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COMMENTAE
ZU
KANTS
KRITIK DER REINEN VERNUNFT
ZUM HUNDERTJÄHRIGEN JUBILÄUM DERSELBEN
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. E VAIHINGER,
PRIVATDOCENT DEB PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT STBASSBÜRG.
\
Man hat allen Grund , mit den emateaten Studien,
wie 9ie bis jetzt unter allen Philosophen faet nur auf
Aristotelee verwandt worden sind, in die IHefen de»
KanVechen Syeteme einzudringen.
F. A. Lang".
ERSTER BAND.
j-i-i.
STUTTGART.
VERLAG VON W. SPEMANN.
1881.
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Das üebersetzungsrecht in fremde Sprachen vorbehalten.
Druck von Oebrüder Kröner in Stuttgart.
Vorwort.
Der vorliegende Commentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft"
ist aus der Praxis des Verfassers an dem hiesigen von Professor Laas
geleiteten Philosophischen Seminar herausgewachsen. Die bei mehrfach
wiederholter Behandlung des Gegenstandes gesammelten Erfahrungen
brachten den Gedanken zur Reife, zum hundertjährigen Jubiläum der
Kritik dieses ausführliche exegetische Handbuch auszuarbeiten.
Bei der Abfassung desselben verfuhr ich nach denjenigen methodi-
schen Grundsätzen, welche bei der Erklärung der griechischen
Philosophen von den modernen Exegeten angewendet werden. Ich
war in der Lage, dieselben ebenfalls aus mehrfacher seminaristischer
Praxis zu abstrahiren. Bekanntlich besteht jedoch hierin ein tiefgehender
Gegensatz. Bei der Erklärung Piatons reconstruirt z. B. Steinhart
die einzelnen Dialoge desselben in freiester Weise, selbst als Platoniker,
um in warmer Begeisterung für den Inhalt aus dem „Geiste Piatons **
heraus dessen System philosophisch gleichsam neu zu schaffen. Da-
gegen analysirt ein Bonitz mit philologischer Nüchternheit und exacter
Strenge rein objectiv Form und Inhalt jener Schriften, um vom
historischen Standpunkt aus den eigentlichen Sinn derselben zu
eruiren. Es kann kein Zweifel darüber obwalten, dass auf den Titel
der Wissenschaftlichkeit nur die letztere Methode Anspruch er-
heben kann. Dass ^das Verständniss gemeiniglich erst da beginnt, wo
der Enthusiasmus aufhört,* ist eine wenn auch nicht immer, so doch
häufig gültige psychologische Wahrheit. Jene freie Reproduction hat
für die systematische Fortbildung der Philosophie ihren unleugbaren
Werth. Aber eine historisch exacte, streng objective, unbefangene
und unbestechliche Darlegung und Entwicklung der Lehre wird durch
dieselbe nicht gefördert, sondern vielmehr gehindert. Wer jemals
etwa Steinharts Einleitung in den Theätet mit der Abhandlung von
Bonitz über denselben Gegenstand verglichen hat, hat es erfahren, wie
sehr die, wenn auch warme und wohlthuende, so doch befangene, un-
kritische Begeisterung das wahre Verständniss besonders des Einzelnen
beeinträchtigt. Wie überall in der Philosophie, so nicht am wenigsten
IV Vorwort.
hier, ist die Verwechslung des Geistvollen und Geistreichen mit der
nüchternen und schlichten Wahrheit verhängnissvolL
Derselbe tiefgehende Gegensatz herrscht unter denjenigen Schriften
der Gegenwart; welche man unter dem Namen der Kantphilologie
' zusammenzufassen pflegt. Auf der einen Seite freie philosophische
Reconstruction , auf der anderen streng philologische Reproduction.
Nachdem eine Reihe von Schriften das Kant'sche System zum Zweck
der Propaganda fiir dasselbe in selbständiger Umarbeitung dargestellt
haben, beginnt seit einigen Jahren die exacte philologische Methode
in ihr gutes Recht allmälig einzutreten. Man würde sich jedoch in
einem schweren Irrthum befinden, wollte man glauben, letztere Me-
thode diene nicht auch der systematischen Weiterbildung der Philosophie.
Ist sie auch zunächst für den Historiker Selbstzweck, so wird doch
eine wahrhaft fruchtbare Fortbildung aus ihr und nur aus ihr belebende
Anregung empfangen können.
Der vorliegende Commentar steht auf dem Standpunkt der ^Kant-
philologie*', aber im strengen Sinne des Wortes, auf das ja auch in
richtiger Selbsterkenntniss von dem Hauptvertreter der entgegengesetzten
Richtung förmlich verzichtet worden ist. Der Bon itz' sehe Commentar
zu des Aristoteles Metaphysik, der Waitz'sche zu desselben Organon,
die von Zeller in unvergleichlicher, muster- und meisterhafter Weise
gehandhabte philologisch - historische Methode schwebten dabei als das
auf imseren Gregenstand mutatis mutandis übertragbare Ideal vor. Ich
wähle den Ausspruch von F. A. Lange zum Motto: ^Man hat allen
Grund, mit den ernstesten Studien, wie sie bis jetzt unter allen Philo-
sophen fast nur auf Aristoteles verwandt worden sind, in die Tiefen
des Kant'schen Systems einzudringen.* Ob diese philologische Bear-
beitung die von der einen Seite geforderte „Wiederaufrichtung der
Kant'schen Autorität* zur Folge habe, oder ob sie die von der an-
deren Seite ausgesprochene Hoffnung realisire, „von dem Druck der
blossen Autorität als solcher definitiv zu befreien,* — dies muss dem
Historiker und Philologen zunächst ganz gleichgültig sein. Philosophisch
nehme ich wie Jeder Andere zu Kant eine feste, bestimmte Stellung
ein, aber ich fand es nothwendig, zunächst hievon zu abstrahiren. Mein
Ziel ist die nach den methodischen Grundsätzen der Hermeneutik und
Geschichtsforschung angestellte, exacte, d.h. streng wissenschaft-
liche Erklärung der Kantischen „Kritik der reinen Vernunft*. Die
Mittel zur Erreichimg dieses Zieles, das mir zunächst Selbstzweck ist,
sind folgende:
1) Eine all gemeine Einleitung über die historische und actuelle
Bedeutung Kants, sodann gleichsam als eine Vorschule des Kant-
studiums auf Grund sämmtlicher Kantischer Originalstellen eine ein-
gehende Darstellung des Verhältnisses des Kantischen Kriticismus zum
Dogmatismus und Skepticismus, nebst einer Erörterung verwandter zur
Introduction dienender Punkte, so der Entwicklung Kants, der Haupt-
tendenz seiner Philosophie u. s. w. , wobei schon die Anwendung der
unten näher geschilderten Methode mannigfach neue Resultate ergab.
2) Fortlaufende und erschöpfende Interpretation des
Textes. Gerade hierin waren es die Erfahrungen im Seminar, welche
Vorwort. V
einen derartigen Commentar als ein wissenschaftliches Bedürfniss er-
scheinen liessen. Es fehlt nicht an mehr oder weniger eingehenden
Gesammtdarstellungen des Inhalts, aber auch die ausfuhrlichsten müssen
ihrer Anlage nach eine grosse Menge einzelner Punkte unerörtert lassen.
Der mün^iche Erklärer eines solchen Werkes, der ebensosehr auf die
Fragen seiner Schüler Rede stehen muss, wie diese selbst seine Fragen
beantworten sollen, wird häufig genug diese Erfahrung machen, an
Jenen, wie an sich selbst. Selbst bei der Leetüre der besten secun-
dären Darstellungen bleibt auch den Fortgeschrittenen und Gewecktesten
unter Jenen (und gerade ihnen am meisten) unglaublich vieles Ein-
zelne unverständlich; und der Lehrer selbst wird auf nicht wenige
Stellen stossen, bei denen er, wenn auch mit den brauchbarsten übli-
chen Hilfsmitteln ausgestattet, Schwierigkeiten aller Art findet. Mag
auch der Totalinhalt, der logische Zusammenhang eines grösseren Ab-
schnittes klar sein, es bleiben noch genug erklärungsbedürftige dunkle
Stellen im Einzelnen übrig, welche von den Gesammtdarstellungen ab-
sichtlich oder unabsichtlich mit Stillschweigen übergangen werden. Die
^Kritik der reinen Vernunft* ist überhaupt ein viel schwierigeres Werk,
als Viele glauben und als jene oft so glatten secundären Darstellungen
durchblicken lassen. Bald ist es, wie in der Einleitung und Aesthetik,
die gedrängte Knappheit, bald, wie z. B. in einem Theil der Analytik,
die wiederholungs- und variationsreiche Weitschweifigkeit, welche das
Verständniss des logischen Zusammenhanges des Ganzen, des eigent-
lichen Sinnes des Einzelnen erschwert. Dazu kommt jene Menge
scheinbarer oder wirklicher Widersprüche, welche auf Schritt und Tritt
den weniger flüchtigen Leser aufhalten. Es sind nicht die schlechtesten
Leser, denen es geht wie Schiller, der einmal an Körner schreibt
(II. 257), Kants Kritik werde ihm immer dunkler, je öfter er sie lese !
Dass eine derartige Detailerklärung nicht ohne Rückwirkung auf die
Auffassung ganzer Abschnitte, ja des ganzen Werkes bleiben kann,
lässt sich im Voraus denken. Für das Erstere wird besonders die Er-
klärung der ^transscendentalen Deduction* Beispiele bieten, für das
Letztere führe ich aus diesem Ersten Bande die Erörterung zum V. Ab-
schnitt der Einleitung (2. Aufl.) über die „reine Naturwissenschaft",
oder die Ausfuhrungen zum I. und VI. Abschnitt (vgl. Allg. Einleitung
S. 5 S.) über die Doppelfrage der Kritik an ; insbesondere diese letz-
teren Erörterungen lassen den eigentlichen Inhalt der Kritik in einem
neuen Lichte erscheinen. Eine gewissenhafte, keiner Dunkelheit aus
dem Wege gehende Detailerklärung ist somit auch im Stande, die
Gesammtdarstellungen erheblich zu modificiren und zu rectificiren. Bei
der Detailerklärung ist die Hauptsache die logische Analyse des In-
halts der einzelnen Sätze nach dem Wortlaut und aus dem Zusammen-
hang heraus, wobei auch mehrfach zu dem Hilfsmittel tabellarischer
Darstellung gegrifien wurde (z. B. S. 203, 264 und im Abschnitt V),
und unter Umständen rein grammatische Erörterungen (wie z. B. in
diesem Bande S. 76. 117 fi^. 171. 189. 210. 253, am Anf. von Abschn. VI,
und ö.) nicht gescheut werden durften. Aus der logischen Zerfaserung
des Details ergibt sich dann der logische Zusammenhang der grösseren
Abschnitte. Dass man aber nicht bloss das Ganze aus dem Einzelnen,
VI Vorwort.
sondern auch das Einzelne aus dem Ganzen erklären musS; ist eine
überall streng zu befolgende hermeneutische Forderung, welche be-
sonders Schleiermacher betont hat. Der alte Streit, ob die Erklärung
^aus dem Geist oder aus dem Buchstaben^ geschehen muss, erledigt
sich für den unbefangenen Interpreten dahin, dass Beides einander zu
ergänzen hat. Es kann sich immer nur darum handeln, zu eruiren,
was der Autor gedacht habe, als er diese oder jene Stelle niederschrieb.
Eine sorgfaltige gewissenhafte Detailerklärung kann allein jenem Uebel-
stand der einseitigen Auslegung abhelfen, die mit ^ein wenig Philo-
logie* bescheiden auskommen will, sie allein kann jener mehr unter-
als auslegenden, überall j,tiefen* und „tiefsten* Sinn witternden, j,Andeu-
tungen* hineingeheinmissenden Pseudomethode ein Ende machen, welche
durch Dunkelheit imponirt und jene Gemüther vollends zu verwirren
geeignet ist, welche bei dem Wort „transscendental* ohnedies ein heiliger
Schauer ergreift *. Dieselbe Detailerklärung, welche auf der seit einigen
Jahren entstandenen, insbesondere durch Erdmann, Laas und
Paulsen gepflegten strengeren Kantphilologie aufgebaut ist, muss
jener geistreichen und oberflächlichen Manier ein Ziel setzen, welche
die gröbsten Donatschnitzer begeht. Eigenes für Kantisch ausgibt, und
sich über die solide philologisch-kritische Methode in billigster Weise
lustig macht, ebenso jener Vornehmthuerei, welcher die Fülle der sich
mehrenden Kantphilologie zu viel wird, und welche sich auf die Igno-
rirung derselben — zu ihrem eigenen Schaden — gar noch etwas zu
Gute thut.
3) Ein nothwendiges Erforderniss ist ferner die Her beizieh ung
der Parallelstellen als der wichtigsten Interpretationsbehelfe. Voll-
ständigkeit hierin ist für eine exacte Exegese unentbehrlich. Die
wörtliche Anführung sämmtlicher zur Erläuterung irgendwie werth-
vollen Stellen zeigt, dass Kant selbst vielfach als sein eigener Inter-
pret die beste logische Paraphrase des Textes gibt; so wünschte schon
im Jahre 1796 Jenisch ein Werk: „Kant, sein eigener Commentator.*
Diese Citate beruhen — diese Bemerkung ist nicht überflüssig —
durchaus auf eigenen methodisch angestellten Sammlungen, und dies
ist derjenige Punkt, wo der Natur der Sache nach am ehesten Voll-
ständigkeit garantirt werden kann. Es sind derartige Stellen aus
sämmtlichen Schriften Kants, auch aus den scheinbar heterogensten,
sowie aus den bisher ganz vernachlässigten, 1817 (1830) und 1821
von Pölitz herausgegebenen Vorlesungen Kants, endlich auch aus dem
neuerdings durch B. Erdmann theil weise ans Licht gezogenen Nachlasse
systematisch verwerthet worden. Hiedurch fallt oft ein überraschendes
Licht auf den eigentlichen Sinn der Stelle, zu welcher die Parallelen
herangezogen werden. Dadurch allein wird die Einführung in die
Kantische Gedankenwelt eine vollständige. Es gilt hiebei, was Kant
^ Kant sagt ausdrücklich in der Erklärung gegen Fichte: dass die Kritik
„bloss auf dem Standpunkt des gemeinen, nur zu solchen abstracten Untersuchungen
hinlänglich cultivirten Verstandes zu verstehen ist". Was wtlrde Kant sagen über
„such a thing as an oneiromantic understanding of Kant, in which W is
a windmül, K a kite and 0 an oicl^? (Stirling.)
Vorwort. VTI
(Kritik der reinen Vernunft. Erste Ausgabe, S. 314) über Piaton
sagt, von ihm selbst, wie ja auch diese Stelle schon mehrfach in diesem
Sinne angezogen worden ist: ^Es ist gar nichts Ungewöhnliches . . .
durch die Vergleichung der Gedanken, welche ein Verfasser
über seinen Gegenstand äussert, ihn sogar besser zu verstehen, als er
sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte,
and dadurch bisweilen seiner eigenen Absicht entgegen redete oder
auch dachte.^ Nicht selten ergeben sich auch Abweichungen und
selbst Widersprüche theils innerhalb der ,, Kritik der reinen Vernunft*
selbst, theils innerhalb derselben Entwicklungsepoche der Kantischen
Lehre. Auf die Entwicklung der einzelnen Lehrstücke vor — und
ihre Weiterbildung nach 1781 wurde hiebei ebenfalls überall hinge-
wiesen. Dass durch derartige Confrontirung wichtige Resultate zu er-
reichen sind, davon gibt schon die Sammlung und Verarbeitung der
Aeusserungen Kants über das Verhältniss seines Kriticismus zum Dog-
matismus und Skepticismus in der „Speciellen Einleitung* Zeugniss,
sowie z. B. der Excurs über die Entwicklung des Unterschiedes ana-
lytischer und synthetischer Urtheile, oder die Zusammenstellungen auf
S. 180 und S. 183 f. Nicht unwillkommen, weil nicht uninteressant
wird es sein, dass hiebei auch die Lieblingsbilder Kants besonders be-
rücksichtigt wurden *. Wichtiger ist freilich die Verwerthung der
Parallelstellen zur Aufhellung des Sinnes und der Entstehung der
Termini technici Kants. Die ungemein reiche Ausbildung und feine
Gliederung der technischen Sprache der ^Kritischen Philosophie* ist
ja eine bekannte Thatsache. Hiebei wurde sowohl nach statistisch-
comparativer, als nach historisch-genetischer Methode ver-
fahren, um der Terminologie von allen Seiten beizukommen. Natürlich
muss den wichtigsten Terminis auch die grösste Aufmerksamkeit ge-
widmet werden, insbesondere ihrer Entwicklung nach, sowohl bei Kant
selbst, als aus dem Sprachgebrauch seiner Vorgänger heraus •. Gerade
durch den Mangel einer vollständigen Uebersicht der Parallelstellen
entstanden eine Menge der bisherigen Fehler der Erklärer. Es ist
femer unstreitbar eine irreflihrende Methode, wenn, wie so häufig und
besonders bei der Frage nach dem sogenannten Hauptzwecke der Kritik
* Dass durch eine derartige Statistik des Sprachgebrauchs auch für die sach-
lichen Fragen Manches herauskommt^ zeigen die Zusammenstellungen S. 89 f.
(der Ocean der Speculation), S. 86 ff. (der Kampfplatz der Metaphysik), S. 93 f.
(der Despotismus der Dogmatiker), S. 97 (die Aristokratie der Vernunft), S. 107
bis 116 (der Process der reinen Vernunft), S. 166 f. (der Borg aus der Erfahrung),
S. 233 ff. (das Gebäude der Metaphysik), S. 244 ff. (die Flügel der Ideen), S. 247 ff.
(der leere Raum des reinen Verstandes), ferner S. 86. 89. 92. 98. 128. 129. 134.
136. 143. 150. 171 f. 176 u. ö. Aus den dazu angeführten Bemerkungen Späterer
lässt sich zugleich die literarische Regel ableiten, dass die Anhänger derartige
Bilder übertreibend auszumalen pflegen, während die Gegner durch ävitatpo^pYi die
Spitze des Bildes gegen den Urheber desselben selbst zu wenden lieben.
" So geschah das z. B. mit den Terminis „dogmatisch", „skeptisch" S. 33 f.,
„kritisch" S. 44. 46. 103. 121, „Metaphysik" S. 88. 232 u. ö., „aus Principien"
S. 124 f., „Erfahrung" S. 165. 176 f. 217 f., „apriorisch" S. 169, „rein" S. 169. 195.
211 ff., „Rührung" und „Reiz" S. 175, „analytisch" und „synthetisch" S. 258 ff.,
267 f. u. ö. Vgl. S. 137. 166. 191. 221. 230. 236 u. ö.
Vm Vorwort.
(vgl. S. 59 — 70) geschieht, eine einzige Stelle gleichsam als Normalstelle
betrachtet wird, und die Parallelstellen entweder ganz vernachlässigt
werden, oder die wenigen, welche herbeigezogen werden, gewaltsam
nach jener ersten Stelle erklärt werden, falls sich nämlich Abweichungen
ergeben *.
4) Ebenso wichtig als die Sammlung aller Parallelstellen ist die
kritische Sichtung und Hereinarbeitung des gesammten
bisherigen exegetischen Materials. Dieses ist ein ungemein
reiches und fast unübersehbares. Hunderte von Specialschriften, Aufsätzen,
Dissertationen, Recensionen sind seit 1781 über und zu Kants Kritik
erschienen. Dieses reiche Material von Noten und Notizen, Glossen
und Scholien ist aber zerstreut und theilweise sehr selten geworden.
Der Einzelne, selbst der Fachgelehrte, ist natürlich nicht im Stande,
dasselbe aufzufinden, geschweige denn vollständig zu verwerthen, wenn
er über Kant schreibt oder ihn auch nur studirt. Besonders die reiche
Literatur von 1785 — 1800 ist von den modernen Kanterklärern so gut
wie gar nicht herbeigezogen worden, woraus denselben aus den ange-
gebenen Gründen nicht der geringste Vorwurf gemacht werden soll.
Man wird aber gerne zugeben, dass mit dieser Vernachlässigung die
grössten Uebelstände verbunden sind. Der Mangel an Continuität und
Zusammenhang hierin kann nur schädlich sein. Dinge, welche Andere
schon lange entschieden haben, werden aus Unkenntniss davon auf»
Neue Gegenstand der Discussion, Bemerkungen, theils exegetischer theila
kritischer Natur, welche schon lange oft in trefifender Form gemacht
sind, werden, oft in weniger schlagender Weise auf eigene Faust auf»
Neue vorgebracht. Dass unter diesem hundertjährigen Schutte sehr
viel Unbrauchbares neben Brauchbarem enthalten ist, ist selbstver-
ständlich. Aber irgend Jemand musste sich endlich finden, der die
Mühe auf sich nimmt, mit kritischer Sorgfalt den Waizen von der
Spreu zu sondern, das Gute dem allgemeinen Gebrauche zugänglich
zu machen und so eine Entlastung von dem drückenden Uebergewicht
der unermesslichen Literatur herbeizuftlhren, wie dies ja auch bei den
Ausgaben der klassischen Autoren „cum notis variorum^ der Fall ist.
Was mir von Literatur erreichbar war, habe ich herbeigezogen und
vollständig ausgenützt. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, als ob
da, wo die Citate nicht wörtlich angeführt sind, nicht noch gar Man-
ches zu holen wäre: wo das der Fall ist, wurden die Stellen ange-
geben, so dass Jeder, der sich für irgend einen Punkt interessirt, die
* Mittelst derselben Methode konnte endlich eine Reihe höchst wichtiger, bis
jetzt zum Theil vernachlässigter Distinctionen gemacht werden (die theilweise auf
Widersprüche führen), so besonders zwischen den verschiedenen Bedeutungen des
Ausdruckes „Kritik der reinen Vernunft** (S. 116—120 u. im Abschn. VII), zwischen
relativem und absolutem, reinem und gemischtem Apriori (S. 192—196), zwischen
hypothetischer und absoluter Nothwendigkeit (S. 200), zwischen subjectiver und
objectiver Allgemeinheit (S. 204 f.)i zwischen Nothwendigkeit des Causalitäts-
gesetzes und des Causalitätsbegriffes (S. 213 ff.)«) zwischen transscendenter und
immanenter Metaphysik (S. 232 f. und im Abschn. V) , zwischen Verursachung
und ürtheilen über dieselbe (S. 270. 272), endlich besonders zwischen den beiden
Bedeutungen von „Naturwissenschaft" im Abschnitt V und den zwei ganz hetero-
genen Fassungen des sog. Hume'schen Problems im Abschnitt VI.
Vorwort. IX
Literatur in annähernder Vollständigkeit beisammen hat. Endlich wird
dadurch auch der bis jetzt noch lange nicht hinreichend flüssige Um-
tausch zwischen deutscher und ausländischer Kantforschung angebahnt.
Welch grosse Belehrung aus der Zusammenstellung der Literatur zu
den einzelnen Stellen für das Studium erwachsen kann^ lässt sich be-
sonders ersehen bei der Sammlung der exegetischen Literatur zu den
Hanptstellen^ speciell in der in diesem Bande behandelten Einleitung^
so besonders zu dem vielbesprochenen Anfang der Einleitung B (S. 170
und besonders S. 178 flF.) oder zu der kleinen Stelle B 5 (S. 215 flf.),
zn dem Hauptproblem im Abschnitt VI; man vergleiche beispielshalber
noch S. 77. 184. 211. Willkürliche und tendenziöse Auslegungen;
theilweise auch grobe Fehler wurden aufgedeckt und zurückgewiesen,
z. B. S. 171. 179. 205. 208. 225, dann besonders bei der Erörterung
des Hauptproblems und des Ausdruckes ^synthetisch apriori^ im VI. und
des Terminus „transscendental^ im VII. Abschnitt der Einleitung. Die
trefflichen und verdienstvollen Arbeiten der modernen Kantphilologie,
welche zur Erklärung des grossen Werkes so Hervorragendes geleistet
haben, wurden sämmtliche benützt: insbesondere die Schriften von
Arnoldt; Cohen, Dietrich, B. Erdmann, K. Fischer, Holder,
Laas, F. A. Lange, Liebmann, J. B. Meyer, Montgomery,
Paulsen, ßiehl, Stadler, Thiele, Volkelt, Windelband,
Witte, Zeller, Zimmermann u. A. sowie die ausländischen Werke
von Adamson, Caird, Cantoni, Nolen, Stirling u. A.
5) Ein weiteres, zur Erklärung des Einzelnen herbeizuziehendes
Gebiet ist der ganze historische Untergrund, auf welchem Kant
sein Lehrgebäude aufgebaut hat. Wie bei den vorhergehenden Punkten,
handelt es sich auch hier darum, das, was zur Detailerklärung noth-
wendig ist, hereinzuziehen. Wo Kant, zustimmend oder polemisch,
direct oder indirect auf Frühere Rücksicht nimmt, sind die urkundlichen
Quellenbelege aus Hauptwerken und blossen Lehrbüchern anzuführen,
und auch da, wo Kant gar nicht davon spricht, sind die historischen
Bezüge aufzudecken, soweit die Hereinziehung der Erklärung des Ein-
zelnen nutzbar gemacht werden kann. Denn mehr als andere philo-
sophische Werke ist Kants Kritik aus Polemik entstanden, und be-
steht daher auch aus solcher. ^Kant erklären heisst ihn geschichtlich
ableiten*, sagt K, Fischer treffend. Die vielen und trefflichen Vor-
arbeiten hiezu von Dietrich, Erdmann, Fischer, Paulsen,
Riehl, Zimmermann u. A. wurden hereingearbeitet; oft bietet sich
auch die Gelegenheit, die Zerfaserung des Kantischen Gedankengewebes
noch weiter als bisher geschehen, zu treiben, weil eben ein fortlaufender
Commentar häufig dazu auffordert, und dies ist die nothwendige ob-
jective Ergänzung der schon oben berücksichtigten subjectiven Ent-
vncklungsgeschichte der „Kritik der reinen Vernunft''. In diesem ersten
Bande musste, um unverhältnissmässige Einschiebungen zu vermeiden,
auf Supplemente verwiesen werden, welche so bald. als möglich nach-
geliefert werden; so bei der Lehre vom Apriori, dem Terminus „ Apriori,*'
so bei der Lehre vom synthetischen und analytischen Urtheil. Einzelne
historische Hinweise finden sich z. B. S. 91. 93. 96. 97. 105. 131.
142. 144. 167. 168. 171. 183. 206. 218. 237. 242. 244. 252 u. ö.
X Vorwort.
Besonders die späteren Bände werden dazu noch sehr häufig Gelegen-
heit geben.
6) Ais eine Aufgabe der Exegese im weiteren Sinne ist noch neben
der „nüchternen und reservirten Paraphrase* die immanente Kritik
zu betrachten. Wie schon bemerkt wurde, stellt sich der Verfasser
selbst nicht die Aufgabe der sachlichen Kritik des Systems im Ein-
zelnen, sondern beschränkt sich aus den angegebenen (rrilnden auf die
formal logische Kritik des Zusammenhanges, ohne den Standpunkt un-
parteiischer Neutralität zu verlassen ; auf die Untersuchung des Wahr-
heitsgehalts muss der Philologe als solcher, wenn auch oft mit Wider-
streben, verzichten. Es darf hiebei nicht das Bestreben obwalten, In-
convenienzen und Inconsequenzen, Unebenheiten und Widersprüche
hinwegzudisputiren. Aber ebenso wenig, als er gewaltsame Harmoni-
sirungsversuche vorzunehmen hat, darf der Exeget scheinbare Wider-
sprüche zu wirklichen aufbauschen. Die wahre Achtung vor dem zu
erklärenden Autor verhindert das Eine wie das Andere. Kant bleibt
ein grosser Philosoph, auch wenn er sich widerspricht, und er wird da-
durch nicht widerlegt, dass man in wohlfeiler Haarspalterei ihm Wider-
sprüche andichtet, welche sich bei genauerer Untersuchung lösen. Für
das Erstere bieten S. 108. 133. 141 f. 172 flf. 174. 187 ff. 200. 205. 232.
264. 266. 267 u. ö., und besonders S. 165 und 176 ff. (über den Be-
griff der Erfahrung), sowie der Excurs über die Haupttendenz der
Kritik (am Schluss) ßeispiele, für das Zweite S. 83 f. 113. 119 f.
143 f. 184 f. 194 f. 211 ff. 253. 262 u. ö.
7) Dagegen hielt ich es für ein nothwendiges Complement, die
gesammte polemische Literatur zu den einzelnen Stellen heran-
zuziehen. Dies ist ein Punkt, bei dem die Rücksicht auf die Actualität
des Autors ein Abweichen von dem Vorbild der Exegese der antiken
Philosophen gebietet. Die ^Kritik der reinen Vernunft" ist der Mittel-
Junkt der philosophischen Debatten und Controversen seit hundert
ahren ^, sie ist es heute mehr als je. Dies machte es nothwendig,
auch dieses Literaturgebiet kritisch gesichtet hereinzuarbeiten, um so
mehr, als an vielen Punkten Exegese und Polemik sich schneidende
Kreise sind *. Die Leetüre der Kritik kann nur auf diese Weise für
die Weiterentwicklung der Philosophie fruchtbar gemacht werden. Es
ist dadurch Jedem ermöglicht, durch die ganze Kritik hindurch alle
Einzeleinwände sowie die Gesaramtkritik, soweit sie für die grösseren
Abschnitte in Betracht kommt, zu verfolgen, und sich von den sach-
* Auch hier ist gar vieles Vergessene von früheren Gegnern Kants für die
Gegenwart nutzbar, vieles Latente für die wissenschaftliche Bewegung frei zu
machen; es war eine berechtigte Erwartung v. Ebersteins (Gesch. d. Logik u.
Metaphysik II, 232): „Eine friedliche Zukunft werde dereinst die Arbeiten jener
Philosophen wieder hervorziehen und bey ihrer parteylosen Prüfung benutzen."
(1799.)
' Es gilt von gar Manchem, was man einem Gegner Kants entgegengerufen
hat: „Etwas mehr Interpretation und etwas weniger Kritik!" „Die Appellation
von dem falsch ausgelegten an den richtig auszulegenden Kant" kann aber nicht
bloss von den Anhängern, sondern auch von den Gegnern des Kriticismus gegen-
über mannigfachen Entstellungen ausgehen.
Vorwort. XI
liehen Schwierigkeiten des Gegenstandes ein zutreffendes Bild zu machen,
um so besser, als auch die Vertheidiger Kants überall herbeigezogen
wurden, und überall jenes ^sorgfältige Eingehen in die Einzelheiten^,
welches Herbart (vgl. S. 121 Anm. dieses Commentars) verlangt, beför-
dert wurde. Auch hier musste Einzelnes auf Supplemente verschoben
werden, so das wichtige fundamentale Problem der Unterscheidung
analytischer und synthetischer Urtheile. Aber auch so blieb noch Ge-
legenheit genug zu Anführung kritischer und antikritischer Bemer-
kungen, welche das Nachdenken anregen und vor kritikloser Hinnahme
des Textes, wie vor missverständlicher Bekämpfung desselben behüten
können, so z. B. S. 82. 89. 99. 104 f. 108. 123. 127. 130. 147. 170 f.
172 ff. 176. 182 f. 186. 196. 198. 202. 205 f. 208 f. 222. 224.
247 u. ö.
8) Zur Erhöhung des Verständnisses erschien es ferner nicht über-
flüssig, überall die Anknüpfungspunkte der Epigonen heraus-
zuheben, um die Tragweite der einzelnen Stellen voll zum Bewusst-
sein zu bringen, um wie die Vor-, so auch die Nachgeschichte der
, Kritik der reinen Vernunft" darzustellen. Die Forderung, Kant auch
in dieser Beziehung nicht auf den j^historischen Isolirschemel*, wie man
sich ausdrückte, zu setzen, ist eine vollberechtigte, mag man die ein-
zelnen Lehren und Stellen, aus denen die Nachkantische Philosophie
erwuchs, als Fehlerquellen betrachten oder nicht. Die Literatur hier-
über wurde möglichst ausgenützt, sind ja doch gerade hierin viele Vor-
arbeiten dankbar zu erwähnen. In diesem ersten Bande bot sich hiezu
wenig Gelegenheit, doch sei auf S. 42. 106. 133. 149 und auf einzelne
Bemerkungen im Abschnitt VI und VII hingewiesen. An einzelnen
Punkten wurde auch die mehr kulturhistorisch interessante Abhängig-
keit gewisser Nachfolger, z. B. Schillers, erwähnt, z. B. S. 234. 248. 249.
9) Damit hängt zusammen, dass an vielen Stellen auf den mo-
dernen Streit zwischen Rationalismus und Empirismus,
Idealismus und Materialismus u. s. w., jedoch in discreter Wahrung
der Grenzen eines blossen Commentars, Rücksicht genommen wird,
sofern dabei einzelne Abschnitte aus Kant in Betracht kommen. Die
modernen Fort- und Umbildungs versuche der Kantischen Lehre, die
ja in der Gegenwart eine Nachblüthe erlebt, werden besonders in dem
Commentar zur Aesthetik und -Analytik ihre Stelle finden.
10) Zur Vervollständigung der Exegese werden sodann die grossen
Controversen über den Hauptzweck der Kritik und die Methode
derselben, über die eigentliche Natur des Apriori, sowie die Frage der
Composition der Ersten Auflage und der c5treit über den Werth der
Veränderungen der Zweiten zur Sprache kommen. Gerade hierin
bietet die fortlaufende Detailerklärung sehr erhebliche Vortheile, weil
ein Uebersehen einzelner Stellen dadurch ausgeschlossen ist, und weil
die detaillirte logische Analyse der fraglichen Hauptstellen im Zu-
Bammenhang sicherere Resultate zu liefern im Stande ist, als die bis-
herige Methode, welche jene Fragen noch nicht zum Austrag brachte.
Dieser erste Band bot Gelegenheit, an einzelnen Textstellen zu sprechen
über den Hauptzweck (z. B. S. 82. 127. 163, zu Abschnitt VI u. ö.), über
die Methode (S. 124 , 132 u. ö.), die Natur des Apriori (S. 191), die
XII Vorwort.
Composition der ersten Auflage (zu Abschn. VI u. VII), die Ver-
änderungen der zweiten Auflage (S. 79. 159 ff. 227 ff. 229 ff., zu
Abschnitt IV, V, VI, VII). Den Abweichungen der Prolegomena
wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt (z. B. S. 163 f. und zu
Abschn. V u. VI). In den späteren Bänden wird die Erörterung der
Einheitlichkeit oder Nichteinheitlichkeit der Composition der Kritik
überraschende Aufschlüsse über die Entstehungszeit der einzelnen Par-
tien der ^Kritik der reinen Vernunft^ ergeben.
11) Auch die Kevision des Textes erschien als eine wesent-
liche Aufgabe des Commentars. Dass hierin noch Manches zu thun
ist, zeigte die Auffindung der ^ Blattversetzung* in Kants Prolegomena.
Schon im vorliegenden Bande gab sich Gelegenheit zu Textemendationen
theils in d§r Kritik selbst (z. B. S. 209 und im Abschnitt V), theils
in Stellen aus anderen Werken Kants (z. B. S. 145. 179. 217. 263).
Auch hierin ist schon im vorigen Jahrhundert Manches geschehen, was
vergessen worden ist. Hiebei leisteten auch , wie schon bei der Exe-
gese, die fremdsprachlichen Uebersetzungen nicht unwesentliche Dienste*.
12) Endlich wird zum Schluss ein Namen- und (besonders ein ter-
minologisches) Sachregister zum Commentar gegeben werden, um
dessen Gebrauch zu erleichtern und ihn für die Fortbildung der Kant-
philologie fruchtbar zu machen. Eine bibliographisch genaue An-
führung der benützten Schriften wird den Schluss bilden.
Durch methodische Ausnützung sämmtlicher Interpretationsbehelfe,
durch encyclopädische Zusammenfassung und kritische Sichtung der
bisherigen Literatur sucht der Commentar das Facit aus der Summe
der Kantforschung zu ziehen, und durch Hinweis auf bestehende Lücken
derselben neue Impulse zu geben. Ein besonderes Bestreben des Ver-
fassers war es, den verschiedenartigen Ansprüchen der so
verschiedenartigen Leser der „Kritik der reinen Vernunft* durch
allseitige Berücksichtigung der Anforderungen gerecht zu werden: es
ist ja die „Kritik der reinen Vernunft* bei Anhängern und Gegnern, bei
Laien und Fachmännern, bei Schülern und Meistern, in Deutschland
und im Ausland weitaus das am meisten gelesene philosophische Werk.
Es bildet den Mittelpunkt des gesammten Interesses an der Philosophie.
So mag denn wohl dem Einen das als überflüssige Farrago erscheinen,
was dem Anderen sehr willkommen ißt, und was wiederum Jenem
werthvoU ist, mag für Diesen nur geringen Reiz haben. Indem ich in
dem weiten Rahmen des Commentars Vieles bringe, wird aber doch
wohl Jeder Etwas finden, und sich dasjenige herauslesen und heraus-
lösen, was seine Studien fördert und sein Nachdenken anregt. Aehn-
lich ist es ja auch bei den grossen neuerdings erschienenen Coramentaren
zu Goethe's Werken, insbesondere zum ^Faust'', wie denn überhaupt
* Es war ursprünglich meine Absicht, zugleich eine neue Ausgabe der „Kritik
der reinen Vernunft" nach den Grundsätzen der Philologie zu veranstalten. Ver-
schiedene Ums^nde veranlassten mich jedoch, zunächst hievon Umgang zu nehmen.
Eine Folge jener Absicht ist, dass bei den Citaten aus der Kritik der r. V. stets
die Seitenzahlen der ersten Ausgabe benützt wurden, da eben aus philologischen
Gründen jene Ausgabe, nicht die zweite, meiner Ansicht nach zu Grundezu legen
ist. Das Weitere über die Art der Citirung enthalten die „Vorbemerkuxgen".
Vorwort. XIII
Goethephilologie und Kantphilologie manche Analogien zeigen und
gleichermassen ihr gutes Recht gegen einseitige Angriffe und gegen
den Vorwurf der -Mikrologie* zu wahren haben.
Dieser erste Band umfasst (ausser der Erklärung von Titel; Motto
und Widmung) den Commentar zur Vorrede A ^ und zur Einleitung
A und B. Bei der Wichtigkeit der Ersteren zur allgemeinen Ein-
leitung in Kants Gedankenkreis ^ der Letzteren für das ganze auf ihr
aufgebaute kritische Lehrgebäude wurden beide Stücke ausführlicher
behandelt; als dies besonders bei der Analytik und Dialektik der Fall
8ein wird, wo nicht wie hier fast jeder Satz^ sondern ganze Abschnitte
den Gegenstand der Erklärung bilden, und überhaupt bei der geringeren
Menge von Parallelstellen und Erläuterungsmaterial die eigene Er-
klärung in den Vordergrund treten wird. Hier aber war Ausführlich-
keit erstes Gebot: denn schon Brastberger bemerkt richtig: j^Der
Schlüssel zum richtigen Verständniss der ganzen Kritik ist grössten-
theils schon in der Einleitung zu suchen^ ; daher wir das, was Schultz
(1791) in der Vorrede zu seiner ^Prüfung* der Kx. d. r. V. sagt,
auch auf diesen Commentar anwenden dürfen: „Der erste Theil schränkt
sich zwar bloss auf die Einleitung der Kritik ein und könnte daher
vielleicht Manchem für ein so kleines Stück derselben zu weitläuftig
Bcheinen. Allein von Kennern der Sache befürchte ich den
Vorwurf einer zu grossen Ausführlichkeit so wenig, dass
diesen vielleicht auch eine noch grössere desto willkom-
mener wäre** . . . Diese wissen auch, „wie sehr dadurch die fol-
gende Untersuchung . . . erleichtert und abgekürzt wird.*'
Ich bin mir der grossen Schwierigkeiten, welche dieses Unternehmen
enthält, der wissenschaftlichen Verantwortlichkeit, welche ich mit dem-
selben übernommen habe, und des grossen Abstandes zwischen dem
bisher entworfenen Ideal und der wirklichen Ausführung wohl bewusst.
Eine Aufmunterung lag jedoch für mich in der Hoffnung, die Fach-
genossen werden das Unternehmen mit mir als ein wissenschaftliches
Bedürfniss ansehen, bei der Schwierigkeit und fast unübersehbaren Aus-
dehnung den Fehlern und Mängeln, den Lücken und Unvollkommen-
heiten und manchen Ungleichheiten der Behandlung eine billige Beur-
theüung entgegenbringen, und, sei es auf literarischem oder privatem
Wege, ihm durch positive „Mitarbeit* Unterstützimg angedeihen lassen,
zu deren Verwerthung die in Aussicht genommenen Nachträge * Ge-
legenheit bieten werden.
Ich erlaube mir zugleich die Bitte, die Verfasser von Programmen,
Dissertationen, Joumalaufsätzen, Recensionen u. s. w., deren Beschaffung
oft ganz unmöglich ist, um Zusendung ihrer Arbeiten (auch aus früherer
Zeit) zu bitten, da nur auf diese Weise die wünschenswerthe VoU-
* Die Vorrede B setzt den Inhalt der Kritik viel zu sehr voraus, als dass
ihre Erklärung schon am Anfang gegeben werden könnte. Indem die Vorrede A
am Anfang, die Vorrede B am Schluss behandelt wird, hat man zugleich den
Vortheil, die alte Regel zu befolgen, man solle die Vorrede eines Werkes zweimal,
vor und nach der Lectüre des Werkes lesen.
* Ich beabsichtige ausserdem, zur Förderung und Centralisirung der Kant-
forschungen eine Zeitschrift in freien Heften: Kantstudien herauszugeben.
XIV Vorwort.
Btändigkeit erreicht werden kann. Diese Bitte erstrecke ich auch aus-
drücklich auf Bücher und sonstige Veröffentlichungen von Ausländern,
da hierin unsere Bibliotheken grosse Lücken aufweisen. Mittheilungen
und Zusendungen dieser Art werde ich dankbar registriren. Schon
jetzt habe ich den Herren Professoren Dr. v. Prantl in München,
Dr. Heinze in Leipzig, Dr. Erdmann in Kiel, Dr. Paulsen in Berlin,
Dr. Frohschammer in München, sowie den Herren Dr. Frederichs in
Berlin, Dr. Stadler in Zürich, Dr. Deussen in Aachen, Dr. Biese in
Barmen, Dr. Reicke in Königsberg, Dr. Kehrbach in Halle, Dr. Borschke,
Dr. Matosch und Dr. Pommer in Wien, Dr. Ritter in Luckenwalde,
Dr. Lengfehlner in Landshut, Dr. Krause in Hamburg, Dr. v. Leclair
in Prag, A. Spir in Stuttgart, A. Bilharz in Sigmaringen und T. Harris
in St. Louis für literarische Zusendungen, Kants Kritik betreffend,
besten Dank auszusprechen.
Zum Schlüsse habe ich noch die angenehme Pflicht, für die mannig-
fache Förderung, durch welche die Herren Professor Dr. Laas, Pro-
fessor Dr. Gerland, sowie Dr. Schricker in Strassburg mich bei diesem
Unternehmen unterstützten, für die freundliche Theilnahme, welche
demselben seitens des Curators der hiesigen Universität, Herrn Unter-
staatssecretär Ledderhose entgegengebracht wurde, und für die Er-
leichterungen, welche die hiesige Bibliotheksverwaltung mir angedeihen
liess, öffentlich meinen ergebenen Dank auszudrücken. Endlich erwähne
ich mit dankbarster Anerkennung das ungemein liberale Entgegen-
kommen der Verlagsbuchhandlung, welche kein Opfer scheute, und be-
sonders dem Werke eine würdige Ausstattung verliehen hat.
Strassburg, im Mai 1881.
H. V.
Vorbemerkungen.
1) Die Citate aus Kants „Kritik der reinen Vernunft" selbst
sind nach den Seitenzahlen der Originalausgaben gemacht^ so
dass diejenigen Stellen, welche beiden Ausgaben der Kritik (vom Jahre 1781 und
1787) gemeinsam sind, nach der Ersten, diejenigen, welche nur der Zweiten an-
gehören, nach dieser citirt sind. Bei den Citaten aus der zweiten Ausgabe ist
stets ein B vorgesetzt, das auch sonst die zweite Auflage bedeutet, wie A die
erste. Stellen, die nur der ersten Auflage angehören, ist immer ein A vorgesetzt.
Citate mit blossen Zahlen ohne weitere Angabe beziehen sich
immer auf die erste Auflage. Die Originale insbesondere der Letzteren sind
nun ziemlich selten, die Auffindung der Citate ist jedoch ganz leicht nach der für
jeden Kantleser und insbesondere für jeden Leser dieses Commentars unentbehr-
lichen, vortrefflichen, handlichen und ungemein billigen, daher auch sehr ver-
breiteten Ausgabe von Kehrbach (Leipzig, Reclam). In dieser Ausgabe sind
äberall die Seitenzahlen der ersten und zweiten Originalausgabe, der Rosenkranz-
schen und der Hartenstein'schen Ausgaben, sowie der v. Kirchmann'schen Aus-
gabe angegeben {vgl. Commentar S. 74), so dass jedes Citat aus der Kritik nach
diesen Ausgaben sofort nachgeschlagen werden kann. Auch in der Kosenkranz-
schen Ausgabe können die Citate nach den Seitenzahlen der ersten Auflage veri-
ficirt werden, doch fehlen bei den Zusätzen der 2. Aufl. deren Seitenzahlen. In
der Erdmann'schen Ausgabe finden sich dagegen die Seitenzahlen der 2. Aufl.,
welche zu Grunde gelegt ist» am Rande angegeben, und nur bei den Supplementen
aus der 1. Aufl. die dieser selbst. Da nun nach irgend einer Ausgabe citirt werden
mnsste und aus den schon in der Vorrede angegebenen Gründen der Vorschlag
nicht acceptirt werden konnte, die Seitenzahlen der 2. Aufl. als Normalpagini-
rnng zu benutzen — ein Vorschlag, welcher auch sonst wenig Anklang fand —
so erschien es als das Rationellste und Natürlichste, die Citate aus
der ersten und zweiten Auflage sowie die aus der ersten Auflage
allein nach der ersten^ die aus der zweiten allein nach ihr selbst zu
paginiren.»
Ich wiederhole, dass — bis zum Erscheinen einer allen Ansprüchen
entsprechenden Ausgabe — die Benützung dieses Commentars den Ge-
brauch der Kehrbach'schen Ausgabe der „Kritik der reinen Ver-
nunft" nothwendig voraussetzt.
2) Bei den Citaten aus Kants übrigen Werken wurden, um den
Besitzern der verschiedenen Ausgaben das Kachschlagen zu ermöglichen , die
▼on Kant selbst gemachten Abschnitte, Paragraphen u. s. w. benützt. Dies ist
2. B. der Fall bei der „Kritik der Urtheilskraft" und mehreren kleineren Schriften
Kant«. Wo diese Methode nicht möglich war, wurde nsujh der Rosenkranz'schen
XVI Vorbemerkungen.
Ausgabe [R] als der besten und verbreitetsten citirt. (Nicht selten sind auch die
Seiten der v. Kirchmann'schen Ausgabe [K] dazu angegeben.) Bei der „Kritik der
praktischen Vernunft" und bei den Abschnitten der „Prolegomena", welche nicht
von Kant paragraphirt sind, wurde die Original paginirung angegeben, welche dort
in der Kehrbach'schen, hier in der Erdmann'schen Ausgabe zu finden ist. Es ist
bedauerlich, dass die Nachlässigkeit der früheren Editoren eine solche Umständlich-
keit nöthig macht. Eine neue grosse Ausgabe sämmtlicher Werke Kants, mit
Textkritik, Angabe aller Varianten und Emendationen und vor Allem der Pagini-
rungen der verschiedenen bisherigen Editionen wäre sehr zeitgemäss. Verzeich-
nisse und genaue Titel der sämmtlichen Schriften Kants finden sich in den Ge-
sammtausgaben von Rosenkranz (XI, 211—217), Hartenstein (VIII, 816 — 821)
und V. Kirchmann (Band VIII, S. 547—561, „Kants Vermischte Schriften"), sowie
z. B. in Üeberweg-Heinze's Geschichte der neueren Philosophie (§ 17).
3) Bei den Citaten aus den auf Kant bezüglichen Schriften
musste der Titel möglichst concis und abgekürzt, jedoch hinreichend angegeben
werden. Ein bibliographisches Verzeichniss der angeführten Schriften am Schlüsse
des W^erkes wird die Benützung erleichtern. Wo etwa Zweifel über den vollen
Titel entstehen können, leisten das bekannte philosophische Lexicon von Krug für
ältere, der dritte Band der Geschichte der Philosophie von Üeberweg-Heinze
für neuere Literatur gute Dienste, sowie die bibliographischen Hilfsmittel von
Gumposch, Ersch-Geissler und die Bihliotheca phüosophica von Büchting.
Eine eigene Kant-Bibliographie existirt leider nicht.
4) Was die Einrichtung des Commentars selbst betrifft, «o ist
Folgendes zu bemerken:
a) Zur Erleichterung des Gebrauches des Commentars sind (von S. 82 ab)
auf jeder Seite oben angegeben: 1. die Seitenzahlen der drei verbreitetsten Aus-
gaben der Kritik d. r. V. (von Rosenkranz = R, von Hartenstein (1867) = H,
von V. Kirchmann = K); 2. die Seitenzahlen der beiden Originalausgaben
= A und B, und zwar so, dass bei Abschnitten, welche beiden Ausgaben gemein-
sam sind, die beiden Seitenzahlen neben einander, bei Abschnitten, welche nur
einer der beiden Ausgaben angehören, die Seitenzahlen der betreffenden Ausgabe
beigefügt sind. (Die neuerdings ebenfalls vielverbreitete Edition von B. Erdmann
brauchte nicht berücksichtigt zu werden, da sie, wie bemerkt, die Seitenzahlen
der Originalausgaben am Rande angibt, welche im Commentar überall angebracht
sind.) Auf diese Weise ist die rasche Aufeinanderbeziehung des Commentars und
der Textstellen nach den verschiedenen Editionen ermöglicht.
b) Wo (wie z. B. S. 231 f.) Stellen in einer der drei genannten secundären
Editionen ganz fehlen, ist dies durch einen Querstrich kenntlich gemacht.
c) Die Textworte der Kritik d. r. V., welche in den einzelnen
Anmerkungen des Commentars erklärt werden, sind fett gr^dmekt
und beginnen jedesmal eine neue Linie.
d) Diejenigen Stichworte, welche aus Textstellen genommen sind, die —
in den im Uebrigen gemeinsamen Abschnitten von A und B — niu*
der 1. Aufl. angehören, sind durch runde, diejenigen, welche nur der 2. Aufl.
angehören, sind durch eckige Klammem kenntlich gemacht. (y%\. S. 229 Anm.)
L
Allgemeine Einleitung.
Historiscbe und actuelle Bedentnng der Kritik der
reinen Vernunft. Literatur.
§ 1. Allgemeine Bedeutimg der Kritik der reinen Vernunft und der Kanti-
schen Philosophie überhaupt. — § 2. Historische Bedeutung der Kritik der
reinen Vernunft. Kantische Philosophie als üebergang zwischen zwei Perioden.
— § 3. Die actuelle Bedeutung der Kantischen Philosophie. — § 4. Allge-
meine Uebersicht über die Literatur.
§ 1.
Allgemeine Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft und der
Eantischen PhilosophiJB überhaupt.
Die Kritik der reinen Vernunft von I. Kant wird unter den grossen
Geisteswerken der Menschheit stets in erster Eeihe genannt werden. Sie ist
ein Werk, dem an Grossheit der Auffassung, an Schärfe des Denkens, an
Gewicht der Ideen und an Gewalt der Sprache innerhalb der Speculation
nur Wenige, etwa Piatons , Bepublik*, des Aristoteles , Metaphysik",
Spinoza 's „Ethik", — dem an nachhaltiger Wirksamkeit, an tiefeinschnei-
dendem und weitgreifendem Einfluss und an Beichthum von Anregungen
wohl Keines an die Seite gesetzt wei:den kann. Dieses Werk ist nicht bloss
vom allgemein kulturgeschichtlichen und speciell philosophiegeschichtlichen
Gesichtspunkte aus von grösster Wichtigkeit, von höchstem Interesse — es
ist auch ein Werk von eminent actueller Bedeutung. Wer die Geschichte
der menschlichen Vorstellungen über das Wesen der Welt studiren, ja wer
die Entwicklung der modernen Menschheit verstehen will, darf ebensowenig
an Kant vorbeigehen, als es derjenige darf, der in die Probleme der zeit-
genössischen Philosophie einen richtigen Einblick gewinnen oder gar dabei
mitreden will.
Valhlnger, Kant-Commentar. 1
2 Allgemeine Einleitung.
Es lässt sich a priori denken, dass jein Werk, von dem das Gesagte gilt,
nur in einer solchen Zeit entstanden sein kann, die auch sonst zu den pro-
ductiven Perioden der Geschichte gehört. Um den allgemeinen Charakter
jener Zeit zu bezeichnen, genügt der Hinweis auf einige wenige synchroni-
stische Daten, welche beredter sprechen, als es eine Aufzählung der Merkmale
jener Zeit vermöchte. Das Werk erschien in erster Auflage im Jahre 1781,
im Todesjahre Lessings, in dem Jahr, in welchem Schillers Eäuber er-
schienen und Joseph 11. seine Toleranzedicte erliess; in zweiter Auflage im
Jahre 1787, ein Jahr nach dem Tode Friedrich des Grossen und zwei
Jahre vor dem Ausbruch der französischen Bevolution. Diese gleichzeitigen
Ereignisse reichen hin, um zu erinnern an eine Zeit der lebhaftesten Be-
wegung der Geister, der tiefsten Aufwühlung der Verhältnisse, an eine
Zeit gewaltiger Gährung in allen Lebensgebieten, in allen Ländern.
Man hat häufig — und dies im Anschluss an gewisse Aeusserungen Kants
in der Vorrede zur 11. Aufl. der Kritik — die durch Kants Werk hervorge-
rufene Bewegung im deutschen Geistesleben mit der gleichzeitigen französischen,
politischen Bevolution verglichen. Es lassen sich auch mit einiger Scheinbarkeit
Analogien aufstellen: auf der einen Seite wird das ancien rSgime gestürzt
und ein neuer Staats- und Bechtsbegriff wird realisirt; auf der andern Seite —
im „Lande der Denker* — wird die Herrschaft einer veralteten Metaphysik
und Moral gebrochen, der moderne Welt- und Erkenntnissbegriff, der moderne
Begriff einer autonomen Sittlichkeit wird begründet. Man hat weiter darauf
hingewiesen, dass, wie dort aus der Bevolution selbst ein neues Haupt,
ein Imperator entstand, so hier aus den Trümmern der durch den „ Alles-
zermalmenden'' Kant zerstörten Gebäude neue Systeme entstanden; man hat
Fichte mit Napoleon, Hegel mit Ludwig XVlU. verglichen. Allein derartige
spielerische Vergleiche sind kaum geeignet, das Eigenthümliche einer wissen-
schaftHchen Bewegung genügend zu kennzeichnen; ja sie bringen sog^r
ein ganz schiefes Bild der Sachlage hervor. Derartige kulturhistorische Wen-
dungen wollen durch ihre eignen Merkmale innerlich zergliedert und äusserlich
abgegrenzt werden. Daher ist der Vergleich der durch Kant geschaffenen philo-
sophischen Beform mit Luthers religiöser Beformation ebenso verfehlt. Mehr
Scheinbarkeit nimmt der oft bis ins Einzelnste ausgemalte Vergleich Kants
mit Sokrates in Anspruch. Beide suchten, sagt man, einen Mittelweg zwischen
ausschweifendem Dogmatismus und zerstörender Skepsis. Beide waren der
Ausgangspunkt neuer Bildungen, und dann pflegt man etwa die Eleaten
mit Spinoza, Anaxagoras mit Leibniz, Protagoras mit Hume, sowie Piaton
mit Schelling, Aristoteles mit Hegel u. s. w. zu vergleichen. Und was die
inneren Merkmale der Lehre betrifft, so versäumt man nicht darauf hinzu-
weisen, dass Beide den Weg einseitig-objectiver Betrachtung der Welt ver-
liessen und den Ausgangspunkt vom erkennenden und handelnden Subject
nahmen. Anstatt über die Weltprobleme selbst zu grübeln, gruben Beide in
den Tiefen des Subjects und hoben hier die Schätze der gesetzgebenden Denk-
formen und der Autonomie des WiUens. Wie Sokrates nach Cicero's Aus-
spruch „avocavit phüosophiam a rebus occtdUa et ab ipaa natura invokttia . . .
Allgemeine und bistoriBche Bedeutung Kants. 3
et ad eommunem vüam adduxit, ut de virttUibus et vitiis . . . quaereret, coe-
lesHa atUem vel proetd esse a nostra cognitUme censeret vel . . . nihil ad hene
vwendum^ — so habe Kant die Nichtigkeit des Erkennens bewiesen und
das Primat des Handelns gelehrt. — Allein auch durch diesen Vergleich
werden Züge hereingebracht, welche bei Kant sich nicht finden, und gehen
andere verloren, ohne welche das Bild Kants unvollständig bleibt. Das relativ
Richtigste mag noch die historische Bemerkung sein, dass, wie Sokrates, so
auch Kant den Uebergang büde zwischen zwei Perioden, dass Beide neue
Epochen begründeten, dass Beide also den wichtigsten Wendepunkt in der
Bewegung des Denkens bildeten, der eine im Alterthum, der andere in der
Neuzeit. Man theilt ja auch die Geschichte der Philosophie allgemein dort
in die Zeit vor und nach Sokrates, hier in die Zeit vor und nach Kant ein.
Aber diese historische Stellung und Bedeutung, mit der wir uns bei
Sokrates begnügen, genügt nicht bei Kant. Jenen können wir den Historikern
überlassen. Dieser aber ist nicht blos ein Mann der Vergangenheit, sondern
auch ein Mann der Gegenwart. Es ist ja das in seiner Art merkwürdige
Phänomen eingetreten, dass, nachdem Kants Philosophie von seinen Nach-
folgern als „überwundener Standpunkt'', oft mit Geringschätzung, abgethan
war, dieselbe in der Gegenwart von Neuem die Geister theils beherrscht,
theils beschäftigt.
Wir haben somit die Kantische Philosophie von zwei Gesichtspunkten aus
genauer ins Auge zu fassen: erstens in ihrer historischen Bedeutung als
epochemachende und periodenbildende Geisteserscheinung, zweitens in ihrer
actuellen Bedeutung als System einer Schule und Object des Streits.
§2.
Historische Bedeutung der Kritik der reinen Yemunft. Eantische
FhQosophie als uebergang zwischen zwei Perioden.
Die historische Bedeutung der Kantischen Philosophie besteht, wie
bemerkt, vor Allem darin, dass dieselbe den Uebergang zwischen den zwei
grossen Perioden der modernen Philosophie bildet. Sie schloss die alte Periode
ab 9 indem sie deren Gegensätze zu vereinigen bestrebt war; sie begründete
eine neue Periode, indem die in ihr verbundenen Gegensätze aufs Neue
auseinanderstrebten, aber befruchtet von den neuen Gedanken, welche Kants
Genie bei jenem Yereinigungsprozess erzeugt hatte.
Die vorkantische Philosophie umfasst bekanntlich das XYIII. und das
XVn. Jahrb., letzteres ohne das erste, ersteres ohne das letzte Viertel oder
genauer Fünftel (1620—1780). Man pflegt in ihr, eben durch Kants Anstoss,
zwei Hauptrichtungen zu unterscheiden, die man als die rationalistisch-
dogmatische und als die empiristisch -skeptische bezeichnet. Die Namen be-
sagen, was diese Schulen lehren. Nach Ausgangspunkt, Methode, Ziel,
XJmhng und Resultat unterscheiden sich beide als diametral entgegen-
gesetzte Bestrebungen. Die rationalistische Partei — ihre Hauptvertreter
4 Allgemeine Einleitung.
sind Cartesius, Spinoza, Malebranche, Leibniz, Wolf — nimmt zum
Ausgangspunkt die Vernunft, die ratio. Ihre Methode ist deductiv und
apriorisch, indem aus Begriffen (z. B. Substanz) und Sätzen (z. B. Alles
hat seinen zureichenden Grund), welche der Vernunft eingeboren und daher
durch sich selbst klar verständlich gewiss und durchsichtig (wie in der
Mathematik) sein sollen, ohne Zuhilfenahme der Ei-fahrung alle Erkenntniss
abgeleitet wird. Das Ziel istdieRationalisirung der Wirklichkeit, d. h . die
vollständige Auflösung des Wirklichen in Begriffe, um es gänzlich begreiflich
zu machen. In diesem Bestreben überschreitet diese Richtung auch den
umfang der Erfahrang, ja sie sieht in der Erkenntniss des Transscendenten
ihre Hauptaufgabe. Darin liegt auch schon das allgemeine Resultat ange-
deutet: trotz aller Abweichung im Einzelnen ist es im Grossen und Ganzen
spiritualistisch, d. h. die wahre und letzte Wirklichkeit wird im Geistigen
gefanden und insbesondere im absoluten Geiste, d. h. Gott. Dem allgemeinen
wissenschaftlichen Charakter nach ist diese Richtung endlich dogmatisch,
d. h. die Möglichkeit einer solchen übersinnlichen und apriorischen Erkenntniss
wird nicht in Frage gestellt, im Gegentheil glauben ihre Vertreter an die
Möglichkeit einer der mathematischen Gewissheit sich annähernden Kraft
ihrer Beweise.
Im schroffsten Gegensatze zu dieser Richtung, die im Wesentlichen auf dem
Continent, in Frankreich und besonders Deutschland, herrschte, verfolgten
die Engländer den empiristischen Weg. Bacon, Hobbes, Locke, Hume
(Berkeley gehört nur theilweise hieher) nehmen ihren Ausgangspunkt in
der Erfahrung, der ifineipia. Von hier aus gehen dieselben inductiv und
aposteriorisch weiter; sie steigen vom Einzelnen, Gegebenen zum All-
gemeinen, Höheren ; sie wollen nichts von erfahrungsfreier Erkenntniss, sondern
gehen am Leitfaden der gemeinen Erfahrung. Ihr Ziel ist daher nicht so
stolz als das der Gegner; mit Verzicht auf absolutes Begreifen und absolute
Wahrheit begnügt man sich hier mit bescheidener Constatirung der letzten
Unauflöslichkeiten der Wirklichkeit, welche die Erfahrung gibt. Man will
daher eben nichts feststellen über das Transscendente, ja die Heissspome dieser
Richtung leugnen direct alles das, was die entgegengesetzte Richtung als
transscendent ansetzt, insbesondere Gott und Unsterblichkeit der Seele. Dem
allgemeinen Resultat nach nähert sich diese Richtung daher dem Materialismus
oder besser, sie ist realistisch, d. h. zur Erklärung der Wirklichkeit wird
nichts herbeigezogen, was nicht in der Erfahrung liegt. Dem allgemeinen
wissenschaftlichen Charakter nach ist diese Partei skeptisch, d. h. sie zweifelt
an allen Behauptungen der dogmatischen Gegner, an allem unberechtigten,
oder auch sogar berechtigten Ueberschreiten der unmittelbaren Erfahrung.
Aus diesen, der Natur der Sache nach nur ganz allgemeinen und rohen
Umrissen, ergibt sich schon, dass die vorkantische Philosophie in zwei anti-
thetisch sich verhaltende Richtungen auseinanderfiel, welche in den Zeit-
genossen Wolf und Hume in die schärfsten Gegensätze sich zuspitzten.
Der letztere endigt mit der am Schluss seines Inquify wörtlich stehenden
Aufforderung: Alle theologischen und metaphysischen Werke — ins Feuer
Historische Bedeutung der Kritik d. r. V. 5
damit; und die Gegner gestehen den Atheisten kaum das Recht der bürger-
lichen Existenz zu.
Freilich wurden auch Compromisse geschlossen, war ja auch jener Ge-
gensatz schon bei einzelnen unbedeutenderen Vertretern bedeutend abgeschwächt
worden. Aber die Vermischung so heterogener Gedankengattungen konnte
nur zu Bastardbildungen und folgerichtig bald zu vollständiger Unfruchtbar-
keit fuhren. Die zweite Hälfte des XVIII. Jahrh. erschien dem Blicke Kants
in diesem traurigen Niedergang. Es lässt ^ich der steigende Unmuth über
diese zunehmende Unfruchtbarkeit seiner Zeit an grossen philosophischen
Gonceptionen ordentlich in seinen Schriften und Briefen verfolgen. Die
Popularphilosophie verwischte die schroffen Gegensätze durch inconsequente
Entlehnung aus beiden Extremen, schlüpfte über die principiellen Probleme
mit der immer lauter geforderten » Eleganz" hinweg und beschäftigte sich
im Uebrigen nicht ohne Verdienst mit den leichteren Theilen der Philosophie,
LfOgik, Psychologie, Moral. Kant, ein Mann strengster Consequenz, betrachtete
dies Treiben mit Verachtung, griff zu dien principiellen Gegensätzen, zu
Leibniz und Hume zurück, und stellte sich die Lebensaufgabe, durch eine
Reform von Grund aus einen neuen Boden für die Philosophie zu schaffen;
er betrachtete jene Antipoden theils als seine Gegner: er will den Dogmatismus
stürzen und den Skepticismus widerlegen; theils als einseitige Vertreter der
in der Mitte liegenden Wahrheit: er suchte einen Mittelweg, und nachdem
er Leibniz durch Hume und Hume durch Leibniz hatte bekämpfen lassen,
stellte er sich als Schiedsrichter zwischen beide und Hess sich beide versöhnt
die Hände reichen. Mit jenem Stolz, welcher jedem Genie eigenthümlich ist,
ignorirte er seine „halbschlächtigen* Zeitgenossen und behandelte die ganze
Angelegenheit als eine Sache, welche sozusagen im Reich der Geister zwischen
ihm und jenen beiden grossen Männern auszumachen sei, wobei jene Po-
pularphilosophen. höchstens die Zuschauer bildeten.
Die Details der originellen Synthese müssen der folgenden Uebersicht
über Dogmatismus, Skepticismus und Kriticismus vorbehalten bleiben. Hier
kann nur der Grundstock des neuen Gedankengehalts ganz im Allgemeinen
einleitungsweise kurz gekennzeichnet werden.
Kant machte die Ausgangspunkte der beiden Richtungen, ihre
beiderseitigen Fundamente, auf denen beide ohne weitere und tiefere Prüfung
ihre Gebäude aufbauten, zum Gegenstand eindringendster Untersuchung, also
eben Vernunft und Erfahrung.
Er stellt die Fragen : ^
1) Wie ist (reine) Vernunft möglich?
2) Wie ist Erfahrung möglich?
In Bezug auf die erste Frage stellt er die von den Dogmatikem ganz
yemachlässigte, ja ignorirte Frage auf: Wie ist Erkenntniss von Dingen aus
^ Die gemeinsame Frage ist natüriich die nach dem Wesen der Er-
kenntnis 8. Allein diese allgemeine Frage, wie sie meist dargestellt wird,
(s. B. Harms, Phil. s. Kant 130) muss, wie oben geschehen, speclficirt werden.
ß Allgemeine Einleitang.
reiner Vernunft möglich ? Gesetzt, es gebe reine Vernunfturtheile, wie ist es
zu denken, dass Satze, in welchen wir a priori vor aller Erfahrung über
Dinge, welche doch von uns unabhängig sind, gültige ürtheile fällen wollen,
wirklich diesen Anspruch auf Gültigkeit erfüllen? Subject und Object stehen
sich doch fremd gegenüber ; wie kann das Subject es wagen, über das Object
aus sich selbst heraus gültige ürtheile zu fällen? Mit dieser Frage allein
schon hob Kant den ganzen Dogmatismus aus den Angeln. Indem er sie
aber beantwortet, reformirt er die ganze dogmatische Methode und verwandelt
sie in eine kritische, ohne jedoch — und hierauf ist ganz besonders zu
achten — den Grundzug des Dogmatismus aufzuopfern, seinen rationalistischen
Ausgangspunkt. Wie er diese Grundfrage beantwortet, und wie er in dieser
Antwort dem Empirismus sein Becht lässt, kann hier nur ganz im Allge-
meinen angedeutet werden. Erkenntniss a priori ist nur möglich, wenn die
Gegenstände, über welche a priori geurtheilt werden soll, uns eben nicht
fremd gegenüberstehen, sondern wenigstens theilweise, ihrer Form nach von
unseren subjectiven Functionen abhängig sind, von uns sozusagen geschaffen
werden. Das ist aber nur bei Erscheinungen möglich. Es gibt Erkenntniss
a priori nur von möglicher Erfahrung und von dieser nur, wenn und weil
diese Erfahrung selbst erst durch jene apriorischen Formen möglich wird.
So ist schon hier eine gewaltige Synthese, eine geniale, grossartige Verbindung
geschaffen, welche an Grossheit der Conception, an Fülle fruchtbarer An-
regung ihres Gleichen nicht in der Geschichte der Philosophie findet.
Aber K. untersucht mit derselben Gründlichkeit auch den Ausgangs-
punkt der Empiristen, die Erfahrung. Die Dogmatisten hatten diese
verschmäht oder höchstens wie bei Leibniz gewaltsam hinwegzudrängen oder
auch in die reine Vernunfterkenntniss gleichsam aufzusaugen versucht.
Ungeprüft nahmen sie die Empiristen auf. Erfahrung — was ist Erfahrung?
Das kennt doch Jeder; es ist eben die Summe der Wahrnehmungen, welche
dem Subject von Aussen entgegenkommen. Und an sie hält sich der Empirist.
Aber auch hier findet Kant ein Problem. Er findet, dass wie die Dogmatisten
nicht nach der Möglichkeit reiner Vernunfterkenntniss der Dinge gefragt,
sondern diesen heiklen Punkt mit Stillschweigen übergangen hatten, so der
Empirist sich nie ernstlich die Frage vorgelegt hatte, wie denn die Erfahrung,
aus welcher alle Wissenschaft entstehe, selbst entstehe? od^r vielmehr woraus
diese denn selbst bestehe? was sie denn auch enthalte? ob nur Gegebenes
oder auch vielleicht einen — eigenen Zusatz des Subjects? Kant analysirt die
Erfahrung selbst, in welche die Empiristen alles Wissen analytisch aufgelöst
hatten. Gesetzt, alles unser Wissen besteht aus Erfahrung, woraus aber,
fragt Kant, besteht die Erfahrung selbst? Erfahrung ist ein geordnetes Zu-
sammen der Wahrnehmungen, die dem Subject aus den Objecten zuzuströmen
scheinen. Subject und Object stehen sich aber fremd gegenüber; wie kann
aus dem Object in das Subject etwas hinüberwandem ? Können auch
formelle Verhältnisse oder gar allgemeine und nothwendige Zu-
sammenhänge durch Wahrnehmung empfunden werden? Die Erfahrung ent-
hält diese Drei, woher kommen sie also? Diese Frage schon erschüttert den
Historische Bedentnng der Kritik d. r. V. 7
£mpirismTis. Die Antwort stürzt ihn, um ihn seinen richtigen Bestandtheilen
nach neu za begründen. Der Empirismus wird Eriticismus, ohne dass sein
Hauptgedanke, die Beschränkung der Erkenntniss auf Erfahrung, aufgeopfert
wird. Auch hier kann die Eantische Antwort nur kurz skizzirt werden.
Eriabmng ist nur möglich durch Zusammenwirken sinnlicher Empfindung
mit apriorischen Formen des Subjects. Die Erfahrung selbst schon ist keine
Erfahrung mehr im Sinne der Empiristen; sie enthält schon rationelle Zu-
sätze, welche die Erkenntniss aus reiner Vernunft ermöglichen. Wie Lavoisier
das bis dahin für einfach gehaltene Wasser zerlegt in zwei Elemente —
Sauer- und Wasserstoff — , so zerlegt Kant die Erfahrung in zwei heterogene
Elemente, deren Zusammenwirkung erst wahre Erfahrung zu Stande bringt.
Mit der Wurzel hebt Kant den Empirismus aus, indem er weniger seine
Consequenzen angreift und widerlegt, als seine Voraussetzung corrigirt.
Nun übersieht man die gewaltige Geistesarbeit des Mannes. Auf die
beiden Fragen lauten seine Antworten:
1) Vernunft ist nur durch Erfahrung möglich.
2) Erfahrung ist nur durch Vernunft möglich.
Dem Dogmatismus zeigt K. , was er zur Möglichkeit apriorischer
Erkenntniss hätte Toraussetzen sollen, nämlich Erfahrung ; dem Empirismus
zeigt K., was in seiner , Erfahrung" wirklich unbewusst lag, nämlich Vernunft.
Als nothwendige Bedingung der Vernunfterkenntniss entdeckt er die Er-
fahrung: nur von Erfahrungsgegenständen gibt es Vernunfterkenntniss; als
integrirenden Bestandtheil der Erfahrung entdeckt er die Vernunft: nur unter
Mitwirkung der Vernunft gibt es Erfahrung. Beide — Erfahrung und Ver-
nunft — f 0 r d e r n und bedingen sich gegenseitig. Die Erfahrung, kann man
sagen, realisirt das Apriori; das Apriori idealisirt die Erfahrung, d. h.
gibt ihr die logischen Eigenschaften der Allgemeinheit und Nothwendigkeit. Die
Vernunft macht die Erfahrung, die Erfahrung die Vernunft „objectiv gültig*.
Ohne die Mitwirkung des Andern würde Jene in der Luft schweben, wäre Diese
ein blosses Chaos. Die Vernunft bekommt Fleisch und Blut durch die Erfah-
rung, und die Erfahrung bekommt ihr Knochengerüste durch das Apriori. Die
chaotische Materie der Empfindung wird geformt durch den apriorischen
Zusatz aus der Vernunft und wird so erst Erfahrung aus blosser Wahr-
nehmung. Die luftige Form der reinen Vernunft erhält Inhalt, Werth und
Bedeutung erst durch die Anwendung auf die Materie der Erfahrung, und
so erst wird sie aus blossem Denken ein Erkennen. Wahres Erkennen
d. h. Erkenntniss a priori setzt das Aposteriorische voraus; wahre Erfah-
r n n|g d. h. allgemeine und nothwendige Erfahrung setzt das Apriori voraus.
Die Erfahrung erhält gleichsam das Auge eingesetzt durch das Apriori; die
Vernunft, bis dahin Jahm, bekommt Bewegung durch die Erfahrung.
Kant nannte sein Werk: „Kritik der reinen Vernunft". Dieser
Titel berücksichtigt eigentlich nur die erste Frage und ist somit nur gegen
den Dogmatismus gerichtet. Mit vollem Recht hat man aber auch einer
Darstellung der Kritik d. r. V. den Titel gegeben: Kants Theorie der
Erfahrung. Denn dieser Titel berücksichtigt auch Kants zweite Grund-
8 Allgemeine Einleitung.
frage, welche allerdings in der Anlage seines Werks nicht so stark hervor-
tritt wie die erste. Der Titel „Kritik der Vernunft* ist zu ergänzen durch
den Zusatz: „Theorie der Erfahrung". Nur so hat man den vollen und
ganzen Kant, der, indem er sowohl Vernunft als Erfahrung untersucht, die
Einseitigkeiten der beiden vorkantischen Eichtungen vermeidet, deren eine
die Erfahrung ignorirt, deren andere die Vernunft geleugnet hatte. Indem
K. so den sensuellen und den logischen Factor der Erkenntniss, also die
ganze Maschinerie des Erkennens untersucht, macht er zum Gegenstand seiner
Forschung nicht wie man im Allgemeinen vor ihm that, die Gegenstände,
die Gründe des Seins und die Ursachen des Geschehens, sondern er fragt
nach den Bedingungen des Erkennens. Vor ihm hatte man vermittelst
der Vernunft oder der Erfahrung als Organen die Gründe der objectiven
Welt erforscht, er dagegen macht jene Organe selbst zum Gegenstand der
Forschung und fragt nach den Gründen des Wissens. So ist seine Philo-
sophie in erster Linie Erkenntniss theorie.
Seinen Ausgangspunkt nimmt Kant bei Vernunft und Erfahrung zugleich ;
er will eine auf „der Möglichkeit der Erfahrung* beruhende rationalistische
Methode; sein Ziel ist Rationalisirung der Form der Erfahrung und Con-
statirung des Inhalts, der in die Vernunftform gefasst wird; so ist auch
der allgemeine Charakter seiner Philosophie nicht dogmatisch, noch skeptisch,
sondern kritisch, untersuchend, nicht einfach a priori behauptend, noch auf
Grund einseitiger unvollständiger Erfahrung leugnend.
Aber wenn auch schon diese hier nur ganz im Allgemeinen nachgewiesene
kunstvolle Synthese genügt hätte, um der Philosophie eine neue Richtung
zu geben, so waren es doch erst die daraus sich ergebenden Resultate,
welche der Philosophie einen neuen, gewaltigen Schwung gaben. Er schied
die Welt in Erscheinung und Ding an sich. Alle innere und äussere Er-
fahrung ist kein wahres, eigentliches Sein. Hinter der Welt der Erscheinung
stehen die Dinge an sich, über der Welt der Erscheinung stehen die
Ideen. Keines der Prädikate der Sinnenwelt kommt den wahren eigent-
lichen Dingen zu, wie sie an sich, ohne unsere auffassenden sinnlichen und
logischen Functionen sind. Die Ideen: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit
sind theoretisch betrachtet — blosse Ideen. Sie geben auch keine Erkenntniss
der Dinge an sich. Aber sie sind, praktisch betrachtet, die Bedingungen
des sittlichen Handelns. Nur die Pflicht und der freie Wille des sittlichen
Menschen bilden eine Brücke zwischen beiden Welten. Da gibt es keinen
Spiritualismus und keinen Materialismus mehr. Der ewige Geist und die
ewige Materie machendem Menschen Platz. Anthropocentrisch ist Kants
Philosophie in jeglicher Beziehung, formell und materiell; formell, indem die
Untersuchung anfängt bei den theoretischen Functionen des Subjects, in denen
die Bedingungen aller Objectvor Stellung gefunden werden; materiell, indem
die Untersuchung damit endigt, sogar das Höchste als Bedingung des sitt-
lichen Handelns des Menschen zu betrachten. Noch nie war in dieser Weise
der Mensch, seine theoretischen Vermögen und seine praktischen Bedürfhisse,
zum Mittelpunkte gemacht worden. Aber das Merkwürdige war, dass das
Historische Bedeatung der Kritik d. r. V. 9
Erkenntnissvermögen, trotz seiner apriorischen Formen nur auf Erscheinung
berechnet, als gänzlich unfUhig erachtet wurde, die wahre Welt zu erkennen,
und dass die Bedürfnisse des sittlich dirigirten Willens, wie dieser selbst
aus der Welt der Dinge an sich in die Erscheinungswelt herübergriff, so aus
dieser auf jene zurückwiesen. So demüthigt Kant das Erkennen, um das
Wollen zu erheben. Und auch darin ist schliesslich eine Synthese zu er-
kennen: Kant gibt dem Empirismus das transscendente Erkennen preis, um
das aus dem Transscendenten stammende und auf dasselbe zurückführende
sittliche Wollen in einer dem Dogmatismus freilich ungeahnten Würde und
Macht zu retten.
Diese gewaltigen Gedanken, in gewaltiger Sprache vorgetragen, machten
nacb kurzer Pause einen Effect, mit dessen Umfang und Intensität keine
zweite rein theoretische Erscheinung in der ganzen Kulturgeschichte ver-
glichen werden kann. Nur religiöse Reformen brachten einen grösseren Ein-
druck hervor. In Deutschland war aber auch eine Constellation günstiger
Verhältnisse, die nur an dem Zusammenwirken glücklicher Factoren bei dem
durch ein politisches Genie herbeigeführten Umschwung unserer nationalen
Stellung in dem vorigen Jahrzehend ein Pendant findet. Die Nation war,
dies ist in erster Linie zu beachten, damals politisch so gut wie unbeschäftigt.
Nichtsdestoweniger war durch Friedrichs des Einzigen Grösse das Selbst-
bewusstsein gewachsen. In literarischer Beziehung war seit einem Jahrzehend
eine fieberhafte Erregung, eine ungemein intensive Thätigkeit. Die Sßichtig-
keit der Popularphilosophie konnte die junge Generation nicht entfernt be-
friedigen. Die allgemeine europäische Gährung konnte in Deutschland trotz
einzelner Versuche politisch nicht sich ausleben: so stürzte man sich denn
mit Freuden auf ein Gebiet, in welchem ungestraft eine Revolution der Ge-
danken sich vollziehen konnte. Man kann dies besonders bei zwei Männern
nachweisen, bei denen die gewaltige Erregung der Zeit sich auf diese Weise,
gleichsam in der Umwälzung der zeitlosen Welt der Ideen Luft macht, bei
Schiller und bei Fichte.
Ein »neues Licht" war, um mit Schiller zu reden, den Menschen an-
gezündet. Viele betrachteten Kant als Propheten einer neuen Religion und
Reinhold verkündete, ^in hundert Jahren werde Kant die Reputation von
Jesus Christus haben.** Einen „novus ordo rerum^ proclamirte die Jenaer
Allgemeine Literaturzeitung. Im Laufe von circa 10 Jahren erschienen gegen
300 Schriften und Gegenschriften über Kants Philosophie. Dem Enthusiasmus
entsprach der Hass der Gegner; Herder nennt die ganze Bewegung einen
, Veitstanz* und fanatische Priester würdigten den Namen des Weisen von
Königsberg zum Hundenamen herab ^ Man muss nicht bloss die objectiver
gehaltenen Bücher, sondern auch die subjectiv gefärbten Zeitschriften und
Briefe aus jener Zeit kennen, um sich eine Vorstellung von dieser heutzutage
ganz unglaublichen Bewegung zu machen.
Dem gewaltigen Eindruck der Kantischen Philosophie auf alle Kreise
' Vgl. die gute Schilderung bei Villers, Phil, de K. Vorr. XXIX.
10 Allgemeine Einleitung.
der Nation entsprach der gewaltige Einfluss auf alle Geistesgebiete. Theo-
logie, Jurisprudenz, Philologie, selbst Naturwissenschaft und Medicin waren
bald in die Bewegung hereingezogen, ganz, abgesehen von den einzelnen
philosophischen Disciplinen, welche einer vollständigen Umgestaltung unter-
worfen wurden.
Durch die Dichtungen Schillers wurden Kants Ideen in das Volk ge-
schleudert und in den Freiheitskriegen schlug, um mit Treitschkezu reden,
9 der kategorische Imperativ die siegreichen Schlachten^.
Aber Kants Philosophie wurde selbst bald in die Bewegung mit hinein-
gerissen *. Es lagen in dieser Philosophie gar mannigfache Keime der Weiter-
bildung. Einmal Keime positiver Natur; dann aber insbesondere jener
Stachel, den Kant durch die Leugnung der Erkenntniss der Dinge an sich
der Philosophie sozusagen eingestossen hatte. Und dann trat nach einem
natürlichen geschichtsphilosophischen Gesetz auch eine Beaction ein. Gar
manches Alte war von K., wie es schien, ohne Noth geopfert worden. Die
früheren Standpunkte machten sich wieder geltend und suchten aus der
gewaltsamen Umarmung mit dem Gegensatze sich wieder herauszulösen. Und
endlich waren in Kants System selbst Widersprüche und Inconsequenzen,
ja es waren so auseinanderstrebende Tendenzen in ihr, dass Kant, anstatt
wie er meinte, die Philosophie in einen stabilen Zustand zu bringen, vielmehr
eine Periode fortgesetzter Veränderung eröffnete.
Der alte Dogmatismus machte sich besonders in der Einwirkung Spinoza's
geltend, der vorher nie in seiner ganzen Grösse begriffen und aufgenommen
gewesen war. Fichte, Schelling und Hegel stellen diese Beaction des alten
Dogmatismus speciell des Spinozismus auf der Basis Kantischer Anschauungen
dar. Ihre Tendenz ist, durch Verschmelzung des Ich an sich und der Dinge
an sich mit den Ideen unter dem Namen des Absoluten einen Pantheismus
zu begründen, der die Trennung der Erscheinungswelt und der intelligibeln
Welt aufhebt, und der vollständig apriorisch, logisch aufgebaut wird.
Diese Tendenz gewann bekanntlich in Hegel die Oberhand, und seine
Philosophie beherrschte Lehre und Leben in Deutschland während einer be-
trächtlichen Zeit. Kants Philosophie war ebensobald vergessen, als sie seiner-
zeit bald absorbirt gewesen war. Die Begrenzung der Philosophie auf Er-
fahrung wurde verlacht und das apriorische Gonstruiren und dogmatische
Speculiren wurde noch viel stärker als früher ausgeübt. HegeFsche Philo-
sophie war bald identisch mit Philosophie überhaupt und seine Schule gewann
mächtige Beschützer und gewandte Anhänger. Gieng diese Bichtung mehr
von der sog. Analytik, dem 11. Theile der Kritik aus, so war die Aesthetik,
' Herbart, Einl. § 149: „Als ein ohne Vergleich tieferer D'enker (als
Locke) Kant dens. Weg betrat (Ausmessung der Grenzen der Erkenntniss), da er-
wachte die Metaphysik, anstatt einzuschlafen: denn eine so kräftige Anregung
war ihr seit Jahrhunderten nicht zu Theil geworden. Gerade darin liegt Ks.
Ruhm, dass seine Nachfolger bei dem Ziele, wohin er sie führte, unmöglich still
stehen konnten.*^
Historische und actuelle Bedeutung Kants. 11
der I. Theil der Kritik, mehr die Basis der Herbart'schen und Schopen-
haaer'schen Philosophie; aber diese beiden berührten sich mit der ersten
Reihe in dem gemeinsamen Bestreben, die dogmatische Erkenntniss der Dinge
an sich so oder so zu ermöglichen. Andere bleiben Kant näher, so Fries,
weniger Schleiermacher, der zu viel Spinozismus eingesogen hatte.
Andererseits regte sich der Empirismus von Neuem. Beneke vertrat
einen an Locke sich annähernden Standpunkt, nicht ohne Vieles von Kant
gelernt zu haben. Endlich erhob der todtgesagte Materialismus wieder
sein Haupt. Im Ausland wirkten Comte und Mi 11 im empiristischen Sinne,
Beide nur wenig von Kant beeinflusst, aber im Anschluss an Condillac und
Hume.
Aber doch war nirgends der Kantische Einfluss zu verkennen; freilich
war er im Laufe der Zeit schwächer geworden. Indessen konnte Niemand
leugnen, dass durch Kant eine neue Periode des philosophischen Denkens
eröffnet worden war, dass er die Probleme in einer vor ihm ganz un-
bekannten Weise aufgewühlt hatte. Alle Radien der vorkantischen Philo-
sophie liefen in ihm zusammen ; und von ihm laufen die Radien der neueren
Philosophie aus. So ist er der Mittelpunkt der neueren Philosophie, der
Uebergang zwischen ihren zwei grossen Perioden.
§3.
Die actnelle Bedentang der Kantischen Philosophie.
Die actuelle Bedeutung der Kantischen Philosophie schiene nach der
eben gegebenen Schilderung des Zustandes der Philosophie eine sehr geringe
zu sein, wenn nicht jene Verhältnisse selbst zu einer totalen Aenderung der
Situation gedrängt hätten. Der Hauptgrund dieser Aenderung liegt darin,
dass die nachkantischen Richtungen in Deutschland vollständig abwirthscbaf-
teten. Sie zerfielen nicht nur in sich selbst, sondern es war auch ein so
allgemeiner Krieg Aller gegen Alle, dass das Publikum von dem unerquick-
lichen Schauspiel sich abwandte. Eng damit hieng zusammen das allmälige
üebergewicht, welches die nüchternere Richtung Herbarts und die interes-
santere Schopenhauers erhielt. Insbesondere Schopenhauers Philosophie
gewann einen ungeahnten Einfluss. Ein fernerer Factor der Aenderung war
der Aufschwung der Naturwissenschaften, welche der Speculation den Boden
unter den Füssen wegzogen. Endlich zeigte sich innerhalb der philosophi-
schen Schulen selbst bei selbständigeren Vertretern eine Selbstbesinnung,
welche zu einer Revision der Grundlagen führte. Alle diese und noch andere
Gründe aber fahrten mit innerer Noth wendigkeit eine Renaissance der
Kantischen Philosophie herbei. Das mit metaphysischen Speculationen
übersättigte Publikum musste doch — denn der metaphysische Trieb ist nie
auszurotten — irgend eine philosophische Geistesnahrung haben, und da
war Kant der rechte Mann. Die Trennung in Erscheinungs- und intelligible
Welt gestattete, Naturforschung und religiöse Ahnung zu versöhnen, ohne
12 Allgemeine Einleitung.
jener etwas zu vergeben, und ohne aus dieser demonstratives Wissen zu
machen. Sein ethischer Idealismus, wenn auch in abgeschwächter Form,
ergänzt die nüchterne Erfahrung durch einen höheren Factor. So wurde Kant
aufs Neue der Mann des Tages. Umkehr zu Kant — wurde das Schlag-
wort der Zeit, sei es, um bei ihm stehen zu bleiben, sei es, um durch das
Zurücktreten auf einen früheren Standpunkt Schwung zu neuem Anlauf zu
gew^innen^ Das sehr berechtigte Uebergewicht, das nach langem Kampfe
die Herbart'sche Philosophie und nach langem Harren Schopenhauer über
die idealistische Eeihe — Fichte, Schelling, Hegel — errang, führte am Ende
auf denselben Punkt. Beide betonen viel enger als diese ihren unmittel-
baren Zusammenhang mit Kant, den sie stets mit Hochachtung nennen,
während jene häufig den Königsberger Philosophen geringschätzig, nicht
selten ironisch behandelten. So wurde dadurch ein günstiges Vorurtheil für
Kant erweckt, das noch höher steigen musste, als Schelling in seinem
hohen Alter seine Jugendphilosophie in einer Weise modificirte, welche
theil weise nichts war, als ein Rückgang auf den von ihm ^inst verlassenen
Kant. Insbesondere durch Schopenhauers oft wiederholten Hinweis auf den
von ihm trotz scharfer Kritik tief verehrten Vorgänger, durch seine Forde-
rung, man müsse zuerst Kant lesen, ehe man ihn verstehen wolle — eine
Forderung, die seine sehr zahlreichen Leser wohl häufig erfüllten — durch
seine fast agitatorische Thätigkeit für die K[ritik d. r. V. — wurde die
Kritik d. r. V. allmälig wieder ein Buch, welches gelesen und studirt wurde.
So kam es auch in die Hände der Naturforscher, und während diese von
aller speculativen Philosophie sich streng und verächtlich abwandten, glaubten
sie in Kant den Einzigen zu finden, mit dem sie Hand in Hand gehen konnten.
Einmal fand die physiologische Psychologie in seiner Lehre von den Er-
scheinungen und von der Idealität des Raumes Anknüpfungspunkte; anderer-
seits fand die beständige Betonung der Erfahrungsgrenze der Philosophie bei
Kant ihren Beifall in doppeltem Sinne; man wollte Beschränkung auf Er-
fahrung und doch verkannte man nicht die Schranken des Erkennens in
dem Sinne, dass eine unbekannte Welt wirkender Substanzen und Kräfte
hinter der Erscheinungswelt stecke und dass die Naturwissenschaft bei der
Empfindung, dem Bewusstsein Halt machen müsse. So führte die Natur-
forschung selbst auf Probleme, bei denen man bald sah, dass eine erkenntniss-
theoretische Behandlung nothwendig sei, dass hier keine naturwissenschaft-
liche Methode ausreiche und hierin berührte man sich mit den Philosophen,
welche ihrerseits die wieder allgemein gewordene dogmatisch-objective Be-
arbeitung der metaphysischen Probleme scheitern sahen und zur Erkenntniss-
theorie zurückgreifen mussten. Und so wurde das Studium Kants all-
* Nach dem Grundsatz von Leibniz, Op. Erdm. 150 r,Q^on reckde pour
mieux sanier^. Vgl. G. Kü hn e 's Wahlspruch : „Auf L e s s i n g zurückgehen heisst
fortschreiten". — Aeussere Zeichen davon sind u. A. die statistisch nachweisbare
immer steigende Mehrung von Specialvorlesungen über Kant, sowie die Errichtung
seines Denkmals in Königsberg im Jahre 1864 u. s. w.
Actuelle Bedeatung Kants. 13
gemeiner, wobei man freilich ganz wiUkürlich nur die sympathischen Seiten
der Kantischen Philosophie adoptirte und das übrige, wohl auch weil man
es allzu schwierig fand, ignorirte. Endlich brachte innere Selbstkritik die
Anhänger der alten Schulen immer näher an Kant heran: so war es unter
den Hegelianern Zell er, unter den Herbartianem Drobisch, welche für
diese Restauration Kants thätig waren. Auch R. Haym wies auf Kant hin.
Man fand aufs Neue in der Kantischen Philosophie das Heil und die
Rettung vor den entgegengesetzten Extremen des dogmatischen Spiritualismus
und Idealismus, und des empiristischen Realismus, der theilweise Materia-
lismus geworden war. Insbesondere gegen den letzteren fand man in Kants
Philosophie die Waffen, ohne, was so überaus schwierig war, der Natur-
wissenschaft zu nahe zu treten. Dieses Motiv, dass in Kants Philosophie
vor jenem Schreckgespenst Rettung zu finden sei, trieb Hunderte in Kants
Arme; und dies allein war so stark als jene oben genannten Gründe zu-
sammen. Philosophen, Naturforscher, Theologen — alle fanden bei Kant
ihre Rechnung. Somit war es eine in Vielem ähnliche Situation der Philo-
sophie, welche der Kantischen Philosophie zur neuen Blütheperiode verhalf,
wie im vorigen Jahrhundert. Beidemal schroffe Gegensätze, verschwommene
populai*philosophische Vermittlungen zwischen den alten und ewig neuen
Gegensätzen, deren Einer bejaht, während der Andere verneint. Kurz — man
fand sich allmälig in Kants System wie auf Verabredung zusammen. So
entstand die Neukantische Schule. Nachdem Fischer durch seine geistvollen
Vorträge an derselben Universität Jena, welche einst für Kantische Philo-
sophie die wahre Hochschule gewesen war, dem allgemeinen Bedürfhiss
entgegengekommen war, standen eine Reihe Männer auf, welche die Kantische
Schule der Gegenwart repräsentiren. Liebmann, Lange, J. B. Meyer,
Cohen sind hier in erster Linie zu nennen. Nun schössen Schriften über
Kant wie die Pilze aus der Erde. Auf Theologie und Naturwissenschaft
macht sich ein erneuter Einfluss Kants geltend. Die neue Kantliteratur
zählt schon gegen 200 Nummern von eigenen Schriften über Kant.
Selbstverständlich war das nur das Zeichen zu einem neuen Kampfe.
Die Kantische Schule wird von den beiden genannten Gegenrichtungen
gleichermassen angegriffen und die Kantische Philosophie ist wieder das all-
gemeine Kampfobject der Philosophie *. Das System wird in der Front und
im Rücken angegriffen von Gegnern, die unter sich selbst Gegner sind.
Eben weil das Kantische System zwischen beiden eine Mittelstellung ein-
nimmt, indem es von beiden Etwas anerkennt, Etwas verwirft, bekämpfen
beide Theile dasselbe an der Seite, an der sie von demselben abgestossen
worden. Der Rationalist bekämpft die Beschränkung der Erkenntniss auf
Erfahrung, mag er auch mit dem Apriorismus des Systems einverstanden
sein; der Empirist bestreitet den letzteren, so sehr er die Beschränkung auf
die Erfahrung billigt und findet in Kants System selbst den Keim der seiner
1
„Der Kusche Kriticismus ist der änsserliche Mittelpunkt der gegenwärtigen
deutschen PhiloBophie«. Gör in g, Viert, f. wisa. Philos. I, 402.
14 Allgemeine Einleitung.
Ansicht nach verkehrten Fortbildung der nachkantischen Philosophie. Wer
Erkenntniss der Dinge an sich annimmt, ma^ er sonst auch eine empi-
ristische Erkenntnisstheorie haben, macht natürlich als Dogmatist mit dem
Rationalisten gemeinsame Sache in der Bekämpfung der Grenzbestimmung.
Jeder setzt sich mit Kant auseinander, und an ihm vorbeizugehen kann
Niemand wagen.
Im Ganzen und Grossen ist die ac tu eile Lage, dass Kants Philosophie
eine Mittelstellung einnimmt zwischen zwei entgegengesetzten Parteien,
mit deren jeder sie sich einerseits berührt und von denen sie auf der anderen
Seite angegriffen wird.
Historisch aber bildet Kants Philosophie einen Uebergang zwischen
zwei grossen Perioden, die sie einerseits scheidet und andererseits verbindet.
Jene Mittelstellung in der Gegenwart zwischen zwei Parteien kann
sie einnehmen, weil es ihr gelang, dieselben in ihrer früheren Form zusammen-
fassend, einen uebergang in der Geschichte zwischen zwei Perioden zu
bilden, in deren zweiter sich die Gegensätze der ersten wiederholen.
Aber den Uebergang in der Geschichte zwischen zwei Perioden konnte
sie nur bilden, weil es ihr gelang, eine Mittelstellung zwischen jenen
beiden auch gegenwärtig vorhandenen Richtungen einzunehmen.
§4.
Allgemeine TJebersicht über die Literatur.
Aus dem Bisherigen ergeben sich auch die Eiutheilungsprincipien, nach
denen wir die Kantliteratur zu gliedern haben. Es ist jedoch im Folgenden
nur beabsichtigt, die wichtigeren in Betracht kommenden Namen und die
wichtigsten der sich auf die ganze Kiitik beziehenden Schriften anzufahren,
da eine Generalübersicht am Schlüsse gegeben werden soll. So soll die
Tabelle dazu dienen, überhaupt eine generelle Orientirung über die Schriften
der Kantliteratur zu geben, da dieselben im Conmientar im Einzelnen oft
genug zur Anführung kommen.
Wir haben zwei Haupteintheilungsprincipien zu berück^chtigen, erstens
das chronologische, zweitens das systematische. Jenes gibt eine Gliederung
dem Längendurchschnitt nach, dieses dem Querdurchschnitt nach. Nach dem
ersten Princip haben wir offenbar zu scheiden die Kantliteratur der Gegen-
wart von der der Vergangenheit. Jene beginnt im Allgemeinen mit den
60er Jahren, etwa mit K. Fischers Darstellungen der Kantischen Philo-
sophie. Von da an häufen sich die Schriften über und gegen Kant ins Un-
übersehbare.
In der Vergangenheit haben wir abzuscheiden die Kantliteratur, welche
für Kant selbst als synchronistisch zu gelten hat. Man kann diese Periode
rechnen etwa bis 1800 oder 1804 (Todesjahr Kants). Was in die Zwischen-
zeit zwischen 1800 (1804) und 1860 föllt, bildet eine besondere Periode.
Diese beide Perioden bilden sachlich einen grossen Gegensatz. In der ersten
Literaturübersicht. 15
Periode liaiideit es sich um die unmittelbaren Gegner und Anhänger. In
der zweiten Periode handelt es sich um die mittelbarere Eantliteratur, um
die grossen Systematiker und Fortbildner Kants, welche in ihren Schriften
überall auf Kant Eücksicht nehmen und an ihn theils positiv, theils polemisch
anknüpfen. Natürlich ist zeitlich die Trennung nicht so schroff durchzu-
fahren ; so entstanden ja Beinholds Hauptschriften vor 1800 und bei Manchen,
z. B. Beck, Maimon kann man zweifeln, ob man sie mehr zu der mittelbaren
oder unmittelbaren Literatur zu Kant rechnen soll. Derartiges muss sich
jede Eintheilung dieser Art gefallen oder vorwerfen lassen. An der all-
gemeinen Brauchbarkeit ändert dies nichts.
Nach dem zweiten Eintheilungsprincip haben wir zunächst solche Schrift-
steller abzusondern, welche über Kant in phüologisch-historisch-commentirender
Weise abhandeln. Das sind theils Anhänger, theils solche, welche in rein
historischem Interesse das Eantische System darstellen. Die zweite Haupt-
classe bilden diejenigen Schriftsteller, welche über das Kantische System in
kritisch-räsonirender Weise sich äussern, und das sind im Grossen und
Granzen entweder Dogmatisten oder Empiristen. Zu jenen sind auch die
theologisch, zu diesen die skeptisch tingirten Verfasser zu rechnen. Bei den
Ersteren scheint, wenigstens för die erste Periode, eine Eintheilung in volle
und halbe Dogmatiker angezeigt, wie bei den Anhängern Kants in derselben
Zeit eine Scheidung in volle und halbe Anhänger. Beidemal kann man im
Einzelnen über die Zutheilung dieses oder jenes Namens zweifelhaft sein,
was für den Kenner der Geschichte der Philosophie nichts Befremdliches an
sich hat. Die drei folgenden Tabellen, welche übrigens noch nicht ein Drittel
der sämmtlichen Schriftsteller über Kant repräsentiren, können zugleich als
eine allgemeine Uebersicht über die Entwicklung der Philosophie seit Kant
dienen. Insbesondere gibt die dritte Tabelle sub B, 1, a; B, 2, a; A, 1, a
eine uebersicht über die drei philosophischen Hauptparteien der
Gegenwart in Deutschland, die dogmatische, empiristische und
kriticistische (vgl. § 3).
Femer ist zu bemerken, dass in der folgenden Tabelle einzelne Namen
an mehreren Stellen vorkommen, weil deren Träger eben eine doppelte Stel-
lung zu Kant einnahmen; sodann ist insbesondere in Bezug auf die zweite
und dritte Periode zu bemerken, dass über Kant auch in Werken die Bede
ist, bei denen aus dem Titel allein darauf nicht zu schliessen ist. Es er-
scheint ja seit dem Erscheinen der Kritik kein Buch, in dem nicht Kant
mehr oder weniger, so oder so berücksichtigt wäre.
Endlich ist zu erwähnen, dass in der KantUteratur auch noch eine
Vorperiode angesetzt werden muss, welche nicht nur Kants fiühere
Schriften und deren Annahme, sowie seinen Briefwechsel umfasst, sondern
auch insbesondere alle jene Philosophen, welche in besonderer Weise auf
Kant eingewirkt haben und zwar ausser den erwähnten grossen Philosophen
der beiden Hauptrichtungen, Namen wie Grusius, Lambert, Tetens,
Banmgarten, Knutzen, Mendelssohn, Euler, Maupertuis u. A.
16
Allgemeine Einleitung.
Uebersicht über die Eantliteratur.
I. Periode 1781
A) Commentatoren und Historiker.
1) Anhänger,
a) In Deutschland.
q) Volle Anhänger,
M. Herz — J. Schultz — (Hippel)
— Kraus — Pörschke — Jachmann
— Rink — Jäsche — L. H. Jakob
— K. C. E. Schmid -- Mellin -
Kiesewetter — Bendavid — Born-
träger — Tieftrunk — Born — Schütz
— Hufeland — Buhle — Reinhold
— Tennemann — Grohmann — Bou-
terweck — Will — Snell — Metz
— Gerstenberg — Heusinger — J.
Weber — Stephani — Bergk — ßeuss
— Hoffbauer — Heydenreich — Pö-
litz — Goes — Mutschelle — Peucker
— Schaumann — Gräffe — Jenisch
— Borowski — Dietz — Füllebom.
b) Halbe Anhänger.
Abicht — Abel — Lossius —
Ulrich — Berg — Behberg — Rein-
hold — Maimon — Beck — Schiller —
W. V. Humboldt — Erhard — Fichte.
ß) Im Ausland.
Villers — Schmidt -Phiseldek —
H. de Bosch — WiUich — Nitsch —
P. V. Hemert — Kinker — Heumann
— Bautain — Höhne — Boöthius.
2) Historiker.
a) In Deutschland.
Eberstein — Stäudlin — Buhle —
Tennemann — Suabedissen — Hausius.
ß) Im Ausland.
Sta6l • Holstein — D^g^rando —
Treschow.
—1800 (1804).
B) Gegner.
1) Dogmatiker.
a) In Deutschland.
a) VoUe Dogmatiker.
Eberhard — Schwab — Brast-
berger — Maass — Eberstein —
Garve — Pistorius — Mendelssohn
— Zwanziger — Schäffer — Stattler
— Miotti — Flatt — Storr — ; Jacobi
— Herder — Hamann — Schlosser
— Neeb — Hug — Wizenmann —
Obereit ■— Pezold — Reinhard.
b) Halbe Dogmatiker,
Feder — Tittel — Meiners
Reimarus d. S. — Nicolai.
ß) Im Ausland.
Wyttenbach — Thorild.
2) EmpiriBien.
a) In Deutschland.
Weishaupt — Seile — Tiedemann
— G. E. Schulze (-Aenesidem) — Plat-
ner — Heyuig — Ouvrier — Werner.
ß) Im Ausland.
Dögörando — Destutt de Tracy.
Literatnrübersicht.
17
üebersicht über die Eantliteratur«
II. Periode 1800 (1804)-1860.
A) CommeDtatoren und Historiker.
1) Anhänger.
a) In Deutschland.
Fries — Apelt — Mirbt — Schlö-
milch — Krug — Bouterwek —
Scbopenhauer.
ß) Im Ausland.
Whewell — Hamilton — Renou-
vier — A. Testa.
2) Historiker.
a) In Deutschland.
J. H. Erdmann — Rosenkranz —
Schubert — Schaller — Rixner —
küchelet — Chalybäus — Biedermann
— Sigwart — E. Reinhold — Ritter
— Fortlage — J. H. Fichte — Ast.
ß) Im Ausland.
Cousin — Lewes — Semple —
Barchou de Penhoän — Meiklejohn
— Saintes — Ott — Willm — Mau-
rial — Vacherot — Wocquier —
R^musat — Bartholmäss — Ravaisson
— Damiron -- Tissot — Barni —
K^ratry — Schoen — Stapfer.
6) Gegner (und Fortbildner).
1) Dogmatiker.
a) In Deutschland.
Reinhold — Beck — Bardili —
Fichte — Schelling, — Hegel —
Schleiermacher — Herbart — Schopen-
hauer -- E. Reinhold — Krause —
Baader — Weisse — Ulrici — J. H.
Fichte — K. Biedermann.
ß) Im Ausland.
Cousin — Rosmini — Galluppi
Gioberti — Höijer.
2) Empiriaten.
a) In Deutschland.
Beneke — Gruppe.
ß) Im Ausland.
Comte — J. St. Mill.
V a 1 h i n g e r , Kuit-CominenUr.
18
Allgemeine Einleitung.
Uebersicht über die Eantliteratur.
III. Perlode 1860—1881.
A) Commentatoren and Historiker.
1) Anhänger.
a) In Deutschland.
Lange — Liebmann -- Cohen —
J. B. Meyer — Riehl — Stadler —
Witte — Grapengiesser — Prederichs
— Arnoldt — Knauer — Tobias —
Krause — W. Goering — v. Leclair
— Lasswitz — Jacobson — v. Bären-
bach — Helmholtz — Zöllner — Fick
— Rokitansky — Classen — Siebeck
— Schuster — Biese.
ß) Im Ausland.
Hodgson — Adamson — Watson
(Boström) — Renouvier — Pillon.
2) Hifltoriker und Kantphilologen.
a) In Deutschland.
K. Fischer — Zeller — Harten-
stein — Paulsen — B. Erdmann —
Holder — F. Schulze — Dietrich —
Noack — V. Eirchmann — Thiele —
Windelband — Kehrbach — Harms
— Reicke — Haym.
ß) Im Ausland.
MahaflFy — Caird — Abbot —
Henderson — Desduits — Nolen —
Saisset — Barzellotti — Spaventa —
Gantoni.
B) Gegner.
1) Dogmatisten.
a) In Deutschland.
Ulrici — J". H. Fichte — E. v.
Hartmann — Lotze — Trendelen-
burg — Zimmermann — Volkelt —
Michelis — Harms — Spicker —
Pesch — Teichmüller — Spir — Bau-
mann — Bergmann — Asmus —
Rehmke — Thiele — Th. Weber —
G. Biedermann — Planck — Stendal
— Schaarschmidt.
ß) Im Ausland.
J. H. StirUng — (Nolen) -
miani — Saisset — Sarchi —
nisco) — Nybläus.
- Ma-
(Ra^-
2) Empiristen.
a) In Deutschland.
Czolbe — V. Kirchmann — Ueber-
weg — Dühring — C. Göring — Laas
— Wolff — Montgomery — Caspari
— Hoppe — Proelss — Wundt —
Heinze — Avenarius.
ß) Im Ausland.
Lewes — Bain — Taine — Bai-
four.
Literaturübersicht. 19
Uebersicht der wichtigsten allgemeinen Erläuteningsschriften zu
Kants Kritik der reinen Vernunft«
Die /wichtigsten, im folgenden daher am häufigsten citirten allge-
meinen Erläuteningsschriften, welche die ganze Kritik umfassen, sind
folgende :
I. Periode: Joh. Schultz, Erläuterungen über des Herrn Professor
Kant Critik der r. V. Königsb. 1785. (Nachdruck 1791) [werthvoU]. —
L. H. Jakob, Prüfung der Mendelssohn'sehen Morgenstunden. Leipz. 1786. —
Derselbe, Grundriss der allgem. Logik und kritische Anfangsgründe der
allgemeinen Metaphysik. Leipz. 1788, 3. Aufl. 1794. — Derselbe: Annalen
der Philosophie. Halle 1795 — 1797. [Brauchbar, besonders das zweite und
dritte.] — K. C. E. Schmid, Critik der r. V. im Grundrisse. Jena 1786.
3. Aufl. 1794. — Derselbe, Wörterbuch zum leichteren Gebrauch der
K.'schen Schriften. 4. Aufl. 1798. [Beide sehr werthvoll.] — Beinhold, K. L.,
Briefe über die K.'sche Phüos. I. II. Leipz. 1790. 1792. [Für die Erläuterung
als solche wenig werthvoll, mehr das Folgende.] — Derselbe: Versuch einer
neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag u. Jena 1789. —
Will, Vorlesungen über die Kantische Philosophie. Altdorf 1788. [Gut-
gemeint, aber schwach.] — Bouterwek, Aphorismen nach Kantischer Lehre.
Gott. 1793. [Theilweise nicht ohne Scharfsinn.] — Beck, J. S., Erläuternder
Auszug aus den criüschen Schriften des H. Prof. Kant. Auf Anrathen des-
selben. 3 Bände. Eiga 1793—1796; der dritte Band a. u. d. T. „Einzig
möglicher Standpunkt, aus welchem die kritische Philosophie beurtheilt werden
muss.* — Derselbe, Grundriss der kritischen Philosophie. Halle 1796.
[Willkürliche, unexacte Auslegungsmethode, daher für die eigentliche Er-
läuterung nicht sehr werthvoll.] — Meli in, Marginalien und Register zu
Kants Oritik der Erkenntnissvermögen. I. II. ZüUichau 1794. 1795. — Der-
selbe, Encyclopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. I — VI.
Züllichan 1797 — 1804. — Derselbe, Kunstsprache der krit. Phil, nebst An-
hang. Jena 1798 — 1804. [Drei sehr brauchbare Werke, besonders das zweite;
M. wiederholt aber oft zu sklavisch den Wortlaut des Textes, anstatt ihn
zu erläutern.] — Peucker, Darst. des Kant. Systems. Leipzig 1790. [Unselbst-
ständig, ganz im Anschluss an Schultz' „Prüfung".] — Metz, Darstellung
des K.'schen Systems. Bamb. 1795. [Schätzbar.] — Heusinger, Versuch
einer Encyclopädie der Philosophie I. 11. Weimar 1796. [Schwach.] — Ben-
david, Vorlesungen über die Critik d. r. V. Wien 1795. [Unbedeutend.] —
Kiesewetter, Versuch einer fassl. Darstellung der wichtigsten Wahrheiten
der neueren Philosophie för Uneingeweihte. 4. Aufl. 1824. [Dem Zwecke
entsprechend sehr verwässerte Darstellung.] — M. Eeuss, Vorlesungen über
die theoretische und praktische Philosophie I. 11. Würzb. 1797. [Schätzbar.]
— Hauptmomente der kritischen Philosophie. Vorlesungen. Münster 1803.
[Brauchbar.] — Buhle, Entwurf der Transscendentalphilosophie. Gott. 1798.
[Ohne besondern Werth.] — Pörschke, Briefe über die Metaph. der Natur.
20 Allgemeine Einleitung.
Königsb. 1800. [Scharfsinnig.] — Abicht und Born, Neues philos. Magazin,
Erläuterungen und Anwendungen des Kantischen Systems bestimmt. 4 Bde.
Leipzig 1789 ff. [Enthält brauchbare Beiträge]. — Willich, Elements of
the critical Philosophy. London 1798. [Ohne Werth.] — Villers, Philosophie
de Kant. Metz et Paris 1801. [Populär.] — Schmidt-Phiseldek, Criticae
rationis purae Expositio systematica, Hafniae 1796. [Fast wörtliche Üeber-
setzung.] Auch in den Schriften der Gegner sowie der halben Anhänger finden
sich viele brauchbare exegetische Beiträge, so bei Ulrich, J. A. G., Institutiones
logicae et metaphysicae, Jenae 1785. [Theilweise schätzenswerthe Bemer-
kungen.] — Brastberger Untersuchungen über Kants Critik. Halle 1790.
[Sehr scharfsinnig.] — Schaff er, Inconsequenzen und auffallende Wider-
sprüche in der K. 'sehen Philosophie. Dessau 1792. [Theilweise brauchbar.] —
Zwanziger, Commentar über Kants Kritik d. r. V. Leipz. 1792. [Eine
durchaus schätzenswerthe, scharfsinnige Schrift.] — Stattler, Anti-Kant I — ITI.
München 1788. [Berüchtigt wegen des rohen, polternden Tones, aber im
Einzelnen oft treffende Bemerkungen.] — Miotti, Falschheit und Gottlosig-
keit des K.*schen Systems. Augsb. 1802. [Ganz im Genre von Stattler.] —
G. E. Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie. I. 11. Hamburg 1801.
[Des berühmten Verfassers des „Aenesidemus" (der sich jedoch nicht auf
alle Theile der Kritik bezieht) durchaus würdig, von richtigen exegetischen
Grundsätzen geleitet.] — Maimon, Versuch über die Transscendentalphilosophie.
Berlin 1 790. [Wie alle Schriften des merkwürdigen Verfassers höchst scharf-
sinnig, aber im Einzelnen oft von talmudistischer und daher werthloser Spitz-
findigkeit.] — Treschow, Vorlesungen über die Kantische Philosophie. I. II.
Aus dem Dänischen. Kopenhagen u. Leipz. 1798. 1799. [Zwar nicht ohne
Missverständnisse, aber elegant und schätzbar.] — Tiedemann, Theätet.
Ein Beitrag zur Vemunftkritik. Frankfurt 1794. [Sehr brauchbar.] —
Herder, Metakritik (I. Vernunft und Erfahrung. II. Vernunft und Sprache).
Leipz. 1 799. [Trotz Ueberwegs Apologie in der Gesch. der Phil. III, 248 ein
Buch voller Miss Verständnisse , gänzlich unkritisch und Herders unwürdig.]
Vgl. dazu Kiesewetter, Prüfung der Herder 'sehen Metakritik, in welcher
zugleich mehrere schwierige Stellen in der Kritik d. r. V. erläutert werden.
I. II. Berlin. 1799. 1800. [Nicht ohne Werth, theilweise recht brauchbar.]
In Eberhards ,Phil. Magazin« Haue 1789—1792, desselben ,Phil. Archiv*'
ib. 1792. 1793, sowie in Feders und Meiners' Philos. Bibliothek, Gott. 1788
bis 1791 finden sich ebenfalls werthvolle Beiträge zur Exegese, besonders von
den genannten Herausgebern.
11. Periode« (Eigentlich exegetische Schriften hat diese Periode nicht.)
Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft. Heidelb. 1828
— 1831. [Fast durchaus eine Abschwächung von wenig exegetischem Ge-
halt.] — Apelt, Metaphysik. Leipzig 1857. [Paraphrase Kants, vom Fries-
schen Standpunkt aus theilweise recht brauchbar.] — Von demselben:
Ernst Reinhold und die Kantische Philosophie. Leipzig 1840. [Brauchbare
Beiträge.] Schätzenswerthe Beiträge zur Erläuterung findet man in den
historischen Werken, bes. bei J. H. Er d mann. Versuch einer wissensch.
Literaturilbersicht. 21
m
Darstellung der Gesch. d. n. Philos. III. B. 1. Abth. Leipz. 1848. [Sehr
dankenswerth, exact und scharf.] — Rosenkranz, Gesch. d. K.'schen Philos.
Leipz. 1840. (KU, Band der Gesammtausgabe der Werke Kants von Ros.
und Schubert). [Willkürliche Auslegung im Hegel'schen Sinne.] — Cousin,
Philosophie de Kant. 4. Ed. Paris 1864. [Rhetorisch gehalten, aber oft
treffende Bemerkungen, erinnert an K. Fischer.] Fortlaufende Kritiken er-
schienen ebenfalls wenige. Die bekannteste und werth vollste ist von Schopen-
hauer im Anhang zu der „Welt als Wille und Vorstellung". Leipz. 1819.
1844. [Exactes Verfahren, liebevolles Eingehen, jedoch scharfe Kritik, von
exegetischem Werth.] — Prihonsky, Neuer Anti-Kant. Bautzen 1850. [Auf
dem Bolzano'schen Standpunkt; theilweise recht brauchbar.]
m. Periode. Fortlaufende Commentare: K. Fischer, Gesch. d. n. Philos.
in. Band. 2. Aufl. Heidelb. 1869. [Verdienstvoll, brachte das Kantstudium
in Fluss; sehr geistreiche Darstellung, aber im Einzelnen unexact und un-
zuverlässig, neben glücklichen Apper^us grobe Fehler.] Das Werk ist von
Mahaffy ins Engl, übersetzt u. d. T. : A commerUary in Kants Critik of
the jp. R, [Diese Uebers. enthält werthvoUe Anmerkungen des Üebers.] —
Noack, L. , Kants Auferstehung aus dem Grabe. Leipz. 1865. [Werthlos;
unexact.] — Cohen, Kants Theorie der Erfahrung. Berlin 1873. [Sehr
schätzenswerthes Werk voll feiner Bemerkungen und consequenter Auffassung,
aber oft willkürlich, unexact und sogar unverständlich; gespreizter Stil, er-
innert oft an Maimon.] — Riehl, der Kriticismus. I. Band. Leipzig 1876.
[Neben feinen Bemerkungen und sehr brauchbaren exegetischen Beiträgen
ohne Exactheit; zu enger Anschluss an Cohens willkürlich deutelnden Tief-
sinn.] — Stadler, die Grundsätze der reinen Erkenntnisstheorie in der
Kantischen Philosophie. Kritische Darstellung. Leipzig 1876. [Werth voller
Beitrag, aber oft willkürlich.] — Paulsen, Versuch einer Entwicklungs-
geschichte der K. 'sehen Erkenntnisstheorie. Leipz. 1875. [Sehr schätzens-
wertber Beitrag.] — B. Erdmann, Einleitung in seine Ausgabe der Kantischen
Prolegomena. Leipz. 1877. — Derselbe, Kants Kriticismus. Leipz. 1878.
[Verdienstvolle Werke, voll treffender Bemerkungen.] — Holder, Darstellung
der K.'schen Erkenntnisstheorie. Tüb. 1873. [Scharfsinnig, nur zu kurz.]
— Caird, The philosophy of Kant, Glasgow 1877. [Construirend, abhängig
von deutscher Forschung, aber schätzenswerthes Werk.] — Cantoni, Em-
manude Kant. L Müano 1879. [Elegante Darstellung.] — Viele brauchbare
Winke finden sich in den historischen Darstellungen, besonders in Zellers
Geschichte der deutschen Philosophie, München 1873 und bei Windelband,
Gesch. d. neueren Philos. II. B. Leipzig 1880. — Harms, die Philosophie seit
Kant, Berl. 1879. [Oft treffend, aber unexact, ohne Verwerthung der neueren
Forschungen.] — Lange, Gesch. d. Materialismus IL Bd. Iserl. 1875. [Geist-
volle Reproduction des K. 'sehen Systems, doch nicht ohne Unexactheiten.]
Gegnerische Schriften in fortlaufender Darstellung und Beurtheilung der
Kritik: Kirch mann, J. H. v., Erläuterungen zu Kants Kritik, Prolego-
mena u. s. w. Leipzig 1870. [Von sehr wenig exegetischem Werth, da keine
unbefangene und exacte Auffassung des Textes.] — Vgl. dagegen Grapen-
22 Allgemeine Einleitung.
giesser, Erklärung und Vertheidignng von Kants Kritik d. r. V. wider
die sog. Erläuterungen des H. v. Kirchm. Jena 1871. [Ziemlich werthlos.]
— MicheliS; Kant vor und nach 1770. Eine Kritik der gläubigen Ver-
nunft. Braunsb. 1871. [Ganz unexact.] — Pesch (Soc. Jes.), Die Haltlosigkeit
der modernen Wissenschaft. Eine Kritik der K. 'sehen Vernunftkritik. Frei-
burg 1877. [In dem bekannten widerlichen Tone dieser VeröfFentlichungen
gehalten, aber nicht ohne Scharfsinn.] — Montgomery, Die Kantische Er-
kenntnisslehre widerlegt vom Standpunkt der Empirie. München 1871. [Nicht
exact, aber viele treffende Bemerkungen.] — Volkelt, Kants Erkenntniss-
theorie, nach ihren Grund principien analysirt. Lfeipz. 1879. [Gewandte Dar-
stellung, brauchbare Winke, aber oft sehr flüchtig und unezact.]
Zur allgemeinen Erläuterung dienen besonders folgende Schriften Kants
aus der kritischen Periode:
1) Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen-
schaft wird auftreten können. Biga 1783.
2) üeber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Ver-
nunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll. Königsb. 1790.
3) üeber die von der K. Acad. d. Wiss. zu Berlin f. d. Jahr 1791 aus-
gesetzte Preisaufgabe: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die
Metaphysik seit Leibniz' und Wolfs Zeiten gemacht hat? Her. v. Rink.
Kgsb. 1804. Ebenso dienen sämmtliche übrigen Schriften Kants aus derselben
Periode (insbes. die Kritik der prakt. Vern. und die der ürtheilskraft,
sowie die Logik, auch die metaph. Anfangsgründe der Naturwiss.) mehr
oder weniger zur Erläuterung der Kr. d. r. V. und sind im folgenden Com-
mentar vollständig dazu ausgenützt. Selbstverständlich gilt dasselbe von Ks.
vorkritischen Schriften, insbesondere von der Gruppe der 60er Jahre, über
die „Negativen Grössen", den „Einzig möglichen Beweisgrund zu einer
Demonstr. für d. Dasein Gottes", „Die Deutlichkeit der Grundsätze der natürl.
Theologie und Moral", „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume
der Metaphysik". Eine besondere Erwähnung verdient die interessante Ueber-
gangsschrift von 1770: „De mundi sensibüis atque inteUigtbüis forma et prin-
cipiis,^ Endlich ist besonders Ks. Briefwechsel als exegetisch werthvoll
zu erwähnen, sowie die bis jetzt noch gar nicht verwertheten, allerdings mit
Vorsicht zu gebrauchenden, von Pölitz herausgegebenen Vorlesungen Kants
über „Die Metaphysik" (1831) und „Die philosophische Religions-
lehre" (1817 u. 1830).
n.
Specielle Einleitung.
Dogmatismus, Skeptlcismns und Krittcismns.
Literatur. — § 1. Vorbemerkangen. — § 2. I. Dogmatismus. — § 3. II. Skep-
ticismus (Empirismus). — § 4. HI. Kriticismus. — § 5 a. Specielleres Verhält-
niss des Kriticismus zum Dogmatismus. — § 5b. Specielleres Verhältniss
des Kriticismus zum Skepticismus. — § 6. Die historischen Vertreter des
Dogmatismus und Skepticismus. ^ § 7. Allgemeines Verhältniss der drei Stand-
punkte. — § 8. Specieller Gegensatz des Kriticismus einerseits und des
Dogmatismus und Empirismus andererseits. Kants subjectivistische Wen-
dung. — §. 9. Kants eigener Entwicklungsgang durch Dogmatismus und
Empirismus hindurch zum Kriticismus. — § 10. Der Kriticismus als Ver-
mittlung zwischen Dogmatismus und Skepticismus. Allgemeine Gesichts-
punkte..— § 11. Dieselbe Vermittlung specieller betrachtet. — § 12. Kants
durchgängige Vermittlungstendenz. — § 13. Die verschiedenen Ansichten
über den Grundcharakter der Kritik der reinen Vernunft. — § 14. Fort-
setzxmg (Gegenwart).
Literatiir.
Mellin, W. B. H, 143 ff. V, 330 ff. - Schmid, W. B. 192. 213. 472.
617 ff. — Lossius, Lexic. 11 , 60 ff. m, 650 ff. — Pistorius, A. D.
Bibl. 80. 464. - Villers, Phil. d. K. I, 69-128. H, 154. - Willich,
Elements 1 — 83. — Krug, Lex. I, 684. H, 652. 576. HI, 767. Id.
Handb. § 94 ff. (S. 98 ff.) Id. Fund. § 116 ff. (S. 262 ff.) - Platner,
Aphor. 3. Aufl. § 695 ff. § 706. § 747 ff. — Jakob, Prüfung 178 ff. —
Eberhard, Philos. Magazin, häufig, bes. I, 9 ff. 150 ff. 244 ff. 263 ff.
290 ff. n, 75 ff 431 ff 486 ff. 495 ff m, 70 ff. 212 ff IV, 84 ff 490 ff
Id. Plulos. Archiv I, 2, 79. 3, 22 ff. 4, 46 ff II, 3, 25. 44 ff 122 ff. -
Schwab, Preisschrift über die Fortschr. d. Metaph. 15 ff. 103. — Eein-
hold, Preisschr. 178 ff. 282 ff. 239 ff 243 ff. - Abicht, Preisschr. 260. -
24 Specielle Einleitung.
Schulze, Aenesidem. Einl. 1—4. Krit. d. th. Phil. I, 88 ff. H, 126 ff. —
Neeb, Vem. g. Vem. 35 ff. Vgl. dessen „System der kritischen Philos."
Einl. — Berg, Epikritik. 101 ff. — Suabedissen, Result. 219 ff. 298 ff.
326 ff. - Reinhold, Briefe I, 22 ff. 89 ff. 107 ff. 116 ff. 160 ff. 168 ff.
u. ö. II, 15 ff. 50 ff. Id. Theorie der VorsteU. 1 ff. 79 ff. 129 ff. 137 ff.
174 ff. Id. Beyträge II, 12 ff. 115 ff. 159 ff. Id. Fundament 13 ff. 58 ff.
65 ff. Id. Einleitung zu Tennemanns Uebers. der Hume'schen Untersuchungen
XIII ff. Id. Beyträge z. leicht. Uebers. 2, 4 ff. 7 ff. 6, 230 ff. Id. Verm.
Schrift, n, 176 ff. 205 ff. - Visbeck, Reinh. Elementarphil. 12 ff. —
Maimon, Streifereien 48 ff. 191 ff. Id. Logik 298 ff. 374 ff. — Than-
ner, K, Fichte u. Schelling 12 ff. — Fichte, W. W. I, 30. 119 f.
155 f. 430 f. 509. H, 66. 167 ff. 442. - Schelling, W. W. Erste Abth.
I, 283 ff. IV, 348 ff. V, 191 ff. VI, 117. X, 75. 215. Zweite Abth. m,
110 ff. - Hegel, W. W. VI. (Encycl.) 61 ff. 78 ff. 85 ff. XV, 330 ff.
487 ff. 551 ff. XVI, 70 ff. - Schleiermacher, Werkf z. Phüos. IV (2).
30. 171. VI, 16. — Jacobi, W. W. II (Hume) 16 f. 33. III (Spinoza)
10. 69 ff. 173. 350. 460. — Krause, Grundwahrh. 373 ff. — Schopen-
hauer, W. a. W. u. V. I, 16. 498 ff. Par. I, 142. II, 9. 12. Handschr.
Nachl. 297. - Herbart, W. W. I, 65 ff. IH, 194 ff. - Fries, Neue
Kritik IL. 189 ff. — Hamann, W. W. VI, 53. VII, 107. — D^g^rando,
Vergl. Gesch. I, 458 ff. 468 ff. 515 ff. H, 471 ff. 477 ff 489 ff. 497 ff. -
Buhle, Gesch. d. Phil. VIII, 463. Id. Gesch. d. n. Phil. VI, 575 ff. —
Ast, Gesch. d. Phil. § 302. - Fülleborn, Beitr. z. Gesch. d. Phil. I, 114.
VII, 138 ff. - Sigwart, Gesch. d. Philos. HI, 22 ff. 146 ff. - Michelet,
Gesch. d. Phil. v. Kant bis Hegel I, 18 ff. 37. 43 ff. 46 ff. 50 f. 218 f. —
Willm, Eist, de la pkü. All. I, 18 ff. 91 ff. — Barchou de Penhoön,
Hist. de la phü. AU. I, 201 ff. 234 ff. 296. — Biedermann, die deutsche
Philos. I, 20 ff. 63 ff. 78. 133 ff. 412 f. — Beneke, Kant 25 f. 36 f. —
Reinhold, E., Th. d. menschl. Erk. I, 22 ff. — Apelt, E. Reinh. und
Kant 9. 67 ff. 79 ff. — Sigwart, Handb. 67 ff. 104 ff. 151. — Schön,
Phil. Transc. 17 ff. — Chalybäus, Histor. Entw. 19 ff. — Gruppe, An-
täus 140 ff. Wendepunkt 353 ff. Gegenwart u. Zukunft d. deutsch. Phil.
32 ff. 54 ff. - Erdmann, Versuch III, 1, 1—24. 37. 232 ff. 415 ff. Id.
Grundriss § 296. — Kolbe, rfe Kant. phü. 21 ff. — Weisse, Orient, an
Kant. 10 ff. — Mirbt, Ks. Philos. 23 ff. 174 ff. - Saintes, Phü. d. K
67 ff. — Rosenkranz, Gesch. d. Kant. Phil. (W. W. Kants XH) 9. 117 ff.
156 f. 262. — Cohen, Kants Th. d. Erf. 1—4. - Zeller, Erkenntniss-
theorie 13 ff. — K. Fischer, Gesch. III, 1. 3—45. Id. System der Logik
und Metaphysik S. 104—111. Kants Leben und die Grundlagen seiner
Lehre 97 ff. — üeberweg, Grundr. III, § 6. § 18. Id. Logik § 28. —
Zell er, Gesch. d. deutsch. Philos. 402. — Lewes, Gesch. d. Phil. 11,496-
— Schwegler, Gesch. d. Philos. § 37. - Paulsen, Entw. 147 ff. Id.
in der Vierteljahrsschr. f. wiss. Philos. I, 159 ff. — Er d mann, Ks. Proleg.
Vorr. 82. Id. Ks. Kriticismus S. 14 ff. — Riehl, Krit. 12 f. 201 f. —
Cantoni, Em. Kant 1—67. — Laas, Ks. Analog. 204 ff. — Caird,
Dogmatismus, Skepticismus, Kriticismus. Literatur. 25
PhHos. of Kant 27—121. - Laas, Id. u. Positiv. 8. 54. 68 ff. 111 ff. 119 ff.
129 ff. 157 ff. 168 ff. — Göring, Krit. Phüos. II, 124 ff. Ders. Viert, f.
wiss. Phüos. I, 401 ff. 525 ff. II, 106 ff. - Wolf f, Specul. u. Phil. I, 3 ff.
71 ffl — Spicker, Kant, Hume u. Berk. 8 ff. — Volkelt, Ks. Erkennt-
nissth. 11 ff. 30 ff. 79 ff. 87 ff. 153 ff. 189 ff. — Harms, Die Philos. s.
Kant 28 f. 50 f. 127 ff. — Weber, Histoire de la Philos. Europ. 433. —
Lange, Gesch. d. Mater. 11, 45. Beiträge 39 ff. — Zimmermann, Lam-
bert 5 ff. — Witte, Beiträge 7, 9 ff. 32 ff. Id. Vorstudien 52—88. —
Holder, Kantische Erkenntnisstheorie 1—5. Id. Mögl u. Bed. wahrer Er-
kenntniss. Urach 1878. 2 ff. 16 ff. — Drobisch, Fortb. der Philos. d. Her-
bart 6 ff. — Capesius, Metaphysik Herbarts 60 ff. — Horowitz, De apr.
princ. S. 5 ff. — Vorrede zu Tissots Uebers. d. Kritik d. r. V. S. VI ff.
— Masson, Bec. Brit, Phü. 34 f. 63 f. — Bergmann, Z. Beurth. d.
Kritic. 30 ff. 181 ff. — Dilthey, Schleierm. 88 ff. — Thilo, Gesch. d.
Phü. n, 185. — Stöckl, Gesch. d. Phil. 689. — Oischinger, Haupts,
d. n. Phil, n, 2 ff. — Deutinger, Princ. d. n. Phil. 117. — v. Reichlin-
Meldegg, Einl. z. Phil. 139 ff. — Rehmke, Welt als Wahrn. 25.
Special Schriften: Kreil, A., Vergl. der Leibniz'schen, Locke'schen
und Kantischen Philos. Anh. zu dessen Gegenschrift gegen Miotti: „Be-
merkungen* u. s. w. Wien 1799. — Kirsten, J. F. E., Düs, philos, ex-
hibens discrimen inter philos, criticam et dogmaticam. Jena 1792. — F. W.
D. Snell, üeber philos. Kriticismus in Vergleichung mit Dogmat. u. Skep-
ticismus. Giessen 1802. — Schelling, Philos. Briefe über Dogmat. u. Kritic.
Nieth. Phil. Journ. II, 177 ff. III, 173 ff. — Scheidler, üeber Dogmat.
u. Kriticism. Zeitschr. f. Theol. u. Phil. 11, 3, 65 ff. — Krug, üeber die
verschiedenen Methoden des Philosophirens u. s. w. Meissen 1802. —
A. Kletke, der Streit des Empirismus und Idealismus geschlichtet in der
neueren Philos. Breslau 1839. — H. Bach, Philos. Kantianae quae sit con-
nexio et propinquitas cum Philosophia FrancogaUiae et Angliae XVIII, Saec,
Bonn. 1866. — Leng fehlner, Dogmatismus und Skepticismus, oder
d. Wendepunkt der Philos. in Kant. Landsh. 1870. — Kannengiesser,
Dogmatismus und Skepticismus. Elberfeld 1877. (Darüber Pfleiderer in
Jen. L. Z. 1879 Juni.)
§ 1.
Vorbemerkungen.
„Kant erklären heisst ihn geschichtlich ableiten." Dieses tref-
fende Wort K. Fischers (Gesch. 29, vgl. Göring, System II, 108)* bezeichnet
den normalen Gesichtspunkt, von dem aus eine Einleitung in die K.'sche
Philosophie gegeben werden muss. Fischer selbst und vor ihm und nach
* Vgl. Paul 86 n, Entw. Vorr. III ff.
26 Specielle Einleitung.
ihm Viele haben diesen Weg eingeschlagen. Man hat sich dabei meistens,
von Es. Selbstzeugniss über seine historische Stellung leiten lassen. Und
mit Becht. Selbst wenn Es. Auffassung des vor ihm Geschehenen nicht
ganz zuträfe, müsste diese Anlehnung vorgezogen werden; denn das, was
E. gewollt hat, kann nur erkannt werden durch die Einsicht in die Art
und Weise, wie er es wollte, d. h. in das Bild, das er sich in seinem
Eopfe von der philosophischen Zeitlage gebildet hatte. Nun ist aber Es.
Auffassung des Status der Philosophie vor ihm im Grossen und Ganzen zu-
treffend, mag er auch einzelne seiner Vorgänger wie z. B. Berkeley und
Hume theilweise verkannt haben. Die folgende Auseinandersetzung unter-
scheidet sich von den bisherigen Einleitungen jedoch dadurch, dass Es.
Aeusserungen („loca pröbantia") über die vorhergehenden philosophischen
Systeme darin vollständig gesammelt und systematisch verwerthet sind.
Eant theilt die philosoph. Systeme vor ihm in die beiden Hauptklassen
des Dogmatismus und Empirismus oder Skepticismus. Sein eigenes
System istEriticismus. Jene strenge Scheidung ist, wie Paulsen, Entw. 98 ff.,
vgl. Göring, Viert, f. w. Phil. I, 404, ausführt, ein bedeutsames Verdienst
Eant-s. »Die klassificatorischen Gegensätze für die Philosophie wurden vor
Eant ausschliesslich der Metaphysik entnommen.'' Darnach theilte man,
sofeme eine solche Eintheilung überhaupt versucht wurde, etwa in Materia-
lismus und Spiritualismus ein, indessen kam selbst letzterer Ausdruck erst
in später Zeit auf. Bei den älteren Historikern wie z. B. Br ucker ist
keine systematische Eintheilung durchgeführt. Dagegen schliessen sich die
auf E. folgenden Historiker (wie Buhle, Tennemann u. A., neuerdings
Fischer und Ueberweg [HI, §. 6] u. A.) an Es. Eintheilung an. Diese
ist im Wesentlichen der Erkenntnisstheorie entnommen, entsprechend
der ganzen Wendung des E.'schen Denkens von den Objecten weg zu dem
erkennenden oder erkennenwollenden Subject. Und hierin entdeckt E.
jenen fundamentalen Gegensatz, den er an die allerdings überlieferten Namen
des Dogmatismus und Empirismus (Skepticismus) knüpft. Neu aufgestellt
ist die Eategorie des Eriticismus.
Diese drei Systeme bezeichnen fiir Eant in erster Linie drei verschiedene
Methoden der Philosophie viel mehr, als etwa drei bestimmte philosophisch
ausgestaltete Weltanschauungen. Es ist das Wesentliche und Neue bei Eant,
dass er die sachlichen Fragen von der Erledigung der methodologischen
Probleme abhängig macht: die Metaphysik wird durch ihn eine von der
Methodologie und Erkenntnisstheorie abhängige Function. Es geht sowohl
aus den früheren Schriften und den erhaltenen Briefen Eants als aus der
ganzen Anlage der Ejntik und ausdrücklichen Bestimmungen in derselben
klar hervor, dass Eant, wie er den Streit der entgegengesetzten Richtungen
seiner Zeit und früherer Zeiten in erster Linie vom methodologischen Gesichts-
punkt aus auffasste, also weniger als einen Streit um eine bestimmte mate-
rialistische oder spiritualistische Weltanschauung, sondern vielmehr als einen
Streit über die propädeutische Frage der Methode — dass E. so auch seine
eigene Richtung vor Allem als die Einfuhrung eines neuen Philosophir-
Das methodologische Problem. Die Gesichtspunkte. 27
modus betrachtet wissen wollte. Das methodologische Problem
ward für K. immer mehr in den Vordergrund gerückt und sobald es ihm
einmal yoll zum Bewusstsein gekommen war, stellten alle seine Schriften
dieses Problem an den Anfang. Kants Kritik ist ein „Tractat von der
Methode* \ Wie nun schon die allgemeine Bezeichnung der drei Stand-
punkte diese methodologische Signatur an der Stirne trägt, so ist dies und
zwar noch viel mehr der Fall mit der speciellen Merkmalbestimmung der
drei Hauptrichtungen des Philosophirens. Aus der vollständigen Zusammen-
stellung und systematischen Ordnung der Aeusserungen Kants über die
drei Richtungen ergibt sich nämlich, dass die Merkmalbestimmung zwei ver-
schiedene Gesichtspunkte betrifft:
1) die Form oder die Methode,
2) den Inhalt oder das Object.
Bei dem ersten Gesichtspunkt handelt es sich um die Frage: Durch welche
Methode kommen wir zu wahrer, gültiger Erkenntniss, durch apriorische,
deductive, syllogistische oder durch empirische, inductive, analogische? Jene
setzt einen angeborenen Inhalt reiner Vernunft demente voraus, diese
bedarf nur der Erfahrung. Hier handelt es sich um die Methode im
engeren Sinn. Die zweite Frage, welche sich auf den durch die Eine
jener Methoden zu erkennenden Inhalt bezieht, ist aber auch methodologi-
scher Natur, indem hier Methode im weiteren Sinne verstanden wird.
Denn zur Methode in diesem Sinn gehört auch die Bestimmung der Aus-
dehnung des Verfahrens. Kann sich das philosophische Denken auf über-
sinnliche Gegenstände erstrecken oder muss es sich auf die Erfahrungssphäre
beschränken? Somit theilt sich das methodologische Problem (im
Allgemeinen) in zwei Unterfragen:
1) nach dem Verfahren (im engeren Sinn),
2) nach der Ausdehnung des Verfahrens.
Man darf diese Gliederung um so weniger aus den Augen verlieren, als
duzeb verschiedene Ursachen für Kant selbst später dieselbe mit anderen
Gesichtspunkten vertauscht wurde.
Im Wesentlichen findet sich jene Eintheilung auch ausdrücklich schon
bei Kant selbst. Am Schluss' der Kritik (852), wo er „die Geschichte der
reinen Vernunft*' skizzirt, theilt er die Systeme ein:
1) in Ansehung des Gegenstandes,
2) in Ansehung des Ursprungs der Erkenntnisse.
(Die dritte Klasse gehört nicht hieher.) In erster Hinsicht theilt K. ein in
Sensual- und in Intellectualphilosophen, d. h. in solche, welche die
Wirklichkeit in den Gegenständen der Sinne finden und alles andere
for Sehein Jialten, und in solche, welche durch den Verstand erkennbare
intelligible Dinge annehmen. In zweiter Hinsicht theilt er ein in
Empiristen und in Noologisten, d. h. in solche, welche die Erkenntniss
atts der Erfahrung ableiten, und in solche, welche dafür halten, dass wahre
' Krit. d. r. V. Vorr. B. XXÜ.
28 Specielle Einleitung.
Erkenn tniss unabhängig von der Erfahrung in der Vernunft ihre Quelle
habe. — Fassen wir das jedesmalige erste und zweite Glied zusammen, so
erhalten wir die hier aufgestellte Gliederung in Skepticismus und Dog-
matismus, welche beide doppelt zu betrachten sind, einmal dem Object
nach und dann der Methode nach.
§ 2.
I. Dogmatismus.
A) Der Methode oder Form nach ist der Dogmatismus speciell
als Rationalismus zu bezeichnen. D.h.: Die Erkenntniss soll gewonnen
werden durch reine Vernunft, welche eine eigene Quelle der Erkenntniss
ist und Erkenntnissmaterial aus sich selbst erzeugt. Aus in der Vernunft
selbst liegenden , angeborenen Begriffen und Grundsätzen (ideae innatae,
ap/al ivaico^eixTot) soll nach dem Vorbild der reinen Mathematik, „tnore
geoinetrico<^^ deductiv, durch Analyse der Begriffe, durch syllogistische
Ableitung aus den Grundsätzen die Wirklichkeit erkannt werden. Sowohl
Begi'iffsinhalt als Begriffs Verknüpfung sollen a priori sein. Dieser Ratio-
nalismus oder Apriorismus ist jedoch ein unkritischer, weil die Besinnung
über die Möglichkeit, Gültigkeit und Tragweite einer solchen Erkenntnissart.,
einer solchen „reinen Vemunffcwissenschaft" fehlt, weil weder der angeborene
Inhalt systematisch angegeben, noch die Congruenz der aus ihm ge-
bildeten Urtheile mit dem Realen gerechtfertigt ist, weil somit weder
die psychologische Untersuchung noch die methodologische Selbst-
besinnung vorhanden ist.
B) Dem Object oder dem Inhalt nach ist der Dogmatismus
als transscendent zu charakterisiren. Nicht etwa blos die Erfahrungs-
wirklichkeit, sondern und gerade vorzugsweise da« jenseits der Erfahrung
Liegende (das „Metempirische*) ist Gegenstand der Forschung; also über
Weltanfang, Weltende, Weltprincip, Ursprung und Zukunft der Seele u. s. w.
soll jene Erkenntnissmethode Aufschluss geben und zwar absolut sicheren
und zuverlässigen. Der Dogmatismus will somit ohne Erfahrung über
die Erfahrung hinaus ^
Stellen ans Kant: Ad A). Entd. R. I, 452: „Unter dem Dogm. der
Metaph. versteht die Kritik der r. V. das allgemeine Zutrauen zu ihren
Principien, ohne vorhergehendeKritik des Vernunftvermögens selbst,
bloss um ihres Gelingens willen" (d. h. weil es uns gelingt, derartige Prin-
cipien, z. B. den Satz der Causalität auf Erfahrung anzuwenden, glaubt man
denselben auch auf Uebersinnliches anwenden zu dürfen. Vgl. Mellin 11, 153.
V, 332). Der Dogmat. gibt „Beweise a priori* oder „apodiktische Beweise",
* Nach Krug (Lex. I^ 636) sind daher die beiden Merkmale des Dogmatismus
nach denselben beiden Gesichtepmikten 1) Willkür in den Principien, 2) Tran s-
scendenz in den Behauptungen.
Methode und Object des Dogmatismus. 29
aber wohl zu merken, ohne „über die Möglichkeit der Erkenntniss a priori"
^die mindeste vorhergehende kritische Untersuchung anzustellen". Ohne diese
Beurtheilung ist der Dogmat. „blind" (a. a. 0.). — Kritik Vorr. B. XXX.
Der Dogm. d. Met. ist „das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der r. V. fort-
zukommen*. Krit. 763. Der Dogmatiker „setzt, ohne ein Misstrauen auf
seine ursprünglichen objectiven Principien zu setzen, d. h. ohne Kritik seinen
Gang gravitätisch fort". Er will „durch blosse Kräfte des Verstan-
des" vorwärts kommen, durch „reinen Verstand' in Bezug auf die Erfah-
rungswirklichkeit, durch „reine Vernunft" in Bezug auf das Metempirische.
(Ib. 760 ff.) Aber ohne Kritik sind „alle jene Behauptungen blindlings
gewagt*. (Ib.) Der Dogmat. „fängt vom Unbedingten an und will völlig
a priori die ganze Kette der Bedingungen fassen und die Ableitung des Be-
dingten begreifen". 466. Der Dogm. glaubt an die Möglichkeit einer „a priori
sich enveiternden reinen Vernunft". 767. Indessen soll diese Erweiterung
doch nur durch Begriffsanalyse erreicht werden. Ib. 3 — 6. Nach alle-
dem ist Dogm. „die Anmassung, mit einer reinen Erkenntniss aus Begriffen
nach Principien, so wie sie die Vernunft längst im Gebrauch hat, ohne Er-
kundigung der Art und des Rechts, wodurch sie dazu gelangt ist, allein
fortzukommen. Dogmat. ist das dogmatische Verfahren der reinen Vernunft
ohne vorangehende Kritik ihres eigenenVermögens".(Vorr. B. XXXV.)
Hier nimmt der Philosoph „einen dogmatischen Trotz an und setzt den Kopf
steif auf gewisse Behauptungen, ohne den Gründen des Gegentheils Gehör
und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen". Krit. 407.
Ad B). Entd. R. I, 452: „Der Dogmat. in Ansehung des Uebersinn-
liehen" geht auf „Gegenstände, die nie in der Erfahrung gegeben
werden können " . Dieser „unbegrenzte Dogm. der reinen Vernunft" ent-
steht, wenn man es versäumt, die Möglichkeit der Erkenntniss a priori
kritisch zu untersuchen. Ib. 403. — Die Objecto der Metaphysik sind Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit. Das Verfahren derselben ist im Anfang dog-
matisch, d. h. „sie übernimmt ohne vorhergehende Prüfung des Vermögens
oder Unvermögens der r. V. zu einer so grossen Unternehmung zuversicht-
lich die Ausführung". Krit. 3. „Der dogmat. Gebrauch der Vernunft führt
auf grundlose Behauptungen" (in Ansehung des Uebersinnlichen). Krit. B. 22.
Der Dogmat. legt „intellectuelle Anfänge zu Grunde". Krit. A. 466. „Er
verlässt die Kette der Naturordnung, um sich an Ideen zu hängen, deren
Gegenstände er nicht kennt", er „geht in das Gebiet der idealisirenden Ver-
nunft und zu transscendenten Begriflfen über, wo er nicht weiter nöthig hat
zu beobachten, . . . sondern nur zu denken und zu dichten". Er glaubt
sogar „Thatsachen der reinen Vernunft unterordnen zu dürfen". Ib. 467 ff.
Derartige Begriffe sind Gott, Freiheit, Weltschöpfung, einfache Substanzen,
absolute Freiheit u. s. w. Hier „verkennt die Vernunft ihre wahre Bestim-
mung und thut mit Einsicht und Wissen gross da, wo eigentlich Einsicht
und Wissen aufhören". Das sind „idealische Erklärungen der Naturerschei-
nungen" (ib. 472). So verfährt also „der unkritische Dogmatiker, der die
Sphäre seines Verstandes nicht gemessen, mithin die Principien seiner mög-
30 Specielle Einleitung.
liehen Erkenntniss nicht nach Principien bestimmt hat, der also nicht schon
zum Voraus weiss, wie viel er kann, sondern es durch blosse Versuche aus-
findig zu machen gedenkt '', er stellt „Behauptungen auf, die er nicht recht-
fertigen kann*; kurz, er ist „ein dogmatischer Vernünftler*. Ib. 768.
Alle diese fehlgeschlagenen Versuche entspringen aus „dogmatisch-schwär-
mender, Wissbegierde, die nur durch Zauberkünste befriedigt werden könnte*.
Vorr. A. VIT. Der Dogm. „macht sich anheischig, die menschliche Erkennt-
niss über alle Grenzen möglicher Erfahrung hinaus zu erweitem und
die Fragen über die Natur der Seele und den ersten Weltanfang zu ent-
scheiden*. Ib. Vni. Sogar der Empirist Locke Ö&et einer derartigen „Schwär-
merei Thür und Thor*, denn „die Vernunft, wenn sie einmal derartige
Befugnisse auf ihrer Seite hat, lässt sich nicht mehr durch unbestimmte
Anpreisungen der Massigkeit in Schranken halten*. Krit. B. 128^ vgl. A. 854.
Beim gewöhnl. Dogmat. „bekommt die wissbegierige Jugend frühe und so
viel Aufmunterung über Binge, davon sie nichts versteht, und darin sie
so wie Niemand in der Welt auch nie etwas einsehen wird, bequem zu ver-
nünfteln*. Vorr. B. XXXI.
§3.
n. Skepticismus (Empirismus) K
A) Der Methode oder Form nach ist der empiristische Skepti-
cismus speciell als Sensualismus zu bezeichnen, d. h. die Erkenntniss
soll gewonnen werden durch die Empfindung. Wie alle Begriffe, so ent-
stehen auch alle allgemeinen Sätze durch Vergleichung der erfahrungsmässig
gegebenen Thatsachen, aus denen nach dem Vorbild der empirischen Natur-
wissenschaft inductiv zum Höheren aufzuschreiten und so die Philosophie
als Er fahrungs Wissenschaft zu begründen ist. Die Seele hat keinen an-
geborenen Inhalt, sondern ist eine „tabula rasa^, Erkenntniss von That-
sachen ist nur durch Erfahrung möglich.
B) Dem Object oder dem Inhalt nach ist der empiristische
Skepticismus als immanent zu bezeichnen. Alle Erkenntniss ist auf
den Erfahrungsinhalt eingeschränkt, soll also, wie sie nicht ohne Erfahrung
entsteht, so auch nicht über die Erfahrung hinaus. Die fortgeschrittene
Erichtung leugnet direct alles Uebersinnliche, alles Transscendente.
Stellen ans Kant: Ad A). Entd. R. I, 452: „Der Skept. ist das, ohne
vorhergegange Ejitik, gegen die reine Vernunft gefasste allgemeine Miss-
trauen, bloss um des Misslingens ihrer Behauptungen willen.* Der Skept.
* Die von Reinhold Preisschr. 244 ff. getroffene Aenderung^ den Empiris-
mus vom Skepticismus ganz zu trennen, ist an sich berechtigt, insbesondere in
Betreff des Problems der Wahrheit der Erkenntniss, entspricht aber nicht der
Kantischen Auffassung, wonach Empirismus zum Skepticismus führt. Das-
selbe gilt von Schulzens Eintheilung in seiner „Kritik d. theoret. Philos.^ Vergl.
Göring Viert, f. wies. Phil. I, 405.
Methode und Object des Skepticismus. 31
wendet sich zunächst gegen die Erkenntniss des Uebersinnlichen durch Ideen
der reinen Vernunft, weil gegen derartige Behauptungen das Gegentheil mit
demselben Becht behauptet werden kann; es „entspringt aber daraus ein
Verdacht gegen alle Erkenntniss a priori, welcher denn zuletzt die
allgemeine metaphysische Zweifellehre herbeifuhrt '^. Ib. 453. Vgl. hiezu Proleg.
§ 57. Diese besteht darin, dass der Skeptiker „die Vermehrung der Begriffe
ans sich selbst und sozusagen die Selbstgebärung unseres Verstandes (sammt
der Vernunft), ohne durch Erfahrung geschwängert zu sein, für unmöglich,
mithin alle vermeintlichen Principien derselben a priori für eingebildet" hält,
findend, «dass sie nichts als eine aus Erfahrung und deren Gesetzen ent-
springende Gewohnheit, mithin bloss empirische, d. i. an sich zufällige Hegeln
sind, denen wir eine vermeinte Noth wendigkeit und Allgemeinheit bei-
messen". Ib. 765. Dies bezieht sich speciell auf das Causalitätsgesetz oder
den Satz des zureichenden Grundes. „Ohne Erfahrung haben wir nichts,
was xmseren Begriff vermehren und uns zu einem solchen a priori sich selbst
erweiternden ürtheile berechtigen könnte." Ib. 765. So macht der Skeptiker
ans einem Princip, welches im Verstände seinen Sitz haben soll, und noth-
wendige Verknüpfung auszusagen in Anspruch nimmt, eine blosse Hegel der
Einbildungskraft. Ib. 766. 759. Der Empirismus führt damit nothwendig
zmn Skepticismus. Krit. pr. Vern. Vorr. XXVI ff. Ib. 90 ff'.
Ad B). Hume verwies alle eigentlich metaphys. Fragen ausserhalb den
Horizont der menschl. Vernunft. »Aus dem Unvermögen unserer Vernunft,
von dem Grundsatz der Causalität einen über alle Erfahrung hinausgehenden
Gebrauch zu machen, schloss er die Nichtigkeit aller Anmassungen der
Vernunft überhaupt über das Empirische hinauszugehen." Kritik 760. Die
Censur der bisherigen dogmatischen Versuche „fuhrt unausbleiblich auf
Zweifel gegen allen transscendentalen Gebrauch der Grundsätze". Ib. 761.
Der Verstand wird hier eingeschränkt auf das „Feld von lauter möglichen
Erfahrungen, deren Gesetzen er nachspüren und vermittelst derselben er seine
sichere und fassliche Erkenntniss ohne Ende erweitern kann". Man „ver-
lässt die Kette der Naturordnung nicht, um sich an Ideen zu hängen".
408 ff. Aber der Empirist begnügt sich nicht damit, zu zeigen, dass man
in Ansehung des Uebersinnlichen nichts wissen könne, „sondern der
Empirismus wird in Ansehung der Ideen selbst dogmatisch' und ver-
neint dreist dasjenige, was über der Sphäre seiner anschauenden Erkenntniss
ist und fällt so in den Fehler der ünbescheidenheit". Ib. 470. „Dem prak-
tischen Interesse der Vernunft wird dadurch ein unersetzlicher Nachtheil
' Unter Skepticismus versteht K. nicht die Meinung überhaupt, dass es kein
Wissen gebe, sondern, da für ihn Nothwendigkeit und Allgemeinheit Zeichen
wahren Wissens sind, eben die Leugnung dieser Merkmale. Vergl. Paulsen in der
Viert, f. wiss. Phil. I, 171.
« Vgl. ebenso Krit A. 388, B. 423 u. bes. Krit. d. Urth. § 90, A. 457 über
den dogmatischen Unglauben des Skeptikers gegenüber dem kritischen Zweifel-
glauben.
32 Specielle Einleitung.
verursachet." Ib. 471. Dem „dogmatischen Trotz" steht hierin die „skep-
tische Hoffnungslosigkeit" gegenüber. Ib. 407. So ist „der Skepticismus
der Grundsatz einer kunstmässigen und scientifischen Unwissenheit, welcher
die Grundlagen aller Erkenntniss untergräbt, um wo möglich überall keine
Zuversicht und Sicherheit derselben übrig zu laösen". Ib. 424. Eine der-
artige Negation des üebersinnlichen stürzt uns in den „Abgrund des Skep-
ticismus". Kr. d. pr. V. Vorr. III. Wenn man die Schranken der menschl.
Erkenntniss für Schranken des Erkennens überh. hält, wie Hume that, so ist
dies ein „transscendenter" Empirismus.
Das Yerhältniss des Dogrmatismns nnd Skeptieismiis
geht aus dem bisherigen klar hervor.
„Der Skeptic. setzt den grundlosen Behauptungen des Dogmat. ebenso
scheinbare entgegen." Krit. B. 22. So führt der Despotismus der Dogma-
tiker zum Skepticismus von selbst. Prol. §57. Vorr. A. Ulf. „Alles skeptische
Polemisiren ist eigentlich wider den Dogmatiker gekehrt . . . um ihm das
Concept zu verrücken und zur Selbster kenntniss zu bringen," die blosse
skeptische Censur kann jedoch „die Streitigkeit über die Rechtsame der
menschl. Vernunft niemals zu Ende bringen". Krit. A. 764. Der Skeptiker
richtet seine Zweifel sowohl gegen die Methode als gegen das Object des
Dogmatisten.
§4.
in. EriticismuB K
A) Der Methode oder Form nach ist der Kriticismus als
Rationalismus zu bezeichnen. Auf Grund genauer, streng wissen-
schaftlicher Untersuchung und Prüfung des Erkenntnissvermögens, insbesondere
der reinen, d. h. apriorischen Vernunft, stellt der Kriticismus Ursprung,
Umfang, Gültigkeit und Grenzen der Erkenntniss a priori, d. h. der aus dem
Subject stammenden , erfahrungslosen und daher allgemeinen und noth-
wendigen Erkenntniss fest.
B) Dem Object oder dem Inhalt nach ist der Kriticismus
insofern als immanent zu charakterisiren, als er die Möglichkeit
apriorischer Erkenntniss auf das Erfahrungsgebiet einschränkt, jedoch mit
ausdrücklicher Anerkennung eines uns indessen verschlossenen Gebietes des
Üebersinnlichen.
Stellen ans Kant: Ad A). Entd. R. I, 452. „Der Kriticismus .... ist
die Maxime eines allgemeinen Misstrauens gegen alle synthetischen Sätze
^ Mit „KriticismuB^ bezeichnet Kant nicht etwa im Allgemeinen Erkenntniss-
theorie oder Erkenntnisskritik^ sondern seine specielle historische Gestaltung der
Erkenntnisstheorie. Bei derselben bildet die Existenz der reinen Vernunft im
weiteren Sinne, d. h. apriorischer Bestandtheile des Erkennens weniger ein
Problem, als eine Voraussetzung.
Methode und Object des Kriticismus. 33
a priori, bevor nicht ein allgemeiner Grund ihrer Möglichkeit in den wesent-
lichen Bedingungen unserer Erkenntnissvermögen eingesehen worden." Die
Kritik sichert die apriorischen Grundsätze, die sich auf die Möglichkeit
der Erfahrung beziehen. (Ib. 453.) Sie »rettet den reinen Verstandes-
begriffen ihren Ursprung a priori" gegen Hume's Anzweiflung. Proleg. § 30.
K. hat (K. d. prakt. Vern. 94) die Kategorien »gerettet". »Die zur Reife
gekommene Kritik zeigt vorher die Möglichkeit der Erkenntniss a priori und
ihre allgemeinen Bedingungen- * (Ib. 453.) »Es kann der Vernunft ein
Fortgang a priori, wenn er durch bessere Grundlegung vorbereitet und ge-
sichert wurde, nicht gänzlich abgesprochen werden," die bisherigen schlechten
Erfolge »können nichts über die Erwartungen der Vernunft entscheiden,
einen besseren Erfolg ihrer künftigen Bemühungen zu hoffen und darauf
Ansprüche zu machen". Ib. 703. »Wir sind wirklich im Besitz synthetischer
Erkenntniss a priori, wie dieses die Verstandesgrundsätze, welche die Er-
fahrung antecipiren, darthun (z. B. der Satz: Alles, was geschieht, muss
eine Ursache haben. Bei aller Veränderung beharrt die Substanz , aller
Wechsel betrifft nur die Form) *. So steht »die Nothwendigkeit rationaler
Prindpien a priori ausser Zweifel". Kr. d. pr. V. Vorr. XXVIII. Wenn wir
den Ursprung, die Aechtheit und den Grund derartiger apriorischer Erkennt-
niss einsehen, können wir eben damit auch Umfang und Grenzen unserer Ver-
nunft bestimmen. Krit. 762.
Aber das Resultat des Kriticismus ist nicht bloss hinsichtlich der Methode
der Philosophie rationalistisch, d. h. derselbe zeigt nicht nur, dass Erkennt-
niss a priori möglich sei, sondern der Weg, auf dem jener Nachweis geführt
wird, ist selbst rationalistisch; zwei Dinge, die bei K. selbst oft ver-
wechselt werden und seitdem oft vermischt worden sind. »Eine Bestimmung
aller reinen Erkenntniss a priori" muss selbst apodiktisch sein. Vorr. A. IX.
Der Kritiker muss »rational verfahren". Vorr. zur. Kr. d. pr. Vern. XIII.
Die Methode des Kriticismus ist selbst dogmatisch, d. h. aus sicheren
Principien a priori sicher beweisend. Vorr. Krit. B. XXXV. Krit. 885 ff. Kr.
d. pr. Vern. Vorr. XVIH Anm. Brief an Herz v. 21. Febr. 1772 (ad fin.)*.
' Derartige apriorische Urtheile beziehen sich jedoch nur auf Allgemeines;
etwas Bestimmtes^ Einzelnes, z. B. eine specielle Ursache, kann nur durch Erfah-
rung erkannt werden.
' Es ist sonach wesentlich zu unterscheiden zwischen zwei verschiedenen
Bedeutungen des Ausdruckes „dogmatisch^ ;im8chlechtenSinneist dogmatisch
das apriorische rationalistische Verfahren ohne vorhergehende Ki*itik. Imguten
Sinne ist dogmatisch dasselbe Verfahren mit vorhergehender Prüfung. Die
Philosophie muss nach K. im guten Sinne dogm. verfahren; die Momente dieses
Verfahrens sind, dass
a) jeder Satz bewiesen werde,
b) der Beweis aus Principien geführt werde,
c) diese Principien a priori seien,
d) diese Principien sicher seien,
e) der Beweis apodiktisch sei.
V a i h in g e r, Kant-Gommentar. 3
34 Specielle Einleitung.
Ad B). „Ausser der Sphäre (dem Feld) der Erfahrung ist nichts für die
Vernunft Object." Krit. 762. So unterscheidet man in der Kritik „seinen
Besitz von dem, was gänzlich ausserhalb demselben liegt". Ib. 768. „Die
Nüchternheit einer strengen, aber gerechten Kritik kann uns allein von
dem dogmatischen Blendwerk . . . befreien und alle unsere speculativen
Ansprüche bloss auf das Feld möglicher Erfahrung einschränken, nicht durch
schalen Spott über so oft fehlgeschlagene Versuche oder fromme Seufzer
über die Schranken unserer Vernunft, sondern vermittelst einer nach strengen
Grundsätzen vollzogenen Grenzbestimmung" u. s. w. Krit. A. 895.
Hiedurch wird die Hoffnung gänzlich abgeschnitten, „in die reizenden
Gegenden des Intellectuellen zu gelangen". Ib. 726. Proleg. 204.
Anm. „Das Wort transscendental bedeutet nicht etwas, das über alle
Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht, aber
doch zu Nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntniss
möglich zu machen ^ Wenn diese Begriffe die Erfahrung überschreiten,
dann heisst ihr Gebrauch transscendent." Diesen Gebrauch lässt Kant nicht
Vgl. Mellin, W. II, 143 ff. Derselbe sclilug auch vor, das unerlaubte dog-
matische Verfahren lieber dogmatis tisch, das erlaubte dogmatisch oder besser
doctrinal zu heissen. Dem Ersteren entspräche dann der Dogmaticismus, dem
Anderen der Dogmatismus. Krug Lex. I, 635. u. Fundam. 265 verwirft jenen
Ausdruck. Vgl. dag. Schelling S.W. I, 301. Ausserdem hat dogmatisch noch zwei
Bedeutungen; die Eine s. unten S. 44, wo dogmatisch als Behandlung der Gegen-
stände selbst (gemeinsam in Dogm. u. Skeptic.) dem kritischen d. h. subjectiven
Verfahren gegenüber steht. Sodann steht dogmatisch-discursiv dem mathematisch-
intuitiven gegenüber; dies zerfällt wieder in dogmatisch im engeren Sinne und
transscendental oder kritisch, Kritik 184. 213. 712 ff. 734 ff. Die Unterscheidung
des „Kantianers'' in Maas s „Briefe^ u. s. w. S. 18 ff., dass dogmatisch im engeren
(schlechten) Sinn apodiktische Sätze seien, welche sich auf Dinge an sich be-
ziehen, dogmatisch im weiteren (guten) Sinn solche, welche am Leitfaden der
Erfahrung fortgehen, könnte sich ganz gut bei K. finden, indem dann nicht wie
oben die falsche Methode, sondern die unrichtigen Objecte betont wären. Bei
K. selbst steht dies jedoch nicht. Es kann hier sogleich erwähnt werden , dass
auch beim Skepticismus K. eine falsche und eine wahre skeptische Methode
unterscheidet. Jene ist die grundsätzliche Leugnung alles Apodiktischen und alles
Uebersinnlichen, diese ist das Verfahren, alle Behauptungen antithetisch zu be-
handeln, d. h. auch das Gegentheil derselben als möglich anzunehmen und so
durch Untersuchung dieses Streites zur Gewissheit und Entscheidung zu gelangen.
Krit. 424. VgL Brief an Mendelssohn v. 8. April 1766. Brief an Herz vom
7. Juni 1771.
* Als ein wesentliches Element ist die Bestimmung zu betrachten, womach
die Erkenn tniss a priori nicht blos etwa auf mögliche Erfahrung einge-
schränkt ist, sondern nur durch die Beziehung auf die Möglichkeit der
Erfahrung bewiesen werden kann. So kann das Gesetz der Causalverknüpfung
zwar a priori, aber doch nur durch und in Beziehung auf mögliche Erfahrung
erkannt werden. Krit. 766. Ist diese Aeusserung hier auch noch nicht ganz ver-
ständlich, so muss sie doch zur Vollständigkeit der Merkmalbestimmung
angeführt werden.
Kriticismus und Dogmatismas. Kriticismus und Skepticismus. 35
zu. Ib. § 34. Trotz der Unabhängigkeit von der Erfahrung, welche die
reinen Begriffe haben, gibt es doch keinen Gebrauch ausser dem Feld
der Erfahrung von ihnen.
,Die Grenzbestimmung unserer Vernunft kann nur nach Gründen a priori
geschehen." „Dass meine Unwissenheit schlechthin noth wendig sei und
mich datier von aller weiteren Nachforschung freispreche, lässt sich nicht
empirisch, aus Beobachtung, sondern allein kritisch, durch Ergrün-
dun g der ersten Quellen unserer Erkenntniss ausmachen." „Jene durch
Kritik der Vernunft selbst mögliche Erkenntniss seiner Unwissenheit ist
Wissenschaft", die blos empirisch [nach Art des Skepticismus] gewonnene
ist „nichts als Wahrnehmung, von der man nicht sagen kann, wie weit
der Schlnss aus selbiger reichen möge". Krit. 758. Prol. § 57. Der Umfang der
Erkenntniss muss nach Principien a priori festgestellt werden. Ib. Also
sowohl bei Peststellung der apriorischen Erkenntniss und dem Beweis ihrer
Gültigkeit, als auch bei der Grenzbestimmung ist die Methode Kants selbst
rational; dies sind zwei ausserordentlich wichtige Punkte.
§ 5 a.
Si>6ciellereB Yerhältniss des Kriticismus zum Dogmatismus ^
Entd. B. I, 453: die Kritik bestimmt die Grenzscheidung in Bezug auf
die Gültigkeit der apriorischen Erkenntniss, d. h. sie schränkt diese auf die
Erfahrungswelt ein, über welche sich allerdings a priori Gesetze aussprechen
lassen. Ohne diese Grenzscheidung hält man diese Grundsätze für solche,
welche weiter als bloss für Gegenstände der Erfahrung gelten. Ib. I, 416.
jjVon den [scheinbar] fnichtbaren Feldern der rationalen Psychologie und
Theologie schreckt das Medusenhaupt der Kritik den Dogmatiker zurück."
Die ,beim dogmat. Verfahren unvermeidlichen Widersprüche der Vernunft
mit sich selbst" löst die Kritik auf. Krit. B. 24. Das dogmatische
Wissen bläht auf; Kritik macht bescheiden. „Vorn. Ton" (ad fin.). Bei
der dogmat. Methode kann man viel für und dawider vernünfteln; die
kritische Methode ist nicht weitläufig. Ew. Fr. Anh. II, 1.* Durch den
' Vgl. besonders den Abschnitt der Kritik 712 — 738. «Die Disciplin
der reinen Vernunft im dogmatischen Gebrauche". Detaillirte Darstellung
des Verh. s. bei Jakob, Prüfung der Mendelssohn 'sehen Morgenstunden bes.
in. Vm— XII. Vorl. Vgl. Kants Bemerkungen zu dieser Prüfung (1786).
■ Hieher gehören auch alle Stellen, an denen sich Kant über Piaton, Car-
tefiins, Spinoza, Leibnlz, Wolf, Baumgarten und andere Dogmatiker
äussert, und in denen immer dieselben Merkmale sich finden. Die betreffenden
Aeusserungen werden später registrirt werden. Nach K. war der Dogmatismus
unkritisch, weil er nicht von einer Untersuchung des Vemunftvermögens ausgieng.
Dass dieser Vorwurf wenigstens Leibniz nicht treffe, hat Eberhard Phil. Mag.
Lj ßt. 2 mit Recht betont, und überhaupt den Gegensatz (des Dogm. u. Krit.) be-
stritten 265, (275, 289), „denn es kann auch eine kritische Phil, geben, die — dog-
36 Specielle Einleitung.
„veralteten, wurmstichigen Dogmatismus' ist die Metaphysik in grosse
Geringschätzung verfallen; die Kritik bereitet dagegen deren Umschaffung
und Neubegründung vor. Krit. Vorr. A. IV.
§ 5b.
Specielleres Yerhältniss des Kriticismus zum Skepticismus \
„Das skeptische Verfahren kann auf die Erweckung einer gründlichen
Vernunftprüfung grossen Einfluss haben." Krit. 764. Der Skeptiker ist „der
Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers auf eine gesunde Kritik des
Verstandes und der Vernunft selbst." Ib. 768. Vgl. Logik Einl. X. (In-
sofern hat der Skept. nach Krug, Fund. 267, einen relativen Werth,
während ihm der absolute abgesprochen werden muss.) Aber der Skeptiker
geht zu weit, hat kein sicheres Verfahren und dies ist unvollständig. Er
schränkt den Verstand ein, ohne ihn streng wissenschaftlich zu begrenzen;
er bringt einige Grundsätze des Verstandes unter Censur, ohne diesen Ver-
stand in Ansehung seines ganzen Vermögens auf die Probierwage der Kritik
zu bringen, und „indem er ihm dasjenige abspricht, was er wirklich nicht
leisten kann, geht er weiter, und streitet ihm alles Vermögen, sich a priori
zu erweitern". Er wird wegen der zufälligen Beschränkung selbst be-
zweifelt, denn nur eine principielle apriorische Grenzbestimmung „kann
eine nothwendige Entsagung auf das Recht dogmatischer Behauptungen
bewirken". Krit. 767«.
§ 6.
Die historischen Vertreter des Dogmatismus und Skepticismus.
Was die Ausfüllung dieser Kategorien durch historische Namen betrifft,
so hat K. selbst folgende Eintheilung getroffen. (Kritik, 852 ff. 470 ff.
270 f. Logik, Einl. IV.)
I. Dogm atismus. 1) Im Alterthum: Piaton, Stoa.
2) In der Neuzeit: Leibniz, Wolf.
matißch ist". Dasselbe sagt Schulze in seiner Kritik d. th. Philos. I, 88 ff. in
noch schärferen Worten. Vgl. Volkelt, Ks. Erk.-Theorie S. 7 ff. S. 11 ff.
' Vgl. besonders den Abschnitt der Kritik (739—769): „Die Disciplin
der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen [skeptischen] Ge-
brauchs.** Detaillirte Darstellung des Verhältnisses der Krit. zum Skeptic. s. bei
Jakob in seiner üebersetzung von D. Harne's Versuch über die menschl. Natur.
Anhang, bes. Abschn. I. VII— X.
* Hieher gehören auch alle Stellen, an denen Kant sich über Locke und
besonders Hume äussert Diese Stellen werden später zusammen geordnet werden.
Es finden sich daselbst keine andern Merkmale als die bisher angegebenen, wess-
halb eine Anführung derselben hier unnöthig ist.
Historische Vertreter des Dogmatismus und Skepticismus. 37
II. a) Empirismus. 1) Im Alterthmn: Epicur.
2) In der Neuzeit: Locke,
b) Skepticismus. 1) ImAlterthum: Pyrrhon, SextusEmpiricus.
2) In der Neuzeit: Hume^
Ausserdem wird von Kant, Krit. 854, (irrthümlicher weise) Aristoteles
zu den Empirikern gerechnet, weil er nach der auch bei Leib niz und im ganzen
Mittelalter herrschenden falschen Ansicht alle Erkenntniss auf Erfahrung
basirt habe. Zu den Dogmatikern gehört er aber (nach der Logik, Einl. IV),
weil er ^Speculationen' trieb. Andererseits wird einmal Locke (Krit. B. 127)
auf die Seite der Dogmatiker und Hume gegenüber gestellt, weil er trotz
seines Empirismus die , Erfahrungsgrenze* überschritt und (Krit. A. 854)
Gott und Unsterblichkeit für demonstrirbar hielt. [Für den Moderatismus
d. h. die bloss mechanische Vermittlung der Gegensätze fuhrt Kant keine
Namen an; wen er aber meint, ist klar: es ist die Popularphilosophie,
d. h. Männer wie Mendelssohn, Sulzer, Platner, Tetens, Feder.
Ob er aucb Lambert darunter gerechnet habe, kann dahin gestellt bleiben.
Derselbe suchte, wie Eiehl, Kritic. 180 ff. richtig ausführt (so schon Rein-
hold, Fortschr. 180. 174), zwischen Wolf und Locke zu vermitteln.
, Seine Vermittlung zwischen Demonstration und Erfahrung blieb jedoch
eine äusserliche Verknüpfung von beiden. Weit tiefer, ja von den Wurzeln
der Sache aus hat Kant den Gegensatz zwischen dem Intellectualsysteme
von Leibniz und Wolf, und dem Sensualismus der Erfahrungsphilosophie
vermittelt.* Vgl. Castillons Aufsatz über die Vereinigung von Cartesius
und Locke in den Abh. der Berl. Acad. 1770.]
§ 7.
Allgemeines Verhältniss der drei Standpunkte.
.„Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter
derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der zweite Schritt ist skeptisch
und zeugt, von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzigten Urtheilskraffc.
Nun ist aber noch ein dritter Schritt nöthig, der der gereiften und männ-
lichen Urtheilskraft." Diese prüft das ganze Vermögen der Erkenntniss
a priori und beweist aus Principien die Unwissenheit in Ansehung aller
Fragen, die sich aufs üebersinnliche beziehen. Der Skepticismus ist ein
Buheplatz für die menschliche Vernunft nach ihrer dogmatischen Wan-
derung, aber nicht ein Wohnplatz; diesen stellt nur der Kriticismus dar.
Kritik 761 f.* Dogm. und Skept. haben im Verh. zum Krit. auch gemein
^ Gesch, des Skepticism. e. bei Meilin V, 381 ff. nach Stäudlins Gesch.
des Skepticismus.
' In aasfahrlicher und höchst interessanter Weise sind diese drei Stadien
der Entwicklung in der Schrift über die Fortschritte der Metaphysik dar-
gestellt ; neue Elemente zur Merkmalsbestimmung enthält jedoch die Schrift nicht.
Vergl. bes. R. I, 490-494. 504. 515. 522 ff. 529. 530 f. 570 f.
38 Specielle Einleitung.
den Mangel an systematischer Allgemeinheit der behaupteten oder
bestrittenen Erkenntniss a priori. Ib. 766. Die skeptische Art, die Fragen
zu behandeln, hat einen grossen Nutzen; man ist dadurch eines grossen
dogmatischen Wustes überhoben und kann sodann an dessen Statt eine
nüchterne Kritik setzen. Ib. 486. Zwischen der Schwärmerei und dem
Skepticlsmus macht die Kritik den Versuch, die menschliche Vernunft
wie zwischen zwei Klippen, zwischen Scylla und Charybdis hindurchzubringen,
ihr einerseits bestimmte Grenzen anzuweisen, und dennoch das ganze Feld
ihrer zweckmässigen Thätigkeit für sie geöffiiet zu erhalten. Krit. B. 128 f.
Eine treffende Zusammenstellung der drei Methoden gibt die erste Auflage
bei Gelegenheit der Paralogismen S. 388 f. Dogmatiker und Skeptiker
geben so viel Einsicht ihres Gegenstandes vor als nöthig ist, etwas von ihm
bejahend oder verneinend zu behaupten, der Kritiker dagegen
macht nichts über die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst aus, son-
dern behandelt nur die Grundlagen unserer wahren oder angeblichen Er-
kenntniss derselben. Vgl. ib. 377 ff. die Zusammenstellung des dogma-
tischen, skeptischen und kritischen Idealismus. Vgl. Prol. Anhang. Nach
Krit. B. 423 werden beide Theile abgewiesen vom Kriticismus. Gegenüber
dem Dogmatismus wird gezeigt, „dass ein über die Grenzen möglicher Er-
fahrung hinaus versuchtes . . . Erkenntniss, soweit es der speculativen
Philosophie verdankt werden soll, in getäuschte Erwartung verschwindet**.
Aber indem die Strenge der Kritik beweist, dass über die jenseits der Er-
fahrung liegenden Gegenstände überhaupt nichts dogmatisch ausgemacht
werden kann, wird auch der dogmatisch verneinende Skepticismus abge-
schlagen. Vgl. bes. die treffliche Schilderung in Prol. § 4: „Ueberdrüssig
des Dogmatismus, der uns nichts [Gewisses] lehrt, und zugleich des
Skeptic, der uns gar überall nichts verspricht . . . bleibt uns nur
noch eine kritische Frage übrig," u. Prol. § 58: „Kritik der Vernunft
bezeichnet den wahren Mittelweg zwischen dem Dogmatismus, den Hume
bekämpfte, und dem Skepticismus, den er dagegen einführen wollte,
einen Mittelweg, der nicht wie andere Mittelwege, die man gleichsam mecha-
nisch (Etwas von Einem und Etwas von dem Andern) sich selbst zu be-
stimmen anräth, und wodurch kein Mensch eines Besseren belehrt wird,
sondern einen solchen, den man nach Principien genau bestimmen kann'
U I
* Eine weitere Ausführung mit besonderer Berücksichtigung dieses falschen
Vermittlungssystems gibt K. in der Verkünd. d. nahen Abschlusses eines Tractates
zum ewigen Frieden in der Philos. I, A. „Der Dogmat. ist ein Polster zum
Einschlafen und das Ende aller Belebung. Der Skeptic, welcher, wenn er voll-
endet daliegt, das gerade Widerspiel des Ersteren ausmacht, hat nichts, womit er
auf die regsame Vernunft Einfluss ausüben kann; weil er Alles ungebraucht zur
Seite legt. — Der Moderatismus, welcher auf die Halbscheid ausgeht, in der
subjectiven Wahrscheinlichkeit den Stein der Weisen zu finden meint . . .
ist gar keine Philosophie. Kritische Philosophie ist diejenige, welche nicht mit
den Versuchen, Systeme zu bauen oder zu stürzen oder gar nur (wie der
Mod.), ein Dach ohne Haus zum gelegentlichen Unterkommen auf Stützen zu
Verhältniss der drei Standpunkte. Das Bild vom Ooean. 39
Vgl. die Schilderung der drei Systeme in der Logik Einl. X: »Der Dogm.
ist ein blindes Vertrauen auf das Vermögen der Vernunft, ohne Kritik
sich a prioi-i durch blosse Begriffe zu erweitem." Der Skeptic. „thut auf alle
behauptende Erkeüntniss Verzicht und vertilgt alle unsere Bemühungen,
zum Besitz einer Erkenntniss des Gewissen zu gelangen*. Unter dem
krit. Verfahren ist , diejenige Methode des Philosophirens zu verstehen,
nach welcher man die Quelle seiner Behauptungen oder Einwürfe unter-
sucht, und die Gründe, worauf dieselben beruhen, eine Methode, welche
Hoffoung gibt, zur Gewissheit zu gelangen". Vgl. Ks. Bemerkungen zu
Jakobs Prüfung der Mend. Morgenst. über Dogm. Skept. u. Kritik in Bezug
auf den Gottesbegriff. Vgl. Prol. § 52 in Bezug auf die Antinomien.
Vgl. ib. § 4.
Eine besonders elegante Verdeutlichung des Verhältnisses der drei Systeme
gibt K. Prol., Vorr. 17, vgl. mit Kritik 235, A. 395. 726; Portschr. d. Metaph.
B.I, 487; ,Demonstr. Gottes" (1763) Vorr,; Dissert. von 1770 § 22 Schol.
Der Dogmatismus wagt sich kühn und ohne weitere Vorbereitung „auf
den bodenlosen Abgrund der Metaphysik" ; dies ist ein finsterer Ocean ohne
Ufer und ohne Leuchtthürme; unbemerkte Seeströme verwirren den Lauf,
aller Behutsamkeit ungeachtet. (Dem.) Der Dogmat. wagt es „in aUutn
indagationutn mysticarum provehi". (Diss.) Aber die Metaph. ist „ein ufer-
loses Meer, in welchem der Fortschritt keine Spur hinterlässt, und dessen
Horizont kein sichtbares Ziel enthält, an dem, um wie viel man sich ihm
genähert habe, wahrgenommen werden könnte". (Fortschr.) Das „Land der
Wahrheit ist umgeben von einem weiten und stürmischen Oceane, dem
eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank und manches bald
hinwegschmelzende Eis neue Länder lügt, und, indem es den auf Entdeckungen
stellen, sondern von der Untersuchung der Vermögen der menschlichen Ver-
nunft . . . anfängt, und nicht so ins Blaue hinein vernünftelt, wenn von Philoso-
phemen die Rede ist, die ihre Belege in keiner möglichen Erfahrung haben können."
Dieser Moderatismus wurde späterhin Eklekticismus oder Synkretismus ge-
nannt Vergl. Schulze, Kritik der th. Phil. I, 100 f. Ueber den Ausdruck „Mo-
derat« vergl. Reinhöld, Briefe I, 124. In der Krit d. prakt Vem. 44 tadelt K.
denselben Synkretismus unter dem Namen „Coalitionssystem". (Bardili
wirft freilich K. selbst [Grundr. d. erst Logik 345] „Syneretismum enormem^ vor
in einer sehr lesenswerthen Steile.) Vergl. Zimmermann, Lambert 8, wo be-
sonders die irenischen Bestrebungen der Berliner Academie betont werden*, ib. 17 ff.
über Lamberts Vermittlungsversuch. »Der Kriticismus leistete wirklich, was
der Eklekticismus vergeblich versprochen hatte." Reinhold, Beitr. z. 1. üeber-
sicht 2, 8. Der schroffe Gegensatz, in den K. jene beiden Richtungen brachte,
„ist ein hohes Verdienst gegenüber der Verkommenheit des Eklekticismus, in welche
die deutsche Philosophie bis 1781 immer tiefer versank". (Paulsen, Entw. 99.)
Da nahm man aus beiden diametralen Systemen Stücke, um ein unmögliches
Ganzes zu erhalten. Mit der diktatorischen Strenge des Genies stellt K. jene
Systeme als die beiden einzig möglichen Richtungen liin, welche dem kritischen
Verfahren vorhergehen können.
40 Specielle Einleitung.
herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoifnungen täuscht,
ihn in Abenteuer verflicht, von denen er niemals ablassen und sie doch auch
niemals zu Ende bringen kann". (Krit. 235.) Während der Dogmatismus
sich auf diese kühne, aber vollständig misslingende Fahrt wagt, setzt Hume,
der Empirist, „sein SchiflP, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand
(des Skepticismus), da es denn liegen und verfaulen mag**. (Prol. Vorr.)
Anders der Kriticismus. Bei diesem kommt es darauf an, „dem Schiff
einen Piloten zu geben, der nach sicheren Principien der Steuermannskunst,
die aus der Kenntniss des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen
Seekarte und einem Compass * versehen, das Schiff sicher führen könne,
wohin es ihm gut dünkt". Nur dem Skepticismus gegenüber ist das
Schiff des Kritikers so seetüchtig und ist die Fahrt so sicher. Anders ist
nämlich die Bestimmung gegenüber dem Dogmatismus. Während dieser
sich aufs hohe Meer der Speculation wagt, treibt der Kriticismus — Küsten'
fahrt. „Consultius videtur, littus legere cognitionum per intellectus nostri
inediocritatem nohis concessarum, quam in altum .... provehL" (Diss.)
Die Grenzbestimmung in der Kritik „heftet ihr nihil ttUerius mit grossester
Zuverlässigkeit an die herkulische Säule, welche die Natur selbst aufgestellet
hat [vgl. Diss. nicht „uUra tenninos certitudinis apodicticae, quae meta-
physicam decet, promovere^^, um die Fahrt unserer Vernunft nur so weit,
als die stetig fortlaufenden Küsten der Erfahrung reichen, fortzusetzen, die
wir nicht verlassen können, ohne uns auf einen uferlosen Ocean zu wagen,
der uns unter immer trüglichen Aussichten am Ende nöthigt, alle beschwer-
liche und langwierige Bemühung als hoffnungslos aufzugeben*. [Nach einer
anderen Version des Bildes ist das Land der Wahrheit eine durch die Natur
selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossene Insel, umgeben von eidem
weiten und stürmischen Ocean (vgl. oben Krit. 235). Dieses umgebende Meer
sucht die Kritik nach allen Breiten durch, um gewiss zu werden, ob etwas
in ihnen zu hoffen sei.] Bemerkenswerth ist, dass dem Skepticismus gegen-
über die mögliche Sicherheit (der Rationalismus), dem Dogmatismus
gegenüber die Begrenzung (die Grenzbestimmung) betont wird. Mit dem
Letzteren will die Kritik wohl Fahrten wagen, aber mit Compass und Pilot
und am Ufer, gibt aber dem Ersteren zu, dass über die Küsten hinaus keine
Fahrt mehr möglich ist — nichts mehr zu hoffen ist '. — Anziehend formulirt
Neeb, Vernunft gegen Vernunft 38 ff., dieses Verhältniss : „K. beweist, dass
* Dieser „Compass" ist nach dem Brief an Jacobi v. Oct. 1789 die Ver-
nunft. Mit ihr ist die „glückliche Durchfahrt", welche mit den „vollen Segeln
des Dogm." nicht möglich ist, nämlich durch die „Klippen" ermöglicht. Vgl.
Fortschr. d. Met. R. I, 510: Die Leibn. - Wolfsche Philos. habe den Philosophen
ausser dem Aristot. Satz d. Wid. noch einen neuen Compass zur Leitung in die
Hand gegeben, nämlich den Satz des zur. Grundes für die Existenz der Dinge.
* Üebrigens findet sich das Bild vom Ocean der Metapliysik schon bei Locke,
I, 1, § 6. 7., sowie bei Bacon, De Augm, Scient. IX, 1. Vgl. auch Herz, Be-
tracht. S. 6, und V. Schölten, Berl. Mon. VII, 398 ff. (1786).
Allgemeines Verhältniss der drei Standpunkte. 41
die Vernunft nicht so weitsichtig sei, als sie Leibniz haben will, und
nicht so blöde, als sie Hnme hält. Sie ist, wie er gezeigt hat, kein
Sonnenvogel, der im reinen Aether des üebersinnlichen lebt und schwebt,
und keine Auster, die, in das enge Gehäuse dumpfer Gefühle eingeschlossen,
nnr von ihrem subjectiven animalischen Zustande Bewusstsein hat. Er zeigte,
dass es eine ebenso grosse Vermessenheit ist, sich auf Treue und Glauben
einer hülflosen Vernunft über die Natur hinauszuwagen, als tadel-
hafte Verzagtheit, es mit einem selbstthätigen und von der Sinnlichkeit
unterstützten Verstände nicht einmal zu wagen, etwas über ihre in-
wohnenden Gesetze zu entscheiden* \ „Leibn. erhob die fragliche Vorstell-
kraft über ihre Schranken, indem er nur auf ihre Thätigkeit Rücksicht
nahm; sie wurde zügellos. Hume erniedrigte die Vernunft unter ihren
Wirkungskreis, indem er nur auf ihr leidentliches Verhalten sah; sie
schien ihm regellos. Kant bestimmte ihre Grenze und wog ihre Selbst-
thätigkeit gegen ihr Leiden ab, und bewies sie als gesetzlich.* „So
hält auch im K. 'sehen System die Welt der Erscheinungen die Mitte
zwischen dem Phantasiereich der Natur im Hume'schen Skept. und der
intelligibeln Welt im Leibn. Dogm. Diese Erscheinungswelt ist gleich-
weit entfernt von dem absoluten Dinge und von dem leeren Scheine.*
,K. erkannte, dass Leibn. Recht hatte, wenn er den Grund der nothwen-
digen Harmonie in einem Verstände aufsuchte, und dass Hume nicht
irrte, wenn er bei dem Menschen stehen blieb.* Vgl. (Thanner), Der
transc. Ideal. Münch. 1805: „K. zog eine Art Diagonale des Philosophirens.
Wenn der Dogmat. zu gläubig an der Macht der Begriffe und des Rai-
sonnements hieng, hingegen der Skept ic. zu ungläubig alles verwarf, was
den Begriffen angehörte: so prüfte Kant* u. s. w. Reinhold, Briefe I,
100 ff.: Bisherhat man der Vernunft zu viel oder zu wenig zugemuthet.
Die Abgötterei, welche mit ihr getrieben, und die Verachtung, welche
ihr bezeugt wird, gehen bis zum Lächerlichen. Beide Theile beschuldigen
sich einander des Verkennens der Vernunft. Dies beweist das Bedürfniss
einer Kritik der Vernunft. Rosenkranz, Gesch. d. K.'schen Phil. 156: „In
der Kritik d. r. V. floss Alles, was in K, seit Jahren sich geregt hatte, zu
einem breiten Strom zusammen, der mit kleinem Wellenschlage langsam
einherdrängte, aber mit sicherer Gewalt die Verschan zungen der scho-
lastischen Philosophie durchbrach und die Pussangeln Ües Skepticismus hin-
wegschwemmte.* Saint es a. a. 0. 85 stimmt Biedermann (Die deutsche
Philos. I, 64) bei, Ks. System sei das, was man in der Politik die ^tiste-
mUieu" nenne (natürlich im guten, lobenden Sinne des Wortes). Diese Auf-
gabe, Extreme zu vermitteln, schreibt Erdmann a. a. 0. III, 1, 2 ff.
der ganzen modernen Philos. zu. Die Neuere Philos. erkennt in dem Idea-
lismus (= Dogmat.) ihren Vater an und muss in der realistischen
Tendenz (= Empir.) ihre Mutter ehren. Bach a. a. 0. 19: Kant nahm
■ Die Wahlsprüche der drei Systeme sind nach Neeb a. a. 0. 44; Nil ad-
mirari (Dogm.); Berte desperare (Skept.): S apere au de (Krit.).
42 Specielle Einleitung.
dem Dogmat. die „animi objectivitatem, ü e. eam vim, qua praeter for-
mam etiam materiam amnis cognitionis in se coniineret^ ; dem Empirism.
gegenüber rettete er die „subjectivitatem experieniiae i. e. vim fortna-
tivam. Itaque ah intellectimlismo suhjectivitatem animi, ah empirismo objec-
tivitatem naturae retinuit Kantius etc. * — Nach demselben Schema ' theilt
K. in Bezug auf die Moral die Systeme in Mysticismus, Empirismus
und Rationalismus. Jener legt den moralischen Begriffen wirkliche und
doch nicht sinnliche Anschauungen eines unsichtbaren Reiches Gottes unter
und schweift ins Ueberschwengliche hinaus. Der Zweite setzt die prakti-
schen Begriffe des Guten und Bösen blos in die Erfahrung und reducirt sie
auf die Glückseligkeit und Selbstliebe und blosse Neigung und rottet die
Wurzel aller sittlichen Handlungsweise aus. Er ist der Sittlichkeit gefähr-
licher als der erstere. Der von K. selbst vertretene Rationalismus be-
ruht auf den apriorischen Gesetzen der praktischen Vernunft, ist also weder
übersinnlich noch sinnlich. Vgl. Krit. pr. Vern. 124 ff. Gegenüber der
Seichtigkeit des Empirismus neigt sich E. ib. 168 sehr stark dem Mysti-
cismus und der Eröffnung einer intelligibeln Welt zu. — Auch in der
Aesthetik spielt derselbe Gegensatz seine Rolle. Da stehen sich gegenüber
der Empirismus der Geschmackskritik und der Rationalismus; letzterer
theilt sich in Realismus und Idealismus. Der erste dieser beiden entspricht
dem Dogmatismus, der andere dem Kriticismus. Auch hier ist also
Kant dem Dogmatismus nahe verwandt, wenn er auch dem Emp. Zugeständ-
nisse macht. Vgl. Krit. der ästh. Urth. § 58. — In der Kritik der teleol.
Urtheilskraft § 72 ff. stehen sich gegenüber einerseits der hier mit dem
Empirismus zusammenfallende Idealismus (Epicur, Spinoza) und der mit dem
Dogmatismus identische Realismus (bes. der Theismus), und andererseits
der Kriticismus; jene beiden ersteren Systeme sind dogmatisch. — In
Bezug auf die Religion stehen sich Theismus, Atheismus (Supranaturalismus,
* In älteren, bes. Hegelianisirenden Darstellungen, spec. bei Rosenkranz und
Erdmann, findet man den Gegensatz der drei Richtungen auch so präcisirt, dass
der Dogmat. mehr das Subject, der Empirismus mehr das Ob j ect betont habe.
Jenem gieng das Object im Subject, diesem das Subject im Objeet auf u. s. w.
Kant habe Object und Subject vermittelt, indem er beide gegenüberstellt und
jedem das Seine gibt. • Diese Kategorien, übrigens nicht einmal Kantische, sind
aber zu v a g zur scharfen Präcisirung der historischen Gegensätze, und desshalb
führt der Versuch , dieselben dennoch durch diese Kategorien zu fassen , zu
Spielereien, so bei Rosenkranz, Gesch. d. Kantischen Phil. S. 6 ff. 117. 157.
* Dieses durchgängige triadische Schema Kants ist eine bis jetzt un-
beachtete Quelle der bei Fichte, Schelling und bes. Hegel so bedeutsamen und
fruchtbaren dialectischen Methode. Wie hier der Dogmatismus in Skepti-
cismus umsciilägt und beide durch den Kriticismus vermittelt und überwunden
werden, so schreitet jene Methode in Thesis, Antithesis und Synthesis fort,
Speciell in Bezug auf den vorliegenden Punkt wird der Kriticismus Kants von
seinen Nachfolgern jedoch selbst zu einem Momente in diesem geschichtlichen
ProcesB herabgesetzt. Vgl. unten S. 58 über Ks. Vermittlungstendenz.
Kritische und dogmatische Methode (im weiteren Sinn). 43
Natnralismiis) und kritischer Deismus gegenüber, Krit. 630 £f. (wie in der
Psychologie: Spiritualismus, Materialismus und Kritic. Krit. A. 381 ff.
Rosenkranz, Gesch. d. K. Phil. 262). Eine andere Dreitheilung s. im
Streit der Facultftten I. Abschn.: seelenloser Orthodoxismus, vernunft-
tödtender Mysticismus und (die Religion aus der Vernunft selbst in üeber-
einstimmung mit der Bibel entwickelnder) Kriticismus.
§ 8.
Spedeller (Gegensatz des Eriticismus einerseits und des Dog-
matismus nnd Empirismus andererseits. Kants subjectivistische
Wendung.
Der Kriticismus steht dem Dogm. und Emp. gemeinsam auch insbesondere
insofern gegenüber, als diese beiden die Gegenstände selbst behandeln,
der erstere dagegen ihr Verhältniss zu unserem Er kenntniss vermögen.
Vgl. Krit. 484. 758. Krit. d. Urth. § 72 Anm. und bes. § 74. Das dogm.
Verfahren geht direct auf die Objecte. Das kritische betrachtet die sub-
jeetiven Bedingungen, ohne es zu unternehmen, über das Object etwas
zu unterscheiden V Met. Anf. d. Naturw. I, 1, Anm. 2. K. will daselbst
5 den Begriff der Materie nicht durch ein Prädicat, was ihr selbst als Object
zukommt, sondern nur durch das Verhältniss zum Erkenntnissvermögen,
in welchem mir die Vorstellung allererst gegeben werden kann, erklären".
Ib. IV. Schlussworte: Wenn es sich um das absolute Ganze handelt, bleibt
nichts übrig, „als von den Gegenständen auf sich selbst zurückzukehren,
am anstatt der letzten Grenze der Dinge die letzte Grenze des . . . Ver-
mögens zu erforschen und zu bestimmen". Diese subjectivistische Wendung
nennt K. seine kritische Methode im Unterschied der dogmatischen Me-
thode, sowohl des Dogmatismus im engeren Sinn, als des Skepticismus \ [Es
ist somit hier der Gegensatz um eine Nuance anders als bisher. Sonst steht
die kritische Methode der dogmatischen und der skeptischen gegenüber
und bezeichnet dann den Kriticismus in dem oben definirten Sinne — Aprio-
rismus und Bationalismus, aber beschränkt auf den Erfahrungskreis. In
dem letzteren Sinne spricht K. am Schluss der Kritik 856 von der kriti-
' In diesem Sinne unterschied dann später Reinhold den positiven nnd
den negativen Dogmatismus. S. bes. Beiträge zur Bericht, d. bish. Missv.
II, 159-206.
' Im modernen Sinn heisst das : K. hat die Erkenntnisstheorie vor die Meta-
physik gestellt. Dass das aber schon Locke und noch mehr Hume gethan haben,
ja auch schon Leibniz, ist aus der Geschichte bekannt. Dass die Philosophie be-
ginnen nnd sogar schliesslich sich begnügen müsse mit einer Theorie des Er-
kenntnissvermögens, ist eine Erkenntniss, zu welcher K. erst allmälig kam. Zur vollen
Einsicht hievon gelangte er indessen schon 1766 in der Schrift über die Träume
eines Geistersehers, wo „er, um modern zu reden, Erkenntnisstheorie an Stelle
der Metaphysik setzte "^ (Paulsen 94). Windelband, Gesch. d. n. Phil. II, 28.
44 Specielle Einleitung.
sehen Methode im Gegensatz zur dogmatischen Wolfs und zur skeptischen
Hume*s^] In diesem Sinne nennt er seine Kritik einen Tractat von der
Methode (Vorr. B. XXII vgl. A. 11 ff.); dieser neue Weg soll zu einem
systematischen Ganzen apriorischer Wissenschaft führen, nachdem
überhaupt gezeigt ist, wie es Erkenntniss a priori von Gegenständen geben
könne und dass dieselbe nur im Erfahrungsumkreis Gültigkeit besitze. Diese
Auffindung einer neuen Methode betont schon Tieftrunk in seiner Ein-
leitung zu Ks. vermischten Schriften. Und neuerdings hat man den Haupt-
zweck Kants mehrfach in die Auffindung einer neuen Methode gesetzt.
Bes. Kannengiesser, Dogmat. und Skeptic, betont das methodologische
Problem als Kants Hauptproblem, sowie Paulsen (Entw.) und Matosch ^
üeber diesen Gegensatz äussert sich Fischer, Gesch. 18 ff., so: „In
der dogmatischen Periode war die Philosophie entweder Metaphysik oder
Erfahrung, hier dagegen sind Metaphysik und Erfahrung die nächsten
Objecte der Philosophie. Mithin ist die dogmatische Philos., verglichen
mit der kritischen, eigentlich nicht deren Gegensatz, sondern deren Gegen-
stand." Der do^. Philosoph ist das Auge, dessen Objecte die Dinge
sind; der kritische Philosoph ist der Optiker, dessen Object das Auge, die
Bilder der Dinge im Auge, mit Einem Worte das Sehen selbst ist.
^ Kritische Methode hat also bei K. zwei Bedeutungen: bald bezeichnet der
Ausdruck die Wendung von den Gegenständen auf das Subject, bald die
Prüfung des reinen Vernunftvermögens vor dessen Anwendung. Die
erste Bestimmung mündet in die phänomenalistische ^ die andere in die rationa-
listische Seite seines Systems. Im ersteren Sinne (kritisch - subj ecti vis tisch),
welcher hier behandelt wird, ist der Gegensatz von „kritisch" nur „dogma-
tisch''; dieses umfasst dann (als objecti vis tische Behandlungsart) sowohl die
Rationalisten (als Dogmatisten im engeren Sinn), als die Empiristen. In dem
letzteren Sinne dagegen (kritisch-prüfend), welcher Gegenstand der §§4 — 7 war,
hat „kritisch'^ den Doppelgegensatz von „dogmatischer" und von „skep-
tischer" Philosophie, deren erstere transscendente und rationale Erkenntniss an-
nimmt, während die letztere dieselbe verwirft. Das Annehmen, Verwerfen,
Prüfen jener Erkenntniss sind hier die drei Standpunkte; sie lassen sich aber
auch auf zwei reduciren: denn Annahme und Verwerfung finden beide un-
geprüft statt, während K. erst prüft. Vgl. Windelband a. a. 0. 16. 48.
' Mit Vorliebe hatte K. von Anfang an bei jeder Untersuchung der Methode
sein Interesse zugelenkt. Schon in der Erstlingsschrift § 88 legt er seine daselbst
befolgte Methode dar, „welche die Hauptquelle dieser ganzen Abhandlung ist".
Der Mangel dieser Methode war die Hauptursache der bisherigen Irrthümer. Alle
folgenden Schriften berühren hin und wieder, aber an entscheidenden Stellen die
Methodenfrage, bis in der Preisschrift 1764 die Methode der Philos. selbst
zum Gegenstande der eingehendsten Untersuchung gemacht wird. Dort ist ihm
Newtons Methode das Vorbild (Einl., 2. Betracht.), und die äclite Methode der
Metaphysik scheint ihm einerlei zu sein mit derjenigen, welche Newton in die
Naturwissenschaften einführte. (Davon kommt er freilich später, d. h. in der
Kritik zurück.) In dem Bestreben einer Verbesserung der Methode der Metaphysik
fand K. Beihilfe und Aufmunterung bei Lambert. Vgl. bes. dessen Brief an
K. vom 13. Nov. 1765. Vgl. Windelband, Gesch. d. n. Phü. II. 21 ff.
Kants subjectivistische Wendung. Das Bild vom Schwimmen. 45
Gegenüber dem Hinweis auf die älteren erkenntnisstheoretischen Unter-
sachungen bei Cartesius, Spinoza, Malebranche, Leibniz, Wolf, Berkeley, Hume
und dem Einwand, anch hier sei in diesem Sinne kritische Philosophie ge-
^eesen, macht Fischer geltend, dass dieses blosse Versuche gewesen seien,
keine Lösung, und dass K. einen völlig neuen Weg eingeschlagen habe.
Jene haben die Erkenntni&s erklärt, etwa wie wenn die Physiker die Electricität
oder die Wärme aus einer electrischen Materie, aus einem Wärmestoff er-
klärten: sie wiesen auf einen vorhandenen Erkenntnissstoff hin, die Erfahrung
oder die Vernunft, also auf ein Er kenntnissf actum, nicht auf die Fac-
toren der Erkenntniss, nicht auf die aller Erkenntniss voranliegenden Be-
dingungen, die selbst noch keine Erkenntniss sind. Jene setzten die Erkennt-
niss schon voraus, K. zeigte ihren Ursprung aus den ihr vorhergehenden
und zu Grunde liegenden Bedingungen. Ausserdem ist allerdings anzu-
erkennen, dass sich die entgegengesetzten Richtungen beide in ihren letzten
Vertretern immer mehr der kritischen Philosophie näherten, so bes. in Leibniz
und in Hume. Fischer a. a. 0. 28 f. Den Einwand Hegels, (Enc. § 10) Kants
Unternehmen sei imgereimt, denn indem er vor dem Erkennen das Erkenntniss-
vermögen untersuchen wolle, wolle er erkennen vor dem Erkennen, oder
erst schwimmen lernen, ehe er ins Wasser gehe, hat K. Fischer * glücklich
daselbst zurückgewiesen (a. a. 0. 24) ; es handle sich nicht darum, schwimmen
zn lernen, sondern das Schwimmen zu erklären*. Er konnte noch hinzu-
setzen, dass durch die dadurch ermöglichte bewusste Ausübung auch aller-
dings die betreffende Funktion besser als bisher ausgeübt und in diesem
Sinne gelernt werden solle. — Man nennt dies die subjectivis tische Wen-
dung Kants'. Dieselbe entstand historisch genau um dieselbe Zeit, als
Kant die Idee der Kritik der Vernunft fasste, welche vor der Metaphysik
einherzngehen habe. Die erste Spur derselben findet sich in den Tr. e. Geisters,
1766 im Schlussabschnitt. Nachdem schon im vorletzten Abschnitt die
Erkenntnissfheorie neben die Metaphysik gestellt worden war als eine
, Wissenschaft von den Grenzen der menschl. Vernunft", sagt K. a. a. 0.:
.Die Fragen von der geistigen Natur, von der Freiheit und Vorherbestim-
* Ueberweg (Gesch. HI, § 18. S. 202) weist diesen Einwand zurück durch
Unterscheidung des vorkritischen und kritisch-philosophischen Denkens. Vgl. id.
Syst d. Logüt §31. Harms, Phil. s. Kant, 138. Göring, System I, 16 ff. A s-
mufl. Das Ich. S. 86. Sigwart, Gesch. d. Phil. III, 147. Schelling, W. W.
1. Abth. X, 79. üeber Herbarts [W. W. I, 55. 256. II, 250 ff. HI, 118. 230.
y, 227] ähnliche Einwände Göring a. a. 0. 27 ff. Liebmann, Kant S. 47.
' Nach Fischer, Gesch. UI, 298 ff. ist Inhalt der Kritik: Erklärung
der Thatsache der menschlichen Erkenntniss, d. h. Aufsuchung der Be-
dingongen^ aus denen sie folgt, die das Factum ermöglichen und zwar einzig und
allein ermöglichen, neben denen keine andere möglich sind. (Vgl. jedoch oben
8. 5 Anm.) Damit wird denn auch über die Rechtmässigkeit der t raus sc.
Metaph. entschieden.
' Welche freilich schon Hume auch gemacht hatte. Göring, Viert, f. wiss.
PhÜDS. I, 405.
46 Specielle Einleitung.
mung, dem künftigen Zustand u. dgl. bringen anfänglich alle Kräfte des
Verstandes in Bewegung und ziehen den Menschen durch ihre Vortrefflicb-
keit in den Wetteifer der Speculation, welche ohne Unterschied klügelt
und entscheidet, lehrt oder widerlegt, wie es die Scheineinsicht jedesmal mit
sich bringt. Wenn diese Nachforschung aber in Philosophie ausschlägt,
die über ihr eigen Verfahren urtheilt, und die nicht die Gegen-
stände allein, sondern deren Verhältniss zu dem Verstände des
Menschen kennt, so ziehen sich die Grenzen enger zusammen, und die
Marksteine werden gelegt, welche die Nachforschung aus ihrem eigenthüm-
lichen Bezirke niemals mehr ausschweifen lassen'.* Noch mehr tritt diese
Wendung in der Dissertation von 1770 hervor, welche die erste Probe
des neuen Princips ist. Sogleich im § 1 nimmt er in die Definition der
Welt die „causas in subjecti indole cantentas^ auf, indem er nicht bloss
aftgibt, was Welt ist, sondern inwiefern bei diesem Begriff unsere subjective
Thätigkeit der Synthesis mit im Spiele ist. Und im Uebrigen ist die ganze
Schrift der Unterscheidung der leg es subjecti im Gegensatz zu den con-
ditiones ipsorum objectorum gewidmet (bes. auch § 30); die consequente
Durchfuhrung der subjecti vistischen Methode ist aber erst in der Kritik ge-
liefert. An manchen Stellen, z. B. Metaph. 201. 213, ist Philos. geradezu
gleich Erforschung der Erkenntnissqnellen an Stelle der der Erkenntnis s-
objeete. Vgl. Kants Worte bei Erdmann, Proleg. Vorrede LXXXVTI:
„Ich fand allmälig, dass viele von den Sätzen, die wir als objectiv ansehen,
in der That subjectiv seien, d. h. die Gonditionen enthalten, unter denen
wir allein den Gegenstand einsehen oder begreifen." In diesem Sinne schreibt
er an Herz (7. Juni 1771): „Sie wissen, welchen grossen Einfluss die gewisse
und deutliche Einsicht in den Unterschied dessen, was auf subjectiviaohen
Principien der menschl. Seelenkräffce , nicht allein der Sinnlichkeit, sondern
auch des Verstandes beruht, von dem, was gerade auf die Gegenstände geht,
in der ganzen Weltweisheit . . . habe.** Nur ist hier (vor 1781) noch immer
die Hoffnung auf irgend eine gegenständliche Erkenntniss nicht aufgegeben.
Die Richtung auf die Gegenstände selbst heisst dogmatisch, diejenige auf
die Erkenntniss und speciell auf deren Grenzen gehende kritisch. Krit. 758.
Jene dogmatische Auflösung der eigentlich metaphysischen Fragen ist
nicht etwa ungewiss, sondern unmöglich. Die kritische betrachtet die
Frage gar nicht objectiv, sondern nach dem Fundamente der Erkennt-
niss, worauf sie gegründet ist. Ib. 484 (vgl. Harms, Phil, seit K. 127)'.
* Doch hatte schon Lambert am 13. Nov. 1765 K« geschrieben: „man thue
besser^ wenn man anstatt des Einfachen in der Metaphysik^ das Einfache in
der Erkenntniss aufsuche''.
' Die erstmalige Entgegensetzung des Dogmatischen und Kritischen,
wenn auch nicht den Worten, sondern der Sache nach findet sich am Schluss des
Aufsatzes von 1754 über die Frage: „Ob die Erde veralte", eine Frage, welche K.
„nicht entscheidend, sondern prüfend" abhandelt. Am Schluss der fortges. Be-
trachtung über die Erderschütterungen 1756 stellt er kühne Erdichtungen und
Kants eigener Entwicklangsgang. 47
§ 9.
Kants eigener Entwicklungsgang durch Dogmatismus und
Empirismus hindurch zum Eriticismus '.
Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt ist , dass diese Dreitheilung in
Dogmat., Skeptic. nnd Eriticismus im Grossen und Ganzen Kants eigene
Entwicklung recapitulirt, wie sie seiner Ansicht nach auch die natürliche
Aufeinanderfolge des geschichtlichen Verlaufes der Philosophie ist. Die
phylogenetische Entwicklung wiederholt sich, um darwinistisch zu reden,
in der ontogenetischen Entwicklung des Individuums. Kants Schriftenthum
theilt man gemeinhin ein in die vorkritische und in die kritische Periode.
Die Scheidung trat ein im Jahre 1770 mit der Dissertation : De mundi sensi-
büis atque inteUigibüis forma et principiis. Die vorkritische Periode theilt
bescheidene Prüfung einander gegenüber. Im Jahre 1757 in der Ankündigung
des CoUegii der phys. Geographie stehen sich „behutsame Prüfung" und „leicht-
gläabige Bewunderung von Fabeln" gegenüber. In der Vorbemerkung zu dem
Lehrbegriffe der Beweg, u. Ruhe 1758 stellt er die „Zwangmühle des Wolfschen
Lehrgebäudes" der „Untersuchung" gegenüber. In dem dritten Abschn. der
Schrift über die negat. Grössen stellt er seine vorsichtige versuchende Methode
dem „dreisten dogmatischen Ton" gegenüber. In der Ankündigung der
Vorles. 1765 stellt er die zetetische Methode der dogmatischen gegenüber;
im Brief an Mendelssohn v. 8. April 1766 „dogmatisch- skeptisch". Das
,,Auf wachen des skeptischen Geistes" bespricht K. im Brief an Herz vom
7. Juni 1771. Hier steht also „skeptisch" im guten Sinne. Vgl. oben S. 34 Anm.
> Literatur: Tieftrunk, Einl. zu Ks. Verm. Schriften. 1799. L B.
S. 1 ff. — Rosenkranz, Gesch. d. K.'schen Philos. 1840. S. 130 ff. — Sigwart,
Gesch. d. Philos. III, S. 22 ff. - Willm, HisL de la Philos. AU. I, S. 51 ff. -
Saintes, Phüos, de Kant S. 40ff. — Erdmann, Gesch. d. neueren Philos.
III, 1. S. 27 ff. — Mussmann, Im. Kant S. 10 ff. — Mirbt, Kants Philos.
S. 49 ff. — Fischer, Gesch. d. neueren Philos. III, S. 121 ff. — Cohen, Die
systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften. 1873. — Paulsen, Ver-
such einer Entwicklungsgeschichte der K.'schen Erkenntnisstheorie. 1875. — Riehl,
Der philos. Kriticismus I, S. 202 ff. — Wolff, Speculation und Philosophie I, S. 1 ff.
Göring, System der krit Philos. II, S. 109 ff. — Ueberweg, Gesch. d. Philos.
ni, § 17. — Michelis, Kant vor und nach dem Jahre 1770. 1871. — Weber,
Kants Dualismus aus dem Jahre 1766. Breslau. 1865. — J. B. Meyer, Kants Psy-
chologie S. 41 ff. 123 ff. — B. Erdmann, Vorr. zu Kants Prolegomena S. LXXXIlIff.
(dagegen Paulsen. Viert, f. wiss. Philos. II, 484 ff.) — B. Er d mann, Martin
Knutzen und seine Zeit S. 130 ff, — Windelband, Die verschiedenen Phasen
der K.'schen Lehre vom Ding an sich. Viert, f. wiss. Phil. I, 224 ff. — Dietrich,
Kant und Newton 1877. Id. Kant und Rousseau 1879. — Caird, The Phüoeophy
of Kant 122 ff. — Cantoni, Em, Kant 83 ff. 122 ff. — Nolen, La Critique de
Kant et la meiaphysique de Leibmz. Paris. 1875. S. 61 ff. — Harms, Philos. seit
Kant S. 119 ff. — Zeller, Gesch. d. deutschen Philos. S. 407 ff. — Windel-
band, Gesch. der neueren Philos. II, S. 15 ff. — Nathan, Ks. Log. Ans. 15 ff.
48 Specielle Einleitung.
man ein in zwei Perioden, in die dogmatische und in die empiristische. Jene
umfasst die Schriften der 50er Jahre, diese die der 60er Jahre. Dem
Leibniz -Wolf sehen Dogmatismus gehören Kants philosophische Erstlings-
schriften an, 1755: „Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova
(lilucidatio^ , und 1756 die „Monadologia physica^, sowie 1759 die »Be-
trachtungen über den Optimismus". Der zweiten Periode, in welcher K.
immer mehr sich dem Dogmatismus ab- und dem Empirismus sich zuwandte,
gehören an die Schriften: 1762: „Die falsche Spitzfindigkeit der syllogisti-
schen Figuren*; 1763: „Versuch, den Begriff der negativen Grössen in die
Weltweisheit einzufuhren*; 1763: „Der einzig mögliche Beweisgrund zu
einer Demonstration Gottes*; 1764: „Untersuchungen über die Deutlichkeit
der Grundsätze der natürl. Theologie und der Moral*; 1766: „Träume eines
Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik*, sowie die Abhand-
lung vom Jahre 1768: »Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der
Gegenden im Baume* \ Mit der Dissertation des Jahres 1770 lässt man
gemeinhin die kritische Periode beginnen ; auch nimmt man gewöhnlich an,
dieselbe sei durch den Einfluss Hume's auf Kant entstanden. Eingehendere
Untersuchungen des vorliegenden Materials ergeben jedoch folgende Ansicht
über die Entwicklung Kants, die hier nur kurz in ihrem Resultat dargestellt
werden kann: Kant stand bis 1760 ganz unter Leibniz- Wolf schem Einfluss.
In den 60er Jahren beginnt dieser Einfluss überwogen zu werden durch die
Einwirkungen der englischen Philosophie, besonders Locke's und Hume's.
Ende der 60er Jahre geräth K. unter den übermächtigen Einfluss der 1765
erschienenen Nouveaux Essais von Leibniz; die directe Folge dieses Ein-
flusses ist die Dissertation, welche gar nicht anders erklärbar ist und einer
unmittelbaren Beeinflussung durch Hume geradezu widerspricht. Kant Mit
im Jahre 1770 auf den Standpunkt des allerdings durch ihn bedeutend modi-
ficirten Dogmatismus zurück. Er windet sich aus demselben nur durch
einen erneuten Einfluss der Hume'schen Schriften heraus und modiflcirt den
Dogmatismus durch Hume's Skepticismus zum Kriticismus. Kant steht somit
zweimal unter dem Einfluss beider Systeme; 1750—1760 überwiegt der
Dogmatismus, 1760— 1766 der Empirismus. Die Schrift über die Träume
eines Geistersehers ist jedoch schon ein Vorspiel des Kriticismus; 1770
erfolgt eine grosse Reaction des Dogmatismus, 1771 ff. entstehen neue em-
piristische Bedenken und die Frucht derselben ist der Kriticismus, welcher in
den 70er Jahren zur allmäligen Ausbildung kommt. Hume's Einwirkung
ist somit zweimal zu setzen und die Entwicklung Kants durchlief jene
Stadien also zweimal.
* Der Versuch Winde Iban de (Gesch. d. neueren Philos. II, 33), aus diesem
Aufsatz Kants eine eigene Entwicklungsphase seiner ganzen Erkenntnisstheorie
herauszueonstruiren, scheint uns nicht gelungen. Der wichtige Aufsatz bezeichnet
nur eine Phase in der Entwicklung der Raumtheorie.
Kants Entwicklung. Der Kriticismus als Vermittlung. 49
Dies ergibt folgendes Schema:
Erster Entwieklnngsprocess.
I. (1750 — 1760) Dogmatischer Standpunkt von Leibniz.
[1755. Nova Dilucidatio. — 1756. Monadologia. —
1759. Optimismus.]
n. (1760 — 1764) Empiristische Beeinflussung durch Hume.
[1762. Spitzf. d. syil. Fig. — 1763. Negat. Gross. —
1763. Beweisgr. z. Demonstr. Gottes. — 1764.
Unters, üb. d. Deutlichkeit.]
in. (1766) Kritischer Standpunkt.
[1766. Träume eines Geistersehers.]
Zweiter Entwlcklnngsprocess.
I. (1770) Dogmatische Beeinflussung durch Leibniz.
[1770. Dissertatio,']
n. (1772 ff.) Skeptische Beeinflussung durch Hume.
[1772 ff. Briefe an M. Herz.]
m. (1781) Kriticismus.
[1781. Kritik der reinen Vernunft.]
§ 10.
Der Kriticismus als Vermittlung zwischen Dogmatismus und
Skeptidsmus. Allgemeine Gesichtspunkte.
Diese Vermittlung ergibt sich aus dem Angeführten. Dass sie keine
mechanische sein darf, hat K. selbst betont. Seine Vermittlung wäre
somit nach heutigem Sprachgebrauch als eine organische zu bezeichnen,
nicht als eine Juxtaposition der beiden Bestandtheile , sondern als eine
innere Durchdringung und Intussusception der beiden Elemente. Die
Combination soll keine äusserliche, sie soll eine innerliche sein ^ Diese
Vermittlung muss zunächst allgemein betrachtet werden. Hier ist auf
den ersten Blick klar, dass Kant in seinem Kriticismus die Methode oder
Form entnimmt dem Dogmatismns^ dagegen dem Skepticismns die Object-
bestimranng. Er nimmt aus dem Dogmatismus somit den Apriorismus und
Rationalismus, d. h. er hält fest an der Thatsache apriorischer Begriffe und
Elemente überhaupt, und an der Möglichkeit, aus reiner Vernunft Gegen-
ständliches zu erkennen. Er nimmt aus der entgegengesetzten Eichtung die
Beschränkung der Erkenntniss auf Erfahrungsobjecte '. Der Anschluss
' ELmg bezeichnet daher das kritische Verfahren als synthetisches
gegenüber dem dogmatischen als thetischem und dem skeptischen als anti-
thetischem; daher der Name Synthetismus statt Kriticismus.
* In diesem Sinne spricht K. von dem negativen Nutzen seiner Kritik,
Yftllilnger, Kant-CommenUr. 4
50 Specielle Einleitung.
an den Dogm. bezüglich der allgemeinen Methode des Erkennens wurde
durch diese zweite Bestimmung wesentlich alterirt: der Dogmat. hatte seine
apriorische Erkenntniss in erster Linie auf das Uebersinnliche gemünzt und
speciell Gott und Unsterblichkeit a priori beweisen wollen, d. h. der Dog-
matismus war stets mit Transscendenz verbunden gewesen. Umgekehrt
war die Beschränkung auf das empirisch Constatirbare — nennen wir sie
Immanenz — bis dahin ausnahmslos mit dem Sensualismus resp. Empiris-
mus verbunden gewesen. Wie die erstere Verbindung bei Cartesius,
Spinoza, Leibniz, so war die zweite bei (Locke und) Hume sowie
Condillac offenbar. Kant stiftete somit eine neue Combination, indem er
Rationalismus und Immanenz verband. So zeigt K. — und dies ist
die schärfste und wichtigste Bestimmung — dass die Erkenntniss vom In-
halt der Erfahrung unabhängig (sich aber doch auf Erfahrungsgegen-
stände beziehend) sein kann, ohne desshalb auch das Becht zu haben, den
Umfang der Erfahrung zu überschreiten. Sein Verdienst bestand in der
Erkenntniss, dass aus den Elementen Rationalismus, Empirismus,
Transscendenz, Immanenz nicht bloss die beiden Combinationen
Rationalismus, Transscendenz,
Empirismus, Immanenz
möglich seien, sondern dass noch eine dritte sich ergebe:
"Rationalismus, Immanenz ^
Man kann nun Kants System sowohl phänomenalen, idealistischen oder for-
malen Rationalismus als auch rationalistischen, formalen, transscenden-
talen Phänomenalismus (Idealismus) nennen. Man subsumirt damit
jedoch das Kant'sche System das Einemal unter die dogmatische, das Andere-
mal unter die empiristische Hauptreihe als den Oberbegriff und gibt in
dem Adjectiv die charakteristische Differenz an. Damit wird aber jedesmal
eine Seite vor der anderen betont, was unseres Erachtens unrichtig ist. Man
wird daher Kants System am richtigsten Kriticismus heissen, wobei man
hinzuzufügen hat, dass in demselben Rationalismus und Immanenz
gleichermassen verknüpft sind. Der Schwerpunkt des Rationalismus wird
vom Transscendenten ins Immanente verlegt; und die Erkenntniss der Phä-
nomene wird dem schwankenden Grunde des Skepticismus entzogen, indem
sie sozusagen rationalistisch verankert wird '. Für dieselbe Verbindung er-
weiche keine positive Erweiterung der Vernunft über die Erfahrung hinaus zu-
lasse. Krit. 11 f. 795. 851 u. ö. Vgl. Vorr. B. XXIV ff.
* Die vierte: Empirismus^ Transscendenz, wie sie sich historisch bei
Berkeley und Locke gezeigt hatte, wies K. mit wahrem Abscheu als eine incon-
sequente Verbindung, also als eine unmögliche Combination zurück.
' Zimmermann, Lambert 5: K. setzte die negative Seite seiner Phil.,
die Grenzbestimmung dem Dogmat., die positive, Herstellung allgemeingiltiger
Erkenntniss dem Skepticismus entgegen. — In der Methode schliesst sich Kant
Wolf an, Vorr. B, XXXVII, in der Grenzbestimmung Hume. CProl. Vorr.)
Er vermittelt somit zwischen Wolf und Hume, den schärfsten Ausläufern des
Der Eriticismtis als Vermittiung zwischen Dogmatismus u. Skepticismus. 51
geben sich noch andere Aspecte. 1) Der Empirismus beschränkte sich nicht
bloss auf Erfahrung, sondern er leugnete auch das üebersinnliche, Gott und
Unsterblichkeit, sobald er vollständig consequent verfuhr. In diesem Sinn
war der consequente Skepticismus Atheismus und Naturalismus, theil weise
Materialismus, der Dogmatismus dagegen Theismus, Supranaturalismus
und Spiritualismus. Auch hierin bildet K. eine Vermittlung. Er nimmt
mit dem Dogmatismus die Existenz solcher übersinnlichen Gregenstände an,
aber er modificirt die dogmatische Lehre, welche deren Erkennbarkeit
behauptet hatte, durch die Annäherung an den gemässigten Empirismus,
mit dem er die absolute Unerkennbarkeit jener Gegenstände annimmt.
Er erkennt dem Skepticismus an, dass unsere Erkenntniss auf Erfahrung be-
schränkt sei, aber er zwingt denselben zur Anerkennung eines über der
Erfahrungswelt befindlichen üebersinnlichen. So vermittelt er zwischen dem
dogmatischen Wissen um Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, und der
skeptischen Negirung jener Gegenstände durch den moralisch noth-
wendigen Glauben, der durch die praktische Vernunft gefordert wird.
Vgl. hierüber die feinen Ausföhrungen von Göring, Viert, f. w. Phil. I,
405 ff. 526 ff. 528. 532. [Eine andere Version der Lehre Kants ist, dass
erdieabsoluteEealität des Üebersinnlichen mit dem Skepticismus leugnete,
jedoch die praktische Nothwendigkeit der Gottesidee, der Unsterb-
lichkeitsidee, der Freiheitsidee behauptete. Dieser Punkt ist jedoch ein
umstrittener, da Viele Kant nur in der oben geschehenen Weise inter-
pretiren.]
2) Das Erstere führt zum zweiten Gesichtspunkt, von dem aus Kants
Kriücismus eine Vermittlung jener beiden diametralen Systeme ist \ Der
Dogmatismus war nämlich auch mit dem Anspruch verbunden, die wahre
Wirklichkeit der Dinge zu erkennen; er behauptete, die eigentlichen
letzten Elemente alles Gegebenen, die letzten Kräfte zu erkennen und in
seinem Begriffs- und Schlusssystem ein genaues, getreues, vollkommen zu-
treffendes Abbild der wahren Wirklichkeit zu geben. Die Metaphysik sollte
ein ideelles Gegenbild, ein \d\i.^\i.'x der Welt sein, wie sie in nackter Wirk-
lichkeit hinter der blossen sinnlichen Erscheinung ist. Man bezeichnet diese
Richtung meistens mit Realismus. Andererseits behauptete der Skepti-
cismus, dass unser Erkennen nur die Oberfläche, die Erscheinung treffe,
dass die wahren eigentlichen Dinge etwas von unserem Erkennen, Empfinden
Dogmatismus und Skepticismus. Auch in Wolf^ „dem grössten aller
dogmatischen Philosophen" (a. a. 0.)^ sieht Kant seinen Vorgänger;
dies wird fast durchaus übersehen. (Vgl. Laas, Ks. Anal. d. Erf. 138.
204 ff. Id. u. Pos. 32.) Diese Vermittlung schliesst natürlich eine üeberwindung
beider Richtungen ein. Inwiefern die Mathematik es sei, durch welche
K. beide Richtungen überwindet, darüber später. Ueber die Vermittlung
von Leibniz und Hume durch Kant vgl. Windelband, Gesch. d. n. Phil. II,
43 a. 44; und Adamson, Kants Philos. S. 19 ff.
' Eine so geringe Rolle, als Paulsen, Entw. 148 ff. meint, spielt dieser
Pnnkt bei K. nicht.
52 Specielle Einleittuig.
und Denken total Verschiedenes seien. Es hieng dies aufs engste zusammen
mit der Ansicht des Skepticismus vom Ursprung und der Methode des Er-
kennens. Nach ihm entsteht alles Erkennen aus blossen Empfindungen.
Nun sind unsere Empfindungen nach der gemeinsamen Annahme der ge-
sammten neueren Philosophie etwas nur Subjectives; ist somit aller Er-
kenntnissinhalt abgeleitet aus der Empfindung, so theilt er mit dieser die
Subjectivität. Diese Richtung nennt man Idealismus, besser Phänomena-
lismus oder Subjeetivismus. Eben, um jener nothwendigen Consequenz des
Subjectivismus zu entgehen (die zu unterscheiden ist von dem Probabilismus,
d. h. der Lehre des Empirismus, dass alle Erkenntniss nur Wahrscheinliches
gebe), nahm der Dogmatismus noch eine andere Erkenntnissquelle an, die
reine Vernunft. War die Empfindung nur subjectiv, so konnte doch die
reine Vernunft auf die wahren Objecte gehen, die dann freilich Noumena
waren, d. h. Gegenstände, welche nur durch den voö;, die. reine Vernunft zu
erkennen sind. Der Dogmatismus, oben als Realismus gekennzeichnet, kann
daher auch als Noumenalismus oder Objectivismus bezeichnet werden.
Auch hier fand nun Kant die Möglichkeit einer neuen bis jetzt unversuchten
Combination. Bisher waren verbunden:
Rationalismus — Objectivismus,
Empirismus — Subjectivismus.
Kant findet die Möglichkeit der Verbindung:
Rationalismus — Subjectivismus.
(Die vierte Combination:
Empirismus — Objectivismus
galt von vorne herein für unmöglich.) Mit anderen Worten: Kant lehrte,
dass die Erkenntniss der Dinge aus reiner Vernunft vollständig möglich sei,
nur seien diese a priori bestimmbaren Gegenstände nichtsdestoweniger oder
vielmehr ebendesshalb blosse Erscheinungen. So schränkt er den Dogmat.
ein. Kant lehrte , dass unsere Erkenntniss bloss subjectiv, bloss auf Erschei-
nungen eingeschränkt sei, dass aber nichtsdestoweniger oder vielmehr eben-
desshalb unsere Erkenntniss dieser Erscheinungen wenigstens theil weise
a priori möglich sei \ Bei dieser Art der Vermittlung gab Kant beiden
Systemen theilweise Recht, indem er das Berechtigte aus beiden herausnahm.
Dieselbe Art der Vermittlung traf Kant auch zwischen beiden Systemen,
insofern der Empirismus nicht so weit ging, dass er die Existenz des Ueber-
sinnlichen, insbes. Gottes leugnete, sondern nur dessen ünerkennbarkeit
behauptete, während der Dogmatismus die Erkennbarkeit behauptete, und
zwar aus reiner Vernunft •. Kant gab dem Rationalismus den Ursprung der
^ Nicht damit zu confundiren ist der Gegensatz des transscendentalen Realis-
mus und Idealismus^ des empirischen Realismus und Idealismus. Diese Termini
und Systeme beziehen sich nur auf die Frage der Realität von Raum und Zeit
und decken sich nicht mit dem obigen Schema.
• Vgl. hierüber Reinhold, in der Berl. Mon. XIV, 57 flf.
Der Kriticismus als Vermittlung zwischen Dogmatismus u. Skepticismus. 53
Gottesidee aus der Vernunft zu, ohne jedoch daraus die Erkennbarkeit
Gottes als Consequenz zu ziehen; hier nahm er die Unerkennbarkeit aus
dem Empirismus.
3) Ein weiterer Punkt der Vermittlung bezieht sich auf das Ding an
sich- Nach Kants Auffassung hatte Berkeley alles in Schein verwandelt,
indem er die Dinge an sich leugnete, welche der Dogmatismus als erkenn-
bare behauptet. Jedenfalls gab es damals solche Idealisten (Egoisten), wenn
auch Berkeley selbst nicht darunter fallen mag. Kant nimmt die Dinge
an sich an, leugnet jedoch deren Erkennbarkeit *.
4) Ferner hatte jedes der beiden entgegengesetzten Systeme in Bezug
auf die erste Frage, den Ursprung der Erkenntniss, nur je Ein selb-
ständiges Erkenntnissvermögen gelten lassen. (Vgl. hierüber ad Einl. 16
n. Holder, Mögl. d. Erk. 16 ff.) Der Rationalismus kannte nur den
spontanen Verstand und unterschied von ihm die Sinnlichkeit nur
als eine an Klarheit und Deutlichkeit zurückstehende niedere Stufe. Der
Sensualismus erkannte nur die receptive Sinnlichkeit an und sah in
dem Verstand nur eine höhere Ausbildung sinnlicher Eindrücke. Kant ver-
band auch hierin beide und nahm zwei selbständige Quellen unserer
Erkenntniss an, Sinnlichkeit und Verstand; jene gibt die Gegen-
stände, dieser denkt und verbindet sie. Vgl. besonders £j*it. 271 : „Anstatt
im Verstände und in der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von
Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objectiv gültig
von Dingen urtheilen können, hielt sich ein jeder dieser grossen Männer
nur an Eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge
an sich bezöge, indessen dass die andere nichts that, als die Vorstellungen
der ersteren zu verwirren oder zu ordnen." — Der Rationalismus, ins-
besondere der extreme von Leibniz verlegte den Ursprung der Gegenstände
des Erkennens ganz in das S u b j e c t : das Subject ist nicht nur Quelle der
allgemeinen Gesetze, sondern auch die Existenz specieller Dinge, ja selbst
Gottes lag innerhalb des Bereichs der subjectiven apriorischen Erkenntniss-
fähigkeit. Der Sensualismus umgekehrt lässt alle gegenständliche Erkennt-
niss aus dem Object entspringen. Kants Kriticismus gibt dem Subject,
was des Subjectes ist, und dem Object, was des Objectes ist. Die Erkennt-
niss stammt der materialen Seite nach aus dem Object, der formalen
Seite nach aber aus dem Subject.
' Damit Zusammenbau gend^ jedoch nicht damit zu yerwechseln ist der Gegen-
satz des dogmatischen^ skeptischen, kritischen Idealismus. Auch hier ist eine
andere, jedoch bestrittene Version seiner Lehre zu erwähnen. Kant leugnete un-
abhängige, absolute Dinge an sich, erkannte aber an, dass ihre Annahme eine
noth wendige, wenn auch unreale Idee sei. Hierüber, wie über die Gottesi d ee u. s. w.
das Genauere in der Analytik und Dialektik.
54 Specielle Einleitung.
§ 11.
Dieselbe Vermittlung specieller betrachtet.
Wäre die Vermittlung auf diese Gedankengänge eingeschränkt, so würde
sie immer noch eine ziemlich äusserliche sein. Allein bei speciellerer Be-
trachtung zeigt sich eine noch innigere Verschlingung und Durchdringung
der Gegensätze ; und wenn auch das Verständniss davon schon eine allgemeine
Kenntniss des Kriticismus voraussetzt, so müssen diese Gedankenfaden doch
schon hier blossgelegt werden,
1) Kant entlehnt die Methode der Erkenntniss dem Dogmatismus: er
ist Apriorist und Rationalist. Aber Kants Apriorismus und Rationa-
lismus ist nicht mehr der von Cartesius und Leibniz : es tritt beidemal eine
ganz wesentliche empiristischeModification ein. Die apriorischen
Elemente (das psychologische Apriori) bei Kant sind nicht wie bei
Cartesius (Leibniz war hierin Vorgänger Kants) angeborene, d. h. vor der
Erfahrung in der Seele bereitliegende Begriffe, sondern sie entwickeln sich
an und mit der Erfahrung, wenn auch nicht aus der Erfahrung: sie ent-
stehen erst bei Gelegenheit der Erfahrung als das „Inventarium*
der reinen Vernunftbestandtheile *. So hat der Empirismus schon in den
Apriorismus hinein eine Bresche gebrochen. Auch der Rationalismus
(bei dem es sich um die formale Verknüpfung des apriorischen Begriffs-
inhaltes handelt) wird empiristisch tingirt: die rationalen Erkenntnisse (das
logische Apriori) können nicht ohne weiteres aus blossen Begriffen
gebildet werden, die Möglichkeit ihrer Aufstellung und ihrer Rechtfertigung
erfordert die Beziehung auf das in Kants System so ungemein wichtige
Princip der Möglichkeit der Erfahrung. Erkenntnissgesetze a priori
sind nur insofern möglich, als ohne sie Erfahrung unmöglich, als bloss durch
sie Erfahrung möglich ist. Freilich ist diese „Erfahrung* wieder ihrerseits
dogmatisch gefärbt : Erfahrung ist das nothwendig zusammenhängende
System der Erscheinungen, das unter allgemeinen Gesetzen steht. Aber
auch diese dogmatische Färbung hat wieder ihren empiristischen Zusatz:
die allgemeinen und nothwendigen Erscheinungsgesetze in der Erfahrung
sind auch nur auf diese beschränkt. Sodann haben Apriorismus und Ratio-
nalismus die wichtige empiristische Restriction erhalten, dass Begriffe und
Erkenntnisse ohne das Substrat der sinnlichen Erfahrung ganz leer und
nichtig sind. Begriffe ohne Anschauungen sind leer. Nur in der
Anwendung auf den Erfahrungsstoff erfüllt das Apriori seine Bestimmung;
ohne die Correspondenz sinnlicher Gegenstände bleiben alle apriorischen
Formen hohl und leer. „Alle Erkenntniss von Dingen aus blossem reinen
Verstände oder reiner Vernunft ist nichts als Schein und nur in der Er-
fahrung ist Wahrheit." Kant, Proleg. Anh. Or. 205.
* Ausserdem werden dieselben bei Kant auch zum erstenmal systematisch
aufgezählt, a priori abgeleitet und a priori gerechtfertigt.
Der Kriticismus als Vermittlung zwischen Dogmatismus u. Skepticismus. 55
2) Dies fuhrt zum zweiten Punkt: Kant entlehnt die Grenzbestimmung,
die Bestimmung der Erkenntnissobjecie dem Skepticismus. Aber wie er
jenen obigen fundamentalen Unterschied seines Rationalismus von dem
des Dogmatismus fest betont, so versäumt er nicht darauf hinzuweisen,
dass seine Grenzbestimmung doch wieder ganz anderer Natur sei, als die
des Skepticismus. Wie der Rationalismus bei der Frage nach der ob-
jectiven Gültigkeit seiner Sätze, nach ihrer Beziehung auf ihre Gegenstände
Schiffbruch leidet, und (vgl. bes. Brief an Herz vom 21. Febr. 1772) zur
wenn auch übersinnlichen Anschauung seine Zuflucht nimmt, also zu
einer Art Empirismus wird, so fuhrt der Skepticismus hier doch endlich zur
Schwärmerei des Dogmatismus zurück. Denn die Grenzbestimmung der
Skeptiker ist eine bloss willkürliche, zufällige, auf keinen Beweis gegründete.
Der Skepticismus wird daher selbst bezweifelt; ja der eigenthümliche Schwung
der Vernunft wird hiebei nicht im mindesten gestört, der Raum zu ihrer
Ausbreitung wird nicht verschlossen (Krit. 768). Somit kann Kant die
Grenzbestimmung des Skepticismus zwar wohl seinem Wesen, aber nicht der
Form nach herübemehmen. — Die Grenzbestimmung ist auf strenge Prin-
cipien a priori gegründet, sie ist mit einem Worte dogmatisch. Die Grenz-
bestimmung des Empirismus ist rationalistisch motivirt,
wie der Rationalismus des Dogmatismus empiristisch modi-
ficirt ist. Denn in letzterer Hinsicht nimmt K. nur die apodiktische
Form der rationalistischen Methode herüber, die er aber mit einem ganz
anderen Wesensinhalt erfüllt.
3) Was die Methode des Empirismus betrifft, so gesteht K. zu, dass
alle Erkenntniss mit der Erfahrung anfange, aber er macht nicht nur die
dogmatistische Restriction, dass nicht alle aus der Erfahrung entspringe,
sondern er entdeckt, dass in der Erfahrung selbst sogar apriorische Bei-
mischungen höchst wesentlicher Natur enthalten sind und dass alle An-
schauungen ohne (apriorische) Begriffe blind sind. So wird der
Grundbegriff des Empirismus : Erfahrung im Sinne des Dogmatismus um-
gearbeitet. — Was die Objecte des Dogmatismus betrifft, so nimmt Kant
den Grundbegriff desselben an: das Noumenon; aber indem er lehrt, es
nie in positiv-dogmatischer Weise zu nehmen, sondern nur einen negativen
Sinn an dasselbe zu knüpfen, so wird dieser dogmatistische Grundbegriff
in empiristischer, ja theilweise sogar in skeptischer Weise umgeformt. So
wird der Realismus des Dogmatismus zum kritischen Idealismus. Aber dieser
Idealismus unterscheidet sich von dem gemeinen Phänomenalismus des vor-
kritischen Empirismus sehr wesentlich ; er ist „traDSScendental*^ : d. h. er
ist auf apriorische Elemente und auf eine apriorische Theorie dieser apriori-
schen Elemente gegründet: so wird also auch der Phänomenalismus des
Empirismus im Sinne des Dogmatismus resp. Rationalismus umgearbeitet.
Der Begriff der Phänomena, dieser schwankende Grundbegriff des em-
piristischen Skeptikers, wird im Kriticismus dogmatisirt.
4) Der Dogmatismus gieng von der Grundüberzeugung aus, dass Begriffe
und Dinge im Grunde identisch seien, dass Sein und Denken sich decken.
56 Specielle Einleitung.
Wie in der Mathematik der Begriff der Figur und die Figur (als der Ge-
genstand des Erkennens) als identisch galten, so in der Metaphysik Begriff
und Ding. Die innere Organisation eines Begriffs und eines Dinges
hielt man fiir identisch, wie Paulsen sich treffend ausdrückt (Entw. 84).
Wie der Begriff seine Merkmale, so hat das Dinff seine Eigenschaften. Die
Gesetze des Denkens, das Gesetz des Widerspruchs und das Gesetz des zu-
reichenden Grundes gelten daher einfach als reale Gesetze. Die wesentliche
Wahrheit der Dinge richtet sich, sagt z. B. Reimarus, Vemunftl. § 17, nach
eben den Begeln, wonach wir auch denken. Haben wir erst die richtigen
Begriffe, so können wir daraus durch Anwendung jener Gesetze alle Wahr-
heit-ableiten, wie in Wirklichkeit aus der Substanz der Dinge ihre Eigen-
schaften und Zustände folgen. Mit anderen Worten drückt dies Spinoza aus :
ordo et connexio idearum idem est oc ordo et connexio rerutn; so herrscht
also die Verwechslung von ratio und causa, von sequi und causari, von lo-
gischer Dependenz und realer Verursachung. Dies sind die allgemeinen Züge
des Dogmatismus, mag auch im Einzelnen der Einzelne davon abweichen.
Umgekehrt lehrt der Empirismus und noch mehr der Skepticismus die ab-
solute DiversitM des Denkens und Seins, der Begriffe und der Dinge. Daher
kann man mittelst begrifflicher Operationen nie zur Erkenntniss und zum
absoluten Verständniss von Thatsachen gelangen. Auch hierin ist Kants
System eine Vermittlung: was die Form betrifft, so stimmen darin die Dinge
nicht blos mit dem Denken überein, sondern sie haben als Erscheinungen ihre
Form schlechterdings nur aus dem Subject^ das seinen Begriff in dieselben
hineinträgt. Dagegen in Bezug auf die Materie nimmt E. eine vollständige
Diversität an: das Ding, das mir durch die Empfindung gegeben wird, ist
etwas ganz anderes, als mein Begriff davon ^
5) Auch in Bezug auf das formale Ziel des Erkennens trifft K. eine
Vermittlung. Das Ziel des Dogmat. ist absolute Bationalisirung der
Erkenntnissobjecte , vollständige Auflösung derselben in Begriffe, und sein
Bestreben, alles Wirkliche logisch zu durchschauen, verstehen, d. h. als
nothwendig zu begreifen, oder mit andern Worten die Unmöglichkeit des
Gegentheils zu erkennen, so dass Alles ohne Best in die logische Rechnung
aufgehen sollte. Der Empirismus dagegen bleibt zuletzt bei dem Realen als
dem nicht weiter Analysirbaren stehen, das der logischen Analyse und dem
rationalistischen Oxydationsprozess schlechterdings Widerstand leistet, und
so zu sagen als unorganischer Rest, als Asche übrig bleibt; er erkennt das
Reale als das Irrationale an, d. h. als das Zufällige^ für das sich keine
logische innere Nothwendigkeit durch Vemunftgründe auffinden lässt; diese
* Nach Jakob, Ann. II, 393 besteht der Dogmatis m. darin, „dass er
Begriffe mit Objecten verwechselt und in den Begriffen die Dinge gefunden zu
haben meint, da hingegen die Kritik verlangt, dass allen Begriffen zuerst ihre
Gegenstände gesichert werden sollen, ehe man aus denselben Erkenntnisse von
Dingen schöpfen kann". Vgl. Beck, Einz. mögl. Standp. S. 14. Windelband,
Gesch. d. n. Phü. U, 20.
Der Kriticismns als Vermittlang zwischen Dogmatismus u. Skeptlcismus. 57
empirisch constatirbaren letzten Wirklichkeitsfactoren lassen sich nicht mehr
logisch ergründen, nur logisch ordnen. Auch hierin trifft K. eine Vermitt-
lung, die freilich nirgends klar genug ausgesprochen ist, die aber factisch
vorliegt (vgl. z. B. Proleg. § 28) ; diese Vermittlung besteht darin, dass das
Formaie, weil aus dem Subject stammend, auch schlechthin rational und
damit als noth wendig erkennbar ist, dass dagegen alles Materielle an
den Erscheinungen unbegreiflich, d. h. nicht mehr rationalisirbar oder zu-
fällig ist. — [Vgl. Göring, Viert, f. wiss. Philos. I, 526 f.: Es verschwindet
die Nothwendigkeit desDogm., und Wirklichkeit des Emp., mit beiden
das Wissen; übrig bleibt die Möglichkeit des Kriticismus u. s. w.]
Dem Dogmatismus wirft Kant unkritischen Apriorismus, unkritischen
Rationalismus, unkritischen Noumenalismus und unkritische Transscendenz vor.
Dem Skepticismus wirft er unkritischen Empirismus, unkritischen Phänome-
naiismus und unkritische Immanenz vor. Im Kriticismus werden die be-
rechtigten Bestandtheile durch kritische Umarbeitung sjur Aufnahme in ein
neues System zubereitet, das die Einseitigkeiten verwirft und so eine orga-
nische Vermittlung der diametralen Richtungen darstellt.
Diese Zerfaserung des Kjdticismus in seine dogmatischen und empiristi-
schen Bestandtheile, die Aufdeckung der Durchschlingung*, Durchdringung und
sozusagen der Interferenz der Wellen an einzelnen Punkten liesse sich noch
weiter ins Detail treiben*. Das Gesagte genügt aber zur Einleitung in
Kants Kriticismus, in dessen Verhältniss zu den vorkritischen Strömungen.
Fassen wir nun die Hauptmerkmale zusammen, welche für den Kriti-
cismns bezeichnend sind, so ergibt sich, dass derselbe dasjenige philosophische
System ist, welches lehrt, dass das Erkennen zwar nicht auf den Erfah-
rangsinhalt, aber auf den Erfahrungsumfang eingeschränkt ist; oder
mit Kants eigenen Worten, Proleg. § 34: ungeachtet der Unabhängigkeit
unserer reinen Anschauungsformen, Verstandesbegriffe und Grundsätze von
der Erfahrung, haben dieselben doch ausser dem Feld der Erfahrung
keine Gültigkeit. Der Kriticismus unterscheidet (Krit., Vorr. A VI) die ge-
rechten Ansprüche der reinen Vernunft von ihren grundlosen An-
massungen. Nach Vorr. B XVIII f. gibt der Kriticismus einerseits eine De-
duction, d. h. einen Bechtsnachweis unseres Vermögens a priori, aber zeigt
' Gruppe Antäus 140. „Es kann dem sorgsamen Betrachter unmöglich
entgehen^ dass nur die Elemente, Resultate und Richtungen der vorkritischen beiden
Sjsteme, auf das sonderbarste verschlungen, das kritische System aus-
machen, es kann sogar dem schärferen Auge nicht entgehen, dass oft nur durch
diese grosse Verschlungenheit die Illusion erwächst, als sei hier wirklich jedem
der streitenden Elemente sein Recht geschehen.**
• Fischer, Syst. d. Log. u. Met. § 54 stellt die Vermittlung so dar: Alle
Erkenntniss ist Erfahrung (Emp.), aber die Erfahrung ist nur möglich durch reine
Yerstandesbegriffe (Rat.), die Kategorien gelten nur innerhalb der Erfahrung (Emp.),
aber sie sind vor aller Erfahrung, d. h. a priori (Rat.). Sie werden nicht durch
die Erfahrung gemacht (Widerl. des Emp.), vielmehr wird die Erfahrung durch
sie gemacht, aber es wird durch sie auch nur Erfahrung gemacht (Widerl. des Rat.).
58 Specielle Einleitung.
auch, dass wir mit demselben nie über die Grenze möglicher Erfah-
rung hinauskommen können, üeberweg, Grundr. III, § 6 formulirt daher
richtig: „Kants Eriticismus schränkt nicht die Erkenntniss mittel der Phi-
losophie auf Empirie, aber ihre Erkenntnissobjecte auf den Erfahrungs-
kreis ein.* Die kürzeste Formel für das Verhältniss der drei Riehtungen
möchte wohl folgende sein: Der Dogmatismus lehrt: die Erkenntniss ent-
steht ohne Erfahrung und geht ttber Erfahrung hinaus; der Empirismus
lehrt: die Erkenntniss entsteht ans Erfahrung und ist nur für Erfahrung
bestimmt. Der Kriticismus lehrt: die Erkenntniss entsteht ohne Erfahrung,
ist aber nur für Erfahrung bestimmt.
§ 12.
Kants (durchgängige Vermitüungstendenz.
Die Vermittlung zwischen Gegensätzen ist eine sehr hervor-
stechende Tendenz von Kant, ohne welche sein Streben und sein Wirken
nicht verständlich ist. Diese vermittelnde Tendenz liegt der deutschen
Philosophie überhaupt im Blute '. Besonders stark tritt sie in Leibniz
hervor, der zwischen Piaton und Aristoteles, Alten und Neuen, Scholastik
und Bienaissance , Gassendi und Cartesius, Katholicismus und Protestan-
tismus u. s. w. zu vermitteln sucht. Bei Kant tritt dieses Bestreben von
Anfang an hervor, und Fischer hat mit richtigem Takt diesen rothen
Faden herausgehoben und festgehalten. Die Erstlingsschrift will (1) die ent-
gegengesetzten Lehrbegriflfe von Descartes un dLeibniz vereinigen. Zwei
Aeusserungen Kants in jener Schrift sind für seinen wissenschaftlichen
Charakter bezeichnend. In § 20 schildert er „die Regel", der er sich jeder-
zeit in der „Untersuchung der Wahrheiten bedient habe": „Wenn Männer
von gutem Verstände, bei denen entweder auf keinem oder auf beiden Theilen
die Vermuthung fremder Absichten zu finden ist, ganz widereinander laufende
Meinungen behaupten, so ist es der Logik der Wahrscheinlichkeiten gemäss,
seine Aufmerksamkeit am meisten auf einen gewissen Mittelsatz zu richten,
der beiden Parteien in gewissem Masse Recht lässt." Er nennt es in § 21
den sichersten Weg, eine Meinung „zu ergreifen, wobei beide grosse Parteien
ihre Rechnung finden". Es heisst, sagt er § 125, „gewissermassen die Ehre
der menschlichen Vernunft vertheidigen, wenn man sie in verschiedenen
Personen scharfsinniger Männer mit sich selber vereiniget, und die Wahrheit,
welche von der Gründlichkeit solcher Männer niemals gänzlich verfehlet wird,
auch alsdann herausfindet, wenn sie sich gerade widersprechen." Die Schrift
über die Naturgesch. des Himmels sucht (2) Vereinigung zwischen Newton und
Leibniz, Mechanismus und Teleologie (vgl. Fischer 145); 2. Th. l.Hptst.:
„Man sieht bei unparteiischer Erwägung, dass die Gründe von beiden Seiten
* Man hat gesagt, Deutschlands Philos. sei eine Vermittlung zwischen eng-
lischem Empirismus und französischem Rationalismus.
Kants durchgängige Vermittlangstendenz. 59
[Mechanismus uiid Eingriff Gottes] gleich stark und beide einer völligen
Gewissheit gleich zu sehätzen sind. Es ist aber ebenso klar, dass ein Be-
griff sein müsse, in welchem diese dem Scheine nach wider einander strei-
tenden Gründe vereinigt werden können und sollen, und dass in diesem Be-
griffe das wahre System zu suchen sei.* Also auch hier übernimmt K.
die Bellendes Schiedsrichters, die kritische, und neben der Bestimmung
der Grenzen des menschlichen Erkennens, der einen Seite der Kritik, ist
die richterliche Entscheidung, die speciell als Vermittlung sich darstellt, die
andere Seite der Kantischen Methode (vgl. Fischer 136). In der Vorrede zu
der 1 756 vorgelegten Monadologia physica will er (3) die Gegensätze zwischen
Geometrie und Transscendentalphilosophie (speciell Newton und Leibniz) bes.
über die unendliche Theilbarkeit der Materie ausgleichen, „conciliare^. „Quam
litem cum componere haud parvi laboris esse appareat, saUem aliquid
aperae in eo coüocare statui,*^ Nach Propos, V haben beide Recht. In der
Xova Dilucidatio nimmt K. dieselbe schiedsrichterliche Stellung ein (4) gegen-
über dem Streit zwischen Wolf und Crusius über den Satz des zur. Grundes,
und ebendaselbst (5) will er Wolfs Lehre von der Weltharmonie mit Newtons
mechanischer Betrachtung verbinden (Fischer 167). Daher hält er auch
(Ankünd. der Vorl. 1758) die polemische Behandlung der Sätze für ein
vorzügliches Mittel, die Einsichten zu behandeln. In der Preisschrift will
K. (6) Newtons naturwissenschaftliche Methode und Leibniz' philos. Methode in
freilich unklarer Weise verbinden. Besonders stark tritt diese Vermittlungs-.
tendenz hervor in der fast meist ihrer Absicht nach missverstandenen Schrift
über die Träume eines Geistersehers, wo er (7) im ersten Theil, im I. und II.
Hauptst. die Position der Metaphysik, des Dogmatismus, Rationalismus oder
, Idealismus '^y im III. Hauptst. die der Erfahrungsphilosophie, des Skepticis-
mns, Empirismus oder „ Realismus '^ nacheinander einnimmt, um zwischen
beiden Gegensätzen hindurch im IV. Abschn. den neuen kritischen Stand-
punkt zu begründen. Es entspricht diese Methode genau der Art und Weise
bei den Antinomien in der Kritik. In der Dissertation (8) vermittelt K. zwischen
der englischen und deutschen Raumtheorie (§ 14, 5. § 15, D), d. h. zwischen
Newtons und Leibniz' Lehre (vgl. Kritik 39 ff.). Die ganze Kritik der r.
V. ist (9) eine Vermittlung zwischen englischem Empirismus und deut-
schem Rationalismus. Vgl. oben S. 3 ff. 13. 26. 32 ff. 37—43. 47 ff.
§ 13.
Die yerschiedenen Ansichten über den Grundcharakter der Kritik
der reinen Yemunft.
Es ist aus dem Dargestellten auch erklärlich, wie es kam, dass Kants
System sogleich nach 1781 falsch aufgefasst werden konnte ^ Zunächst
' Um so mehr, als, wie Erdmann, Kb. Krit. 10, gut bemerkt, Kants Kritik
tiberhaapt für seine Zeitgenossen „zunächst ein vollkommen incom mensurables
60 Specielle Einleitung.
sachte man ihn zu den bisherigen Systemen, d. h. zu Einem derselben zu
zählen. In dem 1786 geschriebenen Aufsatz: „Was heisst sich im Denken
Orientiren ?** (ad fin. Anm.) hat sich K. schon hierüber beklagt. Einmal
rechnete man das neue System zum Dogmatismus, und glaubte speciell,
es leiste dem Spinozismus Vorschub. Aber „die Kritik beschneidet dem Dog-
matismus gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntniss über^nnlicher
Gegenstände*. „Es gibt kein einziges Mittel, alle Schwärmerei [des Dogmat.]
mit der Wurzel auszurotten, als die Grenzbestimmung des reinen Vemunft-
vermögens.* — Andererseits fand man in der Kritik d. r. V. Skepsis, „ob-
gleich die Kritik eben darauf hinausgeht, etwas Gewisses und Bestimm-
tes in Ansehung des Umfanges unserer Erkenntniss a priori festzusetzen*.
Man bemerke, wie hier K. ausdrücklich nur das Unterscheidende heraus-
hebt, dem Dogmat. gegenüber die Grenzbestimmung, dem Skeptic. gegen-
über die dogmatische Gewissheit und die Erkenntniss a priori. Das Ge-
meinsame, dort den Rationalismus, hier eben die Beschränkung auf den
Erfahrungsumfang, muss man zwischen den Zeilen lesen. K. bespricht
in der angezogenen Stelle die beiden Haupteinseitigkeiten, welche bei der
Auffassung der Kritik mit unterliefen. Dieselben konnten einen doppelten
psychologischen Grund haben. Nach dem natürlichen Gesetz des Gegensatzes
sehen Dogmatiker und Empiristen zunächst in dem neuen Werk nur das-
jenige, was sie von demselben trennte, indem sie das Gemeinsame für das
Selbstverständliche hielten und daher ignorirten. Diejenigen Dogmatisten,
welche die apriorische und rationalistische Grundlage des Erkennens über-
haupt nicht in Zweifel zogen, schätzten die gleichgestimmte Saite in Kant
nicht, und was ihnen entgegentrat als neu und bedeutend, war die Leug-
nung der Möglichkeit, mit der reinen Vernunft die Dinge an sich zu er-
kennen. Diese Dogmatisten sahen in Kants System im Wesentlichen Skep-
ticismus, worunter man eben Beschränkung der Erkenntniss auf Erfahrung
und Leugnung der transscendenten Erkenntniss verstand. Ebenso übersehen
die Empiristen das von ihnen für selbstverständlich gehaltene Princip der
Beschränkung auf die Erfahrung und fanden das Eigenthümliche in dem
Nachweise Kants, dass es Erkenntniss von Thatsachen aus reiner Vernunft,
dass es eingeborene Formen des Anschauens und Denkens gebe. Daher sahen
diese nur denjenigen Bestandtheil, welcher mit dem Dogmatismus überein-
stimmte. Entweder richteten also die Dogmatisten und Empiristen ihr
Augenmerk auf das, was sie von Kant trennte oder — und diese Möglich-
Buch war." Vgl. die treffenden Bemerkungen Windelbands, Gesch. d. n. Phil,
n, 179: „Die Einen hielten Kant für einen Leibnizianer, weil er die Möglich-
keit apriorischer Erkenntniss behauptete, die Anderen stellten ihn zu Locke,
weil er das menschliche Wissen auf die Erfahrung beschränkte, die Meisten sahen
in ihm eine der vielen Verschmelzungen von Leibniz und Locke, welche die
deutsche Philosophie versucht hatte. Den Kern der Sache verstand Niemand."
Aehnliche ürtheile in den anonymen Schriften: Briefe eines EngL üb. d. Kanti-
sche Philos. (1792) 153. üeb. d. Studium der K'schen Phüos. (1794) 30.
Die verschiedenen Auffassungen der Kritik d. r. V. 61
keit bleibt noch übrig — auf das, was sie mit Kant verband ^ Beide
Theile sahen in K. mehr den Ihrigen und übersahen dabei willig, was Kant
gethan hatte, um die beiden Einseitigkeiten zu überwinden. Also wurde
der Eüriticismus als Dogmatismus sowohl von Empiristen als Dogmatikern,
wie als empirischer Skepticismus sowohl von Dogmatikern als Empiristen
angesehen \ Erst nach geraumer Zeit gewöhnte man sich daran, das neue
System ganz im Sinne Kants yon den beiden älteren Richtungen ganz be-
stimmt zu unterscheiden. Man erkannte, dass der Kriticismus nicht unter
Eine der bisherigen Kategorien gebracht werden könne, sondern eine neue
eigenartige Systembildung vertrete. Allein nun begann ein neuer Streit um
den Primat der in Kants System vereinigten Gedankenfäden, also im All-
gemeinen, ob dem dogmatischen oder dem empiristisch-skeptischen Elemente
der Vorzug gebühre, welches von beiden Elementen das wichtigere für Kant
und in seinem Systeme sei.
Es bedarf jedoch noch genauerer Specificationen, um die hervorgetretene
Vielheit der Auffassungen logisch zu disponiren. Unsere bisherige Zerfaserung
der verschiedenen Elemente der Kantischen Philosophie gibt hier die Han(}-
habe. Zwar bleibeu jene beiden Hauptauffassungen stehen, aber innerhalb
ihrer ist noch specieller zu gliedern. Bei der Heraushebung des dogma-
tischen Grundbestandtheils des Systems wurde entweder der A prior ismus
oder der Rationalismus mehr zum Mittelpunkt gemacht, d. h. entweder
die Lehre, dass es der Vernunft eingeborene Vorstellungen gebe, oder die
Lehre, dass von Thatsachen Erkenutniss aus reiner Vernunft möglich sei.
Wurde die empiristisch-skeptische Seite in den Vordergrund gestellt, d. h.
wurde nicht die methodologische Frage, sondern die Objectbestim-
mnng als Hauptsache angesehen, so waren auch hier mehrere Seiten, welche
ganz besonders bevorzugt werden konnten und wurden. Entweder man fand
' Auch wurde gegen K. bald der Vorwurf erhoben, er verwerfe allen Dog-
matismus, und sei doch selbst dogmatisch. Dieser so oft wiederholte
Einwurf (vgl. A. L. Z. 1789, I. 159), ist eine Probe der damals geübten unexacten
Kritik, wie wir sie bei Feder, Raum und Caus. Vorr. IX, XIX f. dag. XXIX.
(Skeptic.) finden. (Vgl. Maass, Briefe 11. 18. 24 u. ö.) Gegen derartige In-
sinuationen wehrte sich K. in der Vorrede zur U. Aufl., wo er den dogmatischen
Charakter seiner Schrift im guten Sinn besonders betont. Vgl. Jakob, Log. u.
Metaph. Vorrede VII. Der Vorwurf des Skeptic. ist ebenfalls „eine unzählige-
male wiederholte und dennoch ganz falsche Behauptung. Es ist gegen allen ver-
nünftigen Sprachgebrauch, ein System von Philos. Skept. zu nennen, welches ein
ganzes Gebäude von demonstrativer Naturerkenntniss a priori enthält.^ A. L. Z.
1789. II, 529 (gegen Weishaupt, Gr. u. Gew. d. menschl. Erk. 33 ff.).
* In sehr interessanter Weise hat Rein hold in der Preisschr. über die
Fortsebr. d. Metaph. gezeigt, wie jede Schule K. für den Ihrigen hielt, insbes. die
Leibniz'sche (185 ff.), der Idealismus (191 ff.), der Materialismus (204 ff.),
der Pantheismus (218 ff.), der Dualismus (227 ff.), der Skepticismus (235 ff.).
Jede dieser Richtungen findet bei K. Anknüpfungspunkte, hebt einseitig die con-
genialeo Seiten heraus und glaubt daher in K. einen Fortbildner sehen zu dürfen.
62 Specielle Einleitung.
in der von Kant selbst so genannten Grenzbestimmung der Erkenntniss
auf Erfahrung die Hauptleistung \ oder man sah den Hauptcharakter des
Systems in dem Idealismus; und hier waren wieder zwei Auffassungen
möglich. Man sah in dem System entweder relativen Idealismus (PhU-
nomenalismus) oder absoluten Idealismus, d. h. man Uess E. entweder
als Hauptsatz vortragen, dass unser ganzer theoretischer Inhalt sich nur auf
Erscheinungen unbekannter Dinge an sich beziehe, dass wir es also nur mit
^ Diese Auffassung der Kritik nannte man schon zu Kants Zeiten Empiris-
mus. Man versteht darunter also nur die Beschränkung des Erkennens auf den
Erfahrungs umfange nicht die Ableitung desselben aus dem Erfahrungsinhalt.
Man muss also diese engere Bedeutung von der umfassenderen unterscheiden. In
jenem Sinne gebraucht z. B. Suabedissen, Resultate u. s. w. S. 308 den Aus-
druck^ bemerkt aber sogleich auch das mögliche Missverständniss durch Verwech.<»-
lung mit dem weiteren Begriff. Indessen findet sich jene Bezeichnung nicht
selten in jener Zeit auch ohne das bei einiger Aufmerksamkeit keineswegs noth-
wendige Missverständniss. In jüngster Zeit hat B. Erdmann wieder in dem ge-
dachten Sinne den Ausdruck verwerthet in der Einleitung zu den Proleg. Da
dieser Sprachgebrauch zu Missverständnissen führte , erklärte sich E. darüber in
der Vorrede zu seiner Ausgabe der Krit. d. Urth. imd zog den Ausdruck zurück,
um anstatt dessen blos „kritisch^ „Kriticismus^ zu sagen. Allein es handelt sich ja
eben darum, worein K. seinen Kriticismus gesetzt habe, in welche der vielen dar-
gestellten Auffassungen? Vielmehr muss man zur bequemen Bezeichnung der
Erdmann'schen Auffassung, die auch schon früher zu Kants Zeiten sich fand, eben
den Ausdruck Empirismus brauchen; sonst wird es sich allerdings empfehlen^
den Ausdruck Grenzbestimmung zu verwerthen. Empirisch hat, wie „Erfah-
rung**, eine doppelte Bedeutung bei K., welche zu unterscheiden ist. Emp. heisst
entw. a) was dem Inhalt nach aus der Erfahrung stammt (in diesem Sinne sind
alle Empfindungen als Eindrücke der Sinne empirisch, in diesem Sinne spricht K.
von empirischer Anschauung, empirischen ürtheilen , Bewegungsgründen , Prin-
cipien und Wissenschaften), oder: b) was sich innerhalb des Umfangs der Er-
fahrung hält, was sich auf sinnliche Gegenstände bezieht und auf sie ange-
wendet wird, wenn es auch einen apriorischen Ursprung hat (in diesem Sinne
spricht K. von der empir. Realität des Raumes und der Kategorien). Im ersten Sinne
ist empirisch soviel als a posteriori, im zweiten dagegen soviel als immanent.
Darnach ist die Darstellung bei Erdmann, Entw. III, 1. 48 zu berichtigen.
„Vollendeten Empirismus** in dem genannten Sinne warf Jakob i Kant vor, was
K. ruhig hingenommen hat nach Göring, üeber den Begriff der Erf., Viert, f.
w. Phil. I, 401, der übrigens beide Bedeutungen von Emp. verwechselt. In dem-
selben Sinne gebraucht „Emp.** gegen Kant Pesch (Soc. Jes.) Inst. Pkü. N<U. S. 9^
ebenso Bergmann, Kritic. S. 2 ff.; „höheren Empirismus** findet I. H. Fichte
in Kant (Theist. Weitaus. S. 64); dieser Terminus stammt übrigens von Schel-
ling, W. W. 1. Abth. VI, 78. Der Empirismus in diesem Sinne ist begrifflich
sehr wesentlich vom Phänomenalismus (oder Idealismus) zu unterscheiden;
jener lehrt Beschränkung der Erkenntniss auf Erfahrung, dieser dagegen auf
Erscheinung, d. h. hier bildet der Correlatbegriff der Erscheinung, das Ding
an sich und die Welt der Dinge an. sich, einen integrirenden Bestandtheil der
Ueberzeugung, welcher dort fehlt; der Unterschied ist somit fundamental. Vgl.
Windelband, Gesch. d. n. Philos. II, 48.
Die yerschiedenen Auffassungen der Kritik d. r. V. 63
unseren Vorstellungen, nie mit dem wahren Sein dahinter zu thun hätten,
oder man ging so weit, Kants eigentliche Leistung in der Beseitigung
der Dinge an sich überhaupt zu finden. Im letzteren Falle stellte man
ihn mit Berkeley zusammen. Im ersteren FaU trat wieder eine doppelte
Möglichkeit ein. Entweder man sah in Kants Lehre Skepticismus in dem
Sinne, dass er dem menschlichen Erkennen die Macht absprach, über den
Vorstellungskreis hinaus zum wahren Sein hindurchzudringen, oder man sah
darin Subjectivismus in dem Sinne, dass Kant die totale Verschiedenheit
der Erscheinung vom Ding an sich lehre. Die erste Lehre enthält die er-
kenntnisstheoretische Scheidung zwischen Vorstellen und Sein, die
zweite die mataphysische Trennung zwischen Erscheinung und Ding an
sich. Dort nämlich können diese beiden letzteren noch identisch sein, wir
wissen es nur nicht; hier dagegen ist diese Möglichkeit positiv ausgeschlossen.
(Vgl. Beneke, Metaph. 11, u. Volkelt, Ks. Erk.-Theorie S. 44.) Wir erhalten
somit folgendes Schema möglicher Auffassungen der Kritik d. r. V.
I) Nach der dogmatischen Seite hin:
a) Apriorismus (1),
b) Rationalismus (2).
n) Nach der empiristisch-skeptischen Seite hin:
a) Empirismus (Grenzbestimmung) (3),
b) Idealismus,
a) relativer Idealismus (Phänomenalismus),
H) Skepticismus (4),
2) Subjectivismus (5),
ß) absoluter Idealismus (6).
Dies ist die Tafel derjenigen Auffassungen, für welche überhaupt in der
Kritik Anhaltspunkte sich finden lassen. Andere, besonders anfänglich hervor-
^'etretene Auffassungen beruhen entweder auf Missverständnissen, die
eine ernsthafte Discussion gar nicht verdienen, wie z. B. Eberhards Mei-
nung, K. leugne alle Erkenntniss a priori und lehre demnach totalen Empi-
rismus, oder auf Einseitigkeiten, welche auf den ersten Blick ins Auge
fallen, wie z. B. die Behauptung, der Begriff der intellectuellen An-
schauung stehe im Mittelpunkt des Kriticismus (Thiele), womit sich
Volkelts Ansicht, Kants System sei „metaphysischer Rationalismus**, berührt,
oder wie Hamanns Classificirung Kants unter die Mystiker, oder wie
Lowe's (Fichte S. 2) Angabe, der „wahre Kern und Mittelpunkt Kant'scher
Speculation sei das Postulat: das Unbedingte soll sein**; Schaarschmidts
Ansicht (Vorr. zu Adamson, Kant VI), die Idee der Freiheit sei „das eigent-
liche innerste Princip des Kriticismus**, und eben desselben Behauptung, Ks.
System sei „kritischer Ethicismus**, sind an sich nicht unrichtig, beziehen
sich jedoch nicht allein auf Ks. Erkenntnisstheorie, mit welcher wir es hier
ausschliesslich zu thun haben. (Id. Entw. d. Philos. 84. 93 f. 118.)
Diese verschiedenen Auffassungen im Einzelnen in ihrem historischen
Auftreten zu verfolgen, würde den Zweck unserer Einleitung weit über-
schreiten. Folgende Hinweise mögen hier genügen. Die berüchtigte Garve-
64 Specielle Einleitung.
Feder'sche Recension (Gott. Gel. Anz. 1782, Zugabe S. 40) betont den absoluten
Idealismus (stellt also Kant mit Berkeley zusammen) sowie den Skepticismus^
Garve in seiner Originalrecension (A. D. B. Anh. zu 37 — 52, S. 839) betont
Grenzbestimmung und Skepticismus, wie in derselben Zeitschrift 80, 461.
463. 471; 86, 360 u. ö. von Pistorius wiederholt wird, bei dem sich auch
die Auffassung als Subjectivismus findet, der nach 93, 449 die »Seele
des K.'schen Systems*^ sein soll. Derselbe war es auch, der Spinozismus in
Kant fand. Aenesidem 2 f. 118. 403 ff. hebt die Grenzbestimmung
hervor, dagegen 95. 391. 400 die Widerlegung Hume's, also den Rationa-
lismus; 402 den Dogmatismus. Nach Maimons Streifz. 199 dag. hat Kant
Hume nie widerlegen wollen. Ebenfalls die Grenzbestimmung hebt hervor
Brastberger, Phil. Arch. I, 4, 95 f. Vgl. Id. Unters, über die Kr. d. pr. V.
21 ff. u. A. L. Z. 1792, Nr. 222. Schwab, Preisschr. 116 findet Dogmatis-
mus, dag. 118 ff. Subjectivismus und Skepticismus in der Kritik. Das letztere
findet auch Hamann, Metakrit. W. W. VII, 4. (bei Rink 121), sowie Stattler.
Das erstere besonders Weishaupt, Menschl. Erk. 127. 135, dag. Skepticismus
ib. 7. 74. 95. Phänomenalismus findet derselbe in Kant in seiner Schrift über
Zeit und Raum, S. 6 ff. dag. absoluten Idealismus, ja Egoismus ib. S. 62 ff.
Dagegen leugnet Zwanziger, Commentar 1 ff. den absol. Idealismus als
Hauptzweck. Für Jacob i enthält die Kritik Skepticismus (bei Reinhold,
Beitr. z. 1. Uebers. II, 29. cfr. 41. 49) Subjectivismus W. W. H, 136, HI, 452.
absoluten Idealismus W. W. II, 301 ff. Auf die Methode dagegen legt den
Hauptwerth (Thanner) Der Transsc. Ideal. 13. Die Eberhard'sche Zeitschrift
findet ausdrücklich Kants angebliches Hauptverdienst in der Grenzbestim-
mung bes. I, 9 ff. 117 ff. II, 431 ff. u. ö., wozu man Kants Gegenschrift
(R. I, 406) vergleiche. Dogmatismus, sowohl seiner aprioristischen, als seiner
^ Feder (Garve'sche Recension, Gott. Gel. Anz. Zug. 1782 8. St.) fasste
die Kritik vor allem als skeptischen Idealismus auf. „Die Mittelstrasse zwischen
ausschweifendem Skepticismus und Dogmatismus, den rechten Mittelweg" —
habe der Verf. nicht gewählt. Die dogmatische rationalistische Seite verschwindet
in dieser Auffassung fast ganz. In dem eigenen rationalistischen System «Rs. sieht
Feder nur „die gemein bekannten Grundsätze der Logik und Ontologie, nach den
idealistischen Einschränkungen des Verf. ausgedrückt," Dieser Idealismus imi-
fasse Geist und Materie auf gleiche Weise und verwandle die Welt und uns selbst
in Vorstellungen. Feder sieht nur die Berührung mit Hume und Berkeley. Aehnlicli
die A. D. B. 88. 11, 145. „Der übertriebene Idealismus, welchen K. durch
seine Revision aller bisherigen Metaphysik einzuführen suchte, scheint das Be-
dürfniss der Vernunft zu wenig zu befriedigen und ihre Rechte, welche der dog-
matische Realismus der älteren Philosophen vieUeicht zu weit ausgedehnt
hatte, in zu enge Grenzen einzuschliessen, als dass man sich dabei hätte beruhigen
und nicht den Mittelweg zwischen beiden Extremen aufzufinden hätte bemüht sein
sollen." Anderwärts (ib. 107. 448) wird Ks. System rationeller Skepticismus
genannt. „Skeptische Metaphysik" finden die Gott. Gel. Anz. 1785, S. 1020;
Meiners (Vorrede zur „Seelenlehre"), stellt K. mit Sextus, Berkeley und Hume
zusammen, wogegen ihn Cäsars Philos. Arch. I, 160. 248 in Schutz nimmt.
