  aus  selbst  vermeiden,  so  muss  man  mit 
Windel  band  in  seiner  Gesch.  d.  n.  Philos.  jene  Formen  nicht  dem  indi- 
viduellen, sondern  einem  „überindividuellen"  Ich  zuschreiben  (vgl.  oben  S.  12. 
49);  macht  man  aber  diese  Wendung,  so  kommt  man  ins  Spinozistische  Fahr^ 
wasser  und  wird  dem  Fichte'schen  Nebel  zugetrieben. 

Allgemeines  Resultat  der  Transseendentalen  Aesthetik. 

Der  ganze  folgende  Abschnitt,  welcher  beginnt:  „Zeit  und  Raum 
sind  dem n ach" \  bis  zum  Anfang  der  „Allgemeinen  Anmerkungen"  gehört 


^  Hiezu  bemerkt  A  dick  es:  „Uebrigens  zeigt  auch  das  demnach  des  ersten 
Satzes,  dem  in  dem  Vorhergehenden  jede  Beziehung  fehlt,  da«s  wir  es  hier  mit 
einem  späteren  Zusatz  zu  der  ganzen  Aesthetik  zu  thun  haben.'  Das  ^demnach* 
hat  allerdings  zu  dem  unmittelbar  hervorgehenden  Passus,  zu  der  Erläuterung  der 
Zeittheorie,  keine  Beziehung,  wohl  aber  zu  allem  demjenigen^  was  vorher  kam. 
Man  wird  also  vielmehr  darauf  schliessen  können,  dass  eben  der  Passus  zur  Er- 
läuterung der  Zeittheorie,  welcher  den  Zusammenhang  unterbricht,  später  ein- 
geschoben worden  ist.    Dass   es  nicht  der  folgende  Abschnitt  ist,   welcher  spater 


Das  aUgemeine  Resultat  der  Transsc.  Aesthetik.  411 

[R  46.  H  70.  E  87.]  A  89.  B  56. 

nicht  zu  §  7,  wie  es  durch  die  Eintheilung  der  2.  Auflage  den  Anschein 
hat,  sondern  müsste  eigentlich  consequenter  Weise  eine  eigene  Paragraphen- 
nummer  tragen,  denn  er  fasst  alles  Vorhergehende  zusammen,  gibt  das 
Allgemeine  Resultat  der  Aesthetik,  stellt  dieses  in  Gegensatz  zu 
den  abweichenden  Theorien  und  schliesst  die  eigentliche  Discussion  des 
Themas  ab.  Wie  oben  am  Anfang  (vgl.  S.  123),  so  ist  also  hier  am  Ende 
eine  Ungenauigkeit;  denn  der  Beginn  des  §  2  gehört  ebensowenig  zu  diesem 
Paragraphen,  als  der  Schluss  des  §  7  zu  dem  letzteren.  Der  folgende  Ab- 
satz correspondirt  jenem  Eingang.  Dort  wurde  das  Problem  gestellt,  hier 
wird  seine  Lösung  recapijulirt. 

In  diesem  Resume  betont  nun  Kant  besonders  den  Umstand,  dass  Raum 
und  Zeit  als  Quelle  für  synthetische  Erkenntnisse  a  priori^  zu  be- 
trachten sind.  Und  zwar  leitet  er  dies  hier,  dem  urspi*ünglichen  methodischen 
Gange  der  Kritik  gemäss,  auf  synthetische  Weise  ab.  Dabei  ist  bemerkens- 
werth,  dass  auch  hier  die  reine  Mathematik  alsbald  in  die  angewandte  über- 
geht; denn  im  ersten  Satze  ist  von  den  „Erkenntnissen  vom  Räume  und 
dessen  Verhältnissen'  die  Rede,  in  den  folgenden  Sätzen  wird  von  deren 
, Gültigkeit*  für  die  „Gegenstände  als  Erscheinungen"  geredet.  Auch  in 
Mellin's  Wiedergabe  dieser  Stelle  (III,  847)  geht  beides  durcheinander, 
während  S  c  h  m  i  d  in  seinem  kleinen  Grundriss  der  Kr.  d.  r.  V.  S.  23  richtig 
beides  unterscheidet. 

Hieran  schliesst  sich  nun  ein  Satz,  dessen  Anfang :  „DieseRealität 
des  Raumes  und  der  Zeit  lässt  übrigens  die  Erfahrungserkenntniss  unan- 
getastet"  —  etwas  wunderlich  ist.     Denn  das  kann  doch  nur  heissen:  „Die 


eingeschoben  worden  ist,  dafür  spricht  auch  der  —  gleich  nachher  zu  erörternde  — 
Umstand,  dass  derselbe  fast  wörtlich  aus  der  Dissertation  herübergenommen  ist. 
(Ueber  die  anderen  von  Adickes  vorgebrachten  Gründe  vgl.  oben  S.  264  und  S.  342.) 
Die  Erläuterung  zur  Zeittheorie  ist  nun  wohl  bald  nach  der  Erhebung  jener  Ein- 
würfe (1770,  1771)  niedergeschrieben  worden;  für  diese  frühe  Abfassung  derselben 
spricht  auch  der  Gebrauch  des  Ausdruckes  , Idealismus"  (vgl.  oben  S.  405  Anm.). 
Daraus  wäre  dann  zu  schliessen,  dass  die  deutsche  Bearbeitung  der  Dissertation, 
wie  sie  uns  in  der  Transsc.  Aesthetik  vorliegt,  wenigstens  ihren  Haupttheilen  nach 
unmittelbar  nach  1770  stattgefunden  haben  müsste,  wofür  auch  Kants  Mitthei- 
lungen über  den  Fortschritt  seiner  Arbeit  in  seinem  gleichzeitigen  Briefwechsel  zu 
sprechen  scheinen. 

*  Die  „synthetischen  Erkenntnisse*  sind  „voraehmlich*  die  der  reinen  Mathe- 
matik ;  von  anderen  als  von  diesen  spricht  Kant  nur  oben  S.  387,  wo  er  noch  die 
Säze  der  „allgemeinen  Bewegungslehre**  anführt.  Jene  reine  Mathematik  wird 
nun  hier  ganz  mit  der  Geometrie  identificirt,  so  dass  also  auch  danach  die 
Arithmetik  vollständig  ignorirt  wird.  (Vgl.  oben  S.  388.)  Da  dies  der  Sinn  des 
Textes  ist,  so  wirft  T arieton,  liermathena,  Vol.  1,  1874,  S.  230  (vgl.  oben  S.  389 
Anm.)  mit  Unrecht  dem  Uebersetzer  Meiklejohn,  der  sich  an  den  Text  gehalten 
hat,  Ungenauigkeit  vor.  Sollte  Kant  hier  ausser  der  Geometrie  auch  auf  die 
Arithmetik  anspielen,  so  müsste  das  Wort  „vornehmlich"  auf  die  Worte  „die  reine 
Mathematik'*  folgen,  nicht  aber  denselben  vorangehen. 


412  §  7.    Allgemeines  Resultat  der  Transac.  Aesthetik. 

A  39.  B  56.  [R  46.  47.  H  70.  K  87.] 

so  beschränkte  und  bestimmte  Realität,  diese  Art  der  Realität,  nämlich  die 
bloss  empirische^ ;  aber  so  würde  der  Satz  ja  eine  blosse  Tautologie  sein. 
Diese  Unebenheit  haben  ja  auch  die  üebersetzer  gespürt:  so  sagt  Meikle- 
john:  Jhis  formal  reality^\  und  Max  Müller:  ^this  peculiar  reality*. 
„Realität"  ist  aber  offenbar  nur  Schreib-  oder  Druckfehler  statt  Idealität. 
Diese  Vermuthung,  die  schon  an  sich  unter  Betrachtung  des  Zusammen- 
hanges wahrscheinlich  ist  und  die  auch  Laas  gehabt  hat,  wird  zur  Gewiss- 
heit durch  Herbeiziehung  der  Parallelstellen  aus  der  Dissertation  §  14,  6 
und  §  15,  welche  oben  zu  S.  349  und  S.  397  angeführt  worden  sind,  üebrigens 
hat   auch   schon  A  dick  es  die  Verbesserung  in  seiner  Ausgabe  angebracht. 

Auf  diese  Weise  bekommen  wir  folgenden  Zusammenhang:  es  handelt 
sich  um  die  Sicherheit  und  Gewissheit  unserer  Erfahrung.  Werden  dieselben 
nicht  erschüttert  durch  die  Lehre,  Raum  und  Zeit  seien  nur  subjeetiv,  seien 
ideal  in  Bezug  auf  die  Dinge  an  sich?  Können  wir  dann  noch  mit  vollem 
Fug  und  Recht  den  allgemeinen  Satz  aussprechen,  dass  alle  Dinge  in  Raum 
und  Zeit  beschlossen  seien?  Das  konnten  wir,  als  wir  noch  annahmen,  Baum 
und  Zeit  seien  objective,  nothwendige  Eigenschaften  aller  Dinge  an  sich, 
aber  wir  scheinen  es  nicht  mehr  zu  können,  seitdem  wir  die  Erkenntniss  ge- 
wonnen haben,  dass  Raum  und  Zeit  nur  subjectividealer  Natur  sind.  Wir 
können  es  aber  doch!  Denn  nothwendige  und  allgemeine  Eigenschaften 
sind  Raum  und  Zeit  .auch  in  diesem  Falle,  nur  nicht  mehr  der  Dinge  an 
sich,  sondern  der  Erscheinungen.  Und  diesen  gehören  sie  nothwendig  zu, 
weil  sie  unserer  Anschauungsweise  nothwendig  anhängen.  Vgl.  hiezu  oben 
S.  348.  349.  Eine  charakteristische  Ergänzung  hiezu  bietet  eine  Stelle  des 
Nachgel.  Werkes,  XXI,  586:  „Die  [transcendentale]  Idealität  äusserer  Gegen- 
stände ist  zugleich  der  Grund  der  [empirischen]  Realität  eben  derselben  aU 
Sachen  ausser  uns,  in  Raum  und  Zeit.* 

Nachdem  Kant  so  das  Wesentliche  seiner  Raum-  und  Zeit- 
theorie resümirt  hat,  stellt  er  in  dem  weiteren  Verlauf  dieses  Absatzes 
dieser  seiner  Theorie  die  hauptsächlichsten  bisherigen  anderen  Theorien 
gegenüber,  um  zu  zeigen,  dass  diese  Letzteren  aus  verschiedenen  Gründen 
falsch  seien.  Er  fühlt  das  Bedürfniss  der  Auseinandersetzung  mit  den 
anderen  Theorien,  um  deren  Fehler  aufzudecken,  und  die  Vorzüge  seiner 
eigenen  Theorie  ans  Licht  zu  stellen.  Kant  prüft  und  verwirft  in  diesem 
Sinne  zwei  andere  Theorien:  1)  Die  Theorie,  der  Raum  sei  eine  Substanz, 
2)  derselbe  sei  ein  blosses  Verhältnisse  (Vgl.  dazu  Thiele,  Ks.  int. 
Ansch.  194.  Vgl.  auch  Arnold  t,  R.  u.  Z.  119  ff.,  der  aber  die  folgenden 
Stellen  im  Detail  anders  auslegt.)    Diese  ganze  Stelle  ist  nun  beinahe  wört- 


»  Vgl.  Garve  (A.  D.  B.  Anh.  zu  37-53.  858):  .Es  gibt  in  dem  Umfang 
unserer  ganzen  Erkenntniss  kaum  "so  ausserordentliche,  von  allen  anderen  sich  so 
unterscheidende,  so  unbegreifliche  Ideen  wie  Zeit  und  Raiun.  Sie  als  Dinge  an- 
zusehen, ist  unserem  Verstände,  sie  als  Verhältnisse  anzusehen,  ist  unserer 
Imagination  unmöglich." 


Die  beiden  bisherigen  Haupttheorien  Über  Raum  und  Zeit.  413 

« 

[R  47.  H  70.  K  88.]  A  39.  B  56. 

lieh  aus  der  Dissertation  herübergenommen.  Da  heisst  es  §  15,  D:  ^,Qui 
spatti  realUatem  defendunf,  vel  ülud,  ^d  dbsolutum  et  immmensum  rerum  possi- 
hilium  receptaculttm  (Behältnis s)  sihi  conc'qmmt,  quae  settteMia,  post 
Anglos,  geoynetrarum  plunmis  arridet,  vel  contendmvb  esse  ipsam  rerum  exi- 
Stent i um  relationem  (Verhältniss),  rebus  sublatis  plane  evanescentem  et 
fionnisi  in  actualibus  cogitahilem ,  vti  post  Leibnitium  nostratum  lüurimi  sta- 
tuunt,  Quod  attinet  primum  ilhid  inane  rationis  commetitum,  cum  veras  re- 
laJtiones  infinitaSf  absque  ullis  erga  se  relatis  entibus  fingat,  pertinet  ad  mundum 
fabulosum.  Verum  qui  sententiam  posteriorem  abeunt,  longe  deteriore  errore 
lahuntur.  Quippe  cum  Uli  nonnisi  conceptibus  rationulibus  s.  ad  noumena  per- 
tifientibus  offendicidum  ponuyit,  ceteroquin  intellectui  maxime  absconditis^  e.  g, 
quaestionibus  de  mundo  spiritiHili,  de  omnipraesetüia  etc.y  hl  ipsis  phaeno- 
menis  et  omnium  phaenomenorum  fidis»imo  interpreti,  geometriae,  adversa 
fronte  repugnant,  Nam  .  .  .  geometriam  ab  apice  certitudinis  deiurbatam,  in 
earum  scientiarum  censum  rejiciunt^  quarum  princlpia  sunt  empiricaJ'  (Vgl. 
dazu  Cohen  in  d.  Zeitschr.  f.  Volk.  u.  Spr.  7,  265  f.)  Aehnlich  bei  der 
Zeit,  §  14,  5 :  „Qui  realitatem  temporis  objectivam  asserwit,  aut  illud  tanquam 
fkixum  aliquem  in  exsistendo  continuum  absque  uUa  tamen  re  existente  {com- 
mentum  absurdissimum)  concipiunt,  uti  potissimum  Anglorum  philosophi,  aut 
tanquam  abstr actum  reale  a  successione  statuum  internorum,  ut  Leibnitius  et 
asseclae,  statuunt/^ 

Ganz  ähnlich  auch  schon  in  dem  Aufsatz  von  1768:  „Von  dem  ersten 
Grunde  des  Unterschiedes  der  Gegenden  im  Räume."  Darin  stellt  K.  auch 
zwei  entgegengesetzte  , Begriffe  des  Raumes"  (=  Raumtheorien)  gegenüber: 
1)  Den  a Begriff  des  absoluten  Raumes"  ;  er  wird  von  den  „Mechanikern 
und  Messkünstlern"  aufgestellt,  ja  „scharfsinnige  Philosophen  haben  ihn  in 
den  Lehrbegriff  der  Naturwissenschaft  aufgenommen".  Demnach  hat  „der 
absolute  Baum  unabhängig  von  dem  Dasein  aller  Materie  und  selbst  als 
der  erste  Grund  der  Möglichkeit  ihrer  Zusammensetzung  eine  eigene  Realität". 
Es  gibt  einen  „absoluten  ursprünglichen  Raum,  weil  nur  durch  ihn  das 
Verhältniss  körperlicher  Dinge  möglich  ist" ;  2)  Die  entgegengesetzte  Raum- 
theorie behauptet,  dass  der  Raum  „aus  der  Abstraction  von  dem  Verhält- 
nisse wirklicher  Dinge  entpringt" ;  es  ist  dies  der  Begriff  „vieler  neueren 
Philosophen,  vornehmlich  der  Deutschen,  dass  der  Raum  nur  in  dem 
äusseren  Verhältniss  der  nebeneinander  befindlichen  Theile  der  Materie  be- 
stehe". Kant  prüft  nun  daselbst  beide  Theorien  an  dem  aposteriorischen 
Probirstein  der  symmetrischen  Figuren,  und  entscheidet  sich  gegen  die 
zweite  Theorie,  „weil  die  Folgen  dieses  angenommenen  Begriffes  der  augen- 
scheinlichsten Erfahrung  widersprechen,"  verkennt  aber  nicht,  dass  „es  nicht 
an  Schwierigkeiten  fehlt,  die  den  ersten  Begriff  umgeben,  wenn  man  seine 
Realität,  welche  dem  inneren  Sinn  anschauend  genug  ist,  durch  Vernunft- 
ideen fassen  will". 

Diese  Stellen  bestätigen  nun,  was  schon  die  Analyse  des  Textes  in 
der  Kritik   selbst   ergibt,    dass  Kant   bei  dieser  Schilderung  nichts  Anderes 


414  §  7.    Allgemeines  Resultat  der  Transsc.  Aesthetik. 

A  89.  B  56.  [R  47.  H  70.  71.  K  88.] 

im  Sinne  haben  konnte,  als  den  berühmten  Streit  über  Kaum  und 
Zeit  zwischen  Clarke  und  Leibniz.  Dieser  Streit  {^.  Leihnitii  Opera 
Philosophica,  Edit.  Erdmann  1840,  II,  746 — 788),  welcher  seinerzeit  die  euro- 
päische Gelehrtenwelt  in  Aufregung  versetzte,  ist  nun  eine  bis  jetzt  merk- 
würdiger Weise  noch  gar  nicht  in  ihrer  Wichtigkeit  erkannte  Quelle  für 
die  Entstehung  der  Kantischen  Theorie.  (Vgl.  auch  oben  S.  133).  Es  könnte 
und  müsste  im  Einzelnen  gezeigt  werden,  dass  und  wie  Kant  durch  das 
Studium  der  Acten  dieses  Streites  zur  Aufstellung  seiner  eigenthümlichen 
Theorie  mit  angeregt  worden  ist.  Für  die  Entwicklungsgeschichte  Kants 
liegen  hier  noch  viele  interessante  Punkte.  Hierauf  kann  natürlich  hier  nicht 
näher  eingegangen  werden:  es  genüge,  mit  dem  Finger  darauf  hingewiesen 
zu  haben.  Näheres  hierüber  unten.  Uebrigens  hat  auch  schon  Mellin 
III,  826—852  diesen  Zusammenhang  ahnungsweise  erkannt. 

Kant  stellt  beide  Parteien  gegenüber,  wie  er  charakteristisch  sagt, 
als  die  der  „mathematischen  Naturforscher",  und  die  „ der  metaphysischen 
Naturlehrer".  Jenes  sind  die  Anhänger  Newtons,  deren  bedeutendster, 
Clarke,  die  betreffende  Theorie  mit  grosser  Energie  vertrat,  dieses  sind  die 
Anhänger  von  Leibniz,  welcher  selbst  noch  mit  Clarke  in  einen  heftigen 
Streit  über  diese  Probleme  gerieth. 

Beiden  wirft  Kant  vor,  dass  sie  mit  den  „Principien  der  Er- 
fahrung" in  Conüict  gerathen.  Diese  Behauptung  stimmt  nicht  ganz  zu 
dem  Folgenden.  Denn  da  wird  zuerst  gezeigt,  dass  die  Naturforscher  ^fur 
sich  bestehende  Undinge"  annehmen.  Damit  gerathen  sie  aber  mit  dem 
Satz  des  Widerspruches  in  Conflict.  Nachher  wird  gezeigt,  dass  dieselben 
sich  bei  metaphysischen  Fragen  verwirren.  Und  den  Metaphysikern  wird 
vorgeworfen,  dass  sie  die  apodictische  Natur  der  Geometrie  nicht  erklären 
und  dass  sie  deren  Anwendung  auf  Erfahrung  nicht  garantiren  könüen :  nur 
auf  diesen  allerletzten  Vorwurf  passt  jene  obige  Bestimmung. 

Erste  Partei:  Die  mathematischen  Naturforscher. 

(Clarke.) 

Gegen  diese  wendet  Kant  Folgendes  ein :  Diejenigen,  welche  wie  Newton 
und  Clarke  Raum  und  Zeit  als  eigene  Substanzen  ansehen,  müssen  Sub- 
stanzen annehmen,  die  doch  nichts  Wirkliches  sind.  (Vgl.  oben  S.  391.) 
Sie  setzen  das  Leere,  den  leeren  Kaum  und  die  leere  Zeit,  also  das  Nichts 
als  ein  Etwas,  sie  betrachten  die  Null  als  Eins.  Substanzen,  welche  doch 
nichts  Wirkliches  sind,  sind  aber  (wie  schon  Leibniz  gegen  Clarke  zeigte), 
logische  Undinge.  Denn  da  Raum  und  Zeit  da  sein  sollen,  auch  ohne 
dass  etwas  Wirkliches  da  ist  und  in  ihnen  ist,  so  sind  sie  als  leer  gedacht, 
und  sollen  doch  trotz  dieser  Leerheit  und  Nichtigkeit  —  denn  beide  w&ren 
leere  Gefilsse,  nur  ohne  Wände,  d.  h.  eben  Nichts  —  Etwas  sein.  Das  Ter- 
stösst  gegen  den  Satz  des  Widerspruchs.  Was  Nichts  ist,  kann  nicht  zu- 
gleich Nicht-Nichts  oder  Etwas  sein.     Was  Etwas  ist,   kann  nicht  zugleich 


Gegen  die  Newton-Clarke'sche  Theorie  von  Raum  und  Zeit.  415 

[R  47.  H  71.  K  88.]  A39.40.B56.57, 

Nicht-Etwas  oder  Nichts  sein.  Sollen  R.  u.  Z.  alles  Wirkliche  als  Ge- 
fasse  in  sich  befassen,  so  sind  das  eben  Geisse,  ohne  doch  Gefässe  zu 
sein,  weil  sie  keine  materiellen  Wandungen  haben.  Kurz,  R.  u.  Z.  sind 
nach  dieser  Theorie  ganz  widerspruchsvolle  Dinge;  mit  anderen  Worten,  die 
Theorie  muss  falsch  sein^  Vgl.  A  433  (Anmerkung  zur  ersten  Anti- 
these) über  „diese  zwei  Undinge,  den  leeren  Raum  ausser  und  die  leere 
Zeit  vor  der  Welt*.  Eine  Ausführung  dieses  Gedankens  bei  Sommer,  Neu- 
gestaltung 87  ff.,  „die  Unhaltbarkeit  der  gewöhnlichen  Auffassung  der  Rea- 
lität des  R.  u.  d.  Z."  —  Sachliche  Einwände  hiegegen  bei  v.  Kirch  mann, 
Erl.  12  (dagegen  Grapengiesser,  Erkl.  27),  und  bei  Massonius,  Aesth.  S.  63  ff. 
161,  (für  die  „Undinge"). 

Weiter  unten  kommt  Kant  nochmals  auf  diese  Theorie  zurück,  um 
sie  zu  prüfen  an  zwei  wichtigen  Problemen,  deren  Lösung  ihm 
gleich  sehr  am  Herzen  lag:  die  apodiktische  Gültigkeit  der  Ma- 
thematik für  alle  Erscheinungen,  und  die  Nachforschungen, 
die  über  das  Feld  der  Erfahrung  hinausgehen,  also  insbesondere 
der  Gottesbegriff  (vgl.  Band  I,  230  ff.).  Diejenigen  nun,  denen  der  Raum 
das  substantiell  existirende  Gefäss  aller  Dinge  ist,  brauchen  keine  besondere 
Garantie  für  die  stetige  Gültigkeit  und  Anwendbarkeit  der  Mathematik. 
Denn  da  dieses  Geföss  unendlich  ist  und  Alles  umfasst,  so  ist  es  selbstverständ- 
lich, dass  alle  uns  je  vorkommenden,  ja  überhaupt  vorhandenen  Dinge  nicht 
nur  im  Allgemeinen  im  Räume  sind,  sondern  auch  seinen  speciellen  Gesetzen 
unterworfen  sind.  Aber  dieselbe  Voraussetzung  des  unendlichen,  alle  Dinge 
befassenden  Gefässes  verhindert  es  nun  unbedingt,  dass  der  Verstand  das 
Gebiet  der  Erscheinungen  überschreite,  mag  er  nun  überhaupt  übersinnliche 
Dinge  an  sich  annehmen  wollen,  oder  auch  speciell  etwa  Gott,  Unsterb- 
lichkeit und  Freiheit  zu  postuliren  für  nöthig  finden.  Das  ist  dann  gründ- 
lich abgeschnitten,  wenigstens  für  einen  logisch  disciplinirten  Verstand,  was 
ja  nicht  hindert,  dass  nicht,  wie  historisch  geschehen,  auch  diese  Forderungen 
mit  jener  Voraussetzung  verknüpft  werden.  Factisch  haben  ja  Clarke  und 
Newton  Gott  und  alle  nicht-sinnlichen  Dinge  auch  in  Raum  und  Zeit  ge- 
setzt. —  Wenn  K.  hiebei  sagt,  sie  verwirren  sich  „durch  diese  Bedingungen", 
so  erhält  diese  Bemerkung  ihre  Erläuterung  durch  die  Stelle  B  71,  wo  von 
der  Newton'schen  Theorie  gesagt  ist,  dass  bei  ihr  Raum  und  Zeit  „Be- 
dingungen der  Existenz  a  priori"  sind,  welche  ȟbrig  bleiben,  wenn  man 
gleich  die  Dinge  selbst  aufgehoben  hätte".    Jene  Stelle  ist  eine  Ausführung- 

^  Die  Newton  sehe  Anschauung  des  Raumes  als  eines  abaque  ullis  ergo 
se  relatis  entihus  Existirenden  (§  15,  D)  und  der  Zeit  als  eines  absque  ulla 
re  (§  14,  5)  Existirenden  ist  für  Kant  ein  absurdes  Figment.  Unabhängig  von  den 
als  real  gedachten  Dingen  und  doch  selbst  etwas  Seiendes  —  das  ist  unsinnig, 
dann  sind  Raum  und  Zeit  „Undinge**;  aber  unabhängig  von  den  als  sensationes 
erkannten  Erfahrungsgegenständen  können  Raum  und  Zeit  allerdings  sein,  weil 
sie  dann  ja  doch  immer  noch  vom  Subjecte  getragen  werden.  Dies  lehrt  ja  das 
zweite  Raum-  und  Zeitargument,  oben  S.  186  ff.  370  f. 


416  §  7.    Allgemeines  Resultat  der  Transsc.  Aesthetik. 

A39.40.B56.57.  [R  47.  H  71.  K  88.] 

des  hier  nur  kurz  angedeuteten  Gedankens,  dass  die  Newton-Clarke'sche 
Theorie  besonders  mit  dem  GottesbegrifF  in  unlösbaren  Conflict  komme. 
Dies  hatte  auch  schon  Berkeley  zu  seinem  Idealismus  gebracht,  dies 
^dangerous  dilemma*^,  dass  der  Raum  entweder  identisch  mit  Gott  sei  oder 
etwas  neben  Gott.  (Princ.  §  117.)  Vgl.  Caird,  Grit.  Phil.  I,  304.  Vgl. 
dazu  Schneider,  Ps.  Entw.  d.  Apriori,  S.  23. 

Zweite  Partei:  Philosophische  Naturlehrer. 

(Leibniz.) 

Diese  Partei  verhält  sich  zu  den  beiden  Problemen,  welche  dem  Kri- 
tiker als  Prüfsteine  einer  wahren  Raum-  und  Zeittheorie  gelten,  gerade 
umgekehrt,  als  die  vorige.  Was  bei  jenen  Vorigen  anstandslos  möglich 
war  —  die  apodiktische  Gültigkeit  der  Mathematik  für  alle  wirklichen  Dinge 
im  Räume  — ,  das  will  hier  bei  dieser  Theorie  nicht  stimmen.  Woran  aber 
jene  Ersteren  scheiterten  —  die  Möglichkeit  übersinnlicher  Wesen  — ,  das 
habe  hier  gar  keine  Schwierigkeit. 

Schwierigkeiten  aber  finden  wir  in  der  Kantischen  Darstellung 
dieser  Lehre  und  ihres  Verhältnisses  zu  jenen  beiden  Problemen,  und  die 
erste  fundamentalste  Schwierigkeit  ist  folgende:  wie  kann  Kant  diese  von  ihm 
so  dargestellte  Theorie  zu  denjenigen  Theorien  rechnen,  welche,  wie  er 
doch  oben  sagte,  „die  absolute  Realität  des  Raumes  und  der  Zeit'  be- 
haupten? Er  selbst  sagt  doch:  nach  dieser  Theorie  seien  Raum  und  Zeit 
abstrahirte  „Verhältnisse  der  Erscheinungen",  und  erklärt  eben  daraus 
den  Vortheil  dieser  Theorie,  dass  bei  ihr  Raum  und  Zeit  nicht  hindernd  im 
Wege  stehen,  wenn  man  die  Gegenstände  nicht  mehr  als  Erscheinungen, 
sondern  „im  Verhältniss  auf  den  Verstand*,  d.  h.  als  Dinge  an  sich  be- 
trachtet. Darin  liegt  ja  doch  involvirt,  dass  diese  Theorie  gerade  nicht  die 
„absolute  Realität*  von  R.  u.  Z.  behauptet. 

Die  Auflösung  dieser  Schwierigkeit  muss  sowohl  in  der  Eigen thümlich- 
keit  der  Leibniz'schen  Lehre  selbst,  als  in  ihrer  Auffassung  durch  Kant  ge- 
sucht werden.  Beides  führt  auf  dasselbe.  Wie  Kant  die  Leibniz'sche  Lehre 
von  Raum  und  Zeit  auffasste,  darüber  hat  er  sich  ja  eingehender  aus- 
gesprochen in  dem  Abschnitt  von  der  „Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe ^, 
A  260  ff.,  sowie  bes.  in  der  dazu  gehörigen  Anmerkung,  A  268  ff.  Kant 
wirft  seinem  grossen  Vorgänger  „transscendentale  Amphibolie*  vor,  d.  h.  »Ver- 
wechslung des  reinen  Verstandesobjects  mit  der  Erscheinung".  , Erscheinung 
war  ihm  die  Vorstellung  des  Dinges  an  sich  selbst,  obgleich  von  der  Er- 
kenntniss  durch  den  Verstand  der  logischen  Form  nach  unterschieden', 
da  nämlich  jene,  aus  Mangel  richtiger  „Zergliederung*,  verworrene  ^Neben- 
vorstellungen'  mit  hineinzieht;  so  nahm  er  denn  „die  Erscheinungen  ab 
Dinge  an  sich  selbst,  mithin  für  intelligibiUa y  d.  i.  Gegenstände  des  reinen 
Verstandes,  ob  er  gleich,  wegen  der  Verworrenheit  ihrer  Vorstellungen,  die- 
selben mit  dem  Namen  der  Phänomene  belegte.*     „Wir  schauen  also  die 


Kant  gegen  die  Leibniz*8che  Raum-  und  Zeittheorie.  417 

[B  47.  H  71.  K  88.]  A  40.  B  57. 

Dinge  an,  wie  sie  sind,  obgleich  mit  verworrener  Vorstellung."  Dazu  bes. 
A  275  f.:  ,So  dachte  sich  nun  Leibniz  auch  den  Raum  als  eine  gewisse  Ord- 
nung in  der  Gemeinschaft  der  Substanzen,  und  die  Zeit  als  die  dynamische 
Folge  ihrer  Zustände.  Das  Eigenthümliche  aber  und  von  Dingen  Unab- 
hftngige,  was  Beide  an  sich  zu  haben  scheinen,  schrieb  er  der  Verworrenheit 
dieser  Begriffe  zu,  welche  machte,  dass  dasjenige,  was  eine  blosse  Form 
dynamischer  Verhältnisse  ist,  für  eine  eigene,  für  sich  bestehende  und  vor 
den  Dingen  selbst  vorhergehende  Anschauung  gehalten  wird.  Also  waren 
Raum  und  Zeit  die  intelligible  Form  der  Verknüpfung  der 
Dinge  an  sich  selbst.  Die  Dinge  waren  intelligible  Substanzen.  Gleich- 
wohl wollte  er  diese  Begriffe  für  Erscheinungen  geltend  machen,  weil  er 
der  Sinnlichkeit  keine  eigene  Art  der  Anschauung  zugestand*'  u.  s.  w. 

Diese  Stellen  sind  nun  vollständig  hinreichend,  auch  die  oben  auf- 
gedeckte Schwierigkeit  der  vorliegenden  Stelle  zu  erhellen.  Es  erklärt  sich 
daraus,  wie  Kant  dazu  kommt,  die  Leibniz'sche  Lehre  von  Raum  und  Zeit 
auf  der  einen  Seite  zu  denjenigen  zu  rechnen,  welche  die  „absolute  Realität' 
derselben  behaupten,  und  wie  er  doch  wieder  auf  der  anderen  Seite  davon 
sprechen  kann,  dass  sie  „Verhältnisse  der  Erscheinungen''  vorstellen.  Auch 
geht  daraus  hervor,  dass  und  inwiefern  Kant  sagen  kann,  nach  dieser  Lehre 
seien  Raum  und  Zeit  den  Dingen  „inhärirend",  während  sie  nach  Newton- 
Clarke  selbst  „subsistirend"  sind. 

Diese  Darstellung,  welche  Kant  von  der  Leibniz'schen  Raumlehre  gibt, 
entspricht  ja  nun  auch  ganz  in  ihrem  Schwanken  zwischen  einer  wirklich 
transscendenten  und  einer  nur  empirischen  Gültigkeit  der  Raumvorstellung 
der  Schilderung,  welche  wir  oben  S.  146  f.  von  der  Leibniz'schen  Monaden- 
lehre entworfen  haben.  Es  findet  sich  bei  Leibniz  ein  unangenehmes  Schwanken 
zwischen  zwei  Fassungen  der  Monaden-  und  damit  auch  der  Raumlehre: 
Bald  ist  ihm  der  Raum  ein  objectiv-reales  Verhältniss  der  an  sich  ganz 
unräumlichen  Monaden,  bald  ist  er  ihm  nur  ein  rein  subjectives  Phänomen 
in  uns,  das  in  verworrener  Vorstellungsweise  die  an  sich  seienden,  rein 
intelligibeln  Verhältnisse  der  rein  intelligibeln  Substanzen  repräsentirt.  Nach 
der  ersteren  Fassung  ist  der  Raum  etwas  den  Dingen  an  sich  „Inhärirendes*, 
nach  der  anderen  nur  ein  „Verhältniss  der  Erscheinungen ''. 

Jetzt  erklärt  sich  nun  auch  die  Stellung  der  Leibniz'schen  Theorie  zu 
jenen  beiden  Problemen.  Den  „metaphysischen  Naturlehrern''  k  la  Leibniz 
„kommen  die  Vorstellungen  von  Raum  und  Zeit  nicht  in  den  Weg,  wenn 
sie  von  Gegenständen  nicht  als  Erscheinungen,  sondern  bloss  im  Ver- 
hältniss aufdenVerstand  urtheilen  wollen "  (zu  dieser  Wendung  vgl. 
oben  S.  854);  d.  h.  weil  eben  Raum  und  Zeit  nicht  eigentlich  die  Verhält- 
nisse der  intelligibeln  Substanzen  selbst  sind,  sondern  nur  der  verworrene 
Ausdruck  von  dynamischen  Verhältnissen  derselben,  können  zwar  Raum  und 
Zeit  einerseits  gewissermassen  als  real  bezeichnet  werden,  aber  doch  sind 
andererseits  die  Substanzen  selbst,  deren  dynamische  Verhältnisse  jenen 
raumzeitlichen  Formen  zu  Grunde  liegen,  intelligibel,  selbst  nicht 
Vaihinger,  Kant-Commentar.    II.  27 


418  §  7.    AUgemeineR  Resultat  der  Transec.  Aesthetik. 

A40.B57.  [R  47.  H  71.  E  88.] 

räumlicb,  sondern  nach  Leibniz  einfache,  geistige  Substanzen,  Monaden  — 
eine  Anschauung,  mit  welcher  ja  sich  dann  weiterhin  alle  möglichen  meta- 
physischen Speculationen  verbinden  lassen,  da  Baum  und  Zeit  nicht  mehr 
hindernd  in  den  Weg  treten;  und  wenn  nun  auch  Kant  auf  die  meta- 
physischen Speculationen  selbst  keinen  Werth  legt,  so  liegt  ihm  doch  be- 
kanntlich daran,  zur  „Rettung"  von  Oott,  Freiheit  und  Unsterblichkeit  eine 
übersinnliche  Welt  wenigstens  als  möglich  denken  zu  können.  Das  ist  nun 
hier  ebenso  möglich,  als  es  nach  der  Newton-Clarke'schen  Theorie  unmög- 
lich ist. 

Aber  dieser  Vortheil  der  Leibniz'schen  Theorie  wird  nun  durch  einen 
erheblichen  Nachtheil  aufgewogen:  die  Gültigkeit  der  Mathematik 
für  die  Dinge  wird  dadurch  nicht  garantirt^  Die  apodiktische 
Oewissheit  dieser  Gültigkeit  lässt  sich  ja  a  posteriori  nicht  gewinnen;  denn 
die  Erfahrung  sagt  uns  ja  nur,  dass  wohl  alle  bis  jetzt  uns  vorgekommenen 
Eörperdinge  den  mathematischen  Raumgesetzen  gehorsamen ;  darin  liegt  aber 
keine  absolut  sichere  Gewähr,  dass  dies  bei  allen  uns  fernerhin  aufstossenden 
äusseren  Erscheinungen  stattfinden  werde.  Warum  aber  garantirt  jene  Auf- 
fassung nicht  die  objective  Gültigkeit  der  mathematischen  Sätze?  Weil 
jene  Allgemeinbegriffe  von  Raum  und  Zeit  „nur  Geschöpfe  der  Einbildungs- 
kraft'^  sind,  nur  „ideale  Fictionen",  wie  Leibniz  selbst  sagte:  da  lässt  sich 
ja  dann  allerdings  nicht  einsehen,  warum  Sätze,  welche  sich  auf  diesen  er- 
dachten Raumbegriff  beziehen ,  von  den  concreten  Erscheinungen  gelten 
sollen  ?  ^ 

Dass  dies  der  Zusammenhang  ist,  geht  aus  den  Prolegomena  §  13, 
Anm.  I  hervor,  woselbst  Kant  ebenfalls  gegen  die  Meinung  polemisirt,  als 
hätten  wir  es  in  der  Geometrie  nur  mit  den  Bestimmungen  eines  blossen 
„Geschöpfes  unserer  dichtenden  Phantasie"  zu  thun,  die  nicht  „mit Zuverlässig- 
keit auf  wirkliche  Gegenstände  könnten  bezogen  werden". 

Diese  üebereinstimmung  wird  aber,  wie  dort  weiterhin  ausgeföhrt 
wird,  dadurch  erklärt,  dass  eben  der  Raum  „die  wesentliche  Eigenschaft 
unserer  Sinnlichkeit  ist",  dass  wir  also  in  ihm,  wie  es  hier  heisst,  „eine 
wahre  und  objectiv  gültige  Anschauung  a  priori"  haben  (vgl.  hiezu  Arnold t, 
R.  u.  Z.  29),  in  welcher  nun  für  „die  Möglichkeit  mathematischer  Er  kennt- 


^  Vgl.  dazu  die  ausführliche  Entwicklung  in  den  Fortechr.  d.  Metapfa.  Ros 
1,511 — 513,  wo  es  von  Leibniz  heisst:  „Dieser  Metaphysiker  von  altem  Schrot 
und  Korn  muss  den  Raum  als  bloss  empirische  und  verworrene  Vorstellnng  des 
Nebeneinanderseins  des  Mannigfaltigen  ausserhalb  einander  gelten  lassen*,  aei  eben 
darum  aber  auch  nicht  im  Stande,  von  der  Apodikticität  der  Mathematik  Rechen- 
schaft zu  geben. 

'  In  dieser  Weise  betrachtet  z.  B.  Mendelssohn  W.  W.  IV,  1,  504  ff- 
(Literaturbr.  1759)  die  Mathematik:  die  Mathematik  beruhe  auf  Abstractionen  und 
Erfindungen,  auf  erdichteten  Begriffen  und  Voraussetzungen,  die  man  nicht  auf 
das  Wirkliche  anwenden  und  nicht  für  wirklich  ausgeben  dürfe.  Das  seien  Ein- 
bildungen. 


Kant  wendet  sich  gegen  die  „Chikanen*  der  .Monadisten*'.  419 

[R  47.  H  71.  K  88.]  A40.B57. 

nisse  a  priori",  d.  h.  in  diesem  Falle  angewandter,  der  , Grund''  zu 
suchen  ist. 

An  jener  Stelle  der  Prolegomena^  gibt  Kant  noch  näheren  Anf- 
schluss  über  das,  was  er  hier  meint;  speciell  das  hier,  nicht  ganz  logisch 
durch  „weder  —  noch"  hinzugefügte  Sätzchen  —  dass  jene  Leibnizianer  die 
Erfahrungssätze  nicht  mit  jenen  Behauptungen  der  Mathematik  in  noth- 
wendige  Einstimmung  bringen  können  —  erhält  durch  jene  Stelle  erst  seine 
volle  Bedeutung.  Die  Mathematiker  besorgten,  eine  Linie  in  der  Natur 
möchte  doch  wohl  aus  physischen  Punkten,  mithin  der  wahre  Baum  im 
Objecte  aus  einfachen  Theilen  bestehen,  obgleich  der  Baum,  den  der  Geo- 
meter  in  Gedanken  hat,  daraus  keineswegs  bestehen  kann.  Sie  erkannten 
nicht,  dass  dieser  Baum  in  Gedanken  den  physischen,  d.  i.  die  Ausdehnung 
der  Materie  selbst  möglich  mache  u.  s.  w.  (Vgl.  oben  S.  169.)  „Auf  solche 
und  keine  andere  Art  kann  der  Geometer  wider  die  Chikanen  einer 
seichten  Metaphysik  wegen  der  ungezweifelten  objectiven  Bealität  seiner 
Sätze  gesichert  werden,  so  befremdend  sie  auch  dieser,  weil  sie  nicht  bis  zu 
den  Quellen  ihrer  Begriffe  zurückgeht,  scheinen  muss"  (im  Text  steht  fälsch- 
lich 9 müssen";  was  der  bisherigen  seichten  Metaphysik  , befremdend"  er- 
scheint, das  ist  eben  die  objective  Gültigkeit  der  mathematischen  Sätze  für 
die  Erfahiningsgegenstände,  nicht  jene  „Chikanen",  die  sie  ja  selbst  macht). 

Denselben  Ausdruck  und  dasselbe  Beispiel  bringt  K.  in  der  Analytik 
bei  den  Axiomen  der  Anschauung  (A  165):  „Die  Ausflüchte,  als  wenn 
Gegenstände  der  Sinne  nicht  den  Begeln  der  Cpnstruction  im  Baume  (z.  E. 
der  unendlichen  Theilbarkeit  der  Linien  oder  Winkel)  gemäss 
sein  dürfen,  müssen  wegfallen."  „Alle  Einwürfe  dawider  sind  nur  Chi- 
kanen einer  falsch  belehrten  Vernunft."  Dasselbe  Beispiel  auch  in  der 
bemerkenswerthen  BeHexion  II,  N.  414,  in  welcher  Kant  u.  A.  sagt:  „Es 
ist  so  weit  gefehlt,  dass  die  sinnlichen  Anschauungen  von  B.  u.  Z.  sollten 
verworrene  Vorstellungen  sein,  dass  sie  vielmehr  die  deutlichsten  Erkennt- 
nisse unter  allen,  nämlich  die  mathematischen  verschaffen."  Nur  der  Um- 
stand, dass  B.  n.  Z.  Formen  seien,  mache  die  Mathematik  begreiflich  u.  s.  w. 

Dazu  nehme  man  noch  die  sehr  deutliche  Stelle  der  Prolegomena  §  13, 
Anm.  III.  (Vgl.  oben  S.  281.)  Dazu  vergl.  man  noch  den  Anhang  der 
Proleg, y  Orig.  S.  207 :  die  objective  Bealität  der  Geometrie  habe  auch  „von 
den  eifrigsten  Bealisten"  bisher  nicht  strict  behauptet  werden  können; 
sie  sei  vielmehr  erst  durch  seinen  Idealismus  garantirt.  Ganz  in  demselben 
Sinne  sind  auch  zwei  Anmerkungen  Kants  in  seinem  Handexemplar  gehalten 
(Erdmann,  Nachträge  XXVIII  und  XXX). 

^  Vgl.  über  dieselbe  B.  Erdmanns  Einl.  zu  seiner  Ausgabe  XXI  u.  LXXVIII. 
Vgl.  auch  oben  S.  265  ff.  und  S.  281.  Beachtenswerth  ist  an  diesen  Stellen,  wie  auch 
im  vorliegenden  Texte  das  schon  Comm.  I,  421,  Anm.  3  besprochene  logische 
Schwanken  zwischen  den  zwei  verschiedenen  Problemen  der  Erklärung  und  des 
Beweises  der  Gültigkeit  der  angewandten  Mathematik. 


420  §  '7-    Allgemeines  Resultat  der  Transsc.  Aesthetik. 

A  40.  B  57.  [R  47.  48.  H  71.  K  88.] 

Dass  E.  die8  im  Auge  hatte,  erhellt  vollends  aus  der  Anmerkung  zur 
II.  Antinomie  (A  439.  441.  443).  Die  .unendliche  Theilung  der  Materie* 
wird  dort  aus  der  unendlichen  Theilbarkeit  des  Raumes,  also  durch  einen 
, mathematischen  Beweisgrund''  bewiesen.  Wider  jene  Theilung  haben  nun, 
sagt  K.,  9 die  Monadisten  Einwürfe  gemacht,  welche  sich  schon  dadurch 
verdächtig  machen,  dass  sie  die  klarsten  mathematischen  Beweise  nicht  für 
Einsichten  in  die  Beschaffenheit  des  Raumes,  sofern  er  in  der  That  die 
formale  Bedingung  der  Möglichkeit  aller  Materie  ist,  wollen  gelten  lassen, 
sondern  sie  nur  als  Schlüsse  aus  abstracten,  aber  willkürlichen  Begriffen 
ansehen,  die  auf  wirkliche  Dinge  nicht  bezogen  werden  könnten"  u.  s.  w. 
.Wenn  die  Philosophie  hier  mit  der  Mathematik  chikanirt'  [=  Händel 
anfängt],  so  geschieht  es  darum,  .weil  sie  vergisst,  dass  es  in  dieser  Frage 
nur  um  Erscheinung  und  deren  Bedingung  zu  thun  sei."  Die  Monadisten 
wollen  der  Schwierigkeit  aber  dadurch  .  ausweichen,  dass  sie  nicht  den  Raum 
als  eine  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Gegenstände  äusserer  Anschauung 
(Körper),  sondern  diese  und  das  dynamische  Verhältniss  der  Substanzen 
überhaupt,  als  die  Bedingung  der  Möglichkeit  des  Raumes  voraussetzen. 
Nun  haben  wir  von  Körpern  nur  als  Erscheinungen  einen  Begriff,  als  solche 
aber  setzen  sie  den  Raum  als  die  Bedingung  der  Möglichkeit  aller  äusseren 
Anschauung  nothwendig  voraus,  und  die  Ausflucht  ist  vergeblich,  wie  sie 
denn  auch  oben  in  der  Transsc.  Aesth.  hinreichend  ist  ab- 
geschnitten worden."  lieber  das  Problem  der  unendlichen  Theilbarkeit 
der  Materie  und  seiner  Lösung  durch  den  transc.  Idealismus  s.  auch  Met. 
Anf.  der  Naturw.  II,  Lehrs.  4,  Anm.  2  (Ros.  V,  354—358).  Vgl.  auch 
Metz,  Darst.  S.  54. 

Diese  Ausführungen  sind  nun  auch  geeignet,  noch  zwei  Dunkelheiten 
^  des   Kantischen  Textes   zu   erhellen.     (Vgl.  Cohen,   2.  A.  166).     Einmal    er- 

scheint es  wunderlich,  dass  Kant  sagt:  nach  Leibniz  seien  .die  Begriffe 
a  priori  von  Raum  und  Zeit  nur  Geschöpfe  der  Einbildungskraft,  deren 
Quell  wirklich  in  der  Erfahrung  gesucht  werden  muss";  (ähnlich  Proleg. 
%  13, 1).  Kant  will  wohl  sagen:  der  letzte  Quell  jener  Vorstellungen  ist  nach 
Leibniz  allerdings  die  Erfahrung,  aber  die  Einbildungskraft  hat  nun  diese 
Abstractionen  so  selbständig  verarbeitet,  dass  sie  als  eine  Art  Begriffe 
a  priori  sich  präsentiren  \  Darauf  bezieht  sich  aber  auch  die  andere  Dunkel- 
heit, die  sich  unmittelbar  daran  anschliesst:  .Die  Einbildung  hat  aus  den 
abstrahirten  Verhältnissen  der  Erfahrung  etwas  gemacht,  was  zwar  das  AU- 


^  Diese  Theorie  der  Mathematik  passt  ja  nun  auf  den  historischen 
Leibniz  gar  nicht  mehr,  der  stets  streng  an  der  Apriorität  der  Mathematik  fert- 
hielt,  und  erklärt  sich  nur  theils  aus  gewissen  Unklarheiten  der  Leibniz^schen  Lehre 
selbst,  aus  denen  jene  empirische  Entstehung  der  mathematischen  Begriffe  als 
Consequenz  gezogen  werden  kann,  theils  aus  den  empiristischen  ümbiegongen  der 
originären  Leibniz'schen  Theorie  bei  einzelnen  seiner  späteren  Anhänger  resp. 
Fortsetzer.  —  Vgl.  Baumann,  Die  Lehren  von  R.,  Z.  u.  Math.  II,  S.  13  ff. 


Die  Leibniz*8che  Theorie  über  Raum,  Zeit  und  Mathematik.  421 

[B  48.  H  71.  K  88.]  A40.B57. 

gemeine  derselben  enthält,  was  aber  ohne  die  Bestrictionen ,  welche  die 
Natur  mit  denselben  verknüpft,  nicht  Statt  haben  kann/  d.  h.  die  Phantasie 
hat  in  jenen  von  ihr  durch  Abstraction  isolirten  Begriffen  von  Baum  und 
Zeit  nur  das  Allgemeine  der  raumzeitlichen  Verhältnisse  herausgehoben,  das 
zwar  logisch  so  von  uns  isolirt  gedacht  werden  kann,  das  aber  in  Wirk- 
lichkeit nicht  existiren  kann  ohne  die  näheren  Bestimmungen,  welche  in  der 
Natur  sich  stets  bei  jenem  Allgemeinen  findend  Eben  deshalb  aber  ist 
daran  zu  zweifeln,  ob  denn  Sätze,  die  sich  nur  auf  jenen  erdachten  all- 
gemeinen Begriff  vom  Baum  beziehen,  in  der  concreten  Wirklichkeit  Gültig- 
keit haben,  wie  z.  B.  der  Satz  von  der  unendlichen  Theilbarkeit  des  Baumes  ^ 

Endlich  sind  jene  Ausführungen  auch  noch  geeignet,  einen  nahe- 
liegenden Einwand  gegen  Kants  Darstellung  zu  entkräften  (welcher  denn 
auch  in  der  That  nachher  von  Leibnizianern  erhoben  worden  ist,  so  von 
Pistorius,  A.  D.  B.  93,  457,  welcher  die  Anwendbarkeit  der  Mathematik 
gerade  aus  der  Leibniz'schen  Lehre  zu  erweisen  sucht).  Man  wird  ja  leicht 
dazu  kommen,  zu  sagen:  wenn  nach  der  Leibniz'schen  Lehre  die  Begriffe 
von  Baum  und  Zeit  in  letzter  Linie  aus  der  Erfahrung  stammen,  so  ist  es 
ja  ganz  selbstverständlich  und  braucht  nicht  erst  umständlich  erklärt  zu 
werden ,  dass  die  auf  jene  Begriffe  bezüglichen  mathematischen  Sätze  wieder 
von  den  Erfahrungsgegenständen  gelten.  Aber  nach  der  Leibniz'schen  Lehre 
werden  jene  von  der  Erfahrung  abstrahirten  Begriffe  von  der  Einbildungs- 
kraft verändert,  und,  was  von  diesen  so  veränderten  Begriffen  gilt, 
braucht  desshalb  nicht  ohne  Weiteres  von  den  Erfahrungsdingen  auch 
zu  gelten.  — 

Nachdem  Kant  so  die  Vortheile  und  Nachtheile  der  beiden  Theorien 
gegen  einander  abgewogen  hat,  verfehlt  er  nicht,  darauf  hinzuweisen,  dass 
seine  eigene  Theorie  die  Vortheile  beider  vereinige,  ohne  deren  Nachtheile 
herüberzunehmen.  Denn  bei  ihm,  wie  bei  der  Newton'schen  Theorie  ist  die 
immanente  Gültigkeit  der  Mathematik  garantirt,  und  wie  bei  der  Leib- 
niz'schen  Theorie,  wird  auch  bei  ihm  die  Möglichkeit  transscendenter 
Wesen  sichergestellt.  Natürlich  wird,  wenn  auch  Kant  diesen  Punkt  nicht 
ausdrücklich  hervorhebt,  dieses  günstige  Besultat  nur  dadurch  erreicht,  dass 
Kant  es  verstanden  hat,  zwischen  den  beiden  feindlichen  Theorien  eine 
Vermittelung  zu  stiften.  (Vgl.  Comm.  I,  59.)  Die  allgemeine  Ver- 
mittelungstendenz  Kants  haben  wir  ja  kennen  gelernt  (vgl.  Band  I,  S.  49  ff.). 
Die  Vermittelung  besteht  hier  näher  in  Folgendem:  Von  Newton  nimmt 
Kant  herüber  die  Bestimmung,  dass  der  Baum  (dasselbe  gilt  dann  auch 
von  der  Zeit)  ein  Etwas  sei,  was  alles  Wirkliche  befasst,   und  so  müssen 


^  Ist  dies  vielleicht  auch  der  Sinn  der  dunkeln  Stelle  der  Dissertation  von 
1770,  §  15  E  fffiegatis  forsitan,  a  quibus  ahstracta  erat,  determinationihua^^ ?  (Den 
Anfang  dieser  Stelle  s.  oben  S.  284.) 

2  Vgl.  hiezu  Reichardt  in  Wundts  Philos.  Studien ,  IV  (1888) ,  S.  613  ff. 
(Leibniz'  und  Wolffs  Ansicht  über  die  Entstehung  der  mathematischen  Begriffe). 


422  Excurs.    Entstehung  der  Kantischen  Raum-  und  Zeitlehre. 

A  40.  B  57.  [R  48,  H  71.  K  88.] 

die  Sätze  vom  Räume  von  Allem  im  Räume  gelten ;  aber  jenes  allumfassende 
Etwas  ist  unsere  Anschauungsform,  wir  selbst  sind  gleichsam  die  Träger 
jenes  ungeheuren,  unermesslichen  Gefösses,  in  welchem  alles  Wirkliche  unter- 
gebracht wird:  aber  nur  alles  Empirisch- Wirkliche;  denn  indem  jene  Form 
eben  eine  Function  unseres  Subjectes  ist,  gilt  die  Form  auch  nur  von  dem, 
was  uns  empirisch  vorkommen  kann.  Und  darin  liegt  ja  auch  das  an 
Leibniz  erinnernde  Moment:  indem  jene  Raumform  eben  nur  von  Erschei- 
nungen gilt  und  gelten  kann,  bleibt  noch  ein  an  sich  seiendes  Gebiet  von 
Dingen  an  sich  übrig,  welche  als  übersinnliche  jene  Form  nicht  an  sich 
haben  oder  wenigstens  nicht  an  sich  zu  haben  brauchen.  Mit  jener  Be- 
stimmung, der  Raum  sei  subjective  Form,  hebt  ja  Kant  auch  noch  alle 
Schwierigkeiten,  welche  der  Leibniz'schen  Raum-  und  Zeittheorie  ankleben, 
insbesondere  jene  unklare  Vermischung  von  Phänomenen  und  Dingen  an 
sich,  jenes  Schwanken  zwischen  bloss  empirisch-phänomenaler  und  zwischen 
transscendenter  Gültigkeit  von  Raum  und  Zeit.  Und  sehr  nahe  liegt  ja 
nun  die  Vermuthung,  dass  Kant,  ehe  er  jenen  vermittelnden  Ausweg  fand, 
die  entgegengesetzten  Theorien  von  Leibniz  und  Newton  selbst  nach  einander 
getheilt  und  in  sich  selbst  gewissermassen  erlebt  habe.  Nur,  nachdem  er 
es  mit  beiden  Theorien  versucht  hatte,  nachdem  er  aber  in  beiden  unlösbare 
Schwierigkeiten  gefunden  hatte,  konnte  er  zwischen  Scylla  und  Charybdis 
die  sichere  Durchfahrt  gewinnen. 

Excurs. 

Die  historiBche  Entstehung  der  Kantischen  Baum-  und  Zeitlehre. 

Hier  ist  nun  der  richtige  Ort,  eine  vielbehandelte  und  schwierige  Streit^ 
frage  im  Zusammenhang  zu  erörtern,  die  Frage  nach  der  historischen  Ent- 
stehung der  Kantischen  Raum-  und  Zeitlehre,  eines  der  schwierigsten  Probleme 
der  Kantischen  Entwicklungsgeschichte.  Wir  haben  eben  noch  die  Vermuthung 
gewagt,  Kant  habe  die  beiden  von  ihm  hier  bekämpften  Theorien  selbst 
nach  einander  getheilt,  und,  so  zu  sagen,  in  sich  selbst  durchgemacht.  Diese 
Vermuthung  wird  durch  Kants  frühere,  vorkritische  Schriften  bestätigt  ^ 


^  üeber  Kants  vorkritische  Raumtheorien  und  deren  Verhältniss  zu  Leibniz 
und  Newton  vgl.  die  Comm.  I,  47  angeführte  entwicklungsgeschichtliche  Literatur, 
und  besonders  femer  Ueberweg,  Der  Grundgedanke  des  K.*fichen  Kriticismns 
nach  seiner  Entstehungszeit  (1769),  Altpr.  Monatsschr.  Bd.  VI  (1869)  H.  3.  Cohen, 
Die  System.  Begriffe  in  Ks.  vorkritischen  Schriften,  1878,  S.  44—58.  Nolen,  La 
critique  de  Kant  et  la  metaphysique  de  Leibniz,  1875,  S.  162  ff.  Fischer,  in,*, 
119ff.  125 f.  129.  171  f.  207.  216.  276-282.  Thiele,  Philosophie  Kants  I,  a,  122ff. 
152  ff.  173  ff.  I,  b,  50.  135.  236—250.  H.  Wolff,  Spec.  u.  Phil.  I,  35-40.  74  ff. 
Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  18  f.  33  f.  35  ff.  Derselbe  auch  in  der  Allg. 
Encyclop.  Art.  Kant  S.  350  ff.  Weisz,  Ks.  Lehre  von  Raum  u.  Zeit.  Diss.  Leipz. 
1872,  S.  l—ll.    Kuttner,  Hist.-gen.  Darstellung  v.  Ks.  versch.  Ansichten  üb.  d. 


Kants  Ansichten  über  Raum  und  Zeit  1746-1758.  423 

Mit  den  Problemen  von  Raum  und  Zeit,  speciell  mit  der  Frage  nach 
dem  Wesen  des  Raumes,  hat  sich  Kant  von  Anfang  an  intensiv  beschäftigt. 
Er  schloss  sich  in  diesem,  wie  in  den  anderen  Hauptpunkten,  zuerst  an  die 
L ei bniz-Wolf fische  Schule  an..  Sogleich  in  seiner  ersten  Schrift,  den 
Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  u.  s.  w.  (1746)  erklärt  Kant  (§  6—9): 
„Es  ist  leicht  zu  erweisen,  dass  kein  Raum  und  keine  Ausdehnung  sein 
würden,  wenn  die  Substanzen  keine  Kraft  hätten,  ausser  sich  zu  wirken. 
Denn  ohne  diese  Kraft  ist  keine  Verbindung,  ohne  diese  keine  Ordnung, 
und  ohne  diese  endlich  kein  Raum.''  Eine  Consequenz  davon  ist,  dass  es 
mehrere  Welten  geben  kann,  weil  eben  jede  Welt  =  eine  zusammengehörige 
Vielheit  wirkender  Substanzen  ihren  eigenen  Raum  hervorbringt  (§  8),  und 
dass  die  Räume  dieser  anderen  Welten  „Ausdehnungen  von  mehr  als  drei 
Abmessungen",  also  „andere  Raumesarten''  sein  können  (§  10.  11 ;  vgl.  oben 
S.  267.  347).  Von  grösserer  praktischer  Tragweite  ist  die  Consequenz,  dass 
zwischen  der  auf  blossen,  theilweise  willkürlichen  Abstractionen  beruhenden 
Mathematik  und  der  sich  strict  an  die  concreten  Kräfte  haltenden  Natur- 
lehre (resp.  Metaphysik)  Differenzen  entstehen  können:  »Der  Körper  der 
Mathematik,  die  den  Begriff  von  ihrem  Körper  selber  festsetzt,  ist  ein  Ding^ 
welches  von  dem  Körper  der  Natur  ganz  unterschieden  ist,  und  es  kann 
daher  etwas  bei  jenem  wahr  sein,  was  doch  auf  diesen  nicht  zu  ziehen  ist" 
(§  114.  115).  Während  die  Nova  Dilucidatio  (1755)  UI,  prop.  12  u.  13,  2,  5 
jene  Theorie  wiederholt:  Qtwniam  locus,  situs,  spatium  sunt  relationes  suh- 
stantiarum,  und:  spatii  notio  implicatis  substantiarum  actianibus  absolvitur, 
jedoch  mit  dem  Zusatz,  dass  das  Princip  dieser  actio  die  attractio  Netotoniana 
sei,  während  auch  die  „Allg.  Naturgesch.  d.  Himmels"  (1755)  in  ähnlicher 
Weise  sagt:  „Die  Anziehung  ist  ohne  Zweifel  eine  ebenso  weit  ausgedehnte 
Eigenschaft  der  Materie,  als  die  Coexistenz,  welche  den  Raum 
macht,  indem  sie  [die  Attraction]  die  Substanzen  durch  gegenseitige  Ab- 
hängigkeiten verbindet"  u.  s.  w.  (R.  VI,  154)  —  sucht  dagegen  die  Monado- 
logia  Physica  (1756)  ^  jenen  in  der  Leibniz^schen  Schule  behaupteten  Wider- 
streit zwischen  Geometrie  und  Metaphysik  aufzuheben,  und  den  „usus  meta- 
phy siede  cum  geometria  junctae"  nachzuweisen.  „Sed  quo  tandem  pcLcto 
metaphysicam  geometriae  concüiare  licet,  cum  gryphes  fadlius  equis,  quam 
phüosophia  transscendentalis  geometriae  jungi  posse  videiUur  ?  Etenim  cum  illa 
spatium  in  infinitum  divisibüe  esse  praefracte  neget,  haec  eadem,  qua  cetera 
solet,  certitudine  asseverat,  etc.^    Diesen  Widerspruch,  auf  den  Kant,  wie  wir 


Wesen  d.  Materie.  Diss.  Halle  1881,  S.  6  ff.  Caird,  CrH.  Phil  I,  164  ff.  In 
russischer  Sprache  ist  erschienen:  Kosloff,  Die  Entwicklung  der  Raum-  und  Zeit- 
lehre Ks.  Kiew  1884-  Vgl.  Du  Marchie  van  Voorthuysen,  Nagelaten  Geschriften, 
I  (1886);  (vgl.  Phü.  Monatsh.  XXIV,  209.    Archiv  f.  Gesch.  d.  Phüos.  III,  507.) 

*  üeber  die  Wichtigkeit  dieser  kleinen  Schrift  für  die  Entwicklung  der 
Kantischen  Raumlehre  vgl.  Simmel,  Das  Wesen  d.  Materie  nach  Ks.  Phys.  Monad. 
Diss.  Berlin  1881,  S.  23—25,  sowie  Kuttners  eben  erwähnte  Dissertation, 
S.  23  ff.  48  ff. 


424  Ezcnrs.    Entstehung  der  Eantischen  Raum-  und  ZeiÜehre. 

sahen  (S.  281  ff.  418  ff.) ^  noch  oft  zurückgekommen  ist,  ist  offenbar  auch 
eine  Antinomiej  die  zu  den  treibenden  Factoren  bei  der  Ausbildung  des 
transsc.  Idealismus  gehört';  auch  hier  will  Kant  sie  schon  iGsen,  aber  noch 
ganz  vom  Boden  der  Leibniz'schen  ßaumtheorie  aus;  denn  daran  h&lt  er 
fest:  spatiutn  est  suhstantialitatis  plane  expers,  et  relationis  extemae 
unitarum  monadum  phaenomenon  {Prop.  V,  vgl.  oben  S.  359  N.) ;  spatium  nan 
est  suhstcvntia,  sed  est  quoddam  externae  substantianim  relationis  phaenomenon 
{Prep,  V);  spatium  solis  externis  respeetibus  absolvitur  {Prop,  VII).  Da  nun 
jenen  SuhstafUiae  =  Monaden  nach  der  Leibniz'schen  Schule  Einfachheit  (sim- 
plicitas,  indivisibilitas)  zukommt,  so  geräth  dieselbe  mit  der  mathematischen 
Lehre  von  der  infinita  divisibilitas  spatii  in  Conflict.  Während  die  Leibniz'sebe 
Schule  daher  die  diversitcts  spatiorum  geometrici  et  naturalis  behauptet,  et^  qui 
monadibus  suhscribunt,  spatii  geometrici  affectiones  pro  imaginariis  habere, 
suarum  partium  rati  sint,  sucht  Kant  zu  zeigen,  dass  auch  der  physische 
Baum  („spatium  physicum'^  vgl.  Prot,  §  13  I,  vgl.  oben  S.  169)  unendlich 
theilbar  sein  könne,  unbeschadet  der  simplicitas  seiner  Componenten,  der 
Monaden:  Die  Monade  ist  zwar,  metaphysisch  genommen,  einfach,  erfüllt 
aber,  physisch  genommen,  einen  bestimmten,  also  auch  ins  unendliche  theil- 
baren  Raum.  K.  Fischer  (3.  A.  276  f.)  lässt  Kant  in  diesen  Schriften  schon 
die  ursprünglich keit  des  Baumes  im  Newton'schen  Sinne  behaupten;  aber 
wie  sehr  Kant  um  diese  Zeit  noch  principiell  auf  dem  Boden  der  Leibniz- 
sehen  Baumtheorie  steht,  zeigt  auch  noch  der  „Neue  Lehrbegriff  der  Be- 
wegung und  Buhe"  (1758),  worin  Kant  sich  nicht  den  „mathematischen 
Baum  leer  von  allen  Geschöpfen  als  ein  Behältniss  der  Körper  einbilden^* 
will;  diese  Schrift  gehört  ja  noch  der  dogmatischen  Periode  Kants  an. 

Die  zweite,  empiristische  Periode  der  Käntischen  Schriftstellerei 
bringt  zunächst  skeptische  Aeusserungen  über  die  bisherigen  metaphysischen 
Baumtheorien,  um  in  dem  entschiedenen  Anschluss  an  die  Theorie  des 
Führers  der  „mathematischen  Naturforscher",  Newtons  zu  endigen  \  In 
dem  ,. Beweisgrund"  (1762;  ich  folge  in  der  Datirung  der  Schriften  dieser 
Periode  B.  Erdmann,  Beflez.  II,  XVII)  heisst  es  I,  1:  „Ich  zweifle,  dass 
Einer  jemals  richtig  erklärt  habe,  was  der  Baum  sei"  u.  s.  w.  In  der 
Preisschrift  „Ueber  die  Deutlichkeit"  (1763)  heisst  es  entsprechend  (2.  Betr. 
Anf.):  „Ich  getraue  mir  zu  sagen,  dass,  ob  man  gleich  viel  Wahres  und 
Scharfsinniges  von  der  Zeit  gesagt  hat,  dennoch  die  Bealerklärung  derselben 
niemals  gegeben  worden ;"  was  die  Methode  dazu  betrifft,  so  wiederholt  Kant 
mehrfach,  dass  die  Philosophie  darauf  angewiesen  sei,  diese  „uns  gegebenen 
Ideen"  durch  Zergliederung,  Analysis  aufzuhellen,  und  dass  dieselbe  dabei 
auf  „unerweisliche  Begriffe  und  Grundurtheile"  stosse,  die  man  nicht  mehr 
„beweisen",  sondern  nur  „anschauend  erkennen"  könne:   daraus  folgt,  dass 


^  Ueber  den  Einfluss  Newtons  vgl.  speciell  Dietrich,  Kant  und  Newton, 
1877.  Vgl.  Cohen,  2.  A.  22—24.  63—66.  68  ff.  81.  85.  86  f.  Biehl,  Krit 
I,  234—242.  256  ff.  Derselbe  weist  ib.  36—43  auch  auf  Locke  als  .psychologiachea 
Vorgänger  Kants*  in  der  Baumlehre  hin. 


Kants  Ansichten  über  Raum  und  Zeit  1762-1768.    1770.  425 

ihm  auch  der  Raum,  den  er  vorher  mit  Leibniz  noch  ableiten  wollte,  ein 
nicht  weiter  analysirbarer  „Grundbegriff*  geworden  ist.  Im  Verlauf  der 
zweiten  Betrachtung:  „einzig  sichere  Methode  der  Metaphysik  in  der  Er- 
kenntniss  der  Natur  der  Körper"  wird  zwar  wieder  von  den  „einfachen  Sub- 
stanzen" oder  „Elementen"  im  Leibniz'schen  Sinne  gesprochen,  aber  es  heisst 
jetzt  bezeichnender  Weise  nicht  mehr,  dass  das  Zusammen  derselben  erst  den 
Baum  hervorbringe^  sondern  dass  die  Elemente  in  nexu  cum  cUm  einen 
Raum  einnehmen.  In  welchem  Sinne  dies  gemeint  ist,  darauf  weist  auch 
die  Vorrede  zu  den  „Negativen  Grössen"  (1763)  hin,  in  welcher  Kant  den 
Metaphysikern  Vorwürfe  macht,  dass  sie  „aus  den  Begriffen  des  Mathe- 
matikers nichts  als  feine  Erdichtungen  machen",  anstatt  im  Gegentheil  bei 
ihnen  Forschungen  nach  der  „Natur  des  Raumes  und  dem  obersten  Grund, 
daraus  sich  dessen  Möglichkeit  verstehen  lässt",  von  den  Errungenschaften  der 
Mathematik  auszugehen;  diese  entdecke  die  allgemeinsten  Eigenschaften  des 
(concreten)  Raumes,  während  die  Metaphysik  diesen  „auf  eine  ganz  abstracte 
Art  denkt" ;  besonders  werden  die  Metaphysiker  an  dieselbe  Abhandlung 
Eulers  von  1748  (Befleanons  sur  Vespace  et  le  tems)  gewiesen,  auf  welche 
Kant  dann  auch  in  dem  Aufsatz  von  1768  sich  beruft,  und  in  welcher  jener 
Gegensatz  zwischen  den  „McUhemcUiciens^*  und  den  „Metaphysiclens"  sehr  klar 
entwickelt  wird.  Dazwischen  liegen  noch  die  „Träume"  (1766),  aus  denen 
nur  zu  erwähnen  ist,  dass  in  dem  Abschnitt,  der  allein  ernst  zu  nehmen  ist 
(Erster  Theil,  1.  Hauptst.),  mehrfach  wieder  davon  die  Rede  ist,  dass  die 
einfachen  Substanzen  „in  dem  Räume  vereinigt",  „durch  ihre  äussere  Wir- 
kung in  einander"  „einen  Raum  einnehmen".  Dass  nun  dieser  Raum 
„unabhängig  von  dem  Dasein  der  Materie  und  selbst  als  der  erste  Grund 
der  Möglichkeit  ihrer  Zusammensetzung  eine  eigene  Realität  habe"  —  dieses 
durch  die  vier  eben  besprochenen  vorhergehenden  Schriften  vorbereitete  Er- 
gebniss  wird  nun  endlich  1768  in  voller  Klarheit  ausgesprochen  in  dem 
Aufsatz  über  die  „Gegenden  im  Räume",  in  welchem  Kant  der  Raumtheorie 
der  ,, deutschen  Philosophen"  eine  definitive  Absage  schreibt,  und  sich  den- 
jenigen „scharfsinnigen  Philosophen"  anschliesst,  welche  den  Raum  der  „Mess- 
künstler" in  den  Lehrbegriff  der  Naturwissenschaft  aufgenommen  haben. 
Kant  schliesst  sich  an  Eulers  ,,espace  ahsoW  an  und  damit  ist  der  An- 
schluss  an  Newton  und  Clarke  vollzogen.  Der  Raum  ist  jetzt  für  Kant  ein 
anschaulicher  Grundbegriff,  nicht  mehr  im  Sinne  der  Leibnizianer  ein  ab- 
stracter  Folgebegriff.     Vgl.  oben  S.  413. 

Die  Dissertation  von  1770  enthält  schon  Kants  kritische  Raum- 
theorie in  allen  ihren  wesentlichen  Zügen.  Seine  vorkritischen  Anschau- 
ungen über  den  Raum  sind  also  in  der  That,  wie  uns  die  Analyse  des 
Textes  der  Kr.  d.  r.  V.  vermuthen  liess,  durch  die  beiden  Stadien  der 
Leibniz'schen  und  der  Newton'schen  Raumtheorie  hindurchgegangen. 
Aber  wenn  auch  diese  beiden  Theorien  sich  dadurch  wesentlich  unterscheiden, 
dass  der  ersteren  der  Raum  ein  blosses  Folgeverhältniss  ist,  der  zweiten  da- 
gegen eine  ursprüngliche  Substanz,  so  haben  sie  doch  das  Gemeinsame,  dass 
der  Raum  beiden  etwas  Reales  und  Objectives  ist :  sie  „behaupten  die  abso- 


426  Excurs.    Entstehung  der  Kantischen  Raum-  und  Zeitlehre. 

lute  Realität  *  des  Raumes  nnd  der  Zeit'',  die  erstere  „als  inhärirend'',  die 
andere  ,,als  subsistirend'',  um  mit  Kants  eigenen  Worten  aus  der  Kr.  d.  r.  V. 
zu  sprechen.  Auch  Kant  glaubt,  um  uns  Fischers  treffender  Worte  (3.  A. 
120)  zu  bedienen,  „an  das  objective  Dasein  des  Ranmes  sowohl  in  seiner 
ersten  Schrift  von  der  wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte  (1746),  als 
in  der  letzten  (1768),  die  von  dem  k  r  i  t  i  s  c  h  e  n  Wendepunkte  nur  um  zwei 
Jahre  absteht .  .  .  Vergleichen  wir  diese  Urtheile,  welche  Kants  erste  [vor- 
kritische]  Periode  begrenzen,  so  halten  beide  den  Raum  für  etwas  Ob- 
jectives,  aber  im  ersten  erscheint  der  Raum  als  das  Product  der  Körper, 
im  zweiten  als  deren  Voraussetzung.  Vergleichen  wir  mit  diesem  Ur- 
theile die  kritische  Philosophie  [seit  1770],  so  halten  beide  den  Raum  für 
etwas  Ursprüngliches,  aber  nach  jenem  bildet  der  Raum  eine  ursprüngliche 
Realität,  unabhängig  von  unserer  Anschauung;  nach  dieser  ist  er  nichts 
Anderes,  als  eine  Grundform  der  letzteren.  Kant  endet  seine  vorkritische 
Periode  damit,  dass  er  die  Ursprünglichkeit  des  Raumes  behauptet  und  die 
Objectivität  desselben  festhält,  wogegen  die  kritische  damit  beginnt,  dass  er 
die  Ursprünglichkeit  des  Raumes  festhält  und  die  Idealität  desselben  entdeckt/' 
Die  Position  Kants  im  Jahre  1770  ist,  wie  auch  aus  dieser  Schildemng 
hervorgeht,  somit  im  Grunde  als  eine  eigenartige  Synthese  der  L#eibniz- 
sehen  und  der  Newton'schen  Raumtheorie  zu  betrachten  (vgl.  Comm.  l,  59 
und  oben  S.  343  u.  421  f.)  *.  Die  Vermittlung  von  Gegensätzen  ist  ja,  wie 
wir  schon  Comm.  I,  58  statuirten  und  seitdem  oft  bestätigt  fanden,  ein 
hervorstechendes  Merkmal  in  Kants  geistiger  Constitution.  Von  Newton 
nimmt  Kant  die  Ueberzeugung  herüber',  dass  der  Raum  das  Prius  der 
Körper  ist,  dass  er  erst  die  Objecte  und  deren  Verhältnisse  möglich  macht; 
aber  dieser  die  Körper  in  ihm  erst  ermöglichende  Raum,  der  im  Verhältniss 


^  Inwiefern  auch  die  Leibniz'sche  Philosophie  die  „absolute  Realität*  des 
Raumes  und  der  Zeit  lehre,  ist  oben  S.  416  ff.  hinreichend  erläutert  worden. 

*  Wie  sehr  die  Idee  einer  solchen  Vermittlung  in  der  Luft  lag,  beweist  der 
Umstand,  dass  Beguelin  1769  in  der  Berliner  Academie  (Vol.  XXV,  344  ff. ;  vgL 
XXII ,  365  ff.)  eine  Abhandlung  unter  dem  Titel  veröffentlichte :  ConcHiation  des 
idies  de  Newton  et  de  Leibnitz  sur  Vespace  et  le  vuide. 

'  Kant  hat  1770  von  Newton  auch  die  eigenthümliche  Idee  herübergenommen 
von  dem  spatium  als  dem  sensorium  Dei.  Auch  M.  Herz  in  seinen  , Betrachtungen 
a.  d.  sp.  Weltweisheit '',  S.  84  betont  diesen  Zusammenhang.  Siehe  Weiteres  hiei^ 
über  bei  B.  Erdmann,  Ks.  Reflexionen,  II,  104—106.  —  Auf  einen  anderen  Zn- 
sammenhang  mit  Newton  deuten  die  Bemerkungen  hin,  welche  Kant  in  dem  Opm^t 
Postumum,  XXI,  352.  356.  359.  360  über  die  Ableitung  der  Idealitätslehre  aus  dem 
,Newton'schen  Attractionssysteme*  macht.  —  Den  leichten  Uebeigang  von  Newton 
zu  Kant  behauptete  auch  Schwab,  in  Eberhards  Philos.  Magazin  III,  132  (vgl. 
auch  in   der  Berliner  Monatsschr.  XVII,  89):   Kant  scheine   ,  seinen   Begriff  vom 

» 

R-aume  durch  Uebertragung  des  Newton'schen  Sensorii  von  der  Gottheit  auf  das 
menschliche  Gemüth  formirt  zu  haben**  (wogegen  Forberg  in  Reinholds  .Fnnda- 
ment**  S.  200  heftig  opponirt).  —  Weiteres  über  das  Verhältniss  Kants  zu  Newton 
8.  bei  Caird,  Phil  of  Kant  245.     Cnt,  Phil.  I,  181.  288.  304. 


Wie  kam  Kant  zu  seiner  Entdeckung  vom  Jahre  1770?  Durch  Uume?    427 

zu  den  Körpern  in  ihm  absolut  ist,  ist  nun  nach  Kant  im  Yerhältniss  zu 
dem  vorstellenden  Subject  nur  relativ:  er  wird  vom  Subject  getragen;  und 
dieser  Gedanke  ist  nichts  als  eine  Art  Umbildung  der  L  e  i  b  n  i  z'schen  Re- 
lativitätstheorie, sowie  seines  Begriffes  vom  phaenamenan,  welche  beide  Kant 
von  ihren  Widersprüchen  befreite,  indem  er  von  der  in  der  Wolffischen 
Schule  üblichen  Fassung  der  Monaden,  wonach  sie  den  physischen  Raum 
ausser  uns  realiter  hervorbringen,  auf  die  streng  metaphysische  Fassung  der 
Monadenlehre  bei  Leibniz  zurückgriff,  wonach  der  Raum  schlechterdings  nur 
ein  ideelles  Phänomen  in  uns  ist.  Vgl.  oben  S.  147.  Das  Originale  an  jener 
Synthese  bleibt  aber  der  Gedanke  der  apriorischen  Anschauungs- 
form,  welcher  als  durchaus  neu'  in  Anspruch  zu  nehmen  ist  (vgl.  oben 
S.  102— 106):  vermittelst  dieses  Begriffes  gelingt  es  Kant,  „den  unendlichen 
leeren  Weltenraum  als  subjective  Denkform  in  das  eigene  Hirn  hineinzu- 
pressen" (Bilharz,  Erl.  zu  Ks.  Kr.  d.  r.  V.  160). 

Wie  nun  aber  Kant  zu  dieser  Entdeckung  vom  Jahre  1770  gekommen 
sei,  ist  eine  vielumstrittene  Frage.  Der  allgemeinen  Möglichkeiten,  welche 
hier  vorliegen,  sind  es  drei:  entweder  durch  einen  äusseren  Anstoss,  oder 
durch  immanente  Entwicklung,  oder  durch  Beides  zusammen.  Die  erstere 
Ansicht  ist  entwickelt  worden  von  Göring,  System  der  krit.  Phil.  II  (1875), 
S.  121  ff.,  sowie  gleichzeitig,  aber  viel  schärfer  von  Paulsen,  Entw.  der 
K.'schen  Erk.-Theorie,  1875,  S.  125 — 146.  Paulsen  meint,  wie  auch  Göring, 
nicht  „in  rein  innerer  Entwicklung"  habe  Kant  das  Resultat  von  1770  ge- 
Wonnen,  sondern  es  sei  der  Einfiuss  Hume's,  „aus  welchem  ihm  der  neue 
Gesichtspunkt  der  kritischen  Philosophie  entsprang",  d.  h.  nicht  etwa  der 
positive  Einfiuss  desselben,  sondern  die  Re actio n  gegen  seinen  Skepti- 
cismus.  Hume's  skeptische  Behandlung  des  Gausalbegriffes  habe  Kant  den 
Untergang  aller  Wissenschaft  befürchten  lassen ;  Kant  sei  daher  zur  Ansicht 
gelangt,  der  Causalbegriff  sei  nicht  ein  empirischer,  sondern  ein  reiner  Ver- 
standesbegriff, ein  apriorisches  Gesetz  des  Verstandes,  das  Gültigkeit  besitzt 
für  die  Noumena.  Erst  von  hier  aus  habe  Kant  nun  auch  die  Idee  aprio- 
rischer Gesetze  der  Sinnlichkeit  gefasst  und  habe  durch  die  Theorie  solcher 
auch  die  von  Hume  (136—138)  und  von  der  Leibniz- Wolffischen  Schule 
(141 — 143)  bestrittene  Gültigkeit  der  angewandten  Mathematik  gerettet '. 


*  Durch  diesen  Begriff  unterscheidet  sich  Kants  Raumtheorie  scharf  von 
allen  ähnlichen  Theorien,  mit  denen  man  dieselbe  verglichen  hat,  nicht  nur  von 
der  Leibni Zusehen,  sondern  auch  von  denen  Berkeley's  und  Maupertuis' 
(über  Letzteren  als  Vorgänger  Kants  vgl.  Frauenstädt ,  Briefe  140  ff. ;  Gwinner, 
Schopenhauers  Leben,  2.  A.,  1878,  S.  560—563,  dazu  Schopenhauer  selbst,  W.  a.  W. 
II,  57;  übrigens  auch  schon  Villers,  Phil,  de  Kant,  11,  173  ff.)-  Bass  Hobbes  auf 
dem  Wege  zu  Kant  gewesen  sei,  behaupten  die  Jacob'schen  Annalen  I,  417  ff. 
natürlich  mit  Unrecht;  vgl.  darüber  auch  Tiedemann,  Geist  d.  specul.  Philos. 
VI,  43  ff.  Ueber  Condillac's  Raumtheorie  im  Verhältniss  zur  Kantischen  vgl. 
Neeb,  Verm.  Schriften  I,  144  ff. 

•  Vgl.  auch  Cohen,  Ks.  Theorie  d.  Erf.  2.  A.  94.  Ueber  das  Verhältniss 
Hume's  hierin  zu  Kant  vgl.  auch  Compayre,  Hume  135  ff. 


428  Excurs.    Entstehung  der  Eantiflchen  Raum-  und  Zeitlehre. 

Die  Baumtheorie  von  1770  erscheint  hier  also  als  ein  blosses  Neben- 
pro duct  jener  Beaction  gegen  Hume,  deren  Zeit,  unter  Benutzung  d^ 
bekannten  Ean tischen  Selbstzeugnisses  von  1783  (vgl.  Comm.  I,  340  ff.)  Paulsen 
eben  ins  Jahr  1770  verlegt.  Allein  diese  Auffassung  fahrt  zu  einer  äusserst 
gezwungenen  Auslegung  der  Dissertation  von  1770,  deren  Schwerpunkt  doch 
eben  in  der  Baum-  und  Zeitlehre  liegt,  während  die  Causalitätslehre  gerade 
in  ihr  so  gut  wie  keine  Bolle  spielt.  Auch  passt  der  Einfluss  Hume's  auf 
Kant,  wie  ihn  Letzterer  so  drastisch  1783  geschildert  hat,  auf  dieses  Jahr 
am  allerwenigsten,  sondern  nur  entweder  auf  1762  oder  auf  1772,  oder  auch 
auf  Beides,  aber  nimmermehr  auf  1770  (vgl.  Comm.  I,  48.  347).  Das  schliesst 
natürlich  nicht  aus,  dass  manche  von  den  mannigfachen  Oedankenreihen, 
welche  Hume  in  Kants  Geiste  seit  1762  aufgeregt  hatte,  auch  noch  im 
Jahre  1770  wirkten  und  mitwirkten.  Diese  anvi^ia  ist  den  Hume'schen 
Problemen  auch  im  Jahre  1770  neidlos  zuzugestehend  Aber  dass  sie,  wie 
Paulsen  meint,  in  jener  von  Kant  1783  geschilderten  Weise  im  Jahre  1770 
entscheidend  eingegriffen  hätten,  kann  nicht  anerkannt  werden.  Jene 
Auffassung  Paulsens  ist  mitbedingt  durch  sein  Bestreben,  aus  der  Ent- 
wicklungsgeschichte der  Kantischen  Erkenntnisstheorie  auch  seine  Auf- 
fassung vom  Hauptzweck  des  erkennto isstheoretischen  Systems  Kants  zu 
stützen ,  als  welcher  ihm  der  Bationalismus  gilt  (Comm.  I;  67  ff.).  Diese 
Frage  lässt  sich  aber,  wenn  für  sie  überhaupt  sichere  entwicklungsgeschicht- 
liche Kriterien  in  Betracht  kommen,  mindestens  nicht  aus  der  Genesis  des 
Standpunktes  von  1770  beantworten,  sondern  nur  aus  der  Beurtheilung  der 
Jahre  1772  ff.,  in  welchen,  wie  B.  Erdmann  gezeigt  hat,  erst  die  entscheidende 
kritische  Wendung  zu  Stande  gekommen  ist.  Vgl.  hierüber  auch  B.  Erd- 
mann in  der  Einl.  zu  Ks.  Beflex.  II,  XXIV. 

In  anderer  Weise  hat  Windelband  (Viert,  f.  wiss.  Phil.  I,  1876, 
233—289.  Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  30  ff.  Gesch.  d.  Philos.  366  f.)  die  Theorie 
des  äusseren  Anstosses  für  das  Jahr  1770  ausgebildet:  die  erst  im  Jahr  1765 
ans  Licht  getretenen  Nouveaux  Essais  von  Leibniz  haben  die  Wendung 
im  Jahre  1770  bei  Kant  zur  Folge  gehabt;  aus  ihnen  entnahm  Kant  den  pla- 
tonisirenden  scharfen  unterschied  des  mundus  sensibilis  und  inteUigibüis,  aus 
ihnen  die  Lehre  von  angeborenen  Gesetzen  der  Vernunft,  welche  bei  Ge- 
legenheit der  Erfahrung  in  Action  treten ;  diese  „Abhängigkeit  schlage  aller^ 
dings  in  partiellen  Gegensatz  um'',  insofern  Kant  den  graduellen  Unterschied 
von  Sinnlichkeit  und  Verstand  bei  Leibniz  in  einen  qualitativen  verwandle', 
und  die  Sinnlichkeit  als  ein  positives  Vermögen  a  priori,   als  Function  der 


^  Ob  Kant  durch  Hume  schon  um  jene  Zeit  und  überhaupt  vor  dem  Jahre 
1772  in  erkenntnisstheoretischer  Hinsicht  beeinflusst  worden  sei,  ist  allerdings  durch 
die  eindringenden  Untersuchungen  von  B.  Erdmann,  Kant  und  Hume  um  1762« 
im  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  I,  62  ff.  216  ff.  wieder  sehr  fraglich  geworden. 

^  Kant  polemisirt  ja  deshalb,  wie  zu  A  42  ff.  (s.  unten  447  ff.)  zu  behandeln 
sein  wird,  heftig  gegen  die  bloss  graduelle  Unterscheidung  Beider  in  der  Leibnix- 
Wolffischen  Philosophie. 