Die verschiedenen Auffassungen der Kritik d. r. V. 65
rationalistisehen Seite nach fanden Feder, Weishaupt, Tiedemann, Seile \
Platner fand dogmatischen Skepticismus in Kants System'; ebenso
Maimon*. Diese verschiedenen Auffassungen erregten nun verschiedene
Discussioiien, insbesondere da nun auch einzelne Anhänger einzelne Seiten
herauszuheben begannen, so dass ein allgemeiner, endloser Streit über'den
eigentlichen Sinn de-r Kritik entstand*.
Natürlich musste diese Verschiedenheit der Auffassung auch in der Fort-
bildung Kants sich geltend machen. Am ehesten wurde noch E einhold
in seiner ersten Zeit allen Seiten des Kriticismus gerecht. Vgl. z. B. die
Wiedergabe des Hauptresultates „Fund, des phil. Wiss." 65. 73. Beitr. z. Ber.
^ Der Empirist Seile sah in Ks. System Dogmatismus und Rationalis-
mus: „Wenn K. dem Dogmatismus der menschl. Yernunft steuert^ so thut er dies
durch einen anderen Dogmatismus^ der despotischer ist als alle Quod erat
Demonstrandum* 8 der bisherigen Weltweisen. Wenn K. den Hader zwischen Ver-
nunft und Erfahrung stillen will, so schliesst er vielleicht einen Vertrag zwischen
beiden^ welcher der Erfahrung nachtheiliger ist, als alle Apriori's, welche aus der
Schale der spitzfindigsten Dialektiker gekommen sind. Wenn K. die Gerechtsame
des Raisonnements wieder herstellt, so thut er es fast immer auf Unkosten der
Erfahrung" n. s. w. Grunds, d. reinen Philos. 3—4. f)erselbe setzt seinen eigenen
Empir. dem K. 'sehen Rationalismus gegenüber in der Abhandlung ^De la rMitd
et VidMiii des objets de nos connaissances,^ (Academ. Berl. 1786—1787, 577 ff.)
' Im Gegensatz zum eigenen kritischen; über diese Unterscheidung vgl.
Reinhold, in der Berl. Mon. XIV, 49 ff.
* In der Geschichte des Skepticismus von Stäudlin 1794 steht Kant neben
Home', bei Jacobi, Schulze, Maimon, Platner findet sich häufiger der Skepti-
cismus Kants als sein Dogmatismus betont. — Subjectivismus findet Bardili,
Phüos- Elem. II, 147.
* Zusammenstellungen dieser verschiedenartigen Aufnahmen Kants findet
man besonders bei Rein hold, Briefe I, 104, vgl. Verm. Sehr. II, 249: „Das
Evangelium der reinen Vernunft ist den Heterodoxen Thorheit und den Orthodoxen
Aergemiss, und in keinem Buche, die einzige Apokalypse vielleicht ausgenommen,
hat man so verschiedene und einander so sehr entgegengesetzte Dinge gefunden."
Besonders aber ist hierüber die Einleitung zu der „N. Th. d. Vorst." : Ueber die
bisherigen Schicksale der K.'8chen Phil, zu vergleichen, wo Reinhold deduktiv
nachweist, wie ein solches vermittelndes System von allen Parteien falsch ver-
sfanden werden musste. Vgl. noch Suabedissen, a. a. 0. 298 ff. über die
verschiedenen Auffassungen der Kritik bei Gegnern und Anhängern als Idealis-
mus, Rationalismus, Empirismus, Dualismus, sowie Schulze, Kritik d.
theor. Philos. I, XXVII. Sehr gut auch bei Neeb, Kants Verdienste S. 20 ff.
Dogmat. u. Skept. hielten ihn für einen „Halbbruder". Eberstein, Gesch. der
Log. u. Met. n, 51. AUe heben als gründliche Kenner Kants und exacte Historiker
hervor, dass alle jene Auffassungen einseitig seien, und bei K. eben die verschie-
denen Seiten des Kriticismus gleichberechtigt neben einander stehen. Bald erfand
man für das Kantische System, um es von dem bisherigen Rationalismus auch
dem Kamen nach zu unterscheiden, den Namen Purismus. Dieser Ausdruck
scheint im Gegensatz zum Empirismus zum erstenmal von Schmid im Anhang
zu seinem Wörterbuch der K.'schen Philos. angewendet worden zu sein.
YAlhiiiger, Kant-Commentar. 5
66 Specielle Einleitung.
b. Missv. I, 275. Der absolute Idealismus wurde jedoch bald, weil
auch von Gegnern wie z. B. Jacobi betont, bei einem Theile die herrschende
Auslegung, so bei Beck, Maimon, und dann bei Fichte, Schelling und
Hegel. Entgegenstehende Stellen galten als „Accomodationen" Kants *. Die-
selbe Richtung hob aber noch ausserdem den Rationalismus heraus, den
sie jedoch aus einem phänomenalisti sehen bald in einen absoluten und meta-
physischen verwandelte, indem sie die Grenze zwischen Immanenz und
Transscendenz des Erkennens fallen Hess. Den Phänomenalismus bildeten
Herbart und Schopenhauer aus, freilich Beide unter Anerkennung der Erkennt-
niss der Dinge an sich ; dazu mischte Herbart rationalistische, Schopenhauer
empiristische Elemente. Den Apriorismus nebst dem Phänomenalismus halten
Fries und seine Schüler für Kants eigentliche Meinung*. Die Beneke'sche
Philosophie ist Weiterbildung des Empirismus. Bei dem Interesse an der
eigenen Weiterbildung des philosophischen Gedankens trat natürlich das rein
philologisch-historische Interesse, die Frage, was Kant selbst eigentlich habe
hauptsächlich sagen wollen, beträchtlich zurück, und ist erst neuerdings in
der III. Periode der Kantliteratur wieder und zwar sehr stark erwacht.
Einer der Wenigen, die auch in der II. Periode ein Interesse für diese Frage
zeigten, war Weisse, der in seiner Schrift: „In welchem Sinne die deutsche
Philos. jetzt wieder an K. sich zu orientiren hat." Leipzig 1847 gegenüber
der landläufigen phänomenalistischen Auffassung die rationalistische wieder
zur Geltung brachte. Andererseits rechnete Maurial in Frankreich Kant zu den
Skeptikern (1857) und im Anschluss an ihn 1865 Saisset, indem er Kant
mit Aenesidem und Pascal in Eine Linie stellt. Beneke, Logik 11, 173,
Kant 12 ff. 17 f. fand die Grundtendenz Kants in der Behauptung, alle Er-
kenntniss des Seienden stamme aus Anschauung, nie aus Begriffen; nach
Metaphysik S. 12 f. dag. habe K. den Skepticismus gestäi'kt.
§. 14.
Fortsetzung (Gegenwart).
Nach dem grossen Wiederaufschwung des Kantstudiums machten sieh
sofort auch wieder jene oben gekennzeichneten sechs verschiedenen Auf-
fassungen geltend sowohl bei Anhängern als bei Gegnern, als auch bei den
* Fichte,Lebenu.Briefw. 11,349 [431]. Schelling, W. W. 1,210 ff. 231. 235.
^ Mit diesem Gegensatz deckt sich auch im Wesentlichen der Gegensatz der
anthropologischen und der transscendentalen Auffassung des Apriori.
Nach der Ersteren Auffassung beruht der Nachweis des Apriori auf empirisch-
psychologischer Entdeckung, nach der anderen auf jenem rein-logischen
Beweis, welchen K. selbst „transscendental" nennt. Der Gegensatz dieser Auf-
fassungen trat schon bei den frühesten Anhängern hervor und fand seine Haupt-
vertreter in Fries und J. B. Meyer einerseits, Fichte, Schelling, Hegel,
Fischer, Cohen andrerseits. Diese Streitfrage wird an den entscheidenden
Stellen zur Besprechung gelangen.
Die verschiedenen Auffassungen der Kritik d. r. V. 67
philologischen Historikern, und die Frage ^iirde, wie Paulsen Viert, f. w. Phil.
m, 81 sagt: „seeschlangenhaft" '. Den Apriorismus machten besonders
die an Pries sich anlehnenden Auslegungen geltend, so bes. J. B. Meyer,
Kants Psych. 19, theilweise auch Lange und Lieb mann, sowie eine Reihe
von Gegnern wie z. B. Montgomery. „Die Entdeckung und Hervorhebung
des Apriorischen, d. h. der in unserer Organisation uns ursprüngHch an-
gehörigen Erkenntnisselemente gegenüber der sensualistischen Zurückführung
der ganzen Erkenntniss auf Affectionen sei die wesentliche Absicht der Kritik,
und Phänomenalität und Rationalität gleichsam CoroUare des eigentlichen
Theorems,' so referirt Paulsen, Entw. 194 ff. (vgl. S. 143. 146), der diese
Ansicht daselbst aufs heftigste bekämpft und im Anschluss an Weisse und
Cohen den rationalistischen Theil als Kants eigentliche Tendenz bezeichnet
und zwar den immanenten Rationalismus, die apriorische Theorie der Er-
fahrung. Ihm und seiner Auffassung trat neben Riehl, Kritic. I, 286 ff.,
311 ff., besonders lebhaft B. Er dm an n, bes. Kants Kritic. 90. 245, entgegen,
welcher den Empirismus (in dem oben genau definirten Sinne) als Kants
-Hauptzweck* bezeichnet. Paulsen vertheidigte seine Ansicht in der Viertel-
jahrschi*. f. wiss. Phil. I, 484 ff., HI, 79 ff. gegen Erdmanns Behauptungen
in seiner Einleitung zu den Prolegomena und zur Kritik *. Dagegen theilt
' Eine, indessen ganz unvollständige Uebersicht derselben gibt Erdmann,
Ks. Kritic. 245 ff. Richtig ist folgende Bemerkung desselben, die aber in ihrem
letzten Theile auf Erdmann selbst Anwendung findet: „Es ist gegenwärtig der
Gegensatz in der Interpretation der Lehre Kants ungleich tiefer gehend, als zu
irgend einer früheren Epoche der naclik an tischen Philosophie. Dies um so mehr,
als die entschiedene Setzung des einen Gesichtspunkts fast überall dazu geführt
hat, die relative Berechtigung der anderen ganz zu verkennen." Man interpretire
vielfach, fügt derselbe Autor hinzu, Kant nicht historisch aus der Zeit heraus, in
der er sich entwickelt hat, sondern sachlich aus den Problemen heraus, die uns
za ihm zurückgeführt haben. „Je nach der Parteistellung also, die man selbst
einnimmt, wird sich die Reconstruction verschieben, sei es, dass der Zusammen-
hang, sei es, dass der Gegensatz zu dem eigenen Urtheil über die sachlichen
Probleme stärker hervortritt, als ein solcher historisch genommen vorhanden war."
Je eingehender man daher die rein historische und philologische Interpretation
pflegt, abgesehen von aller eigenen Stellung zu den Problemen, „desto sicherer wird
eine Einigung über den thatsächlichen Bestand des Kriticismus Kants zu er-
reichen sein."
* Gegen Erdmanns Darstellung bes. Ks. Kriticismus 14 ff. ist als sehr wesent-
licher Einwand zu erheben, dass er diejenigen Stellen, in welchen Kant den Skep-
ticismos kennzeichnet und denselben zurückweist, ganz ignorirt. Kant fasst den
Skepticismus im engsten Zusammenhange mit dem Empirismus auf und
tadelt an diesem und daher besonders an Hume die Leugnung apriorischer Ele-
mente, rationaler Erkenntniss überhaupt, wie Erdm. auch Prol. LXXXII selbst
zageben muss. Der Skepticismus ist nicht bloss für K. die Leugnung trans-
scendenter Erkenntniss, wie Erdm. und Göring, Viert, f. wiss. Philos. I, 405
darstellen, sondern, wie die angeführten Stellen beweisen, die Leugnung aller ge-
wissen Erkenntniss auch im Er fahr nngsumk reis. Und gerade gegen diesen Skep-
(58 Specielle Einleitung.
Windelband Paulsens Auffassung (Viert, f. wiss. Pbil. I, 232). Mit be-
sonderer Energie hat aber Stadler, dann noch besonders Laas die ratio-
nalistische Grundtendenz als die „herrschende VorsteUungsgruppe" bei Kant
hervorgehoben ; vgl. dessen Ks. Analog, d. Erf. 7 ff., wobei derselbe auch die
einseitige Schopenhauer'sche Auslegung des K.'schen Systems als Idealismus
widerlegt. Die verbreitetste Auffassung ist die idealistische und hier wieder
die phänomenalist is che. Lange betonte bald mehr die skeptische,
ticismus will K. die Metaphysik als rationale Wissenschaft „retten", daher ist es
ganz falsch, das einzige Unterscheidungsmerkmal des Krit. vom Skept. mit Erdm.
a. a. 0. 14 darin zu finden, dass der Krit. eine apodiktische Grenzbestimmung
gebe. Dabei sind alle Stellen einfach ignorirt, in denen K. den Apriorismus und
Rationalismus der Erkenntniss gegenüber dem Skept. auf das energischste in Schutz
nimmt. Daher ist Erdmanns Gliederung a. a. 0. 17 (die der obigen nach Methode
und Object nur äusserlich ähnlich ist, aber eine starke Amphibolie einschliesst).
unrichtig, es handle sich um die beiden Gesichtspunkte Methode und Haupt-
zweck; gleichartig sei der Kriticismus dem Dogmat. in der Methode, dem
Skeptic. im Hauptzweck; dort will die Kritik eine Metaphysik auf apriorischem
Weg erreichen, hier schränkt sie diese auf mögliche Erfahrung ein. Da nun der
Hauptzweck das wichtigere ist, stehe Kant dem Skepticismus bedeutend näher als
dem Dogmatismus. „In dem Masse, als der Inhalt des kritischen Standpunktes
durch seinen Hauptzweck bestimmter bezeichnet wird als durch seine Methode
und seine Architektonik, ist der Gegensatz desselben gegen den Dogmatismus
grösser als der Zusammenhang, und die Verwandtschaft mit dem Skepti-
cismus enger als die Differenz." Hier ist übersehen die Möglichkeit, dass
doch auch gerade die Methode für Kant der Hauptzweck sein konnte! Mit
andren Worten: Erdm. verwechselt die Methode, um den Hauptzweck zu
erreichen, mit der Methode, welche selbst Hauptzweck sein kann.
Er vertauschte die apriorische Metaphysik, welche Kant gegen den Skepticismus
aufrecht erhält und welche im ersten der angeführten Sätze eingeführt ist, mit
der apriorischen Grenzbestimmung, mit der die Erörterung schliesst In dem
ersteren Fall könnte Methode (d. h. also speciell apriorisch -rationalistische Me-
thode) nur in Gegensatz gebracht werden zu Object (d. h. also speciell zur
Grenzbestimmung). Im zweiten Falle aber steht Methode, durch welche die
Grenzbestimmung bewiesen wird, dieser selbst gegenüber, welche Erdmann nun
als Hauptzweck betrachtet, der eben auf verschiedene Weise von Kant erreicht
werden konnte. Letzterer Gegensatz hat natürlich nur Berechtigung und Sinn,
wenn erst Eines der Elemente des ersten Gegensatzes als Hauptzweck heraus-
gehoben ist. Wenn man z. B. die Methode des ersten Gegensatzes heraushebt
als Hauptzweck, dann kann man ebenfalls wieder fragen, nach welcher Methode
dieser Hauptzweck von Kant erreicht werden wollte, worüber ja auch Streit
herrscht (psychologische oder transscendentale Eruirung der reinen Vernunft-
elemente und -Erkenntnisse). Und dasselbe gilt, wenn man umgekehrt die Grenz-
bestimmung als Hauptzweck heraushebt: auch hier ist dann die neue Frage,
durch welche Methode diese getroffen werden soll. Vgl. oben S. 33 u. ^,
wo diese Punkte zum erstenmal genau unterschieden sind. — Die bes. von
Paulsen und Erdm an n discutirte Frage, ob durch die IL Aufl. der Kritik der
Schwerpunkt verschoben worden sei, kann erst im Laufe des Commentars erwogen
werden.
Die verschiedenen Auffassungen der Kritik d. r. V. gg
bald mehr die subjectivistische Seite, Grapengiesser (gegen Kirchmann)
mehr die letztere Seite, ebenso Spicker (Kant u. s. w. 12). Die Auffassung
als Subjectivismus vertritt insbesondere die Kritik Trendelenburgs und
Ueberwegs, während Hartmanns Kritik eher die skeptische Seite be-
trifft. Den absoluten Idealismus finden wir bei Cohen, theilweise
auch bei Fischer betont, insbesondere auch bei den Gegnern, so bei Hart-
mann (als „Illusionismus"). Die Auffassung Fortlage's, die Krit. ent-
halte wesentlich Skepticismus, bekämpft Göring, System II, 120. 125 ff.,
134. 137. Diese einseitigen Auffassungen werden theils vertreten, theils
bekämpft auch in jenen zahlreichen, meist kleinen Monographien, welche
Kants Verhältniss zuLeibniz, Locke, Hume, Berkeley u.A. betreffen'.
Denn wenn K. in Beziehung zu Leibniz gebracht wird, wird der Aprio-
rismus oder der Eationalismus, wenn in Beziehung zu Locke, Hume
und Berkeley, werden die übrigen Auffassungen mehr in den Vorder-
grund gestellt*. Eben dasselbe gilt auch von den auf das Verhältniss zu
den Nachfolgern bezüglichen Monographien. Viele Darstellungen halten sich
von diesen einseitigen Auffassungen frei, so besonders K. Fischer, wenig-
stens im Grossen und Ganzen. Neuerdings hat zuerst Witte, Beitr. 4 ff.,
und dann bes. Volkelt in der Darstellung von „Kants Erkenntnisstheorie*,
S. 79 ff., 82 f., 225 ff., diese naheliegende Lösung dieses unerquicklichen
Streites genauer ausgeführt, indem letzterer zeigt, dass K. „das Ziel seines
Denkens in ein inhaltvoll und nach seinem ganzen reichen Zusammenhange
gefasstes Problem, also in ein Ganzes von mehreren mit einander wesentlich
verbundenen Seiten setzt". Kant hat „stets den vollen Zusammenhang des
Zieles, nur mit stärkerer Betonung bald dieser, bald jener Seite vor Augen**.
Auch Caird, Phil, of Kant 191, betont richtig, dass die Analytik und die
Dialektik gleichberechtigte Theile der Kritik seien, und er beweist
diese Auffassung durch Darlegung des Doppelverhältnisses Kants zu Leibniz
und zu Hume. Vgl. auch Pfleiderer in Fichte's Zeitschrift 77, 1, 14 ff.
Nach den oben angeführten Stellen Kants kann kein Zweifel sein, dass
man nur in Einem Sinne von Einem Hauptzwecke Kants reden kann: Kants
Hauptzweck war eine Reform der Philosophie ihrer Form und ihrem Inhalt
nach durch Vermittlung des Dogmatismus und Skepticismus, also die Be-
gründung einer neuen philosophischen Methode im weitesten Sinn
des Wortes. Daher ist ihm weder überhaupt der dogmatische noch der
empiristisch-skeptische Hauptbestandtheil seines Kriticismus Hauptzweck, noch
auch eine der verschiedenen Seiten dieser beiden Haupttheile. Keine von
aUen diesen Seiten seines Systems ist Hauptzweck, so dass die andern Seiten
nur Mittel wären zur Erreichung jenes Zweckes oder Folgen aus dem den
^ Oder auch zu den Alten, z. B. Piaton. Den platonischen Grundcharakter
des K. 'sehen Systems betont neben Witte, Beitr. 6 ff., besonders Laas, Idealis-
mus and PositivismuB 118 f. 119 f. 134 f. 157 f. 169 f. Windelband, Gesch.
d. n. PhiloB. n, 35. 38. 39. 97. 123.
' Vgl- hierüber Fischers treffende Bemerkungen, Gesch. III, 43.
70 Specielle Einleitung.
Hauptzweck enthaltenden Theorem *. Insbesondere die Paulsen-Erdmann'sche
Controverse erledigt sich durch den Hinweis darauf, dass weder die ratio-
nalistische Behauptung der Möglichkeit immanenter Metaphysik noch die
empiristische Behauptung der Unmöglichkeit transscendenter Metaphysik
für Kant die Hauptsache war, sondern beides zugleich, schon desshalb, weü
in Kants System beide Behauptungen einander fordern und sich gegenseitig
stützen; denn die immanente Vernunfterkenntniss ist nur möglich durch
Beschränkung auf Erfahrung, und die transscendente Vernunfterkenntniss ist
sozusagen nur unmöglich, weil eben immanente möglich ist. Kants System
ist ein gegliederter, zweckmässig geordneter Organismus *, wo alle Theile sich
gegenseitig bedingen und stützen und auf einander gegenseitig als Mittel
und Zweck bezogen sind. Und wie jeder Organismus nur Einen Zweck hat,
den man gar nicht als Hauptzweck bezeichnen kann, weil er keine anderen
hat — nämlich das Leben — so hatte auch Kants System, ein in sich ge-
schlossener Organismus — nur einen einzigen Zweck, durch sein lebendiges
Dasein und Wirken eine die Einseitigkeit der früheren Systeme vermeidende,
weil sie vermittelnde, Reform der Philosophie herbeizuführen.
* Man vergleiche über diese ganze Streitfrage noch den Excurs am Schlnsse
dieses Bandes.
■ üeber diese „organische" Auffassung vgl. auch Volkelt, Phil. Mon. XVI,
600. 603.
COMMENTAE
ZU
KAMTS KRITIK DER REINEN VERNUNFT.
L
Commentar zu Titelblatt, Motto und Widmung.
A. Titelblatt.
Titel (Kritik d. r. Y.)« Eine ausführliche Erklärang des Titels s. unten
zu Vorrede A. V u. zu Einl. A. 11 (B. 24). Pauls en, Entw. 181 ff., meint:
wenn es beim Erscheinen der Kritik d. r. V. noch üblich gewesen wäre, in
den Titel eine Bezeichnung des Inhalts aufzunehmen, so hätte derselbe lauten
müssen: Krit. d. r. V. oder erstes, wahres und einzig haltbares
System des Batiönalismus. Dass diese Auffassung einseitig ist, wurde
in der Einl. II, § 13. 14 nachgewiesen.
Im. Kaiit^ Prof« in K« Den Zusatz „Professor^ Hess E. auf seinen
späteren Schriften weg. Vgl. Borowski 142: „Um Titel und äussere Ehren-
zeichen bekümmerte sich K. durchaus gar nicht; ehrte aber die Professors-
würde an seinen Kollegen und an ihm selbst sehr. Zu seinem einfachen
,Im. Kant* setzte er in späteren Jahren nichts weiter an der Spitze seiner
Schriften hinzu. Er bedurfte es auch nicht." Ib. 41: „Durchaus kein langer
Schweif zu seinem Professorstitel von so oder so viel Academien, deutschen
oder lateinischen Gesellschaften, " K. „bekümmerte sich um diesen von Halb-
gelehrten ängstlich gesuchten Pimiss gar nicht*.— K. zog die Form „Immanuel"
der Form „Emanuel* vor. Er freute sich der Grundbedeutung „Gott mit
uns*. Hasse, Letzte Aeusserungen Ks. S. 17 f.
Der Aeademie . • • Mitglied. Kant war im Jahre 1786 nach dem Tode
Mendelssohns der Berliner Aeademie als ordentliches auswärtiges Mitglied
beigesellt worden und machte daher den Zusatz auf dem Titelblatt der
IL Aufl. wohl mehr aus Dankbarkeit als aus Eitelkeit. Ueber diese Er-
nennung vgl. Reicke, Kantiana 8. 33. 36. 38. 41. 53. 60. Bartholm^ss,
Hist. philos. de TAcad. d. Prasse IE, 278 ff. K. hat an die Aeademie keine
Abhandlungen eingesandt. Kraus sagt bei Reicke 60: „Dass gerade zu
gleicher Zeit, da K. Mitglied . . . wurde, es auch Eberhard und Herder
worden, war ihm, der sich aus allen solchen Sachen nichts machte, ganz
gleichgültig; aber mich verdross es, und wohl jeden, der diese drei Männer
74 Commentar zu Titelblatt, Motto und Widmung.
einiger massen ihrem wissenschaftlichen Werth nach zu würdigen weiss. Auch
liess K. diese Titulatur, die er anfangs einmal seinem Namen auf dem Titel-
blatt seiner Kritik beisetzte, weil er glaubte, dass sie ihn zur Censurfreiheit
berechtige, hernach, als er das Gegentheil erfuhr, immer weg" *. 1794 wurde
K. Mitglied der Petersburger Academie; 1798 der zuSiena. (Schubert 202.)
Zweite hin und wieder rerbesserte Auflage. „Die Veränderungen . . .
beweisen, dass diese gelegentlichen Verbesserungen vielfache, zum Theil ein,-
gehende Umarbeitungen sind, die bis in den ersten Theil der Dialektik hinein-
reichen. (Zahlreiche sprachliche Verbesserungen durchziehen das ganze Werk.)
Ganz neu geworden sind das Vorwort, die Deduction der Kategorien
und die Kritik der rationalen Psychologie; weniger verändert ist die
Argumentation der transscend. Aesthetik und der Abschnitt über die
Phänomena und Noumena. Umfangreiche Zusätze finden sich in der
Einleitung, in der Aesthetik und in denjenigen Abschnitte'ln der Analytik,
die über den Ursprung der Kategorien und über die Grundsätze der
Urtheilskraft handeln." Erdmann, Ks. Krit. 164. Es hat sich bekannt-
lich über die Tragweite dieser Aenderungen ein heftiger Streit erhoben'
zwischen Jacobi, Feder, Michelet, Schopenhauer, Rosenkranz,
J. E. Erdmann, K. Fischer einerseits und Beinhold, Hartenstein,
Cohen, Ueberweg, Zeller, Riehl andererseits. Nach der ersteren An-
sicht ist die 2. Aufl. wesentlich verändert resp. verschlechtert, nach
der zweiten dag. sind die Aenderungen unwesentliche und zwar formelle
Verbesserungen. Eine genauere Behandlung dieser Streitfrage hat nach
Paulsen bes. B. Erdmann angebahnt, zuerst in der Einl. zu den Prole-
gomena 1878, dann in dem höchst verdienstvollen Werke: Kants Kriti-
c i s m u s in der ersten und in der zweiten Auflage der Kritik d. r. V. Eine
historische Untersuchung. Leipzig 1878. Eine eingehende Besprechung dieser
Controverse kann selbstverständlich erst am Ende erfolgen, nachdem die
einzelnen Aenderungen im Laufe der Erklärung erwogen worden sind. Die
Streitfrage bekam eine praktische Bedeutung durch die Consequenz, dass
man entw. die 1. oder die 2. Aufl. bei der Herausgabe zu Grunde legte.
Jenes thaten Rosenkranz und Kehrbach, dieses Hartenstein, Kirch-
mann und B. Erdmann. Genaueres hierüber s. in unserer Vorrede.
Riga 9 flartknoeh. Die früheren Schriften Kants, soweit sie in den
Buchhandel kamen, waren bei Petersen, Härtung, Kanter in Königs-
berg erschienen. Die 2. Aufl. der „Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen* und der „Träume eines Geistersehers* (1. Aufl. 1764
und 1766 bei Kanter) hatte schon Hartknoch in Riga übernommen. Bei
dem Letzteren erschienen dann noch die Prolegomena (1783), die Grund-
legung zur Met. d. S. (1785), die metaphys. Anf. d. Naturw. (1786 u. 1787)
' Diese Angabe bezieht sich nur auf die übrigen Schriften Ks.; denn die
Kritik behielt auch bei den folgenden Ausgaben jene Titulatur bei.
' Vgl. bes. U eb er wegs Abhandlung: De priore et posteriore fortna KatUianae
critices ratianis purae, Berol. 1862, sowie dessen Gesch. der Phil. III, § 17.
Titelblatt. Motto aus Bacon. 75
und die Kritik der prakt. Vernunft (1787). Mit der Kritik d. Urtheilskraft
ging Kant zu Lagarde und Friedrich (Berlin und Liebau) über (1 790) ;
die späteren Schriften erschienen jedoch wieder in Königsberg, nun • bei
Nicolovius; die beiden von Bink herausgegebenen Schriften bei Grob b eis
und ünzer. Mit Hartknoch in Eiga war K. vermuthlich durch Hamann
bekannt geworden, der mit Hartkn. befreundet war. Hartknoch kam auf
der Reise zur Ostermesse 1780 im März und Mai durch Königsberg durch
(Hamann, W. VI, 124. 125 ff. 137 ff.) und besuchte wahrscheinlich Kant,
von dem er dann auch von dem neuen Werke hörte. Eigentliche Verlags-
verhandlungen fanden erst im Sept. u. Octob. statt. (Ib. 160. 163. 171.)
Nach Hamann (W. VI, 160) bemühte sich auch Kanter in Königsberg um
den Verlag „wie ein Gott aus der Maschine '^ und „hätte beinahe das ganze
Spiel verdorben*. „Ihr Grund,* sagt Hamann a. a. 0., „dass Sie vorzüglich
im Stande wären, den Absatz des Werkes zu verbreiten, war ein treffliches
argumentum ad hominem, und ich wünsche, dass Sie die Braut davon tragen
mögen.* Nach Hamann und auch nach Kraus (Beicke 21, Anm. 33) fanden
ausserdem Verhandlungen mit Härtung in Königsb. statt. Kraus sagt:
,K. forderte gar kein Honorar für seine Kritik. Hartknoch gab ihm von
selbst vier Thaler p. Bogen, und K. sah es als ein Geschenk an, dass
Hartkn. ihm jede Auflage besonders bezahlte. Dem verstorb. Härtung hatte
er das Werk angeboten, aber der wollte sich nicht damit befassen, da K.
ihm ganz treuherzig gesagt, er wisse nicht, ob er (Härtung) zu seinen Kosten
kommen würde.* Aus Ks. Brief an Marc. Herz v. 1. Mai 1781 ist bekannt,
dass die Kritik (durch die Vermittlung des Buchhändlers Spener in Berlin)
bei Grunert in Halle gedruckt wurde. Ueber Ks. Verhältniss zu seinen
Verlegern im Allgem. vgl. Borowski 132. 140. 171. 193/4, Reicke,
Kant. 21. 33, Jachmann 44. 71. Ueber Ks. Auffassung des Verhältnisses
von Schriftsteller und Verleger s. Ks. Aufsatz von 1785 über die Unrecht-
mässigkeit des Büchemachdrucks ; Bechtslehre § 31. W. v. Brünneck,
K. über die ünrechtm. d. Nachdrucks. Altpr. Mon. II, 482 ff. — Es mag hier
noch aus Kaisers Bücherlexicon die Notiz hinzugefügt werden, dass die Kritik '
damals kostete 2 Thlr. 16 gr., auf Schreibp. 4 Thlr.
B. Motto.
Dieses berühmte Motto ist Zusatz der II. Aufl., in deren Vorrede Kant seine
Kritik ausdrücklich mit B a c o n s Revolution der Naturwissenschaften in ver-
gleichenden Zusammenhang bringt *. Vielleicht hatte ihm die 1 780 erschienene
üebersetzung des Lebens Bacons von Ulrich (nebst Abhandlung über seine
Philos.) oder die 1783 erschienene Üebersetzung der Schrift de augm. sdent
* üebrigens erinnert schon der Anfang der Widmung in der 1. Auflage „ Wachs-
thom der Wissenschaften^ an den Titel des Baooni sehen Werks: De augmentis
et digmiaU seierUiarum. (1605.)
76 Commentar zu Titelblatt, Motto und Widmung.
von Pfingsten 1783 Anregung zur eingehenderen Lectüre Bacons gegeben.
Die Stelle ist der Vorrede der „Instauratio magna" (1620) entnommen,
deren zweiten Theil das Novum Organum bildet. Diese Vorrede findet sich
in allen Ausgaben des Letzteren, da Bacon den ersten Theil zunächst aus-
fallen liess. Kant hat die Stelle verkürzt wiedergegeben. Im Original heisst
der zweite Satz: Deinde ut suis cpmmodis aequi, extitis apinionum zelis
et praejudiciis, in commune consulant, ac ab erroribus viarum atque im-
pedimentis, nostris praesidiis et auxiliis liherati et muniti, laborum qui resiant,
et ipsi in partem veniant. — Uebersetzung: »Von mir selbst schweige
ich; in Betreff der Sache aber, um die es sich handelt, bitte ich, dass man
sie nicht als einen blossen Einfall, sondern als eine ernsthafte Arbeit ansehe,
und dass man überzeugt sei, ich lege den Grund nicht etwa zu einer Secte
oder einer Theorie, sondern zu dem Nutzen und Ruhm der Menschheit.
Ferner, dass man, des eigenen Vortheils eingedenk, . . . auf das allgemeine
Beste bedacht sei . . . und selbst Theil nehme. Schliesslich, dass man guten
Muthes sei, und meine Reform nicht fiir etwas Unendliches und Ueber-
menschliches halte und so auffasse; denn sie setzt in Wahrheit dem unend-
lichen Irrthum die richtige Grenze." Die von uns gegebene Uebersetzung
weicht von der üblichen Auffassung ab. Der Ausdruck: „in commune con-
sulant" wird mehrfach übersetzt: „gemeinsam Rath pflegen" ; so Kirchmann
S. 48; ähnlich Bartoldy S. 17 „gemeinschaftlich zu Werke gehen". Das
Citat Erdmanns, Prol. CXII, verräth dieselbe Auffassung. Diesen üeber-
setzungen steht gegenüber die Auffassung von Kehr b ach (in sr. Ausg.):
das Allgemeine bedenken; ebenso Buchen, Paris 1842, S. 8 und Riaux,
Paris 1843, S. 14 tendre au bien commun. Die Londoner Ausgabe von 1870
übersetzt (IV, S. 21) join in considtation for the comtnon good, vereinigt
somit beide Auffassungen, was jedoch nach dem vorliegenden Texte nicht
angeht. Grammatisch betrachtet sind beide Uebersetzungen: gemeinsam
Rath pflegen, und: für das allgemeine Beste sorgen, gleichermassen möglich.
(Curtius V, 9, 14; IX, 1, 21; X, 6, 15. Tacitus, Agr. 12, 5; Bist. 4, 67, 14
vgl. mit Tac. Ann. 12, 5, 14; 2, 38, 6; Liv. 32, 21, 1; Terenz, Andr. 3, 3,
16 u. ö.) Es entscheidet somit hier der logische Zusammenhang: aus dem
Gegensatz „suis commodis aequi" ergibt sich, dass hier die zweite Bedeutung
gilt: denn wer für das Allgemeine sorgt, befördert zugleich sein eigenes
Wohl. Dass K. aus Bacon gerade sein Motto entnahm, ist charakteristisch
für seinen allgemeinen Anschluss an die Engländer, besonders Newton und
Hume *. Wie Bacon will K. eine methodologische Reform jener gegen die
Scholastik, dieser gegen den Dogmatismus, üeber das allgemeine Ver-
hältniss Ks. zu Bacon vgl. zu Vorr. B, sowie Einleitung 10 über „Organon".
Schon im Jahre 1772 sagten die aus dem Goethe'schen Kreise redigirten
, Frankfurter Gelehrten Anzeigen" S. 883: „Unsere Zeiten, Mrir müssens ge-
stehen, und sollten auch manche noch so sauer dazu sehen; unsere Zeiten
* Das Motto aus Bacon verwendet auch Fichte für die „Erste Einleitung
in die Wissenschaftslehre" W. W. I, 419.
Andere Motti. Widmung an Zedlitz. 77
brauchen einen neuen Baco, so nöthig als die Zeiten unserer Väter."
Ein anderes Motto schlug der begeisterte Kantianer Vill er s vor in seinen
LeUres Westphaliennes, Berl. 1797; die Verse des alten Dichters Hebert:
Et veriti est la massue,
Qui tout le monde occit et tue.
Auch Schopenhauer schlug ein Motto für die Kritik vor, Par.u. Paral. I, 84,
aus Pope (Works VI, 374. Ed. Basil.):
„Since Hia reasonable to doübt most things, we should most of all
douht that reason of ours tohich would demonstrate aU things"
C. de R^musat, La Phüos. Allem, Prif. X, schlägt die folgenden berühmten
Eingangswort« aus Condillacs „Essai sur Vorigine des connaisanccs hu-
maines" als „Epigraphe^ für die Kritik d. r. V. vor:
„Sau que nous nous ilevions, pour parier mitaphoriquement, jusque
dans lea cieux, soit que nous descendions dans les abtmes, nous ne
sortona pas de nous-tneme; et ce n'est jamais que notre pensSe que
nous appercevons."
Witte (Philos. Monats, XIV, 487) will „mit leichter, obwohl bedeutsamer
Abänderung** das bekannte Goethe 'sehe Wort als Motto:
„War' nicht die Seele sonnenhaft,
„Wie könnten wir das Licht erblicken?
„Lag' nicht in uns des Gottes Kraft,
„Wie könnt uns Göttliches entzücken?"
Matosch (Methodenfrage der K.'schen Philos. Wien 1879, S. 29) will den
eigenen Satz von Kant (Dissertatio von 1770, § 23) als „freilich verhängniss-
volle Inschrift über dem Haupteingange in das Lehrgebäude des Kriticismus**:
„Methodus antevertit omnem scientiam,'^
C. Widmung.
Dedleationeii. Wald bei Reicke, Kant. 22: „Mit Dedicationen war K.
sparsam.*' Borowski 193 fF.: „Vielleicht gibts wenige Autoren, denen es
ums Dediciren ihrer Schriften so wenig zu thun war als Kanten. Er wollte
sich dadurch weder an irgend einen grossen Mann andrängen, noch einen
brillantnen Ring, wie es jetzt Mode wird, darauf auszugehen, von einem
Fürsten erschmeicheln. Dem Dr. Bohlius, der in seiner Kindheit und
Jugend ihm und seinen Eltern wohlgethan hatte, widmete er die erste seiner
Schriften (1747). Das geschah aus reiner Dankbarkeit. Die allgemeine
Naturgeschichte des Himmels (1755) hat freilich den Namen des grossen
Friedrichs an der Spitze. Dazu hatten K. seine Freunde gerathen** u. s. w.
Die Nova Düuddatio von 1755 und die Monadologia Physica 1756 sind
auch Dedicationen, letztere an H. v. Groben, erstere (durch den Respon-
78 Commentar zu Titelblatt^ Motto und Widmung.
denten) an Herrn v. Lebwald. Die Dissertation von 1770 ist wieder
Friedrich dem Zweiten zugeeignet. Der Streit der Facultftten endlich ist
dem Göttinger Professor Stäudlin gewidmet. Mit der Kritik sind somit
6 (resp. 7) Schriften Kants Dedicationen. — In dem Briefe an Herz vom
1. Mai 1781 bittet er diesen, das Dedications-Exemplar an Zedlitz zu be-
sorgen; es soll „in einen zierlichen Band gebunden werden". Das „Exemplar
soll so früh nach Berlin kommen, dass noch nicht irgend ein anderes dem
Minister ftüher zu Gesicht hat kommen können". Boshaft genug warf
Nicolai in der Vorrede zu den „Neun Gesprächen" (von Schwab S. 21)
es Kant vor, dass er sich hier als „unterthänig gehorsamster Diener" unter-
zeichne, da doch nach seiner Tugendlehre § 9 offenbar „eine Unwahrheit
aus blosser Höflichkeit" eine Lüge sei. Vgl. Nicolai, Gelehrte Bildung
161—163, wo derselbe Gegenstand ausführlich und ergötzlich behan-
delt wird.
Freiherr von Zedlitz. Zedlitz, den K. „Beschützer" und insbesondere
„Liebhaber und Kenner der Wissenschaften" nennt, ist der berühmte Minister
Friedrichs des Grossen und der officielle Vertreter der Aufklärung '. Zedlitz
war seit 1777 Mitglied der Berliner Academie, welche sich daher nach
Bartholm^ss II, 280 durch diese Widmung mit geehrt fühlte. In seinen
Briefen erwähnt K. Zedlitz mehrfach: Aus dem Briefe an Herz v. 27. Sept.
1770 geht hervor, dass er ihm seine Dissertation sandte. Im Brief an
Herz v. Juni 1778 und an Mendelssohn vom Juli 1778 bespricht er die
Berufungsangelegenheit nach Halle. Zi hatte ihm diese erste philos. Pro-
fessur angeboten unter glänzenden Bedingungen. K. schlug zweimal ab.
Er nennt Z. „verehrungs würdig". Nach dem Brief an Herz vom 20. Oct.
1778 hatte Z. ein Vorlesungsheft Ks. requirirt, was ihm durch Kraus zu-
gesandt wird. Nach dem Brief v. 15. Dec. 1778 handelt es sich um die
beliebte „physische Geographie". Wie eifrig und dankbar Z. dieses Manu-
script studirte, geht aus seinem bei Fischer 74 mitgetheilten Briefe * hervor,
woMehreres über Z. Er war Minister von 1770—1788; er stand an der Spitze
des geistigen Departements und die Oberaufsicht über das gesammte Unter-
richtswesen war ihm anvertraut. Der Wissenschaft und der öffentlichen
Meinung sollte der freieste Spielraum eröfinet werden. Es ist daher für
die Physiognomie derZeit sehr bemerkenswerth, dass die Kritik
(trotz ihrer Antipathie gegen die Aufklärungsphilosophie selbst das systema-
tische Grundbuch der wahren Aufklärung im Sinne Kants) unter der Regierung
Friedrichs des Grossen, unter dem Ministerium Zedlitz erschien '. Charakte-
' Vgl. C. Rethwisch, der Staatsmann Freiherr von Zedlitz. Berlin 1880.
* Zuerst veröffentlicht bei Schubert, Kants Biographie S. 61, der noch
Weiteres beibringt. Mit Recht nennt derselbe Kants Widmung „einfach edel".
(8. 65.) Einen Brief von Zedlitz an K. vom 1. Aug. 1778 theilt Liebmann
mit in den Preuss. Jahrb. 1865, 1, 496 („Kantische Reliquien").
• Schoi)enhauer, Welt a. W. u. V. I, 609: „Es ist gewiss keines der
geringsten Verdienste Friedrichs des Grossen, dass unter seiner Regierung
Widmung an Zedlitz. 79
ristisch ist das Schreiben des Ministers im Dec. 1775 an die Universität
Königsberg: veraltete Lehrbücher und Lehrgebäude sollten nicht mehr den
academischen Unterricht verkümmern. Kant war insbesondere als rühm-
liche Ausnahme erwähnt. Diese Beziehungen — Kants Belobung 1775, seine
Berufung 1778, das Interesse Zs. für seine phys. Geogr. 1778, die Widmung
der Kritik 1781 — beweisen die gegenseitige Hochschätzung der beiden aus-
gezeichneten Männer \ Bekannt ist, dass die Nachfolger des Königs und
seines Ministers (Friedrich Wilhelm IL und Wöllner [seit 1 789]) Kants religions-
philosophLsche Thätigkeit hemmten. Die Zeit war reactionär geworden.
Auch der Leibnizianer und Gegner Kants, Eberhard, widmete 1787 den
n. Band seiner „Apologie des Socrates" dem Minister v. Z. mit Worten,
welche sehr charakteristisch sind und offenbar auf Ks. Widmung anspielen. —
üeber Zedl. (geb. 1731, gest. 1793) vgl. Biester, Berl. Monatsschr. 1793,
XXI, S. 537 ff. u. Biester, Berliner Gelehrte. Denina, Priisse literah-e,
rn, 510. Meusel, Gelehrtes Teutschland IV, 268. Erdmann, Vorr. zu
Ks. Proleg. VII. Hirsching, Histor. Liter. Handbuch. Trend elen bürg.
Kleine Schriften I, 127 ff. ZedUtz' Porträt s. Berl. Monatsschr. I, 1783.
Ein Aufsatz von Z. über die Verbesserung des Schulwesens s. Berl. Mon. X,
27-116.
Text der Widmiin^. Der erste Satz enthält eine stilistische Härte:
zu j, vertrautere* ist offenbar „Interesse" zu ergänzen; dasselbe Wort ist
aber auch zu „dieses" hinzuzudenken. Nach Er d mann ist nach „vertrautere"
das Wort „Verhältniss* ausgefallen. — Für die Weglassung des zweiten
Absatzes in B lässt sich kein genügender Grund auffinden. Vielleicht fand
K. die Bemerkung, dass der Nutzen seiner Bemühungen „entfernt" sei und
gemeinhin „gänzlich verkannt werde", nach den unterdessen gemachten
gunstigen Erfahrungen nicht mehr zeitgemäss. — Der Ausdruck „das specu-
lative Leben" erinnert an die Aristotelische Eintheilung in ßto? aTCoXaüoxtxo^,
ßto^ ävd^CüTTtvo^ itpaxttxo^, ßto^ ^eüjp-rjxtxoc. (Nicom. Eth. I, 3, X, 7 — 8.) Es ist
dies die „göttliche" Lebensweise, „vüa contemplativa" , mit Ueberwiegen des
voöc, der vom Sinnlichen sich absondert und der Anschauung des Ewigen
sieh zuwendet. — „Unter massigen Wünschen" erinnert an die bekannte
Stelle von Horaz (Sat. 11, 6, 1): Hoc erat in votis: modus agri non ita magnus
u. s. w. — „Beifall eines Richters", vgl. Vorr. A, fin. S. XV „ich erwarte an
Kant sich entwickeln konnte und die Kr. d. r. V. veröffentlichen durfte. Schwer-
lich würSe unter irgend einer anderen Regierung ein besoldeter Professor so etwas
gewagt haben. Schon dem Nachfolger des grossen Königs musste Kant ver-
sprechen, nicht mehr zu schreiben." Vgl. Biedermann, Deutschi. IV, 874. 880. 893.
* Mit stillschweigender Anspielung auf Zedlitz scheint folgende Stelle von
Kant gesclirieben zu sein: „Dass vornehme Personen philosophiren, wenn, es
auch bis zu den Spitzen der Metaphysik hinauf geschieht, muss ihnen zur grössten
Ehre angerechnet werden, und sie verdienen Nachsicht bei ihrem Verstoss wider
die Schule, weil sie sich doch zu dieser auf den Fuss der bürgerlichen Gleichheit
herablassen. ** (üeber einen neuerdings erhobenen vornehmen Ton u. s. w. Einl.)
80 Commentar zu Titelblatt, Motto und Widmung.
meinem Leser die Geduld und Unparteilichkeit eines Richters". — lieber den
„Nutzen", in negativer und positiver Beziehung, vgl. Vorrede B, S. XXIV ff.
Von dem „Nutzen" seiner „Bemühungen" spricht K. auch in der Widmung
der Naturgeschichte an Fr. 11. (1755). —
Trendelenburg, Kleine Schriften 11, 157: Kant hat Zedlitz „ein
Denkmal gestiftet, das mit der Kritik d. r. V. von Jahrhundert
zu Jahrhundert dauern wird".
IL
Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
Yorrede zur ersten Auflage.
Qliederung.
(Vgl. hiezu Ks. eigene Bemerkungen auf S. 8—9.)
A) Ueb6r die kriüsehe Untersnebmig selbst. (1—13)
I. Ueber die Materie der kritischen Untersuchung. (1—8)
a) Bisheriger Zustand der Metaphysik. (1— ^)
a) Sachlich: innere Widersprüche der Met. (1—3)
ß) Historisch: Dogmatiker, Skeptiker und
Indifferentisten. (3—4)
b) Neue Aufgabe und Leistung, (4—8)
a) Nothwendigkeit einer , Kritik der reinen
Vernunft". (4—6)
ß) Factbche Leistungen des unter gleichem Titel
vorliegenden Werkes. (6—8)
IL lieber die Form der kritischen Untersuchung. (9—13)
a) Oewissheit des Resultates. [Episode über die
transscendentale Deduction.] (9 — 11)
b) Deutlichkeit der Darstellung (discursive, nicht in-
tuitive). (11-13)
B) Ueber das Yerbältniss der kritiseben Untersvebnng sa
einer künftigen Metaphysik. (13—15)
I. Die Aufgabe einer Metaphysik nach dem Entwürfe
der , Kritik-. (13-14)
IL Ankündigung einer systematischen «Metaphysik
der Natur"; deren Verhältniss zur „ Kritik " . (15)
Anhang: Verbesserung von Druckfehlern. (15—16)
Specialliteratur: Keine.
Vftlhinger, K»nt>Oommentar. ()
82 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A I. B - [R 5. H 5. K 13.]
Die mengclil« Ternnnft hat u. s. w. Für die Frage nach dem sog. Haupt-
zweck der Krit. der r. V. ist dieser Anfang desshalb höchst bemerkens-
werth,. weil hier Kant diejenigen Probleme in den Vordergrund in s^lir
prönoncirter Weise stellt, welche Gegenstand der Dialektik, insbesondere
der Antinomien sind. Diese behandelt jene von der Vernunft selbst auf-
gegebenen und doch von ihr unbeantwortbaren Fragen nach dem Wesen
der Seele, dem Ursprung und den Grenzen der Welt (räumlich
und zeitlich), der Freiheit und Noth wendigkeit, die Fragen nach
der Existenz eines Absoluten oder Gottes. „Die transscendentalen
Ideen sind . . . solche Probleme der Vernunft.** Proleg. § 57. Dass jene
Fragen ,uns durch die Natur unserer Vernunft selbst auf-
gegeben sind**, ist eine fundamentale und oft wiederholte Bestimmung
(Vorr. A. VIT. S. 323. 668. Prol. § 52), die darin ihre Erklärung findet, dass
„die Begriffe und Grundsätze**, die in jenen Fragen mitspielen, ihren Ur-
sprung in der Vernunft selbst haben (z. B. 299), die „ein eigener Quell von
Begriffen und Urtheilen ist, die lediglich aus ihr entspringen** (z. B. 305).
Dass diese Fragen unbeantwortbar sind, ist Kants wichtigste Bestimmung.
Diese Unbeantwortbarkeit der in gewöhnlicher Weise gestellten Fragen schliesst
jedoch nicht diejenige Auflösung dieser Probleme aus, welche vom Stand-
punkt der kritischen Philosophie aus möglich ist, und welche Kant unten
VI— VIII für sich in Anspruch nimmt. Es wird sich indessen noch zeigen,
dass K. hierüber zu keiner widerspruchslosen Bestimmung gelangt, indem
er bald mehr die definitive Unbeantwortbarkeit der letzten Fragen skeptisch
betont , bald in dogmatisch - rationalistischer Weise die Auflösung der
fundamentalen Widersprüche in den Vordergrund stellt, die in diesem
Falle bloss äusserlich und scheinbar, im ersten Falle aber innerlich und con-
stitutiv sind \
* J. A. H. Reimarus (Sohn des berühmten H. S. Reimarus) sucht zu zeigen
(Gründe d. menschl. Erkenntn. S. 39), dass es sich widerspreche, zu behaupten,
dass die Vernunft Schranken oder ein Unvermögen habe, die verböten, und
doch ein Bedürfniss, einen Trieb, d. i. ein Naturgesetz, welches geböte, weiter
zu forschen. Die Gegengründe dieses würdigen Vertreters der Popularphilosophie
werden an den gehörigen Orten zur Sprache kommen. Denselben Einwand macht
F. V. Reinhard, System der Christ. Moral I. Bd. Vorr. XI. „Ist der Grundriss
unserer Natur wie ihn diese Philos. gezeichnet hat, richtig, so scheinen wir mehr
das rhapsodische, aus übel verbundenen und mit einander streitenden Kräften zu-
sammengefügte Werk des Zufalls, als das Meisterstück einer schaffenden Weis-
heit zu sein." Ein Wesen, das den Widerspruch des auf Erfahrung beschränkten
Verstandes und der das Sinnliche überfliegenden Vernunft, den Widerspruch des
sittlichen Gesetzes und der Neigungen, den Widerspruch der negativen theore-
tischen und der positiven praktischen Vernunft (in Bezug auf die Ideen) in sich
trägt, „ist doch wahrlich ein im höchsten Grad übel organisirtes, mit sich selbst
durchaus uneiniges, und in jeder Hinsicht bedauerungswürdiges Ganzes.'' Hierauf
antworten Jacobs Ann. III, 484 treffend: „Es würde den kritischen Philosophen
Die Verlegenheiten der menschlichen Vernunft. 83
[R 5. H 5. K 13.] ALn.B
In diese Yerlegenhelt gr^r&th sie ebne Sclmld. „Denn die menschliche
Vernunft; geht unaufhaltsam, ohne dass blosse Eitelkeit des Vielwissens sie
dazu bewegt, durch eigenes Bedürfniss getrieben, bis zu solchen Fragen
fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft . . . beantwortet
w^erden können." B. 21. Durch dasselbe »eigene Bedürfniss", das diese
Fragen hervortreibt, wird die Vernunft aber auch getrieben, „sie so gut als
sie kann zu beantworten". B. 22. Das ist die sog. „Naturanlage zur Meta-
physik". (Ib.) Jene Fragen sind „natürliche Fragen" (ib.), sie sind „un-
vermeidliche Aufgaben der reinen Vernunft". B. 7. Vgl. den Brief an Herz
V. 26. Mai 1789. Diese „Unvermeidlichkeit" betont K. auch 323. 462 ff. 407.
615. Prol. § 51: „Die nicht etwa beliebig erdachte, sondern in der Natur
der menschl. Vern. gegründete, mithin unvermeidliche und niemals ein Ende
nehmende Antinomie." „Die dialektischen Versuche der reinen Vernunft
¥?'erden nicht willkürlich oder muth williger Weise angefangen, sondern die
Natur der Vernunft treibt selbst dazu." Prol. § 57.
Sie fftngt TOD Gnmdsfttzeii an, u. s. w. Kant unterscheidet im Folgenden
zweierlei Arten von Grundsätzen, immanente, für die Erfahrung
unvermeidliche und von ihr bewährte, und transscendente, die Erfahrung
überschreitende. Diese Unterscheidung ist fundamental, sie wird ausdrück-
lich am Eingang der Dialektik 295 gemacht. „Wir wollen die Grundsätze,
deren Anwendung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung
hält, immanente, diejenigen aber, welche diese Grenzen überfliegen sollen,
transscendente Grundsätze nennen." „Ein Grundsatz, der diese Schranket!
wegnimmt, ja gar gebietet, sie zu überschreiten, heisst transscendent"
im Gegensatz zu jenen Grundsätzen des bloss empirischen Gebrauchs. Diese
sind „die Grundsätze des Verstandes", jene „die Grundsätze aus reiner Ver-
nunft". 786. Er spricht zuerst von der ersten Art; als Beispiel solcher
Grundsätze möge angeführt werden der Grundsatz der Causalität: Alle
Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache
und Wirkung (B. 232). Dass dieser Satz nicht nur von der Erfahrung
genügend bewährt, sondern für sie auch ganz noth wendig ist, ist die Lehre
der Analytik (bes. 189 ff.); dass der fortgesetzte Gebrauch dieses Grund-
satzes in eine unvollendbare Reihe von Bedingungen führe, lehrt die
Dialektik (bes. 466. 487. 531 ff. bes. 605 Anm.). Prol. § 57: „Die Vernunft,
durch alle ihre Begriffe und Gesetze des Verstandes, die ihr zum empirischen
Gebrauch, mithin innerhalb der Sinnenwelt hinreichend sind, findet doch
för sich dabei keine Befriedigung ; denn durch ins Unendliche immer wieder-
kommende Fragen wird ihr alle Hoffnung zur vollendeten Auflösung der-
selben benommen."
Kant erwähnt hier scheinbar nicht die schlimmen Folgen, welche durch An-
leicht fallen^ dieser Litanei eine andere entgegenzusetzen, welche die Organisation,
die Reinhards System dem Menschen gibt, noch kläglicher abschildere.^ Er sehe
Alles in Harmonie in des Menschen Bestimmung.
84 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
ALn.B — [E 6. H 6. E 13.]
Wendung dieser empirisch begründeten Grundsätze auf das Metempirische
entstehen , obgleich auch dies und gerade dies nach ihm eine Hauptquelle
der metaphysischen Verlegenheiten ist. Vorr. B. XXIV. XXVII. XXX. A. 710.
750. B. 25. 547. Es ist ja ^sehr anlockend und verleitend, sich dieser . . .
Grundsätze allein und selbst über die Grenzen der Erfahrung hinaus zu be-
dienen*. 63. Besonders der Grundsatz der Causalität, der doch »nur für
Gegenstände möglicher Erfahrung* gilt, ist dieser Missanwendung ausgesetzt
(786). Portschr. R. 489. 491. Diese „Grundsätze, deren man sich bei der
Erfahrung bedient", führen unvermerkt, wie es scheint, mit demselben Rechte
noch weiter. Prol. § 57. § 31 (in.). Das fuhrt aber zu „sophistischem Blend-
werk* (63) 218 Anm. Kant unterscheidet diesen von ihm sog. „transscenden-
talen Gebrauch* der bloss auf das Empirische angelegten Kategorien und
Grundsätze von den nun folgenden transscendenten Grundsätzen ausdrücklich.
296. Allein factisch kommt die transscendentale Anwendung der immanenten
Grundsätze mit den davon unterschiedenen transscendenten Grundsätzen auf
Ein und Dasselbe hinaus; denn der Grundsatz, der gebietet, die Schranken
zu überschreiten, der Satz des Unbedingten, verlangt eben die trans-
scendentale Anwendung der immanenten Grundsätze, und wenn diese eine
solche Anwendung erfahren, entsteht der metaphysische oder transscendentale
Schein. Streng genommen kennt daher Kant nur Einen eigentlich trans-
scendenten Grundsatz, den Satz des Unbedingten, und die übrigen transscen-
denten Sätze (über das Wesen der Seele u. s. w.) entstehen eben durch die
transscendentale Anwendung der immanenten Grundsätze auf das Metem-
pirische nach dem Leitfaden jenes Princips des Unbedingten. Ein solcher
„Grundsatz*, der „gar so weit hinausgeht, dass uns die Erfahrung selbst
nicht so weit folgen kann*, ist z. B. der Satz: Die Welt muss einen ersten
Anfang haben. B. 18. A. 296; cfr. Prol. § 31. 35 bes. wie der Verstand
„unschuldig und sittsam anfängt* und dann die Erfahrungsgrundsätze über
alle Erfahrung hinaus ausdehnt. Weiteres über die üeberanwendung der
Grundsätze z. B. 63 und bes. 296 flp. 701 ff. 725 ff. Entdeckung R. I,
452 Anm.
Zu Grnndsfttien ihre Znflneht zu nehmen u. s. w. Für diese zweit« Art
von Grundsätzen, die transscendenten, ist nach Kant der Ausgangspunkt der
ihnen gemeinsame G r u n d s a t z des Unbedingten: „Wenn das Bedingte
gegeben ist, ist auch das Unbedingte gegeben* (z. B. 307. 322 ff.). Dieser
„unverdächtig* scheinende Grundsatz und „die aus diesem obersten Princip
der reinen Vernunft entspringenden Grundsätze* sind „in Ansehung aller
Erscheinungen transscendent, d. i. es wird kein ihm adäquater empiri-
scher Gebrauch von demselben jemals gemacht werden können*. 308. 299.
„Auf den Credit dieser Grundsätze, deren Ursprung man (d. h. der Meta-
physiker) nicht kennt*, und „über die sich der gemeine Menschenverstand
nicht zu rechtfertigen versteht* (Prol. Vorr. 6), errichtet der Dogmatismus
sein „Gebäude* (3). Eine Deduction, Rechtfertigung dieser Grundsätze ist
unmöglich; es gibt zwar solche Grundsätze aus reiner Vernunft, aber „als
Die Widersprüche der Metaphysik. 85
[R 5. H 5. E 13.] A n. B
objective Grundsätze sind sie insgesammt dialektisch*^ (786). Diese ,in unserer
Vernunft liegenden Grundsätze und Maximen ihres Gebrauchs" haben zwar
«gänzlich das Ansehen objectiver Grundsätze", haben aber f actisch nur „sub-
jective" Bedeutung (296). Diese Grundsätze sind aber so unverdächtig, dass
der gemeine Menschenverstand sie ganz natürlich findet, mit ihnen „imEin-
verständniss steht", oder dass, wie die Prol. § 52b sagen, diese Grund-
sätze „allgemein zugestanden" sind. Ja diese Grundsätze werden
schliesslich als „unmittelbar gewiss" in Anspruch genommen. Prol. 136 *.
Dunkelheit und Widersprüche. Diese wenig schmeichelhafte Charakte-
ristik der Metaphysik wiederholt Kant sehr häufig. Z. B. B. 19 (Ungewiss-
heit und Widersprüche), B. 22 (unvermeidliche Widersprüche), Vorr. A. VI
(Irrungen). 702 (transscendente Erkenntnisse, zwar glänzender, aber trüg-
licher Schein, bringen nur Ueberredung und eingebildetes Wissen, hiemit
aber ewige Widersprüche und Streitigkeiten hervor). Vgl. Kant bei
Erdmann, Preuss. Jahrb. 37. 212. Die dogmatischen Philosophen stellen so
^ unstatthafte und unsichere Behauptungen auf, dass zu aller Zeit eine Meta-
physik der anderen entweder in Ansehung der Behauptungen selbst oder
ihrer Beweise widersprochen und dadurch ihren Anspruch auf dauernden
Beifall selbst vernichtet hat". Prol. § 4. Diese „im dogmat. Verfahren un-
vermeidlichen Widersprüche der Vernunft mit sich selbst haben die Meta-
physik schon längst um ihr Ansehen gebracht". B. 23. Die Widersprüche
der Metaphys. sind in den Antinomien dargestellt '. Schliesslich freilich
' Diese ersten Sätze fasst Stattler, Anti-Kant Vorr. so zusammen : „K. er-
kläret die Vernunft für einen durchgehends unnützen Knecht und Gaukelspieler,
der bisher nur diente, durch eitle Schmeicheleien von hohen Kenntnissen, wie ein
grosser Projectmacher, zu verführen."
• Kant an Bern oui 11 i 18. Nov. 1781: „Damals (1765 ff.) sah ich wohl
ein, dass es dieser vermeintlichen Wissenschaft an einem sichern Probirstein der
Wahrheit und des Scheins fehle, indem die Sätze derselben, welche mit gleichem
Rechte auf üeberzeugung Anspruch machen, sich dennoch in ihren Folgen unver-
meidlicher Weise so durchkreuzen, dass sie sich einander wechselseitig verdächtig
machen müssen." Ueber den hierin liegenden Hinweis auf die Antinomien,
als das veranlassende Motiv zu Ks. Kritik s. später. Vgl. Fortschr. K. 101.
R. I, 492. ^Woran konnte man das Misslingen und die Verunglückung der grossen
Anschläge der Met. erkennen? Ist es etwa die Erfahrung, die sie widerlegte?
Keineswegs ! Denn was die Vernunft als Erweiterung a priori von ihrer Erkenn t-
nisB der Gegenstände möglicher Erfahrung, in der Mathematik sowohl,
als in der Ontologie sagt, das sind wirkliche Schritte, die vorwärts gehen und
wodurch sie das Feld zu gewinnen sicher ist Nein, es sind beabsichtigte und
vermeinte Eroberungen im Felde des üebersinnlichen, wo vom absoluten
Natnrganzen, was kein Sinn fasst, imgleichen von Gott, Freiheit und Un-
sterblichkeit die Frage ist, die hauptsächlich die letzteren drei Gegenstände be-
trifft, daran die Vernunft ein praktisches Interesse nimmt, in Ansehung deren nun
alle Versuche der Erweiterung scheitern, welches mnn aber nicht etwa daran sieht,
dass uns eine tiefere Erkenntniss des Üebersinnlichen, als höhere Metaphysik,
36 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A n. B — [E 5. H 5. K 18.]
löst sich für K. Alles in die beste Harmonie auf, und nur „der Pöbel der
Vernünftler schreit über Ungereimtheit und Widersprüche und schmählt auf
die Regierung, in deren innersten Plan er nicht zu dringen vermag* u. s. w. 669.
Verborgene Irrthflmer oder wie Kant unten VI sich ausdrückt, ,der
Missverstand der Vernunft mit sich selbst". Diesen „Irrthum" gilt es eben
zu verhüten (339), diese „geheime Dialektik" aufzudecken (Prol. § 52b).
Den Weg, „den dialektischen Schein, der sonst auf ewig verborgen sein
müsste, zu offenbaren" (ib.), will Kants Kritik eben angeben *.
Kein Problrstein der Erfahmng. Dies ist ein sehr oft wiederholter
Lieblingsausdruck Kants: Vorr. B. XVII. A. 295. 425. Derselbe findet
sich häufig in seinen früheren Schriften. Von dem „Lapis Lydius^ spricht
K. schon in der Nova Dilucidatio 1755, Prop. III. Diss. 1770, § 24: „Horum
judiciorum criterium et veluti Lydium lapidem, quo Uta dignoscamus a
genuinis, et artem quandam docimasticam.^ An Lambert 13. Dec. 1765:
„Am Probirstein der allg. menschl. Vernunft den Strich halten." Aehnlich
spricht K. von der „Probirwage der Kritik" 767 oder 406 von der „Feuer-
probe" derselben. Kr. d. pr. V. 276: Reine Sinnlichkeit das Probemetall,
woran man den moralischen Grehalt jeder Handlung prüfen muss. Brief an
Herz V. 26. Mai 1789: Die Antinomien ein Probirstein, dass der mensch-
liche Verstand vom göttlichen specifisch verschieden ist.
* Metaphysik ein Kampfplatz. Auch dies ist ein LiebUngsbild Kants, das
er z. B. in der Vorr. B. XFV so ausmalt: „Sie ist ein Kampfplatz, der
ganz eigentlich dazu bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte
zu üben, auf dem noch niemals irgend ein Fechter sich auch den kleinsten
Platz hat erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen
können." „Das speculative Erkenntniss ist der rechte Kampfplatz nimmer
beizulegender Fehden." 776. Im Schlusskapitel spricht K. von „dieser Bühne
des Streits" 853, auf der nach Fortschr. K. 173. R. I, 571 „ein Zweikampf
derVernunft mit sich selbst" stattfindet. „Die vernünftelnden Behaup-
tungen eröffnen einen dialektischen Kampfplatz, wo jeder Theil die Ober-
etwa das Gegentheil jener Meinungen lehre; denn mit dem können wir diese
nicht vergleichen, weil wir sie als überschwenglich nicht kennen; sondern weil in
unserer Vernunft Prineipien liegen, welche jedem erweiternden Satz über diese
Gegenstände einen, dem Ansehen nach ebenso gründlichen Gegensatz entgegen-
stellen und die Vernunft ihre Versuche selbst zernichtet"
Grundl. d. Met. d. S. K. 23. „In dem theoretischen Beurtheilungsvermögen, wenn
die gemeine Vernunft es wagt, von den Erfahrungsgesetzen und den Walirneh-
mungen der Sinne abzugehen, geräth sie in lauter ünbegreiflichkeiten und Wider-
sprüche mit sich selbst, wenigstens in ein Chaos von Ungewissheit, Dunkelheit
und Unbestand. Im Praktischen aber fängt die Beurtheilungskraft dann eben
allererst an, sich recht vortheilhaft zu zeigen, wenn der gemeine Verstand alle
sinnlichen Triebfedern . . . ausschliesst." (Ros. VIII, 25.)
* Nach Herbarts Kantrede von 1810 (S. 11) folgt die Nothw. einer Vernunfl-
kritik aus dem nothw. Widerstreit der Vernunft mit sich selbst. W. W. XII, 144.
Der Kampfplatz der Metaphysik. Krieg nnd Frieden. 87
[R 5. H 5. E 18.] A n. B
band behält, der die Erlaubniss hat, den Angriff zu thun" u. s. w. 422.
handelt sich dabei als Kampfobject um „Landgewinnung^ (l^^)? üis-
besondere um das »Feld der Noumena, von welchem Besitz ergriffen werden
soll* (B. 409). Der Kampf ist aber nur ein Spielgefecht; denn jene Wider-
sprüche liegen nicht in der richtig angewandten reinen Vernunft: denn
der einzige Kampfplatz für sie würde „auf dem Felde der reinen Theologie
mid Psychologie zu suchen sein; dieser Boden aber trägt keinen Kämpfer
in seiner ganzen Rüstung und mit Waffen, die zu furchten wären. Er kann
nur mit Spott oder Grosssprecherei auftreten, welches als ein Kinderspiel
belacht werden kann". 743. Gegen solche Kämpfer gilt es in den „Waffen
der Vernunft** (der wahren) aufzutreten. 744. Jene Kämpfer dagegen sind
^Luftfechter („ Luftstreiche ** 742), die sich mit ihrem Schatten herum-
balgen ... Sie haben gut kämpfen ; die Schatten, die sie zerhauen, wachsen
wie die Helden in Walhalla in einem Augenblicke wiederum zusammen, um
sich aufs Neue in unblutigen Kämpfen zu belustigen". 756. Dasselbe
Bild liegt den weiteren Ausführungen der Vorrede zu Grunde, bis es, wie
auch S. 793, in das Büd des Prozesses übergeht. Vgl. noch 464: „Der
Vernunft bleibt, da es sowohl ihrer Ehre als auch sogar ihrer Sicherheit
wegen nicht thunlich ist, sich zurückzuziehen und diesem Zwist als einem
blossen Spielgefechte gleichgültig zuzusehen, noch weniger schlechthin
Frieden zu gebieten, nichts weiter übrig, als über den Ursprung dieser Ver-
nneinigung der Vernunft mit .sich selbst nachzusinnen, ob nicht etwa ein
blosser Missverstand daran Schuld sei, nach dessen Erörterung zwar beider-
seits stolze Ansprüche vielleicht wegfallen, aber dafür ein dauerhaft ruhiges
Regiment der Vernunft über Verstand und Sinne seinen Anfang nehmen
würde." Vom . apagogischen Beweis heisst es 793: er ist „gleichsam der
Champion, der die Ehre und das unstreitige Recht seiner genommenen
Partei dadurch beweisen will, dass er sich mit Jedermann zu raufen an-
heischig macht" u. s. w. Dieses Bild hat K. selbst weiter ausgeführt in
seiner launigen Schrift vom Jahre 1796: „Verkündigung des nahen Ab-
schlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie."- »Den
Hang, sich der Vernunft zum Vernünfteln zu bedienen, d. i. zu ph i lo-
se phiren, sich polemisch mit seiner Philosophie an Anderen zu reiben, d. i.
zu disputiren, und weil das nicht leicht ohne Affect geschieht, zu Gunsten
seiner Philos. zu zanken, zuletzt in Masse gegen einander (Schule gegen
Schule, als Heer gegen Heer) vereinigt, offenen Krieg zu führen" — diesen
Hang oder vielmehr Drang sieht Kant daselbst als eine von den wohl-
thätigen und weisen Veranstaltungen der Natur an. Der Streit zwischen
Dogmatismus, Ske^ticismus und Moderatismus (Popularphilosophie)
gibt allerdings den Schein der Unvereinbarkeit der Philosophie mit dem be-
harrlichen Friedenszustande derselben; allein K. sucht die wirkliche Ver-
einbarkeit der kritischen Philosophie mit einem solchen Friedenszüstand
zu zeigen. Diese Philosophie fängt „ihre Eroberungen" an mit der Unter:
suchung der Vermögen der menschl. Vernunft. Indessen, während ein totaler
gg Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A n. B — [R 5. H 5. K 13.]
Frieden zum Todesschlaf der Vernunft führen würde, ist diese Philosophie
doch nur ein bewaffneter Friedenszustand, der aber eben den Vorzug
hat, die Kräfte des durch Angriffe in scheinbare Gefahr gesetzten Subjecis
immer rege zu erhalten. Diese streitbare Verfassung ist kein Krieg, sichert
aber den Frieden. Wenn aber Kästner sage:
„Auf ewig ist der Krieg vermieden,
Befolgt man, was der Weise spricht;
Dann halten alle Menschen Frieden,
Allein die Philosophen nicht."
so sei dieser Ausspruch nicht als ein Unglücksbote , sondern als ein Glück-
wunsch auszulegen, indem er den Philosophen einen über vermeinte Lorbeeren
gemächlich ruhenden Frieden gänzlich abspricht; denn ein solcher würde
zum Tode und zur Fäulniss fuhren. In der kritischen Philos. liege also die
Gewähr des nahen Friedensschlusses. Diese „frohe Aussicht zum nahen
ewigen Frieden" werde scheinbar getrübt durch die bedenkliche Aussicht,
welche Angriffe (speciell J. G. Schlossers) gegen die kritische Philosophie
eröffnen. Denn dieser eben erwähnte Mann trete unerwarteter Weise auf
den Kampfplatz der Metaphysik, wo die Händel mit grösster Bitterkeit
geführt werden. Indessen thue dieser aus Unkunde und etwas böslicher
Chikane entstandene Angriff der Verkündigung des ewigen Friedens in der
Philos. keinen Abbruch. „Denn ein Friedensbund, der so beschaffen ist,
dass, wenn man sich einander nur versteht, er auch sofort (ohne Kapitu-
lation) geschlossen ist, kann auch für geschlossen, wenigstens dem Abschluss
nahe angekündigt werden." Durch den Grundsatz: Du sollst nicht lügen
(wozu auch gehört, etwas Unsicheres für gewiss ausgeben), werde der ewige
Frieden bewirkt und gesichert. Vgl. Krug: de pace inter philosophos,
utrum sperandu et optanda, 1795. Auf diesen „ewigen Frieden" weist K.
auch schon in der Kr. hin 592, wo das Bild auch ins Specielle ausgeführt
wird \
Heisst Metaphysik; Dieses Wort verdankt seinen Ursprung bekanntlich
einer Laune des Zufalls. Die jetzt als Metaphysik bekannte Schrift des
Aristoteles erhielt ihren Namen durch ihre Stellung hinter den physikalischen
Werken desselben: ta jjLexa xa «pootxd. Arist. Met. Ed. Brand, p. 823, 18. K.
selbst huldigt der falschen Etymologie. Er sagt Fortschr. K. 160. E. I, 558:
„Der alte Name dieser Wissenschaft \kexä xä cpootxd gibt schon eine Anzeige
auf die Gattung von Erkenntniss, worauf die Absicht mit derselben ge-
richtet war. Man will vermittelst ihrer über alle Gegenstände möglicher
Erfahrung (Irans physicam) hinausgehen , um womöglich das zu erkennen,
was schlechterdings kein Gegenstand derselben sein kamn, und die Definition
der Metaphysik, nach der Absicht, die den Grund der Bewerbung um eine
* In diesem Sinne wollte und erstrebte später der Kantianer Reinhold,
dass aus den vielen Philosophien endlich die „Philosophie ohne Beinamen" ent-
stünde.
Etymologie von y^Metaphysik". Die Königin der Wissenschaften. 89
[B 5. 6. H 6. 6. E 13. 14.] A H. B
dez^leichen Wissenschaft enthält, würde also sein: sie ist eine Wissenschaft,
vom Erkenntniss des Sinnlichen zu dem des üebersinnlichen fortzuschreiten."
(Vgl. Metaph. 17: das Wort bed. eine Wiss., die über die Grenzen der
Xator hinausgehet.) Damit stimmt jedoch nicht überein die Auslegung der
Proleg. § 1, wo K. sagt: »Was die Quelle einer metaphysischen Erkennt-
niss betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, dass sie nicht empirisch
sein könne . . . denn sie soll nicht physische, sondern metaphysische, d. h.
jenseits der Erfahrung liegende Erkenntniss sein.* (Vgl. Metaph. 27: „ohne
Begriffe a priori wäre keine Metaph. möglich*). Hier wird nicht der Um-
fang der Erfahrung, sondern ihr Inhalt überschritten. Die erstere Er-
klärung trifft nur die transscendente Metaphysik, die zweite dagegen auch
die immanente. Dies rechtfertigt Hamanns herbes Urtheil in der „ Meta-
kritik* (Rink, Manch. 125): „Schon dem Namen Met. hängt der Erbschade
tud 'Aussatz der Zweideutigkeit an, der dadurch nicht gehoben, noch weniger
verklärt werden mag, dass man bis zu seinem Geburtsort, der in der zu-
fälligen Synthese eines griechischen Vorworts liegt, zurückgeht . . . Das
Muttermal des Namens breitet sich von der Stirn bis in die Eingeweide der
ganzen Wissenschaft aus . . . und ihre Terminologie verhält sich zu jeder
anderen Kunst-, Weid-, Berg- und Schulsprache wie das Quecksilber zu den
übrigen Metallen.* W. W. VIT, 7. Auch Schopenhauer, W. a. W. u. V.
I, 506, tadelt, dass K.» das etymologische Argument als einzigen Beweis
för seine (falsche) Cardinalbehauptung anfuhrt , dass die Met. schlechterdings
nicht empirisch sein dürfe. Diese allererste Grundannahme ist eine petitto
prineipii. Die Hauptquelle der metaph. Erkenntniss sei in Wahrheit die
Erfahrung. Vgl. Eucken, Grundbegr. 60. Terminol. 177. 183. Herder,
Metakr. I, 63 ff. über den doppelsinnigen Namen „Met*. Für K. gegen
Schop. tritt ein Lehmann, Ks. Principien der Ethik S. 13. 14, der jedoch
die Stelle Prol. § 1 ganz irrig auslegt und Met. als Wissenschaft von
den Bedingungen der Mögl. d. Erf. fasst, wovon K. weder dort noch
hier spricht.
Die Kdnfirii^ aller Wissensehaften. So drückt sich z. B. Crusius aus
in dem Kant sehr wohlbekannten Werke: Entwurf der nothwendigen
Vernunftwahrheiten. Leipzig 1745. Vorr. S. IL Er nennt die Meta-
physik ,die Königin natürlicher Wissenschaften*, wobei also die
Theologie, die göttliche Wissenschaft nicht mit eingeschlossen ist. Leibniz
(Erdm. 121 A) nennt die Metaphysik „scientiam illam prindpem^ , was Janetll,
524 mit „la reine des aeiences^ wiedergibt. Denselben Ausdruck gebraucht
Mendelssohn in den Lit. Brief. 20 (W. W. IV, 1, 499). Aber auch er
klagt schon über den Verfall dieser Wissenschaft, ,in welcher wir so wich-
tige Progressen gemacht, in welcher Deutschland die grössten Männer aufzu-
weisen hatte: einer Wissenschaft, die dem unbestimmten Nationalcharakter
der Deutschen etwas Eigenthümliches zu geben schien, der Königin der
Wissenschaften, die sich sonst aus Herablassung ihre Magd nannte, jetzt
aber dem Wortverstande nach zu den niedrigsten Mägden herunter-
90 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A n. B - [R 6. H 6. K 14.]
gestossen worden." Ib. 501. 504 weiteres über den Verfall der Metaphysik
(i. d. Jahre 1759), sowie in der Vorrede zu den Morgenstunden (1785).
Dieser EhreDnameii. Dass die Metaphysik doch die wichtigste Wissen-
schaft bleibe trotz ihrer Unvollkommenheit, sagt Kant auch in folgender
Stelle der Prol.fin.: „Mathematik, Naturwissenschaft, Gesetze, Künste,
selbst Moral etc. füllen die Seele noch nicht gftnzlich aus; es bleibt immer
noch ein Baum in ihr übrig, der für die blosse reine und speculative Ver-
nunft abgeschlossen ist und dessen Leere uns zwingt, in Fratzen oder Tändel-
werken oder auch Schwärmerei dem Scheine nach Beschäftigung und Unter-
haltung, im Grunde aber nur Zerstreuung zu suchen, um den beschwerlichen
Ruf der Vernunft zu übertäuben , die ihrer Bestimmung gemäss etwas ver-
langt, was sie für sich selbst befriedige . . . Darum hat eine Betrachtung,
die sich bloss mit diesem Umfange der für sich selbst bestehenden Vernunft
beschäftigt, darum weil eben in demselben alle anderen Kenntnisse,
sogar Zwecke zusammenstossen und sich in ein Ganzes vereinigen müssen . . .
für Jedermann . . . einen grossen Reiz und . . . einen grösseren, als jedes
andere theoretische Wissen, welches man gegen jenes nicht (?) leichtlich
eintauschen würde. ^ „Um die Auflösung der philosophischen Fragen gäbe
der Mathematiker gerne seine ganze Wissenschaft dahin; denn diese
kaim ihm doch in Ansehung der höchsten und angelegensten Zwecke der
Menschheit keine Befriedigung verschaffen. " 463. VgL dort überh. über die
hohe Würde der Philos. Die Metaphysik ist „die unentbehrliche Vollendung
aller Kultur der menschlichen Vernunft; sie betrachtet die Vernunft nach
ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Möglichkeit einiger
Wissenschaften und dem Gebrauche aller zum Grunde liegen müssen*. 851.
Der Modeton des Zeitalters. S. unten S. V Anmerk. Mit diesem Ton
des Zeitalters stimmt Kant soweit überein, dass er die Verachtung der bis-
herigen Metaphysik theilt, dagegen die Geringschätzung der Metaphysik über-
haupt bitter tadelt. Klagen über den verdienten Verfall der bisherigen
Metaphysik und Aussprüche über den hohen Werth einer wahren wissenschaft-
lichen Metaph. finden sich insbesondere im Brief an Mendelssohn vom 8. April
1766: „Die aufgeblasene Anmassung ganzer Bände voll Einsichten dieser Art,
so wie sie in jetziger Zeit gangbar sind, sehe ich mit Widerwillen, ja mit
einigem Hasse an." Aber fügt er hinzu: „ich bin soweit entfernt, die Meta-
physik selbst, objectiv erwogen, für gering oder entbehrlich zu halten, dass
ich . . . überzeugt bin, dass sogar das wahre und dauerhafte Wohl des
raenschl. Geschlechts auf ihr ankomme." Aehnliche Klagen bei Herz, Betracht.
S. 5. Vgl. übrigens auch den Doppelsinn von „Metaphysik".
Terachtnng der Metaphysik. Diese Thatsache hebt Kant sehr häufig theils
zustimmend, theils bedauernd hervor'. Vgl. die oben S. 85 (zu „Dunkelheit
^ „Ueber das sinkende Ansehen der Phil.** beklagte man sich um das Jahr
1800 wieder sehr stark. Nachdem Kants Phil, eine Zeit lang das allgemeine In-
teresse erregt und der Phil, einen grossen Glanz verliehen hatte^ trugen die
Die allgemeine Verachtung der Metaphysik. 91
[B 6. H 6. E 14.] A n. B
und Widersprüche") angeführten Stellen, sowie 844: „Da Philosophen selbst
in der Entwickelung der Idee ihrer Wissenschaft fehleten, konnte die Be-
arbeitung derselben . . . keine sichere Richtschnur haben und, jederzeit unter
sich streitig über die Entdeckungen, die ein Jeder auf seinem Wege gemacht
haben wollte, brachten sie ihre Wissenschaft zuerst bei Anderen und endlich
sogar bei sich selbst in Verachtung." Gleich unten IV spricht K. von der
, Geringschätzung", in welche die Met. verfallen sei, und nochmals von der
(vorgeblichen und vergeblichen) Verachtung der Indifferentisten gegen die
Met. und S. 758 von der „spöttischen Verachtung", welche die Skeptiker
g'egen alle ernsteren Nachforschungen an den Tag legen. Frol. Or. 191 : „Ein
^istreicher Mann, den man einen grossen Metaphysiker nennen wollte, würde
diesen kaum von Jemand beneideten Lobspruch übel aufnehmen." „Die
Metaphysik, da man ihr anflinglich mehr zumuthete, als billigerweise ver-
langt werden kann, und sich eine Zeit lang mit angenehmen Erwartungen
ergötzte, ist zuletzt in allgemeine Verachtung gefallen, da man sich in
seinen Bof&iungen betrogen fand." Er. 849. „Das Orakel der Metaphysik ist
längst verstummt" 1796 („Zu Sömmering über das Organ der Seele"). Aehn-
liche Klagen s. Feder s Leben 72. Leibnitz klagt häufig über denselben
Uebelstand, z. B. Erdm. 121 A: Video plerosque, qui Mathemaücia doctrinis
ddedantur, a Metaphycis abhorrere, quod in Ulis lucem, in his tenehras animad-
rertant. Diese Wissenschaft, schon von Aristoteles {•rjtoofiivrj genannt, gehöre
noch „adhue inter quaerenda". Eine ganz ähnliche Introduction, wie Kant,
fanden alle grossen neueren Philosophen bei ihren Hauptwerken nothwendig,
Bacon, Cartesius, Locke, Leibniz, wobei bald die Unsicherheit
der bisherigen Metaphysik, bald die allgemeine Verachtung, in die diese
angebliche Wissenschaft verfallen war, hervorgehoben wurde. Wie der
junge Kant über die Metaphysik dachte, zeigt jene berühmte Stelle seiner
Erstlingsschrift (Schätzung der leb. Kräfte) § 19: „Unsere Metaphysik ist in
der That nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erkenntniss; Gott
-weiss, wenn man sie selbige wird überschreiten sehen. Es ist nicht schwer,
ilire Schwäche in Manchem zu sehen, was sie unternimmt. Man findet sehr
oft das Vorurtheil als die grösste Stärke ihrer Beweise. Nichts ist mehr
hieran Schuld, als die herrschende Neigung Derer, die die menschliche Er-
kenntniss zu erweitem suchen. Sie wollten gerne eine grosse Welt Weisheit
baben, allein es wäre zu wünschen, dass es auch eine gründliche sein
möchte* u. s. w. In der Vorrede zur allgem. Naturgesch. d. Himmels wirft
er einen verächtlichen Seitenblick auf „philosophische Träume", die er ja
bekanntlich 1766 dazu benützt, um die spiritistischen Träume Swedenborgs
dadurch zu „erläutern". Dass es trotz der philosoph. Lehrbücher Wolfs noch
Streitigkeiten der Diadochen bald dazu bei^ die Phil, um allen Credit zu bringen.
Vgl. Bardili'» Aufsatz unter jenem Titel bei Reinhold, Beitr. 3^ 111 fT. und
Fichte 's häufige Klagen über das „verderbte Zeitalter"; dagegen Nieolai, N.
Berl. Mon. 14, 92 ff.
92 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A n. B — [B 6. H 6. E 14.]
keine Metaphysik gebe als Wissenschaft, spricht K. sehr stark aus in der
Ank. der Vorles. 1765. „Um Philos. zu lernen, müsste allererst eine wirk-
lich vorhanden sein. Man müsste ein Buch vorzeigen und sagen können :
sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht . . . Bis man mir nun ein
solches Buch der Weltweisheit zeigen wird, worauf ich mich berufen kann,
wie etwa auf den Polyb, um einen Umstand der Geschichte, oder auf den
Euklides, um einen Satz der Grössenlehre zu erläutern, so erlaube man
mir zu sagen, dass" u. s. w. Fast mit denselben Worten spricht er in ProL
§ 4. Freilich noch 1755 in der Schulschrift Nova Dilucidaüo sprach er die
Hoffnung aus, durch dieselbe den Vorwurf der Unfruchtbarkeit und der
„otiosa et umbratica subtilitas", den die „contemtores^ erheben, gehoben zu
haben. Aber wie er über die Metaph. denken lernte, beweist die scharfe
Bemerkung gegen die „metaphysischen Intelligenzen von vollendeter Ein-
sicht", „dass zu ihrer Weisheit nichts mehr hinzugethan und von ihrem Wahn
nichts kann hin weggenommen werden". (Ueber die negat. Grössen. Einl. 1763.)
Und in der Vorrede zur Preisschr. 1764 klagt er über „den ewigen Un-
bestand der Meinungen und Schulsecten". In der Preisschrift 1764 am Schluss
der ersten Betrachtung findet sich jene bekannte Stelle: „Ich weiss, dass es
Viele gibt, welche die Weltweisheit in Vergleichung mit der höheren Mathesis
sehr leicht finden. Allein diese nennen Alles Weltweisheit, was in den
Büchern steht, welche diesen Titel fuhren. Der Unterschied zeigt sich durch
den Erfolg. Die philosoph. Erkenntnisse haben mehrentheils das Schicksal
der Meinungen, und sind wie die Meteore, deren Glanz nichts für ihre Dauer
verspricht. Sie verschwinden, aber die Mathematik bleibt. Die Meta-
physik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen
Einsichten: allein es ist noch niemals eine geschrieben worden."
Er nähert sich in diesen Stellen jenem Ausspruch Voltaires: „La metaphysique
est le roman de Vesprit,^ Vgl. femer besonders in den „Träumen eines
Geistersehers" Ros. VII a 65 f. 72. 83 (Schlaraffenland der Metaphysik).
Die Matrone. Nur die dogmatische Metaphysik ist für Kant eine „Matrone" ;
seine eigene Metaphysik ist ihm eine „Geliebte*. Er hat das Schicksal, »in
sie verliebt zu sein, obgleich er sich von ihr nur selten einiger Gunst-
bezeugungen rühmen kann". (Tr. e. Geist. R. VII a, 98.) Vgl. Brief an
Herz V. 9. Febr. 1779: Man fühle manchmal Misologie, d. h. Gleichgültigkeit,
gegen die Philosophie, weil man sie undankbar finde, theils weil man ihr zu
viel zugemuthet habe, theils weil man zu ungeduldig sei, die Belohnung für
seine Bemühung abzuwarten; aber ein günstiger Blick versöhnt uns bald
wieder mit ihr und dient dazu, die Anhänglichkeit an sie fester zu machen '.
^ Der berüchtigte Stattler, Verfasser des Antikant, hielt sich an dieses
Bild, indem er sagte: er, Stattler, habe der alten Hekube, Metaphysik genannt^
wieder ihr jugendliches Ansehen verschafft-, Kant aber nur einen anzeitigen Em-
bryo in unförmlicher Gestalt zur Welt gebracht. S. (Mutschelle) Kritische Bei-
träge u. 8. w. XXlIl.
Die Metaphysik eine „Geliebte". Despotismus der Dogmatiker. 93
[R 6. H 6. E 14.]An.in.B
»So spröde und geringschätzend auch die Meisten thun, so wird man doch
jederzeit zu ihr wie zu einer mit uns entzweiten Geliebten zurückkehren."
Krit. 850. Im Brief an Herz vom 24. Nov. 1776 klagt sich K. scherzhaft
der zeitweisen , Untreue'' gegen sie an. Das Bild ist alt. Es findet sich u. A.
anch bei Lessing, der einmal „Liebhaber der Wahrheit" von ihren „Kupp-
lern" unterscheidet. Vgl, Mendelssohn, W. W. IV, 1, 499: „Die arme
Matrone! sagt Shaftesbury, man hat sie aus der grossen Welt verbannt
und auf die Schulen und CoUegien verwiesen. Nunmehr hat sie auch diesen
staubigen Winkel räumen müssen." Ebendaselbst heisst es weiter: „Alles
lebt in einer allgemeinen Anarchie"; ganz ebenso Kant im folg. Abs. K.
scheint somit diese Stelle Mendelssohns (aus den Literaturbriefen von 1759)
bei der Niederschrift vor Augen oder im Sinne gehabt zu haben; der von
K, beliebte Vergleich zwischen den Schicksalen der Wissenschaft und dem
Lieben der Staaten findet sich ausdrücklich und principiell ebendaselbst (501).
Auch der daselbst (S. 501) ausgesprochene Gedanke, dass diese unruhigen
Begebenheiten nützlich seien, weil sonst die Säfte in tödtliche Fäulniss ge-
rathen, findet sich nicht selten bei K. (Eine gute Ausmalung des Bildes
bei Maimon, Logik 294.)
Modo maxima remm etc. Die Worte stehen 0 vid , Metam. XIII, 508—5 10:
Modo maxima verum
Tot gener%8 natUque potens nuribusque viroque
Nunc trahor extd, inops.
Kant dtirt häufig die römischen Klassiker. „Unter der Anfuhrung eines vor-
züglichen Lehrers, Heydenreich, ward K. zu dem Studium der röm. Klassiker
so initiirt, dass Liebe für diese ihm immer eingedrückt blieb. Auch jetzt
nochi (1792) ist es ihm ein Leichtes, lange Stellen ohne Anstoss zu recitiren."
Borowski 25. 158. VgL Reicke, Kantiana 5. 6. 31. 33. 43. Wasianski
46. 146. „Eine Stelle aus den alten Dichtern vermochte viel auf K.* Jach-
mann, Kant. 11. 18. 40. 42. Dieselbe Vorliebe für Citate, insbes. aus
Virgil und Ovid, zeigt schon die Erstlingsschrift §§ 93. 98. 101. 109 u. ö.
Viele Citate entnimmt K. auch Lucrez und Pope, sowie Haller.
Despotismus der Dogmatiker. Eine bei K. beliebte Charakteristik. In
der Vorr. B. XXXV tadelt er die Regierungen, dass sie „den lächer-
lichen Despotism der Schulen unterstützen". Denn bei diesen nimmt
die Vernunft „dictatorisches Ansehen in Anspruch" (738) '. Vgl. über einen
* Pistorius A. D. B. 66. 107. sagt von Ks. System, es könne nur auf den
Trümmern aller anderen erbaut werden und sei so unduldsam wie ein „ orien-
talischer Despot, der nur nach Ermordung aller seiner Brüder sich auf den
Tliron schwingte Denselben Despotismus wirft auch Selle^ Grunds, d. reinen
Philos. 3. K. vor. „Ich erwarte von den Gegnern der neuen Pliilosophie die Dul-
dung nicht, die man einem jedem andern System, von dem man sich nicht besser
überzeugt hätte, sonst widerfahren lassen möchte ; denn die Kantische Philosophie
übt in den Hauptpunkten selbst keine Duldung aus und trägt einen viel zu rigo-
94 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A m. B — [R 6. H 6. K 14.]
„vornehmen Ton" u. s. w., wo der „Despotismus" der Pseudophilosophen
über die Vernunft des Volks und über ihre eigene am Anfang gegeisselt
wird. Vgl. Fortschr. K. 175 (R. I, 573), wo er den „Despotismus des
Empirismus dem anarchischen Unfug der unbegrenzten Philodoxie" gegen-
überstellt. Ebenso sagt Isel in (1768) in seiner „Geschichte der Menschheit"
II, 362. 364 über Wolf und sein System: „Es ist beynahe unbegreiflich,
wie ... ein so trockenes und ernsthaftes Genie, einen so allgemeinen Bei-
fall und eine so entschiedene Uebermacht über die Geister habe erhalten
können ... Er beherrschte lange die höheren und niederen Schulen Teutsch-
lands und fast des ganzen Nordens mit einem wahren Despotism." Aehn-
lieh Mendelssohn in der Vorrede zu den Morgenstunden (IX). Herder,
Metakr. Vorr. V: „Wider ihren Willen sind alle Selbstdenker Despoten;
sie drängen was sie dachten mit Macht auf." lieber diese „Despoten des
Wissens und der Meinung** vgl. Studium der K. 'sehen Phil. 31. Von dem
Despotismus der entgegengesetzten Richtung redet Villers, Philosophie
de Kant I, 163. Ueber diesen Zustand der Philos. s. Neeb, Ks. Verdienste
25 ff. Krug, Fundam., 264 nennt den Dogmat. ausdrücklich philos. Despot.,
denn bei beiden finde sich Willkür in den Anordnungen und ü eber-
schreiten der Schranken. Im Gegens. dazu heisst er 261 den Skeptic. philos.
Anarchismus, und 271 den Kriticismus philos. Republikanismus.
Vgl. Saintes, Kant 85 ff. Biedermann, die d. Philos. I, 64. Der ganze
Absatz ist ein elegant durchgeführter Vergleich zwischen staatlichen Ver-
hältnissen und den Zuständen der Gelehrtenrepublik. Das Bild ist im
Anschluss an diese Stelle vollständig und interessant ausgemalt von Maimon
in der Vorr. zu s. „ Streif ereien".
Anarehie. Vgl. Entdeckung R. I, 478. „Bei der Anarchie, welche unter
dem philosophirenden Volke unvermeidlicher Weise herrscht, weil es bloss ein
unsichtbares Ding, die Vernunft für seinen alleinigen Oberherrn erkennt, ist
es immer eine Nothhülfe gewesen, den unruhigen Haufen um irgend einen
grossen Mann als den Vereinigungspunkt zu sammeln."* Schwab, Preis-
schrift 104: „Es herrschte unter dem philos. Volk eine An., die ein neues
Haupt oder gar einen Diotator zu erfordern schien. Dieser Dictator
trat auf und mit ihm fängt eine neue Periode der Metaphysik an."
Und die Skeptiker. Dass der Skepticismus aus dem Dogmatismus selbst
hervorgegangen ist als nothwendige Folge seines Verfalls, betont Kant mehr-
fach; Prol. §. 4: „Die Versuche, eine solche Wissenschaft (nämlich die dog-
matische Philos.) zu Stande zu bringen, sind die erste Ursache des so früh
ristischen Charakter, als dass eine Accommodation mit ihr möglich wäre;** Schiller,
Briefw. m. Goethe Nr. 21. „Despotismus einer Vorstellungsart** Ib. Nr. 410.
Vgl. Baggesen, Phil. Naclü. I, 426. Hamann, W. W. IV, 443. VB, 27. 85.
* Pistorius, A. D. B. 80. 463. sagt: „Das Reich der Philos. war in eine
traurige, verwirrende Anarchie gerathen, nachdem Leibniz und Wolf vom Throne
gestossen waren; man brauchte ein neues Haupt.**
Die Anarchie durch die Skeptiker. 95
[R 6. H 6. K 14.] A m. B —
entstandenen Skepticismus gewesen, einer Denkungsart, darin die Ver-
nunft so gewaltthätig gegen sich selbst vei*fllhrt, dass diese niemals als in
völliger Verzweiflung an Befriedigung in Ansehung ihrer wichtigsten Ab-
sichten hätte entstehen können/ Ib. § 57. Der Skepticismus ist uranfönglich
au5 der Metaphysik und ihrer polizeilosen ,, Dialektik entsprungen" u. s. w.
Einl. B. 22 „der dogmatische Gebrauch der Vernunft fährt auf grund-
lose Behauptungen, denen man eben so scheinbare entgegensetzen kann, mit-
hin zumSkeptic* Portschr. K. 101, R. I, 492. „Der alle fernere Anschlage
des Dogmat. vernichtende Rückgang der Skeptiker gründet sich auf das
f^änzliche Misslingen aller Versuche in der Metaph." Eine Ausführung
dieses Gedankens s. Entdeckung R. I, 452 Anm. Das gänzliche Miss-
lingen der dogmatischen Metaph., das den Skeptic. veranlasst, zeigt sich durch
die Möglichkeit, über die transscendenten Gegenstände genau mit demselben
Rechte ganz entgegengesetzte Sätze aufzustellen. „Dadurch entspringt ein
Skept. zunächst in Ansehung alles dessen, was durch blosse Ideen der Ver-
nunft gedacht wird, sodann entsteht dadurch ein Verdacht gegen alle Er-
kenntniss a priori, welcher denn zuletzt die allgemeine Zweifellehre
herbeifuhrt." Vgl. Kant bei Erdmann, Preuss. Jahrb. 37, 211.
Skeptiker, eine Art Nomaden. Dieses treffliche Bild führt Eberhard,
Archiv I, 2. 79 weiter so aus: „der Skeptiker erklärt sich gegen beide (Dog-
matismus und Kriticismus) und setzt ihnen, um sie zu zerstören, bald Gründe
ans seiner eigenen Philosophie entgegen, bald sucht er den einen durch den
andern zu bestreiten, bald endlich sucht er jedes besondere dogmatische
System mit sich selbst in Widerspruch zu setzen, um so auf ihren allge-
meinen Trümmern, gleich einem beduinischen Nomaden, der kein
Grnndeigenthum kennt, die bewegliche Hütte seines Zweifels bald
hier bald dort aufschlagen zu können."
Naek keinem nnter sich einstimmigen Plane anbanen. Vgl. 707:
,Die Sprachverwirrung (wie beim babylon. Thurm) , welche die Arbeiter
über den Plan unvermeidlich entzweien und sie in alle Welt zerstreuen
miisste . . . um sich jedes nach seinem Entwürfe besonders anzubauen."
Vgl. Tr. eines Geisters. 11, 2, wo besonders betont wird, dass „ein Jeder nach
seiner Art den Anfangspunkt nehme" \ B. 409: Besonders „im Feld der
* In seiner geistreichen Weise hat K. dies variirt im Jahre 1766 in den Tr.
e. Geist. R. VII a, 65; er erinnert an den Ausspruch des Aristoteles: „Wenn wir
-wachen^ so haben wir eine gemeinschaftliche Welt, träumen wir aber^ so hat
Jeder seine eigene.^ K. kehrt den Satz um: „wenn von verschiedenen Menschen
ein jeglicher seine eigene Welt hat^ so ist zu vermuthen., dass sie träumen.^
„Auf diesen Fnss^ wenn wir die Luftbaumeister der mancherlei Gedanken wollen
betrachten^ deren jeglicher die seinige mit Ausschliessung anderer ruhig bewohnt
(z. B. Wolf oder Crusius) ... so werden wir uns bei dem Widerspruche ihrer
Visionen gedulden^ bis diese Herren ausgeträumt haben. Denn wenn sie einmal,
so Gott will, völlig wachen, d. h. zu einem Blicke,, der die Einstimmung mit an-
96 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A m. B — [R 6. H 6. K 14.]
Noumena" suchten sich die Metaphysiker ^weiter auszubreiten, anzubauen
und, nachdem einen Jeden sein Glücksstern begünstigt, darin Besitz
zu nehmen." Einen „wirklich neuen Anbau** bieten nur synthetische ür-
theile 10 (A).
Locke. Ueber das Verhältniss Ks. zu Locke später. Man vgl. vor-
läufig die Parallelstellen 86 („physiologische Ableitung** der Begriffe), 270 ff.,
B. 127. Die „Genealogie** der Vernunft nennt K. 270 ein „System der
Noogonie**. Ueber Locke (auch Wolf, Lambert, Tetens, Crusius) vgl. die
Aeusserungen Kants bei B. Erdmann, Preuss. Jahrb. 37, 212. Vgl. Kants
Vorlesungen über Metaph. 16. Vgl. Jenisch, Entd. 51. Witte, Vor-
studien 71 ff. bes. 83 über das gänzliche Aufgeben des Locke'schen psycho-
logischen Standpunktes durch Kant. Wolff, Spec. u. Phil. I, 71 ff., sowie
bes. Erdmann, Ks. Kritic. 16. M. Kissel, de rat quae inter Lockii ei
Kantii placita intercedat, comm, Rostock 1869. K. sei: „germanus, sed in-
scius Lockii discipulus/^ M. Drobisch, Locke der Vorläufer Kants. Z. f.
ex. Philos. Bd. II, 1 ff. Rosenkranz, Gesch. der K. Phil. 115. Riehl,
Der phil. Krit. I, 52. 62 ff. 370. Lew es, Gesch. II, 551. 561. Zu bemerken
ist, dass Locke in ganz ähnlicher Weise wie Kant seinen Essay beginnt.
Schon Hegel (Krit. Journal II, 1, 25, W. W. I, 20) bemerkt ganz richtig,
man könnte diese Worte ebenso in der Einleitung zur K.'schen Philos. lesen ;
(freilich bemerkt er dies in tadelndem Sinn, weil Kant wie Locke sich auf
das endlich-subjective Denken beschränke). Nach Rosenkranz, Gesch. der
K.'schen Phil. 19 haben beide in der allgemeinen Fassung des Problems
grosse Aehnlichkeit. Hartenstein, Ueber Locke's Lehre von der menschl.
Erk. Histor. philosoph. Abhandl. S. 305. Bach, Philos, Kant, etc. 22 ff.,
der engste Verwandtschaft Kants mit Locke behauptet. Herbst, F. Locke
und Kant. Stettin 1869. T. Becker, De philos. Lockii el Humii, criticismi
germine, Halle 1875. Vgl. ferner die engl. Werke von Tagart und Webb
über Locke. A. Borschke, Locke im Lichte der K.'schen Philos. 1877.
Schopenhauer, W. a. W. u. V. I, 495. II, 89. Löwe, Fichte S. 7.
Cousin, Premiers Essais S. 132 ff. Höffding, Phil. Mon. XV, 195 f.
Es fand sieli aber, dass u. s. w. Statt des folgenden Gedankens findet
sich in Cousins Wiedergabe der Vorrede (26) charakteristischer Weise fol-
derem Menschenverstände nicht ausschliesst, die Augen aufthun werden, so wird
Niemand von ihnen etwas sehen, was nicht jedem anderen bei dem Lichte ihrer
Beweisthümer augenscheinlich und gewiss erscheinen sollte, und die Philo-
sophen werden zu derselbigen Zeit eine gemeinschaftliche Welt be-
wohnen, dergleichen die Grössenlehrer schon längst eine gehabt
haben, welche wichtige Begebenheit nicht lange mehr anstehen kaim, wofern
gewissen Zeichen und Vorbedeutungen zu trauen ist, die seit einiger Zeit über
dem Horizonte erschienen sind.** — Dühring, Krit. Gesch. 390: „Bei K. steigerte
sich die Empfindung der Unerträglichkeit der sectenmässigen Zerfahrenheit aUer
Metaph. zum entschiedensten moralischen Widerwillen und rief so eine sehr ernste
positive Kraftanstrengung hervor."
Die Aristokratie der Vernunft und der Pöbel der Erfahrung. 97
[R 6. H 6. K. 14.] A m.IV.B
gendes Argumeiit: mais on s^est apergu que eette prHendue expSrience itait
eüe-mSme remplie d'hypothkses , et que la nouvelle atttoritS nitait rien moins
qt^un dognuUisme tout aussi tyrannique que ceiix dont on avait voulu düivrer
la science. Die letztere Wendung, dass der Empirismus selbst zum Dogma-
tismus geworden ist, findet sich bei Kant hier nicht (trotz des scheinbaren
4\jiklanges: denn der „wurmstichige Dogmatismus", von dem Kant redet, ist
eben der eigentliche Leibniz -Wolf sehe , in den man wieder verfiel , weil
Locke's Angriff misslungen war). Der Gedanke könnte sich allerdings auch
bei Kant finden , weil Kant „Dogmatismus" auch in dem anderen Sinne
gebraucht, wornach „Dogmatismus" sowohl den rationalistischen als den
empiristischen Standpunkt bezeichnet. Vgl. oben S. 43 ff.
Keine Geburt der Königin ans dem P5bel der gemeinen Erfahrnug.
Die Metaphysik und ihr Organ, die Vernunft, sind nach Kant streng von
der Erfahrung geschieden. Er liebt es, dieses Verhältniss unter dem Bilde
des Unterschieds aristokratischer Geburt von niedriger Herkunft darzustellen.
Die Vernunft ist königlichen Geblüts, die Erfahrung ist — Pöbel. Die Sinn-
lichkeit soll Dienerin des Verstandes sein, sie ist an sich Pöbel, weil sie
nicht denkt, sie stellt sich in Masse dar, die Sinne sind wie das gemeine
V'olk, welches, wenn es niaihtTöhel ist (ignohüe vidgus), seinem Oberen, dem
Verstände, sich . . . unterwirft. Anthr. §. 8. 9. 10. Daher ist auch die
Berufung auf widerstreitende Erfahrung gegenüber den Ideen nach Krit.
316 pöbelhaft und eines „Philosophen ganz unwürdig". Schon bei Leib-
niz, N, Es8, 195b findet sich das Bild: die Sinnlichkeit ist quelque chose
(TinfSrieur ä la raison, was Schaar Schmidt richtig so übersetzt: nichts
Ebenbürtiges. Diesen Geburtsunterschied (beide sind „sehr ungleichartig"
86) betont Kant mehrmals: „Die reinen Begriffe müssen einen ganz anderen
Geburtsbrief, als den der Abstammung von Erfahrungen aufzuzeigen
haben.* Krit. 86 vgl. 112. Sie haben ihren Geburtsort im Verstände allein.
66. (Geburtsort der Metaph. in der r. V. Prol. Or. 215). Besonders prä-
gnant für diesen Geburts- und Standesunterschied ist die berühmte Stelle in
der Kr. d. pr. V. (A. 154): „Pflichtl du erhabener, grosser Name . . . wel-
ches ist der deiner würdige Ursprung und wo findet man die Wurzel deiner
edlen Abkunft., welche alle Verwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt,
und von welcher Wurzel abzustammen die unnachlässliche Bedingung des-
jenigen Werthes ist, den sich Menschen allein selbst geben können?" In einer
noch feudaleren Weise wird das Bild in der Kritik d. ürth. Einl. II. aus-
geführt ; darnach ist die Natur unterworfen den Begriffen a priori, als Herrschern,
welche auf dem Boden derselben als ihrem rechtlich ihnen zukommenden
Herrschaftsgebiet f«?»^»©^ gesetzgebend sind. Diesen herrschaftlichen,
adeligen mit Gerichtsbarkeit und Gesetzgebung ausgestatteten Begriffsklassen
stehen die gemeinen Erfahrungsbegriffe wie rechtlose Bauern gegenüber,
welche in der Natur überhaupt nur Aufenthalt (Domicilium) y aber keine
gesetzgebende Macht haben. Der Gebrauch dieses Bildes lässt sich bis auf
Ansioteles und Piaton zurückverfolgen: Laas, Ideal, u. Posit. 70.
Vaihlnger, Kmnt-Comxnentar. 7
98 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A IV. B — [R 6. H 6. K 14.]
Alle Wegre u. s. w. „Wie man sich überredet," denn ,der kritische
Weg ist noch offen". 856. Vgl. Grundleg. zur Metaph. der Sitten Ros. 73.
(Kirchm. 68): „Die menschliche Vernunft hat hier wie allerwärts in ihrem
reinen Gebrauche, so lange es ihr an Kritik fehlt, vorher alle möglichen
unrechten Wege versucht, ehe es ihr gelingt, den einzigen wahren zu
treffen." Dies ist ein beliebtes Bild Kants, vgl. unten: „Diesen Weg, den
einzigen, der übrig gelassen war, bin ich nun eingeschlagen." Prol. K. 138:
Alle Wege, die man bisher eingeschlagen, haben den Zweck nicht erreicht ;
148: Kritik ein Werk, das alle gewohnten Wege verlässt und einen neuen
einschlägt. Schon Düucid. Vorrede 1755 sagt K., dass er einen „kaiul
calcatum tramitem" einschlage. Dort (am Schluss) will er auch „in reäo
atqtLC indaginis tramite pergere^; trames ist der „Fusssteig". Durch Zu-
sammenfügung der einzelnen Stellen lässt sich auch hier, wie unten beini
Processbild, ein zusammenhängendes Ganze erhalten, wenn gleich das Bild
hier nicht besonders originell ist, und zwar sind es vier Momente, welche
dabei in Betracht kommen. Erstens: der bisherige Weg, wenn er gleich
ein „gebahntes Geleis" ist (Tr. e. Geist. I. 1), ist unrichtig. Er ist, könnte
man sagen, eine Sackgasse, ein „Labyrinth" (R. XI, 15). Zweitens: „wo
andere einen ebenen und gemächlichen Fusssteig vor sich sehen, den sie zu
wandern glauben," erheben sich für K. „Alpen" (ib. I, 1). Drittens: K.
will einen neuen Weg einschlagen, bahnen ^ Viertens: Er fordert auf,
diesen neuen „Fusssteig" durch Mithilfe zur allgemeinen „Heeresstrasse
zu machen" (856).
Indlfferentismiis* Ebenso wie der Verfall der Metaphysik, so ist die
allgemeine Gleichgültigkeit gegen dieselbe eine wiederholte Klage Kants.
„Es haben sich ihre Anhänger gar sehr verloren;" Vorr. zu Prol. S. 5. „Alle
falsche Kunst, alle eitle Weisheit dauert ihre Zeit ; dann endlich zerstört sie
sich selbst und die höchste Kultur derselben ist zugleich der Zeitpunkt ihres
Unterganges. Dass in Ansehung der Met. diese Zeit jetzt da sei, beweist
der Zustand, in welchen sie bei allem Eifer, womit sonst Wissenschaften
aller Art bearbeitet werden, unter allen gelehrten Völkern verfallen ist"
u. s.w.; Prol. 191. „Ob aber gleich die Zeit des Verfalls aller dogma-
tischen Metaphysik ungezweifelt da ist, so fehlt doch noch manches daran,
um sagen zu können, dass die Zeit der Wiedergeburt vermittelst einer
gründlichen und vollendeten Kritik der reinen Vernunft dagegen schon er-
schienen wäre. Alle üebergänge von einer Neigung zu der ihr entgegenge-
setzten gehen durch den Zustand der Gleichgültigkeit, und dieser
Zeitpunkt ist der gefährlichste für einen Verfasser, aber . . . doch der gün-
stigste für die Wissenschaft, denn wenn durch gänzliche Trennung vormaliger
* Grundl. zu Met. d. S. (R. VIII, 90) spricht K. von einer Wegscheidung; es
sind die zwei Wege der Naturnothwendigkeit und der Freiheit; der erstere er-
scheint gebahnter^ den letzteren schlägt K. ein^ indem er ibn zugleich erst
eigentlich bahnt.
Unhaltbarkeit des Indifferentismus. Revolution. 99
[R 6. 7. H 6. K 14. 1 A VI. B
Verbindungen der Paxteigeist erloschen ist, so sind die Gemüther in der
besten Verfassung, um allmälig Vorschläge zur Verbindung nach einem an-
deren Plane anzuhören." (Ib. 192). Logik, Einl. IV: „Was Metaph. betrifft, so
scheint es, als wSren wir bei Untersuchung metaph. Wahrheiten stutzig ge-
worden. Es zeigt sich jetzt eine Art Indiff. gegen diese Wissenschaft, da
man es sich zur Ehre zu machen scheint, von metaph. Nachforschungen als
von blossen Grübeleien verächtlich zu reden. Und doch ist Metaph. die
eigentliche wahre Philosophie." „Gleichgültigkeit und Zweifel sind," jedoch im
Gegensatze zu unkritischem Dogmatismus, „Beweise einer gründlichen
üenkungsart" unten S. V. Anm. Vgl. Ks. Vorl. über Metaph. S. 16. Der
Indifferentismus, sowohl der philosophische als der religiöse, war in der
zweiten Hälfte des XVIII. Jahrh. in eine Art System gebracht worden, und
Dian unterschied eine eigene Secte der Indifferentist en. Vgl. Heyden-
reich. Üeber das Unsittliche der Gleichgültigkeit u. s. w. Philos. Taschenb.
L 1796. Villers, Phil. I, 145 ff. Pichte nannte in den Vorles. über die
Grundz. d. gegenw. Zeitalters 1801 (1805) seine Zeit: „Das Zeitalter der
(Ueichgültigkeit gegen alle Wahrheit."
Xabe UmscIiAfftangr. Der Grund zu dieser Umschaffang * ist nach K. in
der Kr. d. r. V. von ihm gelegt worden, in welcher ,,eine Revolution der
Denkart" angebahnt ist (Vorr. B, X. XII. XHI. XV. XVIII.) ; besonders die
Proleg. sprechen hievon mehrfach, der Leser muss gestehen, „dass eine
völlige Reform oder vielmehr eine neue Geburt derselben, nach einem
bisher ganz unbekannten Plane, unausbleiblich bevorstehe, man mag sich
nun eine Zeitlang dagegen sträuben, wie man wolle." (Vorr. K. 3.) Nach Prol.
fin. ist die Zeit der Wiedergeburt, wenn auch nicht erschienen, so doch
nahe. Diese „angedrohte Reform" (deren ,, Nutzen sofort in die Augen fällt")
setzt jedoch die dogmatischen Philosophen in ,,verdriessliche Laune". Rein-
hold, Verm. Sehr. II, 244, sagt: „Die Veränderung, welche durch die
Kritik in der Metaphysik bewirkt werden soll, lässt sich nicht als Ver-
besserung, sondern nur als gänzliche Um Schaffung dieser Wissenschaft
denken" '.
' Im Brief an Herz a. d. Jahr 1773 bezeichnet Kant es als seine „Absicht".
..eine so lange von der Hälfte der philosophischen Welt umsonst bearbeitete
Wissenschaft umzuscha f f e n ".
^ Hit ironischer Beziehung auf unsere Stelle sagt Hamann in der Meta-
kritik (Rink^ Manch. 129): Die Gebiete und Grenzen der Sinnlichkeit und des
Verstandes „sind durch eine per antiphrasin getaufte reine Vernunft und ihre
dem herrschenden Indifferentismus fröhnende Metaphysik (jene alt« Mutter des
Chaos und der Nacht in allen Wissenschaften, der Sitten, Religion und Gesetz-
gebung!) so dunkel, verwirrt und öde gemacht worden, dasa erst aus der Morgen-
röthe der verheissenen nahen Um Schaffung und Auf klärung der Thau einer reinen
Natnrsprache wieder geboren werden muss". W. W. VII, 11. ftbenfalls mit
Bezog auf diesen ganzen Zusammenhang sagt derselbe in seiner Recension
(Reinh. Beltr. 1801. II, 211) offenbar mit ironischen Hinde'utungen auf E. selbst:
qU^
100 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A IV. B - [E 7. H 6. K 15.]
Nicht ^leichgflltigr. Dass die metaphysischen Fragen doch trotz aller
Nichtigkeit der gewöhnlichen Metaphysik durch ihre Wichtigkeit das Interesse
immer wieder in Anspruch nehmen, wiederholt K. mehrfach. (Z. Beisp. Vorr.
B. XXXTI ff.) ;,Dass der Geist des Menschen metaphysische Untersuchungen
einmal gänzlich aufgeben werde, ist ebensowenig zu erwarten, als dass wir,
um nicht immer unreine Luft zu schöpfen, das Athemholen lieber ganz und
gar einstellen würden. Es wird also in der Welt jederzeit, und was noch
mehr, bei jedem, vornehmlich dem nachdenkenden Menschen Metaphysik sein,
die in Ermangelung eines öffentlichen Bichtmasses jeder sich nach seiner
Art zuschneiden wird;" Prol. Or. 192. „Die mensch. Vernunft hängt (an
den Sachen der ganzen speculativen Philosophie, die auf dem Punkte sind,
gänzlich zu erlöschen) mit nie erlöschender Neigung, die nur darum, weil
sie unaufhörlich getäuscht wird, es jetzt, obgleich vergeblich, versucht, sich
in Gleichgültigkeit zu verwandeln;" ib. Or. 217. „Die Nachfrage nach der
Metaphysik kann sich (trotzdem dass es überall noch keine gibt) doch auch
niemals verlieren , weil das Interesse der allgemeinen Menschenvemunft. mit
ihr gar zu innigst verflochten ist;" Prol. Vorr. Or. 6. und zu dem Aus-
druck „sich nie verlieren" citirt Kant den Horazischen Vers:
Rusticus exspectat, dum defluat amnis; at iUe
Labitur et labetur in omne voluhilia aevum.
Das Tertium comparationis ist offenbar das stetige Fliessen der nie erlöschen-
den philosophischen Neigung *. Weitere Stellen hiezu s. zu Einl. S. 3. „Weil
diese Nachforschungen der menschl. Natur nicht gleichgültig sein können,
darf sie „dem Zwist" darüber auch nicht „gleichgültig zusehen", „weil der
Gegenstand des Streits sehr interessirt." 464. Vgl. Portschr. Bos. I, 488 : „Es
ist nicht zu begreifen, warum bei der sich immer zeigenden Fruchtlosigkeit
der Bemühungen der Menschen in dem Felde der Metaph. es doch umsonst
war, ihnen zuzurufen: sie sollten doch endlich einmal aufhören, diesen Stein
des Sysiphus zu wälzen, wäre das Interesse, welches die Vernunft daran
nimmt, nicht das innigste, was man haben kann." Die rationale Psycho-
logie, ein zum höchsten Interesse der Menschheit gehöriges Erkenntniss
— verschwindet jedoch. Krit. B. 423.
.,Da dieser Indifferentismus entw. ein muthwilliges Blendwerk der tiefsten
Heuchelei ist oder zu den Phänomenen von dem funesto vetemo des Weltalters
gehört: so könnte er (statt kritisch) füglicher hypokritlsch oder auch poli-
tisch heissen, im Gegensatz sowohl der skeptischen Anarchie^ die über dem
Chaos ihrer Methode zur Faulheit verzweifeln miiss, als des dogmatischen
Despotismus^ der durch ßaxspa npwtepa oder (weim ich mir einen oberdeutschen
Cynismus erlauben darf) ä-lings zu Werke gebt und mit Waffen des Lichts da:^
Reich der Fiftsterniss und Barbarei ausbreitet.^ Hamann wirft E. hier religiösen
Indifferentismus vor. (W. W. VI, 53.)
» Dieselbe Auslegung bei Schelling, W. W. 1. Abth. V, 263.
Unzulänglichkeit der Popularphilosophie. 101
[R 7. H 6. K 15.] A IV. B
Popnlftren Ton. Kant zeichnet hier mit wenigen, aber scharfen Strichen
die sog. Popularphilosophie, die in der Zeit von 1750— 1780 in Deutsch-
land herrschend war, und deren Häupter bekanntlich Mendelssohn, Engel,
Abbt , Sulzer , Feder , Basedow u. A. waren \ Gut nennt diese Richtung
Villers I, XXVII: la demi-philosophie des beaux diseurs devenue ä la mode.
Vgl. die gute Schilderung bei Schwab, Preisschr. üb. d. Fort«schr. d. Met.
21 ff. Schon Wolf war auf die popularisirenden Anhänger seiner Philo-
sophie, z. B. Meier, nicht gut zu sprechen; er meinte, „die Schönredner
werden alles in der Philos. verderben." Derartige Klagen über die Zeitphilo-
sophie s. auch Berl. Mon. IV, 50 ff. Prol. §.31: „Der Adept der gesunden
Vernunft ist so sicher nicht, ungeachtet aller seiner angemassten wohlfeil er-
worbenen Weisheit, unvermerkt über Gegenstände der Erfahrung hinaus in
das Feld der Hirngespinnste zu gerathen. Auch ist er gemeiniglich tief ge-
nug darin verwickelt, ob er zwar durch die populäre Sprache, da er
alles blosss für Wahrscheinlichkeit, vernünftige Vermuthungen oder Analogie
ausgibt, seinen grundlosen Ansprüchen einigen Anstrich gibt."* Krit. 847.
Anm.: „In Ermanglung (einer Metaphysik der Natur) haben selbst Mathe-
matiker, indem sie gewissen gemeinen, in der That doch metaphysischen
Principien anhiengen, die Naturlehre unvermerkt mit Hypothesen belästigt"
u. s. w. Anthrop. § 6.: Der populäre Ton in der Wissenschaft sollte
vielmehr „geputzte Seichtigkeit heissen", womit „manche Armseligkeit des
eingeschränkten Kopfes gedeckt wird". In der Popularphilosophie ist
nach Prol. § 58 ein bloss mechanischer Mittelweg zwischen Dogm. und
Skeptic. eingeschlagen, welche von dem einen insbesondere das Uebersinnliche,
von dem andern die Methode auf Empirie gebauter Wahrscheinlichkeit ent-
lehnt, und auf welche er besonders in der Schrift über den „Ewigen Frieden
* Einen Commentar zu dieser Stelle finden wir im Brief an Lambert vom
31. Dec. 1765 : „Sie klagen, m. H., mit Recht über das ewige Getändel der Witz-
linge und die ermüdende Schwatzhaftigkeit der jetzigen Scribenten vom herrschen-
den Tone .... Allein mich dünkt-, dass dieses die Euthanasie der falschen Philo-
sophie sei, da sie in läppischen Spielwerken erstirbt, und es weit schlimmer ist,
wenn sie in tiefsinnigen und falschen Grübeleien mit dem Pomp von strenger
Methode zu Grabe getragen würde. Ehe wahre Weltweisheit auflebe, ist es nöthig,
da« die alte sich selbst zerstöre, und wie die Fäulniss die vollkommenste Auf-
lösung ist, die jederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so
macht mir die Crisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten
Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hoffnung, dass die so längst gewünschte
grosse Revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernt sei." Vgl. Lamberts
Brief V. Dec. 1770. Anf.
• Aehnlich heisst es in der Berl. Monatschr. 1784. IV, 50 von der „heutigen
deutschen Philosophie**:
Wie kömmts, mein Vaterland, dass du den strengen Ernst,
Vordem dein Eigenthum, muthwillig jetzt verlernst? u. s. w.
102 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B - [R 7. H 6. 7. K 15.]
in der Philos." I, A seinen Hohn ausgiesst. (Vgl. oben S. 5. 9. 37. 38.) Dort wird
die Pop. als Moderatismus zwischen Dogmat. und Skepticism. eingeführt,
„der auf die Halb scheid ausgeht, in der subjectiven Wahrscheinlichkeit
den St«in der Weisen zu finden meint, und durch Anhäufung vieler isolirten
Gründe (deren keiner für sich beweisend ist) den Mangel des zureichenden
Grundes zu ersetzen wähnt; dieser ist gar keine Philosophie. Und
mit diesem Arzneimittel (der Doxologie) [d. h. Behauptung der 865a,
des blossen Meinens statt der eirtorfijjLiq, des Wissens] ist es, wie mit Pest-
tropfen oder dem Venedig'schen Theriak bewandt: dass sie wegen des gar
zu vielen Guten, was in ihnen rechts und links aufgegriffen wird,
zu gar nichts gut sind." Die Angriffe gegen die Popularphilosophie
setzte besonders Reinhold fort, gegen den dieselbe jedoch der Kantianer
Jenisch, Entd. 32 ff. nicht ungeschickt in Schutz nahm, indem er deren
Vorzüge, bes. die feine psychologische Analyse betonte. Reinhold sagt
z. B. Preisschr. üb. d. Fortschr. 175: „War die Metaph. vor dieser
Periode Wissenschaft, so hat sie wenigstens während derselben aufge-
hört, diesen Namen zu verdienen. Sie wurde kaum mehr von ihren eigenen
Pflegern und Bearbeitern dafür gehalten, die kein Bedenken trugen, ihre
Grund- und Lehrsätze für nichts als blosse Meinungen zu geben" u. s. w.
Vgl. jedoch bes. die Schilderungen in der Einl. zur „Theorie des Vorstel-
lungsvermögens" 1789, bes. S. 133 ff. Id. Paradoxien 13 ff. Vgl. B out er-
weck, Im. Kant 72 ff. Herbart, Kantrede von 1810, S. 3 ff. W. W. XII,
141. Gute Schilderung des Ekl. bei Erdmann, Ks. Kriticismus S. 6 — 11.
Derselbe gibt 3 Merkmale jener Zeit an: 1) Schematische Verknöcherung
des geringen Restes der Metaphysik; 2) psychologische Abschwächungen
der erkenntnisstheoretischen Probleme ; 3) anthropologische moralische Glück-
seligkeitslehre. In allen 3 Punkten schuf die Kritik der reinen Vernunft eine
Reform.
[Anmerkniig zu Pag. V.]
Man hört hin nnd wieder u. s. w. Dieser Gedanke ist weiter ausgeführt
bei Jakob, Prüf. Vorr. XXIII. Vgl. unten Von\ B. XLII: „Ich habe mit
dankbarem Vergnügen wahrgenommen, dass der Geist der Gründlichkeit
in Deutschland nicht erstorben" ist. Wolf ist „der Urheber des bisher
noch nicht erstorbenen Geistes der Gründlichkeit in Deutschi." Ib. XXXVI.
Unter die „gründlichen Wissenschaften", an welche Kant hier erinnert, ge-
hört aber die Metaphysik, wie sie zu seiner Zeit war, seinem Urtheil nach
nicht oder „nicht mehr". Prol. Or. 191.
Beriehtignng der Principlen. Vgl. „Kritik der Principien" (der reinen
Naturwiss.) 847 Anm.
Zweifel. Dass der Zweifel das Symptom einer gründlichen Denkungsart
sei, betont K. mehrfach; so 769: „Der Skeptiker ist der Zuchtmeister des
dogmatischen Vernünffclers auf eine gesunde Kritik des Verstandes und der
Vernunft selbst . . . Das skeptische Verfahren ist zwar an sich selbst für
die Vemunftfragen nicht befriedigend, aber doch vor übend" u. s. w.
Das Zeitalter der Kritik; die Aufklärung. 103
[B 7. H 7. K. 15.] A Y. B
Ganz in demselben Sinne sprach sich schon Lessing aus: „Nach dem natür-
lichen Cirkellanfe der Dinge fuhrt Wahrheit zur Beruhigung, Beruhigung
zur Trägheit und Trägheit zum Aberglauben. Alsdann ist es eine Wohlthat
der Vorsehung, wenn der Geist des Zweifels und der spitzfindigsten
Untersuchung rege gemacht wird, um durch Verwerfung aller Grundsätze
den Bückweg zur Wahrheit wieder hinzuführen."
Zeitalter der Kritik'. Ein berühmter und oft citirter Ausspruch Kants
(vgl. Logik, Einl. IV, Vorles. über Metaph. S. 16), durch den er das Cha-
rakteristische des XVIIL Jahrhunderts prägnant zusammenfasst '. Vgl.
Proleg. Or. 217: „Tn unserem denkenden Zeitalter lässt sich nicht ver-
muthen, dass nicht viele verdiente Männer jede gute Veranlassung benützen
sollten, zu dem gemeinschaftlichen Interesse der sich immer mehr aufklärenden
Vernunft mitzuarbeiten, wenn sich nur einige Hoffnung zeigt, dadurch zum
Zwecke zu gelangen.*' Bekanntlich heisst das XVIII. Jahrh. das Zeitalter
,der Aufklärung", auch das Zeitalter der , Vernunft", des Rationalismus.
, Vernunft" besteht nach K. eben darin, 614. 763, dass wir von allen unseren
Be^ffen, Meinungen und Behauptungen, es sei aus objectiven oder . . .
subjectiven Gründen, Rechenschaft geben können (cfr. Piaton, Theätet
177 B. 202 C. Prot. 336 B. Xo^ov 8t36va0. tJeber den Zusammenhang der
Aufklärung mit der Kritik und ihrer Freiheit vgl. Ks. Aufsatz vom Jahre
1784: , Beantwortung der Frage: Was heisst Aufklärung?*
..Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist der Wahl-
spruch der Aufklärung . . . Das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines Anderen zu bedienen, ist Unmündigkeit. Aufklärung
ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Un-
mündigkeit." „Zu dieser Aufklärung wird nichts erfordert als Freiheit,
und zwar die unschädlichste unter allen: von seiner Vernunft in allen
Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.'* „In der Qualität eines
Gelehrten darf Jeder räsonniren über das Bestehende und dasselbe, sei es
politischer oder kirchlicher Natur, seiner Kritik unterziehen. Caesar non
est supra grammaticos. Wir leben nicht in einem aufgeklärten Zeitalter,
aber wohl in einem Zeitalter der (allmäligen und möglichen) Auf-
klärung, in dem Jahrhundert Friedrichs. Religionssachen
und Gesetzgebung sind die eigentlichen Objecte dieser freien Kritik." —
Der genannte berühmte Aufsatz, der die Bestrebungen Spinoza's, Bayle^s,
Lessings, Mendelssohns u. s. w. fortsetzt, ist eine weitere Exposition des
zweiten Theils der vorliegenden Anmerkung. Vgl. Urtheilskr. § 40. Religion
^ kit ironischer Beziehung auf Kant. Krit. 57. nennt sein Gegner Bardili,
^r. d. ersten Logik. 344 f. die Zeit der Kantischen Philosophie : „das Zeitalter des
Bockmelkens.**
' Aehnlich Hamann^ W. W. VII, 6 „kritisches Jahrhundert". Sehr gut be-
Michnet Bachmann. Philos. m. Zeit 7 ff. die auf K. folgende, durch ihn be-
stimmte Zeit als das „Zeltalter der Ideen**.
104 ' Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B — [R 7. H 7. K 15.]
rV, 2, § 3 u. d. Abhandlung von 1786: Was heisst sich im Denken orien-
tiren?, sowie Anthrop. § 57 \
Kritik, der sieh Alles unterwerfen mnss. Vgl. 738: ,Die Vernunft
inuss sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik unterwerfen und
kann der Freiheit derselben durch kein Verbot Abbruch thun . . . Da ist
nun nichts so wichtig in Ansehung des Nutzens, nichts so heilig, das
sich dieser präfenden und musternden Durchsuchung . . . entziehen dürfte.*
Das Recht der Kritik der Religion ist in den Vorreden zur „Religion
innerh. d. Grenzen d. bl. Vern." mit Energie von Kant gewahrt worden.
Vgl. die Vorrede und die betreffenden Stellen im „Streit der Facultäten*.
Vgl. Streit der Facult. I, 4: „Es muss der philos. Facultät frei stehen,
den Ursprung und Gehalt eines angeblichen (theolog.) Belehrungsgrundes mit
kalter Vernunft öffentlich zu prüfen und zu würdigen, ungeschreckt durch
die Heiligkeit des Gegenstandes, den man zu fühlen vorgibt" u. s. w. '
* Während K. so sein Werk als ein nothwendig aus dem Geist der Zeit
heraus geborenes zu erweisen suchte legte Feder (vgl. über die erste Receneion
^Leben" 117) das Buch „als ein dem Genius der Zeit gar nicht angemessenes^
bei Seite. Dagegen A. L. Z. 1787. II, 236: „Wir haben diese Philosophie seit
unserer ersten Bekanntschaft mit derselben als den wahren einzigen Schluss-
stein unserer Aufklärung angesehen, ohne welchen das ganze stolze Grewölbe
derselben allmälig locker werden und zuletzt vielleicht nach und nach einstürzen
müsste." (Schütz.) Ganz im Kantischen Sinne räumt K. H. L. Pölitz (Sind wir
berechtigt, eine grössere künftige Aufklärung und höhere Reife uns. Geschl. zu
erwarten? Leipz. 1795) dem damaligen Zeitalter den Vorzug vor allen vorher-
gehenden ein. Stael-Holstein, De TAH. IV. 1. 6. Cap.: „Obgleich im Wesent-
lichen bestimmt, die Phil, des XVIII. Jahrh. zu widerlegen, hat die K'sche Phil,
doch das Eine und das Andere mit derselben gemein-, denn die Natur des Men-
schen bringt es mit sich, sich dem Geiste seiner Zeit anzuschmiegen, selbst wenn
er auf Bekämpfung derselben ausgeht." Trefflich Windelband, Gesch. der n.
Phil. II, 2. und bes. 145 f. „Kants Lehre ist der Abschluss der Aufklärungs-
bewegung und eben desshalb zugleich die Vollendung und die üeb er Win-
dung der Aufklärung." Vgl. hierüber ferner Hettners und Biedermanns
einschlägige Werke über das XVIII. Jahrb., besond. Biedermann II, 345 ff. 384 ff.
Vgl. die Schilderung des XVIIl. Jahrh. z. B. von Strauss, der den ^vemünftigen",
disjunctiven Charakter der Zeit betont und ihren (im Gegensatz zum XIX. Jahrh.)
unhistorischen Sinn, jenen Zug, alles rein abstract- vernünftig zu beurtheilen und
einzurichten, ein Zug, der in der französ. Revolution als dem Gipfel der Auf-
klärung des XVIII. Jahrh. scharf hervortritt; (Reimarus S. 1 ff. 269 ff.).
^ In demselben Sinn sagt L. Feuerbach, W. W. I, 53. von der Philosophie:
Nicht das Heilige ist ihr wahr, sondern das Wahre heilig. Mit Bezug aUf diese
Stelle spöttelt Hamann, Metakritik (Rink, Manch. 123): «Die erste Reinigung
der Philosophie bestand in dem theils missverstandenen, theils misslungenen Ver-
such, die Vernunft von aller Ueberlieferung, Tradition und Glauben daran unab-
hängig zu machen. [Bisher Anspielung auf die Aufklärungsphilosophie, von jetzt
an auf Kant.] Die zweite ist noch transscendenter und läuft auf nichts weniger
Freiheit der Präfang. Selbsterkenntniss der Vernunft. 105
[R 7. H 7. K 15.] A V. B
Das Recht der Kritik der Gesetzgebung und der obersten Gewalt über-
haupt wird indessen von Kant in der Metaphysik der Sitten, I. Bd. Rechts-
lehre (1798) § 49 Anm., sehr beschränkt. „Der Unterthan soll über den
Ursprung der obersten Gewalt nicht werkthätig vernünfteln"; „das sind
zweckleere und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien". Ib. § 52.
Vgl. Theorie u. Praxis 11. Abschn., wo jedoch „die Freiheit der Feder**,
der öffentlichen Prüfung gewahrt bleibt, oder des „Selbst- und Lautdenkens".
Vgl. dag. Mendelssohn, W. W. IV, 1. 146.
CoTerstellte Achtmigr. In der Vorrede zur „Religion" u. s. w. klagt
Kant, dass das, „was nur sofern wahrhaftig verehrt werden kann, als die
Achtung dafür frei ist*, sich durch Zwangsgesetze Ansehen verschaffen wolle.
Aehnlich im Schlussabschnitt der Tr. e. Geisters. 1766: „Ich habe meine
Seele von Vorurtheilen gereinigt, ich habe eine jede blinde Ergebenheit ver-
tilgt, welche sich jemals einschlich, um manchem eingebildeten Wissen in
mir Eingang zu verschaffen. Jetzt ist mir nichts angelegen, nichts ehr-
würdig, als was durch den Weg der Aufrichtigkeit in einem ruhigen und
fiir alle Gründe zugänglichen Gemüthe Platz nimmt." Caird, Phil, of K,j
beginnt sein Werk mit Wiedergabe dieser Stelle („In these words K. expresses
als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltäglichen Induction hinaus
— denn nachdem die Vernunft über 2000 Jahr, man weiss nicht was? jenseits
der Erfahrung gesucht, verzagt sie nicht nur auf einmal an der progressiven Lauf-
bahn ihrer Vorfahren, sondern verspricht auch mit ebenso viel Trotz den un-
geduldigen Zeit verwandten und zwar in kurzer Zeit jenen allgemeinen und zum
Katholicismo und Despotismo nothwendigen und unfehlbaren Stein des Weisen,
dem die Religion ihre Heiligkeit, und die Gesetzgebung ihre Majestät
flngs unterwerfen wird, besonders in der letzten Neige eines kritischen Jahrhun-
derts, wo beiderseitiger Empirismus, mit Blindheit geschlagen, seine eigne Blosse
von Tag zu Tag verdächtiger und lächerlicher macht.** W. W. VII, 5. Und eben-
falls unter Citirung dieser Anmerkung beginnt derselbe seine Recension der Kritik
(Reinh. Beitr. 1801. II, 107.) mit den halbironischen Worten: „Mit unverstellter
Achtung kündigt auch Recensent vorstehendes Werk an, um wenigstens durch
seine eng eingeschränkte Anzeige eine freie und öffentliche Prüfung . . .
zu befördern." W. W. VI, 47 — . Was K. will, ist der L e s s i n g 'sehe Geist,
von dem der Jesuit Baumgartner sagt (Erg. zu Stimmen aus Maria Laach II, 165):
„Er ist der Kritiker . . . der unabhängig von göttlicher und menschlicher Auto-
rität . . . Philosophie und Offenbarung, Kirche und Staat, Wissenschaft und Kunst
vor sein höchstes, unfehlbares Tribunal zieht.** Ueber das Verhältniss Kants zu
Lessing in dieser Hinsicht vgl. Ks. Brief an Herz vom 24. Nov. 1776 (cfr. Phil.
Mon. XVI, 60); Jacoby, Kant u. Lessing, eine Parallele. 1859. Huber, Lessing
und Kant im Verhältniss zur religiösen Bewegung im XVIII. Jahrh. Deutsche
Vierteljahrsschr. 1864, 244 ff. Windelband, Gesch. d. n. Phil. I, 524 ff., II, 96.
131 f. 145. 202. Fischer, Kuno, Lessing I, 8 ff. 58. Kirchner, Leipz. HL Ztg.
V. 18. Jan. 1879. Zimmermann, Geschichte d. Aesthet. L 201 f. Biedermann,
Deutschi, im XVIÜ. Jahrh. IV, 873 f.
106 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B - [R 7. 8. H 7. K 15.]
the thought thai underlies and animates aU his worh^). Vgl. ib. 8 f. über
fythe age of crüicism^,
Freie nnd öffentliche Prilfüng« üeber die Nothwendigkeit derselben
s. die betreff. Abschnitte in der Methodenlebre, bes.: „Die Disciplin der r. V.
in Ansehung ihres polem. Gebrauches" S. 739 ff. Anthrop. §2 (Freiheit
der Feder, sonst kein Mittel der Prüfung). Dasselbe Recht wahrt K. in der
Schrift über den Ewigen Frieden, 2. Abschn. Zus. 2, und im Streit der
Facultäten. I, 2 und II, 8.
Selbsterkenntniss der Yerniinft. Die Nothwendigkeit einer solchen und
ihre Ausführung in der Krit. wird oft von K. betont. Schon Hume habe
„die Absicht gehabt, die Vernunft in ihrer Selbsterkenntniss weiter
zu bringen". Die „Vernunft muss ein freimüthiges Geständniss ihrer Schwächen
ablegen, die ihr bei der Prüfung ihrer Selbst offenbar werden." 745.
Desshalb kehrt sich der Skeptiker gegen den Dogmatiker, „bloss um ihm
das Concept zu verrücken und [ihn] zur Selbsterkenntniss zu bringen*.
763. Die „Selbsterkenntniss der Vernunft" muss „wahre Wissenschaft" werden,
Prol. § 35; eine solche „Selbsterkenntniss der reinen Vern. in ihrem trans-
scendenten (überschwenglichen) Gebrauch ist das einzige Verwahrungsmitt^l
gegen die Verirrungen, in welche die Vernunft geräth, wenn sie ihre Be-
stimmung missdeutet", ib. § 40. So lange der Metaphysik diese Selbst-
erkenntniss fehlte, war sie, nach dem Briefe an Herz v. 21. Febr. 1772, eine
„sich selbst noch verborgene Metaphysik". Krit. 849; „Scientifisches und völlig
einleuchtendes Selbsterkenntniss ist noth wendig, um die Verwüstungen
abzuhalten, welche eine gesetzlose Vernunft überall anrichten würde." In
dem Aufsatz: „Von einem vornahmen Ton in der Philosophie" 1796 spricht
K. von der „herkulischen Arbeit des Selbsterkenntnisses". Ganz
richtig bezeichnet daher Schulz, Erl. 14, es als den Zweck der Kritik, „die
Vernunft zu ihrer wahren Selbsterkenntniss zu führen", indem es nach
S. 18 darauf ankomme, „das ganze Vermögen der Vernunft durch sie
selbst auszumessen". Vgl. schon Piaton, Rep. IX (*) 572 A: „el? oöwotav
ahxb^ aöxoö ä^ixopLevo?.** Hieraus machte dann Hegel und seine Schule, die
Philosophie müsse „Selbstverständniss des Geistes" sein (vgl. Erdmann,
Grundr. § 3, § 296) , was aber bekanntlich viel dogmatischer gemeint ist. —
Vgl. Wangenheim, Verth. Kants geg. Fries 17, 22, 47, 54. Nach W. beweist
die Stelle, dass Ks. Krit. auf innerer Erfahrung beruht, diese soll jedoch
nicht empirischer Natur sein! Vgl. dagegen Grapengiesser, Aufg. d.
Vern. 14 ff. — Vgl. S. Zaun er, Ueber den Denkspruch „y'^äö-i ocaotov" oder
über die Nothwendigkeit der Selbsterkenntniss. Eichst. 1851. Darin liegt
ein Coincidenzpunkt Kants mit Sokrates, vgl. Harms, Phil, seit K. 231 f.
üeber das Verhältniss zu dem Letzteren s. zur Vorr. B. XXXI. Ueber die
Selbsterkenntniss vgl. femer Fichte, Theist. Weitaus. 81 ; über das „Problem
und Postulat" derselben v. Bärenbach, Phil. Mon. XVI, 224 f. Als „Selbst-
Das Bild des Processes: der Gerichtshof. 107
[R 8. H 7. K 16.] A V. B
besinnung'^ erscheint dieselbe bei Witte, Zur Erkenntnisstheorie S. 9 ff.
14 ff. In Fichtianisirender Weise macht aus ihr eine „Selbstrealisirung der
Vernunft" Löwe, Pichte S. 2. Bei Schelling, W. W. VI, 170 wird daraus
die Selbsterkenntniss Gottes. Bachmann, Ueber die Philosophie meiner
Zeit 1816. S. 28 sagt: „Jene berühmte Tempelinschrift:
„Erkenne Dich selbst"
würde als Motto der Critik vorgesetzt, den innersten Geist derselben be-
zeichnen". Vgl. Baader, W. W. XI, 405. 417 über das
Einen Gerichtshof einsosetzen* Dieses Bild des Processes liegt der
ganzen Kritik zu Grunde und wird von Kant so oft wiederholt, dass eine
systematische Zusammenstellung der Aeusserungen hierüber zweckdienlich
erscheint. Den üebergang aus dem Bilde des Krieges in das des Pro-
cesses macht Kant selbst 750 (vgl. 793 ff.): ^Ohne Kritik ist die Vernunft
gleichsam im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprüche
nicht anders geltend machen oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik
dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Ein-
setzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die
Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht
anders fuhren sollen, als durch Process. t^gl. Rechtsl. § 61.] Was die
Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Theile
rühmen, auf den mehrentheils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrig-
keit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die,
weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden '
gewähren muss. Auch nöthigen die endlosen Streitigkeiten einer bloss dog-
matischen Vernunft, endlich in irgend einer Kritik dieser Vernunft selbst
und einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen" u. s. w.
In diesem an die Stelle des Krieges tretenden Process ist !• Der Ge-
rlehtshof: die kritische Vernunft. Nach der vorl. Stelle und nach
P. 751 „kann man die Kritik der reinen Vernunft (Kant meint nicht das
Buch, sondern die Sache) als den wahren Gerichtshof für alle Streitig- .
keiten derselben ansehen ; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objecte
anmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Recht-
same der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution
zu bestimmen und zu beurtheilen". „Dieser oberste Gerichtshof aller Rechte
und Ansprüche unserer Speculation kann unmöglich selbst ursprüngliche
Täuschungen und Blendwerke enthalten." Bestimmter unterscheidet K. 743
die forschende und die prüfende Vernunft, jene als Partei, diese als
Rieht er in. Die richtende Vernunft, ist die höhere. .Die reine Vernunft
' Basselbe Bild wendet Schleier m acher an in Bezug auf das Verhältniss
zwischen Theologie und Wissenschaft, zwischen denen er einen „ewigen Ver-
trag** stiften will. Theolog. Stud. u. Krit. 1829, S. 404.
108 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B — [R 8. H 7. K 15.]
in ihrem dogitiatischen Gebrauche ist sich nicht so sehr der genauesten Be-
obachtung ihrer obersten Gesetze bewusst, dass sie nicht mit Blödigkeit,
ja mit gänzlicher Ablegung alles angemassten dogmatischen Ansehens vor
dem kritischen Auge einer höheren und richterlichen Vernunft erscheinen
müsste.* 739. Daher wird S. 668 und 740 die Vernunft selbst (nicht
wie oben die Kritik der r. V.) als der „oberste Gerichtshof aller Recht« und
Ansprüche unserer Speculation", „über alle Streitigkeiten" bezeichnet. Nach
S. 786 ist es „der Gerichtshof einer kritischen Vernunft", vor den alle
Streitigkeiten zu bringen sind ^ Dieser Gerichtshof ist aus Geschworenen
zusammengesetzt: Man kann es Niemand verargen noch verwehren, seine
„Sätze und Gegensätze so, wie sie sich durch keine Drohung geschreckt, vor
Geschworenen von seinem eigenen Stande (nämlich dem Stande schwacher
Menschen) vertheidigen können, auftreten zu lassen**. 475. „Dies liegt schon
in dem ursprünglichen Rechte der menschlichen Vernunft, welche keinen
anderen Richter anerkennt, als selbst wiederum die allgemeine Menschen-
vernunft, worin ein jeder seine Stimme hat." 752. „Dieser prüfenden
und musternden Untersuchung, die kein Ansehen der Person kennt, darf
sich Nichts entziehen. Auf dieser Freiheit (der Prüfung) beruht sogar die
' Wenigstens Diejenigen, die sich auf transscendente Probleme beziehen ; denn
die immanenten Probleme gfehören (nach 229) vor „die Gerichtsbarkeit
des blossen Verstandes". Jene dagegen „fallen der Gerichtsbarkeit der Vernunft
anheim" (ib.); so trennt K. die Competeuzen beider. — Fast komisch berührt dem
gegenüber die naive Meinung R i e h 1 s , Krit. I, 341 : ,,Die Kritik wäre nicht,
was sie sein will, die R i c h t e r i n über die Parteien, sie wäre selbst eine
der Parteien, wenn sie die reine Erkenntniss zwar im Allgemeinen untersnchtCT
aber im Besonderen voraussetzte, wenn sie sich in dem Streite der reinen Vernunft
einfach auf einen Theil der Vemunfterkenntniss berufen würde." Sagt doch auch
Kant in der Krit. d. pr. Vern. Einl. 30: „Reine Vernunft enthält selbst die Richt-
schnur zur Kritik alles ihres Gebrauchs." Vgl. Prol. § 42: Reine Vernunft müsse
den Irrthum aufdecken, was aber sehr schwer sei, da er eben aus der r. V. ent-
springt. Schon Herder (Metakr. 6) bemerkt: „Wenn Vernunft kritisirt w^erden
soll, von wem kann sie es werden? Kicht anders als von ihr selbst, mithin ist
sie Partei und Richter. Und wonach kann sie gerichtet werden ? Nicht
anders als nach sich selbst*, mithin ist sie auch Gesetz und Zeuge. Sofort
erblickt man die Schwierigkeit dieses Richt«ramtes." Vgl. A. Lef^vre, La Philo-
sophie 387: La Critique de la raison pure est donc ä la fois Vexamen, par la
raison pure, de VexpSrience et du jugement, et la critique exerc4epar la raison
pure sur elle-meme. ün grand vice de cette conception, c'est que la raison
pure est ä la fois juge et pari ie; un plus grand^ c'est que la raison pure
n'a jamais eanstS, Ebenso schon Rdmusat, La Philos. AU, XX VU: y^La critique
de la raison pure suppose un critique, un juge de la raison pure. Ce titre signifie,
au vrai, la raison absolue jugeant la raison humaine,^ j^Critique**^ und „raison pure^
bezeichnen in letzter Linie „fe meme sujet*^ u. s, w.; ib. XXX: „to raison observ^
par la raison^. Daher findet Baggesen, Philos. Nachl. 1, 164. 232 einen inneren
Widerspruch in Idee und Titel des K.'schen Werkes.
Das Bild des Processes: das Rechtsbuch, die Parteien. 109
[R 8. H 7. K 15.] A V. B -
Existenz der Vernunft, die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren
Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist, deren
jeglicher seine Bedenklichkeiten, ja sogar sein Veto ohne Zurückhaltung muss
äussern können* (739). Der Terminus, „Richterstuhl der reinen Vernunft **,
ist bei K. alt, denn schon Herz, der ganz unselbständig an K. sich an-
schliesst, gebraucht ihn in seinen „Betrachtungen" 1771 u. s. w. S. 100.
Das Wort und das ganze Bild findet sich bei K. schon in der Erstlingsschrift
über die Schätzung der leb. Kräfte Einl. III. XIH § 22. § 24. § 33. § 47.
§ 90. § 151. § 163. An einzelnen dieser Stellen findet sich auch das Bild
des Krieges. Ebenso in der Vorrede zur AUgem. Naturgesch. des Himmels
(Areopagus, Sachwalter u. s. w.), ferner in der Vorr. zur „Demonstr. Gottes".
Ferner in den Tr. e. Geistersehers (Vorr. u. ö.) *. Anthr. § 10: Richter-
stuhl des Verstandes (über die Sinne). Mendelssohn, Morgenst. S. 135,
spricht auch vom ^Areopagus der Vernunft" u. s. w. — IT. Das Beehts-
bnehy nach dem dieser Gerichtshof urtheilt, sind die von ihm selbst fest-
gestellten Gesetze der Erkenntniss (wie sie in Aesthetik und Analytik
niedergelegt sind). Nach „den 'ewigen und unwandelbaren Gesetzen" der
Vernunft selbst, heisst es oben, nicht durch blosse Machtsprüche sollen
die Anmassungen der Vernunft abgefertigt, ihre gerechten Ansprüche ge-
sichert werden. Die kritische Vernunft selbst gibt „die Grundsätze ihrer
Institution", nimmt „die Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen
Einsetzung", gibt eine „Gesetzgebung" (751 u. 752). Der Gerichtshof gibt
also diese Gesetze selbst, die er nach S. 786 „verlangt". Das Kriterium
dieser kritischen Vernunft ist das Kriterium der Möglichkeit resp. Unmög-
lichkeit „solcher synthetischen Sätze, die mehr beweisen sollen, als Erfahrung
geben kann". 785. Für diese Entscheidung mangelte es bis auf Kant an
einem , öffentlichen Richtmass". Prol. Or. 193. „Andere Wissenschaften und
Kenntnisse haben doch ihren Massstab. Mathematik hat ihren in sich
selbst, Geschichte und Theologie in weltlichen oder heiligen Büchern,
Naturwissenschaft und Arzneikunst in Mathematik und Erfahrung,
Hechtsgelehrsamkeit in Gesetzbüchern, und sogar Sachen des Ge-
schmacks in Mustern der Alten. Allein zur Beui*theilung des Dinges, das
Metaphysik heisst, soll erst der Massstab gefunden werden (ich habe einen
Versuch gemacht, ihn sowohl als seinen Gebrauch zu bestimmen)." Prol. Or. 2 12.
Durch Kritik erst „wird unserem Urtheil der Massstab zugetheilt, wo-
durch Wissen von Scheinwissen mit Sicherheit unterschieden werden kann".
Prol. Or. 221. Dieser Massstab, eben das Grundgesetz, das der Entscheidung
* Diesem Gerichtshof der Vernunft über die theoretischen Fragen steht
gegenüber der moralische Gerichtshof, das Gewissen, welcher in der Tngend-
Ichre § 13. ausführlich geschildert wird. Wie hier die Vernunft zugleich Rich-
terin und Partei ist, so ist auch dort der Mensch beides in Einer Person; der
Mensch schafft sich dort jedoch eine ideal ische Person (Gott) zum Richter. Der
Richtergpruch ist auch dort wesentlich negativ-kritischer Natur.
110 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B ~ [R 8. H 7. K 15.]
aller Streitigkeiten zu Grunde gelegt wird, ist die Bestimmung, dass wir auf
keine Weise über den Erfahrungsumfang hinausgelangen können, um also
nirgends verlassen sollen. Es sind dies „die obersten Gesetze der Ver-
nunft*, 739, als gesetzgebender und darnach richtender, falls sie selbst
als forschende sich der Ueberschreitung dieser obersten Gesetze schuldig
macht. Die etwaigen Mängel der Gesetzgebung zeigen sich bei der Verlegen-
heit der Richter bei Rechtshändeln; so sind die Antinomien das beste
Prüfungsmittel der Nomothetik (424). (Von der , Gesetzgebung" der
Vernunft spricht Kant besonders in ethischer Beziehung. Vgl. Streit der
Facult. Anf.) — in. Die Parteien in diesem Processe sind erstens die zwei
grossen gegnerischen Schulen der Dogmatiker und Skeptiker, zweitens
die verschiedenen Schulen der Ersteren, vgl. 751, wornach auch schon die
endlosen Streitigkeiten einer bloss dogmatischen Vernunft zur Einsetzung
eines solchen Gerichtshofes nöthigen. Aber auch der erstere Streit wird als
„Streit der Vernunft mit sich selbst" bezeichnet, indem beide Gegner
die Vernunft für sich in Anspruch nehmen. S. z. B. 757. 744. 486. Denn
Vern. ist in ihrem transsc. Gebrauche an' sich dialektisch (777). An
anderen Stellen ist der Streit bezeichnet als der zwischen den gegründeten
Ansprüchen des Verstandes und den dialektischen Anmassungen der Ver-
nunft, 768; wieder an anderen als der zwischen Verstand und Sinnen,
zwischen denen die Vernunft zu entscheiden habe. 465. Diese verschie-
denen Bezeichnungen treiFen aber immer Eine und Dieselbe Hauptsache,
nemlich eben den Streit zwischen Dogmatismus und Skepticismus. An
des letzteren Stelle tritt S. 466 ff. der Empirismus, und es werden daselbst
die praktischen Motive für die „zelotische Hitze des einen und die kalte Be-
hauptung des anderen Theils", sowie für den Zutritt der beiderseitigen Partei-
gänger angegeben, wobei das Bild des Processes mehrfach geistreich ver-
wendet wird. Dass die Vernunft zwischen diesen Parteistreitigkeiten nicht
gleichgültig sich verhalten dürfe (464), wurde schon angeführt. Neu-
tralität ist ausgeschlossen. 756 f. Die skeptische Manier, sich mit der Un-
wissenheit zu entschuldigen und sich so auf dem kürzesten Wege „aus einem
verdriesslichen Handel der Vernunft, zu ziehen", verwirft K. daselbst aufs
Entschiedenste. Ebenso Grundl. z. M. d. S. Ros. VIII, 91. Die Vernunft darf
den Widerstreit nicht unangerührt lassen, sonst ist die Theorie „honum vacans*^,
„in dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus
ihrem olme Titel besessenen vermeinten Eigenthum verjagen kann". AehnUch
liegt die Sache auch hier. Da der Process ein Civil-, nicht ein Criminal-
process ist — es handelt sich um die Rechtsansprüche auf einen Besitz —
so ist der Unterschied des Klägers und des Beklagten ohne Bedeutung;
doch kann man nach Kants Andeutungen den Skepticismus als Kläger, den
Dogmatismus als Beklagten betrachten, weil der Letztere vom Ersteren wegen
seines angemassten Besitzes angegriffen wird. Denn Hume „fieng alle An-
fechtung der Rechte einer reinen Vernunft, welche eine gänzliche Unter-
suchung derselben nothwendig machten, an". Krit. d. pr. V. S. 88. —
Das Bild des Processes: das Streitobject, die Zeugen ii. s. w. JH
[R 8. H 7. K 15.] A V. B
IT. Das Streitobjeet in diesem Processe sind die Rechtsansprüche der
Vernunft auf transscendente Erkenntniss, die ihr von den Skeptikern ab-
gesprochen werden. Die Metaphysik macht (nach Vorr. III, IV) „An-
sprüche*, die der Gegner als „Anmassung" bezeichnet. Diese Streitigkeiten
hätten schon durch Locke entschieden werden sollen, indem „die Recht-
mässigkeit jener Ansprüche" hätte ausgemacht werden sollen. Das
geschah aber nicht. Auf der Einen Seite stehen „die Anmassungen". „die
unbezwingliche Verblendung und das Grossthun der Vernünftler*', ausgedrückt
in „trockenen Formeln, welche den Grund der rechtlichen Ansprüche ent-
halten" (463), auf der Andern Seite „eine Grosssprecherei, welche auf eben
dieselben Rechte fusset". 757. Die Skeptiker machen als ,, Gegner" (210.
742. 750. 768. 778) „furchtbare Angriffe" wider die Dogmatiker (755. 768),
verlangen, dass diese ihre bei ihren angeblichen Erkenntnissen gebrauchten
Grundsätze „deduciren". 786. ,,Denn die Rechtslehrer, wenn sie von Befug-
nissen und Anmassungen reden, . . . nennen den Beweis, der die Befugniss
oder auch den Rechtsanspruch darthun soll, die De du et ion" (auf die Frage:
quid juris?) 84. Den ,, Rechtsgrund" für ihre angemassten Erkenntnisse
sollen also die Dogmatiker darthun. Diese Erkenntnisse werden auch als
der angemasste Besitz der Vernunft bezeichnet. 377. 739. 776. 237. Auch
die Gegner, welche ihr diesen Besitz streitig machen, der die drei Hauptobjecte,
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit betrifft (749), sind „Vemünftler"
(749), erheben „gleich alte, aber niemals verjährende Ansprüche", 777,
zeigen „Anmassungen" (780) und „ihre Ansprüche sind nicht weniger stolz
und eingebildet". (Ib.) „Beiderseits sind stolze Ansprüche." 464. Die Ein-
wände des Skeptikers sind „Ansprüche des Mitbürgers". 739. cfr. Kr. d. pr. V.
85 ff. Nichtsdestoweniger, trotzdem am Anfang der Process gegen die dog-
matische Vernunft sehr schlimm für diese ausfallen zu sollen scheint,
wird deren Sache doch von der kritischen Vernunft als die gute
Sache, 744 ff. 749, die gerechte Sache, 750. 753, bezeichnet, und in
das Büd des Krieges zurückfallend, leiht ihr der Autor „Rüstung" und
„Waffen". 778. Die Vernunft ist ja ihr eigener ,,nachsehendesterRichter",
589, bei der „Abgabe der Stimme ersetzt GunstdenMangelderRechts-
ansprüche". 587. 637. — In der Analytik handelt es sich (84) um die
juristische Deduction der apriorischen Begriffe, d. h. um Er-
weis der Rechtsansprüche ihres Gebrauchs, um die Lösung der Frage: quid
juris. Nach S. 236 fragt es sich, unter welchem „Titel" wir das Land
der reinen Erkenntniss besitzen; dasselbe muss wider alle feindselige
Ansprüche gesichert werden ^ — T. Zeugen, Doenmente^ Beweise u. s. w.
^ Kach Kl*, d. Urth. Einl. II. handelt es sich um das Rechts gebiet der Be-
griffe, um das Gebiet, das ihnen rechtlich unterworfen ist. Begriffe haben ein
Feld, sofern sie überhaupt auf Gegenstände bezogen werden, abgesehen davon,
ob davon Erkenntniss möglich sei. Der Theil des Feldes, worin jene Begriffe
mögliche Erkenntniss schaffen, heisst ihr Boden, territorium, überhaupt. Soweit
112 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B - [R 8. H 7. K 15.]
gibt es auch in diesem Process. Die transscendentale Dialektik ist „die
mühsame Abhörung aller dialektischen Zeugen , die eine transscendente
Vernunft zum Behuf ihrer Anmassungen auftreten lässt". Indessen „weiss
man schon im Voraus mit völliger Gewissheit, dass alles Vorgeben derselben
zwar vielleicht ehrlich gemeint, aber schlechterdings nichtig sein müsse, weil
es eine Kundschaft betraf, die kein Mensch jemals bekommen kann". 703.
Und ebensowenig als die Zeugen sind die Documente stichhaltig: „denn
dieses ist das Schicksal aller Behauptungen der r. V., dass, da sie über die
Bedingungen aller möglichen Erfahrung hinausgehen, ausserhalb welchen
keinDocument der Wahrheit irgendwo angetroffen wird ... sie dem
Gegner jederzeit Blossen geben". 750. „Man muss durchaus misstrauisch
sein, und ohne Documente, die eine gründliche Deduction verschaffen
können, selbst auf den kläresten dogmatischen Beweis nichts glauben." 210.
In § 5 der Proleg. wird den Metaphysikern ein Creditiv abverlangt, cfr.
Krit. 233. Wenn der Dogmatiker für Eine Behauptung mehrere Gründe
aufstellt, so macht er es wie , jener Parlamentsadvokat": ,,das Eine Argu-
ment ist für diesen, das Andere für jenen, nämlich, um sich die Schwäche
seiner Richter zu Nutze zu machen", welche nach dem ersten besten Argu-
ment rasch entscheiden. 789. Doch sog. „Advokatenbeweise" werden hiebei
nicht zugelassen. 428. Eine ganz besondere List der dialektischen Vernunft
besteht beim kosmolog. Gottesbeweis darin, dass sie „ein altes Argument in
verkleideter Gestalt für ein neues aufstellt und sich auf zweier Zeugen
Einstimmung beruft, nämlich einen reinen Vernunftzeugen und einen anderen
von empirischer Beglaubigung, da es doch nur der erstere allein ist, welcher
bloss seinen Anzug und Stimme verändert, um für einen zweiten gehalten zu
werden". 605 f. 794: „Ein Jeder muss seine Sache vermittelst eines . . .
rechtlichen Beweises fuhren, damit man sehe, was seine Vemunftansprüche
für sich selbst anzuführen haben." Bei bloss indirecten Beweisen kann jeder
seinen Gegner in die Enge treiben. „Verfahren aber beide Theile direct, so
werden sie entweder die Unmöglichkeit, den Titel ihrer Behauptungen auszu-
finden, von selbst bemerken und sich zuletzt nur auf Verjährung berufen
können, oder die Kritik wird den dogmatischen Schein leicht entdecken" u, s. w.
Die Einwürfe der Skeptiker sind „alte, niemals verjährende Ansprüche".
777. — VI, Die Entseheidoii^ („Sentenz") in diesem grossen Streithandel
ist in der Dialektik gegeben, ist von der Kritik der reinen Vernunft
definitiv getroffen. „Die Vernunft bedarf gar sehr eines solchen Streites ;
denn um desto früher wäre eine reife Kritik zu Stande gekommen, bei deren
Erscheinung alle diese Streithändel von selbst wegfallen müssen , indem die
Streitenden ihre Verblendung und Vorurtheile, welche sie veruneinigt haben,
die Begriffe auf diesem Boden herrschend sind d. h. a priori gesetzgebend^ so
isl der Theil des Bodens^ auf dem sie diese Herrschaft ausüben , ihr Gebiet
(ditio). Empirische Begriffe haben kein Gebiet, wo sie herrschen^ nur einen Boden,
wo sie sich aufhalten (domiciliutn)^ nur Aufenthalt.
Das Bild des Processes: die Entscheidang. 113
[R 8. H 7. K 15.] A V. B -
einsehen lernen." 747. Allein die Entscheidung spricht dem Dogmatismus
doch trotz der Einsprüche des Skepticismus seinen „Besitz" zu, wenn auch
allerdings in anderer Form, nicht als Wissen, sondern als. Glauben, als
Ideen. Der Streit wird zwar um eine Sache geführt, „deren Eealität keiner
von beiden in einer wirklichen oder auch nur möglichen Erfahrung dar-
stellen kann". „Keiner von beiden kann seine Sache geradezu begreiflieh
und gewiss machen, sondern nur die seines Gegners angreifen und wider-
legen." „Alle Behauptungen der reinen Vernunft (auch die negativen) gehen
über die Bedingungen aller möglichen Erfahrung hinaus, ausserhalb welchen
kein Document der Wahrheit irgendwo angetroffen wird." 750. Allein
schließlich kommt doch die kritische Vernunft ihrer Schwester, der dog-
matischen, nachdem sie ihr furchtbare Angst gemacht hat, verwandtschaft-
lich zu Hilfe ; die dogmatische Vernunft wird durch die Kritik „aufgeklärt"
(755) und die Kritik (mit Einschluss der Kritik der praktischen Vernunft) ent-
scheidet: „Melior est conditio possidentis.^ 776. Der Besitzstand der dog-
matischen Vernunft ist, wenn auch unter anderem Titel, gerettet. „Wir
sind alsdann doch nicht bittweise in unserem Besitze, wenn wir einen, ob-
zwar nicht hinreichenden Titel desselben lur uns haben, und es völlig gewiss
ist, dass Niemand die Unrechtmässigkeit dieses Besitzes jemals beweisen
könne." 740. Der Gegner „kann nur mit Spott oder Grosssprecherei auf-
treten, welches als ein Kinderspiel belacht werden kann". Dies „gibt der
Vernunft wieder Muth", „auf Frieden und ruhigen Besitz zu hoffen". 74R.
„So ist zu hoffen, dass ihr euch einen in alle Zukunft niemals mehr anzu-
fechtenden Besitz verschaffen werdet." 778. Mit dieser Entscheidung
{deren juridisch lautende Stellen wir zur Vollendung des Kant'schen Bildes
herausgegriffen haben) steht nur scheinbar im Widerspruch, wenn Kant
sagt: „Ein völliger üeberschlag seines ganzen Vermögens und die daraus
entspringende Ueberzeugung der Gewissheit eines kleinen Besitzes, bei
der Eitelkeit höherer Ansprüche, hebt allen Streit auf und bewegt,
sich in einem eingeschränkten, aber unstrittigen Eigenthume friedfertig zu
begnügen." 768. Nur wer unterscheidet, „ob gewisse Fragen in seinem
Horizonte liegen oder nicht", ist „seiner Ansprüche und seines Besitzes"
sicher. 2S8. Denn hier handelt es sich um den Besitz sicheren Wissens,
dort um den Besitz vermuthenden Glaubens. — Nach Kr. d. ürth. Vorr. IV
wird der Verstand gegen alle übrigen Competenten in sicheren Besitz ge-
setzt *. Bei einzelnen der Streitfragen sucht K. auch eine „Beilegung des
^ In seinen „Bemerkungen zu Jakobs Prüfung der Mendelssohn'schen Morgen-
stunden** (1786) führt K. das Bild weiter aus: „In den Morgenstunden bedient
Bicli der scharfsinnige Mendelssohn^ um dem beschwerlichen Geschäfte der
Entscheidung des Streites der reinen Vernunft mit ihr selbst durch vollständige
Kritik dieses ihres Vermögens überhoben zu Bein, zweier Kunststücke, deren sich
auch wohl sonst bequeme Richter zu bedienen pflegen, nämlich, den Streit ent-
weder gütlich beizulegen oder ihn, als für gar keinen Gerichtshof gehörig, ab-
Val hinger, Kant-Commentar. g
114 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V. B - [R 8. H 7. K 15.]
Streites", der nicht „abzuurtheilen" ist. Das ist der Fall bei den sog. mathe-
matischen Antinomien (Weltanfang u. s. w.). Hier werden „beide streitenden
Theile mit Recht als solche, die ihre Forderung auf keinen gründlichen Titel
gründen, abgewiesen". Es fehlt an tüchtigen Beweisgründen. Die drohende
Fortsetzung des Streites, „wenn die Parteien gleich bei dem Gerichtshof der
Vernunft zur Buhe verwiesen werden", wird dadurch abgeschnitten, dass das
Streitobject selbst sich als blosses — Nichts herausstellt. 500 flf. Während
hier beide Theile abgewiesen werden, findet bei den dynamischen Antinomien
ein Vergleich statt zu „beider Theile Genugthuung", indem „der Richter
den Mangel der Bechtsgründe, die man beiderseits verkannt hatte, ergänzt''.
530. — Nach Jacobi, Unternehmen d. Krit. u. s. w. (Beinh. Beitr. 3, 19),
„gibt es nach dem Kan tischen Friedensinstrument folgenden Vergleich zwischen
beiden. Die Vernunft hat dem Verstände das Verneinen zu verbieten, der
Verstand hingegen der Vernunft das Bejahen; die Vernunft hat den Ver-
stand zu respectiren und wird positiv durch ihn eingeschränkt, der Verstand
hingegen erhält von der Vernunft, nur eine scheinbare Begränzung und be
dient sich ihrer Ideen, ohne seine Verständigkeit aufzugeben, zur äussersten
Erweiterung seines Gebietes". Hiernach scheint es, als falle der Löwen-
antheil dem Verstände zu; allein bei genauerem Zusehen hat in dieser
leonina societas, wo Einer den Andern zu übervortheilen sucht, doch die Ver-
nunft das Beste. — VII. Und um das Bild bis ins Einzelnste und Letzte
auszunützen, so hat dieser Process auch seine Acten: die Kritik der reinen
Vernunft. „Weil des Bedens doch kein Ende wird, wenn man nicht hinter
die wahre Ursache des Scheins kommt, wodurch selbst der Vernünftigste
hintergangen werden kann, ... so war es rathsam, ... da der dialektische
Schein . . . anlockend und jederzeit natürlich ist und so in alle Zukunft
bleiben wird, gleichsam die Acten dieses Processes ausführlich
abzufassen und sie im Archive der menschlichen Vernunft, zu
Verhütung künftiger Irrungen ähnlicher Art, niederzulegen." 704. Seine
Bemerkungen zu Jacobs Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden (1786)
schliesst K. mit den Worten: „Die Sachen der Metaphysik stehen jetzt auf
einem solchen Fusse, die Acten zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten liegen
beinahe schon zum Spruche fertig, so dass es nur noch ein wenig Geduld
und Unparteilichkeit im Urtheile bedarf, um es vielleicht zu erleben, dass
sie endlich einmal ins Beine gebracht werden." — Das Bild des Processes wird
auch sonst von K. angewandt, z. B. beim Streit mit Eberhard, Entd. Einl.
u. I. Abschnitt Anm., wo gegen Eberhards „Kunstgriff** polemisirt wird, „dem
Bichter den eigentlichen Punkt des Streits aus den Augen zu rücken, indem
zuweisen." Das erste wolle M. durch seine Maxime^ „alle Streitigkeiten der
philosophischen Schulen für blosse Wortstreitigkeiten zu erklären"; das zweite
durch den Versuch, die Grundfrage als ganz vergeblich und unberechtigt hinzu-
stellen, nämlich, was das hinter den Relationen steckende Ding an sich sei. Eine
„Beilegung" versucht aber K. später selbst.
Das Bild des Processes: dre Acten u. s. w. 1X5
ff
[B 8. H 7. E 16.] A V. B
er auf die den iüultdfn possessionis betreffende Frage nicht eingeben wolle'^
Endlich wendet K. das Bild aucb an im Streit der Facultäten, I, 4.
Der Streit der oberen Facultftten mit .der unteren (philosophischen) soll nicht
durch friedliche Uebereinkunft (amicabüis compositio), sondern durch eine
Sentenz der Vernunft geschlichtet werden u. s. w., ib. „Friedensabschluss" ;
über die sog. „Instruction" d^s Processes u. s. w. In dem Aufsatz vom
Jahre 1791: „üeber das Misslingen aller philos. Versuche in der Theodicee",
wird der „Gerichtshof der reinen Vernunft", der „Sachwalter Gottes", die
versuchte , Zurückweisung des Ersteren als incompetent durch den Letzteren"
a. s. w. besprochen.* — L. Noack hat in seinem Buche, „Im. Kants Auf-
erstehung aus dem Grabe" 1861 , dieses Bild seiner ganzen Eintheilung zu
Grunde gelegt, was vom Standpunkt des literarischen Geschmacks
aus formell nicht unbedenklich ist, abgesehen davon, dass er mit jenem
Bilde das des Dramas verquickt und das Ganze als Process -Drama be-
bandelt, wovon sich bei Kant nichts findet. Aber auch materiell gibt
seine Darstellung zu Bedenken Anlass. Auch fUllt die Entscheidung keines-
wegs so negativ aus gegen die reine Vernunft, als Noack es darstellt. (Vgl.
dessen Philos. Handwörterb. 466 ff.)
Noack theilt ein:
I. Das Vorspiel zur Eröffnung des Processes. 33 ff.
Gleichstellung der gemeinen Trftume der Geisterseher mit den vornehmen
Träumen falscher und eingebildeter Wissenschaft.
In der Tbat spricht auch Kant in der Vorrede der Schrift: Tr. e. Geister-
sehers von „Rechtsamen des Geisterreichs", die sich über alle ohnmächtigen
Einwürfe der Schul weisen erheben (er meint damit die Kirche und ihre
Dogmen). Dagegen will er die gemeinen Geistererzählungen untersuchen
and steht so als Bichter „zwischen den Betheuerungen eines vernünftigen
und festüberredeten Augenzeugen und der inneren Gegenwehr eines unüber-
windlichen Zweifels". Auch wird das Bild noch sonst in Vorrede und Text
yerwerthet (z. B. das Kreditiv der Bevollmächtigten aus der anderen Welt
besteht in den Beweisthümern u. s. w.).
II. Das Schauspiel des Processes gegen die reine Vernunft selbst.
S. 58 ff.
1. Der Gerichtshof in Sachen der menschl. • Vernunft. 62 ff.
a) Das Gesetzbuch der Erfahrung und die Prüfung der Voll-
■
machten. 64 ff.
a) Aesthetik (Sinnlichkeit). 64 ff.
ß) Analytik (Verstand). 67 ff.
b) Die Gerichtsordnung des Verstandesgebrauches: die Denk-
gesetze. 69 ff. (Analytik. Forts.)
* Vgl. Schopenhauer, Welt a. W. u. V. I, 593, der das Bild des hiaiTqt^c;
schon bei Arist. Phys. VIII, 6 nachweist. Rehmke, Welt a. Wahrn. 309 be-
zweifelt Kants „Unparteilichkeit^ sehr stark.
116 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A V.VI.B- [R 8. H 7, K 15. 16.]
c) Die Spiegelfechtereien des überschwänglichen Denkverfahrens.
83 ff. (Dialektik.)
2. Die Gerichtsverhandlungen in Sachen der reinen Vernunft. 95 ff.
(Dialektik. Forts.) Verfehlte Beweis versuche der r. V.
(Hier bringt Noack auch die beiden anderen Kritiken in wenig zweck-
entsprechender Weise hinein.)
III. Das Nachspiel des Processes gegen die reine Vernunft. 246 ff.
Methodenlehre u. s. w.
„Das Nachspiel versetzt den Leser aus der Traumwelt der selbstherr-
lichen Einbildung wieder auf das Festland des Erfahrungswissens." 28. In
einem „Schlusswort", 257 ff., fuhrt Noack das Bild selbständig weiter: „Kant
hat der reinen Vernunft, der Speculation aus blossen Begriffen, den Process
gemacht. Er hat die Ansprüche der menschlichen Vernunft auf eine von
der Erfahrung unabhängige Erkenntniss für ungültig erklärt und die des
ünterschleifs und der Falschmünzerei schuldig Befundene in die Kosten ver-
urtheilt (?). Da nun Diejenigen , welche die Erbschaft der reinen Vernunft
um des glänzenden Scheins ihrer Verheissungen willen angetreten haben, sich
mit dem Erkenntniss des kritischen Gerichtshofes nicht zufrieden
geben wollen, sondern unter Berufung auf gewisse Formfehler, die bei
den Gerichtsverhandlungen mit untergelaufen sind, von einer Revision des
Processes eine Abänderung des Erkenntnisses hoffen, so fragt es sich, ob
diese Formfehler der Art sind, dass dadurch das Endergebniss wirklich be-
einträchtigt würde." Dieser „Formfehler" bestünde in der Annahme der
Apriorität der Formen des Anschauens und Denkens. Allein dieser Form-
fehler in der ersten Instanz genüge nicht zur ümstossung des Urtheils
in zweiter Instanz, sondern im Gegentheil werde diese — nach Aufhebung
jenes Irrthums — nur mit um so grösserer Entschiedenheit die Anmassungen
des übersinnlichen Erkennens zurückweisen u. s. w. — Rupp, I. Kant S. 25 ff.,
hat das Bild umgedeutet aus einem juridischen in ein politisches, in das
Bild einer „gesetzgebenden Versammlung", deren Protokolle die
Geschichte der Philos. sind. Die Mitglieder sind die verschiedenen Vermögen,
Sinn, Verstand, Einbildungskraft, Gefühl u. s. w. Sie wollen die Gesammt-
weltanschauung berathen. Aber erst K. habe die Prüfung der Voll-
machten der Einzelnen in seiner Kritik vollzogen. Indessen findet sich
dieses Bild auch bei K., denn nach Fortschr. K. 175. R. I, 573 hat die
Kr. d. r. V. ,,die gesetzgebende Metaphysik in zwei Kammern
getheilt", womit dort wohl die Trennung in theoretische und praktische Ver-
nunft gemeint ist. Dasselbe Bild findet sich bei Jacobi, Unt. d. Krit.
(Reinh. Beitr. 3, 19): „Die Vernunft sitzt im Oberhause, der Verstand im
Unterhause ; letzterer repräsentirt die Sinnlichkeit, die eigentlich Souverainetät,
ohne deren Ratification nichts Gültigkeit haben kann."
Kritik der reinen Yemanft. Kant umschreibt diesen Titel selbst in
folgendem Satze (vgl. mit Einl. 10 f.) als eine „Beurtheilung der erfahrungs-
freien Erkenntniss", und es geht aus diesen beiden Stellen mit vollständiger
Was heisst: „Kritik der reinen Vernunft"? 117
[B 8. H 7. K. 16.] A VI. B
Sicherheit hervor, dass der Genetiv „der r. V." hier als Genetivus objecti-
vus gefasst werden muss: die Beurtheilung oder Prüfung richtet sich auf die
reine Vernunft als ihr Object. Diese, die r. V. muss sich, der Anmerkung
zufolge, der Kritik unterwerfen, die an ihr ausgeübt wird. Es erscheint
daher auf den ersten Blick barok, dem bisher allgemein in diesem Sinne
ausgelegten Titel eine andere noch mögliche Auslegung zu geben, nemlich
eine Prüfung, welche von der reinen Vernunft angestellt wird. Diese Auf-
fassung, wobei also der Genetivus als Gen. subjectivus gefasst werden muss,
findet sich indessen mehrfach, z. B. bei Krug, Lex. II, 574. Kant habe eine
neue Prüfung des ganzen menschlichen Erkenntnissvermögens angestellt und
habe sie Krit. d. r. V. genannt, weil er meinte, die Vernunft müsse nicht
nur sieht selbst, sondern auch Sinnlichkeit und Verstand kritisiren, da
jene die oberste Instanz des menschlichen Geistes sei. Ihm ist also Kr. d.
r. V. = die vo n der r. V. angestellte Kritisirung (des ganzen menschlichen
Erkenntnissvermögens : Sinnlichkeit , Verstand und zugleich Vernunft
selbst). Demnach wäre im Titel nur das prüfende Vermögen aus-
gedrückt, nicht aber das geprüfte ganze menschl. Erk. vermögen , das von
einem Theil desselben, nämlich der reinen Vernunft, einer Prüfung unter-
worfen wird. Die Aesthetik sei die Kritik der Sinnlichkeit, die Analytik die
des Verstandes, die Dialektik erst die Kritik der Vernunft, und diese ganze
Prüfung gehe also von diesem Vermögen selbst aus. Somit ist nur Dia-
lektik Kr. d. r. V. in dem Sinne, dass die Vernunft geprüft wird, das
ganze Buch ist aber Kr. d. r. V. in dem Sinne, dass die Vernunft selbst
prüft. Dieselbe Auffassung machte geltend Sigm. Levy, Ks. Kr. d. r. V.
S. 3; nach ihm ist Kr. d. r. V. Kritik des Verstandes durch die Ver-
nunft. „Dies beweiset der Sinn des ganzen Werkes" ; dazu beruft er sich
auf S. 465, wonach das Ziel Kants ist „ein dauerhaftes ruhiges Regiment
der Vernunft über Verstand und Sinne" zu begründen, auf Prol. Vorr. 12,
womach „die kritische Vernunft den gemeinen Verstand in Schranken hält".
Levy wendet sich daher gegen Jacobi , weil dieser „die Sache auszudrücken
beliebte als: Unternehmen die Vernunft zu Verstände zu bringen"; das
würde allerdings ein vergebliches Unterfangen sein; sondern es sei ein Ver-
such, „den Verstand zur Vernunft (raison) zu bringen". Der Titel des
Jacobi'schen Aufsatzes (s. Reinhold, Beitr. 1802, 3. H., S. I ff.) ruht
allerdings auf der allgemeinen recipirten Auslegung, dass das Buch sei eine
,;Untersuchung der reinen synthetischen Principien" (7). „Die Kantische
Theorie der reinen Vernunft hat zur Absicht, den Verstand vor der Vernunft
als einer Betrügerin zu warnen", J9. — Die Untersuchung dieser Frage ist
keineswegs so seltsam und unnöthig, wie das auf den ersten Blick scheinen
möchte — vielmehr enthüllt diese Controverse eine bemerkenswerthe Eigen-
thümlichkeit Kants. Da die vorliegende Stelle der Vorrede den Genetivus
objectivus klar ausspricht, so kann es sich nur darum handeln, ob es Stellen
gebe, in denen der Genet. subjectivus unzweifelhaft ist. I. Zunächst eine
Außsählung solcher Stellen, welche den Genet. obj. enthalten: es sind dies
118 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A VI. B - [R 8. H 7. K 16.]
die Hauptstellen, an denen sich Kant über sein Unternehmen äussert : Wenn
er Vorr. A IX als Gegenstand der „kritischen Untersuchung" die „Bestim-
mung aller reinen Erkenntnisse a priori" erklärt, so ist dies ebenso objectiv
zu verstehen, als wenn er daselbst XV als Aufgabe der Kr. es hinstellt,
„Quelle und Bedingungen der Möglichkeit der Metaphysik darzulegen." Ebenso
wenn das Resultat der Kritik ist, dass sie die reine speculative Vemunft
einschränkt, Vorr. B, XXV. XXVI, so wird dadurch der Sinn ebenso ein-
deutig bestimmt, als wenn an vielen Stellen dem Dogmatismus vorgeworfen
wird, „ohne Kritik, ohne Prüfung und Untersuchung der reinen Vemunft,
ihrer Grenzen, ihres Vermögens oder Unvermögens" vorgegangen zu sein,
so ib. B. XXX, Einl. 3 f. (Vgl. Prol. §. 42: Untersuchung der V.) Diese
„Kritik des Organs, nämlich der reinen Vernunft", will ja eben Kant liefern,
oder eine Wissenschaft der Beurtheilung der r. V., ihrer Quellen und Grenzen,
10 , B. 22 f. , und daher geht diese Kritik dem System der reinen Ver-
nunft vorher. Vorr. B. XLII, Einl. 11 ff. Ausdrücklich wird als „Gegen-
stand" der Kritik der apriorisch urtheilende Verstand (d. h. die reine Ver-
nunft) angegeben, 12 f., die Kritik ist nicht „eine Kritik der Bücher und
Systeme" der r. V., sondern „des reinen Vernunftvermögens selbst", 13; es
handelt sich darin m. a. W. um „eine Beurtheilung der synthetischen Er-
kenntniss a priori**, 14 f., und diese zerfällt „in Elementarlehre und Methoden-
lehre der r. V.", 15, 701 f. 841. In der Vorr. zur Kr. d. pr. V. XI. heisst
es, dass in ihr die „Begriffe und Grundsätze der reinen specul. Vemunft,
welche doch ihre besondere Kritik schon erlitten haben, nochmals der Prü-
fung unterworfen werden.** Vgl. Vorrede zur Kr. d. Urth. I. „Es ist einem
nachdenkenden und forschenden Wesen anständig, gewisse Zeiten der Prü-
fung seiner eigenen Vernunft zu widmen*. Kr. 475. Ebenfalls finden
wir diesen Sinn an denjenigen Stellen, wo Kant den Ausdruck zum ersten-
mal anwendet, in den Briefen an Herz vom 21. Febr. 1772, aus dem Jahr 1773,
vom 24. Nov. 1776, vom 20. Aug. 1777. Endlich wird dieser Sinn ja noth-
wendig gefordert durch die Parallele mit den beiden andren Kritiken, der
der praktischen Vernunft und der der Urtheilskraft, welch letztere
auch in Briefen (Ros. XI, 81. 90.) Kritik des Geschmacks bezeichnet wird. Aus
den Vorreden zu den beiden Werken geht das zur Genüge hervor; in der
Vorrede zum ersteren heisst es , dass diese Kritik das praktische Vermögen
der Vemunft kritisire, XV, XXII f. u. ö. ; in der zum zweiten, dass es
sich um „eine Untersuchung eines Princips der Urtheilskraft" handle, VIII.
Das „kritische Geschäft" (ib. IX, vgl. 2. Brief an Reinhold Ros. XI, 90)
besteht demnach in einer von Kant selbst ausgeübten Untersuchung und Prü-
fung der Vemunft. — II. Diesen Stellen stehen aber solche gegenüber, wo der
Genet. subject. unzweifelhaft ist. So sagt Kant in der (allerdings nicht streng
authentischen, aber doch im Allg. zuverlässigen) Metaphysik S. 16: „Das
andere Verfahren, das man (ausser dem dogmatischen) einschlagen könnte,
wäre Kritik oder das Verfahren der Vernunft, zu untersuchen und zu
beurtheilen," Aber auch in der Vorr. B, XXVIII spricht K. von „dem
[
S e I b s t präfung des erfahrungsfreien Erkenntnissvermögens. 119
[R 8. H 7. K 16.] A VI. B
positiven Nutzen kritischer Grundsätze der reinen Vernunft", und einige
Zeilen vorher: „gesetzt, die speculative Vernunft hätte bewiesen" in einem
Zusammenhang, wornach damit nur die Kritik selbst gemeint sein kann.
Wenn K. femer den Abschn. VI der Einleitung B überschreibt: Aufgabe
der reinen Vernunft, wenn als diese Aufgabe bezeichnet wird die Lösung
der Frage: „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?" so ist damit
ebenso eindeutig ausgedruckt, dass die reine Vernunft selbst die Prüfung
and Lösung dieser Frage vorzunehmen habe, als umgekehrt die Ueberschrift
des Abschnittes III den Genet. object. im Auge hat, wenn sie sagt: die
Philos. bedarf einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit, die Principien und
den Umfang aller „Erkenntnisse a priori bestimmt". War im ersten Falle,
beim Genet. object. das Subject zunächst noch unbestimmt, von dem die
Kritik auszugehen hat, so ist bei diesem Genet. subject. das Object der
Prüfung zunächst noch unbestimmt , während bei den nun folgenden Fällen
Object und Subject zugleich deutlich bestimmt werden. Wenn K. Prol. Vorr.
12 und §. 40 von einer „kritischen Vernunft spricht, die den gemeinen
Verstand in Schranken hält", so ist auch darin der Genet. subject. involvirt.
— in. Eine dritte Klasse von Stellen umfasst beide Bedeutungen, und Kant
erklärt, dass die reine Vernunft an sich selbst Kritik ausüben solle, so dass
sie Object und Subject in Einer Person ist ; wie ja beim Bilde des Processes
dieselbe Angeklagt« und Richterin zugleich ist und 'wie dies schon in der
Forderung der Selbsterkenntniss liegt, welche, „als das beschwerlichste
ihrer Geschäfte, die Vernunft selbst übernehmen solle". Dies wäre also
bei dem Ausdruck zu subintelligiren, wie auch aus dem ganzen Passus VI — VIII
hervorgeht. Nach Vorr. B. XXII f. hat „die reine specul. Vernunft das
Eigenthümliche an sich, dass sie ihr eigen Vermögen ausmessen soll". Nach
Einl. B. 23 soll Vernunft „ihr eigen Vermögen kennen lernen". Bes. Fort-
schr. K. 167 (R. I, 565): „Allgemeine Aufgabe der sich selbst einer
Kritik unterwerfenden Vernunft" (nachdem es 2 Seiten zuvor geheissen hatte:
Wider dieses Unheil [des Skepticismus] gibt es kein Mittel, als dass die
Vernunft selbst, d. i. das Vermögen überhaupt a priori etwas zu erkennen,
einer . . . Kritik unterworfen werde). 747: „Vernunft bändigt sich
selbst." 795: Die Vern. übt die Disciplin und Censur über sich — selbst aus,
was ihr Zutrauen zu sich selbst gibt. K. d. pr. V. 30: „Reine Vernunft be-
darf keiner Ki'itik, sie ist es, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles
ihres Gebrauches enthält." ib. 196. — Resultat. In diesem Schwanken
spiegelt sich nun ein sehr charakteristisches Verhältniss wieder, sowohl was
Methode als Inhalt des Buches betrifft. Was die Methode betrifft, so liegt
darin, dass die Prüfung von der Vernunft selbst ausgeht, schon, dass sie
selbst eine apriorische ist, dass dai'in „nach Principien" verfahren wird.
Dieser Umstand wird noch unten zur Sprache kommen. Wichtiger ist die
Beziehung auf den Inhalt; denn hier mündet die vorliegende Frage ein in
die Frage, ob die Kritik nur ein Tractat von der Methode oder schon
das System der reinen Vemunfterkenntniss selbst sei. Indem das Einzelne
120 Commentar zur Vorrede der ersten Aufliige.
A VI. B - [R 8. H 7. K 16.]
hierüber auf später verschoben wird, ist hier zu bemerken, dass der Gene-
tivus objectivus — die an der reinen Vernunft ausgeübte Kritik mehi' dem
ersteren, dass der Genet. subjectivus sowie die reflexive Auffassung mehr
dem zweiten sich nähert. Es scheint auch, als habe, je mehr Kant sich
selbst der letzteren Ansicht zuneigte, der Genet. subject. sich mehr und mehr
vorgedrängt. Für uns selbst ergibt sich die Nothwendigkeit , aus den drei
sich wie Thesis, Antithesis und Synthesis verhaltenden Bedeutungen
eine solche Auslegung zu combiniren, welche wir als die Normalauf-
fassung im Folgenden festhalten können. Es liegt auf der Hand, dass
wir hier die dritte Bedeutung acceptiren müssen, und dass wir somit der
gebräuchlichen Auffassung des Titels, als ob es sich einfach um
eine Prüfung des reinen Erkenntniss Vermögens handle, entgegen die präg-
nante und zugleich die Methode ausdrückende Bedeutung geltend zu machen
haben. Kant hat allerdings in der ursprünglichen Conception des Titels -und
in seinem gewöhnlichen Gebrauch sicher nur an den Genet. objectivus ge-
dacht, bei dem das Subject zunächst noch unbestimmt bleibt, und ebenso
hat man den Titel von Anfang an aufgefasst, so z. B. Eberhard und dann
Kant selbst in seiner Schrift gegen diesen: „Ueber eine Entdeckung, nach der
alle neue Kritik der r. V. durch eine ältere entbehrlich gemacht werden
soll." Da aber Stellen da sind, in denen, anstatt dessen, der Genet. subject.
unzweifelhaft ist, und da vollends für die reflexive Auffassung Kant selbst
an vielen Stellen eintritt, so erscheint es richtiger nnd vortheilhafter bei
dem Ausdrucke: „Kritik der reinen Vernunft" die reflexive Bedeutung im
Sinne zu haben, woraus sich die Umschreibung ergibt: SelbBtprIlfnngr des
von der Erfahrung nnabhftngigen Erkenntnlssvermögens. („Selbstprüfung"
Krit. S. 711. 745.) Durch diese Formel wird der Vortheil erreicht, dass
in ihr nicht bloss der Inhalt des Werkes, sondern auch zugleich seine
Methode ausgedrückt wird, die nach Kant eine apriorische sein soll. *
Es ist somit falsch, wenn Will, Vorl. S. 76 in seiner ausführlichen Erörte-
rung des Begriffs der Kr. d. r. V., den er richtig einen „schwankenden und
zweideutigen" nennt, sagt: „die Vernunft ist nicht das untersuchende Sub-
ject, sondern das Object der Kritik." Dieselbe Auffassung auch bei Snell,
Menon. 22. Metz, Darst. 38. Jakob, Log. u. Met. § 46. Mirbt, 181.
Schön, Phil. d. K. 71. Richtig bei Baumann, Phil, als Orient. 180.
Schwankend bei Schaarschmidt, Entw. d. Spec. 89. (Vern. bald Zweck,
bald Mittel der Unters.) und bei Baggesen, Phil. Nachl. I, 311 (Veraunft
mehr Object als Subject der Kritik, vgl. ib. 217.)
Der Ausdruck Kritik wird von Pauls en 116 Anm. bezogen auf die Stelle
* Dass K. den Doppelsinn in dem Ausdruck gewollt habe, ist schwerlich
zu behaupten, indessen gibt es derartige Fälle; so verlangt z. B. Erdmann,
Grundriss § 2 ausdrücklich den Doppelsinn des Ausdruckes „Weltweisheit" „im
genitivo subjecii et objecti zugleich". — „Mehr warme, als forschende Freunde nannten
Kants Meisterwerk: Bibel der Vernunft." Neeb, Vern. 51.
Sinn des Ausdruckes: „Kritik". 121
[R 8. H 7. K 16.] A VI. B
der Dissertation § 8 iind § 30, wo von der Propädeutik gesagt wird, sie
lehre das „discrimen sensitivae cUque intellectualis cognitionis;^' Kritik sei dem-
nach zunächst Unterscheidungslehre, welche das Erkenntnissvermögen
in seine Funktionen zerlege. * Die Bedeutung der Beurtheilung der Meta-
phjrsik resp. der r. V. würde dann erst allmälig entstanden sein, indem die
Unterscheidung oder „Ausscheidung des Intellectualen vom Sensualen",
wie Paulsen, Viert, f. wiss. Phil. II, 494 sagt, schliesslich auf Be- und Ver-
ortheilung geführt hahe. Diese Ableitung ist historisch unrichtig. Die Ent-
stehung geht aug der „Nachricht** über die Vorlesungen im Jahre 1765 her-
vor. Dort tritt der Name zum erstenmal auf. K. vergleicht dort die
„Kritik der Vernunft" mit der „Kritik des Geschmacks", d. h. die
Logik mit der Aesthetik. Die Kritik in diesem Sinne ist aber bekannt-
lich einzig und allein die Beurtheilung und zwar die „richterliche". Die
Logik nennt Kant dort mehrfach noch Kritik und unterscheidet 1) eine
Kritik des gemeinen Menschenverstandes; 2) eine Kritik der eigentlichen
Gelehrsamkeit (Logik im eigentlichen Sinn) ; 3) die Kritik der Weltweis-
heit. Von der letzteren sagt er, diese Kritik und Vorschrift als ein Or-
ganon der Metaphysik, als „vollständige Logik", als Betrachtung über die
eigentliche Methode derselben gehöre ans Ende der Metaphysik, wenigstens
beim Vortrag, „da die schon erworbenen Erkenntnisse derselben und die
Geschichte der menschlichen Meinungen es einzig und allein möglich machen,
Betrachtungen über den Ursprung ihrer Einsichten sowohl als ihrer Irr-
thümer anzustellen und den genauen Grundriss zu entwerfen, nach welchem
ein solches Gebäude der Vernunft dauerhaft und regelmässig soll aufgeführt
werden." Alle drei zusammen nennt er „Kritik der Vernunft". Dass
er den Namen „Kritik" sonach der ästhetischen Kritik entnahm und in
dem damals üblichen Sinn anwandte, steht darnach fest. In der Logik,
Einl. I, citirt er Home, der die Aesthetik „Kritik" genannt habe', nimmt
aber dort die Bezeichnung Kritik für die Logik zurück, weil die Logik einen
apriorischen Kanon aufstelle, der allerdings nachher zur Kritik diene, d.h.
zum Princip der Beurtheilung alles Verstandesgebrauches überhaupt. In
diesem Sinne spricht Kant von seiner Zeit als dem „Zeitalter der Kritik"
(oben 102).' — Den Paulsen'schen Irrthum begieng schon Eberhard, Philos.
Mag. I, 22, welcher das Kritische in der Zergliederung der verschiedenen
* Ebenso bei Weber, Histoire de la phü. 433 f.
' In England ist factisch der Ausdruck cHticism, critie aufgekommen im
XVIIl. Jabrh., insbesondere für Aesthetik, wie viele derartige Titel beweisen von
Home^ Pope u. A. Crüic findet sich schon bei Locke, Essay, IV, 21, 4.
* Herbart, W. W. XII, 774: „Ks. Hauptwerke nennen sich Kritiken; und
wcun sie kritischen Geist wecken, so können sie diesem sich selbst nicht ent-
ziehen. Allein sie wollen studirt sein, ehe man sie beurtheilt, und der Fleiss des
Stadiums wird sich nicht durch ein Absprechen im Allgemeinen, sondern durch
ein sorgfältiges Eingehen in die Einzelheiten bewähren können."
122 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A VI. B - [R 8. H 7. K 16.]
Erkenntnissvermögen, und die A. L. Z. 1789, 1, 78, welche es in der Ab-
sonderung des Intellectuellen vom Sinnlichen fand, üeber den Terminus
Kritik vgl. Herder, Met. II, 338 f., K. habe den Namen missbraucht. Vgl.
dess. Adrastea, 9.* Beneke, Kant 55: der Titel Kritik kündigt die
analytische Grundtendenz des Werkes an: sie zergliedert; (diese analyt.
Tendenz hatte K. nach Beneke mit seinem Jahrh. gemein und er sprach eigent-
lich nur aus, was man schon allgemein annahm). Die synth. systemati-
sche Seite des Werks dient nur seinem analytischen Zweck. Auch diese
etymologische Ausdeutung ist falsch; es handelt sich weder um Zergliede-
rung noch um Unterscheidung * bei diesem Terminus, sondern um Prüfung
und Beurtheilung. — Feder, Raum und Caus. Vorr. XXIV ff. spricht des
Weiteren über den Sinn des Ausdruckes Kritik. Man habe ein Recht, das
Wort mit Skepsis zu vertauschen. Jedermann verstehe unter K. „eine ge-
mässigte Skepsis". K. verbitte sich das mit Unrecht, da seine Philos. sogar
zu übertriebenem Skepticismus führe.
Nieht eine Kritik der Btleher . . . sondern u. s. w. Vgl. 761. 767.
(836 f.): „Nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst,
nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a
priori, soll der Schätzung unterw^orfen werden." Denn jene Facta „sind nur
zufällige Data". Die „Natur des menschlichen Verstandes selbst" ist Object
und Princip der Untersuchjing. 639. „Die fehlgeschlagenen dogmatischen Ver-
suche der Vernunft sind Facta, die der Censur zu unterwerfen immer
nützlich ist. Diese aber kann nichts über die Erwartungen der Vernunft
entscheiden, einen besseren Erfolg ihrer künftigen Bemühungen zu hoffen;
die blosse Censur kann also die Streitigkeit über die Rechtsame der menschl.
Vernunft niemals zu Ende bringen." 764. Einzelnen Verirrungen kann
durch Censur abgeholfen werden, ihren Ursachen aber durch Kritik
und Disciplin. 711. Diese „blosse Censur" der Facta fällt zusammen mit
der blossen Kritik der Bücher, an deren Stelle Kant eine Kritik des Er-
kenntnissvermögens überhaupt ein für allemal geben will. Vgl. Proleg. Or.
212: Ein Werk kritischer Art und zwar nicht in Absicht auf andere Schrif-
ten, sondern auf die Vernunft selbst; daher kann auch der Massst-ab
der Beurtheilung des Werkes nicht schon angenommen werden, sondern
ist erst zu suchen. „Pas une critiqtie du tel ou tel Systeme, mais une crüique
qui s^applique ä Vinstrument meme de tout systhne/^ Cousin 27 '. Vgl. Logik,
* Baggesen, Philos. Nachl. I, 210: „K. hat kritieirt in der gemeinen Be-
deutung des Worts, worin kritisiren leichter als besser machen ist." B., welcher
anfangs K. unmittelbar neben Christus setzte (Rosenkranz 398), wurde später sein
erbittertster Gegner.
* Boruttau, Kant 21: „K. unterschied das Erkennende und das Zuer-
kennende, das Ich und die Welt, das Subject und das Object" u. s. w. Denn
xpivetv heisse „unterscheiden". Auch Hamilton, Lect, on Met. 11^ 195 hat dieselbe
irrthümliche Auslegung.
' Her hart, W. W. XII, 144: „Seiner Kühnheit genügte es nicht, nur die
Kritik der Vernunft überhaupt, nicht der Systeme. 123
[R 8. H 7. K 16.] A VI. B
Einl. VII : Die Aufdeckung und Auflösung des Scheines selbst sei ein weit
grösseres Verdienst um die Wahrheit, als die directe Widerlegung der ein-
zahlen Irrthümer u. s. w. Wie Kant nicht eine Kritik der Bücher beab-
sichtigt, sondern eine Kritik des Vemunftvermögens selbst, so will er auch
nicht durch Bücher , d. h. durch Berufung auf solche , z. B. von Leibniz.
widerlegt werden. „Es ist mit dem Widerlegen reiner Vernunftsätze durch
Bücher (die doch selbst aus keinen anderen Quellen geschöpft sein konnten
als denen, welchen wir ebenso nahe sind als ihre Verfasser) eine missliche
Sache." Entd. Ros. I, 401 (gegen Eberhard).
Sondern die des Yernnnftrermogens überhaupt. Unter Vernunft fasst
hier K. das ganze Vernunftvermögen zusammen, wie Metz, Darst. 38,
richtig bemerkt. Nichtsdestoweniger bleiben noch Unklarheiten, die in den
Bemerkungen zur Einleitung 10 zur Behandlung kommen *. Ueber den
Titel sagt Herder, Metakr. I, 3: „Der Titel befremdet. Ein Vermögen der
menschl. Natur kritisirt man nicht, sondern man untersucht, bestimmt, be-
gränzet es, zeigt seinen Gebrauch und Missbrauch. Künste, Wissenschaften,
als Werke der Menschen betrachtet, kritisirt man . . . nicht aber Natur-
vermögen V* Er lobt Locke, Leibniz, Hume, Reid, welche ihre Werke
Essays oder Treatise nannten'. Vgl. dagegen Kiesewetter I, 8 ff. Daher
Systeme zu kritisiren^ K. kritieirte die Vernunft. Bei diesem Unternehmen staunten
die ZeitgenoBBen" u. s. w.
' Der Gegenstand der kritischen Analyse sind unsere Erkenntnissvermögen.
Wesehalb sich F. V. Reinhard unrichtig ausdrückt (System d. ehr. Moral I, Vorr.),
es handle sich um die Zergliederung unseres Wesens. Hiegegen erklärten sicli
die Jacob'Bchen Annal. III, 485; das Wesen sei nach der krit. Philos. ganz un-
sichtbar und unzugänglich für uns. Nur eine Zergliederung der durch iiire Wir-
kungen sich hinlänglich offenbarenden Vermögen sollte vorgenommen werden.
Daher gibt auch Reinh. fälschlich als Ziel an: Analyse des Wesens in seine Be-
8tandtheile und Herauslösung der reinen Form derselben von aller Materie ent-
blösst^ woran nach den Ann. die kritische Philos. nie gedacht habe.
' Aehnlich Baggesen, Phil. Nachl. I, 164, der daher auch den Titel „un-
bescheiden** findet ib. 232: Kritik des Universums wäre ein bescheidener Titel
gegen den Kantischen ; factisch sei das Werk eine Kritik des üebersinnlichen.
Schelling dag. W. W. 2. Abth. III, 46 findet den Titel „bescheiden"; denn K.
gebe eine vollständige Theorie des menschlichen Erkenntnissvermögens. Ebenso
wie Baggesen fasste Bachmann, Philos. m. Z. 62 die Kritik auf: „Die Ver-
nunft kann sich wohl verstehen, im eigenen Leben und Wirken erfassen, sie
kann eich selbst aber nicht eigentlich kritisiren, wenn nicht etwa ein Anderes an
ihre Stelle tritt So bei Kant. Was hier kritisirt, ist der Verstand". „Dieser
Verstand, der grausamste Gewalthaber, hat in der Kritik seinen Thron aufge-
schlagen, in seinem öden Reich verhallt die Stimme der Vernunft ungehört, sie
wird des Thrones entsetzt, ausgestossen, zertreten und ihre heiligsten Güter als
Ausgeburten des Wahns bezeichnet,"
' Dagegen erinnert Harms, Gesch. d. Log. 216 umgekehrt an die Aehnlich-
kcit des K.'8chen Titels mit den Titeln der Schriften von Locke, Hume., Leibniz:
124 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A VI. B — [B 8. H 7. K 16.]
schlagt H. den Titel „Physiologie der menschl. Erkenntnisskräfte**
vor; a. a. 0. I, 7. Dag. Kiesew. a. a. 0. I, 54. Vgl. oben S. 96 zn Kants
Vorr. A pag. IV über Locke's „Physiologie des menschl. Verstandes". Sonstige
derartige EinwÄnde bei Herder, Met. I, 67, die darin gipfeln, dass die Ver-
nunft doch nicht über sich selbst hinaus könne, um sich zu untersuchen,
sind widerlegt bei Kiesew. a. a. 0. I, 53. Vgl. Schmidt und Snell, Erl.
106 ff.
Alles aber aas Prinelplen. Vgl. unten: „Ich habe die Vernunft nach
Principien vollständig specificirt." Dieser Zusatz hier bezeichnet einfach
die Methode, nach welcher jene Untersuchung geführt werden soll. Aus
der entgegengesetzten Methode wird der Sinn des Ausdruckes ganz klar : K.
vdi'ft dem Hume'schen Skepticismus vor, dass seine Einwürfe „nur auf
Factis, welche zufällig sind, nicht aber auf Principien beruhen, die eine
nothwendige Entsagung bewirken könnten." 767. Durch „unbestimmte
Anpreisung der Mässigung lässt sich die Vernunft nicht in Schranken halten.
B. 128. Ganz denselben Vorwurf macht er dem Dogmatismus, „der die
Grenzen seiner möglichen Erkenntniss nicht nach Principien bestimmt
hat, der also nicht schon zum Voraus weiss, wie viel er kann, sondern
es durch blosse Versuche ausfindig zu machen denkt." 768. Vgl. besonders
die Ausfuhrung S. 66 und 67: „Die Transc. Phil, hat den Vortheil, aber
auch die Verbindlichkeit, ihre Begriffe nach einem Princip aufeusuchen;"
ib. über den dadurch erreichten Vortheil systematischer Vollständigkeit.
Identisch ist: „nach einem Begriff oder Idee" s. hiezu zur Einl. 13. Der
Kriticismus besteht eben darin , dass er die Grenzbestimmung der mensch-
lichen Erkenntniss mit apodiktischer Sicherheit feststellt, und das kann er,
weil er „nach Gründen a priori" verftlhrt; nur so lässt sich die „schlecht-
hinige Nothwendigkeit der Unwissenheit" feststellen, „nicht empirisch»
durch Beobachtung, durch Wahrnehmung, a posteriori". Diese
Grenzbestimmung muss „nach Principien a priori" geschehen, wie man
die Begrenzung der Erde, d. i. ihre Oberfläche, auch nach mathematischen
Principien a priori feststellen kann. Und so entsteht eine wirkliche wissen-
schaftliche Kritik, nicht bloss eine aus Factis vermuthende Censur der Ver-
nunft. 758—762. Das Verfahren dieser Prüfung ist somit apriorisch oder,
wie K. Vorr. B. XXXI. es selbst nennt, dogmatisch, d. h. „aus sicheren
Principien a priori strenge beweisend", und die dadurch erreicht« Erkennt-
niss ist nicht eine „historische cognitio ex datis, sondern rationale
cognitio ex principiis*^ 835. Vgl. oben das Bild des Processes, womach
die schliessliche Entscheidung „nach den Grundsätzen der ersten Institution
der Vernunft selbst" 751 f. getroffen wird. Vgl. S. 13 f. S. 66 f. 838 f.
Proleg. § 43. 57. 58. Wie das eine der Merkmale apriorischer Methode,
die Nothwendigkeit der dadurch erreichten Grenzbestimmung schon be-
„ Untersuchungen über den menschlichen Verstand." „So nennen sie ihre Logik.'
(Hier ist Logik = Erkenntnisstheorie.)
Apriorische Methode der Kritik. 125
[R 8. H 7. Z. 16.] A VI. B
tont wurde, so wird es auch das andere, die Allgemeinheit; die Unter-
suchung der menschl. Vernunft soll „allgemein und aus der Natur des
menschl. Verstandes" 639 geführt werden. Das kann nur geschehen „von
der gereiften und männlichen ürtheilskraft , welche feste und ihrer Allge-
meinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat". 761. * Es ist damit
das Specifische der K.'schen Methode ausgesprochen \ welche rein begriff-
lich, logisch analysirt, nicht psychologisch. Es ist dieser Punkt
von Anfang an streng festzuhalten, dass K. demPrincip nach psycholo-
gische Beobachtung ausschliesst. Das ist nach Beneke's treffender Bemer-
kung (Kant 30) der erste bedeutende Gegensatz Kants gegen die bisherigen
erkenntnisstheoretischen Untersuchungen. Kant trieb, sagt derselbe S. 33,
somit die Speculation aus blossen Begriffen zur Vorderthür hinaus, um sie
(hier bei seiner eigenen Methode) zur Hinterthür wieder einzulassen*. Ueber
die Kritik der r. V. aus reiner V. und durch sie, vgl. Jacob, Ann. d.
phil. Geistes III, 406 (gegen Tiedemann). Riehl, Kritic. I, 294 ff.
DkseB Wegr, den einzlsren. Vgl. den Schluss der Kritik Methodenl. S. 856 :
Der kritische Weg ist allein noch offen. Mit Beziehung auf diese beiden
Stellen sagt Herder, Met. Vorr. XI: ,, seitdem dieser Weg offen ist,
schwingt jeder Zaunkönig sich mit allgültiger Vollmacht der absoluten
Welt- und Wortallheit entgegen, überfliegend bei Weitem den Erfinder des
W^es." Er will damit die übermässig ins Kraut schiessende Kantliteratur
seiner Zeit treffen. W. v. Humboldt sagt (Ans. über Aesth. u. Literat.
Berlin 1880 S. 21. 30): „Ich gehe hierin (in der Aesth.) schlechterdings den
Kantischen Weg V*
Alle Irmng'eii. „Diese Irrungen", in welche die Vernunft durch Selbst-
' Eine lesenswerthe Erörterung über diesen Ausdruck „aus Principien", s. bei
Keinhold, Beitr. z. Bericht. II, 48 — 56. Reinhold geht die verscliiedenen Be-
deatungen durch, welche man vor K. mit dem Ausdruck ^cognitio ex principm"^
verbunden hatte und bestimmt die Kantische genauer.
' Desshalb sagt Cousin von den Vorreden A ii. B und der Einleitung ganz
richtig C24): Ces trois morceaux sont de la plus Jiaute importance-^ iU contiennent
ee qu'U y a peut^Hre de plus essentiel et de plus durable [?] dans la Critique, la m^-
thode . , , Dans tout penseur original, c^est la miihode qu*il faut avant tout rechercher ;
cor eeite mähode est le germe de tout le reste.^ Diese drei Stücke sind pour la
phüosopkie de Kant ce que le Discours de la mithode est pour la phüosophie
de Deseartes.
" Vgl. Beneke, Metaph. 20 flF. 133 ff. 368 f. B. findet in diesem Punkte
einen Selbstwiderspruch und den grussten Fehler Ks. Er habe an die Stelle der
„ubjeetiven Erdichtungen" des Dogm. subjective gesetzt.
* Es ist ein seltsamer Einfall des Kantianers Knauer (Phil. Mon. XIII, 406),
zu leugnen, dass K. damit seine Methode habe bezeichnen wollen: K. wolle
nicht eine ju^^o^, sondern eine bZ6<;\ doppelt seltsam, wenn man damit die in
der Einl. oben S 4. 7. 8 beigebrachten Stellen aus K. vergleicht. — Cfr. Pri-
honsky, Anti-Kant 229: der von K. eingeschlagene „Weg" sei nicht der
richtige u. s. w.
126 Commentar zui* Vorrede der ersten Auflage.
A VI. B — [K 8. H 7. 8. K 16.]
entzweiung geräth, „abzuthun" „ist die Vernunft selbst berufen" 743. d. b.
eben, die Methode der Auflösung muss auf Principien a priori beruhen.
Diese Absicht „der Abstellung aller Irrungen" erinnert an die Einleitung
Bacons, an die Befreiung der Menschheit von den „errores^'f an den „terminus
legitimus infiniti erroris^.
Im erfahrnngsfreieii Gebrauch. Der Ausdruck „erfahrungsfrei" findet
sich bei Kant selten. Laz. Geiger wendet ihn an auf den Titel seiner
Schrift: „lieber Umfang und Quelle der erfahrungsfreien Erkenntniss".
Frankfurt 1865. Der „erfahmngsfreien" Erkenntniss entspricht praktisch
das „sinnenfreie" Handeln. Kant übersetzt beides mit „intellectualis^ s. Met.
d. Sitten. Einl. I.
Mit dem Unrermögren der mensohllohen Yerminft. In specieller An-
wendung dieses Grundsatzes wendet sich z. B. Kant S. 614 gegen den Aus-
weg, das „Ideal der reinen Vernunft uner forsch lieh zu heissen; es muss
in der Natur der Vernunft seinen Sitz und seine Auflösung finden und also
erforscht werden können; denn eben darin besteht Vernunft, dass wir Ton
allen unseren Begriffen . . . Rechenschaft geben können." Vgl. Prol. § 35:
„Es kann gar nichts helfen, jene fruchtlosen Versuche der reinen Vernunft
durch allerlei Erinnerungen wegen der Schwierigkeit der Auflösung so tief
verborgener Fragen, Klagen über die Schranken unserer Vernunft
und Herabsetzung der Behauptungen auf blosse Muthmassungen massigen
zu wollen. Denn wenn die Unmöglichkeit derselben nicht deutlich dargethan
worden und die Selbster kenntniss der Vernunft nicht wahre Wissenschaft
wird, worin das Feld ihres richtigen von dem ihres nichtigen und fruchtlosen
Gebrauchs mit geometrischer Gewissheit unterschieden wird, so werden jene
eitlen Bestrebungen niemals völlig abgestellt werden." „Wir sind auch nicht
berechtigt, diese Aufgaben, als läge ihre Auflösung wirklich in der Natur
der Dinge, doch sie unter dem Vorwand unseres Unvermögens abzu-
weisen, und uns ihrer weiteren Nachforschung zu weigern, da die Vernunft
in ihrem Schoosse allein diese Ideen erzeugt hat, von deren Gültigkeit oder
dialektischem Scheine sie also Rechenschaft zu geben gehalten ist." 763 vgl.
695. 756 f. Dieser Gedankengang ist S. 476 — 480 weiter ausgeführt, worauf
hier verwiesen wird. Die definitive Entscheidung bei Kant führt aber doch
schliesslich auf den hier verpönten und verschlossenen Ausweg der Schranken
der menschl. Vernunft. Ja er spricht z. B. Prol. § 58 von unseren „schwachen
Begriffen".
Missverstand der Ternanft mit sich selbst. „Wie fUngt man es an,
dass sich die Vernunft hierüber selbst verstehe" und u. s. w. 615.
(Vgl. im Bilde des Processes die Stellen über den Streit der Vernunft mif
sich selbst S. 110). Met. der Sitt. Vorr. : ;yDie voreilige Vernunft soll
dahin gebracht werden, vor ihren dogmatischen Behauptungen sich erst
selbst zu verstehen." „Die Vernunft muss aus ihrem Widerstreit mit
sich selbst herauskommen," Prol. § 54. Der „Missverstand", auf dem jene
metaphysischen Irrthümer und Streitigkeiten beruhen, besteht darin, «das,
Die Resultate der Kritik der reinen Vernunft. 127
[R 8. H 8. K 16.] A VI.Vn.B
was bloss von Erscheinungen gilt, über Dinge an sich selbst auszudehnen
und überhaupt beide in einem Begriff zu vereinigen," Prol. § 53 fin. „Die
Antithetik beruht auf dem Missverstand , da man nemlich dem gemeinen
Vorurtheile gemäss, Erscheinungen für Sachen an sich selbst nahm.** 740.
Dieser fundamentale, principielle „Missverstand" (weiter unten nennt es
K. .Missdeutung*) wird in der Dialektik, die seiner Aufdeckung gewidmet
ist, nnzähligemal, z. B. 464, betont. Auch hier findet somit K. die Haupt-
aufgabe seiner Kritik in der Dialektik. Ueber diesen Missverstand s. fer-
ner Prol. § 53. § 56; derselbe wird Proleg. Or. 215 als „Erbfehler der
Metaphysik* bezeichnet. Eben desshalb heisst es Kr. 406, der Erbfehler
des Dogmat. sei, „sich bei allem ihm günstigen Schein in der Feuerprobe
der Kritik in lauter Dunst aufzulösen," weil eben jener Missverstand zu
Grunde liegt ^
Dogmatisch gehwftrmeiide Wissbegierde. Diese Schwärmerei tadelt E.
häufig am Dogmatismus; so B. 127 f., wo Locke beschuldigt wird, trotz seines
Empirismus der Schwärmerei Thür und Thor geöffnet zu haben; der-
selbe Vorwurf trifft Crusius, Logik Einl. II. Insbesondere an Herders
Ideen tadelt K. später den „schwärmenden Verstand". „Der menschliche
Verstand hat über unzählige Gegenstände viele Jahrhunderte hindurch auf
mancherlei Weise geschwärmt." Prol. Vorr. 4, vgl. Kr. 770. „Es kann
der Einbildungskraft vielleicht verziehen werden, w^enn sie bisweilen
schwärmt, d.i. sich nicht behutsam innerhalb der Schranken der
Erfahrung hält . . . Dass aber der Verstand, der denken soll, anstatt
dessen schwärmt, das kann ihm niemals verziehen werden; denn auf ihm
beruht alle Hilfe, um der Schwärmerei der Einbildungskraft, wo es nöthig
ist, Grenzen zu setzen." Prol. § 35. Diese Schwärmerei fand im „süssen dog-
matischen Traume statt". Kr. 757. vgl. S. 819 über und gegen allen schwär-
merischen Vernunftgebrauch. „ Das Dogmatisiren mit der reinen Vernunft
im Felde des Uebersinnlichen ist der gerade Weg zur philos. Schwärmerei,
und nur Kritik desselben Vermögens kann diesem üebel gründlich abhelfen;"
Was heisst sich i. D. orientiren? K. 129. Kr. d. pr. V. 150 ff. „Schwärmerei
ist eine nach Grundsätzen unternommene Üeberschreitung der Grenzen der
' Mit Beziehung hierauf sagt Hamann polemisch in seiner Metakritik (Rink
Manch. 127. W. W. VII, 9): „Nicht nur das ganze Vermögen zu denken, beruht
auf Sprache .... sondern Sprache ist auch der Mittelpunkt des Niclit Ver-
standes der Vernunft mit ihr selbst, theils wegen der häufigen Coincidenz
des grössten und kleinsten Begrifi's, seiner Leere und Fülle in idealischen Sätzen,
theils wegen des unendlichen [?] der Rede- vor den Schlussfiguren und der-
gleichen viel mehr.** Im Anschluss hieran führte dies Herder weiter aus, Meta-
kritik S. 9 (f.; derselbe findet in dem Mangel der Berücksichtigung der Sprache
und ihres Verhältnisses zum Denken mit Recht einen Hauptfehler der Kritik.
Piaton, Aristoteles, die Stoiker, Leibniz, und besonders Locke, sowie Sulzer und
Lambert, haben dagegen diese Nothwendigkeit eingesehen und die Sprache herbei-
gezogen. Vgl. Levy, Ks. Kr. d. r. V. im Verh. z. Kritik d. Sprache. Bonn 1868.
128 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
AVn.B- [R 8. H 8. K 16.]
mexischl. Vernunft;* ib. 216 ff.» Klinger, Betrachtungen I. 775. IT., 652
meint: Kant habe durch die Vernunft seine Einbildungskraft nicht getödtet,
vielmehr sei in ihm gerade die Vernunft die Schöpferin der erhabensten
Schwärmerei für gewisse Ideen; sollte auch sein System in der Schule
fallen, so werde doch die erhabene Schwärmerei seiner Vernunft alle Systeme
der Vernunft überleben. Nicolai, Gel. Bild. 203. 233, beschuldigte Kants
Philos., zu Schwärmerei Anlass gegeben zu haben, so bes. zu Pichtes und
Becks Ausartungen; insbes. wenn dieselben sich auf den urspr. Vernunft-
gebrauch, auf ihr Inneres berufen u. s. w. Bouterweck, Imm. Kant 84 if.
Kant habe zwar zu der idealistischen Schwärmerei der intellectuellen An-
schauung des Absoluten Anlass gegeben; aber „der Geist der Schwärmerei,
der sich jetzt transc. Ideal, nennt, ist so durchaus antikantisch , dass K.
selbst eine solche Wendung der durch ihn bewirkten Revolution in der
Geisterwelt nicht einmal ahnen konnte." Vgl. jedoch a. a. 0. 119 über K.'s
eigene platonische Schwärmerei. (Bekanntlich warf schon Hamann häufig
K. „Mystik" vor; ebenso Herder, Kalligone Vorr. XIV [Suph. XXII, 9].)
Durch Zanborktlnste. In demselben Sinne sagt Kant Prol. Gr. 190.
„Die Kritik verhält sich zur gewöhnlichen Schulmetaphysik gerade wie Chemie
zur Alchemie, oder wie Astronomie zur wahrsagenden Astrologie.'
Neeb K.'s Verdienste 33: Der Dogmatist „macht mit dem Geheimniss
bekannt, mit der Wünschelruthe des Syllogismus die goldene Wahrheit
aus der tiefsten Verborgenheit zu Tage zu bringen. Der Adept über-
schwänglicher Weisheit schwelgt an dem Zaubertische und füllt sich mit
geträumten Speisen" u. s. w. (ib. 55). In diesem Vergleich liegen auch
ausgedrückt die ganz überspannten und verkehrten Ansprüche, die man von
jeher an die Philosophie gestellt hat, sowie die chimärischen Hoffnungen,
welche deren Vertreter selbst erregten. Ebenderselbe sagt vom Skeptiker:
„ Er beweist dem Schüler, dass er nur Worte mit Luft gefüllt gegessen habe,
dass seine entdeckten Ländereien zusammengetriebene Wolken seien . . .
dass die vermeinte Insel der Erfahrung, die auf einen Felsen gegründet sein
soll, nichts als ein schwimmendes Eis sei, das vor der beleuchtenden Ver-
nunft in Schaum und Wasser zerrinne, dass man nur seine Vernunft brauchen
^ Kr. d. Urth. § 78: Die Vernunft lässt sich verleiten, dichterisch zu
schwärmen, was doch zu verhüten eben ihre vorzüglichste Bestimmung ist.
Kr. d. Urth. § 29 Anm.: Schwärm, ist ein Wahn, über alle Grenzen der Sinnlich-
keit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen)
zu wollen. Der Schwärmerei steht (Anthrop. § 36) die Aufklärung gegenüber.
Ist diese — Gebrauch der Vernunft, so ist jene „die Maxime der Ungültigkeit einer
zu Oberst gesetzgebenden Vernunft." S. in dem Aufsatz: „Was heisst sich i. d.
Orientiren?" K. 137. Als verschwiegenes Vorbild aller Schwärmerei steht für
K. immer Swedenborg da, s. Träume eines Geistersehers. Nach dem Aufsätze:
„üeber einen vornehmen Ton" u. s. w. Einl. ist Piaton der „Vater aller Schwär-
merei in der Philosophie". Vgl. Vorles. über Philos. Relig. 174. 205 u. Kants
Aufsatz von 1790 „Ueber Schwärmerei und die Mittel dagegen."
Allgemeinresultate der Kritik d. r. V. 129
[R 8. 9. H 8. K 16.] AVn.B —
müsse, nm ihr Ansehen zu vernichten, und dass jede Untersuchung aus der
Unwissenheit entspringe, mit der üngewissheit endige." — Im Anschluss an
diese und an einige anderen, theils früheren, theils späteren Stellen, fasst
Hamann in seiner Recension (Reinh. Beitr. 1801 II, 207) die Vorrede Kants
kritisirend so zusammen: „Unter dem neuen Namen Transscendental-
philosophie verwandelt sich die verjährte Metaphysik aus einem zwei-
tausendjährigen «Kampfplatz endloser Streitigkeiten* auf einmal in ein syste-
matisch geordnetes ,Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft^
und schwingt sich auf den Fittigen einer ziemlich abstracten »Genealogie*
und Heraldik zu der monarchischen Würde und olympischen Hoffnung, ,als
die einzige aller Wissenschaften ihre absolute Vollendung und zwar in kurzer
Zeit* zu erleben, ,ohne Zauberkünste* noch magische Talismane, wie der
weise Helvetius sagt (De VHomme II, XIX) ,alles aber aus Principien*, heiliger
als der Religion und majestätischer als der Gesetzgebung ihre". fW. W.
VI, 48).
Blendwerk« So nennt K. die Metaph. häufig, z. B. 60. 68 (sophistisches
Bl.), 168 (Erschleichungen des r. Verstandes und daraus entspringendes Bl.)
295. 298. 384. 395 (von dem dogm. Blendwerk kann nur die Nüchternheit
einer strengen aber gerechten Kritik befreien), 424 (Bl., wonach jeder ver-
geblich hascht), 430. 507. 608 (Blendw. in Schlüssen), 669 (unsere Vernunft
kann unmöglich selbst ursprüngl. Täuschungen u. Blendwerke enthalten),
711 (in der r. V. ein ganzes System von Täusch, u. Blendw. angetroffen),
735. 755 (schädliche Blendw.), 782 (die Vern. unter Erdichtungen und
Blendw. ersäufen), 795 (Ausschweifungen und Blendw.). „Gaukelwerk*'
, leider sehr gangbare Kunst mannigfaltiger metaphysischer Gaukel werke** 63.
Eine psychol. Erörterung hierüber s. Anthrop. § 11. T>\e ^^spectra idearum^
Blendwerke oder besser Hirngespinste finden sich schon in der Nova Dilu-
cidatio 1755 erwähnt (in der Ausf. zu Prop. IX).
Anfj^elSst. Es ist für Kants Methode sehr zu bemerken, dass diese
Auflösung der durch die Vernunft aufgegebenen Fragen selbst wieder
aus der Vernunft, d. h. nach Principien a priori zu geschehen hat. Diese
Fragen „liegen in der Vernunft und müssen daher aufgelöset werden
können** 763. Diese Fragen haben „in der Natur der Vernunft ihren Sitz
und ihre Auflösung** 614. „Die Antwort muss aus denselben Quellen ent-
springen, daraus die Frage entspringt; die Auflösung kann daher gefordert
werden** 476. Eben aus diesem Grunde versichert Kant, die Auflösung aller
Fragen in seiner Kritik gegeben zu haben: denn „keine Frage, welche einen
der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, ist für eben dieselbe
menschliche Vernunft unauflöslich** u. s. w. 477. 695 f. Vgl. übrigens hiezu
Ks. Brief an Lambert vom 2. Sept. 1770, er sei zu dem Begriff gekommen,
1, dadurch alle Art metaph. Quästionen nach ganz sicheren und leichten
Kriterien geprüft, und inwiefern sie auflöslich sind oder nicht, mit Ge-
wissheit kann entschieden werden**.
Sehlllgsel. Vgl. 4. Brief an Herz v. 21. F^br. 1772: ich bemerkte Etwas,
VAihittger^ Kaat-Commentar. 9
130 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
AVn.B— [R 8. 9. H 8. K 16.]
„welches in der That den Schlüssel zu dem ganzen Geheimnisse der his
dahin sich selbst noch verborgenen Metaphysik ausmacht.^ „Ich sehe mich
in dem Besitz eines Lehrbegriffes, der das bisherige Räthsel völlig auf-
schliesst/ 5. Brief an Herz (von 1773). Cfr. Prol. K. 144 (Or. 210).
üeberschrift des 6. Abschnitts der Antinomie: „Der transsc. Idealismus
als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik." 490. 480.
Vgl. Portschr. d. Met. Ros. I, 567. — Da hier K. die Leistungen der Kr. auf-
zählt, so ist hier der Ort, einige interessante AUgemeinurtheile über Kants
Kritik zu erwähnen: Feder (Gott. Gel. Anz. Zug. 1782. 8. St.) sagt von der
Kritik, sie sei ein Werk, „das den Verstand seiner Leser immer übt, wenn
auch nicht immer unterrichtet, oft die Aufmerksamkeit bis zur Ermüdung
anstrengt, zuweilen ihr durch glückliche Bilder zu Hülfe kommt oder sie
durch unerwartete gemeinnützige Polgerungen belohnt." Seile (Acad. Berl.
1786 — 1787, 581): „Un systhne supMeur u bieti tVautres par la phiStration
quHl annonce et par la liaison qui rhgne entre toutes ses parties; un chef
d'oeuvre de Vart, qui, comme les pyramides d'^gypte, sera danstousles
süclea Vohjet de l'admiration ghtSrale, mala qui comme eües amhiera toujount
la question, pourquoi et pour quel effet ceite grande dSpense de forces extra-
ordinairea?^ ^ Pistorius, der Gegner Kants, (A. D. B. 66, 92), nennt die
Kr. d. r. V. „das wichtigste Buch, das seit Aristoteles Zeiten über die Meta-
physik geschrieben ist." Der Anhänger Kants, Jakob, sagt in der Vor-
rede zu seiner Prüfung der Mendelssohn *schen Morgenstunden, in deren V^or-
rede Kant der „AUes-Zermalmende" genannt worden war, S. XXIV.: „Die
einzige Kritik wiegt alles auf, was seit Plato und Aristoteles in
der Metaphysik geschrieben ist.* Dies in Bezug auf die Vergangenheit.
In Bezug auf die Zukunft sagt Schütz A. L. Z. 1785, III, 42, die Kr.
d. r. V. enthalte alle künftigen Lehrbücher der Metaphysik virtualiter
in sich. „Die Schriften Ks. sind doch einmal der Kodex, den man nie in
philos. Angelegenheiten, so wenig als das corpus juris in juristischen aus
der Hand legen darf,* sagt W. v. Humboldt, Ansichten über Aesth. u. Liter.
Herausgeg. v. P. Jonas, Berlin 1880. S. 2.*
' Eine, allerdings sehr einseitige Antwort hierauf gibt Clai;dius^ der über
Ks. Philosophie folgendermassen urtheilt: „Sie ist einer Maschine gleich, die
aus gräulich viel Hebeln, Rollen, Stricken und Winden zusammengesetzt wäre,
und deren Effect ist, — einen Kork aus einer Bouteille zu ziehen."
' Es ist unparteiisch , mit diesem Lobe auch andere Stimmen zusammenzu-
halten; so sagt z. B. Scliwab, Preisschr. 144: „Wir sind in dieser neuen Periode
in der Metaphysik nicht weiter gekommen, ob wir wohl einen berühmten Me-
taphysiker weiter haben." Ib. 117. „K. wolle die ünerweislichkeit der
bisherigen Metaphysik durch eine — un erweisliche Theorie vordemonstriren.**
Aehnlich Nicolai in der Vorr. zu Schwabs neun Gesprächen (S. 16): „Es dürfte
ungeachtet des inneren Scharfsinnes und der vielen neuen und zum Theil sehr
sinnreichen Ideen der kritischen Philos., wodurch der menschliche (reist eine Zeit-
lang beinahe unwiderstehlich zu derselben gezogen wird, dennoch der Gewinn
i
Allgemeinurtheile über die Kritik d. r. V. 131
[R 9. H 8. K 17.] AVn.Vm.B
leh glaube, indem ich u. s. w. Vgl. 476: Alle Aufgaben auflösen
und alle Fragen beantworten zu wollen, würde eine unverschämte Gross-
sprecherei und ein so ausschweifender Eigendünkel sein, dass man dadurch
sich sofort um alles Zutrauen bringen müsste/ Gleichwohl gibt es, ft.hrt
K. fort, 3 Wissenschaften, in denen dies möglich ist und das ist eben bei der
Transscendentalphilosophie aus den oben angegebenen Gründen der Fall.
Die Behauptung (der vollbrachten Leistung) ist desshalb nur dem ersten
Anscheine nach kühn*^ 695.
DftriB etwa die einfache Natur der Seele u. s. w. Kant hat hier offen-
bar J. H. G. Feder s im Jahre 1765 erschienenes Programm: De simplici
animae natura im Auge (vgl. Feder, Leben S. 58). Ob Feders Empfind-
lichkeit nicht durch diesen Stich gereizt und zur stacheligen Zurichtung jener
famosen Becension der Kr. d. r. V. in den Göttinger Gel. Anz. vom 19. Jan.
1782 (Zugabe I. Band 3. St.) animirt worden ist?
Die gemeine Logik. Die Logik, da sie nach Kant nur die formalen
Regeln alles Denkens zu geben hat, und da diese Regeln in uns selbst ge-
funden, somit aus der Vernunft selbst geschöpft werden müssen, ist das
Beispiel einer geschlossenen und vollendeten Wissenschaft. Vgl. vorläufig
Vorr. B. Vin. XXHI. Krit. 51 ff. 70 ff. Die einfachen Handlungen oder
logischen Functionen lassen sich vollständig und systematisch auf-
zählen, vgl. ib. 66 ff. Die Logik ist für die Kritik der r. V. insofern ein
Vorbild, als auch letztere, wie erstere, aus der Vernunft selbst zu schöpfen
hat und so systematische Vollständigkeit der reinen Vemunfthandlungen
gewinnen kann. Vgl. Log. Einl. II.
Hier, d. h. in der Kritik der reinen Vernunft; denn in ihr handelt es
sich um Entscheidung der Frage, ob das reine Denken auch über den Üm-
tang der Erfahrung hinaus, „ohne allen Stoff und Beistand der Erfahrung^
Erkenntniss schaffen könne, was ich mit der Vernunft (darauf bezieht sich
.derselhen* in entfernter Linie) ausrichten kann unter jener Voraussetzung.
Die Auslegung der Stelle, derart, dass die Frage lautet, wie weit die Ver-
nunft als apriorisches Vermögen überhaupt gelangen könne, ist durch Zu-
von objectlver Wahrheit aus ihr nur sehr gering sein." [üeberhaupt bilden
die verschiedenen Beantwortungen der bekannten Frage der Academie: „Welche
FortBcluitte hat die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland
gemacht?'' (1792) interessante Commentare zu der Kau tischen Vorrede, besonders
zu der zweiten. Die Beantwortung von Schwab war feindlich (vgl. auch dessen
Schrift über die Wahrheit der Kantischen Philos. 72 ff.), diejenige von Reinhold
zustimmend, diejenige von Abi cht mehr neutral. Maimons Schriftchen über die
Prqgressen der Philos. ist ebenfalls höchst interessant. Grössere Bedeutung hat
natürlich Kants eigene Schrift über diesen Gegenstand, welche erst im Jahre 1804
als Fragment erschienen ist. Hülsens seltsame Schrift über dasselbe Thema ver-
dient keineswegs das ihr von Rosenkranz (421 ff.) gespendete Lob ; nicht so werth-
loe, wie derselbe sie hinstellt, ist die Schrift von Jenisch darüber. Sehr werth-
ToU ist das v. Eberstein'sche zweibändige Werk über denselben Gegenstand.]
132 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A Vin.IX.B— [R 9. 10. H 9. K 17.]
sammenhang und Vergleich mit dem Früheren ausgeschlossen ; es wird nicht
gefragt, was die Vernunft in ihrem Gebrauche als rationales Vermögen,
d. h. ohne aus der Erfahrung zu schöpfen, ohne Erfahrung, leiste,
sondern ob dies rationale Vermögen über die Erfahrung hinausreiche. Es
wird also auch hier die Dialektik in den Vordergrund gerückt, lieber den
hier spielenden Doppelsinn von „rein" und „Vernunft" s. später.
Nieht ein beliebigrer Torsatz. K weist hier seine Untersuchung als ein
nothwendig durch die Natur der Sache gefordertes Unternehmen nach,
das nicht einem zufälligen Einfall seine Entstehung verdankt, sondern
aus dem Zustand der Dinge mit naturgemässer Nothwendigkeit folgt. Vgl.
das Motto der II. Aufl. aus Bacon: petimus, ut homines rem non opinionem,
sed opus esse cogitent u. s. w.
Eine Hypothese u. s. w. Die weitere Ausführung dieses Gedankens'
s. in der Methodenlehre 781 : „Was reine Vernunft assertorisch raittheilt,
muss (wie alles, was Vernunft erkennt) nothwendig sein oder es ist gar nichts.
Demnach enthält sie in der That gar keine Meinungen.** Vgl. Vorr. B. XXIII
Anm. „nicht hypothetisch, sondern apodiktisch beweisen." Vgl. Krit
823 (in dem Abschnitte von Meinen, Wissen und Glauben): „In Urtheilen
aus reiner Vernunft ist es gar nicht erlaubt, zu meinen. Denn weil sie
nicht auf Erfahrungsgründe gestützt werden, sondern alles a priori erkannt
werden soll, wo alles nothwendig ist, so erfordert das Princip der Verknüpfung
. . . völlige Gewissheit.** Vgl. 775 wo der von aller Erfahrung abge-
sonderten Vernunft entweder „Enthaltung von allem Urtheil oder apodiktische
Gewissheit" auferlegt wird. Vgl. Prol. Or. 200 „Metaphysik muss Wissen-
schaft sein, nicht allein im Ganzen, sondern auch in allen ihren Theilen,
sonst ist sie gar nichts." Nicht bloss Vermuthung (wie bei Hume,
s. ob. S. 35. 55), sondern völlige Gewissheit muss durch die Kritik erreicht
werden. 761 f. 789: „In Sachen der r. V. muss apodiktisch bewiesen
werden." „Wenn es um Urtheile a priori zu thun ist, kann man es nicht
auf schale Wahrscheinlichkeit aussetzen;" „die Behauptung der speculativen
Philosophie muss Wissenschaft sein, oder sie ist überall gar nichts.*"
Prol. § 5. „Das Spielwerk von Wahrscheinl. und Muthmassung steht der
Metaph. ebenso schlecht an als der Geometrie," Prol. Or. 196 und daselbst
weiter: „Es kann nichts Ungereimteres gefunden werden, als in einer Meta-
physik, einer Philosophie aus reiner Vernunft, seine Urtheile auf Wahr-
scheinlichkeit und Muthmassung gründen zu wollen. Alles, was a priori
erkannt werden soll, wird eben dadurch für apodiktisch gewiss ausgegeben,
und muss also auch so bewiesen werden. Man könnte ebenso gut eine
Geometrie oder Arithmetik auf Muthmassungen gründen wollen.* Kr. d. Ürth.
§ 90: „Meinen findet in Urth. a priori gar nicht statt; sondern man er-
' üeber die Hypothesen vgl. 770 ff. Es sind Erklärungen von etwas
Wirklichem durch etwas Anderes, dessen Wirklichkeit nicht erweislich oder nicht
erwiesen ist. Kr. d. pr. Vern. 227. Kr. d. Urth. § 90. 91.
„Hypotheses non fingo,^ Alles oder Nichte. 133
[R 10. H 9. K 17.] A IX. B
kennt dui'ch sie entweder etwas als ganz gewiss, oder gar nichts";
ib. §91: ,a priori zu meinen, ist schon an sich ungereimt und der gerade
Weg zu lauter Hirngespinsten. Entweder unser Satz a priori ist gewiss
oder er enthält gar nichts zum Fürwahrhalten \" Ganz in diesem Sinne
lautet einer der ersten Sätze der Schrift von Reinhold „lieber das Fundament
des philos. Wissens*: „Meine Philosophie weiss nicht vieles, aber sie meynt
gar nichts.* Vgl. Reinhold „üeber die Möglichkeit der Philosophie
als strenge Wissenschaft" Beitr. zu Bericht. I., 339 ff. (cfr. ib. 93 ff.,
273 ff., 375 ff.), worin die Noth wendigkeit eines ersten, allgemeingültigen
und noth wendigen Ornndsatses als Bedingung jener Wissenschaftlichkeit
aufgestellt wird, eine Bestimmung, welche sich bei K. noch nicht findet, bei
seinen Nachfolgern aber eine theilweise verhängnissvolle Rolle spielte. Vgl.
Theorie der Vorstell. 71 ff. — Die schroffe Disjunction: Entweder ganz
ffewissoder gar nicht fand bei den idealistischen Nachfolgern begeisterten
Anklang. Schelling: Vom Ich u. s. w. Vorr.: Die Speculation eines grossen
Denkers „nimmt den freiesten, kühnsten Flug, setzt alles aufs Spiel und will
entweder die ganze Wahrheit in ihrer ganzen Grösse oder gar keine
Wahrheit*. Apelt, Metaph. Vor. Vll: Met. ist entw. eine reine Vernunft-
wissenschaffe oder sie ist ein nichtiges Phantom *. Im Sinne Kants fuhrt
daher Jen i seh Entd. 259 aus, dass Kants Kritik skeptische Resultate
dogmatisch-apodiktisch gebe'. Vgl. Logik, Einl. IX u. X mehrfach.
Die Einwände gegen die hier verlangte und behauptete Unfehlbarkeit (so
nennt es Reinhard System der Moral I, Vorr. 21) s. an den oben ange-
* Wie schon in der vorliegenden Textstelle, so wird auch in den obigen
Citaten von K. die Apodicticität der formal-methodischen Feststellnng des Apriori-
schen nnd die Apodicticität des Apriorischen selbst nicht genügend unterschieden.
In der Analytik verschwimmt beides in einander.
' Laas, Ideal. 124: „Wir sehen . . . den platonischen Charakterzug
überall da, wo ,kategorische^, all e Relativität und Bedingtheit abstreifende Impera-
tive und absolute Ideale, ohne irgendwie Compromisse zuzulassen, ohne Nachsicht
rmd Racksicht, ohne Zuwarten und Bedacht auf sofortige und ganze Erfüllung
drängen; überall da, wo „Alles oder Nichts" die Maxime und Parole ist."
Wa« Laas hier zunächst von der praktischen Philosophie sagt, gilt selbstredend
auch für die theoretische. Mi 11, ExanUnation 209 f. Anm. *In my estimation the
doctrine of *all or none€ is no more an necessity in philosophy than in polüies.^
(Gegen M'Cosh.) Dieser Gegensatz von Meinen und Wissen ist ganz speciell Pla-
tonisch, denn durch Piatons ganze Philos. geht der wichtige Gegensatz von 865«
und es'.aTYjp.ir| hindurch. Vgl. Herbart, W. W. XII, 302 (über Aenesidem-
Srhulze im Verhältniss zu Kant).
• Jenisch führt jedoch a. a. 0. 169—179 aus, dass trotzdem Ks. Philosophie
eine Hypothese sei; von den „unerweislichen Hypothesen" des Dogmatismus
nnterscheide sich jedoch der Eriticismus als eine „demonstrirte Hypothese".
— üeber Ks. Verhältniss in dieser Beziehung zu Condillac s. Willm, Phü.
^tt. I, 85: auch dieser ^rejette touUs les hypoth^es*, aber als Positivist.
134 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A IX. B — [R 10. H 9. K 17. 18.]
führten Stellen. — lieber „Alles oder Nichts" in quantitativer Hinsicht
s. unten. —
Denn das kündigt eine jede Erkenntniss u. s. w. Vgl. ProL § 5: „Denn
was dem Vorgeben nach a priori erkannt wird, wird eben dadurch als
nothwendig angekündigt.'^
Fell stehen darf« Dieselbe Wendung schon im Briefe an Mendelssohn
V. 8f April 1766: „Was den Vorrath von Wissen betrifft;, der in der Meta-
physik öffentlich feil steht, so ist es . . . die Wirkung einer langen
Untersuchung, dass ich in Ansehung desselben nichts rathsamer finde, als
ihm das dogmatische Kleid abzuziehen" u. s. w. Ebenso 764 in der Preis-
schrift, 2. Betr. Schluss: Wenn die Philosophen den natürlichen Weg der
gesunden Vernunft einschlagen, u. s. w. so „werden sie vielleicht nicht so
viel Einsichten feil zu bieten haben, aber diejenigen, die sie darlegen,
werden von einem sicheren Werthe sein". Aehnlich 1790 gegen Eberhard
(R. I., 440) dass Eberhard „Armseligkeiten dem Leser für bedeutende Dinge
verkaufe". Nach demselben Bilde nennt er die dogmatischen Systeme
einmal unerlaubte Contrebande. Das Bild der „Waare" schon in der
Naturgesch. d. Himm. (Vorr.) in demselben Sinne. Erkl. über Hippel (R. XI,
a, 205), „Was in Vorlesungen als öffentlich zu Kauf gestellte Waare feil
steht, kann von einem Jeden benutzt werden."
A priori, lieber diesen hier in der Kritik zum erstenmal gebrauchten
Ausdruck s. zu Einl. B S. 2. Der Sinn ist bekanntlich „unabhängig von £r-
fahiTing".
Eine Bestimninng aller Erkenntnisse a priori« D. h. eben die Fest-
stellung der in der Vernunft selbst als solcher liegenden Erkenntnisse, ihres
Umfangs, ihres Werthes und ihrer Tragweite. Diese Bestimmung will die
Kritik geben. Aber diese Bestimmung selbst muss auch apodiktisch
sein und das kann sie nur, wenn sie „nach Principien" gemacht ist. Die von
Kant befolgte Methode wird hier wieder scharf betont und diese, wie die
obigen Stellen werden zur Entscheidung der wichtigen und vielbehandelten
Frage „über die Auffindung des A priori" dienen, d. h. über die Methode,
welche Kant selbst bei der Feststellung, Bestimmung aller Erkenntnisse a
priori befolgt hat oder wenigstens befolgen wollte. Die hier verlangte ajK)-
diktische Natur seiner Resultate nimmt K. sogleich in der Aesthetik in An-
spruch wo es S. 46 als „eine wichtige Angelegenheit* derselben bezeichnet
wird, „dass sie nicht bloss als scheinbare Hypothese einige Gunst erwerbe,
sondern so gewiss und unge zwei feit sei, als jemals" u. s. w. 755 „Grenz-
bestimmung unserer Vernunft nur nach Gründen a priori". 767 ff. Dass
mit dieser Stelle die Controverse über die Methode Kants entschieden sei,
bemerkt schon Berg, Epikritik Vorr. XVI. Dass die Grenzbestimmung
a priori festgesetzt werden soll, findet Aenesidem 404 ff. in Widerspruch
mit der Thatsache, dass K. faktisch doch nur sich auf die wahrgenommene
Eigenschaft an einem empirischen Gegenstande (nämlich dem menschlichen
Gemüth) stützt. VgL ib. 57. 401 ff. Die ganze apriorisch-synthetische Me-
Apriorische Auffindnng des Apriori. 135
[R 10. H 9. E 18.] A1X.B
thode der Kritik unterwarf Nicolai einer scharfen Kritik in der lesens-
werthen Abhandlung über den logischen Regressus (Philos. Abh. I, 197 fl'.
bes. 218 ff., so wie er ib. I, 147 ff. auch Kants abstracte Methode tadelt).
Ausser Pries hat besonders Beneke diese Meth. angegriffen, vgl. dessen
Metaph. S. 12 ff. 21. 26 f. 34. 133 ff. 367 f. Eine ganz falsche Bemerkung
findet sich bei Lange, Mat. II, 125, wonach diese Forderung apodiktischer
Gewissheit sich nur auf „die allgemeine Deduction von Kategorien über-
haupt als einer Voraussetzung aller Erfahrung" beziehe. Eine einfache
Leetüre des Textes zeigt die Flüchtigkeit und Irrthümlichkeit dieser Inter-
pretation. Ebenso verfehlt ist die Herbeiziehung der obigen Stelle, womach
die Logik ein Vorbild vollständiger Aufzählung der Vernunfthandlungen ist ;
darnach handle es sich auch hier nach L. um Vollständigkeit, nicht um
Gewissheit. Diese Auslegung beruht auf einer auffallenden Nachlässigkeit.
Was Lange endlich über Prol. Or. 196 sagt, ist ebensowenig stichhaltig. Viel
richtiger ist die Bemerkung, dass K. über die method. Grundlagen seines
grossen Unternehmens wohl nicht ganz im Klaren gewesen sein könne
(cfr. ib. 29). Wenn aber L. hinzufügt, K. habe eben die im Jahre 1763
ausgesprochenen Ansichten (in der Schrift über die Evidenz) nicht genügend
überwunden gehabt, so vergisst L., dass K. daselbst von einer Forderung
apodiktischer Feststellung apriorischer Erkenntniss in dem Sinne von 1781
gar nicbt spricht. Dass aber jene Forderung eine Nachwirkung der „metaph.
Schule* gewesen sei, ist richtig (a. a. 0. II, 29). Selbst aus der Kr. der
ürtheüskraft werden (nach § 21 u. ö.) psychologische Beobachtungen
ausgeschlossen, nur die transscendental-apriorische Methode soll auch dort
angewendet werden. Ibid. Einl. V wird der psycholog. Weg, der nur em-
pirische Principien enthält, entschieden verworfen. Es bedarf einer apriori-
schen Deduction aus Begriffen ib. Voit. IX. Dag. Anthrop. § 4, es sei
für Logik u. Metaphysik nöthig und nützlich, die verschiedenen Akte der
Vorstellungskraft in mir zu beobachten. Vgl. hierüber die treffenden Be-
merkungen von Windelband Gesch. d. n. Ptil. II, 52 ff. Diese Frage
stösst im Verlaufe noch mehrfach auf. Vgl. zu dieser Stelle Erdmann, Ks.
Kriticism. 13: Die Grenzbestimmung kann a priori sein, »denn die Ab-
straction der a priori erworbenen Formen unseres Gemüths aus der empiri-
schen Erkenntniss, die Definition dieser Formen und ihre Verbindung sind
selbst lauter apriorische Handlungen, obgleich die Erfahrung (zeitlich) vor
ihnen vorhergeht. Man abstrahirt jene Formen nicht von der Erfahrung,
sondern man abstrahirt im Gebrauch derselben, die a priori gegeben sind
von allem Empirischen, das damnter enthalten sein mag." (Kant, W. W.
Res. I, 312. I, 416.) Dass und in welchem Sinne diese apriorische Erkennt-
niss des Apriorischen eine transscendentale genannt wird (S. 56 f.) , wird
a. a. 0. besprochen K
* Ganz anders hatte sich K. freilich in seiner (*mp iristischen Periode über
die Methode geäussert, durch welche man die Grundlagen der Metaphysik legen
1 36 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A IX-XI.B— [R 10. 11. H 9. 10. K 18. 19.]
Bas BichtmasB« Ein beliebtes Bild Kants. „In diesem Lande (Meta-
physik) ist noch kein sicheres Mass und Gewicht vorhanden, um Gründ-
lichkeit von seichtem Geschwätze zu unterscheiden.** Prol. Vorr. Or. 5.
Ib. 221. „Durch Kritik wird unserem ürtheil der Massstab zugetheilt, wo-
durch Wissen von Schein wissen mit Sicherheit unterschieden werden kann.'
Ib. 212: „Andere Wissenschaften und Kenntnisse haben doch ihren Mass-
stab. Mathematik hat ihren in sich selbst, Geschichte und Theologie
in weltlichen oder heiligen Büchern, Naturwissenschaft und Arznei-
kunst in Mathematik und Erfahrung, Rechtsgelehrsamkeit in Gesetz-
buch era, und sogar Sachen des Geschmacks in Mustern der Alten. Allein
zu Beurtheilung des Dinges, das Metaphysik heisst, soll erst der Massstab
gefunden werden (ich habe einen Versuch gemacht, ihn sowohl, als seinen
Gebrauch zu bestimmen)." Aehnlich schon im Briefe an Lambert (31. Dec.
1779): Die zerstörende Uneinigkeit der Philosophen sei die Folge des Mangels
eines gemeinen Richtmasses. Ebenso an Mendelssohn (8. April 1766),
wo K. den Glauben ausspricht „zu wichtigen Einsichten in dieser Disciplin
gelangt zu sein, welche ihr Verfahren festsetzen, und nicht bloss in allge-
meinen Ansichten bestehen, sondern in der Anwendung als das eigentliche
Richtmass brauchbar sind", und genau ebenso in der Ankündigung zu
. seinen Vorlesungen 1765: in anderen Wissenschaften ist ein gemeinschafbl.
Massstab da, in der Philos. hat jeder seinen eigenen; er glaubt „das
Richtmass des Urtheils" entdeckt zu haben. Die ^ Ideen lassen kein an-
deres, als transscendentales Richtmass zu." Kr. 640. „In transscendentaler
Erkenntniss ist die Richtschnur die mögliche Erfahi-ung". 783, 844: „die
Phil, hatte bis jetzt keine sichere Richtschnur."
Damit aber nicht etwas u. s. w. Die ganze folgende Stelle gehört
zur „Deduction der Kategorien" und kann natürlich erst dort zur Besprechung
kommen.
Deutlichkeit 9 discursive und intuitive. Diese methodologischen Erfor-
dernisse und Begriffe werden in der Logik, Einleitung V, ausführlich er-
örtert, wo der Unterschied intuitiver und discursiver Erkenntniss überhaupt
besprochen wird. „Es bleibt zwischen der ästhetischen und logischen Voll-
kommenheit unseres Erkenntnisses immer eine Art Widerstreit . . . der
Verstand will belehrt, die Sinnlichkeit belebt sein; der Erste begehrt
Einsicht, der Zweite Fasslichkeit.* Der Vorliebe für das Concrete bei
müsse. Er sagt in der Vorr. zu der Preisschrift von 1764: „Welche Lehrart
wird diese Abhandlung selber haben sollen^ in welcher der Metaphysik ihr wahrer
Grad der Gewissheit, sammt dem Wege, anf welchem man dazu gelangt, soll ge-
wiesen werden? Ist dieser Vortrag wieder Metaphysik, so ist das Ür-
theil desselben eben so unsicher als die Wissenschaft bis dahin ge-
wesen ist, welche dadurch hofft, einigen Bestand und Festigkeit zu
bekommen und es ist Alles verloren. Ich werde daher sichere Erfahrungs-
sätze . . . den ganzen Inhalt meiner Abhandlung sein lassen.''
Discnrsive, nicht intuitive Deutlichkeit. 137
[R 11. H 10. K 19.] AXI.Xn.B
der Letzteren steht der Vortrag in abstracto bei der Ersteren gegenüber,
Logik Eänl. 11. , Beispiele in concreto machen den Vortrag fasslich" (an
Schutz 13. Sept. 1785). Vorl. üb. Philos. Relig. S. 19 f. (Popularität durch
fassliche Beispiele.) Die Vollkommenheit der Qualität nach betrachtet, ist
Deutlichkeit. Die Deutlichkeit ist entweder eine sinnliche oder eine
begriffliche, üeber den Ausdruck „ästhetisch" s. unten. Weitere Aus-
einandersetzungen hierüber bes. Logik, Einl. VIII. Meilin I, 85: „Die
Deutl. ist ästh. durch Beispiele und Gleichnisse hervorgebracht, welche die
abgezogenen Vorstellungen und ürtheile anschauend machen; sie ist der
logischen entgegengesetzt, welche durch Entwickelung der Begriffe entsteht.**
Eine Theorie der Beispiele und der Versinnlichung abstracter Begriffe
überhaupt gibt K. in der Kr it. der ästh. ürtheilskr. § 59. , Bilder u. Beispiele
nothw. zur Popul.", Garve, Verm. Aufs. I, 339. Krit. 133 über den Nutzen
der Beispiele: „ sie schärfen die ürtheilskr aft". Logik, Einl. VIII: Logische
Deutlichkeit — objective, ästhetische — subjective Klarheit der Merkmale.
Jene ist eine Klarheit durch Begriffe, diese eine Klarheit durch Anschau-
ung* Objective Deutlichkeit verursacht oft subjective Dunkelheit und um-
gekehrt. Aesthetische Deutlichkeit, durch Beispiele und Gleichnisse, ist oft
der logischen schädlich u. s. w. * Aehnliche Bestimmungen schon bei den
Wolfianern z. B. Baumeister, Inst. phü. rat § 38 ff. de stylo philosophico:
„Manifestum est, omnem ornatum , qui sermonis perspicuitati officit, ex stylo
phüos. esse proscribendum,'^ Die ästhetische Deutlichkeit schildert Cousin 23
als ffVart de faire passer le lecteiir du connu ä Vinconnu , du plus fädle au
difficHe, art sirare, surtoui en Ällemagne^, Von der log. D. bei K. sagt er:
r,Prenez la table des matihres; comme lä il ne peut itre question que d^ Vordre
logique de Venchainement de toutes les parties de Vouvrage, rien de mieux licy
de plus precis, de plus lumineux, Mais prenez chaque chapitre, en lui-meme,
ici totä change , cet ordre en petit que doit renfermer un chapitre, n'y est
poifU; chaque idie est toujours exprimee avec la dernih'e prScision, mais eile
n'est pas toujours ä la place oü eile devrait etre pour entrer aisSment datts
resprit du lecteur '.^ In seinen öffentlichen , academischen Vorträgen war
K. viel populärer als in seinen Schriften; „die edle Popularität in seinen
Vorlesungen übertrifft in vielen Punkten den stilistischen Charakter in seinen
Schriften* Pölitz, Von*, zu Ks. philos. Relig. VI., zur Metaph. XII.
Hiebt go streogpe^ aber doeb billige Forderung« Log. Einleitung V.:
,Die logische Vollkommenheit ist die Basis aller übrigen Vollkommenheiten
' Schiller an Körner Briefw. II, 10: Ausdrücke, die mehr ästhetisch-
als logisch-deutlich sind, sind gefährlich. UeVjer ästh. Deutl. vgl. Baum-
garten, Aesth. II, § 614. — Vgl. hiezu Windelband, Viert f. wiss. Philos.
I. 231 Anm.
■ Einen ähnlichen, eher berechtigten Vorwurf erhebt Barni im Avant Prop.
seiner Uebers. VII: Les phrases sont embarrassees ou mal liies: die Kritik entbehre
nicht selten der logischen Klarheit.
188 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A XII. B - [R 11. 12. H 10. K 19.]
und darf daher keiner anderen gänzlich nachstehen oder aufgeopfert werden/
,Da es das Bedürfniss der menschlichen Natur und der Zweck der Popu-
larität des Erkenntnisses erfordert, dass wir beide Vollkommenheiten mit
einander zu vereinigen suchen, so müssen wir uns auch angelegen sein
lassen, denjenigen Erkenntnissen, die überhaupt einer ästhetischen Voll-
kommenheit fähig sind, dieselbe zu verschaffen und eine schulgerechte
logisch vollkommene Erkenntniss durch die ästhetische Form populär zu
machen". Eine ganz ähnliche Erklärung gibt Leibniz im Avant-Propos
zu den Nouveaux Essais ab: „(Locke) est plus populaire et mois je suis
forcS quelquefois d'etre unpeu plus acro^amatique et plus abstraü/' Durch
den Dialog will er des remarques toutes shches verhüten. (Erdm. 194 a).
(Kant unten : trockener Vortrag.) Schon 1 763 , Demonstr. Gottes 1,1,3
wies K. die Klage über Trockenheit stolz zurück, indem er sie anerkennt.
„Akroamatisch" ist bei Kant Gegensatz zu intuitiv (anschaulich) s. zu 734.
Kants häufige Erörterungen über den Unterschied der beiden Schreibarten
erinnern stark an die Bemerkungen von Leibniz über diesen Unterschied,
den er mit dem der Alten von exoterischer und esoterischer Schreib-
weise identificirt. S. Erdm. 290 a und besonders die weitläufigen Auslassungen
in der Abhandlung: De stilo philosophieo Nizolii (1670) Erdm. 54 a sq. VIII.
X. XL XII. XV. XVI. Wie Kant setzt er das Wesen des exoterischen, po-
pulären Vortrages auch in die iUustratio durch exempla; tele dicendi gepius
ist jedoch non rigorosissimum, non exactissimum. Wie Kant an Mendelssohn
(s. unt.) schreibt, so darf auch nach Leibniz die Popularität nicht so weit
gehen, dass der „cursus definitionum, divisionum et demonstrationum etc.
interrumpitur'^. Der certitudo geschieht freilich dui'ch eine solche claritas
Abbruch; cfr. ib. 122 ff.
Im ersten Entwürfe. Diese Andeutungen über den „ersten Entwurf*
und den „Fortgang der Arbeit* sind zu unbestimmt, als dass aus denselben
über Kants Arbeitsmethode ein befriedigender Schluss gezogen werden könnte.
Nur so viel lässt sich vielleicht feststellen, dass Stellen, in denen „Beispiele
und Erläuterungen" sich finden, dem „ersten Entwürfe" angehören. Man
vgl. vorläufig«. 170. 291. 554 f. 645. Vgl. Brief an Herz vom 20. Aug. 1777
über die eben damals, also wohl „im ei*sten Entwurf" angestrebte Deutlichkeit
der Darstellung. Ueber die Art der Ausarbeitung gibt Kant im Briefe
vom 18. Aug. 1783 (an Mendelssohn) folgende Schilderung: Das Produkt
des Nachdenkens von einem Zeitraum von wenigstens zwölf Jahren hatt^
ich innerhalb etwa 4 bis 5 Monaten „gleichsam im Fluge, zwar mit der
grössten Aufmerksamkeit auf den Inhalt, aber mit weniger Fleiss auf den
Vortrag und Beförderung der leichten Einsicht für den Leser zu Stande
gebracht, eine Entschliessung die mir auch jetzt noch nicht leid thut, weil
ohnedies und bei längerem Aufschübe, um Popularität hineinzubringen, das
Werk vermuthlich ganz unterblieben wäre". Da Kant mit Härtung (Reicke,
Kantiana S. 21. Anm. 38), Kanter und Hartknoch (Hamann W\ W. VT,
160. 161) Ende September 1780 in Verhandlungen stand (Hartknoch hatte
ZwölQährige Arbeit an der Kritik d. r. V. 189
[R 12. H 10. K 19.] A Xn. B-
sich, wohl auf Hamans Betreiben, selbst gemeldet), da Kant in diese Verhand-
lungen wohl nicht vor Vollendung der Arbeit getreten sein wird (vgl. Erd-
mann, Kritic. 83), da Kant nach Hamann W. VI, 145 Ende Juni noch an
seiner Arbeit ist — so folgt aus diesen Daten, zusammen mit jenem Selbst-
zeugniss von Kant, dass die Niederschrift der Kritik im Sommer 1780,
etwa im April bis August oder Anfang September, stattfand. Dafür, dass
Kant um diese Zeit mit dem Manuscript fertig war, spricht auch die Art
der Behandlung der Religionstheorie Hume's (in der Methodenlehre), die er
erst Anfang September genauer kennen lernt (nach Beendigung des Manuscripts).
(Erdmann, Prol. VI). Indessen hatte K. das Manuscript noch lange im
Hause, denn erst Anfang December (Hamann VI, 171) scheinen die Ver-
handlungen mit Hartknoch zum Abschluss gediehen zu sein. Ob nun dieses
.Zustandebringen'*, wie K. sich ausdrückt, nach Windelband (V. f. w.
Phil. I, 227 ff.) theilweise eine mit üeberarbeitung verbundene blosse
•Zusammenstellung fiüher entstandener Manuscripte" oder nach Erd-
mann (Krit. 84) eine, wenn auch fast durchaus frühere Materialien
benützende, so doch ganz neue Niederschrift gewesen sei, das ist eine
an sich unwichtige Frage, die aber bis zu einer gewissen Sicherheit beant-
wortet werden kann aus der inneren Beschaffenheit des Textes; als
Schlussfolgerung aus dieser erhält dann auch jene Frage ihre Wichtigkeit.
Diese Frage lässt sich daher auch erst im Laufe und am Ende des Com-
mentars beantworten. Die äusseren Gründe, welche Erdmann Krit. 84
gegen Wind, geltend macht, sind jedenfalls nicht genügend. — Was endlich
jene Bemerkung Kants betrifft, es handle sich um das Produkt des Nach-
denkens von mindestens 12 Jahren, so erhellt aus einer anderen Briefstelle,
dass Kant damit nicht bloss eine runde Zahl angibt. Am 2. Sept. 1770
schreibt er an Lambert: Seit etwa einem Jahr bin ich ... zu demjenigen
Begriffe gekommen, welchen ich nicht besorge jemals ändern, wohl aber
erweitern zu dürfen u. s. w. Wenn somit Kant 12 Jahre Nachdenken an-
setzt, wenn das Werk im Sommer 1780 fertig wurde und daher die
Jahre 1769—1780 als diese 12 Jahre zu gelten haben (nach Erdmann 84
soll Kants Angabe nicht ganz streng richtig sein: „er rechnete' vermuthlich
kurz von 1769 Ende bis 1781". Das sind aber 13 Jahre) — so setzt er im
Briefe an Mend. als Anfangspunkt des Nachdenkens genau denselben Zeit-
punkt, den er im Briefe an Lambert als denjenigen bezeichnet, in dem er
zu einer definitiven principiellen Ansicht gekommen. Der Zusatz „wenigstens''
erhält femer seine Erklärung durch folgende Daten: Schon 1765 entwickelt
er in dem Briefe an Lambert vom 31. Dec. genau das Thema, mit dem
sich auch die Kritik beschäftigt, und im Briefe vom 16. Nov. 1781 an Ber-
noulli erkennt er ausdrücklich die Continuität des Nachdenkens über dieses
Thema (von 1765 ab) an. Und auch dort spricht er „von verschiedenen
Jahren, während der er seine philosophischen Erwägungen auf alle erdenk-
lichen Seiten gekehrt hat", so dass jenes ^wenigstens" seine volle Berechtigung
erhält und statt 12 wohl 15 Jahre des Nacbdeukens angegeben sein dürften.
140 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A Xn. B — [R 12. H 10. K 19.]
wovon allerdings gerade 12 auf die Kritik selbst fallen, mit Einschluss der
im Jahre 1770 erschienenen Dissertation, die den Anfang der sog. , kritischen*
Periode Kants und den Vorläufer der Kritik bildet. (Paulsen Entw. 101.)
Auch wenn man die oben S. 47 — 49 dargelegte Modification der landläufigen
Entwicklungstheorie der K. 'sehen Philos. acceptirt , stimmt die K.'sche An-
gabe der 12 Jahre: Kant rechnet von dem Zeitpunkt des erneuten Leibniz-
schen Einflusses an, und fasst den a. a. 0. sogenannten ,Z weiten Ent-
wicklungsprocess" unter dem Ausdruck: , wenigstens 12 Jahre* zu-
sammen. [Vgl. unten den Anhang zu diesem Abschnitt.]
Ich sähe aber u. s. w. Vgl. die Parallelerklärung an Mendelssohn
(Brief vom 18. Aug. 1783): „Ich habe das Werk . . . zwar mit der grössten
Aufmerksamkeit u. s. w. [vgl. die vorige Anm.] . . . denn ich bin schon zu alt.
um ein weitläufiges Werk mit ununterbrochener Anstrengung, Vollständigkeit
und zugleich mit der Feile in der Hand, jedem Theile seine Rundung, Glatt«
und leichte Beweglichkeit zu geben. Es fehlte mir zwar nicht an Mitteln
der Erläuterung jedes schwierigen Punkts, aber ich fühlte in der Ausar-
beitung unaufhörlich die der Deutlichkeit ebensowohl widerstreitende Last
der gedehnten und den Zusammenhang unterbrechenden Weitläufigkeit ; daher
ich von dieser vor der Hand abstand, um sie bei einer künftigen Behand-
lung . . . nachzuholen." Aehnlich sagt K. in der Vorrede zur Nova düuci-
datio 1 755, dass er aller „prolixae anibages*' sich enthalte, nur die „nervös ae
artus argumentorum^^ anstrenge, und alle „venustas sermonis^' wie ein Kleid
ausziehe.
Scholastisch und populär. Ueber diesen Gegensatz spricht Kant sehr
häufig. »Schon am 12. Juni 1755 sprach er bei dem Promotionsact über
den „leichteren und gi'ündlicheren Vortrag der Philosophie" in einer latei-
nischen Rede, die noch Borowski (K. 32) abschriftlich vorlag. Grund-
legung zur Met. d. S. II. Abschn. (üebergang von der populären sitt-
lichen Weltweisheit zur Met. d. S.): „Die Herablassung zu Volksbegriffen
ist sehr rühmlich, wenn die Erhebung zu den Principien der reinen Vernunft
zuvor geschehen und zur Befriedigung erreicht ist. ... Es ist ungereimt,
der Popularität in der ersten Untersuchung, worauf alle Richtigkeit der
Grundsätze ankommt, schon willfahren zu wollen"; das sei keine wahre
philosoph. Popularität, indem es keine Kunst sei, gemeinverständlich zu
sein, wenn man dabei auf alle gründliche Einsicht Verzicht thue. AUerei'st
nach erworbener bestimmter Einsicht dürfe man mit Recht populär sein.
Femer ib. über die B e i s p i e l e im pop. Vortrag und den Mangel adäquater
Beispiele im streng wissenschaftlichen. Cfr. 19. Brief an Herz (c. 1795) seit
einiger Zeit sinne er auf die Grundsätze der Popularität, und er glaube aus
diesem Gesichtspunkte eine andere Auswahl und Anordnung bestimmen zu
können, als sie die schulgerechte Methode erfordert, die doch immer das Fun-
dament bleibe. Logik. Einl. II. „Der scholastische Vortrag ist das Fundament
des populären, denn nur derjenige kann etwas auf eine populäre Weise vortragen,
der es auch gründlicher vortragen könnte.* V, (vgl. oben zu Deutlichkeit;
üeber die Popularisirung der Kritik d. r. V. 141
[B 12. H 10. E 19.] A Xn. B
populär- intuitive Deutlichkeit) . Ib. VI, die üebertreibung des scholastischen
Vortrags gibt Pedanterie, die des populären Galanterie. Dagegen
zweckmässige Genauigkeit in Formalien ist Gründlichkeit (schulgerechte,
scholastische Vollkommenheit). »Um der populären Vollkommenheit willen,
dem Volke zu gefallen, muss die scholast. Vollkommenheit nicht aufgeopfert-
werden". Vgl. Metaph. der Sitten, Vorr. und Logik § 16. § 115. Weiteres
über diesen Unterschied und über die „Popularität* der Proleg. s. zu Vorr. B.
Beispiele wahrer Popularität sind unter den Alten Cicero' s philos.
Bchriften; unter den Neuern Hume (subtil und anlockend Prol. Vorr.) und
Sbaftesbury (Log. VI), Garve (Met. d. S. Vorr.) und Mendelssohn
(gründlich und elegant Prol. Vorr. Vgl. Brief an Mend. v. 18. Aug. 1783).
Keineswegs dem populären Oebranohe u. s. w. Ueber die Möglichkeit
der Popularisirung der Kritik der r. V. finden sich bei Kant zwei wider-
sprechende Ansichten. Wie hier, so verneint er dieselbe besonders in der
Vorrede B, XXXIII. „die Kritik der r. V. kann niemals, populär werden",
und in der Vorr. zur Met. der Sitten: gegen Garve 's Forderung (in den
Vermischten Aufsätzen I. Theil Breslau 1796 [331—358 Popularität] 352 f.)
jede philosophische Lehre müsse zur Popularität (einer zur allgemeinen Mit-
theilung hinreichenden Versinnlichiing) gebracht werden können, sonst komme
der Lehrer selbst in den Verdacht der Dunkelheit seiner Begriffe, — be-
merkt Kant, das räume er ein, mit Ausnahme der Kritik des Vernunft-
vermögens selbst, diese „kann nie populär werden, so wie überhaupt keine
formelle Metaphysik; obgleich ihre Resultate für die gesunde Vernunft
(eines Metaphjsikers, ohne es zu wissen) ganz einleuchtend gemacht werden
können. Hier ist an keine Popularität (Volkssprache) zu denken, sondern
es muss auf scholastische Pünktlichkeit, wenn sie auch Peinlichkeit gescholten
würde, gediningen werden (denn es ist Schulsprach ej, weil dadurch allein
die voreilige Vernunft dahin gebracht werden kann, vor ihren dogmatischen
Behauptungen sich erst selbst zu verstehen." Brief an Lichtenberg (1793).
Eine Kritik „kann bei der Strenge der Begriffsbestimmungen die scholastische
Geschmacklosigkeit kaum umgehen." Er wünscht daher auch, dass die
latein. üebersetzung der Kritik von Born, sollte sie zu sehr auf Eleganz an-
gelegt sein, mehr der scholastischen Richtigkeit und Bestimmtheit angepasst
werde (an Schütz 25. Juni 1787). Prol. Vorr. Or. 21 „die so beschrieene
Dunkelheit" habe auch ihren Nutzen, den er mit dem Vi rgilischen Verse
ausdrückt:
IgfMvum, fucos, pecus a p^'aesepihus arcent.
Dagegen sagt er am Schluss der Vorrede B, der sich ganz mit der Möglich-
keit der Popularisirung beschäftigt, „wenn sich Männer wahrer Popularität
damit beschäftigen, so werde der Theorie auch die erforderliche Eleganz ver-
schafft werden." Im Brief an Mendelssohn vom 18. Aug. 1783 sagt er,
wenn das Product seiner rohen Bearbeitung nach erst da sei, könne dem
Mangel der Popularität nach und nach abgeholfen werden; er sei von der
142 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A Xn.Xm.B— [R 12. H 10. 11. E 19. 20.]
populären Erläuterung nur abgestanden, um sie bei einer künftigen Behand-
lung, wenn seine Sätze angegriffen werden, nachzuholen. Die Annäherung
an ,die gemeine Fassungskraft" glaubt er, lasse sich in einem doctrinalen
Vortrage eher erreichen, als bei der propädeutischen Kritik (an Lichtenberg
1793). — Dieses Schwanken lässt sich nicht genügend heben, weder durch
Distinction zweier Bedeutungen von „populär" (für das gemeine Volk
oder für die Gebildeten), noch durch eine derartige Distinction, dass etwa
nur die Kritik selbst der Popularität ermangeln müsse, dass aber die Mit-
theilung ihres Planes (Proleg. 20 f.) oder die Mittheilung ihrer Resultate
(vgl. „doctrinale" Bearbeitung) den populären Vortrag wählen könne. Die
an sich unwichtige Frage gewinnt jedoch einiges Interesse für die Frage,
ob die Prolegomena „populär" seien, (s. unten S. 143).