Der  EinfluBS  der  Leibniz'schen  Nouveaux  Essais  (1765).  429 

reinen  Anschauung  fasse.  „Der  Ursprung  dieses  originellsten  Gedankens  der 
K. 'sehen  Philosophie  liege,  wie  schon  K.  Fischer  gesehen  habe,  in  der  Mathe- 
matik, resp.  in  Es.  Auffassung  derselben  als  einer  zugleich  sinnlichen  und 
apriorischen  Erkenntniss'^ ;  auch  „zu  den  Betrachtungen  Hume's,  mit  denen 
Kant  rang,  lasse  sich  von  der  Leibniz'schen  Lehre  aus  sehr  einfach  eine 
Brücke  schlagen**  —  aber  das  entscheidende  Motiv  der  Wendung  von 
1770  liege  doch  in  dem  Leibniz'schen  Einflüsse.  Dass  dieser  Einfluss  die 
Dissertation  von  1770  in  der  That  wesentlich  mitbedingt  hat,  hat  auch 
dieser  Commentar  Ton  Anfang  an  behauptet,  I,  47,  und  durch  Hinweis 
auf  yiele  Uebereinstimmungen  im  Einzelnen  zu  beweisen  gesucht  (I,  157. 
167.  168.  170—172.  175.  178.  183  f.  197.  201.  202.  206.  211.  218.  237.  242. 
341.  360.  382.  452 ;  II,  90—95)  K 

Hingegen  haben  K.  Fischer  (Gesch.  III,  *,  312  ff.) ,  welcher  aber  ib. 
S.  341  die  Verwandtschaft  von  Leibniz  und  Kant  in  der  Raumlehre  selbst 
zugibt,  und  B.  Erdmann  (Ks.  Reflex.  II,  XXIII.  XL VIII)  opponirt,  indem 
sie  auf  die  Unterschiede  zwischen  den  Nouveaitx  Essais  und  der  Dissertation 
hinweisen;  aber  tiefgehende  Differenzen  auf  der  einen  Seite  schliessen  tief- 
gehende Verwandtschaft  auf  der  anderen  Seite  doch  nicht  aus.  Jene 
nahe  Verwandtschaft,  welche  unter  den  gegebenen  zeitlichen  Verhältnissen 
schwerlich  anders  denn  als  Beeinflussung  aufgefasst  werden  kann,  hat  ja 
auch  Kant  selbst  hervorgehoben,  nicht  bloss  1790  in  der  Schrift  gegen  den 
Leibnizianer  Eberhard,  am  Schlüsse  (vgl.  bes.  sub  II  daselbst),  wo  er  auch 
die  Kr.  d.  r.  V.  „die  eigentliche  Apologie  für  Leibniz"  nennt,  sondern  noch 
viel  directer  an  einer  bis  jetzt  kaum  beachteten  Stelle,  in  den  Met.  Anf.  d. 
Nat.  n,  Lehrs.  4,  Anm.  2  (Ros.  V,  357  f.).  Danach  habe  Leibniz  im  Wesent- 
lichen dasselbe  sagen  gewollt,  wie  Kant;  nur  seine  Nachfolger  hätten  ihn 
„übelverstanden".  Es  sei  eine  „Missdeutung"  derselben,  dass  der  Raum 
eine  verworrene  Vorstellung  der  Verhältnisse  der  Monaden  sei;  Leibniz' 
selbst  habe  denselben  nur  als  „subjective  Form  unserer  Sinnlichkeit"  an- 
gesehen. Aus  dieser  Stelle  kann  man  wohl  schliessen,  dass  Kant,  welcher 
ursprünglich  der  landläufigen  Theorie  der  Leibniz- Wolffischen  Schule  folgte 
—  gegen  diese  sind  ja,  wie  wir  S.  156  Anm.  1,  189  f.  207  Anm.  1,  211. 
233  sahen,  die  Raumargumente  gerichtet,  ~  dem  Originalstudium  der  Leibniz- 
schen  Werke,  besonders   eben   der   1765  erschienenen  Nouveaux  Essais  den 


^  Es  darf  hier  auch  an  die  gleichzeitige  Einwirkung  der  Nouveaux  Essais 
auf  Herder  erinnert  werden,  welche  Haym,  der  feinsinnige  und  verdienstvolle  Bio- 
graph des  Dichterphilosophen  I  in  seinem  monumentalen  Werk  über  denselben 
n,  265  ff.  667  im  Einzelnen  verfolgt  hat.  Da  Hamann  Herder  schon  am  21.  Jan. 
1765  anf  die  Nouveaux  Essais  aufmerksam  machte,  ist  anzunehmen,  dass  das  Werk 
auch  anderen  Königsbergem,  in  erster  Linie  Kant,  nicht  unbekannt  geblieben  sein 
wird.    Vgl.  auch  Kronenberg,  Herders  Philosophie,  1889,  S.  85  ff. 

'  Dass  die  ganze  Stelle  auf  Leibniz  zielt,  nicht,  wie  Frauenstädt,  Briefe  140  ff. 
meint,  auf  Maupertuis,  hat  im  Anschlass  an  Schopenhauer  auch  Gwinner  aus- 
geführt in  dem  .Leben"  des  Letzteren,  2.  A.  1878,  S.  560  ff.  —  Vgl.  über  die  Stelle 
auch  oben  S.  150  f. 


430  Excurs.    Entstehung  der  Kantischen  Raum-  und  Zeitlehre. 

Anstoss  znr  Aufstellung  seiner  Raumtheorie  mit  verdankt.  Wie  wenig  aber 
dieser  Anstoss,  wenn  er  stattgefunden  hat,  als  eine  sclavische  Abhängigkeit 
aufzufassen  ist,  darauf  wurde  ja  oben  S.  142 -- 151  hinreichend  hingewiesen, 
wo  ja  Kant  die  ungenügende  Berücksichtigung  Leibniz'scher  Gedanken  vor- 
geworfen werden  musste. 

Es  wäre  also  ein  Irrthum,  wollte  man  die  tiefgehenden  Differenzen 
zwischen  Leibniz  und  Kant  in  diesem  Punkte  übersehen;  wie  das  Letztere 
eine  Ungerechtigkeit  gegen  Kant  einschlösse,  so  würde  es  aber  auch  eine 
Unbilligkeit  gegen  Leibniz  sein,  wollte  man  ihm  das  Verdienst  absprechen, 
der  Kantischen  Raum-  und  Zeitlehre  durch  seine  eigene  Theorie  erst  die 
Wege  geebnet  zu  haben,  Kant  auf  den  richtigen  Weg  gefuhrt  zu  haben. 
Dass  speciell  die  Nouveaux  Essais  mit  ihrer  scharfen  Unterscheidung  des  mundus 
sensibilis  und  inteUigibilis  Keime  der  Kantischen  Dissertation  von  1770  und 
damit  der  Transscendentalen  Aesthelik  auch  von  1781  enthalten ,  hat  man 
schon  im  vorigen  Jahrhundert  vielfach  und  bald  eingesehen:  als  Zeugen 
haben  wir  oben  S.  91  Anm.  1  Schmid,  Schaumanu,  Abicht  von  den  Kantianern, 
Eberhard  und  Feder  von  den  Kantgegnern  angeführt.  Es  sei  hier  noch  auf 
Einen  hingewiesen,  der  zwischen  diesen  beiden  Kategorien  in  der  Mitte  steht, 
Platner,  welcher  (Aphorismen,  3.  A.  1793,  S.  486  f.,  auch  420)  die  These 
aufstellt  und  durchführt:  „Wenn  Kant  sagt,  der  Baum  ist  eine  Urform 
der  Sinnlichkeit,  so  ist  es,  meiner  Vorstellung  nach,  ganz  dasselbe,  was 
Leibniz  lehrt:  dass  die  Ausdehnung  eine  Weise  unseres  Vorstellungs- 
vermögens und  nichts  in  den  Dingen  selbst  ist/'  Ist  es  nun  auch  viel  zu 
weitgehend  \  zu  sagen,  Beides  sei  „ganz  dasselbe'^  —  denn  bei  Leibniz  fehlt 
eben  das  specifisch  Kantische:  der  Begriff  der  reinen  Anschauungsform  — , 
so  ist  es  immer  wieder  wer th voll,  daran  zu  erinnern,  dass  die  Wurzeln  der 
Kantischen  Philosophie  im  Leibniz'schen  Systeme  liegen,  wie  dies  denn  auch 
ein  Fragment  eines  Briefes  von  Kant  an  Kästner  aus  dem  Jahre  1790  aus- 
sagt (mitgetheilt  von  J.  G.  Mussmann,  Im.  Kant,  Halle  1822,  8.  16;  vgl. 
oben  S.  255):  ,,Wenn  sein  System  völlig  entwickelt  wäre,  würde  man  sehen, 
dass  er  die  Leibnizische  Theorie  nicht  bestreiten,  sondern  erläutern  und  be- 
festigen wolle."  Darf  doch  auch  in  diesem  Zusammenhange  daran  erinnert 
werden,  dass  Kants  Dinge  an  sich,  wie  B.  Erdmann  nachgewiesen  hat, 
nichts  anderes  sind,  als  so  zu  sagen,  verschämte  Leibniz'sche  Monaden. 


^  Platner  hatte  diese  Identification  der  beiden  Theorien  schon  1784,  in 
der  2.  A.  seiner  Aphorismen  S.  305 ff.  vollzogen.  Hiegegen  wendete  sich  Jacob 
in  der  , Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgenstunden*,  1786,  S.  322—3^. 
Platner  antwortete  hierauf  in  der  3.  A.  der  Aphorismen  1793,  S.  438  f.  Gegen 
Platner  wendete  sich  auch  Schulz  in  seiner  Prüfung,  I  (1791),  S.  208 ff.  Uebrigens 
hatte  ja  auch  schon  Marcus  Herz  1772  den  Zusammenhang  Kants  mit  Leibniz 
betont,  vgl.  oben  S.  90.  Feinsinnige  Bemerkungen  über  den  Zusammenhang  der 
Kantischen  mit  der  Leibniz'schen  Raumlehre  auch  bei  Eerbart,  Einleitung,  §  157, 
sowie  in  dem  schon  Bd.  I,  S.  341  N.  gerühmten  Buche  von  Bolin  S.  73 ff.  Vgl. 
femer  Rosenkranz,  Gesch.  d.  K. 'sehen  Philos. 46  (343).  P a u  1  s e n ,  Entw.  145 N. 
Cohen,  Th.  d.  Erf.  19  f.     2.  A.  111  ff. 


Aeussere  und  innere  Motive  der  Entdeckung.  431 

Ist  somit  ein  äusserer  Anstoss,  und  zwar  speciell  durch  Leibniz* 
Nouveaux  Essais  am  Ende  der  60er  Jahre  als  wahrscheinlich  anzusetzen  ^, 
so  fragt  es  sich  nur  mehr,  ob  dieser  Anstoss  das  einzige  Entscheidende 
gewesen  sei,  oder  ob  Kant  auch  zugleich  aus  seiner  eigenen  Entwicklung 
heraus  auf  innerem  Wege  zu  jener  Wendung  von  1770  gedrängt  worden 
sei?  Man  wird  schon  a  priori  aus  allgemein  psychologischen  Gründen  es 
als  das  Wahrscheinlichste  finden,  dass  äussere  Anstösse  und  innere  Motive 
bei  Kant  in  derselben  Weise  zusammengewirkt  haben,  wie  sie  bei  allen 
grossen  culturhistorischen  Wendungen  als  auvaiiia  aufgetreten  sind.  Wir 
werden  es  also  als  eine  willkommene  Ergänzung  resp.  Gorrectur  des  Bis- 
herigen zu  betrachten  haben,  dass  nun  auch  von  anderer  Seite  den  rein 
immanenten  Motiven  der  Wendung  von  1770  nachgespürt  worden  ist;  wenn 
dabei  gelegentlich  die  äusseren  Motive  ganz  geleugnet  werden,  so  ist  dies 
ebenso  einseitig,  als  wenn  diese  äusseren  Motive  in  übertriebener  Weise 
hervorgehoben  werden;  doch  ist  zuzugeben,  dass  eine  Vernachlässigung  der 
inneren  Motive  ein  weitaus  grösserer  Fehler  sein  würde,  als  die  Nicht- 
berücksichtigung der  äusseren  Factoren:  denn  was  gross  an  den  Menschen 
ist,  wird  trotz  aller  äusseren  Begünstigung  oder  auch  Hemmung  doch  aus 
dem  tiefsten  Schooss  ihres  Inneren  herausgeboren :  dort  liegen  doch  zuletzt  die 
ODvexTixa  ftttta  verborgen. 

unter  denjenigen  Theorien ,  welche  die  Wendung  von  1770  auf  rein 
innere  Motive  zurückführen,  ist  zunächst  der  Versuch  zu  erwähnen,  den  zu- 


^  Auch  an  die  Suggerirung  des  Begriffes  der  „Form'*  durch  Lambert  um 
jene  Zeit  ist  mit  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  30  ff.  zu  erinnern,  vgl.  oben 
S.  63  f.,  sowie  S.  204.  —  Laas,  Id.  u.  Pos.  I,  169  ff.  macht  auf  den  Einfluss 
Eulers  aufmerksam,  dessen  1769  erschienene  .Briefe  an  eine  deutsche  Prinzessin* 
Kant  in  der  Diss.  §  27.  30  beifalligst  citirt.  Vgl.  oben  S.  143  Anm.  und  S.  425.  — 
Derselbe  findet  (ib.  I,  168),  wohl  im  Anschluss  an  Dühring,  Krit.  Gescb.  d.  Phil.  396, 
in  Kants  Dissertation  auch  Swedenbor g'sche  Einflüsse,  eine  zunächst  auffallende 
Ansicht,  die  aber  nicht  a  limine  abzuweisen  ist ;  schon  oben  S.  143  Anm.  (vgl.  auch 
S.  345)  wurde  gelegentlich  darauf  hingewiesen.  Es  braucht  ja  auch  bloss  daran 
erinnert  zu  werden,  dass  in  den  « Träumen",  I,  2  u.  II,  2,  Swedenborgs  Theorie 
von  „zweien  Welten'  eingehend  besprochen  wird,  und  dass  Swedenborg,  welcher 
die  sinnliche  Welt  im  Räume  nur  für  ein  Phänomen  der  unräumlichen  Geisterwelt 
ansah,  für  die  beiden  Welten  genau  dieselben  Ausdrücke  anwendete,  welche  auch 
Kant  1770  gebraucht:  mundus  intelligihilis  et  sensibilis.  Vgl.  auch  Kants  Vorl. 
über  Metaph.,  herausgeg.  v.  Pölitz  (1821) ,  S.  257.  Unter  Berücksichtigung  dieser 
Stelle  hat  auch  Riehl,  Krit.  I,  229  N.  Beeinflussung  Kants  durch  Swedenborg 
angenommen.  Vgl.  meine  Anzeige  der  Ausgabe  von  „Kants  Vorlesungen  über 
Psychologie ;  mit  einer  Einleitung :  Kants  mystische  Weltanschauung"  durch  Du  Prel 
(1889)  im  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  IV ,  721  ff.  Wenn  letzterer  Autor  den  Zu- 
sanunenhang  Kants  mit  Swedenborg  stark  übertreibt,  so  darf  man  darum  doch 
nicht  in  den  entgegengesetzten  Fehler  verfallen,  das  positive  Verhältniss  Kants  zu 
Swedenborg  ganz  hinwegzuleugnen,  das  auch  in  der  kritischen  Zeit  noch  gelegent- 
lich hindurchbricht;  so  z.  B.  Krit.  A  394;  A  808,  B  836  (Idee  des  Corpus  mysticum 
der  Vemunftwesen) ;  Kr.  d.  pr.  V.  I,  2,  1  (Ros.  VIII,  242,  Hart.  V,  112). 


432  Excurs.    Entstehung  der  Eantischen  Raum-  und  ZeiÜehre. 

reichenden  Grund  derselben  einzig  und  allein  in  der  Schrift  von  1768  selbst 
zu  finden.  Besonders  nach  Riehl  (Krit.  I,  238.  249—251.  262—265.  300. 
847  f.)  ist  „der  Schritt  von  dem  Ergebniss  jener  Schrift  zur  kritischen  Ein- 
sicht sowohl  zeitlich  als  sachlich  ein  kurzer.  Die  Prämissen  waren  s&mmt- 
lich  gegeben,  aus  denen  die  Folgeining  entspringen  musste".  Jene  Schrift 
von  1768  „steht  auf  der  Schwelle  der  kritischen  Lehre.  Ein  Theil  ihrer  Ei^ 
gebnisse  ging  in  das  kritische  System  ein  ^  In  ihr  wurde  bereits  der  ab- 
solute und  ursprüngliche  Raum  als  ein  Grundbegriff  erwiesen,  der  kein 
Gegenstand  einer  äusseren  Empfindung  ist,  vielmehr  alle  äussere  Empfindung 
erst  möglich  macht.  Es  fehlte  nur  die  Zurückfuhrung  der  RaumvorsteUnng 
auf  die  empfängliche  Seite  des  Bewusstseins,  die  Einsicht,  dass  der  Ursprung 
dieses  Begriffes  in  der  Form  der  sinnlichen  Anschauung  zu  suchen  sei,  — 
und  der  Standpunkt  der  Transsc.  Aesthetik  war  erreicht."  Diesen  Stand- 
punkt lässt  Riehl  Kant  in  diesem  Zusammenhang  durch  Erwägungen  ge- 
winnen, welche  nur  in  der  Raumlehre  von  1768  selbst  wurzeln:  Kant  hatte 
den  Raum,  das  Princip  der  Möglichkeit  der  Dinge,  als  eine  nicht  durch 
Empfindung  gegebene  Raumanschauung  erkannt  und  musste  sie  daher  weiter- 
hin consequent  als  Form  der  Anschauung  fassen.  Diese  Ausfuhrungen  von 
Riehl  sind  sehr  feinsinnig,  aber  sie  bauen  wohl  zu  viel  auf  die  wegen 
ihrer  Kürze  unklare  oder  wenigstens  unbestimmte  Schlusswendung '  der 
Schrift  von  17t)8:  „Der  absolute  Raum  ist  kein  Gegenstand  einer  äusseren 
Empfindung,  sondern  ein  Grundbegriff,  der  alle  dieselbe  erst  möglich  macht" 
u.  s.  w.  Ist  schon  die  Stelle  an  sich  kurz  und  unbestimmt,  so  kommt  noch 
dazu,  dass  auch  die  Lesart  derselben  schwankt:  denn  während  Rosenkranz 
,, dieselbe"  liest,  setzt  Hartenstein  „dieselben"  ';  damit  verändert  sich  aber  der 
Sinn  nicht  unwesentlich;  im  letzteren  Sinne  erläutert  Thiele,  Phil.  Kants, 
I,  b,  250 :  „wir  werden  bei  ,alle  dieselben*,  entsprechend  dem  Vorhergehenden, 
an  die  Gegenstände  der  äusseren  Empfindung,  und  beim  absoluten  Raum 
als  »Grundbegriff*  zunächst  daran  zu  denken  haben,  dass  dieser  Raum  die 
Grundlage  der  Möglichkeit  der  äusseren  Gegenstände  ist"^;  es  handle  sich 


^  Vgl.  dazu  den  später  unten  folgenden  Ezcars  über  Kants  Theorie  der 
.Symmetrischen  Gegenstände". 

*  Wir  mussten  schon  einmal,  Fischer  III, ',  282  gegenüber,  die  Unbestimmt- 
heit der  Stelle  betonen,  vgl.  oben  S.  802.  (Vgl.  auch  S.  176.  195  gegenüber  RiehL 
Vgl.  übrigens  auch  oben  S.  230.)  Weiteres  über  dieselbe  Stelle  auch  bei  Cohen, 
Th.  d.  Erf.  2.  A.  87.  Zell  er,  Deutsche  Phil.  419.  Dietrich,  Kant  und  Newton 
105—107.  116.    Caird,  Phil,  of  Kant  256,  Grit.  Phü.  I,  167. 

'  Nach  R.  Reicke's  Mittheilung  hat  das  Original  «dieselbe',  wobei  aber 
schon  ein  Druckfehler  vorliegen  könnte. 

^  In  demselben  Sinne  heisst  es  am  Anfang  derselben  Abhandlung  von  1768, 
der  Raum  sei  „der  erste  Grund  der  Möglichkeit  der  Zusammensetsung  der 
Materie*.  Auch  Leibniz  nennt  (Ed.  Erdmann  752,  a,  4,  5,  vgl.  758,  41)  den  Raum 
la  poasibilit^  de  mettre  des  corps,  l' ordre,  qui  fait  que  les  corps  sont  situabUs,  aber 
diese  possibilitd  ist  rein  aristotelisch  zu  fassen,  wägend  Kant  hier  im  Sinne  Demo- 
krits  dem  Raum  eine  eigene  Realität  zuschreibt. 


/ 


Die  Abhandlang  vom  Jahre  1768.    Das  Problem  der  Mathematik.       433 

also  in  der  Stelle  nicht  um  die  subjectiv- erkenntnisstheoretische  Frage  des 
Ursprungs  der  Raum  Vorstellung ,  sondern  um  seine  objective  Existenz. 
Indessen  nimmt  doch  auch  Thiele  selbst  seinerseits  an  (ib.  249  f.  291—293. 
307),  dass  die  Veranlassung  zu  dem  Schritt  von  1770  eben  in  der  Schrift 
von  1768  gegeben  sei:  die  „negative^*  Behauptung  von  1768:  „der  absolute 
Raum  kein  Gegenstand  einer  äusseren  Empfindung**  werde  1770  durch  die 
„positive  Behauptung  von  der  Aprioritftt  des  Raumes  vervollständigt".  Was 
1768  gesagt  werde,  dass  der  Raum  für  die  Materie  „der  erste  Grund  der 
Möglichkeit  ihrer  Zusammensetzung"  sei,  gelte  auch  1770:  „nur  muss  das 
Alles  subjectiv  gewendet  werden".  Also  bei  Thiele  wie  oben  bei  Riehl  fehlt 
gerade  „nur"  —  die  subjectivistische  Wendung;  aber  gerade  sie  ist  ja  die 
Hauptsache,  das  Neue  von  1770.  Also  müssen  doch  noch  andere  Erwägungen 
schwerer  wiegender  Art  dazu  gekommen  sein,  Erwägungen,,  welche  über  die 
Schrift  von  1768  hinausreichen  müssen,  welche  also  aus  der  Gesammtlage 
des  damaligen  Kantischen  philosophischen  Bewusstseins  zu  ergänzen  sind. 
Riehl  hat  diese  Ergänzung  weiterhin  selbst  vorgenommen ;  aber  ehe  wir  uns 
zu  dieser  Vervollständigung  seiner  Theorie  wenden,  müssen  wir  die  Fischer'sche 
Ansicht  kennen  lernen,  welche  an  dieser  Stelle  ihren  systematischen  Platz 
beansprucht. 

E.  Fischer  statuirt  ausdrücklich  eine  „Kluft"  zwischen  1768  und 
1770  (3.  A.  311.  314)  und  erhebt  daher  die  Frage  nach  den  immanenten 
Triebkräften  der  Wendung  von  1768.  Er  hat  dieselbe  dahin  beantwortet, 
dass  das  entscheidende  Motiv  der  Entdeckung  in  dem  „Problem  der 
mathematischen  Erkenntniss"  gelegen  habe.  (2.  A.  204  ff.  260  ff.  280. 
303.  306-308.  312  ff.  337  ff.  3.  A.  275  ff.  289.  294  ff.  305—308.  330.  341  f.) 
Um  jene  Zeit  habe  Kant  schon  die  Einsicht  gewonnen  gehabt,  dass  die  Ur- 
theile  der  Mathematik,  deren  apriorische  Natur  ihm  schon  vorher  sicher 
gewesen  sei,  auch  synthetisch  seien,  weil  anschauender  Natur.  Im  Zu- 
sammenhang damit  habe  Kant  eben  1768  die  Ueberzeugung  ausgesprochen, 
dass  der  Raum  anschaulicher  Natur  sei  und  eine  eigene  Realität  besitze. 
Aber  eben  daraus  scheine  ja  nun  die  empirische  Natur  der  mathematischen 
Urtheile  gefolgert  werden  zu  müssen;  „nun  steht  am  Schluss  der  vorkriti- 
schen Periode  die  Sache  so :  dass  der  Grund,  der  die  mathematischen  Urtheile 
synthetisch  macht,  zugleich  droht,  sie  in  empirische  Urtheile  zu  verwandeln". 
Nun  stand  aber  deren  apriorischer  Charakter  für  Kant  fest.  „Diese  That- 
Sache  zu  begründen,  musste  Kant  seine  Lehre  vom  Raum  ändern,  er  musste 
denselben  nicht  mehr  für  ein  gegebenes  Anschauungsobject,  sondern  für  eine 
reine  Vernunftanschauung  erklären:  nicht  für  einen  Gegenstand,  sondern 
für  die  blosse  Form  unserer  Anschauung.  Diese  Einsicht  gewann  er  im 
Jahre  1769.  Es  war  der  Schritt,  der  die  kritische  Philosophie  eröffnete." 
(3.  A.  282.  308.  312.)  Dass  Kant  in  der  That  um  diese  Zeit  die  Urtheile 
der  Mathematik  zuerst  deutlich  als  synthetische  a  priori  erkannte,  haben 
wir  Comm.  I,  274  f.  bestätigt  gefunden ;  dass  auch  diese  Erkenntniss  bei 
der  Entdeckung  des  Jahres  1770  zwar  nicht  das  allein  Ausschlag  gebende 
Motiv  war,  aber  doch  entscheidend  mitwirkte,  muss  zugegeben  werden,  aber 
Yaihinger,  Eant^Comiiieiitar.    n.  28 


434  Excurs.    Entstehung  der  Kantischen  Raum-  und  Zeitlehre. 

doch  nur,  wenn  man  an  der  Fischer'schen  Darstellong,  welche  nur  das 
Problem  der  reinen  Mathematik  berücksichtigt,  jene  fundamentale  Correctur 
vornimmt,  welche  durch  die  S.  268  ff.  (vgl.  Comm,  I,  327 — 334)  gegebenen 
Ausführungen  gefordert  wird,  dass  nämlich  für  Kant  dabei  zwei,  übrigens 
von  ihm  gerade  in  der  Dissertation  von  1770  klarer  als  sonst  unterschiedene 
Probleme  der  mathematischen  Erkenntniss  in  Frage  kamen:  erstens  das 
Problem  der  reinen  und  zweitens  das  der  angewandten  Mathematik.  Die 
synthetisch-apriorische  Natur  der  Urtheile  der  reinen  Mathematik  erforderte, 
dass  der  Raum  als  reine  Anschauung  gefasst  werde  (Diss.  §  15,  G);  dass 
derselbe  auch  als  „blosse  Form''  unserer  Anschauung  gelte,  war  durch  die 
Natur  der  reinen  Mathematik  als  solcher  noch  nicht  nahe  gelegt,  son- 
dern wurde  erst  durch  die  durchgängige  Gültigkeit  der  angewandten 
Mathematik  für  alle  Objecte  gefordert  (Diss.  §  15,  E).  Während  Fischer 
einseitig  nur  das  erste  Problem  berücksichtigt,  hat  Paulsen  ebenso  ein- 
seitig nur  das  zweite  Problem  ins  Auge  gefasst  (vgl.  oben  S.  285  und 
I,  327  ff.).  Vgl.  hiezu  die  grundlegenden,  oben  S.  273.  279  gegebenen  Aus- 
führungen. 

Gerade  dieses  zweite  Problem    war  aber  für  Kant  ungleich  wichtiger, 
als  das  erstere.     Bei  dem  ersteren  Problem  handelte  es  sich  nur  darum,  zu 
erklären,   wie   reine  Mathematik   möglich   sei;   bei   dem   zweiten  Problem 
handelte   es   sich   nicht   bloss   darum,   die  Möglichkeit  der  Anwendung  der 
reinen  Mathematik  auf  die  empirischen  Objecte  zu  erklären,  sondern  zum 
Theil    auch    erst  das   Recht  jener  Anwendung  zu    beweisen   (vgl.  Comm. 
I,  390.  396.  421  N.);  jenes  Recht  war  ja  bezweifelt,  war  bestritten  worden; 
und  es  war  wohl  weniger  die  Bezweifelung  jenes  Rechtes  durch  Hume,  als 
die  Bestreitung  desselben  durch  die  Leibniz'sche  Schule,  welche  Kant  irritirte 
(vgl.  Comm.  I,  328.  361  f.  396).     Diesem  Problem  sind  wir  auf  dem  Kanti- 
schen Lebenswege  schon  einmal  begegnet:  wie  wir  oben  sahen,  verdankt  die 
„Physische  Monadologie"  von  1756  dem  Ringen  mit  diesem  schon  1746  auf- 
tauchenden Problem  ihre  Entstehung.     Es  ist  Ri eh Is  Verdienst,  darauf  hin- 
gewiesen zu  haben  (Krit.  I,  98),   dass  dieses  Problem  bei  der  idealistischen 
Wendung  von  1770  eine  entscheidende  Rolle  spielte:  „Ohne  Zweifel  war  für 
Kant   dieses  Dilemma   zwischen  Mathematik   und  Naturphilosophie   mit  ein 
Motiv  zur  Ausbildung  der  Lehre,  dass  der  allgemeine  Raum  ausschliesslich 
eine  Vorstellungsform  sei**  (vgl.  oben  S.  285) ;  speciell  das  Problem  der  un- 
endlichen Theilbarkeit   habe   auf  den  Gedankengang  Kants  grossen  Einfluss 
genommen;   nur  lässt  Riebl  (Krit.  I,  88 — 104)   das  Problem   bei  Kant   aus 
dem  Hume'schen  Zweifel  an  der  angewandten  Mathematik  entstehen,  während 
es  nachweisbar   aus   der  Bestreitung   des  Rechtes   derselben  durch  die  Leib- 
niz'sche  Schule   entstanden   ist.     Kant   selbst   weist   auf  diesen   Zusammen* 
hang  deutlich  hin,  hier  selbst  in  der  Kr.  d.  r.  V.,  wie  oben  S.  418  ff.  erörtert 
worden    ist,    ferner   z.  B.  Diss.    §  15,   E,    wo    er   eben    zeigt,    dass    durch 
seine  Lehre  vom  spatium  als  einem  sithjectivvm  et  ideale  die  absolute  Gültig- 
keit der  Geometrie  für  die  Natur  garantirt  werde  (vgl.  dazu  oben  S.  283  f. 
'349.  397);  ja   die  Lösung   des  Problems   im  Jahre  1770  ist  nichts  als  eine 


Die  Antinomien  haben  den  Umschwung  von  1769  herbeigeführt.       435 

Weiterbildung  der  Entscheidung  von  1756;  wenn  es  jetzt  heisst:  die  Sätze 
der  Geometrie  über  die  unendliche  Theilbarkeit  haben  unbedingte  Gültig- 
keit auch  für  die  Materie  im  Räume,  also  für  den  mundus  sensibilis,  aber 
im  mundus  intelligihilis  knag  die  Metaphysik  Becht  haben,  dagegen  die  Yer- 
mischung  der  sensitiva  und  der  intellectualia  sei  analog  der  Quadratur  des 
Kreises  (Diss.  §  27)  — ,  so  ist  diese  Lösung  von  der  Entscheidung  von 
1756  nur  durch  den  scharfen  Schnitt  zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand 
verschieden. 

Dass  also  das  Problem  der  angewandten  Mathematik  bei  der  Wendung 
von  1770  mitwirkte,  kann  keine  Frage  mehr  sein,  speciell  das  Problem,  ob 
das  Recht  bestehe,  die  Sätze  der  Geometrie  über  die  unendliche  Theilbarkeit 
des  Raumes  auf  die  Objecte  im  Räume  anzuwenden.  Dieses  Problem  ist 
aber  identisch  mit  der  zweiten  Antinomie.  Auf  diesen  Zusammenhang 
stiess  nun  auch  schon  Rieh  1,  Krit.  I,  241  f.  274.  Die  weitere  Untersuchung 
der  Dissertation  von  1770  lehrte  ihn  aber  bald,  dass  in  derselben  auch  die 
anderen  Unendlichkeitsschwierigkeiten  eine  fundamentale  Rolle  spielen;  und 
so  kommt  er  ib.  I,  270—274  zu  der  allgemeinen  Einsicht:  „Die  Anti- 
nomie trieb  zur  Unterscheidung  der  phänomenalen  von  der  in- 
telligibeln  Welt.'* 

Damit  ist  nun  in  der  That  der  wichtigste  Punkt  erreicht.  Diese  An- 
sicht, welche  Riehl  1876  aussprach,  welche  auch  Dietrich,  Kant  und  Newton, 
1877,  S.  107  f.  kurz  entwickelte,  fand  dann  ungeahnte  Bestätigung  durch 
die  Funde  von  B.  Erdmann,  welche  derselbe  1878  in  der  Einleitung  zu 
seiner  Ausgabe  der  Prolegomena  LXXXVII  mittheilte.  B.  Erdmann  hatte 
schon  vorher  durch  selbständige  Untersuchungen  der  Aeusserungen  Ks.  über  die 
Antinomien  in  den  Prolegomena  Or.-Ausg.  142  ff.  die  Ueberzeugung  gewonnen, 
dass,  während  der  vielbesprochene  flume'sche  Einfluss  erst  nach  1772  ein- 
getreten sei,  der  Umschwung  von  1769  durch  die  Antinomienlehre 
herbeigeführt  worden  sei.  Diese  Auffassung  wurde  nun  bestätigt  durch 
Aufzeichnungen  Kants,  in  denen  er  die  Entstehung  der  Antinomien  schildert 
und  mit  Bezug  auf  dieselben  sagt:  „Das  Jahr  69  gab  mir  grosses  Licht.'' 
Ausführlich  sind  diese  Aufzeichnungen  Kants  mitgetheilt  von  Erdmann  in 
„Kants  Reflexionen",  1884,  II,  S.  3—5;  Erdmann  hat  daselbst  P.  XXIII— 
XLIX  die  ganze  Frage  ebenso  eingehend  als  lichtvoll  behandelt  und  ein 
für  allemal  bewiesen,  dass  das  definitiv  entscheidende  Motiv 
für  „die  Umkippung"  des  Jahres  1769  in  dem  Antinomienproblem 
zu  suchen  ist;  und  zwar  ist  „die  Schwerpunktsveränderung  zu  jener  Um- 
kippung durch  die  genetische  Unterscheidung  von  Sinnlichkeit  und  Verstand 
statt  der  logischen  (von  Leibniz)  gegeben"  (XXXVII),  m.  a.  W.  durch  die 
Entdeckung  der  „reinen  Anschauung".  Vgl.  oben  S.  427.  In  demselben 
Jahre  gewann  diese  Erdmann'sche  Auffassung  eine  neue  Bestätigung  durch 
die  Auffindung  des  Briefes  Kants  an  Garve  vom  21.  IX.  98  (A.  Stern,  Be- 
ziehungen Garve's  zu  K.  43 — 45) :  „Die  Antinomie  war  es ,  welche  mich 
aus  dem  dogmatischen  Schlummer  zuerst  aufweckte."  Wenn  Kant  am 
Schluss   der   Schrift    von    1768   von    „Schwierigkeiten"    spricht,    die   er   in 


436  Excurs.  —  §  7.     Schlussbemerkung  Kante. 

dem  Raumbegriff  finde,  so  hat  er  damit  eben  nichts  anderes  als  die  Anti- 
nomien gemeint  K 

Die  entwicklangsgeschichtliche  Wichtigkeit  der  Antinomien  ist  denn 
auch  in  Folge  jener  Darlegungen  durch  B.  Erdmann  fast  allgemein  an- 
erkannt worden,  wobei  aber  die  Meisten  auch  noch  die  Wirkung  eines  oder 
mehrerer  anderer  Motive  zugleich  annehmen;  so  Paulsen,  Viert,  f.  wiss. 
Phil.  II,  492 — 497  (Hume,  Die  Antinomien);  Janitsch,  Kants  ürtheile 
über  Berkeley,  Diss. ,  Strassb.  1879,  81.  47—51  (Die  Antinomien,  Hume, 
Leibniz);  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  II,  29 — 36  (Lambert,  Leibniz, 
Die  Mathematik,  Die  Antinomien) ;  Martin,  Ks.  phil.  Anschauungen  in  den 
Jahren  1762—1766,  Diss.,  Freib.  1887,  S.  40—47  (Die  Antinomien,  Hume); 
Adickes  in  seiner  Ausgabe  der  Kr.  d.  r.  V.  XIV — XVI  (Hume,  Die  Anti- 
nomien, Leibniz);  Caird,  Crit.  Phil.  I,  161  ff.  (Die  Antinomien,  Leibniz). 
Vgl.  auch  meine  Ausführungen  Gomm.  I,  843  f.  und  Viert,  f.  wiss.  Philos. 
XI,  213—224. 

Die  Erdmann'sche  Ansicht,  dass  die  Antinomien  in  der  That  das 
entscheidende  Motiv  gewesen  sind,  wird  noch  durch  einen  anderen  umstand 
erwiesen:  Kant  muss  nämlich  in  der  Zeit  von  1768—1770  die  Acten  des 
grossen  Streites  zwischen  Leibniz  und  Clarke  wieder  genauer  studirt 
haben,  wie  in  dem  später  in  diesem  Bande  folgenden  Excurse  über  die 
„Symmetrischen  Gegenstände^*  wahrscheinlich  gemacht  werden  wird;  dass 
Kant  durch  diesen  Streit  sehr  angeregt  worden  ist,  beweisen  ausser  der  oben 
S.  133  angeführten  Stelle  auch  unsere  Ausführungen  unten  zur  Anmerkung  IV 
der  Aesthetik  (B  71).  In  dem  Streit  zwischen  Leibniz  und  Clarke 
aber  spielen  gerade  diejenigen  Probleme  eine  Hauptrolle,  welche 
Kant  unter  dem  Namen  der  Antinomien  abgehandelt  hat. 

Schlnssbemerkung. 

Zu  dem  oben  erörterten  allgemeinen  Resultat  fugt  Kant  noch  eine 
kurze,  aber  wichtige  Schlussbemerkung  hinzu.  Kant  beantwortet  die 
bei  jedem  Leser  unwillkürlich  auftauchende  Frage,  ob  Raum  und  Zeit 
die  einzigen  Principien  apriori  der  Sinnlichkeit  seien?*  Nach 


^  Und  zwar  scheint  ea  besonders  die  zweite  und  die  vierte  Antinomie 
gewesen  zu  sein,  deren  Schwierigkeiten  die  energische  Geistesanstrengong  des 
grossen  Denkers  im  Jahre  1769  hervorriefen:  auf  diese  beiden  Probleme  spielt  ja 
Kant  auch  in  dem  oben  S.  414  ff.  erörterten  Texte  der  Kr.  d.  r.  V.  an :  auf  d&s 
Problem  der  unendlichen  Theilbarkeit  der  Materie,  das  sich  mit  der  zweiten 
Antinomie  deckt,  und  auf  das  Gottesproblem,  das  Thema  der  vierten  Antinomie. 
So  ergänzen  sich  die  Analyse  des  Textes  und  die  historische  üntersachang  der 
Lehrentwicklung. 

'  £s  gibt  nach  A  81  auch  noch  „mo<?t  der  reinen  Sinnlichkeit',  quando^ 
uhi,  Situs,  prius,  simul  (welche  Aristoteles  fälschlicherweise  als  Kategorien  auf- 
gestellt habe).    Einer  systematischen  Aufzählung  dieser  modi  hat  sich  Kant  über- 


Bewegung  und  Veränderung  sind  keine  DcUa  a  priori,  437 

■  ■ 

[R  48.  H  71.  E  8d.]  A  41.  B  58. 

B  146  lässt  sich  „ein  Grund  dafür  ebensowenig  angeben",  als  für  die 
Zahl  der  Kategorien.  A  priori  lässt  sich  das  also  nicht  beweisen,  wohl 
aber  kann  der  empirische  Weg  eingeschlagen  werden,  dass  man  nachweist, 
dass  „alle  anderen  zur  Sinnlichkeit  gehörigen  Begriffe  etwas  Empirisches 
voraussetzen.*'  Kant  selbst  sucht  dies  bei  zwei  Begriffen  nachzuweisen,  bei 
denen  man  wohl  versucht  sein  könnte,  sie  ebenfalls  als  apriorische  Prin- 
cipien  der  Sinnlichkeit  in  Anspruch  zu  nehmen,  bei  den  Begriffen  der  Be* 
wegung  und  der  Veränderung.  Dies  sind  aber  in  Wirklichkeit  empi- 
rische Vorstellungen,  welche  wir  erst  durch  die  Erfahrung  daseiender,  im 
Raum  beweglicher,  in  der  Zeit  veränderlicher  Dinge  erhalten.  (Vgl.  oben 
S.  387.)  Im  reinen  Raum,  in  der  reinen  Zeit  als  solchen  ist  weder  Jenes, 
noch  Dieses  enthalten.  Nur  was  im  Räume  ist,  bewegt  sich;  nur  was 
in  der  Zeit  ist,  verändert  sich.  Dazu  sind  aber  empirische  Data  erforder- 
lich. (Also  würden  Bewegung  und  Veränderung,  wenn  sie  nicht  zur  trans- 
scendentalen  Aesthetik  gehören,  zur  „empirischen  Aesthetik*  zu  rechnen 
sein?     Vgl.  oben  S.  119.) 

Von  dem  Begriff  der  Bewegung  wird  zunächst  gesagt,  dass  er 
„beide  Stücke,  d.  h.  Raum  und  Zeit  vereinige";  in  welchem  Sinne  dies  ge- 
meint sei,  darüber  s.  oben  S.  387.  Diese  Bemerkung,  dass  die  Bewegung 
eine  Synthese  von  Raum  und  Zeit  sei,  bildet,  neben  den  später  zu  be- 
sprechenden Stellen  besonders  B  111  f.,  eine  der  Quellen  für  die  von  Fichte 
erfundene  und  von  Hegel  ausgebildete  dialectische  Methode,  deren 
Kern  eben  die  Ableitung  eines  dritten  Begriffes  durch  Synthese  aus  zwei 
anderen  ist.  Doch  ist  diese  Bemerkung  nur  nebenbei  hingeworfen.  Die  Haupt- 
sache ist  der  Nachweis,  dass  Bewegung  „etwas  Empirisches  voraussetze". 
„Bewegung  setzt  die  Wahrnehmung  von  etwas  Beweglichem  voraus".  Im 
Räume  als  solchem  ist  aber  nichts  Bewegliches.  Dieses  Bewegliche  ist  also 
nur  auf  empirischem  Wege  zu  constatiren  —  ist  „ein  empirisches  Datum*. 

Jenes  „Bewegliche  im  Räume"  ist  natürlich  die  Materie;  so  lautet 
ja  gleich  die  erste  „Erklärung"  in  den  „Metaphys.  Anfangsgründen  der 
Naturwissenschaft" ;  und  in  der  dazu  gehörigen  Anmerkung  2  sagt  Kant: 
„Schliesslich  merke  ich  noch  an,  dass,  da  die  Beweglichkeit  eines  Gegen- 
standes im  Raum  a  priori  und  ohne  Belehrung  durch  Erfahrung  nicht  er- 
kannt werden  kann,  sie  von  mir  eben  darum  in  der  Kr.  d.  r.  V.  auch  nicht 
unter  die  reinen  Verstandesbegriffe  gezählt  werden  konnte,  und  dass  dieser 
Begriff  als  empirisch  nur  in  einer  Naturwissenschaft,  als  angewandter 
Metaphysik,  welche  sich  mit  einem  durch  Erfahrung  gegebenen  Begriffe, 
obwohl  nach  Principien   a  priori   beschäftigt,   Platz  finden   könne."  ^     (Vgl. 


hoben  (vgl.  Comm.  I,  150.  480),  weil  das  zur  „Analysis*  gehöre.  Von  seinen 
Schülern  haben  nur  Wenige  dies  Gebiet  angebaut;  so  Snell,  Lehrbuch  214  f. 
Dagegen  hat  später  Hegel  diese  Aufgabe  in  seiner  Weise  in  Angriff  genommen. 
*  Freilich  setzt  sich  Kant  dadurch  in  Widerspruch  mit  sich  selbst,  indem 
er  ja  oben  (vgl.  oben  S.  387)   die  Sätze   der  allgemeinen  Bewegungslehre  selbst 


438  8  7.     Schlassbemerkung. 

A  41.  B  58.  [R  48.  H  71.  E  89.] 

Stadler,  Es.  Th.  d.  Materie  8.)  Aus  diesem  Grunde  tadelt  Kant  auch  den 
Aristoteles  (A  81;  vgl.  Proleg.  §  39),  dass  er  den  Begriff  der  Bewegung 
(motus)  sin  das  Stammregister  des  Verstandes^  aufgenommen  habe,  wohin 
solch  ein  „empirischer  Begrifft  „gar  nicht  gehöre ''.  Hiezu  vergleiche  man 
Kants  Reflexionen  II,  N.  321.  325.  326  f.  (»Ich  habe  anfangs  gezweifelt, 
ob  die  Bewegung  mit  zur  transsc.  Aesth.  gehöre. '') 

Allerdings  gibt  es,  wie  Kant  sonst  ausführt,  auch  im  reinen  Raum 
eine  reine  Bewegung,  welche  zur  apriorischen  Construction  der  mathema- 
tischen Figuren  nothwendig  ist.  Aber  dies  ist  eine  vom  anschauenden 
Subject  ausgeführte  Bewegung,  nicht  die  Bewegung  eines  Objects. 
(Obgleich  Kant  sie  in  der  K.  d.  Urth.  §  27  „objective  Bewegung  in  der 
Einbildung"  nennt.)  In  diesem  Sinne  sagt  Kant  in  der  Anmerkung  zu  B  155: 
„Bewegung  eines  Objects  im  Räume  gehört  nicht  in  eine  reine  Wissen- 
Schaft;  folglich  auch  nicht  in  die  Geometrie;  weil,  dass  etwas  beweglich 
sei,  nicht  a  priori,  sondern  nur  durch  Erfahrung  erkannt  werden  kann. 
Aber  Bewegung  als  Beschreibung  eines  Raumes  ist  ein  reiner  Actus 
der  successiven  Sjnthesis  des  Mannigfaltigen  in  der  äusseren  Anschauung 
überhaupt  durch  productive  Einbildungskraft,  und  gehört  nicht  allein  zur 
Geometrie,  sondern  sogar  zur  Transscendentalphilosophie".  (üeber  diese  Syn- 
thesis  vgl.  auch  schon  oben  S.  224  ff.  ^)  Diese  Bemerkung  ist  gegen  den  Ein- 
wand „eines  der  einsichtsvollsten  ersten  Schüler **  Kants  gerichtet,  gegen 
Schütz,  den  Herausgeber  der  „Jenaer  AUgem.  Litt.  Zeitung',  welcher  in  der 
im  Jahrgang  1 785  (Bd.  III,  S.  43)  enthaltenen  Besprechung  der  Kr.  d.  r.  Y. 
den  Einwurf  machte:  wenn  man  eine  Linie  auch  nur  in  Gedanken  ziehe, 
so  vollführe  man   damit  doch  eine  Art  Bewegung,    man  bedürfe  also,   da 


als  synthetische  a  priori  ohne  jede  Einschränkung  prodamirte ,  was  doch  die 
Apriorität  der  BewegungsvorsteUung  voraussetzt.  —  Da  Mansel,  Proiegomena 
logica,  Appendix  A  auch  eine  apriorische  Mechanik  auf  Kantische  Grandsätze 
basirte,  hielt  ihm  Mahaffy,  Grit,  Phil.  I,  73  die  hier  erörterte  Stelle  der  Kr.  d. 
r.  V.  mit  Recht  entgegen. 

'  Dies  erhält  auch  eine  Bestätigung  durch  folgende  eigenartige  Stelle  in 
dem  Nachgel.  Werke  XXI,  138:  ,  Obgleich  der  Raum  als  subjective  Vorstellongsart 
der  äusseren  Gegenstände  blos  das  Förmliche  der  Anschauung  enthält,  seine  Vor- 
stellung also  objectiv  nicht  empirisch  ist,  so  können  wir  ihn  durch  Bewegung, 
es  sey  der  Betastung  unseres  eigenen  Körpers,  oder  auch  der  Hände  Bew^ung 
im  Räume,  selbst  zum  Erfahrungsgegenstande  und  zwar  diesen  a  priori  machen, 
ohne  seine  Existenz  von  der  Wahruehmung  zu  entlehnen,  als  welche  zu  dieser 
Form  eines  Ganzen  unzureichend  ist.**  In  demselben  Werke,  XIX,  620  wird  sogar 
die  Bewegung,  d.  i.  der  Act  der  Beschreibung  des  Raumes  in  einer  gewissen  Zeit, 
welche  also  ^ beide  Anschauungen,  die  äussere  und  innere,  in  Einer  verbindet*, 
zu  den  „Formen  der  Sinnen- Anschauung'  gerechnet,  die  dem  Subject  a  priori 
angehören.  —  Diese  „Bewegung  a  priori"  hatte  auch  Maimon  als  Yoraussetzung 
der  reinen  Geometrie  verlangt,  schon  Transsc-Phil.  50,  bes.  aber  Untersuchungen 
S.  88—90.    Aehnlich  auch  Fries,  N.  Kr.  d.  V.  II,  108  f. 


Raum  und  Zeit  sind  die  einzigen  apriorischen  Formen  der  Sinnlichkeit.     439 

[R  48.  H  71.  E  89.]  A  41.  B  58. 

Bewegung  eben  ein  empirischer  Begriff  sei,  stets  einer  empirischen  Beihilfe; 
also  sei  auch  die  mathematische  Construction  nicht  rein  apriorisch,  und 
biebei  konnte  er  sich  eben  auf  diese  Stelle  berufen,  in  welcher  Kant  die 
Bewegung  für  eine  empirische  Vorstellung  erklärte.  (Vgl.  B.  Erdmann, 
Kriticismus  S.  115.  168.)  Dass  übrigens  diese  Annahme  Kants  von  einer 
apriorischen  constructiven  Bewegung  unhaltbar  sei,  dass  diese  auf  Er- 
innerungen an  wirkliche,  empirisch  wahrgenommene  Bewegungen  beruht, 
bemerkt  B.  Erdmann  richtig  in  seinen  „Axiomen  der  Geometrie'',  S.  150. 
In  interessanter  Weise  hat  dies,  im  Anschluss  an  Bain,  gegen  Kant 
weiter  ausgeführt  Montgomery,  Ks.  Erkenntnisslehre  widerlegt  vom  Stand- 
punkt der  Empirie  101  ff.  105  ff.  120  ff.  129  ff.:  Kant  habe  in  jener  Stelle 
(B  155)  eine  Ahnung  des  Richtigen  gezeigt:  die  Raum  Vorstellung  beruhe 
in  der  That  auf  Bewegung.  „Jede  Bewegung  als  Handlung  des  Subjects  ist 
nun  natürlicher-  und  noth  wendiger  weise  eine  Muskelthätigkeit;*  in 
diesem  Falle  kommen  besonders  die  Augenmuskeln  in  Betracht.  Vgl.  hiezu 
auch  Stumpf,  Psych,  u.  Erk.-Th.  1891,  S.  20. 

Was  zweitens  den  Begriff  der  Veränderung  betrifft,  so  weist  auch 
schon  die  Einleitung  B  (vgl.  Band  I,  S.  196.  211  f.)  auf  dessen  empirischen 
Ursprung  hin.  Und  auch  sonst  hat  Kant  mehrfach  die  Gelegenheit  er- 
griffen, dies  zu  bemerken;  so  besonders  bei  dem  Grundsatz  der  „Anteci- 
pation  der  Wahrnehmung"  A  171:  „Veränderlichkeit  treffe  nur  gewisse  Be- 
stimmungen der  Erscheinung,  welche  die  Erfahrung  allein  lehren  könne; 
sie  gehöre  also  nicht  in  die  Grenzen  der  Ti*ansscendentalphilosophie,  sondern 
zu  der  allgemeinen  Naturwissenschaft,  welche  auf  gewisse  Grunderfahrungen 
gebauet  ist*;  ähnlich  bei  dem  Grundsatz  der  Causalität  A  207:  „dass  auf 
einen  Zustand  ein  entgegengesetzter  folgen  könne,  davon  haben  wir  a  priori 
nicht  den  mindesten  Begriff.  Hiezu  wird  die  Kenntniss  wirklicher  Kräfte 
erfordert,  welche  nur  empirisch  gegeben  werden  kann,  z.  B.  der  bewegenden 
Kräfte,  oder,  welches  einerlei  ist,  gewisser  successiver  Erscheinungen.* 
Nur  die  Form  jeder  Veränderung  könne  a  priori  erwogen  werden,  nach 
dem  Gesetze  der  Causalität  und  den  Bedingungen  der  Zeit. 

Also  Bewegung  und  Veränderung  gehören  nicht  zu  den  reinen  Formen 
der  Anschauung;  bloss  Raum  und  Zeit  dürfen  darauf  Anspruch  machen. 
„Andere  Formen  der  Anschauung,  als  Raum  und  Zeit ...  ob  sie  gleich 
möglich  wären,  können  wir  uns  doch  auf  keinerlei  Weise  erdenken  und 
fasslich  machen,  aber  wenn  wir  es  auch  könnten,  so  würden  sie  doch  nicht 
zur  Erfahrung,  als  dem  einzigen  Erkenntniss  gehören,  worin  uns  Gegen- 
stände gegeben  werden.  Ob  andere  Wahrnehmungen,  als  überhaupt  zu 
unserer  gesammten  möglichen  Erfahrung  gehören,  und  also  ein  ganz  anderes 
Feld  der  Materie  nach  stattfinden  könne,  kann  der  Verstand  nicht  ent- 
scheiden ;  er  hat  es  nur  mit  der  Synthesis  dessen  zu  thun,  was  gegeben  ist.  * 
(A  214.)  Dass  also  „Raum  und  Zeit  die  beiden  einzigen  Formen  der 
Sinnlichkeit  seien,  und  dass  ihr  Verhältniss  durch  die  Coordination  des 
äusseren   und   inneren  Sinnes  hinreichend  bestimmt  sei,   hat  Kant  nur  bei- 


440  §  7.    SchlusebemerkuDg. 

A  41.  B  58.  [R  48.  H  71.  E  89.] 

läufig  und  in  einer  Weise  besprochen,  welche  zeigt,  dass  hier  für  ihn  kein 
Problem  mehr  vorlag*  (B.  Erdmann,  Kriticismus  S.  22). 

Schelling  wirft  es  K.  vor  (Vom  Ich.  Vorr.  XI),  ,dass  er  Raum 
und  Zeit  die  einzig  möglichen  Formen  sinnlicher  Anschauung  nenne,  ohne 
sie  nach  irgend  einem  Princip  (wie  z.  6.  die  Kategorien  nach  dem  Princip 
der  logischen  Functionen  des  Urtheilens)  erschöpft  zu  haben.'  Es  bedarf  also 
, höherer  Principien",  wie  auch  die  Jacob'schen  Annalen  (Beck?)  gelegentlich 
verlangen.  Auch  Beinhold,  Fichte  und  Hegel  haben  dasselbe  Verlangen  gestellt. 

Auch  in  neuerer  Zeit  hat  Trendelenburg,  Log.  Unt.  I,  166  den 
Einwurf  gemacht:  «Wenn  wir  B.  u.  Z.  als  zwei  Formen  in  uns  finden,  so 
fragt  man  billig,  warum  gibt  es  nicht  mehrere  solcher  Formen?  Warum 
genügen  diese?'  Mit  Recht  hat  Arnold t,  B.  u.  Z.  57.  126  denselben  als 
gegenstandslos  zurückgewiesen.  Die  Erscheinungen  erscheinen  eben  einmal 
in  diesen  Formen;  nach  der  Ursache  der  bestimmten  Anzahl  zn  forschen, 
überschreitet  das  Gebiet  der  Erfahrung  und  die  Befugniss  der  transscenden- 
talen  Methode.  (Aehnlich  schon  J.  B.  Meyer,  Ks.  Psych.  179.  Vgl.  Witte, 
Beitr.  41.)  Arnoldt  zeigt  daselbst  128  auch,  dass,  wenn  diese  Schwierigkeit 
vorhanden  wäre,  sie  mindestens  durch  Tr.'s  eigene  Theorie  von  R.  n.  Z. 
nicht  gehoben  wäre.  Man  könne  auch  hier  ebenso  , billig'  fragen:  warum 
producirt  die  productive  Bewegung  unserer  Imagination  (Hist.  Beitr.  III, 
218  f.)  nicht  mehr  solcher  Formen?  Nach  Tr.'s  eigener  Theorie  sollte  ja 
eben  erst  die  productive  Bewegung  sowohl  den  Raum  als  die  Zeit  ,er- 
zeugen";  und  Tr.  tadelt  Kant  von  diesem  seinem  Standpunkt  aus  ausser- 
dem auch  noch,  dass  K.  dieses  natürliche  Verhältniss  von  Bewegung  und 
Baum  umgekehrt  habe.  Diese  Ümkehrung  des  Verhältnisses  von  Raum 
und  Bewegung  führt  Tr.  bis  auf  Cartesius  zurück  (Log.  Unt.  2  A.  317  flf.); 
denn  schon  dieser  sagt  (Princ.  Phil.  I,  53):  ,^Motus  non  polest  intelligi,  nisi  m 
spatio  extenso.  Sed  e  contra  potest  inteUigi  extensio  sine  motn.*^  (Dasselbe  bei 
Spinoza).  „Der  Iriiihum  des  Cartesius  hat  sich  durch  die  Systeme  fort- 
gepflanzt. In  Kants  Tr.  Aesth.,  nach  welcher  der  Raum  (die  Ausdehnung) 
die  vorangegebene  fertige  Form  der  Anschauung  ist,  hat  die  Eine  Seite  des- 
selben ihre  Spitze  erreicht."  Vgl.  Fischer,  Log.  u.  Met.  2  A.  174  und  da- 
gegen Trend.  Beitr.  3,  248.  —  Zu  der  ganzen  Frage  vgl.  auch  Spencer, 
Psychol.  §  341  (deutsche  Ausgabe  II,  215  ff.). 

Auch  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  33  findet  „die  Beschränkung  des 
Apriorischen  auf  R.  u.  Z.  nicht  überzeugend".  Man  könnte  noch  fragen,  ob 
nicht  die  Bewegung  hineingehörte;  man  kann  vielleicht  beweisen,  dass 
mehrere  Kategorien  in  Wahrheit  nicht  reine  Verstandesbegriffe  sind,  sondern 
Anschauungen,  wie  z.  B.  die  einer  beharrenden  Substanz  in  der  Veränderung. 
Selbst  dieQualitätenderSinneseindrücke,  wie  Farbe,  Ton  u.  s.  w. 
verdienen  vielleicht  nicht  so  ganz  und  gar  als  etwas  Individuelles,  als  ein 
Sabjectives,  woraus  keine  apriorischen  Sätze  fliessen  können,  und  was  des- 
halb keine  Objectivität  begründen  kann,  verworfen  zu  werden."  (Vgl.  dazu 
oben  S.  856  Anm.) 


Allgemeine  Anmerkungen  Kants  zur  Transsc.  Aesthetik.  441 

[R  48.  49.  H  72.  K  89.]  A  41.  B  59. 

Andere  wollten  die  Zahl  neben  Raum  und  Zeit  als  gleichberechtigte 
Anschauungsform  a  priori  stellen  (zugleich  in  der  Absicht,  die  oben 
S.  888  ff.  berührten  Schwierigkeiten  der  K. 'sehen  Theorie  über  die  Zahl  zu 
heben);  so  bes.  Weisse,  Die  Idee  der  Gottheit  67  ff.,  vgl.  Fichte's  Zeit- 
schrift f.  Philos.  1865,  Bd.  46,  194  ff.;  im  Anschluss  an  ihn  Seydel, 
Schopenhauer  40  f.  und  bes.  Viert,  f.  wiss.  Philos.  VII,  329-333;  ähnlich 
Zeller,  Vortr.  u.  Abb,  11,  502  ff..  Baumann,  B.  Z.  u.  Mathem.  11,  668  ff., 
Sigwart,  Logik  11,  38  ff.,  Wundt,  Logik,  428  ff.  Bei  Einigen  dieser 
findet  sich  auch  die  Vierzahl:  Baum,  Zeit,  Zahl,  Bewegung. 

§  8. 

Allgemeine  Anmerkungen  zur  Transscendentalen  Aesthetik. 

In  diesen  , Allgemeinen  Anmerkungen",  welche  in  der  2.  Auflage  stark 
vermehrt  worden  sind,  fügt  Kant  eine  Reihe  werthvoUer  Erläuterungen 
hinzu,  die  er  in  B  zur  leichteren  üebersicht  mit  römischen  Ziffern  ver- 
sehen hat. 

Anmerkung  L 

Die  erste  Anmerkung  —  das  Einzige,  was  die  ursprüngliche  Ausgabe 
enthielt  —  zerfallt  in  zwei  Theile,  deren  Inhalt  und  Zusammenhang  von 
Kant  selbst  genau  angegeben  wird.  In  der  ersten  Hälfte  derselben 
präcisirt  er  das  allgemeineBesultat  seiner  Lehre  „ von  der  sinnlichen 
Erkenntniss  überhaupt'',  und  stellt  das  Verhältniss  derselben  zu  den  beiden 
wichtigsten  anderen  Theorien  der  Sinnlichkeit  fest,  welche  zu  jener  Zeit  im 
Schwange  waren. 

In  der  zweiten  Hälfte  der  Anmerkung  sucht  er  zu  zeigen,  dass  diese 
seine  Lehre  von  der  Sinnlichkeit  nicht  bloss  eine  „scheinbare  Hypothese", 
sondern  eine  „gewisse  und  ungezweifelte  Theorie"  sei.  (Vgl.  die  ähnliche 
Eintheilung  der  Vorrede  A  in  Materie  und  Form  der  Untersuchung 
Band  I,  S.  81.) 

Erster  Theü. 

In  dem  ersten  Absätze  wiederholt  Kant  (abgesehen  von  den  beiden 
letzten  Sätzen,  welche  eine  neue  Wendung  bringen)  nur  dasjenige  in  ge- 
drängten Worten,  was  wir  schon  bisher  erfahren  und  auch  hinreichend  be- 
sprochen haben.  Gleichwohl  haben  sich  auch  an  diese  Zusammenfassungen 
—  eben  wegen  ihrer  gedrängten  pointirten  Kürze  —  einige  nicht  uninteressante 
Discussionen  angeknüpft. 

B.  Erdmann  hat  in  seiner  Einleitung  zu  den  Prolegomena  p.  XL  VI  ff. 
diese  Stelle  eingehend  besprochen:  , Dieses  Ergebniss  enthält  denselben  Ge- 
danken in  doppelter  Wendung.  Denn  es  besagt  einerseits:  Unsere 
sinnlichen  Vorstellungen  geben  nur  die  Erscheinungen  der 


442  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A  42.  B  69.  [B  49.  H  72.  E  89.  90.] 

Dinge  an  sich,  und  behauptet  andererseits:  die  Gegenstände  in 
Baum  und  Zeit  existiren  lediglich  als  Vorstellungen  in  uns. 
Beide  Male  also  haben  wir  den  gleichen  Gedanken  vor  uns,  das  Resultat 
nämlich  der  Aesthetik:  die  Dinge,  die  wir  anschauen,  sind  nicht  das  an  sich 
selbst,  wofür  wir  sie  anschauen.  Dieser  Gedanke  aber  ist  in  dem  ersten 
Falle  bezogen  auf  die  Grenzen  unserer  sinnlichen  Erkenntnis s,  im  zweiten 
dagegen  auf  die  Existenz  der  Gegenstände  derselben.*  Jenes  nannte 
B.  Erdmann  die  empiristische,  dieses  die  idealistische  Wendung.  In 
seinem  Werke  über  „Kants  Kriticismus*  S.  66  nennt  er  die  erstere  Wendung 
jetzt  die  kritische:  „ derselbe  Gedanke  ist  das  erste  Mal  kritisch  ge- 
fasst,  er  bezieht  sich  auf  die  Grenzbestimmung  der  sinnlichen  Erkenntniss, 
die  nichts  als  Erfahrungen  gibt;  das  zweite  Mal  dagegen  wird  er  idealistisch 
gewendet,  sofern  er  sagt,  die  Objecte  unserer  sinnlichen  Erkenntniss  exi- 
stiren nur  in  uns.*  Diese  scharfe  analytische  Scheidung  muss  man  an- 
erkennen und  zugleich  durch  die  Bemerkung  erläutern,  dass  man  a  priori 
sagen  kann,  dass  dieser  doppelte  Ausdruck  jenes  R^ultates  der  Aesthetik 
noth wendig  sich  bei  Kant  wird  finden  müssen:  da  es  sich  eben  bei  seinen 
Untersuchungen  um  das  Yerhältniss  unserer  Erkenntniss  zu  den  Gegen- 
ständen handelt,  so  wird  für  jenes  Resultat  eine  doppelte  Formel  sich 
ergeben,  je  nachdem  man  ausgeht  von  der  Erkenntniss,  um  deren  Trag- 
weite zu  bestimmen,  oder  von  den  Gegenständen,  um  deren  Bealitätswerth 
festzustellen ;  und  jene  erste  Formel  wird  dann  lauten :  unsere  sinnliche  £  r- 
kenntniss  gibt  uns  nur  Erscheinungen  von  Dingen  an  sich.  Diese  zweite 
wird  lauten  müssen:  die  empirischen  Gegenstände  sind  als  solche  nnr 
sinnliche  Vorstellungen  in  uns.  Diese  Unterscheidung  ist  also  bis  hieher 
trotz  der  Einwendungen  von  Arnoldt  in  seiner  Gegenschrift:  Kants  Pro- 
legomena,  S.  54  als  ganz  berechtigt  festzuhalten. 

Aber  B.  Erdmann  hat  nun  zu  dieser  richtigen  Unterscheidung  zwei 
weitere  Bemerkungen  hinzugefugt,  welche  Bedenken  erregen:  einmal  stellt 
er  die  Sache  so  dar,  als  ob  jene  Doppelwendung  das  ganze  Ergebniss  der 
Aesthetik  befasste.  Aber  in  dem  weiteren  Verlaufe  des  Absatzes  tritt  audi 
die  rationalistische  Seite  scharf  hervor;  denn  es  heisst  ja:  ,Raum 
und  Zeit  können  wir  allein  a  priori,  d.  h.  vor  aller  wirklichen  Wahr- 
nehmungerkennen*; und  auf  dieser  apriorischen  Anschaubarkeit, 
insbesondere  der  Baum  Vorstellung ,  beruhen  ja  doch  die  synthetischen 
Sätze  a  priori  der  Mathematik,  die  ihm  so  sehr  am  Herzen  liegen, 
dass  er  so  oft  auf  dieselben  zurückkommt,  und  zwar,  wie  wir  ja  immer 
constatirten ,  nicht  nur  bezüglich  ihrer  Natur  als  Sätze  der  reinen  Mathe- 
matik, sondern  vor  Allem  bezüglich  ihrer  apriorischen  Geltung  für  die 
Gegenstände  der  Erfahrung  (202  f.  233  ff.  263-286.  327  f.  336—342.  356. 
373.  383—390),  und  so  ist  denn  auch  hier  wiederum  unsere  I,  67  ff.  ent- 
wickelte Auffassung  bestätigt,  dass  für  Kant  die  verschiedenen  Seiten  seines 
neuen  erkenntniss -theoretischen  Systems  gleichwerthig  sind,  und  dass  ins- 
besondere die  rationalistische  Seite  nicht  übersehen  werden  darf.    Vgl.  hiezn 


Die  empiristisch-kiitische  und  die  idealistische  Wendung.  443 

[B  49.  H  72.  E  90.]  A  42.  B  69. 

Arnoldt  ä.  a.  0.  S.  55  ff.  Es  ist  eben  schwerlich  richtig,  wenn  Erdmann 
das  ganze  Ergebniss  der  Aesthetik  nur  in  dem  ersten  Satze  sucht  (bis 
zu  den  Worten:  » nur  in  uns  existiren  können"),  anstatt  in  dem  ganzen  Ab- 
sätze. Diese  Voraussetzung  liegt  auch  seinen  späteren  Ausführungen,  Kiiti- 
cismus  S.  19  ff.  zu  Grunde,  woselbst  er  nach  dem  „eigentlichen  Besultate'' 
sucht,  das  den  „Schwerpunkt  der  Aesthetik^  ausmache,  und  da  drei 
Möglichkeiten  aufstellt.  Der  Schwerpunkt  müsse  nämlich  in  einem  der 
drei  folgenden  Sätze  liegen: 

1)  Baum  und  Zeit  sind  Anschauungen  a  priori. 

2)  Baum  und  Zeit  sind  Formen  der  Sinnlichkeit.  (Dieser  Satz  ent- 
spreche der  ursprünglichen  Fragestellung.    Vgl.  oben  S.  131  ff.) 

3)  Alle  unsere  sinnlichen  Vorstellungen  geben  lediglich  die  Er- 
scheinungen der  Dinge  an  sich  zu  erkennen. 

Nur  in  diesem  letzten  Satze  liege  der  „Schwerpunkt  der  Aesthetik", 
das  eigentliche  Besultat,  das  also  mit  der  ursprünglichen  Fragestel- 
lung in  einem  gewissen  Missverhältniss  stehe;  es  liege  hier  sogar  eine 
„Inhaltsverschiebung"  vor. 

Ist  aber  das  mechanische  Bild  des  „Schwerpunktes"  geeignet,  um 
den  organischen  Zusammenhang  (vgl.  Band  I,  S.  70)  des  Kantischen 
Gedankensystems  auszudrücken?  Warum  soll  denn  die  Aesthetik  gerade 
nur  Eine  Spitze  haben,  gerade  sich  auf  Einen  Satz  reduciren  lassen?  Sie 
ist,  wie  die  ganze  Kantische  Philosophie,  ein  weitverzweigtes  System  von 
Gedanken,  die  sich  niemals  auf  E  i  n  e  n  Faden  aufreihen  lassen,  sondern  die 
zu  ihrer  geordneten  Darstellung,  wenn  man  überhaupt  einmal  Bilder  aus 
den  exacten  Wissenschaften  verwenden  will,  immer  mindestens  zwei 
Coordinaten  bedürfen,  den  phänomenalistischen  und  den  rationalistischen 
Grundgedanken.  Jenem  phänomenalistischen  Grundgedanken  kann  man  nun 
wieder  allerdings  jene  Erdmann'sche  Doppelwendung  geben,  die  „empiristisch- 
kritische*  und  die  „idealistische",  darf  aber  dabei  nicht  vergessen,  dass  —  wenig- 
stens in  diesem  Zusammenhange  hier  —  diese  beiden  Wendungen  nur  formell 
verschieden,  inhaltlich  dagegen  gleichwerthig  sind.   Vgl.  Volkelt,  Kant  82  f. 

Noch  eine  zweite  Bemerkung  von  B.  Erdmann  müssen  wir  be- 
sprechen. Von  jenen  beiden  Wendungen  nämlich  liege  die  erste,  die 
empiristische,  „ausschliesslich  der  Analytik,  die  zweite  ebenso  aus- 
schliesslich der  Dialektik"  zu  Grunde  (Einleitung  zu  den  Proleg,  XLVI  ff., 
LIV  ff.,  Kriticismus  S.  65  ff.)  In  jener  ersten,  empiristischen  oder  kritischen 
Wendung  bilde  das  Besultat  der  Aesthetik  die  Voraussetzung  der  Deduction 
der  Kategorien  [in  der  Analytik],  die  dadurch  möglich  wird,  weil,  wie 
Kant  sich  ausdrückt,  „unsere  Erkenntniss  es  mit  nichts  als  Erscheinungen 
zu  thun  hat"  ;  in  der  zweiten  Wendung  dagegen  bilde  es  den  Inhalt  des  in 
der  Dialektik  näher  definirten  transscendentalen  Idealismus,  der  nach 
Kant  A  490  behauptet,  „dass  alle  Gegenstände  einer  uns  möglichen  Er- 
fahrung blosse  Vorstellungen  sind,  die  so,  wie  sie  vorgestellt  werden,  ausser 
unseren  Gedanken  keine  an  sich  gegründete  Existenz  haben." 


444  §  8.     Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A42.B59.  [B  49.  H  72.  E  90.] 

Allein  Erdmann  selbst  muss  dann  docli  selbst  (Proleg.  Einl.  LXXV) 
zugeben,  dass  ^jene  Trennung  zwischen  der  empiristischen  und  idealistischen 
Wendung  des  Besultates  der  Aestbetik  doch  nur  eineAbstraction  ist,* 
die  zwar  auch  von  Kant  selbst  vollzogen,  jedoch  sicher  nicht  so  scharf  aus* 
gedacht  worden  sei.  Und  in  der  That  —  die  beiden  Seiten  jener  Doppel- 
wendung fordern  sich  gegenseitig  zur  Ergänzung  und  lassen  sich  nur  durch 
eine  künstliche  Abstraction  von  einander  trennen.  Ist  dies  aber  der  Fall,  dann 
kann  man  auch  kaum  sagen,  die  Eine  liege  der  Analytik,  die  Andere  der  Dia- 
lektik 9 ausschliesslich'  zu  Grunde.  Das  ist  in  dieser  Form  schwerlich  richtig: 
denn  abgesehen,  dass  doch  auch  der  Abschnitt  über  die  Unterscheidung  der 
Phaenomena  und  Noumena  zur  Analytik  gehört,  so  wird  doch  ausdrücklich 
schon  in  der  ersten  Auflage  der  Deduction  A  113  f  und  A  129  gerade  die 
idealistische  Wendung  als  Voraussetzung  der  Richtigkeit  der  Deduction  ein- 
geführt. (Weiteres  bei  Amol  dt  in  seiner  Gegenschrift  S.  59 — 68.)  Erd- 
mann selbst  bemerkt  daher  ib.  LXXV  (vgl.  dazu  Eriticismus  S.  65)  ganz 
richtig,  dass  die  nachdrückliche  Beziehung  des  transscendentalen  Idealismus 
auf  die  Analytik  als  deren  unentbehrliches  Beweismittel,  wie  sie  in  den 
Prolegomena  hervortrete,  „den  ursprünglichen  Gedankengang  nicht  ver- 
ändere, sondern  nur  eine  stärkere  Färbung  und  deutlichere  Verknüpfung 
einzelner  Fäden  des  Geflechts  enthalte.*'  Damit  wird  eben  jene  Behauptung 
dahin  restringirt,  dass  die  empiristische  Wendung  nur  vorzugsweise 
(nicht  „ausschliesslich')  in  der  Analytik,  die  idealistische  vorzugsweise 
in  der  Dialektik  hervortrete;  was  natürlich  ist,  da  jene  es  zu  thun  hat  mit 
der  Analyse  des  Verstandes,  diese  mit  den  metaphysischen  Behauptungen 
über  die  Dinge  an  sich. 

Noch  macht  B.  Erdmann  [Proleg.  Einl.  XLVI  flF.  XLVTII;  Eriticis- 
mus S.  20  f.)  auf  Folgendes  aufmerksam:  Eant  fügt  hier  die  Bemerkung 
bei,  was  es  für  eine  Bewandtniss  mit  den  Gegenständen  an  sich  habe, 
bleibe  uns  gänzlich  unbekannte  Mit  Recht  nennt  B.  Erdmann  diese 
Bemerkung  „auffallend'';  denn  sie  enthält  offenbar  mehr,  als  die  Aestbetik 
bewiesen  hat.  Denn  daraus,  dass  wir  von  den  Dingen  nichts  kennen,  als 
unsere  Art  sie  wahrzunehmen,  folgt  doch  nur  für  Eant  das  Eine,  dass 
wir  kein  Prädicat  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  weder  ihrer  Materie  noch 
ihrer  Form   nach,    auf  die  Dinge   selbst  übertragen   können.     Eant  durfte 


^  Den  Vorwurf,  Kant  habe  dieses  „gänzlich  unbekannt*  nicht  bnchstäblich 
eingehalten,  sucht  Cohen,  Kants  Ethik  18  ff.,  von  demselben  abzuwälzen.  Der 
Vorwurf  lautet,  eigentlich  müsse  nicht  bloss  das  was,  sondern  sogar  auch  das 
dass  der  Dinge  an  sich  unbekannt  bleiben;  darin  bestehe  der  echte  Eriticismus, 
welcher  ja  die  Causalkategorie  auf  die  Erfahrung  einschränke.  Cohen  sucht  den 
—  durchaus  berechtigten  —  Vorwurf  durch  eine  eigenthümliche  ümdeutung  der 
Kantischen  Dinge  an  sich  zu  entkräften:  er  fasst  sie,  ähnlich  wie  Lotze  die 
Platonischen  Ideen,  als  die  Gesetze  in  den  Erscheinungen.  —  Vgl.  zar  Stelle 
auch  Zimmermann,  Ks.  Wid.  d.  Idealismus  S.  20.    Vgl.  unten  S.  451  f. 


Die  Dinge  an  sich  bleiben  uns  , gänzlich  unbekannt".  445 

[R  49.  H  72.  E  90.]  A42.B59. 

also  nur  schliessen:  was  es  für  eine  Bewandtniss  mit  den  Dingen  an  sich 
habe,  davon  können  uns  unsere  sinnlichen  Vorstellungen  nichts  lehren. 
Wenn  nun  Kant  jenen  allgemeinen  Schluss  trotz  seiner  offenbaren  Unzuläng- 
lichkeit aus  dem  Resultat  der  Aesthetik  dennoch  diesem  beifügt,  so  kann 
dies  nur  in  Hinsicht  darauf  geschehen  sein,  dass  spätere  Betrachtungen 
seines  Werkes  dieses  Resultat  zu  einem  solchen  Ergebniss  weiterführen. 
Es  handelt  sich  hier  also  um  eine  Antecipation  j,späterer  Ergebnisse'^,  resp. 
um  eine  ,  Vor  Wirkung  **  derselben.  Diese  späteren  Ergebnisse  liegen  in  der 
Analytik,  in  der  Deduction  der  Kategorien,  und  in  dem  Nachweis,  dass 
auch  die  Yer Standesbegriffe,  wie  die  siunlichen  Anschauungen,  nur  auf 
Erscheinungen  sich  beziehen. 

Man  kann  indessen  die  Stelle  auch  einfacher  erklären.  Nach  dem  ganzen 
Zusammenhang  und  nach  den  vielen  Parallelstellen  in  der  Aesthetik  will 
eben  Kant  auch  nur  sagen:  was  es  für  eine  Bewandtniss  mit  den  Gegen- 
ständen an  sich  und  unabhängig  von  aller  dieser  Receptivität  unserer  Sinn- 
lichkeit haben  möge,  bleibt  uns,  eben  als  sinnlich  vorstellenden  Wesen, 
gänzlich  unbekannt ;  so  sehr  wir  auch,  wie  es  weiter  iieisst,  diese  sinnlichen 
Vorstellungen  analysiren,  die  Gegenstände  an  sich  selbst  werden  uns  „doch 
niemals  bekannt  werden".  „Die  Vorstellung  eines  Körpers  enthält  in  der 
Anschauung  gar  nichts,  was  einem  Gegenstande  an  sich  zukommen  könnte', 
auch  „wenn  wir  die  Erscheinung  bis  auf  den  Grund  durchschauen*'. 
Und  es  heisst  dann  in  dem  Absatz  gegen  die  Leibniz- Wolfische  Philosophie, 
dass  wir  „durch  die  Sinnlichkeit  die  Beschaffenheit  der  Dinge  an  sich 
gar  nicht  verkennen.*  Jenen  Zusatz  —  durch  die  Sinnlichkeit  —  hat 
Kant  hier  aus  Nachlässigkeit  weggelassen.  Beide  Formeln  finden  sich 
auch  schon  oben  A  29,  am  Schluss  des  Abschnittes  vom  Räume;  da  heisst 
es  zuerst:  „dass  uns  die  Gegenstände  an  sich  gar  nicht  bekannt  seien*, 
und  gleich  nachher,  „dass  das  Bing  an  sich  selbst  dadurch,  d.  h.  durch 
den  Baum  gar  nicht  erkannt  wird*. 

Welche  Auslegung  man  nun  auch  wählen  mag  —  die  Zeche  bezahlt 
beidemal  Kant;  denn  Erdmann  wirft  ihm  hier  „Sorglosigkeit  in  der  äusseren 
Darstellung  seiner  Gedanken*  vor,  und  wir  mussten  ihm  Nachlässigkeit 
vorwerfen.  Die  zweite  Auslegung  hat  übrigens  auch  schon  Arnoldt, 
ProUg,  S.  59  nahe  gelegt;  unrichtig  ist  dagegen,  wenn  derselbe  gegen  die 
erste  Auslegung  einwendet,  auch  wenn  Kant  das,  was  ihn  B.  Erdmann 
sagen  lässt,  hier  habe  sagen  wollen,  so  hätte  er  dazu  „nicht  in  die  Ana- 
lytik voraus,  sondern  nur  auf  den  Anfang  der  Aesthetik  zurückzu- 
greifen* gebraucht;  da  habe  ja  schon  Kant  gesagt,  dass  alles  Denken  sich 
zuletzt  auf  Anschauungen  beziehen  müsse  (vgl.  oben  S.  3).  Jene  Bestim- 
mungen über  das  Denken  in  der  Einleitung  zur  Aesthetik  können  doch 
ebenfalls  nur  als  vorläufige  Antecipationen  eben  wieder  der  Analytik  gelten ; 
denn  an  jener  Stelle  hat  ja  Kant  sie  ohne  jeden  Beweis  hingestellt. 

Beachtenswerth  ist,  worauf  Heb  1er  (Philos.  Aufs.  123  ff.)  hinweist; 
Kant  sagt  hier  gleich  am  Anfang,    „dass  die  Dingt,   die  wir  anschauen. 


446  §  3-    Allgemeine  AnmerkuDgen.    I. 

A42.43.B59.60.  [B  49.  H  72.  E  90.] 

nicht  das  an  sich  selbst  sind,  wofür  wir  sie  anschauen,  noch  ihre  Vei^ 
hältnisse  so  an  sich  selbst  beschaffen  sind,  als  sie  uns  erscheinen.^  K. 
spricht  hier  von  Verhaltnissen  der  Dinge  an  sich  untereinander, 
ähnlich,  wie  es  in  den  Met.  Anf.  d.  Naturw.  I,  2,  3  heisst:  „dass  der  Baum 
bloss  zu  der  subjectiven  Form  unserer  sinnlichen  Anschauung  von  Dingen 
oder  Verhältnissen,  die  uns  nach  dem,  was  sie  an  sich  sein  mögen, 
völlig  unbekannt  bleiben,  gehöre."  Man  kann  darin  mit  Hebler  einen  Ueber- 
rest  jener  früheren  Bestrebungen  Kants  finden,  die  besonders  in  den  .Trftumen 
eines  Geistersehers",  sowie  in  der  Dissertation  §  4  und  §  27  hervortreten, 
die  räumlichen  Verhältnisse  auf  geistig-dynamische  zurückzuführen.  Hat 
Kant  diese  dogmatische  Reduction  auch  in  seiner  kritischen  Zeit  aufgegeben, 
so  blieb  denn  doch  der  allgemeine  Gedanke  an  reale  Verhältnisse  der  realen 
Dinge  an  sich  übrig,  und  die  allgemeine  Voraussetzung,  dass  die  empirischen 
Verhältnisse  der  Phänomena  jene  realen  Verhältnisse  der  Noumena  in  einer 
freilich  ganz  unerkennbaren  Weise  zum  Ausdruck  bringen.  Vgl.  oben 
S.  143  N. 

Die  Wendung,  dass  K.  u.  Z.  „verschwinden  würden,  wenn  wir 
unser  Subject  aufhöben",  ist  eine  natürliche  Folge  der  früheren  Bestimmungen, 
wornach  B.  u.  Z.  nur  durch  uns  gesetzt  sind,  weil  unser  Subject  die 
conditio  sine  qua  non  derselben  ist;  was  durch  unser  Subject  bedingt  ist, 
muss  auch  mit  demselben  „verschwinden"  *.  Diese  Wendung  hat  aber 
gerade  von  Anfang  an  besonderen  Anstoss  erregt  und  z.  B.  Feder  hat  (in 
seiner  Phil.  Bibl.)  mehrfach  erklärt,  dass  er  gerade  diesen  Satz  Kant 
nicht  verzeihen  könne.  Uebrigens  hatte  Feder  (Raum  u.  Caus.  2)  in 
dem  Satze  irrigerweise  absoluten  Idealismus  gefunden ;  denn  nach  dem  Ver- 
schwinden von  R.  u.  Z.  und  von  den  „Erscheinungen",  „die  nur  in  uns 
existiren  können",  bleiben  ja  noch  die  Dinge  an  sich,  wie  die  A.  L.  Z.  178S, 
I,  251  gegen  Feder  monirt.  Vgl.  über  diese  „verfängliche  Wen  düng  **  „nur 
in  uns"  auch  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  328.  329.  332.  336.  346.  451.  506. 
518.  542.  563.  635. 

Wie  schon  bemerkt,  bringen  nur  die  beiden  listzten  Sätze  dieses  ersten 
Absatzes  eine  neue  Wendung.  Kant  setzt  hier  mit  einem  Gedanken  ein, 
den  er  bis  hieb  er  aufgespart  hat,  der  aber  bedeutend  genug  ist,  scharf  her- 
vorgehoben zu  »werden,  weil  er  sehr  wichtige  Consequenzen  nach  sich  zieht. 

Wenn  „all  unsere  Anschauung  nichts  als  die  Vorstellung  von  Er- 
scheinung ist",  wenn  Raum  und  Zeit  nebst  Allem,  was  in  ihnen  ist,  nur 
von  unserer  Sinnlichkeit  abhängen,  so  fallen  die  Dinge  an  sich  ganz  aus 
dieser  anschaulichen,  raumzeitlichen  Welt  hinaus;  wir  mögen  diese  anschau- 
liche Welt  in  Raum  und  Zeit  noch  so  gründlich  durchsuchen,  durchforschen 
und  bis  aufs  Letzte  analysiren,  wir  werden  doch  niemals  auf  diesem  Wege 


*  In  den  Jacob'schen  Annalen  I,  2&5  (Anz.)  erinnert  Grille  zu  dieser  Stelle 
an  den  Ausspruch  von  Montaigne:  „Die  Dinge  werden  mit  uns  geboren  und 
sterben  auch  wieder  mit  uns."     Kant  schätzte  seinen  „Montagne"  sehr. 


Polemik  gegen  die  bisherigen  Theorien  der  Sinnlichkeit.  447 

[R  49.  50.  H  72.  73.  E  90.]  A48.B60. 

auf  ein  Ding  an  sich  stossen,  wir  bleiben  stets  im  Kreise  der  Erscheinung, 
weil  wir  den  Bann  unserer  Subjectivität  nicht  durchbrechen  können. 

Dies  hat  Kant  in  einer  bekannten  Stelle ,  in  der  ,  Anmerkung  zur 
Amphibolie  der  BeflexionsbegrifPe'^  A  277  näher  ausgeführt:  ,Ins  Innere 
der  Natur  dringt  Beobachtung  und  Zergliederung  der  Erscheinungen,  und 
man  kann  nicht  wissen,  wie  weit  dieses  mit  der  Zeit  gehen  werde''  u.  s.  w. 
Er  betont,  es  sei  unmöglich,  dass  wir  „ein  so  unschickliches  Werkzeug*,  wie 
unsere  Sinnlichkeit  sei,  dazu  brauchen  können,  , etwas  Anderes,  als  immer 
wieder  Erscheinungen  aufzufinden,  deren  nicht-sinnliche  Ursache 
wir  doch  gern  erforschen  wollten.* 

Dies  verkannt  zu  haben,  wirft  nun  im  Folgenden  Kant  den  bisherigen 
Theorien  der  Sinnlichkeit  vor  —  denn  darum  dreht  sich  eben  die  ganze 
Polemik  gegen  dieselben.  Die  Bekämpfung  der  Leibniz'schen  Lehre  gipfelt 
in  dem  Satze:  ^Die  Vorstellung  eines  Körpers  in  der  Anschauung  enthält 
gar  nichts,  was  einem  Gegenstand  an  sich  zukommen  könnte*;  diese  sinn- 
liche Vorstellung  »bleibt  von  der  Erkenntniss  des  Gegenstandes  an  sich  selbst, 
ob  man  jene,  die  Erscheinung,  gleich  bis  auf  den  Grund  durch- 
schauen möchte,  dennoch  himmelweit  unterschieden.* 

Und  ebenso  steckt  der  Kern  der  Polemik  gegen  Locke's  Theorie  in  dem 
Satz:  wir  glauben  da  fälschlicherweise  aDinge  an  sich  zu  erkennen,  ob  wir 
es  gleich  überall  in  der  Sinnenwelt  selbst  bis  zu  der  tiefsten  Er- 
forschung ihrer  Gegenstände  mit  nichts  als  Erscheinungen  zu  thun  haben.* 

Auch  die  „tiefste  Erforschung*,  auch  die  hellste  Durchleuchtung,  und, 
so  zu  sagen,  Durchgeistigung  der  Anschauungen  führt  nie  über  die  Er- 
scheinung hinaus  zu  den  Dingen  an  sich.  Auch  bei  höchster  quantita- 
tiver Steigerung  schlägt  die  sinnliche  Erkenntniss  der  Erscheinungen  nicht 
in  eine  andere  Art,  in  eine  qualitativ  andere  Erkenntnissart  um,  in  die 
Erkenntniss  der  Dinge  an  sich.    (Vgl.  Grundl.  z.  M.  d.  Sitten,  R.  VIII,  84.) 

A.  Polemik  gegen  Leibniz-Wolff. 

Zwei  Absätze  widmet  nun  Kant  der  Widerlegung  der  Leibniz- 
schen  Theorie  der  Sinnlichkeit;  er  erwähnt  zwar  den  Namen  von  Leibniz 
resp.  Wolff  erst  im  zweiten  Absätze,  aber  natürlich  zielt  auch  der  erste 
auf  dieselbe  Theorie  ab  ^  Aus  der  oben  besprochenen  Ausführung  folgt 
(„daher*),  dass  diese  Ansicht  falsch  sein  muss,  die  Ansicht,  dass  die  Sinn- 
lichkeit doch  eine  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  sei,  wenn  auch  eine  ver- 
worrene; dass  wir  in  den  sinnlichen  Vorstellungen  nur  undeutliche  An- 
häufungen  von  Merkmalen  haben,   dass  es  also  nlir  einer  verdeutlichenden 


*  Eine  bemerkenswerthe  Diatribe  über  diese  ganze  Stelle  gab  C.  G.  Schütz 
in  seinem  Programm :  „/>«  vero  sentiendi  ifUelligendique  facultcUis  discrimine.  Leib- 
nitianae  philosophiae  cum  Kantiana  comparatio.  Jenae  1789."  Vgl.  Opuscula,  280  ff. 
(Wiederabg.  bei  Hausius,  Materialien  z.  Gesch.  d.  krit.  Phil.  I,  1793,  S.  106 — 114.) 


448  §  3«    Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A  43.  B  60.  [B  60.  H  78.  E  90.] 

logischen  Analyse  bedürfe,  um  aus  den  sinnlichen  Vorstellungen  selbst 
heraus  die  wahre,  verstandesmässige,  begriffliche,  deutliche  Erkenntniss  der 
Dinge  an  sich  zu  gewinnen.  Somit  ist,  dieser  Ansieht  nach,  der  unterschied 
der  sinnlichen  und  der  begrifflichen,  wahren  Erkenntniss  nur  ein  gradueller, 
ein  quantitativer.  Wie,  derselben  Ansicht  nach,  Erscheinung  und  Ding  an 
sich  nicht  der  Art  nach  unterschieden  sind,  so  sind  auch  die  scheinbare  sinn- 
liche und  die  wahre  verstandesmässige  Erkenntniss  nicht  der  Art,  nur  dem 
Grade  nach  verschieden.     Vgl.  die  oben  S.  416  ff.  angeführten  Stellen. 

Dieser  quantitative  unterschied  der  beiden  Vorstellungsarten  wird 
näher  so  gefasst.  Deutlich  sind  die  Verstandesbegriffe,  weil  sie,  je  mehr 
sie  sich  der  Einfachheit  nähern,  desto  weniger  Merkmale  haben. 
Eine  Vorstellung  dagegen,  welche  eine  unzählige  Menge  von  Merkmalen 
enthält,  ist  dem  Verstände  eben  darum  um  so  viel  weniger  durchsichtig. 
Die  Vorstellungen  bilden  eine  continuirliche  Kette  von  dem  Einen  Extrem 
der  deutlichsten,  weil  einfachsten  Vorstellung  (Etwas)  bis  zur  undeutlichsten, 
weil  zusammengesetztesten  Vorstellung  (sinnliche  Einzel  Vorstellungen).  Auf 
dieser  Scala  gehen  Verstand  und  Sinnlichkeit  unmerkbar  in  einander  über. 
Bei  den  sinnlichen  Vorstellungen  sind  die  Merkmale  durcheinander  gewirrt, 
übereinander  gehäuft,  bilden  einen  „verworrenen  Plunder*  (Hauptm.  131), 
den  das  deutliche  Bewusstsein  mit  seinem  Lichte  nicht  mehr  durchdringen 
kann.  Sie  sind  für  den  Verstand  undurchsichtig,  während  jedes  einzelne  ein- 
fachste Merkmal  für  den  Verstand  durchsichtig  ist,  wie  etwa  ein  Haufen 
vieler  Glassplitter  übereinander  undurchsichtig  ist,  während  jeder  einzelne 
durchsichtig  ist.  Der  Gesammteindruck  des  sinnlichen  Einzelnen  ist  somit 
ein  verworrener.  Durch  die  Verstandesanalyse  glaubt  nun  der  Leibnizianer 
jenen  verworrenen  Haufen  allmälig  durchschauen  zu  können.  Jeder  Gegen- 
stand der  Sinne  kann  so  lange  in  der  Retorte  des  Verstandes  destillirt,  sub- 
limirt  und  präcipitirt  werden,  die  Scheidung  kann  so  weit  gefuhrt  werden, 
bis  man  endlich  auf  dasjenige  kommt,  was  dem  Verstände  durchsichtig  ist. 
Die  Sinnesobjecte  werden  dadurch  Verstandesobjecte;  der  Verstand  kann 
somit  die  sinnlichen  Gegenstände  ganz  in  seinen  Bereich  herüberziehen,  in- 
dem er  sie  allmälig  in  die  einzelnen  „Theilvorstellungen*  analysirt.  Dem- 
nach geben  die  Sinnesvorstellungen  auch  denselben  Inhalt  wie  der  Verstand, 
nur  in  verdunkelter  Form,  aber  so,  dass  der  Verstand  ans  ihnen  heraus  die 
wahre  Grundbeschaffenheit  der  Dinge  zu  entwickeln  im  Stande  ist.  Es  gibt 
somit  eine  Brücke  zwischen  Anschauungen  und  Verstand,  der  die  Dinge  an 
sich  erkennt:  und  jene  sinnlichen  Vorstellungen  geben  auch  die  Eigenschaften 
der  Dinge  an  sich,  wenn  auch  in  verworrenem  Zustande.  Wenn  daher 
Leibniz  die  sinnlichen  Vorstellungen  Erscheinungen  nennt,  so  sind  das 
zwar  verworrene,  aber  in  letzter  Linie  doch  wahre  und  reale  Erkenntnisse 
der  Dinge  an  sich,  die  nur  perspectiv isch  etwas  verschoben  sind.  VgL  oben 
S.  359  N. 

Diese  Theorie  von  Leibniz  über  die  „verworrene*  Erkenntniss  ist  von 
demselben   sehr  häufig   entwickelt  worden  und  ist  ein  Fundamentalartike] 


Leibniz  habe  den  Begriff  der  Sinnlichkeit  »verfälscht*.  449 

[R  50.  H  73.  E  90.]  A  43.  B  60. 

der  Leibniz- Wolff 'sehen  Schule  und  ihres  philosophischen  Katechismus.  Die 
Sinnlichkeit,  welche  die  Erscheinung,  das  „phantöme  sen^Uip  gibt,  besteht 
aus  idies  sensitives,  confuses,  peu  SclairSes  u.  s.  w.  Vgl.  die  Stellen  in 
J.  E.  Erdmanns  Gesch.  d.  n.  Philos.  II,  2,  Anhang  XLII  sq.* 

Auch  hier,  wie  bei  allen  Leibniz- Wolff'schen  Lehrstücken  bezog  sich 
übrigens  Kant  direct  auf  Baumgartens  Metaphysik,  wo  der  bezügliche 
Unterschied  §  510.  511.  514.  515.  519-533.  624  entwickelt  wird.  Be- 
sonders §  520  wird  der  graduelle  Unterschied  laut  betont:  Cognitio  clara 
major  est,  quam  obscura.  Hinc  obscuritas  minor,  claritas  major  cognitionis 
gradus  est.  Daher  heisst  die  Sinnlichkeit  ebenfalls  mit  einer  graduellen 
Bezeichnung  facultas  cognoscitira  inferior^. 

Diese  Ansicht  nennt  nun  Kant,  dem  es  nach  einer  bekannten  Stelle 
in  Schultz'  Erläuterungen  S.  1 88  (vgl.  E  r  d  m  a  n  n ,  Kriticismus  S.  132) 
in  erster  Linie  darum  zu  thun  war,  „die  wahre  Natur  der  Sinnlichkeit  und 
ihren  Unterschied  vom  Verstände  zu  bestimmen"  (vgl.  Göring,  Raum 
und  Stoff  261),  eine  Verfälschung  des  Begriffes  der  „Sinnlichkeit",  eine 
Verfälschung  des  Begriffes  der  » Erscheinung".  Die  Sinnlichkeit  wird 
hier  zu  einer  verworrenen  Art  der  Verstandeserkenntniss ,  die  Erscheinung 
zu  einem  getrübten  Ding  an  sich:  der  qualitative  Unterschied  von  Er- 
scheinung und  Ding  an  sich  wird  also  zu  einem  bloss  quantitativen 
abgestumpft;  darin  sieht  Kant  mit  einem  starken  Ausdruck  eine  »Ver- 
fUlschung",  ein  Ausdruck,  welcher  unglücklich  gewählt  ist,  weil  er,  neben 
einem  unwillkürlichen  Irrthum,  auch  eine  absichtliche  Verdrehung  be- 
deuten kann. 

Ueber  diesen  Ausdruck  Verfälschung  entspann  sich  nun  im  Jahre 
1789  eine  Contro versa,  welche  für  die  Signatur  der  damaligen  Zeit  charak- 
teristisch ist  und  wodurch  diese  Stelle  nach  Eberhards  Ausdruck  , be- 
rüchtigt" worden  ist.  Eberhard  hatte  im  Phil.  Mag.  T,  290.  298  (vgl. 
I,   145  u.  II,   39)   die   Leibniz'sche   Philosophie   gegen   den  Vorwurf  jener 


^  Bei  einzelnen  Leibnizianem  führte  dies  zu  dem  Bestreben,  die  Grenzen 
zwischen  Physik  und  Metaphysik  niederzureissen,  so  bes.  bei  Beguälin. 

'  Diese  Ansicht  hatte  Kant  natürlich  in  seiner  vorkritischen  Zeit  auch  stramm 
getheilt;  erst  in  der  Dissertation  von  1770  ist  ihm  die  neue  Erkennntniss  auf- 
gegangen. Allerdings  hat  K.  Fischer  III,  ',176  die  qualitative  Trennung  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand  an  Stelle  der  graduellen  durch  Kant  schon  in  das 
Jahr  1762  in  die  Schrift  von  der  Spitzfindigkeit  der  syllogist.  Fig.  zurQckverlegen 
wollen;  allein  Cohen,  System.  Begriffe  17,  und  Pauls en,  Entw.  87.  103  ff.  haben 
die  Irrigkeit  dieser  Auslegung  nachgewiesen;  Fischer  hat  III,  ^  182  vergeblich 
dagegen  remonstrirt.  Vgl.  Cohen,  2.  A.  110—114.  —  Vortrefflich  hat  Windel- 
band  die  grundlegende  Bedeutung  dieser  bei  Kant  eben  im  Jahre  1770  zuerst 
auftretenden  , totalen  Differenz  der  Sinnlichkeit  und  Vernunft"  gekennzeichnet 
(Viert,  f.  wiss.  Pbil.  I,  237  ff.  Gesch.  d.  n.  Philos.  II,  .34  ff).  Vgl.  B.  Erdmann, 
Reflexionen  I,  N.  35;  II,  N.  316  ff.  414.  1120  (dazu  desselben  Einleitung  S.  87. 
45.  46.  48).    Vgl.  Comm.  I,  489  f.,  sowie  oben  S.  22.  428. 

Yaihinger,  Kant-Gommentar.    U.  29 


450  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.     I. 

A43.B60.  [R  50.  H  73.  E  90.] 

» Vermischung ■  in  Schutz  genommen,  dessen  üebereilung  hart  getadelt  und 
insbesondere  über  den  Ausdruck  der  „Verfälschung*  sich  beklagt.  Der 
Becensent  des  betreffenden  Heftes,  Reinhold,  behauptete  nun  schlechtweg 
(AUg.  Lit.  Zeit.  1789,  II,  S.  595),  es  walte  hier  „ein  nicht  unbedeutender 
Schreib-  oder  Gedächtniss fehler*  ob,  „der  dem  mehr  als  zu  viel 
miss verstandenen  Verfasser  dieses  von  seinen  Prüfern  so  sehr  gem isshandelten 
Werkes  vielleicht  am  wenigsten  gleichgültig  sein  dürfte.*  Der  Ausdruck 
„verfälscht*  finde  sich  bei  Kant  nicht.  Es  heisse  bei  ihm  auf  S.  44  (der 
I.  Ausg.;  diese  Seite  hatte  Eberh.  selbst  citirt),  Leibniz  „habe  ...  einen 
ganz  unrechten  Gesichtspunkt  angewiesen*.  Und  Reinhold  lässt  Eberhard 
hart  an  wegen  seiner  ungenauen  Citirung.  Sofort  erliess  Eb.  hiegegen  eine 
Erklärung  im  Int.  Bl.  d.  A.  L.  Z.  1789,  Nr.  87,  S.  730  und  zeigt  das  ver- 
hängnissvolle Wort  in  dem  nämlichen  Contexte,  nur  auf  der  unmittelbar 
vorhergehenden  Seite  43.  Denn  Reinh.  hatte,  weil  nur  S.  44  angeführt  war, 
nur  diese  nachgeschlagen.  Gegen  diesen  unangenehmen  Zwischenfall  war 
Reinhold  sophistisch  und  jesuitisch  genug,  einen  Ausweg  zu  ergreifen,  der, 
wie  Eberh.  sagt,  „unter  allen  der  schlechteste  ist*.  Er  war  dreist  genug, 
in  derselben  Nummer  eine  Gegenerklärung  zu  erlassen,  worin  er  sich  der 
elenden  Ausflucht  bediente,  der  fragliche  Ausdruck  finde  sich  nicht  an  der 
von  Eberhard  citirten  Stelle,  sondern  eine  Seite  vorher,  und  da  sei  noch  nicht 
von  der  Leibniz- Wolff'schen  Philosophie  die  Rede.  Dass  dies  doch  der  Fall 
sei,  konnte  Eberhard  aber  leicht  nachweisen,  Phil.  Mag.  II,  244—250  (vgl. 
260.  270 — 272);  er  schliesst  daher  mit  den  Worten:  „er  sehe  mit  Beschämung 
auf  diesen  elenden  Wortstreit  zurück.*  Aber  wer  sich  zu  schämen  hatte 
und  zwar  gründlich,  war  Reinhold.  Es  ist  bedauerlich,  darf  aber  nicht 
verschwiegen  werden,  dass  auch  Kant  selbst  sich  derselben  Ungerechtig- 
keit schuldig  gemacht  hat.  In  der  Streitschrift  gegen  Eberh.  beschuldigt 
er  denselben  sogleich  am  Anfang  der  „Wortverdrehung*,  und  S.  62,  Anm. 
(W.  W.  Ros.  I,  441)  sagt  er:  „Herr  Eb.  schilt  und  ereifert  sich  auch  auf 
eine  belustigende  Art  über  die  Vermessenheit  eines  solchen  Tadels  [nämlich 
eben  der  Leibniz'schen  Philosophie]  (dem  er  obenein  einen  falschen 
Ausdruck  unterschiebt).*  Und  im  Text  führt  auch  er  nur  den  Aus- 
druck „unrichtiger  Standpunkt*  an.  Auf  die  Aufforderung  Eberhards 
(Ph.  Mag.  III,  156.  158,  vgl.  IV,  81),  diesen  „falschen  Ausdruck  anzugeben*, 
musste  K.  natürlich  schweigen.  — 

Gegen  diese  „Verfälschung*  also  protestirt  Kant  bei  der  Wichtig- 
keit der  Sache  auch  sonst  nicht  selten,  so  besonders  in  dem  schon  mehrfach 
citirten  Abschnitte:  „Von  der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe*,  A  263  ff.,  271. 
(„Die  Sinnlichkeit  war  ihm  nur  eine  verworrene  Vorsteliungs- 
art  und  kein  besonderer  Quell  der  Vorstellungen.  Erscheinung  war  ihm 
die  Vorstellung  des  Dinges  an  sich  selbst  u.  s.  w.)  „Mit  Einem 
Worte:  Leibniz  intellectuirte  die  Erscheinungen.*  Vgl.  A  276. 
(Vgl.  Cohen,  2.  A.  174.)  Auch  die  Anthropologie  (§  7,  Anm.)  enthält 
eine   beachtenswerthe   Stelle   hierüber:    „Die   Sinnlichkeit   bloss   in    der 


Leibniz  habe  Sinnlichkeit  und  Verstand  nur  graduell  geschieden.     451 

[R  50.  H  73.  E  91.]  A  43.  B  61. 

ündeutlichkeit  der  Vorstellungen,  die  Intellectualität  dagegen  in  der 
Deutlichkeit  zu  setzen,  und  hiemit  einen  bloss  formalen  (logischen)  Unter- 
schied des  Bewusstseins,  statt  des  realen  (psychologischen)  ...  zu  setzen,  war 
ein  grosser  Fehler  der  Leibniz- Wolff'schen  Schule,  nämlich  die  Sinnlichkeit 
bloss  in  einem  Mangel  ...  zu  setzen,  ...  da  jene  doch  etwas  sehr  Positives 
ist*,  u.  s.  w.  Auch  in  der  Logik  (Einleitung  V,  vgl.  auch  VIII)  beschäftigt 
sich  Kant  mit  diesem  Thema.  An  der  Wolff'schen  Theorie  der  Sinnlich- 
keit macht  er  da  zunächst  die  formelle  Ausstellung,  dass  sie  den  Aus- 
druck , verworrene  Erkenntniss"  in  unrichtiger  Weise  verwendet  habe. 
Es  sei  besser  dafür  zu  setzen:  „undeutlich*.  (Doch  verwendet  Kant  den 
ersteren  selbst  A  268  flp.;  auch  schon  A  5;  vgl.  Comm.  I,  249.)  Weiterhin 
heisst  es  daselbst,  es  falle  eben  nicht  der  Unterschied  undeutlicher  und 
deutlicher  Vorstellungen  mit  dem  sinnlicher  und  intellectueller 
zusammen;  sondern  jede  Vorstellung,  ob  sinnlich  oder  intellectuell ,  kann 
deutlich  oder  undeutlich  sein  u.  s.  w.;  so  sei  z.  B.  die  Milchstrasse  im 
Telescop  gesehen,  eine  deutliche  Anschauung,  die  unanalysirte  Idee  der 
Schönheit  ein  undeutlicher  Begriff.  Niemand  werde  aber  eine  deutliche  An- 
schauung darum  aus  dem  Gebiete  der  Anschauungen  herausheben  und  ihrer 
Deutlichkeit  wegen  eine  intellectuelle  Erkenntniss  nennen,  und  ebensowenig 
wird  Jemand  einen  undeutlichen  Verstandesbegriff  seiner  Ündeutlichkeit 
halber  aus  dem  Kreise  der  Begriffe  herausnehmen  und  als  sinnlich  be- 
zeichnen. Dasselbe  erklärt  dann  Kant  auch  in  seiner  Gegenschrift  gegen 
den  Haupt  Vertreter  der  Leibniz- Wolff'schen  Philosophie,  Eberhard,  8.  60 
Anm.  Vgl.  dazu  Meilin  II,  87.  Vgl.  dazu  Steckelmacher,  Ks.  Logik  S.  20  ff. 
Zur  mehreren  Erläuterung  bringt  Kant  hier  im  Texte  noch  ein  anderes 
Beispiel  (gegen  dessen  Hiehergehörigkeit  übrigens  Eberhard  im  Phil.  Mag. 
I,  300  protestirt)  herbei:  Der  Begriff  vom  Rechte  ist  ein  intellectueller  Be- 
griff, betreffend  die  moralische  resp.  legale  Beschaffenheit  der  Handlungen 
(vgl.  Erdmann,  Nachträge  S.  21),  kann  aber  sowohl  (beim  Rechtsgelehrten) 
deutlich  sein,  als  (beim  gemeinen  Manne)  undeutlich.  Fiele  nun  der  Unter- 
schied deutlicher  und  undeutlicher  Erkenntniss  mit  dem  Unterschiede  intel- 
lectueller und  sinnlicher  Vorstellungen  zusammen,  so  müsste  man  die  Rechts- 
vorstellung des  gemeinen  Mannes  eine  „sinnliche"  nennen,  was  doch  Nie- 
mand thun  wird.  Dann  müsste  jene  Rechtsvorstellung  des  gemeinen  Mannes 
identisch  sein  mit  einer  Erscheinung,  und  das  hätte  vollends  keinen  Sinn. 
Denn  der  Rechtsbegriff,  als  ein  Verstandesbegriff,  ist  überhaupt  nicht  etwas, 
was  sinnlich  erscheinen  kann ;  und  die  juridisch-moralische  Beurtheilung  be- 
zieht sich  auf  Eigenschaften  der  Handlungen  an  sich  selbst,  nicht  auf  Er- 
scheinungen. Diese  letztere  Wendung  Kants,  welche  eine  Steigerung  sein 
soll,  ist  in  der  That  eine  Abschwächung :  denn  man  kann  sie  aus  zwei 
Gründen  nicht  als  eine  glückliche  bezeichnen:  erstens  nicht  formell:  denn 
er  mischt  hier,  in  die  Beurtheilung  der  Leibniz'schen  Theorie,  seinen 
eigenen  Erscheinungsbegriff  hinein;  aber  vor  allem  zweitens  nicht  materiell: 
denn  nachdem  er  zwei  Seiten  vorher  (oben  S.  444)  erklärt  hat,  die  Dinge  an 


452  §  8.     Allgemeine  Anmerkungen.     1. 

A  44.  B  61.  [R  50.  H  73.  K  91.] 

sich  seien  uns  „gänzlich  unbekannt",  macht  es  einen  eigenthümlichcn  Ein- 
druck, hier  zu  hören,  dass  der  Rechtsbegriff  sich  auf  die  Dinge  an  sich  beziehe. 
Diese  Herbeiziehung  seiner  so  widerspruchsvollen  Freiheitslehre  wäre  hier 
gar  nicht  nothwendig  gewesen.  (Vgl.  hiezu  auch  A  476.  728  ff.,  B  414  ff., 
wo  immer  wieder  dasselbe  Beispiel  vom  Recht  wiederkehrt.  Vgl.  auch 
Mellin  I,  81.)  Auch  in  der  Vorrede  und  Einleitung  zu  den  ,Metaphys. 
Anfangsgründen  der  Rechtslehre "  (Ros.  IX,  3  ff.  31  ff.  70.  85)  kommt  Kant 
hierauf  zu  sprechen;  ebenso  auch  in  der  Abhandlung:  „Ueber  Philos.  über- 
haupt", Ros.  I,  601.  Auch  in  der  Kr.  d.  ürth.  §  15  w^ird  dieses  Beispiel 
des  Rechtsbegriffs  herangezogen  in  einem  ähnlichen  Zusammenhange, 
wo  nämlich  der  speci fische  Unterschied  des  ästhetischen  und  des  logi- 
schen ürtheils  behauptet  wird,  gegenüber  Baumgarten,  welcher  beides 
in  den  bloss  graduellen  Unterschied  verworrener  und  deutlicher  Erkennt - 
niss  aufgelöst  hatte. 

Den  wahren  Begriff  der  Sinnlichkeit  also  verfehlt,  einen  falschen 
dafür  aufgestellt  zu  haben  ,  das  wirft  Kant  der  Leibniz-Wolff'schen  Philo- 
sophie vor;  und  eben  darum  habe  sie  auch  den  wahren  Begriff  der  Er- 
scheinung verfehlt  und  dafür  einen  falschen  aufgestellt,  durch  den  alles 
Unheil  über  die  bisherige  Metaphysik  in  Deutschland  gekommen  sei.  Jene 
falsche  Theorie  der  Sinnlichkeit  beruhe  aber  weiterhin  auf  einer  Verkennung 
der  Grenzen  zwischen  Logik  und  Transscendentalphilosophie. 

Denn  wenn  jener  Unterschied  von  sinnlicher  und  intellectueller  Er- 
kenntniss  ein  bloss  formeller  wäre,  wenn  er  bloss  die  Art  und  Weise 
beträfe,  wie  eine  Vorstellung  in  unserem  Bewusstsein  erscheint,  ob  deutlich 
oder  undeutlich,  so  wäre  dieser  Unterschied  logisch  und  gehörte  in  die 
Logik.  Denn  diese  behandelt  die  blosse  Form  der  Vorstellungen,  und  die 
Unterschiede  der  Deutlichkeit  und  ündeutlichkeit  sind  solche  formale  Unter- 
schiede, wie  sie  denn  auch  Kant  in  der  Logik,  Einl.  V  behandelt.  Aber 
der  Unterschied  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  ist  transscendental 
und  gehört  in  die  Transscendentalphilosophie,  d.  h.  er  bezieht  sich 
auf  den  Ursprung  und  Inhalt  der  Vorstellungen.  Der  Unterscliied  ist 
also,  nach  Mellin  III,  388,  ein  genetischer,  nicht  bloss  ein  logischer.  Denn 
„wir  sehen  in  der  Logik  nicht,  wie  Vorstellungen  entspringen.  .  .  .  Das 
überlässt  sie  der  Metaphysik."  (Logik  a.  a.  0.)  Metaphysik  gebraucht  K. 
in  seinen  übrigen  Schriften ,  besonders  in  der  Logik ,  nicht  selten  in  dem 
Sinne  von  Transsc.-Philos.  Wenn  K.  hier  sagt,  der  Unterschied  von  Sinn- 
lichkeit und  Verstand  sei  „transscendental",  so  wird  hier  das  Wort  in  einem 
Sinne  gebraucht,  der  aus  dem  Gegensatz  logisch  erhellt:  es  heisst  so  viel 
als  „zur  Transsc.-Philos.  gehörig*,  wie  logisch  =  zur  Logik  ge- 
hörig; also  hier  nicht  so  viel  als  „das  Apriori  betreffend*.  Letztere  Be- 
deutung liesse  sich  hier  nur  mit  Umschweifen  anwenden  (wie  z.  B.  bei 
Mellin  I,  82:  „Der  Untersch.  ist  transsc,  oder  hängt  von  dem  Ursprung 
der  Vorstellungen  a  priori  und  der  darin  liegenden  Möglichkeit  der  sinn- 
lichen und  Verstandes-Gegenstände  selbst  ab").    „Transscendentalphilosophie* 


Nach  Kant  sind  Sinnlichkeit  und  Intel lectuelles  specifisch  verschieden.     453 

[B  50.  H  73.  K  91.]  A  44.  B  62. 

hat  hier  offenbar  einen  Sinn,  der  sich  nicht  ganz  mit  dem  in  der  Einleitung 
festgestellten  deckt;  sondern  etwa  mit  dem  heutigen  Begriffe  „Erkenntniss- 
theorie". Denn  wenn  K.  sagt,  jener  Unterschied  von  Sinnlichkeit  und  Ver- 
stand beziehe  sich  auf  Ursprung  und  Inhalt,  so  ist  ja  darin  noch  nicht 
gesagt,  dass  der  Ursprung  ein  apriorischer  sei,  sondern  es  ist  nur  allgemein 
vom  Ursprung  gesprochen.  „Erkenntnisstheorie"  ist  das  Allgemeinere,  und 
„Transscendentalphilosophie"  heisst  zunächst  nicht:  Theorie  der  Erkenntniss, 
sondern  specieller:  Theorie  der  apriorischen  Erkenntniss.  K.  fühlte  eben 
wohl  (wie  auch  B.  Er d mann  in  seiner  Einleitung  zu  den  Prolegotnena 
S.  XXXIII  richtig  andeutet)  das  Bedürfniss  eines  solchen  allgemeineren  und 
neutralen  Terminus,  und  scheint  in  Ermangelung  eines  solchen  (denn  der 
Ausdruck  „Erkenntnisstheorie"  ist  sehr  viel  später  erst  aufgekommen,  vgl. 
Philos.  Monatsh.  XII,  84  ff.  188)  den  Ausdruck  „Transsc.-Phil."  gelegentlich 
und  so  auch  hier  in  jenem  allgemeineren  Sinne  zu  gebrauchen.  Es  darf 
also  auch  auf  den  letzteren  Ausdruck  nicht  das  sonstige  ganze  Gewicht 
dieses  Begriffes  gelegt  werden,  wie  das  bei  Cohen  S.  54  (2.  A.  167.  170) 
der  Fall  ist. 

Nun  müssen  wir  aber  der  Verwunderung  Ausdruck  geben  über  die 
Art,  wie  Kant  sich  hier  ausgedrückt  hat.  Er  spricht  hier  von  dem  „Unter- 
schied der  Sinnlichkeit  vom  Intellectuellen*  in  einer  Weise,  wie  wenn  er 
noch  auf  dem  Standpunkt  der  Dissertation  von  1770  sich  befände.  Das 
Lob  der  „Schärfe",  das  Bilharz,  Erl.  171  dieser  Kritik  des  Leibniz'schen 
Irrthums  ertheilt,  ist  deshalb  wesentlich  einzuschränken.  Es  klingt  ja  doch 
fast,  als  wollte  er  sagen,  „dass  wir  durch  die  erstere  die  Beschaffenheit  der 
Dinge  an  sich  selbst  gar  nicht  erkennen",  wohl  aber  durch  das  zweite; 
man  ist  wenigstens  nach  dem  Zusammenhang  unwillkürlich  versucht,  das 
Letztere  zu  ergänzen.  Ist  es  denn  richtig  vom  Standpunkt  von  1781  aus, 
zu  sagen,  Sinnlichkeit  und  „Intellectuelles"  (schon  der  Ausdruck  ist  ganz 
ungewöhnlich  vom  Standpunkt  der  Kr.  d.  r.  V.  aus)  seien  nach  Ursprung 
und  Inhalt  so  wesentlich  verschieden?  Hat  nicht  das  „Intellectuelle"  sowie 
auch  das  Sinnliche  nur  immanenten  Erkenntnisswerth  ?  *  Haben  nicht  beide 
einen  apriorischen  und  einen  aposteriorischen  Bestandtheil ,  und  hat  nicht 
jener  beidemal  die  Aufgabe,  „die  Erfahrung  möglich  zu  machen"?  Wir 
haben  es  also  hier  offenbar  wieder  mit  einer  jener  Stellen  zu  thun,  wie  wir 
sie  schon  mehrfach  trafen  (vgl.  oben  S.  354.  411  N.  417),  in  denen  die 
Dissertation  von  1770  nachklingt.  Es  liegt  daher  auch  nahe,  anzu- 
nehmen^,  der  Passus  stamme  daher  wohl  auch  aus  einer  früheren  Zeit. 


*  Aus  diesen  Schwierigkeiten  erklärt  sich,  wie  ein  Kantianer  (Schmid,  Grit.  14) 
dazu  kommen  konnte,  hier  die  intellectuelle  Anschauung  einzusetzen  im  Gegensatz 
zur  sinnlichen,  womit  die  Sache  natürlich  vollends  verdorben  wird. 

*  Dasselbe  ist  der  Fall  mit  einer  ähnlichen  hieher  gehörigen  Stelle  A  248  f. 
(welche  unten  S.  465  in  einem  anderen  Zusammenhang  ausführlich  mitgetheilt 
ist).     Indessen  ist  der  Schluss   auf  einen  früheren  Ursprung  solcher  Stellen   nicht 


454  §  ^-     Allgemeine  Anmerkungen.     1. 

A  44.  B  62.  [R  50.  H  73.  K  91.] 

Der  ganze  Abschnitt  ist  denn  auch  thatsächlich  mit  geringen  Ver- 
änderungen aus  der  Diss.  herübergenommen.  Es  ist  dort  der  §  7  (vgl.  auch 
schon  §  5),  der  dieser  Stelle  entspricht  und  so  lautet:  „Ex  liisee  videre  est: 
sensitivum  male  exponi  per  confusius  cognitum,  intellectuale  per  id,  cujus  est 
cognitio  distincta,  Nam  haec  sunt  tantum  discrimina  logica,  et  quae  data, 
quae  omni  logicae  comparationi  suhsternuntur,  plane  non  tangunt.  Possuni 
atdem  sensitiva  admodum  esse  distincta  et  intellectualia  maxime  confusa.  Prius 
anim  advertimus  in  sensitivae  cognitionis  prototypo,  geometria,  posterius  in 
intellectualium  omnium  organo,  metaphysica,  quae,  quantum  operae  navet  ad 
dispellendaSf  quas  inieUectum  communem  ohfuscatU,  confusionis  nehtdas  .  .  .  in 
propatulo  est.  Nihilo  tarnen  secius  harum  cognitionum  quaelihet  stemmaiis  sui 
Signum  tuetur,  ita,  ut  priores,  quantumcunque  distinctae,  ob  originem  vocentur 
sensitivae;  posteriores,  utut  confusae,  maneant  intellectuales :  quales  v.  g.  sunt 
conceptus  m orales,  non  experiundo,  sed  per  ipsum  inteUectum  purum  cogniti. 
Vereor  autem,  ne  WOLFIUS  per  hoc  inter  sensitiva  et  intellectualia  discrimen, 
quod  ipsi  non  est  nisi  logicum,  nohilissimum  illud  antiquitatis  de  phaeno- 
menorum  et  noumenorum  indole  disserendi  institutum  [vgl.  oben  S.  117], 
magno  philosophiae  detrimento,  totum  forsitan  aboleverit  animosque  ab  ipsorum 
indagations  ad  logica s  saepenumero  minufias  averterit/'  — 

Diese  scharfe  Polemik  gegen  die  Leib  niz- Wolf  fische  Philosophie  hatte 
nun  natürlich  die  Folge,  dass  die  noch  vorhandenen  überzeugten  Anhänger 
derselben  darauf  nicht  die  Antwort  schuldig  blieben.  Der  überzeugteste 
derselben  war  Eberhard,  dessen  „Philos.  Magazin"  geradezu  als  eine  Er- 
widerung auf  diese  Stelle  bezeichnet  werden  kann  *.  Den  äusseren  Verlauf 
dieses  grossen  Streites  und  seiner  wechselnden  Phasen  können  wir  hier  nicht 


unbedingt  zwingend:  Denn  auch  noch  in  den  1786  geschriebenen  , Bemerkungen 
zu  Jakob's  Prüfung*  u.  s.  w.  (Res.  I,  397)  unterscheidet  Kant  ^daa  Sinnliche  und 
die  Erscheinung  von  dem,  was  durch  den  Verstand  als  zu  Sachen  an  sich  gehörig 
betrachtet  werden  kann**.  Man  sieht  sich  also  zu  der  Annahme  gedrängt,  dass 
„die  verschiedenen  Phasen  der  Kantischen  Lehre  vom  Ding  an  sich*  (Windelband 
in  der  Z.  f.  wiss.  Philos.  I,  224  ff.)  in  Kants  Kopfe  sehr  ungeordnet  durch  ein- 
ander gingen.  —  Vgl.  auch  Comm.  I,  490. 

*  üebrigens  hat  auch  Platner,  Aphorismen,  3.  A.  1793  in  einem  eigenen 
Paragraphen  (§  765)  Leibniz  gegen  Kants  Vorwürfe  in  Schutz  genommen:  „Wenn 
Kant  der  Leibniz'schen  Philosophie  diesen  Vorwurf  macht  [er  weise  der  Sinnlich- 
keit einen  falschen  Gesichtspunkt  an],  so  weiset  er  damit  dieser  Philosophie 
einen  ganz  falschen  Gesichtspunkt  an."  Damit  steht  das  oben  S.  430  erwähnte 
Bestreben  -Platners  in  Zusammenhang,  die  Verwandtschaft  zwischen  Leibniz  und 
Kant  heiTorzuheben,  und  den  neuen  Wein  der  Kantischen  Philosophie  in  die  alten 
Schläuche  des  Leibnizianismus  zu  füllen.  Vgl.  P.  Rohr,  Platner  u.  Kant.  Diss. 
Leipz.  1890,  S.  46  ff.  —  Ein  entgegengesetztes  Bestreben  zeigt  die  vielfach  unkritische 
„Neue  Darstellung  der  Leibnizischen  Monadenlehre*  von  E.  Dill  mann  (1891). 
S.  264  ff.  (vgl.  77.  248  ff.  260  ff.),  welcher  die  Leibniz'sche  Lehre  von  der  Sinnlich- 
keit als  verworrener  Vorstellungsweise   in  Kantisch-idealistischem  Sinne   umdeutet. 


Eberhard  hat  die  Leibniz/sche  Theorie  unglücklich  vertheidigt.         455 

[R  50.  H  73.  K  91.]  A  44.  B  62. 

näher  verfolgen,  der  innerste  Kern  desselben  ist  schon  oben  S.  146 — 149 
hinreichend  zur  Sprache  gekommen.  Wir  erkannten,  dass  Eberhards  eigene 
Position  unklar  war,  insofern  er  die  Leibniz'schen  Monaden  bald  als  im- 
materielle Elemente  der  Materie  selbst,  bald  als  etwas  ausser  der  Sinnenwelt 
überhaupt  liegendes  rein  Intelligibles  definirte.  Da  Eberhard  stets  in  dieser 
Verwirrung  stecken  blieb,  so  musste  seine  Theorie  der  Sinnlichkeit  den 
Stempel  derselben  Verwirrung  tragen ;  vergeblich  wendet  er  daher  auch  ein 
(Mag.  II,  262),  Kant  habe  Leibniz  in  diesem  Punkte  „missverstanden".  Wo 
er  sich  auch  (an  den  oben  S.  147.  149  angeführten  Stellen,  bes.  aber  in  dem 
Aufsatz  I,  290—305  „üeber  den  wesentlichen  Unterschied  der  Erkenntniss 
durch  die  Sinne  und  durch  den  Verstand")  darüber  äussert  —  immer  be- 
gegnen wir  derselben  Unklarheit:  nach  der  Theorie,  wonach  die  Monaden 
etwas  ganz  ausser  der  Sinnen  weit  überhaupt  liegendes  rein  Intelligibles  sind, 
sind  ihm  auch  Sinnlichkeit  und  Verstand  „wesentlich  unterschieden"; 
denn  dann  haben  es  ja  beide  mit  ganz  verschiedenen  Gegenständen  zu 
thun.  Dagegen  nach  der  Theorie,  wonach  die  Monaden  die  immateriellen 
Elemente  der  Materie  selbst  sind,  sind  ihm  Verstand  und  Sinnlichkeit  nur 
graduell  unterschieden  als  deutliche  und  verworrene  Erkenntniss  eines 
und  desselben  Gegenstandes.  Da  nun  Eberhard  —  mit  der  ganzen 
Leibniz- Wolffischen  Schule  —  zwischen  jenen  beiden  Auffassungen  unklar 
hin  und  her  schwankt,  so  bekommt  seine  ganze  Darstellung  hierin  etwas 
Schillerndes  und  Zweideutiges. 

Dies  hat  nun  Kant  glücklich  herausgefunden  und  scharf  ans  Licht  ge- 
stellt. Dieser  Nachweis  gibt  seiner  Schrift  gegen  Eberhard  das  Ueberzeugende, 
ja  Ueberwältigende ;  und  so  ist  es  gekommen,  dass  Eberhard,  der  in  anderen 
Punkten  gegen  Kant  vollständig  Becht  hatte,  in  solchen  Misskredit  gekommen 
ist.  Aber  in  jenem  Punkte  hatte  Eberhard  —  ganz  abgesehen  von  der 
Frage  nach  der  materiellen  Wahrheit  —  schon  formell  Unrecht,  weil  er 
seine  Theorie  nicht  gründlich  durchgedacht,  nicht  in  innere  Harmonie  ge- 
bracht hatte.  Hier  setzte  Kant  ein;  ein  beträchtlicher  Theil  seiner  Gegen- 
schrift (S.  25—76,  Ros.  I,  416 — 450)  ist  dem  Nachweis  jener  Verwirrung 
gewidmet,  und  damit  zugleich  eine  werthvolle  Ergänzung  zu  diesem  Ab- 
schnitte der  Kr.  d.  r.  V.  Denn,  was  hier  theoretisch  behauptet  wurde,  dass 
keine  noch  so  gründliche  Analyse  der  sinnlichen  Vorstellungen  resp.  Gegen- 
stände zu  den  Dingen  an  sich  führe,  das  wird  dort  praktisch  an  dem 
warnenden  Beispiel  Eberhards  gezeigt,  welcher  es  versucht  habe,  eine  „Me- 
thode, vom  Sinnlichen  zum  Nichtsinnlichen  aufzusteigen",  zu  zeigen,  der 
aber  dabei  sich  die  schlimmsten  Verwechslungen  habe  zu  Schulden  kommen 
lassen.  Insbesondere  der  Begriff  des  , Nichtsinnlichen"  sei  *von  Eb.  zu 
jenem  Sprung  missbraucht  worden.  Unter  „nichtsinnlich"  werde  nämiich 
bald  verstanden  dasjenige,  „was  gar  nicht,  auch  nicht  dem  mindesten  Theile 
nach,  in  einer  sinnlichen  Anschauung  enthalten  sein  kann",  also  das  eigent- 
liche Ding  an  sich,  „der  uns  völlig  unerkennbare  Grund  der  Erscheinung", 
bald   dasjenige   am  Sinnenobjecte  selbst,    „was  nicht   mehr  mit  Bewusstsein 


45Ö  §  ^*    Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A  44.  B  62.  [R  60.  H  73.  E  91.] 

empfunden  wird,  wovon  aber  doch  der  Verstand  erkennt,  dass  es  da  sei, 
so  wie  die  kleinen  Theile  der  Körper",  wie  z.  B.  „Newtons  kleine  BlRttcben, 
daraus  die  Farbetheilcben  der  Körper  besteben,  die  nocb  kein  Mikroskop 
bat  entdecken  können,  deren  Dasein  der  Verstand  aber  nicht  nur  erkennt 
oder  vermatbet,  sondern  die  auch  wirklich  in  unserer  empirischen  Anschauung, 
obzwar  ohne  Bewusstsein,  vorgestellt  werden"  (als  „Theilempfindungen*). 
Indem  nun  Eb.  beide  Bedeutungen  mit  einander  verwechsle  und  die  erstere 
der  zweiten  unmerklich  „ unterschiebe",  glaube  er  plausibel  machen  zu 
können,  wie  man  eben  doch  durch  genaue  Analyse  der  sinnlichen  Vor- 
stellungen in  den  Sinnengegenständen  selbst  das  Ding  an  sich  (die  „Ver- 
staudeswesen") entdecken  und  begrifflich  bestimmen  könne. 

Hiebei  spiele  der  Begriff  des  Einfachen,  dessen  objective  Realität  £b. 
ohne  alle  kritische  Untersuchung  ohne  Weiteres  annehme,  auch  eine  bedenk- 
liebe Rolle ;  denn  Eb.  suche  zu  zeigen,  dass  die  Erscheinungen  in  Raum  und 
Zeit  aus  einfachen  Theilen  (Elementen)  bestehen  müssen,  und  diese  einfachen 
Theile  gebe  er  dann  eben  für  die  Dinge  an  sich  aus.  Allein  in  der  Er- 
scheinung gebe  es,  wie  in  Raum  und  Zeit,  nichts  absolut  Einfaches,  viel- 
mehr herrsche  da  die  unendliche  Theilbarkeit  (welche  Kant  eben  aus  diesem 
Grunde  überall  so  energisch  betont),  und  auf  die  Dinge  an  sich  sei  der 
Begriff  des  Einfachen  nur  mit  grosser  Vorsicht  anwendbar.  Aber  auch  wenn 
es  in  der  Erscheinurigswelt  wirklich  Einfaches  gäbe,  so  wäre  dieses  Einfache 
dann  doch  immer  wieder  etwas  Sinnliches,  also  nur  Erscheinung,  nicht  das 
eigentliche  übersinnliche  Ding  an  sich ;  selbst  wenn  dieses  Letztere  seinerseits 
auch  als  Einfaches  bezeichnet  werden  müsste,  so  wäre  dieses  Metaphysisch- 
Einfache  vom  Physisch-Einfachen  immer  noch  himmelweit  verschieden  \  und 
jedenfalls,  mangels  einer  Anschauung,  unserer  Erkenntniss  gänzlich  entzogen. 

Auch  mit  den  Ausdrücken :  Theile,  Elemente,  Gründe  spiele  Eber- 
hard dabei  ein  frivoles  Spiel.  Er  gehe  davon  aus,  dass  die  sinnlichen  Gegen- 
stände doch  ihre  letzten  Theile,  ihre  Elemente,  ihre  letzten  Gründe  haben 
müssten,  und  wenn  man  ihm  dies  für  die  sinnlichen  Erscheinungen  zugebe, 
so  mache  er  flugs  daraus  im  Handumdrehen  die  übersinnlichen  Dinge  an 
sich.  Hier  sei  aber  ein  gewaltiger  Sprung,  der  am  besten  daraus  erhelle, 
dass  ja  dann  nach  Eb.  „die  sinnliche  Anschauung  aus  Theilen  zusammen- 
gesetzt wäre,  die  nicht  sinnlich  sind";  das  aber  sei  „ein  offenbarer  Wider- 
spruch" ;  es  kann  nicht  „das  Ganze  einer  empirischen  Anschauung  innerhalb, 
die  einfachen  Elemente  derselben  Anschauung  aber  völlig  ausserhalb  der 
Sphäre  der  Sinnlichkeit  liegen".  Sondern  man  müsse  da  wesentlich  unter- 
scheiden zwischen  den  letzten  sinnlichen  Theilen  des  Sinnlichen  und  den 
eigentlichen  übersinnlichen  Gründen  desselben.  Man  müsse  allerdings  kleine 
(wenn   auch   wegen   der  unendlichen  Theilbarkeit   nicht  kleinste)  Theile  der 


*  Es  ist  von  Interesse,  daran  zu  erinnern,  dass  Kant  schon  in  den  ,, Traumen*" 
(Res.  VII,  a,  38  ff.)  ganz  ähnlich  unterscheidet  zwischen  dem  Immateriell-Einfachen 
und  dem  Materiell-Einfachen. 


Die  Eberhard'schen  Homonymien.  457 

[R  50.  H  73.  E  91.]  A  44.  B  62. 

Materie  annehmen,  welche,  wenn  sie  auch  unseren  Sinnen,  ja  selbst  unseren 
Instrumenten  nicht  mehr  zugänglich,  also  nicht  mehr  „empfindbar'  sind, 
doch  noch  eben  als  Theile  der  sinnlich-wahrnehmbaren  Gegenstände,  selbst 
auch  noch  innerhalb  der  Sphäre  der  Sinnlichkeit  (als  möglicher  Weise 
wahrnehmbar)  sich  befinden,  und  nicht  „aufhören,  sinnlich  zu  sein'.  Im 
Gegentheil,  diese  kleinen  Theile  gehören  eben  darum,  weil  sie  Theile  des 
Sinnlichen  sind,  noch  selbst  zur  Erscheinung  als  solcher,  und  sind  noch  lange 
nicht  die  Dinge  an  sich  selbst,  welche  in  der  „Sphäre  des  üebersinnlichen* 
liegen.  Diese  Grenze  verwische  aber  Eb.  mit  jenen  seinen  zweideutigen 
Ausdrücken,  insbesondere  mit  dem  Ausdruck  der  „Gründe';  denn  „Gründe 
des  Sinnlichen'  kann  man  sowohl  jene  (erkennbaren)  „sinnlichen  Theile  des 
Sinnlichen',  als  die  dem  Sinnlichen  in  letzter  Linie  zu  Grunde  liegenden 
übersinnlichen  (unerkennbaren)  Dinge  an  sich  nennen.  Indem  nun  Eb.  nach- 
weise, dass  man  jene  ersteren  durch  verstandesmässige  Analyse  des  Sinn- 
lichen erkennen  könne,  springe  er  unmerklich  über  zu  diesen  letzteren,  und 
gebe  vor,  eben  diese  seien  dem  Verstände  zugänglich.  Darin  eben  bestehe 
seine  famose  „Methode,  vom  Sinnlichen  zum  Nichtsinnlichen  aufzusteigen'. 
Dieselbe  bestehe  also  in  einer  jetzt  ganz  durchsichtigen  Verwechselung  der 
letzten  raumzeitlichen  Theile  des  Sinnlichen  und  der  ersten  übersinnlichen 
Gründe  desselben,  der  Dinge  an  sich ,  „die  nicht  im  Raum  und  in  der  Zeit 
zu  suchen  sind'.  Zusammenfassend  sagt  Kant:  „Nach  der  Kritik  ist  also 
Alles  in  einer  Erscheinung  selbst  wiederum  Erscheinung,  so  weit  der  Ver- 
stand sie  immer  in  ihre  Theile  auflösen  und  die  Wirklichkeit  der  Theile, 
zu  deren  klarer  Wahrnehmung  die  Sinne  nicht  mehr  zulangen ,  beweisen 
mag;  nach  Herrn  Eberhard  aber  hören  sie  alsdann  sofort  auf,  Erscheinungen 
zu  sein  und  sind  die  Sache  selbst.'  Kant  macht  Letzteres  an  einem  drasti- 
schen Beispiel  klar  *:  „es  ist  also  (nach  Eberhard)  zwischen  einem  Ding  als 
Phänomen  und  der  Vorstellung  des  ihm  zu  Grunde  liegenden  Noumens  kein 
anderer  Unterschied,  als  zwischen  einem  Haufen  Menschen,  den  ich  in  grosser 
Ferne  sehe,  und  ebendemselben,  wenn  ich  ihm  so  nahe  bin,  dass  ich  die 
einzelnen  zählen  kann'  u.  s.  w.  Wenn  diese  Leibniz- Wolffische  Unter- 
scheidung zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  (nach  Eberhards  Behauptung, 
Kant  lehre  im  Grunde  nur  dasselbe  wie  Leibniz)  dieselbe  wäre,  „die  die 
Kritik  in  ihrer  Aesthetik  mit  so  grossem  Aufwände  zwischen  der  Erkennt- 
niss  der  Dinge  als  Erscheinungen  und  dem  Begriffe  von  ihnen  nach  dem, 
was  sie  als  Dinge  an  sich  selbst  sind,  macht,  so  wäre  diese  Unterscheidung 
eine  blosse  Kinderei  gewesen!'  Um  diesen  „schalen  und  in  der  Meta- 
physik gänzlich  zwecklosen'  rein  logischen  Unterschied  zu  machen,  hätte 
es  nicht  jenes  grossen  Apparates  der  Kr.  d.  r.  V.  bedurft ,  die  vielmehr  he- 


*  Ein  noch  drastischeres  Beispiel  gibt  Schütz  in  der  A.  L.  Z.  1785,  111,54: 
flWenn  man  gleich  den  Schimmel  auf  dem  Käse  durch  das  Vergrösserungsglas 
weit  deutlicher  anschaut,  als  mit  blossen  Augen,  so  bleibt  er  doch  immer  Er- 
scheinung, und  die  Voi-stellung  davon  wird  nie  intellectual.** 


458  §  8.     Allgemeine  Anmerkungen.     I. 

A  44.  B  62.  [R  60.  H  73.  K  91.] 

weisen  will,  dass  in  der  Körperwelt,  „wenn  unsere  Sinne  auch  ins  Unend- 
liche geschürft  würden '',  doch  niemals  die  eigentlichen  Dinge  an  sich  anzu 
treffen  sind;  und  dies  ist  der  transscendentale  Begriff  der  Sinnlichkeit. 
Nach  Leibniz  ist  die  Sinnlichkeit  etwa  wie  ein  Schleier,  durch  den  hin- 
durch wir  die  wahren  Umrisse  der  Dinge  undeutlich  erkennen  können,  nach 
Kant  aber  wie  eine  Mauer,  welche  uns  jeden  Ausblick  auf  die  Dinge  an 
sich  versperrt. 

Um  diesen  Unterschied  recht  klar  zu  machen ,  geht  Kant  auf  ein  be- 
rühmtes Beispiel  ein,  welches  Eberhard  (I,  272.  292)  aus  Leibniz  angeführt 
hatte  (welches  übrigens  schon  aus  Arnaulds  Logik  I,  1  stammt),  ,die  Sinne 
und  die  Einbildungskraft  des  Menschen  in  seinem  gegenwärtigen  Zustande 
können  sich  von  einem  Tausendeck  kein  genaues  Bild  machen,  d.  h.  ein 
Bild,  wodurch  sie  es  z.  B.  von  einem  Neunhundertneunundneunzigeck  unter 
scheiden  könnten.  Allein  sobald  ich  weiss,  dass  eine  Figur  ein  Tausendeck 
ist,  so  kann  mein  Verstand  ihr  verschiedene  Prädicate  beilegen  u.  s.  w,* 
Somit  habe  der  Verstand  von  den  Dingen  an  sich  .eine  Erkenntniss.  Hiegegen 
hat  Kaut  leichtes  Spiel:  ein  Dreieck  oder  Fünfeck,  das  man  noch  mit  den 
Sinnen  übersehen  kann ,  wäre  also  nach  Eberhard  ein  Sinnenwesen ,  ein 
Tausendeck  schon  ein  blosses  Verstandeswesen ,  etwas  Nichtsinnliches:  ,ich 
besorge,  ein  Neuneck  werde  schon  über  dem  halben  Wege  vom  Sinnlichen 
zum  Uebersinnlichen  hinausliegen ".  Eb.  wolle  also  die  Sinnengegenstände, 
, sofern  sie  nur  entweder  für  den  Grad  der  Schärfe  unserer  Sinne  zu  klein, 
oder  die  Vielheit  derselben  in^  einer  gegebenen  sinnlichen  Anschauung  für 
den  dermaligen  Grad  der  Einbildungskraft  zu  gross  ist,  für  nichtsinnliche 
Gegenstände  gehalten  wissen,  von  denen  wir  Vieles  sollen  durch  den  Ver- 
stand erkennen  können ''.  Eb.  betrachte  also  die  Sinnlichkeit  in  der  That 
als  eine  verworrene  Vorsteilungsweise,  welcher  die  Verstandeserkenntniss  als 
deutliche  gegenüberstehe,  fasse  also  beide  als  bloss  graduell  verschieden, 
und  verdiene  damit  eben  die  »Rüge  der  Kritik**,  den  Begriff  der  Sinnlich- 
keit verfälscht  zu  haben,  insofern  die  Letztere,  richtig  gefasst,  gar  keine 
Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  gebe.     (Vgl.  dazu  oben  S.  148  N.) 

Die  Falschheit  jener  Auffassung  der  Sinnlichkeit  als  einer  verworrenen 
Erkenntniss  des  Realen ,  als  einer  „empirischen  Apprehension  der  Dinge  an 
sich,  die  sich  nur  durch  die  Undeutlichkeit  von  einer  int^llectuellen  An- 
schauung^ unterscheide,  zeige  sich  auch  darin,  dass  Eb.  die  Sinnlichkeit  als 
beruhend  auf  dem  „Unvermögen**,  auf  „Ohnmacht",  auf  den  ., Schranken^ 
der  Vorstellungskraft  fasse,  sonach  als  rein  negativ  ^  Aber  aus  etwas 
Negativem  könne  man  doch  „keine  positiven  Bestimmungen  der  Objecte  her- 
leiten",   wie   das   doch   in    der   Mathematik   geschehe    bezüglich   der  Eigen- 


^  Ueber  diesen  wichtigen  Punkt  äussert  sich  gut  auch  Pistorius,  A.  D.  B. 
59,  332;  ebendeshalb  könne  man  nach  Leibniz  durch  Analyse  des  Verworrenen 
den  Dingen  auf  den  Grund  kommen,  währenddem  bei  Kant  die  Sinnlichkeit  als 
ein  positives  Hinderniss  im  Wege  steht.     Vgl.  oben  S.  451. 


Kant  hat  sehr  glücklich  gegen  Eberhard  opponirt.  459 

[R  50.  H  73.  E  91.]  A  44.  B  62. 

Schäften  des  Raumes  und  der  Gegenstände  in  ihm.  A  priori  sich  erweiternde 
Wissenschaften  könne  man  doch  nicht  aus  lauter  „Mängeln"  ableiten.  Dazu 
bedürfe  es  eines  eigenen  positiven  Vermögens;  die  Sinnlichkeit  sei  also  zu 
fassen  als  „eine  besondere  Anschauungs  a r t ,  welche  ihre  a  priori  nach  all- 
gemeinen Principien  bestimmbare  Form  hat".  Unter  Sinnlichkeit  können 
wir  also  nur  „die  Art  verstehen,  wie  wir  von  einem  an  sich  selbst  uns  ganz 
unbekannten  Object  afficirt  werden,  und  da  besteht  die  Sinnlichkeit  so  gar 
nicht  in  der  Verworrenheit,  dass  vielmehr  ihre  Anschauung  immerhin  auch 
den  höchsten  Grad  der  Deutlichkeit  haben  möchte,  und  wofern  in  ihr  ein- 
fache Theile  stecken,  sich  auch  auf  diese  ihre  klare  Unterscheidung  er- 
strecken könnte,  dennoch  aber  nicht  im  mindesten  etwas  mehr  als  blosse 
Erscheinung  enthalten  würde".  Dies  fasst  Kant  in  den  prägnanten,  äusserst 
glücklich  gewählten  Worten  zusammen:  „Die  Gegenstände  als  Dinge 
an  sich  geben  den  Stoff  zu  empirischen  Anschauungen  (sie  enthalten 
den  Grund ,  das  Vorstellungsverraögen ,  seiner  Sinnlichkeit  gemäss  zu  be- 
stimmen)^  aber  sie  sind  nicht  der  Stoff  derselben."    Vgl.  oben  S.  66. 

Durch  diese  scharfe  Formulirung  hat  Kant  nicht  nur  Eberhards  Ver- 
worrenheit deutlich  aufgelöst,  sondern  auch  dem  philosophischen  Denken 
überhaupt  einen  grossen  Dienst  geleistet.  Wie  man  auch  über  den  sach- 
lichen Werth  dieser  Kantischen  Position  denken  mag  —  formell  hat  Kant 
durch  diese  Kritik  jedenfalls  Nebel  zerstreut  und  Klarheit  der  Situation 
geschaffen.  — 

Diese  schroffe  Gegenüberstellung  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  als 
speci fisch  verschiedener  Erkenntnissquellen  war  von  jeher  vielen  Kantianern 
ein  Anstoss,  zumal  sie,  wie  oben  S.  453  ausgeführt  wurde,  übel  mit  anderen 
Lehren  Ks.  stimmt.  So  versuchte  schon  Beck  (vgl.  oben  S.  22)  denselben 
hinwegzudeuten.  Dies  hat  auch  neuerdings  Adamson  (Kant  22)  vom  „neu- 
kantischen"  Standpunkt  Cohens  aus  versucht:  „Vieles,  was  bei  Kant  ver- 
wirrend. Vieles,  w^as  auf  den  ersten  Blick  mit  seiner  ganzen  Theorie  un- 
vereinbar ist,  schreibt  sich  von  seiner  beharrlichen  Opposition  gegen  die 
Leibniz'sche  Metaphysik  und  Erkenntnisstheorie  her.  So  ist  der  Unterschied 
zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  so  stark  betont,  dass  mitunter  der  Schein 
erweckt  wird,  als  ob  jedes  von  beiden  Vermögen  von  Kant  als  die  Quelle 
einer  specifischen  Erkenntnissart  betrachtet  würde ;  seine  allgemeine  Theorie 
jedoch  und  seine  ausdrücklichen  Erklärungen  schützen  uns  davor,  ihm  eine 
solche  Ansicht  zuzuschreiben."  Dies  ist  aber  eine  kecke  Verschiebung 
des   Kantischen   Lehrbegriffes.     Wem   die  vorliegenden   Stellen    selbst    noch 


*  Natürlich  sind  diese  Dinge  an  sich  auch  als  das  Afficirende  gemeint  in 
der  Stelle  des  Textes  A  44,  B  61:  „Die  Erscheinung  von  Etwas,  und  die  Art, 
wie  wir  dadurch  afficirt  werden.**  Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  845  N.  hält  es  zwar 
für  möglich,  das  „dadurch"  auch  auf  ,. Erscheinung**  zu  beziehen;  aber,  so  sehr 
sonst  Kant  hierin  gelegentlich  schwankt  (vgl.  oben  S.  54  f.  363)  —  diese  Stelle 
wenigstens  ist  nicht  „zweideutig". 


460  §  ^-    Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A44.45.B62.63.  [B  51.  H  74.  K  91.  92.] 

nicht  deutlich  genug  sind ,  der  halte  sich  an  die  Stelle  in  den  Fortschr.  d. 
Met.  Kos.  I,  511—513,  wo  ausdrücklich  ausgeführt  wird,  dass  Anschauung 
und  Begriff  nicht  „nur  dem  Grade  des  Bewusstseins  nach",  sondern 
«speci fisch  unterschieden '^  seien;  „dass  Anschauung  (dergleichen  die  Vor- 
stellung des  Raumes  ist)  und  Begriff  der  Species  nach  ganz  verschiedene 
Vorstellungsarten  sind " . 

B.  Polemik  gegen  Locke. 

Nun  wendet  sich  Kant  gegen  eine  andere  Verfälschung  des  Begriffes 
der  Sinnlichkeit  und  der  Erscheinung,  gegen  eine  Ansicht,  welche  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  mit  dem  Namen  von  Locke  verbunden  wird, 
welchen  Kant  hier  allerdings  nicht  ausdrücklich  nennt.  Dass  er  aber  eben 
dessen  Lehre  meint,  geht  ja  auch  aus  der  oben  S.  865  angeführten  Stelle 
aus  den  Prolegomena  hervor.  Es  ist  ja  die  Lehre,  dass  die  «secundären 
Qualitäten"  nur  subjectiv  seien ,  dass  wir  dagegen  in  der  Vorstellung  der 
„primären  Qualitäten '^  eine  wahre  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  besitzen. 
Was  uns  die  secundären  Qualitäten  geben  (Farben,  Töne,  Gerüche,  Ge- 
schmäcke,  Wärme),  das  also  ist  bloss  subjective  , Erschein ung**,  während 
wir  in  den  Tast-  und  in  einem  Theil  der  Gesichtsempfindungen  die  in  Wirk- 
lichkeit ausgedehnten  „Dinge  an  sich''  unmittelbar  erfassen. 

Als  Beispiel  dient  der  bekannte  Fall  vom  Regenbogen*  (vgl.  Bil- 
harz,  Erläuterungen  20;  auch  Haffner,  Gesch.  d.  Philos.  943).  Dieser  ist 
eine  rein  subjective  Erscheinung,  welcher  nichts  entspricht  als  eine  Anzahl 
Regentropfen,  welche  zur  Sonne  eine  gewisse  Stellung  einnehmen.  Nur 
wenn  jene  Regentropfen  eine  sogenannte  Regenwand  bilden,  nur  wenn  die 
Sonne  dieselbe  gerade  bescheint,  nur  wenn  der  Zuschauer  die  Sonne  gerade 
im  Rücken  hat,  nur  wenn  die  aus  der  Sonne  kommenden  Lichtstrahlen  mit 
den  aus  den  Regentropfen  reflectirten  und  unser  Auge  treffenden  Strahlen 
einen  gewissen  Winkel  (42*^30')  bilden  —  nur  dann  tritt  jene  subjective  Er- 
scheinung ein.  Diese  zufällig  zusammentreffenden  Bedingungen  in  ihrer 
Gesammtheit  bilden  eigentlich  das  objective  Ding  an  sich,  doch  beschränkt 
man  sich  der  Kürze  halber  darauf,  nur  den  Regen  als  die  .Sache  an  sich 
selbst"  zu  bezeichnen.  Dieser  Regen  besteht  ja  aus  Regentropfen,  also  aus 
ausgedehnten,  materiellen  Gegenständen;  Ausdehnung,  Materialität  sind  eben 
„primäre"  Eigenschaften,  dagegen  die  prismatischen  Farben  des  Regenbogens 
sind  bloss  „secundäre",  und  eben  darum  nur  Erscheinungen. 

Wenn  diese  beliebte  Unterscheidung  nun  als  eine  definitive  aufgestellt 


*  „L^arc-ett-cieV*  spielt  auch  in  der  Leibniz'schen  Erkenntnisstheorie  eine 
sehr  beliebte  Rolle;  so  in  den  youveaux  Essais,  Op.  Erdnu  238b.  348b.  352a:  vgl. 
die  Math.  Werke,  Ed.  Pertz,  II,  1,  50.  60.  116  (Baumann,  Lehren  von  Raum.  Zeit 
u.  s.  w.  II,  66  f.)  Weiteres  bei  Dillmann,  Leibn.  Monadenlehre,  1891,  S.  259  ff. 
(mit  Bezug  auf  Gerhardts  Ausg.  II,  97.  276.  306). 


Polemik  gegen  die  Locke'sche  Theorie  der  Sinnlichkeit.  461 

[R  51.  H  74.  E  92.]  A  45.  B  63. 

wird,  so  ist  sie  nach  Kants  Urtheil  falsch.  Diese  Theorie  weist  der  Sinn- 
lichkeit einen  falschen  Werth  zu:  danach  soll  ein  Theil  unserer  Sinnlich- 
keit im  Stande  sein,  die  Dinge  an  sich,  wie  sie  wirklich  sind,  direct  zu 
erkennen ;  der  andere  Theil  der  Sinnlichkeit  dagegen  soll  uns  nur  subjective 
Phänomene  geben.  Der  Unterschied  von  Erscheinung  und  Ding  an  sich  liegt 
also  hier  im  Empirischen.  Die  Dinge  an  sich  sind  innerhalb  der  Erfahrung 
aufzufinden,  und  die  Sinnlichkeit  ist  ohne  Weiteres  im  Stande,  dieselben  zu 
geben ,  wenn  wir  es  nur  verstehen ,  jenen  phänomenalen  Theil  (Farben, 
Töne  u.  s.  w.)  davon  abzuziehen.  Wenn  wir  dieses  Subtractionsexempel 
gemacht  haben ,  dann  haben  wir  ohne  weitere  Mühe  die  Dinge  an  sich  vor 
uns.  Diesen  Standpunkt  nennt  Göring,  Raum  und  Stoff  31.  53  ff.  63  „das 
kritische  Bewusstsein  auf  halber  Höhe",  „das  halbkritische  Bewusstsein". 

Diese  Theorie  muss  Kant  natürlich  verwerfen.  »Auf  der  Höhe  des 
kritischen  Bewusstseins  ist  jener  Unterschied  ebenso  vernichtet,  wie  auf  dem 
Niveau  des  unkritischen  Geistes,  der  von  einem  solchen  Unterschiede  auch 
nicht  die  leiseste  Ahnung  hatte"  (Göring  a.  a.  0.  31).  Aber  der  Unterschied 
zwischen  primären  und  secundären  Qualitäten  ist  nun  doch  zu  gut  begründet, 
als  dass  Kant  nicht  versuchen  sollte,  ihn  in  den  Rahmen  seiner  Auffassung 
hineinzunehmen,  mit  der  nöthigen  Reserve.  Im  empirischen  Sinne  —  ab- 
gesehen von  allen  philosophischen  Fragen  nach  dem  letzten  Grunde  unserer 
Erkenntniss  —  kann  man  jenen  Unterschied  wohl  verwenden,  wenn  man  ihn 
nur  richtig  versteht.  Und  zwar  gibt  Kant  in  dem  Absätze  hier  mehrere 
Kriterien  an  für  dasjenige,  was  wir  empirisch  als  Ding  an  sich  gelten 
lassen  wollen:  1)  dasjenige,  was  der  Anschauung  der  empirischen  Gegen- 
stände wesentlich  und  nothwendig  anhängt;  2)  dasjenige,  was  für 
jeden  (normalen)  menschlichen  Sinn  überhaupt  gilt,  oder  wie  es  nachher 
heisst:  „was  mit  jedem  Menschensinne  einstimmt*^;  (vgl.  dazu  Spicker, 
Kant  157  ;  Schneider,  Ps.  Entw.  d.  Apriori  29)  ;  und  3)  dasjenige,  was  sich  auf 
die  „Sinnlichkeit  überhaupt"  bezieht;  4)  dasjenige,  „was  in  der  all- 
gemeinen Erfahrung  unter  allen  verschiedenen  Lagen  zu  den  Sinnen 
doch  in  der  Anschauung  so  und  nicht  anders  bestimmt  ist".  (Hierin  sieht 
Göring,  Raum  und  Stoff,  Vorr.  X  den  „Kernpunkt"  der  Stelle.)  Als  Kriterien 
für  dasjenige,  das  wir  empirisch  als  blosse  Erscheinung  bezeichnen  wollen, 
ergeben  sich  daraus  folgende  Merkmale:  1)  dasjenige,  was  der  Anschauung 
der  empirischen  Gegenstände  nicht  wesentlich,  nicht  nothwendig,  sondern 
nur  zufällig  anhängt;  2)  dasjenige,  was  nur  für  einzelne  Menschen 
gilt,  besonders  in  abnormem  Zustande;  dafür  gelte  als  Beispiel  der  viel- 
citirte  Fall,  den  auch  Meilin  II,  899  hiezu  anführt,  vom  Gelbsüchtigen,  der 
Alles  gelb  sieht,  „ein  nur  für  die  subjective  Organisation  eines  einzelnen 
Sinnes  gültiges  Phänomen"  ;  3)  dasjenige,  was  nur  für  einzelne  „Sinne*  gilt, 
für  diesen  oder  jenen ;  4)  dasjenige,  was  nur  „für  eine  besondere  Stellung 
oder  Organisation  dieses  oder  jenes  Sinnes  gültig  ist". 

Treffende  Erläuterungen  hiezu  gibt  Reinhold  in  seinen  Briefen  I, 
276  ff.     Er   unterscheidet    die   Sinnlichkeit    als  Receptivität   unseres   Er- 


462  §  8.     Allgemeine  Anmerkungen.     I. 

A  45.  B  63.  [B  51.  H  74.  E  92.] 

kenntnissvermögens  von  der  Receptivität  der  einzelnen  Sinnesorgane.  Jene 
sei  unserer  Natur  wesentlich ,  gehöre  dem  Gemüthe  an  und  gebe  uns  All- 
gemeines und  Noth wendiges,  die  unveränderliche  Erscheinung;  diese  aber 
seien  unserer  Natur  nur  nebensächlich,  gehören  dem  Körper  an,  und  geben 
uns  nur  Besonderes  und  Zufälliges,  den  veränderlichen  Schein.  Die  unter* 
Scheidung  dieser  beiden  Elemente  sei  ein  grosses  Verdienst  Kants,  während 
die  früheren  Skeptiker  und  Idealisten  jenen  Unterschied  übersehen  hätten.  — 
Ob  diese  Unterscheidung  (vgl.  über  dieselbe  auch  oben  S.  44)  gegen  alle 
Einwände  stichhaltig  ist,  ist  zweifelhaft.  Dagegen  ist  sie  jedenfalls  mehr  im 
Sinne  Kants,  als  jene  besonders  von  F.  A.  Lange  eingeführte  Auffassung, 
welche  die  apriorischen  Formen  der  Sinnlichkeit  und  die  empirischen  Em- 
pfindungsqualitäten mit  einem  unbestimmten  und  allgemeinen  Ausdruck  ge- 
meinsam unserer  „Organisation*  zuschreibt;  vgl.  oben  S.  867. 

Es  liesse  sich  nun  sehr  darüber  streiten,  ob  jene  von  Kant  aufgestellten 
vier  Kriterien  gleichwerthig  seien,  ob  sie  auf  einander  zu  reduciren  seien, 
ob  sie  sich  nicht  gegenseitig  stören  u.  s.  w. ;  doch  ist  so  Vieles  auf  den 
ersten  Blick  klar,  besonders  wenn  man  diese  Stelle  mit  der  oben  S.  362 
besprochenen  zusammenhält,  dass  Kant  hier  versucht,  jenen  Locke'schen 
Unterschied  objectiver  (primärer)  und  subjectiver  (secundärer)  Eigenschaften 
zu  verwandeln  in  den  Unterschied  verschiedener  Grade  innerhalb  der 
Subjectivität  selbst;  das  Allgemein-Subjective  wird  bei  ihm  dem 
Individuell-Subjectiven  gegenübergestellt.  Was  von  allen  Subjecten  so 
vorgestellt  wird,  was  der  allgemeinen  Subjectivität  entspringt,  das  kann  man 
ge wisser massen  als  objectiv  bezeichnen,  als  Ding  an  sich  im  empirischen 
Sinne ;  was  nur  von  Diesem  oder  Jenem  so  vorgestellt  wird,  was  nur  unter 
besonderen  Verhältnissen  entspringt,  das  sei  als  subjectiv  im  engeren  Sinne 
gekennzeichnet,  als  blosse  Erscheinung  im  empirischen  Sinne.  Der  gemeine 
Unterschied  zwischen  objectiv  und  subjectiv  wird  also  von  Kant  auf  ver- 
schiedene Grade  der  Subjectivität  reducirt,  man  möchte  sagen,  auf  den 
Unterschied  obligatorischer  und  facultativer,  nothwendiger  und 
zufälliger  Bestimmungen  derselben;  dieser  Unterschied  fällt  ja  für  Kant 
(oft,  z.  B.  Proleg.  §  22)  vollständig  mit  dem  von  objectiv  und  subjectiv 
zusammen.  So  verwandelt  Kant,  kann  man  auch  sagen,  jenen  qualitativen 
Unterschied  primärer  und  secundärer  Qualitäten  in  einen  quantitativen*. 

Und  so  dient  diese  Stelle  zur  Ergänzung  und  Erläuterung  für  jenen 
oben  S.  355  ff.  besprochenen  widerspruchsvollen  Passus  A  28  f.,  wie  schon  oben 
S.  864  bemerkt  wurde.     In  gereifterer  Weise   sehen  wir  hier  Kant  Stellung 


^  Darauf  weist  auch  Stadler  (Ks.  Th.  d.  Materie  10)  hin:  .Der  Gegensatz 
von  primären  und  seeundären  Qualitäten,  zwischen  dem,  was  zum  Wesen  der 
Materie  gehört,  und  dem,  was  von  der  Beschaffenheit  des  Subjects  abhängt,  behält 
auf  dem  neuen  Standpunkte  sein  volles  Gewicht."  Das  Object  sei  zwar  ,2Dr 
blossen  Vorstellung"  geworden,  aber  man  müsse  diese  objective  Vorstellung  unter- 
scheiden von  denjenigen  , Vorstellungen,  die  uns  nur  das  Subjeet  beschreiben*  u.  s,  w. 


Locke's  empirisches,  Kants  transscendentales  Ding  an  sich.  463 

[R  51.  H  74.  K  92.]  A45.46.B63. 

nehmen  zu  der  Loeke'schen  Theorie,  mit  welcher  ja  die  Naturwissenschaft 
seit  Cartesius,  Kepler  u.  A.  übereinstimmt.  Es  gelingt  ihm  hier  viel  mehr 
als  dort,  jener  Unterscheidung  primärer  und  secundftrer  Qualitäten  eine 
widerspruchslose  Stelle  in  seinem  eigenen  Systeme  einzuräumen.  Vor  Allem 
ist  hier  fast  vollständig  verschwunden  jene  fatale  Bestimmung ,  dass  die 
empirischen  Dinge  an  sich,  die  doch  wahrhaft  nur  unsere  Erscheinungen  sind, 
uns  hinwiederum  „afficiren"  sollen;  wohl  nur  fälschlicherweise  legt  A.  Krause, 
Kant  wider  Fischer  87  ff.  diesen  Sinn  hinein;  doch  vgl.  oben  S.  54. 

Jene  Unterscheidung  ist  also  „richtig**,  wenn  man  nur  nicht  „dabei 
stehen  bleibt,  wie  es  gemeiniglich  geschieht".  Wenn  das  Letztere  der  Fall 
ist,  dann  glaubt  man  allerdings,  in  jenen  empirischen  Gegenständen,  wie  wir 
sie  uns  ohne  die  secundären  Qualitäten  denken,  „Dinge  an  sich  zu  erkennen '. 
Das  Richtige  aber  wäre,  dass  wir  jene  empirischen  Gegenstände  „wiederum*' 
als  „blosse  Erscheinungen^  ansehen,  den  wahren,  eigentlichen  Dingen  gegen- 
über. Dieser  Darstellung  nach  wäre  es  also  das  Richtige,  den  Unterschied 
von  Erscheinung  und  Ding  an  sich  von  dem  Gegensatz  der  secundären  und 
primären  Qualitäten  hinauszuschieben  bis  zu  dem  Gegensatz  zwischen  pri- 
mären Qualitäten  und  den  diesen  correspondirenden  eigentlichen,  aber  gänz- 
lich unbekannten  Dingen  an  sich. 

Mit  leichter  Nuance  lehrt  dasselbe  die  zweite  Hälfte  des  Absatzes. 
Es  wird  da  an  uns  die  Forderung  gestellt,  „das  Empirische  überhaupt'  zu 
nehmen,  ohne  erst  eine  Scheidung  innerhalb  desselben  durchzuführen,  und  nun 
die  Frage  zu  stellen,  nicht  mehr,  ob  alle  Menschen  in  einer  Vorstellung 
übereinstimmen,  sondern  ob  diese  Vorstellung  selbst  mit  dem  entsprechenden 
Dinge  an  sich  übereinstimme,  ob  wir  also  in  dem  Empirischen  überhaupt 
Dinge  an  sich  finden ;  solche  Dinge  an  sich  sind  aber  nicht  die  Regentropfen 
(dies  ist  der  Sinn  der  grammatisch  schlecht  gebauten  Parenthese),  denn  diese 
sind  eben  von  diesem  neuen  Gesichtspunkt  aus  schon  als  Erscheinungen 
bloss  empirische  Objecte,  nicht  wahre,  transscendente  Objecte  an  sich. 
Wenn  wir  also  die  Frage  so  stellen ,  nach  dem  Erkenntnisswerth  des  »Em- 
pirischen überhaupt",  dann  ergibt  sich,  dass  alles  Empirische  überhaupt 
blosse  Erscheinung  eines  „Unbekannten"  ist,  dass  also  in  specie  jene  Regen- 
tropfen ,  ihre  Gestalt  und  der  Raum ,  in  dem  sie  fallen ,  blosse  Erschei- 
nungen sind. 

Im  Gegensatz  zu  dem  Regenbogen  sind  jene  Regentropfen  wohl  Dinge 
an  sich  im  physischen  oder  empirischen  Sinne,  aber  im  Gegensatz  zu  dem 
wahren  Sein  sind  jene  Regentropfen  doch  wiederum  nur  Erscheinungen  im 
„transscendentalen"  Sinne.     Vgl.  oben  S.  351 — 354. 

Auch  .hier  reicht  die  von  K.  in  der  Einleitung  aufgestellte  Bedeutung 
von  „transscendental"  nicht  aus,  und  auch  hier  muss  der  Sinn  wieder  aus 
dem  Gegensatz  eruirt  werden.  Der  Gegensatz  ist  hier:  „empirisch*.  Der 
Locke'sche  Unterschied  zwischen  primären  und  secundären  Qualitäten  ist  nur 
„empirisch",  d.  h.  er  gehört  in  die  Erfahrungs Wissenschaften,  in  die  Physik 
im   weiteren  Sinn   und   daher    hiess    das    „empirische"    Ding   an  sich   auch 


464  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.     I. 

A  46.  B  63.  [R  51.  H  74.  K  92,] 

, physisch".  Aber  der  Unterschied  der  raumzeitlichen  Erscheinung,  wozu 
auch  die  Regentropfen  gehören,  von  dem  unbekannten  Gegenstande  an  sich, 
und  die  Frage,  ob  die  Regentropfen  Dinge  an  sich  selbst  seien,  diese 
Frage  von  der  Beziehung  der  Vorstellung  auf  den  Gegenstand  ist  «trans- 
scendental*,  das  heisst  also,  Unterschied  und  Frage  sind  transscendental- 
philosophisch,  d.  h.  sie  gehören  in  jene  Wissenschaft,  welche  das  Apriori 
behandelt,  und,  können  wir  hinzusetzen,  welche,  indem  sie  insbesondere  die 
Apriorität  des  Raumes  beweist,  zeigt,  dass  auch  die  raumerfüllenden  Körper 
nur  Erscheinungen  sind.  Aber  klingt  nicht  in  diesem  Unterschied  von 
empirisch  und  transscendental  noch  eine  Saite  mit,  welche  an  den  Unterschied 
des  Empirischen  und  Transscendenten  erinnert?  Sollte  der  „empirische' 
Unterschied  nicht  auch  deshalb  so  heissen,  weil  dabei  nur  die  empirischen 
raumerfüllenden  Objecte  berücksichtigt  werden,  während  beim  ^transscen- 
dentalen"  Unterschied  auch  das  transscendente  Object,  oder  wie  es  eben  hier 
heisst,  das  „transscendentale  Object'  ins  Spiel  kommt? 

Diesen  Ausdruck  haben  wir  nun  hier  zum  Erstenmal.  „Transscendental* 
hat  aber  ofiFenbarer,  wenn  auch  wunderbarer  Weise  hier  eine  ganz  andere 
Bedeutung  als  bisher  und  bedeutet  das  über  den  Erfahrungsumkreis 
Hinausliegende,  das  Transscendente!  Welche  unerhörte  Ungenauigkeit  der 
Terminologie!  (Vgl.  Comm.  I,  468.)  Nur  mit  höchstem  Zwang  könnte  man 
diesem  Wortcomplex  mit  Hilfe  der  bisherigen  Definition  von  transscendental 
=  auf  das  Apriori  bezüglich  —  einen  Sinn  geben.  Aber  das  wSre  verlorene 
Liebesmühe.  Denn  aus  späteren  Stellen  wird  ganz  klar,  dass  ,ytransscen- 
dental"  in  dieser  Verbindung  bedeutet  „transscendent*,  d.  b.  das 
Nicht-Empirische,  das  Metempirische ,  das  jenseits  des  Erfahrungsfeldes 
Liegende;  so  heisst  es  A  191:  „sobald  ich  meinen  Begriff  vom  Gegenstande 
bis  zur  transscen dentalen  Bedeutung  steigere,  so  ist  das  Haus  gar  kein 
Ding  an  sich  selbst,  sondern  nur  eine  Erscheinung,  d.  i.  Vorstellung,  deren 
transscenden taler  Gegenstand  unbekannt  ist.'  So  auch  Schmid  in  seinem 
Auszug  aus  der  Kr.  S.  23 ;  sowie  Meilin  I,  83 ,  II,  400  f.  Schulz  (Erl.  27) 
lässt  uns  dagegen  hier  im  Stich.  So  heisst  es  ferner  ja  z.  B.  A  492 :  „das 
eigentliche  Selbst,  so  wie  es  an  sich  existirt  oder  das  transscendentale 
Subject*.  — 

Eine  treffende  zusammenfassende  Bemerkung  über  das  Resultat  dieser 
ganzen  Erörterung  findet  sich  bei  Riehl,  Krit.  II,  b,  292:  „Das  wesent- 
liche Ergebniss  der  Tr.  Aesthetik,  welches  auch  allein  als  gesichert  zn 
betrachten  ist,  besteht  in  dem  Satze,  dass  alle  sinnlichen  Eigenschaften  der 
Dinge,  auch  die  von  Locke  sogenannten  primären  Eigenschaften, 
relativ  sind  und  daher  zur  Erscheinung  der  Dinge  gehören.  Man  darf  die 
Tragweite  dieses  Satzes  nicht  unterschätzen ;  er  ist  gleichbedeutend  mit  der 
Relativität  der  Erkenntniss  überhaupt,  wodurch  aller  aus  reinen  Begriffen 
schöpfenden  Metaphysik,  zugleich  aber  auch  aller  die  Anschauungen  ver- 
dinglichenden  Dogmatik  der  Naturwissenschaften  ein  Ende  gemacht  wird. 
Da  sich  alle  Erkenntniss   auf  Anschauung  beziehen   muss,   die  Anschauung 


Leibniz  und  Locke  haben  daa  Wesen  der  Sinnlichkeit  verkannt.       465 

[B  61.  H  74.  E  92.]  A  46.  B  63. 

aber  relativ  ist,  so  folgt,  dass  die  Erkenntniss  überhaupt  relativ  sein  muss, 
sofern  sie  sachliche  und  nicht  bloss  formale  Erkenntniss  sein  soll/ 

Gegen  Kant  halten  Viele  noch  mit  Bewusstsein  fest  an  der  alten  Unter- 
scheidung; so  z.  B.  der  bekannte  Common-Sense-Philosoph  Mc  Cosh  in 
seinen  Criticism  of  the  critical  philosophy  18,  der  zwar  the  distinction  often 
ül  —  expressed  nennt,  aber  doch  sachlich  an  ihr  festhält.  Ueber  Hamil- 
tons schwankende  Anschauung  hierüber  s.  Bolton,  Kant  and  Hamilton  208  ff. 

So  hat  denn  Kant  sowohl  der  an  Leibniz  als  der  an  Locke  sich  an- 
schliessenden Philosophie  fundamentale  Irrthümer  über  das  Wesen  der  Sinn- 
lichkeit vorgeworfen.  (Vgl.  oben  S.  447.)  Beide  Parteien  nehmen  die  Mög- 
lichkeit der  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  durch  die  Sinnlichkeit  an,  Leibniz 
mehr  indirect.  Locke  direct.  Nach  Leibniz  muss  der  Verstand  die  sinnlichen 
Vorstellungen  analytisch  durchdringen,  das  Verworrene  in  seine  Theilvor- 
stellungen  auflösen,  dann  findet  er  als  die  Elemente  die  immateriellen  Mo- 
naden als  Dinge  an  sich.  Nach  Locke  muss  man  durch  verstandesmässige 
Beflexionen  trennen  die  secundären  Qualitäten  von  den  primären,  dann 
hat  man  in  den  letzteren  unmittelbar  die  Dinge  an  sich,  die  materiellen 
Corpuskeln. 

So  verkennen  Beide  den  wahren,  den  ,,transscendentalen"  Unterschied 
von  Erscheinung  und  Ding  an  sich;  der  Eine,  Leibniz,  macht  daraus- einen 
logischen,  der  Andere,  Locke,  einen  empirischen  Unterschied,  und  so 
verfehlen  Beide  die  Wahrheit.  In  dem  mehrerwähnten  Abschnitt  von  der 
Amphib.  d.  Beflex.  A  271  hat  Kant  dies  Ergebniss  mit  den  oft  citirten 
Worten  zusammengefasst :  „Leibniz  intellectuirte  die  Erscheinungen, 
so  wie  Locke  die  Verstandesbegriffe  insgesammt  sensificirt,  d.  h.  für 
nichts  als  empirische...  Begriffe  ausgegeben  hatte.  Anstatt  im  Ver- 
stände und  der  Sinnlichkeit  zwei  ganz  verschiedene  Quellen  von  Vor- 
stellungen zu  suchen,  .  .  .  hielt  sich  ein  jeder  dieser  grossen  Männer  nur  an 
eine  von  beiden,  die  sich  ihrer  Meinung  nach  unmittelbar  auf 
Dinge  an  sich  selbst  bezöge,  indessen,  dass  die  andere  nichts  that, 
als  die  Vorstellungen  der  ersteren  zu  verwirren  oder  zu  ordnen." 

Jenem  Vorwurf  hat  nun  Kant  auch  noch  einen  anderen  Ausdruck 
gegeben:  er  wirft  Beiden  vor,  den  Unterschied  des  rnundus  sensihilis 
et  intelligibilis  nicht  richtig  gefasst  zu  haben.  In  der  ersten  Bedaction 
des  Abschnittes  über  die  Unterscheidung  der  Phaenomena  und  Naumena^ 
A  248,  spricht  Kant  von  „dem  durch  die  Transsc.  Aesthetik  eingeschränkten 
Begriff  der  Erscheinung",  von  der  daselbst  begründeten  „Eintheilung  der 
Gegenstände  in  Phaenomena  und  Noumena^  mithin  auch  der  Welt  in  eine 
Sinnen-  und  Verstandeswelt,  und  zwar  so,  dass  der  Unterschied  nicht  bloss 
die  logische  Form  der  undeutlichen  oder  deutlichen  Erkenntniss  eines  und 
desselben  Dinges,  sondern  die  Verschiedenheit  treffe,  wie  sie  unserer  Er- 
kenntniss ursprünglich  gegeben  werden  können,  und  nach  welcher  sie  an 
sich  selbst,  der  Gattung  nach  [also  nicht  bloss  dem  Grade  nach !}  unter- 
schieden sind".  Dass  diese  Stelle  (vgl.  über  dieselbe  oben  S.  453  Anm.  2) 
Yaihinger,  Eant-Oommentax.    IL  30 


466  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A  46.  B  68.  [B  62.  H  74.  E  92.  93.] 

auf  L  e  i  b  D  i  z  zielt,  liegt  auf  der  Hand,  und  in  demselben  Abschnitt  A  257  f. 
klagt  er  darüber,  dass  „in  den  Schriften  der  Neueren"  die  Ausdrücke  eines 
mundi  sensibüis  und  inteUigihüis ^  abweichend  von  dem  Sinne  der  Alten,  ge- 
braucht werden:  denn  es  „hat  Einigen  beliebt,  den  Inbegriff  der  Erschei- 
nungen, sofern  er  angeschaut  wird,  die  Sinnenwelt,  sofern  aber  der  Zu- 
sammenhang derselben  nach  allgemeinen  Verstandesgesetzen  gedacht  wird, 
die  Verstandeswelt  zu  nennen".  Wenn  man  z.  B.  die  Sterne  so  beschreibe, 
wie  sie  sich  den  Sinnen  darstellen,  halte  man  sich  an  die  blosse  Erscheinung, 
an  die  Sinnenwelt;  wenn  man  ihre  Bewegungen  nach  Copernikus  und  Newton 
erkläre,  an  die  Verstandeswelt.  Dies  kommt  nun  aber  im  Wesentlichen 
a.uf  den  Locke'schen  Unterschied  hinaus,  und  so  kann  auch  Locke  vor- 
geworfen werden,  er  habe  den  wahren  Begriff  des  tnundus  semibilis  et  in- 
telligibUis  verfehlt. 