Abt Terrasson. Derselbe wird von Kant auch in dem „Versuch über
die Krankheiten des Kopfes" (1764) citirt. Eine Anekdote über denselben
findet sich in der Anthrop. § 77. Jean Terrassen (Biogr. Univ. 45, 170 ff.)
geb. zu Lyon 1670, f zu Paris 1750 ist bekannt durch seine Betheiligung
an dem Streit über Homer, an dem Actienunternehmen von Law, und ins-
besondere durch seinen Staatsroman „Sethos", ein Gegenstück zum „Tele-
maque". Die Schrift, auf welche sich K. bezieht, erschien nach seinem Tode,
im Jahr 1 754 und wurde von Frau Gottsched übersetzt u. d. T. : Des Abtes
Terrasson „Philosophie nach ihrem allgemeinen Einflüsse auf alle Gegen-
stände des Geistes und der Sitten." Berlin, Stettin und Leipzig, bey Johann
Heinrich Rüdiger 1762. Die angezogene Stelle findet sich dort auf S. 117
und lautet: „In den an sich selbst schweren Wissenschaften rechne ich die
Länge eines Buches nicht nach der Zahl der Seiten, sondern nach der Länge
der Zeit, die man zu dessen Verstände braucht. In diesem Verstände ist es
ziemlich oft. geschehen , dass das Werk viel kürzer geworden sein würde,
wenn es etwas länger geworden wäre." Auch der in der Anthrop. § 44
erwähnte „Academiker" ist Terrasson, wie aus S. 48 des gen. Werkes hervo^
geht. Anthrop. § 77 bezieht sich auf &. 45.
Manches Buch wäre viel deutlicher tfr^worden u. s. w. Das gilt be-
kanntlich besonders für die unendlich weitschweifigen Werke Wolfs. Vgl.
das 317. Xenion von Schiller-Goethe:
Alte Prosa, komm wieder, die alles so ehrlich heraussagt.
Was sie denkt und gedacht, auch was der Leser sich denkt.
Schon in der Erstlingsschrift (Schätzung d. leb. Kräfte) Einl. XIII. gibt K.
dasselbe Bestreben kund, durch Kürze dem Leser entgegenzukommen.
Ib. § 102, man sage mit Grund: Ein grosses Buch, ein grosses Uebel '.
' Mit Bezug auf diese Stelle sagt Hamann am Schlüsse seiner Recension
(Reinh. Beitr. II, 212) : Demselben Abt Terr. zu Folge, der die ästhetische Länge
transscenden taler Schriften nicht ab extra, sondern ab intra geschätzt wissen wollte,
besteht das Glück eines Schriftstellers darin: „von einigen gelobt und allen
1
Aufforderung zur Mitarbeit. 143
[R 12. 13. H 11. K 20.]AXin.B
Cfliederban des Systems. Prol. Or. 20. „Wie bei dem Gliederbau eines
organisirten Körpers", kann bei der reinen Vernunft „der Zweck jedes
Gliedes nur aus dem vollständigen Begriffe des Ganzen abgeleitet werden."
Kritik Vorr. B. XXII sq. XXXVII: „Die reine specul. Vernunft enthält einen
wahren Gliederbau, worin alles Organ ist, nämlich Alles um Eines willen
und ein jedes Einzelne um Aller willen" u. s. w. Ib. XLIV: „Gliederbau
des Systems". Weiteres über diese der Coacervation entgegengesetzte
Articulation s. 822: Das Ganze ist „wie ein thierischer Körper, dessen
Wachsthum kein Glied hinzusetzt, sondern ohne Veränderung der Proportion
^m jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht." Vgl. 65. Neben
Artic. steht Organisation Kr. d. Urth. § 79. Dieser natürliche, organische
Gliederbau wird durch die populäre Darstellung verdeckt. Damit nun „die
Wissenschaft alle ihre Articulationen, als den Gliederbau eines ganzen be-
sonderen Erkenntnissvermögens in seiner natürlichen Verbindung vor Augen
steile", muss das Werk durchaus nach synthetischer Lehrart dargestellt
^ein. Denn „für den Zweck der Popularität ist die analytische, für den
Zweck der wissenschaftlichen und systematischen Bearbeitung des
Erkenntnisses aber ist die synthetische Methode angemessener." (Logik § 117
Anm.) Von hier aus lässt sich auch die Controvei-se heben, ob die Prole-
gomena als eine populäre Arbeit von Kant beabsichtigt seien. Erd-
inann, Kants Proleg. Einl. VH-XI. XV-XX. XXVI u. XXVIL Arnoldt,
Kants Proleg. 7 — 10. (Vgl. Vaihinger, die Erdmann- Arnoldt'sche Contro-
?erse über Kants Prolegomena. Phil. Mon. 1880, I, 1 — 27 und die dort
gegebenen Nachweise.) Weiteres hierüber s. zu Einl. S. 18 zum Terminus
„ A rchitektonisch " .
Seine Bemfllmiig mit der des Verfassers zu vereinigeii. Diese Auffor-
derung zur Mitarbeit, die auch im nächsten Absatz wiederholt wird, wo die
Mithilfe der Leser zu Vollendung der Metaphysik (in analytischer Hinsicht)
angerufen wird, findet sich auch am Schluss des Werkes, S. 856, wo der
Leser gebeten wird, ,das Seinige beizutragen, um diesen Pusssteig zur
Heeresstrasse zu machen". Dieselbe Bitte, zugleich verbunden mit der der
systematischen Prüfung seiner Kritik, wiederholt Kant dann am Schlüsse
der Prolegomena Or. 218, die er dann als „Abriss" zu jener Prüfung darbietet.
Er hofft, dass verdiente Männer jede gute Veranlassung benützen, zu dem
gemeinschaftlichen Interesse der sich immer mehr aufklärenden Vernunft
mitzuarbeiten. „Man rühmt von den Deutschen, dass, wozu Beharr-
lichkeit und anhaltender Fleiss erforderlich sind, sie es darin weiter als
andere Nationen bringen können. Wenn diese Meinung gegründet ist, so
zeigt sich hier nun eine Gelegenheit, ein Geschäft, an dessen glücklichem
Ausgang kaum zu zweifeln ist, . . . zur Vollendung zu bringen." Ib. 219.
Höchst charakteristisch und denkwürdig ist ein Grund, mit dem K. seine
bekannt^ ; Recensent setzt noch als Maximum echter Autorschaft und Kritik hinzu:
„von blutweuigen gefasst zu werden." (W. W. VI, 53.)
144 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
AXin.B- [B 13. H 11. E 20.]
Bitte unterstützt: „Auch scheint dieser meiner Zumuthung der jetzige Zeit-
punkt nicht ungünstig zu sein, da man jetzt in Deutschland fast nicht weiss,
womit man sich, ausser den sogenannten nützlichen Wissenschaften noch
sonst beschäftigen könne". Es gab damals in Deutschland keine Politik. — Am
Schlüsse der Vorrede zur zweiten Auflage stattet er den Dank für die unter-
dessen geleistete Mithilfe ab und spricht daselbst die Hoffnung der Fort-
setzung dieser Unterstützung aus. — Diesen Gedanken einer gemeinsamen
Bearbeitung der Metaphysik (welche Geraeinsamkeit das beste Zeichen
ihrer wahrhaft wissenschaftlichen Qualität wäre), hat Kant von Lambert
übernommen *. L. schreibt am 13. Nov. 1765, da sie (Lambert und Kant)
in „vielen neuen Untersuchungen auf einerlei Gedanken und Wege gerathen",
so wäre es angemessen, „die Ausarbeitung der einzelnen Stücke eines ge-
meinschaftlichen Planes unter einander zu vertheilen." Diese Auffor-
derung ergreift Kant mit Wärme; er schreibt am 31. Dez. 1765 an Lambert:
„Ihre Einladung zu einer wechselseitigen Mittheilung unserer Entwürfe schätze
ich sehr hoch", er glaubt, dass wenn es Lambert beliebe „mit meinen kleineren
Bestrebungen Ihre Kräfte zu vereinbaren", dies für ihn und vielleicht auch
für die Welt eine wichtige Belehrung hoffen lasse. An Stelle der „zer-
störenden Uneinigkeit der vermeinten Philosophen" möchte er „ein gemeines
Richtmass* setzen, „ihre Bemühungen einstimmig zu machen*.
Lambert antwortet darauf mit jenem Brief vom 3. Febr. 1766, der für
Kant-s Entwicklung so bedeutsam war. Erst am 2. Sept. 1770 übersendet
ihm K. seine Dissertation mit der Bemerkung: „Nichts konnte mir er-
wünschter sein, als dass ein Mann von so entschiedener Scharfsinnigkeit
u. s. w. seine Bemühung darbot, mit vereinigten Prüfungen und
Nachforschungen den Plan zu einem sicheren Gebäude zu entwerfen. Ich
konnte mich nicht entschliessen , etwas Minderes als einen deutlichen
Abriss . . . und eine bestimmte Idee der eigentlichen Methode (in der Meta-
ph3'sik)zuüberschieken*. Erbittet, „das schöne Vorhaben, diesen Bemühungen
beizutreten, noch immer unverändert zu erhalten", versteht dies aber weniger
so, dass es eine gemeinsame Arbeit sein sollte, als dass Lambert seine
Arbeit kritisiren sollte, w^ie es scheint, schon im Manuscript; denn Kant
will ihm seine Vei'suehe in der Metaphysik vorlegen, „mit der festen Ver-
sicherung, keinen Satz gelten zu lassen, der nicht in Ihrem ürtheil voll-
kommene Evidenz hat, denn wenn er diese Beistimmung sich nicht erwerben
kann, so ist der Zweck verfehlt, diese Wissenschaft ausser allem Zweifel auf
ganz unstreitige Regeln zu gründen'." Er bittet ihn zugleich um ein Urtheil
' Der Gedanke ist weiter rückwärts auf Leibniz zu verfolgen. Die bezüg-
lioheu Stelleu aus L. sind zusaniniengeoniuet bei Lauiey, Leibniz u. d. Studium
d. Wiss. iu eiuem Kloster. Münster 1879. S. 25 ff. Vgl. auch Tschirn hausen.
Mfdidm Metttis S. 267-209. 273 f.
' Nach Jach mann. Im. K. S. 80 hat K. iu seiner Kritik seiner eigenen
Versicherung nach „keinen einzigen Satz uiedergeschriebeu . den er nicht zuvor
Aufforderung zur stückweisen Prüfung. 145
[B 13. H 11. E 20.] A Xm.B
über seine Dissertation. Wie Kant Lamberts Bemerkungen über dieselbe
benützt habe, darüber s. die Aesthetik. In seinem Antwortschreiben entwickelt
Lambert zugleich den Plan zu einer Privatgesellschaft zu gemeinschaftlichen
Ausarbeitungen in der Metaphysik. Es sollte zunächst ein brieflicher Mei*
nungsaustausch, gegenseitige Nachhilfe und Kritik stattfinden und dann die
so entstandenen Schriften in einer eigenen Zeitschrift gedruckt werden. Ihm
schwebte hiebei jene Gemeinsamkeit vor, wie sie in Physik und Mathe-
matik stattfindet, die aber eigentliche und strenge Wissenschaften sind.
Damit brach der Briefwechsel ab. Im Brief anBernoulli vom 16. Nov. 1781
wiederholt Kant, wie wichtig ihm jener Antrag Lamberts war, „mit ihm
zur Reform der Metaphysik in engere Verbindung zu treten". Er habe
daher den Plan gefasst, seine Gedanken ausreifen zu lassen, „um sie meinem
tiefeinsehenden Freunde zur Beurtheilung und weiteren Bearbeitung
zu überschreiben* [-schicken?]. Er habe alle „seine Hoflfnung auf einen so
wichtigen Beistand gesetzt*. Durch den Tod Lamberts (1777) sei diese
Ho&iung geschwunden, was er um so mehr beklagt, als er der rechte Mann
gewesen sei, vorurtheilsfrei seine Kritik d. r. V. „in ihrem ganzen Zusammen-
hang zu übersehen und zu würdigen, mir die etwa begangenen Fehler zu
entdecken und bei der Neigung, die er besass, hierin etwas Gewisses für die
menschliche Vernunft auszumachen, seine Bemühung mit der meinigen
zu vereinigen, um etwas Vollendetes zu Stande zu bringen, welches ich
auch jetzt nicht für unmöglich, aber da diesem Geschäfte ein so grosser
Kopf entgangen ist, für langwieriger und schwerer halte". Aehnliche Ge-
danken finden sich im Briefwechsel an Mendelssohn, offenbar zufolge der
Anregung durch Lamberts Brief. Am 8. April 1 766 bittet er Mendelssohn :
»Ihre Bemühungen mit den meinigen zu vereinigen (worunter ich
die Bemerkung ihrer Fehler mitbegreife), " und er schmeichelt sich „dass da-
durch etwas Wichtiges zum Wachsthum der Wissenschaft könnte erreicht
werden,' Er wünscht, dass sein Versuch (über die Träume eines Geister-
sehers) gründliche Betrachtungen von Mend. herauslocke. Im Brief vom
18. Aug. 1783 erweitert er diese Bitte zu jenem bekannten, auch in den
Prolegomena (Anhang) Or. S. 219, aber auch schon ib. in der Vorrede S. 20
gemachten Vorschlage, die Kritik stückweise zu prüfen, die Sätze in
ihrer Ordnung nach und nach anzugreifen, glaubt zwar, dass wenn die
Prüfung in gute Hände falle, etwas Ausgemachtes daraus entspringen
werde, hat aber wenig Hoffnung auf eine solche Prüfung, da Mendels-
sohn, Garve und Teten s „dieser Art von Geschäft entsagt zu haben
scheinen". Dieser Vorschlag der stückweisen Prüfung, dem er durch Schultz
aeinem (vertrauten Freunde, dem Kaufmann) Green vorgetragen und von dessen
anbefangenem und an kein System gebundenem Verstände hätte beurtheilen lassen".
(Vgl. Ks.. Logik Einl. VI: Es ist wichtig, ein Erkenutniss an Menschen zu prüfen,
deren Verstand an keiner Schule hängt). Ders. Gedanke ist bezüglich Lamberts
im Brief an Bernoulli 1781 ausgesprochen.
Vftihi&ger, S*nt-Oomxnentar. 10
146 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
AXin.B- [B 13. H 11. E 20.]
Erläut. 10 — 11, 188 ff. weitere Verbreitung geben Hess, erscheint unter dieser
historischen Beleuchtung als das Gegentheil davon, als Erdmann Prol. XXIY.
CXI sq. ihn benennt: ihm erscheint er „wunderlich, abgeschmackt '^ und er
glaubt, Kant vor dem Vorwurf „der Anmassung der urtheilslosen Gelehr-
samkeit* durch den Hinweis auf seine üeberzeugung von der Wahrheit
und Unfehlbarkeit seiner „Kritik" retten zu müssen. Wenn Kant diese
Üeberzeugung so absolut gehabt hätte , hätte er nicht seinen Vorschlag
gemacht; so hätte er nicht im Brief an Bernoulli von „Fehlern" gesprochen,
die Lambert hätte entdecken sollen; so hätte er nicht Prol. 221 gesagt.
„ durch solche gemeinsame Bemühungen müsse j edenf alls ein Lehrgebäude,
wenngleich nicht das Meinige" ... zu Stande kommen; so hätte er nicht an
Schultz geschrieben (Schultz, Erl. 11), „denn auf diese Art allein kann ein
für die Wissenschaft vortheilhafter Ausgang gehoffet werden, es mag nun
von meinen Versuchen viel oder wenig übrig bleiben, und endlich
„hätte er nicht in der Vorr. der Proleg. fin. gesagt, „man müsse seine Auf-
lösung entweder annehmen oder auch gründlich widerlegen und eine
andere an deren Stelle setzen". Der Vorschlag, den Kant machte, ist
ganz natürlich bei einem Manne, der sich bewusst ist, so viele neue und
wichtige Punkte mindestens neu formulirt zu haben, und die stückweise
Prüfung ist ganz natürlich bei einem Werke, das so scharf und fein articulirt
ist. Wenn endlich Erdmann sagt, nur „die mittelmässigsten Gegner Kants
haben sich auf eine solche stückweise Prüfung eingelassen" , so genügt es,
um von Kleineren zu schweigen, an Aenesidem-Schulze und — an
Schopenhauer zu erinnern. Der Vorschlag ist sogar so natürlich, dass
man gar nicht sagen kann, wie denn eine Prüfung eines so umfangreichen
und Inhalt vollen Werkes anders sollte gemacht werden als „stückweise".
Kant macht ja diesen Vorschlag auch im schroffen Gegensatz gegen die
Göttinger Recension, deren Verfasser ungeduldig war, „ein weitläuftig Werk
durchzudenken", „der sich mit keiner besonderen Untersuchung bemühen
will" ; „der Verfasser derselben urtheilt durch und durch en gros*^ ; er gibt
kein „einziges ausföhrliches Urtheil en düail". Diese detaillirte Prüfung
ist eine sehr berechtigte Forderung Kants * und weder „wunderlich" noch
„abgeschmackt" ; ebensowenig als die von Kant zum Motto der 11. Aufl. der
Kritik aus Bacons Organum herausgelesene Stelle, in der es heisst: Peii-
mu8 , , . ut homines, lahorum qui restant, et ipsi in partem veniatU, (Vgl.
Widmung, Erklärung oben S. 76.)
Dauerhaft. Diese Dauerhaftigkeit der metaphysischen Arbeit hebt
Kant sehr häufig hervor, gegenüber dem Wechsel der philosophischen Systeme ;
vgl. an Lambert (31. Dec. 1765), von dem er dort die wichtige und dauer-
hafte Verbesserung der Metaphysik hofft. Er will (an dens. 2. Sept. 1770)
die unwandelbaren und evidenten Gesetze der Metaphysik finden. Um
* Der Gedanke einer „stück weisen** Prüfung findet eich schon in dem Aufsatz
über den Optimismus 1758.
Dauerhaftigkeit der Resultate. Kritik d. r. Y. und Metaphysik. 147
[R 13. H 11. K 20.] A Xin.XIV.B
etwas Vollendetes und Dauerhaftes (hier: ganz und doch dauerhaft)
zu liefern, ist Aufwand der Zeit kein Verlust. Diese Dauerhaftigkeit
wäre eben die Folge der wissenschaftlichen Behandlung der Metaphysik und
eine Bedingung für diese ist die gemeinsame Arbeit an derselben. (Die
domichten Pfade der Kritik führen zu einer schulgerechten, aber als
solche allein dauerhaften Wissenschaft der r. V." Krit. Vorr. B. XLII.)
Nur eine solchermassen entstandene Metaphysik „kann der Vernunft dauernde
Befriedigung verschaffen". Prol. Or. 190. Der Grund dieser dauerhaften
Befriedigung liegt ausser in der dadurch erreichten Gewissheit auch in
der Vollständigkeit, s. unten. „Es gehörte viel Beharrlichkeit . . . dazu,
die Anlockung einer früheren günstigen Aufnahme der Aussicht auf einen
zwar späten, aber dauerhaften Beifall nachzusetzen." Prol. Or. 19.
Fortschr. K. 103. R. I, 494: , durch eine Kritik ihres Vermögens selbst
würde die Met. in einen beharrlichen Zustand, nicht allein des Aeussern,
sondern auch des Innern, fernerhin weder einer Vermehrung noch Verminde-
rung bedürftig oder auch nur fähig zu sein versetzt werden.* Der Zustand der
Met. vor K. „war viele Zeitalter hindurch schwankend*. — Diese Stelle
findet wegen ihrer Sicherheit lebhaften Tadel bei Beneke, Kant 2 f.
Hiehts für die Nachkommenschaft übrig bleibt^ als . . . Prol. 219:
, Diese Wissenschaft kann auf einmal zu ihrer ganzen Vollständigkeit und in
denjenigen beharrlichen Zustand gebracht werden, da sie nicht im min-
desten weiter gebracht und durch spätere Entdeckung weder vermehrt noch
verändert werden kann (den Ausputz durch hin und wieder vergrösserte
Deutlichkeit oder angehängten Nutzen in allerlei Absicht rechne ich hieher
nicht)*. Die Kritik soll ein System anbahnen, das „ein Vermächtniss für
die Nachkommenschaft werden kann*. Prol. 220. „Ein nie zu vermehrender
Hauptstuhl zum Gebrauche für die Nachwelt*, Vorr. B. XXIII. Ib.: „Ein
Schatz, den wir der Nachkommenschaft mit einer solchen durch Kritik ge-
läuterten, dadurch aber auch in einen beharrlichen Zustand gebrachten Met.
hinterlassen.* Ib. XXX: Vermächtniss für die Nachk. als kein gering ?u
achtendes Geschenk. Die Mathem. ist hierin Vorbild; der Gang der Vern.
ia der Mathem. „macht eine Heeresstrasse, welche noch die späteste Nach-
kommenschaft mit Zuversicht betreten kann.* 725. Fortschr. R. I, 563.
Das InTentarimn« Vgl. Zimmermann, Lambert 4: Lambert wollte
ein vollständiges Verzeich niss der Pormaliirsachen der menschl. Erkennt-
nisse d. h. dasjenige aufstellen, was er das Einfache in der Erkenntniss, ein-
fache Begriffe, Kant aber die apriorischen Formen der Erkenntniss nannte.
Vgl. ib. 78. Der Ausdruck erinnert an ähnliche Ausdrücke bei Lambert und
bes. bei Premontval, der in den Mem, de VAcad, de Berl, 1754, 442
davon spricht, dass das Verzeichniss der einfachen Begriffe das Alphabet
des menschlichen Denkens sein würde ^
^ Michelet^ Letzte Systeme I, 52 und Wi lim, Phil. All, I, 84 beziehen das
Jnventarium'* auf die Kritik d. r. V. selbst. Dem logischen Zusammenhange
148 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A XIV.B— [R 13. H 11. K 20.]
Weil was Ternniift gränzlioh u. s. w. Der Grund fiir die Möglichkeit
jener Vollständigkeit ist derselbe, der schon oben S. VIII dafür, und S. VII
für die Möglichkeit der Beantwortung aller Probleme der reinen Vernunft
angegeben wurde (vgl. Vorr. B. XXII) : weil es sich dabei nur darum handelt,
das zu erforschen, was in uns selbst liegt, was aus uns selbst stammt,
weil wir es nicht mit Objecten, sondern mit dem Subjecte zu thun
haben. Nur handelte es sich oben um Auflösung der transcendenten,
metaphysischen Probleme, hier um Feststellung des auf das Immanente
bezüglichen und unbestreitbaren apriorischen Besitzthums der Seele. Vgl.
S. 13 f., wo dieser Gedanke der absoluten Vollendbarkeit der Metaphysik
weiter ausgeführt wird; B. 23 (vollständig und sicher), ebenso schon im
Brief an Herz vom 24. Nov. 1776. Prol. Or. 170: Wer die Grundsätze der
Kritik durchgedacht hat, der wird niemals „wieder zu jener alten und
sophistischen Scheinwissenschaft zurückkehren; vielmehr wird er mit einem
gewissen Ergötzen auf eine Metaphysik hinaussehen, die nunmehr allerdings
[allererst?] in seiner Gewalt ist, auch keiner vorbereitenden Entdeckungen
mehr bedarf . . . das ist ein Vorzug, auf welchen unter allen möglichen
Wissenschaften Metaphysik allein mit Zuversicht rechnen kann, nämlich dass
sie zur Vollendung und in den beharrlichen Zustand gebracht werden kann,
da sie sich weiter nicht verändern darf, auch keiner Vermehrung durch
neue Entdeckungen f^ig ist; weil die Vernunft hier die Quellen ihrer Er-
kenntniss nicht in den Gegenständen und ihrer Anschauung (durch die sie
nicht ferner eines Mehreren belehrt werden kann), sondern in sich selbst hat,
und, wenn sie die Grundgesetze ihres Vermögens vollständig und gegen alle
Missdeutung bestimmt dargestellt, nichts übrig bleibt, was reine Vernunft
a priori erkennen, ja auch nur was sie mit Grund fragen könnte. Die sichere
Aussicht auf ein so bestimmtes und geschlossenes Wissen hat einen be-
sonderen Reiz bei sich* u. s. w. Der Verstand ist selbst eine absolute
Einheit 67. Unsere Vem. ist selbst ein System 738. Die Natur der
Vernunft, die diese Vollständigkeit möglich macht, wird Prol. Or. 19 — 20
so geschildert: „ReineVernunft ist eine so abgesonderte, in ihr selbst so
durchgängig verknüpfte Sphäre, dass man keinen Theil derselben antasten
kann, ohne alle übrigen zu berühren, und nichts ausrichten kann, ohne vorher
jedem seine Stelle und seinen Einfluss auf den anderen bestimmt zu haben,
weil, da nichts ausser derselben ist, was unser ürtheil innerhalb be-
richtigen könnte, jedes Theiles Gültigkeit und Gebrauch von dem Verhältnisse
abhängt, darin es gegen die übrigen in der Vernunft selbst steht . . . daher
kann man von einer solchen Kritik sagen, dass sie niemals zuverlässig sei,
wenn sie nicht ganz und bis auf die mindesten Elemente der reinen Ver.
nach aber kann nur das „nach dem vorgelegten Entworfe** auszuführende System
der Metaphysik gemeint sein, das aber K. bekanntlich nicht geliefert hat (VgL
unten 149.)
Unbedingte Vollständigkeit; Alles oder Nichts. 149
[E 13. H 11. 12. K 20. 21.] A XIV.XV.B
nnnft vollendet ist, nnd dass man von den Sphären dieses Vermögens
entweder Alles oder Nichts bestimmen und ausmachen müsse." Wir haben
hier dieselbe schroffe Disjunction in Bezug auf die umfängliche quan-
titative Vollständigkeit, der wir oben in Bezug auf die inhaltliche
qualitative Gewissheit begegneten. Vgl. Fortsch. R. I, 487: „Metaphysik
ist ihrem Wesen und ihrer Endabsicht nach ein vollendetes Ganze;
entweder Nichts oder Alles; was zu ihrem Endzweck erforderlich ist,
kann also nicht wie etwa Mathematik oder empirische Naturwissenschaft, die
ohne Ende immer fortschreiten, fragmentarisch dargestellt werden". Prol. § 26:*
Diese Gewissheit der Vollst, ist ,,eine Befriedigung, die die dogmatische
Methode niemals verschaffen kann". (Vgl. oben S. 28. 54.) Prol. § 43: Die
Vollst, in Aulzählung, Classificirung und Specificirung der Begriffe a priori
3, ein noch nie vermutheter, aber unschätzbarer Vortheil". Dies möglich, weil
Verfahren ,,nach Principien*. „Ohne dieses ist in der Metaphysik alles lauter
Rhapsodie, wo man niemals weiss, ob dessen, was man besitzt, genug ist,
oder ob, und wo noch etwas fehlen möge. Freilich kann man diesen Vortheil
auch nur in der reinen Philosophie haben, von dieser aber macht derselbe
auch das Wesen aus." Denselben Gedanken fuhren die Fortschr. K. 166
R. I, 563 so aus: „Die Metaph. zeichnet sich unter allen Wissenschaften
dadurch ganz besonders aus, dass sie die einzige ist, die ganz vollständig
dargestellt werden kann, so dass für die Nachkommenschaft nichts übrig
bleibt hinzuzusetzen und sie ihrem Inhalt nach zu erweitern, ja dass, wenn
sich nicht aus der Idee derselben zugleich das absolute Ganze systematisch
ergibt, der Begriff von ihr als nicht richtig gefasst betrachtet werden
kann". Es kann sowohl die Erkenntniss a priori der Gegenstände mögl.
Erf. ganz erschöpft, als auch alle Fragen über das Üebersinnliche genau an-
gegeben werden. Eine ausfuhrlich methodologische Erörterung hierüber gibt
K. in der Vorrede zu den Met. Anf. der Naturw. : ,in Allem, was Meta-
physik heisst, kann die absolute Vollständigkeit der Wissenschaften
gehofft werden" ; die Ursache sei, weil hier der Gegenstand nach den allge-
meinen Gesetzen des Denkens, in anderen Wissenschaften nach Datis der
Anschauung vorgestellt werden muss; letztere aber sind unendlich
mannigfaltig; jene sind bestimmt und geben daher eine bestimmte Anzahl
von Erkenntnissen. Vgl. Fichte, W. W. H, 468.
Teaim habita u. s. w. Siehe Persius, Sat. 4, 52. Schon Hamann,
W. W. IV, 5 wendet das Citat in diesem Sinne an, ebenso schon Charron,
De la Sagesse, I, 1. (1601.) Vgl. Baader, W. W. XI, 43.
Metaphysik der Natur. Das hier angekündigte Werk ist nie, wenigstens
nicht unter diesem Namen erschienen. Aeusserliche und innerliche Schwierig-
keiten, z. B. wie sich dieses System zur Kritik verhalten sollte, warum K.
es nicht geliefert habe, ob das bekannte Manuscript aus dem Nachlasse Ks.
sich wirklich hierauf bezieht, lassen es räthlich erscheinen, diese Frage erst
am Ende zu behandeln, zum Schluss derVorr. B., wo dieselbe Angelegenheit
berührt wird.
150 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage.
A XV.XVI.B— [R 13. 14. H 12. K 81 J
Bei noch nicht der Hälfte der Weitlänftigkeit. Vgl. Einl. B. 22 f.:
„Auch kann diese Wissenschaft nicht von grosser abschreckender Weit-
läuftigkeit sein, weil sie es nicht mit Objecten der Vernunft, deren
Mannigfaltigkeit unendlich ist, sondern es bloss mit sich selbst, mit Aufgaben,
die . . . ihr durch ihre eigene Natur vorgelegt sind, zu thun hat**. Eine
genauere Ausführung s. Einl. A. 10 f.
Verwacfasnen Boden u. s. w. K. an Herz (Ende 1773): „Ich bleibe
halsstarrig, bei meinem Vorsatze mich von keinem Autor-Kitzel verleiten zu
lassen, in einem leichteren und beliebteren Felde Ruhm zu suchen, ehe
ich meinen dornigen und harten Boden eben und zur allgemeinen
Betrachtung frei gemacht habe." Vgl. Vorr. B. XII „Dornichte Pfade der
Kritik". „Dornichte Pfade der Scholastik*, Kant an Fichte (12. Brief, vom
Jahre 1797). In demselben Sinne spricht Iselin, Gesch. der Menschheit
II, 366 von Wolfe „dornichten Pfaden". Vgl. Eberstein II, 165 über
Eberhard.
Abgeleitete Begriffe • • • Analysis. Zwei Merkmale werden hier an-
gegeben, wodurch sich das System von der Kritik unterscheiden soll : erstens
Aufsuchung der abgeleiteten Begriffe; diese stehen nach Einl. 14, wo
dieselben zwei Merkmale, Ableitung und Analysis angegeben sind, den
Stammbegriffen gegenüber, oder nach 81 den ursprünglichen und primi-
tiven; letzterer Natur sind z. B. die Begriffe der Causalität und der
Wechselwirkung; zu den ersteren gehören: Kraft, Handlung, Leiden,
Gegenwart, Widerstand. Vgl. Prol. § 39. üeber das zweite Merkmal, die
Analysis (im Gegensatz zu Synthesis) vgl. vorläufig Einl. A 12. 14. Auch in
Prol. § 39 Anm. wird die Analysis dcrAbleitung als zweites noth wendiges
Merkmal des Systems zur Seite gestellt.
Der Anfang des Drucks u. s. w. Diese Worte und vermuthlich daher
auch die ganze Vorrede sind wohl um dieselbe Zeit geschrieben, wie die
Widmung an Zedlitz, die vom 29. März (1781) datirt ist. Zu der Zeit, wo
diese Zeilen von Kant niedergeschrieben wurden, hatte er „nur etwa die
Hälfte der Aushängebogen zu sehen bekommen". Da er noch S. 461 citirt.
und da diese in den Bogen Ff, den 29., hineinfällt, so hatte er also min-
destens diese 29 Bogen fertig gedruckt erhalten. Er hatte aber factisch
30 Bogen bekommen. Da das ganze Buch 53 V2 Bogen, Titel, Widmung
und Vorrede IV« Bogen betrugen, also zusammen 55 Bogen, so war Kants
Schätzung, dass er mit 30 Bogen „etwa die Hälfte* bekommen habe, im
Allgemeinen zutreffend. Dass es nemlich 30 Bogen gewesen seien, lässt sich
aus Hamanns Briefen feststellen. Dieser hatte von dem Verleger Kants,
dem mit ihm befreundeten Hartknoch, schon am 6. Oct. 1780 „ein warmes
Exemplar" sich erbeten, falls er Verleger werde. Diese Bitte wurde erfüllt,
denn er hatte am 6. April 1781 die 30 ersten Bogen der Kritik erhalten
und bittet am 8. April um „das Ende, vom Bogen Hh bis zur Vorrede*.
Bogen Hh ist der 31. Bogen. Man hatte ihm somit (ohne Vorwissen Kants)
Chronologie der Drucklegung der „Kritik". 151
[R 14. H 12. K -] AXV.XVI.B
ron Berlin aus genau dieselbe Anzahl der fertig gedruckten Bogen zugesandt,
wie Kant, nur dass er sie einige Tage später erhalten hat, wie dieser, wenn
wenigstens die Vermuthung richtig ist, dass der Schluss der Vorrede auch
Ende März geschrieben sei. — Um nun den Anfang des Druckes zu er-
mitteln , sind noch weiter folgende Daten in Erwägung zu ziehen. Am
6. Mai erhielt Hamann weitere J 8 "Aushängebogen, die Kant jedenfalls nicht
Yor dem 1. Mai erhalten hat, denn an diesem Tage schreibt er an Herz,
er solle sich erkundigen, wie weit der Druck jetzt gekommen sei; sogleich
darauf erhielt er jene 18 weitere Bogen, wie Hamann. (Den Rest, 5Va Bogen
des Textes, l'/a Bogen Vorrede u. s. w. , Anfang und Ende", „erste und
letzte Bogen'' erhielt Hamann lange Zeit nicht; er bittet darum am 31. Mai,
hat sie noch nicht am 3. Juni und selbst noch nicht am 19. Juni; auch
Kant hatte den Best nicht, und „war unzufrieden darüber^. Am 22. [oder
29.] Juli endlich erhielt Hamann von Kant selbst ein „gebundenes Exemplar'',
woraus sich schliessen lässt, dass Kant das erste fertige Exemplar etwa Mitte
Juli erhielt.) Aus dem Umstand, dass von Mitte März bis Mitte April (es
sind mindestens 14 Tage für die Post abzurechnen) nicht weniger als
18 Bogen fertig gedruckt wurden, ergibt sich, dass der Druck mit fieber-
hafter Eile betrieben wurde; und nach demselben Verhältniss wäre der An-
fang des Druckes etwa auf Ende Januar 1781 (nicht Anfang Jan. wie Erdm.
Krit. 83 sagt) anzusetzen. Somit ist der Hergang folgender: Kant hatte
sein Manuscript Ende 1780 abgeschickt. Der Druck begann ziemlich spät
im Vergleich mit der Absicht, das Buch noch auf die Ostermesse des Jahres
1781 zu bringen ; denn diese fand im Mai statt. Man begann Ende Januar
mit dem Druck und sandte die erste Portion von 30 Bogen Mitte März an
Kant ab, zugleich mit der Bitte, Widmung, Vorrede und Inhaltsangabe
nachzuliefern, sowie mit der Bemerkung, er könne die Lieferung der Vor-
rede nicht wie üblich aufschieben, bis er den Rest der Aushängebogen er-
halten habe, um die bemerkten Druckfehler noch in der Vorrede erwähnen
zu können, einfach weil das bei damaligen Postverhältnissen einen Aufschub
der Vollendung um mindestens vier Wochen (vgl. Brief an Nicolai vom
25. Oct. 1773) zur Folge gehabt hätte. Es kam aber nach damaligen Sitten
darauf an, das Buch auf die im Mai (ev. auch noch Juni) stattfindende
Ostennesse und zwar möglichst am Anfang zu bringen; denn die Bücher-
ballen wurden wie andere Waarenballen an die Sortimenter auf der Oster-
messe ausgegeben, die heut nur zur Regulirung der Rechnungen, nicht zum
Absatz der Waaren dient. Kant erkundigt sich daher durch Herz genau,
an welchen Tagen der Messe das Buch in Leipzig ausgegeben werde? Die
Frage können wir aus obigen Daten beantworten: ganz zum Schluss der
Messe, vermuthlich erst gegen Mitte Juni \
* Die Hesse begann im Jahre 1781 am 14. Mai (Sonntag Cantate) und dauerte
4 Wochen.
152 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage. Anhang. .
AXV.XVI.B- [R 14. H 12. K — ]
1781.
Ende Januar:
Mitte März:
29. März ff.:
6. April:
1. Mai:
6. Mai:
Anfang Juni:
Mitte Juli:
Beginn des Drucks.
Fertigstellung der ersten 30 Bogen.
K. schreibt und versendet Widmung und Vorrede
(nach Empfang der 30 Bogen).
Hamann erhält die 30 Bogen.
K. erkundigt sich bei Herz nach dem Fortgang des
Drucks. .
Kant und Hamann erhalten weitere 18 Bogen,
Die Kritik der r. V. wird auf der Leipziger Oster-
messe ausgegeben.
Kant erhält den Rest und seine Exemplare.
Aus Ks. Brief an Herz vom 1. Mai ist noch die Notiz zu erwähnen: das
Buch „wird für Hartknochs Verlag bei Grucert in Halle gedruckt und
das Geschäft von Herrn Spener, Buchhändler in Berlin, dirigirt". Ha-
manns Notiz, der Druck finde in Berlin statt (VI, 192) ist also irrig. Zum
Vorstehenden vgl. Kant, 13. Brief an Herz. Hamann, W. W. VI, 163,
178. 179. 180. 181. 185. 189. 192. 197. 201. 204. Zu diesen technischen
Einzelheiten ist noch folgende Bemerkung Hamanns (VI, 179) hinzuzufügen:
„Sauber von Druckfehlern scheint mir das Buch zu seyn; habe ungefähr
ein Dutzend in die Augen fallende bemerkt. Die Probe von dem Aeusser-
lichen ist sehr nach dem Wunsch des Verfassers gewesen. Dem üeberschlag
nach sollte ich vermuthen, dass es über zwey Alphabete betragen dürfte."
(Das Druckalphabet umfasste 23 Bogen. Hamanns Schätzung war also
richtig.)
Thesls und Antithesis. Hamann an Hartknoch (W. VI, 179): „Ein
paar Bogen habe ich überhüpft, weil Thesis und Antithesis auf entgegen-
gesetzten Seiten liefen, und es mir zu sauer wurde, den doppelten Faden
zu bestreiten, in einem rohen Exemplar." (8. April 1781.)
Anhang.
Gesehictatlictae Notizen ttber die Entstehung der Kritik. Ks. Vorrede
ist noch durch einige Notizen über die äusserliche Entstehung des Werkes
zu ergänzen. K. schreibt an Herz (1. Mai 1781): „Dieses Buch enthält den
Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen an-
fiengen, welche wir zusammen unter der Benennung des Mundi sensibilis
und intelligibilis abdisputirten.* Herz war Respondent bei der sich an die
DisaertaHo pro loco (Professorat) am 20. Aug. 1770 anschliessenden Dispu-
tation. Am 2. Sept. 1770 entwickelt K. im Briefe an Lambert das
Programm der Erweiterung des Inhalts der Dissertation zu einer vor der Meta-
physik vorhergehenden, deren Methode bestimmenden propädeutischen
Disciplin. Er will ausserdem auf die Ostermesse 1771 die Dissertation
Genesis der „Kritik" nach den Briefen an M. Herz. 153
selbst verbessert und um ,ein paar Bogen erweitert" herausgeben. Das
letztere geschah nicht. Am 7* Jnnl 1771 schreibt K. an Herz, dass Lamberts
und Mendelssohns Einwürfe gegen die Dissertation ihm yiel zu denken geben,
dass er jetzt damit beschäftigt sei, ein Werk auszuarbeiten „etwas aus-
fuhrlich*, das unter dem Titel: Die Grenzen der Sinnlichkeit und
der Vernunft die Grundlagen der Metaphysik und der Moral sowie der
Aesthetik behandeln sollte. (Dieser Titel erinnert auffallend an den Neben-
titel des Lessing'schen Laocoon „oder über die Grenzen der Malerei
und Poesie*; dass der Adressat selbst dies bemerkte, dafür spricht die
Parallele, die er zwischen Kant und Lessing angestellt hat, wie aus dem
folgenden Briefe Ks. an ihn hervorgeht. Kant hatte also wohl auch diese
Anspielung und Nachahmung beabsichtigt). Den Winter (1770 auf 1771)
hindurch habe er alle Materialien dazu durchgegangen, habe alles gesichtet,
gewogen, aneinander gepasst, sei aber mit dem Plane erst kürzlich fertig
geworden. Darnach sollte das Werk nun wohl auf die Michaelismesse 1771
fertig gestellt werden. Allein auch dieser Plan zerschlug sich. Am 21. Febr. 1772
schildert er den Plan zu dem gedachten Werke mit dem genannten Titel
ausfuhrlicher, spricht aber auch von den ihm aufgestossenen Schwierigkeiten
und die dadurch herbeigeführte Veränderung seines Planes ; er will nun die
Vernunft allein behandeln in einer „Transcendental-Philosophie" d.h.
in einer Theorie der gänzlich reinen Vemunftbegriffe, und beabsichtigt den
ersten Theil davon ,in etwa drei Monaten* herauszugeben (also zur Ost er-
messe 1772). Er heisst das Ganze hier auch zum erstenmal eine „Kritik
der reinen Vernunft*, er will „die reine Verstandeseinsicht dogmatisch
begreiflich machen und deren Grenzen zeigen*. Gegen Ende des Jahres 1773
entschuldigt er sich gleichsam, dass sein 1772 in Aussicht gestelltes Werk
nicht erschien. „Sie suchen im Messkatalog fleissig, aber vergeblich nach
einem gewissen Namen unter dem Buchstaben K.* Es wäre ihm ein Leichtes
^'pwesen, mit beinahe fertigen beträchtlichen Arbeiten in einem leichteren
und beliebteren Felde (Moral und Aesthetik) zu paradiren, allein kein Autor-
kitzel bringe ihn von seinem halsstarrigen Vorsatze ab, zuerst die allerdings
viel schwierigere, principielle Untersuchung abzuschliessen. Es koste aber
sehr viele Zeit, diese neueWissenschaft streng systematisch und termino-
logisch auszuarbeiten; er werde dadurch aber auch der Philosophie eine
^nz neue Richtung geben, so dass sie praktisch * für Religion und Sitten
eine weit vortheilhaftere Wendung nehme und in theoretischer Beziehung
durch ihre logische Strenge selbst den spröden Mathematiker anlocken könne.
Erhoffe manchmal es bis Ostern (1774) fertig zu stellen, sei das nicht
der Fall (wegen häufiger Indispositionen) „so kann ich es doch beinahe mit
Ctewissheit eine kurze Zeit nach Ostern versprechen", wie er auch am
* Den Zusammenhang der theoretischen Reformbestrebungen Kants mit den
Problemen der praktischen Philos. betont richtig Lasso n in seiner, indessen ganz
unvollständigen üebersicht der Entstehung der Kritik d. r. V. Verhandl. d. philos.
GcseUßch. 6. Heft S. 26 ff. Hierüber Genaueres später.
154 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage. Anbang.
25. Oct. 1773 in dem Briefe an Nicolai die „gegenwärtige Arbeit" als ^in
Kurzem" erscheinend ankündigt. Auch hier nennt er das Werk ^ Trans-
scendentalphilosophie, welche eigentlich eine Kritik der reinen Vernunft
ist". Auch dieses Versprechen erfüllte sich nicht. Am 24* Not. 1776 schreibt
er: „Ich gebe die Hoffnung zu einigem Verdienst in dem Felde, darin ich
arbeite, nicht auf. Ich empfange von allen Seiten Vorwürfe wegen der
Unthätigkeit , darin ich seit langer Zeit zu sein scheine, und bin doch
wirklich niemals systematischer und anhaltender beschäftigt gewesen, als seit
den Jahren, da Sie mich gesehen haben (1770). Die Materien . . . häufen sieb
unter meinen Händen, wie es zu geschehen pflegt, wenn man einiger fruchtbarer
Principien habhaft geworden". Indessen habe er nicht mehr auszudenken, nni
auszufertigen. Die letzten Hindernisse habe er den vergangenen Sommer (1775)
überstiegen, und nach Verrichtung der Arbeit, die er allerst jetzt (1776) antrete,
mache er sich freies Feld, dessen Bearbeitung für ihn nur Belustigung sein
werde. „Es gehört Hartnäckigkeit dazu, einen Plan, wie dieser ist, un-
verrüekt zu befolgen." Die neue Wissenschaft charakterisirt er als „Kritik,
Disciplin, Kanon und Architektonik der reinen Vernunft. " Mit dieser Arbeit
denke er jedoch vor Ostern (1777) nicht fertig zu werden, sondern dazu
einen Theil des nächsten Sommers (eben 1777) zu verwenden. Doch solle
Herz „über dieses Vorhaben keine Erwartungen erregen". Wäre der Plan
so ausgeführt worden, so wäre also das Buch zur Michaelismesse 1777 er-
schienen. Am 20. Aug« 1777 wiederholt er, dass der Anfertigung aller seiner
übrigen Arbeiten das, was er Kritik der reinen Vernunft nenne, wie ein
Stein im Wege liege, mit dessen WegschaflFung er jetzt allein beschäftigt sei.
Was ihn aufhalte, sei nur die Bemühung, seiner Darstellung völlige Deut-
lichkeit zu geben. Er hofft aber „diesen Winter" (1777 auf 1778) „völlig
damit fertig zu werden." Somit wäre das Werk zur Ostermesse 1778 er-
schienen. So hatte sich unterdessen durch diese häufigen, wohl auch Anderen
gemachten Versprechungen, das Gerücht verbreitet, „dass von meiner unter
Händen habenden Arbeit schon einige Bogen gedruckt sein sollen '', was Kant
jedoch im Briefe vom Ende Mal (nicht Juni) 1778 zurückweist. „Da ich
von mir nichts erzwingen will (weil ich noch gerne etwas länger in der
Welt arbeiten möchte), so laufen viel andere Arbeiten zwischendurch." * Die
Arbeit „rückt indessen weiter fort und wird hoffentlich diesen Sommer (1778)
fertig werden. Die Ursachen der Verzögerung einer Schrift, die an Bogenzahl
nicht viel austragen wird, werden Sie dereinst aus der Natur der Sache und
des Vorhabens selbst als gegründet gelten lassen." „Wenn dieser Sommer
* Zwischen 1770 und 1781 wurden folgende Abhandlungen von K. gedruckt :
1771 Recension der Schrift von Moscati über den Unterschied der Strnctur
der Menschen und Thiere.
1775 Das Programm: Von den verschiedenen Racen der Menschen (vgl.
Brief an Engel vom 4. Juli 1779).
1776 — 1778 Recensionen und Aufsätze über das Basedow'sche Philanthropin
(vgl. Brief an Crichton vom 28. Juli 1778).
Chronologie der Entstehnng der „Kritik". 155
bei mir mit erträglicher Gesundheit hingeht, so glaube ich das versprochene
Werkchen dem Publikum mittheilen zu können** (also auf die Michaelismesse
1778). Die Briefe Tom 28. Ang. und 15. Uecember 1778 scheinen das neue
Handbuch über die Metaphysik, woran er noch unermüdet arbeite, und das er
bald fertig zu haben hofft, da er an der Bekanntmachung jetzt arbeitet, auf
Ostern oder Herbst 1779 in Aussicht zu stellen. Als Hinderniss wird der
Gesundheitsumst^nci angegeben. Das Colleg: „Prolegomena der Metaphysik**
sollte wohl im Wesentlichen den Inhalt der neuen Wissenschaft geben. Aber
nochmals schiebt er im Sommer (4. Juli) 1779 in einem Briefe an Engel
die Zeit hinaus; hier hofft er ^bis Weihnachten** seine Arbeit zu beendigen,
die ihn so lange an der Ausfertigung aller anderen Produkte des Nachdenkens
gehindert hat. Demnach sollte das Werk noch im Jahre 1780 (etwa Ostern)
erscheinen. Aber trotzdem Kant nach Hamanns Bericht (W. W. VI, 83,
17. Mai 1779) an Herder im Sommer 1779 an seinem Werk [Hamann nannte
es Moral der reinen Vernunft; richtiger fugt er wohl VI, 145 noch die
Metaphysik hinzu] „frisch darauf losarbeitet** — erst am 1. Mai 1781 kann
Kant dem Freunde das Erscheinen des Werkes anzeigen, das er so oft als
bald kommend angekündigt hatte. Er hatte es versprochen:
1) auf Herbst 1771 (Br. v. 7. Juni 1771),
2) auf Ostern 1772 (Br. v. 21. Febr. 1772),
3) auf Ostern 1774 (Br. v. Ende 1 773),
4) auf Herbst 1777 (Br. v. 24. Nov. 1776),
5) auf Ostern 1778 (Br. v. 20. Aug. 1777),
6) auf Herbst 1778 (Br. v. Ende Mai 1778),
7) auf Ostern oder Herbst 177» (Br. vom 28. Aug. u. 15. Dec. 1778),
8) auf das Jahr 1780 (Br. v. 4. Juli 1779).
Dass Kant selbst diesen Verzug zu seinen Gunsten auslegte, folgt aus den
angefahrten Stellen, und auch aus einem Briefe Hamanns an Herder (welcher
im Juni 1780 gefragt hatte, ob »man weiter nichts von Kant zu lesen be-
komme?") vom 26. Juni 1780: „K. thut sich auf seinen Verzug etwas zu
;?ut., weil* selbiger zur Vollkommenheit seiner Absicht beytragen wird,**
(W. W. VI, 145), und schon 1770 schreibt K. an Lambert, dass „in einer
Unternehmung von solcher Wichtigkeit einiger Aufwand der Zeit gar kein
Verlust ist, wenn man dagegen etwas Vollendetes und Dauerhaftes liefern
kann*. — Die äussere Entstehungsgeschichte der Kritik ist, wie theilweise
schon S. 139 f. bemerkt wurde, indessen noch hinter die Dissertation von 1770
zn verfolgen. Durch die Preisaufgabe der Berliner Academie aufs Jahr 1763,
welche eine methodologische Untersuchung der Metaphysik forderte, und die
Mendelssohn in seiner Schrift: „Ueber die Evidenz in metaphysischen
Wissenschaften** und Kant in der Schrift: „Untersuchung über die Deutlich-
keit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral** beantwortete,
wurde Kants Nachdenken auf das ihn schon lange beschäftigende Problem
der Methode der Metaphysik concentrirt; und so hatte er denn schon im
Jahre 1765 eine Schrift über „die eigenthümliche Methode der Meta-
physik* geplant, ja sogar schon zur Ostermesse 1766 versprochen (der
156 Commentar zur Vorrede der ersten Auflage. Anhang.
Leipziger Mess-Katalogos brachte schon die Anzeige davon). „Ich bin gleich-
wohl von meinem ersten Vorsatze sofeme abgegangen, dass ich dieses Werk,
als das Hauptziel aller dieser Aussichten, noch ein wenig aussetzen will und
zwar darum" u. s. w. (Brief an Lambert vom 31. Dec. 1765) ^ Inwieweit
der Tendenz nach aber das so geplante und sogar schon angezeigte Werk
mit der Kritik der r. V. identisch ist, sofern auch diese als „Tractat von
der Methode" bezeichnet wird, darüber vgl. Pauls en, Entw. 94 fif. *
* Im Briefe an Mendelssohn vom 8. April 1766 sagt er: seit seinen letzten
Ausarbeitungen sei er zu wichtigen Einsichten gelangt in dieser Disciplin.
„welclie ihr Verfahren festsetzen und als das eigentliche Richtmass brauchbar
sind". Auch in der Nachricht von seinen Vorlesungen 1765 erwähnt K. einer
Grundlegung zu seinen Vorlesungen, die er in Kurzem hoffe vorlegen zu können.
* Aus den angeführten Stellen geht hervor, dass die eigentliche principielle
antidogmatische und methodologische Umwälzung im Geiste Kants in der Mitte
der 60er Jahre stattgefunden hat, und dass der eigentliche Anlass zur Sinnes-
änderung die Preisschrift und die mit ihr zusammenhängenden Schriften waren.
Aus den Briefen an Lambert und Mendelssohn, 1765 und 1766, geht mit
Sicherheit hervor, dass insbesondere in jenen Jahren eine vollständige Umgestal-
tung in dem Habitus seines Denkens stattfand. Ob diese Umgestaltung auf fremde
Einflüsse, insbesondere auf Hume oder auf immanente Entwicklung zurückzufuhren
sei, ist eine Frage, deren Entscheidung hier nicht im Einzelnen getroffen werden
kann. Nur so viel sei hier bemerkt, dass die Ansicht, Hume habe schon damals
einen energischen Einfluss auf K. ausgeübt, die wahrscheinlichere ist. Dagegen
ist hier noch ein anderes Zeugniss für Kants Sinnesänderung anzuführen, dessen
Bedeutung bis jetzt gar nicht erkannt wurde, nämlich die ^Nachricht von der
Einrichtung seiner Vorlesungen im Winterhalbjahre von 1765 — 1766". Während
nämlich die übrigen derartigen Nachrichten und Ankündigungen stets mit einer
Abhandlung begleitet sind, hat diese einzig und allein den Zweck, eine „Verände-
rung" seiner bisherigen Methode anzukündigen. Die übrigen derartigen Nach-
richten sind folgende :
1) Apr. 1756. Neue Anmerkungen zur Erl. d. Th. d. Winde.
2) Oct. 1757. Ueber die feuchten Westwinde (Phys. Geographie).
3) Apr. 1758. Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe.
4) Oct. 1759. Betrachtungen über den Optimismus.
6) Apr. 1775. Von den verschiedenen Mensch enracen.
Während also alle Uebrigen mit Abhandlungen versehen sind, welche die Haupt-
sache sind (nur bei 2) ist die Ankündigung des neuen Collegs die Hauptsache),
wird dort nur ausschliesslich ein volles Programm der Philos. Vorlesungen ent-
wickelt, das K. darum für nöthig erachtete, ^damit man sich einigen Begriff von
der Lehrart machen könne, worin ich jetzt einige Veränderung zu treffen
nützlich gefunden habe." Und worin bestehen diese Veränderungen ? Erstens
in dem Bruch mit der bisherigen Methode des academischen Vortrags in der
Philosophie; derselbe war bisher dogmatisch und soll nunmehr zetetisch
sein. Zweitens in der Veränderung der Methode der Metaphysik, die bisher
synthetisch war und nun analytisch sein soll. Drittens — und das ist
die Hauptsache — in der Hinzufügung einer abgesonderten Methodologie der
Die „Kritik der Vernunft" Anno 1765 und Anno 1781. 157
Aus diesen Stellen geht mit vollendeter Sicherheit hervor, dass Kant
am Ende des oben S. 49 sogenannten „Ersten Entwicklungsprocesses",
d. h. in den Jahren 1765 und 1766 schon ein von ihm damals ebenfalls
, Kritik der Vernunft" genanntes Werk herauszugeben im Sinne hatte.
Es wäre eine interessante Aufgabe, welche schon Paulsen a. a. 0. 94 ff.
versuchte, diese erate „Kritik der Vernunft* vom Jahre 1765 zu reconstruiren'.
In der Ausarbeitung dieser ersten Kritik d. V. wurde K. durch das Er-
scheinen der Nouveaux Essais von Leibniz unterbrochen. Diese leiteten den
Zweiten Entwicklungsprocess des Kantischen Denkens ein , dessen
Resultat die uns vorliegende Kritik d. r. V. ist. Als den Gewinn des ersten
Entwicklungsprocesses nahm Kant in seinen zweiten Entwicklungsgang
herüber die formelle Ueberzeugung der Noth wendigkeit einer ICritik d. V.
Die materielle Erfüllung dieses Postulates war Sache dieser zweiten Periode.
Nach dem dogmatischen und empiristischen Stadium der ersten Periode gebar
deren drittes Stadium den Gedanken der „Kritik der Vernunft*^: die Aus-
führung dieses kritischen Gedankens durchlief merkwürdiger und doch
vielleicht natürlicher Weise dieselben drei Entwicklungsformen.
Metaphysik^ d.h. einer „Kritik der Vernunft", m. a. W. in dem Verlassen
des dogmatischen Standpunktes und in dem Einnehmen des kritischen.
(Viertens in der Begründung einer neuen Methode der Ethik.) In diesem höchst
interessanten, wenn gleich nicht genug beachteten Programm ist somit das beste
Zeugniss der totalen Sinnesänderung des Philosophen enthalten und erhalten. Der
Gedanke einer „Kritik der Vernunft" erwacht hier zum erstenmal. Es ist die
formelle Aufstellung einer neuen Disciplin. Was den materiellen Gehalt
betrifft, darüber s. oben.
' Nur müsste man bei dieser Reconstruction^ was Paulsen unterliess, die
„Träume eines Geistersehers" zu Grunde legen ; vgl. oben in der „Speciellen Ein-
leiti^ng" S. 48 f. u. S. 59.
* Die Umänderung der „Kritik der Vernunft" des Jahres 1765 in die „Kritik
der reinen Vernunft" von 1781 ist wohl auf Leibni zischen Einfluss zurückzu-
führen. Dagegen ist die Quelle für „Kritik" wohl in Locke zu suchen. Wie
nämlich Kant in dem Programm von 1765 Logik und Kritik zusammenstellt, so
thut dasselbe auch Locke in seinem Hauptwerke, am Schlnss^ IV, 21, § 4. (Vgl.
H. Wolff, Spec. u. Phil. I, 76.) Vgl. oben S. 121.
IIL
Commentar zur Einleitung.
Yorbemerkniigen.
1. Allgemeine Literatur zur ^.Einleitung'' der Kritik.
Vgl. die oben (S. 19 ff.) angeführten allgemeinen Erläutemngsschriften
an den bezüglichen Stellen. Specielleres *: J. Schultz, Prüfung der
Kantischen Critik d. r. V. I. IL Königsb. 1791. 1792. [Der erste Band be
trifft die „Einleitung". Widerlegung damaliger Einwürfe, höchst schätzens-
werthes Werk.] — (Anon.) Kr it. Briefe an Im. Kant über seine Kr. d. r. V.
Göttingen 1794. [Einl. u. Aesth. ; viele richtige Bemerkungen neben Miss-
verständnissen; Leibnitz'scher Standpunkt modificirt durch Locke.] Damit
ist zu vergleichen die eingehende Kritik des auf die Einleitung bezüglichen
Theiles dieser Schrift von Born in seinem mit Abicht herausgeg. Philosoph.
Magazin II, 3. 321—395. II, 4. 527-558. [Theilweise geschickte Vertheidi-
gung; Born ruft dem anonymen „Kavitoop^ottS" zu: Non sus Minervam!]'
Heyn ig, Herausforderung an Kant, die Hauptsätze seiner Transsc. Phil,
entw. von neuem zu begründen, oder sie als unstatthaft zurückzunehmen.
Leipzig 1798. [Besprechung der 4 ersten Abschnitte der Einleitung vom
Standpunkt des „consequenten Empirismus" (S. 187) aus; tumultuarisch mit
vereinzelten Scharfblicken.] — Seh er er, G., Kritik über Kants Subjectivität
* Detailschriften über die Einl. überhaupt allein existiren nicht', die Ein-
leitung ist immer mit der Aesthetik zusammen behandelt.
■ Der anonyme Verf. Hess bald darauf eine „Vertheidigung der kritischen
Briefe" insbes. gegen Born erscheinen. Vgl. Eberstein II, 240 ff. — Der Aufsatz
von Seile, Versuch u. s. w. Berl. Monatsschr. 1784, Dec. (vgl. Mendelssohn,
W. W. VI, a. 134 f.) ist hier ebenfalls zu nennen.
Vorbemerkungen: Literatur; Aenderungen der zweiten Auflage. 159
und Apriorität des Raumes und der Zeit. Prankf. 1871. [Bespricht Ein!,
und Aesth. ziemlich werthlos.] (Einzelne Aufsätze in den früher genannten
Zeitschriften über einzelne Punkte der Einleitung sind unten angeführt.) —
Femer sind besonders zu erwähnen Ueberwegs scharfsinnige und scharfe
Bemerkungen in seinem Grundriss IH, § 18, sowie Lewes' Einwände, Gesch.
IT, 497 ff. Desduits' Kritik in Phü. de Kant 273 ff. ist sehr unbedeutend,
im Style Cousins. G. Biedermanns Einwände in „Ks. Kr. d. r. V. und die
HegeFsche Logik", Prag 1869, 5 ff. sind vom Standpunkt einer sog. „Be-
griffiswissenschaft* aus geschrieben, [ein Muster falscher Interpretation!]
Beachtenswerther sind C. Biedermanns Bemerkungen, Deutsche Philos.
I, 64 ff.; ferner Hegel, W. W. XV, 555 ff. Sigwart, Gesch. d. Philos.
in, 56 ff. Pries, Gesch. d. Philos. 11, 506 ff. Cournot, Ess. sur le fond.
des connaiss, 11, 371 ff. Remusat, Ess. de pkiL I, 255—270. Id. Phü.
Aü. 24 ff. Morell, Modern Phüos. I, 233 ff. Degerando, VergL Gesch.
I, 467 ff. n, 471 ff. Tombo, Ks. Erkenntnissl. 4 ff. Glaser, De pHnc.
phü. Kant. 16 ff. S. Laurie, Interpret, of Ks. Krit. of p. R., Journ. of
spee. Phü. VI, 222—233. Dühring, De Tempore etc. 16 ff. ülrici, Grund-
princip der Philos. I, 295-314 (§ 31).
2. Die Emleitung in der I. und in der II. Auflage.
Die Einleitung ist in der 11. Aufl. verändert und insbesondere vergrös-
sert. Was das äusserliche Verhältniss beider Bedactionen betrifft, so
zerfällt die Einleitung in A in zwei ungleich grosse Hauptabschnitte:
a) Idee )
[ der Transscendentalphilosophie.
ß) Eintheilung )
Die Einleitung der 11. Ausgabe zerfällt dagegen in 7 Abschnitte:
1) Von dem Unterschiede der reinen und empirischen Erkenntniss.
2) Wir sind im Besitze gewisser Erkenntnisse a priori und selbst der
gemeine Verstand ist niemals ohne solche.
3) Die Philosophie bedarf einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit,
die Principien und den Umfang aller Erkenntnisse a priori be-
stimme.
4) Von dem Unterschiede analytischer und synthetischer Urtheile.
5) In allen theoretischen Wissenschaften der Vernunft sind synthetische
Urtheile a priori als Principien enthalten.
6) Allgemeine Aufgabe der reinen Vernunft.
7) Idee und Eintheilung einer besonderen Wissenschaft, unter dem
Namen einer Kritik der reinen Vernunft.
160 Commentar zur Einleitung.
Folgendes Schema gibt eine üebersicht über das Verhältniss beider
Redactionen bezüglich der aus A in B herübergenommenen Bestandtheile:
A B
aus A nach A nur B
1
2
3
a. /
4
5
6
ß. ^ 7
d. h. die Abschnitte 3, 4, 7 der II. Aufl. sind aus der I. herübergenommen:
1, 2 u. 5, 6, gehören nur der IL Aufl. an; 1 u. 2 enthalten jedoch nur eine
Veränderung des Textes von A ; 5, 6 sind ganz neu. (Die herübergenom-
menen Abschnitte 3, 4, 7 sind jedoch auch nicht unverändert geblieben:
am meisten Aenderungen fanden im 4. Abschnitt statt.) Die beiden Haupt-
theile der I. Aufl. sind auf die neuen 7 Abschnitte der II. so vertheilt, dass
der Inhalt des Ersten (Idee der Tr.) sich deckt mit 1 — 6 und der ersten
Hälfte von 7; der Inhalt des Zweiten (Eintheilung der Tr.) bildet die
zweite Hälfte des 7. Abschnittes der II. Aufl.
8. Gliederung der Einleitung nach der n. Auflage.
L
A (I). Unterschied reiner und emplriseher Erkenntniss.
a) Fragestellung, ob Erkenntniss a priori?
ß) Definition der Erk. a priori,
y) Eintheilung derselben in uneigentliche und eigentliche.
B (II). Thatsächlicher Besitz reiner ErkenntnIsH.
{Quaestio facti; Frage nach dem Dass).
a) Merkmale der reinen Erkenntniss (Nothwendigkeit und
Allgemeinheit),
ß) Beispiele reiner Erkenntniss (*),
1) ürtheile,
I. Aus der Mathematik,
II. Aus der Beinen Naturwissenschaft (Causalität),
[III. Aus der Metaphysik] (**),
2) Begriffe,
I. Baum,
II. Substanz,
[in. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit] (**),
Gliederung der Einleitung. 161
C (in). Nothwendlgkeit einer Theorie der reinen Erkenntniss {***),
{Quaestio juris \ Frage nach dem Wie).
a) ü ebergang: Ansprüche der (transsc.) Metaphysik auf
Erkenntniss a priori,
ß) Daher Nothw endig k ei t einer Theorie der Erkenntniss
a priori überhaupt,
y) Grunde bisheriger Unterlassung,
1) Vorbild der Mathematik in apriorischer Methode,
2) Trieb zu transscendenter Erweiterung der Erkenntniss,
3) Verwechslung analytischer und synthetischer Urtheile
(= Uebergang zum Folgenden).
n.
A (TV). Untersehied analytiseher nnd sjnthetiseher Urtheile.
a) Definition beider Gattungen,
ß) Genesis synthetischer Urtheile,
1) Empirischer durch Erfahrung,
2) Apriorischer wodurch? (Causalitätsbeispiel).
B (V) Thatoiehlieher Besitz synthetiseher Urtheile a priori.
I. Mathematik,
1) Arithmetik,
2) Geometrie,
U. Beine Naturwissenschaft,
in. Metaphysik; ihre Ansprüche darauf.
C (VI) Nothwendiglceit einer Theorie synthetischer ErlLenntnissa priori.
a) Allgemeine Fragestellung :
Wie sind synthetische Urtheile apriori möglichV
ß) Detaillirte Problemstellung:
I. Wie ist reine Mathematik möglich?
n. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?
ni. Wie ist Metaphysik möglich?
a) Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich ?
b) Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich V
y) Allgemeine Bemerkimgen über Gegenstand und Methode
der neuen Wissenschaft.
m.
(Vn) Idee nnd Eintheilnng der yerlanipten Theorie d. h. der Kritilc
der reinen Ternnnlt.
a) Idee,
ß) Eintheilung,
Vaihlnger, Kant-Commentar. \\
162 Commentar zur Einleitung:
1) Negative Abgrenzung,
a) Nichts Analytisches,
b) Nichts Empirisches,
2) Positive Eintheilung,
a) Elementar- und Methodenlehre,
b) Sinnlichkeit und Verstand.
4. Bemerkungen zu der Gliederung der Einleitung.
Man bemerkt erst vermöge dieser Uebersicht die feine und durchdacht«
Gliederung der Einleitung, welche für Kants „architektonische" Anlage ein
glänzendes Beispiel abgibt. Die Theile in den beiden ersten Hauptabtheilungen
entsprechen sich im Einzelnen genau und Kant hätte diese durchsichtige,
sachliche Gliederung durch eine passendere üeberschrifb insbesondere des
Abschnittes VI selbst viel deutlicher hervortreten lassen können und sollen.
Es wird beidemal behandelt
A) der Unterschied zweier Erkenntnissarten,
B) Nachweis des thatsächlichen Vorhandenseins beider, insbesondere
das erstemal der apriorischen Erkenntniss, das zweitemal der synthetischen
und zwar ganz speciell synthetischer Erkenntniss a priori; insofern wird in
n, C (= VI) das Synthetische des Haupttheiles II mit dem Apriori des
Haupttheiles I verbunden.
C) Hinweis auf die Nothwendigkeit einer Theorie der als factisch
nachgewiesenen apriorischen resp. synthetisch apriorischen Erkenntniss'. Nach
^ Aehnlich, wenn auch nicht genau genug gliedernd, bemerkt Fischer folgende
drei Theile der Einleitung überhaupt, indem er je I u. IV, U u. V, HI u. VI
zusammen nimmt, wo Definition, Existenzfrage, Rechtsfrage be-
handelt sind:
1) Was ist Erkenntniss?
2) Ist die Erkenntniss factisch?
3) Wie ist dieses Factum möglich?
„Die Fragen sind so geordnet, dass nur wenn die vorhergehende gelöst ist, die
folgende gestellt werden darf. Diese ganze Art, wie K. seine Kritik einleitet
vergleicht sich sehr gut mit dem Verfahren einer juristischen Untersuchung: Erst
wird der Fall constatirt, dann wird er aus Rechtsgründen beurtheil t und
entschieden. K. hat es mit der Rechtsfrage der menschl. Erkenntniss zu thun, er
will, juristisch zu reden, der Erkenntniss den Process machen .... Instruirt
wird die Sache der Erkenntniss, indem man zeigt, worin ihr Fall besteht, und
dass der Fall vorliegt. Entschieden wird die Sache, indem man die Möglichkeit
der Erkenntniss darthut, d. h. indem man nachweist, kraft welchen Rechtes
dieselbe exißtirt" u. s. w. In den Prol. werden erst beide Unterschiede abgehan-
delt (in 8 1 u. § 2) und dann wird erst in § 4 u. 5 das Problem gestellt; es folgen
sich also die Theile so: I, II, IV, V ; UI, VI.
Bemerknngen zur Gliederung. Die Einleitung der Prolegomena. 1(33
diesen beiden Haupttheilen wird im dritten (den man auch den beiden ersten
zusammen als einen zweiten gegenüberstellen kann), die Idee und Einth ei-
lung der in I C und II C als noth wendig nachgewiesenen Wissenschaft
näher besprochen.
Einzelne Bemerkungen:
*) ad I, B, ß. Eigentlich hat K. hier noch eine weitere Eintheilung; auf
a) Merkmale reiner Erkenntniss, kann man auch folgen lassen:
ß) Nachweis des Vorhandenseins derselben und zwar
1) durch Beispiele,
2) durch allgemeinen Hinweis auf ihre Nothwendigkeit für
die Möglichkeit resp. Gewissheit der Erfahrung. Da aber bei K. diese
letztere Bemerkung nur episodisch ist, so wurde sie oben weggelassen;
sie durchbricht femer die Eintheilung, da sie sich nur auf Sätze be-
zieht, nicht auf Begriffe.
**) ad I, B, ß, 1, in. Wir haben hier, um die übersichtliche Vollständig-
keit herzustellen, einen Theil angebracht, wenn auch nur in Klammern,
der bei K. in den folgenden Theil I, C als Uebergang (a) hinein-
gezogen worden ist. Auch wird dadurch der Parallelismus mit II, B
u. C erst hergestellt ; nur ist nicht zu vergessen, dass es sich hiebei um
angemasste apriorische Erkenntniss handelt, welche der unzweifel-
haften gegenübertritt als transscendente (im Gegensatz zur imma-
nenten). Dem entsprechend folgt auch bei den Begriffen ein
in. Theil in Klammern, der die bezüglichen metaphysischen Begriffe
enthält.
***) ad I, C. Dieser Theil, fast wörtlich aua der l. Aufl. herübergenommen,
leitet die Nothwendigkeit der Theorie der apriorischen Erkenntniss
nur daraus ab, dass dieselbe in der intendirten Metaphysik miss-
braucht werde zu transscendenter Speculation; wegen dieses t heil-
weis en Missbrauchs muss die ganze apriorische Erkenntniss, auch
wo sie, wie in der Mathematik, unbestritten ist, der Untersuchung
unterworfen werden. Darin offenbart sich wieder die ursprüngliche
Voranstellung der Dialektik als der eigentlichen Kritik d. r. V.
Die Eintheilung der I. Aufl. in Idee und Eintheilung der Transsc.
Philos. ist dieser fast gothisch gegliederten Division gegenüber sehr einfach.
Die IL Auflage ist hier eine wirkliche Verbesserung. Insbesondere
die Theile I A und I B, welche umgearbeitet sind, sowie II B und II C, welche
ganz neu hinzugekommen sind, geben der Eintheilung der II. Aufl. ein ent-
schiedenes Uebergewicht über die der I. Aufl.
6. Emieitimg der Prolegomena.
In den Prol. ist die Einleitung methodisch noch feiner ausgearbeitet. Die
Einl. zerf&llt daselbst in 8 Schritte.
164 Commentar zur Einleitung.
(§ 1. 2.) Erster Schritt: Klassificatorische Definition der
Metaphysik. Aufsuchung einer definitorischen Formel, eines Systems von
Prädicaten. Dadurch scharfe Inhaltsbestimmung und genaue ümfangsab-
Scheidung des td, de quo disptäcUur. — Dies hier gewonnen durch Zerfällung
des Begriffs derErkenntniss durch zwei combinirte Theilungsgründe. Diese
Merkmalsbestimmung eine Entdeckung für sich. Stellung der Met. nach
Subordination: synthetische Erkenntniss a priori; nach Disjnnetlon:
Mathematik und reine Naturwissenschaft gehören unter denselben
Oberbegriff. [§ 3 ist eine blosse Anmerkung.]
(§ 4.) Zweiter Schritt: Aufstellung des hypothetischen
Problems: Ist die so definirte Wissenschaft möglich? üeber hypothet.
Probleme s. Drobisch, Log. § 140 (weil der aufgestellte Begriff selbst nur
erst „problematisch' ist, Prol. § 4, d. h. die Auflösung entscheidet hier
erst über Gültigkeit des Begriffs). Derartige Probleme schwieriger, weil das
Untersuchungsobject nicht etwas Gegebenes und unleugbar Vorhandenes ist,
(denn die Metaphysik, um welche es sich hier handelt, ist ja eine be-
strittene Wissenschaft); daher
(§ 5.) Dritter Schritt: Beduction auf ein absolutes Problem.
Vgl. Drobisch , Log. § 141 : man sucht für ein unzweifelhaftes Factum die
Bedingungen und Erklärungsgründe, ohne welche jenes unbegreiflich. Hier
dies Factum = Datum : Die Thatsache synth. Erk. a pr. in Mathem. u. Naturw.
Das Quaesitum ist das Princip, das die Gültigkeit jener Erkenntniss er-
möglicht. Damit das ursprüngliche Detnonstrandutn (in § 4) durch ein
anderes ersetzt, aus dem jenes durch einfache Deduction abzuleiten ist:
durch Beantwortung des Allgemeinen auch das Specielle gelöst. Dies eine
fiexaX'r^tpi^: das Neue ist das |jL6TaXa^ßav6}i«yov (Sigw. Log. II, 241). Diese Sub-
stitution, resp. Beduction ist ein methodologischer Kunstgriff. Schematisch:
Ist die Frage nach der Möglichkeit von A [hier = die Metaphysik] schwer
lösbar, so wird A als Species auf das Genua G [hier = synthetische Erkenntniss
a priori] reducirt; die Frage nach G ist eventuell leichter lösbar und aus
der Lösung von G wird die von A abgeleitet \
6. Allgemeine Parallelstellen aus Eants Werken.
Prolegomena, Vorrede und Einleitung § 1 — 5. Streitschr. gegen
Eberhard (üeber eine Entdeckung) 2. Abschnitt, üeber die Fortschritte
der Metaph. Einleitung. Beilage I. — [üeber das Verb, der Einleitung zur
Vorr., insbes. B sagt Desduits, Phil, de K, 36: „La PrSface nous a fait
* M. a. W. : Beim hypothetischen Problem lautet die Frage:
Ist M etwas Mögliches? (DabiU?)
Beim absoluten Problem lautet sie dagegen:
Wie ist (das als Datum gegebene) M möglich?
ErfahrungB- und Yemunfterkeniitnisse. 165
eonnattre Vintention ginSrale de Vouvrage et noua en a mStne annoncS les
conclusions; VIntroducHon nous en indique le plan, la mithode et les
suhdivisionsJ' Ueber die hohe Wichtigkeit der Einl. Witte, Beitr. 23 ff.,
der dieselbe in 7 X 3 = 21 Thesen übersichtlich zergliedert.]
Erklärung von A, S. 1 und 2. [Vgl. B, Abschn. I u. H-]
Die Erkenntniss a priori.
Specialliteratur.
Nüsslein, G., De cognitionum a prioH et a posU discrimine, Bamb.
1794. — Anton, K. G., Quaedam de cognitione a priori, qualem Kantius
statuere videtur, dubUationes. Wittenb. 1800. — Ed. Röder, das Wort
,a priori*. Eine neue Kritik d. K.'schen Phil. Frankf. 1866 [ziemlich werth-
los]. — J. Horowitz, De apriorüatis Kantii in Phüosophia principio et in
quo quum cum dogmaticarum doctrinarum de innatis ideis principiis con-
gruaty tum ab iis differat, Diss. Königsb. 1872. — Eine theilweise beachtens-
werthe Kritik des I. und II. Abschnitts (B) vom empiristischen Standpunkt
aus von G. F. Werner (Verf. der »Aetiologie") s. in Eberh. Phil. Archiv II,
4, 60—73. — Spicker, Kant, S. 14 ff. Bachmann, Phil. m. Z. S. 50 ff.
[R 17. H 36. K 50.] A 1.
Erfahmiig das erste Prodnet u. s. w. Das erste Product des Verstandes
ist die durch Verstandesarbeit aus dem Empfindungsrohstoff entstandene
Erfahrung '. Häufig definirt K. Erf. als das Product des Verstandes aus
Materialien der Sinnlichkeit, Prol. § 20, 34. Dieser Begriff schliesst nun aber
bei K. bald das Merkmal jener Verstandesarbeit ein, bald bedeutet er bloss
die reine Empfindung; u. jene Verarbeitung ist bald, wie hier, eine bloss
logische, bald, wie A 2, eine schon apriorische. (Über diesen dreifachen
Sinn S. 176). Die weiteren Producte des Verstandes sind die eigentlich allgem.
und nothw. Erkenntnisse, die demnach zeitlich als das zweite Product zu be-
zeichnen wären, jedoch unbeschadet ihrer Apriorität. (Vgl. dag. J. S. B e c k, Pro-
päd. 5 ff. a Von den mannigfaltigen Producten des Verstandes" : Begriff, ürtheil»
Schluss.) Vgl. 299 : »Alle unsere Erkenntniss hebt von den Sinnen an,
geht von da zum Verstände, und endigt bei der Vernunft, über welche
'Methodisch angestellte Erfahrung heisat B e o b a c h t u n g. Kr. d. Urth. § 66.
(Vgl Gebr. teleol. Princip. u. s. w. R. VI, 359. K. VUI, 147). Vgl. Prol. § 17.
l(5ö Commentar zur Einleitung A, S. 1 und 2.
A 1. 2. [B 17. H 36. E 50.]
nichts Höheres in uns angetroffen wird, jden Stoff der Anschauung zu
bearbeiten" u. s. w. 294. Anm.: „Die Sinnlichkeit dem Verstände unter-
gelegt, als das Object, worauf dieser seine Function anwendet, ist der QaeU
realer Erkenntnisse."
Feld. „Feld" und oben „Boden" sind unzählig oft wiederholte Lieb-
lingsausdrücke Kants, der die sinnlich gefärbte Sprache trotz der Abstractheit
des Gegenstandes nicht vernachlässigte.
Sie sagt, was da sei, aber nicht u. s. w. Eine sehr häufig wiederholte
Bestimmung: z. B. S. 734: „Erfahrung lehrt uns wohl, was da sei, aber
nicht, dass es gar nicht anders .sein könne." Weiteres s. zu Einl. B. 3.
Die Yerniinft, welche u. s. w. K. gebraucht hier Verstand und Ver-
nunft promiscve; oben hiess es: der Verstand lässt sich nicht auf Er-
fahrung einschränken; hier ist es die Vernunft, welche nach nothwendigen
Erkenntnissen begierig ist. Ueber Ks. Sprachgebrauch hiebei s. zu A 3. Hier
nur so viel, dass Kant im gewöhnlichen Fluss der Eede zwischen Verstand
und Vernunft keinen Unterschied macht, besonders nicht in dieser Ein-
leitung; statt „reine Vernunft" findet sich auch „reiner Verstand". In
diesem Falle bezeichnet Verstand, oder Vernunft das ganze obere Erkenntniss-
vermögen über der sinnlichen Erfahrung. Im strengeren Sprachgebranch
dagegen unterscheidet er zwischen dem immanenten Verstand und der
transcendenten Vernunft, worüber man zu A, S. 3 sehe. Ueber weitere
Bedeutungsnüancen s. später zu A 11. — Vgl. Pesch, Mod. Wiss. S. 34.
Mflssen fOr sich selbst gewiss sein» Der Grund dieses Müssens ist,
weil solche allgemeinen und nothwendigen Erkenntnisse ihre Gewissheit nicht
der Erfahrung verdanken können, welche weder wahre Allgemeinheit noch
innere Nothwendigkeit zu geben vermag; darum „müssen sie für sich selbst
gewiss sein", d. h. ihre Gewissheit muss eine in ihnen selbst liegende sein.
Bouterwek, Aph. 22: „Ein Begriff oder Grundsatz, den das Erkenntniss-
vermögen aus sich selbst entwickelt und der ebendeswegen durch sich
selbst bestehet und anhebt von sich selbst, heisst a priori". Erdmann,
Ks. Krit. 165 bemerkt, in der II. Aufl. sei dieses Merkmal abgestreift, das
sicher in der I. Aufl. nur ein „lapsus pennae^' gewesen sei. Es sei das ein
Merkmal des Cartesianisch -Locke 'sehen Begriffs der angeborenen Ideen,
das in die kantische Portbildung dieser Lehre gar nicht mehr hineinpasse.
(Vgl. jedoch Proleg. Vorr. 8. 9. 10: „innere Wahrheit" des Gausalbegriffes.)
Diese innere Klarheit beruhte nach der altdogmatischen Lehre auf einer
nach Art der mathem. Anschauung gedachten Vernunftanschauung;
dies Moment trat bei Crusius in den Vordergrund. Vgl. Kannengiesser,
Dogm. und Skeptic. 10 ff. Vgl. unten S. 191 f.
Von der Erfahrung erborgt. In dieser Lieblingswendung Kants liegt
(zusammen mit dem „nur" a posteriori) die Verachtung ausgedrückt, welche
er, im Einklang mit fast allen Philosophen seit Platon, der Erfahrung gegen-
über hegt. Es liegt darin, dass die Erfahrung nicht der richtige, eigentliche
Ort sei, woher die Erkenntniss zu entnehmen ist, dass der Mensch vielmehr
Das Apriori nicht aus der Erfahrung „erborgt". 167
[B 17. 18. H 36. E 60.] A 2.
ans dem inneren Fond seiner eigenen Yernunfb zu schöpfen hat, um zur
wahren Erkenntniss zu gelangen. Eine Aufzählung derartiger Parallelstellen
ist daher hier zur Charakteristik Ks. am Platze. S. 24: „Die Vorstellung des
Baumes kann nicht . . . durch Erfahrung erborgt sein.*' Wie hier die
Aesthetik, so behandelt auch die Analytik das „was der Verstand aus sich
selbst schöpft, ohne es von der Erfahrung zu borgen". S. 236. Das sind
die reinen Begriffe. Im Gegensatz dazu stehen die empirischen Begriffe,
»die von der Erfahrung erborgt sind", 220. Endlich hat es auch die Dialektik
mit Ideen der Vernunft zu thun, die diese „weder von den Sinnen noch YOpi
Verstände entlehnt". S. 299. Daher „ist es eine alle reine Philosophie zer-
störende Behauptung Hume's, alles was wir Metaphysik nennen, sei bloss
vermeinte Verntmfteinsicht dessen, was in der That bloss aus der Erfahrung
erborgt sei". B. 20. Diese Entlohnung oder Erborgung aus der Er-
fahrung oder der „gemeinen Vernunft" wird ferner an folgenden Stellen zurück-
gewiesen: Kritik. B. 2. 21. A. 86. 96. 114. 126. 220. 222. 236. 299. 306.
313. .533. 656. 725. B. 134. 166. Pro leg. § 13. Anm. III. § 19. § 27.
§ 36. § 56. § 59. Metaph. Anf. d. Naturw. K. 179. 198. Anthropol. § 7.
4. Brief an Herz vom 21. Febr. 1772. Metaph. 244. 245. 304. In der
Dissertation von 1770 § 6. § 10 und § 15, D. § 30 finden sich als ent-
sprechende Ausdrücke: depromere, mutuare. Der Grund dieser Zurück-
weisung liegt in der Ansicht, dass, „was von der Erfahrung entlehnt ist,
auch nur comparative Allgemeinheit hat, nämlich durch Induction". A. 24.
Das Vorbild der Metaphysik ' ist die Mathematik, die nichts „aus der Er-
fahrung borgt". 713. Die Metaphysik ist jedoch „keineswegs darum erdichtet,
weil sie nicht von der Erfahrung entlehnt ist, sondern enthält die reinen
Handlungen des Denkens" u. s. w., Met. Anf. d. Nat. Vorr. Auch die reine
Moral „entlehnt nicht das Mindeste von der (anthropologischen) Kenntniss
des Menschen", Grdl. z. Met. d. S. Vorr. Auch Ks. Schüler gebrauchen dieses
und ähnliche Bilder. Hauptm. 142: „Raum und Zeit sind unmittelbare
Vorstellungen, keine Geschenke der Erfahrung". (Dag. Heusinger, I, 286:
der Raum „ist ein Geschenk der Natur und also ursprünglich".) Lange,
Gesch. d. Mater. 11. 11. Bau mann, R. Z. und Mathem. IL 526: „Für die
Raumvorstellung brauchen wir nicht draussen betteln zu gehen"!
üebrigens ist der Ausdruck selbst „entlehnt" , denn schon Leibniz sagt im
Avant'Propos zu den Nouveaux Essais (Erdm. 196 B): „Notre dme est-elle
done si vtnde, que sans les images empruntSs du dehors, eile ne soit
rien*'? cfr. ib. 208 A. 208 B. Vgl. schon bei Piaton den „voö<; aio^t(j>
xavcdicaoty ohlrA icpoaypwjisvoc". Rep. 511. C. Schopenh. W. a. W. I, 535.
Born, Phil. Mag. II, 349. Über Ks. „Antipathie gegen die Sinnlichkeit"
bes. Laas, Ks. Anal. 93.
Nun xeigt es sieh^ u. s. w. Dieser erste Satz enthält genau genommen
zweierlei Behauptungen, für welche der Beweis im folgenden Satze erbracht
wird. Die erste Behauptung ist, dass sich unter unsere Erfahrungen fremd-
artige Bestandtheile mengen; die zweite, dass diese fremden Bestandtheile
16g Commentar zur Einleitang A^ S. 1 und 2.
A 2. [R 18. H 86. 87. K 50.]
einen apriorischen Ursprang haben. Die erste Behauptung wird durch den
ersten Theil des folgenden Satzes erwiesen: der Beweis für die fremdartige
Beimischung liegt darin, dass nach Absonderung des Sinnlichen noch ander-
weitige Elemente übrig bleiben. Die andere Behauptung wird im zweiten Theil
des folg. Satzes gerechtfertigt. Jene beigemischten Elemente bewirken nämlich
zweierlei : 1) Man kann von den Sinnendingen in gewisser Hinsicht (quantitativ)
mehr sagen, als die blosse Erfahrung lehrt. 2) Gewisse Behauptungen über
die Sinnendinge sind (qualitativ) anders beschaffen, als blosse Erfahrungs-
eckenntnisse ; denn sie enthalten eine Allgemeinheit und Nothwendigkeit,
welche sich in den letzteren nicht findet. Kant schliesst aus diesen zwei
Wirkungen, für welche die Beispiele ad 1) die Anwendung der Mathematik
auf die Sinnendinge, ad 2) die Verwandlung blosser zuflüliger Wahmehmungs-
in nothw. Erfahrungsurtheile, später gegeben werden, auf die Bedingung : das
Enthaltensein apriorischer Elemente in der Erfahrung. Aehnlich schliesst
Leibniz, Nauv, Ess, 195 A: 8i quelques SvhtemetUs peuvent HreprMis avani
toute ^preuve qu^on en ait faite, ü est manifeste , que nous y contribuons
quelque chose de notre part.
Dass selbst unter unsere Erfahrungen u. s. w. K. unterscheidet somit
zweierlei Arten der apriorischen Erkenntnissgattung : 1) diejenigen apriorischen
Erkenntnisse, welche selbstständig neben der Erfahrungserkenntniss hergehen,
2) solche, welche unter die Erfahrungen selbst gemengt sind, so dass die
Erfahrung einen apriorischen Zusatz besitzt. Als Beispiel für die erste Art
diene der Satz: Gott existirt. Als Beleg für die zweite die Causalurtheile.
Der Charakter dieser apriorischen Erkenntnisse wird hier mit wenigen, aber
markigen und vollständig zureichenden Strichen gekennzeichnet. Die Merkmale
sind: Nicht-anders-sein-können ; wahre Allgemeinheit; innere Nothwendigkeit;
Unabhängigkeit von der Erfahrung; Selbstgewissheit und völlige Klarheit.
Diese Merkmale kehren unzähligemal, z. B. 822 f. wieder und bezeichnen
das Apriori scharf. Die Merkmale der Allgemeinheit und Nothwen-
digkeit werden dann besonders bevorzugt.
Um unseren Yorstellnn^en ZnsammenliEny in verschaffen. Leibn. Now.
Ess. 211 B.: Les principes ghiSraux erUrent dans nos pensSes, dont Us fönt
V&me et la liaison. Ib. 344 B. Vgl. hiezu Schopenhauer, Satz. v. Gr.
S. 89, welcher Abhängigkeit Es. von Leibniz annimmt.
UrsprIIngllehe Begriffe und ans ihnen enenirte Urtheile* Leibniz,
Nouv. Ess. Erdm. 194 B. „Uäme contient originairement les principes de
plusieurs notions et doctrines*' etc. Vgl. Laas, Id. u. Pos. 66 f. Zu
diesen nicht „wegzuschaffenden Begriffen" gehört auch vor Allem die Baum-
anschauung. Vgl. Prol. § 1: „Die Principien der Metaphysik, wozu nicht
bloss ihre Grundsätze, sondern auch Grundbegriffe gehören*'.
Wenigstens es sagen in k5nnen glaubt. Dem scharfen Auge Görings
ist diese unsichere Wendung Ks. nicht entgangen. Er sagt System 11, 146,
E. habe also selbst einige Bedenken hinsichtlich der Zuverlässigkeit seiner
apriorischen Erweiterung der metaph. Erkenntnisse gehegt. Diese oder eine
„Apriorisch** (rein) und „aposteriorisch** (empirisch). 169
[R 18. H 37. E 50.} A 2.
entsprechende Bemerkung fehle in den übrigen Auflagen. Vgl. femer dens.
in der Viert, f. wiss. Philos. I, 411. Diese vorsichtige Restriction —
Kant sei hinsichtlich der Wahrheit der allg. und nothw. Urth. noch nicht sicher
gewesen — sei später weggelassen worden, da sie der in den Prol. und der
zweiten Aufl. entwickelten Theorie der Erf. nicht mehr angemessen gewesen
sei. So ¥rill 6. die Stelle dafür verwerthen, dass in der I. Aufl. die
apriorische Erkenntniss noch keine so positive Bolle gespielt habe, als später.
Das heisst aber doch viel zu viel in diese eben bloss stilistisch ungenaue
Stelle hineinlegen, welche K. daher mit Recht in der 11. Aufl. tilgte.
Erklärung von B, Absclinitt I. (S. 1-3.)
Unterschied reiner und empirischer Erkenntniss.
[B 696. H 33. E 46.] B 1.
Reime «ad empirlMhe Erkenntniss. Es ist bemerkenswerth, dass K. das
später so gebräuchliche Adjectiv „ apriorisch*' noch nicht bildet, das zwar bar-
barisch, aber bequem ist. Noch Krug, Lex. I, 4 (1832) nennt die Wortbildung
eine ^barbarische^ und verwirft sie. Der Erste, der die neue Wortbildung
wagte, war Schmid im „Wörterbuch" schon 1788, er schreibt z. B. S. 17
,a priori-sche", S. 8 „a posteriori-sche" Erkenntnisse. Doch ist das neue Wort
noch selten bei ihm. Wegen dieser Sprachneuerung wird er von Feder, Phil.
Bibl. n, 250 hart angelassen, ,er verunstalte die Sprache und es sei immer
leichter, neue Worte zu machen, als durch Güte der Sachen sich auszuzeichnen".
M ellin, obwohl später, hat das Wort noch nicht. Da K. noch nicht den
Taminus «apriorisch" bildete, und doch zu , empirisch" einen prägnanten
Gegensatz brauchte, hiezu aber auch das bisher übliche Wort »rational"
verschmähte (mit wenigen Ausnahmen 348. 347. 716. 835) \ so bediente er
sich des Ausdruckes „rein". Dieses Wort hat aber bei K, verschiedene,
nicht unbedeutende Bedeutungsnüancen (hierüber zuB, 3. 5, A 11), wodurch eine
gewisse Unbestimmtheit eintrat. Später dagegen kehrt das Wort „rational"
häufig wieder, so sogleich in der Vorrede zur Kritik der prakt. V. 14. 28.
ib. 68. Kr. d. Urth. § 1. Met. Anf. d. Naturw. Vorrede. M. d. Sitten, ßechtsl.
§ 31. Sitten]. Einl. XIIl. Logik, Einl. III u. bes. IX; rational = apodiktisch,
empirisch = assertorisch. Der Terminus Bationalismus für Ks. eigenes
System wird auch erst später häufiger bei K. und findet sich nicht bloss, wie
Paulsen, Viert, f. wiss. Phil. II, 491 meint, in der Schrift über die „Fortschr.
' Im Zusammenhange damit steht die Eintheilang in historische Et-
k^iunimss (cognitio ex datis) und rationale Erk. (cognitio ex principiis),
national ist überhanpt eine Erkenntniss, „welche etwas Allgem. und Kothw.
enthält oder daraus hergeleitet wird", Schmid, Krit. 4.
X70 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 1. [B 695. H 83. K 46.]
d. Metaphysik". Ros. I, 507. Hart. VTII. 534 f., sondern auch schon in der
Kritik der pr. Vem. und der der ürth. Früher hatte K. dafür den Ausdruck
„intellectual'' gebraucht für das, was er jetzt »rein" heisst; so in derDissert.
und in den Briefen an Herz, z. B. vom 21. Febr. 1772. (vgl. oben S. 126.)
Dass alle unsere ErkenntiilsB u. s. w. In diesem Anfange findet Riehl,
Krit. I, 303, 323 zugleich ausgedrückt, dass auch die apriorischen Bestandtheile
des Erkennens erst auf Anlass und bei Gelegenheit der Erfahrung sich ent-
wickeln. „Die Erf. weckt und entwickelt das Bewusstsein, aber das Be-
wusstsein wächst und wirkt nach seiner eigenen Gesetzlichkeit, und dagenige
ist apriori , was in dieser Gesetzlichkeit allein gegründet ist* *. Das Apriori
ist mithin nicht eine zeitlich, sondern eine begrifflich vorhergehende
Erkenntniss. — Alle unsere Erkenntniss fängt mit der Erfahrung an: Dieses
Geständniss, sagt die A. L. Z. 1788, III, 11, hätte K. vor der Unannehm-
lichkeit schützen sollen, sich von so Manchem seiner Gegner beweisen zn
lassen, dass es vor der Erfahrung keine Erkenntniss gebe. — In dieser
* Herder, Met. I, 19 ff. will dagegen einen Widerspruch zwischen Anfang
und Fortsetzung des Abschnittes finden; zuerst heisse es, dass das Erkenntniss-
vermögen durch Sinneseindrticke geweckt werde, und dann sei von Erkenntnissen
die Rede, welche gänzlich von den Sinneseindrücken unabhängig seien. Bei Leibniz,
bei dem sich auch der Ausdruck „dSpendre des aens^ finde, sei dieser Widerspruch
nicht. Vgl. dagegen Schmidt u. Snell', Erläut. 91 — 97. Der Einwand beruht
auf einem offenbaren Missverständniss. Krause, Grundwahrh. 375 findet den
ersten Satz der Kr. „nicht bewiesen, noch kritisch beleuchtet" ; er lässt jedoch K.
von „äusserer" Erf. sprechen; die „innere" Erf. wird allerdings hier am Anfang
nicht berücksichtigt, ist jedoch dem Princip nach nicht ausgeschlossen. Beut er-
weck, Anfangsgr. d. specul. Philos. 197 macht den methodologischen Einwand,
um den Skepticismus zu widerlegen, dürfe man nicht mit einer sich so wie diese
als „unzweifelhaft" gebenden Behauptung beginnen, auch dürfe man nicht die
Unbegreiflichkeit des Gegentheils [„denn wodurch" u. s. w.] als Beweisgrund auf-
stellen. In seiner sehr scharfsinnigen Analyse und theilweise treffenden Kritik
der Einleitung erhebt ülrici(Grundpr. d. Philos. I, 295-314,11, 3) ähnliche Ein-
wände. Die Einl. Ks. enthalte Prämissen, deren Rechtfertigung K. nicht gegeben
habe. „Die Thatsachen, auf denen Ks. ganze Philosophie ruht, können alsThal-
sachen nicht apriorisch, als apriorisch nicht Thatsachen sein." Diesem
Dilemma kann K. nicht entgehen, weil er einfach gewisse Sätze des bisherigen
Dogmatismus zum Ausgangspunkt nimmt, bes. über das Wesen der Erkenntnis^
überhaupt. Für die erste Prämisse — Beginn der Erkenntniss mit der Er-
fahrung — beruft sich K. auf die Nothwendigkeit des Erwecktwerdenmüssens
durch Anstoss, also auf die Denknothwendigkeit des Causalverhältnisses. Eben
darauf beruht auch die zweite Prämisse — Besitz apriorischer Erkenntniss.
Sonach setze K. die Denknothwendigkeit, d. h. die Gültigkeit des nothwendigen
Denkens factisch voraus [ähnlich Aenesidem-Schulze] : hievon hätte er also aus-
gehen müssen, üebrigens bekämpft Ulr. jene Prämissen auch materiell. — Vgl.
Ehrenhaus, Die neuere Philos. 63. Capes ins, Met. Herbarts S. 62. — Dieser
Anfang der 2. Auil. erinnert lebhaft an den ähnlichen Anfang der Aristotelischen
Metaphysik (A, 981 a sq.): Ijjiiretpta Äpx*^ iKtoffjfjLYj?. Vgl. Sigwart, Gesch. III, 37.
Anfang aller Erkenntniss mit der Erfahrung. 171
[B 695. H 38. E 46.] B 1.
ganzen Stelle will Beneke, Kant 66 ^ das Zugeständniss finden, dass — auch
die apriorische Erkenntniss demgemäss eben nicht a priori, sondern empirisch
erkannt werden mnss, da alle Erkenntniss mit der Zeit anfange \ Es liegt
anf der Hand, dass das nicht in die Stelle hineingelegt werden kann, trotz
der Vertheidigung, welche diese Ansicht findet bei Horowitz, de aprioritatis
principio S. 35 f. K. sagt Proleg. § 1, dass der Met. keine innere Er-
fahrung, wie in der Psych, zu Grunde liegen dürfe, wobei allerdings immer
noch zwischen dem Apriori selbst und seiner Auffindung unterschieden
werden könnte, wenn nicht andere Stellen bes. in der Analytik entgegen-
stünden *. Auch Cohen, Ks. Th. d. Erf. 105. 108. 122 verwendet diesen
Anfang der Kritik für die empirisch-psychologische Auffindung des Apriori,
indem er sich gegen Fischer 's gegentheilige Meinung wendet. Smolle,
Ks. Erkenntnisstheorie 28 richtet an E die Frage: „Woher kommt uns denn,
wenn all unser Wissen von der Erf. anhebt, ein Wissen von diesen [aprio-
rischen] Formen selbst?" — Brastberger, Philos. Archiv. I, 4, 97 ergänzt
zu dem Satze: «Mit der Erfahrung fängt alle unsere Erkenntniss an", im
Sinne Kants: ,und mit ihr hört sie auch wieder auf", um so das
ganze K.'sche System kurz zusammenzufassen '. Den ersten Satz umschreibt
Cohen 34: ^Alle unsere Erkenntniss, ohne Ausnahme, fllngt mit der
Erfahrung an." Dies hält Witte, Beitr. 18 für ein Missverständniss!
,Alle unsere" heisse «von uns allen"; „alle" gehe nicht auf das Object,
sondern auf das Subject des Erkennens, „alle" sei eine Verallgemeinerung
des Adjeetivs „unsere". K. woUe sagen: „Die Erkenntniss von allen Menschen
beginnt mit der Erfahrung!" Auch der Schlusssatz dieses Absatzes habe
denselben Sinn: „keine Erk." geht in uns „vor der Erf. vorher". Keine
beziehe sich auf „in uns" u. s. w.! Eine derartige Auslegung ist unerhört. (Vgl.
dag. ib. S. 23.) Witte, ib. 36 verwerthet die Stelle für Auffindung des Apriori
durch Selbstbeobachtung, Spicker Kant 181 gegen die Apriorität des Raumes.
Erweckt werden« Dieser Ausdruck war ein Lieblingsausdruck von
Leibniz und findet sich auch sonst nicht selten bei Kant. Leibniz, Erdm.
194 B (van. Ardang der Nouv. Ess,): „les objets externes reveillent . . . dans
les oeeasums les principes^ etc. 207 B. : „la doctrine externe ne faxt qt/exciter
ee qui est en nous^, Kant in der Diss. § 15 fin. ^excitare", § 14, 5 „elicere^.
und ib. „provocare^. Die bloss äusserliche „Veranlassung" wird nachher
nochmals ganz besonders betont, und dass diese eine gelegenheitliche
ist, spricht Kant im Einverständniss mit Leibniz (194 B. 195 B. 196 B.
* Genau ebenso Schelling, W. W. (1) X, 210 f. über diese „erste Zeile".
* BasB hier ein unheilbares Schwanken Ks. besteht, folgt aach aus der damit
widersprechenden Stelle in d. Fortschr. d. Met (R. I, 552): „Innere Erfahrung
allein ist es, wodurch wir uns selbst kennen". Vgl. hiezu Wangenheim, Verth.
Ks. 8. 47 f. Ueber diese „innere Erfahrung" vgl. auch Reinhold, Briefe II, 25,
Lewes, Gesch. II, 554. Lehmann, Ks. Princ. d. Eth. 8—10. Vgl. oben S. 105.
* Vgl. Helmholtz, Das Sehen d. Menschen S. 6; dag. Witte, Beitr. S. 18.
172 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. I.
B 1. [R 695. H 88. E 46.]
206 B. 208 A. 209 B. 210 A. 223 A. 380 A) mehrfach aus, so S. 86, wo
er die Sinneseindrücke die ^Gelegenheitsursachen nennt, , welche den
ersten Anlast geben, die ganze Erkenntnisskraffc in Ansehung ihrer zu
eröfiiien und Erfahrung zu Stande zu bringen". S. 86. Die Formen des
reinen Anschauens und Denkens werden ,,bei Gelegenheit*' der Empfindungen
„zuerst in Ausübung gebracht*. „Die reinen Begriffe liegen im menschlichen
Verstände vorbereitet, bis sie endlich bei Gelegenheit der Erfahrung ent-
wickelt werden.* S. 66. f. 195. Vgl. bes. Metaph. 145 ff. Meilin III,
800 meint, Kants Ausdruck hier habe einen directen Bezug auf die
Stelle in den Nouv, Ess. 194 B. Solche Parallelgedanken und Wendungen
lassen sich noch viele finden; z. B. Kant, Prol. § 2, c. 1, [= Krit. B. 11]:
zu Urth. a priori brauche ich „kein Zeugniss der Erfahrung* ; vgl. Leihniz,
N. Ess, a. a. 0. „tSmoignage des sens^. Die grosse Aehnlichkeit der Einl.
der Kritik mit der Einleitung der Nanveaux Essais hat schon öfters Auf-
merksamkeit erregt; so hat Abicht in der Preisschr. über d. Portschr.
d. Met. bes. 315. 323. 341 dahin zielende Bemerkungen gemacht. Er
zeigt bes. die Identität des K.'schen Apriori und der Leibniz'schen an-
geborenen Ideen (ib. 313). Vgl. auch Herder, Metakr. I, 17 ff. und bes.
Nicolai, Gel. Bild. 119 ff. Philos. Abh. I, 239. Schulze, Krit. H, 127 ff.
Eberhard in seinem „Phil. Magazin* hebt durchgängig diese Verwandt-
schaft hervor. Vgl. hiezu das Supplement: Geschichte der Unter-
scheidung reiner und empirischer Erkenntniss mit bes. Bezug
auf Leihniz als Vorgänger Kants in diesem Punkte. Besonders be-
merkenswerth ist, dass Leihniz a. a. 0. auch als apriorische Wissenschaften
Mathematik, Metaphysik, sowie Logik und Moral aufi^ählt. Vgl. Ks. Diss.
V. 1770 § 5. Lengfehlner, Das Princip d. Philos. 13, findet in diesen
Einleitungsworten ausgesprochen, was das ganze Werk weiter ausfähre, dass
ohne Anregung durch Dinge an sich unser bloss potentielles Erkenntniss-
vermögen inhaltsleer wäre.
Durch Gegenstände. Zu diesen ersten Sätzen der Einl. macht Brast-
b erger Unters. 2 ff. einige schlagende Bemerkungen. Bei der Frage nach
den wirkenden Ursachen der Entstehung unserer Erkenntnisse liege hier
eine Zweideutigkeit im Ausdruck „Gegenstände* zu Grunde; wenn man diese
übersehe, so folge eigentlich schon aus den paar ersten Sätzen der Kritik
das ganze System mit zwingender Gonsequenz. Brastb. fragt, was fnr
„Gegenstände* denn K. meine; „gewiss keine Dinge an sich, die ausser
unserem Erkennen da sind und für sich bestehen und bleiben, wenn auch
unsere Erkenntniss aufhört" ; dies würde nicht nur dem Inhalt der ganzen
Krit. völlig widersprechen, sondern es dürfte auch in der Einl. nicht schon
als bewiesen mit solcher Zuversicht behauptet werden ^ Folglich seien
* Auch Grohmann (Dem Andenken Kants 103) meint im Anschluss an Beck:
^Man verkennt die Kritik ganz, wenn man glaubt, dass wenn sie [wie eben
hier in der Einl.] von äusserer Erfahrung spreche, sie eine wirklich äussere
Das Problem der Aflfection durch „Gegenstände". 173
[R 695. H 33. K. 46.] B 1.
jene, unsere Sinne rührende Gegenstände eben unsere Vorstellungen
selbst. Folglich , können sie auch keine wahre reelle, sondern nur eine
scheinbare Quelle ungerer Erkenntniss sein ; es kommt uns nur so vor , als
ob es Dinge w^en, die uns afficirten und solche Vorstellungen bewirkten".
Nach Brastb. ist also hier eine Unklarheit, ob die von K. eingeführten
G^enstSnde die Gegenstände des gemeinen Menschenverstandes, oder die Dinge
an sich der Philos. seien ; sind jene ersten gemeint, wie kann man sagen, sie
afficiren uns, da sie docb nur unsere Vorstellungen sind und Affection durch
sie nur Schein ist;' sind die zweiten gemeint, mit welchem Rechte werden
solche gar nicht bekannte Dinge an sich zudem noch als wirkende eingeführt?
Brastb. legt hier den Finger auf den tiefsten Schaden des ganzen Systems;
seine Bemerkung ist ganz treffend. Er schüesst dann scharfsinnig weiter:
Gleichermassen, wie es nur ein Schein ist, wenn wir die uns umgebenden
Gegenstände, die doch nur unsere Vorstellungen sind, für unabhängige Dinge
halten, welche auf uns wirkend eben ihre Vorstellungen verursachen, so
muss es consequenterweise auch nur als ein Schein betrachtet werden, oder
wenigstens als ein sehr voreiliger Schluss, wenn wir sagen : alles, was nicht
durch Einwirkung jener Gegenstände in uns gekommen ist, muss aus uns
stammen. Die Unterscheidung empirischer und reiner Erkenntnisse gebe
das Verhältniss nur wie es erscheine, nicht wie es an sich selbst sei, und
sei somit irrthümlich. Brastb. recurrirt dann zwar doch auch schliesslich
im E.'schen Sinn auf sog. wirkende „Urdinge". Seine Einwände und Be-
merkungen sind aber höchst beachtenswerthe. Er hebt das K.'sche Gebäude
mit Ks. eigenen Mitteln aus dem Boden. Brastb. bemerkt ganz richtig, dass
K. hier von den Gegenständen so spricht, dass man darunter die bekannten
äussern Gegenstände im Baum verstehen muss. Sein Gedankengang ist dann
S. 8 ff. ib. femer so, dass er zwar zugibt, dass von diesen Gegenständen
die allgemeinen und nothwendigen Begriffe und Urtheile nicht abzuleiten
sind, dass er aber hier die scharfe Wendung macht und behauptet, der
Schluss, als stammen sie aus dem Subject, sei falsch, denn jene Vorstellungen
können doch in reellen Sachen ausser uns (im transscendenten Sinne) so ge-
gründet sein, dass deren Zusammenwirken mit uns jene Vorstellungen her-
vorbringt. Wie die sinnliche Vorstellung der äusseren Gegenstände letzte
reelle Grande voraussetzt, so können auch die Vorstellungen Raum, Substanz,
Erfahrung oder ein System von an sich bestehenden Dingen darunter begreife."
Dagegen Born, Phil. Mag. II, 326 gegen die „Kritischen Briefe** S. 3 findet hier
auBdrücklich Dinge an sich anerkannt. Speciell als „duaUsttcal assumption**^ welche
K. ans Locke und Hnme her übergenommen habe, brandmarkt Watson diese
Prämisse (Joum. of spee, Phil. X, 119); ebenso ib. XI, 148 R. C. Ware: K. be-
g:inne mit dem alten Cartesianischen Dualismus von thought and thing as opposed
9ide8 of th€ World y dedaring the gulf hetween them to he impaaaahle. Nach
Phil. Mon. X, 230 erhob auch J. Sniadecki in seiner Metakritik ähnliche
Einwürfe.
174 Commentar zur Einleitung B, Absctin. I.
B 1. [B 695. H 33. E 46.]
Causalität u. s. w., welche E. als apriorische behandelt, abhängig sein Ton
jenen letzten Bealgründen, wenn sie auch unabhängig sind von allen Gegen-
ständen, die sich uns darstellen. Kurz: Brastb. weist ganz scharfsinnig
nach, dass Kant die Unabhängigkeit jener Vorstellungen von den äusseren
sinnlichen Gegenständen sofort in eine Abhängigkeit von unsierem Subject
verwandelt habe, ohne die dritte Möglichkeit zu bedenken, dass jene Vor-
stellungen doch noch bedingt sein können durch die wahren eigentlichen
Dinge an sich. Diese Vernachlässigung liegt somit seines Erachtens in der
Verwechslung der äusseren Gegenstände mit den Dingen an sich, in-
dem K. die Unabhängigkeit von jenen auch als eine Unabhängigkeit von
diesen fasse. Jene dritte Möglichkeit ist Brastb. eigene Meinung (vgl.
S. 21. 88 f.), also ein modificirter Leibnizianismus, wie er auch bei Garve,
Pistorius, Feder und später bei Herbart auftritt; ohne dass jedoch
Jemand so scharfsinnig wieBrastberger sogleich in den ersten Sätzen
den logischen Fehler nachgewiesen hätte, auf dem jene Nichtbeachtung der
3. Mögl. beruht. Vgl. hiezu Tüb. Gel. Anz. 1792 Stück 49 und Brast-
bergers Entgegnung in Eberhards Philos. Mag. IV, 897—403, wo der Ge-
danke noch spezieller dahin ausgeführt wird, dass Ks. Widerspräche durch
diese Auslegung beseitigt werden können. Die uns afficirenden Gegenstände
sind nur unsere Vorstellungen, d. h. jene Affection ist blosse Vorstellung.
K. bleibe damit innerhalb des menschl. Bewusstseins stehen, und wolle
hier noch nichts Transscendeutes bestimmen. Denn das könne er nicht, das
widerspreche ja seinen späteren Bestimmungen über das D. a. s. als eine
blosse Idee. Gegen Einwände von Eberhard, der Allg. D. Bibl. Bd. 104 u. a.
vertheidigt Brastb. seine Auffassung Ks. scharfsinnig in Eberhards Phü.
Archiv I, 4, 91 ff., wo er seine „ subtile" Unterscheidung eines nothwendig
gedachten Dinges an sich und eines wirklich vorausgesetzten weiter ausführt
und aufs Neue geltend macht, dass K. im Beginn seiner Kritik nicht von
wirklichen, sondern nur von dem gedachten, somit unwirklichen D. a. s.
spreche. Vgl. Bendavid, Urspr. d. Erk. 12. 25 ff. Schärfer und richtiger
als Brastberger fasst Eberhard die Sachlage, indem er einfach den vorhan-
denen Widerspruch constatirt. Phil. Arch. I, 2, 40 ff. (vgl. II, 1, 94 ff.): ^Es
ist ein auffallender Widerspruch in den ersten Gründen der kritischen
Philosophie.* Bei der Lehre von dem Ursprung der empir. Erkenntniss
wird die doch nachher in Frage gestellte, sogar geleugnete Wirklichkeit
und Causalität von Dingen an sich einfach behauptet und vorausgesetzt.
Die Brastbergerische Auslegung findet Eb. unmöglich mit Hinblick auf
andere Stellen Ks. , insbes. auf Entd. R. I, 446, es seien Dinge an sich
wirklich, welche durch ihre Eindrücke das Erkenntniss vermögen zu der
Vorstellung eines Objectes bestimmen. Ebenso nackt fasst Schwab den
Sachverhalt (Preisschr. 148); er zählt es als den ersten und auffallendsten
Haupt Widerspruch Ks. auf: „Die krit. Phil, fängt mit den Aussprüchen des
gemeinen Menschenverstandes an; sie spricht z. B. gleich im Anfang der
Kr. von Objecten, die unsere Sinne afficiren, und endiget damit, diese Aus-
Die „Rührungen ** der Sinne nnd der „Rohstoff" der Empfindung. 175
[R 696. H 83. K 46.] B 1.
Sprüche nipziistossen'^.^ Schulze, Krit. II, 144. 152. 160 tadelt, dass K.
ohne weiteres in der Einleitung einen so wichtigen Punkt wie die Affection
Yon aussen hinstelle, ohne alle Vorbereitung, Einführung und Beweis u. s. w.'
Dass es sich bei den Hume'schen impresaions um dieselbe Inconsequenz
bandle, wird vielfach behauptet, andere halten das nur für Accomodation.
Neeb, Vem. 55. Laas, Ks. Anal. d. Erf. 830. [Weiteres über diesen wich-
tigen Punkt s. beim Beginn der Aesthetik, wo auch Fichte 's gewaltsame
Auslegung (W. W. I, 487) zur Sprache kommt.]
Die unsere SlDiie rfihren. „Kühren'', neben „afßciren*' damaliger Srach-
gebrauch für unser heutiges: „reizen". „Rührung* gebrauchen die Schrift-
steller des XVIII. Jahrh. statt. „Heiz''. Z.B. Mendelssohn, Morgenstunden
33. 332. Eberstein, Gesch. d. Log. 11, 149. 11, 282 (Rührungen der
Sinne). Reimarus, Gr. d. menschl. Erk. S. 4. 5. Platner, Aphor. III. Aufl.
(1793) §61: „in allen Sinneswerkzeugen entsteht also von dem Gegenstande
eine Veränderung oder Rührung". Bei K. z.B. Prol. § 36. Naturgesch.
des Himmels. Anhang: „Eindrücke und Rührungen, die die Welt im Menschen
erregt.* Metapbys. 101 „die Sinne beweisen nur die Art der Rührung
von den Erscheinungen [!] in mir". Rührung in gewöhnl. ästh. Sinne s. Krit.
d. Urth. § 26. Metaph. 167. Wenn K. Kritik S. 802 sagt: „Das was reizt,
d. h. die Sinne unmittelbar äfßcirt", so ist damit nicht nach unserem Sprach-
gebrauch die Affection des Vorstellungsvermögens, sondern die des Begehrungs-
Termögens gemeint. K. gebraucht den Ausdruck Reiz im ästhetischen und
im eth is eben Sinn. Noch Kiesewetter Log. 11, 257 sagt (1806) : „Reiz bezeichne
einen Eindruck, durch den das Lebensgefühl erhöht d. h. die Thätigkeit
befördert werde". Kr. d. Urth. § 14 u. § 42. Der Ausdruck „Reiz" „reizen"
wurde erst um jene Zeit, insbes. durch A. v. Hallers Elementa Physiologiae ein-
geführt, als Bezeichnung für die Affectionen des Vorstellungsvermögens; die
damaligen physiologischen Systeme betrachteten als die beiden Grundeigen-
schaften der Animalität die Irritabilität (Reizbarkeit) und die Sensibilität (Fühl-
barkeit); der erstere Ausdruck wurde, entsprechend der Bedeutung von
dimulus, Stimulare ', zuerst nur fiir die Anregung der willkürlichen Bewegung
gebraucht*, dann aber bald auf die Ursachen der Perceptionen ausgedehnt^;
so z. B. Mellin im W. B. IH, 775 (1800), während er ib. I, 241 (1797)
' Vgl. hiezu Eberstein n, 261 flf. 280 f. 282 f. 294, 503 f.
' Derselbe Einwand auch bei Rdmusat, Phil. AU. XI. XIX.
' f^Stimidua*^ gebraucht K. in der Diss. von 1770, ebenso „excitare^ ; letzteres
auch Leibniz im Avant-Pi'opos zu den Nouv. Eas.^ u. Maupertuis (Leüres).
* Z. B. Kant, 1796, Verkündigung des nahen Abschl. I. Abschn. init. Hufe-
iand. Ideen über Pathogenia S. 50.
* Vgl. hierüber A. D. B. 40, 475 flf. vgl. 68. 494. über Herders Erkennen
und Empfinden 1778: Reiz ist „äussere Wirkung auf die Seele durch Kräfte".
Sie geschieht durch „Berühren". — Der Terminus „Rührung" involvirt eine
mechanische^ „Reiz" eine dynamische Beeinflussung. Vgl. Baader, W. W. IV,
101. Vn, 252. Vgl. Witte, Zur Erk. 22,.u. dag. Spicker, Kant, S. 124.
176 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 1. [R 695. H 83. K 46.]
noch dem ersteren Sprachgebrauch huldigt. Die neue Sprechweise entsprach
übrigens ganz den Eantischen Anschauungen und gelangt-e vielleicht dadurch
zur schnellen Anerkennung, denn Beiz ist (vgl. Krug, III, 495) überhaupt
alles, was zur Thätigkeit erregt. Nun ist aber nach Kants Anschauung schon
jede Sinnesempiindung eine Thätigkeit, eine Folge der selbsteigenen Activität
der Seele , .trotzdem bei K. allerdings noch häufig die Sinnesempfindungen
als „ passiv' bezeichnet werden ^; besonders bei Schopenhauer spielt der
Ausdruck dann eine grosse Rolle, üeber den mit diesem Ausdruck und
mit der darin liegenden Vorstellung der causalen Affection getriebenen
dualistischen ünfiig vgl. Henle, Anthropol. Vortrage 11, 130. Inwieweit
diese Vorwürfe auch Kant treffen, darüber später.
Den rohen Stoff« Der Stoff heisst roh, wenn er als noch unverknüpft,
unverarbeitet gedacht wird. „Diesen rohen Stoff können wir aber nicht
wahrnehmen, weil die Vorstellungsthätigkeit sogleich bei der Entstehung
der Eindrücke verknüpft. Daher kömmt es uns eben vor, als käme die Ver-
knüpfung ebenso in uns hinein, wie die Eindrücke selbst." Mellin II, 337.
In diesen einfachen einleitenden Bestimmungen über den Stoff und seine
Bearbeitung durch den Verstand eine Beeinflussung durch Hume zu sehen,
wie Ch. Ritter, K. u. H. 10 will, ist nicht nothwendig. Zwar sagt auch
Hume, Ess, on Und. Abth. III, dass all die schöpferische Kraft der Seele
nur die Fähigkeit sei, den durch die Sinne gewonnenen Stoff zu verbinden,
umzustellen, insbes. nach den Associationsgesetzen , allein diese Gedanken
sind denn doch zu allgemein, als dass sie nicht auf dem Boden jedes
Philosophen von selbst wachsen konnten. Bei Locke findet sich dasselbe
z. B. Vers. II, 1, 5. Hamann in seiner Recension (Reinhold, Beitr. 1801,
n, 209) ironisch: „Erfahrung und Materie ist also das Gemeine, durch
dessen Absonderung die gesuchte Reinigkeit gefunden werden soll, und
die zum Eigenthum und Besitz des Vernunftvermögens übrig bleibende
Form ist gleichsam die jungfräuliche Erde zum künftigen System
der reinen Vernunft.« — Auch Caird, Phü. of Kant 203 sagt: MaUer
äUogether unformed is a tnere abstraction, like the Äristotelian npwrq ßXir).
Die Erfabrnn; heisst. Auch hier wird Erfahrung in jenem schon oben
165 bemerkten zweideutigen Sinne gebraucht, und heisst: der durch den Ver-
stand verarbeitete Rohstoff der Empfindung : Kant lässt es hier zunächst an-
entschieden, ob diese Verarbeitung schon eigentlich apriorische Elemente ein-
schliesst, oder ob nur diejenige Verwandlung der Empfindungen in Allgemein-
begriffe gemeint ist, welche durch die bloss logische Reflection entstehen
kann. In den beiden folgenden Absätzen gebraucht K. ausserdem den Aus-
druck „Erfahrung* auch im allerniedersten Sinn, wenn er sagt, nicht alle
^ Göring^ System 11^ 161 wirft K. vor, dass er mit einem Satze beginne,
der nur von naiven Realisten angenommen werden könne, dass nemlich die Gegen-
stände von selbst Vorstellungen in uns bewirken, nhier ei*8cheinen die Sinne als
der rein receptive und passive Spiegel "^ Vgl. ülrici, Gnindp. I, 302.
Dreifacher Sinn von „Erfahrung". 177
[R 695. H 33. E 46.] B 1.
Erkenntniss entspringe aus „Erfahrung", was hier mit Sinnesempfindung
identisch ist und: ein Theil der Erkenntniss habe seine Quellen in der „Er-
fahrung* (a posteriori). Im zweiten Satze des zweiten Absatzes wird „ Er-
fahrungserken ntniss" aber jedenfalls in dem prägnanten Sinne gebraucht, der
besonders in der Analytik zur Geltung kommt; dass K. dort Erfahrung
im strengen Sinne gemeint habe, geht aus der Parallelstelle 86 hervor, wo
übrigens auch „Erfahrung" zuerst im gewöhnlichen Sinne zu nehmen ist:
.iTan kann von den Kategorien die Gelegenheitsursachen in der Erfahrung
aufsuchen, wo alsdann die Eindrücke der Sinne den ersten Anlass geben,
die ganze Erkenntnisskraft in Ansehung ihrer zu eröffnen, und Erfahrung
zu Stande zu bringen, die zwar sehr ungleichartige Elemente enthält, eine
Materie zur Erkenntniss aus den Sinnen, und eine gewisse Form, sie zu
ordnen, aus dem inneren Quell des reinen Anschauens und Denkens." — Dass
in der Einleitung* der Ausdruck „Erfahrung" in verschiedenen Bedeutungen
gebraucht wird, bemerkt schon Maimon, Krit. Unters. 53 ff. Ders. unter-
scheidet viererlei Bedeutungen von „Erfahrung", deren erste ist: Ein-
zelne Wahrnehmung, deren vierte: Objective Nothwendigkeit in der Wahr-
nehmung (was K. auch „Erkenntniss" im prägn. Sinne nennt. Vgl. Schultz
Prüf. I, 3). M. gibt K. schuld, von der ersten Bedeutung sogleich mittelst
eines Salto mortale zur vierten überzuspringen. Auch erhebt M. den Vor-
wurf, „dass K. die Zwischenstufen der Erfahrung nicht beachtet habe, die
doch vielleicht ein Licht auf die Entstehung der Erkenntniss a priori werfen
könnten, sowie auf die Möglichkeit einer solchen Erfahrung im prägnanten
Sinn, wie sie K. annimmt." Von dreierlei „Erfahrung" ist in dem ersten Ab-
schnitt die Rede nach Spicker, Kant 31 : 1) rein empirischer Sinn = Em-
pfindung; „alle unsere Erk. f&ngt mit der Erf. an". 2) Populärer Sinn
= gehäufte, wiederholte Wahrnehmung ; die Erf. lehrt, dass, wenn man die
Fundamente eines Hauses untergräbt, dieses einstürzen muss. 3) Streng
wissenschaftlicher Sinn = System der Erfahrungserkenntniss: „Unsere
Erf. ist zusammengesetzt aus Eindrücken und Zusätzen des Erk.-Verm." [Im
letzteren Sinne spricht Fischer, Gesch. III, 310 von „Erfahrungsurtheilen
a priori", von Urtheilen, welche zugleich empirisch und metaphysisch sind.
Hier sind die Gegenstände unserer Erkenntniss empirisch und die Erkennt-
niss selbst metaphysisch. Die Erkenntniss sinnlicher Dinge braucht
noch nicht eine sinnliche Erkenntniss zu sein.] Üeber den Doppelsinn
von Erfahrung vgl. Meyer, Kants Psych. 161. Lewes, Gesch. II, 553
und besonders Göring, Ueber den Begriff der Erfahrung in der Viert, f.
^viss. Philos. I, 406 ff., wo eine Reihe K.'scher „widersprechen,der" Def. von
^ Es ist gar nicht zu leugnen, dass K. hier zwischen 1) dem Rohstoff^
2) seiner Verarbeitung durch den gemeinen Verstand, und 3) der durch die Formen
des reinen Verstandes nicht scharf genug unterschieden hat, bes. im Vergl. mit
Proi. §18 — 20, womach, im vollsten Gegensatz gegen hier, „Vergleichung"
und „Verknüpfung" noch nicht zur „Erfahrung" genügen. Vgl. zu B 5.
Valhlnger, Kant-Commentar. 12
178 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 1. [R 695. H 33. E 46.]
Erf. zusammengestellt sind. Ueber den Begriff der Erfahrung bei Locke
und Leibniz s. Zimmermann, Lambert 6 ff . — Prihonsky, Antikant 24
tadelt, dass der Begr. d. Erf. als ein schon bekannter und nicht erklärungs-
bedürftiger vorausgesetzt werde. Vgl. Schaarschmidt, Phil. Mon. XIV, 3 ff;
V. Wangenheim, Verth. Kants S. 23, und dazu Knauer, Phil. Mon.
XIII, 208. 210. Proelss, Ursp. d. Erk. 110. Falsch bei Watson, J. of
spec. Phil. X, 118: Die Kritik beginne mit dem gewöhnl. Begriff d. Erf.
und endige mit dem kritischen; daher „the appearance of cotUradietion
hettoeen the earlier and later poriions of his workJ^ Vielmehr finden sieb
jene beiden Begriffe schon in der Einl. Ganz falsch bei Jacobson, Auff. d.
Apr. 18. Cfr. Laas, Ks. Anal. d. Erf. 10. 179. 225. 325. Witte, Z. Erk. 15.
Der Zeit nach u. s. w. Mit dieser Abweisung der zeitlichen Priorität
irgend einer Erkenntniss vor der sinnlichen Empfindung sucht K. einen
Mittelweg zwischen dem Empirismus von Locke und der cartesianischen
Lehre angeborener Vorstellungen einzuschlagen, den übrigens schon Leibniz
eröffnet hatte, bei dem sich jedoch auch zeitliche Priorität findet z. B.
Nouv. Es8, Avant -Propos ^rdm. 194 B: „par avoTice^ K An die Stelle zeit-
licher und actueller Priorität setzt K. das dynamische, psychologische, in
der Analytik das logische Prius. Man hat sich jedoch durch die bestimmte-
Erklärung an dieser Stelle darüber täuschen lassen, dass K. an anderen
Orten doch eine zeitliche Priorität der apriorischen Erkenntnisse lehrt.
Die apriorischen Erkenntnisse haben wir also nicht vor der Erfahrung, aber
abgesehen von ihr (Erdmann, Entw. III, 1. 45). Das Zeitliche wurde
natürlich bald sehr häufig in den Begriff des a priori hineingemischt. So
z. B. bei Herder, dem Kiesewetter, Prüf. I, 51 entgegentrat, es sei
langweilig, immer wiederholen zu müssen, „dass ürth. a priori nicht solche
sein sollen, die der menschl. Verstand der Zeit nach vor aller Erf. föllt,
sondern deren Grund in ihm selbst liegt." Vgl. Block, Ursp. d.
Erk. 114. Bei Apelt, Metaph. 24 ff. 27. 40 gehen beide Bestimmungen
durcheinander'. Spicker, Kant etc. 14 findet gleich im ersten Abschnitt
einen Widerspruch, indem K. einerseits eine zeitliche Priorität leugne, und
doch von einer von aller Erf. unabhängigen Erkenntniss spreche. Bei rich-
tiger Auslegung verschwindet dieser Widerspruch, wie auch schon Me in ong
Phil. Mon. XII, 340 ff. richtig bemerkt. (Vgl. auch Spicker 25 Anm.)
Wenn gleich alle unsere Erkenntniss mit der Erfahrnngr anhebt u. s. w.
In diesem Satze ' ist das Grundprincip der Kantischen Erkenntnisstheorie
^ Vgl. Euler, Briefe an eine d. Prinz., 8. Br. 81: „Der erste Stoff wird
ihr [der Seele] von den Sinnen zugeführt, daher es der Zeit nach das erste
Vermögen der Seele ist, gewahr zu werden oder zu empfinden."
■ Dagegen Fries, Gesch. d. Phil. II, 514 betont die Ausschliessung des
Zeitlichen. Ebenso Harms, Gesch. d. Logik, S. 219 u. bes. Caird. Phü. of K. 2ü2.
' „Diese ersten Sätze enthalten den Grundkanou des K.'schen Kriticismoä in
nuce"", Schaarschmidt, Philos. Monats. XIV, (1878), S. 2 f. Nach ihm mus«
Alle Erkenn tniss hebt zwar mit der Erfahrung an. 179
[R 695. H 33. E 46.} B 1.
angemein schlagend herausgehoben. Vgl. Fortschr. K. 115, R. I, 507. „Der
Grundsatz, dass alle Erkenntniss [hier schieben die Ausgaben ein ganz
sinnloses , nicht* ein, wie auch Riehl, Krit. I, 323 Anm. bemerkt hat,]
allein von der Erfahrung anhebe, welches eine quaestio facti betrifft" . . .
drückt eine Thatsache aus, die „ohne Bedenken zugestanden wird". „Ob sie
[d. h. die Erkenntniss] aber auch allein von der Erfahrung als dem obersten
Erkenntnissgrunde abzuleiten sei, dies, ist eine quaestio juris, deren
bejahende Beantwortung den Empirismus derTranssc. Phil., die Verneinung
den Bation alismus derselben einführen würde" '. Vgl. Apelt, Met. 27:
Kants Erkenntnisse a priori gelten weder vor noch nach der Erfahrung,
sondern in der Erfahrung, aber nicht durch Wahrnehmung. K. erkennt
den negativen Theil des Empirismus an, dass keine Erkenntniss vor der
Erfahrung anhebe; aber er bestreitet die positive Behauptung desselben,
dass alle Erkenntniss aus der Erfahrung entspringe. Vgl. Metz, Darst. 29.
.K. zog den Humeischen obersten Grundsatz selbst in Zweifel." Cohen 3:
.In diesem Satze wird die Erfahrung als ein Bäthsel aufgegeben. Die
Auflösung dieses Räthsels ist der Inhalt der K. 'sehen Philosophie." Was
Cohen damit meint, erhellt aus S. 191: „Zu allererst wird Hume (von K.)
auf den Widerspruch, der in dem Begriffe der Erfahrung liegt, aufmerk-
sam gemacht. Der Anfang braucht nicht auch der Ursprung zu sein.
Gibt es - . . eine ursprüngliche Erkenntniss, die über den Anfang hinaus
li^?" Diese Herbartisirende Wendung (in der Erfahrung liege ein Wider-
spruch), ist weder durch die Sache, noch durch Ks. Ausdrucks weise geboten,
oder auch nur gestattet. Die blosse Möglichkeit, dass ein Theil der Erkenntniss
trotzdem^ dass alle Erkenntniss mit der Erfahrung anfange, nicht aus der Erfah-
rung entspringe, enthält keinen Widerspruch, sondern nur einen Einspruch
gegen eine unnÖtMige Consequenz. Nicht um die Lösung eines Räthsels handelt
es sich, sondern um die Feststellung einer hier zunächst nur als Möglichkeit
eingeführten Thatsache, um die Frage, ob in der Erfahrung apriorische
Znsätze seien *. In diesem Satze ist ausserdem Ks. Verhältniss zu den beiden
die Philosophie bei diesen Sätzen stehen bleiben; so auch ib. XlII^ 371 0. Schneider:
,die grosse Arbeit der drei Kritiken ißt der Begründung jenes Satzes gewidmet."
* Krag, Lex. I, 757 umschreibt diesen Satz so : „Es ist zwar unzweifelhaft,
dass wir ohne Erfahrung keine Erkenntniss haben würden, dass jene also die
negative Bedingung {conditio sine qua non) sei. Daraus folgt aber nicht, dass
alle Erkenntniss dnrc'h blosse Erfahrung begründet werde, dass mithin diese
auch die positive Bedingung jeder Erkenntniss sei." Aehnlich Born, Phil.
Mag. II, 328 gegen den „Kritischen Briefschreiber" S. 3. Dag. Pesch, Mod. Wiss. 24.
* VgL gegen Cohen Witte, Beiträge 17. Er meint, Cohen habe in dem
Satze Kants „Wenn aber gleich alle Erkenntniss mit der Erf. anhebt, so ent-
springt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung", das Pronomen sie
Btatt auf Erkenntniss auf Erfahrung bezogen und dem Satze also ein
falsches Subject gegeben. (Das Räthsel hafte der Erfahrung bestünde
180 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 1. [R 695. n 33. E 46.]
gegnerischen Schulen von ihm ausgedrückt: beidemal ist Anerkennung und
Bestreitung verbunden. Cohen 4: j,Der erste Satz enthält die Anerkennung,
dass auf beiden Seiten natürliche Bechte bestehen, wenn sie auch unrichtig
sich geltend machen: das Anheben wird dem Skepticismus, das
Nichtentspringen dem Dogmatismus eingeräumt\ Wie beides sich
vereinigen lasse, hat der neue Begriff der Erfahrung zu lehren." Denn nach
Cohen hat K. „einen neuen Begriff der Erfahrung" entdeckt *. Die Kritik
der r. V. ist Kritik der Erfahrung. „Von der genauen Bestimmtheit dieses
Begriffs der Erfahrung hängt es ab, ob K. durch seine Kritik die natür-
lichen Ansprüche sowohl des Skepticismus der Empirie, als auch des Dog-
matismus der r. V. befriedigt und damit den Streit derselben geschlichtet
hat." S. 33: Mit dem ersten Satze der Kritik (dass alle unsere Erkenn t-
niss u. s. w.) hatte sich „K. auf Hume*s Seite gestellt" : aber im zweiten
Absätze restringirt er diese Anerkennung; und wenn er dort, „dem Vor-
urtheil der unkritischen Vernunft" entgegen getreten war, so tritt er hier
„der irrigen Consequenz des unkritischen Zweifels" entgegen*. Vgl. Cohen
dann also wohl darin^ dass sie^ die Erfahrung selbst, nicht eben allt'
aus der Er f. entspringt.) Dunkel sei aber offenbar nach K. der Ursprung
der Erkenntniss, während bekannt sei ihr Anfang, die Erfahrung. Dat?
Räthsel sei das Zustandekommen der Erkenntniss, nicht das der Erfahrung: kurz
Cohen habe jenen Satz grammatisch falsch ausgelegt. Zu dieser berüchtigt ge-
wordenen Unterstellung gibt jedoch der Wortlaut bei C. keinen Grund, wenn auch
allerdings der Sinn jene Unterschiebung der Erfahrung statt der ErkQuntnisij
enthält. Cohen fasst eben die Kritik d. r. V. ganz einseitig als Krit. d. Erf. auf.
^ Ebenso ülrici, Grundpr. I, 296 und Will m, Phü, AU. I, 112: Dieser
erste Satz ist auch „le rSsuUat gSnSral*^ der Kritik. Desduits, PhÜ. de Kant
37. 161 f. Scharfe Analyse der Stelle bei Witte, Zur Erkenntnissth. 16.
• Diese neue Entdeckung hat, wie Witte, Beitr. 19 richtig bemerkt, den
Sinn der Herbart'schen Sprache : „K. hat den Begriff der Erfahrung neu bearbeitet''.
• Während hier, am Anfang der Kritik, als ein Grundsatz gelehrt wird, dass
der empirische Anfang der Erkenntniss den nicht-empirischen Ursprung derselben
(oder wenigstens eines Theiles derselben) keineswegs ausschliesst, wird im Fort-
gang derselben (am Schluss der transsc. Deduction, 2. Aufl. § 27 [B 166]) ein Satz
aufgestellt, welcher als das ergänzende Gegenstück zu diesem Satze zu
betrachten ist, wie er auch formell oifenbar an denselben anklingt. Dort heisst
es: „Aber diese Erkenntniss, die bloss auf Gegenstände der Er-
fahrung eingeschränkt ist, ist darum nicht alle von der Erfahrung
entlehnt." D. h. der empirische Umfang der Erkenntniss schliesst keineswegs
ihren empirischen Ursprung ein. Beide Formeln sind in dieser Fassung zunächst
gegen die falschen Consequenzen des Empirismus gerichtet. Kehrt man sie
jedoch -- und das ist durchaus im Sinne Kants — um, so richtet sich die Spitze
gegen den Rationalismus: der nicht^empirische Ursprung eines Theüs der
Erkenntniss schliesst dessen empirischen An- und Umfang nicht aus, sondern ein.
Beide Formeln — in ihrer doppelten Fassung — bilden dieSumma derKant-
schen Erkenntnisstheorie.
Aber nicht alle Erkenntniss entspringt ans der Erfahrung. 181
[E 696. H 33. E. 46.] B 1.
a. a, 0. 166 f., wo diese ersten Sätze als ein Gespräch zwischen Hume,
Leibniz und Kant dargestellt werden. Mit dem Gegensatz von Anfangen
und Entspringen spielt Cohen a. a. 0. 34 ff. (vgl. auch S. 88. 89. 167.
191) in einer theil weise orakelhaften unverständlichen Weise. (Auch Witte
Beitr. 13, 18 legt viel in diesen Gegensatz hinein, wenn er sagt: ,Nach K.
ist der Ursprung als der absolute von jeder endlichen Entstehungsweise
unabhängige Quell unseres Erkennens vermöge seiner apriorischen Natur
über jenen Gegensatz (von angeboren und erworben) erhaben, und von
dem zeitlichen Anfange, der in der Erfahrung liegt, vollständig verschie-
den.") üeberhaupt ist Cohens Erörterung (S. 34) der ersten Sätze der Einleitung
nicht durchaus Kantisch gehalten, stellenweise jedenfalls zu dunkel und ge-
sucht. Richtig ist dagegen folgende Paraphrase: „Wir dürfen die Eindrücke
nicht als letzte Formelemente der Erf. hinnehmen. Am Ende ist doch in
den Elementen, welche als die einzigen Bausteine der Erfahrung gelten —
ein Apriori verborgen.* Unsere Erf. besteht nicht bloss aus psychologischen
Associationen; es gibt darin Bestandtheile höherer Dignität. Erf. verliert
damit den alten Sinn. Dagegen ist a. a. 0. 191 ff. der logische Gang des
I. u. n. Abschnittes der Einl. unrichtig wiedergegeben. S. 34 macht Cohen
mit Recht auf den , erheblichen" Unterschied zwischen „anheben" und „ent-
springen" aufinerksam. Das „Anheben mit der Erfahrung" schliesse einen
anderen Ursprung, als den aus der Erfahrung nicht aus. Das „darum" sei
zu beachten. Darum, wegen des Anhebens mit der Erfahrung, sei die
Consequenz des empirischen Ursprungs noch nicht geboten. Das sei eine
falsche, unnöthige Consequenz. Die im nächsten Satz enthaltene Möglichkeit
bleibe „darum" doch noch offen. Diese Bemerkung ist auf Apelt, Metaph. 32
zurückzufuhren. Vgl. Spicker, Kant u. s. w. 31. — Heynig, Herausf.
60 ff., macht den Versuch, aus der Wahrheit des ersten Theils dieses Satzes
die Unwahrheit des zweiten zu erweisen. Eben weil alle Erkenntniss mit
der Erf. anfängt, entspringt sie alle aus ihr : denn das Erk.-Verm. kann als
blosse leere Kraft nichts Inhaltliches dazu thun. Erkenntniss entsteht nur
.durch Beherzigung von Eindrücken und Empfindungen". Es bedarf
keines Zusatzes zur vollgenügenden Erkenntniss. Die Behauptung einer
solchen Zuthat ist ihm „ewiglich ein finsteres Geheimniss". [Heynig hat
dieses ganze Thema des Ursprungs unserer Erkenntniss mit ausdrücklicher
Beziehung auf den vorliegenden Passus ausserdem in einer eigenen Schrift
behandelt: Plato und Aristoteles, oder der Uebergang vom Idealismus
zum Empirismus. Amberg 1804. Er verfasste diese Schrift gelegentlich der
Preisaufgabe der Berliner Academie vom Jahre 1799: „Ueber den Ur-
sprung unserer Erkenntniss." Die Frage war natürlich mit Bezug auf
Kant gestellt. Bendavid beantwortete sie im Sinne Kants, Block im
empirischen Sinne. Insbesondere der Letztere gibt jenen Gegensatz als Thema
seiner Schrift an. Vgl. die gleichnamige Schrift beider (Berlin 1802). Auch
Degörando trat gegen K. auf.] Heynig führt aus, Ks. Besorgniss in der
Vorr. zur Kr. d. prakt. Vem., man könne einmal beweisen, es gebe keine
\Q2 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. I.
B 1. [R 695. H 38. E 46.]
Erkenntniss a priori, sei nur allzu gegründet. Denn so verhalte es sich
wirklich (S. 57). Der apriorische „Zusatz* zur Erfahrung kommt ihm gar
„sonderbar" vor (S. 64 ff.). Andere als aus der Erfahrung gezogene sog.
relative apriorische Erkenntniss gibt es nicht (76 ff.). Proelss, Ursprung
der Erk. S. 109 meint, K. hatte nur schliessen dürfen: „so entspringt sie
doch darum nicht alle einzig aus der Erfahrung". So aber nehme K.
zurück, was er in den Vordersätzen eingeräumt habe. Ein solcher „innerer
Widerspruch" ist aber nicht da, wenn man darauf merkt, dass das „An-
fangen" mit der Erf. kein „Entspringen" aus ihr ist. Gör in g, System
der Krit. I, 279: „K. hat den schwierigsten Theil der Aufgabe, die
Philos. als Wissensch. zu begründen, bewältigt durch die Einsicht, dass
alle unsere Erkenntniss mit der Erf. anhebt". Wenn er trotzdem
nicht das Erfahrungswissen, sondern die Metaphysik neu begründen wollte,
so that er das in dem „guten Glauben", dass beide Zwecke sich ver-
einigen Hessen. — Natürlich beschäftigen sich die Commentatoren gerne
mit diesem Gegensatz von mit und aus der Erfahrung anfangen resp.
entspringen; z. B. Born, Grundl. § 7. Villers, Phil. d. K. I, 212.
Hauptmom. 23 \ Schultz, Prüfung I, 3.
* Die Stelle ist ihrer grundlegenden Wichtigkeit und treffenden Prägnanz
wegen überhaupt viel citirt, comraentirt und discutirt worden. Man vgl. z. B.
nocli S ig wart, Gesch. d. Phil. III, 37, der darauf hinweist, dass der Inhalt des
Satzes schon in dem obigen Grundbegriff des rohen, zu verarbeitenden Stoffes
involvirt sei. Falsch bei Laurie a. a. 0. 222. Gut in der Foreign Review (1829)
IV, 63: tfOur facuUies do not owe their existence to, though ihey are only edüed
into action hy our impressions". Scharfe Kritik bei Prihonsky, Antikant S.
24 f.; ebenso in den „Kritischen Briefen", S. 3 ff. (Vgl. dagegen Born, a. a. 0.
II, 328, der den K.'schen Satz gegen den Vorwurf des „Paradoxen" in Schute
nimmt), ferner bei Spicker, Kant S. 15, der übrigens die im Sinne Kants nicht
unzulässige Consequenz zieht, dass, wenn alle Erkenntniss zeitlich mit der Erf.
anfängt, die apriorische Erkenntniss oder besser die Anlage dazu etwas Ausser-
zeitliches sein muss; dies folgt ja auch aus der Idealität der Zeit. Interessaat
ist die Aeussening Goethe 's über diesen Anfang der Kritik (Beitr. z. Naturw.
I, 2, 104): „Mit einiger Aufmerksamkeit konnte ich bald bemerken, dass durch
K. die alte Hauptfrage der Philosophie sich erneuerte: Wie viel unser Selbst,
und wie viel dagegen die Aussenwelt zu unserem geistigen Daseyn,
d. h. zu unserem Wissen und Erkennen betrage? Ich selbst zwar kam nie
in Versuchung, mir selbst diese Frage vorzulegen : denn mit unbewnsster Naivheit
philosophirend hatte ich mich und die Aussenwelt nie Eins ausser dem Andern
gefasst. Gerne gab ich jedoch den Freunden vollkommen Beifall, die mit K. be-
haupteten, wenn gleich alle unsere Erkenntniss mit der Erfahrung anfange, so
entspringe sie darum doch nicht alle aus der Erfahrung ... So sehr mir jedoch
der Eingang der Kantischen Philosophie gefiel, und so sehr ich auch einige Kapitel
zu verstehen glaubte, und gar manches für meinen Hausbedarf daraus für mich
gewann, so konnte ich mich ins Labyrinth selbst nicht hineinwagen u. 8. w.
(Hempersche Ausgabe, Bd. 34, S. 94 f.) — Vgl. Ritter, Kant u. Hume, S. 45.
Vergleichung mit der „Leibniz'schen Clausel". 183
[R 696. H 33. E 46.] B 1.
Diese Formel Kants erinnert an Leibniz' bekannten Ausspruch:
Nihü est in inteUectu, quod non antea fuerit in sensibles, nisi
intellectus ipse.
Man könnte sich wundem, dass K. nicht daran angeknüpft hat. Und
Pauls en Entw. 198 meint, diese Unterlassung sei bedeutsam; das beweise,
dass für K. die ganze Frage des A priori gewisser Begriffe der mensch-
lichen Erkenntniss zurückgetreten sei hinter der Frage nach der realen
Gültigkeit rationaler Urtheile. Nicht die Hervorhebung, die Ent-
deckung der unserer Organisation ursprünglich angehörigen Elemente gegen-
über der sensualistischen Reduction aller Erkenntniss auf Empfindungen
sei die Aufgabe der Kritik. Das liege derselben ganz ferne. Diese Auffassung
ist ganz einseitig und verkennt, dass die Kritik ein Werk ist, das ver-
schiedene Seiten zugleich darbietet ; ausserdem bietet die Kritik derartige
Stellen genug, in welchen die Aufsuchung der apriorischen Bestandtheile
unserer Organisation als ein Hauptzweck angegeben wird (als Einer der
mehreren Gesichtspunkte). Wie bedenklich jedoch derartige allgemeine,
nicht auf genaue Vergleichung der einzelnen Stellen gebauten Behauptungen
sind, kann hier zufällig gezeigt werden. In der Metaph. 144 ff. knüpft K.
an die altficholastische Formel an: nihil est in inteUectu, quod non antea
fuerii in sensu. Aber nicht alle Erkenntnisse kommen aus den Sinnen,
sondern auch der Verstand ist eine Quelle. Man muss den Satz ein-^
schränken: Nihil est quoad materiam in inteü. u. s. w. „Die Materie
müssen uns die Sinne geben, und diese Materie wird durch den Verstand
bearbeitet. Was aber die Form anlangt, so ist sie intellectuell. Die erste
Erkenntnissquelle liegt also in der Materie, die die Sinne darreichen.
Die zweite Erkenntnissquelle liegt in der Spontaneität des Verstandes . . .
Es ist nichts in dem Verstände der Materie nach, was nicht in
den Sinnen war; aber der Form nach gibts Erkenntnisse, die in-
tellectuell, die gar kein Gegenstand der Sinne sind. Die intell.
Begriffe entspringen bei Gelegenheit der Erfahrung . . . Demnach machen
zwar die Sinne insofern den Grund aller Erkenntnisse aus, obgleich nicht
alle Erkenntnisse aus ihnen ihren Ursprung haben. Obgleich sie kein Prin-
cipium essen di sind, so sind sie doch conditio sine qua non^ ^. Man
kann also, so lange man keine falsche Vorstellung damit verbindet, allerdings
Ks. System als «eine consequente Ausführung des Leibniz'schen : nisi
intellectus ipse* bezeichnen trotz Paul sens Widerspruch in der Viert, f.
w. Phil. I, 169 und in Uebereinstimmung mit Windelband, ib. I, 234.
Genau so fasst es auch Schütz, A. L. Z. 1785, III, 121: „die Leibniz'sche
Clausel: excipe: nisi intellectus ipse wird hier zum erstenmal nach ihrem
ganzen Inhalt erkläret". Kant hat diese Darstellung seines Systems von
* Genau denselben Ausdruck gebrauchen (oben S. 179) Krug, Born, Phil.
Mag. 11, 328, der diese Stelle noch nicht kannte, u. Pesch, Haiti, d. m. Wiss. 23.
1^34 Coxnmentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 1. [B 695. H 38. K 46.]
Schütz ausdrücklich gebilligt (s. Brief an Schütz). Nebenbei bemerkt,
glaubt auch Staöl- Hülste in, De VAU. III, 1. cap. VI, nach dem Vorgang
von Villers, dass K. jenes Axiom zum Thema seiner Phil, gemacht habe ^
Montgomery, Ks. Erk. 93: Die Transsc. Philos. war eine grossartige Aus-
legung, eine imposante Erörterung des berühmten Leibniz'schen Epigramms.
Ebenso sehr ausführlich und treffend schon Jenisch, Entd. Kants, S. 93 — 108,
bes. 102. Vgl. Jacobi, W. W. II, 21. Caspari, Grundpr. II, 175.
Vgl. dag. Cohen Ks. Th. d. Erf. 167. Ulrici, Grundpr. I, 313.
Selbst unsere Erfahmiigrserkenntiilss. In dem „selbst" liegt, was schon
zu der I. Aufl. betont wurde, dass es sich um zwei Arten der apriorischen
Erkenntnisse handelt. Um solche, die der Erfahrung beigesetzt, beigemischt
sind, und solche, welche neben der Erfahrung hergehen. Das Wörtchen ^selbst"
ist also sehr zu beachten. Es besagt nach dem Zusammenhang offenbar,
dass nicht bloss die apriorisch gefärbte Erfahrungserkenntniss , sondern
auch überhaupt die nicht aus der Erf. stammende Erkenntniss in Betracht
konmit. Nicht alle Erkenntniss braucht darum aus der Erf. zu entspringen,
weil alle mit ihr anfängt. Es kann somit Erkenntniss geben, die gar nicht
aus der Erfahrung entspringt. Ja es kann sogar sein, dass die gemeine
Erfahrung mit apriorischen Elementen versetzt sei. So selbstverständlich diese
Erklärung der Stelle ist, vgl. Schultz, Prüfung I, 3, so hat doch z. B. der
scharfsinnige Maimon (Krit. Unters. 53 ff. [vgl. 167]), weil er jenes , selbst"
nicht beachtet hat, die Stelle falsch erläutert und daher auch unrichtig an-
gegriffen, indem er meint, K. spreche nur von der apriorisch gefärbten Erfah-
rung. Dieser Auslegung widerspricht aber offenbar der Schluss des Abschnittes
überhaupt, wo ja von der reinen Erkenntniss a priori die Bede ist, der
keine empirischen Begriffe beigemischt sind und die somit auch keiner Er-
fahrung zugesetzt ist. [Man vgl. auch noch die Stelle des folgenden Absatzes,
wo K. die Frage als berechtigt erweist, „ob es ein dergleichen von der
Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Er-
kenntniss gebe". Hier kehrt doch wohl dieselbe Zweiheit zurück: reine Er-
kenntniss a priori und solche, welche der Erfahrung beigemischt ist. Das
beweist nicht nur das wiederkehrende , selbst", sondern auch die übrigen
Ausdrücke: „von der Erfahrung unabh." entspricht dem obigen (allerdings
allgemeineren) „Nicht aus der Erf. entspringen**. „Von allen Eindr. der Sinne
unabh." entspricht dem Zusatz zu dem, „was wir durch Eindrücke em-
pfangen". Der Parallelismus träte deutlicher heraus, wenn nicht hier wie
oben K. einen Satz so zu sagen verschluckt hätte; es sollte heissen, „und
selbst ein von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges", „jedoch zu denselben
hinzukommendes und sich mit ihnen zur Bildung der Erfahrungser-
*) Uebrigens ist die Einwirkung von Leibniz auf Kant^ die unserer An-
sicht nach die Dissertation von 1770 wesentlich hervorrief, in einem besonderen
Supplement zu behandeln, in welchem der Beweis für diese Ansicht ge-
liefert wird.
Die chemische Zerlegung der Erfahrung selbst. 185
[R 695. H 33. K 46.] B 1. 2.
kenntniss amalgamirendes^ Erkenntniss gebe ^] Genau demselben Irrthum
wie Maimon verfiel auch Göring, System II, 162. Er sagt zunächst
richtig, dass K. aus dem Satze: , Nicht alle Erkenntniss entspringt aus der
Erf.* den Satz mache: „Alle unsere Erkenntniss entspringt nicht bloss aus
der Erfahrung* ; denn die sog. Erf. sei selbst etwas Zusammengesetztes.
Dann meint aber Göring, dass die Frage, ob es ein von aller Erf. unab-
hängiges Erkenntniss gebe, keineswegs die logische Folge aus jener Be-
stimmung der Erkenntniss als eines Products aus dem subjectiven und
objectiven Factor sei. Vielmehr folge hieraus etwas, was jene Frage von
vorneherein abschneide, nämlich, dass eben alle Erkenntniss zusammengesetzt
sei. Nur durch die Thatsache der Mathem. als ganz rationaler Erkenntniss
habe sich K. zu diesem Fehlschluss bringen lassen, durch den er von den
Erfahrungserkenntnissen zu den ganz apriorischen gelange. (Inwiefern aber
diesen Bemerkungen von Maimon und Göring etwas Richtiges und Wichtiges
zu Grunde liegt, darüber siehe S. 186 flF. '.) Im Folgenden gebraucht Kant ein
Büd ans der Chemie, der er mit Vorliebe Vergleiche entnimmt. Genaueres
s. zu S. 22 (Aesth. Einl.). „Grundstoff" und „Zusatz" nennt daher Zimmer-
mann Ks. math. Vor. 5 mit Recht „sehr anschauliche Bezeichnungen", welche
unter die „Verbesserungen der Darstellung" (Vorr. B) gehören '. Der „Zusatz"
aus uns selbst ist die Form, der „Grundstoff" ist der Inhalt der Anschau-
ungen, wie K. später speciell nachweist. Vgl. Vorr. B. XVII. „Erf. selbst ist
eine Erkenntnissart, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch
ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muss,
welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird."
Unsere Erf. ein Zusammengesetztes. Heusinger, Das id. ath. System
Fichte's. S. 5 bemerkt richtig, dass dieser wichtige Satz das K.'sche System
vollständig charakterisirt, indem er zwischen dem idealistischen und realistischen
System den Mittelweg einschlage. Dass die Erfahrung mit apriorischen
Elementen versetzt sei, ist ein Lambert 'scher Gedanke. Zimmermann,
Lamb. 60 ff. Dag. Proelss, Urspr. d. Erk. 108.
Lange üebnng. Vgl. Proleg. § 39: Aus dem gemeinen Erkenntnisse
(vgl. hiezu die Ueberschr. des II. Abschn. „und selbst der gemeinen Erkenntniss")
die Begriffe herauszusuchen, welche gar keine besondere Erfahrung zum
Grunde liegen haben, und gleichwohl in aller Erfahrungserkenntniss vor-
' Eine ganz andere^ jedoch missverständliche Auslegung dieser allerdings
nicht ganz klaren Stelle gibt A. Meinong, Phil. Mon. XII, 340 ff. — Unter der
Vernachlässigung jenes „selbst" leidet auch Baaders sonst lesenswerthe Para-
phrase der Einleitung, W. W. XI, 405 IT.; auf ihr beruht wohl auch Bieder-
manns Meinung (Deutsche Phil. I, 76) von einem „schwer auszugleichenden
Widerspruch" der Einleitung. Ebenso Prihonsky, Anti-Kant 23.
' Inwiefern in der Stelle eine Acnderung gegenüber der I. Aufl. liege,
darüber unten (Anhang zu Abschn. 11.).
* Die Möglichkeit dieser Trennung sei schon durch den ersten Absatz aus-
geschlossen, behauptet Spicker, Kant u. s. w. 30.
186
Commentar znr Einleitung B, Abschn« I.
B 2. [R 695. 696. H 33. E 46. 47.]
kommen, von der sie gleichsam die blosse Form der Verknüpfmig ausmachen,
setzte kein grösseres Nachdenken oder mehr Einsicht voraus, als aus einer
Sprache Regeln des wirklichen Gebrauchs der Wörter überhaupt herausza-
suchen u. s. w. Die Unterscheidung der reinen Elemente der Sinnlichkeit
und der des Verstandes sei ihm erst nach „langem Nachdenken" gelungen.
Vgl. bes. Meyer, Ks. Psych. 129. Heyn ig, Her. 64: „Etwas bedenklich
und verdächtig, und lässt errathen, dass jene allgemeine Formenerkenntniss
a priori nichts als ein Werk von weitgetriebenen Abstractionen sei". Auch
bemerkt derselbe S. 69, K. habe die Frage vernachlässigt, wie der Zusatz
erst nach der Erfahrung (im Bewusstsein) da sein könne und demungeachtet
nicht aus Erfahrung sei. „So unscheinbar diese Stelle sich ausnimmt", sagt
Zimmermann, Ks. mathem. Vorurtheil 4, so enthält sie doch ein Problem,
„das die Lebensfrage des K. 'sehen Unternehmens berührt, unter seinen Nach-
folgern tiefgehende Spaltuiig und bis auf den heutigen Tag ungeschlichteten
Streit hervorgerufen hat. Dasselbe betrifft nämlich die Frage, auf welchem
Wege, die Existenz jenes apriorischen Zusatzes zur Erfahrung in unserem
Erkenntnissvermögen vorausgesetzt, die Erkenntniss dieses letzteren selbst
durch das Erkenntnissvermögen möglich sei? Wäre ein solcher Weg nicht
vorhanden, oder dessen Betreten doch unsicher, so wäre jener apriorische
Zusatz selbst für uns gar nicht oder so gut wie nicht vorhanden, weil wir
nie oder wenigstens nicht mit Sicherheit wissen könnten, welcher Theil
unserer vermeinten Erkenntniss jGrundstoff', welcher ,Zu8atz* sei? — Kant
selbst scheint dieses Problems, das von der Behauptung, dass es apriorische
Elemente im Erkenntnissvermögen gebe, gänzlich verschieden ist, sich erst
nachträglich völlig bewusst geworden zu sein, nachdem er bereits versucht
hatte, mittels des apriorischen Zusatzes aus dem Erkenntnissvermögen
allgemeingiltige Erfahrung zu begründen, denn diese Stelle ist erst in der
II. Ausgabe hinzugekommen. Die Schwierigkeit dieses Problems: wie ist
die Entdeckung des Apriori möglich? ist erst Kants Nachfolgern recht
deutlich geworden: dieses Problem sei schwieriger und dunkler als das
andere: Wie ist ohne Apriori die Erfahrung möglich?" [In hervorragender
Weise hat schon Schulze, Aen. 404 ff. auf dieses wichtige Problem auf-
merksam gemacht. Derselbe, Krit. 11, 162 macht den Einwurf, dass K. die
Möglichkeit einer solchen Scheidung selbst nach langer Uebung nicht wahr-
scheinlich genug gemacht habe. Ganz dieselben Bemerkungen machte schon
Heyn ig, Herausf. 64 ff. 164.] Dies hängt, wie Zimmermann nicht bemerkt,
mit dem Hervortreten der in die Erfahrung sich einmischenden apriorischen
Elemente zusammen. Hierüber unten. Vgl. bes. Witte, Zur Erk. 16.
Frage 9 ob es ein dergleicben u. s. w. Diese Frage haben wir schon
S 168. 184 analysirt und darin zwei Elemente gefunden, welche sicher Kant
beim Niederschreiben der Stelle vorschwebten. Es ist zu tadeln, dass K. nicht
diese beiden Elemente kräftiger hervortreten Hess. Dies hat nämlich zur
Folge gehabt, dass man Kants Frage nur so fasste, als frage er nach der
ganz apriorischen Erkenntniss. Und offenbar hat K. die Frage selbst dann
Die Doppelfrage der Kritik d. r. V. 187
[B 696. H 33. K 47.] B 2.
weiterhin so verstanden ; er spricht in der Folge nur noch von den eigentlich
apriorischen Erkenntnissen, nur noch vorübergehend von der apriorisch
durchsetzten Erfahrung. Dieser Umstand ist aber höchst wichtig. Kant
hätt€ streng genommen hier fragen müssen: 1) gibt es ganz apriorische
Erkenntniss? 2) ist die Erfahrung am Ende selbst auch mit apriorischen
Bestandtheilen durchzogen ? In dem II. Abschnitt musste dann der Nachweis
kommen, 1) dass es ganz reine apriorische Erkenntniss gebe, 2) dass die
Erfahrung ein Zusammengesetztes sei. In der That ist das im 2. Abschnitt
der Fall. Schon die XJeberschrift lautet ja: Wir sind im Besitze gewisser
Erkenntnisse a priori und selbst der gemeine Verstand ist niemals ohne
solche. Als jene weist er die Mathematik nach. Aber in Bezug auf den ge-
meinen Verstandesgebrauch begegnet ihm eine Verwechslung. Er rechnet zu
demselben auch den Satz der Gausalität, der doch nach der Analytik ein
reines Erkenntniss a priori ist. Allerdings gebraucht auch der gemeine
Verstand das Gesetz. Aber als solches ist es doch nicht einer jener Zusätze
zur Empfindung, welche die Erfahrung zu einem Zusammengesetzten
machen. Wohl aber gehören zu denselben der Causal begriff und die am
Sehluss von Abschnitt II besprochenen Begriff^ Baum und Substanz. Er
verwechselt so den gemeinen Verstand mit der Erfahrungserkenntniss.
Es ist eben daher die eigentlich zu Grunde liegende Argumentation nicht
genug ans Lieht getreten; denn K. sollte beweisen: 1) wir haben ganz reine
Erkenntnisse, 2) auch in der Erfahrung als solcher steckt schon ein Apriori,
wodurch sie selbst nothwendig wird. Im Abschnitt HI fliessen nun jene
beiden Arten des Apriori vollständig ineinander und am Ende verschwindet
die zweite Gattung ganz. Das ist aber verhängnissvoll gewesen für das
Verständniss der ganzen Einleitung und damit der ganzen Kritik. Folge-
gemftss hätte Kant zwei Fragen als die Hauptfragen seiner Kritik aufstellen
müssen: 1) Wie sind jene ganz reinen Erkenntnisse a priori möglich?
(Wie sind synthetische ürtheile a priori möglich?) 2) Wie ist jene Er-
fahrung möglich, von der nachgewiesen ist, dass sie allgemeine und noth-
wendige Bestandtheile enthält? Und dann hätte Kant überhaupt seinen
Begriff der Erfahrung als einer allgemeinen und nothwendigen Erkenntniss
hier sogleich am Anfang klar und präcis entwickeln müssen, während
dieser Begriff im Verlauf und allmälig ohne jede Einführung einiliesst.
Dann hätte K. sieh nicht bloss hier damit begnügen können, zu zeigen, dass
die Erfahrung Elemente in sich trage, wie Raum, Causalität, Substan-
zialität, welche sich selbst als apriorische Begriffe documentiren durch
»die Noth wendigkeit , mit der sie sich aufdrängen*, sondern er hätte eben
zeigen müssen, dass durch jene Elemente die Erfahrung selbst an der
Allgemeinheit und Nothwendigkeit Theil habe, selbst allgemein
und nothwendig sei, dass sie ohne jene Elemente ein C?haos zufälliger Em-
pfindungen bleibe. Dann hätte er sich nicht mit jenem unten genauer
besprochenen Sätzchen über die Möglichkeit der Erfahrung begnügt, in
welchem er ohnedies das nicht ausdrückt, was er hHtte ausdrücken sollen,
188 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 2. [R 696. H 38. E 47.]
dass die Erfahrung durch Beimischung jener Begriffe selbst etwas noth-
wendiges und allgemeines werde, während er factisch dort nur daran erinnert,
dass das System des Erfahrungswissens ohne die reinen Grundsätze nicht fest
genug sei. Es spielt dabei jene unt«n genauer zu besprechende Verwechslung
von Causal begriff und Causalitätsgesetz eine verhängnissvolle Rolle.
So aber spricht Kant anstatt von der allgemeinen und nothwendigen Er-
fahrungserkenntniss nur von den nothwendigen apriorischen Be-
standtheilen der Erfahrung, und mischt diese zusammen mit der ganz
reinen apriorischen Erkenntnis s. Und demgemäss hätten dann in Aesthetik
und Analytik zwei Theile deutlich unterschieden werden müssen, deren erster
die bezügliche ganz reine Erkenntniss behandelt, deren zweiter zeigt, wie
die Erfahrung selbst erst durch apriorische Zusätze objectiv, allgemein
und nothwendig werde. Factisch finden sich auch jene beiden Bestand-
theile, deutlicher in der Analytik als in der Aesthetik. Dort behandelt die
„transsc. Deduction* die Erfahrung, die ,, Grundsätze" die ganz reine Er-
kenntniss. In der Aesthetik entspricht dem letzteren Theil der Nachweis
der Möglichkeit der reinen Mathematik, dem ersteren Theil die rudimentäre
Erörterung in A 28—29, wonach durch den Zusatz des Raumes objectiv
noth wendige und allgemeine Erfahrungseigenschaften möglich sind. Auf
diese fundamental wichtige Unterscheidung kommt der Commentar
zur Analytik zurück. Mag auch Kant theilweise pädagogische Gründe gehabt
haben, so zu verfahren, wie er verfuhr, so ist doch nicht zu leugnen, dass
dabei eine tüchtige Portion eigener Unklarheit mitspielt, an der es bei Kant
nachgewiesenermassen nicht fehlt. — Dass Kants Philosophie eine Theorie der
Erfahrung sein wolle, hat besonders Fischer Gesch. III, 1, 16 flF. entwickelt.
Vor K. habe die Metaphysik eine prekäre Stellung gehabt, entweder gieng
sie bei den Empirikern auf in der Erfahrungswissenschaft oder sie stand bei
den Dogmatikern gegenüber derselben unnütz und unfruchtbar ; dort wurde
die Metaphysik von der Erfahrung verneint, hier die Erfahrung von der
Metaphysik gänzlich verlassen (ib. 28), beidemal gieng sie als selbständige
Wissenschaft zu Grunde. Kant rettete sie, indem er ihr ein eigenes unbe-
strittenes, bis dahin ununtersuchtes Gebiet und Object zuwies: Die That-
sache der exacten Wissenschaften selbst. Die Mathematik, die
Physik sind da: wie sind sie möglich? Es muss eine selbständige Wissen-
schaft geben, welche Mathematik, Physik und Erfahrung selbst zum Gegen-
stand ihrer Erklärung macht. „ Object der Erfahrung sind die Dinge. Object
der Philosophie ist die Erfahrung, überhaupt die Thatsache der menschlichen
Erkenntniss. So hört die Philos. auf, eine Erklärung der Dinge zu sein,
sie wird eine Erklärung von der Erkenntniss der Dinge: sie wird
eine noth wendige Wissenschaft, denn sie erklärt eine Thatsache, die als
solche der Erklärung bedarf, zugleich wird sie eine neue Wissenschaft,
denn sie erklärt eine noch nicht erklärte Thatsache.* K. wende die natur-
wissensch. Methode auf diese Thatsachen an, indem er nach ihren Bedingungen
forscht, nach den Bedingungen der menschl. Erkenntniss. Diese Darstellung
Die von der Erfahrang unabhängigen Erkenntnisselemente. IgQ
[R 696. H 33. E 47.] B 2.
trennt nicht scharf genug die Erfahrung als solche und jene Wissen-
schaften. Als Theorie der Erfahrung fasst Cohen Kants Kritik auf; das
that schon Vi Hers, Phil, de K, I, 64. 190. {Uempiriste veut faire usage de Vex-
perience, et le transcendentaliste veut exp liquer l ' exp drience; ils n'ont rien de
commun; üs partent taus deux de la ligne de VexpSrience; mais Fun se tient au-
dessus, et Vautre plonge avrdessous; Vun tapiase le pcUais de la science, Vautre en
assure les fondements.) Diese Auffassung hat eine bedeutsame Stütze in der
Erklftrung Ks. in den Portschr. K. 115. E. I, 207: Die höchste Aufgabe der
Transsc. Phil, ist: »Wie ist Erfahrung möglich?* Man hat diese
Stelle bis jetzt viel zu wenig beachtet; durch sie kommt Licht in Kants
Kritik. Dass die Kritik der reinen Vernunft auch zugleich eine Kritik resp.
Theorie der Erfahrung sei, und die Frage behandle, wie ist Erfahrung
möglich?, ist Kant selbst also erst nach Vollendung derselben zum
klaren Bewusstsein gekommen; ja er spricht dies ganz bestimmt
und klar erst in der genannten kleinen Schrift über die Fortschr. d. Met.
aus, also erst nach 1790. Es war das Resultat der Deduction, das ihm
erst die Fundamentalität jenes Problems zum Bewusstsein brachte, das schon
in den Prolegomena viel klarer ist, als in der I. Aufl. der Kritik, ja klarer
auch, als in der 11. Aufl. derselben. Die ganze Tragweite der Kritik
kann aber nur erfasst werden, wenn der Leser derselben dieses
Problem neben dem von Kant selbst factisch im Abschn. VL der
Einl. B, aufgestellten, welches nur die absolut reine Erkenntniss be-
trifft, scharf ins Auge fasst. Nur dann hat er den „Ariadne- Faden",
um sich in dem Labyrinth der Kritik zurechtzufinden, um über den Details
den Grundplan nicht zu verlieren *.
Ein Erkenntiiiss. K. gebraucht das Erkenntniss und die Erkenntniss
promiseue. Man hat zwar einen Unterschied der Bedeutung finden wollen,
doch lässt sich derselbe nicht festhalten. Vgl. Grimm, Wörterb. ITT, 870:
K. bedient sich beider Geschlechter, insbes. des Neutrums; beide sind ihm
gleichbedeutend, wie besonders aus mehreren Stellen hervorgeht, wo er ganz
nachlässig von dem Neutrum zum Feminin übergeht. Auch bei Luther
sind beide Formen gleichbedeutend.
Ton der Erfahrung • . • nnabh&ngit^. Für die ganze Einleitung hat der
Terminus ^a priori" nicht nur die negative Bedeutung, „von der Er-
fahrung unabhängig'' wie z. B. Volkelt, Ks. Erk. 224 f. meint,
sondern auch die positive, dass, was von der Erfahrung unabhängig sei,
aus der Vernunft (im weiteren Sinne) stamme. In der I. Aufl. wird
dieselbe sogleich am Anfang erwähnt. In der II. Aufl. im Abschn. 11. wird
^ Dies ist kein unbefugtes Meistern Kants ^ sondern erlaubte und gebotene
immanente Kritik und consequente Analyse des Textes. Die specielle Ausführung
dies hier Gesagten, wozu man noch die Bemerkungen zum Abschnitt VI. der
2. Aufl. vergleiche, kann erst in der Analytik erfolgen (wo auch zwischen der Mög-
lichkeit der Erfahrung als Beweis thema und Beweismittel unterschieden wird).
190
Gommentar zur Einleitung B^ Abschn. I.
B 2. [B 696. H 38. 34. K 47.]
wenigstens „von einem besonderen Erkenntnissqaell, einem Vermögen der
Erkenn tniss a priori" gesprochen. Und im weiteren Verlaufe, insbesondere
in den aus der I. in die II. Aufl. hinübergenommenen Abschnitten wird
mehrfach die reine Vernunft als jenes Vermögen bezeichnet. Weiter
darf aber hier nicht hineingelegt werden, etwa, dass das Apriori die
ursprüngliche Einheitsfunction unseres Bewusstseins bezeichne u. s. w. üeber
den Ausdruck: „unabhängig von aller Erfahrung* s. Apelt, Metaph. 26 ff.
Er bezeichnet nicht eine zeitliche, sondern eine genetische Unabhängigkeit.
Riehl, Krit. I, 322: „Der Grund der Apriorität ist die unabhängige Ent-
stehung, die F o 1 g e die von Erfahrung unabhängige Einsicht in die Gültigkeit
einer Erkenntniss'^. Diese Erklärung ist übrigens zu eng, weil sie
apriorische Begriffe ausschliesst. Lange, Mat. II, 15: „Es handelt sich
bei den Erkenntnissen a priori nach Ks. unvergleichlicher Begriffsbestimmung
weder um fertig in der Seele liegende angeborene Vorstellungen, noch um
unorganische Eingebungen oder unbegreifliche Offenbarungen. Die Erkennt-
nisse a priori entwickeln sich im Menschen ebenso gesetzmässig und
aus seiner Natur heraus, wie die Erkenntnisse aus Erfahrung. Sie be-
zeichnen sich einfach dadurch, dass sie mit dem Bewusstsein der Allgemeinheit
und Noth wendigkeit verbunden und also ihrer Gültigkeit nach von der
Erfahrung unabhängig sind". Herder, Met. I, 49. 57 tadelt, dass
„Unabhängigkeit von der Erf.* ein negativer Begriff sei. [Die AUgem. und
Nothw. der Mathem. beruhe auf dem positiven Merkmal ihrer inneren Ge-
wissheit. * Vgl. dag. Schmidt und Snell, Erl. 98, wo die Identität beider
Begriffe behauptet wird; u. Kiesewetter, Prüf. I, 45. Auch verwechselt
Herder den log. Zusammenhang, indem er die AUg. u. Nothw. als aus der
Unabh. von der Erf. bewiesen ansieht.] Ebenso Witte, Beitr. 37 u. Göring
Viert, f. wiss. Philos. I, 386 ff. und bes. I, 539. II, 106 ff. Krit. Briefe 5.
13 verlangen eine genauere Bestimmung des Unabhängigsein dem Inhalt
und dem Ursprung nach. Die Mathem. sei dem Inhalt nach ganz von
Erf. unabhängig, nicht aber dem Ursprung nach; also ganz empiristische
Einwände; ebenso (ib. 49) über die Metaphysik. Dag. Born a. a. 0. 11, 333.
Man nennt solche Erkenntnisse a priori« Schon bald nach Erscheinen
der Kritik wurde von verschiedenen Seiten ' bemerkt , dass K. hier einen
Sprachgebrauch als recipirt angebe, der bis dahin nicht üblich gewesen sei.
* Gegen die Erkenntniss a priori kämpften Manche auch aus blossem Hiss-
verständniss ^ indem sie sachlich doch mit K. einverstanden waren; so war dies
theilweise bei Herder der Fall. Dass derselbe sachlich mit K. übereinstimme,
zeigten Schmidt u. Snell, Erl. 97 und [Matthiä], Hugo, S. 5. Nur spricht
Herder von „inneren Daten", „inneren Erfahrungsbegriffen", Met. I, 21. 61. „Innere
Erfahrung" ib. I, 58. Vgl. dag. Kiesewetter, Prüf. I, 47.
' Z. B. Kritische Briefe, S. 6: „^o viel ich weiss, sind Sie der Erste,
welcher eine Erk. a pr. diejenige nennt, welche in Ansehung ihres Ursprungs
von jeder Erf. imabhängig ist . . . Sie haben sich von dem Sprachgebranch ent-
fernt". Vgl. hiezu Born a. a. 0. II, 334. — Vgl. Jacobson, Auff. d. Apr. 18.
Der Begriff dca Apriori. 191
[B 696. H 38. 34. E 47.] B 2.
Was man bis dahin a priori nannte, war etwas anderes gewesen, bei Ari-
stoteles nftmlicb die Erkenntniss aus dem Früheren, den Ursachen, bei
Leibniz die aus allgemeinen Begriffen und Sätzen erschlossene Erkenntniss.
Vom Leibniz 'sehen Sprachgebrauch zum K aufsehen, der eine dritte
Periode der Geschichte jenes Terminus darstellt, bildet Lambert einen
üebergang. Vgl. hierüber das Supplement: Geschichte des
Terminus A priori. Ueber den Ausdruck ,a priori" wurde zu Kants
Zeiten unexact viel Unrichtiges hin- und hergeredet, vgl. z. B. Herder,
Metakr. I, 21. 69. Kiesewetter, Prüf. I, 15. Schmidt und Snell,
Erl. 96. sowie die Discussion zwischen Bendavid und Nicolai, vgl.
dessen Philos. Abhandl. I, 231 ff. Schaumann, Ueber die transc. Aesthetik
Leibniz 1789 behauptete vom Kantischen Apriori, es bedeute keineswegs
irgend etwas Angeborenes, potentiell in uns Liegendes oder vor der Erfahrung
irgendwie vorhergehendes. Sondern Vorstellungen a priori seien solche,
ans welchen sich allein die Möglichkeit anderer Vorstellungen erklären lässt
(der empirischen), oder die als Gründe der empirischen gedacht werden.
»Weil ich nun eine solche Vorstellung, welche die Causalität von anderen
enthält, als vor den anderen vorhergehend denke, so wie ich immer den
Grund von der Folge denken muss, so nenne ich diese Vorstellung a priori,
in Bezug nämlich auf die Vorstellungen a posteriori. Daher kann man auch
die Vorstellungen a priori erwerben.* — Dies ist die erste Spur der
logischen Auffassung des Apriori im Gegensatz zur psychologischen ; jene
hat sich bei Pichte, Schelling, Hegel weiterentwickelt, diese bei Schopen-
hauer, Pries und Apelt. Gegen jene Auslegung wehrte sich aber schon
der Becensent gedachter Schrift in der A. D. B. 103, 133 ff., welcher darauf
aufinerksam machte, dass apriorische Vorstellungen solche seien, welche in
der Natur des menschlichen Erkenntnissvermögens gegründet sind und der
Erfahrung wenigstens potentiell in uns vorhergehen. Schaumann mache den
Unterschied des Apriori und des Aposteriori bloss relativ, während er nach
K. absolut sei. Ihr Unterschied beruhe nach K. keineswegs auf dem Denken
[sei also nicht logisch], sondern auf der Natur des Erkenntnissvermögens
nnd der verschiedenen Vorstellungen selbst [sei also psychologisch]. Der
rnterschied des apriori und aposteriori wurde dann ganz verwischt von Beck
^Einz. mögl. Standpunkt), von Pichte (Einl. in d. Wissensch.) u. A. Apelt
mischt Metaph. 2. 4. u. ö. ein unkantisches, mehr aristotelisches Element in den
Unterschied des apriori und aposteriori, wenn er das erstere mit Einsicht,
das andere mit blosser Kenntniss identificirt. Dieser Gegensatz des Siotc
und 8t t spielt bei Kant nicht die ihm von Apelt zugeschriebene Rolle, also
passt auch das, was Göring häufig, so bes. Viert, f. wiss. Phil. I, 392 ff.
553 ff. über den Gegensatz von Begreifen und Wissen als Wurzel des
Gegensatzes aposteriorischen und apriorischen Wissens sagt, nicht auf Kant.
Vgl. jedoch Kant, Proleg. § 27 ff. mit Vorr. S. 8 u. 9. und Krit. d. pr. V.
Vorrede Schluss, der Rationalismus gründe sich auf „eingesehene Noth-
wendigkeit*. Krit. 760: Einsicht d. i. Erkenntniss a priori. Vgl.
192 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 2. 3. [R 696. H 34. E. 47.]
Kant bei Erdmann Proleg. Vorr. LXXXVII. Ueber diesen schwierigen Punlrt
später.] Jene Unterscheidung entspricht jedoch der Wolf sehen Eintheilnng
in cognitio historica und cognitio philosophica. Denn jene gibt nur
nudam facti notitiam, diese ist eine cognitio rationia eorum, quae stm/
vel fiunt. Ueber den Begriff des Apriori vgl. Witte, Zur Erk. 15 ff.
Er durfte nicht auf die Erfahmng warten. Der Versuch Grapen-
giessers, Aufg. der Vemunftkr. 29, auch hier aus dem Apriori das
Zeitliche ganz zu eliminiren, ist nicht gelungen. »Nur wer das Wort
.warten'^ im Auge hat, kann an jenes Zeitverhältniss denken, aber es steht
sich vielmehr gegenüber das »wirklich* des a posteriori, und das ,noth-
wendig* des a priori/ Dies ist eine gezwungene Auslegung, die ausserdem
nutzlos ist, da es sich hier ja eben nicht um das absolute Apriori handelt.
Vgl. Wangenheim, Verth. Kants 23. 24. 52: Nur hier sei Apriori im
zeitlichen Sinne gebraucht. Dies ist falsch, wie sich zeigen wird.
Wir werden . . . anter Erkenntnissen a priori u. s. w. Kant macht
hier den Unterschied eines relativen und eines absoluten Apriori. Er-
kenntnisse sind relativ a priori, wenn sie nicht direct aus der Erfahrung,
sondern aus einer allgemeinen Hegel abgeleitet sind, die selbst aber in letzter
Linie aus der Erfahrung stammt. Diese Art bietet natürlich keine erkennt-
nisstheoretische Schwierigkeit dar. Absolut (, schlechterdings') a priori
sind nur Diejenigen, welche „völlig", gänzlich von der Erfahrung unabhängig
sind. Denselben Unterschied berührt K. auf S. 843 f., wo er dem bisherigen
Dogmatismus den (berechtigten) Vorwurf macht, er habe das absolut« und
das relative Apriori nicht gehörig geschieden ; es handle sich dabei um eine
„gänzliche Ungleichheit und Verschiedenheit des Ursprungs". „Auch unter
den Principien sind einige allgemeiner und darum höher als andere" ; diese
sind aber doch nicht »völlig a priori", (ib.) „Völlig a, priori kann keine
Existenz der Gegenstände der Sinne erkannt werden, aber doch comparative
a priori, relativisch auf ein anderes schon gegebenes Dasein." 226. Vgl.
322 über die Function der Vernunft bei den Schlüssen. „Der Vernunftschluss
ist ein Urtheil, welches a priori in dem ganzen Umfang seiner Bedingung
bestimmt wird." Dort ist das Beispiel der Satz: Cajus ist sterblich, der aus
dem allgemeinen Erfahrungssatz : alle Menschen sind sterblich, a priori ab-
geleitet wird. Derartige Sätze sind empirische Principien. * Ib. 300. Cfr. 646 ff.
über den „hypothetischen Vernunftgebrauch, wodurch comparativ
allgemeine Regeln entstehen". Eine weitläufige Auseinandersetzung hierüber
s. Met. d. Sitten, Rechtsl. Einl. II. Weitere Beispiele dieses Apriori s. in
dem Aufsatz von 1794: „Etwas über den Einfiuss des Mondes auf die
^ In diesem Sinne des Apriori als relativen sagt Glogan, Abr. d. philoä.
GrundwisB. I, 364^ dass der S c h 1 u s s ^ der einfache Syllogismus die Bedingungen
der synthetischen Urtheile a priori enthalte. — In dieser Unterscheidung einen
„Widerspruch'' zu finden, wie die „Kritischen Briefe*' S. 7 (auch neuerdings trifft
man diese Beliauptung), beweist eine auffallend oberflächliche Leetüre des Textes.
Relatives und absolutes Apriori. l93
[B 696. H 34. E 47.] B 2. 3.
Witterung." Vgl. Metaph. 163. 176. (Geschmacksurtheile comparativ apriori.)
Logik § 57. — ^Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt
werden, deren Gewissheit apodiktisch ist: Erkenntniss, die bloss empirische
Gewissheit enthalten kann, ist nur uneigentlich sogenanntes Wissen . . .
Wenn die Principien in einer Wissenschaft, wie z. B. in der Chemie doch
zuletzt empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebenen Facta
durch die Vernunft [also relativ a priori] erklärt werden, bloss Erfahrungs-
gesetze sind, so führen sie kein Bewusstsein ihrer Nothwendigkeit bei
sich .... das Ganze verdient alsdann im strengen Sinne nicht den Namen
einer Wissenschaft und Chemie sollte daher eher systematische Kunst als
WLssenschaft heissen.** „Die vollständigste Erklärung gewisser Erscheinungen
aus chemischen Principien lässt noch immer eine Unzufriedenheit zurück,
weil man von diesen, als zufälligen Gesetzen, die bloss Erfahrung ge-
lehrt hat, keine Gründe a priori anfuhren kann;" Met. Auf. d. Nat. Vorr.
Vgl. die Unterscheidung in der Kr. d. pr. V. 110 zwischen absolut und
comparativ Gutem. Vgl. auch Maimon, Krit. Unters. 168. Schultz, Prüf.
I, 4. Mit der strengen Unterscheidung zwischen absolut- und relativ-apriori-
schen Urtheilen in dem ausgeführten doppelten Sinne tritt K. der Leibniz-
sehen Philos. schroff entgegen; denn in dieser wurde zwischen diesen beiden
Arten so gut wie gar nicht unterschieden : Beides galt ohne schärfere Unter-
scheidung als „cognitio a priori^ oder „rationalis^ (vgl. Kannengiesser,
Dogm. u. Skept. 16 ff.). Die Leibnizianer traten daher dieser Unterscheidung
feindlich gegenüber, so bes. Eberhard im Philos. Mag. I, 132 und bes.
II, 76. „Man kann ohne Bedenken behaupten, es könne mit der apodikti-
schen Gewissheit gar wohl bestehen, dass die Hauptbegriffe a posteriori er-
haltene oder von Erfahrungsbegriffen abstrahirte Begriffe seien** u. s. w.
Ein Urtheil, dessen Hauptbegriffe aus der Erfahrung abstrahirt seien, brauche
daher nicht alle Zufälligkeit der Wahrnehmung zu haben. Vgl. ib. II, 509
u. bes. m, 67 ff. Aehnlich Herder, Met. I, 21: Das strenge A priori im
Sinne Kants finde selbst nicht in der Math, statt, ib. I, 46. Dag. Kiese-
wetter I, 31 ff. Garve bei Nicolai, Gel. Bild. 137 (über bedingte Noth-
wendigkeit). Schultz, Prüfung I, 5. Reinhold, Th. d. Vorst. 390 und
besonders Eberhard, Phil. Mag. III, 70 ff. u. Phil. Archiv I, 1, 98 ff. mit
Bezug auf Seile's ganz ähnliche Stellung in der Abhandlung De la realitS
u. s. w. Der Satz der Causalität sei apodiktisch gewiss, doch stammen die
in ihm vorkommenden Begriffe aus der Erfahrung. Was in dem Urtheile
nothw endig ist, beruht auf dem Satz des Widerspruchs. Femer Philos.
Arch. I, 2, 46 ff. Diese Unterscheidung hat sich bei K. entwicklungsge-
schichtlich herausgebildet aus dem Unterschied des tisus logicus und ttsus
realis des inteUectus (Diss. § 5). Von jenem heisst es: „Datis cognitionibus
sensUivis per usutn intell, logicum sensitivae subordinantur aliis sensitivis,
ut concepHbus cammunibus, et phaenomena legibus phaenomenorum generaliori'
busf Daraus entstehen dann die rcUiodnia, die argumentationes secundum
regvlas logkas. Aus dem Intellect im sensus realis entspringen die intellec-
VaihlBger, Kant-Commentar. 13
194
Commentar zur Einleitung 6^ Abschn. I.
B 2. 3. [B 696. H 34. E 47.]
tualia stricte tcUia (§ 6), die Kategorien und Ideen der Kritik. Vgl. ibidem
§ 23 die Unterscheidung der „leges rationis purae" von den „leges aupposi-
sitiae^. In der Dial. 299 ist noch die Spur dieses Zusammenhanges, wo
vom formalen und realen Vemunftgebrauch die Rede ist, was ganz mit
den hiesigen Bestimmungen identisch ist. Vgl. zu A 10, über „reine Vernunft*.
Ein beliebtes Beispiel der Commentatoren für das relative Apriori ist die
Entdeckung des Neptuns durch Leverr i er auf Grund blosser Berechnungen,
s. Lewes, Gesch. II, 554 f. Kirchner, Metaph. 30. Die Bedingungen
jener Bestimmung lagen in dem Newton 'sehen Gesetz. Man kann in dieser
Weise Wirkungen so gut wie Ursachen a priori bestimmen. In diesem Sinne
wird der Terminus heutzutage in den exacten Wissenschaften oft gebraucht.
Ton dieser oder Jener Erfahrnng unabhängig. Heynig, üerausf. 73 ff.
tadelt den Ausdruck „von dieser oder jener" als ungenau. K. will wohl
sagen, jene relativ-apriorische Erkenntniss sei zwar unabhängig von der
speciellen Erfahrung, dass untergrabene Häuser einfallen, aber nicht unab-
hängig von der Erfahrung der Schwere der Körper. Heynig sagt auch nicht
übel S. 77: „dass doch die verwünschten Zauberwörter ,überhaupt, im Ganzen,
schlechterdings, schlechthin, absolut, allgemein* u. s. w. die Philosophen
immer so sehr täuschen, und verwirrt machen und ihnen zu den ungereim-
testen Behauptungen und lächerlichsten Vorstellungen Anlass geben!*
Sohleehterdingg von aller Erf. unabhängig. K. rechnet darunter auch
das Urtheil, in welchem der empirische Begriff „Veränderung" vorkonmit.
Ist dies kein Widerspruch? Nur scheinbar nach Schultz, Prüf. I, 4.
Denn das Urtheil als solches ist von der Erf. unabhängig ^ [Schultz sucht
a. a. 0. auch ein etwaiges Missverständniss bezüglich des Ausdruckes: ^nur
durch Erf. möglich" abzuweisen. Es könnte eingewandt werden, es gebe Ur-
theile, die durch Erfahr, möglich sind und doch zugleich a priori sind.
So viele mathem. Urth. z. B. die Winkel im A sind = 2 R. An diesen Um-
stand scheine K. bei seinem Ausdrucke nicht gedacht zu haben.] Daher um-
schreibt daselbst Seh. den Text so : wir erkennen etwas a priori (resp. a po-
steriori), sofern wir es ohne Wahrnehmung (resp. durch Wahrn.) wissen.
Dagegen Krit. Briefe 8: „Sie heben Ihren Begriff von einer Erkenntniss
a pr. wieder auf, wenn Sie diesen Satz hieher rechnen." Diese Eintheilong
enthalte einen offenbaren Widerspruch. Bei der richtigen Auslegung ver-
schwindet, wie schon Born, a. a. 0. 11, 335 f. bemerkt, dieser angebliche
Widerspruch, auf den auch Bachmann, Philos. m. Z. 51 hinweist, jedoch
vollständig. Auch Spicker, Kant 20 findet in dieser Unterscheidung einer
* Schultz definirt daher richtig (Prüf. I, 6): Urth. a post. sind solche^ in denen
die Verbindung des Prädicats und Subjects aus Wahrnehmung ge-
schöpft ist, a priori solche, in denen das nicht der Fall ist. Damit sind auch Ein-
wände widerlegt, wie der von Bachmann, Phil. m. Z. 52: Diese schlechthinige
Unabhägnigkeit einiger Erkenntniss von aller Erf. widerspreche dem Axiom vom
Anfang aller Erkenntniss mit der Erfahrung. Vgl. Proelss, Ursp. d. Erk. 108.
Reines und gemischtes Apriori. 195
[R 696. H 84. E 47.] B 8.
«schlechthinigeii und einer aposterioriscben Apriorität* einen Widerspruch.
Bei der Zurückweisung desselben darf man nicht mit Meinong, Phil. Mon.
XII. 341 die beiden gleich folgenden Eintheilungen mit einander verwechseln.
Vgl. biezu noch unten zu Abschn. 11. Vgl. Witte, Beitr. 23. Zur Erk. 16,
BeiB. „Rein*' ist demnach hier nicht identisch mit a priori, wie in der
Ueberscbrift; , wo es = a priori als Gegensatz zu empirisch = a posteriori
dient, sondern bezeichnet eine bestimmte Art der apriorischen ürtheile.
Heber diesen Wechsel der Nomenclatur von »rein* s. zu B 5. Man sieht
schon hier die S. 169 angedeutete Inconvenienz, welche aus den Bedeutungs-
verschiedenbeiten des Ausdruckes folgt. — Es werden die ürtheile a priori
hier nacb einem doppelten Gesichtspunkte eingetheilt:
I. nach dem Gesichtspunkt des Ursprungs in
a) relativ ) • . t_
j ' , , . ! apriorische,
und b) absolut )
Die letzteren werden nun wieder eingetheüt
II. nach dem Gesichtspunkt des Inhalts in
a) gemischt ) . . v
, , :: ° . J apriorische,
und DJ rein )
Das erstemal handelt es sich um die Art, wie das Urtheil entsteht, (ob
aas anderen allgemeinen, aber empirischen ürtheilen oder ob aus reiner
Vernunft), das anderemal um die Elemente, aus denen das Urtheil besteht,
(ob ein empirisches BegriflFselement beigemischt ist oder ob alle das Urtheil
constituirenden begrifflichen Factoren ebenfalls aus reiner Vernunft stammen).
Wir stellen zur Uebersichtlichkeit auch die bezüglichen Beispiele zusammen:
la. Ein unterminirtes Haus stürzt ein.
Ib. (Beispiel fehlt.)
IIa. Eine jede Veränderung hat ihre Ursache.
IIb. (Beispiel fehlt.)
Für I b können wir aus dem reichen Schatze apriorischer Ürtheile bei Kant
etwa ergänzen:
Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz.
(B. 224.)
Für n b gibt Kant an einer anderen Stelle (s. unten) folgendes Beispiel, in
dem gar nichts Empirisches beigemischt sei:
Alles Zufällige hat eine Ursache.
Jedes beliebige mathematische Urtheil, z. B. der Baum hat drei Dimensionen,
thut denselben Dienst. Denn „ein jeder Satz der Geometrie, z. B. dass ein
Triangel drei Winkel habe, ist schlechthin noth wendig" 592. Auch
das sub I b angeführte Urtheil gehört bei der zweiten Eintheilung unter II b.
In der Kritik hat es Kant nur mit denjenigen Ürtheilen zu thun, welche
absolut a priori sind, und unter diesen wieder mit denjenigen, die ganz rein
sind, also mit IIb. Gegen diese Eintheilung in reine und nicht ganz
reine Erk. a priori wendet sich Grapengiesser, Aufg. der Vernunftkr.
29 ff., mit Berufung auf Fries, Logik S. 245, der jene Bezeichnung ver-
196 Commentar zur Einleitung B, Abschn. I.
B 3. [R 696. H 34. E 47.]
wendet für den obigen Üntersbhied von absolut- und relativ-a priori.
Derartige Willkürlichkeiten der Abweichung können nur zu Miss Verständ-
nissen fuhren. Grap. meint, a priori beziehe sich nur auf das ürtheil
als solches; wenn dieses selbst aus reiner Vernunft sei, komme es auf die
Begriffe nicht an. Warum soll aber K. diese richtige Distinction nicht
machen? Apelt, Metaph. 25 verwechselt direct beide Eintheilungen. Ge-
mischte ürtheile a priori behandelt K. in denMetaphys. Anfangsgründen
der Naturwiss., wo der empirische Begriff der Materie als Subject zu
Grunde gelegt wird. Eine andere derartige Gattung behandelt K. in der
Kritik der ürtheilskraft, Einl. V und § 36, sowohl teleologischer als ästhe-
tischer Natur. Kant sagt aber ib. Einl. V, derartige Principien seien doch
a priori, „weil es zu Verbindung des Prädicats mit dem empirischen
Begriffe des Subjects ihrer XJrtheile keiner weiteren Erfahrung bedarf,
sondern jene völlig a priori eingesehen werden kann.*
Weil YerändernnfiT ein Begriff ist, der u. s. w. Cohen a. a. 0. 102:
„Indessen die Kategorie der Causalität, d. h. die Form der Verknüpfung:
Ursache — Wirkung, ist gar nicht denkbar ohne die Vorstellung der Ver-
änderung. Demnach wäre die Kateg. der Gaus, keine „reine* Form des
Denkens. Sie ist es nur, insofern sie eine synthetische Einheit in der Ver-
knüpfung des Mannigfaltigen der Anschauung darstellt.* C. sieht nicht,
dass es sich um einen Satz handelt, nicht um einen Begriff; er ver-
wechselt auch offenbar beide so verschiedene Bedeutungen von „rein*. —
Genaueres hierüber s. zu den Parallelstellen 32. 41. 171 f. 187 ff. 204 ff.
452 Anm. Stark aber sachlich nicht unbegründet ist Heynigs Bemerkung
gegen diese Stelle (Herausf. 131): „Lächerlich ist es im höchsten Grade,
wenn der^Begriff von einer Veränderung a posteriori und der von einer
Ursache a priori sein soll.* Beide Begriffe lassen sich ja im Grunde gar
nicht trennen, sind eigentlich ein einziger Begriff ; „wenigstens ist ja allemal
die Vorstellung einer Ursache abhängig von der einer Veränderung und um-
gekehrt.* Dass der Satz der Caus. apriorisch sei, findet natürlich ebenso-
wenig den Beifall des Empirikers (ib. 75 f.). Dag. Prihonsky, Antikant 25.
Bei der grundlegenden Wichtigkeit dieses ersten Abschnittes und
den mannigfachen Miss Verständnissen , denen er ausgesetzt ist, ist eine Re-
capitulation des Inhalts in Form einer logischen Analyse nicht
überflüssig.
Absatz 1 stellt eine Thatsache auf [zeitlicher Anfang aller Erkennt-
niss mit der Erfahrung], und gibt für dieselbe eine Begründung, [Er-
weckung des Erkenntnissvermögens durch Eindrücke].
Absatz 2 weist eine falsche Consequenz aus jener Thatsache ab,
[darum nicht Ursprung aller Erkenntniss aus der Erfahrung], und be-
gründet dies durch Hinweis auf eine durch sie nicht ausgeschlossene Möglich-
keit, [Beimischung apriorischer Bestandtheile in die Erfahrung selbst].
Absatz 3 leitet daraus ein Problem ab [Gibt es ein Apriori?] und
gibt eine vorläufige Definition [von a priori und a posteriori].
Zufälligkeit der Erfahrung und Nothwendigkeit des Apriori. |97
[B 696. 697. H 34. E 47. 48.] B 3.
Absatz 4 gibt eine genaue Distinction [des eigentlichen vom un-
eigentlichen Apriori].
Absatz 5 gibt eine Division [des eigentlichen Apriori in reines und
gemischtes].
Erklärmig von B, Abschnitt U. (S. 3 - 6).
Thatsächlicher Besitz apriorischer Erkenntniss.
Selbst der gemeine Yerstand. Heyn ig, Herausf. 81 ff. findet es son-
derbar, dass K. an den gem. Verst. hier appellirt, den er in der Vorrede
zu den Proleg. so gründlich verächtlich behandelte. Daher kommen ihm
diese Worte »sehr verdächtig und bedenklich" vor. Vgl. Maimon, Krit.
Unters. 56: Der gem. Menschenverstand könne sich täuschen.
ErfahniBg lehrt uns zwar. Das Eine Merkmal des Apriorischen ist
die Nothwendigkeit oder wie K. sagt, das Nicht-anders-sein-können.
Gr^enüber steht das, was auch andersseinkönnte, dessen Beschaffenheit
also für uns zufällig ist (und bedingt im Gegensatz zur unbedingten
Gültigkeit): eine andere Beschaffenheit ist nicht ausgeschlossen. Metz, Darst.
29 nennt das Erfahrungsurtheil in diesem Sinne „precarisch". Dass das Jahr
365 resp. 366 Tage hat, dass das Wasser bei 0 Grad gefidert, dass das
Gold das specifische Gewicht von 19,5 hat, dass die Körper schwer sind,
dass die Sonne im Osten aufgeht, dass Tag und Nacht einmal innerhalb 24
Stunden wechseln, dass die Erde mit organischen Wesen besetzt ist — das
alles ist nicht nothwendig, das alles könnte anders sein; auf anderen
Planeten hat das Jahr z. B. weniger oder mehr Tage, andere Planeten sind
vielleicht ohne alles organische Leben. Die Zufälligkeit, das Anders -sein-
können , ist somit das erste wichtige Merkmal der aposteriorischen Urtheile.
Bei den relativ apriorischen ürtheilen, die in letzter Linie auf ein em-
pirisches ürtheil basirt sind, ist daher diese Zufälligkeit mittelbar vor-
handen: ich muss das ürtheil, ein unterminirtes Haus fällt ein, zwar als
ein nothwendiges fällen unter der Voraussetzung des allge-
meinen Naturgesetzes der Schwere. Dass Peter oder Paul sterben werde,
ist ein nothwendiges ürtheil unter der Voraussetzung der allge-
meinen Vergänglichkeit der organischen Wesen, speziell der Menschen,
aber es ist nicht nothwendig, dass die Menschen sterblich seien oder dass alle
Menschen sterben müssen, es ist nicht nothwendig, dass die Körper schwer seien
— dies könnte sich anders verhalten. Somit könnten sich, absolut be-
trachtet, jene einzelnen Fälle anders verhalten ; und sie sind nur nothwendig
unter der Voraussetzung jener allgemeinen Gesetze, die aber an sich selbst
betrachtet wieder zufällig sind. Dieser Zufälligkeit halber nennt L ei bniz die
empirischen Kenntnisse „viritis contingentes^ im Gegensatz zu den
198 Commentar. zur Einleitung B, Abschn. II.
B 2. [B 697. H 34. K 48.]
„vSrith nScessairea^ . , Empirisch" und „zufällig" ist für K. identisch z. B.
765: Hume fand, dass alle Principien a priori „nichts als eine aus Er-
fahrung und deren Gesetzen entspringende Gewohnheit, mithin blosd em-
pirische d. i. an sich zufällige Regeln sind, denen wir eine vermeinte
Npth wendigkeit und Allgemeinheit beimessen". Ib. 766. B. 5: „empirisch,
mithin zufällig". „Die Erf. lässt uns keine Noth wendigkeit erkennen." 721.
Vgl. 94. 114. A. 353. Kr. d. pr. V. 60. Proleg. § 14. § 33. „Zwischen
Zufälligem und Nothwendigem ist eine unermessliche Kluft,
welche man durch keine Analogie ausfällen kann" ; Ks. Recension über Herders
Ideen, I. Anhang „Erinnerungen" u. s. w. Heyn ig, Herausf. 84 ff. findet
in dem Satze: „Erf. lehrt uns zwar" u. s. w. den doppelten Sinn : entweder
heisst das: „die Erf. lehrt uns nichts nothwendiges , nichts absolutes d. h.
sie sagt nicht, dass daS; was sie uns lehrt, auch nicht anders sein könne'';
oder es kann heissen: „die Erf. selbst als solche ist zufällig und veränderlich,
sie ertheilt keine Gewissheit und Zuverlässigkeit und man kann sich nicht
siehe): auf ihre Aussagen stützen, eben weil Nothw. und Allgeni. ihr keine
volle Autorität geben." H. findet beide Auslegungen fast einerlei, entwickelt
aber beide Möglichkeiten 85 flF. und 104 ff. und sucht beidemal K. zu wider-
legen. Die erste Auslegung betrifft offenbar die Zufälligkeit des Erfahrungs-
inhaltes, die zweite die der Form, in der wir diesen Inhalt durch die
Erfahrung als Wissen haben. Man kann nicht behaupten, dass K. nur das
Letztere im Auge gehabt habe. Daher sind Heynigs Erinnerungen gegen
die Vorstellungen der Möglichkeiten des Anders-sein-könnens formell wenigstens
berechtigt. Er meint, es gehe uns nicht das Allermindeste an, was noch
anders sein könnte in der Möglichkeit, wir hätten mit der vorhandenen
Wirklichkeit „alle Hände voll zu thun". (S. 94.) Von diesem Standpunkt
aus kämpft er auch ib. S. 107 ff. gegen die K.'sche Behauptung der bloss
relativen Allgemeinheit der Erfahrung. AUgem. u. Nothw. seien die
ganz gewöhnlichen Prädicate unserer „wochentägigen Erfahrungserkenntniss^
Ib. 268. Vgl. Heynig, Plato u. Arist. 49 ff. 68 ff. Aehnlich Herder,
Metakr. I, 23. Er fragt in diesem Sinne nach dem „Pritnum des a priori*'.
Ein Satz^ der zugleich mit seiner Nothwendlgkeit gedacht' wird. Die
Erfahrung lehrt nur Thatsächliches ohne die Garantie des Nicht-anders-sein-
könnens. Finden sich „also" Sätze, welche diese Garantie des Nicht-anders-
sein-könnens enthalten, so stammen sie nicht aus Erfahrung; so sind sie
a priori, aus der Vernunft gezogen. In diesem Satze schliesst K. auch die
relativ-apriorischen mit ein, wie aus dem Folgenden hervorgeht, wo er
erst die absolut apriorischen besonders ablöst. Auch bei den ersteren findet,
wie oben bemerkt, eine Nothwendigkeit statt, aber nur eine relative.
Schlechterdings nothwendig sind nur diejenigen, die ganz von der Er-
* Diesen Aosdruck „gedacht", der auch unten bei der Allgemeinheit wider-
kehrt, presßt Ülrici a. a. 0. 301 viel zu stark, wenn er darin den Ausdruck der
Denknothwendigkeit finden will.
Hypothetische und absolute Noth wendigkeit. 199
[R 697. H 34. K 48.] B 3.
fahmng unabhängig sind, die „vor sich selbst klar und gewiss sind" (s. A 1),
die also eine absolute Evidenz besitzen, bei denen das Gegentheil oder
ein Anderssein unbedingt abzuweisen, gar nicht zu fassen ist. Was nothw.
ist, ist »unzertrennlich mit dem Verstände verbunden", 76. „Die geometrischen
SÄtze sind insgesammt apodiktisch, d. i. mit dem Bewusstsein ihrer Noth-
wendigkeit verbunden; z. B. der Raum hat nur drei Abmessungen ; der-
gleichen Sätze aber können nicht empirische sein." S. 25. Sätze, die ein
solches Nicht-anders-sein-können einschliessen, sind z. B. alle mathematischen
Sätze.
Die Sätze 2.2 = 4
2» = 8
v/86 = 6
enthalten Urtheile, bei denen das Nicht-anders-sein-können sich unmittelbar
aufdrängt. Wären die mathematischen Grundsätze nicht a priori, »so hätten
sie alle Zufälligkeit der Wahrnehmung, und es wäre eben nicht noth-
w endig, dass zwischen zweien Punkten nur eine gerade Linie sei, sondern
die Erfahrung würde es so jederzeit lehren". A. 24. Diese apodiktische Ge-
wissheit ist (Schultz, Prüf, ü, 133) theils eine intuitive (in der Mathem.),
theils eine discursive (in der Philos.)
So ist er ein ürtlieil a priori. Diesen Gegensatz führt Villers hübsch
aus (Phil. I, 189): I/ou vient que dans un cos je ne suis sür de rien, qu'on
n^oteraü ma conviction avec la mime facilitS que je Vavais acquise? Et que
dans Vautre on m'anianterait miUe fois avant que je puisse rien changer ä
ma contnctian? N'est-ü pas absurde d'attribuer la meme origine et la meme
nalure ä des choses si opposies? Uahsurdüi cesse en reconnaissant deux
sources trh-diffSrentes de ces jugements, UexpMence rhgle les uns, les autres
rhglent Vexphience", Weiteres ib. I, 201 flf. in dem Abschnitt: DiffSrence
de la certUude analogique et de la certitude apodictique. Jene gibt nur
eine certitude prSsumh; une expMence nouveUe peut la detruire; so die Art
der Axendrehung der Erde, die Folge der Jahreszeiten; dagegen die aprio-
rischen Urtheile haben eine „puissance irrisistible de conviction^. Ein beach-
tenswerther Zusatz findet sich Hauptm. 30: Das Dichtungsvermögen werde
sich eher an jedes andere Urtheil wagen, es umzumodeln, als an ein streng
apriorisches. Dass die Pferde keine Flügel haben, ist ein comparativ allge-
meiner Erfahrungssatz. Der Dichter kehrt sich daran nicht und schafft
geflügelte Pferde, und selbst Büflfon's Verstand kann eine solche Dichtung
wenigstens ertragen, aber nur ein Rasender würde den Satz umwandeln,
dass 2 X 2 = 4 ist.
Ist er aneb von keinem abgeleitet u. s. w. Dem Wortlaute nach muss
man die Sache so verstehen, dass die absolut apriorischen Sätze auch ab-
geleitete seien, so z. B. Jakob, L. u. M. § 527. Die relativ apriorischen
sind eben solche Sätze, die aus einem allgemeinen Erfahrungssatze
syllogistisch abgeleitet sind, wie das von K. aufgestellte Beispiel lehrt. Nun
brauchen aber die absolut apriorischen Sätze keineswegs abgeleitet zu sein;
200 Commentar zur Einleitung 6^ Abschn. II.
B 3. [R 697. H 34. E 48.]
sie können für sich unmittelbar gewiss sein (z. B. der Raum hat drei Di-
mensionen) ; sie können aber allerdings auch selbst wieder von nothwendigen,
absolut-apriorischen Sätzen abgeleitet sein, wie etwa diejenigen mathematischen
Sätze, die aus den Axiomen gefolgert werden (vgl. B. 14). Der Wortlaut
berücksichtigt nun bloss die letztere, untergeordnete Art. Der Satz ist daher
wohl als eine kühne locutio compendiaria aufzufassen und so zu umschreiben :
ist ein mit seiner Nothwendigkeit gedachter Satz überhaupt ein abgeleiteter
(und nicht schon an und für sich ein schlechterdings noth wendiger Satz),
so ist er nur dann auch ein schlechterdings nothwendiger Satz, wenn er
wieder aus einem nothw. (und nicht wie die relativ-apriorischen Sätze aus einem
empirischen) Satze abgeleitet ist. Diese Ungenauigkeit entstand unter dem
Einfluss des ersten Satzes, der unter das allgemeine Merkmal der Nothwendigkeit
auch die relativ-apriorischen Sätze fasst^ welche alle abgeleitet sein müssen.
So dachte K. im folgenden vorzugsweise auch an die abgeleiteten unter den
schlechterdings noth wendigen Sätzen, die demnach hier nochmals (wie oben
in gemischte und reine) eingetheilt werden in
1) ursprüngliche*,
2) abgeleitete.
* Es besteht hier eine bemerkenswerthe ungenauigkeit. Wenn K. noch einmal
auf die relativ-apriorischen Sätze recurrirte, so musste er auch hier, entsprechend
dem folgenden Unterschied bei der Allgemeinheit^ hypothetische und abso-
lute Nothwendigkeit unterscheiden. Offenbar schwebte ihm so etwas vor, aber
es kommt im Text nicht zum Ausdruck. Wäre das geschehen^ so konnte K. nicht
unten mehrfach als Merkmale des strengen Apriori nur „Nothwendigkeit und
strenge Allgemeinheit** angeben, sondern er musste auch von strenger Noth-
wendigkeit reden, wie er das in der 1. Aufl. S. 2 (neben der wahren Allgemein-
heit) that. Somit gibt in diesem speciellen Punkte die 2. Aufl. eine erhebliche
Verschlechterung. (Auch in der Erklärung gegen Nicolai [vgl. unten 206 f.]
stellt er innere Nothwendigkeit und absolute Allgemeinheit nebeneinander;
der Gegensatz wäre somit äusssere Nothwendigkeit.) Die Stelle ist somit in
mehrfacher Hinsicht unklar und ungenau, wird aber trotzdem häufig citirt. Sie
gab auch zu einer Discussion zwischen den Kritischen Briefen S. 10 und
Born a. a. O. 838 Anlass. Beide meinen, K. spreche nur vom absoluten Apriori.
Der Anonymus weist auf hypothetisch - noth wendige Sätze hin und meint, man
könne somit nicht die Nothwendigkeit als Kriterium der strengen Aprioritat
aufstellen ; und Born macht dann den Unterschied hypothetischer und absoluter
Nothwendigkeit, welchen K. selbst hier hätte machen sollen, glaubt aber auch,
K. spreche hier nur von der Letzteren. Aehnliche Auslegung, wie im Text, doch
nicht ohne Missverständnisse, bei S. Laurie a. a. 0. 223. Verbesserungsversuche
machen die Uebersetzer Born (8), Bami (47) und bes. Tissof (84).
* Nach Krit S. 148 sind die sog. Grundsätze a priori unter die ursprüng-
lichen zu rechnen; denn sie führen ihren Namen besonders desshalb, „weil sie
selbst nicht in höheren und allgemeineren Kenntnissen gegründet sind**. Wie den
Grundbegriffen abgeleitete gegenüberstehen (vgl. oben S. 150), so auch den
Grundsätzen; z. B. das Gesetz der Continuität ist von dem der Causalität
abgeleitet (Krit. 209).
Comparative und strenge Allgemeinheit 201
[B 697. H 34. 36. K 48.] B 3. 4.
Schmidt-Phiseldek in seiner Paraphrase (3) lässt die Bestimmung der
Ableitung einfach weg. — Dass ürtheüe a priori, d. h. die aus dem Subject
selbst stammen, nothwendig sein müssen, begründet Schultz, Prüf. I, 9:
-Wie könnte das Subject, ohne allwissend zu sein, aus sich selbst erkennen,
dass etwas was ganz anders beschaiffen sein kann, gerade so beschaffen sei"?
Fries' anthropolog. Theorie der Nothw. s. Neue Kritik I, 299. II, 16 ff.:
Nothw. ist, was in einem „Bewusstsein überhaupt* vorgestellt wird.
Ueber diese Kantische Bestimmung vgl. die Transsc. Deduction. Dass auch aus
Erfahrung absolute Nothwend. entspringen könne, suchte Feder zu zeigen.
(R. u. Gaus. § 9 ff.) Er beruft sich auf die in der Empfindung liegende
Nothwendigkeit. Vgl. dag. Schultz, Prüf. I, 11 ff., Nothw. sei ein zu der
Empf. hinzugesetztes apriorisches Prädicat, subjective Nothw. führe nicht
zu objectiver, setze leztere vielmehr voraus. Im Anschluss an Feder sucht
Tittel, Kant. Denkf. 67 sogar die Nothwendigkeit des Satzes vom Wid.
empirisch abzuleiten. Vgl. dag. Schultz, a. a. 0. 20 ff. 22 ff. Bei Leibniz,
dem Vorgänger Kants, findet sich dieselbe Eintheilung in viritia de faü,
iTexphienee, contingentes und in vMtSs de raison, nScessaires et Stemelles,
Von den letzteren heisst es: leur vSritS vietU du seul entendement; les sens ne
peuvent pcts dhnontrer la vSritd immanquahle et perpitueUe, wie Leibniz am
Beginn der Nouveaux Essais ausfuhrt.
Erfahrung gibt niemals strenge Allgemeinheit. Nachdem als erstes
Merkmal der Erfahrungssätze ihre Zufälligkeit betont und daraus das
entgegengesetzte Merkmal der apriorischen Sätze abgeleitet wurde, wird jetzt
als zweites Merkmal der empirischen Urtheile der Mangel an strenger
Allgemeinheit, die Beschränktheit (oder die bedingte AUgem. im
G^ns. zur unbedingten) hervorgehoben. Dort handelte es sich um ein
qualitatives Anders-sein-kÖnnen (z. B. es ist nicht nothwendig, dass die
organischen Wesen vergänglich sind ; sie könnten auch wie die unorganischen
dauerhaft sein); hier handelt es sich um quantitatives Anders-sein-können,
L. B. dass alle Menschen sterblich sind, ist zwar eine durch Induction fest-
gestellte Wahrheit; aber dass es keine Ausnahme davon geben könne oder
geben werde, kann nicht mit absoluter Sicherheit behauptet werden. Wir
haben nur eine annähernde Gewissheit, dass es von jener allgemeinen Er-
fahrung keine Ausnahme gebe. Logik § 84: Induction gibt wohl generale,
aber nicht universale Sätze (ib. § 21). Ein Anderssein in einzelnen Fällen
oder in Zukunft ist an sich nicht ausgeschlossen. Somit ist die durch die
Erfahrung erreichbare Allgemeinheit keine strenge, keine absolute, nur
comparative, nur relative. „Empirische Regeln erhalten durch Induction
keine andere als compar. Allgem. d. h. : ausgebreitete Brauchbarkeit."
92. — Unter den Erfahrungsurtheilen finden sich also solche, welche die
Merkmale der Vemunfturtheile scheinbar an sich tragen, es gibt Sätze unter
der Erfahrungserkenntniss, welche somit, wegen ihrer äusseren Aehnlichkeit
mit den ürtheilen aus reiner Vernunft, leicht zur Verwechslung Anlass geben.
Denn es gibt 1) solche, welche eine gewisse Nothwendigkeit einschliessen,
202 Commentar zur Einleitung B, Abschn. II.
B 3. 4. [R 697. H 34. 35. E 48.]
aber diese Noth wendigkeit ist nur relativ, es sind Sätze, die aus allge-
meinen Erfahrungsurtheilen abgeleitet sind, und eben die letzteren sind es
2), welche eine gewisse Allgemeinheit an sich tragen; aber diese Allge-
meinheit ist nur relativ ; denn sie garantirt die Ausnahmslosigkeit keinesw^
an sich, sondern sie beruht auf der Vielheit der beobachteten Fälle. Bloss
verglichene Wahrnehmungen fuhren nicht zur „strengen AUgem.*' 205. In
Wahrheit beruhen die Ersteren doch in letzter Linie nur auf zufälligen
Thatsachen, und die Letzteren nur auf vielen Beobachtungen, die eine
absolute Allgemeinheit nicht garantiren und die letztere ebensowenig als
die Nothwendigkeit beweisen. Somit fehlt „die wahre Allgemeinheit nnd
die strenge Nothwendigkeit". A 2. Diese strenge Allgemeinheit vermisste
auch schon Leibniz bei den empirischen ürtheilen: ea ratiane (inductume)
nunquam constüui posaunt propositionea perfecte universales, quia
inductione nunquam certus es, omnia individua a te tentata esse; u. s. w.
Ed. Erdm. 70 B. Eine Modification und Exemplification findet sich bei
Liebmann, An. d. W. S. 215: Zu den Sätzen a priori gehören Sätze wie
2 X 2 = 4, zu den empirischen solche wie „alle 24 Stunden wechseln bei
uns Tag und Nacht". Von jenen ist eine Ausnahme nicht einmal denkbar,
von diesen (sofern sie bloss inductiv aufgefunden, also noch nicht aus allge-
meinen Gesetzen als nothwendige Folge deducirt sind) sogar realiter möglich.
Jene sind daher offenbar mit der eigenthümlichen Natur unserer Intelligenz
solidarisch verknüpft, so dass durch ihre Aufhebung oder Negation zugleich
die Vernunft aufgehoben oder annihilirt würde, diese aber insofern keines-
wegs, als bei ihrem Hinwegfall oder ihrer Vertauschung mit einem ganz
anderen empirischen Erkenntnissinhalt das Wesen unserer Intelligenz keines-
wegs alterirt werden würde. Die Probe liegt in Folgendem. Denke man sich
eine menschliche Intelligenz auf einen anderen Weltkörper, den Jupiter etwa,
versetzt, oder mit ganz anderen Sinnesenergien ausgestattet, so würden ihre
Erkenntnisse a priori mit den unsrigen durchaus identisch, ihre Erkenntnisse
a posteriori von den unsrigen völlig verschieden, eventuell diesen ganz un-
vergleichlich sein. Auch für sie wäre 2X2 = 4; dagegen der Satz, „alle
24 Stunden wechseln bei uns Tag und Nacht", wäre für sie im einen Fall
falsch, im anderen vielleicht ganz unverständlich und sinnlos. Dass die
vollständige Induction auch strenge Allgemeinheit gebe, führen aus üeber-
weg Logik, § 128 und Ritter, Logik u. Met. I, 134 f. Besonders in der
Mathematik finde sich diese Art der Induction. Vgl. Kirchner, Hauptp. 33.
Wird also ein Urtheil in strenger Allgemeinheit gedaoht u. s. w. Da
die Erfahrung niemals strenge Allgemeinheit gibt, so weisen solche Sätze,
die doch eine strenge Allgemeinheit enthalten, auf einen anderen Ursprung
hin, als auf die Erfahrung, nämlich auf die reine Vernunft ^ Wie oben
* Daher heisst K. diese Allgemeinheit, im Gegensatz zur empirischen, auch die
rationale, „welche als a priori erkannt eine stricte Allgemeinh. ist". Fortschr.
K. 168. R. J, 566. Vgl. Riehl, Krit. I, 325. S ig wart, Logik I, 299. II, 454.
Tafel der ürtheile. 203
[B 697. H 85. E 48.] B 4.
das (qualitative) Nicht-anders-sein-können, so weist hier die (quan-
titative) Ausnabmslosigkeit auf den apriorischen Ursprung hin. Auch
hier sind die niathematischen Beispiele die besten. Dass der Baum drei
Dimensionen habe, ist, wie schon bemerkt, so nothwendig, dass ein Anders-
sein-können unvorstellbar ist. Wir sprechen den Satz mit apodiktischer
Gewissheit aus. Mit derselben Gewissheit sprechen wir, da der Sata schlechthin
apriorisch ist, auch aus, dass jeder Baum nur drei Dimensionen haben
kann. Die qualitative Nothwendigkeit schliesst die quantitative Ausnahms-
losigkeit ein. „Was von der Erfahrung entlehnt ist, hat auch nur com-
parative Aligemeinheit. Man würde also nur sagen können, so viel zur Zeit
noch bemerkt worden, ist kein Baum gefunden worden, der mehr als drei
Dimensionen. hätte.'' A. 24. Wir sind aber in der Lage, jenen Satz von den
drei Dimensionen des Baumes mit strengster Allgemeinheit auszusprechen.
Also, da Erfahrung niemals strenge Allgemeinheit gibt, stammt jener Satz
jedenfalls nichi aus Erfahrung, ist nicht durch Induction entstanden, die
nur comparative Allgemeinheit gibt. Der Satz: Die Winkel des ebenen
Dr^ecks sind == 2B, ist ausnahmslos gültig, nicht nur für alle beliebigen
Arten des ebenen Dreiecks, sondern auch für alle in der Natur sich Vor-
findenden. Das Dreieck, das Erde, Sonne, Sirius in jedem Moment ihrer
Bewegung bilden, hat schlechterdings immer jene Eigenschaft. Das können
wir mit absoluter Zuverlässigkeit vorausbestimmen ohne jede empirische
Messung; denn eine Ausnahme von jenem an sich nothwendigen, evidenten
Satze ist unmöglich. Strenge Allgemeinheit und Nothwendigkeit sind somit
untrügliche Hinweise auf apriorischen Ursprung ; und das was aus der Natur
des Erkenntnissvermögens selbst fliesst und von demselben als constante
Function in Anwendung gebracht wird, das allein kann nothwendig und
allgemein sein.
Nach dem Bisherigen erhalten wir folgende
Eintheilnng der Ürtheile.
ürtheile.
Empirische Apriorische = Reine
(a posteriori) (abeolutes Aprlorl) (Bein im weiteren Sinn)
(absolute Allgemeinheit und absolute
Nothwendigkeit).
Einzelne Allgemeine Reine Gemischte
(empiriBche AUgemeinheit) (Bein im engeren Sinn)
nnmittelbare Abgeleitete Unmittelbare Abgeleitete
(relatlTes Aprlorl) (Grundsätze)
(hypothetische Nothwendigkeit).
Bei den empirischen ürtheilen wurden zur Ergänzung des Eintheilungs-
systems den empirisch - allgemeinen die Einzelnen zugefügt, von denen sich
dann wieder diejenigen abtheilen, welche ihrerseits aus einem empirisch-
204 Commentar zur Einleitung B, Abschn. II.
B 4. [R 697. H 35. E 48.]
allgemeinen Urtheil als relativ-apriorische abgeleitet sind. Dass bei den
Apriorischen auch die Eintheilung in Unmittelbare und Abgeleitete im Sinne
Kants ist, folgt aus den Ausfuhrungen zu dem Anfang dieser Nummer.
Von dieser Allgemeinheit, dass ein Urtheil unbedingt für alle ein-
zelnen Fälle gilt, ohne jegliche Ausnahme, ist eine andere Allgemeinheit zu
unterscheiden, die auch häufig (z. B. Prol. § 39) als Allgemeingültigkeit
bezeichnet wird: hier gilt das Urtheil für alle Menschen. Niemand kann
sich demselben entziehen und eine andere Meinung aufstellen. Alle denkenden
Wesen oder wenigstens alle Menschen müssen ausnahmslos ein in diesem
Sinn allgemeines Urtheil fUUen und anerkennen. Die erstere Allgemeinheit
kann man die objective, die andere die subjective nennen. K. wechselt
oft fast ohne Uebergang zwischen beiden, so in der Vorrede zur Kr. d.
pr. Vern. A 23 fF., wo er von der allgemeinen Gültigkeit für alle Fälle zur
allgemeinen Einstimmung übergeht. [Besonders in späteren Schriften, so Kr.
d. pr. V. 35. 37, liebt es K., „allgemeingültig" mit „objectiv* * zusammen-
zustellen. Was allgemeingültig ist, ist darum auch objectiv (nicht bloss für
ein einzelnes Subject geltend) und umgekehrt. Diese objectivistische Tendenz
ist beachtenswerth gegenüber dem oft schroff betonten Subjectivismus der
Kritik. Schon in den Prol. z. B. § 19 ist diese Zusammenstellung beliebt. Allgem.
Erk. ist objectiv, weil sie aus Gründen angenommen wird und diese auf
ein Object weisen. Nach Kr. d. pr. V. 68 ist objectiv und rational
identisch. Das Allgemeingültige ist daher nach Kr. d. Urth. § 22 objectiv
nothwendig, ib. Einl. VIIL] Nur die subj. Allg. hat im Auge Snell, Menon
25 und besonders Bendavid Vorl. 5. Auch Jacobson, Auff. des Apriori
5 ff., spricht nur von der „ Allgem eingültigkeit" in dem Sinn, „dass die be-
treffende Vorstellung [es handelt sich aber vor allem hier um Sätze!] bei
allen Menschen und auch bei mir zu jeder Zeit ganz in derselben Weise zu
finden sei". Nur die object. Allgemeinheit behandelt Schultz, Prüf. I, 27,
sowie Eiehl, Krit. I, 325. Göring, System II, 135. 137. Dag. ders. Viert,
f. wiss. Phil. I, 417 nur die subj. {quod semper, quod tibique, quod ab Omni-
bus creditum est). Dag. Maimon, Krit. Unters. 168 (vgl. bes. 174) unter-
scheidet allg. in Bezug aufs Object und aufs Subject; dort unter allen
zuMligen Umständen des Objects, hier unter denen des Subjects und folglich
auch für alle Subjecte gültig. Beides findet sich auch bei Meyer Ks.
Psych. 15 und bei Mahaffy, Comment. Intr. XXII. gegen Cousin und
Stirling, (Secr, of Hegel 224 nur subj.), und M'Cosh, Int. of the Mind
p. 52 not. Die subjective Allgemeinheit, welche den Anspruch auf
Gültigkeit für Jedermann involvirt, wird der Natur der Sache nach besonders
in der Kritik der ästhetischen Urtheilskraft behandelt, § 6 und § 8. Doch
' Natürlich ist diese Objectivität, welche der subjeetiven Allgemeinheit cor-
respondirt, nicht mit der vorhin von der letzteren abgeschiedenen objectiven All-
gemeinheit zu confundiren. — Zum ersteren Punkte vgl. Laas, Ks. Anal. d. Erf.
54 ff. 92. 176 ff. 188. Spicker, Kant 157. Falsch bei Riehl, Krit. 298.
Subjective und objective Allgemeinheit. 205
[B 697. H 35. E 48.] B 4.
wird daselbst auch dem logischen TJrtheil dieselbe Allgemeinheit zuertheilt,
die K. „Allgemeingültigkeit'' nennt. (Diese kommt jedoch nur den
ürtheilen über das Schöne, nicht denen über das Angenehme zu.) „Ein
öbjectiv allgemeingültiges Urtheil ist es auch jederzeit subjectiv, d. h.
wenn das ürtheil für Alles, was unter einem gegebenen Begriffe enthalten
ist, gilt, so gilt es auch für Jedermann, der sich einen Gegenstand durch
diesen Begriff vorstellt." Dort handelt es sich ,um die (logische) ganze
Sphäre des Begriffs, hier um die ganze Sphäre der ürtheilenden".
Jenes ist die logische, dies die ästhetische Allgemeinheit. Ib. § 31.
Dieselbe (subjective) Allgemeinheit findet bei den moralischen ürtheilen
statt, welche für Jedermann ohne Ausnahme gelten. — Pistorius
A.D. B. 105 I, 62 — 56 fragt, woher Kant von der Allgemeinheit der aprio-
rischen Begriffe wisse? Das sei nur nach dem Schluss der Analogie
möglich; also sei die Annahme jener Allgemeinheit eigentlich empirisch.
Dieser Einwand bezieht sich natürlich nur auf die subjective Allgemeinheit.
Dagegen bemerkt Seile, Berl. Mon. 1784. IV, 570: Erfahrung kann allerdings
einen Satz nie allgemein und noth wendig machen, aber sie kann uns einen
allgemeinen und nothwendigen Satz kennen lehren. So lehre besonders die
innere Erfahrung die Allgem. und Nothw. der Denkgesetze. — Nach der
Analytik hat auch die Erfahrung Allgemeinheit und Nothwendigkeit ; s. bes.
Prol. § 22 Anm. Dass und inwiefern hierin ein einfacher Widerspruch
liegt, ist erst in der Analytik zu erörtern. Biehl, Krit. I, 326 findet
natürlich einen solchen Widerspruch nicht. Was er auf Grund davon gegen
Ueberwegs Einwand, auch Erf. gebe Allgemeinheit (Gesch. III, 204) sagt,
ist daher hinfällig. Vgl. Spicker, Kant 63. 122. 126. Es fällt dies zusammen
mit der oben und später besprochenen nothwendigen Ergänzung der Einl.
durch die Frage nach der Mögl. d. Erfahrung (im prägn. Sinn).
Alle Körper sind schwer. Cohen macht Th. d. Erf. 191 darauf auf-
merksam, dass K. in den Met. Anf. d. Naturw. Dyn. Lehrs. 8, Zus. 2 (Ros.
V, 372) erklärt: „Die urspr. Elasticität und die Schwere machen die einzigen
a priori einzusehenden allgemeinen Charaktere der Materie . . . aus; denn
auf den Gründen beider beruht die Möglichkeit der Materie selbst.* Den
damit gegebenen Widerspruch sucht C. doppelt zu lösen: einmal habe K.
das Kecht gehabt, dem Satze nur eine comparative Allgemeinheit zuzuer-
kennen, sofern er darin Recht hat, dass derselbe noch nicht a priori bewiesen
war(!) Und sodann erkläre Kant nicht etwa den Satz von der Schwere der
M. hier für einen a posteriori gültigen (?). (Nach Cohen S. 202 ist er aber hier
empirisch.) Zwei herrliche Entschuldigungsgründe, schade dass der erste
lahm und der zweite blind ist. — Vgl. Spicker, Kant S. 197.
Ein besonderer Erkenntnlssquell. Hiegegen erklären sich mit grosser
Energie die , Kritischen Briefe" S. 12, welche nur den logisch reflectirenden
Verstand anerkennen, keine besondere Quelle, welche für angeblich apriorische
Wahrheiten fliessen soll. Born a. a. 0. 346 — 354 sucht, unter Abweisung
der angeborenen Ideen, der Vernunft eine immanente Thätigkeit zu vin-
206 Commentar zur Einleitung B^ AbBchn. II.
B 4. [R 697. H 85. K 48.]
diciren, vermöge der sie, ohne derartige Sätze „aus fremder Hand*' annehmen
zu müssen, aus selbsteigener Vollmacht streng allgemeine und absolut noth-
wendige Sätze ausbildet. Besonders heftig wendet sich der Jesuit T. Pescb.
Die moderne Wissenschaft betrachtet in ihrer Grundfeste [d. h. Kant] Preib.
1876 (= 1. Erg. Heft zu den Stimmen aus Maria-Laach) S. 25 gegen diesen
Ausdruck, den „wir uns entschieden verbitten müssen*. Denn er importire
einen Kantischen Fundamentalirrthum ; die eigentliche „Quelle*' für die ersten
allgemeinen Urtheile sei durchaus nicht der menschliche Verstand, sondern
die gObjectiven Begriffe* (d. h. im aristotelisch-scholastischen Sinne).
Koth wendigkeit und strenge AUgemeinlieit sind Kennzeiehen u. s. w.
Die Zusammenstellung dieser beiden Merkmale^ findet sich zahllos bei K.
z. B. S. 823. „In ürtheilen aus reiner Vernunft ist es gar nicht erlaubt zu
meinen. Denn weil sie nicht auf Erfahrungsgründe gestützt werden, sondern
alles a priori erkannt werden soll, wo alles noth wendig ist, so erfordert
das Princip der Verknüpfung Allgemeinheit und Nothwendigkeit,
mithin völlige Gewissheit.* „Empirische Begriffe . . . können keinen . . .
Satz geben, als nur einen solchen, der auch nur empirisch ist, mithin niemals
Nothwendigkeit und absolute Allgemeinheit enthalten kann, dergleichen
doch das Charakteristische aller Sätze der Geometrie ist." S. 47. „Grössere
AI lg., als die Erfahrung verschaffen kann; mit dem Ausdruck der Nothw.,
mithin gänzlich a priori,* 9. 718. Schon in derDissert. von 1770 § 15 D.
stehen necessitas und universalitcts nebeneinander. Eine peremptorische Erklä-
rung gibt K. noch 1 798 gegen Nicolai ab (Über die Buchmacherei 11 fin.). „Was
aber die völlige Unwissenheit und ünftlhigkeit dieser . . . Philosophen, über
Vemunfturtheile abzusprechen, klar beweist, ist dass sie nicht zu begreifen
scheinen, was Erkenntniss a priori (von ihnen sinnreich: das Vonvorner-
kenntniss genannt) zum Unterschied vom empirischen eigentlich sagen wolle.
Die Kritik d. r. V. hat es ihnen zwar oft und deutlich genug gesagt: dass
es Sätze sind, die mit dem Bevmsstsein ihrer inneren Nothwendigkeit
' Diese beiden Merkmale des Apriori auch bei Baumgarte n^ Logiea § 474 ff-
(de cognitione perraiionem\ wie überhaupt bei allen Wolfianern; denn bei Leibnii
wurden beide unzähligemal angeführt, so z. B. in dem Ävant-Propos der ^<wr. Ess,
Vgl. die Nachweise und Ausführungen bei Kantiengiesser, Dogm. u. Skept
14 ff. In ähnlicher Weise wie K. behandelt auch T e t e n s , Versuch 426 ff. 450 ff.
die Allgem. u. Nothw. als Kriterien der Vemunfterkenntniss ; auch er rieht die
Mathem. als Beweis herbei. Dieselben beiden Merkmale der apriorischen Erkennt-
niss finden sich schon in Piatons Theätet und in Aristoteles' Metaphysik,
von wo aus wie aus fruchtbarer Quelle der ganze Strom des Dogmatismus sich
durch die Jahrhunderte ergoss. Schon dort ist es Ueberzeugung, dass es nicht
die Erfahrung ist, welche Sicherheit und Allgemeinheit gibt, sondern die VemuniV
die Quelle eigener Gesetze und Begriffe. Man muss, um das Bild des „Theätet*
zu gebrauchen, nur die Tauben im eigenen Taubenschlag ergreifen, man braucht
nicht nach aussen Jagd zu machen. So werden Vernunft und Erfahrang
schon hier in schroffen Gegensatz gebracht.
Nothwendigkeit und Allgemeinheit» die Kriterien des Apriori. 207
[R 697. H 85. E 48.] B 4.
und absoluten Allgemeinheit (apodiktische) ausgesprochen, mithin nicht
wiederum als von der Erfahrung abhängig anerkannt werden, die also an
sich nicht so oder auch anders sein können; weil sonst die Eintheilung
der Urtheile nach jenem possirlichen Beispiel ausfallen würde :
„Brann waren Pharaons Kühe; doch auch von anderen Farben."
Bei Meli in I, 11 findet sich zu dieser Stelle noch eine Ausführung,
die bei K. in dieser Form fehlt. Mellin nimmt noch ein weiteres, negatives
Merkmal der apriorischen Erkenntnisse an: Den umstand, dass sich von
solchen keine ihnen correspondirenden Impressionen angeben lassen.
Dem Gedanken:
2X2 muss immer 4 sein;
2X2 kann keine Million sein;
können keine Immpressionen correspondiren. Allgemeinheit und Nothwen-
digkeit sind Vorstellungen, die nicht durch Impressionen in uns herein-
kommen können. Dies betont ganz besonders auch Jakob, L. u. M,
§ 518 ff., welcher (vgl. § 531) dies neben Kants Kennzeichen des Apriori als
Drittes anfuhrt. Schmid, Wort. 9 ff. nimmt 4 Merkmale an; ausser der
Nothw. und Allgem. noch 3) den Umstand, dass eine Vorstellung sich nicht
unmittelbar empfinden und wahrnehmen lässt; 4) den Umstand, dass
eine Vorstellung eine Voraussetzung für die Möglichkeit der Er-
fahrung selbst ist. Mellin (ib. I, 12) gedenkt endlich noch eines weiteren
Kriteriums, das bei Kant sonst sich häufig findet: Die zeitliche Vorher-
bestimmung. „Ohne allwissend zu sein, könnte das Subject unmöglich vor-
herbestimmen, dass eine bestimmte Erfahrung eine bestimmte Beschaffenheit
haben werde, deren Gegentheil unmöglich sei, und welche immer statt-
finden müsse, dass z. B. der Inhalt einer jeden Pyramide immer heraus-
kommen müsse, wenn man ihre Grundflache mit dem dritten Theil ihrer
Höhe multiplizirt.* Es gehört diese Bestimmung jedoch zum Kriterium der
Allgemeinheit. Reuss, Anal, Sens, §. 23 fügt als drittes Merkmal die
„vacuUas ah omni sensibüi^ an; die „Unabhängigkeit von der Erfahrung" ist
aber kein den beiden genannten Kriterien coordinirtes Merkmal, sondern
diese selbst sind eben Zeichen der Unabhängigkeit der betreffenden Er-
kenntnisse von der Erfahrung d. h. positiv ausgedrückt der Apriorität.
Nach F. J. Z i m m e r m a n n , R. u. Z. § 2 genügt das Eine Merkmal der Nothw.,
weil diese die Allgem. schon in sich begreift, und K. stellt dies selbst häufig *
so dar, z. B. Prol. § 19. 20. 21. Da nothwendig = objectiv-gültig
ist, so muss das Nothwendige auch allgemein sein in der doppelten Bedeutung
* Nach Göring, System IT, 103 trat beim alten Dogmatismus die AUg.
hinter die Nothw. durchaus zurück. Hamilton, Lect, II, 352 reducirt Allgem.
auf Nothw. Mi 11 kehrt den Process bekanntlich um. (Exam, of Hamiltons
I^kilos. 264.>,— Konstanz fugt als ein Merkmal des Apriori hinzu Witte, Zur
Erk. 20 f. 47 ff. (Vgl. zur Aesth. S. 20). Vgl. dag. Prihonsky, Antikant 26-33.
208 Commentar zur Einleitung B, Abschn. 11.
B 4. [R 697. H 35. E 48.]
dieses Terminus. Nach Biehl, Krit. I, 325 ist das eigentliche Kriterium
die Allgemeinheit, weil sie objectiv sei, während die Nothw. als snbjectiv
erst aus jenerfolge. Nach Hodgson, Time a, Space sinä Allg, und Nothw.
die obj. und subj. Seite derselben Sache. Bendavid (N. Berl. Mon. 1800.
rV., 389) bemerkt, dass beide Kennzeichen gleich viel aussagen, dass aber
ihre Anwendung im Einzelnen verschieden sei. „In positiven, d. h. solchen
Sätzen, durch die ich die Objectivität meiner Behauptung erhärten will,
wird es unmöglich, die Stimmen aller Menschen zu sammeln und zu er-
fahren, ob sie mir beipflichten, und ob daher mein Satz allgemein gültig ist.
Ich muss also dessen Noth wendigkeit beweisen. Hingegen in negativen
oder solchen Sätzen, durch die ich zeigen will, dass irgend eine Behauptimg
bloss subjective Gültigkeit bezitze (d. h. falsch sei), würde es mir unmöglich
fallen, die Nichtnothwendigkeit des Satzes anders als dadurch zu beweisen,
dass ich zeige, er sei nicht allgejnein gültig. Bei der Bejahung des Satzes,
dass alle Winkel in einem Dreieck 180 Grade betragen, müssen wir uns
des Kennzeichens der Nothwendigkeit bedienen. Hingegen bei der Verneinung
des Satzes, dass Zucker eine angenehme Empfindung nothwendig errege,
des Kennzeichens von Nichtallgemeingültigkeit." Schultz, Prüf. I, 27 und
Rehberg, Met. u. Bei. 123 ziehen die Nothwendigkeit als wichtigeres
Merkmal vor, denn dass die Allgemeinheit eines Satzes eine absolut«,
strenge sei, hievon könne uns bloss die Nothwendigkeit des Satzes versichern.
Cohen entwickelt (10. 93. 206 vgl. Riehl, Krit. 325) die Ansicht, Allgem. und
Nothw. seien gar nicht von K. als die Kriterien des Apriori aufgestellt; sie
seien nur „äussere Werthzeichen, nicht innere Kriterien", ^nur eine
Werthangabe, kein Massstab", nicht eine Bestimmung, nur eine Be-
schreibung. Es liegt hier (wie auch schon Witte, Beitr. 19 bemerkt)
der Widerspruch mit Kant, resp. die willkürliche Auslegung desselben anf
der Hand. Es soll nach S. 93 die Allg. und Nothw. kein Erkennungsmerkmal
des Apriori sein! Und K. wendet jene Merkmale zu diesem Zwecke selbst
hier an ! — Gegen diese beiden Merkmale des Apriori erhob sich mannigfacher
Widerspruch. Vom skeptischen Standpunkt aus trat Aenesidem dagegen
auf. Abi cht machte in seinem „Hermias* und bes. in der Preisschr. über
d. Fortschr. d. Met. 323 ff. Einwände, nahm jedoch das Apriori selbst an,
wollte jedoch andere Merkmale, nämlich ünempfindbarkeit und Unbestimmt-
heit der Quantität und Qualität nach (ib. 326). Der Kantianer Jacobson,
Auff. des Apr. 8, 18 bestreitet, dass Allg. u. Nothw. schon genügen, um die
* Aprioiität zu garantiren. Dass die Nothw. kein ausschliessendes Merkmal
für die Apriorität sei, wollen die Krit. Briefe 10 damit beweisen, dass die
relativ-apriorischen Sätze, welche doch auch Nothw. bei sich führen, in letzter
Linie doch von Erfahrung abstammen. Auch die Allgem. sei kein aus-
schliessendes Merkmal (ib. 11), denn von einem beschränkten Erfahrungs-
gebiete lasse sich ein allgemeiner Satz bilden: z. B. alle Mitglieder dieser
Gesellschaft sind Gelehrte, was sowohl durch Induction als durch Kenntniss
der Statuten erkannt werden könne. Ausserdem gebe es mathem. Sätze,
Aligemeinheit und Noth wendigkeit, die Kriterien des Apriori. 200
[R 697. H 35. E 48.] B 4.
welche im Sinne Kants a priori und doch nicht allgemein seien, z. B. Einige
Vierecke sind Parallelogramme \ Eine lesenswerthe Erörterung über Nothw.
n. AUg. s. in ßeinholds Beitr. zu Bericht. I, 32—52. 68—71. 109 ff. Er
identificirt das Nothw. u. AUg. mit „dem im Vorstellungs vermögen Bestimmten,"
d. h. mit dem, was in dem Vorst. als solchem und seinen Functionsbe-
dingungen liegt, d. h. mit dem Apriorischen. Reinh. gebraucht jedoch das
Letztere als Merkmal für das Erstere, also umgekehrt als Kant. Vgl. hierüber
bes. a. a. 0. I, 278 f. u. 11, 51 ff. über den Unterschied logischer, hypo-
thetischer und transscendentaler Nothw. Id. Fund, der phil. Wiss.
21 f. (Tadel Locke's wegen Vernachlässigung dieser beiden Begriffe.) Vgl.
Grohmanu, Dem And. Kants 15 ff. über die verschiedene Fassung dieser
Begriffe bei Empiristen, Dogmatisten und Kriticisten. Maimon, Krit. Unters.
168 ff. (gut über ,objective Nothw.** u. 172 ff. über AUg. „als Folge der
Einsicht in den Grund"). Eine theil weise polemische Erörterung der Nothw.
u. AI Ige m. siehe bei Witte, Beitr. 36—40. Das Apriori sei allerdings un-
abhängig von der inductiven Erfahrung, aber nicht von der nicht inductiven
Erfahrung durch Selbstbesinnung. Daher will W. auch statt „von aller Erf.
miabhängig*' setzen: „aus keiner Erf. stammend". Ueber AI lg., welche auf
den Raum, das Überall, und Nothw., welche auf die Zeit, das Immer, sich
bezieht, s. dess. »Zur Erk. u. Eth." S. 4 — 7. 18. Eine „genaue Untersuchung der
Begriffe Nothw. u. AUg. und Feststellung ihrer wissensch. Bedeutung" s.
bei Göring, System des Krit. I, 253—266 (Unterscheidung subjectiver und
objectiver Nothw. u. AUg.). Ders. Viert, f. wiss. Phil. I, 386 ff. 525 ff.
n, 106 ff. Femer Windelband, Gewissheit der Erk. 31 ff. 60 ff. Über
die Frage, ob K. den rechten Grund für die AUg. u. Nothw. der Erk. an-
gegeben habe, handelt E. H. Th. Stenhammar, akad. afhandling. Upsala
1866. Über die Frage, ob Noth wendigkeit ein Zeichen der Apriori tat und
nicht auch empirisch erreichbar sei, s. das besondere Supplement, wo
besonders Mills Einwände gegen Kant zu besprechen sind. Nothw. und
AUgem. sind auch die Merkmale für das ethische und ästhetische
A prior L Ueber das Erstere vgl. z. B. Kant an Nicolai, I. Th. : Der Eudämo-
nismuÄ bringe keine AUg. u. Nothw. des sittl. Handelns zuweg, nur das
eleu thero nomische Princip. Vgl. ferner Spicker, Kant 16. 144, 177.
ülrici, Grundpr. I, 302. Tombo, Ks. Erk. 4. 9. Caspari, Grundpr.
II, 121. Glogau in Fichte's Zeitschr. 73, 229. 237. Cantoni, Kant 171 ff.
Caird, Fhü. of Kant 220.
Weil es aber im Gebrauche bisweilen u. s. w. Dieser Satz enthält
offenbar einen Druckfehler. Denn beidemal ist die Allgemeinheit bevor-
zugt als Merkmal. K. wollte offenbar, sagen , dass es bald leichter sei, die
Zufälligkeit in den Urtheilen, als die empirische Beschränktheit der-
selben, oder manchmal einleuchtender sei, die Allgemeinheit als die
Nothwendigkeit eines Urtheils zu zeigen. Dann wird das erstemal die
^ Yg\. dagegen Born a. a. 0. 343 ff
VftihiDger, Kant-Gommentar. \j^
210 Commentar zur Einleitung B, Abschn. IL
B 4. [B 697. 698. H 35. E 48.]
Nothwendigkeit (resp. Zufälligkeit), das anderemal die Allgemeinheit
(resp. Beschränktheit) herausgehoben. Der Wortlaut aber enthält eine son-
derbare Tautologie, während unsere Stellung nicht nur sachlich richtig ist,
sondern auch eine elegante chiastische Wendung Kants zur Geltung bringt
Dass hier ein blosser Druckfehler vorliege, dafür ist im Text selbst
(ausser dem bisherigen logischen Beweis) noch ein grammatisches Merk-
mal : „Die emp. Beschränktheit derselben"; „ derselben * ist ohne Beziehung ru
etwas Vorhergehendem *, während unsere Anordnung die natürliche Beziehung
(auf „Urtheilen") wiederherstellt. — Das Merkmal der Nothwendigkeit
wendet K. unzähligemal an, z. B. B 14, „mathem. Sätze sind jederzeit Sätze
a priori, weil sie Nothwendigkeit bei sich führen, welche aus Erfahrung
nicht abgenommen werden kann". „An beiden (Sätzen der reinen Natur-
wissenschaft) ist die Nothwendigkeit, mithin ihr Ursprung a priori
klar." B. 17. „Nothw. ist jederzeit das Zeichen eines Princips a priori,'
Prol. § 48. Anm.
Ist leicht zu zeigen. Montgomery, Es. Erk. 200: „Der Kriticismus
obgleich unzweifelhaft eine der grössten Leistungen des menschl. Intellects,
hat sich doch die zu lösende Frage, seiner vorgefassten Meinung gemSss
kinderleicht eingerichtet." Auch Sig wart, Gesch. HI, 39 meint, K. sei
über die Frage, ob es Erkenntnisse a priori gebe, „etwas leicht hingegangen'.
Schon Werner a. a. 0. 70 meint, dass dieses „nicht leicht, sondern un-
möglich sei".
Alle Sätze der Mathematik. „Die Mathematik gibt das glänzendste
Beispiel einer sich, ohne Beihülfe der Erfahrung, von selbst erwei-
ternden reinen Vernunft." 712. Diese fundamentale Bestimmung kehrt zahllos
oft wieder. Es ist hier im Anschluss an eine B 14 folgende Bemerkung zu
scheiden zwischen solchen Sätzen, welche ihrerseits erst abgeleitet sind, and
solchen, welche Grundsätze sind. Auch diese und diese insbesondere sind
apriorisch und die von ihnen abgeleiteten sind doppelt apriorisch, einmal
indem sie überhaupt abgeleitet sind (a priori im relativen Sinn), sodann
weil die, von denen sie abgeleitet sind, im strengsten Sinne apriorisch sind.
Die Mathem. hält sich fem von allem Empirischen, „denn das mindeste
Emp. als Bedingung in einer mathem. Demonstration würde deren Würde
und Nachdruck herabsetzen und vernichten". Kr. d. pr. V. 45; ib. 167: Diese
mathem. Evidenz steht nach Piatons Urtheil an Vortrefflichkeit noch über
ihrem Nutzen. Dass Mathematik, sowohl Geometrie als Arithmetik,
Erkenntnisse a priori seien, haben zuerst Piaton und Pythagoras ein-
gesehen (s. „Vornehmer Ton". Anf.) Hamann leitet die Apodikticitfit der
Mathematik aus ihrer Sinnlichkeit her (Metakritik bei Rink, Manch. 125);
auch „versteht es sich am Bande, dass, wenn die Mathem. sich einen Vorzug
des Adels wegen ihrer allgem. u. nothw. Zuverlässigkeit anmassen kann,
auch die menschl. Vernunft selbst dem unfehlbaren und untrüglichen In-
^ Das merkte Tissot und übersetzt daher S. 35 „d*une cannai98anc€*^.
Beispiele des Apriori: Mathematik^ Causalitätsgesetz. 211
[B 698. H 85. K 48. 49.] B 4. 5.
stincte der Insekten nachstehen müsste". Für die rein empirische Ent-
stehung der Mathem. steht ein Heynig, Herausf. 113 ff. ,Die Mathem.
gleicht — einem grossen, abstracten Denker, der sich ganze Uebersichten und
Idealvorstellungen von der Welt durch abstractive und subtile Speculationen
gebildet hat, und nun stolz darauf, und den grossen Abstand betrachtend,
der zwischen ihm als scientifischen Denkmeister und anderen empirischen
and rhapsodistischen Gemeinleuten sich vorfindet, nicht mehr glauben und
wissen will, dass er so empirisch niedrig, so sinnlich, so concretplump, so geistig-
arm anfieng, als der letzte aller Nachtwächter in einem Lande. ^ Die Aus-
fuhrung der Polemik im Einzelnen ist nicht ohne beachtenswerthe Gedanken.
(Vgl. ib. S. 209.) Vgl. Herder, Met. I, 21. 46. Aehnliche Bemerkungen
auch nicht selten bei Maimon. Den Widerspruch, dass K. in der Anthropol.
(§ 2) die Richtigkeit der mathem. Urth. an die Üebereinstimmung mit An-
deren knüpft, tadelte schon Nicolai, Gel. Bild. 121. Vgl. dag. Krit. d.
pr. y. 91, die Mathem. erwarte den Beifall für die Allgem. ihrer Sätze nicht
von der Gunst der Beobachter, welche als Zeugen die Sätze der
Geometrie bestätigen, üeber die Streitfrage, ob die Geometrie a priori sei,
vgl Schultz, Prüf. I, 19. 80 ff. und die daselbst besprochenen Einwürfe
von Feder (Raum u. Gaus. 88), Tittel (Kant. Denkf. 63 ff.), Tiede-
mann (Hess. Beitr. I, 123), Reimarus (Gr. d. menschl. Erk. 95 f.). Das-
selbe von der Arithmetik bei Schultz Prüf. I, 215 ff. — Die fernere
Geschichte dieser insbesondere neuerdings wieder stark ventilirten Streitfrage
s. in dem Supplement: Geschichte der Streitigkeiten über die
Apriorität der Mathematik seit Kant, worin auch die Entwicklung
dieser K.'schen Lehre aus der Leibniz'schen heraus als Einleitung dar-
gestellt wird.
Seine Urtheile a priori: der Sats, dass alle Teränderang eine Ursache
kabe. In der Leipziger Gelehrten-Zeitung von 1787, N. 94, machte ein
Recensent darauf aufmerksam, dass hier „ein gerader Widerspruch'* sich
finde mit einer früheren Stelle. Nach B. 3 ist der Satz: „Eine jede Verän-
derung hat ihre Ursache" zwar ein Satz a priori, aber nicht rein; hier
wird derselbe Satz als Beispiel eines „reinen ürtheils a priori" angeführt.
Auf diesen Vorwurf antwortet K. am Schluss der Abhandlung: üeber den
Gebrauch teleologischer Principien inderPhilos. (1788); er sagt, solche und
ähnliche Widersprüche in einem Werk von ziemlichem Umfang, welche man
zu entdecken glaube, ehe man es im Ganzen wohl gefasst habe, schwinden
insgesammt von selbst, wenn man sie in der Verbindung mit dem Uebrigen
betrachte. K. löst nun den scheinbaren Widerspruch durch folgende Distinc-
tion der zwei Bedeutungen des Wortes von „rein" : „In der ersteren Stelle
hatte ich gesagt: von den Erkenntnissen a priori heissen diejenigen rein,
denen gar nichts Empirisches beigemischt ist, und hatte als ein Beispiel
des Gegentheils den Satz angeführt : alles Veränderliche hat eine Ursache. Da-
gegen führe ich S. 5. [d. h. hier] diesen Satz zum Beispiel einer reinen Erkenntniss
apriori, d.i. einer solchen, die von nichts Empirischem abhängig ist, an:
212 Commentar zur Einleitung 6, Abschn. IL
B 5. [R 698. H 36. E 48. 49.]
zweierlei Bedeutungen des Wortes rein, von denen ich aber im ganzen
Werke es nur mit der letzteren zu thun habe. Freilich hätte ich den Miss-
verstand durch ein Beispiel der ersteren Art Sätze verhüten können ' : alles
Zufällige hat eine Ursache. Denn hier ist gar nichts Empirisches bei-
gemischt. Wer besinnt sich aber auf alle Veranlassungen zum Missver-
stande ? ** R e i n = „von der Erfahrung unabhängig" ist also die weitere Bedeu-
tung^; denn darunter sind alle eigentlichen, absolut-apriorischen Sätze umfasst.
deren Gegensatz die relativ -apriorischen sind (nicht wie SchmidWört. 8
unkantisch ausfuhrt, die vermischt-apriorischen , so dass es dann zweierlei
vermischte ürtheile a priori gäbe). Rein = ungemischt hat eine engere Sphäre,
und schneidet aus jenen absolut-apriorischen wieder einen kleineren Theil
heraus, bei dem nicht nur die Form der Verknüpfung, die ganze Entstehung
der Verbindung von der Erfahrung unabhängig ist, sondern bei dem auch
kein Glied des verknüpften Inhalts (wie oben z. B. Veränderung) empirischen
Ursprungs ist*. Vermöge dieser zwei Bedeutungen kann somit K. das
fragliche Urtheil, dem er das erstemal die Reinheit abgesprochen hatte, das
zweite Mal als ein reines Vernunfturtheil bezeichnen. In der Kritik be-
handelt K. , wie schon bemerkt, nur die reinen (ungemischt) apriorischen
Ürtheile; eben darum, weil dies sich von Anfang an von selbst versteht,
hat »rein* in der Kr., wie K. sagt, nicht die Bedeutung von „ungemischt*,
sondern von „unabhängig von der Erfahrung*' = a priori überhaupt, xmd wird
von K. für das von ihm noch nicht gebildete „apriorisch" gebraucht*. Der
Gegensatz ist bei beiden Bedeutungen ein verschiedener: Rein = unabhängig
— Gegensatz empirisch ; R e i n = unvermischt — Gegensatz gemischt (unrein).
^ Wie dies z. B. Schulze bei seiner Wiedergabe der Stelle in der Krit.
der theor. Philoß. I, 177 thut.
' Apriori = schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig. B. 3. „Unab-
hängig von aller Erfahrung = R e i n ". Von*. A. VI. Somit ist Rein = Apriori.
■ Eine specielle Analyse des Satzes in diesem Sinn bei Mellin I, 14 — 16:
Verknüpfung von Subject und Prädikat (die Copula), sowie der Prädicat-
begriff (Ursache) sind allgemein und nothwendig. Dagegen der Subject-
be griff (Veränderung) schliesst die Zufälligkeit des Geschehens und den empi-
rischen Ursprung ein. Auch „Geschehen" (Begebenheit) ist nach Krit. 722 Anm.
ein empirischer Begriff^ dagegen das Urtheil: Alles ^ was geschieht^ hat eine Ur-
sache^ ist apriorisch^ aber gemischt.
* So spricht Kant auch von reiner Naturwissenschaft, obgleich in ihr die
empirischen Begriffe der Materie, Bewegung u. s. w. vorkommen. Es ist jedoch
hier als eine bedenkliche Inconsequenz Kants zu rügen, dass das CausalitätsgesetZs
welches A 189, B 233 behandelt wird, und also als in der Kritik befindlich an-
gemischt sein sollte, den Begriff des Geschehens (der nach 722 Anm. empirisch
ist), in der ersten, den der Veränderung in der zweiten Aufl. enthält. Dieselbe Be-
merkung macht mit Ausdehnung auf alle „Analogien der Erfahrung" auch C an-
te ni, Kant 175, der zwar 146 gegen Franchi und Spickßr die K'.sche Ein-
theilung in *A priori puro e A priori tniaio^ vertheidigt, aber K. mit Recht der
Unklarheit und Inconsequenz dabei beschuldigt.
Z^ireicrlei Bedeutungen von „Rein". Der Causalitäts begriff. 213
[R 698. H 35. E 49.] B 6.
Das gemischte Apriori eine „aposteriorische Apriorität" zu nennen und darin
eine eontradictio in adjecto zu finden, ist ein Einfall Spickers, Kant, S. 20.
Jener unterschied der zwei Bedeutungen fällt jedoch hinweg, wenn „rein**
nicht auf Urtheile, sondern auf Begriffe angewandt wird *. Ueber den
weiteren (übrigens oft auch trotz jener Distinction ungenauen) Gebrauch des
Terminus s. zu A 11. Im Vergleich mit Ks. eigener Erklärung sind die
Entschuldigungen des scheinbaren Widerspruchs von Meilin I, 16 und Reuss,
Vorl. n, 9, misslungen. Dagegen ist Schultz *s Auslegung der Sache nach
richtig (Prüfung I, 8): Ein Satz kann als Urtheil betrachtet rein, als
Erkenntniss überhaupt angesehen nicht völlig rein sein (das „Urtheil*'
bezieht sich offenbar auf die Verknüpfung von Subj. u. Präd.; „Erkenntn.
überhaupt* auf die Elemente des Satzes). Tiedemann's Einwände (Theätet,
S. 21 1) hingegen beruhen auf Missverständnissen, sowie Ni c ol ai 's Bemerkungen
über diesen scheinbaren Widerspruch Philos. Abh. II, 27. 31 und ebenso .
die der Kritischen Briefe 13. Gegen letztere richtig Born a. a. 0. 335.
Der Bein^ einer Ursache u. s. w. Vorher sprach K. von einem
Urtheil. Nun geht er auf den Begriff der Ursache über '. Nicht bloss
das fragliche Urtheil ist ein schlechthin nothwendiges , das also ein Anders-
sein-können ausschliesst , sondern eine solche Nothwendigkeit liegt schon in
dem blossen Begriff der Ursache. Folgende Parallelstellen dienen zur
weiteren Erklärung: Kr. d. pr. V. S. 88 f. „Der Begriff der Ursache ist
ein Begriff, der die Nothwendigkeit der Verknüpfung der Existenz des
Verschiedenen, und zwar, sofern es verschieden ist, enthält, so: dass, wenn
A gesetzt wird, ich erkenne, dass etwas davon ganz Verschiedenes B, noth-
wendig auch existiren müsse. Nothwendigkeit kann aber nur einer
Verknüpfung beigelegt werden, sofern sie a priori erkannt wird; denn die
Erfahrung würde von einer Verbindung nur zu erkennen geben, dass sie sei,
aber nicht, dass sie so noth wendigerweise sei." „Der Begriff der Ursache
enthält die Nothwendigkeit einer solchen Verknüpfung (zwischen ge-
wissen Bestimmungen und deren Folge); eine Ursache haben heisst: „es muss
vor einer Begebenheit etwas vorhergegangen sein, worauf sie nothwendig
folge*. In „dem Begriffe der Ursache liegt objective Nothwendigkeit".
«Das Wesentliche des Begriffs der Causalität" macht die in ihm enthaltene
.Nothwendigkeit der Verknüpfung" aus. D. h. wenn A gesetzt wird.
* Nach Schmid, Wort. 4 f., gibt es, wie reine und gemischte Urtheile
a priori, so auch reine und gemischte Vorstellungen a priori; indem eine
Vorstelinng ihren verschiedenen Bestandth eilen nach, theils a priori, theils a poste-
riori sein kann: absoluter Raum, leere Zeit, Substanz sind reine Begriffe a priori,
Körper ist ein gemischter, indem in ihm eine Anschauung a priori (Ausdehnung),
ein Begriff a priori (Substanz) und aposteriorische Bestimmungen (Farbe, Un-
dorchdringlichkeit u. s. w.) verbunden sind. Beim Begriffe der Veränderung
(ib. 554) ißt der Inhalt empirisch, die Form apriorisch. Vgl. ib. 100 über den
Begriff der Pflicht. Cfr. Krit. B. 28. Lossius Lex. I. 346.
* Derselbe Unterschied zwischen Satz und Begriff 759 f.
214 Commentar zur Einleitang B^ Abschn. IL
B 5. [B 698. H 85. E 49.]
ist es widersprechend, B, welches von A ganz verschieden ist, nicht zu
setzen. Das ist „die Nothwendigkeit der Verknüpfung zwischen A
als Ursache und B als Wirkung*. Prol. Vorr. S. 8 und bes. § 29. Der
Begriff der Ursache sagt, „dass etwas so beschaffen sein könne, dass, wenn
es gesetzt ist, dadurch auch etwas Anderes not h wendig gesetzt werden
müsse". Ausserdem enthält der Begriff „die strenge Allgemeinheit der Regel':
^man muss es (die Verbindung von Ursache und Wirkung) als immer und
nothwendig sich auf die Art zutragend annehmen*, Kr. d. pr. V. 90 f.
Krit. 765 f.: „Ein Anderes, was durch ein Ding allgemein und noth-
wendig gegeben ist.* 89: „Der Begriff der Urs. bedeutet eine besondere Art
der Synthesis, da auf etwas A was ganz verschiedenes B nach einer Begel
gesetzt wird." Es handelt sich um einen „nothwendigen Erfolg* der
Wirkung aus der Ursache, nicht bloss um ein äusserliches „Hinzukommen'.
91. „Es ist in dieser Synthesis eine Dignität, die man gar nicht empirisch
ausdrücken kann*, nämlich eben die Nothw. d. Erfolgens, 91. 136.
Somit ist zu scheiden zwischen der Nothwendigkeit jenes Satzes und der dieses
Begriffs. Der Satz : „jede Veränderung hat eine Ursache* ist streng allgemein
gültig und schliesst ein Anders-sein-können absolut aus. Es kann nicht
Anders sein, als dass jede Veränderung eine Ursache habe. Die Noth-
wendigkeit in dem Begriff der Ursache ist eine andere, davon wohl zu
trennende : in diesem Begriffe wird ausgesprochen, dass die Verbindung von
A als Ursache und B als Wirkung eine derartige sei, dass sie mit einem
regelmässigen Zwange erfolge. Dort war es nothwendig, jede Veränderung
als verursacht anzusehen; hier ist die Verknüpfung zwischen der Ursache
der Veränderung und dieser selbst eine innerlich nothwendige und der^iig
allgemeine, dass immer, wo A ist, auch B sich findet. Es kann nicht
anders sein, als dass, wo A ist, auch B sich findet, resp., dass
jedesmal wenn A eintritt, auch B folgt. Ein solches nothwendiges
und allgemeines Verhältniss zweier Erscheinungen heisst ursächlich.
Dagegen heisst das Gesetz, dass überhaupt alle Veränderungen verursacht
seien, das Gesetz derCausalität und dieses gilt allgemein und ist noth-
wendig. Das Gegentheil kann die Sache noch klarer machen. Das Einemal
bestände die Ausnahme darin, dass eine Veränderung sich fände, ohne dass
eine Ursache zu ihr sich finden Hesse. Das anderemal darin, dass, wenn ein
bestimmtes A (z. B. Vergiftung) gesetzt würde, B (der Tod) nicht einträte.
Dort würde die Ursache ausfallen, hier die Wirkung. Dort ist es wider-
sprechend, eine Erscheinung nicht causal bedingt anzusehn, hier ist es
widersprechend, wenn A gesetzt ist, B nicht zu setzen. Dort handelt
es sich um die äussere Nothwendigkeit, dass alle Geschehnisse überhaupt
causaliter bedingt sind: hier um die innere Nothwendigkeit der Verknüpfung
zwischen jeder einzelnen Ursache und ihrer specifischen Wirkung. Dort ist
eine Nothwendigkeit des Erkennens, hier eine Nothwendigkeit des Geschehens:
jenes betrifft ein Principiwn cognoscendi, dies ein principium fiendu
Dort handelt es sich darum: Habe ich das Recht, das Causalgesetz als
Die Nothw. d. Caosalitätsgesetzes u. die d. Causalitäts begriff es. 215
[B 698. H 35. E. 49.] B 5.
allgemeinen and nothwendigen Satz auszusprechen? Hier handelt
es sich darum : Habe ich das Recht, eine innere Nothwendigkeit des Zusammen-
hanges zwischen Ursache und Wirkung anzunehmen, und kann ich vielleicht
gar diese Nothwendigkeit einsehen und begreifen? K. scheint diesen Unter-
schied hier und auch späterhin bes. in den Prol. (wo es sich um den Unter-
schied von einzelnen Causalurtheilen und dem allgemeinen Gausalitäts-
gesetze handelt, vgl. bes. Prol. § 27 ff.) nicht zu beachten. Genaueres zu B 20 u.
in der Analytik. Beide Nothwendigkeiten verwechseln auch M ellin I, 388.
V, 649; Schmidt-Phis. Exp. 4; Jenisch, Entd. 46 f. Hauptm. 31.
(Urtheil und Begriff vermischt.) Dagegen hat Block, Ursp. d. Erk. 141.
158 beide Nothwendigkeiten richtig scharf geschieden, bestreitet freilich Ks.
Behauptungen. „Wenn alles, was geschieht, auch nothwendig etwas voraus-
setzte, worauf es folgt, so müsste es darum nicht nothwendig auf dasselbe
folgen.* 171. , Abhängigkeit von Ursachen ist nicht nothwendige Be-
stimmung durch dieselben.^ Eine ausfuhrliche Erörterung der gegen alle
Zweifel gefeiten Gewissheit des Causalitäts satzes s. bei Schmidt u. Snell,
Erl. I, 5 ff. Vgl. dag. Block a. a. 0. 153 ff. Einen bemerkenswerthen
Einwand gegen die Nothwendigkeit und Apriorität des speciellen Causali-
tätssatzes (Jede Wirkung folgt unfehlbar aus ihrer Ursache) macht Pistorius
A. D. B. 105, I, 48: Das Gegentheil, das Nichteintreten einer Wirkung sei
denkbar, also das Eintreten nicht absolut nothwendig. Auch von dem Satz :
AUes Geschehene beruht auf Causalverbindung, gelte dasselbe. Das Gegen-
theil sei nicht undenkbar, ja sogar von E. in der Behauptung der Freiheit
selbst angenommen. Die specielle Geschichte dieser in neuerer Zeit wieder
brennend gewordenen Streitfrage s. in dem Supplement: Geschichte der
Streitigkeiten über die Apriorität der Causalität seit Kant, nebst
einer Einleitung über die historischen Vorgänger Kants hierin, bes.
Leibniz.
Hvine — bloss snbjectlve Nothwendigkeit. K. berührt hier den fun-
damentalen Unterschied zwischen dem Empirismus eines Hume und seinem
eigenen Bationalismus. Die Stelle erhält weiteres Licht durch die Vorrede
der Proleg., aus der die vorstehende und die in Abschn. VI ein Auszug ist.
Das Genauere über die Causalität vgl. zu letzterer Stelle, wo alles auf
Hume bezügliche zusammengestellt ist. Dass hier von dem Begriff, dort
von dem Satz der Causalität die Rede ist, ändert sachlich nichts, da K.
selbst, wie bemerkt, beides confundirt.
Aveb könnte man u. s. w. Der Beweis der Wirklichkeit von Urtheilen
a priori durch Hinweis auf Beispiele ist selbst ein aposteriorischer,
induetiver Beweis. K. weist hier noch auf einen anderen Weg hin, um
zu zeigen, dass es solche Grundsätze a priori geben müsse, nicht bloss,
dass es factisch solche gibt. Dieser neue Beweis wird selbst a priori zu
führen sein ; denn nur durch apriorische, deductive Beweisführung erhalten
wir Nothwendigkeit, während jene Beispiele apriorischer Grundsätze nur
willkürlich aufgegriffene sind. Solche apriorische Grundsätze muss es nun
216 Commentar znr Einleitung B^ Abschn. II.
B 5. [R 698. H 35. 36. E 49.]
nach Kant geben, wenn Erfahrung möglich sein soll; sie sind unentbehrliche
Bedingungen für die Möglichkeit eines Systems gewisser Erfahrungserkennt-
nisse. Ohne sie gäbe es keine Gewissheit der Erfahrung. Wenn alle all-
gemeinen Regeln bloss empirisch wären, theilte unser ganzes Erkenntniss-
system (wenn man es dann überhaupt „System" nennen dürfte), die mit der
^mpirie verbundene Zufälligkeit, Unsicherheit und Beschränktheit. Wenn
auch der Satz der Causalität selbst nur eine auf Induction beruhende em-
pirische Generalisation wäre, für deren ausnahmslose Gültigkeit keine Garantie
bestünde, wie könnte ich dann mit Sicherheit darauf rechnen, dass niemals
etwas eintreten kann, wofür sich nicht eine empirisch nachweisbare Ursache
fände? Dann wäre dem Mirakel, dem Zufall, der Willkür, dem Chaos Thür
und Thor geöffnet. Dann wäre die Naturwissenschaft eine chimärische Sache,
denn wer würde dem Naturforscher dafür garantiren, dass er für jede Er-
scheinung, für Blitz und Thau, für Wind und Welle eine mathematisch
bestimmbare mechanische Ursache findet? Und wenn der Begriff der Cau-
salität nicht ein fester, a priori feststehender Pfeiler wäre, sondern nur eine
empirisch entstandene und alle Zufälligkeit der Erfahrungsbegriffe theilende
Vorstellung, wie könnten wir dann noch an eine Begelmässigkeit der
causalen Beziehungen mit jener absoluten Ueberzeugung glauben, die uns
factisch innewohnt? Mit dem Empirismus ist für K. also „zugl. der härteste
Skepticismus selbst in Ansehung der ganzen Naturwissenschaft eingeführt
Denn wir können, nach solchen Grundsätzen, niemals aus gegebenen Be-
stimmungen der Dinge . . . auf eine Folge schliessen (denn dazu würde
der Begriff einer Ursache, der die Noth wendigkeit einer solchen Verknüpfung
enthält, erfordert werden), sondern nur nach der Regel der Einbildungskraft
ähnliche Fälle, wie sonst erwarten, welche Erwartung aber niemals sicher
ist, sie mag auch noch so oft eingetroffen sein. Ja bei keiner Begebenheit
könnte man sagen: es müsse etwas vor ihr vorhergegangen sein, worauf
sie nothwendig folgte, d. i. sie müsse eine Ursache haben, und also, wenn
man auch noch so öftere Fälle kennete, wo dergleichen vorherging, so dass
eine Regel davon abgezogen werden konnte, so könnte man darum es nicht
als immer und nothwendig sich auf die Art zutragend annehmen, und so
müsste man dem blinden Zufalle, bei welchem aller Vernunftgebrauch auf-
hört, auch sein Recht lassen, welches denn den Skepticismus, in Ansehung
der von Wirkungen zu Ursachen aufsteigenden Schlüsse fest gründet und
unwiderleglich macht." Kr. d. pr. V. S. 89 ff. „Selbst in Ansehung der Mathe-
matik führte Humens Empirismus in Grundsätzen auch unvermeidlich auf
den Skepticismus." Ib. 90 f Ja Kant fügt hinzu: ,0b der gemeine
Vernunft gebrauch (bei einem so schrecklichen Umsturz, als man den
Häuptern der Erkenntniss [den Vemunftwissenschafben] begegnen sieht,) besser
durchkommen, und nicht vielmehr noch unwiederbringlicher, in eben diese
Zerstörung alles Wissens werde verwickelt werden, mithin ein allgemeiner
Skepticismus nicht aus denselben Grundsätzen folgen müsse . . . das will
ich Jeden selbst beurtheilen lassen.* Ib. Es entstünde „ein totaler Zweifel
Kothwendigkeit des Apriori für die Gewissheit der Erfahrang. 217
[R 698. H 85. 86. E 49.] B 5.
an allem, was theoretische Vernunft einzusehen behauptet. Ib. 93 f. Diese
schlimmen Folgen würden eintreten, wenn man die Generalisationen, welche
empirisch, und zufällig entstehen, als .erste Grundsätze gelten lassen wurde''.