Zweiter  Theil. 

Die  allgemeine  Absicht  dieser  zweiten  Hälfte  der  Anmerkung  I  ist 
schon  oben  angegeben  worden  (S.  441) :  Kant  will  den  Beweis  liefern,  dass 
seine  neue  Lehre  über  Baum  und  Zeit  nicht  bloss  eine  ,,scheinbare  Hypo- 
these" ist,  welche  „Gunst  erwerben"  mag  (vgl.  dazu  Band  I,  S.  132  f. 
u.  391  Anm.  4)  ^,  sondern  eine  gewisse,  die  Anerkennung  also  erzwingende 
Theorie,  welche  „zum  Organen"  dienen  kann  (vgl.  dazu  Band  I,  459  ff.); 
„dessen"  Gültigkeit  soll  augenscheinlich  gemacht  werden.  (Diese  selbst- 
gewissen Ausdrücke  sind  schon  Hamann  aufgefallen,  s.  Reinholds  Beytt^e 
2.  Heft  [1801],  S.  209.)  In  dieser  Stelle  liegt  auch  eine  Widerlegung  der 
eigenthümlichen  Auffassung  von  Göring,  Baum  und  Stoff  32  ff.,  wonach 
Kant  seine  Theorie  nicht  habe  beweisen,  sondern  nur  nachweisen  wollen. 
Uebrigens  gebraucht  Kant  unten  B  72  selbst  den  Ausdruck  „Beweisgrund", 
was  G.  übersehen  hat.  —  Vgl.  oben  S.  336-342. 

Mit  einer  grammatisch  saloppen  Wendung  hat  Kant  hier  in  der 
2.  Auß.  die  Bemerkung  hinzugefügt,  dass  die  folgende  Ausfuhrung  zur  Er- 
läuterung des  §  3,  also  der  in  der  2.  Aufl.  erst  hinzugefagten  „Transscen- 
dentalen  Erörterung  des  Begriffes  vom  Räume"  dienen  kann.  In  der  That 
enthält  dieser  folgende  Passus  im  Wesentlichen  dasselbe,  was  die  Transsc. 
Erörterung  sagt,  und  vertrat  somit  für  die  1.  Aufl.  diesen  in  der  2.  Aufl. 


*  in  der  Vorr.  B.  XXIII  Anm.  heisst  es:  „Ich  stelle  in  dieser  Vorrede  die 
in  der  Kr.  vorgetragene,  jener  Hypothese  [des  Copernikus]  analogische  Umändemng 
der  Denkart  auch  nur  als  Hypothese  auf,  ob  sie  gleich  in  der  Abhandlung  selbst 
aus  der  Beschaffenheit  unserer  Vorstellungen  von  R.  u.  Z.  .  .  .  nicht  hypothetisch, 
sondern  apodiktisch  bewiesen  wird."  Auch  in  den  , Fortschritten"  (Ros.  I,  498  f.) 
wird,  ganz  im  Sinne  dieser  Stelle  hier,  ausführlich  erörtert,  dass  diese  Lehre  von 
der  Idealität  des  R.  und  der  Z.  „nicht  etwa  bloss  Hypothese,  sondern  demonstrirte 
Wahrheit  sei^  Vgl.  dazu  Amoldt,  R.  u.  Z.  129.  Vgl.  auch  oben  S.  318.  Dagegen 
Aenesidem  401,  dafür  Schopenhauer,  W.  a.  W.  II,  6.    Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  336,  448. 


» 


Die  Mathematik  als  Beweis  der  Kantischen  Raumtheorie.  467 

[B  52.  H  74.  76.  K  93.]  A  46.  B  64. 

erst  hinzugefügten  Abschnitt;  dieser  letztere  enthält  somit  nichts  principiell 
Neues  (vgl.  oben  S.  265).  Vielmehr  sind  die  Paragraphen  der  Prolegomena, 
welche  dasselbe  Thema  behandeln  und  ans  denen  dann  jene  Transsc.  Er- 
örterung in  B  erst  zusammengezogen  worden  ist,  erst  aus  diesem  Passus 
der  1.  Aufl.  der  Kritik  heraus  entwickelt  worden,  lieber  das  Verhältniss 
beider  in  diesem  Punkte  s.  Erdmann,  Ks.  Proleg.  Einl.  XXXI  sq.  Man 
kann  den  Passus  auch  als  Ausführung  dessen  betrachten,  was  Kant  in  dem 
Abschnitt  über  die  Leibniz'sche  und  Newton'sche  Baumtheorie  über  dieses 
Thema  gesagt  hat  (vgl.  oben  S.  415  ff.  418  ff.). 

Nach  dem  bei  der  „Transsc.  Erörterung"  Gesagten  dürfen  und  müssen 
wir  erwarten,  dass  auch  in  diesem,  derselben  correspondirenden  Abschnitt 
sich  dieselbe  A  n  Ordnung,  aber  auch  dieselbe  ü  n  Ordnung,  also  dieselbe  Ver- 
mischung der  reinen  und  der  angewandten  Mathematik  zeigen  werde,  wie  . 
dort.  In  der  That  finden  wir  auch  hier  beide  wieder,  ohne  dass  Kant  beide 
scharf  und  unzweideutig  geschieden  hätte.  Doch  hat  Kant  den  Unterschied 
beider  Gedankengänge  wenigstens  angedeutet:  nachdem  er  im  ersten  Vorder- 
sätze, nach  Art  der  indirecten  Beweisführung,  dazu  aufgefordert  hat,  das 
Gegentheil  seiner  These,  also  die  absolute  Objectivität  des  Raumes  und  der 
Zeit  zu  setzen,  unterscheidet  er  zwei  verschiedene  Gedankengänge:  „erst- 
licV,  dass  von  beiden,  besonders  vom  Baume  (der  hier,  wie  überall  in  der 
Aesthetik,  in  die  erste  Linie  tritt)  synthetische  Sätze  a  priori  aufgestellt 
werden.  Es  wird  nun  zunächst  untersucht,  was  der  Baum  sein  muss,  damit 
wir  solche  Sätze  über  ihn  aufstellen  können?  Antwort:  Er  muss  Anschauung 
a  priori  sein.  Erst  nachdem  dieser  Gedankengang  abgeschlossen  ist,  beginnt 
der  neue,  zweite:  „Läge  nun  in  euch  nicht  ein  Vermögen,  a  priori  anzu- 
schauen, wäre  diese  subjective  Bedingung  der  Form  nach  nicht  zugleich 
die  allgemeine  Bedingung,  unter  der  allein  das  Object  dieser  äusseren  An- 
schauung selbst  möglich  ist  .  .  .,  so  könntet  ihr  a  priori  ganz  und  gar 
nichts  über  äussere  Objecte  synthetisch  ausmachen."  Wie  jener  erste 
Gedankengang  offenbar  auf  die  reine  Mathematik  abzielt,  so  dieser  zweite 
ebenso  offenbar  auf  die  angewandte.  Beide  Gedankengänge  müssen  daher 
zunächst  getrennt  besprochen  werden.     (Vgl.  auch  Adickes  92—93.)  * 

Erster  Oedankengang. 

„Es  zeigt  sich"  also,  dass  in  der  Geometrie  synthetische  Sätze  a  priori 
über  den  Baum  aufgestellt  werden.  Kant  schlägt  die  analytische  Methode 
ein,  wie  an  den  obengenannten  Parallelstellen  (vgl.  hierüber  oben  S.  265), 
und  fragt :  Wie  ist  das  möglich  ?  „Worauf  stützt  sieh  unser  Verstand"  (vgl. 
Band  I,  279.  291),  um  zu  solchen  Urtheilen  zu  gelangen? 


^  Eine  sehr  eingehende,  scharfkritische  Besprechung  dieser  celebris,  sed 
jmiativa  Demonstratio  Kantiana  liefert  schon  Horvath,  J.  B.  Declaratio  infirmi- 
tatis  fundamentorum  operis  Rantiani,    Budae  1797,  S.  112—131. 


468  §  8.    Allgememe  Anmerkangen.    I. 

A  47.  B  64.  [B  62.  H  75.  E  93.] 

Vier  „Wege**  werden  unterschieden ,  welche  zur  Lösung  eingeschlagen 
werden  können.     Die  möglichen  Fälle  sind  folgende: 

I.  Begriffe 

1)  a  posteriori, 

2)  a  priori. 

II.  Anschauungen 

1)  a  posteriori, 

2)  a  priori. 

Dieses  Schema  wird  aher  in  der  folgenden  Darstellung  von  dem  anderen, 
ebenso  brauchbaren  Eintheilungsschema  gekreuzt: 

I.  Empirische  Vorstellungen.: 

1)  Begriffe, 

2)  Anschauungen. 

n.  Beine  Vorstellungen: 

1)  Begriffe, 

2)  Anschauungen. 

Kant  wirft  beide  Schemata  durcheinander,  von  denen  das  erste  sich 
auf  den  Unterschied  analytischer  und  synthetischer,  das  zweite  auf  den 
aposteriorischer  und  apriorischer  ürtheile  gründet;  wir  halten  uns  der  üeber- 
sichtlichkeit  halber  nur  an  eines,  und  zwar  an  das  erstere,  welchem  ent- 
sprechend wir  die  Fälle  disponiren  und  die  betreffenden  Bemerkungen  Kants 
über  dieselben  anordnen.  Im  Uebrigen  verfolgen  wir  ganz  das  sinnreiche 
Verfahren  Kants,  zuerst  alle  denkbaren  Fälle  durch  Combination  zu  ex- 
poniren,  und  dann  diejenigen,  welche  der  Aufgabe  kein  Genüge  leisten, 
zu  eliminiren,  so  dass  der  einzig  richtige  Fall  am  Ende  von  selbst  herans- 
springen  muss. 

Erster  Fall:  Begriffe  a  posteriori.  Aus  solchen  die  synthetischen 
Sätze  a  priori  abzuleiten,  ist  ganz  unmöglich.  Denn  einmal  würde  „das 
Charakteristische  aller  Sätze  der  Geometrie'*,  die  Apodikticität  auf  diese 
Weise  nicht  zu  Stande  kommen,  sodann  lassen  sich  aus  aposteriorischen  Be- 
griffen keine  synthetischen  Sätze  ableiten:  diesen  Mangel  haben  dieselben 
gemein  mit  den  apriorischen  Begriffen,  weshalb,  was  von  diesen  in  dieser 
Hinsicht  im  Folgenden  gesagt  werden  wird ,  auch  von  jenen  gilt.  Dieser 
erste  Fall  entfernt  sich  von  der  Wahrheit  am  weitesten,  weil  in  ihm  beide 
Mängel  zusammen  sich  finden,  während  in  den  beiden  folgenden  Fällen  immer 
nur  Ein  Mangel  da  ist. 

Zweiter  Fall:  Begriffe  a  priori.  Während  bei  diesem  Fall  für  die 
Apodikticität  der  Geometrie  gesorgt  wäre,  macht  sich  nun  auch  hier  wieder, 
wie  auch  vorhin,  der  Mangel  geltend,  dass  aus  Begriffen  allein  keine  syn- 
thetischen Erkenntnisse  zu  gewinnen  sind.  Kant  gibt  dafür  ein  Beispiel, 
das  er  zuerst  in  negativer,  dann  in  positiver  Form  ausspricht:  1)  „durch 
zwei  gerade  Linien  lässt  sich  gar  kein  Raum  eiuschliessen ,  ist  somit  keine 
Figur  möglich",  und  2)  „aus  dreien  geraden  Linien  ist  eine  Figur  möglich". 


Kant  springt  von  der  reinen  zur  angewandten  Mathematik  Über.        469 

[B  62.  58.  H  75.  E  98.  94.]  A47.48.B65. 

Diese  Sätze  sind  nicht  aus  dem  Begriff  der  geraden  Linie  und  der  Zahl 
Zwei  resp.  Brei  analytisch  abzuleiten.  Das  Gegentheil  sucht  nachzuweisen 
B.  Seydel  in  dem  Aufsatz  über  Ks.  synthet.  ürtheile  a  priori,  in  der  Zeitschr. 
f.  Philos.,  Bd.  94,  8.  23  f.  Auch  Lotze,  Logik  §  354.  Zustimmend  Zöllner, 
Wissensch.  Abhandl.  II,  1,  212  ff. 

Dritter  Fall:  Anschauungen  a  posteriori.  In  diesem  Falle  wäre 
nun  für  die  synthetische  Natur  der  geometrischen  Sätze  gesorgt,  aber  nun 
geht  wieder  deren  Apodikticität  verloren. 

Yierter  Fall:  Anschauungen  a  priori.  In  diesem  Falle  sind  nun 
jene  beiden  Eigenschaften  der  Geometrie  gerettet :  die  synthetische  Natur 
derselben  durch  die  Anschaulichkeit,  die  Apodikticität  derselben  durch  die 
Apriorität  der  Vorstellungen,  aus  denen  die  Sätze  gewonnen  werden.  Dieser 
Fall,  Anschauungen  a  priori,  steht  nun  wiederum  dem  ersten  Falle,  Begriffe 
a  posteriori,  diametral  gegenüber.  War  dieser  erste  Fall  von  der  Wahrheit 
am  weitesten  entfernt,  so  wird  der  vierte  —  mit  dem  wir  es  hier  zu  thun 
haben  —  mit  der  Wahrheit  zusammenfallen.  In  der  That  sind,  nach  Kants 
Meinung,  nun  die  synthetischen  Sätze  a  priori,  wie  sie  in  der  Geometrie  sich 
finden,  als  erklärt  zu  betrachten ;  aber  auch  nur,  insofern  wir  uns  dabei  auf 
die  reine  Mathematik  als  solche  beschränken.  Die  angewandte  Mathe- 
matik ist  ein  Problem  für  sich,  und  erfordert  auch  eine  eigene  Lösung. 

Zweiter  Oedankengang. 

Zu  dem  Problem  der  angewandten  Mathematik  geht  nun,  wie  ge- 
sagt, Kant  über  in  dem  Satze,  welcher  mit  den  Worten  beginnt:  »Läge  nun 
in  euch  nicht  ein  Vermögen'  u.  s.  w.  Sinn  und  Zusammenhang  dieser  Stelle, 
welche  auch  von  Arnoldt,  Kants  Proleg.  S.  56  so  erläutert  wird,  sind 
folgendermassen  zu  umschreiben:  Wenn  nun  diese  im  Bisherigen  für  die 
Möglichkeit  der  reinen  Mathematik  als  noth wendig  nachgewiesenen  An- 
schauungen a  priori  nicht  auf  einem  Vermögen  der  apriorischen  Anschauung 
überhaupt  beruhen  würden,  und  wenn  dieses  uns  angehörige,  subjective  An- 
schauungsvermögen nicht  zugleich  die  nothwendige  und  allgemeine  Bedingung 
der  Anschauung  der  äusseren  Objecte  im  ßaume  wäre,  so  könnte  man  auch 
nicht  behaupten,  dass  alle  Eigenschaften,  welche  jener  reinen  Anschauung 
zukommen  und  welche  die  reine  Geometrie  in  ihrem  System  von  Sätzen  in 
sich  zusammenhängend  entwickelt,  auch  allen  äusseren  Objecte  n  zukommen 
und  sich  bei  ihnen  finden  müssen.  Wäre  der  Raum  nicht  bloss  nicht  über- 
haupt eine  von  der  Erfahrung  unabhängige  reine  Anschauung,  sondern 
wären  auch  nicht  umgekehrt  die  Erfahrungsobjecte  von  ihm  abhängig,  so 
wäre  es  schlechterdings  unmöglich,  synthetische  Sätze  a  priori  über  diese 
äusseren  Objecte  auszumachen  und  aufzustellen.  Das  ist  nur  möglich,  weil 
diese  äusseren  Objecte  in  ihrer  räumlichen  Qualität  von  jener  reinen  An- 
schauung abhängig  sind,  weil  jene  reine  Anschauung  nicht  bloss  etwa  neben 
den  äusseren  Objecten   als  empirischen   gleichgültig  hergeht ,   sondern  weil 


470  §3-    Allgemeine  Anmerkungen.    I. 

A48.B65.  [B  53.  H  75.  E  94.] 

diese  nur  durch  jene  reine  Anschauung  möglich  werden  und  nur  mit 
Hilfe  jener  das  sind,  was  sie  sind,  nämlich  räumlich  ausgedehnte  und  nach 
Raumrelationen  dislocirte  Objecte.  (Man  erkennt  hier  wieder  den  wichtigen, 
fundamentalen  Unterschied  der  blossen  Anschauung  a  priori  und  der 
eigentlichen  apriorischen  Anschauungsform;  vgl.  oben  S.  273.  279  L) 
Diesen  Gedankengang  hat  nun  Kant  durch  ein  Beispiel  erläutert,  welches 
unglücklich  gewählt  und  ungeschickt  entwickelt  ist,  und  mehr  dazu  gedient 
hat,  den  Zusammenbang  zu  verderben,  als  ihn  zu  erläutern.  Es  ist  das 
Beispiel  vom  Triangel.  Man  könnte  nun  aus  Kants  Worten  zunächst  die 
Meinung  sich  bilden,  die  Spitze  des  ganzen  Beweisganges  richte  sich  auf  das 
Dreieck  der  reinen  Mathematik  an  und  für  sich,  und  es  handle  sich  somit 
nur  um  eine  erweiterte  Wiederholung  des  schon  im  vorigen  Gedankengang 
(s.  oben  S.  468  u.)  angeführten  Beispiels ;  da  hiess  es,  der  Satz,  dass  aus  dreien 
geraden  Linien  eine  Figur  möglich  sei,  sei  nicht  aus  diesen  Begriffen,  auch 
wenn  sie  a  priori  seien,  abzuleiten,  sondern  dazu  bedürfe  es  der  Anschauung 
a  priori.  So  heisst  es  ja  auch  hier:  „ihr  könntet  doch  zu  euren  Begriffen 
von  drei  Linien  nichts  Neues,  die  Figur  hinzufügen*.  Dass  der  Triangel 
hier  ein  „Gegenstand"  genannt  wird,  würde  uns  von  dieser  Auslegung  nicht 
abhalten,  denn  der  Triangel  wird  eben  auch  sonst  von  Kant  als  mathe 
matischer  „Gegenstand''  bezeichnet,  so  A  105  (vgl.  A  124),  und  besonders 
in  der  bekannten  Stelle  in  der  Methodenlehre  A  715 — 718  (723),  an  deren 
Schluss  die  mathematischen  Figuren,  die  Schemata  (vgl.  A  140  „das  Schema 
des  Triangels"),  sogar  als  „Gegenstände  an  sich  selbst"  bezeichnet  werden. 
Und  A  223  heisst  es:  „wir  können  dem  Triangel  gänzlich  a  priori  einen 
Gegenstand  geben,  d.  i.  ihn  construiren".  Aber  gerade  diese  letztcitirte  Stelle 
(cfr.  A  155.  163.  219.  220;  auch  239  f.,  woselbst  beides  ebenfalls  durch- 
einander geworfen  ist,  vgl.  auch  Kr.  d.  Urth.  §  62),  lehrt  uns,  dass  dem 
„Begriff"  des  Dreiecks  zwei  verschiedene  „Gegenstände"  gegenüberstehen: 
1)  das  wirkliche,  mathematische,  anschaulich  vorgestellte  Dreieck,  das  Schema, 
also  die  im  mathematischen  Baume  durch  Construction  a  priori  (vgl. 
Bos.  I,  407)  verzeichnete  Figur  des  mathematischen  Dreiecks;  und  nun  2)  das 
wirkliche  concrete  Dreieck,  d.  h.  der  dreieckige  materielle  Gegenstand  ^  Jenes 
Erste,  das  Schema,  ist  doch  „nur  die  Form  von  einem  Gegenstande"  im 
letzteren  Sinne,  und  könnte  als  solche  „immer  nur  ein  Product  der  Ein- 
bildung bleiben".  Aber  dass  diesem  in  der  reinen  Anschauung  vorgestellten 
Dreieck  nun  ein  Gegenstand  im  zweiten  Sinne  entsprechen,  „correspondiren" 
kann,  das  wird  durch  folgende  daselbst  ausgeführte  Erwägung  klar:  „dass 
der  Raum  eine  formale  Bedingung  a  priori  von  äusseren  Erfahrungen  ist, 
dass  eben  dieselbe  bildende  Sjnthesis,  wodurch  wir  in  der  Einbildungskraft 
einen  Triangel  construiren,  mit  derjenigen  gänzlich  einerlei  sei,  welche  wir 
in   der  Apprehension   einer  Erscheinung   ausüben,  um  uns  davon  einen  Er- 


^  Aehnlich,  aber  sehr  weitschweifig  und  doch  nicht  klar  Amol  dt,  R.  o.  Z. 
(gegen  Trendelenburg)  S.  29  f.  34  f.  40  ff.  65-83.  98.    Vgl.  oben  S.  271  Aam.  1. 


Der  Triangel  der  Mathematik  und  das  Dreieck  in  der  Natur.  471 

[B  68.  H  75.  E  94.]  A  48.  B  65. 

fahrnngsbegriff  zu  machen  —  das  ist  es  allein  was  mit  diesem  Begriffe 
die  Vorstellung  von  der  Möglichkeit  eines  solchen  Dinges  verknüpft,*  d.  h. 
dreieckige  Dinge  in  unserer  Erfahrung  sind  nur  dadurch  mOglich,  dass  wir 
bei  der  Bildung  dieser  empirischen  Anschauung  dieselbe  synthetische  Function 
ausüben,  welche  wir  anwenden,  um  das  mathematische  Dreieck  im  Baume 
zu  construiren,  und  weil  eben  dieser  Baum  die  apriorische  Form  aller  An- 
schauung ist. 

So  gibt  uns  denn  sowohl  die  Analyse  des  vorliegenden  Textes  selbst, 
als  die  Bücksicht  auf  jene  Parallelstelle  folgende  Erklärung  dieser  diMcilen 
Stelle  an  die  Hand:  „Wenn  der  dreieckige  Gegenstand  (sagen  wir  z.  B.  das 
Nildelta  oder  eine  der  vier  Flächen  einer  egyptischen  Pyramide)  etwas  an 
sich  selbst  wäre,  ohne  Beziehung  auf  euer  Subject,  wie  könntet  ihr  sagen, 
dass  dasjenige,  was  in  euren  subjectiven  Bedingungen  der  Construction  eines 
mathematischen  Triangels  in  der  mathematischen  Einbildungskraft  liegt  und 
sich  daraus  ergibt,  nun  auch  jenem  dreieckigen  Gegenstande  an  sich  selbst 
nothwendig  zukommen  müsse  9^^  Hier  würde  man  nun  etwa  als  erläuterndes 
Beispiel  einen  Satz  erwarten,  wie  etwa  folgenden:  ihr  könntet  z.  B.  nicht 
den  Satz:  ,in  jedem  (ebenen)  Dreieck  sind  die  drei  Winkel  gleich  zwei 
Bechten"  ohne  Weiteres  a  priori  auf  jene  wirklichen  concreten  dreieckigen 
Gegenstände  mit  dem  Anspruch  unbedingter  Gültigkeit  anwenden,  da  ja  doch 
diese  concreten  Dinge  vor  der  Aufstellung  eurer  mathematischen  Sätze  und 
unabhängig  von  der  Erkenntnis  derselben  vorhanden  sind.  Das  ist  eben 
nur  dadurch  möglich,  dass  der  Baum,  in  welchem  sich  diese  äusseren  Gegen- 
stände befinden,  nur  eure  subjective  Form  ist.  Jene  dreieckigen  Gegenstände 
sind  eben  doch  abhängig  von  eurem  Subject,  sind  eben  nichts  ,an  sich  selbst 
ohne  Beziehung  auf  euer  Subject".  Jetzt  erst  wird  klar,  warum  ich  im 
Stande  bin  zu  sagen :  an  dem  Nildelta,  an  der  Pyramiden  Seitenfläche  müssen 
sieh  nothwendig  alle  Eigenschaften  finden,  welche  ich  in  dem  von  mir  subjectiv 
in  meinem  Kopfe  construirten,  rein  mathematischen  und  schematischen  Dreieck 
gefunden  habe. 

Aus  diesem  Beispiel  heraus  ist  nun  auch  erst  die  ungeschickt  gewählte 
Exemplifioation  Kants  selbst  zu  erklären.  Wir  stellen  in  der  reinen  Mathe- 
matik den  synthetischen  Satz  a  priori  auf:  nur  aus  drei  geraden  Linien 
ist  eine  Figur  möglich.  Dieser  Satz  wird  nun  auch  mit  dem  Anspruch  auf 
objective  Gültigkeit  in  Bezug  auf  die  concreten  Dinge  in  der  Natur  aus- 
gesprochen und  muss  auch  „nothwendig  an  dem  Gegenstande  angetroffen 
werden".  Ich  kann  a  priori  sagen:  aus  zwei  geraden  Holzbalken  oder  aus 
zwei  geraden  Eisenstäben  kann  Niemand  eine  geschlossene  Figur  herstellen ; 
er  muss  mindestens  noch  einen  dritten  geraden  Balken  oder  Eisenstab  hinzu- 
nehmen. Diesen  und  ähnliche  Sätze  kann  ich  nur  darum  a  priori  „über 
äussere  Objecte"  aussagen,  weil  eben  diese  erst  durch  die  Baum  Vorstellung 
selbt  zu  äusseren  Objecten  werden ;  aus  jener  Baum  Vorstellung  heraus  aber 
habe  ich  a  priori  jene  Sätze  geschöpft,  also  müssen  sie  auch  von  den  Gegen- 
ständen im  Baume  gelten.    Ich  kann  sicher  sein,  dass  sich  kein  Gegenstand, 


\ 


472  §  8.    Allgemeine  Anmerkimgen.    I. 

A48.49.B66.  [B  58.  54.  H  76.  E  94.] 

keine  Erscheinung  jemals  gegen  solche  a  priori  ausgesprochenen  synthetischen 
S&tze  gleichsam  empören  werde;  denn  alle  Erscheinungen  sind  jenen  Ge- 
setzen schon  vorher  „unterworfen"  —  ihre  Existenz  als  Erscheinung  hängt 
ja  von  jener  reinen  Raumanschauung  ab,  auf  die  sich  jene  synthetischen 
Sätze  a  priori  beziehen.     (Vgl.  auch  Comm.  I,  328  ff.) 

Dieselbe  Auslegung  bietet  auch  Mahaffy,  Crit.  Phü,  I.  177;  auch 
Bilharz,  Erläuterungen  S.  21.  Eine  ganz  andere  Auffassung  bei  Thiele, 
Int.  Ansch.  195  ff.  Bedenken  bei  Schneider,  Es.  Entw.  d.  Apriori  28. 
Ganz  dieselbe  Auslegung  dieser  Stelle  treffen  wir  nun  auch  —  abgesehen 
von  einigen  Schwankungen  und  Unklarheiten  —  bei  Mellin,  III,  879 — 381 
(Vgl.  dazu  I,  83;  I,  817—819;  II,  284;  V,  109)  theil weise  mit  drastischen 
Beispielen,  z.B.:  „Eein  Tischler  kann  mir  einen  zweieckigt«n  Tisch  machen, 
vorausgesetzt,  dass  die  Seiten  geradlinigt  sind'  u.  s.  w. 

Dass  Eant  in  der  apriorischen  Gültigkeit  der  Mathematik  für  die  Ob* 
jecte  aber  auch  einen  stringenten  Beweis  für  seine  , ästhetische  Theorie* 
(B  72)  sah,  geht  aus  dem  vorliegenden  Passus  hinlänglich  hervor,  wird  aber 
auch  sonst  häufig  von  demselben  wiederholt,  besonders  in  den  Losen  Blättern 
I.  18.  28.  151  f.  155.  Vgl.  hiezu  die  oben  S.  340  f.  gegebenen  Ausführungen. 
Auch  noch  in  dem  Nachgel.  Werke  XX.  85  heisst  es:  „Wenn  es  auch  keine 
directen  Beweise  von  der  Wesenlosigkeit  der  Gegenstände  der  Sinne  als  Dinge 
an  sich  selbst  gäbe,  so  kann  die  Mathematik  es  durch  die  Formen  ihrer 
Erscheinung  in  der  Anschauung  a  priori  apagogisch  mit  Evidenz  darthun.* 

Also  dieses  beweist  eben,  meint  Eant,  dass  Baum  und  Zeit  , bloss' 
subjective  Bedingungen  eben  unserer  Anschauung  sind;  und  daraus  eben 
erklärt  er  einerseits,  dass  und  warum  wir  über  die  Form  der  empirisch  an- 
geschauten Dinge  a  priori  Vieles  sagen  können,  und  andererseits,  dass  und 
warum  wir  ,von  dem  Dinge  an  sich  nicht  das  Mindeste  sagen  können, 
das  diesen  Erscheinungen  zu  Grunde  liegen  mag*'.  Man  beachte  in  diesem 
Satze,  mit  welchem  die  Aesthetik  in  der  ersten  Auflage  abschloss. 
1)  den  Singular:  „das  Ding  an  sich*,  gegenüber  dem  Plural:  ,die  Er- 
scheinungen*'; 2)  den  vorsichtigen  Ausdruck  des  blossen  «Mögens*. 

Dieses  »mag*  ist  besonders  beachtenswerth.  Mit  Recht  hat  0.  Grundke, 
Eants  Entwicklung.  Diss.  Bresl.  1889 ,  S.  21 ,  auf  diese  Stelle  aufmerksam 
gemacht,  da  in  ihr  der  spätere  Skepticismus  Eants  in  Bezug  auf  die  Existenz 
der  Dinge  an  sich,  „weun  auch  vorläufig  nur  leise,  angedeutet  wird*.  Während 
sonst  in  der  Aesthetik  (vgl.  Grundke  S.  9 — 22)  überall  die  Sachen  an  sich 
als  unbezweifelte  Grundsteine  der  Eant'schen  Erkenntnisstheorie  gelten, 
kommt  hier  ihre  Natur  als  Grenzsteine,  welche  später  in  der  Analytik 
hervortritt  \  schon  vorandeutend  zum  Vorschein.  Es  ist  dies  in  der  That 
eine  charakteristische  Differenz  zwischen  dem  Anfang  und  dem  Ende  der 
Aesthetik  (nach  der  ersten  Auflage):  am  Anfang  der  Aesthetik  sind  ,die 
Gegenstände  an  sich  für  Eants  Erkenntnisstheorie  das  primum  movenSy  das- 


*  Genau  dasselbe  „mag**  kehrt  wieder  A  277  und  A  372. 


Noch  eine  , Bestätigung'  der  Eantischen  Theorie.  473 

[B  54.  716.  H  76.  E  94.  96.]  A  49.  B  66. 

jenige,  welches  erst  der  Maschinerie  unserer  Erkenntnissfähigkeit  Inhalt  zu- 
fahren muss,  um  dadurch  dieselbe  in  Bewegung  zu  setzen '';  am  Ende  der 
Aesthetik  drohen  dieselben  dagegen  in  einem  skeptischen  Nebel  zu  ver- 
schwinden. (Vgl.  oben  S.  37  ff.)  Hebler  dagegen  (Philos.  Aufs.  128)  meint, 
man  solle  sich  nicht  an  diesen  problematischen  Ausdrücken  „stossen"; 
die  Existenz  der  Dinge  an  sich  sei  doch  für  Kant  unzweifelhaft  fest- 
gestanden. Vgl.  hiezu  Volkelt,  Ks.  Erkenntnisstheorie  S.  87 — 93.  Stau- 
dinger, Noumena  4.  74.  VgU  auch  schon  Seh  äff  er,  Inconsequenzen  Es.  S.  150. 

Anmerkung  n. 

Diese  erst  in  der  zweiten  Auflage  hinzugefügte  Anmerkung  (vgl.  Erd- 
mann, Eriticismus  S.  190)  besteht  aus  zwei  Hälften,  welche  sehr  wohl 
zu  trennen  sind.  Die  erste  Hälfte  bezieht  sich  auf  den  äusseren,  die 
zweite  auf  den  inneren  Sinn.  Es  hat  zunächst  auf  den  ersten  Blick  den 
Anschein,  als  ob  der  zweite  Tbeil  nur  eine  Palinodie  des  ersten  Theiles 
wäre;  aber  es  sind,  wie  sich  bei  eingehender  Analyse  zeigen  wird,  formell 
und  materiell  bedeutende  Unterschiede  zwischen  beiden  Hälften,  welche  daher 
auch  getrennt  zu  behandeln  sind. 

Erste  Hälfte  (Aeusserer  Sinn). 

Diese  erst  in  der  zweiten  Auflage  hinzugefügte  Bemerkung  über  den 
äusseren  Sinn  resp.  über  die  äusseren  Anschauungen  enthält  sachlich  nichts 
Neues,  denn  sie  fusst  ganz  auf  dem,  was  schon  in  der  ersten  Auflage  in 
dem  Anhang:  Von  der  Amphibolie  der  Eeflezionsbegriffe  gesagt 
worden  war.  In  den  drei  inhaltlich  gleichwerthigen  Entwürfen,  welche  unter  • 
jenem  Titel  vereinigt  sind,  finden  wir  diese  Ausführung  jedesmal  wieder :  in 
der  ersten  Darstellung  A  265  f.;  in  der  zweiten  A  274  und  277  f.;  in  der 
dritten  A  283 — 285^.  Es  ist  immer  folgender  Grundgedanke:  Wenn  wir 
Yon  Dingen  überhaupt,  als  Gegenständen  des  reinen  Verstandes  sprechen,  so 
gilt  von  ihnen,  dass  sie  etwas  Inneres  haben  müssen,  das  ganz  auf  sich 
selbst  beruht,  etwas  Absolutes  ist  und  gar  keine  Relationen  mehr  zu  Anderem, 
Aeusserem'  einschliesst ;  ich  kann  also  auch  von  allen  diesen  äusseren  Ver- 
hältnissen abstrahiren,  ^und  es  muss  dennoch  ein  Begriff  von  dem  übrig 
bleiben,  das  gar  kein  Verhältniss,  sondern  bloss  innere  Bestimmungen  be- 
deutet". Dieses  letzte,  Schlechthin-Innerliche  der  Dinge,  ist  uns  Menschen 
vollständig  unzugänglich. 


^  Vgl.  auch  Kants  Reflexionen  II,  N.  362.  532:  « unsere  Vernunft  enthält 
nichts  als  Relationen".  N.  1045.  Entgegengesetzt  hatte  sich  K.  hierüber  1756 
geäussert,  in  der  Monadologia  physica  I,  7  (Res.  V,  265);  vgl.  hieza  Simmel  in 
der  oben  S.  423  N.  erwähnten  Dissertation ,  S.  25  f.  Weiteres  in  den  Met.  Anf. 
d.  Naturw.  W.  W.  Hart.  IV,  371.  455  u.  ö.« 


474  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    II. 

B  66.  [R  716.  H  76.  K  95.] 

Wenn  wir  aber  von  Dingen  für  uns  als  Gegenständen  unserer  An- 
schauung sprechen,  dann  gilt  jener  Satz  von  ihnen  nicht  mehr:  da  braucht 
nichts  angenommen  zu  werden,  was  unabhängig  von  den  äusseren  Ver- 
hältnissen noch  „übrig  bliebe*,  da  gibt  es  nichts  Inneres,  sondern  die  £r^ 
scheinungen  bestehen  eben  aus  lauter  Relationen,  ohne  ein  diesen  Relationen 
innerhalb  der  Erscheinung  entsprechendes  Absolutes,  Inneres  im  strengen 
Sinne  des  Wortes.  Allerdings  sprechen  wir  bei  den  Erscheinungsgegenständen 
auch  von  einem  Inneren ,  Innerlichen ;  aber  dies  ist  nicht  ein  Schlechthin-, 
sondern  nur  ein  Comparativ-Innerliches,  und  besteht  seinerseits  auch  wieder 
aus  blossen  Verhältnissen*.     Vgl.  oben  S.  447. 

Dies  führt  Kant  dort  im  Einzelnen  aus :  der  Raum  mit  Allem,  was  er 
enthält,  besteht  aus  lauter  formalen  oder  auch  realen  Verhältnissen.  Was  wir 
an  der  Materie  kennen,  sind  lauter  Verhältnisse.  Die  inneren  Bestimmungen 
einer  Substantia  phaenomenon  im  Räume  sind  nichts  als  Verhältnisse  und  sie 
selbst  ganz  und  gar  ein  Inbegriff  von  lauter  Relationen:  die  Substanz  im 
Räume  kennen  wir  nur  durch  die  Kräfte,  die  in  demselben  wirksam  sind, 
entweder  andere  dahin  zu  treiben  (Anziehung)  oder  vom  Eindringen  in  ihn 
abzuhalten  (Zurückstossung  und  Undurchdringlichkeit);  andere  Eigenschaften 
kennen  wir  nicht,  die  den  Begriff  von  der  Substanz,  die  im  Räume  erscheint, 
und  die  wir  Materie  nennen,  ausmachen.  Ort,  Gestalt,  Berührung  und  Be. 
wegung  sind  lauter  äussere  Verhältnisse.  Wir  können  deshalb  eben  auch 
die  empirischen  Substanzen,  die  materiellen  Dinge,  vollständig  analjsiren, 
oder  wenigstens  zu  analysiren  hoffen,  weil  wir  es  eben  nur  mit  Verhältnissen 
zu  thun  haben.  Wenn  ich  von  diesen  Verhältnissen  abstrahire,  bleibt  nichts 
übrig,  und  habe  ich  auch  nichts  weiter  zu  denken:  „freilich  macht  es  stutzig, 
zu  hören,  dass  «in  Ding  ganz  und  gar  aus  Verhältnissen  bestehen  solle;  aber 
ein  solches  Ding  ist  auch  blosse  Erscheinung;  es  besteht  selbst  in  dem 
blossen  Verhältnisse  von  Etwas  überhaupt  zu  den  Sinnen*. 

In  jener  Stelle  haben  wir  somit  die  Vorlage,  aus  welcher  der  vor- 
liegende Text  der  zweiten  Auflage  herausgewachsen  ist;  Sinn  und  Tragweite 
des  Letzteren  wird  dadurch  aufgehellt.  Auch  hier  haben  wir  ja  dieselbe 
Lehre:  Alles  was  der  äussere  Sinn  gibt,  sowohl  das  Reine  (Raum)  als  das 
Empirische  (Materie),  besteht  nur  aus  Verhältnissen.  Ausdehnung,  Be- 
wegung (vgl.  dazu  Cohen,  2.  A.  S.  68)  und  bewegende  Kräfte  —  alle  drei 
sind  nur  durch  Verhältnisse  (mathematische,  phoronomische  und  mechanische) 
zu  charakterisiren.  Nur  Verhältnisse  gibt  somit  der  äussere  Sinn  in  seinen 
Anschauungen ,  niemals  aber  das  eigentliche  Ding  an  sich  selbst ,  das 
Schlechthin-Innere  des  Gegenstandes,  der  hinter  diesen  Verh&ltnissen 
steckt,  weder  nach  seiner  Existenz,  noch  nach  seiner  Wirkung;  und  aus 


^  Man  erkennt  hier  auch  leicht  den  Zasammenhang  dieser  Lehre  Ke.  mit 
seinen  oben  S.  355  ff.  460  ff.  dargelegten  Anschauungen  über  den  Unterschied  der 
primären  und  secundären  Qualitäten.  Mit  der  Aufhebung  dieses  Unterschiedes 
musste  auch  das  .Innere**  der  Materie  fallen. 


Auflösung  der  Aussen  weit  in  lauter  Relationen.  475 

[R  716.  H  76.  Z  95.]  B  66.  67. 

jener  Parallelstelle  dürfen  wir  dazu  die  Bemerkung  ergänzen,  dass,  wie  weit 
wir  auch  in  der  Erforschung  der  Materie  kommen  und  kommen  mögen,  wir 
doch  immer  nur  auf  Verhältnisse  stossen.  Alle  materiellen  Dinge,  welche 
man  etwa  als  Träger,  als  Ansatz-  und  Ausgangspunkte  jener  Verhältnisse 
betrachten  möchte,  lösen  sich  immer  wieder  in  Verhältnisse  in  infinüum  auf. 
Jede  Bestimmung  eines  einzelnen  Körpers  geschieht  durch  Angabe  von  Ver- 
hältnissen, also  von  „etwas  Anderem,  was  er  nicht  selbst  ist'  (Mellin  III,  382). 

Wenn  uns  nun  so  der  äussere  Sinn  schlechterdings  nur  Verhältnisse 
gibt,  so  steht  zu  vermuthen,  dass  das,  was  er  uns  gebe,  eben  selbst  nichts 
wahrhaft  Wirkliches  sei,  sondern  selbst  nur  eine  durch  das  Verhältniss  eines 
unbekannten  Gegenstandes  zu  unserem  Subject  producirte  Erscheinung,  also 
selbst  wiederum  nur  —  ein  Verhältniss;  es  steht  zu  vermuthen,  dass  «die 
Erscheinungen  nicht  an  sich  existiren,  sondern  nur  relativ  auf  das  Subject, 
sofern  es  Sinne  hat"  (B  163),  dass  „die  Beschaffenheit  des  Objects  nur  von 
der  Anschauungsart  des  Subjects  in  der  Relation  des  gegebenen  Gegen- 
standes zu  ihm  abhängt"  (B  68,  Anmerkung  III,  unten  S.  486). 

B.  Er d mann  macht  zu  dem  Beweise  in  seiner  Dissertation  über  „die 
Stellung  des  Dinges  an  sich'  S.  7  folgende  kritische  Bemerkung:  „Dieser 
Beweis  stützt  sich  auf  den  allgemeinen  Gedanken,  dass,  da  unsere  Erkenntniss 
ans  einer  Wechselwirkung  zwischen  dem  Dinge  an  sich  und  unserem  Ich 
entspringt,  es  keinen  Sinn  hat,  einzelne  Factoren  derselben  auch  dem  Dinge, 
abgesehen  von  diesem  Verhältniss,  zuzuschreiben.  Dieser  Beweis  ist  nicht 
stichhaltig.  Er  wäre  es  nur,  wenn  Kant  zweifellos  bewiesen  hätte,  dass  alle 
Momente  der  Erscheinung  aus  jenem  Wechselverhältniss  entspringen,  dass 
sie  nicht  auch  solche  enthält,  welche  die  Möglichkeit  derselben  bedingen 
und  desshalb  beiden  Gliedern  für  sich  zukommen  müss«ft.'  Vgl.  auch 
V.  Kirchmann,  Erl.  S,  6.  13;  dagegen  wieder  Grapengiesser  S.  29.  Wolff, 
Spec.  und  Phil.  I.  189.  —  Staudinger,  Noumena  30.  39.  141  hat  seine 
realistische  Ansicht  auch  in  dieser  Stelle  selbst  finden  wollen,  indem  Kant 
den  Baum  ein  (reales)  Verhältniss  des  Gegenstandes  zum  Subject  nenne; 
aber  er  übersieht  das  bedeutungsvolle  idealistische  „nur'. 

So  benützt  denn  also  Kant  hier  jene  von  ihm  behauptete  Thatsache, 
dass  alle  äussere  Anschauung  nur  Verhältnisse  enthalte,  als  Beweis,  resp.  als 
„Bestätigung'  für  seine  Theorie  des  Relativismus.  Dies  ist  hier  der 
logische  Zusammenhang.  Anders  oder  vielmehr  geradezu  umgekehrt  war 
derselbe  in  den  citirten  Parallelstellen,  oben  S.  473:  da  betrachtet  Kant  die 
Lehre,  dass  alle  äussere  Anschauung  sich  in  blosse  Verhältnisse  auflöse,  zwar 
auch  als  eine  Thatsache,  aber  als  eine  paradoxe,  welche  selbst  erst  der 
Erklärung  bedarf,  und  da  wird  diese  Thatsache  plausibel  gemacht,  resp. 
erklärt  gerade  durch  den  Relativismus. 

Eine  weitere  dankenswerthe,  sachliche  und  historische  Aufhellung  er- 
hält diese  Stelle  durch  die  im  Jahre  1786  veröffentlichten  „Bemerkungen 
zu  Jakobs  Prüfung  der  Mendelssohn'schen  Morgenstunden'  von  Kant. 
Mendelssohn  hatte  (Morgenstunden  116)  die  Frage  nach  dem  An-sich  der 


\ 


476  §  B.    Allgemeine  Anmerkungen.    IL 

B  67.  [B  716.  H  76.  E  95.] 

Dinge  überhaupt  für  absurd  erklärt;  es  genüge  die  Erkenntniss  dessen,  «was 
ein  Ding  würket  oder  leidet".  Darauf  antwortet  Kant:  »Wenn  ich  doch 
aber  .  .  .  einsehe,  dass  wir  von  der  körperlichen  Natur  nichts  anderes  er- 
kennen, als  den  Baum  (der  noch  gar  nichts  Existirendes,  sondern  bloss  die 
Bedingung  zu  Oertern  ausserhalb  einander,  mithin  zu  blossen  Süsseren  Ver- 
hältnissen ist),  das  Ding  im  Baume  ausser  dem,  dass  auch  Baum  in  ihm 
(d.  i.  es  selbst  ausgedehnt)  ist,  keine  andere  Wirkung  als  Bewegung  (Ver- 
änderung  des  Orts,  mithin  blosser  Verhältnisse),  folglich  keine  andere 
Kraft  oder  leidende  Eigenschaft,  als  bewegende  Kraft  und  Beweglichkeit 
(Veränderung  äusserer  Verhältnisse)  zu  erkennen  gibt:  —  so  mag  mir 
Mendelssohn  .  .  .  doch  sagen,  ob  ich  glauben  könne,  ein  Ding  nach  dem, 
was  es  ist,  zu  erkennen,  wenn  ich  weiter  nichts  von  ihm  weiss,  als  dass 
es  Etwas  sei,  das  in  äusseren  Verhältnissen  ist,  in  welchem  selbst  äussere 
Verhältnisse  sind,  dass  jene  an  ihm  und  durch  dasselbe  an  anderen  ver- 
ändert werden  können,  so  dass  der  Grund  dazu  (bewegende  Kraft)  in  den- 
selben liegt,  —  mit  Einem  Wort,  ob,  da  ich  nichts  als  Beziehungen  von 
Etwas  kenne,  auf  etwas  Anderes,  davon  ich  gleichfalls  nur  äussere  Be- 
ziehungen wissen  kann,  ohne  dass  mir  irgend  ein  Inneres  gegeben  ist  oder 
gegeben  werden  kann,  —  ob  ich  da  sagen  könne,  ich  habe  einen  Begriff  von 
dem  Dinge  an  sich,  und  ob  nicht  die  Frage  ganz  rechtmässig  sei:  was  denn 
das  Ding,  das  in  allen  diesen  Verhältnissen  das  Subject  ist,  an  sich  seihst 
sey/  (Bos.  I,  896,  vgl.  ib.  570.)  In  diesem  unendlichen  Satze  haben  wir 
nicht  nur  eine  Erläuterung  zu  unserer  vorliegenden  Stelle,  sondern  zugleich 
auch  die  unmittelbare  Vorlage  zu  derselben ;  denn  jene  Stelle  gegen  Mendels- 
sohn fällt  in  das  Jahr  1786,  die  vorliegende  in  das  Jahr  1787. 

Auch  in  dieser  Stelle  gegen  Mendelssohn,  in  welcher  Kant  die  Bolle 
des  Dogmatisten  gegenüber  einer  kritischen,  fast  positivistischen  Anwandlung 
Mendelssohns  übernimmt  (vgl.  Erdmann,  Kriticismus  S.  121.  137.  190), 
wird  die  Thaisache  der  Belativität  der  äusseren  Anschauung  als  Argument 
für  den  Idealismus  verwendet.  Eben  weil  wir  es  nur  mit  Verhältnissen  zu 
thun  haben,  bleibt  uns  das  denselben  zu  Grunde  liegende  Object  stets  ver- 
borgen; eben  deshalb  gibt  uns  der  äussere  Sinn  nur  die  Wirkung  jenes  un- 
bekannten Gegenstandes  auf  unser  Subject,  nie  aber  sein  Inneres,  sein  An-sich\ 
Dass  Kant  um  dieselbe  Zeit,  in  dem  Sexennium  zwischen  1781  und  1787, 
mit  diesem  Puncto  sich  gerne  beschäftigt  hat,  bezeugen  auch  seine  An- 
merkungen  in  seinem  Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge  Nr.  32.  77.  80. 


^  Man  erkennt  aus  diesen  Stellen  auch  leicht,  wie  falsch  die  Auslegung  ist, 
welche  neuere  Kantianer,  bes.  A.  Krause  Kant  in  diesem  Punkte  angedeihen  lassen: 
sie  führen  mit  Vorliebe  die  Aeusserungen  Kants  gegen  das  Innere  der  Materie 
an,  verwechseln  aber  dabei  das  Empirisch-Innere,  dessen  Auflösbarkeit  durch  unsere 
Erkenntniss  Kant  lehrt,  mit  dem  Absolut-Inneren  (dem  Ding  an  sich),  dessen 
Erkennbarkeit  er  leugnet.  Richtig  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  131,  welcher  die 
Auflösung  der  Materie  in  blosse  Kräfterelationen  mit  K.  durchföhrt. 


Die  Relativität  des  Maasses  von  Raum  und  Zeit.  477 

[E  716.  H  76.  K  95.]  B  67. 

81.  105.  148).  Vgl.  auch  Met.  Anf.  d.  Nat.  Ros.  V.  407.  Vgl.  auch  Cohen, 
2.  A.  238.  Fick,  Welt  als  Vorstellung  S.  12  ff.  Herbart,  W.  W.  I,  177; 
IV,  817  flf.    Dagegen  Stumpf,  ürspr.  d.  Raumvorst.  S.  15.  80.  — 

Eine  originelle  Anwendung  dieses  Relationsargumentes  findet  sich  in 
dem  Nachgelassenen  Werke  XIV,  610,  611;  XX,  85,  86;  XXI,  92,  362,374: 
„Der  Beweis,  dass  die  Dinge  in  Raum  und  Zeit  bloss  Erscheinungen  sind, 
kann  auch  darauf  gegründet  werden,  dass  die  ganze  Welt  in  einer  Nuss- 
schale  und  die  ganze  zerflossene  Zeit  in  eine  Secunde  eingeschlossen  sein  könne, 
ohne  dass  der  mindeste  Unterschied  hierin  anzutreffen.*'  »Das  beweiset  ge- 
rade, dass  alle  unsere  Sinnen  Vorstellungen  uns  nichts  Anderes  geben,  als 
Erscheinungen.''  In  Bezug  auf  die  Zeit  erinnert  Kant  an  ^jenen  Der- 
wisch', welcher  sagte,  er  könne  „die  ganze  verflossene  Zeit  in  der  Be- 
wegung eines  einzigen  Kopfnickens  begreiflich  machen ';  in  Bezug  auf  den 
Baum  beruft  sich  Kant  mehrfach  auf  De  Luc  (wohl  Joh.  Andreas  De  Luc 
1727 — 1812;  einmal  beruft  sich  K.  auch  auf  Newton  selbst),  welcher  «glaubt, 
etwas  Besonderes  gesagt  zu  haben,  wenn  er  spricht,  er  könne  das  ganze 
Universum  in  einer  Nussschale  begreiflich  machen" ;  das  ist  aber  ,kein 
kühner  und  gewagter  Ausdruck",  sondern  sagt  nichts  weiter,  als  dass  die 
Grösse  und  Menge  der  Materie  nichts  Absolutes,  sondern  nur  etwas  Relatives 
ist.  Auf  die  Relativität  der  Zeit  hatte  K.  schon  in  der  Naturgeschichte 
d.  Himmels,  R.  VI.  217,  hingewiesen:  die  Jupitersbewohner  haben  ein  anderes 
Zeitmass  als  wir:  „eben  dieselbe  Zeit,  die  für  eine  Art  der  Geschöpfe  gleich- 
sam nur  Ein  Augenblick  ist,  kann  für  eine  andere  eine  lange  Periode  sein". 
Vgl,  oben  S.  345.  Weitere  Ausführungen  über  die  Relativität  und  Sub- 
jectivität  des  Maasses  von  Raum  und  Zeit  bieten  v.  Bär,  Reden  I.  240 ff. 
und  im  Anschluss  daran  Liebmann,  An.  d.  Wirk.  82  ff.,  2.  A.  99  ff. ;  Hey- 
mans,  Ges.  u.  El.  d.  wiss.  Denkens  I.  268  ff.  und  bes.  Du  Prel,  Phil. 
d.  Mystik  73 — 94.  Mit  Berufung  auf  Kant  auch  Eberty,  Die  Gestirne  und 
die  Weltgeschichte.  Gedanken  über  Baum,  Zeit  und  Ewigkeit.  3.  Aufl.  1874, 
S.  37—48. 

Zweite  Hälfte  (Innerer  Sinn). 

Dieselbe  Argumentation  will  nun  Kant  auch  auf  den  inneren  Sinn, 
auf  die  innere  Anschauung  anwenden.  Schon  in  der  oben  angeführten  Stelle 
gegen  Mendelssohn  hatte  Kant  gesagt:  „Eben  dieses  lässt  sich  auch  gar 
wohl  an  dem  Erfahrungsbegriff  unserer  Seele  darthun,  dass  er  blosse  Er- 
scheinungen des  inneren  Sinnes  enthalte  und  noch  nicht  den  bestimmten 
Begriff  des  Subjectes  selbst ,  allein  es  würde  mich  hier  in  zu  grosse  Weit- 
läufigkeit führen."  (Vgl.  dazu  Erdmann,  Kriticismus  S.  138.  190.)  Das 
dort  Versäumte  wird  nun  hier  nachgeholt. 

Kant  soll  und  will  demnach  also  beweisen,  dass  wir  auch  in  der 
inneren  Anschauung  nichts  als  blosse  Verhältnisse  erhalten.  Wie  weist 
Kant  nun  dies  nach?  Erstens  bemerkt  er,  dass  ja  „darin  die  Vorstellungen 
äusserer  Sinne  den  eigentlichen  Stoff  ausmachen,  womit  wir  unser  Gemüth 


478  §  8*    Allgemeine  Anmerkongen.    IL 

B  67.  [R  717.  H  77.  K  95.] 

besetzen".  Diese  Bemerkung  muss  uns  billig  Wunder  nehmen.  (Vgl.  dazu 
Cohen,  2.  A.  330.  339.  343  u.  331—333  über  den  Zusammenhang  der  Stelle 
mit  der  „Widerlegung  des  Idealismus".)  Oben  A  34  hiess  es:  die  Zeit  sei 
die  unmittelbare  Bedingung  der  inneren  (unserer  Seele)  und  eben  dadurch 
auch  mittelbar  der  äusseren  Erscheinungen.  Danach  kommen  die  Vor- 
stellungen der  äusseren  Dinge  doch  erst  in  zweiter  Linie.  Aber  wenn  wir 
auch  zugeben  wollen,  dass,  wenn  diese  auch  logisch  erst  in  zweiter  Linie 
kommen,  sie  doch  quantitativ  in  unserem  Inneren  weit  überwiegen,  und 
insofern  den  „eigentlichen  Stoff*  der  inneren  Anschauung  ausmachen  mögen, 
so  bleibt  doch  noch  ein  grosses  Gebiet  übrig,  das  hier  gar  nicht  erwähnt 
wird,  eben  der  andere  und  ursprüngliche  Stoff  unserer  inneren  Anschauung, 
die  Anschauung  unserer  inneren  Vorgänge  selbst  als  solcher,  also  der  Ge- 
fühle, der  Wollungen,  und  der  Vorstellungen,  diese  nicht  ihrem  Inhalt  nach, 
sondern  eben  ihrer  Function  nach  als  innere  Vorgänge.  Gerade  von  diesem 
eigentlichen  und  ursprünglichen  Stoff  der  inneren  Anschauung  hätte  also, 
ebenso  wie  vom  Stoff  der  äusseren  Anschauung,  von  der  Materie,  nachgewiesen 
werden  müssen,  dass  dieser  Stoff  selbst  auch  nur  aus  Verhältnissen  bestehe. 
(Dies  Fehlen  findet  auch  Schneider,  Ps.  Entw.  d.  Apriori  30  „überraschend**, 
vgl.  Bilharz,  Erläuterungen  173.  Bergmann,  Metaph.  215  ff.  222.)  Das 
hätte  nun  bei  allen  drei  Hauptklassen  des  inneren  Geschehens  leicht  nach- 
gewiesen werden  können;  denn  alle  Erkenntnissphänomene  schliessen  ja 
ein  Verhältniss  des  Vorstellenden  zum  Vorgestellten  ein,  und  dass  Ge- 
fühle und  Wo  11  un gen  nur  ein  Verhältniss  ausdrücken,  lehrt  ja  auch  das 
neuerdings  so  viel  betonte  Gesetz  der  Relativität  (Bain,  Zeller,  Wandt, 
Höffding  u.  A.);  seltsamer  Weise  hat  nun  Kant  schon  in  der  ersten  Hälfte 
der  Ajimerkung  Gefühle  und  Wollungen  von  seiner  Betrachtung  aus- 
geschlossen, allerdings  in  einer  unklaren  Weise,  so  dass  man  nicht  recht 
weiss,  ob  er  sie  nur  von  der  Betrachtung  des  äusseren  Sinnes  oder  von 
seiner  ganzen  Relationstheorie  überhaupt  ausschliessen  will  —  wie  denn  die 
ganze  Stelle  überhaupt  etwas  den  Charakter  der  Flüchtigkeit  an  sich  tillgt. 
Von  diesem  eigentlichen  und  ursprünglichen,  unmittelbaren  Stoff  der 
inneren  Anschauung  sieht  nun  Kant  also  ab  (während  doch  gerade  dieser, 
inclusive  der  Gefühle  und  Wollungen,  der  wichtigste  für  uns  ist),  und  be- 
gnügt sich  mit  dem  Hinweis  auf  den  mittelbaren  Stoff  derselben,  auf  die 
schon  in  der  ersten  Hälfte  der  Anmerkung  auf  blosse  Verhältnisse  reducirten 
äusseren  Anschauungen. 

Eine  bemerkenswerthe  Ergänzung  hiezu  bietet  nun  eine  Anmerkung 
Kants  in  seinem  Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge,  Nr.  GV):  „Wie  man 
sagen  könne,  dass  Körper  Erscheinungen  sind.  Sie  bestehen  aus  lauter  Rt- 
lationen.  Seele  besteht  aus  lauter  Synthesis  und  Analysis  dieser 
Vorstellungen.  Das  Ich  ist  Noumenon,  Ich  als  Intelligenz.**  Diese  An- 
merkung deutet  an,  in  welcher  Weise  Kant  den  hier  angeknüpften  Paden 
fortspinnen  wollte  —  geschehen  ist  es  aber  nicht.  Auch  eine  Stelle  io 
den  Reflexionen  I,  1,  S.  87  wirft  Licht  hierauf:  „Wir  haben  auch  nur  innere 


Aach  die  Innenwelt  besteht  aus  lauter  Relationen.  479 

[R  717.  H  77.  K  95.]  B  67. 

Empfindungen,  indem  wir  unserer  Leiden  und  Thätigkeiten  in  Ansehung  der 
äusseren  uns  bewusst  werden."  Vgl.  auch  II,  N.  1326.  Eine  sehr  werth- 
voUe  Erläuterung  und  Ergänzung  bieten  die  Losen  Blätter  I ,  S.  99  f. : 
„Ebenso  löse  ich,  wenn  ich  auf  die  Vorstellungen  des  inneren  Sinnes  Acht 
gebe,  Alles  in  lauter  Zeitverhältnisse  auf,  und  das  Absolute  für  den  Ver- 
stand fehlt.  Alles  ist  in  uns  Vorstellung  und  in  Zeitverhältnissen  gesetzt, 
und  fragen  wir  uns,  was  sie  denn  vorstelle,  so  sind  es  entweder  das 
Aeussere,  wovon  wir  gesehen  haben,  dass  es  sich  auf  lauter  Raum  Ver- 
hältnisse bezieht,  wozu  das  Ding  an  sich  für  uns  unerkennbar  ist ;  oder  die 
innere  Beziehung  dieser  Vorstellungen  in  der  Zeit  auf  einander 
wo  die  reine  Sjnthesis,  die  die  Verstandesbegriffe  aussagen,  wiederum 
nichts  anderes  als  Verknüpfung  dieser  Vorstellungen  in  Ansehung  der 
Zeiteinheit  ist ;  wo  das  Gefühl  der  Lust,  und  das  mit  ihm  verknüpfte  B  e- 
gehrungsvermögen  nur  jener  Vorstellungen  ihr  Verhältniss  aufs  Sub- 
ject  ohne  Erkenntniss  oder  aufs  Object  durch  die  Bestimmung  der  Cau- 
salität  des  Subjects,  mithin  auch  keine  Erkenntniss  des  Dinges  an  sich  liefert, 
und  von  diesem  nichts  als  die  Idee  von  Etwas  übrig  bleibt,  was  mein  von 
allen  diesen  Zeitbedingungen  unabhängiges  Selbstbewusstsein  als  ein  Object 
andeutet,  aber  nichts  an  die  Hand  gibt,  wie  es  an  sich  selbst  und  ohne 
Verhältniss  auf  die  Causalität  meines  Selbst  in  der  Sinnenwelt  erkenn- 
bar wäre." 

Zweitens  weist  Kant  in  unserer  Stelle  darauf  hin,  dass  die  Zeit- 
anschauung, die  formale  Bedeutung  aller,  also  auch  der  äusseren  Vor- 
stellungen, nur  Verhältnisse  enthalte,  die  Relationen  der  Succession,  der 
Simultaneität  ^,  und  der  aus  beiden  gewissermassen  zusammengesetzten  Con- 
stanz  (über  solche  Synthesen  vgl.  oben  S.  487).  So  besteht  also  die  Zeit 
wie  der  Raum,  aus  blossen  Relationen  (vgl.  Cohen,  2.  A.  831). 

Von  hier  aus  hätte  man  nun  folgenden  Fortgang  der  Argumentation 
erwartet:  Weil  die  inneren  Anschauungen  (genau,  wie  die  äusseren,  sowohl, 
dem  Inhalt  als  der  Form  nach)  nur  Verhältnisse  sind,  wobei  das  eigent- 
lich zu  Grunde  liegende  Subject,  das  Absolut-Innere  der  inneren  Vorgänge, 
gar  nicht  in  Betracht  kommt ,  so  ist  zu  vermuthen ,  dass  eben  alle  innere 
Anschauung  überhaupt  nicht  etwas  An-sich-seiendes ,  etwas  Absolutes  gebe 
und  zu  geben  vermöge,  sondern  nur  etwas  Relatives,  und  zwar  in  diesem 
Falle  das  Verhältniss  des  Subjects  nicht  zu  einem  ausser  ihm  liegenden 
Dinge  an  sich,  sondern  das  Verhältniss  des  Subjects  zu  sich  selbst,  oder  da 
dies  eigentlich  sinnlos  ist,  das  Verhältniss  eines  Theils  des  Subjects  zu  einem 
anderen  Theile  desselben  Subjects;  nur  so  können  wir  ja  ein  Verhältniss 
innerhalb  des  Subjects  selbst  herausbekommen,  wenn  wir  uns  das  Subject 
in  zwei  Theile  zerspalten  denken,  welche  nun  gegenseitig  in  ein  Ver- 
hältniss zu  einander  treten ;  wir  erhalten  nun  in  unserer  inneren  Anschauung 


\ 


^  üeber  die  Auslegung  dieser  Stelle   zu  Gunsten  einer   ,  simultanen  Appre- 
hension*  durch  Witte  s.  oben  S.  394  f. 


480  §  S.    Allgemeine  Anxnerkimgen.    II. 

B  67.  68.  [R  717.  H  77.  K  95.] 

nur  das  Resultat  dieses  Verhältnisses  als  innere  Erscheinungen,  nicht 
aber  das  ursprüngliche  Subjeet  an  sich  selbst. 

In  dieser  eben  entworfenen  Argumentation  ist  also  auch  wieder  die 
Tbatsache  der  blossen  Relativität  der  inneren  Anschauungen  als  Beweis 
verwendet  für  die  Idealität  derselben,  und  damit  haben  wir  einen  mit  der 
ersten  Hälfte  der  Anmerkung  ganz  gleichlaufenden  Beweisgang.  Bei  Kant 
selbst  ist  diese  Argumentation  sachlich  auch  vorhanden,  aber  formell  nicht 
so  klar  und  scharf  herausgearbeitet,  wie  es  im  Interesse  der  Sache  noth- 
wendig  nnd  wünschenswerth  gewesen  wäre;  im  Gegentheil,  die  ganze  Dar- 
legung leidet  an  grosser  Unklarheit  der  Gedanken,  und  selbst  an  Unbeholfen- 
heit des  Ausdruckes.  Die  ganze  Theorie  des  inneren  Sinnes  ist  ja  eines  der 
schwierigsten  Gapitel  bei  Kant,  und  es  ist  daher  kein  Wunder,  dass  er  gerade 
in  der  2.  Aufl.  diese,  bald  und  viel  angegriffene,  Theorie  eingehender  aus- 
einanderzusetzen suchte.  Vgl.  dazu  die  orientirenden  Bemerkungen  von 
B.  Erdmann,  Krit.  S.  50  ff.  138  f.  153.  190.  212  ff.  215.  221  f. 

Die  beste  Auflösung  der  schwierigen  Stelle  finden  wir  nun,  wenn  wir 
von  vorneherein  jene  oben  entworfene,  in  der  Consequenz  des  Kantischeo 
Gedankenganges  liegende  Argumentation  als  Leitfaden  in  dem  Labyrinth 
der  bei  Kant  selbst  folgenden  Ausführungen  festhalten.  Die  Hauptsache  ist 
dabei  der  von  Kant  selbst  angedeutete,  theilweise  auch  ausgeführte  Par- 
allelismus der  inneren  Anschauung  mit  der  äusseren.  Im  An- 
schluss  an  Kants  eigene  Andeutungen  unterscheiden  wir  dabei  1)  die  zu 
Grunde  liegenden  Elemente;  2)  die  ins  Spiel  gesetzten  Processe,  welche 
sich  aus  dem  Zusaramenstossen  jener  Elemente  ergeben ;  und  3)  das  dadurch 
zu  Stande  kommende  Resultat.     (Vgl.  oben  S.  125—130.) 

L  Die  Elemente.  Damit  die  inneren  Erscheinungen  zu  Stande 
kommen  können,  damit  deren  Wirklichkeit  —  sie  sind  Thatsacben,  von 
denen  ausgegangen  wird  —  erklärt  werden  kann,  dazu  bedarf  es  nach  Ana- 
logie des  durchsichtigeren  Zustandekommens  der  äusseren  Erscheinungen 
zweierlei:  1)  ein  aufzunehmendes  Wirkliche  an  sich,  2)  ein  aufnehmendes 
Organ,  den  inneren  Sinn.  Das  aufzunehmende  Wirkliche  an  sich  sind  nnn 
in  diesem  Falle  nicht  die  Einwirkungen  äusserer  Dinge  an  sich  —  diese 
werden  ja  vom  äusseren  Sinn  der  Räumlichkeit  auf-  und  wahrgenommen  —, 
sondern  es  müssen  Vorgänge  in  dem  Ich  selbst  sein.  (Vgl.  Cohen,  2.  A. 
334.  339.)  Beim  äusseren  Sinn  sind  die  beiden  fundamentalen  Elementet 
das  Afficirende  und  das  Apprehendirende,  auf  zwei  verschiedene  Gegen- 
stände vertheilt,  hier  aber,  beim  inneren  Sinn,  sind  beide  in  einem  nad 
demselben  Gegenstand,  als  zwei  verschiedene  Seiten  desselben,  ver- 
einigt ^  Im  Ich  sind  somit  jene  beiden  Momente  zu  trennen :  das  actire, 
wirkende,  materiale,  und  das  passive,  aufnehmende  und  formale. 


^  Vgl.  Lose  Blätter  I,  S.  124:  , Doppeltes  Ich.  Es  ist  nicht  ein  doppeltes 
Subjeet  des  Bewusstseins,  sondern  ein  und  dasselbe  Subjeet,  welches  sich  selbst 
modificirt  und  sich  verändert,  da  dann  der,  welcher  die  Veränderung  macht,  doch 


Elemente,  Processe  und  Resultate  beim  inneren  Sinn.  4g  1 

[R  717.  H  77.  K  96.]  B  67. 

IL  Die  Processe.  Das  formale  aufnehmende  Element  des  Ich,  der 
innere  Sinn  mit  seiner  Zeitform  kann  nun  nach  Analogie  des  äusseren  Sinnes 
natürlich  nur  ins  Spiel  gesetzt  und  zur  Functionirung  gebracht  werden  durch 
eine  Affection  seitens  jenes  actiyen  Theiles,  also  dadurch,  dass  „das  Ge- 
müth  durch  sich  selbst  afQcirt  wird^,  und  zwar  eben,  wie  es  bei  Kant  weiter 
heisst,  g durch  eigene  Thätigkeit** ,  d.  h.  eben,  indem  jener  active  Theil  im 
Ich  thätig  ist,  sich  bethfttigt.  (Vgl.  Cohen,  2.  A.  156.  331.  334.  337.) 
Worin  besteht  nun  diese  Thätigkeit?  Kant  antwortet:  „im  Setzen  einer 
Vorstellung*  (im  Text  heisst  es:  „ihrer  Vorstellung" ;  Erdmann  und  Kehr- 
bach verändern  dies  in  „seiner  Vorstellung' ;  aber  dadurch  wird  der  Sinn 
nicht  viel  besser).  Also  im  Setzen  einer  Vorstellung  besteht  jene  Thätig- 
keit. Bemerkenswerth  ist  hier  die  viermalige  Wiederholung  des  Ausdruckes 
, Setzen*,  der  nachher  ja  bei  Fichte  eine  so  grosse  Rolle  gespielt  hat,  welch 
Letzterer  bei  seiner  Lehre  von  der  „Selbstthätigkeit"  des  Ich  von  dieser  und 
von  ähnlichen  Stellen  ausging.  Indem  also  das  Gemüth,  d.  h.  der  active 
Theil  desselben,  durch  seine  „Thätigkeit"  eine  „Vorstellung  setzt",  afßcirt 
es  durch  diese  seine  eigene  Thätigkeit  zugleich  seinen  eigenen  passiven  Theil, 
das  aufnehmende  Organ,  den  inneren  Sinn.  (Dagegen  Bergmann,  Metaph. 
217  ff.  314  f.)  Dadurch  eben  sind  wir  im  Stande,  den  Inhalt  jener  Thätig- 
keit uns  in  der  Form  der  Zeit  zum  Bewusstsein  zu  bringen;  so  erhalten  wir 
eine  „innere  Wahrnehmung  von  dem  Mannigfaltigen,  was  im  Subject  vorher- 
gegeben wird".  So  ist  es  verständlich,  wie  Kant  sagen  kann,  „wenn  das 
Vermögen  sich  bewusst  zu  werden,  das,  was  im  Gemüthe  liegt,  aufnehmen 
(apprehendiren)  soll,  so  muss  es  [das,  was  im  Gemüthe  an  sich  ist  und  ge- 
schieht] dasselbe  [das  Vermögen,  sich  bewusst  zu  werden,  eben  bei  uns 
den  inneren  Sinn]  afficiren".  Im  Texte  wird  hier  freilich  „apprehendiren" 
mit  „aufsuchen"  übersetzt;  allein,  trotz  B  185  („unser  Verstand  kann  nur 
denken  und  muss  in  den  Sinnen  die  Anschauung  suchen")  und  obgleich 
Erdmann,  Kritic.  213  gerade  diesen  Ausdruck  besonders  auszeichnet,  so  ist 
doch  hier  ein  Druckfehler  anzunehmen,  da  „aufsuchen"  gar  nicht  in  die 
sonstige  Lehre  Kants  vom  inneren  Sinne  passt  und  da  Kant  sonst  immer 
ausdrücklich  den  Terminus  „apprehendiren"  mit  „aufnehmen"  wiedergibt, 
so  A  120:  „Die  Einbildungskraft  muss  die  Eindrücke  in  ihre  Thätigkeit 
aufnehmen,  d.  i.  apprehendiren,"  und  dementsprechend  heisst  es  gleich 
darauf  A  123,  dass  „die  Erscheinungen  ins  Gemüth  kommen  oder  apprehen- 
dirt  werden";  dann  besonders  B  202;  „Die  Erscheinungen  können  nicht 
anders  apprehendirt,  d.  i.  ins  empirische  Bewusstsein  aufgenommen  werden, 
als  durch  die  Synthesis  des  Mannigfaltigen;"  und  demgemäss  heisst  A  189 
Apprehension  die  „Aufnahme  in  die  Synthesis  der  Einbildungskraft".    Dazu 


von  dem,  was  verändert  wird,  unterschieden  sein  muss*  u.  s.  w.  Diese  Verdoppelung 
des  Ich  steht  mit  der  oben  S.  129.  404  f.  besprochenen  Scheidung  des  Ich  in  ein 
transscendentes  und  ein  empirisches  Ich  in  naher  Beziehung,  ist  aber  nicht  mit 
ihr  identisch. 

Yaihinger,  Kant-Commentar.    II.  31 


482  §  3-    Allgemeine  Anmerkungen.    IL 

B  67.  [R  717.  H  77.  K  95.] 

vergleiche  man  Kr.  d.  ürth.  §  26  (Apprehension  =  Auffassung)  nnd  Rechts- 
lehre §  10  (Apprehension  =  Besitznehmung)  \ 

III.  Das  Resultat  i^t  nun  eben,  dass  jenes  Mannigfaltige,  was  im 
Gemlith  an  sich  liegt,  in  die  Form  des  afficirten  inneren  Sinnes  aufgenommen 
wird:  der  innere  Sinn  wird  nun  ins  Spiel  gesetzt  und  funetionirt,  indem  er 
jenes  Mannigfaltige  mit  seiner  Form,  ,,die  vorher  im  Gemüth  zu  Grunde 
liegt '^j  mit  der  Zeitanschauung  überzieht,  und  jenes  Mannigfaltige  also  erst 
in  die  Verhältnisse  der  Succession,  Simultaneität  und  Constanz  bringt.  Dieser 
formale  Factor  tritt  also  zu  jenem  mannigfaltigen  Inhalt  als  ein  Neues 
hinzu,  und  was  nun  so,  in  dieser  Zeitform,  vor  unser  Bewusstsein  tritt,  das 
ist  eben  nicht  mehr  das  ursprüngliche  Mannigfaltige  an  sich,  sondern  das 
ist  eben  jetzt  zur  blossen  Erscheinung  für  uns  geworden.  So  wie  man 
also  einen  inneren  Sinn  , einräumt',  so  muss  man  auch  daraus  die  Gon- 
sequenz  zu  ziehen  sich  bequemen,  dass  ,  all  es,  was  durch  einen  Sinn  vor- 
gestellt wird,  sofern  jederzeit  Erscheinung  ist** ;  das  liegt  im  Begriff  des 
„Sinnest    (Vgl.  Cohen,  2.  A.  332.) 

Zu  dieser  ganzen  Theorie  ist  nun   aber  eine   wesentliche  Beetriction 
zu  machen:  beim  äusseren  Sinn  besteht  das  Mannigfaltige,  das  erst  in  die 
Raumform  gebracht  wird,   aus   den  Empfindungen,   welche  selbst  ihrerseits 
wieder  Reactionen  des  Subjects  auf  die  Affectionen  der  Dinge  an  sich  sind. 
Dieses   Mannigfaltige  ist   also   selbst  schon   subjectiv,   und   gibt   in   keiner 
Weise  das  Objective  selbst  wieder.    Ganz  anders  beim  inneren  Sinne!    Da 
besteht  das  Mannigfaltige   aus  den  Thätigkeitsacten  des  activen  Theiles  des 
Ich,  und  diese  Thätigkeit  besteht   im  „Setzen  von  Vorstellungen*.    Dieses 
Mannigfaltige  ist  aber  etwas  Unmittelbares  und  Objectives,   nicht  erst  wie 
beim  äusseren  Sinn  durch  das  Medium  der  fünf  Sinne  Hindurchgegangenes: 
das   Analogen    zu    den   letzteren    fehlt   beim   inneren   Sinn,   nnd 
daran    scheitert   die   ganze   Parallele.     Das  Mannigfaltige,    das  dem 
inneren  Sinn  dargeboten  wird,  ist  daher  nicht,  wie  das  Mannigfaltige  beim 
äusseren  Sinn,  selbst  schon  subjectiv,  sondern  etwas  Objeotiv-seiendes.   Was 
zu  demselben  hinzukommt,  ist  nur  die  Zeitvorstellung;  jene  an  sich  zeitlos 
seienden   Vorgänge   (freilich   ein   unausdenkbarer  Gedanke  1)    werden   somit 
verzeitlicht,  und  nur  diese  zeitliche  Form  an  ihnen  ist  Erscheinung,  dagegen 
ihr  materialer  Inhalt  ist  eine   unmittelbare   objectiv- wirkliche  Beth&tignng 


^  Witte  hat  gelegentlich  seiner  Controverse  mit  Mainzer  über  die  simultaDe 
Apprehension  bei  Kant  (vgl.  oben  S.  395  u.  S.  479  Anm.)  sich  auch  anf  diese 
Stelle  hier  berufen,  und  dabei  behauptet,  Apprehension  sei  hier  in  einem  anderen 
und  weiteren  Sinne  genommen,  als  in  der  Analytik;  in  letzterer  bedeute  dieselbe 
eine  active,  spontane  Thätigkeit  (bes.  A  98),  hier  in  der  Aesthetik  spreche  K.  toh 
einem  sinnlichen,  reeeptiven  Vorgang.  Es  seien  somit  zwei  Arten  von  Apprehension 
bei  Kant  zu  unterscheiden;  jene  erstere  nur  sei  eben  streng  successiv,  diese  zweite 
könne  auch  simultan  sein.  Zu  so  weitgehenden  Schlüssen  berechtigt  die  vorHegende 
Stelle  noch  nicht;  der  E.^sche  Apprehensionsbegriff  leidet  aber  in  der  That  an 
einer  derartigen  Zweideutigkeit,   welche  in  der  Analytik  zu  besprechen  sein  wiri 


Kants  Theorie  des  Bewusstseins.  483 

[R  717.  H  77.  K  96.]  B  68. 

des  Subjects  an  sich.  Somit  durfte  Kant  —  und  dies  ist  ein  schwerer 
Vorwurf  —  strenggenommen  hier  nicht  von  den  inneren  Vorgängen  in 
demselben  Sinne  und  mit  demselben  Nachdrucke  wie  von  den  äusseren 
den  Erscheinungscharakter  aussagen.  In  den  inneren  Vorgängen  ist  danach 
etwas y  und  zwar  sehr  viel  direct  vom  Ding  an  sich  herübergekommen,  in 
den  äusseren  aber  gar  nichts,  als  die  blosse  Affection!  In  der  That  hat 
Kant  auch  in  seinen  späteren  Ausführungen,  besonders  bei  den  ans  Praktische 
streifenden  Fragen  überall  den  Inhalt  des  Bewusstseins  selbst  als  real  an- 
genommen, und  die  Idealität  nur  auf  die  Zeitform  beschränkt. 

Diese  seine  Theorie  des  Bewusstseins  erläutert  und  erweitert  nun 
Kant  durch  eine  fernere  Uebertragung  eines  Punktes  seiner  Lehre  vom 
äusseren  Sinn  auf  den  inneren,  die  sich  noch  nicht  in  der  ersten  Auflage 
findet  (vgl.  Erdmann,  Kriticismus  139.  215;  vgl.  Thiele,  Ks.  int.  Ansch. 
S.  38.  88 — 93).  Schon  bei  mehreren  Gelegenheiten  hat  ja  Kant  der  sinn- 
lichen Anschauung  des  Menschen  eine  andere,  übersinnliche,  unsinnliche, 
intellectuelle  Anschauung  hypothetisch  gegenübergestellt  (vgl.  oben  S.  25. 
345.  398),  oder  wenigstens  darauf  angespielt.  Diese  eigenthümliche  hypo- 
thetische Theorie  eines  nicht  mehr  menschlichen,  sondern  —  man  möchte 
sagen  —  übermenschlichen  Bewusstseins  finden  wir  nun  auch  hier,  wenigstens 
angedeutet ,  und  aus  diesen  Andeutungen  ergibt  sich  Folgendes ,  was ,  wie 
der  anonyme  Verfasser  der  , Hauptmomente "  S.  149  sagt,  „zu  den  tiefsten 
und  subtilsten  Speculationen  der  Kantischen  Philosophie  gehört". 

Es  ist  eine  nicht  weiter  ableitbare,  ursprüngliche  Eigenschaft  des  Sub- 
jects, „sich  selbst  innerlich  anzuschauen".  Diese  Eigenschaft  ist  nicht  weiter 
abzuleiten,  und  es  besteht  hierin  eine  fundamentale  „Schwierigkeit"  aller 
Bewusstseinstheorien  überhaupt  (vgl.  B  155)  ^  (Vgl.  Schneider,  Ps.  Entw. 
d.  Apriori  27,  dem  aufföllt,  „in  welch  leichtem  Tone  sich  dieser  ernsteste 
Denker  über  dieses  letzte  und  höchste  philosophische  Bäthsel  forthilft ''. 
Cohen,  2.  A.  335.)  Dies  ist  also  einfach  als  ein  irreducibles  Factum 
hinzunehmen;  mag  darin  auch  ein  noch  so  tiefes  Problem  stecken,  dies  ist 
wenigstens  hier  nicht  zu  discutiren.  In  jener  Fähigkeit,  „sich  selbst  inner- 
lich anzuschauen",  besteht  eben  „das  Bewusstsein  seiner  selbst",  „die  ein- 
fache Vorstellung  des  Ich",  wofür  Kant  hier  auch  noch  in  Klammern  den 
Ausdruck  „Apperception"  anwendet,  der  in  den  späteren  Theilen  seiner 
Kritik  eine  so  grosse  Rolle  spielt.  Also  das  Ich  hat  die  Fähigkeit,  zu  sich 
selbst  zu  kommen,  zum  Bewusstsein  seiner  Selbst  zu  erwachen.  Wie  das 
überhaupt  geschehen  kann,  wird  also  nicht  gesagt;  doch  kann  man  wenigstens 
hier  die  Andeutung  finden,  dass  es.  dazu  eines  „Mannigfaltigen"  be- 
darf; erst  durch  dieses  wird  jenes  ursprünglich  unbewusste  Ich  zu  einem 
selbstbewussten.   Aber  diese  leise  Andeutung  verfolgen  wir  hier  nicht  weiter 


*  Vgl.  hierüber  auch  bes.  Volkmann,  Psychologie,  2.  A.  1885,  11,  218 
(§  115).  Volkmann  gibt  überhaupt  ib.  S.  5  ff.  (§  86)  eine  eindringende  Kritik  der 
Transsc.  Aesthetik. 


484  §  B.    Allgemeine  Anmerkangen.    IL 

B  68.  [R  717.  H  77.  K  96.] 

—  Fichte  hat  aus  solchen  Andeutungen  seine  Philosophie  des  Ich  heraus- 
gesponnen  — ,  sondern  halten  uns  an  das,  worauf  Kant  deutlicher  hinweist : 
Jenes  Selbstbewusstsein ,  jene  innere  Selbstanschauung  kann  nämlich  nach 
Kant  auf  eine  doppelte  Weise  zu  Stande  kommen,  oder  wenigstens  als  ent- 
standen gedacht  werden ;  diese  beiden  Möglichkeiten  unterscheiden  sich  nach 
der  Art,  wie  „das  Mannigfaltige  im  Subject  gegeben"  wird,  entweder 
„selbstthätig*  oder  «ohne  Spontaneit&t". 

Im  ersteren  Falle  wird  zugleich  in  und  mit  der  Selbstanschaunng  das 
Mannigfaltige  spontan  in  uns  hervorgebracht.  In  diesem  Falle  ist  gar  keine 
innere  Spaltung  zwischen  einem  activen  und  einem  passiven  Theil  des  Sab- 
jects;  dieser  Dualismus  im  Ich  ist  hier  nicht  vorhanden;  und  jener  Unter- 
schied hat  in  diesem  Fall  gar  keinen  Sinn ;  denn,  nähmen  wir  einen  activen 
Theil  im  Ich  an,  so  wäre  dieser,  da  das  Selbstbewusstsein  ein  unmittelbares 
ist,  gewissermassen  selbst  zugleich  der  passive  Theil.  Und  andererseits: 
gingen  wir  von  dem  passiven  Theil  im  Ich  aus,  so  wäre  dieser,  da  in  ihm 
selbst  schon  das  Mannigfaltige  gegeben  wäre,  selber  auch  der  active  Theil, 
somit  selbstthätig.  Also:  das  Thätige  würde  sich  selbst  vorstellen,  und  die 
Selbstvorstellung  wäre  selbst  unmittelbar  thätig,  kurz  —  die  ganze  Spaltung 
hat  also  in  diesem  Falle  ganz  und  gar  keinen  Sinn.  Ungetheilt  und  un- 
gebrochen ist  in  diesem  Falle  das  Ich  und  ist  unmittelbar  seine  eigene 
Selbstanschauung. 

Anders  im  anderen  Falle.  Da  tritt  eben  jene  Spaltung  des  Subjects 
in  einen  activen  und  in  einen  passiven  Theil  ein,  in  eine  materiale  und  in 
eine  formale,  in  eine  productive  und  in  eine  receptive  Seite.  Jetzt  wird  das 
Mannigfaltige  nicht  ursprünglich  vom  ungetheilten  Ich  hervorgebracht, 
sondern  es  wird  von  dem  einen,  dem  activen  Theil,  dem  anderen,  dem 
passiven  Theil  erst  dargebracht  und  von  diesem  erst  förmlich  und  feier- 
lich aufgenommen.  Dieser  passive  Theil  ist  also  nicht  mehr  selbstthätig, 
ihm  wird  „das  Mannigfaltige"  erst  «vorher  gegeben',  er  muss  es  zwar  nicht 
ganz  von  aussen,  aber  doch  von  einem  anderen  Theile  des  Ich  „au&ehmen*. 
Wo  es  sich  aber  um  eine  „Aufnahme"  handelt,  da  gibt  es  auch  ein  auf- 
nehmendes Organ,  eine  aufnehmende  Form,  einen  aufnehmenden  Sinn;  da 
erhalten  wir  also  das  Mannigfaltige  nicht  in  seiner  an  sich  seienden  Ur- 
sprünglichkeit, sondern  schon  hindurchgegangen  eben  durch  jene  Form,  in 
diesem  Falle  durch  die  Form  der  Zeitlichkeit.  In  diesem  FaUe  ist  also  die 
Selbstanschauung  des  Ich  eine  durch  jenen  Sinn  vermittelte,  also  eine  „sinn- 
liche" ;  und  dieser  gegenüber  wird  jene  unmittelbare  Selbstanschauung  ab 
eine  „intellectuelle"  bezeichnet,  weil  hier  eben  der  Geist  sich  selbst,  das  aus 
ihm  selbst  herausquellende  Mannigfaltige  in  seiner  Ursprünglichkeit  an- 
schauen würde,  nicht  getrübt  durch  den  Schleier,  das  Medium  der  Sinnlich- 
keit —  die  Zeitform. 

Bei  dieser  Darstellung  haben  wir  nun  ganz  abgesehen  von  den  vielen 
Parallelstellen  über  das  Ich  und  den  inneren  Sinn,  und  haben  nur  das  ent- 
wickelt,  was  in   der  vorliegenden  Stelle  selbst  theils  direct,  theils  indirect 


Schwierigkeiten  der  Lehre  vom  inneren  Sinn.  485 

[R  717.  H  77.  K  96.]  B  68. 

gesagt  ist.  Von  jenen  Parallelstellen  kommt  insbesondere  in  Betracht  der 
Passus  in  der  zweiten  Auflage  der  Transscendentalen  Deduction  der  Kate- 
gorien B  152 — 158,  auf  den  wir  hier  aber  noch  nicht  eingehen  können. 
(Vgl.  dazu  Cohen,  2.  A.  191—193.)  Ebensowenig  ist  hier  schon  zu  erörtern, 
ob,  wie  Meilin  I,  328.  830  (vgl.  III,  383—388)  behauptet,  hier  „Apperception* 
in  einem  ungewöhnlichen  Sinne  genommen  sei :  sonst  sei  Apperception  näm- 
lich so  viel  als  Selbstbe wusst  sein,  hier  an  dieser  einzigen  Stelle  aber  als 
Vermögen,  sich  bewusst  zu  werden.  Für  das  Verständniss  der  vor- 
liegenden Stelle  ist  diese  Frage  irrelevant. 