Unser ganzes System der auf die Erfahrungswelt sich beziehenden Erkennt-
nisse würde wanken, würde der Gewissheit entbehren, würde dem Zweifel
verfallen. Bloss empirische Sätze kann ich somit nicht zum Ausgangspunkt
des Baisonnements machen, das ganze Erkenntnissgebäude würde theilnehmen
an der denselben anhaftenden Zuflllligkeit und Beschränktheit, würde so
darunter leiden, dass überhaupt eine geregelte, sichere Erfahrungserkenntniss
und ein Verlass auf dieselbe aufhören würde. Soll somit ein zuverlässiges
Erfahmngswissen stattfinden ui^d möglich sein, so lässt sich a priori fest-
stellen, dass die empirischen Erkenntnisse in letzter Linie auf absolutsichere
Principien gestützt und gleichsam an solchen verankert werden müssen.
Da nun die Erfahrung selbst solche nicht gibt, so muss die Vernunft die-
selben liefern. , Aus einem Erfahrungssatze Nothwendigkeit (ex putnice aquam)
auspressen zu wollen, mit dieser auch wahre Allgemeinheit (ohne welche
kein Vemunftschluss, mithin auch nicht der Schluss aus der Analogie, welche
eine wenigstens präsumirte Allgemeinheit und objective Nothwendigkeit ist,
und diese also doch immer voraussetzt [möglich ist]), einem Ürtheile ver-
schaffen wollen, ist gerader Widerspruch.* Kr. d. pr. Vem. Vorr. fin. »Der
Skepticismus verstattet schlechterdings keinen Probirstein der Erfahrung,
der immer nur in Principien a priori angetroffen werden kann." Ib. — Cohen
bemerkt (192) zu dieser Stelle: es sei dies eine am Anfang noch ganz un-
verständliche Bemerkung; es trete hier die volle Kraft des Apriori bereits
hervor. »Aber K. geht mit Fug nicht tiefer auf die Sache ein; — zu be-
achten ist, dass der Satz ein Zusatz der 2. Ausgabe ist — denn die Erklä-
rung dieses Einen Satzes ist die ganze Kritik; sondern er bleibt bei dem
Hinweisen auf Thatsachen der Erkenntniss stehen. ** Cohen sagt somit, K.
habe hier die Analytik anticipirt, indem er von der daselbst so viel be-
sprochenen „Möglichkeit der Erfahrung' spreche; allein so richtig das im
Allgemeinen ist, so ist doch darauf aufmerksam zu machen, dass die hier
erwähnte , Möglichkeit der Erfahrung' sich nicht ganz deckt mit der in der
Analytik behandelten; das geht aus der Erklärung des zweiten Satzes, der
mit »denn* eingeleitet ist, hervor. Wie dieser Satz aufzufassen ist, zeigen
die Parallelstellen. Es handelt sich darum \ dass alle Erfahrung subjectiv
ungewiss werden würde, wenn man sie nicht an apriorische Grundsätze
anknüpft; man würde dem allgemeinen Skepticismus verfallen. So wird
* Ausserdem handelt es sich hier bloss um den apriorischen Beweis der
Kothwendigkeit des Vorhandenseins apriorischer Elemente, in der Deduction
aber um den apriorischen Beweis der Gültigkeit derselben. Sodann bezieht
sich die transsc Deduction auf apriorische Verstandesbegriffe; also kann die
Beziehang nur auf die sog. „Analytik der Grundsätze" stattfinden, was beides
jedoch K. selbst vermischt.
218 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. IL
B 5. [B 698. H 35. 36. E 49.]
von K. selbst der allgemeine Ausdruck: Möglichkeit der Erfahrung
specificirt als „Gewissheit der Erfahrung*. Diese formale Gewissheit
der Erfahrungserkenntniss, entstehend durch Anknüpfung an Grandsätze
a priori, ist ein auch von Leibniz ' gegen den Empirismus ins Feld ge-
führtes Argument, das noch nichts specifisch Kantisches an sich hat, wie
das mit dem in der Analytik enthaltenen „Beweis aus der Möglichkeit der
Erfahrung" der Fall ist, wo weniger die formal-subjective Gewissheit,
als die objective Begelmässigkeit der Erfahrung ins Spiel kommt.
Da aber K. selbst allerdings beides nicht streng auseinanderhält, so mag in
der Stelle immerhin ein Hinweis auf die Analytik erblickt werden, doch
mehr auf die „Grundsätze", als auf die „transsc. Deduction^. Mellin
(W. I, 16) erklärt ähnlich wie Cohen (ebenso Hauptm. 32). Es handelt
sich aber hier noch nicht darum, dass „in aller Erkenntniss etwas a priori
sein muss", sondern darum, dass ausser den empirischen Begeln der 'Er-
fahrungserkenntniss noch Grundsätze a priori bestehen müssen, um die
Festigkeit und Gewissheit des Systems der Erfahrungserkenntniss zu garan-
tiren. Metz, Darst. 32 meint, dass die Erfahrung „inwiefern unter ihr
eine nothwendige objective Synthesis einzelner Wahrnehmungen verstanden
wird", ebenso wie die Mathematik und die reine Naturwissenschaft
beweisen, dass es Sätze a priori gebe. — Jakob, L. u. Met. § 537: „Ohne
reine Erkenntnisse ist keine Wissenschaft möglich. Denn diese erfordert
allgemeine Principien, folglich auch reine Erkenntnisse." Vgl. Born, ürsp.
Grundl. § 9: Selbst die Erkenntniss des Daseins beruht auf dem all-
gemeinen nothwendigen Verstandesurtheil : Alles, was ich empfinde, ist da,
wie vielmehr die Erkenntniss der Nothwendigkeit , d. h. die Gewissheit.
Schmid, W. 463: „Sollten wir die Bichtigkeit der Denkgesetze selbst nur
durch eine Art Induction erkennen, so wäre in aller unserer Erkenntniss
der Wahrheit ein ewiger Zirkel; denn nach welchen Denkgesetzen soUen
wir die Denkgesetze selbst erkennen" ? u. s. w. Als eine Ergänzung zu
dieser Stelle ist zu betrachten, was K. Fortschr. K. 115 — 117, B. I, 507 fF,
' Dieselbe Argumentation findet sich häufig bei Leibniz^ z. B. de stüo phüos.
Nizolii, (Erdm. 70 B.) Durch den Empirismus >ea ratione prorsua evertuntur seien-
tiae et Sceptici vicere.* Die sog. moralis certitudo non fundata est in sola in-
ducHone; sie entsteht nur »ex additione seu adminictüo propositionum universtüium
non ah inductione singülarium, sed idea universali seu definitione terminorum pen-
deniium*, »Patet, inducHonem per se nihil producere, ne ceriitudinem qtUdem mo-
ralem, sine adminiculo propositionum , , , ab ratione universali pendentium ; nam 8t
essent et adminicula ab inductione^ indigerent novis adminiculis nee hdberetur certi-
tudo moralis in infinitum. Certitudo perfecta ah inductione sperari plane
non potest.€ Es ist somit ein durchaus Leibniz^scher Gedanke^ dass das schwan-
kende empirische Material erst durch die Durchflechtung mit den normativen
Gesetzen der Logik und Mathematik zur objectiven, sicheren Wissenschaft erhoben
werde. Vgl. ib. 378 B. : »La viritS des choses sensibles se justifie par leur Uaison
qui dipend des virU4s inteUectueUes, fondies en raison.*^ (Nouv, EssJ
Der prägnante Begriff der „Erfahrung" als Basis der Kritik d. r. V. 219
[B 698. H 35. 86. E 49.] B 6.
ausfuhrt. K. fasst daselbst auch die „Gewissheit der Erfahrung^ im Sinne
der Deduction; der Empirismus sei ein Widerspruch mit sich selbst; wenn
alle Erkenntniss bloss empirischen Ursprungs ist, so ist doch trotz der
logischen Verarbeitung der Erfahrung durch die Reflexion, „ das Synthetische
der Erkenntniss, welches das Wesentliche der Erfahrung ausmacht, bloss
empirisch und nur als Erkenntniss a posteriori möglich/ Dieses Synthetische
der Erfahrung beweist ein apriorisches Princip, das die Möglichkeit der Erf.
begründet. Denn Erf. ist ,ein ganz gewisses Erkenntniss a posteriori^.
Das beweist die Einmischung von Grundsätzen a priori nach blossen Ver-
standesbegriffen, welche in Verbindung mit der sinnlichen Anschauung erst
Erfahrung möglich machen. Hier versteht K. unter Erfahrung nicht den
Rohstoff der Empfindung und seine bloss logische Verarbeitung, sondern den In-
begriff von Vorstellungen der sinnlichen Anschauung, die nach nothwendigen
und allgemeinen Gesetzen des apriorischen Verstandes nothwendig, all-
fi^emein und eben deswegen objectiv gültig verknüpft sind. Diese 2, resp. 3
Bedeutungen von Erfahrung sind ja bei E. streng zu scheiden, denn K.
spricht der Erfahrung in dem ersten Sinne die Nothwendigkeit und Allge-
meinheit ab, in dem zweiten dagegen zu. Die erstere Erfahrung gibt nur
zufllUige, bloss für das wahrnehmende Subject gültige, also subjective Urtheile,
die andere dagegen objective, jene nur judicia plurativa, diese dagegen uni-
rersalia. Im letzteren Sinne ist „ Erfahrung selbst eine Erkenntnissart, die
Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir a priori voraussetzen muss**.
Krit. Vorr. B. XVII. Kant, Prol. § 18, 21 a und bes. § 22 Anm.'. Metz,
Darst. 31. Villers, Phil. I, 64 ff. Reinhold, Th. d. Vorst. 486. Treschow,
Vorles. I, 10. — „Die Erfahrung verwandelt sich für K. durch den Gebrauch
der apriorischen Formen geradezu in Metaphysik der Form nach. Diese
metaphysische Erfahrung wurde daher nun die einzige, welche K. so-
zusagen officiell noch als Erf. gelten lassen konnte;* Göring, System
II, 163. Metz, Darst. 31 bemerkt ganz richtig zu dieser Stelle, dass K.
es nirgends erwiesen, sondern nur als eine von Jedermann zugestandene
Thatsache vorausgesetzt und seinem ganzen System als Basis zum Grunde
gelegt habe, dass es eine solche allgemeine und nothwendige Erfahrung gebe^
wie er sie hier annimmt. Denselben Gedanken führt Reinhold, Beytr. I,
* Prol. 8 22: Erfahrung besteht in der synthetischen Verknüpfung der Er-
scheinungen (Wahrnehmungen) in einem Bewusstsein, sofern dieselbe nothwendig
ist. Daher sind reine Verstandesbegriffe diejenigen, unter denen alle Wahrneh-
mungen zuvor müssen subsumirt werden, ehe sie zu Erfahrnngsurtheilen dienen
können, und § 26 : Mehr kann ich hier . . . nicht anführen, als nur dass ich dem
Leser, welcher in der langen Gewohnheit steckt, Erfahrung für eine bloss empirische
Zusammensetzung der Wahrnehmungen zu halten^ und daher daran gar nicht
denkt, dass sie viel weiter geht, als diese reichen, nämlich empirischen Urtheilen
Allgemeingültigkeit gibt und dazu einer reinen Verstandeseinheit bedarf, die a priori
vorhergeht, empfehle: auf diesen Unterschied der Erfahrung von einem blossen
Aggregat von Wahrnehmungen wohl Acht zu haben. Vgl. § 36.
B &. [1
a.-« H. TirH.-j aus. TT^r aie (u^ianriui^ oacb dem KADUscben Begriffe lengn^'^
Rlr doH ((ibt es in ihr auch keine Vrtbeile a priori. Diese Kritik wird jefln
wichtig erst fSr die Analytik, wo das Nähere zu suchen iat. Vgl. Stuji.
lier K. 'sehen Phil, 35: ,K. legt, um die ganze Kette seiner Mauptu»
XU doduciren, durchaus den Begriff von Erfahrung zu Cimnde, den mntd
Treu und Glauben annehmen soll." Energisch tritt gegen die angefn^iT^ni
Stellen aus der Kritik d. pr. V. Block auf, ürap. d. Erk. 168 ff. Antti
nach Herbart VI, 286 liegt eine j)rfi(»opHBcJp«i' drein, ,dass die Erfakinof
objective Gültigkeit habe, die in sich eine absolute Festigkeit beätte. und l-lf
über den Rang einer allgemeinen gleichförmigen GewOhnnng der Henate
sich weit erhöbe." Vgl. Backen, Grundbegr. d. Gegenwart 36. Vgl. ü).
28 ff, über den Terminus .Erfahrung'. Vgl. Id. Phil. Terminol. 123. \&.
126. 145. Dass durch diese Annahme einer mit apriorischen Formen m-
njiscbten Erfahrung die ganze Eintheilung in apriorische und aposteriorisäi»
Erkenntoiss wankend und schwankend werde, bemerkt Lewes, Geacb. II,
512. 554. Er findet diese Vennengung von Formen and Bedingungen Sei
Erkenntniss mit Erkenntnissen selbst als fllr die ganze Kritik verhKngnissroll'
Eine ausführliche, jedoch nicht von Uissverständnissen fireie Kritik äiesH
„seltsamen' Deduction findet sich bei Heynig, Heraosf. 135 — 145. Er
findet die ganze Stelle ,rKtbselhaft° ; vor Allem weil ihm der prägnante
Sinn der .Erfahrung* nicht zum VerstAndniss kommt. Da er Erf. in dem
gemeinen Sinne, den K. bisher festhielt, nimmt, so findet er einen W\iet-
Spruch darin, dass dieselbe hier so enge mit der apriorischen Erkenntniss
liirt ist, während K. bisher beide als heterogen behandelte ; er fr>, vie
sich die hier plötzlich eintretende .Gewissheit" verhalte zn den bisher be-
handelten Begriffen der Allgem. a. Nothw. ; er findet es sonderbar, der ^■
fahrung die Gewissheit abzusprechen, da sie doch das Allergewissest« sei,
selbst wenn man ihr mit K. Nothw. u. Allgem. abspreche. Soll aber ,Gew.*
identisch sein mit Nothw. u. Allgem., wie in aller Welt aus der bisher ab
zufällig und verzettelt erwiesenen Erfahrung plötzlich allgemeine, notbwendige
Erkenntniss werden könne? Das sei ja der reine Widersprach- ^AUes
mögliche kann ein Ding werden, nur nicht nothwendig, wenn es zufHUig ist,
und nicht allgemein, wenn es beschrankt ist.' Endlich tadelt H. das "W Örtchen
.schwerlich"; .dies ist sehr unbestimmt und schwankend, und so viel wie
gar nichts gesagt". Natürlich sind ihm die Kegeln der Erfahmitg aus den
Erscheinungen abstrahirte, also empirische Gesichtepunkte, die ganz zuver-
lässig sind; „mittelst ihrer stoppelt sich der Mensch sein Bischen Erfabmngs-
erkenntniss zusammen". Eine polemische Besprechang der Stelle ebenfalls
1 Genaa ebenso ruft Laurie (J. of np. Phü. TL, 224); „h not this to beff the
quesHpnf
' Dieselbe Bemerkung macht Lewea auch in den „Probhmm of LAfe ««rf
UifiA", I, 405, verfällt jedoch dabei in den oben S. 184. 185. geriigten Fehler von
Haimon und Goring.
Apriorisch-deductiver Erweiss des Apriori. 221
[B 698. H 36. 36. E. 49.] B 5.
.^ , ^_ empirischen Standpunkt aus bei Tiedemann, Theätet 217—219. Die
..-,J
,y . j.^küxe Tragweite des so bestimmten Begriffs der Er fahrung kann im Anschluss
y^ ^/an eine Stelle in ßeinholds Beitr. z. 1. üebers. 2, 12 ff. (vgl. 5, 116 ff.)
,^jj so entwickelt werden : Erf . ist die Verknüpfung der Phänomene (der sinnlich
vorgestellten Gegenstände) als solcher in einem und demselben Bewusstsein
zu einem nothwendigen Zusammenhang. Vermittelst der Zergliederung dieses
Begriffes sucht E. in diesem Begriffe die Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung auf, welche nun freilich keine andere sein können, als die in
diesem Begriff und durch ihn vorausgesetzt werden. K. unterscheidet sonach
den Inhalt der Erfahrung von ihrer Form, versteht unter dem Inhalt
die Erscheinungen als solche, unter der Form aber die Verknüpfung
der Erscheinungen. So liegt also in dem Begriff der Erfahrung, wie ihn
K. aufstellt und hier voraussetzt, das K.'sche System in nuce enthalten, aufs
neue ein Beweis, dass die Einleitung die genaueste Analyse bedarf, da
auf ihr alles Folgende beruht. Vgl. Reinhold, Beitr. zu Ber. I, 287: „Die
Erf. ist der eigentliche letzte Grund \ das Fundament, über welchem das
herrliche Lehrgebäude der Kr. d. r. V. aufgeführt ist. Die Vorstellung der
Wahrnehmungen in einem gesetzmässigen, nothwendig bestimmten Zusammen-
hang als ein Factum angenommen — ist die Basis des ganzen K.'schen
Systems". Vgl. ib. I. 334. Man bemerke hier den Üebergang von der sub-
jectiven Gewissheit zu der immanenten Nothwendigkeit der Erfahrung. Vgl.
Caird, Pkü. of Kant 220 über diese „aignificant question". Vgl. hierüber
femer Fortlage, Philos. s. K. 24. Werner Phil. Archiv II, 4, 70.
Biedermann, Deutsche Philos. I, 68 f. Ulrici, Grundpr. I, 301.
Watson, Jaum. of sp. Phü. X, 125. Kritische Briefe S. 14 f. Dag.
Born, Phil. Mag. II, 354.
Mltliiii a priori darthnn« Für K. ist es, wie schon zu der bedeutsamen
Stelle der Vorrede A VI. Vm bemerkt wurde, durchaus Hauptsache, dass die
Thatsache apriorischer Erkenntniss nicht empirisch aufgefunden, sondern
selbst a priori, d.h. nothwendig apodiktisch deducirt wird. Die Theorie
des Apriorischen muss selbst apriorisch sein. Schon der blosse
Nachweis des Vorhandenseins einer apriorischen Erkenntniss muss selbst
apriorisch sein. Der hier nur skizzenhaft angedeutete Beweis ist ein Beweis
ans Begriffen, aus dem Begriffe der Möglichkeit resp. Gewissheit der
Erfahrung. Der Beweis ist also deductiv. Dieser Beweis a priori steht
somit formal und wie oben gezeigt, auch material ganz auf Leibniz-
Wolf'sehem Boden*. Daher Tissot 36 richtig j^dhnontrer rationelle-
* Qenan dasselbe mit denselben Ausdrücken sagt auch Riehl, der Kriticis-
muB S. 298. 303. 310. „Der Begriff der Erf. ist der feste Grund [?], die einzige [?]
Voraussetzung der Kantischen Erkenntnisstheorie^. Gegen diese „whdUy false and
inadmistabU preimss" wendet sich energisch Stirling, Oriticiam of Kants main
prmeipks. Joum. of apee, Phil. XIV, 267.
' Man bemerke übrigens wohl, dass „a priori^ hier nicht im streng K antisc hen
222
Commentar zur Einleitung B^ Abschn. TL.
B 5. [R 698. H 35. 86. E 49.]
menf^. Diese Methode hat im Anschluss an Cohen besonders Biehl be-
tont, Kritic. I, 294—311.
Denn^ wo wollte selbst Erfahrung u. s. w. Maimon, Krit. Unters. 57
bemerkt ganz trocken und kurz: »Hierauf würde Hume erwidern, dass in
der That Erf. keine absolute Gewissheit habe, sondern bloss eine Näherung
zur Gewissheit, die einen subjectiven Grund hat, dessen Folgen aber mit
den Folgen einer absoluten Gewissheit verwechselt werden können*. Den-
selben Gedanken fuhrt gut aus Metz, Darst. 190 ff. K. drehe sich eigentlich
im Zirkel; denn bei seiner Widerlegung Hume's nehme er eben in seinem
Begriffe der Erf. das von jenem Bestrittene glattweg an. Vgl. Krit. Briefe
14 f. : Erfahrungssätze seien allerdings nicht erste Grundsätze; aber durch
Hilfe des einzigen und ersten sichern Grundsatzes — des Satzes vom Wid.
— könne man doch zu einer gewissen Erfahrungserkenntniss gelangen. Auch
Sigwart, Gesch. d. Phil. III, 39 meint, derartige Gründe hätten Hume
wohl nicht überzeugt. Vgl. bes. J. Watson, Ks. Reply to Hume (Joum.
of 8p. Phü. X, 113-134).
Allein hier kennen wir u. s. w. Unrichtig verwerthet Meyer, Ks.
Psych. 134 diese Stelle, wenn er sie als Beweis dafür ansieht, dass K.
durchaus nur den Nachweis des Apriori habe auf dem Wege abstrahirender
Selbstbesinnung fuhren wollen. K. wolle »also offenbar den Thatbestand
des Apriori nicht wieder a priori darthun, sondern denselben nach den all-
gemeinen Kriterien des Apriori auf dem Wege reflectirender Selbstbesinnung
finden*'. Allein dabei übersieht Meyer das bedeutsame «hier"; das heisst
„an dieser Stelle der Kritik", nicht aber, „in der Kritik selbst überhaupt*.
Selbst in Begriffen u. s. w. Entsprechend dem Umstand, dass es nun
nicht mehr Urtheile, sondern Begriffe sind, um deren Apriorit&t es
sich handelt, ist auch die Noth wendigkeit, welche zum Beweise der Letzteren
dienen soll, eine andere. War sie bisher eine Noth wendigkeit des Nicht-
anders-denken-könnens, so ist sie jetzt eine Noth wendigkeit des Nicht-
hinweg-denken-könnens (des Nicht-nicht-denken-könnens). Man kann diese
Begriffe nicht „weglassen"; sie „dringen sich mit Noth wendigkeit auT.
Jacobson, Auff. des Apriori S. 5 hält fälschlich beide Nothw. für identisch,
indem er sie durch ein „oder" verbindet. Diese Unmöglichkeit von etwas
zu abstrahiren, nennt Witte, Beitr. 23 ein Hauptmerkmal für die Merkmale
der Nothw. u. Allg. selbst. K. wendet indessen dasselbe Kriterium auch
aufSätzean. Kr. d. pr. V. 53 : „Wir werden uns reiner Grundsätze bewnsst.^
indem wir auf die Nothwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt,
und auf Absonderung aller empirischer Bedingungen Acht haben." Es ist
hier sogleich darauf aufmerksam zu machen, dass der Unterschied apriorischer
Begriffe und Grundsätze ein ganz fundamentaler, wenn auch von K.
(= unabhängig von aller Erfahrung), sondern zunächst nur im Leibniz'schen
Sinne (= deduetiv erschlossen; vgl. oben S. 191) zu nehmen ist. Dieser Ver-
mischung begegnet man nicht selten bei Kant.
Apriorische Begriffe: Raum, Substanz. 223
[B 698. 699. H 36. E 49.] B 5. 6.
oft und schwer yemachlässigter ist ^ Die Hinzusetzmig apriorischer Begriffe
macht das EmpfinduDgschaos zu einer geordneten Erfahrungswelt. Die
apriorischen Grundsätze machen die rationalen Wissenschaften aus und
dienen dem Erfahrungs wissen als Pfeiler und Anhaltspunkte. Auch diesen
Gegensatz hält K. später nicht fest, vgl. die Analytik. Dort handelt es sich
um die Allgemeinheit und Noth wendigkeit der Erfahrung, welche durch
jene Begriffe hergestellt wird, hier um die allg. und nothw. Erkenntnisse a
priori; dort also, wie oben S. 186 bemerkt, um die Frage: wie ist Erfahrung
möglich? hier um die Frage: wie ist Erkenntniss aus reiner Vernunft
möglich? Vgl. die „Allgemeine Einleitung", S, 5 — 7.
So bleibt doch der Baum fkhrlg. Mit denselben Worten wird in der
Aesthetik S. 20 f. die Apriorität des Raumes erwiesen. „Wenn ich von
der Vorstellung des Körpers . . . was davon zur Empfindung gehört, als
ündurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc. absondere, so bleibt mir aus dieser
empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung." Hier
¥rird der Baum ein Begriff genannt. Vgl. darüber unten zu B. 39 f.
Dass Baum und Substanz übrig bleiben, geben die Erit. Briefe 16 zu,
aber nur weil sie in der Erfahrung schon enthalten und mitgegeben waren ;
es beruht jenes üebrigbleiben auf der gewöhnlichen Abstraction. Eine
theilweise treffende Kritik dieses Passus bei Heynig, Herausf. 146 ff., wo
diese , seltsame Stelle* ihre Würdigung findet. Aehnlich Laurie a. a. 0. 224.
Als Substanz. Die Apriorität der Belationskategorien der Subsistenz und
Inhärenz wird bewiesen durch die Unmöglichkeit, sie vom Begriff eines
Objects hinwegzunehmen. Etwas sonderbar ist die Ausdrucksweise, man
könne dem Object nicht diejenige Eigenschaft nehmen, dadurch man
es als Substanz denke; man erwartet parallel dem vorigen Satz etwa den
Ausdruck, es bleibe nach Wegnahme aller empirischen Bestimmungen die
Substanz übrig und diese lasse sich nicht hinwegdenken. Allein es besteht
zwischen dem Baum und den Kategorien, den Anschauungen und den Be^
griffen a priori der wesentliche Unterschied, dass jene unbedingt, diese
nur bedingt nothwendig sind, unbedingt jene, weil Baum und Zeit überhaupt
nicht wegzudenken sind, bedingt diese, weil sie nur unter der Bedingung,
dass ein Object überhaupt, ein Etwas gedacht wird, als dessen nothwendige
Formen zu denken sind. Die Parenthese, welche Hejmig Herausf. 153
, schlechterdings ganz sinnlos* nennt, („obgleich dieser Begriff [der Substanz]
mehr Bestimmungen enthält, als der eines Objects überhaupt") ist wohl so zu
erklären: obgleich der Begriff der Subsistenz und Inhärenz mehr enthalte und
bestimmter sei, als der des blossen Etwas, so sei doch nicht der Letztere, son-
dern nur der Erstere nothwendig, und mithin a priori. Denn Etwas zu denken,
ist nicht nothwendig; aber wenn Etwas gedacht ist, es als Substanz oder
^ Dies hängt zusammen mit dem Uebelstand^ dass K. , wie hier in der Einl.
A n. B mehrfach, ausser den Urt heilen auch Begriffe als „Erkenntnisse'* be-
zeichnet.
224 Commentar zur Einleitung B, AbscUn. IL Anhang.
B 6. [B 699. H 86. E 49.]
Accideuz zu denken, sei noth wendig. Nicht jener vage u. allgemeine, sondern
dieser bestimmte Begriff ist ein apriorischer. Vgl. Prol. § 39: ^Die Kategorien
machen als solche nicht den mindesten Begriff von einem Objecto an sich
selbst aus, sondern bedürfen, dass sinnliche Anschauung zu Grunde liegt, und
dienen alsdann dazu, empirische Urtheile, die ... unbestimmt sind, ... zu
bestimmen* u. s. w. Nach 720 ist aber auch „der Begriff des Dinges über-
haupt" a priori. Ausführliche Kritik s. bei Heynig, Herausf. 158 — 164,
Seine Einwände beziehen sich einmal auf den Substanzbegriff selbst als eine
blosse Einbildung : hinter den erscheinenden Eigenschafben und Theilen eines
„Dinges* steckt nichts mehr; denn das „Ding* besteht eben aus diesen
Eigenschaften und Theilen ; er bekämpft dieses „geheimnissvoUe Etwas* ; was
man Substanz nenne, gehe erst durch das Aggregat aller Eigenschaften eines
Objects hervor. Auch sei die Bestimmung, welche Dinge eine Substanz
haben, sehr willkürlich, ob auch Steine, oder nur ihre Theile, ob Pflanzen
u. s. w. Das Beharrliche als Gegensatz der Veränderung sei blosse Suppo-
sition. Die Dinge brauchen keinen Träger ihrer Eigenschaften. Kurz er
behandelt die nothwendige Kategorie Kants als eine blosse naive Täuschung
des unphilosophischen Bewusstseins. Ausserdem passe der Begriff der Substanz
nicht auf alle Objecte unserer Sinneswelt, er sei also weder allgemein noch
noth wendig. Gegen diese Substanz „im schattigen Hintergrund* bringt er
noch mehrere Einwände vor. Zweitens bekämpft er auch Kants Argumen-
tation, der Begriff lasse sich nicht wegdenken, wenn man auch alles andere
wegnehme. Wenn auch Substanz eine subjective Täuschung sei, die zu den
Objecten hinzutrete, so falle sie doch hinweg, sobald man eben alle Eigen-
schaften wegnehme, dann bleibe von selbst nichts mehr übrig. Von einem
„Sichaufdringen* dieses Begriffes könne also nach keiner Seite hin die Rede
sein. — So findet er den ganzen 1. u. 2. Abschnitt „schwankend, von allen
Beweisen entblösst, problematisch und hypothetisch hingezettelt*. (166.)
Anhang.
Wir theilen hier zu leichterer Orientirung die in der Kritik behandelten
apriorischen Besitsthttmer des Subjects mit im Anschluss an Mellin I, 18.
1) Unmittelbare Erkenntnisse a priori.
Die Anschauungen a priori; das was in der unmittelbaren Vor-
stellung der Objecte nothwendig und allgemein ist und daher
aus der Anschauungsfähigkeit entspringen muss.
a) was allen Objecten nothwendig ist: die Zeit.
b) was den äusseren Objecten nothwendig ist: der Baum.
2) Mittelbare Erkenntnisse a priori.
a) Begriffe; das was von jedem Objecte nothwendig gedacht
werden muss, z. B. dass es Substanz sei oder Accidenz,
dass es eine Ursache habe.
Controverse über den logischen Zusammenhang der Einleitung. 225
[R 699. H 86. E 49.] B 6.
b) ürtheile
a) analytische z. B. das Ich ist Subject der Vorstellungen,
P) synthetische z.B. Alles was geschieht, muss eine Ursache
haben.
c) Ideen: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit.
Man kann auch eintheilen mit Schmid, Wort. 6 in
1) einzelne Vorstellungen
a) Anschauungen, b) Begriffe, c) Ideen.
2) Verbundene Vorstellungen (Sätze)
a) analytische, b) synthetische.
Ueber den loglsebeii Zusammenhang bis hieher, insbesondere in diesem II. Abschn.
hat sich zwischen Ueberweg und Riehl eine Differenz ergeben. Ueber-
weg Gesch. III, 204 gibt folgenden Gang der Argumentation: Erf. gibt
niemals wahre Allgem. ; solle es nun wahre Allgemeinheit in Erkenntnissen
geben, so müssen diese nicht empirisch, also a priori sein, nun gibt es wirklich
streng allgemeine Ürtheile, also sind diese Ürtheile a priori. Diese Dtir-
stellung stellt nach Riehl, Krit. I, 326 f. (vgl. 298) den wirklichen Beweis-
gang Kants auf den Kopf. Denn die Allgem. u. Nothw. der Erkenntniss
bilde nicht die Grundlage, sondern das Problem der Kritik; sie sei
nicht selbst ein Beweisgrund. Es wird nicht aus der Allgemeinheit auf die
Apriorit&t geschlossen, sondern umgekehrt, aus dem Beweise und der Recht-
fertigung der Apriorität auf die Allgemeinheit. Die Kritik wäre mit der Ein-
leitung schon an ihrem Ende angekommen, wenn jener Beweisgang richtig
wäre\ Die Voraussetzung allgemein-nothwendiger Erkenntniss sei für Kant
kein unbezweifeltes Factum u. s. w. Ein einfacher Blick schon allein in
die Einleitung (abgesehen vom Gange der Kritik selbst) beweist, dass die
•Kop&teUung*' in diesem Falle von Riehl vorgenommen ist. »Wir sind im
Besitze gewisser Erkenntnisse a priori* ist Ueberschrift und Inhalt des II.
Abschnittes. Und Allgem. und Nothw. sind die Kriterien und Beweise dafür.
Dieses unbezwei feite Factum ist der Grundstein der Kritik. Was sie will,
sagt schon Abschnitt III; erstens will sie untersuchen, ob die Ausdehnung
apriorischer Erkenntniss auf das Transscendente (die Metaph. im engeren
Sinn) möglich sei; und zu diesem Zwecke will sie zweitens untersuchen,
wie jenes Factum der vorhandenen und unbestrittenen Erkenntniss a priori
' Genau ebenso Watson (J. of sp, Phil, X, 119) gegen S. Laurie (ib. VI,
224): ffit waidd be very stränge ^ if Kant had assunufd that which the Kritik was
maifUff icritUn to esiablish,*' Watson kann aber dann doch die Thatsache nicht
leugnen, und findet darin „an imperfection in the exposition of the System^*. Es
spielen lüebei mehrere methodologische Unklarheiten sowohl Kants, als seiner
CommeDtatoren mit, die erst in dem Commentar zur Analytik aufgehellt werden
können.
Yftthi&ger, K«nt-Coinnientftr. ^5
226 Commentar sur Einleitung B, Abschn. II. Anhang.
B 6. [B 699. H 36. E 49.]
zn erklären sei\ Biehl sagt dasselbe dann doch auf S. S27, 331 und
337. Es handelt sich offenbar nicht um das Ob, sondern um das Wie und
Warum apriorische Erkenntniss; um das Ob handelt es sich nur bei der
transscendenten Erkenntniss. Dass im Laufe der Kritik dieser analytische
Gang nicht befolgt wird, sondern der synthetische, ändert an der Thatsache
der hier in der Einleitung vorliegenden Argumentation nichts. Für den
synth. Gang scheint Riehl Recht zu haben ; doch fragt es sich auch dann noch,
ob nicht für K. die Allgem. u. Nothw. gewisser Erkenntnisse einfache Vor-
aussetzung ist, was mit Volkelt, Ks. Erk. 195 ff. zu bejahen ist. In den
ProL, welche den analyt. Lehrgang befolgen, sagt K. ausdrücklich (§ 4. 5),
dass in der Mathem. u. Naturw. allg. u. nothw. Erkenntniss wirklich sei.
Vgl. Riehl a. a. 0. 339: Beim synth. Gang forscht K. in den Quellen, ans
denen Wissenschaft entspringt, bei dem analyt. in dem Reservoir des
Wissens*. Vgl. Göring, System 11, 169 ff., welcher auch Ueberwegs
Meinung ist, sowie Erdmann, Ks. Kriticism. 38. 48. 172. Volkelt, Ks.
Erk. 224 f. und bes. 193 ff. Auch Hegel sagt schon in der Encyclop. 1840
I, 85, dass Allg. u. Nothw. bei K. „ein vorausgesetztes Factum*
seien*. Vgl. Körner an Schiller (Briefw. I, 440.): „In Kants Schriften
trifft man besonders zu Anfange immer auf Sätze, die das Ansehen von
willkürlichen Voraussetzungen haben. " Nicht unrichtig bemerkt Schulze,
Krit. II, 152, dass, während K. in der Aesth. u. Anal, langsam und vorsichtig
zu Werke gehe, er gerade in der Einl. äusserst rasch vorgehe, ohne den
Boden genau zu untersuchen, ob er atich die Last des Gebäudes trage. Sehr
scharf und treffend ist in dieser Hinsicht Reinholds damit im wesent-
lichen übereinstimmendes Gesammturtheil über die Einl., Beitr. zu Ber. II,
418 — 421. „Die Voraussetzungen, auf welchen das in der Einleitung
ohne Erklärung und Beweis als ausgemacht Aufgestellte beruht, sind die
Begriffe von Erfahrung und von absoluter Nothw. u. Allgem.* Diese
Begriffe seien zwar die richtigen, aber es sei zufällig, wenn ein Leser
' Göring, Viert, f. wiss. Phil. I, 409 meint, wie auch Paulsen, in der
IL Aufl. habe K. statt der irüheren Möglichkeit überall die Wirklichkeit ein-
gesetzt, insbes. in der Einl. Dies wäre aber doch nur eine formelle, durch die ana-
lytische Darstellung bedingte Aenderung. Sachlich ist zwischen I. u, IL Aufl.
hierin keine Differenz. Die blosse stärkere Betonung der Wirklichkeit ist keine
sachliche Aenderung.
* Oder wie Riehl selbst 337 sich treffend ausdrückt: „Er prüfte die Regeln
des reellen Gebrauchs der Begriffe, um ihren imaginären zu kritisiren." Vgl.
hiezu femer Cantoni, Em. Kant 168 gegen Riehl; Harms, PhiL s. Kant 137;
Proelss, ürspr. d. Erk. 108. Hegel, W. W. XV, 557.
' lieber die speciellere Streitfrage, ob K. die objective Gültigkeit der
Mathem. voraussetze, eine Frage, welche mit obiger verwandt ist, kann erst in
der Aesth. verhandelt werden. Die Streitfrage zwischen Fischer und Riehl, welcher
Gang derjenige der Entdeckung des Apriori historisch gewesen sei (Riehl a a. 0.
339 ff. Fischer III, 297 ff.), überschreitet die Grenzen der vorliegenden Aufgabe.
Allgem. n. nothwendige Crkenntniss als Voraussetzung der Kritik. 227
[B 6d9. H 86. K 49.] B 6.
gerade auch dieselben habe, da E. dieselben gar nicht beweise. Aber wie
anf diesen Begriffen alles Folgende beruhe, so beruhe auf ihrer Annahme
oder wenigstens dem Yerständniss derselben die ganze Stellung zur Kritik.
,Wer mit dem Locke 'sehen Begriffe von Erfahrung die Kritik studirt,
wird sich von dem Einen Fundamentalsatze: dass Erfahrung (weder
innere noch äussere) keine eigentliche Nothwendigkeit begründen
könne, so wenig als der Leibnizianer, der das Hervorgehen eines jeden
vorgestellten Prädicats aus der Vorstellung des Subjects zur inneren Er-
fahrung zählt, sich von dem anderen Fundamentalsatze: dass es syn-
thetische Urtheile a priori gebe, je überzeugen können." Alles dies
beruhe bei K. auf blossen Voraussetzungen, daher auch die K.'sche Be-
leuchtung der Locke^schen und Leibniz'schen Theorien vom Ursprung, der
Vorstellungen für deren Anhänger verloren gehe. Jene Voraussetzungen
müssen also unabhängig von der „Kritik" bewiesen werden, sonst sei diese
ein blosser Cirkel. Es fehle der Kritik somit an allgemeingeltenden
Prämissen, welche Reinhold bekanntlich in seiner „Elementarphilo-
sophie* gegeben haben will, die eben darum diesen Namen führt, weil die
Elemente bewiesen und die Fundamente gelegt werden sollen, was bei
K. nicht der Fall sei. Vgl. dess. Fund am. d. philos. Wiss. 135 ff. lieber
die Einleitung im Ganzen sagt Cousin, Phil. d. K. 61: „Cß qui y frappe
QU Premier eoup d'oeü, comme dans le diseoura de la mithode, c^est la
hardiesse et VSnergie de la pensSe. Kant s^y donne auvertement paur un vSri-
table rSvolutionnaire, Comme Descartes, ü dMaigne tous les systhnes an-
tSrieurs ä sa critique . . , on ne faxt pas les rSvolutians avec de petites prS-
tentions.''
UBtenchled der beiden BedaetioneD« Ausser den bisher bemerkten treten
folgende Differenzen hervor: Beide Darstellungen beginnen mit dem Grund-
satz, dass die Erfahrung als der durch den Verstand bearbeitete Rohstoff
den Anfang aller Erkenntniss bilde ^ Allein in dem Gegensatz, der jenen
Grundsatz ergänzt, weichen beide ab, indem je ein anderes Element jenes
Satzes herausgegriffen und an dasselbe die Antithese geknüpft wird. In der
I. Aufl. wird fortgefahren, dass der Verstand ausser jener Bearbeitung der
Empfindung noch eine Quelle selbständiger, allgemeiner und nothwendiger
Erkenntnisse a priori sei. Dann wird darauf hingewiesen, dass selbst die
Erfahrung apriorische Elemente enthalte. — Anders der Gang der II. Aufl.
Der sich von jenem gemeinschaftlichen Ausgangspunkt abzweigende Gegensatz
liegt hier in der Behauptung, dass Anfangen mit der Erfahrung nicht mit
Ursprung aus der Erf. zu verwechseln sei. Ohne speciellere Rücksicht auf
die ganz reine apriorische Erkenntniss wird sogleich zu der Möglichkeit
' Gemeinsam ist beiden Auflagen erstens der Mangel an Präcision in der
Unterscheidung und Auseinanderbaltung der drei Bedeutungen von „Erfahrung**;
zweitens die ungenügende Unterscheidung der „Erfahrung** im prägnanten Sinn
(als einer apriorisch tingirten Erkenntniss) von der rein apriorischen Erkenntniss.
228 Commentar zur Einleitung B^ Absclin. II. Anhang.
B 6. [B 699. H 36. K. 49.]
übergegangen, dass der Erfahrung selbst apriorische Elemente beigemiscbt
seien. Was somit hier bemerkenswerth ist, ist das Hervortreten der der
Erfahrung beigemischten apriorischen Erkenntniss, im Gegensatz zu dem
selbstständigen Apriori. Diese Aenderung ist eine durch die in der 2. Aufl.
in den Vordergrund tretende Deduction der Kategorien bedingte Verschie-
bung, die aber (vgl. oben 187) sogleich wieder zurückgenommen wird. Sodann
ist, wie schon Erdmann Ks. Kritic. 164 bemerkt, hier die Definition des Apriori
ungleich präciser. „In der I. Aufl. wird der Inhalt dieses Begrifl^es nur gleich-
sam im Vorübergehen bestimmt. Hier dagegen wird die Definition nicht
bloss zu Anfang sclbstständig entwickelt, sondern auch sorgfältig zergliedert.
Die absolute Unabhängigkeit der Erkenntniss a priori von der Erfahrung,
der Gegensatz der Kantischen Fassung gegen den herrschenden unbestimmteren
Gebrauch des Wortes, die Kriterien desselben . . . dies alles wird gesondert
hervorgehoben." Diese Aenderung gehört zu den „rein immanenten Klärungen
der Gedanken, die eine Inhaltsveränderung weder voraussetzen, noch be-
dingen". In der I. Aufl. wird von der Nothwendigkeit und Allgemeinheit
auf die Unabhängigkeit von der Erfahrung geschlossen; in der 11. Aufl.
werden für die letztere, welche vorangestellt wird, die ersteren erst nachher
als Merkmale aufgefunden. Neu ist in der II. Aufl. der sorgsame Unter-
schied des absoluten und relativen, des reinen und gemischten Apriori.
Methodologisch wichtig ist aber vor allem die Differenz, dass in der I.
Aufl. die Thatsache der apriorischen Erkenntnisse einfach vorausgesetzt
und behauptet wird, während die zweite Auflage nur zunächst ihre Mög-
lichkeit aufstellt und dann erst die qucestio facti erhoben und durch Nach-
weis, dass die Merkmale der problematisch definirten apriorischen Erkenntniss
an wirklichen Sätzen und Begriffen (welche hier ebenfalls ausführlicher un-
terschieden werden, als in der I. Aufl.) sich finden, entschieden wird. Diese
methodische Verbesserung wird noch erhöht durch passende Einstreuung von
Beispielen, auf deren Mangel in der I. Aufl. mehrere Recensenten aufmerksam
gemacht hatten. Die Darstellung der II. Aufl. unterscheidet sich also von
der I. in dem I. Abschnitt besonders durch die vorsichtigere Einführung
des Apriori. In der I. Aufl. wird dasselbe ohne Weiteres dem Leser aufoctroprt.
In der 11. Aufl. wird wenigstens zunächst die Frage aufgeworfen, ob
es apriorische Erkenntniss gebe und deren Möglichkeit nur vorläufig in
Aussicht genommen. Erst dann wird die Antwort ertheilt, dass es solche
geben müsse, wenn es allgemeine und noth wendige Erkenntniss geben solle,
und daran schliesst sich erst der factische Nachweis ihres Vorhandenseins.
Gänzlich neu ist die Beziehung auf Hume, die noch mehrfach als ein
Zusatz zur II. Aufl. begegnet, sowie der rudimentäre apriorische Beweis des
Apriori. Endlich ist es als methodische Verbesserung zu verzeichnen, dass
in der II. Aufl. der Ausdruck „Vernunft in den beiden ersten Abschnitten
ganz vermieden ist, sowohl für immanentes, als für transscendentes Apriori.
Erst mit dem aus der I. Aufl. stammenden 3. Abschnitt tritt dieselbe auf. Vorher
gebrauchte K. nur den allgemeinen, neutralen Ausdruck „Erkenntnissver-
Unterschied der beiden Redactionen. üebergang. 229
[B 699. H 36. E 49.] B 6.
mögen*. Eine knrze aber treffende üebersicht der Veränderungen der II.
Aufl. in der Einl. s. in Reinholds Recension der II. Aufl. Beitr. z. Bericht.
n, 418: bestimmtere Unterscheidung zwischen reiner und empir. Erkenntniss,
ausführlichere Behauptung der Wirklichkeit apriorischer Erkenntniss,
hellere Beleuchtung des Unterschieds zwischen analyt. u. synth. Urth. u. s. w.
Lofrisehe Analyse des Zasammenhangs in Absehnitt I n. II der 2« Aufl.
Nachdem in Abschn. I der Unterschied der Erfahrungs- und der Vernunft-
erkenntniss vorläufig als ein problematischer aufgestellt worden ist, wird in
Abschn. II die thatsächliche "Existenz apriorischer Erkenntnisselemente nach-
gewiesen. Abs. 1. gibt die Unterscheidungsmerkmale des Gesuchten
an (Nothw. u. Allgem.), Abs. 2 wendet dieselben an und findet das Ge-
suchte (Apriorische Sätze und Begriffe). Dass der Abschnitt I den Anti-
dogmatismus, II den Idealismus, III den Kriticismus, IV den Transscen-
dentalismus »deutlich im Keime enthalten", ist eine spielerische Behauptung
bei Witte, Beitr. 25.
Erklänmg von A, S. 2—6 = B, Absclm. m, S. 6—10.
Nothwendigkeit einer Theorie des Aprlori.'
[R 18. H 87. K 50.] A 2. B 6,
[Als alles Vorige.] * Dieser Zusatz der IL Aufl. war bedingt durch die
vorhergehenden Aendenmgen derselben Aufl. In ihnen wurden die Mathematik
und die sogen. , reine Naturwissenschaft* (hierüber unten zu B. 17), oder die
immanente Metaphysik als die Felder der apriorischen Erkenntnisse behandelt.
Jetzt kommt die transscendente oder die eigentliche Metaphysik zur Sprache.
Bis jetzt handelt es sich um solche Erkenntniss, deren Inhalt zur Noth
auch die Erfahrung lehren kann (wenn sie auch nicht die apodiktische
Form zu geben vermag), und um solche Begriffe und Urtheile, die sich
überhaupt noch auf die Erfahrungswelt beziehen; jetzt um die apriorische
' In der Ueberschrift bei K. gehört „a priori", wie aus dem Folgenden her-
vorgeht, zu „Erkenntnißs", nicht zu „bestimmt"; letztere Auffassung bei D6g6-
rando, Vergl. Gesch. I, 472 f., D, 479; vgl. dagegen ib. u. I, 517 Tennemanns
sittliche Entrüstung, die aber übel angebracht ist, weil ja Kants Methode factisch
doch eine apriorische ist oder wenigstens sein will : Die „ganze Aprioritätswissen-
schaft" ist selbst apriorisch, vgl. Spicker, Kant 166, der aber denselben Fehler
macht wie D^drando.
* Diejenigen Stichworte, welche aus Textstellen genommen sind, die — in im
üebrigen gemeinsamen Abschnitten — nur der 2. (resp. 1.) Aufl. angehören , sind
von hier an immer durch eckige (resp. runde) Klammem kenntlich gemacht.
230 CommentÄT zur Einleitung A, S. 2—6 = B, Abschn. III.
A 2. 3. B 6. 7. LB IB. H 87. E 60. 51.]
Erkenntniss von Dingen, welche jenseits aller Erfahrung liegen. Derselbe
unterschied unten B. 18. Der Verstand glaubt mit derselben apriorischen
Methode auch über die Erfahrung hinaus dringen zu können. Jenisch
Entd. 47 nennt die erstere Art Vorerfahrungserkenntnisse, die andere Ansser-
erfahrungssätze. Super-sensible cognitions nennt Letztere Laurie a. a. 0. 225.
Das Feld aller mSsrlieben Erfahrungen yerlassen. Hiezu bemerkt Gör ing,
System II, 138, dass auch die im zweiten Abschnitt besprochenen streng
allgemeinen Erkenntnisse die Erfahrung überschreiten. E. hätte daher
auch beide mit demselben Masse messen, d. h. verwerfen sollen. Derselbe
Gedanke, aber mit entgegengesetzter Schlussfolgerung bei S p i c ke r , Eant 176 f.
Die Nachforschungen unserer Yernunft. Hier macht E. einen scharfen
Unterschied zwischen Verstand und Vernunft. Jener geht auf ^das Feld
der Erscheinungen*, diese geht „über die Sinnenwelt hinaus*.
Diesen Unterschied macht E. häufig, so z. B. 786. (298. 702). Die reine
Vernunft im weiteren Sinn zerfällt in reine Anschauung (Sinn), Verstand
und Vernunft im engem Sinn. Letztere heisst dann auch nicht selten
„reine Vernunft" im engeren Sinn, diejenige Vernunft, welche ganz und gar
„sinnenfrei" (639) ist, so gleich unten u. B. 20, aber auch nicht selten
„reiner Verstand", so Prol. § 60. Erit. 268. 295. Vgl. über diesen Unter-
schied noch Prol. § 39. 40. 41, wo die Ideen als Vemunftbegrifife von den
Eategorien als Verstandesbegriffen als „Erkenntnisse ganz verschiedener Art,
Ursprung und Gebrauch" geschieden werden. E. legt auf diese Unterscheidung
daselbst mindestens ebenso hohen Werth als auf die der analytischen und
synthetischen Urtheile. Die Terminologie Eants in diesem Punkte ist jedoch,
wie Schopenhauer gezeigt hat, ganz schwankend, worüber in der Ana-
lytik und Dialektik noch zu sprechen ist. Wenn E. in der altersschwachen
Schrift gegen Nicolai, „Erster Brief* 1798, Vernunfturtheile von Ver-
standesurtheilen so unterscheidet, dass nur die ersteren a priori, die letz-
teren dagegen empirisch seien, so Hesse sich das zwar so erklären, dass dort
Vernunft im weiteren Sinne genommen ist. Indessen liegt in diesem Port-
schritt der Terminologie eine allmälig fortrückende Herabsetzung des Ver-
standes gegenüber der Vernunft, welche ebensosehr der Pichte-Schelling-
sehen Philosophie entspricht, als sie Eants eigenen Intentionen von 1781
widerspricht. Vgl. unten 232. 237. 238 und zu A 11.
So angelesene Untersnchnngen. Dies wiederholt Eant mit Vorliebe. Vgl.
zu den Stellen zu Vorr. A. IV noch Vorr. B. XV f. : „wichtigste Angelegenheiten;
eines der wichtigsten Stücke unserer Wissbegierde". Die metaphysischen
Fragen sind die „höchsten und angelegensten Zwecke der Menschheit*.
463. Es handelt sich um „die höchsten Zwecke unseres Daseins*. B. 895.
Anm. Ueber den letzten Zweck der Metaphysik, die Moral, s. zur Metho-
denlehre. Vgl. Metaph. 4 ff. [Vgl. oben S. 100.]
[Gott, Freiheit und Unsterblichkeit.] Diese Zusammenstellung kehrt in
dieser Wortfolge sehr häufig wieder, bes. in der IE. Aufl., in welcher E. die
positive Seite seines Systems betonen will, z. B. Vorr. B, XXX. B. 395 Anm. ;
Verstand u. Vernunft. Gott, Freiheit u. Unsterblichkeit. 231
[R — H 37. K 51] B 7.
.Die Met. hat zum eigentlichen Zwecke ihrer Nachforschung nur drei Ideen:
G., Fr. u. Unst. . . . Alles, womit sich diese Wissenschaft sonst beschäftigt,
dient ihr bloss zum Mitt«el, um zu diesen Ideen und ihrer Bealität zu ge-
langen. Sie bedarf sie nicht zum Behufs der Naturwissenschaft, sondern
um über die Natur hinauszukommen/ Kr. d. ürth. B. 465. (§91) Metaph. 17:
•Die Begrifife, worauf Alles angelegt zu sein scheint, ist der Begriff von
einem Höchsten Wesen und einer anderen Welt." Ib. 18: Gott u. Un-
sterbl. sind ,die beiden grossen Triebfedern, weshalb die Vernunft aus dem
Felde der Erfahrung herausgegangen^. Auch Metaphysik 262 sind nur diese
beiden Begriffe genannt, als ^die Grenzen der Welt a parte ante und a parte
past^, d. h. Gott und die künftige Welt. „Wenn diese Grenzen nicht wären,
dann wären alle metaph. Speculationen vergebens und nicht vom geringsten
Nutzen. Alle Speculationen der Phil, haben ihre Beziehung auf diese zwei
Grenzbegriffe. " „Der Eine betrifft die Ursache, der Andere die F o lg e der
Welt,* »Die Erkenntniss von Gotc [auf diesen Einen Begriff concentrirt sich
also schliesslich alles] ist das Ziel und die Endabsicht der Metaphysik*;
diese ,isi eine Wissenschaft, in der wir untersuchen, ob wir eine Ursache der
Welt einzusehen im Stande sind". — Vgl. ferner bes. Fortschr. K. 156.
R I, 553. Zu dieser SteUe vgl. Jacobi. W. W. IH, 341. Baggesen,
NachL n, 231. Schaarschmidt, Phil. Mon. XIV, 12. Schopenhauer,
Naehlass 343. Jacobson, Auff. d. Apriori 17 f. Spicker, Kant 168:
0 Diese 3 Begriffe waren die Quintessenz der alten Metaphysik.*
[Endabsicht der Metaphysik.] Dass die Endabsicht der Metaphysik eine
transscendente sei, ist ein bemerkenswerther Zusatz der II. Aufl., weil
K. dies hier billigt. In den späteren Schriften billigt K. diese transscen-
dente Richtung immer mehr. Insbesondere die Schrift über die Fortschr. d.
Metaph. steht ganz auf diesem Standpunkt. Die transscendente Metaphysik
ist gder grosse, vielleicht der grosseste ja alleinige Endzweck, den die Ver-
nunft in ihrer Speculation je beabsichtigen kann*. K. 98. R. I, 488. »Der
Endzweck, auf den die ganze Met. angelegt ist, ist leicht zu entdecken, und
kann in dieser Rücksicht eine Definition derselben begründen: sie ist die
Wissenschaft, von der Erkenntniss des Sinnlichen zu der des
Uebersinnlichen durch die Vernunft fortzuschreiten.* Ib. K. 136.
R. I, 530. »Auf das üebersinnliche in der Welt (die geistige Natur der
Seele) und das ausser der Welt (Gott) also Unsterblichkeit und Theologie,
ist der Endzweck gerichtet." [, In Ansehung dieses wesentlichen Zweckes hat
die Met. bis auf Leibnitz und Wolffs Zeiten, diese mit eingeschlossen, nicht
die mindeste Erwerbung gemacht.* Das kann nach Fortschr. K. 161 R. I,
559 ,mit der grössten Gewissheit dargethan werden".] Dies ist so sehr der
Fall, dass, wie K. mehrfach, bes. Fortschr. K. 160 R. I, 557, ausführt,
überhaupt um der bloss auf die Erfahrung bezüglichen apriorischen Er-
kenntniss willen nie Metaphysik entstanden wäre. „Zum Bebufe der
Erkenntniss solcher Erfahrungsgegenstände (bes. des Oausalitätssatzes) ist
nie eine Metaphysik unternommen worden." Man hat diese Principien daher
232 Commentar zur Einleitung A, S..2— 6 = B, Abschn. III.
B 7. [R — H 37. K 51.]
auch nie abgesondert und eine besondere Wissenschaft för sie errichtet,
„weil doch der Zweck, den man mit ihnen hatte, nur auf Erfahrungsgegen-
stände gieng, in Beziehung auf welche sie uns auch allein verständlich ge-
macht werden könnten, dieses aber nicht der eigentliche Zweck der Metaphysik
war. Es wäre also in Absicht auf diesen Gebrauch der Vernunft niemals
auf eine Metaph. als abgesonderte Wissenschaft gesonnen worden, wenn die
Vernunft hiezu nicht ein höheres Interesse bei sich' geftinden hätte,
wozu die Aufsuchung und systematische Verbindung aller Elementarbegriffe
und Grundsätze, die a priori unserem Erkenntniss der Erfahrung zum Grunde
liegen, nur die Zurüstung war'. K. hebt oft genug hervor, dass indessen
auch diese theoretischen Ideen nur Mittel zum allerletzten Zwecke seien,
zum Praktischen, zur Moral. Moral ist der eigentliche Endzweck des
Menschen und der Philosophie. Diese ist daher eigentlich Weisheits-
lehre. Man darf diese fundamentale Bestimmung nicht aus den
Augen verlieren, wenn sie auch erst gegen das Ende der Kritik stärker
hervortritt.
[Metaphysik.] An dieser Stelle wird Met. nur im transscendenten
Sinne gebraucht. Es ist jedoch dies wieder einer jener Termini, welche bei
K. schwankend gebraucht werden. Met. bedeutet bald immanente bald
transscendente Wissenschaft aus reiner Vernunft. Jene ist Met. im guten
Sinn, die von K. erlaubte, für möglich gehaltene und erst begründete ; diese
in schlechtem Sinn, wenn sie auch der Natur ihrer Aufgaben nach die er-
habenste Wissenschaft sein könnte. E. selbst unterscheidet so, wenn auch
nicht immer consequent, so bes. in der Vorr. B. XVIII, wo er zwei Theile
der Met. aufstellt, und Fort sehr. K. 162 R. I, 559, wo er sagt: »Wir
können die Erkenntnisse a priori, deren Erwägung nur zum Mittel dient
und die den Zweck der Metaphysik nicht ausmacht, diejenige nämlich, welche
obzwar a priori gegründet, doch für ihre Begriffe die Gegenstände in der
Erfahrung finden kann, von der, die den Zweck ausmacht, unterscheiden,
deren Object nämlich über alle Erfahrungsgrenze hinausliegt, und zu der
die Metaphysik von der ersteren anhebend, nicht sowohl fortschreitet, als
vielmehr, da sie durch eine unermessliche Kluft von ihr abgesondert ist, zu
ihr überschreiten will.** Prol. § 40: Die transsc. Met. ist die Met. im
engeren (engsten) Sinn. Vgl. hiezu folgende Parallelstelle aus den Fortschr.
K. 162 f. (R. I, 560), in der der Gegensatz der immanenten und transscen-
denten Metaphysik stärker ausgedrückt ist. „Was die Realität der Elemen-
tarbegriffe aller Erkenntniss a priori betrifft, die ihre Gegenstände in der
Erfahrung finden können, imgleichen die Grundsätze, durch welche diese unter
jene subsumii-t werden, so kann die Erfahrung selbst zum Beweise
ihrer Realität dienen, z. B. der Begriff einer Substanz und der Satz,
dass in allen Veränderungen die Substanz beharre und nur die Accidenzen
entstehen oder ausgehen. Dass dieser Schritt der Metaphysik reell und
nicht bloss eingebildet sei, nimmt der Physiker ohne Bedenken an, denn er
braucht ihn mit bestem Erfolg in aller durch Erfahrung fortgehenden Na-
Immanente und transscendente Metaphysik. 233
[B 19. H 87. 38. E 51.] A 8. B 7.
turbetrachtung , sicher nie durch eine einzige widerlegt zu werden, nicht
danun, weil ihn noch nie eine Erfahrung widerlegt hat, . . . sondern weil
er ein unentbehrlicher Leitfaden ist, um solche Erfahrung anzustellen. Allein
das, warum es der Metaph. eigentlich zu thun ist, nämlich für den Begriff
von dem, was über das Feld möglicher Erfahrung hinausliegt, und für die
Erweiterung der Erkenntniss durch einen solchen Begriff, ob diese nämlich
reell sei, einen Probirstein zu finden, daran möchte der waghalsige Meta-
ph jsiker beinahe verzweifeln, wenn er nur diese Forderung versteht, die an
ihn gemacht wird. Denn wenn er über seinen Begriff, durch den er Objecte
bloss denken kann, durch keine mögliche Erfahrung aber belegen kann,
fortschreitet, und dieser Gedanke nur möglich ist, welches er dadurch er-
reicht, dass er ihn so fasst, dass er sich nicht in ihm selbst widerspricht:
so mag er sich Gegenstände denken wie er will, er ist sicher, dass er auf
keine Erfahrung stossen kann, die ihn widerlege, weil er sich einen Gegen-
stand, z.B. einen Geist, gerade mit einer solchen Bestimmung gedacht hat,
mit der er schlechterdings kein Gegenstand der Erfahrung sein kann. Denn
dass keine einzige Erfahrung diese seine Idee bestätigt, kann ihm nicht im
Mindesten Abbruch thun, weil er ein Ding nach Bestimmungen denken
wollte, die es über alle Erfahrungsgrenze hinaussetzen. Also können solche
Begriffe ganz leer und folglich die Sätze, welche Gegenstände derselben
als wirklich annehmen, ganz irrig sein, und es ist doch kein Probirstein
da, diesen Irrthum zu entdecken. Selbst der Begriff desüebersinnlichen,
an welchem die Vernunft ein solches Interesse nimmt, dass darum Metaph.
wenigstens als Versuch, überhaupt existirt, jederzeit gewesen ist und ferner-
hin sein wird: dieser Begriff, ob er objective Realität habe oder blosse Er-
dichtung sei, lässt sich auf theoretischem Wege aus derselben Ursache durch
keinen Probirstein direct ausmachen. Denn Widerspruch ist zwar in ihm
nicht anzutreffen, aber ob nicht alles, was ist und sein kann, auch Gegen-
stand möglicher Erfahrung sein kann, mithin der Begriff des Uebers. völlig
leer sei ... lässt sich direct durch keine Probe, die wir mit ihm anstellen
mögen, beweisen oder widerlegen."
Aflf den Credit der Grundsätze« Das Genauere über den transscen-
denten Gebrauch der immanenten Grundsätze a priori (deren Ursprung
nach Kant den speculativen Philosophen nicht immer klar war) s. zu
Vorr. A. I (oben S. 83—85).
Das Gebiliide der Metaphysik. Ein beliebtes Bild Kants, das er auch
anderwärts wie hier, gerne ins Detail ausmalt. So hebt er gleich unten S. 5
hervor, dass die menschl. Vernunft es liebe, „ihr Gebäude so früh wie
möglich fertig zu machen, und hintennach allererst zu untersuchen , ob auch
der Grund dazu gut gelegt sei". Eine noch viel detaillirtere Ausmalung s.
am Anfang der Methodenl. 707. Er fuhrt dort aus, dass statt des „Thurmes, *
* Vgl. Prol. Anh.: ^Hohe Thürme und die ihnen ähnlichen metaphysischen
grossen Männer, um welche beide gemeiniglich viel Wind ist, sind nicht für mich.
234 Commentar zur Einleitung A, S. 2—6 = B, Abschn. III.
A 3. B 7. [B 19. H 37. 38. E 61.]
der bis an den Himmel reichen sollte*, der Vorrath der Materialien doch
nur zu einem Wohnhause zureicht, welches zu unseren Geschäften auf der
Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug war, sie zu über-
sehen". Zu diesem Gebäude (das er auch als sein „System der Metaphysik^
bezeichnet) „muss die Kritik den Boden vorher so tief, als die erste Grund-
lage des Vermögens von der Erfahrung unabhängiger Principien liegt, er-
forscht haben (vgl. Brief an Mendelssohn vom 18. Aug. 1783), damit es
nicht an irgend einem Theile sinke, welches den Einsturz des Ganzen un-
vermeidlich nach sich ziehen würde". Kr. d. pr. Vem. Vorr. VII. Sie ist
zugleich (738) „die Kritik der Vermögensumstände, ob wir überall bauen und
wie hoch wir wohl unser Gebäude aus dem Stoflfe, den wir haben (den
reinen Begriffen a priori) auffuhren können". Doch mit diesem „bescheidenen
Wohnhause" begnügt sich K. nicht; errichtet die Kritik einerseits für die
immanente Metaphysik dieses bescheidene aber feste Haus, so hat sie doch
noch eine andere „Arbeit", „nämlich, den Boden zu jenen majestätischen
sittlichen Gebäuden' eben und baufest zu machen, in welchem sich
allerlei Maulwxirfsgänge einer vergeblich aber mit guter Zuversicht auf
Schätze grabenden Vernunft vorfinden und die jenes Bauwerk unsicher
machen"*. 319. Von diesem durch die praktische Vernunft erbauten
Mein Platz ist das frachtbare Bat hos der Erfahrung" u. s. w. (Or. 204 Anm.)
Vgl. Schillers Gedicht: Der Metaphysiker.
„Wie tief liegt unter mir die Welt!
„Kaum seh^ ich noch die Menschen unten wallen!
„Wie trägt mich meine Kunst, die höchste unter allen ^
„So nahe an des Himmels Zelt!"
So ruft von seines Thurmes Dache
Der Schieferdecker, so der kleine grosse Mann,
Hans Metaphysicus, in seinem Schreibgemache.
Sag an, du kleiner grosser Mann,
Der Thurm, von dem dein Blick so vornehm niederschauet.
Wovon ist er, —• worauf ist er erbauet?
Wie kamst du selbst hinauf — und seine kahlen Höh'n,
Wozu sind sie dir nütz, als in das Thal zu sehn?
* Vgl. dag. Herder, Kalligone Vorw. XVIII (Suph. XXU, 11): er nennt Ks.
System einen babylonischen Thurm; aber die Sprache der Arbeiter sei ver-
wirrt. Jetzt baue sich Jeder aus seinem „unbewussten und bewusst-unbewussten
Ich" sein Thürmchen. (Damit sind Fichte, Schelling u. a. Epigonen Es. ge-
meint.) Vgl. Noack, Fichte S. 280.
* Dagegen sagt Schelling, Vom Ich Vorr. XIII: „Die praktische Philosophie
Kants scheint nicht ein und dasselbe Gebäude, sondern nur ein Nebengebäude der
ganzen Philos. zu bilden, das noch dazu beständigen Angriffen vom Hauptgebäude
aus blossgestellt ist." [W. W. I, 154.]
» Vgl. Fortschr. K. 157, R I, 553 : „Nach Vollendung der Kritik d. r. V. kann
und soll die Metaphysik aufgebaut werden, wozu nunmehr der Bauzeug zusammt
der Verzeichnung vorhanden ist, ein Ganzes, . . . welches beständig bewohnt und
Das Bild vom „Gebäude" der Metaphysik. 235
[R 19. H 37. 38. E 51.] A 3. B 7.
Palast ist wesentlich zu unterscheiden jenes Luftschloss der theo-
retischen Vernunft, von welchem Kant Prol. § 3 sagt: „Der Verstand
baut sich unvermerkt an das Haus der Erfahrung noch ein viel weit-
l&uftigeres Nebengebäude an, welches er mit lauter Gedanken-
wesen anfüllt, ohne es einmal zu merken, dass er sich mit seinen sonst
richtigen Begriffen über die Grenzen ihres Gebrauches verstiegen habe/
Es kann zu ^der Einrichtung desselben uns an Bauzeug nicht fehlen,
weil es durch fruchtbare Erdichtung reichlich herbeigeschafft wird". Prol.
§ 35: Die Vernunft ist eben „ihrer Natur nach architektonisch** und da der
Empirismus „keinen Anfang einräumt, der schlechthin zum Grunde des
Baues dienen könnte", so ist „ein vollständiges Gebäude der Erkenntniss",
das 9 das architektonische Interesse der Vernunft* verlangt, nur beim Dog-
matismus möglich. 474. f. „Die menschliche Vernunft ist so bau lustig,
dass sie mehrmalen schon den Thurm aufgeführt, hernach aber wieder ab-
getragen hat, um zu sehen, wie das Fundament desselben wohl beschaffen
sein möchte.* Prol. Vorr.; ib.: „Kartengebäude der Metaph." 750: Der spe-
culativen Bauwerke (wenn man überhaupt solche errichten will) bedarf
man nicht „um darinnen zu wohnen*. Die Betrachtung der bisherigen Phi-
losophie zeigt „Gebäude, aber nur in Buinen*. 852, vgl. 835. Man soll
eben »am jenseitigen Ufer* (jenseits der Erfahrung) mit keinen Materialien
der Sinnesvorstellung bauen; Entd. R. I, 434. Träume, e. Geisters. Vorr.:
Zu den Gebäuden der Phantasten „zeichnen die Philosophen den Grundriss,
und ändern ihn, wie ihre Gewohnheit ist* *. Tadelnd spricht E. in der Diss.
§ 28 von dem „Ingenium architectonicum, seu, si mavis, ad chimaeras proclive",
Dass man aber „mit bloss negativen Sätzen kein Gehör findet*, dass man „an
Stelle dessen, was man niederreisst, aufbauen muss* erkennt E. an im Brief
an Herz vom 21. Febr. 1771. Wie sehr E. dies Bild liebt, erhellt daraus,
dass er es in der Vorrede zum Beweisgrund zur Demonstr. Gottes 1763
breit ausführt. Nach den Tr. e. Geist. I , III , Anf. hatte Wolf seine Ord-
nung der Dinge „aus wenig Bauzeug der Erfahrung, aber mehr er-
schlichenen Begriffen gezimmert*. Er ist einer der „Luftbaumeister*.
Vgl. ib. Vorrede. — Der Schlussstein des ganzen Gebäudes der r. V. ist
der Begriff der Freiheit. Er. d. pr. V. Vorr. 4- An diesem Gebäude braucht
man nicht „wie bei einem übereilten Baue, hintennach Stützen und Strebe-
pfeiler anzubringen* ib. 12. Nach dem Brief an Schütz (A. L. Z. 1786,
I, 56) liegt „in der menschl. Vernunft das Bedürfaiss, mit dem Gottes-
im baulichen Wesen erhalten werden muss, wenn nicht Spinnen und Waldgeister,
[nach dem Zusammenhang sind damit „Theosophie, Mystik und Pneumatik^ gemeint]
die nie ermangeln werden, hier Platz zu suchen, sich darin einnistein und es für
die Vernunft unbewohnbar machen sollen. Dieser Bau" u. s. w.
* Ewig. Friede in d. Philos. I, A. : der Dogmatismus baut Systeme; der
Skeptic. stürzt; der Moderatismus (die Populärphilosophie) „stellt ein Dach ohne
Hans zum gelegentlichen Unterkommen auf Stützen".
236 Commentar zur Einleitung A, S. 2—6 = B, Abschn. III.
[A 3. B 7. [B 19. H 37. 38. E 51.]
begriff wie mit einem Schlusssteine ihrem freyschwebenden Gewölbe Haltung
zu geben". Nachher errichtete jedoch K. noch mehrere Gebäude, so sagt er
von der Kritik der teleol. Urtheilsk. (Kr. d. Urth. § 68): Man müsse mit jeder
Wissenschaft als einem für sich bestehenden Gebäude architektonisch zu
Werke gehen, und sie nicht wie einen Anbau und als einen Theil eines
anderen Gebäudes, sondern als ein Ganzes für sich behandeln ; nachher könne
man dann Uebergänge errichten, üeber ähnliche, „schwer zu erfüllende Be-
dingungen für den Baumeister eines Systems" s. Met. d. Sitt. Bechtsl. Einl.
in, Anm. Im Zusammenhang damit steht der Terminus Architektonik: K.
spricht in der Meth. von einer „Architektonik der reinen Vernunft". Schon
Leibniz und Baumgarten (Metaph. § 4) nannten die Ontologie eine
philos. Architektonik, und Lambert schrieb 1771 seine „Anlage zur Ar-
chitektonik oder Theorie des Einfachen und Ersten in der philos. und
mathem. Erkenntniss" ; Vorr. XXVIII: „Es ist ein Abstractum aus der Bau-
kunst, und hat in Absicht auf das Gebäude der menschl. Erkennt-
niss eine ganz ähnliche Bedeutung, zumal wenn es auf die ersten Fun-
damente, auf die erste Anlage, auf die Materialien und ihre Zube-
reitung und Anordnung überhaupt, und so bezogen wird, dass man sich
vorsetzt, daraus ein zweckmässiges Ganzes zu machen." Eine Ausfuhrung
des Bildes s. bei Will, Vorl. 179—182. Er bemerkt gut: „Wer wird sagen
(und Herr Kant gewiss selbst nicht), dass er von den Bruchstücken (der
eingerissenen Gebäude) gar nichts mehr habe brauchen können, und dass
nicht mancher Stein nur anders zugehauen und geformet, wieder angewendet
worden, ja manche Seitenwand, die noch vest genug stund, stehen geblieben
sei." In der 11. Ausg. „sei verschiedenes in der Einrichtung und Austheilung
der Gemächer verändert". Ebenso bei Hauptm. 1 ff., wo das Bild des Ge-
bäudes zur ganzen Stadt erweitert ist. Jenisch, Entd. 29. 37. 41. (Der-
selbe führt auch an, man habe Mendelssohns Morgenstunden „elegante
Reparaturen an alten Buinen" genannt.) Dag. Stattler, Antik. I, 335: K.
riss das altmodische Gebäude nieder und baute ein Kartenhaus dafür. Eine
ausfuhrliche, hierauf bezügliche Allegorie s. in Eberhards Philos. Magazin
III, 349 — 357. Dass es dem K.'schen Gebäude an einem Fundament fehle, be-
hauptete bekanntlich selbst Reinhold, Beitr. I, 273. 295. Pundam. d. phil. Wiss.
3 ff. Vgl. Abicht, Preisschr. über d. Fortschr. d. Met. 239. Schulze, Krit.
II, 163. Reinhold, Beiträge, z. 1. Uebers. 2. 9. id. Verm. Seh. H, 228.'
Heusinger, Das id. ath. System Fichte's 30 ff. Erhardt bei Reinhold,
Fundament 143 ff. Berg, Epikritik Vorr. IX. Lange, Mat. II, 2. Men-
delssohn, Morgenst. Vorr. XI hofft von K., „er werde mit demselben Geiste
wieder aufbauen, mit dem er niedergerissen hat". — Kant will 1) das alte
* Vgl. hiezu Bachmann, Phil. m. Z. 109. Ferner Jacobi, W. W. II, 16.
Baader, W. W. XI, 58. Baggesen, Nachl. II, 98. Bratuschek, Phil. Mon.
I, 257. XII, 477 (den Plan zu seinem Gebäude habe K. aus Piaton entlehnt
u. 8. w.). J. Edmunds, Joum, of spec. Fhü. VIII, 350. Paulsen, Entw. 192.
Kothwendigkeit u. bisherige Unterlassung einer Theorie des Apriori. 237
[R 19. H 88. E 51. 52.] A 3. 4. B 7.
Gebäude der Metaphysik niederreissen; 2) durch seine Kritik ein neues Fun-
dament legen; 3) ein neues Gebäude errichten und zwar a) das „bescheidene
Wohnhaus'' für das Erf ah rungs gebiet, b) den „majestätischen Palast''
der Moral. In dem ersteren Punkte unterscheidet er sich sehr von Leibniz.
Denn dieser sagt Nouv. Ess. 219 A.: Je voudrois que les homnus d'espHt
eherchasaent de quoi satis faire ä leur ambition, en s^occupant plutdt ä bätir
. . . qv^ä ditruire. Et je soukaiterois, qiion rassemblät pltäöt aux Romains,
qui faisdent des beaux ouvrages publics, qu^ä ce roi Vandale, ä qui sa mhre
recommanda que ne pouvant pas espSrer la gloire d^ egaler ces grands bdtiments,
il en eherehät ä les ditruire. Grössere Aehnlichkeit als mit Leibniz hat Kant
hierin mit Descartes, der in dem II. Abschn. des Discours de la MHhode
genau dasselbe Bild seitenlang ausführt und die Absicht ausspricht, das
„bdtiment*^ seiner Ansichten vollständig zu „abattre pour le rebätir,
parceque les fondements n'en soni pas bien fermes^. Er will seine Grund-
sätze jfajuster au niveau de la raifton". Er will nicht „bätir sur de vieux
fondements^. Und wie K. den „Plan", so gibt er in seiner Schrift dem
Publicum „le modkle^ des neuen bätiment u. s. w. Ebenso in den Meditationes
de prima philos. I: funditus omnia . . . esse evertenda atque a primis
fundamentis denuo inchoandum etc.
Wie denn der Terstand u. s. w. In diesem Falle also nicht die Vernunft,
weil es sich noch um diejenige Erkenntniss a prioi'i handelt, welche imma-
nent ist, und erst nachher Anlass gibt zu transscendenter Speculation. Auf
die Nothwendigkeit dieser Untersuchung (wozu man Witte, Beitr. 24
vergleiche) macht K. oft genug aufmerksam, falls die trän sscen den te Meta-
physik fortschreiten wolle. Er gründet darauf auch deren Definition, indem
er Fortschr. K. 161, R. I, 558 sagt: „Weil zur Erweiterung der Erkenntniss
über die Grenze des Sinnlichen hinaus zuvor eine vollständige Kenntniss
aller Principien a priori, die auf das Sinnliche angewandt werden, erfordert
wird, so muss die Metaphysik, w^nn man sie nicht sowohl ihrem Zwecke,
sondern vielmehr nach den Mitteln, zu einem Erkenntniss überhaupt durch
Principien a priori zu gelangen, d. i. nach der blossen Form ihres Verfahrens
erklären will, als das System aller reinen Vernunfterkenntnisse der
Dinge durch Begriffe definirt werden." Gegen die Möglichkeit dieser
Frage erklärt sich Desduits, Philos. de K. 39.
Hichts nattirlleher. Cohen 192 f.: Hier „schildert K., indem er das Wort
natürlich in einem feinen Doppelsinne braucht, wie man die kritische Frage
nach der Möglichkeit solcher Erkenntniss schon längst natürlich, weil ver-
nünftiger Weise, hätte aufwerfen müssen, und wie sie natürlich, weil
begreiflicher Weise, unterbleiben musste. In dieser Schilderung des Wohl
und Wehe der dogm. Vernunft, welche auch in Rücksicht auf die Schreibart
musterhaft genannt werden kann, drängen sich seine Grundgedanken ''. Vgl.
Göring, System I, 6. Die Gründe, welche die Unterlassung begreiflich
machen, folgen, und es sind deren fünf. Durch die vier ersten wird die
Vernunft verleitet und durch den fünften in ihrem Irrthum bestärkt.
238 Commentar zur Einleitung A, S. 2-6 = B, Abschn. III.
A4. B 8. [B 19. H 38. E 62.]
1) Das lockende Vorbild der Mathematik,
2) Mangel der Widerlegung durch Erfahrung,
3) Erweiterungstrieb der Vernunft,
4) Die Leichtigkeit der Vermeidung logischer Widersprüche,
5) Wirklichkeit apriorischer Erkenntnisse durch blosse Zergliederung
der Begriffe und Verwechslung dieser mit wahrhaft neuen und
eigentlichen Erkenntnissen.
Die wichtigsten Ursachen sind die erste und die letzte, die daher Schmidt-
Phis. in der Exp. 6 allein erwähnt, ebenso Hauptm. 34. Brastberger, Un-
tersuchung 15 zählt 1, 4, 5 auf. Witte, Beiträge 24: „Die Veran-
lassung zu dem Missbrauch apriorischer Erkenntniss liegt in der Ver-
kennung des Unterschiedes zwischen den intuitiven mathem. Erkenntnissen
und den discursiven. Die Ursache aber, dass dieser Missbrauch auch in
der Anwendung nicht entdeckt wird, ist die Vernachlässigung des Un-
terschiedes zwischen analytischen und synthetischen Urtheilen.* Ein
weiterer 6. Hauptgrund ist die schon oben berührte, hier jedoch nicht an-
geführte Verwechslung der auf die Erfahrung gehenden Begriffe a priori
und der Ideen. Das führt K. in den Fortschr. K. 164 (R. 1,561) so aus:
Die Metaphysik hat „ Ideen, die lediglich das Uebersinnliche zum Gegenstande
haben können, mit Begriffen a priori, denen doch Erfahrungsgegenstände an-
gemessen sind, im Gemenge genommen, indem es ihr gar nicht in Ge-
danken kam, dass der Ursprung derselben von anderen reinen Begriffen a
priori verschieden sein könne: dadurch es denn geschehen ist, welches in der
Geschichte der Verirrungen der menschlichen Vernunft besonders merkwürdig
ist, dass, da diese sich vermögend fühlt, von Dingen der Natur und über-
haupt von dem, was Gegenstand möglicher Erfahrung sein kann (nicht
bloss in der Naturwissenschaft, sondern auch in der Mathematik) einen
grossen Umfang von Erkenntnissen a priori zu erwerben, und die Realität
dieser Fortschritte durch That bewiesen hat, sie gar nicht absehen kann,
warum es ihr nicht noch weiter mit ihren Begriffen a priori gelingen könnte,
nämlich bis zu Dingen oder Eigenschaften derselben, die nicht zu Gegen-
ständen der Erfahrung gehören, glücklich durchzudringen. Sie musste noth-
wendig die Begriffe aus beiden Feldern für Begriffe von einerlei Art halten,
weil sie ihrem Ursprung nach sofern wirklich gleichartig sind, dass beide
a priori in unserem Erkenntnissvermögen gegründet, nicht aus der Erfahrung
geschöpft sind, und daher zu gleicher Erwartung eines reellen Besitzes und
Erweiterung desselben berechtigt zu sein scheinen".
Dass diese Untersnehnng lange Zeit unterbleiben mnsste* Eine unge-
rechte Beschuldigung (vgl. Brastberger, Unters. 17), wenn man an Gartesius,
Spinoza, Leibniz denkt, welche ausführliche erkenntnisstheoretische Er-
wägungen angestellt haben ; K. tadele seine Vorgänger, weil bei ihnen seine
Untersuchungen insbes. seine transsc. Deduction sich nicht finden'. Vgl.
' Man vgl. hiezu die treffende Stelle bei Cousin, Phil, de Kant 61 ff.
Kants Ansprach auf die Neuheit seiner Untersuchnng'. 239
[R 19. H 38. E 62.] A 4. B 8.
Eberhard, Phil. Mag. I, 23. Auf Tetens, als Vorgänger Kants weisen bes.
Schwab in der Preisschr. über die Fortschr. d. Met., sowie Nicolai, Philos.
Abh. I, n. n, 18 hin. Vgl. Kritische Briefe 17 ff. Dass Locke schon
yon der nämlichen erkenntnisstheoretischen Frage ausgieng als Kant, hat
schon Tiedemann, Geist der spec. Phil. VI, 261 bemerkt; auch er wollte
eine Ausmessung unserer Denkkräfte zu Stande bringen, durch welche alle
philosophischen Zwiste sollten beigelegt und der Philosophie ein fester Grund
untergelegt werden. Warum aber Locke's Unternehmen im Sand ver-
laufen sei, untersucht F. Herbst, Locke u. Kant, Stettin 1869. — Dass
auch vor K. kritische Erkenntnisstheorie getrieben worden sei, betont auch
Dühring, Krit. Gesch. 398; freilich sei dies „Verstandeskritik*, nicht
„Vernunft kritik" gewesen. Eine an Dühring sich anschliessende Aus-
fohrung dieses Gedankens ist das Buch von Riehl, der Philos. Kriticismus, L
— Diesen Ausspruch und Anspruch Kants auf Neuheit hat bes. Fischer,
Gesch. III, Einl. 20 ff. zu rechtfertigen gesucht. Lewes, Gesch. II, 487 ff.
hat dagegen beachtenswerthe Einwände gemacht: Das Problem, welches K.
lösen wollte, war der ganzen neueren Philos. gemein: Haben wir von der
Erf. unabhängige Gedanken? Der Gedanke an eine Kritik der Erkenntniss,
an eine Theorie der Erf. war nicht originell. Wie die Unternehmung,
war auch die Methode nicht neu: sie war die metaphysische. Endlich
waren auch die Resultate nicht neu'. Dag. Harms, Phil, seit K. 131 : „Schon
vor dem Columbus kannte man Amerika und dennoch hat er es erst ent-
deckt.* An das »Ei des Columbus* erinnert Fischer, III, 17. „Dass durch
blosse Erfahrung kein allgemeingültiges und nothwendiges Erkenntniss zu
Stande komme, hatten lange vor K. schon Descartes, Spinoza und Leibniz ein-
gesehen, und eben darum der Erste sich auf angeborene Ideen, der Zweite
und Dritte auf die Evidenz der mathem. Methode, Ersterer jener der Geo-
metrie, Letzterer jener der Arithmetik gestützt,* Zimmermann, Ks.
math. Vor. 6. Wie sich ein Leibnizianer die Idee einer Kritik der r. V.
denkt, s. ausser in Eberhards Zeitschrift bes. in den Krit. Briefen 60.
•.Unreh Erfahrung nicht widersproehen« Beim metaphysischen Dichten
ist man „sicher, dass man nicht durch Thatsachen der Natur widerlegt
werden kann*. 469: „Das Bauzeug wird durch fruchtbare Erdichtung her-
beigeschafft und wird durch Erfahrung zwar nicht bestätigt, aber auch
niemals widerlegt.* „Das ist auch die Ursache, weswegen junge Denker
Metaphysik in ächter dogmatischer Manier so lieben, und ihr oft ihre Zeit
and ihr sonst brauchbares Talent aufopfern.* Prol. § 35. — „Man kann in
der Metaphysik auf mancherlei Weise herumpfuschen, ohne aber zu besorgen,
dass man auf Unwahrheit werde betreten werden. Denn wenn man sich
nur nicht selbst widerspricht, welches in synthetischen, obgleich gänzlich
» Vgl. oben S. 45. 64. 69. 96. Diese Frage über die Originalität Kants und
die Literatur über seine Vorläufer wird eingehender zu dem Schlüsse
abschnitt der Kritik „Geschichte der reinen Vernunft", behandelt.
240 Commentar zur Einleitung A. S. 2—6 = B, Abechn. III.
A 4. B 8. [R 19 H 38. E 52.]
erdichteten Sätzen gar wohl möglich ist, so können wir in allen solchen
Fällen, wo die Begriffe, die wir verknüpfen, blosse Ideen sind, die gar nicht
(ihrem ganzen Inhalt nach) in der Erfahrung gegeben werden können, nie-
mals durch Erfahrung widerlegt werden. Denn wie wollten wir es
durch Erfahrung ausmachen: ob die Welt von Ewigkeit her sei, oder einen
Anfang habe? ob Materie ins Unendliche theilbar sei, oder aus einfachen
Theilen bestehe? Dergleichen Begriffe lassen sich in keiner, auch der grösst-
möglichsten Erfahrung geben, mithin die Unrichtigkeit des behauptenden oder
verneinenden Satzes durch diesen Probirstein nicht entdecken." Prol. § 52 b.
vgl. § 42. — Ebenso Fortschr. R. I, 491. Vgl. oben S. 23S.
Der Beiz^ seine Erkenntnisse zu erweitern. Kr. d. pr. V. 216: „Das was
zur Möglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erforderlich ist, nämlich
dass die Principien und Behauptungen derselben einander nicht widersprechen
müssen, macht keinen Theil ihres Interesse aus; . . . nur die Erweiterung
wird zum Interesse derselben gezählt.*
Seine Erdichtungen« Dass die alte Metaphysik Erdichtungen statt
Erkenntniss gegeben habe, ist ein stehender Vorwurf Kants. Er nennt sie
mit Vorliebe Hirngespinnste. S. 469 nennt er die Metaph. ,das Gebiet
der idealisirenden Vernunft", wo man nur nöthig hat „zu denken und zu
dichten" u. s. w. (Inwieweit K. selbst solche Erdichtungen gestatte, darüber
vgl. A. 360. 770 ff.) Dieses Dichten ist identisch mit dem schon in der
Vorrede gerügten „Schwärmen". Prol. § 35. Vgl. oben S. 127 f.
Die Matliematik — ein glänzendes Beispiel. Dieser Gedanke, dass die
Mathematik, weil sie eine apodiktische Wissenschaft sei, die Vernunft ver-
führe, dieselbe Sicherheit mit derselben Methode auch in der Metaphysik
zu erwarten, dass aber zwischen beiden Wissenschaften ein fundamentaler
Unterschied sei, ist einer der Grundgedanken Kants und wird daher im Fol-
genden noch oft variirt, indem sich K. häufig gegen das durch die Mathe-
matik geschaffene Präjudiz für die Metaphysik ausspricht. Insbesondere
der Anfang der Methodenlehre ist der Hervorhebung und Detaillirung dieser
Differenz gewidmet. S. 712 sagt K.: „Die Mathematik gibt das glänzendste
Beispiel einer sich, ohne Beihilfe der Erfahrung, von selbst glücklich er-
weiternden reinen Vernunft. Beispiele sind ansteckend, vornehmlich für
dasselbe Vermögen, welches sich natürlicherweise schmeichelt, eben dasselbe
Glück in anderen Fällen zu haben, welches ihm in einem Falle zu Theil
geworden. Daher hofft reine Vernunft im transscendentalen Gebrauche
sich ebenso glücklich und gründlich erweitern zu können, als es ihr im
mathematischen gelungen ist, wenn sie vornehmlich dieselbe Methode dort
anwendet, die hier von so augenscheinlichem Nutzen gewesen ist." Vgl. be-
sonders die Ausführung dieses Gedankens S. 724 ff. Vgl. die Parallelstelle
in Fortschr. K. 100. R. I, 491: „Die ersten und ältesten Schritte in der
Metaphysik wurden nicht etwa als bedenkliche Versuche bloss gewagt, son-
dern geschahen mit völliger Zuversicht, ohne vorher über die Möglichkeit
der Erkenntnisse a priori sorgsame Untersuchungen anzustellen. Was war
Die Mathematik — das Vorbild der Metaphysik. 241
[B 19. H 38. E 52.] A 4. B 8.
die Ursache von diesem Vertrauen der Vemnnft zu sich selbst? Das ver-
meinte Gelingen. Denn in der Mathematik gelang es der Vernunft, über
alle Erwartung der Philosophen, vortrefflich; warum sollte es nicht ebenso
gut in der Philosophie gelingen? Dass die Mathematik auf dem Boden des
Sinnlichen wandelt, da die Vernunft selbst auf ihm Begriffe construiren,
d. h. a priori in der Anschauung darstellen und so die Gegenstände a priori
erkennen kann, die Philosophie hingegen eine Erweiterung der Erkenntniss
der Vernunft durch blosse Begriffe, wo man seinen Gegenstand nicht wie
dort vor sich hinstellen kann, sondern die uns gleichsam in der Luft vor-
schweben, unternimmt, fiel den Metaphysikern nicht ein, als einen himmel-
weiten Unterschied, in Ansehung der Möglichkeit der Erkenntniss a priori,
zur wichtigen Aufgabe zu machen*. K. macht nun dort richtiger als in der
Kritik einen genauen Unterschied zwischen immanenter und transscendenter
Metaphysik. Jene Erweiterung, auch ausser der Mathematik, durch blosse
Begriffe, gieng anfänglich gut, so lange man sich auf immanente Metaphysik
beschränkte, wo die „Uebereinstimmung solcher Urtheile und Grundsätze
mit der Erfahrung" deren Wahrheitsgehalt bewies. Nun aber erst ge-
schah der gefährliche Ueberschritt zur eigentlichen Metaphysik. „Ob nun
zwar das Uebersinnliche , worauf doch der Endzweck der Vernunft in der
Metaphysik gerichtet ist, für die theoretische Erkenntniss eigentlich gar
keinen Boden hat, so wanderten die Metaphysiker doch an dem Leitfaden
ihrer ontologischen Principien, die freilich wohl eines Ursprungs a priori
sind, aber nur für Gegenstände der Erfahrung gelten [vgl. hierüber die Anm.
S. 83 f. zur Vorrede I] getrost fort" u. s. w. „Dieser Gang der Dogmatiker
vor noch älterer Zeit, als der des Plato und Aristoteles, selbst die eines
Leibniz und Wolf mit eingeschlossen, ist, wenngleich nicht der rechte, so
doch der natürlichste nach dem Zwecke der Vernunft und der scheinbaren
üeberredung, dass alles, was die Vernunft nach der Analogie ihres Ver-
fahrens, womit es ihr gelang, vornimmt, ihr ebensowohl gelingen müsse."
VgL hierüber Lange, Gesch. d. Mat. I, 7.: Erst allmälig gelang es der
Kritik, nachzuweisen, „warum eine anscheinend gleichartige Methode hier
sicheren Fortgang, dort blindes Herumtappen mit sich brachte. Hat doch
auch in den neueren Jahrhunderten (L. spricht von der griech. Philos.) nichts
so sehr dazu beigetragen, die Philos., die eben erst das scholastische Joch ab-
geschüttelt hatte, zu neuen metaphys. Abenteuern zu verleiten, als der
Bausch, den die staunenswerthen Fortschritte in der Mathem.
im XVIL Jahrh. hervorriefen." Vgl. ib. II, 23 von Leibniz' „mathe-
matischem Vorurtheil". Hiezu vgl. man Wolfs kurzen Unterricht von der
mathem. Methode (vor seinen „Anfangsgründen der mathem. Wissensch.")
sowie dessen Vorrede zu seiner deutschen Logik; und Fülleborns Aufsatz:
Zur Geschichte der mathem. Methode in der Deutschen Philosophie (Beiträge
zur Gesch. d. Philos. H, 5, 3). Vgl. A. Tabulski, Ueber den Einfluss der
Math, auf die geschichtl. Entw. der Philos. bis auf Kant. Leipzig 1868, bes.
S. 28 ff. Kanne ngiesser, Dogmat. u. Skepticism. Elberf. 1877, 21 ff. Bau-
Vaihlnger, Kant-Commentar. 16
242 Commentai' zur Einleitung A, 8. 2 - 6 = B^ Abschn. III.
A 4. B 8. [R 19. H 38. E 52.]
meist er, Phil, rat, % 35 ff.: „Patet methodi mcUhetnaticcte easdem esse leges,
quae sunt methodi phHosophicae^ , . . . „Phüosophus in tradendis veritcUibus
uti debet methodo mathematica^ . Die einzelnen Merkmale der Methoden sind
identisch: 1) Ausgehen von klar definirten Begriffen, 2) Ausgehen von
axiomatisch feststehenden Principien, 3) Yoranschicken der Principia, um
daraus die Principiata abzuleiten. Vgl. Hagen, De Methodo nuUhematica
75 ff. B. Spener, Cons, theol, lat. Pars I, EL, 1: „Mathesin stui certitudine et
demonstrationum ^ofpaXecqc omnibus aliis scientiis exemplum praebere, quod
quantum fieri potest imitentur". Die Mathematik gilt schon bei Pia ton als
Vorbild der Philosophie, besonders im „Theätet" und in der „Bepublik'';
und dieser Gedanke hat von da an in mannigfacher Weise verhängnissvoll
gewirkt. Wie in der neueren Philos. die Mathem. als Vorbild der Phil, galt,
hat bes. Baumann, die Lehren von Baum, Zeit und Mathematik 2 Bde.
Berlin 1868 dargestellt ; s. bes. über Cartesius I, 133 — 155; bei Spinoza,
I, 189-234, bei Hobbes I, 246-271, 289 ff. 321 ff.; Locke I, 441 ff.
bei Leibniz H, 99—133. 141 ff. 249 ff. — Die Zurückweisung des Vorbildes
der Mathematik seitens Kant für die Philosophie war jedoch nur eine theil-
weise und bezog sich nicht auf die apriorische Gewissheit und Methode
überhaupt, sondern nur auf deren Nachahmung im Einzelnen. Für K. bleibt
die Mathematik nichtsdestoweniger das Vorbild der Metaphysik, zunächst
der immanenten. Das zeigt nicht nur die wirkliche Ausfuhrung, insbesondere
die Analytik, sondern E. erklärt auch in der Vorr. zu den Met. Anf. d. Nat.
ausdrücklich, dass er in denselben die mathem. Methode nachgeahmt habe.
Und in der Vorr. zur U. Aufl. führt er ausdrücklich aus, dass er die Mathem.
nachahme (B. XVI). Und was die transscendente Metaphysik betrifft, so genügt
es auf S. 463 f. hinzuweisen, wo K. sagt: „Die eigentliche Würde der
Mathem. beruht darauf: dass, da sie der Vernunft Leitung gibt, die Natur . . .
weit über alle Erwartung der auf gemeine Erfahrung bauenden Philosophie
einzusehen, sie dadurch selbst zu dem über alle Erfahrung erwei-
terten Gebrauch der Vernunft Anlass und Aufmunterung gibt." Auch in
der Kr. d. Urth. Einl. III, Anm. folgt er in der Methode der Definition aus-
drücklich dem „Beispiel des Mathematikers". Die Mathem. bildet, wie
Fischer, Gesch. III, 303 ff., richtig ausfuhrt, für K. die Bichtschnur der
Kritik. Die Mathem. ist eine feststehende Wissenschaft, die Ontologie nicht.
Beide sollen erklärt werden. Findet sich nun, dass die Bedingungen der
Einen unmöglich mit den Ansprüchen der anderen zusammenbestehen können,
so kann man sicher voraussehen, welche von beiden Wissenschaften ihren
Process verliert. Die Alternative ist sofort zu Gunsten der Mathem. ent-
schieden. Das Verhältniss von Mathematik und Philosophie beschäftigte Ks.
Nachdenken von Anfang an; da es auch zugleich f actisch durch Leibniz und
Wolf die methodologische Hauptfrage für die Philosophie geworden war.
Eine Uebersicht über die Entwicklung der Kantischen Ansichten über dieses
Verhältniss siehe in der Anmerkung zur Methodenlehre 712 ff., wo auch
das Wichtigste aus der Geschichte der Philos. über dieses Verhältniss mit-
Haaptunterschied der Mathematik und Metaphysik. 243
[R 19. H 38. E 52.] A 4. B 8.
getheilt wird. — Besonders Herder, Metakritik II, 316 ff. u. ö. wirft K.
eine „üble Nachahmung mathem. Allgemeingültigkeiten*' vor. Vgl. bes.
Laas, Ks. Anal. 221 ff. Ideal u. Pos. I, 113 ff.
In der Anschannng darstellen. Dies gilt für die moderne Mathematik
nicht mehr, welche sowohl analytische als geometrische Begriffe behandelt,
die sich schlechterdings in keiner Anschauung mehr vorstellen lassen. Vgl.
Prol. Or. 198. K. 136: Die Metaphysiker berufen sich gerne auf die unmittel-
bar gewissen Axiome der Mathematik: ,z. B. dass zweimal zwei vier aus-
mache, dass zwischen zwei Punkten nur eine gerade Linie sei u. a. m. Das
sind aber Urtheile, die von denen der Metaphysik himmelweit unterschieden
sind. Denn in der Mathematik kann ich alles das durch mein Denken selbst
machen (construiren) , was ich mir durch einen Begriff als möglich vorstelle ;
ich thue zu einer Zwei die andere Zwei nach und nach hinzu und mache
selbst die Zahl Vier, oder ziehe in Gedanken von einem Punkte zum anderen
allerlei Linien, und kann nur eine einzige ziehen, die sich in allen ihren
Theilen (gleichen sowohl, als ungleichen) ähnlich ist. Aber ich kann aus
dem Begriffe eines Dinges durch meine ganze Denkkraft nicht den Begriff
von etwas Anderem, dessen Dasein noth wendig mit dem ersteren verknüpft
ist, herausbringen, sondern muss die Erfahrung zu Bathe ziehen, und ob-
gleich mir mein Verstand a priori (doch immer nur in Beziehung auf mög-
liche Erfahrung) den Begriff von einer solchen Verknüpfung (der Causalität)
an die Hand gibt, so kann ich ihn doch nicht, wie die Begriffe der Mathe-
matik a priori, in der Anschauung darstellen und also seine Möglich-
keit a priori darlegen, sondern dieser Begriff, sammt den Grundsätzen
seiner Anwendung, bedarf immer, wenn er a priori gültig sein soll, — wie
es doch in der Metaphysik verlangt wird, — eine Rechtfertigung und De-
duction seiner Möglichkeit, weil man sonst nicht weiss, wie weit er gültig
sei, und ob er nur in der Erfahrung oder auch ausser ihr gebraucht werden
könne". Hierauf beruht somit der Hauptunterschied der Mathematik und
Metaphysik. Vgl. Krit. S. 712 ff., wo das Thema weiter ausgeführt wird,
dajss die philos. Erkenntniss die Vernunfterkenntniss aus Begriffen, die ma-
thematische die aus der anschaulich-apriorischen Construction der Begriffe sei.
»Was die Grundidee der Metaph. verdunkelte, war, dass sie als Erkenntniss
a priori mit der Mathem. eine gewisse Gleichartigkeit zeigt, die zwar, was
den Ursprung a priori betrifft, sie einander verwandt macht, was aber die
Erkenntnissart aus Begriffen bei jener, in Vergleichung mit der Art,
bloss durch Construction der Begriffe a priori zu urtheilen, bei dieser,,
mithin den Unterschied einer philos. Erkenntniss von der mathem. anlangt,
so zeigt sich eine so entschiedene Ungleichartigkeit, die man zwar jederzeit
gleichsam fühlte, niemals aber auf deutliche Kriterien bringen konnte.*
844 f. Weil die Leibniz'sche Philosophie keinen Unterschied zwischen Sinn-
lichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff gemacht hatte, musste auch
die Mathematik als philosophische Erkenntniss gelten. Baumgarten sagt
(Loffica § 476): „Omnis cognitio a priori est cognitio philo sophica.*^ —
244 Commentar zur Einleitung A, S. 2—6 = B, Abschn. IIL
A 5. B 8. 9. [B 20. H 38. E 52.]
Vgl. über diese Stelle Kr it. Briefe S. 20 ff. bes. über den Ausdruck „in
der Anschauung darstellen" und dag. Born, Phil. Mag. II, 368 ff.
Die leichte Taube u. s. w. Diese Stelle spielt, zusammen mit der fol-
genden Erwähnung Piatons, offenbar an auf Phädon, 109 E, wo Piaton
(vgl. Schleiermachers Uebersetzung II, 3, 110) ausführt, die Menschen
verhalten sich wie ein Meerbewohner, der das Meer für den Himmel halte,
niemals aber an den Saum des Meeres gekommen sei, noch über das Meer
aufgetaucht, um diesen Ort zu schauen, wie viel reiner und schöner er ist
als bei ihm. So ergienge es auch uns Menschen. Wir nennen die Luft
Himmel und vermögen aus Trägheit und Schwachheit nicht hervorzukommen,
bis an den äussersten Saum der Luft. „Denn wenn jemand an die Grenze
der Luft käme oder mit Flügeln hin auffliegen könnte (^ ÄT-f|v6? «c^vo-
jj.evo<; ivaTCTolxo) ... SO würde er erkennen, dass jenes der wahre Himmel ist
und das wahre Licht* u. s. f. ^ Hauptm. 59 wird das Bild vermischt mit
der Taube Noahs, die nirgends in den stürmischen Gegenden der ünge-
wissheit Raum findet, wo sie Fuss fassen soll. Dieselbe Vermischung bei
Ehrenhaus, Neuere Philos. 73, 77: Die Taube „Vernunft" entfliege der
bedächtigen Hand Kants und suche ihre Füsse niederzuset<zen auf der Arche
des ewigen Gottes; aber K. schliesse sie wieder in den Käfig der Endlich-
keit ein.
Anf den Flfigeln der Ideen. Lieblingsbild Kants. S. 591: „Ich werde
darthun, dass die Vernunft . . . vergeblich ihre Flügel ausspanne, um über
die Sinnenwelt durch die blosse Macht der Speculation hinauszukommen.**
638: „Man soll sich wenigstens darüber rechtfertigen, wie und vermittelst
welcher Erleuchtung man sich denn getraue, alle mögliche Erfahrung durch
die Macht blosser Ideen zu überfliegen." Daher ist die Kritik der reinen
Vernunft S. 850 „die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Ver-
nunft" und „überzeugt", dass die eigentliche Bestimmung der Vernunft
nicht sei, „die Grenze der Erfahrung zu überfliegen". 703: Die Grund-
sätze, welche die von der Kritik gezogenen Grenzen „überfliegen" wollen,
heissen transscendente , 295, daher von K. direct mit „überfliegend" über-
^ Ueber diese „cl assische Stelle" vgl. Stein, Geschichte des Piatonis-
mus III, 278. 281. 283. Stein nimmt Piaton energisch gegen Kants Vorwürfe in
Schutz und meint im Gcgentheil, hier habe jede historische und philosophische
Kritik der Kantischen Philosophie einzusetzen. Nicht wegen der Schwierigkeiten,
die die Sinnenwelt dem Verstände bereitet, habe Piaton eine jenseits liegende
Ideenwelt postulirt, sondern weil er überzeugt war, dass die Relativität der ein-
zelnen Dinge nicht existiren könne ohne Ideales. An einem „Widerhalte" fehle
es also Piaton nicht. Ausserdem habe sich Piaton das Verhältniss der Sinnen-
und Ideenwelt nicht so dualistisch gedacht, wie es hier erscheine. Piaton gleiche
nicht jener Taube Kants, sondern einem Manne, der den Grund seines Hauses
tiefer legt, als die gewöhnlichen Bauleute, üebrigens stehe Kant dem Platonismus
näher, als es hiernach erscheine. Vgl. oben S. (j9 Anm. über da« Verhältniss Ks.
zu Piaton. Näheres zur Dialektik S. 313 ff.
Das Bild der Taube. Die Flügel der Ideen. 245
[R 20. H 38. E 52.] A 6. B 9.
setzt (Vorn. Ton. Einl.). „Transcendent* werden die Physicotheologen ; „nachdem
sie eine gute Strecke auf dem Boden der Natur und Erfahrung fortgegangen
sind, . . . verlassen sie plötzlich diesen Boden und gehen ins Reich blosser
Möglichkeiten über, wo sie auf den Flügeln blosser Ideen demjenigen
nahe zu kommen hoffen, was sich aller ihrer empirischen Nachsuchung ent-
zogen hatte''. 630. Dieses Ueberfliegen seitens der Vernunft ist „ein Hang
ihrer Natur, sich vermittelst blosser Ideen zu den äussersten Grenzen aller
Erkenntniss hinaus zu wagen und . . . Ruhe zu finden". 797. Dieses Hinaus-
fliegen wird auch 828 als „her Umschweifen" bezeichnet, als „über-
steigen" 313. 318. („Geistesschwung Piatons"; „hinaufsteigen") 320. 327.
420. (überschreiten) 684. Kr. d. pr. V. 189. Es bedarf eines mächtigen Sprungs
dazu (630) über die Grenze der Erfahrung hinaus (637). In diesen Höhen
wird es der Vern. „schwindlicht" 689. Die Krit. d. r. V. „beschneidet dem
Dogmatismus gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntniss übersinnlicher
Gegenstände". (Was heisst sich im Denken orientiren? Schluss.) Ebenso am
Anfang der „Bemerkungen zu Jakobs Prüfung" u. s. w. ' Ewig. Fried.
2. Abschn. J. Zus.: Mit dem Begriffe „Vorsehung setzt man sich ver-
messener Weise Ikarische Flügel' an, um dem Geheimniss ihrer uner-
gründl. Absicht näher zukommen". Grundleg. K. 93: „Damit die Vernunft
nicht kraftlos . . . ihre Flügel schwinge, ohne von der Stelle zu kommen,
und sich unter Himgespinnsten verliere". Recens. Herders K. 34: Die
menschl. Vernunft mag nun am physiologischen Leitfaden tappen, oder
am metaphysischen fliegen wollen. Recens. Herders K. 35 gegen die
, durch Gefühle beflügelte Einbildungskraft". In dem „muthmassl. Anf.
der Menschh." wagt K. selbst „eine Lustreise auf den Flügeln der Ein-
bildungskraft, obgleich nicht ohne einen durch Vernunft an Erfahrung ge-
knüpften Leitfaden". „Was heisst sich im Denken orientiren? Schluss:
„Das Genie gefällt sich sehr in seinem kühnen Schwünge, da es den
Faden, woran es sonst die Vernunft lenkte, abgestreift hat." Philo s.
Relig. 77: „wiefern sich die menschl. Vernunft anmasst, über die Grenzen
aller mögl. Erf. hinaus ihren Flug fortzusetzen, so geräth sie in lauter
* Daher klagt auch der Platoiiiker Schlosser, wie K. selbst anführt (Naher
Absohluss 2. Abschn. Einl.)i sehr hierüber und bejammert es sehr, „dass allen
Ahnungen. Ausblicken aufs Uebersinnliche . jedem Genius der Dichtkunst die
Flügel abgeschnitten werden sollen". Aehnlich sagt Baggesen, Kachl. I, 104:
K. schnitt eich die Flügel^ die er bis dahin nur liattQ hängen lassen^ als gefähr-
liche und schädliche Glieder ab; andererseits urtheilt aber B. ähnlich wie unten
Berg: K. habe oft seine Flügel „in sechsfacher seraphischer Breite ausgespannt^
denen nichts zum Fluge fehlte" (ib. 102. 103. 105.)
'^ Aehnlich Lambert, Mem. Ac. Berl. 1763, 480: „U esthien tyrai quepour y
|znm üebersinnlichen] parvenir, on faU souvent un vol d*Icare qui se termine par
une ehalte fatal&*, Herbart, W. W. III, 119 nennt den intuitiven Verstand (die
intellectuelle Anschauung) bei Kant, Fichte u. s. w. „wächserne Flügel des
Ikarus«. Vgl. Jacobi, W. W. U, 21, dag. Schopenhauer, W. a. W. I, 501.
246 Commentar zur Einleitang A^ S. 2 — 6 = B^ Abschn. III.
A 5. B 9. [R 20. H 38. E 52.]
Wirbel und Meerstrudel, die sie in einen bodenlosen Abgrund stürzen, wo
sie ganz verschlungen wird." Schon im Jahre 1766 sagt K. in den Träumen
eines Geistersehers II, 2. Abschn. Schluss: ,, Vorher wandelten wir im leeren
Raum, wohin uns die Schmetterlings flügel * der Metaphysik gehoben
hatten, und unterhielten uns daselbst mit geistigen Gestalten. Jetzt da die
stiptische Kraft der Selbster kenntniss die seidenen Schwingen zu-
sammengezogen hat, sehen wir uns wieder auf dem niedrigen Boden der
Erfahrung und des gemeinen Verstandes; glücklich wenn wir denselben als
unseren angewiesenen Platz betrachten, aus welchem wir niemals ungestraft
hinausgehen, und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, so lange
wir uns am Nützlichen halten." Ibidem II, 2 Hpt. spricht er von dem
Abenteuer, das auf dem Luftschiff der Metaphysik gewagt wird und nach
dessen Beendigung er mit Diogenes ruft: „Courage, meine Herren, ich
sehe Land." Und eben daselbst heissts am Schluss: „Es war auch die
menschl. Vernunft nicht genugsam dazu beflügelt, dass sie so hohe
Wolken theilen sollte* u. s. w. Das Bild findet sich schon bei Bacon,
welcher sagte: „hominum inteUectui non alae addendae, sed plumbum potUis
et pondera,^ — Auf dieses Lieblingsbild Ks., in dem er die Falschheit der
bisherigen Metaphysik und seine eigene Leistung charakterisirt, bezieht sich
Bild und Inschrift der im Jahre 1804 nach dem Tode Kants von Abram-
son gefertigten Medaille. Auf der Vorderseite befindet sich Kants Bildniss
(nach Hagemanns Büste) mit der Umschrift:
Imanuel Kant. Nat. MDCCXXIV.
„Auf der Eückseite sieht man Minerva, die Göttin der Weisheit, kennbar
durch Helm und Aegide, auf einem Kubus sitzen, auf welchem sie sich zu-
gleich mit der linken Hand stützet, — das Bild der unerschütterlichen Festig-
keit. Mit der Rechten hingegen hemmt sie den Flug der Nachteule, Bild
des regen Triebes des Forschens, die sich zu hohen Regionen emporschwingen
will, welches eben den Hauptlehrsatz dieses Philosophen ausspricht. Noch
deutlicher wird dieses durch die vortreffliche Umschrift des Oberconsistorial-
raths Zöllner« *:
* Ueber dieses Sinnbild vgl. Schiller an Körner (11, 30); „Wir drücken
die Freiheit der Phantasie aus, indem wir ihr Flügel geben, wir lassen die Psyche
mit Schmetterlingsflügeln sich über das Irdische erheben, wenn wir ihre Freiheit
von den Fesseln des Stoffs bezeichnen wollen." Vgl. Fichte, W. W. U, 309.
• Zöllner selbst sagt ähnlich im Intell.-ßl. der Hall. Allg. Lit. Ztg. 1804.
Nr. 99 : „Die emporstrebende Nachteule ist das Sinnbild der übermüthigen, über
ihre Sphäre hin ausschweifenden Speculation \ Minerva das Sinnbild der Kantischen
Philosophie, welche jene auf die Grenzen des ihr zukommenden Gebietes zurück-
wies." Eine Abbildung der Medaille s. bei Schubert, Leben Kants zu S. 210.
Vgl. oben Specielle Einleitung S. 41. Es ist sonach gar nicht im Sinne Kant«,
wenn Schaarschmidt, Phil. Mon. XIV, 2 die Philos. mit einem Adler ver-
gleicht^ mit Berufung auf Kant und den Spruch: „Nee söli cedit".
Der leere Haam des reinen Verstandes. 247
[B 20. H 38. E 52.] A 5. B 9.
Altius volantetn arcuit.
(„Ihren zu hohen Flug hemmt sie.**)
Reicke, Kantiana 55. 25. Es ist sehr charakteristisch für Kant, dass er auch
hier wie so häufig seine eigene Methode als das Mittel zwischen zwei Ex-
tremen darstellt. Der Empiriker tappt, der Metaphysiker fliegt: siehe
oben die Stelle: tappen am physiologischen Leitfaden, fliegen am meta-
physischen. Vgl. Teleolog. Principien. Einl.: Durch blosses empirisches
Herum tappen, ohne ein leitendes Princip, kann nichts Zweckmässiges ge-
funden werden. Eben dasselbe tadelt er auch „lieber Philosophie überhaupt*
(K. 150); das Herumtappen unter Naturformen ist nur empirisch, führt nur
zu zufälligen Gesetzen, es bedarf eines transscendentalen Princips. Der po-
pulären Philosophie wird das „Tappen vermittelst der Beispiele" vorgeworfen.
(Grundl. z. M. d. S. K. 33.) Gegen „das Herumtappen in Versuchen
und Erfahrungen'' s. den Aufsatz über Theorie und Praxis 1793Anf. Der
Gegensatz zwischen dem „kühnen Schwung* und dem Wandeln „auf dem
natürlichen Fusssteig* findet sich schon 1765 in der Ankündigung seiner
Vorlesungen. Richtig urtheilt Berg, Epikritik 103: „Bei aller Einschränkung,
welcher sich die K.'sche Philos. in objectiver Hinsicht unterwirft, ist ihr
Flug in subjectiver Hinsicht äusserst kühn.* Als Beispiel einer unglaublich
oberflächlichen Lecture mag hier angeführt werden, dass B. St. Hilaire
(Ueber Metaphysik, üebers. S. 95) aus dieser Stelle herausfindet. K. führe
Piaton als Vorläufer seiner Revolution an und nenne „als Gewährsmann
Piaton" nämlich für die Methode des reinen, rationellen Denkens, welche K.
einfuhren wolle!! — üeber das „Tappen* vgl. auch Fichte, Nachl. I, 150.
m, 354.
Der leere Baam des reinen Terstandes. Die Vernunft soll nicht „die
Grenze der Natur überfliegen, ausserhalb welcher für uns nichts als leerer
Raum ist*. 703. Durch die bisherige, insbesondere Hume'sche Kritik wird
„der eigenthümliche Schwung der Vernunft nicht im mindesten gestört,
sondern nur gehindert, und der Raum zu ihrer Ausbreitung nicht ver-
schlossen*, 768. Die transscendentalen Ideen führen gleichsam bis zur Be-
rührung des vollen Raumes (der Erfahrung) mit dem leeren, (wovon wir
nichts wissen können, den Noumenis); Prol. § 57. Ebenso ib. § 59: „Das
Feld der reinen Verstandeswesen ist für uns ein leerer Raum, sofern es auf
die Bestimmung der Natur dieser Verstandeswesen ankommt, und sofern
können wir . . . nicht über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen.*
Vgl. Krit. 255 : „Der Umfang ausser der Sphäre der Erscheinungen ist (für
uns) leer*. 260: „Der probl. Gedanke intell. Gegenstände dient nur wie ein
leerer Raum, die empirischen Grundsätze einzuschränken, ohne doch irgend
ein anderes Object der Erk. ausser der Sphäre der letzteren in sich zu ent-
halten.* 288: Jene Vorstellung (des Noumenon) „dient zu nichts, als einen
Raum übrig zu lassen, den wir weder durch Erfahrung noch durch den r.
Verstand ausfüllen können*. Auf diesem Bilde beruht (Prol. § 59) das für die
i_
248 Commentar zur Einleitung A^ S. 2—6 = B, Abechn. III.
A 5. B 9. [E 20. H 38. 39. E 52. 53.]
Kritik fundamentale „Sinnbild der Grenze*. „Da eine Grenze selbst
etwas Positives ist, welches sowohl zu dem gehört, was innerhalb derselben,
als zum Baume, der ausser einem gegebenen Inbegriff liegt, so ist es doch
eine wirkliche positive Erkenntniss, deren die Vernunft bloss dadurch theil-
haftig wird, dass sie sich bis zu dieser Grenze erweitert, so doch, dass
sie nicht über diese Grenze hinauszugehen versucht, weil sie daselbst
einen leeren Raum vor sich findet, in welchem sie zwar Formen zu
Dingen, aber keine Dinge selbst denken kann." Grundl. K. 93: „Der für
die Vernunft leere Baum transscendenter Begriffe unter dem Namen
einer intelligibeln Welt." Freilich ist wohl zu bemerken, dass dieser leere
Baum für die praktische Philosophie eine höchst positive Bedeutung
erhält; denn „praktische Principien könnten, ohne einen solchen Baum [das
Feld der Gegenstände für den reinen Verstand, die keine Sinnlichkeit er-
reichen kann] für ihre nothwendige Erwartung und Hoffiiung vor sich zu
finden, sich nicht zu der Allgemeinheit ausbreiten, deren die Vernunft in
moralischer Absicht unumgänglich bedarf". Prol. § 60: „Die transscendentalen
Ideen [Gott, Freiheit, Ünsterbl.] verschaffen daher den moralischen Ideen
ausser dem Felde der Speculation Baum" und „heben die frechen und das
Feld der Vernunft verengenden Behauptungen des Materialismus, Naturalismus
und Fatalismus auf". Krit. Vorr. B. XXX : „Ich musste das Wissen aufheben,
um zum Glauben Platz zu bekommen." Vgl. Kr. 286—288. Eine weitere
Ausführung am Anfang des Aufsatzes: Was heisst sich im Denken
Orientiren? Die Vernunft soll sich logisch orientiren, „wenn sie von den
bekannten Gegenständen der Erfahrung ausgehend sich über alle Grenzen
der Erfahrung erweitern will, und ganz und gar kein Object der Anschauung,
sondern bloss Baum für dieselbe findet"; dann ist nur noch subjective Orien-
tirung, nicht nach objectiven festen Punkten möglich. In „dem unermess-
lichen, und für uns mit dicker Nacht erfüllten Baume des üeber-
sinnlichen muss sich die Vernunft lediglich durch ihr eigenes Bedürfniss
Orientiren". Den „leeren Baum des r. Verst." nennen die Krit. Briefe
22 ein Bild, „das mehr Schatten als Licht hat". Dasselbe Bild findet sich
in Spencers „First Principles^. Vgl. hiezu Schillers Sinngedicht: Der
G e n i US.
Der Genius.
Wiederholen zwar kann der Verstands was da schon gewesen.
Was die Natur gebaut, bauet er wählend ihr nach.
üeber Natur hinaus baut die Yemnnft^ doch nur in das Leere,
Du nur, Genius, mehrst in der Natur die Natur.
Was uns aber während dem Bauen u. s. w. Cohen 193: „Wie kommt
es denn aber, dass die vorkritische Vernunft nicht merkt, wie sie gar nicht
von der Stelle rückt, wie sie im leeren Baume des reinen Verstandes immer
nur bei den selbsteigenen Begriffen hangen bleibt, .und die Aussicht sich
nicht erweitern kaim? — Diese Frage ist es, welche zu dem Unterschiede
Die analytische Zergliederung der Begriffe. 249
[B 20. H 39. E 53.] A 5. 6. 6 9. 10.
zwischen analytischen und synthetischen ürtheilen führt, und ihre Lösung
leitet diese Unterscheidung ein."
Die Begriffe, die wir schon ron Gegenständen liaben. Heynig, Herausf.
222 ff. fragt, was das für Begriffe sein sollen. Reine Begriffe? Diese
gelten ja nicht von diesen oder jenen empirischen Objecten, sondern nur
vom Object überhaupt, und davon sei ja erst später die Rede. Also em-
pirische Begri f f e? Aber diese geben ja doch keine „ wirkliche Erkenntniss
a priori*! Das sei Taschenspielerei; die Erk. a priori erscheine hier plötz-
lich als Gespenst. Aus empirischen Begriffen könne doch keine wahre
apriorische Erkenntniss entstehen; bei ihnen sei alles „zum Greifen a pos-
teriori" u. s. w. Natürlich meint K. „Begriffe, die wir uns a priori von
Dingen machen", vgl. B. 18. Bemerkens werth ist beidemal der Mangel
des Artikels: „von Gegenständen, von Dingen", d. h. offenbar von Dingen
überhaupt, nicht von den einzelnen Dingen. Dass erst in der Analytik
diese Begriffe abgehandelt werden, ist kein Einwand. Auch die alte Leibniz-
Wolfsche Metaphysik hatte neben den apriorischen Specialbegriffen z. B. dem
Ich noch apriorische Allgemeinbegriffe z.B. Substanz. Dieselbe legte jedoch
theilweise auf die Apriorität dieser Begriffe weniger Werth, als auf die
der darauf bezüglichen Urtheile. Die analytische Zergliederung war die
besonders von Leibniz empfohlene Methode. Man wollte die Existenz Gottes
aus dem Begriffe des vollkommensten Wesens, die Unsterblichkeit der Seele
aus dem Begriffe von einer einfachen Substanz, die Zufälligkeit oder ^ofb-
wendigkeit der Welt aus dem Begriffe einer Welt überhaupt erweisen.
Noch auf verworrene Art. B. 17; Wir denken vieles „wirklich in
einem Begriff, obzwar nur dunkel", S. 7: „Die Theilbegriffe liegen in dem
Begriffe, obschon verwoiTen". Kant zieht jedoch den Terminus „undeutlich"
vor. S. hieiüber unten zu Aesth. S. 43. Nach B. 23 ist die analytische
Zergliederung bloss Mittel und „Veranstaltung" zum Zweck der Metaphysik.
K. wirft dem Dogmatismus im Folgenden vor, er habe die Natur der ana-
lytischen Urtheile verkannt, habe aus ihnen, die nur Mittel sind, nicht bloss
irrthümlich den Zweck und die eigentliche Methode der Erkenntniss gemacht,
sondern auch diese analytischen Urtheile mit wahrhaft synthetischen ver-
mischt und die letzteren als bloss analytische betrachtet. Die Analysis ist
nach 65 „das gewöhnliche Verfahren in philos. Untersuchungen", d. h.
„Begriffe, die sich darbieten, ihrem Inhalte nach zu zergliedern und zur
Deutlichkeit zu bringen". Vgl. das Schill er 'sehe Xenion:
Analytiker.
Ist denn die Wahrheit ein Zwiebel, von dem man die Häute nur abschält?
Was ilir hinein nicht gelegt, ziehet ihr nimmer heraus.
Vgl. auch das Gedicht: „Die Weltweisen" und Schillers Erklärung des-
selben im Briefwechsel mit Goethe Nr. 113. Vgl. Proleg. Or. 193 ff.
Sicherer und ntitElicher Fortgang. Allein reell sind diese Fortschritte
doch nicht. Denn „das ist eine harte Forderung, die allein die zahlreichen
250 Commentar zur Einleitung A, S. 2—6 = B, Abschn. III.
A 6. B 10. [R 20. H 39. E 53.]
vermeintlichen Eroberer in diesem Felde in Verlegenheit setzen muss, wenn
sie solche begreifen und beherzigen wollen". Fortschr. K. 162. R. I, 560.
Vgl. übrigens Ks. ürtheil am Schluss der Prol. Or. 221. K. 151: „Die ge-
meine Metaphysik schaffte dadurch doch schon Nutzen, dass sie die Elemen-
tarbegriffe des reinen Verstandes aufsuchte, um sie durch Zergliederung
deutlich und durch Erklärungen bestimmt zu machen. Dadurch ward sie
eine Kultur für die Vernunft, wohin diese sich auch nachher zu wenden
gut finden möchte; allein das war auch alles Gute, was sie that. Denn
dieses ihr Verdienst vernichtete sie dadurch wieder, dass sie durch waghalsige
Behauptungen den Eigendünkel, durch subtile Ausflüchte und Beschönigung
die Sophisterei, und durch die Leichtigkeit, über die schwersten Aufgaben
mit ein wenig Schulweisheit wegzukommen, die Seichtigkeit begünstigte,
welche desto verführerischer ist, je mehr sie einerseits etwas von der Sprache
der Wissenschaft, andererseits von der Popularität anzunehmen die Wahl
hat und dadurch Allen alles, in der That aber überall nichts ist.** Nach
Prol. Or. 194 ist „durch die Analysis nichts ausgerichtet, nichts geschafft
und gefordert worden, und die Wissenschaft ist nach so viel Gewühl und
Geräusch noch immer da, wo sie zu Aristoteles Zeiten war". Für dieses
„gemeine Verfahren" sind viele Fragen ganz unauflöslich, welche Ks. Ver-
fahren leicht löst. 205. Es fuhrt zu „elender Tautologie". 597.
Unter dieser Torspiegelnng^. Durch die Metaphysik werden „die Forscher
mit unhaltbaren Vorspiegelungen von Einsicht, wie so lange geschehen ist,
hingehalten". Fortschr. K. 175, ß. I, 573. Vgl. hierüber Dühring, Natürl.
Dial. 191 ff. Eine Reihe derartiger Erschleichungen d. h. Umwandlungen
analytischer Sätze in synthetische zählt die II. Aufl. bei den Paralogismen der
Psychologie auf, B 406 ff (der Sache nach auch schon A 348 ff). So macht
die dogm. Metaph. aus der analyt. Erkenntniss, dass das Ich ein logisch
einfaches Subject bezeichne, den synth. Satz, dass das denkende Ich eine ein-
fache und daher unvergängliche Substanz sei u. s. w. So macht die Meta-
physik aus der logischen Maxime, zu dem Bedingten das Unbedingte zu
suchen, den metaphysischen und synthetischen Grundsatz, dass das Unbedingte
gegeben sei (308 f). Eine weitere sehr lehrreiche Ausführung dieser Er sohl ei-
chungsmethode gibt K. in der Schrift gegen Eberhard. Eberhard will, wie
alle Metaphysiker in der Leibniz-Wolfschen Schule das nach Kant synthe-
tische Princip der Gaus alität (Jedes Ding, jede Begebenheit haben ihren zu-
reichenden Grund) durch eine Erschleichung einführen, indem er es erstens
als identisch ausgibt mit dem rein analytischen Princip des logischen
Grundes (Jeder Satz muss seinen Grund haben, muss gegründet sein), und
indem er zweitens dieses Princip seinerseits wieder nach dem Sat^ des Wider-
spruchs ableitet und somit eben als bloss analytisch durch Zergliederung erkenn-
bar darstellt. (Siehe Schrift gegen Eberhard, Entdeckung u. s. w. Ros. I, 409.
413. 451. 457. 458). Auf diese Weise will Eb. „den materiellen Grundsatz
der Causalität vermittelst des Satzes des Widerspruchs einschleichen lassen",
ib. 410. So treibt Eb. nach Kant ib. 407 mit dem Satze des Grundes sein
Verwechslang analytischer mit synthetischen Erkenntnissen. 251
[B 20. H 39. E 53.] A 6. B 10.
Spiel. „Man sollte denken, er trage einen metaphysischen Satz vor, der
etwas a priori von Dingen bestimme; und er ist ein bloss logischer, der
nichts weiter sagt als: damit ein ürtheil ein Satz sei, muss es nicht bloss
als möglich, sondern zugleich als gegründet vorgestellt werden ... Er
wollte eine logische Regel, die gänzlich analytisch ist und von aller Be-
schaffenheit der Dinge abstrahirt, für ein Naturprincip, um welches es
der Metaphysik allein zu thun ist, durchschlüpfen lassen." Vgl. Brief an
Reinhold vom 12. Mai 1789. „Es ist sehr gewöhnlich, dass die Taschen-
spieler der Metaphysik, ehe man sichs versieht, die Volte machen, und vom
log. Grunds, d. zur. Grundes zum transc. der Causalität überspringen
und den letzteren als im ersteren schon enthalten annehmen. ** Vgl. noch be-
sonders Brief v. 19. Mai 1789 an denselben (wo gegen Eberhard diese Ver-
wechslung ganz speciell nachgewiesen wird). Weitere beiehrsame Beispiele hier-
für gibt K. ebendaselbst 466 : „Endliche Dinge sind veränderlich.* „Das unend-
liche Wesen ist unveränderlich." Kant zeigt, dass diese ürtheile nur richtig
sind, wenn sie logisch, d. h. nicht von den Dingen, sondern von ihren
Begriffen verstanden werden, und alsdann sind sie ganz analytisch.
Diese Beispiele sind „genau besehen" analytisch; aber Eberh. möchte sie
„für synthetische Sätze durchschlüpfen lassen". „Es war ihm daran gelegen,
solche Prädicate für seine Ürtheile zu haben, die er als Attribute des Sub-
jects aus dessen blossem Begriffe beweisen konnte. Da dieses nun, wenn das
Prädicat synthetisch ist, gar nicht angeht, so musste er sich ein solches aus-
suchen, womit man schon in der Metaphysik gewöhnlich gespielt hat, indem
man es bald in logischer Beziehung auf den Begriff des Subjects, bald
in realer auf den Gegenstand betrachtete, und doch darin einerlei Be-
deutung zu finden glaubt, nämlich den Begriff des Veränderlichen und
Unveränderlichen, welches Prädicat, wenn man die Existenz des Subjects des-
selben in die Zeit setzt, allerdings ein Attribut desselben und ein synthetisches
Urtheil gibt, aber alsdann auch sinnliche Anschauung und das Ding selber,
obwohl nur als Phänomen voraussetzt, welches aber zur Bedingung syn-
thetischer Ürtheile anzunehmen ihm gar nicht gelegen war. Anstatt nun das
Prädicat unveränderlich, als von Dingen in ihrer Existenz geltend zu
brauchen, bedient er sich desselben bei Begriffen von Dingen, und hier
ist es ein blos analytisches Prädicat aller Begriffe, möge diesen nun ein
realer Gegenstand correspondiren oder nicht." „Wenn man mit blossen Be-
griffen spielt, um deren objective Realität einem nichts zu thun ist, so
kann man viel dergleichen täuschende Erweiterungen der Wissenschaft
sehr leicht herausbringen, ohne Anschauung zu bedürfen, welches aber ganz
anders lautet, sobald man auf vermehrte Erkenntniss des Objects hinaus-
geht." Auf diese Weise „pflegt also die Metaphysik zu täuschen, indem
Bestimmungen, die auf das logische Wesen (des Begriffs) bezogen, eine
gewisse Bedeutung haben, nachher vom Realwesen (der Natur des Objects)
in ganz anderer Bedeutung gebraucht werden". Dieselbe Verwechslung von
Begriff und Sacbe wirft Kant auch Bau mg arten vor. Au derselben Stelle
252 Commentar zur Einleitung A, S. 2—6 = B, Abschn. III.
A 6. B 10. [R 20. H 39. E 53.]
(464) findet sich endlich noch folgende hierhergehörige Anmerkung. „Zu den
Sätzen, die bloss in die Logik gehören, aber sich durch die Zweideutigkeit '
ihres Ausdrucks für in die Metaphysik gehörige einschleichen, und so, ob-
gleich sie analytisch sind, für synthetisch gehalten werden, gehört auch
der Satz: die Wesen der Dinge sind unveränderlich, d. h. man kann
in dem, was wesentlich zu ihrem Begriffe gehört, nichts ändern, ohne
diesen Begriff selber zugleich mit aufzuheben. Dieser Satz, welcher in
Baumgartens Metaphysik § 132 und zwar im Hauptstück von dem Ver-
änderlichen und Unveränderlichen steht, wo (wie es auch recht ist) Ver-
änderung durch die Existenz der Bestimmungen eines Dinges nach einander
(ihre Succession), mithin durch die Folge derselben in der Zeit erklärt wird,
lautet so, als ob dadurch ein Gesetz der Natur, welches unseren Begriff
von den Gegenständen der Sinne . . . erweiterte, vorgetragen würde.
Allein dieser [scheinbar] metaphysische Sinnspruch ist ein armer iden-
tischer Satz, der mit dem Dasein der Dinge und ihren möglichen oder
unmöglichen Veränderungen gar nichts zu thun hat, sondern gänzlich zur
Logik gehört und etwas einschärft, was ohnedem keinem Menschen zu leugnen
einfallen kann, nämlich, dass, wenn ich den Begriff von einem und demselben
Object behalten will, ich nichts an ihm abändern d. h. das Gegentheil von
dem, was ich durch jene denke, nicht von ihm prädiciren muss." Daher
lassen sich durch Berufung auf diesen rein logischen, analytischen Satz nicht
Fragen entscheiden, welche die Natur betreffen und nur synthetisch zu lösen
sind. — Der Satz lautet bei Baumgarten : „Essentiae rerum, essentialia et at-
tributa . . . sunt absolute et interne immutahiles" Eine ausführliche und
scharfkritische Auseinandersetzung über diese Kantische Stelle s. Laas,
Analog. § 14, wo Bedenken dagegen ausgesprochen werden, dass Kant das
logische Axiom nicht auch onto logisch habe gewendet wissen wollen.
Apelt, Metaph. 58 umschreibt: „Wir bilden durch Zergliederung Ürtheile,
welche wenigstens der Form nach neues geben. An dieser ganz zuverlässigen
Einsicht aber begnügt man sich nicht. Unvorsichtig schiebt man diesen Be-
hauptungen andere unter, welche auch dem Inhalt nach Neues geben. So
schleichen sich unbemerkt synthetische Ürtheile unter die analytischen ein,
und man täuscht sich dann mit der Einbildung, aus diesen jene be-
wiesen zu haben." Vgl. Laas, Ks. Analog. 49: „Das Fundament des
Gedankenbaues war des Aristoteles ßeßatoTdtfj äpy-fj, das Frinc. Ident, In
dieser einen „Angel" hing die ganze Metaphysik. Selbst das Leibnizische
Frinc. rat. suff. hatte Baumgarten daran befestigt. Genau betrachtet waren
alle ürtheile, welche innere Berechtigung hatten, analytisch . . . alle synth.
Urth. aber waren unkritische Erschleichungen und Selbsttäuschungen.
Nun kam" u. s. w. Laas, Id. u. Pos. I, 135, 141. Aehnliche Stellen bei
Herbart, Einl. § 30 Anm., § 39 Anm. u. Metaph. § 71, § 128.
* Vgl. Metaph. 48: Der synth. Satz wird durch „den Doppelsinn des Wesens*
gewonnen. Vgl. Brief an Reinhold vom 12. Mai 1789.
Analytische und synthetische ürtheile. 253
[R 20. 21. H 39. E 53.] A 6. B 10.
Zu gegebenen BegiüTen a priori u. s. w. „A priori^ kann gram-
matisch zu , Begriffen** oder zu dem Verbnm „hinzuthun" gerechnet werden.
Nach dem logischen Zusammenhang ist das Letztere richtig, wie das auch
die Änderung der U. Aufl. bestätigt. Diese „Frage", welche sich der Dog-
matismus nicht „in Gedanken kommen lässt", wird nachher zu der Haupt-
frage: Wie sind synthetische Ürtheile a priori möglich? Das volle Ver-
ständniss fiir diesen ganzen Passus kann erst der folgende Abschnitt geben,
zu dem er eigentlich (nach Heynigs, Herausf. 216 richtiger Bemerkung) ge-
hört. Der Versuch v. Wangenheims, diese Schlusssätze, sowie die paral-
lele Stelle B 23 gegen Fries und dessen Auffassung auszubeuten, schlägt
Grapengiesser, Aufg. der Vernunftkr. 67 zurück. Jener verwechselt
analyt. Methode mit analyt. ürtheile n. — Ein unglaubliches Missverständ-
niss dieser Stelle findet sich bei Spicker, Kant u. s. w. S. 172 ff. Kant
habe hier die synth. Urth. a priori verworfen! Er habe hier als blosser
Analytiker gesprochen! Während doch K. nicht die synth. Urth. a priori
verwirft, sondern nur die bisherige Art ihrer Erwerbung durch Erschleichung
aus analytischen. Das ist eine gewissenlose Interpretation, welche
ein würdiges Gegenstück bildet zu Eberhards horriblem Missverständniss
Kants. (Vgl. Vaihinger, Eine Blattversetzung in Kants Prolegomena. Phil.
Mon. XV, 513—532.)
Erklärung von A, S. 6 -10 — B, Abschn. IV, S. 10- 14.
Unterschied analytischer nnd synthetischer
ürtheile.
Specialliteratur.
Schulze, K. L. Diss, exh. nonnulla ad doctrinam de judiciis analyticis
aiqae synthet spectantia, Frankfurt a. 0. 1793. — Cederschiöld, F.
Aph. phÜos. discrimen judic. Kantii anal, et synth. proponentes. Lund 1799. —
Positiones de judiciis synth. a priori. Anh. zur Theoria intellecttis von
Behr u. Schwaiger (Diss.) Wirzb. 1793. — Krull, Ks. Lehre vom syn-
thetischen Urtheil. Gosl. 1876.
In aUen Urtheilen. Proleg. § 2a: „ürtheile mögen einen Ursprung
haben, welchen sie wollen, oder auch ihrer logischen Form nach beschaffen
sein, wie sie wollen, so gibt es doch einen Unterschied derselben dem In-
halte nach, vermöge dessen sie entweder bloss erläuternd sind und zum
Inhalt der Erkenntniss nichts hinzuthun," oder erweiternd und die gegebene
Brkenntniss vergrössern.** Schultz, Prüf. I, 28: Bisher wurden die Ur-
254 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10^ = B, Abschn. IV.
A 6. B 10. [R 21. H 89. E 53.]
theile eingetheilt nach dem Gesichtspunkt: wie kommen wir zur Verbin-
dung des Prädicats mit dem Subject? Durch Empfindung oder a priori?
Jetzt dagegen nach dem Gesichtspunkt: welcher Art ist das Verhältniss
des Subjects zum Prädicat? Ist dieses in jenem schon enthalten oder nicht?
Riehl, Krit. I, 315 ff. fügt in seiner Wiedergabe oder vielmehr Bearbeitung
der Einleitung hier eine ausfuhrliche Erörterung des ürtheils im Anschluss
an Kants Einl. zur transc. Analytik (A, 69 ff.) ein. Allein diese Zugabe
erscheint malplacirt, da sie Begriffe voraussetzt, welche Kant erst später er-
örtert, wie z. B. objective Einheit des Bewusstseins. Es wird desshalb auch
hier von einer solchen Erörterung Umgang genommen.
Das Yerhältiiiss eines Snbjects sum Prädicat. Wie Tiedemann,
Theiltet. 235 richtig bemerkt, scheint es anfangs, als sollte „Prädicat" sich
nur auf Qualitäten des Subjects beziehen ; es wären die Sätze ausgeschlossen,
welche Verhältnisse ausdrücken, in denen mehrere Subjecte verglichen
werden. Da solche aber doch später eingeführt werden (z. B. 7 -h 5 — 12),
so ist hier die Definition des synth. Urth. so zu verstehen, dass auch die
Verhältnissurtheile mit eingeschlossen sind.
Auf die Yemeinenden ist die Anwendangr leicht. Trendelenburg,
Log. Unters. 2. Aufl. II, 241 : „Das vern. Urtheil wird vorwiegend als syn-
thetisch erscheinen; denn Begriffe, die ursprünglich nicht zusammengehören,
werden zusammengebracht, um sich gegen einander zu bestimmen und ab-
zusetzen, z. B. : Zwei Linien schliessen keinen Raum ein. Was dem Begriff
der zwei Linien fremd ist, das ist mit ihm in Verbindung gesetzt (syn-
thetisch)". Derselbe negative Satz ist nach Spir, Denken U.Wirklichkeit
II, 40 analytisch. Dass die Einth. in anal. u. synth. Urtheile sich auch auf
hypothetische, nicht blos auf categorische Urtheile erstreckt, fuhrt
Schultz, Prüf. I, 75 aus.
Entweder das Prädicat B u. s. w. I. K. erwähnt die identischen (ab-
solut-identischen) Urtheile* erst unten (B 16); sie sind aber hier zur Uebersicht-
lichkeit herbeizuziehen ; es sind solche, in welchen der Subjectbegriff einfach
wiederholt wird. Ihre hergebrachte Formel ist:
A = A.
IL Die von K. so genannten analytischen Urtheile kann man auch
relativ-identische nennen. Der beliebige Begriff A bestehe aus den ihn
constituirenden Theilbegriffen a, ß, y, S. In dem analytischen Urtheil wird nun
nicht A =A (a, ß, y> S) gesetzt, sondern es wird einer der Theilbegriffe (oder
alle nacheinander) herausgegriffen und von A prädicirt. Wir erhalten da-
durch also die Formeln: '
* Vgl. Schultz, Prüf. I, 30 über total- und partial identische Urtheile,
* Schütz gibt 1785 (A. L. Z. III, 48) als allgemeine Formeln an: für da«
analyt. Urtheil:
A + B H- C est C,
für das synth. Urtheil :
A est B.
Identische^ analytische und synthetische Urtheile. 255
[R 21. H 39. E. 53.] A 6. B 10.
A — a
A - ß
A- Y
A - 8
oder allgemein, wenn p. ein in dem Begriffe liegendes constituii*endes Merk-
mal bezeichnet:
A — \k.
Das A ist gar nicht denkbar, ohne dass diese Merkmale zugleich mitgedacht
werden. Ich denke diese Merkmale zwar nicht deutlich, aber ich denke
sie doch verworren mit, weil ich sonst mir unter dem A gar nichts dächte.
Ich würde einen Widerspruch begehen, wenn ich a, ß, . . . in A denken
und doch das nämliche a, ß, . . . dem A absprechen wollte (vgl. Metz
Darst. 25). Die Merkmale sind integrirende Bestandtheile des Begriffs.
Beim negativen analytischen ürtheil wird dem Subject A irgend ein
Merkmal p abgesprochen, weil es dem in dem Begriffe A liegenden Merkmal
non p widerspricht, z. B. Kein Körper ist einfach; einfach = p wider-
spricht dem Begriffe „nicht einfach* (ausgedehnt, zusammengesetzt) =
non p, der im Begriff Körper (A) enthalten ist. Vgl. die alte scholastische
Formel: Quod in suhjecto est implicite, in praedicato est explidte.
in. Bezeichnen wir endlich mit a, b, c, d solche Merkmale, welche erst
neu zu jenem Begriffe hinzugefügt werden, welche also nicht schon auf irgend
eine Weise (also als \l oder non p) in ihm „versteckt liegen** (Metz, Darst.
26 nennt sie „heterogene"), so erhalten wir dadurch die Formeln:
A — a
A — b
A - c
A - d
oder allgemein, wenn m ein nicht in dem Begriffe liegendes Merkmal, das
ihm aber doch hinzugefügt werden kann und muss, bezeichnet:
A — m.
Bei negativen synth. ürth. wird dem A ein Merkmal r abgesprochen, von
dem wir aus dem blossen Begriffe A nicht wissen können, dass es nicht mit
dem A verknüpft sein könne.
Beispiele«
I. (Absolut-) Identisches ürtheil:
Gold ist Gold.
Gott ist Gott.
Der Körper ist ein Körper.
Ein Kubus ist ein Würfel.
Alle vollständigen Definitionen sind auch identische Urtheile, wenn A —
(a 4- ß -h Y + ^) gesetzt wird.
256 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A 6. B 10. [R 21. H 39. E 53.]
n. Analytisches (relativ-identisches) Urtheil:
Gold ist gelb.
Ein Dreieck hat drei Seiten.
Ein Kreis ist rund.
Ein Thier ist ein lebendes Wesen.
Das Wasser ist flüssig.
Im Begriffe: „Gold" liegen etwa die Merkmale: gelb, hart, glänzend,
ausgedehnt. Jedes dieser Merkmale kann ich vom Golde aussagen, indem
ich nur das, was im Begriffe liegt, herausnehme und vom Begriffe prädicire.
Im Begriffe „Gott" liegen die (analytischen) Theilbegriffe : allmächtig, all-
wissend, übersinnlich, ewig.
Gott ist allmächtig
ist somit ein analytisches ürtheil. In dem Begriffe Körper liegen (nach
Kant) die Merkmale der Ausdehnung, der ündurchdringlichkeit, Gestalt u. s. w.
Der Körper ist ausgedehnt
oder: Alle Körper sind ausgedehnt,
ist somit ein analytisches Urtheil. ^ Beispiel eines negativen: Kein Körper
ist einfach'.
III. Synthetisches Urtheil:
Gold hat die specifische Schwere von 19,5; ist dehnbar u. s. w.
Gold wird insbesondere in Sibirien oder Australien u. s. w. gefunden.
Gott ist ein existirendes Wesen (Gott ist).
Alle (Prol. § 2 a „Einige") Körper sind schwer.
Die Luft ist elastisch.
Das Wasser besteht aus Sauerstoff und Wasserstoff.
Die Thiere sterben.
Die Winkel im Dreiecke sind = 2 R.
Der Kreis ist eine Ellipse, deren Brennpunkte unendlich nahe sind.
Alle Himmelskörper gravitiren (Lange).
Zwei gegebene Figuren sind durchgängig gleich, weiin sie sich decken.
Prol. § 12. Dag. nach G. Thiele, Wie sind die synthetischen Urtheile u. s. w.
S. 12 ist dieser Satz analyt. Diese Aussagen betreffen Merkmale, welche
* „Dass alle Körper ausgedehnt sind, ist nothwendig und ewig wahr, sie
selbst mögen nun existiren oder nicht, kurz oder lange, oder auch aUe Zeit hin-
durch, d. h. ewig existiren." K. Entdeckung R. I, 463.
^ Die Eintheilung in offenbare und versteckt analytische Urtheile bei
Forsch ke, Briefe 65, bezieht sich auf mehr oder weniger direkte Merkmale.
Denn ausser der Unterscheidung der identischen Urtheile in total und partial
identische traf man auch noch die Unterscheidung in unmittelbar und mittel-
bar analytische. Die letzteren sind solche, in denen Merkmale der Merkmale
dem Subjekt zugeschrieben werden; also z. B. die beiden Urtheile: Gold ist ein
Metall (das Metall ist ein Körper); Gold ist ein Körper. Vgl. Maass in Eber-
hards Phil. Mag. II, 197 u. A. L. Z. 1789, Is'r. 190, ö. 706.
Beispiele identischer, analytischer und synthetischer ürtheile. 257
[R 21. H 39. E 53.] A 6. B 10.
in den Begriffen „Gold", »Gott*', „Körper** u. s. w. nicht an und für sich
liegen, die ich also erst anderwärts herholen und mit jenen Begriffen ver-
binden muss. Der Begriff wird dadurch wirklich, so zu sagen, bereichert.
Hier wird ein neues, fremdes m zu A hinzugethan, bei den beiden ersten
Arten geschieht das nicht ; das einemal wird nur A wiederholt ; das andere-
mal wird ein schon vorhandenes ji deutlich und bewusst herausgestellt; aber
* etwas Neues liegt darin nicht.
Weitere Beispiele:
Analytisch: Prol. § 4 (eigentlich § 2 c) : Substanz ist dasjenige, was
nur als Subject existirt, dem die Eigenschaften inhäriren. Das Ganze ist
grösser als sein Theil (B. 17) = alle Theile sind grösser als Ein Theil. Noth-
wendige Wahrheiten sind ewig. Entd. R. I, 462.
Synthetisch: Die Substanz ist beharrlich.
Analytisch sind die Sätze:
Jede Wirkung hat eine Ursache. (Vgl. hiezu bes. B 290.)
Alles Bedingte setzt eine Bedingung voraus.
Synthetisch dagegen folgende:
Jede Begebenheit hat ihre Ursache.
Jedes Bedingte setzt ein Unbedingtes voraus.
Analytisch ist das logische Princip: Jeder Satz muss einen zu-
reichenden Grund haben ; dieses Princip beruht auf dem Satz vom Wid. ; und
ist eben nach demselben aus dem Begriffe eines Satzes herauszuziehen;
dag. synthetisch ist das materiale Princip: Jedes Geschehen setzt eine
zureichende Ursache voraus; oder: Ein jedes Ding muss seinen Grund haben.
(Entd. Ros. I, 409. 413. 451. 457. 458.) — Logik § 37 findet sich folgende
Unterscheidung: „Die Identität der Begriffe im analyt. Urth. kann entweder
eine ausdrückliche (explicüd) crder eine nichtausdrückliche (implicitq)
sein. Im ersteren Falle sind die analytischen Sätze tautologische. Tautol.
Sätze sind virtualiter leer oder folgeleer; denn sie sind ohne Nutzen und
Gebrauch. Dergleichen ist z. B. der Satz: Der Mensch ist Mensch;
denn wenn ich vom Menschen nichts weiter zu sagen weiss, als dass er ein
Mensch ist, so weiss ich gar weiter nichts von ihm. Implicite identische
Sätze sind daher nicht folge- oder fruchtleer, denn sie machen das Prädicat,
welches im Begriffe des Subjects unentwickelt (implicite) lag, durch Ent-
wckelung (explicatio) klar" ^ Manchmal nennt K. die analytischen Ür-
theile auch identische; so 594: „Wenn ich das Prädicat in einem iden-
tischen Ürtheile aufhebe und behalte das Subject, so entspringt ein Wider-
spruch, und daher sage ich; jenes kommt diesem noth wendiger Weise zu.*
' Als Propositiones identicae galten auch die Definitionen« Bau-
meister^ Institut. Phil. rat. § 222. Ganz und theilweise identische Sätze unter-
scheidet Baumgarten, Logica § 252.
Yathinge r, Eant-Oommentar. ]^7
t
258 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A 6. 7. BIO. 11. [B 21. 22. H 39. 40. E 63. 54.]
Entd. R. I, 464 nennt K. den Satz: Die Wesen der Dinge sind unverän-
derlich, zuerst einen analytischen, dann aber nennt er diesen , metaphysischen.
Sinnspruch ** einen „ armen identischen Satz ** . L a a s , Analog. 1 50 ff. Ebenso
Kr. d. pr. V. 49. 50. An anderen Stellen spricht er sich aber dagegen aus,
so Fortschr. K.* 167, ß. I, 565: „Wenn man solche [analyt.] ürtheile iden-
tische nennen wollte, so würde man nur Verwirrung anrichten, denn der-
gleichen ürtheile tragen nichts zur Deutlichkeit des Begriffes bei, wozu doch
alles ürtheilen abzwecken muss, und heissen daher leer: z. B. ein jeder
Körper ist ein körperliches (mit einem anderen Worte — materielles) Wesen.
Analyt. ürtheile gründen sich zwar auf der Identität, und können darin
aufgelöst werden, aber sie sind nicht identisch, denn sie bedürfen Zerglie-
derung, und dienen daher zur Erklärung des Begriffs; da hingegen durch
identische idem per idem, also gar nicht erklärt werden würde." Auch
Jäsche in der Vorr. zu Ks. Logik gebraucht statt analytisch „identisch*. —
Dass E X ist ential Sätze synthetisch seien, ist eine Hauptlehre Kants, s.
bes. 596 ff. Der Satz: Dieses oder jenes (mögliche) Ding existirt, ist nicht
analytisch. . Was jedoch hier zum Subjectsbegriff neu hinzukommt, ist nicht
bloss ein neues, denselben etwa inhaltlich vergrösserndes Prädicat, sondern
es ist die einfache Position des Dinges als existirend. Der Gegenstand
ist, wenn ich dessen Wirklichkeit aussage, nicht „bloss in meinem Begriffe
davon analytisch enthalten, sondern kommt zu meinem Begriffe, der eine
Bestimmung meines Zustandes ist, synthetisch hinzu " . , unser Begriff von
einem Gegenstande mag enthalten, was und wie viel er wolle, so müssen
wir doch aus ihm herausgehen, um diesem die Existenz zu ertheilen.^
(ib. 600.) „Wie der Verstand auch (639) zu einem solchen Begriffe gelangt
sein mag, so kann doch das Dasein des Gegenstandes desselben nicht ana-
lytisch in demselben gefunden werden, weil eben darin die Erkenntniss der
Existenz des Objects bestehe, dass dieses ausser dem Gedanken an sich
selbst gesetzt ist." Vgl. Kr. d. pr. V. 250.' dem Begriff im Verstände cor-
respondirt ein Gegenstand ausser dem Verstände — dies ist synthe-
tische Erkenntniss. Zur „Entdeckung neuer Gegenstände" kann man
somit ebensowenig durch Analyse gelangen, als zur Entdeckung neuer Prä-
dicate an schon bekannten Gegenständen; und ob durch irgend eine Syn-
these a priori, ist die Frage.
Enthalten ist. Inwiefern dieser Ausdruck Ks. dem damaligen Sprach-
gebrauch widerspricht, geht aus der Bemerkung in Jakobs Ann. HI, 190
hervor. „Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauph heisst ein Prädicat ,ent-
halten* in dem Begriff einer Gattung, wenn es allen darunter enthaltenen
Individuis mit strenger Allgemeinheit zukommt- Diesem Sprachgebrauch
zufolge ist das Prädicat, welches die Summe der Winkel eines Dreiecks be-
stimmt, in dem Begriff eines Dreiecks mit enthalten. Nach dem Kantischen
liegt eben dies Prädicat ausser dem Begriff eines Dreiecks." Kant hätte
diese Aenderung wenigstens anzeigen sollen.
Analytisch nnd synthetisch« Den unterschied analytischer und synthe-
Definition der analytischen und synthetischen ürtheile. 259
[R 21. 22. H 39. 40. K 53. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
tischer ürtheile hat K. sehr oft hervorgehoben. Wir stellen die einzelnen
Merkmale und Charakteristiken zusammen:
Analytisch (Text I. Aufl.): Das Prädicat B ist versteckt in dem
Begriffe A enthalten. — Die Verknüpfung des Prädicats mit dem Subject
wird durch Identität gedacht. — Es ist blosse Erläuterung, Verständlich-
machung oder Aufklärung. — Es wird durch das Prädicat nichts zum Be-
griff des Subjects hinzugethan, sondern dieser nur durch Zergliederung in
seine Theilbegriffe zerfällt, die in selbigem schon (obschon verworren) gedacht
waren. — Der Materie nach werden nur die Begriffe, die wir schon haben,
auseinandergesetzt, wenn auch der Form nach neue Einsichten zu entstehen
scheinen. — Ich brauche aus dem Begriffe nicht hinauszugehen, um das
Prädicat zu finden, ich brauche mir nur des schon darin gedachten Mannig-
faltigen bewusst zu werden. — (Text. II. Aufl.): Ich habe kein Zeugniss
der Erfahrung dazu nöthig. — Ich brauche das (eingeschlossene) Prädicat
nur nach dem Satze des Widerspruchs herauszuziehen, denn Ein Begriff ist
in dem Anderen enthalten. — Ich werde dadurch der Nothwendigkeit des
Urtheils bewusst. — Krit. 154: „Im anal. Ürtheile bleibe ich bei dem ge-
gebenen Begriffe, um etwas von ihm auszumachen. Soll es bejahend sein,
so lege ich diesem Begriffe nur dasjenige bei, was in ihm schon gedacht war;
soll es verneinend sein, so schliesse ich nur das .Gegentheil desselben von
ihm aus.* Cfr. 736: „Was ich in dem Begriffe wirklich denke, ist nichts
weiter als die blosse Definition." 718. Prol. § 2 a: Der Prädicatbegriff
■war schon vor dem ürtheile in dem Subjectbegriff obgleich nicht ausdrück-
lich gesagt, dennoch wirklich gedacht. — Analyt. Urth. „bringen den Ver-
stand nicht weiter". 258. Da der Verstand bei solchen Urtheilen nur mit
dem beschäftigt ist, was in dem Begriffe selbst als solchem liegt, so fragt
er nicht nach dessen objectiver Gültigkeit. Daher kann man wahre
analytische ürtheile von blossen Hirngespinnsten fällen, also von Begriffen,
welche unreal sind: z.B. Pegasus ist ein geflügeltes Ross. Das analytische
Urtheil vergleicht Heusinger, Enc. I, 272 nicht übel mit dem Umsetzen
eines Goldstückes in Scheidemünze. Besser sagt Pistorius, A. D. B. 105,
28: Das Erklären leistet dem Verstände ohngefähr die Dienste, die dem
Auge eiQ Vergrösserungsglas leistet. K. selbst sagt mit einem anderen Bild
(Logik, Einl. VEH): „So wie durch die blosse Illumination einer Karte zu
ihr selbst nichts weiter hinzukommt, so wird auch durch die blosse Auf-
hellung eines gegebenen Begriffs vermittelst der Analysis seiner Merkmale
dieser Begriff selbst nicht im Mindesten vermehrt." Nach Lange, Mat.
II, 11 dienen die an. Urth. „zur Vermittlung, Aufklärung und Vermeidung
von Irrthümem".
Synthetisch (Text I. Aufl.) : Das Prädicat B liegt ganz ausser dem
Begriffe A, ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht. — Die Ver-
bindung beider Begriffe wird ohne Identität gedacht. — Es ist eine Erwei-
terung. — Es wird zu dem Begriffe des Subjects ein Prädicat hinzugethan,
welches in jenem gar nicht gedacht war und durch keine Zergliederung
260 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A 6.7. BIO. 11. [R 21. 22. H 39. 40. E 53. 54.]
-desselben hätte können herausgezogen werden. Es werden zu gegebenen
Begriffen ganz fremde hinzugethan. — Ich muss aus dem Begriffe hinaus-
gehen, um das Prädicat mit ihm verknüpft zu finden. — Das Prädicat ist
etwas ganz anderes, als was ich im Subjectbegriff überhaupt denke. — Ich
muss ausser dem Begriffe des Subjects noch etwas anderes haben, worauf
, sich der Verstand stützt, um ein Prädicat, das in jenem Begriffe nicht liegt,
doch als dazu gehörig zu erkennen. — Der Prädicatsbegriff ist etwas ganz
verschiedenes und in dem Subjectsbegriflf gar nicht mit enthalten. Es wird
ausser dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädicat aufgefunden, das
gleichwohl mit dem ersteren verknüpft ist *. 154 f.: „Im synth. ürth. soll
ich aus dem gegebenen Begriff hinausgehen, um etwas ganz Anderes, als in
ihm gedacht war, mit demselben in Verhältniss zu betrachten, welches daher
niemals, weder ein Verhältniss der Identität, noch des Widerspruchs ist, und
wobei dem Urtheile an ihm selbst weder die Wahrheit noch der Irrthum
angesehen werden kann." Vgl. 718. 764. (Im synth. Urth. handelt es sich
um „Eigenschaften, die in dem Begriffe nicht liegen, aber doch zu ihm ge-
hören".) Dass es sich beim synth. Urth. um etwas Neues handle, s. 48.
A 850. Desshalb bietet das synth. Urtheil auch unerschöpflichen Zuwachs,
während die analytischen urtheile über einen Subjectsbegriff sich bald er-
schöpfen und von Jedem a priori ausgerechnet werden können. Vgl. Krit.
718 f. 720 ff. Bouterweck, Aph. 28: „Nur durch synth. ürth. vermag
ich herauszugehen aus dem Zirkel des Schongedachten, wenngleich
nicht Schonentwickelten." Es ist ein addere, kein elicere, Schmidt-
Phis. Expos. 11.
Nach Beuss, Vorl. II, 4 „liegt in einem synth. Urth.
a) das Prädicat ausser der Vorstellung des Subjects und wird erst
b) durch das Urtheil mit dem Subject verknüpft und zwar
c) so, dass diese Verknüpfung ohne Identität gedacht wird.
^ Die Bestimmung der A. L. Z. 1791, Nr. 259, dass im synth. Urtheil das
Prädicat vor dem Urtheile selbst in keinerlei Verknüpfung mit dem Subject
stehen dürfe, widerspricht der K.'schen Definition nach Eberstein, Gesch. d. Log.
II, 244. Vgl. Krit. Briefe S. 25. Die A. L. Z. will wohl nur sagen, dass Subj.
u. Präd. in logisch - analytischer Beziehung nicht mit einander in Verbindung
stehen dürfen, was nicht ausschliesst, dass sie in realer Beziehung mit einander
verknüpft sind. Fortschr. K. 168 (R. I, 565): „Im synth. ürth. wird gar nicht
darnach gefragt, ob das Prädicat mit dem BegrilBfe des Subjects jederzeit ver-
bunden sei, oder nicht, sondern es wird nur gesagt, dass es in diesem Begriffe
nicht mitgedacht werde, ob es gleich nothwendig zu ihm hinzukommen muss.
So ist z. B. der Satz: Eine jede dreiseitige Figur ist drei winklicht (figura tri-
latera est triangula) ein synthetischer Satz. Denn obgleich, wenn ich drei gerade
Linien als einen Raum einschliessend [anschaulich] denke, es unmöglich ist, dass
dadurch nicht zugleich drei Winkel gedacht würden, so denke ich doch in jenem
Begriffe des Dreiseitigen gar nicht die Neigung dieser Seiten gegen einander.,
d. i. der Begriff der Winkel wird in ihm wirklich nicht gedacht."
Die beiden Kriterien der analytischen und synthetischen ürtheiie. 261
[B 21. 22. H 39. 40. E 53. 54.] A 6. 7. B 10. 11.
Die Handlnng, durch welche die Verknüpfung zweier Vorstellungen vor-
genommen wird, heisst ein synth. Urth. ; die Handlung, durch welche die
schon vorgenommene Verknüpfung zweier Vorstellungen vorgestellt
wird, heisst ein anal. Urth." üeber objectiv und subjectiv synthetische
Sätze Kr. 233 f. Vgl. bes. Entdeckung E. I, 454. 459. Nach Schmid, Wort.
399 ist die Nothw. im synth. Urth. eine äussere, im analyt. eine innere.
Eine eingehende Analyse des Gegensatzes s. Bendavid, Urspr. d. Erk.
S. 41 ff. Aus dieser Zusammenstellung lassen sich die Kriterien präcis
herausheben, welche für die beiden Urtheilsarten charakteristisch sind, und
welche K. nicht besonders bestimmt hat. Wie für die empirischen und
reinen Urtheile, so erhalten wir auch hier zwei Kriterien für die syn-
thetis chen:
1) Vermittlung
2) Neuheit (Erweiterung), [vgl. Proleg. § 2.]
für die analytischen
1) Unmittelbarkeit [vgl. Proleg. § 2.]
2) Erläuterung (Nichts Neues).
Das erstere Merkmal bezieht sich auf die Art der Urtheilsbildung, auf
die Form. Das Einemal bedarf es zur Urtheilsbildung eines „Dritten*,
eines äusseren Grundes, der zur Verbindung berechtigt, der die Möglich-
keit der Synthesis enthält, , vermittelst* dessen (Prol. § 2 c) das Prädicat
dem Begriffe zukommt. Es bedarf also des Eechtsnachweises der Ver-
bindung. (Diese Vermittlung liegt entweder in der Erfahrung oder in
der Vernunft, im letzteren Falle entweder in Anschauungen oder in
Begriffen a priori. Prol. § 2c.) Das Zweitemal bedarf es solcher Um-
schweife nicht. Das Urtheil folgt , unmittelbar" aus dem Subjectsbegriff
selbst und man bedarf weder „das Zeugniss der Erfahrung", noch irgend
.sonst eine Vermittlung, als das selbstverständliche Princip der Identität, dass
A = A ist, dass also wenn A a ist, audh a von A prädicirt werden kann.
Es ist dasselbe Verhältniss, wie zwischen sog. mittelbaren und unmittelbaren
Schlüssen. Das andere Merkmal bezieht sich auf das Resultat der Urtheils-
bildung, auf den Inhalt. Das erstemal erhalten wir wirklich ^ etwas Neues",
wir erweitem somit reell unsere Erkenntniss. Das anderemal wird nur das
Vorhandene klar gemacht, gleichsam aufgewärmt, und eine wirkliche Be-
reicherung der Erkenntniss ist darin nicht enthalten, denn das Gesagte ent-
hält nur Selbstverständliches. Das erstemal handelt es sich um zwei
getrennte, verschiedene Begriffe, das anderemal eigentlich nur um Einen
Begriff mit mehreren constitutiven Merkmalen. In dem folgenden Absätze
der I. Aufl.: »Nun ist hieraus klar" u. s. w. wird bei dem analytischen
Urtheil nur das Merkmal der Erläuterung, bei dem synthetischen Urtheil das
Kriterium der Vermittlung und dann das der Erweiterung herausge-
hoben. Ueber das Merkmal der Apriorität bei den analytischen Urtheilen
s. unten S. 281 f. Ungenau ist es, mit Schmid, Krit. 2 (und Will, Vorl. 85)
die analyt. Urth. zergliedernde, die synth. verknüpfende zu nennen.
262 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A 6. 7. BIO. 11, [R 21. 22. H 89. 40. K 53. 54.]
denn auch die analyt. sind „verknüpfende". Doch findet sich diese Sprech-
weise auch bei Kant, wohl, weil er den Ausdruck „synthetisch" gewählt
hatte, statt dessen er besser „prosthetisch" gesagt hätte *. Später hinzu-
tretende Bestimmungen sind, dass die ursprünglichen Urtheile synthetisch
sind, die abgeleiteten analytisch '; dass synthetisch solche sind, wo-
durch ich einen Begriff hervorbringe oder bestimme; analytisch wo-
durch ich einen vorhandenen Begriff erkläre. In der Logik § 36
fügt K. noch folgende Bestimmungen hinzu: „Alles x, welchem der Begriff
des Körpers (a + b) zukommt, dem kommt auch die Ausdehnung (b) zu,
ist ein Exempel eines analytischen Satzes. Alles x, welchem der Begriff
des Körpers (aXb) zukommt, dem kommt auch die Anziehung (c) zu,
ist ein Exempel eines synthet. Satzes. — Die synth. Sätze vermehren das
Erkenntniss materialiter, die analytischen bloss formaliter. Jene ent-
halten Bestimmungen {determincUiones)\ diese nur logische Prädicate,*
Vgl. Fortschr. K. 149. R. I, 545: Analyt. Prädicate sind keine Bestim-
mungen; wir können daher z. B. das höchste Wesen seiner Naturbe-
schaffenheit nach nicht bestimmen; denn Un Veränderlichkeit, Ewigkeit,
Einfachheit desselben sind keine synthet. Bestimmungen. Ebenso Krit. 598 über
den Unterschied logischer und realer Prädicate. „Zum log. Präd. kann alles
dienen, was man will, sogar das Subject kann von sich selbst prädicirt
werden [im ident. ürth.], denn die Logik abstrahirt von allem Inhalte. Aber
die Bestimmung ist ein Prädicat, welches über den Begr. d. Subj. hinzu-
kommt und ihn vergrösser t. Sie muss also nicht in ihm schon enthalten
sein" . Das synth. Urth. heisst daher auch „bestimmendes". Kr. d. Ürth.
§ 89. Ebenso Metaph. 37. 88. Ein anal. Satz hat nach Entd. R. I,
415 den logischen Grund seiner Wahrheit in sich selbst, weil der Begriff
des Subjects den Grund des Prädicates enthält.
Eine Erläuterung gegenüber den Missverständnissen Eberhards, die
noch heute gegen allerlei Missdeutungen Ks. Meinung deutlich ausspricht.
* Es ist also ein leichtfertiger Einwurf, wenn Spicker, Kant u. s. w. 19,
wie schon Zeitgenossen Ks., sagt, jedes Urtheil sei ein synthetisches, weil ja jedes
Urtheil eine Verbindung von Vorstellungen sei. „Synthet. Urtheil" sei lediglich eine
Tautologie. Statt identisch, analytisch, synthetisch schlägt Jankowski, Pisticis-
mus 22, isothetisch, ekthetisch, prosthetisch vor.
* Nach Gruppe, Gegenw. u. Zuk. d. Philos. 195 war K. damit an der Schwelle
einer wichtigen Entdeckung: Jedes analyt. Urtheil ist früher einmal ein synthet.
gewesen; jedes synthet. Urtheil ist es nur einmal und wird sogleich ein anal^--
tisches; denn in Folge des synthet. Urtlieils geht der Prädicatbegriff in den Sub-
jectbegriff über, und wird diesem einverleibt.
' Diese Definitionen erinnern an Wolfische; so benennt auch Meier, Ver-
nunftlehre § 298 diejenigen Urtheile, in denen ein zufälliges Merkmal (nicht ein
analytisch nothwendiges) dem Subject hinzugefügt wird, determinationes. Vgl.
Kant „Ueber Philosophie überhaupt**, R. I, 597.
Eintheilung der Urtheilsarten nach den Begriffsmerkmalen. 263
[B 21. 22. H 39. 40. E 63. 54.] A 6. 7. BIO. 11
enthält die Schrift gegen Eberhard (R, I, 454 ff.) \ K. theilt daselbst die
Prädicate oder Merkmale eines Begriffs ein in wesentliche und in aus ser-
wesentliche. Die wesentlichen Merkmale eines Subjects sind solche,
welche ihm durch ein Urtheil a priori (sei dieses nun analytisch oder syn-
thetisch) beigelegt werden, die daher ihm nothwendig angehören
und von ihm unabtrennlich sind. Solche Prädicate gehören zum Wesen,
zur inneren Möglichkeit des Subjectbegriffs. Alle Urtheile a priori müssen
demnach solche Prädicate enthalten. Denn alle anderen in Urtheilen einem
Subjecte beigelegten Merkmale sind unwesentliche, solche die sich von dem
Begriffe, unbeschadet seiner Integrität, abtrennen lassen. Da also die Prä-
dicate dieser Art nicht nothwendig mit dem Subjectsbegriff verbunden
sind, so können sie nur in empirischen Urtheilen demselben hinzugefugt
werden. Solche Prädicate können also Sätzen a priori nicht zu Prädicaten
dienen. Diese ausserwesentlichen [Text falsch: ausserordentlichen] Merkmale
sind theils innere (modi), die sich auf den Subjectsbegriff als solchen be-
ziehen, theils äussere (rekUiones), die sein Verhältniss zu anderen Begriffen
bestimmen. (Als Beispiel hiefür dient jedes beliebige empirische Urtheil:
z. B. Gold ist dehnbar; Gold hat die specifische Schwere von 19,5 — Urtheile,
deren erstes einen modus, das zweite eine relatio aussagt.) Wichtiger ist
die Eintheilung der wesentlichen Merkmale, welche also immer in Urtheilen
a priori dem Subject beigelegt werden. Die wesentlichen Merkmale zer-
fallen nämlich in constitutive (oder essentielle) und in solche, welche Kant
rationata nennt. Die letzteren sind aus anderen Merkmalen desselben Be-
griffs erst gefolgert, zureichend gegründete Folgen aus den ersteren. Die
ersteren sind also primitive, die zweiten derivative oder secundäre. Die
ersteren sind wesentliche Bestandstücke des Begriffs und machen sein
logischesWesen aus (essentia); die anderen sind aus diesen erst abgeleitet
und heissen Attribute. Diese Attribute können nun ihrerseits sowohl
analytische als synthetische sein. Beispiele: Der Satz: Ein jeder
Körper ist theilbar, enthält im Prädicat ein Attribut. Dieses Attribut
ist nun analytisch in dem grundwesentlichen Merkmal der Ausdehnung
enthalten und wird aus ihm als nothwendige Folge abgeleitet. Dieses
Attribut wird nach dem Satze des Widerspruchs als zu dem Begriffe des
Körpers gehörig vorgestellt. Analytische Sätze können somit „Attribute"
aussagen. Dagegen der Satz: Eine jede Substanz ist beharrlich gibt
als Prädicat ein Attribut, das zwar ein schlechterdings nothwendiges
Prädicat der Substanz ist, das aber doch nicht in ihrem Begriffe enthalten
ist und durch keine Analysis aus ihr zu ziehen ist. (Wie sich das damit
vereinigen lasse, dass alle Attribute aus Grundmerkmalen des Subjects ab-
geleitet seien, sagt K. nicht, sucht aber später (471) folgende Vermittlung:
■ Wozu man Metaph. 38 ff., sowie Logik, Einl. VIII und den Brief an
Reinhold vom 12. Mai 1789 vergleiche, sowie die Reinliold'sche Recension der
Eberliard'schen Zeitschrift in der A. L. Z. 1789, Nr. 174—176.
264
Commentar zur Einleitung A. S. 6 — 10 = B, Abschn. IV.
A6.7.B10.11. [B 21. 22. H 39. 40. E 53. 54.]
ein solches Prädicat müsse nothwendig auf irgend eine Art im Wesen
des Subjectsbegriffs gegründet sein , aber eben nicht nach dem Satz des Wid.
Wie es nun als synthetisches Attribut mit dem Begriffe des Subjects in
Verbindung komme, d«. es doch durch Zergliederung desselben nicht daraus
gezogen werden kann, zeigt die Kritik: nämlich, dass es die reine dem Be-
griffe des Subjects untergelegte Anschauung sein müsse, an der es allein
möglich ist, ein synthetisches Prädicat a priori mit einem Begriffe zu ver-
binden. Dies geht über die Fähigkeit der Logik hinaus, die keine Lösung
der Frage geben kann, wie synthetische Sätze a priori möglich seien, welche
also synthetische Attribute aussagen. Man muss über den Verstand,
den die formale Logik allein behandelt, zu der reinen Anschauung hinaus-
gehen . . . Nur so kann man zeigen, wie synthetische Attribute dazu
kommen, nothwendige Prädicate eines Begriffes zu werden, da sie doch
nicht aus ihm entwickelt werden können.) Wir erhalten somit folgende
Eintheilung der Merkmale eines Subjectsbegriffs hebst den sich
daraus ergebenden ürtheilsarten:
Merkmale eines Subjectsbegriffs.
I.
Wesentliche (ad esaentiam pertinentia)
[» priori mit dem Siibject zu yerblnden]
IL
Ausserwesentliche (extraessenHaUa)
[empirisch zu oonstatlren]
A.
Wesentl. Stücke
[e»9etUialia, eonstUutiva]
aUe analytlflcli im
Subject enthalten,
zusammen =: eaaentia,
logisches Wesen
B.
Folgen
(rationata)
(Eigenschaften)
(Attribute)
[überhaupt abzuleiten]
A. B.
Innere (tnodi) AensBere (relationesj
analytische
[nach dem Satz
des Widerspruchs
aus A abzuleiten]
analytische
synthetische
[nicht aus A abzuleiten,
erfordern einen anderen
Yerknüpfungsgrund
und zwar untergelegte
reine Anschauung.]
synthetische synthetische
a priori a posteriori
ürtheile.
Durch diese Erklärung will K. das Eberhard'sche Missverständniss zurück-
weisen, als ob er unter synthetischen Sätzen a priori solche verstünde, welche
überhaupt Attribute aussagen. Die Attribute können theils analytische
theils synthetische sein. Anderseits wollte Eberhard zeigen, dass die
synthetischen Sätze, da sie Attribute aussagen, nach dem Satz vom zu-
Analytisch = logisch; synthetisch = real. 265
[R 21. 22. H 39. 40. K 58. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
reichenden Grunde aus dem Subjectsbegriff und seinen wesentlichen Merk-
malen abgeleitet werden können. Das wäre also doch nur eine, wenn auch
mittelbare analytische Zergliederung des SubjectsbegriflFs. Aber der Satz:
Ein jeder Körper ist theilbar, ist doch analytisch, wenn auch sein Prädicat
erst aus dem unmittelbar zum Begriff Gehörigen, nämlich der Ausdehnung,
durch Analyse gezogen worden ist, wobei die Ausdehnung den zureichen-
den Grund für das Prädicat der Theilbarkeit abgibt. „Wenn von einem Prä-
dicate, welches nach dem Satze das Wid. unmittelbar an einem Begriffe er-
kannt wird, ein anderes, welches gleichfalls nach dem Satze das Wid. von
diesem abgeleitet wird, gefolgert wird, so ist das letztere Prädicat ebenso gut
von dem Begriffe nach dem Satz des Wid. abgeleitet als das erstere. Das
erstere Prädicat ist der Grund für das letztere, und doch ist der Satz, der
das letztere enthält, auch nur analytisch*." — Born bemerkt, Grundl.
§ 15 (S. 34), dass in den analyt. Urtheilen es sich nur um ein logisches
Wesen handle, d. h. um einen Begriff; wobei nicht gefragt wird, ob
diesem Begriff ein Reales entspreche oder auch nur entsprechen' könne. In
den synth. ürth. handelt es sich um ein reales Wesen, um den Inbegriff
der wesentlichen Stücke eines Gegenstandes, nicht um den Inbegriff
der nothwendigen Merkmale eines Begriffes. Ist im letzteren Falle der
Begriff real, so auch das Prädicat; ist er ideal oder gar widersprechend (leer),
so ist es auch das Prädicat. Ganz anders beim synth. ürtheil. Wenn ich
wissen will, ob ein synthetisches ürtheil wahr sei, verlange ich nicht
bloss zu wissen, ob der Begriff des Prädicats in dem Begriff des Subjects
enthalten sei, sondern ob das Prädicat seinen realen Grund im Subject
habe, das ist, ob wirklich ausser meinem Begriffe dem Subject diese oder
jene Eigenschaft zukomme. (Daher sind eben die Existentialsätze [Gott ist]
synthetische Sätze.) Aehnlich Glaser, Princ. Phil. Kant. 5 : Est inter jud,
analyt, et synthet, haec differentia, ut jtidiciia quidem anal, explicetur, utrum
eogüatianes nostrae secum possint constare, judiciis vero synth., utrum rerum
natura tales exhibeat res, quales cogitatione nostra formavimus. Quod
igüur plane novum putabat discrimen Kantius, id nullum est aliud quam quod
vulgo inter rationem formalem et realem constituunt. Vgl. Kants Prol. § 14:
Was den Dingen an sich selbst zukomme, dies zu wissen, kann niemals durch
Zergliederung unserer Begriffe geschehen (durch analyt. Sätze), »weil ich nicht
wissen will, was in meinem Begriffe von einem Dinge enthalten sei (denn
das gehört zu seinem logischen Wesen), sondern was in der Wirklichkeit
des Dinges zu diesem Begriff hinzukomme und wodurch das Ding selbst in
* Auf diese schon von Reinhold vorgebrachten Erörterungen erwiderten
Haas 8 in Eberh. Zeitschrift U, 201 ff. und Eberhard selbst II, 257 ff. u. 285 ff.
(cfr. U, 29 ff.) m, 148 ff. (Maass III, 181 ff.) III, 194 ff. 205 ff. 212 ff. 251 ff.
280 ff. IV, 208 ff. Vgl. Steckelmacher, Ks. Logik S. 52. B. Erdmann, Gott.
Gel. Anz. 1880 St. 20, S. 614. Vaihinger, Phil. Mon. XV, 518 ff. - G. F. Meier,
Vemunftlehre § 151. 152. Kritische ßriefe S. 25 f.
1
266 Commentar zur Einleitung A, S. 6 — 10 = B, Abschn. IV.
A6.7. BIO.U. [R 21. 22. H 89. 40. E 58. 64.]
seinem Dasein ausser meinem Begriffe bestimmt sei\^ Vgl. Metaph. 37 f.
Logik Einl. VIII; an Reinhold 12. Mai 1789. Nach Born Grundl. 36 (§ 17)
wächst durch analyt. Urth. unsere Erkenntniss nur an intensiver Grösse,
durch die sjnth. dagegen an extensiver. Bei den analyt. ürth. handelt es
sich um eine Reihe einander subordinirter Begriffe; die synth. Erkennt-
niss wachst aus coordinirten Begriffen an. Die intensiv-analytische Grösse
ist endlich, indem die Reihe untergeordneter Begriffe begränzt ist und wir
zuletzt auf einfache Begriffe kommen durch Decomponirung. Die extensiv-
synthetische Grösse ist unbegränzt, weil die Reihe coordinirter Theilvor-
stellungen durch die Hinzukunft jedes neuen Partialbegriffs ins Unendliche
ausgedehnt werden kann. Vgl. ganz ähnlich bei Kant, Logik Einl. VTII.
Straeter, Princ. p. 20 bemerkt richtig im Sinne Ks. über die analyt. Urth. :
yf Cujus generisjudicia quarnquam a discipulis optime propanuntur, ut una ea^
demque diversis verUs expresaa omnia sibi in dariorem lucem proferre dis-
cant, virili tarnen atque apto ad vere cognoscendum inteUectu minime sunt
digna.^ Vgl. die Ausführung bei Liebmann, An. 209: „Zwei gerade Linien
können nicht zwei ungerade sein — das ist analytisch, weil es ohne Inter-
vention jeder Anschauung bloss nach dem Satze des Widerspruchs einleuchtet.
In solchen Sätzen bewegte sich Wolff so gut wie Spinoza. Dagegen der
Satz: Zwei gerade Linien können sich nur in Einem Punkte schneiden —
ist synthetisch. Denn im blossen Subjectsbegriff „zwei gerade Linien*
liegt nicht einmal dies als logisches Merkmal, dass sie sich überhaupt
schneiden können, viel weniger die Anzahl der möglichen Schnittpunkte.
Nach dem principium identitatis allein lässt sich also das Prädicat aus
dem Subject nimmermehr herausklauben.*' Andererseits herrscht auch
zwischen dem Begriff „zwei gerade Linien" und der Aussage „schneiden sich
in 2 oder 3 Punkten" durchaus kein logischer Widerspruch, sondern bloss
eine anschauliche Unvereinbarkeit. „ Die Noth wendigkeit jenes Satzes oder die
Unmöglichkeit seines Gegentheiles wird also nur dadurch erkannt, aber auch
unfehlbar erkannt, dass man aus dem Subjectsbegriff hinausgeht, überhaupt
die Sphäre der (bei Wolff und Consorten allein berücksichtigten) logischen
^ Wenn auch nicht dem Zusammenhange der Stelle nacli^ aus der dieses Citat
stammt, so doch der Sache nach ist das Ding an sich, von dem Kant hier redet
(vgl. unten 284), nicht das absolute, transscendente Ding an sich, aussermeiner
Vorstellung, sondern das empirisch-reale Ding, ausser meinem Begriff.
Wenn man die angeführten Stellen hierüber vergleicht, findet man, dass hierin
eine unheilbare Verwirrung bei Kant herrscht, welche auf das engste zu-
sammenhängt mit den widerspruchsvollen Stellen bei Kant über die Nominal-
und die Realdefinition und über das logische Wesen und das Realwesen.
Zwischen diesen Unterscheidungen und der Unterscheidung der analytischen und
synthetischen Ürtheile besteht ein historischer und sachlicher Zusammenhang, der
noch nicht genügend aufgeklärt ist. Vgl. Steckelmacher, Ks. Logik S. 99 und
bes. Erdmann, Gott. Gel. Anz. 1880, S. 614, der die Widersprüche vergeblich
wegzubringen sucht. Hierüber noch zu Kritik B 300. (Vgl. auch oben S. 258.)
Terminologie von „analytisch" und „synthetisch". 267
[R 21. 22. H 39. 40. K 53. 54.] A 6.7. BIO. U.
Abstraction verlässt und die Raum an seh au ung hinzunimmt, welche dann so-
fort das ein für allemal entscheidende Wort spricht. Eben hiedurch aber wird
das Urtheil synthetisch, d. h. sein Erkenntnissprincip und das Bindemittel
zwischen Subject und Prädicat ist etwas ganz Anderes, als die principia
identitatis und contradictionia.^ — Die Relativität dieses Unterschiedes erkennt
K. selbst an, Krit. 727 flf. von der Definition empirischer Begriffe. „Da wir
an einem solchen nur einige Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände der
Sinne haben, so ist es niemals sicher, ob man unter dem Worte, das denselben
Gegenstand bezeichnet, nicht einmal mehr, das andere Mal weniger Merkmale
desselben denkt. So kann der eine im Begriffe vom Golde sich ausser dem
Gewicht, der Farbe, der Zähigkeit noch die Eigenschaft;, dass es nicht rostet,
denken, der andere davon vielleicht nichts wissen ^ Man bedient sich gewisser
Merkmale nur solange, als sie zum Unterscheiden hinreichend sind; neue Be-
merkungen dagegen nehmen welche weg und setzen einige hinzu, der Begriff
steht also niemals zwischen sicheren Grenzen." Wennz. B. vom Wasser
und dessen Eigenschaften die Rede ist, so wird man sich bei dem nicht auf-
halten, was man bei dem Worte Wasser denkt (denn das Wort mit den
wenigen Merkmalen, die ihm anhängen, ist nur eine Bezeichnung), sondern
man schreitet zu Versuchen fort, (ib.)
Was die Terminologie betrifft, so sagt K. über den Ausdruck „analytisch"
in der Anmerkung zu Proleg. § 5: „Es ist unmöglich zu verhüten, dass, wenn
die Erkenntniss nach und nach weiter fortrückt, nicht gewisse schon clas-
sisch gewordne Ausdrücke, die noch von dem Kindheitsalter der Wissenschaft
her sind, in der Folge sollten unzureichend und übel anpassend gefanden wer-
den, und ein gewisser neuer und mehr angemessener Gebrauch mit dem alten
in einige Gefahr der Verwechslung gerathen sollte. Analytische Methode,
sofern sie der synthetischen entgegengesetzt ist, ist ganz was Anderes, als
ein Inbegriff analytischer Sätze; sie bedeutet nur, dass man von dem, was
gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen auf-
steigt, unter denen es allein möglich. In dieser Lehrart bedient man sich
öfters lauter synthetischer Sätze, wie die mathematische Analysis davon ein
Beispiel giebt, und sie könnte besser die regressive Lehrart, zum Unter-
schiede von der synthetischen oder progressiven, heissen. Noch kommt
der Name Analytik auch als ein Haupttheil der Logik vor, und da ist es
die Logik der Wahrheit, und wird der Dialektik entgegengesetzt, ohne eigent-
lich darauf zu sehen, ob die zu jener gehörigen Erkenntnisse analytisch oder
synthetisch seien.* Ueber den Ausdruck „synthetisch" siehe unten S. 277.
Vgl. Dühring, De spatio, tempore etc. S. 20 ff. Der Gegensatz von analy-
tisch und synthetisch spielt bei K. auch in anderer Hinsicht eine grosse
' K. sagt ausdrücklich Met aph. 48: es handle sich um den ersten Be-
grriff^ denichmirvonDingenmachte. Dieser scheint mit dem logischen
Wesen des Begriffs identisch sein zu sollen, aber zwischen jener psycho-
logischen und dieser logischen Theorie besteht ein offenbarer Widerspruch.
268 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A6.7. BlO.ll. [R 21. 22. H 39. 40. E 53. 54.]
Rolle. Er unterscheidet z. B. analytische und synthetische Einheit (76 flF.
B 131 flf. Kr. d. Urth. Einl. IX. Anm. Kr. d. pr. V. 199); analyt. und synth.
Princip (Tug. Einl. X.); analyt. und synth. Methode, (Prol. § 5, Anm.
Logik § 117); analyt. und synthetische Eintheilung (Kr. d. ürth. Einl. IX.
Anm.; jene ist logisch, diese objectiv real); analyt. und synth. Merkmale
(Logik Einl. VIII.) ; anal, und synth. Deutlichkeit (ib.); anal, und synth.
Allgemeinheit (Logik § 21). — Die Beziehung der synthetischen Ur-
th eile auf die in der Analytik behandelte synthetische Einheit des
Mannigfaltigen, welche durch die Kategorien zu Stande kommt, findet
sich schon bei K. selbst. In der Schrift gegen Eberhard R. I, 475 sagt er
ausdrücklich: „Der Ausdruck eines synthetischen ürtheils (statt nicht -iden-
tisch) fuhrt eine Hinweisung zu einer Synthesis a priori überhaupt mit
sich und muss natürlicher Weise die Untersuchung, welche gar nicht mehr
logisch sondern transscendental ist, veranlassen, ob es nicht Begriffe (Kate-
gorien) gebe, die nichts als die reine synthetische Einheit eines Mannigfal-
tigen aussagen* u. s. w. Vgl. ib. I, 463, 469 und bes. den Brief an Tief-
trunk von 11. Dec. 1797. Die Beziehung der synth. Urtheile zur synth.
Einheit der Apperception wird bes. von Cohen a. a. 0. 196 ff. gepflegt. Er de-
finirt synth. Urth. als solche, in welchen „die synth. Einh. der Apperc. Sub-
ject und Prädicat zu einem Gegenstande der Erfahrung verknüpft."
Diese Def. ist aber nur für die von Kant als gültig anerkannten synth.
Urth. passend und kann also nicht so allgemein ausgesprochen werden, wie
das Cohen thut, da Urtheile, wie „die Seele ist unsterblich", welche synth.
sind, doch nicht unter jene Def. fallen. Wenn Cohen femer (S. 200) sagt, es
sei nicht befremdlich, dass dieser „entwickelte Begriff" des synth. Ürtheils
nicht von K. am Anfang der Kritik blossgelegt sei, denn die Def. dürfe
diesen vollen Inhalt nicht wegnehmen, so ist hiegegen dasselbe zu sagen,
wie oben: der vollere Begriff des synth. Urth. ist zu eng. [Vgl. Riehl, Krit.
I., 320. Wenn Riehl daselbst (vgl. 328) die analytischen Urtheile als Begriffs-,
die synth. alsAnschauungsurtheile bezeichnet (auch als reproductive und
productive), so wird erst in der Analytik sich ergeben, ob diese Bezeichnung
berechtigt ist oder nicht.] Cohen beruft sich S. 200 auf die „etymologische
Hinweisung". Vgl. Kant, Prol. § 21 a. Allein dieser etymol. Zusammenhang
scheint zuföllig. Vgl. unten S. 276 f.
Die ausführliche Vorgeschichte der Unterscheidung analytischer
und synthetischer Urtheile, wo schon Piaton, dann insbesondere Locke,
Hume, Crusius u. A. zu behandeln sind, wird, abgesehen von den Erörte-
rungen zu B 19, wo Kants Aeusserungen hierüber registrirt sind, in einer
besonderen Supplementabhandlung gegeben. Dasselbe ist der Fall mit der
Geschichte der Streitigkeiten über jene Unterscheidung von
Kants Zeit bis zur Gegenwart, sowie mit der Fortbildung jenes Unter-
schiedes bei Reinhold, Maimon, Beck, Fichte, Schelling, Hegel,
und Andern.
Entwicklungsgescliiclite d. Unterschieds analyt. u. 8)'nthet. Urtheile. 269
[R 21. 22. H 89. 40. K 53. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
E X c u r s.
Entwicklung der K«'8chen Unterscheidung yon analytischen nnd syn-
thetischen ürtheilen. Diese Frage warf zuerst auf E. Fischer, Clavis
Kantiana 1858, Eine weitere Ausführung des Dortigen gibt die Geschichte
1869, m, 163. 166. 171. 174 ff. 177 ff. 191. 196 ff. 199 ff. 208 ff. 252.
254. 258. 305 ff. Von Neuem untersuchten die Frage Cohen, Die syste-
matischen Begriffe in Ks. vorkritischen Schriften 1873, S. 6 — 21, 21 — 33;
Paulsen, Versuch u. s. w. 1875; Eiehl, Der Kriticismus I, 253 ff., 272.
Erdmann, Ks. Proleg. 23. 111. Caird, Phü. of Kant 1877, S. 130 f.
Nach der gewöhnlichen Auffassung hat K. den Unterschied erst 1 763 in der
Abhandlung über die negativen Grössen gefunden. Deutlich ist ihm aller-
dings der Unterschied erst damals aufgegangen. Allein schon (1) in der Schrift
von 1755 Nova Dütmdatio findet man die ersten Andeutungen des Unter-
schiedes, die freilich nur leise und lose auftauchen und bald wieder von dem
dogmatischen Vorurtheil der zeitgenössischen Metaphysik verschlungen werden,
dass alle wahre Erkenntniss'eine analytische Zergliederung gewisser gegebener
Grundbegriffe sei. Schon Cohen a. a. 0. 23 und noch mehr Biehl 253
haben hierauf hingewiesen. Jener beruft sich auf Prop. V, Schol., dieser
auf Prop. IX, wie das auch Caird, The phü, of Kant 130 f. thut. Aber
schon in Prop. IV heisst es von den Sätzen, die nach dem zureichenden
Grunde gebildet sind, dass dieser in ihnen „nexum et coUiffationem efficit inter
sidjectum et praedicatum^ , während nach Prop. IT einfache Identität be-
steht in den Sätzen, in denen der Satz d. Wid. herrschend ist. Freilich be-
herrscht der Satz d. Gr. dann auch die analyt. Urtheile, aber wenn man
diese Stelle zusammenhält mit Ks. Aeusserungen in der Schrift gegen Eber-
hard, bes. am Schluss, über Leibniz und seinen. Satz v. zur. Gr. ^, kann
man den ersten Keim der Unterscheidung hier nicht verkennend
Andererseits enthält die Unterscheidung zwischen Idealgrund und Real-
grund einen weiteren An las s jenes späteren Unterschiedes, wenn K. selbst
1763 auch beide Unterschiede mit Recht auseinanderhält. Das zeigt fol-
gende Stelle (Prop. IX): bei dem Grund der Wahrheit handle es sich nur
um diejenige Stellung des Prädicats, welche durch die Identität der Be-
griffe mit dem Prädicat bewirkt wird ; das Prädicat, das dem Subject schon
' R. I, 478 und bes. 468. (Der Satz d. Gr. sei die Hinweisung auf das
zu suchende Princip synthetischer Urtheile.) Vgl. Steckelmacher, Formale
Logik Kants S. 51, bes. über den Zusammenhang des Princ, rationis „determinantis"
mit den synthetischen = „bestimmenden" ürtheilen. Stadler, Grundsätze S. 22.
' Ausserdem wird dieser Zusammenhang angedeutet durch die Aeusserung,
der Grund „bestimme** das Subject in Ansehung des Prädicats, womit man jene
obigen Definitionen zusammenhalte, dass synthetische Urtheile „bestimmende** seien.
Freilich wird auch dieser Keim sogleich wieder am Schlüsse der Erl. zu Prop. IV,
vom dogmat. Vorurtheil hinweggeschwemmt.
270 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV. Excurs.
A 6. 7. BIO. 11. [R 21. 22. H 39. 40. E 63. 54.]
anhangt, wird nur offen dargelegt. Bei dem Grund der Wirklichkeit
wird gefragt nach dem Woher der Verbindung*. Eine dritte Quelle finde
sich in der Polemik in Prop. VI u. VII gegen das ontologische Argument,
d. h. gegen den Versuch, das Dasein Gottes analytisch aas seinem Begriffe
zu entwickeln. In der (2) Schrift über „die Spitzfindigkeit der 4. syllog. Fig.*
1762 findet Fischer a. a, 0. 174 ff. weitere Hindeutungen, was Cohen
a. a. 0. 16 ff. bestreitet. Allein auch Paulsen 37 weist darauf hin, dass
K. dort die identischen ürtheile behandle, also die rein logischen ür-
theile , und dass die synthet. ürtheile in der Schrift über die negat Grössen
ergänzend hinzugefügt werden. Das Stillschweigen Ks. über die letzteren be-
weist nicht, dass ihm der Unterschied nicht schon sehr bedeutsam erschienen
sei. Im Jahre 1763, in der (8) Schrift über die „negativen Grössen",
tritt der Unterschied zum erstenmal scharf hervor. K. unterscheidet hier
ernstlich zwischen logisch- analytischer Betrachtung der Begriffe und realer
Untersuchung der Dinge. Logischer Widerspruch und reale Entgegensetzung
sind himmelweit unterschieden, daher auch logische Auseinandersetzung
der Begriffe und reale Setzung der Dinge. Logische Begründung
durch Zergliederung, wo der Grund die Folge nach dem Satz der Iden-
tität in sich trägt, ist vollständig zu unterscheiden von realer Verur-
sachung, wo die Wirkung nicht nach der Regel der Identität aus der
Ursache fliesst. Hier sind nun zwei Gedanken zu unterscheiden, welche, bei
K. unklar durcheinander gehend, bei seinen Commentatoren nicht beachtet
sind. Es handelt sich erstens um das Wesen der Verursachung selbst,
zweitens um Ürtheile über Verursachung. Noch 1755 hatte K. die ob-
jective Verursachung nach dem Vorbild der Metaphysiker als Identität ge-
fasst, d. h. Ursache und Wirkung sollten sich verhalten wie Grund und
Folge, und da die Folge aus dem Grund nach der Regel der Identität fliesst,
sollte auch die Wirkung nach derselben Regel aus der Ursache folgen.
Diese Auffassung des Verursachens, welche die Ursache anthropomorphisch
fasst als logischen Grund (eine Analogie dazu bietet die Identificirung der
Ursache mit dem Willen), hieng zusammen mit, ist aber zu unterscheiden
von der Lehre, causale Ürtheile, überhaupt Ürtheile über Causalitäts-
verhältnisse seien durch Begriffsanalyse zu erhalten. Somit sagt die Schrift
über die neg. Grössen eigentlich zweierlei: 1) Das Verhältniss von Ur-
sache und Wirkung, d. h. dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei, ist
logisch vollständig unverständlich ; es ist hier etwas über die Logik Hinaus-
liegendes, Reales, Unauflösliches '; 2) Ürtheile über causale Zusammenhänge
I
^ Aehnlich in Prop. VIU^ zum Idealgrand reiche die blosse identüas hin.
Vgl. Paulsen a. a. 0. 34. Fischer 163.
* Eine interessante Erläuterung hierüber gibt die Stelle der Kr. d. pr. V. 200:
„Zwei in einem Begriffe nothwendig verbundene Bestimmungen müssen als
Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder so, dass diese Einheit als
analytisch (logische Verknüpfung) oder als synthetisch (reale Ver-
Entwicklungsgeschichte d. Unterschieds analyt. u. synthet. Urtheile. 271
[B 21. 22. H 39. 40. E 53. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
lassen sich nie durch begriffliche Zergliederung finden; sie sind, was K.
allerdings verschweigt, immer nur Erfahrungsurtheile. Jene ist analytisch,
diese sind synthetisch. Weil die dogmat. Metaphysik den Realgrund, die Ur-
sache mit dem logischen Grund, identificirt hatte, musste sie auch Urtheile
über Reales durch logische Analyse zu erhalten vermeinen. Man sollte
durch das Princip des zureichenden Grundes, das aber auf den Satz d. W.
reducirt wurde, Wirkliches erhalten. K. macht somit zwei bedeutsame
unterschiede: er unterscheidet das Gebiet des Logischen und das des
Realen; das ist ein metaphysischer Unterschied. Er unterscheidet ana-
lytische Urtheile und synthetische; dies ist ein erkenntnisstheoretischer
Unterschied. Die alte Metaphysik hatte das Sein in Begriffe aufgelöst
und glaubte daher auch, durch Auflösung der Begriffe zum Sein zu ge-
langen. Kant zeigt, dass, weil Reales und Logisches verschieden sei,
analytische Zergliederung niemals zu Urtheilen über Realverhältnisse
führen könne. Genau dasselbe und mit grösserer Klarheit als 1763 sagt K.
1766 am Schluss der Tr. e. Geisters. II, 3. Hauptst. * und im Brief an
Mendelss. 8. April 1766, sowie in der Dissert. v. 1770 § 28 fin. Vgl. ProL
§ 29, Krit. 766. Kant ist hier der Ansicht, welche er auch später beibehält,
Causalität als solche kann erkannt werden, aber nie eingesehen. Alle
auf die Verursachung im Einzelnen sich beziehenden Urtheile sind empirischer
Natur, und im Gegensatz zu den analytischen Urtheilen synthetische,
wenn auch dieser Terminus sich hier nicht findet. Dass das allgemeine C au-
salitätsgesetz (alles Geschehen setzt eine Ursache voraus) auch synthetisch
sei, diese Einsicht fehlt hier wohl noch. 1755 leitet K. das Gesetzdeszur. Gr.
noch aus dem Satz d. W. ab. Immerhin aber kann man dies als ein drittes in
der Schrift über die neg. Grössen mit hineinspielendes Element ansehen.
Doch wird man besser mit Riehl 256 dies aus dem Spiele lassen'. —
bindnng)^ jene nach dem Gesetz der Identität, diese nach der Causalität
betrachtet wird.** Es handelt sich um Tugend und Glückseligkeit ; entweder sind
beide identisch, oder die Erstere bringt die Letztere hervor als etwas Unter-
schiedenes. Hier ist es die sachliche Verknüpfung, um welche es sich
handelt, nicht ein Satz, eine E r k e n n t n i s s. Es ist zu bemerken, dass K. offen-
bar anfangs mehr die Sache als den Satz meint*, erst nachher treten die syn-
thetischen Sätze in den Vordergrund, und je mehr dies der Fall ist, auch der
Satz der allgemeinen Causalität, welcher a priori zu beweisen ist, während die
sachlichen , einzelnen Verbindungen causaler Natur immer Sache der empirischen
Constatirung sind und unbegriffen bleiben, eine Unbegreiflichkeit, welche auch
die Causalverbindung überhaupt trifft. Diese Erkenntniss der synthetischen
Natur der Causalität im Jahre 1763 ist auf Hume's Einfluss zurückzuführen.
^ In dem Tr. e. Geist. II, 2 Anf. führt er aus, dass „auf dem blossen
Wege der Vernunft" die Realität nie erreicht wird; und dieser „blosse Weg
der Vernunft'' ist dort identisch mit analytischem, oder apriorischem, oder
rein logischem Verfahren.
' Man Tgl. hiezu die Ausführungen in den Vorles. über Philos. Relig. 41, 56
(62), wo analytisch und logisch, synthetisch und real Wechselbegriffe sind, Stellen,
272 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV. Excutb.
A6.7. BIO. 11. [R 21. 22. H 39. 40. E 63. 54.]
Einen bedeutenden Fortschritt in der Unterscheidung stellt (4) die
Schrift über den einzig möglichen Gottesbeweis dar, ebenfalls 1763. War es
bisher insbesondere die Causalität und das Causalurtheil, so ist es jetzt die
Existenz und das Existentialurtheil, deren synthetischer Charakter erkannt
wird. Die Existenz selbst, das reale Dasein hatte die alte Metaphysik als
etwas Logisches gefasst, gleichsam als eine nach dem Gesetz der Identität
sich ergebende Folge aus der begrifflichen Möglichkeit ; und da die Existenz
an sich so vermischt worden war mit dem Begrifflichen, da man sie als ein
logisches Prädicat eines möglichen Begriffes gefasst hatte, glaubte man auch
Existentialurtheile (z. B. Gott existirt) auf analytischem Wege durch Begriffs-
zergliederung erhalten zu können. Aber Dasein ist total verschieden von
einem logischen Prädicat, und daher sind auch Existentialurtheile genau wie
Causalurtheile nur auf dem Erfahrungswege zu erhalten. Wenn auch K.
selbst zu Gunsten des Gottesbegriffs eine Ausnahme macht — doch unter-
scheidet sich sein Beweis wesentlich von dem bisherigen — so liegt doch der
ganzen Schrift der fundamentale Gedanke zu Grunde, dass Dasein als ab-
solute Position eines Dinges nur auf Erfahrung beruhen könne. Dasein ist
ebenso ein letzter, unauflöslicher Begriff, wie Causalität, und beide stammen
aus der Erfahrung oder vielmehr, Daseiendes und ürsach- Verhältnisse lassen
sich nur empirisch constatiren, nicht durch logische Analyse. Das ent-
hält die erste Abtheilung I, Nr. 1 u. 2 der Schrift ganz bestimmt. Auch
hier ist bisher die Unterscheidung nicht gemacht worden, welche bei K.
selbst noch unausgewickelt ist, zwischen der Existenz selbst, welche mehr als
logisches Prädicat ist, und zwischen unseren Existentialurtheilen. (In der
II. u. III. Betrachtung der ersten Abth. finden wir dieselbe Unterscheidung
zwischen logischem und Realgrund, wie früher, oder zwischen „Denk-
lichem* und „Dasein".) Die Erkenntniss dieser Bedeutung der Schrift fehlt
bei Cohen 30 ff., der den Schwerpunkt derselben an einen falschen Ort ver-
legt; auch bei Pauls en und Biehl ist dieser Punkt nicht genügend premirt,
dagegen hat Fischer denselben richtig betont. Aus derselben Zeit stammt
endlich noch (6) eine Schrift, in welcher jener Unterschied gefunden worden ist:
die Preisschrift über die Deutlichkeit der Grundsätze in der natürl. Theologie
oder die Schrift über das Verhältniss der mathematischen zur philosophischen
Evidenz. In der hergebrachten Reihenfolge ist diese Schrift die letzte der
aufgeführten. Cohen a. a. 0. 16, 30 und Paulsen 72 wollen eine andere Auf-
einanderfolge der Abfassung, eine Frage, auf welche hier nicht einzugehen
ist. Der wesentliche Inhalt der letzten Schrift ist, dass die Mathematik
-ihre Begriffe synthetisch, d. h. willkürlich bilde, während die Philosophie die
gegebenen Begriffe in ihre einfachen unauflöslichen Elemente aufzulösen habe.
Hier scheint sich zunächst ein Widerspruch mit dem Bisherigen zu ergeben;
aus denen auch Paulsens Hypothese, dass die Schrift über die negat. Grössen aus
der Betrachtung der sich nicht aufhebenden Realitäten in Gott entstanden seien,
Bestätigung zu gewinnen scheint. Vgl. Metaph. 29 bis 32. 35.
Entwicklungsgeschichte d. Unterschieds analyt. u. synthet. ürtheile. 273
[B 21. 23. H 89. 40. E 63. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
denn damacli sollten ja die eigentlich philosophischen Ürtheile synthetischer
Natur sein, wenigstens diejenigen, welche Causalitätsverhältnisse und Existi-
rendes betreffen. Kann man also mit Cohen 14 ff. diese Bestimmungen als
Vorläufer des hier behandelten Unterschiedes analytischer und synthetischer
ürtheile ansehen? Man hat sich bis jetzt durch den identischen Terminus
täuschen lassen und auch eine identische Sache angenommen. Allen Einzel-
erklärungen nach ist jedoch synthetisch und analytisch in dieser Schrift (so-
wie im Brief von Lambert v. 13. Nov. 1765) identisch mit dem Gegensatz
von progressiv und regressiv. Prol. § 5. Anm. sagt K. ausdrücklich,
dass analytische Methode, sofern sie der synth. entgegengesetzt sei, etwas
ganz anderes sei, als ein Inbegriff analytischer Sätze; allerdings deckt
sich das weitere nicht ganz ; doch kann man durch Vergleichung mit Kritik
727 ff", über den Unterschied synthetischer Definition in der Mathematik und
analytischer in der Philosophie den Sinn der Schrift von 1764 genauer fest-
stellen. Darnach handelt es sich dabei in erster Linie nicht um Sätze,
sondern um Begriffe, nicht um Ürtheile, sondern um Objecte. Die
Mathem. erhält ihre Begriffe und damit ihre Objecte durch eine willkürliche
Zusammensetzung der Elemente (Linie, Fläche, Bewegung u. s. w.) und
verfährt insofern auch progressiv, indem sie eben vom Einfachen zum
Complicirten geht. Die Philos. dagegen hat gegebene Begriffe, und
mnss versuchen, von da regressiv zu den ersten elementaren Grund-
begriffen zu gelangen, und erst dann kann sie daraus wieder zusammen-,
setzen, was aber erst in sehr später Zeit geschehen kann. Die regressive
Methode, die analytische Methode in diesem Sinne ist identisch mit der
empirischen (Paulsen 83), die synthetische mit der rationalen. Was
nun aber die Ürtheile betrifft, so ist diese Schrift allerdings ein Rückschritt
gegen das bisherige zu nennen (cfr. Paulsen 80) und K. kommt zu keiner
► Klarheit. Man sieht nicht recht, ob die Grundurtheile der Philosophie ana-
lytische oder synthetische (im späteren Sinn) sein sollen. Die mathematischen
Ürtheile sind aber doch ihrem Wesen nach noch analytische, d. h. man
gewinnt sie durch Begriffszergliederung, durch Analyse der allerdings syn-
thetisch gewonnenen Begriffe. Man wird jedoch nicht sehr fehl gehen,
wenn man (im Anschluss an Paulsen 170) die Sache so fasst, dass Ks.
freilich nicht festgehaltene Meinung gewesen sei: Die Mathem. hat synthe-
tische Begriffsbildung (d. h. die Begriffe entstehen durch willkürliche
Verbindung elementarer Grundbegriffe), besteht aber aus analytischen
Sätzen, d. h. solchen, welche durch Begriffszergliederung und Begriffs-
vergleichung zu demonstriren sind; die Philosophie dagegen muss ihre Be-
griffe analytisch bilden, d. h. regressiv vom Zusammengesetzten zu den
Grundbegriffen gehen, aber ihre Sätze sind synthetisch und im Grunde
empirisch*. Kants eigene Unklarheit hierin wird jedoch eine exacte For-
* Dies wird ausdrücklich bestätigt durch die von B. Erdmann in den Preuss.
Jahrb. 37, 213 veröffentlichten Bemerkungen Kants, deren genaue zeitliche Bestim-
Valhlnger, Kant-Commentar. lg
274 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV. Excutb.
A 6.7. B 10.11. [R 21. 23. H 39. 40. K 63. 54.]
mnlirnng nicht zulassen, doch darf man, mit Annäherung an den wirk-
lichen Thatbestand, sich Pischer's Bestimmung anschliessen (306), Ks. da-
malige Ueberzeugung sei gewesen, dass die mathematischen Urtheile und
damit auch die apriorischen analytisch, dass die philosophischen
dagegen empirisch und synthetisch seien, wenigstens diejenigen, welche
Eealerkenntnisse betreffen, denn die rein zergliedernden Urtheile der Philos.
blieben ja immerhin stehen. Auch über den weiteren Fortschritt ist man
auf blosse Gombination angewiesen. Die nächste Fortbildung scheint aber
die Entdeckung gewesen zu sein, dass die mathematischen Urtheile nicht
analytisch, sondern synthetisch seien. Dies hat unter Allen nur Fischer
260 ff. 306 ff. richtig erkannt. Die grosse Erkenntniss, dass auch unter der
apriorischen Erkenntniss synthetische Urtheile seien, fällt in die Jahre 1 768 ff.
Er erkennt in der (6) Schrift über die Gegenden des Raumes schon , dass alle
mathem. Urtheile anschauender Natur seien, d. h. nicht auf Begriffs-
zergliederung, sondern auf Anschauung beruhen. Schon 1764 hatte er die
Anschaulichkeit der Mathem. betont, aber die Anschauung spielte nicht
jene fundamentale Rolle, wie 1768, wo K. an dem Falle der symmetr. Fi-
guren erkannt hatte, dass die Mathem. nicht mit begrifflicher Analyse
operire, sondern mit Anschauung. Und diese Erkenntniss ist (7) in der
Dissertation von 1770 in § 15 C vollständig zum Durchbruch gekommen.
In den Grundsätzen der Geometrie, in der Gonstruction der Postulate, in
.allen Beweisen ist es Anschauung, welch« die mathem. Sätze vermittelt,
nicht begriffliche Analyse. Nun war es aber andererseits für K. fest-
stehend, dass die Mathem. a priori verfahre. Wenn sie aber auf Anschauung
beruht, so ist sie — empirisch. Somit wird die Entdeckung ergänzt durch den
Nachweis, dass die Anschauung, welche der Mathem. zu Grunde liegt, eine
reine, d. h. apriorische sei. Diese Entdeckung war der bedeutsamste
Schritt der ganzen Entwicklung Kants. Fein und richtig sagt Fischer 308:'
„Im letzten Augenblick der vorkritischen Periode stand die Sache so, dass
der Grund, der die mathem. Urtheile synthetisch macht, zugleich droht.
mung übrigens wohl unmöglich ist. „Alle analytischen Urtheile sind rational und um-
gekehrt, alle synthetischen Urtheile sind empirisch und umgekehrt." „Alle empiri-
schen Sätze sind synth. und umgekehrt^ alle rationalen Sätze sind analytisch."
„Die Möglichkeit anal. Verbindungen lässt sich a priori einsehen^ nicht aber die
synthetischer." Vgl. ib. Nr. 7. 15. 17. „Anschauungen der Sinne geben synthetische
Sätze, die objectiv sind." „Alle rationalen synthetischen Sätze sind snbJeetiTy
nur die analytischen sind objectiv." „Analysis der Vernunft: princ. contr. und
ident,: objectiv gültige Sätze. — Synthesis der Vernunft: Verstandesgesetzc
(axiomata suhreplionis) subjectiv gültige Sätze." Vgl. hiezu die für die Ent-
wicklung Kants sehr wichtigen, aber bis jetzt ganz unau8genützten §§ 24—30 der
Dissertation von 1770, wo sich in § 30 die (später als gültige synthetische
Urtheile a priori in Anspruch genommenen) immanent-objectiven Sätze von den
axiomata subreptitia als den bloss subjectiven und falschen (synthetischen) Principien
der Vernunft abzweigen. Dort liegt auch die Wurzel der Analytik.
Entwicklungsgeschichte d. Unterschieds analyt. u. synthet. Urtheile. 275
[R 21. 22. H 39. 40. E 58. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
sie in empirische zu verwandeln'; um ihre Apriorität, d. h. ihre reine
Vemunfbrnftssigkeit zu begründen, muss der Raum begriflfen werden selbst
als eine Form der reinen Vernunft." Aber von hier an weicht unsere Dar-
stellung von Fischer vollständig ab. Es fehlt noch der andere Schritt, Kant
steht noch mit dem andern Fuss im Dogm., ja er macht wie 1764 bezüglich
der philos. Erkenntniss einen bedenklichen Rückschritt. Die philos. Grund-
begriffe ihrerseits wurden 1 770 als apriorisch gefasst und genau im Gegensatz
zur Mathematik, welche synthetisch und damit um ein Haar empirisch wurde,
werden die philos. Erkenntnisse apriorisch und fast — analytisch*. (Vgl.
Paulsen 108.) Dieser Theil der Dissert. ist daher auch der unbefriedigendste,
weil K. über die Methode, metaph. Urtheile zu erhalten, einfach stillschweigt.
Hier war es nun wohl die Causalität, welche die Fortbildung bedingte. Neben
dem intellectuellen Begriff der Causalität hatte K. 1770 im V. Abschnitt § 30
noch das allgemeine Causalitätsaxiom aufgeführt (omnia in universo fieri
secundum ordinem natiirae). Hier griff wohl wieder die Einwirkung Hume's
ein, welcher die Causalität bestritt. Jetzt machte K. den Unterschied (Krit.
765) zwischen dem allgemeinen Causalitätsaxiom und den speciellen Causal-
urtheilen. Letztere hatte er schon früher als synthetisch erkannt. Dass
auch das erstere synth. sei, muss er jetzt erst klar erkannt haben '. Dasselbe
war der Fall mit dem ebenfalls am Schluss der Diss. aufgeführten Gesetz
der Beharrlichkeit der Substanz. Diese allgemeinen Gesetze können nicht
empirisch sein trotz Hume; sie sind apriorisch; und sie sind synthetisch.
* Diesen Standpunkt nahm Kant einmal ein. „Es gibt synth. Sätze aus
der Er f. als principia pf-ima synthetica. Dergleichen sind auch die axiomata der
Mathematik vom Raum. Principia rationalia können gar nicht synthetisch sein.**
jfln philosophia non dantur principia synthetica nisi a posteriori." Vgl. Nachtrag
zu Kants Werken v. B. Erdmann, Preuss. Jahrb. 37, 213. 214. Vgl. Erdmann,
Vorr. zu Kants Proleg. XCIV. — Vgl. Laas, Ks. Analogien 204. 321.
• Eine umgekehrte Darstellung der histor. Entw. gibt Zimmermann, Ks.
math. Vor. 10. K. wollte die metaphys. Urtheile in die „gute Gesellschaft** der
Mathem. bringen. „Da dies nicht anging, wenn die mathem. ürth. analytisch
waren , denn die metaph. waren anerkanntermassen synthetisch , so mussten vor
Allem die math. ürth. synthetisch und zwar a priori sein, um als stammver-
wandte Standesgenossen der metaph. gelten zu können** u. s. w. Welche metaph.
Urtheile waren „anerkanntermassen synthetisch**? Zuerst hatte K. die synthetische
Natur der einzelnen Causalurtheile erkannt (1763), die zugleich empirischer Natur
sind. Vom allgemeinen Causalgesetz ist noch gar nicht die Rede. Und im Jahre
1770 schweigt K. ganz über die Natur der Urtheile der transscendenten Meta-
physik, die ihm wohl, da er überhaupt eine Leibniz'sche Reaction erlebte, analy-
tisch zu sein schienen. Dass aber die Urtheile der immanenten Metaphysik, insbes.
daa allgemeine Causalgesetz synthetisch a priori seien, ist eine Erkenntniss, die
im Schluss der Dissertation nur potentiell enthalten ist und die erst, durch die
ParaUele mit den mathematischen ürtheilen, zum Durchbruch gekommen sein kann.
' Vgl. die Bestätigung durch Kants Manuscripte bei Erdmann, Vorr. zu
Proleg. LXXXVII. (XXHI. CXI.) - Windelband, Gesch. d. Phil. II, 21 ff. 32.
276 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV. Excurs.
A6.7. BIO. 11. [R 21. 22. H 89. 40. K 53. 54.]
Und von da aus war der Weg nicht schwer zu der Bestimmung, dass auch
die transscendente Metaphysik insbesondere im Existentialurtheil, das schon
früher als synthetisch erkannt war, auf synthetische Erkenntnisse a priori
Anspruch macht. War einmal 1. der allgemeine Unterschied analytischer
und synthetischer Urtheile, sowie 2. die synthetische Natur der Mathem. und
3. die der metaph. Naturgesetze gefunden, so war das übrige bald fertig. So
hatte K. gefunden, dass unbestreitbar apriorische Erkenntnisse synthetisch
seien: die Mathematik, dass anerkannte, und dass bestrittene Erkenntnisse
synthetisch a priori seien : die immanente und die transscendente Metaphysik.
Wann und aus welchem Grunde hat nun K. die Terminologie („analytische"
und „synthetische* Urth.) ausgebildet? Ueber die Zeit sind wir nicht untei>
richtet; die Bezeichnung dürfte in die Jahre zwischen 1764 und 1770 gefallen
sein. Der Grund ist ebenfalls zweifelhaft. Es sind hier 3 Ansichten mög-
lich. Entweder schloss sich die Bezeichnung an an den Unterschied syn-
thetischer und analytischer Methode der Begriffsbildung in Mathem. und
Philos. aus dem Jahre 1764. So Cohen, Fischer, Paulsen. Was hiegegen
spricht, wurde schon erwähnt. Dort handelt es sich um Begriffe, hier um
Urtheile. Auch kehrt der Unterschied in der Kritik 727 ff. wieder und be-
trifft Definitionen, also Begriffsbildung, nicht Sätze. Auch wird der Unter-
schied durchaus noch in diesem Sinn in der Diss. § 1, Anm. erwähnt. Im
Gegentheil mag sich K. des Unterschiedes der Bedeutungen erst durch die
neue Terminologie bewusst geworden sein '. Eine zweite Ansicht, welche K.
in der Schrift gegen Eberhard selbst nahe legt und welche Cohen in seiner
„Theorie d. Erf." begünstigt, ist die Beziehung auf die später in der Ana-
lytik behandelte transscendentale Synthesis. Diese Beziehung scheint aber
^ Auch lassen Cohens und Paulsens Ausführungen (bes. Paulsen a. a. 0.
167 f.) ganz unerklärt, wie von der synth. Begriffs bildung der Mathem. aus
sogar das gemeine Erfahrungsurtheil synthetisch genannt werden konnte.
Spuren eines derartigen Zusammenhanges könnte man jedoch allerdings finden in
dem VIII. Abschnitt der Einleitung zur Logik, zuerst wo anal. u. synth. Merk-
male abgehandelt werden, wo Begriff u. ürtheil ineinander spielen und dann be-
sonders in dem Absatz über anal, und synth. Deutlichkeit, wo die synth. Zu-
sammensetzung des Begriffs und seine synth. Erweiterung (durch Urtheile)
ebenfalls ineinander übergehen, und wo die Mathem. erwähnt wird. Der Ausdruck
„synthetisch" wird ausdrücklich auch auf gegebene, nicht bloss gemachte
Begriffe (wie in der Mathem.) ausgedehnt. „Dieses findet oft statt bei Er-
fahrungssätzen, wofern man mit den in einem gegebenen Begriffe schon gedachten
Merkmalen noch nicht zufrieden ist." Man wird jedoch selbst hieraus, sogar mit
Hinzunahme der Bestimmungen in § 102 ff. über synth et. u. analyt. Definition,
wo der Uebergang von der 1763 besprochenen mathem. Synthesis zur empiri-
schen klar scheint, keine sicheren Schlüsse auf die Entstehung der Bezeichnung
ziehen können, da diese spielenden Beziehungen auch nachträglich entstanden sein
können. Die Metamorphosen der Kantischen Terminologie sind überhaupt noch
in tiefes Dunkel gehüllt, wie theilweise die seiner Theorien.
Entwicklung der Terminologie; „analytisch**, „synthetisch**. 277
[R 21. 22. H 39. 40. E 53. 54.] A 6. 7. BIO. 11.
K. selbst erst nachträglich hineingelegt zu haben, wie er es überhaupt liebte,
etymologische Bezüge zu erdichten, wovon noch Proben sich finden werden *.
Eine letzte, bis jetzt nicht vertretene Ansicht ist einfacher. K. hatte 1763
die logischen Urtheile als , zergliedernde'' bezeichnet; damit schloss er
sich durchaus an Leibniz an, bei welchem die Analysis auch die Bedeutung
hatte: Zergliederung der Begriffe in ihre Merkmale, der Merkmale in ihre
üntermerkmale , um so Urtheile zu erhalten. Waren einmal die zerglie-
dernden, rein logischen Urtheile aus Begriffen „analytische" genannt,
so ergab sich ganz einfach für die entgegengesetzten Urtheile, die Urtheile
über Dinge, die Causal- und Existentialurtheile, sowie für die mathematischen
die Bezeichnung der synthetischen, da dieser Terminus in uraltem Gegensatz
zu jenem erstem stand. Damit war ja dann auch ausgedrückt, dass in
diesen Urtheilen dem Subjectsbegriffe ein neues, nicht in ihm liegendes Prä-
dieat hinzugefügt wurde, wie Kant vom synthet. Urtheil mit etymolo-
gischer Hinweisung sagt, cf. Metaph. 24. 25. ff. Aus diesem Ausdruck,
statt dessen allerdings der Terminus „prosthetisch" richtiger gewesen wäre^
wenn nicht K. eben jenen alten Gegensatz vorgezogen hätte, entwickelte sich
dann wohl erst der Gedanke, dass in derartigen Urtheilen Verknüpfungen
ausgesprochen werden, wie ja auch einige Kantianer die synthetischen Ur-
theile unrichtig „verknüpfende* nannten. Und hier mochte dann der Hume'sche
Ausdruck „eonnexion^ (Enq. VIL On the idea of necessary connexion) mit-
wirken, den K. in der Vorrede zu den Prol. mehrfach mit offenbarer Be-
ziehung auf die synthetischen Sätze a priori wiederholt (z. B. „der Begriff
der Verknüpfung von Ursache und Wirkung sei nicht der Einzige, durch
den der Verstand a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt") '. Ur-
sprünglich handelte es sich aber wohl nur um die Hinzusetzung, nicht
um Verknüpfung*. Was hinzugethan, hinzugesetzt wird, das ist
das neuePrädicat zu dem Subjectsbegriff. Daher sagt Kant 7: „die Hin-
zufügung eines solchen Prädicates gibt ein synthetisches Urtheil." [Damit
steht allerdings eine Auslegung von K. selbst in der Entdeckung R I, 475
im Widerspruch. Dort heisst es: „Dass etwas ausser dem gegebenem Be-
griffe noch als Substrat hinzukommen müsse, was es möglich macht, mit
meinen Prädicaten über ihn hinauszugehen, wird durch den Ausdruck
der Synthesis klar angezeigt." Das Hinzugefügte ist darnach die An-
* Ausserdem bringt K. in der Analytik jene transscendentale Synthesis eher
umgekehrt so in Beziehung, dass die letztere aas dem synthet. Urtheil entstanden
sei, wiewohl auch dies historisch wohl unrichtig ist. Vgl. oben S. 268.
* Dies leitet wiedfer zu der transscendentalen Synthesis über.
* K. definirt allerdings (s. B. Erdmann, Nachtr. zu K. Preuss. Jahrb. 87. 213)
„Die synth. Urth. lehren, was mit dem Begriff soll verbunden gedacht werden.**
Aber ib. 204 spricht er auch von anal. Verbindungen. Born, Phil. Mag. II, 875 f.
nimmt Ks. Terminologie in Schutz, ebenso Cohen, Th. d. Erf. 203. Gegen Eber-
hard behauptet K. selbst (R. I, 475), dass die Terminologie nicht auf blosser „Wort-
künstelei ^ beruhe, allerdings in dem schon oben S. 268 angeführten Zusammenhang.
278 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, AbBchn. IV.
A6.7.B10.11. [B 21. 22. H 39. 40. K 53. 54.]
schauung. Allein dieses Kant'sche Selbstzeugniss steht wie so oft mit den
übrigen Stellen im Widerspruch, so dass die oben gegebene Ableitung nichts-
destoweniger stehen bleibt.] Diese Auffassung, welche auch Fischer, Gesch.
289 neben der ersten hat (285), ist schon im Text der Kritik vorbereitet.
Vgl. zu diesem Ex curs die Ergänzungen S. 288 u. bes. zu Abschn.VI.
Dnrch IdentitAt gedacht. G. Scherer, Kritik Kants u. s. w. S. 13: es
muss wohl besser heissen „Durch partielle Identität". Vgl. Krit. 593 ff.
(u. öfter) „nach der Begel der Identität".
Hinansgeheii. Maass tadelt (Eberh. Phil. Mag. II, 190, vgl. Eberhard
selbst III, 283 über das „metaphonsche Hinausgehen") diesen bildlichen,
unbestimmten Ausdruck, der keinen festen Aufschluss gebe. Ebenso tadelt
Eberhard ib. II, 292. 309, IV, 305 den bildUchen Ausdruck: Das Merkmal
liegt in dem Begriffe oder: es ist in ihm „enthalten". Diese Terminologie
sei zu unbestimmt. Vgl. dag. Born und Abicht, Phil. Mag. II, 8, 302 ff.
(Bei Hegel wurde daraus das Hinausgehen des Begriffes aus sich selbst,
ein Ausdruck, dessen Bildlichkeit Beneke, Syst. d. Logik I, 146 tadelt.)
Auch Prihonsky, Anti-Kant 34 nimmt Anstoss an diesen „Metaphern".
Alle Körper sind schwer« Bendavid^ Vorl. 5 gibt eine bemerkens-
werthe Bestimmung: In dem Begriffe Körper liege dessen Schwere nicht;
denn Schwere setzt noch den Bezug des Körpers zu unserer Erde voraus,
und er kann gedacht werden ohne diesen Bezug. Aehnlich Haupt m.
38: „Mein Begriff vom Körper besteht ganz vollkommen, wenn schon
unter allem seinem Mannigfaltigen die Schwere sich nicht mitbefindet."
Schmid, W. 508: der Begriff vom Körper ist hinlänglich bestimmt
(auch ohne das Merkmal der Schwere) ; das neue Merkmal wird, wenn es auch
zu dem Gegenstand gehört, doch nicht nothwendig erfordert, um
dessen Begriff zu bestimmen. Besonders Born führte diesen Gedanken
weiter aus, Grundl. § 15. Der Grundbegriff (der erste Begriff), dasjenige,
was jeder in der Sache zuerst wahrnimmt, ist denkbar ohne die synth.
Prädicate. S. oben 267. In ähnlicher Weise neuerdings Fischer 284: ,Wenn
mir nichts gegeben ist, als die Vorstellung des Körpers, so genügt
dieses Datum, um zu urtheilen: Der K. ist ausgedehnt; es genügt nicht, um
zu urth.: Der K. ist schwer. Ich könnte die Vorstellung des K. nicht
haben ohne die der Ausdehnung . . . Dagegen kann ich sie sehr wohl
haben ohne die der Schwere, wie denn der mathematische Be-
griff des Körpers gar nichts enthält von dieser Eigenschaft. Um zu
urtheilen, der K. ist schwer, muss ich den Druck des Körpers erfahren
haben . . . Ich kann die Vorstellung der Schwere nicht haben ohne die der
Kraft, und die blosse Vorstellung des Körpers sagt mir nichts von Kraft."
Dass man kein Recht habe, zu sagen: „Alle Körper sind schwer", sondern
nur „Einige", behaupten die Kritischen Briefe 28, nebst der Bemerkung,
dass überhaupt nur Particularsätze synthetisch sein können; nach der bis-
Synthetisches Urtheil: „Alle Körper sind schwer**. 279
[B 22. H 40. 41. E 54. 65.] A 7. 8. B 11.
herigen Logik entsprechen Axiome den analyt., Theoreme und Particular-
Sätze den synth. Urtheilen. üeber die Aenderung der Prol. § 2, wo statt
„aile" „einige*' steht , s. unten 284. Ein bemerkenswerther Zusatz von
Cohen a. a. 0. 202 ist: ,In dem Begriff der Schwere werden unmittelbar
zwei Körper gedacht, die gegeneinander gravitiren. Wenn ich daher sage:
Der Körper ist schwer, so denke ich in dem Körper mindestens zwei
Körper, also die Körper. Ich muss über den Begriff des Körpers hinaus-
gehen und ihn als Theil einer Erfahrung denken , wenn ich den Körper als
schwer prädicire.*' Vgl. Riehl, Kritic. I, 319. In den Met. An f. d. Na-
turw. Dyn. Lehrs. 5 Anm. (Eos. V, 360) heisst es, die Anziehungskraft
gehöre zum Begriffe der Materie, sei aber nicht in demselben ent-
halten; der Satz: „Alle Materie hat Anziehungskraft ** ist somit als syn-
thetischer zu betrachten. Demgemäss gibt K. für den Satz einen Beweis,
der im Wesentlichen darauf hinausläuft, dass diese Eigenschaft zur Mög-
lichkeit der Materie gehöre. Wenn nun Trendelenburg Log. Unters.
II, 241 K. vorwirft, mit dieser letzteren Bestimmung verwandle er den Satz
in einen analytischen, denn diese Folgerung sei eben eine Analysis der
Möglichkeit der Materie, so beruht dieser Einwurf auf fundamentalem Miss-
verstehen Kants. Wenn ein Prädicat dem Subject erst durch Vermittlung
eines solchen die sachliche Möglichkeit analysirenden Beweises, wie sich ein
solcher an der angegebenen Stelle findet, beigefügt wird, so ist der Satz
synthetisch. Kant lässt sich daselbst auch des Weiteren aus, warum die
Undurchdringlichkeit dem Begriff der Materie analytisch, die Anziehungskraft
aber synthetisch hinzugefügt werde ; diese Erörterung gipfelt darin, dass eben
Undurchdringlichkeit die erste und eigentliche Grundvorstellung der Materie
gebe, während Anziehungskraft nicht unmittelbar wahrgenommen werde.
Vgl. Riehl, Kritic. I, 319. Dass Ks. Beispiele für den Untersch. anal. u.
synth. Urth. „übel gewählt seien**, sagt Herder, Met. I, 60. Kiesewetter,
Prüf. I, 51 meint dag., Herder habe die K. 'sehen Beispiele „übel verstanden^.
(Noch etwas anderes X.) Dieser vermittelnde Factor, dessen schon oben
gedacht ist, wird auch das Dritte genannt, dessen es zur Verbindung zweier
Begriffe zu einem synth. Urtheil bedarf. 155: „Wenn man aus einem ge-
gebenen Begriffe hinausgehen muss, um ihn mit einem anderen synthetisch
zu vergleichen, so ist ein Drittes nöthig, worin allein die Synthesis
zweener Begriffe entstehen kann. Was ist nun dieses Dritte als das Medium
aller synth. Urth.?* u. s. w. (ib. 156 ff.) Es wird unten auch als „Hilfs-
mittel" bezeichnet. Auch nach B. 15 f. muss (bei mathem. Urth.) Anschauung
zu Hilfe gezogen werden. Auf dieses Dritte muss sich der Verstand
9 stützen'* *. Vgl. die Analyse der Stelle bei Caird 207 ff.
' Mit diesem „Dritten", das für alle synthetischen Urtheile nothwendig ist,
ist ein anderes „Drittes" nicht zu verwechseln, das für die am Faden der An-
schauung fortlaufenden direct- synthetischen mathematischen Urtheile nicht,
dagegen für die reinen Yerstandesgrandsätze, welche daher indire et- synthetische
280 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
(A 8.) B 11. [R (22.) 700. -H 40. 41. K 54. 55.]
[Erfahrnn^rsnrtheile als solche sind insgesammt synthetisob.] Dieser Ab-
schnitt der n. Aufl. stammt bis zu — „lehren würde* fast wörtlich aus
Proleg. § 2 c. Der Schluss des Absatzes ist eine fast wörtliche , vorne ver-
kürzte, hinten erweiterte Reproduction des in der I. Aufl. Gesagten. Die Ver-
änderungen sind nur formeller Natur und kleine Nachbesserungen des Aus-
drucks \ Die erheblichste Aenderung ist, dass statt »der Begriff (A) be-
zeichnet die vollständige Erfahrung durch einen Theil derselben" in der
I. Aufl. — in der 11. Aufl. steht „einen Gegenstand der Erfahrung*,
was offenbar eine formelle Verbesserung ist. I. Aufl. hat ferner: „als zu
dem ersteren gehörig*, II. Aufl. „als zu dem ersteren gehörten*. Dies ist
eine Aenderung des Sinnes. In A heisst es, dass die neuen Theile im syn-
thetischen Urtheile zu dem Subjectsbegriff „als zu ihm gehörig* hinzugefugt
werden; wie unten „ob zwar in jenen nicht enthalten, dennoch als dazu
gehörig, zu erkennen*. In B heisst es, dass die neuen Theile andere
seien, als die waren, die zu dem Subjectsbegriff gehörten*. Einen grossen
Werth legt Cohen Ks. Th. d. Erf. 202 darauf, dass das X in der IL Aufl.
für das empirisch-synth. Urtheil weggefallen und nur für das synth. Urth.
a priori aufbehalten ist. Allein darin ist eher eine formelle Verschlechterung
zu sehen, weil der Zusammenhang der Fragen dadurch verwischt wird. In
B wird noch hinzugefügt, dass Erfahrung selbst eine synthetische Verbin-
dung der Anschauungen sei., und dies als Erklärung dafür angegeben, dass
aus der Erfahrung neue synthetische Merkmale gezogen werden können.
Ebenso S. 764: „Erf. ist selbst eine solche Synthesis der Wahrnehmungen,
welche meinen Begriff, den ich vermittelst einer Erfahrung habe, durch
andere hinzukommende vermehrt.* Desshalb eben sei es „keiner Bedenk-
lichkeit unterworfen, wie ich aus meinem Begriffe, den ich bis dahin habe,
vermittelst der Erf. hinausgehen könne*. Vgl. zu dem ganzen Absätze S.
721: „Ich könnte meinen empirischen Begriff vom Golde zergliedern, ohne
dadurch etwas weiter zu gewinnen, als alles, was ich bei diesem Worte
wirklich denke, herzählen zu können, wodurch in meinem Erkenntniss zwar
eine logische Verbesserung vorgeht, aber keine Vermehrung oder Zusatz er-
worben wird. Ich nehme aber die Materie, welche unter diesem Namen
vorkommt, und stelle mit ihr Wahrnehmungen an, welche mir verschiedene
synthetische, aber empirische Sätze an die Hand geben wird.* Riehl,
sind, nothwendig ist. 733. 736 f. 766. 783. üebrigens verwechselt K. selbst beides
z. B. 155 ff. 301 f., vgl. 217 f. 258 f. u. bes. Grundl. z. Met. d. Sitten R. VBI, 79. Kriük
dieses „Dritten" als yffnenstruum universale^, yfPanacee"^ bei Herbart, W. W. III, 389.
^ Nach Cohen a. a. 0. 202 sind sie „höchst interessanf* *, er hat dieselben
aber gar nicht markirt. Vgl. Erdmann, Nachträge S. 11 (N. 6), S. 15 (N. VIII).
* B. Erdmann hält in seiner Ausgabe (S. 651) den Text der ersten Auflage
mit Recht für den besseren; „eine falsche Wendung" wird zwar durch den Text
der II. Auflage nicht hereingebracht, aber eine richtige Wendung (vgl. die De-
finitionen der synth. Urtheile oben S. 259 f.) wird dadurch verwischt. Tissot (42)
und Barni (56) lassen das Sätzchen einfach weg! Ebenso Born (10).
Erfahrungsurtlieile sind synthetisch. Die Apriorität d. analyt. Urtheile. 281
[R (22.) 700. H 40. 41. K 54. 55.] (A 8.) B 11.
Krit. I, 327: „Der Gegenstand erscheint von neuen Seiten, in geänderten
Verhältnissen, deren Betrachtung unser Wissen von ihm synthetisch erwei-
tert.* In den Proleg. § 2c brachte Kant die synth. Urtheile „zuvor unter
Klassen '^, nämlich er theilte ein in 1) Erfahrungsurtheile ; 2) Mathematische
Urtheile; 3) Metaphysische Urtheile. Hier in der Kritik behandelt K. bei
den synth. Urth. nur die erste Klasse ausfuhrlich, erwähnt die dritte, und
gibt dann in einem besonderen Abschnitt eine Aufzählung der synthetischen
Urtheile a priori, die er in 3 Klassen theilt. Schultz Prüf. I, 30: Da
jedes analytische Urtheil ein Urtheil a priori ist, so folgt hieraus, dass alle
empirischen Urtheile synthetisch sind. Die Verbindung des Prädicats mit
dem Subject erfolgt ja hier auch aus der Wahrnehmung. Es ist ein
superficieller Vorwurf Spickers, Kant u. s. w. 19, ein Satz wie: Es gibt
synth. Urth. a posteriori, deren Ursprung empirisch ist, sei eine reine Tau-
tologie. In dieser Verbindung heisst das: es gibt synth, Urtheile von be-
schränkter und bloss zufälliger Geltung, deren Ursprung also in der Er-
fahrung zu suchen ist.
[Ist ein Satz 9 der a priori feststeht.] Alle analytischen Urtheile sind
a priori. Sie haben das Merkmal der Nothwendigkeit. Denn was in dem
Begriffe A liegt, das kommt ihm auch selbstverständlich als noth wendig
zu. Ebenso das der Allgemeinheit; denn alle Exemplare eines Begriffs
haben eben als solche ohne Ausnahme die Merkmale des Begriffs, unter den
sie fallen. Prol. § .2 b: „Alle analytischen Urtheile beruhen gänzlich auf dem
Satze des Widerspruchs und sind ihrer Natur nach Erkenntnisse a priori,
die Begriffe, die ihnen zur Materie dienen, mögen empirisch sein oder nicht.
Denn weil das Prädicat eines bejahenden analytischen Urtheils schon vor-
her im Begriffe des Subjects gedacht wird, so kann es von ihm ohne Wider-
spruch nicht verneint werden; [im Gegentheil „der Begriff muss noth-
w endig vom Subject bejaht werden", Krit. 150 f.] ebenso wird sein Gegentheil
in einem analytischen, aber verneinenden Urtheile noth wendig von dem
Subjecte verneint und zwar auch zufolge dem Satz des Widerspruchs. So ist
es mit den Sätzen: Jeder Körper ist ausgedehnt, und: kein Körper ist un-
ausgedehnt (einfach) beschaffen. Eben darum sind auch alle analytischen
Sätze Urtheile a priori, wenngleich ihre Begriffe empirisch sind; z.B. Gold
ist ein gelbes Metall; denn um dieses zu wissen, brauche ich keiner wei-
teren Erfahrung, ausser meinem Begriffe vom Golde, der enthielt, dass
dieser Körper gelb und Metall sei; denn dieses machte eben meinen Be-
griff aus, und ich durfte nichts thun, als diesen zergliedern, ohne mich
ausser demselben wörnach anders umzusehen"! Vgl. Cohen a. a. 0. 201.
Kiehl, Krit. I, 322. Derartige Urtheile gehören somit, wie schon Heu-
singer, Enc. I, 268 richtig bemerkt. Neuere dagegen wie z. B. Riehl a. a.
0. 322 nicht genügend klar machen, während Er d mann, Gött. Gel. Anz.
1880 S. 632 K. gegen seinen eigenen Begriff der Apriorität sich Verstössen
lässt, unter die relativ- apriorischen, bei denen nur die Ableitung
Sache der Vernunft ist, der Inhalt dagegen aus der Erfahrung stammt.
282 Commentar zur Einleitung A, S. 6— 10 = B, Abßchn. IV.
(A 8.) B 11. [B (22.) 700. H 40. 41. E 64. 66.]
Von den früheren relativ-apriorischen ürtheilen unterscheiden sich die hier
genannten dadurch, dass das Allgemeine, was aus der Erfahrung stammt,
und was dann zur Ableitung des fraglichen Urtheils dient, dort ein allge-
meines Gesetz, hier dagegen ein allgemeiner Begriff ist. Dort wurde aus
dem allgemeinen (empirischen) Gesetze: alle Körper, weil schwer, stürzen
um, wenn die Stütze entzogen wird, das singulare Urtheil abgeleitet : Dieses
Haus u. s. w. Hier dagegen wird aus dem aus einer einzigen oder aus vielen
Erfahrungen abstrahirten , jedenfalls empirischen Begriff des Körpers das
allgemeine Urtheil gebildet, alle Körper sind ausgedehnt ^ Tiedemanns
Einwand (Theätet 220), es gebe in den analyt. ürtheilen doch allgem. und
nothw. Erkenntnisse, die aus der Ei*fahrung stammen, ist somit berechtigt.
Ebenso was Reinhold (jr.) Th. d. Erk. § 37 Anm. u. A. z. B. Spicker,
Kant u. s. w. 18, Röder, Das Wort a priori § 5 sagen. Vgl. Lange, Mat.
II, 11: „Ein Urtheil a priori kann zwar auf Erfahrung indirect gestützt sein,
aber nicht als Urtheil, sondern nur insofern seine Best an dth eile Er-
fahrungsbegriffe sind. So viele anal, ürtheile" u. s. w. Dass es auch ana-
lytische Erfahrungssätze gebe, suchen die Krit. Briefe 29 ff. nach-
zuweisen. Wenn ich ein bestimmtes Erfahrungsding definire, so sei dies
ein analytischer Satz und doch a posteriori entstanden. Vgl. dag. Born,
Philos. Mag. II, 376 ff. Gegen Spicker ähnlich Meinong, Philos. Mon.
XII, 341 und Pesch, Haiti, d. mod. Wiss. 14. Trotta, Saggio std ra-
tionalismo, Neapel 1859, welcher die ganze Einleitung einer scharfen Kritik
vom empiristischen Standpunkt aus unterwirft, macht S. 23 denselben Ein-
* Selbstverständlich gibt es auch analytische Urtheile^ welche ganz absolut-
apriori sind, z. B. die Substanz ist die Trägerin der Eigenschaften. Von diesen
ist die Rede (vgl. unten S. 313) B 23, wo es sich um „Zergliederung der Begriffe"
handelt, „die unserer Vernunft a priori beiwohnen". Aber auch an sich ist die
Apriorität aller analytischen Urtheile als solcher eine ganz andere, als die
Apriorität der in unserer Vernunft liegenden Begriffe und Sätze: jene ist relativ,
hypothetisch, logisch, diese ist absolut, transscendental, jene ist Leibnizisch, diese
ist Kantisch. (Vgl. oben S. 191. 193. 203. 221 Anm.) In einem analytischen Urtheil,
dessen Subjects begriff aus der Vernunft stammt, sind somit diese beiden ganz
heterogenen Arten der Apriorität verbunden; dem Inhalt nach handelt es sich
um Begriffe, welche der Vernunft materialiter eingeboren sind; der Form nach
um blosse 'Ableitung, wobei die logische Vernunft formaliter functionirt; das
Nicht-zu-Hilfe-nehmen der Erfahrung ist daher auch beidemal etwas ganz
anderes. Dass nun Kant hierüber gar keine orientirende Bemerkung macht, ja
offenkundig beide Arten gar nicht auseinanderhält, hat zur Verwirrung bei ihm
selbst — Quod pace tanti viri dixerim! — und bei seinen Lesern viel beigetragen;
man vgl. z. B. noch Ulrici, Grundpr. 1,303 f. Schon die Zusammenstellung des
relativen und des absoluten Apriori im I. Abschn. ist verwirrend, weil beide als
coordinirte Arten einer und derselben Gattung erscheinen, während beide ganz
heterogener Natur sind, generisch, nicht bloss specifisch verschieden; generisch
verschieden, weil es sich das eine Mal um Logik, das andere Mal um Erkenntniss-
theorie „Transscendentalphilosophie" handelt. Aehnliche Verwechslung Krit 76.
Analy tische Urtheile und der Satz des Widerspruchs. 283
[B (22.) 700. H 40. 41. E 54. 56.] (A 8.) B 11. 12.
wand, wie die oben Genannten. Ebenso Cantoni, Kant 152 und Laurie
a. a. 0. 227.
[Denn ehe ieh lur Erfahrung irehe*] Göring, System II, 140 wirft E.
vor, Erfahrung habe hier einen doppelten Sinn. Wenn es heisst, vor der
Erfahrung habe ich schon alle Bedingungen zum fertigen Begriff, so sei hier
Erf. Anwendung eines solchen Begriffs im Urtheile auf Gegenstände. Nachher
bedeute Erf. aber „sinnliche Wahrnehmung' . Im Uebrigen komme diese
Aprioritftt der anal. Urth. darauf hinaus, »dass man eine Erfahrung, die
man bereits gemacht hat, nicht noch einmal zu machen braucht'. Vgl. auch
a. a. 0. 159. Die weitere Kritik Gs. daselbst ist theilweise sehr treffend.
[Xaeh dem Satze des Ifldersprnchs.] Vgl. (ausser Prolegomena § 2 b)
noch Krit. S. 150 ff.: »Von dem obersten Grundsatze aller ana-
lytischen Urtheile." Der Satz des Widerspruchs wird formulirt: Kei-
nem Dinge kommt ein Prädicat zu, welches ihm widerspricht.
(Eine andere gewöhnliche Formel wird von K. zurückgewiesen.) Der Satz
heisst positiv auch Satz der Identität. Desshalb sagt K. oben, die ana-
lytischen Urtheile werden durch Identität gedacht. Wesshalb, wenn ein
Urtheil analytisch ist, „dessen Wahrheit jederzeit nach dem Satze d. W.
hinreichend erkannt werden kann'', ist in der S. 281 mitgetheilten Stelle
der Prol. § 2 b gesagt. Ist das Urtheil bejahend, so muss das Prädicat mit
einem der Merkmale des Subjects identisch sein; ist es verneinend, so
muss sich unter den Merkmalen des Subjects Eines finden, dem das Prädicat
widerspricht. Fortschr. K. 150. E. I, 545: „Ein Widerspruch findet in
einem Urth. dann statt, wenn ich ein Prädicat in einem Urth. aufhebe imd
doch eines im Begriff des Subjects übrig behalte, das mit diesem identisch
ist '.' 9 Wer ein analytisches Merkmal einem Subject abspricht, begeht einen
Widerspruch ; dagegen kann bei synth. Urtheilen der eine Begriff aufgehoben
werden, ohne dass der andere dadurch vernichtet würde '.* Vgl. Pörschke,
Briefe 66. Weil die Logik das Analysiren lehrt, heissen die anal. Urtheile
auch logische. Ausserdem ist die ganze Logik selbst ein .System ana-
lytischer Regeln a priori, weil sie bloss den Begriff des Begriffes,
Urtheils, Schlusses u. s. w. analytisch zergliedert. Beides wird oft auch
von K. selbst vermischt '. Der Satz d. W. ist zwar für die synth. Urth.
* Kritik 597: „Der Vorzug, dase das Prädicat sich ohne Widerspruch nicht
aufheben lasse ^ kommt den analyt. Urtheilen^ als deren Charakter eben darauf
beruht, eigenthümlich zu," ib. 596 über die Aufhebung der „inneren Möglichkeit".
* Der eigentliche Erkenntnissgrund der analyt. Urtheile ist, wie
Jakob Log. u. Met. § 661 richtig hinzusetzt, jederzeit der Begriff des Subjects.
Riehl, Krit. I, 321: „Im analyt. Urtheil ist der Begriff des Subjects der Grund
des Prädicatsbegriffes. Aus dem blossen Bewusstsein des Subjectsbegriffs folgt
das Prädicat ohne Rücksicht oder Mithilfe von Anschauung und Erfahrung. Mit
dem Subject ist von vornherein das Prädicat gegeben.** Der Erkenntnissgrund
für das Prädicat, resp. für das Urtheil, ist der blosse Begriff. Vgl. oben 262.
' Dass die Logik eine rein analytische Wissenschaft sei, führt im Anschluss
284 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A 8. B 12. [R 22. 700. H 40. 41. K 54—56.]
eine unerlässliche conditio sine qua non; aber nicht ihr eigentliches, materiales
Princip. Kein Satz kann richtig sein , in dem dem Subject ein Pr&dicat zu-
gesprochen wird, das einem seiner Merkmale widerspricht. Ein solches ürtheil
wftre falsch. Synthetische Sätze können aber noch aus anderem Grunde
falsch sein; eben daher bedürfen sie für ihre Wahrheit ein besonderes
Princip. Eine Ergänzung hiezu geben die Fortschr. K. 118 R. I, 510, wo
auch der Satz des zureichenden Grundes als Princip der analytischen
Urtheile behandelt wird, nebst dem Satz des ausgeschlossenen Dritten.
Letzterer beherrscht die apodiktischen, ersterer die assertorischen,
und der Satz des Widerspruchs die problematischen analytischen Sätze.
Vgl. Logik Einl. VII u. Brief an Reinhold vom 19. Mai 1789. Wie dies
gemeint sei, zeigt das Beispiel. „Der Satz: ein jeder Körper ist theilbar, hat
einen Grund, und zwar in sich selbst ... er kann als Folgerung des
Prädikats aus dem Begriffe des Subjectes, nach dem Satze des Wider-
spruches . . . eingesehen werden." Dieser letztere Gedanke ist schon in der
Schrift über die neg. Grössen R. I, 1 58 und dann bes. in der Schrift gegen
Eberhard weiter ausgeführt; Ros. I, 456 ff. 467. 471. Es gab dies aber
zu Missverständnissen Anlass, da nach Eberh. der Satz v. Grund das Princip
der synth. Urtheile sein sollte ; s. dessen Phil. Mag. II, 296. 308 ff.
[Einen Gegenstand der Erfahrung.] Zur (gegenseitigen) Erläuterung dient,
was K. sagt, bei B. Erdmann, Nachtrag u. s. w. Preuss. Jahrb., 37, 213:
„In allen ürtheilen ist der Begriff vom Subject etwas (a), was ich von
dem Subject x denke; und das Prädicat wird als ein Merkmal von a [dem
Begriff] in allen analytischen, oder an x [d. h. also an dem Ding selbst,
wie es empirisch sich darstellt] in dem synth. angesehen." Vgl. oben 265 f.
Die Schwere Jederzeit verknüpft K Hiezu bemerkt Cohen 203: „Dieses
Jederzeit deutet auf den Kant eigenen Gedanken hin, dass der Satz in Wahr-
heit a priori bewiesen werden könne, und daraus erklärt sich die Aenderung
des Satzes in den Proleg. aus: alle Körper in: einige Körper sind schwer.*
Die erste Bemerkung ist falsch, die zweite unverständlich. Dagegen ist die
Beobachtung richtig, dass der hier sich findende Ausdruck: „Der Begriff
an K. Schultz aus Prüf. I, 45—54. Gegen die Behauptung^ dass die Logik nur
analytische Sätze enthalte (s. A. L. Z. 1789 Nr. 175. 8. 587)^ sprach sich Maas 8
in Eberhards Phil. Mag. 11^ 316 energisch aus. Er fragt, ob der Satz: „aus zwei
particulären Vordersätzen folgt nichts": oder: „der Untersatz in der 1. Fig. muss
bejahen'* analytisch sei ? Seines Erachtens sind sie synthetisch a priori und somit
ausserdem ein Beweis, dass es solche gibt, ohne Beziehung auf Anschauung, was
K. in der Kritik leugnet. Nach Lange (auch schon nach Prihonsky, Anti-
Kant 42), Log. Studien bes. S. 9. 25 hat die Logik einen „Kern synthetischer
Sätze". Vgl. dag. Knauer, Phil. Mon. XIII, 362. Bei Steckelmacher, Kants
formale Logik, fehlt eine Erörterung hierüber.
^ Vgl. Leibniz, Ed. Erdm. lila: Quid extensioni nos addamus ad ahaoU
vendam corporis notionem? Quid nisi quae senstis ipse testetur. (Äutographum Leih-
nitii.) Vgl. Feuerbach, W. W. V, 242.
Synthetische Urtheile a posteriori und a priori. 285
[B 22. 700. 701. H 41. K 65. 56.] A 8. 9. B 12.
eines ^Körpers überhaupt" erinnere an den Ausdruck der Proleg. § 2a:
,Der allgemeine Begriff vom Körper", lieber jenes »Jederzeit" vgl. Gö-
ring, Krit Phil. I, 141.
[Erfahrnngr selbst eine synthetische Terbindnng der Anschauungen.] Vgl.
B 1 6 1 : , Erfahrung ist Erkenntniss durch verknüpfte Wahrnehmungen " . B 2 1 8 :
, Erfahrung ist eine Synthesis der Wahrnehmungen". Prol. § 5: Erf. ist selbst
nichts anderes, als eine continuirliche Zusammenfügung von Wahrnehmungen.
Gut deiinirt Pörschke, Briefe 72: Erfahrung ist eine „ Zusammensetzung
von Gegenständen, von welchen keiner aus dem andern durch Analysiren
gefunden werden kann, und welche die Wahrnehmung zusammenstellet."
Schulze, Krit. L, 185 sagt im Sinne Kants: der Erfahrung gemäss „erzeugt
der Verstand synth. Urtheile, in welchen der Verbindung des Prädicats
mit dem Subject dieselbe Zufälligkeit zukommt, welche dem Zugleichsein der
Wahrnehmungen in der Erfahrung anklebt. " Dass in dieser Combination der
Wahrnehmungen schon ein apriorisches Element steckt, darauf macht hier K.
noch nicht aufmerksam. Vgl. Kirchner, Met. S. 35. Unten zu B 20 folgt
eine wesentliche Ergänzung zu diesem Punkte. Vgl. zu dieser Stelle
Cohen, Erf. 203: „Von hier dringt die Frage wohlvermittelt zur Möglich-
lichkeit der Synthesis a priori."
Aber bei synthetischen Urtheilen a priori« Alle empirischen Sätze
sind synthetisch; daraus folgt nicht, dass alle synthetischen Sätze
empirisch sind. Es stünde um die Wissenschaft schlecht, wenn es nur analyt.
and synth. Urtheile a post. gäbe; denn jene sind nichts werth und ohne
neuen Inhalt, diese aber ohne AUgemeinh. und Nothwendigkeit. Die Existenz
der Wissenschaft hängt also an der Frage: Gibt es synthetische Urtheile
a priori? Sc hall er, Ks. Naturph. 54 bemerkt, dass bei den synth. Urth.
a priori eine Zusammenfassung zweier nicht unmittelbar durch den Begriff
zusammengehöriger Bestimmungen zur wesentlichen Einheit stattfinde. Hier
schiebt Schulze in seiner Krit. I, 180 im Sinne Kants ein, man müsse die
synth. Urtheile eintheilen in zufällige und nothwendige; bei jenen kann
das Prädicat dem Subj. auch abgesprochen werden ; bei diesen ist das nicht
möglich, ohne die „innere Möglichkeit" des Subjectsbegriffes zu zerstören. Er
wiederholt dies 11, 146. Es fragt sich aber, ob dies Kantisch ist. Bei Kant
besteht die Nothwendigkeit der synth. Urth. a priori vielmehr eben in
dem Zwang, mit dem sich diese Urtheile als solche auf- und hervor-
drängen, also in der Verbindung. Vgl. gegen Eberh. R. I, 455. Allerdings
bemerkt er, dass das Prädikat als zu dem Begriff der Subjects „gehörig" er-
kannt werde. Allein von jener Bestimmung, dass das Subject ohne Fällung
jenes Urtheils so zu sagen in seiner innersten Möglichkeit tödtlich getroffen
würde, steht nichts hier \ Diese falsche Auslegung Ks. rächte sich an
* Wenn man die S. 263 angeführten Stellen, wonach auch die synthetischen
Attribute zur „inneren Möglichkeit des SubjectsbegrifFes" gehören, mit den hier
aus Kant und seinen Erklären! angezogenen Citaten und mit den oben S. 283
286 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abschn. IV.
A 9. B 12. [B 23. H 41. E 56.]
Seh. ; denn er kämpft a. a. 0. II. 146 ff. gegen dieses von ihm selbst gemachte
Phantasma, wobei er allerdings Becht hat, dass schon der Begriff der synth.
Urth. a priori durch einen inneren Widerspruch sich selbst aufhebe,
aber dieser Begriff, den der sonst so scharfsinnige Mann bekämpft, ist eben
nicht der Kantische. Denn K. sagt nirgends, „dass dadurch, dass man
von einem Begriff dasjenige, was nicht in ihm liegt (das synthetische Prä-
dicat) wegdenkt, die bereits in demselben gesetzten Merkmale zugleich mit
aufgehoben werden", a. a. 0. IL, 150. Bei Reinhold, Beitr. zur Ber. I,
292 findet sich allerdings derselbe Irrthum, wahrscheinlich als die Fehler-
quelle für Schulze. Ebenso Peuker, Darst. 4. Richtig dagegen Schultz,
Prüf. I, 29; da das Prädicat nicht im Subject liegt, so enthält auch die
Nicht verbin düng keinen Widerspruch. Dag. ib. 79 sagt er allerdings von
mathem. Sätzen, dass die Sul^ecte, denen die ihnen zugehörigen Prädicate
abgesprochen würden, schlechterdings unmöglich seien; auf ders. Seite aber
findet er auch die Noth wendigkeit in der Verknüpfung als solcher, nicht
im Subject. Vgl. ib. S. 81 — 82. Richtig bestimmt Apelt Met. 44, dass
der Widerspruch nicht den Subjectsbegriff betreffe, sondern wenigstens
bei der Mathem. die reine Anschauung Quelle der Nothw. sei. Wie die
Nothw. des Caus.-Gesetzes zu verstehen sei, sagt K. selbst, Kr. d. prakt.
Vem. 93 : Die Erscheinungen müssen causaliter verbunden sein und können
nicht getrennt werden, „ohne derjenigen Verbindung zu wider-
sprechen, vermittelst deren diese Erfahrung möglich ist." Ganz irrig ist
Paulsens Auffassung, Entw. 156 f.
Durch Combination der beiden bisherigen Eintheilungen (»der 4 Grund-
pfeiler der K.'schen Kritik d. r. V." Spicker 14) erhalten wir vier ürtheils-
arten:
1) Analytische a posteriori.
2) Analytische a priori.
3) Synthetische a posteriori.
4) Synthetische a priori.
(1) Von diesen vier Fällen ist der erste imaginär. Denn kein em-
pirisches Urtheil ist analytisch, weil es eben nicht durch Begriffsanalyse, son-
über die analytischen Urtheile aufgeführten Stellen vergleicht, findet man, dass
K. einerseits die synthetischen Urtheile a priori von den analytischen als den auf
der ^inneren Möglichkeit" des Sabjects beruhenden Ürtheilen unterscheiden will,
ihnen aber andererseits als apriorischen eine Noth wendigkeit zuschreibt, welche
doch auch wieder auf der ^ Möglichkeit" des Subjectsbegriifes zu beruhen scheint
Die Lösung dieses vielleicht doch mehr als bloss scheinbaren Widerspruches ist
schon oben S. 263 u. 264, sowie S. 279 (Anziehungskraft als zur Möglichkeit der
Materie gehörend) angedeutet, (wozu man noch die Bemerkungen S. 289. 292
von Schulze, Apelt, Lotze vergleiche), kann aber erst in der Analytik, beim
Beweis „aus der Möglichkeit der Erfahrung" ganz gegeben werden. Man vgl.
vorläufig Riehl, Kriticismus I, 168 ff. Harms, Gesch. der Phil. 134. Fries,
Gesch. d. Phil. II, 509. 511. Deg^rando, Vergl. Gesch. II, 481. Herbart, UI, 38a
Combination möglicher ürtlieilßarten. 287
[R 23. H 41. E 56.] A 9. B 12.
dem durch Erfahrung zu Stande kommt, und alle analytischen ürtheile
sind a priori, weil das Urtheil aus dem schon vorhandenen Begriffe ohne
Zuhilfenahme der Erfahrung gezogen wird, [wobei nur zu bemerken ist, dass
wenn dieser Begriff selbst empirisch ist, das ürtheil trotz seiner analytischen
Natur nur relativ a priori, also doch eigentlich a posteriori ist]. K. zieht
diesen ersten Fall gar nicht in Betracht, weil er ihn, wie bemerkt, über-
haupt nicht als wirklich anerkennt.
(2) Der zweite Fall ist ohne Schwierigkeit. Alle analytischen ürtheile
sind a priori und entstehen einfach nach dem Satze des Widerspruchs. Prol.
§. 5. ,Die Möglichkeit analytischer Sätze konnte sehr leicht begriffen werden.
Denn sie gründet sich lediglich auf dem Satze des Widerspruchs \'
(3) Der dritte Fall betrifft die gemeinen Erfahrungsurtheile. Ib. „Die
Möglichkeit synth. ürth. a posteriori d. i. solcher, welche aus Erfahrung ge-
schöpft werden, bedarf auch keiner besonderen Erklärung; denn Erfahrung
ist selbst nichts anderes, als eine continuirliche Zusammen fügung (Synthe-
sis) der Wahrnehmungen." [Vgl. jedoch die Ergänzung hiezu bei B 20.]
(4) Ib. „Es bleiben also nur synthetische Sätze a priori übrig, deren
Möglichkeit gesucht oder untersucht werden muss, weil sie auf anderen Prin-
cipien, als dem Satze des Widerspruchs beruhen muss." Schultz Erl. 16:
„Insofern sie synth. Sätze sind, so ist hier das Prädicat nicht im Begriff des
Subjects enthalten, also kann auch jenes aus diesem nicht durch den Satz d.
Widerspruchs abgeleitet werden, und insofern sie a priori sind, so kann
die Verknüpfung des Prädicats mit dem Subject auch nicht von der Erfahrung
abhängen." Somit muss für sie ein neues Princip gefunden werden, das
über dem Satz des Widerspruchs und über der Erfahrung hinaus-
liegt; oder über den rein logischen Verstand einerseits und die Wahr-
nehmung andererseits. Den Fund synthetischer ürtheile a priori
beschreibt oben der Excurs, bes. S. 274 ff. Zuerst erkanhte K. in der Mathe-
matik eine Synthese a priori, dann in der Oausalität und dann dehnte er
diese Entdeckung über eine Reihe anderer Erkenntnisse aus.
Hegel (W. W. III, 242) meint, der Begriff der synth. ürth. a priori allein
mache schon Ks. Philos. unsterblich. Eine Synthesis a priori, d. h. die
Hinzufügung eines Prädicats zu einem Subject vor und ausser aller Erfahrung
ist dagegen nach Herder Met. I, 62 so viel als 0 + 0 d. h. Nichts. Dag.
Schmidt und Schnell Erl. 99 ff. In dem Aufsatz „üeber das unternehmen des
Eriticismus" u. s. w. in Reinholds Beitr. 1802, 3, 17 sucht Jacobi ähnlich zu
zeigen: „dass der Kriticismus die Aufgabe, welche er lösen wollte, wie ür-
* Man bemerke, dass der obigen Combination jene schon S. 282 gerügte Ver-
wechslung Ks. zu Grunde liegt. Die Apriorität bei Nr. 2 und bei Nr. 4 sind ganz
verschieden. Wird das eigentliche Apriori im strengen Sinn der Eintheilung zu
Grunde gelegt, so gibt es analytische ürtheile a posteriori (bei denen der Subjects-
begriff aus der Erfahrung stammt) und analytische a priori (bei denen derselbe
aus der Vernunft stammt).
288 Commentar zur Einleitung A, S. 6 — 10 = B, Abschn. IV.
A 9. B 12. [R 23. H 41. E 56.]
theile a^ priori möglich sind, nicht gelöst hat; dass sie überhaupt nicht
gelöst werden kann , weil ein ursprüngliches Synthesiren ein ursprüngliches
Bestimmen und dieses ein Erschaffen aus Nichts* sein würde.* W.W.
III, 80.
Für die Theorie des synthetischen ürtheils a priori ist noch ein
bis jetzt nicht geltend gemachter historischer Gesichtspunkt anzuwenden,
durch welchen Kants „Revolution* in einem neuen Lichte erscheint. Diese
Oombination stellt nämlich nichts weniger als eine grossartige Vermittlung
der englisch-empiristischen und der deutsch-rationalistischen Philosophie dar.
Nach Locke-Hume sind die wahren, eigentlichen werthvollen Urtheile syn-
thetischer* Natur; und zwar sind dies die Erfahrungsurtheile. Die
engl. Philos. kennt als fruchtbare Urtheile somit nur synthetische Ur-
theile a posteriori. Analytische Urtheile erscheinen ihr gänzlich werth-
los für wahre Erkenntniss und stammen, soweit sie überhaupt Sinn haben
und Werth besitzen, doch schliesslich aus der Erfahrung. Umgekehrt sind das
Ideal der Leibniz'schen Philosophie analytische Urtheile, Urtheile aus Zer-
gliederung der Begriffe und zwar apriorische Zergliederungen apriorischer
Begriffe. Die deutsche Philosophie kennt als eigentliches Urtheil nur
analytische Urtheile a priori. Alle Erfahrungsurtheile, • welche aller-
dings synthetisch sind, haben doch in letzter Linie die Bestimmung, durch
immer weiteren Fortschritt in analytische a priori umgebildet zu werden.
Die viritia de fait sind schliesslich rationell zu demonstriren und zwar in
letzter Linie analytisch a priori. Für die vorkantische Philosophie und
für den vorkritischen Kant sind »analytisch* und a priori, „synthetisch*
und a posteriori Wechselbegriffe*. Vgl. Paulsen a. a. 0. 154, der
dieser Formulirung nahekommt. Kants grosse That besteht nun einfach in
der Auseinanderhaltung jener Gegensätze, und in einer neuen Oombi-
nation. Er entdeckt die synthetischen Sätze a priori. Die apriori-
schen Urtheile brauchen nicht alle analytisch zu sein, die synthetischen
brauchen nicht alle empirisch zu sein. Man kann sagen, dass K. von
dem Anfang der Sechziger Jahre an, „an dieser Schwarte nagte*, und dass
^ Eine ähnliche scharfe Kritik hat die Aufstellung synthetischer Urtheile
a priori häufig erfahren. Die speciellen Einwände sowohl der Dogmatisten als
der Empiristen gegen diese von Kant aufgestellte Urtheilsgattung^ die angebliche
Vorgeschichte derselben z. B. bei Piaton und Aristoteles, sowie die Darstellung
der Weiterbildung derselben gehören zu den auf S. 268 erwähnten Supplementen.
' Wir gebrauchen der Einfachheit halber die K.'schen Termini.
• Genau in diesem Sinne schreibt K. an Reinhold am 12. Mai 1789, auch
wenn die Unterscheidung der synthetischen von den analytischen Urtheilen
fichon vor ihm dagewesen sei, habe man doch die Wichtigkeit dieses Unterschieds
nicht eingesehen, und das kam daher, „weil man alle Urtheile a priori zu der
letzteren Art und bloss die Erfahrungsurtheile zu den ersteren gerechnet zu haben
scheint, dadurch denn aller Nutzen [der Unterscheidung] verschwand." Vgl. die
Erörterung von Nolen, La critique de Kant S. 176 f. Vgl. oben 274 Anm.
Entdeckung und Bedeutung des synthetischen Urtheils a priori. 289
[R 23. H 41. E 56.] A 9. B 12.
er gegen 10 Jahre brauchte, um jenes Vorurtheil zu überwinden, die genannten
Gegensätze decken sich, um zu finden, dass eine andere Combination mög-
lich oder vielmehr wirklich und daher nothwendig sei. Nur unter diesem
Gesichtspunkt erhellt Kants ganze Genialität und die enorme Bedeutung der
Formel: Wie sind synthetische ürtheile a priori möglich?* Wie
bemerkt, erscheint von diesem Gesichtspunkte aus die Entdeckung synth. Urth.
a pr. als ein grossartiger Compromiss zwischen den sich befehdenden vorkan-
tischen Schulen. Zu bemerken ist jedoch hier vorläufig, dass diese Ürtheile
eine ganze andere Beweismethode als die bisherigen analyt. Urth. der Philos.
forderten und dass in dieser neuen Beweismethode (welche in der Deduc-
tion der Grundsätze ihren Höhepunkt erreicht) nicht nur bei Kant selbst
der „locus ndnimäe resistenticte" y d. h. der schwächste Punkt liegt, sondern
dass die Einfuhrung dieser neuen Methode eine Willkür sog. philos. Deduc-
tionen bei den Nachfolgern hervorrief, welche von der strengen Gedanken-
haltung der früheren Dogmatiker unvortheilhaft absticht. Dass vor Kant
von Aristoteles, Locke, Leibnitz, Hume und allen andern die nothwendigen
Wahrheiten mit den analytischen verwechselt und die Thatsache synth. Erk.
a priori verkannt wxurde, erklärt Apelt Met. 41 so: Gewöhnlich halte man
für nothwendig das, dessen Gegentheil man sich nicht denken kann ; und da
man glaubt, dass alle ünmöglicheit, das Gegentheil zu denken, im Satze des
Wid. ihren Grund habe, halte man eben alle nothw. Erk. für analytisch, allein
jene Unmöglichkeit kann ihren Grund nicht bloss in einem Widerspruch
der Aussage mit sich selbst, sondern auch mit einem sonst feststehenden
Axiom oder Begriff haben. Sehr gut schildert Schulze Krit. II, 145 die
eventuelle Tragweite der Entdeckung der synth. Urth. a priori: „Durch die-
selbe würden wir mit einer ganz neuen Art vollkommener Gewissheit in der
Verbindung der Vorstellungen bekannt gemacht, da die Logik sonst nur diejenige
Art dieser Gewissheit kennt, welche durch die Identität des Inhalts der Vor-
stellungen vermittelt wird, so dass also die bisher in dieser Wissensch. auf-
gestellten Regeln, wie Beweise zu führen seien, sehr unvollständig wären,
indem nach jener Entdeckung auch ein absolut nothwendiger Zusammenhang
zwischen Vorstellungen stattfinden könnte, der sich gar nicht auf eine Iden-
tität dieser Vorstellungen in Ansehung ihres Inhalts stützte.'' Kant will
— was gegen neuerdings hervorgetretene falsche Auslegungen ausdrücklich
betont sei — die in der bisherigen Metaphysik enthaltenen synthetischen Sätze,
so weit sie w ahr sind, beweisen. Pro leg. § 4 sagt er ausdrücklich, ausser den
unbestrittenen, aber werthlosen analytischen Sätzen zeige die bisherige Metaph.
auch synthetische Sätze, wie z. B. den Satz des zureichenden Grundes ; diese
räume man derselben gerne ein, aber sie habe dieselben niemals a
priori bewiesen. Und dies wiederholt K. formell in der Schrift gegen Eber-
hard B. I, 447, 460, 462 und erhebt aufs neue denselben Vorwurf in ver-
^ Windel band (Gesch. d. Philos. 11^ 50) nennt sie gut den Kantischen
„IdealbegrifF der Erkenn tniss'*.
Valhlnger, K«iit-Coiimient«r. X9
290 Commentar zur Einleitung A, S. 6—10 = B, Abechn. IV.
A 9. B 12. 18. [R 23. H 41. E 66.]
schärfter Form. Er tadelt eben daselbst (I, 410) die bisherigen Beweisversuche
jenes Princips (aus und nach dem Satz d. W.*) und weist auf sein neues Beweis-
princip hin , die Beziehung auf sinnliche Anschauung. K. nennt es selbst
einen „harten Vorwurf'', nämlich, dass die bisherige Metaph. ihre synth.
Sätze a priori nicht beweisen könne, weil sie solche, als von Dingen an sich
selbst gültig, aus ihren Begriffen beweisen will. Metaph. 35: Der Satz vom
zur. Gr. ist noch von keinem Phil, bewiesen. Der Beweis von dem Satze ist
die crux phüosophorum, Kant will ihn bewiesen haben und zwar synthetisch,
was er am Schluss der Prolegomena Or. 219 aufs stärkste betont, wo er
bekanntlich seinen Becensenten auffordert, unentbehrliche synthetische Sätze
a priori zu beweisen, z. B. den Satz der Beharrlichkeit der Substanz
oder der nothwendigen Bestimmung der V^eltbegebenb^iten durch ihre
Ursache ^ — Hamann bemerkt in seiner seltsamen, „aber tiefsinnigen*
Weise in der Metakritik über das Verhältniss der Mathematik und Meta-
physik betreffs synth. Urtheile a priori (Bink, Manch. 125). „Zwar sollte
man aus so manchen analytischen Urtheilen auf einen gnostischen Hass gegen
Materie oder auch auf eine mystische Liebe zur Form schliessen : dennoch
hat die Synthesis des Prädikats mit dem Subject, worin das eigentliche
Object der r. V. besteht, zu ihrem Mittelbegriff weiter nichts, als ein altes
kaltes Vorurtheil für die Mathematik vor und hinter sich, deren apodiktische
Gewissheit hauptsächlich auf einer gleichsam kyriologischen Bezeichnung der
einfachsten sinnlichsten Anschauung und hiernächst auf der Leichtigkeit be-
ruht, die Möglichkeit derselben in augenscheinlichen Constructionen oder sym-
bolischen Formeln und Gleichungen, durch deren Sinnlichkeit aller Missver-
stand von selbst ausgeschlossen wird, zu bewähren und darzustellen.*' Die
Geometrie stelle alle ihre, selbst die idealsten Begriffe empirisch dar; aber
die (Eantische) Metaphysik „ missbraucht alle Wortzeichen und Redefiguren
unserer empir. Erkenntniss zu lauter Hierogljrphen und Typen idealischer
Verhältnisse und verarbeitet durch diesen gelehrten Unfug die Biederkeit der
Sprache in ein sinnloses unbestimmbares Etwas" u. s. w. W. W. VII, 7.
(Ausser dem Begriffe) [Ueber den Begriff] A hinansgehen. Cohen a. a. 0.
193: „Was man bei diesem Hinausgehen thut, wie man es anfügt, wird
nicht gesagt und kann nicht gesagt werden, denn dieses Sagen würde die
Auflösung des Bäthsels sein müssen, sondern es wird nur eben gefragt,
wie die Vernunft zu solchen Behauptungen komme". Vgl. unten Apelt. Nach
Spicker Kant 165 verneint hier K. das synth. Urth. a. pr. ausser der
^ Einen eigenthümlichen Beweis des Satzes v. zur Gr. aus dem S. d. W.
versucht Seile Berl. Mon. 1784, IV, 572 f. Er reducirt den Satz: Es kann kein
Ding existiren, ohne zureichend gegründet zu sein, auf den Satz: Dasjenige, was
zum Dasein eines Dinges gehört, muss auch da sein; und diesen auf den Satz:
Das Ding, was da ist, muss da sein (also das Wirkliche setzt seine Möglichkeit voraus).
' Gut nennt Caird, Phil, of K. 208 die Versuche, synthetische Prädicate
aus dem blossen Begriffe herauszuklauben, eine „alchemy of reaaon".
Dos „ Geheim niss^ der synthetischen Urtheile a priori. 291
[R 23. H 41. 42. E 66.] A 9. B 13.
Mathem. Eine derartige sinn- und gewissenlose Interpretation verdient
eigentlich kaum Erwähnung. Vgl. oben 253.
Der Sats: Alles^ was uroBehieht u. s. w. Wie beim Unterschied aprio-
rischer und empirischer Erkenntniss, so wird beim Unterschied analytischer
und synthetischer Urtheile dieses beliebte Beispiel von K. herbeigezogen und
zwar öfter. Vgl. 301: „dass Alles, was geschieht, eine Ursache habe, kann
gar nicht aus dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen
werden; vielmehr zeigt der Grundsatz, wie man allererst von dem, was ge-
geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff bekommen könne.* Vgl. 722
Anm. : „ Vermittelst des Begriffs der Ursache gehe ich wirklich aus dem
empirischen Begriffe von einer Begebenheit (da etwas geschieht) hinaus",
u. 8. w. Vgl. 306.. 733. Die Vorliebe Ks. für die Gaus, fiel schon Schopen-
hauer W. a. W. I, 529 auf. Analytisch dagegen ist das Urtheil: Jede Ursache
hat eine Wirkung. (Peucker, Darst. 5.) Eine lesenswerthe Erörterung über
die Streitfrage, ob der Satz der Gaus, synthetisch oder analytisch sei, nach
Spinoza, Hume, Grusius, Kant einerseits und Leibniz andererseits s. bei
Bein hold, Fundam. d. ph. W. 88, daselbst auch eine Polemik gegen Hume.
Ueber den Satz der Gausalität sagt der Verf. der Krit. Briefe 32: Das
gesuchte unbekannte X ist die Erfahrung zusammt dem denkenden
und combinirenden Verstände. Das Weitere über diese Streitfrage in einem
besonderen Supplement: Geschichte der Gontroversen über den Ur-
sprung des Gausalitätsgesetzes.
Das X^ worauf sieh der Verstand stützt. Dieselbe Wendung schon in
den Tr. e. Geisters. 1766 am Schluss: „Erfahrungsbegriffe, darauf sich alle
unsere Urtheile jederzeit stützen müssen." In der Kritik findet sich der
Ausdruck häufig. Vgl. z. B. 47. Vgl. oben 5: „Unterlage, worauf der Ver-
stand sich steifen könnte.'' Ueber das X, Y, Z, vgl. Liebmann, Anal. 211.
Fnd aus blossen Begriffen« D. h. hier eben ohne Zuhilfenahme wirk-
licher Erfahrung oder reiner Anschauung. Die philos. Erkenntniss ist (713 f.)
überhaupt die Vemunffcerkenntniss aus Begriffen (so schon Leibniz) im
Unterschied von der mathematischen, die aus der anschaulichen
Construction der Begriffe entsteht, und der empirischen, die aus Sen-
sationen entsteht. Daher heisst die philos. Erkenntniss discursiv (im
Unterschied von intuitiv und empirisch) 718 ff. (Nur scheinbar stehen
damit die daselbst 733. f. 736 f. [vgl. 301. 306 f.] folgenden Bestimmungen
in Widerspruch, dass nämlich der Satz: Alles, was geschieht, hat seine Ur-
sache, aus diesen gegebenen Begriffen allein nicht gründlich einzu-
sehen ist, dass überhaupt Verstandessätze nicht direct aus Begriffen,
sondern immer nur indirect durch Beziehung dieser Begriffe auf mögliche
Erfahrung errichtet werden können. Das heisst nur, dass jene Sätze nicht
aus den in dem Satze selbst gegebenen Begriffen, sondern durch Zuhilfe-
nahme des Begriffs der möglichen Erfahrung eingesehen werden
können). Das „BäthseP bestimmt Apelt, Met. 48 gut: „Die Metaph. ist
synthetische Erkenntniss und zwar nicht wie Mathematik aus Gonstruction
292 Commentar z. Einleitung A, S. 6— 10 = B, Abschn. IV, u. zu B, Abschn. V.
A 9. 10. B 13. [R 23. 24. H 42. E 56. 67.]
der Begriflfe in der Anschauung, sondern aus blossen Begriffen; und
doch sollen jene synth. Sätze nicht aus blossen Begriffen, d. h. nicht ana-
lytisch erkannt werden. Die Nothwendigkeit der Verbindung in jenen Sätzen
soll durch blosses Denken eingesehen werden, und doch nicht auf der
Form des Denkens , dem Satz des Wid. beruhen. Der Begriff einer Erkennt-
nissweise, die bloss aus Begriffen entspringt und dennoch synthetisch ist,
entschlüpft uns also gleichsam aus den Händen. Das Problem ist: Wie
kann ein Begriff mit dem andern nothwendig verbunden sein,
ohne doch auch zugleich in demselben enthalten zu sein.* Vgl.
ib. S. 49— -55 eine sehr scharfsinnige Erläuterung dieses Gedankens mit Be-
zug auf Hume's Causalitätstheorie und Kants vorliegende Aeusserungen
über die Gaus. In seiner scharf-analytischen Sprache definirt Lotze, Logik
S. 78 das synth. Urtheil a priori als ein solches, »welches zwischen S und
einem zu dem Begriffe von S nicht unentbehrlichen P eine dennoch be-
stehende und nothwendige Verknüpfung behauptet, ohne sich auf die Er-
fahrung eines wirklichen Vorkommens derselben berufen zu müssen*, während
das synth. ürtheil a posteriori uns „erzählt, dass eine solche Verbindung zweier
für einander nicht nothwendiger Begriffsinhalte in der Erfahrung vorliege
oder vorgelegen habe".
(Wäre 68 einem von den Alten u. s. w.) Ganz ähnlich lässt sich E. ge-
legentlich der Theorie der Kategorien aus, Prol. § 39: „Wäre dergleichen
jemals den Alten in den Sinn gekommen, ohne Zweifel das ganze Studium
der reinen Vernunfterkenntniss, welches unter dem Namen Metaphysik viele
Jahrhunderte hindurch so manchen guten Kopf verdorben hat, wäre in ganz
anderer Gestalt zu uns gekommen und hätte den Verstand der Menschen
aufgeklärt, anstatt ihn, wie wirklich geschehen ist, in düsteren und ver-
geblichen Grübeleien zu erschöpfen und für wahre Wissenschaft unbrauchbar
zu machen. ^ Eine ähnliche Ausfuhrung in Bezug auf die Kritik der prakt.
Vern. bei Snell, Menon 23 und bei Kant selbst in der Kr. d. pr. V. 201.
Eine ähnliche, ebenso unhistorische Aeusserung bei Fichte, Nachl. III, 260:
„Kant und die Wissenschaftslehre würden von den Griechen gefasst worden
sein ! " — Den Vorwurf gegen die Alten weist Stein, Gesch. d. Piaton. III,
280 ff. als zu hart zurück und nimmt jene in Schutz. Die Sprache dieser
Stelle findet Balmes, Fund. d. Philos. I, 222 „keineswegs bescheiden*.
Erklärung von B, Abschnitt V. (S. 14-18.)
Thatsächlicher Besitz synthetischer Urtheile a priori.
B 14. [B 702. H 42. E 57.]
In aUen theoretlsclieii Wissenschaften der Yernnnft. Die Mathematik
ist auch eine Vern unft Wissenschaft, wie K. bes. in der Method. 712 flf. aus-
führt. Sie ist es eben, weil sie apriorischer Natur ist. Die Beschränkung
Mathematische Urtheile Bind insgesammt synthetisch. 293
[R 702. H 42. 43. K 57.] B 14.
auf die theoretischen Vemunftwissenschaffcen ist nicht so zu verstehen,
dass die praktischen, z. B. die Moral, Rechtslehre u. s. w. nicht auch synth.
ürth. a priori enthielten. Denn zu der Einsicht, dass es solche urtheile in
den genannten Wissenschaften gebe, war K. damals (1787) schon gekommen.
L Mathematik.
Literatur.
Ganz im Kantischen Sinne ist das Programm von Schütz: De syn-
iheticis mathematicorum pronuntiationibus. Jemie 1 785. Wiederabg. in Opus-
cula, Halle 1830. S. 289-297. [Ziemlich unselbständig.] - Thiele, G.: Wie
sind synth. Urtheile der Mathematik a priori möglich? Diss. Halle 1869.
[Mehr zur Aesthetik gehörige, scharfsinnige Untersuchung.] (Die weitere
hieher gehörige Literatur besonders seitens der Leibnizianer , Eberhard,
Schwab u. A., und seitens der Neueren z. B. Zimmermann, Pommer,
Benouvier u. A. befinden sich in dem Supplement über die Streitigkeiten
betreffs der synth. u. analyt. Urtheile.)
iDScresammt synthetisch« Diese Behauptung Ks. ist nicht recht ver-
ständlich, wenn man daran denkt, dass doch auch mathematische Definitionen
genug da sind. Schon Seh äff er, Incons. 42 bemerkt, der Satz: jeder
Triangel hat drei Seiten und drei Winkel, sei doch jedenfalls analytisch;
denn der ganze Begriff eines Tr. verschwindet ja ohne jene Merkmale, hier
ist doch das Prädicat in dem Begriff des Subjects enthalten \ Nach Kr. S. 48
scheint K. j&eilich zu meinen, der Begriff des Triangels enthalte bloss die
Merkmale von 3 Linien; diese Ungenauigkeit rügt auch Schäffer a. a. 0. 50
(vgl. zu Aesthetik 48). Vgl. auch Herder, Metakr. I, 56: „Tausend und
zehntausend Urtheile in der Mathem. sind analytisch^. Ebenso Kritische
Briefe S. 39. Vielleicht ist diese Unebenheit dadurch zu erklären, dass bei
K. die im Jahre 1763 aufgestellte und in der Methodenlehre der Kritik
S. 727 ff. festgehaltene Auffassung hier mitwirkt, dass die Mathem. ihre
Begriffe selbst auch synthetisch bilde. Freilich hat der Ausdruck „syn-
thetisch* hier einen anderen Sinn. (Vgl. oben 273. 276.)
In der Folge sehr wichtlgr. Die Ansicht Ks., dass alle math. Urth.
synthetisch seien, hat Zimmermann in der gleichnamigen Schrift (1870)
' Ebenso schon Pistorius A. D. B. 105, I, 29. 65. 67. 71. 77 : Auch wenn
wir aus der reinen Anschauung nach K. den Begriff des Subjects schöpfen,
und alsdann mit diesem Begriff nach bloss logischen Regeln, ohne weiter der
reinen Anschauung zu bedürfen, fortschliessen, so wären solche Urtheile und Fol-
gerungen noch immer analytisch. (Nur berührt hier Pistorius noch einen anderen
wunden Fleck der Theorie, nämlich den Ursprung der mathematischen
Begriffe.)
294 Comxnentar zur Einleitung B, Abachn. V.
B 14. [R 702. H 43. K 57. 58.]
„Ks. mathematisches Vorurtheil" genannt. (Vgl. Fries über Ks. «trans-
scendentales Yorurtheil''.) Derselbe hat klar die grosse Tragweite dieser
Lehre Kants für dessen Aesthetik und damit für die ganze Kritik nachge-
wiesen, a. a. 0. 10 ff.
Nach dem Satze des Widerspruchs eingesehen werden. Prol. § 2 c:
Synthetische Urtheile a posteriori und a priori „kommen darin überein, dass
sie nach dem Grundsatze der Analysis, nämlich dem Satz d. W. allein
nimmermehr entspringen können ; sie erfordern noch ein ganz anderes Princip,
ob sie zwar aus jedem Grundsatze, welcher er auch sei, jederzeit dem Satze
des Widerspruchs gemäss abgeleitet werden müssen, denn nichts darf
diesem Grundsatze zuwider sein, obgleich eben nicht alles daraus abgeleitet
werden kann.'' Somit kann ein an sich synthetisches Urtheil doch auch auf
analytischem Wege, d. h. durch Zergliederung schon vorhandener aller-
dings synthetischer Erkenntnisse entstehen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Sind dann nicht eben nicht alle mathematischen Sätze synthetisch? Vgl.
Maass in Eberhards Phil. Mag. II, 229. Paulsen (Entw. 170) findet:
,K. gibt selbst entweder den Namen synthetisch für Lehrsätze, oder den
Sinn des Namens auf." Nur Axiome und Grundsätze können synthetisch
sein, nicht aber Lehrsätze, wenn diese aus jenen nach dem Satz d. W. ab-
geleitet werden. Diese Einschränkung scheine gerathen, um die Bezeichnung
in ihrem formellen Recht zu retten. Kant braucht das keineswegs zuzugeben.
Der Satz: Die Winkel im Dreieck sind = 2 R ist nach ihm synthetisch.
Er ist allerdings abgeleitet aus dem Parallelen axiom (mit Hilfe der be-
kannten Hilfslinien), und ist insofern nach dem Satz d. W. eingesehen, in-
sofern wenn einmal die Gleichheit des Falls resp. des Subjects erkannt ist,
auch das Prädicat dem Subject nothwendig nach dem Satz d. W. zukommt.
Die Winkel im Dreieck bilden dann einen besonderen Fall der Winkel an
Parallellinien, welche geschnitten werden durch andere Linien. Der Satz d.
W. bildet bei der Ableitung nun allerdings das Vehikel, weil, wenn einmal
die Identität von A und A^ erkannt ist, auch das Prädicat b, das dem A
zukommt, dem A* zukommen muss. Allein darum wird jener Satz doch
selbst kein analytischer im Sinne Kants. Denn der analyt. Satz hat die
Eigenthümlichkeit, dass das Prädicat aus dem Subjectsbegriff durch Zerglie-
derung gezogen wird. Das ist hier nicht der Fall; der synthetische Satz
kann nie an sich selbst aus dem Satz d. W. eingesehen werden. Es ist
also einfach als ein CoroUar Kants anzusehen, dass man synthetische Sätze
nicht darum für analytische ansehen darf, weil sie aus anderen Sätzen mit
Hilfe des Satzes v. W. eingesehen werden. Ausserdem nimmt man auch bei
dieser Ableitung doch immer die Anschauung zu Hilfe, was die Haupt-
sache ist; denn ohne sie kann die Identität von A und A^ nicht erkannt
werden. Dass in der I. Aufi. die Formel sich nicht finde: alle mathem.
Urtheile sind synth. Urth. a priori, ist insofern unrichtig, als das mehrfach
gesagt wird, z. B. A S. 46: Die Sätze der Geometrie sind synth. a priori.
Wenn K. ib. 25 sagt, alle geometr. Grundsätze seien synthetisch, so fügt
Mathematische Grundsätze und Folgesätze. „Reine^ Mathematik. 295
[B 702. 703. H 48. E 68.] B 14. 15.
er doch als Beispiel den Satz hinzu, in einem Dreieck seien zwei Seiten zu-
sammen grösser als die dritte, was doch nicht im strengsten Sinne Grundsatz
ist. Die Beispiele sind somit nicht, wie Paulsen sagt, bloss Axiome. „Grund-
satz* steht hier entweder einfach = Satz, oder im Gegensatz zu solchen Sätzen,
wie in diesem Falle etwa der Satz zu nehmen wäre: Auch im recht-
winklichen Dreieck findet jenes Verhältniss statt. Im Wesentlichen die-
selbe Antwort gibt schon Schultz, Prüf. I, 74. Allerdings gehe wie jeder
Yernunftschluss, so auch jeder geometrische Schluss in den geom. Beweisen
nach dem Satze der Identität vor sich. „Allein man erwägt nicht, dass
hier die Identität oder Contradiction nicht den Begriff des Subjects,
sondern allemal irgend ein Axiom oder Postulat trifft." Das Gegentheil
des Satzes „durch zwei Seiten und den eingeschlossenen Winkel ist ein
Dreieck gegeben •* — widerspricht zwar dem Axiom: „Von Einem Punkte
zum anderen ist nur Eine gerade Linie möglich;" und insofern ist der Satz
selbst aus diesem Axiom analytisch abzuleiten; allein das Prädicat des
Satzes ist nicht analytisch aus dem Subject desselben herauszubekommen.
Nach Schütz A. L. Z. 1785 III, 43 sind nur die Lehrsätze synth.; Fol-
gerungen aus ihnen können freilich analytisch sein. Diese Aeusserung ist
somit entweder nach Obigem auszulegen oder falsch im Sinne Kants. Schon Pi-
storius in der Recens. der Prol. A. D. B. 59, 327 berührt dies; Corollarien,
meint er, seien analytisch aus den synthetischen Theoremen gezogen, und
findet hierin keinen Widerspruch , vgl. dag. A. D. B. 86, 3$9. — Dieselbe Er-
klärung (mit demselben Beispiel) schon bei Beck, Standp. 358.
Reine Mathematik, deren Bei^riir u. s. w. Dies ist eine willkürliche
Auslegung des Beiwortes „rein" in dieser Verbindung ; denn „rein" ist hier
Gegensatz zu angewandt (etwa wie abstract im Gegensatz zu concret) und
nicht zu empirisch. Derartige Willkürlichkeiten, besonders auch in ety-
mologischer Beziehung finden sich bei K nicht selten*, und seine Schüler
canonisirten dieselben, wie dies z. B. Kiesewetter' in diesem Falle thut
(Logik I, 12). Allerdings ist diese Vermischung bei K. ganz principiell; so
spricht er sich hierüber in der Vorr. zu den Met. Anf. d. Naturw. ganz
deutlich aus, dass ihm angewandt und empiris/^h gleichbedeutend sind und
gemeinsam dem „Beinen" gegenüberstehen. — Die Mathem. wird (Krit.
Briefe 13. 87) nicht deswegen rein genannt, „weil sie Wahrheiten in sich
fasst, deren Erkenntniss von aller Erfahrung auch ihrem ersten Ursprünge
nach unabhängig ist, sondern weil sie aus allgemeinen Begriffen ihre Sätze
herleitet und sie ohne Bücksicht auf Erfahrung beweiset" . Vgl. dag. Krause,
Popul. Darst. der Ki*it. d. r. V. S. 26. Hierüber noch zur Aesthetik.
a« Arithmetik.
Der Satz 7 + 5 =12. Dieses Beispiel sammt dem ganzen Abschnitt
stammt aus den Prol. § 2 c ; diese letztere Stelle ist aber selbst aus der
* Z. B. S. 239 (sinnlich von Sinn = Bedeutung) 179 (constitutiv von consUruere!)
296 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. Y.
B 15. [R 703. H 43. E 68.]
Kritik I. Aufl. S. 164 f. herausgewachsen, wo es heisst: ,,Dass 7 + 5 = 12
sei, ist kein analytischer Satz. Denn ich denke weder in der Vorstellung
von 7, noch von 5, noch in der Vorstellung von der Zusamnoiensetzung beider
die Zahl 12. Dass ich diese in der Addition beider denken solle, davon
ist hier nicht die Eede; denn bei dem analytischen Satz ist nur die Frage,
ob ich das Prädicat wirklich in der Vorstellung des Subjects denke." Diese
Darstellung unterscheidet sich von der vorliegenden nicht nur dadurch, dass
hier als dasjenige Element, woraus der Begriff 12 entsprungen sei, nur die
Vereinigung von 7 und 5 genannt, nicht 7 für sich und 5. für sich,
sondern auch insbesondere dadurch, dass hier an Stelle des neutralen Aus-
druckes Vorstellung durchaus der bestimmte Terminus Begriff getreten
ist. Vorstellung konnte auch als Anschauung verstanden und missver-
standen werden ^ Dem gegenüber wiederholt hier K. immer, dass aus dem
Begriff der Summe die neue Zahl nicht analytisch herausgenommen werden
könne. Der Begriff der Summe von 7 und 5 (oder : 7 -f- 5) ist somit der
Subjectsbegriff. Dieser Begriff enthält nach K. nur die Aufgabe, beide
Zahlen in eine einzige zu vereinigen. K. nennt die Formel (7 -(- S) somit
einen Begriff, den Begriff der Addition von 7 und von 5.
Was liegt in diesem Begriffe als solchem? Es liegt schlechterdings nichts
darin, als eben dass ich jene beiden Zahlen addiren, d. h. in eine einzige
verwandeln solle und dass diese Addition irgend einen neuen Zahlbegriff
ergeben werde. Will ich von diesem Begriffe mehr erfahren, als was eben
in ihm schon liegt, will ich also besonders wissen, welches diese einzige
Zahl sei, welche 7 und 5 zusammenfasse, so muss ich, wie ich bei dem
Begriffe des Körpers, von dem ich mehr erfahren wollte, übergehen musste
* Cohen 204 dagegen meint, „dieses Wort für Begriff ist vortrefflich er-
klärend!" Sehr beachtenswerth ist dagegen die Bemerkung der A. L. Z. 1789,
II, 629: Beim synth. Urtheil sei der Grund für das Prädicat nicht im Begriff
enthalten, wohl aber in der Vorstellung. Auf diesen Unterschied komme alles
an; Verstand und Sinnlichkeit sind ganz disparate Vermögen. Vorstellung
ist also hier wirklich als Anschauung gefasst. Vgl. Göring, System II, 130:
„K. versteht unter Begriff das, was wir jetzt Gesammtvorstellung nennen . . . also
vielmehr den Namen, als den logischen Begriff. Diese Identificirung von
Wort und Begriff" u. s. w. Diese Bemerkung ist wichtig. Kant scheidet
zwischen dem Begriff der Zahl und ihrer Anschauung in einer Weise, welche
Bedenken erregen kann. Wenn der Begriff 5 enthalten soll das Zusammen von
so und so viel Einheiten, so hat dieses Merkmal überhaupt nur Sinn, wenn es
anschaulich vorgestellt wird : Für den Begriff bleibt somit eigentlich nur noch das
Wort fünf. Eine gewisse abstracte moderne Richtung wird dies zwar nicht an-
erkennen, aber die genaue psychologische Analyse zeigt, dass man unter fünf ent-
weder eine gewisse Summe anschaulich vorgestellter Einheiten versteht oder —
gar nichts; m. a. W. wenn man sich eine Zahl nicht anschaulich vorstellt, so ist
sie blosses Wort. Was K. den Begriff 5 nennt, ist ein blosser Name, der nur
Inhalt bekommt, wenn er in Anschauung umgesetzt wird. Vgl. Thiele, a.a.O. 6,
und Laae, Ks. Anal. d. Erf. S. 323. Vgl, bes, Laurie a. a. 0. 228.
Arithmetik: 7 + 5 = 11 297
[B 703. H 43. E 68.] B 15.
zur empirischen Anschauung des Körpers, so hier von dem Begriffe
jener Summe übergehen zu ihrer Anschauung. Wenn ich jenen Begriff
bloss , denke *', wenn ich mich damit begnüge, den Begriff im Denken zu
zergliedern, so komme ich nicht weiter. 721: „Ich kann aber von dem
Begriffe zu der ihm correspon dir enden reinen oder empirischen An-
schauung gehen, um ihn in derselben in concreto zu erwägen, und, was
dem Gegenstande desselben zukommt, a priori oder a posteriori zu erkennen.
Das Erstere ist die rationale und mathematische Erkenntniss durch die Con-
struetion des Begriffs, das Zweite die blosse empirische Erkenntniss.' M ellin
I, 199 gibt hiezu einige Erläuterungen. Das Verhältniss 7 -j- 5 = 12 ist
allerdings Gleichheit, aber Gleichheit derObjecte ist nicht Identität
der Begriffe, welche analytisch erkannt werden kann, sondern jene Gleich-
heit muss erst synthetisch erkannt werden. Die Grössen 7 + 5 und 12
sind gleich (identisch), aber nicht die Begriffe. Denn unter 7 + 5 denke
ich mir die Addition zweier Zahlen; unter 12 eine einzige, aber ganz andere,
neue Zahl. Der Mathematiker hat durch seine Construction die Objecte
selbst vor sich und diese sind einander gleich; der Philosoph will diese
Objecte durch Begriffe denken, und findet, dass diese nicht identisch
sind. Mellin Y, 433: Der Sache nach sind 7 + 5 und 12 einerlei, aber
nicht den Begriffen nach. Beide sind Begriffe von dem nämlichen Gegen-
stande, aber sie geben ihn nicht durch die nämlichen Merkmale zu
denken; also können auch nicht die Merkmale des einen Begriffs in dem
andern Begriff gefunden werden. Dass die Zusammensetzung von 7 und 5
das nämliche gibt, was ich mir auch unter zwölf denke, folgt aus der Con-
struction und Addition, nicht aus Analyse der Begriffe. Sonst wäre
die Arithmetik ein Zweig der Logik (was allerdings neuerdings z. B. v. Boole
behauptet wird). Wenn der Mathematiker von der 5 eine Einheit nach der an-
dern wegnimmt, und zur 7 hinzuzählt, so ist auch dies nicht eine begriffliche
Analyse des Begriffs von 5, sondern eine Anatomie des Objects 5; ich
nehme nicht die Merkmale des Begriffs, sondern die Theile des Objects
hinweg. Der Begriff einer bestimmten Zahl z. B. 5 ist, dass es diejenige
Menge von Dingen einer Art ist, auf die ich komme, wenn ich die Einheiten
dieser Menge durchzähle. Ich erlange die Zahl 12 erst durch folgende Operation :
B C
A D
E F
Ich zähle die Reihe A B durch, fange wieder von vorne an, zähle die Beihe
C D und fuge beide Reihen wie in E F zusammen, damit erhalte ich erst die
Zahl 12. Ich setze dabei immer eine Einheit von E F unter die Einheiten
von AB und CD. (Mellin 11, 406.) Fischer 289: ,7 + 5, das Subject
des Satzes, sagt: summire die beiden Grössen ! DasPrädicat 12 sagt, dass
sie summirt sind. Das Subject ist eine Aufgabe, das Prädicat ist die
Lösung. In der Aufgabe ist die Lösung nicht ohne Weiteres enthalten.
In den Summanden liegt nicht sofort die Summe , wie das Merkmal in der
298 CommAitar zur Einleitung 6^ Abschn. V.
B 15. [B 703. H 43. E 58.]
Vorstellung. Wäre dies der Fall, so wäre es nicht nöthig zu rechnen.
Um das Urtheil 7 + 5 = 12 zu bilden, muss ich dem Subject etwas hinzu-
fugen, nämlich die anschauliche Addition/ Zur Erläuterung fugen
Einige noch das Beispiel der lernenden Kinder hinzu; so Schmidt-
Phis., Expos. 11. Heusinger, Enc. I, 277. Lange, Mater. 11, 25 f. Im
Uebrigen vgl. man über die Streitigkeiten hierüber das schon erwähnte
Supplement: Geschichte der Controversen über die Unterscheidung
anal, und synth. Urtheile.
Man mnss Aber diese Begrrlffe hinausgehen. Warum über , diese Be-
griffe« ? Wir hörten bisher nur von einem Begriff, dem Begriff der Summe
von 7 und 5. Dieser Begriff besteht aus 3 Begriffen, dem Begriff der
Summe, dem Begriffe 7 und dem Begriff e 5. Alle 3 Begriffe zusammen
ergeben erst jenen G es am mtbe griff. Ueber „diese in ihm enthaltenen Be-
griffe'^ muss ich hinausgehen und zwar zur Anschauung des in jenen Begriffen
Gedachten. So sollte man zunächst auslegen. — Allein E. sagt, ich muss
zu der Anschauung hinausgehen, die einem von beiden correspondirt. Also
„diese Begriffe" sind nur die Zahlbegriffe 7 und 5. Man beobachte diesen
Wechsel: oben handelte es sich um den Begriff der Summe von 7 und 5,
in welchem das Neue nicht liegen soll; jetzt um die Begriffe 7 und 5
selbst^ und auch unten heisst es: „Wir mögen unsere Begriffe (Prol. : unseren
Begriff) drehen, wie wir wollen; vermittelst der blossen Zergliederung un-
serer Begriffe könnten wir die Summe niemals finden. « Ich brauche sogar
nur Einen der Begriffe in die Anschauung zu verwandeln, die ihm cor-
respondirt. (Vgl. 733 : „vermittelst der Construction der (mathem.) Begriffe
in der Anschauung des Gegenstandes kann ich die Prädicate desselben a priori
und unmittelbar verknüpfen".) Ich verwandle den Begriff 5 in die ihm cor-
respondirende Anschauung, lege dem abstracten Begriffe diese concrete An-
schauung unter, etwa 5 Punkte. Und dann nehme ich den Begriff der
Zahl 7 und thue die 5 in der Anschauung des Begriffs Fünf mit enthaltenen
Einheiten nach und nach zu jenem Begriff 7 hinzu, und „sehe* * so die ge-
suchte Zahl 12 entspringen. Ich habe den Begriff Sieben = 7 Einheiten
und nun zähle ich etwa andenFingern ab, und weiter: 8, 9, 10, 11, 12.
Vgl. 240: „Man erfordert, einen abgesonderten Begriff sinnlich zu machen,
d. i. das ihm correspondirende Object in der Anschauung darzulegen . . .
Die Mathematik erfüllt diese Forderung durch die Construction der Gestalt,
welche den Sinnen gegenwärtige (obzwar a priori zu Stande gebrachte) Er-
scheinung ist. Der Begriff der Grösse sucht in eben der Wissenschaft
seine Haltung und Sinn in der Zahl, diese aber an den Fingern, den Ko-
rallen des Rechenbrets, oder den Strichen und Punkten, die vor Augen ge-
stellt werden." Uebrigens hätte K. die oben herausgehobene Inconvenienz
leicht vermeiden können, wenn er etwa gesagt hätte: der ganze, abstracto
^ Wie kann ich das sehen^ wenn nur Einer der Begriffe in Anschauung
umgesetzt ist? Meli in setzt eben daher richtig Beide in Anschanung um.
Zuhilfenahme der Anschauung. 299
[B 708. H 48. E 58.] B 15.
Begriff der Summe von 7 und 5 muss in eine Anschauung verwandelt werden,
also die drei Begriffe: Summe, 7, 5; statt des Begriffes 7 nehme ich die
anschauliche Vorstellung von 7 Punkten, ebenso von 5 Punkten und
der abstracto Begriff der Summe wird durch die successive anschauliche
Operation des ELinzufügens und Hinzuzählens ersetzt.
Etwa seine fünf Finger. Dass die Finger besonders zum Zählen ver-
werthet werden, belegt Lange, Mat. II, 121 f. mit culturhistorischen Bei-
spielen mit Bezug aufTylor, Anf. der Cultur, üebers. I, 238 ff. Hankel,
Vorl. über complexe Zahlen I, 53 sagt dagegen: An den Fingern könne man
den Satz 2X2 = 4 wohl begründen, aber den Satz 1000 X 1000 = 1000000
so zu erweisen, werde wohl vergeblich sein. Lange, Mat. II, 120 gibt das
zu, bemerkt aber, dass derartige Operationen mit Hilfe von Zeichen voll-
zogen werden, welche die Anschauungen von Dingen vertreten. Dass
K. hier die empirische Anschauung herbeizieht, nicht wie er sollte, die
reine, hat Lange, Mat. 11, 27 (vgl. 13 ff. 22) gar nicht anstössig gefanden.
Nach ihm meint K. , es genüge eine einzige Erfahrung, um an ihr die
Nothwendigkeit des Satzes zu erweisen. Vgl. Cohen, Erf. S. 95. Diese
Darstellung ist durchaus unkantisch, wie aus der S. 300 mitgetheilten
Stelle der Methodenlehre 713 f. hervorgeht. Dagegen nach der A. L.
Z. 1790, in, 804, dienen die Vorstellungen der Finger und Punkte richtig
bloss als empirische Hilfsmittel, wodurch man sich die Darstellung der
Zahlen in der reinen Anschauung der Zeit ^ nur zu erleichtern sucht.
Vgl. dag. die ironischen Bemerkungen von Bardili, Erste Logik S. 2. 213:
, empirischer Gegenschein einer reinen Anschauung, wie er sich an den
5 Fingern zu Königsberg ergibt." In der Methodenlehre 717 u. 734 wird
ausgeführt, dass die Arithmetik auf ostensiver Erkenntniss, d. h. An-
schauung beruhe, indem sie durch symbolisch-charakteristische Con-
struction an den Zeichen die Begriffe der Grössen und ihrer Verhältnisse
in der Anschauung darlegt. Genaueres über diese „ostensive" Methode
a. a. 0. Doch sei schon hier erwähnt, dass Eberhard, Phil. Mag. II, 175
(vgL II, 485) mit Recht darauf aufmerksam macht, dass doch zwischen der
Darstellung durch sinnliche Zeichen in der Algebra und zwischen der an-
schaulichen Zeichnung in der Geometrie ein wesentlicher Unterschied be-
stehe. Ebenso Maass ib. II, 230. Vgl. Beck, Standpunkt 360.
Wie Segner in seiner Arithmetik. Segner, Anfangsgründe der Arith-
metik u. s. w. aus dem Latein., 2. Aufl. Halle 1773, Fig. 2 zu S. 27 zur
I^hre von der Multiplication, Fig. 3 zu S. 79 zu dem Satz (a + b)' =
a* + b* -f 2 ab. Die Einheiten sind als Punkte dargestellt.
* üeber diese angebliche Beziehung der Arithmetik zur Zeit s. zur Aesthetik.
Kant selbst scheint die empirischen Punkte nur als Vertreter reiner Punkte zu
betrachten. Diese gehören zum Raume^ da von einer (der Zeitlinie entsprechenden)
Anordnung in einer Linie nicht die Rede ist. Schopenhauer nimmt (Nach-
lass 105) statt der unstetigen Punkte stetige Linien zu Hilfe.
300 Commentar zur Einleitimg B, Abschn. V.
B 16. [B 703. H 43. 44. E. 58. 59.]
Dass 7 zn 5 hinzagethau werdea sollten. Die Textverändemiig Erdmann 's
„5 zu 7* ist zu billigen, nicht aber die von ,, sollten'* in „sollte". Denn
K. spricht im Vorhergehenden von den „Einheiten* der 5. Die Parallel-
veränderung S. 733 aus „geben* in „gebe" ist auch nicht nöthig, denn die
zwei, zweimal genommen, geben vier. Diese Aenderungen sind sachlich
nicht geboten.
Wenn man etwas grossere Zahlen nimmt« Mit Becht erinnert hier
Cohen 204 an das Capitel von dem Schematismus, wo (140 f.) gezeigt
wird, dass, wie die kleinen Zahlen z. B. 5 ein Bild durch Darstellung ein-
zelner Punkte, so die grösseren, z. B. Tausend, ein Schema haben müssen,
welches die Einbildungskraft hervorbringt. Vgl. dag. Laurie a. a. 0. 229.
b. Geometrie.
Kein Grundsatz der reinen Geometrie analytisch. Diese fundamentale
Bestimmung wird oft wiederholt; so unten S. 47 f. „Aus blossen Begriffen
kann gar keine synthetische Erkenntniss, sondern lediglich analytische er-
langt werden. Nehmet nur den Satz: dass durch zwei gerade Linien sieb
gar kein Raum einschliessen lasse, mithin keine Figur möglich sei, und ver-
sucht ihn aus dem Begriff von geraden Linien und der Zahl zwei abzuleiten ;
oder auch, dass aus dreien geraden Linien eine Figur möglich sei, und ver-
sucht es ebenso bloss aus diesen Begriffen. Alle eure Bemühung ist ver-
geblich und ihr seht euch genöthigt, zur Anschauung eure Zuflucht zu
nehmen, wie es die Geometrie auch jederzeit thut." — 299 f.: „Zwischen
zwei Punkten kann nur Eine gerade Linie sein; . . . diese Eigenschaft der
geraden Linien erkenne ich nicht überhaupt und an sich aus Principien
(d. h. aus Begriffen), sondern nur in der reinen Anschauung." Vgl. 239 f.
Besonders in der Methodenlehre ist dies weiter ausgeführt; die Mathematik
kann nur vorwärts kommen durch die anschauliche Construction ihrer Be-
griffe. Zur Construction eines Begriffes bedarf sie einer nicht empirischen
Anschauung, 713: „Ich construire einen Triangel, indem ich den diesem
Begriff entsprechenden Gegenstand entweder durch blosse Einbildung in der
reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen An-
schauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend
einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle.* Die Zeichnung auf dem
Papier ändert somit nichts an der Apriorität, ebenso wenig als oben bei der
Arithmetik die Hinzunahme von 5 Punkten oder gar 5 Fingern. Es sind
dies nur Bilder für die reine a priori erzeugte Anschauung. Nur
in ihr ist das mathematische Urtheil möglich. 515 f.: „Man gebe einem
Philosophen den Begriff eines Triangels und lasse ihn nach seiner Art
ausfindig machen, wie sich wohl die Summe seiner Winkel zum Rechten ver-
halten möge. Er hat nun nichts als den Begriff von einer Figur, die in
drei gerade Linien eingeschlossen ist, und an ihr den Begriff von ebenso
viel Winkeln. Nun mag er diesem Begriffe nachdenken, so lange er will.
Geometrie: Der Satz von der geraden Linie. 301
[R 708. 704. H 44. E 59.] B 16.
er wird nichts Neues herausbringen. Er kann den Begriff der geraden
Linie oder eines Winkels oder der Zahl drei zergliedern und deutlich machen,
aber nicht auf andere Eigenschaften kommen, die in diesen Begriffen
gar nicht liegen. Allein der Geometer nehme diese Frage vor. Er fUngt
sofort an, einen Triangel zu construiren ... Er gelangt durch eine Kette
von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuch-
tenden und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage." 718 f.: „Ich würde
umsonst über den Triangel philosophiren , d. h. discursiv nachdenken, ohne
dadurch im mindesten weiter zu kommen, als auf die blosse Definition."
,In der reinen Anschauung setze ich, ebenso wie in der empirischen, das
Mannigfaltige, was zu dem Schema eines Triangels überhaupt, mithin zu
seinem Begriffe gehört, hinzu, wodurch . . . synthetische Sätze werden
müssen." Die mathem. Begriffe a priori „enthalten eine reine Anschauung
in sich, und können alsdann construirt werden".
Dass die gerade Linie u. s. w. „Denn ich kann nicht sagen, dass das
Merkmal des ümschweifes (des Längeren) der Vorstellung des Geraden
widerspreche und dass dem Geraden also das Merkmal des Kürzeren noth-
wendig zukomme." Heu sing er, Enc. I, 276. Vgl. Schmid, Wörterbuch 510.
Beide Vorstellungen: Geradheit und Kürze hängen zusammen, sind aber
nicht einerlei. Born, Urspr. Grundl. des menschl. Denkens S. 32 ff. Die
Geradheit definirt K. selbst Bechtsl. Einl. § E als eine derartige innere Be-
schaffenheit der Linie, dass es zwischen zweien gegebenen Punkten nur eine
Einzige geben kann. Die Streitigkeiten über diesen speciellen Satz s. in
dem allgemeinen, schon erwähnten Supplement über die Geschichte
der Controversen betreffs der analyt. und synthet. ürtheile.
Ein anderes Beispiel bei Meilin I, 271: „Der Satz: zwischen zwei Punkten
ist nur Eine gerade Linie möglich, gründet sich weder auf den Begriff der
Punkte, noch der geraden Linie, sondern darauf, dass es die Beschaffenheit
der reinen Anschauung (Baum) es uns unmöglich macht, mehr als Eine
Linie von Einem Punkte zum andern zu ziehen. Alle Linien, die wir uns
durch die Einbildungskraft zwischen zwei Punkten vorstellen, fallen zusammen,
und sind nur Eine und dieselbe Linie. Diese Unmöglichkeit, uns mit aller
Anstrengung der Einbildungskraft zwei verschiedene gerade Linien zwischen
zwei Punkten vorzustellen, macht es uns nun möglich, zu urtheilen: Zwischen
zwei Punkten ist nur Eine gerade Linie möglich." Schultz, Prüfung I, 66:
Jede gegebene gerade Linie kann ohne Ende verlängert werden. In dem
Begriff der geraden Linie liegt nicht im Mindesten ihre unaufhörliche Ver-
längerungsfUhigkeit. Vgl. dag. Maass in Eberhards Phil. Mag. II, 229. — „Es
wird niemand einfallen, zu warnen, man müsse mit dem Satze behutsam sein,
noch habe man nicht genug Erfahrungen gemacht, um die Behauptung für
alle Fälle zu wagen ; es könnte sich ereignen, dass einmal die krumme Linie
zwischen zwei Punkten die kürzeste sei," Fischer, 288. Ein weiteres Beispiel
s. Gr. z. M. d. S. R. VIQ, 42: „dass, um eine Linie nach einem sicheren Princip
in zwei gleiche Theile zu theilen, ich aus den Enden derselben zwei Kreuz-
302 Commentar zur Einleitang B, Abschn. V.
B 16. [B 703. 704. H 44. E 59.]
bogen machen müsse, das lehrt die Math, durch synth. Sätze. '^ Becbtsl.
§ 19: „Dass ich, um ein Dreieck zu machen, drei Linien nehmen müsse,
ist ein anal3rtischer Satz; dass deren zwei aber zusammengenommen grösser
sein müssen, als die dritte, ist ein synthetischer Satz.* Das letztere lehrt
die Anschauung; durch Vernunftschluss lässt sich das nicht beweisen.
K. verwendet die Lehrsätze von der Geraden häufig als Beispiele; es finden
sich gelegentlich noch folgende Sätze: 1) Zwischen zwei Punkten ist nur Eine
Gerade möglich; 2) durch zwei Gerade ist kein Baum einschliessbar; 8) Eine
Gerade kann ins unendliche verlängert werden.
Angehaunng mnss hier eh Hilfe genommen werden. Die Verknüpfung
der mathematischen Begriffe in der Anschauung geschieht, sobald einmal
diese herbeigezogen ist, unmittelbar, intuitiv. Daher heissen die fundamentalen
mathematischen Sätze Axiome. Denn „Axiome sind synthetische Grundsätze
a priori, sofern sie unmittelbar gewiss sind.^ „Die Mathem. ist der
Axiome fähig, weil sie vermittelst der Construction der Begriffe in der
Anschauung des Gegenstandes die Prädicate desselben a priori und unmittelbar
verknüpfen kann, z. B. dass drei Punkte jederzeit in Einer Ebene liegen. **
733. Derartige Urtheile bedürfen keiner weiteren Untersuchung: „denn,
wenn sie unmittelbar gewiss sind, z. B.: zwischen zwei Punkten kann nur
eine gerade Linie sein, so lässt sich von ihnen kein noch näheres Merkmal
der Wahrheit, als das sie selbst ausdrücken, anzeigen.'' 261. Nach Eberhard
Phil. Mag. II, 164 hatte schon Büdiger, De sensu veri et falsi II, 4 und
Phys, div. I, § 86 auf die Sinnlichkeit als Quelle der mathem. Gewissheit
hingewiesen. Gegen neuere bes. von Grassmann und H a n k e 1 unternommene
Versuche, eine rein intellectuelle anschauungslose Mathematik zu begründen,
wendet sich mit Becht und Glück Lange Mat. II, 122. Im Uebrigen vgl.
über die Angriffe auf diese Eant'sche Lehre insbes. durch die Leibnizianer
Eberhard u. Schwab das schon erwähnte Supplement über die Gesch.
der Controv. betreffs des Untersch. anal. u. synth. ürth.
Einige wenige Grundsätie. Vgl. 164: „dass Gleiches zu Gleichem
hinzugethan, oder von diesem abgezogen, ein Gleiches gebe, sind analytische
Sätze, indem ich mir der Identität der einen Grössenerzeugung mit der andern
unmittelbar bewusst bin. Axiomen aber sollen synth. Sätze a priori sein.*
Nach Entd. B. I, 412 gehört der Satz: das Ganze ist grösser als sein Theil,
eigentlich nicht in die Mathematik, sondern in die Philosophie. Dieses Axiom
wird aus Begriffen, also philosophisch erwiesen. Pistorius, A. D. B.
105, 66 macht darauf aufmerksam, dass diese Axiome — blosse Modificationen
des Satzes vom Widerspruch — gern eins am für Arithmetik und Geometrie
sind. Der Nutzen solcher Sätze, den schon Wolf, Phil. rat. § 364 betont,
erhellt aus ihrem Gebrauch in der Mathematik, wo Sätze, wie A = A, 4 = 4
oft zur Anwendung kommen. Aus dem Satze, dass ein Winkel, den zwei
Figuren mit einander gemein haben, sich selbst gleich sei, erhellt oft erst,
dass beide Figuren ähnlich oder congruent sind. (Meilin I, 191). Dass
analyt. Sätze in der Mathem. auch als Principien dienen, sucht gegen E.
Rolle analytischer Grandsätze in der Mathematik. 303
[R 704. H 44. K 59.] B 16. 17.
nachzuweisen Metz, Werth der Logik 224. Dagegen Riehl, Kritic. I, 335 f.
über den »rein logischen Theil der Mathem.^ Sätze, wie z. R „Gleiches zu
Gleichem ergibt Gleiches" sind jedoch nach R. synthetisch. Gegen die
Bestimmung, dass diese identischen Sätze nicht als Principien brauchbar
seien, und dass sie in der Anschauung dargestellt werden müssen, wenden
sich scharf die Kritischen Briefe S. 41 £F. üeber den Grundsatz vom Ganzen
und den Theilen vgl. Balmes, Fund. d. Phil. I, 226 ff. und bes. Feuer-
bach, W. W. V, 246 (mit Berufung auf Barrow). Die Evidenz dieses
Satzes beruht nach Leclerc, Opp. Phil. I (Log.) 206 darauf, dass es sich
um „ideae ahstractae^ handelt, ^quos adaequate novimas et immediate com-
paramus^. — Derselbe Unterschied bei Dugald Stewart, Elements (Einl.).
Wm uns hier gemeiDiglieh glauben macht. „Hier." Wo? Bei den
angeführten analytischen Sätzen? Das hat ja aber gar keinen Sinn. Die
angeführten Sätze sind analytisch; und was hier K. im folgenden sagt,
bezieht sich auf synthetische Sätze. Somit ist hier eine offenbare Verwirrung
im Texte. Das Folgende kaun sich nur auf die synthetischen Sätze der
Geometrie beziehen, die im vorigen Absatz behandelt sind. Man könnte ver-
sucht sein, diese Unebenheit zu heilen durch eine neue Linie. Diese Aende-
rung ist aber unmöglich, da »hier*, „solcher* auf unmittelbar Vorhergehendes
sich beziehen. Somit ist der folgende Passus offenbar an den Schluss des
vorigen Absatzes anzufügen, und diese Bemedur ist im Interesse des Sinnes
ganz unumgänglich nothwendig. Man wird sich hiezu um so eher entschliessen,
wenn man daran denkt, dass in den Prolegomenen, woraus auch dieser ganze
Absatz stammt, an der betreffenden Stelle ohnediess eine höchst merkwürdige
Blattversetzung stattgefunden hat. Vgl. hierüber: Vaihinger, Eine Blatt-
versetzung in Kants Proleg. Philos. Monatsh. XV, 321 ff. Es wäre zu verwun-
dem, wenn diese Versetzung nicht auch literarisch nachgewirkt hätte, wie
jene Blattversetzung (vgl. a. a. 0. S. 513—532). In der That hat G. Thiele
in der S. 293 genannten Abhandlung S. 4 f. sich durch die Versetzung zu
bedenklichen Irrthümern verleiten lassen. Er meint: „Kant scheint hier nicht
sicher zu sein , ob er den Satz a = a oder (a -f ^) >a für analytisch oder
synthetisch halten soll." (Thiele führt nun weiter aus — und meint damit
Ks. eigentlichen Sinn zu treffen — dass jene Sätze synthetisch seien.
Dasselbe sucht er von dem oben aus der Analytik angeführten Satz:
»Gleiches zu Gleichem hinzugethan gibt Gleiches*' zu zeigen. Indem er das
analytische ürtheil definirt als solches, „bei dem mit dem Denken des Subjects
auch der Prädicat-sbegriff nothwendig mitgedacht werden muss", zeigt er,
dass dies bei jenen ürtheilen nicht der Fall sei. Somit seien sie synthetisch.
Allein jene Definition des analyt. Urtheils ist nicht genau Kantisch. Es
handelt sich bei K. um die Möglichkeit, das Prädicat aus dem Subject durch
Analjsis herauszuziehen.) Uebrigens mag Thiele mit seiner Meinung, jene
Urtheüe seien synthetisch, auch Recht haben, mag also K. hier selbst incon-
sequent gewesen sein — was ja an sich nicht unmöglich ist — so ist es doch
vollständig falsch, aus dieser Stelle auf ein , Schwanken" Ks. zu schliessen.
304 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. V.
B 71. [B 704. H 44. E 59. 60.]
Die streng philologische Methode erfordert hier eine Yersetzang ohne „Schwan-
ken". Die Besiehung des Passus auf die synth. Urth. erkannte nach dem
Vorgang von Monck auch schon Mahaffy, Comment. 16, Nota.
Die Zweideutigkeit des Ausdrocks. Vgl. Mahaffy, Comment. 16, Nota:
„Because something is necessarily joined io a certain eoncept, we have no
right to caU the assertion of this fact an ancdytical judgment, tchieh takes
place only when we asaert something of a eoncept tohich we reaUy think therein.
The amhiguity of expression alluded to hy K. appears to he this: „We
mustjoin this to the eoncept", may mean, it is a necessary part ofthe eoncept,
or it is a necessary addition or assertion <ü>out the eoncept**^
Zwar nothwendig, aber nieht im Begriffe selbst gedacht. K. wiederholt
mehrfach, dass das fragliche neue Prädicat zu dem Subjectsbegriffnoth wendig
gehöre bei den Urtheilen a priori, bes. bei den mathematischen. Nur bei den
empirischen Urtheilen gehören beide Begriffe zu einander „nur zufällig" B12.
Die Verknüpfung beider Begriffe, die im Urtheil als zu einander gehörig
zusammengesprochen werden, ist das einemal eine zufällige, das anderemal
eine noth wendige. Vgl. die Stellen S. 260. 280. 292 über das synth. Urtheil.
IL Natarwissensehaft
Naturwissenschaft enthält synthetische ürthelle a priori. Es herrscht
hier bei K. eine bis jetzt noch nicht aufgedeckte bedauerliche Unklarheit,
die aus der Unsitte Ks. folgt, fast alle Begriffe in mehreren Bedeutungen
zu nehmen und überhaupt, sich häufig zu widersprechen. Reine Natur-
wissenschaft hat zwei ganz verschiedene Bedeutungen, die aus dem § 15 der
Proleg. sich ergeben. „Wir sind im Besitze einer reinen Naturwissenschaft, die
a priori und mit aller derjenigen Noth wendigkeit , welche zu apodiktischen
Sätzen erforderlich ist, Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht. Ich
darf hier nur diejenige Propädeutik der Naturlehre, die unter dem Titel
der allgemeinen Naturwissenschaft vor aller Physik (die auf em-
pirische Principien gegründet ist) vorhergeht, zum Zeugen rufen. Darin findet
man Mathematik, angewandt auf Erscheinungen, auch bloss discursive Grund-
sätze (aus Begriffen), welche den philos. Theil der reinen Naturerkenntniss
ausmachen. Allein es ist doch auch manches in ihr, was nicht ganz rein
und von Erfahrungsquellen unabhängig ist; als der Begriff der Bewegung,
der Undurchdringlichkeit (worauf der empirische Begriff der Materie
beruht), der Trägheit u. a. m., welche es verhindern, dass sie nicht ganz
reine Naturwissenschaft heissen kann; zudem geht sie nur auf die Gegen*
stände äusserer Sinne, also gibt sie kein Beispiel von einer allgemeinen
Naturwissenschaft in strenger Bedeutung; denn die muss die Natur über-
haupt, sie mag den Gegenstand äusserer Sinne oder den des inneren Sinnes
(den Gegenstand der Physik sowohl als Psychologie) betreffen, unter all-
gemeine Gesetze bringen. Es finden sich aber unter den Grundsätzen jener
allgemeinen Physik etliche, die wirklich die Allgemeinheit haben, die wir
Doppelter Sinn von „reiner Naturwissenschaft". 305
[R 704. 705. H 44. 46. K 60.] B 17. 18.
verlangen, als der Satz: Dass die Substanz bleibt und beharrt, dass
alles, was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach beständigen Gesetzen
vorher bestinunt sei u. s. w. Diese sind wirklich allgemeine Naturgesetze,
die völlig a priori bestehen.* An diesem unzweideutigen Unterschied
hat K. jedoch weder in der Kritik, noch in den Proleg. festgehalten und
dadurch ohne Noth den Zusammenhang wesentlich verdunkelt. Denn die
Sätze, welche K. hier als Beispiele aus der reinen Naturwissenschaft anfuhrt,
gehören nur der relativen, nicht der absoluten an, mit welch letzterer
ganz allein E. es in der Kritik zu thun hat. Er hätte also auch hier die-
selben Sätze anführen sollen, wie in den Proleg., denn die hier ange-
führten Sätze gehören gar nicht in die Kritik herein. Dass K.
hier gegen seinen eigenen Unterschied absoluter und relativer reiner Natur-
wissenschaft fehlte, war die Folge seines weiteren Unterschiedes zwischen
immanenter und transscendenter Metaphysik, — ein Unterschied,
dessen Nichtfesthaltung ebenfalls zu bedauerlichen Unklarheiten führt.- K. hat
nämlich offenbar hier an dieser Stelle die eigentlich wichtigen Sätze über
Substantialität , Causalität u. s. w. zur Metaphysik gerechnet und sie
zu der folgenden Nummer gezählt. Das geht erstens daraus hervor, dass
er unten sagt: Die metaphys. Sätze gehen „wohl gar so weit hinaus, dass
die Erfahrung selbst nicht folgen kann*, denn das schliesst ein, dass nicht
alle metaphys. Sätze transscendent sein sollen. Es geht aber zweitens
ganz deutlich aus der Parallelstelle in den Prol. § 4 hervor. Dort heisst es :
, Eigentlich metaphysische Urtheile sind insgesammt synthetisch ... So ist
z. B. der Satz: Alles, was in den Dingen Substanz ist, ist beharrlich, ein
synthetischer und eigenthümlich metaphysischer Satz.* An derselben
Stelle wird dann ebensowenig als hier zwischen immanenter und transscen-
denter Metaphysik genügend unterschieden, wie es doch K. sonst thut. Eben-
daselbst (in § 4 und § 5) rechnet er offenbar diesen fraglichen Satz nicht
zur „reinen Naturwissenschaft* , die er neben der reinen Mathematik als
gegebene synthetische Erkenntniss a priori anführt, während es bei der Meta-
physik (zu der er eben jenen Satz rechnete) sich noch um die Möglichkeit
solcher Erkenntniss handle ; auch heisst es von der reinen Naturwissenschaft,
dass sie wie die Mathematik die Gegenstände in der Anschauung dar-
stelle und dass man, wenn in ihnen eine Erkenntniss a priori vorkomme,
die Wahrheit oder Uebereinstimmung derselben mit dem Objecte in con-
creto zeigen könne; das kann aber nur von der reinen Natur w. im rela-
tiven Sinn (welche es mit Körpern zu thun hat), nicht von derjenigen im
absoluten Sinn gelten, welche sich mit den allgemeinen Erscheinungs-
gesetzen beschäftigt. Als daher K. in den Proleg. § 4 und § 5 die reine
Naturwissenschaft als Beispiel synthetischer Erkenntniss a priori auf-
stellte, dachte er, wie hier, nur an die relative. Als er aber an § 15
der Prol. kam, Hess er diese fallen und zog aus der Metaphysik (im
weiteren Sinn) die immanente heraus und bezeichnete sie als „reine Natur-
wiflsenschaffc' im strengen, absoluten Sinne, und stellte nachher (§ 21) die
Tai hing er, Xant-OoiimientAr. 20
306 Commentar zur Einleitung B, Abschn. V.
B 17. 18. [R 704. 705. H 44. 45. K 60.]
, Reine physiologische Tafel allgemeiner Grundsätze der Na-
turwissenschaft** auf, in welcher eben die Substantialitäts- und Causa-
litätssätze figuriren, und nennt sie (§ 28) das Natursystem oder die , all-
gemeine und reine Naturwissenschaft**. War schon dies eine höchst verwirrende
Ungenauigkeit, so ist es geradezu unbegreiflich, wie K. hier in der 11. Aufl.
jenen Fehler nochmals machen konnte ; zumal er doch durch den unmittelbar
folgenden Abschnitt (VI) auf denselben aui^erksam hätte werden sollen;
denn daselbst ist Metaphysik nur als transscendente genommen und die
immanente sollte demnach mit der dort genannten reinen Natur-
wissenschaft zusammenfallen, was aber doch wieder nicht der Fall ist, da
er in der betreff. Anmerkung die reine Naturwissenschaft noch im Sinne der
physica rationalis auffasst, d. h. im Sinne der Wolf sehen Philosophie, während
bei Kant das, was Wolf Ontologie nennt, zur , reinen Naturwissenschaft
überhaupt" geworden ist. Auch in dem weiteren Verlauf der Kr. zeigt
sich dieses Schwanken. Wenn in 6 128 „allgemeine Naturw.** uns noch im
Zweifel lassen kann, so klärt uns A 171 (vgl. 158. 162) vollständig darüber
auf, dass damit die physica rat, gemeint ist. Dag. spricht K. A. 114. 125 von
„den synthet. Sätzen einer allgemeinen Naturein heit" und 184.209 von
den „reinen und völlig a priori bestehenden Gesetzen der Natur*, dort
vom Causalitäts- , hier vom Substantialitätssatz , also = imman. Metaph.
Vgl. 173. 216. 228. Zu 329 „Naturbegriffe" vgl. Kr. d. ürth. Einl. IV,
Transscendentale Naturbegriffe, welche auf die Möglichkeit einer Natur über-
haupt gehen, ib. III (Naturbegriffe = Verstandesbegriffe a priori)'. Diese
Verwirrung wird noch gesteigert durch die Eintheilung der Philosophie in
der Methodenlehre, dort stellt sich (S. 840 ff.) die Sache folgendennassen:
Philosophie.
Reine Philosophie (Erk. aus r. V.) Empirische (angewandte) Pliilosophie
(ts Metaphysik im weltesteo Sinn) — n m
— *^ I — ' II "^ — Empirische EmpiriBche
Propädeutik Metaphysik Physiologie Anthropologie
(Kritik) (im weiteren Sinn)
(System d. r. V.)
Metaphysik der Natur Metaphysik der Sitten
(Metaphysik im engeren Sinn)
Trans SC endental- Physiologia ratiofiälis
Philosophie
(Ontologie) m — ^«
Transscendente Physiologie Immanente Physiologie
Kosmologie Theologie Phymea rat. Psyehologia rat,
(Metaphysik im engsten Sinn)
* Kr. d. Urth. Einl. VI : „Die allgemeinen Gesetze des Verstandes, wdche zu-
gleich Gesetze derNatur sind, sind derselben ebenso noth wendig, obgleieh %ub
„Reine Natarwissenschaft^ im relativen und absoluten Sinn. 307
[B 704. 705. H 44. 45. E 60.] B 17. 18.
Was entspricht nun in dieser Eintheilung der „reinen Naturwissen-
schaft^ sowohl im relativen, als im absoluten Sinn? Der ersteren
entspricht die PAy st ca rationalis (obgleich K. sich in der Anm. über die-
selbe nochmals mit Proleg. § 15 widerspricht). Der „reinen Naturwissenschaft"
im absoluten Sinn entspricht aber hier die Transscendentalphilosophie
oder Ontologie, von der er sagt: „Sie betrachtet nur den Verstand und
Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich
auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objecte anzunehmen, die gegeben
wären.* Dies entspricht der Analytik in der „Kritik der reinen Ver-
nunft. Die Fhysica rationalis dagegen entspricht den Metaphysischen Anfangs-
gründen der Naturwissenschaft, wie aus deren Vorrede deutlich hervorgeht.
(Vgl. Schmid, Grit. S. 8.) Dort heisst es von der Metaphysik der Natur:
,,Sie kann entweder ohne Beziehung auf irgend ein bestimmtes Erfahrungs-
object, mithin unbestimmt in Ansehung dieses oder jenes Dinges der Sinnen-
welt, von den Gesetzen, die den Begriff einer Natur überhaupt möglich
machen, handeln, und alsdann ist es der transscendentale Theil der
Metaphysik der Natur ; oder sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur
dieser oder jener Art Dinge . . . und da muss eine solche Wissenschaft noch immer
eine Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden
Natur heissen, aber ist alsdann keine allgemeine, sondern besondere meta-
physische Naturwissenschaft (Physik und Psychologie), in der jene trans-
scendentalen Principien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer
Sinne angewandt werden.*^ Jene allgemeine Metaphysik der Natur nennt
er dann auch „reine Philosophie der Natur überhaupt". Ist auch
das Nähere hierüber erst zu der Eintheilung in der Methodenlehre beizu-
bringen, so geht doch aus dem Mitgetheilten mit völliger Sicherheit hervor,
dass K. am Eingang der Kritik und Prolegomena seine eigene,
klare Eintheilung durch die schwankende Terminologie verwirrt
und den sachlichen- Zusammenhang seiner eigenen Exposition
gründlich verdorben hat. Dieser ganze 2. Absatz über die Naturwissen-
schaft gehört von Kants eigenem Standpunkt aus schlechterdings
nicht hierher und der Leser thut gut, denselben nicht zu beachten, dagegen
an Stelle desselben sich folgende Gedanken zu merken : „BeineNaturwissen-
schaft als allgemeine reine transscendentale Physiologie der
Spontaneität entsprungen^ als die Bewegungsgesetze der Materie;'* jene „kommen
der Natur als Object unserer Erkenntniss überhaupt nothwendig zu.^ Ib. Einl.
V: „Die allgemeinen Gesetze, ohne welche Natur überhaupt als Gegenstand der
Sinne nicht gedacht werden kann; diese beruhen auf den Kategorien** u. s. w.
ib. „aUgemeine Gesetze der Natur, in deren Besitz der Verstand a priori ist.^
ib. II: „Die Gesetzgebung durch Natur begriffe geschieht durch den Verstand.^
Den Unterschied der allgemeinen Naturgesetze und der speciellen, wenn auch
apriorischen, bezeichnet Kant Kr. d. Urth. Einl. V auch alstransscendental und
metaphysisch. Die ersteren sind transscendentale Principien und gehören
in die Tranes c. Phil.; die anderen in die Metaphys. Anfangsgr. d. Naturw.
308 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. V.
B 17. 18. [R 704. 705. H 44. 45. K 60.]
Natur überhaupt enthält synthetische Urtheile a priori. Als
Beispiele dienen die Sätze über die Beharrlichkeit der Sub-
stanz und die Verursachung alles Geschehens. Diese Sätze sind
nothwendig, also a priori, und sie sind synthetisch, denn im Be-
griffe der Substanz liegt noch nicht die Beharrlichkeit- und im Begriffe
des Geschehens noch nicht die Verursachung. Es sind also synthetische
Sätze a priori." Erst nach dieser Correctur entsprechen auch die drei
Urtheilsgattungen hier und die drei Fragen im folgenden Abschnitte den
drei Theilen der Kritik: Aesthetik, Analytik und Dialektik. Will man diese
Veränderung nicht, so hat man in Gedanken entweder einen neuen Absatz
zwischen diesen und den folgenden einzuschieben, der im Sinne der Prol.
§ 4 die immanente Metaph. behandelt ; oder man hat den folgenden Absatz
in zwei Theile zu trennen, deren einer die immanente, deren zweiter die
transscendente Metaph. betrifft ^ Ganz im Einklang mit dieser Auffassung
und mit der Darstellung der Proleg. befindet sich eine bemerkenswerthe
Stelle der Ports ehr. K. 169, ß. I, 566. Dort heisst es von der Metaphysik:
„Weil die Fortschritte, welche die letztere gethan zu haben vorgibt, noch
bezweifelt werden könnten, ob sie nämlich reell seien oder nicht, so steht
die reine Mathematik als ein Koloss zum Beweise der Realität durch alleinige
reine Vernunft erweiterter Erkenntniss da, trotzt den Angriffen des kühnsten
Zweiflers, und ob sie gleich zur Bewährung der Rechtmässigkeit ihrer Aus-
sprüche ganz und gar keiner Kritik des reinen Vemunffcvermögens selbst
bedarf, sondern sich durch ihr eigenes Factum rechtfertigt, so gibt es doch
an ihr ein sicheres Beispiel, um wenigstens die Realität der für die Metaphysik
höchst nöthigen Aufgabe: wie sind synth. Sätze a priori möglich? darzuthun.*
Hier geht K. somit direct von der Mathematik zur Metaphysik über ohne
Vermittlung, so dass unter Metaphysik immanente und transscendente zu-
gleich zu verstehen ist. Die physica naturalis wird an jener Stelle gar nicht
erwähnt. Die immanente Metaphysik, in welcher wirklich reelle Fortschritte
sind, fällt aber zusammen mit der reinen Naturwissenschaft '. Es mag hier
noch erwähnt werden, dass die im Brief an Herz, 21. Febr. 1772, neben
der Metaphysik genannte „Phänomenologie* offenbar mit der reinen
* In beiden Fällen aber bleibt doch die Inconvenienz, dass die relative reine
Naturwissenschaft überhaupt hereingebracht ist Es bleibt somit das Beste^ den
Abschnitt einfach in obiger Weise zu ändern. Die beiden Unterscheidungen der
immanenten Metaphysik = reinen Naturwissenschaft 1) nach unten hin
von der r. Naturwissenschaft im relativen Sinn^ 2) nach oben hin von der
transscendenten Metaphysik sind gleich wichtig. Kant hat beide oft
vernachlässigt.
* Wenn so „reine Naturwissenschaft** und Metaphysik der Erscheinungen,
immanente Metaphysik zusammenfallen, im Unterschied von der Metaphysik des
Uebersinnlichen, dann sagt Fischer 294 richtig: „Es ist möglich, dass die Unter-
suchung zu einem Ergebniss führt, worin die erste bejaht und die andere verneint
wird. Dann muss man nicht sagen, dass K. die Metaphysik als solche verneint
Nothwendige ,Textcorrectur. " 309
[R 704. 705. H 44. 45. K 60.] B 17. 18.
Naturw. im absoluten Sinn zusammenfällt, nicht wie Paulsen 149 meint, mit
der , mathematischen Physik". Denn K. sagt ausdrücklich: Phänom. über-
haupt. Portschr. K. 160, R. I, 557 nennt K. die reine Naturw. = imm.
Met. geradezu Physik, und versteht darunter, „in ihrer allgemeinsten Be-
deutung genommen, die Wissenschaft der Vernunfterkenntniss
aller Gegenstände möglicher Erfahrung.* Diese ist offenbar etwas
anderes, als die daselbst K. 128, R. I, 521 erwähnte „rationale Natur-
lehre *, welche mit der speciellen Naturphilosophie zusammenfällt, deren
einen Theil die metaph. Anfangsgr. d. Naturw. behandeln, und als die da-
selbst (K. 136, R. I, 536) erwähnte „Metaphysik der Natur", welche
der Erklärung an jener Stelle nach, in Uebereinstimmung mit der obigen
Tabelle aus der Methodologie, der Metaphysik der Sitten parallel, viel mehr
iimfasst. Andere Abscheidung (Physik, Metaphysik) siehe Kr. d. Ürth. § 68.
Bei den meisten Commentatoren (so bei Meli in I, 386 ff., bei Erdmann,
Entw. m, 1, 50 ff., [dag. Grundriss § 298, 2] Schaller, Ks. Naturphil.
56. 82, Apelt, Metaph. 60) herrscht dieselbe Unklarheit. Jakob, Log.
und Met. § 668. 688 und Hume 710 hat die richtige Auffassung. Ebenso
Buhle, Entw. § 19. § 84. § 254 ff. u. Jenisch, Entd. 48. Fischer 290,
292—295, 350 ersetzt Ks. Beispiele rich.tig durch das der Causa-
lität. Paulsen 78. 148 corrigirt stillschweigend, ebenso Windelband,
Gesch. d. Phil. 11, 55. Schön, Phü. de K. 70 lässt die Naturwissenschaft
ganz hinweg ^ Auch der scharfsinnige Maimon merkte die Verwirrung schon.
In einem Aufsatze im „Journal für Aufklärung" IX, 1. 3 (theilw. reprodu-
cirt in dem Anhang zu Bartholdy's üebers. v. Bacon's Org. S. 316 ff.) unter-
scheidet er folgende Fragen der Einleitung:
1) Wie ist reine Mathematik möglich?
2) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?
3) Wie ist Naturwissenschaft a priori möglich?
4) Wie ist Metaphysik möglich?
Maimon unterscheidet dann in seiner gewohnten üngenauigkeit wieder nicht
genau genug zwischen 2) = Analytik, 3) = Metaphys. An f. d. Naturw.; er
merkte aber wenigstens die vorhandene Inconvenienz. Schultz in seiner
Prüf. I, 236 geht einfach von der Physik zur immanenten Metaph. über und
ergänzt so den Kant'schen Text stillschweigend. In den Proleg. § 2 u. 4,
habe^ vielmehr hat er sie begründet in ihren wohlgemessenen Grenzen. Was er
Temeint hat, ist die Metaphysik in ihrem engsten Verstände, den freilich viele
für den weitesten halten."
» Dasselbe ist der Fall bei Fries, Gesch. d. Phil. II, 508, vgl. 519. Wolff,
Spec. u. Phil. I, 110 verfahrt wie Fischer. Ebenso Pörschke, Briefe über die
Metaphysik d. Natur 74 f. Unklar bei Adamson, Ks. Philos. 61. 101. Offen-
bare Vermischung beider Arten bei Riehl, Kritic. I, 332. Die meisten Dar-
stellungen (so z. B. Biedermann, Deutsche Phil. I, 71, Cousin, Phil.deK.hQ
„la mScßnique et la haute physique^^ reproduciren Ks. Darstellung ohne Weiteres.
310 Commentar zur Einleitung B, Abschn. V.
B 17. 18. [R 704. 705. H 44. 45. K 60.]
aus denen dieser ganze Abschnitt grossentheils genommen ist, fehlt ein be-
sonderer Absatz, welcher die synth. Urth. a priori der Naturwissenschaft
aufzählt. Da nun dieselbe aber doch in § 4 fin. und § 5 fin. erwähnt und
als wirklich vorausgesetzt ist, da die ganze üeberschrift des 2. Theils der
Proleg.: Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? sonst unmotivirt ist, da
sonst auch die Ausführungen von § 5 unverständlich sind, so muss dieser
im Manuscript vorhandene Absatz der Proleg. ausgefallen sein. Vgl. über
diesen Blattausfall meine Abhandlung über eine Blattversetzung in Kants
Prol. Phil. Monatsh. XV, 326 Anm. u. 329. Anm. Warum K. ursprünglich
an die matbem. Physik gedacht hat, erhellt aus der historischen Thatsache,
dass dieselbe seit Cartesius bei Spinoza und Leibniz stets als Stütze und Bei-
spiel demonstrativ-apriorischer Erkenntniss angeführt wird. „Sie war stets
die wirksamste Stütze und eigentlich die erzeugende Ursache des Rationalismus,*
Paulsen, Entw. 10. Es sei nicht zufällig, sagt derselbe, dass die Entwick-
lung des Rationalismus mit der Entstehung dieser Wissenschaft gleichzeitig
sei. Die Erkenntnisstheorie des Descartes ist der abstracte Ausdruck der
Methode seiner Physik. Man glaubte, durch blosse Begriffsentwicklung
eine Wissenschaft zu erhalten, mit der man die Dinge theoretisch und prak-
tisch beherrschte. So wurde sie das Ideal und man glaubte, wahres Wissen
des Wirklichen sei rein verstandesmässige Entwicklung aus Principien *. —
In der Vorr. B IX ff. wird mathematische und empirische Physik ver-
wechselt, die Verwirrung ist also dort noch grösser. Hierüber s. zum a. 0.
Vgl. auch Windelband, Viert, f. wiss. Phil. I, 250.
Dass sie synthetische Sätze sind. In Bezug auf den zweiten Satz führt
das K. nicht aus. Dagegen Bendavid, Vorl. 7: „In dem Begriffe Bewegung
liegt bloss der Begriff einer Wirkung und in dem Begriffe der Mittheilung
höchstens der der Gegenwirkung; die Gleichheit beyder liegt nicht darin.*
Ein derartiges Gesetz ist auch das der Trägheit. Vgl. Genaueres bei
Apelt, Met. 60. Vgl. zu der ganzen Stelle Riehl, Krit. I, 331 f. Seh er er,
Kritik Kants S. 16 ff. Es ist zu bemerken, dass diese Sätze nicht rein,
sondern gemischt a priori sind '. Vgl. Vorr. B. IX ,zum Theil rein*. Denn
Veränderung, Materie, Bewegung u. s. w. sind keine Begriffe a priori für
K. Alle Sätze der Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. gehören hieher. Diese
beiden finden sich in denselben in der Mechanik als Lehrsatz 2 u. 4, unter
dem Namen: Erstes und drittes mechanisches Gesetz. Die Beweise für
die Sätze sind daselbst ausgeführt. Gegen die beiden Urtheile aus der
^ Allerdings muss dann auch von einem „naturwissenschaftlichen Vonirtheile
Kants", vgl. Riehl, Kritic. 1,381, gesprochen werden, dessen historische Wurzeln
speciell aufgedeckt werden müssten \ K. dachte wahrscheinlich hauptsächlich hiebe!
an die Einleitung der Newton*schen „Principien".
^ K. bemerkt dies selbst in der oben mitgetheilten Stelle aus den Proleg.
S 15. Schon daraus allein geht hervor, dass diese Sätze gar nicht hierher gehören^
da CS die Kritik nur mit den reinen zu thun hat. (Vgl. oben S. 195 f. 211 f.)
Kante „natarwissenschafÜichesVorartheiP'. Doppelsinn v. „Metaphysik". 311
[B 705. H 45. K 60.] B 18.
reinen Naturw. wendet sich Herder, Met. I, 59, indem er die Sätze für
identische hält. Vgl. dagegen Kiesewetter, Prüf. I, 47 ff. u. Matthiä, Hugo
10 ff., ebenso Bardili, Erste Logik 259. — üeber den hierauf bezüg-
lichen Streit zwischen Wh e well und Hansel s. Mahaffy, Comment. 17.
Nota, üeberweg, Gesch. der Phil. III, 207: ,Die Gesch. der Naturw.
zeigt aber, dass sich diese allgemeinen Sätze, wozu das Gesetz der Erh. d.
Kraft u. A. sich hinzufügen lassen, als späte Abstractionen aus wissen-
schaftlich durchgearbeiteten Erfahrungen ergeben haben und keineswegs a
priori vor aller Erfahrung oder doch unabhängig von aller Erfahrung als
wissenschaftliche Sätze feststanden.* Nur insofern sich dieselben aus allge-
meinen (aber auch empirischen) Sätzen ableiten lassen, wären sie a priori,
aber nur im Aristotelischen Sinn des Ausdrucks. Apelt (E. Reinh. u. die
K.'sche Phil. 5) macht den originellen Vorschlag, man könne als Basis der
Kantischen Untersuchung — den Kalender annehmen; denn dieser beruhe
auf astronom. Rechnungen, und diese auf metapb. Grundsätzen der reinen
Naturwissenschaft. — Desduits, Phil, de K. 288 f. bestreitet die Apriorität,
Biedermann, Deutsche Philos. I, 74 die synth. Natur dieser ürtheile.
Dag. Riehl, Kritic. I, 332 1. Vgl. bes. noch Steininger, Ex, crit, de la
Pkü. Aüetn. {THves 1841), der Kant (mit Berufung auf Newton, Leibniz,
Laplace, Poisson) empiristisch bekämpft; s. auch Laurie a. a. 0. 230.
IIL Metaphysik.
In der Metaphysik. Abgesehen von der 305 besprochenen Wendung,
welche auch die immanente Metaphysik einschlicsst („wohl gar so weit hinaus-
gehen"), ist hier die transscendente Metaphysik gemeint, deren Ge-
genstand nach S. B. 7 Gott, Freiheit und Unsterblichkeit sind, Objecte,
welche über alle Erfahrung hinausliegen. Der Leser hat also nur diese
hier im Auge zu behalten, um den strengen und sachgemässen Zu-
sammenhang zu haben, wie er im wahren Sinne Kants selbst gewesen ist.
Vorhin handelte es sich um die Vers tan desgrundsätze, welche die allge-
meine Natur betreffen, jetzt um die Vernunft Sätze, welche die Erfahrung
überschreiten. 764: „Wir glauben auch a priori aus unserem Begriffe hinaus-
gehen und unsere Erkenntniss erweitern zu können. Dieses versuchen wir
entweder durch den reinen Verstand in Ansehung desjenigen, was we-
nigstens ein Object der Erfahrung sein kann, oder sogar durch reineVer-
nnnft in Ansehung solcher Eigenschaften der Dinge oder auch wohl
des Daseins solcher Dinge, die in der Erfahrung niemals vorkommen können.**
Der reine Verstand bezieht sich somit auf die sog. allgemeine reine
Naturwissenschaft (Metaphysik im immanenten Sinn), die reine
Vernunft auf die eigentlich transscendente Metaphysik. Nur um
letztere handelt es sich in diesem Absatz oder sollte es sich wenigstens
handeln, üeber die verschiedenen Bedeutungen des Terminus „Metaphysik"
3. die Bemerkungen zu Methodenlehre 840 f. Vgl. vorläufig bes. Vorr. B
312 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. V.
B 18. [B 706. H 46. E 60.]
XVIII ff. über die zwei Theile der Met. Durch diesen Doppelsinn des Wortes
„Metaphysik'' entstanden bei den Zeitgenossen grosse Verwirrungen, so bes.
bei Eberhard, Phil. Mag. I, 307 ff, II, 273 ff. Für Eb. ist Met. Erkennt-
niss des Uebersinnlichen. Da nun K. diese leugnet, speciell, dass es vom
üebersinnlichen synthetische Erk. a priori gebe, so geräth Eb. in den Irr-
thum, K. leugne alle synth. Erkenntniss in der Metaph., die er II, 341 mit
Philos. schlechthin identificirt. Natürlich entstanden dadurch zwischen
Freunden und Gegnern Kants immer mehr Missverständnisse. Vgl. A. L. Z.
1790, S. 579. Durch dieses Schwanken im Gebrauch des Ausdruckes .Met.*'
wurde auch Göring, System II, 145. 164 zu theilweise irrthümlichen An-
gaben verleitet '. Dass die Metaph. nicht aus synth. ürth. a priori, sondern
aus analyt. „Theoremen** im Sinne der Wolf sehen Logik bestehe, fuhren die
Krit. Briefe S. 46 f. aus.
Nicht erläatera^ sondern erweitern« Dies hebt K. oft hervor, dass in
der Metaphysik es sich nicht um analytische, sondern um synthetische Er-
kenntniss handle, und zwar in doppelter Beziehung: 1) Die bisherige Meta-
physik war ihrer Tendenz nach analytisch; sie wollte durch Zerglie-
derung zur Erkenntniss gelangen, und hielt ihre Sätze für analytische.
Dieselben waren aber grossentheils facti seh synthetische. Dies ist die
historische Seite der Sache. 2) Die systematische Seite der Sache ist,
dass die analytische Zergliederung der Begriffe eine zwar nützliche, aber
nur nebensächliche Beschäftigung ist, dass die eigentliche Aufgabe der Meta-
physik Erweiterung der Erkenntniss ist, welche nui* durch synthetische
XJrtheilsbildung erreicht werden kann. Ad. 1) vergl. man die Bemer-
kung Kants, S. 6, dass „die Vernunft unter der Vorspiegelung analytischer
Zergliederung synthetische Erkenntniss erschleiche ^ ohne es selbst zu
merken." Vgl. Liebmann, Analys. 210: „Die Wolfische, Spinozische, Car-
tesianische Metaphysik bestand, ebenso wie die Scholastik des Mittelalters
in allen ihren Lehrsätzen über Gott, Seele und Welt aus a priori dedu-
cirten Sätzen, die von ihr für analytisch gehalten wurden, weil sie die reale
Existenz, im Sinne des ontologischen Beweises, für ein logisches Merkmal
des Begriffes hielt, die aber vielmehr synthetisch waren, weil eben die reale
Existenz etwas schlechthin Ausserlogisches, vom Begriff durchaus Unab-
hängiges, im Schmelztiegel logischer Analyse Unauflösliches ist.'^ Liebmann
* Ebenso Cousin, Phü. de K, hl. Vgl. Phil. Mon. XIV, 2. üeber den
Streit zwischen Wyttenbach und van Hemert hierüber vgl. v. PrantL, Verh.
d. Münch. Acad. 1877, 273 f. Vgl. bes. noch die lichtvolle Erörterung von Schad,
Harmonie des Fichte'schen Systems S. 8 ff., der die abweichenden Behauptungen
dem Kantianer Fichte (Met. sei möglich) und Jakob (Met. sei unmöglich) durch
eine „Verwirrung im Begriffe" erklärt. Vgl. Bouterweck, Abriss d. Vorles. VII ;
Anfangsgr. der specul. Philos. 158. Laas, Ks. Analogien 205 f. Vgl. oben S. 83.
111. 118. 230. 232 f. Vgl. ferner unten zu Abschn. VI der Einl.
» Vgl. oben S. 250 ff. 270 ff. und bes. Krit. 598 über diese „Illusion, in Ver-
wechslung eines logischen Prädicates mit einem realen."
Synthetische Sätze a priori in der Metaphysik. 313
[R 706. H 46. E 60.] B 18.
berücksichtigt hier nur solche Sätze, welche das Dasein betreffen, und über-
geht diejenigen, welche Eigenschaften der Dinge betreffen (z. B. Unsterb-
lichkeit, Freiheit der Seele, Endlichkeit der Welt). Derselbe sagt ferner:
,Wenn nicht das einzige, so doch das Hauptmotiv für die scharfe und nach-
drückliche Auseinanderhaltung des analyt. und des synth. Urth. war eben
bei E. die acht philosophische Indignation über den ontologischen ünfag in
der bisherigen Metaphysik. Die Existenz ist kein logisches Merkmal; Exi-
stentialsätze sind nicht (wie man bisher geglaubt hat) analytisch, sondern
synth.; aus der essentia lässt sich die existentia nicht analytisch er-
schliessen.** Wie bemerkt bezieht sich das aber nur auf den ontologischen
Gottesbeweis (Beweis der Existenz Gottes, also eines neuen Merkmals, aus
dem Begriffe desselben). Ad. 2) vgl. ausser der Stelle in Abschn. VI (B. 23)
noch Proleg. § 4, wo E. jedoch nur zunächst von der immanenten Metaphysik
redet: ^Man muss zur Metaphysik gehörige Urtheile von eigentlich
metaphysischen Urtheilen unterscheiden. Unter jenen sind sehr viele
analytisch, aber sie machen nur die Mittel zu metaphysischen Urtheilen
aus, auf die der Zweck der Wissenschaft ganz und gar gerichtet ist
und die allemal synthetisch sind. Denn wenn Begriffe zur Metaphysik
gehören, z. B. der von Substanz, so gehören die Urtheile, die aus der blossen
Zergliederung derselben entspringen, auch nothwendig zur Metaphysik, z. B.
Substanz ist dasjenige, was nur als Subject existirt etc., und vermittelst
mehrerer dergleichen analytischen Urtheile suchen wir der Definition der
Begriffe nahe zu kommen. Da aber die Analysis eines reinen Verstandesbe-
griffs (dergleichen die Metaphysik enthält) nicht auf andere Art vor sich
geht, als die Zergliederung jedes anderen auch empirischen Begriffs, der
nicht in die Metaphysik gehört (z. B. Luft ist eine elastische Flüssigkeit,
deren Elasticität durch keinen bekannten Grad der Eälte aufgehoben wird),
so ist zwar der Begriff, aber nicht das analytische Urtheil eigenthümlich
metaphysisch ; denn diese Wissenschaft hat etwas Besonderes und ihr Eigen-
thümliches in der Erzeugung ihrer Erkenntnisse a priori ; die also von dem,
was sie mit allen anderen Verstandeserkenntnissen gemein hat, muss unter-
schieden werden; so ist z. B. der Satz: alles, was in den Dingen Substanz
ist, ist beharrlich, ein synthetischer und eigenthümlich metaphysischer Satz.
Metaphysik hat es eigentlich mit synth. Sätzen a priori zu thun , und diese
allein machen ihren Zweck aus, zu welchem sie zwar allerdings mancher
Zergliederungen ihrer Begriffe, mithin analyt. Urth. bedarf, wobei aber das
Verfahren nicht anders ist, als in jeder anderen Erkenntnissart, wo man
seine Begriffe durch Zergliederung bloss deutlich zu machen sucht. Allein
die Erzeugung der Erkenntniss a priori sowohl der Anschauung [Raum
uad Zeit], als Begriffen nach [Eategorien] , endlich auch synthetischer
Sätze a priori und zwar im philosophischen Erkenntnisse [nicht etwa im
mathematischen] machen den wesentlichen Inhalt der Metaph. aus." Ebenso
Fortschr. E. 168. R. I, 566, wo übrigens die analytische Erläuterung der
Begriffe ^ein sehr noth wendiges Geschäft, um sich zuerst selbst wohl zu ver-
314 CJommentar zur Einleitung B, AbBchn. V, VI.
B 18. 19. [R 705. H 46. E 60.]
stehen/ genannt wird. Vgl. Proleg. K. 133, Or. 194: „Jene Zergliede-
rungen der Begriffe sind nur Materialien, daraus allererst Wissenschaft
gezimmert werden soll."
So weit hlnansf^ehen. Erdmanns Einschiebung ,über ihn^ ist nicht
begründet, ja verderbt den Sinn. Zahllose Parallelstellen der Dialektik z. B.
639 beweisen dies. Der folgende Satz erläutert ja dies „so weit", nämlich
über die Erfahrung hinaus, nicht über den Begriff hinaus.
Die Welt mnss einen Anfangr haben. Vgl. S. 296 u. 426. Derartige
weitere Sätze sind : Die Welt ist dem Räume nach in Grenzen eingeschlossen.
Es gibt letzte einfache Theile. (Atome, Monaden.) Es gibt Freiheit. Es gibt
ein noth wendiges Wesen. Die Seele ist unsterblich u. s. w.
Ans lanter synthetischen Sätien a priori« Es ist zu bemerken, dass K.
hier gar nicht an die empiristische Metaphysik im Sinne Locke's und
auch der Popularphilosophie denkt. Ihre Sätze sind auch synthetisch,
aber wollen nicht a priori sein, sondern Hypothesen auf Grund der em-
pirischen Beschaffenheit der Welt, also z. B. der Schluss auf die Existenz
Gottes aus der teleologischen Einrichtung der Welt oder der Schluss auf
die Unsterblichkeit der Seele auf Grund der Analogie mit dem Samen-
korn u. s. f. Derartige Versuche verachtet jedoch K. grundsätzlich; und
blosse Meinungen und Hypothesen verdienen nach ihm den Namen der
Metaphysik gar nicht, der nur streng apriorischer und „dogmatisch* auftre-
tender Erkenntniss zukommt. Dieselbe Erinnerung findet sich schon bei
Herder, Metakr. Viele Missverständnisse entstanden und entstehen durch
den K. 'sehen Sprachgebrauch von Metaph., wonach nur apodiktische
Wissenschaft darunter zu verstehen ist. Vgl. hierüber Jakob, Log. u. Met.
§ 454 und Feder u. Meiners, Phil. Bibl. II, 190. Vgl. oben S. 50. 101. 132 f.
Erklärung von B VI, S. 19-24
Nothwendigkeit einer Theorie der synthetischen
Erkenntniss a priori.
Aufgabe der reinen Yemnnft. lieber diese Üeberschrift wurde S. 119
zur Vorrede bemerkt, dass dieser Titel involvirt, dass die Auflösung der
folgenden Aufgabe Sache der reinen Vernunft sei, dass also demnach
„Kritik der reinen Vernunft" als Genetivus subjectivus zu verstehen sei,
wenigstens wäre es grammatisch wohl kaum möglich, diesen Genetiy hier
nicht so aufzufassen, dass es sich um eine Aufgabe handle, welche für die
Vernunft gestellt werde, sondern welche von derselben und über
dieselbe aufgestellt werde, nicht um eine Aufgabe, welche die reine Vernunft
hat, sondern welche sie gibt. Letzteres würde allerdings logisch dem Sinne
des Abschnittes entsprechen; die grammatische Auslegung der Üeberschrift
Das Hauptproblem oder die „Principalaufgabe". 315
[R 706. H 46. E 60. 61.] B 19.
in diesem Sinne möchte wobl schwerlich Jemand vertreten. Beide Auffassungen
stellt Bendavid Vorl. 9 unvermittelt neben einander, indem er einerseits
sagt, reine Vernunft enthalte die Grundsätze, vermöge deren die gestellte
Aufgabe gelöst werde, und andererseits die reine Vernunft zum Gegenstand
der Untersuchung macht. Mellin I, 384 hat die erstere Auslegung. [Derselbe
bemerkt auch, dass K. den Ausdruck „Aufgabe'^ der Mathematik entlehnt
habe, vgl. Lambert Org. I, 100 und fügt hinzu, eine allgemeine Aufgabe
enthalte alle diejenigen unter sich, von deren Begriffen der Eine unter dem
Einen Begriff der allgemeinen Aufgabe enthalten, und der andere mit dem
anderen Begriff der allgemeinen Aufgabe identisch ist.] K. spricht auch von
einer allgemeinen praktischen Aufgabe der reinen Vernunft: Wir
sollen das höchste Gut befördern helfen. Hieristes nach Ks. eigener
Erklärung (Kr. d. pr. V. 223) eine Aufgabe, welche bloss durch reine Vernunft
vorgeschrieben wird, welche durch die reine Vernunft aufgegeben ist (Relig.
Vorr. X. Anm., ebenso Theorie und Praxis I, A. Anm.). Nach dieser Analogie
wäre die zweite Auffassung des Genetiv oben die richtigere. Ist die Analogie
aber hier erlaubt? Aus der Parallelstelle der Fortschr. K. 167 R. I, 565
,Von der allgemeinen Aufgabe der sich selbst einer Kritik unterwerfenden
Vernunft" ist auch kein sicherer Schluss zu ziehen, ebensowenig als aus dem
Brief an Herz über Maimon vom 26. Mai 1789 (am Schluss). Jedoch aus
Metapb. 263 geht mit Sicherheit hervor, dass die erste Auffassung die richtige ist.
Die Formel einer einsigen Aufgabe. Entd. (gegen Eberhard) B. I, 451 :
..Diese Aufgabe, in ihrer Allgemeinheit betrachtet, ist der Stein des Anstosses,
woran alle metaphysischen Dogmatiker unvermeidlich scheitern müssen, um
den sie daher so weit herumgehen, als es nur möglich ist; wie ich denn
noch keinen Gegner der Kritik gefunden habe, der sich mit der Auflösung
derselben, die für alle Fälle geltend wäre, befasst hätte. Wenn eine zur
Reife gekommene Kritik die Möglichkeit der Erkenntniss a priori nachgewiesen
hat, ist eine Rechtfertigung der Metaphysik möglich.*' Ib. 453. Da dies bis
jetzt nicht geschehen ist, so waren alle Metaphysiker bis auf diesen Zeitpunkt
vom Vorwurf des blinden Dogmatismus oder Scepticismus nicht frei, sie
mochten nun durch anderweitige Verdienste einen noch so grossen Namen
mit allem Rechte besitzen. Daher nennt K. daselbst jene Aufgabe die
^Principalaufgabe". Vgl. Fortschr. d. Met. Ros. I, 495. „Hume
hat schon ein Verdienst, einen Fall anzuführen, nämlich den vom Gesetze
der Causalität, wodurch er alle Metaphysiker in Verlegenheit setzte. Was
wäre geschehen, wenn er oder irgend ein Anderer sie (die Frage) im Allge-
meinen vorgestellt hätte. Die ganze Metaph. hätte so lange müssen zur
Seite gelegt bleiben, bis sie wäre aufgelöst worden. ** Als Ergänzung zu
dieser Frage ist die Ausführung auf S. 639 zu betrachten, wo K. von den
Dogmatikem verlangt, sie sollen für ihre Ideen, insbesondere den Gottesbegriff,
nicht neue Beweise vorbringen, denn solche seien alle Fehlschlüsse und
unzureichend, sondern sich nur „an die einzige billige Forderung hält, dass
man sich allgemein und aus der Natur des menschlichen Verstandes, sammt
316 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. VI.
B 19. [B 706. H 46. E 6L]
allen übrigen Erkenntnissquellen, darüber rechtfertige, wie man es anfangen
wolle, seine Erkenntniss ganz und gar a priori zu erweitem and bis dahin
zu erstrecken, wo keine mögliche Erfahrung und mithin kein Mittel hinreicht,
irgend einem von uns selbst ausgedachten Begriffe seineobjectiveBealität
zu versichern'' u. s. w. Ueber die nähere Bestimmung der Au^abe mit Bezug
auf den Menschen mit Ausschluss anderer Wesen, etwa Gottes, s. Portschr.
d. Met. Ros. I, 568. Beim Menschen ist zur Erkenntniss eine Verbindung
von Begriff und Anschauung noth wendig. — Ueber die Beduction auf eine
Frage vgl. Fichte, Nachl. 11, 389. Ueber die Allgemeinheit s. unten.
Wie sind synthetische Urtheile a priori mdglich? Diese Haupt- und
Grundfrage, die in dieser Formel ,mit schulgerechter Präcision* abgefasst
ist, drückt K. in den Prol. § 5 „der Popularität zu Gefallen* auch so aus:
Wie ist Erkenntniss aus reiner Vernunft [im weiteren Sinn]
möglich?
wozu er bemerkt, dass es sich selbstverständlich nur um synthetische
Erkenntniss handle. K. fragt (vgl. unten B. 20) ähnlich nach der .Möglich-
keit des reinen Vernunftgebrauchs". Was den Inhalt des kri-
tischen Problems betrifft, so ist eine kurze Umschreibung desselben streng
genommen unmöglich. Diese, scheinbar eindeutige Formel, zerfliesst, wie
das bei Kants nur auf den ersten Blick scharf bestimmten Begriffen und
klar gefassten Sätzen oft der Fall ist, bei näherer Untersuchung in eine
schillernde Mannigfaltigkeit von Bedeutungen. Das Hauptproblem ist keines-
wegs so »unzweideutig", so , sonnenklar", als Krause, Popul. Darst. 22. 33
es darstellt. Die verschiedenen Gesichtspunkte werden in den folgenden
Absätzen unter Angabe der Literatur einzeln behandelt. Eine übersichtliche
Zusammenstellung derselben, sowie zugleich eine Zurückweisung der ein-
seitigen Auffassungen wird das Verständniss erleichtern.
I. Schon das erste Wort der Formel: »Wie** schliesst eine Zweiheit ein:
1) wie sind die gültigen synth. Urth. a priori der Mathem. und reinen
Naturw. möglich? (Frage nach dem Wie im engeren Sinn.) 2) inwieweit
sind solche Urth. auch in der transsc. Metaph. möglich? (Frage nach dem Ob.)
II. Unter synthetischen Urtheilen a priori sind zu verstehen: 1) Ur-
theile, welche unabhängig von Erfahrung über unsere Erfahrungswelt neuen
Aufschluss geben (, Erkenntniss" im strengen Sinne), d. h. a) die Urtheile
der Mathematik in ihrer Anwendung auf die Dinge; b) die Urtheile der
reinen Naturwissenschaft (oder immanenten Metaphysik). 2) Die Urtheile
der reinen Mathematik an sich selbst (auch noch ohne ihre Anwendung auf die
Dinge), die auch an sich ein Problem sind. 3) Die Urtheile der bisherigen
transsc. Metaph., welche ohne Erfahrung über nicht-empirische Gegenstände
neuen Aufschluss geben wollen. Demnach sind synth. Urth. a priori nicht
schon identisch mit Urtheilen über Dinge (im Gegensatz zu blossen Ur-
theilen über Begriffe), auch nicht identisch mit wahren Urtheilen, sondern
sind ganz allgemein: Urtheile, in welchen unabhängig von Erfahning
den Subjectsbegriffen nicht in ihnen liegende Prädicate zugeschrieben werden.
Sinn des Problems: Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? 317
[R 706. H 46. E 61.] B 19.
III. unter der Mttgliehkeit^ nach welcher gefragt wird, sind die all-
gemeinen Bedingungen zu verstehen, welche als Erklämngen und
Voraussetzungen gültiger und angeblicher synthetischer Urtheile a priori
dienen. Die so gesuchten allgemeinen Bedingungen sind zweifach: Es wird
gefragt 1) nach der psychologischen (subjectiven) Möglichkeit (durch welches
theoretische Vermögen sind jene oben definirten und specificirten Urtheile
ermöglicht?), 2) nach der erkenntnisstheoretischen (objectiven) Möglichkeit
(unter welchen Voraussetzungen sind jene Urtheile gültig?) \ und mit der
letzteren Frage kommen wir wieder auf die zwei sub I. besprochenen Fragen
nach dem Wie und nach dem Ob.
Im Folgenden behandeln wir nun 1) die anderen Formulirungen des
Problems bei K., welche z. Th. enger gefasst sind (indem sie bald die reine
Mathematik an sich, bald die transscendente Metaphysik ausschliessen) ;
2) die fundamentale Bedeutung der Frage nach Kant selbst; 8) Urtheile
Anderer über die Tragweite der Frage; 4) die Literatur über das Problem;
5) die Umdeutungen des Problems bei den Epigonen u. s. w. ; 6) Controverse
mit Paulsen über den Sinn und die Entwicklungsgeschichte des Haupt- *
Problems; 7) Sonstige Bemerkungen. (Ueber den Um fang des kritischen
Problems siehe unten.)
1) K. umschreibt (Vorr. A. XI): „Was und wie viel kann Verstand
und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?" Hier ist die
Vernunft im Allgemeinen geschieden in den Verstand und die Vernunft im
engeren Sinn. Eine etwas engere Fassung gibt die Schrift gegen Eberhard
B. I, 408; es handelt sich „um die Nachforschung der Elemente unserer
Erkenntniss a priori und des Grundes ihrer Gültigkeit in Ansehung
der Objecte vor aller Erfahrung, mithin der Deduction ihrer ob-
jectiven Realität.*' „Nach einer mühevollen Erörterung aller zur Mög-
lichkeit synth. Sätze a priori erforderlichen Bedingungen kommt die Kritik
zu dem entscheidenden Schlusssatz: dass keinem Begriffe (und Satze) seine
obje&tive Gültigkeit anders gesichert werden könne, als durch seine Be-
^ Der Uebersichtlichkeit halber seien diese Bedingungen hier aufgezählt:
a) für die Urtheile der Mathematik ist die psychologische Bedingung: Raum
und Zeit als reine Anschauungen a priori; die erkenntnisstheoretische Bedingung:
Raum und Zeit als Formen und Bedingungen der Möglichkeit alles empirischen
Anschauens. Jenes erklärt die Möglichkeit der Urtheile der reinen Mathematik
an und für sich selbst^ dieses die Möglichkeit derselben iu ihrer Anwen-
dung auf die Gegenstände, b) Für die Urtheile der reinen Naturwissen-
schaft sind die psychologischen Bedingungen die sog. „transscendentalen Ver-
mögen'', welche in der „transscendentalen Apperception^ gipfeln; ihre erkenntniss-
theoretische Bedingung ist, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit der Erfah-
rung sind, c) Für die Urtheile der transscendenten Metaphysik ist ihre
psychologische Bedingung das Vorhandensein der reinen Vernunft (im engsten
Sinn); da sie keine nothwendigen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
sind, haben sie jedoch keinen Erkenntnisswerth.
318 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. [R 705. H 46. E 61.]
Ziehung auf die Anschauung;*' nach 452 (ib.) handelt es sich darum, , einen
allgemeinen Grund der Möglichkeit solcher Sätze in den wesentlichen Be-
dingungen unseres Erkenntniss Vermögens einzusehen.'' Dem entsprechend
drückt K. die Hauptfrage (in der Kr. d. pr. V. 77) so aus:
Wie kann reine Vernunft a priori Objecte erkennen?
(Ib. 200 werden analytisch und logisch, synthetisch und real voll-
ständig identificirt. Nach Kr. d. ürth. § 76 ist synthetisch urtheilen =
0 b j e c t i V urtheilen. Diese Identificirung von synthetisch und real ist jedoch
nicht durchaus festgehalten. Hier in der Kritik' sagen ja schon die Urtbeile
der reinen Mathematik an sich, welche synthetisch sind, dass synthetisch noch
nicht sogleich identisch ist mit real. Vgl. hierüber unter 6), sowie bezüglich
der später darüber hervorgetretenen Meinungen das Supplement über die
Controversen betreffe der analyt. und synth. Ürtheile*.)
2) Ueber das Problem, welches Kant 154 „das wichtigste Geschäft
der Transscendentallogik'' nennt, äussert er sich in den Prol. § 5 noch
weiter so: „Auf die Auflösung dieser Aufgabe nun kommt das Stehen oder
Fallen der Metaphysik, und also ihre Existenz gänzlich an. Es mag Jemand
seine Behauptungen in derselben mit noch so grossem Schein vortragen,
Schlüsse auf Schlüsse bis zum Erdrücken aufhäufen, wenn er nicht vorher
jene Frage hat genugthueud beantworten können, so habe ich Becht zu
sagen: es ist alles eitele grundlose Philosophie und falsche Weisheit. Du
sprichst durch reine Vernunft, und massest dir an, a priori Erkenntnisse
gleichsam zu erschaffen, indem du nicht bloss gegebene Begriffe zergliederst,
sondern neue Verknüpfungen vorgibst, die nicht auf dem Satze des Wider-
spruchs beruhen, und die du doch so ganz unabhängig von aller Erfahrung
einzusehen vermeinest; wie kommst du nun hiezu, und wie willst du dich
wegen solcher Anmassungen rechtfertigen ? Dich auf Beistinunung der all-
gemeinen Menschen Vernunft zu berufen, kann dir nicht gestattet werden;
denn das ist ein Zeuge, dessen Ansehen nur auf dem öffentlichen Gerüchte
beruht. [Ueber diese Anspielung auf die „Schottische Philos." s. unten.]
Quodcunque ostendis mihi sie, incredulus odi.
Horat. [Ars Poet, 188.]
So unentbehrlich aber die Beantwortung dieser Frage ist, so schwer ist sie
doch zugleich, und obzwar die vornehmste Ursache, weswegen man sie nicht
schon längst zu beantworten gesucht hat, darin liegt, dass man sich nicht
einmal hat einfallen lassen, dass so etwas gefragt werden könne, so ist doch
eine zweite Ursache diese, dass eine genugthuende Beantwortung dieser einen
Frage ein weit anhaltenderes, tieferes und mühsameres Nachdenken erfordert,
* Göring, Viert, f. wise. Phil. I, 410 meint, in der I. Aufl. sei überall ein-
geschärft worden^ dass Existentialurtheile synthetisch seien; dagegen in der II. Aufl.
erhalten die synth. Urtheile als solche den Rang von Existentialurtheilen. Dies
ist nicht richtig, weder in Bezug auf den Unterschied der beiden Auflagen^ noch
80, dass synthetisch überhaupt =: real wäre.
Wichtigkeit und Schwierigkeit des Hauptproblems. 319
[B 706. H 46. E 61.] B 19.
als jemals das weitläufigste Werk der Metaphysik, das bei der ersten Er-
scheinung seinem Verfasser Unsterblichkeit versprach. Auch muss ein jeder
einsehende Leser, wenn er diese Aufgabe nach ihrer Forderung sorgfältig
überdenkt, Anfangs durch ihre Schwierigkeit erschreckt, sie für unauflöslich,
und gäbe es nicht wirklich dergleichen reine synthetische Erkenntnisse a
priori, sie ganz und gar für unmöglich halten, welches dem David Hume
wirklich begegnete, ob er sich zwar die Frage bei weitem nicht in solcher
Allgemeinheit vorstellte, als es hier geschieht und geschehen muss, wenn die
Beantwortung für die ganze Metaphysik entscheidend werden soll . . . Wenn
der Leser sich über Beschwerde und Mühe beklagt, die ich ihm durch die
Auflösung dieser Au%abe machen werde, so darf er nur den Versuch an-
stellen, sie auf leichtere Art selbst aufzulösen. Vielleicht wird er sich als-
denn demjenigen verbunden halten, der eine Arbeit von so tiefer Nachfor-
schung für ihn übernommen hat, und wohl eher über die Leichtigkeit, die
nach Beschaffenheit der Sache der Auflösung noch hat gegeben werden
können, einige Verwunderung merken lassen; auch hat es Jahre lang Be-
mühung gekostet, um diese Aufgabe in ihrer ganzen Allgemeinheit (in dem
Verstände, wie die Mathematiker dieses Wort nehmen, nämlich hinreichend
für alle Fälle) aufzulösen. Alle Metaphysiker sind demnach von ihren Ge-
schäfben feierlich und gesetzmässig so lange suspendirt, bis sie die Frage:
wie sind synthetische Erkenntnisse a priori mögLich? genug-
thuend werden beantwortet haben. Denn in dieser Beantwortung allein be-
steht das Creditiv, welches sie vorzeigen mussten, wenn sie im Namen der
reinen Vernunft etwas bei uns anzubringen haben ; in Ermangelung desselben
aber können sie nichts Anderes erwarten, als von Vernünftigen, die so oft
schon hintergangen worden, ohne alle weitere Untersuchung ihres Anbringens,
abgewiesen zu werden. Wollten sie dagegen ihr Geschäft nicht als Wissen-
schaft, sondern als eine Kunst heilsamer und dem allgemeinen Menschen-
verstände anpassender Ueberredungen treiben, so kann ihnen dieses Gewerbe
nach Billigkeit nicht verwehrt werden. Sie werden alsdenn die bescheidene
Sprache eines vernünftigen Glaubens fuhren, sie werden gestehen, dass es
ihnen nicht erlaubt sei, über das, was jenseit der Grenzen aller möglichen
Erfahrung hinaus liegt, auch nur einmal zu muthmassen, geschweige
etwas zu wissen, sondern nur etwas (nicht zum speculativen Gebrauche,
denn auf den müssen sie Verzicht thun, sondern lediglich zum praktischen)
anzunehmen, was zur Leitung des Verstandes und Willens im Leben
möglich und sogar unentbehrlich ist. So allein werden sie den Namen nütz-
licher und weiser Männer fuhren können, um desto mehr, je mehr sie auf den
der Metaphysiker Verzicht thun." [Diese letztere Schilderung passt trefflich
auf Mendelssohn.] Ueber die Wichtigkeit des Problems s. Prol. K. 144,
Or. 211, «eigentl. Aufgabe, worauf die Kr. ganz und gar hinauslief", und
bes. ib. 146, Or. 215, wo E. die Dogmatiker zur Lösung dieser fundamen-
talen Angabe auffordert in einem „Wettstreit der Methoden".
3) Bichtig heisst es Hauptm. 52: „Diese Formel ist gleichsam der
320 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. [B 706. H 46. E 61.]
Stift am Eingange des Labyrinths, an welchem der Anfang von Ariadne's
Faden geknüpft ist. Nun mag das Knäuel sich durch alle Krümmungen
links und rechts entwickeln! Wir werden, wenn wir daran folgen,
uns immer wieder zurecht und herauszufind en wissen." Ebenso
wird mit Recht die fundamentale Wichtigkeit der Frage betont in der
Schrift: Studium der K.'schen Philosophie 41 ff.: Der Gesichtspunkt,
von dem K. ausgeht, ist der Unterschied analyt. und synth. ürth. ; das
Ziel, auf das er hinsteuert, die Lösung der Frage nach der Mögl. synth.
Urth. a priori. Dies Ziel muss jeder Leser unverwandt im Auge
behalten. „Hat er diesen Gesichtspunkt nicht gefasst oder verliert er
das Ziel aus den Augen, so wird er in der Folge vergebens ar-
beiten." Ebenso bemerkt Straeter, Princ. 21 über dieses „centrum phüc-
sophiae Kantianae^ : „Mihi quidem videntur neque ipsius Kantii dodrina neque
omnia ex ejus principiis derivata recentiorum philosophorum systemata ommno
passe perspici, nisi ülitis quaestionis sententia ac vi satis perspecta.^
4) Das Problem ist trotz sorgftlltiger Vorbereitung und weiterer Aus-
führung häufig missverstanden worden, indem man die Frage zu eng fasste.
Schwegler, Geschichte der Philosophie § 37 legt die Frage so aus:
„Können wir unser Wissen, auf apriorischem Wege, durchs Denken allein
über die sinnliche Erfahrung hinaus erweitern? Ist eine Erkennt-
niss des Uebersinnlichen möglich?* Schw. beschränkt die Frage auf die
transscendenten Urtheile der Metaphysik '. Andere, wieRixner beschränken
die „ Urfrage * auf die immanenten Urtheile des reinen Verstandes. Denn
es geht aus dem Bisherigen hervor, dass es eine falsche Beschuldigung ist,
wenn Rixner, Gesch. d. Phil. III, § 137 sagt, Kant habe wie Hume das
Problem nicht allgemein genug gefasst; er habe nur gefragt, wie synth.
Urth. a priori über Gegenstände der Erfahrung möglich seien, „wo-
durch er der Vernunft die blosse Erklärung der Erfahrungswelt allein als
Aufgabe anwies und ihr alle Möglichkeit der Erkenntniss des Uebersinnlichen
absprach.** K. fragt nach der Möglichkeit synth. Erk. überhaupt; er
findet erst, dass solche nur bezüglich der Erfahrung möglich sei. Eine
etwas einseitige Wendung gibt B. Erdmann dem Titel (und der Haupt-
frage), wenn er (Kants Kritic. 12 vgl. 18) an die Lehre Kants, dass die Ver-
nunft nur dazu diene, den Verstandeserkenntnissen Einheit zu geben und
nicht auf Gegenstände gehe, anknüpft und sagt: „Die Lösung des Problems
für die Vernunft ist demnach eine nothwendige Folge der Lösung desselben
für den Verstand. Der Schwerpunkt des ganzen Werkes, der Gedanke, in
dem alle (?) übrigen Ausfuhrungen desselben sich zusammenfassen lassen,
liegt in der Beantwortung der Frage: Wie lässt sich die objective Gültig-
keit der Verstandesbegriffe a priori begreiflich machen ?** Diese Darstellung
^ Ebenso ungenau stellt er, § 38, die Frage der Aesthetik und Analytik nach
„dem apriorischen Besitz der Sinnlichkeit und des Verstandes*'. K. fragt aber
beidemal genauer nach der Möglichkeit synthetischer rationaler Urtheile.
Verschiedene Auslegungen des Hauptproblems. 321
[R 705. H 45. K 61.] B 19.
beruht aber auf einer anticipatorischen Hereinnahme einer Bestimmung,
welche zur Fragestellung noch gar nicht gehört ; es kann desshalb die Haupt-
frage nicht in dieser Weise gegen Kants eigene Bestimmungen auf den Ver-
stand beschränkt werden, sondern sie muss die Vernunft (im engeren
Sinn) nothwendig einschliessen. (Vgl. zu A 10 ff. »Idee der Kritik d. r. V.")
Straeter, Princ. 21 sagt unrichtig, dass das synth. ürth. a priori
far K. mit der Definition der vera cognitio ^ zusammen falle; (die WoWsche
analytisch formale Methode sei quasi Manihua tisui inventa, und genüge
nicht für homines). Er fasst ferner die Frage falsch auf, wenn er K. fragen
lässt: Qua ratione verum natura cognosci polest , . . . estne fons aliquis ex-
perentia tnelior judidorum, quae synthetice atque a priori feruntur? K. fragt
nicht bloss: Gibt es solche Erkenntniss? sondern er sagt auch: Es
gibt solche, aber wie ist sie möglich? wie Straeter selbst 23 richtig
bemerkt : Kaniius tantum abtrat, ut idem quod Dogmatici faceret (talia ju-
dicia simpliciter pronuntiare), ut quo jure, quod Uli fecerunt, fieri
passet, disceptaret Für die Hauptaufgabe entwickelt Reinhold, Briefe
I, 97 ff. eine kürzere und einfachere Formel : Was vermag die Vernunft?
Er zeigt, wie diese Frage, historisch durch die bisherige Geschichte der
Philos. vorbereitet, bei K. nothwendig hervorspringen musste. Bisher habe
man der Vern. zu viel und zu wenig zugemuthet (vgl. oben S. 41). Vgl.
desselben Th. d. Vorst. 140 ff. 152 ff. Eine Analyse der Hauptfrage siehe bei
Brastberger, Unters. 187 ff. K. frage nicht, wie ist es möglich, über
unsere Erkenntniss hinauszukommen zu absoluten Dingen, sondern,
,wie ist es möglich, noch vor aller Wirklichkeit in unseren Vorstellungen,
noch vor aller Gegenwart solcher Dinge, die sich uns sinnlich darstellen,
etwas zu erkennen, das hernach in der Wirklichkeit vorkommt und vorkommen
muss, und was verschafft einer solchen Erkenntniss a priori diese ihre ob-
jective Bealität, diese Sinnenwahrheit?'' Dies ist zu enge, denn damit wäre
die wenigstens angestrebte Metaphysik im transsc. Sinn aus der Frage aus-
geschlossen. Ueber den Sinn der Hauptfrage vgl. ferner Maass in Eberh.
Phil. Mag. II, 217. Vgl. Schmidt-Phiseldek, Exposüio 14-15.
Die schwierige „Schulsprache" der Hauptfrage setzt C lassen, Physiol. d.
Ges. 1 in die populäre Fassung um : Wie können wir auf eine sichere und un-
zweifelhafte Weise unsere Kenntnisse vermehren? Witte, Beitr. 38 (40) formt
die Frage um: „Wie ist die Synthesis in apriorischen Urtheilen möglich?*
Eine scharfe Kritik der Frage bei Trend elenburg. Log. Unters. 2. Aufl.
n, 243 f. Maimon, Unters. 177 — 179 meint, es werde sowohl nach dem
ersten Grundsatz aller synth. Erkenntniss gefragt, als auch, da dieser selbst
synth. sein muss, nach dessen eigener Möglichkeit '. Die Fragestellung gibt
' Die eigentliche Erkenntniss (vgl. jedoch unten S. 354) ist nach K. synthetisch
a priori, aber nicht umgekehrt. — Ueber den gleich folgenden Unterschied der Frage
nach dem Wie und nach dem Obs. oben S. 225 ff. und unten Anhang zu Abschn. VI.
' Vgl. Haimons Erörterung des Hauptproblems in Fichte -Niethhammers
„Philos. Journal** VI, 172 ff. (doppelte Bedeutung des Apriori in der Frage).
Vaihinger, Kant'Commentar. 21
322 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. [B 705. H 45. K 61.]
Schulze, Krit. I» 192 zwar unverändert wieder, fugt aber aus eigenen
Stücken die weitere Frage als in jener ersten enthalten und also als kantisch
hinzu : ^ und wie Ve rn u n f t bloss aus sich selbst etwas von Gegenständen
wissen könne?" Das liegt aber schon in der Frage selbst. Vgl. die obige
Umschreibung ders. Die Krit. Briefe 47 finden die Aufgabe unbestimmt;
es seien drei Bedeutungen (vgl. dag. Born, Mag. 11, 530) der Frage möglich:
1) Wodurch wird der menschl. Verstand fähig, solche ürtheile zu
bilden?
2) Wie kann er auf diese geführt werden?
3) Wie kann er ihre Wahrheit beweisen?
Sigwart, Handbuch § 185: Sinn der Frage: 1) Gibt es solche ürtheile?
2) Aufzählung derselben. 3) Ihr Gebrauch und ihre Grenzen. Drei Aufgaben
(„Stufen") findet v. Wangenheim, Verth. Kants 22 ff. in dieser Frage:
1) Nachweis des Besitzstandes, 2) des Werthes, 3) des Rechts der
Begründung. Vgl. Grapengiesser, Aufg. der Vem. 14 ff. 19. 25 ff. Zwei
Fragen findet Desduits Phil, de Kant 274: die possibilitS (psychoL) und
die legitimitS d. synth. ürth. a priori '; vgl. Nolen, Kant 179 (faü et droit).
Die Frage nach der Möglichkeit synthet. Ürtheile a priori ist nicht bloss
* Selbstverständlich ist diese Formel des Hauptproblems — unter den be-
rühmten Stellen der Einleitung die berühmteste — unzähligemal zum Gegenstand
der Erörterung gemacht worden. Als Stellen, welche zur weiteren Erläuterung
dienen können, seien noch folgende erwähnt: grössere Abschnitte bei Mazzarella,
Critica ddla acienza, Genom 1860, S. 295—310 (vgl. S. 37, 71): ^llprMema entieo*'\
Riehl, Kriticl, 315-339: „das Problem der Kritik"; Caird, Pha. ofKant,lf[.
182-221; „Problem of the Cri^ique''\ Cantoni, Em, Kant,, 143—181: „PrMema
e metodo deUa ragion pura^\ Bertinaria, in der Zeitschr. La fiJos. d. seuole ital,
XXn, 3: „/Z prohlema eritico^ etc. Harms, Philos. s. Kant 127 — 141: „daa
Problem"; Krause, Popul. Darst. d. Kr. d. r. V. S. 1—23: ,J>\e, Aufgabe der
Kritik d. r. V." — Ferner Buhle, Gesch. d. n. Philos. VI, 2, 1582; Dorguth,
Kritik d. Idealismus 257; E. Reinhold, Th. d. Erkenntn. I, 23; Fries, Gesch.
d. Philos. II, 507 f. 514 ff.; Biedermann, Gesch. d. deutsch. Philos. I, 66;
Morel 1, Modem Philo», I, 240 (Verh. zu Hume, Reid); S6cr6tan, PÄtZ. dt la
Liberia I, 162. Rosmini, Origine deOe Idee I, § 324 ff. S 342 ff. und bes. § 353 ff.
Mamiani, Nuovi Piclegomeni 105. (Vgl. Werner, Kant in Italien S. 29 ff. S. 56.)
Harms, Anthrop. 20. Harms, Gesch. d. Logik 218. Michelis, Gesch. d. Phil.
286-290; Spir, Kl. Schriften 95. Spicker, Kant 111. Pesch. Haiti, d. med,
Wiss. 10. Ritter, Kant u. Hume 16. Tombo, Ks. Erk. 10. S tau dinger, Viert
f. wiss. Philos. V, 244. Einseitige oder falsche Auslegungen bei Busse, Fichte
I, 94. Prihonsky, Antikant, 37; Willm, Philoe, Aüem, I, 137. Deg^rando,
Vergl. Gesch. I, 514 ff. II, 238. 243 (ib. dag. Tennemann); ülrici, Grundpr.
I, 302. 310; Deutinger, Princip 121; Ast, Gesch. d Phil. III, 205 (5. Aufl.) -
Sengler, Specul. Philos. 55 f. Balfour im „Mind" Vol. VI, 262. 264; gegen
Watson, ib. V, 528 ff. Kritische Bemerkungen u. A. bei Jacobi, W. W. IH,
67 f. 79 f. B a gg e s en, Nachl. I, 158. 233. 431. Caspari, Grundprobleme U, 174 ff.
üeber „this fruitful queeUan*" vgl. bes. noch Hodgson im „Mind" II, 118—122.
Psychologische und erkenntnisstheoretische Auffassung. 323
[B 706. H 45. E 61.] B 19.
etwa psychologisch zu yerstehen, d.h. nicht nlir in dem Sinne: Durch
welches Erkenntnissvermögen, durch welche Einrichtung unserer subjectiven
Anlage sind wir in den Stand gesetzt, a priori überhaupt Urtheile zu fällen ;
sondern in erster Linie erkenntnisstheoretisch: wie kommt es, dass
die von uns a priori gefällten urtheile gültig sind; dass urtheile, die
wir, ohne Erfahrung zu Bathe zu ziehen, aussprechen, doch für deren ganzen
Umfang gelten? Dass wir der Natur gleichsam also Gesetze vorschreiben?
K. fragt nicht nur nach dem Ursprung, sondern auch nach der Methode,
besonders nach der Möglichkeit und Rechtfertigung der apriorischen Urtheile.
Er fragt nicht nur: Wie kommen wir zu solchen Urtheilen? sondern auch:
woher kommt die Gültigkeit solcher Urtheile? Inwieweit ist diese Gültigkeit
Torhanden und wo hM, dieselbe auf? Unter welchen Bedingungen sind sie
gültig? Haben sie, wie Meilin richtig fragt (I, 385) einen wirklichen
Gegenstand? Haben sie, (ib. I, 387) objective Gültigkeit? Mit
Becht ergänzt Villers die Frage in diesem Sinne: und wann sind sie
gültig? (Vill. Phil, d, K, II, 192. Vgl. Rink, Metakrit. 15.) Allerdings wird
auch die erstere Frage berücksichtigt, jedoch ist sie nicht die Hauptsache.
Daher ist die Umschreibung von Schultz, Erl. 18: „Ob und in welcher Art
synth. Erk. a priori möglich sind und wie man dieselben bloss a priori auf
Gegenstände anwenden könne ^ nicht unrichtig. Falsch aber ist es, wenn
Schmidt-Phis. in der Exp. 13 die Frage bloss fasst: quaenam sit ea
mentis hutnanae ope ratio, per quam illa efficiantur? — wenn er bloss von
der Art der Synthesis, nicht von ihrer Gültigkeit spricht. In den Fortschr.,
B. I, 495 unterscheidet auch Kant selbst zwei Fragen:
1) Wie sind synth. Urth. a priori möglich?
2) Wie ist aus synthetischen Urtheilen eineErkenntniss a priori
möglich? (Vgl. hiezu bes. Schmid, K. L. E. Metaph. S. 11—20,)
Diese Doppelfrage kann man wohl nur so auffassen, dass zuerst nach der
psychologischen Möglichkeit der synthetischen Urtheile überhaupt und
dann nach ihrer erkenntniss-theoretischen Möglichkeit gefragt wird,
d. h. nach der Möglichkeit, wie aus ihnen Erkenntniss der Gegenstände,
gegenständliches auf Dinge bezügliches apriorisches Wissen entsteht.
Die erste Frage wird aber dort weiterhin nicht berücksichtigt, Beweis genug,
dass sie für E. im Hintergrund stand; dass sie aber in der Kritik keines-
wegs auf die Seite gesetzt ist, wird sich zeigen. Vgl. Windelband,
Gesch. d. n. Philos. 11, 52. 93 u. Viert, f. wiss. Phil. I, 237 ff. 260, wonach
Paulsen Entw. 156 f. zu ergänzen ist. Femer Smolle, Ks. Erkenntnissth.
vom psychol. Standp. betrachtet, S. 7 ff. — Es ist eine Einseitigkeit, wenn
Biehl die psychologische Seite der Frage ganz leugnet, Kritic. I, 289 ff.
294 ff. (gegen Fries), 299 ff. (gegen Herbart W. W. HI, 118) 303. 311 f.
315 ff. Ist auch die rein psychologische Auffassung ein schwererer Irrthum
als die rein erkenntnisstheoretische, so darf die psychologische Seite doch
keineswegs ignorirt werden. Beide Seiten berücksichtigt gleichmässig auch
Cantoni, Kant 153 ff., der auf diese Weise zwischen Fr auch i einerseits.
324 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. [B 705. H 45. E 61.]
Riehl, Paulsen und Cohen (u. Stadler) andrerseits vennittelt. Vgl. wss
derselbe S. 148 über den Sinn der „Möglichkeit" bei Kant überhaupt sagt,
mit Riehl a. a. 0. 165 ff., 302, 327, mit Fischer, Gesch. III, 281 ff. und
Cohen 77. 79. 94. (Vgl. unten zu Transscendental B 25.) Die Frage nach
der Möglichkeit ist allgemein die Frage nach den Bedingungen, und
diese sind hier theils psychologische, theils rein erkenntnisstheoretische. Dieser
Doppelsinn der Frage, den auch Erdmann, Kritic. 18 richtig annimmt, hängt
zusammen mit der auch von Biehl 320. 830 anerkannten allgemeineren
Fassung der Frage, mit ihrer Ausdehnung auf die wenn auch ungültigen
ürtheile der transscendenten Metaphysik, sodann mit dem von Riehl u. A.
nicht erkannten umstände, dass es sich bei den mathematischen ürtheilen
nicht bloss um ihre objective Gültigkeit, sondern auch um ihre psycholo-
gische Möglichkeit an sich handelt. Diese Frage nach der psychologischen
Möglichkeit ist jedoch nicht Sache der empirischen Psychologie, sondern so zu
sagen einer Art Transscendentalpsychologie ; denn die empirische Psychologie
weist E. mehrfach entschieden ab von seiner Kritik; diese fragt nach der
allmSLligen Ausbildung der Vorstellungen im Verlaufe der Entwicklung
des Subjects, jene nach ihrem apriorischen Fundament im Subject, nach
ihrer subj. Möglichkeit. Die Verwechslung der empirischen Psychologie,
welche ausserhalb der Kritik steht, mit der „Transscendentalpsychologie^
innerhalb derselben ist verbreitet und hat mannigfache Verwirrung an-
gerichtet ; um so mehr als K. selbst jene transscendental-psychologischen Un-
tersuchungen als unwesentlich hinstellt, womit eben die gänzliche
Verwerfung der empirisch - psychologischen Untersuchungen leicht ver-
wechselt wurde '. Man vgl. hiezu bes. die Episode der Vorrede A, X, wo
die Frage der „objectiven Gültigkeit" als die wichtigere von der Frage:
Wie ist das Vermögen zu Denken selbst möglich? als der un-
wesentlichen unterschieden wird. Letztere Frage fällt vollständig zusammen
niiit der Frage nach der Fundamentirung des Apriori im Subjecte.
5) Auf die Ausbildung der nachkantischen Philosophie hat das K.'sche
Hauptproblem einen positiv bestimmenden Einfluss ausgeübt (worüber sich
bei Glossner, Der mod. Idealismus 17 ff. 21 ff. 32 ff. einige richtige Be-
merkungen finden). Einestheils suchte man, vgl. oben S. 288 ff., das als
berechtigt anerkannte Problem auf anderem Wege zu lösen, anderentheils
wurde dasselbe — von Fichte, Schelling, Hegel — entsprechend der ganzen
Methode ihres Philosophirens aus dem Erkenntnisstheoretischen ins Meta-
^ In diesem Sinne sagt K. auch Prol. § 21 a: es sei nicht vom Entstehen
der Erfahrung die Rede^ sondern von dem^ was in ihr liegt (somit, woraus sie
bestehe). Das Erstere gehöre zur empir. Psychologie, das Andere zur Transscen-
dentalphilosophie. Vgl. Riehl, Kritic. 202. Cohen 138. K. hält beides immer
streng auseinander, aber innerhalb der Transscendentalphilosophie treibt Kant
selbst Psychologie, vgl. z. B. Krit. B 152 f., wo einerseits (empirische) Psychologie
abgewiesen, andererseits transscendentale Psychologie behandelt wird.
Das „Hauptproblem" bei Fichte, Schelling, Hegel. 325
[R 706. H 45. K 61.] B 19.
physische umgedeutet. Fichte, S. W. I, 114 bringt die Synthesis des Ich
und Nicht-Ich mit dem K.'schen Problem in Zusammenhang; eogerer An-
scbluss an dasselbe s. Fichte, Nachg. W. I, 27. 110. 130 (wozu man auch
Hülsen, Prüfung der Berl. Preisfrage 195 f. vergleiche).
Höchst willkürlich deutet Hegel (vgl. dessen Sämmtl. Werke I, 20 ff.)
im Kr it. Journ. II, 1, 25 um: In dieser Formel finde sich »ungeachtet der
ganz anders lautenden Resultate'' und ungeachtet der Beschränktheit Ks.
auf das subjectiv-endliche Denken die „wahrhafte Vernunftidee ausgediückt".
Freilich sei K. bei der bloss subjectiven und äusserlichen Bedeutung
dieser Frage stehen geblieben. Was ist nun nach Hegel die objectiv-absolute,
innerliche Bedeutung jener Frage? „Dieses Problem drückt nichts anderes
aus, als die Idee (!), dass in dem synthet. Urtheil Subject und Prädicat, jenes
das Besondere, dieses das Allgemeine, jenes in der Form des Sagens, dieses
in der Form des Denkens — dieses Ungleichartige zugleich a priori d. h.
absolut — identisch ist". Die Vernunft sei nichts Anderes als diese Iden-
tität solcher Ungleichartigen. „Man erblickt diese Idee durch die Flach-
heit (!) der Deduction der Kategorien hindurch". Hegel geht dann auf
die synthetische Einheit der Apperception über, indem er so synthetische
ürtheüe nach Reinholds und Becks Vorgang auf sie (vgl. oben 268. 276) be-
zieht und sagt, K. habe sein Problem so gelöst, „indem seine Urtheil e mög-
lich seien, durch die ursprüngliche, absolute Identität von Ungleichai'tigem,
aus welcher als dem Unbedingten sie selbst als in die Form eines Urtheils
getrennt erscheinendes Subject und Prädicat, Besonderes und Allgemeines
erst sich sondert". Vgl ib. 38. Ganz ähnlich sind die Umdeutungen der
Hauptfrage bei Schelling S. W. I, 175. (190. 199. 203.) 294. 310 \ Ueb-
rigens verwirft Hegel, S. W. XVII, 15 die ganze Fragestellung, weil er eben
«rkenntnisstheoretische Untersuchungen vor der Metaph. nicht anerkennt \
Hegelianisirend ist die Auslegung des synth. Urth. bei Rosenkranz, Gesch.
158, vgl. 117; nicht etwa die Bemerkung, dass es eine Synthesis der Sinn-
lichkeit und des Verstandes darstelle, wovon jedoch bei K. sich auch nichts
findet, sondern die Umdeutung, in dem synthetischen Urth. werde Entgegen-
gesetztes wie z. B. Ursache und Wirkung zur Einheit verbunden.. Dieses
, Wunder" mache K. zum Gegenstand seiner Frage. „Es ist das Räthsel der
* Vgl. Ast (Anhänger Schellings), Gesch. d. Philos. § 303 (Identität von
Sein und Denken), und Rixner, Gesch. d. Philos. III, 285.
' Man vgl. noch Hegel, W. W. III, 242, es handle siöh ujn den „Begriff
von Unterschiedenem, das ebenso untrennbar ist, um das Identische, das an ihm
selbst ungetrennt unterschieden ist"; u. XV, 558: „synthet. ürtheile a priori sind
nichts Anderes, als ein Zusammenhang des Entgegengesetzten durch sich selbst,
oder der absolute Begi-iff" u. s. w. Eine hegelianisirende Homilie über das Haupt-
problem 8. bei G. Biedermann, Wissenschaftslehre I, 2 ff. Begriffs Wissenschaft
I, Vm ff. Ks. Kritik d. r. V. u. d. Hegersche Logik S. 8. — Fichte, jr. Gegens.
d. Philos. II, 14. 262. Man vgl. ferner z. B. Michel et, Letzte Systeme I, 44 ff.
u. Entw. d. d. Philos. 25, auch Carri^re, Reformation, S. 477 (Bruno).
y
326 Commentar zar Einleitung B, Abscim. VI.
B 19. [B 705. H 45. E 61.]
Welt, zu begreifen, wie Entgegengesetztes a priori, d. h. durch sich selbst,
nicht nur als äusserliches Compositum, Eines ist." Fichte d. S. gibt in
seiner Charakteristik S. 181 eine ähnliche, wenn auch abgeschwächte specu-
lative Umdeutung : K. habe hier auf das Ur- und Grundwunder alles Seins (!)
und Wissens hingedeutet (!), wie nämlich ,das Mannigfaltige dennoch
das Eine , darin mit sich identisch Bleibende , Einheit umgekehrt ein syn-
thetisches Mannigfaltiges zu sein vermöge, wie dieser ursprünglichste Gegen-
satz vereinigt in allen Dingen zu begreifen sei? — Und wenn auch die
Lösung der Frage ihm nicht in höchster Instanz gelungen ist, dennoch be-
währte er dadurch seinen ebenso tiefen als umfassenden Blick, gleich Anfangs
den innersten Mittelpunkt aller Speculation so scharf bezeichnet zu haben.'
(Eine solche Aus- und Umdeutung zeugt wahrlich von keinem „ tiefen Blick*.
Mit welchem Auge sehen Rosenkranz und Fichte die Worte Kants an?
Und wo liegt nur auch im entferntesten ein solch verwegener Sinn?)
Schaller, Ks. Naturphil. 57 deutet das synth. ürth. a priori so, dass in
ihm der abstracte Gegensatz des Seins und Denke« s, des Objectiven
und Subjectiven enthalten sei, und dass es sich um die Möglichkeit,
^*»> diesen Gegensatz aufzulösen, handle. Straeter, Princ. 22 findet darin
ausgedrückt, y^eandem rebus quamcia diversis inhaerere vim ac rationem, nuHum-
que inter eaa quamvis per se f<ibi aliencts intercedere dxscrimen'^ ; es sei die
konkrete Identität der Dinge darin ausgedrückt. Was soll man von solcher
^ bodenlosen Willkür der Auslegung sagen? — üeber Schleiermachers
/ Stellung zu dem Hauptproblem vgl. Dilthey, Schleierm. I, 91 (woselbst
auch S. 88 — 92 eine sorgfältige Analyse des „Problems des kritischen Idea-
lismus" sich findet). Krause äussert sich über das Hauptproblem in den
„Grundwahrheiten* S. 375, Baader, W. W. I, 7 u. XI, 413, Schopen-
hauer, Satz V. Grunde S. 108, Welt a. W. u. V. I, 570, H, 37; NachL
S. 327 (vgl. Frauenstädt, Schopenhauer S. 659; Polemik gegen Michelets
Auslegung der Frage in Fichte's Zeitschrift, XXVII, 43 f.) — Vgl. Her-
barts Problem; wie Ein Begriff verbunden sein möge mit einem
Andern? Phil. Stud. Sep. Ausg. 67. Auch er fragt daelbst nach einem „Drit-
ten*', Vermittelnden (vgl. a. a. 0. 70), und bringt dies mit der Synthesis
a priori ib. 57 in Zusammenhang (W. W. I, 424 ff,). Herbart beschäftigte
sich schon 1794 mit diesem Problem, jedoch noch ganz in der Manier Fichte's,
s. W. W. XII, 4 — 7, wo über dieses Thema ein kleiner Aufsatz sich findet
(vgl. hierüber Zimmermann, Perioden Hs. 12 ff. Capesius, Herbart
5 f.). üeber scheinbare Widersprüche in der Forderung einer Synthesis
a priori s. W. W. I, 73; ib. I, 260 über die unrichtige Behandlung jener
Aufgabe seitens Kant, welcher ib. I, 258 die Form gegeben wird: Woher
kommen die Formen der Erfahrung und mit welchem Recht werden sie auf
Erscheinungen übertragen? Diese „Grundfrage*' habe K. jedoch nicht ge-
nügend aufgelöst (vgl. Capesius a. a. 0. 56). Ausfuhrliche und interessante
Analyse des Hauptproblems s. bes. W. W. III, 387 — 390 (das Problem sei
nicht gegeben durch die Natur, aber geboren aus der Lage des mensch-
Das „Hauptproblem^ bei Schopenhauer, Herbart, Fries, Beneke u. A. 327
[R 705. H 46. E 61.] B 19.
liehen Wissens). Capesius a. a. 0. 56 — 58 (102), 70 — 72, 76, 78, wirft
Herbart gänzliches Missverstehen des K.'schen Gnindprobleros vor und er-
örtert richtig das Verhältniss zur ^ Methode der Beziehungen ''. Hierüber
äussert sich auch der Herbartianer Drobisch, Logik § 144, gegen den
jedoch Capesius a. a. 0. 106 ebenfalls den berechtigten Vorwurf des Miss-
verständnisses erhebt. Man vgl. femer R. Zimmermann, Propädeutik
S. 48—57, Volkmann, Psychologie U, 277, Strümpell, Grundr. der
Logik ß. 118 ff. 128 und Zacharias, Metaph. Differenzen zwischen H.
und K. 7 ff.; sowie Ueberweg- Heinz e, Gesch. d. Phil. III, 342. —
Fries bespricht seine Stellung zum Eantischen Hauptproblem N. Krit. d. V.
I, 315 ff., II, 5 — 8 und Metaphysik S. 116 ff.; Beneke in seiner Logik
I, 256. 279. II, 173, Metaphysik 38, 229 ff., die Philosophie V, 34 ff. 73 ff.,
Erkenntnisslehre 7 ff. 39 ff. und besonders scharf Sittenlehre IL B., Vorrede
Vn— XVin (gegen Fries, Anthrop. II, Vorr. XI und Bosenkranz, Kant
435). — Ueber Sinn und Bedeutung des Hauptproblems vgl. ferner bes.
Franchi, Teorica del giudizio I, 155 ff. (wo überhaupt die Einleitung scharf
kritisirt wird) und der, wie schon Ulrici, Grundp. I, 311, die Frage hinzu-
gefugt wissen will: wie bilden sich die apriorischen Begriffe? Du Prel,^^
Philos. d. Astronomie 351, Liebmann, Analysis 208 ff., Stadler, Phil.
Mon. XVII, 330, Kirchner, Logik § 109; unrichtig Knauer, Reflexions-
begriffe 28. Ein weiteres Beispiel inexacter Interpretation s. bei Katzen-
berger, das apr. u. id. Mom. S. 20, der die Frage so umschreibt: , Welches
ist das apriorische Element, ohne welches gar keine Erfahrungswissenschaft
auf gesetzmässige und allgemeingültige Art hätte entstehen können?'
6) Paulsen 153 ff. (vgl. Riehl, Krit. I, 329) ist der Ansicht, dass der
fundamentale Sinn der K.'schen Untersuchung wesentlich und zum Schaden
alterirt worden sei durch die Hereinmischung des Unterschiedes von ana-
lytisch und synthetisch '. Das ächte Problem Kants sei gewesen: Wie ist
Erkenntniss von Gegenständen aus reiner Vernunft möglich?
Die Formel: Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? sei
(S. 173) , missverständlich ", wenn sie sich auch im Allgem. mit der ersten Frage
decke, und nach S. 201 sogar „etwas scholastisch". A priori und aus
reiner Vernunft sei identisch; es handle sich um den Nachweis, wie
sich synthetische Urtheile zu Urtheilen über Gegenstände, zu realen
Urtheilen verhalte? — Kants analyt. Urtheile fielen, wie sich oben ergab,
anfänglich zusammen mit Urtheilen aus reiner Vernunft über blosse Be-
griffe durch deren Zergliederung. Dass Kants synthetische Urtheile ur-
sprünglich Urtheile über Gegenstände waren, „Realurtheile*', ergab sich
ebenfalls. Und endlich wurde der wahrscheinliche Ursprung der Bezeichungs-
weise angegeben. Auch fanden wir als Resultat der sog. vorkritischen Periode
Kants die Ueberzeugung, dass es über thatsächliche Verhältnisse keine Urtheile
' Genau ebenso schon Ulrici^ Grundpr. I^ 310(1845). Vgl. auch Paalsen^
in der Viert, f. wiss. Philos. II, 489. 495.
328 Commentar zur Einleitung B, Absclin. VI.
B 19. [R 705. H 45. K 61.]
aus reiner Vernunft gebe; dass reine Vernunfturtheile, insofern sie nur zer-
gliedernd seien, zu causalen und existentialen Sätzen nicht hinreichen. Die Er-
kenntniss des Wirklichen aus Begriflfen, d. h. der Rationalismus wurde geleugnet.
(Vgl. Paulsen a. a. 0. 34. 41 f. 45. 53. 63 f. 96 f.) Dann aber kam die grosse
Erkenntniss, dass die Mathem. auch synth. und doch a priori sei. Hier greift
nun Paulsen ein, aber verkennt ganz die Tragweite dieser Entdeckung, die er
hinter einen andern, allerdings mindestens ebenso wichtigen Punkt hintansetzt.
K. hatte nämlich 1 770 auch gezeigt, dass die mathem. Sätze strengstens von allen
Gegenständen gelten müssen, weil diese nur durch die der Mathem. zu Grunde
liegenden Anschauungsformen Baum und Zeit möglich sind. Hier sind also
Vernunfterkenntnisse, welche a priori ausgesprochen werden und doch reale
Verhältnisse aufs genaueste treffen. In der Mathem. ist somit jenes
Prob lem gelöst, wie Erkenn tniss von Thatsachen aus reiner
Vernunft möglich sei. „Die Mathem. erscheint im bestbegründeten Be-
sitz reiner Vernunfterkenntnisse von Gegenständen." (Paulsen 166.) Es muss
hier aber aus der Aesthetik antecipirt werden, dass bei der Mathem. zwei
Punkte in Frage kommen, einmal: wie sind mathematische ürt heile an sich
möglich? Sodann: wie kommt es, dass in ihnen a priori über die Gegen-
stände etwas ausgemacht wird? Die erste Frage verkennt Paulsen und hat
daher auch jene Ansicht aufgestellt, die Formulirung des K.'schen Problems
sei eigentlich nicht die richtige im Sinne Kants. Er meint (166), nachdem
K. wieder zur Erkenntniss gekommen sei, dass es doch auch ausser der
Mathem. in der immanenten Metaphysik Erkenntniss von Gegenständen aus
/, reiner Vernunft gebe, habe er die Frage der Möglichkeit gemeinsam für
Mathematik und reine Naturwissenschaft gefasst, und hätte eigentlich fragen
sollen: wie ist die Erkenntniss von Gegenständen aus reiner Vernunft (die
^ in Mathem. u. reiner Naturwiss. wirklich ist) möglich? (cfr. ib. 103. 117,
/" 120. 132. 148. 201 f. 206. 20S. 210.) Statt dessen habe K., weü Hume die
reale Gültigkeit der Mathematik bestritt, die andere indifferente Form gewählt *
und die Frage laute nun: sind diese synthetischen Erkenntnisse a priori
reale Erkenntnisse? Diese Darstellung ist wohl irrig. Denn einmal war
die synthetische Natur der Mathem. ebenso bestritten von Hume und auch
von Leibniz und noch vielmehr die der reinen Naturwissenschaft. Aber der
/
' Auch abgesehen von den folgenden Einwänden, ist Paulsens Auffassung
schon darum verdächtig, weil seine eigene Erklärung der Umformung der Frag-
formel ganz unbefriedigend ist; denn der Grund, welchen P. für dieselbe angibt,
würde nur zureichen zu der neuen Formel: Sind diese ürtheile a priori auch
realgültige ürtheile? Die Hereinmischung des Synthetischen ist durch den Grund,
Hume habe die Realgültigkeit der Mathematik bestritten, doch keineswegs gerecht-
fertigt. P. möchte Kants Problemstellung zurückschrauben auf den Standpunkt
des III. Abschnittes (vgl. oben S. 237 ff.), wo die Frage nach der Möglichkeit des
Apriori gestellt wird. Die im IV. Abschn. sich hereinschiebende Eintheilung der
analytischen und synthetischen Ürtheile aus der Kritik hinauswerfen zu wollen,
ist eine zu den schwersten Missverständnissen führende Verstümmelung derselben.
Controrerse über Sinn und Entwicklung des Hauptproblems. 329
[R 705. H 45. E 61.] B 19.
fandamentale Irrtham dieser Darlegung liegt darin, dass nur die eine Seite
der Mathem. berücksichtigt ist« ihre reale Gültigkeit, nicht aber ihre syn-
thetische Anschaulichkeit, ganz abgesehen von realer Gültigkeit \ Der Her-
gang ist vielmehr wohl folgender gewesen. Nachdem K. die synthetische
Natur der Mathem. erkannt hatte (1770), musste er zu einer Umgestaltung
seines Problems schreiten. Hatte er bis dahin allerdings gefragt: Ist Er-
kenntniss von Thatsachen aus reiner Vernunft möglich? und hatte er diese
Frage mit Nein! beantwortet, so erschloss sich ihm mit einemmale eine
ganz neue Gattung von Erkenntnissen, die in das bisherige Schema nicht
passte (analytisch - a priori, synthetisch-empirisch) — nämlich eben die Ent-
deckung, dass die Urtheile der reinen Mathem. synthetische a priori seien.
Hiebei fiel die Beziehung auf das Reale einfach heraus. Wie sind nun diese
möglich? Die Urtheile der reinen Mathem. beziehen sich zunächst nicht auf
egenstände, machen für sich ein System aus, wie sind also synthetische
Sätze a priori in der Mathem. möglich? [Hand in Hand damit ging eine
andere Veränderung, welche Paulsen ebenfalls verkennt. Die synthetischen
und empirischen Urtheile der ersten Periode bezogen sich alle auf einzelne
Thatsachen, jetzt kam Kant zur Erkenntniss, dass die allgemeinen
Gesetze der Erfahrung, besonders das der Causalität synthetisch und doch
a priori seien. Auch von dieser Seite aus konnte die Frage nicht bloss sein :
wie sind Urtheile aus r. V. über Gegenstände möglich?, sondern wie ist
es möglich, allgemeine synthetische Erfahrungsgesetze a priori aus-
zusprechen?] Endlich stehen der Paulsen'schen Auffassung als eine ganz
erhebliche Instanz die Urtheile der alten Metaphysik gegenüber. Wie sollten
Urtheile wie : Gott existirt, die Welt ist endlich der Zeit nach, die Seele ist
unsterblich, terminologisch fixirt werden? Es sind nach K. nicht Urtheile
aus Begriffen. Dass sie Urtheile über Gegenstände sein wollen, genügt noch
nicht zu ihrer Charakterisirung. „Begriffsurtheil" hat bei K. aber einen
doppelten Gegensatz: dem Urtheil über Begriffe steht das Realurtheil
(über Gegenstände), dem Urtheil aus Begriffen steht zunächst negativ
das Urtheil nicht aus Begriffen gegenüber. Jene Sätze sind Urtheile
über Gegenstände, die .nicht aus Begriffen allein gefällt werden können.
Wenn letztere synthetisch heissen, weil Urtheile aus Begriffen analytische
sind, so nennt K. auch jene Urtheile mit Fug und Recht synthetische und
' Paulsen könnte sich auf die Darstellung in der „Metaph." berufcL 18. 20.
(vgl. 77), wo die erste, wichtigste Hauptfr. d. Ontologie ist : Wie sindErk. apr.
möglich? und wo die Mathem. als Vorbild und die Metaph. (vgl. 25—26) als ge-
geben erwähnt wird. Allein S. 24 ff. holt K. die Eintheilung in anal, und synth.
Ürth. nach und formulirt das Problem S. 25 so wie in der Kritik. Jene Formel
genügte ihm also nicht, wie sie sich u. A. auch im Brief an Mendelssohn vom
6. April 1766 findet „ob man durch Vernunfturtheile a priori die Kräfte . ..
ausmachen könne". Dort sind aber „Vernunfturtheile" wohl noch „analytische".
Vgl. die Problemstellung Kants bei Erdmann, Vorr. zu Proleg. LXXXVII.
330 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. [R 706. H 45. E 61.]
zwar a priori. Nur so konnte die Kant'sche Formel auch diese Klasse mit
hereinziehen. Und wenn auch diese zur Noth noch unter die alte Formel zu
bringen waren, so durchbrach doch die Mathematik die alte Formulirung,
weil in ihr zunächst nicht ürtheile über Gegenstände, sondern in der
reinen Mathem. Ürtheile über reine Begriffe, welche in reiner Anschauung
dargestellt werden, enthalten sind ^ Dies ist somit der Grund der Umformung,
und nicht, was Paulsen angibt. Ob dadurch allerdings nicht wieder Verwirrung
geschaffen worden sei, ist eine andere Frage, welche in der Aesthetik zu beant-
worten ist. Aber an dieser Stelle dürfen die treibenden Motive der Fragestellung,
resp. der Umformung der Frage nicht verkannt werden. Eine solche Verkennung
liegt aber in der Verwischung der specifischen Bedeutung von synthetisch im
Unterschied von real durch Paulsen. Eben weil die synth. Ürtheile der reinea
Mathem. keine gegenständlichen im Sinne der Jahre 1762 ff. sind, nimmt
auch nicht synthetisch „überall stillschweigend diese Bedeutung in sich auf*.
(Paulsen 153.) Das synth. Urtheil will nicht „jederzeit ein Urtheil über
Gegenstände" sein, ausser der Begriff des Dreiecks ist auch ein Gegenstand.
Eben darum ist die allgemeine Auslegung der Hauptfrage nicht richtig:
Wie ist es möglich, dass Urtheilen aus reiner Vernunft Beziehung auf oder
Gültigkeit von Gegenständen zukommt? Was in dieser Formel fehlt, ist
eben die reine Mathematik. Allerdings im Briefe an Herz v. 21. Febr. 1772
findet sich die alte Formel, sogar mit Bezug auf die Mathematik. K. fragt
dort nach dem Grunde der Gültigkeit unserer Vorstellungen für die Gegen-
stände. Die sinnlichen Vorstellungen und die aus den sinnlichen Vor-
stellungen entstandenen Grundsätze haben eine verständliche Gültigkeit für
die Gegenstände, weil jene eben aus der sinnlichen Anschauung geschöpft
sind. „Aber die intellectualen Vorstellungen, die auf unserer inneren Thä-
tigkeit beruhen, woher kommt die Uebereinstimmung , die sie mit Gegen-
ständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden,
und die Axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen
sie mit diesen überein, ohne dass diese Uebereinstimmung (Conformität) von
der Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen? In der Mathematik geht dieses
an, weil die Objecte für uns nur dadurch Grössen sind und als Grössen
können vorgestellt werden, dass wir ihre Vorstellungen erzeugen können,
^ Paulsen gibt sich am a. a. 0. viele Mühe^ diese Auffassung als ein „Miss-
verständniss" hinzustellen. Sie ist es nur dann^ wenn die andere Frage, die Frage
der Gültigkeit der Mathematik für die Erfahrungsgegenstände, darüber vernach-
lässigt wird. Unsere Analyse der Aesthetik, insbes. nach der Darstellung der
Prolegomena, wird darthun, dass beide Fragen nebeneinander bestehen, wenn
sie auch von K. in höchst verwirrender Weise durcheinander geflochten sind, eine
Verwirrung, welche durch die auch von Paulsen 163 f. angeführten Stellen aus der
Analytik 157. 223. 239 nicht wie P. meint, gelöst, sondern gesteigert wird. Die
Formel: Wie sind synthetische ürtheile a priori möglich? ermöglicht die Auf-
nahme der reinen Mathematik an sich. Dieser von Paulsen (160)
verworfene Grund ist gerade ein Eckstein der Kritik d. r. V.
Bedeutung des Synthetischen im Hauptproblem. 331
[R 705. H 45. E 61.] B 19.
indem wir Eines etlichemal nehmen, daher die Begriffe der Grössen selbst-
tbätig sind und ihre Grundsätze a priori können ausgemacht werden. Allein
im Verhältniss der Qualitäten u. s. w." Das Weitere gehört nicht hierher,
sondern an den Anfang der Deduction 92 ff. Paulsen zieht diese Formu-
lirung entschieden derjenigen vor, welche in der Kritik vor uns steht. Allein
gerade in jenem Briefe ist eine Unklarheit, welche K. selbst weiter treiben
musste. Was sind die besagten Objecte der Mathematik? Es scheint an-
fänglich, es seien die empirischen Gegenstände. Die Fortsetzung zeigt aber,
dass es die reinen Objecte der Mathematik selbst sind, die willkürlich ge-
machten mathem. Gegenstände, z. B. das Dreieck. Gerade hier musste K.
die Erkenntniss aufgehen, dass es sich in der That um zweierlei handle, um
die Gültigkeit der reinen Mathematik an sich und um die Gültigkeit der-
selben für die empirischen Objecte. Und die Verfolgung des ersten Gedankens
befestigte ihn in der schon 1770 gewonnenen Erkenntniss, dass die Urt heile
der reinen Mathematik , wie ihre Begriffe synthetisch gebildet sind,
so auch ihrerseits, wenn auch in anderem Sinne, synth. Natur sind, d. h. dass
in ihnen über den Begriff hinausgegangen wird, dass blosse Begriffs-
zergliederung zu ihnen nicht genügt. Und daraus entwickelte sich dann die neue
Fragestellung, bei welcher in erster Linie gefragt wird, wie ist dieses Hin-
ausgehen über den Begriff (nicht zum Gegenstand, sondern zum Prä-
dicat) möglich? und zwar a priori möglich ? Und dann kommt in zweiter
Linie die aber darum nicht minder wichtige Frage, die auch in der Hauptfrage
liegt: Wie ist es zu erklären, dass mit diesen synthetischen Sätzen a priori
die Erfahrung conform ist? Dass jene Urtheile von Gegenständen gelten,
ohne von ihnen entlehnt zu sein? Nach Paulsen wäre die Frage eigentlich
nur: Warum gelten Urtheile aus reiner Vernunft von Gegenständen?
Wie sind Urtheile aus Begriffen von Gegenständen möglich? Aber K.
fragt bei dieser zweiten Frage bestimmter: wie sind synthetische Urtheile
a priori, d. h. Urtheile, die nicht aus Begriffen sind, und die doch a priori
geMlt werden, über Gegenstände möglich? [Damit geht allerdings auch
eine Aenderung des analytischen Urtheiles vor sich. Denn jene Frage
scheint ja noch die Möglichkeit zu lassen, dass auch analyt. Urtheile sich
auf Gegenstände beziehen. Wenn „synthetisch" und „auf Gegenstände sich
beziehen" identisch wäre, so wäre jene Frage eine Tautologie, wozu sie
auch bei Paulsen wird (a. a. 0. 158 verglichen mit 167). Allein es herrscht
bierin so wenig Deckung, dass man im Sinne Kants ganz gut sagen könnte,
auch analytische Urtheile gelten von Gegenständen. In der
That, dasUrtheil: ^Gold ist ein gelbes Metall" gilt ebenso sehr von Gegen-
ständen als das Urtheil: „Gold ist dehnbar", obwohl das erstere analytisch,
das andere synthetisch ist. Kant sagt ja ausdrücklich, derartige analytische
Urtheile beruhen auf den empirischen Begriffen, wie sie uns die Er-
fahrung gibt (vgl. oben 282. 287). K. hätte keinen Anstand genommen, dies ein
Urtheil über Gegenstände zu nennen, aber ans Begriffen. Mit
dieser Auffassung steht allerdings die traditionelle Auslegung im schroffsten
332 Commentar zur Einleitang B, Abschn. VI.
B 19. [R 705. H 45. K 61.]
Widerspruch (vgl. oben 265). Paulsen lehrt 153, das analytische ürtheil sei
ein Urtheil über Begriffe. Kant premirt dies in der Einl. keineswegs, mag
das auch an einzelnen Stellen, bes. in der Dial. hervortreten (vgl. oben 251).
Das anal, ürtheil ist ans Begriffen, kann aber doch Ober Gegen-
stände sein. Man darf nicht „über Begriffe" und „aus Begriffen" ver-
wechseln. Analytische Urtheile über Gegenstände sind nun einfach möglich,
weil und insofern der analysirte Begriff aus der Erfahrung stammt.
Behandelt das analytische Urtheil nicht empirische Begriffe, so bedarf es
keiner Frage; denn das ist eben Kants Grundüberzeugung, dass analytische
Urtheile aus nicht empirischen Begriffen keinen wahren Erkenntnisswerth haben
können.] So wenig ist also der Unterschied von analytisch und syn-
thetisch identisch mit dem von logisch und real, dass analytische Urtheile
real sein können und dass synthetische nicht real zu sein brauchen (z. B.
die Welt ist endlich). Dess wegen soll nun aber keineswegs geleugnet werden,
dass sich jener Unterschied von analyt. und synthet. Urtheilen, wie er sich aus
dem Unterschied logischer und realer. Urtheile entwickelt hat, so auch in
denselben allmälig wieder sich verlor, wofür wir oben selbst Stellen beigebracht
haben '. So möge man die vorliegende Hauptfrage in ihrer schneidigen
^ Diese Bemerkung dient zur Ergänzung des Excurses (S. 269 ff.) über die
Entwicklung d»»r Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urtheile. Es
lassen sich in ihr offenbar die oben im Text angedeuteten drei Perioden unter-
scheiden. In der ersten Periode (1762 ff.) fallt der Unterschied der analytischen
und synthetischen Urtheile zusammen mit der Unterscheidung bloss logiscb-sub-
jectiver Begriffszergliederung und real-objectiver Erkenntniss der ThatAachen«, und
deckt sich, wie bereits bemerkt, mit der Unterscheidung rationaler und empirischer
Urtheile (vgl. oben S. 271 ff. 288). In der zweiten Periode (1768 ff.) wird
diese dreifache Congruenz gestört und aufgehoben durch die neuen Einsichten
über die Beschaffenheit der mathematischen Urtheile. Sobald diese als syn-
thetische (vgl. oben S. 274) erkannt sind, fällt jene Corigruenz hinweg; denn sie
sind nicht nur apriorisch, sondern — als Urtheile der reinen Mathematik an sich
— nicht ohne Weiteres identisch mit Realurtheilen ; der Zerfall dieser Verbindung
rousste aber befördert werden, sobald die Urtheile der transscendenten Metaphysik
auch als synthetische a priori erkannt waren (vgl. oben S. 276) und diese haben
ja schon gar keinen realen Erkenntnisswerth. Nun heisst „synthetisches Urtheil
a priori" weiter gar nichts als ein Urtheil, in welchem ohne Zuhilfenahme der
Erfahrung dem Subjectsbegriff ein nicht in ihm liegendes Prädicat hinzugefügt
wird, unangesehen, ob dieses Urtheil wirklichen Erkenntnisswerth besitzt oder
nicht (vgl. oben S. 316). Dies ändert sich nun aber wiederum in der dritten
Periode. Erstens hatte Kant die Urtheile der transscendenten Metaphysik als ima-
ginär stigmatisirt, zweitens wurden jene beiden oben gekennzeichneten Seiten der
mathematischen Urtheile — als abstracter und als concret - angewandter — von
Kant vermischt, drittens wurde durch falsche Deutung des synthetischen Urtheils
(als eines, zu welchem Anschauung hinzutritt, vgl. oben S. 277) und durch Ver-
mischung mit der transscendentalen Synthesis (vgl. ob. S. 268. 276. 325) der bisherige
Sinn des synthetischen Urtheils a priori verwischt, so dass jetzt das eigentliche
Sinn und Entwicklung des synthetischen Urtheils. 333
[R 705. H 45. E 61.] B 19.
Schärfe fassen und nicht eine Umbildung vornehmen, welche nicht bloss der
Mathematik halber ganz unmöglich ist. Wenn Paulsen 170 sagt, diese „of-
ficielle* Formel sei erst nachher erfanden und eingesetzt, und die Unter-
suchung sei so gut wie ganz ohne sie zur Entscheidung geführt worden, d. h.
also, die ganze Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile im
strengen Sinne sei für die Kritik bedeutungslos und bleibe der I. Aufl.
fast ganz fern, so ist dies, wie sich zeigen wird, ein vollständiger Irrthum.
Wie konnte dann K. auch auf diese Unterscheidung einen so hohen Werth
legen? Die Vermischung des Kant 'sehen Unterschiedes mit dem Hume'schen
zwischen Urtheile über Begriffe und Urtheile überGegenstände, zwischen
logischen und Existentialsätzen ist nicht ohne Weiteres richtig. Wie wenig
beides zusammenfällt, ergibt sich auch aus Kants Bemerkung über Hume's
Beurtheilung der Mathematik. Was er demselben vorwirft, ist nicht, die
Gültigkeit der Mathematik für die empirischen Gegenstände bestritten
zu haben ' (dieser Vorwurf triflFt nach K. eher Leibniz und seine Anhänger),
sondern den synthetischen Charakter der Mathem. nicht erkannt zu haben;
er habe geglaubt, Mathem. sei eine Wissenschaft aus Begriffen, während
sie synthetisch sei; bes. Krit. d. prakt. Vem. 90: „Hume hielt dafür, dass ihre
Sätze anal, seien , d. i. von einer Bestimmung zu anderen um der Identität
willen, mithin nach dem Satz d. W. fortschritten , welches aber falsch ist,
indem sie vielmehr synth. sind." Die Geometrie „geht von einer Bestimmung
A zu einer ganz verschiedenen B , als dennoch mit jener nothwendig ver-
knüpft, über*. Der Streit zwischen Empirismus und Rationalismus vor
Kant war allerdings: gibt es, wie es Urtheile aus reiner Vernunft über
„relations ofideas*' gibt, so auch Urtheile aus reiner Vernunft über Gegen-
stände? (Paulsen 172.) Aber Kants neue Frageformel schliesst eben ein
(vgl. unten S. 838), dass Urtheile aus reiner Vernunft in zwei Gattungen zer-
fallen, in analytische und synthetische, und indem er jene von der Frage
aosschliesst , fragt er einzig nach der Möglichkeit dieser. Nicht bloss die
Aesthetik , • auch die Analytik und Dialektik sind ohne diesen Unterschied
unverständlich, der von dem Unterschied logischer und realer Gültigkeit we-
sentlich zu trennen ist. K. fragt also nach der realen Gültigkeit syn-
thetischer Urtheile aus reiner Vernunft. Man kann im Sinne Kants auch
fragen: Wie können wir durch blosses Denken erkennen? Aber das
synthetische ürtheil a priori (in der Mathematik und in der reinen Naturwissen-
schaft) als gültiges Erkenntnissartheil eben wieder mit realem Urtheil coincidirt ;
(vgl. oben S. 268 Cohen u. Riehl, u. bes. S. 318). Alle Schwierigkeiten sind da-
durch freilich nicht gelöst, besonders nicht die auf S. 266 Anm. berührten.
* Allerdings that das Hnme, worauf auch Paulsen 167 anspielt, aber vor-
zugsweise in seiner ersten, K. unbekannt gebliebenen Hanptschrift. Im Gegen-
theil lobt K. Hnme, dass er die Mathematik nicht in seinen Skepticismus hinein-
gezogen habe (s. bes. Krit. d. pr. V. Vorrede fin.), wobei aber allerdings wieder
jene oben berührte Verwechslung der reinen nnd angewandten Mathematik herein-
spiclt Vgl. oben S. 828, unten S. 361 ff.
334 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. [B 705. 706. H 45. E 61.]
Denken, das dabei zur Sprache kommt, ist ein synthetisches, und es theilt
sich die Frage so: 1) wie können wir synthetisch denken? 2) wie können
wir durch synthetisches Denken Erkenntniss erhalten? Die K.'sche
Formulirung der Frage ist also keineswegs ,,missyerständlich'' an sich, kana
aber zu Missverständnissen fuhren, wenn man jene beiden Fragen nicht
trennt und dann auch natürlich die beiderlei Lösungen nicht berücksich-
tigt. Denn jene erstere Frage deckt sich mit der Frage nach der psycho-
logischen, die zweite mit der nach der „transscendentalen*' Möglichkeit der
synthetischen ürtheile a priori (vgl. oben S. 817).
7) Volkelt, Ks. Erkenntnissth. n. ihren Grundprinc. anal. 30 ff. (11, 84)
228 sucht zu zeigen, dass in der Formulirung des kritischen Hauptproblems
die Frage nach der Ueberwindbarkeit oder Unüberwindlichkeit des Funda-
mentalgegensatzes zwischen dem Vorstellen und dem Jenseits (zwischen Ersch.
und Ding an sich) als wesentlicher Factor mitgewirkt habe. Der Beweis
für diese Behauptung ist nicht durchaus zwingend. (Derselbe meint S. 7, 11.
K. hätte vor dieser Frage erst das Verhältniss von Vorstellung und Ding*
an sich prüfen sollen, vgl. unten S. 366). Dass aber der Rationalismus
(und zwar der immanente, d. h. der von K. in der „Mathem. und Natur-
wissenschaft' angenommene) das treibende Element der erkenntniss-
theoretischen Grundfrage ist (Volkelt a. a. 0. 223. 233 f.), ist zwar
selbstverständlich, aber die Annahme (a a. 0. 228 ff.) , bei der Formulirung
des kritischen Problems habe auch das skeptische Erkenntnissprincip mit-
gewirkt, ist bemerkenswerth \ — Lange, Mat. II, 12 schiebt nach dieser
Frage folgenden Passus ein: „Antworten wir; durch Offenbarung; durch
Eingebung des Genius ; durch Erinnerung der Seele an die Ideenwelt, in der
sie früher heimisch war; durch Entwicklung angeborener Ideen, die von
Geburt auf unbewusst im Menschen schlummern — solche Antworten be-
dürfen schon desshalb der Widerlegung nicht, weil die Metaphysik thatsäch-
lich bisher in der Irre herumgetappt hat" (vgl. ib. 31). Diese an den Brief Ks.
an Herz von 1 772 erinnernde Stelle ist ebenso treffend, als die nun folgende
Widerlegung der skeptisch -empirischen Beantwortung jener Hauptfrage:
Gar nicht — schwach ist, ebenso schwach, als Kants eigene ähnliche Ver-
suche, z. B. in der Vorr. zur Kr. d. pr. V.
Dass man sich diese Aufgabe u. s. w. Fischer UI, 281 bemerkt: K. habe
' Dass schon in der Formulirung, nicht erst in der Beantwortung der kriti-
sehen Grundfrage eine Synthese des Rationalismus und Skepticismus enthalten
ist, — Kant nimmt rationalistisch das Apriori an, fragt aber skeptisch nach dessen
Möglichkeit und Umfang — liegt ganz in der Linie des S. 49—70 unserer Ein-
leitung Ausgeführten: dass Kants System nicht bloss im grossen Ganzen, sondern
in jedem einzelnen Punkte, in Aesthetik, Analytik, Dialektik und also auch
schon hier in der Einleitung (vgl. oben S. 178. 180 f. und ganz besonders
288 f. und unten S. 382), jene Synthese darstelle, ist ein durchgehender Grund-
gedanke dieses Commentars.
Das „neue Problem" und die „neue Wissenschaft". 335
[R 706. H 45. K 61.] B 19.
es sehr nachdrücklicli betont, dass er sich nicht erst in der Lösung, sondern
schon in der F a ssun g des Erkenntnissproblems von allen früheren Philosophen
unterscheide. Kant findet Fortschr. der Met. Ros. I, 495 dann einen Haupt-
fortschritt seiner Lehre. Vgl. dazu Kirchner, Metaph. S. 24 ff. und bes.
Harms, Phil. s. Kant 139: Durch die Fragestellung sei K. Gründer der
deutschen Phil, geworden ; er habe dadurch auf allen Gebieten des Erkcnnens
alle Kräfte der Forschung in Bewegung gesetzt. Kant meint («Von einem
neuerd. erhob, vom. Ton in der Phil.* Anf.), diese Frage nach der Mögl.
sjnth. Sätze a priori habe ohne Zweifel, obzwar auf eine dunkle Art, schon
Pia ton vorgeschwebt '. Hätte er, sagt K., «die von ihm gegebene Lösung
eingesehen, so hätt« er nicht zur Schwärmerei die Fackel angesteckt. Aber
er habe wenigstens eingesehen, dass Mathematik nothwendig sei, und desshalb
nicht auf einer empirischen Anschauung beruhen könne*. Fortschr. d. Met.
Bosenkr. I, 567 rühmt K. Pia ton, dass er, der Mathematiker und Philosoph,
durch diese Thatsache (synth. Erk. a priori in der Mathem.) in solche Ver-
wunderung versetzt worden sei, dass „er diese Kenntnisse nicht für neue
Erwerbungen in unserem Erdenleben, sondern für blosse Wiederaufweckung
weit früherer Ideen* gehalten habe, «die nichts Geringeres als Gemeinschaft
mit dem göttlichen Verstände zum Grunde haben könne*. Ein blosser
Mathematiker und ein blosser Philosoph (wie z. B. Aristoteles) hätten jenes
Problem nicht erfasst, weil jener nicht das Subject, nur das Object behandle,
und weil dieser den specifischen Unterschied des empirischen und reinen
Denkens verkenne. Vgl. hiezu Brief an Herz, vom 21. Febr. 1772, worüber
am Anfang der Deduction näheres. Cohen, Kants Th. d. Erf. 2 paraphrasirt
die ELauptfrage mit Bezug auf Leibniz mit folgenden Worten: «Hat Leibniz
die Geltung, welche er dem Apriori gab (als Erkennen mit dem Sein
zusammenzufallen), begründet? Hat L. es auch nur denkbar gemacht, dass
wir mit unserem Denken, mit allen unsern Demonstrationen eine Realität -
der Dinge in ihrer behaupteten Wahrheit erfassen können ? Kann das Apriori
jenen Anspruch behaupten, den es erhebt, indem es über die begriffliche
Gegebenheit hinaus in einer äusseren Erfahrung gelten will? — Diese Frage
hat K. gestellt. Mit dieser Frage tritt K. ein in den Streit der Schulen,
welchen Descartes von Neuem angefacht hat. Mit dieser Frage greift K.
das Problem von den angeborenen Ideen an und — überwindet es." Vgl.
die Lambert'sche Hauptfrage' des «Neuen Organon*: Wie ist streng
^ Man vgl. hiezu Fries^ Gesch. d. Philos. II, 511. 514 und ganz beson-
ders die treffenden Bemerkungen von v. Stein, Gesch. d. Plat. III, 278 ff.
281. 415, sowie Fouillde, Pküos, de PL II, 472. Vgl. oben 8. 289, unten S. 388.
* üeber das Verhältniss Lamberts zum Kantischen Hauptproblem vgl. bes.
die wichtigen Ausführungen von Lepsius, Lambert 66. 76. 79 ff. 82. 84. 105.
107 ff. 112 (zu Lambert, Organon, Dian. § 656, Archit. § 19. 20). Lepsius hat
die allmälige Entwicklung des Kantischen Problems (durch Newton, Locke, Le-
dere, Leibniz, Crusius, Lambert) theil weise aufgedeckt a. a. 0. 45 ff. 54 ff.
336 Commentar zur Einleitung B, AbBcbn. VI.
B 19. [R 706. H 46. E 61.]
wissensch. Erkenntniss a priori d. h. durch Ableitung aus dem reinen Begriff
möglich? Zimmermann, Lamb. 4. 41. 43. — Da die Frage, welche die Kritik
behandelt, bis jetzt noch gar nicht aufgeworfen ist, so ist es selbstverständlich,
dass diese selbst eine ganz neue Wissenschaft ist. Hierüber spricht sich
K. in den Prol. Vorr. 17 f. so aus: „Man ist es schon lange gewohnt, alte
abgenutzte Erkenntnisse dadurch neu aufgestutzt zu sehen, dass man sie aus
ihren vormaligen Verbindungen herausnimmt, ihnen ein systematisches Kleid
nach eigenem beliebigen Schnitte, aber unter neuen Titeln anpasst; und nichts
Anderes wird der grösste Theil der Leser auch von jener Kritik zum voraus
erwarten. Allein diese Prolegomena werden ihn dahin bringen, einzusehen,
dass es eine ganz neue Wissenschaft sei, von welcher Niemand auch nur den
Gedanken vorher gefasst hatte, wovon selbst die blosse Idee unbekannt war,
und wozu von allem bisher Gegebenen nichts genutzt werden konnte, als
allein der Wink, den Hume's Zweifel geben konnten, der gleichfalls nichts
von einer dergleichen möglichen förmlichen Wissenschaft ahnete. Zu einer
neuen Wissenschaft, die gänzlich isolirt und die einzige ihrer Art ist, mit
dem Vorurtheil gehen, als könne man sie vermittelst seiner schon sonst
erworbenen vermeinten Kenntnisse beurtheilen, obgleich die es eben sind, an
deren Realität zuvor gänzlich gezweifelt werden muss, bringt nichts Anderes
zuwege, als dass man allenthalben das zu sehen glaubt, was einem schon
sonst bekannt war, weil etwa die Ausdrücke jenem ähnlich lauten, nur dass
einem alles äusserst verunstaltet, widersinnisch und kauderwelsch vorkommen
muss, weil man nicht die Gedanken des Verfassers, sondern immer nur seine
eigene, durch lange Gewohnheit zur Natur gewordene Denkungsart dabei
zum Grunde legt.' Vgl. Prol. § 5: „Man darf sich also auch nicht wundem,
da eine ganze und zwar aller Beihilfe aus anderen beraubte, mithin an sich
ganz neue Wissenschaft nöthig ist, um nur eine einzige Frage hinreichend
zu beantworten, wenn die Auflösung derselben mit Mühe und Schwierigkeit,
ja sogar mit einiger Dunkelheit verbunden ist.' In den Briefen an Herz
vom J. 1773 u. 1776 spricht K. von der Mühe, die ihm die Ausarbeitung
dieser „neuen Wissenschaft' mache. „Ich glaube nicht, dass es Viele versucht
haben, eine ganz neue Wissenschaft der Idee nach zu entwerfen, und sie
zugleich völlig auszuführen.' Das erfordere Eintheilungen , neue technische
Ausdrücke u. s. w. Vgl. oben S. 153 ff., 188, unten 339 f. u. zu A 10. 13.
Der Unterschied der analytischen und synthetischen Urthelle nicht
frflher. Prol. § 5 nennt K. diesen Unterschied einen „mächtigen' und
Fortschr. K. 104 R. I, 495 nennt er denselben den „ersten Schritt', der in der
transscendentAlen Vernunftforschung geschehen ist *. Prol. § 3 enthält folgende
66 ff. 112. Bei Leclerc, Opp, Phü. I, 380 heisst es; Verum uhi ad res ipaas
devenimus, qui possit axioma ex ahstractis idefs coüectum eis appUeari, diffiallimum,
imo interdum impossibile seitu est. Vgl. zur Analytik A 84 ff.
* Trotz dieser Wichtigkeit haben einige Commentatoren den unterschied
einfach ignorirt, z. B. der oberflächliche Kiesewetter! Freilich schrieb er auch
nur für „Uneingeweihte**. Auch Chaly bau s schweigt hierttber und noch Hehrere.
Neuheit des Unterschieds der anal, und sjnnthet. ürtheile. 337
[R 706. H 45. K 61.] B 19.
Ausfuhrang: „Diese Eintheilung ist in Ansehung der Kritik des menschlichen
Verstandes unentbehrlich und verdient daher in ihr cl assisch zu sein; sonst
wüsste ich nicht, dass sie anderwärts einen beträchtlichen Nutzen hätte.
Und hierin finde ich auch die Ursache, wesswegen dogmatische Philosophen \
die die Quellen metaphysischer Ürtheile immer nur in der Metaphysik selbst,
nicht aber ausser ihr, in den reinen Vemunftgesetzen überhaupt suchten,
[nach Meilin, Bd. I, 469 : nicht in den Gesetzen des menschlichen Erkenntniss-
vermögens, sondern in den metaph. Begriffen selbst] diese Eintheilung, die
sich von selbst darzubieten scheint, vernachlässigten, und wie der berühmte
Wolf, oder der seinen Fussstapfen folgende scharfsinnige Baumgarten
den Beweis von dem Satze des zureichenden Grundes [dem Oausalitätsgesetz],
der offenbar synthetisch ist, im Satze des Widerspruchs suchen [d. h. ihn
analytisch aus diesem Satze ableiten] konnten. Dagegen treffe ich schon
in Locke's Versuchen über den menschlichen Verstand einen Wink zu dieser
Eintheilung an. Denn im 4. Buche, dem 3. Hauptstücke § 9 u. f., nachdem
er schon vorher von der verschiedenen Verknüpfung der Vorstellungen im
ürtheile und deren Quellen geredet hatte, wovon er die eine in der Identität
oder Widerspruch setzt (analytische ürtheile), die andere aber in der Existenz
der Vorstellungen in einem Subject [d. h. hier in dem Zusammen bestehen
der Merkmale in einem Object, einer Substanz. K. citirt die üebersetzung
V. Poley] (synthetische ürth.), so gesteht er § 10, dass unsere Erkenntniss
(a priori) von der letzteren [dem Zusammen der Merkmale in einem Gegenstand]
sehr enge und beinahe gar nichts sei. Allein es herrscht in dem, was er
von dieser Art Erkenntniss sagt, so wenig Bestimmtes und auf Regeln
Gebrachtes, dass man sich nicht wundern darf, wenn Niemand, sonderlich
nicht einmal Hume Anlass genommen hat, über Sätze dieser Art Betrachtungen
anzustellen." Man lerne Derartiges nicht von denen, welchen es nur dunkel
vorschwebe, finde es aber nachher bei ihnen vorgebildet, wenn man es selbst
erforscht habe, während solche die nicht selbst denken, einen derartigen
„Vorspuck einer Lehre ** (um mit Schopenhauer zu reden) leicht ausspüren *.
Vgl. Pro leg. Vorr. S. 1. Was die von Kant angegebenen historischen
Notizen betrifft, so ist in Bezug auf Hume noch herbeizuziehen, was K.
Prol. § 4 und Krit. S. 764 sagt (die erstere Stelle s. u. S. 361 genauer); Hume
habe den unterschied f actisch gemacht, wenn auch nicht dem Namen nach.
^Hume hatte es vielleicht in Gedanken, wiewohl eres niemals völlig entwickelte,
dass wir in ürtheilen von gewisser Art über unsern Begriff vom Gegenstande
' Vgl. Fortschr. K. 104 R. I. 495: „Wäre diese Unterscheidung zu Leibniz's
und Wolfs Zeiten deutlich erkannt worden, wir würden diesen Unterschied
irgend in einer seitdem erschienenen Logik oder Metaphysik nicht allein berührt,
sondern auch als wichtig eingeschärft finden". Ib. K. 118. H. I. 520: Es fehlte jede
„deutliche Kenntniss" des Unterschiedes.
• „Geschickte Ausleger sehen viele Entdeckungen jetzt ganz klar in den
Alten , nachdem ihnen gezeigt worden, wonach sie sehen sollen." Entd. R. I, 401.
Vaililnger, Eant-Gommentar. 22
338 Commentar zur Einleitung 6, Abschn. VI.
B 19. [R 706. H 45. E 61.]
hinausgehen. Ich habe diese Art von Urth. synth. genannt.*' Vgl. Krit.
d. prakt. Vern. 90. Was Locke betrifft, so ist schon mehrfach z. B. von
Laas, Ks. Analog, d. Erf. 286 darauf aufmerksam gemacht worden, dass
in den Essays das 8. Capitel des IV. Buches viel mehr hieher Gehöriges
enthalte, als die von K. citirte Stelle. Locke spricht daselbst von „trifling
propositions^ , nutzlosen Sätzen, den total und partialidentischen. Vgl.
Mahaffy, Comm. 28 Anm. Genaueres hierüber in dem schon erwähnten
Supplement über die Vorgeschichte der Untersch. anal. u. synth.
Urth eile. Hieher gehört eine ausführliche Aeusserung Ks. über diesen Gegen-
stand in „ Entdeckung '^ Ros. 1, 473 ff., vgl. 458, (gegen Eberhard Phil. Mag. I,
311, 317). Dieselbe wird mit einer allgemeinen Bemerkung darüber eingeleitet,
dass neue Unterscheidungen wie diese gerne auch bei den früheren aufgestöbert
werden. In diesem Falle beweise aber der Umstand, dass die aus jener
Unterscheidung fliessenden wichtigen Folgen bis jetzt nicht gezogen worden
seien, während sie doch in die Augen springen, dass auch jene Unterscheidung
selbst bis jetzt noch nicht gemacht worden sei. Die Frage, wie Erkenntniss
a priori möglich sei, sei allerdings längstens vornehmlich seit Locke's Zeit
aufgeworfen und behandelt worden; „was war natürlicher, als dass, sobald
man den Unterschied des Analytischen vom Synthetischen in demselben
deutlich bemerkt hätte, man diese allgemeine Frage auf die besondere ein-
geschränkt haben würde: wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?
Denn sobald diese aufgeworfen worden, so geht Jedermann ein Licht auf,
nämlich , dass ,das Stehen und Fallen der Metaphysik* lediglich auf der Art
beruht, wie die letztere Aufgabe aufgelöst würde: man hätte sicherlich alles
dogmatische Verfahren mit ihr so lange eingestellt, bis man über diese
einzige Aufgabe hinreichende Auskunft erhalten hätte, die Kritik der r. V.
wäre das Losungswort geworden, vor welchem auch die stärkste Posaune
dogmatischer Behauptungen derselben nicht hätte aufkommen können.'' Da
dies nicht geschehen sei, so sei auch jener Unterschied nicht gehörig eingesehen
worden. Das sei auch desshalb nicht geschehen, weil man Logik und Transsc.
Philos. nicht gehörig geschieden habe (vgl. o. S. 268). Die Eintheilung hätte
auch nicht genügt, wenn man bloss in identische und nicht identische
Urtheile eingetheilt hätte. Denn die letztere Bezeichnung enthalte nicht die
mindeste Anzeige auf eine besondere Art der Möglichkeit einer solchen
Verbindung der Vorstellungen a priori, während der Ausdruck »Synthetisch*
auf die „Synthesis a priori" hinweise. Nach Zurückweisung der Behauptung,
die Unterscheidung finde sich bei Locke, Reusch, Crusius (vgl. d. ang. SuppK),
sagt er. Niemand habe diese Unterscheidung somit in ihrer Allgemeinheit
zum Behuf einer Kritik der r. V. überhaupt begriffen, denii sonst hätte man
die Mathematik, mit ihrem grossen Beichthum an synthetischen Erkennt-
nissen a priori, zum Beispiel obenan stellen, sowie die Möglichkeit derselben
in der Mathem., sodann in der Metaphysik, untersuchen müssen, und fragen,
warum diese so wenig synthetische Erkenntniss a priori habe. Vgl. Portschr.
d. Metaph. R. I, 510. Vgl. unten S. 361 ff. (über Hume).
Das „Stehen and Fallen^ der Metaphysik. 339
[B 706. H 46. E 61.] B 19.
Dm Stellen und Fallen der Metopbysik. Vgl. o. S. 318. 888. In der Vorr.
der Proleg. fuhrt K. dies femer aus: „ Meine Absicht ist, alle diejenigen, so
es werth finden, sich mit Metaphysik zu beschäftigen, zu überzeugen: dass
es unumgänglich nothwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen, alles
bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen und vor allen Dingen erst die
Frage aufzuwerfen: „ob auch so etwas, als Metaphysik, überall nur möglich
sei?*' Ist sie Wissenschaft, wie kommt es, dass sie sich nicht, wie andere
Wissenschaften, in allgemeinen und dauernden Beifall setzen kann? Ist sie
keine, wie geht es zu, dass sie doch unter dem Scheine einer Wissenschaft
unaufhörlich gross thut und den menschlichen Verstand mit niemals
erlöschenden, aber nie erfüllten Hoffnungen hinhält? Man mag also entweder
sein Wissen oder Nichtwissen demonstriren, so muss doch einmal über die
Natur dieser angemassten Wissenschaft etwas Sicheres ausgemacht werden;
denn auf demselben Fusse kann es mit ihr unmöglich länger bleiben. Es
scheint beinahe belachenswerth , indessen dass jede andere Wissenschaft
unaufhörlich fortrückt, sich in dieser, die doch die Weisheit selbst sein will,
deren Orakel jeder Mensch befragt, beständig auf derselben Stelle herumzudrehen,
ohne einen Schritt weiter zu kommen. ... Es ist aber eben nicht so was
Unerhörtes, dass, nach langer Bearbeitung einer Wissenschaft, wenn man
Wunder denkt, wie weit man schon darin gekommen sei, endlich sich Jemand
die Frage einfallen lässt: ob und wie überhaupt eine solche Wissenschaft
möglich sei? ... Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden;
es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht spät kommt, sie in Gang
zu bringen. Zu fragen: ob eine Wissenschaft auch wohl möglich sei, setzt
voraus, dass man an der Wirklichkeit derselben zweifle. Ein solcher Zweifel
aber beleidigt Jedermann, dessen ganze Habseligkeit vielleicht in diesem
vermeinten Kleinode bestehen möchte ; und daher mag sich der, so sich diesen
Zweifel entfallen lässt, nur immer auf Widerstand von allen Seiten gefasst
machen. Einige werden in stolzem Bewusstsein ihres alten und eben daher
für rechtmässig gehaltenen Besitzes, mit ihren metaphysischen Kompendien
in der Hand, auf ihn mit Verachtung herabsehen ; Andere, die nirgend etwas
sehen, als was mit dem einerlei ist, was sie schon sonst irgendwo gesehen
haben^ werden ihn nicht verstehen, und alles wird einige Zeit hindurch so
bleiben, als ob gar nichts vorgefallen wäre, was eine nahe Veränderung
besorgen oder hoffen Hesse. Gleichwohl getraue ich mir vorauszusagen, dass
der selbstdenkende Leser nicht bloss an seiner bisherigen Wissenschaft zweifeln,
sondern in der Folge gänzlich überzeugt sein werde, dass es dergleichen gar
nicht geben könne, ohne dass die hier geäusserten Forderungen geleistet
werden, auf welchen ihre Möglichkeit beruht, und da dieses noch niemals
geschehen, dass es überall noch keine Metaphysik gebe.*' Dieser letzte, stolze
Satz wurde K. als arrogant angerechnet. Er vertheidigt sich gegen diesen
Vorwurf in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten (1797), indem er
darauf hinweist, dass es doch nur Eine wahre Philosophie geben könne,
und dass daher jeder, der ein neues System ankündige, die bisherigen
340 Commentar zur Einleitang B, Absclm. VI.
B 19. 20. [B 706. H 46. E 61.]
verwerfe als nichtig, ohne ihnen ihren propädeutischen Werth abzusprechen.
(Vgl. Prol. §. 5; „man habe bis jetzt keine Transscendentalphilos." Prol. K. 133
Or. 194. a Diese Wissenschaft existirt noch nicht.* K. 134. Or. 195. ,,Metaph.
hat als Wissensch. bisher noch gar nicht existirt." Vgl. oben S. 318 f.
Dayid Hnme. Zum Verständniss dieser Bemerkungen über Hume bedarf
es der Zusammenstellung der Hauptstellen, an denen sich K. über Hume^s
Philosophie äussert, resp. über seine Theorie der Causalität. Schon in
der I. Aufl., in der Methodenl. 759 f., äussert sich K. hierüber: „Er hält
sich vornehmlich bei dem Grundsatz der Causalität auf und bemerkt
von ihm ganz richtig, dass man seine Wahrheit (ja nicht einmal die objective
Gültigkeit eines Begriffs einer wirkenden Ursache überhaupt) auf gar keine
Einsicht d. i. Erkenntniss a priori fusse, dass daher auch nicht im mindesten
die Nothwendigkeit dieses Gesetzes, sondern eine blosse allgemeine
Brauchbarkeit desselben in dem Laufe der Erfahrung und eine daher ent-
springende subjective Nothwendigkeit, die er Gewohnheit nennt, sein ganzes
Ansehen ausmache. Aus dem Unvermögen unserer Vernunft nun, von diesem
Grundsatze einen über alle Erfahrung hinausgehenden Gebrauch zu machen,
schloss er die Nichtigkeit aller Anmassungen der Vernunft, überhaupt, über
das Empirische hinauszugehen.* (Vgl. hiezu S. 745.) S. 764 ff. führt K.
das weiter so aus: Hume habe zwischen den gegründeten Ansprüchen des
Verstandes auf apriorische Erkenntniss und den dialectischen Anmas-
sungen der Vernunft keinen Unterschied gemacht; auf die letztere Art
bezieht sich die oben erwähnte Anwendung der Gaus, über alle Erfahrung
hinaus. Aber auch für das Erfahrungsgebiet bestritt er die Möglichkeit
apriorischer Erkenntniss; er hielt „die Vermehrung der Begriffe aus sich
selbst, und so zu sagen, die Selbstgebärung des Verstandes, ohne durch
Erfahrung geschwängert zu sein, mithin alle vermeintlichen Principien der
Erfahrung a priori [d. h. die allgemeinen noth wendigen Gesetze, welche von
der Erfahrungswelt gelten, aber vor der Erfahrung vorhergehen] für ein-
gebildet", und hielt sie bloss für zufällige Regeln. Er habe sich zu dem
Beweis dieser befremdlichen Behauptung auf das Causalitätsgesetz bezogen,
dessen empirischen Ursprung er festhielt. Aber hierin sei ihm eine neue
Verwechslung begegnet. Nur die Erfahrung, habe Hume gesagt, könno
uns lehren, welche bestimmte Wirkung eine Ursache habe, und welche
bestimmte Ursache für ein Geschehen anzunehmen sei. „Dass das Sonnenlicht,
welches das Wachs beleuchtet, es zugleich schmelze, indessen es den Thon
härte, könne kein Verstand aus Begriffen, die wir vorher von diesen
Dingen hatten, . . . schliessen und nur Erfahrung könne uns ein solches Gesetz
lehren." Aus dieser Zufälligkeit einer bestimmten Ursache oder einer
bestimmten Wirkung habe nun Hume irrthümlicherweise auf die Zufälligkeit
des allgemeinen Causalitätsgesetzes überhaupt geschlossen, und habe
aus einem Verstandesprincip eine bloss subjective Regel der Einbildungskraft
gemacht. — Zu diesen Bemerkungen tritt nun jene berühmte Stelle in der
Vorrede der Pro leg., die wir vollinhaltlich wiedergeben; „Seit Locke's
Home's Gausalitätstheorie nach Kant. 341
[B 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
und Leibniz's Versuchen \ oder vielmehr seit dem Entstehen der Metaphysik,
so weit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen^
die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender
werden können, als der Angriff, den David Hume auf dieselbe machte.
Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntniss, aber er schlug doch
einen Funken, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn
er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgföltig
wäre unterhalten und vergrössert worden. Hume ging hauptsächlich von
einem einzigen, aber wichtigen Begriffe der Metaphysik, nämlich dem der
Verknüpfung der Ursache und Wirkung, (mithin auch dessen Folge-
begriffe der Kraft und Handlung u. s. w.) aus, und forderte die Vernunft,
die da vorgibt, ihn in ihrem Schosse erzeugt zu haben, auf; ihm Bede
und Antwort zu geben, mit welchem Rechte sie sich denkt:
dass etwas so beschaffen sein könne, dass, wenn es gesetzt ist, dadurch auch
etwas Anderes nothwendig gesetzt werden müsse ; denn das sagt der Begriff
der Ursache. Er bewies unwidersprechlich , dass es der Vernunft gänzlich
unmöglich sei, a priori und aus Begriffen [?] eine solche Verbindung zu denken ;
denn [?] diese enthält Nothwendigkeit ; es ist aber gar nicht abzusehen, wie
darum, weil Etwas ist, etwas Anderes nothwendigerweise auch sein müsse,
und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung a priori einfuhren
lasse [?]. Hieraus schloss er, dass die Vernunft sich mit diesem Begriffe ganz
und gar betrüge, dass sie ihn fälschlich für ihr eigen Kind halte, da er doch
nichts Anderes, als ein Bastard der Einbildungskraft sei, die, durch Erfahrung
beschwängert, gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Association gebracht
bat und eine daraus entspringende subjective Nothwendigkeit, d. i. Gewohnheit,
für eine objective aus Einsicht unterschiebt. Hieraus seh 1 oss er, die Vernunft
habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst nur im Allge-
meinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdenn blosse Erdichtungen sein würden,
UDd alle ihre vorgeblich a priori bestehenden Erkenntnisse wären nichts,
als falsch gestempelte gemeine Erfahrungen, welches eben so viel sagt, als
es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben. — So übereilt
und unrichtig auch seine Folgerung war, so war sie doch wenigstens auf
Untersuchung gegründet, und diese Untersuchung war es wohl werth, dass
sieh die guten Köpfe seiner Zeit vereinigt hätten, die Aufgabe, in dem Sinne,
wie er sie vortrug, wo möglich glücklicher aufzulösen, woraus denn bald
eine gänzliche Reform der Wissenschaft hätte entspringen müssen. Allein
das der Metaphysik von jeher ungünstige Schicksal wollte, dass er von Keinem
verstanden würde. Man kann es, ohne eine gewisse Pein zu empfinden, nicht
ansehen, wie so ganz und gar seine Gegner, Reid, Oswald, Beattie' und
* Aus diesem Ausdruck „Versuch" scliliesst W. Bolin, Leibnitz ett förebud
tili Kant, (L, als Vorbote auf K.) Helsingfors 1864, dass Kant die Nouveaux Essais
von L. gekannt habe •, in dieser fleissigen „akad. afhandling^ sind mit grosser Be-
lesenheit viele (st ringentere) Zeugnisse dafür gesammelt.
^ Vgl. oben S. 318. Aehnlich Proleg. K. 135 ff. (Orig. 196 ff.) Das Ver-
342 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. VI.
B 19. 20. [R 706. H 46. E 61.]
zuletzt noch Priestley den Punkt seiner Aufgabe verfehlten, und indem sie
immer das als zugestanden annahmen, was er eben bezweifelte, dagegen aber
mit Heftigkeit und mehrentheils mit grosser Unbescheidenheit dasjenige
bewiesen, was ihm niemals zu bezweifeln in den Sinn gekommen war, seinen
Wink zur Verbesserung so verkannten, dass alles in dem alten Zustande
blieb, als ob nichts geschehen wäre. Es war nicht die Frage, ob der Begriff
der Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntniss
unentbehrlich sei, denn dieses hatte Hume niemals in Zweifel gezogen;
sondern ob er durch die Vernunft a priori gedacht werde und, auf solche
Weise, eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit, und daher
auch wohl weiter ausgedehnte Brauchbarkeit habe, die nicht bloss auf
Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt sei, hierüber erwartete Hume
Eröffnung. Es war ja nur die Bede von dem Ursprünge des Begriffs, nicht
von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauche ; wäre jenes nur ausgemittelt,
so würde es sich wegen der Bedingungen seines' Gebrauches, und des Umfanges,
in welchem er gültig sein kann, schon von selbst gegeben haben. Ich gestehe
frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor
vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen
Untersuchungen im Felde der speculativen Philosophie eine ganz andere
Bichtung gab. Ich war weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen
Gehör zu geben, die bloss daher rührten, weil er sich seine Aufgabe nicht
im Ganzen vorstellte, sondern nur auf einen Theil derselben fiel, der, ohne
das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft geben kann. Wenn man
von einem gegründeten, obzwar nicht ausgefühi*ten Gedanken anfängt, den
uns ein Anderer hinterlassen, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem
Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Mann kam, dem man
den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte. — Ich versuchte also
zuerst, ob sich nicht Hume 's Einwurf allgemein vorstellen liesse, und fand
bald, dass der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem
nicht der einzige sei, durch den der Verstand a priori sich Verknüpfungen
der Dinge denkt, vielmehr, dass Metaphysik ganz und gar daraus bestehe.
Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und da dieses mir nach Wunsch,
nämlich aus einem einzigen Princip, gelungen war, so ging ich an die
hältniss, sowohl 'das innerlich - 83'stemati8che als das äusserlich - historische, von
Kant zu der sog. Schottischen Schule bedürfte einer eingehenden Monographie.
Einzelnes findet sich bei mehreren Geschichtschreibern der Philosophie, z. B. Erd-
mann IIb, 415, 429. 442, bei Windelband II, 54 (dag. Zart, Einfluss der
engl. Philos. 225 f.), ferner bei Schopenhauer, W. W. III, 24, Fries, Polem.
Sehr. I, 337, Beneke, Metaph. 274, Galluppi, Letlere ßosof. 225, und Saggio
1, 159 ff. u. sehr häufig, Hamilton, Reid715. 752 ff. (Antwort auf vorliegende
Stelle), Jouffroy, Pr6face zu der franz. Uebers. v. Reid 135. 145. 150. 156.
167 ff. 190. 214; R^musat, Essais de Phü, I, 175 ff. u. bes. 431— 477 (Deseartes.
Reid et Kant). Janitsch, Ks. ürt heile über Berkeley 34 ff. Caird, Phil, of
Kant^ 3, 194, 598. Rosmini, Saggio I, § 324 ff.
Der „dogmat. Scliluminer" : Hume's „Erinnerung", die Antinomien. 343
[B 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
Deduction dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war, dass sie
nicht, wie Hume besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet, sondern aus
dem reinen Verstände entsprungen seien. Diese Deduction, die meinem
scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien, die Niemand ausser ihm sich
anch nur hatte einfallen lassen , obgleich Jedermann sich der Begriffe getrost
bediente, ohne zu fragen, worauf sich denn ihre objective Gültigkeit gründe,
diese, sage ich, war das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik
unternommen werden konnte, und was noch das Schlimmste dabei ist, so
konnte mir Metaphysik, so viel davon nur irgendwo vorhanden ist, hiebei
auch nicht die mindeste Hilfe leisten, weil jene Deduction zuerst die
Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen soll. Da es mir nun mit der
Auflösung des Hume'schen Problems nicht bloss in einem besonderen Falle,
sondern in Absicht auf das ganze Vermögen der reinen Vernunft gelungen
war ; so konnte ich sichere, obgleich immer nur langsame Schritte thun, um
endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft, in seinen Grenzen sowohl,
als seinem Inhalt, vollständig und nach allgemeinen Principien zu bestimmen,
welches denn dasjenige war, was Metaphysik bedarf, um ihr System nach
einem sicheren Plan aufeufuhren. " Hiezu vgl. man Prol. § 5. „Wie ist es
möglich, sagte der scharfsinnige Mann, da*^, wenn mir ein Begriff gegeben
ist, ich über denselben hinausgehen und eiiit.^ anderen damit verknüpfen
kann, der in jenem gar nicht enthalten ist, und '^war so, als wenn dieser
nothwendig zu jenem gehöre? Nur Erfahrung kann uns solche Ver-
knüpfungen an die Hand geben, (so schloss er aus jener Schwierigkeit, die
er Tür Unmöglichkeit hielt) und alle jene vermeintliche Nothwendigkeit, oder
welches einerlei ist, dafür gehaltene Erkenntniss a priori ist nichts, als eine
lange Gewohnheit, etwas wahr zu finden, und daher die subjective Noth-
wendigkeit für objectiv zu halten.'* (Vgl. oben 319.) Diese Ausführungen der
Prol. finden ihre Fortsetzung ebend. § 27, § 29, § 30 (worüber in der fol-
genden Anmerkujig) und gingen dann auszugsweise in die 11. Aufl. über,
oben B 5, sowie hier und B 127. In der Vorr. zur Krit. d. p. V., sowie
daselbst S. 88 ff. findet sich dann eine weitere an Prol. § 29 sich anschliessende
Ausführung über dasselbe Thema, das von da an zurücktritt und nur noch
einmal in den »Fortschr." (vgl. oben S. 315 u. R. I, 507) kurz behandelt wird.
Abgesehen von der folgenden hieher gehörigen Auseinandersetzung über das
sog. Hume'sche Problem ist das ganze Verhältniss Kants zu Hume, d. h. die
Art der Einwirkung Hume's auf K. monographisch zu behandeln in einem
besonderen Supplement, wo dann auch die zahlreiche, einschlägige Literatur
besprochen wird. Ebenso ist daselbst die interessante Streitfrage über die
Zeit der Einwirkung Hume's auf Kant zu besprechen. Bezüglich des letzteren
Problems haben wir die Lösung S. 48 antecipirt, dass eine zweimalige
Einwirkung von Hume auf K. anzunehmen sei. [Mindestens ebenso wichtig
als ^Hume's Erinnerung", die sich auch auf die immanente Metaphysik
(Analytik) bezieht, war fiir K. das „merkwürdige Phänomen* der Antinomie.
Von ihm sagt er Prol. § 50, dass „es auch unter allen am kräftigsten wirkt,
344 Comxnentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. 20. [B 706. H 46. E 61.]
die Fhilosophie ans ihrem dogmatischen Schlummer zu erwecken und
so zu dem schweren Geschäfte der Kritik der Vernunft zu bewegen." Und
von demselben „Phänomen der natürlichen Antithetik der Vernunft* sagt
K. in der Kritik 407, dass die Vernunft dadurch „von dem Schlummer
einer eingebildeten üeberzeugung verwahrt werde", sowie 757, „dass durch
diesen Streit der Vernunft mit sich selbst dieselbe aus ihrem süssen
dogmatischen Traume erweckt werde", (wobei indessen auch auf Hume's
sceptische Behandlung der transscendenten Erkenntnisse angespielt wird)
Damit vergleiche man Kr. d. pr. V. 193 ff.: „die Ant. ist die wohlthätigste
Verirrung, in die die menschliche Vernunft je hat gerathen können, indem
sie uns zuletzt antreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Labyrinthe
herauszukommen." Kr. d. Ürth. B 243 fF. : ohne die Ant. wäre nie die Unter-
scheidung von Ding an sich und Erscheinung getroffen worden.
Metaph. 21 „die Dialektik enthält einen Widerstreit, der da zeigt, dass es
unmöglich ist, dogmatisch in der Metaph. fortzugehen". Derselbe Gedanke
findet in den Fortschr. K. (164. R. I, 562) folgenden Ausdruck: „Ein sonderbares
Phänomen musste die auf dem Polster* ihres, vermeintlich durch Ideen
über alle Grenzen möglicher Erfahrung erweiterten Wissens schlummernde
Vernunft endlich aufschrecken, und das ist die Entdeckung, dass zwar die
Sätze a priori, die sich auf die letztere [die Erfahrung] einschränken, nicht
allein wohl zusammen stimmen, sondern gar ein System der Naturerkenntniss
a priori ausmachen, jene dagegen, welche die Erfahrungsgrenze überschreiten,
ob sie zwar eines ähnlichen Ursprungs zu sein scheinen, theils unter sich,
theils mit denen, welche auf die Naturerkenntniss gerichtet sind, in Wider-
streit kommen, und sich unter einander aufzureiben, hiemit aber
der Vernunft im theoretischen Felde alles Zutrauen zu rauben und einen
unbegrenzten Scepticismus einzuführen scheinen." Vgl. auch Ks. Brief an
Bernoulli v. 16. Nov. 1781, womit man die I. Vorr. der Kr. (vgl. oben S. 82)
vergleiche, sowie insbesondere die Dissertation, Abschnitt I und V, § 28.
Vgl. Riehl, Kritic. I, 249. 273. Erdmann, Kants Proleg. Vorr. LXXXV ff.
XCIII. Dag. Paulsen, Vieii;. f. wiss. Phil, n, 487 ff., 496. Janitsch,
Kants Urtheile über Berkeley 31 , 48 macht einen Vermittlungsvei-such
zwischen der Ansicht von Paulsen, Hume's Einwirkung, und der von
Erdmann, die der Antinomien habe den Umschwung von 1770 herbei-
geführt. Vgl. oben S. 48 und 140, wonach der Einfluss von Leibniz die
Schwenkung von 1770 herbeiführte, wobei nach den hier angeführten Stellen
auch das Problem der Antinomien (vgl. oben S. 86) „erweckend" einwirkte,
während „das Erwachen" dui'ch Hume^s Einfluss in die J. 1762 ff. u. 1772 fällt.]
Hrnne, der dieser Aufgabe am nächsten trat. Hier iind an den obigen
Stellen identificirt Kant vollständig seine Aufgabe: Wie sind synth. Urth.
a priori möglich? mit dem sog. Hu me 'sehen Problem. Er erklärt., dass
seine Kritik die Auflösung jenes Problems enthalte. Worin bestand nun
* Vgl. Ew. Fr. in d. Phil. 1. A, der Dogm. ist ein „Polster zum Einschlafen'
Zwei verschiedene Fassungen des sog. „Hume'schen Problems". 345
[B 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
nach Kant das Hume'sche Problem? Hierüber herrscht bei Kant,
seinen Cojnmentatoren und den Historikern eine grosse Unklarheit, welche
weder durch Fischers (Gesch. III, 39) noch B. Erdmanns sonst lichtvolle
EirÖrterungen (Einl. zu Kants Proleg. LXXIX — XCIX) genügend aufgehellt
worden ist. An der vorliegenden Stelle scheint die Sache einfach. Nach ihr
fragt Hume: Kann die Vernunft a priori den synthetischen Satz der Cau-
salität (jede Veränderung erfolgt nach dem Gesetze der Verknüpfung von
Ursache und Wirkung) aufstellen? Die Vernunft kann nur analytische
Sätze aufstellen und auch diese sind nur relativ apriorisch. Die Vernunft
kann also jenen Satz nicht aufstellen; sie hat kein Recht, denselben zu be-
haupten, somit ist der Satz nicht nothwendig, er hat nur den Schein der
Nothwendigkeit durch die Gewohnheit erhalten. Hume habe somit erkannt,
dass jener Satz den Anspruch erhebe, synthetisch und a priori zu sein. Er habe
g^efragt: ist ein solcher Satz möglich? Er habe gezeigt, dass er aus Begriffen
analytisch nicht möglich sei, weil er eben synthetisch ist ; er habe behauptet,
dass er als apriorischer unmöglich sei. Die Sache ist somit scheinbar klar
und einfach. Allein sie wird vollständig unklar und verworren, wenn wir
jene Stellen der Proleg. herbeiziehen. Ist dort das ,Hume'sche Problem**
dasselbe wie hier ? Nein, dort ist dasselbe etwas specifisch Anderes.
Beides hat man bisher gar nicht auseinandergehalten. Anstatt jene Stellen
analytisch zu zergliedern, theilen wir in möglichster Küi-ze die Sache syn-
thetisch mit. Es spielt hier dieselbe Verwechslung eine ominöse Rolle,
w^elche schon S. 214 zu der Einl. B. II gerügt wurde: Die Verwechslung des
allgemeinen Satzes der Causalität mit dem Begriff der Ursache
und den durch ihn bedingten speciellen Causalurtheilen '. In den
Prol. handelt es sich ausdrücklich um „den Begriff der Ursache".
Die Fragen, welche Hume im „Essay" aufwirft, sind folgende: 1) Mit
w^elchem Recht und Grund kann ich über einen gegebenen Begriff A hinaa^-
If^ehen und B als mit ihm verbunden behaupten? 2) Mit welchem Recht und
Grund kann ich behaupten, dass jene Verbindung derartig nothwendig sei,
das6 es widersprechend ist, wenn A (die Ursache) gesetzt ist, B (die Wirkung)
nicht zu setzen ? Der empirisch gegebene Begriff, über den man hinausgeht, ist
fjL) der eines Dinges, das als Ursache betrachtet wird. Was man synthetisch
hinzuthut, ist die Wirkung. Bei Hume findet sich als Beispiel: Brod ist
nahrhaft. Brod ist (l) der gegebene Begriff A, über den ich zur Wirkung B,
zur Ernährung hinausgehe. Der Satz soll (2) eine nothwendige Verbindung
aassagen, derart, dass der Zusammenhang zwischen dem Essen des Brodes
und der Ernährung allgemein und unbedingt ist. Bei Kant, Krit. 765,
findet sich das Beispiel: Das Sonnenlicht, indem es das Wachs beleuchtet,
schmelzt es zugleich. Hume fragt nicht nur, mit welchem Recht behaupte
' AatTallend ist die Verwechslung bei Fischer, Gesch. III, 43, vgl. mit 44 u.
160 ff. 178 ff. 305 u. ö. Vgl. auch Fischer, Bacon, 2. Aufl. 786 f. In eclatantester
Weise geschieht dasselbe bei I. S. Beck, Standpunkt 351, 353, 363 f.
346 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. 20. [R 706. H 46. K 61.]
ich in diesem Satze einen nothwendigen Causalznsammenbang, sondern auch :
kann ich die Wirkung aus dem Begriffe des Subjects errathen, gesetzmttssig
schliessen und damit eben den Zusammenhang als einen allgemeinen be-
haupten? Da ich das nicht aus dem Begriff des Subjects schliessen kann,
lehrt es mich die Erfahrung, und diese lehrt mich nur die einzelnen That-
sachen des Aufeinanderfolgens als zufällige, und die Nothwendigkeit ist somit
eine angedichtete. Hume fragt somit hier nach der Möglichkeit synthe-
tischer Ürtheile, welche eine Nothwendigkeit einschliessen, indem ja in
dem Begriff der Ursache ein nothw. u. allgem. Zusammenhang zwischen A
und B behauptet wird. Es handelt sich also hier nicht um das synthe-
tische ürtheil a priori Kants, nicht um das allgemeine Causal-
gesetz, sondern um die Berechtigung, specielle Oausalurtheile zu fällen,
ß) Der Begriff, über welchen hinausgegangen werden soll, kann bei diesen
speciellen Causalurtheilen aber auch der eines bestimmten als Wirkung
betrachteten Dinges sein, und es fragt sich dann: (1) kann ich aus dem Begriff
dieses bestimmten Dinges seine specifische Ursache a priori errathen? (2) Und
kann ich dann einen nothwendigen Zusammenhang dieser beiden Dinge be-
haupten? Dieser zweite Fall (ß) tritt jedoch bei Kant wie schon bei Hume
hinter den ersteren zurück, principiell sind aber beide Fälle gleichwerthig.
Den ersten Fall bespricht Hume in dem Essay, übers, v. Tennemann S. 59.
61. 65. 77. 82. 93. 94. 118. 122. 127 ff 138. 139. 148. 167 u. ö.; den
zweiten dagegen ib. 57. 61. 62. 63. 99. 122. 345 u. ö. Beide Fälle erwähnt
Kant Krit. 766.
Diese Ürtheile und das auf dieselben bezügliche ,Hume'sche Problem" sind
nun aber offenbar himmelweit verschieden von dem synthetischen Satz a priori
und dem auf denselben bezüglichen Hume'schen Problem, das hier in der Ein-
leitung behandelt wird. Dies hat man sich bisher nicht klar gemacht. Es han-
delt sich beidemal um ein ganz anderes «Hinausgehen'^, und um eine ganz
andere Nothwendigkeit, ganz anderes Apriori, ganz andere Synthese.
A) Das Hinausgehen: Bei dem speciellen Causalurtheil gehe ich über
den Begriff der Ursache A hinaus zu dem Begriff der Wirkung B,
oder auch von dem Begriff des Dinges B zu dem Begriff des Dinges A als
der Ursache jenes B. Beidemal handelt es sich hier um bestimmte
Dinge, z. B., um Hume'sche Fälle zu wählen, um „Feuer* oder „Brod",
„Verzehren" oder , Ernähren" — um ihre Synthese, ihren Nexus.
Beim allgemeinen Causalitätsgesetz gehe ich hinaus über den Begriff
des Geschehens zu dem Gesetz der Verursachung. Vgl. Krit. 301, ,dass
Alles, was geschieht, eine Ursache habe, kann nicht aus dem Begriffe dessen,
was überhaupt geschieht, geschlossen werden". Der Satz, in dem das aus-
gesagt ist, ist nach Kant ein (sei es gemischt oder ungemischt) apriorischer
Satz. (Vgl. hierüber oben S. 212 Anm. 4.) In diesem synthetischen Satze
ist das Subject nach Kant: »Das Geschehen überhaupt", das Prädicat ist
die durchgängige causale Bedingtheit. Dieses Prädicat kann aus jenem
Subjecte nicht analytisch gezogen werden, wie K. schon im Abschnitt TV
„Erweckung aus d. dogmat. Schlummer" d. Uume 1762 u. 1772, nicht 1769. 347
[R 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
(A 9 B 12 vgl. oben 290. 291) ausführt, wo auch die Vorstellung des
,, Geschehens überhaupt** als Subjectsbegriflf bezeichnet wird (wiewohl aueb
jene Stelle theilweise von der Verwechslung inficirt ist). Vgl. die Fortschr.
d. Met. R. I, 495. 507. [Hier ist nun die wichtige Bemerkung zu machen,
dass Hume in seinem Essay dieses Problem des allgemeinen Causalität^-
Gesetzes gar nicht stellt. Er spricht nur an drei Stellen XTennemann
183. 216. 218) von demselben, in der Abhandlung über die „Freiheit und
"Noth wendigkeit*, fuhrt es aber jedesmal übereinstimmend mit der Formel
ein: „It is universaüy aUowed^, In dem ganzen Essay wird aber schlechter-
dings nicht die Frage aufgeworfen, woher wir zur Berechtigung dieses allge-
meinen ürtheils kommen. In dem Essay fragt Hume, wo er von der
Causalität spricht, nur nach der Berechtigung des Causalbegriffes, der
zwischen A. und B eine nothwendige Verbindung behauptet. Diese That-
sache ist nun desshalb wichtig, weil 1) Hume das Problem des allge-
meinen Causalgesetzes nur in dem Treatise aufwirft \ 2) Kant jedoch
der allgemeinen Annahme nach dieses Jugendwerk Hume's nicht gekannt
hat. Hat nun Kant aus unwillkürlichem Missverständniss oder aus eigener
Machtvollkommenheit . logischer Consequenz das Problem des allgemeinen
Causalgesetzes auf Hume zurückgeführt? Es besteht eine sehr hohe Wahr-
scheinlichkeit, dass Kant die Kenntniss, dass Hume auch jenes allgemeine
Problem aufwarf, aus der 1772 erschienenen üebersetzung des Werkes von
JBeattie gegen Hume (Versuch über die Natur der Wahrheit) geschöpft
hat, wo S. 81 ff. aus dem Treatise (I, 3, 3) die betreffende Stelle angeführt
-wird. Bei Beattie selbst findet nun schon die Vermischung von Begriff und
Gesetz statt, während Hume beides a. a. .0. streng auseinanderhält, später
aber auch allerdings nicht genügend unterscheidet. Indem nun Kant mit
dieser Stelle aus Beattie den ihm — allgemeiner Annahme nach — allein
bekannten Essay verglich, entstand bei ihm jene Verwechslung der beiden
sachlich verschiedenen Probleme. Es drängt sich nun aber, wenn man
des S. 48 über die doppelte Einwirkung Hume's Gesagten sich erinnert,
unwillkürlich der Gedanke auf, Kant habe in der Schilderung der Einwir-
\ung Hume's auf ihn zwei zeitlich auseinanderliegende Einwirkungen durch
eine leicht erklärliche Erinnerungstäuschung verwechselt. Es ist bekanntlich
eine vielbehandelte und noch nicht zum Austrag gebrachte Frage, wann jene
»vor vielen Jahren** geschehene Erweckung Kants aus dem , dogmatischen
Schlummer** durch Hume stattgefunden habe? Die Einen setzen sie an
den Anfang der 60er Jahre (Fischer u. Riehl), Andere an ihr Ende (Pauls en
und Caird), Andere endlich in das Jahr 1772 (Dietrich u. B. Erdmann). Im
ersten Falle hätte die Einwirkung Hume's die Schriftengruppe der Sechziger
' Riehl, Kritic. I, 114 hat diese Bemerkung auch schon gemacht. Trotz
der scharfsinnigen Anläufe ib. 109 ff. 113 ff. 121 ff. 139. 149. 242 ff. 333. 359 f.
417 hat jedoch R. die verschiedenen Probleme sowohl bei Hume, als insbesondere
bei Kant nicht genügend unterschieden.
348 Commentar zur Einleitung 6, Abschn. VI.
B 19. 20. [E 706. H 46. E 61.]
Jahre, im zweiten die Dissertation, im dritten die eigentlich kritische Wen-
dung nach dem Brief an Herz von 1772 herbeigeführt. Alle Schwierigkeiten
werden aber dui'ch die Annahme gelöst, dass Kant die Einwirkung Hume's
von 1763 und die von 1772 in Eines vermischt habe. Im Jahre 1763 (vgl.
oben S. 271) lernt Kant von Hume, dass die speciellen Causalurtheile
synthetischer Natur seien, im Jahre 1772 (vgl. oben S. 275) erschütterte
Hume's Zweifel Kants Üeberzeugungen über das allgemeine Causal-
gesetz. Da Kant diese beiden Probleme notorisch verwechselt hat, ist diese
entwicklungsgeschichtliche Hypothese zur Erklärung des bekannten, „in jeder
Schrift über Kant angeführten** (vgl. Erdmann, Ks. Proleg. LXXXII) Selbst-
zeugnisses keineswegs unwahrscheinlich. In einer überraschenden Weise
fügt sie sich der Meinung Erdmanns an, der (Ks. Proleg. XCI) sagt, nach
dem Briefe vom 2. Febr. 1772 sei der Einfluss Hume's an Kant herange-
treten »und zwar gewiss bald nach diesem Briefe*. Beattie's Werk erschien
(in der genannten üebersetzung) zur Ostermesse 1772! Aus demselben
Werke schöpfte ja auch K. theilweise seine irrigen Anschauungen über Ber-
keley, wie Janitsch, Ks. ürth. über Berkeley, Strassb. 1879 nachgewiesen hat.]
B) Die Nothwendigkeit ist ebenso eine ganz andere in beiden Fällen,
wie S. 214 ad B 5 ausführlich bewiesen wurde. Das einemal ist es noth-
wendig, dass jedes Geschehen eine Ursache habe, das anderemal ist die Ver-
bindung zwischen Ursache und Wirkung eine innerlich noth wendige. Es
sind somit beide Fassungen des Hume'schen Problems vollständig ver-
schieden. Bei Kant aber werden dieselben vollständig identificirt. Hier
zwar bespricht er nur das Hume'sche Problem des allgemeinen Causalgesetzes,
in den Proleg. Vorr. nur das der speciellen Causalurtheile. Dagegen Proleg.
§ 27 ff., sowie in der Krit. der pr. Vern. geht beides in höchst verwirrender
Weise durch einander, auch in der Methodenlehre 759 u. 764 ff. Dort sagt Kant
aber ferner : Hume habe das Herausgehen aus dem Begriffe eines Dinges [eines
Geschehens] auf mögliche Erfahrung [d. h. auf eine in der Erfahrung
aufzufindende Ursache jenes Dinges oder Geschehens] verwechselt mit der
Synthesis der Gegenstände wirklicher Erfahrung [d. h. mit dem Hinaus-
gehen aus dem Begriffe des Dinges A als Ursache zu dem Begriffe des Dinges
B als Wirkung]. Er habe die Unmöglichkeit der letzteren Synthesis, wenn
sie a priori geschehen solle — denn facti seh sei sie nur empirisch möglich
— übertragen auf das erstere Verhältniss, das factisch a priori synthetisch,
wenn auch nur allgemein und unbestimmt möglich sei. Hier stossen wir
nun aber noch auf einen dritten, von den beiden bisherigen verschiedenen
Fall. Bisher handelte es sich um folgende beide Fälle, (wobei wir für den
ersten das schon oben angeführte Beispiel Kants zur Verdeutlichung benutzen):
1) Specielles Cansalartheil (Judicium cattsale):
Sonnenlicht schmelzt das Wachs.
In Bezug auf derartige Urtheile behauptet Hume: 1) Ich kann weder aus
dem Begriff des Sonnenlichtes die betreffende Wirkung, noch aus dem Begriff
des geschmolzenen Wachses die betreffende Ursache a priori durch reine
Die Hume'schen Probleme. 349
[R 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
Denkarbeit herausziehen; sondern nur die Erfahrung lehrt mich den Zu-
sammenhang dieser Phänomene [dies gibt Kant natürlich zu]. 2) Hume
ftragt: woher stammt in dem (zu diesem Zwecke umgeformten) Urtheil:
Sonnenlicht ist die Ursache des schmelzenden Wachses — der Begriff der
Ursache und die mit ihm behauptete Nothwendigkeit des Zusammenhanges,
des Nexus zwischen A u. B (vgl. ob. S. 215)? Nach Hume aus der Gewohn-
heit, der Beobachtung des constanten Beisammenseins; die Nothwendigkeit
ist somit blosse Blusion, „Fiction*. [Nach Kant stammt diese Nothwendig-
keit aus der stillschweigend eingemischten apriorischen Kategorie der Cau-
salität, welche eben diese Nothwendigkeit enthält, sonst ist aber das ürtheil
synthetisch a posteriori.]
2) Alli^emeines Caasalgesetz („Principium Causalitatis^ 8. rat. suffic):
Alles, was geschieht, hat eine Ursache.
In Bezug auf dieses allgemeine Urtheil fragt Hume (jedoch nur im
Treatise), ob ein solches Urtheil aus reiner Vernunft gefällt werden könne ?
Es ist nach ihm ebenfalls nur ein Product der Gewohnheit. [Nach Kant
ist dies ein berechtigtes synthetisches Urtheil a priori.]
3) Der dritte Fall, auf den wir in jener Stelle der Methodenlehre
764 stossen, lässt sich durch folgendes Urtheil illustriren:
Das Schmelzen dieses vorher fest gewesenen Wachses
hat eine Ursache.
An der betreffenden Stelle spricht nun Kant ebenfalls von einem Hinaus-
gehen und zwar a priori. Ich kann a priori erkennen, dass vor jener
Erscheinung irgend eine — freilich nicht näher zu bezeichnende Ursache
— vorhergegangen sein muss. Dies ist eine „Synthese a priori"; ein „syn-
thetisches Urtheil a priori** wagt es Kant doch nicht zu nennen, da ja der
Subjectsbegriff etwas ganz Empirisches ist. Dies ist nun offenbar eine dritte
Gattung von Causalurth eilen, welche Hume selbstverständsich auch auf die
Wirkung der Gewohnheit reducirt, ohne dass er jedoch ausdrücklich diesen
Fall in seinem Essay erwähnt. [Für Kant dagegen beruht der zweite Theil
des Satzes, wie bemerkt, auf einer apriorischen Hinzu fugung: es ist eine
Verknüpfung aus reiner Vernunft.]
Obgleich nun diese drei Fälle alle aus den einzelnen Stellen des Kanti-
schen Textes heraus abstrahirt- sind, so hat Kant nicht nur nirgends auf
deren Unterschied aufmerksam gemacht, sondern im Gegentheil dieselben
überall promiscue als das „Hume'sche Problem" bezeichnet, das also jene
drei Fälle umfasst, wobei jedoch zu beachten ist, dass der erste Fall zwei
Fragen enthält, so dass eigentlich vier Probleme vorliegen. Man thut also
besser, von j,den Hume'schen Problemen" zu sprechen. Am schlimmsten
ist die Verwirrung Proleg. § 27 ff. Eine recht ungenaue Stelle findet sich
auch Proleg. K. 136, Or. 199; (die Stelle ist schon oben S. 243 mitgetheilt)
wo offenbar Kant das »Herausbringen" der speciellen Ursache oder Wirkung
durch Erfahrung selbst verwechselt mit dem a priori möglichen „Hinaus-
gehen" zu dem „Begriff einer Ursache" überhaupt (zn dritter Fall), welch
350 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. 20. [B 706. H 46. E 61.]
letztere Operation in der klaren Stelle 722 Anm. deutlich geschildert wird:
„Vermittelst des Begriffes der Ursache gehe ich aus dem empirischen Be-
griffe von einer Begebenheit (da etwas geschieht) hinaus' u. s. w. Auch
in den oben mitgetheilten Stellen der Prolegomena werden Fall 1) und 3)
offenbar durcheinandergebracht. Das Verhältniss dieser beiden F&lle kann erst
zu der Analytik näher besprochen werden, denn auch mit ihnen beschäftigt
sich dieselbe, wie sich zeigen wird. Beide Fälle haben das Gemeinsame,
dass sie sich auf die speciellen empirischen Veränderungen beziehen und so
stehen beide dem allgemeinen Causalgesetz zusammen gegenüber. Wir
sprechen desshalb auch im Folgenden nur noch von zwei Problemen, wobei
aber stets im Auge zu behalten ist, dass der Fall der speciellen Gausal-
urtheile zwei Unterarten befasst, welche von Kant nie scharf geschieden
werden. Dass aber Kant dieselben auch von dem allgemeinen Causalgesetz
nicht scharf unterscheidet, ist durch das Bisherige erwiesen.
Die Zugeständnisse und Vorwürfe nun, welche Kant Hume macht, sind
ganz verschieden, je nachdem er das eine oder das andere Problem be-
handelt. Wo K. von dem Problem der allgemeinen Causalität spricht, da
lautet das Zugeständniss dahin, dassH. richtig erkannt habe, jener Satz sei
synthetisch, und nicht analytisch aus Begriffen zu gewinnen, der Vorwurf,
Hume habe sich seine Aufgabe nicht allgemein genug gestellt; denn wenn
er die Mathematik auch als synthetische Erkenntniss a priori erkannt hätte,
hätte er jene Möglichkeit einer Synthesis a priori in der Metaphysik
nicht geleugnet. Dieser Vorwurf findet sich hier im Text. Anders spricht Kant
in Bezug auf das andere Problem, und auch hier sind Zugeständniss und
Vorwurf an verschiedenen Stellen verschieden. In Proleg. Vorr. gibt Kant
Hume darin Recht, dass die Verknüpfung in dem Begriff der Causalität
„a priori und aus Begriffen unmöglich* sei. [Leider ist aber dieser Satz undeut-
lich. Er besagt wohl theils, es sei unmöglich aus A das B herauszubekommen ;
wohl theils, es sei unmöglich dieNothwendigkeit jener Verbindung ana-
lytisch zu finden. Aber auch so bleibt der Satz (vgl. o. S. 341) unklar *, was
' Die ganze Stelle ist, wie auch die übrigen allegirten Stellen bis ins Ein-
zelnste hinein durch die fundamentale Verwechslung undeutlich; was Mellin^
Wort. II, 68, Erdmann, Ks. Proleg. LXXX. LXXXII, XCIV, Spicker, 121 sagen,
befriedigt nicht. Vgl. Laas, Anal. 138. Was H. nach dieser Stelle (vgl. ob. S. 341
mit 340) „unwidersprechlich bewiesen^ haben soll, ist gar nicht abzusehen, ja im
Gegentheil geradezu ein Widerspruch mit der eigenen Lehre Kants. Denn K. lehrt
ja gerade, dass der Begriff der Ursache und der in ihr enthaltenen Nothwendig-
keit der Verknüpfung „a priori eingeführt wird**; denn „mein Verstand gibt mir
a priori den Begriff von einer solchen Verknüpfung an die Hand^. Proleg. K. 136.
Or. 199. Und was heisst: „aus Begriffen eine solche Verbindung denken**?
Dieser Ausdruck, der hier wohl (vgl. dag. oben S. 291) die dogmatische analytische
Methode bezeichnet, bezieht sich doch nur auf Urt heile, nicht auf Begriffe,
und hier handelt es sich um den Causalbegriff; daher lässt K. den Ausdruck
weiter unten wieder weg. In diesem Satze scheint Kant alle oben angeführten
Causalitäts begriff und Causalitäts gesetz. 35I
[B 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
wohl auch daher kommt, dass K. dort das specielle Oausalnrtheil stillschweigend
unter das Schema des synth. Urtheils a priori bringt und nach dem allge-
meinen Caosalsatz hinüberschielt. Man hat jene Stelle ans den Prol. un-
zfthligemal citirt und ebenso oft wohl miss verstanden, ohne es zu gestehen ; die
^anze Verwirrung rührt von jener unheilvollen Verwechslung her.] Dies ist
das Zngeständniss. Der Vorwurf lautet dahin, dass Hume irrthümlicherweise
daraus auf einen empirischen Ursprung des Causalbegriffes aus Gewohnheit
und Einbildungskraft geschlossen habe, dass er ihm die objective Noth-
wendigkeit genommen und sie in eine subjective Täuschung verwandelt habe,
und dass er damit alle apriorischen Bestandtheile (, Erkenntnisse' sagt K.
in Verwechslung ' mit dem Gausalitätsgesetz) geleugnet habe. Er dagegen
habe gezeigt, dass jener Begriff seine volle objective Berechtigung habe und
ein apriorischer Besitz sei, er habe denselben nebst noch anderen derartigen
Begriffen deducirt. [Wiederum anders ist Zngeständniss und Vorwurf in
Proleg. § 27 ff. Dort heisst es, Hume habe mit Recht die Unbegreif-
lichkeit der causalen Verbindung nachgewiesen. Kant findet sein eigenes
Verdienst darin, dass er gezeigt habe, dass trotzdem jener Begriff zwar
nicht im Gebiet der Dinge an sich, aber doch in dem der Erscheinungen
nothwendig und berechtigt sei, was Hume eben geleugnet habe.] Man sieht,
wie verwickelt diese Darlegungen Kants sind und wie sehr wenig sie Erd-
manns Lob der „Klarheit' ' verdienen. (A. a. 0. LXXIX.) Im Gegentheil
ist keine einzige der bisherigen Darstellungen in diesem Punkte klarer als
Kant, bei dem so grosse Unklarheit herrscht und den man hier zu verstehen
glaubte oder vorgab.
.Eine weitere und principielle Beleuchtung erhält nun jener Unterschied
durch die beiden folgenden Erwägungen. Einmal fällt jener Unterschied
zusammen mit dem der in der ,Transsc. Deduction* behandelten causalen
Urtheile und des in den „Grundsätzen*^ erörterten und bewiesenen allge-
meinen Causalitätsgesetzes. Dort handelt es sich um causale Urtheile,
welche durch den Oausalitätsbegrlff ermöglicht sind, hier um den Causali-
t&tsMts« Dort handelt es sich um die Frage: Mit welchem Rechte nenne
ich Etwas die Ursache von etwas Anderem? hier um die Frage: Mit
vier Fälle des Hume^schen Problems durcheinanderzuwirren; ja es spielt noch
offenbar die weiter unten im Text aus Proleg. § 27 angeführte Frage der Begreif-
lichkeit herein. Der Satz ist so, wie er überliefert ist, gänzlich unverständlich.
* Diese schon auf S. 222 u. 223 (vgl. S. 168) gerügte Ungenauigkeit des
Kantischen Terminus nErkenntniss** (der auch noch anderweitiger Widersprüche
halber einer monographischen Behandlung würdig wäre) ist eine constante Be-
gleiterscheinung der sogleich im Folgenden weiter besprochenen unklaren Ver-
EDischnng von Begriff und Satz bei Kant überhaupt und von Causalitätsbe griff
und Gausalitätsgesetz speciell. Häufig nennt Kant die Kategorien selbst schon
„Erkenntnisse a priori" z. B. in der transsc. Deduction, A. 110.
* Dasselbe unverdiente Lob ertheilt Thilo, Gesch. d. Philos. 2. A. 11, 189
and Nolen, Kant 177.
352 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. 20. [B 706. H 46. E 61.]
welchem Rechte nehme ich für Jedes beliebige Geschehen überhaupt eine
Ursache anV An die Deduction erinnert ja Kant selbst in den Proleg.
Vorrede und § 27. Dass er aber auch trotzdem beides verwechselt, geht ans
Proleg. § 30 hervor, wo er von den durch den berechtigten Causal begriff
ermöglichten Causalurtheilen übergeht zu den synthetischen Grundsätzen
a priori, deren Gültigkeit für das Erscheinungsgebiet er ebenso sicher, als
ihre Ungültigkeit über Erfahrung hinaus bewiesen habe. Dieselbe aus Un-
klarheit entsprungene und zu Unklarheit fuhrende Verwechslung spielt aber
auch in der Kritik selbst ihre verhängnissvolle Bolle. In der transscenden-
talen Deduction A 112 f. springt Kant von der Kategorie der Causalität
und den durch sie bedingten speciellen Causalurtheilen gänzlich unver-
mittelt zu dem allgemeinen Naturgesetz der Causalität über, von
welchem er ib. 114 (vgl. 117 Anm.) als einem , synthetischen Satze der
allgemeinen Natureinheit" spricht (vgl. ib. 126 flF. Verwischung des Unter-
schiedes von Begriff und Urtheil): und doch handelt es sich in dem ge-
nannten Abschnitte nicht um die Frage, wie synthetische Sätze a priori
möglich seien, sondern um die Möglichkeit der Anwendung der apriorischen
Begriffe auf das Empirische! Ebenso schlimm steht es in der transsc.
Deduction B, wo 163 ff. (vgl. 168) derselbe Mangel sich in störendster Weise
geltend macht. Demgemäss herrscht dieselbe Verwirrung wieder in der Ana-
lytik der Grundsätze A 188 ff. B. 233 ff. Diege Unklarheit wird auch
dadurch nicht gehoben, dass Kant an manchen Stellen die Kategorien ^syn*
thetische" Vorstellungen oder Begriffe a priori nennt, Krit. 92. 220 vgl.
bes. mit 78 f., da im Gegentheil dadurch die Vermischung mit den syn-
thetischen Sätzen a priori nur begünstigt wird.
Sodann steht jener Unterschied in Beziehung zu dem der beiden Fragen:
wie istErfahrung möglich? und: wie sind synth. Urtheile a priori
möglich? Denn die erste Frage umfasst auch die Causalurtheile , welche
der Index einen objectiven, d. h. allgemeingültigen und nothwendigen Er-
fahrung sind. Die andere Frage bezieht sich auf den Satz der Causalität.
Hier an der Stelle des Textes bringt K. richtig daher auch nur den letzteren
in Zusammenhang mit seinem allgemeinen Problem und lässt das andere ans
dem Spiel. Aber in Prol. § 5 bringt er offenbar beides durch einander, während
er in der Vorr. mehr nur die erste Frage im Auge hat. So muss man es
denn also in doppeltem Sinne verstehen, wenn Kant in Hume seinen ,Er-
wecker" sieht, in jenem doppelten Sinne, den wir schon mehrfach als die
Doppelaufgabe der Kritik erkannt haben, und ohne welchen jede Auf-
fassung der Kritik ganz einseitig bleibt \ Kants Einleitung kann
' Mit dieser Darstellung coincidirt nur scheinbar, was Fischer, Gesch. III,
310 sagt. Was F. „Erfahrungsurtlieil a priori" nennt, ist mit dem auf die Erf. be-
züglichen synth. Urtheil a priori vermischt. Dagegen hat F. 22. 28. 30 einen dankens-
werthen Anlauf genommen, den er leider nicht fortgesetzt hat. Früher und später
vermischt er beide Gesichtspunkte, 16. 25. 286 ff. 30C. 312. 351, 355. 364. 601.
Wie sind synthetische Urtheile a posteriori möglich? 353
[R 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
daher leicht irreführen und hat irregeführt, weil er das andere Grundproblem
seiner Kritik : wie sind objectiv-nothwendige Erfahrungsurtheile
möglich? in der Einleitung nur ganz sporadisch berührt (nämlich A 2,
B 2, wo er von der mit apriorischen Bestandtheilen zersetzten Erfahrungs-
erkenntniss spricht, auch B 5, wo er von der Nothwendigkeit im Causal-
begriff redet) '. Bei der gewaltigen Geistesarbeit , welche Kants Genie aus-
zuführen hatte, kann man es ihm trotz aller Unklarheit nicht verübeln,
ivenn er seine Argumentationen nicht mit vollendeter Sicherheit und Durch-
sichtigkeit durchführt, aber der Commentator hat die Pflicht, die tieferen
treibenden Grundgedanken des Autors blosszulegen *. Falsch ist aber z. B.
Volkelts Methode, in die Grundfrage: Wie sind synth. Urtheile a priori
möglich? schon jene andere Frage hineinzulegen. In jener Frage liegt
sie nicht im mindesten, wohl aber liegt sie daneben, sobald man Kants
Aeusserungen streng philologisch zusammenstellt, auffasst, vei;gleicht und
auf ihren Gedankengehalt bis ins Detail prüft. (Vgl. unten 358.)
Nach dem Gesagten ist somit die Frage: Wie sind synthetische Ur-
theile a priori möglich? zu ergänzen durch die Frage: Wie sind
synthetische Urtheile a posteriori möglich?' Aber K. hat ja im
Abschnitt IV der 11. Aufl. (oben 285) bewiesen, dass diese Urtheile eben
durch neue Erfahrung möglich sind! Diese Frage hat somit für Kant
gar keine Schwierigkeiten. Hier ist eben wieder ein Punkt, wo der Com-
mentator seinen Autor besser verstehen muss, als dieser sich selbst verstand.
Dort, .wo K. jene Antwort gibt: Durch Erfahrung, verstand er unter Er-
fahrungsurtheilen das, was er später, bes. in den Proleg. „Wahrnehmungsur-
theil" heisst. Erf. hat dort also nicht den prägnanten Sinn. Dagegen
in der transsc. Deduction (besonders der 11. Aufl.) und noch mehr in den Prol.
vrird jene zweite Frage factisch aufgeworfen und beantwortet. Wie die
Frage nach der Mögl. synth. Urth. a priori nur eine andere Formel für die
Frage nach der Erkenntniss aus reiner Vernunft ist, so ist die Frage nach
der Mögl. synth. Urth. a posteriori nur eine andere Formel für das nun schon
' Vgl. oben S. 168. 186 IT. 213 f. Man vergleiche hiezu den Excurs am
Schlüsse dieses Abschnittes, D 17 ff., wo über das „Doppelproblem** eingehendere
Rechenschaft gegeben wird Im Zusammenhang der methodologischen Analyse der
glänzen Kritik d. r. V.
' Vgl. die treffenden Bemerkungen von Caird, Joum. of spee. Phil, 1880,
116, der bei Kant „a logical weakneas^ findet, for which toe can easüy find excuse
in ths diffictäties of one who was the first explorer of a neu? inteUectual u>ord^ the
first to employ a new method of philosophy, and who therefore coüld not he alwaya
successfuU in freeing his mind frotn the trctditional conceptiom of things. Vgl. ib.
133 und desselben Phü. of Kant 219. 220.
• K. fragt also nicht bloss nach der Möglichkeit der reinen Mathem., Naturw.
rtnd der Metaph., sondern auch nach der Möglichkeit der gewöhnlichen Er-
Tahrungsurtheile, in welchen die empirischen Wissenschaften und
das gemeine Leben sich bewegen.
Yftihinger, Kant-Coxmnentar. 23
354 Commentar zur Einleitung 6, Abschn. VI.
B 19. 20. [R 706, H 46. K 61.]
mehrfach als zweite Grundfrage nachgewiesene Problem : Wie ist Erfahrung
möglich? aber Erf. in prägnantem Sinn, sowie auch hier bei synth. ürtbeilen
a posteriori nur an solche Urtheile zu denken ist, welche eben Bestandtheile
jener allgemeinen und nothwendigen Erfahrung im Eantischen Sinne sind *.
Halten wir uns an die Kantischen Beispiele! In den Proleg. § 20 Anm.
wird das Wahrnehmungsurtheil: Wenn die Sonne den Stein bescheint,
so wird er warm, wohl unterschieden von dem Erfahrungsurtheil: Die
Sonne erwärmt den Stein. Das erstere macht K. gar keine Sorgen. Aber in
dem zweiten, das ausdrücklich auch als synthetisches bezeichnet wird,
ist eine objective Allgemeingültigkeit und Nothwendigkeit enthalten, welche
nicht aus der gemeinen Erfahrung stammt. Jener Unterschied wird in § 18
als ein ganz fundamentaler hingestellt. Nur von den Wahrnehmung s-
urtheilen gilt, was K. oben sagt, dass zu ihrem Zustandekommen die Er-
fahrung genüge] sie sind wie K. Prol. § 18 sagt, eine bloss logische Ver-
knüpfung der Wahrnehmung in einem denkenden Subject; sie sind (§ 19)
blosse Vorstellungsverknüpfungen, blosse Verknüpfangen der Wahrnehmungen
in meinem Gemüthszustande (§ 20). Allein ganz anders ist es, sobald die
Wahmehmungsurtheile, welche zunächst eine bloss zuMlige Verbindung re-
präsentiren , Anspruch erheben auf objective Allgemeingültigkeit ; dann genügt
zu deren Zustandekommen die gemeine Erfahrung nicht mehr. „Zerglie-
dert man,'' sagt E. § 20, „alle seine synthetischen Urtheile, sofern sie
* In der Transsc. Deduction legt K. dagegen auf die synthetische Natur jener
Sätze keinen Nachdruck; er hat ja schon in der Einl. bewiesen, dass alle em-
pirischen Sätze synthetisch sind. A priori sind dieselben gar nicht, wenn sie auch
ein apriorisches Element, z. B. die Kategorie der Causalität, enthalten, durch deren
Function sie Allgemeinheit und Nothwendigkeit erhalten. Dass der Erfahrung ja
auch diese Prädicate später beigelegt werden — im Widerspruch mit der Einl. —
wurde schon erwähnt. (S. 165. 177. 187. 205. 215 ff.) Dadurch wird es erklärt,
wenn auch nicht entschuldigt, wenn manchmal das synthetische Urtheil a posteriori
geradezu unter die apriorischen gerechnet oder mit ihnen vermischt wird, z. B.
bei Paulsen, Entw. 157, Strümpell, Logik 119 ff. 131. Fischer III, 310 (vgl.
oben 177) und besonders bei Adamson, Kant 25. 26, Watson, Kant 66^ sowie
bei Sigwart, Gesch. d. Philos. III, 39 und schon (im Anschluss an Fichte, Nachg.
W. I, 110 vgl. Hegel, W. W. XV, 558 u. s. w.) bei Herbart, W. W. XII, 4;
bei Rosmini und Mamiani, s. Werner, Kant in Italien 33 f. 55 f. Dies geschah
offenbar aus dem Drang, die dunkel gefühlte und hier nachgewiesene Inconcinnität
zu heben, indem man eben die factisch in der Kritik behandelten synthetischen
Urtheile a posteriori (mit ihrem apriorischen Zusatz) unter die Klasse der syn-
thetischen a priori bringen wollte, deren Möglichkeit allein in der Einleitung Ge-
genstand der Fragestellung ist. Ganz deutlich ist dieses Motiv der Verwechslung
bei Cohen, Th. d. Erf.80. 109. 112. 122. 163. 166. 168. 194. 196. 200. 203. 205 ff.
208. 223 u. ö. Die Verwechslung ist den Commentatoren um so weniger zu verübeln,
als sie sich bei Kant selbst ganz klar ausgesprochen findet, Entd. Ros. I, 470 ff.
und bes. 474 f. (vgl. oben S. 277 und bes. die auf S. 268 angeführten Stellen)
sowie die „Fortschr. d. Met." R. I, 508 u. ö. Vgl. den Excurs, D 18. 22.
Wie sind synthetische Urtheile a posteriori möglich? 355
[R 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
objectiv gelten, so findet man, dass sie niemals aus blossen Anschauungen
bestehen, die bloss, wie man gemeiniglich dafür hält, durch Vergleichung
in ein Urtheil verknüpft werden, sondern dass sie unmöglich sein würden,
wäre nicht über die von der Anschauung abgezogenen Begriffe ein reiner
Verstandesbegriff hinzugekommen, unter dem jene Begriffe subsumirt und so
allererst in einem objectiv gültigen ürtheil verknüpft werden." Eben dess-
halb heisst es ib. § 20 Anf.: „Wir werden Erfahrung überhaupt zerglie-
dern müssen, um zu sehen, was in diesem Product der Sinne und des Ver-
standes enthalten und wie das Erfahrungsurtheil selbst möglich
sei!* Durch blosse Combination der Wahrnehmungen entsteht nicht jene
allgemeine, nothwendige Erkenntniss, welche allein objectiv und Erfahrung
sein kann. Dass nun jene Erf. -urtheile auch synthetisch sind, ist
selbstverständlich, hat auch K. an den genannten Stellen gesagt und wieder-
holt es zum Ueberfluss in § 21 a und § 22. In der 11. Aufl. der Kritik
140 ff. tritt diese Lehre ebenfalls hervor, wenn auch nicht so stark als in
den Proleg., so doch stärker als in der I. Aufl. — eine Lehre, die aber
aus der Deduction nothwendig folgt. Somit hat man allen Grund,
im Sinne Kants die Frage: Wie sind synth. Urtheile a posteriori
möglich? hier einzuschieben. Dass das nicht geschehen ist, ist Folge und
Ursache vieler und schwerer Missverständnisse gewesen. Mit Bezug auf das
oben über das Hume'sche Problem Gesagte kann man als Normalbeispiel für
die erste Art von Urtheilen (synth. a priori) das Causalitätsgesetz an-
fuhren, als Hauptbeispiele für die zweite Art (synth. a posteriori) jedes be-
liebige Oausalurtheil, wie: Die Sonne erwärmt den Stein. Wie kommt
es, dass wir in solchen Erfahrungsurtheilen eine Allgemeingültigkeit und
Nothwendigkeit aussprechen? Wie sind solche Erfahrungsurtheile mög-
lich? -
Man kann aufs Neue fragen, warum K. das Verständniss seines Werkes
erschwert habe durch Unterdrückung dieser Frage, welche die nothwendige
Ergänzung zu der aufgestellten Grundfrage ist. Denn mit der einen Frage
hebt er den Dogmatismus aus den Angeln und mit der andern legt er die
Axt an den Empirismus, wie in der Einleitung I ausgeführt wurde. Beide
Fragen werden ja von K. selbst beantwortet. Es hat hiebei eine pädago-
gische Tendenz schwerlich mitgespielt, aber jeden Falls spielte eigene Un-
klarheit mit, denn, wie schon bemerkt, K. kam zum vollen Bewusstsein
seiner Sache erst allmälig. Mitgespielt mag auch haben , dass, nach Windel-
band, Gesch. d. n. Phil. II, 51, ihm die eigentliche rationale Philosophie
mehr am Herzen lag, auf welche die erste Frage zielt. Aber ganz einseitig
ist Windelbands weitere Darstellung, K. erkenne die synth. Urth. a posteriori
als zu Recht bestehend an, seine Erkenntnisstheorie befasse sich aber mit
der Kritik derselben principiell nicht. Der Titel Kritik oder Theorie der
Erfahrung für Kants Werk sei somit nicht so zu verstehen, als ob K. jene
Urtheile behandle. Er beschäftige sich nur mit der ganz neuen Art von
Erkenntnissen, welche er in dem Begriff der synth. Urth. a priori aufstelle.
356 Commentar znr Einleitung B, Abschn. VI.
B 19. 20. [B 706. H 46. E 61.]
Nichts kann unrichtiger und verfehlter sein \ als diese Darstellung, welche
zwar auf Kants Einleitung fusst, aber die factische Untersuchung der Kritik
unberücksichtigt lässt. Und doch stellt W. ib. 65 u. bes. 73 nothgedrungen
den wahren Sachverhalt in der transsc. Deduction ganz richtig dar, ohne zu
bemerken, dass damit jene Stelle als principiell irrthümlich sich herausstellt. *
Die Interpretation der Kritik hat unter diesem durch Kants Unklar-
heit selbst veranlassten Irrthum nicht selten sehr stark gelitten '. Nur
die scharfe Sonderung jener beiden Fragen,, jener beiden Urtheils-
gattungen und dazu die Erkenntniss, dass beide Fragen, beide Urtheilsgat-
tungen nebeneinander das Thema der Kritik bilden, führt zur wahren
Auffassung von Kants Werk. Dieser fundamentale Punkt kann gar nicht
genug betont werden, um so mehr als er bisher nur ganz sporadisch* be-
rücksichtigt wurde und auch dann nie ohne MissverstÄndnisse und immer
ohne die principielle Erkenntniss, dass beide Fragen gleichmässig der
Kritik zu Grunde liegen und in ihr beantwortet werden. Jede Dar-
stellung, welche zur Einleitung Kants eigene Darstellung ein-
fach wiedergibt, ist sonach principiell unvollständig, genau
aus demselben Grunde, warum Kants eigene Darstellung
es ist.*
Diese Ausführungen haben unterdessen eine geradezu überraschende Be-
stätigung erfahren durch eine Stelle, welche B. Erdmann in seinem höchst
interessanten Schriftchen „Nachträge zu Kants Kritik der reinen Vernunft*
Kiel 1881, S. 21 als einen der handschriftlichen Zusätze Kants zu seinem
Handexemplar mitgetheilt hat. Zum Anfang der Analytik (A 66, B 90)
findet sich folgende merkwürdige Anmerkung:
' Von den schlimmen Folgen bietet Windelband 11^ 46 selbst ein Beispiel,
wo die beiden Urtheilsgattungen y erwechselt sind.
' Die Einwände Witte's (Beitr. 17 ff.) gegen Cohens Auffassung der Kritik
als eine Th. d. Erfahrung sind also ebenfalls hinfällig.
* Derselbe Irrtimm auch bei Harms, Phil, seit K. 132. Vgl. dagegen ib. 135,
wo als das Problem der Kritik die synth. Urth. überhaupt gelten, und „Gesch. d.
Logik", S. 219. 221. Vgl. oben S. 5 Anm.
* Auch Caird, Phil, of Kant, 206. 219 vertritt den Standpunkt, dass die
Einleitung „preliminary and therefore inexact*^ sei, insbes. in Bezug auf die in der
Ein], behauptete Unabhängigkeit der Synth, a posteriori von derjenigen a priori.
Dadurch mache man die Kritik zu „a sealed book^, und eliminire die Transscen-
dentale Deduction, welche doch ihre „central idea** enthalte. Nichtsdestoweniger
kommt C. zu keiner vollen Klarheit und vermischt die verschiedenen Fragen,
a. a. 0. 5—8. 187. 193. 198 ff. 205 ff. 210. 213 ff. 217 (vgl. Joum. of apec. Phil.
1880, 118. 133); er vermischt die synthetischen Urt heile a priori mit der syn-
thetischen Function der Kategorien, an sich und in Bezug auf das „Hume'sche
Problem". Aber es bleibt sein Verdienst, beeinflusst durch S. Beck und Cohen,
die irreleitende Unvollständigkeit der Kantischen Exposition erkannt zu haben.
* Ebenso ist natürlich auch jede Darstellung falsch, welche nur die Frage
nach der Mo gl. der Er f. betont, wie z. B. Cohen. Vgl. den Excurs, D 19. 22.
Wie sind synthetische ürtheile a posteriori möglich? 357
[R 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
,Wir haben oben (d. h. in der Einleitung) angemerkt, dass Erfahrung
aus synthetischen Sätzen bestehe, und wie synthetische Sätze a po-
steriori möglich seyen, nicht als eine der Auflösung bedürfende Frage
angesehen, weil sie Pactum ist. Jetzt lässt sich fragen, wie dieses Factum
möglich sey. Erfahrung besteht aus ürtheilen, aber es fragt sich, ob diese
empirische ürtheile nicht ürtheile a priori voraussetzen [vgl. B 5, oben
S. 215 ff. Jene Stelle der II. Aufl. hat offenbar in dieser Anmerkung ihre
Wurzel.]. Die Analysis der Erfahrung enthält erstlich die Zergliederung
derselben, sofern darin ürtheile sind, zweitens ausser den Begriffen a po-
steriori auch Begriffe a priori. Die Aufgabe ist „wie ist Erfahrung
möglich?* u. s. w. Diese Bemerkung (nebst ihrer Fortsetzung) ist zwar
erst im Commentar zur Analytik erschöpfend zu besprechen: es erhellt aber
aus derselben ohne Weiteres, dass unsere Ausführungen Kants Sinn treffen;
es erhellt ferner daraus, dass Kant zum Bewusstsein dieses Problemes erst
allmälig gekommen ist. Die Stelle bildet die Brücke zwischen der Deduction
in der Kritik und der in den Prolegomena. Die Wendung Kants, in der
£inl. sei die Erfahrung nicht zum Problem gemacht worden, „weil sie Factum
ist*, ist Ausrede. Denn die synthetischen Sätze a priori in der Mathematik
und Naturwissenschaft sind ja gerade dess wegen zum Problem gemacht
worden, weil sie „Factum* (oben 308) sind. — Eine andere wichtige Bestäti-
gung gibt der Umstand, dass Kant in der Deduction B 141 ff. das Urtheil
„die Körper sind schwer* erst durch die „Beziehung auf die urspr. Appercep-
tion* und die in ihr enthaltenen „Principien* d. h. die Kategorien zu Stande
kommen lässt. Dasselbe ürtheil kommt aber nach der Einleitung (vgl. oben
S. 284) durch blosse Wahrnehmung zu Stande und bildet dort noch kein
Problem. Derselbe Widerspruch spielt in der Entd. R. I, 470 vgl. mit 474.
Und noch ein anderer Beweis sei hier vorläufig erwähnt: In dem allerdings
ungemein schwierigen Abschnitt (A 153 ff. B 192 ff.): „Von dem obersten
Grundsatze aller synthetischen ürtheile* betrachtet Kant als seine Aufgabe
den Nachweis der Möglichkeit aller synthetischen ürtheile, obwohl er daselbst
nur die .synthetischen a priori specieller auszeichnet. Zufolge dieser nach-
träglichen Aenderungen erscheint aber die ganze Anlage der Einleitung als
eine verfehlte, und die letztere wird von Kant selbst dadurch — auch noch
durch mehrere andere Lehren der Analytik — auseinandergesprengt.
Die ünvoUständigkeit der Fragestellung ' geht endlich aus der einfachen
Erwägung hervor, dass, da in der Einleitung (vgl. oben 168. 188. 213. 222 ff.)
neben apriorischen Sätzen auch apriorische Begriffe als vorhanden nach-
gewiesen werden, doch auch nach deren Functions- und Geltungsgrund ge-
fragt werden sollte. Dieses Problem bildet nun aber den Inhalt der De-
duction, des „centralen* Abschnittes der Kritik, und wird z. B. A 95 (vgl.
' Dieselbe findet sich noch in der Schrift gegen Eberhard, R. I, 470. 472.
474, in den Fortschr. d. Met., R. I, 495. 565. 566. 567 (vgl. oben S. 308) und im
Brief an Tieftruuk R. XI a, 186.
358 Commentar zur Einleitung B<, Abschn. VI.
B 19. 20. [B 706. H 46. E 61.]
110) ausdrücklich gestellt: wie reine Verstandesbegriffe möglich seien?
Die kantische Fragestellung der Einleitung lässt somit ein Problem weg, das
nicht nur in der Einleitung angelegt ist, sondern das auch nachher factisch
eine so grosse Rolle spielt. Die vielen hier mitspielenden Schwierigkeiten,
wie sich nun diese Frage zu der Frage nach der Möglichkeit synthetischer
ürtheile a posteriori und zu der allgemeineren Frage nach der Möglichkeit
der Erfahrung verhalte und welche Beziehung wiederum zwischen dieser und
der Frage nach der Möglichkeit synthetischer ürtheile a priori herrsche,
können selbstverständlich erst im Commentar zur Analytik zur Discussion
kommen, wo auf die Fragestellung der Einleitung ein Rückblick geworfen
werden wird und wo in Bezug hierauf einschneidendere Distinctionen Platz
greifen werden. Jedenfalls haben wir hier das Resultat, dass die Frage-
stellung der Einleitung unvollständig ist; dass die Frage nach der Möglich-
keit der Erfahrung überhaupt (vgl. oben S. 186 — 189) und speciell nach der
Möglichkeit der Erfahrungsurtheile eine nothwendige Ergänzung des „Trans-
scendentalen Problems" bildet, vor Allem aber, dass Kant unter dem Hume-
schen Problem zwei ganz verschiedene Fragen versteht. Was die
Literatur in Bezug auf Jenes bietet, ist im Folgenden zusammengestellt. Ausser
bei Caird (und dem sich an ihn anschliessenden Adamson) ist jedoch die
Erkenntniss der Un Vollständigkeit nirgends zu vollem Durchbruch gekommen.
So ist es trotz der zum Theil scharfsinnigen Ausführungen falsch, mit
Volkelt, Ks. Erk. 227 zu sagen, dass die Frage nach der Möglichkeit
der Erfahrung schon in der Grundfrage nach der Möglichkeit nothwendiger
(synthetischer) Erkenntniss liege, weil die nothwendige (unbewusste) Ver-
knüpfung der Elemente des Erfabrungssystems sich nicht trennen lasse von
der nothwendigen bewussten Erkenntniss. Abgesehen davon, dass hier zwei
Gegensätze: bewusst — unbewusst, synthetisch a priori — synthetisch a posteriori
vermischt sind: eine „doppelte Gestaltung" der Grundfrage („wie ist das
bewusste nothwendige Erkennen möglich?" und „wie ist der nothwen-
dige Zusammenhang der Erfahrungswelt möglich?^) besteht gar nicht
in dem Sinne, dass diese Frage in jener enthalten wäre, sondern nur so,
dass dies die beiden Grundseiten der Kritik sind, von denen K. eben —
vielleicht aus didaktischen Gründen — nur die erstere in der Einleitung
entwickelt, die andere wird erst in der Einl. zur Deduction der Kategorien
eingeführt, z. B. A 93. 95 u. ö. Prol. § 20 u. ö. Sie wird aber mit Recht
zur Erhöhung des Verständnisses am Anfang erwähnt, wie das auch Lange,
Gesch. d. Mat. 11, 11. 22. 28. thut. Denn auch nach ihm handelt es sich
um eine Analyse der Erfahrung, in welcher ein begrifflicher Factor,
der aus uns stammt, nachzuweisen ist. Es sei dies der „nächste Zweck"
der Kritik d. r. V. — es ist aber nur eine der beiden Hauptseiten der
Kritik. Reinhold, Beitr. z. l. Uebers. 2, 12: „Der Inhalt des ganzen
Werkes ist Antwort auf die Frage: Wie ist die Erfahrung möglich?*
In welchem Sinne diese Frage zu verstehen sei, kann nur klar werden, wenn
man daran denkt, dass für K. Erf. der nothwendige Zusammenhang der
Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung. 359
[B 706. H 46. E 61.] B 19. 20.
Erscheiniingen in Einem Bewusstsein ist. Auch Fichte (Phil. Journal. 1797,
1. 8 ff.) fasst das Problem der Philos. in die Formel; Welches ist der
Grund aller Erfahrung? (Vgl. hierüber Heusinger, Das id. ath.
Syst. Fichte's 7 ff.) In neuerer Zeit hat, wie schon in der Einleitung er-
wähnt, besonders Cohen und nach ihm Riehl diesen Standpunkt vertreten,
l^ach Göring, Viert, f. wiss. Philos. I, 405 ff. (üeber den Begriff der Erf.)
weiss die I. Aufl. von einer positiven Theorie der Erf. noch nichts.
In der I. Aufl. habe K. nur eine negative Kritik der Erfahrung geben
wollen, keine pos. Theorie ders. ib. I, 408 f. 412. 413. ib. 415 über Riehl
und Stadler 417. 526 f. Die Frage, wie Erf. möglich sei, findet den Bei-
fall G.'s nicht im Geringsten , sie sei unkritisch ; vgl. 533. II, 107 ff. Eine
allgemeine Formel, welche beide Fragen nach der Erkenntniss aus reiner
Vernunft und nach der Möglichkeit der Erfahrung umfassen kann, s. bei
Jakob, Krit. Vers, über Hume I, 596: Wie ist Erkenntniss über-
haupt möglich? Diese Frage allein sei metaphysisch. Vgl. hiezu
noch Göring, Viert, f. wiss. Philosophie I, 528 und bes. ÜI, 13.
Weitere beachtenswerthe und zur Vergleichung herbeizuziehende Stellen
sind folgende: Fichte, Nachg. W. I, 27. 110. 130 ff.; Schelling, W. W.
1. Abth. VI, 79; Baader, W, W. I, 7 (interessante Stelle); über Schopen-
hauer vgl. Bahr, Schop. 3. 35 ff. 40; Rosenkranz, K.\sche Philos. 157;
Degerando, Vergl. Gesch. I, 469. II, 479; Ulrici, Grundprincip I, 302. 310.
Besonders zu erwähnen sind die Bemerkungen von Riehl, Kritic. I, 286. 310.
327. 337 ff. 341. 384 f. 442 ff. Dagegen herrscht theilweise eine grosse
Unklarheit über das VerhiÜtniss der verschiedenen Fragen bei Wolff, Spe-
culation I, Vorr. XX. XXH. XXV; 74. 77. 97 ff. 102. 106. 108. 110 f. 116 ff.
148. 156 ff. 162 ff. 168 ff. 241 ff. 264 ff. 284; II, 17. 21 f. 41. 92. 95. 229.
Vgl. ferner Dilthey, Schleiermacher 94; Pesch, Moderne Wissensch. 13.
14. 34. Trotz einzelner Fehlgriffe erkennt doch (im Anschluss an Caird)
Adamson, Kants Philos. 5. 18. 23. 25. 106 die irreführende UnvoUständig-
keit der Kantischen Einleitung. Bei Watson, Journal of spec. PhiL 1876,
118 ff. und besonders Kant and his critics 3 ff. 7. 12. 20 f. 34. 60 ff. 66 f.
138 ff. 226 ff. sind die verschiedenen Fragen gänzlich vermischt. Cantoni,
Kant 160 ff. ; Balmes, Fundamente II, 193. 198. — Man vergleiche den
Excurs S. 384 ff. suh D 17-22.
Darch Gewohnheit der Sehein der Nothwendigkeit. Diese nennt K.
oben B 5 eine subjective Nothwendigkeit. Diese subj. psychologische
Nothwendigkeit will er strengstens unterschieden wissen von der objectiven,
transscendentalen. Jene ist empirisch-anthropologisch, diese apriorisch,
logisch*. Jene ist gefühlte, diese eingesehene Nothw. (Krit. d. prakt.
Vern. Vorr. Schlss.). Wo aber nur jene Nothw. angenommen wird^ ist allem
' „Logisch" gebraucht K. nicht selten gleichbedeutend mit „Transscendental";
z. B. Kr, d. ürth. Einl. V. VII: „die logische objective Nothwendigkeit kommt
nicht heraus, wenn die Principien bloss empirisch sind". Kr. d. pr. V. 201 u. ö.
360 Commentar znr Einleitung B, Absclin. VI.
B 20. [B 706. H 46. E 61.]
Zweifel, aller Ungewissheit Thür und Thor geöffnet. K. aber will gewi&se,
sichere Erkenntniss; d. h. er will den Empirismus und den Skepticismns,
des Ersteren Consequenz, überwinden durch seine neue rationalistische
Wendung. Kant kommt oft auf diesen Unterschied zurück, welcher trotz
seiner fundamentalen Bedeutung zu wenig bisher betont worden ist, obwohl
in Aesthetik und Analytik häufig genug darauf hingewiesen wird, dass K.
an Stelle der subjectiven Noth wendigkeit eine objective setzen will.
In der Methodenlehre, 759 f. 764 f. wird dies ausdrücklich im Gegensatz
gegen Hume betont. Hume lehrt bloss vermeinte, zufällige statt wahre,
objective Nothwendigkeit der Causalität. Jene beruht nach H. auf blosser
Association; diese Bestimmungen werden wiederholt in Uebereinstimmung
mit Prol. Vorr. S. 8 in der II. Aufl. S. 127 f. vgl. Mellin, Bd. IH, 13.
II, 447. Ueber diese subj. Nothw. aus der „Beigesellung" vgl. K. Anthr.
29 B: über das sinnl. Dichtungsvermögen der Association. Welchen Werth
K. auf diesen Unterschied legt, beweisen die Öfteren Wiederholungen in
den späteren Schriften. Krit. d. pr. Vern. Vorr. S. 24 ff. ib. S. 88 ff. 90—99,
bes. 91. 92. 98. Zum sicheren Schliessen gehört objective Nothwendigkeit
Thiere haben nur subjective, Menschen objective Nothwendigkeit —
Leibniz' sehe Bestimmungen. Genau derselbe Gegensatz ist aber nicht nur
für die theoretische Philosophie wichtig; sondern auch für die Moral
und Aesthetik. In der Krit. d. prakt. V. ist object. Nothw. die Pflicht,
das moralische Sollen, subjectiv noth wendig das blosse Handeln nach
technischen Regeln, nach Glückseligkeitsmotiven, die daher auch nicht
allgemein sind; Kr. d. pr. V. 36, 46. Kr. d. Urth. Einl; S. XII. Tugendl.
Einl. cap. XV (Fertigkeit). (Eine andere von K. selbst gelehrte subj.
Nothw. betrifft die Postulate, Annahme Gottes u. s. w. Kr. d. pr. V.
6. 226. Auch diese steht der obj. Nothw. der Pflicht gegenüber.) In der
Kr. d. Urth. § 18—22 wird derselbe Unterschied erörtert, und gezeigt, unter
welchen Umständen die subj. Nothw. des Geschmacksurtheils (des (Jefühls
und der Einbildungskraft) in eine object. Nothw. (des Verstandes)
verwandelt werden könne, nämlich durch Annahme eines ästhetischen
A priori (die Idee des Gemeinsinns). Vgl. ib. § 66 über das Teleologische
Apriori. — In allen drei Gebieten tritt Kant dem Empirismus und seiner
Lehre von der relativen, subjectiven Nothw. gegenüber: nach ihm gibt es
in allen drei eine absolute, eine obj. Nothwendigkeit, m. a. W. es gibt ein
theoretisches, ethisches, ästhetisches Apriori. Die „Rettung*'
der objectiven Nothwendigkeit ist eine der Grundtriebfedern
der K.' sehen Philosophie \ Die Nothwendigkeit lässt sich nicht psycho-
logisch erklären: „Wenn ein Urtheil sich selbst für allgemeingültig ausgibt,
und also auf Nothwendigkeit in seiner Behauptung Anspruch macht, ... so
* Vgl. hierüber die lesenswerthe Erörterung von Mahaffy, Ä commen-
tary^ Intr. I— XV (über ^subjective and objective necessity^ gegen Mi 11 und Bain
als Nachfolger Hartley's, für Kant als Nachfolger Leibniz').
Hume's ßubjective, Kants objective Nothwendigkeit. 361
[B 706. H 46. K 61.] B 20.
wäre es, wenn man einem solchen ürtheile dergleichen Anspruch zugesteht,
ungereimt, ihn dadurch zu rechtfertigen, dass man den Ursprung des Urtheils
psychologisch erklärt. Denn man würde seiner eigenen Absicht entgegen
handeln, und wenn die versuchte Erklärung vollkommen gelungen wäre, so
würde sie beweisen, dass das Urtheil auf Nothwendigkeit schlechterdings
keinen Anspruch machen kann, ebendarum weil man ihm seinen empirischen
Ursprung nachweisen kann.** Ueber Philos. überh. Ros. I, 607. Vgl. oben
S. 204. 209. 215 und bes. Riehl, Kritic. I, 296 f.
Dmss es auch keine reine Mathematik gehen kOnne. Wenn K. hier
sagt, Hume habe die Aufgabe nicht in ihrer Allgemeinheit gestellt, so
meint er hier damit nicht, dass Hume bloss den Begriff der Causalität, nicht
aber den der Substantialität u. s. w. in Betrachtung gezogen habe (Prol.
Vorr.), sondern dass Hume die Frage nicht auf die Mathematik ausgedehnt
habe \ K. fuhrt diesen ganzen Gedankengang in den Prol. § 4 (eig. § 2, c, 3)
genauer aus: Die Vernachlässigung der sonst leichten und unbedeutend
scheinenden Beobachtung habe der Philosophie einen grossen Nachtheil
zugezogen. «Hume, als er den eine^ Philosophen würdigen Beruf fühlte,
seine Blicke auf das ganze Feld der reinen [synthetischen] Erkenntniss a priori
zu werfen, in welchem sich der menschliche Verstand so grosser Besitzungen
anmasst, schnitt unbedachtsamer Weise eine ganze und zwar die erheblichste
Provinz derselben, nämlich reine Mathematik, davon ab, in der Einbildung,
ihre Natur und so zu reden, ihre Staatsverfassung, beruhe auf ganz anderen
Principien, nämlich lediglich auf dem Satze des Widerspruchs, und ob er
zwar die Eintheilung der Sätze nicht so förmlich und allgemein, oder unter
der Benennung gemacht hatte, als es von mir hier geschieht, so war es doch
gerade so viel, als ob er gesagt hätte: reine Mathematik enthält bloss
analytische Sätze, Metaphysik aber synthetische a priori. Nun
irrte er aber hierin sehr und dieser Irrthum hatte auf seinen ganzen Begriff
entscheidend nachtheilige Folgen. Denn wäre das von ihm nicht geschehen,
so hätte er seine Frage wegen des Ursprungs unserer synthetischen Ürtheile
[a priori] weit über seinen metaphysischen Begriff (!) der Causalität erweitert
und sie auch auf die Möglichkeit der' Mathematik a priori ausgedehnt, denn
■ Die beiden Arten der Verallgemeinerung sind wesentlich zu trennen,
wahrend Erdmann Prol. Vorr. XCIII beides verwechselt. Uebrigens spricht K.
von der ersteren Allg. auch oben im Text B 19. Vgl. oben S. 315 und 330.
Ranze, Ks. Kritik an Hume 26 ff. findet hierin den „Cardinalpunkt" des K.'schen
Fortschrittes. Dass K. „das ganze Feld" der reinen Vernunft untersucht, darauf
legt er im Gegensatz zu Hume's Mangel, „den er mit allen Dogmatikern gemein
hatte", allerdings grosses Gewicht. Krit. 761. 767. Kr. d. pr. V. 91. Vgl. oben
S. 148 f. Vgl. Dilthey, Schleiermacher, S. 89; „Es wird ewig zu den belehrend-
sten Beispielen genialer Methoden gehören, durch welche Mittel es K. gelang, zu
einer völlig universalen und ganz einfachen Fassung des Problems durchzu-
dringen". [?] Vgl. Capesius, Herbart 43. Vgl. oben S. 164 die Analyse der Einl.
der Prol. Vgl. oben 8. 337. — Zimmermann, Ks. math. Vor. 4. 7 ff.
362 Commentar zar Einleitung B, Abschn. VI,
B 20. [B 706. H 46. K 61.]
diese nmsste er ebensowohl synthetisch annehmen. Alsdann aber hätte
er seine metaphys. Sätze keineswegs auf blosse Erfahrung gründen können,
weil er sonst die Axiome der reinen Mathematik ebenfalls der Erfahrung
unterworfen haben würde, welches zu thun er viel zu einsehend war. Die
gute Gesellschaft, worin Metaphysik alsdann zu stehen gekommen wäre,
hätte sie wider die Gefahr einer schnöden Misshandlung gesichert; denn die
Streiche, welche der letzteren zugedacht waren, hätten die erstere auch treffen
müssen, welches aber seine Meinung nicht war, auch nicht sein konnte, und
so wäre der scharfsinnige Mann in Betrachtungen gezogen worden, die den-
jenigen hätten ähnlich werden müssen, womit wir uns jetzt beschäftigen" K
* Auch in der Krit. d. prakt. V. Vorrede lobt Kant Hume, dass er seinen
Empirismus nicht auf die Mathem. ausgedehnt habe, ebenso ib. S. 90 ff.: «Die
Mathematik war so lange gut weggekommen, weil Uume noch dafür hielt, dass
ihre Sätze alle analytisch wären, d. i. von einer Bestimmung zur anderen, um der
Identität willen, mithin nach dem Satze des Widerspruchs fortschritten (welches
aber falsch ist, indem sie vielmehr alle synthetisch sind, und, obgleich z. B. die
Geometrie es nicht mit der Existenz der Dinge, sondern nur ihrer Bestimmung
a priori in einer möglichen Anschauung zu thun hat, dennoch ebenso gut, wie
durch Causalbegriffe,/von einer Bestimmung A zu einer ganz verschiedenen B als
dennoch mit jener nothwendig verknüpft übergeht)". Wenn die Sätze der Mathem.
analytisch wären, so wären sie allerdings auch apodiktisch; „gleichwohl aber
würde daraus kein Schluss auf ein Vermögen der Vernunft, auch in der Philosophie
apodiktische ürtheile, nämlich solche, die synthetisch wären (wie der Satz der
Causalität), zu fällen, gezogen werden können". Dieser Schluss kann nur gezogen
werden, wenn die ürtheile der Mathem. auch synthetisch a priori sind. Umge-
kehrt folge, sagt K., aus einer consequenten Verallgemeinerung des empiristischen
Princips, dass auch die Mathematik bloss empirisch sei, und das führe zum allge-
meinen Skepticismus, den man dem Hume fälschlich in unbeschränkter Bedeutung
beilegte; denn er habe einen sicheren Probirstein der Erfahrung in der apriori-
schen Mathematik übrig gelassen. — Dagegen ist nur einzuwenden, dass für Hume die
Mathematik bloss relativ apriorisch war, d. h. die mathemat Grundbegriffe
stammen nach ihm, wenn sie auch theilweise verändert werden durch die Ein-
bildungskraft, doch in letzter Linie aus der Erfahrung. Vgl. Baumann, Raum.
Zeit u. Mathem. II, 481 ff. 523 ff. 569 ff., wo auch die Stelle, durch welche K. wahr-
scheinlich zu seinem Irrthum geführt worden ist (Hume, Und. Sect. IV), richtig er-
klärt ist. Ueber Hume's Ansichten über die Mathem. vgl. Paulsen, Entw. 7. 155.
164. 167. Erdmann, Kants Proleg. XCV Anm. Kannengiesser, Dogm. u. Skept.
57. Dagegen gründlich falsch bei Spicker, Kant, Hume und Berk. 110. 117; bei
H. finde sich schon der K.'8che Dualismus zwischen Apriori und Aposteriori,
Eine andere Sache ist, dass K. factisch Hume missverstanden hat, indem er aller-
dings meint, H. lehre volle Apriorität der Mathematik. Dass diese vermeintliche
Lehre Hume's einen sehr fördernden Einfluss auf K. ausgeübt habe, hat Ch. Ritter,
Kant und Hume 1878 nicht unüberzeugend nachzuweisen gesucht. (Indessen ist
hierin doch noch Leibniz's Einfluss als der stärkere anzuschlagen.) Ebenso
Kunze, Ks. Kritik an Hume 13 f. Vgl. Laas, Id. u. Pos. I, 129. Nolen, Kant
et Leibniz 180. Riehl, Krit. I, 69. 96 ff. Man vgl. bes. die treffenden Bemerkungen
Harne 's Theorie der Mathematik. 363
[R 706. H 46. K 61.] B 20.
Also, hätte Hume erkannt, dass auch die Mathematik synthetische Ur-
theile enthalte , so hätte er sie mit der Metaphysik zusammengestellt , bei
welcher er synthetische Ui-theile a priori (wenigstens der Tendenz nach) be-
merkte; und hätte er das gethan, so hätte er seine Frage, wie solche synth.
Erk. a priori möglich sei, allgemeiner gefasst. Diese allgemeinere Fassung
der Frage hätte aber auch eine ganz andere Beantwortung derselben nach
sich gezogen. Er hätte nämlich dann nicht die synthetischen Urtheile der
Metaphysik (Causalitätsgesetz, nicht Causalurtheile) als empirisch angesehen,
d. h. er hätte jene Frage nicht negativ beantwortet, weil diese Antwort
dann auch die Mathematik getroffen hätte, die aber doch anerkannter Massen
apriorisch ist und die auch Hume als solche ansah, wenn auch als ana-
lytisch. Dann hätte nämlich Hume erkannt, dass die Mathematik eine
apriorische, reine Anschauung voraussetzt und er hätte geschlossen (was
freilieb kein nothwendiger Schluss gewesen wäre!), dass es auch in Bezug
auf die Metaphysik solche apriorische Elemente gebe, und dann hätte er die
Frage ganz allgemein behandelt, wie es möglich sei, aus reiner Vernunft
über die Gegenstände zu uii;h eilen, d. b. er hätte die Untersuchungen der
Kritik begonnen. Daher sagt Fischer (III, 309) (trotz Paulsen, Entw.
174 Anm.) richtig: „Die Mathematik ist die negative Instanz,
an der Kant den Skepticismus scheitern macht.* Durch sie wird
aber auch der Dogmatismus gestürzt (ib. 304), denn die Bedingungen
der Mathematik als synthetischer Erk. a priori stimmen weder mit dem
Skept. überein, noch mit dem Dogmat. — Krit. Briefe 50: „Es wäre zu
vermuthen, dass Hume, wenn er auf diese Folgerung gedacht hätte, lieber
die Möglichkeit der reinen Mathematik, als die Richtigkeit seiner Be-
hauptung Würde aufgegeben haben.* Ebenso sagt Compayr^, Hume 148
sehr treffend ; 11 n'est pas vrai de dire que Hume eüt rSculS devant son scep-
ticisme, s^il avaü compris que ce scepticisme entrainait, comtne consSquence, la
nigation des mathitnatiques pures; und S. 151: H. hätte seinen Skept. nicht
desavouirt, sondern sich im Sinne des Mi 11 'sehen Sensualismus geäussert.
Vgl. noch Compayr^'s Vorrede zu seiner Uebersetzung von Huxley, Hume
XXX sq. Ks. Irrthum erkläre sich aus seiner Unkenntniss des Treatise.
Dasselbe bemerkt auch Gaird, Kant 215. 219, und auf die Meinung Ks.