So  viel  ist  aber  schon  hier  im  Voraus  zu  bemerken:  Kant  hat  seine 
Lehre  vom  inneren  Sinn  in  der  zweiten  Auflage  weiter  gebildet.  Vgl.  hiezu 
die  treffenden  Ausführungen  von  Erdmann,  Kriticismus  S.  215  f.:  „trotz  des 
immanent  klärenden  Charakters  aber  dieser  ergänzenden  Fortbildung  ist 
dieselbe  durch  polemische  Motive  bedingt.  Es  kündigt  sich  dies  schon  ' 
äusserlich  dadurch  an,  dass  Kant  (B  152.  156  N.  168)  ausdrücklich  die 
Schwierigkeit  betont,  die  man  darin  finde,  dass  der  innere  Sinn  von  uns 
selbst  afficirt  werde.  Denn  gerade  gegen  diese  Lehre  waren  schon  früh  be- 
sondere Bedenken  ausgesprochen  worden  [so  z.  B.  von  Garve,  Pistorius, 
Ulrich],  Wir  werden  sogar  kaum  irre  gehen^  wenn  wir  annehmen,  dass 
Kant  auch  auf  privatem  Wege  gerade  in  diesem  Punkte  vielfach  zur  Er- 
läuterung und  Begründung  aufgefordert  wurde,  der  der  Sache  nach  zu 
den  wunderlichsten  Paradoxien  nicht  einer  hyperkritischen  Vernunft,  wie 
Hamann  gesagt  hat,  sondern  gleichsam  eines  hypokritischen  Zusammen- 
banges mit  der  schon  durch  Locke  gestifteten  Verwirrung  gehört.  Kants 
Beziehung  nämlich  auf  jene  behaupteten  Schwierigkeiten  ist  prägnanter,  als 
jene  Literatur  uns  begreiflich  macht.  Wäre  es  berechtigt,  eine  unbestimmte 
Vermuthung  zu  wagen,  wo  jeder  Anlass  zu  bestimmter  historischer  Re- 
construction  fehlt,  man  möchte  auf  Kraus  rathen,  der  sicher  am  meisten 
fähig  war,  Kant  zu  einer  tieferen  Einfügung  der  ganzen  Lehre  in  sein 
System  zu  veranlassen.*     Vgl.  oben  S.  127. 

Treffende  Bemerkungen  finden  sich  bei  Cousin,  Pä.  d.  Kant  (3.  A. 
1857)  S.  Vin  u.  S.  70  —  75  über  ,yce  passage,  emharassS  et  assez  superficiel 
malgrS  un  certain  air  de  profondeur".  „La  nSgligence  inconcevahle ,  avec  la- 
quelle  cette  prHention  est  avancSe  et  comme  cacMe  dans  un  coin  de  Vesthetique 
transsc,  Va  jusqt^ici  dirohSe  ä  V attention  ^  tandis  qu^eUe  mSritait  un  examen 
approfondi;  car  eile  contient  des  consSquences  inomies;  eile  est  la  radne  in- 
apergue  des  erreurs  de  Kant  et  de  Celles  de  ses  successeurs/'  Bei  dieser 
„itrange  tMorw'^  habe  Kant  an  Condillac  angeknüpft;  er  habe  aber  damit 
das  Cartesianische  Fundament  der  Philosophie,  die  Selbstgewissheit  des  Ich, 
untergraben:  y,d'un  trait  de  plutne,  sans  aticune  discttssionj  Kant  a  ötS  le 
ferme  fandenient  de  la  philosophie  moderne^  le  rempart  üevi  par  Descartes 
contre  le  scepticisme/*  Vgl.  Massonius,  Aesth.  134 — 151 .  Ueberweg,  Logik 
§  40.  B en  ek  e ,  Metaphysik,  Vorr.  X.  14  ff.  65  ff.  68  ff.  170  ff.  181  ff.  185  ff 
204  ff.  258  ff.     B  e r g m  a  n  n ,  Z.  Beurih.  d.  Kriticismus  S.  8  ff.  Metaph.  214  ff. 


I 


486  §  8.    AUgeiseine  Anmerkangen.    III. 

B  69.  [B  718.  H  77.  78.  E  96.] 

Anmerkung  DI. 

Diese  Anmerkung  ist  der  Zurückweisung  eines  naheliegenden  Miss- 
verständnisses gewidmet:  der  Verwechslung  von  Erscheinung  und 
Schein.  Es  liegt  nahe,  zu  meinen^  Kant  verwandle  äussere  und  innere 
Erfahrung  in  blossen  Schein,  wenn  er  sagt:  in  der  äusseren  und  inneren 
Anschauung  sind  uns  die  Dinge  und  das  Ich  nur  gegeben,  so  wie  sie  unsere 
Sinne  afficiren,  also  nicht  unmittelbar  an  sich  selbst,  oder  wenn  er  gar  sich 
so  ausdrückt,  wie  wir  das  mehrfach  finden :  Die  Dinge  in  Baum  und  Zeit  sind 
blosse  Vorstellungen,  nicht  Dinge  an  sich  selbst.  Dass  dann  die  ganze  Aussen- 
weit  und  sogar  auch  die  Innenwelt  in  puren  Schein,  in  eine  blosse  Phantasma- 
gorie  verwandelt  werde,  ist  ein  allerdings  sehr  naheliegender  Einwand,  dessen 
Widerlegung  ja  auch  Schill er's  bekanntes  Xenion  gewidmet  ist: 

Von  dem  Ding  weiss  ich  nichts,  und  weiss  auch  nichts  von  der  Seele. 
Beide  erscheinen  mir  nur,  aber  sie  sind  doch  kein  Schein. 

Dieses  Xenion  ist  ganz  aus  der  vorstehenden  Stelle  herausgewachsen, 
und  theilt  mit  derselben  auch  eine  namhafte  Ungenauigkeit  des  Ausdruckes: 
Denn,  wenn  Schiller  sagt,  dass  Beide,  Ding  und  Seele,  erscheinen,  aber  kein 
Schein  sind,  so  bezieht  sich  das  „erscheinen'  auf  die  uns  unbekannten  Dinge 
an  sich,  „von  denen  ich  nichts  weiss',  die  uns  aber  durch  Vermittlung 
der  Sinnlichkeit  zur  Erscheinung  kommen,  während  das  .nicht  Schein  sein' 
ja  von  den  empirischen  Objecten  ausgesagt  wird.  Doch  ist  diese  Un- 
genauigkeit —  wie  auch  im  ersten  Satze  des  Kantischen  Textes  —  bloss 
eine  formell-grammatische;  sachlich  ist  schon  klar,  was  gemeint  ist. 

Diese  „Anmerkung  III'  zerfallt  nun  in  drei  Theile.  Diese  drei  Theile 
sind  der  besseren  üebersicht  halber  getrennt  zu  behandeln. 

1)  Kant  weist  den  Vorwurf  zurück,  er  verwandle  alle  Erfahirmg 

in  blossen  Schein. 

Jenen  Vorwurf  weist  Kant  als  gänzlich  unbegründet  zurück.  Denn 
„in  der  Erscheinung',  d.  h.  indem  ich  lehre,  alle  Erfahrung  sei  nur  Er- 
scheinung, sehe  ich  die  Existenz  der  Objecto  als  etwas  „wirklich  Gegebenes' 
an,  unterscheide  aber  die  Objecte,  insofern  sie  an  sich  sind  und  insofern  sie 
mir,  dem  Subject,  erscheinen  (vgl.  dazu  Biehl,  Krit.  I,  425).  Ja  selbst  die 
Qualität  der  Objecte  kann  als  etwas  „wirklich  Gegebenes'  angesehen 
werden,  nur  ist  dieses  Gegebensein  der  Qualität  so  zu  verstehen,  dass  wir 
zu  der  Beilegung  dieser  qualitativen  Prädicate  durch  die  gegebene  Belation 
des  gegebenen  Gegenstandes  zu  uns  veranlasst  resp.  gezwungen  werden; 
ihrem  Inhalte  nach  aber  hängt  diese  Qualität  von  unserer  subjectiven  Organi- 
sation ab.  Wir  haben  also  bei  allen  Gegenständen  die  uns  zugekehrte  Er- 
acheinungsseite  von  der  uns  abgekehrten,  wahrhaft  objectiven  Beschaffenheit 


i 


Die  Verwandlung  aller  Dinge  in  Schein  weist  Kant  von  sich  zurück.      487 

[R  718.  H  78.  E  96.]  B  69.  70. 

scharf  zu  unterscheiden;  die  Objecte  selbst  aber  sind  ihrem  Dass,  ihrer  Exi- 
stenz nach  ungezweifelt  gegeben;  nur  ihr  Wie,  ihre  Qualität  ist  durch 
unsere  Organisation  bedingt  und  bestimmt.  In  ersterer  Hinsicht  sind  die 
Objecte  vom  Subject  ganz  unabhängig  (als  Dinge  an  sich),  in  zweiter 
Hinsicht  ganz  abhängig  (als  Erscheinungen);  denn  da  hängen  sie  ab  von 
der  Art,  wie  wir  durch  sie  afficirt,  wie  sie  durch  uns  apprehendirt 
werden.  „Wenn  ich  also  behaupte,  dass  die  Qualität  des  Baumes  und  der 
Zeit  ...  in  meiner  Anschauungsart  und  nicht  in  den  Objecten  an  sich  liege', 
so  sage  ich  damit  doch  nicht:  die  Körper  scheinen  bloss  ausser  mir  zu 
sein.  Baum  und  Zeit  gehören  vielmehr  zur  Erscheinung,  d.  h.  zu  der 
Art  und  Weise,  wie  sich  die  uns  afficirenden  Gegenstände  uns  darstellen, 
unseren  Anschauungsbedingungen  gemäss.  „Unser  Princip  der  Idealität  aller 
unserer  sinnlichen  Anschauungen'  gibt  zu  einer  solchen  Verwechslung  der 
Ausdrücke,  zu  einer  solchen  Vertauschtlng  der  Standpunkte  keine  Ver- 
anlassung. Auf  diesen  Unterschied  von  Schein  und  Erscheinung  hatte  Kant 
schon  in  der  ersten  Auflage  der  Aesthetik,  A  38  (vgl.  oben  S.  406),  hin- 
gewiesen. - 

In  dem  so  wiedergegebenen  Abschnitte  hat  Kant  jedoch  keinen  ge- 
nauen sachlichen  und  terminologischen  Unterschied  von  Erscheinung  und 
Schein  angegeben^;  insbesondere  hat  er  „Schein*  nicht  definirt,  sondern 
nur  den  allgemeinen  Sprachgebrauch  dabei  vorausgesetzt.  Was  er  unter 
„Erscheinung'  versteht,  hat  er  allerdings  genau  angegeben:  Erscheinung 
ist  eine  Vorstellung  in  uns,  welcher  ein  seinem  Wie  nach  von  jener  Vor- 
stellungsart total  verschiedenes,  seinem  Dass  nach  aber  unbezweifeltes  Ding 
an  sich  entspricht,  durch  welches  das  vorstellende  Subject  afficirt  wird  (falsch 
bei  Krause,  Kant  wider  Fischer  S.  81).  Dem  Zusammenhang  des  Textes 
nach  versteht  Kant  hier  unter  Schein,  dem  allgemeinen  Sprachgebrauch 
folgend,  eine  Vorstellung  in  uns,  welcher  nichts  Beales,  weder  der  Qualität 
noch  der  Bealität  nach  entspricht.  Der  Schein  entspringt  also  ganz  allein 
aus  uns  selbst,  während  die  Erscheinung  durch  Eindrücke  auf  unsere  Sinne 
in  uns  erst  entsteht  und  daher  auch  die  Existenz  objectiver,  afficirender 
Dinge  an  sich  involvirt. 

Man  kann  diesen  Unterschied  erläutern  durch  die  bekannte  (wenigstens 
früher  übliche,  wenn  auch  jetzt  nicht  mehr  streng  haltbare)  psychologische 
Unterscheidung  zwischen  Illusion  und  Hallucination:  danach  ist  Illusion 
eine  falsche,  einseitige,  subjective  Deutung  eines  unbestreitbar  objectiven 
Vorganges;  Hallucination  aber  eine  ganz  aus  dem  Innern  stammende,  rein 
subjective  Vorstellung,  ohne  jeglichen  ihr  correspondirenden,  objectiven  Vor- 


*  Ueber  die  Unterscheidung  von  Schein  und  Erscheinung  vgl.  Proleg.  §  32, 
auch  die  Vorl.  über  Metaph.  S.  147  f.;  Reflexionen  Ks.,  I,  N.  41.  49.  51.  74  f.  194; 
II,  N.  419  f.  Lose  Blätter  I,  209.  Weiteres  über  den  Unterschied  sagt  Kant 
Anthrop.  §  7,  §  10.  Femer  Fortschr.  d.  Met.  Ros.  I,  499.  Met.  Anf.  d.  Nat 
Bos.  V,  422.  430. 


488  §  3-    Allgemeine  Anmeitengen.    III. 

B  69.  70.  [R  718.  H  78.  E  97.] 

gang  oder  Gegenstand,  also  eine  blosse  Vorspiegelung  des  Bewusstseins,  eini" 
Phantasmagorie,  wie  im  Fieberwahn  oder  im  Traume. 

Auf  jeden  Fall  sind  Kants  Gedankengang  und  Ausdrucksweise  bis  zu 
diesem  Punkte  widerspruchslos,  klar  und  einleuchtend. 

2)  Kant  unterscheidet  zwischen  Erscheinung  und  Schein. 

Die  Fussnote,  vermuthlich  erst  nachträglich  und  flüchtig  hinzugesetzt, 
in  welcher  diese  Unterscheidung  getroffen  wird,  bringt  nun  in  die  bis  jetzt 
gewonnenen  klaren  Ergebnisse  eine  peinliche,  ja  widerwärtige  Verwirrung 
hinein,  welche  Kant  sich  und  seinen  Lesern  durch  strengere  Gedanken- 
fuhrung  wohl  hätte  ersparen  können.  Anstatt,  wie  seine  Absicht  war,  den 
Text  zu  erläutern,  hat  Kant  ihn  nur  verdunkelt. 

Der  Schlüssel  zur  Auflösung  besteht  in  der  Erkenntniss,  dass  Kant 
zwei  ganz  verschiedene  Definitionen  von  Schein  durcheinander  mischt, 
welche  gar  nichts  mit  einander  zu  schaffen  haben: 

1)  die  gewöhnliche,  welche  er  auch  im  Texte  stillschweigend  zu 
Grunde  gelegt  hatte ;  danach  ist  Schein  eine  unwillkürlich  entstandene,  sub- 
jective  Vorstellung  ohne  entsprechendes  Reales,  und  zwar  dem  Zusammen- 
hange nach  hier  eine  anschauliche  Vorstellung:  denn  es  handelt  sich  ja 
um  diö  Vorstellung  der  materiellen  Dinge  im  B&ume.  Im  Laufe  der  Fuss- 
note  wird  aber  damit  vermischt 

2)  die  speci fisch  Kantische  Definition  von  Schein,  welche  Kant 
schon  A  298  f.  396  entwickelt  hatte ;  auch  da  wollte  Kant  verhüten ,  dass 
„Erscheinung  und  Schein  für  einerlei  gehalten  werden",  und  sagt:  , Wahr- 
heit oder  Schein  sind  nicht  [wie  das  bei  der  Erscheinung  der  Fall  ist]  im 
Gegenstand,  sofern  er  angeschaut  wird,  sondern  im  Urth eile  über  den- 
selben, sofern  er  gedacht  wird.'  „Schein  =  Verleitung  zum  Irrthum  ist  nur 
im  Urtheile,  d.  h.  nur  im  Verhältnisse  des  Gegenstandes  zu  unserem  Ver- 
stände  anzutreffen  ...  die  Sinne  aber  irren  nicht  ...  In  den  Sinnen  ist 
gar  kein  ürtheil,  weder  ein  wahres,  noch  ein  falsches."  Wie  wenig  diese 
beiden  Bedeutungen  von  Schein  mit  einander  zu  thun  haben,  erhellt  daraus, 
dass  der  Gegensatz  zu  Schein  im  ersten  Sinne  ist:  Erscheinung;  aber  der 
Gegensatz  zu  Schein  im  zweiten  Sinne  ist:  Wahrheit. 

Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  dass  die  Vermischung  von  zwei  so 
verschiedenen  Definitionen  eines  und  desselben  Ausdruckes  zu  Verwirmng 
führen  muss.  Es  zerfällt  denn  auch  die  Note  in  zwei  verschiedene  Gedanken- 
ketten, welche  aber  —  und  das  erhöht  die  Verwirrung  —  durcheinander 
geflochten  sind.  Indessen  ist  es,  auf  Grund  dieser  Vorbemerkungen,  möglich, 
eine  Entwirrung  vorzunehmen. 

Von  den  drei  Sätzen,  aus  denen  die  Note  besteht,  beginnt  der  erste 
damit,  die  Erscheinungsprädicate  von  den  Scheinprädicaten  zu  unter- 
scheiden; von  jenen  wird  gesagt:  die  Erscheinungsprädicate  „können 
dem  Objecte   selbst,   im  Verhältniss   auf  unseren  Sinn,   beigelegt  werden*; 


Erscheinnng  und  Schein.    Schein  =  Sinnestäuschung.  489 

[R  718.  H  78.  K  97.]  B  70. 

Beispiele  sind  die  rothe  Farbe  und  der  liebliche  Geruch  der  Rose  ^  Nun  er- 
warten wir  in  der  zweiten  Hälfte  dieses  Satzes  eine  ebenso  unzweideutige 
Aussage  über  die  Scheinprädicate,  und  es  heisst  auch:  „Der  Schein  kann 
niemals  als  Prädicat  dem  Gegenstande  beigelegt  werden ';  was  nun  weiter 
folgt  (yon  „eben  darum'  an  bis  „beilegf),  ist  ein  ganz  unorganisches  Ein- 
schiebsel, das  gar  nicht  hieher  passt  und  wohl  auch  erst  nachher  ein- 
geschoben worden  ist,  auf  Grund  der  zweiten  Definition  von  Schein, 
während  der  Satz  ursprünglich  auf  jene  erste  Definition  gemünzt  war; 
ohne  diesen  störenden  Zusatz  ist  der  Zusammenhang  daher  auch  klar ;  denn 
es  folgt  ein  recht  gut  gewähltes  Beispiel  für  ein  Seh  ein  prädicat:  die  Satum- 
henkel,  eine  optische  Täuschung,  welche  von  einer  besonderen  zufälligen 
Stellung  der  Saturnringe  zu  dem  Beobachter  abhängt.  Zu  solchem  Schein 
gehört  auch  der  Stab,  der  im  Wasser  gebrochen  erscheint,  der  viereckige 
Thurm,  der  aus  weiter  Ferne  rund  erscheint,  die  Sonne,  welche  um  die  Erde 
zu  laufen,  auf-  und  niederzugehen  scheint,  die  Planeten,  welche  gelegentlich 
rückläufige  Bewegungen  zu  machen  scheinen  (vgl.  Proleg.  §  13.  III). 

Im  zweiten  Satz  wird  dies  noch  weiter  erläutert:  Erscheinung  ist 
das,  was,  wenn  es  auch  dem  Object  als  solchem  ganz  und  gar  nicht  an- 
gehört, doch  von  unserer  Vorstellung  von  demselben  unzertrennlich  ist, 
weil  es  jederzeit  sich  aus  dem  Yerhältniss  jenes  Objectes  zum  Subject 
ergibt  und  aufs  Neue  erzeugt.  M.  a.  W.:  was  dem  Objecte  im  Verhältniss 
zu  uns  noth wendig  und  allgemein,  constant  anhängt,  ist  Erscheinung;  und 
daraus  ergibt  sich  von  selbst  der  Gegensatz:  was  dem  Objecte  im  Verhältniss 
zu  uns  nur  zufällig,  vorübergehend  und  unter  besonderen  Verhältnissen  an- 
hängt, ist  nur  Schein;  diesen  darf  und  kann  ich  daher  auch  dem  Objecte 
im  Verhältniss  zu  uns  nicht  zuschreiben,  dagegen  darf  oder  vielmehr  muss 
ich  jene  ersteren  Prädicate,  wie  es  oben  im  ersten  Satze  hiess,  «dem  Objecte 
selbst  beilegen,  im  Verhältniss  auf  unsern  Sinn*,  weil  sie  dasselbe  ja 
jederzeit  und  nothwendig  begleiten;  ich  werde  also  sagen  dürfen  und  müssen: 
die  Hose  ist,  im  Verhältniss  auf  mein  Auge,  roth;  im  Verhältniss  zu  meiner 
Nase  wohlriechend;  „und  so  werden  die  Prädicate  des  Baumes  und  der 
Zeit  mit  Becht  den  Gegenständen  der  Sinne  als  solchen  beigelegt*;  ich 
werde  also  sagen  dürfen  und  müssen:  die  Gegenstände  sind  im  Verhältniss 
auf  meine  Sinne,  räumlich  resp.  zeitlich  ausgedehnt.     (Vgl.  oben  S.  462.) 

Bis  hieher  ist  die  Argumentation  klar,  durchsichtig  und  widerspruchslos, 
wenn  es  uns  auch  wundern  mag,  dass  Kant  hier  die  oben  S.  355  flF.  460  flF. 


^  Die  ,  Erscheinung*  wird  also  in  der  Fussnote  nach  einer  anderen  Seite 
hin  charakterisirt,  als  im  Texte.  Im  Texte  wurde  von  der  Erscheinung,  im  unter- 
schied vom  Schein,  ausgesagt,  dass  sie  sich  stets  auf  ein  correspondirendes  wirk- 
liches Ding  an  sich  beziehe;  in  der  Fussnote  wird  der  Erscheinung  das  Zeugniss 
ausgestellt,  dass  sie  stets  dem  empirischen  Object  „beigelegt**  werden  kann 
(„dem  Object  im  Verhältniss  auf  unseren  Sinn") ,  was  beim  blossen  Schein  nicht 
angeht. 


490  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen,    m. 

B  70.  [R  718.  H  78.  K  97.] 

so  verpönte  Parallele  zwischen  Baum  (resp.  Zeit)  und  Sinnesqualitäten  selbst 
zieht,  und  hier  eben  so  ausdrücklich  gestattet,  als  er  dort  eindringlich  ver- 
bot :  die  Sinn  esquali  täten  in  demselbenSinne  auf  die  empirischen  Objecte 
zu  beziehen,  wie  den  Raum! 

Dieser  bis  jetzt  so  durchsichtige  Zusammenhang  wird  nun  getrübt 
durch  die  Hereinmischung  der  andern,  der  zweiten  Definition  von  Schein: 
danach  ist  Schein  ein  Irrthum,  welcher  durch  ein  falsches  ürtheil  über 
die  sinnlichen  Vorstellungen  erst  entsteht;  Schein  entsteht  durch  irrige  im 
„ürtheil''  ausgesprochene  Beziehung  einer  sinnlichen  Vorstellung  auf  ein 
Object. 

Im  dritten  Satz  ist  diese  Definition  in  genetischer  Form  verwerthet: 
Schein^Irrthum  entspringt,  wenn  ich  jene  £rscheinungsprädicate,  welche 
den  Objecten  nur  im  Verhältniss  auf  unsere  Sinne  zuzusprechen  sind, 
ohne  diese  Einschränkung  (Restriction  vgl.  oben  S.  348)  den  Objecten 
an  sich  selbst  durch  ein  willkürliches  „Urtheil"  beilege;  wenn  ich  also,  ohne 
jene  noth wendige  Restriction  hinzuzufügen,  einfach  sage:  die  Rose  an  sich 
ist  roth,  die  äusseren  Gegenstände  an  sich  sind  ausgedehnt,  während  doch 
jener  Rose  die  Röthe  nur  im  Verhältniss  auf  mein  Auge,  allen  äusseren 
Gegenständen  die  Ausdehnung  nur  im  Verhältniss  auf  meine  Sinnlichkeit 
zuzusprechen  ist;  und  so  lang  ich  das  so  ausdrücke,  ist,  wie  es  am  Schluss 
des  zweiten  Satzes  heisst,  „hierin  kein  Schein",  nichts  unrichtiges,  Irrthüm- 
liches;  ich  thue  es  im  Gegentheil  „mit  Recht*.  Schreibe  ich  die  Prädicate 
von  Raum  und  Zeit  aber  den  Gegenständen  selbst  zu,  dann  entsteht  Schein, 
und  da  das  Kants  Gegner  thun,  so  wirft  er  den  Vorwurf  des  „Scheines* 
auf  sie  selbst  zurück;  aber  seine  Gegner  werfen  ihm  den  Schein  im  ersten 
Sinne  vor,  während  er  ihnen  hier  in  der  Fussnote  Schein  im  zweiten  Sinne 
als  Gegenvorwurf  zurückschleudert. 

Mitten  zwischen  diese  beiden,  nach  der  obigen  Darstellung  im  ersten 
Satz  zusammengehörigen  Beispiele  stellt  nun  Kant  wunderlicher  Weise 
auch  das  Beispiel  der  Saturnhenkel,  das  doch  eben  von  jenen  Fällen  in  dem- 
selben ersten  Satze  streng  unterschieden  wurde.  (So  auch  richtig  schon 
Schäffer,  Inconsequenzen  Ks.  S.  72 — 76.)  Denn  die  Röthe  der  Rose,  die  Aus- 
dehnung der  empirischen  Gegenstände  sind,  im  oben  festgestellten  Sinne, 
Ersch ei nungs prädicate,  die  Saturnhenkel  sind  aber  bloss  sinnlicher  Schein, 
wobei  Schein  im  ersten  Sinne  genommen  ist.  Wenn  ich  nun  solchen  sinn- 
lichen Schein  (im  ersten  Sinne)  den  Objecten  selbst,  also  in  diesem  Falle 
dem  Saturn  selbst,  als  empirischem  Objecte,  beilege,  so  entsteht  daraus  ein 
Schein  (im  zweiten  Sinne),  d.  h.  ein  Irrthum,  ein  falsches  Urtheil.  Indem 
so  das  Beispiel  der  Saturnhenkel  (des  Scheines)  hier  mitten  zwischen  die 
beiden  anderen  Beispiele  der  Erscheinung  hineingestellt  ist  \  denen  es  doch  im 


'  Die  Zusammenstellung  der  heterogenen  Beispiele  läset  sich  nur  noch  etwa 
in  folgender  Weise  einigermassen  rechtfertigen;  es  „entspringt  Schein*  (im  zweiten 
Sinn  =  Irrthum)   auf  zwei  Wegen:   a)  wenn  ich   ein   Scheinprädicat  (Schein  im 


Wahrheit  und  Schein.    Schein  =  Verstandeairrthum.  491 

[R  718.  H  78.  K  97.]  B  70. 

ersten  Satze  gegenübergestellt  wurde,  ist  der  Gegensatz  von  Erscheinung 
und  Schein  selbst  zum  —  Schein  geworden;  denn  Kant  hat  ja  am  Ende 
der  Note  den  Gegensatz  selbst  wieder  aufgehoben,  den  er  am  Anfang  der- 
selben statuirte:  am  Anfang  handelte  es  sich  um  den  Gegensatz  von 
Erscheinung  und  Schein,  am  Ende  um  den  Gegensatz  von  Wahr- 
heit (Bichtigkeit)  und  Schein. 

Diesen  letzteren  Gegensatz  hat  nun  Kant  auch  noch  nachträglich  in 
den  ersten  Satz  hineingetragen ,  indem  er  da ,  wo  wir  die  erste  Definition 
von  Schein  erwarten,  unvermittelt  die  zweite  hineinfiickt:  der  Schein  ist  ein 
irrthümliches  Urtheil,  in  welchem  wir,  ,was  dem  Object  nur  im  Verhältniss 
auf  die  Sinne  zukommt,  dem  Object  selbst  beilegen'',  was  in  dem  dortigen 
Zusammenhang  nicht  nur  keinen  Sinn  hat,  sondern  den  Sinn  daselbst  voll- 
ständig zerstört  (vgl.  oben  S.  489). 

So  stellt  sich  die  ganze  Note  als  eine  flüchtig,  ja  undurchdacht  hin- 
geworfene Bemerkung  dar,  welche  den  ganzen  Zusammenhang  verdunkelt 
nnd  verwirrt,  und  nur  solchen  klar  erscheinen  kann,  welche  selbst  nicht 
klar  und  scharf  denkend 

Dieselbe  Verwirrung,  wie  in  dieser  Stelle,  finden  wir  nun  auch  in  der 
bekannten  Parallelstelle  der  Prolegomena,  §  13  Anm.  III.  Auch  in  dieser 
ausführlichen  Darstellung  herrscht,  wie  derselbe  Unwille  über  den  „leicht 
vorherzusehenden,  aber  nichtigen  Einwurf",  so  auch  dieselbe  Unklarheit  in 
dessen  Abweisung,  die  ihm  ,gar  leicht"  vorkommt.  Ja  die  Verwirrung  ist 
daselbst  noch  grösser,  weil  auch  , Erscheinung"  doppelsinnig  gebraucht  wird, 
bald  in  dem  oben  festgestellten,  scharfbestimmten  Sinne,  bald  (und  zwar 
gleich  zuerst)   in  der  neutralen  Bedeutung:   sinnliche  Vorstellung,   von  der 

ersten  Sinne  =  Sinnestäuschung)  dem  empirischen  Objecte  zuschreibe,  z.  B. 
die  Satumhenkel  dem  Saturn;  b)  wenn  ich  ein  Erscheinungsprädicat  dem  Ding  an 
sich  selbst,  dem  transscendenten  Objecte  zuschreibe,  z.  B.  die  Röthe  der 
Rose  an  sich,  die  Ausdehnung  den  Gegenständen  an  sich.  Der  Schein  im  zweiten 
Sinne  =  Irrthum  entspringt  also  stets  durch  eine  in  einem  „Urtheil*  vollzogene 
falsche  Beziehung  eines  Bewusstseinsinhaltes  auf  ein  nicht  zugehöriges  Object. 
Vgl.  Piatons  Theaetet  194  B— 196  C  über  die  »^eoSTjc  8o5a  als  hiavolaz  icpöc  aio^otv 
«apaXXaify]  (oxoXti  StavojjiYj,  aovaYODfYi). 

^  In  der  sonstigen  Kantliteratur  suchen  wir  vergeblich  um  Hülfe  für  die 
Auflösung  der  Schwierigkeiten  der  Stelle;  man  vergleiche  z.  B.  M ellin  II,  402, 
III,  388—393.  Schmid,  Wörterbuch  S.  231  f.  Schulz,  Prüfung  II,  294  f ;  Haupt- 
momente 151;  Brastberger,  Unters.  75  f.;  Schulze,  Krit.  d.  th.  Philos.  I,  244  ff.; 
Bendavid,  Preisschrift  S.  29  f.  Eine  scharfe  Analyse  der  „verworrenen**  An- 
merkung gab  Schaff  er,  Inconsequenzen  Ks.  S.  70 — 78.  Vgl.  auch  Tennemann 
in  seiner  Uebersetzung  der  Vergl.  Gesch.  d.  Philos.  von  Degerando  II,  484 — 485. 
Vgl.  neuerdings  Spir,  Denken  und  Wirkl.  I,  374—382.  Wenn  Stumpf,  Tonpsych. 
I,  32  die  Anmerkung  Es.  „nicht  recht  klar*  nennt,  so  darf  dieser  bescheidene 
Tadel  erheblich  verstärkt  werden.  Ueber  diese  „verkniffene  Anmerkung*  vgl.  auch 
Laas,  Id.  u.  Pos.  III,  340.  „Etwas  verworren'  nennt  auch  Bergmann,  Metaph. 
315  (vgl.  220.  271)  diese  Auseinandersetzung. 


492  §  8.     Allgemeine  Anmerkusgen.    III. 

B  70.  [R  718.  719.  H  78.  E  97.] 

erst  ausgemacht  werden  soll,  ob  ihr  etwas  Objectives  entspricht  oder  nicht. 
(Vgl.  dazu  Proleg,  §  32.)  Vgl.  oben  S.  35.  In  der  Discussion  hierüber  ist 
Schein  bald  =  falsche  Vorstellung,  welche  durch  ein  irriges  ürtheil  entsteht, 
also  soviel  als  Irrthum  (vgl.  Proleg,  §  40,  am  Ende),  bald  =  falsche 
sinnliche  Vorstellung,  welche  nicht  in  den  gesetzmässigen  Zusammenhang 
der  übrigen  empirischen  Anschauungen  hereinpasst,  also  soviel  als  Sinnes- 
täuschung oder  Traum.  (Vgl.  A  492.)  Diese  Verwirrung  macht  dem 
Scharfsinn  Kants  keine  Ehre,  und  es  ist  ehrlicher,  dies  offen  zu  sagen,  als 
Andere  oder  gar  sich  selbst  darüber  zu  täuschen. 

Diese  Vorwürfe  erhalten  aber  durch  einen  eigenartigen  Umstand  noch 
eine  Verschärfung.  Seinen  , Morgenstunden*  (1785)  hatte  Mendelssohn 
eine  Einleitung  vorangesendet:  ,Vorerkenntniss  von  Wahrheit,  Schein  und 
Irrthum'  und  hatte  darin  S.  45  ff.  62  ff.  69.  80.  82.  108.  111.  145  f.  unter- 
schieden zwischen  Wahrheit  und  Unwahrheit,  und  letztere  vnederum  sehr 
scharf  eingetheilt  in  Sinnenschein  (Täuschung  durch  die  niederen  Seelen- 
kräfte) und  Irrthum  (unrichtige  Urtheile  und  falsche  Schlüsse).  Diese 
Untersuchungen  hat  Kant  gelesen ,  und  rühmt  ihnen  in  einem  Briefe  an 
Schütz  (bei  Er d mann,  Kriticismus  S.  145)  nach,  es  sei  darin  ^Scharf- 
sinniges.  Neues  und  musterhaft  Deutliches  gesagt'.  Es  ist  nun  nur  zu  be- 
dauern, dass  Kant  aus  diesen  Untersuchungen  so  wenig  gelernt  hat,  dass 
er  1787  so  wenig  Scharfsinniges,  so  überaus  Undeutliches  vorbringen  mochte. 

3)  Kant  gibt  den  Vorwurf  —  Verwandlung  der  ganzen  Welt  in  lanter 

Schein  —  seinen  realistischen  Gegnern  zurück. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  Textes  („ vielmehr,  wenn  man  jenen  Vor- 
stellungsformen objective  Realität  beilegt"  u.  s.  w.)  macht  Kant  nun  eine 
kühne  polemische  Wendung,  eine  avrtoxpofrj,  er  geht  von  der  Vertheidigung 
zum  Angriff  über.  Man  hat  seinem  Lehrbegriff  Schuld  gegeben,  die  Welt 
in  blossen  Schein  zu  verwandeln,  d.  h.  in  ein  Vorstellungsspiel  ohne  jegliche 
correspondirende  Realität.  « Er  weist  das  von  sich  ab,  indem  er  zeigt ,  dass 
nach  ihm  die  Welt,  anstatt  blosser  Schein  zu  sein,  vielmehr  Erscheinung 
sei,  d.  h.  dass  ihr  eine,  wenn  auch  unbekannte,  so  doch  auch  ungezweifelte 
Welt  der  Dinge  an  sich  entspreche,  deren  Existenz  nicht  in  Frage  zu  stellen 
sei.  Seine  Gegner  also  haben  einen  ganz  verkehrten  Vorwurf  gegen  ihn 
erhoben,  und  dabei  die  Begriffe  Schein  und  Erscheinung  verwechselt. 

Den  Vorwurf,  die  empirische  Welt  in  blossen  Schein  zu  verwandeln, 
schiebt  nun  Kant  seinen  Gegnern  zurück.  Nicht  bei  meinem  Lehrbegriff 
wird  die  Welt  in  Schein  verwandelt  —  so  hiess  die  negative  Abwehr;  im 
Gegentheil,  gerade  aus  eurem  Lehrbegrift*  ergibt  sich  diese  gefürchtete  An- 
schauung als  noth wendige  Consequenz  —  so  heisst  nun  der  positive  Angrifft 


^  Auch   schon  in   der  Fussnote  hat,  wie  wir  oben  sahen,   Kant  seinen 
Gegnern  den  Vorwurf  zurückgegeben ,   aber  in  einem  anderen  Sinne:  Wenn 


Nach  Kant  verwandeln  vielmehr  seine  Gegner  . alles  in  blossen  Schein'.     493 

[R  719.  H  78.  K  97.]  B  70. 

Also  nicht  der  idealistische  Lehrbegriff  Kants,  sondern  gerade  der  rea- 
listische Lehrbegriff  fuhrt  logisch  und  historisch  dazu,  die  Welt  in 
blossen  Schein  zu  verwandeln.  Wie  kann  Kant  diese  —  auf  den  ersten 
Blick  so  ungeheuerliche  —  Beschuldigung  beweisen? 

Kants  Argumentation  ist  folgende:  nimmt  man  Baum  und  Zeit  als 
,,objectiv  real^  an,  schreibt  man  ihnen  absolute  Bealität  zu  —  dies  ist 
natürlich  hier  gemeint  (vgl.  oben  S.  349  N.  398  N.)  — ,  so  erhält  man,  genau 
genommen,  eine  widerspruchsvolle  Vorstellung:  denn  man  hat  damit  zwei 
unendliche  Dinge,  welche  doch  keine  Dinge  sind ;  welche,  ohne  selbst  wirklich 
zu  existiren ,  die  nothwendigen  Bedingungen  aller  existirenden  Wesen  sind ; 
welche,  obgleich  sie  nichts  sind,  doch  übrig  bleiben,  wenn  die  Dinge  aus  ihnen 
herausgenommen  worden  sind.  Wir  erhalten  damit  zwei  unendliche  Gefässe 
ohne  Inhalt,  denen  die  Wandungen  fehlen,  also  genau  das  Lichtenberg'sche 
Messer  ohne  Klinge,  an  welchem  der  Stiel  fehlt,  d.  h.  also  widerspruchsvolle 
, Undinge",  wie  Kant  sie  schon  einmal  (vgl.  oben  S.  891.  414)  genannt  hat. 
Vgl.  Mellin  III,  391. 

Also  die  realistische  Annahme  führt  auf  „Ungereimtheiten";  nach  ihr 
erscheinen  Baum  und  Zeit  als  widerspruchsvolle  „Undinge".  Damit  verlieren 
sie  aber  jeden  Anspruch  auf  Bealitätswerth ,  „Undinge"  sind  eben  Nichts^ 
also  sind  Raum  und  Zeit  Nichts,  und  scheinen  nur  Etwas  zu  sein.  Und 
„wenn  der  Purpur  fällt,  so  muss  auch  der  Herzog  nach"  —  ist  die  Form 
ein  Unding,  so  reisst  sie  auch  ihren  Inhalt  mit  hinab  in  den  Abgrund  der 
Nichtigkeit,  des  blossen  Scheinst  Das  gilt  nicht  bloss  von  den  Körpern, 
welche  mit  dem  Raum  in  blossen  Schein  verwandelt  werden;  es  gilt  sogar 
auch  von  Unserem  eigenen  Innern,  das  mit  dem  „Unding"  Zeit  ebenfalls 
in  blossen  Schein  verwandelt  wird  —  und  das  wäre  doch  eine  beispiellose 
und  bodenlose  „Ungereimtheit".  Vgl.  hiezu  E.  v.  Hartmann,  Transsc. 
Real.  159 ff.     Arnoldt,  R.  u.  Z.  124  f. 

Diese  bedenklichen,  ja  sinnlosen  Consequenzen  treten  aber  nur  vom 
Standpunkt  der  realistischen  Annahme  aus  ein,  also  wenn  und  weil  der 
Baum  und  die  Zeit,  welche  als  real  angesetzt  werden,  zugleich  die  noth- 
wendige  Bedingung  der  Dinge  an  sich  selbst  sein  sollen.  Reichen  aber,  nach 
dem  Kantischen  idealistischen  Princip,  die  Dinge  an  sich  gleichsam  hinaus  über 
den  Raum,  unterscheide  ich  den  Raum  als  blosse  Form  der  Erscheinung 
von   den  Dingen   an  sich,   die   nicht  in  Raum  und  Zeit  sind,   dann  wird 


Ihr  den  „äusseren  Gegenständen  die  Ausdehnung  an  sich  beilegt  ...  so  entspringt 
Schein*;  da  war  Schein  =  Irrthum  (wie  ähnlich  auch  Kant  in  der  unten  S.  496 
mitgetheilten  Stelle  dem  Realismus  vorwirft,  auf  „transscendentalen  Schein''  zu 
führen).  Wenn  aber  Kant  jetzt  im  Text  seinen  Gegnern  jenen  Vorwurf  zurück- 
gibt, so  ist  Schein  =  Sinnestäuschung. 

^  Auf  diesem  Wege  sei  „der  gute  Berkeley*  dazu  gekommen,  „die  Körper 
zu  blossem  Schein  herabzusetzen*.  Ueber  das  Verhältniss  Kants  zu  Berkeley, 
soweit  es  zur  Erklärung  dieser  Stelle  zu  besprechen  ist,  folgt  ein  eigener  Excurs. 


494  §  B.    Allgemeine  Anmerkungen.    III.  —  Excure. 

B  70.  [B  719.  H  78.  K  97.] 

weder  Körper  noch  Seele  zum  blossen  Schein  herabgesetzt,  anch  wenn  Ranm 
nnd  Zeit  in  das  Subject  hineingenommen  werden ;  denn  draussen  bleiben  als 
wahre  Dinge  die  jenen  Erscheinungen,  ihren  Stellvertretern,  als  Correlate 
entsprechenden  Dinge  an  sich  übrig.  So  glaubt  Kant  die  wahre  Realität 
der  Objecte,  ihre  absolute,  von  uns  unabhängige  Existenz  nur  retten  zn 
können  um  den  Preis  der  Aufopferung  der  objectiven  Realität  der  Qualität 
(„die  Idealität  der  Raumform  ist  das  einzige  Mittel,  die  Realität  von  nns 
unterschiedener  Dinge  zu  beweisen."  Riehl,  Krit.  I,  428;  9,  207,  314): 
nehme  ich  Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  als  bloss  subjectiv  an,  dann  bleiben 
mir  die  räum-  und  zeitlosen  Dinge  an  sich  unerschütterlich  stehen.  Nehme 
ich  aber  .Räumlichkeit  und  Zeitlichkeit  als  objectiv  real  an,  so  verwandelt 
sich,  mit  ihnen,  alles  in  lauter  Schein,  wie  der  Qold klumpen  in  der  Sage, 
der  bei  Tageslicht  besehen  aus  purer  Asche  bestand. 

Excurs. 

Kant  und  Berkeley. 

1)  Dass  nun  diese  ganze  eben  erläuterte  Anmerkung  auf  gegnerische 
Einwände  gemünzt  ist,  das  liegt  auf  der  Hand.  Schon  gegen  die  Dissertation, 
in  welcher  ja  der  transscendentale  Idealismus  begründet  worden  ist,  wurde 
der  Einwand  erhoben,  Kants  Lehre  verwandle  die  materielle  Welt  in  Raum 
und  Zeit  in  Schein.  Diese  Verwechslung  von  Erscheinung  und  Schein  findet 
sich  schon  in  dem  Briefe  von  Lambert  an  Kant  vom  Dec.  1770:  „Ich  lasse 
es  ganz  wohl  geschehen,  wenn  man  Zeit  und  Raum  als  blosse  Bilder  und 
Erscheinungen  ansieht.  Denn  beständiger  Schein  ist  für  uns  Wahr- 
heit. *  Wechselt  Lambert  so  (man  vergleiche  dazu  auch  den  Schloss  des 
Briefes)  unbedenklich  zwischen  den  beiden  Ausdrücken,  so  hat  er  doch 
sachlich  schon  dieselbe  Unterscheidung  gemacht,  welche  Kant  hier  so  sehr 
betont,  denn  Lambert  fährt  daselbst  so  fort:  „Der  Metaphysiker  kann  Alles  als 
Schein  annehmen,  den  leeren  vom  reellen  absondern,  aus  dem  reellen 
auf  das  Wahre  schliessen.*  Vgl.  oben  S.  142  N.  2.  Jener  Lambert'scfae 
Unterschied  von  „leerem  und  reellem  Schein"  entspricht  ganz  dem  K aufsehen 
Unterschied  von  „Schein  und  Erscheinung*.  Aber  trotz  jenes  Unterschiedes 
lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  der  Gebrauch  des  Ausdruckes  Schein  bei 
Lambert  leicht  zu  Missverständnissen  führen  kann.  Vgl.  dazu  Riehl,  Krit. 
I,  186.  Die  beiden  Ausdrücke  wurden,  wie  es  scheint,  damals  überhaupt 
nicht  streng  geschieden  *;  so  z.  B.  auch  bei  Tetens,  Philos.  Versuche  11, 152. 
Vgl.  dazu  0.  Ziegler,  Tetens'  Erkenntnisstheorie  (Diss.   Lips.  1888)  S.  41  f. 

2)  So  war  es  auch  gegen  die  Kr.  d.  r.  V.  der  erste  und  häufigste  Vor- 


^  Leibniz  unterschied  allerdings  sehr  scharf  zwischen  phaenamena  reaUa  ei 
tantum  apparentia  ;  aber  der  ausgezeichnete,  höchst  interessante  Aufsatz,  in  welchem 
er  das  that:  De  modo  disHnguendi  phaenomena  realia  ab  imaginariis  (Erdmann 
443—445;  Gerhardt  VIT,  319)  ist  erst  von  Erdmann  1840  veröffentlicht  worden. 


Kant  hört  überall  den  Vorwurf,  er  verwandle  die  Welt  in  Schein.       495 

warf,  welchen  Kant  zu  hören  bekam,  dass  er  die  materielle  Welt  im  Baume 
und  in  der  Zeit  in  blossen  Schein  verwandle.  (Vgl.  Erdmann,  Proleg.  S.  20.) 
Bekanntlich  war  es  schon  die  erste  Becension  des  Werkes,  welche  diesen 
Vorwurf  erhob:  es  ist  dies  die  Garve-Feder'sche  Becension  in  den  „ Göt- 
tinger gelehrten  Anzeigen'^  vom  19.  Jan.  1782  (wieder  abgedruckt  in  der 
Ausgabe  der  Prolegomena  von  Karl  Schulz  S.  4 — 11).  Garve  hatte  die- 
selbe verfasst,  Feder  hatte  sie  als  Herausgeber  gekürzt  und  überarbeitet; 
vgl.  darüber  Bosenkranz,  Gesch.  der  K.'schen  Philos.  S.  350;  J.  E.  Erd- 
mann, Gesch.  d.  n.  Philos.  III,  1,  S.  286;  B.  Erdmann,  Einleitung  zu 
den  Proleg,  8.  11  ff.;  Stern,  Garve  und  Kant  S.  17  ff.  Die  Stellen  der 
Becension,  in  welcher  jener  Vorwurf  erhoben  wird,  sind  von  Feder  redigirt. 
Allerdings  ist  in  der  Becension  der  Ausdruck  „ Schein'  selbst  nicht  ge- 
braucht, aber  sachlich  ist  der  Vorwurf  doch  in  derselben  enthalten  (gegen 
Erdmann,  Proleg,  S.  70),  sogar  in  Worten,  auf  welche  Kant  selbst  an- 
spielt: in  der  Becension  wird  Kant  ein  , Idealismus '^  vorgeworfen,  „der  Geist 
und  Materie  auf  gleiche  Weise  umfasst,  die  Welt  und  uns  selbst  in  Vor- 
stellungen verwandelt".  In  der  oben  erwähnten  Anmerkung  III  zu 
§  13  der  Prolegomena  wehrt  sich  nun  Kant  zweimal  gegen  den  Vorwurf, 
dass  „sein  Lehrbegriff  die  Dinge  der  Sinnen  weit  in  lauter  Schein  ver- 
wandle"; und  ebenso  wird  auch  hier  im  Texte  der  Kr.  d.  r.  V.  zweimal 
dieselbe  Wendung  gebraucht  —  wohl  Beweis  genug,  dass  er  sich  hier  direct 
gegen  die  Göttinger  Becension  wendet. 

Aehnliche  Vorwürfe  machten  auch  Andere;  so  z.  B.  Pistorius  in  der 
.Allgemeinen  deutschen  BibUothek"  1784,  Bd.  59,  S.  322  ff.  (vgl.  Erd- 
mann,  Kriticismus  S.  106 f.  Vgl.  daselbst  auch  S.  109  ff.  über  Ulrichs 
Behauptung  der  Unsicherheit  der  Existenz  der  Dinge  an  sich). 

Besonders  aber  Mendelssohn  in  seinen  „ Morgenstunden"  1785  schlug 
dann  wieder  denselben  Ton  an.  (Vgl.  Erdmann,  Kriticismus  S.  118  ff.  138.) 
Ohne  Kant  selbst  zu  nennen,  führt  er  ihn  doch  als  den  . Idealisten"  ein, 
und  dieser  „Anhänger  des  Idealismus  hält  alle  Phaenomena  unserer  Sinne 
für  Accidenzen  des  menschlichen  Geistes,  und  glaubet  nicht,  dass  ausserhalb 
desselben  ein  materielles  Urbild  anzutreffen  sei,  dem  sie  als  Beschaffenheiten 
zukommen"  (112);  ,es  ist  Sinn entäu seh ung,  davon  der  Grund  in  unserem 
Unvermögen  anzutreffen  ist"  (108);  , Sinnentäuschung"  ist  aber  (S.  45  ff.) 
so  viel  als  Schein.  Jener  Idealist,  welchen  Mendelssohn  S.  173  sagen  lässt, 
„er  habe  den  Streitpunkt  letzthin  ins  Beine  gebracht",  ist  natürlich  Niemand 
anders,  als  der  im  Vorwort  IV  erwähnte  „alles  zermalmende  Kant".  So  hat 
sich  denn  Kant  sicher  „keinen  Augenblick  verhehlt,  dass  Mendelssohns  Argu- 
mentationen wider  den  Idealismus  direct  gegen  ihn  gemünzt  seien"  (Erd- 
mann, Kriticismus  144). 

3)  Gegen  dieses  Missverständniss  hat  nun  Kant  schon  in  den  Prole- 
gomena §  13,  III  gekämpft,  woraus  schon  oben  S.  489.  491  Einiges  angeführt 
worden  ist.  Der  Kampf  in  den  Proleg,  wird  aber  viel  heftiger  geführt,  als 
hier  in  der  Kritik.  Naturgemäss :  damals  war  sein  Unwille  noch  frisch  über 
jenen  „unverzeihlichen  und  beinahe  aus  vorsätzlicher  Missdeutung"  {Proleg,) 


496  Excurs.    Kant  und  Berkeley. 

entsprungenen  Einwand,  über  „das  thörichte  Baisonnement  eines  ungescbalien 
metaphysischen  Denkens"  (Erdmann,  Prol.  S.  70).  In  der  Kritik  spricht 
er  viel  ruhiger,  der  Zorn  war  verraucht;  auch  wollte  er  sein  Hauptwerk 
wohl  nicht  durch  hässliche  Polemik  verunstalten,  und  so  ist  diese  Anmerkung, 
die  nach  Kants  ursprünglichem  Entwurf  (s.  Erdmann ,  Nachträge  Nr.  CV) 
für  den  Abschnitt  über  die  Phaenomena  und  Naumena  bestimmt  war,  nur 
noch  ein  schwacher  Nachklang  jener  ersten  heftigen  Aufwallung. 

Aber  auch  inhaltlich  unterscheiden  sich  beide  Redactionen.  Vor  Allem 
tritt  hier  in  der  Kritik  der  Unterschied  zwischen  Schein  und  Erscheinung 
viel  schärfer  hervor;  er  fehlt  nicht  ganz  in  den  Prolegomena^  aber  daselbst 
hat,  wie  schon  oben  S.  491  bemerkt  wurde,  Erscheinung  meistens  den 
neutralen  unbestimmten  Sinn ;  dieser  ist  hier  ganz  verschwunden,  und  scharf 
hebt  sich  der  Unterschied  von  Schein  und  Erscheinung  hervor.  Möglich, 
dass  Kant  zu  dieser  schärferen  Ausprägung  durch  das  Studium  der  Mendels- 
sohn'schen  „Morgenstunden"  gekommen  ist:  er  bemerkte  vielleicht  gerade  bei 
diesem  einerseits  denselben  Fehler,  die  mangelhafte  Unterscheidung  der  beiden 
Termim  Schein  und  Erscheinung  (z.  B.  S.  111.  112.  168.  210),  andererseits 
die  scharfsinnige  Distinction  zwischen  Vorstellung  und  Darstellung  (S.  69.  82), 
welche  sich  im  Wesentlichen  mit  der  von  Schein  und  Erscheinung  deckt. 
(Vgl.  oben  S.  492.  495.) 

Dazu  kommt  Folgendes:  Auch  in  den  Prolegomena  macht  Kant  die 
Wendung,  den  „Schein*  von  seinem  System  abzuwälzen  und  den  Gegnern 
den  Vorwurf  zurückzugeben,  aber  doch  in  ganz  anderer  Weise.  Der 
transscendentale  Realismus  führt  danach  in  doppelter  Hinsicht  auf  Schein: 
einmal  weil  er  die  ganze  Mathematik  in  blossen  , Schein'  verwandelt;  denn, 
wenn  die  Aussendinge  im  Räume  unabhängig  von  uns  Realität  besitzen, 
woher  weiss  ich,  dass  die  Sätze  der  a  priori  aufgestellten  Mathematik  von 
ihnen  gelten?  Dann  ist  die  ganze  Mathematik  eic^  blosses  „Hirngespinnst*^. 
Zweitens  führt  der  Realismus  auf  den  „transscendentalen  Schein*:  denn, 
wenn  man  die  empirischen  Gegenstände  für  Sachen  an  sich  selbst  hält,  ge- 
räth  man  in  alle  Schwierigkeiten  der  Metaphysik,  und  endigt  damit,  nach 
metaphysischen  „ Seifenblasen*  zu  haschen.  Auf  diese  Klippen  also  (welche 
Kant  auch  A  39  f.  —  vgl.  oben  S.  414  ff.  —  geschildert  hat) ,  geräth  der 
Realismus. 

4)  Jener  » nichtige  Einwurf  gegen  Kants  Lehrbegriff  war  nun  nicht 
selten  durch  die  Bemerkung  verschärft  gewesen,  Kant  lehre  in  dieser  Hinsicht 
dasselbe  wie  Berkeley.  Dieser  Vergleich  brachte  Kant  besonders  in  Har- 
nisch. Einmal  lag  darin  der  jedem  Autor  so  unwillkommene  Vorwurf  des 
Mangels  an  Originalität,  andererseits  die  Imputation  einer  absurden  oder  ihm 
selbst  wenigstens  absurd  erscheinenden  Lehre.  Diesen  giftigen  Pfeil  hatte 
Feder  abgeschossen,  welcher  in  der  erwähnten  Göttinger  Recension  in  einer 
Parenthese  jenen  Vergleich  zog,  so  dass  es  da  hiess:  „Auf  diesen  Begriffen 
von  den  Empfindungen  als  blossen  Modificationen  unserer  selbst  [worauf 
auch  Berkeley  seinen  Idealismus  hauptsächlich  baut],  vom 
Räume  und  von  der  Zeit  beruht  der  eine  Grundpfeiler  des  Kantischen  Sy- 


Kant  weist  die  Zusammenstellung  mit  Berkeley  mit  Recht  zurück.      497 

stems."  Vgl.  B.  Erdmann,  Prolegomena  S.  12.  67  über  diesen  „in  jeder  Hin- 
sicht ganz  oberflächlichen  und  thörichten  Vergleich*',  und  über  den  ^Unrnuth 
Kants  über  diese  Interpretation,  die  er  in  der  That  nur  als  ein  Miss- 
verständniss  flüchtigster  Leetüre  auffassen  mnsste*'.  Vgl.  auch  Stern,  Be- 
ziehungen Garve's  zu  Kant,  S.  20  ff. 

5)  Gegen  diesen  Vergleich  hat  sich  nun  Kant  schon  in  den  Prolegomena 
mit  Händen  und  Füssen  gesträubt.  In  der  mehrerwähnten  Anmerkung  III 
zu  §  13  verwahrt  sich  Kant  ausdrücklich  dagegen,  dass  sein  Lehrbegriff  mit 
dem  Berkelej'schen  verwechselt  werde.  „Dass  ich  selbst  dieser  meiner  Theorie 
den  Namen  eines  transscendentalen  Idealismus  gegeben  habe,  kann  Keinen 
berechtigen ,' ihn  mit  dem  empirischen  Idealismus  des  Descartes  oder  mit 
dem  mystischen  und  schwärmerischen  des  Berkeley  (wowider  und  andere 
ähnliche  Hirngespinnste  unsere  Kritik  vielmehr  das  eigentliche  Gegenmittel 
enthält)  zu  verwechseln/  In  welchem  Sinne  das  zu  verstehen  sei,  wird 
dann  weiterhin  so  ausgeführt:  „Denn  dieser  von  mir  so  genannte  Idealismus 
betraf  nicht  die  Existenz  der  Sachen  (die  Bezweifelung  derselben  aber  macht 
eigentlich  den  Idealismus  in  recipirter  Bedeutung  aus),  denn  die  zu  be- 
zweifeln^ ist  mir  niemals  in  den  Sinn  gekommen,  sondern  bloss  die  sinnliche 
Vorstellung  der  Sachen,  dazu  Raum  und  Zeit  zu  oberst  gehören'  u.  s.  w.; 
für  Berkeley  aber  werden  die  empirischen  Dinge  zu  blossem  Schein,  da 
er  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  leugnet. 

Im  Anhang  zu  den  Prolegomena  kommt  Kant  nochmals  auf  den- 
selben Vergleich  zu  sprechen.  Aber  da  wirft  er  Berkeley  in  einem  ganz 
anderen  Sinne  „Schein*  vor  (vgl.  B.  Erdmann,  Proleg.  S.  70.  76.  78). 
Dort  sieht  Kant  den  Hauptunterschied  seiner  Lehre  von  der  Berkeley 'sehen 
in  der  Apriorität  des  Baumes  und  der  Zeit  und  der  sich  aus  denselben  er- 
gebenden mathematischen  Gesetze;  denn  durch  dieselben  erst  werde  in  das 
Chaos  der  Empfindungen  gesetzmässiger  Zusammenhang  gebracht;  so  sei  es 
erst  möglich,  empirische  objective  Wahrheit  von  blossem  rein  subjectivem 
Schein  zu  unterscheiden.  Bei  Berkeley  aber  mangle  jenes  Fundament  der 
Apriorität  und  daher  werde  bei  ihm  alle  Erfahrung  zu  lauter  Scheint 
(Vgl.  hiezu  Paulsen,  Entw.  187.  Frederichs,  Berkeley  und  Kant  25.  32.) 
Diese  Bemerkung  erinnert  lebhaft  an  die  oben  S.  355  ff.  besprochene  Unter- 
scheidung Kants  zwischen  der  apriorischen  Baumform  und  den  empirischen 
Sinnesqualitäten;  in  der  That  wendete  sich  Kant  dort,  wie  wir  sahen 
(S.  357),  ebenfalls  geradezu  gegen  Berkeley's  Vermischung  beider. 

^  Denselben  Vorwurf  gegen  Berkeley  drückt  Kant  auch  so  aus,  dass  er  den 
Unterschied  zwischen  „Traum  und  Wahrheit*  aufhebe  (A  490 — 492;  vgl.  Proleg. 
§  13,  III,  und  den  Anhang  zu  denselben).  Während  Kant  so  seinen  transscendentalen 
Idealismus  dem  „ Traumidealismus "  gegenüberstellt,  hat  er  doch  selbst  an  anderer 
Stelle  (A  780)  den  Vergleich  der  Erscheinungswelt  mit  einem  Traum  zugelassen. 
Vgl.  unten  S.  512.  Der  Vergleich  ist  also  nicht  so  ganz  unkantisch,  als  Manche 
behaupten.  Bekanntlich  hat  Schopenhauer  mit  Vorliebe  diesen  Vergleich  ge- 
zogen (bes.  W.  a.  W.  I,  19  ff.,  II,  493.  561,  Par.  II,  44),  und  derselbe  hat  daher 
auch  die  Verwandtschaft  Kants  mit  Berkeley  immer  energisch  vertreten. 
Vaihinger,  Kant-Commentar.    II.  32 


498  Excurs.    Kant  und  Berkeley. 

Bestand  in  dieser  Stelle  der  Vorwurf  darin,  dass  Berkeley's  Lehre  die 
Erfahrung  in  Schein  verwandle,  weil  es  in  ihr  an  apriorischen  Kriterien 
fehle,  so  wird  an  anderen  Stellen  darauf  hingewiesen,  dass  Berkeley 's  Lehre, 
ebenso  wie  der  Realismus,  auch  die  Mathematik  und  alle  Erkenntniss 
a  priori  in  blossen  Schein  verwandle.  Gleich  nachher  heisst  es:  .Mein 
Idealismus  ist  von  ganz  eigen thümlicher  Art ,  nämlich  so ,  dass  er  den  ge* 
wohnlichen  umstürzt,  dass  durch  ihn  alle  Erkenntniss  a  priori,  selbst  die 
der  Geometrie  zuerst  objective  Realität  bekömmt."  Hieher  gehört  nun  auch 
vor  Allem  die  oben  S.  418  f.  mitgetheilte  Stelle.  Und  ganz  so  lautet  auch 
eine  Anmerkung  in  Kants  Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge  Nr.  XXVII). 
Kant  hätte  hier  leicht  darauf  hinweisen  können,  dass  Berkeley  eine  besondere 
Freude  daran  fand,  die  Grundsätze  und  Methoden  der  Mathematiker  zu  be- 
zweifeln,  mit  allerlei  „Chikanen"  betreffs  der  Gültigkeit  der  Differential- 
rechnung, der  unendlichen  Theilung  u.  s.  w. 

Und  noch  in  einer  vierten  Wendung  wirft  Kant  dem  Berkeley  .Schein* 
vor:  Berkeley  lehre,  im  Einverständniss  mit  allen  Idealisten  ,von  der  Elea- 
tischen  Schule  an",  dass  die  Sinne  uns  nur  Schein  geben,  während  allein 
in  den  Ideen  der  Vernunft  Wahrheit  liege.  Eine  solche  Vemunftidee  ist 
ja  im  Berkeley'schen  System  die  Gottesidee,  auf  welche  Berkeley  zuletzt  alles 
zurückführt,  aus  der  er  alles  ableitet.  Aber  dagegen  macht  Kant  den  Ein- 
wand: alle  metaphysische  Erkenntniss  aus  reiner  Vernunft,  alle  transscendenten 
Sätze  sind  blosser  Schein  und  führen  auf  „transscendentalen  Schein*. 
Dazu  vergleiche  man  die  interessante  Stelle  in  den  Losen  Blättei*n  I,  S.  262, 
woselbst  Kant  von  sich  und  seiner  Lehre  in  diesem  Sinne  sagt:  ,Da  ist 
unsere  Theorie  die  Widerlegung  des  Idealismus.*' 

6)  Die  drei  letztgenannten  Darstellungen  kehren  in  der  Ejritik  nicht 
wieder;  wohl  aber  die  erste;  denn  gerade  darin  sieht  ja,  wie  wir  fanden, 
Kant  hier  den  Unterschied  von  Schein  und  Erscheinung,  dass  jenem  das 
correspondirende  Ding  an  sich  fehlt,  das  dieser  zugesprochen  wird.  Und 
jene  Verwandlung  aller  Dinge  in  blossen  Schein  wird  hier  wiederum  Berkeley 
Schuld  gegeben.  Aber  diese  Stelle  ist  nun  durch  einen  eigenthümlichen 
Zusatz  bereichert.  Kant  gibt  hier  nämlich  den  Grund  an,  welcher  —  seiner 
Ansicht  nach  —  den  Berkeley  zu  dieser  seltsamen  Lehre  gefuhrt  habe.  Dieser 
Grund  liege  eben  im  vulgären  Realismus ;  dieser  führe  einen  logisch  denkenden 
Kopf  nothwendig  zu  jenem  extremen  Idealismus.  Den  Gedankengang,  welchen 
Kant  hier  meint,  haben  wir  nun  schon  oben  S.  493  hinreichend  entwickelt: 
Die  Annahme  der  objectiven  Realität  von  Raum  und  Zeit  führe  auf  Wider- 
sprüche, diese  stellen  sich  als  Undinge  heraus,  können  also  nichts  wahrhaft 
Wirkliches  sein,  sondern  sie  —  und  mit  ihnen,  ihr  Inhalt,  die  Körperwelt 
muss  blosser  Schein  sein.  Es  macht  den  Eindruck,  als  wollte  Kant  sagen, 
die  realistische  Annahme  Newtons  und  Clarke's  sei  durch  den  Idealismus 
Berkeley's,  der  in  der  angegebenen  Weise  aus  jenen  gefolgert  gewesen  sei, 
ad  absurdum  geführt  worden.  (Vgl.  dagegen  Zimmermann,  Ks.  Wid. 
d.  Id.  34—87,  welcher  entschieden  leugnet,  dass  Berkeley  selbst  so  argu- 
raentirt  habe.) 


Ob  Kant  gegen  Berkeley  ungerecht  gewesen  sei?  499 

Noch  aD  einer  anderen  Stelle  der  2.  Auflage  findet  sich  derselbe  Ge- 
dankengang dem  Berkeley  zugeschrieben,  in  der  bekannten  , Widerlegung 
des  Idealismus*  B  275:  „Der  dogmatische  Idealismus  (Berkeley's)  ist  un- 
vermeidlich, wenn  man  den  Baum  als  Eigenschaft,  die  den  Dingen  an  sich 
selbst  zukommen  soll,  ansieht;  denn  da  ist  er  mit  Allem,  dem  er  zur  Be- 
dingung dient,  ein  Unding.  Der  Grund  zu  diesem  Idealismus  aber  ist  von 
uns  in  der  transscendentalen  Aesthetik  gehoben/ 

Bemerkenswerth  in  unserer  Stelle  gegen  Berkeley  ist  noch  die  Schluss- 
wendung, in  welcher  Kant  (wie  noch  nicht  in  den  eben  angeführten  Stellen 
aus  den  Prolegometia)  darauf  hinweist  (vgl.  auch  A  491),  dass  Berkeley 
inconsequenter  Weise  nicht  auch  die  Zeit  nebst  ihrem  Inhalt,  den  inneren 
Erscheinungen,  für  blossen  Schein  erklärt  habe.  Auf  diesen  absoluten 
Illusionismus  komme  man  aber  auf  demselben  Wege.  Eine  solche  Leugnung 
des  Ich  an  sich  wäre  freilich  die  denkbar  grösste  Ungereimtheit.  So  wird 
also ,  wie  B.  Erdmann ,  Kriticismus  S.  191  und  221  f.  (95.  138 ,  vgl.  dazu 
dessen  Prolegomena  Pag.  C),  bemerkt,  der  absolute  Idealismus  auch  vom 
Gegenstand  des  inneren  Sinnes  abgewehrt.  Insofern  steht  diese  Stelle  in 
Zusammenhang  mit  den  anderen  Stellen  der  2.  Auflage  über  die  Lehre  vom 
Ich  (vgl.  dazu  oben  S.  477  ff.),  besonders  mit  der  Stelle  der  Deduction  B  157. 

7)  Zweierlei  ist  in  jenen  Darstellungen  Kants  wohl  auseinanderzuhalten : 
erstens:  die  allgemeine  sachliche  Beschuldigung,  Berkeley  lehre,  die 
Aussenwelt  in  Baum  und  Zeit  sei  blosser  Schein;  zweitens:  die  historische 
Kotiz,  Berkeley  sei  auf  diese  Lehre  gekommen  durch  die  Bemerkung,  dass 
die  Annahme  der  Objectivitftt  des  Raumes  auf  Widersprüche  führe. 
Beides,  die  Beschuldigung  und  die  Notiz,  sind  schon  sehr  bald  angegriffen 
worden ;  jene  als  ungerecht,  diese  als  ungenau.  Der  erstere  Angriff  findet  sich 
z.  B.  bei  Platner,  Aphorismen  3.  Aufl.  S.  409  ff.,  vgl.  desselben  Logik  S.  126. 
Beide  Angriffe  zugleich  finden  sich  z.  B.  bei  Herder,  Metakritik  I,  363 — 414; 
speciell  S.  404  N.  wird  über  jene  Stelle  B  274  gesagt:  „so  viel  Worte,  so 
viel  Aufbürdungen,  dem  Berkeley 'sehen  System  fremde".  Wenig  Ausbeute 
geben  Meilin  I,  533 ff.;  III,  391  f.  und  Schulze,  Kritik  d.  Philos.  I,  239  ff. 

Auch  in  neuerer  Zeit  sind  jene  Vorwürfe  Kants  gegen  Berkeley  für 
ungerecht  erklärt  worden;  und  da  heisst  es  bald:  auch  Berkeley  habe  die 
Aussenwelt  für  Erscheinung  erklärt,  nicht  für  „Sehein";  bald  aber:  auch 
Kants  Lehrbegriff  erkläre  im  Grunde  die  Aussenwelt  für  blossen  Schein, 
wenn  er  auch  von  „Erscheinung"  spreche. 

Dass  Kant  und  Berkeley  in  der  Hauptsache  in  letzter  Linie  überein- 
stimmen, behauptete  dann  besonders  Schopenhauer,  W.  a.  W.  I,  4.  24. 
514  f.;  II,  4—5.  9.  13-14.  356;  Par.  I,  14.  83;  S.  v.  Grund,  §  21;  Kant 
sei  dem  , Verdienst"  Berkeley *s  „nicht  gerecht  geworden".  Aehnlich  dann 
K.  Fischer.  Ebenso  auch  Frederichs  in  seinem  Programm:  „Der  phä- 
nomenale Idealismus  Berkeley's  und  Kants"  1871,  bes.  S.  8.  17  f.:  Kant  habe 
Berkeley  auf  Grund  unzuverlässiger  Referate  miss verstanden. 

Jene  wesentliche  Uebereinstimmung  Kants  mit  Berkeley  ist  dann  aber 
auch  von  Gegnern  Kants  behauptet  worden;   so  bes.   von  Zimmermann, 


500  Excurs.    Kant  und  Berkeley. 

Ueber  Ks.  Widerlegung  des  Idealismus  von  Berkeley  1871,  S.  6.  11.  14.  28. 
33—37;  dann  von  E.  v.  Hartmann;  von  Spicker,  Kant,  Hume  und  Berkeley 
S.  90 ff.  132;  Ueberweg,  Gesch.  d.  Philos.  III,  5.  A.  S.  218  N.  Dieckert 
Verhältniss  Berkeley's  zu  Kant,  Progr.  1888,  S.  33—35. 

Neuere  Forscher  haben  nun  die  Vermuthung  ausgesprochen,  jene  Dar- 
stellung, welche  Kant  dem  Berkeley'schen  System  angedeihen  lasse,  lasse  sich 
kaum  anders  erklären,  als  dass  Kant  den  Berkeley  gar  nicht  aus  eigenem 
Studium  gekannt  habe;  so  schon  Frederichs,  dann  Spicker,  Kant,  Hume 
und  Berkeley  S.  161,  so  Riehl,  Kriticismus  I,  161;  so  B.  Erdmann,  Einl. 
zu  den  Prolegomena  LXXVI  und  Kriticismus  S.  191.  Diese  These  hat  speciell 
ausgeführt  J.  Janitsch  in  seiner  Strassburger  In.-Dissertation  1879,  «Kants 
ürtheile  über  Berkeley*,  in  welcher  er  nachzuweisen  sucht,  dass  bei  Kant 
nur  „eine  flüchtige  Kenntnissnahme  secundärer  Quellen^  (Hamann,  Hume, 
Beattie)  zu  constatiren  sei,  dass  Kant  Berkeley's  damals  noch  unübersetztes 
Hauptwerk  um  so  weniger  im  Original  habe  studiren  können,  als  er  des 
Englischen  gar  nicht  mächtig  gewesen  sei.  Letzteres  nimmt  auch  B.  Erd- 
mann an  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  Phil.  I,  64.  Diese  Annahme  ist  aber  un- 
wahrscheinlich, wie  ich  Phil.  Mon.  1883  S.  501  ff.  nachgewiesen  habe. 

8)  Es  braucht  nun  nicht  hier  durch  eine  Detailuntersuchung  zur  Ent- 
scheidung gebracht  zu  werden,  ob  jener  Vorwurf  Kants  gegen  Berkeley  ge- 
recht oder  ungerecht  sei,  und  ob  jene  historische  Notiz  genau  oder  ungenau 
sei.  Eine  unparteiische  Beurtheilung  scheint  uns  mit  Nothwendigkeit  darauf 
zu  führen,  dass  Kants  Auffassung  in  diesem  Falle  richtig  ist:  es  fehlen  eben 
einmal  bei  Berkeley  jene  Dinge  an  sich,  welche  Kant  hinter  jeder  Erscheinung 
als  afflcirende  ansetzt.  Ja  selbst  jene  bisher  allgemein  verworfene  historische 
Notiz  Kants  über  die  Entstehung  der  Lehre  Berkeley's  könnte  durch  einige 
Stellen  aus  Berkeley's  „Prindylea^  bestätigt  werden.  Indessen  für  den  Zweck, 
den  wir  hier  verfolgen,  genügt  es  vollständig,  constatirt  zu  haben,  wie  Kant 
(übereinstimmend  mit  seinen  Zeitgenossen  und  auch  mit  seinen  Gegnern) 
Berkeley  aufgefasst  hat,  und  wie  er  (abweichend  von  eben  jenen  seinen 
Gegnern)  sich  von  ihm  unterschieden  wissen  will.  Und  in  Bezug  auf  diesen 
Hauptpunkt  hat  sich  Kant  ganz  unzweideutig  ausgedrückt:  denn,  fassen  wir 
das  Resultat  der  ganzen  Anmerkung  in  wenigen  Worten  zusammen,  so  er- 
gibt sich,  dass  Kant  hier,  wenn  er  es  auch  hier  nicht  ausdrücklich  sagt, 
den  Unterschied  seines  transscendentalen,  formalen,  kritischen 
Idealismus  von  dem  empirischen,  materiellen,  schwärmerischen 
Idealismus  Berkeley's  hervorheben  will.  Dies  geht  ja  hinreichend  ans 
den  oben  S.  495  ff.  mitgetheilten  Parallelstellen  der  Prolegomena  hervor, 
in  denen  er  Veranlassung  hatte  und  nahm,  sich  darüber  gegenüber  den  ge- 
äusserten Missverständnissen  des  Näheren  auszulassen.  Es  war  für  Kant 
sehr  leicht,  dieses  Missverständniss  zu  heben :  er  brauchte  sich  nur  auf  den 
der  ganzen  Aesthetik  zu  Grunde  liegenden  Doppelbegriff  von  Gegenstand  = 
Erscheinung  und  Ding  an  sich  zu  berufen  (vgl.  oben  S.  6  ff.).  Diejenigen, 
welche  jenes  Missverständniss  hatten,  „behielten  die  Bedeutung  jener  von 
Kant  unbezweifelten  Voraussetzung  wirkender  Dinge  an  sich  nicht  stets  vor 


Kant  schiebt  gegen  Berkeley  seine  Dinge  an  sich  in  den  Vordergrund.     501 

Augen*  (Erdmann,  ProL  67).  Kant  hatte  also  leichtes  Spiel,  jenes  Miss- 
verständniss  abzuwehren :  er  konnte  leicht  zeigen,  dass  sein  kritischer  Idealis- 
mus^ sich  eben  in  jenem  Punkte  von  dem  , Idealismus  in  reeipirter  Be- 
deutung" sehr  wesentlich  unterscheide ;  dieser  ^reine  Idealismus"  leugne  die 
Existenz  der  Dinge  an  sich;  sein  kritischer  schliesse  dieselbe  ein  (dass  der 
kritische  sie  „unentschieden  lasse",  ist  nur  ein  gelegentliches  Selbstmiss- 
verständniss  Kants ;  vgl.  Erdmann ,  Nachträge  S.  18  f.  58) ;  indem  er  dies 
that,  hob  er  jene  Voraussetzung  selbst  viel  stärker  hervor,  als  das  frtlher 
geschehen  war. 

üeber  diese  Aenderung  hat  B.  Erdmann  eindringende  Untersuchungen 
angestellt  in  seiner  Einleitung  zu  den  Prolegamena  S.  43 — 78,  woselbst  S.  71 
scharfsinnig  gezeigt  wird:  ,Die  Existenz  der  Dinge  ist  aus  einer  unbezweifelten 
Voraussetzung  zu  einem  specifischen  Merkmal  des  Begriffes  des  trans- 
scendentalen  Idealismus  geworden*  u.  s.  w.  Vgl.  desselben  Kriticismus 
S.  86—97.  190  ff. 

9)  Diese  deutlichen  Erklärungen  Kants  haben  jedoch  auch  späterhin 
Missverständnisse  nicht  ausgeschlossen.  Nach  einem  Berichte  Becks  an  Kant 
vom  XO.  XI.  1792  hat  z.  B.  Garve  in  einem  Gespräch  mit  Eberhard  später 
wiederum  die  Identität  des  Kant'schen  und  Berkeley'schen  Idealismus  be- 
hauptet (Altpr.  Mon.  XXII,  419).  Kant  versäumt  nicht,  am  4.  XII.  1792  zu 
antworten  (Archiv  II,  634).  Seine  Antwort  stimmt  ganz  mit  der  vorliegenden 
Stelle  überein:  Kant  weist  auf  das  Ding  an  sich  hin,  das  ihn  von  Berkeley 
scheidet.  Es  bedarf  keiner  besonderen  Versicherung,  dass  diese  Erklärung 
Kants  ganz  in  Harmonie  steht  mit  dem  vorliegenden  Texte:  dem  ganzen 
Tenor  der  Stelle  nach  versteht  er  auch  in  jenem  Briefe  unter  den  Objecten 
die  Dinge  an  sich ,  deren  „Existenz*  eben  Berkeley  leugnete ,  und  insofern 
hat  er  allen  Grund  und  alles  Recht,  sich  gegen  jene  Identification  mit 
Berkeley  entschieden  zur  Wehre  zu  setzen. 

Ganz  anders  freilieh  fasste  Beck  die  Sache  auf.  In  demselben  Briefe, 
in  welchem  er  an  Kant  jene  Nachricht  gelangen  Hess,  sagt  er  nämlich: 
^Erscheinungen  sind  die  Gegenstände  der  Anschauung,  und  Jedermann  meint 
dieselben,  wenn  er  von  Gegenständen  spricht,  die  ihn  umgeben,  und  eben 
dieser  Gegenstände  Daseyn  läugnete  Berkeley,  welches  die  Kritik  gegen  ihn 
dargethan  hat.*  Beck  also  setzt  die  Differenz  zwischen  Kant  und  Berkeley 
an  eine  ganz  andere  Stelle  als  Kant  selbst:  Nach  Kant  leugnet  Berkeley 
die  Existenz  der  Dinge  an  sieh,  welche  unseren  empirisch  vorgestellten 
Erscheinungsgegenständen  im  Räume  entsprechen.  Nach  Beck  dagegen 
leugnet  Berkeley  die  Existenz  der  Dinge  im  Baume  selbst,  welche  unseren 
Vorstellungen  von  denselben  noch  entsprechen  sollen.  In  dieser  Weise 
fasst  Beck  die  Sache  und  die  Stelle  auf  in  seinem  Auszuge  I,  14 ff.:  „Die 


^  Eine  bemerkenswerthe  Ergänzung  hiezu  bieten  einige  Reflexionen  Kants 
aus  der  späteren  Zeit  des  Kriticismus  11,  N.  1189  ff.,  bes.  N.  1194,  wo  Kant  seine 
eigene  Lehre  sogar  als  „Realismus*  bezeichnet  im  Gegensatz  zum  Berkeley 'sehen 
.Idealismus". 


502  Excurs.    Kant  und  Berkeley. 

Erscheinungen  sind  genau  diejenigen  Gegenstände,  die  Jedermann  im  Sinne 
hat,  wenn  er  Gegenstände  der  Erfahrung  meint,  und  die  er  auch  ganz 
richtig  von  den  Vorstellungen  davo  n  unterscheidet.  Mithin 
ist  der  gegenwärtige  Lehrbegriff  gar  sehr  Yon  dem  (materialen)  Idealismus 
verschieden*  u.  s.  w.  Dieselbe  Darstellung  gibt  Beck  in  seinem  Auszug  1, 87  ff. ; 
III,  9 — 13:  , Berkeley  läugnete  ...  die  Existenz  der  Dinge  im  Räume*; 
ebenso  246.     Kant  aber  habe  diese  gelehrt,  S.  157.  172. 

Für  diese  Auslegung  beruft  sich  Beck  wiederholt  (a.  a.  0.  III,  13.  27. 
248)  auf  das  bekannte  Einschiebsel  der  2.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V.  B  274  ff. : 
, Widerlegung  des  Idealismus*.  Da  Kant  in  diesem  Einschiebsel  allerdings, 
wie  Beck  richtig  auslegt,  das  Dasein  der  Gegenstände  im  Räume, 
mithin  der  Erscheinungen,  nicht  der  Dinge  an  sich  zu  beweisen  sucht  (vgl. 
Strassb.  Abhandlungen  1874,  107  ff.  110.  119.  125  ff.),  so  überträgt  Beck 
den  Sinn  der  Stelle  B  274  ff.  auf  die  hiesige  Stelle  B  68  ff. ,  ohne  den  Fall 
in  Betracht  zu  ziehen,  dass  Kant  an  verschiedenen  Stellen  ganz  Verschiedenes, 
ja  Entgegengesetztes  behauptet  haben  könnte.  So  hat  jenes  Einschiebsel  denn 
in  dem  Kopfe  des  guten  Beck  (wie  so  manches  Anderen  seitdem)  eine  schlimme 
Verwüstung  angerichtet  —  »der  Kant  hat  sie  alle  verwirret*. 

Dass  diese  Auslegung  der  vorliegenden  Stelle  nicht  die  gewöhnliche 
ist,  weiss  Beck  wohl ;  er  polemisirt  gegen  die  Letztere  auch  energisch  a.  a.  0. 
ni,  159  und  bes.  S.  247  f. :  Wer  behaupte,  dass  Kant  überhaupt,  und  speciell 
hier  zum  Unterschied  von  Berkeley,  die  Existenz  von  Dingen  an  sich  ponire, 
der  lasse  ihn  eine  unglaubliche  „Ungereimtheit*  begehen,  der  lege  ihn  dog- 
matisch aus,  nicht  kritisch;  der  habe  vom  »Geist  der  Transscendental- 
philosophie*  keinen  Hauch  verspürt,  und  halte  sich  an  blosse  »Buchstaben*.  | 

So  treffen  wir  hier  am  Ende,  wie  oben  S.  4  f.  14  f.  17  f.  22.  41  ff.  am 
Anfang,  Becks  eigentbümlichen  »Standpunkt*. 

Jene  buchstäbliche,  dogmatische  Auslegung  der  Kr.  d.  r.  V.  sei  aber 
nicht  bloss  falsch,  sondern  sie  führe  auch,  sobald  man  über  dieselbe  gründ- 
licher nachdenke,  zu  den  gräulichsten  Widersprüchen  und  Ungereimtheiten. 
Wenn  man  sich  nun  dadurch  dazu  bringen  lasse,  die  Unrichtigkeit  jener 
dogmatischen  Auslegung  einzusehen,  ohne  zugleich  die  oben  dargestellte 
richtige,  „wahrhaft-kritische,  transscendentale'^  zu  haben  (d.  h.  wenn  man 
nur  die  Dinge  an  sich  leugne ;  ohne  die  von  unseren  Vorstellungen  un- 
abhängige Existenz  der  Erscheinungen  anzunehmen),  so  löse  sich  Einem  die 
Kantische  Philosophie  unter  der  Hand  in  baarsten  Skepticismus  auf,  ja  falle 
ganz  mit  dem  mateiialen  Idealismus  Berkeley's  zusammen,  welcher  die  ganze 
Welt  in  ein  subjectives  Spiel,  in  „Traum"  verwandelt.  Dies  führt  Beck 
YOfLvaoTixutc  aus  a.  a.  0.  III,  12.  27.  44.  60.  Dieses  Zusammenfallen  des 
Kantischen  Idealismus  mit  dem  Berkeley'schen  könne  man  eben  nur  ver- 
hindern von  jenem  „transscendentalen  Standpunkte"  aus,  wornach  Kant  eben 
Vorstellung  und  Erscheinung  nicht  identificire,  sondern  zwischen  beidem 
sehr  wesentlich  unterscheide.  In  diesem  Sinne  sei  also  auch  diese  Stelle 
auszulegen,  und  Kant  habe  hier  innerhalb  des  Erfahrungsgebietes 
selbst  zwischen  solchen  Vorstellungen  unterscheiden  wollen,   welchen  eben 


i 


Wie  Beck  und  Cohen  diese  Stelle  auslegen.  503 

empirische  Gegenstände  entsprechen  =  Erscheinungen,  und  zwischen 
solchen,  bei  denen  das  nicht  der  Fall  sei,  die  also  blossen  Schein  enthalten 
(a.  a.  0.  172). 

Wir  haben  die  oft  wirr  durcheinander  gehenden  interpretatorischen 
Irrgänge  dieses  scharfsinnig-schwerfälligen  Mannes  hier  auseinander  gelegt, 
weil  der  Mann  historisch  von  grossem  Einfluss  war,  weil  die  neuere  Kant- 
auslegung (Cohen,  Caird  u.  A.)  auf  ihn  mehrfach  zurückgegangen  ist,  und 
endlich,  weil  sein  Briefwechsel  mit  Kant  neuerdings  als  ein  besonders  inter- 
essantes Document  jener  Zeit  herausgegeben  worden  ist.  Wir  haben  hier 
einen  typischen  und  lehrreichen  Fall  vor  uns,  wie  man  zu  interpretatorischen 
Gewaltthätigkeiten  gezwungen  wird,  wenn  man  davon  ausgeht,  Kant  sei  ein 
widerspruchsloser  Autor.  In  der  That,  wenn  man  sich  einmal  in  jene  „Wider- 
legung des  Idealismus^^  festgebissen  hat,  in  welcher  Kant  thatsächlich  die 
Existenz  der  Gegenstände  im  Baume  gegen  den  Idealismus  beweist,  und  wenn 
man  zugleich  die  Lehre  von  den  Dingen  an  sich  als  „ungereimt"  verwirft, 
so  kann  man  die  vorliegende  Stelle  nicht  anders  auslegen,  als  das  eben 
Beck  gethan  hat.  —  Vgl.  übrigens  auch  oben  S.  55  Nr.  7. 

Unter  den  Neueren  hat  Cohen  diesen  Standpunkt  am  schärfsten  zum 
Ausdruck  gebracht  (1.  A.  246—253;  2.  A.  608—616.  Vgl.  Natorp,  Des- 
rartes  S.  100.  Stadler,  Ks.  Teleologie  S.  5.)  Ihm  ist  das  Ding  an  sich 
(vgl.  oben  S.  50.  109  ff.)  nur  eine  „Ausgeburt  der  synthetischen  Einheiten", 
nichts  Wirkliches,  nur  Sehein.  Cohen  sieht  ein  und  gesteht  zu,  dass  „in  Folge 
dieser  Degradation  der  wirkenden  Ursache",  des  afficirenden  Dinges  an  sich 
zu  blossem  subjectivem  Schein,  nun  auch  die  empirische  Erscheinungswelt 
ihrerseits  sich  in  blossen  Schein  zu  verwandeln  droht.  Dieser  unausweich- 
lichen Consequenz  sucht  Cohen  durch  die  merkwürdige  Wendung  zu  ent- 
gehen: „Der  Schein  bleibt  —  aber  er  heisst  Erscheinung." 
Dieses  Zugeständniss  (auf  welches  auch  schon  E.  \r.  Hartmann,  Transsc. 
Beal.  28  hinwies;  vgl.  auch  Lehmann,  Ks.  Ding  a.  s.  S.  25)  registriren  wir 
hier  einfach.  Es  ist  nach  dem  Gesagten  wohl  nicht  mehr  nothwendig,  Cohen 
gegenüber  zum  so  und  so  vielten  Male  zu  beweisen,  dass  Kant  selbst  gerade 
in  der  vorliegenden  Anmerkung  III  sich  alle  Mühe  gab,  zu  zeigen,  dass  ihm 
die  Erscheinung  nicht  bloss  Erscheinung  heisst,  sondern  auch  ist  —  eben 
Erscheinung  eines  realen  Dinges  an  sich ,  ohne  welches  ihm  die  empirische 
Welt  zum  blossen  Schein  würde. 

10)  Indessen  haben  die  energischen  Reclamationen  Kants  in  dieser  An- 
merkung III  seine  Gegner  auch  späterhin  nicht  überzeugt.  Immer  wieder 
ist  der  Vorwurf  gegen  Kant  erhoben  worden,  dass  er  die  Welt  in  lauter 
Schein  verwandle.  Ein  Beispiel  dieses  erneuten  Vorwurfes  hatten  wir  ja. 
eben  S.  501  in  dem  dort  erwähnten  Gespräche  zwischen  Garve  und  Eber- 
hard; der  Letztere  hat  diesem  Vorwurf  auch  in  seinen  philos.  Zeitschriften 
mehrfach  Ausdruck  gegeben.  Auch  in  neuerer  Zeit  haben  Kants  Gegner 
diesen  Vorwurf  immer  wieder  erhoben. 

Nicht  überzeugt  von  Kants  Reclamationen  ist  auch  Trendelenburg, 
Log.  Unt.  I,  159:  ,, Allerdings  hat  Kant  gegen  jenen  Einwurf  kräftige  Ein- 


504  Excurs.    Kant  nnd  Berkeley. 

sage  gethan.  Aber  wir  stellen  nicht  dar,  was  Kant  wollte,  sondern  wir 
sagen,  was  sich  auch  gegen  seinen  Willen  ergibt.  Zweierlei  rückt  in  Kants 
Betrachtung  die  Erscheinung  dem  Schein  nahe'*;  erstens  die  Inconsequenz, 
dass  Kant  von  wirkenden  Dingen  an  sich  spricht,  während  doch  Cansalitftt 
nur  subjectiv  sein  soll^;  zweitens  jener  bekannte  Vergleich  von  Raum  und  Zeit 
mit  den  Sinnesqualitäten  in  den  Proleg,  (vgl.  oben  S.  365):  „B.  u.  Z.,  die  letzten, 
alles  umfassenden  Formen,  verhalten  sich  anders,  als  die  rothe  Empfindung, 
die  in  einem  beschränkten  Kreise  eine  vielfach  bedingte  Wirkung  ist.  Wenn 
R.  u.  Z.,  jene  allgemeinsten  Elemente,  mit  dem  Object  nichts  zu  thun  haben, 
so  fehlt  jeder  Bezug  zu  den  Dingen,  und  es  verlässt  uns  dann  die  Furcht 
nicht,  dass  in  der  Erscheinung  der  Schein  spiele."  Vgl.  dazu  Cohen,  I.A. 
247,  und  Witte,  Beiträge  S.  53  f.,  der  den  Vorwurf  des  „Eidolismus"  von 
Kaut  abzuwehren  sucht.  Dasselbe  Bestreben  hat  Grapengiesser,  Ks. 
Lehre  von  R.  u.  Z.  S.  52 — 57,  mit  besonderer  Beziehung  auf  Fries,  Neue 
Kr.  d.  V.  II,  §  128 ff.,  welch  Letzterer  übrigens  daselbst  (S.  198)  zugibt, 
dass  Kant  „den  unterschied  zwischen  Schein  und  Erscheinung  nicht  gehörig 
entwickelt  hatte' ^  Ebenso  sucht  Grapengiesser,  Erkl.  30,  v.  Kirch mann's 
Einwände  in  dessen  Erl.  14  zurückzuweisen.  Weiteres  s.  Herbart,  W.  W. 
IV,  248  (vgl.  oben  S.  355  N.) ;  Michelet ,  Gesch.  d.  1.  Systeme  der  Philos. 
I,  231;  Thiele  in  der  oben  8.  286  erwähnten  Dissertation  S.  37;  und  bes. 
Glogau,  Abriss  II,  87  ff. 

Besonders  E.  v.  Hartmann  hat  dann  den  Vorwurf  des  absoluten 
Illusionismus  gegen  Kant  erhoben  (Transsc.  Realismus  S.  23 ff.  42 ff.). 
Dazu  hatte  freilich  Schopenhauers  hyperidealistische  Wiedergabe  des  Kantischen 
Idealismus  (vgl.  oben  S.  497  N.)  den  Boden  geebnet:  wo  Kant  „Erscheinung" 
sagt,  sagt  Schopenhauer  „Vorstellung"  (z.  B.  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung).   Vgl.  auch  N  0  i  r  ö ,  Monistische  Erkenntnisstheorie  S.  20  ff. 

Aber  so  oft  auch  der  Vorwurf,  Kant  verwandle  die  ganze  Welt  in 
blossen  Schein,  erhoben  werden  mag,  so  oft  er  in  diesem  Sinne  mit  Berkeley 
zusammengestellt  werden  mag  —  der  Vorwurf  und  die  Zusammenstellung 
bleiben  doch  unberechtigt,  wenigstens  vom  Standpunkt  der  Transsc.  Aesthetik 
aus.  Mögen  auch  in  der  Analytik  die  Dinge  an  sich  gelegentlich  zu  ver- 
schwinden drohen,  in  der  Aesthetik  hält  Kant  an  denselben  unerschütterlich 
fest,  und  diese  Dinge  an  sich,  deren  jedes  jeder  einzelnen  Erscheinung  cor- 


^  Mit  Bezug  auf  diesen  heiklen  Punkt  (vgl.  oben  S.  39)  hat  auch  Aenesidem 
immer  wieder  jenen  Vorwurf  gegen  Kant  energisch  erhoben  (vgl.  bes.  17-5.  224.  2ß0. 
309.  380).  Ebenso  motivirt  den  Einwand  auch  die  A.  D.  L.  103.  136,  speciell  gegen 
Schaumann,  welcher  (Transsc.  Aesthetik  1789,  S.  173  ff.)  Kant  gegen  Feder  in  Schatz 
genommen  hatte:  wenn  man,  heisst  es  in  jenem  Nicolai'schen  Organ,  nach  Kant 
die  wahre  Aussenwelt  gar  nicht  kenne  und  auf  ihre  Beschaffenheit  nicht  schlieasen 
könne,  so  sei  dies  gerade  so  gut,  als  ob  gar  keine  da  wäre,  und  als  ob  es  nur 
Erscheinungen,  d.  h.  in  diesem  Falle  nur  Schein  gäbe.  Berkeley  gebe  doch  wenigstens 
die  Ursache  dieser  Vorstellungen  an  —  Gott,  Kant  aber  entscheide  hierüber  gar 
nicht«.  —  Vgl.  Baggesen,  Nachlass  I,  48  ff.  Auch  Fr.  Baader  bei  Stählin,  Kant, 
Lotze  und  Ritschi  S.  13. 


Kants  Unterschied  von  Berkeley.  —  Anmerkung  IV.  505 

[E  719.  H  79,  K  98.]  B  7L 

respondirt,  und  welche,  wie  B.  Erdmann  nachgewiesen  hat,  aus  den  Leibniz- 
sehen  Monaden  entstanden  sind  —  diese  Dinge  an  sich  stehen  hier  fest  wie 
eine  Palissadenwand  hinter  den  Erscheinungen,  verhindern  deren  Ver- 
flüchtigung in  Schein  und  verbieten  die  Zusammenstellung  Kants 
mit  Berkeley. 

Anmerkung  IT. 

Zur  Bestätigung  seiner  Theorie  von  Baum  und  Zeit  geht  Kant  hier 
noch  auf  einen  wichtigen  und  schwierigen  Punkt  der  Beligionsphilosophie 
ein,  welcher  Theologen  und  Philosophen  von  jeher  im  Alterthum,  in  der 
Scholastik  und  in  der  Neuzeit  sehr  beschäftigt  und  zu  der  höchsten  An- 
spannung des  Scharfsinns  gezwungen  hat:  wie  sich  Gott  sowohl  seiner 
Existenz  als  seiner  Erkenntnissweise  nach  zu  Baum  und  Zeit  verhalte? 
Dieses  Problem  hatte  schon  bei  Crusius,  besonders  aber  in  dem  Streit 
zwischen  Leibniz  und  Clarke  eine  sehr  grosse  Bolle  gespielt;  es  sind 
das  „die  theologischen  Schwierigkeiten,  die  besonders  seit  Leibniz'  und  Clarke's 
Zeiten  die  Lehre  vom  Baum  mit  Dornen  angefüllt  haben'S  wie  Lambert 
in  seinem  Briefe  vom  Dec.  1770  an  Kant  sagt,  und  höchst  wahrscheinlich 
ist  die  Beschäftigung  mit  diesem  Problem  auch  eines  der  Hauptmotive  für 
Kants  Transscendentalen  Idealismus  gewesen.  Diese  Erläuterung  ist  daher 
auch  nicht  etwa  als  ein  erst  nachträglich  von  Kant  hinzugefundener  Gedanke 
2SU  betrachten,  den  er  etwa  erst  bei  der  Ausarbeitung  der  2.  Auflage  aus- 
gebildet hätte,  sondern  er  greift  mit  dieser  Erläuterung  auf  ein  Motiv 
zurück,  welches  im  Gegentheil  schon  von  Anfang  an  seinem  Denken  gerade 
die  transscendental-idealistische  Bichtung  gab  ^  Dass  dabei  speciell  der  Streit 
zwischen  Leibniz  und  Clarke  bestimmend  mitwirkte,  ist  schon  oben  S.  436 
bemerkt  worden;  es  ist  sogar  diese  ganze  Anmerkung  nichts  anderes,  denn 
eine  speciellere  Ausführung  des  schon  auf  S.  415  f.  besprochenen  Gedankens, 
den  Kant  oben  A  39  ff.  entwickelt  hatte ,  dass  die  Newton'sche  realistische 
Baumtheorie  (welche  eben  auch  hier  wiederum  offenbar  getroffen  werden 
soll)  „sich  sehr  verwirre,  wenn  der  Verstand  über  das  Feld  der  Erscheinungen 
hinausgehen  wil^^ 

Diese  Probleme  waren  Kant  schon  von  seiner  Studienzeit  an  geläufig. 
Sein  Lehrer  K nutzen  hatte  sich  mit  diesen  Fragen  beschäftigt,  speciell 
mit  dem  Verhältniss  der  Ewigkeit  Gottes  zu  der  Endlichkeit   oder  Unend- 


^  Es  gilt  von  diesem  Einschiebsel  der  Transsc.  Aesthetik,  was  B.  Erdmann, 
Ks.  Beflex.  II,  252  sehr  treffend  von  dem  ebenfalls  in  B  eingeschobenen  §  12  der 
Kr.  d.  r.  V.  sagt:  ,Kant  gibt  daselbst  nicht  sowohl  eine  Probe  seiner  Kunst,  er- 
starrte Begriffsformen  dem  neuen  Inhalt  seiner  kritischen  Gedanken  anzupassen, 
als  vielmehr  eine  Abrechnung  mit  Gedanken,  die  noch  in  den  siebenziger  Jahren 
Ideen  fflr  die  Umbildung  der  Ontologie  zur  Transsc.  Analytik  abgaben."  Dieselbe 
Erwägung  gilt  auch  in  Bezug  auf  das  nachher  behandelte  Problem  der  symmetri- 
schen Gegenstände. 


506  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    lY. 

B  71.  [E  719.  H  79.  K  98.] 

lichkeit  der  Welt,  also  mit  dem  Verhältniss  Gottes  zur  Zeit.  In  seiner 
Dissertation  „de  aetemitate  mundi  impossibiW*  (aaf  welche,  neben  der  Ab- 
handlung de  imfnaterialilate  animi  K.  auch  schon  in  der  Vorr.  A  Vill  anspielt, 
vgl.  Bd.  I,  181)  hatte  Knutzen  jenes  Problem  behandelt;  Tgl.  B.  Erdmann, 
Martin  Knutzen  und  seine  Zeit  S.  98  £f. ,  woselbst  auch  die  Stellungnahme 
von  Wolff,  Lange,  Budde,  Thümmig,  Bilfinger,  Beusch,  Cantz, 
Schultz,  sowie  von  Cudworth  und  Bayle  behandelt  wird.  Dass  Gottes 
Erkenntniss  nicht  als  discursives  Denken  bestimmt  werden  dürfe,  hat  Kant 
schon  1755  in  seiner  Nova  Dilucidatio,  im  Anschluss  an  den  perspica- 
cissimus  CrusiuSj  vertreten;  s.  Ädditamenta  problemaixs  IX  (Bos.  I,  29;  vgl. 
S.  9.  39).  —  Vgl.  ferner  Allg.  Naturg.  Bos.  VI,  155.  179;  MonadologUi  phys. 
V,  265;  Spitzfind.  I,  59;  Deutlichkeit  I,  106.  Auch  die  Schrift  über  den 
„Einzig  möglichen  Beweisgrund' '  (für  das  Dasein  Gottes)  behandelt  das 
Thema  an  vielen  Stellen.  In  der  Dissertation  werden  diese  Probleme  be- 
handelt §  10.  19.  22.  27.  Auch  spricht  Kant  daselbst  §  27  von  quaestiones 
in  an  es,  welche  durch  Vermischung  der  sensitiva  und  inteUectualia  entstehen. 
Was  Kant  damit  meint,  sagt  deutlicher  sein  Anhänger  Marcus  Herz  in 
seinen  „Betrachtungen"  S.  18 ;  er  spricht  von  ,Jenen  berüchtigten  Schwierig- 
keiten über  den  Ort  der  Seele,  die  Allgegenwart  Gottes,  die  unendliche 
Theilbarkeit"  u.  s.  w.,  welche  durch  Kants  neuen  Lehrbegrifif  von  Baum  und 
Zeit  definitiv  gelöst  worden  seien.  Vgl.  ib.  109  über  diese  „Quaestionen" ; 
spec.  S.  57.  97.  100.  107—109.  133  über  das  Verhältniss  Gottes  zu  B.  u.  Z. 
Vgl.  auch  Natorp,  Descartes,  S.  61  ff. 

Einen  sehr  interessanten  Best  derartiger  Speculationen  finden  wir  auch 
in  Kants  Beflexionen  II,  N.  331:  „Wenn  der  Baum  die  Form  der  äusseren 
Verhältnisse  an  sich  wäre,  so  würde  es  mehrere  entia  realissima  geben 
können.*'  Also  im  objectiven  Weltraum  würden  mehrere  Götter  möglich 
sein:  die  Einheit  Gottes  wird  nur  garantirt  durch  die  Subjectivität  des 
Baumes.  Vgl.  dagegen  Beflexionen  II,  N.  342  und  dazu  die  belehrenden 
Bemerkungen  Erdmanns  daselbst  zu  N.  337 — 344  über  die  Genesis  der  da- 
selbst auftretenden  Kantischen  Lehre  vom  Baum  als  der  Omnipraesentia 
phaenometion.  (Vgl.  oben  S.  426  N.  3.)  Vgl  auch  N.  363.  1379.  Das  Ver- 
hältniss Gottes  zum  Baume  war  also  von  jeher  ein  Lieblingsthema  Kants 
gewesen. 

Auch  über  das  Verhältniss  Gottes  zur  Zeit  finden  sich  in  den 
Beflexionen  bemerkenswerthe  Aussprüche;  s.  II,  N.  371.  375.  376.  377.  387. 
388.  1416.  1431.  Vom  Wesen  Gottes  muss  die  Zeit  streng  ferngehalten 
werden,  da  er  seiner  Natur  nach  unveränderlich  ist,  die  Zeit  aber  die  Be- 
dingung und  Form  der  Veränderungen  ist.  Vgl.  oben  S.  385.  (Vgl.  Diss.  von 
1770:  §  19.)  Noch  in  dem  Nacbgel.  Werke  XXI,  396  heisst  es  einmal:  „Das 
praesens,  praeteritum  und  futurum  findet  bei  Gott  nicht  statt."  Hiezu  bieten 
dankenswerthe  Ergänzungen  die  von  Pölitz  herausgegebenen  Vorlesungen 
Kants  über  Phil.  Keligionslehre ,  S.  51.  81.  89—92.  130—133.  203-206, 
sowie  die  Vorlesungen  über  Metaphysik  S.  62.  302—304.  338—340.    VgL 


Wie  verhält  sich  Gott  zu  Raum  und  Zeit?  507 

[B  719.  H  79.  E  98.]  B  TL 

auch  die  Bemerkang  in  der  „B^ligion  innerhalb*'  u.  s.  w.,  Kos.  X,  167. 
Logik,  Einl.  VIII;  vgl.  dazu  Krit.  B  149.  Besonders  kräftig  drückt  sich 
Kant  am  Schluss  der  Kr.  d.  Ürth.  (Bos.  IV,  893)  aus:  vom  Wesen  Gottes  sei 
Baum  und  Zeit  zu  yerneineh;  eben  deshalb  sei  es  schwer,  ihn  als  „ersten 
Beweger**  zu  denken;  man  müsse  ihn  vielmehr  als  Weltordner  fassen,  „weil 
da  die  lästige  Bedingung  des  Baumes  und  der  Ausdehnung  wegfällt'*.  Vgl. 
auch  die  Schrift  gegen  Eberhard,  Bos.  I,  465.     Vgl.  Krit.  A  641  =  B  669. 

Lagen  demnach  diese  Probleme  dem  Verfasser  der  Kr.  d.  r.  V.  schon 
von  Hause  aus  am  Herzen ,  so  hatte  derselbe  aber  auch  einen  speciellen 
Qrund,  gerade  jetzt  auf  diese  Frage  einzugehend  Mendelssohn  nämlich 
hatte  in  seinen  „Morgenstunden**  dieselbe  aufgerührt,  und  zwar  im  Zu- 
sammenhange mit  dem  Problem  des  Idealismus.  Er  meint  (S.  105) :  „Wenn 
wir  überführt  sein  könnten,  dass  der  allerhöchste  Verstand  sich  die  [ma- 
teriellen] Dinge  ausser  uns,  als  würkliche  Objecte  [im  Baume]  darstellte, 
so  würde  unsere  Versicherung  von  ihrem  Daseyn  den  höchsten  Grad  der 
Evidenz  erlangt  haben,  und  keinen  ferneren  Zuwachs  mehr  leiden**  u.  s.  w. 
Auf  diesen  Gedanken  kommt  nun  Mendelssohn  sehr  häufig  zurück  in  allerlei 
Variationen  S.  177.  204  f.  242  ff.  276.  325.  327.  S.  205  heisst  es  in  onto- 
logischer  Argumentation :  „Da  nun  Gott  nur  das  Vollkommenste  zur  Würk- 
lichkeit  bringt,  so  wird  die  Welt,  die  er  erschaffen  hat, ^  nicht  bloss  idealisch 
sejn,  sondern  auch  würkliche  Materie  enthalten,  so  wie  es  die  grösste  Har- 
monie erfordert.*'  Dass  Kant,  welcher  die  „Morgenstunden**  genau  studirt 
hat,  auch  diese  Stellen  gelesen  hat,  ist  selbstverständlich,  geht  aber  auch 
aus  dem  Briefe  Kants  an  Schultz  hervor,  welcher  bei  Er  dm  an  n,  Kriticismus 
S.  145  abgedruckt  ist,  in  welchem  Kant  jenes  Buch  Mendelssohns  bespricht 
und  auch  eingehend  sich  über  den  „unendlichen  und  zugleich  thätigen  Ver- 
stand** des  höchsten  Wesens  äussert,  den  Mendelssohn  angenommen  habe. 
Ein  weiterer  Beweis  liegt  in  den  Anmerkungen  Kants  in  seinem  Hand- 
exemplar (Erdmann,  Nachträge  XVIII— XX.  XXXII),  woselbst  Kant  direct 
auf  Mendelssohn  Bezug  nimmt. 

Kant  verschmäht  es  nun  aber,  in  dieser  seiner  Antwort  auf  alle  jene 
Argumentationen,  die  im  Stile  des  alten  Dogmatismus  gehalten  sind,  einzeln 
einzugehen.  Er  dreht  vielmehr  auch  hier,  wie  in  der  vorigen  Anmerkung, 
den  Spiess  herum,  und  weist  darauf  hin,  dass  gerade  im  Gegentheil,  wenn 
man  eine  objective  Welt  im  Raum^  und  in  der  Zeit  annimmt,  die  schwierig- 
sten Fragen  über  Dasein,  Erkenntniss-  und  Wirkungsweise  Gottes  ent.stehen, 
dass  die  „natürliche  Theologie**,  um  welche  Mendelssohn  S.  166  so  zittert, 
nur  gerettet  werden  kann,  wenn  man  die  Objectivität  von  Baum ,  Zeit  und 
Materie  opfert. 


^  Vgl  B.  Erdmann,  Kriticismus  S.  190.  Diese  Vorschiebung  des  religiösen 
Interesses  hier  in  B  steht  in  Zusammenhang  mit  der  ähnlich  starken  Betonung 
desselben  Gegenstandes  Hume  gegenüber  in  den  Proleg,  §  57—59;  vgl.  dazu 
B.  Erdmanns  Einl.  zu  denselben,  S.  106—110. 


508  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    IV. 

B  71,  [R  719.  H  79.  K  98.] 

Kant  entwickelt  nun  hier  zunächst  die  Bestimmungen  der  Relifrlons- 
Philosophie  über  den  Gottesbegriff.  Es  handelt  sich  dabei  vorerst  um  drei 
Gedanken,  welche  scharf  zu  unterscheiden  sind. 

Erstens.  Gott  ist  für  uns  kein  Gegenstand  der  Anschauung; 
er  ist,  wie  Mellin  I,  262  hiezu  weiter  ausführt,  kein  sinnlicher  Gegenstand, 
keine  blosse  Erscheinung;  wir  können  ihn  daher  nicht  erkennen,  und  daher 
rührt  es,  dass  alles,  was  wir  von  Gott  aussagen,  eigentlich  negative  Prädicate 
sind.  (Vgl.  dazu  bes.  die  Ausführungen  B  149  über  das  ,,Object  einer  nicht- 
sinnlichen Anschauung'^) 

Zweitens.  Gott  ist  für  sich  selbst  kein  Gegenstand  der  sinn- 
lichen Anschauung,  d.  h.  seine  Selbstanschauung  ist  nicht  an  die  „ein- 
schränkende Bedingung  eines  inneren  Sinnes'*  (B  159)  gebunden,  ihr  nicht 
„unterworfen".     Vgl.  oben  S.  484. 

Drittens.  Gottes  Erkenntnissweise  von  den  Dingen  kann 
nur  intuitiv  sein,  nicht  discursiv:  Gottes  Erkenntnissweise  ist  die  denk- 
bar vollkommenste,  aber  die  discursive  Erkenntnissform,  das  Denken,  ist 
schon  beschränkt  (vgl.  oben  S.  24.  206).  (Vgl.  dazu  die  Abhandlung  über  den 
„Vornehmen  Ton**,  Ros.  I,  634.)  „Denken,**  sagt  Mellin  III,  414  hiezu, 
„beweiset  jederzeit  Schranken ,  indem  ich  im  Denken  nicht  den  Gegenstand 
selbst,  sondern  nur  meine  Gedanken  habe**  u.  s.  w.  Ist  nun  also  Gottes 
Erkenntnissweise  von  den  Dingen  eine  intuitive,  so  kann  doch  diese  seine 
Anschauungsthätigkeit  nicht  an  die  Bedingungen  von  Baum  und  Zeit  ge- 
bunden sein;  wenigstens  ist  man  „in  der  natürlichen  Theologie  sorgfältig 
darauf  bedacht,  diese  Bedingungen  von  Gottes  Anschauungsthätigkeit  wegzu- 
schaffen**. Warum?  sagt  Kant  hier  nicht,  dagegen  hat  Mellin  III,  414  das 
—  im  Anschluss  an  die  früheren  Dogmatiker —  weiter  ausgeführt:  „Man 
wird  nicht  zugeben,  dass  Gott  auch  Alles  in  Kaum  und  Zeit  erkenne,  denn 
alsdann  könnte  er  so  wenig  allwissend  und  allgegenwärtig  sein,  als  wir, 
und  hinge,  in  seiner  Erkenn tniss,  von  den  Gesetzen  der  Zeit  und  des  Baumes 
ab.  Er  müsste  dann  ebenso,  wie  wir,  die  Geschichte  im  Gedächtniss  be- 
halten, denn  die  vergangene  Zeit  wäre  auch  für  ihn  vergangen,  welches  un- 
gereimt ist**  u.  s.  w.  ^  Baum  und  Zeit  nun  aus  der  Erkenntnissweise  Gt)ttes 
auszuschliessen  —  wäre  man  nun  nicht  berechtigt,  wenn  man  Raum  und 
Zeit  „vorher  zu  Formen  der  Dinge  an  sich  selbst  gemacht  hat**;  sind  eben 
die  Dinge  an  sich  selbst  raumzeitlich,  so  kann  man  aus  der  Erkenntnissweise 
des  göttlichen  Wesens  diese  Factoren  nicht  ausschliessen.  (Vgl.  Mellin  III,  414.) 

In  dem  Satze,  in  welchem  Kant  diese  Gedanken  andeutet,  macht  er 
nun  aber  noch  eine  neue  Wendung,  welche  man  nicht  gerade  als  streng 
logisch  bezeichnen  kann.  Denn  der  Anfang  des  Satzes,  der  mit  den  Worten 
beginnt:  „Aber  mit  welchem  Rechte  kann  man  dieses  thun?**  weist  zurück 


*  Ueber  dies  Problem  vgl.  auch  Schopenhauer,  W.  a.  W.  II,  152.  Lotse, 
Metaph.  272  ff.  Dilthey,  Einl.  I,  412  ff.  Michelet,  Entw.  d.  n.  d.  Philos.  28  ff. 
Grassmann,  Wissenschafbslehre  4,  127  ff. 


Gott  ist  in  keiner  Hinsicht  an  die  Formen  von  Raum  und  Zeit  gebunden.    509 

[R  719.  720.  H  79.  K  98.]  B  71.  72. 

auf  die  „WegschafiPang  der  Bedingungen  von  Zeit  und  Raum*'  aus  der  gött- 
lichen Erkenntnissthätigkeit;  aber  das  Ende  des  Satzes  zielt  auf  etwas 
ganz  anderes,  auf  die  Wegschaffung  der  Bedingungen  von  Zeit  und  Raum 
aus  dem  Dasein  Gottes.  Ganz  dieselbe  Gedankenentgleisung  finden  wir 
auch  in  der  ,,Kritik  aller  speculativen  Theologie",  A  640  f.  üebrigens  findet 
sich  ganz  dieselbe  Unklarheit  auch  in  dem  Streit  zwischen  Leibniz  und 
Clarke.  In  der  secundären  Literatur  sind  diese  beiden  Gedanken  denn 
auch  zur  Geltung  gekommen;  so  „Hauptmomente"  S.  120;  so  behandelt 
Mellin  III,  414  f.  beide  nach  einander.  Den  zweiten  Gedanken  führt  dann 
Mellin  III,  92  ff.  nochmals  eingehender  aus,  woselbst  Mellin  (mit  Hinweis 
auf  Crusius,  vgl.  I,  867  ff.)  alle  die  Schwierigkeiten  entwickelt,  welche 
sich  aus  der  Annahme  der  Realität  von  Raum  und  Zeit  für  das  Wesen 
Gottes  ergeben '. 

So  „bleibt"  denn  also,  wenn  man  jenen  schlimmen  Consequenzen  aus- 
weichen will,  „nichts  übrig",  als  dass  man  Zeit  und  Raum  zu  subjectiven 
Formen  unserer  menschlichen  Anschauung  mache.  Diese  unsere  menschliche 
Anschauung  heisst  nun  Kant  eine  sinnliche  im  Gegensatz  zu  der  in- 
tellectuellen,  welche  er  hier  und  im  folgenden  Absatz  der  Gottheit  zu- 
schreibt.   Der  Unterschied  ist  einleuchtend.    Vgl.  oben  S.  24 — 26. 

Die  sinnliche  Anschauung  ist  „von  dem  Dasein  des  Objects  ab- 
hängig, mithin  nur  dadurch  möglich;  dass  die  Yorstellungsffthigkeit  des 
Subjects  durch  dasselbe,  das  Object,  afficirt  wird".  Wir  sind  eben  abhängige 
Wesen,  nicht  bloss  „unserem  Dasein  nach,  sondern  auch  unserer  Anschauung 
nach",  und  diese  letztere  Abhängigkeit  „bestimmt  unser  Dasein  in  Beziehung 
auf  gegebene  Objecte" ;  wir  sind  eben,  wie  es  Proleg.  §  57  heisst,  „von  den 
Erscheinungen  abhängig  oder  damit  als  Bedingungen  unserer  Bestim- 
mung verfiochten",  d.  h.  unser  empirisches  Dasein,  besonders  unsere  Vor- 
stellungsthätigkeit  ist  bedingt  und  bestimmt  durch  die  uns  in  der  Erfahrung 
gegebenen  Objecte.  Wir,  als  so  abhängige  Wesen,  haben  nur  jene  sinnliche 
Anschauung,  und  können  nur  eine  solche  haben. 

Hiezu  fugt  Kant  noch  eine   wichtige,  ergänzende  Bemerkung  hinzu. 


^  Trocken  bemerkt  zu  diesem  Argument  v.  Kirchmann,  Erl.  14:  „Wenn 
der  von  der  natürlichen  Theologie  aufgestellte  Begriff  Gottes  und  die  Wirklichkeit 
von  Raum  und  Zeit  unverträglich  mit  einander  sind,  so  folgt  für  den  Philosophen 
nicht  die  ün Wirklichkeit  dieser,  sondern  jenes."  Dagegen  Mc  Cosh,  Crüicism  of 
tke  crit,  phil.  dl,  entscheidet  die  Frage  gegen  Kant  wieder  ganz  im  Sinne  von 
Clarke.  Vgl.  auch  Michelis,  Kant  62.  —  Dagegen  eine  warme  Anerkennung  der 
„Läuterung,  welche  unsere  religiöse  Weltansicht  durch  die  Erkenntniss  der  Idealität 
des  R.  u.  d.  Z.  ei*fährt",  im  Sinne  Lotze's  bei  Sommer,  Neugestaltung  174  ff.  — 
Die  nachkantische  Religionsphilosophie  hat  in  Eschenmayer^  Schelling,  Schleier- 
macher, Fichte  jr.,  Weisse,  Lotze  u.  A.  an  diese  Kantischen  Bestimmungen  an- 
geknüpft, üeber  die  „Unbestimmbarkeit  des  Absoluten  durch  Zeit  und  Raum* 
vgl.  auch  Seh  ad,  Fichte'sches  System,  III  §  82.  Vgl.  auch  Bachmann,  Phil, 
meiner  Zeit  232  ff. 


510  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    lY. 

B  72.  [R  720.  H  79.  K  98.] 

Selbst  wenn  (was  sich  aber  nicht  entscheiden  lässt)  alle  endlichen,  denkenden 
Wesen  an  dieselben  Formen  der  Sinnlichkeit  gebunden  sind,  d.  h.  an  Raum 
und  Zeit,  so  würde  uns  diese  Allgemeingültigkeit  doch  nicht  berechtigen,  zu 
meinen,  darum  sei  diese  uns  mit  jenen  Wesen  gemeinsame  Anschauungsart 
keine  ,, sinnliche";  denn  auch  in  jenem  angenommenen  Falle  wäre  sie  doch 
immer  noch  eine  „abgeleitete",  würde  nur  den  „endlichen"  Wesen  zukommen, 
welche  „ihrem  Dasein  und  ihrer  Anschauung  nach  abhängig  sind".  —  Auf 
diese  ,, anderen  denkenden  Wesen"  hatte  Kant  ja  schon  einmal  hingewiesen 
(vgl.  oben  S.  345);  damals  allerdings  mit  der  Bemerkung,  dass  diese  viel- 
leicht an  andere  Bedingungen  gebunden  sein  können  als  wir,  wenn  sie  auch 
endlich  sind.  Damals  war  die  Absicht  zu  zeigen,  dass  eben  deshalb  unsere 
Anschauungsform  etwas  Speci  fisch -Mensch  liebes  sei.  Hier  aber  ^ird 
gerade  die  entgegengesetzte  Möglichkeit  angenommen:  auch  wenn  jene 
anderen  denkenden  Wesen  dieselbe  Anschauungsform  haben,  bleibt  sie 
darum  doch  eine  abgeleitete,  und  gibt  darum  doch  nur  Erscheinung,  nicht 
die  Dinge  an  sich. 

Die  Bemerkung  macht  ganz  den  Eindruck,  als  ob  sie  die  Antwort  auf 
einen  Einwurf  wäre.  Das  ist  auch  der  Fall.  Auch  hier  ist  es  wiederum 
Mendelssohn,  welchen  Kant  im  Auge  hat.  Jener  meint  (entsprechend  dem 
Gottesbeweis  e  consensu  gentium),  die  Wahrheit  unserer  Vorstellungsweise  werde 
dadurch  garantirt,  dass  nicht  nur  alle  Menschen,  sondern  auch  Thiere  und 
höhere  Wesen,  überhaupt  alle  „denkenden  Wesen"  unsere  Vorstellungsweise 
wohl  theilen  werden  (Morgenstunden,  S.  16.  24.  104  f.  111  f.  166  f.  174.  324). 
Diese  Stellen,  auf  welche  auch  Erdmann,  Eriticismus  S.  120  hinweist, 
liegen  der  Eantischen  Bemerkung  offenbar  zu  Grunde ;  diese  letztere  verdient 
daher  auch  nicht  den  Vorwurf  Erdmanns  (Erit.  S.  191),  sie  sei  eine  „in- 
haltlich recht  überflüssige  Wendung";  auch  dass  sie  „aus  dem  Charakter 
der  früheren  Auflage  heraustrete",  kann  ihr  nicht  mit  Fug  vorgeworfen 
werden.  —  Uebrigens  bezieht  sich  auf  diesen  Punkt  auch  eine  Anmerkung 
Eants  in  seinem  Handexemplar  (Erdmann,  Nachträge  XVIII):  „Es  mögen 
vielleicht  alle  erschaffenen  Wesen  daran  [an  die  Baumanschauung]  gebunden 
seyn,  das  wissen  wir  nicht.  So  viel  kann  man  wissen,  dass  es  eine  blosse 
sinnliche  Form  ist.  Das  Vornehmste  ist,  dass  sie  einen  bestimmten  Begriff 
a  priori   gibt."     Zur  Sache  vgl.  Baumann,   Philos.  Monatsh.  1882,  268  f. 

Ganz  anders  das  „ürwesen".  Dieses  hat,  wie  Eant  in  einem  Briefe 
an  Hamann  (s.  dessen  Werke  VIII,  1,  237)  sagt,  „die  Göttersprache  der  an- 
schauenden Vernunft",  oder  wie  er  also  hier  sich  ausdrückt,  intellectuelle 
Anschauung,  d.  h.  ,,eine  solche,  durch  die  selbst  das  Dasein  des  Objects 
der  Anschauung  gegeben  wird".  Hier  ist  also  das  angeschaute  Object  nicht 
vor  der  Anschauung  da,  sondern  wird  erst  durch  die  Anschauung,  in  und 
mit  ihr  selbst  gegeben,  also  hervorgebracht.  Diese  intellectuelle  Anschauung 
schafft  also  aus  sich  selbst  heraus  im  Act  des  Anschauens  zugleich 
ihre  Objecte.  Gottes  Schauen  ist  Schaffen,  Gottes  Schaffen  ist  Schauen.  Gott 
schaut  die  Objecte   gleichsam   hin,   projicirt  seine  Anschauungen 'als  reale 


Intuitus  denvativus  und  iniuitus  originarius.  511 

[R  720.  H  79.  K  98.]  B  73. 

Dinge  aus  sich  selbst  hinaus.  Die  Objecte  sind  gleichsam  realisirte  Blicke 
Gottes,  wie  nach  einer  tiefsinnigen  indianischen  Sage  die  Sterne  entstanden 
sind,  indem  der  Grosse  Geist  sie  vor  sich  hinausblickte.  Gott  blickt  — 
und  die  Dinge  sind. 

Diesem  unterschied  gibt  Kant  noch  einen  anderen  Ausdruck:  Die 
menschlich-sinnliche  Anschauung  wird  charakterisirt  als  intuitus  deri- 
vativus  (vgl.  die  alte  Lehre  vom  ,,secundär6n  Intellect"),  die  göttlich- 
intellectuelle  als  intuitus  originarius,  Gottes  Anschauungsart  ist  eine 
„ursprüngliche^',  weil  seine  Anschauungen  eben  nicht  abhängig,  nicht  ab- 
geleitet sind  von  den  Objecten,  sondern  weil  diese  Objecte  vielmehr  erst 
durch  den  Act  des  Anschauens  werden  und  sind,  und  somit  aus  Gott  selbst 
fiiessen.  Unsere  Anschauung  aber  ist  abhängig  von  den  uns  coordinirt 
gegenüberstehenden  Objecten  an  sich,  ist  also  von  diesen  uns  erst  afficiren- 
den  Dingen  an  sich  abgeleitet;  sie  ist  sinnlich,  weil  nur  unsere  Sinnlichkeit 
die  Beziehung  zwischen  uns  und  diesen  Objecten  vermittelt.  Uns  eignet 
diese  Anschauungsweise;  die  intellectuelle  kann  „aus  dem  angeführten 
Grunde^'  nur  dem  Urwesen  zukommen,  weil  dieses  allein  unabhängig  ist  von 
den  Objecten;  diese  sind  vielmehr  von  ihm  abhängig.  Freilich  sind  auch 
die  Erscheinungen  qua  Erscheinungen  von  uns  abhängig,  ja  wir  schaffen 
die  ganze  Erscheinungsweit  im  Act  unseres  Anschauens,  aber  nur  auf  Grund 
der  Affection  seitens  der  Dinge  an  sich.  Gott  aber  schafft,  erschafft  diese 
selbst,  und  zwar  ohne  Affection  von  aussen,  rein  aus  sich  heraus,  durch  seine 
schöpferische  Anschauungsthätigkeit,  durch  seine  anschauliche  Schöpferthätig- 
keit.  „Wie  er  gebeut,  so  steht  es  da"  (Fischer,  Kr.  d.  K.  Phil.  16  f.). 
Dazu  vergleiche  man  die  Lehre  vom  intellectus  archetypus  in  der  Kr.  d. 
Urtheilskraft  §  77  und  schon  in  der  Kr.  d.  r.  V.  A  695  =  B  723.  Auch 
schon  in  der  Dissertation  §  10  heisst  es  sehr  entschieden:  Divimis  intuitus, 
qui  ohjectorum  est  principium,  non  principiatum ,  cum  sit  independens,  est 
archetypus  et  propterea  perfecte  intellectualis,  (Vgl.  Baumgarten,  Met.  §  346. 
866  über  die  cognitio  archetypa  sive  exemplaris.) 

So  treffen  wir  denn  hier  zum  zweiten  Male  (beidemal  in  der  zweiten 
Auflage)  auf  den  Unterschied  der  sinnlichen  und  der  intellectuellen  An- 
schauung. Zwar  handelte  es  sich  das  erste  Mal  (vgl.  oben  S.  484)  um  die 
Anschauung  des  Selbst,  hier  um  die  Anschauung  der  Dinge ;  aber  wir  finden 
beidemal  doch  im  Wesentlichen  dieselbe  Definition  des  Unterschiedes:  Bei 
der  intellectuellen  Anschauung  wird  das  Angeschaute  durch  das  Anschauende 
selbst  hervorgebracht;  bei  der  sinnlichen  dagegen  wird  dem  Anschauenden 
das  Angeschaute  von  anderwärts  her  dargebracht.  Und  das  Resultat  ist: 
Nur  bei  Gott  findet  sich  die  intellectuelle  Anschauung,  sowohl 
der  Dinge,  als  seiner  Selbst.  Der  Mensch  hat  nur  die  sinnliche 
Anschauung,  sowohl  seiner  Selbst,  als  der  Dinge. 

Weiteres  hierüber  bieten  Kants  Reflexionen  II,  N.  313,  woselbst  Kant 
unterscheidet:  1)  organisches  oder  physisches  Anschauen  durch  den 
Körper,  2)  pneumatisches  oder  mystisches  Anschauen  durch  den  Geist 


512  §  8-     Allgemeine  Aumerkungen.    lY. 

B  72.  [R  720.  H  79.  Z  98.] 

ohne  Mithilfe  des  Körpers.     Die   menschliche  Anschauung  ist  nur  phjaiscb. 
In  den  Vorlesungen  über  Metaphysik,  S.  255,  heisst  es:   «unser  Bewusstsein 
ist  an  die  animalische  Anschauung  adstringirt."    Hiezu  vergleiche  man 
Eeflex.  n,  N.  929  über  Gottes  „intuitiven  Verstand^  im  Gegensatz  zu  dem  der 
„endlichen  Wesen".     Vgl.  N.  1652.     Dazu    vergleiche   man    auch   die   Mit- 
theilungen B.  Erdmanns  aus  dem  Manuscript  der  metaphysischen  Vorlesung 
Kants,  Phil.  Monatsh.  1884,  S.  77.     Vgl.  auch  Kants  Metaphysik,  Ed.  Pölitz, 
S.  306 — 310,  sowie  die  von  demselben  herausgegebenen  Vorles.  über  Philos. 
Religionslehre,  S.  102 — 115.  Auch  in  dem  Brief  an  Herz  vom  21.  Febr.  1772 
wird   des   Unterschieds  Erwähnung    gethan.   —   Wie   B.  Erdmann    (Reflex. 
II,  313)    richtig   bemerkt,    steht   die   Annahme  jener    „pneumatischen    An- 
schauung^   in    offenbarem    Zusammenhang    mit    der    ,  philosophischen    £i^ 
dichtung'  des  mundus  intelligibilis  und  seiner  „pneumatischen'  G^etsmfissig- 
keit:   die  pneumatische  Welt  ist  nur  der  pneumatischen  Anschauung  offen: 
der  Mensch  hat  diese  nicht,  nur  Gott.    Aber  dass  der  Mensch  jene  ihm  ver- 
sagte pneumatische  Anschauung  doch  einmal  erwerben  werde,   das  ist  nach 
Kant  nicht  ausgeschlossen.     Es  besteht  sogar   die  Unsterblichkeit   des 
Menschen   eben   in  jener  Erwerbung,    in   der  Veränderung  der  sinnlichen 
raumzeitlichen    Anschauung    in    die    geistige    unzeitliche    und    unräumliche 
Anschauung,   und  das  sei   eben  „die  andere  Welt*';   dieselbe  sei  also  nicht 
ein  anderer  Ort,   sondern   nur   eine   andere  Anschauung  eben   dieser  Welt. 
Diese  Hypothese  findet  sich  in  den  „Träumen*'  (Ros.  VII,  a,  52  ff.  93,  Hart. 
II,  346.  378);  in  jener  halb  ernsten,  halb  scherzhaften  Form,  welche  so  sehr 
an  Piatons  Vortrag  seiner  fj.6d-ot  erinnert;    dann  zwischen    177Q  und  1780 
in  den  „Vorlesungen  über  Metaph.'^  S.  255  f.;  dann  aber  auch  in  der  Kr.  d. 
r.  V.  selbst  A  393  f.,  bes.  aber  in  der  Methodenlehre  A  779  =  B  807,   wo 
Kant  jene  Annahme   als  „transscendentale  Hypothese^    zulässt,  ja  geradezu 
empfiehlt,  in  einem  Zusammenhang,  in  welchem  er,  in  demselben  Sinne,  die 
Hypothese  „aufbietet^ ;  „dass  dieses  Leben  nichts  als  eine  blosse  Erscheinung, 
d.  h.  eine  sinnliche  Vorstellung  von  dem  rein  geistigen  Leben,  und  die 
ganze  Sinnenwelt  ein  blosses  Bild  sei,  welches  unserer  jetzigen  Erkennt* 
nissart    vorschwebt,    und    wie    ein   Traum   an    sich    keine  objeotive 
Realität   habe:    dass,   wenn   wir   die  Sachen   und   uns  selbst    anschauen 
sollen,  wie  sie  sind,  wir  uns  in  einer  Welt  geistiger  Naturen  sehen  würden.* 
Vgl.  oben  S.  497  N.    Jene  „Welt  geistiger  Naturen*  bildet  dann  das  zeitlose 
„corpus  tnysticum  der  vernünftigen  Wesen"  (A  808  =  B  836).    Von 
diesem  corpus  tnysticum  hatte  Kant  schon  in  den  „Träumen"  gesprochen,  als 
einem  „geistigen  Körper",  einer  „GeistersocietÄt"  (Ros.  VII,  a,  96).    Diese  Seite 
Kants  bot  ja  von  Anfang  an,  von  Jung-Stilling  bis  auf  Du  Prel,  den  „Mystikern* 
willkommene    Anknüpfungspunkte.     Auch    Schopenhauer    hat   ja    Kants 
transsc.  Idealismus  gelegentlich  zum  Mysticismus  verwendet;  besonders  aber 
war  Jung-Stilling  (W.  W.  I,  14  ff.;  II,  131)  ein  Verehrer  der  Aesthetik,  weil 
er  in   dem   verschlungenen   Gewebe  ihrer   Argumentationen   den  Sweden- 
borg'schen  Einschlag  herausfühlte.    Dessen  Ideen  nennt  Kant  ja  «sehr 


Kants  intuitiv  originariua  und  Swedenborgs  gpneomatische  Anschauung'.     513 

[R  720.  H  79.  K  98.]  B  72. 

erhaben"  (Metaphysik,  Ed.  Pölitz,  S.  257;  vgl.  Du  Prel,  Ks.  Vorlesungen 
über  Psychologie,  1889;  vgl.  dazu  Riehl,  Krit.  I,  229):  , Swedenborg 
sagt:  die  Geisterwelt  macht  ein  besonderes  reales  Universum  aus;  dieses  ist 
der  mundus  intelligihilis,  der  von  diesem  mundo  sensibili  muss  unter- 
schieden werden.  Er  sagt:  alle  geistigen  Naturen  stehen  mit  einander  in 
Verbindung"  u.  s.  w.  »Nun  stehen  unsere  Seelen  mit  einander  als  Geister 
in  dieser  Verbindung  und  Gemeinschaft,  und  zwar  schon  hier  in  dieser 
Welt;  nur  sehen  wir  uns  nicht  in  dieser  Gemeinschaft,  weil  wir  noch  eine 
sinnliche  Anschauung  haben;  aber  obgleich  wir  uns  darinnen  nicht 
sehen,  so  stehen  wir  doch  darinnen.  Wenn  nun  das  Hinderniss  der  geistigen 
Anschauung  auf  einmal  aufgehoben  wird,  so  sehen  wir  uns  in  dieser 
geistigen  Gemeinschaft,  und  dies  ist  die  andere  Welt ;  nun  sind  dieses  nicht 
andere  Dinge,  sondern  dieselben,  die  wir  aber  anders  anschauen."  Mögen 
diese  Worte  aus  1788  oder  aus  1774  stammen  (Erdmann,  Phil.  Mon.  XIX, 
129  fip.,  nimmt  aber  mit  Eecht  das  letztere  an),  so  lassen  sie  doch  vielleicht 
darauf  schliessen,  dass  Kant  bei  dem  Gegensatz  der  sinnlichen  und  der 
geistigen  Anschauung  von  Swedenborg'schen  Einflüssen  mitbestimmt 
war,  so  dass  die  Diss.  von  1770  und  mit  ihr  die  Aesthetik  in  einem  wenn 
auch  losen,  so  doch  positiven  Verhältniss  zu  den  „Träumen"  von  1766  und 
damit  auch  zu  Swedenborg  stünde.  Vgl.  oben  S.  481  N.  Vgl.  auch  Ks. 
Refl.  II,  N.  1291,  wo  Kant  mit  der  Idee  einer  , mystischen  Welt"  spielt. 
Aber  der  wild  gährende  Most  des  Swedenborg'schen  Mysticismus  ist  bei  Kant 
zu  dem  edeln,  milden  und  doch  kräftigen  Wein  des  Kriticismus  abgeklärte 


^  Trotzdem  oder  vielmehr  eben  deshalb  ist  es  ganz  ungerechtfertigt,  Kant 
zu  einem  „Mystiker**  im  modernen  Sinne  stempeln  zu  wollen.  Mögen  auch  einige 
Swedenborg'sche  Conceptionen  die  Ausbildung  des  Standpunktes  von  1770  mit 
begünstigt  haben,  wie  auch  oben  S.  431  N.  als  möglich  angenommen  wurde,  so 
hat  Kant  doch  schon  im  Jahre  1770  es  abgelehnt,  auf  solche  indagationes  mysticas 
näher  einzugehen;  vgl.  oben  S.  143  N.  Vollends  als  Kant  (nach  Erdmanns  Nach- 
weis) seit  der  Mitte  der  siebenziger  Jahre  den  specifischen  Kern  seines 
Kriticismus  ausbildete  —  seine  kritische  Erfahrungsl ehre,  wie  sie  die  Analytik 
entwickelt  — ,  war  für  ihn  fortan  jedes  ernstliche  Eingehen  auf  Swedenborg'sche 
Phantasien  gänzlich  ausgeschlossen.  Dass  Kant  eine  Zeit  lang  jenen  Phantasien 
sein  Ohr  geliehen  hatte,  wirkte  von  da  ab  gewissermassen  wie  eine  Schutzimpfung 
gegen  alle  ernstlichen  Anfälle  der  Swedenborg'schen  Krankheit.  Wenn  Kant  noch 
in  der  Kr.  d.  r.  V.  von  dem  corpus  tnystiaim  u.  s.  w.  spricht  (vgl.  oben) ,  so  ist 
dieser  Gedanke  selbst  nicht  Mysticismus ,  denn  jene  grob  dogmatische  Vorstellung 
eines  Swedenborg  ist  an  jener  Stelle  zu  „einer  blossen,  aber  doch  praktischen  Idee" 
im  Sinne  Kants  gemildert.  Wenn  ein  etwas  drastischer  Vergleich  gestattet  ist,  so 
kann  man  sagen :  so  wenig  Theerderivate  noch  selbst  Theer  sind,  so  wenig  sind  diese 
,  Ideen **  des  Kriticismus  mit  jenen  Dogmen  des  Mysticismus  noch  identisch.  Die 
Kantische  Erfahrungswelt,  wie  sie  durch  die  „Analogien  der  Erfahrung**  geregelt 
ist,  Bchliesst  jedes  Durchbrechen  des  gesetzmässigen  Naturzusammenhanges  durch 
uncontrolirbare  „Spirits**  aus,  und  Kant  würde  den  modernen  Mysticismus,  soweit 
er  sich  an  seinen  Rockschössen  festhalten  will,  energisch  von  sich  geschüttelt  haben. 
Yaihinger,  Kant-Commentar.    ü.  33 


514  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    lY. 

B  73.  [R  720.  H  79.  E  98.] 

Kant  scbliesst  diese  Anmerkung  mit  dem  wesentlichen  methodologisehen 
Hinweis,  dass  ,,die  letztere  Bemerkung  zu  unserer  ästhetischen  Theorie  nur  als 
Erläuterung,  nicht  als  Beweisgrund  gezählt  werden  muss".  Diese  „letztere 
Bemerkung''  ist  natürlich  die  ganze  Anmerkung  lY.  Vgl.  hiezu  Arnoldt, 
Id.  S.  60,  der  übrigens  den  Rosen  kr  anzusehen  Druckfehler  „Beweggrund"' 
statt  „Beweisgrund''  ahnungslos  abdruckt  und  damit  den  Sinn  der  ganzen 
Stelle  verfehlt:  es  handelt  sich  eben  um  eine  methodologische  Reservation, 
welche  Kant  oft  macht,  welche  er  z.  B.  auch  schon  in  der  Vorrede  zur 
Preisschrift  von  1764  mit  den  Worten  gemacht  hat:  „Einiges,  welches  man 
noch  unsicher  finden  möchte,  wird  von  der  Art  sein,  dass  es  nur  zur  Er- 
läuterung, nicht  zum  Beweis  gebraucht  wird."  Freilich  wollte  ja  Kant 
ursprünglich  aus  seiner  Er.  d.  r.  Y.  (vgl.  Band  I,  132  ff.  140  ff.)  alles  bloss 
Hypothetische ,  Problematische  ausschliessen ,  aber  in  der  2.  Auflage  fand 
er  es  doch  zweckmässig,  solche  der  Popularität  dienenden  Erläuterungen 
einzuschieben,  welche,  wenn  sie  auch  nicht  als  strenge  Beweise  dienen 
konnten,  doch  wenigstens  den  Zweck  einer  argumentatio  ad  hominem 
erfüllten. 

Zu  dieser  methodologischen  Reservation  hatte  nun  Kant  allen  Grund: 
Denn  Gottes  Dasein  ist  ja  für  Kants  theoretische  Philosophie  „nur  eine 
Idee",  und  ebenso  ist  es  mit  den,  jenem  Wesen  zugeschriebenen  Eigen- 
schaften; besonders  eben  jene  Gott  beigelegte  intellectuelle  Anschauung  ist 
ein  rein  fictiver  Gedanke,  aus  dem  daher  auch  keine  zwingenden  Beweise 
gezogen  werden  können,  den  man  eben  nur  der  Erläuterung  halber  herbei- 
ziehen kann.  So  heisst  es  ja  A  256 :  „ein  Verstand,  welcher  nicht  discnrsiv 
durch  Kategorien,  sondern  intuitiv  in  einer  nichtsinnlichen  Anschauung  seinen 
Gegenstand  erkenne",  sei  „ein  Problema",  und  „wir  können  uns  von  einem 
solchen  nicht  die  geringste  Vorstellung  seiner  Möglichkeit  machen". 
Aehnlich  A  770  und  Froleg.  §  57 ;  vgl.  auch  B  145  \ 

üebrigens  hätte  Kant  auch  noch  in  derselben  Weise  die  Freiheitslehre 
als  erläuterndes  Argument   herbeiziehen   können,   welche  dann  speciell 


^  Meli  in  (1, 203)  macht  die  richtige  Bemerkung,  dieser  Begriff  einer  Verstandes- 
anschauung sei  ein  rein  negativer:  „Er  entsteht  nur  dadurch,  dass  die  Beschaffen- 
heit der  unsrigen  verneint  wird,  folglich  ist  der  Begriff  derselben  eigentlich  leer, 
eine  blosse  Verneinung  (nihil  privativum),'^  Weiteres  bei  Amol  dt,  R.  u.  Z.  60 
und  bei  Lange,  Gesch.  d.  Mat.  II,  129  (das  «Phantom'  der  int.  Ansch.).  Eine 
ausfQhrliche  Besprechung  dieser  Stelle  s.  bei  Thiele,  Ks.  intell.  Anschannng 
S.  85 — 89  (117);  Thiele  schliesst:  „Dieser  Begriff  der  intell.  Anschauung  ist  ein 
blosser  Grenzbegriff.  .  .  .  Aber  der  abstracto  Begriff  einer  solchen  ist  wider- 
spruchslos und  überdies  unentbehrlich,  um  über  unsere  sinnliche  Anschauung  und 
Überhaupt  über  unser  ganzes  Denken  klar  zu  werden,  und  seine  Grenzen  lo 
erkennen. *  Gegenüber  solcher  kritischer  Besonnenheit  haben  Fichte  und  Schelling 
in  kühnem  Dogmatismus  dem  Ich  die  intellectuelle  Anschauung  zugesprochen,  nnd 
dann  daher  consequenterweise  das  Ich  auch  mit  dem  .Ürwesen',  mit  der  WeU- 
vemunft  identificirt.    Vgl.  oben  S.  24 — 26. 


Gott,  ^Freiheit  und  die  Antinomien  als  Bestätigungen  der  Tr.  Aesthetik.    515 

[R  720.  H  79.  E  98.]  B  72. 

die  Idealität  der  Zeit  illustrirt  hätte.  Das  hat  Kant  in  der  That  an  anderen 
Stellen  gethan;  so  heisst  es  in  den  Losen  Blättern,  I,  S.  217:  „Die  Realität 
des  Freiheitsbegriflfes  zieht  unvermeidlicher  Weise  die  Lehre  von  der  Idealität 
der  Gegenstände  als  Objecto  der  Anschauung  im  Baume  und  der  Zeit  nach 
sich.  Denn  wären  diese  Anschauungen  nicht  bloss  subjective  Formen  der 
Sinnlichkeit,  sondern  [Formen]  der  Gegenstände  an  sich,  so  wurde  der 
praktische  Gebrauch  derselben,  d.  i.  die  Handlungen  würden  schlechterdings 
nur  von  dem  Mechanism  der  Natur  abhängen ,  und  Freiheit  sammt  ihrer 
Folge,  der  Moralität,  wäre  vernichtet."  Vgl.  auch  Kants  Recension  über 
Ulrichs  Eleutheriologie ,  Phil.  Mon.  1880,  S.  205.  Beide  Punkte,  die  Prei- 
heitslehre  und  die  Gotteslehre,  in  ihrem  tieferen  Zusammenhang,  werden 
besonders  in  der  Kr.  d.  pr.  Vem.  auf  die  Idealität  der  Zeit  bezogen.  Nicht 
bloss  die  Freiheit  als  solche  sei  nur  zu  „retten' '  durch  die  Subjectivität  der 
Zeit  (R.  Vni,  225),  sondern  vor  Allem  im  Verhältniss  zur  Allmacht  Gottes 
(R.  Vin,  231—235).  Nehme  man  die  Zeit,  nebst  dem  Raum,  als  objectiv, 
so  verfalle  man  (wenn  man  sich  nicht  mit  Mendelssohns  widerspruchsvollen 
Positionen  behelfen  wolle)  nothwendig  dem  Spinozismus,  welcher  con- 
sequenter  Weise  die  menschliche  Freiheit  leugne.  (Aehnlich  in  den  Vorl. 
über  Metaph.  S.  62.)  Nur  wenn  man  sowohl  Gott  als  „unabhängig  von 
allen  Zeitbedingnngen''  fasse  (denn  ihm,  „dem  unendlichen  ist  die  Zeit- 
bedingung  nichts' ^  ib.  262),  als  auch  beim  Menschen  das  zeitlose  Wesen 
von  der  zeitlichen  Erscheinung  unterscheide,  sei  die  Freiheit  zu  „retten''. 

In  diesen  Zusammenhang  gehört'  die  Erinnerung,  dass  Kant  noch  einen 
anderen  wirklichen  ,,Beweisgrund"  für  seine  „ästhetische  Theorie"  parat 
hat:  die  Antinomien;  diese,  deren  Typus  die  Frage  ist,  ob  die  Welt 
endlich  oder  unendlich  sei,  gehören  ja  auch  zu  jenen  „quaestionea  inanea^y 
von  denen  wir  eben  eine  interessante  Probe  kennen  gelernt  haben.  Kant 
sagt  ausdrücklich  Kr.  A506:  „Man  kann  aus  dieser  Antinomie  einen  wahren, 
zwar  nicht  dogmatischen,  aber  doch  kritischen  und  doctrinalen  Nutzen  ziehen  : 
nämlich  die  transscendentale  Idealität  der  Erscheinungen  dadurch  indirect 
zu  beweisen,  wenn  Jemand  etwa  an  dem  directen  Beweise  der  trans- 
scendentalen  Aesthetik  nicht  genug  hätte"  u.  s.  w.  Vgl.  oben  S.  300  ff.  üeber 
dieses  „Experiment  der  Vernunft"  vgl.  auch  die  Preisschr.  über  die  Fortschr. 
d.  Met.  (Hart.  VIII,  552).    Vgl.  Ks.  Reflexionen  H,  Nr.  1386. 

B.  Erdmann  (Kants  Reflexionen  II,  Einl.  XXVII)  erinnert  hiezu  noch 
an  eine  andere  Stelle,  welche  jedoch  nicht  auf  die  Antinomien  bezogen  werden 
kann ,  aber ,  richtig  ausgelegt ,  einen  neuen  interessanten  Gedanken  ergibt. 
In  der  Streitschrift  gegen  Eberhard  (Or.  106;  Hart.  VI,  59;  Ros.  I,  470) 
weist  Kant  darauf  hin,  dass  auch  aus  der  Analytik  sich  ein  solcher,  un- 
abhängig von  der  Aesthetik  geführter  Beweis  für  die  Idealität  von  Raum 
und  Zeit  gewinnen  lasse.  Das  Hauptresultat  der  Analytik  sei  nämlich  der 
Satz ,  dass  .  synthetische  ürtheile  nicht  anders  möglich  seien ,  als  unter  der 
Bedingung  einer  dem  Begriffe  ihres  Subjectes  untergelegten  Anschauung, 
welche,   sind  es  synthetische  Ürtheile   a  priori,  reine  Anschauung  a  priori 


516  §  8.    Allgemeine  Anmerkungen.    IV.  —  Beschlusa. 

« 

B  78.  78.  [R  720.  H  79.  80.  E  98.  99.] 

sein  müsse.  Dieser  Satz  habe  wichtige  Folgen  auf  die  Einsiebt  in  die  wahre 
Natur  unserer  Sinnlichkeit,  denn  er  könne  (wie  Kant  einige  Seiten  vorher 
gezeigt  hat)  „unabhängig  von  der  Ableitung  der  Vorstellungen  des  Raumes 
und  der  Zeit  bewiesen  werden,  und  so  der  Idealität  der  Letzteren  zum  Be- 
weise dienen,  noch  ehe  wir  sie  aus  deren  innerer  Beschaffenheit  [wie  in  der 
Aesthetik]  gefolgert  haben".  Also  auch  aus  der  Analytik  ist  ein  in- 
directer  Beweis  für  die  Idealität  von  B.  u.  Z.  zu  gewinnen,  wie  oben  aus 
der  Dialektik  —  naturgemäss,  da  ja  das  idealistische  Resultat  sowohl 
der  einen  als  der  anderen  zu  Grunde  liegt  (vgl.  dazu  oben  S.  444).  Aber 
die  Antinomien  stehen  allerdings  in  einem  sehr  viel  engeren 
—  sachlichen  und  historischen  —  Yerhältniss  zum  trans- 
scendentalen  Idealismus,  worauf  B.  Erdmann  wiederholt  mit  Recht 
aufmerksam  gemacht  hat  {Prolegomena,  Einl.  85  ff.  93;  Reflexionen  11,  Einl. 
23 ff.  36 f.;  vgl.  Comm.  I,  344).     Vgl.  oben  435  f. 

Beschluss  der  Transscendentalen  Aesthetik. 

In  diesem  Schlussabsatz  (vgl.  Erdmann,  Kriticismus  S.  189)  greift 
Kant  auf  jene  in  der  2.  Auflage  so  vorgeschobene  Fragestellung  nach  der 
Möglichkeit  synthetischer  Sätze  a  priori  zurück,  welche  bei  der  Er- 
klärung der  Einleitung,  Band  I,  227.  316  ff.  380  ff.  384  ff.  412  ff.  hinreichend 
besprochen  worden  ist.  „Eines  der  erforderlichen  Stücke  zur  Auflösung 
jener  allgemeinen  Aufgabe"  ist  nun  geliefert,  nämlich  die  Bedingungen, 
welche  die  mathematischen  Sätze  möglich  machen  (Band  I,  292 ff.  366. 
372 ff.).  Damals  wurde  die  Frage  aufgeworfen,  wie  es  möglich  sei,  in  der 
Mathematik  Sätze  a  priori  aufzustellen,  in  denen  einem  Subject  ein  Prftdicat 
zugeschrieben  wird,  das  nicht  analytisch  in  dem  Begriff  jenes  Subjectes  liegt? 
Es  wurde  nach  dem  X  gefragt,  nach  dem  Dritten,  das  die  Verbindung 
jener  Prädicate  ermöglicht  (Band  I,  279.  291).  Dieses  X  —  es  ist  nun  in 
Bezug  auf  mathematische  Urtheile  gefunden.  Es  ist  die  reine  Anschauung, 
die  sich  gliedert  als  apriorische  Anschauung  des  Raumes  und  der  Zeit.  Vgl. 
oben  S.  202  f.  233  f.  266  f.  332  f.  383  ff.  467  ff.  In  diesen  apriorischen  An- 
schauungen erhält  der  mathematische  Begriff  durch  Construction  a  priori 
seine  anschauliche  Grundlage,  und  in  dieser  apriorischen  Anschauung  „ent- 
decke*' ich  a  priori  jene  Prädicate ,  die  ich  nun  dem  Subject  synthetisch 
hinzuzufügen  das  Recht  habe.     (Vgl.  dazu  Michelis,  Kant  64.) 

Hiezu  macht  Kant  die  Schlussbemerkung:  ,, welche  Urtheile  aber  aus 
diesem  Grunde  nie  weiter  als  auf  Gegenstände  der  Sinne  reichen  und  nur 
für  Objecte  möglicher  Erfahrung  gelten  können."  Der  logische  Zusammen- 
hang ist  nicht  recht  klar:  „aus  diesem  Grunde".  Aus  welchem?  E2s  wurde 
ja  vorher  nichts  gesagt,  was  diese  Consequenz,  die  Grenzbestim  mang  der 
Gültigkeit  der  mathematischen  Urtheile  für  die  Gegenstände  der  Sinne,  haben 
könnte.  Uns  ist  ja  nach  allen  vorhergehenden  Erörterungen  der  Sinn  wohl 
klar,   aber  der  Zusammenhang  der  Stelle  hier  hat  einen  Riss,  der  freilich 


Schluss:  Die  Auflösung  der  gestellten  Aufgabe.  517 

[B  721.  H  80.  E  99.]  B  73. 

in  Mellins  Wiedergabe  I,  83  gänzlich  verdeckt  ist,  den  aber  Erdmann, 
Kriticismns  S.  189  herausgefühlt  hat.  Ja,  der  üebergang  ist  so  schrofif,  dass 
man  vermuthen  möchte,  es  sei  hier  ein  Sätzchen  ausgefallen,  das  vielleicht 
ebenfalls  mit  „welche'*  begann,  und  das  daher  auch  leicht  ausfallen  konnte, 
und  das  etwa  so  gelautet  haben  müsste:  „welche  [reine  Anschauungen],  als 
Bedingungen  unserer  Sinnlichkeit,  es  möglich  machen,  dass  wir  die  Be- 
schaffenheit der  Objecte  vor  aller  Erfahrung  in  Urtheilen  a  priori  bestimmen 
können,  welche  Urtheile  aber  aus  diesem  Grunde  u.  s.  w.  So  ist  der 
Zusammenhang  ganz  nach  Analogie  der  früheren  Erörterungen  ergänzt; 
speciell  die  Stelle  A  39  (vgl.  oben  S.  411)  dient  zur  Parallele:  „aber  diese 
Erkenntnissquellen  a  priori  bestimmen  sich  eben  dadurch  (dass  sie  blosse 
Bedingungen  der  Sinnlichkeit  sind)  ihre  Grenzen"  u.  s.  w. 

Kaum  bedarf  es,  nach  den  mehrfachen  früheren  Erläuterungen  (vgl. 
oben  8.  268—286.  332—342.  433—435.  466—472)  noch  einmal  des  Hin- 
weises darauf,  dass  in  den  letzten  Worten  der  Schlussanmerkung  das  Problem 
der  Anwendung  der  Mathematik  berührt  wird,  während  der  Anfang  dieser 
Schlussbemerkung  nur  auf  das  Problem  der  reinen  Mathematik  zielt. 
Unmerklich  gleitet  auch  hier  Kant  von  diesem  Problem  in  jenes  über,  und 
bleibt  sich  so  in  seiner  unklaren  Vermischung  beider  heterogener  Probleme 
unentwegt  bis  zum  Schlüsse  treu. 


Anhang. 


Das  Paradoxon  der  symmetrischen  Gegenstände. 

Die  transsc.  Aesthetik  in  der  ersten  Bedaction  von  1781  schloss  mit 
dem  oben  S.  466  ff.  analysirten  Versuche  Kants,  seine  neue  Lehre  .nicht 
bloss  als  scheinbare  Hypothese",  sondern  als  «ungezweifelte  Theorie*  dar- 
zustellen, zu  welchem  Zwecke  er  „den  Fall  der  synthetischen  S&tze 
a  priori**  wählte,  an  welchem  die  Gültigkeit  derselben  , augenscheinlich 
werden  kann**.  Die  darauf  folgenden  Zusätze,  welche  ihre  Entstehung  der 
Redaction  von  1787  verdanken,  begannen  wiederum  mit  einem  Versuche 
Kants,  für  seine  „Theorie  von  der  Idealität  des  äusseren  sowohl  als  inneren 
Sinnes**  eine  „Bestätigung**  zu  gewinnen  durch  den  Gedanken,  dass  es  sich 
sowohl  dort  als  hier  um  blosseVerhältnisse  handle.  Vgl.  oben  S.  473  ff. 
Zwischen  diese  beiden  Versuche  von  1781  und  von  1787,  für  seine  neue 
Theorie  bestätigende  Beweisgründe  zu  finden,  fällt  der  Zeit  nach  ein  dritter 
derartiger  Versuch,  welchen  Kant  auffallenderweise  nicht  in  die  Kr.  d.  r.  V. 
selbst  mit  aufgenommen  hat;  es  ist  dies  das  bekannte  „Paradoxon  ahn* 
lieber  und  gleicher,  aber  doch  incongruenter  Dinge*',  welches 
Kant  1783  im  §  13  der  Prolegomena  auseinandersetzte  K  (VgL  oben  S.  280.) 
Es  ist  gegenüber  andersartigen  Auslegungen  der  Stelle  wohl  zu  beachten, 
dass  dieses  Paradoxon  nach  Kants  ausdrücklicher  Erklärung  die  idea- 
listische Theorie  bestätigen  soll:  denn  Kant  beginnt  seine  Darlegung 
der  Sache  mit  den  unzweideutigen  Worten:  „Diejenigen,  welche  noch  nicht 
von  dem  Begriffe  loskommen  können,   als  ob  ßaum  und  Zeit  wirkliche  Be- 


^  Erläuterndes  bei  M ellin  I,  585—588,  IV,  807-819  (mit  Literatumngaben 
und  Figuren);  Villers,  Phil,  de  Kant  I,  178;  J.  E.  Erdmann,  Gesch.  d.  n.  Phil. 
m,  1,  59;  Apelt,  Metaph.  73-81;  K.  Fischer  III,  2.  A.  260  ff.  325-327;  3.  A, 
279-282.  334-385;  Dietrich,  Kant  u.  Newton  102-107.  238-235;  Riehl,  Krit 
I,  288.  258—264,  II,  a,  96—98;  Harms,  Phil.  s.  Kant  145;  Cohen,  System.  Begr. 
46-47;  Ks.  Th.  d.  Erf.  2.  A,  86  f.;  Luguet,  Notion  d'eapace  88.  114;  Falckenberg, 
Gesch.  d.  n.  Phil.  263 ;  Steffen,  Ks.  Lehre  vom  D.  a.  s.  23 ;  Ritter,  K.  u.  Home  19 ; 
Caird,  Phil,  of  Kant  164  ff.,  Grit.  Phil.  I,  164  ff.  180 ;  Thiele,  Die  Philos,  I.  Kanta 
I,  b,  236—250.  G.  Cantor  gab  zu  Schulz'  Ausgabe  der  Prolegomena  (1888) 
S.  229—230  sehr  zweckmässige  geometrische  Figuren  und  Erläuterungen. 


Das  Paradoxon  der  symmetrischen  Gregenstände.  519 

schaffenheiten  wären,  die  den  Dingen  an  sich  selbst  anhingen,  können  ihre 
Scharfsinnigkeit  an  folgendem  Paradoxon  üben,  und  wenn  sie  dessen  Auf- 
lösung vergebens  versucht  haben,  wenigstens  auf  einige  Augenblicke  von 
Vorurtheilen  frei,  vermuthen,  dass  doch  vielleicht  die  Ab  Würdigung  des 
Baumes  und  der  Zeit  zu  blossen  Formen  unserer  sinnlichen 
Anschauung  Grund  haben  möge."  An  einer  bis  jetzt  unbeachtet  ge- 
bliebenen Stelle  der  1786  erschienenen  Metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturw.  I, 
Erkl.  2,  Anm.  3  (Ros.  V,  825)  sagt  Kant  ausdrücklich  mit  Bezug  auf  diese 
Prolegomenastelle:  „Ich  habe  anderwärts  gezeigt,  dass,  da  sich  dieser  Unter- 
schied zwar  in  der  Anschauung  geben,  aber  gar  nicht  auf  deutliche  Begriffe 
bringen,  mithin  nicht  verständlich  erklären  (dari,  non  intelligi)  lässt,  er  einen 
guten  bestätigenden  Beweisgrund  zu  dem  Satze  abgebe:  dass  der 
Raum  überhaupt  nicht  zu  den  Eigenschaften  oder  Verhältnissen  der  Dinge 
an  sich  selbst,  die  sich  nothwendig  auf  objective  Begriffe  müssten  bringen 
lassen,  sondern  bloss  zu  der  subjectiven  Form  unserer  sinnlichen  Anschauung 
von  Dingen  oder  Verhältnissen,  die  uns  nach  dem,  was  sie  an  sich  sein 
mögen^  völlig  unbekannt  bleiben,  gehöre.*'  Einen  so  »guten  bestätigenden 
Beweisgrund*'  müssen  wir  nothwendig  kennen  lernen.  Das  „Paradoxon' 
lautet : 

„Wenn  zwei  Dinge  in  allen  Stücken,  die  an  jedem  für  sich  nur  immer 
können  erkannt  werden  (in  allen  zur  Grösse  und  Qualität  gehörigen  Bestim- 
mungen), völlig  einerlei  sind,  so  muss  doch  folgen,  dass  eins  in  allen  Fällen 
und  Beziehungen  an  die  Stelle  des  anderen  könne  gesetzt  werden,  ohne  dass 
diese   Vertauschung    den    mindesten    kenntlichen    Unterschied    verursachen 
würde.     In  der  That  verhält  sich  dies  auch  so  mit  ebenen  Figuren   in  der 
Geometrie;  allein  verschiedene  sphärische  zeigen,  ohnerachtet  jener  völligen, 
inneren  Uebereinstimmung,  doch  eine  solche  [Verschiedenheit^]  im  äusseren 
Verhältniss,   dass  sich  eine  an  die  Stelle  der  anderen  gar  nicht  setzen  lässt, 
z.  B.  zwei  sphärische  Triangel  von  beiden  Hemisphären,  die  einen  Bogen  des 
Aequators  zur  gemeinschaftlichen  Basis  haben,  können  völlig  gleich  sein,  in 
Ansehung  der  Seiten  sowohl  als  Winkel,  so  dass  an  keinem,  wenn  er  allein 
und  zugleich  vollständig  beschrieben  wird,  nichts  angetroffen  wird,  was  nicht 
zugleich  in   der  Beschreibung   des   anderen  läge,   und  dennoch  kann   einer 
nicht  an  die  Stelle  des  anderen  (nämlich    auf  dem  entgegengesetzten  Hemi- 
sphär)  gesetzt  werden;   und  hier  ist  denn  doch   eine   innere  Verschiedenheit 
beider  Triangel,   die  kein  Verstand  als  innerlich  angeben  kann,   und  die 
sich  nur  durch  das  äussere  Verhältniss  im  Räume  offenbart.    Allein 
ich  will  gewöhnlichere  Fälle   anführen,   die   aus  dem  gemeinen  Leben  ge- 
nommen werden  können.     Was  kann  wohl  meiner  Hand   oder   meinem  Ohr 
ähnlicher  und  in  allen  Stücken  gleicher  sein  als  ihr  Bild  im  Spiegel?    Und 
dennoch  kann  ich  eine  solche  Hand,  als  im  Spiegel  gesehen  wird,  nicht  an 
die  Stelle  ihres  Urbildes  setzen;   denn  wenn   dieses   eine  rechte  Hand  war, 
so  ist  jene  im  Spiegel  eine  linke,  und   das  Bild  des  rechten  Ohres  ist  ein 


>  üeber  diese  Correctur  vgl.  Phil.  Mon.  XVI,  1880,  S.  69. 


520  Anhang.    Die  symmetrischen  Gegenstände. 

linkes,  das  nimmermehr  die  Stelle  des  ersteren  vertreten  kann.  Nan  sind 
hier  keine  inneren  unterschiede,  die  irgend  ein  Verstand  nur  denken 
könnt«;  und  dennoch  sind  die  Unterschiede  innerlich,  soweit  die  Sinne 
lehren,  denn  die  linke  Hand  kanit  mit  der  rechten,  ohnerachtet  aller  beider- 
seitigen Gleichheit  und  Aehnlichkeit,  doch  nicht  zwischen  denselben  Grenzen 
eingeschlossen  sein  (sie  können  nicht  congruiren);  der  Handschuh  der  einen 
Hand  kann  nicht  auf  der  anderen  gebraucht  werden.  Was  ist  nun  die 
Auflösung?" 

Die  nebenstehenden   im  Anschluss   an   G.  Cantor  (vgl.  oben  S.  518 
Anm.)  entworfenen  Figuren  veranschaulichen  das  Gesagte. 


>CL 


Fig.  1.  Fig.  2. 

Die  beiden  ebenen  Dreieke  ahc  und  ahd  (Fig.  1)  seien  der  Figor 
nach  völlig  ähnlich,  der  Grösse  nach  völlig  gleich.  Diese  beiden  Dreiecke 
lassen  sich  zur  Deckung  bringen  (und  zwar  nicht  durch  blosse  Verschiebung 
in  der  Ebene,  sondern  nur  durch  Umwenden  um  die  gemeinschaftliche 
Basis  a\>). 

Ganz  anders  die  beiden  sphärischen  Dreiecke  a'h'c'  und  a*b'd\ 
welche  ein  Stück  eines  Bogens  des  Aequators,  a'b',  zur  gemeinschaftlichen 
Basis  haben  (Fig.  2).  Dieselben  seien  ^in  Ansehung  der  Seiten  sowohl  als 
Winkel  völlig  gleich",  trotzdem  ist  es  gänzlich  unmöglich,  diese  beiden 
„sphärischen  Triangel"  so  zur  Deckung  zu  bringen,  dass  der  Eine  ,an  die 
Stelle  des  Anderen  gesetzt  werden  kann".  (Der  Grund  dieser  Unmöglichkeit 
liegt  in  der  Krümmung  der  Eugeloberfläche.) 

Mit  diesem  Problem  ist  nach  Kants  Erklärung  in  den  Met  Anf.  d. 
Nat.  1.  Hptst.  Erkl.  2  Anm.  3  enge  verwandt  ein  anderes,  nämlich  die  Frage, 
nach  welcher  Seite  eine  Kreisbewegung  gerichtet  sei?  es  ist  das  »eine 
Frage,  die  mit  der  Verwandtschaft  hat:  worauf  beruht  der  innere  üntei^ 
schied  der  Schnecken,  die  sonst  ähnlich  und  sogar  gleich,  aber  davon  eine 
Species  rechts,  die  andere  links  gewunden  ist ;  oder  des  Windens  der  Schwert- 
bohnen und  des  Hopfens,  davon  die  ersteren  wie  ein  Propfenzieher,  oder  wie 
die  Seeleute  es  ausdrücken  würden,  wider  die  Sonne,  der  andere  mit  der 
Sonne  um  ihre  Stange  laufen?  ein  Begriff,  der  sich  zwar  construiren, 
aber  als  Begriff,   für  sich  durch  allgemeine  Merkmale  und  in 


Das  Paradoxon  und  seine  Auflösiing.  521 

der  discursiven  Erkennissart  gar  nicht  deutlich  machen  lÄsst,  und 
der  in  den  Dingen  selbst  (z.  B,  an  denen  seltenen  Menschen,  bei  denen  die 
Leicheneröffnung  alle  Theile  nach  der  physiologischen  Regel  mit  anderen 
Menschen  einstimmig,  nur  alle  Eingeweide  links  oder  rechts,  wider  die  ge- 
wöhnliche Ordnung  versetzt  fand)  keinen  erdenklichen  Unterschied  in  den 
inneren  Folgen  geben  kann,  und  demnach  ein  wahrhafter  mathematischer 
und  zwar  innerer  Unterschied  ist,  womit  der  von  dem  Unterschied  zweier, 
sonst  in  allen  Stücken  gleichen,  der  Richtung  nach  aber  verschiedenen 
Kreisbewegungen,  obgleich  nicht  völlig  einerlei,  dennoch  aber  zusammen- 
hängend ist.*' 

Worin  nun  besteht  das  , Paradoxe*  dieser  Falle?  Was  ist  darin 
wider  alle  Erwartung?  Zu  erwarten  wäre,  dass  Dinge,  die  in  allen  Stücken 
völlig  einerlei  sind,  insbesondere  der  Figur  nach  völlig  ähnlich,  der  Grösse 
der  Ausdehnung  nach  völlig  gleich,  dass  solche  Dinge  in  allen  Fällen  ein- 
ander substituirt  werden  können,  ohne  dass  man  die  Vertauschung  be- 
merken müsste;  begrifflich  absolut  identische  Gegenstände,  welche  genau 
dieselbe  Definition  ergeben,  müssten  einander  ersetzen  können,  so  dass  der 
Eine  ohne  Umstände  an  die  Stelle  des  Anderen  gesetzt  werden  könnte.  Diese 
natürliche  Erwartung  aber  wird  in  gewissen  Fällen  getäuscht:  die  rechte 
und  die  linke  Hand,  oder  zwei  sphärische  Dreiecke,  die  einen  Aequatorbogen 
zur  gemeinschaftlichen  Basis  haben,  mögen  in  allen  Stücken  absolut  gleich 
sein;  sie  lassen  sich  trotz  ihrer  absolut  identischen  begrifflichen  Definition 
nicht  anschaulich  zwischen  denselben  Grenzen  einschliessen.  Das  „Paradozon* 
besteht  also  darin,  dass  zwischen  begrifflich  absolut  identischen  Gebilden 
doch  noch  eine  anschauliche  Verschiedenheit  bestehen  kann,  welche  die 
Congruenz  verhindert.  Dies  ist  wider  die  Erwartung,  dies  ist  ein  Räthsel. 
„Was  ist  nun  die  Auflösung?*     Sie  lautet  Proleg.  §  13: 

(1)  „Diese  Gegenstände  sind  nicht  etwa  Vorstellungen  der  Dinge,  wie 
sie  an  sich  selbst  sind  und  wie  [sie]  der  pure  Verstand  erkennen  würde, 
sondern  es  sind  sinnliche  Anschauungen,  d.  i.  Erscheinungen,  deren  Möglich- 
keit auf  dem  Verhältniss  gewisser  an  sich  unbekannter  Dinge  zu  etwas 
Anderem,  nämlich  unserer  Sinnlichkeit  beruht.  (2)  Von  dieser  ist  nun  der 
Baum  die  Form  der  äusseren  Anschauung  und  die  innere  Bestimmung  eines 
jeden  Raumes  ist  nur  durch  die  Bestimmung  der  äusseren  Verhältnisse  zu 
dem  ganzen  Räume,  davon  jeder  ein  Theil  ist  (dem  Verhältniss  zum  äusseren 
Sinn),  d.  i.  der  Theil  ist  nur  durchs  Ganze  möglich,  welches  bei  Dingen  an 
sich  selbst,  als  Gegenständen  des  blossen  Verstandes  niemals,  wohl  aber  bei 
blossen  Erscheinungen  stattfindet.  (3)  Wir  können  daher  auch  den  Unter- 
schied ähnlicher  und  gleicher,  aber  doch  incongruenter  Dinge  (z.  B.  wider- 
sinnig gewundener  Schnecken)  durch  keinen  einzigen  Begriff  verständlich 
machen,  sondern  nur  durch  das  Verhältniss  zur  rechten  und  linken  Hand, 
welches  unmittelbar  auf  Anschauung  geht.* 

Wenn  wir  diese  Stelle,  die  aus  drei  Sätzen  besteht,  welche  wir  der 
Uebersichtlichkeit  halber  mit  Ziffern  versehen  haben,  zusammenhalten  mit 
dem  oben  S.  519  aus  den  Met.  Anf.  d.  Nat.  mitgetheilten  Passus,  so  erhalten 


522  Anhang.    Die  symmetrischen  Gregenstände. 

wir  folgenden  Sinn:  der  erste  Satz  sagt,  dass  wir  es  bei  den  in  Frage 
stehenden  ähnlichen  und  gleichen  and  doch  incongmenten  Gegenständen  nicht 
mit  Dingen  an  sich  zu  thun  haben:  , Dinge  an  sich  selbst*',  „wie  sie  der 
pure  Verstand  erkennen  würde'  ^  smüssten  sich  noth wendig  auf  objective 
Begriffe  bringen  lassen'',  d.  h.  wir  müssten  bei  Dingen  an  sich  als  Objecten 
des  Verstandes  im  Stande  sein,  sie  derartig  zu  definiren,  dass  wir  auch  die- 
jenige Verschiedenheit  derselben,  welche  ihre  Congruenz  hindert,  begrifflich 
fassen  und  formuliren  könnten.  Diejenige  Eigenschaft,  durch  welche  nun  jene 
Gegenstände  trotz  ihrer  Aehnlichkeit  und  Gleichheit  doch  an  der  Congruenz 
verhindert  werden,  kann  also  nicht  eine  „objective''  Eigenschaft  derselben 
sein  —  denn  eine  solche  müsste  eben  dem  .puren  Verstände'  zugänglich 
sein,  sondern  es  kann  sich  dabei  nur  um  eine  subjective  Bestimmung  han- 
deln, welche  auf  dem  Verhältniss  jener  Dinge  zu  unserer  Sinnlichkeit  beruht, 
m.  a.  W.  jene  Gegenstände  können  keine  Dinge  an  sich,  sondern  müssen 
Erscheinungen  sein.  In  dem  Gebiet  derjenigen  Dinge,  die  nur  Sache  des 
„puren  Verstandes'  sind,  d.  h.  der  Dinge  an  sich,  müssten  Gegenstände,  die 
den  Verstand  als  völlig  identisch  erklärt,  einfach  congruent  sein.  Das  in- 
congruente  Verhalten  absolut  ähnlicher  und  gleicher  Gegenstände  weist  also 
darauf  hin,  dass  wir  es  dabei  nur  mit  Erscheinungen  zu  thun  haben,  die 
nicht  Sache  des  Verstandes,  sondern  der  Sinnlichkeit  sind. 

Der  zweite  Satz  spinnt  diesen  Gedanken  weiter,  aber  mit  einem 
bemerkenswerthen  Zusatz,  welcher  die  bisherigen  negativen  Bestimmungen 
durch  eine  positive  Beobachtung  ergänzt;  diese  aber  ist  sehr  gedrängt 
ausgedrückt,  so  dass  der  Sinn  des  Satzes  nur  durch  Ergänzungen  zu  eruiren 
ist,  welche  aus  der  unten  zu  erwähnenden  Schrift  von  1768  stillschweigend 
herübergenommen  werden  müssen:  die  innere  Verschiedenheit  der  in  Frage 
stehenden  Gegenstände,  welche  trotz  absoluter  Aehnlichkeit  und  Gleichheit 
nicht  zur  Congruenz  zu  bringen  sind,  beruht  auf  ihrem  äusseren  Verhält- 
nisse zum  absoluten  Baume;  sie  sind  Theile  des  ganzen  Baumes,  und  das 
verschiedenartige  Verhältniss  des  Theiles  zum  Ganzen  bedingt  jene  Vel^ 
schiedenheit  der  ähnlichen  und  gleichen  und  doch  incongruenten  Gegenstände. 
Somit  sind  hier  die  Theile  durch  das  Ganze  bedingt  und  bestimmt,  und  das 
gilt  überhaupt  von  allen  Baumtheilen:  sie  sind  bedingt  durch  ihr  Verbllt- 
niss  zum  ganzen  Baum,  resp.  da  dieser  mit  der  Form  der  äusseren  An- 
schauung identisch  ist,  zum  äusseren  Sinn.  Ein  solches  Verhältniss  ist  nun 
bei  Dingen  an  sich  selbst  nicht  statthaft:  ein  Ding  an  sich  ist  eben  unbe- 
dingt, und  ist  nicht  erst  als  Theil  eines  Ganzen  erst  durch  dieses  bedingt. 
(Anders,  aber  zweifellos  falsch  Mellin  IV,  814  f.)  Wo  also  ein  solches  Ver- 
hältniss —  Ermöglichung  des  Theiles  durch  das  Ganze  —  stattfindet,  kann 
es  sich  nicht  um  Dinge  an  sich  handeln,  sondern  nur  um  Erscheinungen. 


*  Ueber  diese  archaistische  Wendung  vgl.  oben  S.  354.  417.  453.  Diese 
archaistische  Voraussetzung  ist  vielleicht  der  Grand,  weshalb  Kant  das  „Paradoxon^ 
nicht  in  die  Kr.  d.  r.  V.  aufgenommen  hat,  in  welcher  jene  Voraussetzung  freilich 
auch  nicht  consequent  vermieden  ist.    Vgl.  hierüber  noch  imten  S.  528. 


Die  symmetrischen  Gegenstände  in  der  Dissertation  von  1770.  528 

Der  dritte  und  letzte  Satz  der  „Auflösung'  zieht  eine  Consequenz  aus 
dem  Bisherigen:  der  unterschied  ähnlicher  und  gleicher,  aber  doch  incon- 
gruenter  Dinge  lässt  sich  (wie  aus  dem  ersten  Satz  folgt)  durch  keinen 
Begriff  verständlich  machen,  sondern  geht  (wie  aus  dem  zweiten  Satze 
folgt)  unmittelbar  auf  Anschauung;  er  lässt  sich,  wie  Kant  sich  in  den 
Met.  Auf.  d.  Nat.  so  treffend  ausdrückt,  nur  dari,  non  intelligi.  Auf 
diese  Weise  ist  nun  also  eben  jene  paradoxe  Thatsache  erklärt,  dass  be- 
grifflich Identisches  doch  noch  anschaulich  verschieden  sein  kann. 