„that Hume wotdd have hesUated to carry out his principle, if he had seen
its application to mathematics/ gibt dieser „Transscendentalist" die unbarm-
herzige Antwort: But why not? Dagegen findet sich auch häufig, nicht
bloss in Bezug auf diesen speciellen Punkt, sondern im Allgemeinen die opti-
mistischere Ansicht, Hume hätte sich von Kant überzeugen lassen, so Born,
Pbil. Mag. II, 537 hätte seinen „kranken Verstand* gerne durch K. be-
richtigen lassen. Ebenso ^From Hum^s well-knoum Uberality of sentiment and
von Compayre, Hume 139—160, der, wie Caird, Kant 215, 219, bei Hume weder
die Lehre von der analytischen noch die von der apriorischen Natur der
Mathematik findet. - Vgl. oben S. 51. 242. 328. 333. 338.
364 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. VI.
B 20. [B 706. H 46. E 61. 62.]
unbiassed investigation of truth, there can he no doubt, teere he alive, but he
would he glad to be convinced bij, and chearfully embrace the Kantean philo-
sophy nothmthstanding ihaJt by it his otcn argumenta are compleUly over-
thrown.^ Translators Preface zn j^The Prindples of crttical Phüosophy* by
S. Beck. London 1797, P. XXIir. Vgl. dag. Herbart, W. W. VI, 286
und insbes. Schulze, Aenesidem 130—180, Laas, Anal. 133. 189. 207.
Id. u. Pos. I, 16. Baumann, Philos. 347. Spicker, Kant 108 ff. Zim-
mermann, Ks. math. Vorurtheil, 28 f. 32 f. 34. 39. Vgl. oben S. 222.
In der Anflösnng obiger Aufgabe ist zugleich u. s. w. Erdmann,
Krit. 182 gibt diesem , zugleich" eine bedenkliche Auslegung. „Die Grenzbe-
stimmungen der Aesthetik und Analytik, dass die Formen der Sinnlichkeit
und des Verstandes lediglich Bedingungen mögl. Erf. sind, beweisen immer-
hin zugleich, in welchem Sinne Math, und Natur w. allein [nämlich als
rationale Wissenschaften] möglich sind." Erdmann will damit seine Auf-
fassung stützen, dass der Hauptzweck für E. die Grenzbestimmung sei,
nicht die rationalistische Begründung der reinen Vernunftwissenschaften.
Allein das „zugleich" steht ja offenbar in einem ganz anderen Zusammen-
hang: die Auflösung der all gem. Frage involvirt zugleich die Auf-
lösung der speciellen Fragen. Die Frage nach der Möglichkeit der reinen
Vernunftwissenschaften wird nicht als Nebensache, sondern als Hauptsache
hingestellt. Auch die Metaphysik fällt darunter.
Die eine theoretische Erkenntniss a priori enthalten. Auch in den
Prol. § 5 bemerkt K. , dass nur allein von der theoret. Erkenntniss hier
die Rede sei. Dass aber die obige Formel: Wie sind synth. ürth. a priori
möglich? noch allgemeiner sei und auch die moralischen und ästhe-
tischen ürtheile in sich einschliesse, bemerkt K. in der Kritik deif ürtheilskr.
§ 36, wo er jene Frage „Das allgemeine Problem der transsc. Phil.* nennt,
und dann diese ganz allgemeine Frage gliedert in die beiden Fragen:
1) Wie sind synthetische Erkenntnissurtheile a priori möglich?
2) Wie sind synthetische Geschmacks ürtheile a priori möglich?
Auch die Geschmacksurt heile sind synth., denn sie gehen über Begriff
und Anschauung eines Objects hinaus und thun das Gefühl der Lust oder
Unlust hinzu, sie sind ürt.heile a priori, weil sie den Anspruch auf Allge-
meingültigkeit und Noth wendigkeit erheben. Vgl. W. v. Humboldt, An-
sichten u. s. w. 1880, S. 22. — Auch bei den moralischen ürtheilen resp.
Imperativen begegnen wir derselben Fragestellung. Nach mancherlei Vor-
bereitungen auf S. 39 ff. erhebt Kant in der Grundl. z. Met. d. S. Ed. Kirchm.
S. 72 (R. VIII, 41. 76) die parallele Frage (vgl. schon oben S. 293):
3) Wie sind synthetische praktische Sätze a priori möglich?
(Wie ist der kategorische Imperativ möglich? ib. K. 82. 92.
R. VIII, 87. 97.)
Das kategorische Sollen stellt einen synthet. Satz a priori vor, dadurch, dass
über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee des
reinen Willens hinzukommt (ib. K. S. 43. 75. 83). Die weitere Ausführung s.
Ausdehnung der zwei Probleme auf Ethik, Acsthetik u. s. w. 365
[B 706. H 46. E 61. 62.] B 20.
Kritik d. prakt. Vera. Or. 56. 77. 79 f. 114 f. 216. Ib. 199 ff. und Met. d.
Sitt. Tugendl. Einl. IX und X. Eine weitere ähnliche Frage ist: Wie ist das
höchste Gut (Verbindung von Tugend und Glückseligkeit) praktisch möglich?
(Cfr. Relig. Vorr. X Anm.) In der Metaphysik der Sitten, Rechtsl. § 6 findet
sich endlich die Frage: 4) Wie ist ein synthetischer Bechtssatz a priori
möglich? Und diese Frage hat weiter ausgedehnt auch auf das Staatsrecht
Tieftrunk, Recht und Staat. Zerbst 1796. Vgl. Jakob, Annalen III, 73 f.'
Jedesmal werden den synthetischen Sätzen a priori, den ästhetischen,
moralischen und juridischen, analytische gegenübergestellt, die nicht wie
jene einer (transscendentalen) Deduction bedürftig sind. Endlich wird 5) die-
selbe Frage auch in der Beligions lehre gestellt; s. Bei. innerh. d. Gr. d.
r. V. Vorr. X Anm., wo der Satz: „es ist ein Gott" als synthetischer Satz
a priori eingeführt und gefragt wird:
Wie ist ein solcher Satz a priori möglich?
Derselbe geht über den in der Moral enthaltenen Pflichtbegriff hinaus und
kann also aus der Moral nicht analytisch entwickelt werden. Der Satz
erweitert sich über das moralische Gesetz u. s. w. Man bemerke, dass
der Begriff des synth. Urtheils hier modificirt ist. Vgl. Behberg, Berl.
Mon. 23, 110 f. — Vgl. Braune, der einheitl. Grundgedanke der 3 Kritiken
Kants 19 ff. 37 ff. Desduits, La philosopkie de K, d'aprh les trois cri-
tiques. Paris 1876. Man vgl. bes. Vorrede u. Einl. zur Kritik der Urth.,
der letzten der drei Kritiken, und den Aufsatz „üeber Philos. überh." (R. I,
579 ff.), sowie die Darstellung bei Windelband, Gesch. II, 53 f. 164,
Uebrigens ist in den anderen „Kritiken' offenbar auch der Unterschied
synthetischer Grundsätze a priori (transscendentaler Sätze) und synthetischer
Urtheile a posteriori mit apriorischem Zusatz zu machen. In der Kr. d.
praktischen Vera, überwiegt die Frage nach der Möglichkeit synthetischer
Grundsätze a priori (vgl. Kr. d, pr. V. 79 f. 160 f. Deduction des Ge-
setzes) über die Frage: wie ist das sittliche Erfahrungsurtheil möglich, das
auf Nothw. u. AUg. Anspruch erhebt? Es ist dies die sittliche Beurthei-
Inng im Einzelnen (Kr. d. pr. V. 105 ff. Kr. d. r. V. 454 ff.). Umgekehrt
ist es der Natur der Sache nach in der Kritik der Urtheil^kraft ; hier über-
wiegt sowohl das ästhetische als teleologische Detailurtheil über das syn-
thetische Gesetz; an Stelle des letzteren treten die in § 5. 6. 9. 17. 22. 25
^ Ebenso F. C. Weise in seiner Grundwissenschaft des Rechts. Tüb. 1797.
Er stellt sich die Aufgabe : wie ist ein Erkenntniss des Rechts aus reiner Vernunft
möglich? wie ist ein synthetischer Rechtssatz a priori möglich? Die transscen-
dentale Rechtslehre bestimmt Ursprung, Umfang und objective Gültigkeit des
reinen Erkenntnisses vom Rechte, wodurch dasselbe als Gegenstand völlig a priori
gedacht wird. Wie derselbe auch die Theorie des Schematismus in der Rechts-
lehrc anwendet, s. unten zu A 137 ff. Vgl. Jakob, Ann. III, 339 und 529. „Ein
Grundsatz des Rechts soll mir ein Merkmal des Rechts angeben, das in dem
blossen Begriffe desselben nicht enthalten ist.'* — Ueber die Logik unten 376.
366 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 20. [B 706. H 46. E 61. 62.]
gegebenen Definitionen; nur in § 87 ist von einem Grundsatz die Rede.
Sonst aber bandelt es sich immer um die einzelnen Geschmacks- und Zweck*
mässigkeitsurtheile, welche aber doch auf Nothw. u. Allg. Anspruch machen.
Diese entsteht durch den Zusatz eines apriorischen Begriffs und daher wird
hier nach der Deduction dieser Begriffe gefragt. Einl. A XXV. XXIX.
XXXn. Dies ist identisch mit der Deduction der Geschmacksurtheile § 31,
bei denen es sich auch um Beurtheilung des Empirischen handelt § 31,
vgl. § 67. Dass Kant in der oben angeführten Stelle § 36 die Frage nach
diesen, welche dem oben S. 349 charakterisirten dritten Fall entsprechen,
jedenfalls aber zu den synth. ürtheilen a posteriori mit apriorischem Zusatz
gehören, mit dem Problem der synthetischen Sätze a priori verwechselt, ist
nur ein weiterer Beweis der Unklarheit Kants hierin. Dieselbe Verwechs-
lung bei Windelband, Gesch. II, 54. 164 vgl. mit 109. 110. 133, und
bes. in Bezug auf die moralischen Urtheile bei Strümpell, Logik 121 ff.
Es ist eine sehr richtige Bemerkung von Harms (vgl. oben 334 Volkelt),
Phil. s. Kant 140 f., dass K. vor der speciellen Lösung seiner Frage auf
allen einzelnen Gebieten die allgemeinen Bedingungen und Voraussetzungen
seiner Lösung hätte abhandeln sollen. Er hätte hier insbesondere seinen
idealen Begriff der wahren Erkenntniss besprechen müssen. Vgl des-
selben ijüeber den Begriff der Wahrheit". Abh. der Berl. Acad. 1876,
S. 187 ff. Vgl. unten den Excurs, C 16.
Reine Mathematik nud reine NatnrwisBensohaft. Wie Kant ausdrücklich
bemerkt, ist die Auflösung der Frage für die Mathem. und reine Naturw. nicht
so noth wendig, als für Metaph. Vgl. Prol. § 40: „Reine Mathematik und
reine Naturwissenschaft hätten zum Behuf ihrer eigenen Sicherheit
und Gewissheit keiner dergleichen Deduction bedurft, als wir bisher von
beiden zu Stande gebracht haben; denn die erstere stützt sich auf ihre
eigene Evidenz * ; die zweite aber, obgleich aus reinen Quellen des Verstandes
entsprungen, dennoch auf Erfahrung und deren durchgängige Bestätigung,
welcher letzteren Zeugniss sie darum nicht gänzlich ausschlagen und ent-
behren kann, weil sie mit aller ihrer Gewissheit dennoch, als Philosophie es der
Mathematik niemals gleich thun kann. Beide Wissenschaften hatten also die
gedachte Untersuchung nicht für sich, sondern für eine andere Wissenschaft,
nämlich Metaphysik, nöthig." Ib. § 44: „Vernunft verrichtet ihr Geschäft
sowohl in der Math, als Naturw. auch ohne alle diese subtile Deduction
ganz sicher und gut.* Ganz ebenso Fortschr. R. I, 563. 567. — Die Zu-
sammenstellung der Mathematik uud Naturwissenschaft als fester
^ Vgl. oben 210. 260. Proleg. § 6 nennt K. die Mathem. eine „grosse und
bewährte Erkenntniss"; sie ist ein „Koloss", vgl. oben S. 308. Durch die obigen
Bemerkungen Ks. darf man sich nicht über das „selbständige Interesse" täuschen
lassen^ das K. der Stabillsirung der Mathem. und reinen Naturwissenschaft gegen-
über skeptischen Anzweifelungen und dem Beweis ihrer Gültigkeit gegenüber
einfacher dogmatischer Behauptung widmet; vgl. unten den Excurs S. 395 ff.
Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphysik. 367
[B 706. 707. H 46. K 62.] B 20. 21.
Pfeiler gegenüber dem Skepticismus stammt höchst wahrscheinlich aus
Beatties' oben S. 347 erwähntem „Versuch über die Wahrheit*, wo den-
selben der Abschnitt S. 124 — 170 gewidmet ist. Dadurch erklärt sich viel-
leicht auch die Verwirrung im Begriffe der reinen Naturwissenschaft * bei Kant.
Ton diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind u. s. w. Diese
Wendung ist noch keine Folge der analytischen Behandlung. Erst in den Prol.
wird auf das gemeinschaftliche Problem die analytische Methode angewandt,
wo beständig darauf hingewiesen wird, dass es sich darum handle, nach
analytischer Erklärung der gegebenen synth. Erkenntnisse a priori, auch
die Möglichkeit der übrigen abzuleiten und so nach Entdeckung jenes
Princips den Umfang derjenigen Erkenntnisse darzustellen , die aus der näm-
lichen Quelle d. r. Vern. entspringen, üeber dieses analytische Verfahren sagt
Kant, Prol. §5: Die allgem. Betrachtungen , werden im analyt. Verf. nicht
allein auf Facta angewandt, sondern gehen sogar von ihnen aus, anstatt
dass sie im synthet. Verf. gänzlich in abstracto aus Begriffen abgeleitet
werden müssen^. So fragt K. bei der Mathematik, Prol. § 6: „Setzt dieses
Vermögen, da es sich nicht auf Erfahrung fusst, noch fussen kann, nicht
irgend einen Erkenntnissgrund a priori voraus, der tief verborgen liegt, der
sich aber durch diese seine Wirkungen offenbaren dürfte, wenn man den
ersten Anfängen derselben nur fleissig nachspürte?* — Ueber die sich hieran
anschliessende methodologische Controverse s. den Anhang zu VI, B, Nr. 7 ff.
Bisheriger schlechter Fortgang der Metaphysik. Eine Ausführung dieses
Gedankens s. in der Vorrede II und bes. in Prol. § 4: „Wäre Metaphysik,
die sich als Wissenschaft behaupten könnte, wirklich, könnte man sagen:
hier ist Metaphysik, die dürft ihr nur lernen, und sie wird euch unwider-
stehlich und unveränderlich von ihrer Wahrheit überzeugen; so wäre diese
Frage unnöthig, und es bliebe nur diejenige übrig, die mehr eine Prüfung
unserer Scharfsinnigkeit, als den Beweis von der Existenz der Sache selbst
beträfe, nämlich: wie sie möglich sei, und wie Vernunft es anfange, dazu
zu gelangen? Nun ist es der menschlichen Vernunft in diesem Falle so
gut nicht geworden. Man kann kein einziges Buch aufzeigen, so wie man
etwa einen Euklid vorzeigt, und sagen: das ist Metaphysik, hier findet ihr
den vornehmsten Zweck dieser Wissenschaft, das Erkenntniss eines höchsten
Wesens und einer künftigen Welt, bewiesen aus Principien der reinen Ver-
nunft. Denn man kann uns zwar viele Sätze aufzeigen, die apodiktisch
gewiss sind und niemals bestritten worden ; aber diese sind insgesammt ana-
* Was K. in der Anmerkung zu dieser Stelle über die „reine Naturwissen-
schaft" sagt, wurde schon oben S. 306 besprochen. Man könnte versucht sein,
die Frage nach der „reinen Naturwissenscliaft" im relativen Sinn, in dem sie aucli
in der Anmerkung Ks. zu dieser Stelle gemeint ist, dadurch gerechtfertigt zu
finden, dass ja die Möglichkeit derselben auf der factisch in der Kritik behandelten
»reinen Naturwissenschaft" im absoluten Sinn beruht. Das würde aber die Ver-
wirrung nur steigern.
368 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 21. [B 707. H 46. E 62.]
lytisch und betreffen mehr die Materialien und den Bauzeug zur Metaphysik,
als die Erweiterung der Erkenntniss, die doch unsere eigentliche Absicht mit
ihr sein soll. Ob ihr aber gleich auch synthetische Sätze (a. B. den Satz'
des zureichenden Grundes) vorzeigt, die ihr niemals aus blosser Vernuiift,
mithin, wie doch eure Pflicht war, a priori bewiesen habt, die man euch
aber doch gerne einräumt; so gerathet ihr doch, wenn ihr euch derselben
zu eurem Hauptzwecke bedienen wollt, in unstatthafte und unsichere Be-
hauptungen." Vgl. oben S. 90—92. 231. 249. 308.
Metaphysik bisher nicht wirklich Torhanden. Proleg. § 4: „Ueberdriissig des
Dogmatismus, der uns nichts lehrt, und zugleich des Skepticismus, der uns gar
überall nichts verspricht, auch nicht einmal den Buhestand einer erlaubten
Unwissenheit, aufgefordert durch die Wichtigkeit der Erkenntniss, deren wir
bedürfen, und misstrauisch durch lange Erfahrung in Ansehung jeder, die
wir zu besitzen glauben, oder die sich uns unter dem Titel der reinen Ver-
nunft anbietet, bleibt uns nur noch eine kritische Frage übrig, nach deren
Beantwortung wir unser künftiges Betragen einrichten können: Ist überall
Metaphysik möglich? Aber diese Frage muss nicht durch skeptische
Einwürfe gegen gewisse Behauptungen einer wirklichen Metaphysik
(denn wir lassen jetzt noch keine gelten), sondern aus dem nur noch
problematischen Begriffe einer solchen Wissenschaft beantwortet werden.
In der Kritik der reinen Vernunft bin ich in Absicht auf diese Frage
synthetisch zu Werke gegangen, nämlich so, dass ich in der reinen Vernunft
selbst forschte und in dieser Quelle selbst die Elemente sowohl, als auch die
Gesetze ihres reinen Gebrauchs nach Principien zu bestimmen suchte. Diese
Arbeit ist schwer und erfordert einen entschlossenen Leser, sich nach und
nach in ein System hineinzudenken, was noch nichts als gegeben zum Grunde
legt, ausser die Vernunft selbst, und also, ohne sich irgend auf ein Factum
zu stützen, die Erkenntniss aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln
sucht." Scharfsinnige Bemerkungen zu der Frage: Wie ist Met. möglich?
siehe beiMaimon, Transsc. 335—338; auch dass die 4 Fragen trotz ihrer
äusseren Aehnlichkeit doch nicht denselben Sinn haben, zeigt Maimon,
Logik 412 ff.— Kants Ansichten über die Möglichkeit und Wissenschaftlichkeit
der Metaphysik waren einem bemerkenswerthen Wechsel unterworfen. Schon
in seiner Erstlingsschrift hatte er dieselbe sehr stark angezweifelt, also am
Ende der Vierziger Jahre. In den Fünfziger Jahren dagegen, in seinen offi-
ciellen Schulschriften, besonders in der Nova dilucidatio und in dem Aufsatz
über den Optimismus, treibt er selbst Metaphysik. In den Sechziger Jahren
kommt er davon zurück und sucht eine neue Methode der Metaphysik, kommt
jedoch hiebei bis dicht an die Grenze des Skepticismus und zur Erkenntniss :
Es gibt keine Metaphysik. (Vgl. Paulsen, Entw. 88 f. 90 f. 93.) 1770
dagegen gibt es auf einmal wieder Metaphysik in des Wortes verwegenster
Bedeutung (ib. 1 16). Erst im Laufe der Siebziger Jahre kommt K. zu jener
fundamentalen Unterscheidung immanenter und transscendenter Metaphysik
und behauptet ebenso fest die Möglichkeit der Ersteren, als die Unmöglichkeit
Metaphysik als „Katuranlage^. 369
[B 707. H 46. 47. E 62.] B 2L
der Letzteren. Im Jahre 1766 in den , Träumen eines Geistersehers", wo
Kants Empirismus schon zum Kriticismus geworden, um bald darauf in sein
Gegentheil umzuschlagen, hatte 'er eine andere Eintheilung. Da hat die
Metaphysik zweierlei Vortheile. Erstens „den Aufgaben ein Genüge zu
thun, die das forschende Gemüth aufwirft, wenn es verborgenen Eigen-
schaften der Dinge durch Vernunft nachspäht. Aber hier täuscht der Aus-
gang nur gar zu oft die Hoffnung." Der andere Vortheil ist, „einzusehen,
ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei
und welches Verhältniss die Frage zu den ErfahrungsbegriflPen habe, darauf
sich alle unsere Urtheile jederzeit stützen müssen. Insofern ist die Meta-
physik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen
Vernunft — dies ist der wichtigste Nutzen." Diese Theilung in Meta-
physik und Erkenntnisstheorie steht zwischen den beiden Perioden
mitten inne, der der fünfziger Jahre und der des Jahres 1770, wo K. beide-
mal jene Metaphysik noch als möglich und erreichbar annahm und ist ein
Vorspiel zu der Theilung in der Kritik, nur dass hier, wenn auch die trans-
scendente Metaphysik, wie dort fällt, doch noch eine immanente Metaphysik
bleibt, an welche K. 1766 noch nicht dachte. Vgl. oben 8. 48. 59. 157.
Metaphysik als Hatnranlage. Ueber diese Frage der Möglichkeit der
Metaphysik als Natur anl. vgl. Prol. § 5: „um aber von diesen wirklichen
und zugleich gegründeten reinen Erkenntnissen a priori zu einer möglichen,
die wir suchen, nämlich einer Metaphysik als Wissenschaft, aufzusteigen,
haben wir nöthig, das, was sie veranlasst, und als bloss natürlich gegebene,
obgleich wegen ihrer Wahrheit nicht unverdächtige Erkenntniss a priori
jener zum Grunde liegt, deren Bearbeitung ohne alle kritische Untersuchung
ihrer Möglichkeit gewöhnlichermassen schon Metaphysik genannt wird, mit
einem Worte die Naturanlage * zu einer solchen Wissenschaft unter
unserer Hauptfrage mit zu begreifen, und so wird die transscendentale
Hauptfrage, in vier andere Fragen zertheilt, nach und nach beantwortet
werden." Vgl. noch bes. Proleg. § 40, § 57 u. § 60 (vgl. unt. 373). Der Aus-
druck erinnert an die vor Kant hin und wieder behauptete logica innata.
Kant denkt sich jedoch mehr dabei als ein blosses Vermögen; nämlich
schon bestimmte, wenigstens vermeintliche Erkenntnisse. „Metaphysik als
Naturanlage" heisst es hier, während nachher von „Natur anläge zur Meta-
physik" gesprochen wird. Die Krit. Briefe 34 finden hier „ Begriffsverwir-
rung". Es liegt darin allerdings eine üngenauigkeit , da eben das Erstere
mehr als das blosse Vermögen ausdrückt. — „Man kann von einer ,Natur-
anl. z. Met.* reden, wenn man auch in dieser Anlage nur eine Neigung
zur Selbsttäuschung, statt mit Kant ein Mittel zur Befriedigung moralischer
Bedür&isse entdecken kann. Dem maasslosen und verkehrten menschlichen
' Offenbar entspringt diesC selbst aus der „jedem Menschen beraerklichen
Anlage seiner Natur, durch das Zeitliche (als zu den Anlagen seiner ganzen
Bestimmung unzulänglich) nie zufrieden gestellt werden zu können". Vorr. B XXXIII.
Vftihinger, Eant-Commentar. 24
370 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 21. 22. [B 707. H 47. E 62.]
Wollen dient die Willkür des Denkens; der unendlichen Zusammensetzung
der Wünsche entspricht die unbeschränkte Zusammensetzungsföhigkeit der
Begriffe," sagt Riehl, Kritic. I, 330.
Die menschliche Yernunft greht nnanfhaltsam u. s. w. Dies nennt Schopen-
hauer das ^^metaphysische Bedürfniss*'. Der Mensch ist ,,ein animal meta-
physieum und unterscheidet sich dadurch vom Thier". Dieses met. Bedürfniss
ist ebenso un vertilgbar , wie irgend ein physisches. Welt a. W. u. V. II,
175-177. 189 f. Par. u. Par. I, 160. Vierf. Wurzel 122. Vgl. Caird,
Kant 218 über den „^eculative instincf^.
Durch elgrenes Bedürfniss getrieben. Ueber das Bedürfniss der reinen
Vernunft s. näheres in der Dialektik (häufig z. B. S. 450) u. Krit. d. prakt.
Vern. 255. „Das Bedürfniss der r. V. in ihrem speculativen Gebrauch
führt auf Hypothesen." Diese Bedürfnisse der r. V. hängen mit „noth-
wendigen Problemen" z. B. dem eines schlechthin noth wendigen Wesens
zusammen. Das Bedürfniss der prakt. Vern. führt nicht auf Hypo-
thesen, sondern auf Postulate, d. h. schlechterdings noth wendige An-
nahmen. Es sind dies die objectiven Vernunft bedürfnisse, bes.
Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, welche Gegenstände K. hier auch be-
handelt, aber vom theoretischen, nicht vom praktischen Gesichtspunkt
Ob aus; K. scheidet das berechtigte Bedürfniss und die Grenze seiner Con-
sequenzen von unberechtigter Ausdehnung desselben. Vgl. , Theorie und
Praxis" I, A Anm. Weiteres s. besonders in dem Aufsatz: „Was heisst sich
im Denken orientiren?" am Anfang, wo das Recht, aus Bedürfniss An-
nahmen zu machen, erörtert wird. Wie aus dem Bedürfniss der Ver-
nunft, der reinen, empirischen und praktischen, eine dreifache Theologie
entspringe, darüber vgl. Metaph. 81. 268 ff. lieber diese Naturanlage zur
Met. vgl. Villers, Phil. I.Band, Erster Abschnitt: „IdSe de la phüosophie,
comtne disposition naturelle et h esoin de Vhomme,^ Diese Naturanlage
berührt auch Aristoteles mit den Eingangsworten seiner Metaphysik.
Vgl. hiezu auch Bahr, Schopenh. 6 ff. Vgl. oben 83 (235).
Irgend eine MetaphysUt ist zn aller Zeit gewesen, 843: ,,Die menschl.
Vernunft hat, seitdem dass sie gedacht oder vielmehr nachgedacht hat, nie-
mals einer Metaphysik entbehren, aber gleichwohl sie nicht genugsam ge-
läutert von allem Fremdartigen darstellen können. Die Idee einer solchen
Wissenschaft ist eben so alt, als speculative Menschen Vernunft , und welche
Vernunft speculirt nicht, es mag nun auf scholastische oder populäre Art
sein?" Fortschr. R. I, 488. „Alle Menschen nehmen mehr oder weniger an
der Metaph. Theil." ,Alle Welt hat irgend eine Metaphysik zum Zwecke
der Vernunft." Ib. R. I, 574. Daher wird auch Met. immer bleiben (da sie
auch älter ist, als alle übrigen Wissenschaften), „wenn gleich die üebrigen
insgesammt in dem Schlund einer Alles vei-tilgenden Barbarei gänzlich ver-
schlungen werden sollten." Vorr. B. XIV. Genau ebenso Vorr. B. XXX 11.
Vgl. die oben S. 100 mitgetheilten Stellen. Vgl. auch S. 90.
Ans der Natnr der allgemeinen Mensohenyernnnft« Fischer, Gesoh.
Vertheilung der vier Fragen auf die Theile der Kritik. 371
[R 707. 708. H 47. K 62. 68.] B 22.
III, 302: „Es werden auch hier in der menschl. Vernunft gewisse Bedingungen
vorhanden sein müssen, aus denen allein sich das Factum einer solchen
Trugwissenschaft erklärt/ Vgl. ib. 298 ff. (435) die Erörterung über die
Aufsuchung der Bedingungen zu einer Thatsache überhaupt und 303 ff. über
die Bedingungen der mathemat. und physikalischen (im Sinne Kants) Er-
kenntniss, welche zugleich die Möglichkeit metaph. Erkenntniss ausschliessen,
so dass uns die Wahl zwischen Mathematik und (transsc.) Metaphysik bleibe:
entweder fällt jene oder diese. Nun stehe aber jene sicher, also müsse diese
fallen. So scheitert an der Mathematik der Dogmatismus, an ihr
scheitert aber auch der Skepticismus (ib. 309) vgl. oben 51.
Katiirlictae Fragen. Vgl. o. 82 die Stellen zu Vorr. Alu. Vorr. B XXXII.
Diesen Ausdruck hat in neuerer Zeit Düh ring adoptirt und dadurch wieder
verbreitet insbesondere in seiner „Natürlichen Dialektik". Berlin 1865.
Entweder im Wissen oder Niebtwissen. Prol. Vorr. 4. „Man mag also
entweder sein Wissen oder Nichtwissen demonstriren, so muss doch einmal
über die Natur dieser angemaassten Wissenschaft etwas Sicheres ausgemacht
werden^ Vgl. Metaph. S. 20. Vgl. oben 339, unten 374.
Diese letzte Frage. J. Erdmann, Entw. III, 51 ff. meint, der vierten
Frage entspreche die Methodenlehre. Und in den Proleg. entspreche ihr
der Abschnitt, welcher (Prol. Or. 188 ff.) die Auflösung der „allgemeinen
Frage" enthalte. Erdm. hat diese Auslegung nicht näher begründet, und
im Grundriss § 298, 2, wie es scheint, zurückgenommen. Mussmann, Imm.
Kant 30 ff., ist der Ansicht, dass die 3. und 4. Frage in der Dialektik be-
antwortet seien und fügt hinzu, jene beiden Hauptfragen seien in diesem
Theile nur indirect beantwortet. Auch habe K. durch seine Kritik der
Ideen ihren Grund als Naturanlage sehr erschüttert und also auch in dieser
Beziehung der Frage nicht Genüge gethan. Man sieht hieraus, dass diese
den Proleg. entnommene Fragestellung nicht eigentlich auf die Kritik zuge-
schnitten ist. Die erste Frage entspricht allerdings der Aesthetik; die
zweite Frage, wenn sie nach den obigen Ausführungen rectificirt und nicht
von den specifisch naturwissenschaftlichen, sondern von den allgemeinen
Naturprincipien verstanden wird, entspricht der Analytik. Hier ist die Be-
ziehung eine zweifellose und nothwendige. B. Erdmann, Krit. 182 meint:
Aesth. und Analytik „lassen sich in einer Hinsicht auch als Begründungen
der Möglichkeit der Mathem. und Naturw. auffassen". Nein, sie müssen
80 aufgefasst werden, allerdings neben der Grenzbestimmung. Die Beziehung
auf jenen Hauptpunkt ist keineswegs „gelegentlich" in der I. Aufl. (A. 24.
39. 46), worüber später, und bei der Analytik ist das vollends klar, dass
die Ableitung der Naturgesetze mindestens so wichtig ist als die Grenzbe-
stimmung. Dagegen macht die dritte und vierte Frage in jeder Hinsicht
Schwierigkeiten. Erstens ist schon die Fragestellung formell bedenklich.
Die beiden ersten Fragen beziehen sich auf wirkliche Wissenschaften und
der Sinn der Frage ist: Wie ist es zu erklären, dass wir, wie es factisch
geschieht, in Mathem. und Naturwissenschaft gültige synth. ürth. a priori
372 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 22. [B 708. H 47. E 63.]
fallen? Demgemäss hat auch die allgemeine Frage: wie sind synth. ürth.
a priori möglich? einen entsprechenden Sinn. Der Sinn der dritten Frage
ist dagegen ein ganz anderer. Hier ist der Sinn: Wie war die bisherige
angebliche metaphysische Wissenschaft möglich? Die Frage nach der
Möglichkeit hat hier also eine andere Bedeutung. Dort wurde nach der
objectiven Möglichkeit eines wirklich Gültigen gefragt; hier nach der sub-
jectiven Möglichkeit eines angeblich Gültigen, factisch aber Irrthümlichen.
Somit föUt diese Frage eigentlich gar nicht unter die allgemeine Frage.
Die vierte Frage: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? soll heissen,
wie ist eine künftige Metaphysik als wirkliche Wissenschaft möglich ? Aber
eigentlich lautet diese Frage nicht, wie, sondern ob eine Metaphysik als
Wissenschaft möglich sei? So wird die Frage nach Prol. § 4 gestellt. Somit
hat bei dieser Frage die sog. allgemeine transscendentale Frage wieder einen
anderen Sinn, was eine logisch sehr bedenkliche Ungenauigkeit ist *. Die vier
Fragen sind somit folgendermaassen anzufassen:
I. Wie ist die wirkliche synth. Erk. a priori möglich?
1) wie ist sie in reiner Mathem. möglich?
2) wie ist sie in reiner Naturw. möglich?
n. 3) Wie war die bisherige angebliche metaphysische synth.
Erk. a priori möglich? (als Naturanlage),
in. 4) Wie wird die künftige wahre metaphys. synth. Erk. a
priori möglich sein *? (Vgl. oben S. 81.)
J. Erdmann, Entw. III, 1, 52 ff. bemerkt richtig, dass die Eintheilung
der Prolegomena der Fragestellung genauer entspreche. Allein das kommt
nur daher, dass die specialisirte Fragestellung überhaupt erst nachträglich
aus den Proleg. herübergenommen wurde. In ihnen entsprachen die ein-
zelnen Theile allerdings der nach analytischer Methode geführten Unter-
suchung. Aber die Eintheilung in der Kritik beruht auf der synthetischen
Anlage. Dort konnten daher auch die einzelnen Theile coordinirt sein
und nacheinander jene Fragen beantworten. In der Kritik ist die Eintheilung
dagegen in ihrer Art feiner und ruht auf der Berücksichtigung der or-
ganischen Gliederung der Aufgabe und des Gegenstandes. In der Kritik ist
die Eintheilung dichotomisch; statt der in den Prol. befolgten und aucli
in der Einl. B angelegten Coordination haben wir in ihr Subordination:
I. Transsc. Elementarlehre.
A) Transsc. Aesthetik.
B) Transsc. Logik.
a) Transsc. Analytik.
b) Transsc. Dialektik.
II. Transsc. Methodenlehre.
* Diese Inconeequenz fand ihren Tadler schon in Sigwart, Gesch. d. Phil.
III, 40, und oben 368 in Maimon; vgl. oben S. 316 ff. und den Ezcnrs, A 5.
' Vgl. Reinhold, Missverständn. 11,73—158: „Darstellung der Fundamente
Unklarheit der Fragen nach der Möglichkeit der Metaphysik. 378
[B 708. H 47. E 68.] B 22.
Nach den vier Fragen dagegen gliedert sich die Eintheilung so:
I. Transsc. Aesthetik (Möglichkeit der reinen Mathematik).
n. Transsc. Analytik (Möglichkeit der reinen Naturwissenschaft).
III. Transsc. Dialektik (Möglichkeit der Metaphysik überhaupt).
lY. Transsc. Methodenlehre (Möglichkeit der Metaphysik alst
Wissenschaft).
Ob aber die Identificirung der -Methodenlehre mit der Beantwortung der
4. Frage richtig sei, unterliegt sehr dem Zweifel trotz J. Erdmanns Vorgang.
Denn grosse Schwierigkeiten und Bedenken ergeben sich bei dem Versuch
der Vertheilung der 3. und 4. Frage auf die einzelnen Theile der Kritik.
Zwar die dritte Frage scheint ohne Weiteres der Dialektik zu entsprechen,
wie das auch in den Proleg. § 40 gesagt wird. Vgl. dazu Prol. 40. Anm.
,Die uns jetzt vorgelegte dritte Frage betrifft also gleichsam den Kern und
das Eigenthümliche der Metaphysik, nämlich die Beschäftigung der Vernunft
bloss mit sich selbst und, indem sie über ihre eigenen Begriffe brütet, die
unmittelbar daraus vermeintlich entspringende Bekanntschaft mit Objecten,
ohne dazu der Vermittelung der Erfahining nöthig zu haben, noch überhaupt
durch dieselbe dazu gelangen zu können.* — „Wenn man sagen kann, dass eine
Wissenschaft wenigstens in der Idee aller Menschen wirklich sei, sobald
es ausgemacht ist, dass die Aufgaben, die darauf fuhren, durch die Natur
der menschlichen Vernunft Jedermann vorgelegt und daher auch jederzeit
darüber viele, obgleich fehlerhafte Versuche unvermeidlich sind, so wird
man auch sagen müssen: Metaphysik sei subjective (und zwar noth wendiger
Weise) wirklich, und da fragen wir also mit Recht, wie sie (objective)
möglich sei?* Ib. § 57 sagt er, dass die Dialektik der r. V. ihren guten sub-
jectiven Gfrund habe, und dann heisst es weiter: „Allein Metaphysik führt uns
in den dialektischen Versuchen der reinen Vernunft (die nicht willkürlich oder
muthwilliger Weise angefangen werden, sondern dazu die Natur der Vernunft
selbst treibt) auf Grenzen, und die transscendentalen Ideen, eben dadurch,
dass man ihrer nicht Umgang haben kann, dass sie sich gleichwohl niemals
wollen realisiren lassen, dienen dazu, nicht allein uns wirklich die Grenzen
des reinen Vernunftgebrauches zu zeigen, sondern auch die Art, solche zu
bestimmen; und das ist auch der Zweck und Nutzen dieser Naturanlage
unserer Vernunft, welche Metaphysik, als ihr Lieblingskind, ausgeboren hat,
dessen Erzeugung, so wie jede andere in der Welt, nicht dem ungefähren
Zufalle, sondern einem ursprünglichen Keime zuzuschreiben ist, welcher zu
grossen Zwecken weislich organisirt ist. Denn Metaphysik ist vielleicht mehr,
wie irgend eine andere Wissenschaft, durch die Natur selbst ihren Grund-
zügen nach in uns gelegt und kann gar nicht als das Product einer be-
liebigen Wahl, oder als zufällige Erweiterung beim Fortgange der Erfahrungen
(von denen sie sich gänzlich abtrennt) angesehen werden." Dann § 60:
der künftigen und der bisherigen Metaphysik." Ueber die Vertheilung der
Fragen auf die Theile der Kritik vgl. auch Cantoni, Kant 180.
374 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 22. [R 708. H 47. E 63.]
„So haben wir Metaphysik, wie sie wirklich in der Naturanlage der
menschlichen Vernunft gegeben ist, und zwar in demjenigen, was den
wesentlichen Zweck ihrer Bearbeitung ausmacht, nach ihrer subjectiven
Möglichkeit ausführlich dargestellt. Da wir indessen doch fanden, dass dieser
bloss natürliche Gebrauch einer solchen Anlage unserer Vernunft., wenn
keine Disciplin derselben, welche nur durch wissenschaffcliche Kritik möglich
ist, sie zügelt und in Schranken setzt, sie in übersteigende, theils bloss
scheinbare, theils unter sich sogar strittige, dialektische Schlüsse ver-
wickelt** u. s. w. und am Schlüsse der Darstellung der Dialektik in den
Prol. § 60 fin, heisst es: „Und so endige ich die analytische Auflösung der
von mir selbst aufgestellten Hauptfrage: wie ist Metaphysik überhaupt
möglich? indem ich von demjenigen, wo ihr Gebrauch wirklich, wenigstens
in den Polgen gegeben ist, zu den Gründen ihrer Möglichkeit hinaufstieg.*
Dem Wortlaut der Kritik nach könnte man freilich denken, die Antwort
auf die Frage nach der Mögl. d. Met. als Naturanlage sei durch die Ein-
leitung zur Dialektik gegeben; denn dort wird gezeigt, wie die Fragen
der r. V. entspringen, wie dies auch B. Erdmann, Krit. 183 so auflFasst.
Darnach würde die Ideenlehre der dritten Frage, die eigentliche Dialektik
der vierten Frage correspondiren. In dieser Auffassung wird man bestätigt,
wenn man im Text weiter liest, durch den Versuch diese Fragen zu beant-
worten, entstehen Widersprüche u. s. w. und man müsse das Wissen oder
Nichtwissen hierin endlich zur Entscheidung bringen. Das sei Gegenstand
der vierten Frage. Dann würde die eigentliche Dialektik diese vierte
Frage entscheiden und zwar negativ. Denn die reine Vernunft kann ja
ihre Erkenntniss nicht über Erfahrung hinaus erweitern. * Allein
dieser Auffassung steht die Fragestellung entgegen: Wie Met. als Wissen-
schaft möglich sei? Dann müsste nicht nach der Wie- Möglichkeit, sondern
nach der Ob-Möglichkeit gefragt sein. Und dann heisst es ja weiter,
dass K. wirklich eine wissenschaftl. Metaphysik gründen wolle, eine Metaphysik,
die erst auf die Kritik der r. V. folgen soll. Somit ist hier kein rechter
Zusammenhang, keine Harmonie, kein festes Band noch Ziel.
Durch die Prolegomena wird die Verwirrung nur noch grösser. Denn
die dritte Frage betrifft dort die ganze Dialektik, und für die vierte bleibt
der ganze Spielraum oifen. Auch geht aus § 4 u. 5 hervor, dass K. meint, wirk-
lich nach Zurückweisung der falschen Metaphysik eine neue zu gründen.
Welche ist aber diese? Ein Licht auf dieses Chaos fUUt durch die Beobach-
tung, dass K. in der Einl. der Prol., aus der die ganze Fragestellung stammt,
unter Metaphysik auch die immanente mitversteht, und unter Naturwissen-
schaft nur die specielle und relative. Dann waren Ks. Gedanken bei der
* Einen positiv wissenschaftlichen Gehalt hat die Dialektik nicht oder
höchstens nur einen^ wie Erdmann Krit. 183 bemerkt, „dürftigen". In diesem Sinn
ist jenes bekannte Wort Hegels zu verstehen, ^durch Kant sei der merkwürdige
Fall eingetreten, dass ein gebildetes Volk eine Zeit lang ohne alle Metaphysik war."
Möglichkeit der immanenten „Metaphysik^. 875
[R 708. H 47. K 63.] B 22.
ersten Niederschrift in den Proleg. : Mathematik und (specielle) Naturwissen-
schaft haben synth. Erk. a priori, welche wirklich sind. Metaphysik machte
'»isher auf solche Anspruch; diese falsche Metaphysik wird in der
Dialektik widerlegt, in der Analytik wird die wahre begründet. Wie
Mihon bemerkt, schob nun K. der speciellen Naturw. in § 15 die allge-
meine unter, d. h. eben die Analytik. Als er nun an die Beantwortung
«ier vierten Frage kam, sah er sich in Verlegenheit. Denn was ist die
Antwort in den Proleg. * ? Metaphysik als Wissenschaft ist möglich einzig und
allein durch die Kritik und speciell fällt sie ihm offenbar ziisammen mit
der Analytik,* wenigstens inhaltlich, wenn auch nicht in formeller Aus-
fuhrung (wobei freilich auch Aesthetik und Dialektik berührt werden, so
dass die ganze Kritik als diese Wissenschaft gelten müsste). In der Kritik
der r. V. verbesserte K. jenen Fehler bezüglich der Naturwissenschaft nicht
nur nicht, sondern er verwirrt die Sache aufs Neue, insofern er über die
vierte Frage sich zweideutig ausspricht. Diese ganze Fragestellung ist somit
pine ganz unglückliche Veränderung, über deren innere Wider-
sprüche K. selbst und seine Anhänger ohne Weiteres hinweggegangen sind.
Ganz unglücklich ist die Hereinmischung der speciellen reinen Naturwissen-
schaft, welche in den Proleg. (gegen B. Erdmann, Prol. XXX) ein ganz
neues Element ist, und von da aus sich in Einleitung B einschlich. Eine
Sanirung dieser Inconvenienzen vom Kantischen Standpunkte aus ist nur ober-
dächlich möglich. Wohl kann man die Sache so darstellen: Wirkliche
Wissenschaften sind Mathematik und reine allgemeine Naturwissen-
schaft (d. h. immanente Metaphysik). Wie sind sie möglich?
Anspruch auf wissenschaftliche Geltung erhebt die Metaphysik (die trän s-
^^cendente). Ist sie möglich?
1) Wie ist reine Mathematik möglich?
2) Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?
3) Ist Metaphysik möglich?
Aber so einfach diese Sanirung erscheint, so ist doch dagegen zu erinnern,
da-ss K. ja noch ein System der Metaphysik versprochen hatte, welches nicht
in der Kritik schon enthalten sein sollte; wohin sollte das nun kommen, da
die immanente Metaphysik schon da war, und die transscendente
Metaphysik unmöglich ist? Und dann ist vor Allem an Ks. Unsicherheit
darüber zu erinnern, dass die Grundsätze der immanenten Metaphysik (Sub-
stantialität, Causalität) ihm wohl einerseits als gegebene reine Natur-
wissenschaft erscheinen, andererseits aber seiner Ansicht nach nur unbe-
wiesene Annahmen waren, die er erst auf seine Weise nach kritischer Me-
thode beweisen wollte. So erschien ihm einerseits reine allgemeine Natur-
^ Die ganze Antwort auf diese Hauptfrage nimmt nicht mehr als Eine
Seite ein, während wir in ihr die Hauptsache erwarteten. Das war nothwendig,
weil eben K. seine eigene Anlage in § 15 abgebrochen und eine ganz andere
dafür gesetzt hatte. Was im II. Abschnitt der Prol. steht, sollte jetzt kommen.
376 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 22. [R 708. H 47. E 63.]
Wissenschaft als wirklich (immanente Metaph.) ; andererseits wollte er erst
eine solche begründend Von diesem Gesichtspunkte aus fällt eben die
vierte Frage: Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? vollständig
zusammen mit der zweiten Frage, wie sie in § 15 der Proleg. ausgelegt ist :
Wie ist reine Naturwissenschaft möglich? Nur dass die letztere Frage sich
analytisch auf die Thatsache der vorhandenen Grundsätze, die erstere
dagegen zetetisch auf die erst gesuchten Beweise jener Grundsätze und
auf deren Vollständigkeit beziehte Es handelt sich daher factisch
nicht, wie B. Erdmann Krit. 180 sagt, um den positiven Nachweis der
Möglichkeit von drei apriorischen Wissenschafben der theoretischen Vernunft,
sondern nur um den derjenigen von zwei: Mathematik und reine Na-
turwissenschaft = immanente Metaphysik. —
Da die Logik auch Wissenschaft a priori ist, so könnte man auch nach
deren Möglichkeit gefragt wissen wollen. Allein nach K. sind deren Vor-
schriften analytisch*; auch ihr oberster Grundsatz, der Satz d. Widerspr.
ist selbst ein analytischer Satz. Anders betrachteten jedoch Fichte und
Schelling im Anschlüsse an M a i m o n , Beck u. A. die Sache und sie
warfen die Frage auf: Wie ist reine Logik möglich? Auch die
Logik wird somit in die transscendentale Frage hereingezogen. Die logischen
Hauptsätze müssen noch aus höheren Principien abgeleitet und insbesondere
in ihrer Gültigkeit für alles Denken und Gedachte deducirt werden. Die
Frage, inwieweit diese Fortbildung im Sinne Kants oder wenigstens durch
Consequenz geboten sei, ist hier nicht zu erörtern. Vgl. die Bemerkungen
J ä s c h e 's hierüber in der Vorrede zu Kants Logik. Li neuerer Zeit ist
die Frage von Steckelmacher, B. Erdmann, Schuppe u. A. be-
sprochen worden; vgl. Näheres darüber in der Einl. zu der Analytik.
Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? Man darf nicht aus
dem Auge verlieren, dass K. in Bezug auf die Metaphysik zwei ganz ver-
^ Es ist somit nicht ganz richtige wenn Windelband, Viert, f. wiss. Philos.
L 250-, sagt^ die „reine Naturwissenschaft^ (= immanente Metaphysik) sei von
Kant erst in der Analytik „geschaffen worden**, und erst in der Einleitung B be-
trachte K. dieselbe als vorhanden. Dem Inhalte nach war jene Wissenschaft, wie
W. selbst bemerkt, schon zum grössten Theil in der alten Ontologie und Natur-
philosophie vorhanden; Kants Neuerung besteht in der formellen Abschnümng
jener Wissenschaft von diesen beiden Disciplinen, in ihrer Systematisirung und
vor Allem im Beweis der einzelnen Sätze. Dadurch erklärt sich, dass er diese
Wissenschaft bald als schon vor ihm vorhanden und gegeben, bald als eine erst
zu begründende ansieht. — Vgl. hiezu oben S. 308 und den „Excurs", A 5.
^ Ueber diese Nothw. des stricten gültigen Beweises und Ks. erstmalige
Leistung eines solchen s. Prol. K. 146 und bes. 134. (Or. 212. 194.) Oben 289.
* Vgl. oben S. 283 Anm. 3. — Auch die Leibnizianer meinten, Logik sei
doch auch „eine theoretische Wissenschaft der Vernunft" (vgl. oben S. 292), es
müsste somit auch nach ihrer Möglichkeit gefragt werden. Vgl. [Hausius] Raum
und Zeit S. 96-, im Anschluss an Eberhard.
Unmöglichkeit der transscendenten „Metaphysik". 377
[R 708. H 47. E 68.] B 22.
•
schiedene Tendenzen befolgt: 1) für die immanente Metaphysik will er
eine neue Methode auffinden. („Tractat von der Methode*' Vorr. B.) Dies
gilt für die Metaphysik im guten Sinn. 2) für die transscendente
Metaphysik (Met. im zweifelhaften Sinn) dagegen will er eine streng me-
thodische Grenz bestimmung aufstellend Aus den vorliegenden Erör-
terungen geht aufs Neue das schon mehrfach Gesagte hervor , dass E. sich
selbst nicht immer klar war über diesen Unterschied und dass das Wort
, Metaphysik ** ihn selbst zu Missverständnissen führte. Er spricht hier so,
als ob die transscendente Metaphysik die einzige wäre, um welche es
sich handelt, als ob seine ganze Aufgabe darin bestehe, zu entscheiden, ob
eine solche möglich sei. Auch lässt er durchblicken, dass dieselbe unmöglich
sei, und dass man es nur zu einer strengen Grenzbestimmung bringen könne *.
Man muss sich durch diese eigene Unklarheit Kants nicht selbst zu der Un-
klarheit über Kants Unternehmen verführen lassen. • Es geht nicht bloss aus
dem weiteren Verlauf, sondern auch schon aus dem Bisherigen hervor, dass
K. auch eine Neubegründung der immanenten Metaphysik wollte, die er oben
mit der reinen Naturwissenschaft verwechselt. Jener Verwechslung zwischen
specieller, wenn auch apriorischer Naturwissenschaft (physica pura) und all-
gemeiner Naturwissenschaft = immanenter Metaphysik entspricht hier ganz
genau und natürlich die Verwechslung von immanenter und transscendenter
Metaphysik. Dort ist es das Wort „Naturwissenschaft" , hier das Wort
„Metaphysik", was bei Kant selbst die bedauerliche Unklarheit hervorbringt,
die in dieser Einleitung der II. Aufl. herrscht. Wie die zweite Frage:
Wie ist reine Naturwissenschaft möglich ? (in der Kritik wie in den Proleg.)
(in der Analytik) übergeht in die Frage: Wie ist immanente Metaphysik,
d. h. apriorisch-synthetische Erkenntniss der Erfahrungswelt möglich? — so
geht die vierte Frage : Wie ist [transscendente] Metaphysik als Wissenschaft
möglich? im Verlauf des Werkes über in die Frage: Wie ist [immanente]
Metaphysik als Wissenschaft möglich ? Man kann auch sagen, jene Frage : Wie
ist Met. als Wissenschaft möglich ? wird beantwortet: Gar nicht oder nur
als immanente. Dann wäre Metaphysik neutral zu fassen. Jedoch ist. diese
letztere Darstellung der Sache nur propädeutisch erlaubt, sachlich dagegen
unrichtig, denn hier, wo K. jene Frage aufstellt, spricht er nur von trans-
^ In den Proleg. tritt die rationalistische Seite ^ d. h. die immanente
Metaphysik in den Vordergrund, während die restrictive Tendenz (gegen die
transc. Met.) in der Kritik öfter betont ist. — Vgl. oben S. 232. 305 ff. 368.
' In dieser Grenzbestimmung würde dann die Metaphysik bestehen,
welche möglich ist. So M ellin, Wort. I, 392, so oben 369, so Fischer 245. 254.
257 f., 80 Krit. 851. Sie würde dann zusammenfallen mit der in der Dialektik
gegebenen kritischen Behandlung der Fragen über Gott u. s. w. Vgl. Fortschr.
R I, 563, sowie oben S. 89. 91. 113. 231 ff. 308 ff. 311 ff. 319 über den Unter-
schied immanenter und transscendenter Metaphysik. Grosse Unklarheit über die
„neue Metaphysik" z B. beiWolff, Spec. u. Phil. I, 109 ff. 122 ff. 264 ff. u. bes.
bei Fischer III, 126. 259. 269. 309 f. 432, 454. 634.
378 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 22. [R 708. H 47. E 63.]
scendenter Metaphysik \ Es ist schlechterdings unmöglich, diese Unklarheit
hinwegzudeuteln, sie lässt sich nur bedauern. Man kann sich über die Un-
klarheit eines so grossen Geistes bei so wichtigen Punkten verwundem —
ähnliche Beispiele werden uns noch mehrere begegnen und zeigen, dass K.
trotz seines Scharfsinnes doch sehr bedeutende innere Unklarheiten seines
Systems hat. — Die Frage: Wie ist Met. als Wissenschaft möglich? ist der
eigentliche Gegenstand und Endzweck der Vernunftkritik nach Born, Philos.
Magazin II, 3, 539. Vgl. auch Laas, Ks. Analog. 205. Jenisch, Entd.
209. Bahr, Schopenh. S. 10. Kunze, Kant über Hume 34. Weber, J.,
Disquisitio critica: Estne metaphysica possihilis? Landsh. 1795.
Wie Ist Metaphysik m5«rHoh? Diese Frage ' hätte Kant um des Paral-
lelismus willen auch so ausdrücken können:
Wie ist reine Philosophie möglich?
Denn Metaphysik ist nach S. 800 f. 840 f. 848, sowie oben B 19. 20 soviel
als „reine Philosophie".
Einen groben, ja beinahe unglaublichen Irrthum auf Grund eines ganz
falschen Begriffs der Metaphysik begeht Fischer 292 ff. Nach ihm ist
synthetisch a priori und metaphysisch identisch. Metaphysik im
weitesten Verstände sei die allgemeine und nothwendige Erkenntniss der
' Dagegen in den folgenden drei Absätzen des Textes spricht K. wieder von
der Wissenschaft, zu welcher die Kritik führe; er meint damit aber nicht die
Kritik selbst, welche ihrerseits selbst „einie neue Wissenschaft" ist (vgl. oben S. 339)
sondern vor Allem die neu zu begründende immanente Metaphysik, an welche
sich dann die Grenzbestimmung u. s. w. anlehnt. Vgl. den Excurs, A 5.
* Die Frageformel: Wie ist . . . . möglich? wurde damals allgemein
Mode, und kehrt in den verschiedensten Variationen in der damaligen Literatur
wieder. Ueber Kants eigene Anwendung derselben s. oben S. 5. 187. 189. 316 ff.
353 ff. 364 ff. Sie findet sich dann z. B. bei Reinhold: Wie ist Vernunft,
Bewusstsein möglich? dann bes. bei Fichte: Wie ist Offenbarung möglich? (W.
W. V, 63. 78. 106. 139. 160); Wie ist Wissenschaft möglich? (W. W. I, 43. vgl.
I, 456); Wie ist Gemeinschaft freier Wesen möglich? (W. W. III, 85), wozu man
Schad, Fichte's System 15. 17. 355 vergleiche. Dann bei Schelling: Wie ist
Philosophie der Kunst möglich? (W. W. (1) V, 364, während bei Hegel sich die
Formel verliert. Man vgl. z. B. ferner Abicht, Phil. Journ. II, 109 (zu Pörschke):
Wie ist wissenschaftliche Aesthetik möglich? oder [Zachariae]. Abhandl. über
philos. Gegenst. 1—32: W^ie ist Geschichte als Wissenschaft möglich? In der
Zwischenzeit wird die Formel wenig angewendet, z, B. von Böhmer in Fichte's
Zeitschrift XXXI, 85: Wie ist Freiheit möglich? Neuerdings dagegen findet sie
sich wieder häufiger; man vgl. z. 6. Krause, Popul. Darst. S. 22 und bes. Cohen«
Vorr. zu Lange's Gesch. d. Mat, 4. Auil. XII: Wie ist Religion nach Art der
Wissenschaft möglich? — Eine boshafte Anwendung der Formel macht W^rede,
Antilogie des Realismus (Leibniz) und Idealismus (Kant) Halle 1791, S. 103—107:
Wie ist überhaupt Kritik der reinen Vernunft möglich? Antwort:
Jedenfalls nicht in Kantischer Weise, da Subject und Object der Kritik, Richter
und Partei identisch sind. Vgl. oben S. 108.
Coordinatioii d. Mathematik mit d. Metaphysik (gegen K. Fischer). 379
[R 708. H 47. K 63.] B 23.
Dinge, sofern sie synthetisch ist. Daher umfasse Metaphysik in diesem Sinne
auch die Mathematik, und daher könne die Gesammt frage der Vernunft-
kritik kurzweg so ausgedrückt werden : Ist überall Metaphysik möglich
und wie? — üeber diese Verdrehung würde K. sich noch im Grabe um-
drehen. Es ist ein Verstoss gegen das ABC der K.'schen Philosophie. Für
diese Auffassung kann Fischer auch nicht eine einzige Stelle aus K. bei-
bringen. Dagegen gibt es zahllose Stellen, welche das Gegentheil besagen.
Allerdings befasst K. Mathematik und Metaphysik (sowohl die der Er-
scheinungen, als die des Uebersinnlichen) unter einem gemeinsamen Begriff
zusammen; aber dieser heisst nicht Metaphysik im weitesten Sinne, wie
Fischer sagt, sondern Vernunfterkenntniss *. „Alle Vernunfterkennt-
niss ist nun entweder die aus Begriffen oder aus der Construction der
Begriffe; die erstere heisst philosophisch, die zweite mathematisch",
837. Ausfuhrlich wird das erörtert 712 ff., wo ebenfalls „Vernunft-
erkenntniss'' der allgemeinere Begriff ist. Mathematik und Metaphysik
sind „himmelweit unterschieden". Prol. K. 136, Orig. 198*. Wenn aber K.
844 sagt: „Alle reine Erkenntniss a priori macht also vermöge dem beson-
deren Erkenntnissvermögen, darin es allein seinen Sitz haben kann, eine be-
sondere Einheit aus, und Metaphysik ist diejenige Philosophie, welche
jene Erkenntniss in dieser systematischen Einheit vorstellen soll" , so
wird hieraus Fischer 's Darstellung, auch 631 f. nicht gerechtfertigt. Denn
1) geht aus dem ganzen vorhergehenden Zusammenhange hervor, dass K.
nur alle philosophische Erkenntniss a priori meint, die er unmittelbar
vorher auf das allerschärfste von der Mathematik unterschied ; 2) sagt K.
ausdrücklich nicht etwa, dass Metaphysik diejenige Wissenschaft sei,
sondern diejenige Philosophie, welche; Philosophie hat K. aber immer von
Mathematik strengstens getrennt; 3) folgt unmittelbar darauf (vgl. 841)
die Eintheilung dieser Metaphysik in einen speculativen und praktischen
Theil, in Metaphysik der Natur und der Sitten, und von jener sagt K. wört-
lich: „Sie enthält alle reinen Vernunftprincipien aus blossen Begriffen (mit-
' Das Sonderbarste der Fischer'schen Darstellung ist, dass F. S. 293. 295
davon Kenntniss zeigt und doch (unter dem Einlluss der unten erörterten typo-
graphischen Anordnung der Inhaltsangabe der Prolegomena?) sich zu seinem Irr-
thum verleiten lässt, so dass er die Mathematik der Metaph3'3ik bald coordinirt^
bald subordinirl, während bei Kant nur Coordination stattfmdet.
' Fortschr. K. lOOR. 1,490: Die Metaplij'^sik enthalte nicht mathematische
Sätze, d. i, solche, welche durch die Construction der Begriffe Vernunfterkenntnisse
hervorbringen (nur die Principien der Möglichkeit reiner Mathematik überhaupt,
Raum n. Zeit), vgl. Krit. 149. Im Gegensatz zum Mathematiker heisst 510 der Philo-
soph der „Forscher der Begriffe". Kr. d. pr. V. 91. Met. d. Sitten, Rechtsl. Einl.
II. Sittenl. S 19. Vorr. zu den Met. Anf. d. Naturw. K. 176. Vgl. hiezu Pauls en.
Entw. 78. Anm. In Prol. § 1 wird endlich die Unterscheidung aufs klarste ge-
macht. Vgl. Ulrich, Instit, § 12. 18 über die früheren Bestimmungen hierüber
bei Wolf u. A. Vgl. besonders die Stellen oben S. 243.
380 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI.
B 22. [B 708. H 47. E 68.]
hin mit Ausschluss der Mathematik)'* 841. K. hat niemals Meta-
physik so gefasst, dass Mathematik darunter fallen könnte. Für K. ist
synthetisch a priori niemals identisch mit metaphysisch, sondern
immer ein weiterer Begriff, der Mathematik und Metaphysik unter sich befasst.
Wie kam Fischer zu einem solchen Irrthum? Die Lösung liegt in
seiner Umformung der allgemeinen Frage: Wie sind synth. Urth. a priori
möglich? in die Formel: Ist überall Metaphysik möglich und wie?
Wir finden in den Proleg. § 4 folgende üeberschrift: „Der Prolegomenen
allgemeine Frage: Ist überall Metaphysik möglich?* Aber die Proleg.
umfassen ja auch die Frage nach der Möglichkeit der Mathematik. Hat
somit Fischer doch Recht? Es scheint so, wenn wir die Inhaltsangabe
der Proleg. ansehen, wie sie sich in der von Fischer (III, S. 88) benützten
älteren (sowie auch der neueren, welcher Kirchmann wörtlich nachdruckt)
Hartenstein ausgäbe darstellt :
Allgemeine Frage: Ist überall Metaphysik möglich?
I. Theil. Wie ist reine Mathematik möglich?
II. Theil. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?
III. Theil. Wie ist Metaphysik überhaupt möglich?
Hier haben wir wohl den Schlüssel zu Fischers Darstellung: nach ihm um-
fasst Metaphysik im weitesten Sinne 1) Mathematik, 2) reine Naturwissen-
schaft = Metaphysik der Erscheinungen, 3) eigentliche Metaphysik des Trans-
scendenten. 2 und 8 zusammen sind nach ihm Metaphysik im engeren Sinn,
3 allein ist Metaphysik im engsten Sinn. Aber diese Darstellung Harten-
steins, wornach die allgemeine Frage: Ist überall Metaphysik möglich? die
3 Specialfragen umfasst , ist grundfalsch. Zum Nachweis dessen bedarf es
einer weiteren Ausholung. In den Prol. finden sich zwei Paragraphen mit
ähnlicher Üeberschrift. § 4 heisst: „Der Prolegomenen allgemeine Frage:
Ist überall Metaphysik möglich^" § 5 heisst: „Prolegomena. Allgemeine
Frage: Wie ist Erkenntniss aus reiner Vernunft möglich?" Wie verhalten
sich diese beiden „allgemeinen Fragen*? Sind sie identisch? Oder ist hier
eine Inconsequenz der Darstellung? Oder]vielleicht eine doppelte * Redaction?
Keines von alledem! Die beiden Fragen haben einen total verschiedenen
Sinn. Nachdem K. in § 1 und 2 (nebst 3) eine „Vorerinnerung von dem
Eigenthümlichen aller metaphysischen Erkenntniss* gegeben hat, d. h. nach-
dem er darin einfach definitorisch festgestellt, dass alle Metaphysik es mit
synthetischen Urtheilen a priori zu thun hat (wie auch die Mathematik, die
zur Gegenüberstellung herbeigezogen wird), und dass also metaph. Erk.
unter den höheren Allgemeinbegriff der synth. Erk. a priori falle (nicht
aber, dass sie vollständig mit ihr zusammenfalle), geht er zu der „all-
gemeinen Frage der Prolegomenen*, d. h. zu ihrer wesentlichen, wich-
tigsten eigentlichen Frage in § 4 über: Ist nun eine so als synthetisch
' So erklärt Pauls en, Viert, f. wiss. Philos. II, 485. — Vgl. oben S. 164
die Analyse der Einleitung der Prolegomena.
Anordnung der Fragen in den Prolegomena. 381
[R 708. H 47. E 63.] B 22.
a priori definirte Metaphysik überhaupt möglich V Die Prolegomena sind
ja solche „za einer jeden künftigen Metaphysi k,' die als Wissenschaft
wird auftreten können". Dieser Paragraph gehört nebst 1—3 noch zur
allgemeinen Einleitung. Daher beginnt der § 5 mit der üeberschrift :
^Prolegomena" — Zeichen, dass hier die Prolegomena nun eigent-
lich erst anfangen. (Eben aus diesem Grunde ist Erdmann 's Aen-
derung der üeberschrift dieses § in seiner Ausgabe in die mit der Üeber-
schrift von § 4 parallelen Worte: „Der Prolegomenen allgemeine Frage"
unrichtig und irreführend.) Der Anfang der Prolegomena im eigentlichen
Sinn wird nun dadurch gemacht, dass die Frage nach der Möglichkeit der
Metaphysik unter die viel allgemeinere Formel gebracht wird: Wie ist
Erkenntniss aus reiner Vernunft möglich? Wie sind synthetische Sätze
a priori überhaupt möglich? Denn es wird von K. betont, dass Mathe-
matik und reine Naturvrissenschaft auch synth. Sätze a priori enthalten,
bei denen es sich nur darum handelt, zu zeigen, wie sie möglich sind (denn
sie sind wirklich), während es bei der Metaphysik sich noch erst um das
Ob handelt. „Allgemein" hat also beidemal einen ganz andern Sinn. In
§ 4 ist es so viel wie universalis oder besser capitalis oder essentialis,
in § 5 soviel ala generalis, dort gleich hauptsächlich, hier gleich ver-
allgemeinert. Jetzt stellt sich die Eintheilung der Prolegomena so dar:
(§ 4) Der Prolegomenen allgemeine (eigentliche Haupt- J Frage:
Ist überall Metaphysik möglich?
(§ 5) Prolegomena. Allgemeine (d. h. verallgemeinerte) oder „Tran s-
scendentale Hauptfrage". Frage:
Wie ist Erkenntniss aus reiner Vernunft möglich?
oder: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?
I. Theil. Wie ist reine Mathematik möglich?
IL Theil. Wie ist reine Naturwissenschaft möglich ?
III. Theil. Wie ist Metaphysik überhaupt möglich? (= § 4).
Erkenntniss aus reiner Vernunft ist der allgemeine Begriff und befasst auch
die Mathematik unter sich; denn diese ist ja eine „Vernunfterkenntniss".
Die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntniss aus reiner Vernunft (hier ist
,ireine Vernunft" im weitesten Sinn) nennt K. die ;,transscendentale Haupt-
frage", weil diejenige Untersuchung überhaupt transscendental heisst, die
sich mit der Möglichkeit apriorischer Erkenntniss überhaupt beschäftigt, und
dazu gehört auch die Mathematik. Hartenstein liess somit die allge-
meine, verallgemeinerte Frage weg, so dass die Frage des § 4 durch die An-
ordnung als verallgemeinerte Frage erscheinen musste. B. Erdmann drückt
sich vorsichtig aus, indem er § 4 und § 5 als „Allgemeine Fragen" zu-
sammenfasste. Haben wir nun auch die Lösung des Räthsels, wie Fischer
auf seine ganz unkantische Darstellung kam? Schöpfte er seine Behauptung
etwa aus der von ihm benützten Hartenstein'schen Ausgabe, d. h. aus der
blossen Inhaltsangabe?
Der dogmatische Gebrauch. Wie schon in der Vorrede, so findet sich
382 Commentar zur Einleitung B^ Abschn. VI.
B 22. 28. [B 708. 709. H 47. 48. E 68. 64.]
auch in der Einleitung überall Bücksichtnabme auf die beiden entgegen-
gesetzten Systeme, denen Kant seinen Kriticismus entgegenstellt. Der
Dogmatismus wird bes. seiner Methode nach gekennzeichnet S. 3— 5 und
an der vorliegenden Stelle; seinem Object nach B 18. 21, A 2. 3; der
Skepticismus seiner Methode nach hier u. B 19. 20; seinem Objecte
nach B. 19. Vgl. oben S. 334. Erdmann, Prol. XXX.
Nicht mit Objecten d«r Yemnnfty sondern bloss mit sich selbst ^ Zu-
nächst ist hier eine stilistische Ungenauigkeit hervorzuheben. Das Subject
des Causalsatzes wechselt: „sie" ist zuerst die Vlr^issenschaft, wird aber
im Verlaufe offenbar für ;,Vernunft" gebraucht. Was die Sache betrifft,
so vgl. man A 12. 13: Es handle sich hier nicht um die Natur der Dinge,
welche unerschöpflich ist, sondern um den Verstand, der über die Natur
der Dinge urtheilt. Dies ist die grosse Wendung, welche Ks. Philosophie
bezeichnet, dass er an Stelle der objectiven Untersuchung die subjective
Behandlung setzt. Diese Wendung war durch Leibniz vorbereitet; denn
schon er sagt auf den Vorwurf Locke's, dass die Nothwendigkeit der Zu-
stimmung zu gewissen Sätzen sich eher aus der Betrachtung j^de la nature
des chosea'^ ableiten lasse, als aus dem Umstände, j,que ces propositions sont
gravies naturellement dans Vesprit^ — zur Erwiderung: „Lfa nature des
choses et la riature de Vesprit y concourent — Souvent la considSration de la
nature des choses West autre chose que la connaissance de la nature de notre
esprit et des idies innSes, qu'on rCa point besoin de chercher au dehors.^
(Ed. Erdm. 211 B.) Dass die Vernunft es nur mit sich selbst zu thun habe,
finden die Kr it. Briefe 55 nicht nur überh. unrichtig, sondern auch im
Widerspruch mit den obigen Erklärungen, dass Gott, Unsterblichkeit, Welt
u. s. w. Objecte der Metaphysik seien. Es steht auch im Widerspruch mit
Vorr. B, VIII, X, wo von der Logik gesagt wird , in ihr habe die Vernunft
es mit sich selbst zu thun, sonst aber auch mit Objecten. Vgl. ib. XXIII:
Met. habe es mit Objecten zu thun. — Ueber „diese Wissenschaft" s. oben
S. 149. 150, S. 375 Anm. und die Bemerkungen zu A 12.
Nicht der Zweck ^ sondern nur eine Yeranstaltang u. s. w. Als ,der
Zweck der eigentlichen Metaphysik* erscheinen hier synthetische ürtheile
a priori im Gegensatz zu bloss analytischen; derselben Bestimmung begeg-
neten wir oben S. 249 ff. 259 ff. 289. 313 f., 332. 368. Eine sachlich ganz
andere, aber formell ähnlich lautende Bestimmung ist: „der eigentliche Zweck
der Metaphysik* ziele auf die apriorische Erkenntniss des U eher sinnlichen.
* Diese Aufgabe ist nach Cousin, Phil, de Kant 60 »A la fois irh raste et trh
bornee*. Ueber diene Richtung auf das Subjective vgl. Schelling, W. W. X, 89
(im Gegensatz zu Spinoza's Objectivismus) , Mi dielet, Letzte Sj'steme L 47*
Fichte jr., Gegens. II. 15. 259. Vgl. oben S. 106 über die Selbsterkenntniss.
Solchen Stellen gegenüber ist es unverständlich, wie Manche leugnen mögen,
dass die Vernunft in der „Kritik" ein bestimmtes Seelenvermögen, eine ^psycho-
logische Potenz" bedeute. Vgl. oben S. 116—128, und zu A 11.
Doch auch Möglichkeit transscendenter Metaphysik? 383
[B 709. H 48. E 64.] B 28. S4.
Während im ersten Falle die analytische Zergliederung der Begrilffe es
war, welche als „Mittel*, „ Veranstaltung*' u. s. w. galt, wird im zweiten
Falle dasselbe von der apriorischen Erkenntniss des Sinnlichen gesagt.
Vgl. oben S. 231. 232. 237. 368. Dort ist die zu gründende Metaphysik
jedenfalls vornehmlich als immanente, hier ausschliesslich als transscendente
gedacht. Gemeinsam ist beidemal der Terminus „Erweiterung*, nur hat
er dort zum Gegensatz die bloss analytische Erläuterung, hier die Beschrän-
kung auf das Immanente; in ersterer Bedeutung finden wir ihn hier, in
letzterer oben, wo die Frage nach der Metaphysik als Wissenschaft gestellt
wurde. (Vgl. oben S. 240, 314 und unten zu A 12.) Jene verschiedenen
Aeusserungen über den „eigentlichen Zweck" der Metaphysik liegen, wie
schon S. 231 bemerkt, zeitlich auseinander, indem jene positive Vorliebe für
das Transscendente von der 2. Aufl. der Kritik an mehr in den Vordergrund
trat, ohne jedoch in der 1. Aufl. derselben zu fehlen. Dass an der vor-
liegenden Stelle diese positive Bedeutung schon hereinspiele *, soll nicht mit
Bestimmtheit behauptet, kann aber auch nicht widerlegt werden. Neben
der Neubegründung der immanenten Metaphysik, neben der Grenzbestim-
mung und neben der bloss kritischen Behandlung der transscendenten Probleme
lag Kant doch auch die positive Neubegründung der transscendenten Meta-
physik auf dem Boden der Ethik am Herzen, zu der der kritische Idealismus
und die Ideenlehre die ermöglichende Vorbereitung und Vorbedingung war.
Die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik beantwortet sich eben nicht
nur, wie wir oben S. 377 sahen: „nur als immanente, transscendente ist
ausgeschlossen", sondern auch dahin, dass auf der Basis der Ethik der Ueber-
gang zum Uebersinnlichen möglich sei. Sollte Kant auch an dieser Stelle die
positive Neubegründung der transscendenten Metaphysik nicht im Auge ge-
habt haben, so schob er doch später diese Seite seines Gedankencomplexes
in den Vordergrund, wozu ihm eben die schwankende Terminologie, besonders
von „Metaphysik" die Möglichkeit bot. Der Mangel genauer Definition und
constanter Festhaltung der Termini, der fliessende Uebergang der Vorstellungs-
kreise in einander, das unmerkliche Hinüber- und Herüber gleiten in ab-
weichende Gedankenbahnen erschwert die Eruirung und Constatirung der
Kantischen Meinung oft ungemein.
Im dogrmati sehen Yerfahren» Schon zweimal in diesem Abschnitt ist
»der dogm. Gebrauch" verworfen worden. Vgl. hierüber die Allgem. Einl. II,
§ 2. 4. 5. Krit. 762: „Durchgängiger Zweifel an aller dogm. Phil., die ohne
Kritik ihren Gang geht." ib. 855 f. Die dogmat., d. h. objective Auflösung
der dialect. Widersprüche ist unmöglich 484. 758. Prol. § 42. Oben ist
* Nach Cohen, Vorr. zu Lange's Gesch. d. Mat. 4. Aufl. XI ist das der Fall.
Aber diese Entscheidung übersieht die dargelegten Verwechslungen Kants: „die
Metaphysik als Wissenschaft" ist meistens die immanente, seltener die transscen-
dente Metaphysik .. oft aber auch die zwischen beiden liegende, auf der Grenz-
bestimmung ruhende Dialektik.
384 Commentar zur Einleitung B, Abschn. VI. Anhang zu Abschn. V u. VI.
B 24. [R 709. H 48. t. 64.]
dogmatisch = rationalistisch ohne Kritik, hier = objectiv, statt subjectiv.
In einem anderen Sinn ist die Krit. selbst dogmatisch, Von*. B XXXV = d e-
monstrirend und zwar streng a priori. Wieder in einem anderen
Sinne ist sie nicht dogmatisch 737, d. h. sie gibt keine direct-synthe-
tischen Sätze aus Begriffen. Vgl. oben S. 29. 33. 44. 82 ff., 338.
Stamm und Woriel. Ein ähnliches Bild s. Proleg. Anh. Or. 216, es liege
„in der Kritik etwas, wodurch ein wichtiger, aber jetzt abgestorbener Zweig
menschlicher Erkenntniss neues Leben und Fruchtbarkeit bekommen könne*.
Anhang zu Abschnitt V und VI und Excurs.
In Parallele mit dem Anhang S. 224 — 228 zum Abschn. I u. 11 der
Einleitung B sind hier dieselben beiden Themata wie dort zu behandeln:
Der Unterschied der beiden Redactionen, und die Controverse über Kants
Fragestellung und Resultat, Voraussetzungen und Gedankengang. Diese
beiden Fragen hängen hier auf das Engste zusammen.
Was den Unterschied der beiden Redactionen betrifft, so sind
(vgl. oben S. 160) die beiden Abschnitte V u. VI in der 2. Aufl. ganz neu
hinzugekommen. Sie sind jedoch aus dem kurzen Absatz der 1. Aufl. (A 10):
„Es liegt hier ein gewisses Geheimniss verborgen" u. s. w. als deift Keim
herausgewachsen (vgl. Erdmann, Prol. XXX, Kritic. 179. 181), und zwar
schon in den Prolegomena, aus deren §§ 2 c, 4, 5 diese beiden Abschnitte
V und VI entstanden sind. Wie schon S. 295 f. bemerkt, behielt K. bei
dieser Herübernahme theilweise den Wortlaut bei. Der Abschnitt V der
Kritik entspricht dem § 2 c, nebst dem durch die Blattversetzung (Philos.
Monatsh. XV, 321 ff.) in § 4 hineingerathenen Abschnitt jenes §; der Ab-
schnitt VI gibt den Gedankengang der §§ 5 u. 4 der Prol. (vgl. Erdmann,
Krit. 184, vgl. oben 343; die nicht herübergenommenen Stellen sind in den
Commentar hineingearbeitet worden). Während in A das Problem der syn-
thetischen Urtheile a priori nur ganz allgemein gestellt wird, wird in B
überhaupt zuerst (V) der detaillirte Nachweis des Vorhandenseins synthet.
Erkenntnisse a priori geführt (parallel der Aenderung im Abschn. II d. Einl. B,
vgl. oben S. 228), und dann (VT) das Problem ganz allgemein formulirt,
sodann aufs Neue specificirt. (Ueber diese Specification und das Verhältniss
der Prol. u. Kritik s. oben S. 371 ff., sowie S.' 304— 310 über die „reine Natur-
wissenschaft" und das Verhältniss der Prol. u. Kritik hierin ; vgl. auch S. 380.)
So viel über das äusserliche Verhältniss der beiden Redactionen. Ist
durch diese Aenderungen der Sinn sowohl in sachlicher als in metho-
discher Beziehung in irgend einer Weise verändert worden?
I. In Bezug auf den „Hauptzweck** hat B. Erdmann, Krit. 179 ff. die
veränderte Fragestellung der II. Aufl. dahin untersucht, ob in ihr factisch, wie
es den Anschein habe, die noologistisch-scientifische, die rationalistische
Seite der Kritik mehr hervortrete, als in der I. Aufl. Auf den ersten Blick
erscheine die Veränderung der Entwicklung des positiven theoretischen
Kein Unterschied d. beiden Kedactionen d. Einleitung i. „Hauptzweck^. 385
Elementes der Kritik d. r. V., d. h. dem Betonen der Anbahnung einer sy
stematischen Metaphysik als Wissenschaft, wie dies in der Vorr. B geschehe
conform. Denn die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik als Wissen
Schaft, auf welche die ganze neue Fragestellung hinzielt, ist ja in der II. Aufl
hinzugekommen, wenigstens der Form nach. Erdmann sucht durch ver
schiedene Gründe zu beweisen, dass dies keine rationalistische Ver
Schiebung des Standpunktes involvire; so spreche K. auch hier z. B. B
22 von der Grenzbestimmung; die Gliederung der 4 Fragen, insbesondere
über die Möglichkeit der Metaph., habe keine Wirkung für die Eintheilung
der Kritik gehabt u. s. w. Was das Letztere betrifft, so vgl. man das
hierüber S. 371 ff. Gesagte, worin zugleich liegt, dass dies kein Beweis gegen
die rationalistische Tendenz ist; und in Bezug auf das Erstere genüge die
Bemerkung, dass in beiden Auflagen sich Hinweise auf Beides finden, auf
Orenzbestimmung und auf Neubegründung der Metaphysik. Allerdings findet
in der Einl. der IL Aufl. keine rationalistische Verschiebung statt,
sondern nur eine Umarbeitung zum Zwecke der Erläuterung (welcher
freilich durch die gerügten Unklarheiten wesentlich beeinträchtigt war), nach
E., weil K. an den Missverständnissen z. B. von Tiedemann und Seile gesehen
hätte, wie wenig man ihn verstand. Dies ist zuzugeben, aber aus einem
ganz andern Grunde. Nicht insofern, als in der I. Aufl. die rationalistische
Seite fehlte, sondern insofern, als in beiden Auflagen die rationa-
listische Seite so gut vertreten ist, wie die der Grenzbestimmung,
wie eine einfache Vergleichung der beiderseitigen Textwort;e ergibt. Vgl.
oben S. 382. Erdmann führt aber a. a. 0. 182 nur die Stellen über die
Grenzbestimmung an, berücksichtigt also nur die Verwandtschaft mit dem
Skepticismus. Auch die übrigen der circa acht dortigen Beweise erscheinen
nicht stichhaltig. Es wurde schon S. 66 ff. diese Einseitigkeit zurückge-
wiesen. Sie ist theils aus der Parteistellung, d. h. dem Verlangen entsprungen,
Kants Kritik für die Gegenwart mundgerecht zu machen und die Rückkehr
auf Kant motivirt erscheinen zu lassen (vgl. oben die Anm. S. 67), theils
nur eine Beaction auf das von Anderen vertretene entgegengesetzte Extrem.
So sehr Letzteres eine »irrige Auffassung* ist (Erdmann a. a. 0. 175), so ist
doch die Annahme, der „Aufbau einer wissenschaftlichen Metaphysik" sei für
Kant bloss „selbstverständliche Consequenz'', nicht „specifisches Merkmal''
seiner Tendenz (a. a. 0. 177), eine ebenso einseitige Auffassung. In Bezug
auf den sog. „Hauptzweck* kehren die beiden unzertrennlichen Merk-
male, sowohl die positive Neubegründung der immanenten Metaphysik, als
die negative Grenzbestimmung gegen die Transscendenz , nur beide in ver-
stärktem Maasse, in dem Text der 2. Aufl. zurück. Der sachliche Ge-
dankengehalt bleibt somit ganz derselbe, auch insofern, als die verschie-
denen, nachgewiesenen Unklarheiten der 2. Aufl. der Sache nach schon im
Text von A zu finden 'sind. Hierüber noch unten sub 5, S. 409.
IL Wichtiger und schwieriger ist die Frage, ob nicht durch die
Aenderungen der 2. Aufl. in der Einleitung Kants methodischer Ge-
dankengang eine wesentliche, tiefstgreifende Aenderung erfahren habe.
Valhlnger Kant-Comxnentftr. 25
386 Anhang zu Abschnitt V u. VI und Ezcors.
Nach der Einleitung B ist die Gültigkeit der Mathematik und reinen Natur-
wissenschaft ganz fraglos: Kant stellt dieselbe als eine selbstverständliche
Voraussetzung hin. Es fragt sich nun:
1) Besteht in diesem Punkte ein wesentlicher Unterschied zwischen
der Einleitung A und B ? d. h. fehlte jene Voraussetzung etwa
in der Einleitung A?
Dies erweitert sich zu der überaus wichtigen Frage:
2) Hat Kant nicht schon in der Einleitung, sei es nun nur in ß,
oder auch in A, ganz einfach vorausgesetzt, was er doch erst
beweisen sollte ? und welche methodische Bolle spielt jene Voraus«
Setzung überhaupt im weiteren Entwicklungsgange der Kritik?
Diese beiden Fragen hängen nicht bloss aufs engste zusammen,
sondern auch von einander ab.
Paulsen (Entw. 173) ist nun der Ansicht, durch die Prolegomena sei
eine falsche Wendung in die 2. Aufl. hereingekommen. In der 1. Aufl. habe
K. die Thatsächlichkeit synth. Urtheile a priori in Mathem. und reiner
Physik mehr so verstanden, dass solche Urtheile vorhanden seien, welche
beanspruchen, Erkenntniss von Gegenständen zu sein. Erst nachher sei
diese Thatsächlichkeit in eine Gültigkeit verwandelt worden. Die ur-
sprüngliche Frage sei gewesen: Sind diese Urtheile gültig? Unter
welchen Umständen, unter welcher Bedingung sind sie gültig? Jetzt frage
dagegen Kant: Wie entstehen sie? »Der Anlage der Untersuchung nach
sind sie thatsächlich nur als vorliegende psychologische Gebilde, deren Er-
kenntnisswerth eben in Frage gezogen werden soU.^ Nachher , bringen sie
gleichsam einen Rechtstitel mit, auf den sie sich der Kritik gegenüber be-
rufen: sie seien in der Mathem. und reinen Physik stets als Erkenntnisse
anerkannt worden '^ . Die Gültigkeit sei somit ursprünglich einBestandtheil
des Problems gewesen, nicht eine Voraussetzung. Dann würde die
Kritik nicht mehr Bichterin sein, sondern bloss die Aufgabe haben, die
Entstehung der synth. Sätze a priori zu erklären. Damit sei die «trans-
scendentale Frage" ganz beseitigt. Diese falsche Wendung findet sich nach
Paulsen hauptsächlich in den Prolegomena und in der 2. Aufl. der Kritik,
somit vorzugsweise in der Einleitung B und fiele überhaupt der analytischen
Methode der populären Prolegomena zur Last. (Dass diese Positionen von
P. den oben S. 328 f. dargelegten und beurtheilten Ansichten Paulsens
theilweise nicht ganz entsprechen, sei nur nebenbei bemerkt.) •
Diese von Paulsen am schär&ten formulirte Ansicht theilen : Windel-
band \ Viert, f. wiss. Philos. I, 250, Gesch. d. n. Philos. ü, 52. 55; Gö-
ring. Viert, f. wiss. Philos. I, 409 ff. (vgl. oben S. 169 u. 226 Anm. 1);
Riehl, Kritic. I. bes. S. 841 (weitere Stellen s. oben S. 225 f. und bes.
unten S. 403).
Dagegen findet Erdmann, Prol. XXX, XCVI , keine Spur von in-
^ Einer brieflichen^ eingehenderen Darlegung seiner Ansicht verdankt der
Verf. die Anregung zu der vorliegenden Ausführung dieses Ezeurses.
Die Streitfrage über Kants methodischen Gedankengang. 387
haltlicher Veränderung'*, die Wirklichkeit synthetischer Urtheile a priori sei
beidemal für E. sachlich nicht zweifelhaft (vgl. dess. Kriticismus Ks. 172.
186; vgl. oben S. 226). Kant geht von ihrer Gültigkeit aus auch nach
Laas, Ks. Anal. 10. 12. 14. 137. 207. 225. 320; Capesius, Herbart 61;
Ueberweg, Logik § 129. 131; Holder, Ks. Erk. Th. 14; Harms, Phil.
8. Kant 130 f. 135 ff. 137. 189; ebenso nach Volkelt, Cantoni u. A.,
worüber oben S. 226 und unten S. 414. 416. Insbesondere hat aber
K. Fischer in seiner viel verbreiteten Gesch. d. n. Philos. III, 282 f. 288.
291. 298—305. 309 seiner Darstellung die Einleitung B und überhaupt die
Prolegomena (theilweise) zu Grunde gelegt. (Vgl. oben S. 45 Anm. 2, S. 162
Anm. 1, S. 188. 371.) Darüber nun wird Fischer von Paulsen, Riehl und
Windelband hart angelassen, des Missverständnisses, ja der Entstellung des
Kantischen Gedankenganges beschuldigt.
Diese in der angegebenen Weise sich erweiternde Controverse ist für
das Verständniss der ganzen Kantischen Vemunftkritik, ihrer Probleme und
ihrer Methode, ihrer Tendenz und ihrer Resultate fundamental, ja geradezu
von vitalem Interesse. Sie bedarf hier^ obgleich mehrere Detailpunkte nur
antecipatorisch behandelt werden können , einer eingehenden Discussion,
welche nicht nur die auf S. 225 ff. an ihrem Ort angesponnene Frage über
den logischen Zusammenhang der Abschnitte I und II der Einl. B, d. h.
über Kants Voraussetzungen unter Berücksichtigung der im Commentar
zu Abschn. III— VI gewonnenen Resultate weiterführt, sondern auch die
oben S. 316 — 336 gegebene Erläuterung des Hauptproblems wesentlich
ergänzt. Diese Discussion ist um so unentbehrlicher, als bei einigen Com-
mentatoren (theilweise auch bei Kant selbst) hier sowohl mehrere methodo-
logische Verwechslungen als entwicklungsgeschichtliche Ungenauigkeiten mit-
spielen. Ja, es herrscht in diesem Punkte eine fast unglaubliche Verwirrung
und doch ist ohne genaueste Einsicht hierein kein Verständniss der Kritik
und ihres Hauptproblems möglich. Wir acceptiren daher gerne den Aus-
spruch Fischers (III, 351, vgl. 300) als Motto für diesen Excursr „Vor
Allem begreife man diese Frage in ihrem richtigen Verstände,
weil man sonst im Unklaren bleibt über den Geist der folgenden
Untersuchung.*^
Statt*» cantroversiae : Es bestehen zwei diametral verschiedene An-
sichten über Kants sowohl ursprünglichen, als eigentlichen Ge-
dankengang.
Erste Ansicht (Paulsen, Riehl, Windelband): Das Factum, von
welchem Kant als feststehender Thatsache ausgeht, ist: es liegen als psycho-
logische Gebilde in drei Wissenschaften synthetische Urtheile a priori vor,
welche Anspruch auf Gültigkeit erheben. Kant fragt: in welchen dieser
drei Wissenschaften sind derartige Urtheile zulässig und gültig? Kant
entscheidet: Nur in zwei Wissenschaften sind jene Urtheile gültig, zu-
lässig und rechtmässig, in der dritten nicht. Somit hat die Kritik die Auf-
gabe, den Anspruch synthetischer Urtheile a priori, wo er sich auch erhebt,
einer Prüfung zu unterwerfen, die aber nur für Mathematik und reine
388 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Naturwissenschaft (dagegen nicht für Metaphysik) rechtfertigend ausfällt. —
Durch die Darstellung der Prolegomena und der Einleitung B sei dieser
echte Gedankengang Kants verdunkelt worden, so dass sich die folgende
falsche Ansicht bilden konnte, welche ein absolutes Missverständniss der
Kritik d. r. V. sei, indem sie Kant das voraussetzen lasse, was er erst be-
weisen wolle.
Zweite Ansicht (Fischer) ': Das vorausgesetzte Factum ist: es
gibt synthetische Urtheile a priori nicht nur als psychologische Gebilde,
sondern deren erkenntnisstheoretische Gültigkeit ist in Mathematik und reiner
Naturwissenschaft ganz unzweifelhaft. Auf dieses Factum stützt sich Kant
bei der Beantwortung der Frage: warum sind diese Urtheile möglich und
gültig? sind sie auch in der Metaphysik zulässig? Indem Kant jene Gültig-
keit erklärt, entscheidet er zugleich, dass derartige Urtheile in der Meta-
physik unmöglich sind, da bei dieser Pseudowissenschafb ein analoger Recbt-
fertigungsgrund fehlt.
Hier sind nun die beiden Fragen nach dem Materialgehalt der
kritischen Grundfrage und nach der Methode der Lösung derselben gar
nicht geschieden. Indem wir diesen Unterschied machen, behandeln wir das
Erste zuerst.
A. Inhalt der Problemstellnng. Für die Entscheidung dieser ersten
wichtigen Frage kommen verschiedene Punkte in Betracht: Wir versuchen
den Knäuel der Verwirrung in einzelne Fäden zu zerlegen.
1) Was die historisch-psychologische Entwicklung Kants in Bezug auf
das Hauptproblem der synthetischen Urtheile a priori betrifft, so war für
K. die Gültigkeit der Mathematik für die Erscheinungswelt (sowie ihre Ge-
wissheit als synthetisch-apriorische Wissenschaft an und für sich) * wohl nie-
^ Es ist hier jedoch sogleich vorauszuschicken, dass Fischer diese Ansicht
nur an einzelnen Stellen vertritt, während er an anderen umgekehrt die erstere
vorträgt. Die dabei spielenden Homonymien werden unten aufgedeckt. Jedenfalls
kämpfen Paulsen, Riehl, Windelband gegen diese Ansicht, für welche sie Fischer
als Typus verantwortlich machen. Man sieht, welcher Knäuel von Missverstand-
nissen hier aufzulösen ist : Zuerst eigene schwankende Unklarheit von Kant selbst^
dann die einseitigen und inconsequenten Darstellungen bei den Auslegern und
zuletzt sogar wieder gegenseitige missverständliche Auffassungen unter den
Xetzteren !
" Wie schon mehrfach (vgl. oben 316. 317. 324. 328 ff. 330. 333) berührt
worden ist, ist die Gewissheit der Mathematik an sich als idealer Wissenschaft,
vornehmlich der Raumgebilde, und die objective Gültigkeit derselben für die
realen Gegenstände bei Kant und seinen Commentatoren fast durch^ngig ver-
mischt worden. Diese heillose Verwechslung im Begriffe der Mathe«
matik — neben der oben S. 304 ff. aufgedeckten Verwechslung im Be-
griffe der VatnrwissenBehaft und der S. 371 ff. besprochenen Verwir-
rung im Begriffe der Metaphysik einer der dunkelsten Flecken der
Kritik d. r. V. — wird im Commentar zur transsc. Aesthetik eingehend besprochen.
Hier sprechen wir, aber bloss der Einfachheit halber, nur von der realen
Das „Conformitätsproblem" im Jahr 1772. 389
mals, und die Möglichkeit, gültige Naturgesetze a priori aufzustellen, wenig-
stens seit 1770 nicht zweifelhaft. (Vgl. oben S. 367 über das Verhältniss
zu Beattie; vgl. auch Lepsius, Lambert S. 82. 86.) Dagegen wurde die
Möglichkeit gültiger synthetischer Urtheile a priori in der (transscendenten)
Metaphysik für ihn immer mehr in das Gebiet des Zweifels gerückt. Daraus
folgt, dass, wenn Kant Schwierigkeiten fand, diese für ihn kaum darin be-
standen haben können, ob jene Gültigkeit wirklich stattfinde. Die wahre
Schwierigkeit wird für Kant vielmehr darin bestanden haben, warum wir
(in Mathematik und reiner Naturwissenschaft) Aussagen (synthetische)
a priori machen können, welche für die doch von uns unabhängigen Dinge
factisch Gültigkeit besitzen. Diese Erwartung wird denn auch vollständig
bestätigt durch den Brief an Herz vom 21. Febr. 1772, in welchem die
„transscendentale Frage" zum Erstenmal aufgeworfen wird und wo sie in
ihrer unmittelbaren Ursprünglichkeit erscheint. Kant fragt daselbst nicht,
ob zwischen Verstandesurtheilen und Gegenständen Conformität herrsche,
sondern er fragt nach dem Grund der Conformität apriorischer
Urtheile mit den Dingen. Er fragt nicht, ob es apriorische Erkenntniss
gebe — er setzt diese als gültige Erkenntniss, nicht bloss als psychologische
Thatsache voraus — sondern er fragt nach der Erklärung jener Conformität.
Er fragt nach dem 8i6tt, nicht nach dem Stt. Er kann „die Conformität der
reinen Verstandesprincipien mit den Objecten" „nicht verstehen". „Woher
stimmen die Axiome der reinen Vernunft mit den Gegenständen überein ?"
Die „Frage", welche ihm dunkel erscheint und Schwierigkeiten macht, ist
die: „woher kommt die Uebereinstimmung der Begriffe a priori mit den
GegenstÄnden?" Er bespricht die bisher aufgestellten Hypothesen zur Er-
klärung dieser „Gültigkeit", verwirft sie als supernaturalistische, will aber
seinerseits „die reine Verstandeseinsicht dogmatisch begreiflich machen",
d. h. eine natürliche Erklärung derselben geben. Jene Gültigkeit ist
das aufzudeckende „Geheimniss".der Metaphysik. Schon diese Stellen lassen
logischerweise nur den einzigen Rückschluss zu, ja involviren unmittelbar,
dass jene Gültigkeit für Kant feststand, und dass er (wenigstens zunächst)
nur nach ihrem Grunde fragt. Obgleich daran kein Zweifel sein kann,
mag doch noch als auf den stringentesten Beweis auf die bei Erdmann
Proleg. LXXXVn mitgetheilte Stelle aus Kants Aufzeichnungen (nach 1770)
hingewiesen werden, wo Kant ausdrücklich die Wirklichkeit apriorischer
Erkenntniss (im Sinne der Gültigkeit) annimmt, und nach dem Wie = Warum,
nicht nach dem Ob fragt. (Vgl. oben 330.)
Hiegegen ist es kein stichhaltiger Einwand, wenn Windelband,
Viert, f. wiss. Philos. I, 250 sagt, Kant selbst habe ja erst die „reine Natur-
wissenschaft" geschaflPen, ihre Gültigkeit könne also vor 1781 kein Problem
für ihn gewesen sein. Das ist schon durch die oben mitgetheilten Stellen
Gültigkeit der Mathematik, weil nur diese für das „transscendentale Problem" Bedeu-
tung hat, obgleich Ks. eigene Fragestellung in der Einleitung eben in Folge jenes
Qoiproquo mehr die Natur der Mathematik als idealer Wissenschaft berücksichtigt.
390 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
widerlegt, wo Kant von den reinen Verstandesaxiomen u. s. w. spricht,
welche mit der späteren sog. „reinen Natorw." zusammenfallen, und welche
1772 für ihn ohne Weiteres gültig sind. Wie femer schon oben S. 376
Anm. 1 bemerkt wurde, galt jene Wissenschaft für K. als eine, wenigstens
ihren Grundzügen nach gegebene, deren wichtigste Sätze selbst „der gemeine
Verstand '^ von jeher angenommen hatte. Nur insofern K. diese Wissenschaft
erweitert und ihre einzelnen Sätze auf eine ganz neue Art beweist, will er
sie auch neu „begründen* (vgl. oben S. 808 Anm. 2 Fischer); und diese
Aufgabe verschmilzt dann (worüber Näheres unten stU) 5) mit der anderen,
nachzuweisen, dass jene Sätze auch factisch a priori als gültige aufgestellt
werden können. Die ursprüngliche, den Philosophen im Tiefsten aufwühlende
Frage war aber die von diesen beiden sehr zu unterscheidende Aufgabe:
die Erklärung, warum jene apriorischen Sätze a priori und doch gültig
sein können. Und dass K. an der Gültigkeit der Mathematik wenigstens
nie gezweifelt habe , gibt auch Windelband a. a. 0. I, 239 selbst zu : aber
damit war diese Gültigkeit eine der Erklärung sehr bedürftige Thatsache.
2) Diesem historischen Hergang entspricht die factische Darstellung in
der Kritik d. r. V., aus welcher wir zum Beweis die prägnantesten Stellen
herausnehmen (und zwar aus beiden Auflagen, jedoch durch A und B ge-
kennzeichnet, worüber unten sub 9). In der Aesthetik, nach dem Nach-
weis der Apriorität der Baumanschauung, sagt Kant (A 26), dass „es sich
nun verstehen lasse** [der Ausdruck entspricht genau den Worten im
Brief an Herz], warum wir in der Mathematik a priori über die Dinge
urtheilen können '. Die transsc. Deduction, dieser „centrale* Abschnitt der
Kritik, will in erster Linie nicht beweisen, dass die Kategorien gültig
sind (von der oben S. 351 nachgewiesenen Verwirrung von Satz und Begaff
bei K. kann hier abgesehen werden), sondern erklären, wie und warum
sie gültig sind. Dies ist die „Schwierigkeit", dies das „Räthsel* (A 89,
B 163). Ebenso heisst es A 210 vom Satz der Causalität: „Wie ein solcher
Satz völlig a priori möglich sei, dies erfordert gar sehr unsere Prüfung,
wenn gleich der Augenschein beweiset, dass er wirklich und richtig sei.**
(Vgl. oben S. 320. 321.) Wenn Kant somit A 10 von dem „Geheimniss',
das in den synthetischen Urtheilen a priori steckt, spricht, so ist das nicht
bloss die Frage, wie wir logisch und psychologisch dazu kommen können,
solche ürtheile aus nicht in einander enthaltenen Begriffen zu bilden, son-
dern vielmehr und in allererster Linie jenes eben auch im Briefe an Herz
mit demselben Ausdruck eingeführte „Geheimniss" der Metaphysik: wir
fällen factisch gültige ürtheile a priori über die Gegenstände'; wie ist
^ Man vergleiche die transscen dentale Erörterung B 39 ff., wo dies noch
schärfer hervortritt als in A (aber nur schärfer, nicht als neuer Gedanke); darnach
gibt Kant eine Erklärungsart (B 41) für die geometrische Erkenntniss; er
macht die Geometrie „begreiflich" und zeigt in diesem Sinne die Möglichkeit
der Mathematik. Vgl. B 49, wonach Kants Zeittheorie die „Möglichkeit" der all-
gemeinen Bewegungslehre erklärt.
* Daher spricht K. auch häufig, vgl. oben S. 319, von synthetischen Er-
Kant will die Gültigkeit des Apriori erklären. 391
diese frappirende Thatsache möglich? Diese Thatsacbe, die That-
Sache der Gültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissenschaft, die
Möglichkeit also, gültige synthetische Urtheile a priori zu flLllen — ist
das unbegreifliche, das Erklärungsbedürftige. Daher sagt Kant
B 19, wo er die Hauptfrage bespricht: »Auf der Auflösung dieser Aufgabe
oder einem genugthuenden Beweise, dass die Möglichkeit, die sie er-
klärt zu wissen verlangt, in der That gar nicht stattfinde ^ be-
ruht nun das Stehen und Fallen der Metaphysik.* Und A 762 heisst es:
,Wir sind wirklich im Besitze ' synthetischer Erkenntniss a priori, wie dieses
die Verstandesgmndsätze, welche die Erfahrung antecipiren, darthun. Kann
Jemand nun die Möglichkeit derselben sich gar nicht begreiflich
machen, so mag er zwar anfangs zweifeln, o b sie uns auch wirklich apriori
beiwohnen" u. s. w. Ebenso sagt Kant Vorrede A X von der Transsc.
Deduction: „Diese Betrachtung soll die objective Gültigkeit
der reinen Verstandesbegriffe darthun ' und begreiflieh machen.*^
Die dogmatischen Philosophen hatten diese Gültigkeit auf Treu und Glauben
angenommen und gar nicht zum Problem gemacht; ihm aber erschien sie
von jeher als ein „Geheimniss" ; und erst nach der von ihm gegebenen Er-
klärung brauchen wir uns über jene Gültigkeit des Apriori für die Dinge
nicht mehr zu „wundem'' (A 114). Daher sagt Kant auch in der Vorrede
B XVni, nachdem er sich mit Copernikus verglichen: „Nach dieser
Veränderung der Denkart kann man die Möglichkeit einer Er-
kenntniss a priori ganz wohl erklären." Vor dieser neuen Betrach-
tungsweise „sehe ich nicht ein, wie man (in der Mathematik) a priori
etwas von der Beschaffenheit der Gegenstände wissen könne" und auch bei
der Frage nach der Gültigkeit der Verstandesbegriffe „bin ich wiederum in
Verlegenheit wegen der Art, wie ich a priori hievon etwas wissen könne".
Aber wenn ich die neue Theorie, die von K. gefundene causa vera * kenne —
kenntnissen a priori als wirklichen, nicht bloss von synthetischen Urtheilen
a priori, deren Gültigkeit erst fraglich ist. Dass gleichwohl die allgemeine Frage-
stellung sich auf die Möglichkeit synthetischer urtheile a priori bezieht, erklärt
sich theils ans dem eben berührten Doppelsinn der Frage, theils aus den schon
mehrfach (z. B. oben S. 276 u. bes. 330 ff) besprochenen Gründen: der Verwechs-
Inng der realgültigen Mathematik mit der idealen (vgl. z. B. B 14 ff. mit B 40 ff.)
und der Ausdehnung der Frage auf die urtheile der transscendenten Metaphysik.
In den Vorlesungen über Metaphysik S. 20 heisst die Formel: Wie sind Er-
kenntnisse a priori möglich? Vgl. dag. Paulsen a. a. 0. 173.
' Ueber einen anderen, hier mit hereinspielenden Sinn s. unten sub 5.
' Natürlich nicht erst seit dem Jahre 1781, d. h. seit Kant neue Beweise
dafür aufstellte in der Analytik. Denn „der gemeine Verstand" hatte ja von jeher
die wichtigsten derselben gekannt. Vgl. Dietrich, K. u.* Newton, bes. S. 123 f.
* Hierüber s. unten S. 396 Anm. 3.
^ Es ist wohl zu beachten, dass in Kants eigenem Sinn seine Erklärung
nicht auf einer Hypothese, sondern einer caitsa verä beruht. Er spricht sich
selbst darüber häufig und stark aus (vgl. oben S. 132 f. u. bes. Vorr. B XXII
392 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
dass die Gegenstände nach unserem Erkenntnissvermögen sich richten — „so
kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen'' und , ich sehe
sofort eine leichtere Auskunft" (Vorr. B XVII).
Aus den Gründen, die wir unten sub 9, S. 417 besprechen, können wir
diesen Stellen der Kritik d. r. V., in ihren beiden Auflagen, auch einige
prägnante Stellen der Prolegomena anfügen. Nach § 4 (finis) sind Mathematik
und reine Naturwissenschaft „durchgängig anerkannte und unbestrittene "^
Erkenntnisse a priori; ebenso nach § 5 ist ihre „Gewissheit unstreitig' und
im Verlaufe des § wird ihre Wirklichkeit noch mehrfach betont (vgl. die
Stelle oben S. 319). Das Problem ist „die Untersuchung ihrer Möglichkeit"
d. h. die „Erklärung", das „Begreiflichmachen" dieses Factums (vgl. die
Stellen oben S. 287). Die „Wirklichkeit" dieser Wissenschaften — darin be-
steht das Factum — wird dann § 5 (finis) bestimmter in der „Uebereinstim-
mung der Erkenntniss a priori mit dem Object in concreto" gefunden —
und der „Grund" dieser Uebereinstimmung wird gesucht. Dadurch wird
die „Natur" dieser Wissenschaften „aufgeklärt". — Die apodiktische Gewiss-
heit der Mathematik ist eine „Wirkung" einer gesuchten „Ursache", eben
jener cattsa, welche die Uebereinstimmung erklären soll (§ 6). Dies ist
„die erste und oberste Bedingung ihrer Möglichkeit" ; und diese „erklärt*
jene Möglichkeit, und „macht^ jene gültige Wissenschaft „möglich" (§ 7).
Aus § 9 folgt, dass die Thatsache ohne die „einzige Art" der Erklärung „un-
begreiflich" bleibt. Nur durch jene Erklärung kann die Möglichkeit der
,\virklich" angetroffenen synthetischen Erkenntniss a priori „begriffen" werden
(§ 10). „Unsere transscendentale Deduction" u. s. w. „erklärt" die Möglich-
keit der Mathematik (§ 12), d. h. (nach § 11) nur so wird es „ganz begreif-
lich", wie ich „vor aller Bekanntschaft mit den Dingen, ehe sie nämlich uns
gegeben sind, wissen kann, wie ihre Anschauung beschaffen sein müsse" —
damit ist eben das „Unbegreifliche", das „Geheimniss" erklärt. Dieses Pro-
blem spielt dann in Anm. I zu § 13 noch eine grosse Rolle (worüber übri-
gens noch unten sub 10) und es wird, wie noch in Anm. HE daraufhingewiesen,
dass jene „Uebereinstimmung", dass eben „die Möglichkeit, jene Sätze von
allen Gegenständen der äusseren Anschauung a priori zu wissen", nur auf
Kantische Art „zu begreifen", sogar „leicht zu begreifen sei".
Der Besitz der reinen Naturwissenschaft als wirklicher gültiger Wissen-
schaft wird ferner § 15 ff. nochmals feierlichst bestätigt; von da an tritt
aber eine Folge jener verhängnissvollen Verwechslung der Naturphilosophie
im engeren Sinn mit der immanenten Metaphysik ein: Diese besteht darin,
dass an Stelle der Erklärung der wirklichen Naturwissenschaft der Beweis
der Gültigkeit derselben und ihrer einzelnen Sätze tritt, worüber sub 5 und 10.
Nur an einzelnen Stellen bricht jener ursprüngliche und mit Recht von uns
erwartete Gedankengang — gleichsam nach unterirdischem Laufe — wieder
hervor, so § 36: hier wird die Kantische Theorie dargelegt und dann heisst
Anm.)* Auch nach Vorr. A XI ist nur ein Theil des psychologischen Beiwerks
hypothetisch.
Die Gültigkeit des Apriori als antithetisches Problem. 393
es: «denn wie wäre es sonst möglich, diese Gesetze . . . . a priori zu
kennen? Eine solche .... Uebereinstimmung .... kann nur aus
zweierlei Ursachen stattfinden '^ u. s. w. und dann wird die Kantische Theorie
wieder als die einzig mögliche Erklärung dieser Uebereinstimmung
dargestellt. Wir sehen hier absichtlich von zweideutigen Stellen ab, so z. B.
von § 39, wo von den Kategorien die Bede ist, welche unnütz sind ohne
^Erklärung*' ihres Gebrauchs oder von der Vorrede der Prolegomena
(vgl. oben die Stelle 348), wonach K. sein Hauptverdienst darein setzt, die
Kategorien deducirt, d. h. gezeigt zu haben, , worauf sich ihre objective
Gültigkeit gründe*. Doch ist bei unbefangener Auslegung gerade in letzterer
Stelle der Sinn klar: seine Frage zielt wenigstens nach diesen Ausdrücken
(trotz des sonst theilweise anders lautenden Textes) nicht dahin, o b diese Be-
griffe objectiv gültig seien, sondern worauf sich die Gültigkeit derselben
, gründe", die also eben ein vorausgesetztes Factum war, dessen Erklä-
rung gesucht wird: es ist das fundamentum für etwas Bestehendes, das auf-
gedeckt werden soll (was auch aus Prol. § 60 folgt) — dass K. aber auch
zugleich ein Fundament für theils bestrittene, Jbheils noch nicht bestehende
Erkenntnisse legen will, wird unten stib 3 u. 5 ergänzt werden.
Kant spricht in diesen Stellen von der „Verlegenheit", der „Schwierig-
keit", welche die Gültigkeit des Apriori bereite, ja er steigert die Ausdrücke
bis zum „Räthsel", zum „Geheimniss", sogar zum „Wunder". Jene That-
Sache bedarf ja nicht bloss im gewöhnlichen Sinne der Erklärung, sie ist
nicht bloss in dem Sinne ein Problem, dass sie wie alle complicirten That-
sachen überhaupt einer causalen Erklärung, der Reduction auf das Einfache
und hier vor Allem auf die Bedingungen bedarf: sondern sie ist eine merk-
würdige, wunderbare, paradoxe Thatsache. Die Thatsache, welche Kant
erklären will, ist, um mit der modernen Logik (Drobisch, Logik
§ 142) zu reden — ein antithetisches Probletii. „Die wichtigsten Probleme
der Philosophie sind antithetische", bemerkt Drobisch dazu und gibt mehrere
Beispiele. In den Augen Kants war jene von ihm als unzweifelhaft ange-
nommene Thatsache ein solches antithetisches Problem. Zu einem antithe-
tischen Problem wird eine Thatsache, wenn sie nicht nur als eine erklärungs-
bedürftige und von aufzusuchenden Bedingungen abhängige erkannt ist,
sondern wenn sie auch mit anderen (wirklich oder anscheinend) festbegrün-
deten Sätzen resp. Thatsachen im Widerspruch steht: wenn sie also „unbe-
greiflich" in doppelter Potenz ist. Der in unserem Falle spielende Wider-
spruch wird von Kant am besten in der Vorrede B, am Anfang der
Deduction A 84 ff., auch A 129, B 166 und in den oben angeführten Stellen
der Proleg. § 11, § 12 Anm. I. III. entwickelt':
1) Wir haben factisch apriorische Erkenntnisse von den Gegenständen.
2) Die Gegenstände sind von uns unabhängig, ja unser Erkennen
ist sogar von ihnen abhängig.
* Man kann die Sache verschieden formuliren. Wir wählen für Frage und
Beantwortung die einfachste Formel.
394 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Das „Räthsel", „Geheimniss", , Wunder" best-and für Kant darin, dass wir
über die von uns unabhängigen Gegenstände nichtsdestoweniger
a priori gültige Aussagen machen können.
Genau nach der Vorschrift der Lösung antithetischer Probleme (D ro-
bisch, Logik § 143. 144) löst Kant sein antithetisches Problem durch
^Distinction" und „Begriffser Weiterung* (resp. „Aufhebung einer Prämisse*'):
Die a priori erkannten Gegenstände sind keine Gegenstände an sich, sondern
Erscheinungsdinge; sie sind eben nicht unabhängig von uns, sondern sie
richten sich nach unserem Verstand, dem „Urheber der Erfahrung*.
Wir haben somit das wichtige Resultat: Kaut'S ursprüngliches und
eigentliches Problem, das ür- und Grundproblem der Kritik d. r. V. ist ein
antithetisches Problem; es ist das antithetische Problem: Warum kann ich gül-
tige (synthetische) ürtheile a priori über die Gegenstände fällen? Kant setzt
mehrfach sein Verdienst darein, diese Frage als Erster aufgeworfen zu haben
(vgl. oben S. 334 „das neue Problem*); er tadelt Prol. K. 142 Anm. die Dog-
matiker, dass sie dieses Problem („das Begreifen*) „noch nicht aufgelöset,
ja nicht einmal aufgeworfen haben*. Das d-aofidCeiv über eine bis dahin als
selbstverständlich hingenommene Thatsache war die Veranlassung zur Kritik
d. r. V. und wie immer der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Umwälzungen.
Diese Thatsache ist die factisehe Gültigkeit a priori gefällter Ürtheile (sowie
die Gültigkeit apriorischer Begriffe). Wie in aller Welt ist eine so seltsame,
widersinnige und wunderbare Thatsache nur möglich? Der gemeine Verstand
und die bisherige Philosophie hatten unbedenklich von jeher die Gesetze der
Substantialität und Causalität ausgesprochen und (zunächst im Erfahrungs-
gebiet) angewandt; und wunderbar! — die Gesetze trafen ausnahmslos zu,
und doch war Niemanden das darin liegende Wunder aufgefallen \ Niemand
erkannte diese mysteriöse Paradoxie, dass wir über die von uns unabhängigen
Dinge aus eigener Machtvollkommenheit a priori gültige Aussagen machen
können. Und war das Wunder Einem oder dem Andern aufgefallen, wie
dem Piaton (über seine Lösung vgl. oben 335 und Prol. K. 142 Anm.),
Malebranche oder Crusius, so wurden seltsame Erklärungen darüber auf-
gestellt, noch seltsamer und mystischer als die mysteriöse Thatsache selbst.
Es ist sonach eine fundamentale Verkennung des centralen Punktes
der Kritik d. r. V., wenn man, wie es die oben genannten Gegner Fischers
thun, folgenden Einwand gegen dessen Darstellung erhebt: wenn Kant die
Gültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissenschaft vorausgesetzt hätte,
hätte er seine Kritik nicht zu schreiben gebraucht: dann wäre diese mit
ihrem Anfang schon beim Ende angelangt. Im Gegentheil: Das eigentliche
kritische Problem beginnt erst mit dieser Voraussetzung, und besteht gar
' Dasselbe gilt natürlich von der Mathematik und von den Raiimbestim-
mungen überhaupt, wozu man besonders Proleg. § 11 vergleiche, wonach das, was
Kant „gerne wissen möchte" (eben jene Möglichkeit apriorischer Bestimmung),
durch seine Theorie „ganz begreiflich" wird. Dies „Räthsel" betont auch Lange,
Gesch. d. Mat. II, 11, sowie Caird als „secrei"' (unten stib 11).
Kant will die Gültigkeit des Apriori beweisen. 395
nicht ohne sie; das Problem: warum kann ich gültige Urtheile a priori
über die Dinge fUllen? Die so vorausgesetzte Gültigkeit ^ ist gerade das aller-
tiefste Problem Kants, sie ist für ihn ein erklärungsbedürftiges Phänomen,
ein seltsames RäthseL Er fragt nach der Auflösung des Bäthsels, nach der
Vera causa dieser Thatsache. — Paulsen erhebt ferner folgenden Einwand:
jene Sätze gelten ja doch auch ohne diese Erklärung und kommen auch ohne
sie in tägliche Anwendung, somit sei diese ganze Erklärung eigentlich un-
nöthig. Dies ist schon darum kein genügender Einwand, weil diese Argumen-
tation ja alle Wissenschaft treffen würde, sei es z. B. astronomischer oder
physiologischer Phänomene^ für welche doch auch sowohl aus rein theoreti-
schem Interesse die Erklärung gesucht wird, als um Störungen dort zu ver-
stehen, hier zu heben oder zu vermeiden. Uebrigens hat Kant jenen Ein-
wurf sich als Selbsteinwand gemacht und zugleich beantwortet : Man könnte
ja dieser Frage überhoben zu sein glauben, da jene Sätze wirklich gelten
(A 209); war das Resultat des Aufwands und der Zurüstung werth? (A 236).
Er beantwortet diesen auch in den Prolegomena (vgl. oben 308 und bes. 366),
sowie noch A 233 aufgeworfenen Einwand dahin, dass ohne die Lösung
dieser Au%abe die Anmaassungen der transscendenten Metaphysik (vgl. oben
die „Störungen'') nicht zurückgewiesen werden könnten. Allein das Problem
hatte, wie aus dem Brief an Herz, dem Anfang der Deduction u. s. w. her-
vorgeht, für K. auch seinen selbständigen Beiz, und seine Lösung auch ohne
jene praktische Wendung wissenschaftlichen Werth genug * ; denn es bleibt
doch (natürlich nur im Sinne Kants) ein stupendes Wunder, dass wir apriori
gültig über die Gegenstände urtheilen können. Kant fragt nach der Er-
klärung dieser Thatsache, nach dem Wamm dieses Dass.
3) Hätte Kant es bloss mit den Dogmatikern zu thun gehabt, so wäre
dies (nebst dem stib 5 Behandelten) das einzige Problem der Kritik d. r. V.
geblieben. Er fand es auch ganz von dem dogmatischen Boden aus •, auf
' Die bisherigen Aasführangen sind vollständig genügend^ nm von der
Thatsächlichkeit dieser Voraussetzung zu überzeugen. Doch vergleiche man zum
Ueberfluss für die Gültigkeit der Mathematik noch die Stellen und Bemerkungen
oben 8. 96 Anm., 162. 163. 164. 187. 210. 240. 335 und ganz besonders 308; für
die Gültigkeit der reinen Naturwissenschaft S. 200 ff. 211 ff. 232 f. 304
bis 310. 344. 375; für beides S. 85 Anm., 197 ff. 238 (Realität der Fortschritte,
reeller Besitz u. s. w.), 241. 292 ff. 344. 357. 366 f. 371 f. 374 f. 381 ; femer
besonders „Entdeckung", Ros. I, 444: „Vorlesungen über Metaph." 20 ff. und zahl-
lose andere Stellen z. B. „Fortschr." Ros. I, 493 (vgl. Dietrich, K. und Newton
S. 123). 507. Nach allen diesen Stellen war jene Gültigkeit für Kant keines-
wegs problematisch — wohl aber ein Problem.
» Vgl. Proleg. § 12 finis: Ohne Kants Theorie würde die Möglichkeit der
Mathematik „zwar eingeräumt, aber keineswegs eingesehen werden können".
Man vergl. femer Prol. § 4 (finiaj u. § 5 (init.)^ wonach die Untersuchung der Mög-
lichkeit des Wirklichen „dennoch" noth wendig ist, um die Bedingungen des Ge-
brauchs, den Umfang und die Grenzen zu bestimmen.
• Vgl. oben S. 28. 33. Es wurmte ihm, dass (vgl. oben S. 343) „Jedermann
sich der Begriffe getrost bediente, ohne zu fragen, worauf sich ihre objective
396 Exciirs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
dem er im Jahre 1770 stand, und er fand es wahrscheinlich ganz selbständig
in jenem schon oben angezogenen Briefe an Herz. Der übermächtige Einflnss
der Leibniz'schen Nouveaux Essais wirkte so stark, dass ihm das Apriori
und dessen Gültigkeit nnumstösslich feststand. Nor wer an dieser That-
sache als unerschütterlicher festhielt, konnte überhaupt jenes Problem des
Warum dieser Gültigkeit auf werfen. Wer an dieser Gültigkeit zweifelt,
wird in erster Linie die Thatsache selbst zu erweisen bestrebt sein: dass
Kant in jenem Briefe dieses Bestreben nicht zeigt, sondern nur nach dem
Warum der rohen Thateache fragt, ist ein Beweis, dass ihm eben diese That-
sache um jene Zeit als etwas Fragloses feststand. Aber Kant hatte es auch
mit den empiristischen Skeptikern zu thun und darum musste ihm auch
daran liegen, jene Thatsache ' überhaupt erst nachzuweisen : denn diese Partei
bestritt das Vorhandensein eines gültigen Apriori; und Manche giengen so
weit (was übrigens auch einzelne eklektische Philosophen thaten), die stricte
Gültigkeit der mathematischen und selbst einiger mechanischer Grundsätze
(z. B. des Continuitätsgesetzes) für die physischen concreten Erscheinungen
zu bestreiten (vgl. oben S. 366 Anm.), wenn gleich sie deren abstracte Wahr-
heit zugaben. Diese Bestreitung war Kant persönlich immer ganz absurd
(„absonum^^ „Chikane'O erschienen. Aber da es einmal so zu sagen solche
Käuze gab, so musste auf sie Bücksicht genommen werden, und desshalb
musste Kant bestrebt sein, jene Gültigkeit des Apriori nicht bloss schon zu
erklären , sondern auch erst zu beweisen ". Die Ausfuhrung geschah aber
nicht so, als ob Kant zuerst die Gültigkeit bewiesen und dann erklärt hätte.
Denn logisch genommen bringt es der Gang der Argumentation naturge-
mäss mit sich, dass der Nachweis, warum jene apriorischen Urtheile und
Begriffe gültig seien, zugleich* auch den Beweis, dass sie factisch gültig
Gültigkeit gründe". Es waren übrigens schon mehrere Dogmatiker auf dieses
Problem gekommen, vgl. oben S. 335 und Paulsen, Entw. 12 ff. 176. Dass
Kant das Problem noch ohne skeptische Beeinflussung fand, hat Erdmann (vgl.
oben S. 347) wahrscheinlich gemacht. Dag. Dietrich, K. u. Newton S. 122. 248.
' Man bemerke wohl, dass es sich hier um die Thatsache der Gültigkeit
des Apriori handelt, nicht um die Thatsache der Apriori tat gewisser Sätze.
Beides wird, wie unten sub 11 erörtert wird, auch bei Kant selbst häufig gänzlich
verwechselt, und diese Verwechslung spielt theilweise auch in der oben darge-
stellten Controverse mit, wovon wir aber hier abstrahiren müssen; sie ist eine
Folge der Gleichstellung der Mathematik und reinen Naturwissenschaft.
^ Dies geschah bezüglich der Mathematik schon in der Dissertation. In
§ 14, 6 wird das „neceasario consentire^ der „mottts" mit den „axianuUa de tempore''.
obwohl die Annahme des Gegentheils f^absonum" ist, deductiv bewiesen. Ebenso
wird das y^necessario consentire^ in § 15 E bezüglich der Geometrie bewiesen,
(^»to^u«'*); sonst wäre der „wau« geometriae parum tutus*^. Dieser Beweis ist aber
ebensogut auch eine Erklärung der Gültigkeit, wenn diese vorausgesetzt ist Und
es ist beachtenswerth, dass in der Dissertation der Beweis, in der Kritik die
Erklärung in den Vordergrund tritt (während in den Prolegomena Beides zu-
gleich berücksichtigt wird, vgl. unten sub 10).
' Diese Auffassung wird vollständig bestätigt durch Prol. § 13 Anm. I,
Die Gültigkeit des Apriori als hypothetisches Problem. 397
seien, mit einschloss ^ Der modus explicandi enthält zugleich, falls die ex-
plicatio deductiv aus einer causa vera et res recUis geschieht, die probatio
des Explicandum, wenn dieses angezweifelt wird.
Diese Seite seiner Leistung hebt nun Kant besonders an den Stellen
hervor, wo er sein Verhältniss zum Skepticismus bespricht, nirgends deut-
licher als Krit. d. pr. V. 93 f., wo er zeigt, wie er durch seine „Deduction*
den , totalen Zweifel ** an der Gültigkeit der Mathematik und Naturwissen-
schaft .aus dem Grunde heben'' und diese Erkenntniss als a priori gültige
»retten* (vgl. Prol. § 27, § 30), oder „sichern" , wie es an andern Stellen
heisst, z. B. Prol. §.13 Anm. I. ÜI., oder auch „darthun* konnte '. Und
da dieser Beweis mittelst derselben Argumentation geführt wird, wie die
Erklärung, so dient das Principium eocpUcandi zugleich als Principium probandi.
Diese Frontveränderung Kants ist logisch so zu präcisiren: die
Gültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissenschaft, welche (nach
Nr. 1. 2) für Kant selbst ein abgolntes Problem war, wird für die Kritik
d. r. V. ein hypothetisches Problem. Die Logik (vgl. Drobisch, Logik § 140
und 141 ; vgl. oben S. 164) unterscheidet oder (da diese Unterscheidung sowie
die obige Charakterisirung des antithetischen Problems sich u. W. nur bei
Drobisch findet) sollte wenigstens unterscheiden zwischen absoluten und
hypothetischen Problemen: ein absolutes Problem entsteht, „wenn eine un-
mittelbar gewisse und daher nicht aufzuhebende Thatsache (Factum) ge-
geben ist, die jedoch zu einer Ergänzung durch Denken nöthigt, ohne welche
sie als unbegreiflich erscheint ; beim hypothetischen Problem wird nicht
bloss ein unmittelbar feststehendes Factum, das uns ein Problem aufgibt,
resp. sich selbst als Problem darstellt, erklärt, sondern es wird durch die
Erklärung, d. h. durch die Ableitung aus gewissen Erklärungsgründen
(aus causae verae reales) zugleich erst über das wirkliche Vorhandensein
einer solchen als möglich angesetzten, also noch problematischen Thatsache
entschieden: die Erklärungsgründe sind zugleich Beweisgründe. Ge-
nau so verhält es sich in dem vorliegenden Falle: es ist die (nicht durcb
bloss empirische Gonstatirung nachweisbare) Thatsache absolut allgemeiner
und stricter Gültigkeit apriorischer Behauptungen in der concreten Er-
wo es in dieser Aufeinanderfolge heisst: „so ist ganz leicht zu begreifen und
zugleich miwidersprechlich bewiesen" u. s. w. Genau dieselbe Aufeinander-
folge findet sich Vorr. B XVIII : erklären, beweisen. Selten umgekehrt, so Vorr.
A X: Gültigkeit dartbun und begreiflich machen. Mehrfach findet sich die Ver-
bindung: das apriorische Erkennen sei nicht allein möglich, sondern auch
nothwendig z. B. A 129. A 155. „Zugleich** auch bei Riehl 340 Anm.
^ Zugleich schliesst jener Nachweis und dieser Beweis die Prämissen ein,
aus denen dann auf die Ungültigkeit der transscendenten Metaphysik geschlossen
wird« Vgl. unten süb 5.
' Auch Dietrich, Kant und Newton 6. 124 betont dies richtig: Obgleich
K. selbst niemals an der Gültigkeit zweifelte, „mussten die skeptischen Bedenken
gegen die objective Geltung der metaph. Grundsätze beschwichtigt werden**. Vgl.
noch ib. 124 ff. u. bes. 8. 134 ff.
398 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
scbeinungswelt, um welche es sich handelt. Für Kant ist dies eine fest-
stehende Thatsache und er denkt daher in erster Linie an die Erklärung
des „Geheimnisses*; für die Skeptiker ist diese, die Gültigkeit, zweifelhaft
oder sogar gar nicht vorhanden: also muss Kant die dadurch problema-
tisch gewordene Thatsache nicht bloss erklären, sondern auch beweisen '.
Der Natur der Sache nach geht dieser Beweis (da er empirisch nicht zu
führen ist) nicht der Erklärung vorher, sondern folgt unmittelbar aus oder
liegt unmittelbar in der Erklärung der Thatsache, falls wenigstens diese Er-
klärung aus causae verae et reales stringent abgeleitet ist.
Da ein Werk wie die Kritik d. r. Y. nicht bloss wie ein mathemati-
scher Beweis ausgedacht wird, sondern in dem Kopfe eines Genies wie Kant
auch, wie jedes Geisteswerk, still reift und synthetisch wächst, — auch
Dietrich, K. u. Newton, Vorr. Vn vergleicht das Werden der Kritik mit
einem „Naturprocess" — so braucht dies Alles (so wenig wie die nachher
besprochenen Punkte) Kant so klar zum Bewusstsein gekonmien zu sein, wie
das bei dem analytischen Beobachter der Fall ist; eben darum schieben sich
diese beiden Argumentationszielpunkte abwechselnd vor und lösen sich gleich-
sam ab ; es sind zwei zusammengehörige Brennpunkte einer Ellipse, während
die einseitige Betrachtung Fischers i|pd seiner Gegner je nur einen Punkt
ins Auge fasst und die ganze Fülle der durch die Peripherie der Kritik
eingeschlossenen Gedanken radial je auf diesen Einen bezieht, anstatt jene
zusammengehörige Zweiheit , jenen naturgemässen Dualismus zu erkennen,
und damit eben zu sehen, dass die Argumentation diese zweiseitige oder
zweischneidige Bedeutung hat: es bewährt sich ja hierin wieder die in der
Einleitung ausgesprochene Ueberzeugung, dass der Ariadnefaden durch das
Labyrinth der Kritik d. r. V. die zweischneidige Beziehung derselben zum
Dogmatismus und zum Skepticismus ist, welche ihrerseits wieder eine doppel-
sinnige ist: theils Anerkennung, theils Bekämpfung, welche beide sich syn-
thetisch zur Fortbildung verbinden. Der Beweis der Gültigkeit bricht
dem Skepticismus die Spitze ab, die Erklärung der Gültigkeit holt ein
Versäunmiss der Dogmatiker nach: und wie, beiläufig bemerkt, letztere auf
ein Element des Empirismus sich stützt, so ist jener nicht ohne rationalisti-
sche Annahme geführt. — Ist also jene Doppelbeziehung Kant selbst nicht
zu vollem Bewusstsein gekommen (obwohl er die allgemeine Vermittlung
von Dogmatismus und Skepticismus mit vollstem Bewusstsein verfolgte), so
erklärt sich daraus auch, dass eben an vielen Stellen von der Erklärung
des Wamm leise und unmerklich zum Beweise des Dass übergegangen
wird, so dass es der Leser oft eben so wenig deutlich merkt, als es von
Kant mit Bewusstsein beabsichtigt ist. Ja man kann diesen Wechsel ', dieses
» Vgl. oben S. 320 Amn., 321, 323. Das apodiktische Datum ist (vgl. oben
S. 164) ein problematisches Däbile geworden.
• Sehr gut kann man denselben an den oben S. 317 f. mitgetheilten Stellen
verfolgen^ wo zuerst nach dem ^Grund^ der Gültigkeit gefragt und dann diese
erst „gesichert", dann aber wieder „eingesehen" werden soll. Vgl. femer 341
Das Schwanken zwischen Erklärung und Beweis bei Kant. 399
Schwanken, dieses gegenseitige Sich- Verdrängen und abwechselnde Sich- Vor-
drängen mit den bekannten optischen Wettstreitphänomenen ver-
gleichen — eine Vergleichung, welche auch in Bezug auf den Streit über den
Hauptzweck der Kritik d. r. V. ihren eigenthümlichen Werth behauptet.
Dieser üebergang lässt sich z. B. gut bei dem Begriffe der Deduction
verfolgen. Nach A 85 ist die Deduction „die Erklärung der Art, wie sich
Begriffe a priori auf Qegenstände beziehen '^j nach A 128 ist ihre , Leistung^,
.»die objective Gültigkeit der reinen Begriffe a priori begreiflich zu
machen'* (»um dadurch ihren Ursprung und Wahrheit festzusetzen'' —
die Erklärung führt den Beweis mit sich!). Dagegen heisst es A 111:
die Kategorien „haben also a priori objective Gültigkeit: welches dasjenige
war, was wir eigentlich wissen wollten^; damit ist also der Beweis der
Gültigkeit die „ eigentliche '^ „Leistung'' der Deduction. Dieser unklare
Wechsel geht durch die ganze Deduction von vorne bis hinten:
80 findet sich z. B. das „Beweisen" A 84, „Darthun" A 90. 186; das „Er-
klären* A 87. 110 „begreiflich machen" A 89. 94. Ebenso in der zweiten
Auflage: nach B 144. 151. 161. 162 handelt es sich um „Beweis", nach
B 145. 160. 163 um „Erklärung" eines „Befremdlichen". Diesem Hinweis
auf das antithetische Problem begegnen wir auch bei den Grundsätzen;
die „befremdliche Antecipation", A 167, in der wk durch Erkenntniss
a priori „der Erfahrung vorgreifen", wird A 175 auch als etwas „Auf-
fallendes" und „Bedenkenerregendes" bezeichnet, und es handelt sich
nach A 150. 153 um Erklärung, dagegen an vielen anderen Stellen 148.
158. 171 ff. 232 ff. um Beweis, während Beides A 210 hinter einander sich
findet, wie ja auch — nur in umgekehrter Folge — nach A 56 die „trans-
scendentale" Untersuchung dahin zielt, zu erkennen, „dass und wie gewisse
Vorstellungen . . . a priori . . . möglich seien". Und in der „Metaphysik"
S. 29 steht unmittelbar hintereinander: „die Erklärung der Möglichkeit
der reinen Verstandesbegriffe nennen wir die Deduction" ; „die Deduction . . .
ist ein Beweis von der Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe". Getrennt
treten beide auf, jene in offenbarster Weise besonders in der Vorr. z. d.
Metaph. Auf. der Naturw. Bos. V, 816 (^^Erklärmigsgriind^^ ^^der befremd-
lleken Elnstlmmnng der ErsohelDungen su den YerstandeBgesetsen^Of ^^^^
in der Vorr. z. Kr. d. pr. Vern. XXV O^Bewels der ITeberetnstimmaiig mit
dem ObJect'O-
Beide methodologisch verschiedene Aufgaben fasst Kant gerne, z. B.:
A 96. 283. 733 u. ö. (vgl. oben S. 28 ff. 308. 315. 318; auch S. 54 Anm. und
S.. 57) in dem beliebten Ausdruck „Rechtfertigung" zusammen, so dass man
ihm mit Paulsen (Entw. 173) in dieser Beziehung allerdings einen „Doppel-
sinn" vorwerfen muss.
4) Es erklärt sich nun aus diesem Sachverhalt das auffallende Schwanken
bis 348 (351), vgl. auch oben S. 335 die Stelle aus Cohen — Stellen, in welchen
80 za sagen durch eine unmerkliche Umdrehung der Coulissen der ganze Anblick
der Bühne total verändert wird.
400 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
und die verwirrende Zweideutigkeit, welche in der Literatur * angetroffen
wird: die einseitigen Vorurtheile, die unvollständigen Auffassungen corrigiren
und ergänzen sich selbst — freilich zum Schaden der Klarheit und Conse-
quenz; es sind aber auch diese Inconsequenzen der beste Beweis fiir die
Richtigkeit der obigen Darstellung, zugleich aber auch dafür, dass der
Kantische Text solche Schwankungen enthält, die sich naturgemäss bei den secun-
dären Schriftstellern in erhöhtem Maasse finden, die man aber bei den Letz-
teren nur entdecken kann, wenn man sie bei Kant selbst kennt. So geht
zwar Fischer, dessen grosse und unvergessliche Verdienste um die Kritik
d. r. y. durch die folgenden Bemerkungen nicht im geringsten geschmälert
werden sollen, davon aus, dass Kant nur die Erklärung der allgemein an-
erkannten Thatsache, der Gültigkeit des mathem. und naturwissenschaftlichen
Erkennens geben wollte, aber im Verlaufe der Darstellung tritt an Stelle
der Erklärung der Beweis dieser Gültigkeit. Dadurch entsteht ein Schillern
und Schwanken der Darstellung, das zuerst bei einem aufmerksameren Leser
geradezu Schwindel verursacht — bis er dem Quiproquo auf die Spur kommt.
Die erstere Darstellung findet sich bei Fischer, III, 15 — 26. 30 ff. 269.
281 ff. 298 ff. 810. 338 ff.» 350 ff. 354. 390. 432. 618. Nach diesen
Stellen steht die Sache einfach so, dass die Gültigkeit der Mathematik und
reinen Naturwissenschaft, ihre Natur als wahre, echte, bereciitigte, anerkannte
Erkenntniss durchaus unzweifelhaft ist. Es handelt sich bloss darum — aber
darin freilich besteht auch das von Fischer bes. 30 ff. 280 in üebereinstim-
mung mit der obigen Darstellung (avb 1 u. 2) mit Recht stark betonte
eigentliche, ursprüngliche „transscendentale Hauptproblem* — dieses unleug-
bare und auch anerkannte Factum, das zunächst in diesem Sinne Voraus-
setzung ist (281), zu erklären, d. h. die Bedingungen aufzusuchen, welche
es — als factisch vorhandenes — möglich machen. Dieser ersteren Dar-
stellung steht aber nun .die andere schroff gegenüber, welche sich auf
S. 288. 291. 301 ff. 406 ff. findet. Darnach erheben erst Mathematik und
reine Naturwissenschaft Anspruch auf Gültigkeit und die Kritik entscheidet
erst über ihre Rechtmässigkeit. —
Man fragt billig, wie es denn nur möglich sei, einen derartigen logi-
schen Fehler zu begehen? wie möglich, dass der Leser ihn nicht sofort be-
merkt? wie möglich, dass Fischers Gegner nur die erstere Darstellung bei
ihm fanden? Es war das nur dadurch möglich, dass beide Darstellungen
unmerklich in einander übergehen, einander unhörbar ablösen. Und dies ist
wieder nur möglich durch mehrere Homonymien, d. h. durch den Um-
* Ein derartiges Beispiel ist sehr instructiv und es verlohnt sich, ein solche«
im Einzelnen mit den betreffenden Autoren in der Hand zu verfolgen, welcher
unmaassgebliche Vorschlag dem Leser hiemit gemacht sein möge, damit er sehe,
wodurch die in der Kantliteratur so unerschöpflichen Missverständnisse entstehen,
und welche unsägliche Mühe es kostet, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen.
' Ueber den an dieser Stelle mitspielenden Streit zwischen Fischer und
Trendelenburg s. den Commentar zur Aesthetlk.
Das Schwanken zwischen Erklärung und Beweis bei Fischer. 401
stand, dass begrifflich verschiedene Vorstellungen dieselbe sprachliche Uni-
form tragen. Diese doppeldeutigen Worte vermitteln jenen leisen Uebergang;
sie sind gleichsam die Verbindungswege, auf welchen der Gedankenzug von
einem auf das andere Geleise ohne Geräusch hinübergleitet. Es sind das
die beiden Begriffe: ^Thatsache* und „erklären*; dazu kommt noch eine Reihe
anderer die Verwirrung begünstigender Begriffe. Fischer gebraucht den Aus-
druck „Thatsache" sehr häufig: aber an den ersteren Stellen verbindet er
damit naturgemäss stets die Vorstellung der Gültigkeit: es ist die That-*
Sache der Gültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissenschaft, der in
ihnen factisch vorliegenden Erkenntnisse, welche der Erklärung unter-
worfen werden soll; so S. 15 ff., 80 ff., 281 ff, 298 ff., 310, 851, 432. Der
Gegensatz oder die Ergänzung zur „Thatsache" ist hier beständig „Erklärung*;
das „Thatsächliche* ist vielleicht auch „unerklärlich* (S. 31) u. s. w. Den
Uebergang von dieser ersten Bedeutung macht nun Fischer hauptsächlich
S. 300 ff.: „Thatsache* erhält da ganz unmerklich ejne viel weniger weit-
tragende Bedeutung; es ist nicht mehr die objective Gültigkeit, sondern
bloss das psychologische Vorkommen synthetischer Urtheile a priori, das
jetzt „Thatsache* genannt wird ^ Dasselbe findet sich noch 287 f., 291,
303 f., 350, 433 f., 454; da nun „Thatsache* jetzt viel weniger in sich
schliesst, verräth der Autor diesen Wechsel dadurch, dass er jetzt vom
„blossen Factum*, von der „nackten Thatsache* spricht 808. 304. 454. Der
Gegensatz zu „Thatsache* ist nicht mehr „Erklärung*, sondern (287 f., 291,
301, 303, 433 f.) Entscheidung der Rechtmässigkeit jener „blossen* d. h.
bloss psychologischen, nicht schon erkenntnisstheoretischen Thatsache ; Gegen-
satz von „thatsächlich* oder „factisch* ist „rechtmässig* (304. 350). Dieses
Schwanken hängt nun damit zusammen, dass (ganz nach Analogie unserer
obigen Darstellung) doch auch die Skeptiker berücksichtigt werden müssen,
30 f. 280, vor Allem aber damit, dass auch die synthetischen Urtheile a priori
■der transscendenten Metaphysik ' als „thatsächliche* eingeführt werden und
«ine Entscheidung über ihre Rechtmässigkeit herausfordern. Dies ist auf
S. 290 f. 295. 301 f. 433. 454 der Fall. Daraus entstand dann jene Dar-
stellung, welche Fischer S. 302 ff. 309 gibt: darnach stellt die Kritik die
Alternative zwischen Mathematik und Physik einerseits und Metaphysik
andererseits; alle drei Wissenschaften sind thatsächlich, d. h. psychologische
Thatsachen; es fragt sich, welche dieser thatsäch liehen Wissenschaften auch
* Dieses Schwanken bemerkte zum Theil auch schon Volkelt, Ks. Erk.-
Th. S. 199 Anm. Dieses Schwanken ist nichts als die Folge desselben Schwankens
bei Kant selbst im Terminus „Wirklichkeit**, „wirklich" B 20 ff., vgl. oben die
fiteilen 8. 208 „Factum der Mathem." „Gültigkeit" 357 und bes. S. 873 (über
„subjective Wirklichkeit") u. S. 374. Aehnliche Verwirrung bei Üeberweg, Gesch.
<i. Phil. 5. A. III, 195, auch bei Erdmann, Ks. PpoI. Einl. S. 28—30.
' An einzelnen Stellen (vgl. 259. 269) spielt noch die Verwechslung der
{gültigen) immanenten und (ungültigen) transscendenten „Metaphysik" herein —
«ine Gleichnamigkeit, welche viel Unheil angerichtet hat in der Kantliteratur.
Yalhinger, Eant-Gommentar. 26
402 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
eine rechtmässige Existenz führen, d. h. eben, welche gültig sind, welche nicht?
Man sieht den Widersprach mit der früheren Darstellung: nach der ersteren
Darstellung steht die , Rechtmässigkeit ** der Mathematik und reinen Natur-
wissenschaft gar nicht in Frage, ihre Gültigkeit ist Thatsache — diese Thatsache
bedarf der Erklärung. Der späteren Schilderung (S. 302 ff.) zufolge wird erst
diese Rechtmässigkeit nicht nur bewiesen, sondern sogar erst entschieden, es ist
ja ein negativer Ausfall dieser Entscheidung an sich nicht unmöglich ^
Dieses Schwanken drückt sich auch aus in dem fast yerhängnissvoUen Gebrauch
des juristischen Bildes, des Processbildes : nach S. 283 ist die quaestio facti
eben Feststellung der Thatsache im Sinne der Gültigkeit, quaeatio juris ist
(vgl. oben S. 162 Anm.) der „Nachweis, kraft welches Rechtes dieselbe exi-
stirt', d. h. die Frage: »wie ist die Thatsache der Erkenntniss möglich?"
Ganz anders (jedoch theilweise z. B. S. 291 schwankend) nachher, nach jenem
Wechsel des Begriffes der „Thatsache*: S. 288. 291. 304 (354. 433 f.). Da
fragt es sich, ob jene Wissenschaften (es ist, wie bemerkt, die Metaphysik
hinzugetreten) mit Recht existiren? ob sie also gültig sind? Auch der schon
bei Kant als zweideutig stigmatisirte Terminus , Rechtfertigung*, »Deduction"
kehrt hier in demselben Schwanken wieder*. Dieses Schwanken wird nun
weiter verdeckt durch eine zweite Haupthomonymie : durch den Doppelsinn des
Ausdruckes „erklären*. Während nämlich an allen Stellen des ersten Ge-
dankenganges die Erklärung in der Entdeckung der causa vera et realis jener
Gültigkeit, also ihrer erkenntnisstheoretischen Bedingungen besteht,
verlangt auch die psychologische Facticität der Metaphysik, d. h. ihrer synthe-
tischen Ürtheile ihre Erklärung, natürlich hier nur ihre psychologische Er-
klärung. Diese Art der , Erklärung* findet man auf S. 302. 303. 304. 434.
454 f. Der Uebergang findet eben wieder auf S. 300 ff. statt. So bedürfen
allerdings alle drei Wissenschaften' der „Erklärung*, aber in einem ganz
anderen Sinne, denn dort wird nach dem Grund der objectiven Gültigkeit,
^ Während das Schwanken zwischen Erklärung und Beweis die bei Kant
selbst vorliegende Doppelseitigkeit widerspiegelt, geht Fischers Darstellung a. a. 0.
übrigens in seiner Behauptung jener Alternative weit über den Sinn Kants
hinaus, nnd gibt eine zwar ebenso fein aasgedachte, als wirklich glänzend durchge-
führte, aber unkantische Schilderung: Kant hat nirgends zwischen Mathematik
und Physik einerseits und Metaphysik andererseits ein Entweder — Oder auf-
gerichtet; die Metaphysik setzt nicht Bedingungen voraus, welche Mathematik nnd
reine Naturwissenschaft unmöglich machen würden ; die Bedingungen der Mathe-
matik und reinen Naturwissenschaften erklären noch nicht allein die metaphy-
sischen Verirrungen u. s. w. Wie Fischer, auch F. Schultze, Phil. d. Nat, ü, 8 ff.
' Gelegentlich findet sich der Ausdruck „begründen**, der ebenso beides
— Erklärung und Beweis — bedeuten kann, das Erstere bei der Mathematik
Fischer 315, das Zweite bei der immanenten Metaphysik 294 (vgl. oben S. 308
Anm. 2, S. 375-376). Vgl. ffischer, V, 5 ff., Ac. Reden 86 f. Bei Kant selbst
findet sich einmal der neutrale Ausdruck „die Möglichkeit erforschen" A 65.
' Vgl. die ganz unklare Stelle bei Fischer 295, womach die Aufgabe der
Kritik in der „Erklärung der Metaphysik überhaupt** bestehen soll« Vgl. ib. 269.
Das Schwanken zwischen Beweis und Erklärung bei Riehl. 403
hier nur nach dem des psychologischen Vorhandenseins gefragt; nach dem
psychologischen Grund wird übrigens auch bei den beiden ersten gefragt,
wie oben S. 317* 323 erörtert wurde uiid wie auch Fischer S. 434 gelegent-
lich erkennt. Ausserdem wird bei den beiden ersten Wissenschaften der
Beweis der Gültigkeit, bei der Metaphysik der Beweis der Ungültigkeit,
d. h. die Widerlegung der Gültigkeit gefordert. Somit verlangen Mathematik
und reine Naturwissenschaft in erster Linie Erklärung ihrer Gültigkeit
(dazu noch Erklärung ihrer psychologischen Thatsächlichkeit) und dann den
Beweis dieser Gültigkeit — beide heterogene logische Aufgaben verwechselt
Fischer. Die Metaphysik verlangt den Beweis ihrer Ungültigkeit und
dazu noch die Erklärung ihrer psychologischen Thatsächlichkeit -— letztere
beiden Aufjgaben unterscheidet Fischer, freilich spät genug S. 434 u. 454.
Bei Riehl, dem Gegner Fischers, findet sich nun aber ganz genau
in dieser Beziehung dieselbe Inconsequenz \ nur dass Biehl umgekehrt im
Verlaufe der Darstellung dem Beweis der Gültigkeit der Mathematik und
reinen Naturwissenschaft deren Erklärung als schon gültiger unterzu-
schieben gezwungen ist: so corrigirt sich der Fehler auch hier von selbst,
leider auf Kosten der Klarheit durch ein Quiproquo. Trotzdem Biehls Aus-
fuhrungen über Kants Problem und Methode eine Fülle der feinsten und
fruchtbarsten Gedanken enthalten (bes. Kritic. I, 5 fp. 166 ff. 202 ff. 274 ff.
315 ff., vgl. desselben j^BegrifS der Philos." S. 61 ff.), herrscht doch auch
hier fast dasselbe Schwanken wie bei Fischer. Wie oben bemerkt, will
Kant nach Biehl die Gültigkeit der betreffenden Wissenschaften erst beweisen.
Demgemäss sind nach S. 327. 330. 331. 332 die synthetischen Urtheile a priori
in Mathematik und reiner Naturwissenschaft bloss psychologische Facta, ihre
Grültigkeit ist noch zu „bezweifeln^. Ganz anders S. 337. 371. 405: ,Kant
zweifelt nicht an der Sicherheit der Fundamente der positiven Wissenschaft* ;
wir „setzen** die Uebereinstimmung der Verstandesgesetze mit der Natur
, voraus", wir „postuliren" sie u. s. w. Eben daher wird die Gültigkeit der
Mathematik u. s. w. bald bewiesen, bald bloss erklärt. Sie wird »be-
wiesen*, „demonstrirt" , »gezeigt*, nach Vorr. V, S. 205. 311. 312. 325.
330. 331. 332. 341. 342. 343. 352, 375. 405. 444. Sie wird aber .erklärt"
nach S. 61, , eingesehen* nach S. 333, es handelt sich um ihre „Denkbar-
^ Dieselbe Unklarheit findet sich häufig in der Literatur, besonders der
neueren: wir beschränken uns hier auf folgende Hinweise auf wichtigere Werke:
Windelband, Geöch. d. n. Phil. II, 52; Steckelmacher, Ks. Logik S. 49 ; Erd-
mann, Prol. Einl. 8. 35. 36. 38. 90. 92. 96 (bald „Nachweis", bald „Erklärung").
Bei Paulsen, Viert, f. wiss. Philos. II, 484 ff. ist die Gültigkeit bald das ,j>ro'
bandum'* („demonstrandum**')^ bald factisch das explicandum^ ebenso Cohen, Ks.
Th. d. Erfahrung S. 33. 206. 208 vgl. mit 210, 212 ff. 232. 238 (unklar 90. 91.
207) ; übrigens vermischt man meistens die beiden unten auh 5 auseinandergehal-
tenen Arten des formellen und des materiellen Beweises. Theilweise richtig
Stadler, Erk. 10 ff. 28. 140 (76. 93). Nur scheinbar ähnlich Harms, Phil.
8. Kant 174, Volkelt, Ks. Erk. 217 (vgl. unten suh 12 Anm. am Ende). Vgl. die
Literatur oben 320-324.
404 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
keit% ihren „Grund" nach S. 329. 337. So kommt es, dass „Erklärung",
, Begreif lichmachung*' u. s. w. einerseits, und „Beweis" ruhig neben- resp.
hintereinander stehen ohne jede weitere methodologische Aufklärung: S. 170.
288. 292. 303. 327. 339. 340. 371. An anderen Stellen finden wir jene
schon oben gekennzeichneten neutralen Ausdrücke der „Begründung*, der
„Prüfung" (315. 827. 337), der „Untersuchung", „Frage nach der Gültig-
keit" u. s. w. 21. 63. 97 ff. 167. 304. 310. 311. 442; oder jene „Recht-
fertigung" 2. 327. 334. 372, „Deduction" 372. 388 u. s. w.
* 5) Es war nothwendig, diesen Weichselzopf von Missverständnissen und
Homonymien (bei Kant selbst, wie in der secundären Literatur) zu entwirren,
um den eigentlichen Sinn der „Hauptfrage" zu eruiren, oder vielmehr um
die verschiedenen Aufgaben, welche in jener neutralen, indifferenten
und darum so vieldeutigen Formel liegen (Wie sind synth. Urtheile a priori
möglich?) analytisch zu zerfasern. Und doch wurde bisher absichtlich der
durchsichtigeren und einfacheren Darstellung halber von einer weiteren min-
destens ebenso wichtigen Seite der Frage abstrahirt, wenn sie auch hin und
wieder bisher leise sich vorschob, eine Frage, ohne deren Berücksichti-
gung das bisherige ganz einseitig und unvollständig wäre, welche aber in
der oben angeführten Literatur fast durchaus mit den bisherigen Fragen ver-
mischt ist \ Wenn wir die oben S. 289. 290. 291 (vgl. 819) angeführten
Stellen aus Kant betrachten, so erkennen wir, dass Kant noch ganz andere
Tendenzen hat als die bisher aufgedeckten: er will Sätze wie das Causali-
tätsgesetz, welche die bisherige Metaphysik gar nicht oder unzureichend be-
wies, auf neue Art beweisen. Es handelt sich also jetzt nicht mehr wie
vorhin darum, die Gültigkeit einer ganzen Wissenschaft en bloc (formell)
zu beweisen, sondern (wiewohl auch diese beiden Aufgaben bei K. nicht
selten vermischt werden) darum, eine Reihe einzelner Sätze inhaltlich zu
demonstriren, und hiebei kommt es Kant nicht bloss darauf an, überhaupt
diese Sätze zu beweisen, sondern er betont auch, dass seine Beweisart eine
neue sei, d. h. er legt einen hohen Werth auf die Neuheit seiner Methode
und damit wendet er sich wiederum gegen die Dogmatiker und ihre bis-
herige Beweisart. Dies ist die neue „transscendentale" Methode des Be-
weises der Sätze der (immanenten) Metaphysik: man vgl. oben S. 6. 8.
26 f. 33 f. 34 (Anm. 1); bes. 44. 69. 119. 155 und noch 376. Es ist dies
also die neue Methode, welche Kant überall in seinen früheren Schriften
gesucht hatte, deren Entdeckung zur Neubegründung der immanenten Meta-
physik führte: Die Hauptfrage wird jetzt zum methodologischen Problem«
^ Diese Seite des Kantischen Unternehmens ist sogar oft gänzlich ignorirt,
z. B. bei Beneke. In der interessanten Stelle über Kants „kritische Methode^
Logik 11, 166 fehlt sonderbarerweise gerade die reelle Synthese^ während lo-
gische Analyse, logische Synthese und reelle Analyse erwähnt sind. Vgl. ob. 122.
Katurgemäss tritt dieses methodologische Problem erst in der sog. Analytik der
Grundsätze klar hervor, während die beiden bisher besprochenen Aufgaben — Er-
kläning und Beweis der Gültigkeit — mehr die Aesthetik und die Analytik der
Begriffe beherrschen.
Kant will Erkenntniss a priori erwerben. ^ 405
In der Kritik tritt diese Seite ausser im Abscbn. VII der Einleitung und in
der Vorrede B noch oft deutlich hervor z. B. bes. A 216 ff., wozu man
Proleg. § 26 vergleiche. Von hier aus betrachtet erhält die Frage nach der
Möglichkeit synthetischer Sätze a priori einen anders gefärbten Sinn. Es ist
nicht die Cabinetsfrage, „ob sie überhaupt gültig sind"; und der Beweis
(probatio), da'ss sie es sind; es ist nicht (wie auch bei der Mathematik) die
allgemeine und rein formelle Frage: „warum sind die Gültigen gültig?"
Sondern es handelt sich (hier jetzt mit Ausschluss der Mathematik) um den
speciellen und materialen Beweis (demonstratio) der Sätze selbst. Auf das-
selbe Ziel läuft eine scheinbar sehr verschiedene Gedankenreihe hinaus: Für
Kant war (vgl. Prol. § 1. 2 und besonders oben S. 289 Anm.) das syn-
thetische ürtheil a priori das Ideal der Erkenntniss. Und er fragt: Wie
lässt sich (trotz der Leugnung dieser Möglichkeit durch die Skeptiker, gegen
welche Kant wieder hiemit sich wendet) dieses Ideal „realisiren" ? * Wie kann
ich solche gewünschten synthet. Urtheile a priori (natürlich gültige) be-
kommen? Mag man nun von diesem Idealbegriff der Erkenntniss aus-
gehen und nach dessen Verwirklichung fragen, oder mag man von wirk-
lichen, als synthetisch a priori erkannten Sätzen ausgehen und, das Ideal
einer neuen Beweisart im Auge, den materialen und speciellen Beweis für
solche suchen und damit auch die allgemeine Methode, um überhaupt gültige
synthetische Urtheile a priori aufzustellen — in beiden Fällen erhält nun
jene Frage folgenden Sinn : was muss ich thun, um synthetische Urtheile
a priori zu erhalten und sie beweisen zu können? Welcher Weg ' führt zu
diesem gewünschten Ziele? also nicht mehr wie oben: wie kam ich dazu,
apriorische Urtheile fällen zu können? sondern: wie werde ich dazu
kommen? Die „Möglichkeit", nach welcher in jener neutralen Haupt-
frage gefragt wird, hat somit zwei ganz verschiedene Bedeutungen: soweit
nach der „Möglichkeit" der in der Mathematik und reinen Naturwissenschaft
gegebenen synthetischen Erkenntniss a priori gefragt wird, ist Möglich-
keit = Bedingungen des vorgefundenen Wirklichen; im anderen
Falle, wo nach der Möglichkeit, solche Erkenntnisse erst zu erhalten,
gefragt wird, ist Möglichkeit = Bedingungen der Verwirklichung
des Gesuchten. Dort frage ich nach den rückwärts liegenden Bedingungen
= X, welche mir erklären, wie und dass ein vorhandenes A möglich
geworden ist. Hier frage ich nach den Bedingungen = X, welche es
* Vgl. die treffende Darstellung Windelbands, Gesch. 11, 50.
' Hieher gehören jene Formulimngen des Kantiscben Problems, welche wir
z, B. auch gelegentlich bei Fischer ni, 269 treffen: „Wie ist wahres Erkennen
möglich?" u. S. 254: Die Kr. d. r. V. sei das „Organon" zur wahren Erkenntniss.
Eben dahin gehören alle Stellen, wo Kant sein Werk selbst so nennt, vgl. zu
A 11 ff. n. A 82, Stellen, in denen diese Seite der Kritik — die Methode der
Erwerbung apriorischer Erkenntniss — aufs stärkste betont ist. Vgl.
auch Fischer IV, 359 u. ö., womach die Naturwissenschaft, das neue System der-
selben erst aufgefunden und „dargethan" werden soll, und Stadler, Erk. 48. 82,
womach es „gewonnen" werden soll.
406 « Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
mir in Zukunft ermöglichen sollen^ ein gewünschtes A erst zu verwirklichen,
d. h. welche ich vorher erfüllen muss, damit das gewünschte A wirklich
werden kann. Diese beiden logisch heterogenen Fragen lassen sich
sprachlich ganz gleichlautend durch die gemeinsame Formel ausdrücken:
Wie ist A möglich? Erst die bestimmtere Auslegung* determinirt den
Sinn. Diese Zweideutigkeit' der Möglichkeitsfrage, welche die bisherige
Logik übersah, ist nun in der Eantischen Möglichkeitsfrage da. Diese Zwei-
deutigkeit hat den Sinn vieler Stellen bei Kant selbst und bei secundären
Schriftstellern schwankend, unklar und verschwommen gemacht und die all-
gemeine babylonische Sprachverwirrung in der Kantliteratur um ein gut
Theil vermehrt. Zu jenem Gegensatz der Frage nach der Wie- und Ob-
Möglichkeit tritt hier somit ein zweiter Gegensatz, für den wir, Mangels
einer besseren Bezeichnung, etwa die Termini Real- und Ideal-Möglich-
keit gebrauchen können (in dem oben genau definirten Sinne). Es besteht
hier nur der Unterschied, dass der erstere Gegensatz auch grammatisch unter^
schieden wird: Wie ist A möglich? und Ist A möglich? (indirect: ob A
möglich sei?)'. Der zweite Gegensatz dagegen hat den Fehler, dass beide
Fälle grammatisch bei kürzester Formulirung identisch sind, auch wenn
man die „Möglichkeit'' durch Umschreibungen mit „können" umgehen wollte.
Die Verwirrung* bei Kant wurde nun durch jene schon mehrfach
^ Eine jedoch nicht zwingende grammatische Differenz bestünde darin, dass
nur im ersten Falle der Artikel gebraucht würde: Wie sind die eynth. ürth.
a priori möglich? Im zweiten fragt man dagegen: Wie sind 83'nthetische ürth.
a priori möglich? (Vgl. Fischer 281.)
' Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet ist es somit kein '„Gewinn",
und das Gegentheil einer „Erleichterung^, dass Kant „eine Menge von Unter-
suchungen^ (B 19) unter jene „einzige" Hauptformel fasste^ welche überdies die
0 b -Möglichkeit nicht einschliesst. Eine grammatisch amphibolische Formel
(bei welcher ohnedies noch so viele andere Unklarheiten mitspielen) ist doch nicht
der richtige Ausdruck logischer Allgemeinheit, welcher im Gegentheil eine
grammatisch scharfe Formel zum Ausdruck verhelfen sollte, statt einer verschwom-
menen, bei welcher die nachher aufgezählten Detail fragen nicht mehr bloss Spe-
cies jener generellen Frage sind. Insofern entspricht die Zusammenziehung der
vielen Fragen in Eine eigentlich dem bekannten Sophisma napa Ta icXtio» ^po>-
TY^jjiaxa iv icoulv (Arist, Soph, El. Cap. V). Man sieht auch, dass der ganze und
volle Sinn der Frage erst durch die oben vorgenommene neue Analyse der
Antwort sich zutreffend entwickeln lässt.
' Bei Kant ist freilich, wie oben mehrfach gezeigt, die Ob-Frage (bei der
transscendenten Metaphysik) auch unter jener neutralen Hauptfrage mit eio-
begriffen.
* Schon theilweise in den oben S. 391, 393 angeführten Stellen spielt diese
Verwirrung herein, welche am stärksten in der Vorrede B zum Vorschein kommt,
wo zwischen Erklärung und Neubegründung (im obigen Sinne) beständig
gewechselt wird. Die letztere Seite tritt besonders da herein, wo die Metaphysik
mit der Mathematik und Physik in der Absicht zusammengestellt wird, um ihr
denselben Weg, dieselbe Methode wie diesen Disciplinen anzuweisen, damit
Apriorische Erkenntniss als methodologisches Problem. 407
gerügten Verwechslnngen in den Begriffen ^reine Naturwissenschaft' und
, Metaphysik* begünstigt und zu einer hohen Vollendung gebracht. Wie
nachgewiesen, versteht Kant unter „reiner Naturwissenschaft* bald die Me-
taphysik der äusseren Natur, bald die allgemeine Metaphysik der Natur
(= immanente Metaphysik). Wie sich nun in Prol. § 15 ff. genau ver-
folgen lässt, fragt er im Hinblick auf die Erstere nach deren Real-Möglich-
keit; im Hinblick auf die Letztere schiebt sich jener Frage aber bald die
nach der Ideal-Möglichkeit unter, d. h. dort fragt er: Warum kann ich
solche Urtheile fällen? Hier aber: Auf welchem Wege kann ich synthe-
tische Urtheile a priori darthun, beweisen, erreichen? Dazu kommt aber
die zweite Verwirrung gleichsam eine Tonlage hCher. Im Verhältniss zur
gegebenen speciellen, äusseren Naturphilosophie ist reine Naturwissenschaft
als immanente Metaphysik das Gesuchte: aber an den oben S. 895 Anm. an-
gegebenen Stellen ist die gegebene „reine Naturwissenschaft*, welche Er-
klärung verlangt, eben die immanente Metaphysik; und dann wird nach
deren Beal-MOglichkeit gefragt; und die transscendente Metaphysik ist es dann,
deren Ideal- Möglichkeit discutirt (und geleugnet) wird. Hierin offenbart
sich weiter nun eben wieder jenes oben S. 376. 390 dargelegte und besonders
in den beiden Vorreden herrschende Schwanken Kants in Bezug auf die im-
manente Metaphysik ; sie ist ihm bald etwas Gegebenes , bald etwas zu
Gründendes oder wenigstens neu zu Begründendes ; im ersteren Falle stellt er
die Frage nach ihrer Real-, im zweiten nach ihrer Ideal-Möglichkeit. An
vielen anderen Stellen (z. B. oben S. 339, 368 und bes. Proleg. K. 146. 147,
Or. 213 — 215) wird endlich bei der immanenten Metaphysik auch desshalb
nach ihrer Ideal-Möglichkeit gefragt, weil Kant dann jenen scharfen Schnitt
zwischen immanenter und transscendenter Metaphysik nicht macht, der von
ihm an massgebenden Stellen ausgeführt ist — weil er beides auf das un-
klarste vermischt \
Wie nun oben (stib 3) der Erklftrungsgrund der Gültigkeit »zu-
gleich*' deren Beweis mit sich brachte — das principium explicandi diente
zugleich als principium probandi — so wird hier jene causa vera, welche
die Gültigkeit erklärt, zum principium demonstrandi und überhaupt zum
methodischen Organ der Ideal-Möglichkeit — zum principium inveniendi.
Derselbe Grund, welcher jene Gültigkeit (insofern sie gegeben ist) erklärt
und erklärend bewies (insofern sie bezweifelt ist) — es ist das grosse
auch sie WisscHSchaft werden kann. Es bleibt der Detailerklärung vorbehalten,
dieses beständige Schaukeln zwischen der Methode, die Möglichkeit verlangter
Erkenntniss zu finden, und der Erklärung schon vorhandener, im Einzelnen
nachzuweisen. Man sieht, wie wenig einfach und daher wie dunkel (nicht
bloss grammatisch, sondern bes. logisch !) und schwierig Ks. Argumentationen sind.
* üeber die dadurch bei Kant und in der secundären Literatur entstandene
horrible Verwirrung s. oben S. 371 ff.. Man vergl. ferner z. B. noch Harms, Phil,
s. Kant S. 160. 168. 183 f. 189. 190. 271 - wo eine Verwirrung in dieser Hin-
sicht herrscht, aus welcher kein Mensch klug werden kann. Vgl. ferner Heb er-
weg, Gesch. d. Philos. 5. A. III, 197 ff.
408 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Princip der Möglichkeit der Erfahrung' — wird jetzt zum Beweis-
grund, zum argumentum der einzelnen (schon bisher bekannten) Sätze (z. B.
des Causalitätsgesetzes) und fernerhin zum methodischen Princip, wie wir
die gewünschten übrigen synthetischen Erkenntnisse a priori auffinden, von
unächten unterscheiden , sowie nach ihrem Gültigkeitsumfang (in der
, Grenzbestimmung'') auf das genaueste abstechen können. Es wird also
zum positiven Princip ', zum methodischen Leitfaden der „neuen* von
Kant gegründeten (immanenten) Metaphysik. Endlich dient dasselbe Princip
auch als negativer Entscheidungsgrund — sAs principium judicandi — in
dem „Process'' , in der Frage nach der 0 b- Möglichkeit der transscendenten
Metaphysik, während für die Frage nach der psychologischen Möglichkeit der
Letzteren weitere positive Ursachen aufzufinden sind (vgl. oben S. 402 f.). Die
Unterscheidung der psychologischen von der erkenntniss theoretischen
Möglichkeit, welche Fischer III, 434 als »factische* und „juristische* be-
zeichnet— eine Unterscheidung, welche schon oben S. 317 gemacht wurde —
tritt als dritte hinzu zu den beiden bisherigen Gegensätzen der Ob- und
•Wie- Möglichkeit, der Ideal- und Beal- Möglichkeit. In jener scheinbar
einfachen und doch so elastisch geheimnissvollen, Frage nach der „Möglich-
keit* synthetischer Urtheile a priori sind alle diese verschiedenen „Mög-
lichkeiten* unterschiedslos vermischt: — sie enthält somit ein absolutes
(speciell antithetisches), ein hypothetisches und ein methodologisches
Problem — und in der Ausführung der Kritik sind jene 3 resp. 5 ver-
schiedenen Begriflfsreihen, die wir als explicare, probare, demonstrare, invenire^
judicare bezeichnet haben, in einem einzigen schwer entwirrbaren Argumen-
tationskneuel verknüpft.
In der Literatur ist das methodologische Problem verhältnissmässig viel
zu wenig hervorgetreten, bis Paulsen (vgl. oben S. 67) mit anerkennens-
werthester Energie diesen Theil der Kantischen Aufgabe hervorhob, die Neu-
begründung der immanenten Metaphysik. Und gegenüber gegentheiligen
^ Dieses Princip ist offenbar das wichtigste jener „fruchtbaren Principien**^
deren Kant nach dem Brief an Herz v. 1776 (vgl. oben S. 154) „habhaft ge-
worden". Dass es immer dasselbe Princip sei, drückt Kant deutlich ans
(vgl. schon oben S. 396 Anm. 3), so A 39: die Grenzbestimmimg geschieht eben
dadurch; A 219 „zugleich Restriction" ; A 762 (Grenzbestimmung abhängig-
von Einsicht in die Aechtheit); Prol. § 26: „Man muss auf den Beweisgrund Acht
geben, der die Möglichkeit der Erkenntniss a priori entdeckt und alle solche
Grundsätze zugleich . . . einschränkt." Prol. § 4: Die Erklärung dessen, was
man wusste, werde zugleich einen Umfang vieler (neuer) Erkenntnisse a priori
darstellen.
' Insofern Kant in der Kritik nicht bloss dieses Princip im Allgemeinen
aufgestellt, sondern nach ihm auch jene Sätze aufgefunden und bewiesen hat, ist
! die Kritik nicht bloss ein „Tractat von der Methode" (Vorr. B), sondern auch
schon das System der durch diese Methode gefundenen Erkenntniss. Vgl. noch
unten zu Einl. Abschn. VU. Letzteres betont besonders Dietrich, Kant und
Newton 135. 256. 266, aber auch Ersteres, 5. 10. 70. 73. 155 u. ö.
Mehrheit der Probleme und der Resultate. 400
9
Auffassungen machte er auch mit Recht (Viert, f. wiss. Phil. II, 489) darauf
aufinerksam, dass schon die Art der Fragestellung (wie sind . . . möglich?)
als formell passende Antwort verlange: Erkenntnisse aus reiner Vernunft
sind (darum) insofern möglich, (weil) als — diese oder jene bestimmte Be-
dingung zutrifft. Die Frage verlangt eine positive Antwort. Andererseits
ist es zwar unstreitig unrichtig, wenn Erdmann (Kritic. 184) die „wissen-
schaftliche Neubegründung der Metaphysik'' als einen der Kantischen Haupt-
zwecke leugnet; es ist aber auch sehr richtig, dass er die antidogmatische Grenz-
bestimmung betont. Allerdings erfordert nämlich jene Fragestellung zunächst
eine positive Antwort; indessen ist nachgewiesen, dass K. in jener Frage-
stellung nicht nur die 0 b-Möglichkeit der transscendenten Erkenntniss auch
mit einschliesst, sondern dass auch vermöge jenes schwankenden Terminus
, Metaphysik' der beständige Wechsel des Fragesinnes ermöglicht wird.
Und wenn Kant (vgl. oben S. 389) das „Stehen und Fallen der Metaphysik"
von der Beantwortung seiner Frage abhängig macht, so macht jene constante
Amphibolie es ebensogut möglich, in der Antwort das „Stehen",
als das „Fallen" der Metaphysik zu finden — das „Stehen" der im-
manenten, das „Fallen" der transscendenten.
Wie leicht K. zwischen beiden wechselt, beweist besonders die schon
mehrfach angezogene Stelle aus Proleg. K. 146 f., Or. 212 ff., wo er den
Dogmatikem zuerst entgegenruft: Eure bisherigen Beweise für die syn-
thetischen Urtheile a priori taugen nichts ; ich habe neue stringente Beweise
— um zuletzt zu sagen: synthetische Urtheile a priori in der Metaphysik
sind überhaupt unmöglich.
Betrachtet man letzteres Resultat unter dem oben S. 66 ff. einge-
nommenen Standpunkt, womach Kants Kriticismus * eine gleichmässige Ver-
mittlung zwischen Dogmatismus und Skepticismus sei, so scheint es, als
überwiege hier die rationalistische Seite entschieden über das skeptische
Element in Kant: nimmt doch jene unter den oben aufgezählten fünf Auf-
gaben allein für sich vier in Anspruch, so dass für das letztere nur ein
Fünftel des Gesammtgewichtes übrig bliebe. Indessen hat die Grenzbestim-
mung für sich, obgleich sie dem Volumen nach einen so geringen Bang ein-
nimmt, doch ein so grosses specifisches Gewicht, dass sie den ersteren vier
Aufgaben die Wage hält. Sie ist, um ein anderes Bild zu gebrauchen,
nicht bloss das Salz in der Speise, sondern ein wesentlicher Bestandtheil. Wie
wichtig diese Grenzbestimmung sei, folgt ja auch aus der Entwicklungsge-
schichte: denn im Jahre 1772 ff. lernte Kant von Hume definitiv die Beschrän-
kung auf den Erfahrungsumfang , zu derselben Zeit, als es ihm — wohl
ebenfalls unter Hume'schem Einfluss — gelang, allmälig die Lösung des
(antithetischen) Correspondenzproblems (Uebereinstimmung der Erfahrung
mit dem Apriori) anzufinden.
Dies Correspondenzproblem war das eigentlich „transscendentale" Ur-
* Man beachte wohl^ dass es sich hier noch immer um den Kriticismus
m Ganzen handelt^ nicht etwa bloss um die Deduction.
410 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
problem, aus dem sich die übrigen logisch nnd zeitlich' entfalteten ; letzteres
nachzuweisen ist eine Aufgabe der Entwicklungsgeschichte, für deren dunkele
Partien zwischen 1770 u. 1781 durch die obige Analyse wohl Aufschlüsse zu
entnehmen sind, üeber den besprochenen Erweiterungen des ursprünglichen
Grundrisses darf jedoch ein anderer, gleichsam ein querer Einbau nicht
ignorirt werden: die Kreuzung nämlich jenes Correspondenzproblems mit
dem Unterschied der analytischen und synthetischen Urtheile, aus welcher
erst die vorhandene Frageformel entstanden ist. Wann und wie auch diese,
schon oben 274 ff. 288 ff. 329 ff. berücksichtigte Kreuzung entstanden sein
mag — jedenfalls wurde das Problem dadurch viel complicirter. Dies hat
Paulsen (vgl. oben 327 ff.) scharüsinnig erkannt; er glaubte durch Entfer-
nung jener Unterscheidung eine Vereinfachung vornehmen zu können. Aber
die von ihm gewollte Beduction ist, wie nachgewiesen, unmöglich; und die
Vereinfachung ist den Ausführungen der Kritik gegenüber (bes. in Aesthetik
und Dialektik) nicht durchfuhtbar, so wünschenswerth sie wäre. Was schon
aus der Geschichte des Hauptproblems hervorgeht, das zeigt auch seine
Analyse: es stecken in ihm eben zwei Hauptfragen (welche beüe sich in
angegebener Weise wieder dreifach verzweigen): Erstens das Problem, das
aus den Abschnitten I^III entsteht: worauf gründet sich die Gültigkeit des
Apriori? Zweitens das Problem, das aus IV, V resultirt: wodurch wird
die Synthesis (das Hinausgehen a priori) möglich? (A 9. B. 16 vgl. oben
326 Anm.). Das Problem der Gültigkeit des Apriori und das Problem
der Möglichkeit der Synthesis (a priori) sind im Abschnitt VI zu dem.
Problem verschmolzen: Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?
Kant wie seine Gommentatoren schieben aber nicht selten das eine oder das
andere Problem einseitig vor, während beide in Fragestellung und Ausfah-
rung zu einer unauflöslichen, freilich unklar verworrenen Einheit verquickt
sind. Die logische Analyse muss aber (wie die organische Chemie ein or-
ganisches Product) das Hauptproblem in jene beiden Grundbestandtheile
auflösen, deren Eines, das Problem der Synthesis, vor Kants Auge schon
1763 aufleuchtete (vgl. oben 270 ff.), während das andere, das Problem
der Correspondenz, ihm erst 1772 in seiner ganzen Tiefe aufgieng. Für
den Unterschied beider Probleme ist es sehr bemerkenswerth, dass auch auf
das Problem der Synthesis jene charakteristischen Ausdrücke angewendet
werden, die wir oben bei dem Correspondenzproblem fanden. So spricht
Kant A 7. 764, Prol. § 7 von der „Schwierigkeit", „Bedenklichkeit*; und wenn
er A 9 nach dem X fragt „worauf sich der Verstand stützt, wenn er ausser
dem Begriff von A ein demselben fremdes Prädicat aufzufinden glaubt,
das gleichwohl damit verknüpft sei" — so ist offenbar das Problem der
Svnthesis auch als ein antithetisches bezeichnet. Nur auf dieses Hinaas-
gehen an sich bezieht sich auch das „Räthsel", das Cohen und Apelt 290.
291 (vgl. 325) in den synthetischen Urtheilen a priori fanden. Auf jedes
der beiden verschiedenen Räthsel für sich (deren Unterschied auch S. 345 ff.
betont wurde) wendet K. auch jenen bezeichnenden Terminus an, worauf
sich der Verstand .stützen" oder „steifen" könne — bei den apriorischen
Das Doppelräthsel im ^Hauptproblem^. Zusammenfassung. 411
ürtheilen A 4. 47, bei den synthetischen häufig, bes. A 7 ff. (vgl. oben 291).
So waren es ursprünglich zwei ganz verschiedene Bftthsel, die Kant „nicht
einsehen" konnte (oben 274 Anm.), die er sich gerne , deutlich, begreiflich
machen lassen* wollte, und welche in dem „Geheimniss" A 10 (vgl. ob. 390)
zusammengeflossen sind und sich durchkreuzen, wie in jenen seltsamen in-
einandergesteckten , durchwachsenen Gebilden, welche man Zwillings-
crystalle nennt.
Erst durch diese Analyse ist die ebenso berühmte, als
geheimnissvolle Frage nunmehr vollständig und definitiv ent«
räthselt. Sie enthält ein System von Bedeutungen, das auf Grund der
gegebenen logischen Entwicklung sich sogar graphisch darstellen liesse.
Man sieht, wie nothwendig es ist, überall jene drei (auch schon von
Erdmann, Ks. Prol. Yorr. 67 untei*schi^denen) Reihen ins Auge zu fassen:
die Entwicklungsgeschichte Kants, seine allgemeine Tendenz,
und den speciellen Gedankengang der kritischen Schriften ; nur so kann
die Interpretation hoffen, ein treues, unverfälschtes Gesammtbild der Kan-
tischen Philosophie zu geben.
6) In Bezug auf die bisher discutirten Streitfragen haben wir somit
(indem wir von anderen Fragen und von der Inconsequenz der hier als
Typen genommenen Combattanten der Einfachheit halber abstrahiren) folgen-
des Resultat. Die historisch -psychologische Entwicklung Kants und der
logische Zusammenhang seiner Darstellung zeigt: Fischer hat Recht, wenn
und insoweit er die Aufgabe der Erklärung der Gültigkeit der Mathematik
u. s, w. in den Vordergrund stellt. Da es aber unrichtig ist, jenes Pactum
der Gültigkeit als ein absolut unzweifelhaftes hinzustellen, was es bei der
Bekämpfung durch die Skeptiker ja nicht war, so ist der Ausschluss des B e-
weises jener Gültigkeit ungerechtfertigt. Daraus folgt: nach der ersten
Seite hin sind die synthetischen ürtheile a priori in Mathematik u. s. w.
far Kant schon erkenntnisstheoretisch gültig, nach der zweiten nur erst
psychologische Thatsachen (vgl. oben S. 323). Die andere Partei hat Recht,
jene Ergänzung zu fordern, hat aber wieder darin unrecht, dass sie diese
Aufgabe des Beweises der Gültigkeit für die eigentliche hält, dass sie eben
daher meinte, mit deren Voraussetzung sei „die Kritik eigentlich schon am
Ende angekommen' — denn im Gegentheil besteht die ursprüngliche Auf-
gabe derselben in der Erklärung dieser Gültigkeit; sie bleibt es auch
dann, wenn diese Grültigkeit nicht mehr allgemein anerkannte Voraus-
setzung sein darf, sondern erst bewiesen werden muss: die Erklärung führt
den Beweis mit sich. Wird somit die erste Ansicht bestätigt, ohne dass
dadurch die zweite ausgeschlossen wird — indem diese die Ergänzung für
jene bildet, — ist somit das „Resultat* hier wirklich eine „Resultante", so
haben endlich beide Theile darin Unrecht, dass bei ihnen die dritte oben
nachgewiesene Aufgabe — die Entdeckung einer neuen Methode zur Auf-
findung wahrer Erkenntniss (resp. die Aufstellung des Systems derselben) —
nicht bloss in höchst verwirrender Weise vermischt wird mit den obigen
Aufgaben, sondern auch ungebührlich zurücktritt: bei Fischer hinter die
412 Ezcurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Erklärung — bei seinen Gegnern hinter den Beweis der Gültigkeit der
Mathematik und reinen Naturwissenschaft.
B. Methode der Problemldsnng. Der bisher durchschrittene Aufgaben-
kreis enthält alle wesentlichen Probleme, in deren Lösung Kants Kriti-
cismus besteht (vgl. jedoch noch unten sttb 18. 19. 21) Es ist versucht worden,
mit Hilfe logischer resp. methodologischer Kategorien den Problemkneuel
zu entwirren und die sehr heterogenen logischen Gedankenfäden einzeln
herauszuziehen, ohne jedoch ihr natürliches Ineinandergreifen zu vernach-
lässigen — ein Ineinandergreifen, welches bei Kant selbst freilich das Gegen-
theil klarer und zielbewusster Methode war : denn bei ihm wird aus dem
kunstreichen polyphonen Satz ein für den Anfänger betäubendes Stimmen-
gewirre, aus dem selbst das geschärftere Ohr nur mit Mühe die einzelnen
Stimmen heraushören und sie zu einem leidlich harmonischen Ganzen ver-
binden kann.
Nachdem so der Materialgehalt der kritischen Grundfrage con-
statirt ist, treten wir in eine neue Untersuchung ein, welche zunächst die
äussere Form betrifft, wie Kant jenen kritischen Aufgabenkreis in Be-
handlung nahm. Wir werden aufs Neue mit Unklarheiten Kants und mit
Missverständnissen seiner Ausleger einen schweren Kampf zu führen haben.
Es handelt sich um den Unterschied der Lösungsmethode in der Kritik d.
r. Y. und in den Prolegomena. Constatiren wir zuerst den Sachverbalt bei
Kant selbst, um dann die bisherigen Darstellxmgen zu prüfen und auch
diese Controverse der Entscheidung näher zu bringen.
7) Kant selbst hat mehrfach darauf hingewiesen, dass die E[ritik nach
synthetischer Methode angelegt ist, die Prolegomena dagegen nach ana-
lytischer. (Vgl. obenS. 136. UO. U3. 164. 226. 267. 273. 367. 372. 374.
Proleg. Vorr. finis und § 4. 5. Vgl. die Zusammenstellung in Phil. Mon.
XVI, 57 ff.) Die analytische Methode \ geht von dem Gegebenen aus
und geht von ihm rückwärts (daher , regressive" Methode) zu seinen Be-
dingungen: a principiatis ad principia. Die synthetische Methode da-
gegen weist erst diese Bedingungen selbständig auf, geht von ihnen aus
vorwärts („ progressiv '') zu dem aus ihnen Entstehenden (a principiis ad
principiata) ] sie construirt so das Gegebene aus jenen Bedingungen,
während im ersten Falle umgekehrt die Bedingungen aus dem Gegebenen
heraus .analysirt werden. In der analytischen Darstellung ist
somit das Gegebene als Fuss- und Ausgangspunkt der Argu-
mentation benützt. Diese allgemeinen methodologischen Kategorien an-
gewandt auf den vorliegenden Fall besagen : In den Prolegomena legt Kant
die Gültigkeit der Mathematik imd reinen Naturwissenschaft als unumstöss-
liches, unbezweifelbares Factum ' zu Grunde: fussend auf dieser Thatsache
^ Dies ist die Eine Darstellung; eine andere folgt unten suh 10.
' Es handelt sich um das objective Factum der nachweisbaren Gültigkeit
Synthetische und analytische Problemlösung. 413
analysirt Kant dieselbe, um in ihr selbst, durch sie selbst, „vermittelst der
That selbst* * ihre Bedingungen zu entdecken. Diese Bedingungen sind die
Erklärungsgründe (principia easendi) für jenes an sich unbegreifliche
Factum, während dieses selbst der Erkenntnissgrund (prindpium cogno-
scendi) für jene Erklärungsgründe ist. Es ist der feste Rahmen, an welchen
das ganze Argumentationsgewebe angeknüpft wird. — Anders, ja entgegen-
gesetzt die Kritik. Sie constatirt zuerst das Vorhandensein und das Zu-
sammenwirken der Bedingungen, welche sie ganz selbständig, ohne
jenes Pactum irgendwie innerhalb ihrer Argumentationskette zu berück-
sichtigen, auffindet: dann zeigt sie, dass aus den so bestimmten Be-
dingungen jenes Pactum nicht nur vollständig und einzig erklärt werde,
sondern sogar mit Nothwendigkeit in jenen Bedingungen enthalten sei und
aus ihnen folge; mit anderen Worten: jene Bedingungen sind somit hier
sowohl die Erklärungsgründe (principia essendi = explicatio) als die
Beweisgründe (principia probandi) für jenes Pactum. Insofern ist das syn-
thetische Verfahren vollständiger und wissenschaftlich befriedigender (Rieh 1
339 ff.) — weil eben jenes Factum, auf dem die Prolegomena fassen, kein
ganz unbezweifeltes Pactum ist, sondern an den Skeptikern seine energischen
Bezweifler hat.
8) Ziehen wir im Hinblick auf das obige Resultat auch hierin das
Facit, so ergibt sich in Bezug auf die obschwebende Controverse Folgendes :
Ist die synthetische Darstellung die wissenschaftlichere — weil sie
auch zugleich den Beweis des Pactums liefert — so haben die Gegner
Fischers wenigstens darin Recht, dass sie bei einer auf wissenschaftlichen
Wei-th Anspruch machenden Reproduction des Kantischen Gedankeliganges
auf die Befolgung eben der synthetischen Methode dringen *. Wenn somit
Fischer HI, 298 — in einer sonst glänzend geschriebenen Stelle — beide
Methoden als gleichwerthig hinstellt, ist er in diesem Falle wenigstens
im Irrthum: aus dem einfachen Grunde, weil eben jenes Factum wegen
seiner Anzweifelung durch die Skeptiker einen Beweis verlangt. Diesen
Beweis kann jene analytische Methode nicht erstellen. Für eine voll-
ständige und auf Richtigkeit Anspruch machende Darstellung des Kantischen
Gedankenganges darf jene Gültigkeit nicht den Puss- und Ausgangs-
punkt der Argumentation bilden, sondern muss vielmehr bewiesen
werden und somit ein Bestandtheil der allgemeinen Aufgabe sein, deren erste
und eigentliche Spitze allerdings auf die Erklärung jener Gültigkeit ge-
fiir die Gegenstände^ nicht etwa bloss um das psychologische Pactum
des Gefühls oder Bewusstseins der Evidenz.
* Proleg. § 5 (finis),
' Eine andere Streitü-age (vgl. oben 226 Anm. 3) ist, ob die analytische
Methode Kants eigenen Entwicklungsgang darstelle, was nach Fischer der Fall
ist, nach Riehl dagegen nicht. Aus den suh 1 und 2 besprochenen Gründen scheint
hier Fischer Recht zu haben: Die Kritik stellt S5'nthetisch dar, was Kant ana-
lytisch gefunden hat.
414 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
richtet ist. — Was nun freilich Fischer betrifft, so herrscht bei ihm jene
oben 8tib 4 aufgewiesene Verwirrung, durch welche seine principiell verfehlte
Stellung wieder factisch corrigirt wird : denn vermittelst jener Homonymien
der „Thatsache* u. s. w. kommt es doch darauf hinaus, dass jene Gültig-
keit erst zu beweisen ist (bei der factischen Ausführung der Aesthetik
spielt dann, wie Paulsen 174 richtig bemerkt, noch Fischers einseitige [nicht
falsche, wie P. meint] Ansicht von der Mathematik herein). Wenn wir je-
doch von diesen Inconsequenzen Fischers absehen, so ist seine ursprüngliche
Anlage allerdings der Typus für eine Beihe von Darstellungen geworden,
welche eben darum einseitig und irrig sind und gegen welche die oben ge-
nannten Oegner Fischers mit Becht ankämpfen, wenn auch aus dem un-
richtigen Grunde, dass ,mit der Voraussetzung jener Gültigkeit die Kritik
an ihrem Ende angekommen'' sei, da doch im Gegentheil die Thatsache
dieser Gültigkeit das eigentliche ürproblem der Kritik d. r. V. ist. Wer
somit die Methode der Prolegomena der Darstellung zu Grunde legt, oder
gar — was sich auch findet — deren Methode in die Kritik hineinlegt,
resp. in ihr finden will, verfehlt Kants Argumentation vollständig. In der
Kritik (und eben damit in dem originären wissenschaftlichen Text) benützt
Kant nicht die thatsächliche Gültigkeit der Mathematik u. s. w., um daraus
deren Bedingungen (reine Anschauungen, reine Apperception u. s. w., vgl.
oben S. 817 Anm.) zu erschli essen, sondern jene Bedingungen werden
selbständig aufgestellt: theils durch Analyse des Bewusstseins gefanden,
theils als Voraussetzungen postulirt (s. unten sub 12. 14). Der Beweis jener
Gültigkeit springt erst am Schluss der Argumentation zugleich mit der
Erklärung als Frucht heraus, nicht aber ist jene Gültigkeit Mittel der
Argumentation, Ausgangs- oder Fusspunkt ^
Dies hat im Wesentlichen auch Cantoni schon richtig erkannt, der
auch in Bezug auf die Wasfrage der richtigen Entscheidung nahe war. Er
sagt I, 180: „Kant riconosce sin dal principio la validitä detta maUmatica
e della fisica pura, e solo vuole spie garst (explieare) Vuna e Vdltra dai loro
principj, provando anche cosl U valore obieUivo di questi,^ P. 148. 162.
163. 165. 167 tritt allerdings das „provare che^ des „vcUore obiettivo^ ein-
seitig in den Vordergrund. Dagegen macht Cantoni S. 168 ganz richtig
gegen Biehl geltend, dass die „validitä di quelle due scteme" für Kant
immer ein „fatto incontestahüe^ war, dass die eigentliche Aufgabe der Kritik
die Erklärung ihrer Möglichkeit ist; dass aber Kant „non fonda in ultimo
la Solutions trascendentale sulla validitä della mat. e della fis. pura, ma sufV
esperiema (den Begriff der „Erfahrung*) ; poichi la validitä di quelle scieme
h pro V ata della validitä di questa.^ Jene Gültigkeit ist also selbst nie
Argumentationsmittel, sondern Ziel der Erklärung und des Beweises.
9) Jetzt erst, auf Grund der bisherigen Eesultate, lässt sich die fernere
^ Letzteres behauptet (um auch ein Beispiel aus der älteren Literatur hier
aufzuführen) irrthümlich auch Jenisch, Entdeckungen Kants 163. 171, während
er das Erstere richtig einsieht (167) 170 ff. Vgl. ib. 247. 250. 254 ff.
Die Einldtang B ist keine analytische Verschiebung. 415
Streitfrage beantworten, wie sich die I. und die II. Auflage der Kritik in
der Einleitung zu einander verhalten. Es behaupten Göring, Paulsen,
Riehl, Windelband/: A und B unterscheiden sich sehr wesentlich, indem B
durch die Einfügungen aus den Prolegomena im Sinne der analytischen
Methode verändert ist. Diese Ansicht enthält einen thatsächlichen und einen
methodologischen Irrthum. Erstens haben auch in A die synthetischen
XJrtheile a priori nicht bloss den Werth psychologischer Gebilde, nach deren
Gültigkeit erst gefragt wird. Die Mathematik ist nach A 4 ,im alten Be-
sitze der Zuverlässigkeit* ; aber nicht bloss sie (nach Erdmann, Prol. XXX,
dag. Eritic. 181), sondern nach A 9 ist auch der Causalitätssatz eine gültige
Antecipation der Erfahrung ; auch ist die Hereinmischung der reinen Natur-
wissenschaft (im höheren Sinn) trotz Windelband, Viert, f. wiss. Phil. I, 250
nichts Neues, da dieselbe in A 2, 3, 5, 6, 9 schon potentiell enthalten war,
so dass man in ihrer terminologischen Heraushebung in der Einleit. B (denn
im späteren Text kommt sie auch in A vor) nur eine immanente Klärung
(fireilich abgesehen von der Verwirrung o. 304), also eine formelle Verbesse-
rong sehen kann, und dass das A 10 erwähnte „Geheimniss'' der synthe-
tischen Urtheile a priori identisch ist mit dem oben besprochenen antithetischen
Problem, wurde schon sub 2 bewiesen. Somit sind die Unterschiede der beiden
Redactionen hierin rein formeller Natur. Die energische Yorschiebung der
Gültigkeit der Mathematik u. s. w. ist noch keine methodologische Yer-
schiebung, wenn auch nach Windelbands (vgl. Erdmann, Proleg. XXXII)
richtiger Bemerkung „die psychologische Veranlassung zu der ersteren in der
2. Aufl. in dem Besultate der 1. Aufl. liegen' mag. Neben diesem factischen
Irrthum über diesen bestverkannten Abschnitt liegt aber noch ein methodo-
logisches Missverständniss der Obengenannten vor, das sie eben dazu brachte,
jene Behauptung der Gültigkeit in A zu verkennen, und die unverkennbare
Behauptung derselben in B als eine materielle Aenderung auf die Ein-
schiebsel aus den analytisch gehaltenen Prolegomena zurückzuführen und
. somit ,aus dem echten Gedankengang der Kritik wieder hinauszuwerfen^.
Diese Constatirüng der Gültigkeit (die sich, wie gezeigt, auch in A findet)
ist doch offenbar nur eine vorläufige, nicht eine definitive, d. h. diese
Gültigkeit wird als Zielpunkt der Erklärung (und des Beweises) hingestellt,
nicht aber als Stützpunkt der Argumentation. Diese vorläufige Behaup-
tung der Gültigkeit verführte die Gegner Fischers und der Einleitung B
dazu, in letzterer eine analytische Verschiebung zu sehen und überhaupt die
acweite Auflage dieser analytischen Wendung zu beschuldigen. Allein in der
eigentlichen Untersuchung der Kritik, auch in B, dientdiese Gültigkeit nie-
mals * als Argumentations mittel. Es liegt hier m. a. W. die Verwechslung
der allgemeinen Problem Stellung mit der analytischen Problem 1 ö s u n g vor :
* Mit Ausnahme einer einzigen flüchtigen Erwähnung B 128, welche daher
nicht als Gegeninstanz zu verwenden ist, wie das bei Volkelt S. 203 geschieht,
und bei welcher zudem die unten sub 13 besprochene Verwechslung stattfindet.
tJcbcr A 24. 39. 47, B 40 vgl. den Commentar zur Aesthetik.
416 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
•
Die Einfuhrung des Problems hat nämlich mit der analytischen AusfÜhning
der Lösung den nur äusserlichen Umstand gemein, dass beidemal die
Wirklichkeit (hier: die Gültigkeit) als Factum aufgestellt wird, aber dort
doch nur mit der allgemeinen Forderung, es zu erklären (auf irgend welche
Weise, analytisch oder synthetisch), hier aber eben nach Art der analytischen
Methode zugleich als Ausgangspunkt der Argumentation. Dass somit in
der Einleitung der Kritik jene Gültigkeit als etwas Unzweifelhaftes hin-
gestellt wird, sollte doch nicht dazu verleiten *, darin die analytische Me-
thode zu finden, vgl. oben S. 367; denn dort wird diese Gültigkeit 'eben als
das zu Erklärende hingestellt: dann erst handelt es sich darum, wie diese
Erklärung geschehen soll , analytisch oder synthetisch ? d. h. so, dass jene
Gültigkeit nun als Stützpunkt benützt wird oder erst als Zielpunkt der
deductiven synthetischen Darstellung gilt '. Gerade in dem Umstand, dass
jene Gültigkeit in A und B als fest hingestellt wird, liegt eine Bestätigung
unserer oben aus ganz anderen Stellen und Gründen erwiesenen Behauptung,
dass diese Gültigkeit in erster Linie für Kant als etwas zu Erklärendes
galt, dass ihr Beweis erst in zweiter Linie steht. (Ganz auf dieselbe Weise
wird auch das Problem der transscendentalen Deduction eingeleitet.) Es ist
nach dem Gesagten ganz natürlich, dass Kritik und Prolegomena dieselbe
Einleitung haben und haben müssen, dass beidemal die Gültigkeit als fest
angenommen wird: beide Schriften lösen ja dasselbe Problem (in erster Linie
die Erklärung jener Gültigkeit, wie Cohen S. 207 richtig bemerkt *, dann
aber auch den Beweis und — last not leaat — die neue Methode), sie lösen
es aber auf entgegengesetztem Wege ; die Trennung ihres bis dahin gemein-
samen Weges, die Bifurcation, findet erst da statt, wo es sich darum handelt,
* Auch Volkelt, Ks. Erk. 196 f. fasst sogleich jene provisorische Voraus-
setzung als Argumentationsmittel und Beweisgrund. Vgl. auch das Schwanken
bei Staudinger, Viert, f. wissensch. Philos. V, 245. 251. Derselbe Irrthum bei
Ueberweg, Gesch. d. Phil. 5. A. III, 255 Anm.
* Kant selbst äussert sich in diesem Sinne Prol. § 5 Anf.: „es sind deren genug
und zwar mit unstreitiger Gewissheit gegeben und da die Methode, die wir jetzt
befolgen, analytisch sein soll, so werden- wir davon anfangen, dass dergleichen
synthetische Erkenntniss wirklich sei.^ Also die vorläufige Behauptung der
„Wirklichkeit", und das Ausgehen von ihr in der Argumentation sind wohl
zu unterscheiden. Die analytische Methode besteht (vgl. ib. § 4 fin,) eben darin,
dass sie sich auf ein „Factum stützt". (Vgl. oben S. 368.) Jene vorläufige Be-
hauptung der These ist daher auch kein „Mangel an Genauigkeit", wie Volkelt 195
ungenau meint.
' Auch Erdmann, Ks. Proleg. XXX erkennt dies richtig, unterschätzt da-
gegen den methodologischen Gegensatz der Kritik und der Proleg., auch XXXII,
vgl. Kritic. 186, woselbst auch er indess meint, die Fragestellung der Prolego-
mena sei nur für ein analytisches Verfahren berechnet; sie scheint ihm ib. 184
überhaupt kein „adäquater Ausdruck der thatsächlichen Argumentationen der Kr.
d. r. V." zu sein, was beides zu der Ansieht der wesentlichen Identität der Einl.
A und B nicht recht stimmt.
Zwei verschiedene „analytische Methoden''. 417
via jenes gemeinsame Problem gelöst werde: analytisch oder synthetisch,
and erst von da an geht die eine Schrift rechts, die andere links. Aber
Tor der Gabelung liegt noch das gemeinsame Stück: „Mathematik und
reine Naturwissenschaft sind gültige Wissenschaften a priori: wodurch er-
klärt sich das?" * Diese methodologische Verwechslung der Bolle, welche
die Gültigkeit in der Problemstellung und in der Problemlösung spielt,
steigert sich bei Biehl, Kritic. 339 zu der Identification der analytischen
Methode mit der Frage nach dem Wie, der synthetischen Methode mit der
Frage nach dem Ob. Aber die Frage nach dem Wie, Warum der Gültig-
keit kann auch synthetisch beantwortet werden, und das geschieht in
der Kritik. Es zeigt sich hier, wie die materielle Seite, das Was der
Eantischen Untersuchung, mit der formellen Seite, dem Wie der Unter-
suchung in irriger Weise vermengt wird ': wenn der Gegenstand der Unter-
suchung auch das Wie oder Warum einer Thatsache ist, so kann diese
Untersuchung selbst doch mit gänzlicher Ignorirung dieser Thatsache (wenn
sie auch in der Einleitung noch so sehr als sicher aufgestellt wird) rein
deduetiv synthetisch verfahren, ein Verfahren, bei dessen richtiger Hand-
habung der Beweis jener Thatsache zusammt ihrer Erklärung das Besultat ist.
Hier fügen sich nun vor dem weiteren Vordringen zwei Einschiebungen
ein, eine sachliche und eine literarische. Was die Erstere betrifft, so
knüpft dieselbe an die Anmerkung 1 oben stib 7 S. 412 über eine andere
Art analytischer Methode an; sie bildet zugleich, wie sich ergeben wird,
eine Parallele zu Nr. 5.
10) Kant hat noch eine andere, ganz verschiedene Darstellung des
analytischen Verfahrens. Beide Darstellungen gehen in höchst ver-
wirrender Weise durcheinander und sein eigener Gebrauch ist „in einige
Gefahr der Verwechselung gerathen" (Prol. § 5 Anm.), und somit keines-
wegs „einfach* (Erdmann, Proleg. Vorr. I). Er verwechselt nämlich, wie
das die Logik bis heute fast durchgängig thut, (man vgl. beispielshalber
Drobisch, Logik § 139 mit 141) zwei ganz verschiedene analytische Methoden,
die wir als die mathematische und als die naturwissenschaftliche
bezeichnen können*. Die mathematische Analysis nimmt das Gesuchte
* Bei der Herübernahme (der Partien aus den Prolegomena in die Ein-
leitung B hat daher auch Kant vorsichtig alle jene auf die analytische Methode
bezüglichen Stellen weggelassen, während er natürlich die Behauptung der Wirk-
lichkeit jener Wissenschaften beibehielt. Eben desshalb, weil das Problem dasselbe
ist, nur die Lösungsmethode eine andere, durften wir oben sub 2) auch die Stellen
ans den Prolegomena herbeiziehen.
' Genauer ausgedrückt besteht jene Verwechslung speciell bei Riehl darin:
er parallelisirt den Gegensatz des absoluten und [hypothetischen Problems mit
dem Gegensatz der analytischen und synthetischen Methode. Zwischen beiden
Gegensatzpaaren besteht aber keine Coincidenz.
• In jenem Falle wäre Euclids Methode, in diesem die Newton'sche das
Vftlhinger, Kant-Commentar. 27
418 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
hypothetisch ' als gegeben an; aus dieser Voraussetzung sucht man dann
die Bedingungen zu eruiren, welche jenes hypothetisch Angenomnoiene er^
möglichen würden; durch successive Fortsetzung dieser Operation findet man
zuletzt eine bestimmte Bedingung (oder einen bestimmten Bedingungs-
complex), welche zu jener Ermöglichung erforderlich ist. Lässt sich nun
diese Forderung (oder der darin ausgesprochene Satz) unabhängig von
jener Kette als möglich oder als erfüllt (oder als gültig) erweisen, so wird
die Argumentation wieder umgekehrt, man steigt wieder abwärts und das
zuerst nur hypothetisch als gegeben angenommene Gesuchte wird nun
als wirklich oder möglich erwiesen. Anders die naturwissenschaftliche
Analysis: sie geht von einem assertorisch Gegebenen aus, von einer
unzweifelhaften Thatsache und sucht deren Bedingungen (Erklärungsgründe)
durch successive Zerfaserung jener Thatsache zu eruiren. Ein Beispiel für
die mathematische Analysis ist die Aufgabe (vgl. Drobisch a. a. 0. § 139):
Wie ist es möglich, in einem gegebenen Kreis ein Quadrat zu beschreiben?
Man nimmt hypothetisch an, die Aufgabe sei gelöst, und findet durch
„Analyse** deren Bedingungen: zwei auf einander senkrechte Durchmesser
eines Kreises. Diese Bedingungen sind nun als möglich resp. wirklich un-
abhängig von jener Argumentation vorhanden; (ein anderes nicht mathe-
matisches Beispiel s. bei Sigwart, Logik 11, 243). — „Als Muster für die Ab-
leitung der Erklärungsgründe einer Erscheinung durch analytische Methode
[d. h. durch die naturwissenschaftliche Analysis] ist Newtons Be-
gründung des Gravitationsprincipes anzusehen ; die Erscheinung [die asser-
torische Thatsache] ist hier die Bewegung der Planeten" u. s. w. Drobisch,
Logik § 141. Der Unterschied beider Methoden besteht somit darin, dass
der Ausgangspunkt derselben beidemal verschieden ist: das Erstemal ein
hypothetisch Angenommenes, dessen Wirklichkeit und Möglichkeit aber
noch unsicher ist; das Zweitemal eine assertorische, gewisse Thatsache,
deren Wirklichkeit als solche unbestritten ist. Ist der Ausgangspunkt so
ein i.verschiedener , so ist doch von da an die Methode — die analytische
Zerfaserung desselben — gemeinsam; aber es bleibt der charakteristische
Unterschied, dass das Erstemal der Ausgangspunkt eine Voraussetzung
(oTcod-esic), das Anderemal eine Thatsache (äicXö»«; ov) ist. Sodann ist nicht
zu verkennen, dass die erstere Methode eher zur Lösung von Aufgaben,
die andere eher zur Erklärung von Thatsachen dient.
Dieser, bei dem Mangel anderweitiger Darstellung hier ausführlicher
erörterte Unterschied zeigt sich nun auch an den Stellen, an welchen Kant
in den Prolegomena über seine analytische Methode sich äussert. Die meisten
Stellen betreffen die naturwissenschaftliche Analysis, welche man daher bis
Muster. Zum Letzteren vgl. unten S. 432 sub 15). Ein Hinweis auf diesen Unter-
schied findet sich neuerdings in Wundts Philos. Studien I, 92 ff. 96.
* So wird in allen Darstellungen die analytische Methode der Alten de-
finirt. Vgl. z. B. Chasles^ Apergu historique sur Vorigine . . . des n\&hod€9 en
giometrie p. 5: regarder la chose cherchde comme si die ^it donnie etc.
Verwechslung beider analytischen Methoden bei Kant. 419
jetzt auch allein berücksichtigte; so § 4 finia, (§ 5 init.): „die Pr. stützen
sich auf etwas, was man schon als zuverlässig kennt, von da man mit
Zutrauen ausgehen und zu den Quellen aufsteigen kann, die man noch
nicht kennt und deren Entdeckung . . . das, was man wusste, erklären . . .
wird.* „Es trifft sich aber glücklicher Weise, dass . . . wir mit Zuver-
sicht sagen können, dass gewisse reine synthetische Erkenntnisse a priori
wirklich und gegeben seien** u. s. w.; „durchgängig anerkannt**, „unbe-
stritten** vgl. oben sub 2 S. 392. Dieser Darstellung entsprechen auch dann
die schon S. 367 angeführten weiteren Stellen der Prol.; in letzteren werden
•dann eben dieErklärungsgrüpde für jenes Factum aufgestellt und damit
zugleich die Bedingungen für die noch fraglichen (resp. unmöglichen) syn-
thetischen Erkenntnisse a priori eruirt.
Aber andere Stellen lauten anders. So heisst es § 5 Anm. von der
analytischen Methode: „sie bedeutet, dass man von dem, was gesucht
wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen auf-
steigt, unter denen es allein möglich.** Als Beispiel wird „die mathematische
Analysis** erwähnt. Allein demgemäss müssten Fragestellung, Ausgangs-
punkt und Resultat anders sein. Es müsste sich erstens um eine Aufgabe ^
handeln, welche gelöst werden soll, nicht um eine Erklärung, mithin um
Etwas, dessen Wirklichkeit und Möglichkeit noch unsicher ist; es müsste
zweitens der Ausgangspunkt darin bestehen, dass dieses G-esuchte hypo-
thetisch als wirklich angenommen wird; es müsste drittens als Resultat
sich ergeben, dass dieses Gesuchte möglich oder wirklich ist. Das ist aber
denn doch ein total verschiedener Gedankengang als der obige — und doch
ist er in den Text der Prolegomena gleichsam wie ein Korn von fremdem
Metall hie und da hineingesprengt. So heisst es — um nur die deutlichste
Stelle anzuführen — am Anfang von § 10: „Diese Voraussetzung ist schlechter-
dings nothwendig, wenn synthetische Sätze a priori als möglich einge-
räumt . . . werden soll(en).** Die Detailerörterung der vorhergehenden
beiden Paragraphen, welche im Gommentar zur Aesthetik gegeben wird,
•(besonders in Betreff der mehrfach besprochenen Verwechslung der reinen und
* Diesen Ausdruck wiederholt Kant factisch mit Vorliebe in den Prole-
gomena und in der Kritik. Vgl. oben S. 314 f. 334. „Aufgabe" ist hier also im ma-
Ihematischen Sinn zu verstehen. Prol. K. 144. Or. 200. — Besonders kehrt der
Ausdruck an jenen Stellen wieder, wo Kant sein Verhältniss zu Hume erörtert,
so B 19 (oben S. 344), so Proleg. Vorrede (4mal), so Prol. § 5; dafür steht auch
mehrfach „Frage** (Prol. § 4. § 5. Fortschr. R. I, 495) und besonders „Problem**
(Prol. Vorr. § 30). Sonst findet sich: „Angriff", „Aufforderung", „Erinnerung",
„Wink", „Zweifel", „Anfechtung", „Schwierigkeit". Nach den ersteren Stellen
(bes. R. I, 495) hat Hume ganz in dem oben erörterten Sinne die „Frage" auf-
gestellt, jedoch negativ beantwortet. Andere Stellen, besonders die auf den Be-
griff der Causalität bezüglichen, haben jedoch einen anderen Sinn, z. B. „Frage
nach dem Ursprung" des Causalbegriffes. Vgl. oben 349. Es zeigt sich in diesen
Aeudserungen über das Verhältniss zu Hume wieder das gewohnte und hinläng-
lich gekennzeichnete, unleidliche^ verworrene und verwirrende Schwanken Kants.
420 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
angewandten Mathematik) würde hier yiel zu weit fahren: aber so viel ist
klar, dass diese Stelle jenem andern Gedankengang angehört, den wir als
mathematische Analysis 'bezeichnen. Aus dieser Wendung geht ja hervor,
dass die Fragestellung in der Aufgabe bestehen musste: auf welche Weise
werde ich die von mir gewünschten, gesuchten synthetischen Sätze a priori
aufstellen können? Es musste dann jene hypothetische Umwendung ge-
macht werden: Ich nehme das Gesuc&te an, als ob es gegeben wäre; ich
mache diese Voraussetzung. Dann werden durch Zerfaserung die Be-
dingungen eruirt, welche dieses hypothetische Factum möglich machen wür-
den, die „Voraussetzung", welche nothwendig ist, falls solche synthetische
Sätze a priori möglich werden sollen. Daraufhin muss gezeigt werden:
diese so eruirte Voraussetzung ist, wie sich ganz unabhängig davon nach-
weisen lässt, Wirklich. Daraus folgt, dass jene Aufgabe nicht chimärisch,
sondern lösbar ist, dass ich in der Lage sein werde, synthetische Urtheile
a priori aufzustellen.
Es ist ganz unmöglich, nun im Einzelnen zu zeigen^ wie diese beiden
Gedankengänge ineinander verschlungen sind * in einer ganz untrennbaren
Weise ; so geht Kant sogleich an der oben aus § 1 0 angeführten Stelle sofort
zu dem Falle über, dass solche Sätze „wirklich angetroffen" werden können,
und dies entspricht ganz dem Uebergang gegen den Schluss von § 5, wo
Kant so beginnt: „Indem wir jetzt zu dieser Auflösung schreiten, und zwar
nach analytischer Methode, in welcher wir voraussetzen, dass solche Er-
kenntnisse aus reiner Vernunft wirklich seien" [man beachfe den Conjunc-
tiv] . . . Während diese Wendung nun offenbar ganz der „mathematischen
Analysis" entspricht, schliesst die Periode (um den merkwürdig verschlungenen
Gedankenknoten daselbst in möglichst einfacher Weise aufzulösen) mit der
„naturwissenschaftlichen Analysis* ; denn hier ist es die „Wirklichkeit", die
„Facta", von denen „alsdann zu dem Grunde ihrer Möglichkeit auf dem
analytischen Wege fortgegangen werden kann".
Wenn nun somit der ersteren Darstellung nach etwas „gesucht wird,
von dem man, als ob es gegeben sei, ausgeht", § 5 Anm., was ist dies
„Gesuchte"? Gegen das Ende von § 5 heisst es: dass wir eine „mögliche
Erkenntniss a priori", „nämlich eine. Metaphysik als Wissenschaft" „suchen*
und aus einem guten Theil des Paragraphen springt (trotz des Wechsels
von „Suchen" und „Untersuchen" am Anfang desselben, vgl. dag. Erd-
mann, Prol. Vorr. XXV Anm.) dieser Sinn der Frage: Wie sind syn-
thetische Erkenntnisse a priori möglich? hervor, nämlich [der Sinn: Wie
kann ich in der Metaphysik synthetische Erkenntnisse a priori erreichen?
Diese Aufgabe soll nun mit Hilfe jener „mathematischen" Analysis gefunden
werden, indem „wir voraussetzen^ dass solche Erkenntnisse aus reiner
Vernunft wirklich seien". Hier. (§ 5) mischt sich nun der andere Ge-
dankengang durch eine neue eigenartige Verwechslung ein. Es taucht einen
Augenblick der Gedanke auf, dass es wohl richtiger sei, jene hypothetische
^ Auch bei Fischer III, 301 ff. spielt diese Verwechslung herein.
Verwirrung Kants in den „Prolegomena". 421
, Voraussetzung* : es gibt Erkenntniss aus reiner Vernunft, nicht so allge-
mein zu machen, sondern dahin einzuschränken, dass es solche über an-
schauliche Gegenstände gebe, weil hier die Controle des aus jenem
ganzen mathematisch-analytischen Verfahren gewonnenen Resultates möglich
sei. Dies verquickt sich nun aber sofort mit dem zweiten Hauptgedanken*
gang, dass in Mathematik und reiner Naturwissenschaft solche Erkenntniss
unbestreitbar sei: die bloss hypothetische „Voraussetzung* auch hierin
wird sofort zum unbestreitbaren „Factum*. Jener so geschwind ange-
sponnene und wieder fallen gelassene Gedanke, auch in der Mathematik die
apriorische Erkenntniss nur als hypothetische „Voraussetzung* anzuneh-
men, taucht aber wieder auf in § 9 finiSj § 10 init, *
Und daraus erklärt sich dann auch, dass § 10 finis, auch Prol. K. 142.
Or. 207 und besonders § 13 Anm. I als Folge aus den bisherigen Erörte-
rungen erst der Beweis der objectiven Gültigkeit der Mathematik geliefert
wird. Welchen Sinn hätte es denn, diesen Beweis in den Prolegomena zu
liefern, welche doch die Gültigkeit der Mathematik und reinen Naturwissen-
schaft als „unbestritten*, „durchgängig anerkannt* u. s. w. als Ausgangs-
punkt nehmen? Letzteres ist der Ausgangspunkt für die „naturwissen-
schaftliche* Analysis. Ersteres dagegen, jener „Beweis*, gehört wiederum
dem Gedankengang der „mathematischen* Analysis an, bei welcher eine der-
artige gültige Erkenntniss in der Mathematik zuerst bloss als hypothe-
tische „Voraussetzung* hingestellt und erst dann aus den analytisch ge-
fundenen Bedingungen einer solchen Erkenntniss als „möglich und gültig*
(§ 9 finis) erwiesen wird '.
Es liegt endlich auf der Hand, dass die hier aufgedeckte, in den ersten
Gedankengang eingebettete heterogene Argumentation vollständig unsere
obigen Ausführungen sab 3 und 5 bestätigt: einmal das Schwanken Kants
in Bezug auf die Gültigkeit der Mathematik u. s. w. (welche bald zu er-
klären, bald auch zu beweisen ist) '. Sodann aber deckt sich jener Gedanken-
faden, wornach die Aufgabe, synthetische Erkenntniss a priori zu er reich 6'n,
^ Ausserdem findet sich daselbst noch der andere Gedanke, dass nach Auf-
findang der allgemeinen Bedingungen für jene hypothe|ti8ch angenommene Er-
kenntniss a priori damit sich nicht bloss die gewünschte mögliche ergebe, son-
dern auch die vorhandene wirkliche erkläre. — „Aufgaben^ im mathematischen
Sinn finden sich auch in der Kr. d. pr. V. § 5. § 6.
' Da jedoch dieser Gedankengang offenbar eine secundäre Rolle JBpielt, folgt,
dass der Zielpunkt des ursprünglichen Gedankenganges — die Erklärung —
ftir Kant im Vordergründe stand, was ganz mit unseren 8ub 2 und 3 gewonnenen
Resultaten zosammenstimmt.
* Es kommt hiebei ausserdem noch folgender Unterschied sehr in Betracht :
die, empiriBch constatirbare und controlirbare, objective Gültigkeit z. B. trigono-
metrischer Berechnungen (Sätze von^ „Triangel^) ist zu erklären; dagegen ist
die, empirisch nicht constatirbare, objective Gültigkeit mathematischer Behaup-
tangen, wie z. B. der unendlichen Theilbarkeit (vgl. Prol. § 13 I, Krit. A 165 u. ö.X
za beweisen« Hierüber Näheres zur transsc. Aesthetik.
422 Exciirs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
gestellt wird, vollständig mit j^nem oben sub 5 aufgewiesenen Problem Kants,
wornach er nach der Ideal- Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori
fragt. Dieser Gedankengang tritt desshalb naturgemäss mehr im zweiten,,
der Analytik entsprechenden Theil der Prolegomena hervor, obgleich auch
dieser Theil mit der Wirklichkeit dieser Art Erkenntniss beginnt, um aber
bald darauf in den oben bezeichneten Gedankengang überzugehen ', nicht
ohne dass an einzelnen Stellen auch der erstere Gedanke wieder zum Vor-
schein kommt (vgl. oben 392 f.) — so dass von diesem Gesichtspunkt aus
eine gewaltige Verwirrung bei Kant sich zeigt. Wenn aber der Gewinn
an Einsicht mit dem Verlust des traditionellen Mythus von Kants
„musterhafter Genauigkeit**, »Schärfe**, „Klarheit** u. s. w. bezahlt wird, so
ist das Plus doch immer noch auf unserer Seite.
11) Zur literarischen Vervollständigung ist hier femer Folgendes zu
bemerken : Dass die oben S. 386 f. und sab Nr. 4, 6 u. 8 behandelte Contro-
verse nicht aus zufölligen Missverständnissen entstand, sondern durch die
Natur der Vorlage noth wendig hervorgerufen wird, dafür zeugt der Um-
stand; dass, unabhängig von ihr, in England eine ganz ähnliche Streitfrage
seit einigen Jahren spielt. Gegen die Behauptung von Green, Contemparary
Review 1877, XXXI, 26, Kant frage: How is knowledge possible? nicht: Js
knotvledge passible'i machte ßalfour Einwendungen im Min d 1878, Vol. III,.
481, und auf widersprechende Bemerkungen von Caird im Mind 1879,.
Vol. IV, 112 ff. antwortete derselbe ib. 115. Gegen Balfours Positionen,
welche in sein Buch : Defence of philosophical doubl, Chapt VI übergiengen,.
erhob Watson im Mind 1880, Vol. V, 528—548: „the Method of Kanf^
neue Einwendungen, die in seinem Werke: Kant and his english Critics,
Glasgow 1881, S. 2 ff. wieder abgedruckt sind. Das letzte Wort blieb Bal-
four, der Watson im Mind 1881, Vol. VI, 260 ff. antwortet. Die Streit-
frage zwischen Balfour einerseits und den „Transscendentalisten** Green,.
Caird, Watson andererseits ist theils eine sachliche über die Aufgabe der
Philosophie, theils eine rein exegetische; nur die letztere beschäftigt uns.
Von sonstigen bes. bei Watson hereinspielenden Missverständnissen (vgl. oben
S. 359) absehend , beschränken wir uns auf die beiden „differeni vietcs'^ :
Nach den „Transscendentalisten** handelt es sich für K. um die „explana-
tion of ihefact of knowledge*^, nicht um ^the proof, that knowledge is pos-
sible*^ ; die Ej-itik ist „theory of a process, tohich taithottt theory u>e (dready
perform'*: Kant will nicht justify beliefs, but account for their «ri-
* Vgl. z. B. S 17, wornach die Gesetze erst „gesucht", „abgeleitet" werden
sollen u. ö. — Man erkennt nun auch klar, dass diese Hereinmischung der mathe-
matischen Analysis kein blosser Zufall, sondern die nothwendige Folge daTon ist^
dass Kant eine neue Methode sucht^ die sich in der „Aufgabe": Wie sind synth.
Urtheile a priori möglich? zuspitzt. Zur Lösung dieser „Aufgabe" dient eben sehr
gut das mathematisch - analytische Verfahren. Ohne diese Seite wären also die
Prolegomena ein sehr yerstümmelter Auszug der Kritik, während wir jetzt Er-
klärung, Beweis und neue Methode — die drei Hauptseiten der Kritik —
auch in den Prolegomena haben.
Die Streitfrage über Kants methodischen Gang in England. 423
stence; er will explain an assutned fact. Diese „assumptions*^ sind die
Mathematik und reine Naturwissenschaft (wobei aber besonders bei Watson
die synthetischen Urtheile a posteriori mit apriorischem Zusatz zufolge der
S. 359 gerügten Verwechslung auch noch hereingemischt * werden). Üeber
diese Erkenntnisse will die Kritik j,cast a netc light'^ (Watson, Kant S. 6),
^but it will in no way äUer their nature or validity^. Nach der „critical.
explanation*^ bleiben die erklärten Thatsachen j^just as they teere hefore^.
Denn über diese haben wir vorher so gut wie keinen Zweifel; wenn der
Skeptiker verlangt, der Philosoph solle diese Erkenntnisse prove, so ist er
j^unreasonabW^ (ib. 7). Es sind not propositionSy which the philosopher seeks
to prove, hut data tchich he assumes (ib. 5). Kant fragt nach dem How
und Why (ib. 11. 22); „Ae sought for a hypothesis adequate to ao
eount for the facts'^ ib. 13. „Kant therefore invariahly assumes the truth
of the mathematical and physicaJ sciences and only asks, how we are to ex-
plain the fact of such knawledge from the nature of knowledge itself^ ib. 15.
Für jenes „secref^ will er „the ground^ finden ib. 15. 16. „To prove,
what no one denies*^, wäre Kant „mere folly"* erschienen ib. 16. Ein System,
das diese „undoubted truths'^ nicht erklären kann, ist falsch. Watson (der
Hauptvertreter dieser Ansicht) widerspricht sich aber (ganz ebenso wie
Fischer), indem er doch an vielen Stellen auch den Beweis jener Annahme
bei Kant findet. Nach Watson, Kant 8. 22. 23. 25. 27 will Kant -jene all-
gemeinen Gesetze doch „prove**; er will prove, that there are universal
and necessary principles^ (ib. 9. 11); dieselben sollen aufgesucht (7) und
„established'^ werden „upon a secure foundation^ (ib. 11); es handelt sich
doch um ihre „truth'^ (ib. 28). Ganz wie Kant selbst gebraucht Watson
mit Vorliebe den Ausdruck justify, 7. 10. 29 (vgl. 11 prove the right to
existX ^6^' sowohl die Erklärung als den Beweis der Gültigkeit bezeichnen
kann. Ueber dieses Schwanken wundert sich schon Balfour, Mind Vol. VI,
263 f. Inwiefern dies nun aber kein absoluter W^iderspruch sei, folgt aus
dem oben Gesagten *. Diese Unklarheit bei Watson ist nur ein neuer Be-
weis für unsere Auffassung, wornach Kant in erster Linie die Erklärung
* Diese fatale Verwechslung wird bei Watson durch den amphibolischen
Begriif der „Erfahrung^ vermittelt, der bei ihm bald die synthetischen Grundsatze
a priori (also besonders die sog. „Analogien der Erfahrung"), bald die Erfah-
rungsnrt heile (im prägnanten Sinne im Gegensatz zu blossen Wahrnehmungs-
urtheilen) bezeichnet. Eine Ahnung dieser Verwechslung zeigt Green, Äcademy
1881 Nr. 489 (über Watson). Diese Verwechslung stammt, wie so manche andere
Irrthümer, aus Fischers Darstellung, welche (in der englischen Uebersetzung durch
Uahaflfy) nicht nur (neben Cohen) die Hauptquelle der neuern englischen exe-
getischen Kantliteratur geworden ist^ sondern wohl auch zur Begründung des
sogen. „Transscendentalismns'^ den Anstoss gegeben hat.
• Üebrigens hat Green in seinem Referat über Watson, Äcademy 1881
^r. 489 auch erkannt, dass aus der Erklärung auch der Beweis der Thatsache
folgt: sind die Bedingungen der Möglichkeit nachgewiesen, so kann be no further
question, whether such a nature exists.
424 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
der Gültigkeit der Mathem. u. s. w. im Auge hat, welche aber den Beweis
derselben nothwendig involvirt (über das dritte, die neue Methode, ist bei
Watson dieselbe Unklarheit wie bei Fischer). Schlimmer ist, dass Watson
aber noch einen anderen Fehler mit Fischer gemein hat, er betrachtet jene
Gültigkeit als Argumentation smittel, als „rational hasis*^, was doch in
der Kritik selbst nicht der Fall ist, sondern nur in den analytisch angelegten
und daher methodisch nicht so zwingenden Prolegomena. Watson sagt (ib. 6),
jene als gültig angenommenen Erkenntnisse seien „the aetual premisaea
of Kant^ ; they are the facts, frotn which we atart, not the conduaions
we desire to reach 12. Sie sind the data, from which Kant atarta (dieser
Terminus ist häufig vgl. ib. 10. 12), und damit wir nicht im Zweifel ge-
lassen werden, wird das dahin erklärt, dass (ib. 31) „from the facta that we
have acientific knowledgey we are enabled to reaaon back to the functiona of
thought hy which auch knowledge ia made poaaible^ ; so finden wir „the eaaen-
tial conditiona*^ jener Gültigkeit (ib. 12). Dies ist aber, wie gezeigt, nicht
der Gang der Kritik, welche diese Bedingungen ganz unabhängig von jener
Voraussetzung der Gültigkeit (mit Hilfe der unten S. 425 ff. besprochenen
Prämissen) auffindet und erst aus diesen Bedingungen jene Gültigkeit erklärt
und ableitet. (Ueber eine weitere hier hereinspielende Verwechslung vgl.
unten S. 447.) Balfour wirft daher (ib. 264 f.) Watson vor, nach seiner
Darstellung schliesse Kant in einem Cirkel, da er ja jene Prämissen, auf
welchen die Ableitung der transscendentalen Functionen fussen soll, ja doch
auch wieder beweisen wolle. Balfour selbst hat — und dies facht« den Streit
an — trotz der Einleitung, welche mehr nach dem Warum der Gültigkeit
fragt, die Kritik d. r. V. auf die Frage nach dem Dass hin untersucht.
Diese , Umformung", welche Balfour, Mind Vol. III, 481 ff. IV, 115.
VI, 262 f. vornahm, ist nach all unsern Ausfuhrungen somit nicht unerlaubt,
insofern Kant allerdings^ trotzdem er zunächst nach dem Warum fragt, doch
auch das Dass beweisen will. Und insofern sucht auch der Kriticismos
(der „Transscendentalismus") die Aufgabe zu lösen, „to foumiah the rational
foundaiUm of acience**, „to eatahliah the principlea which acience aaaumea*^.
(was schon in das Dritte, die neue Methode, hinüberspielt). Gefährlich für
den Kriticismus kann aber die Meinung werden, der wir oben im Streit
zwischen Fischer und seinen Gegnern, so auch hier begegnen, Kant benütze
jene Gültigkeit als Argumentationsmittel, als „aetual premiaa'^. Diese Dar-
stellung ist aber nicht bloss irrig, sondern desshalb auch gefährlich,
weil die Skeptiker und Empiristen sich der Drohung Balfours mit Recht
und Fug anschliessen müssten, dann die Kritik d. r. V. einfach links liegen
zu lassen und die Detailprüfung derselben als , irrelevant* gar nicht erst zu
beginnen ; denn es ist dann für sie„ entirdy unneceaaary to waate time , , . to
trouhle himaelf dbout the matter*^. Gerade bei dieser Controverse zeigt sich,
welche fundamentale Wichtigkeit der hier besprochene Punkt besitzt, und
wie sehr eine Aufklärung über denselben bei Anhängern und Gegnern
Kants noth thut, damit — abgesehen von historisch-philologischer Bichtig-
steUung der wahren Meinung Kants — die sachliche Discussion zur frucht-
Die Prämissen der Argumentation in der Kr. d. r. V. 425
baren Fortbildung und zur Verständigung führe. Man kann doch über
Kant nicht streiten, so lange man ihn nicht versteht.
C. Die Prämissen (Toranssetznngen) der Kritik d. r. Y. Wir haben
bis jetzt den Inhalt der Problemstellung, sowie die (äusserliche) Me-
thode der Problemlösung kennen gelernt: es ist nun unsere Aufgabe,
die (inneren und) eigentlichen Prämissen der Argumentation aufzufinden.
12) Bei der Auflösung der verschiedenen Aufgaben macht Kant näm-
lich gewisse Voraussetzungen, welche als Prämissen in seine Argumen-
tation eingehen und welche — auch im synthetischen Gange der Kritik
— Stützpunkte des Gedankenganges sind. Eine grosse Verwirrung entstand
dadurch, dass man diese dem Gedankengang als Mittel eingewobenen Voraus-
setzungen oft verwechselte mit jenen oben aufgewiesenen „Voraussetzungen"^:
Mathematik und reine Naturwissenschaft sind gültige Wissenschaften. Diese
sind, wie gezeigt, nur provisorischer Natur und dienen eben nur zur Ex-
position des Problems, dagegen werden sie im factischen Gedankengange
der Kritik niemals als Stützpunkte und Hilfsmittel ^ gebraucht. Jene Ver-
wechslung wurde durch die äusserliche Aehnlichkeit der beiden methodisch
ganz heterogenen „Voraussetzungen* begünstigt, wodurch die Controverse
um so complicirter geworden ist. Diese wirklichen Prämissen gipfeln in
dem Satze: strenge Allgemeinheit und Noth wendigkeit stammen nicht aus
der Wahrnehmung (= Erfahrung im gewöhn 1. Sinn), sondern aus der reinen
Vernunft. Diese allgemeine Voraussetzung gabelt sich in die beiden Prä-
missen ', dass weder Sätze oder Begriffe wie der der Causalität , noch dass
die „Erfahrung* im prägnanten Sinne durch blosse Combination sinnlicher
Eindrücke entstehen kann.
In jener gemeinschaftlichen Voraussetzung besteht nun das, was man
als Kants dogmatisch -rationalistisches „Vorurtheil" (als petUio principit)
bezeichnet hat (vgl. Erdmann, Ks. Proleg. Vorr. S. 84, Volkel^, Ks. Erk.
189 ff. 222. 225, Watson, Kant 10, Cohen, Ks. Th. d. Erf. 93. 103, Ul-
rici, Grundpr. I, 299, und bes. Bahnsen, Altpr. Monatsschr. XVIII, 446 ff.
über diese „urdogmatische Befangenheit", den „unerschütterlichen Respect
vor den Attributen der Allg. und Nothw.*, den „Fels des Apriori, auf den
sich Kant postirf, der aber ein „haltloses Fundament' ist; das Apriori als
das Noli me tätigere bei Kant. Vgl. oben S. 31 ff. bes. 32 Anm. 85 Anm. 2.
54 ff. 61 Anm. 1. 89. 97. 107 ff. 170 Anm. 1. 206 ff. 398). Jedenfalls
^ „Nicht als Beweismaterial, sondern als Object der Kritik*', Windelband,
Gesch. II, 52.
* Dies hat auch Volkelt, Ks. Erkenntnissth. S. 195 Anm. (abgesehen von
der unten 429 gerügten Verwechslung) richtig erkannt; vgl. ib. 194. 195 Anm.
214 ff. 219. 221. 222, wo „die gemeinsame Wurzel" der beiden Voraussetzungen
zwsT richtig betont^ ihre verschiedenartige Function jedoch zu wenig getrennt
wird. Daraus folgt dann eine irrthümliche Darstellung, z. B. S. 200 f.
426 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
bilden diese beiden Prämissen factisch das Hauptfundament, die Ecksteine
des ganzen Argumentationsgebäudes; sie haben jedoch eine verschiedene
Function.
Die Prämisse: , Begriffe und Urtheile, welche Nothwendigkeit und
Allgemeinheit enthalten, stammen nicht aus Erfahrung", wird (vgl. 206 ff.)
überall ins Spiel gebracht, wo es sich eben darum handelt, ^den reinen
Verstandesbegriffen ihren Ursprung a priori zu retten" (vgl. oben S. 33
gegen Hume). Wo die logisch-psychologische Analyse bei irgend einem Satz
oder Begriff jene beiden Merkmale zeigt, ist der nicht-empirische Ur-
sprung, der Ursprung also aus der reinen Vernunft (vgl. oben S. 189)
für Kant selbstverständlich. An entscheidenden Stellen der Kritik tritt diese
Argumentation auf: da ist jene Prämisse ^ der eigentliche nervus probandi;
und jenes Begriffspaar ist das untrügliche chemische Reagenzmittel, um
Apriorisches von Empirischem zu unterscheiden. (Man vgl. z. B. die »me-
taphysische" Deduction von Raum und Zeit, der Kategorien, Grund-
sätze und Ideen, ferner A 86 f. 90 f. 106. 112. 159).
In diesem Sinne ist es also zu verstehen, wenn Kant * in den Proleg.
§ ^ (vgl. oben S. 368) von der synthetischen Darstellung der Kritik sagt,
„das Systen^ lege noch nichts als gegeben zum Grunde, aoMier
die Ternanft selbst [nach dem Zusammenhang bestimmter: die reine
Vernunft] '; auf ein Factum „stütze" sich dasselbe nicht (vgl. ob. sub Nr. 7),
d. h. eben nicht auf die f actische Gültigkeit der Mathematik u. s. w. (wohl
aber auf das Bewusstsein ihres apriorischen Ursprungs als ein „Factum
der Vernunft" vgl. Kr. d. pr. V. § 6 Anm. § 7 Anm. R. VIII, 140. 142.)
Es bleibt also nach Kants unzweideutigem Eingeständniss als Voraus-
setzung übrig, auf welche er sich stQtzt: die reine Vernunft; dies
tritt auch an jener bemerkenswerthen Stelle der Vorrede (XXIII) zur Kritik
d. prakt, Vernunft hervor, wo Kant, offenbar durch Angriffe z. B. von Seile
und Andern auf diesen schwachen Punkt aufmerksam gemacht, in einer
seltsamen Mischung von Angst und Selbstgewissheit bemerkt:
„Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungen wol nicht begegnen, als
wenn Jemand die unerwartete Entdeckung machte, dass es überall gar keine
Erkenntniss a priori [nach dem Zusammenhang nur = reine Vernunft] gebe,
noch geben könne. Allein es hat damit keine Noth. Es wäre ebenso viel,
als ob Jemand durch Vernunft beweisen wollte, dass es keine Vernunft
gebe" u. s. w. (Forts, der Stelle s. oben S. 204. 217. 334. 360.) Man ver-
* In sehr treffender Weise hat schon Buhle, Gesch. d. Philos. VIII, 471 ff.
(= Gesch. d. n. Philos. VI, 2. 583 ff.) auf die fundamentale Wichtigkeit dieses
vorausgesetzten „Grundsatzes'' als „Leitfaden^ aufmerksam gemacht.
■ Vgl. auch ähnlich in den von Erdmann 1882 herausgegebenen „Reflexio-
nen" Kants I, S. 70 Nr. 24.
' In dem Titel Kritik der reinen Vernunft liegt schon diese dogma-
tische Voraussetzung, wenn auch gemildert durch die dem Skepticismus ent-
stammende „Kritik". Schon im Titel liegt somit jene so oft betonte „Vermitt-
lung". Vgl. oben 121. 157.
Die Rolle der beiden Haupt-Prämissen. 427
gleiche hiezu die unten zu A 11 angeführten Stellen aus Schmidt-Phiseldeck,
Herder, Jacohi u. A. — Nach den angegebenen Kriterien stellt Kant die
apriorischen Elemente heraus (wie er das auch mit dem praktischen
Apriori thut, vgl. die , Voraussetzung" Kritik A 807): aber er muss noch
ein weiteres Princip hinzunehmen, um nun auch ihre objective Gültig-
keit zu erklären und zu beweisen.
Viel wichtiger * ist daher die Function der anderen Voraussetzung,
(welche der ^transscendentalen" Deductionzu Grunde liegt): , Erfahrung
im prägnanten Sinne kommt nicht durch blosse Combination sinnlicher Ein-
drücke zu Stande." Diese Prftmisse' (petUio prindpii vgl. oben 178. 220. 222)
nämlich — in entsprechender Umformung — ist es, durch welche die ob-
jecÜTe Gliltigkelt jener (durch die erstere Prämisse zunächst nur als snb-
JeetlT-apriorlseh erwiesenen) reinen Vemunftelemente erklärt und bewiesen
wird, durch welche auch jene sub 5 behandelte Aufgabe, solche Erkenntnisse
aufaustellen, gelöst wird. Jene apriorischen Begriffe und Urtheile sind gültig,
weil sie die Erfahrung möglich machen; darin liegt auch der Beweis ihrer
bestrittenen Gültigkeit. Die neue Beweisart der uralten Erkenntnisse
a priori, z. B. des Causalitätsgesetzes, beruht auf der , Möglichkeit der Er-
fahrung" ; und sie ist der Leitfaden zur Auffindung des vollständigen Systems
des gültigen Apriori (vgl. auch Kritik A 94). Die „Möglichkeit der Er-
fahrung" ist das Princip für Erklärung, Beweis und Methode*.
In diesem Sinne wurden oben S. 225 ff. Allgemeinheit und Noth wendig-
keit als , Beweisgrund", „Voraussetzung", S. 219 ff. Erfahrung als „Basis"
der Kritik aufgewiesen, letztere als Argumentationsmittel für die
(ebenfalls oben S. 225) als das zu Erklärende (resp. zu Beweisende) ange-
nommene vorläufig vorausgesetzte Gültigkeit der Mathematik und reinen
Naturwissenschaft.
* Darum ist aber der Werth der ersten Prämisse nicht zu unterschätzen^
wie das bei Cohen (vgl. oben 208), Riehl 198. 325, Caird, Kant 206. 219. 220
geschieht.
' Eine „willkürliche Voraussetzung"* nach Zimmermann, Ks. math. Vor.
88, dag. Gottschick. Schleierm. u. Kant 8. 4.
• An einzelnen Stellen dient das Princip der Möglichkeit der Er-
fahrung jedoch auch dazu^ um schon die Apriori tät^ den nichtempirischen
Ursprung gewisser Begriffe zu beweisen (also nicht erst die Gültigkeit schon
anderwärts als a priori erkannter Vorstellungen). Dann functionirt diese zweite
Prämisse also für die erste. Dies ist der Fall z. B. A 112. A 93 (^Begriffe, die
den objectiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben, sind eben darum
noth wendig''); auch B 5 ist dieser Gedanke ausgesprochen (vgl. oben 217 Anm.):
Damach erfordert die „Möglichkeit der Erfahrung" das Vorhandensein apriorischer
Elemente und (nach A 93) dient sie auch dazu, als Kriterium dieselben im Ein-
zelnen als solche zu erkennen. Damit träten die Kriterien der Nothwendigkeit
und Allgemeinheit in den Hintergrund. Allein da dies nur ganz vereinzelt
der Fall ist, mnssten eben oben 208 Cohens und Riehls Behauptungen (vgh
auch Caird, Kant 206. 219 f) bekämpft werden. Von diesem Beweis der Apriorität
(nicht der Gültigkeit) sprechen auch Harms und Volkelt (vgl. oben 403 Anm.).
428 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
13) Ueberblicken wir nun die Literatur , so ist es eigentlich nur
Reinhold, welcher (vgl. oben 219. 221 und besonders 226 f.) diesen Sach-
verhalt annähernd richtig erkannt hat. In der neuem Literatur dagegen
herrscht hierin grosse Unklarheit, weil jene beiden heterogenen , Voraus-
setzungen'' verwechselt werden. So fehlt bei Riehl der betreffende Unter-
schied: indem er richtig erkennt (S. 826. 331. 341. 352), dass die Gültig-
keit der Mathem. u. s. w. in der Kritik nicht Stütz- und Ausgangspunkt
ist, verwechselt er damit die viel unschuldigere Annahme Kants:
Allgemeinheit und Nothwendigkeit stammen nicht aus Erfahrung. Diese
Annahme geht aber bei Kant factisch in die Argumentation als selbstver-
ständliche Prämisse ein ; daher es irrig ist, wenn Biehl auch ihr den Werth
eines methodischen Ausgangspunktes und Beweismittels bei Kant abspricht
(a. a. 0. 198. 298. 326 f. 341 u. ö.) \ Denn mittelst jener Annahme be-
weist Kant überall die Thatsache der Apriorität, d. h. zunächst dass
die betreffenden Begriffe und Sätze nicht aus der Wahrnehmung stammen,
sondern aus der „reinen Vernunft". Letztere zunächst rein psychologische
Thatsache darf aber nicht mit der Thatsache der objectiven Gültigkeit
verwechselt werden", was bei Riehl a. a. 0. 292. 341. 342—345. 355 ff. 372.
405. 443 (vgl. auch 298) geschieht. (Vgl. oben S. 396 Anm. 1 u. S. 400 f.
über Fischer.) Denn f[ir die Erklärung und den Erweis der objectiven
Gültigkeit genügt natürlich nicht jene Annahme (Allgem. u. Nothw. stammen
aus der Vernunft), sondern hier tritt jene auf die „Möglichkeit der Erfah-
rung" sich stützende Argumentation ein. Diesen Stützpunkt und Beweis-
grund hat nun — und dies ist ein grosses Verdienst — Biehl nach seiner
methodischen Wichtigkeit scharf und oft betont (nicht bloss „leichthin*,
Volkelt, Kant 203): 17 f. 150. 166-170. 194. 198. 226 f. 279. 293 f. 298.
302 f. 310 f. 367 f. 375. 384 ff. 392. 396. 401. 405. 423. Riehl hat sich
hierin an Cohen* angeschlossen und hat seinerseits bei Cantoni, Kant 168
Zustimmung gefunden. Richtige Würdigung hievon ferner bei Laas, Ks.
An. d. Erfahrung und bei Dietrich, K. u. Nevrton 124. 137. 265. Vgl.
Erdmann, Ks. Prol. Vorr. XXXV über den „Hebel des Beweisapparates*.
Borschke, Locke im Licht d. K.'schen Phil. S. 12. 29. 81.
Jener Verwechslung begegnet man auch sonst häufig, z. B. bei Ueber-
weg, Geschichte der Philosophie, 5. Aufl. III, 255 Anm.; ebenso ib. S. 195
vgl. ib. 204 Anm. 1 über Kants Voraussetzung als icp&xov ^'(i^do;; Caspari,
* Wenn nach Riehl 310 doch der Begriff der reinen Erkenntniss „Ausgangs-
punkt^ genannt wird, so wird dies wohl nur so zu verstehen sein, er bilde das
Problem ; sonst läge eben ein Widerspruch vor. Auch bei Witte, Zur Erk. 3 f.
dieselbe Verwechslung.
' Es kann nicht genug vor dieser ominösen Verwechslung ge-
warnt werden, welche das Verständniss Kants unmöglich macht
» Vgl. Cohen, Ks. Th. d. Erf. 80. 126. 129. 153. 185. 205. 237 u. ö. und
besonders die bestimmteren Auseinandersetzungen über die „transscendentale
Methode'' in desselben „Ks. Ethik"* 8. 20 ff.
Definitive Prämissen und provisorische Voraussetzungen. 429
Grondprobleme II, 189; in auffallendster Weise ferner bei Volkelt, Kant
198 — 203: „Nothwendigkeit und Gesetzmässigkeit als unbewiesener Aus-
gangspunkt der Eantischen Aprioritätslehre*, besonders S. 194. 196. 198.
203 ff. 214 ff. 217. 225: auch dort wird die Voraussetzung der Exposition:
Mathematik und reine Naturwissenschaft sind gültig, verwechselt mit
der Voraussetzung der Argumentation: Allgem. u. Nothwend. stammen
aus der reinen Vernunft. (Dagegen ist ib. 199. 200. 203 die »Erfahrung"
richtig als Stützpunkt der Argumentation erkannt.) In dem Streit zwischen
Balfour und Watson spielt eine andere Verwechslung in ominöser Weise
hinein, wo (vgl. bes. Witson, Kant 25. 31 und * oben 225 Anm. und dazu
Green, Äcaderny Nr. 489) die vorausgesetzte Gültigkeit der Mathem. und
Naturwissenschaft, welche Erklärungsthema u. s. w. ist, mit der Gültig-
keit der „Erfahrung", welche ArgumentaticJhsmittel ist, vermischt wird.
Diese Vermischung und Verwechslung wird daselbst (wie schon bei Fischer,
vgl. oben S. 189) vermittelt durch den vieldeutigen Begriff der „Erfahrung",
welcher unrichtigerweise auch im ersteren Sinne genommen wird : als System
der in der Erfahrung gültigen Wissenschaften, speciell als jene „reine
Naturwissenschaft"; während er nur die ürtheile der alltäglichen Empirie
umfasst. (Hierüber weiteres noch unten S. 447.)
Bei Kant selbst findet sich letztere Verwechslung im Begriffe der „Er-
fahrung" nicht, wohl aber, wie wir sehen werden, im Begriffe der „Natur" ;
dagegen ist nicht zu leugnen, dass die Darstellung der Einleitung (in A und
noch mehr in B) die erstere Verwechslung nur begünstigt, deren Unrichtigkeit
erst aus der factischen Argumentation der Kritik selbst hervor-
geht. Denn Kant selbst macht in der Einleitung so wenig auf den me-
thodologisch ganz verschiedenen Werth der Abschnitte U u. V aufmerksam,
dass er im Gegentheil offenbar beides selbst verwechselt (vgl. oben 390
Anm. 2, 396 Anm. 1,. 415 Anm. 1 und die aus Kant angeführten schwan-
kenden Stellen oben S. 31. 33. 187. 217 Anm. 228); denn beides (vgl. oben
S. 162) erscheint zunächst ganz gleichwerthig : allein die Behauptung der
«Thatsächlichkeit" apriorischer Erkenntniss in Mathematik und Naturwissen-
schaft = objective, erkenntnisstheoretische Gültigkeit in V • bildet, wie
bemerkt, nur eine provisorische Voraussetzung zum Zweck der Expo-
sition des Problems, während die in II auf Grund des Zutreffens der Kri-
terien : Allgemeinheit un^ Nothwendigkeit behauptete „Thatsächlichkeit" des
' Vgl. Watson in Joum, of spectU. [Philoe, X, 119. Durch diese Unter-
scheidung löst sich iein daselbst behaupteter Widerspruch Ks.
' Auch im Y. u. VI. Abschn. findet noch ein unklares Schwanken statt.
An anderen Stellen hat K. beides sehr wohl geschieden; so Fortschr. R. I. 495
(▼gl. oben 323) und 505; auch Proleg. § 81 unterscheidet er „Unabhängigkeit
von Erfahrung** und „Gültigkeit a priori". An vielen Stellen ist aber beides
schwer zu trennen, obwohl ja schon die Theorie der Ideen diese Scheidung noth-
wendig macht, welche oben S. 817. 828 scharf getroffen wurde. Man kann dabei
80 trennen, dass Kant das Erstere gegen den Empirismus, das Zweite gegen den
Skepticismus „retten" will. — Scharf scheidet Kant bes. oben 238.
430 Excurs, Methodologische Analyse der Kr. d. r. V,
Apriori bloss jenen subjectiv-psychologischen Werth hat, dafür aber eine
definitive, 'in die eigentliche Argumentation eingehende Voraussetzung
bildet.
14) Ehe wir von hier aus zu einer weiteren, ungemein schwierigen
Untersuchung fortgehen, liegt es im Interesse der Vollständigkeit, hier auch
auf die wichtigsten übrigen Voraussetzungen Kants wenigstens kurz auf-
merksam zu machen, welche er mehr oder weniger ungeprüft annimmt,
und welche um so schwieriger aufzufinden sind, als er sie so zu sagen sub-
cutan einfuhrt. Eine vollständige Zusammenstellung kann sich erst aus der
methodischen Analyse des Details ergeben, durch welche jede einzelne heraus-
präparirt werden kann. Versuche der Zusammenstellung sind hin und wieder
gemacht worden, so schon von Aenesidem-Schulze, dann u. A. von
R^musat\ von Beneke (Lo^k II, 174 ff. 209 ff. und sonst häufig), von
Thomas, (Kant und Herbart, 1840, S. 8 ff.), Ueberweg (Logik § 131).
Neuerdings haben Cantoni (Kant S. 166), Stirling (Journal of specid.
Phüos. XIV, 267; vgl. auch oben S. 221 Anm.), Volkelt, (Ks. Erkenntnisa-
theoriß 1879), Weber, (Zur Krit. d. K.'schen Erkenntnissth., Halle 1882,
S. 12 — 33) Kants (oft als solche sehr schwer erkennbare) Prämissen zu eru-
iren gesucht. Die wichtigsten sind jedenfalls jene schon oft behandelten
Lemmata aus der Psychologie' und Logik', welche das ganze Grefüge des
Kriticismus als „scholastischer Apparat**' (Feder, Leben S. 117) beeinfiussten ^.
Hieher gehört besonders Kants Ansicht über das Verhältniss von Sinnlich-
keit und Verstand (vgl. unten zu A 16), der Gegensatz von Stoff und
Form (vgl. oben 182, und zu A 20), sowie die damit zusammenhängende
Annahme, dass aller Stoff uns nur durch Sinnlichkeit gegeben werden
könne*. Weniger auf der Oberfläche läge jener ideale Begriff der Erkennt-
niss, welchen Harms (vgl. oben 366) als Kants Voraussetzung hervorhebt.
Noch tiefer lägen jene beiden von Volkelt behaupteten Voraussetzungen
Kants, in denen er sich an Rationalismus und Skepticismus anschliesst, dass
das Denken Seinswerth besitze, und dass wir dcw^h andererseits nicht über
unsere Vorstellung hinauskommen — wiewohl hier Voraussetzung und
Resultat theil weise vermischt zu sein scheinen. Eher erkennbar ist wieder
jene Annahme wirkender Gegenstände (vgl. oben 172), jene „dualisHeoi as-
* Phüos» Allem. XI. XIX (7 Voraussetzungen ^Ks.), Lewes, Problems of
Life I, 440. 445, femer Fries, Gesch. d. Philos. II, 577 ff.
' Diese hat besonders die Herbart'sche Schule herausgestellt. Vgl. Zim-
mermann, Ks. raath. Vorurtheil 17. Auch Windel band, Gesch. II. 56 und
besonders Lieb mann in Fichte^s Zeitschr. 65, 82 über diese „fehlerhafte Opera-
tionsbasis". — Vgl. unten zu B 25.
' Zu diesen würde besonders der Unterschied der anal. u. synth. Urtheile
gehören. Logik a secure starting-point für K. Caird 227.
* Man vgl. besonders J. B. Meyer, Ks. Psychologie, Berlin 1870, und
G. Schenke, Die logischen Voraussetzungen und ihre Folgerungen in Ks. Er-
kenntnisstheorie, Halle 1876, In.-Diss.
* Vgl. Witte, Beitr. 41. Sigwart, Gesch. lU, 42. 65.
Die übrigen Prämissen. Kants „apriorische Methode ''. 431
sumption^, und zwar die Voraussetzung ihrer Mehrheit, wie Er d mann,
Ks. Proleg. Vorr. 52. 55. 60 ff. 71 ff. richtig betont*.
In diesem Theile der methodologischen Analyse ist noch Vieles zu
thun, und diese Aufgabe ward hier auch erwähnt, um der weiteren Er-
klärung feste Ziele vorzustecken.
15) Und noch ein ähnlicher Punkt ist hier einzuzeichnen, der mit
dem vorigen ein zusammenhängendes Paar bildet. Auch ihn brauchen wir
— unter Zusammenfassung des Bisherigen — hier nur zu erwähnen, nicht
selbst zu erwägen. Worin besteht jene von Kant gewollte und seinem
Selbstzeugniss ' nach von ihm befolgte apriorische Methode? Kant
macht ja den Anspruch, in seiner kritischen Untersuchung gegenüber der
gewöhnlichen empirischen Methode (besonders Locke's und Hume's, aber
auch Aristoteles' und Leibniz') eine apriorische Methode befolgt zu
haben, wesshalb seine Resultate unumstösslich seien. Offenbar sind in dieser
angeblichen apriorischen Methode zwei Momente zu unterscheiden (auf welche
die oben S. 83 Anm. 2 angeführten fünf Punkte Mellins passend reducirt
werden) :
1) formell: syllogistisch deductive, also apriorische Ab-
leitung der Conclusionen aus allgemeinen Principien ;
2) materiell: allgemein-nothwendige, d. h. apriorische
Gewissheit dieser Principien selbst, d. h. eben der oben auf-
gezählten Voraussetzungen.
Die Prüfung der apriorischen Methode wird also sowohl die formelle
Bichtigkeit jener Argumentation, als insbesondere die materielle Wahrheit
dieser Prämissen ins Auge zu fassen haben — und bekanntlich haben die
Kantgegner gar Vieles nach beiden Seiten hin zu moniren gehabt. Es wird
^ Unten ad A 16 sind auch die in der Einleitung enthaltenen axi oma-
tischen Voraussetzungen zusammengestellt, bei der Uebersicht der wichtigsten
Definitionen^ welche später eine wichtige Rolle spielen. — Vgl. ferner Fries
über Kants transscendentales ^ Zimmermann über sein mathematisches^ oben
S. 310 über sein naturwissenschaftliches „Vorurtheil".
* Man vergleiche hiezu in diesem Bande S. 33—36 (apodiktisch, rational,
dogmatisch, „aus Principien", zu Letzterem vgl. noch 40. 124 ff, 126. 129. 131.
154. 247, sowie zu A 13. 14 „architektonisch"). Dann S. 50 Anm. 54 Anm. 55. 68.
101. 106 (Selbsterkenntniss, dazu noch S. 107 ff, 117 ff. 314. 378.) 119. 120. 132 ff.
134 ff. 143. (Vollständigkeit vgl. 36. 131.) 148 f. 153. 215 ff. 221 f. 229 Anm.
239. Wichtig ist die Bemerkung, dass bei Kant selbst oft (vgl. auch oben Erd-
mann S. 68) die von ihm selbst in der Kritik befolgte Methode mit der von
ihm in der Kritik begründeten Methode („Tractat von der Methode") ver-
mischt wird; vgl. oben 83 ff. 132 ff. 135. 186. 225. Bei manchen Stellen (z. B.
40. 77. 101. 148) sind diese beiden Seiten daher oft schwer oder gar nicht aus-
einanderzuhalten — eine Schwierigkeit, welche, nebenbei bemerkt, auch in dem
Diseours und den Meditationen von Descartes vorhanden ist. Endlich ist auch
die hier behandelte apriorische Methode (im Gegensatz zur empirischen) wohl
zu unterscheiden von der oben «tt6 7 — 10 behandelten synthetischen Methode
der Kritik (im Unterschied von der analytischen der Prolegomena).
432 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
sich dann weiter fragen, inwieweit jenes Princip der ^Erfahrung* wirklich
eine so dominirende Rolle spiele, inwiefern, wie Viele ^ behaupten und Kant
selbst sagt (vgl. oben 221. 222 Anm. 857), der Hauptinhalt der Kritik eine
Analyse des Erfahrungsbegriffs sei (d. h. eine analytisch -deductive
Ausspinnung aus dem als sicher angenommenen prägnanten Begriff der ,£r-
fahrung''); und wenn aus diesem Begriff die wichtigste Prämisse gebildet
ist, welches in logischer Abfolge die anderen seien?
Fraglich ist es sodann, ob wir (mit Fischer, Harms, Biehl u. A.) die
Ausschliessung jedweder empirischen, inductiven, psychologischen Selbst-
besinnung (als bloss , rhapsodisch^) in jenen Begriff der von Kant befolgten
9 kritischen Methode'' (ein mehrsinniger Ausdruck!' vgl. z. B. oben S. 44)
au&ehmen müssen, oder ob es (nach J. B. Meyer, Cohen u. A.) nicht noth-
wendig ist, soweit zu gehen. Es herrscht ja gerade hierin ein wirres Durch-
einander von streitenden Stimmen (vgl. oben S. 66. 106. 125. 135. 171.
186. 209. 222. 323 ff.) Worin bestehen femer jene durch Kant selbst von
seinem sicheren Verfahren wohl unterschiedenen psychologischen Hilfshypo-
thesen? (Vgl. oben S. 391 Anm. 4.)
Es erhebt sich dann weiterhin die Frage: worin besteht jene so oft
gerühmte ,natur wissenschaftliche^ Methode Kants, seine (von der
materiellen Beeinflussung, vgl. oben 310 Anm., sehr zu unterscheidende)
methodische Mitgift von Newton? Vielleicht in der Methode des Rück-
schlusses? (Vgl.' oben S. 44 Anm. 2. S. 135 Anm. 188 und oben stdb 10;
Riehl, Kritic. 221. 228. 234 ff. 241 ff. 247 f., Fischer HI, 211 u. ö. und
besonders Dietrich, Kant und Newton S. 11. 70. 73. 125. 155)». Be-
steht nicht auch eine Analogie mit der „mathematischen Methode*?
(Vgl. oben S. 92. 153. 242. 290.) Worin besteht ferner jenes , chemische",
(S. 185) ,isolirende% abstrahirende Verfahren? (Vgl. oben 135. 168. 223.)
Ist sein Verfahren direct oder (nach Watson) indirect? Verfährt er vielleicht
auch (besonders am Anfang) nach der Methode propädeutischer Accommo-
dation, wie Aeltere (Beck) und Neuere (Watson) meinen? (Vgl. oben S. 66.
188. 355.) Scheut er sich somit auch nicht hin und wieder vor der ctrgu-
mentatio ad hominem, so dass wir hier sämmtliche methodologischen Kunst-
mittel verwerthet fänden und die Analyse der Kritik einen wahren Cursus
der Logik darstellte?
Wie verhalten sich endlich diese einzelnen Voraussetzungen und
Methoden zu jenen vielen Problemen, die wir bei Kant fanden und
noch finden werden? Wie sind sie auf dieselben zu deren Lösung verwendet
und vertheilt?
* Besonders Cohen, Riehl, Stadler a. d. a. 0. Volkelt unten 440.
' Vgl. Windelbands richtige Bemerkungen Gesch. ü, 49 ff Es bedürfte
einer eingehenden Monographie über Kants sog. „Kritische Methode".
' Liebmann in Fichte's Zeitschrift LXV, 81 findet Identität der analytisch-
regressiven Methode Newtons mit der Kantischen. Fischer V, 5 ff. 12. 23 nennt
Ks. Methode inductiv. Vgl. dag. Zimmermann, Ks. math. Vor. 16. 27 f. 34^
Vgl. auch Montgomery, Ks. Erk. 27. 83. 197 u. ö.
Das Problem der Erfahrung. 433
16) Die bisherigen Aus- nnd Anführungen genügen, um da.s Urtheil
zu rechtfertigen, dass die exaete methodologische Analyse der Kritik
d. r. V. noch sehr im Argen liegt. Hier am allerwenigsten finden wir
Schärfe, Klarheit und Einstimmung in der Literatur. Und doch muss das
Ganze der Kritik d. r. Y. vom methodologischen Gesichtspunkt aus ana-
lysirt und vermessen werden: was ist Problem? was Voraussetzung?
was Conclu^ion der Argumentation? was ihre Methode? Aber gerade
die Ausschöpfung des Inhalts der Kritik durch diese einfachsten methodo-
logischen Kategorien wird ungemein erschwert durch den unglaublich com-
plicirten Inhalt, den merkwürdig verschlungenen Gang dieses Werkes. Zu
der Schwierigkeit der Beduction auf die einfacheren Schemata kommt aber,
dass dieses Werk verwickeitere methodologische Formen zeigt, welche in der
Logik ungenügend und zum Theil gar nicht berücksichtigt sind. So kommt
es, dass es nirgends so wie hier an abschliessenden Resultaten von Vor-
arbeitem fehlt, ja dass der Leser, anstatt in diesem Punkte auf den Text
und seinen gesunden Verstand angewiesen zu sein, durch die Literatur eher
gehemmt und verwirrt, als gefördert und aufgeklärt wird. Eine methodo-
logische Analyse des Ganzen der Kritik ist aber zum historischen Verstand-
niss und als Grundlage für die sachliche Beurtheilung absolut unentbehrlich.
Sie muss ebensosehr die Basis der folgenden Detailerklärung bilden, als
durch sie Bestätigung finden. Die obige Erörterung dient daher nicht bloss
zur Erklärung der Kantischen Einleitung, sondern ist auch ein wichtiges
Glied der allgemeinen Grundlegung, auf welcher das ganze Gebäude unseres
Oommentars aufgebaut werden muss — wie die Kritik selbst über diesem
Grundriss errichtet ist.
D. Das Problem der Erfahmng.
1 7) Mit dieser methodologischen Analyse en gros wären wir nun offen-
bar eigentlich zu Ende. Allein wenn sich die Sache so verhält, wie sie suh 12
dargestellt wurde, wie stimmt dann damit unsere oben 5 ff. (54 ff. 168.
184) 186 ff. (205. 223. 285) 352 ff. gegebene Darstellung überein? An
diesen Stellen wurde die Erfahrung (im prägn. Sinne) als Problem der
Kritik d. r. V. angenommen, während wir hier (u. S. 219 ff.) dieselbe als
Basis gefunden haben. Ist dieser Widerspruch nicht eine methodologische
Unmöglichkeit? Damit rühren wir an eine neue, ungemein verwickelte
Angelegenheit, deren Schwierigkeiten sich wieder auf das Deutlichste in den
Widersprüchen der secundären Literatur spiegeln; denn wir fragen billig:
wie verhält sich denn methodologisch die (besonders seit Cohen, aber schon
auch seit Fischer) so ungemein häufig gewordene Fragestellung: Wie ist
Erfahrung möglich? zu dem Problem der synthetischen ürtheile
a priori, wie wir es bisher kennen gelernt haben? Kann man ohne Weiteres
die eine Frage der andern substituiren oder gar mit ihr identificiren?
Oder inwiefern sind denn beide Fragen — unserer Darstellung nach —
coordinirt? Wie können wir hoffen, irgend einen Schritt zu machen, und
Kant zu verstehen, wenn über das Problem seiner Kritik ein so merkwürdiges
Schwanken besteht? Da der Commentar zur „Einleitung* die allgemeine
Valhlnger, Kant-Commentar. 28
434 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Grundlegung der Interpretation enthalten soll, kann man mit Recht hier-
über Aufschluss, sowie Rechtfertigung unserer Darstellung erwarten, obwohl
es unmöglich sein dürfte, diese schwierigste Frage schon hier zum Abschluss
zu bringen, um so mehr als sich hier methodologische Unklarheiten mit
entwicklungsgeschichtlichen Schwierigkeiten verbinden.
18) Wenn wir auf das Ergebniss von Nr. 12 zurückgreifen, so be-
merken wir eine, in der Logik bisher u. W. nicht genügend beachtete eigen-
thümliche Erscheinung. Wir sehen, welche Rolle die „Erfahrung'^ spielt:
sie ist explicatives, demonstratives, methodisch-constructives Princip für die
synthetische Erkenntniss a priori; die in dem prägnanten Sinn vorhandene,
aber eben nicht durch blosse Wahrnehmungscombination entstandene .Er-
fahrung'^, — ein Factum, an welchem Kant nicht zweifelt, — wird von ihm
mit jenem Problem der synthetisch - apriorischen Erkenntniss in Verbindung
gebracht und zu dessen Lösung verwendet. In dieser Verwendung besteht
das Originale und Geniale der Kantischen Conception. Indem jene syn-
thetischen Begriffe und Urtheile a priori als die unumgänglichen nothwen-
digen Bedingungen dieser factisch vorhandenen Erfahrung aufgezeigt werden,
werden sie aus bloss luftigen Behauptungen sozusagen Theile, ja Träger der
festen Erde: dem unkritischen Dogmatiker gegenüber wird ihre Gültigkeit
erklärt; dem unkritischen Skeptiker gegenüber wird ihre Gültigkeit be-
wiesen; und dem, der eine neue kritische Methode der Metaphysik ver-
langt, wird durch jenes Princip das Ideal der Erkenntniss realisirt.
Nun lässt sich aber offenbar die Sache auch vom anderen Ende
anfassen: man wird dasselbe Resultat erhalten, wenn man — die Frage
aufwirft, wie Erfahrung möglich sei? I)a diese ein Factum ist, da
dies Factum nicht durch blosse Combination von Wahrnehmungen möglich
ist (nach Kants Voraussetzung, da er das Hume'sche Expediens, die Ge-
wohnheit, als ungenügend zurückweist), so wird sich die Frage erheben, wie
es möglich sei? d. h. zunächst, wie es zu erklären sei? Die Lösung
dieses Problems wird offenbar dazu führen, apriorische Elemente zu entdecken
(sei es , synthetische" Urtheüe oder Begriffe a priori, vgl. oben S. 352) und
so wird rückwärts, auf diesem Gedankenpfad dasselbe gefunden werden,
wie auf dem bisher betretenen; der Aspect ist ein anderer, der Gegenstand
ist derselbe.
WeuD eine bis dahin räthselhafte und daher zweifelhafte Annahme
dadurch erklärt, bewiesen (und ermöglicht) wird, dass sie als Conditio sine
qua non einer unumstösslichen, bisher noch unerklärten Thatsache nach-
gewiesen wird, so kann der objective Sachverhalt offenbar auf doppeltem
Wege, sagen wir zur Verdeutlichung von zwei verschiedenen Personen
gefunden werden: von Demjenigen, der sich jene räthselhafte Annahme,
wie von Demjenigen, der sich diese unerklärte Thatsache zum Problem
macht. Diese Umdrehung der Frage kann natürlich auch von einer und
derselben Person ausgehen.
Ich nenne diese Umdrehung — in Ermangelung eines anderen Aus-
druckes — die methodische Problemconversion. Die durch sie ent-
Die Problemconversion und die Verwirrung bei Kant. 435
stehende secundäre Frage steht in naturgemässer Correlation ' zur pri-
niären.
Diese methodische Problem conversion findet nun in unserem
Falle statt, sowohl rein methodisch, als historisch. Nachdem nämlich Kant
schon in der Deduction A 95. 119 ff. methodisch diese Conversion (»von unten
auf*) vorgenommen hatte, bildete er dieselbe noch deutlicher in den Prole-
gomena aus, um historisch zuletzt geradezu die zweite correlative Frage-
stellung der ersteren zu substituireu, freilich ohne eigentliche methodische
Klarheit über dieses sein Thun. Es ist diese historische Frontveränderung
Kants schon oben S. 189 und 355 vorläufig angedeutet worden. Nachdem
Kant sein ursprüngliches Problem: Erklärung, Beweis, Aufstellung
synthetischer Erkenntniss a priori — im Laufe der Zeit durch das
Princip der , Möglichkeit der Erfahrung" gelöst hatte, machte er allmälig
jene Conversion und schob an Stelle des ersteren Problems das correlative
Problem der .Erfahrung vor (vgl. oben 189). Wie das so häufig bei
Kant der Fall ist (wie auch die Kantianer Cohen, Caird, Watson u. A. in
anderen Fällen betonen) erklären sich auch hier die Widersprüche bei Kant
durch historische Vertheilung auf verschiedene Entwickelungsph^sen —
eine Methode, die auch bei anderen Philosophen, z. B. Spinoza, mit Erfolg
angewandt wurde.
Dass Kant über das methodologische Verhältniss der beiden Fragen
selbst sehr im Unklaren war, zeigt besonders die Darstellung der Prole-
gomena. Hier verwechselt nämlich Kant, ganz wie die heutigen Kantianer,
beide Fragestellungen selbst. Er wirft daselbst § 36 (nach Kos. § 37) die
Frage auf: Wie ist Natur selbst möglich? , Natur" hat nun für Kant
ganz denselben Inhalt wie „Erfahrung", nur dort in mehr objectiver, hier
in mehr subjectiver Form; worüber sich Kant § 17 ziemlich klar äussert.
Da Natur, resp. Erfahrung erst durch das Apriorische möglich gemacht wird,
so lautete auf die Frage nach der Möglichkeit der Natur resp. der Erfah-
rung die Antwort: durch die synthetischen Functionen a priori. So weit
entspricht der Sachverhalt vollständig unserer obigen Darstellung : die Frage
nach der Möglichkeit der Erfahrung, resp. der Natur, geht »von unten"
aus, die Frage nach der Möglichkeit der apriorischen Begriffe und Sätze geht
demnach „von oben" aus; aber beide Argumentationen beschreiben schliess-
lich, wenn auch von entgegengesetzter Richtung aus, denselben Weg.
Diesen Sachverhalt entstellt nun aber Kant selbst durch eine störende
Verwechslung, welche der Begriff der »Natur" ihm ermöglicht, während der
Begriff der »Erfahrung" hauptsächlich erst bei den heutigen Kantianern zu
derselben Verwechslung missbraucht wird. »Natur" bedeutet ihm nämlich
* Diesen Ausdruck gebraucht auch der Einzige, der diesen Sachverhalt
vorübergehend geahnt zu haben scheint^ Adamson in dem eben erschienenen
XIII. Bande der Eneydopaedia Britannica^ pag. 850 a^ wo er bei der Frage nach
der Gültigkeit der Kategorien von der „corrdaiive difficulty*" der Möglichkeit der
Brfahrungsobjecte spricht.
436 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
offenbar bald den gesetzmässigen Zusammenhang der Naturerscheinungen,
bald den , Inbegriff der Regeln", den die reine Naturwissenschaft enth<.
Die Frage: wie ist Natur möglich? hat demnach den doppelten Sinn:
1) Wie ist die reine Naturwissenschaft möglich?
2) Wie ist der gesetzmässige Zusammenhang der Erscheinungen
selbst, d. h. wie ist Erfahrung möglich?
Jene Frage hat deh Sinn, wie es möglich sei, a priori synthetische
Gesetze der Natur zu erkennen?
Diese Frage hat den Sinn: woher der allgemein-noth wendige Zusam*
menhang in den Erscheinungen selbst, woher die Einheit der Erfahrung
selbst komme? ^
Auf die erste Frage lautet die Antwort: weil und insofern sie Be-
dingungen der Erfahrungseinheit sind. i
Die zweite Frage wird beantwortet durah] den Hinweis auf die den
rohen Wahmehmungsstoff zur „Erfahrung" umformenden synthetisch-apriori-
schen Functionen.
Man sieht, dass inhaltlich beide' Argumentationen dieselben erkennt-
nisstheoretischen Factoren oder Processe bebandeln, dass aber der formelle
Ausgangspunkt der beiden Fragen ein anderer, vielmehr ein geradezu
diametral entgegengesetzter ist. Wer die erste Frage stellt, hat ein
Interesse an der synthetischen Erkenntniss a priori, dem Inhalt der vor-
nehmen Vernunftwissenschaft (vgl. oben S. 97); er will sie rotten, indem
er sie erklärt und erweist. Die zweite Fragestellung aber findet in der all-
täglichen Erfahrung ein Problem : seine Lösung fuhrt auf jene synthetischen
Functionen a priori als condUiones sine quibus non. Beide Fragestellungen
dürfen somit nicht vertauscht werden, so wenig „oben* und „unten^
identisch sind.
Daraus erklärt sich nun auch, dass Kant „Transscendentalphilosophie*,
welche ursprünglich die Möglichkeit der apriorischen Erkennimiss be-
handelt, auch als Theorie „der Möglichkeit der Natur überhaupt*' bezeichnen
kann, (W. W. Ros. VI, 387. Riehl, Kritic. 168. 204 f.) wie ja auch die
Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung als ihr „Jiöcfaster Punkt* be-
zeichnet wird, (Ros. I, 507, vgl. oben 189) genau so, wie Prol. §. 36 die
Frage nach der Möglichkeit der Natur als „höchster Pu^t** bezeichnet wird,
„den transscendentale Philosophie nur immer berühren mag, und zu welchem
sie auch als ihrer Grenze und Vollendung geführt w«td«n muss."
Wir haben Kant schon so oft bedenklichster Coi^fusionen zeihen müssen,
dass uns diese neue nicht Wunder nehmen kann, ^ß ist hier jedoch noch
nicht der Ort, jene Stellen der Prolegomena (bes^'§ 14 — 17 u. §. 36, vgl.
auch Kritik A 113 ff., B 163 ff.) bis ins Detail zu zergliedern: es ist dort
ein Nest von Verwechslungen der verzweifeltsten Art, über welche eben nur
ein strammgläubiger Anhänger oder ein oberflächlicher Gegner Kants sich
hinüberlesen kann. Es genügt hier, darauf aufmerksam gemacht zu haben,
dass Kant daselbst das ursprüngliche Problem und das durch Gonversion
entstandene Problem gänzlich verwechselt und beide zu einem fast Unverstand-
Das dreifache Problem der Erfahrung. 437
liehen Gedankencomplex verquickt, was auch sonst häufig der Fall ist, z. B.
in der Vorr. zu den Met. Anf. d. Naturw. Ros. V, 313 fP.
Dagegen hat Kant in den „Fortschr." (Ros. T, 507. 508) das Verhält-
niss beider Fragen trotz einzelner Ungenauigkeiten klar dargestellt : Würde
man das Problem der synthetischen Erkenntnisse a priori nicht
anerkennen, so würde ^eine andere schlechterdings unauflösliche Aufgabe
eintreten*, nftmlich eben das Problem der Möglichkeit der Erfah-
rung. An jener Stelle ist methodologisch offenbar die „Conversion* vor-
genommen.
19) Als ob es aber mit all diesen Verwicklungen noch nicht genug
wäre, — die Situation wird noch immer cemplicirter. Die Frage: wie ist
Erfahrung möglich? ist keine eindeutige; das Problem der Erfahrung ist ein
mehrgliedriges Problem. Diese Thatsache kann man in diesem Falle eher
bei einem Kantianer als bei Kant selbst entdecken ; und zwar bei demjenigen,
welcher die »Kritik der reinen Vernunft* vorzugsweise als „Theorie der Er-
fahrung' fasst, bei Cohen. Bei genauerer Analyse seines bedeutsamen und
einflussreichen Werkes bemerken wir ein bedenkliches (zu den früher nach-
gewiesenen und unten noch nachzuweisenden Verwechslungen hinzutretendes)
Schwanken über die eigentliche methodologische Aufgabe der „Theorie der
Erfahrung'' bei Kant. Nach S. 245, femer z. B. 98. 138. 186 handelt es
sich um die „Erklärung' der unzweifelhaft vorhandenen, gültigen „Erfahrung''
(im prägnanten Sinne) *. Aber eine andere Darstellung finden wir S. 112.