Eine  ganz  andere  methodische  Rolle  spielte  nun  aber  jene  paradoxe 
Thatsache  in  der  Dissertation  von  1770:  da  wird  sie  überhaupt  nicht 
als  etwas  Paradoxes  und  zu  Erklärendes  hingestellt,  sondern  da  findet 
sich  das  Beispiel  der  ähnlichen  und  gleichen  und  doch  incongruenten  Gegen- 
stände im  §  15  c,  als  einer  der  Beweise  für  den  Satz:  Cancepius  spatii  est 
intuitus  purus,  cum  sit  canceptus  singülaris.  Neben  anderen  Beweisen 
dafür,  dass  die  Mathematik  nicht  mit  Begriffen  operire,  sondern  der  An- 
schauung bedürfe,  heisst  es  da:  Qitae  jaceant  in  spafio  dato  unam  plagam  ver- 
sus ^  quae  in  opposilam  vergant,  discursive  describi  s.  ad  notas  inteUectuales 
revocari  nulla  mentis  acte  posaunt,  ideoque  ci4m  in  solidis  perfecte  similUms 
atque  aequalxbus,  sed  discongruentibtis ,  cujus  generis  sunt  manus  sinistra  et 
dextra  {quatenus  solum  secundum  extensionem  concipiunttcr)  aut  triangula  sphae- 
rica  e  duohus  hemisphaeriis  oppositis,  sit  diversitas,  per  quam  impossibüe  est, 
ut  termini  extensionis  coincidant,  quanquam  per  omnia,  quae  notis  menti  per 
sermonem  inteUigibilibus  efferre  licet,  sibi  substitui  possint,  patet  hie:  nonnisi 
quadam  intuitione  pura  diversitatem,  nempe  discongruentiam,  notari  passe. 
Dass  das  Beispiel  der  incongruenten  Gegenstände  hier  nicht  als  Beweis  für 
die  Idealität  der  Räumlichkeit  dienen  soll,  ergibt  sich  ja  auch  daraus,  dass 
in  demselben  §  15  erst  nachher,  unter  D,  die  These  bewiesen  wird:  spa- 
tium  non  est  aliquid  objectivi  et  realis,  sed  subjectivum  et  ideale.  Wir  können 
die  Differenz  von  1770  und  1783  hierin  auch  so  formuliren:  1770  wird  das 
Beispiel  der  incongruenten  ^^genstände  nur  für  den  Gedanken  verwendet, 
dass  der  Raum  eine  reine  Anschauung  sei,  1783  dagegen  dafür,  dass 
er  Form  der  Anschauung  sei  (vgl.  über  diesen  wichtigen  Unterschied 
und  seine  Verwechslung  durch  Kant  oben  S.  273.  279  f.  470).  Im  Jahre  1770 
wurde  das  Beispiel  also  in  einem  viel  harmloseren  Sinne  angewendet:  nicht 
gegen  die  Realität  des  Raumes,  sondern  nur  gegen  die  Lehre,  der  Raum  sei 
ein  Begriff. 

Wiederum  anders  ist  das  Verhältniss  der  Prolegomenastelle  zu  dem 
bekannten,  vielbesprochenen  Aufsatz  von  1768:  „Von  dem  ersten  Grunde 
des  Unterschiedes  der  Gegenden  im  Räume."  In  diesem  Aufsatz 
wirft  Kant  dasselbe  Problem  auf,  aber  er  gibt  eine  ganz  andere  Lösung 
desselben.     Er  weist  erstens  dasselbe  Problem*  auf,  und  verwendet  dazu 


*  Es  ist  wohl  zu  beachten,  dass  Kant  das  Problem  in  dem  Aufsatz  von  1768 
verquickt  hat  mit  einem  damit  nur  scheinbar  verwandten  Umstand,  nämlich,  dass  wir 
zur  Orientirung  „des  Gefühls  der  rechten  und  linken  Seite'  bedürfen.    (Vgl.  dazu 


524  Anhang.    Die  symmetrischen  Gegenstände. 

fast  durchaus  dieselben  Beispiele:  die  sphärischen  Dreiecke,  die  Hand  und 
ihr  Bild  im  Spiegel,  die  rechte  und  die  linke  Hand;  ausserdem  findet  sich 
daselbst  folgendes  treffende  Beispiel:  «Ein  Schraubengewinde,  welches  um 
seine  Spindel  von  der  Linken  gegen  die  Rechte  geführt  wird,  wird  in  eine 
solche  Mutter  niemals  passen,  deren  Gänge  von  der  Rechten  gegen  die  Linke 
laufen ;  obgleich  die  Dicke  der  Spindel  und  die  Zahl  der  Schraubeng&nge  in 
gleicher  Höhe  einstimmig  wären.'  «Doch  das  gemeinste  und  klarste  Bei- 
spiel haben  wir  an  den  Gliedmassen  des  menschlichen  Körpers,  welche  gegen 
die  Vertikalfläche  derselben  symmetrisch  geordnet  sind.  Die  rechte  Hand 
ist  der  linken  ähnlich  und  gleich,  und  wenn  man  bloss  auf  eine  derselben 
allein  sieht,  auf  die  Proportion  der  Lage  der  Theile  unt«r  einander  und 
auf  die  Grösse  des  Ganzen,  so  muss  eine  vollständige  Beschreibung  der 
einen  in  allen  Stücken  auch  von  der  anderen  gelten.  —  Ich  nenne  einen 
Körper,  der  einem  anderen  völlig  gleich  und  ähnlich  ist,  ob  er  gleich  nicht 
in  denselben  Grenzen  kann  beschlossen  werden,  sein  incongruentes  Gegen- 
stück." Es  existirt  somit  „die  Möglichkeit  völlig  ähnlicher 
und  gleicher  und  doch  incongruenter  Räume*.  , Eis  ist  schon  aus 
dem  gemeinen  Beispiele  beider  Hände  offenbar,  dass  die  Figur  eines  Körpers 
der  Figur  eines  anderen  völlig  ähnlich  und  der  Grösse  der  Aasdehnung 
ganz  gleich  sein  könne,  so  dass  dennoch  ein  innerer  Unterschied  übrig 
bleibt,  nämlich  der,  dass  die  Oberfläche,  die  den  einen  beschliesst,  den 
anderen  unmöglich  einschliessen  könne.  Weil  diese  Oberfläche  den  körper- 
lichen Raum  des  Einen  begrenzt,  die  dem  Anderen  nicht  zur  Grenze  dienen 
kann,  man  mag  ihn  drehen  und  wenden  wie  man  will,  so  muss 
diese  Verschiedenheit  eine  solche  sein,  die  auf  einem  inneren  Grunde  beruht. 
Dieser  innere  Grund  der  Verschiedenheit  aber  kann  nicht  auf  die  unter- 
scheidende Art  der  Verbindung  der  Theile  des  Körpers  unter  einander  an- 
kommen; denn  wie  man  aus  dem  angeführten  Beispiele  sieht,  so  kann  in 
Ansehung  dessen  Alles  völlig  einerlei  sein.  Gleichwohl  wenn  man  sich  vor- 
stellt, das  erste  Schöpfungsstück  solle  eine  Menschenhand  sein,  so  ist  es  noth- 
wendig  entweder  eine  rechte  oder  eine  linke  und  um  die  eine  herrorzn- 
bringen,  war  eine  andere  Handlung  der  schaffenden  Ursache  nöthig,  als  die, 
wodurch  ihr  Gegenstück  gemacht  werden  konnte. '  Dieser  Unterschied  lässt 
sich  eben  nicht  begrifflich  bestimmen,  es  beruht  nicht  auf  dem  begrifflich 
bestimmbaren  Verhältniss   der  Theile  zu  einander,   sondern  «lässt  sich  nur 


auch  Phys.  Geogr.  §  71.)  Später  hat  Kant  richtiger  beides  getrennt:  das  Problem 
der  symmetrischen  Körper  findet  sich  in  den  ProUgomena  (1783)  nnd  in  den 
Met.  Anf.  d.  Naturw.  (1786),  das  Problem  der  Orientirung  behandelt  der  Auf- 
satz von  1786:  ,Was  heisst  sich  im  Denken  orientiren?"  Dort  handelt  es  sich 
darum,  dass  die  Unterschiede  symmetrischer  Gegenstände  nur  durch  die  Beziehung 
auf  den  absoluten  Raum  zu  erklären  sind,  hier  darum,  dass  wir  diese  Unterschiede, 
wie  überhaupt  die  Unterschiede  von  rechts  und  links  nur  durch  die  Beziehung  auf 
unseren  Körper  beurtheilen.  Doch  hat  Kant  auch  in  dem  dritten  Satz  der  oben 
mitgetheilten  Prolegomenastelle  Beides  wieder  in  einen  allerdings  losen  Zusammen- 
hang gebracht. 


Dasselbe  Problem,  aber  eine  andere  Lösung  im  Jahre  1768.  525 

durch  die  Gegenhaltung*'  der  sich  so  verhaltenden  Körper  d.  h.  in  der  An- 
schauung „vernehmen'';  es  lässt  sich  nur  „unmittelbar  wahrnehmen'' 
(vgl.  Comm.  I,  274). 

Aus  diesen  Anführungen  erhellt,  dass  es  sich  1768  genau  um  dasselbe 
Problem  handelt  wie  1783.  Wie  aber  verhält  es  sich  nun  zweitens  mit 
der  Lösung?  Dieselbe  besteht  in  folgenden  Gedanken:  „Die  Lagen  der 
Theile  des  Raumes  in  Beziehung  auf  einander  setzen  die  Gegend  voraus, 
nach  welcher  sie  in  solchem  Verhältniss  geordnet  seien,  und  im  abgezogensten 
Verstände  besteht  die  Gegend  nicht  in  der  Beziehung  eines  Dinges  im  Baume 
auf  das  andere,  welches  eigentlich  der  Begriff  der  Lage  ist,  sondern  in  dem 
Verhältnisse  des  Systems  dieser  Lagen  zu  dem  absoluten  Welträume. 
Bei  allem  Ausgedehnten  ist  die  Lage  seiner  Theile  gegen  einander  aus  ihm 
selbst  hinreichend  zu  erkennen ;  die  Gegend  aber,  wohin  diese  Ordnung  der 
Theile  gerichtet  ist,  bezieht  sich  auf  den  Raum  ausser  demselben  und  zwar . . . 
auf  den  allgemeinen  Raum  als  eine  Einheit,  wovon  jede  Aus- 
dehnung wie  ein  Theil  angesehen  werden  muss".  »Der  voll- 
ständige Bestimmungsgrund  einer  körperlichen  Gestalt  beruht  nicht  lediglich 
auf  dem  Verhältniss  und  der  Lage  seiner  Theile  gegen  einander,  sondern 
noch  überdem  auf  einer  Beziehung  gegen  den  allgemeinen,  abso- 
luten Raum,  so  wie  ihn  sich  die  Messkünstler  denken."  Kant  will 
eben  „selbst  den  Messkünstlern  einen  überzeugenden  Grund  an  die  Hand 
geben,  mit  der  ihnen  gewöhnlichen  Evidenz  die  Wirklichkeit  ihres 
absoluten  Raumes  behaupten  zu  können".  Er  will  einen  „evidenten 
Beweis"  geben,  „dass  der  absolute  Raum  unabhängig  von  dem  Dasein  der 
Materie  und  selbst  als  der  erste  Grund  der  Möglichkeit  ihrer  Zusammen- 
setzung eine  eigene  Realität  habe".  „Ein  nachsinnender  Leser  wird  daher 
den  Begriff  des  Raumes,  so  wie  ihn  der  Messkünstler  denkt,  nicht 
für  ein  blosses  Gedanken  ding  halten."  Aus  alledem  erkennt  man  leicht, 
dass  Kant  in  dem  damals  tobenden  Streit  der  Anhänger  von  Newton  und 
von  Leibniz  (vgl.  über  denselben  und  die  Stellung  der  Abhandlung  von 
1768  zu  demselben  oben  8.  425.  436)  sich  auf  die  Seite  der  Ersteren  stellt 
und  denselben  eben  einen  „evidenten  Beweis"  zugeführt  zu  haben  glaubt. 
Dem  Leibniz'schen  Raumbegriff  gibt  er  eine  ebenso  unzweideutige  als  ent- 
schiedene Absage  (vgl.  oben  S.  425):  er  wendet  sich  gegen  „denjenigen  Be- 
griff des  Raumes,  der  aus  der  Abstraction  von  dem  Verhältnisse  wirklicher 
Dinge  entspringt"  (vgl.  dazu  oben  S.  416  ff.);  auch  die  folgende  Bemerkung 
wendet  ihre  Spitze  offenbar  gegen  Leibniz:  „Die  Bestimmungen  des  Raumes 
sind  nicht  Folgen  von  den  Lagen  der  Theile  der  Materie  gegen  einander, 
sondern  diese  sind  Folgen  von  jenen ;  in  der  Beschaffenheit  der  Körper  können 
also  Unterschiede  angetroffen  werden ,  und  zwar  wahre  Unterschiede ,  die 
sich  lediglich  auf  den  absoluten  und  ursprünglichen  [reinen] 
Raum  beziehen,  weil  nur  durch  ihn  das  Verhältniss  körperlicher  Dinge  mög- 
lich istj*  Und  mit  Bezug  auf  die  oben  S.  524  erwähnte  fictive  Aufgabe, 
„das  erste  Schöpfungsstück  solle  eine  Menschenhand  sein",  heisst  es  endlich 
deutlichst:  „Nimmt  man  den  Begriff  vieler  neueren  Philosophen,  vornehmlich 


526  Anhang.    Die  symmetriBchen  Gegenstände. 

der  deutschen  an  [vgl.  dazu  oben  S.  425],  dass  der  Baum  nur  in  dem  äus- 
seren Verhältnisse  der  neben  einander  befindlichen  Theile  der  Materie  besteht, 
so  würde  aller  wirkliche  Raum  in  dem  angefahrten  Falle  nur  derjenige 
sein,  den  diese  Hand  einnimmt.  Weil  aber  gar  kein  unterschied  in  dem 
Verhältniss  der  Theile  derselben  unter  sich  stattfindet,  sie  mag  eine  rechte 
oder  linke  sein,  so  würde  diese  Hand  in  Ansehung  einer  solchen  Eigen- 
schaft gänzlich  unbestimmt  sein,  d.  h.  sie  würde  auf  jede  Seite  des  mensch- 
lichen Körpers  passen,  welches  unmöglich  ist.'' 

Man  wird  auf  den  ersten  Blick  geneigt  sein,  das  ürtheil  ganz  zu  theilen, 
welches  schon  häufig  ausgesprochen  worden  ist\  so  von  v.  Eirchmann 
in  seinen  Erläuterungen  zu  diesem  Aufsatz  (S.  116),  sowie  zu  den  Prole- 
gomena  (S.  31):  Kant  habe  mit  dem  Beispiel  der  symmetrischen  Gegenstände 
beidemal  gerade  „das  Entgegengesetzte"  beweisen  wollen,  1768  die  Realität, 
178ä  die  Idealität  des  Raumes.  So  einfach  ist  jedoch  das  Verhältniss  der 
beiden  Beweisgänge  nicht;  noch  weniger  aber  trifft  das  Urtheil  von  Zöllner 
zu  (auf  das  freilich  überhaupt  kaum  etwas  zu  geben  ist),  Kant  habe  beide- 
mal 9  vollkommen  dieselbe  Ueberzeugung*'  ausgesprochen  (Wissensch.  Abbandl. 
1878,  I,  225,  vgl.  II,  812,  III,  587  ff.  gegen  A.  Krause,  Kant  und  Helm- 
holtz  S.  40).  Es  wurde  schon  oben  S.  522  darauf  hingewiesen,  dass  eine 
Stelle  der  Argumentation  von  1783  nur  verständlich  sei  durch  Erinnerung 
an  die  Schrift  von  1768:  es  war  das  der  Gedanke,  dass  die  Bestimmung  der 
Unterschiede  symmetrischer  Gegenstände  in  Bezug  auf  die  Richtung  derselben 
nur  möglich  sei  durch  Beziehung  auf  den  ganzen  Raum:  „der  Theil  ist 
nur  durchs  Ganze  möglich''.  In  der  That  ist  dieser  Gedanke  beiden  Dar- 
stellungen, der  von  1768  und  der  von  178B,  gemeinsam;  die  körperlichen 
Dinge  als  Theile  sind  nur  möglich  durch  den  , allgemeinen  Raum  als  eine 
Einheit,  wovon  jede  Ausdehnung  wie  ein  Theil  angesehen  werden  muss'. 
Diese  Wendung  von  1768  ist  nun  aber  durchaus  identisch  mit  dem  vorletzten 
Raumargument  in  der  Kr.  d.  r.  V.  (vgl.  oben  S.  215  ff.  230).  Und  wenn  femer 
1768  gesagt  wird,  der  absolute  Raum  sei  der  erste  Grund  der  Möglichkeit 
der  Materie,  so  kehrt  auch  diese  Wendung  in  der  kritischen  Periode  im 
zweiten  Raumargument  wieder  (vgl.  oben  S.  195).  Gemeinschaftlich  ist  also 
der  vorkritischen  Schrift  von  1768  und  der  kritischen  Zeit  die  Auffassung. 
dass  der  Raum  als  Ganzes  seinen  Theilen  vorhergeht  und  dieselben  erst 
möglich  mache.  Dies  soll  das  Beispiel  der  symmetrischen  Gegenstände 
beidemal  beweisen;  auf  diesen  gemeinsamen  Kern  der  beiden  Argumen- 
tationen hat  auch  richtig  schon  Riehl,  Krit.  I,  262  f.,  347  f.  (vgl.  oben 
S.  176. 195  U.432)  hingewiesen.  Erst  von  hier  an  nun  gehen  die  beiden  Beweis- 
gänge auseinander:  1768  schliesst  Kant  aus  jenem  Verhältniss  des  Raumes 
zu  seinen  Theilen  auf  seine  Realität  im  Sinne  von  Newton  und  Clarke; 
1783  dagegen  wird  geschlossen,  dass  ein  solches  Verhältniss  zwischen  Theil 
und  Ganzem  nicht  bei  Dingen  an  sich^  sondern  nur  bei  Erscheinungen  statt- 


'  Auch   Cohen,  Systematische  Begriffe  Ks.  S.  47  behauptet  eine    «totale 
Veränderung  des  Standpunktes".    Ebenso  H.  Wolff,  Spec.  u.  Phil,  l,  40. 


Einwände.  527 

finden  könne,  dass  die  betreffenden  GegeQstände  nebst  dem  Baume,  in  welchem 
sie  sich  befinden,  also  bloss  ideell  seien.  Trotz  jenes  gemeinsamen  Eemes 
ist  nun  aber  diese  Differenz  so  fundamental,  dass  sie  von  selbst  die  Kritik 
herausfordert:  der  Einwand  liegt  nahe,  dass  ein  Fall,  welcher  in  so  ent- 
gegengesetzter Weise  von  einem  und  demselben  Autor  ausgebeutet 
wurde,  für  die  betreffende  Frage  überhaupt  nichts  beweist  und  weder  für 
noch  gegen  die  Realität  des  Baumes  ins  Feld  geführt  werden  kann.  Be- 
sonders y.  Kirchmann  hat  (a.  d.  a.  0.)  diesen  auch  ganz  berechtigten  Ein- 
wand gemacht. 

Aber  auch  abgesehen  von  diesem  naheliegendem  argumentum  ad 
hominem  sind  gegen  Kants  Argumentation  von  1783  schwere  Bedenken  laut 
geworden.  Besonders  BoUiger;  Anti-Kant  382,  kann,  wie  schon  y.  Kirch- 
mann in  den  Erl.  z.  d.  Proleg,  S.  29.  31,  nicht  yerstehen,  „wie  uns  Kant 
einreden  will,  dass  seine  Baumlehre  yon  selbst  für  jenes  Bäthsel  eine  Er- 
klärung abgebe,  da  es  doch  im  Idealismus  der  Auflösung  bedürfte,  wie  im 
Bealismus.  Wenn  nun  auch  Hände,  Handschuhe  und  Triangel  blosse  Er- 
scheinungen und  nicht  Dinge  sind,  ist  es  darum  um  Haaresbreite  weniger 
scandalös,  dass  das,  was  gar  keine  unterschiede  hat,  nicht  zusammenstimmen 
will?"  Auch  Massonius,  Ks.  Aesthetik,  S.  43,  yermisst  jede  „logische  Ver- 
bindung zwischen  dem  Umstände,  dass  die  symmetrischen  Figuren  nicht 
einander  decken,  und  der  transscendentalen  Idealität  des  Baumes". 

Im  Gegentheil  finden  Andere  in  jenem  Beispiele  einen  Beweis  für  die 
Bealität  des  Baumes.  So  Gauss  an  einer  bekannten  Stelle  yom  15.  April  1831 
(W.  W.  II,  177):  „Dieser  Unterschied  zwischen  rechts  und  links  ist,  sobald 
man  yorwärts  und  rückwärts  in  der  Ebene,  und  oben  und  unten  in  Be. 
Ziehung  auf  die  beiden  Seiten  der  Ebene  einmal  (nach  Gefallen)  festgesetzt 
hat,  in  sich  yöllig  bestimmt,  wenn  wir  gleich  unsere  Anschauung  dieses 
Unterschiedes  Anderen  nur  durch  Nachweisung  an  wirklich  yorhandenen 
materiellen  Dingen  nachweisen  können".  Dazu  die  Anmerkung:  „Beide  Be- 
merkungen hat  schon  Kant  gemacht,  aber  man  begreift  Dicht,  wie  dieser 
scharfsinnige  Philosoph  in  der  ersteren  einen  Beweis  für  seine  Meinung, 
dass  der  Baum  nur  Form  unserer  äusseren  Anschauung  sei,  zu  finden 
glauben  konnte,  da  die  zweite  so  klar  das  Gegentheil,  und  dass  der  Baum 
unabhängig  yon  unserer  Anschauungsart  eine  reelle  Bedeutung  haben 
muss,  beweist."  Diese  Bemerkungen  yon  Gauss  sind  in  dieser  Form  leider 
zu  kurz,  als  dass  man  sie  discutiren  könnte.  Was  J.  C.  Becker,  Abhandl. 
a.  d.  Grenzgebiet  d.  Math.  u.  Phil.  1870,  S.  5 — 16,  sowie  Zöllner,  Wiss. 
Abb.  I,  227  gegen  Gauss  y orbringen,  ist  nicht  yon  Werth. 

Indessen  wird  nicht  bloss,  wie  yon  den  eben  genannten  Autoren, 
Kants  Schluss  mit  Becht  angegriffen,  sondern  es  wird  auch  mit  Fug  die 
Voraussetzung  desselben  in  Anspruch  genommen:  jener  Unterschied  lasse 
sich  gar  nicht  begrifflich  definiren,  sondern  nur  anschaulich  construiren. 
Schon  Tiedemann  in  den  Hessischen  Beyträgen  z.  Gel.  1784,  1.  St.  hat 
dagegen  opponirt;  besonders  treffend  hat  K.  Chr.  Fr.  Krause  in  seinen 
Göttinger  Vorlesungen   (1827 — 1829):    Zur  Geschichte   der   neueren  philos. 


528  Anhang.    Die  symmetrischen  Gegenstände. 

Systeme  (veröffentl.  1889)  S.  103—104  gezeigt,  dass  ein  ganz  wohl  zn  be- 
schreibender „qualitativer  Gegensatz  hier  obwalte*'.  Schon  „ Aristoteles 
habe  das  Prädicamentum :  Sütis  ganz  richtig  unterschieden''.  Denselben 
Nachweis  liefert  dann  v.  Kirchmann  a.  a.  0.  S.  29:  „Wenn  Kant  be- 
hauptet, dieser  Unterschied  sei  nicht  durch  den  Verstand  anzugeben,  so 
kann  derselbe  doch  deutlich  genug  dadurch  bezeichnet  werden,  dass  die 
Gestalt  der  Hände  u.  s.  w.  eine  symmetrische  genannt  wird,  d.  h.  die  an 
diesen  Händen  bestehenden  Unterschiede  in  der  Gestalt  sind,  einzeln  genom- 
men, einander  in  beiden  Händen  gleich ;  diese  Unterschiede  folgen  sich  aber, 
von  einem  Punkte  zwischen  ihnen  aus  gerechnet,  in  entgegengesetzten  Rich- 
tungen. Hiermit  ist  der  Unterschied  beider  Hände  in  begrifflichen  Bestim- 
mungen wirklich  angegeben. '^  Aehnlich  auch  Schmitz-Dumont,  Zeit  und 
Raum,  1875,  S.  54 — 57;  ferner  auch  Bolliger,  Anti-Kant  383,  Mas  so- 
tt ins,  Aesth,  46,  Thiele,  Phil.  Ks.  I,  b,  247 — 248,  welcher,  wie  auch 
schon  V.  Kirchmann,  richtig  ausführt,  dass  die  symmetrische  Anordnung 
keineswegs  den  absoluten  Raum  voraussetze,  sondern  nur  eine  feste  Mittel- 
linie zwischen  den  betreffenden  Gegenständen. 

Es  lässt  sich  aber  gegen  Kants  Beweisgang  von  1783  auch  noch  geltend 
machen,  dass  derselbe  vom  Kantischen  kritischen  Standpunkt  aus  selbst  als 
hinfällig  erscheint.  Wie  schon  oben  S.  522  Anm.  bemerkt  wurde,  beruht 
ja  die  ganze  Argumentation  von  1783  (und  1786)  auf  der  Voraussetzung, 
die  Dinge  an  sich  seien  j, Gegenstände  des  blossen  Verstandes".  Nur  auf 
Grund  dieser  Voraussetzung  hat  ja  Kant  daselbst  aus  dem  Vorhandensein 
begrifflich  identischer  und  doch  anschaulich  nicht  congruirender  Gegenstände 
auf  deren  Idealität  geschlossen.  Jene  Voraussetzung  ist  ja  aber  das  Wider- 
spiei  des  Kantischen  Kriticismus  und  ein  archaistischer  Rückfall  in  den 
Dogmatismus.  So  wird  also  durch  diese  immanente  Kritik,  noch  ohne  jeg- 
liche sachliche  Erwägung,  der  ganze  Beweiswerth  des  berühmten  Argumentes 
auf  Null  reducirt.  Ausserdem  erhebt  sich  die  Frage,  was  es  denn  eben  von 
dem  kritischen  Standpunkte  aus  heissen  solle,  wenn  Kant  sagt:  »hier  ist 
denn  doch  eine  innere  Verschiedenheit  beider  Triangel,  die  kein  Verstand 
als  innerlich  angeben  kann"  „und  demnach  sind  die  Unterschiede  innerlich, 
soweit  die  Sinne  lehren''.  Nach  Kants  sonstigen  Lehren,  die  wir  hinreichend 
kennen  gelernt  haben,  handelt  es  sich  ja  doch  bei  den  mathematischen  Be- 
stimmungen nicht  um  begriffliche  Merkmale,  sondern  um  rein  anschauliche; 
also  fragt  es  sich  doch  gar  nicht,  ob  der  Verstand  jenen  Unterschied 
auffinden,  sondern  ob  derselbe  sich  anschaulich  angeben  Iftsst;  das  aber 
ist  nach  Kants  eigenen  Erklärungen  der  Fall.  Damit  fällt  ja  aber  alles 
hinweg,  was  den  Fall  vom  Kantischen  Standpunkt  aus  zu  einem  , Para- 
doxon" machen  könnte. 

So  macht  denn  die  ganze  Stelle  den  Eindruck,  als  ob  sie  aus  Gedanken- 
gängen bestünde,  welche  aus  älterer  Zeit  stammen  und  noch  halb  auf  dog- 
matischem Boden  stehen;  vgl.  oben  S.  505  N.  Schon  G.  E.  Schulze  in 
seiner  Kritik  d.  theor.  Phil.  (1801),  II,  225  (vgl.  I,  229)  bemerkt:  .diese  Be- 
stätigung möchte  denjenigen  allenfalls  wohl  in  Verlegenheit  setzen  können, 


Verh&ltniss  zum  Leibniz'schen  Principiutn  identitatis  indiscernibilium,     529 

der  etwa  die  Erkenntniss  der  Dinge  an  sich  mit  Leibnizen  aaf  die  deut- 
lichen Begriffe  des  Verstandes  einschränkte.*  Damit  hat  Schulze  ganz  richtig 
das  punctum  saliens  und  zugleich  den  Fehler  des  ganzen  Argumentes  erkannt. 

Dies  fuhrt  uns  nun  auch  auf  die  Entstehung  des  seltsamen  Argu- 
mentes. Schon  K.  Fischer  hat  auf  den  Zusammenhang  des  Argumentes 
mit  dem  Kampf  Kants  gegen  das  Leibniz'sche  Principiutn  identitatis  indis' 
cemibilium  hingewiesen.  Die  betreffenden  Ausfuhrungen  von  Fischer  (2.  A.  326, 
3.  A.  335)  sind  allerdings  tbeilweise  sehr  unzutreffend;  insbesondere  hat 
Fischer  nicht  gesehen,  dass  es  sich  zunächst  bei  dem  principium  identitatis 
indiscernibilium  um  etwas  anderes  handelt;  das  Leibniz'sche  Princip  besagt: 
begrifflich  Identisches  (Ununterscheidbares)  muss  auch  numerisch  iden- 
tisch sein,  d.  h.  eben,  es  gibt  nicht  zwei  (oder  mehrere)  Gegenstände, 
welche  qualitativ  und  quantitativ  absolut  dieselben  Eigenschaften  hätten. 
Hier  aber  handelt  es  sich  ja  nur  darum,  dass  begrifflich  identische  Gegen- 
stände eigentlich  auch  geometrisch  zur  Deckung  müssten  gebracht  werden 
können;  die  Forderung  ist  also  hier:  begrifflich  Identisches  (Nicht-mehr- 
Unterscheidbares)  muss  geometrisch  congruent  sein.  Der  erstere  Satz 
möchte  die  Mehrheit  begrifflich  ununterscheidbarer  Gegenstände  ganz  aus- 
schliessen;  der  zweite  dagegen  lässt  diese  Mehrheit  ruhig  zu  und  verlangt 
nur,  dass  solche  Gegenstände  müssten  vertauscht  werden  können. 

Trotz  dieser  Verschiedenheit  besteht  zwischen  Beidem  ein  naher  Zu- 
sammenhang: im  Kampf  gegen  das  principium  identitatis  indiscemibüium  ver- 
wendet Kant  dasselbe  Argument,  wie  Prot.  §  13  zur  Erklärung  des  Para- 
doxon: wie  er  dort  zugibt,,  dass  das  Leibniz'sche  Princip  im  Gebiet  der 
,  Dinge  an  sich  selbst  als  inteüigibilia  d.  i.  der  Gegenstände  des  reinen  Ver- 
standes'' gelte,  nicht  aber  im  Gebiet  der  anschaulichen  Erscheinungen,  ^so 
erklärt  er  auch  Prot.  §  13,  dass  jene  Forderung,  begrifflich  Identisches  müsste 
auch  geometrisch  congruent  sein,  bei  , Dingen  an  sich  selbst  als  Gegen- 
ständen des  puren  Verstandes"  zutreffen  müsse;  da  sie  nicht  zutreffe,  habe 
man  es  eben  nicht  mit  solcben,  sondern  mit  anschaulichen  Erscheinungen  zu 
thun.  Der  Abschnitt:  , Von  der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe'',  woselbst 
Kant  jenen  Kampf  gegen  das  Leibniz'sche  Princip  führt  (A  263  ff.,  B  319  ff.), 
der  daselbst  auch  eingehender  wird  zu  besprechen  sein,  wird  sich  nun  als 
einer  der  frühesten  der  ganzen  Kr.  d.  r.  V.  herausstellen.  Aus  dieser  Zeit 
muss  auch  jene  Argumentation  der  Prolegomena  stammen,  welche  also  Kant 
nur  der  , Popularität"  halber  (vgl.  Comm.  I,  141.  143)  aus  älterer  Zeit 
ohne  viele  Scrupel  in  jene  Erläuterungsschrift  aufnahm,  während  er  sie 
nicht  der  Aufnahme  in  die  Hauptschrift  würdigte,  in  deren  „erstem  Entwürfe" 
(Gomm.  I,  138  ff.)  sie  aber  wohl  gestanden  haben  mag. 

Der  Zusammenhang  des  Argumentes  mit  dem  Kampf  gegen  das  prin- 
cipium identitatis  indiscemibüium  wird  übrigens  auch  erwiesen  durch  die 
wörtlichen  üebereinstimmungen  der  Prolegomenastelle ,  besonders  aber  des 
lateinischen  Textes  der  analogen  Stelle  der  Dissertation  (§  15  C)  mit  der 
Stelle  der  Nova  Dilucidatio,  Sect.  II,  Prop,  XI,  wo  jenes  Princip  schon  be- 
kämpft  wird  {„perfecte  similia*\   „intemae  notae"  „diversitas^*,  congruere"), 

Valhinger,  Kant-Commentar.    n.  34 


530  Anhang.    Die  symmetriBchen  Gegenstände. 

Beim  Kampf  gegen  jenes  Princip  ist  Kant  also  wobl  auch  auf  diesen  eigen- 
artigen Fall  gestossen. 

Dieser  historische  Zusammenhang  lässt  sich  übrigens  noch  weiter  zn- 
rückverfolgen :  in  dem  Streit  zwischen  Leibniz  nnd  Olarke  waren 
nämlich  schon  ganz  ähnliche  Fragen  zur  Spracbe  gekommen  \  Leibniz 
hatte  II,  1  sein  Principe  de  la  raison  süffisante  aufgestellt;  Clarke  erwidert 
n,  1:  dafür,  dass  von  zwei  ganz  gleichen  Körpern  der  eine  an  den  einen 
Ort,  der  andere  an  einen  anderen  gestellt  werde,  sei  die  einzige  raison  süffi- 
sante la  simple  volonU  de  Dieu.  Leibniz  hält  III,  5  (7)  eine  solche  Wahl  für 
y chimärisch';  anch  die  Voraussetzung  von  Clarke,  der  Baum  sei  etwas  Ab- 
solutes, sei  falsch ;  wäre  der  Baum  etwas  Absolutes,  so  liesse  sich  nicht  ein- 
sehen: pourquoi  tout  n*a  pas  iU  pris  ä  rebours  (par  exemple),  par  tm 
iehange  de  VOrient  ei  de  VOccident.  Mais  si  VEspace  t/est  autre  chose  que 
cet  ordre  ou  rapport  et  West  rien  du  tout  sans  les  corps .  . . ,  ces  deux  itaU, 
Vun  tel  qu'il  est,  V autre  supposi  ä  rebours,  ne  diffireroient  point  entre  eux, 
Clarke  erwidert  III,  2  (5,  7,  8):  Supposi  que  Vespace  ne  fütt  rien  de  rM, 
mais  seulement  un  simple  ordre  des  corps,  la  volonti  de  Dieu  ne  laisseroit  pas 
d^Hre  la  seule  possible  raison  pour  Ictqueüe  trois  partiades  4gales  auroieni  iU 
plaeSes  ou  rangSes  dans  Vordre  Ä,  B,  C,  plutöt  que  dans  un  ordre  con- 
traire.  Nun  entwickelt  Leibniz  IV,  3 — 6  sein  Principe  de  VldentiU  des  indis- 
cemables:  es  gebe  eben  keine  solchq  particules  Sgales;  denn  sonst  würde  Gott 
eben  sans  raison  süffisante  handeln;  bei  der  Uniformität  des  Raumes  könne 
der  Grund  der  Entscheidung  Gottes  für  die  eine  oder  andre  Disposition  nur 
in  inneren  Unterschieden  liegen,  IV,  18.  19.  Clarke  IV,  1—6.  18.  19, 
bekämpft  dieses  Princip;  es  gebe  eben  absolut  gleiche  einfache  Körper; 
wenn  Gott  mehrere  derselben  zusammenstellt,  ü  auroit  pu  avec  la  mime 
facäitS  les  placer  ä  rebours  ...  Le  mSme  raisonnement  a  lieu  aussi  par 
rapport  ä  la  premih'e  dStermination  du  mouvement  d'un  certain  cdtS,  ou  du  cM 
opposL  Leibniz  antwortet  darauf  sehr  gereizt,  V,  16 — 20.  21 — 25.  26 — 32. 
66 — 71,  während  Clarke  auf  diese  gereizte  Antwort  sehr  ruhig  erwidert. 

Dass  Kant  durch  diese  Controverse  zwischen  Leibniz '  und  Clarke 
direct  auf  sein  Beispiel  der  symmetrischen  Gegenstände  gefuhrt  worden 
ist,  kann  wohl  mit  Sicherheit  angenommen  werden'.   Er  hat  diese  1715  bis 


^  Dass  dieser  Streit  auf  Kant  stark  eingewirkt  habe,  wurde  schon  oben 
S.  133.  414.  436.  505  plausibel  gemacht. 

'  Leibniz  hat  das  Problem  der  congruenten  resp.  incongruenten  Figuren 
auch  sonst  gelegentlich  berührt,  so  Mathem.  Sehr.  her.  v.  Pertz,  V,  144.  155.  172  €. 
178  ff.  (Änalysis  Situs),  VII,  263  ff.  275  ff.  —  üebrigens  scheint  auch  schon  Demo- 
krit  auf  die  Sache  aufmerksam  geworden  zu  sein :  er  lässt  nach  Aristoteles'  Zeug- 
nisB,  Metaph.  I,  4,  die  Atome  sich  unterscheiden  diftd-iY^,  was  Aristoteles  durch 
'zdiii  wiedergibt  und  zugleich  erläutert  durch  die  verschiedene  Stellung  von  AN 
und  NA.    Vgl.  Zeller,  Die  Philos.  d.  Griechen  I,  5.  A.  S.  855  Anm.  1  (1892). 

'  Natürlich  werden  noch  weitere  Einflüsse  mit  eingewirkt  haben,  welchen 
schwerlich  mehr  nachzuspüren  ist.  Auch  Euler  hat  in  seiner  von  Kant  selbst  1768 
citirten  Abhandlung  von  1748 :  Riflexiona  sur  Vespace  et  le  tems  {Acad,  BerL  1750), 


Der  Streit  zwischen  Leibniz  und  Glarke.  —  Zöllneriana.  531 

1716  geführte  Debatte  1768  mit  Geschick  weiter  geführt,  nnd  hat  das  von 
ihm  erweiterte  Beispiel  der  symmetrischen  Anordnung  gewisser  Gegen- 
stände der  Leibniz^schen  Baumtheorie  glücklich  entgegengehalten ,  besonders 
in  dem  fictiven  Postulat  der  Schöpfung  einer  Menschenhand,  das  sich  ganz 
an  Clarke's  Einwände  gegen  Leibniz  anschliesst.  Während  er  sich  aber  1768 
ganz  auf  die  Seite  von  Glarke  resp.  Newton  stellte,  hat  er  1770  diesen 
Standpunkt  gegen  seinen  Idealismus  vertauscht,  für  den  er  dann  1788  jenes 
Beispiel  in  sehr  unglücklicher  Weise  ins  Feld  führte. 

Ein  merkwürdiges  Nachspiel  hat  das  Kantische  , Paradoxon '^  in  neuester 
Zeit  erlebt.  Fr.  Zöllner  hat,  bei  seinen  an  Gauss,  Biemann,  Helmholtz  u.  s.  w. 
sich  anschliessenden  Studien  über  die  Natur  des  Baumes  resp.  über  die  Möglich* 
keit Nicht-Euklidischer  Bäume,  diese  „von  Kant  entdeckte  geometrische  An- 
tinomie' durch  die  Annahme  einer  vierten  Dimension  zu  lösen  gesucht.  (Vgl. 
oben  S.  347  Anm.;  vgl.  auch  S.  267  und  S.  423.)  In  den  „Principien  einer 
electrodynamischen  Theorie  der  Materie*,  I,  1876,  Vorr.  70  ff.,  78  f.  fuhrt 
er  Folgendes  aus:  Zwischen  begrifflich  identisch  definirten  räumlichen  Ge- 
bilden dürfe  auch  anschaulich  kein  UnterscMed  mehr  existiren;  bei  sym- 
metrischen Gebilden  in  der  Ebene  lasse  sich  nun  jener  Widerspruch  zwischen 
den  Anforderungen  des  Denkens  und  den  Leistungen  der  Anschauung  heben 
durch  umklappen  d.  h.  durch  Heraustreten  aus  der  Ebene  in  die  dritte  Dimen- 
sion (durch  y Drehen  und  Wenden'^,  wie  Kant  sagt,  oben  S.  524);  bei  der 
Symmetrie  körperlicher  Figuren,  bei  denen  derselbe  Widerspruch  stattfindet, 
sei  nun  eine  solche  Umwendung  nicht  möglich,  denn  dazu  müssten  wir 
einen  Baum  haben,  der  eine  Dimension  mehr  habe,  als  der  unsrige;  eine 
solche  vierte  Dimension  müsse  nun  aber  der  reale  Baum  haben,  —  denn 
sonst  bliebe  jene  Antinomie  ungelöst  —  unsere  subjective  Baumanschauung 
sei  aber  in  ihrer  Unvoll kommenheit  auf  dem  dreidimensionalen  Baume  stehen 
geblieben;  die  Welt  der  Kantischen  Dinge  an  sich  (identisch  mit  der  Welt 
der  Platonischen  Ideen)  sei  eine  vierdimensionale.  Diesen  sonderbaren  Ge- 
dankengang setzte  Zöllner  dann  fort  in  seinen  „Wissensch.  Abhandlungen', 
I,  (1878)  224  ff.  241  ff.  248  f.  264  ff.  (mit  Beispielen  der  Symmetrie  aus 
der  Chemie  u.  s.  w.)  502  ff.;  III  (1879),  Vorr.  88,  S.  592;  das  »Wunder 
der  Symmetrie'  lasse  »eine  widerspruchsfreie  Erklärung"  nur  zu  durch  die 
Annahme  einer  vierten  Dimension,  für  deren  Bealität  dann  besonders  die 
spiritistischen  Phänomene  sprechen  sollten. 


unter  N.  XYI  u.  XYII  das  Thema  gestreift:  das  principe  des  indiscemables  lasse 
sich  nicht  auf  den  Raum  als  solchen  anwenden;  nur  im  absoluten  Baume,  nicht 
im  Leibniz'schen  lasse  sich  die  identiU  de  direction  d'un  mouvement  nachweisen. 
Auf  weitere  gleichzeitige  Quellen  kann  man  scbliessen  aus  E^lügels  Artikel  über 
Symmetrie  im  Math.  Wort.  IV,  859 :  er  bemerkt,  dass  schon  die  Alten  (Theodosius 
nnd  Menelaus)  die  Incongruenz  symmetrischer  sphärischer  Dreiecke  gekannt  haben; 
und  unter  den  Neueren  haben  Segner  (1741)  und  Karsten  (1760)  dieselbe  berück- 
sichtigt, Wolff  und  Kästner  dieselbe  jedoch  vernachlässigt.  Da  Kant  Segner  auch 
sonst  citirt  (vgl.  Gomm.  I,  299),  so  mag  er  durch  ihn  mit  auf  dieselbe  geführt 
worden  sein. 


532  Anhang.    Die  eymmetrisclien  Gegenstände. 

Dieser  abenteuerliche  Ged9.nke  fand  Beifall  bei  geistesverwandten 
Naturen,  so  z.  B.  bei  M.  Wirth,  Fr.  Zöllner,  Vortrag,  1882,  S.  8—11,  bei 
Oisevius,  Es.  Lehre  von  Raum  und  Zeit,  1890,  S.  29 — 38  und  vielen  An- 
deren, scharfe  und  treffende  Zurückweisung  dagegen  von  B.  Erdmann, 
Die  Axiome  der  Geometrie,  1877,  Vorr.  IV — VI,  welcher  besonders  darauf 
hinweist,  dass  dasselbe  Problem  ja  „bei  der  Supposition  vierfach  ausge- 
dehnter Dinge  an  sich  wiederkehren'  würde;  denselben  Einwand  erhebt 
Stumpf,  Phil.  Mon.  1878,  XIV,  S.  16—21  (hier  ist  .Nichts  paradox,  als 
das  Argument  selber"),  auch  S.  Günther  im  , Kosmos',  1877,  9.  H.  8.  281  f.; 
was  Zöllner  dagegen  sagt;  Wiss.  Abb.  I,  244  f.  248  f.  ist  schwach.  Ebenso 
treffend  sind  die  Einwände  von  Riehl  gegen  Zöllner,  Phil.  Erit.  II,  a,  97 
und  bes.  Lit.  Centralbl.  1877,  Nr.  9.  Weiteres  hierüber  bei  Michelis:  Ist 
die  Annahme  eines  Raumes  mit  mehr  als  3  Dimensionen  wissenschafUich 
berechtigt?  1879,  S.  5  ff.  26  ff.  32  ff.  Dreher,  Beitrage  zu  e.  exacten  Psycho- 
physiologie,  1880,  8.  33—38.  V.  Schlegel,  über  den  sogen,  vierdimensionalen 
Raum,  1888;  S.  20  ff.  G.  Bellermann,  Beweis  a.  d.  n.  Raumtheorie  u.  s.  w., 
Progr.  (1889,  Nr.  95)  S.  27  ff.  Mach,  Beitr.  z.  Anal,  der  Empfindungen, 
S.  44.  76.     Stumpf,  Psychologie  u.  Erk.  Theorie,  1891,  8.  41. 

Zöllner  hat  übrigens  den  Sinn  des  Kantischen  , Paradoxons'  gar  nicht 
richtig  erfasst.  Zöllner  stellt  die  Sache  so  dar,  als  bestehe  nach  Kant  in 
diesen  Fällen  ein  Widerspruch  zwischen  den  berechtigten  Forderungen  des 
Denkens  und  den  mangelhaften  Leistungen  unserer  jetzigen  Anschauungs- 
form; an  Stelle  dieser  müsse  also  die  Hypothese  einer  anderen  gesetzt 
werden,  in  welcher  die  Congruenz  jener  symmetrischen  Figuren  wirklich 
zur  Ausführung  gebracht  werden  könne.  Anders  Kant  selbst :  er  verlangt 
ja  gar  nicht,  dass  die  symmetrischen  Körper  zur  Deckung 
gebracht  werden  sollen;  dass  dieselben  dem  begrifflichen  Denken  als 
identisch  erscheinen,  ist  ihm  vielmehr  ein  Zeichen  der  Unzulänglichkeit  des 
begrifflichen  Denkens,  das  gar  nicht  im  Stande  ist,  jenen  dem  begrifflichen 
Denken  verborgenen,  in  Wirklichkeit  aber  vorhandenen  , inneren  Unterschied' 
jener  symmetrischen  Gegenstände  zu  erfassen;  der  Unterschied  ist  vorhanden, 
aber  nur  der  unmittelbaren.  Anschauung  zugänglich.  Daraus  schliesst  Kant, 
wie  wir  sahen,  in  seiner  Weise  weiter,  dass  jene  symmetrischen  Gegenstände 
sammt  dem  Räume,  auf  den  sie  sich  beziehen,  blosse  Erscheinungen  gänz- 
lich unbekannter  und  jedenfalls  unräumlicher  Dinge  an  sich  sind, 
während  Zöllner  den  ganz  unkantischen  Schluss  zieht,  also  seien  jene  sym- 
metrischen Gegenstände  im  dreidimensionalen  Räume  blosse  ,Schattenpro- 
jectionen'  vierdimensionaler  Gegenstände.  Zöllner  schliesst  also  im  hellsten 
Gegensatz  gegen  Kant  aus  der  Thatsache  symmetrischer  Gegenstände  auf 
die  transscendentale  Realität  der  Raumbestimmungen,  die  er 
um  jener  Thatsache  willen  sogar  um  eine  Dimension  vermehrt,  während 
Kant  vielmehr  aus  derselben  einen  Beweisgrund  für  seinen  trans* 
scendentalen  Idealismus  entnimmt,  welchem  zufolge  die  Räumlichkeit 
überhaupt  den  Dingen  an  sich  abgesprochen  wird. 


Specialliteratur. 


Yorbemerkmig»  Wie  schon  im  ersten  Bande  S.  159  f.  die  Special- 
literatnr  zur  Einleitung,  sowie  ib.  S.  165.  253.  293  die  besondere  Literatur  zu 
den  einzelnen  Abschnitten  derselben  aufgef&hrt  wurde,  so  haben  wir  auch 
hier  die  Specialliteratur  zur  transscendentalen  Aesthetik  auf- 
zuzählen. Man  wurde  jedoch  ganz  irre  gehen,  wenn  man  glauben  würde,  in 
dieser  Specialliteratur  liege  der  Schwerpunkt  der  wissenschaftlichen  Dis- 
cussionen  über  die  Eantische  Raum-  und  Zeitlehre.  Viel  wichtiger  sind  hie- 
für die  allgemeinen  Erläuterungsschriften,  von  denen  die  werth- 
vollsten  Bd.  I,  S.  19 — 22  aufgeführt  worden  sind. 

Aus  der  ersten  Periode  kommen  so  aus  der  fast  unübersehbaren  Masse 
der  Kantliteratur  für  die  transsc.  Aesthetik  besonders  in  Betracht  die  Werke 
der  Kantianer  Schultz,  Schmid,  Mellin,  Kiesewetter,  Jacob;  der 
Portbildner  Beinhold,  Beck,  Maimon;  der  Halbkantianer  Ulrich, 
Platner,  Brastberger;  der  Kantgegner  Feder,  Tiedemann,  Seile, 
ö.  E.  Schulze  (Aenesidem),  Eberhard,  Schwab,  Herder.  Die  wich- 
tigsten Schriften  derselben  sind  Bd.  I,  S.  19  ff.  namentlich  aufgeführt  wor- 
den, die  anderen  findet  man  leicht  in  Krugs  Encycl.-philosophischem  Lexicon, 
2.  A.  1882,  in  Rosenkranz*s  Geschichte  der  Kantischen  Philosophie  (Kants 
Werke  Bd.  XII)  1840,  in  Ersch-Geissler,  Literatur  der  Philosophie,  3.  A.  1850, 
in  Gumposch,  Die  philosophische  Literatur  der  Deutschen,  Regensburg  1851. 


Speclalschrlften  der  ersten  Periode  (1771-1800). 

1)  Kantianer:  Marcus  Herz,  Betrachtungen  aus  der  speculativen 
Weltweisheit.  Königsberg  1771.  —  Schütz,  0.  G.  Kantianae  de  spatio  doc- 
trinae  brems  explanatio,  sowie  Kantianae  de  temporis  notione  sententiae  brevis 
expositio.  Zwei  Jenaer  Programme  von  1788  (wieder  abgedruckt  in  Schütz, 
Opusculaj  1880,  298  ff.,  306  ff.,  auch  in  den  anonym  erschienenen,  von  Hausius 
herausgegebenen,  reichhaltigen  , Materialien  zur  Geschichte  der  kritischen 
Philosophie".  Leipzig  1793,  II,  1—18.  (Ein  weiteres  Programm  von  Schütz 
s.  oben  S.  447  Anm.)  —  Reuss,  Aesthetica  transscendentalis ,  sowie:  Ana- 
lyiiea  sensualitatis  purae,  und  Theoria  sensualttatis.    Drei  Würzburger  Pro- 


534  Specialliteratur. 

gramme  von  1788,  1789,  1793.  —  Dorsch,  J.  A.  Beitr&ge.  5.  Heft:  Theorie 
der  äusseren  Sinnlichkeit.  1789.  —  Forberg  (der  bekannte  Urheber  des 
späteren  Fichte'schen  Atheismusstreites)  De  aesthetica  transscendentali.  Jenae 
1792.  —  Fremling,  Math.  De  spatio  secundutn  decreta  Kantiana»  Vier 
Dissertationen  von  Lund.  1796,  1797.  —  Schmidt,  W.  Ueber  das  sinnliche 
Erkenntnissvermögen.  Fassliche  Darstellung  der  Kantischen  Begriffe  von  Raum 
und  Zeit.    1797.  — 

2)  Gegner:  Tiedemann,  Ueber  die  Natur  der  Metaphysik,  in  den 
„Hessischen  Beiträgen  z.  Gelehrs.  u.  Kunst",  1784;  drei  Aufsätze,  deren 
erster  speciell  ,  Gegen  die  Aesthetik*'  geschrieben  ist.  (Auch  wieder  abge- 
druckt in  den  oben  erwähnten  , Materialien  z.  Gesch.  d.  kr.  Philos.*  1793, 
II,  53 — 76.  Viel  gründlicher  und  mit  noch  jetzt  beachtenswerthen  Ein- 
wänden bekämpft  Tiedemann  die  K.'sche  Tr.  Aesthetik  später  in  seinem 
.Theätet  od.  über  das  menschliche  Wissen*.  1794,  8.  19—34.  40—115,  be- 
sonders gegen  die  Kantianer  Born,  Jacob,  Schultz,  Abicht,  Schaumann,  Reh- 
berg, Reinhold,  Beck.  Vgl.  oben  S.  149.  316.)  —  Feder,  Ueber  Raum  und 
Causalität.  Zur  Prüfung  der  K.'schen  Philosophie.  1787.  (Eine  noch  jetzt 
schätzenswerthe  Gegenschrift.)  —  Pistorius  (vgl.  oben  S.  143),  Ueber  die 
mathematische  Evidenz.  In  Nicolai's  Allg.  D.  Biblioth.  Bd.  93,  St.  2,  S.  454  ff. 

—  Weishaupt,  Zweifel  über  die  Kantischen  Begriffe  von  Zeit  und  Raum. 
1788;  Ueber  die  Kantischen  Anschauungen  und  Erscheinungen,  1788.  — 
Ouvrier,  Idealismi  sie  dieti  transscendefitalis  examen  aecuratius  1789.  — 
Anonymus :  UeberRaumundZeit.  Ein  Versuch  in  Bezug  auf  die  K.'sche 
Philosophie.  Dresd.  u.  Leipz.  1789.  —  Anonymus,  Kritische  Briefe  an 
Kant.  1794,  S.  69—278.  (Vgl.  Bd.  I,  158.)  —  Christjernin,  P.  N. 
Disputatio  temporis  et  aetermtatis  discrimen  hreviter  evokens.     Upsalae  1791. 

—  Rozgonyi,  Dubia  de  initiis  tr,  idealistni.  Pest  1792.  —  Pappen- 
heimer, Beiträge.  Dasein  der  Zeit  und  des  Raumes  aus  der  Erfahrung. 
1794.  —  Horvath,  J.  B.  Declaratio  infirmitatis  fundamentarutn  operis  Kan' 
tiani:  Kr.  d.  r.  V.  Budae  1797,  S.  17  ff.  66—134.  —  Heynig,  Heraus- 
forderung an  den  Prof.  Kant  u.  s.  w.  1798.   (Vgl.  Bd.  I,  158).  — 

3)  Antworten  der  Kantianer:  Born,  Versuch  über  die  ersten 
Gründe  der  Sinnenlehre,  zur  Prüfung  verschiedener,  vornehmlich  der  Weis- 
haupt'schen  Zweifel  über  die  K.'schen  Begriffe  von  R.  u.  Z.  1788.  (Born 
wendet  sich  auch  gegen  Abel,  Seile,  Feder,  Bornträger  u.  A.)  —  Gegen 
Feder's  oben  angeführte  Schrift  wendet  sich  Schaumann,  Ueber  die  transsc. 
Aesthetik.  Nebst  einem  Schreiben  an  Feder  über  den  transsc.  Idealismus. 
1789.  (Eine  achtungswerthe  Leistung.  Vgl.  Feders  Antwort  in  den  GOtt. 
Gel.  Anz.  1789,  St.  1Ö9,  und  in  seiner  Philos.  Bibliothek  III,  121—142.)  — 
Gegen  Feder  und  Weishaupt  wendet  sich  Kosmann,  DissertcUio,  qua  de- 
monstratur,  spatium  non  universalem  conceptuvn,  sed  intuüum  purum  esse.  Diss. 
Francofurt.  1789,  theilw.  abgedr.  in  deutscher  Sprache  in  Kosmanns  Maga- 
zin, 1791,  I,  S.  99—113.  —  Gegen  Seile,  Tiedemann,  Reimarus,  Feder, 
Weishaupt,  Abel,  Stattler,  Platner,  Tittel,  Bornträger  wendet  sich  der  College, 
Freund  und  Anbänger  Kants  Job.  Schultz  in  dem  1789  erschienenen  I.  Band 


Specialschriften  der  ersten  Periode.    Der  Streit  mit  Eberhard.        535 

seiner  „Prüfung  der  K.'schen  Kr.  d.  r.  V.*  Während  dieser  erste  Band  sich 
Yorzugsweise  gegen  die  Empiristen  wendet,  ist  der  zweite  Band  (1792)  gegen 
die  Vertreter  der  Leibniz'schen  Schale,  spec.  gegen  die  Eberhard'sche  Zeit- 
schrift gerichtet.  —  Auf  Herders  Angriff  antwortet  Jftsche  in  Kinks 
Mancherley  zur  Gesch.  d.  metakritischen  Invasion,  1800,  S.  57 — 119:  Baum, 
Zeit  und  Kraft. 

Die  Eberhard'schen  Streitigkeiten. 

Besonders  erwähnenswerth  ist  der  Angriff  Eberhards  durch  sein  noch 
im  Jahre  1788  begonnenes  , Philosophisches  Magazin".  Er  gründete  diese 
Zeitschrift,  in  ausgesprochenem  Gegensatz  gegen  die  Kantfreundliche  von 
Schütz  1785  ins  Leben  gerufene  Jenaische  , Allgemeine  Literatur-Zeitung*, 
in  welcher  die  Kantgegner  Mendelssohn,  Meiners,  Platner,  Seile,  Stattler, 
Tittel,  Feder,  Reimarus,  Bomträger,  Weishaupt,  Flatt,  Jacobi,  Abel,  Ulrich, 
Tiedemann,  Brastberger  bekämpft  wurden.  Eberhard  begründete  nun  sein 
„Magazin"  mit  der  Absicht,  ein  Centralorgan  für  alle  auf  Leibniz'schem 
Boden  stehende  Gegner  Kants  zu  schaffen.  So  entspann  sich  zwischen  der 
Kantischen  und  Leibniz'schen  Richtung  ein  Kampf  auf  Leben  und  Tod. 
Wir  werden  hier  natürlich  nur  die  auf  die  tr.  Aesthetik  bezüglichen 
Aktenstücke  anführen,  und  müssen  uns  auch  darin  auf  das  Wichtigste  dieses 
ja  neuerdings  wieder  vielbehandelten  gewaltigen  Streites  zweier  Weltan- 
schauungen beschr linken.  Zur  besseren  Uebersicht  dieses  weitverzweigten 
Kampfes  werden  wir  gut  thun,  denselben  in  einzelne  Phasen  zu  scheiden. 

1)  Erster  Band  des  Philos.  Mag.  in  4  Stücken,  1788  u.  1789. 
Erstes  Stück:  Der  Streit  in  Bezug  auf  Raum  und  Zeit  wird  angesagt  S.  25. 
Der  Weishaupt'sche  Angriff  wird  ziemlich  verächtlich  abgethan  S.  111 — 116 
von  Maass,  welcher  nun  das  2.  Stück  eröffnet  mit  einer  treffenden  Kritik 
der  tr.  Aesthetik  S.  117—149.  Vgl.  oben  S.  312.  (Vgl.  dazu  desselben 
Kritik  der  Antinomienlehre  St.  4,  S.  469 — 495.)  Diese  negative  Kritik  wird 
durch  Eberhard  selbst  St.  2,  S.  167-175.  St.  3,  257-262.  281—282, 
St.  4,  887—891.  393—404  durch  positive  Aufstellungen  ergänzt.  St.  8, 
S.  290 — 306  weist  derselbe  den  Angriff  Kants  auf  die  Leibniz'sche  Unter- 
scheidung von  Sinnlichkeit  und  Verstand  zurück.  Vgl.  oben  S.  91  u. 
S.  449  f.  454  ff.    Vgl.  ferner  oben  S.  147  ff.  311  ff.  455  ff. 

2)  Die  Allg.  Lit.-Zeit.  nahm  den  Streit  sofort  auf.  Die  Recensionen 
von  St.  1  u.  2  finden  sich  1789,  Nr.  10  (I,  77  ff.)  und  Nr.  90  (I,  718—716). 
Diese  beiden  Recensionen  rühren  von  R  e  h  b  e  r  g  her ;  (vgl  iarüber  Dilthey, 
Archiv  f.  Gesch.  d.  Phil.  III,  275  ff.).  Diese  beiden  Recensionen  sind  ziem- 
lich matt;  insbesondere  was  gegen  Maass'  schneidige  Kritik  der  Aesthetik  vor- 
gebracht wird,  ist  ganz  unzulänglich.  —  St.  3  u.  4  werden  recensirt  1789, 
Nr.  174—176  (II,  577 — 597).  Diese  Recension  beschäftigt  sich  nur  mit  dem 
Aufsatze  Eberhards  „Ueber  die  Unterscheidung  der  Urteile  in  analytische 
und  synthetische"  (Phil.  Mag.  I,  3,  307  ff.),  welcher  die  Probleme  der  Tr. 
Aesthetik  nicht  näher  berührt.    Auch  die  eingehende  Recension  streift  diese 


586  Specialliterator. 

Probleme  nur  gelegentlich.  Die  Recension  beruft  sich  auf  Kant  selbst,  der 
auch  Materialien  für  dieselbe  geliefert  habe.  Die  Recension  stammt,  wie 
man  aus  «Reinholds  Leben''  1825  erfuhr,  von  diesem.  Daselbst  sind 
auch  S.  134  ff.  die  bezüglichen  brieflichen  Mittheilungen  Kants  an  Reinbold 
abgedruckt. 

3)  Das  Phil.  Mag.  blieb  die  Antwort  nicht  schuldig.  Nach  einer 
kurzen  Erwiderung  auf  die  erste  Recension  schon  I,  3,  333 — 339  erfolgte 
II,  1,  S.  29—52  (vgl.  IT,  380,  III,  56)  eine  ausführliche  Antwort  auf  jene 
zweite  Recension  (1789,  Nr.  90).  Maass  und  Eberhard  rechtfertigen 
sich  gegen  die  Einwände  der  Recensenten  und  halten  ihre  Angriffe  speeiell 
gegen  die  Tr.  Aesthetik  aufrecht  in  einer  formell  und  sachlich  treffenden 
Antwort.  Darauf  replicirte  Rehberg  in  dem  Int.  Bl.  der  AUg.  Lit.-Zeit. 
1789,  Nr.  145,  S.  1207—1212  nicht  ungeschickt;  aber  noch  geschickter  ist 
die  Duplik  jener  Beiden  zuerst  in  demselben  Int.  BL,  1790,  Anfang,  dann 
im  Phil.  Mag.  II,  4,  497—510  (vgl.  III,  408—411  gegen  die  Bemerkungen 
von  Schulz  zu  diesem  Streit  in  der  A.  L.-Z.  1790,  Nr.  281).  Dieser  Streit 
spann  sich  nun  selbständig  weiter  fort:  R e h  b e r g  beantwortete  diese  Duplik 
nunmehr  im  Neuen  Deutschen  Museum,  1791,  St.  3,  unter  seinem  Namen; 
darauf  folgten  Eberhards  Bemerkungen  im  Phil.  Mag.  III,  3,  302 — 316. 
Im  4.  St.  desselben  Bands  (1792)  erschien  sodann  S.  447—460  eine  Antwort 
Rehbergs  u.  d.  T.  „Ueber  die  Natur  der  geometrischen  Evidenz.*  In  dieser 
Abhandlung  wendet  sich  R.  zugleich  gegen  Schwab,  welcher  die  Ableitung 
der  Geometrie  nicht  aus  Anschauung,  sondern  aus  Begriffen  behauptet  hatte 
(P.  M.  III,  4,  397  ff.  480  ff.).  Rehberg,  welcher  dieses  Problem  von  Anfang 
an  als  die  , Hauptsache*  behandelt  hatte,  hat  hier  die  Schwäche  der  Leib- 
nizianer  richtig  erkannt.  (Vgl.  auch  Rehbergs  sämmtl.  Schriften,  1828, 
I,  S.  51—60.)  Schwabs  Antwort  (IV,  461 — 469)  ist  daher  auch  nicht  be- 
friedigend.   Vgl.  auch  denselben  im  Phil.  Arch.  I,  3,  16  ff.   Vgl.  oben  S.  312. 

Erbitterter  wurde  der  Streit  gegen  die  Reinhol d'sche  Recension  ge- 
fuhrt, (vgl.  die  hässliche  Controverse  über  den  Kantischen  Ausdruck  ,Ver^ 
fUlschung"  in  der  Aesthetik,  worüber  das  Nähere  oben  S.  449  f.).  Die  Erwide- 
rungen von  Maass  II,  2,  186—231.  232—243,  und  von  Eberhard,  II,  3, 
257—284.  285-315.  III,  1,  83—88  streifen  jedoch  nur  gelegentlich  das  Ge- 
biet der  Aesthetik.  (Ueber  das  hiebei  mitspielende,  durch  Kant  selbst 
verschuldete  Missverständniss  s.  meine  Abhandlung  über  eine  Blattversetzung 
in  Ks.  Prolegomena,  Phil.  Mon.  1879,  XV,  321—332  und  bes.  513—532.) 

4)  Mitten  in  diese  Erörterungen  der  Kantianer  und  Antikantianer  fiel 
Kants  eigene  Schrift  gegen  Eberhard  wie  eine  Bombe.  (Die  Ent- 
würfe zu  derselben  s.  in  dem  oben  sub  2)  erwähnten  Briefwechsel  mit  Rein- 
hold, sowie  in  den  Losen  Blättern  a.  Ks.  Nachlass,  I,  (1889)  S.  142 — 144. 
163—179.  226—232;  79.  150—156.)  Scharf  bezeichnet  Kant  schon  auf  dem 
Titel,  um  was  es  sich  handelt:  Ueber  eine  Entdeckung,  nach  der  alle  neue 
Kritik  der  reinen  Vernunft  durch  eine  ältere  entbehrlich  gemacht  werden 
soll  (1790);  es  handelt  sich  um  den  Vorwurf  Eberhards:  Das  Gute  bei  Kant 
ist  nicht  neu;    schon  Leibniz   hat's  gesagt.     Das  Neue   aber  ist   nicht  gut. 


Die  £berbard*8chen  Streitigkeiten.  587 

Scharf,  wie  der  Titel,  ist  auch  der  Ton,  viel  zn  scharf,  bis  zur  Ungerechtig- 
keit, ja  bis  zur  persönlichen  Beleidigung.  Nicht  zu  leugnen  ist  aber  auch 
die  seltene  logische  Schärfe,  mit  welcher  Kant  Unklarheiten  seines  Gegners 
aufhellt,  zugleich  auch  freilich  die  Geschicklichkeit,  mit  welcher  er  berech- 
tigten Einwänden  ausweicht.  Für  die  Aesthetik  kommt  bes.  in  Betracht 
Abschnitt  I,  B  u.  C,  S.  25 — 76.  Was  Kant  hier  über  den  Unterschied  letzter 
Theile  im  Bäumlichen  von  ersten  Gründen  des  Bäumlichen  sagt,  hat 
ausserordentlich  klärend  gewirkt  auf  die  ganze  Discussion  über  die  Baum- 
lehre.   VgL  oben  S.  148  u.  S.  455  ff. 

5)  Diese  klärende  Einwirkung  der  Kantischen  Schrift  zeigt  sich  in  den 
Erwiderungen  Eberhards  auf  dieselbe  (vgl.  oben  S.  148  f.),  die  übrigens 
viel  ruhiger  und  sachlicher  gehalten  sind,  als  Kants  Gegenschrift.  Aber  Eber- 
hard und  seine  Streitgenossen  verstehen  es  auch,  die  Schwächen,  Inkon- 
sequenzen und  Widersprüche  Kants  deutlich  ans  Licht  zu  stellen.  Diese 
Entgegnungen  finden  sich  im  III.  Band  des  Phil.  Mag.  Für  die  Aesthetik 
kommen  bes.  3  Abhandlungen  Eberhards  in  Betracht,  S.  148—172.  212-~216. 
251 — 279.  Aber  auch  in  den  übrigen  Abhandlungen  desselben,  S.  181 — 194. 
194—204.  205—211.  280—803  wird  gelegentlich  die  Aesthetik  berührt.  Vgl. 
auch  die  Abhandlung  von  Schwab  S.  480—490.  —  Vgl.  auch  IV,  93  ff. 
199.  201  ff.  (Schwab),  208  ff.  214—224.  233  ff  307  ff.  488.  490—508.  Be- 
sondere Beachtung  verdient  eine  Abhandlung  von  Schwab  IV,  225 — 230: 
„Ist  H.  Kant,  in  seiner  Streitschrift  gegen  H.  Eberhard,  seinem  in  der  Kr. 
d.  r.  V.  aufgestellten  Begriffe  vom  Baum  getreu  geblieben?"  Schwab  weist 
die  Widersprüche  zwischen  beiden  Darstellungen  sehr  scharf  nach,  wie  auch 
Eberhard  selbst  überall  auf  dieselben  mit  Glück  aufmerksam  macht.  Vgl. 
oben  S.  94.  —  Vgl.  ferner  Philos.  Arch.  I,  1,  90;  2,  40  ff.;  3,  1;  H,  1,  51; 
2,  60—101  (Brastberger,  vgl.  oben  S.  146  N.). 

6)  Alle  diese  Erörterungen  bezogen  sich  indessen  nur  auf  die  Angriffe, 
welche  im  Ersten  Band  des  Phil.  Mag.  enthalten  gewesen  waren.  Nun 
brachte  aber  auch  der  Zweite  Band  des  Phil.  Mag.,  abgesehen  von  den 
unter  Nr.  3  erwähnten  Erwiderungen,  neue  selbständige  Angriffe  9,uf  das 
Kantische  System,  insbes.  auch  wieder  auf  die  Aesthetik,  bes.  den  grossen 
Artikel  von  Eberhard  S.  53—92  gegen  Ks.  Raum-  und  Zeitlehre;  ferner 
152  ff.  227  ff.  232  ff.  316—341  (Ueber  die  Evidenz  der  mathem.  Ur- 
theile),  380—383;  431—435.  486-492  (Die  Eigenschaften  der  Dinge  an 
sich  nach  Kant  selbst);  460 — 485.  511—514  (Die  Mathem.  nimmt  ihre  Be- 
weise nicht  aus  Anschauung,  sondern  aus  Begriffen).  Ausserdem  brachte 
dieser  Band  S.  1 — 28  den  Schluss  einer  Abhandlung  von  Klügel,  Ueber  die 
Grundsätze  der  reinen  Mechanik,  deren  Anfang  schon  I,  435—468  erschienen 
war;  insbesondere  aber  brachte  das  4.  Stück,  S.  391 — 430  drei  Abband- 
lungen von  Kästner:  Was  heisst  in  Euclid's  Geometrie  möglich?  Ueber 
den  mathematischen  Begriff  des  Raumes.  Ueber  die  geometrischen  Axiome. 
Diese  Abhandlungen  von  Klügel  u.  Kästner  (wieder  abgedr.  in  deren  Philos.- 
Mathem.  Abhandlungen,  1807)  waren  indessen  nur  indirect  gegen  Kant 
gerichtet. 


^38  Specialliteratur. 

7)  Gerade  diese  Betheiligung  der  angesehensten  Mathematiker  jener 
Zeit  an  dem  antikantischen  Magazin  war  Kant  sehr  anangenehm.  Es  kam 
ihm  sehr  darauf  an,  zu  zeigen,  dass  die  Anschauungen  jener  Mathematiker 
über  den  Baum  weder  etwas  gegen  die  Eantische,  noch  für  die  Eberhard'scbe 
Raumtheorie  bewiesen.  Wie  erst  neuerdings  gefunden  worden  ist  (vgl. 
Reicke,  Lose  Blätter,  I,  79;  Dilthey  im  Archiv  f.  Gesch.  d.  Phil.  III,  79—90, 
275^281),  hat  Kant  selbst  einen  (in  Rostock  gefundenen,  von  Dilthey  a.  a.  O. 
veröffentlichten)  Aufsatz  über  Kästners  Abhandlung  in  jenem  Sinne  ge- 
schrieben (vgl.  oben  S.  93  u.  S.  254  f.),  .und  denselben  an  Joh.  Schultz 
gegeben,  der  ihn  in  seine  grosse  Recension  des  Zweiten  Bandes  des 
Phil.  Mag.  in  der  Allg.  Lit.-Zeit.  1790,  Nr.  281—284  (HI,  785-814) 
mitaufgenommen  hat.  Auch  was  darin  (788—797)  gegen  den  oben  sub  6 
erwähnten  grossen  Artikel  Eberhards  über  Ks.  Raum-  und  Zeitlehre  (PhiL 
Mag.  II,  53—92)  gesagt  ist,  ist  offenbar  auf  ein  Kantisches  Originalmanu- 
skript zurückzufuhren.  So  ist  denn  diese  Recension  für  die  Aesthetik  sehr 
wichtig. 

8)  Natürlich  hat  Eberhard  hiezu  nicht  geschwiegen.  Er  antwortet 
ausführlich  III,  S.  408 — 479;  bes.  was  er  über  die  Raumfrage  sagt,  ist  be- 
achtenswerth.  Vgl.  auch  Schwab's  Aufsatz  über  die  geometrischen  Beweise, 
397—408.  Vgl.  ferner  IV,  94  ff.  286—253  (Maass),  502;  endlich  Phüos. 
Archiv,  II,  1,  44. 

9)  Indessen  brachte  der  III.  u.  IV.  Band  des  Philo s.  Mag.  auch 
wieder  neue,  selbständige  Angriffe  auf  Kants  Lehre,  und  natürlich  auch 
wieder  auf  die  Aesthetik,  bes.  III,  S.  67  ff.  89 — 110  (unter  Bezugnahme 
auf  Schultz,  Prüfung  I,  1789);  ferner  S.  70—82.  480—490;  sodann  IV.  1, 
68—83  (wiederum  speciell  gegen  Schultz);  ferner  100  ff,  183  f.,  188—194, 
271  ff.  (406  ff.)  (Bendavid),  354—359  (lieber  die  Anschauung  des  inneren 
Sinnes)  389  ff.  (Brastberger). 

10)  Als  eine  Erwiderung  auf  diese  neuen  Angriffe  ist  der  2.  Band 
der  Schultz'schen  Prüfung  der  K.'schen  Kr.  d.  r.  V.  1792  (296  S.)  an- 
zusehen. Der  Band  ist  nichts  als  eine  Fortsetzung  jener  sub  7)  erwähnten 
Schultz'schen  Recension.  Die  Erwiderungen  von  Schultz  erstrecken  sich  noch 
bis  auf  das  1.  Stück  des  IV.  Bandes  des  Phil.  Mag.  und  betreffen  aus- 
schliesslich die  transsc.  Aesthetik.  Fast  der  ganze  Band  ist  den  Ein- 
wänden von  Eberhard  gewidmet;  ausserdem  sind  noch  berücksichtigt  die 
Einwände  von  Maass  (38—42.  56—58.  269),  Schwab  (121—132.  135), 
Kästner  (86—94.  119  ff.  188  ff.),  Brastberger  (227—232,  270  ff.).  Man 
darf  annehmen,  dass  Schultz  sich  dabei  vielfach  der  Mitarbeit  von  Kant 
habe  erfreuen  dürfen. 

11)  Die  Antwort  hierauf  hat  Schwab  in  Eberhards  Philos.  Archiv 
übernommen,  woselbst  er  I,  2,  109—119;  8.  1-21.  63—69.  70-79  bes. 
Schultz'  Theorie  der  Geometrie,  der  Arithmetik  und  des  Unendlichen  zu 
widerlegen  sucht. 

12)  Nach  der  Beendigung  der  4  Bände  des  Philos.  Magazins  (1788—1792) 
liess  Eberhard  (von  1792—1795)  als  Fortsetzung  noch  zwei  weitere  Bände  er- 


i 


Die  £berhard*8chen  Streitigkeiten.  539 

Bcbelnen,  jetzt  u.  d.  N.:  Philosophisches  Archiv,  in  welchem  alle  jene 
bisherigen  Einwftnde  wiederholt  and  die  Resultate  gezogen  wurden.  Für  die 
Aesthetik  kommt  in  Betracht:  I,  1,  81—125  (Auszug  aus  Seile's  Abhand- 
lung gegen  Kant;  vgl.  oben  S.  816),  126 — 140  (Beweis  der  Oeometrie  aus 
Begriffen);  I,  2,  37—91  (.Dogmatische  Briefe*  von  Eberhard;  Eb.  will  nach 
S.  78.  91  „den  subjectiven  Dogmatismus  der  kritischen  Philosophie  durch 
den  objektiven  von  seinen  Widersprüchen  befreien");  I,  3,  96 — 100.  100 — 113 
(Maass,  Beweis  der  Geometrie  aus  Begriffen,  dag.  Beck,  Standpunkt  1796, 
201  ff.);  I,  4,  59  ff.  (Verhältniss  Gottes  zu  R.  u.  Z.);  II,  1,  38—69  (Kant 
habe  die  Quelle  der  ewigen  Wahrheiten  aus  dem  göttlichen  Verstand  in  den 
menschlichen  verlegt ;  daraus  fliessen  alle  seine  Fehler,  auch  die  der  Aesthetik), 
112—124  (Schwab  über  die  synthetischen  Urtheile);  II,  3,  48  ff.,  II,  4,  71  ff. 
Vgl.  oben  S.  811  f.  —  (In  diesen  Bänden  wird  die  Polemik  auch  auf  die 
übrigen  Schriften  Ks.  ausgedehnt). 

13)  Was  sagte  allem  diesem  gegenüber  die  „Allg.  Li t.- Zeitung'? 
Wir  haben  seit  Nr.  7  nichts  mehr  von  ihr  über  den  Streit  gehört.  In  der 
That  hat  sie  sich  seitdem  vollständig  über  denselben  ausgeschwiegen.  Die 
tieferen  Gründe  dieses  Schweigens  errathen  wir  aus  einer  merkwürdigen, 
bis  jetzt  unbeachteten  Kecension  der  2.  u.  3.  Aufl.  der  Er.  d.  r.  V.  in  der 
Allg.  Lit.-Zeit.  1791,  Nr.  54  u.  55  (I,  425—435),  bei  der  es  nicht  erst  des 
Abdruckes  derselben  in  Beinhold's  „Beyträgen  zur  Berichtigung  bisheriger 
Missverständnisse  der  Philosophen*  II,  1794,  409—436  bedurft  hätte,  um  eben 
Beinhold  als  Verfasser  zu  erkennen.  Diese  Kecension  (welche  auch  darum 
merkwürdig  ist,  weil  in  ihr  die  Differenzen  der  1.  u.  2.  Aufl.  der  Kr.  d.  r.  V. 
genau  erörtert  werden)  spricht  mit  dürren  Worten  aus:  die  bisherigen 
Missverständnisse  über  die  Kr.  d.  r.  V.  seien  aus  den  Mängeln  derselben 
entstanden;  es  fehle  derselben  (insbesondere  auch  der  transsc.  Aesthetik) 
an  dem  wahren  wissenschaftlichen  Fundament;  dies  sei  in  der  ^Elementar- 
Philosophie*  erst  geliefert  worden.  So  lange  man  das  nicht  erkenne,  d.  h. 
so  lange  man  nicht  Kants  , Voraussetzungen  entdecke,  entwickle  und 
bis  auf  ihre  letzten  Gründe  zui-ückfiihre*  sei  der  ganze  Streit  zwischen  Kan- 
tianern und  Antikantianern  vollständig  nutzlos.  Ganz  in  diesem  Sinne  hatte 
Beinhold  schon  in  dem  I.  Band  jener  , Beiträge'  (1790)  S.  287  die  ketze- 
rische Meinung  geäussert:  Kant  mache  bestimmte,  verschwiegene  und  un- 
bewiesene Voraussetzungen  (vgl.  Comm.  I,  226.  428),  wer  diese  nicht  theile, 
könne  sein  System  nicht  für  richtig  halten  und  brauche  es  auch  nicht; 
^sollte  es  sich  hieraus  nicht  begreifen  lassen,  wie  ein  Mann,  dem  das  Leib- 
niz'sche  System  durch  langen  Gebrauch  geläufig  geworden  ist,  z.  B.  H.  Eber- 
hard, die  Beweise  des  K.'schen  Systems  ihrer  Gründlichkeit  unbeschadet 
jnit  dem  besten  Willen  und  ohne  sie  völlig  miss verstanden  zu  haben,  gleich- 
wohl nicht  überzeugend  finden  könne?'  Aehnlich:  Ueber  das  Fundament 
des  philos.  Wissens,  1791,  S.  131. 

So  war  denn  der  Streit  nicht  ohne  Pnicht  geblieben.  Im  Gegentheil: 
mit  diesem  Streit  trat  die  Peripetie  des  Kantianismus  ein.  Die  Opposition 
Eberhards  und  seiner  Freunde  war  doch  so  geschickt  und  hartnäckig  geführt 


540  Specialliteratar. 

worden,  dass  die  Schwierigkeiten,  Inconsequenzen  und  Widersprüche  des 
E. 'sehen  Systems,  insbesondere  der  Aesthetik  und  des  in  ihr  enthaltenen 
transsc.  Idealismus  immer  mehr  ans  Tageslicht  kamen.  Und  Kant  hatte  in 
seiner  Entgegnung  (vgl.  oben  S.  9 1  ff.  148.  455  ff.)  Hehreres  so  anders  als  in 
der  Kr.  d.  r.  V.  ausgedrückt,  dass  diese  Modificationen  als  Zugestftndnisse  oder 
als  Inconsequenzen  erscheinen  mussten.  Die  selbständigen  Oeister  unter  den 
Kantianern:  ein  Beinhold,  ein  Beck,  ein  Maimon  gingen  von  da  an  ihre 
eigenen  Wege,  nur  die  , Buchstabier*  blieben  Kant  treu. 

Darin  liegt  auch  die  Ehrenrettung  des  bis  auf  den  heutigen  Tag  so 
viel  geschmähten  Eberhard.  Es  ist  wahr,  er  hat  Kant,  besonders  anfäng- 
lich, vielfach  missverstanden,  aber  an  diesen  Miss  Verständnissen  trägt  Kant 
selbst  auch  Schuld.  Aber  abgesehen  davon,  hat  er  in  durchaus  ehrlicher 
und  ruhiger  Arbeit  die  Mängel  des  Kantischen  Systems  so  scharf  nachgewiesen, 
dass  die  6  Bände,  die  seinen  Namen  tragen,  noch  heute*  als  ein  unerschöpf- 
liches Arsenal  von  Waffen  gegen  Kant  zu  gebrauchen  sind.  In  den  letzten 
Bänden  hat  er  sogar  schon  ganz  in  der  Linie  gearbeitet,  in  welcher  nachher 
Schelling  und  Hegel  die  Philosophie  weitergeführt  haben ;  denn  er  verlangte 
die  Weiterführung  „des  subjectiven  Dogmatismus  der  kritischen  Philosophie 
zu  einem  objectiven  Dogmatismus **,  die  Erweiterung  des  endlichen  Geistes 
zum  unendlichen,  der  Kategorien  im  menschlichen  Geiste  zu  Ideen  im  gött- 
lichen. Dass  die  Zeitschrift  auch  auf  Herbart  einwirkte,  wurde  oben  S.  148 
bemerkt. 

Eine  vortreffliche,  jedoch  keineswegs  vollständige  üebersicht  all  dieser 
Streitigkeiten  (von  einem  gemässigt  Leibniz'schen  Standpunkt  aus)  findet 
man  in  dem  sehr  brauchbaren  Werke  von  W.  L.  G.  von  Eberstein,  Ver- 
such einer  Geschichte  der  Logik  und  Metaphysik  bey  den  Deutschen,  von 
Leibniz  bis  auf  gegenwärtige  Zeit.  Zweiter  Band.  Halle  1799.  Derselbe 
behandelt  im  1.  Absichnitt  S.  53 — 115  die  Angriffe  der  Empiristen  (bes. 
Feder  und  Weishaupt);  im  3.  Abschnitt  S.  165—232  die  Eberhard 'sehen 
Streitigkeiten,  247 — 291  die  Theorien  von  Zwanziger  und  Brastberger;  im 
4.  Abschn.  S.  302  —  347  die  Reinhold'sche  Lehre  und  ihre  Bestreitung  durch 
Eberhard  und  Schwab ;  im  5.  Abschn.  S.  370—385  den  Aenesidemus,  386  ff. 
Platner,  395  ff.  Maimon ;  im  6.  Abschn.  S.  403 — 444  Abicht,  Jacob,  Ulrich, 
Abel,  478—486  Tiedemann's  Theätet. 


Zweite  Periode  (1800 -- 1860). 

Natürlich  gilt  auch  für  diese  Periode,  ja  für  diese  noch  mehr  als  für 
die  erste,  was  oben  in  Bezug  auf  die  letztere  bemerkt  wurde:  dass  nich^ 
in  den  sehr  wenigen  Specialschriften,  sondern  in  den  allgemeineren 
Werken  die  wichtigeren  Discussionen  über  das  Raum-  und  Zeitproblem  zu 
suchen  sind.  Weniger  in  den  Werken  von  Fichte,  Schelling  und 
Hegel,  welche  Drei  für  dieses  Thema  ziemlich  unergiebig  sind,  als  in  den 
Schriften  von  H e r b a r t  und  Schopenhauer,  welche  beide  dieses  Problem 


Specialschriften  der  zweiten  Periode.  541 

eingehendst  bebandelt  baben,  Letzterer  als  Anbänger  Kants  in  diesem  Punkte, 
Ersterer  unter  lebbafter  Polemik  gegen  Kant.  Fruchtbare  Gedanken  finden 
sieb  ausser  bei  Scbleiermacber,  Krause  und  Beneke  besonders  aucb 
bei  Fries  und  seinem  Schüler  Apelt.  Aucb  die  Gruppe  Weisse,  Ulrici, 
J.  H.  Ficbte,  Ritter,  Gbalybäus  bietet  Manches,  was  noch  recht 
beachtenswerth  ist.  Lotze's  bedeutsame  Ansichten  entstanden  um  dieselbe 
Zeit,  gehören  der  Wirkung  nach  aber  in  die  folgende  Periode.  Eine  üeber- 
sicht  über  die  nachkantischen  Baumtheorien  nebst  eigener  Kantkritik  bietet 
Trendelenburg  im  ersten  Band  seiner  „Logischen  Untersuchungen*'  Abb.  VI 
(ausser  Aristoteles  und  Kant  sind  behandelt  Hegel,  Weisse,  J.  H.  Fichte, 
Herbart).  Eine  noch  jetzt  schätzbare  „Geschichte  der  Begriffe  Baum  und 
Zeit  mit  Beziehung  auf  den  Dualismus*  nebst  selbständiger  Kantkritik  gab 
der  Empirist  Gruppe  (Wendepunkt  der  Philosophie  im  XIX.  Jahrh.  Berlin 
1834,  S.  156 — 256).  Schätzenswerthe  Beiträge  lieferte  auch  Hamilton  in 
seinen  verschiedenen  Werken. 

Zimmermann,  Dr.  F.  J.  Untersuchungen  über  B.  u.  Z.  Progr. 
Freib.  i.  Br.  1824.  (Vgl.  oben  S.  323.)  —  Müller,  Jobs.  Zur  vergleichen- 
den Physiologie  des  Gesichtssinnes.  1826.  —  Tourtual,  C.  Tb.  Die  Sinne 
des  Menschen.  Ein  Beitrag  zur  physiologischen  Aesthetik.  Münster  1827.  — 
Fortlage,  0.  Aur.  Augustini  doctrina  de  tempore,  Aristotdieae,  Kantianae 
aliarumque  iheoHarum  recensione  aucta,  et  congruis  hodiemae  philosophiae 
ideis  amplificata.  Heidelberg  1836.  —  Volkmut h.  üeber  Baum  und  Zeit. 
In  Achterbolds  Zeitschr.  f.  Pbilos.  i,  1840.  —  Lotze,  Bemerkungen  über 
den  Begriff  des  Baumes,  Fichte's  Zeitschr.  f.  Philos.  (VIII),  1841,  N.  F.  IV, 
S.  1—24.  —  Dazu  Weisse,  üeber  die  metaphysische  Begründung  des  Baum- 
begriffs, ib.  S.  25—70.  —  Daza  J.  Prince-Smith,  Deduction  des  Baum- 
begriffe,  ib.  X,  1843,  S.  83 — 130.  —  Hasenclever,  B.  Die  Baumvor- 
stellung aus  dem  Gesichtssinne.  Berlin  1842.  —  Felix  Eberty.  Die  Gestirne 
und  die  Weltgeschichte.  Gedanken  über  Baum,  Zeit  und  Ewigkeit.  1846. 
2.  Aufl.  1874.  —  Werkmeister,  W.  Philosophische  Entwicklung  der  Baum- 
bestimmungen. Berlin  1850.  —  ü  1  e ,  Dr.  0.  Untersuchung  über  den  Baum 
und  die  Baumtheorien  des  Aristoteles  und  Kant  nebst  einer  philosophischen 
Entwicklung  des  Baumbegriffs  als  Verhältniss.  Halle  1850.  (Vgl.  oben 
S.  323.)  —  Lescoeur.  De  spatio  quid  sit.  Paris  1850.  —  Biemann. 
üeber  die  Hypothesen,  welche  der  Geometrie  zu  Grunde  liegen.  Göttingen 
1854.  (Vgl.  oben  8.  267.).  —  üeberweg.  Zur  logischen  Theorie  der 
Wahrnehmung.  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  XXX,  1857,  S.  91— 125.  —  üeber- 
weg. Zur  Theorie  der  Bichtung  des  Sehens,  in  Henle's  und  Pfeuffers 
Zeitschr.  f.  rationelle  Medicin,  1858,  V,  268— 282.  —  Fichte,  J.  H.  üeber 
den  psychologischen  Ursprung  der  Baumvorstellung.  Zeitschr.  f.  Philos. 
Bd.  33  (1858)  S.  81-107.  (Vgl.  ib.  Bd.  38,  136  ff.)  -  Intlekofer,  M. 
Die  sinnliche  Auffassung  von  B.  u.  Z.     Progr.     Offenburg  1858. 


542  Specialliteratar. 


Dritte  Periode  (1860-1892). 

Während  die  zweite  Periode,  erf&Ut  von  rein  speculativen  Interessen, 
das  specifisch  erkenntnisstheoretische  Problem  von  Baum  und  Zeit  TerhAlt- 
nissmässig  vernachlässigt  hatte,  hat  die  dritte  Periode  gerade  dieses  Problem 
wiedemm  stark  in  den  Vordergrund  gestellt.  Es  wirkten  dabei  mehrere 
Umstände  begünstigend  mit:  so  die  steigende  Einwirkung  der  Seh o pen- 
haue raschen  Philosophie,  welche  auf  diesen  Theil  der  Kantischen  Lehre  be- 
sonderen Ton  legte ;  so  der  wachsende  Einfluss  L  o  t  z  e's,  welcher  der  Kanti- 
sehen  Transsc.  Aesthetik  in  wesentlichen  Punkten  zustimmte  und  dieselbe 
durch  seine  Theorie  der  ^Localzeichen'  ergänzte  (vgl.  oben  S.  182  f.);  so,  damit 
zusammenhängend,  die  Fortschritte  der  Sinnesphjsiologie,  welche,  durch 
Johannes  Müller  neubegründet,  durch  Helmholtz*  Physiologische  Optik  (1867) 
in  neue  Bahnen  gelenkt  wurde  (vgl.  oben  S.  367);  so  endlich  die  originellen 
Metageometrisohen  Speculationen ,  welche  durch  Biemann  begonnen, 
durch  Helmholtz  fortgesetzt  wurden  (vgl.  oben  S.  346  f.).  Dazu  kam  —  laM, 
not  least  —  die  geistvolle  Reproduction  des  Kantischen  Systems  durch  Kuno 
Fischer,  welcher  gerade  die  Transsc.  Aesthetik  mit  besonderer  Vorliebe 
behandelte.  Diese  Umstände  wirkten  zusammen,  dass  in  der  in  den  sechziger 
Jahren  beginnenden  , Neukantischen  Strömung*  die  Transsc.  Aesthetik  als 
das  wichtigste  Lehrstück  des  Kantischen  Systems  behandelt  wurde.  So  ist 
dies  der  Fall  bei  den  beiden  Hauptbegründern  des  Neukantianismus: 
F.  A.  Lange  und  0.  Liebmann;  besonders  die  Abhandlungen  des  Letzteren 
in  seinem  Werke:  ,Zur  Analysis  der  Wirklichkeif  (1.  A.  1876,  2.  A,  1880) 
sind  als  sehr  werthvolle  und  einflussreiche  Beiträge  zur  Transsc.  Aesthetik 
in  erster  Linie  zu  erwähnen.  Wichtige  Beiträge  liefern  sodann  die  Bd.  I, 
S.  21  f.  näher  aufgeführten  Werke  von  Cohen,  Riehl,  Stadler,  von 
Holder  und  Paulsen,  von  Caird  und  Cantoni.  Von  fundamentaler 
Wichtigkeit  sind  die  verschiedenen  Kantschriften  von  B.  Erdmann,  welche 
sowohl  durch  seine  a.  a.  0.  aufgeführten  Werke,  als  auch  durch  seine  Herans- 
gabe von  „Kants  Beflexionen  zur  Kr.  d.  r.  V.*,  Leipzig  1884,  das  Verst&nd- 
niss  der  Transsc.  Aesthetik  nach  allen  Bichtungen  hin  wesentlich  gefordert 
hat.  Weitere  Beiträge  zur  Exegese  und  Weiterbildung  liefern  die  ver- 
schiedenen Werke  folgender,  Kant  mehr  oder  minder  nahestehender  Autoren : 
Baumann,  Deussen,  Dorner,  A.  Krause,  J.  B.  Heyer,  Noire, 
C.Peters,  Benouvier,  F.  Schnitze,  Spir,  Watson,  Witte.  Dank- 
bar zu  erwähnen  sind  die  Beiträge  der  Historiker:  Falkenberg,  Harms, 
Windelband.  Selbständige  Kritiken  der  Transsc.  Aesthetik  finden  sich 
bei  Bergmann,  Glogau,  E.  v.  Hartmann,  v.  Kirchmann,  Laas, 
Lipps,  Behmke,  Biehl,  Schuppe,  Spencer,  Stirling,  Stampf, 
Teichmüller,  Thiele,  Thilo,  Volkelt,  Volkmann,  Wundt  u.  v.  A. 

Dühring,  Eug.  De  tempore^  spatio,  causalitcUe  etc.  Diss.  Berl.  1861. 
—r  Cornelius.     Die  Theorie  des  Sehens  und  räumlicHen  Vorstellens,  vom 


Speciakchriften  der  dritten  Periode.  543 

physikalischen,  physiologischen  und  psychologischen  Standpunkte.  Halle 
1861.  —  Paganini.  Dello  apazio.  Pisa  1862.  —  Hodgson.  Time  and 
spaci,  1865.  —  Pflüger,  W.  Untersuchungen  über  die  Einleitung  und 
den  ersten  Abschnitt  der  transscendentalen  Aesthetik  Kants.  Diss.  Mar- 
burg 1867.  —  Müller,  J.  J.  Ueber  die  Entstehung  unserer  Gesichtswahr- 
nehmung. Z.  f.  Philos.  Bd.  53,  1868,  S.  69—122.  —  Engel,  G.  Die  Idee 
des  Baumes  und  der  Baum.  Berlin  1868.  —  Liebmann,  Otto.  Ueber  den 
objectiyen  Anblick.  Eine  kritische  Abhandlung.  Stuttgart  1869.  (Vgl.  oben 
8.  163  f.)  —  Thiele,  Günther.  Wie  sind  die  synthetischen  Urtheile  der 
Mathematik  a  priori  möglich?  Diss.  Halle  1869,  (Vgl.  Bd.  I,  S.  293).  — 
Du  Prel.  Oneirokritikon.  Der  Traum  vom  Standpunkte  des  transsc.  Idea- 
lismus. Deutsche  Vierteljahrsschr.  1869.  S.  188-241.  (Vgl.  oben  S.  409.)  — 
Hoppe,  B.  Der  Begriff  der  Zeit.  Paderborn  1870.  —  Michelis. 
De  Kantii  libello:  De  mundi  aensibüis  et  intelUgibüis  forma  etc,  Braunsberg 
1870.  —  Fick.  Die  Welt  als  Vorstellung.  Würzburg  1870.  —  Becker,  J.  C. 
Abhandlungen  aus  dem  Grenzgebiete  der  Mathematik  und  Philosophie. 
Zürich  1870.  —  Zimmermann,  R.  Ueber  Kants  mathematisches  VorurtheiL 
Wien  1871.  —  Eyffert.  Ueber  die  Zeit.  Berlin  1871.  (Vgl.  dazu  Berg- 
mann, Philos.  Monatsh.  VIII,  1872,  S.  89—66.)  —  Liebmann,  Otto.  Ueber 
die  Phänomenalität  des  Baumes.  Ueber  subjective,  objectiye  und  absolute  Zeit. 
Philos.  Monatsh.  VII,  1871  (wiederabgedr.  in  dem  schon  oben  gerühmten 
Werke  „Zur  Analysis  der  Wirklichkeit",  1876,  2.  Aufl.  1880,  nebst  anderen  auf 
die  Transsc.  Aesthetik  bezüglichen  Abhandlungen).  ~  Scherer,  Georg.  Kritik 
über  Kants  Subjectivitftt  und  Apriorit&t  des  Baumes  und  der  Zeit.  (Diss. 
Bestock.)  Prankfurt  a.  M.  1871.  —  Weisz,  Joseph.  Kants  Lehre  von 
Baum  und  Zeit.  Diss.  Leipzig  1872.  —  Erdmann,  Benno.  Die  Stellung 
des  Dinges  an  sich  in  Kants  Aesthetik  und  Analytik.  Diss.  Berlin  1873.  — 
Stumpf,  C.  Ueber  den  psychologischen  Ursprung  der  Baumvorstellung. 
Leipzig  1873.  —  Czclbe,  Heinr.  Grundzüge  einer  extensionalen  Erkenntniss- 
theorie. Plauen  1875.  —  Schmitz-Dümont.  Zeit  und  Baum.  Leipzig 
1875.  —  Luguet,  Henry.  iHiMte  sur  la  notian  d'espcLce  d'apris  Descartea, 
Leümiz  et  Kant.  Thkse.  Paris  1875.  —  Göring,  W.  Baum  und  Stoff. 
Ideen  zu  einer  Kritik  der  Sinne.  Berlin  1876.  —  Olassen,  Aug.  Physio- 
logie des  Gesichtssinns,  zum  ersten  Mal  begründet  auf  Kants  Theorie  der 
Erfahrung.  Braunschweig  1876.  —  Laurie,  S.  Interpretation  of  Kants 
transsc.  Aesthetic.  Joum.  of  spec.  Philos.  1876,  VIII,  S.  305 — 315.  —  Ueb er- 
hörst, Carl.  Die  Entstehung  der  Gesichts  Wahrnehmung.  Göttingen  1876.  — 
Helmholtz,  H.  Ueber  den  Ursprung  und  die  Bedeutung  der  geometrischen 
Axiome,  in  den  Populärwissenschaftl.  Vorträgen.  HL  H.  Braunscbweig 
1876;  auch  in  engl.  Sprache  im  Mind,  Vol.  I,  1876,  P.  301-324.  (Vgl.  oben 
S.  267.)  —  Dagegen  Land,  Kants  space  and  modern  Mathematics.  Mind^ 
Vol.  II,  1877,  P.  38-46;  vgl.  Vol.  HI,  1878,  P.  551-555.  —  Beplik  von 
Helmholtz,  The  origin  and  meaning  of  Geometrical  aonoms.  Mind,  Vol.  IH, 
1878,  P.  212 — 225.  —  Erdmann,  Benno.  Die  Axiome  der  Geometrie.  Eine 
philosophische    Untersuchung    der    Biemann-Helmholtz'schen    Baumtheorie. 


544  Specialb'teratur. 

Leipzig  1877.  (Vgl.  oben  S.  203^  236  u.  ö.)  —  Krause,  Albrecht.  Kant 
und  Helmholtz  über  den  Ursprung  und  die  Bedei^tung  der  Baumanschaaung 
und  der  geometrischen  Axiome.  Lahr  1878.  (^^^1.  dagegen  die  unten  er- 
wähnte Abhandlung  von  Yold.  1885.)  —  Helmholtz,  H.  Die  Thatsacfaen 
in  der  Wahrnehmung.  Berlin  1879.  —  Weissenborn,  H.  lieber  die  neueren 
Ansichten  vom  Baum  und  von  den  geometrischen  Axiomen.  Viertel],  f. 
wissensch.  Philos.  II,  1878,  222.  314.  449.  —  Wiessner,  AL  Die  wesen- 
hafte oder  absolute  Bealität  des  Baumes.  Begründet  an  einer  Kritik  der 
idealistischen  Theorien.  Leipzig  1877.  —  Phipps,  D.  W.  Kants  trans- 
scenderUaL  Aesthefic.  Joum.  of  spectd.  Philos.  IX.  St.  Louis  1877,  S.  299—310. 
—  Goebel,  Carl.  Ueber  Baum  und  Zeit.  Gütersloh  1878.  —  Beyera- 
dorff,  B.  Die  Baumvorstellungen.  I.  Th.  Metaphysische  Untersuchung. 
Diss.     Leipzig  1879.     (Mit  bes.  Beziehung  auf  Kant  und  Lotze.)  — 

Caspari,  0.  Das  Baumproblem.  Mit  Bücksicht  a.  d.  specul.  Bichtungen 
d.  Math,  im  »Ausland"  1880,  N.  23.  24.  —  Fortlage.  Vom  zwiefachen 
Apriori  der  menschl.  Vernunft,  als  der  denkenden  und  anschauenden.  Zeitschr. 
f.  Philos.  77.  Bd.  1880.  S.  149-173.  —  Behmke,  Job.  Die  Welt  als  Wahr- 
nehmung und  Begriff.  Eine  Erkenntnisstheorie.  Berlin  1880.  —  Büdinger,  M. 
Zeit  und  Baum  bei  dem  indogermanischen  Volke.  Eine  universalhistorische 
Studie.  Wien  (Sitzungsber.  der  Kais.  Acad.  d.  Wiss.)  1881.  —  Filippo 
Masci.  Le  forme  delV  intuizione,  Programm  des  Liceo-GinnasiaU  zu  Chieti 
(Abruzzen)  1881.  —  Dreher,  Dr.  Eug.  Das  Wesen  der  Sinnes  Wahrnehmungen 
und  Baum  und  Zeit,  in  der  , Deutschen  Hochschule*  1882,  N.  22.  26.  27.  — 
Bolliger,  Ad.  Anti-Kant.  I.  Band.  Basel  1882  (Zur  Einleitung  und  zur 
Transscendentalen  Aesthetik).  —  Wenderhold.  Zur  Metaphysik  und  Psycho- 
logie des  Baumes.  Diss.  Halle  1882.  —  Sommer,  Hugo.  Die  Neugestaltung 
unserer  Weltansicht  durch  die  Erkenntniss  der  Idealität  des  Baumes  und 
der  Zeit.  Eine  allg.verst.  Darst.  Berlin  1882.  —  Lasswitz,  Dr.  Kurd. 
Die  Lehre  Ks.  von  der  Idealität  des  B.  u.  d.  Z.,  im  Zusammenhange  mit 
seiner  Kritik  des  Erkennens  allg.verst.  dargestellt.  Gekrönte  Preisschrift. 
Berlin  1883.  —  Last,  Elise.  Die  realistische  und  die  idealistische  Welt- 
anschauung entwickelt  an  Ks.  Idealität  von  Z.  u.  B.  Leipzig  1884.  (Diese 
drei  Schriften  von  Sommer,  Lasswitz  und  E.  Last  verdanken  ihre  Ent- 
stehung einer  im  Jahre  1880  von  J.  Gillis  veranlassten  Preisbewerbung,  bei 
welcher  die  Schrift  von  Lasswitz  nach  dem  Urtheil  der  Preisrichter  Laas, 
Wundt  und  Heinze  mit  Becht  den  Preis  .  davontrug.)  —  Seydel^  Bud. 
Baum,  Zeit,  Zahl.  Viert,  f.  wiss.  Philos.  1883,  VII,  S.  329  ff.  —  Seydel,  Bud. 
Zur  Auslegung  Kants  (gegen  Krause  und  Classen),  in  den  ,, Grenzboten* 
1883,  N.  25,  II,  S.  582—595.  Dagegen  Classen,  ebenda,  N.  26,  II,  650  ff. 
Darauf  wieder  Seydel,  ebenda  HI,  55.  —  Classen,  Aug.  Die  Entstehung 
der  sinnlichen  Wahrnehmung.  Grenzboten,'  1883,  N.  33.  —  Gutzeit,  B. 
Descartes*  angeborene  Ideen  verglichen  mit  Ks.  Anschauungs-  und  Denk- 
formen a  priori.  Progr.  Bromberg  1883.  —  Behmke,  Jobs.  Physiologie 
und  Kantianismus.  Eisenach  1883.  —  Sachtleer,  Herm.  Ueber  den  Baum- 
und  Zeitbegriff,    in   der   Zeitschr.  f.  Philos.  1883,   Bd.  88,   S.  47-69.  — 


Specialschriften  der  dritten  Periode.  545 

Franke,  Jobs.  Üeber  Lotze^s  Lehre  von  der  Phänomenalität  des  Baumes. 
Diss.  Halle  1884.  —  D  u  n  a  n ,  Charles.  Essai  sur  les  f armes  a  priori  de 
la  sensibiliti.  These,  Pa  is  1884.  —  Jahn.  Die  Subjectivität  des  Baumes 
und  die  Axiome  der  Geometrie.  Programm.  Dramburg  1884.  —  König, 
Dr.  Edmund.  Einige  Gedanken  für  Kants  Aesthetik  gegen  Empirismus  und 
Bealismus,  in  den  Philos.  Monatsh.  1884,  Bd.  XX,  S.  233  ff.  —  Michaelis, 
üeber  Kants  Zahlbegriflf.  Progr.  Berlin  1884.  —  Bender,  Hedwig,  üeber 
die  Idealität  von  B.  u.  Z.  Ein  Beitrag  zum  Kapitel  der  Transsc.  Aesth.  in 
der  Zeitschr.  f.  Philos.  1885,  Bd.  87,  S.  1—48  (auch  in  der  Schrift:  Zur 
Lösung  des  metaphysischen  Problems,  Berlin  1886,  S.  44 — 93).  —  Ben- 
dizson,  Arthur.  Kritiska  studier  tiU  Kants  transsc.  ästetik.  Äkademisk 
afhandling.  üpsala  1885.  —  Franke,  E»  Untersuchungen  über  den  Baum 
und  sein  Verhältniss  zu  den  Dingen.  Progr.  Hirschberg  1885.  —  Schneid, 
Dr.  Mathias.  Die  philos.  Lehre  von  Z.  u.  B.  Fünf  Abhandlungen  in  der  Zeit- 
schrift „Der  Katholik',  Jahrg.  65  u.  66  (1885  u.  1886),  auch  separat  Mainz 
1886.  —  Vold,  Mourly  A.  Krause's  Darstellung  der  Kantischen  Baum- 
theorie u.  s.  w.  beurtheilt.  Ohristiania  1885.  (Vgl.  oben  S.  182  N.)  — 
Wehr.  Die  Subjectivität  des  Baumes.  Wien  1885.  —  Classen,  Dr.  Aug. 
üeber  den  Einfluss  Ks.  auf  die  Theorie  der  Sinn  es  Wahrnehmung  und  die 
Sicherheit  ihrer  Ergebnisse.  Leipzig  1886.  —  Schmidt,  P.  0.  Ursprung 
und  Bedeutung  des  Baum-  und  Zeitbegriffs  im  Lichte  der  modernen  Physik. 
Diss.  Halle  1887.  —  Shand,  Alex.  Space  and  Time,  im  „Mind"  1888, 
Nr.  51,  S.  839 — 855.  —  Hoff  ding.  Lotzes  Lehren  über  Baum  und  Zeit 
und  B.  Geijers  Beurtheilung  derselben,  Philos.  Monatsh.  XXIV,  1888, 
S.  422 — 440.  —  Beichardt.  Kants  Lehre  von  den  synthetischen  ürtheilen 
a  priori  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Mathematik.  Philos.  Studien,  IV,  1888, 
S.  595 — 639.  —  Seydel.  Kants  synthetische  ürtheile  a  priori,  insbes.  in 
der  Mathematik.  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  94  (1888),  S.  1—29.  —  Drews, 
Arthur.  Die  Lehre  von  B.  u.  Z.  in  der  nachkantischen  Philosophie.  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Erkenntnisstheorie  und  Apologetik  der  Metaphysik. 
Diss.  Halle  1889.  —  Bellermann.  Beweis  aus  der  neueren  Baumtheorie 
für  die  Bealität  von  Zeit  und  Baum  u.  s.  w.     Progr.     Berlin  1889.  — 

Gisevius,  Hubertus.  Kants  Lehre  von  B.  u.  Z.,  kritisch  beleuchtet 
vom  Standpunkte  des  gemeinen  Menschenverstandes  aus.  Hannover  1890.  — 
Massonius,  Marian.  üeber  Ks.  Transsc.  Aesthetik.  Eine  kritische  Unter- 
suchung. Diss.  Leipzig  1890.  —  Schmid,  Albert.  Zu  Kants  Lehre  vom 
Baum.  Diss.  1890.  —  Spencer,  H.  Our  space-comciousness,  A  reply 
againstMr.  Watson,  Mind,  Vol. XV,  1890,  P.  305—324.  —  fiackwitz,  Max. 
Hegels  Ansicht  über  die  Apriorität  von  Zeit  und  Baum  und  die  Kantischen 
Kategorien.    Halle  1891.  — 

Der  Streit  zwischen  Trendelenburg  und  Fischer. 

Die  Einzelcontroversen   dieses    ausgedehnten  Streites   sind  in   diesem 
Bande  an  folgenden  Stellen  behandelt  worden:  S.  73  N.  (83  f.)  134  ff.  185  N. 
Yalhinger,  Eant-Commentar.    II.  35 


546  Spedalliteratar. 

207—211.  214.  246—252.  261.  271  f.  274  f.  283  N.  290—326.  339  f.  381— 
883.  886  f.  898  N.  (440).  Hier  folgt  nun  die  S.  134  n.  291  in  Aussicht  ge- 
stellte 'üebersicbt  über  die  gesammte  Literatur  des  Streites. 

Erster  Angriff  Trendelenbnrgs  aaf  Kants  Theorie  von  Baum  und 
Zeit  in  seinen  i,  Logiseben  Untersacbongen',  1840,  S.  124 — 183;  Wiederholung 
des  Angriffes  in  der  2.  Aufl.  desselben  Werkes,  1862,  S.  156—168.  —  Yer- 
theidigung  Kants  gegen  diesen  Angriff  dnrcb  Fischer,  System  der  Logik 
und  Metaphysik,  2.  A.  1865,  S.  178—180.  —  Dagegen  Trendelenburg 
in  seinen  Historischen  Beiträgen  zur  Pbilos.  IIL  Band,  1867,  N.  VII:  ,Ueber 
eine  Lücke  in  Kants  Beweis  von  der  ausscbliessenden  Subjectivitllt  des 
Baumes  und  der  Zeit.  Ein  kritisches  und  antikritiscbes  Blatt.'  S.  215 — 276. 
Tr.  wiederholt  nochmals  seinen  Angriff  auf  K.,  weist  Fischers  Vertheidigung 
des  letzteren  zurück,  und  greift  dabei  Fischers  Darstellung  der  Kantisdien 
Transsc.  Aesth.  überhaupt  an.  —  Dagegen  Fischer,  Oesch.  d.  neueren 
Phüos.  HI,  2.  A.  1869,  Vorr.  IV— XYI,  und  Anmerkungen  zu  S.  263—265. 
315—816.  322—325.  328—330.  335—336.  338—340.  547—550.  Bd.  IV, 
137—139.  —  Gegen  diese  Vertheidigung  Fischers  schrieb  Trendelen  bürg 
die  Broschüre:  Kuno  Fischer  und  sein  Kant.  Eine  Entgegnung.  1869.  (40  S.) 
Vgl.  dazu  die  3.  Aufl.  der  Log.  Unters.  (1870)  S.  164  f.  —  Darauf  folgte 
Fischers:  Anti-Trendelenburg.  Eine  Duplik  (77  S.)  1870  (2.  A.  auch  1870). 
Dazu  vgl.  man  die  3.  Aufl.  von  Fischers  Gesch.  d.  n.  Pbilos.  DI,  1882, 
S.  282.  333.  337.  342.  486. 

Für  Fischer  resp.  für  Kant  gegen  Trendelenburg  erklärten  sich: 
J.  B.  Meyer,  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  37  (1860),  S.  249  ff.  —  Knauer, 
Gonträr  und  contradictorisch.  1868,  S.  3 ;  Die  Reflexionsbegriffe.  1881,  S.  35. 

—  J.  Becker,  Abhandl.  a.  d.  Grenzgebiet  der  Mathem.  und  Philos.  1870, 
S.  13 — 14.  —  Arnoldt,  Kants  transsoendentale  Idealität  des  Baumes  und 
der  Zeit.  Für  Kant  gegen  Trend.  Sep.-Abdr.  a.  d.  Altpr.  Monatsschr.  VII — IX. 
Königsberg  1870—1872  (131  S.).  —  An  Arnoldt  schliesst  sich  an:  Caird 
in  der  Äeademy,  1870,  N.  15;  vgl.  desselben  Phüos,  of  Kant,  \%11,  S.  258— 
262,  und  The  crüical  phüosophy  of  Kant,  1889,  I,  306—309.  —  Grapen- 
giesser,  Kants  Lehre  von  B.  u.  Z.  Fischer  und  Trend.  1870  (95  S.);  gegen 
die  Recension  dieser  Broschüre  durch  Bergmann  (Phil.  Mon.  V,  278 — 278) 
schrieb  derselbe  eine  Antikritik  in  Fichte's  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  58,  289  ff. 

—  Michelet,  Hegel  der  un widerlegte  Weltphilosoph.  1870.  S.  67 — 80. — 
Mahaffy,  The  crüical  phüosophy,  1872,  I,  1,  S.  60  f.  68  f.  80.  —  Masci, 
üna  polemica  su  Kant.  Napoli  1873  (80  8.).  —  Dühring,  Krit.  Gesch.  d. 
Philos.  2.  A.  1873,  S.  409.  —  Witte,  Beiträge  zum  Verständniss  Kants. 
1874.  S.  41—43.  51—54.  —  Wundt,  Phys.  Psychologie,  1874,  8.  691  N. 
Vgl.  desselben  System  147  ff.  und  die  Abhandlung:  „Was  soll  uns  Kant 
nicht  sein?^  in  den  Philos.  Studien,  VIT,  41  f.  —  Ragnisco,  La  critiea 
della  ragion  pura.  Napoli  1875,  S.  61 — 66.  —  F.  A.  Lange,  Gesch.  d.  Hat. 
2.  A.  II,  1875,  S.  49.  130  f.  —  Tobias,  Grenzen  der  Philos.  1875,  S.  111  f. 
149  f.  —  Steffen,  Ks.  Lehre  vom  Ding  an  sich.  Diss.  Leipzig  1876, 
S.  21—26.  98.  102.  —  Windelband,  Viert,  f.  wiss.  Philos.  I,  1877,  S.  342; 


Literatur  des  Streites  zwischen  Trendelenborg  und  Fischer.  547 

Ge^oh.  der  neneren  Philos.  tt,  61 ;  Gesch.  d.  Philos.  425 ;  AUgem.  Enoyklop. 
(Sect.  n,  Bd.  32)  Art.  ^Kant",  S.  357.  —  A.  v.  Leolair,  Der  Realismus. 
1879,  229  f.  —  Riehl,  Der  philos.  KriÜcisraus,  II,  a,  1879,  8.  89.  107  ft  — 
öottsohick,  Zeitschr.f,  Philos.  Bd.  79,  1881,  S.  152—156..  —  Engel- 
mann, Kritik  der  E.'schen  Lehre  vom  Ding  an  sieh.  Diss.  Halle  1883, 
S.  22.  30—32. 

Für  Trendelenburg  traten  ein:  Eym,  Trend/s  Log.  Unters,  und 
ihre  Gegner,  in  Fichte's  Zeitschr.  Bd.  54,  S.  261  ff.,  bes.  8.  809  f.  —  Thiele, 
Wie  sind  die  synth.  Urth.  d.  Math,  möglich?  Diss.  Halle  1869,  8.  36  ff. 
Ygl.  desselben:  Kants  intell.  Anschauung,  1876,  S.  198  ff.  —  Qnäbiker, 
Phil.  Mon.  IV,  286—249.  408—413.  —  Bergmann,  Phil.  Mon.  V,  273—278. 
—  Bratuschek,  Phil.  Mon.  V,  279—323;  Vm,  488  f.  —  Classen  in 
Virchows  Archiv  XXXVIH,  1  u.  4,  und  in  v.  Graefe's  Archiv  für  Ophthalmo- 
logie 1873,  XIX,  3.  —  Ueberwegin  den  verschiedenen  Ausgaben  der  Gesch. 
d.  Philos.  m,  §  18.  Vgl.  desselben  Aufsatz:  Zur  logischen  Theorie  der 
Wahrnehmung,  in  Fichte's  Zeitschr.  f.  Philos.  Bd.  XXX,  S.  96.  —  E.  v.  Hart- 
mann, in  den  „Blatt,  f.  Lit.  Unterh.%  1870,  N.  19;  1871,  N.  10  (hiegegen 
das  Schriftchen  von  E.  Fleischl,  Eine  Lücke  in  Kants  Philosophie  und 
Ed.  V.  Hartmann.  Wien  1872.  24  S.) ;  ebendaselbst  1879 ,  N.  46 ;  femer 
besonders:  Kritische  Grundlegung  des  transsc.  Realismus.  2.  A.  1875,  S.  119 — 
122.  141—142.  —  Volkelt,  Kants  Erkenntnisstheorie.  1879.  S.  45—47. 
51 — 61.  66 — 68  (weitaus  das  Beste,  was  über  den  ganzen  Streit  geschrieben 
worden  ist).  —  Beyersdorff,  Die  Baum  Vorstellungen.  I.  Diss.  Leipzig 
1879,  S.  52  ff.  —  Heinze,  Platner  als  Gegner  Kants.  Progr.  Leipzig  1880, 
S.  13.  —  Stern,  Ueber  die  Beziehungen  Garve's  zu  Kant.  1884,  S.  66  f.  — 
Drews,  Die  Lehre  von  B.  u.  Z.  in  der  nachkantischen  Philosophie.  Diss. 
Halle  1889,  S.  19.  42 — 45.  —  Massonius,  Ueber  Ks.  Transsc.  Aesthetik. 
Diss.  Leipzig  1890.  (Gegen  diesen:  E.  König,  Phil.  Monatsh.  XXVm,  1892, 
S.  494  ff.)  —  Ueber  Zeller,  Lotze  u.  A.  s.  oben  S.  324  f.  — 

Eine  Mittelstellung  nimmt  Cohen  ein.  In  seiner  Abhandlung  in  der 
Zeitschr.  f.  Völkerpsychologie  und  Sprachw.  Bd.  VQ,  1871,  S.  249—296  stellt 
er  sich  in  allen  Nebenfragen  auf  Seite  von  Trendelenburg;  aber  in  , Kants 
Theorie  der  Erfahrung%  1871,  Vorr.  IV— V,  S.  62-79.  (260  ff.);  2.  Aufl. 
1885 ,  8.  162  ff.  stellt  er  sich  in  der  Hauptfrage  zu  Kant  gegen  Trendelen- 
burgs  Angriffe. 

Ueber  den  Streit  vergleiche  man  femer:  Bau  mann,  Doctrina  Car- 
tesiana,  Diss.  Berlin  1863,  S.  39.  —  Beil.  z.  Augsb.  AUgem.  Zeit.  1869, 
N.  205;  1870,  N.  62.  —  Prantl  im  Lit.  Centr.-Bl.  1870,  N.  13.  —  Katzen- 
berger  im  Bonner  Theolog.  Lit.-Bl.  1870,  N.  1.  —  Michelis,  Kant  vor 
und  nach  dem  Jahre  1770.  1871,  S.  152—182.  —  Schlötel,  Die  Berliner 
Academie  und  die  Wissenschaft.  Prüfung  log.  Untersuchungen.  1874, 
8.  85  ff.  —  Paulsen,  Entw.gesch.  der  K.'schen  Erk.-Th.  1875,  S.  189.  — 
Lewes,  Geschichte  d.  Philos.  Deutsch  1876,  S.  486.  571.  —  Theodor, 
Der  Unendlichkeitsbegriff  bei  Kant  und  Aristoteles.  1877,  S.  11—13.  — 
Wiessner,  Die  Realität  des  Raumes.    1877,  S.  63  ff.  —  Wolff,  Speculation 


548  Specialliieratur. 

n.  Phüos.  1878, 1,  183.  —  Kirchner,  Metaphysik.  1880,  S. S6.  —  Pfleiderer, 
Eantiflcher  Eritidsmus.  1881,  S.  41.  —  Poetter,  Gesch.  d.  Philos.  2.  A. 
1882,  8.  255—261.  —  Gesca,  La  doUrina  Kantiana  ddP  Äpriari.  1885, 
a  144—149.  —  Dieckert,  Berkeley  u.  Kant.  Progr.  Conitz  1888,  8. 481  — 
Moeltzner,  Aug.  S.  Maimons  Verbesserungsversuche  der  K.'schen  Philo- 
sophie. Diss.  Greifsw.  1889,  S.  28.  —  Rohr,  Paul.  Platner  u.  Kant-  Diss. 
Leipzig  1890,  S.  57.  —  Rasch  ig,  Erkenntnissth.  Einleitung  in  die  Geo- 
metrie. Progr.  Schneeberg  1890.  —  Tiebe,  Die  Angriffe  Trendelenbnigs 
^egen  Kants  Lehre  u.  s.  w.  Festschrift.  Stettin  1890.  (Eine  beachtenswerthe 
Monographie.)  — 


Inhalt. 


Seite 

Vorwort m-VllI 

Conunentar  zur  Transscendentalen  AesthetüL 

Vorbemerkaiigen.    Die  Paragraphen-Emtheilung 1 

§1. 

Einleitimg 1—128 

Die  Arten  der  Erkenntniss  2.  —  Weitere  und  engere  Bedeutung  von 
aErkenntniss"  2.  —  Wälirend  alles  Denken  sicli  zuletzt  auf  die 
Anschauung  beziehen  muss,  bezieht  sich  die  Anschauung  unmittel- 
bar auf  die  , Gegenstände*  3.  —  S.  Beck  contra  Eant;  strengerer 
und  laxerer  Begriff  von  .Gegenstand"  4.  —  Becks  Accommo- 
dationstheorie  und  die  .historische  Theorie*  5.  —  Der  Begriff  der 
.Anschauung'  5.  —  .Der  Gegenstand  wird  uns  dadurch  gegeben, 
dass  er  uns  afßcirt*  6.  —  Empirische  und  transscendentale  Be- 
deutung von  .Gegenstand*  6*- 8.  —  Streit  zwischen  B.  Erdmann 
und  E.  Amoldt  über  die  Dinge  an  sich  als  Voraussetzung  8— 9.  — 
Das  .Gemüth*  im  Gegensatz  zur  .Seele* ;  Kritik  des  Eantischen 
yGemüthes*  9—12.  —  Begriff  der  .Sinnlichkeit*  als  eines  .Ver- 
mögens*, und  die  Wolff-Eantische  Vermögenslehre  12.  —  Dinge 
an  sich  als  vorausgesetzte  Correlate  der  Sinnlichkeit;  Kants  Protest 
gegen  Beck  und  Fichte  14—16.  —  Kann  schon  die  Sinnlichkeit 
f&rsich  uns  .Gegenstände*  geben?  Beck  gegen  Kant;  nochmals 
gegen  die  Accommodationstheorie  16—19.  —  Das  .Gegebene* 
und  die  Dinge  an  sich  19—22.  —  Die  Passivität  der  Sinnlichkeit 
und  die  Activiillt  des  Verstandes  22 — 24.  —  Anschauung  und 
Denken  24.  —  Sinnlichkeit  —  die  spedfisch  menschliche  An- 
Bchauungsart;  die  intellectuelle  Anschauung  25.  —  Nur  die  Sinn- 
lichkeit kann  uns  Gegenstände  geben  26. 

Die  Empfindung:  sensaüo  praesentiam  objecti  arguit;  die  Voraus- 
setzung afficirender  Gegenstände  26 — 28.  —  .Vorstellung*,  .Em- 
pfindung*, .Gefühl*,  .Anschauung*,  .Wahrnehmung*  28—30.  — 
Die  Erscheinimg  als  der  .unbestimmte*  Gegenstand  einer  An- 


550  Inhalt. 

Behauung  30 — 32.  —  Was  heisst:  Erscheinung  ist  der  ,  Gegen- 
stand **  einer  Anschauung?  32 — 34.  —  Neutrale  und  prägnante 
Bedeutung  von  , Erscheinung*  35. 

Ezcurs.    Die  affioirenden  (Gegenstände 

Kants  Prämisse  von  „afficirenden  Gegenständen*  35.  —  Das  Jaco bi- 
sche Dilemma  36 — 38.  —  Aenesidems  Kritik  der  einwirkenden 
Objecte  38 — 40.  —  Reinhold,  Jacob,  Brastberger  40.  —  Das  Ding 
an  sich  als  „Unding",  als  \/^l[  bei  Maimon  41.  —  S.  Becks 
.einzig  möglicher  Standpunkt*  :  Das  Afficirende  sind  nicht  Dinge 
an  sich,  sondern  die  Erscheinungen  selbst;  Becks  Girkel  41 — 43. 

—  Mellin  und  die  Jacob*schen  Annalen  44.  —  Fichte  eliminirt 
das  „leidige*,  „todte  Ding  an  sich*,  und  zerstreut  Reinholds 
Bedenken  durch  eine  merkwürdige  Auslegung  des  Einganges 
zur  Aesthetik  44 — 49.  —  Nach  Beck  und  Fichte  sind  die  Er- 
scheinungen selbst  das  Afficirende  49.  —  Auch  Neukantianer, 
bes.  Cohen,  setzen  an  Stelle  der  transscendenten  Affection  die 
empirische  49 — 51.  —  Kant  selbst  lehrt  in  der  That  eine  doppelte 
Affection:  eine  transscendente  und  eine  empirische  51 — 53.  — 
Das  Trilemma  der  afficirenden  Gegenstände  53.  —  Die  Affection 
durch  empirische  Gegenstände  in  der  Transsc.  Aesthetik  53 — 55. 

Was  kann  in  der  Erscheinung  der  Empfindung  „correspondiren*  ? 
Vier  Auslegungen  56 — 59.  —  Die  Materie  oder  das  Mannigfaltige 
der  Erscheinung  und  die  Form  oder  das  Coordinationsprincip 
derselben  59 — 61.  —  Materie  und  Form  der  Erscheinung: 
Bilder  für  diesen  Gegensatz;  Geschichtliches:  Lambert;  Kant  als 
Vertreter  des  scholastischen  Princips :  forma  dat  esse  rei  61—65. 

—  Herder  gegen  „das  grobe  Töpferwort  Form*^  Beneke  gegen 
Kants  „Mythologie*;  Bolliger  gegen  Kants  Erneuerung  des 
antiken  Dualismus  von  Form  und  Stoff  65 — 67.  —  Weiterbildung 
des  Unterschiedes  bei  Reinhold,  Schiller,  Fichte  u.  s.  w.  67 — 69. 

—  Sechs  unbewiesene  Prämissen  Kants :  1)  Das  ordnende  Princip 
kann  nicht  in  den  Empfindungen  selbst  liegen ;  2)  Stoff  und  Form 
sind  trennbar;  3)  Stoff  und  Form  haben  nicht  denselben  Ur- 
sprung; 4)  die  Empfindungen  als  solche  sind  schlechthin  un- 
räumlich; 5)  die  Raumanschauung  als  solche  hat  nichts  mit 
Empfindung  zu  schaffen;  6)  Sensatio  mcUeriam  dat,  non  formam 
69—74.  —  Herbart,  Cohen,  Schopenhauer,  Lotze,  F.  A.  Lange 
für  Kant  74—76.  —  Riehl,  Stumpf,  Ueberweg  gegen  Kant 
76 — 78.  —  Erster,  allgemeiner  Beweis  für  die  Apriorität  der 
Form  78 — 79.  —  Die  Materie  der  Erscheinung  nur  aposteriorisch  79. 

—  Die  im  Gemüth  a  priori  „bereitliegende*  Form ;  Cohen  gegen 
die  Form  als  ein  „Geföss* ;  derselbe  gegen  das  „Bereitliegen* ; 
actuelles  oder  potentielles  „Bereitliegen*  der  Form?  80 — 84.  — 
Die  Formen  liegen  actuell  bereit ;  gegen  diesen  Einwand  Herbarts 
sucht  Riehl  Kant  zu  vertheidigen ;  aber  das  Apriori  bedeutet 
hier  in  der  That  zeitliches  Vorhergehen  und  actuelles  Bereitüegen 
84 — 87.  —  Kant  verwechselt  den  actuellen  mathematischen  Baum 
mit  der  potentiellen  Form  der  Räumlichkeit  87 — 88. 


S«ite 


Inhalt.  551 

Seite 
Ezcun.    Wie  Terhält  sich  Kants  Apriori  siim  Angeborenen?     .    .       89—101 

Kant  Über  das  Angeborene  1770.  Kant  vermittelt  Gartesius  und 
Locke  im  Anschluss  an  Leibniz'  Nouveaux  Essais  89 — 90.  — 
Kant  über  das  Angeborene  1790 :  Die  acquisitio  originaria  90 — 94. 
—  Wie  schon  Schwab  nachwies,  widerspricht  die  Theorie  der 
acquisitio  originaria  der  Darstellung  in  der  Transsc.  Aesthetik 
94 — 96.  —  Riehl  und  Cohen  suchen  nicht  bloss  die  angeborenen 
Vorstellungen,  sondern  auch  den  angeborenen  Grund,  das 
Fundament  der  Lehre  von  der  acquisitio  originaria,  zu  eliminiren 
96 — 100.  —  Liebmanns  und  Volkelts  richtige  Auffassung  100. 

»Rein*  im  .transscendentalen  Verstände"  101.  —  , Reine  An- 
schauung' 102.  —  Die  ,reine  Form  der  Anschauung*  soll  zu- 
gleich selbst  eine  »reine  Anschauung*  sein;  Schwierigkeiten  in 
dieser  Identification  von  «Form  der  Anschauung*  und  , formaler 
Anschauung*  103 — 107.  —  Die  Absonderung  der  reinen  An- 
schauung aus  der  Vorstellung  des  Körpers  und  die  Auflösung 
des  letzteren  in  lauter  subjective  Elemente,  wobei  das  «Ding  an 
sich'  nach  Stadler  und  Hebler  als  «unauflöslicher  Rest*  übrig 
bleiben  soll  107-111. 

Sinn  und  Tendenz  einer  «Transscendentalen  Aesthetik*  111.  — 
Verhältniss  der  letzteren  zu  Baumgartens  Aesthetica  112.  —  Kant 
spricht  sich  in  der  1.  Aufl.  gegen  die  Wissenschaftlichkeit  der 
Geschmackslehre  aus,  gibt  dieselbe  aber  in  der  2.  Aufl.  zu 
114 — 117.  —  Ato^xa  xal  vofjxd  117.  —  Doppelte  Verwendung 
des  Ausdruckes  «Aesthetik*  bei  Kant:  in  der  Erkenntniss-  und 
in  der  Geschmackslehre  117 — 120.  —  Die  «Isolirung*  der  Sinn- 
lichkeit in  der  Transsc.  Aesthetik  und  Kants  «isolirende  Me- 
thode* überhaupt  120—123. 


Erster  Abschnitt. 

Von   dem  Saume. 

§  2. 

Metaphysische  Erörterung  des  Baumbegriffs    .    128—268 

Einleitendes:  Der  äussere  Sinn  124.  —  Der  innere  Sinn;  Ge- 
schichtliches 125 — 129.  —  Verhältniss  des  äusseren  und  des 
inneren  Sinnes  129. 

Die  Problemstellung:  Was  sind  Raum  und  Zeit?  130.  —  Ver- 
schiedene Gliederungen  der  Möglichkeiten;  Kants  Tetralemma 
131 — 133.  —  Gleichstellung  der  Zeit  mit  dem  Räume  und  Voran- 
stellung des  letzteren  133—134. 

Ezonrs.    Die  möglichen  Fälle 184—151 

Der  Trendelenburg-Fischer'sche  Streit.  Allgemeiner  Charakter  des- 
selben 134.  —  Trendelenburg  macht  Kant  den  Vorwurf,  bei 
seiner  Problemstellung  die  «dritte  Möglichkeit*  übersehen  zu 
haben,   dass  Raum  und  Zeit  sowohl  objectiv  als  subjectiv  sein 


552  Inhalt. 

Seite 

konnten  135.  —  Trendelenburgs  , dritte  Möglichkeit"  ist  formell 
logisch  unrichtig,  weil  in  derselben  Geltungsfrage  und  Ursprungs- 
frage  vermischt  sind  1 86-— 138.  —  Richtige  Gliederung  der  Mög- 
lichkeiten: vier  Fälle;  Trendelenburg  selbst  hat  eine  Möglich- 
keit übersehen  188—140.  —  Wie  stellt  sich  Kant  hiezu?  Kant 
hat  jene  dritte  Möglichkeit  in  der  That  übersehen;  Trendelen- 
burg hat  also  facti  seh  doch  Recht  140.  —  Noch  eine  weitere 
Möglichkeit,  welche  Kant  übersehen  hat :  dem  Raum  entsprechen 
zwar  nicht  identische,  aber  analogische  Verhältnisse  der  Dinge 
an  sich  (Leibniz,  Herbart,  Lotze)  141 — 142.  —  Lamberts  Ein- 
wand gegen  Kant:  unser  Raum  sei  ein  HmtUaerum  des  wahren 
Raumes.  Kants  Theorie  von  1770.  142.  —  Die  .Mittelhjpothese* 
von  Pistorius:  analogische  Relationen  der  Dinge  an  sich; 
Pistorius  contra  Jacob.  Brastberger  143 — 146.  —  Eberhards 
Theorie  der  ,objectiven  Gründe'  des  Raumes ;  Unklarheit  Eber- 
hards und  Anderer  über  den  .dritten  Fall' :  Vermischung  zweier 
ganz  verschiedener  Fälle.  Kants  Gegenschrift  gegen  Eberhard 
146—150.  —  Kants  schwankendes  Verhältniss  zur  schwankenden 
Raumtheorie  von  Leibniz  150 — 151. 
«Metaphysische'  Erörterung  des  Raumbegriffs.  Verhält- 
niss zur  .transscendentalen^  151.  —  Im  Anschluss  hieran  trifPt 
Cohen  die  falsche  Eintheüung  in  ein  «metaphysisches'  und 
«transscendentales'  Apriori  152 — 154.  —  Ungeschickte  Verwen- 
dung des  Ausdruckes  «Erörterang'  155.  —  Ungeschickte  Ver- 
wendung des  Ausdruckes:  der  .Begriff"  des  Raumes  155. 

Erstes  Raumargument 166—184 

Logische  Gliederung  156.  —  Erster  Satz.  These  (gegen  Leibniz) : 
Der  Raum  ist  kein  empirischer  Begriff;  unpassender  Gebrauch 
des  Ausdruckes  ,  Begriff'  157.  —  Conceptus  spatii  non  abHrahitur 
a  sensationibus  externia;  zweierlei  Arten  der  Abstraction  158—160. 

—  Zweiter  Satz.  Der  Nervus  probandi  160.  —  Die  Projection 
nach  aussen  oder  die  „Beziehung'  der  Empfindungen  auf  „Etwas' 
ausser  mich.    Wie  kommen  wir  zu  diesem  .Etwas'?  160 — 162. 

—  Schopenhauers  ergänzende  Behauptung,  dazu  bedürfe  es  der 
Causalität  162.  —  Helmholtz*  Theorie  des  unbewussten  Causal- 
schlusses  163.  —  Nach  Liebmann  bedarf  es  zum  .objectiven  An- 
blick' ausserdem  noch  der  Substantialität  168 — 164.  —  Der  Satz 
von  der  „Intellectualität  der  Sinnes  Wahrnehmung'  findet  sich 
hier  noch  nicht  bei  Kant  165.  —  Der  apriorische  Factor  der 
Anschauung.  Kants  Petitio  principii  165.  —  Die  Vorstellung  des 
Raumes  muss  .zum  Grunde  liegen',  d.  h.  im  Subject  .vorher- 
gehen'; ob  actuell,  ist  hier  noch  die  Frage  166—168.  —  Dritter 
Satz:  Die  Schlussfolgerung.  Die  a  priori  in  uns  vorhergehende 
RaumvorsteUung  macht  die  Erfahrung  .allerergt'  möglich  168 — 
170.  —  Liegt  die  Raumvorstellung  bewusst  oder  unbewusst  in 
uns  zum  Grunde?  170.  —  Die  Priorität  des  Raumes  als  Beweis- 
gpnmd  für  seine  Apriorität;  gegen  Cohen  170.  —  Cohen  und 
Riehl   gegen  das  .psychologische'  Apriori:   es  handle  sich  hier 


Inhalt.  553 

Seite 
nicht  um  eine  psychologische  Bedingung  in  uns,  sondern  um  eine 
rein  logische  Voraussetzung  172 — 174.  —  Der  Beweis  aus  der 
»Möglichkeit  der  Erfahrung'^  in  der  Analytik  und  in  der  Aesthetik; 
es  handelt  sich  in  der  letzteren  in  der  That  um  subjective 
Bedingungen  174 — 177.  —  Einwände  gegen  dies  Argument: 
Garve,  Feder,  Eberhard,  Maass  177.  —  üeberwegs  Einwand  eines 
Cirkels  im  Schlnss  179.  —  Herbarts  Frage  nach  dem  Grund  der 
Bestimmtheit  der  einzelnen  Erscheinungen  180.  —  Cohens  und 
Riehls  Stellung  zu  der  Frage  181.  —  Lotze  erneuert  Herbarts 
Frage  und  beantwortet  sie  durch  seine  Theorie  der  ,Local- 
zeichen*  182—184. 

Zweites  Raumargument 184—802 

Yerh&ltniss  zur  Dissertation  von  1770.  184.  —  Logische  Gliederung 
185.  —  Erster  Satz.  These.   Schwierigkeiten  im  Ausdruck  185. 

—  Zweiter  Satz.  Nerpus probandi:  Wir  können  die  Vorstellung 
des  Raumes  nicht  weglassen  186.  —  Die  Nicht-Hinweg-Denkbar- 
keit des  Raumes  187.  —  Der  Raum  ist  nothwendig,  die  Erschei- 
nungen in  ihm  zuf&llig  188.  —  Der  Satz  wendet  sich  gegen 
Leibniz  189.  —  Einwände  und  Missverständnisse  190.  —  Kants 
Methode  191.  —  Dritter  Satz.  Kant  unterscheidet  nicht  scharf 
genug  zwischen  der  Nothwendigkeit  des  Raumes  für  die  vor- 
stellenden Subjecte  und  derjenigen  für  die  vorgestellten  Ob- 
jecte  192.  —  Daraus  erklärt  sich  die  verschiedene  Auffassung 
dieses  Argumentes:  die  Einen  finden  darin  die  absolute,  die 
Anderen  die  relative  Nothwendigkeit  des  Raumes  ausgesprochen 
194.  —  Verhältniss  zum  ersten  Raumargument:  unterschied  und 
Zusammenhang  196.  —  Herbart  wirft  Kant  eine  Quaternio  Ur- 
tninorum  vor  198.  —  Liebmanns  Entgegnung  199.  —  Herbart 
hat  formell  Unrecht,  sachlich  Recht  200.  —  Relative  und  abso- 
lute, discursive  und  intuitive  Nothwendigkeit  201. 

Drittes  Raumargument  der  ersten  Auflage    .    .    .    202—208 

(in  der  zweiten  Auflage  weggelassen). 

Verhältniss  zur  «Transscendentalen  Erörterung'  in  der  2.  Aufl.  202. 

—  Die  logische  Doppelfunction  dieses  Argumentes:  die  Raum- 
theorie erklärt  die  Apodikticität  der  Mathematik,  und  diese 
beweist  ihrerseits  eben  jene  Raumtheorie  203. 

Viertes  Raumargument  der  ersten  Auflage  =  Drittes  Raum- 
argument der  zweiten  Aufiage 204—286 

Vorbemerkungen  204.  —  Erster  Satz.  These.  Der  Raum  ist  kein 
discursiver  (allgemeiner)  Begriff  205.  —  Der  Satz  wendet  sich 
gegen  Leibniz  207.  —  Streit  zwischen  E.  Fischer  und  Trendelen- 
burg: 1)  ob  nach  Kant  alle  Begriffe  , Gattungsbegriffe"  seien? 
2)  ob  nach  Kant  alle  Begriffe  «abstrahirt**  seien?  8)  ob  Kant 
hier  die  Raumanschauung  habe  den  Kategorien  gegenüberstellen 
wollen?  4)  ob  nach  Kant  der  Raum  ein  „Singularbegriff*  sei? 
207 — 211.  —  Zweiter  Satz.  Die  Einzigkeit  des  Raumes 
211.  —  Die  vielen  Einzelräume  sind  nur  TheilstÜcke  des  Einen 


554  Inlialt. 

Seite 
Baumes  212.  —  Lotze  für  Kant,  Biehl  gegen  Kant  218.  —  Er- 
weiterung der  KanÜBchen  These  durch  K.  Fischer  u.  A.  213—215. 
—  Dritter  und  vierter  Satz.  Die  ursprüngliche  Einheit- 
lichkeit der  RauniYorstellung  215.  —  Der  Raum  ist  keine 
mosaikartige  Zusammensetzung :  alle  Theüräume  sind  nur  Raum- 
theile  216.  —  Der  Raum  kein  CompoHtum,  sondern  ein  Tahtm, 
also  eine  Anschauung  218.  —  Inwiefern  sind  aber  Begriffe  zu- 
sammengesetzt? Aus  Merkmalen  218 — 220.  —  Jacobi  vergleicht 
Kants  unendlichen  Raum  mit  Spinoza's  unendlicher  Substanz 
220.  —  Einwände  gegen  dies  Argument  221.  —  Die  Unendlich- 
keit und  die  Stetigkeit  der  Raumanschauung  221 — 228.  — 
Fünfter  Satz.  Schluss  auf  die  Anschauungsnatur  des  Raumes 
228.  —  Während  Kant  hier  lehrt,  der  Raum  sei  nicht  zu- 
sammengesetzt, fasst  er  in  der  Analytik  doch  den  Raum  als 
Product  einer  synthetischen  Function  des  Verstandes,  als  Com- 
positum ideale  224 — 227.  —  Darin  sehen  die  Anhänger  Kants 
eine  Ergänzung  der  Aesthetik,  seine  Qegner  einen  Widerspruch 
zu  derselben  227 — 229.  —  Später  erklärt  Kant  die  Vorstellung 
des  absoluten  Raumes  für  einen  Vernunft  begriff  (Idee);  Verhält- 
niss  des  absoluten  Raumes  zur  reinen  Anschauung  des  Raumes 
229—281.  —  Soll  dies  Argument  auch  die  Apriorität  der  Raum- 
vorstellung  beweisen?  281.  —  Der  Raum  als  intuitua,  quem  Sequi- 
lar conceptus  282.  —  Sechster  Satz.  Bestätigung  aus  dem 
Verfahren  der  Geometrie.  Folgerung  oder  Beweismoment?  288.  — 
Die  Rolle  des  Verstandes  neben  der  Anschauung  in  der  Mathe- 
matik 284.  —  Einwände  von  Riehl  und  B.  Erdmann  286. 

FOnfle«  RaumargumeDt  der  ersten  Ayflage  =  Viertes  Raim- 

argument  der  zweiten  Auflage 287—868 

Erste  Redaction  (A).  Logische  Griiederung.  Beweisthema:  Der 
Raum  nicht  Begriff,  sondern  Anschauung.  Beweisgrund:  Der 
Raum  eine  unendliche  Grösse,  weil  ins  Grenzenlose  fortgehend. 
Ein  Allgemeinbegriff  aber  enthält  kein  Grössenmerkmal ,  am 
wenigsten  das  Merkmal  der  Unendlichkeit  287 — ^289. 

Zweite  Redaction  (B).  Logische  Gliederung  289.  —  Aus  der 
Kantischen  Theorie  des  Begriffes:  Jeder  Begpriff  hat  unendlich 
viele  Vorstellungen  unter  sich,  kein  Begriff  hat  unendlich  viele 
Vorstellungen  in  sich  240 — 242.  —  Beim  Raum  ist  das  letztere 
der  Fall,  also  ist  er  kein  Begriff,  sondern  Anschauung  242.  — 
Soll  die  Unendlichkeit  des  Raumes  auch  dessen  Apriorität  be- 
weisen? 243 — 245.  —  Missversi&ndniss  des  Argumentes  durch 
Holder  u.  A.,  Erläuterung  desselben  durch  Sigwart  245.  —  Streit 
zwischen  Trendelenburg  und  K.  Fischer  über  dies  Argument: 
1)  K.  Fischer  hat  thatsächlich  den  Mittelbegriff  der  Argumentation 
verfehlt ;  2)  K.  Fischer  hat  thatsächlich  Kant  eine  QucUernio  termi- 
norum  begehen  lassen;  3)  K.  Fischer  hat  nicht  mit  Unrecht  im  Sinne 
Kants  jeden  Begriff  als  »Gattungsbegriff*  bezeichnet  246 — 252. 

Verhältniss  der  beiden  Redactionen:  Unterschiede  und  Ge- 
meinsames 253. 


Inhalt.  555 

Seite 
Exonn.    Der  Baum  als  eine  nnendliclie  gegebene  GhrOsBe  ....     25S— 261 

Formelle  Schwierigkeiten  253.  —  MaterieUe  Schwierigkeiten.  Ein- 
wände von  6.  E.  Schulze  und  Kästner  254.  —  Kant  vertheidigt 
sich  vergeblich  gegen  Kästners  Angriff  255.  —  Abschwächungs- 
▼ersuche  der  Stelle  bei  Holder,  Caird,  Mahaffy,  Lotze,  Cohen, 
Stadler ;  Angriffe  von  üeberweg,  Trendelenburg,  E.  v.  Hartmann, 
Montgomery  256 — 259.  —  Infinitum  quantum  datum  oder  dabile  ? 
260.  —  Alle  Theile  des  Raumes  ins  Unendliche  sind  zugleich  260. 

—  Der  unendliche  Raum  ein  , Ganzes*?  261.  — 

Uebersioht  der  Raamargumente 261—268 

§3. 
1)  Transseendentale  Erörterung  des  Baumbegriffs    268—286 

Yerhältniss  zur  .metaphysischen*  Erörterung  263.  —  Rationalistische 
Tendenz  des  Abschnittes  263.  —  Yerhältniss  der  1.  und  2.  Auf- 
lage 263 — 265.  —  Verhältniss  zu  den  ProUgomena  265.  —  Erster 
und  zweiter  Absatz:  Erklärung  der  synthetisch-apriorischen 
Urtheile  der  Geometrie  durch  die  neue  Raumtheorie.  Einwände 
vonHelmholtz  u.  A.  266 — 268.  —  Dritter  Absatz:  Kant  geht 
von  der  reinen  Mathematik  zur  angewandten  über  268 — 270.  — 
Missverständnisse  und  Einwände,  bes.  von  Trendelenburg  271.  — 
Fundamentaler  Unterschied  zwischen  Anschauung  a  priori  und 
apriorischer  Anschauungsform  272 — 273.  —  Vierter  Absatz: 
In  welchem  Sinne  ist  die  Geometrie  begreiflich  gemacht?  Streit 
zwischen  K.  Fischer  und  Trendelenburg  273 — 275. 

Exonrs.    Beine  nnd  angewandte  Mathematik 275—286 

Analyse  der  entsprechenden  Paragraphen  (§  6 — 13)  der  Prolegomena : 
Kant  vermischt  durchaus  die  beiden  heterogenen  Probleme  der 
reinen  und  der  angewandten  Mathematik  275 — 281.  —  Die 
,  Axiome  der  Anschauung*  282.  —  Wie  steht  die  Sache  in  der 
Dissertation  von  1770?  283.  —  Widersprüche  der  Ausleger 
(Fischer,  Cohen,  Paulsen).  Richtige  Erkenntniss  bei  Riehl,  Thiele, 
£.  V.  Hartmann  285. 

2)  Sehlfisse  in  Bezug  auf  den  Raum  .    .    .    286—667 

Gliederung  286.  —  Auftreten  des  «Dinges  an  sich*  287. 

Erster  Absatz  (Schluss  a).    Zwei  Formen  dieses  Syllogismus  287. 

—  Kants  Schluss  von  der  Apriorität  des  Raumes  auf  seine  Sub- 
jectivität  289.  —  Dieser  Schluss  ist  nicht  zwingend  289 — 290. 

Exchtb.    Der  Streit  zwischen  Trendelenburg  nnd  Fischer      .    ,    .    290—826 

Trendelenburg  findet  eine  «Lücke*  in  Kants  Beweis  von  der  aus- 
sehliessenden  Subjectivität  des  Raumes:  Der  Raum  könne,  trotz 
seiner  Apriorität  im  Subject,  doch  zugleich  objective  Geltung 
haben  290 — 291.  —  Fischer  vertheidigt  Kant:  I.  Auch  bei  Kant 
habe  der  Raum  objective  Geltung.    II.  Es  könne  nicht  zwei 


556  Inhalt 

Originalräume  geben.  III.  Wäre  der  Raum  etwas  Reales,  so  w&re 
der  Raum  ein  Erfahrungsobject,  und  reine  Mathematik  wäre 
unmöglich.  lY.  Die  angewandte  Mathematik  sei  kein  stich- 
haltiger Gegengrund  gegen  Kant  291 — 295.  —  Ein  ftlnftes  Argu- 
ment zu  Kants  Gunsten  erhebt  Amol  dt:  Eant  schliesse  über- 
haupt nicht  von  der  Apriorität  des  Raumes  auf  seine  Idealität, 
sondern  er  schliesse  von  der  objectiven  Gültigkeit  des  apriorischen 
Raumes  für  die  Erscheinungen  auf  seine  Ungültigkeit  für  die 
Dinge  an  sich  295 — 299.  —  Trotz  dieser  Yertheidigungsversuche 
ist  Kants  Beweis  in  keiner  Weise  mehr  zu  retten:  er  enth&lt 
die  Trendelenburg^sche  «Lücke"  299.  —  Diese  Lücke  ist  auch 
nicht  durch  die  Antinomien  ausgefüllt  worden  300 — 302.  —  Hat 
Kant  die  Trendelenbijirg'sche  „dritte  Möglichkeit'  sonst  irgendwo 
berücksichtigt?  Vielleicht  im  Jahre  1768?  302.  —  Thatsächlich 
mehrfach  in  den  Prolegomena  303 — 305.  —  Kant  hat,  wie  schon 
Fries  erkannte,  ursprünglich  den  Mittelweg  des  Pi^ormations- 
systems  übergangen,  hat  sich  aber  später  geg^n  denselben  als 
eine  blosse  prästabilirte  Harmonie  ausgesprochen  305 — 307.  — 
Spuren  jenes  Mittelweges  in  einem  Brief  und  auf  einem  „Losen 
Blatt"  308—310.  —  Definitive  Entscheidung  des  Streites:  Tren- 
delenburg hat  in  der  Hanptsaehe  Recht  und  K.  Fischer 
Unrecht,  denn  der  Kantische  Beweis  ist  thatsächlich  lücken- 
haft 310.  —  Vor^nger  Trendelenburgs  in  der  Entdeckung  jener 
„Lücke" :  Eberhard^  Maass,  Pistorius  311.  —  Reinhold  sucht  ver- 
geblich dem  Kantischen  Beweis  aufzuhelfen  312—  314.  —  Schwab, 
G.  E.  Schulze,  Seile,  Tiedemann,  Brastberger,  Platner,  v.  Eber- 
stein  haben  die  „Lücke"  ebenfalls  erkannt  314 — 318.  —  Jacob 
und  J.  Schultz  haben  Kants  Beweis  ohne  Erfolg  zu  halten  ge- 
sucht 318—322.  —  Auch  Herbart,  Krug,  Fries,  Beneke  u.  A. 
haben  die  „Lücke"  erkannt,  ebenso  Schleiermacher,  Ueberweg, 
E.  V.  Hartmann,  Volkelt,  Zeller,  Lotze  u.  A.  822—326.  — 
Zweiter  Absatz  (Schluss  b).  Der  Raum  als  die  „Form"  der 
äusseren  Erscheinungen  326.  —  Stillschweigende  Prämissen  Kants 
327.  —  Ableitung  des  Rechtes  der  angewandten  Mathematik  327. 

Excnrs.    Methodologische  Analyse  der  Transsc.  Aesthetik     .    .    .    829— S42 

Hier  beim  Abschluss  der  eigentlichen  Beweisführung  Nothwendig- 
keit  einer  methodologischen  Analyse  derselben  829.  —  Die  De- 
finitionen und  Prämissen  Kants  330.  —  A.  Der  ursprüngliche 
Gedankengang  in  der  1.  Aufl.  Logische  Gliederung  und 
logische  Mängel  desselben  381 — 333.  —  B.  Die  Einschaltung 
der  Transsc.  Erörterung  in  der  2.  Aufl.  Der  dabei  be- 
gangene Doppelfehler  und  die  dadurch  entstandene  logische  Ver- 
wirrung 333 — 386.  —  C.  Die  methodologische  Rolle  der 
Mathematik  in  der  Transsc.  Aesthetik.  1)  Der  ursprüng- 
liche synthetische  Gang :  Die  Mathematik  als  Folgerung.  2)  Die 
analytische  Wendung :  Die  Mathematik  als  Beweis.  3)  Die  Pro- 
legomena, 4)  Ein  circuhiB  viHosus?  5)  Schwankender  methodo- 
logischer Charakter  der  Transsc.  Erörterung.    6)  Dadurch  erklärt 


Inhalt.  557 

Seite 
sich  der  Streit  zwischen  Riehl  und  Volkelt,  7)  sowie  zwischen 
Trendelenbnrg  und  Fischer  über  die  methodische  Stellung  der 
Mathematik ;  sowie  auch  8)  das  Missverständniss  von  Amoldt. 
9)  Inwiefern  soll  nach  Kant  die  Mathematik  seine  idealistische 
Raumtheorie  beweisen?  10)  Eine  beliebte  Mischform  dieses  Be- 
weises 336—342. 

Dritter  Absatz.  Die  anthropocentrischen  Folgerungen:  Die  ganze 
Natur  ist  nur  fQr  uns  Menschen  da  342 — 344.  —  , Andere  denkende 
Wesen*  als  .Weltbeschauer«  345.  —  Die  Thiere?  346.  —  Unsere 
Raumanschauung  als  ein  Specialfall;  metageometrische  Specu- 
lationen  346.  —  Die  unbeschränkte  , empirische  Realität*  des 
Raumes  348—350.  —  Die  .transscendentale  Idealität'  des  Raumes. 
Widerspruchsvoller  Gebrauch  des  Ausdruckes  .tsansscendental«. 
350 — 354.  —  Archaistische  Wendungen  Kants  354. 

Vierter  Absatz  (1.  und  2.  Aufl.).  Die  Raumvorstellung  als  ,a  priori 
objectiv*  im  Unterschied  von  den  bloss  empirischen  und  gänz- 
lich subjectiven  Sinnesempfindungen  355 — 357. 

Fünfter  Absatz.  Der  Gegensatz  von  Ding  an  sich  und  Erschei- 
nung im  empirischen  Sinne  und  im  transscendentalen  Sinne 
357 — 359.  —  Kritischer,  vorkritischer  und  nachkritischer  Begriff 
der  Erscheinung  359.  —  Die  Objectivität  des  Raumes  im  Gegen- 
satz zur  Subjectivität  der  Empfindungen  360 — 362. 

Bemerkungen  zum  vierten  und  fünften  Absatz.  Bedenk- 
liche Terminologie  von  subjectiv  und  objectiv  362.  —  Die  von 
Kant  hier  gebilligte  Unterscheidung  der  primären  und  der  secun- 
dären  Qualitäten  passt  gar  nicht  in  sein  eigenes  System  hinein 
362 — 364.  —  Kant  hat  den  in  der  Kr.  d.  r.  V.  zurückgewiesenen 
Vergleich  des  Raumes  mit  den  Sinnesqualitäten  doch  in  den 
Prolegomena  selbst  gezogen  364 — 366.  —  Die  Physiologie  der 
Sinne  und  Kants  Raumlehre  367. 


Zweiter  Abschnitt. 

Von    der    Zeit. 

§4. 

Metaphysische  Erörterung  des  Zeithegriffs         868—888 

Erstes  Zeitargument 808-869 

Verhältniss  zum  ersten  Raumargument  368.  —  Idea  temporis  non 
aritur,  sed  supponitur  a  sensibus  368.  —  Kant  macht  der  Leibniz- 
sehen  Definition  der  Zeit  den  Vorwurf  des  circulus  vitiosus  369. 

Zweites  Zeitargument .     870-ll71 

Verhältniss  zum  entsprechenden  Raumargument  370.  —  Kant  unter- 
scheidet nicht  scharf  genug  zwischen  absoluter  und  relativer 
Nothwendigkeit  370. 


558  Inhalt. 

Seite 

Drittes  ZeitarguneBt 971—872 

VerhSltniss  zur  Transscendentalen  ErOrtenmg. 

Viertes  Zeitargument 872— S74 

Verhältniss  zum  enteprechenden  Raamargnment  372.  —  Unvoll- 
ständigkeit  dieses  Zeitarguments  378.  —  Idea  temparis  est  singu- 
lariSf  non  generalis  378. 

FOnfles  Zeitargument 874—888 

Erste  Redaction  (A).  Die  Theile  der  Zeit  sind  nur  durch  Ein- 
schränkung möglich'  875.  —  Unendlichkeit  eine  Folge  davon 
875.  —  Beim  BegriflF  gehen  die  Theilvorstellungen  vorher,  bei 
der  Zeit  ist  das  Yerhältniss  umgekehrt  376.  —  Das  letzte  Zeit- 
argument ist  nicht  mit  dem  letzten  Raumargument  identisch, 
sondern  mit  dem  zweiten  Theil  des  vorletzten  877.  —  Unend- 
lichkeit und  Gontinuität  der  Zeit  378.  —  Zweite  Redaction  (B). 
Kant  hat  das  fünfte  Zeitargument  in  der  zweiten  Auflage  ver- 
schlechtert 879 — 881.  —  Streit  zwischen  K.  Fischer  und  Tren- 
delenburg 881—883. 

§5. 

Transscendentale  ErSrterung  des  ZeitbegrUb  .    888—880 

Die  synthetisch-apriorischen  Zeitaxiome  888.  —  Possibüitas  mutatio- 
num  nonnisi  in  tempore  cogitabilis;  determinationes  oppositae 
können  einander  nur  succediren  884.  —  Ohne  Zeit  keine  Ver- 
änderung; Kant  über  das  Nirwana  als  den  .Zustand  der  Unver- 
änderlichkeit*  885.  —  Streit  zwischen  K.  Fischer  und  Trendelen- 
burg über  die  Zeit  als  Bedingung  des  Satzes  vom  Widerspruch 
886.  —  Die  synthetisch-apriorischen  Sätze  der  allgemeinen  Be- 
wegungslehre 387.  —  Kümmerlichkeit  einer  ,  allgemeinen  Zeit- 
lehre"  388.  —  Schwankende  Stellung  der  Arithmetik  bei  Kant 
im  Yerhältniss  zur  Zeit  388—890. 

§6. 

Schlüsse  in  Bezug  auf  die  Zeit  ....    880—899 

• 

Die  Zeit  ist  nur  subjectiv  891.  —  Die  Zeit  als  Form  der  inneren 
Anschauung  392.  —  Unselbständigkeit  der  Zeitvorstellung  392.  — 
Die  Zeitfolge  als  eine  ins  Unendliche  fortlaufende  Linie  893.  — 
Das  Zugleichsein  als  zweite  Dimension  der  Zeit  898.  —  Schwanken 
Kants  über  das  Zugleichsein  394.  —  Der  Streit  Über  die  simultane 
Apprehension  895.  —  Uebertragung  der  Zeit  von  den  inneren 
Vorgängen  auf  die  äusseren  Erscheinungen;  Stellung  der  Zeit 
im  Yerhältniss  zum  Räume  895 — 398.  —  Die  Subjeotivität  der 
Zeit  398.  • 


Inhalt.  559 

Seite 
§7. 

1)  Erl&uterttng  zur  Zeittheorie    ....    899—410 

Conftäatio  dubiorum.  Der  , Einwarf  einsehender  Männer"  (Lambert, 
Mendelssohn,  Schultz):  «Aus  der  Realitöt  der  inneren  Vor- 
gänge folgt  die  Objectivität  der  Zeit"  399—401.  —  Antwort 
Kants  darauf  im  Jahre  1772.  402.  —  Die  Beantwortung  des  Ein- 
wurfs in  der  Kr.  d.  r.  Y.  selbst  402—404.  —  Das  Paradozon :  ' 
,Die  Zeit  ist  in  mir  und  ich  in  der  Zeit'  und  die  Auflösung 
desselben  404.  —  Kant  findet  die  Ursache  jenes  Einwurfs  im 
Befangensein  seiner  Gegner  im  vulgären  Idealismus  405.  —  Der 
falsche  und  der  wahre  Idealismus :  Schein  und  Erscheinung  406. 
—  Die  Yoraussetzimg  einer  Vielheit  wirkender  Dinge  an  sich 
407.  —  Alte  und  neue  Einwände  gegen  Kants  Zeittheorie: 
Pistorius,  Ulrich;  Riehl,  Lotze  407—409.  —  K.  Fischer  sucht 
Kants  naturgeschichtliche  Weltansicht  vergeblich  mit  der  idealisti- 
schen Erkenntnisstheorie  desselben  zu  versöhnen  410. 

2)  Allgemeines  Resultat  der  Transse.  Aesthetik    410—422 

Feststellung  der  allgemeinen  Ergebnisse  411.  —  Transscendentale 
Idealität  von  Raum  und  Zeit  als  Grund  der  empirischen  Realität 
derselben  412.  —  Die  beiden  bisherigen  Haupttheorien  Aber 
Raum  und  Zeit:  die  englische  Theorie  des  receptaeulum ,  die 
Leibniz*8che  Theorie  der  relatio  413.  —  Der  Streit  zwischen 
Clarke  und  Leibniz  414. 

Erste  Partei.    Die  mathematischen  Naturforscher  (Clarke) 

>//^  417.'—  Raum  und  Zeit  als  Substanzen  —  sind  .Undinge*  415.  — 

Die  Newton-Clarke*8che  Theorie  ermöglicht  zwar  die  Anwendung 

der  Mathematik  für  alles  Sinnliche,  macht  aber  alles  Uebersinn- 

liche  unmöglich  415. 

Zweite  Partei.  Philosophische  Naturlehrer  (Leibniz)  416.  — 
Schvrierigkeiten  in  der  Kantischen  Darstellung  der  Leibniz'schen 
Lehre:  Inwiefern  schreibt  Leibniz  dem  Raum,  der  doch  nur  ein 
phaenomenon  ist,  zugleich  «absolute  Realität*  zu?  417.  —  Die 
Leibniz'sche  Theorie  ermöglicht  zwar  die  Annahme  des  Ueber- 
sinnlichen,  garanürt  aber  nicht  die  Gültigkeit  der  Mathematik 
für  alle  sinnlichen  Gregenstände  417.  —  Das  Problem  der  unend- 
lichen Theilbarkeit  der  Materie;  die  «Chikanen*  der  «Monadisten* 
gegen  dieselbe  419.  —  Die  Leibniz*Bche  Theorie  der  Mathe- 
matik 420. 

Nach  Kant  löst  seine  Theorie  aUe  Schwierigkeiten;  dieselbe  ist  eine 
Verbindung  Newton*scher  und  Leibniz*scher  Elemente  421. 

EzourB.    Die  hiatoriBche  Entstehung  der  EanÜBchen  Raum-  und 

Zeitlehre 422-486 

Kants  Ansichten  über  Raum  und  Zeit  in  seiner  dogmatischen 
Periode  (1746—1758).  Kant  schliesst  sich  im  Allgemeinen  der 
Leibniz- Wolffischen  Theorie  an,  sucht  aber  den  Widerstreit 
zwischen  der  Metaphysik  und  Geometrie  schon  zu  lösen  428.  — 


560 


Inhalt. 


Seite 


Kants  Ansichten  über  Raum  und  Zeit  in  seiner  empiristischen 
Periode  (1762 — 1768).  Kant  geht  von  den  Metaphjsikem  all- 
mSJig  zu  den  Mathematikern  resp.  Newton  über  424.  —  Kants 
kritische  Raumtheorie  (1770)  —  eine  Synthese  der  Leibniz'schen 
und  der  Newton'schen  Theorie  425 — 427. 

Wie  kam  Kant  zu  seiner  Entdeckung  vom  Jahre 
1770?  Nach  Paulsen  durch  Reaction  auf  den  Hume'schen  An- 
stoss  427.  —  Widerlegung  dieser  Ansicht  428.  —  Nach  Windel- 
band durch  die  1765  erschienenen  Nottveaitx  Essais  von  Leibniz. 
Zustimmung  zu  dieser  Ansicht  428—430.  —  Swedenborgs  Ein- 
fluss?  481.  —  Höhere  Wichtigkeit  der  inneren,  als  der  äusseren 
Motive  431.  —  Riehl  und  Thiele  finden  den  zureichenden 
Qrund  in  der  Abhandlung  von  1768.  482.  —  K.  Fischer  findet 
das  entscheidende  Motiv  in  dem  ,  Problem  der  mathematischen 
Erkenntniss*^,  übersieht  dabei  aber  das  Problem  der  angewandten 
Mathematik,  welch  letzteres  von  Riehl  richtig  gewürdigt  wird 
488 — 435.  —  Riehl  bemerkt  und  B.  Erdmann  beweist,  dass 
die  Antinomien  den  Umschwung  herbeigeführt  haben  485. 

3)  Schlussanmerkimg  yon  §  7    ...    . 

Sind  Raum  und  Zeit  die  einzigen  Prindpien  a  priori  der  Sinnlich- 
keit? 486.  —  Der  Begriff  der  Bewegung  setzt  Erfahrung  voraus; 
doch  nimmt  Kant  auch  eine  apriorische  Bewegung  an  487—489. 
—  Auch  der  Begriff  der  Veränderung  gehört  nicht  zu  den  Data 
a  priori  439.  —  Raum  und  Zeit  sind  die  beiden  einzigen  apriori- 
schen Anschauungsformen  489.  —  Nach  Schelling  und  Trendelen- 
burg hätte  Kant  das  beweisen  sollen  440.  —  Versuche,  noch 
andere  apriorische  Elemente  der  Sinnlichkeit  aufzufinden  440. 


486—441 


§  8. 

Allgemeine  Anmerkungen  zur  Transsc.  Aesthetik 


Anmerkung  I 


Erster  Theil.  Zusammenfassung  des  Resultates :  die  empiristisch- 
kritische  und  die  idealistische  Wendung  desselben  nach  B.  Erd- 
mann. Verhältniss  dieser  beiden  Wendungen  zur  Analytik  und 
Dialektik  441 — 444.  —  Mit  welchem  Recht  kann  Kant  hier 
sagen:  „Die  Dinge  an  sich  bleiben  uns  gänzlich  unbekannt?' 
445.  —  Die  unbekannten  „  Verhältnisse'  der  Dinge  an  sich  446. 
—  Raum  und  Zeit  »verschwinden*  mit  dem  Subject  446.  — 
Keine  noch  so  tiefe  Erforschung  der  Sinnenwelt  führt  zu  den 
Dingen  an  sich.  Dies  verkannt  zu  haben,  ist  der  Fehler  der 
bisherigen  Theorien  der  Sinnlichkeit  447.  —  A.  Polemik  gegen 
Leibnlz-Wolffy  d.  h.  gegen  die  Theorie,  die  Sinnlichkeit  sei  nur 
eine  verworrene  Verstandeserkenntniss  der  Dinge  an  sich  447.  — 
Darin  sieht  Kant  eine  »Verfälschung"  des  Begriffes  von  Sinn- 
lichkeit und  von  Erscheinung.  Streit  über  den  Ausdruck  »Ver- 
fälschung' zwischen  Eberhard  und  Reinhold  449.  —  Kant  wirft 
Leibniz  vor,  Sinnlichkeit  und  Verstand  nur  graduell  geschieden 


441—617 
441— 47S 


InhaU.  5(31 

Seite 
zu  haben;  das  Beispiel  vom  „Recht**  451.  —  Nach  Kant  sind 
Sinnlichkeit  und  Intellectuelles  vielmehr  speci fisch  verschieden, 
fltransscendental*,  nicht  bloss  logisch;  archaistische  Wendung 
Kants;  Verhältniss  zur  Dissertation  von  1770.  452 — 454.  —  Eber- 
hard hat  die  Leibniz'sche  Theorie  gegen  diesen  Kantischen  An- 
griff unglücklich  vertheidigt  454.  —  Kant  hat  Eberhards  Homo- 
nymien hiebei  in  den  Begriffen  des  , Nichtsinnlichen''  und 
^Einfachen'*,  der  .Theile*,  „Elemente*,  „Gründe"  scharf  auf- 
gedeckt 455 — 459.  —  Kants  schroffe  Gegenüberstellung  von  Sinn- 
lichkeit und  Verstand  459.  —  B.  Polemik  gegen  Loeke^  d.  h. 
gegen  die  Theorie,  ein  Theil  der  Sinnlichkeit  gebe  zvrar  nur 
subjective  Erkenntniss,  der  andere  aber  gebe  objective  460.  — 
Das  Beispiel  vom  Regenbogen  460.  —  Lockens  empirischer 
Unterschied  von  Ding  an  sich  und  Erscheinung  und  Kants 
transscendentaler  Unterschied  zwischen  Beiden  461 — 463.  —  Auf- 
fallendes Schillern  in  der  Bedeutung  des  „Transscendentalen* 
463.  —  Leibniz  und  Locke  haben  Beide  das  Wesen  der  Sinnlich- 
keit nach  entgegengesetzten  Seiten  hin  verkannt  und  den  Unter- 
schied des  mundus  sensibilia  et  inteüigibüis  nicht  richtig  gefasst  465. 
Zweiter  Theil.  Die  Transsc.  Aesthetik  nicht  bloss  „scheinbare 
Hypothese",  sondern  beweisbare  „Theorie"  466.  —  Die  Mathe- 
matik als  Beweis  467.  —  Erster  Gedankengang:  Die  Sätze 
der  reinen  Mathematik  setzen  als  synthetische  a  priori  zu 
ihrer  Erklärung  Anschauung  a  priori  voraus  467 — 469.  — 
Zweiter  Gedankengang:  Uebergang  zur  angewandten 
Mathematik;  mathematische  Aussagen  über  die  Objecte  setzen 
zu  ihrer  Erklärung  eine  apriorische  Anschauungsform 
voraus  470.  —  Der  Triangel  in  der  Mathematik  und  das  Dreieck 
in  der  Natur  470 — 472.  —  Schluss  der  Transsc.  Aesthetik  nach 
der  ersten  Auflage :  Die  Dinge  an  sich  werden  aus  Grundsteinen 
zu  Grenzsteinen  472. 

Anmerkung  II 478—485 

Noch  eine  „Bestätigung  dieser  Theorie  von  der  Idealität  des 
äusseren  sowohl  als  inneren  Sinnes"  473.  —  Erste  Hälfte: 
Aeusserer  Sinn.  Auflösung  der  Aussenwelt  in  lauter  Re- 
lationen. Entstehung  dieser  Lehre  von  1787  aus  früheren  Stellen 
von  1781  und  1786.  473—476.  —  Eine  Anwendung  dieses  Re- 
lationsargumentes ist  die  Relativität  des  Maasses  von  Raum  und 
Zeit:  der  orientalische  „Derwisch"  und  „das  Universum  in  einer 
Nussschale"  477.  —  Zweite  Hälfte:  Innerer  Sinn.  Ueber- 
tragung  jenes  Relationsargumentes  auf  die  Innenwelt:  auch  diese 
besteht  aus  lauter  Relationen  477 — 480.  —  Kants  Theorie  des 
Bewusstseins :  Spaltung  des  Ich  in  einen  activen  und  passiven 
Theil;  die  Processe  und  Resultate,  die  aus  dem  Zusammenwirken 
dieser  beiden  Elemente  sich  ergeben  480 — 482.  —  Fundamentaler 
Fehler  dieser  Theorie  482.  —  Das  Selbstbewusstsein  als  irreducibles 
Factum  483.  —  Die  sinnliche  und  die  intellectuelle  Selbstanschau- 
ung 484.  —  Schwierigkeiten  der  Lehre  vom  inneren  Sinn  485. 

Vaihinger,  Kant-Commentar.    II.  36 


562  Inhalt. 

Seite 

Anmerkung  III 486—494 

Ein  Schiller'sches  Xenion  486.  —  1)  Kant  weist  den  Vorwurf  zurück, 
er  verwandle  alle  Erfahrung  in  blossen  Schein;  er  unterscheide 
vielmehr  den  Gegenstand  als  Erscheinung  von  ihm  selber  als 
Object  an  sich  486 — 488.  —  2)  Kant  hat  hiezu  eine  erläuternde 
Fussnote  über  den  unterschied  von  Erscheinung  und  Schein 
hinzugefügt,  in  welcher  er  Schein  =  Sinnestäuschung  und 
Schein  =  Yerstandesirrthum  unklar  mit  einander  vermischt 
488 — 492.  —  3)  Kant  gibt  den  ihm  gemachten  Vorwurf  —  Ver- 
wandlung der  ganzen  Welt  in  lauter  Schein  —  seinen  realisti- 
schen Gegnern  zurück  492 — 494. 

Ezcurs.    Kant  und  Berkeley 494— o05 

1)  Lambert  über  Erscheinung  und  Schein  494.  —  2)  Garve- 
Feder,  Mendelssohn  u.  A.  erheben  gegen  Kant  den  Vor- 
wurf, er  verwandle  die  ganze  Welt  in  Schein  495.  —  3)  Kant 
kämpft  gegen  dies  Misaverständniss  in  den  Prolegomena  495.  — 
4)  Verschärfung  jenes  Vorwurfes  durch  Zusammenstellung  Kants 
mit  Berkeley  durch  Feder  496.  —  5)  Kant  sträubt  sich  mit 
Recht  heftig  gegen  diese  Zusammenstellung  in  seinen  Prolego- 
mena 497.  —  6)  Kants  ürtheil  über  Berkeley  in  der  Kr.  d.  r.  V. 
498.  —  7)  Unzulängliche  Vertheidigung  Berkeley's  gegen  dies 
ürtheil  durch  Schopenhauer  u.  A.  499.  —  8)  Bestätigung 
des  Kantischen  Urtheils.  Kant  schiebt  Berkeley  gegenüber  seine 
Dinge  an  sich  in  den  Vordergrund  500.  —  9)  Nach  Beck  spricht 
Kant  hier  nicht  von  den  Dingen  an  sich,  sondern  von  den 
Dingen  im  Räume.  Cohens  Auffassung  der  Stelle  501 — 503.  — 
10)  Der  auch  neuerdings  von  Trendelenburg,  E.  v.  Hart- 
mann u.  A.  wiederholte  Vorwurf,  Kants  Lehre  führe  zum 
Illusionismus,  ist  unberechtigt,  unterschied  Kants  von  Berkeley 
503—505. 

Anmerkung  IV 505 — 516 

Das  Problem;  wie  sich  Gott  zu  Raum  und  Zeit  verhalte?  K nutzen, 
M.  Herz,  Mendelssohn  505—507.  —  Drei  Fragen,  welche 
in  jenem  Problem  enthalten  sind  508.  —  Gott  ist  in  keiner  Hin- 
sicht an  die  Formen  von  Raum  und  Zeit  gebunden  509.  —  Die 
sinnliche  Anschauung  und  die  intellectuelle  Anschauung:  in- 
tuitua  derivatives  und  intuitus  originarius  509—511.  —  Kants 
intuitus  originart'u8  und  Swedenborgs  , pneumatisches*  Anschauen; 
positives  und  negatives  Verhältniss  Kants  zu  Swedenborgs 
Mysticismus  511  —  513.  —  Die  Gotteslehre  und  die  Freiheitslehre 
als  Bestätigungen  der  Transsc.  Aesthetik;  Verhältniss  derselben 
zur  Analytik  und  zur  Dialektik  514 — 516. 

Beschluss  der  Transsc.  Aesthetik.  Das  Problem  der  syn- 
thetischen Urtheile  a  priori  ist  in  Bezug  auf  die  Mathematik 
gelöst 516—517 


Inhalt.  563 

Seite 

Anhang. 
Das  Paradoxon  der  symmetrischen  Gegenstände    518—532 

Das  p Paradoxon*  ähnlicher  und  gleicher,  aber  doch  incongruenter 
Gegenstände  als  Bestätigung  der  Idealität  des  Raumes  518.  — 
Das  Problem  und  seine  Veranschaulichung  durch  Figuren  519.  — 
Auflösung  des  Problems  durch  die  Unterscheidung  von  Erschei- 
nung und  Ding  an  sich  521.  —  Unbedeutende  Rolle  der  sym- 
metrischen Gegenstände  in  der  Dissertation  von  1770.  523.  — 
Die  symmetrischen  Gegenstände  in  dem  Aufsatz  von  1768;  das- 
selbe Problem,  aber  entgegengesetzte  Lösung  desselben  523 --527. 
—  Andere  Bedenken  gegen  Kants  Argumentation  527.  —  Ver- 
wandtschaft des  Argumentes  mit  dem  Kampf  gegen  das  Leibniz*sche 
principium  identitatis  indiscemibilium  529.  —  Zusammenhang  des 
Argumentes  mit  dem  Streit  zwischen  Leibniz  und 
C 1  a  r  k  e  530.  —  Spiritistische  Ausbeutung  des  Kantischen  Para- 
doxons zu  Gunsten  einer  vierten  Dimension  durch  Zöllner  531.  — 
Zöllner  hat  das  Kantische  Paradoxon  total  missverstanden  532. 

Specialliteratur 533— 54S 

Specialschriften  der  ersten  Periode  533.  —  Die  Eberhard' sehen 
Streitigkeiten  535 — 540.  —  Specialschriften  der  zweiten  Periode 
540.  —  Specialschriften  der  dritten  Periode  542.  —  Der  Streit 
zwischen  Trendelenburg  und  Fischer  545 — 548. 


C  o  r  r  i  g  e  n  d  a. 

Seite    85,  Linie  9  von  oben  lies  „ersten"  statt  ^zweiten' 
107,      y      8     r        T        r     »ersten*  statt  „zweiten' 
r      302,      „      5     ,.    unten    -     -alle"  statt  ,also". 


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