228, femer z. B. 140. 231; darnach ist die „Darlegung*, der „Nachweis"
der Gültigkeit der Erfahrung das Ziel der Argumentation. Endlich gibt
es bei Cohen noch eine drittle Darstellung, die wir offenbar methodologisch
von den beiden ersten unterscheiden müssen: er spricht von der „gesuchten
Erkenntniss, deren Möglichkeit begründet werden soll", von der „Construction"
der Erfahrung, welch letztere zu erreichender „Zweck" ist', bes. S. 170, so-
wie S. 80. 104. 112. 121. 137. 142. 145. 153. 168. 169. 181. 228. 233. Ohne
methodologische Aufklärung springt die Darstellung in logischen Rössel-
sprüngen von dem einen Problemfeld auf das andere über. Die zahlreichsten
Stellen sind aber diejenigen, in welchen Unklarheit, Schwanken, Unsicherheit
und Vieldeutigkeit herrschen. Es ist wichtig, folgende Stellen mit den obigen
zu vergleichen: S. 3. 4. 94. 98. 100. 102. 114. 120. 122—124. 135. 154.
182. 200. 205. 230. Vgl. auch desselben Ks. Ethik S. 24 f.
Wir constatiren mit Vergnügen, dass diese drei, bei Cohen rein
empirisch aufgefundenen, bei ihm nirgends in ihrem Unterschied hervor-
gehobenen Probleme sich in einem vollständigen Parallelismus mit den oben
nachgewiesenen drei Problemen befinden, welche bei der Frage nach der
Möglichkeit der synthetischen Urtheile a priori sich durch successive
' Das „ejcpiam" der Erfahrung betont auch Adamson, Encycl, Brit XIII,
850. 851. Vgl. auch oben S. 188. 189 Fischer und Villers.
* Diese Frage betont auch Zimmermann, vgl. oben S. 186, sowie B. Erd-
mann, Ks. Proleg. XXXVI sq. Vgl. auch Dietrich, K. u. Newton S. 135.
438 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Analyse des Kantischen Textes ergaben ; diese drei Probleme sind : Erkläning,
Beweis und constructive Methode.
Es fragt sich nun : sind diese drei Seiten auch wirklich bei Kant selbst
vorhanden? ist auch bei ihm das Problem der Erfahrung ein so zu sagen
dreikantiges? Es ist das allerdings der Fall, wenn auch hier die Aus-
bildung naturgemäss keine so vollkommene war, wie bei dem ursprünglichen
Problem. Das Erste und auf der Hand liegende ist, dass, wie oben sub 18
bemerkt, die „Erfahrung' als erklärungs bedürftiges Factum sich dem
Nachdenken aufdrängt, als ein Factum, für welches die Ursachen aufisufinden
sind ^ Ja man kann sagen, auch die „Erfahrung* ist für Kant ein anti-
thetisches Problem: denn es ist (vgl. oben Einl. S. 6 f.) räthselhaft, wie
die „Erfahrung** zu den factisch ihr inhärirenden Prädicaten der Noth-
wendigkeit und Allgemeinheit (= Objectivität) gelange, da die gemeinen
Erfahrungsquellen davon doch zugestandenermaassen nichts enthalten *; und
die Erklärung ist eben nur durch die „Ergänzung" (vgl. Drobisch, Logik
§. 144) möglich, dass noch andere Bedingungen in der „Erfahrung* ent-
halten sind, als auf den ersten Blick in ihr enthalten zu sein scheinen.
Aber Kant durfte die Voraussetzung: es gibt allgemeingültige, noth-
wendige, also objective Erfahrung, nicht so ohne Weiteres machen, ange-
sichts der Skeptiker, angesichts eines Hume und seines „schrecklichen Um-
sturzes**. Wir sehen daher Kant bemüht, auch zu beweisen, dass es
solche Erfahrung wirklich gibt; er zeigt nicht bloss, warum und wie dieselbe
als vorhandene zu erklären sei. So wird ihm die Erfahrung aus einem
Erklärungs- zu einem Beweisthema. Wie bemüht er sich z. B. beim
Causalitätsgesetz A 189 ff. jene Annahme erst zu beweisen, dass die
„Erfahrung** eine nicht aus der Wahrnehmung stammende Allgemeinheit
und Nothwendigkeit enthalte ! '
^ Diese Frage betont z. B. auch Hegel ^ Encj'^cl. § 40.
' In diesem Sinne, nicht in dem von Cohen — vgl. oben S. 179 — an-
gegebenen ist die Erfahrung ein „Räthsel" für Kant. An jener Stelle — B 1 —
hat Erfahrung gar nicht den prägnanten Sinn, sondern ist beidemal nur so viel
als Wahrnehmung. Auch Caird, Kant 198 spricht von dem „secret^ der Er-
fahrung; Stadler, Ks. Teleol. S. 8 von dem zu erklärenden „Wunder" der
Natureinheit. Im Kantischen Sinne ist wohl auch das Goethe'sche Räthselwort
gemeint (Sprüche in Prosa: Aphorismen): „Wenn Künstler von Natur sprechen,
subintelligiren sie immer die Idee, ohne sichs deutlich bewusat zu sein. Ebenso
gehts Allen, die ausschliesslich die Erfahrung anpreisen: sie bedenken nicht,
dass die Erfahrung nur die Hälfte der Erfahrung ist."
' Daher darf man eben nicht ohne Weiteres über Kants Unternehmen ein
Verwerfungsurtheil fällen, wenn man diese seine Voraussetzung nicht theilt, eben-
sowenig als man gleichsam nach der Leetüre dieser Einleitung mit Kant fertig zu
sein glauben darf, wenn man das Problem — die Erklärung synthetischer Urtheile
a priori — für cliimärisch hält, weil man solche nicht anerkennt. Denn wie
Kant durch den Nachweis der Gültigkeit dieser Urtheile zugleich die Berechtigung
der Frage nach dem Warum derselben zu führen sucht, so ist er auch bemüht,
die Richtigkeit jener Voraussetzung im Laufe der Kritik selbst zu beweisen.
Erfahrung als Prämisse und als Problem: der „Cirkel". 439
Und endlich finden wir bei Kant auch den dritten Gedankengang: es
besteht (vgl. oben 360) der Wunsch ans der schwankenden, unsicheren sub-
jectiven Wahrnehmung objectivgültige Erkenntniss zu machen; was muss
ich thun, um dieses Ziel zu erreichen? , Erfahrung'' („Erkenntniss* A 121)
soll werden; was muss geschehen zur Realisirung dieses Verlangens? Wie
muss ich es anstellen, um — so zu sagen — aus dem Mehl der Wahr-
nehmung das tägliche Brod der Erfahrung zu backen? Dieses Ziel ist
ja ein im Sinne Kants wohl berechtigtes gegenüber den idealistischen und
skeptischen Ansichten eines Berkeley und Hume, welche eben die Unmög-
lichkeit des Ueberganges auf eine höhere Stufe der Objectivität läugnen
und auf dem Boden der subjectiv zufölligen Wahrnehmung stehen bleiben.
So weist Kant z. B. Proleg. §. 26 (vgl. 28) darauf hin, was vorausgesetzt
werden muss, wenn „die empirische Bestimmung . . . objectiv-gültig, mithin
Erfahrung sein soll''. Koch deutlicher wird z. B. § 39 darauf hingewiesen,
dass Kategorien dazu dienen, den empirischen Urtheilen Allgemeingültigkeit
zu verschaffen und Erfahrungsurtheile möglich zu machen — so dass also
«Erfahrung* hier als das Gesuchte erscheint, was gemacht werden soll, was
ermöglicht werden soll, ein Sinn, der auch Prol. Anh. (Or. 204. R. HI,
153. K. 140) aus der bekannten Anmerkung hervorleuchtet, in welcher das
Trans^cendentale als das bezeichnet wird, was vor der Erfahrung zwar vor-
liergeht, „aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Er-
fahrungserkenntniss möglich zu machen '.
Jene drei Seiten der Frage sind somit auch bei Kant selbst vertreten,
freilich in rudimentärer Form ; aber immerhin sind sie da, und auch Cohen
hätte sie nicht ganz willkürlich aufgestellt, wenn bei Kant nicht selbst eine
Aufmunterung dazu vorläge. Freilich ist es ein Fehler, dass er die drei
Fragen nicht unterschieden hat, aber auch bei Biehl und Stadler ist das-
selbe Schwanken. Nach Stadler, Beine Erk. 43. 87, Ks. Teleol. 8 handelt
es sich um die „Erklärung* des „Wunders" der Erfahrung, nach Ks. Teleol. 1
«oll sie „geprüft', nach R. Erk. 116 f. 126. 152, Ks. Teleol. 6. 8. 10. 14
fioll sie möglich gemacht werden. Nach Riehl, Kritic. 167. 168. 170.
286 handelt es sich um die „Begreiflichkeit der Erfahrung", nach 197 soll
sie „untersucht", nach 446 „bewiesen" werden; nach 282 „construirt", nach
344 „zusammengesetzt", nach 169, 214, 375, 388 „begründet", nach 276
„bestimmt" werden; nach 62. 167. 171 handelt es sich um ihre „Elemente"
oder „Grundlagen". Man kann den Wechsel auch sonst häufig beobachten,
so z. B. bei Zimmermann, Ks. mathem. Vorurtheil: nach S. 17. 30 handelt
es sich um „Begreiflichmachung" („Realgrund"); nach S. 31. 33 (39) soll
der Erfahrung erst „Gewissheit verschafft" werden.
20) Durch diese neue Gomplication entsteht nun ein methodologisch
sehr verzwicktes Yerhältniss der verschiedenen Voraussetzungen und Probleme
bei Kant. Die „Erfahrung" ist nach Nr. 12. 13 Erklärungs mittel; nach
vorgenommener Conversion ist sie Erklärungs thema: in beiden Fällen ist
sie Voraussetzung, dort aber eine solche, welche zur Erklärung dient, hier
eine, welche Erklärung selbst fordert. Sodann war die „Erfahrung" nach
440 Excurß. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
Nr. 12. 13 Beweismittel, jetzt wird sie dagegen, da jene Voraussetzung
willkürlich erscheint, selbst zum Beweis thema (wie schon oben S. 189 Anm.
angedeutet wurde); sie ist also jetzt Resultat der Argumentation, oben
war sie deren Voraussetzung. Und während die , Erfahrung* endlich
8ub 12. 13 Constructions mittel für die synthetische Erkenntniss a priori
war, wird letztere selbst zum Mittel für die „Erfahrung*, welche jetzt ihrer-
seits Constructions thema geworden ist.
Diesen Wechsel hat, aber nur in Bezug auf den zweiten Punkt, den
Beweis, Volkelt, Ks. Erk. S. 200 flf. bemerkt, ohne jedoch den metho-
dologischen Grund davon zu ahnen; er bringt denselben in irrthümlichen
Zusammenhang mit dem Gegensatz analytischer und synthetischer Dar-
stellung, ein Gegensatz, mit welchem jene Problemconversion methodologisch
keineswegs identisch ist. Das Streben, synthetisch zu verfahren, bewirke
nicht nur, dass Kant die fundamentale Voraussetzung — die „Erfahrung* —
nicht besonders hervorhebe, sondern verhülle ihm auch dieselbe, ja verkehre
ihm zuweilen die ganze sachliche Oonstellation der Untersuchung ins aus-
drückliche Gegentheil. Manchmal werde die „Erfahrung* nicht als Factum
vorausgesetzt, sondern ihr Gegentheil, die zusammenhanglose Wahrnehmung.
„Hiemach bestünde also das Problem nicht etwa darin, den nothwendigen
Zusammenhang der Erscheinungen als Factum auf seine Bedingungen hin zu
analysiren [dies. ist hier in dem Sinne gemeint, dass „Erfahrung* Beweis-
mittel für das Apriori sei], sondern darin, ihn als etwas zunächst Proble-
matisches durch einen Beweis in seiner Thatsächlichkeit sicherzustellen.'
V. nennt dies „eine Verdunkelung jener Voraussetzung*. Ebenso bemerkt
derselbe S. 202: „was in Wahrheit Voraussetzung ist, gibt sich für ihn
den Schein eines Beweis ziel es*.
Ehe wir weiter gehen, sei folgende Zwischenbemerkung eingeschoben:
Wenn sich das alles so verhält — und es verhält sich so — ist denn
dann das Verfahren der Kritik d. r. V. nicht ein — circulus vitiasus? Es
wird ja die Möglichkeit apriorischer Erkenntniss auf den Begriff der „Er-
fahrung* basirt. Dieser archimedische Punkt wird aber selbst wieder ge-
stützt und worauf? eben auf das Apriori, das ja erst durch ihn erwiesen
werden sollte. Ist dies somit nicht ein Cirkel? Dieser Vorwurf gegen Kant
ist vielstimmig und alt ; wir erwähnen ihn hier, nicht um ihn hier zu prüfen,
sondern um dessen spätere Prüfung vorzubereitend Schon Ulrich erhob ihn
1785 (vgl. dag. Kant in der Vorr. z. d. metaph. Anfangsgr. d. Naturw.
Ros. V, 314), sodann Reinhold (vgl. oben 227), Fries (vgl. dag. Cohen 126),
Schopenhauer (dag. Riehl, Kritic. 420 u. Laas, Ks. Anal. 193). Fischer
ni, 301 ff. sucht den Vorwurf als bloss scheinbaren nachzuweisen. Paulsen
erhebt ihn wieder Entw. 175 u. bes. Kirchmann, Erl. zu Ks. Logik § 93
(Anm. 83); dann finden wir ihn bei Laas (vgl. Phil. Monatsh. 1876, XII, 461);
bei Göring, Viert, für wiss. Philos. XII, 15 und bei Bahnsen, Altpr.
* Einen „beträglichen Zirkel" wirft Kant selbst den früheren Dogmatikem
(vgl. oben 894) vor. Brief an Herz vom 21. Febr. 1772.
Correlation und Coordination des Erfahrungsproblems. 441
Monatsschr. XVIIT, 456 (vgl. auch Knttner, Ks. Ans. über d. Materie 68).
Der Vorwurf spielt eine grosse Rolle in dem Streit zwischen Balfour, Caird
und Watson (s. Mind, 1881, VI, 261 und Caird, Kant 219). Cantoni
hat geradezu den Cirkel als das charakteristische Verfahren K'ants
(apologetisch) bezeichnet, vgl. dessen Kant 162 f. 170. 173. Und wenn man
bedenkt, dass Kant bei einer andern Gelegenheit (Grundl. z. Met. d. S.
Res. Vin, 83) einen Cirkel zugibt und vertheidigt (wie dasselbe auch Des-
cartes im Discours de la Methode (finis) thut), dass Fichte an vielen Stellen
auf die Nothwendigkeit des Cirkels hinweist, wird man gespannt sein dürfen
auf das Resultat der speciellen methodologischen Analyse der Kritik. Sollte
es vielleicht einen solchen berechtigten, ja am Ende nothwendigen Cirkel
geben? Und hat das Kant etwa andeuten wollen, wenn er Krit. 737 sagt,
der Grundsatz der Causalität (den er daselbst als Beispiel für die synthe-
tischen Sätze a priori anfuhrt), habe ^die .besondere Eigenschaft, dass
er seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung, selbst zuerst möglich macht
und bei dieser immer vorausgesetzt werden muss"?
21) Durch die bisherigen Ausführungen (bes. suh 18) wurde es gerecht-
fertigt, dass die Erfahrung nicht bloss als Voraussetzung, sondern auch als
Problem der Kritik zu betrachten ist, woran wir sub 1 7 noch Anstoss nehmen
mussten. Man hat sonach das Recht, das Problem der Erfahrung dem ur-
sprünglichen Problem der Erkenntniss a priori durch jene onethodische
Conversion zu substituiren und es in diesem Sinne als das zweite Haupt-
problem Kants zu bezeichnen, das zum ersten in Natürlicher Correlation
steht. Was wir noch jetzt erklärend zu rechtfertigen haben, ist die in diesem
Commentar 186 ff. 352 ff. befolgte Darstellung: Die Coordination beider
Probleme. Zunächst durften wir nur sagen: das Problem der Erfahrung
ist die methodische correlative Kehrseite des Problems der apriorischen
Erkenntniss. Was berechtigt zu jener Darstellung derselben, so zu sagen,
als Pendants, als zweier coordinirter Probleme? Denn eine derartige
parallele Zusammenstellung der beiden Probleme nebeneinander ist me-
thodologisch wohl von dem bisherigen Resultat zu unterscheiden, womach
beide Probleme für einander vicariren können, weil sie dieselbe Gedanken-
linie, nur von den beiden entgegengesetzten Endpunkten aus beschreiben.
Die Berechtigung, resp. Nöthigung, beruht auf folgenden Erwägungen.
K. fragt in der Einleitung zunächst nach der Möglichkeit der synthetischen
Urtheile a priori. Aus der bisherigen Analyse wissen wir schon die Antwort:
sie sind möglich, weil und insoweit sie die „Erfahrung" möglich machen;
diese «Erfahrung*' wird von Kant auch häufig „Einheit der Erfahrung^ u. s. w.
genannt. Also jene synthetischen Urtheile a priori sind möglich, weil und
insoweit sie Bedingungen für die Erfahrung sind. Soweit stehen wir noch
auf dem alten Boden: von hier aus ist die „Möglichkeit der Erfahrung*
zunächst bloss dienendes Glied der Argumentation und das Problem der
Erfahrung ist nur als Conversion des Erster en zu fassen und zuzulassen.
Allein wir erhalten einen anderen Aspect, wenn wir uns des oben S. 357 f.
Gesagten erinnern : zu Erfahrungsurtheilen genügen nämlich vollständig schon
442 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
die Kategorien; dazu bedarf es [nicht erst der Grundsatze. Und umge-
kehrt: in der Frage nach der Möglichkeit der synthetischen SAtze a priori
sind noch nicht mit einbegriffen die doch schon in der Einleitung erwähnten
apriorischen Begriffe* d. h. die Kategorien, nach deren Anwendungsrecht
doch auch gefragt sein sollte. Dieser Umstand aber (der mit dem äusserst
verwickelten * Verhältniss der Analytik der Begriffe und der Urtheile zu-
sammenhängt) nöthigt uns, das Problem der Erfahrungsurtheile als ein me-
thodisch vollständig ebenbürtiges und selbständiges herauszuheben und nebe n
das Problem der synthetischen Urtheile a priori zu stellen.
Hand in Hand damit geht eine charakteristische Veränderung bei Kant.
Es kam ihm das Problem der Erfahrungsurtheile durch die wirkende Macht
der inneren Gonsequenz erst allmälig zum Bewusstsein, bes. in den Prolego-
mena. Und in diesen tritt an die Stelle der Möglichkeit der Erfahrungs-
einheit, welche fast ausschliesslich in der ersten Aufl. der Kritik betont
wird, die Möglichkeit der Erfahrungsurtheile. Sobald Kant sich klar
machte, was denn jener Ausdruck der „Einheit der Erfahrung", welche
ohne Kategorien nicht möglich sein sollte, eigentlich bedeute, musste diese
„Erfahrungseinheit" in die einzelnen Erfahrungsurtheile sich auflösen,
welche eben (vgl. S. 352) der äusserliche Ausdruck, der Index der objectiven
allgemein gültigen, einheitlichen Erfahrung sind. Wo er jene Erfahrungs-
einheit exemplificirt, da tritt fast immer das „Erfahrungsurtheil* hervor.
Möglich, dass jene Erfahrungsein he it sich weiter erstreckt und tiefer greift
— jedenfalls sind die Erfahrungsurtheile der erkennbarste Ausdruck jener
Erfahrungseinheit. Und sowie die Bestimmung eintritt, |dass zu der Con-
stitution der letzteren die blossen Kategorien hinreichen — noch ohne die
Grundsätze, die synthetischen Urtheile a priori • — so treten sie als syn-
thetische Urtheile a posteriori den letzteren ebenbürtig zur Seite und bilden
ein besonderes Problem.
Dieselbe Coordination findet sodann, wie oben S. 365 f. gezeigt.
^ Man vergleiche dazu besonders die Bemerkungen oben 351 über die Ver-
mischung von Begriff und Satz bei Kant, welche ein Hauptfehler der Kritik
ist und aus welcher sich der oben dargestellte Mangel der Exposition zum Theil
erklärt. Vgl. auch unten zu A 11 ^ B 25. Dazu kommt die Zuspitzung der Unter-
suchung auf die apriorische Wissenschaft der immanenten Metaphysik, bei
welcher es sich natürlich um Urtheile handelt.
' Hierüber, sowie über alle diese Punkte, vergleiche man noch den Com-
mentar zur Analytik. Ebendaselbst werden auch alle einschlägigen Parallelstellea
aus den Prol. und „Fortschr.** (z. B. R. I, 506—509) eingehend besprochen; das
hier Gesagte dient noch bloss zur Einleitung, ist jedoch schon vollständig ver-
ständlich, wenn man die Ausführungen oben S. 213—215. 340—358. 365 f. genau
und eingehend herbeizieht.
' Der Umstand, dass Kant sich in dieser Beziehung häufig widerspricht,
ändert an dieser Darstellung nicht das Mindeste. Wie sich zeigen wird, ist es
gänzlich unmöglich, zwischen der Analytik der Begriffe und der Grundsätze
Harmonie zu stiften.
Nothwendige Corrector der Kantischen „Einleitung^. 443
auch in den beiden anderen „Kritiken'' statt; und zwar so, dass in diesen
Fällen ein der obigen Go'rrelation entsprechendes Verhältniss gar nicht
möglich ist. Dieser Parallelismns mit den beiden andern Kritiken ist für
die Kritik d. r. V. daher von grosser Wichtigkeit, indem er zur Bestätigung
der Entdeckung dient, dass Kant beide Urtheilsgattungen zwar sachlich
unterscheidet, aber forniell vermischt, wie schon S. 354 Anm. bemerkt
wurde — eine Vermischung, deren hauptsächlichste Quelle die principielle
Verwechslung der Causalurtheile und des Gausalitätsgesetzes ist, welche oben
S. 344 — 352 aufgedeckt worden ist.
Dazu treten femer folgende Gründe. Zwischen den synthetischen Er-
kenntnissen a priori und dem Princip ihrer Möglichkeit, der „Erfahrung*',
sind von Kant noch eine ganze Reihe von Mittelgliedern eingeschoben,
welche richtiger als die gemeinschaftliche Bedingung für jene apriori-
schen Urtheile wie für die Erfahrungsurtheile («mit kategorialem Skelett
im Leibe" v. Leclair) betrachtet werden: die transscen dentale Apper-
ception und die mit ihr zusammenhängenden transscendentalen Functionen
(Apprehension, Reproduction, Becognition, Einbildungskraft u. s. w.), sowie
die von ihr abhängenden Verbindungs formen, eben die 12 Kategorien. Von
diesen gemeinschaftlichen Bedingungen aus führen (vgl. Krit. A 102) ^ zwei
(sich fieilich oft wieder höchst unklar kreuzende) Wege: erstens zu den
allgemeinen synthetischen Urtheilen a priori (z. B. dem Causalitätsgesetz),
zweitens zu den speciellen synthetischen Urtheilen a posteriori (z. B. den
Caosalurtheilen vgl. oben S. 848 ff.).
Aus diesen Gründen versteht man Kant wirklich besser, als er sich
selbst — wenigstens in seiner Einleitung, aber auch später — verstand,
wenn man sagt: das Problem der Kritik d. r. V. sind die synthetischen
Urtheile überhaupt (vgl. oben 854 und 356 Anm. 8), oder kürzer: Die
Erkenntniss (vgl. oben 8. 5 Anm. und 859). Es gibt zwei Hauptarten
der Erkenntniss: synthetische Urtheile a priori (= Erkenntnisse aus
reiner Vernunft) und synthetische Urtheile a posteriori (= „Erfah-
rungsurtheile"). Beide Arten werden zum Gegenstand der kritischen Unter-
suchung gemacht \
Dass dadurch freilich die Positionen der Einleitung auseinanderge-
sprengt werden, wurde schon oben S. 857 gesagt, und haben auch die eng-
lischen, unbefangenen Kantschriftsteller, z. B. Lewes (oben S. 220) und selbst
Caird und Adamson (oben S. 856 fP.) erkannt. Die beiden Letzteren haben
auch richtig gesehen, dass es unmöglich ist, die kantische Einleitung als den
zutreffenden Ausdruck der eigentlichen kritischen Untersuchung anzunehmen.
Freilich, da die Kritik erst allmäligdie systematische Gleichberechti*
gtrng des Problems der Erfahrungsurtheile erkennen lässt, weil Kant eben
^ Auch A 75 sind beide geschieden. Dagegen sind sie verwechselt auch
A 719 ff. und bes. A 764 ff.
' Darin besteht auch jenes oben S. 5 ff. 54 ff. sowie 855 dargelegte Doppel-
Terhältniss Kants zum Rationalismus und zum Empirismus.
444 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
historisch * von dem Problem der reinen Vemunfburtheile ausging, so könnte
man in Anlehnung an das bekannte Wort Jacobi's fiber die Dinge an
sich sagen:
Ohne die Kantische „Einleitung" kommt man in die Kritik
d. r. V. nicht hinein, mit ihr aber kann man nicht in
derselben verharren.
Fasst man jedoch, wie man muss, den Kriticismus als Ganzes, so ver-
hält es sich vielmehr so, dass man mit der Kantischen Einleitung in den
eigentlichen Inhalt der Kritik d. r. V. gar nicht einzudringen im Stande ist.
Das haben eben auch die Kantianer selbst behauptet, schon Beck, heute
z. B. Caird und Adamson und eigentlich auch Cohen, nur dass Letzterer
trotz der offenbarsten Widersprüche darin Kants Tiefsinn findet, worin jene
unbefangeneren Britten Kante Unklarheit sehen.
Kants Einleitung ist also im Interesse der Erklärung des ganzen
inneren durchschnittlichen Inhalte der Kritik in der angegebenen Weise zu
ergänzen und zu ersetzen — trotzdem sie zum äusseren Gange derselben
passt. Kante Kriticismus ist eben eine Reihe successiver, sich ergänzender,
fortbildender, sich auch wiederholender und daher sich oft widersprechender
Darstellungen, enthalten theils schon in den einzelnen Theilen und Auflagen
der Kritik d. r. V. selbst, theils in den übrigen kritischen Schriften. Ans
diesen schillernden und schwankenden, streitenden und sich verbessernden
Darstellungen das durchschnittliche, schematische Iformalbild des Kriticis-
mus herauszupräpariren, ist daher eine mögliche und nothwendige Aufgabe
des Geschichtschreibers der Philosophie, welcher den Gehalt der
mächtigen Gedankenmassen richtig wiedergeben will: das ermöglicht aber
nur die mikroskopische (nicht mikro logische) Arbeit der Philologen.
Ohne gewissenhafteste Detailforschung mussten jene schweren Irrthümer über
Bedeutung und Inhalt der Einleitung entetehen, die wir früher kennen
lernten und die uns jetzt noch einmal beschäftigen müssen.
22) Die ausserordentliche Complicirtheit der Kantischen Gedanken-
gänge erklärt und entschuldigt nun auch die geradezu babylonische Sprach-
verwirrung der Kantliteratur über diese Punkte, wie diese selbst umgekehrt
ein S3rmptom jener Complicirtheit bei Kant ist. Es herrscht hierin ein er-
schrecklicher Mangel an Klarheitebedürfniss, ein chaotisches Durcheinander,
welches nur durch seine Wirklichkeit glaublich wird, welches aber um so
gefährlicher ist, als man diese Verwirrung bisher gar nicht beachtete, viel-
leicht auch der Schwierigkeit der Sache halber sich nicht unabsichtlich, viel-
leicht sogar vorsichtig einer entecheidenden Behandlung überhob. Ein Fort-
schritt ist aber nicht möglich, ohne dass man neben der Erklärung der
Kritik der reinen Vernunft selbst auch die Widersprüche in der Kant-
' Darin besteht jene von Adamson Mind Vol. VI, 8. 559 mit Recht verlangte
historische Erklärung der Kritik (und ihrer Widersprüche); eine individnal-
historische (vgl. oben Vorrede F. VII), welche von der von Fischer (oben 8. 25)
geforderten universalhistorischen wohl zu unterscheiden ist
Verwirrung in der Literatur. 445
literatnr entschlossen im hellsten Tageslicht objectiver Forschung zer-
gliedert.
Wie schon S. 353 — 359 bemerkt wurde, werden die sub 18—21 be-
handelten Fragen in der Literatur unterschiedslos vermischt. Wo man auf
diese beiden Probleme — Problem der reinen Vemunfberkenntniss und der
Erfahrung — zu sprechen kommt, begegnet man dem unklarsten, schlechtver-
deckten methodologischen Schwanken. Fast durchgängig findet Identification
beider Probleme statt. Entweder man geht mit Kant von den synthetischen
ürtheilen a priori aus und vermischt damit die „Erfahrung* \ oder man
geht von der „Erfahrung" aus und identificirt mit ihr das erstere Problem.
Das Eine findet bei Fischer, das andere bei Cohen statt, bei jen^m zeigt
sich daher das Bestreben, durch unklare Bedewendungen und schwankende
Begriffe die „ Erfahrung' auf die synthetische Erkenntniss a priori zu redu-
ciren, während bei diesem das Umgekehrte stattfindet.
Was Fischer betrifft, so wurde auf seine Irrthümer hierin schon
S. 352. 354 hingewiesen. Man vgl. Fischer lU, 15 ff. 28. 39. 254. 267.
269. 312 f. 364. 482. 601. IV, 3 ff. Sehr charakteristisch ist die Art und
Weise, wie S. 284—292. 294 die Verwechslung zu Stande kommt. Fischer
beginnt S. 284 mit dem Unterschied der analytischen und synthetischen
Urtheile, fügt erst dann die Bestimmung des Apriorischen hinzu und de-
finirt „Erkenntniss" 286 als „ein synthetisches Urtheil, welches den Charakter
der Allgemeinheit und Nothwendigkeit hat", oder 287 als ein Urtheil, „welches
eine nothwendige und allgemeingültige Verknüpfung verschiedener Vor-
stellungen bildet, also zugleich synthetisch und apriorisch ist". Diese Definition
des synthetischen Urtheils a priori ist aber falsch, weil zu weit. Denn bei
Kant besteht dasselbe nicht bloss in der allgemeingültigen Verknüpfung
verschiedener Vorstellungen, sondern in der apriorischen Synthese von
Begriffen, welche selbst ihrerseits a priori sind, wie oben S. 195 f.
211 f. ausführlich erörtert wurde. Diese letztere Bestimmung lässt nun
Fischer hinweg und damit ist der Irrthum eingeleitet. Jene zu weite Definition
erlaubt es Fischer nachher (bes. 350 ff.), auch das synthetische Urtheil
a posteriori, welches eine kategoriale Synthese einschliesst , also das „Er-
fahrung surtheil" als synthetisch a priori zu bezeichnen. Für Kant aber
sind nur die Erfahrungsgrundsätze, nicht das Erfahrungs urtheil n syn-
thetisch a priori", (obgleich das Letztere auch eine „Synthesis a priori" durch
die kategoriale Function einschliesst.) Der Ausdruck „Erkenntniss" schliesst
beides ein ', manchmal gebraucht Fischer auch den Ausdruck „Erfahrung"
' Man kann häufig lesen, dass in dem Problem der synthetischen Urtheile
a priori alle Probleme gipfeln. So elastisch dieses Problem ist, wie wir oben
sahen, so ist diese z. B. von Knauer, Gesch. d. Phil. 168, Ktrchner, Logik 80,
Kunze, Kant 13 ausgesprochene Ansicht doch den obigen Ausführungen nach
nicht richtig.
* Ganz so auch bei Cohen, z. B. 243; sowie bei Zimmermann, Ks. matb.
Vorurtheil 3. 14. 30. 32, während ib. S. 34 Beides richtig geschieden ist.
446 Ezcurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
selbst für beides, welche Vermischong schon ^ oben S. 188 f. gerügt wurde
und sich leider häufig findet, z. B. auch bei Biehl S. 340.
Was bei Fischer der Fall ist, findet sich nun auch bei Cohen, worauf
schon oben S. 354 Anm. gebührend aufmerksam gemacht wurde. Man kann
verfolgen, wie Cohen z. B. 40. 47. 48. 80. 121. 166. 181 u. ö. die ^transscenden-
tale Frage' gftnzlich verschieden formulirt, ganz beliebig bald so, bald so; wie
Erfahrung, apriorische Erfahrung, Erkenntniss, synthetische Uftheile a priori,
Synthesis a priori, Kategorien, Sätze — Alles — in unklarster Weise durch-
einandergeht. Wohl hat er die Wichtigkeit des Problems der Erfahrung
eingesehen: aber überall verwechselt er damit die Frage nach den synthe-
tischen Urtheilen a priori, und hat weder von der ursprünglichen Cor-
relation noch von der späteren Co Ordination beider Fragen eine richtige
Vorstellung. Das ist um so schlimmer, als die , Theorie der Erfahrung"*
eine sehr grosse Wirksamkeit ausübt, so dass man gerade diese prin-
cipielle Unklarheit bei allen denjenigen findet, welche sich durch das
nichtsdestoweniger höchst bedeutende Buch beeinflussen Hessen. Diese Wirk-
samkeit bis ins Einzelne zu verfolgen, ist hier nicht der Ort. Wir müssten
unsern Weg bis zu den unbedeutendsten Programmen und Dissertationen
fortsetzen.
Die selbständigsten von Cohen beeinflussten Kantianer ' sind Riehl
und Stadler. Der Erstere scheint Kritic. I, 166 — 171 wenigstens das Ver-
hältniss der Correlation der beiden Probleme erkannt zu haben; leider sind
viele andere Stellen, so 62, 206 ff. 248, 282, 286, 340, 388 f. dagegen un-
klar und unbestimmt. Aber richtig erkennt er wieder 205 f., dass Kants
Darlegung «in ihren scholastischkünstlichen Wendungen den inneren Zu-
sammenhang mehr verdeckt als enthüllt". Also nicht bloss Gegner Kants,
wie Lewes (Problems oflife I, 442) finden in der Einleitung „confused staie'
ments*'. Auch Stadler kommt hierüber zu keiner Klarheit. Es scheint
zwar am Anfang von „Ks. Teleologie" S. 1, als erkenne er die Coordination
der beiden Fragen und die Unklarheit der Proleg. § 37; aber im weiteren
Verlauf verschwindet dieser vereinzelte Lichtblick. Ib. S. 5 ff. scheint die
Correlation beider Fragen geahnt zu sein. Allein in dem späteren Werke
, Reine Erkenntnisstheorie' werden beide Fragen S. 5. 43. 126. 140 (Anm. «^O)
offenbar verwechselt. Dagegen erkennt Stadler S. 87 f. ganz richtig, «dass
auch, die sog. synthetischen Urtheile a posteriori einer Erklärung ihrer
Möglichkeit bedürfen'', nur dass er in der Anmerkung dazu (S. 149) die ent-
gegengesetzte Behauptung Kants in der Einleitung (vgl. oben S. 285 mit
353) falsch auslegt. Da er dabei den Hauptwerth auf das Synthetische
legt, was nach S. 354 oben Anm. eher nebensächlich ist^, so erkennt er
' Dieselbe liegt auch der falschen Recapitulation zu Grunde^ welche Fischer
V, 5—8 von der Kf. d. r. V. gibt.
• Dieselbe Verwirrung auch in desselben „Ks. Ethik" S. 24 f.
' Gänzlich unklar ist^ was Lange, Gesch. d. Mat. II, 125 ff. 131 (11. 22.
28.) sagt.
^ Es spielt hier ein erst im Commentar zur Analytik zu besprechender
Verwirrung in der Literatur. 447
seltsamerweise nicht die Identität dieses Problems mit dem Problem der
Erfahrungsurtheile, das er doch S. 110 f. 127 ff. bei den speciellen Cau-
salurtheilen abhandelt, wobei aber Caasalbegriff nnd Causalitätsgesetz nicht
genug geschieden sind (vgl. ib. S. 143 ff.). Und doch war er der Erkennt-
niss des Richtigen sehr nahe, indem er S. 10. 27. 28 als Thema der Kritik
die ,nothwendigen ürtheile'' bezeichnet, worunter er beide Ürtheilsgattiingen,
die synthetischen a priori und die ,Erfahrangsurtheile" zusammenfasst*
Andererseits werden aber diese Erfahrungsnrtheile zu der Erfahrungsein-
heit in keinen Zusammenhang gebracht, welche nach S. 48. 53 f. 58. 64.
67 f. 85. 87. 98. 106. 116 f. 126. 131. 139. 142 f. 148 das Ablertungs-
prineip für die „Grundsätze der reinen Erkenntnisstheorie " ist. So kommt
auch dieser scharfsinnige Denker zu keiner Klarheit, wiewohl er mit aner-
kennenswerther Unbefangenheit dem Kanttext keineswegs sclavisch gegen-
übersteht (ib. Vorr. IV u. S. 144).
Bei den englischen Kantschriftstellern, welche aus Fischer nebst Cohen
schöpften, (vgl. oben 423 f.) ist die , Erfahrung" immer so gefasst, dass sie
die Grundsätze miteinschliesst , und dass die Frage nach der Möglichkeit
der Erfahrung mit der nach den. synthetischen Urtheilen a priori einfach
identificirt werden kann. Da geht dann Experience, Natur e, scientific
hnmoledge, Natur (= Erfahrung) und Naturwissenschaft u. s. w. in heil-
losester Weise durcheinander. In der denkbar willkürlichsten Weise springt
man durch äquivoke Begriffe von dem Einen auf das Andere über, womit
dann die beständige Vermischung der kategorialen Functionen mit den
Grundsätzen Hand in Hand geht. Besonders bei Watson ist dies der Fall,
welcher die „special facts of ordinary knotvledge^ und die „Laws of the mathe-
matics and physical science" mit grosser Consequenz confandirt, seinem Gegner
BalfouT aber, welcher daran Anstand nimmt, den Mangel an „thorough fami-
liarUy wüh the suhject^ vorwirft 1 Wie richtig sagt dagegen der Letztere:
^Cansistency isnotto he expected in Kant: but we have some right, to ask that
Jds modern exponents shotUd do something more than repeat his inconsistencies
in a crude and unquaUfied form^. Vgl. oben 423. 424. 429.
Man muss somit Cantoni Recht geben, welcher (wie schon Witte,
Beitr. Vorr. VII) meint, die secundäre Literatur trage vielmehr zur Ver-
dunkelung als zur Erklärung Kants bei, und klagt, die „discordanza^ ins-
besondere „fra i Tedeschi" verwirre den Leser vollständig, aber man darf
zur Entschuldigung nicht vergessen, dass daran Kants eigene, grosse Ver-
wirrung die meiste Schuld trägt, eine Verwirrung, welche im Dötail auf-
zudecken sehr viel Zeit und Mühe erfordert.
28) Fassen wir alles Bisherige zusammen, so ist wenigstens dies un-
zweifelhaft: Kants Kritik d. r. V. ist ein ausserordentlich complicirtes Gewebe
von zusammenhängenden Problemen, bei dessen Analyse an Stelle der bis-
herigen synkretistischen Methode eine viel schärfere Differenziirung der einzel-
Doppelsinn von synthetisch herein^ über den man vorlänfig Caird^ Kant 228 ff.
vergleiche.
448 Excurs. Methodologische Analyse der Kr. d. r. V.
nen Gedankenfaden zu treten hat. Erörtern wir diese drei Punkte noch
im Einzelnen:
a) Die Kritik d. r. Y. lässt sich nicht auf ein einziges Problem redu-
ciren^ sondern sie ist ein merkwürdig kraus verschlungener Knftuel von Pro-
blemen (von denen wir indessen bisher keineswegs alle herausgestellt haben,
sondern nur diejenigen, welche aus der Erklärung der Einleitung B I— VI
sich ergaben). Ihre Zusammenstellung ergibt sich aus dem sub 2. 3. 5. 17.
18. 19. 21 Gesagten. Diesem verfilzten Problemgeflechte entspricht das
, Beweisgestrüpp" (Laas), jenes methodologische „Argumentationslabjrinth'^,
wie es ausser sub 7. 9. 10. 12. 13. 14 besonders sub 16. 20 dargestellt wurde.
So entsteht bei Kant „the tangled knot of his theory" , (wie ein Kantianer ^
sich ausdrückt), den aufzudröseln („to unravel^) unendlich schwierig ist
Die prononcirte Voranstellung des sog. Hauptproblems hat immer dazu ver-
fuhrt, die Argumentation der Kritik d. r. Y. sozusagen für geradlinig und
einfach zu halten, während die Gedankenwelt derselben ein Ganzes reich
verketteter, in Wechselwirkung stehender und durcheinanderlaufender Fäden
ist; denn es sind nicht blos mehrere zu unterscheidende Gedankenfaden,
sondern diese stehen auch wieder untereinander in engster Beziehung, in
functioneller Abhängigkeit. So vielgliedrig das Problembündel ist, so
polyphonisch verschlungen ist die Beweisführung. Es ist gänzlich unmöglich,
die Kritik d. r. Y. sozusagen auf Eine Linie anzutragen; nur ein mehr-
axiges Coordinatensjstem von Problemen ist im Stande den Reichthum der-
selben aufzunehmen. Und da diese Probleme aufis innigste ineinandergreifen,
so kann man eher von einem Organismus derselben sprechen, in welchem alle
Theile von einander abhängig sind, weil sie alle aus dem sub 2 behandelten
Urproblem wie aus ihrer Mutterzelle im Laufe der Entwickelung entstanden
sind, theils aus innerer logischer Consequenz theils zufolge äusserer An-
stösse. Nur ist wohl zu beachten, dass die Argumentationen der Kritik
d. r. .Y. keineswegs immer ein solch harmonisch-organisches Ineinander
darstellen, sondern häufig ein verworrenes Durcheinander, dessen methodo-
logische Analyse daher doppelt und dreifach schwierig ist. Weil die Kritik
d. r. Y. weder äusserlich noch innerlich (historisch und logisch) ein einheit-
liches Werk ist, darum ist sie ein so anerkannt , dunkles" Buch, ein Laby-
rinth, dessen verschlungener Bau durch die bestechende „Architektonik* der
gleichmässigen Fa^ade verdeckt wird. Rechnet man dazu jene schlüpfrige
Yieldeutigkeit aller Termini bei Kant * und so viele andere die Dnnkel-
heit vermehrende Momente, — wahrlich — so ist die Kritik d. r. Y. „insta-
bilis tellus, innabilis unda^ , so ist ihre Bewältigung eine viel, viel müh-
seligere Aufgabe, als man oft glaubt.
^ F. Adler, Discourse zum Kant- Jubiläum, abgedr. im „Index" 8. Dec. 1881
(Hoston).
^ Mit Recht redet Liebmann, in Fichte's Zeitschr. LXY, 101 von Kants
„vieldeutigem Lapidarstil", den „in ein lakonisches, ja orakelhaftes Dunkel ge-
hüllten Conceptionen" desselben.
„The tangUd knot of Ks. theory."' Methode der ^uflösang. 449
b) Das gewöhnliche Bestreben der Erklärer Kants ist gegenüber der
nothwendigen analytischen Differenziirung auf synthetische Vereinfachung
gerichtet; daraus entspringt leicht grosse Verwirrung, von der wir sub 4.
8. 11. 22 überraschende Proben gefunden haben. Entweder werden die ver-
schiedenen Probleme der Kritik d. r. V. in synkretistischer Weise mit
einander verwechselt, so dass Erklärung, Beweis, Neubegründung u. s. w.,
dass synthetisch a priori und a posteriori beständig durch einander gehen,
oder es wird willkürlich von allem übrigen abstrahirt und nur Ein Problem
herausgegriffen. Im ersteren Falle entsteht ein unlogisches^ disharmonisches
Stimmengewirre ; und wer das Zweite thut, will so zu sagen eine Oper
durch einen Klavierauszug ersetzen. Durch das Herausgreifen Einer Seite
erklären sich die so stark abweichenden Darstellungen Kants, wie schon
oben S. 59 ff. bei Erörterung des sog. Hauptzweckes ausgeführt wurde,
während S. 49 ff. die merkwürdige Verschlungenheit des Kriticismus dar-
gestellt worden ist.
c) Der falschen Methode gegenüber, welche bald synkretistisch die
Probleme verwechselt, bald in willkürlicher Abstraction einseitig nur
Eines herausgreift, muss somit bei dem dargelegten Sachverhalt auf die
richtige Methode gedrungen werden, welche in scharfer Differenziirung
der Probleme besteht, deren organisches Zusammenwirken auch organisch
darzustellen ist. Analyse und Synthese sind auch hier nicht zu trennen,
wenn man exaet verfahren will. Nichts ist aber gefährlicher, als die Voraus-
setzung, der unendliche Reichthum der Kantischen Argumentationen lasse
sich mit einigen wenigen einfachen * Schlagworten abmachen. Das ist ebenso-
wenig möglich, als der fliessenden Bewegung der Curven mit Elementar-
Mathematik beizukommen ist. Noch schlimmer aber ist die andere Voraus-
setzung, die wir mit dem protestantischen Grundsatz der Perspicuüas der
Bibel vergleichen können, jene Voraussetzung, die Kritik d. r. V. sei ein,
wenn auch dunkel geschriebenes, so doch logisch klar gedachtes Werk.
In beiden Punkten hat Volkelt in anerkennenswerther Weise, wenn auch
mit ganz unzulänglichen Mitteln die Zerstörung vielverbreiteter Vorurtheile
begonnen. 'Die Kritik d. r. V. ist viel complicirter, als man gemeinhin
glaubt; und es herrscht in ihr viel mehr immanente Unklarheit, als viele
Kantianer zugeben wollen. Beides erklärt sich zum Theil aus dem allmäligen
Anschiessen und Anwachsen der Gedanken im Geiste Kants ; daher die philo-
logische Methode überall die rein logische Analyse durch historisch-psycho-
logische' Untersuchung zu ergänzen hat. Darum ist auch vor dem Vorurtheil '
zu warnen, „die Kantfrage sei durch die bisherige Literatur zu befriedigendem
Abscbluss gebracht". Die dargelegten Verwirrungen zwingen zu der gegen-
* Auch Windel band, Gesch. d. n. Philos. II, 49 wendet sich gegen die
Meinung, „Kants Entwicklungsgang, der Grundstock seiner Ansichten , und seine
Methode lassen sich in eine einfache Formel bringen". Vgl. ib. 13 — 16. 42.
47 flF. 53.
« Rehmke über Volkelt in den Gott. Gel. Anz. 1882, Nr. 5, S. 152.
Valhinger, Kant-Coxnmentar. 29
450 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
theiligen Annahme : besteht doch schon über die Probleme, welche sich Kant
stellt, die grösste Unklarheit. Es sind ja sehr verschiedene, wenn auch eng
zusammenhängende kritische Untersuchungen, die Kant unter dem Gesammt-
titel: Kritik der reinen Vernunft zusammenfasst, den er im folgenden
VII. Abschnitt einführt.
Erklärung von A, S. 10—16 = B, Absclin. VII,
S. 24-30.
Idee und Eintheilung der ^^Kritlk der reinen
Vernunft".
A 10. B 24. [B 24. H 48. E 64.]
Idee einer Wissenschaft ^ die Kritik der reinen Ternnnft [lieissei
kann]. Vgl. B. Erdmann in der Deutschen Bundschau, VIII, 2, S. 253 bis
278: ,Die Idee von Ks. Kritik d. r. V.*' Erdmann sucht (vgl. oben 62. 67 f.
384 f. auch 364. 371. 409) nachzuweisen, dass „die Idee der Kr. d. r. V.
die nothwendige und allgemeingültige Grenzbestimmung der Begriffe des
reinen Verstandes" sei, indem er die Termini »Idee*', , Wissenschaft*, »Kri-
tik", „reine Vernunft" u. s. w. analysirt und eine kurze Entwicklungs-
geschichte Kants gibt. Hiegegen ist an dieser Stelle (Weiteres in einem
eigenen Excurs über den „Hauptzweck") zu bemerken: 1) aus unserer bis-
herigen Analyse der Einleitung, besonders S. 385 ff. folgt, dass, wenn Kant
sagt: „Aus diesem allem ergibt sich nun die Idee" u. s.w., damit eben
der ganze detaillirte Problembestand gemeint ist, der, wie mannigfaltig er
auch sei, sich doch immer nur auf die zwei zusammengehörigen Hauptfragen
reduciren lässt : Wie ist immanente Vernunfterkenn tniss möglich ? Ist trans-
scendente Vernunfterkenntniss möglich? obgleich Kants eigene Unklarheit
bald die eine, bald die andere mehr vorschiebt. (Vgl. auch Fischer IH, 77.)
2) Dieselbe Unklarheit wird durch die folgenden Untersuchungen, besonders
über den Titel, aufgedeckt; es kommen eben immer dieselben beiden Seiten
zum Vorschein : Kant will, wie er schon im Brief an Herz von 1 772 sagt
(vgl. oben 153), „die reine Verstandeseinsicht dogmatisch begreiflich
machen und deren Grenzen zeigen". Will man Beides in „einen einigen,
obersten und inneren Hauptzweck " (A 832 f.) zusammenfassen : so ist dieser
die Beurtheilung der Erkenntniss a priori, ihre Untersuchung, ihre Prü-
fung, ihre Theorie; diese Theorie befasst gleichmässig jene beiden Seiten
in sich, deren keine — trotz aller Widersprüche Kants an einzelnen Stellen
Die „Idee" einer Kritik der reinen Vernunft. 451
[B 24. H 48. E 64.] A 10. 11. B 24.
oder vielmehr wegen derselben — vom Commentator einseitig als Haupt-
zweck herausgehoben und zur Grundlage der Interpretation gemacht werden
darf. 3) Jene Beurtheilung (in ihren beiden Seiten) ist Kants „Idee" ; in
diese „Idee'' als den „Plan" darf die vollzogene Grenzbestimmung auf die
Erfahrung, das Resultat der Untersuchung nicht schon aufgenommen
werden. Es handelt sich hier immer noch um die Frage nach den Grenzen
(als um die Eine der beiden Hauptseiten), noch nicht um die Antwort.
4) Was Seite 67 Anm. I und 384 bemerkt wurde, dass Erdmanns einseitige
Auffassung seiner Parteistellung entspringe, zeigen die Bemerkungen des-
selben a. a. 0. 258. 273: demnach liegt die „Führung Kants" für die „philo-
sophische Arbeit unserer Tage" eben in der Grenzbestimmung, im Gegensatz
zum Dogmatismus. Hat Kant — unserer Auffassung nach — mit dem Dog-
matismus aber eine Hauptseite, Bettung des Rationalismus, gemein, so könnte
er eben im Sinne Erdmanns nicht dieser „Führer" sein. Diese Voraus-
setzung, Kant müsse auch für die gegenwärtige und zukünftige Philosophie
, Führer" sein, beeinträchtigt die Unbefangenheit der Auffassung.
Zur Sache selbst ist noch zu bemerken: Wissenschaft hat bei Kant
den prägnanten Sinn, welcher oben S. 33. 35. 124. 132 ff. 336. 431 zur Be-
handlung kam: d. h. die Ausführung muss ex principiis geschehen. Aber
nicht bloss die Ausführung, auch die „Idee", der Plan selbst ist ein aus
der Vernunft selbst geschöpfter Begriff, nicht bloss eine vage Vorstellung ;
über diesen prägnanten Sinn s. die unten S. 479 mitgetheilten Stellen Krit.
644 ff. und bes. 832 ff. Jener Vernunftbegriff enthält den Zweck eines
Ganzen, aus dem sich die Theile a priori ableiten lassen. Vgl. Erdmann, Nach-
träge S. 58 über die Idee als „deductiv bestimmende Apperceptionsmasse".
(Es heisst Jede Erkenntniss rein u. s. w.) Diese Stelle ist in der
II. Aufl. weggelassen: mit Recht, weil sie ungenau war. Sie wurde ersetzt
durch die Bemerkungen der Einl. B, Abschn. I u. II, wo sich schärfere Be-
stimmungen finden, wenn sie auch erst durch die S. 195. 211 angeführten
Nachträge erhellt werden. Rein hat nach jenen Stellen die beiden Bedeu-
tungen: unabhängig von Erfahrung, unvermischt mit Erfahrung.
Hier aber wurde nur die letztere Definition verwendet. Zunächst wird
überhaupt rein (jedoch sogleich mit Bezug auf Erkenntniss) definirt als un-
vermischt mit Fremdartigem. Dann wird „schlechthin rein" identificirt mit
„völlig a priori", während man erwarten konnte, es sollte zunächst von der
Erkenntniss die apriorische ausgeschieden werden, und diese dann erst in
reine und gemischte eingetheilt werden. Dies geschieht auch factisch in den
beiden folgenden Sätzchen, jedoch so, dass „rein" jetzt den Gegensatz des
absoluten Apriori zum relativen bezeichnet. Der Satz: „Besonders aber"
war somit eine unreine Vermischung der beiden Bedeutungen. Somit ist die
Weglassung genügend begründet ; aber die II. Aufl. enthält trotzdem Schwie-
rigkeiten. Ein besonderes Supplement behandelt die verschiedenen Be-
deutungen von „Rein" bei K. und gibt eine üebersicht sämmtlicher
Stellen, die diesen Ausdruck definiren.
452 Commentar zur Einleitang A^ 8. 10—16 = B^ Abschn. VIL
AlO.U. B24. [R S4. H 48. 49. E 64.]
Der Terminus i,rein^ ist ein uralter. Es ist jenem besonderen Supple-
ment vorbehalten, die Entwicklungsgeschichte dieses Terminus von Thaies,
Anaximenes, Heraclit, An ax im an der, Anaxagoras an durch
Piaton und Aristoteles hindurch bis auf Leibniz und Kant zu ver-
folgen. Daselbst wird dann auch der frühere Gebrauch der „pure raison^
der „pura ratio^ bei Leibniz und seiner Schule (im Anschluss an die vöirjot^
Piatons) behandelt, wo der Sinn ein anderer als bei Kant ist, wie ja auch
a priori daselbst einen anderen Sinn hat, wenn auch spätere Schriftsteller
wie Lambert sich der K.'schen Terminologie annähern und ihr vorarbeiten.
Bei den Oriechen spielt das xad-apov, tiXtxpivs^, &n6Xt>Tov, fixpatov in erkenntniss-
theoretischer und metaphysischer Hinsicht eine höchst bedeutende, bis jetzt
noch nicht genügend gewürdigte Rolle. Ihm steht gegenüber, wie bei K.
das oo^pLifi«;» das Vermischte; das Sinnliche ist eine unreine Beimischung,
wovon man sich Xoetv, nach Kant „befreien", „säubern", „läutern", „waschen*,
muss. Besonders in der „Republik" von Piaton spielt das xaO«p6v eine grosse
Rolle. Im Anschluss an Republ. IX (9) 572 A könnte man Kritik d. r. V.
übersetzen: „4j toö XofWTtxoö ahxob xaO-' äbxb {jlovov xa^apou xpiat^".
Ternunft das Termögen u. s. w. Man darf diese Definition noch nicht
so verstehen, als werde die Vernunft bestimmt als ein Vermögen, welches
selbst apriorische Erkenntniss enthalte. Der Sinn der Definition wird klar
durch die übrigens nicht ganz in sich harmonischen Bestimmungen am An-
fang der Dialektik (299 AT.); darnach ist Vernunft überhaupt dasjenige Ver-
mögen, welches die allgemeinen Obersätze aufsucht und aufstellt, aus denen
das Einzelne dann deductiv abgeleitet wird. „Ich bestimme mein [einzelnes]
Erkenntniss durch das Prädicat der [allgemeinen] Regel, mithin a priori durch
die Vernunft" 304. Es f^Ut somit dieses Apriori vollständig zusammen mit
dem relativen Apriori oben 192. In der Dialektik wird erst davon dann
der „reine Gebrauch der Vernunft" unterschieden; in diesem Falle ist sie selbst
ein eigener Quell von Begriffen und ürtheilen, „die lediglich aus ihr ent-
springen". Diese Bestimmung ist nun identisch mit dem folgenden Satze,
wonach reine Vernunft die Principien enthalte, etwas absolut a priori zu
erkennen \ Somit wird hier rein identificirt mit absolut in dem Gegensatz
von relativem und absolutem Apriori ', was freilich eine neue Anwendung
* Ebenso Met. d. Sitten, Einl. I.: Vera, das Vermögen der Principien.
Fortschr. Ros. I, 490: Vern. das Vermögen der Erkenntniss a priori, d. h. die
nicht empirisch ist. Ib. I, 568: das Vermögen, unabhängig von Erf. mithin Ton
SinnenvorstellQngen, Dinge zu erkennen. Diese Principien, welche in der Vern.
liegen, sind die äpx»^ Ävaico^ctxtot der Alten. — Statt Kr. d. r. Vernunft will
Riehl 194. 300. 310 Kr. d. r. Erkenntniss (so Kant selbst Prol. § 21 a) setzen,
um die psychologische Auffassung als eines Vermögens auszuschliessen. Vgl.
hiegegen schon oben 323 f. 382 Anm. — Richtiger ist die Bemerkung Riehls 315,
der Titel verbiete, den Idealismus als wesentlichste Angelegenheit Ks. zu fassen.
* Vgl. auch Vorr. B VIII, wo zuerst überhaupt apriorische Erkenntniss und
dann reine besprochen wird.
Schwankender Sinn von »Rein", „Vernunft", „Reine Vernunft**. 453
[B 24; H 48. 49. E 64.] A10.U.B24.
des Begriffes ist, die mit den sonstigen Definitionen nicht stimmt. Allerdings
ist zu sagen, dass »rein" in der Bedeutung „von der Erf. unabhängig"
= a priori niemals bei Kant, wie man etwa oben aus S. 212 schliessen könnte,
auch mit dem relativen Apriori zusammenfällt, sondern immer nur die
ganz unabhängige Erkenntniss a priori bedeutet. Immerhin bleibt aber
hier die Inconsequenz bestehen '.
Es wäre jedoch vollständig irrthümlich und verhängnissvoll, aus der
Aehnlichkeit der hiesigen Definitionen und der in der Dialektik zu schliessen,
es handle sich hier nur um die dort vom reinen Verstand unterschiedene
reine Vernunft. Es ftthrt dies auf eine jener Ungenauigkeiten , die bei
E. nicht selten sind. Trotz der Identität der Definition ist hier doch in die
reine Vernunft alles Apriorische eingeschlossen, das der Sinne, das des
Verstandes und das der Vernunft; im engern Sinn, also auch: Kritik der
reinen Sinnlichkeit, Kritik des reinen Verstandes, Kritik der reinen Vernunft
(im eng. Sinn). (Vgl. Vorr. A XI, wo aber die reine Sinnlichkeit fehlt, die
nicht mit Erdmann, Krit. 12 aus dem Titel ausgeschlossen werden darf.)
Es geht das aus dem Bisherigen und aus der vorliegenden Stelle mit Sicher-
heit hervor. Sonach wäre Kritik d. r. ?• soviel als Beurtheilung und Prü-
fung aller Erkenntnisse, zu denen der Mensch strebt, ohne die Erfahrung
zu Bathe zu ziehen, die nicht aus der Erfahrung stammen oder stammen
sollen, sondern aus dem Subject selbst, mit andern Worten, Kritik der
absolut -apriorischen Erkenntniss'. So klar dieses zu sein scheint, so liegt
doch noch eine weitere Schwierigkeit vor. In der Vorrede A (vgl. oben 116 ff.)
wird Kritik d. r. V. bestimmt als Kritik des Vemunftvermögens in An-
sehung aller Erkenntnisse, zu denen sie [es], unabhängig von aller
Erfahrung, streben mag. Ebendaselbst spricht Kant von der Vernunft
im erfahrungsfreien Gebrauch. Der Verdacht, dass es sich dort um
die über alle Erfahrung hinausgehende Erkenntniss handle, wird bestätigt
durch den Hinweis auf die Metaphysik, welche daselbst, oben 86 ff., nach dem
ganzen Zusammenhange nur die transscendente sein kann. Somit hat Kr. d.
r. V. dort einen ganz anderen Sinn, nämlich Kritik der über die Erf. hinaus-
gehenden Erkenntniss. Von apriorischer Erkenntniss überhaupt ist daselbst
^ Durch diese Bemerkungen sind auch die verschiedenen Missverständnisse
erledigt^ welche sich über diese Stelle bei Thilo, Gesch. d. Phil. 2. A. II, 191,
bei VoLkelt 225, bei Laurie a. a. 0. 232 finden, auf welche im Detail einzu-
gehen sich jedoch nicht verlohnt. — Gleich nachher findet sich der Ausdruck:
„reine Erkenntnisse a priorf, der bei Kant unzähligemal wiederkehrt. In
dieser Formel ist „rein** einfach tautologisch mit „a priori". Der Grund dieses
Ueberflusses ist wohl der oben S. 169 u. 212 angegebene, der Mangel eines Ad-
jectivs von a priori. Statt jener Formel findet sich auch: „reine Erkenntniss"
und „Erkenntniss a priori" — also grosse Willkür der Terminologie.
• üeber den Begriff der r. V. vgl. noch Schmid, Wort. 562 ff. Jenisch,
Entd. 118 ff. Falsch z. B. bei Saint es, Kant 89, welcher nur die transscen-
dente Vernunft darunter versteht Cantoni, Kant 174—179.
454 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
A 10. 11. B 24. [R 24. H 48. 49. E 64.]
keine Rede. Es wäre bei Kants Nachlässigkeit in seiner Terminologie wunder-
bar, wenn er nicht seine zwei Bedeutungen von „reiner Vernunft* (1) = von
der Erf. d. h. ihrem Inhalt unabhängige Erkenntniss überhaupt, incl. reine
Sinnlichkeit und reiner Verstand, (2) = von der Erf. unabhängige, insbe-
sondere aber über dieselbe d. h. ihren Umfang hinaus gehende Erkenntniss
excl. reine Sinnlichkeit und reiner Verstand = ,das oberste Erkenntniss-
vermögen" 702 mit einander verwechselt hätte, wenn er also den Titel
seines Werkes genau definirt hätte. Factisch wird dieser Titel in jenen
zwei Bedeutungen gebraucht ^ Das hängt aber nur mit Kants schon
oben nachgewiesenen Unklarheiten zusammen über die Metaphysik, womach
dieselbe bald als immanente, bald als transscendente gemeint ist. Kant ver-
wechselt reine = von der Erfahrung unabhängige Erkenntniss, die sich al^er
doch noch auf Erfahrungsgegenstände beziehen kann, mit der
von der Erf. unabhängigen Erkenntniss, die über alle Erfahrungs-
gegenstände hinausgeht. M. a. W. rein hat noch eine neue Bedeutung
= erfahrungsfrei, d. h. über die Erf. hinausgehend ihrem Umfang
nach*. Auf S. 20—22 der Einl. B finden sich beide Bedeutungen von r. V.
bald nacheinander. Zuerst spricht K. vom „reinen Vernunftgebrauch*, wo
wie schon B 5 der erstere Sinn gemeint ist, dann von den (transscenden-
ten) Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft, und dies heisst der „über
alle Erfahrungsgrenzen versuchte Gebrauch", während der erstere B 21 jetzt
„Erfahrungsgebrauch" genannt wird und von diesem heisst es sogar, indem
„Kritik" mit „Disciplin" identificirt wird: eine Kritik der Vernunft im em-
pirischen Gebrauche sei unnöthig 710! Ueber Vernunft und reine
Vernunft vgl. noch bes. Reinhold, Th. d. Vorst. 154 ff. Beiträge z. l. Uebers.
1801, I, 135 ff.
^ Ganz besonders in der Methodenlehre (Krit. 710 f. 712 f. 735 f. 752. 760 ff.
782 ff.) herrscht ein beständiges (durch den Doppelsinn von „transscendental"
verstärktes) Hin- und Herschwanken. Mit dieser terminologischen Nachlässigkeit.,
welche theils Ausdruck sachlicher Unklarheit ist, theils auf Kants Entwicklungs>
stufen zurückzuführen isi^ hängt zusammen der wechselnde Gebrauch von Verstand
und Vernunft, der schon oben 123. 166. 230. 237. 239. 311 gerügt wurde und der
auch in vielen oben (z. B. S. 29. 86. 112) mitgetheilten Stellen Ks. sich zeigt:
Verstand und Vernunft werden bald in willkürlichster Weise promiscue gebraucht,
bald strengstens geschieden. Im ersteren Falle umfasst Kritik d. r. V. auch die
positive Analytik ; im zweiten ist sie nur negativ ^ Dialektik (Analytik ist dann
nicht selten = Kritik d. r. Verstandes. Krit. 283. Ros. I, 403, dag. Krit. 63).
Vgl. auch oben 28. 82 ff. 107 ff Reine Sinnlichkeit (Mathematik) gehört endlich
meistens auch zur reinen Vernunft (oben 379 ff., unten 469) und damit Aesthetik
zur Kritik d. r. V. Ohne Kenntniss dieses beständigen Schwankens ist Kant ganz
unverständlich. Vgl. oben S. 152—157 (auch 127. 132. 163) zur Geschichte
des Titels, und die Analyse desselben S. 116—122. Vgl. Schopenhauer, W. W. II.
511. 570. 573. 619.
' An vielen Stellen der Kritik und der Proleg. kann man über die Bedeu-
tung zweifelhaft sein, trotz des Zusammenhanges.
Doppelsinn des Titels. Kritik desselben. 455
[R ^. H 48. 49. E 64.] A 10. 11. B 24.
Bei den verschiedenen Commentatoren sind dann auch beide Bedeutungen
vertreten, zum Beweis, dass hier K. selbst zu (Jndeutlichkeit Veranlassung
gegeben hat. Buhle, Transc. Phil. § 17. 20. 28 versteht unter Kr. d. r. V.
zunächst nur die Dialektik, und lässt die weitere Bedeutung nur nach-
träglich zu. Kiesewetter, Prüfung der Herd. Met. I, 8 f. spricht von der
Kritik der r. Y . , welche ohne Erfahrung über Erfahrung hinaus gehen
will, berücksichtigt also nur die Dialektik, wie er dies ganz klar auch thut
in den „Wicht. Wahrh. d. krit. Philos." 4. Aufl. I, 252. In neuerer Zeit
findet sich vorwiegend nur die andere Deutung; so bei Grapengiesser,
Aufg. der Vern. S. 16, so bei Riehl, Kritic. I, 315 (Prüfung der Gültig-
keit der reinen Erkenntniss). Vgl. hieiüber M e 1 1 i n , Wort. 1 , 856 f. V,
756 f. V i 1 1 e r s , in Binks Mancherlei 1 1 : „ Untersuchung des von der Erf.
nnabh. Theils der menschl. Erkenntniss." (Rink daselbst scheint die andere
Bedeutung zu acceptiren). Er d mann, Kritic. 12. Richtig bei Barni,
Vorw. ni, Treschow, Vorl. I, 17. Bei Abicht und Born, Philos.
Magazin II, 528 wird die Bedeutung entwickelt, womach r. V. im weiteren
Sinn zu verstehen ist. Ebenso bei Mahaffy, Comment. 5. Dies ist wohl
auch Kants Meinung in den meisten Fällen gewesen , nicht ohne dass er je-
doch an Stellen, an denen er die ganze Kritik meint, doch auch die engere
Bedeutung im Sinne gehabt hätte '.
Zweideutigkeit im Titel , „Verwirrung im Hauptbegriff des Werks"
will Herder, Metakr. II, 337 ff. bemerkt haben; der Namen sei ein „Miss-
begriff" ; es bezieht sich, was er sagt, offenbar auf die herausgehobenen zwei
Bedeutungen von r. V., vgl. Kiesewetter, Prüfung d. H. Met. I, 11 ff.
und Ja sehe in Rinks Mancherlei 61. Nach Herder a. a. 0. 341 ist das
Werk nichts als eine „kritische Logik, angewandt auf einige
metaph. Begriffe"; es sei eine „Zwittergestalt von Logik und Meta-
physik* '. Von dem Titel meint Villers (in Reinholds Leben 412), er sei
* Diese letztere einseitige Auffassung auch bei Fichte, Nachl. I, 108. 324 f.
Herbart, Einleit. § 150 Anm. u. W. W. III, 130. Rein hold in seinen „Briefen"
hatte diese einseitige Auffassung schon vorbereitet. Vgl. ferner Willm, Phil.
AU. l^ 84, Dorguth, Schopenh. 5, Noack, Lexicon 471, Riehl 337, Knauer,
Phil. Mon. XVI. 149 (die Kr. d. r. V. führe als Ganzes mit Unrecht diesen Namen !).
Vgl. oben 117. 320. Andere von Kant beabsichtigte Titel s. Phil. Mon. XVI, 60.
' Vgl. Herders Bemerkungen über den Titel oben S. 123. Vgl. auch dessen
Kalligone Vorr. XI (Suph. XXU^ 7): Kr. d. leeren Vern. Aehnlich äussert sich
Jacobi an versch. Stellen. — Ueber den Titel überhaupt und seine einzelnen Be-
standthelle ist unglaublich viel zusammengeschrieben worden. Man vgl. die Citate
oben S. 73. 116—122. Aus der Literatur sei von allgemeineren Aeusserungen
noch angeführt: Schleiermacher, Dial. § 210 (S. 144), Schelling, W. W.
1. Abth. IV, 350 ff., Beneke, Logik IL 166^ ferner De gerando, Vergl. Gesch.
I, 470. 472, Bartholm^ss, Hist. Phil, All. II, 353, Foreign Revieio IV, (1829)
59 ff. 63, FouilUe, Revue Phil. 1881, 339 ff. - Ueber die „Selbstprüfung" vgl. die
scharfen kritischen Bemerkungen oben S. 108 (106). 124 u. 378. Femer Fichte,
456 Commentar zur Einleitung A, S. 10-16 = B, Abßchn. VII.
AIO.ILB^. [B 2^. H 48. 49. E. 64.]
, capable d'induire en erreur*^, denn „ ü annonce lapartie pour le tout". Der
wahre Titel sei: Neue Theorie des menschl. Yorstellungsvermögens, wie auch
Beinhold seinen Versuch betitelt habe. Allerdings ist der Titel unvollständig,
da er die Kritik der Erf. nicht berücksichtigt. Villers scheint aber zu meinen,
dass E. das Vorstellungsvermögen überhaupt bebandle , was jedoch un-
richtig ist, insofern die empirische Vorstellung bei K. zu kurz kommt. (Vil-
lers in den Lettres Westph. 1797, vgl. Neue Berl. Monatschr. 5, 415, findet
in dem Titel Krit. d. r. V. eine vortreffl. Definition des Wortes > Wissen-
schaft".)
Wenn man, abgesehen von dem von Paulsen fölschlich in ^^Kritlk^^
hineingelegten Doppelsinn (Unterscheidung, Beurtheilung), ganz abgesehen
von dem noch zu besprechenden zweifelhaften Verhftltniss der „Kritik* zur
„Transsc. Philosophie" und zum „System der Metaphysik" u. s. w., daran
denkt, welche verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten in dem Titel des
Buches liegen, so erhält man ein merkwürdiges Bild von Kants ungenauer
Terminologie:
1) Einmal ist der Genetivus „der" doppelsinnig, und kann subjectiv
und objectiv sein. (Vgl. oben S. 117 ff.)
2) Sodann hat „rein" 4 verschiedene Bedeutungen bei Kant:
I. = von der Eyf. unabhängig: Gegensatz „empirisch",
a. = absolut unabhängig von Erf.: Gegensatz „relativ",
ß. = unvermischt mit Erf.: Gegensatz „gemischt".
IL = über den Erfahrungsumfang hinausgehend
(= transscendent) : Gegensatz „immanent".
3) Endlich hat „Yernonlt" 3 verschiedene Bedeutungen, eine weiteste,
eine weitere und eine engere. (Vgl. oben 454 Anm.)
Zum Missverständniss des Inhaltes hat der Terminus „Kritik"
sehr vieles beigetragen (über ihn vgl. oben 121 f.). „Kritik" hat bei
Kant bald mit Bezug auf die Dialektik den prägnanten Sinn einer „Dis-
ciplin", bald ist sie mit Bezug auf die Analytik ^ „kritische Unter-
suchung"; so nennt Kant sein Werk selbst Krit. A 89. 237. Im letzteren
Falle ist Kritik auch eine positive Theorie und weist die Möglichkeit
der immanenten' Vernunfterkenntniss nach; im ersteren Falle ist sie rein
negativ und weist nur die Unmöglichkeit transscendenter Erkenntniss nach^
Im weiteren Publikum hat sich mit grösster Zähigkeit das
Letztere festgesetzt; dasselbe verbindet mit dem Namen Kants, mit
dem Titel der „Kritik" durchgängig die negative Vorstellung des „AUes-
zermalmenden" (Mendelssohn), der Vernichtung der Metaphysik. Gegen
Nachl. I, 324 (Widerspruch im Titel); ähnlich Fichte jr., Gegens. II, 14. 260.
Eine Controverse darüber s. in A b i c h t s Philos. Journal L Int. El. S. 15. ü, 19.
Scharfe Bemerkungen über den „unglücklich gewählten" Titel bei Bachmann^
Hegel S. 136 (dag. Schramm, Beitr. z. Gesch. d. Philos. 25 f.).
' Genau so auch Sigwart, Gesch. III, 149. Vgl. oben 450.
Bedeutung des Titels. Erweiterung desselben. 457
[B 24. H 48. 49. E 64.] AlO. 11.6 34.
dieses darch den Titel genährte Vorurtheil ist schwer anzukämpfen,
nm so mehr, als Kant, wie nachgewiesen, durch einzelne Stellen dazu zu
berechtigen scheint und sich über seine Aufgabe ja schon in der Einleitung
so widerspruchsvoll äussert, da in ihr „Kritik d. r. V." bald neutral = „Be-
nrtheilung d. r. V. nach Gültigkeit und Grenzen", bald nur positiv = »Vor-
bereitung zum System d. r. V.", bald nur negativ = «Läuterung d. r. V.
von Irrthümern* ist. (Die bloss negative Seite betont besonders Beneke,
Philos. XI. Bei dieser negativen Auffassung ist ausserdem der positive
Aufbau der Metaphysik auf der Ethik nicht berücksichtigt: vgl. oben S. 9.
63. 234. 383.) Man könnte Lust bekommen, durch Oombination auszurechnen,
wie viel verschiedene Bedeutungen somit der Titel haben kann! Man kann
ebenso Stellen zusammensuchen, um zu zeigen, dass der Titel dieses be-
rühmten Werkes einen höchst schwankenden Sinn hat!
Der Titel erhielt später noch eine Verschiebung durch die zwei folgen-
den Kritiken. In der Vorr. zur Kritik der ürth. wird der Begriff der
Kritik der reinen Vernunft* erweitert; reine Vernunft umfasst nämlich
in noch weiterem Sinne unter sich den theoretischen Verstand, die praktische
Vernunft, und die ästhetisch-teleologische Urtheilskraffc. Nach der Einl. A
XXin f. ib. besteht die Krit. d. r. V. aus drei Theilen , der Kritik des reinen
Verstandes, der reinen ürtheilskraft und der reinen Vernunft [im engeren
Sinn] '. Kritik der reinen Vernunft im engem Sinne ist vollständig identisch
mit Kritik der praktischen Vernunft;, und was factisch jetzt unter dem
Namen Kr. d. r. V. läuft, sollte nach Vorr. Ill fF. eigentlich Kritik des
reinen Verstandes heissen'. Krit. der r. V. im weitesten Sinne oder
„überhaupt ist die « Untersuchung des Vermögens der Erkenntniss aus
Principien a priori*, wozu Verstand, Vernunft und ürtheilskraft gehören.
In dem Titel „Kritik der reinen Vernunft" des Hauptwerkes steht also reine
Vernunft eigentlich für reinen Verstand. Man wird daran freilich wieder
irre durch das daselbst Folgende, wornach doch auch die Krit. d. r. V. im
engeren Sinn (das Werk unter diesem Titel) eine Kritik der r. V. im
Sinne der transscendenten Vernunft sein soll. — Wieder anders ist das Ver-
hältniss in der Vorr. und Einl. zur Krit. d. prakt. Vernunft dargestellt , wo
von der ürtheilskraft noch keine Rede ist, sondern nur die Vernunft in
theoretische und praktische eingetheilt wird, wo aber der Ausdruck r. V.
* Dieselbe Erweiterung auch in der ersten Redaction der Einleitung: „Ueber
Philosophie überhaupt" Ros. I, 611-617. Vgl. unten zu A 14. 15. B 28. 29 die
parallele Erweiterung der Transsc. Philos. Vgl. oben 364.
' Eine weitere Steigerung dieser Verwirrung besteht darin, dass diese drei
Vermögen schon in dem Hauptwerk die Analytik der Begriffe, die der Grundsätze
und die Dialektik bestimmen! Krit. A 130.
• Oder Kritik der reinen speculativen (hier = theoretisch, so A 10. 15)
Vernunft Nach Sigwart, Gesch. HI, 36 wäre der richtige Titel: Kr. d. theo-
retischen Vernunft; rein darf aber nicht weggelassen werden = apriorisch.
458 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
A 10. 11. B 24. [R 24. 25. H 48. 49. E 64. 66.]
theilweise ganz dunkel und widerspruchsvoll ist. Vgl. Vorr. zur Gmndl.
z. Met. d. Sitten, Ros. VIII, 3 ff.
An manchen Stellen sagt K. schlechtweg „Kritik der Vernunft*
so schon oben Einl. B 22. Krit. 762. Prol. Or. 189. 192 (Kirchm. 180. 132) '.
In diesen Fällen, sowie wenn, wie so oft Vernunft = reine Vernunft ist, ist
Vem. eben im prägnanten Sinne zu verstehen.
Nachahmungen des Titels: Zuerst von Abicht, Revidierende Kritik
der speculierenden Vernunft. Altenb. 1799 — 1801. Dann bekanntlich von
Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft. 3 Bände. 1. Aufl.
1807, 2. Aufl. Heidelb. 1828 f.« Ferner von Krause, Erneute Vemunft-
kritik I. Theil der Vorles. üb. die Grundw. d. Wissensch. Leipz. 1829. 2. Aufl.
Prag 1868. Endlich von Ed. Schmidt, Ideen zu einer erneuten Kritik d.
V. I. Theil Krit. d. Urtheilskraft. Berlin 1831. (Nur die zwei mittleren
Werke sind von Bedeutung.) J. Dietzgen, das Wesen der menschl. Kopf-
arbeit. Eine abermalige Kritik der r. V., Hamburg 1869. An einer Kritik
der unreinen Vernunft arbeitete Feuerbach (nach Erdmann, Grundriss
n, § 340, 3). Vgl. neuerdings Wolff, H., Logik und Sprachphilosophie.
Eine Kritik des Verstandes. Leipz. 1880.
Welche die Principien enthält. Krit. Briefe 58 tadeln den Wechsel
von ,an die Hand gibf mit dem Ausdruck „enthält*'; das letztere gehe
weiter als das erstere und spreche das Vorhandensein fertiger Erkennt-
nisse a priori in der Vernunft aus. — Dies ist eine insofern richtige Beob-
achtung, als der Ausdruck „enthalten" etwas ganz anderes besagen soll.
Wie schon bemerkt, bezieht sich der erste Satz auf das relative, logische
Apriori, der zweite auf das absolute, eigentliche; hier „enthält die Ver-
nunft selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze" vgl. 299. Dort
gibt sie nur die Methode an, die allgemeinen Sätze zu finden, welche aber
ihrerseits aus der Erfahrung stammen können. Kants Ausdrucksweise ist
somit hier scharf und bezeichnend, aber an andern Stellen, so B 166,
Proleg. K. 137. Or. 199 ist „9.n die Hand geben" = enthalten. Anders
A 90. Vgl. Born und Abicht, Philos. Mag. II, 543.
Dass die Thatsache der reinen Vernunft, die hier apodiktisch behauptet
wird , eine blosse unbewiesene Hypothese sei, wird natürlich von allen
Gegnern des Apriori vertreten ; s. speciell Krit. Briefe 58. Ib. 62 : Wozu
sollte uns eine Kritik über einen Gegenstand nützen, wenn er bloss ein Him-
gespinnst unserer Phantasie wäre?' Vgl. dag. Born und Abicht, Phil.
Mag. II, 541 f. 552. Derselbe Vorwurf bei Herder, Metakr. 11, 340
» „VerDunftkritik" R. I, 554. 608.
' Ueber die Aenderung des Titels bei Fries, siehe Grapengiesser, Aufg. der
Vern. Kritik S. 32 f. 44. Vgl. Phil. Mon. XIU, 198. 400. Vgl. femer bes. „Abhandl.
der Fries'schen Schule" II, 171 ff.
• Oder ein „Fabelwesen"? Vgl. Lange, Gesch. d. Mat. I, 59. Laas, Id. u.
Pos. I, 69.
Vernunft als Voraussetzung. „Kritik", „Organon", „System". 459
[B 25. H 49. E 65.] A 11. B 2i.
(^Piction einer r. V. vor aller Erfahrung und einer Synth, a priori").
Ib. 342: Die Krit. d. r. V. ist „eine sich selbst setzende und sich selbst auf-
hebende Dichtung, ein Spiel mit sich selbst". Vom Standpunkt des
Empirismus aus ist die ganze Kritik der r. V. ein höchst merkwürdiges Ge-
bäude auf einer sehr zweifelhaften Grundlage, denn jener gibt weder die
reinen Vernunf turtheile (synth. a priori) noch die allgemeine und
nothwendige Erfahrung (im Sinne Kants) zu. lieber die Frage, ob
derartige Gebilde in Wirklichkeit existiren, geht K. ziemlich leicht
hinweg — er setzt beides einfach voraus und nimmt es als zugestanden an.
Vgl. dazu oben S. 425 ff. Daher sagt Schmidt-Phiseldek, Expos. 16
ganz richtig von der Transsc. Phil.: „fundamentale principium,' quo haec
scientia nititnr^ sie polest enuntiari : inest tnenti humanae ratio
puraJ^ Dies ist Voraussetzung, nicht Problem Kants. Gegen die Bemerkung
seines Interlocutors , Krit. d. r. V. sei „Kritik eines Dinges, das nicht ist",
bemerkt J a c o b i in dem Gespräch : David HnmeS. 123 „dergleichen
Dinge bedürfen der Kritik am mehrsten". Es folgt daselbst (W. W. II,
218 ff.) ein lesenswerther Excurs über den Begriff der r. V.
Ein Or|[r&non der Yernnnft u. s. w. Ks. Erklärungen hier über die ver-
schiedenen Theile der Philosophie sind keineswegs harmonisch, sondern im
Gegentheil so widersprechend unter einander, dass dieser Abschnitt aus ver-
schiedenen Stücken zusammengesetzt erscheint, ganz abgesehen davon, dass
die hiesigen Erklärungen den sonstigen Darstellungen nicht entsprechen. Es
sind im Folgenden 3 verschiedene Schichten zu unterscheiden.
Die erste Darstellung, welche bis zu den Worten geht: „welches
schon sehr viel gewonnen ist," enthält folgende Eintheilung:
1) Kritik der reinen Vernunft (= Propädeutik),
2) Organon der reinen Vernunft,
3) System der reinen Vernunft (= Doctrin).
1) Kritik wäre eine Untersuchung und Beurtheilung der r. V., ihrer
Quellen und Grenzen.
2) Organon wäre der auf 1) gegründete Inbegriff der Methode und
Principien, wie nun eventuell reine Erkenntniss erworben wird.
3) System wäre eventuell die Erweiterung der Erkenntniss durch reine
Vernunft, unter Anwendung der Resultate von 2). Diese Stufenordnung wird
aber schon innerhalb dieser Darstellung durchbrochen durch die Bemerkung,
die Kritik sei noch nicht Doctrin, sondern eine Propädeutik zum
System; während man erwartet, sie sei zunächst eine Vorbereitung zum
Organon und dadurch erst zum System. (Andernfalls müsste man an-
nehmen, dass K. hier unter Kritik im weiteren Sinn Kritik und Organon
zusammenfasst. Jedenfalls hat K. historisch beides zusammengenommen.)
Diese Dreitheilung erhält ihre historische Erklärung durch die Dissertation.
In ihr unterscheidet K. dieselben drei Theile. Erstens eine Propädeutik,
welche den Unterschied der sensuellen und intellectuellen Erkenntniss lehren
soll (a. a. 0. § 8. § 30) und von der jene Abhandlung selbst ein Specimen
460 Commentar zur Einleitang A, S. 10— 16 = B, Abschn. VII.
A11.12.B25.26. [B 26. H 49. E 66.]
ist (vgl. Brief an Lambert v. 2. Sept. 1770); zweitens eine dort bald
Metaphysik bald Ontologie genannte Wissenschaft, welche als „arganon
omnium inteüectualium^ bezeichnet wird, eine Wissenschaft, die sich mit den
reinen Begriffen und Gesetzen des Intellects befasst, (und welche mit der
Geometrie, dem prototypon sensitivae cogvitionis parallelisirt wird; § 7), von
der es heisst, sie enthalte die ^principia usus ifUelleetus puri^ § 8. efr. § 9
und § 23; drittens die eigentlich materiale, transscendente Metaphysik
§ 22 Schol. § 23. Nur aus dieser Scheidung, welche Paulsen Entw. 113
richtig in der Diss. getroffen hat, ist die hiesige Stelle zu erklären, sowie
der Widerspruch der Ausführung mit diesem Programm, wie überhaupt viele,
fast die meisten Widersprüche Kants aus der Confundirung seiner eigenen
aufeinanderfolgenden Ansichten sich erklären.
Die zweite Darstellung, deren Text zwischen der ersten und
dritten enthalten ist und sich dann später fortsetzt, geht von dem Begriff
des Transscendentalen aus. Transscendentalphilosophie wäre darnach die
vollständige Theorie der apriorischen Erkenntniss. Hier theilt nun Kant
aufs Neue ein:
1) Kritik der r. V. ist nur der synthetische Theil dieser Theorie:
sie ist der Plan zu der vollständigen Theorie.
2) Transscendentalphilasophie enthält auch den analytischen Theil
und ist das System aller Principien der r. V.
Es ist falsch, mit Schmidt-Phis. Exp. 17 das System der Transsc.-Phil. ohne
Weiteres mit dem System der ersten Darstellung zu identificiren, denn
jenes ist nur immanent, während dieses auch transscendent sein kann.
Die dritte Darstellung (von „Eine solche Kritik* — „gebracht zu
werden") geht auf die erste zurück, verändert aber deren Eintheilung durch
eine wesentliche Bemerkung. Es folgen jetzt:
1) Kritik,
2) Organon resp. Kanon,
3) System.
Die Kritik ist eine Vorbereitung zum Organon. Da aber Organon der
Inbegriff der Principien ist, nach denen reine Erkenntniss erworben wird,
und da ja diese Möglichkeit erst erwogen wird, so muss auch statt eines
Organons ein Kanon in Aussicht genommen werden, d. h. ein Inbegriff der
Grundsätze des richtigen Gebrauchs eines Erkenntnissvermögens überhaupt,
also hier der reinen Vernunft. Nur im ersteren Falle (beim Organon) würde
das System der Philosophie der reinen Vernunft in Erweiterung der
Erkenntniss bestehen, im zweiten Falle dagegen wäre sein Inhalt eventuell
Begrenzung.
Wenn Kant hier einen Kanon der reinen speculativen Vernunft in sichere
Aussicht stellt und doch 796 derselben einen solchen abspricht, so löst sich
der Widerspruch so, dass hier unter reiner Vernunft auch der reine Ver-
stand mit inbegriffen ist, für den es auch nach 796 einen Kanon gibt, wäh-
rend für die reine Vernunft im Sinne übersinnlicher Erkenntniss es aller-
Schwankende Darstellung: „Organon", „Kanon" u. b. w. 461
[R 25. H 49. E 65.] A11.12.B25.26.
dixLgs keinen Kanon gibt, sondern nur für dieselbe in praktischer Hinsicht.
Dann wäre zu unterscheiden
a) Kanon der reinen Vernunft (im weiteren Sinn = Verstand
und Vernunft),
b) Kanon des reinen Verstandes,
c) Kanon der reinen Vernunft und zwar der praktischen.
Vgl. Schmid W. 138. Lossius I, 647 ff.
In diese Darstellungen Einheitlichkeit hineinzubringen, ist nicht möglich.
Kant dachte bald an die immanente, bald an die transscendente Metaphysik;
diese beiden Gebiete verwechselt K. selbst oft genug in dem gemeinsamen
Ausdruck „System der Metaphysik". Durch das wechs eis weise Vor-
schieben dieser beiden Systeme entstand an dieser Stelle eine grosse Ver-
wirrung, welche der oben 373 ff. nachgewiesenen Verwirrung correspondirt,
welche jedoch, nebst ihren Nachwirkungen in der secundären Literatur, im
Einzelnsten noch weiter zu analysiren nicht der Mühe werth ist, zumal für
jeden aufmerksamen und unbefangenen Leser der allgemeine Hinweis genügt;
um die Verwirrung selbst im Detail zu verfolgen. Meilin in den Marg.
I, 7 lässt die Erste und Dritte Darstellung einfach weg.
Was den Unterschied von Organ on und Kanon betrifft, so hat Or-
gan o n immer den Sinn einer positiven methodischen Anweisung zur E r-
weiterung unserer Erkenntniss, zur Erwerbung neuen Wissens, so 46. 52.
53. 60 f. 62. (Werkzeug, um seine Kenntnisse auszubreiten und zu erweitern)
63 f. 795. Vgl. K. an Mendelssohn (8. April 1766). Kiesewetter, Log. I, 12.
,Man nennt eine Wissenschaft ein Organon, wenn man sie als eine Quelle
anderer Erkenntnisse anzusehen hat." Kanon ist der Inbegriff der Grund-
sätze a priori des richtigen Gebrauchs eines Erkenntnissvermögens. 795.
130 f. Kant gibt in der Methodenl. einen Kanon des praktischen (reinen)
Vemunftgebrauchs. Der Kanon betreffe mehr das Sub j ect oder den richtigen
Gebrauch des Erkenntnissvermögens durch dasselbe, das Organon mehr das *
Object, oder die richtige Behandlung der Erkenntnisse selbst. Meilin I, 853.
Die Ideen dienen zum Kanon des Verstandsgebrauchs 329. (Der Ausdruck
Kanon wurde zuerst von Epikur gebraucht für seine Logik. Diog. Laert.
X, 13, Kant, Logik Einl. I.) In der Methodenlehre tritt noch hinzu
die Disciplin, welche nicht zur Erweiterung, sondern zur Grenzbestim-
mung dient 795. Vgl. bes. den Abschnitt »Die Disciplin der reinen Vernunft"
709 ff.. Kr. d. ürth. B. 392. 202. [Mit der Disciplin ist im Wesentlichen
identisch der Terminus Katharktikon, den K. schon im 2. Briefe an
Mendelssohn gebraucht (die Scheineinsicht eines verderbten Kopfes braucht
ein Katharkt. Vgl. den Schluss der »Krankheiten des Kopfes) und den er
in der Kritik auf S. 53 und 486 wiederholt. Vgl. „Medicina mentis" * von
^ Vgl. Bardili's Grundriss der Ersten Logik 1800: „keine Kritik, sondern
eine Medicina mentis, brauchbar hauptsächlich für Deutschlands kritische Philo-
sophie**.
462 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abßchn. VII.
A11.12.B25.26. [E 26. H 49. E 66.]
Tschimhatisen (1687). Krit. 757. „Heilmittel wider den dogm. Eigendünkel^
Logik, Einl. II.] Kant sagt von der Aesthetik 46, sie sei eine Theorie,
die zum Organ on dienen solle*. Von der Analytik spricht er als einem
Kanon, und von der Dialektik als einer Disciplin, 765, so dass diese
drei Theile der Kritik die drei Stufen der kritischen Theorie darstellen.
üeber den zweiten Unterschied des Textes, den von Doctrin* und Kritik
s. 709 f. und den Brief an Lichtenberg, sowie Vorrede zur Kr. d. ürth.
Schluss, wo K. die Absicht ausspricht, „ungesäumt zum Doctrinalen zu
schreiten", nachdem das kritische Geschäft beendigt sei. Vgl. Krit. d. Urth.
§ 79. Einl. III. (S. XX). Die Analytik der Grundsätze heisst jedoch schon
„Doctrin der ürtheilskraft". 132. 136. Doctrin ist dogmatische Unterweisung
aus Principien a priori (Logik, Einl. I). Der Gegenstand der Doctrin seien
die Erkenntnisse selbst, die aus reiner Vernunft entspringen, der der
Kritik der Boden, aus welchem sie hervorspriessen , Mellin I, 851. Die
Krit. soll nicht aus der Quelle der Vernunfterkenntnisse schöpfen, sondern
sie nur reinigen (ib. I, 852). Fortschr. K. 113. R. I, 504: Doctrin
ist daselbst identisch mit Analytik, Disciplin mit Dialektik. Ebenso
Krit. B. 421 ist Doctrin Gegensatz zu Disciplin in Bezug auf die
ration. Psychologie. Es herrscht somit im Gebrauch der Termini Organon
und Kanon, Doctrin und Kritik eine sehr verwirrende Willkür bei
Kant, in welche schwerlich Ordnung hineinzubringen ist.
Der Ausdruck op'^rxvov wurde zum ersten Male gebraucht, um des
Aristoteles logische und erkenntnisstheoretische Schriften zusammenzu-
fassen, die ein Werkzeug, eine Vorbereitung für die Metaphysik bilden
sollten. Im XVII. Jahrh. nannte Bacon sein Werk: Novum organon, indem
er an Stelle der apriorisch-deductiven Methode die experimentell-inductive
Methode als Verfahren der Philosophie geltend machte. Im XVIII. Jahrh.
wandte Lambert den Ausdruck wieder an, indem er sein logisch-erkenntniss-
theoretisches Werk Neues Organon nannte; es erschien 1764 und übte
auf Kant einen grossen Einfluss aus. Im K. 'sehen Sinne schrieb F. C. Weise:
Vergl. Darstellung der reinen Verstandes- und Vernunftbegriffe als Organon
eines ausf. Dogm. Systems der Transsc. Philo s., Heidelb. 1821, und
schon 1801 Krug, Entwurf eines neuen Organons der Philosophie.
Aehnliche Titel von Wagner 1830, Carus 1856 u. A.
Alle reine Erkenntnis» • • • erworben • • • Dies scheint eine contradiciio
in adjecto zu sein ; denn das Apriorische soll ja schon in uns liegen. Es muss
aber doch noch erworben werden , nicht nur etwa weil das Apriorische
nur unbewusst in uns ist , sondern weil das Kantische Apriori factisch* erst
* lieber die Bezeichnung der Kritik selbst als Ganzen als Organon vgl. Phil.
Monatsh. XVI, 64. Hamann, W. W. VI, 224. 181, bei Gildemeister V, 74.
* Krit. Briefe 60 tadeln den Ausdruck „Doctrin", da es sonst eine „Wissen-
schaft" gebe, die keine „Doctrin" ist, was gegen den Sprachgebrauch sei. Vgl,
dag. Born und Abicht, Phil. Mag. II, 546 f.
Frage nach Ursprung, Inhalt, Gültigkeit und Grenzen der Vernunft. 463
[B 26. H 49. E 65.] A 11. B 25.
nach gewissen allgemeinen Grundsätzen zu finden und zu beweisen ist ;
worüber die Analytik Aufschluss gibt. Vgl. oben 121 ; auch Vorr. B VIII.
Vgl. besonders oben S. 404 ff. 417 ff.
Die avsfilhrliclie Anwendung. Krit. Briefe 59: „Anwendung eines
Organons** könne unmöglich ein System sein. Vielleicht habe K. „Aus-
führung" schreiben wollen. Dag. Born und A b i c h t , Phil. Mag. 11, 544 f.
System der reinen Yemonft. Hier kann unbeschadet des Sinnes der
Genetiv subjectiv oder objectiv sein: das System, welches die reine Vernunft
selbst errichtet, oder das System, welches bezüglich der reinen Vernunft-
erkenntnisse entworfen wird. Vgl. oben 116 ff. Witte, Beitr. 25 macht die
Unterscheidung, das System der Phil, gehe auch auf den apriorischen In-
halt, nicht nur auf die Form, wie die Kritik; vgl. ib. S. 30.
Quellen und Grenzen u. s. w. Vgl. A 153: Nach Beantwortung der Frage
von der Möglichkeit synthetischer Erkenntniss a priori kann die Transsc. Logik
„ihrem Zwecke, nämlich den Umfang und die Grenzen des reinen Ver-
standes zu bestimmen, vollkommen ein Genüge thun*. — 762: »Wir sind
^rklich im Besitze synthetischer Erkenntniss a priori, wie dieses die Ver-
standesgrundsätze, welche die Erfahrung anticipiren, darthun. Kann Jemand
nun die Möglichkeit derselben sich gar nicht begreiflich machen, so mag er
zwar anfangs zweifeln, ob sie uns auch wirklich a priori beiwohnen, er kann
dieses aber noch nicht für eine Unmöglichkeit derselben .... ausgeben.
Er kann nur sagen, wenn wir ihren Ursprung und Echtheit einsehen,
so würden wir den Umfang und die Grenzen unserer Vernunft bestimmen
können." — 57: „Urspr., Umf. und objective Gültigkeit.* Ebenso
schon oben B 23 f.: Ursprung und Gültigkeit. Kr. d. pr. Vorr. 15:
^Möglichk., Umf., Grenzen." ib. 18: „Quelle, Inhalt, Grenzen", ib. 22: „Be-
dingungen, Umfang, Grenzen." Kr. d. Urth. Vorr. „Möglichkeit und Grenzen."
Logik, Einl. III, „Quelle, Umfang, Grenzen^'. Gültigkeit und Schranken
schon im Brief an Lambert v. 2. Sept. 1770. Umfang, Ab th eilung,
Grenzen, Inhalt im Brief an Herz v. 24. Nov. 1776. Die Krit. untersucht
(840) „das Vermögen der Vernunft in Ansehung aller reinen Erkennt-
niss a priori", oder, wie K.'gleich unten sagt, eine Untersuchung, „welche
die Berichtigung und den Probierstein des Werthes oder Unwerthes aller
Erkenntnisse a priori abgeben soll". Urth. Einl. XX: „Ihr Feld erstreckt
sich auf alle Anmaassungen unserer Erkenntnissvermögen , um sie . in die
Grenzen ihrer Eechtmässigkeit zu setzen" ; das geschieht durch eine Kritik
derselben „in Ansehung dessen, was sie a priori leisten können". Fischer
274: „Jede Grenzbestimmung ist zugleich ausschliessend und ein-
schliessend; der Gott Terminus, wenn er die Eigenthumsgrenze setzt,
' Ganz ebenso Krit. Vorr. A VI. „Regeln und Grenzen" ib. Vlll. „Umfang"
= „Grenzen und Gliederbau« Vorr. B XXII. Vgl. die Stellen oben 38. 317. 320.
:340. 342. 343. „Umfang und Grenzen" auch bei Tetens, Versuche I, 334.
rfOrigin, cei-tainty, extent of knotvledge^ bei Locke, Ess. I, 1, § 2.
464 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
A 11. B 26. [R 26. H 49. E 66.]
unterscheidet zugleich das M§in und Nicht-Mein. So enthält die Grenz-
bestimmung der Vernunfterkenntniss die doppelte Aufgabe zu zeigen, welche
Erkenntniss durch Vernunft möglich und welche nicht möglich ist.* Dieses
Suchen nach den Quellen der Erkenntniss u. s. w. nennt Herbart, Kant-
rede von 1811 S. 6 die von K. angestrebte , Wissenschaftlichkeit". Zeller,
Gesch. 474 bemerkt richtig, dass Umfang (Möglichkeit) sich auf die Analytik,
Grenzen sich auf die Dialektik beziehe; jene gibt den Nachweis der Be-
dingungen des erfahrungsmässigen , diese den Nachweis der Unmöglichkeit
eines die Erfahrung überschreitenden Erkennens. Man beachte, dass demnach
die Aufgabe der Kritik der r. V. eine doppelte ist. Die Eine wird immer
übereinstimmend mit Feststellung der Grenzen der Erkenntniss a priori
bezeichnet; die andere umfasst Bestimmung des Ursprungs (was also
Paulsen unrichtig leugnet Entw. 194)* und der Quelle, des Umfangs
und Inhalts (quantitative, rein äusserliche Bestimmung), vor Allem aber
Aufklärung über die Möglichkeit, Bedingungen und objective
Gültigkeit der reinen Vernunfterkenntnisse. Man erkennt leicht hier
wieder die zweischneidige Tendenz des Kriticismus, in dem letzteren die
rationalistische, in dem ersteren die Kichtung auf die Grenzbestim-
mung. Jene zerfUUt in die rein äusserliche Bestimmung der Quelle und
des Umfangs (Apriorismus) und in Erklärung der Gültigkeit (»trans-
scendentale" Frage im engeren Sinn. Vgl. oben 409, unten 471). Man
sieht also auch hierin die Einseitigkeit der Auffassungen bei Paulsen, Erd-
mann u. A. (Man beachte auch die Stelle 762, wornach die Grenzbestim-
mung abhängt von der Deduction der Gültigkeit. Vgl. oben 343.)
Er d mann, Deutsche Rundschau VIII, 262 sucht Alles auf die Grenzbe-
stimmung zu reduciren, was nach dem Gesagten nicht angeht.
Propädeutik. Es ist bekannt, dass Kant in der „Erklärung in Be-
ziehung auf Fichte's Wissenschaftslehre" vom 7. Aug. 1799 (Hart. VIII, 600.
Kirchm. VIII, 293) sich hierüber ganz entgegengesetzt äusserte. sHiebei
muss ich noch bemerken, dass die Anmaassung mir die Absicht unterzu-
schieben, ich habe bloss eine Propädeutik zur Transscendentalphilosophie,
nicht das System dieser Philosophie selbst liefern wollen, mir unbegreiflich
ist. Es hat mir eine solche Absicht nie in Gedanken kommen können, da
ich selbst das vollendete Ganze der reinen Philosophie in der Kritik der
reinen Vernunft für das beste Merkmal der Wahrheit derselben gepriesen
habe.** Hier fragt es sich, hatte K. allmälig (wie Rosenkr. Gesch. XII, 190
annimmt) vergessen, dass die Metaphysik eine noch nicht gemachte
Arbeit sei und seine Kritik als Metaphysik angesehen, oder hat er vielleicht
allmälig eingesehen, dass die Metaphysik, die von seinem Stand-
punkte aus möglich war, eine in seiner Kritik schon lange gemachte
' Vgl. oben 183. Auch Riehl 442 läugnet diese Fr&ge^ an deren Vorhanden-
sein für Kant nach den obigen peremptorischen Erklärungen kein Zweifel seio
kann, bes. wenn man dazu noch vergleicht A 3. 6. B 23. A 56. 57. 78.
Kritik als l'ropädentik zu einem System? 46S
[E 25. H 49. E 66.] All. B26.
Arbeit sei? J. Er dm an n, Gesch. d. n. Phil. III, 48 und ßiehl, Krit. I,
204 meinen, Kant habe in jener Erklämng Kritik zwar mit Trans sc. -Phil.,
aber nicht mit System der Metaph. identificirt. lieber diese Auslegung,
sowie die ganze Frage s. die Ausfuhrungen zum Schluss der Yorr. B. Gegen
Fichte 's Ausführungen, Kant habe bloss eine Prop. geben wollen, treten
alle engeren Kantianer auf, so z. B. Heusinger in seiner Schrift: «Ueber
das idealistisch-atheistische System Fichtes^, 1799 S. 26—40: „üeber das
Vorgeben, dass das von K. aufgestellte System propädeutisch sei und einer
tieferen Begründung nur vorgearbeitet habe.*^ Die Kritik gebe vollständig
die Principien der Metaphysik; diese letztere bestehe aber nur in einer
systematischen, auch die Folgerungen, Definitionen u. s. w. umfassenden
Darstellung und Ausnützung jener Principien; a parte ante sei somit diese
Metaphysik vollendet, wenn auch nicht a parte post. Aber unter „System
der reinen Vernunft" verstehe Kant nicht eine Arbeit, welche zur principiellen
Begründung des menschl. Wissens irgend etwas beitrage. Was K. System
nenne, sei allerdings noch nicht da der Ausführung, jedoch dem Wesen nach ;
was Fichte so nenne, sei etwas, was K. nie gewollt habe und auch nie
billigen würde, denn Fichte wolle eigentlich eine andere Kritik der r. V.
In ähnlicher Weise replicirte J äs che (Stimme eines Arktikers anonym 1799)
S. 47 ff. K. habe sich (52) nicht ein System gedacht, in welchem irgend ein
neues Princip nothwendig sei, sondern er habe dasselbe vollständig begründet.
Freilich ist er sich nicht ganz klar; nach S. 50 lasse es K. unentschieden,
ob ein System möglich sei, ja er scheine anzudeuten, dass er diese Möglich-
keit nicht annehme (hier beruft sich Jäsche auf die Stelle, wo K. sagt, «es
stehe noch dahin, ob eine solche Erweiterung der Kenntniss möglich sei,"
wo also K. die transscendente Metaph. meint). Nach S. 53 f. ist ihm das
System identisch mit den Metaph. Anf. d. Naturw. und der Met. d. Sitten.
Man sieht, die Kantianer waren einigermassen in derselben Verlegenheit,
wie K. selbst. Mag nun Transsc.-Phil. mit dem System der r. V. identisch
sein oder nicht, so hat K. jedenfalls die Kritik nur als Propädeutik
bezeichnet, hier, sowie noch einmal ausdrücklich in der Vorrede B 43. K.
verspricht späterhin mehrfach dies System zu liefern und thut es doch nicht.
Da erhebt sich aber eben die Frage, was denn K. als Inhalt dieses Systems
sich gedacht habe, ob denn die Kritik überhaupt noch zu weiteren Aus-
führungen in einem System Anlass geboten habe? wie sich K. die auch in
den Proleg. noch versprochene „künftige*' Metaphysik als Wissenschaft
gedacht habe, und ob hier nicht bei K. selbst eine fundamentale Unklar-
heit über seine eigenen Ziele obwalte, indem er ein System der Metaphysik
noch verspricht, nachdem er, was das Transscendente betrifft, dessen Un-
möglichkeit nachgewiesen, und was das Inmianente betrifft, dessen wesent-
lichen Inhalt schon in der Kritik ausgeführt hat? Die Antwort hierauf in
den Bemerkungen zum Schluss der Vorr. B. Als den Inhalt und die Auf-
gabe dieser künftigen Metaphysik gibt Reinhold an (Fortschr. 249),
sie müsse , keineswegs wie die bisherige, weder als die Wissenschaft der
Vai hinger, Kant-Oommentar. 30
466 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = ß, Absclin. VII.
All. B26. [R 25. H 49. E 65.]
Dinge überhaupt^ noch der Dinge an sich, sondern als die Wissen-
schaft der reellen vorgestellten Objecte in Rücksicht auf ihre im Vorstellungs-
vermögen gegründeten und insofern nothwendigen und allgemeinen Prädicate
* auftreten". Diese Veränderung des bisherigen Begriffes der Metaphysik
durch K. bespricht derselbe auch in d. Beitr. z. Bericht. II, 73 ff. bes. 152 ff.
,,Met. ist nicht die Wissenschaft der Dinge an sich, sondern die Wissenschaft
der Dinge unter den im transscendentalen Vorstellungsvermögen gegründeten
[nothwendigen und allgemeinen vgl. Pölitz. Lehrbuch 322 ff.] Merkmalen.*'
Vgl. dag. Verm. Schrift. II, 13 ff., wo Met. wieder im dogmatischen Sinne
d. h. dort im Anschluss an Fichte als Wissenschaft des Absoluten be-<
stimmt wird. Nach Stadler, Grunds. 5 hat man seit Kant unter Meta-
physik nichts anderes zu verstehen, als „das Problem der Möglichkeit wissen-
schaftlicher Erfahrung''. Eberhard, Phil. Mag. I, 23 bemerkte schon
1789 richtig, zu der Errichtung des von K. verheissenen metaph. Lehrge-
bäudes könne kein Anschein sein, „da ihm seine Kritik schon zum Voraus
den Zugang zu allen Materialien, die dazu nöthig wären, versperrt hat'.
„Vergebens unterscheidet K. selbst seine Kritik als Propädeutik von der
künftigen Wissenschaft. Die unselbständigen Kantianer, die Nachbet.er Kants
sahen das Gerüste für das Gebäude selbst an und können sich nicht genug
wundern, dass Niemand neben ihnen auf demselben wohnen will," Bein-
hold, Verm. Sehr. II, 228. Dies war überhaupt ein Hauptstreitpunkt
zwischen den Kantianern strenger Observanz und den Fortbildnern. Vgl.
Grohmann, Dem Andenken Kants 140. Natürlich sahen alle folgenden
Philosophen, bes. Hegel, Logik V — XIII, in ihren „Systemen" die Erfüllung
des von K. gegebenen Versprechens, wohl keiner mit so viel Selbstgewissheit
als Biedermann, nach welchem K. hier direct auf seine „Begriffswissen-
schaft" hinweist („Kants Krit. d. r. V." 8). — Vgl. zu dieser Frage oben
S. 149. 375.
[In Ansehnngr der Specalation nur negativ.] Dieser Zusatz der II. Aufl. '
'Derselbe lautete nach Erdmann, Nachträge S. 11 ursprünglich: „hu-
ränglich und unmittelbar^. Diese Wendung liess auch noch eine andere
Auffassung zu: darnach konnte der „positive Nutzen^ auch in dem in Aussicht
gestellten immanenten System der Transscen dental -Philosophie bestehen, welches
dann mittelbar aus der Kritik hervorgehen sollte. Vielleicht weil letzteres, wie
mehrfach erörtert, schon in der Kritik enthalten war, jedenfalls aber, um be-
stimmt die auf die Moral gebaute transscendente Metaphysik (vgl. oben 383) zu
betonen, wählte Kant die vorliegende Wendung. Die erstere Wendung und Auf-
fassung passt jedoch zum Text von A viel besser, da die Kritik ja als „Profm-
deutik" bezeichnet ist. Insofern widerspricht die zweite Wendung dem Zusammen-
hang. — „Speculation" hat natürlich wie alle Termini Ks. mehrere Bedeutungeu^
worüber zu Krit. 634 fT. 804 ff. Hier = theoretische Erkenntniss des Trans-
scendenten; ebenso oben A 5. \ dag. oben 457. Dass die Rettung der Meta-
physik durch die Moral schon in der Kr. d. r. V. enthalten sei, kann man ange-
sichts der Ausführungen A 795—831 nicht leugnen. Kant will nur die theo-
Kur negativer Nutzen der Kritik? 467
[B 25. H 49. E 65.] All. 12. B 26.
ist höchst bemerkenswerth. Er hängt zusammen mit den Aasfuhrungen der
Vorrede B, dass nämlich die Kritik negativ sei nur in Beziehung auf die
Anmaassung theoretischer Erkenntniss über die Grenzen der Erfahrung
hinaus, dass dieselbe aber direct positiven und sehr wichtigen Nutzen
habe, „sobald man überzeugt wird, dass es einen schlechterdings noth wendigen
praktischen Gebrauch der reinen Vernunft (der moralischen) gebe, in
welchem * sie sich unvermeidlich über die Grenzen der Sinnlichkeit erweitert"
u. s. w. (a. a. 0. XXV). Vgl. Erdmann Kants Krit. 173. Das Nähere hierüber
zur Vorrede B und zu S. 711, wo es heisst, die Krit. soll die Vernunft von
Ausschweifung und Irrthum abhalten und ihren Verirrungen abhelfen. Daher
heisst die Kritik auch Disciplin. — Krit. Briefe 60: Beurtheilung der
reinen Vernunft ist aber selbst schon Speculation. Ebenso wendet Herbart
gegen das Unternehmen, erst die Grenzen des menschl. Erkenntnissvermögens
auszumessen und dann die Metaphysik zu kritisiren, Einl. § 149 ein, es liege
ja vor Augen, dass bei jener Untersuchung desErk. Verm. lauter meta-
physische Begriffe angewendet werden müssen; ebenso bes. schon Aene-
sidem. Vgl. auch oben 125 Beneke; auch S. 45 Anm. 1.
TraBsscendental« Nach der Erklärung an dieser Stelle ist transsc.
Erk. einfach soviel als Theorie des Apriori. Transsc.-Philos. ist die
systematische Zusammenstellung und Behandlung der Begriffe und
Erkenntnisse a priori. Dieser Grundbegriff der K.'schen Philosophie und der
Kritik insbesondere bietet bei weitem das schwierigste terminologische
Problem bei Kant, ja in der ganzen neueren Philosophie dar. Kant
gibt späterhin noch, andere sehr abweichende Definitionen dieses Begriffes ;
er verwendet ihn auch leider für transscendent, was doch der Tendenz
nach eine ganz andere Bedeutung hat: Transscendente Philos. ist die
über den Umfang der Erf. ins Uebersinnliche hinausfliegende Erkenntniss.
Transscendentale Erkenntniss und Philos. ist nach dieser Stelle nur die
Theorie der Möglichkeit apriorischer Erkenntniss, wird jedoch späterhin auch
für die apriorische Erkenntniss selbst gebraucht ^. Es ist am besten, zunächst
nur die hier entwickelte Bedeutung im Auge zu behalten, die späteren Be-
deutungen werden sich im Laufe der Sache ergeben. Ein besonderes Supple-
ment wird sich mit diesem merkwürdigen, ja räthselhaften Terminus, und
seiner Geschichte vor Kant und seiner Beception durch Kant beschäftigen.
Daselbst werden auch die theilweise horribeln Missdeutungen dieses Begriffs •
retische Begründung der transscendenten Metaphysik vernichten, nicht aber sie
selbst: nur dies ist der Sinn der „Grenzbestimmung^.
* Ebendesshalb ist auch am Anfang des vorigen Satzes das „hier** von Kant
eingeschoben worden. Vgl. noch unten S. 475.
^ Und zwar, insofern sie sich gleichwohl auf Erfahrung bezieht und die-
selbe sogar möglich macht. So oben S. 34. Diese Bedeutung ist aber in dieser
Stelle noch gar nicht enthalten, wie Born, Philos. Mag. II, 549, Laurie a. a. 0.
233, Riehl, Krit. 204 auslegen.
468 Commentar zur Einleitung A, Ö. 10—16 = 6, Abechn. Vll.
A 11. 12. B 25. [R 26. H 49. E 65.]
und des Ausdrucks Transsc.-Phil. die ihnen gebührende Würdigung finden:
bei keinem Ausdruck so wie bei diesem zeigt sich die namenlose Willkür
vieler Commentatoren bis auf den heutigen Tag. So meint z. B. Schopen-
hauer (und nach ihm Fischer 19), Kant nenne seine Philos. Transsc.-
Philos., weil sie über die bisherigen falschen Systeme , über Dogm. und
Skeptic. hinausgehe! Und das ist noch ein gelindes Missverständniss ; es
finden sich noch ganz andere etymologische Monstra K
So könnte man nach der Pseudomethode derartiger Auslegungen an
dieser Stelle versucht sein, folgende Construction a priori etymologisch
zu bilden: Transscendental heisse etymologisch das auf das Transscendente
bezügliche (vgl. ähnliche lateinische Bildungen auf -alis). Nun könne das
Transscendente zwei Bedeutungen haben, das was den Umfang der Er-
fahrung überschreite, und das was über ihrem Inhalt hinausliege. Ersteres
sei die Erkenntniss des Uebersinnlichen ; letzteres die Erkenn tniss aus reiner
Vernunft, also die Erkenntniss a priori. Transscendental heisse also sowohl
das auf die übersinnliche als das auf die apriorische Erkenntniss Bezügliche.
Kant gebrauche „transscendental*' in diesen beiden Bedeutungen, jedoch ver-
wende er es (neben transscendent = übersinnliche Erkenntniss selbst) vorzugs-
weise für das auf die apriorische Erkenntniss Bezügliche, speciell für die
Erkenntniss, welche sich eben mit der apriorischen Erkenntniss beschäftige;
es sei somit „transscendental' in erster Linie: Das auf das Apriori
Bezügliche. Die Gonsequenzen sind richtig, aber die Prämissen sind gänz-
lich falsch. Dies ist nicht der historische Ursprung des Ausdruckes in der
Scholastik und bei Kant. Und doch hätte eine derartige Ableitung noch
den Vorzug didactischer Klarheit, und wenigstens theilweiser Richtigkeit,
(in der Auslegung des Sinnes an dieser Stelle) gegenüber den wüsten, un-
glaublich willkürlichen und falschen Auslegungen, Missdeutungen und Miss-
handlungen, denen dieser Begriff bis heute ausgesetzt war und ist. Zunächst
halte man also an der an dieser Stelle klar von K. selbst entwickelten Be-
deutung fest , womach Transsc. -Phil, so viel ist , als Theorie der
Möglichkeit apriorischer Erkenntniss, oder kürzer Theorie
des Apriori. Und Transscendental selbst wird nach dieser Stelle immer
nur eine Erkenntniss genannt, und zwar eben diejenige, welche die Möglich-
keit apriorischer Erkenntniss zum Gegenstand hat, noch nicht diese
• letztere selbst.
Ganz in dem entwickelten Sinne werden dann auch die einzelnen
T heile der Transscendental-Philosophie (deren Hauptinhalt die Kritik d. r. V.
gibt), „transscendental'' genannt. Nach A 16 gehört die Sinnlichkeit
* Etymologische Spielereien — ein „Erbfehler" der Philosophie — sind hier
gar nicht am Platze. Es handelt sich um, freilich sehr mühsame, positiv historische
terminologische Forschung, wie sie bes. durch E u c k e n in verdienstvollster Weise
inaugurirt worden ist. Auch mit der Wendung Hegels, W. W. XV, 559, der
Ausdruck sei „barbarisch*', ist man dieser Untersuchung nicht enthoben.
9 Transscen dental''. Eine enorme Inconsequenz Kants. 469
[B 26. H 49. E. 65.] A IL IS. B 25.
zar Transscendental-Philosophie, sofern sie Vorstellungen a priori enthält u. s. w.
und A 21 heisst die transscendentale Aesthetik die Wissenschaft von
allen Principien der Sinnlichkeit a priori. Aehnlich wird A 57 ff. die
transscendentale Logik bestimmt, und von ihrem ersten Theil, der trans-
scendentalen Analytik, heisst es A 62 ff., sie sei die Zergliederung
unseres gesammten Erkenntnisses a priori u. s. w. Nach dieser Analogie
müsste die transscendentale Dialektik sein: die Kritik des sich an die
aprloriseheu Principien anhaftenden Scheins und der grundlosen Anmaassung,
nämlich dieselben unbeschrilnkt auf Gegenstände überhaupt hyperphysisch
anzuwenden. So wird sie auch A 64 bestimmt. Allein später, wo der Ter-
minus in den heterogensten Bedeutungen in unglaublichster Willkür ange-
wandt wird, ist sie dazu da, ,den Schein transsceDdenter ürtheile auf-
zudecken!! So bes. A 297. 308 \ Letztere Bedeutung gewann bei Kant und
seinen Nachfolgern die Oberhand ; so hat Fischer sie adoptirt III, 478 (auch
445, dag. 455. 464). Was soll man zu dieser bis jetzt merkwür-
digerweise gänzlich unbeachtet gebliebenen enormen Naohlässig-
keit in der Benennung der einzelnen Thelle der Kritik sagen?
Transscendental I. und IL Auflage. Nach Cohen, a. a. 0. 36, soll
die Wendung der II. Aufl. nur eine „Erläuterung" der Bestimmung der
I. Aufl. sein '. Wenn K. hätte „erläutern* wollen, so hätte er doch den Text
der I. Aufl. als Thema, das zu erläutern war, mit herübergenommen. Viel-
mehr ist hier eine Aenderung. Diese Aenderung ist auch nicht bloss
eine „genauere Formulirung", Erdmann, Krit. 166. K. spricht statt von
Begriffen von Erkenntnissart. Begriffe sind aber noch keine ürtheile,
noch keine Erkenntniss, jedenfalls lag dieser Sinn nahe, auch wenn „Be-
griffe* nach dem veralteten Stil „Erkenntniss* bedeuten sollte, was aber
unwahrscheinlich ist nach der Parallelstelle in dem Brief an Herz vom
21. Febr. 1772: „Ich suchte die Transsc.-Phil. , nämlich alle Begriffe der
gänzlich reinen Vernunft in eine gewisse Zahl von Kategorien zu bringen.*
Laune a. a. 0. 238 meint: „77<ß word Begriff is loosely used'^ und setzt
richtig hinzu: „An illustration is wanted heref' Umgekehrt schliesst „Er-
kenntnissart* nur ürtheile ein, nicht Begriffe (doch ist der Gebrauch von
^ Erkenntniss* schwankend; vgl. oben 351). und doch wird gleich unten
A 16 die Sinnlichkeit desshalb zur Transsc.-Phil. gerechnet, weil sie „Vor-
stellungen a priori enthält, welche die Bedingungen ausmachen, unter
denen uns Gegenstände gegeben werden* ; ganz ebenso wird in der im üb-
rigen sehr verworrenen Stelle A 56 als Gegenstand der transsc. Untersuchung
angegeben, „dass und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder
Begriffe) lediglich a priori angewandt werden". (Daher ist auch die Er-
läuterung von Cohen S. 79 unrichtig, worüber noch zur Aesthetik.) Die
Aenderung der II. Aufl. hängt wohl zusammen mit der Bestimmung B 39
^ Vgl. oben 88 f. dag. 34. Beide Bedeutungen scheinen A 888 verbunden.
* Cohen, Ks. £th. 28: A »ungenügend*, B „bringt die Hauptsache hinzu*«
470 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abßchn. VII.
A 11. 12. B 25. [R 25. H 49. E 65.]
über tr. (worüber Näheres ebenfalls zur Aesthetik). Hier genügt die Be-
merkung, dass man richtig geht, wenn man als das gemeinsame Resultat
von A und B fest hält: Transscendental-Philosophie ist die Theorie des
A priori, mag dieses nun in BegrifiFen oder in ürtheilen bestehen. Man
beachte jedoch , dass diese Definition zunächst nur für diese Stelle gilt.
Anderwärts vrird anders definirt. (Vgl. auch unten 481 Anm. 1.)
Dass das Wörtchen „überhaupt' bedeutsam ist und daher keineswegs
weggelassen werden darf, folgt aus S. 844, wo es von der Transsc-Phil. heisst,
sie „betrachte Verstand und Vernunft in einem System aller Begriffe und
Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objecte
anzunehmen, die gegeben wären (Ontologia)." Aus der Erörterung über den
Begriff Transsc. wird die Bedeutung ' dieses Zusatzes erhellen. Er darf daher
nicht mit Kehrbach und Erdmann der IL Aufl. weggenommen werden,
in welcher er allerdings unpassend gestellt ist ^; dagegen muss das Wort
nach „Gegenständen* gesetzt werden, statt vor „beschäftigt*.
[Transscendeiital II« AdH.] Um diese Stelle hat Cohen Kts. Th^ d.
Erf. 35 ff. eine Wolke von Missverständnissen und dunkler, gesuchter Wen-
dungen verbreitet. Er sagt: „Wenn ti*ansscendental die Erkenntnissart
genannt wird, sofern sie a priori möglich sein soll, so wird damit das
a priori selbst als nur dadurch möglich bezeichnet, dass es in einer trans-
scendentalen Erkenntnissart erkannt wird.* Nun bezieht sich aber doch
offenbar grammatisch und logisch transscendental gar nicht auf „Erkennt-
nissart*, sondern auf die mit der a priori möglich sein sollenden Erkennt-
nissart beschäftigten Erkennt niss d. h.: tr. heisst die Theorie der apriori-
schen Erkenntnissart. „Man muss, heisst es weiter, auch den Ausdruck:
Erkenntniss a r t betrachten. Die transsc. Erkenntniss hat keine anderen
Objecte als die metaphysische ; aber der Methode , der Art nach ist sie
von dieser unterschieden. Sie erweist das a priori erst in seiner Möglich-
keit. Daher und so erfüllt sie den Begriff desselben.* „Tr. ist das Comple-
ment zu a priori*, das sei in dem Satze Ks. deutlich ausgesprochen. Auch
hier bezieht wieder Cohen in demselben sehr seltsamen grammatischen Irr-
thum tr. auf „Erkenntniss art*, statt auf „Erkenntniss*. Sodann mischt er
einen erst später, und zwar ganz anders als er es darstellt, gemachten Unter-
schied zwischen metaphysischer und transscendentaler Erkenntniss herein, der
' Riehl 204 erläutert: „also auf mögliche Erfahrung % im Gegensatz zu be-
stimmten Gegenständen, zu wirklicher Erfahrung. Dass dies nur theilweise richtig
ist, wird später gezeigt werden. Cohen 36 lässt „überhaupt" weg.
' Erdmann in seiner Ausgabe S. 663 sagt richtig: „Es ist als Bestimmung
zu ^beschäftigt^ so ungehörig, wie es in dem Text der ersten Auflage als Bestim-
mung zu ,Gegen8tänden^ nothwendig war". Dann ist es auch in der II. Autl.
nothwendig. Auch nach Erdmann, Nachträge S. 11 sollte es „nach Kants In-
tention bestehen bleiben". Vgl. Cantoni, Kant 162. Die Wendung in B „mög-
lich sein soll" kann sich sowohl auf das antithetische, als auf das hypothetische,
als auf das methodologische Problem beziehen. (Vgl. oben 393. 397. 404.)
„Tranescen dental". 471
[R - H 49. E 65.] B 25.
hier nur verwirren kann. Endlich reducirt sich der mysteriös eingeführte
p^esucht mathematisch exacte Ausdrack des „Complementes^ ganz simpel darauf,
dass hier (worauf der Ton zu legen ist) transscendentale Erkenntniss soviel
ist als Theorie der Erkenntniss a priori. Nur in diesem allgemeinen
und ganz klaren Sinn ist hier* transsc. Erk. zu verstehen : Cohen aber legt
eben, indem er jene Unterscheidung hier herein mischt, etwas ganz besonderes
hinein: nach ihm soll metaph. Erkenntniss (von der hier doch kein Wort
steht) sein die Erkenntniss, dass ein Begriff a priori sei, transsc. aber die
Erkenntniss, wiefern dieser apriorische Begriff möglich sei, d. h. mit
welchem Hechte er gültig sei. Nun aber beruht diese Auffassung auf
einer weiteren auffallenden grammatischen Ungenauigkeit des Interpreten:
Kant sagt nicht: transsc. sei die Erkenntniss von der Erkenntnissart a priori,
wiefern diese (nämlich die apriorische Erkenntnissart) möglich sei;
sondern er sagt, transsc. sei die Erkenntniss von der Erkenntnissart von
Gegenständen, insoferne diese (d. h. die Erkenntnissart von Gegenständen)
a priori möglich sein solle; das heisst doch mit anderen Worten plan
und deutlich, mit derjenigen Erkenntnissart, welche (bisher aufge-
tauchten Ansprüchen gemäss) a priori sei. Nach Cohen will K. nachweisen,
inwiefern die (schon als solche festgestellte) apriorische Erkenntniss als
wirkliche Erkenntnissart von Gegenständen möglich d. h. gültig sei'; factisch
aber sagt Kant hier nur, er wolle erkennen, was es mit der behaupteten
apriorischen Erkenntniss auf sich habe. Natürlich schliesst diese
Frage auch jene erstere mit ein, aber sie ist weiter', und steht nicht in
jenem von Cohen irrigerweise hereingebrachten Gegensatz. Endlich verkennt
Cohen den Sinn des Gegensatzes zwischen Gegenständen und Erkenntniss-
art, wenn er a. a. 0. sagt: „also nicht der Gegenstand, sei es einer An-
schauung, sei es eines Begriffes, nicht der Gegenstand ist a priori,
sondern die Erkenntniss art." Merkwürdige Interpretation ! K. will
einfach dasselbe sagen, was er als charakteristisches Zeichen seiner kritischen
Methode überall und immer betont, dass die transsc. Erk. nicht mit den
Objecten, sondern mit dem S u b j e c t es zu thun habe. Dieser Irrthum
Cohens wird auf S. 37 in höchst perniciöser Weise fortgesetzt, wo er sagt
' Man beachle wohl^ dass es sich darum handelt^ zu eriiiren^ wie Kant hier
tr. definirt. Es ist eine methodisch unrichtige Verwerthung von Parallelstellen,
wenn ganz abweichende Definitionen resp. Gebrauchsweisen des Begriffs unter-
schiedslos mit der hiesigen Stelle vermischt werden.
' Vgl. hiezu Cohen S. 121 u. 93. Ganz unsachgemäss und ganz unrichtig
herbeigezogen sind die Tüfteleien und Spielereien über den Sinn des Ausdruckes
„möglich" bei Cohen a. a. 0. 94. Vgl. ferner ib. 40. 41. 45. 47—50 (an einzelnen
Stellen auch die richtige Auslegung). Vgl. Göring, Viert, f. wiss. Philos. III, 10.
Vgl. oben 824^ und besonders 405 ff.
' Sie umfasst nicht bloss im engeren prägnanten Sinn die Frage nach der
Gültigkeit, sondern auch die nach Ursprung, Umfang, Grenzen u. s. w.
Vgl. oben 463 f. - Vgl. zu dieser Stelle Fries, Gesell. IL 547, Reinh. 200 ff.
472 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
A 12. B 25. [B 26. H 49. K 65.]
(mit Bezug auf die Frage, ob der Baum ein wirklicher Gegenstand sei):
„Nach den apriorischen Objecten wird nicht gefragt, sondern nach
den Begriffen a priori von Objecten.* — Was Witte, Beitr.
1 9 gegen Cohen sagt, ist noch verworrener, als Cohens eigene Aeusserungen.
Auch die Beschränkung, welche Cohen S. 80 anbringt, dass es sich um die
Möglichkeit apriorischer Erkenntniss innerhalb einer möglichen Er-
fahrung handle, ist in dieser Stelle noch gar nicht begründet; auch nach
S. 45 soll „das Lösungswort schon hindurchschimmern*'. Dadurch wurde
wohl auch die gänzlich falsche üebersetzung und Auslegung der Stelle bei
Caird 200 hervorgerufen. Cohen hat den Begriff „transscendental" miss-
verstanden, wie sich noch oft zeigen wird, weil er die verschiedenen theils
gröberen, theils feineren Nuancen der Bedeutung des Terminus nicht unter-
scheidet und AUes in die unklare und verwaschene Gesammtvorstellung «das
Transscendentale" zusammenwirft.
Ein System solcher BegrilTe. Dass hier durch die Aenderung der ü. Aufl.
der Zusammenhang gestört sei , ist offenbar , wie auch schon G r a p e n-
g i e s s e r , Aufg. der Vernunftkr. 20 richtig nachweist. Nach der Aenderung
der II. Aufl. hätte es heissen müssen : „Ein System solcher Erkenntnisse*.
Dass K. plötzlich von „Begriffen*' rede, bemerkten schon die Erit. Briefe 61
und fragen daher: Wovon sollen sie denn Begriffe sein? und beantworten
also unrichtig: „Nicht von den Gegenständen, nicht von unseren Erkennt-
nissen, sondern von der Art, wie wir erkennen.*' So scheine es nach dem
Zusammenhang. Femer heisst es daselbst: „Wie können Sie nun behaupten,
dass ein System solcher Begriffe sowohl die analyt. als die synth. Erkennt-
nisse a pr. völlig enthalte, da doch in der Transsc.-Phil. bloss von der
Erkenntniss a r t die Rede sein soll?"
Transscendentalphllosophie« Diese ist nach dieser Stelle diejenige philo-
sophische Wissenschaft, welche eine Theorie der apriorischen ^ Erkenntniss
gibt. Dazu gehört also nicht nur eine Erklärung der Möglich-
keit apriorischer Erkenntniss von Gegenständen , sondern auch eine
systematische Aufzählung dieser Begriffe; ferner (nach dem Folgenden)
eine Analyse der apriorischen Begriffe (Auflösung ihres Merkmal-
bestandes in analytische ürtheile), sowie die Becension der aus ihnen
abgeleiteten Begriffe, vor Allem aber die ganze Aufzählung und
Theorie der an jene apriorischen B e g r i f f e sich anschliessenden syntheti-
schen ürtheile a priori. Transsc-Philos. ist damit eben, indem sie eine
Theorie der apriorischen Erkenntniss und ihrer Möglichkeit ist, zu-
gleich das System der apriorischen Erkenntniss selbst.
Das konnte K. aber nicht mehr ausfuhren, da er überhaupt alle Möglich-
keit dazu abgeschnitten hatte, und so fiel ihm im Laufe der Zeit Kritik
zusammen mit Transscendentalphilosophie im Sinne einer Theorie der
apriorischen Erkenntniss, und damit eines vollständigen Systems
apriorischer Erkenntniss selbst. Die Kritik war ursprünglich nur
ein T heil der Transscendentalphilosophie, d. h, einer Theorie der aprionachen
Transscendentalphilosophie ? System der reinen Vernunft? 473
[B 26. H 49. E 65.] A 12. B 25.
Erkenntniss. Im Verlaufe wurde die Kritik aus einem T heil der Transsc-
Phil, zu dem Ganzen derselben \ die Kritik galt selbst als System der vom
Kantischen Standpunkt ans möglichen Metaphysik, als System der reinen
Vernunft : T h e i 1 und Ganzes, Bedingung und Bedingtes fiel
zusammen.
Nach Fries (vgl. Meyer, Ks. Psych. 19) ist die Transsc. - Phil, die
anthropologische Selbstbeobachtung, von der die ursprünglich „metaphysi-
sehe' Erkenntniss a priori zu unterscheiden ist. Diese sei das eigentlich
Apriorische, jene nur die psychol. Beflection auf dieses. Dies widerspricht
aber, wie Fries übrigens wusste, eigenen späteren Bestimmungen Kants
bes. Krit. pag. 56 f.
Grapengiesser (a. a. 0. 19) macht noch folgende gänzlich unparlamen-
tarische Bemerkungen zu dem Wort Transsc.-Phil. : „Das unselige Wort ! Diese
Bezeichnung Kants, die in der That bei ihm selbst nicht recht klar ist, ist
zum wahren Popanz geworden. Alle philos. Schwätzer in unseren Tagen,
um ihr Gerede, das sonst wohl als Unsinn erscheinen könnte, als eine ab-
sonderliche Weisheit zu schildern, behaupten, dass ihre Phil, nicht gewöhn-
lich , sondern eben — Transsc.-Philos. sei. Sie wissen aber nicht zu sagen,
was das Wort in der That ursprünglich bei K. bedeutet.* Vgl. a. a. 0. 115.
„Ein Manoeuvre, das heute bei den unklaren Geistern nicht selten vorkommt,
ist, sich hinter das Transscendentale zu verstecken; sie missbrauchen
dieses Wort, um ihre Unklarheit damit zu verdecken, weil sie meinen, die
Anderen wüssten ebensowenig, was das Wort bedeute, wie sie selber." So
schlimm steht es doch nicht durchaus; diese maasslose Polemik geht über
die erlaubte Grenze hinaus und fällt auf ihren Urheber selbst zurück.
Weil eine solehe Wissenschaft u. s. w. Es sei hier nur die Parallel-
stelle erwähnt aus den Fortschr. d. Met. Einl., die Trans sc. -Phil, „enthält
die Bedingungen und Elemente aller unserer Erkenntniss a priori.* Eine
Zusammenstellung der verschiedenen Aeusserungen über diese Wissenschaft,
die untereinander nicht harmoniren, folgt später.
Ist diese , Transscendentalphilosophie* identisch mit dem „System
der Philosophie der reinen Vernunft*? Dem Wortlaut nach an dieser
Stelle ist gegen diese Identificirung kein Grund vorhanden. Transsc.-Phil. ist
die vollständige Theorie der apriorischen Erkenntniss und das System
würde wohl damit zusammenfallen. Dass die Kritik erst in einem System der
Transsc. -Phil, ihre Vervollständigung finde, hebt K. mehrfach hervor,
so S. 82, wo er den „kritischen Versuch* dem vollständigen System der
Transsc.-Phil. gegenüberstellt; vgl. Prol. § 39. An anderen Stellen wird
die Kritik als Vorbereitung zum „System der reinen Vernunft* bezeichnet,
so Vorr. A 15. Vorr. B 22. 42 f. Einl. B 22. Krit. 707 f. 855 f. Neutral
' In den Briefen an Herz vom 21. Febr. 1772 und aus dem Jahre 1773 iden-
tificirt K. Transsc. - Phil. a. Kritik d. r. V. Vgl. oben S. 154. Dagegen Meta-
physik 18. — Vgl. auch Meyer, Ks. Psych. 29 ff. 34. 299.
474 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. Vü.
A 12. B 25. 26. [B 25. H 49. E 65.]
ist die Stelle 852 , wo einfach „System* steht. Wieder andere Stellen sind
klarer Beweis, dass in Ks. Vorstellung das System der Transscen-
dentalphilosophie und das System der reinen Vernunft
« in Eins zusammenschmolz: genau dasselbe, was er 82 als Transsc-Phil. be-
zeichnet, heisst 83 System der r. V. Die nothwendige „Analyse und Ab-
leitung" rechnet er bald zur Transc.-Phil., bald zum System der r. V. Vorr.
A 15. Einleit. A 14. Krit. 204. Ganz anders wird das Verhältniss von
Kritik, Transsc-Phil. und System behandelt in der Methodenl. (vgl. obiges
Schema auf S. 306), wo der Kritik das System gegenübertritt und dies
nun seinerseits in Transsc-Phil. und Physiologie eingetheilt wird. Man sieht
hieraus, dass K. sich absplut unklar war über das, was über seine Kritik
hinauslag, und was er nach ihr noch vornehmen sollte.
Riehl, Kritic I, 12. 203 f. und schon J. Erdraann, Entw. IIT a, 48
machen zwischen der Transsc-Philos. = Wissenschaftstheorie und dem ver-
sprochenen System der Wissenschaft noch einen Untei'schied. Der Text dieser
Stelle ist zu unklar, als dass man nicht auch hiezu berechtigt wäre, umso-
mehr als durch andere Orte diese Unterstellung bestätigt wird. Bald ist
Kritik ein Theil der Transsc-Philos., und dann ist letztere Vorbedingung
zum System der Metaphysik, und dieses ist dann = Metaphysik der Natur
und der Sitten (so Kant selbst in dem bei Erdmann, Nachtr. 12 mitgetheilten
Einleitungsentwurf). Bald ist aber Kritik Vorbedingung zur Transsc-
Philos. und dann ist letztere identisch mit dem System der immanenten
Metaphysik, deren Haupttheil in der Kritik aber schon gegeben ist. Es ist
unmöglich, in diesem Chaos Ordnung zu schaffen bei Kants terminologischer
Licenz und sachlicher Unklarheit, wenn man sich nicht an die von uns
mehrfach gegebene Normaldarstellnng hält, wornach Kant in der Kritik d. r. V.
auf Gnind kritischer Untersuchung (insbes. der Mathematik) ein System der
immanenten Metaphysik = Naturwissenschaft und eine Gren2bestimmung
gegenüber der transscendenten Metaphysik und eine Kritik der letzteren gibt.
Zu einer solchen von allen diesen Verwirrungen abstrahirenden Normal-
dai*stellung fordert Kant, Krit. 834 selbst auf: man soll „eine Wissenschaft
nicht nach der Beschreibung, w^elche der Urheber derselben davon gibt,
sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Theile,
die er zusammengebracht hat, findet, bestimmen".
Transseendentale Kritik. Hier und noch einmal unten „transseendentale
Sinnenlehre** wird das Adjectiv gebraucht, sonst in diesem Abschnitt
immer nur Transsc-Philos. Es heisst dieser Ausdruck also hier: eine
kritische, d. h. prüfende Theorie der Möglichkeit apriorischer Erkenntniss,
ihres Werthes und Unwerthes. Die Transscendentale Kritik *, welche Kant
geben will , ist eine kritische Theorie , weil es sich in ihr nur um
Prüfung handelt, ob und wie apriorische Erkenntniss überhaupt möglich
' Der Ausdruck ist selten bei Kant; er findet sich z. B. noch Krit 752.
In anderem Sinne (= transscendent) A 296!
„Erweiterung" der Erkenntniss? 475
[R 26. 26. H 49. E 66u 66.] A 12. B 26.
sei. Es handelt sich in ihr nicht darum, selbst synthetische Erkenntniss
a priori aufzustellen (nicht „um die Erweiterung der Erkenntniss selbst"),
sondern erst um die V o r f r a g e , ob eine solche Erweiterung möglich sei.
Insofern stimmt diese Stelle ganz zusammen mit der obigen, wo der Kritik
die Beurtheilung, dem System und der Doctrin die wirkliche auf jene
Beurtheilung gegiündete Aufstellung apriorischer Erkenntniss zuge-
schrieben wird, während dem Organon nur zuMlt, eine Anweisung zu
sein, wie dann die auf Grund jener Beurtheilung als m^öglich erkannte
apriorische Erkenntniss wirklich aufgestellt werden kann; es stimmt aber
nicht zusammen weder mit dem unmittelbar vorhergehenden Satz, wor-
nach Kritik den synthetischen Theil schon ausführt, noch mit der factischen
Ausführung, in welcher über die blosse Vorfrage weit hinausgegangen wird.
Eine neue Schwierigkeit ist diese: offenbar werden hier „Erweiterung**
und „Berichtigung* in dem Sinne einander gegenübergestellt, dass die
transscendentale Kritik die Vorfrage lösen soll, wie reine Erkenntniss mög-
lich sei (nach Ursprung, Umfang, Inhalt, Gültigkeit und Grenzen)
und dass das eigentliche System der reinen Philosophie die als
möglich nachgewiesenen und in ihrer Berechtigung erklärten synthetischen
Erkenntnisse a priori selbst aufstellen solle. Diese „Erweiterung" ist
jedoch nicht identisch mit der im folgenden Satze behandelten und der
, Begrenzung" gegenübergestellten „Erweiterung". Die hier be-
sprochene Erweiterung der Erkenntniss selbst ist eben das als möglich an-
gesehene und daher versprochene System der reinen Vernunft.
Nun aber kann der Inhalt dieses Systems (welches analytische und syntheti-
sche Sätze umfasst, also auch „Erweiterung" wieder in einem anderen Sinn !)
zum letzten eigentlichen Resultate haben eine „Erweiterung" * oder
eine blosse „Begrenzung" d. h. in diesem Falle eine (unmögliche) Erweite-
rung über den Umfang aller Erfahrung hinaus oder B e-
gränzung d. h. eben die Ueberzeugung , dass wir nicht über die Erf.
hinaus können und eben damit die Beschränkung auf die innerhalb des
Erfahrungsgebietes noch immer mögliche synthetische Erkenntniss a priori.
(Der Ausdruck Kants ist hier jedoch ungenau ; der Sinn ist jedoch un-
zweifelhaft.) Wie verhält sich nun hiezu der Gegensatz A 11: „Erweite-
rung" und „Läuterung"? Ist er identisch mit „Erweiterung —
Berichtigung" oder mit „Erweiterung — Be-grenzung?" Nach
den Zusätzen der IL Aufl. mit letztcrem Gegensatz. Man könnte aber zweifeln,
ob dies der Sinn der I. Aufl. ursprünglich gewesen sei. Eine aufmerksame
Leetüre jener wie dieser Stelle zeigt, dass hier wie so oft bei Kant zwei
Gedankenreihen durcheinandergehen, welche durch jenen Doppelgegensatz
bezeichnet werden können. Auf der Einen Seite (auch später hat „Erw."
bald den einen, bald den andern Sinn) wird eine „Erweiterung" in Aus-
* Diese auch als „bis dahin erstrecken" u. s. w., so A 659 im Unterschied
von dem synthetischen „Erweitern". Vgl. oben 314.
476 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abßchn. VII.
A 12. 13. B 26. [B 26. H 49. 50. E 66.]
sieht gestellt (im Gegensatz zur berichtigenden Beartheilung),
ein System der reinen Vernunft; zu ihm gibt es ein Or g a n o n ;
• auf der andern Seite eine Begrenzung (im Gegensatz zur speculativen
Erweiterung); zu ihr gibt es nur einen Kanon. Somit ist dies nur
die alte, fatale Verwechslung immanenter und transscendenter
Metaphysik. Im praktischen Gebiet ist übrigens dann eine solche ^ Erweite-
rung" möglich, wie in der Krit. d. pr. V. u. d. ürth. oft betont wird.
Eine solehe Kritik« Was die wirkliche Ausführung betrifft, so hat K.
schon in der Kritik selbst den Unterschied fallen lassen zwischen Kritik
einerseits und Organon resp. Kanon andererseits. Ueberall wird die Kritik
nicht bloss als Vorbereitung zum System der Philosophie selbst behandelt,
ohne jene oben eingeschobene Zwischenstufe, die ganz in die Kritik herein-
genommen ist, sondern schliesslich auch als dieses System selbst.
Nicht die Natur der Dinge ^ sondern der Terstaud ^ Die kritische
Methode besteht na<;h 484 darin, dass man die Fragen nicht obiectiv,
sondern nach dem subjectiven Erkenntnissgrund behandelt; diese Methode
macht nach B 22 f. die ganze Kritik aus. Da nun transscendental
auch diejenige Behandlung bezeichnet, die sich nicht mit Gegenständen be-
schäftigt, sondern mit unserer apriorischen Erkenntniss von denselben,
so ist transscendental ein ünterbegriff von kritisch; denn dies
letztere bezeichnet die subjectiv-erkenntnisstheoretische Behandlung überhaupt,
transscendental dagegen nur diejenige, die sich auf unser apriorisches
Erkenntnissvermögen bezieht. Dasselbe geht auch aus dem folgenden Sätzchen
hervor : der Verstand wird nur in Ansehung seiner Erkenntniss a priori be-
trachtet. Gruppe, Wendepunkt 363 : „Schon der Titel enthält eine
Warnung. Was kann es fbr Resultate geben, wenn man eine Unters, der
Erkenntniss k r ä f t e anstellen will, unabhängig von den Objecten?'' Dag.
Riehl 169 f. gut über den Unterschied von Vernunft kr itik und Vernunft-
dogmatik. Vgl. oben S. 8. 26. 38. 43 S, Kant grenzt hier successiv seine
Aufgabe ab: er behandelt nicht Gegenstände, sondern nur Erkenntniss,
nicht alle Erkenntniss, sondern nur apriorische, nicht alle apriorische, son-
dern nur synthetische, u. s. w.
Der Verstand nur In Anselinng seiner Erkenntniss a priori. Brast-
b e r g e r , Unters. 1 5, meint, dass Kant streng genommen auch genauer
nach der Herkunft der empirischen Erkenntnisse hätte for-
schen sollen. Denselben Vorwurf erhob auch Jacobi^ sowie besonders
Schopenhauer. Aehnlich Eberhard, Phil. Mag. I, 370. 387, wo
besonders Leibniz' Theorie hierüber mit der K.*schen mangelhaften ver-
glichen wird. Dieselbe Forderung stellte auch schon Nicolai auf, Philos.
Abh. n, 38 „damit die Abstraction einer reinen Vernunft nicht ganz ein-
seitig vorgenommen, sondern auch die andere Seite der Seelenkräfte er-
' Vgl. oben 373. 382. Man beachte auch dad Schwanken zwischen trans-
scendenter und immanenter Metaphysik an diesen Stellen.
Keine „Kritik der Erfahrnug"? 477
[B 26. 710. H 50. E 66.] A 13. B 26. 27.
wogen werde ^. Denn wenn man die Eine Seite ausschliesse, so sei das, „wie
wenn jemand von den beiden Beinen, welche die Natnr dem Menschen
gegeben hat, Eins unthätig machen wollte, nm besser zu gehen ^. Goethe
(Eckerm. 11, 72) meint, „dass wie K. eine Kr. der Vemnnffc geschrieben habe,
so auch eine KritikderSinne^ nothwendig sei^. Vgl. Witte, Maimon 89.
Vorstud. 76 ff. (vgl. D a n z e 1 , Goethe's Spinozismus 1843.). W. G ö r i n g,
Baam und Stoff; Ideen zu einer Kritik der Sinne, Berlin 1876. Die
Einschränkung der Kritik auf den apriorischen Bestandtheil des Erkennens
rechtfertigt B i e h 1 , Krit. I, 338 : Die Frage Herbarts, woher die
besonderen Verhältnisse der Dinge kommen, gehöre nicht in eine Kritik,
sondern in eine ausfuhrliche Theorie derErkenntniss; dass Fichte
dann auch das Empirische aus dem Apriori habe herausklauben wollen, sei
natürlich in Kants unternehmen nicht begründet, — allein das schliesst
die Nothwendigkeit einer Theorie der empirischen Sinnlichkeit keineswegs aus,
die denn auch Kant nach Biehl I, 338, II, a 17 implicite gegeben hat,
während nach I, 12. 13. 178. 279. 337 Kant wegen des Unterlassens der-
selben getadelt wird. (Vgl. Windelband, Gesch. II, 5 1 mit 74. 76.) Es darf
jedoch hiebe! die Ableitung der speciellen Naturgesetze aus den allgemeinen
nicht verwechselt werden mit den empirischen Specialurtheilen; inwiefern
Kant eine Theorie der letzteren gegeben hat, darüber s. oben S. 353. 443
(die ersteren suchte er in den Metaph. Anf. d. Naturw. abzuleiten). Eine
„Kritik der Erfahrung" verlangte auch Sniadecky (Phil. Mon. X, 227), sowie
Zimmermann, Phil. u. Erf. 18. Eine „Kritik der reinen Erfahrung'' im
Gegensatz zu Kant entwickelt Avenarius, Philos. als Denken d. Welt.
Leipz. 1876 (Vorr. IV).
[Nleht eine Kritik der Bücher.] Dieser Zusatz der IL Aufl. verdankt
seine Einschiebung dem Ausfall der Vorr. A, wo dieser Gedanke schon auf
S. VI ausgesprochen war *. Hier ist derselbe vermehrt um den wichtigen Zu-
satz, dass mit der ^ Kritik' auch eine neue Grundlage für Kritik neuer Werke
und überhaupt für kritische Geschichtschreibung der Philosophie gewonnen
sei. In diesem Sinne paraphrasirt Schmid Wort. 168: „Sie gibt neue und
* Denselben Gedanken äussert Qoethe in den „Sprüchen in Prosa **: Jungen
Künstlern empfohlen: „Kant hat uns aufmerksam gemacht, dass es eine Kritik
der Vernunft gebe, dass dieses höchste Vermögen, was der Mensch besitzt, Ursache
habe, über sich selbst zu wachen. Wie grossen Vortheil uns diese Stimme ge-
bracht, möge Jeder an sich selbst geprüft haben. Ich aber möchte in eben dem
Sinne die Aufgabe stellen, dass eine Kritik der Sinne nöthig sei" u. s. w. Eine
„Kritik des gemeinen Menschenverstandes'* verlangt Goethe in den „Maximen u.
Ketlexionen% 7. Abschn. Kant wollte dieselbe schon 1765 geben. Vgl. oben S. 121.
In ähnlicher Weise will Montgomery, Mind IV, 200 an die Stelle der Kantischen
Hauptfrage die Frage setzen : How are aynthetical sensatiofts .... poasible ?
* Vgl. oben S. 122 f. (Ganz anders im Jahre 1765 oben S. 121.) Aehnlich
Descartes (vgl. oben 237) und Hume. — Ursprüngliche, kürzere Form des Zu-
satzes bei Erdmann, Nachtr. S. 15 (IX).
478 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
B 27. [B 710. H 50. E 66.]
wichtige Gesichtspunkte an, aus denen ein künftiger Geschichtschreiber der
Phil, seinen Vorrath von Zeugnissen und Materialien zweckmässiger über-
sehen kann, mn nicht bloss Geschichte individueller Ueberzeugungen einzelner
Männer und Schulen, sondern eine pragmatische Geschichte des Ganges mensch-
licher Vernunft und des Erfolges ihrer speculativen Bemühungen zu liefern.*
Derartige Gesichtspunkte gibt E. in dem Schlussabschnitt der Kritik ^Die
Geschichte der reinen Vernunft" an. Und einen eigenen Versuch einer
derartigen pragmatischen Behandlung der bisherigen Philosophen von dem
Standpunkt der Kritik aus gibt K.; abgesehen von einzelnen historischen
Winken , die in der ganzen Kritik und in den Pf oleg. zerstreut sind — be-
sonders am Schluss der Schrift gegen Eberhard, Entdeckung Res. I,
478 ff., wo er seine, vom objectiv-historischen Gesichtspunkt aus sehr anfecht-
baren Interpretationsversuche der Leibniz'schen Philosophie mit der Be-
merkung schliesst, die Kritik der r. V. sei „der Schlüssel aller Auslegungen
reiner Vernunftproducte aus blossen Begriffen", während die bisherigen
Historiker ohne diesen Leitfaden ihre Autoren nicht verstanden haben. Eine
ebenso historisch bedenkliche Auslegung gibt Kant von P 1 a t o n s Liehre in
der Schrift gegen Schlosser (Von einem vornehmen Ton u. s. w.). Vgl.
Metaph. 6 f.: Die Systeme der Phil, als Geschichte des Gebrauchs unserer
Vernunft und Objecte der Uebung unserer kritischen Fähigkeiten.
Aehnlich Fortschr. K. 166 R. I, 564: Es wird nun möglich, zu beurtheilen.
wie „der reelle Besitz zu einer Zeit oder in einer Nation sich zu dem in
jeder andren, imgleichen zu dem Mangel der Erkenntniss, die man in ihr
sucht, verhalte, und da es in Ansehung des Bedürfnisses der reinen Vernunft
keinen Nationalunterschied geben kann, an dem Beispiele dessen, was in
einem Volke geschehen, verfehlt oder gelungen ist, zugleich der Mangel oder
Fortschritt der Wissenschaft überhaupt zu jeder Zeit und in jedem Volke
nach einem sicheren Maasstab beurtheilt werden und so die Aufgabe als
eine Frage an die Menschenvernunft überhaupt aufgelöst werden kann.*' Vgl.
besonders oben S. 26 f. 36 f.
Der Erste, der die kritischen Gesichtspunkte auf die Geschichte an-
wandte, war Reinhold in seinen Briefen, bes. VII und VIII. Einen be-
achtenswerthen Versuch der Anwendung auf die griech. Pbiilos. machte
Maimon in dem Anhang zu Bartholdy's Uebersetzung von Bacons Novum
Organon 1793 S. 167—216. Später schrieben besonders Tennemann und
Buhle Geschichte der Phil, vom Kant'schen Standpunkte aus. Die Ver-
dienste der K. 'sehen Eintheilung in Dogmat., Skeptic, Kritic. für die Ge-
schichtschreibung würdigt bes. P a u l s e n , Entw. 98 f. Vgl. oben S. 26.
Auf Kant zugespitzte Darstellungen der Geschichte der neuern Philosophie
sind sehr häufig; besonders Rosenkranz, J. Erdmann, Fischer, dann Riehl,
Cantoni, Caird in den Einleitungen zu ihren Werken über Kant, neue^ding^
Noire in M. Müllers englischer Uebersetzung der Kr. d. r. V. sind zu er-
wähnen. Kants System zum „Probirstein des philosophischen Gehalts aller
Werke'' zu nehmen, muss jedoch zu tendenziöser, unexacter und unkritischer
„Kritische** Geschichtschrei bung? „Idee" eines Systems d. r. V.? 479
[B 710. 26. H 50. E 66.] A 13. B 27.
Geschichtschreibung fuhren, besonders wenn man ältere Philosophen ä tont
prix als Vorläufer Ks. und seines Kriticismus darstellen will.
Herbart, Eantrede von 1811, S. 8 ff. meint: Kant habe damit nicht
bloss für seine Zeit, sondern für alle Jahrhunderte gearbeitet, dass er nicht
die Widersprüche bisheriger Metaphysiker , sondern die Met. selbst fasste;
aber doch habe K. vielleicht die verunglückten Versuche seiner Vorgänger
mit der Met. selbst verwechselt. W. W. XII, 143 f. vgl. oben 122 Anm. 3.
Aehnlich äussert sich Herbart auch W. W. III, 130, und in den „Reliquien"
327: Kant kritisire die vorangegangenen Systeme. Aehnlich, nur schärfer
Schopenhauer, W.W. II, 565. 571. 574—578. 587. 602 ff. und besonders
„Nachlass* 323: Der „ächte Titel" wäre eigentlich „Kritik des occidentali-
sehen Theismus". Vgl. auch Lasson, Phil. Mon. XIII, 227.
Die Idee einer Wissenschaft *• Man kann übrigens auf K. selbst an-
wenden, was er in der Methodenl. 834 sagt: „Niemand versteht es, eine
Wissenschaft zu Staude zu bringen,, ohne dass ihm eine Idee zum Grunde
liege. Allein in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar
die Definition, die er gleich zu Anfange von seiner Wissenschaft gibt, sehr
selten seiner Idee" u. s. w. Das trifft vollständig zu, wenn man daran denkt,
dass K. über die Aufgabe der Kritik und Transsc.-Phil. sich hier und sonst
so schwankend äussert und seine versprochene Metaphysik nicht lieferte.
ArehitelLtonisch. System« Idee. lieber Architektonik als streng
wissenschaftliche Baukunst der Erkenntniss oder „Kunst der Systeme"
A 832 ff. u. oben 233 ad „Gebäude". Das Beiwort „architektonisch"
gebraucht K. mehrfach, es steht im engsten Zusammenhang mit dem Ausdruck
System, mit dem es zusammen zu erörtern ist : Die Architektonik ist
die Kunst systematischer Vereinheitlichung der Erkenntniss. Ein
System ist die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee.
Die Idee ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, sofern durch
denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl als die Stelle der
Theile unter einander bestimmt wird. Es entsteht dadurch Sicherung der
Vollständigkeit, und die schon in der Vorrede erwähnte Articulation,
welche bedingt, dass wesentliche Vollständigkeit so erreicht wird, dass kein
äusserer Zuwachs mehr stattfinden kann; cfr. 644 ff. Anhang „über den
regulativen Gebrauch der Ideen". (Vgl. zu Vorr. A, XIII.) Aus dem Princip
des in der Idee enthaltenen Zweckes entspringt a priori eine Mannigfaltig-
keit und Ordnung der Theile, welche architektonische Einheit aus-
macht. Nur architektonisch, durch Ableitung von einem einzigen obersten
und inneren Zwecke, kann Wissenschaft entspringen, wo das Ganze von
allem Anderen sicher und nach Principien (s. zu Vorr. A, VI) unterschieden
ist. Der Gegensatz ist die technische Einheit, welche bloss empirisch und
somit zufällig entsteht. [Ebenso gibt es eine architektonische Auf-
' Das „nur^ der Aufl. A ist wohl weggelassen, weil in der Kritik schon das
Meiste gethan ist, die die „vollständige Idee^^ der Transsc.-Phil. ist , unten A 14.
480 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
A 13. B OT. [B 26. 27. H 50. K 66. 67.]
merksamkeit, welche aus der richtig gefassten Idee des Ganzen das
Einzelne durch Ableitung ins Auge fasst (Kr. d. pr. Y. Vorr. 18). ,Archit.
Verknüpfung* Kr. 319. Da die Vernunft ihrer Natur nach das Vermögen
der Erkenntnisse a priori ist, so ist sie auch ihrer Natur nach archi-
tektonisch und hat ein arch. Interesse, das nicht empirische, sondern
reine Vernunfteinheit a priori fordert Kr. 474.] — - Mellin I, 354 erlftatert
die Stelle so: der Plan ist architektonisch d. h. die Kritik »gibt aus einem
Vernunftprincip, nämlich, dass ein sehr wichtiger Theil unserer Erkenntniss
aus dem Erkenntnissvermögen selbst hervorgeht, und dass die Nothwendig-
keit der ganzen Erfahrung sich darauf gründet, den Plan zu einer Wissen-
schaft von den Erkenntnissen, die unmittelbar aus dem ErkenntnissvermOgen
erzeugt werden, oder von der Möglichkeit, dem Umfang, der Vollständigkeit
und Gültigkeit solcher Erkenntnisse, die bei der Erzeugung der Erfahrung
derselben jederzeit vorhergehen und zu Grunde liegen, und daher Erkennt-
nisse a priori heissen." — Fortschr. K. 166 (R. I, 564): ,Durch die Idee
einer Metaph. wird zugleich a priori bestimmt, was in ihr alles anzu-
treifen sein kann und soll, und was ihren ganzen möglichen Inhalt ausmacht^*'
Logik § 3. Ferner bes. Ros. I, 612 und Krit. A 57. 64 f. 67 über .Idee'
und »Plan*, auch oben 91, 124. 143 f. 149. 153 f. 336 u. ö.
Da die Transsc. Philos. erst auf die Kritik folgen soll, ist es con-
sequent, dass Kant in der 2. Aufl. die Ueberschriften : »Idee* und .Ein-
theilung der Transsc.-Phil.* (vgl. oben 159) wegliess, zumal auch A 10 von
einer „Idee** der Kr. d. r. V. die Rede war, oben S. 450; auch nach S. 336
oben ist die Kr. d. r. V. selbst schon eine Wissenschaft, hier nur der Plan
zu einer solchen; (es wäre daher gut gewesen, wenn K. seinen bei Erd-
mann, Nachtr. 12 mitgetheilten Entwurf darin ausgeführt hätte, über diesen
^^Zweck** der Kritik einen abgesonderten Abschnitt einzufügen). Im ersteren
Falle ist sie mit Transsc.-Philos. identificirt, im letzteren nur ein Theil der-
selben, also wieder das unangenehme Schwanken. Nach Vorr. B ist die
Kritik der ganze ,Vorriss" zum System der Metaphysik. „Fortschr." R. I,
553, K. 157 heisst es ganz ähnlich: „die Metaphysik ist hierbei selbst nur
die Idee einer Wissenschaft als System, welches nach Vollendung der
Kr. d. r. V. aufgebaut werden kann** u. s. w. Damach fallen Metaphysik
und Transsc.-Phil. zusammen. Wie schon bemerkt, stimmt das nicht zu
anderen Stellen. — Vgl. Zimmermann, Ks. math. Vor. 19 f.
[8ie ist das System,] Den Satz: Sie ist das System u. s. w. beziehen
die Krit. Briefe 64 auf »Kritik* und zeigen das Schwankende der Dar-
stellung des Verb, von Krit. und Transsc.-Phil. Aber die Beziehung auf
Transsc.-Phil. ist wohl richtiger. Allerdings fährt K. fort: »diese Kritik':
allein jener Satz ist Einschiebsel der 11. Aufl., woraus sich die grammatische
Ungenauigkeit erklärt.
Analjsis und Ableitung. Schon S. 150, zur Vorr. A, wurde bemerkt,
dass diese beiden Stücke in der Kritik noch nicht gegeben werden. A 64 f.
u. 80 f. lässt sich K. des Näheren aus über die Ableitung der secundären
Verliältnifis der Kritik zum System. 481
[B 26. 27. H 50. 51. E 67.] A18.14.B27.28.
Begriffe ans den Stammbegriffen. lieber die wenig davon verschiedene
Analjsis 204. Prol. § 39 Anm. sagt K., wenn man diese Ableitung und
Analjsis vollständig ausführe, ,,so wird ein bloss analytischer Theil der
Metaphysik entspringen, der noch gar keinen synthetischen Satz enthält, und
vor dem zweiten (synthetischen) vorhergehen könnte, und durch seine Be-
stimmtheit und Vollständigkeit nicht allein Nutzen , sondern vermöge des
Systematischen in ihm noch überdem eine gewisse Schönheit enthalten würde/
Ein System solcher analytischen Sätze nannte man schon vor K. „philo-
Sophia definitiva^j vergl. das so lautende Buch von Baumeister
(1735 u. ö.); K. selbst gebraucht diesen Terminus, Proleg. § 4: „Wenn man
die Begriffe a priori, welche die Materie der Metaphysik und ihr Bauzeug
ausmachen, zuvor nach gewissen Principien gesammelt hat, so ist die Zer-
gliederung dieser Begriffe von grossem Werthe; auch kann dieselbe als ein
besonderer Theil (gleichsam als phüosophia definUiva), der lauter analytische
zur Metaphysik gehörige Sätze enthält, von allen synthetischen Sätzen, die
die Metaphysik selbst ausmachen, abgesondert vorgetragen werden. Denn
in der That haben jene Zergliederungen nirgend anders einen beträchtlichen
Nutzen, als in der Metaphysik, d. i. in, Absicht auf die synthetischen Sätze,
die aus jenen zuerst zergliederten Begriffen ' sollen erzeugt werden.^ In den
Met. An f. der Natur w. Vorr. legt K. einen grossen Werth auf die
Analysis des Begriffes der Materie und erklärt dies für ein , Geschäft
der reinen Philosophie". Vgl. Lambert's Brief an Kant v. 13. Nov. 1765
finis. lieber Analysis in der Phil. vgl. die diesbezüglichen Schriften über
eine darüber gestellte Preisaufgabe der Berliner Academie von Beinhold
1805, Franke, 1805, Mangras 1808, Hoffbauer 1810 und Bardili's
Schüler in dessen 2. Heft der Phil. Elem.-Lehre 1806.
Aber diese Wissensehaft noch nicht selbst. Eine ganz andere Dar-
stellung des Verhältnisses von Kritik und Transscendental-Philos. gibt Beck
in seinem Auszug I, 6 u. 7. Nach ihm geht die Kritik weiter als die
Transsc-Phil., und begreift diese in sich. Nach ihm ist nämlich die Kritik
bis zur Analytik identisch mit Transsc-Phil. Von da an werde sie eigentlich
Kritik der reinen Vernunft im engeren Sinn. Wenn auch diese Darstellung
der K. 'sehen widerspricht, so deckt sie doch eine Schwierigkeit in der letzteren
auf. Nach K. ist Transsc-Phil. ^das System aller Principien der reinen
Vernunft." Wenn man nun hierunter die eigentliche nach K. mögliche
Metaphysik, insbesondere die Analytik* versteht, so würde allerdings die
Kritik weiter gehen. Aber auch wenn man das Princip des Unbedingten
noch zu jenen Principien rechnet, so gehört doch die eigentliche Kritik der
^ Insofern heissen diese Begriffe wohl oben A 13 und unten A 14 nPi*ii^~
cipien der Synthesis a priori". Insofern passte oben 469 der Text A „Begriffe"
besser zum Kachfolgenden.
' Die Aesthetik gehört auch zur Transsc-Fhilos., dann fällt freilich letztere
nicht mit dem System, sondern eher mit der Kritik zusammen. Vgl. oben S. 881.
Yaihlnger, Kmt-OommentMr. 31
482 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Abschn. VII.
A 14. B 28. [E 27. H 61. K 67.]
Irrthümer nicht in das System selbst herein '. Beck hat also Recht mit
seiner Auffassung, dass Kritik in diesem Sinne weiter, nicht enger als Transsc.-
Philos. ist. Nur ist daran zu erinnern, dass K. selbst der Kritik insofern
dieses weitere Ziel steckt, als er oben sagt, dass sie der Doctrin als be-
richtigende Disciplin vorhergebt. Somit ist die Kritik enger als Transsc.-
Phil., insofern sie in Ableitung und Analysis nicht soweit geht wie diese*;
sie ist aber auch weiter als dieselbe, als sie (in der Dialektik) die Irr-
thümer der bisherigen Methode eingehend aufdeckt, was nicht in die eigent-
liche Transsc.-Phil. gehören würde. Das Verhältniss von Kritik und Transsc.-
Phil. wird also aus dem von K. Gesagten nicht recht klar. Diese Verwirrung
von Kritik der r. V. und Transsc-Phil. bemerkten schon die Krit. Briefe
62 ff. und zeigten bis ins Einzelste die inneren Inconsequenzen dieses Ab-
schnittes in dieser Hinsicht. „Soll ein wirklicher Unterschied da sein, so
muss die Kritik sich mit den Principien der r. V. beschäftigen, und
die P h i 1 0 s. die Anwendung dieser Principien auf die Gegenstände der
Vernunft einschliessen." Jenes wäre Logik, dieses ein System von
Wahrheiten, das nach den Regeln der Logik zu errichten ist. Sehr gut
weist alle jene Inconsequenzen im .Detail auch nach Grapengiesser,
Aufg. der Vernunftkr. 19 ff. Derselbe findet den Grund dieser Verwirrung
in der irrigen Meinung Ks., als sei die Transsc.-Phil. wesentlich eine andere
Erkenntnissart, als die der Kritik der Vern., nämlich a priori. Die Aende-
rungen der II. Aufl. sollen die Meinung zerstören, als hätte K. noch nicht
Alles gegeben. (Die letztere Erklärung ist offenbar falsch, die erstere ist
unklar.) Fries habe erst Klarheit in die Sache gebracht. Nach ihm sei
Metaph. das System unserer philos. Erkenntnisse. Die Krit. der V. aber
sei die alleinige Begründerin der Philos. , und darum gehöre zu ihr die
Transsc.-Phil. als Theil, welche speciell die Berechtigung apriorischer EJrkennt-
niss nachweise. Als einen unterschied der Kritik und der Transsc-Phil. gibt
dagegen Schulze Krit. I, 190 im Sinne Ks. noch an, dass jene sich mit
der Bestimmung der Realität der Erkenntnisse a priori befasse. Man
erkennt hieraus das Schwankende aller dieser Termini bei Kant.
Dass die Erkenntnlss a priori völlig rein sei. Nachdem Kant von
seinem Zwecke die blosse Analysis der Begriffe ausgeschieden hat,
scheidet er hier ferner das Empirische aus. Ausser dem folgenden Beispiel
vgl. Aesthetik 41, wo K. die Bewegung als empirisch aus seiner Theorie
des Apriori ausschaltet. Es handelt sich also im Gegentheil nur um Syn-
th e s i s und zwar um rein -apriorische im strengsten Sinne, lieber dieses
^ Wie auch faciisch Jacob, Log. u. Met. S. 356 und 379 scharf trenn t, indem
er das Eine zur kritischen Zergliederiing = pos. Theorie, das Andere zur kriu
Ben rt heil ung = Disciplin rechnet.
^ Kant schwankt auch darin, ob die Kritik diese synthetische Erkenntnlss
schon gebe oder erst vorbereite — in dem ganzen Abschnitt VH herrscht eben
bis ins Kleinste hinein eine grosse Unklarheit. Vgl. noch A 152.
Aussohlnss der Moral aus der Transscendentalphilosophie? 483
[R 27. 71L H 5t K 67. 68.] A 14. 15. B 28.
völlig reine Apriori s. oben S. 195 f. 211 f. Ebenso ist es in der Krit. der
prakt. Vem. 45 , wo keine sinnlichen Antriebe beigemischt sein dürfen,
9 sowie das mindeste Empirische als Bedingung in einer mathematischen
Demonstration ihre Würde und Nachdruck herabsetzt und vernichtet.* Dass
K. alles Empirische aus seiner kritischen Betrachtung ausschliessen wollte,
tadeln lebhaft ßeinhold (jr.) Theorie d. Erk. § 25, Spicker, Kant 16. 20.
Die Omndsfttze der Moralität gehören nleht In die Transscendental-
pliilosoplile. Dasselbe bemerkt Kant auch in der Methodenlehre 801, wo
er von der Moral spricht als einem der Transsc.-Philos. „fremden Gegen-
stand* und in einer Anm. hinzufügt, dass alle praktischen Begriffe auf
Gegenstände des Wohlgefallens und Missfallens d. i. der Lust und Unlust,
also auf „Gegenstände unseres Gefühls" gehen; das Gefühlsvermögen gehöre
aber nicht zur Erkenntnisskraft, mithin nicht in den Inbegriff der Transsc-
Phil., „welche lediglich mit reinen Erkenntnissen a priori zu thun hat* ; cfr.
343 und besonders 569, (wo schon Uebergang zum Folg. stattfindet). Vgl.
Vorr. zur Krit. der prakt. Vem. 18 Anm. Bemerkenswerth ist nun
die Version der 11. Aufl., welche den Uebergang bildet zu der späteren
Auffassung, nach welcher auch die moralischen und ästhetischen, ja sogar
die juridischen Urtheile in die Transsc.-Philos. gehören, wie oben S. 364
festgestellt wurde. Diese Aenderung ist der unterdessen eingetretenen Be-
schäftigung Kants mit der Moral zuzuschreiben ' und es geht ihr die unten
in der Einl. zur Aesth. getroffene Aenderung in der 11. Aufl. in Bezug auf
die Aesthetik ganz parallel, \^lche auch in der I. Aufl. aus der Transsc-
Phil. ganz ausgeschlossen, aber dann doch wieder in der II. in sie zuge-
lassen wurde '. Man kann indessen auch wohl zwei Bedeutungen von
Transsc.-Phil. annehmen, eine engere und eine weitere. In dem weiteren
Sinne will auch Buhle seinen „Entwurf der Transsc.-Phil.* 1798 ver-
standen wissen. (Vorr.) Aehnlich schliesst K. aus der Metaphysik die
Moral aus; Fortschr. K. 100 B. I, 490: „Sie enthält keine praktischen
Lehren der reinen Vernunft , aber doch die theoretischen , die dieser ihrer
Möglichkeit zum Grunde liegen.*' Vgl. hierüber schon den Brief* an Herz
aus dem Jahre 1773 („die obersten praktischen Elemente sind Lust und
* Vgl. Erdmann, Ks. Kritic. 171 über die „kleine Differenz".
* Kr. d. Urth. § 29: Die Modalität der Geschmacksurtheile ist Nothwen-
digkeit. Diese „macht an ihnen ein Princip a priori kenntlich und hebt sie
aus d«r empirischen Psychologie . . . um sie in die Klasse derer zu stellen, welche
Princlpien a priori zum Grunde haben, als solche aber sie in die Transscendental-
philosopliie herüberzuziehen*'. Ib. § 29 Anm.: „Die empirische Exposition der
ästhetischen Urtheile mag immer den Anfang machen, so ist doch eine transscen-
dentale Erörterung dieses Vermögens möglich; denn ohne dass der Geschmack
Principien a priori hätte, könnte er unmöglich die Urtheile anderer richten" u. s. w.
ib. Einl. VIl ausführlich und bes. Anthrop. § 65. 66.
' Anders freilich schon im Briefe an Herz von 1772, wo die „intellectuelle
praktische Erkenntniss" zar Kr. d. r. V. gehört. Vgl. A 54. 841. — Der Gedanke
484 Oommentar ssur Einleitung A, S. 10—16 ^ B, Abschn. VII.
A15.16.B28.29. [B 27. 28. H 61. E 67. 68.]
Unlust, welche empirisch sind.**) [Dass sie auch nicht mathematische Sätze
enthalte, darüber s. oben S. 379 f.] Aus der Transscendentalphilosophie sind
auch alle empirischen Begriffe der Natur ausgeschlossen , z. B. Materie
s. Einl. zu den Met. Anf. d. Naturw. und besonders Bewegung und V e r-
änderungs. Aesth. 41. Das würde „die Einheit des Systems verletzen* 171.
Die Be^lffe der Lust und Unlust. Grapengiesser, Aufg. der Ver-
nunftkritik 30 legt hier Werth auf den Unterschied von „Begriffen*, die nicht
(als empirische) hereinkommen sollen, und von völlig reiner „Erkenntniss^:
Empirische Begriffe machen ein reines Erkennt niss nicht empirisch. Dieser
Einwand ist identisch mit dem oben (vgl. S. 213) gemachten und hebt sich
von selbst dadurch, dass K. eben noch eine genauere Distinction aufstellt
zwischen völlig reiner und nicht ganz reiner, gemischter Erkenntniss a priori.
Ueber den Ausschluss der Neigung hier vgl. Bachmann, Philos. m. Zeit 74.
Die EintheiluDg dieser TVissenschaft. Die Erit. Briefe 67 beziehen
dies auf Transsc.-Phil. „nach dem Zusammenhang'. Die Beziehung auf Küt-
d. r. V. ist aber geboten durch das Sätzchen: die Wissenschaft, welche wir
jetzt vortragen. Dagegen ist im Folgenden wieder von der Transsc.-Pbil.
die Rede. Somit ist die Beziehung wohl so zu fassen: diese Wissenschaft
d. h. die Transsc.-Phil., deren synthetischen Theil die Kritik der r. V. be-
handelt. Tissot, 57 übersetzt „science de la raison pure", , Kritik* setzen
Schmidt-Phiseldek 19, Meilin, Marg. § 33, und Born 22.
Elementarletare und Methodeoletare. Das Nähere über diese Eintheilnmg
siehe am Beginn der Methodenl. S. 707 IF. Die Elem.lehre behandelt die
Materialien der reinen Vernunft , die Methodenlehre die formalen
Bedingungen ihrer Verbindung zu einem vollständigen System der reinen
Vernunft. Die erstere bringt das Bauzeug zusammen und grenzt es ab,
die zweite stellt den Plan zu dem neuen Gebäude fest (was aber f actisch
nicht der Fall ist). Dieselbe Eintheilung hat die Kritik der prakt. Ver-
nunft; dagegen nicht die Kritik der ästh. Urtheilskraft (§ 60), wohl
aber die der teleologischen. Hamann, in seiner Becension (Reinhold,
Beitr. 1801 , II, 209 = W. W. VI, 50) sagt, diese Eintheilung finde statt
nach Maassgabe des Bestimmbaren und seiner Bestimmung, wohl mit
ironischem Bezug auf Kr. 266. Riehl 300 bemerkt richtig, diese Grundein-
theilung sei die gebräuchliche der Logik; daher die Kritik eben als eine
Logik des Erkennens aufzufassen sei. Man vgl. Kants Logik Einl. 11 und
§ 94 ff. Daraus, aus Krit. 708, Kr. d. pr. V. 269 ergibt sich, inwiefern die
Eintheilung „aus dem allgemeinen Gesichtspunkte eines Systems überhaupt*
gemacht ist: für das aufzustellende System der reinen Vernunft
bedarf es, wie för jede andere Wissenschaft 1) Material, 2) Methode. Damit
deckt sich die Ausführung freilich nicht ganz, ausserdem ist die Kritik d. r. V.
als Ganzes eine Methodenlehre (Vorr. B XXII u. bes. A 83.)
in der II. Aufl., dass das Empirische das zu überwindende Hindemiss sei, wurde
später der Grundgedanke der ethischen Metaphysik Fichte's.
Die Eiiitheilungsgründe der Kritik d. r. V. 485
[B 28. H 51. 62. E 68.] A 15. B 29.
Grttnde der UuterabtheiliiDgeii« Der Grund der Haupteintheilung wurde
eben angegeben; die »hier noch nicht vorgetragenen Gründe** der Unter-
abtheilungen sind theils psychologische, theils logische, theils meta-
physische. Das folgt auch aus der ^Idee des Ganzen**, welche (vgl. ob. 451.
479) die Eintheilung im Einzelnen a priori bestimmt. Diese Idee ist: Eine
Untersuchung der Erkenntnissvermögen zum Zweck einer Methodo-
logie für immanente Vernunfterkenntniss und einer Disciplin für die trans-
scendente Metaphysik. Vgl. ferner oben S. 371 ff. über die Vertheilung
der vier Fragen nach den Wissenschaften auf die Theile der Kritik; über
die Combination letzteren Gesichtspunktes mit dem psychologischen s. Wolff,
Specul. I 110, Windelband, Gesch. II, 55. Den psychologischen Gesichts-
punkt setzt Riehl I, 206. 212. 809 u. bes. 300 viel zu sehr hinter den
logischen als bloss , subsidiär** zurück. Vgl. bes. ferner unten 493 f. Vgl.
auch Caird, Kant 189. 222.
Zwei Stämme ans Einer Wurzel. Mit dieser Eintheilung deckt sich nur
dem Wortlaut nach die Eintheilung auf S. 835, wo K. „die Architektonik
aller Erkenntniss aus reiner Vernunft entwerfen will und von dem Punkte
anfängt, wo sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntnisskraft theilt und
zwei Stamme auswirft, deren Einer Vernunft ist.* Denn K. fdhrt fort: „Ich
verstehe aber hier unter Vernunft das ganze obere Erkenntnissvermögen
und setze also das Rationale dem Empirischen entgegen.** Zu dem Rationalen
gehört aber dort auch die mathematische Erkenntniss, und diese hängt
von der reinen Sinnlichkeit ab, die eben ihrerseits zu jener Vernunft
im weiteren Sinne gehört. An jener Stelle wird das Rationale dem Empiri-
schen entgegengestellt, hier aber Verstand der Sinnlichkeit; innerhalb
dieser beiden theilt sich aber nun erst wieder das Rationale vom Empi-
rischen ab. — Das Bild des „Stammes** z. ß. auch 842. „Stammbaum* des
r. Verstands 82. „Stajnmbegriffe** B. 111. „Stammleiter der Vernunftbegriffe **
299. (Vgl. oben 150; auch 97.)
Gemeinschaftliche^ aber uns unbekannte Wurzel« Diese Stelle wurde und
wird von den Fortbildnern der K.'schen Philos. häufig angeführt, insofern
dieselben diese gemeinschaftliche Wurzel gefunden haben wollten. Zu dem
Wörtchen „vielleicht** bemerkt der Hegelianer Erdmann, Entw. HI, 1. 52,
,es zeigt, wie sehr K. die Aufgabe ahndete, zu deren Lösung die Philosophie
seiner Zeit berufen *.** Vgl. ib. 419, „aber er gibt sich keine Mühe weiter,
die gemeinsch. Wurzel zu finden, ja mit einer Art Verdruss spricht er sich
gegen Reinhold über dessen Versuch aus, weiter aufwärts zu gehen und ein
gemeinschaftliches Fundament von Sinnlichkeit und Verstand zu suchen.**
Um zum vollen Verständniss der historischen Tragrweite dieser berühmten
Stelle zu gelangen, sehe man nach, was derselbe femer a. a. 0. 415. 418-— 422.
494—496. 500. 517. 534—536. 555—557 über die Bestrebungen von Rein-
' üeber das „vielleicht" vgl. L e w e s , Gesch. der Phil. I, Prol. § 61. Falsch
übersetzt Meiklejohn: „prohably*' statt „perhaps". Vgl. Mahaffy, Comm. 4.
486 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Absclin. VII.
A 15. B 39. [B 28. H 52. E 68.]
hold, Beck und Maimon, sowie von Fichte sagt, diese „Wurzel" auf-
zufinden. Eine vortrefiPliche Ergänzung dazu bilden die Bemerkungen Fischers,
Gesch. V, 10. 15. 20 über den Einfluss dieses , bedeutsamen Wortes" auf
die spätere Identitätsphilosophie. Dazu vgl. man Michelet, Letzte Sy-
steme I, 51. Thilo, Gesch. d. Phil. 2. A. II, 247 ff. 298 f. (K. habe auch
das Mittel angedeutet, um jene Wurzel zu finden: den intuitiven Verstand).
Sigwart, Gesch. III, 41. 60. Besonders auch Windelband, Gesch. II, 79
(161. 164). 203.
Nach Holder, Ks. Erk. 4, vgl. S. 18, 46 ff., 70 ff. hat Kant, ohne es
ausdrücklich auszusprechen, selbst die Einbildungskraft als diese gemein-
same Wurzel aufgefunden. Dass das der Fall ist, geht aus manchen Stellen
der Kritik hervor z. B. A 78, wo er die Einb. eine „blinde obgleich unent-
behrliche Function der Seele nennt, ohne die wir überall gar keine Erkennt-
niss haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewusst sind. ^ Vgl.
A. 110. 123 und bes> B 151. 152, wo von der Einb. ausdrücklich gesagt ist,
sie gehöre theils zur Sinnlichkeit, theils zum Verstände, sie sei sowohl
passiv als spontan. Vgl. hiezu Anhang zur Dial. S. 649: Man müsse
anfängüch so vielerlei Kräfte annehmen, als Wirkungen sich hervorthun.
Man müsse jedoch diese anscheinende Verschiedenheit so viel als möglich
verringern, die versteckte Identität hervorsuchen. Einbildung liege viel-
leicht gar dem Verstand und der Vernunft zu Grunde. Man müsse also
nach der gemeinsamen Grundkraft ^ suchen. Vgl. zu der später ausfuhrlich
zu besprechenden Frage der Berechtigung dieser Scheidung vorläufig J. B.
Meyer, Kants Psychol. 73 ff. 175. Cohen, Th. d. Erf. 164 (auch 137. 146)
(gegen Meyers Meinung, die „Seele" sei jene gemeinsch. Wurzel). Thiele,
Ks. int. Ansch. 7. Jahn, Ueb. die K.'sche Unterscheidung von Sinn, Ver-
stand und Vernunft. Jena 1875. Spicker K. Hume und Berk. 16. 20. 28.
Dass diese Wui*zel die Einbildungskraft sei, ahnte auch Jacobi, Unt. d.
Krit. Reinh. Beitr. 1801 3. 9. 23. 28. (W. W. III, 70- ff.)
Diesen dualistischen Gegensatz von Sinnl. und Verst. suchte zuerst
Fichte dahin aufzulösen , dass er behauptete , es werde überhaupt nichts
von Aussen gegeben, weder halb noch ganz, sondern alle Objecte werden
von uns selbst gemacht. Journal 1797 I, 40. Vgl. die Einleitung zur
Wissens ciaftslehre'. Auch Fries suchte nach dieser gemeinsamen
. * Aehnlich Eberhard, N. Th. d. Denkens und Empfindens 1776, bes. S. 17.
23. 30 u. ö., worauf K. offenbar anspielt. Jene Schrift war Beantwortung einer
von der Academie gestellten (auch von Herder beantworteten) Preisfrage. Auch
bei Teten 8 finden sich ähnliche Stellen. Die Bestrebungen, für Sinnlichkeit und
Verstand eine gemeinsame Wurzel zu suchen (also nicht Eins auf das Andere xn
reduciren), sind somit schon vor Kant dagewesen.
« Vgl. Fichte, W. W. II, 106. Nachg. W. II, 104. III, 350 (wichtige Stellen).
Dazu Trendelenburg , Rede auf F. 7 f. u. besonders Löwe, F. 10 f., auch Thüo
a.a.O. 298 f. — Baader, W. W. XI, 227. Sengler, Specul. Philos. 61 (die
Wurzel sei die Freiheit),
Die ^gemeinschaftliche Wurzel" von Sinnlichkeit und Verstand. 487
[B 28. H 52. E 68.] A 15. B 29.
Wurzel und glaubte sie in dem Begriff der ,receptiven Spontaneität** zu
finden. Cohen sucht (a. a. 0. 83) diese Stelle dafür auszubeuten und dahin
auszudeuten, dass die transsc. Aesthetik ohne die transsc. Logik nicht zu
verstehen sei. K. habe doch selbst nach dieser „gemeinsch. Wurzel" gesucht;
sie habe ein Motiv seines Denkens abgegeben. Und es sei nicht denkbar,
«dass wir die Lehre vom Gegebensein der Vorstellungen verstehen
sollten, ohne Hinzunahme der Lehre von dem Gedachtwerden der-
selben." Cohen a. a. 0. 168 findet es richtig, dass K. hier von zwei
Stummen und einer gemeinsch. Wurzel redet, während er sonst
den Ausdruck gebraucht , Sinn und Verstand seien zwei Quellen; (z. B.
A 50, ,zwei Grundquellen " 271); hier fehle das Gemeinschaftliche. Lange,
Gesch. d. Mat. II, 31 f.: „Heutzutage kann diese Vermuthung bereits als
bestätigt angesehen werden; nicht durch die Herbar tische Psychologie oder
die HegeTsche Phänomenologie des Geistes, sondern durch gewisse Experi-
mente der Sinnesphysiologie, welche unwidersprechlich beweisen,
dass schon in den anscheinend ganz unmittelbaren Sinneseindrücken Vor-
gänge mitwirken, welche durch Elimination oder Ergänzung gewisser logischer
Mittelglieder den Schlüssen und Trugschlüssen des bewussten Denkens auf-
fallend entsprechen." L. tadelt dann K., dass er nicht in der Einheit von
Sinnlichkeit und Denken die Lösung des Problems gesucht habe, dass er
trotz der Bestimmung, dass beide zusammenwirken, doch in platonischer
Weise noch an einem reinen, von aller Sinnlichkeit freien Denken festge-
halten habe. Dieser Vorwurf gegen K. , wie der obige Ergänzungsversuch
unterliegen gleichstarken Zweifeln, jener ob er gerecht, dieser ob er im Sinne
Kants sei. Vgl. Quäbiker, Krit. phil. ünt. I, 12, wo auch die „moderne
Sinnesphysiologie'' herbeigezogen wird. Dag. Jacobson, Eateg. u. ürth.
S. 25. Kirchner, Metaph. 31 f., wo auch auf die Phantasie und die
Lehre vom Schematismus hingewiesen wird. — E e h m k e , Welt als Wahrn.
und Begriff S. 320 f.: „Diese Ahnung einer gemeinsch. Wurzel menschl.
Erkenntniss möchte sich wohl bestätigen können, aber freilich durch ein
ganz Anderes und auf einer ganz anderen Seite, als wo K. suchte.** Die
crem. Wurzel sei die Wahrnehmung*.
Es ist nach den bisherigen Ausführungen sehr fraglich, ob man mit
Volkelt, Ks. Erk. 152 diese Stelle mit den Aeusserungen Kants in der
* Weitere beachtenswerthe, jedoch theil weise zweifelhafte Bemerkungen zu
dieser Stelle bei Riehl L 309. Caird, Kant 223. Stadler, Ks. Teleol. 3. Stau-
dinger, Viert, f. wies. Philos. V, 247. 252 (die Empfindung sei die Wurzel).
Femer bes. Mainzer, Einbildungskr. S. 67; Weber, Ks. Erkenntnissth. 13. 15.
16. 73 (jene Wurzel sei bei K. das sog. „Gemüth"). Kuttner, Ks. Ans. tiber d.
Materie 61. Weiteres im Gommentar zur Analytik, bes. ob die Einbildungskraft
jene „Wurzel" sei, oder nicht bloss ein „Bindeglied"? ob diese Unterscheidung
der Stämme, wie Einige meinen, bloss zum Zweck der Untersuchung in isollrender
Abstraction gemacht sei? u. s. w., welche systematische Tragweite für Kants
Erkenntnisstheorie also diese Stelle habe?
488 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 =. B, Abschn. VII.
A15. B^. [B 28. H 52. E 68.]
Krit. der Urth. zusammenstellen darf: dort spricht K. § 56 und ib.
Anm. und § 61 (R. IV, 218. 221. 246) davon, dass im Uebersinnlichen
der Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen zu suchen sei. Allein einmal
ist zu bemerken, dass a. a. 0. B. IV, 218. 246 das Beich der Dinge an
sich (ausdrücklich als das der 0 b j e c t e) als der Harmonisirungsponkt
gemeint ist, nichtdasSubject, genau wie das üebersinnliche ib.
R. IV, 14 als Einheitspunkt von Natur und Freiheit, R. IV, 275.
305 u. ö. von Mechanismus und Teleologie gefasst wird. Aehnlich
ist der Fall bei jenen beiden Stellen der Kritik A 358 ff. B 427, wo die
Identität der Noumena von Materie und Seele mit den Ausdrücken « könnt«
doch wohl zugleich* u. s. w. und, wie hier, mit „vielleicht nicht so
ungleichartig* als möglich hingestellt wird \ Wo aber, wie ürth. § 56 Anm.
(B. IV, 221) ausdrücklich „das übersinnliche Substrat aller Vermögen des
Subjects* als Einheitspunkt genannt ist, „worauf in Beziehung alle unsere
Erkenntnissvermögen zusammenstimmend zu machen, der letzte durch das
Intelligible unserer Natur gegebene Zweck ist,* da ist der Einheitspunkt
wieder ins üebersinnliche, in das Beich der Dinge an sich verlegt. Dass
aber K. hier die gemeinschaftliche Wurzel jener beiden Stämme im Ich an
sich gesucht habe, ist trotz des Ausdruckes „unbekannt* nicht anzunehmen,
da die spärlichen Andeutungen, welche sich später finden, auf die Einbildungs-
kraft hinweisen, die noch in das Gebiet der inneren Erscheinung föllt. Und
was endlich die Stelle in der Vorr. zur Grundl. z. M. d. S. (B. VIII, 8) be-
trifft, so heisst es nicht, wie Volkelt citirt, dass theor. und praktische Ver-
nunft „aus einem gemeinsch. Princip entspringen,* sondern dass „ihre Ein-
heit in einem gemeinsch. Princip müsse dargestellt werden, weil es doch am
Ende nur Eine und dieselbe Vernunft sein kann, die bloss in der
Anwendung verschieden sein muss.* Hier wird die Identität der frag-
lichen Vermögen schon vorausgesetzt; in unserem Falle handelt es
sich bloss um eine vage Vermuthung, dass Sinnl. und Verstand eine gemein-
schaftliche Abstammung haben — dass aber diese Stelle hier , wie die
eben allegirten eine monistische Tendenz Ks. überh. verrathe, ist un-
leugbar. Vgl. SmoUe, Ks. Erkenntnissth. psychol. betr. S. 11 ff.
Hamann in der Metakritik: Entspringen aber Sinnlichkeit und Verst.
als zwei Stämme aus Einer gemeinschaftl. Wurzel — „zu welchem Behuf
nun eine so gewaltthätige , unbefugte, eigensinnige Scheidung desjenigen,
was die Natur zusammengefügt hat! Werden nicht alle beiden Stämme
durch eine Dichotomie und Zweispalt ihrer gemeinsch. Wurzel ausgehen und
verdorren? Sollte sich nicht zum Ebenbilde unserer Erkenntniss ein einziger
Stamm besser schicken, mit zwei Wurzeln, einer obern in der Luft und
einer untern in der Erde? Die erste ist unserer Sinnlichkeit Preis ge-
geben, die letzte hingegen unsichtbar und muss durch den Verstand gedacht
werden, welches mit der Priorität des Gedachten und der Posteriorität des
' Pamit bringet auch Börse hke^ Locke ü unsere Stelle in Zasammenhang.
Die ffgemeinschaftliclie Wurzel^ von SiDnlichkeit und Verstand. 489
[B 28. H 58. E 68.] A15.B29.
Gegebenen oder Genommenen . . . mehr übereinstimmt/ Noch stärker
wendet sich Hamann nachher gegen diese Trennung mit den bekannten
Worten: er möchte „dem Leser die Angen öffnen, dass er vielleicht sähe —
Heere von Anschauungen in die Veste des reinen Verstandes hinauf — und
Heere von Begriffen in den tiefen Abgrund der fühlbarsten Sinnlichkeit
herabsteigen, auf einer Leiter, die kein Schlafender sich träumen lässt,
und den Beihentanz dieser Machanaim oder zwejer Yemunftheere — die
geheime und ärgerliche Chronik ihrer Buhlschaft und
Notbzucht'u. s. w.' Ln Anschluss hieran, sowie im Gegensatz zu dieser
Stelle, .und zu der Ausfuhrung Krit. S. 50 von „den zwei Gmndquellen des
Gemüths** ruft Herder (Met. I, 161) aus: «Und diese zwei Grundquellen
fliessen nebeneinander? Zwei Stämme menschl. Erk, stehen nebeneinander?
Welch Geschöpf hat denn die Natur aus zwei verschiedenen Stämmen, deren
vielleicht gemeinschaftl. Wurzel uns völlig unbekannt wäre, zusammen-
geleimet? Schon die beiden Cotyledonen der Pflanze zeigen ihre
einhellige Tendenz zum Ganzen; die Eine spriesst in die Luft, die Andere
in den Boden ; beide Sprösslinge bilden die Pflanze ... Bei T h i e r e n
streben alle ihre Empfindungen und Kräfte in Einen Instinct ; sie wissen von
keinen gesetzlichen Widersprüchen ihrer Natur aus Natur, der Natur ent-
gegen. Der Mensch allein sollte ein so zusammengeflicktes Geschöpf
sein, dessen beide Enden . . zu einander nicht gehörten?^ Vgl. die weitere
Ausfahrung ib. II, 331, wo diese Spaltung irrthümlich auf Hume zurück-
geführt wird. 9 Beide Stämme stehen wurzellos als Trauergestalten da." Von
dieser Spaltung seien alle anderen kantischen Spaltungen und Dichotomien
ausgegangen. Man hätte Kants Philos. daher nicht die „ zermalmende ',
sondern die , zerspaltende' nennen sollen. Herder weist auf die Leibniz-
schen „notiones eonfusae^ hin als Vereinigungspunkt. Bei K. aber sei „die
Seele ein Land voll Klüfte, eine traurige Mondkarte.'
Slnnliehkelt — Yerstand. Eine weitere Ausführung dieses fundamentalen
Gegensatzes s. im Anfang der Aesth. (19) und der Analytik (50). Richtig
bemerkt Erdmann Entw. III, 1, 52: „Mit der ersteren Bestimmung
trennte er sich von L e i b n i z , dem ja auch die sinnliche Erkenntniss
Product der Selbstthätigkeit war. Ebenso aber trennt er sich mit der zweiten
Bestimmung von den Engländern, welche die Begriffe nur als schwache
Spuren der Eindrücke ansehen, und also den gleichen Fehler begehen, indem
auch sie nur Eine Quelle der Erkenntniss annehmen.' Weiteres bei Fischer
274 ff.; damit scheide sich K. streng von seinen Vorgängern in beiderlei
Richtung. Man hatte die Erkenntniss der Dinge gesucht und das Vermögen
dazu vorausgesetzt , und man hatte , da die wahre Erkenntniss nur Eine
sei , vorausgesetzt , dass es auch nur Ein Erkenntnissvermögen gebe. Aus
der gemeinschaftlichen Voraussetzung von der Einheit des Erkennt-
nissvermögens gehen die entgegengesetzten Richtungen hervor, Dog-
^ W. W. VU, 10. 12. (= Rink, Manch. 128. 130.)
490 Commentar zur Einleitung A^ S. 10—16 = B, Abechn. VIL
A15.B29. [R 28. H 53. E 68.]
matismus und Euipirismos , denn von den beiden Verhaltungsweisen des
Subjects zu den Gegenständen, dem Denken und Wahrnehmen, wählt jeder
dies Eine zum ausschliesslichen Erkenntnissvermögen. Das andere
ist dann nur eine graduelle Abschwächung des Ersten, eine unvollkommene
Verdoppelung, eine quantitative Herabsetzung. Die Dogmatisten wählen den
Verstand, Sinnlichkeit ist niederer Vei-stand, der aufgeklärteste Begriff ist
die deutlichste Vorstellung. Den Empiristen ist der sinnliche Eindruck die
deutlichste Vorstellung, der Begriff nur eine abgeschwächte Wahrnehmung,
gleichsam ihre letzte Spur. Jenen ist die Sinnlichkeit ein verworrener Ver-
stand, diesen der Verstand eine undeutliche, abgeschwächte Sinnlichkeit. Aber
nach Kant unterscheiden sich beide Vermögen qualitativ. Dieser
so begriffene Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand sei die erste
Einsicht der kritischen Philosophie*. Nach § 8 der Dissertation
ist diejenige Wissenschaft eine Propädeutik zur Metaphysik, quae discrimen
docet sensitivae cognitionis ab intelleetualu Freilich ist hiebei nicht
aus dem Auge zu verlieren, dass dieser Unterschied im Jahre 1770 noch
viel bedeutsamer war als im Jahre 1781; denn damals war der Verstand
das Vermögen der Erkenntniss der Dinge an sich, die Sinnlichkeit das der
Erscheinungserkenntniss ; jetzt dient auch der Verstand nur der
Erfahrung. Daher ist auch die Betonung des Unterschiedes in der
Aesth. 42 ff. archaistisch (s. das.) Jetzt ist ebenso wichtig der Unterschied
zwischen a priori und a posteriori, und zu dem ei'steren gehört auch
die reine Sinnlichkeit neben dem reinen Verstand , so dass beide
viel mehr zusammenrücken. Fischers Darstellung ist somit durch diese
Restriction wesentlich zu ergänzen. Vgl. die Bemerkungen in der Einlei-
tung oben S. 58. Ueber die allmälige Entwicklung dieser Unterscheidung
bei Kant s. Paulsen, Entw. 87 gegen Fischer, Gesch. III, 176. 259.
Vgl. Cohen, System. Id. 17. Die qualitative Unterscheidung von Sinnl.
und Verst. balinte schon Lambert an nach Zimmermann, L. 67. 40 ff.
70. Dag. E u c k e n , Terminol. 142. Kurz aber scharf bemerkt Schwab
Preisschr. üb. d. Fortschr. d. Met. 128: „K. hat an eben denselben Klippen
gescheitert, an denen so viele Metaphysiker vor ihm gescheitert und alle
angestossen haben. Diese Klippen sind von jeher Verstand und Sinn-
lichkeit gewesen. Ohne sich in die schwerere Untersuchung einzulassen,
ob Sinnl. und Verst. wesentlich von einander unterschieden seien (welches
um so nöthiger gewesen wäre, da berühmte Philosophen z. B. Locke, Gondillac,
Helvetius, alles in der Seele auf Empfindung reduciren), nimmt er solches
als einen allgemein-geltenden Grundsatz an und baut sein ganzes System
darauf. Nun wird alles auf das genaueste bestimmt u. s. w.
Dass K. den so definitiven Unterschied hier als ungeprüfte Vor aussetzung
annimmt, wurde schon oben S. 430 bemerkt und Mrlrd bes. noch getadelt
' Weiteres über die historische Entwicklung der Unterscheidung bes. bei
Windelband, Gesch. II, 82 ff. 40 f., Riehl 208. 212, Caird, Kant 170-178.
DaaliBtischer Unterschied v. SiDRlkhkeit tt. Verstand als Voraiiesetznng. 491
[B 88. H 62. E 68.] AiS.B 29.30.
.von Löwe, Logik (1881) S. 229 f. als petUio principü (bes. dass aller Stoff
aus der Sinnlichkeit stamme), sehr scharf femer von Weber, Ks. Erkenn t-
nissth . S. 12—16, sowie treffendst von Montgomery, Ks. Erkenntnissl.
84. 96. 106 ff. u. ö., ferner von Witte, Beitr. 40 f., Rehmke, Welt als
Wahm. 318 (als platonischer Dualismus). In einem sehr beachtenswerthen
Abschnitt über „Unterstanding and Sense'^ sucht Caird, Kant 222—231
nachzuweisen, dass diese jfiasia'^ (228), die ^cwnmon Opposition'^ 225, j^the
ordinary contrast'^ 228 bloss eine vorläufige, zum Zweck der Untersuchung
propädeutisch gemachte „hypothesis'^ sei, indem es K. liebe, von der ge-
wöhnlichen, dualistischen Vorstellungsweise (219. 225) auszugehen und diese
erst im Verlaufe in ihrer Unwahrheit nachzuweisen. So gehe auch die Ein-
leitung (und die Aesthetik) von der gewöhnlichen Meinung aus, dass die
Sinnlichkeit für sich schon „Objecte gebe^, während Kant nachher zeige,
dass auch der Verstand zu diesem zu gebenden „Object" noth wendig sei.
Diese auch von Anderen (vgl. oben 432. 487) gemachte Bemerkung wird in
den folgenden Theilen genau geprüft werden.
Uns GegenstXnde gr^geben« Ueber dieses „Geben" vgl. » Entdeckung'
(Ros. 1 , 436) : „Die Gegenstände als Dinge an sich geben den Stoff zu
empirischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsver-
mögen, seiner Sinnlichkeit gemäss zu bestimmen), aber sind nicht der Stoff
derselben.* Die Krit. Briefe 67 tadeln den Ausdruck, dass die Sinnlichkeit
selbst als solche Gegenstände gebe. Der Ausdruck „durch die Sinnlichkeit
gegeben ** scheint hier allerdings diesen Sinn zu haben, nicht etwa den,
dass die Gegenstände durch das Medium der Sinnlichkeit sich uns
in anderer Form selbst geben. Letzteres ist aber die Meinung Kants, es sollte
also hinzugefugt sein, dass die Sinnlichkeit Gegenstände nur gebe, wenn sie
durch sie afficirt ist \ Vgl. Born-Abicht, Philos. Mag. II, 553 ff.
Yorstellniigen, welche die Bedln9ang(eu) ansmachen. Die Krit. Briefe
68 tadeln von ihrem Leibniz'schen Standpunkt aus , dass gewisse sinnliche
Vorstellungen selbst die Bedingungen u. s. w. sein sollen, anstatt des sinn-
lichen Vorstellungs Vermögens. Vgl. Born-Abicht, Philos. Mag.
II, 555 f.
Zur TraBsscendentalphilosophie gehören. Was in der Sinnlichkeit nicht
a priori ist, gehört somit zur (empirischen) Physiologie und Psychologie.
Dass beide Forschungs weisen schliesslich zusammentreffen sollen, spricht be-
kanntlich Schiller in folgenden zwei Epigrammen aus:
(Zu Schelling, Ideen zur Philosophie der Natur.)
Naturforscher und Transscendentalphüosophen.
Feindschaft sei zwischen euch; noch kommt das Bündniss zu frühe,
Wenn ihr im Suchen euch trennt^ wird erst die Wahrheit erkannt.
' Ueber dieses „Geben^, die Gegenstände an sich und die empirischen Ge-
genstände, und die darauf bezüglichen Controversen aiehe zu Aesthetik A 19 f.
492 Commentar zur Einleitung A, S. 10—16 = B, Absckn. VIL
A16.B30* [B S8. H 52. E. 68.]
Die voreiligen Verbindungsstifter.
Jeder wandle für sich' und wisse nichts von dem Andern;
Wandeln nur beide gerad, finden sich beide gewiss.
Zorn ersten Theile der Elementarlehre gehören. Dieser Satz lässt eine
dreifache Auslegung zu. Entweder ist die Sprechweise archaistisch zu fassen %
und der Satz heisst so viel als: den ersten Theil der El. au sm achen '.
Oder es heisst: einen Theil des ersten Theiles der Elem. ausmachen; oder
endlich könnte man ein Komma ausgefallen denken und der Satz hiesse:
zum ersten Theile, d. h. zur Elementarlehre gehören. Die letztere Auslegung
ist aber wegen des in allen Ausgaben fehlenden Kommas unwahrscheinlich,
die erste dagegen ist durch den folgenden Satz nahegelegt ', welcher erklärt,
warum die Sinnenlehre den ersten Theil der El. ausmachen muss, weil
sinnliche Anschauung dem Denken vorhergeht. Die zweite Auslegung,
obgleich grammatisch die nächstliegende, wird aber durch den folgenden
Zusatz unwahrscheinlich und kann deshalb auch nicht durch den seltsamen
Umstand gestützt werden, dass dieselbe einer Reihe anderer Stellen in der
Kritik der pr. Vem. sehr entsprechen würde *. Denn K. sagt daselbst 160
wörtlich: „Die Analytik. der theoretischen reinen Vernunft wurde in trans-
scendentale Aesthetik und Logik eingetheilt, die Logik in die Analytik der
Begriffe und Grundsätze.^ Dass man es hier nicht etwa mit einem Schreib,
fehler zu thun hat, zeigen die Bemerkungen ib. S. 159 (die Analytik geht
von der Sinnlichkeit aus) sowie 72. 31; K. stellt daselbst in der Elementar-
lehre einfach Analytik als Regel der Wahrheit und Dialektik als
Darstellung und Auflösung des Scheins einander gegenüber. Dieser enorme
Gedächtsniss fehler enthält aber andererseits eine beachtenswerthe Correctur
der K.'schen Eintheilung der Kritik d. r. V. Die Eintheilung in der Kritik
der prakt. Vernunft ist systematisch betrachtet durchsichtiger: es ist
sicher richtiger, Aesthetik und die Lehre von den Kategorien und Grund-
* Aehnliche Beispiele, wo „gehören zu** nicht den Bestandtheil einer
Sache, sondern die Sache selbst bilden heisst, s. Grimm, Wort. IV, 2522 ff. Die
Uebersetzung „appartenir ä", bei T i ss o t 57 ist daher falsch. Richtig bei Sc hm id t-
Phiseldeck S. 19. Mellin, Marg., § 33 setzt anstatt Theil der Elem.: „Theü
der Transsc.** Richtig bei Schmidt, Krit. d. r. V. S. 12 und in M. Müllers, da-
gegen falsch in Borns Uebersetzung.
' Ganz so heisst es wörtlich A 22.
' Trotz des auffallenden ümstandes, dass der Schluss des vorhergehenden
Satzes „gehören zu** im gewöhnlichen Sinne verwendet.
* Man könnte die zweite Auslegung etwa auch so begründen wollen: Da
oben nur Sinnlichkeit und Verstand, nicht aber die Vernunft genannt ist, die
Betrachtung dieser aber doch auch einen sehr wichtigen Theil der Kritik aus-
macht, so wäre unter dem zweiten Theil der Elem. die Dialektik zu verstehen, und
dann würden Theorie der Sinnlichkeit und des Verstandes den Ersten ausmachen.
Allein die Begründung im Folgenden spricht doch immer wieder für die erete
AuBlegung.
Ein GedächtnisBf ehler Ks.in Bezug auf die Eintheilutig d. Kr. d. r. V. 493
[B 28. H 62. K 68.] A16.BdO.
Sätzen zusammen zu nehmen, und ihnen beiden die Dialektik als Lehre
vom Schein gegenüberzustellen, als die A e s t h e t i k der Logik gegenüber-
zustellen, und diese erst in Analytik und Dialektik zu theilen. Denn gerade
die Dialektik steht in der Antinomienlehre der Aesthetik (als Lehre der
Wahrheit) als eine Theorie des auf Raum und Zeit bezüglichen Scheins
gegenüber. Auch ist die Aesthetik eine Analytik des sinnlichen Erkenntniss-
vermögens. Die Kritik der r. V. theilt ein:
L Elementarlehre.
L Aesthetik,
n. Logik.
L Analytik,
n. Dialektik.
n. Hethodenlehre.
Nach der Kritik der prakt. V. sollte jedoch die Eintheilung der Kritik der
r. V. folgende sein:
I. Elementarlehre.
I. Analytik,
I. Aesthetik (Sinne),
IL Logik (Verstand),
n. Dialektik.
n. Hethodenlelire.
Unzweifelhaft ist letztere Eintheilung sachlich richtiger , als die factisch
befolgte * ; aber auch historisch wäre sie richtiger gewesen. Es geht näm-
lich (nach Kant selbst bes. Krit. 246. 334 und ö.) die Analytik der 0 n-
t o 1 o g i e der alten Metaphysik parallel, und die Dialektik der Psy-
chologie, Kosmologie und Theologie; die erstere behandelte
bekanntlich die allgemeinen Grundbegriffe und Orundgesetze alles Seienden,
darunter auch Baum und Zeit, die drei anderen wandten die allgemeinen
Grundlagen auf jene drei speciellen Gebiete an. Somit umfasste die Analytik
auch die Theorie von Baum und Zeit und Ks. Verdienst ist hiebei, diese
als sinnliche Anschauungen von den Begriffen getrennt zu haben; jedoch zu
einer Herauslösung aus der Analytik überhaupt lag kein Grund vor. Die
beiden Schemata der Eintheilung unterscheiden sich nun sehr wesentlich
darin, dass das erstere (in der Kritik der r. V.) sich an die (Baumgarten'sche)
Logik (oder Theorie der facultas cognoscendi) anschliesst, während das
zweite die Metaphysik zu Grunde legt. Dort wird die Kritik der r. V.
(wie es auch ausdrücklich mehrfach geschieht), mit der Wolf sehen
Logik parallelisirt, hier dagegen mit der Metaphysik desselben. Jenes
Schema legt die Eintheilung der Erkenntniss vermögenzu Grunde, dieses
die der Erkenntniss o b j e c t e. Dass K. das zweite Schema später bevorzugt,
ist wohl auch ein Hinweis darauf, dass ihm seine Kritik selbst immermehr
' Einige Anhänger Ks. haben daher auch dieselbe befolgt, so z. B. Jacob
in seiner „Logik und Metaphysik^.
494 SehliusbemerkaBgeB.
als das von seinem Standpunkt aus allein mögliche System der Metaphysik
erschienen ist. Die factische Dintheilung der Kritik der r. V. erklärt sich
übrigens auch historisch aus der Entwicklungsgeschichte Kants. In der
Dissertation standen gegenüber Sectio III; De principiis formae mundi sen-
sibilis (Baum und Zeit) und Sectio IV: de principio fortnae mundi inteRigibüis
(Gott). Jene wurde später zur Aesthetik, diese nebst SecHo V zur Analytik
und Dialektik, d. h. zur Logik.
Schlussbemerkungeii.
Die Fnndamentalposltlonen der Einleitung. Die Einleitung enthält eine
Reihe von Nominal -Definitionen und Axiomen oder Principien
(nebst facti sehen Behauptungen), aufweichen alles Folgende fast genauso
beruht , wie die Mathematik auf den ihrigen , wie Spinoza 's Ethik
auf den entsprechenden Bestimmungen der Einleitung. Man könnte fast den
Versuch machen, more geotnetrico aus diesen vorläufigen Aufstellungen die
Hauptresultate der Kritik deductiv abzuleiten. Es ist höchst wichtig,
zu erkennen , dass in dieser Einleitung schon ein Theil des Kantischen Sy-
stems in nuce enthalten ist, nicht so, als ob K. die Hauptresultate vorläufig
dargestellt hätte, sondern indem in den Definitionen und Axiomen Vieles
eingewickelt liegt. Eine methodologische Zerfaserung der Kritik nach dieser
Seite hin würde dies bald zeigen. Hier kann zunächst nur auf jene Elemente
deutlich hingewiesen werden. (Vgl. auch oben S. 172.)
L Nominaldefinitionen. Diese sind an sich willkürlich. Vgl. dazu
Ks. Logik § 106. Entdeckung R. I, 458. Cohen, Erf. 194. Es handelt
sich hier um etwa ein Dutzend wichtiger Definitionen, welche genau im
Auge zu behalten sind. K. fahrt sie meist mit Ausdrücken ein, wie „heisst^,
„sollen heissen", „könnte man heissen^, „wie man sich ausdrückt', „darunter
verstehen*, „wird genannt", „nenne ich*. Eine strenge Grenze zwischen
Nominaldefinitionen und Realaxiomen (Principien) ist jedoch nicht zu ziehen.
I. Erkenntnisse a priori und a posteriori; jene von
der Erfahrung schlechthin unabhängig, ddese von ihr erborgt. (Hier
Erfahrung = sinnliche Eindrücke.) Vgl. oben S. 165 ff.
II. Sinne und Verstand; jene empfangende , diese denkend
verarbeiteade Thätigkeit. S. 165 ff.
III. Rein; von der Erfahrung unabhängig ; nicht mit der Erfahnug
vermischt. 8. 169. 195. 211 ff. 453 ff.
IV. Erfahrung; eine Erkenntnis» der Qegenstände, in der der rohe
Stoff sinnlicher Eindrücke durch den reinen Verstand verarbeitet
ist. (Gegensatz von Stoff und Fon» S. 182) Dies £e prägnante
Bedeutung; die laxere mb I. S. 177. 219. 353. 433 ff.
V. Analytische und Synthetische Urtheile; jene den
Begriff zergliedernd, diese das Prädicat neu hinzusetzend. S. 253 ff.
VI. Vernunft, reine Vernunft; Venoiögea der Erkeiutnisä
Fandamentalpositioneii der Eüüeitung. Ihre Abfassungszeit. 4d5
a priori ; ErkenntnissTermögen, das über die Erfabmng hinaus-
schweift. S. 453 ff.
VII. Kritik der reinen Vernunft ; Wissenschaft, welche Quelle,
Umfang, Inbalt, Gültigkeit, Grenzen der sub VI definirten reinen
Vernunft untersucht. S. 463 f. (116 ff. 458 ff.)
Vin. Transscendentale Erkenn t'niss; Erkenntniss von der
Möglichkeit der apriorischen Erkenntnissart von Gegenständen
überhaupt. S. 467 ff.
IX. Transscendentalphilosophie; System der Begriffe und
Erkenntnisse a priori von Gegenständen überhaupt. 8. 472 ff.
X. Metaphysik; System der Erkenntnisse a priori ; Wissenschaft
des Uebersinnlichen. S. 371 ff.
XL Dogmatisch; metaphysisches Verfahren ohne vorhergehende
Prüfung. S. 381 ff.
n. Grundsätze. (Frincipien, Axiome, Voraussetzungen.)
I. Alle unsere Erkenntniss fängt mit der Erfahrung an, es ent-
springt aber nicht alle aus ihr. S. 178 ff.
IL Blosse Erfabrungsurtheile -= Wahmehmungsurtheile haben nur
zufällige Gewissheit und particuläre Gültigkeit. S. 197 ff.
III. Nothwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind unfehlbare Merk-
male vorhandener Erkenntnisse und Begriffe a priori. S. 206 ff.
IV. Die Erkenntniss entspringt aus zwei Quellen, Sinnlichkeit und
Verstand. S. 184 ff. 485 ff.
V. Durch die Sinnlichkeit werden uns die Gegenstände gegeben, durch
den Verstand werden sie gedacht. S. 489 ff.
VI. Die Empfindungen entstehen durch Einwirkung von Gegenständen.
S. 172 ff.
m. Facta. (Diese bilden dann die eigentlichen Probleme S. 388 ff.)
I. Die ürtheile der Mathematik sind synthetisch und erfordern An-
schauung ; sie sind ausserdem a priori, und sind apodiktisch gewiss.
IL Metaphysik enthält als immanente unbestreitbare gültige syn-
thetische Sätze a priori,
ni. Metaphysik als transscendente macht auf solche Anspruch ;
sie sind jedoch zweifelhaft.
Dies sind etwa die Fundament a 1- Begriff e und Sätze der
Einleitung. Wie auf ihnen das Folgende, insbesondere die Lösung der
Probleme aufgebaut ist, wurde oben S. 425 ff. gezeigt.
Heber die Abfassungszeit der Eloleitung A« Ist die Einleitung A. etwa
der am spätesten niedergeschriebene Theil der Kritik? Hiefür spräche
zunächst die allgemeine Erfahrung jedes Schriftstellers, dass Einleitungen
zuletzt geschrieben werden; dazu kommen bestimmtere philologisch fest-
stellbare Kriterien; das Wichtigste ist, dass die Aesthetik ihrerseits wieder
eine neue Einleitung bringt , welche so wenig Rücksicht auf die
eigentliche Einleitung nimmt, dass in ihr z. B. S. 20 „rein^ nochmals definirt
496 Schlassbemerkutig«!!.
wird. Diese Einl. der Aesth. f&ugt ganz von vorne an, als ob bisher nichts
gesagt wäre. Sodann spricht die knappe, energische Sprache, die klare Dar-
stellong dafür, dass der Verf. hier Bestimmungen trifft, die ihm darch die
Niederschrift der eigentlichen Kritik vollständig geläufig geworden sind.
Schon Cohen, Ks. Th. d. Erf. 103 hat die Möglichkeit der späteren Abfassung
der Einl. A — wenigstens später als die Aesth. — als denkbar hingestellt ; er
schliesst dies daraus, weil in der Aesthetik das Apriori noch einen Bei-
geschmack des Angeborenseins habe, was in der Einl. A nicht mehr der Fall
sei. (?) Freilich kann man sich dann nur wundem, dass K. die Fragestel-
lung so einseitig aufstellt, wie das oben mehrfach gezeigt worden ist
(vgl. S. 433 ff.) ; da er aber in den Prolegomena und in der II. Aufl. der Kritik
diese Einseitigkeit auch nicht aufhob, so spricht dieser Umstand nicht gegen
die spätere Abfassung. Dagegen könnte man sagen, dass Kant seine Ein-
leitung eben nicht radical umgestalten wollte, obwohl ihm unmittelbar nach
1781 (vgl. oben 357) die Unvollständigkeit derselben klar war. Und diese
UnVollständigkeit — erklärt sie sich vielleicht doch am besten dadurch, dass
Kant die Einleitung A noch vor Vollendung der Analytik niederschrieb?
Es ist das nicht unmöglich, (da, wie wir später sehen werden, die verschie-
denen Theile der Kritik aus sehr verschiedenen Jahren stammen müssen);
etwas Sicheres wird sich jedoch hierüber schwerlich ausmachen lafisen.
Inhalt.
Seite
Torwort: Allgemeiner Zweck. — Zwölf specielle Gesichtspunkte . III — XIV
Vorbemerkungen: Art der Citirung. — Einrichtung des Com-
mentars XV-XVI
I. Allgemeine Einleitimg 1-22
§ 1. Allgemeine Bedeutung der Kr. d. r. V. — Vergleiche
mifc ähnlichen Erscheinungen 1 — 3
§2. Historische Bedeutung der Kr. d. r. V. — Rationa-
lismus und Empirismus. — Vermittlung durch Kant
— Problem der reinen Vernunft und Problem der
Erfahrung. — Ks. Philosophie als Uebergang zwischen
zwei Perioden. — Historische Wirkungen .... 3 — 11
§ 3. Die actuelle Bedeutung der Kantischen Philosophie.
— Die „Umkehr zu Kant**. — Der Neukantianismus. 11 — 14
§ 4. Allgemeine Literatmübersicht. — Eintheilungsgründe.
— Tabellarische Darstellung. — Die wichtigsten Er-
läuterungSBchriften; Kritik derselben. — Kants eigene
Werke zur Erläuterung 14 — 22
n. Spedelle Einleitimg 28—70
Bogmatismvg^ Skeptleismus und Kritielsmng«
Literatur 23-25
§ 1. Vorbemerkungen: Gesichtspunkte der Charakteristik
für die drei Richtungen der Philosophie .... 25 — 28
S 2. 1. Der Dogmatismus nach Methode und Object. —
Beweisstellen aus Kant 28 — 30
S 3. 11. Der Skepticismus (Empirismus) nach Methode
und Object. — Beweisstellen aus Kant 30—32
§ 4. ni. Der Kriticismus nach Methode und Object. —
Beweisstellen aus Kant 32 — 35
S 5. Specielleres Verhältniss des Kriticismus a) zum Dog-
matismus, b) zum Skepticismus 35 — 36
Va ihm gor» Eftnt-Oommentftr. 32
498 Inhalt.
fiMta
§ 6. Die hifitorischen Vertreter des Dogmatismus und Skep-
ticismus 36 — 37
§ 7. Allgemeines Verhältniss der drei Standpunkte. — Kritik
d. r. y. als der wahre „Mittelweg" zwischen zwei Ge-
gensätzen. — Das Bild vom Ocean. — Aussprüche
Anderer Über jene Vermittlung. — Sonstige Anwen-
dung des Vermittlungsschemas bei Kant . . . :37 — 43
§ 8. Speci eller Gegensatz des Kriticismus einerseits und
des Dogmatismus und Empirismus andererseits:
Kants subjectivistische Wendung. — Die dogma-
tische und die kritische Methode. — Das Bild vom
Schwimmenlemen. — Die leges subjeeti 43—46
§ 9. Kants eigener Entwicklungsgang durch Dogmatismus
und Empirismus hindurch zum Kriticismus. — Zwei-
maliger Entwicklungsprocess . . 47—49
§ 10. Der Kriticismus als Vermittlung zwischen Dog-
matismus und Skepticismus. Allgemeine Gesichts-
punkte. — Die Vermittlungsformel und die neue
Combination der Gegensätze. — Vier Vermittlungs-
punkte 49 — 5:]
§ 11. Dieselbe Vermittlung specieller betrachtet. — Fünf
weitere Vermittlungspunkte. — Hauptmerkmalformel
des Kriticismus 54—58
§ 12. Kants durchgängige Vermittlungstendenz. — Neun
Vermittlungsversuche 58 — 59
§ 13. Die verschiedenen Ansichten über den Grundcharakter
der Kritik d. r. V. — Falsche Subsumtionsversuche.
— Einseitige Heraushebung der Hauptmerkmale. —
Sechs verschiedene Hauptauffassungen der Kr. d. r. V.
— Erste Periode. — Zweite Teriode 59 — 66
§ 14. Fortsetzung: Dritte Periode. — Die Controversen über
den „Hauptzweck". — Entscheidung: organische Auf-
fassung 66-70
Commentar.
I. Commentar zu Titelblatt, Motto und Widmung . 7S— 80
A. Titelblatt: Titel. - 1. und 2. Auflage. — Verhältniss
zur Buchhandlung . 73—75
B. Motto: Uebersetzung. — Verhältniss zu Bacon. — Andere
Motti 75-77
C. Widmung: Dedicationen. — Verhältniss zu Zedlitz. —
üeber den Text 77-80
II. Commentar zur Vorrede der ersten Auflage . . 81-157
Disposition der Vorrede 81. — Die Fragen der Vernunft 82.
— Die Verlegenheit der Vernunft 83. — Immanente und
transscendente Grundsätze 83. — Dunkelheit^ Widersprüche
und Irrthnmer der Vernunft 85. — Der Probirstein der Br-
Inhalt. 499
. Seite
fahrung 86. — Die Metaphysik ein Kampfpiatz; Krieg und
Frieden in der Philosophie 86. — Etymologie von „Meta-
physik** 88. — Die „Königin der Wissenschaften** 89. —
Die allgemeine Verachtung der Metaphysik 90. — Die Meta-
physik eine „Geliebte** 92. — Despotismus und Anarchie^
Dogmatlker und Skeptiker 98. — Verhältniss zu Locke 96.
— Die Aristokratie der Vernunft und der Pöbel der Er-
fahrung 97. — Indifferentismus; der neue Weg: die gänz-
liche „Umschaffung** 98. — Die Wichtigkeit der Metaphysik
100. — Die Unzulänglichkeit der Popularphilosophie 102.
■— Der Zweifel, das „Zeitalter der Kritik**, die Aufklärung
102. — Unabhängigkeit und Unumschränktheit der freien
Kritik (Verh. zu Lessing) 104. —
Die Selbsterkenntniss der Vernunft 106. — Das Bild
des Processes: der Gerichtshof, das Rechtsbuch, die Par-
teien, das Streitobject, die Zeugen und Documente, die Ent-
scheidung, die Acten 107—116. — Kritik der reinen Ver-
nunft = Selbstprüfung des erfahrungsfreien Erkenntniss-
vermögens 116 — 120. — Sinn des Ausdruckes „Kritik** 120.
— Kritik der Vernunft überhaupt, nicht der philosophischen
Systeme 122. — Das Verfahren „aus Principien** : die aprio-
rische Methode der Kritik 124. — Der „kritische Weg** Ks.
und seine allgemeinen Resultate: Abstellung der Irrungen,
nicht durch den Vorwand des Unvermögens, sondern durch
Nachweis des „Selbstmiss verstände»** der Vernunft ; Unter-
drückung der „Schwärmerei**, „Zauberkünste** und „Blend-
werke**; die Auflösung aller Aufgaben 125— 130. — All-
gemeinurtheile von Anhängern und Gegnern über die Kr.
d. r. V. 130. — Das Verhältniss zur Logik 131. —
„Hypotheses non fingo^-^ apodiktische Resultate: Alles
oder Nichts 182. — „Verbotene Waare** 134. — Apriorische
Auffindung des Apriori 134. — Das „ Rieh tmass** 136. —
Discnrsive, nicht intuitive Deutlichkeit 137. — Der erste
Entwurf der Kritik und die zwölljährige Arbeit an ihr 138.
— Ueber die Popularisirung der Kritik 140. — Abt Ter-
rasson 142. — Der Gliederbau des Systems 143. — Auf-
forderung zur Mitarbeit und zur stück weisen Prüfung 143.
— Dauerhaftigkeit der Resultate 146. — Unbedingte Voll-
ständigkeit: Alles oder Nichts 148. — Die Kr. d. r. V. als
Vorbereitung zu einer künftigen Metaphysik 149. —
Chronologie der Drucklegung der Kr. d. r. V. 150. •—
Chronologie der Entstehung der Kr. d. r. V. von 1770—1781
152. — Die „Kritik der Vernunft** Anno 1765 und Anno
1781 : Kants Entwicklung 155—157.
m. Commentar zur Einleituiig (a und B) 168-496
Vorbemerkungen: 1) Allgemeine Literatur zur „Einleitung**
158. — 2) Die Einleitung in der I. und in der II. Auflage
159. — 3) Gliederung der Einleitung nach der IL Auflage
^
500 Inhalt.
Seite
160. — 4) Bemerkungen zu der Gliederung der Einleitung
162. — 5) Einleitung der Prolegomena 163. - 6) Allge-
meine ParallelBtellen aus Ks. Werken 164.
Erklärung von A^ S. 1 und 2.
Die Erkenntnlgg a priori 166-169
Specialliteratur 165. — Erfahrung und Vernunft 165. — Das
Apriori nicht aus der Erfahrung „erborgt** 166. — Arten
des Apriori 168.
(I.) Erklärung von B^ Abschnitt I.
üntersehied reiner und empirlselier Erkenntniss 169—197
„Rein**, „apriorisch**, „aposteriorisch**, „rational** 169. — An-
fang aller Erkenntniss mit der Erfahrung 170. — Die „Er-
weckung** des Erkenntnissvermögens 171. — Das Problem
der AiTection durch „Gegenstände** 172. — Die „Rührungen**
der Sinne und der „Rohstoff** der Empfindung 175. — Drei-
facher Sinn von „Erfahrung** 176. — Keine zeitliche Prio-
rität des Apriori 178. — Alle Erkenntniss hebt zwar mit
der Erfahrung an, aber nicht alle Erkenntniss entspringt
aus der Erfahrung 178. — Vergleichung mit der „Leibniz-
schen Clausel** 188. — Die chemische Zerlegung der Er-
fahrung selbst 184. — Methode der Absonderung des Apriori
185. — Die Doppelfrage der Kritik d. r. V.; das Problem
der Erfahrung 186. — Die von der Erfahrung unabhängigen
Erkenntnisselemente l69. — Der Begriff des Apriori 190.
— Relatives und absolutes Apriori 192. — Reines und ge-
mischtes Apriori 195. — Logische Analyse des Abschnittes
196. -
(II.) Erklärung von B, Abschnitt II.
Thatsftclilioher Besitz aprioriseher Erkenntoiss . 197— 2S9
Zufälligkeit der Erfahrung und Noth wendigkeit des Apriori
197. — Hypothetische und absolute Kothwendigkeit 199. —
Comparative und strenge Allgemeinheit 201. — Beispiele
202. — Tafel der ürtheilsarten 203. — Subjective und ob-
jective Allgemeinheit 204. — Der besondere Erkenntniss-
quell des Apriori 205. — Nothwendigkeit und Allgemein-
heit, die Kriterien des Apriori 206. — Ein Druckfehler 209.
— Beispiele des Apriori: Mathematik 210. — CausaJitäts-
gesetz 211. — Zweierlei Bedeutungen von „Rein** 211. —
Der Causalbe griff 213. — Unterschied der „Nothwendig-
keit** beim Causal begriff und beim Causalitätsgesetz
213. — Nothwendigkeit des Apriori für die Gewissheit der
Erfahrung 215. — Der prägnante Begriff der „Erfahrung**
als Basis der Kr. d. r. Y. 219. — Apriorisch-deductiver
Erweis des Apriori 221. — Apriorische Begriffe: Raum,
Substanz 224. —
Anhang: Uebersicht der apriorischen Besitsthümer 224.
Inhalt. 501
Seite
Controyerse ttber den logischen Zusammenhang der £in-
leitong, über Voraassetznng und Problem 225. — Unter-
schied der beiden Redactionen 227. — Logische Analyse 229.
(III.) Erklärung von A, S. 2—6 = B, Abschnitt III.
N othweBdigkeit einer Theorie des Apriori ... 229 - 253
üebergang 229. — Verstand und Vernunft 230. — Gott, Frei-
heit und Unsterblichkeit 230. — Die Endabsicht der Meta-
physik 281. — Immanente und transscendente Metaphysik
232. — Das Bild vom „Gebäude"' der Metaphysik 233. —
Verhältniss zu Descartes 237. — Nothwendigkeit einer
Theorie des Apriori und Gründe bisheriger Unterlassung
derselben 237. — Kants Anspruch auf die Neuheit seiner
Untersuchung 238. — Motive der Transscendenz 289. —
Die Mathematik, das Vorbild der Metaphysik 240. — Kants
mathematische Vorliebe 242. — Hauptunterschied der Ma-
thematik und Metaphysik: Die Anschauung 243. — Das
Bild von der „Taube" 244. — Die „Flügel der Ideen" 244
— „AUitu volantem areuit** 247. — Der „leere Raum" des
Verstandes 247. — Die analytische Zergliederung der Be-
griffe 249. — Verwechslung analytischer mit synthetischen
Erkenntnissen 250. — Üebergang 258.
(IV.) Erklärung von A, S. 6—10 = B, Abschnitt IV.
Unterseliied analytischer und synthetiseiier Urtlieile 258 — 292
Specialliteratur 258. — Üebergang 254. — Identische, analy-
tische und synthetische Urtheile 254. — Beispiele 255. —
Definitionen der analytischen und synthetischen Urtheile
258. - Die beiden Kriterien 260. — Eintheilung der Ur-
theilsarten nach den Begriffsmerkmalen 262. — Tafel 264.
— Verhältniss des Analytischen und Synthetischen zum
Unterschied von Logisch und Real 265. — Weitere Merk-
male 266. — Terminologie von „analytisch" und „synthe-
tisch" 267. -
Exenrs: Entwicklung der Unterscheidung von
analytischen und synthetischen Urtheilen bei
Kant (von 1755-1781) 269-276. — Entwicklung der Ter-
minologie-, Widersprüche 276. —
Synthetisches Urtheil; „alle Körper sind schwer" 278.
— Der vermittelnde Factor, das „Dritte" = X 279. —
Die Erfahrungsurtheile sind synthetisch 280. — Die Apriori-
tät der analytischen Urtheile: Widerspruch Kants 281. —
Analytische Urtheile und der Satz des Widerspruchs 283.
— Die synthetischen Urtheile a posteriori und a priori
285. — Combination möglicher Urtheilsarten 286. — Be-
griff, Entdeckung und Bedeutung des 83mthetischen Urtheils
a priori 287. — Urtheile darüber von Gegnern und An-
hängern 289. — Das „Geheimniss" der synthetischen Ur-
theüe a priori 890. - Die „Alten" 292,
502 Inhalt
Seite
(V.) Erklärung von B, Abschnitt V.
Tbatsichlicher Besitz sjnthetisoher Urtheile a priori 292 - 814
Uebergang 292. — • I. Mathematik. Literatnr 293. — Mathe-
mathische GrandsätKe und Folgesätze: scheinbarer Wider-
spruch 294. — „Reine'' Mathematik 295. — a) Arithmetik.
Der Satz: 7 -f 5 = 12 295. — Zuhilfenahme der Anschau-
ung und der „Finger" 298. — b) Geometrie. Begriff und
Anschauung 300. — Der Satz von der geraden Linie 301.
Rolle analytischer Grundsätze in der Mathematik 302. —
Umstellung im Text 303. —
II. Naturwissenschaft. Doppelter Sinn von „reiner
Naturwissenschaft*': relativer und absoluter Sinn; Verwir-
rung Kants; nothwendige Textcorrectur 304—310. — Die
Beispiele; Ks. „naturwissenschaftliches Vorurtlieil" 310. —
III. Metaphysik. Doppelsinn von Metaphysik: im-
manent und transscendent 311. — Synthetische Sätze a priori
in der Metaphysik 312. — Werthlosigkeit der Analysis 313.
— Vernachlässigung der empiristischen Metaphysik 314.
(VI.) Erklärung von B, Abschnitt VI.
Notliwendlglcoit einer Theorie der syntlietischen Er-
kenntniss a priori 814 — 3^4
Die „Aufgabe der reinen Vernunft" 314. — Die allgemeine
Formel der Principalaufgabe 315. — Sinn des Hauptpro-
blems: Wie sind synthetische Urtheile a priori
möglich? 316. — 1) Andere Formeln bei Kant 317. —
2) Aeusserungen Kants über die Wichtigkeit und Schwie-
rigkeit des ^Hauptproblems" 318. — 3) Urtheile Anderer
über die Tragweite der Frage 319. — 4) Verschiedene ein-
seitige Auslegungen des Hauptproblems 320. — Die Literatur
322. — Psychologische und erkenn tniss theo retische Auf-
fassung; Transscendentalpsychologie 323. — 5) Das Haupt-
problem bei den Nachkantianern; bei Fichte^ Schelling^
Hegel 325 — bei Schopenhauer^ Herbart^ Fries^ Beneke 326.
6) Controverse über Sinn und Entwicklung des Hauptpro-
blems: Die ursprüngliche Formel und die Umformung; das
Problem der Apriorität und das Problem der Synthesis;
Bedeutung des Synthetischen im Hauptproblem; Entwick-
lungsphasen des synthetischen Urtheils ; voller Sinn d. Haupt-
problems 327—334. — 7) Weitere Bemerkungen zum Haupt-
problem 334. — Das ^nene Problem"; Vorgänger in der
Problemstellung 335. — Nothwendigkeit einer „neuen Wis-
senschaft" 336. — Neuheit des Unterschieds der analyti-
schen und synthetischen Urtheile; etwaige Vorgänger 337.
— Das n Stehen und Fallen" der Metaphysik^ abhängig von
der Beantwortung des Hauptproblems 339. —
Harne als Vorgänger in der Problemstellung; Hume*s
Causalitätstheorie nach Kant 340* -- Der «dogmatiBche
iBkalt. 508
Seite
Schlammer^ : Home's ,»£riniierang^ im VerhältnisB zu der
„Erweckung'' durch die Antinomien 348. — Die iwei ganz
verschiedenen Fassungen des sog. „Hum^'sehen Problems**:
die „Nothwendigkeif* nnd das „Hinausgehen** beim Causal-
urtheil und beim Causalitätsgesetz 344. — Die „Er-
weckung aus dem dogmatischen Schlummer** durch Hume
zuerst 1762, dann 1772, nicht 1769; die Gontroverse über
die Zeit der Einwirkung 347. — Die Hume'schen Pro-
bleme*, grosse Verwirrung Kants 848. -^ Caüsal begriff
und Causalurtheil einerseits, Causalitätsgesetz anderer-
seits: Kategorien und Grundsatze 851.— Das Problem der
synthetischen Urtheile a posteriori: die „Erfahrungs-
urt heile**; Verwirrung bei Kant und den Kantianern 852.
— Nothwendige Ergänzung der Kantischen Einleitung 855.
— Selbstzeugnisse Kants für das Problem der synthetischen
Urtheile a posteriori 855. — Sprengung der Einleitung
durch Kant selbst 857. — Resultat 357. ~ Literatur über
die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung 858. —
Hume's subjective, Kants objective Koth wendigkeit 859.
— Hume's Theorie der Mathematik 861. — - Das Haupt-
problem in erweiterter Anwendung 364. — Ausdehnung •
der beiden Hume'schen Probleme auf Ethik und Aesthetik
865. — Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphysik 366.
— Bisheriger schlechter Fortgang der Metaphysik 867. —
Metaphysik als „Naturanlage** und „Bedürfniss** 869. —
Schwierigkeiten der Vertheilung der vier Fragen auf die
T heile der Kritik 871. — Unklarheit der Fragen nach
der Möglichkeit der Metaphysik 878. — Möglichkeit der
immanenten, Unmöglichkeit der transscendenten Metaphysik
375. -* Falscher Begriff von „synthetisch a priori** und
„Metaphysik** bei Fischer; Co Ordination der Mathematik
mit der Metaphysik: Anordnung der Fragen in den Pro-
legomena 878. — Subjectivistisclie Wendung Kants 882. —
Möglichkeit transscendenter Metaphysik auf ethischer Basis
388. — Das dogmatische Verfahren 883. —
Anhang zn Abgelmltt Y nnd YI nnd Exenrs . . . 884 — 450
Aeusserlicher Unterschied der beiden Redactionen 384. — Keine
sachliche Aenderung des Sinnes , kein Unterschied im
„Hauptzweck** 884. — Gontroverse über die Aenderung des
methodischen Gedankenganges in der II. Aufl. Erweiterung
dieser Streitfrage 386. — Status cantroversiae 387. —
Methodologische Analyse der Kr» d« r. Y.
A. Inhalt der Kantischen Problemstellung. § 1. Das
„Conformitätsproblem** im Jahre 1772; Frage nach dem
Grund der Gültigkeit des Apriori 888. — $ 2. Dasselbe
Problem in der Kr. d. r. V. Kant will die Gültigkeit des
Apriori erklären. Erster Sinn des Hauptproblems 390.
— Dasselbe Problem in den Prolegomena 39i2. — Die Gül-
504 ^^•^^
tigkeit des Apriori als „Räthsel^, als ftnUtlietlMkei Pro-
blem: die paradoxe Thatsache nnd ihre Erkliknmg 893. —
Verkennangen der Frage nach dem War am der Gültigkeit
394. — S 3. Skeptische Bezweifelang eines gültigen Apriori:
Frage nach dem Dass der Gültigkeit; K. will die Gültigkeit
des Apriori beweisen („retten^). Zweiter Sinn des Haapt-
problems 395. — Die Gültigkeit des Apriori wird aas einem
absoluten za einem hTpatbetiseheB Problem 397. — Das
Schwanken Kants zwischen Erklärang and Beweis der
Gültigkeit des Apriori 398. — S 4. Dasselbe Schwanken bei
K. Fischer; Homonymien 400. — Dasselbe Schwanken bei
Riehl 403. — S 5. Dritter Sinn des Hauptproblems: Kant
will Erkenntniss a priori erwerben : das metbedologlsebe
Problem 403. — Das Lösangsprincip, die „Möglichkeit der
Erfahrang** 407. — Die Mehrheit der Probleme and der
Resultate: Rationalismus und Grenzbestimmang408. —
Durchkreuzung des Problems der Gültigkeit des Apriori
durch das Problem der Synthesis: das Doppelräthsel
im Hauptproblem 410. — S 6. Resultat und Entschei-
dung der Controverse zwischen Fischer und seinen Gegnern
411. -
B. Methode der Kantischen Problemlösung.
Uebergang 412. — § 7. Unterschied der synthetischen und
der analytischen Methode : Kritik d. r. Y. und Prolegomena
412. — S 8. Entscheidung der Controverse: a) Nothwendig-
keit, die analytische Methode aus der wissenschaftlichen
Darstellung auszuschliessen (gegen K. Tischer) 413. — S 9.
b) Die Einleitung 6 enthält keine analytische Verschiebung
415. — S 10. Zwei verschiedene analytische Methoden:
mathematische und naturwissenschaftliche 417. ^ Ver-
wechslung beider bei Kant, dadurch Verwirrung in den
Prolegomena; Verhältniss dieser zur Kr. d. r. V. 419. ~
§11. Die Streitfrage über Kants methodischen Gedanken-
gang in England 422. —
G. Die Prämissen (Voraussetzungen) der Kritik
d. r. V. — S 12. Dogmatisches Vorurtheil Kants 425. —
Erste Hauptprämisse: Koth wendigkeit u. Allgemeinheit
stammeb aus der Vernunft 426. — Zweite Hauptprämisse:
der prägnante Begriff der „Erfahrung^; Rolle beider Prä-
missen 427. — S 13. Literatur. Verwechslungen, bes. der
subjectiven Apriorität mit der objectiven Gültigkeit 428. —
Unterschied definitiver Prämissen und provisorischer Voraus-
setzungen; Kants eigene Unklarheit 429. — S 14. Die üb-
rigen Voraussetzungen Kants: psychologische, logische und
metaphysische Lemmata 430. — S 15. Kants „apriorische,
kritische, transscendentale** Methode 432. — $ 16. Notli-
wendigkeit und Schwierigkeit einer ezacten methodolo-
gischen Analyse der Kr. d. r. V. 433. --
D. Das Problem der Erfahrung. S 17. Neue
Seite
Inhalt. 505
Belte
Schwierigkeiten. Verhältniss dieses Problems zum Problem
synthetischer Urtheile a priori 433. — 8 18.. Die methodische
Problemconversion : dieCorrelation beider Probleme 434.
— Verwechslung beider Probleme bei Kant 435. — S lö.
Das Problem der Erfahrung als dreigliedriges: Erklä-
rung, Beweis, Methode; Cohen und Kant 437. — § 20. Ver-
zwicktheit der Argumentation : Vertauschung yon Prämisse
und Problem 439. — Circulua vitiosusf 440. — § 21. Die
Correlation des Erfahrungsproblems wird zur Co Ordi-
nation 441. — Gründe dazu 441. — Correctur der Kanti-
schen Einleitung: das Problem der synthetischen Urtheile,
sowohl a priori als a posteriori 443. — S 22. Verwirrung
in der bisherigen Literatur 444. — § 23. Das Problemge-
flechte der Kr. d. r. V. Falsche und richtige Methode der
Auflösung desselben 448. —
(Vn.) Erklärung von A, S. 10—16 = B, Abschnitt VII.
Idee und SintheilnBg der ,,Kritik der reinen Yemunft'' 450—496
Die „Idee" einer Kr. d. r. V. 450. — „Rein", „Vernunft", „reine
Vernunft", schwankende Bedeutung dieser Termini 451. —
Der Doppelsinn des Titels 453. — Literatur zum Titel, Kritik
desselben 455. — Tafel der Bedeutungsmöglichkeiten des
Titels 456. — Doppelsinn von „Kritik" ; das historische
Vorurtheil der rein negativen Auffassung 456. — Erweite-
rungen der Bedeutung des Titels bei Kant 457. — Nach-
ahmungen des Titels 458. — „Reine Vernunft" als unbe-
wiesene Voraussetzung Kants 458. — Schwankendes Ver-
hältniss von „Kritik", „Ürganon", „Kanon", „System" u. s. w.
459. — „Erwerbung" der Erkenntniss a priori 462. — Frage
nach Ursprung, Inhalt, Gültigkeit und Grenzen der Ver-
nunft^ Doppeltendenz des Kriticismus 463. — Kritik als
„Propädeutik" zu einem System der Metaphysik? 464. —
Nur „negativer Nutzen" der Kritik? 466. — Sinn von „trans-
scendentaler Erkenntniss" = Theorie des Apriori; andere
Bedeutungen 467. — Enorme Inconsequenz Kants in der
Benennung der Theile der „transscendentalen" Kritik 468.
— Unterschied von A und B 469. — Irrthümliche Aus-
legung von „transscendental" durch Cohen 470. — Trans-
scendentalphilosophie und ihr Verhältniss zum System d.
r. V. 472. — Schwanken Kants, Normaldarstellung 474. —
„Erweiterung", „Berichtigung", „Begrenzung" der Erkennt-
niss 475. — Nicht Untersuchung der Dinge, sondern des
Verstandes 476. — Nur Theorie des Apriorischen? Keine
„Kritik der Erfahrung"? 476. — „Nicht eine Kritik der
Bücher"; Maassstab für „kritische" Geschichtschreibung?
477. — „Architektonisch"; „Idee" eines Systems 479. —
Analysis und Ableitung im „System" 480. — Schwankendes
Verhältniss von „Kritik" und „Transscendentalphilosophie"
481. — Ausschluss der Moral? 483. —
506 Inhalt.
Seite
Die Eintheilungsgründe der Kritik 484. — „Gemein-
schaftliche^ aber unbekannte Wurzel von Sinnlichkeit und
Verstand"; historische und systematische Bedeutung der
Stelle 485. — Moderne Auffassungen 487. — Monistische
Tendenz Kants 487. — Kritik durch Hamann und Herder
488. — Verhältniss von Sinnlichkeit und Verstand bei
Kant 489. — Ihre dualistische Unterscheidung als Voraus-
setzung Kants 491. — Ein Gedächtnissfehler Kants bezüg-
lich der Stellung der Transscendentalen Aesthetik in dem
Eintheilungsschema der Kr. d. r. V. 492. —
Schlussbemerkungen: Die Fundamentalpositionen
der Einleitung-, L Definitionen^ IL Axiome, III. Facta 494.
— Abfassungszeit der Einleitung A 495.
i
Oorrigenda.
n
n
Seite 18, Linie 3 toxi unten lies „Desdouits** statt „Desduits^.
„ 21, „ 13 „ oben. Von K. Fischers Werk erscheint 1882 eine dritte
Auflage. (Die Citate in dem vorliegenden Bande
geben noch die Seitenzahlen der 2. Aufl. an.)
21, „ 19 „ „ Cohens Werk erschien 1871, nicht 1873.
70, „ 19 „ y, lies „des letzten Bandes** statt „dieses Bandes".
78, „ 31 „ r, n „geistlichen** statt „geistigen**.
79, „ 10 „ „ „ „1778** statt „1787** und dementsprechend ib.
Linie 12: „und auf welche offenbar Ks. Wid-
mung anspielt**.
99, „ 1 „ „ „ „A IV** statt „A VI".
128, „ 6 „ unten „ „i. D.« statt „i. d.**
134, „ 11 „ oben „ „1764** statt „764**.
206, „ 11 „ unten „ „Versuche, I**.
220, „ 2 „ „ „ „442** statt „405".
253, „ 10 „ oben „ „den** statt „der**.
804, „ 1 „ „ „ „B 17** statt „B 71".
312, „ 6 „ unten „ „der" statt „dem".
396, „ 14 „ „ „ „13" sUtt „11".
«
»
n
n
Infolge der Aufforderung am Schluss der Vorrede pag. XIII. XIV
zum Ersten Bande meines Kant-Commentars sind mir seit Erscheinen der
Ersten Hälfte desselben aus dem In- und Auslande sehr zahlreiche, die Kantische
Philosophie betreffende, Zusendungen (nebst brieflichen Mittheilungen, Nach-
trägen, Anfragen u. s. w.) zugegangen. Dies ermuthigt mich zur ausdrück-
lichen Wiederholung jener Bitte, mit der Bemerkung, dass ich nicht bloss
die Verfasser von separat erscheinenden Schriften, sondern auch insbesondere
von schwerer zu beschaffenden Arbeiten (Dissertationen, Programmen, Journal-
aufsätzen, grösseren oder kleineren Becensionen u. s. w.) um gefällige Eis-
Sendung derselben ersuche: da nur auf solche Weise die wünschenswerthe
und programmgemässe Vollständigkeit in der Hereinarbeitung der
Literatur zu erreichen ist.
Diese Bitte erstreckt sich auch auf Arbeiten aus früherer Zeit,
und besonders auf die ausser deutschen Autoren.
Eventuell sich ergebende Doubletten werde ich der Bibliothek des
hiesigen Philosophischen Seminars übermachen , oder auf Wunsch retoumiren.
Die Eingänge und Mittheilungen jeder Art werde ich in den Vorreden
zu den folgenden Bänden dankend registriren.
Zusendungen bitte ich an mich (Universität Strassburg i. E.) oder an
die Verlagshandlung (W. Spemann in Stuttgart) zu richten.
H. VaUunger.
COMMENTAE
ZU
KANTS
KRITIK DER REINEN VERNUNFT.
ZUM HUNDERTJÄHRIGEN JUBILÄUM DERSELBEN
HERAUSGEGEBEN
VON
Dr. H. VAIHINGER,
A. 0. PROFESSOR DEE PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT HALLE.
Die Sehrißen KanVs sind doch eintnal der Codex, i
den man nie in philosophischen Angelegenheiten, so j
wenig als das Corpus Juris in juristischeft aus der
Ilaud legen darf.
W, V. Humboldt,
ZWEITER BAND.
"»-i-i-
STUTTGART, BERLIN, LEIPZIG.
UNION DEUTSCHE VERLAGSaESELLSCHAPT.
1892.
ItHE NEW YORK
PUBLIC LIBR^
ANO
tüUNOATIONS.
1898.
Das Uebersetzungsrecht in fremde Sprachen vorbehalten.
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellscbaft in Stnttgaxt.
Vorwort.
Grösser, viel grösser als ich einst dachte, ist die Pause zwischen,
dem Ersten und dem Zweiten Bande dieses Commentars geworden.
Nicht die Ausdehnung und Schwierigkeit der Arbeit selbst waren es
jedoch eigentlich, welche der Fortsetzung hindernd im Wege standen,
sondern äusserliche Umstände, in erster Linie die zeitraubende und
kraftabsorbirende academische Lehrthätigkeit. Die Sammlung des Ma-
terials hat in der Zwischenzeit nie geruht, wovon ja auch gelegent-
liche Veröffentlichungen Kunde gaben. Die eigenthche Ausarbeitung
dieses Bandes hat aber kaum zwei Jahre in Anspruch genommen.
Das Erscheinen dieses Bandes hat übrigens der Setzerausstand des
vorigen Jahres noch um ein halbes Jahr verzögert.
Ich bin Optimist genug, um zu hoffen, dass diese lange Pause
dem zweiten Bande nicht geschadet, sondern nur genützt habe. Ein-
mal erwächst daraus der grosse Vortheil, dass die Literatur bis auf
den heutigen Tag berücksichtigt werden konnte ; und gerade die letzten
10 Jahre haben vieles werthvoUe Material gebracht. Ich erwähne die
von B. Erdmann herausgegebenen und musterhaft bearbeiteten „Re-
flexionen Kants zur Kr. d. r. V."; die von Reicke zugänglich ge-
machten Inedita: das üptts postumum, die Losen Blätter aus Kunts
Xachlass, die 17 Briefe von Beck an Kant; die von Dilthey in Rostock
ausgegrabenen Stücke: die 8 Briefe Kants an Beck und die Abhand-
lung Kants gegen Kästner, die Lehre vom Raum betreffend; ich er-
wähne femer die neue Ausgabe der Kr. d. r. V. von Adickes. Femer
brachten die Zwischenjahre die neuen, theilweise wesentlich umgearbei-
teten Auflagen der Kantwerke von K. Fischer, Cohen, Caird; so-
dann erläuternde Beiträge von Adickes, Drobisch, B. Erdmann,
Hegler, Münz, Riedel, Thiele, von Cesca, Morris, Wallace
und vielen Anderen. Auch waren in der Zwischenzeit die Freunde
der Kantischen Philosophie nicht müssig : speciell die Transsc. Aesthetik
und die mit ihr zusammenhängenden Lehren fanden Fortbildung durch
Bilharz, Böhringer, Classen, Dorner, Heymans, König,
A. Krause, Lasswitz, Mainzer, Michaelis, 0. Schneider,
IV Vorwort..
Stadler, Staudinger, Witte u. A.; aber auch die Gegner der
Blantischen Philosophie ruhten nicht: für unsere Aufgabe kommen be-
sonders in Betracht Bergmann, Bolliger, Laas, Stumpf, sowie
die „Kritik der Kantischen Philosophie" von K. Fischer. Endlich
verdanken Wundts System der Philosophie und der Schlussband von
Riehls Philos. Kriticismus derselben Zeit ihre Entstehung. Die
Hereinarbeitung all dieser (und vieler anderer) neuer Erscheinungen
dürfte den Werth des Werkes erhöht haben, so dass die Verzögerung
demselben nach dieser Seite hin nur zu Gute gekommen ist.
Hat so die Verzögerung des Werkes zu einer materiellen Be-
reicherung desselben geführt, so hat dieselbe auch — wenigstens wünscht
und hofft der Verfasser, dass man das finden möge — dem Werke zur
formellen Vervollkommnung gedient. Zehn Jahre dürfen doch an einem
Autor nicht spurlos vorübergehen. Dem Ersten Bande konnte nicht
mit Unrecht vorgeworfen werden, dass der Stoff nicht überall gleich
zweckmässig disponirt sei, dass hie und da auf Unwesentliches zu viel
eingegangen sei, dass der Commentar zu wenig zusammenhängende
Erörterungen biete. HoffentUch findet der Leser, dass in allen diesen
Punkten der vorliegende Band einen Fortschritt aufweise und sich dem
im Vorwort zum Ersten Bande entworfenen Ideale eines Kantcommentars
etwas mehr annähere.
Auf Sigwarts freundlichen Bath hin habe ich in diesem Bande
vor Allem mehrere zusammenhängende Excurse eingeschoben, um ins-
besondere dem dritten jener berechtigten Einwände zu begegnen. Zwar
setzt auch dieser Band am Anfang zunächst mit vielen Einzelerklärungen
der von Kant in seiner Einleitung selbst neu eingeführten Begriffe ein
(S. 1 — 130); aber die etwas ermüdende Breite dieser doch nicht zu
umgehenden vorläufigen Einzelerörterungen wird doch unterbrochen
durch zusammenhängende Abhandlungen über ebenso wichtige als auch
interessante Punkte, so S. 35 — 55 durch den Excurs über das Punda-
mentalproblem der afficirenden Gegenstände, S. 69 — 79 durch die Dis-
cussion über die grundlegenden Prämissen der Transsc. Aesthetik.
S. 89 — 101 durch den Excurs über die vielbehandelte Frage, wie sich
Kants Apriori zum Angeborenen verhalte? Mit S. 130 schliessen diese
mehr formellen Einleitungsfragen und beginnt die eigentliche sachliche
Discussion: „was sind nun Raum und Zeit?" Der Excurs über die
dabei mögUchen Fälle (S. 134 — 151) behandelt eine der wichtigsten
und zugleich reizvollsten Kantcontroversen, und wenn auch gegen Tren-
delenburgs bekannte ,,dritte Möglichkeit" formelle Einwände gemacht
werden mussten, so behält derselbe sachlich doch Recht, ja der Vor-
wurf, Kant habe nicht alle Möglichkeiten berücksichtigt, wurde noch
erweitert. Damach folgt S. 156 — 253 die specielle Erörterung der fünf
resp. vier berühmten Kantischen Raumargumente, wobei auf deren detail-
lirte logische Analyse der Hauptwerth gelegt wurde; auf diese Weise
suchte der Commentar die vielen Streitigkeiten über den Sinn der ein-
zelnen Argumente (insbesondere zwischen Trendelenburg und K. Fischer)
zur Entscheidung zu bringen. Der Excurs über den Raum als un-
endhche gegebene Grösse (S. 253 — 261) bot Gelegenheit, Dilthey's
oben erwähnten wichtigen Kantfund zu verwerthen. Die Erläuterung
Vorwort- V
der Transsc. Erörterung (S. 203—286) suchte ein vielumstrittenes Ge-
biet von Missverständnissen zu befreien, an denen Kants eigene Ver-
wechslung des Problems der reinen und der angewandten Mathematik
schuldig ist 5 die Aufdeckung dieser durchgängigen und verhängniss-
vollen Verwechslung betrachtet dieser Band als eine seiner Hauptauf-
gaben. Die Analyse der „Schlüsse über den Baum" schloss die Auf-
gabe ein, den berühmten Streit zwischen Trendelenburg und K. Fischer
zur definitiven Entscheidung zu bringen (S. 290 — 326)-, die Manen
Trendelenburgs werden mit derselben zufrieden sein. Ebendaselbst war
der Ort für eine ebenso fundamentale, aber mehr formelle Untersuchung,
in welcher, nach genauer Unterscheidung der Prämissen und der eigent-
lichen Beweisgänge der Transsc. Aesthetik, die Rolle der Mathematik
in derselben festgestellt werden musste — also eine vollständige methodo-
logische Analyse der Transsc. Aesthetik (S. 329— 342), eine Portsetzung
und Bewährung der schon Band I, S. 384—450 gegebenen allgemeinen
methodologischen Analyse der ganzen Kr. d. r. V. Mit diesen „Schlüssen"
haben wir den Höhepunkt der Kantischen Argumentation erreicht; was
folgt, sind Ausführungen, Bestätigungen und Recapitulationen. Auf
den Parallelabschnitt über die Zeit (S. 368 — 410), der indessen doch
nicht etwa bloss das über den Raum Gesagte wiederholt, folgt die Er-
örterung der allgemeinen Resultate der Transsc. Aesthetik (S. 410— -441),
woran sich ein Excurs über die historische Entstehung der Kantischen
Raum- und Zeitlehre anschUesst (S. 422 — 436), für dessen Anregung
ich B. Erdmann Dank auszusprechen habe. Die Erläuterung der „All-
gemeinen Anmerkungen" (S. 441 — 516) hatte noch mit vielen formellen
Unklarheiten und sachlichen Schwierigkeiten der Kantischen Darstel-
lung zu kämpfen, konnte aber wenigstens in dem Excurs über Kant
und Berkeley (S. 494 — 505) Kants Ablehnung des Vergleiches seiner
Lehre mit der Berkeley'schen bestätigen. Der Anhang über das Para-
doxon der symmetrischen Gegenstände (S. 518 — 532) wird als nicht un-
willkommene Ergänzung erscheinen, ebenso die Aufzählung der Special -
literatur (S. 533 — 548), besonders zu den Eberhard'schen Streitigkeiten
und zu der Controverse zwischen Trendelenburg und K. Fischer.
Es ist selbstverständlich, dass überall hiebei die hauptsächliche
Literatur eingehend berücksichtigt wurde ; ebenso selbstverständlich ist
aber auch, dass dabei sehr oft an den bisherigen Auffassungen scharfe
Kritik geübt werden musste. Es ist mir deshalb ein Bedürfniss, hier
im Voraus die generelle Erklärung abzugeben, dass ich auch den Werken
derjenigen Autoren, die ich oft hart bekämpfen musste, tiefsten Dank
schulde. Solchen Dank spreche ich Männern wie Cohen, B. Erd-
mann, K. Fischer, Riehl, Stadler, Thiele, Volkelt, Windel-
band sehr gerne aus. Insbesondere aus den um Kant so verdienten
Werken von B. Erdmann und A. Riehl habe ich so vieles gelernt,
dass es mich drängt, dieselben, da ich sie im Werke selbst oft auch
bekämpfen musste, an dieser Stelle als diejenigen zu nennen, denen der
Commentar und sein Verfasser das Meiste verdanken.
Aber noch einem anderen Herzensbedürfniss möchte ich hier Aus-
druck verschaflFen. Der Commentar hat an der Kr. d. r. V. so scharfe
immanente Kritik geübt, dass fast keine Seite sich findet, auf welcher
VI Vorwojdb.
nicht Kant Unklarheiten und Widersprüche, Lücken und Irrthümer
vorgeworfen würden. Das könnte den Anschein erwecken, als ginge
über der Kritik des Einzelnen der Eindruck der Gesammtgrösse des
Kantischen Geistes verloren. Nichts wäre irriger als dies. Vielleicht darf
ich daran erinnern, dass ich anderwärts Kants Kr. d. r. V. das genialste
und zugleich das widerspruchvollste Werk der ganzen Geschichte der
Philosophie genannt habe. Tritt im Commentar selbst naturgemäss die
letztere Hälfte dieses Urtheils stärker hervor, so sei es gestattet, liier
die erstere Hälfte mit besonderem Nachdruck zu wiederholen. Die un-
vergleichliche Grösse Kants und seiner theoretischen Pliilosophie — von
seiner erhabenen Moral, seiner feinsinnigen Aesthetik, seiner ins Tiefe
gehenden Religionslehre gar nicht zu sprechen — , diese Grösse Kants
ist mir nie aus dem Sinn gekommen, auch da nicht, wo ich ihn am
heftigsten bekämpfte, ja da gerade am wenigsten ; denn der Leser darf
mir glauben: ich würde meine Kraft nicht der historisch-kritischen
Analyse eines Werkes widmen, wenn ich dieses Werk nicht trotz aller
seiner Mängel im Einzelnen für ein XT^[ia eig aei hielte. Voll und
ganz unterschreibe ich daher die Worte, welche R. Haym, den schon
die Einleitung zum Ersten Bande neben Zeller und Drobisch als einen
der AViedererwecker der Kantischen Philosophie rühmte, 1856 in seinem
„W.v. Humboldt^ äussert: „Kant hat durch die Schärfe und Gründlichkeit
nicht seines Denkens allein, sondern auch durch die Grösse seines sitt-
lichen Charakters den Grund einer neuen Wissenschaft und einer neuen
Lebensordnung gelegt." Der Vorwurf, den derselbe gegen Herder
erhebt, „die erste Bedingung einer erfolgreichen Kritik, die Achtung
vor dem Werth und Gehalt des fremden Werkes" sei ihm abgegangen,
kann also diesen Commentar nicht treffen.
Diesen Commentar nannte, ich oben eine historisch -kritische Ana-
lyse. Hier muss ich mich nun einer Unvorsichtigkeit, die ich in der
Vorrede zum Ersten Bande begangen habe, schuldig bekennen: ich
sprach daselbst Anderen das Wort „Kantphilologie" nach. Cohen hatte
1871 (Th. d. Erf. Vorr. VH) zuerst von der „philologischen Genauig-
keit" ge8])rochen, mit welcher Kant behandelt werden müsse; 187G
sprachen Laas (Ks. Analog, d. Erf. S. 2, 277, 356) und Liebmann
(Z. Anal. d. Wirkl. S. 214), Riehl (Philos. Kriticismus I, 17) und
Windelband (Viert, f. wiss. Philos. I, 232) von „Kantphilologie" im
Sinne einer gründlichen und sorgfältigen Erforschung Kants. Paulsen
sprach über dieselbe (Viert, f. wiss. Philos. 11, 497) 1878 das treffende
Wort aus: „Die wirkliche und wahre Philologie befreit von dem Joch
der Autorität, welches ein unsicher und halb aufgefasster Gedanken-
kreis aufzuerlegen pflegt." Und 1881 nennt B. Erdmann (Nachtrage
zu Kants Kr. d. r. V. S, 58) die Kr. d. r. V. „ein Werk, das die
philologische Erklärung des Einzelnen durchaus fordert, so gerecht-
fertigt der Anspruch des Philosophen ist, man solle es aus der Idee
des Ganzen heraus zu verstehen suchen." Als ich mich im Anschlud:^
an diese Vorgänger auch des Ausdruckes „Kantphilologie" bediente,
konnte es meinem damals noch harmloseren Gemüthe nicht beifallen,
dass man den Ausdruck in einem ungünstigen Sinne auslegen könnte.
Was sollte denn der Ausdruck anderes besagen, als Uebertragung der
Vorwort. VII
exacten Methode, wie sie in den anderen historischen Wissenschaften
gehandhabt wird, auf das Kantstudium? Dabei schwebte, worauf speciell
hingewiesen war, als Vorbild jene objective streng sachliche und bis
ras Einzelnste pünktliche Methode vor, wie sie Zell er in mustergültiger
Weise in die Geschichte der griechischen Philosophie eingeführt hat.
Mit Einem Worte: Kant sollte ähnlich behandelt werden, wie Piaton
oder Aristoteles. Um dies zu bezeichnen, dazu mochte der Name „Kant-
philologie" übel gewählt sein; aber es konnten nur solche an demselben
Anstoss nehmen, „für welche," wie B. Erdmann treffend bemerkt hat,
^die philologische Methode nicht die selbstverständliche Grundlage
wissenschaftlicher Geschichtsforschung ist."
Die geschichtliche Erforschung der früheren philosophischen Systeme
hat aber der Portbildung der Philosophie selbst zu dienen; zu dieser
sein bescheiden Theil beizutragen, möchte sich der Commentar nicht
nehmen lassen; in diesem Sinne glaube ich denselben als eine historisch-
kritische Untersuchung bezeichnen zu dürfen. Die bis ins Einzelne
gehende logische Analyse der Kr. d. r. V. ist ja zwar auch schon ohne
diese kritische Tendenz ein werthvoUer Selbstzweck; wer die Argu-
mentationen Kants mit logischem Blicke bis ins Einzelnste verfolgt,
wird schon durch diese rein formale Gymnastik methodisch geschult;
auch wird der Verfasser gelegentlich einige der dabei gewonnenen
logischen Resultate in allgemeineren „Logischen Untersuclmngen" zu ver-
werthen suchen. Aber die logische Analyse der Kantischen Argumen-
tation kann, wenn sie gelungen ist, auch hoffen, die sachlichen Probleme
selbst zu fördern. Treffend hat Windelband als die Hauptaufgabe
der Geschichte der Philosophie bezeichnet: die Geschichte der Pro-
bleme und Begriffe; nur so aufgefasst, könne das historische Studium
die systematische Arbeit unterstützen. Genau in diesem Sinne ist dieser
Commentar einst entworfen worden, genau diese Absicht verfolgt er
noch jetzt. Und wer den Commentar in diesem Geiste benützt, in dem
er abgefasst ist, der wird in demselben auch nicht mehr „das philo-
sophische Pathos" vermissen. Das echte philosophische Pathos entlädt
sich in fortgesetzter geistiger Arbeit an den philosophischen Problemen;
fruchtbare Arbeit an denselben ist aber nur möglich auf historisch-
kritischer Basis. Und Arbeit, die aus solchem philosophischem Trieb
entsteht, hat auch die Blraft, bei Anderen geistige Arbeit und philo-
sophisches Interesse zu wecken.
Nach diesen verschiedenen Herzensergüssen bleibt mir nur noch
übrig, für die vielfache thätige Theilnahme zu danken, welche dem
Commentar von Anfang an von den verschiedensten Seiten zu Theil
geworden ist. Insbesondere habe ich für viele auf Kant bezügliche
Zusendungen aus aller Herren Ländern zu danken; eine Aufzählung
der einzelnen Namen würde aber mehrere Seiten in Anspruch nehmen,
ich muss mich daher mit diesem generellen, aber darum nicht minder
herzlichen Danke begnügen. Es wurde mir so die Aufgabe erleichtert,
die möglichste Vollständigkeit der Literatur zu erreichen. Absolute
Vollständigkeit ist allerdings ein unerreichbares Ideal. Um aber wenig-
stens das Erreichbare leisten zu können, wiederhole ich hier die Bitte,
mich durch Zusendung der Kantiana (auch aus älterer Zeit) zu unter-
VIII Vorwort.
stützen, insbesoudere durch Zusendung der oft sonst schwer oder gar
nicht zu beschaffenden Programme, Dissertationen, Joumalaufsätze,
Recensionen u. s. w., die sich direct oder auch indirect auf Kant be-
ziehen. Insbesondere ersuche ich die SpecialcoUegen an den anderen
Universitäten, die rechtzeitige Uebersendung der daselbst gearbeiteten
Kantdissertationen an mich wie bisher gütigst zu bewirken, resp. zu
veranlassen.
Fül* solche und andere thätige Theilnahme danke ich im Voraus
herzlich; mir selbst aber wünsche ich, dass es mir vergönnt sein möge,
den Commentar bald zu Ende zu bringen. Wenn nicht wiederum
unerwartete und unerwünschte Hindemisse eintreten, glaube ich die
beiden noch ausstehenden Bände, welche gerade die wichtigsten Theile
der Kr. d. r. V. zum Gegenstand haben werden, in verhältnissmässig
kurzer Zeit fertigstellen zu können.
Halle a. S., im September 1892.
H. V.
Commentar zur Transscendentalen Aesthetik.
Torbemerkungen« üeber den Sinn des Titels; „Transsc. Aesth." vgl.
I, 467 ff sowie unten zu A 21. üeber die Stellung derselben als „Erster
Theil deiTranssc. Elementarlehre" vgl. I, 484 f., 492 f. — Die hier beginnende
Paragraphen-Eintheilung bat Kant erst in der 2. Aufl. hinzugefügt, hat sie
aber nur theil weise durchgeführt, nämlich bis zur „Deduction der Kategorien*
(§ 27): »Nur bis hierher halte ich die Paragraphen-Abtheilung für nöthig,
weil wir es mit den Elementarbegriffen zu thun hatten* u. s. w. Schütz
hatte in der AUg. Lit.-Zeit. 1785, III, 41 darauf aufmerksam gemacht, dass
diese Aenderung nützlich wäre, schon um Bückverweisungen zu ermög-
lichen. So hat sich denn Kant dieser , Sitte der Zeit anbequemt* (Erd-
mann, Ks. Kriticismus 114. 164). Aber die unvollkommene Durchführung
der allerdings nicht unerheblichen Aeusserlichkeit erregte besonders bei den
Wolffianem, deren Stärke gerade in diesem Punkte gelegen war, Anstoss;
so tadelt Schwab noch im Jahre 1796 in seiner Preisschrift 182 — 134 Kant
hierüber ebenso ausführlich als heftig und lobt im Gegensatz zu Kants
,freyem philosophischem Gang* die verschmähte „Pedanterey* Wolffs. —
Dass die Paragraphen-Eintheilung spec. in der Aesthetik einen sachlichen
Fortschritt bedeute, behauptet Cohen, Erf. 2. A. 217 (253). Dass sie im
Einzelnen nachlässig durchgeführt ist, beweist A dick es S. 76 N.
§ 1.
Einleitnng.
Yorbemerkung. Dieser einleitende Paragraph gibt eine Reihe wich-
tiger Definitionen und grundlegender Voraussetzungen. Dieselben sind unten
(zu A 26) in dem Excurs: Methodologische Analyse der Transsc.
Aesthetik übersichtlich zusammengestellt und in ihrer Bedeutung für den
systematischen Aufbau der Kantischen Lehre gewürdigt.
Auf welche Art u. s. w. Dieser erste Satz ist formell schlecht
gebaut, weniger wegen der Wiederholung des Wortes „Mittel* in ver-
schiedenen Beziehungen, als weil die Ergänzung zu „diejenige* nicht deutlich
hervortritt: es ist wohl „Art* zu ergänzen, wie auch Meilin I, 702 bemerkt.
Vaihinger, Kant-Commentar. 11. 1
2 § 1. Einleitung.
A 19. B 83. [B 31. H 55. K 71.]
Sachlich bietet der Satz zn verschiedenen Bemerkungen Anlass: 1) Kant
spricht hier von verschiedenen „Arten** der Erkenntniss, resp. der Be-
ziehung einer Erkenntniss auf Gegenstände. Was für , Arten' mag er damit
im Auge haben? Er spricht in mehrfachem Sinne von solchen (A 6, Prol.
§ 1. 2; A 844; Prol. § 57; A 157). Am ehesten passt aber hieher die Ein-
theilung der „Erkenntniss arten'', welche sich A 68, A 262 = B 318, Proleg.
§ 43, sowie § 56 findet, in Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft. Ausser
diesen mag Kant auch noch an die übrigen, nach anderen Eintheilungs-
principien entstehenden Arten gedacht haben, deren mehr als zwanzig auf-
gezählt werden bei Mellin, Wörterb. II, 377 ff. Kunstsprache I, 82. 11, 28,
sowie bei Schmid, Wörterb. 222 ff. Vgl. Nathan, Ks. Logik S. 51 f.
2) Kant nennt hier die Anschauung eine Art der Erkenntniss.
Ebenso auch A 320. Diese Bezeichnung widerspricht a'ber direct den sonstigen
bekannten Erklärungen Kants, besonders am Anfang der Analytik A 51, dass
nur die Vereinigung von Sinnlichkeit und Verstand „Erkenntniss' gebe.
Dieser Widerspruch ist schon früh den Commentatoren aufgefallen. So sagt
Mellin 11, 383: „Zu den Erkenntnissen wird auch die blosse Anschauung
gerechnet, aber etwa so, wie man die Eins zu den Zahlen rechnet; sie ist
ein nothwendiger Bestandtheil aller Erkenntniss, aber die Anschauung ohne
Begriff ist blind; man kann daher nur uneigentlich sagen, das An-
schauen sei die eine Art zu erkennen.' Vgl. auch Beck, Auszug III, 367.
Auch Jacob in seinen anonym erschienenen „Briefen eines Engländers*
(1792) tadelt S. 173 ff. 223 f. diesen „zweideutigen Gebrauch'. „Es hängt
dem Worte Erkenntniss unstreitig in den Kantischen Schriften eine
gewisse Ambiguität an, welcher nicht mit der gehörigen Sorgfalt vorgebeugt
ist. Denn einmal wird behauptet, dass die Anschauung eine Erkenntniss sei,
und dann heisst es doch durch die ganze Kritik, dass zu jeder Erkenntniss
Anschauung und Begriff in Verbindung gehören.' Dieser letztere Sprach-
gebrauch sei aber nicht zu billigen, da doch auch die Tbiere, welche ohne
Begriff auskommen müssen , eine gewisse Erkenntniss der Dinge hätten. —
Der Widerspruch löst sich am einfachsten, wenn wir bei Kant eine weitere
und eine engere Bedeutung des Ausdruckes „Erkenntniss' an-
nehmen : an dieser Stelle hier ist Erkenntniss im weiteren Sinne genommen,
an den anderen im engeren. Eine andere Lösung gibt Arnoldt, R. u. Z.
50 ff. Hiezu vgl. auch Primavesi-Baur, Beiträge S. 17 — 34. — Hiemit
sind zu vergleichen die weiter unten folgenden Erörterungen über die
„Gegenstände' der Anschauung.
3) Kant spricht davon, dass die Anschauung sich auf die Gegenstände
unmittelbar beziehe. Was soll dies heissen: „Die Erkenntniss, die An-
schauung bezieht sich auf Gegenstände'? Mellin I, 702 gibt eine ganz
falsche Erklärung. Die Ausdrucksweise ist absichtlich ganz allgemein und
neutral gehalten und hat den Sinn, dass eine Vorstellung einen realen Inhalt
und Werth habe, nicht bloss leer sei. Vgl. dazu die Bestimmungen hierüber
in der Analytik A 155 f. lieber die Unklarheit des Wortes „beziehen' in
Die Anschauung. 3
[R 31. H 55. E 71.] A 19. B 88.
diesem Zusammenhang klagt auch schon Bendavid in seiner Preisschrift
,Ueber den Ursprung der Erkenntniss' (1803) S. 10. 84. Vgl. dazu auch
Jacobs anonyme „Briefe eines Engländers^ S. 223 f. Spicker, Kant,
S. 64 f. Der Ausdruck wurde dann mit besonderer Vorliebe von Rein hold
angewendet; Aenesidemus 189 ff. klagt über „die äusserst schwankende,
unbestimmte und zweideutige Bedeutung* dieses Begriffes bei Reinhold, was
dessen Anhänger Visbeck 135 ff. nicht zu entkräften vermag. Ausführlich
beschäftigt sich Beck, Ausz. III, 8 ff. 106 ff. mit dem Sinne des Ausdruckes.
Vgl. Rehmke, Welt 265 ff.
4) Dass die Anschauung sich unmittelbar auf die Gegenstände
beziehe, ist eine wichtige Bestimmung, deren nothwendige Ergänzung die
Behauptung ist, dass das Denken sich nur mittelbar auf die Gegen*
stände beziehe. Kant wiederholt diese Bestimmungen oft: so gleich unten
B41. A 68.108. 320. So heisst es A 374: das Wirkliche sei das unmittel-
bar durch empirische Anschauung Gegebene. Vgl. Cohen, 2. A. 236. 269;
und bes. desselben „Infin. Methode" S. 17 — 20. Mellin I, 256 f. Der Sinn
davon ist, dass zur Anschauung nichts Anderes, nichts Weiteres
erforderlich ist, als die Affection durch den Gegenstand selbst. So Lossius
I, 298. In welchem Sinne nun im Gegensatze dazu das Denken als ein
bloss mittelbares Vorstellen bezeichnet wird, darüber gleich unten. (Mittel-
bar = per coneeptua. Nachgel. Werk XIX, 445).
5) Dass „alles Denken' nur „als Mittel auf die Anschauung
abzwecke", oder, wie es gleich nachher am Schlüsse dieses Absatzes heisst,
dass »alles Denken sich zuletzt auf Anschauung beziehen müsse*^,
das ist ein Satz, in welchem, wie schon Jacobi (W. W. II, 32) betont, ein
Hauptprincip , resp. ein Haupt r es ul tat der Kantischen Philosophie aus-
gesprochen ist. Offenbar ist dieser ausserordentlich wichtige Satz hier nicht
als eine peiitio principii axiomatisch als Prämisse an die Spitze der Unter-
suchung gestellt, sondern kann nur als eine antecipatorische Bemerkung
gefasst werden. — Diese Lehre, dass , alles Denken sich auf Anschauungen
bezieben müsse" (dass das Denken ohne Anschauung werthlos sei), nennt
Lange in seiner Gesch. d. Mat. II, 32 „ vortrefflich '. Sie ist gegen den
Dogmatismus gerichtet, welcher begriffliches Denken über alle Anschauung
und Anscbauungsmöglichkeit hinaus für das Erkenntnissorgan hält. Die
Stelle enthält somit die erste Hälfte des bekannten Satzes A 51: „Gedanken
ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind." Vgl.
Mellin I, 262. Vgl. Kants Reflexionen I, 1, S. 86. Vgl. auch Krit.
A719 = B747. — Vgl. Cohen, 1. A. 82; 2. A. 107. 189. Denselben
Sinn hat auch der Zusatz, welchen Kant zu dem Worte „Anschauung"
hier in seinem Handexemplar gemacht hat und welchen B. Erdmann in
seinen Nachträgen zu Kants Kr. d. r. V. (1881) S. 15 mittheilt: (An-
schauung) „ist dem Begriffe, der bloss Merkmal. der Anschauung ist, ent-
gegengesetzt. Das Allgemeine muss im Einzelnen gegeben werden. Dadurch
hat's Bedeutung.'
4 § !• Einleitung.
A 19. B 38. [R 81. H 55. E 71.]
Bemerkenswerth sind die Verhandlungen , welche über diesen ersten
Satz zwischen Sigm. Beck und Kant stattgefunden haben. Bei der Aus-
arbeitung seines , Erläutern den Auszuges* blieb Beck mit seiner schwer-
fUUigen Gewissenhaftigkeit sogleich an diesem ersten Satze hängen. In
seinem Briefe an Kant vom 11. XI. 91 (Altpreuss. Mon. XXII, 407) sagt er:
„Die Kritik nennt die Anschauung eine Vorstellung, die sich unmittelbar
auf ein Object bezieht. Eigentlich wird aber doch eine Vorstellung aller-
erst durch Subsumtion unter die Kategorien objectiv. Und da auch die
Anschauung diesen gleichsam objectiyen Charakter auch nur durch Anwen-
dung der Kategorien auf dieselbe erhält, so wollte ich gerne jene Bestimmung
der Anschauung, wonach sie eine auf Objecte sich beziehende Vorstellung
ist, weglassen. Ich finde doch in der Anschauung nichts mehr, als ein vom
Bewusstsein begleitetes und zwar bestimmtes Mannigfaltige, wobej noch
keine Beziehung auf ein Object stattfindet.' Die letztere komme doch erst
durch die Urtheilskraft zu Stande, welche die Anschauung dem reinen Ver-
standesbegriff subsumirt. Zu dieser Stelle machte Kant die Randbemerkung:
,Die Bestimmung eines Begriffs durch die Anschauung [umgekehrt?] zu
einer Erkenntniss des Objects gehört für die urtheilskraft, aber nicht die
Beziehung der Anschauung auf ein Object überhaupt; denn das ist bloss
der logische Gebrauch der Vorstellung, dadurch diese als zum Erkenntniss
gehörig gedacht wird. Dahingegen, wenn diese einzelne Vorstellung bloss
aufs Subject bezogen wird, der Gebrauch ästhetisch ist (Gefühl) und die
Vorstellung kein Erkenntnissact werden kann." Dazu vergleiche man Kants
Brief an Beck vom 20. I. 92 (her. v. W. Dilthey im Archiv f. Gesch. d.
Philos. II, 622): hier kommt er dem Beck'schen Einwurfe mehr entgegen
und gibt zu, dass auch schon jene Beziehung der Anschauung auf ein Object
überhaupt eine kategoriale Function einschliesse. Weitere Ausführungen
darüber in Becks Brief an K. vom 31. V. 92 (Altpr. Mon. XXII, 409 ff.:
vgl. auch den Brief vom 10. XI. 92 a. a. 0. 420): „Ich meine, dass man
in der transsc. Aesth. die Anschauung gar nicht erklären dürfe durch die
Vorstellung, die sich unmittelbar auf einen Gegenstand bezieht, und die
da entsteht, indem der Gegenstand das Gemüth afficirt. Denn in der
Transc. Logik kann erst gezeigt werden, wie wir zu objectiven Vorstellungen
gelangen." Diese Darstellung hat Beck auch in seinem Auszug S. 7 f. fest-
gehalten. Diese ganze Streitfrage wird am einfachsten entschieden, wenn
„Gegenstand" bald in laxerem, bald in strengerem Sinne genommen wird.
Vom „Gegenstand'' im eigentlichen, im strengeren Sinne j^önnte ja aller-
dings erst in der Analytik die Rede sein , nachdem die Kategorien ihre
Schuldigkeit gethan haben. Aber einen Gegenstand im laxeren Sinne kann
man auch den noch nicht kategorial verarbeiteten Anschauungen zugestehen.
In diesem letzteren Sinne gebraucht hier Kant offenbar den Ausdruck
„Gegenstand'', und diese Unterscheidung mag er auch in jener oben mit-
getheilten Randbemerkung gemeint haben. Uebrigens wird hierüber sogleich
unten S. 17 — 18 weiter die Rede sein.
Die Anschauung und ihr Gegenstand. 5
[R 81. H 55. E 71.] A 19. B 88.
■ Diese einfache Distinction hilft vollständig über die von Beck erhobenen
Schwierigkeiten hinweg, mag nun Kant selbst, als er die Stelle niederschrieb,
dieselbe deutlich im Bewnsstsein gehabt haben oder nicht. Auf keinen Fall
aber ist die Ansicht Becks richtig, welche derselbe nun — ausgehend von
dem Wortlaut dieser Stelle — entwickelt; in dem III. Bande seines „Aus-
zuges", „welcher den Standpunkt darstellt, aus welchem die Kritische Philo-
sophie zu beurtheilen ist", behauptet Beck nämlich: Kant habe absichtlich
nicht sogleich am Anfang die ganze Tiefe und Höhe seiner Philosophie
enthüllt, um die Leser von dem gewöhnlichen Standpunkt „nach und
nach" auf den „transscendentalen Standpunkt" zu führen (6). Ebenso im
Brief an Kant vom 17. VI. 94 (Altpr. Mon. XXII, 431). Weiteres dann
III, 845—347. Dieser „einzig mögliche Standpunkt" besteht nach Beck in
der Stellung, welche Kant in der Deduction der Kategorien (nach der 2. Aufl.)
eingenommen hat. Nun hat Kant daselbst allerdings einige wesentliche
Punkte anders bestimmt als in Einleitung und Aesthetik ; aber diese Unter-
schiede sind nicht auf eine bewusste pädagogische Tendenz Kants zurück-
zuführen, sondern darauf, dass Kant in der Deduction, dem zuletzt ab-
geschlossenen Theile seines Werkes, über jene anfänglichen Bestimmungen
selbst hinausging, theil weise sogar mit denselben in Widerspruch gerieth.
Die innere sachlich-historische Entwicklung Kants hat also zu jenen Er-
weiterungen, Vertiefungen und Widersprüchen geführt. Diese historische
Theorie, welche dem heutigen Stande der Kantwissenschaft entspricht, ist •
selbstverständlich richtiger und natürlicher, als jene künstlich*ersonnene und
pedantisch durchgeführte Accommodationstheorie Becks. Beck hat von
jenem „transcendentalen Standpunkt" aus in dem erwähnten dritten Bande
bes. Einleitung und Aesthetik „revidirt" S. 345 ff. Wir werden im Folgenden
auf diese „Commentation" nur eingehen, insoweit daraus direct oder indirect
Gewinü für das wirkliche Verständniss des Textes und seiner Beziehungen
zu den späteren Theilen der Kr., sowie für die Einsicht in die historische
Weiterentwicklung der Philosophie zu gewinnen ist.
Anschauung. Kant gebraucht hier und fernerhin immer „Anschauung"
im weitesten Sinne, nicht bloss von Gesichtsvorstellungen, sondern von
Affectionen aller Sinne überhaupt. Vgl. dazu Meilin, Wörterb. I, 257 (und
V, 108). Ueber diese „uneigentliche und tropische" Benennung s. Bendavid,
ürspr. d. Erk. 34. Lossius, Lex. I, 298. Krug, Lex. I, 160. Kiese-
wetter, Logik I, 34. Metz, Logik 214. Weishaupt, Die Kantischen
Anschauungen und Erscheinungen, 1788, S. 5 ff., führt aus, das Wort „An-
schauung" sei der K/schen Schule eigenthümlich statt des sonst üblichen
„Empfindung". Kant habe wohl deshalb den ersteren Ausdruck gewählt, um
die Zusammensetzung „reine Anschauung" bilden zu können, da doch „reine
Empfindung" nicht möglich gewesen wäre. Jacob bemerkt in Kosmanns
Magazin I, 4, auch videre^ intuerij l^tlv werden schon in dieser allgemeinen
Bedeutung genommen für alle äusseren und inneren Sinne. In der That
gebraucht auch Piaton , Rep. 507 D 523 E o'kc statt aio6-y)oic als stellver-
6 § 1. Einleitung.
A 19. B 88. [R 81. H 55. E 71.]
tretend für alle Wahrnehmungen. — Gegen den Kantischen Sprachgebrauch
hat sich Herder, Met. I, 78 ff., heftig ereifert. Doch ist der K.'sche Sprach-
gebrauch heute ziemlich allgemein geworden; und da weitaus der grOsste
Theil unserer Empfindungen dem Gesichtssinn angehört, so ist gegen diese
Denominatio a potiori nicht viel einzuwenden. Vgl. auch Grimms Deutsches
Wort. I, 436. Ks. Anthr. § 17. Volkmann, Psych. § 37.
Der Gegenstand wird uns dadurch gegeben, dass er uns affteirt.
Die Schwierigkeit der vielbesprochenen Stelle besteht in dem Ausdruck
„Gegenstand*^. Der Ausdruck ist uns oben schon einmal entgegengetreten
und hat uns schon dort Schwierigkeiten gemacht, welche gelöst wurden
durch die Unterscheidung von Gegenstand im laxeren und im strengeren
Sinn; aber in beiden Bedeutungen trat uns der „Gegenstand'^ entgegen als
Inhalt der Anschauung; im ersten Theil dieses Satzes tritt er uns noch
in derselben Bedeutung entgegen; aber im zweiten Theil desselben tritt
derselbe nun auf als Ursache der Anschauung, und daraus entwickebi
sich nun ganz neue Schwierigkeiten, die sich nur durch eine neue Distinction
desselben Ausdruckes werden lösen lassen.
Wenn man den Satz zunächst seinem Wortlaute nach nimmt, so
sagt er offenbar: Wir erhalten dadurch die Vorstellung von Gegenständen,
d. h. den Inhalt der Anschauung, dass eben diese selben Gegenstände auf
uns eine Affection ^ ausüben. Von den Gegenständen und ihrem Ver-
hältniss zu unserer Vorstellung derselben wird also hier ganz im Sinne
des gemeinen Mannes gesprochen (vgl. dazu Weishaupt, Ansch. u. Ersch.
S. 23 ff.).
Es fragt sich bloss: ist das wirklich Kants Meinung und Absicht
gewesen, als er diese Stelle niedergeschrieben hat? Mit Ja! beantwortet
diese Frage neuerdings z. B. Drobisch, Ks. Dinge an sich S. 8. 37; ebenso
bes. neuerdings Böhringer, Ks. erk.-theor. Idealismus, 1888, S. 78 — 80.
Aber andere Stellen, zunächst eben der Transsc. Aesthetik selbst, fordern
zu einer ganz anderen Auslegung auf: aus dem Folgenden, bes. A S. 26 ff.
34 ff. 38. 41 ff. geht hervor, „dass überhaupt nichts, was im Räume an-
geschaut wird, eine Sache an sich sei, sondern dass uns die Gegenstände
an sich gar nicht bekannt seien, und, was wir äussere Gegenstände
nennen, nicht« anderes als blosse Vorstellungen unserer Sinnlichkeit seien,
deren Form der Raum ist, deren wahres Correlatum aber, d. h. das Ding
an sich selbst dadurch gar nicht erkannt wird^ (29). „Erscheinung hat
jederzeit zwei Seiten, die eine, da das Object an sich selbst betrachtet
wird (unangesehen der Art, dasselbe anzuschauen), die andere, da auf die
Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird, welche nicht in
dem Gegenstande an sich selbst, sondern in dem Subject, dem derselbe
erscheint, gesucht werden muss*^ (38). Aus diesen Stellen geht hervor, dass
* Ueber diesen Ausdruck vgl. Comm. I, 175 f. (über »Rühren"). Mellin
I, 89 weist den Ausdruck schon bei Cudworth nach.
Der empirische und der transscendente Gegenstand. 7
[R 31. H 56. E 71.] A 19. 6 88.
Kant, wie so viele Ausdrücke, so auch den hier in Frage kommenden Aus-
druck y Gegenstand" in einem zweifachen Sinne gebraucht:
1) Gegenstand = empirisches Object, wie es in unserer empiri-
schen Vorstellung uns gegeben wird.
2) Gegenstand = transscendentes Object, wie es an sich ist ohne
unsere subjective Yorstellungsweise.
In diesem Sinne wird , Gegenstand" schon erklärt z. B. von Schmid
in seinem Wörterbuch S. 260 ff. , von Schultz in seiner Prüfung der
Kantischen Kr. d. r. V. II, 279.
Wenn wir die so gewonnene Einsicht auf die vorliegende Stelle an-
wenden, so würde also in ihr nicht gesagt, dass der Gegenstand in der«
selben Bedeutung uns erst afficire und dann von uns vorgestellt werde,
sondern wir müssen eben „Gegenstand" in doppelter Bedeutung nehmen:
der Gegenstand qua Ding an sich afficirt uns, dadurch erhalten wir eine
Vorstellung, und in dieser Vorstellung wird uns der Gegenstand qua Er-
scheinung gegeben. Der Gegenstand wird uns also nicht in derselben
Weise , gegeben", wie er uns „afficirt"; als , gegebener" ist er empirische
Vorstellung, als «afficirender" ist er transscendentes Ding an sich; in jenem
Sinne ist er Product, in diesem Producent. Dass freilich beide „Gegenstände"
in einem und demselben Satze ohne jede Aufklärung nebeneinander stehen,
ist sehr verwirrend — eine Verwirrung, welche sich freilich häufig bei Kant
findet, und z. B. sogleich in dem folgenden, zweiten Absatz sich wiederholt ^
Diese Auslegung finden wir auch in der That bei neueren Kant-
forschern. Holder macht in seiner „Darstellung der Kantischen Erkenntniss-
theorie" (1874) S. 6 ff. auf die Doppelbedeutung von „Gegenstand" am An-
fang der Aesthetik aufmerksam. (Holder fügt die richtige Bemerkung
hinzu, dass Kant diese empirischen Gegenstände mit Vorliebe, wenn auch
nicht ausschliesslich als „Objecte" bezeichne. Es ist indessen hiezu zu be-
merken, dass jfOhjectum^ auch schon in der Dissertation von 1770 [§ 3. 4.
5. 10. 11] dieselbe Doppelbedeutung hat, wie „Gegenstand", — bald das
Atficirende, bald das Resultat der Affection; bald das Producirende , bald
das Product. Wenn dann Holder im Anschluss an jene seine Bemerkung
den Vorschlag macht, den Ausdruck „Gegenstand" oder „Object" für die
Welt der Erscheinungen zu reserviren, für die von unserer Vorstellungswelt
^ Man könnte zur Vertheidigung Ks. sagen wollen, er habe das Recht gehabt,
sich hier am Anfang des Werkes unbestimmt und neutral auszudrücken; im
Verlauf desselben ergebe sich ja, dass der gebende Gegenstand an sich und der
gegebene Gegenstand für uns, welche hier identisch erscheinen, durchaus zu trennen
seien. So z. ß. Wernicke in dem unten S. 17 erwähnten Manuscript: „Was im
Eingange der Kritik als Eins erscheint, zerfällt im Laufe der Untersuchung in
Verschiedenes"; so auch Staudinger, Noumena .33. 65. — Aber in so funda-
mentalen Definitionen, wie sie hier von K. gegeben werden, dürften eben keine
solche unbestimmten Ausdrücke vorkommen, welche das Verständniss von vorne-
herein erschweren, wenn nicht irreführen.
8 § 1. Einleitung.
A 19. B 88. [B 31. H 55. E 71.]
unterschiedenen, dieselbe bedingenden Realitäten dagegen stets der Bezeich-
nung „Dinge*', »Dinge an sich* sich zu bedienen, so ist dieser an sich
empfehlenswerthe Vorschlag ^ darum nicht durchführbar, weil Kant sich
selbst nicht an diese feste Terminologie gehalten hat.)
Auch H. Wolff ( 9 Zusammenhang uns. Vorst. mit Dingen ausser uns",
1874, S. 34. 129) hat richtig erkannt, dass E. hier „Gegenstand' in zwei
ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht, die er als „erstes Object' und
„zweites Object' unterscheidet ^ Biedermann, Christi. Dogm. 2. A. I, 61 ff.
unterscheidet „metaphysischen und physischen Gegenstand '. Auch D robisch,
Fortb. d. Ph. d. Herbart 8. 8, nennt den Namen der Gegenstände hier
„doppeldeutig*. Vgl. Lehmann, Ks. Lehre vom D. a. s. Diss. Berl. S. 5 — 8.
E. V. Hartmann, Transc. Real. XVIL 61. Staudinger, Noumena 2. 29.
33. 39. 65. 113 unterscheidet den transsubjectiven Gegenstand, auf welchen
ich die Erscheinung beziehe , und den apperceptiven (kategorialen , empiri-
schen) Gegenstand, durch welchen ich das Mannigfaltige einheitlich zu-
sammenfasse und eben auf jenen beziehe.
Benno Erdmann war auf den Doppelsinn von „Gegenstand" schon
aufmerksam geworden in seiner Dissertation („Die Stellung des Dinges an
sich in Kants Aesthetik^ u. s. w. 1873, S. 8. 9. 11. 18. 24), und hat sich
darüber weiter ausgelassen in seiner „Einleitung*' zu Ks. ProUgomena
pag. XLV. Lin. LIX. LXVIII, sowie in seiner Schrift über Ks. Kriticismus
S. 19. 41. 45. 109. Mit Recht bemerkt E. dazu in der Einl. zu den Prol. XLV,
darin liege „die Voraussetzung einer Vielheit wirkender Dinge an sich,
deren jedes einer bestimmten Erscheinung entspricht. Diese Voraussetzung
wird als solche nicht ausgesprochen, sie ist jedoch in dem Doppelbegriff des
Gegenstandes enthalten, von dem Kant ausgeht*. „Ohne diese als selbst-
verständlich geltende Annahme der Existenz einer Mehrheit wirkender Dinge
an sich würde die Aesthetik sinnlos sein*' (ib. IL). „Diese Voraussetzung
ist das Fundament der Aesthetik und der Analytik (ib. LH), sowie auch
der Dialektik" (ib. LV. LIX). [üeber diese „Voraussetzung* Kants vgl. auch
die Erläuterungen zum folgenden Satze, S. 14—16, wo die Dinge an sich
als CorreUUa der Sinnlichkeit auftreten.]
Gegen diese völlig zutreffenden Erklärungen hat Emil Arnoldt in
seiner Gegenschrift „Kants ProUgomena nicht doppelt redigirt" (1879)
^ Schon Schopenhauer hat diesen Sprachgebrauch durchzuführen gesucht;
ebenso £. v. Hartmann, Transac. Real. XVIII. Vgl. Lehmann, Ks. Lehre vom
D. a. 8. 8 ff.
' Ganz ähnlich unterschied schon 1798 Garve, Princ. d. Sittenl. 194 ,0b-
jecte erster Ordnung* und „Objecte zweiter Ordnung*. (Vgl. auch Bouterweck,
Anfangsgründe [1800] 203.) Auf dasselbe zielt auch Lichtenbergs bekannte
Unterscheidung , der in seinen Verm. Schriften (1844) S. 84 ff. im Anschluss an
Kants Distinction zwischen „ ausser uns* im transscendentalen und im empirischen
Sinne (A 373) jene als „Dinge praeter noa'*, diese als „Dinge extra nos*
bezeichnet.
Dinge an sich ak Yoraussetzung. Das Gemüth. 9
[R 81. H 65. E 71.] A 19. B 83*
S. 45 — 53 sich ebenso wortreich als unzutreffend ausgesprochen. Dass diese
Voraussetzung afificirender Dinge an sich hier so nackt ausgesprochen ist,
war ja den idealistischen Kantianern von jeher sehr unbequem. Was nun
aber Arnoldt selbst weiter ausfährt, kommt trotz aller Verclausulirungen
und Bedewendungen genau auf dasselbe hinaus, was Erdmann gesagt hatte:
dass eben den Empfindungen resp. den Empfindungsgegenständen afficirende
transscendente Oegenstftnde entsprechen ^
Diese Polemik von Arnoldt (welcher übrigens die von ihm bekämpfte
Unterscheidung selbst 1870 in seiner Abh. über die transsc. Ideal, d. Baumes
S. 56 vertreten hatte) würde somit an sich nutzlos sein, wenn sie nicht auf
einen tiefen Schaden des Kantischen Systems hinweisen würde. Amoldts
Polemik gegen die afficirenden Dinge an sich ist von dem Bestreben dictirt,
Kant von dem eben angedeuteten Widerspruch zu befreien. Wenn wir aber
diesem Bestreben folgen, so müssen wir zu jener ersteren Auslegung zurück-
kehren, wonach als afficirende Gegenstände hier eben die Dinge des gewöhn-
lichen Menschenverstandes zu verstehen sind. Aber diese Annahme, die denn
auch Arnoldt gelegentlich selbst vertritt, führt uns in noch tiefere, ebenfalls
schon angedeutete Schwierigkeiten hinein — Schwierigkeiten, welche eine eigene
selbständige Untersuchung erfordern: s. hierüber den unten folgenden Excurs.
Gemfith« „ Gemüth '^ ist ein Lieblingsausdruck Kants, über dessen
Gebrauch er sich aber in der Kr. d. r. V. nicht weiter äussert. Dagegen
spricht er sich darüber aus gleich am Anfang der kleinen Schrift an Söm-
mering: üeber das Organ der Seele (1796): „Unter Gemüth versteht man
nur das, die gegebenen Vorstellungen zusammensetzende und die Einheit der
empirischen Apperception bewirkende Vermögen (anitnus) und nicht die
Substanz (anima), nach ihrer von der Materie ganz unterschiedenen Natur,
von der man alsdann abstrahirt; wodurch das gewonnen wird, dass wir in
Anschauung des denkenden Subjects nicht in die Metaphysik überschreiten
dürfen'' u. s. w. Weiter und dem Kantischen Sprachgebrauch entsprechender
ist die Definition in der Anthropologie § 22: „Gemüth als ein blosses Ver-
mögen zu empfinden und zu denken'', werde aber irriger Weise „als be-
sondere im Menschen wohnende Substanz angesehen". Nach dieser Defini-
tion ist „Gemüth" eigentlich einfach so viel als „Vorstellungsfähigkeit", wie
denn Kant auch gleich im nächsten Absatz hier diesen Ausdruck synonym mit
„Gemüth" gebraucht: im ersten Absatz lässt er das „Gemüth", im zweiten
die „Vorstellungsfähigkeit" durch den Gegenstand afficirt werden (vgl. B 72
und A 114). Den Ausdruck „Gemüth" zieht also Kant wegen seiner Neu-
tralität und Un Verbindlichkeit vor; den Ausdruck „Seele" will er vermeiden*,
' Insofern bildet allerdings , wie E. v. Hartmann , Transsc. Real. 50 ff. aus-
führt, das „Affidren'' die .Brücke* zwischen Immanentem und Transscendentem.
* Nur ansnahmsweise gebraucht K. den Ausdruck „Seele' im empirischen
Sinne ; so A 34 = Inbegriff der inneren Erscheinungen. Daher unterscheidet er
Prol, § 49 genau Seele als „Gegenstand des inneren Sinnes" von dem unbekannten
zu Grunde liegenden Wesen an sich.
10 § 1. Einleitung.
A19. B83. [R 31. H 56. E 71.]
weil dieser leicht metaphysische Begriffe und Ansprüche erweckt. So stellt
E. auch A 22 Beides gegenüber: „Der innere Sinn, vermittelst dessen
das Gemüth sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet, gibt
zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Object' u. s. w.
Denn , Seele* ist, nach A 860, „ein Name für den transscendentalen Gegen-
stand des inneren Sinnes'', von dem wir nichts wissen können. Schon in der
„Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen im Winter 1765—1766"
sagt er von der Psychologie: sie sei die Erfahrungswissenschaft vom Men-
schen; „denn was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser
Abtheilung noch nicht erlaubt, zu behaupten, dass er eine habe*. Aehnlich
noch in dem Nachgel. Werke Eants XIX, 575. Statt des alten Ausdruckes
„Seelen vermögen* gebraucht Kant daher consequenter Weise den Terminus
„Vermögen des Gemüths* oder kürzer „Gemüthskräfte*. Das System dieser
„Gemüthskräfte* entwickelt Kant bes. in der Abhandlung „üeber Pbilos.
überhaupt*, Ros I, 615 ff. üeber die spätere Geschichte des Terminus
„Gemüth* nach Kant, bes. bei Fichte, der ihm erst den emotionellen Sinn
gegeben hat, vgl. Wundt, Phil. Stud. VI, 335 ff.
Eberhard hat (Phil. Arch. I, 2, 78) daran erinnert, dass schon
Voltaire sich ganz wie Kant gegen das Wort Seele ausgesprochen hat; er
will dasselbe nicht gebrauchen, weil man kein Wort gebrauchen soll, das
man nicht versteht; er will dafür lieber das Wort: facuUS pensante setzen
{Oeuvres Ed. de Gotha XLV, 847). Spöttelnd, aber wider Willen ganz zu-
treffend bemerkt Eb. dazu: „Zu einer solchen Philosophie, zu der sich ein
jeder philosophe ignorant bereits aufs Gerathewohl bekannte, eine völlig
wissenschaftliche Theorie zu erschaffen, das konnte nur dem Tiefsinn, der
vielumfassenden Speculation, dem Mathe und der Beharrlichkeit eines grossen
deutschen Philosophen aufbehalten sein.*
Denselben Sprachgebrauch haben nun auch die Anhänger Kants; so
Mellin II, 858; Kiesewetter, Logik 1,34; vgl. Reinhold, Th. d. Vorst.
212 ff. Die Kantianer acceptirten den bequemen Ausdruck allgemein ; so
übersetzt Tennemann regelmässig Hume's „mt'nd* mit Gemüth ; auch Anti-
kantianer bedienten sich desselben gerne; so z. B. Brastberger in seinen
Untersuchungen zur Kr. d. r. V. S. 48. Doch haben Andere ihn — mit
Becht — heftig angegriffen, so z. B. Weishaupt, Ansch. u. Ersch. S. 9 ff.
So hat sich der Ausdruck, eben weil er nicht metaphysische Nebengedanken
wie der Ausdruck „Seele* einschliesst , bis heute erhalten. Auch die Neu-
kantianer, z. B. Lange in seiner „Geschichte des Materialismus*, sowie
Cohen haben den Ausdruck wieder in Curs gesetzt. Schopenhauer, Welt
II, 666 sagt: „Die Kr. d. r. V. lässt nicht zu, dass man ohne Umstände
von der Seele als einer gegebenen Realität, einer wohlbekannten und gut
accreditirten Person rede, ohne Rechenschaft zu geben* u. s. w. Schopen-
hauer verwendet aber statt „Gemüth* mit Vorliebe den Ausdruck „Intellect*,
den auch Lieb mann acceptirt hat (dag. Laas, Id. u. Pos. III, 518. 648;
331. 445). Lange hat „Organisation* dafür eingesetzt (dag. Cohen 2. A.
Das „Gemüth'* im Gegensatz zur , Seele **. 11
[B 81. H 55. E 71.] A 19. B 33.
210. 285. 410; Laas, Id. u. Pos. III, 615; v. Scbubert-Soldern, Erk.-
Theorie 264 ff.; Heinze, Viert, f. wiss. Phil. I, 178 ff.; Witte, Phil.
Monatsh. 1878, 483 ff.).
Eine irrige Consequenz hat Eiehl aus dem Kantischen Sprachgebranch
gezogen; er sagt Krit. I, 8, 308: »Wie kann man von einer Eantischen
Psychologie, einer psychologischen Kritik reden, da doch Kant den Begriff
einer Seelensnbstanz für gänzlich anerweislich erklärt?*' (Vgl. 264. 289.
302. 309. 324 über „das psychologische Vorurtheil gegen die Methode des
Kantischen Kriticismus'*.) Diese Behanptang ist aber viel zu weitgehend.
Wenn Kant die rationale Psychologie leugnet, so bleibt doch noch die
empirische übrig (nach Lange's bekanntem Ausdruck die „Psychologie ohne
Seele'), und in diesem Sinne sind genug psychologische Voraussetzungen in
Kants Kriticismus, welcher ganz auf der Basis der alten Wolffischen Ver-
mögenspsychologie aufgebaut ist.
Wie nun aber Kant den Begriff der Seele als unkritisch verwirft, so
muss er es sich gefallen lassen, dass dieselbe Kritik sich gegen seinen Begriff
des Gemüthes wendet. Es ist besonders Aenesidemus (140. 154 ff. 165 ff.
340), welcher in diesem Begriff innere Widersprüche der Kantischen Philo-
sophie auffindet. Kant habe sich nirgends darüber erklärt, was eigentlich
das Oemüth sein solle, ob ein Bing an sich, oder ein Noumenon (blosses
Gedankending) oder eine Idee. Nehme man das Gemüth, die Quelle der
nothwendigen synthetischen Urtheile, als ein Ding an sich, so entspreche
dies zwar der „gewöhnlichen Denkarf*, aber es „ widerspreche dem ganzen
Geiste der kritischen Philosophie'^, weil ja dann die Kategorien Ursache und
Wirklichkeit in jenem Begriffe auf ein Ding an sich angewendet seien, welche
doch nur empirische Gültigkeit haben sollen. Diese Annahme eines Gemüthes
widerspreche dem Abschnitt über die Paralogismen der reinen Vernunft.
(Aehnlich Eberhard, Archiv I, 4, 68.) Fasse man aber das Gemüth als
blosses Gedankending, so schwebe ja die ganze Kritik d. r. V. in der
Luft. Fasse man das Gemüth als eine Idee — und so habe es Kant wohl
gemeint — dann ergeben sich dieselben Schwierigkeiten. Dieselben Ein-
wände machte Aenesidem (98 ff. 167) auch gegen Reinholds „Vorstellungs-
vermögen* geltend (vgl. dessen Th. d. V. 212 ff. 530 ff.). Was Maimon,
Logik 355, Mellin V, 344, Fichte, W. W. I, 10 — 16 gegen Aenesidem in
diesem Punkte vorbringen, kann seine Einwände keineswegs entkräften.
(An einer anderen Stelle, II, 476'— 479, äussert sich F. doch skeptischer über
das ^Gemüth' ; vgl. dazu Cohen, 2. A. 581.) Gegen die „Transscendenz des
Subjects" wendet sich neuerdings besonders auch wieder im Anschluss an
Schuppe und Laas v. Schubert-Soldern. Vgl. bes. Schuppe, Log. 63 ff.
73 ff. gegen die „Isolirung* des Subjects. Auch die Jacob'schen Annalen
erhoben III, 186 gegen Kant den Vorwurf, er lege ungeprüft den meta-
physischen Begriff eines Subjects zu Grunde. „Denn ein solches Subject
(unserer Gedanken und Erkenntnisse) ist uns weder durch den inneren,
noch durch äussere Sinne gegeben.^ Dadurch werde die Kritik selbst
12 § 1. Einleitung.
A 19. B 33. [B 81. H 56. E 71.]
metaphysisch und verliere die Befugniss, über metaphysische Fragen in
oberster Instanz zu entscheiden.
Eine eigenthümliche Bemerkung findet sich in Jacobs Annalen 1797,
III, 190 : es sei nicht klar, ob der Ausdruck Gemüth einen Gemeinbegriff oder
einen Einzelbegriff bezeichnen solle, d. h. ob so viele Gemüther als Menschen
sind, oder ob für sämmtliche menschliche Individua nur ein einziges Gemüth
gedacht werden soll? Diese Frage ist offenbar aus dem Kreise der Beck-
Fichte'schen Kantianer heraus gestellt; sie leitet über zu der Fichte'schen
Weiterbildung des Kantianismus , denn Fichte fasst das »Ich*^ bekanntlich
(nach Windelbands treffendem Ausdruck , Gesch. d. n. Philos. II , 206.
211 u. ö.) als „ überindividuell ". Auch Windelband selbst legt Kant so
aus und spricht ib. S. 76 u. Ö. von einer „über individuellen Organi-
sation", welche Kant gelehrt habe. Die Kantische Lehre mag zu dieser
Consequenz führen, aber bei Kant selbst ist hievon nichts zu finden; Kant
nimmt offenbar ebenso viele „Gemüther" als Menschen an. — Auch Cohen
fasst das Gemüth oder das Subject nicht individuell, aber auch nicht über-
individuell als Weltvernunffc, sondern in seinem specifisch „erkenntnisskriti-
schen Sinne". Er sagt (Ks. Begründung der Aesthetik S. 106): „es ist das
in der Wissenschaft objectiv gewordene Bewusstsein." Aehnlich heisst es bei
Liebmann (An. d. Wirk. 1. A. 206) : „der Gattungstypus der menschlichen
Intelligenz."
Ueber „Gemüth" (und „Seele") vergleiche man ferner Herder, Met. I, 79
(dagegen Noire, Aphorismen 28); Baader, W.W. XI, 303; Witte, Wesen
d. Seele 22 ff., Zur Erk. 94; Knauer in Phil. Mon. XVI, 21. Wolff, Spec.
u. Phil. I, 166. Avenarius, Weltbegriff (1891), S. 106. 118. Hegler,
Psych, in Ks. Ethik (1891), S. 52 ff.
Die Fähigkeit» TorstellungeiL durcli die Art, wie wir von degen-
stSnden afflcirt werden, zu bekommen, heisst Sinnlichkeit. Diese
fundamentale Definition der Sinnlichkeit findet sich schon in der Dissertation
von 1770, sogleich am Anfang des § 3: „Sensualitas est receptivitas
BÜbjecti, per quam possihile est, ut Status ipsius repraesentalivus objecti aUcujus
praesentia certo modo afficiatur." Man erkennt unmittelbar, dass die Stelle
der Kritik eine wörtliche Wiederholung der Dissertation ist: selbst der
Ausdruck „certo modo*' findet sich hier in der Kritik in dem vorhergehenden
Satze, in welchem gesagt wird, dass der Gegenstand das Gemüth ,auf
gewisse Weise* afficire. Ebenso A 493. — Die Definition wird ihrer
Wichtigkeit halber von Kant sehr häufig ganz in derselben oder in einer
ähnlichen Form wiederholt. So z. B. unten A 44. Vgl. Holder S. 6.
Uebrigens ist bei dieser Definition der Sinnlichkeit nur die erkennt-
nisstheoretische Bedeutung derselben berücksichtigt. An anderen, späteren
Stellen hat Kant den Ausdruck „Sinnlichkeit" dahin erläutert, dass er
darunter die niedere Grundlage im Menschen versteht, sowohl im
Erkennen als im Wollen. Er unterscheidet in diesem Sinne gelegentlich
eine sensualüas repraesentativa und appetüiva. Vgl. A 583. Vgl, hierüber
Die Sinnlichkeit als ein „Vermögen". 13
[B 31. H 65. E 71.] A 19. B 38.
Schmid, Wörterb. S. 484 ff. und Mellin V, 311 ff. Von dieser Bedeutung
der Sinnlichkeit konnte Kant an dieser Stelle ruhig absehen. Dasselbe gilt
von der Ein th eilung der Sinnlichkeit in Sinn und Gefühl, welche am besten
am Anfang der Bechtslehre (Ein!. I/Anm.) entwickelt ist (vgl. Tugendl.
Einl. Xn, a).
Die Sinnlichkeit ist die niedere Grundlage im Menschen gegenüber
Verstand und Vernunft — Bestimmungen, welche Kant von früheren Dog-
matisten herübergenommen hat; schon bei den Alten, bes. bei Piaton,
findet sich ja dieselbe Eintheilung des Menschen gleichsam in zwei Etagen,
dann bei den Neueren besonders wieder bei Leibniz, sowie bei Wolff.
Besonders der Letztere hat ja die ^facultcUes animae humanae^ ganz nach
diesem Schema eingetheilt. Zur pars ivferior des Er kenntniss Vermögens
gehört die facultas sentiendi {Psyckol. empir. § 54); Wolff definirt:
Sensus est facultas percipiendi ohjecta externa, mutationem organis seiv-
sortis inducentia. Ganz ähnlich definirt Kant hier die Sinnlichkeit als die
„Fähigkeit, Vorstellungen zu bekommen" durch Affection seitens der
Gegenstände. Vgl. auch Hegler, Psych, in Ks. Ethik (1891), S. 49 ff.«
Den zufälligen Umstand, dass Kant hier an dieser Stelle gerade die
Sinnlichkeit nicht ausdrücklich als ein „Vermögen^ bezeichnet, hat sich
Cohen zu Nutze gemacht. Man macht Kant bekanntlich mit Recht den
Vorwurf, dass er in den psychologischen Grundlagen, auf welche er seine
kritische Erkenntnisstheorie aufgebaut hat, sich unkritisch an die Wolffische
Vermögenslehre angeschlossen habe. Vgl. oben S. 10. 11. Vgl. Herbart, W. W.
1, 55. 259- in, 128. Vgl. auch Drobisch, Psych. § 127. Kantianern wie
Cohen, welche im üebrigen auf dem Boden der modernen, besonders durch
Herbart vom Vermögensbegriff befreiten Psychologie stehen, ist dieser Vor-
wurf stets sehr unbequem gewesen. Da hier nun Kant nur den Aus-
druck „Fähigkeit", nicht „Vermögen** gebraucht, triumphirt Cohen (S. 16,
2. Aufl. 108; dag. 347): „Es steht nichts von Kraft oder Vermögen in
dieser Bestimmung. Das wird nicht nur apologetisch hinweggedeutet: es
ist ausdrücklich vermisst worden. Der Kantianer Krug hat an diesem
dehnbaren unparteiischen Ausdrucke Anstoss genommen.** Krug hat nämlich
in seiner „ Fundamentalphilosophie ** 3. Aufl. S. 160 in einer Anmerkung
factisch den Ausdruck „Fähigkeit** an dieser Kantischen Stelle bemängelt;
da die Sinnlichkeit auch activ sei, nicht bloss passiv, so „scheint das Wort
Vermögen schicklicher zu sein*. Es ist aber rein zufällig, dass Kant
gerade an dieser Stelle nicht diesen Ausdruck gewählt hat: an anderen
Stellen der Kr. d. r. V. bedient er sich desselben ganz ungenirt: so besonders
gleich am Anfange der Analytik (A 51), woselbst er von „Sinnlichkeit** und
„Verstand** sagt: „beide Vermögen oder Fähigkeiten können auch ihre
Functionen nicht vertauschen** ; so bes. ferner A 494, wo Kant ausdrücklieh
vom „sinnlichen Anschauungs vermögen** spricht (vgl. A 94). Vgl. die Ein-
leitung zur Kr. d. Urtheilskraft III, wo Kant von der „Kritik der Erkenntniss-
vermögen ** spricht, „was sie a priori leisten können**, und woselbst er diesen
14 § 1. Einleitung.
A 19. B 38. [R 31. H 56. E 71.]
Ausdruck sehr oft ohne alle Restriction wiederholt. Vgl. Anthropologie
§ 18 und Reflexionen II, N. 314. Es ist also allerdings eine blosse «apo-
logetische Hinwegdeutung", wenn Cohen (S. 15, 2. Aufl. S. 107) sagt, man
solle hier nicht an „SeelenvermÖgen^ denken; |,dies ist um so mehr statt-
haft, als wir durch die Kantischen Definitionen an jenen Ausdruck gar nicht
erinnert werden. Kant geht nicht von der Sinnlichkeit aus als einem
Princip, aus dem er seine Psychologie ableitet, sondern er geht Ton den
Vorgängen selber aus, nicht von einem Organ." üeber „Vermögen* vgl.
übrigens auch Mellin II, 518 ff. V, 811 fl^., der als „echter Kantianer*' ganz
derb von „Erkenntniss vermögen" und seinen einzelnen Arten spricht.
Insofern liegt in der Annahme der Sinnlichkeit auch schon wiederum die
von Kant sonst verpönte Anwendung des Causal- und des Sub^tanzbegriffes,
ganz so wie oben in der Annahme des „Gemüths*. Dies hat nach-
gewiesen A. V. Leclair, Viert, f. wiss. Phil. VII, 274 — 278, wo das „kate-
goriale Gepräge" dieser und ähnlicher erkenntnisstheoretischer Begriffe unter-
sucht wird.
• Wunderlich ist auch, was Cohen S. 16 (2. Aufl. S. 108) in die
Wendung „Die Art, wie wir von Gegenständen afflcirt werden" hineinlegt.
Diese Wendung „die Art wie" ist bei Kant sehr beliebt und eine etwas
pedantische Wendung statt — „dadurch, dass", sagt aber etwas mehr
als die letztere , insofern in jener eben nicht bloss die nackte Thatsache,
sondern eine bestimmte Modalität derselben bezeichnet werden soll. Vgl.
z. B. unten A 44, B 67 f., wo die Wendung auf kleinem Räume 5 mal
nach einander gebraucht wird. Vgl. z. B. auch A 251 und Reflexionen,
II, Nr. 817. Anthropol. § 7 Anm. Auch Thiele (Ks. intellectuelle An-
schauung S. 4.43) legt in diese Wendung zu viel hinein ; Kant wolle damit
darauf hinweisen, dass „der bestimmte Inhalt der Anschauungen den be-
stimmten Einwirkungen der Gegenstände entspricht".
Auch in dieser Definition der Sinnlichkeit bildet die schon oben S. 6 ff.
erörterte Existenz afficirender Dinge an sich ein analytisches Merk-
mal, eine nicht weiter bewiesene Voraussetzung (bes. deutlich bei Rein-
hold, Th. D. Erk. 279 ff.); diese Definition war daher denjenigen sehr un-
bequem, welche die Affection durch unabhängige Dinge an sich perhorres-
cirten und möglichst Alles aus dem Ich selbst hervorgehen lassen wollten.
Dies zeigt sich bes. bei Beck, welcher, während er oben S. 4 die Ein-
führung des empirischen (durch Kategorien bestimmten) Gegenstandes gleich
am Anfang bekämpft, hier sich gegen die Einfuhrung des transscendenten
(afficirenden , unsere Sinnlichkeit bestimmenden) Gegenstandes sträubt. In
einem verloren gegangenen Brief vom 9. XII. 91 hatte er offenbar Einwände
erhoben; darauf antwortet ihm Kant am 20. I. 92 (Archiv II, 623 f.):
„Vielleicht können Sie es vermeiden, gleich anfänglich Sinnlichkeit durch
Receptivität , d. i. die Art der Vorstellungen, wie sie im Subjecte sind,
sofern es von Gegenständen afficirt wird, zu definiren, und es in dem
setzen, was in einem Erkenntnisse bloss die Beziehung der Vorstellung
Dinge an sich als Correlate der Sinnlichkeit. 15
[R 31. H 55. K 71.] A 19. B 88.
aufs Subject ausmacht'' u. s. w. Was aber weiter folgt, ist ganz unklar
und ,in Eile abgefasst^.
In seinem Auszug I, 6 ff. Hess Beck zunächst die alten Bestimmungen
Kants stehen; aber Auszug III^ 45 ff. 368 ff., Grundriss 59 ff. hebt er die-
selben wieder auf und löst die Beceptivität der Sinnlichkeit auf in die spon-
tane Thätigkeit des , ursprünglichen Vorstellens**. Wirkliche Affection des
Sabjects durch Dinge an sich fällt damit natürlich ebenfalls hinweg, und
es bleibt nur eine Affection desselben durch (durch das Denken selbst erst
erdachte und gemachte) Erscheinungen = Vorstellungen. (Vgl. hierüber noch
den unten folgenden Excurs.)
Es war vollständig gerechtfertigt, wenn Schultz in seinem Berichte
hierüber sagte, Beck wolle „die Sinnlichkeit wegexegisiren'. In zwei von
grosser Verworrenheit, ja man möchte versucht sein, zu sagen, von Unred-
lichkeit zeugenden Briefen an Kant vom 20. und 24. VI. 97 sucht sich Beck
dagegen zu vertheidigen (Altpr. Mon. XXII, 435 ff.) ; er habe zwischen Sinn-
lichkeit und Verstand immer scharf geschieden u. s. w., ohne den Haupt-
punkt zu berühren, dass eben nach Kant Sinnlichkeit ist: wirkliche Recep-
tivität des Subjects gegenüber den afficirenden Dingen an sich; nach Beck
aber nur eine scheinbare gegenüber blossen Erscheinungen. Kant hatte seine
Definitionen buchstäblich gemeint; Beck wiederholte, so oft er konnte, die
buchstäbliche Auffassung sei falsch, bleibe im Dogmatismus stecken, den
,Oeist der kritischen Philosophie' habe nur Er erfasst.
Kant ergriff aber noch einmal Gelegenheit, gegen jene Auffassung der
Sinnlichkeit zu protestiren. In einem „Entwurf der Transscendentalphilo-
sophie" 1798, S. 52 ff. hatte Buhle die Bestimmungen von Beck in gemil-
derter Form wiederholt. Eine Recension in der „Erlanger Litt. Zeit.* vom
11. Januar 1799 schloss sich diesen Bestimmungen an und forderte Kant auf,
dazu endlich öffentlich Stellung zu nehmen. Dies rief seine bekannte „Er-
klärung in Beziehung aufFichte's Wissenschaftslehre" vom 7. August 1799
hervor. Darin heist es u. A. : „ Da der Becensent behauptet, dass die Kritik
in Ansehung dessen, was sie von der Sinnlichkeit wörtlich lehrt, nicht
buchstäblich zu nehmen sei, sondern ein Jeder, der die Kritik verstehen
wolle, sich allererst des gehörigen (Beck'schen oder Fichte'schen) Stand-
punktes bemächtigen muss, weil der Kantische Buchstabe ebenso wie der
Aristotelische den Geist tödte; so erkläre ich hiermit nochmals, dass die
Kritik allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen und bloss aus
dem Standpunkte des gemeinen, nur zu solchen abstracten Untersuchungen
hinlänglich cultivirten Verstandes zu verstehen ist."
Ist nach dieser Erklärung Kants Lehre von der „Sinnlichkeit" buch-
stäblich zu verstehen, so ist auch die Annahme „afficirender Gegenstände"
buchstäblich zu nehmen. Beides, die „receptive Sinnlichkeit'* und die
„inteUigible Ursache der Erscheinungen** hat ja Kant als nothwendige
Correlate in ausdrückliche Verbindung gebracht in der bekannten Stelle
A 494 = B 522; es handelt sich da nicht bloss, wie z. B. Lehmann,
16 § 1. Einleitung.
A 19. B 38. [E 31. H 56. K 71.]
Ks. Lehre vom D. ä. s. S. 11 annimmt, um eine blosse „Hilfshjpothese", auch
nicht wie Drobisch Ks. Dinge an sich S. 9 annimmt, um ,,eine nur denk-
nothwendige Voraussetzung des Begriffes der Receptivität, ohne welche
diese ganz sinnlos würde*', sondern um eine „selbständige, von unserem Denken
unabhängige Existenz dieses transscendentalen Objects*'. In diesem Sinne
sagt ja Kant auch (gegen Eberhard, Ros. I, 436): es sei ^die beständige
Behauptung der Kritik, dass Gegenstände als Dinge an sich den Grund
enthalten, das Vorstellungsvermögen seiner Sinnlichkeit gemäss zu be-
stimmen **. Ueber diese Voraussetzung Kants vgl. noch bes. W. Münz,
Grundl. d. K.'schen Erk.-Theorie, S. 56—78. Rehmke, Welt 16 ff.
Zeller hat daher vollständig Recht, wenn er (Deutsche Phil. 486) das
Ding an sich als eine Voraussetzung Kants bezeichnet, und es ist
Stadler nicht gelungen, diese durchaus zutreffende Behauptung zu wider-
legen. (Kants Teleol. S. 13). Daher sagt auch Riehl, Krit. I, 442 ff.
ganz richtig: „Der Nachweis der Existenz der Dinge liegt in diesen Er-
klärungen nicht, vielmehr ihre Voraussetzung.* Ebenso ib. 443. Vgl.
ib. II, a, 32 f.: „Die Empfindung entsteht nach Kant durch wirkliche
(nicht scheinbare oder eingebildete) Affection unserer Sinnlichkeit,
welche deshalb receptiv heisst, von aussen, d. i. durch eine Existenz, die
von unserer eigenen verschieden und unabhängig ist. In diesem Sinne nennt
K. die Empfindung: gegebe n.**
Auch Volkelt, Ks. Erkenntnisstheorie S. 100 bemerkt hiezu sehr
treffend: „Das Ding an sich wird so gedacht, dass es an der Sinnlich-
keit des Subjects sein Gegenüber hat und nun auf diese einen gewissen
Ein flu SS ausübt, sie rührt oder afficirt. So entstehen also die äusseren
Erscheinungen aus dem Zusammenwirken des Dinges an sich mit der
sinnlichen Seite des Subjects. Die Erkenntnisstheorie, die sich in diesen
Sätzen ausspricht, muss auf dem (sonst von Kant eingenommenen) Stand-
punkte des absoluten Skepticismus als durchaus transscendent und daher
vollständig problematisch, als ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich
gelten. Allein Kant kümmert sich um die Consequenzen dieses Stand-
punktes nicht, sondern gehorcht einfach den Forderungen seines Denkens,
welches ihn nöthigt, nach einer Ursache des unserem Belieben völlig ent-
zogenen Empfindungsstoffes zu fragen, und ihn diese Ursache in dem Zu-
sammenwirken des unbekannten Dinges an sich mit der sinnlichen Seite
des Subjects finden lässt.'' Vgl. auch Bergmann, Metaph. 151 ff.
Vermittelst der Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben.
Dieser Satz hat (vgl. Comm. I, 491) nach zwei Seiten hin viel Anstoss
gegeben: einmal wird eingewendet, dass Kant sich widerspricht, indem ja
nach seiner späteren Lehre ein „Gegenstand** nicht schon durch die Sinn-
lichkeit, sondern erst durch den Verstand zu Stande kommt. Und zweitens
wird der Ausdruck bemängelt, dass uns der Gegenstand „gegeben** werde.
Den ersteren Einwand erhob, wie wir schon S. 4 erfuhren, Beck
(vgl. dazu seinen Auszug III, 366 ff.). Und besonders energisch hat dann
Kann die Sinnlichkeit schon , Gegenstände '^ geben? X7
[E 31. H 55. K 71.] A 19, B 33.
Schopenhauer in seiner Krit. d. Kant. Phil. 520. 565 sich tadelnd über
diese Wendung ausgesprochen: denn der sinnliche Eindruck sei eine blosse
Empfindung, welche erst durch Anwendung der Yerstandesfunction der Causa-
lität durch den Intellect in einen eigentlichen Gegenstand verwandelt
werde. Auch Andere haben sich ähnlich ausgesprochen, so Sigwart,
Gesch.. III, 41. 50; vgl. Abb. d. Friesischen Schule X, 7 flf.; femer Holder
in seiner „Darstellung' ' (1874) S. 7 N., und bes. S. 42 f.: „hier tritt der
bloss vorläufige Charakter der transsc. Aesthetik deutlich zu Tage. . Dieser
Ausdruck ist (auf Grund der Transsc. Analytik) dahin zu restringiren, dass
nur die zu Gegenständen zusammenzusetzenden Elemente im strengen
Sinne gegeben werden, während die Gegenstände (Objecte) selbst immer
schon auf einer durchaus vollzogenen (noth wendigen, kategorialen) Ver-
knüpfung dieser Elemente beruhen.'* Aehnlich Arnoldt, Ks. Prol. 49.
Es ist nun ganz richtig, dass nach der Analytik der empirische Gegenstand
im strengen Sinne des Wortes erst durch die Mitwirkung der Kate-
gorien zu Stande kommt. Was wir nur durch die Sinnlichkeit erhalten
(ohne Mitwirkung der Kategorien), ist nur im weiteren, laxeren Sinne em-
pirischer Gegenstand zu nennen ^ Vgl. oben S, 4.
Doch kann man hier Kant keinen Vorwurf darüber machen, dass er
hier noch nicht auf die Mitwirkung der Kategorien aufmerksam gemacht
hat. Es wäre dies an dieser Stelle eine unnöthige Ueberlastung gewesen.
Er konnte es hier ruhig der weiteren Leetüre des Lesers überlassen, durch
die späteren Theile diese vorläufigen Bemerkungen zu ergänzen. Und in
diesem Sinne sind auch einige briefliche Aeusserungen Kants gegenüber
Beck gehalten; dieser nahm an den vorläufigen Bestimmungen dieses § 1
gewaltigen Anstoss und plagte den alten Mann mit allerlei dai*auf bezüg-
^ Es ist wichtig, das Verhältmss dieser Unterscheidung zweier Bedeutungen
von .Gegenstand" zu der oben S. 7 getroffenen Distinction von zwei Bedeutungen
desselben Ausdruckes festzustellen. Oben unterschieden wir den „transscendenten*
und den , empirischen* Gegenstand. Hier wird (wie schon S. 4) vom „empirischen
Gegenstand" selbst ein strengerer und ein laxerer Sinn angenommen; Gegenstand
im strengeren Sinne ist der kategorial bestimmte^ im laxeren Sinne der durch
Kategorien noch nicht bestimmte, der also nur das Rohmaterial enthält zu jenem
durch die Verstandesformen erst bestimmten, eigentlichen, geformten Gegenstande,
während das blosse Rohmaterial an sich noch nicht umgeformt, noch „unbestimmt"
(vgl. unten) ist, und nur im uneigentlichen Sinne schon als Gegenstand bezeichnet
wird. Wir habe*: aomit im Ganzen drei verschiedene Bedeutungen des Ausdruckes
„Gegenstara' constatirt: unbestimmter Gegenstand, bestimmter Gegenstand, Ding
an sich. In derselben Weise ist der Unterschied auch schon richtig gemacht
worden von AI. Wernicke in einem mir zur Verfugung gestellten Manuscripte
von IF^l („Ks. Theorie des Gegenstandes und des Dinges an sich"), dem ich mannijr-
fache Anregung verdanke. Derselbe bemerkt richtig: „Was im Eingange der
Kricik ala Eins erscheint, zerfällt im Laufe der Untersuchung in begrifflich Ver-
lächiedenes. ,Gegenstand' erscheint zunächst als identisch, löst sich aber dann
weiterhin in jene drei Bedeutungen auf."
Vaihinger, Kant-Cominentar. II. 2
20 § 1. Einleitung.
A 19. B 33. [R 31. H 55. K 71.]
Buchte Beck das Gegebene los zu werden, indem er es als das Product des
„ursprünglichen Yorstellens'^ fasste. Fichte vollends entwickelt einen förm-
lichen Hass gegen das , Gegebene^ — ihm ist Alles vom Ich gesetzt, erzeugt,
geschaffen. (Weiteres hierüber s. besonders in dem unten folgenden Excurs
über den «^^cirenden Gegenstand ''.)
Massvoller, aber untereinander in einem interessanten Gegensatz
stehend, sind die Einwände von Schopenhauer und Herbart. Beide sind
von Fichte ausgegangen, aber der Erstere hat in diesem Punkte von seinem
idealistischen Lehrer mehr bewahrt als der Letztere, der sich entschieden
dem Realismus zuwendete. Schopenhauer (Kr. d. K. Phil. 509. 519. 521. 524)
findet die Kantische Wendung, die Anschauung sei gegeben, „nichtssagend,
wunderlich '^, und tadelt Kant, dass er „diesen unbestimmten und bildlichen
Ausdruck* nicht weiter erkläre. (Vgl. dagegen Cohen S. 175, 2. A. 185.
240. 359 ff.; Philos. Monatsh. 1890, 818 ff.) Herbart tadelt Kant, dass er
dieses Gegebene nicht näher analysirt habe ; er wäre dann darauf gefuhrt
worden, von diesem Gegebenen auf das Nicht-Gegebene, auf die Welt des
Wahrhaft-Realen zu schliessen; denn jenes „ Gegebene '^ unserer Erfahrung
erkläre sich eben nur durch eine bestimmte Beschaffenheit des nicht-
gegebenen, aber wahrhaft seienden Realen. (Vgl, bes. W. W. IV, 68 ff* Vgl. dazu
Strümpell, Herbarts Metaphysik S. 84ff\ Liebmann, Epigonen 8. 112 ff.) Aach
Schleiermacher (Dialektik § 106 ff.) schliesst vom „Gegebenen" aufs Reale.
Endlich ist noch zu bemerken, dass in dem Kantischen Ausdruck des
Gegebenseins der Anschauungen resp. der Gegenstände stets mit Recht
die Anerkennung oder besser die Voraussetzung der Existenz der
Dinge an sich gefunden worden ist. Denn sind jene Anschauungen nicht
von uns selbst producirt, sondern uns gegeben, so mag zwar die Qualität
derselben von unserer subjectiven Beschaffenheit abhängen, aber dass uns
überhaupt Anschauungen „ gegeben ** werden, setzt ein von uns unabhängiges
„gebendes" Sein voraus. Auch mag die Form jener Anschauungen rein
subjectiv sein, aber dass wir überhaupt etwas erhalten, was wir in die
apriorische Form fassen können, — dieser aposteriorische Factor setzt eben
ein von uns unabhängiges Sein an sich voraus, dessen Einwirkung auf uns
jenes empirische Material verdankt wird. Dass der Ausdruck „gegeben^
diese weittragende Bedeutung hat, ist oft bemerkt worden, bes. energisch
von Sigwart, Gesch. III, 59. 68. 149, sowie von Riehl (vgl. oben S. 16).
Es führt dies auf die Frage, welche schon oben S. 8. 15 berührt worden ist,
und welche unten in einem eigenen Excurs abgehandelt werden muss. lieber
dies „Problem des Gegebenseins" vgl. bes. Riedel, Die Bedeutung des
D. a. s. in der K.'schen Ethik. Progr. Stolp 1888, S. 4 ff. 19 ff. Knauer,
Phil. Mon. 1885, 479—491. E. v. Hartmann, Tr. Real. 73. Staudinger,
Noumena 25. 33. 65. 66. 86. 107. 127 ff.: „Die Empfindungen werden uns
durch Etwas gegeben. Die Empfindung enthält also schon die Beziehung
eines transsubjectiven Etwas auf uns.* (Insofern sei dieses gebende Etwas
auch „eine Bedingung der möglichen Erfahrung*,)
Das , Gegebene** und die Dinge an sich. 21
[E 31. H 55. K 71.] A 19. P 33,
Dass dies im Sinne Kants sei, beweist besonders schlagend eine wenig
bekannte Stelle aus der Grundl. z. Met. d. Sitten, 3. Abschn. (Ros. VIII, 84 ;
Hart. IV, 299) : „Sobald dieser Unterschied der Erscheinungen und der Dinge
an sich selbst (allenfalls bloss durch die bemerkte Verschiedenheit zwischen
den Vorstellungen, die uns anderswoher gegeben werden, und dabei wir
leidend sind, von denen, die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen und
dabei wir unsere Thätigkeit beweisen) einmal gemacht ist, so folgt von
selbst, dass man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was
nicht Erscheinung ist, nämlich die Dinge an sich, einräumen und annehmen
müsse, ob wir gleich uns von selbst bescheiden, dass, da sie uns niemals
bekannt werden können, sondern immer nur, wie sie uns af&ciren^ wir
ihnen nicht näher treten, und, was sie an sich sind, niemals wissen können/
Und angesichts solcher und hundert ähnlicher Stellen haben noch heute
gewisse „Kantianer* den.Muth, zu behaupten, Kant habe nicht im Ernste
von unbekannten Dingen an sich gesprochen, welche uns afficiren!
Dieser K9.ntische Schluss vom „Geg ebenen' auf ein unabhängiges
transscendentesSein wird in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten wieder
bemängelt und zuiiickgewiesen ; so in einem an Fichte erinnernden Sinne
von Schuppe (bes. Logik 142 ff.: „Das Gegebene und die Denkarbeit"),
A. V. Leclair, Behmke, v^ Schubert-Soldern („Ueber Transscendenz
des Objects und des Subjects«, 1882, S. 27 ff.; Grundl. d. Erk.-Theorie, 1884,
S. 5 ff.). Mehr im Anschluss an Protagoras und Hume von Laas. (Vgl.
Keibel, Werth und Ursprung der philos. Transscendenz. 1886.) —
Es ist hiebei noch folgendem Missverständniss vorzubeugen : Die Wen-
dung, dass die Gegenstände (oder wie es im dritten Absatz heisst, die Materie
der Erscheinung := Empßndungen) uns gegeben werden, könnte dahin aus.
gelegt werden, das Subject thue seinerseits gar nichts dabei, es werde ihm
nur etwas „gegeben'' ; aber man darf nicht vergessen, dass diese Materie der
Erscheinungv die Empfindungen, doch auch vom Subject gemacht sind und
nur als Keactionen des Subjects auf die Affection hin in uns selbst ent-
stehen. Die Affection ruft in uns eine doppelte Eeaction hervor: 1) Das
Subject reagirt auf dieselbe durch die qualitativen Empfindungen; 2) es
kleidet diese qualitativen Empfindungen dann sogleich in die quantitativen
Formen. Die erstere These nimmt Kant als Lemma aus der Philosophie
seiner Zeit herüber, wie noch in der später folgenden methodologischen
Analyse der Transsc. Aesth. zu besprechen sein wird.
Von neueren Kritikern bemerkt hiezu H. Wolff, „Zusammenhang
unserer Vorst. u. s. w." S. 28: „Wie Kant noch sagen kann, dass uns durch
die Sinnlichkeit Gegenstände gegeben werden, dass wir durch die Sinnlich-
keit Vorstellungen empfangen, bekommen, weiss ich kaum zu deuten.
Das Empfangen und Gegebenwerden bezeichnet immer eine Passivität,
während im Grunde genommen alle Vorstellungsmomente mit den Dingen
in Wirklichkeit gar nichts zu schaffen haben, nur active Producte der
subjectiven Vernunft sind, die also im besten Falle durch das Afficirt werden
22 § 1- Einleitung^
A 19. B 83. [B 31. H 55. E 71.]
zu bestimmten selbstthätigen Aeusserungen nur veranlasst wird.^ In ähn-
licher Weise behauptet B olliger, Antikant 197 (34. 262. 274): „Kant hat
die Aporie, die im Begriff des Recipirens liegt, nie genug gefühlt/
Gegen Ausdinick und Begriff des Gegeben-werdens polemisirt auch bes.
R. Hoppe, Pers. Denkthätigkeit 30—35. 102. 104. 106. 109. 170. 176.
186 ff. 191, und findet darin die Wurzel aller Ean tischen Irrthümer. Vgl.
Riehl, Krit. II, a, 84; Watson, Kant 330; v. Leclair, Krit. Beitr. 9: Kant habe
hier „die Rolle des gegebenen Stoffes gar zu stiefmütterlich behandelt*^.
Sinnlichkeit und Terstand. Der Gegensatz der passiven Sinnlich-
keit und des activen Verstandes ist ein fundamentaler Ai*tikel der Kantischen
Philosophie \ der besonders in der Einleitung zur Analytik wiederholt
wird. Dieser Gegensatz wird daselbt (A 50) noch des Naheren entwickelt.
Eingehend beschäftigt sich damit auch der § 7 der Anthropologie. — Die
Verstandesthätigkeit , welche hier erwähnt wird, ist hier übrigens nicht
genauer specificirt, ob es die gewöhnliche logische oder schon die trans-
scendentale ist. M ellin I, 487 ff. denkt nur an die erstere. Aber die Aus-
drucksweise ist wohl mit Absicht so allgemein gehalten, dass Beides darunter
befasst sein kann. Ebenso war es in der Einleitung, vgl. Gomm. I, 165. 176.
Dass Sinnlichkeit und Verstand specifisch verschieden seien, hat Kant dann
unten A 42 ff. gegen Leibniz weiter ausgeführt. Die Leibnizianer nahmen
daher auch an dieser schroffen Entgegensetzung grossen Anstoss, nicht minder
die Anhänger Locke's, denen Sinnlichkeit und Verstand ebenfalls nicht so
schroff getrennt erschien. In diesem Sinne äussern sich z. B. Garve (vgl.
Stern, Garve u. Kant 63 ff.) und Platner, Aphorismen § 651 ff. 697.
Der hier entwickelte schroffe Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand,
Anschauung und Begriff fand, aus den schon oben erörterten Gründen, nicht
den Beifall von S. Beck. Ihm waren ja Sinnlichkeit und Verstand nicht
heterogen, er suchte „ihre gemeinschaftliche Wurzel*^ im „ursprünglichen
Vorstellen" (vgl. Comm. I, 485 ff.), und so wusste er auch den Gegensatz
von Anschauung und Begriff in einen bloss graduellen Unterschied aufzu-
lösen. Schon in dem Brief an Kant vom 11. XI. 91 ist ihm Anschauung =
durchgängig bestimmte Vorstellung ; Begriff = nicht durchgängig bestimmte
Vorstellung (Altpr. Mon. XXII, 407). Kant geht in seiner Antwort vom
3. VII. 92 (Archiv II, 628) nicht näher auf diesen Gegensatz ein, und bemerkt
nur: „Was Sie von Ihrer Definition der Anschauung: sie sei eine durch-
gängig bestimmte Vorstellung in Ansehung eines gegebenen Mannigfaltigen,
sagen, dagegen hätte ich nichts weiter zu erinnern, als: dass die durch-
* Vgl. Comm. I, 485 — 491. Der Unterschied ißt eine der wichtigsten Voraus-
setzungen der Kantißchen Philosophie. Vgl. daiüber auch W. Münz, Die Grund-
lagen der K.'schen Erkenntnisstheorie, 2. A. 1885, S. 28 — 35. 52. Vgl. Zahn, Die
K.'sche Unterscheidung von Sinn, Verstand und Vernunft. Diss. Jen. 1875, S. 1^21.
Noire, Lehre Ks. 91 ff. Besonders Herbart hat diese Kantische Prämisse an-
gegriffen vom Standi)unkt der Psychologie aus; in eigenthümlicher AVeise auch
Schopenhauer.
Die Passivität der Sinnlichkeit und die Activität des Verstandes. 23
[B 81. H 65, E 71.] A 19. B 33.
gängige Bestimmung hier objectiv, und nicht als im Subject befindlich ver-
standen werden müsse (weil wir alle Bestimmungen des Gegenstandes einer
empirischen Anschauung unmöglich kennen können), da dann die Definition
doch nicht mehr sein würde, als: sie ist die Vorstellung des Einzelnen Ge-
gebenen/ Kant weist also hier wieder auf den objectiven, realen Factor
hin, das Gegebene, das vom afficirenden Dinge an sich herkommt. Beck
hat den Wink nicht befolgt ; vgl. darüber Auszug I, VII. 8. Im III. Band,
S. 45 ff. 366 ff., bes. 402 ff. bekämpft er den Eantischen Unterschied heftig ;
er hebt die Unterscheidung von Anschauung und Begriff wieder auf, „ver-
mischt beide', wie er selbst sagt, und löst die sinnlichen Anschauungen in
lauter Verstandeshandlungen auf. Auch Maimon war mit dem Kantischen
Gegensatz der receptiven Sinnlichkeit und des spontanen Verstandes nicht
zufrieden, und löste diesen qualitativen Gegensatz in den rein quantitativen,
graduellen Gegensatz unvollständigen und vollständigen Bewusstseins auf.
Von Beck und Maimon beeinflusst, hat dann Fichte die Sinnlichkeit als
gehemmte Verstandeshandlung aufgefasst, woraus dann wieder Schellings
und Hegels Speculationen hervorgegangen sind. In diesem Sinne klagt auch
Thiele, Kant I, b, 809, dass Kant beides (wenigstens noch 1770) nicht „in
einen inneren, fanctionellen Zusammenhang gebracht habe". Vgl. hiezu
auch die feinsinnigen Bemerkungen von Gaird, Grit. PhU, I, 283 — 285,
welcher den Gegensatz Beider in der Aesthetik mehr nur als provisorisch
ansieht. Vgl. desselben PhU. of Kant 222—231.
Während diese Einwände gegen den Gegensatz der receptiven Sinnlich-
keit und des activen Verstandes darauf zielen, die erstere in den letzteren
ganz aufzulösen, haben andere Einwände die Tendenz, die Sinnlichkeit, ohne
sie in den Verstand aufzulösen, doch nicht als rein passiv zu fassen, sondern
ihr auch zugleich Activität zu gönnen. Solche Einwände sind auch schon
zu Kants Zeiten hie und da erhoben worden, doch sind sie naturgemäss
neuerdings in stärkerem Masse hervorgetreten. So wendet sich J. B. Meyer,
Ks. Psychologie S. 175 — 177, gegen jene schroffe Trennung: ein passives und
ein actives Moment sei zwar in unserem Erkenntnissvermögen zu unter-
scheiden; aber auch die Sinnlichkeit sei activ, auch der Verstand passiv;
daher sei es falsch, Passivität und Activität auf Sinnlichkeit und Verstand
zu vertheilen, und diese „ungerechtfertigte Trennung" durch eine unnöthige
Verbindung vermittelst der Einbildungskraft wieder gut zu machen ^ Vgl.
auch Weber, Kritik der K.'schen Erk.-Theorie S. 12—16. — Vgl. hiegegen
^ Manchmal hat Kant übrigens der Sinnlichkeit eine gewisse Activität zu-
gestanden, Reflex. II, N. 315. 942; Nacbgel. Werk XXI, 564. Vgl. auch B. Erd-
manus Mittheil, in den Philos. Monatsh. 1884, S. 75. Vgl. Comm. I, 176. Vgl. auch
die treffenden historischen Ausführungen von Windel band, Viert, f. wiss. Phil.
I, 239 ff. über die Entstehung des „Widerspruches** bei K., dass er die Sinnlichkeit
einerseits rein receptiv fasst, andererseits ihr in der Form doch ein actives Element
vindicirt. Es sei hier eine „Kreuzung zweier Gesichtspunkte" (des phänomenalisti-
schen und des rationalistischen).
24 § 1. Einleitung.
A 19. B 33. [R 31. H 56. E 71.]
bes. Cohen, 2. A. 344 ff., bes. über den Begriff der „Receptivitäf im Unter-
schied Yon der , Passivität^. Noch scharfer Montgomery (Kants £r>
kenntnisslehre widerlegt vom Standpunkte der Empirie S. 92 ff. 105 ff.),
welcher seine ganze Kantkritik in folgenden Worten zusammen fasst: «Der
Grundirrthum lag in der gewaltsamen Spaltung des Erkenntnissvermögens
in eine passive und in eine active Hälfte, und dann in der Zutheilung der
gesammten passiven Rolle an die sinnliche Wahimehmung, des gesammten
activen Spiels der Erkenntniss hingegen an das abstracte Erkennen. Diese
ganz willkürliche Eintheilung ist der wesentliche Grund, warum trotz aller
Klarsichtigkeit, trotz des concentrirtesten Fleisses der grossartige psycho-
logische Scharfsinn Kants dennoch am Erkenntnissproblem scheiterte. '^ Vgl.
auch Ferrier, Institutes 284, und besondei*s auch die ausfuhrliche Erörte-
rung bei Lewes, Gesch. d. Philos. II, 536 ff., und Löwe, Logik 229 über
diese Voraussetzung Kants gleich am Anfang seines Werkes. Auch A dickes
68 N. Eingehende Kritik auch bei Bergmann, Metaph. 25 ff. 105 — 111.
125; besonders wendet sich B. gegen die Passivität der Anschauung, 27.
103. 214. Vgl. auch Hegler, Ks. Psych, i. d. Ethik 64 ff. A. Fouillee,
Revue Philos. 1891, 434 ff.
Alles Denken muss sich direct oder indirect auf Anschauungen
beziehen. Nach den oben gegebenen Erläuterungen beziehen sich nur die
Anschauungen unmittelbar auf den Gegenstand; alles Denken bezieht sich
auf die Gegenstände nur mittelbar, indem sich das Denken zunächst nur
auf die Anschauungen bezieht. Die Beziehung des Denkens auf die An-
schauungen kann nun, nach dieser Stelle, hinwiederum eine doppelte sein,
eine directe oder indirecte. Was damit gemeint sein soll, ist nicht auf den
ersten Blick klar. Kant hat wohl darum in der 2. Auflage den Ausdruck
„indirect" durch den Zusatz erläutert „vermittelst gewisser Merkmale*.
(Dieser Zusatz bezieht sich offenbar nur eben auf den Ausdruck „indirect";
B. Erdmann hat allerdings in seiner Ausgabe, vgl. auch desselben Eriti-
cismus S. 229, das von Kant nach „Merkmale" gesetzte Komma weggelassen,
was vermuthen lässt, dass er den Zusatz auf Beides, sowohl die directe als
die indirecte Beziehung, bezieht.) Indessen ist auch der neue Zusatz nicht
ohne Weiteres klar. Mellin I, 264 (cfr. 740) gibt folgende Erklärung:
„Wenn der Verstand denkt, so stellt er sich entweder geradezu einen ge-
wissen Gegenstand durch seine Merkmale vor, d. i. er macht sich einen Begriff
von ihm; oder die Begriffe, die er denkt, beziehen sich im Umschweife
durch Merkmale, die wieder Begriffe sind, doch zuletzt auf Anschauungen.*
In Kants Logik, Einl. VIII, findet sich auch ein Unterschied zwischen unmittel-
baren und mittelbaren Merkmalen, ein Unterschied, welcher auch schon im
§ 1 der Schrift über die „Syllog. Figuren" (1762) gemacht wird und welcher
bei Mellin IV, 252 ff. weiter ausgeführt wird; durch solche mittelbare Merk-
male kann sich auch der abstracteste Begriff auf Anschauungen beziehen.
Anschauung, mithin bei uns Sinnlichkeit. Diese Restriction ist eine
Anspielung auf die eigenthümliche Lehre Kants, dass unsere Anschauungsart
Sinnlichkeit — die specifisch menschliche Anschauungsart. 25
[R 31. H 56. E 71.] A 19. B 3ä.
nicht die einzig mögliche sei, dass es noch andere Anschauungsarten geben
könne. Unsere menschliche Anschauung ist eine sinnliche, d. h. sie kommt
nur dadurch zu Stande, dass wir afßcirt werden und so sinnliche Vor-
stellungen erhalten. Es könnte aber — dies ist Kants Meinung — auch
eine unsinnliche, d. h. intellectuelle Anschauung geben, welche ohne
Affection zu Stande käme, welche ohne Vermittlung der Sinne, ohne
dieses Medium für uns da wäre. Schon in der Aesthetik, und zwar schon
in der ersten Auflage, tritt diese Ansicht Kants mit aller Bestimmtheit auf.
So A 27. 42. 84. 35. 51. Ganz in diesem Sinne sagt Kant in seiner Kr. d.
ürth. A 341 : „Wir mussten in der Kr. d. r. V. eine andere mögliche An-
schauung in Gedanken haben, wenn die unserige als eine besondere Art,
nämlich der, für welche Gegenstände nur als Erscheinungen gelten, ge-
halten werden sollte.' Uns Menschen kann also keine Anschauung anders
gegeben werden, als dass uns die Dinge an sich afficiren. Andere Wesen könnten
vielleicht auch ohne solche AfTectionen Anschauungen von Dingen erhalten.
Wie sich Kant diese andersartige, unsinnliche, intellectuelle Anschauung
gedacht hat (wenigstens später), geht aus dem hervor, was er in der 2. Aufl.
am Schluss der Aesthetik hinzugefugt hat , B 72. Die intellectuelle An-
schauung dachte sich Kant positiv so, dass durch sie der angeschaute
Gegenstand selbst hervorgebracht wird. Während also die sinnliche
Anschauung auf Affection beruht, würde die intellectuelle auf Pro-
duction beruhen. Auch in .letzterem Falle würde uns der Gegenstand
9 gegeben **, aber nicht von aussen, sondern durch unsere eigene Thätigkeit.
Diese positive Bestimmung ist aber erst in der 2. Auflage so stark hervor-
getreten.
Von hier fällt nun auch Licht auf den Zusatz, welchen Kant in seinem
Handexemplar oben zu dem Worte „afficire^ gemacht hat, wie Erdmann in
seinen Nachträgen S. 15 berichtet: „Wenn die Vorstellung nicht selbst an
sich die Ursache des Objectes ist.'' Die Beziehung auf die intellectuelle
Anschauung ist hier, obgleich B. Erdmann selbst eine andere Erklärung
gibt, ganz offenbar. Kant hat diesen geplanten Zusatz in der 2. Auflage
dann doch wirklich nicht gemacht, dafür aber an jener Stelle jene Ein-
schränkung eingeschoben, dass der Gegenstand „uns Menschen wenig-
stens'' nur dadurch gegeben werden könne, dass er das Gemüth afßcire.
(Vgl. dazu Er d mann, Kriticismus S. 229.) — In diesem Sinne, dass wir
Menschen auf sinnliche Affection angewiesen seien, sagt auch der Kantianer
W. V. Humboldt in seinen „Ansichten über Aesth. u. Liter." S. 5: „Die
sinnliche Anschauung ist das^ dessen der sinnliche Mensch nie entbehren kann."
Auf die Bedeutung dieses „mithin bei uns" und jenes „uns Menschen
wenigstens" hat bes. G. Thiele hingewiesen in seiner Schrift über „Kants
intellectuelle Anschauung" (1876) S. 1 ff., woselbst dieser ganze erste Absatz
der Aesthetik eingehend erörtert wird. Beachtenswerthe Bemerkungen hier-
über auch in dem Vortrag von Rupp über Kant (1857) S. 89 ff. „über den
halb ausgeschriebenen und halb unterdrückten Gedanken". Ueber diesen
26 § 1- Einleitung.
A19.6 88.34. [B 81. H 66. 66. E 71.]
, verführerischen Ausdruck*' vgl. auch Cohen, 2. A. 117; über diesen
,, mystischen" Gedanken vgl. Laas, Id. u. Pos, III, 332. 342. 439.
Nach einer anderen Seite hin bemängelt Massonius, Aesth. S. 117 — 134
die Stelle: E. spreche hier wie überall in der Aesthetik von «uns*', «unserer
Sinnlichkeit*' u. s. w., er behandle die Mehrheit denkender Wesen ohne
Weiteres als eine selbstverständliche Voraussetzung, was um so un-
berechtigter sei, als eigentlich strenggenommen der Solipsismus eine noth-
wendige Folgerung aus der Transsc. Aesth. sei.
Es kann uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden.
Hiezu bemerkt Witte, Beiträge S. 40: „Nicht für die endliche Erkenn t-
niss, sondern für die Erkenntniss vom Endlichen gilt es, dass Sinnlichkeit
und Verstand deren einzige Grundlagen sind. Das Ergebniss, dass wir
über die Endlichkeit nicht hinaus können, ist hier also schon vorausgesetzt,
d. h. es liegt eine petitio principii vor. So lange es aber nicht erwiesen
ist, dass es nur Erkenntniss vom Endlichen gibt, bleibt die Möglichkeit, dass
uns nicht sinnliche Gegenstände gegeben werden, bestehen." Witte nennt
dies „eine Lücke bei Eanf. In demselben Sinne sagt Stuckenberg, Liffi
of Kant 278 : y,One of the first aeniences of the Kritik also coniains the cofi-
clusion of the tohole investigation : that an object can in no toise he given to
the mind except through the senses.^ Ebenso Bergmann, Kriticismus 15 und
bes. Metaph. 29. 42. 440 ff. Sigwart, Gesch. III, 42. 49. 65. Löwe, Logik
S. 229. Weber, Krit. d. K.'schen Erk.-Theorie S. 30. 33. 50 sagt, damit
sei „Kant schon gleich an der Schwelle seiner Philosophie in einen der
grössten und verhängnissvollsten Irrthümer gerathen*'. Ganz so auch schon
K. C. F. Krause, Zur Gesch. d. n. Philos. (1889) S. 100. Vgl. Hemann,
Ersch. d. Dinge 154—170 über „die sinnliche Erkenntniss des Intelligibeln^.
Von anderer Seite wird der Einwand erhoben, Kant habe nicht berück-
sichtigt, dass in und mit dem Sinnlichen sich zugleich ein Unsinnliches und
Geistiges der Vernunft offenbare; diese Position nehmen ein Hegel and
seine Schule, wonach das Begriffliche an den Dingen der Vernunft unmittel-
bar einleuchtet ; ähnlich v. Kirchmann und neuerdings Rehmke (,.Welt
als Wahrnehmung und Begriff''), bes. S. 106. So auch vom aristotelisch-
thomistischen Standpunkt aus Glossner, Der mod. Idealismus 67 ff. G. Scherer.
Kritik S. 21.
Die Wirkung eines Gegenstandes auf die YorstellangsfSliig*
keit ... ist Empfindung. In diesem Absatz handelt es sich besonders um
drei Begriffe: 1) Empfindung, 2) empirische Anschauung, 3) Erscheinung,
Jedem Begriff ist ein Satz gewidmet; aber jeder Satz enthält zahlreiche
Schwierigkeiten. In dem ersten Absätze hatte Kant den Ausdruck ^Em-
pfindung" nicht gebraucht; er sprach von „Anschauungen'' und »Vor-
stellungen". Beim weiteren Fortgang werden genauere Bestimmungen
noth wendig: „Vorstellungen" ist ein zu allgemeiner, farbloser Ausdruck;
und der „Anschauungen" gibt es verschiedene, reine und empirische. Auf
Die Empfindung: sensatio praesentiam ohjecH arguit. 27
[B 31. H 55. 56. E 71.] A 19. B 34.
diesen unterschied hatte der erste Absatz keine Rücksicht genommen : seine
vorlftofigen Bestimmungen begnügten sich damit, zu sagen, Anschauungen
beziehen sich unmittelbar auf den Gegenstand und werden durch Ein*
Wirkung des letzteren gegeben. Aber diese letztere Bedingung beschränkt
sich im Kantischen Sinne streng genommen ja nur auf die empirischen An-
schauungen: ausser diesen gibt es ja auch reine Anschauungen, welche
nicht den Affectionen ihre Entstehung verdanken. Von den letzteren ist
in den beiden folgenden Absätzen die Bede. Der empirischen Anschau-
ung ist dieser Absatz gewidmet: der erste Satz desselben gibt die Be-
dingung derselben an: die Empfindung. Der zweite Satz gibt ihre De-
finition. Der dritte Satz gibt ihren Gegenstand: die Erscheinung.
Die Empfindung ist also dasjenige, was der Gegenstand in uns
zuerst wirkt, wenn er unsere „Vorstellungsfähigkeit** oder, wie es oben
hiess, unser „Geinüth* (oder noch specieller unsere „Sinnlichkeit") afficirt.
In diesem Sinne wird Empfindung auch sonst häufig von Kant definirt.
Schon die Bestimmungen der Dissertation von 1770 § 4 laufen darauf
hinaus: „quodcunque in cognitione est sensUivi, pendet a speciali indole sub-
jecti, quatentis a praesentia objectorum hujus vel alius tnodificationis
capax est."' Mit der „Affection" durch das Object hängt also zusammen die
„Modification*' desSubjects, was auch in der Kr. d. r. V. gelegentlich wieder-
kehrt; so A. 320: „Empfindung ist eine Perception, die sich lediglich auf
dasSubject, als die Modification seines Zustandes, bezieht.^ ' In den „Fortschr.
d. Metaph. (Ros. I, 508) definirt Kant: „Das Empirische, d. i. dasjenige, wo-
durch ein Gegenstand seinem Dasein nach als gegeben vorgestellt wird,
heisst Empfindung {sensatio, impressio).^ In diesen Definitionen hebt Kant
immer zwei Punkte hervor, wenn auch bald der E i n e , bald der Andere
mehr hervortritt: 1) die Empfindung ist eine blosse Modification des
Subjects,' 2) aber hervorgerufen durch die Einwirkung eines Obj ectiven.
Dass also hier wiederum, wie schon dreimal oben (vgl. S. 6 — 9, 14—16,
20 — 21) ganz deutlich und unmiss verständlich die Einwirkung von Dingen
an sich von Kant vorausgesetzt wird, ist ebenso klar, als es naturgemäss
den einseitigen idealistischen Auslegern Kants unbequem ist ; dieselben haben
daher auch an dieser Stelle wieder — freilich erfolglos — herumgemäkelt.
(Vgl. auch Jacobson, Kategorien und ürth. Diss. Kön. 1877, S. 7 — 8,
15. Cohen, 2. A. 488). Auch aus den übrigen Parallelstellen geht ja jene
realistische Voraussetzung Kants mit Sicherheit hervor; so spricht Kant in
der Dissertation § 4 von der „praesentia ohjecti^ in der oben schon mit-
^ In diesem Sinne sind die empirischen Gegenstände Modificationen
unserer Sinnlichkeit. Darüber, ob Kant diesen Ausdruck gebraucht habe^
stritten einst Eberhard und Reinhold, der dies entschieden in Abrede stellte !
Der Ausdruck findet sich aber thatsächlich A 46 , A 139 und , unter specieller Be-
rufung auf die Tr. Aesthetik, A 490. Vgl. Cohen, 2. A. 156, sowie 150—151.
' Vgl. hiezu Engelmann, Ks. Lehre vom Ding an sich S. 8—11. Rehmke,
Physiologie und Kantianismus S. 10—14.
28 § 1- Einleitung.
A19.20.B34. [B 31. H 56. 56. E 71.]
getheilten Stelle (so auch § 8: ohjecti praesentia affict), und fährt dann
bald darauf fort: „Sensatio praesentiam alicujus arguit, sed quoad
qualitatem petidet a natura suhjectiJ' Noch deutlicher ebendaselbst § 11 :
^ySenauaUa cancepius 8. apprehensUmea , ceu c aus ata testantur de prae-
sentia objecti, quod contra idealismumj' und ganz so heisst es am
Anfang der Analytik A50: „Empfindung setzt die wirkliche Gegenwart
des Gegenstandes voraus/ Dass dieser „wirkt'', dass er eine „Wirkung"
ausübt, ist an unserer Stelle deutlich ausgesprochen. Dass der Gegenstand
damit als die Ursache der Empfindung in Anspruch genommen wird, ist
darin implicite enthalten, wenn es auch manchen „Kantianern^ noch so un-
bequem sein mag. Zudem wird — zum üeberfluss — ja an anderen
Stellen dieser Ausdruck von Kant selbst gebraucht; so bes. A494: „Das
sinnliche Anschauungsvermögen ist eigentlich nur eine Receptivität, auf ge-
wisse Weise mit Vorstellungen afficirt zu werden Die nichtsinnliche
Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich unbekannt. Indessen
können wir die intelligible Ursache der Erscheinungen überhaupt das
transscendentale Object nennen.* Vgl. noch A 50, B 207. Ferner Reflex.
I, 1, S. 86. II, N. 314, 315, 817, 318. Lose Blätter, I, 38.
Bemerkens werth ist ferner in diesem Satze der Ausdruck „Vorstellungs-
f^higkeit". Wie schon oben bemerkt, ist dieser Ausdruck für Kant synonym
mit „Gemüth'', hat aber den Vorzug grösserer Deutlichkeit. „Vorstellung'
ist für Kant (wie für die Kunstsprache der ganzen neueren Philosophie)
der weiteste Ausdruck und umfasst alle Zustände der theoretischen Seite
des Menschen. Sehr entschieden äussert sich Kant hierüber A 320: „Die
Gattung ist Vorstellung überhaupt {repraesentcUioy^ „Vorstellung* ist der
Gattungsbegriff für alle jene Zustände, und unter ihm sind nun
eine Menge einzelner „Vorstellungs arten'' befasst, unter denen sich natürlich
auch in erster Linie die Empfindung findet. Sofern nun im Subject
diese Fähigkeit, Vorstellungen zu haben, vorhanden sein muss, spricht Kant
auch von „Vorstellungsfähigkeit* oder „Vorstellungsvermögen". (VgL Kr.
d. Urth. S. 5 „Das ganze Vermögen der Vorstellungen".) Dieses ist dem-
gemäss der Gattungsbegriff zu den einzelnen Vermögen der Sinnlichkeit,
des Verstandes und der Vernunft. Wenn Kant also hier die Empfindung
eine Wirkung des Gegenstandes auf die VorstellungsfRhigkeit , nicht wie
oben im ersten Absätze, auf die Sinnlichkeit nennt, so setzt er einfach das
genus statt der species, totura pro parte. (Was Mellin VI, 73 hierüber
sagt, ist daher ganz falsch.)
In Folge dieses Zusammenhanges wird es auch klar, in welchem
Sinne und mit welchem Rechte Reinhold seine neue Darstellung der
Kantischen Erkenntnisstheorie 1789 als „Theorie des menschlichen Vor-
stellungsvermögens" bezeichnete. Er ging bei dieser Bezeichnung von dieser
Stelle aus, wie denn überhaupt dieses ganze Werk auf dieser Einleitung zur
transsc. Aesthetik aufgebaut ist und deren Schwierigkeiten zu heben, deren
Dunkelheiten aufzuhellen sucht, besonders durch scharfe Disünctionen der
Empfindung, Gefühl, Anschauung, Wahrnehmung. 29
[R 31. 32. H 56. E 71.] A 20. B 34.
verschiedenen Bedeutungen der Ausdrücke. So untersclieidet Reinhold
S. 195—220 dreierlei Bedeutungen von »Vorstellungs vermögen". Vgl. Erd-
mann, Gesch. d. n. Phil. III, a, 420. Renouvier, Essais I, 102 ff.
Kant unterscheidet endlich aufs bestimmteste zwischen „Empfindung'
und a Gefühl* — zwei Ausdrücke, welche vor ihm (und leider auch oft seit
ihm) promiscue gebraucht worden sind. Schon in den Reflexionen II, N. 314.
315 finden wir bei Kant eine genaue Unterscheidung der beiden Seiten;
wenn auch unter anderem Namen ; später hat Kant sich hierüber besonders
in der Einleitung zu seiner Kr. d. ürtheilskraft geäussert. Entsprechend der oben
(S. 13) angeführten Diremtion der Sinnlichkeit in Sinn und Gefühl erklärt
er daselbst § 3: »Wir verstehen unter dem Worte Empfindung eine ob-
jective Vorstellung der Sinne; und, um nicht immer Gefahr zu laufen,
missgedeutet zu werden, wollen wir das, was jederzeit bloss subjectiv bleiben
muss und schlechterdings keine Vorstellung eines Gegenstandes ausmachen
kann, mit dem sonst üblichen Namen des Gefühls benennen." Vgl.
Anthrop. § 8. Dazu Fetzer, Phil. Leitbegriffe 83 ff. Staudinger, Nou-
mena 35.
Die empirische Anschauung. Nachdem im ersten Satze die Em-
pfindung definirt worden ist, wird diese Definition sogleich dazu verwendet,
den Begriff' der Anschauung näher zu begrenzen. Der Satz, in welchem
das nun geschieht, leidet nicht an übermässiger Klarheit. Ist der Gegensatz
zu der ^ empirischen'' Anschauung hier die „intellectuelle". welche den
Gegenstand selbst hervorbringt? Ist es vielmehr die „reine*' Anschauung,
welche sich überhaupt auf keinen wirklichen Gegenstand bezieht? -^ Ist
der Gegenstand, auf den sich die empirische Anschauung bezieht, der in dem
vorigen Satze erwähnte afficirende Gegenstand? oder ist es der im
folgenden Satze erwähnte empirisch vorgestellte Gegenstand? Eine
runde Antwort - auf diese Fragen lässt sich nicht geben , da der Text zu
schwankend und unbestimmt ist. Vgl. dazu unten 33. Man hat auch
(s. den anonymen Versuch „über Raum und Zeit" 1790, S. 127—129) einen
Widerspruch finden wollen zwischen der oben gegebenen Bestimmung, die
Anschauung beziehe sich auf den Gegenstand „unmittelbar", und der vor-
liegenden, sie beziehe sich auf denselben „durch Empfindung", also durch
ein ^Mittel". Vgl. oben S. 1 (unten). Dass der Widerspruch nur scheinbar ist,
ergibt sich aus dem oben S. 24 Gesagten. Vgl. hiezu Pflüger, Unters,
üb. d. Einl. u. d. 1. Abschn. d. tr. Aesth. Marb. 1867, woselbst man S. 5 — 9
mehrere schwierige Punkte dieser Einleitung instructiv behandelt findet.
Auch sonst Hessen sich hier noch mancherlei Ausstellungen machen.
Einmal ist der Unterschied zwischen Empfindung und Anschauung
nicht schai'f genug entwickelt. Dies hat Cohen gefühlt; aber was er S. 109
darüber sagt, ist nicht recht verständlich. (Vgl. auch desselben „Infiu. Methode",
& 106 — 108). Aus den Kantischen Bestimmungen dieser Einleitung geht
nur 80 viel hervor: Anschauung ist eine Vorstellung, die sich unmittelbar
auf den -Gegenstand bezieht. Diese Beziehung auf den Gegenstand ist bei
30 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [B 32. H 56. E 71.]
uns Menschen durch Empfindung vermittelt. Also zuerst entsteht durch
eine Affection eine Empfindung und daraus erst weiterhin — auf welche
Weise, wird noch nicht gesagt — Anschauung. Anders unterscheidet Bein-
hold in seinen Briefen I, 313 (vgl. Jen. A. L. Z. 1790, I, 93): „Sinnlich
heisst jede Vorstellung, welche durch die Art, wie die Beceptivität afficirt
wird, entsteht. Sie heisst Empfindung, inwiefern sie auf das Vor-
stellende, Anschauung, inwiefern sie auf das Vorgestellte bezogen wird."
Damit stimmt allerdings überein eine Anmerkung Kants in seinem Hand-
exemplar (Erdmann, Nachträge N. 12): Anschauung bezieht sich aufs Object,
Empfindung bloss aufs Subject. Vgl. dagegen oben S. 29.
Wünschenswerth wäre es auch gewesen, wenn Kant den Terminus
,, Wahrnehmung" hier eingeführt und erklärt hätte. Anderwärts erklärte
er Wahrnehmung als eine mit Bewusstsein verbundene Empfindung, so auch
im Handexemplar (Erdmann, Nachträge N. 64). Vgl. Lose Blätter, I, 34.
39. 180.
Auch schon Zeitgenossen Kants waren von diesen Definitionen wenig
befriedigt. So erhebt ein Anonymus in Jacobs Annalen III, 190 gegen
dieselben mehrere Einwände: durch die Quasierklärung von „Anschauung*'
werde nicht entschieden, ob dadurch eine besondere Klasse von Vorstellungen
oder vielmehr ein besonderer Bestand th eil aller Vorstellungen, der aber
selbst noch nicht eigentliche Vorstellung ist, bezeichnet werden solle.
(Dieser Vorwurf ist vom Standpunkt der Analytik aus erhoben.) Bei der
Erklärung des Begriffs der „emp. Ansch.** suche man vergebens das Merk-
mal, wodurch sich diese Species von ihrem Geschlecht&begriff unter-
scheiden u. s. w. Weiteres bei Biedermann, Christ. Dogm. 2. A. I,
111 ff. Enoch, Begr. d. Wahrn. 32 ff., 38 ff., 80 ff. Empfindung und
Wahrnehmung sucht im Sinne Kants neu zu fassen C lassen, Physiologie
d. Gesichtssinns, S. 6. 68 — 78; Einfluss Kants 180 — 211. Vgl. ferner
Rehmke, Welt, 45—60. 81. 141-153. Göring, Krit. Philos. II, 156.
Cohen, 2. A. 107—110. Bergmann, Metaph. 93 ff. 127. 208. 212.
E. L. Fischer, Th. d. Gesichtswahrn. (1891), 153 ff. 201.
Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Ansehaniuig
heisst Erscheinung. Auch dieser scheinbar so einfache Satz bietet mannig-
fache Schwierigkeiten dar. Vor allem: was soll heissen ^der unbestimmte
Gegenstand*. Schon Weishaupt, Ansch. und Ersch. S. 28 klagt über die
„Dunkelheit'' dieser Definition, und meint dann, es solle das so viel heissen,
als dass der eigentliche Gegenstand, das Ding an sich, sich von uns nicht be-
stimmen lasse. So auch Born, Sinnenlehre S. 1 ff. (Vgl. Eberstein 11,
77 f.) Es liegt auf der Hand , dass diese Auslegung sehr schief ist. Eine
ganz andere Erklärung gibt Meli in II, 401: ^Kant setzt in der Erkläning
des Begriffs der Erscheinung noch das Prädicat ,unbestimmt' hinzu, um
dadurch das Gedachte auszuschliessen ; nicht der Gegenstand, insofern er
schon durch Prädicate bestimmt wird, sondern so wie er sich in der An*
schauung darstellt, heisst die Erscheinung.'' Ebenso ib. I, 331, II, 290. 836,
Der , unbestimmte'* Gegenstand der Anschauung. 31
[B 82. H 56. E 71.] A 20. B 84.
V, 312. Aehnlich Beck, Ausz. III, 370. — Dasselbe wiU wohl Cohen 2. A.
S. 109 sagen (vgl. 150. 178. 186. 240. 292. 362. 373): ,Darauf kommt es an,
den Nachdruck zu legen: dass der Gegenstand als Gegenstand der An-
schauung unbestimmt ist, und dass diese Unbestimmtheit seinen Begriff,
den Begriff der Erscheinung bildet. Der Gegenstand bleibt unbestimmt, so
lange er innerhalb der Sinnlichkeit gegeben ist.** Dasselbe ^ wiederholt Cohen
in: Ks. Begründung d. Ethik 22. Ebenso Riehl, Krit. I, 276. 285. 371,
welcher die Stelle A 51 damit in Zusammenhang bringt: „Anschauungen
ohne Begriffe sind blind.^ Ebenso Arnoldt, Ks. Proleg. S. 49.
Diese Auslegung des Wortes „ unbestimmt '^ scheint zunächst viel zu
viel in diesmi vagen Ausdruck hineinzulegen. Es erscheint ja viel ein-
facher und näherliegend, „unbestimmt im Sinne von „beliebig" zu nehmen,
also: Jeder beliebige Gegenstand einer emp. Ansch. überhaupt, d. h. ohne
specielle Bestimmung, was dies für ein Gegenstand im Einzelnen sein soll,
heisst Erscheinung.*^ Aber jene erstere Auslegung wird durch zahlreiche
Stellen Kants gestützt. So heisst es A 69 = B 94: „Denken ist das
Erkenntniss durch Begriff, Begriffe aber beziehen sich, als Prädicate mög-
licher Urtheile, auf irgend eine Vorstellung von einem unbestimmten
Gegenstände.*^ Auch nach A 92. 108. 254 ist die Aufgabe des Denkens,
^dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu
bestimmen**. Nach A 266 „verlangt der Verstand zuerst, dass etwas gegeben
sei, um es auf gewisse Weise bestimmen zu können**. Nach A 373 „heisst
die Empfindung, wenn sie auf einen Gegenstand überhaupt, ohne diesen zu
bestimmen, angewandt wird, Wahrnehmung**. Vgl. ferner A 493, B. 128.
143. 422 N., Prol. § 19. 20. 39; Reflex. I, 1, S. 82; Nachgel. Werke XIX,
561. 578. 580. 619; XXI, 594.
Man könnte nun freilich einwenden : jene von Mellin und Beck, Cohen,
Biehl und Arnoldt (vgl. auch Staudinger, Noumena 52) gegebene Erklärung
scheitere schon an der Erwägung, dass für Kant auch der durch die Ka-
tegorien bestimmte Ansch auungsgegenstand ja doch noch immer „Erschei-
nung' ist, nicht bloss der „unbestimmte** ; es könne also der Name, der dem
Ganzen gegeben wird, nicht auf einen Theil desselben beschränkt werden.
Allein diesem Einwand begegnet Arnoldt mit der Unterscheidung von „Er-
scheinung** = unbestimmte Anschauung und „Phänomen** = kategorial be-
stimmte Anschauung. Diese, von demselben auch schon in seiner Ab-
handlung über Ks. transsc. Ideal. 50 —54 entwickelte Auffassung wird auch
von Cohen getheilt, bes. Ks. Ethik, S. 22 (nebst Polemik gegen Harms,
Philos. s. Kant 187 fif.). Diese, auf den ersten Blick auffallende Auffassung
ist aber wohl begründet. Kant sagt A 248 : ^ Erscheinungen, sofern sie als
Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heissen
* Im hellsten Widerspruch damit identificirt Cohen, 2. A. 334 den ,un-
bestimmten Gegenstand" mit dem „ unbestimmbaren afficirenden, transscenden-
talen X.«
32 § 1. Einleitung.
AgQ.B34. [R 38. H 66. E 71.]
Phänomene". Wenn nun auch der Ausdiiick , Phänomene" sonst von Kant nicht
auf die kategorial bestimmte Anschauung beschränkt wird, so wird doch aller-
dings der Ausdruck , Erscheinung" von Kant häufig mit Vorliebe in besonderen
Zusammenhang mit der Sinnlichkeit als solcher gebracht, in ausdrücklicher
Unterscheidung vom Verstand. So z. B. A 92 = B 124: ,£s sind zwei
Bedingungen, unter denen allein die Erkenntniss eines Gegenstandes möglich
ist, erstlich Anschauung, dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung
gegeben wird; zweitens Begriff, dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der
dieser Anschauung entspricht." Ueberall, auch in dem Abschnitt über die
Phänomena und Noumena (A 235 ff. = B 294 ff.) und in dem Abschnitt
über den transsc. Idealismus in den Antinomien (A 490 ff. = B 518 ff.)
findet man bei aufmerksamer Leetüre jenen Gebrauch des Ausdinckes «Er-
scheinung" ; so auch deutlichst A 111. 125; vgl. Nachgel. Werke XIX,
293. 426. 573. Dazwischen hinein aber gibt es auch genug Stellen, in denen
auch die kategorial bestimmte Anschauung schlechtweg als Erscheinung be-
zeichnet wird. So hat denn offenbar auch der Ausdruck «Erscheinung*'
zweierlei Bedeutungen : Erscheinung im engeren Sinne ist nur die begrifflich
noch unbestimmte Anschauung. Erscheinung im weiteren Sinne ist auch die
kategorial bestimmte Anschauung. Diese Doppelbedeutung hängt zusammen
mit dem Doppelsinn, welcher, wie wir sahen, den Ausdrücken «Erfahrung^
(vgl. Gomm. I, 165. 177) und „Erkenntniss" (vgl. oben S. 2) zukommt.
Diese — bis jetzt nicht hinlänglich beachtete — Doppelbedeutung von Er-
scheinung ist nicht so schlimm, wie das Harms a. a. 0. darstellt, aber
immerhin noch störend genug. Uebrigens ist dieser doppelte Sprachgebrauch
bei Kant historisch begründet: aus den unten zu A 21 angeführten Stellen
der Dissertation und der Reflexionen geht hervor, dass Kant die „Erschei-
nung" = apparentia als etwas Mittleres zwischen Empfindung und Er-
fahrung fasste; die durch Begriffe bearbeitete „Erscheinung" wird daselbst
erst zur „Erfahrung" im strengen Sinne des Wortes.
Mit dieser eben getroffenen Distinction hängt nun eben die «richtige
Unterscheidung zusammen, welche uns schon oben S. 4 und S. 17 aufgestossen
ist. Es ist das die Doppelbedeutung von „Gegenstand" im strengen und im
laxeren Sinn. „Gegenstand" im strengen Sinne ist erst das kategorial be-
stimmt« Empfindungsmaterial ; aber auch dieses letztere wird für sich schon
„Gegenstand" genannt, diesesmal im laxeren Sinne. In diesem Sinne wird
eben auch hier in dieser Stelle vom ,, unbestimmten Gegenstand einer em-
pirischen Anschauung" gesprochen. —
Eine neue, weitere Schwierigkeit ist nun aber folgende: Kant spricht
hier (und auch sonst sehr oft, schon die oben S. 4 und S. 16 bespro-
chenen Stellen schlössen dies ja ein) von der Erscheinung als dem Gegen-
stand einer emp. Anschauung. Mag nun „Gegenstand" im laxeren oder
im strengeren Sinn hier von uns verstanden werden, so erhebt sich fol-
gende Frage : wie kann überhaupt der anschaulichen Vorstellung ein Gegen-
stand derselben gegenüber gestellt werden, da es doch, wie Jeder weiss,
Was heisst: „Gegenstand" einer Anschauung? 33
[R 32. H 66. E 71.] A 20. B 84.
eine Hauptlehre Kante ist, dass die Erscheinungen identisch sind mit
unseren Vorstellungen, dass eben unsere anschaulichen Vorstellungen — die
Erscheinungen sind. So sagt Kant unten in der Aesthetik A 45, man müsse
,,die empirische Anschauung als Erscheinung ansehen'^ Das Ergebniss der
transsc. Aesthetik recapitulirt Kant A 490 selbst dahin, ,,dass alles, was im
Räume oder der Zeit angeschaut wird, nichts als Erscheinungen, d.. i. blosse
Vorstellungen sind'; und er fährt dann daselbst 493 fort: „Denn an sich
selbst sind die Erscheinungen, als blosse Vorstellungen, nur in der Wahr-
nehmung wirklich, die in der That nichts anderes ist, als die Wirklichkeit
einer empirischen Vorstellung, d. i. Erscheinung/^ So auch Prol. S. 63.
Wenn nun also die Erscheinungen = unsere Vorstellungen oder sinnliche
Anschauungen sind, wie kann Kant dieselben Erscheinungen auch noch
als „Gegenstände der empirischen Anschauung" bezeichnen? und diese
Ausdrucksweise findet sich bei Kant ja nicht bloss an dieser Stelle: so er-
läutert K. auch unten A 35 die „Erscheinungen" durch den Zusatz „Gegen-
stände der sinnlichen Anschauung" ; und so heisst es auch schon A 26 :
„die Dinge erscheinen uns, d. h. sie sind Gegenstände der Sinnlichkeit", so
auch Vorr. B XXVI, B 207. 225 ; Prol. § 36. Das sagt doch , dass Kant
einen unterschied machen wolle zwischen den Erscheinungen einerseits und
zwischen unseren Vorstellungen andererseits, was doch der oben besprochenen
Identification vollständig widerspricht; denn die Erscheinungen sind ja jetzt
nicht die Vorstellungen selbst, sondern erst deren Objecte, deren Gegen-
stände, auf welche jene sich beziehen.
Meli in hat sich auf verschiedene Weise zu helfen gesucht. Nach
I, 702 nennen wir eine durch Affection uns gegebene Vorstellung „in Be-
ziehung auf unser Subject, d. h. wenn wir unser Subject als Quelle der-
selben ansehen, eine Anschauung; in Beziehung aber darauf, dass wir
doch nicht Urheber des Stoffes sind, den wir in der Anschauung empfinden,
d. h. dass ein unbekannter Stoff die Quelle von dem, was wir wahrnehmen,
ist, Gegenstand". Diese Auslegung erscheint nicht Kantisch; auch hat
Mellin keine Kantische Stelle dafar beigebracht.
Näherliegend und plausibler ist eine andere Erklärung Mellins, I,
257 ff., 268, IV, 58 : Eine Anschauung und ihr Gegenstand seien allerdings
eigentlich identisch. Wenn ich nun aber doch von einem Gegenstand der
Anschauung spreche, so ist dies der kategoriale Gegenstand, d. h. die durch
die verstandesmässige Sjnthesis mit Hülfe der Kategorien in die Mannig-
faltigkeit der Empfindungen hineingebrachte und hineingedachte objective
Einheit. Allein diese Erklärung passt nicht für diese Stelle; denn hier ist
ja, wie wir eben festgestellt haben, nur von der „unbestimmten" Anschauung
die Rede, also von derjenigen, die mit den Kategorien noch in gar keine
Berührung getreten ist.
Wiederum zwei andere Erklärungen bietet uns Holder, Darst. S. 7.
Er unterscheidet zwischen „Anschauung" als Product der Anschauungs-
thätigkeit, und „Anschauung" als Anschauungsthätigkeit selbst. Im ersteren
Yaihinger, Kant-Commeiitar. II. 3
34 § 1* Einleitung.
A20.Ba4. [B 32. H 66. E 71.]
Falle ist die Erscheinung identisch mit der Anschanong, im zweiten Falle
wird sie der letzteren dualistisch gegenübergestellt. In diesem Falle ist
also „Gegenstand" der Anschauung so viel wie Inhalt derselben. Es ist
dies der Gegenstand, dem die Scholastiker die „intentionale Inexistenz^* in
dem psychischen Acte zuschrieben (weiteres hierüber bei Brentano, Psych. I,
115 ff.).. Wenn man ,, diesen Bewusstseinsinhalt Object nennt, so erh< er
eine ihm geliehene abstracte Verselbstständigung", wie £. v. Hartmannn,
Transsc. Real. XVIII sich ausdrückt. Dass Kant diese Verwendung des
Ausdruckes „Gegenstand" gekannt und gebilligt habe, könnte z. B. die
Stelle A 108 beweisen. Vgl. auch Reinhold, Th. d. Vorst. 280 ff. und dazu
Dilthey, Archiv f. G. d. Phil. II, 602. Wenn dies nun auch die einfachste und
für Kant günstigste Erklärung der Stelle wäre, so kann man dieselbe doch
aus den weiter unten besprochenen Gründen nicht ohne Weiteres acceptiren.
Holder bietet nun, wie gesagt, noch eine andere Erklärung dar. Er
nimmt hier eine „zeitweilige Accomodation an den Standpunkt des gewöhn-
lichen Bewusstseins" an. Aber ein solches Herabsteigen auf den Boden des
Common -sense passt ganz und gar nicht hierher, wo Kant doch
grundlegende Definitionen für sein ganzes Werk gibt — da kann er sich
doch nicht „populär", sondern da muss er sich „scientifisch" ausdrücken.
Dagegen liegt die Vermuthung nahe , dass Kant hier der Erscheinung
jene eben von der empirischen Vorstellung unabhängige Existenz zugesteht,
von der wir in dem unten folgenden Excurs allerdings sehen werden, dass
sie sich sowohl factisch vielfach bei Kant findet, als auch logisch mit Noth*
wendigkeit aus seinen Prämissen sich ergibt. Gleich am Anfang des fol-
genden Absatzes stossen wir ja auf eine Wendung, welche dasselbe ein-
schliesst, nämlich auf die Worte „dass in der Erscheinung der Empfindung
etwas correspondire". Diese eigenthümliche Wendung wird daselbst näher
besprochen werden, und wir werden eben auch da das sonderbare Schillern
der Ausdrucksweise zu constatiren haben, das wir auch hier beobachten,
indem die Erscheinung bald unselbstständig mit der Anschauung identificirt,
bald ihr als etwas Selbstständiges gegenüber gestellt wird.
Scharfe Kritik dieser Stelle von diesem Standpunkt aus bei Bolliger,
Anti-Kant 185, der sich übrigens eng an Schopenhauers Krit. d.
K.'schen Philos. 527 ff. anschliesst, woselbst gegen den „Gegenstand der Vor-
stellung" als einen „Zwitter" angekämpft wird. Bolliger unterwirft über-
haupt diese Definitionen Kants einer scharfen Kritik, und wirft Kant vor,
gleich am Anfang eine Reihe von Definitionen „axiomatisch" festgestellt zu
haben, anstatt dieselben auf Grund eingehender Untersuchungen zu be-
gründen (197. 236 ff. 407); es sei das um so verhängnissvoller, als der
erste Absatz des § 1 „die Exposition der Aesthetik nicht nur, sondern auch
der Logik in nuce enthalte", lieber die „Menge unerwiesener Behauptungen"
hier s. auch K. C. F. Krause, Zur Gesch. d. n. Philos. (1889) S. 99 ff.
Der Ausdruck Erscheinung tritt an dieser Stelle zum ersten
Male in der Kr. d. r. V. auf. (Nur in der Einleitung A 2 war einmal
Die sErscheinung". Das Problem der afficirenden Gegenstände. 35
[B 32. H 56. K 71.] A 20. B 34.
„von den Gegenständen, die den Sinnen erscheinen** die Rede.) Man
würde jedoch irregehen (so Behmke, Welt 141 ff.), wenn man dem Ausdruck
„Erscheinung'' schon an dieser Stelle jene tiefgehende und so überaus wich-
tige Bedeutung zuschreiben wollte, welche er im Gegensatz zum Ding an
sich später gewinnt. Von diesem Gegensatz ist in dieser Definition noch
gar nicht die 'Rede. (Vgl. R. Lehmann, Ks. Lehre vom D. a. s. Diss. Berl.
S. 6 ff.). Diese Definition ist in Ansehung gerade dieser Hauptfrage noch
ganz neutral, sie ist rein psychologisch, und lässt es noch ganz unent-
schieden, welchen erkenntniss-theoretischen Werth denn nun dieser
.,Gegenstand einer empirischen Anschauung" haben solle — ob wir in ihm
den Gegenstand selbst ergreifen, wie er wirklich ist, ob nur ein, wenn
auch treues, Abbild desselben, ob überhaupt kein Bild, sondern eine ganz
heterogene Wirkung desselben in uns u. s. w. Es ist wohl zu bemerken,
dass wenn in den folgenden Absätzen des § 1, sowie im ersten und zweiten
Raumargument von § 2, von „Erscheinungen^* die Rede ist, immer nur
jene neutrale Bedeutung darunter zu verstehen ist. Erst im § 3 mundet
diese neutrale Bedeutung allmälig in die prägnante Bedeutung ein, welche,
wie daselbst auch ausdrücklich geschieht, durch den Gegensatz zum Ding
an sich charakterisirt ist, und welche Kant selbst, am Schluss des § 3, als
den „transscendentalen Begriff der Erscheinung** bezeichnet. Erst
von diesem Begriff der Erscheinung gilt, was B. Erdmann, Krit. 45 sagt,
dass er „unter der Voraussetzung der Dinge an sich gebildet sei**. Dagegen
ist der hier gebrauchte neutrale Begriff der Erscheinung, dessen sich Kant
übrigens neben dem prägnanten auch später noch oft bedient, in diesem
Punkte ganz unverbindlich. Auch die neuere philosophische Sprache bedient
sich des Ausdrucks „Erscheinung** in diesem neutralen Sinne mit Vorliebe;
sie spricht von den physischen und psychischen „Erscheinungen**, ohne damit
weiter sagen wollen, als was Kant hier als „Gegenstand der empirischen
Anschauung" bezeichnet. — üeber das Wort und den Begriff „Erscheinung**
vgl. übrigens auch Grimm, D. Wort. III, 958.
Excurs.
Die afficirenden Gegenstände.
Es ist nun Zeit, dass wir die schon mehrfach (S. 6. 14. 20. 27) besprochene
Prämisse Kants von afficirenden Gegenständen im Zusammenhang
erörtern. Dass Kant solche Gegenstände, die uns afficiren und dadurch
Vorstellungen in uns hervorbringen, als eine nicht weiter abgeleitete Voraus-
setzung annimmt, wurde schon im Commentar zur Einleitung I, 172 — 175
erwähnt. Es wurde daselbst aber auch schon auf die fundamentale Schwierig-
keit aufmerksam gemacht, in welche sich die Vernunftkritik durch diese
Voraussetzung verwickelt hat: nach den späteren Bestimmungen derselben
können diese afficirenden Gegenstände nicht sein die empirischen Objecto:
denn diese sind nur unsere Vorstellungen ; sie können aber auch nicht trans-
36 Excurs. Die afBcirenden Gegenstände.
scendente Dinge an sich sein , da der Schluss auf die ganze Existenz und
Causalität solcher Dinge an sich nach der Analytik der Yerstaudesbegriffe
absolut ungültig und bedeutungslos ist. Wir haben daselbst auch schon
Aeusserungen von Brastberger, Eberhard, Schwab, Schulze hierüber
kennen gelernt, müssen nun aber dieses wichtige Thema an dieser Stelle im
Zusammenhang erörtern, denn hier, im Eingang zur Aesthetik, tritt jene
Voraussetzung, welche wir damals nur in den vorläufigen Bestimmungen
der Einleitung kennen lernten, in der systematischen Dai*stellung als
integrirendes Element der Argumentation zum ersten Male auf. Sie ist, wie
wir sahen, sowohl direct ausgesprochen, als indirect in den Begriffen der
Sinnlichkeit, der Empfindung, des Gegebenseins u. s. w. enthalten.
Das Beste, was nun hierüber gesagt worden ist — vielleicht das Beste
und Wichtigste, was überhaupt jemals über Kant geäussert worden ist —
verdankt die Geschichte der Philosophie Jacobi ^ Wir meinen natürlich
den Anhang zu seinem „David Hume über den Glauben; oder Realismus
und Idealismus. Ein Gespräch" 1787 (s. die „Beylage" 207—230; cfr. W. W.
II, 289 — 310). Der „Geist des Systems" besteht, wie Jacobi mit Gitaten
belegt, in der Lehre: wir haben es nirgends mit Gegenständen, sondern nur
mit unseren Vorstellungen zu thun. „Der Eantische Philosoph verlässt daher
ganz den Geist seines Systems, wenn er von den Gegenständen sagt, dass
sie Eindrücke auf die Sinne machen, dadurch Empfindungen erregen,
und auf diese Weise Vorstellungen zuwege bringen;"- jene angeblichen
afficirenden „Gegenstände" müssten sein: entweder empirische oder tr&ns-
scendentale. Beides ist aber „nach dem Kantischen Lehrbegriff" aus-
geschlossen: denn der empirische Gegenstand ist ja gar nicht ausser
uns vorhanden, sondern ist mit unserer Vorstellung identisch; wenn wir
zu den Anschauungen noch solche empirische Gegenstände extra annehmen,
so ist dies eine blosse „Zuthat" unseres in Kategorien denkenden Ver-
Standes, hinzugedacht 9 also wiederum eine blosse Vorstellung. Was
aber den transsendentalen (besser: transscendenten) Gegenstand betrifft,
so ist dieser uns gänzlich unbekannt; wir können also auch gar nicht
wissen noch sagen, ob und wie er Ursache sei und wirke. Ja, streng ge-
nommen, ist derselbe — ebenfalls „nach dem Eantischen Lehrbegriff* — ein
rein „problematischer Begriff", „welcher auf der ganz subjectiven . . . Form
unseres Denkens beruht" — er ist also bloss erdacht 5 ein von unserer
Vernunft ersonnenes Unbedingtes, also wiederum blosse Vorstellung.
Auf diesen Nachweis folgt die oft citirte Stelle: „Indessen wie sehr
es auch dem Geiste der Kantischen Philosophie zuwider sein mag, von den
Gegenständen zu sagen, dass sie Eindrücke auf die Sinne machen, und auf
^ Es sind besonders in neuerer Zeit wieder verschiedene Versuche gemacht
worden, diese Kantkritik Jacobi*s zu erschüttern, so bes. von Riehl, Krit. I, 432,
B. Erdmann, Proleg. LIII, LXIV; Krit. 40 ff., Kuno Fischer, Krit d. K-'schen
Philos. 24 ff., Drobisch, Ks. Dinge an sich, S. 14 ff. Diese Versuche können
jedoch erst in einem späteren Zusammenhang besprochen werden.
Das Jacobrscbe Dilemma. 37
diese Weise Vorstellxuigen zuwege bringen, so lässt sieb docb nicbt recbt
ersehen, wie ebne diese Voraussetzung auch die Kantische Philosophie zu
sich selbst den Eingang finden und zu irgend einem Vortrag ihres Lehr-
begriffs gelangen könne. Denn gleich das Wort Sinnlichkeit ist ohne alle
Bedeutung, wenn nicht ein distinctes reales Medium zwischen Realem und
Realem, ein wirkliches Mittel von Etwas zu Etwas darunter verstanden
werden, und in seinem Begriffe, die Begriffe von aussereinander und
verknüpft sein, von Thun und Leiden, von Causalitftt und Depen*
denz, als realen und objectiven Bestimmungen schon enthalten sein sollen,
und zwar dergestalt enthalten, dass die absolute Allgemeinheit und Noth-
wendigkeit dieser Begriffe als frühere Voraussetzung zugleich mitgegeben sei.
Ich muss gestehen, dass dieser Anstand mich bei dem Studio der Kantischen
Philosophie nicht wenig aufgehalten hat, so dass ich verschiedene Jahre
hintereinander die Kr. d. r. V. immer wieder von vorne anfangen musste,
weil ich unaufhörlich darüber irre wurde, dass ich ohne jene Voraus-
setzung in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraus-
setzung darin nicht bleiben konnte. '''
Jacobi fuhrt nun weiter aus: einmal, was jene Voraussetzung aHes
in sich schliesse; sodann, dass diese Voraussetzung eben mit dem Geist des
Kantischen Systems unvereinbar sei. »Wie kämen wir in der Kantischen
Philosophie zu einem solchen Dinge? Etwa dadurch, dass wir uns bei den
Vorstellungen, die wir Erscheinungen nennen, passiv fühlen? Aber sich
passiv fühlen oder leiden, ist nur die Hälfte eines Zustandes, der allein
nach dieser Hälfte nicht denkbar ist. Auch würde hier ausdrücklich
gefordert, dass er allein nach dieser Hälfte nicht denkbar sei. Also empfän-
den wir Ursache und Wirkung im transscendentalen [transseendenten] Ver-
stände , und könnten , vermöge dieser Empfindungen , auf Dinge ausser uns
nnd ihre nothwendigen Beziehungen auf einander im transscendentalen
[transseendenten] Verstände schliesse n. Da aber der ganze transscendentale
Idealismus hiemit zu Grunde ginge, und alle Anwendung und Absicht ver-
löre/so muss sein Bekenner schlechterdings jene Voraussetzung
fahren lassen. '^ Er solle es nicht einmal wahrscheinlich finden, dass
es Dinge an sich gebe. , Sobald er es nur wahrscheinlich finde, nur von
ferne glauben will, muss er aus dem transsc. Idealismus herausgehen, und
mit sich selbst in wahrhaft unaussprechliche Widersprüche gerathen. Der
transsc. Idealist muss also den Muth haben, den kräftigsten Idealismus, der
je gelehrt worden ist, zu behaupten, und selbst vor dem Vorwurf des
speculativen Egoismus sich nicht zu fürchten/
Mit diesem — man möchte sagen — mephistophelischen Rath hat
Jacobi das Schicksal der deutschen Philosophie bestimmt: die Beck, Mai-
mon und Fichte haben jenen Muth gehabt, und besonders Fichte hat sich
(W. W. I, 4SI; II, 445 u. ö.) mit Vorliebe auf diese Stelle als auf die
Quelle seiner Philosophie berufen. Und Jacobi seinerseits pries Fichte als
den „consequenten* Denker, bei dem »die Kantische Lückenbüsserei aufhöre"
(W. W. m, 10 ff.)
38 Excui'8. Die afficirenden Gegenstände.
Von seinem eigenen Standpunkt aus lobt aber Jacobi später (bes.
1815 in der , Einleitung*' II, 22 ff. 34 ff.) jene Kantiscbe „Inconsequenz*^
(vgl. W. W. III, 76. 356. 365. 460) , dass Kant trotz jener idealistiscben
Spitze seines Systems von dem „Naturglauben'' an die Dinge ausgebe und
macbt Kant nun gerade den umgekehrten Vorwurf, dass er diesen Natur-
glauben hinterher selbst „ vertilge' : Kant gehe damit also von einem »höheren
Vermögen'' aus, , welchem sich das Wahre in und über den Erscheinungen
auf eine den Sinnen und dem Verstände unbegreifliche Weise kundthut*'.
„Auf ein solches höheres Vermögen stützt sich denn die K.'sche Philosophie
auch wirklich; und nicht nur, wie es scheinen möchte, bloss am Ende
[in der Kr. d. praktischen Vernunft], sondern auch am Anfange, wo
jenes höhere Vermögen den Qrund und Eckstein des Gebäudes wirklich l^t
mit der absoluten Voraussetzung eines Dinges an sich, welches sich weder
in den Erscheinungen, noch durch sie dem Erkenntnissvermögen offenbart,
sondern allein mit ihnen, auf eine den Sinnen und dem Verstände unbegreif-
liche, durchaus positive oder mystische Weise." Diese dem natürlichen
Menschen unzweifelhafte Offenbarung der Dinge durch die Wahrnehmung
habe Kant freilich dann doch nicht anerkannt, sondern habe die uralte
falsche Voraussetzung der Schulen angenommen, dass die Wahrnehmung
kein Bild der Dinge gebe; und in Verfolg dieses Gedankens kam er dann
auf seinen verkehrten Idealismus: „Die Kantische Lehre geht unwidersprech-
lieh von dem Naturglauben an eine unabhängig von unseren Vorstellungen
vorhandene materielle Welt aus, und vertilgt ihn nur hintenach durch
die Lehre von der absoluten Idealität alles Räumlichen und Zeitlichen, der-
gestalt, dass man, ohne von dem Naturglauben als einer festen und
bleibenden Grundlage auszugehen, nicht in das System hinein, mit ihm
aber darin nicht verharren und sich niederlassen kann." So verwickele der
Begriff der Dinge an sich Kant in die grössten Widersprüche: aber gerade
„diese Chamäleonsfarbe zwischen Idealismus und Realismus sei ihm beim
Publice nützlich gewesen" (W. W. III, 76).
Seitdem Jacobi im Jahre 1787 den fundamentalen Widerspruch des
Kantischen Systems in so scharfsinniger Weise ans Licht gestellt hatte,
wurde derselbe Vorwurf vielfach wiederholt. Wir gehen auf die unter-
geordneteren dieser Aeusserungen ^ nicht ein , sondern weisen nur auf den
hin, der den Vorwurf in der schneidigsten und einschneidendsten Weise so
formulirt hat, wie er dann in der Geschichte der Philosophie als Ferment
weiterwirkte. Es ist Schulze in seinem „Aenesidem" (1792) S. 261 ff. 273.
294 ff. 375 ff. - „Die Vernunftkritik stellt den Satz: alle menschliche Er-
* So von Eberhard, Pistorius, Garve, Weishaupt u.A. Letsterer
bemerkt (Ansch. u. Ersch. S. 10) treffend zu den hier am Anfang vorkommenden
afficirenden Dingen an sich: ,Wir werden erfahren, dass von einer anderen Seite
alles wieder genommen wird, was man uns von dieser Seite gegeben hat.*
' Vgl. dazu bes. Liebmann, Kant u. d. Epigonen S. 49: „Was Aen. gegen
das Ding an sich sagt, ist so richtig und treffend, dass wir es geradezu unter-
schreiben können." Aehnlich v. Leclair, Realismus 83 ff.
Aenesidems Kritik der einwirkenden Objecte. 39
kenntniss hebt mit der Einwirkung objectiv vorhandener Gegenstände auf
unsere Sinne an, und diese Gegenstände geben den ersten Anlass dazu, dass
sich unser Gemüth äussert — nicht nur ohne allen Beweis und als einen
an sich völlig ausgemachten und unbestreitbar gewissen Satz auf, und wider-
legt mithin diese Hirngespinnste des Skepticismus und Idealismus durch
einen bittweise angenommenen Satz [peiUio principU], dessen Wahrheit beide
leugneten; sondern ihre eigenen Resultate heben auch die Wahrheit jenes
bittweise angenommenen Satzes gänzlich auf . . . Doch dass die Vernunft-
kritik ihr System auf bittweise angenommene Sätze erbauet, dies hat sie
mit allen Systemen des Dogmatismus gemein. Sollte aber sogar die Wahr-
heit der Sätze, welche ihren Speculationen als Prämissen zu Grunde liegen,
demjenigen widersprechen, was sie durch die sorgfältigste Prüfung des
menschlichen Erkenntnissvermögens gefunden und ausgemacht haben will:
so könnte sie nicht einmal so viel Ansprüche, als dasjenige System des
Dogmatismus, in welchem ein solcher Contrast zwischen den Prämissen
und Resultaten nicht vorkommt, auf Gewissheit und Wahrheit machen.
Nun vergleiche man aber nur die Resultate der Vemunftkritik mit den
Prämissen in derselben, so wird man den zwischen denselben vorhandenen
Widerspruch leicht ausfindig machen können. Nach der transsc. Deduction
der reinen Yerstandesbegriffe, welche die Vemunftkritik geliefert hat, sollen
Dämlich die Kategorien Ursache und Wirklichkeit nur auf empirische
Anschauungen, nur auf etwas, so in der Zeit gewahrgenommen worden ist,
angewendet werden dürfen, und ausser dieser Anwendung sollen die Kate-
gorien weder Sinn noch Bedeutung haben. Der Gegenstand ausser unseren
Vorstellungen (das Ding an sich), der nach der Vernunftkritik durch Ein-
fiuss auf unsere Sinnlichkeit die Materialien der Anschauungen geliefert
haben soll, ist nun aber nicht selbst wieder eine Anschauung oder sinnliche
Yorstellung, sondern er soll etwas von demselben realiter Verschiedenes und
Unabhängiges sein ; also darf auf ihn nach den eigenen Resultaten der Ver-
nunftkritik weder der Begriff Ursache, noch auch der Begriff Wirklich-
keit angewendet werden; und ist die transsc. Deduction der Kategorien,
welche die Vernunftkritik geliefert hat, richtig, so ist auch einer der vor-
züglichsten Grundsätze der Vernunftkritik, dass nämlich alle Erkenntniss
mit der Wirksamkeit objectiver Gegenstände auf unser Gemüth anfange,
unrichtig und falsch. ' „Die Vernunftkritik legt also ihren Specula-
tionen den Satz zum Grunde, dass alle Erkenntniss durch die Wirk-
samkeit objectiver Gegenstände auf das Gemüth anfange, und bestreitet
liintenher selbst die Wahrheit und Realität des Satzes/ Nimmt man aber
das letztere Resultat an, demgemäss es gar keine Dinge an sich geben
könnte, so wird der Kriticismus zum extremsten Subjeotivismus , der alles
in blossen Schein verwandelt. « Hätte die Vernunftkritik es gleich auf der
«rsten Seite angezeigt, dass sie unter den Gegenständen, die unsere
^inne afficiren und Vorstellungen bewirken, eigentlich nichts weiter versteht,
als wieder nur Vorstellungen von Dingen ausser uns" — so würde man
49ich nicht durch das ganze Buch erst hindurcharbeiten müssen, um erst im
40 Excurs. Die afßcirenden Gegenstände.
Verlauf desselben auf dies Resultat zu stossen. Aber ,der unbefangene
Leser** wird dnrcb jene von Anfang an so oft wiederholte Behauptung yon
, afficirenden Gegenständen ** u. s. w. „ irregeführt ''^ und, während er dahinter
den „gewöhnlichen' Sinn sucht: es gebe wirklich reelle Gegenstände, mit
denen unser Gemüth in ^ reellem Zusammenhang" stehe, müsse er nachher
zu seinem masslosen Erstaunen erfahren, dass Kant unter diesen Gegen-
ständen doch wieder nur blosse Vorstellungen verstehe. Indessen, wenn
auch Kants System auf diese Consequenz führe, so habe doch Kant
selbst unter jenen «affieirenden Gegenständen '^ sich wirkliche Dinge an sich
vorgestellt, und habe eben damit jenen fundamentalen Widerspruch begangen.
Reinhold habe, wie Schulze 295 — Sil eingehend ausführt, versucht, diesen
Vorwurf der Kantgegner zu entkräften, aber er habe sich mit seinen
Distinctionen von bloss vorgestellten und wirklichen Dingen an sich nur
noch tiefer in jenen unentwirrbaren Widerspruch verstrickt.
Durch diese scharfen Angriffe wurde das Heer der Kantianer ins
Wanken gebracht, und gerieth theils in vollständige Verwirrung, theils
wurde es auf einen ganz anderen Weg gedrängt, durch dessen Einschlagen
sich die Kantische Philosophie aber zuletzt selbst auflöste ^
Jene Verwirrung zeigt sich besonders typisch bei Beinhold, wie eben
erwähnt wurde. In seinen Erörterungen hierüber (Th. d. V. 230 ff. 242 ff.
248 ff. 256 ff. 279 ff. 299 ff.) vermeidet er zwar immer die Wendung , dass
die Dinge an sich uns afficiren und uns den Stoff der Empfindungen geben,
aber er kann doch nicht umhin, zuzugestehen, dass dem Stoff der Vor-
stellungen Dinge an sich „zum Grunde liegen '. Diese sollen nun freilich
gar nicht vorstellbar sein, man könne nicht das Geringste von ihnen aus-
sagen; wenn man sie sich als wirkend vorstelle, so sei das nur von uns so
gedacht u. s. w. Aber hinter allen diesen Verclausulirungen gähnt doch der
Abgrund jenes fundamentalen Widerspruches immer wieder auf; und so
erklärt es sich, dass Reinhold dann später unter dem Einflüsse Fichte's «das
leidige Ding an sich, welches durch die Phantasie ebenso nach-
drücklich geschützt, als es von der Vernunft gründlich ange-
fochten wird", wie er sich schon 1791 (Fundament S. 66) trefflich aus-
drückte, gänzlich — eben als blosses Phantasieproduct — fallen Hess.
Diesen Ausweg schlugen nun die selbständigeren Kantiuier ein. Die
A. L. Z. sah sich schon 1788, II, 112 in der Recension des Jacobi'schen
Buches dahin gedrängt, die Einwirkung der Dinge an sich zu leugnen, und
in diesen Einleitungsworten der Aesthetik nur den Sinn zu sehen,
dass die Eindrücke von Gegenständen auf die Sinne nur ein Verhältniss
empirischer Vorstellungen von Gegenständen zu anderen empirischen Vor-
stellungen von Gegenständen {den Sinnen, die eben auch empirische Gegen-
stände sind) ausdrücken. Ganz ähnlich antwortete Jacob gegen Jacobi, in
Cäsars Denkwürdigkeiten V, 230 ff. (vgl. Eberstein II, 160—164). Auch er
^ Vgl. zum Vorhergehenden und Folgenden auch die geistvollen Ausführungen
von Dilthey im Archiv f. Gesch. d. Philos. ü, 601 ff. 646 ff.
Das Ding an sich als y^— a bei Maimon. 41
legt den Anfang der Aesthetik dahin aus, dass , Gegenstände des äusseren
Sinnes den inneren Sinn afBciren" ; fragt aber Jemand: ist denn aber auch
ein wirklicher objectiver Grund da? so sage er: ich weiss es nicht. Damit
wird also das Ding an sich ganz kaltgestellt, das Afficiren ist yon ihm auf
die Erscheinungsdinge übertragen, es hat also auch keine Function mehr.
Wie Organe, welche nicht mehr functioniren , verkümmern und absterben,
80 schrumpft auch bei den Kantianern das Ding an sich immer mehr zu-
sammen, bis es zuletzt sich in Nichts auflöst. Es dauerte nicht lange, bis
dieser Bruch mit dem Ding an sich zum Ernst gemacht wurde.
Im Jahre 1790, in welchem auch B rast berger die am Anfang der
Kritik behauptete Affection des Gemüths durch Gegenstände als eine bloss
gedachte hinstellte (vgl. Comm. I, 172 ff.), begann Maimon in seiner
^Transscendental-Philosophie'^ (161 ff. 203. 419; vgl. dazu Kants Brief an
B.eYz vom 26. Mai 1789) seinen Kampf gegen das Ding an sich und seine
Einwirkung. Kant gebrauche allerdings sehr oft das Wort ^gegeben'* von
der Materie der Anschauung, das bedeute aber bei ihm „ nicht etwas in
uns, das eine Ursache ausser uns hat*'. Der Schluss auf eine nicht- wahr-
genommene Ursache sei aber sehr unsicher; man könne „das Ding an sich
ausser der Vorstellungskraft nicht als Ursache erkennen, indem hier das
Schema der Zeit fehlt"; , gegeben" bedeute (vgl. oben S. 19) vielmehr
9 bloss eine Vorstellung, deren Entstehungsart in uns unbekannt ist", etwas,
,von dem wir bloss ein unvollständiges Bewusstsein haben. Diese Un Voll-
ständigkeit des jBewusstseins aber kann von einem bestimmten Bewusstsein
bis zum völligen Nichts durch eine abnehmende unendliche Reihe von Graden
gedacht werden, folglich ist das bloss Gegebene (da^enige, was ohne alles
Bewusstsein der Vorstellungskraft gegenwärtig ist) eine blosse Idee von der
Grenze dieser Reihe, zu der (wie zu einer irrationalen Wurzel) man sich
immer nähere, die man aber nie erreichen kann." Nach den , Streifereien" 48,
ist das Ding an sich ein „Unding", das freilich von einem Reinhold, der
darin Dogmatiker sei, angenommen werde (217. 269). In der kritischen
Philosophie dürfe man (Krit. Unt. 191) von dem Ding an sich nur so
sprechen, wie die Algebra von VlTa spreche, „aber nicht, um dadurch ein
Object zu bestimmen, sondern gerade umgekehrt, um die Unmöglichkeit eines
solchen Objects, dem dieser Begriff zukommt, darzuthun". Von diesem
Standpunkt aus unterwirft Maimon (Krit. Unt. 59 ff.) diese Einleitung
zur Aesthetik einer eingehenden Kritik, resp. er modelt sie nach jenem
Standpunkt um; die Begriffe: Empfindung, Anschauung, Sinnlich-
keit werden anders definirt; insbesondere aber solle man „das Wort affi-
ciren, welches ein Leiden durch die Wirkung einer äusseren Ursache be-
deutet, vermeiden, weil hier gar nicht die Rede sein kann von dem,
wodurch eine Erkenntniss bewirkt wird, sondern von dem, was darin
enthalten ist".
Davon geht auch Beck aus, aber er geht, wie wir sehen werden, dann
doch einen anderen Weg als Maimon. Das Allgemeine über Beck haben wir
schon oben darzustellen gehabt (S. 14. 15. 20. 23). Wir sahen da, wie Beck,
42 Ezcurs. Die afficirenden Gegenstände.
unter Verwerfung des Dinges an sich (Auszug III, 23 — 30. 159. 246. 266)
alle wahre Affection leugnet, die Sinolichkeit asf die spontane Thätigkeit
des yiuqiraiigliflliea VoEStellein* zurückfährt und demnach alle Defini-
tionen dieser Einleitung ummodelt. Kant selbst habe seinen Leser
nicht sogleich Anfangs auf diesen „transscendentalen Standpunkt" stellen
wollen, und deshalb in dieser Einleitung noch die Sprache des ge-
meinen Lebens und des gewöhnlichen Dogmatismus gesprochen;
erst „nach und nach" fahre Kant den Leser auf die volle Hohe, und da
fallen dem Leser erst die Schuppen yon den Augen : da erkenne er, dass es
keine Dinge an sich gebe, die auf uns einwirken, dass wir es überall nur
mit unseren Vorstellungen zu thun haben. „Lediglich um der Verständlich-
keit willen nimmt die Kritik die Sprache des Realismus an" (Aaszug
III, 80) am Anfang, denn sonst würde Niemand ihn verstanden haben.
wenn er sogleich mit diesem Resultat begonnen hätte ^ Wer nun freilich
dieses Resultat gewonnen habe, und nicht wisse, dass Kant hier am Anfang
sich dem gewöhnlichen Leser „anbequeme", dem müsse diese „Intro-
duction" der Aesthetik ein „Gegenstand der Anfechtung" sein; habe
man aber einmal jenen Unterschied der exoterischen Form und des esoteri-
schen Inhalts erfasst, dann verstehe man, dass Kant nur um der Schwachen
willen („zu Gunsten der schwachen Brüder", wie Born einmal sich aus-
drückt) hier am Anfang von Affection des Subjects durch Gegenstände an
sich spreche : für den starken Geist des wahren Transscendental-Philosophen
könne doch kein Zweifel sein, dass es keine Dinge an sich gebe, also auch
keine Affection durch solche. Aber an Stelle dieser Auffassung tritt bei
Beck nun eine andere, gewissermassen entgegengesetzte : darnach muss aller-
dings eine Affection angenommen werden, und wenn Kant von einer solchen
spricht, hat er ganz Recht; aber, da es Dinge an sich nicht gibt, so folgt,
dass „dieser mich afficirende Gegenstand — Erscheinung und nicht Ding
an sich ist". „Das Object, das die Empfindung in uns hervorbringt, ist die
Erscheinung." (in, 156. 159. 163. 172. 868. 369; vgl. den Brief an Kant
vom 20. VL 1797, in Reioke's Altpr. Mon. XXII, 435 ff., bes. 438 ff., wo
Beck auf diese Weise das Jacobi*sche Dilemma zu lösen sucht.) Damit sind
wir nun aber in den seltsamsten Cirkel hineingerathen. Zuerst bringen wir
durch ursprüngliches Vorstellen die Vorstellungen der Gegenstände, d. h. die
Erscheinungen selbst hervor, und dann afficiren uns wieder diese von uns
doch nur vorgestellten Erscheinungen, und dadurch erhalten wir Empfin-
dungen ! Einen solchen Widerspruch, der noch schlimmer ist als der ursprüng-
liche Kantische, haben wir also für diesen eingetauscht — eine wahre „Ab-
surdität", wie Ueberweg (Gesch. d. Phil. III, 5. A. § 21) mit Recht bemerkt.
Kein Wunder, dass Beck selbst später (1800) in einem Briefe an Pörschke
^ Mit Recht bemerkt Ueberweg in 8. Gesch. d. Philcs. III, 5. A. § 21 hieza:
„was freilich eine wunderliche Didaktik wäre, die das richtige Verständniss nicht
erleichtem, sondern nahezu unmöglich machen würde.* Vgl. Erdmann, Krit 41
Über diesen angeblichen „pädagogischen Betrug*.
Becks „einzig mögUcher Standpunkt''. 43
bekennt, er habe sich in seinem ^^Standpunkt^ ^über die Dinge an sich
zn krass ansgedrückf" (s. Altpr. Monatsschr. 1880 , S. 298). Hatte er
doch in jenem Werke (158 ff.) die Frage nach den Dingen an sich für gänz-
lich ^widersinnig" erklärt; hatte er doch sogar die Aeussemng gewagt,
,jene Frage nach einer Verknüpfung zwischen Vorstellung und Object sei
aller Bedeutung beraubt, und ihre innere Wichtigkeit sei ganz und gar nicht
grösser, als die der Frage, ob der heilige Geist vom Vater und Sohne oder
nur vom Vater allein ausgehe. Beide Fragen sind nämlich aller Verständ-
lichkeit ganz und gar beraubt' . „Erscheinungen sind die Objecte unserer
Erkenntniss, die auf uns wirken und Empfindungen in uns hervorbringen.
Dabei ist nun gar nicht an Dinge an sich zu denken. Wer diese Meinung
der Behauptung der Kritik, dass uns die Objecte afficiren, unter-
legt, beweiset damit, dass er den Standpunkt nicht erreicht hat, aus welchem
diese Kritik beurtheilt werden muss.*"
Diese Auffassung führt ja nun aber ganz auf den Standpunkt des
fjre wohnlichen Menschenverstandes, des Common Sense zurück? Dies ist denn
auch in der That die Meinung Becks. Er sagt (Standp. Ill, 158, vgl.
151 ff. 168): „Der kritische Idealismus ist mit dem gemeinen Menschensinne
ganz einverstanden. Vollkommen so wie dieser sagt er, dass die Gegen-
stände uns afficiren und Empfindungen in uns erzeugen." Der transsc.
Idealismus sichere aber erst den gemeinen Menschenverstand in seinen
Bechten, dadurch, dass er auf das „ursprüngliche Vorstellen'' zurückgehe,
dessen nach dem Princip der Causalität synthetisch verknüpfte Vorstellungen
durch eine „ursprüngliche Anerkennung^ objectiv gemacht werden, und also
eben das ausmachen, was der gemeine Menschensinn die Welt nennt. Eine
andere Welt gebe es nicht, „ursprünglich'' seien aber nicht die Dinge,
sondern nur das Vorstellen. Dieses „setzt'' in ursprünglicher Synthesis
und ursprünglicher Anerkennung die Erscheinungen; und diese sind es, die
uns nun afficiren als Holz, Stein, Licht u. s. w. Vom „transsoendentalen
Standpunkt ** aus ist alles dies ein „ursprünglich gesetztes Etwas", vom
empirischen Standpunkt aus ist es für uns da und afficirt uns und gibt uns
Empfindungen.
So hat denn die immanente Weiterentwicklung der Kantischen Ge-
danken zu einem Standpunkt geführt, der nicht nur den ursprünglichen
Kantischen Lehren schnurstracks widerspricht , sondern der auch in sich
gänzlich widerspruchsvoll ist. Wir sind jetzt in einen seltsamen Girkel ein-
geschlossen : die Erscheinungen werden von uns im ursprünglichen Vorstellen
erst gesetzt; und diese von uns gesetzten Erscheinungen müssen uns doch
erst afficiren, ehe wir gerade von ihnen bestimmte Vorstellungen erhalten
können; sie existiren also, ehe sie existiren. Beck meint zwar (156): „Da
fehlt nun viel daran, dass wir in diesen Aussagen uns widersprechen sollten.''
Aber wir Anderen finden in einer solchen Lehre allerdings einen absoluten
Widerspruch.
Einen ähnlichen Standpunkt nehmen die von Beck theilweise inspirirten
Jacob'schen AnnaleD ein; bes. II, 99. G91 ff. Der ehrliche Mellin polemisirt
44 Excurs. Die afficirenden Gegenstande.
gegen diese Stellen (Wort. I, 131 ff.), wird aber in den Annalen III, 656 ff.
zurechtgewiesen. Meilin verlor in dem Oewirre von Stimmen und Gegen-
stimmen den Kopf und lehrte bald die Affection durch die Dinge an sich,
bald die durch Erscheinungen (vgl. I, 88 f. 131 ff. 267 f. 490. 708 ; II, 703.
714 f. 786; V, 311 ff.). Es ist jämmerlich anzusehen, wie er sich windet
und dreht, um um die Widersprüche herumzukommen, und sich doch immer
tiefer in dieselben verstrickt. Die Annalen III , 656 ff. suchen den Wider-
spruch zu lösen durch Unterscheidung einer Sinnlichkeit im trans-
scendentalen und im empirischen Sinne; von jener seien die empiri-
schen Gegenstände abhängig, von dieser unabhängig. Die empirischen
Gegenstände afficiren nur die empirische Sinnlichkeit, sind aber von jener
transscendentalen Sinnlichkeit gesetzt. Von den Dingen an sich wird dabei
gänzlich abgesehen. Dies führt nun schon zum Fichte'schen Standpunkt über.
Bei Fichte zeigte sich von Anfang an das Bestreben, das , leidige
Ding an sich'' abzuschütteln. Schon in der „Kritik aller Offenbamng*
(W. W. V, 25) , in der er sich noch auf den Boden der Kr. d. r. V. stellt
(1792), erfindet er (für den Willen) an Stelle einer „positiven Affection der
Receptivität durch gegebene Materie* den Begriff einer „negativen Af-
fection, einer Niederdrückung, einer Einschränkung des Empfindungsver-
mögens'. Der Gedanke, dass das Ich durch nichts ausser ihm afficirt werden
könne, dass es das Nicht-Ich vielmehr selbst erst setze, kommt deutlich zum
Durchbrach in der Recension des Aenesidemus (1794). Vgl. W. W. I, 17 ff.
Kants Unterscheidung zwischen Dingen an sich und Erscheinungen „sollte
daher gewiss nur vorläufig und für ihren Mann gelten'. In der
„Grundlage der ges. Wissenschaftslehre' (1794) wird die Behauptung nackt
hingestellt: Die Annahme wirkender, afficirender Dinge an sich gelte, nur
,auf der Stufe der Reflexion, auf welche Kant sich gestellt hatte', nicht
aber auf dem eigentlichen transscendentalen Standpunkte (W. W. I, 174. 186).
Die Einwirkung eines Realgrundes auf das Ich sei schlechthin undenkbar.
Die Thätigkeit des Ich, des reinen, nur durch intellectuelle Anschauung zu
erfassenden Ich sei das einzig ursprüngliche; durch seine Denkhandlungen
setze es erst in verschiedenen Setzungen die Welt der Erscheinungen, und
nur das empirische, individuelle Ich fasse diese dann^ nachträglich als Dinge
an sich auf u. s. w. Dies sei der Geist der Kantischen Philosophie; Kants
Verdienst sei, die Philosophie vom „todten Ding an sich' befreit, und damit
die Vernunft entfesselt zu haben. Wer einen gegebenen Stoff annehme, ver-
stehe vom Geist der kritischen Philosophie und von echter Wissenschaft
nichts (II, 482 ff.). Die Behauptung: der Stoff wird gegeben, sei gänz-
lich unverständlich. Wie soll denn eigentlich der Intelligenz der Stoff ge-
geben werden? Dass die Kantianer dies immer wiederholen, beweise nur,
dass sie von wahrer Philosophie nichts verstünden. Besonders wird dies
(II, 444—458, vgl. 482 ff.) in der bekannten Streitschrift gegen Schmidt
ausgeführt. In unzähligen Variationen wiederholt Fichte denselben Vorwurf
gegen die Kantianer, sie hätten Kant völlig missverstanden, wenn sie ihn
ein afficirendes Ding an sich annehmen Hessen. Auch in Fichte*s Brief-
Fichte eliminirt das „leidige", ,todte Ding an sich'. 45
Wechsel mit Beinhold wird dieses Thema erörtert (Beinholds Leben S. 165 ff,
174. 184 ff.). Als Beinhold sich zar „ Wissenschaftslehre'' bekehrt hatte,
sendet ihm Fichte „den feurigsten Glückwunsch'' dazu, dass er den „bösen
Schaden seines Systems", den „gegebenen Stoff" losgeworden sei. „Wenn
Sie aus Ihrem bisherigen System den gegebenen Stoff weglassen, so erhält
es eine ganz andere Bedeutung, und Alles, was Sie darin sagen, steht auf
einem ganz anderen Gesichtspunkte, auf dem es Wahrheit ist." Der so
leicht bestimmbare Beinhold hat sich auf diesen Standpunkt „hinauf-
geschwungen", aber es kommt ihm das Bedenken, ob denn dies in der That
auch der Sinn Kants sei, wie Fichte immer behaupte? Es bestehe doch
wohl ein Widerspruch zwischen Kants Kr. d. r. V. und der Wissenschafts-
lehre in diesem Hauptpunkte?
Diesen Bedenken hatte Beinhold öffentlichen Ausdruck gegeben in den
„Vermischten Schriften" 1797, II, 840 ff. Fichte thue sowohl sich als Kant
Unrecht, wenn er behaupte, Kant lehre genau dasselbe wie er. Kant nehme
,,ein vom Ich Verschiedenes" an, und suche es „ausser dem Ich". Erst Fichte
habe gefunden, dass man ohne das Ding an sich auskommen könne. Wolle
man Kant auch so auslegen, so müsse man der Kritik „Gewalt anthun".
Diese ehrlichen Bedenken sucht Fichte in seinem Brief an Beinhold
vom 4. Juli 1797 zu zerstreuen. Er nimmt 8 Fälle an: Entweder habe
Kant wirkende Dinge an sich angenommen; so lassen ihn die Kantianer
sagen. Oder er habe dieselben geleugnet; dies sei seine, Fichte^s, Mei-
nung. Oder Kant habe, wie man vermittelnd annehmen könne, „sich die
Frage über den Ursprung der äusseren Empfindung nicht bestimmt vor-
gelegt." Das Dritte will Fichte allenfalls gelten lassen, das Erste aber
nie: Kant habe auch nicht „die leiseste Andeutung" gegeben, dass er den
Ursprung der äusseren Empfindung „in Etwas an sich vom Ich Verschie-
denem" setze. Dass Kant dies gethan hätte, „halte ich für unmöglich, dem
ganzen Kantischen System in allen seinen Punkten und den hundert mal
wiederholten klaren Aussprüchen Kants widersprechend".
Fichte fährt fort: „Indem Sie dies lesen, mögen Sie vielleicht un-
willig werden, vielleicht sich sagen: Hat denn dieser Fichte auch nicht
einmal den Anfang der Kr. d. r. V., nicht den ersten Perioden der
Einleitung, nicht § 1 der tr. Aesthetik gelesen? Haben Sie Geduld
bis auf meine Abhandlung. Ich erkläre daselbst diese Stellen."
Diese Abhandlung ist die „Zweite Einleitung in die Wissenschafts-
lehre" (1797), W. W. I, 453-518. Fichte wirft (480) die „lediglich histo-
rische" Frage auf: Hat Kant wirklich die Erfahrung, ihrem empi-
rischen Inhalte nach, durch etwas vom Ich Verschiedenes be-
gründet? So hätten allerdings (ausser Beck) bis jetzt alle Kantianer Kant
verstanden. Aber schon Jacobi habe in seinem „Idealismus und Bealis-
mus" (1787) gezeigt, dass diese Auslegung eine „falsche Behandlung des
kritischen Idealismus" sei (11, 445 Anm).
Kant selbst habe also jenen Widerspruch nicht begangen; freilich,
jene seine „Ausleger lassen ihn die Grundbehauptung seines Systems über die
46 Excurs. Die afficirenden Gegenstände.
(nur immanente, empirische) Gültigkeit der Kategorien überhaupt (spec. der
Cansalität) für diesesmal vergessen, nnd ihn durch einen beherzten
Schluss, aus der Welt der Erscheinungen heraus, bei dem an sich ausser
uns befindlichen Dinge anlangen/' So aber schliessen nur die Kantianer,
nicht aber Kant selbst. Nur auf Bechnung jener, nicht dieses, komme
;, diese abenteuerliche Zusammensetzung des gröbsten Dogmatismus, der
Dinge an sich Eindrücke in uns machen lässt, und des entschiedensten
Idealismus, der alles Sein nur durch das Denken der Intelligenz ent-
stehen lässt". Die Kantianer, welche jene Existenz und Einwirkung realer
Dinge an sich annehmen, können den „natürlichen Hang zum Dogmatismus
nicht überwinden", „so , dass sie bis diesen Tag, nachdem sie etwas fahlbar
gerüttelt wurden, sich den Schlaf noch nicht aus den Augen reiben können,
sondern lieber mit Händen und Füssen nach den unwillkommenen Ruhe-
störern um sich schlagen''. Aber Kant selbst könne unmöglich jene wider-
spruchslose Verbindung selbst gehabt haben. Eine solche „Absurdität" sei
Kant nicht zuzutrauen. Und darauf folgt jene bekannte Stelle:
„So lange demnach Kant nicht ausdrücklich mit denselben Worten
erklärt, er leite die Empfindung ab von einem Eindruck des
Dinges an sich, oder dass ich meiner Terminologie mich bediene: die
Empfindung sei in der Philosophie aus einem an sich ausser
uns vorhandenen transscendentalen Gegenstande zu erklären,
so lange werde ich nicht glauben, was jene Ausleger uns von Kant berichten.
Thut es aber diese Erklärung: so werde ich die Kr. d. r. V. eher für das
Werk des sonderbarsten Zufalls halten, als fär das eines Kopfes." ^
Solche theatralische Donnerworte und Keulenschläge charakterisiren
den ganzen Fichte. Mit zorniger Miene, verächtlichem Blick und gewaltiger
Stimme sucht er jeden Gegner von vorneherein zurückzuschrecken. Aber
ruhige Vernunft und nüchterne Gelassenheit wird sich durch solchen un-
philosophischen Furor teutonicus nicht imponiren, nicht von der kalten
Prüfung der Sachlage wegtreiben lassen. Hören wir weiter, wie Fichte nun
den Anfang der Einleitung (s. Comm. I, 172 ff.) und den Eingang
der tr. Aesthetik, den ihm die Ausleger Kants schon damals entgegen
hielten, vom Halse zu schaffen sucht. Fichte decrctirt: „Dieses werden ungefähr
alle die Stellen sein, die die Gegner fär sich anfuhren können. Hierbei — bloss
Stellen gegen Stellen, Worte gegen Worte gehalten, und von der Idee des
Ganzen, welche meiner Voraussetzung nach jene Ausleger noch gar nicht
hatten, abstrahirt — frage ich zuvörderst: wenn diese Stellen mit den spä-
teren unzähligemal wiederholten Aeusserungen , dass von einer Einwirkung
eines an sich ausser uns befindlichen transscendentalen Gegenstands gar nicht
^ Unter gänzlichem Missverständniss dieses Textes und der ganzen Frage
hat K. Fischer, Kritik d. K/schen Philos. (1883) S. 73. 77 diese Fichte^sche
(ebenso wie das. S. 65 die Beck*sche) Polemik gegen die Causalität der Dinge an
sich in eine Polemik gegen die Causalität der Dinge im Räume verwandelt. Gerade
diese letztere von Fischer so bekämpfte Causalität haben ja eben Beck und Fichte
gelehrt! Vgl. auch Bergmann, Metaph. 155 ff.
Wie Fichte Kants Einleitung zur Aesthetik auslegt. 47
die Bede sein könne , wirklich nicht zu vereinigen wären: wie geschah es
denn, dass diese Aasleger den wenigen Stellen, die nach ihnen einen
Dogmatismus lehren, lieber die ungezählten Stellen, die einen tr.
Idealismus lehren, als umgekehrt den letzteren die ersteren, aufopfern
wollten?'' Es beliebt hier Fichte, das wirkliche Zahlenverhältniss umzu-
kehren. Von afficirenden Dingen an sich redet Kant tausendmal; die Unmög-
lichkeit der Existenz und Einwirkung von Dingen an sich dagegen ist eine
Consequenz, welche der Leser Kants allerdings aus der Kategorienlehre
ziehen muss, welche Kant selbst aber nur selten und auch dann nur
schüchtern andeutet. Man braucht übrigens gar nicht mit den Kantianern
die Einen Stellen den Anderen „aufzuopfern**, sondern man constatirt mit
Aenesidem und anderen wahrhaft „kritischen" Kantlesern eben einfach
einen Widerspruch, einen Widerspruch, in den freilich nicht bloss Kant
allein verfallen muss, sondern Jeder, der seine Wege wandelt, auch —
Fichte selbst.
Man kann indessen nach Fichte's Meinung jenen Widerspruch Kants
nicht nur durch „Aufopferung" dieser Stellen hier am Eingang der
Kritik vermeiden, sondern viel einfacher durch eine andere Auslegung
derselben ; dann lassen sich jene „entgegengesetzt scheinenden Aeusserungen"
Kants „vereinigen". Hören wir Fichte, den Ausleger':
„Kant redet in diesen Stellen von Gegenständen. Was dieser Aus-
druck bei ihm bedeuten solle, darüber haben ohne Zweifel wir nichts zu
bestimmen, sondern die eigene Erklärung Kants darüber anzuhören." Nun
citirt Fichte einige Stellen aus Kant über den kategorialen Gegenstand (aus
der Deductiou A, aus der Unterscheidung der Phänoraena und Noumena, aus
der Antinomienlehre), aber — wohlgemerkt — nicht nach Kant selbst,
sondern aus Jacobi's Abhandlung! (Die Kr. d. r. V. war ihm also offenbar
ziemlich fremd geworden.) Und nun fragt Fichte triumphirend : „Was ist
also der Gegenstand?" Und antwortet: „Das durch den Verstand der
Erscheinung Hinzugethane, ein blosser Gedanke. — Der Gegenstand afßcirt
— etwas, das nur gedacht wird, afficirt. Was heisst denn das? Wenn ich
nur einen Funken Logik besitze, nichts anderes, als: es afficirt, inwiefern
es ist, also es wird nur gedacht als afficirend." Aber — wenn dies
die Consequenz jener Stellen ist, so besteht eben zwischen Anfang und Fort-
setzung der Kantischen Kritik jener von Jacobi, Aenesidem u. A. hervor-
gehobene Widerspruch. Uebrigens hat Fichte übersehen, dass an denselben
Stellen Kant mehrfach unzweideutig vom Ding an sich spricht.
Fichte fährt aber fort in seiner Erklärung. Was ist denn, fragt er,
die Sinnlichkeit, welche Kant definirt als „Fähigkeit, durch die Art, wie
wir durch die Gegenstände afficirt werden, Vorstellungen zu bekommen?"
Pichte gibt folgende Antwort: „Da wir die Aifection selbst nur denken,
denken wir ohne Zweifel das Gemeinsame derselben auch nur; sie ist auch
' Diese Auslegung hat dann auch Schelling adoptirt, bes. in seiner hämi-
schen Recension von Villers, s. W. W. I, Abth. V, 197 flF.
48 Excurs. Die afficirenden Gegenstände.
nur ein blosser Gedanke. Wenn du einen Gegenstand setzest mit dem Ge-
danken, dass er dich afficirt habe, so denkst du dich in diesem Falle
afficirt, und wenn du denkst, dass dies bei allen Gegenständen deiner
Wahrnehmung geschehe, so denkst du dich als afficirbar überhaupt, oder
mit anderen Worten: du schreibst dir durch dieses dein Denken Becepti-
vität oder Sinnlichkeit zu. So wird der Gegenstand als gegeben auch nur
gedacht; und so ist die aus der Einleitung (der Kr. d. r. Y.) entlehnte
Stelle auch nur aus dem System des nothwendigen Denkens auf dem
empirischen Gesichtspunkte entlehnt, der durch die darauf folgende
Kritik erst erklärt und abgeleitet werden sollte.' ' Da haben wir also wieder
jenen Gedanken einer pädagogischen Accommodation Kants an den gemeinen
Standpunkt. Wenn man auch diese Eingangsstellen durch diesen bedenk-
lichen Ausweg wegschaffen wollte — dann bleiben ja noch jene Hunderte
von Stellen, welche die ganze Kritik durchziehen, und welche beweisen, dass
die Annahme wirkender Dinge an sich nicht bloss eine propädeutisch
angelegte Leiter ist, auf welcher Kant den gewöhnlichen Leser auf
die Höhe seines Standpunktes allmälig erheben will, sondern ein syste-
matisch nothwendiger Pfeiler, welcher sein ganzes erkenntnisstheore-
tisches Gebäude trägt.
Was Fichte weiter in jener Stelle sagt, kommt auf Rechnung seines
eigenen Systems. Er sucht plausibel zu machen, dass und wie man ohne
eine Affection durch Dinge an sich auskommen könne — aber während
er das Wort vermeidet, kommt er doch immer wieder auf die Sache zurück:
er redet von einer „Beschränktheit^* und „Bestimmtheit" des Ich. „Diese Be-
stimmtheit kann nicht abgeleitet werden, denn sie ist das Bedingende aller
Ichheit. Hier hat sonach alle Deduction ein Ende. Diese Bestimmtheit
erscheint als das absolut Zufällige, und liefert das bloss Empirische
unserer Erkenntniss.'* „Das ursprüngliche Gefühl des Süssen, Bothen,
Kalten u. s. w. dürfe man nicht vergessen"; wenn man dies vergesse, so
führe das auf einen bodenlosen transsc. Idealismus und eine unvollständige
Philosophie, die die bloss empfindbaren Prädicate der Objecte nicht erklären
kann. „Auf diesen Abweg scheint mir Beck zu gerathen." Jenes ursprüng-
liche Gefühl ist aber da ; „diese ganze Bestimmtheit, sonach auch die durch
sie mögliche Summe der Gefühle, ist anzusehen als a priori, d. b. absolut
und ohne alles unser Zuthun bestimmt; sie ist die Kantische Recepti-
vität und ein besonderes aus ihr ist ihm die Affection. Ohne sie ist
das Bewusstsein allerdings unerklärbar." Aber „dieses ursprüngliche Gefühl
aus der Wirksamkeit eines Etwas weiter erklären zu wollen, ist der Dog-
matismus der Kantianer, den sie gerne Kant aufbürden möchten. Dieses ihr
Etwas ist nothwendig das leidige Ding an sich. Bei dem unmittelbaren
Gefühle hat alle trän sscendentale Erklärung ein Ende." Das empirische
Ich erkläre sich allerdings jenes Gefühl durch die Annahme einer aus-
gedehnten Materie, einer Körperwelt. Diese Erklärungshülfe sei dem Trans-
scendentalphilosophen verschlossen. Er müsse sich mit dem Factum jener
„Bestimmtheit" zufrieden geben und sie nicht noch weiter erklären wollen.
Nach Beck und Fichte sind die Erscheinungen das Afficirende. 49
Dass Fichte selbst sich nicht damit zufrieden gab, ist bekannt — er sta-
tuirte einen „unbegreiflichen Anstoss" auf das Ich. Und in der That — wenn
das Empirische unserer Erkenntniss „ohne unser Zuthun" bestimmt wird,
mnss es irgendw^o andersher bestimmt werden. Jene „Summe empirischer
Gefühle'^ in uns constatiren, und sie nicht von Einwirkungen gewisser von
uns verschiedener Dinge an sich ableiten, heisst: einen Gedanken anfangen
und ihn in der Mitte abbrechen. Den Gedanken in der Schwebe zu halten,
ist ein brodloses Kunststück.
Aus diesen Verbandlungen müssen wir nun aber noch einen sehr
wichtigen Punkt herausgreifen. Bei Fichte wie schon bei Beck tritt immer
mehr an Stelle der von ihnen geleugneten Affection durch die Dinge an
sich — welche ihnen eben Undinge sind — die Affection durch die Er-
scheinungen; bei Beiden jedoch nicht ganz in derselben Weise. Für Fichte
ist das reine, ursprüngliche Ich etwas ,Ueberindividuelles" (Windelband),
wenigstens wird es ihm immermehr zum überindividuellen Kern des empi-
rischen Ich. Jenes überindividuelle Ich setzt aus sich heraus resp. sich
gegenüber durch seine Thathandlnngen die gesammte empirische Vor-
stellungswelt, zu der aber auch das empirische Ich gehört; das
empirische endliche Ich ist auch ein Theil der durch das nnendliche Ich
gesetzten Erscheinungswelt. In dieser Erscheinungswelt hängt Eine Er-
scheinung mit der anderen nach dem Gesetz der Gausalität zusammen ; in
diesen Causalring ist auch das empirische Ich eingeschlossen ; es unterliegt
also auch den causalen Einwirkungen der Einzeldinge, erhält durch die-
selben Eindrücke, und durch diese — Empfindungen. Jene vom überindivi-
duellen Ich gesetzten und darum abhängigen Erscheinungen sind vom indi-
viduellen Ich unabhängig, stehen diesem endlichen Wesen als endliche Wesen
gegenüber und beide stehen im Gausalnexus.
Aehnlich, aber doch anders stellt sich die Sache bei Beck. Er hat
jenen faustischen Gedanken eines überindividuellen Ich noch nicht erfasst.
Das Ich, von dessen ^ursprünglichem Vorstellen '^ er spricht, ist zwar das
reine Ich Kants, aber doch noch ganz individuell gefasst. Wenn er die Er-
scheinungen durch dieses ursprüngliche Vorstellen entstehen, und dann doch
wieder auf das Subject, das jenes ursprüngliche Vorstellen ausübt, rück-
wärts einwirken lässt, so bewegt er sich hier in einem Cirkel, den nur der-
jenige durchbrechen kann, der mit Fichte jenes reine Ich überindividuell
fasst und vom individuellen Ich unterscheidet ; für Fichte bleibt dann freilich
immer noch die unlösbare Frage übrig, wie es denn jenes reine Ich an-
fange, das Nicht-Ich aus sich heraus* resp. sich gegenüberzusetzen? Aber
wenn auch die theoretische Begründung eine andere ist, factisch kommen
Beide, Fichte und Beck, doch auf dieselbe Consequenz : die Erscheinungs-
gegenstände als solche afficiren uns, und nur von diesen könne auch
hier in der Einleitung zur Aesthetik allein die Red-e sein.
Da ist es nun bemerkenswerth, dass auch neuere Kantianer die transscen-
dente Affection leugnen und an ihrer Stelle die empirische Affection geradezu an-
nehmen. Diese empirische Affection muss ja natürlich überall da auftreten, wo
Vaihinger, Kant-Commentar. II. 4
50 Excurs. Die afficirenden Gegenstände.
m
durch die kritische Gewissenhaftigkeit die transscendente Affection durch das
Ding an sich als widerspruchsvoll ausgeschlossen ist. Das Ding an sich wird ja
auch von neueren Kantianern als reine Illusion oder Fiction verworfen als ein
innerer Widerspruch im Kantischen System. Schon Schopenhauer, von
welchem der Neukantianismus mehr gelernt hat, als er zugestehen will, hat über-
all gegen die Kantische Ableitung des Begriffes an sich aus dem Causalscblnss
gewettert, und demgemäss auch die causale Einwirkung des Dinges an sich
als widerspruchsvoll verworfen ; aber er hat keinen Anstoss daran genommen,
die (in Folge jener Leugnung der transscendenten Affection nothwendig
anzunehmende) empirische Affection des Subjects durch die empirischen
Gegenstände, welche doch erst die Vorstellungen jenes Subjects sind, an
vielen Stellen seiner widerspruchsvollen Werke geradezu anzunehmen und
damit für jenen W^iderspruch einen noch viel härteren einzutauschen. Dies
haben die Führer des Neukantianismus aus Schopenhauer herübergenommen;
und da nun Schopenhauer selbst wieder viel mehr als er. zugestehen will,
dem Einflüsse Fichte's verdankt, so ist dieses neukan tische Lehrstück in
directer Linie auf Fichte und dessen Genossen Maimon und Beck zurück-
zuführen.
In diesen, wie fast in allen anderen Punkten hat der Neukantianismus
eigentlich nur dieselbe Gedankenentwicklung durchgemacht, wie sie von
den Kantianern der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durchgemacht
wurde, nur dass bei diesen die ganze Bewegung eine viel ursprünglichere,
frischere und gewaltigere war: wir haben desshalb auch diese Bewegung
an der Quelle aufgesucht, und sind dadurch in den Stand gesetzt, das
Spiegelbild dieser ursprünglichen Bewegung, das unsere Zeit uns darbietet
oder vielleicht besser gesagt dargeboten hat, viel kürzer abzuhandeln.
Jene Verwerfung der Affection durch die Dinge an sich und dafür
die Annahme der empirischen Affection durch die Erscheinungen treffen wir
-z. B. bei Lieb mann und F. A. Lange, den verdienst- und geistvollen
Begründern des Neukantianismus. In theoretisch tieferer Begi'ündung finden
wir dasselbe dann besonders bei Cohen und in der ganzen Cohen'schen
Schule, bei Stadler, Lasswitz, Staudinger, Natorp, Böhringer U.A.;
ferner bei Arnoldt, Krause, Classen. Alle diese verlangen einstimmig,
wenn Kant hier am Anfang der Aesthetik von einer Affection
der Sinnlichkeit durch Gegenstände spreche, die uns die Empfin-
dungen Verschaffe, so dürfe man darunter schlechterdings nur die empirische
Affection verstehen, wie sie auch von der Physiologie angenommen wird,
die Reizung der Organe durch die bewegte Materie, welche letztere eben
für den „Transscendentalphilosophen", den „Erkenntnisskritiker'' wiederum
sich in blosse Vorstellung des transscendentalen Subjects auflöse.
Cohen sagt geradezu (I.A. 15. 2. A108): „In der Auf lösung dieses
Cirkels besteht die Kantische Philosophie*, nämlich eben des Cirkels, dass
der Gegenstand von uns dadurch angeschaut wird, dass er uns gegeben
wird , und doch wieder uns nur dadurch gegeben wird , dass er an-
geschaut wird. Um diesen Cirkel am Anfang zu vermeiden, könne man
Neul:antianer setzen an Stelle der transscendenten Aüection die empirische. 51
mit Kant sagen: ,,Das Gegebensein des Gegenstandes ist nur dadurch
möglich, dass er das Gemüth auf gewisse Weise afficirt/' Wie da-
durch das „Cirkel' — die Wendung stammt anscheinend aus Fichte 's
Kecension des Aenesidemus (W. W. I, 20) — vermieden werden soll, ist ab-
solut nicht zu ersehen. Im Afficirtwerden durch Objecto, die nach Cohens
Lehre doch wieder von uns in letzter Linie abhängig sind, besteht ja der-
selbe Cirkel. und diesen Cirkel kann die Kantische Philosophie, wie sie
von Cohen verstanden wird, auch nicht , auflösen'^. Cohen und sein Kant
kommen aus diesem Zauberkreis nicht hinaus — weil eben Cohen von vorne-
herein die Affection durch Dinge an sich eliminirt resp. sich in wider-
spruchsvollster Weise hierüber äussert; vgl. 2. A. 106. 150. 165. 334 ff.
Besonders auffallend ist die unklare Wendung 339: ,,Die Erscheinung setzt
das afßcirende Etwas nicht sowohl voraus, als sie es vielmehr selbst
gibt.^ Der transscendente Gegenstand, welcher die Voraussetzung der Er-
scheinung ist, und der empirische, welcher ihr Inhalt ist, müssen eben gerade
streng auseinandergehalten werden. Ferner ib. 363. 424. 489. 502 ff. 518.
595 — 616: Die Lehre von den Dingen an sich sei ein blosses „Gerücht", ja
., Gerede* ; K. habe den Begriff derselben nur „geduldet** ; er habe ihn aber
., berichtigt" : denn er fasse die D. a. s. als blosse „Ideen*. Vgl. desselben
„Infin. Methode", S. 145 f. In diesem Sinne hat dann Lasswitz, Ks. Lehre
u. s. w. 103 ff. 122 ff., gelassen das grosse Wort ausgesprochen: „Es ist
ein Unglück, dass man überhaupt von Dingen an sich gesprochen hat" (124).
Dafür finden sich bei ihm alle jene Widersprüche der Früheren beisammen.
So wären wir denn wieder genau in dieselbe Situation gerathen, in
welcher die Kantfrage in den 90 er Jahren des vorigen Jahrhunderts sich
befand. Während die Einen sich an Kants so oft wiederholten Aeusserungen
über die afficirenden Dinge an sich halten, sehen die Anderen darin ein
grobes Missverständniss des Kantischen Textes; von afficirenden Dingen an
sich habe Kant nie im Ernste gesprochen. Wo der Wortlaut doch dazu
zu führen scheine, sei dies entweder eine blosse Anbequemung an den Dogma-
tismus, blosse fa^on de parier, oder — und das ist nur für uns das Wichtigste —
es seien an solchen Stellen (so auch hier in der Einleitung zur Aesthetik)
unter den afficirenden Gegenständen gar nicht die Dinge an sich zu ver-
stehen, sondern die empirischen Dinge, die Erscheinungen. Diese Auslegung
aber stürzt sich, um die Scylla der transscendenten Affection zu
vermeiden, in die Charybdis der empirischen: statt eines Wider-
spruches, den wir los sind, erhalten wir einen neuen, der womöglich noch
schlimmer ist: denn diese empirischen Gegenstände sind nach Kants tausend-
fach wiederholten Versicherungen „nichts ais unsere Vorstellungen" — wie
können und sollen diese vorgestellten Gegenstände uns erst afficiren, damit
wir eben ihre Vorstellungen erhalten, in denen sie nur bestehen? Wie
will man einem Manne, wie Kant, einen so handgreiflichen Widerspruch
aufbürden ?
Wollten wir uns auf diese Weise aus der Schlinge ziehen, so würden
wir denselben Fehler machen, den so viele Kantianer alter und neuer Zeit
52 Excurs. Die afficirenden Gegenstände.
in Bezug auf die transscendente Affection begehen : Kant könne die Affection
des Subjects durch Dinge an sich nicht gelehrt haben, weil er damit ja
sich selbst widersprechen würde. Die empirische Affection des Subjects
durch die Erscheinungen mag den sonstigen Erklärungen Kants wider-
sprechen , aber das überhebt uns nicht der Untersuchung , ob Kant selbst
sie denn nicht am Ende auch gelehrt habe, ob also jene Kantianer alter
und neuer Zeit nicht doch am Ende mit ihrer Behauptung einer empirischen
Affection auf Kants Bahnen wandeln.
Und das ist denn nun auch in der That der Fall. Kant hat aller-
dings allen Ernstes gelegentlich die empirische Affection gelehrt, natürlich
nicht an Stelle der transscendenten — denn deren Annahme bei Kant
steht für uns hinreichend fest — , sondern neben der transscendenten.
Vor den hieher gehörigen Stellen ist weitaus die wichtigste die
„Widerlegung des Idealismus', welche Kant in die 2. Aufl. seiner Kr.
d. r. y. (B 274 ff.) eingeschaltet hat. In diesem merkwürdigen Abschnitte
treffen wir nämlich genau dieselbe Annahme eines Gegenstandes, welcher
unabhängig ist von unserer Vorstellung und doch nicht identisch ist mit
dem Ding an sich ; denn jener Gegenstand ist „im Raum". Auf die Unter-
suchung dieser äusserst schwierigen Stelle ist natürlich hier noch nicht
einzugehen. Wir haben dieselbe übrigens schon anderwärts eingehend zu
besprechen gehabt, s. Strassburger Abhandlungen zur Philosophie, 1884,
S. 85— 164 ^ Es ergab sich da, dass Kant nicht erst in der 2. Aufl..
sondern schon in der 1. Aufl. zwei widersprechende Auffassungen über das
Verkältniss der materiellen Aussen weit zu unseren Vorstellungen hat: nach
der einen ist die Körperwelt blosse Vorstellung, nach der anderen ist sie
etwas von der empirischen Vorstellung Unabhängiges. Nach der ersteren
Auffassung afficiren uns die Dinge an sich: nach der anderen afficiren uns
auch die phänomenalen Gegenstände. Kant lehrt also eine doppelte
Affection, eine transscendente und eine empirische.
Die eingehende Untersuchung und Begründung davon, welche übrigens
schon a. a. 0. geliefert worden ist, kann hier im Gommentar naturgemäss
erst an späteren Stellen, spec. zu dem Abschnitt: „Widerlegung des Idealis-
mus*' gegeben werden. Hier an dieser Stelle müssen wir jenes Resultat
antecipiren, uns klar machen, was darin liegt, und die Consequenzen für
die Aesthetik daraus ziehen. So viel sehen wir schon hier, dass diese Auf-
fassung theil weise einmündet in jene Auslegung, welche Beck und Fichte
dem K.'schen System gegeben haben. In der That haben diese nur das-
jenige consequent entwickelt, was in den K.'schen Prämissen liegt. Aach
^ Eine ganz vorzügliche Auseinandersetzung über die von unserem empiri-
schen Vorstellen unabhängige und doch nicht mit dem Ding an sich identische.
zwischen Beiden in der Mitte schwebende Erscheinung Ks. hat Falckenberg.
Gesch. d. n. Philos. 1886, 268—272 gegeben. Vgl. auch Witte, Wesen d. Seele,
1888, 39 ff., Volkelt, Erf. u. Denken, 1886, 177 fF. über dieses .MittelgebietV Ueber
diese „Zweideutigkeit" Ks. vgl. Laas, Id. u. Pos. III, 345. E. König, Phil. Mon.
1884, 246 ff.
Das Trilemma der afficirenden Gegenstände. 53
dies ist a. a. 0. ausführlich schon nachgewiesen worden. Dieselben sahen
die Nothwendigkeit einer empirischen Affection des empirischen Ich durch
die empirischen Gegenstände im Räume ein, und waren sich nur nicht recht
klar darüber, dass Ks. System auch zugleich die transscendente Affection
des Ich an sich durch die Dinge an sich voraussetze. Sie zogen die Con-
Sequenz, Hessen aber die Voraussetzung fallen. Sie thaten das von ihrem
Standpunkt aus mit Recht: denn jene doppelte Affection bringt K. in noch
härtere Widersprüche mit sich selbst.
Wir erhalten somit für Kants Philosophie in Bezug auf die von der-
selben hier gleich am Anfang gelehrten afficirenden Gegenstände
folgendes Trilemma:
1) Entweder versteht man unter denselben die Dinge an sich; dann
gerathen wir auf den von Jacobi, Aenesidem u. A. schon aufgedeckten
Widerspruch, dass wir die Kategorien Substantialität und Causalität, welche
doch nur innerhalb der Erfahrung Sinn und Bedeutung haben sollen, ausser-
halb derselben anwenden. (Vgl. oben S. 9. 36 ff.)
2) Oder wir verstehen unter den afficirenden Gegenständen die Gegen-
stände im Räume; da nun diese nach Kant aber doch nur Erscheinungen
sind, also unsere Vorstellungen, so gerathen wir auf den Widerspruch, dass
dieselben Erscheinungen, die wir erst auf Grund der Affection haben, uns
eben jene Affection verschaffen sollen. (Vgl. oben S. 7. 9. 15. 42 ff.)
3) Oder wir nehmen eine doppelte Affection an, eine transscendente
durch die Dinge an sich und eine empirische durch die Gegenstände im
Räume, so gerathen wir auf den Widerspruch, dass eine Vorstellung des
transscendentalen Ich nachher für das empirische Ich ein Ding an sich
sein soll, dessen Affection nun im Ich ausser und hinter jener transscenden-
talen Vorstellung des Gegenstandes noch eine empirische ebendesselben
Gegenstandes hervorrufen soll.
Wir hätten hier die Schwierigkeit, dass etwas, was für den Einen
Theil unseres Wesens Vorstellung ist, für den anderen Theil unseres Wesens
ein Ding wäre, das in diesem Theil wieder eine neue Vorstellung hervor-
ruft, ohne dass wir doch dieser Spaltung in unserem Wesen bewusst wären,
ohne dass wir eine Ahnung davon hätten, dass wir zwei so verschieden-
artige und verschiedenwerthige Vorstellungen aus uns producirten. Aus
dieser Schwierigkeit könnte allerdings noch Ein Ausweg hinausfähren —
aber hier müssen wir uns mit der Andeutung begnügen, dass die K.'sche
Freiheitslehre uns auf diesen Weg leiten kann, welcher freilich zuletzt
auch nur aufs Neue in das Dickicht unlösbarer Schwierigkeiten hinein-
fuhren wird.
Was die Aesthetik betrifft, so werden wir am besten thun, sogleich
hier vorläufig diejenigen Stellen derselben im Zusammenhang anzuführen, in
welchen schon hier die von der Vorstellung unabhängige Existenz des Gegen-
standes im Räume und die durch ihn ausgeübte empirische Affection mehr
oder weniger gelegentlich zum Durchbruch kommt. Das Nähere ist zu den
betreffenden Stellen selbst ausgeführt.
54 Excura. Die afficirenden Gegenstände.
1) Kant redet sogleich im Abs. 2 und 3 des § 1 der Aesthetik von
der Erscheinung als einem „Gegenstand der empirischen Anschauung^, von
demjenigen, „was in der Erscheinung der Empfindung correspondirt', d. i.
der Materie. Wie in dem Commentar dazu gezeigt wird, kann man schwer-
lich umhin, darin schon die leise Anerkennung der Unabhängigkeit der Er-
scheinung von unseren empirischen Vorstellungen zu sehen. — Auch der
8. Absatz der transsc. Erörterung des Raumbegriffs und die darauf folgenden
Schlüsse a und b sprechen von den „afficirenden Objecten" in einer Weise,
dass man darunter sehr wohl die empirischen Objecte verstehen kann („Die
Receptivität von Gegenständen afficirt zu werden, geht vor allen Anschauungen
dieser Objecte vorher"). Vgl. oben S. 34, unten S. 57 f.
2) In dem Passus A 28 — 29 , der in der 2. Auflage etwas verändert
wurde (B 44—45), wird die Erscheinung als ein n^ing an sich selbst im
empirischen Verstände" bezeichnet , „welches doch jedem Auge in An-
sehung der Farbe anders erscheinen kann". Es heisst in A ausdrücklich,
die Farben seien nur „Modificationen des Sinnes des Gesichts, welches
vom Lichte auf gewisse Weise afficirt wird". Ganz anders als
mit Farben, Geschmack, Geruch u. s. w. ist es mit dem Raum. Dieser
„gehört noth wendiger Weise zur Erscheinung" ; er ist die Form unserer
Sinnlichkeit überhaupt, während die Farbe sich nur auf den ein-
zelnen Sinn des Gesichts bezieht. (Vgl. oben S. 44 den Unterschied
der Jacob'schen Annalen zwischen transscendentaler und empirischer Sinn-
lichkeit.) Zu jener gehört als „wahres Correlatum" das Bing an sich
selbst im transseendentalen Sinne, zu diesem das Ding an sich im empiri-
schen Sinne.
3) Damit ist zusammenzuhalten der Passus A 44 = B 61, wo derselbe
Unterschied gemacht ist zwischen dem, was der Sinnlichkeit überhaupt zu-
zuschreiben ist, d. h. der Raum- und Zeitanschauung, und denjenigen
Empfindungen, welche aus den verschiedenen Beziehungen der empirischen
Objecte zu den einzelnen Sinnen entstehen. Diesen empirischen Objecten
wird auch da eine relative Selbständigkeit zugesprochen gegenüber unserer
Empfindung, so dem Regentropfen im Gegensatz zum Regenbogen. In diesem
Sinne eben acceptirt Kant den alten Unterschied der primären und der
secundären Qualitäten.
4) Damit hängt zusammen, dass nun Kant mit Vorliebe die Ausdrücke
objectiv, wirklich, real auf die Erscheinungen anwendet. Wenn er dem
Räume und der Zeit in Ansehung der sinnlichen Gegenstände „objective
Gültigkeit" zuschreibt, wenn er diese Gegenstände, sowie Raum und Zeit
selbst in Ansehung ihrer als « wirklich" bezeichnet und dies in den ver-
schiedensten Wendungen wiederholt, so erhalten diese Wendungen unter dem
neuen Gesichtspunkt eine tiefere Bedeutung. Die Erscheinungsgegenstände
werden damit ausser das empirische „Subject" hinausgeschoben und sind
mehr als blosse „Beschaffenheiten des Sinnes", wie z. B. Farbe, Wohlgeruch;
diese sind nur subjectiv, jene sind „Objecte" ; diese empirischen Objecte im
Räume sind allen empirischen Subjecten gemein, und in diesem Sinne ^all-
Die Affection durch empirische Gegenstände in der tr. Aesthetik. 55
gemein*', jene blossen , Sinnesbeschaffenheiten ^ eben sind nur für jedes einzelne
empirische Sabject vorhanden.
5) Damit erhält nun wieder der Gegensatz der empirischen Realität
und der transseendentalen Idealität des Raumes und der Zeit einen anderen
Sinn : für das empirische Ich ist die Aussenwelt real, für das transscendentale
Ich aber ideal. Unser empirisches Ich findet die räumliche Aussenwelt als
eine von dem transseendentalen Ich für uns unbewusst geschaffene vor; an
dieser empirisch vorhandenen Aussenwelt, welche vom transseendentalen Ich
erst gesetzt ist, entzündet sich sogar erst unser empirisches Bewusstsein.
6) Für das empirische Ich ist daher (wie auch Beck und Fichte ge-
schlossen haben) eigentlich der Raum aposteriorisch, und nur für das trans-
scendBntale apriorisch. Dieser empirischen Entstehung der Raumvorstellung
trägt Kant, wie wir sehen werden, zwar nicht in der Aesthetik selbst, aber
in einigen anderen Stellen, Rechnung. Ganz ausdrücklich spricht Kant in
den Met. Auf. d. Nat. I, 1, 2 (Ros. V, 821. 330. 361. 376. 427) von dem
„empirischen Raum*^ : „Der Raum, in welchem wir über die Bewegungen
Erfahrung anstellen sollen, muss empfindbar sein." Dieser Raum ist „ein
Object der Erfahrung*^! Und in dem Opus Poatumum XX, 113 — 115,
vgl. XIX, 593. 597, XIX, 110 unterscheidet Kant demgemäss ganz scharf
zwischen dem apriorischen Raum, welchen er spaiium insensihile, inteUigibile,
cogitahüe nennt, und dem aposteriorischen Raum, dem spaiium perceptibih.
Unter Bezugnahme auf jene Stellen aus den Met. Anf. d. Naturw. sagte
schon ein Kantianer von 1788 (Goth. Gel. Zeit. St. 21, S. 171 ff.): „es kömmt
der grösste Galimathias heraus, wenn man annimmt, dass K. den äusseren
materiellen oder empirischen Raum leugne. Aber Licht und Klarheit ver-
breiten sich sogleich durch seine ganze Theorie, sobald man sich überzeugt
hat, dass er jenen Raum annimmt, und noth wendig annehmen muss^ aber
davon in seiner Kr. d. r. Y. ganz abstrahirt.*^ So günstig konnten wir
freilich die Sachlage nicht auffassen — es liegt vielmehr eben ein krasser
Widerspruch Ks. vor.
7) Aus allem diesem folgt endlich eine wichtige Consequenz für das
Verständniss der Polemik Kants gegen Berkeley. Kant bekämpft B 68
dessen Idealismus, weil er die Dinge an sich leugne ; aber (wie aus der An-
merkung zu jener Stelle geschlossen werden kann) er bekämpft denselben
auch, weil er jenen Unterschied nicht macht. Man kann sagen: für Berkeley
sind die Dinge im Räume vom empirischen Ich abhängig, für Kant vom
transseendentalen. Daher sind sie für jenen bloss Schein, für diesen Er-
scheinung, Erscheinung hier in dem „objectiven' Sinne genommen, so dass
diese Erscheinungsgegenstände dem empirischen Ich gegenüber selbständig
und unabhängig sind. In diesem Sinne konnte und musste sich Kant mit
Fug und Recht gegen Berkeley's Traumidealismus aussprechen, dem er andern-
falls ohne jene Unterscheidung sehr nahe stand. (Weiteres s. Strassb.
Abh. 146 ff.)
56 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 71.]
In der Erscheinung nenne ich das 9 was der Empfindung cor-
respondirt, die Materie derselben. Mit diesem Satze leitet Kant nun
seine fundamentale Unterscheidung von Materie und Form der Erscheinung
ein. Wir könnten sofort zu der Besprechung dieser Unterscheidung uns
wenden, wenn nicht dieser erste Satz sogleich eine beträchtliche Schwierig-
keit enthalten würde. Diese Schwierigkeit liegt in dem eigenthümlichen
Ausdrucke „correspondirt". „In der Erscheinung correspondirt.etwas der
Empfindung '^ — was soll das heissen? Wenn wir uns zunächst aller sub-
jectiven Auslegungen enthalten und Kant selbst als Ausleger seiner Worte
anhören wollen, so finden wir sogleich im folgenden Satze eine Erläuterung.
Da heisst es, da die Form, in die die Empfindungen gestellt werden,
nicht selbst wieder Empfindung sein könne, so sei uns nur die Materie der
Erscheinungen a posteriori gegeben. Hier wird also mit dürren Worten
„Empfindungen" mit „Materie der Erscheinung" identificirt. Vgl, auch
Fortschr. d. Met. Ros. I, 496: „Das Empirische aber in der Wahrnehmung,
die Empfindung oder der Eindruck (impreasio) ist die Materie der An-
schauung." Ib. 509. Dann wäre es aber doch mindestens vorsichtiger ge-
wesen, nicht davon zu sprechen, dass der Empfindung in der Erscheinung
etwas „correspondire", sondern dass eben die Empfindung die Materie der
Erscheinung sei (vgl. Eberhard, Mag. I, 379). Denn der Ausdruck »cor-
respondiren" schliesst doch ein, dass es zweierlei gebe: 1) die Empfindung,
2) die Materie der Erscheinung; nur in diesem Falle hat ja der Ausdruck
„correspondiren" überhaupt einen Sinn. (Kant selbst erläutert den Ausdruck
so, wenn er A 104 sagt: „Was versteht man denn, wenn man von einem
der Erkenntniss correspondirenden, mithin auch davon unterschie-
denen Gegenstand redet?") Nun aber sollen doch nach den folgenden Er-
klärungen „Empfindung" und „Materie der Erscheinung" ein und dasselbe
sein. Und so drückt das auch in der That Kant an anderen Stellen aus.
So identificirt er A 42 Empfindung und Materie, so heisst es A 50: „Man
kann die Empfindung die Materie der sinnlichen Erkenntniss nennen", so
auch ProL § 11. Man könnte nun sagen, der Ausdruck „correspondiren*'
sei nicht zu pressen. Der Terminus „Empfindung" und die Wendung «Ma-
terie der Erscheinung" seien eben nur zwei verschiedene Ausdrücke für einen
und denselben Werth, der eine vom subjectiven, der andere vom objectiven
Gesichtspunkt aus; beide Ausdrücke seien aber ganz äquivalent und ver
tauschbar, und insofern könne man ja wohl sagen, das Eine „correspondire^
dem Andern. In diesem Sinne legt auch Meli in die Stelle aus II, 404:
IV, 57; V, 813. Diese Auslegung stimmt im Wesentlichen überein mit
jener oben S. 4. 17 besprochenen laxeren Auffassung vom „Gegenstand der
Anschauung", wonach eben Gegenstand nur so viel als „Inhalt" sein sollte:
wir können dies den intentionalen Gegenstand nennen. (Vgl. S. 34.)
Indessen gibt Kant an anderen Stellen eine ganz andere Erklärung
des Ausdruckes „correspondiren", die zu einer zweiten Auslegung drängt.
In der Analytik, in der er A 104 jene schon oben angeführte Frage auf-
Was kann in der Erscheinung der Empfindung „corresj^ondiren*? 57
[R 82. H 56. E 71.] A 20. B 34.
wirft, was man denn „unter einem der Erkenntniss correspondirenden
Gegenstande verstehe ''^ gibt er als Antwort seine ihm specifisch an-
gehörende neue Theorie des Gegenstandes. Jener ^correspondirende Gegen-
stand^ ist nichts als die von uns durch die Synthesis des Verstandes (resp.
der Einbildungskraft) a priori in das „Gewühle der Empfindungen" hinein-
gebrachte und hineingedachte Einheit, die wir eben als festen einheitlichen
Kern der Vielheit der wechselnden Empfindungen in Gedanken gegenüber-
stellen. Dieser kategoriale Gegenstand ist nach A 108 also nur „der
Begriff von etwas, darin die Erscheinungen (= Anschauungen) nothwendig
zusammenhängen", also bloss etwas Gedachtes, ein blosses „Constructions-
gebilde der productiven Einbildungskraft" (Wernicke), also etwas,
was nur durch unser Denken geschaffen ist und nur in unserem Denken
Existenz hat. In diesem Sinne heisst es auch A 176: „Das Reale, was den
Empfindungen überhaupt correspondirt, stellet nur etwas vor, dessen
Begriff an sich ein Sein enthält, und bedeutet nichts als die Synthesis
in einem empirischen Bewusstsein überhaupt," und bes. A 191 wird klar
gesagt, dass daher „die Erscheinung, ohn erachtet sie nichts weiter als
ein Inbegriff dieser Vorstellungen ist, als der Gegenstand derselben be-
trachtet wird u. s. w." Der Gegenstand in diesem Sinne ist nur eine Hypo-
stasimng des Verstandesgesetzes der Einheit.
Allein noch in demselben Zusammenhang, ebenfalls in der Analytik,
gibt es Stellen, welche immer mehr zu einer dritten Auslegung drängen.
Im Grundsatz der Antecipationen heisst (A 166) „das Reale, welches der
Empfindung an dem Gegenstande entspricht", die „realitas phaenomenon'^ .
Nun steht an Stelle dessen in der 2. Aufl. allerdings (B 207) , dass das
Reale selbst „Gegenstand der Empfindung ist" ; allein im Context der 1. Aufl.
wird nochmals der Ausdruck wiederholt: „Was in der empirischen An-
schauung der Empfindung correspondirt, ist Realität {realitaa phaenomenany ,
und von dieser wird gleich nachher gesagt, dass sie, die empirische Realität,
als Ursache der Empfindung betrachtet werden könne. In diesem Falle muss
jene empirische Realität also eine von der Empfindung unabhängige Existenz
führen. Dies wird denn auch an anderen Stellen zugestanden. In der
Methodenlehre A 723 = B 751 wird auch der Unterschied von Materie und
Form der Erscheinung gemacht, und da heisst es von ersterer: „Die Materie
(das Physische) oder der Gehalt, welcher ein Etwas bedeutet, das im Räume
und der Zeit angetroffen wird, mithin ein Dasein enthält und der Empfindung
correspondirt." Und diese Bemerkung führt uns dann zu jenen zwei-
deutigen Stellen der Paralogismen A 374 ff., wo es heisst, „unseren äusseren
Anschauungen correspondire etwas Wirkliches im Räume", „unsere äusseren
Sinne haben ihre wirklichen correspondirenden Gegenstände im Räume".
Vgl. auch Met. Anf. d. Naturw. I, 1, 2 (Ros. V, 321); und diese Auffassung
hat ja dann in der in B eingeschobenen „Widerlegung des Idealismus" ihre
Hauptstütze gefunden. Nach dieser Auslegung ist der Ausdruck „correspon-
diren" also ernst zu nehmen; es handelt sich nicht mehr um einen bloss
58 § !• Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 71.]
gedachten, sondern um einen realen Unterschied; es gibt zweierlei: 1) die
Empfindung, 2) den empirischen Gegenstand = Erscheinung. Im letzteren
ist Form und Materie zu unterscheiden; die Materie, desselben „entspricht^,
„correspondirt" nur unserer Empfindung, ist aber nicht mit derselben identisch.
Diese Auffassung wurde uns schon am Schluss des vorigen Absatzes nahe-
gelegt, und, wie der dazwischenliegende Excurs bewiesen hat, hat Kant
thatsächlich bald in schwankenden, vieldeutigen Wendungen, bald deutlich
und in allem Ernst diese von der Empfindung unabhängige empirische Existenz
der Erscheinung gelehrt, der ja dann auch eine eigene empirische Affection
auf uns zugeschrieben wird. In diesem Sinne nimmt denn auch Cohen
diese Stelle (1. A. 41, 2. A. 150): „Was correspondirt denn nun wohl an
der Erscheinung der Empfindung? Offenbar der afficirende Gegenstand, so-
fern wir von demselben afficirt werden*' u. s. w. Bei Cohen aber geht ja
eben die Affection nur vom empirischen Gegenstande aus, nie vom Dinge
an sich. (Ebenso Stadler, Mat. 59.) Diese Auslegung scheint auch schon
Reinhold, Th. d. Vorst. 230 ff. zu begünstigen. Und in diesem Sinne
richtet auch J. H. Pichte, Charakteristik d. n. Phil. 2. A. 186 an Kant
die tadelnde Frage: „Kann dieses Wort, wenn es hier Sinn haben soll,
anders als in völlig Locke'schem Sinne gefasst werden?"
Kant hat nun ja aber die Affection durch den empirischen Gegenstand
und die durch das Ding an sich, wie wir sahen, häufig nicht streng aus-
einandergehalten, und so ist zu erwarten, dass er auch hier bei dem der Em-
pfindung Con*espondirenden gelegentlich an den transscendenten Gegen-
stand gedacht haben werde, so dass wir also noch eine vierte Auslegung
haben. Dies ist auch in der That der Fall; nicht bloss etwa nur in der
Dissert. von 1770, woselbst in dem dieser Stelle entsprechenden § 4 beides
ganz unklar durcheinander geht, sondern auch noch in der Kr. d. r. V.
selbst; denn A 143 heisst es: „Da die Zeit nur die Form der Anschauung,
mithin der Gegenstände als Erscheinungen ist, so ist das, was an diesen der
Empfindung entspricht, die transscendentale Materie aller Gegenstände,
als Dinge an sich.'' Unter Beinifung auf diese Stelle hat denn auch Mellin
II, 286 das Correspondirende auf das afficirende Ding an sich bezogen; so
hat auch der Kantianer M. Reuss (1789) in seiner AnaJytiea SensualUatis
purae, § 11, die materia durch die causa sensationis erklärt, worüber er von
Stattler, im „Kurzen Entwurf der unausstehlichen Ungereimtheiten der
K. 'sehen Philosophie" (1791) S. 53 ff. hart angelassen wird.
So haben wir denn auch hier, bei der Frage nach dem der Empfindung
„Correspondirenden*, wie oben S. 32 ff. bei der Frage nach dem »Gegen-
stand der Anschauung^, genau dieselben vier Möglichkeiten gefunden: die
Beziehung auf den intentionalen , oder auf den kategorialen , oder auf den
empirischen oder auf den transscendenten Gegenstand.
In derselben durchaus unklaren Weise haben denn nun auch Kants
Anhänger den fraglichen Ausdruck gebraucht. Insbesondere Rein hold.
welcher sich sehr häufig in ganz unbestimmter Weise des Ausdruckes „ent-
Die Materie oder das Mannigfaltige der Erscheinung. 59
[B 32. H 56. E 71. 72.J A 20. B 34.
sprechen" bedient. Vgl. bes. Th. d. Vorst. 230 ff. und in seinen Recensionen
in der A. L. Z., bes. 1789, II, 595. Diese unklaren Wendungen haben ihm
seine und Kants Gegnec mit Recht vorgerückt, so z. B. Schwab (Phil. Mag.
III, 131): der Begriff des Entsprechens sei bildlich, schwankend, und nirgends
erklärt. Was Forberg dagegen zu Gunsten Reinholds vorbringt (Fund. 197),
hilft der Sache resp. dem Worte nicht auf.
Weiteres über die Wendung bei Zeller, D. Phil. 425; Riehl, Krit.
1, 345. 431; Spicker, Kant 23. 131; Naturw. u. Phil. 21. 38. 40; Engel-
mann, Ding an sich 9. Besonders Rehmke, Welt 29. 82. 149—151. Cohen,
2, A. 424. 607, Dass hier ein „Widerspruch" obwalte, hat auch Spencer,
Psychol. §399 (Deutsch II, S. 369— 370) gesehen: Zuerst werden, wie auch
am Schluss des vorhergehenden Absatzes, „Erscheinung' und „Empfindung''
unterschieden, dann werden sie wieder identificirt. Dadurch erhalte auch
die „Form" etwas Schwankendes: im ersten Fall stelle sie sich als etwas
Objectives, im zweiten als etwas Subjectives dar.
Dasjenige 9 welches macht, dass das Mannigfaltige geordnet
werden kann, ist die Form der Erscheinung. An diesem Satze fUllt zu-
nächst die etwas umständliche Ausdrucksweise auf: „Dasjenige, welches
macht, dass/ Es ist dies eine sehr beliebte Wendung Kants. So heisst
es gleich unten A42: „Empfindung ist das in unserer Erkenntuiss, was
da macht, dass sie Erkenntniss aposteriori heisst"; und diese'Parallelstelle
könnte die Auslegung B. Erdmanns (Axiome der Geometrie S. 142) un-
wahrscheinlich erscheinen lassen, dass in dem Ausdruck „welches macht,
dass" die Form als Thätigkeit gedacht werden soll. Indessen zeigt Kants
Reflexion II, N. 942, dass man dies allerdings auch hineinlegen kann.
Dazu stimmen auch andere Stellen, z. ß. Proleg. § 18: „ursprünglich erzeugte
Begriffe , welche es eben machen, dass das Erfahrungsurtheil objectiv
gültig ist". (Viel zu viel legt jedenfalls Stumpf, Raum vorst. 15, in diese
Wendung hinein.) Auch die Kantianer ahmten diese Ausdrucks weise gerne
nach; so z. B. Mellin I, 708.
In diesem Satze wird nun auch der später so oft gebrauchte Ausdruck
„das Mannigfaltige" eingeführt, dem in der Dissert. von 1770 die varia
entsprechen (bes. § 4). Vgl. Mellin IV, 57. Meistens gebraucht übrigens
Kant späterhin den Ausdruck „das Mannigfaltige der Anschauung" (z. B.
A 105), und bes. in der Transsc. Deduction (bes. B) spielt das „Mannig-
faltige* in diesem Sinne eine bedeutsame Rolle; denn es ist ihr „oberster
Grundsatz" : „dass alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen
der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperception stehe" (§ 17, § 20);
auch heisst es ebendaselbst (§ 17): „Der oberste Grundsatz der Möglichkeit
aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit war laut der transsc.
Aesthetik, dass alles Mannigfaltige derselben unter den formalen Bedingungen
des Raumes und der Zeit stehe." Vgl. A 94: über „die Synopsis des Mannig-
faltigen a priori durch den Sinn." Vgl. auch Cohen, 2. A. S. 161 und
bes. Watson, Kant 330. Zur ganzen Stelle vgl. Volkelt 214 und bes.
60 § 1. Einleitung.
A 20. B 34. [B 32. H 56. E 72.]
auch Spencer, Psych. § 399. Richtig bemerkt Spicker, Kant 23, dass es
statt „das Mannigfaltige der Erscheinung'^ hier streng genommen ,das
Mannigfaltige der Eindrücke^ heissen müsste: „Der Qedanke sowohl als der
Ausdruck ist sehr unklar. **
Dass bei jeder Wahrnehmung ein Mannigfaltiges gegeben werden muss,
hat auch den Sinn, dass es nichts schlechthin Einfaches in derselben geben
kann, womit Kant die Monadologie und Atomistik ausschliesst ; s. den Beweis
der zweiten Antithese A 435 = B 345.
In diesem Sinne hat auch Reinhold ein eigenes Theorem von der
Mannigfaltigkeit des Stoffes und Einheit der Form in jeder Vor-
stellung aufgestellt. In der 'Recension der Th. d. Vorst. in der Jenaer
A. L. Z. 1791, Nr. 26 wurde der Beweis aber angegriffen, worauf Ehrhard
die Vertheidigung Reinholds in dessen „Fundament'' S. 139 ff. übernahm.
Ehrhard wollte den betreffenden Beweis aus einem directen in einen apa-
gogischen verwandelt wissen. Reinhold versprach daselbst (S. 1 72 f.) denn
auch einen neuen Beweis des Theorems, hat ihn aber nicht geliefert, trotz-
dem er noch 1792 von Bartoldy an sein Versprechen erinnert wurde in einem
Briefe (s. Reinholds Leben, S. 362), in welchem B. beachtenswerthe Einwände
gegen das Theorem erhebt.
Dem Mannigfaltigen , wenn auch nicht Ungeordneten , so doch Noch-
nicht-geordneten gegenüber stehen die Formen der Coordination desselben;
so werden Raum und Zeit ausdrücklich in der Dissertation § 4 ff. bezeichnet;
sie stehen der materiaj den varia gegenüber als die forma, nempe sensibüium
species, quae prodU, quatenus varia, quae sensus afficiunt, ncUurali quadam
anitni lege coordinantur. (Diesen Ooordinationsformen der Sinnlichkeit gegen-
über erscheint dann die logische Thätigkeit an einzelnen Stellen als Function
der Subordination, während nach anderen Stellen die Subordination Sache
der Zeit ist.) Dieselben Bestimmungen treffen wir häufig in den Reflexionen
1, N. 30, 65. 143; II, N. 270—273. 275. 277. 303. 336. 372. 1475. Dass
Raum und Zeit Formen der Zusammenstellung sind, kehrt dann oft
wieder in dem Nachgel. Werke, z. B. XIX, 297. 298. 450. 572. 617. 628;
XXI, 546. 553. 563. 564. In der Dissertation hatte er (vgl. oben) mehrfach
diese Formen der Coordination mit Vorliebe als leg es (insitae) bezeichnet
(z. B. § 13. 15 D , E). Es ist nicht recht einzusehen , warum er diesen
treffenden Ausdruck 1781 nicht mehr anwandte. Vgl. hierüber Cohen,
2. A. 159.
In Bezug auf den Text erhebt sich noch die Frage : Hat die Aendemng
von „geordnet angeschauet wird* in den Ausdruck der 2. Auflage:
„geordnet werden kann" — eine besondere Bedeutung? In der 2. Auf-
lage ist das Wort „ angeschauet '^ weggelassen ; diesem Umstand ist kaum
eine besondere Bedeutung beizumessen ; die Ausdrucksweise der 1. Auflage
war pleonastisch ; die 2. Auflage hat also vereinfacht. Eher könnte man
vermuthen, dass die Ersetzung des „wird" durch „werden kann" von sach-
lichem Werthe sei; man könnte sagen, der Ausdruck der 1. Auflage in-
Die Fonu oder das Coordinationsprincip der Erficheinung. 61
[R 32. H 56. E 72.] A 20. B 34.
volvire eine active ordnende Thätigkeit der Form selbst, wie sie dieser auch
in der Dissert. von 1770 , § 4, § 15 D ausdrücklich zugeschrieben wird ; in
der 2. Auflage sei diese Beziehung weggefallen ; und dazu miisste man dann
mit B. Erdmann , Kants Reflex. S. 145 , ergänzen , dass diese Ordnung erst
Sache des spontanen Verstandes sei, nicht schon der Sinnlichkeit, was
allerdings mit den Aenderungen der Deduction in der 2. Auflage zusammen-
stimmen würde (vgl. dazu Keflex. II, N. 940). Die Passivität der Form be-
tont K. auch B 129: „Das Mannigfaltige der Vorstellungen kann in einer
Anschauung gegeben werden, die bloss sinnlich, d. i. nichts als Empfäng-
lichkeit ist, und die Form dieser Anschauung kann a priori in unserem
Vorstellungs vermögen liegen, ohne doch etwas anderes, als die Art zu sein,
wie das Subject afficirt wird." Aber die einheitliche Verbindung setze einen
Actus der Spontaneität des Verstandes voraus, welcher auch nach B 146
das Mannigfaltige der Anschauung „verbindet und ordnet''. (Vgl. dazu
Staudinger, V. f. w. Philos. VII, 19.) Schon in der Deduction A 120
war übrigens die ordnende Synthesis des Mannigfaltigen ausdrücklich dem
Sinn ab- und dem „thätigen Vermögen der Einbildungskraft" zugesprochen
worden.
Auf keinen Fall ist richtig, was Cohen aus der vorliegenden Stelle
herausgelesen hat. Er sagt (1. A. 42; 2. A. 151): „Man achte auf den
Ausdruck. Kant sagt nicht: dasjenige, welches das Mannigfaltige in ge-
wissen Verhältnissen ordnet, sondern: welches macht, dass es geordnet
werden kann. Die Möglichkeit in der Erscheinung, dass das Mannig-
faltige, welches sie vermöge der Empfindung allein darbieten würde, ge-
ordnet angeschaut werde, dieses potentielle Verhältniss wird Form genannt'
u. s. w. Damit will also wohl Cohen sagen: in dem Mannigfaltigen selbst
liege die Möglichkeit seiner formellen Ordnung potentiell angelegt. Aber
wenn irgend etwas unkantisch ist, so ist es diese Auslegung, welche durch
die folgenden Erläuterungen Kants, besonders aber durch den unmittelbar
folgenden Satz unmöglich gemacht wird, und welche auch durch den Wort-
laut dieses Satzes in keiner Weise gefordert wird. Der Satz will eben
sagen : die Form ermögliche es, dass das Mannigfaltige geordnet werde, dass,
wie es gleich nachher heisst, „die Empfindungen in gewisse Form gestellt
werden können"; diese Form ist nach dem Folgenden etwas zum Mannig-
faltigen äusserlich Hinzukommendes. Nach Cohen aber würde Kant sagen,
dass diese Form im Mannigfaltigen selbst liege, wenigstens potentiell —
diese Auslegung ist aber aus den genannten Gründen gänzlich zu verwerfen.
Vgl. zu dieser „klassischen" Stelle auch Jen. A. L. Z. 1789, N. 10, und Eber-
hard, Phil. Mag. I, 378. 394.
Materie und Form der Erscheinung. Dieser fundamentale Unter-
schied wird von Kant sehr oft wiederholt. Vgl. A 42; A 50; A 86;
A 167; A 723.
üeber diesen Gegensatz von Materie und Form äussert sich Kant
selbst näher in dem Anhang zur Analytik, in der „Araphibolie der Reflexions-
62 § 1. Einleitung.
A 20. B 84. [R 32. H 56. E 72.]
begriffe", A 366: „Dieses sind zwei Begriffe, welche aller andei'en Reflexion
zum Grande gelegt werden , so sehr sind sie mit jedem Gebrauch des Ver-
standes unzertrennlich verbunden. Der Erstere (Materie) bedeutet das Be-
stimmbare überhaupt, der Zweite (Form) dessen Bestimmung. '^ Vgl. Cohen,
2. A. 173.
Entsprechend dieser Erklärung spielt denn auch diese Unterscheidung
bei Kant eine sehr bedeutsame Bolle, nicht bloss hier in der transsc
Aesthetik, sondern auch in der Analytik, sowie besonders in der Methoden-
lehre; nicht bloss in der Kr. d. r. V., sondern auch in den beiden anderen
Kritiken, sowie überhaupt in seiner kritischen Philosophie, was im Einzelnen
zu verfolgen eine verdienstvolle Aufgabe wäre. Schon in der Inaugural-
Dissertation von 1770 tritt der Gegensatz hervor, bes. § 2 und § 4, wie
auch schon aus dem Titel derselben hervorgeht. Daraus erklärt sich dann
auch die Bezeichnung seines Systems als formaler Idealismus (Proleg.
§ 49; Anhang Or. 208; Krit. B 518 K): K. stellt die aus dem Subject
stammenden, daher idealen Formen des Erkennens heraus, mit welchen
der Inhalt erfasst und bearbeitet wird.
üeberall, wo Kant sich des Gegensatzes bedient, wird derselbe in
folgender Weise charakterisirt : '
Materie. Form.
Das Bestimmbare — das Bestimmende.
Der passive Factor — der active Factor.
Das Mannigfaltige — das Einheitliche.
Das Ungeordnete
(oder wenigstens das Nicht- — das Ordnende.
Geordnete)
Das Gegebene — das Hinzugethane,
Das Empirische — das Apriorische.
Das Zufällige — das Nothwendige.
Das Variable — das Constante.
Die Kantianer suchten sich und Anderen diesen Gegensatz durch
mannigfache, nicht immer glücklich gewählte Bilder zu veranschaulichen.
So vergleicht Mellin I, 266 die reine Anschauung mit einem Gewand,
und dieses Bild der Einkleidung wird sehr oft in der Kant- Literatur
wiederholt; so z. B. bei Lewes, Gesch. d. Philos. (deutsch) II, 516. Ein
ebenso beliebtes Bild ist das Gefäss, das sich auch bei Mellin findet (I, H).
Nahe verwandt damit ist die Vergleichung mit Gussformen, die sich bei
Pistorius findet (A. D. B. 59, 332; 82, 434), oder gar mit dem Teig, der
in einer Form gebacken wird (Stumpf, Raumvorst. 13).
' Vgl. Garve, A. D. B. Anh. zu 37—52, 840. Körner an Schiller II, 16.
Abicht, Philos. Jounial III, 78. 85. Villers, Ph. de Kant II, 13 ff. Morris,
Kant 50 ff.
Materie und Form: Bilder; Geschichtliches. 63
[B 32. H 56. E 72.] A 20. B 34.
£in sehr drastisches Gleichniss vergleicht die Form mit dem Petschaft
und die Materie mit dem Siegellack. Dieses Gleichniss findet sich z. B. bei
Kiese wetter, Wichtigste Wahrheiten der neueren Philosophie S. 26. Des-
selben Gleichnisses bediente sich Villers, Philosophie de Kant II, 202 (le cachet
und la cire)j übersetzt in Binks »Mancherley'' S. 29. Villers selbst sagt
aber, das sei eine ^comparaison imparfaite'^ , Schon Garve (A. D. B. Anh.
zu 37—52, 841) bediente sich des Vergleiches mit ^Stempeln", die allen
Empfindungen , aufgedrückt^ werden.
Häufig vergleicht man auch die Formen der Sinnlichkeit mit Gläsern,
durch welche hindurch wir die Dinge in veränderter Weise zu sehen ge-
nöthigt sind. So Villers, Philos, de Kant II, 202 (vgl. dagegen Schelling,
W. W. I, V, 193 ff. , der diese Bilder tadelt). Auch der Naturforscher
Seh leiden (Anhänger von Fries) gebraucht das Bild mit Vorliebe: »R. u.
Z. sind gleichsam die gefärbte Brille, welche wir Alle von der Wiege
bis zum Grabe tragen, ohne sie jemals ablegen zu können.'' So auch
Chalybäus, Spec. Philos. 20. 21. 29. Noch Riehl, Krit. II, a, 108 bedient
sich des Bildes der „blauen Brille''. Vielfach findet sich auch das ganz
einfache Bild der Einfassung oder Einrahmung des Inhalts in die
Formen. So ist dies angedeutet bei Zeller, Gesch. d. deutsch. Philos. 428.
— Andere Bilder z. B. bei Bora, Mag. I, 334; üle, Baumth. 41.
Es bleibt Hegels Verdienst, den denkbar rohesten Vergleich ge-
funden zu haben (Gesch. d. Phil. III, 568): ^Es sind da draussen Dinge an
sich, aber ohne Zeit und Baum. Nun kommt das Subject, und hat vorher
Zeit und Baum in ihm*, als die Möglichkeit der Erfahrung, sowie, um zu
essen, es Mund und Zähne u. s. w. hat, als Bedingungen des Essens. Die
Dinge, die gegessen werden, haben den Mund und die Zähne nicht, und
wie es den Dingen das Essen anthut, so thut es ihnen Raum und Zeit an;
wie es die Dinge zwischen Mund und Zähne legt, so in Baum und Zeit!"
Vgl. dazu Paulsen, Entw. 195 f. —
Einen Vorgänger in der erkenntnisskritischen Anwendung der beiden
Begriffe hat Kant in Lambert, welcher in seinen Briefen an Kant vom
3. Februar 1766 (vgl. auch schon den Brief vom 13. November 1765) die
Frage aufwirft: „ob oder wiefern die Kenntniss der Form zur Kenntniss
der Materie unseres Wissens führe". Ihm scheint die Frage „aus mehreren
Giünden erheblich.' Die weitere Ausführung daselbst entfernt sich sehr
weit von den späteren Kantischen Ausführungen, aber man darf wohl an-
nehmen, dass Kant durch jene Briefstelle auf seinen Weg geführt oder we-
nigstens in demselben bestärkt worden sei. Jedenfalls darf man mit Biehl
(Krit. I, 182), dem diese Stelle auch schon aufgefallen ist, wohl sagen, dass
damit Lambert eine „echt kritische Frage" aufgeworfen habe: „Wir werden
die Methode Lamberts nicht unterschätzen dürfen. Sie ist ein Anfang von
Erkenntnisskritik, wenn auch diese nicht selbst." Uebrigens hat Lambert
den Unterschied auch in seinen Schriften betont, besonders eingehend in der
„Architektonik' II, 1771, S. 233—253, und dadurch wohl auch in diesem
64 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 72.]
Punkte auf Tetens, Versuche, 1776, I, 336 ff. 512, eingewirkt. Vgl. Windel-
band, Gesch. d. n. Phil. I, 546. 560; II, 29.
Inwieweit nun jene Lambert'schen Stellen Kant beeinÜusst haben,
darüber lassen sich nur Vermuthungen aufstellen, da das vorhandene Material
darüber zu keinen sicheren Schlüssen die Grundlage bietet. Die neueren
Mittheilungen aus Kants Handschriften gaben darüber nichts Nennens-
werthes. Vgl. z. B. Kants Reflexionen II, N. 315. N. 1201. 1202. 1217.
Diese Stellen fallen wohl in die Zeit um 1770; denn sie enthalten nichts
Anderes, als die Dissertation aus jenem Jahre. Ergiebiger sind die ^ Vor-
lesungen über Metaphysik", woselbst Kant S. 75 — 77 eine weitgehende Be-
kanntschaft mit dem früheren , besonders dem scholastischen Gebrauch der
Ausdrücke niateria — forma verräth. Auch in dem Nachgel. Werke wieder-
holt Kant mit Vorliebe die scholastische Formel: forma dat esse rei; so
XIX, 78. 273. 275 f. 280. 293. 477. 624. Diese Formel erörtert auch schon
Lambert, Archit. II, 239.
Auch in der oben erwähnten Stelle aus der „Amphibolie der Re-
flexionsbegriffe" macht Kant einige Andeutungen über die Verwendung
dieses fundamentalen Gegensatzes bei früheren Philosophen, bei den „Lo-
gikern", sowie bei Leibniz. Es wäre eine dankenswerthe Arbeit, diesen
Gegensatz in der Geschichte der Philosophie historisch zu verfolgen.. Die
Pythagoreer, Piaton, Aristoteles, die Neuplatoniker, dieSchola*
stiker, Bruno, Leibniz, Kant — dies sind die wichtigsten hierbei in
Frage kommenden Erscheinungen. (Vgl. dazu auch Windelband, Gesch.
d. n. Phil. I, 391.) Was die Kantische Verwendung des Gegensatzes vor
allen früheren unterscheidet, ist der Umstand, dass Kant die Form, die
formale Beschaffenheit der Dinge überall ins Subject selbt hinein verlegt.
Einige Andeutungen über jene historischen Beziehungen finden sich bei Cohen
in seiner Behandlung dieser Stelle 2. A. S. 88 f. 151 ff. (Aristoteles, Schola-
stiker, Leibniz). „Historisches über die Unterscheidung von Materie und
Form des Vorstellens" gibt auch Stumpf, Psychol. u. Erkenntnisstheorie,
München 1891 (Abb. d. Bayer. Ak.), S. 45 — 47 (Aristoteles, Descartes, Leibniz.
Crusius, Lambert, Tetens).
Auf jenen Satz der „Scholastiker" beruft sich Kant auch ausdrücklich
gegenüber dem (im Sinne von Hamann und Jacobi gemachten) Vorwurf
von J. G. Schlosser (im Anhang zu seiner Uebersetzung der Platonischen
Briefe, 1795, S. 180 ff. 191 ff.), sein System sei nichts als eine aForm-
gebungsmanufactur". Dagegen wendet sich Kant in der Abhandlung
„Ueber den vornehmen Ton*' u. s. w. Ros. I, 639. An dieser bis jetzt kaum
beachteten, sehr interessanten Stelle heisst es: „In der Form besteht da»
Wesen der Sache (forma dat esse rei, hiess es bei den Scholastikern),
sofern dieses durch Vernunft erkannt werden soll. Ist diese Sache ein
Gegenstand der Sinne, so ist es die Form der Dinge in der Anschauung
(als Erscheinungen) und selbst die reine Mathematik ist nichts Anderes als
eine Formenlehre der reinen Anschauung; sowie die Metaphysik,
Das scholastische Princip: forma dat esse rei. 65
[B 32. H 56. E 72.] A 20. B 34.
als reine Philosophie, ihr Erkenntniss zu oberst auf Denkformen gründet,
unter welche nachher jedes Object (Materie der Erkenntniss) subsumirt
werden mag. Auf diesen Formen beruht die Möglichkeit alles synthetischen
Erkenntnisses a priori, welches wir zu haben doch nicht in Abrede ziehen
können. — Den Uebergang aber zum Uebersinnlichen , wozu uns die Ver-
nunft unwiderstehlich treibt, und den sie nur in moralisch praktischer Rück-
sicht thun kann, bewirkt sie auch allein durch solche (praktische Gesetze),
welche nicht die Materie der freien Handlung (ihren Zweck), sondern nur
ihre Form , die Tauglichkeit ihrer Maximen zur Allgemeinheit einer Gesetz-
gebung überhaupt, zum Prinzip machen. In beiden Feldern (des Theoretischen
und Praktischen) ist es nicht eine plan- oder gar fabrikenmässig (zum
Behuf des Staats) eingerichtete willkürliche Formgebung, sondern eine (vor
aller, das gegebene Object handhabenden Manufactur, ja ohne einen Ge-
danken daran, vorhergehende) fleissige und sorgsame Arbeit des Subjects,
sein eigenes (der Vernunft) Vermögen aufzunehmen und zu würdigen' . In
diesem Schlusssatz (welcher falsch ausgelegt werden könnte) will Kant
sagen: jene seine Aufstellung der Formen (der Anschauung, des Denkens,
des Handelns) sei nicht etwas willkürlich Gemachtes, und nur äusserlich
Erfundenes, sondern mit Noth wendigkeit aus dem Innern Geschöpftes, etwas
erst durch fleissige Arbeit im Subject selbst Aufgefundenes. (Vgl. Cohen,
Erf. S 164. 228). —
Heftig opponirt Herder gegen die Unterscheidung (Metakr. I, 84 ff.):
9 Die Namen Materie und Form haben in der Metaphysik so viel leere Be-
griffe und Wortkriege verursacht, dass wir uns, wenn von irgend einer
Sache etwas Bestimmtes gesagt werden soll, vor ihnen zu hüten haben.''
^Die innige Konkurrenz, in der bei jeder sinnlichen Empfindung das Aeussere
und das Innere zusammentrifft, wird durch die symbolische Unterscheidung
der Materie und Form nicht bezeichnet; denn nicht todte Materie ist's, was
die Sinne geben; und was der innere Sinn sich zueignet, d. h. nach inneren
Kräften und Gesetzen in sich verwandelt, drückt das grobe Töpferwort
Form nicht aus."
In ähnlicher Weise hat dann Beneke sich ausgesprochen; so „Er-
kenntnisslehre'' 154 ff.; Logik I, 145 ff.; Kant 40 ff.: Materie und Form
seien Gleichnisse, von der Aussen weit entlehnte räumliche Bilder, welche
gar nicht geeignet seien, auf geistige Processe angewendet^zu werden.
Kant treibe hier nicht Wissenschaft, sondern Mythologie: diese besteht
eben in der Vertauschung des Bildes mit der Sache.
Bolliger, Anti-Kant 188. 259—267. 387 ff. führt aus, Kant habe
den antiken Dualismus wiederholt. (Aehnlich auch schon Gruppe,
Wendepunkt 1834. 157 ff., 246 ff., 353. 368. 413.) „Seit Empedokles den
unglücklichen Weg des Dualismus betrat, ist das Uebel nicht wieder aus-
zurotten gewesen; in Logik, Psychologie, Ethik, Metaphysik macht es sich
breit." „Aber das Menschengeschlecht hat an dualistischen Phantasien
ein ganz merkwürdiges Wohlgefallen, und glaubt damit das Erklärungs-
Yaihinger, Kant-Commentar. IT. 5
66 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 72.]
bedürfniss zu befriedigen.'' „Diesen chroniscben Dualismus, resp. die chro-
nische Krankheit der Unterscheidung von Stoff und Kraft in ihrem ganzen
historischen Verlaufe und zumal ihren Nachwirkungen bei Kant zu be-
leuchten", die kantischen Gedanken im Lichte der Geschichte, , unter dem
ganzen Drucke hereditärer Belastung darzustellen'', „wäre ein ver-
dienstliches Unternehmen". „Für Kant hat leider der antike Dualismus,
der in der Geschichte der Philosophie in allen möglichen ziemlich ungleich-
artigen und doch immer verwandten Formen wiederkehrt, in ungebrochener
Kraft fortbestanden. £r wiederholt auf dem Boden des subjectiven Idealismus
den dualistischen Fehler des platonisch-aristotelischen Objectivismus. Auf
dem veränderten Boden entspricht Kants Ding an sich durchaus dem Stoff-
prinzip der Alten, entsprechen seine apriorischen Vernunftformen (Raum,
Zeit und Kategorien) den Ideen Piatons, dem Kraft- oder Formprincip des
Aristoteles, den Süvajietc oder dem Xofo? der Stoiker. Wie das Formprincip
der Alten berufen ist, die formlose Materie zu gestalten und dadurch die
objective Welt hervorzubringen , so müssen Kants Vernunftformen das
wesenlose X des Dinges an sich, von dem sich wie von der Materie der
Alten kein Was, sondern nur ein Dass angeben lässt, bebrüten, um
so die geordnete Phänomenal weit hervorzubringen. Und wie es bei den
Alten discutirt wurde, ob man nicht die wesenlose Materie, das (itj ov ganz
entbehren und rein aus dem Formprincip die Welt deduciren könne, was
z. B. der Neuplatoniker Porphyr energisch bejahte, so musste unter den
Kantianern bald die Frage entstehen, ob man nicht das inactive (nicht cau-
sale) und darum ganz wesenlose Ding an sich wegwerfen und aus blossen
Formen des Geistes die Phänomenal weit arbeiten könne. So könnte man
fast Zug für Zug eine Parallele zwischen kantischem und antikem Dualismas
nachweisen. Freilich ist der dualistische Objectivismus doch viel ehr-
würdiger als sein modernes Gegenstück. Wenn der göttliche allmächtige
Logos eine formlose Materie bebrüten und zu dieser geordneten Welt aus-
gestalten soll, so ist das eine zwar falsche, aber doch imposante Vorstellung.
Wenn aber die armselige reine Vernunft, welche nicht die Heerschaaren
göttlicher Kräfte, sondern nur leere Formen der Sinnlichkeit und des Ver-
standes zu ihren Dienern hat, die Rolle des göttlichen Logos übernimmt,
so ist das zur In*thümlichkeit auch noch ärmlich und beinahe lächerlich.*"
In diesem Sinne nennt B. auch 187 Kants „ Erkenntnissapparat " einen ^kos-
mogonischen Apparat".
Diese im Allgemeinen richtige Darstellung ist jedoch dahin zu corri-
giren, dass dem Materialprincip der Alten bei Kant zunächst nicht die
Dinge an sich , sondern die durch dieselben bewirkten Empfindungen ent-
sprechen; in diesem Sinne sagt ja auch Kant gegen Eberhard (W. W.
Ros. III, 852): „Die Gegenstände als Dinge an sich geben den Stoff zu
empirischen Anschauungen, aber sie sind nicht der Stoff derselben.' Im
Uebrigen ist die Vergleichung des erkenntniss-theoretischen Dualismus mit
dem kosmologischen ganz richtig und belehrend; das chaotische Sinnen-
Der Kantische Dualismus von Form und Stoff. 67
[R 32. H 56. E 72.] A 20. B 34.
material bedarf nach Kant eines ausser und über ihm liegenden ordnenden
Princips, durch das es erst zum Kosmos der „Erfahrung" wird. In ihm
selbst kann nach Kant dies Princip nicht liegen; in Bezug auf die Welt
hatte Kant in seiner „Naturgeschichte des Himmels'' den Dualismus über-
wunden; aber in Bezug auf das Erkennen blieb er im alten Dualismus
stecken und verhalf demselben zu einer neuen Blüthe.
Gegen diesen Kantischen Dualismus von Form und Stoff polemisirt
nun Bolliger a. a. 0. 259—267 weiterhin noch sehr entschieden; erfindet
schon in den Ausdrücken dieser Stelle Unklarheiten genug; dieselbe , leidet
nicht eben an übergrosser Klarheit'' ; und er schliesst seine einschneidende
Kritik mit den Worten: „Wir mögen die Sache nehmen, wie wir wollen, so
erweist sich die Vorstellung abgelöster apriorischer Formen als eine Fiction,
ja selbst für eine Fiction zu schlecht; sie können nämlich auch nicht einmal
fingirt werden. Formen und Verhältnisse irgend welcher Dinge sind an
diese selbst gebunden.'' Er findet in Kants Formen „absurde metaphysische
Dichtungen". Aehnlich Mc Cosh in seinem Criticism ofthe critical philosophy
19 ff. In ähnlicher Weise sind diese Kantischen Grundbestimmungen sehr oft
angegriffen worden; so z. B. von Lewes, Gesch. d. Phil. II, 513. 556 ff., wo
besonders gegen die Verwandlung einer rein logischen Trennung in eine reale
angekämpft wird. Vgl. auch Pfleiderer, Eudäm. 41 ff. 111 über die „Arbeits-
tbeilung" zwischen Form und Stoff. Scharf Ueberweg, Logik § 38: „Der
berechtigte Gedanke, dass in der Wahrnehmung ein subjectives und ein
objectives Element zu unterscheiden sei, nahm eine höchst unglück-
liche und ganz von der Wahrheit ablenkende Wendung, indem
Kant jenes Element die Form, dieses den Inhalt der Wahrnehmung nannte."
Treffend ist die Tragweite dieser Voraussetzung auch geschildert hei Münz,
Grundl. d. K.'schen Erk.-Theorie , S. 35—55. Scharfe Kritik auch bei
Spencer, Psychol. § 399, und neuerdings bei Avenarius, Weltbegriff (1891)
S. 49 f., und bei Stumpf, Psychol. u. Erk.-Theorie, München 1891, S. 17—29.
Bemerkenswerthe Gründe gegen die Trennung von Form und Stoff
bringt auch schon Seile (De la Realite 592 ff.) und im Anschluss an ihn
die A. D. B. 107, 192—211. Beides lasse sich schlechterdings nicht trennen.
Seile und die A, D. B. leugnen nicht, dass der subjective und der objec-
tive Factor zu unterscheiden seien, und dass aus beider Verbindung die
wirkliche Erfahrung bestehe, aber sie leugnen die Trennbarkeit (ähnlich
wie später Schleier mach er). Man erhalte immer nur Producte, nicht
Educte, um chemisch zu reden; z. B. der Kaum sei immer schon ein
Product von Subject und Object, nicht aber ein elementares Educt. —
Dass Stoff ohne Form , Form ohne Stoff blosse Abstractionen seien , geben
allerdings neuere Kantianer, wie Cohen und Caird zu, entfernen sich damit
aber auch weit von Kant. —
Eine Weiterbildung der Lehre, allerdings noch in engem Zusammen-
hang mit Kant selbst, versuchte schon Reinhold, dessen berühmter „Satz
des Bewusstseins" sich im Wesentlichen um das Verhällniss von Form und
68 § 1. Einleitung.
A 20. 6 34. [R 32. H 56. K 72.]
Stoff der Vorstellung drehte. Vgl. dazu Dilthey, Arch. f. G. d. Phil. II,
602 ff. Platner, Aphor. 3. A. § 87. 124. 656 ff. 697.
Von Reinhold beeinflusst, hat besonders auch Schiller sich viel mit
dem Gegensatz von Form und Stoff abgegeben. Er steht hierin zuerst
unter dem Einfluss Reinhold 's; vgl. Briefwechsel mit Körner, II, 11. Später
hat Schiller, wohl unter dem Einfluss Fichte's, den Gegensatz von Stoff-
trieb und Form trieb aufgestellt.
Die weitere Rolle des Gegensatzes von Stoff und Form in der Geschichte
der nachkantischen Philosophie kann hier nicht verfolgt werden. Es genagt
der Hinweis, dass Fichte (im Anschluss an Beck und Maimon, welche den
absoluten Gegensatz in einen relativen verwandelten, und zugleich unter
Ausnützung der Kantischen Idee der intellectuellen , d. h. ohne Affection
stattfindenden Anschauung) den Gegensatz insofern los zu werden suchte,
als er allen Stoff in Formhandlungen des Subjects aufzulösen suchte. Er
löste gewissermassen alles Materielle in Formelles auf, wie manche Nach-
folger Piatons und Aristoteles' alles Potentielle in Actuelles. (Vgl. Busse,
Fichte I, 100 ff.; ferner Baader, W. W. XI, 60.) In diesem Sinne sagt
Riehl, Kr. I, 200. 324. 345. 400. 418. 433. 446: „Die Methode Kants besteht
in der durchgeführten Trennung der Form vom Inhalte des Erkennens'.
Diese Trennung wieder aufgehoben zu haben, sei der Hauptfehler der
Nachkantianer: „Das stoffsetzende und weltproducirende Denken blieb den
nachfolgenden Philosophen zu erfinden überlassen.''
Kant selbst hat sich, natürlich unter versteckter Beziehung auf
Fichte, zugleich aber doch auch offenbar von demselben beeinflusst, über
diese Versuche in einer äusserst interessanten Stelle seines Opus
Postumum (Reicke XXI, 366) noch folgendermassen ausgesprochen: „Wenn
die Grenze der Transscendentalphilosophie überschritten wird, so wird das
angemasste Princip transscendent , d. h. das Object wird ein Unding, und
der Begriff von ihm widerspricht sich selbst; denn er überschreitet die
Grenzlinie alles Wissens: das ausgesprochene Wort ist ohne Sinn. — Hier
müssen wir uns nun erinnern, dass wir den endlichen, nicht den unendlichen
Geist vor uns haben. Der endliche Geist ist derjenige, der nicht anders
als nur durch Leiden thätig wird, nur durch Schranken zum Absoluten
gelangt, nur, insofern er Stoff empföngt, handelt und bildet. Ein solcher
Geist wird also mit dem Triebe nach Form oder nach dem Absoluten
einen Trieb nach Stoff oder nach Schranken verbinden, als welche die
Bedingungen sind, ohne welche er den ersten Trieb weder haben noch be-
friedigen könnte. Inwiefern in demselben Wesen zwei so entgegengesetzte
Tendenzen zusammen bestehen können, ist eine Aufgabe, die zwar den Meta-
physiker, aber nicht den Transscendentalphilosophen in Verlegenheit setzen
kann. — Dieser gibt sich keineswegs dafür aus, die Möglichkeit der Dinge
zu erklären, sondern begnügt sich die Kenntnisse festzusetzen, aus welchen
die Möglichkeit der Möglichkeit der Erfahrung begriffen wird. Und da
nun Erfahrung ebenso wenig ohne jene Entgegensetzung, als ohne absolute
Die Form als das ordnende Princip. g9
[R 32. H 56. K 72.] A 20. B 34*
Einheit desselben möglich wäre, so stellt er beide Begriffe mit vollkommener
Befngniss als gleich nothwendige Bedingungen der Erfahrung auf, ohne
sich weiter um ihre Vereinbarkeit zu kümmern/ —
Im Gegensatz zu jener dogmatischen Weiterbildung des Gegensatzes
von Form und Stoff wird neuerdings eine kritische Vertiefung desselben
angestrebt, so schon (im Anschluss an Herbart) von Lotze (z. B. Logik
§ 326. 334 u. ö.), so von Wundt, System 1889, S. 109 ff. 240 ff. Logik,
I, 458 ff. ; und vorher schon von Schuppe, Erk. Logik S. 15 ff., Glogau,
Abriss, I, 77 ff. 262. 273. Helmholtz, Thats. i. d. W. 14 f.
Das, worin sich die Empflndangen allein ordnen können, kann
nieht selbst wieder Empfindung sein. Zunächst könnte hier der Aus-
druck auffallen: «Die Empfindungen ordnen sich*. Man könnte darin
eine gewisse Selbständigkeit der Empfindungen erblicken und das so aus-
legen, als ob die Empfindungen in sich selbst die Tendenz zur Anordnung
hätten. In diesem Sinne scheint auch in der That Cohen (1. A. 44 f., 2. A.
154) diese reflexive Ausdrucksweise auszubeuten: „Kant nennt Form der
Erscheinung das Verhältniss, unter welchem das Mannigfaltige der Em-
pfindung in unserer Anschauung sich zur Erscheinung ordnet.'^ Er spricht
von einer „sich vollziehenden Ordnung*^. Auf diese reflexive Ausdrucks-
weise ist aber darum kein besonderer Ton zu legen, weil sie überall sonst
durch die passive Ausdrucksweise von Kant selbst ersetzt wird: es heisst
ja gleich darauf nicht, dass die Empfindungen sich selbst in gewisse Form
stellen , sondern dass sie „gestellt werden '^ ; auch heisst es ausdrücklich
A86: „Die Erfahrung enthält zwei sehr ungleichartige Elemente, eine Ma-
terie zur Erkenntniss aus den Sinnen und eine gewisse Form, sie zu
ordnen'. Die Form selbst ist also das ordnende Princip; die
Formen sind, wie Cohen S. 155 selbst zugeben muss, „die ordnenden
Elemente".
Das ordnende Princip also kann nicht in den Empfindungen
selbst liegen — dies besagt dieser bedeutungsvolle Vordersatz, der in dem
darauf folgenden Schlüsse die entscheidende Rolle spielt. In den Empfin-
dungen selbst liege kein Grund dafür vor, dass sie sich uns als geordnete,
räumlich und zeitlich vertheilte, darstellen; das liege nicht in ihnen als
solchen. Warum nicht? Das sagt Kant nicht direct.
Auch Cohen hat sich diese Frage aufgeworfen und beantwortet (1. A.
43, 2. A. 152): „es könnte der Satz des begründenden Satzes der sein, dass
die Form, weil in ihr das Mannigfaltige der Empfindung geordnet wird,
nicht selbst Empfindung, d. h. nicht selbst Wirkung des afficirenden Gegen-
standes auf die Sinnlichkeit sein könne.* Aber diese — natürliche — Deutung
genügt ihm doch nicht, weil sonst „der Form der Verdacht des ordnenden
Organes bliebe'^. In der 2. Aufl. seines Buches S. 155 gibt er dann darauf
eine andere „transscendentale'^ Antwort, welche, wie so Vieles bei Cohen, sehr
schwer verständlich ist. Da wir hier einen Commentar zu Kant, nicht zu
Cohen schreiben, können wir auf die Stelle nicht eingehen, sondern kehren
70 § 1- Einleitung.
A 20. B 84. [R 32. H 56. E 72.]
zu Kant selbst zurück: Warum also kann das formale Verhältniss der
Empfindungen nicht selbst Empfindung sein?
Man könnte zunächst meinen, der Satz ergebe sich analytisch aus der
vorhin getrofifenen Unterscheidung zwischen Materie und Form der Er-
scheinung. Allein man kann diese Unterscheidung als eine rein formale
sehr wohl zugeben, ohne darum die Consequenz daraus zu ziehen, dass die
Form der Erscheinung nicht selbst auch in der Empfindung mitgegeben
sein kann. Es liegen in diesem letzteren Satze zwei Behauptungen mehr,
als in jener Unterscheidung von Materie und Form. Erstens: die Be-
hauptung, dass jene beiden Seiten der Erscheinung, die Materie und die
Form, sich nicht bloss logisch unterscheiden, sondern auch realiter trennen
lassen. Zweitens: dass diese trennbaren Elemente auch einen verschiedenen
Ursprung haben , resp. dass die Form nicht denselben Ursprung haben
könne, wie die Materie.
Was die erste Behauptung betrifft, so kann dieselbe allerdings auch
schon als in dem vorigen Satz miteingeschlossen aufgefasst werden. Es ist
ja in dem vorigen Satze als solchem nicht gesagt, ob die Unterscheidung
von Form und Inhalt eine bloss logische oder eine reale sein solle. Dass
wir nun an der Erscheinung jene beiden Seiten unterscheiden können,
bestreitet Niemand; wohl aber ist es zweifelhaft, ob wir denn berechtigt
seien, die logische Unterscheidung in eine reale Trennung, die ä^aipssi; in
einen x^piafj.o<; zu verwandeln. Auf diese sachliche Frage kann hier nicht
näher eingegangen werden; es genüge die Bemerkung, dass jene reale
Trennbarkeit der beiden Seiten auch schon vor Kant behauptet wurde; sie
liegt z. B. bei Cartesius und Malebranche offen vor; letzterer z. B. unter*
scheidet ganz scharf zwischen den beiden , übrigens gemeinsam von Gott
gegebenen Elementen : der reinen Idee der Ausdehnung und der verworrenen
Sinnesempfindung. Und die nachkantische Philosophie, ja auch die neuere
Sinnesphysiologie hat diese reale Trennbarkeit fast allgemein aoceptirt: es
gilt meistens als selbstverständlich , dass zwischen den rein qualitativen
Empfindungsinhalten und dem quantitativen Factor nicht bloss streng zu
unterscheiden sei, sondern dass auch beide sehr wohl von einander realiter
trennbar seien, ja ursprünglich nichts mit einander zu thun hätten. Es ist
wohl die Autorität Kants gewesen , welche diese Behauptung so ohne Wei-
teres als selbstverständliche Voraussetzung erscheinen Hess. Mit Recht hat
eine andere Richtung, welche von Stumpf am consequentesten ausgebildet
worden ist, diese Voraussetzung angezweifelt, und jene Trennbarkeit ge-
leugnet. Dort gilt als selbstverständlich, dass sowohl der Raum ohne Em*
pfindungsqualitäten, als Empfindungsqualitäten ohne Raum vorstellbar seien,
und dass, selbst wenn beides in unserem Bewusstsein nicht mehr getrennt
vorgestellt werden könnte, besonders wenn wir die Empfindungen nicht
raumlos vorstellen können, weil die nackten Empfindungen gleichsam sogleich
nach der Geburt in die Windeln von Raum und Zeit gelegt werden, doch
beides ursprünglich in der Psyche getrennt gewesen sei. Insbesondere die
Trennbarkeit von Form und Stoff. 71
[R 82. H 56. E 72.] A 20. B 34.
rein qualitative Natur der Empfindungen als solcher gilt dabei als selbst-
verständlich. Was jene psychologische Richtung dagegen — mit Grund —
einwendet, dies anzuführen, ist hier nicht der Ort. Hier ist es bloss
unsere Aufgabe, darauf aufmerksam zu machen, dass diese gänzlich un-
bewiesene Prämisse bei Kant hier (aber besonders auch wieder unten im
ersten Raumargument) eine auschlaggebende Rolle spielt: „Die Empfindungen
(der Inhalt) und das Räumliche (die Form) sind realiter von einander ab-
trennbar; die rein qualitativen Empfindungen sind ohne Raum vorstellbar,
und können ohne Raum in uns factisch eine reale psychische Existenz •
fuhren.*^ Kant hat dieser Voraussetzung einen besonders kräftigen Ausdruck
verliehen an einer in der 2. Aufl. erst eingeschobenen Stelle über die Ante-
eipationen der Wahrnehmung, B 207, wo er sagt: „Da nun Empfindung an
sich gar keine objective Vorstellung ist (vgl. B 45) und in ihr weder die
Anschauung von Raum noch von der Zeit angetroffen wird , so wird ihr
zwar keine extensive, aber doch eine intensive Grösse zukommen.'' Hiei*in
haben wir ganz deutlich die Prämisse: Empfindungen als solche sind
schlechthin unräumlich. Dazu tritt nun als ergänzendes Gegenstück
die weitere Prämisse: Die Raumanschauung als solche hat schlechter-
dings nichts mit Empfindung zu thun.
Dass nun nämlich die Form auch einen anderen Ursprung habe,
als die rein qualitativen Empfindungen, das ist die zweite Behauptung,
welche in unserem Satze liegt. An sich Hesse sich ja auch folgendes Ver-
hältniss denken: die Materie der Erscheinung und ihre Form werden uns
aus derselben Quelle, auf demselben Wege gegeben. Dies Hesse sich immer
noch mit der vorigen Behauptung vereinigen, dass Form und Inhalt realiter
trennbar sind. Aber dieser an sich denkbare Fall wird nun durch diese
zweit« Behauptung ausgeschlossen, dass die Form der Empfindung nicht
selbst wiederum Empfindung sein könne, d. h. also einen anderen Ursprung
haben müsse, als die Empfindung. Diese Behauptung, so weitgehend, so
weittragend sie ist, ist nun aber von Kant in keiner Weise bewiesen worden.
Er führt sie einfach ein, als ob sie sich von selbst verstände. Sie ist
eine petitio principii
Diese Prämisse, wird von Kant von Anfang als ganz selbstverständlich
eingeführt. Schon die Schrift von 1768 schliesst mit den Worten: „Der
absolute Raum ist kein Gegenstand einer äusseren Empfindung", und dem-
entsprechend sagt die Dissertation von 1770 einfach (§ 4): Kam per fortnam
seu speciem objecta sensus non feriunt ^', ideoque ut varia objecti
8en8um afficientia in totum aliquid repraesentationis coalescant, opus est in-
terna mentia principio^ per quod varia illa secundum stabiles et innatas legcs
speciem quandam induant, Aebnlich § 12 in.; § 15 A.; endlich § 15 fin. :
* Wie sehr in diesem Satze die alte Scholastik nacliklingt, ist unmittelbar
einleuchtend; auch der Scholastik ist die forma = sjyecies nichts Sinnliches. Vgl.
über den Satz Wolff, Spec. u. Phil. I, 176 ff. 295.
72 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. K 72.]
Sensatio enim materiam dat, non fortnam cogniiionis humanae.
Beidemal wird diese Prämisse als selbstverständlich zum Beweise verwendet,
ohne jeden Beweis, ohne jeden Gedanken, dass das Gegentheil der Behauptung
ebenso stattfinden kann. An der vorliegenden Stelle der Krit. ist diese
überaus wichtige Prämisse nicht einmal so deutlich und selbständig hervor-
gehoben, wie in der Dissertation ; sie wird hier ganz stillschweigend ein-
geführt und beherrscht unmerklich die ganze Argumentation. Dieselbe
spielt, wie wir sehen werden, besonders im ersten Raumargument wieder
eine Hauptrolle, bildet aber auch dort wieder ein ganz selbstverständliches
Glied der Argumentation. An anderen Stellen wird die Prämisse deutlicher
herausgehoben, so z. B. Reflex. II, N. 278. 334. 336. 403; ferner z. B.
Anthrop. § 7. Vgl. Fortschr. d. Met. Ros. I, 496. Vgl. auch Gomm. I, 207
und die daselbst angeführten Stellen von Meilin, Jacob, Schmid, Reuss;
vgl. auch Villers (bei Rink 20; Phil, de Kant I, 224); alle diese bedienen
sich der Argumentation, der Raum könne schon darum keine empiiische
Vorstellung sein, weil der Raum doch nichts sei, das auf die Sinne wirken
könne ; es fehle also an einer entsprechenden objectiven Impression ; es lasse
sich doch nicht denken , dass der Raum als solcher die Sinne afßciren
könnte (wobei aber schon eine unnatürliche Trennung der physischen Dinge
von ihrem Räume vorgenommen ist; wenn man diese Trennung nicht erst
vollzieht, verliert jene Argumentation ihre Bedeutung).
Besonders oft hat Kant die Prämisse wiederholt in dem Opus Postufnum,
XIX, 569 ff. 614-621. 623. 627. 628; XX, 91; XXI, 115. 339. 356. 360.
535. 538 ff. 543 ff. 550. 553. 558. 567-569. 679—582. 585. 595. 603. In
allen möglichen Variationen wird da die These wiederholt: Raum und
Zeit sind nicht Gegenstände der Anschauung, sondern Anschau-
ungen selbst'; sie sind nicht Entia per se^ nichts Existirendes, nichts, was
unseren Sinn afficiren kann, nichts Empfindbares, kein Sinnenobject , daher
auch keine Objecta apprehensionis , keine apprehensibeln Gegenstände; eben-
dah^ auch keine abgeleitete Anschauungen, sondern ursprüngliche, und
Acte unserer Vorstellungsthätigkeit, Geschöpfe unseres Vorstellungsverraögens,
also nicht von aussen gegeben, sondern von innen u. s. w. Immer wird
wiederholt: Raum und Zeit sind kein Empfindungsinhalt, sondern Formen
der Anschauung. In diesem Sinne spricht Kant daselbst XX, 113 von dem
spatium insensibilef d. h. von dem Räume, «von welchem keine Wahr-
nehmung möglich ist". (Vgl. oben S. 55.)
Diese Stellen werfen auch Licht auf einen bis jetzt nicht beachteten
Passus der Kr. d. r. V. selbst, A 291 = B 347, wo es heisst: »Die blosse
' Wenn dann doch wieder daselbst an einigen Stellen der Raum ein Gegen-
stand der äusseren Anschauung genannt wird, so ist da Gegenstand bald =
immanenter Inhalt der Vorstellung (vgl. oben S. 34, so XIX, 569. 571 ; XXI, 360>;
bald, entsprechend der oben im Excurs besprochenen Verselbständigung der empiri-
schen Dinge, der der empirischen Vorstellung gegenüberstehende Erscheinungs-
raum; so XIX, 76 N; XXT, 110. Vgl. hiezu Krause, Kant wider Fischer S. 56 f.
Kants Prämisse: „Sensatio materiam dat, non formam". 73
[B 32. H 56. E 72.] A 20. B 34.
Form der Anschauung ohne Substanz ist an sich kein Gegenstand, sondern
die bloss formale Bedingung desselben (als Erscheinung), wie der reine Baum
und die reine Zeit, die zwar Etwas sind, als Formen anzuschauen, aber
selbst keine Gegenstände sind, die angeschauet werden/ Solche „leere An-
schauung ohne Gegenstand" nennt er daselbst dann (wie schon in der Dis-
sertation § 14, 6) en8 imaginarium. Einem solchen geht aber die Haupt-
eigenschaft eines ms per ae ab — zu wirken und in uns Empfindungen
hervorzurufen. In diesem Sinne sind auch die Anmerkungen zur zweiten
Antithesis A 429 ff. = B 457 ff. gemeint, woselbst es auch heisst, der Raum
sei 9 die Form der äusseren Anschauung, nicht aber ein Gegenstand, der
äusserlich angeschaut werden kann" ^
In dieser Prämisse haben wir somit eine sehr verhängnissvolle petitio
principii erkannt (so auch Adickes 68. 71). Diese Prämisse versteht sich
nun ja aber keineswegs von selbst. Denn zugleich mit und an den Empfin-
dungen könnten uns ja formale Anordnungen derselben direct oder indirect
mitgegeben werden. Wenn das Object die Kraft hat, durch seine Einwirkung
auf uns in uns jene qualitativen Empfindungen hervorzurufen, warum soll
es denn nicht auch die Kraft haben, durch dieselbe Affection uns Formal-
elemente zu geben?' Und wenn unsere Sinnlichkeit die Fähigkeit besitzt,
uns in Folge jener Einwirkungen qualitative Empfindungen zu verschaffen,
warum soll dann derselben die Fähigkeit versagt sein, uns in Folge der-
selben Ursache Eindrücke quantitativer, formaler Natur zu verschaffen?
Mit den materialen Empfindungen kann uns also wohl zugleich ihre
formale Ordnung gegeben werden.
Ein Kantianer könnte nun versucht sein, darauf zu erwidern: gut,
damit ist aber zugegeben, dass diese Ordnung nicht selbst mit den Empfin-
' Diesen Gedanken hatte K. Fischer, 2. A. 338 ff. ausführlich entwickelt:
der Raum kann kein Gegenstand unserer äusseren Anschauung sein, der uns ge-
geben wäre; dabei war ihm die seltsame Wendung entschlüpft: „Wie kann uns
überhaupt der Raum gegeben sein? Er müsste doch wohl von aussen gegeben
sein? Also mflsste er ausser uns sein, also in einem anderen Orte, in einem
anderen Räume als wir; und in der That, nichts Ungereimteres lässt sich sagen. '^
Gegen die erste Hälfte des Satzes wendete Trendelenburg (Beitr. 256) ein, der
Raum sei uns nach Kant ja doch gegeben , nämlich von innen ; gegen die zweite
Hälfte, dieser Schluss sei „dialektisch und leer* und sei unkantisch. Vgl. dazu
Fischer, 2. A. 335; Trendelenburgs Entgegnung S. 30 ff.; Quäbiker, Phil. Mon.
IV, 247; Bratuschek, ib. V, 286. 290. 322; Grapengiesser 78; Cohen, Zeitschr. f.
Volk. VII, 275 f. In der neuen Auflage (vgl. S. 340) hat K. Fischer den ominösen
Passus weggelassen.
* Denselben Einwand, nur in umgekehrter Fassung, erhob schon Pistorius
in der A. D. B. 88, I, 105 gegen Schmid, welcher in seinem Wörterb. Anh. 627
einen Hauptgrund für die Apriorität des Raumes in dem Umstände fand, dass sich
aus dem Einfluss des Object« an sich selbst auf die Sinnlichkeit die Raumvorstellung
nicht erklären lasse. Das sei zu viel bewiesen ; denn dieselbe Unerklärbarkeit treffe
ja auch die Empfindungen.
74 § 1- Einleitung.
A 20. B 84. [R 32. H 56. E 72.]
düngen identisch ist, also nicht Empfindung ist, also, da Empfindang =
Wirkung eines Gegenstandes auf uns ist, auch nicht durch Gegenstände
in uns gewirkt ist, also aus uns selbst stammt.
Wollte ein Kantianer dies im Ernste sagen, und meinen, Kant habe
das gemeint in diesem Satze, dann müssten wir Beiden, dem Kantianer und
ihrem Meister, eine schlimme Quaternio terminorum vorwerfen. Denn
dann würde mit dem Ausdrucke ,, Empfindung*' ein Doppelspiel getrieben
werden. Empfindung wäre dann 1) so viel als: alles dasjenige, was ein
Gegenstand in uns wirkt, was die Gegenstände durch ihre Affection in uns
setzen, der gesammte Yorstellungsgehalt , der uns durch jene Affection von
aussen gegeben wird. Empfindung wäre aber auch 2) so viel als nur das-
jenige von unseren empirischen Vorstellungen, was übrig bleibt, wenn ich
die Form davon wegnehme, wenn ich von dieser Form abstrahire — das
Material. Wenn ich nun sage: Was die Empfindungen ordnet, kann nicht
selbst Empfindung sein, dann nehme ich Empfindung im zweiten Sinne,
und sage eben nichts weiter als: wenn ich in meinen empirischen Vor-
stellungen zwischen Material und Form unterscheide und wenn ich die
materialen Elemente derselben „Empfindungen" nenne, dann sind die
Formen nicht auch Empfindungen in diesem engeren Sinne. Was sie sonst
seien, darüber wird damit nichts präjudicirt ; vor allem darüber, ob dieser
Ordnungsfactor von aussen stammt oder von innen, wird damit nicht das
Geringste ausgesagt. Wenn ich aber sage: Was die Empfindungen ordnet,
kann nicht selbst Empfindung sein und stammt daher auch nicht von
aussen, so gleite ich damit hinterrücks in die erste Bedeutung von
Empfindung hinüber und erschleiche dadurch jenes Resultat: ich begehe
also den Fehler einer förmlichen Quaternio terminorum.
Man mag also die Sache betrachten, wie man will — wir haben es
hier mit einer petitio principii zu thun. Der Kantleser steht hier an einem
wichtigen Scheidewege: gibt er Kant diese Prämisse ebenso leicht zu, als
dieser sie macht, so entfernt er sich mit jedem Schritte mehr von dem
natürlichen Wege. Der Abwege sind es aber immer mehr als des richtigen
Weges, und so führt jene verhängnissvolle Prämisse zu allen jenen Irr-
thümern, in welche die von Kant direct und indirect beeinflusste Raum-
theorie verfallen ist. Denn jene Prämisse liegt auch solchen Raumtheorien
zu Grunde, welche im Uebrigen von der Kantischen differiren, aber in diesem
Hauptpunkte doch von derselben beeinflusst sind, und dies gilt fast von
allen neueren Raumtheorien. So ist es z. B. sogleich mit Herbart. Wäh-
rend dieser sonst an der Kantischen Philosophie überhaupt und besonders
an seiner Raumtheorie scharfe Kritik übte, hat er diese Prämisse ungeprüft
hingenommen , ja sie oft ausdrücklich gelobt. So sagt er z. B. W. AV.
III, 119 (vgl. I, 65—68. 71. 175. 184. 190; III, 12. 129; IV, 21 ff. 68. 316»:
„Die sinnlichen Gegenstände werden uns bekannt durch Empfindungen; aber
die für uns höchst wichtige A.nordnung dieser Gegenstände, dass sie Raum
und Zeit theils einnehmen, theils zwischen sich leer lassen, findet man in
Herbart und Schopenhauer für Kants Prämisse. 75
[R 32. H 56, E 72.] A 20. B 34.
keiner EmpfinduDg , sobald man das Empfundene analysirt und es in seine
kleinsten Tbeile hinein zu verfolgen sucht. . . . Diesen Gedanken (zwar nicht
deutlich ausgesprochen und mit grossen Irrthümern amalgamirt) Hess Kant
einwirken auf die alte Ontologie. Sogleich treten Raum und Zeit, die Be-
stimmungen des Simultanen und Successiven, welche ziemlich weit nach
hinten, unter den relativen Prädikaten ihren Platz gehabt hatten, an die
Spitze der ganzen Reihe. Sie erscheinen nun als ein Zusatz zur Empfin-
dung, der, da er in ihr nicht gegeben werde, also nicht mit ihr von aussen
komme, doch aber unleugbar vorhanden sei, nothwendig unabhängig von
ihr und von allen ihren äusseren Bedingungen sein müsse. Kam er nun
nicht von aussen, so musste er ja wohl liegen im Inneren. Die Sinnlichkeit
musste besondere Formen der Auffassung in sich tragen, nach denen alles,
was empfunden werden sollte, sich fügen und schieben mochte, wenn man
schon nicht begrifif, wie es dazu kommen könne. '^
Wenn also auch Herbart am Schluss die Art und Weise bemängelt,
wie Kant jene Prämisse verwendet habe, so billigt er doch eben ausdrück-
lich jene Prämisse selbst, und der Kantianer Cohen (Erf. 1. A. 89, 2. A.
205. 260) lobt daher auch diese „treffenden Worte'', in denen Herbart den
^wichtigen Gedanken von der noth wendigen Einschränkung des Empfindungs-
inhaltes in lehrsamer Deutlichkeit ausgesprochen habe*'. Cohen sucht auch
daselbst 2. A. 200—209 die K.'sche Ansicht aufs Neue zu begründen, dass
in der Empfindung als solcher „die Anschauung nicht enthalten sei^, dass
man die Raumanschauung „nicht zur Empfindung nivelliren dürfe'', dass,
.wenn die Empfindungen zum Räume reifen sollen", es dazu eines ,. neuen*',
.ursprünglichen" Elementes bedürfe, das nicht weiter ableitbar ist — eine
Ansicht, welche Cohen daselbst nicht ungeschickt mit der modernen empiristi-
schen Theorie, mit dem „genetischen Gesichtspunkt" zu versöhnen sucht.
Sehr entschieden hat auch Schopenhauer diese Prämisse ausgesprochen,
besonders in dem bekannten § 21 seiner Schrift über den Satz vom Grunde.
„Die Empfindung ist selbst in den edelsten Sinnesorganen ein an sich selbst
stets subjectives Gefühl, welches als solches gar nichts Objectives, also nichts
einer Anschauung Aehnliches enthalten kann." „Die Empfindung in der
Hand, auch bei verschiedener Berührung und Lage, ist etwas viel zu Ein-
förmiges und an Datis Aermliches, als dass es möglich wäre, daraus die
Vorstellung des Raumes zu construiren." So ist's auch beim Gesichtssinn;
auch „diese Empfindung ist durchaus subjectiv, d. h. nur innerhalb des
Organismus und unter der Haut vorhanden. Auch würden wir, ohne den
Verstand, uns jener nur bewusst werden als besonderer und mannigfaltiger
Modification unserer Empfindung im Auge, die nichts der Gestalt, Lage,
Nähe oder Ferne von Dingen ausser uns Aehnliches wären." Schopenhauer
wiederholt mehrfach: „Was für ein ärmliches Ding ist doch die blosse
Sinnesempfindung." „Die Anschauung ist im Wesentlichen das Werk des
Verstandes [der nach Schs. Terminologie auch die Kantische „reine Sinnlich-
keit" umfasst], dem dazu die Sinne nur den, im Ganzen ärmlichen Stoff in
76 § 1. Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 72.]
ihren Empfindungen liefern; so dass er der werkbildende Künstler ist, sie
nnr der das Material darreichende H andlanger.'^ C^g^- &^ch Liebmann,
Obj. Anblick S. 1 ff. Noire, Lehre Ks. 161 ff.)
Diese Prämisse haben denn auch fast alle neueren Raumtheorien un-
geprüft von Kant herübergenommen. Auch Lotze hat dieselbe im Wesent-
lichen acceptirt, hat aber wenigstens die Correctur angebracht, dass den
qualitativen Empfindungen gewisse freilich ebenfalls wieder rein qualitative
Zeichen („Localzeichen^) mitgegeben sind, aus denen die Seele die be-
stimmte Raumordnung nachher construiren resp. reconstruiren kann. In-
dessen ist doch auch nach Lotze eben die Function der Raumsetzung über-
haupt etwas, was die Seele zum qualitativen Empfindungsinhalt aus ihrem
eigenen Fond hergibt. (Vgl. dazu auch Spir, Denken und Wirklichkeit
I, 150 ff.) Jene Pr&misse theilt auch Wundt, Logik I, 458 ff.: auch ihm
sind die Empfindungen rein „intensive Grössen", denen gegenüber die Raum-
form geradezu als »a priori gegebene Function unseres Bewusstseins' be-
zeichnet wird.
Erst neuerdings hat man begonnen, jene Prämisse in Zweifel zu ziehen;
schon F. A. Lange fand sie „bedenklich", hat sich aber dann doch wieder
beruhigt. Er sagt Gesch. d. Mater. II, 33: „Bedenklich ist der Satz, in
welchem K. zeigen will, dass die ordnende Form das Apriorische sein müsse;
der Satz nämlich, dass Empfindung sich nicht wieder an Empfin-
dung ordnen könne. ... Wie sich Empfindung an Empfindung wohl der
Intensität nach messen kann, so kann sie sich auch in der Vorstellung eines
Nebeneinanderseins nach den bereits vorhandenen Empfindungen ordnen.
Zahlreiche Thatsachen beweisen, dass sich die Empfindungen nicht nach einer
fertigen Form, der Raumvorstellung, gruppiren, sondern dass umgekehrt
die Raum Vorstellung selbst durch unsere Empfindungen bedingt wird. . . .
Unsere Empfindungen finden kein fertiges Coordinatensystem im Geiste vor,
an dem sie sicher ordnen könnten, sondern ein solches System entwickelt
sich erst in grosser Un Vollkommenheit aus der natürlichen Concurrenz der
Empfindungen auf unbekannte Weise." Diesen Einwand weist Lange aber
dann selbst wieder als ungenügend zurück (ib. S. 35), weil es sich nicht um
die Entwicklung der Raumvorstellung handle, sondern darum, wanim
wir überhaupt räumlich auffassen, und dies könne allerdings nur aus den
„organischen Bedingungen" unserer Natur folgen; und in diesem Sinne
dürfte es kaum möglich sein, „an der Apriorität von Raum und Zeit zu
zweifeln". (Vgl. dazu Stadler, Reine Erk. 59. 143. Heinze, Viert, f. wiss.
Phil. I, 179 ff.) Diese „organischen Bedingungen" sind aber doch eine
äusserst abgeschwächte Ausgabe der Kantischen Apriorität. Vgl. oben S. 10.
— Dann hat auch v. Kirch mann, Erl. S. 5 die K.'sche Voraussetzung an-
gegriffen, im Anscbluss an ihn auch Wi essner, Realität d. Raumes 25 ff.
Mit grosser Klarheit und Entschiedenheit spricht sich Riehl gegen
die Prämisse aus ; er sagt Krit. II, a, 104 : „Wäre die Bemerkung, dass die
Verhältnisse der Empfindungen nicht selbst wieder empfunden werden, richtig,
Riehl und Stumpf gegen Kants Prämisse. 77
[R 32. H 56. E 72.] A 20. B 34.
so wüi'de der Schluss auf die reine Apriorität der f^orm unserer Wabr-
nehmang nicht zu umgehen sein. Denn die einzige Wechselwirkung zwischen
Bewusstsein und Realität ist in der That die Empfindung. Also würde die
Form der Wahrnehmung nicht die Form der Wirklichkeit sein, und die
Form der Wirklichkeit nicht wahrgenommen werden können. Allein jene
Bemerkung ist falsch, die Verhältnisse der Empfindungen, ihre bestimmte
Coexistenz und Folge, machen auf das Bewusstsein Eindruck, gleichwie die
Empfindungen selbst; wir fühlen diesen Eindruck in dem Zwange, den die
Bestimmtheit der empirischen Mannigfaltigkeiten dem wahrnehmenden Be-
wusstsein auferlegt. Freilich genügt für die Auffassung dieser Verhältnisse
die blosse Affection des Bewusstseins durch dieselben noch nicht ; aber diese
Afifection genügt auch nicht für die Erfassung der Empfindung selbst.
Hierin besteht also kein Unterschied zwischen Materie und
Form der Erscheinung. Es scheint, dass K. unter dem Einfluss des
Aristotelischen Dualismus dieser beiden, nur durch willkürliche Ab-
straction trennbaren Begriffe sich die Form als ein schaffendes, der Materie
unabhängig gegenüberstehendes el^oc dachte. Uns gilt die Form nur als
abstracter Terminus für das Geordnetsein der Wahmehraungselemente. —
Der Beweis für die reine Apriorität von R. u. Z. wurde von K. nicht
erbracht. Diese Vorstellungen sind a priori nur soweit es jede
andere ist, soweit sie unter der allgemeinen Bedingung des Bewusstseins,
seiner synthetischen Einheit stehen.*' — Eine solche realistische Rückbildung
Ks. bietet auch Staudinger, Noumena^ S. 126 — 144, welcher deshalb auch,
116—121. 138, gegen die Heraussonderung der „reinen Anschauung*' oppo-
nirt; Kant habe darin eine blosse „transscendentale Abstraction*' zu einer
«activen Anschauung** hypostasirt. Vgl. auch Massonius, Aesth. 45 ff.
Mit besonderer Energie ist diese Prämisse Kants bekämpft worden
von Stumpf, Ueber den psychologischen Ursprung der Baum Vorstellung,
1873, bes. S. 12 — 30; seine These lautet: „Dass der Raum nicht selbst
Empfindungsinhalt sein könne, wie die anderen, ist nicht im Mindesten ein-
leuchtend. Können nicht beide Inhalte, Raum und Qualität, durch unmittel-
bare Empfindung in gleicher Weise gegeben sein (mögen nun die Qualitäten
gleich im Räume geordnet erscheinen oder erst später von uns eingeordnet
werden)?** Von diesem Standpunkt werden daselbst auch die Theorien von
Herbart, Bain und Lotze bekämpft, in welche jene Kantische Prämisse ja
ungeprüft übergegangen ist. Vgl. auch dazu v. Schubert-Soldern, Erk.-
Theorie 279 ff., sowie besonders Schuppe, Erk.-Logik 15 ff. 60 ff. 168 ff. 325.
Bergmann, Metaph. 77. 89. 125.
Jene Kantische Prämisse hatte ferner, wenn auch nur indirect, be-
hauptet, die Materie der Empfindungen sei eine chaotische Masse ohne
alle Ordnung, ohne allen Zusammenhang. Diese Seite der Kantischen Prä-
misse hat besonders Schleiermacher weiter ausgebildet; der Kantische
Gegensatz von Stoff und Form kehrt bei ihm unter dem Namen der organi-
schen und der intellectuellen Function wieder; die organische Function gibt
78 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [B 32. H 56. E 72.]
als solche „nur ein chaotisches Mannigfaltiges von Eindrücken** (Dial. §§ 108.
118. 185). In dieser Annahme Schis, sieht aber Ueberweg mit Recht »einen
noch nicht völlig überwundenen Rest des Kantischen Snbjectivismns'' ; vgl.
Ueb's. Logik § 441, woselbst (vgl. auch § 38) sich eine ausführliche und
überzeugende Widerlegung jener Kant-Schleiermacher'schen Annahme findet
Vgl. Drews, Raum und Zeit 47. Vgl. auch Volkelt, Kant 215.
Daher ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a posteriori
gegeben, die Form derselben muss aber im Gemttthe bereit liegen.
Dass dieser Schlusssatz nicht zwingend ist, folgt schon aus dem bisher Ge-
sagten. Wenn wir den ganzen Schluss in die strenge Schulform bringen,
erhellt seine Mangelhaftigkeit noch deutlicher:
Obersatz:
Die Empfindung entsteht durch Wirkung eines Gegenstandes auf
die Vorstellungsfähigkeit, d. h. ist a posteriori gegeben.
Untersätze:
a) Die Materie aller Erscheinung ist Empfindung.
b) Die Form aller Erscheinung kann nicht selbst Empfindung sein.
Schlusssätze:
a) Also ist die Materie aller Erscheinung a posteriori gegeben,
b) aber die Form derselben ist nicht a posteriori gegeben (sondern
muss a priori im Gemüthe bereit liegen).
Der Obersatz ist schon in dem vorhergehenden Absatz ausgesprochen
worden, wenigstens seiner ersten Hälfte nach; seine zweite Hälfte, .die
Empf. ist a posteriori gegeben", ist zwar daselbst nicht ausdrücklich aus-
gesprochen worden; aber sie ist gerechtfertigt durch die in der Einleitung
gegebenen Definitionen von a posteriori und a priori, welche Comm. I, 169 if.
erläutert worden sind.
Der Untersatz a ist die Wiedergabe des Satzes, mit welchem Kant
diesen Abschnitt beginnt: „In der Erscheinung nenne ich dasjenige, was der
Empfindung correspondirt, die Materie derselben.*^ Wir haben gesehen, dass
Kant an anderen Stellen „Empfindung" und ., Materie der Erscheinung"
ideutificirt, und daran halten wir uns hier. In diesem Untersatze ist nun
Alles enthalten: Kant unterscheidet an der Erscheinung eine Materie und
eine Form, — eine Unterscheidung, gegen welche zunächst nichts zu sagen
wäre. Nun aber wird ganz ohne jeden Beweis die Materie der Erscheinung
mit der Empfindung als Ganzem, ohne jede Einschränkung identificirt. Darin
liegt aber ohne Weiteres, dass dann die Form Nicht- Empfindung ist, somit
auch nicht durch Wirkung des Gegenstandes auf uns entstanden ist, somit
nicht a posteriori ist, somit nur a priori sein kann. In jener Definition,
welche die Materie der Erscheinung und die Empfindung identificirt, liegt
somit eine gewaltige Petitio principii, für welche Kant nicht den ge-
ringsten Beweisversuch beigebracht hat. Aus ihr folgen dann die Schloss-
Sätze von selbst. Ebenso Spicker, Kant 23 f. Auch v. Kirchmann, Erl. 5
Erster, allgemeiner Beweis für die Apriorität der Form. 79
[R 32. H 56. E 72.] A20.B34.
ündet hier eine Erschleichung , was Grapengiesser, Erkl. 15 vergeblich
wegzudiscutiren sucht. Vgl, auch die treffenden Bemerkungen bei Volkelt 215.
Kant nimmt eben in jenem Satze ohne Weiteres an, was er erst beweisen
sollte: dass nur die Eine Hälfte der Erscheinung der Empfindung, also der
Affection durch Gegenstände ihre Entstehung verdanken kann, die andere
aber nicht, und so ist in jener Definition eigentlich schon die ganze transsa
Aesthetik stillschweigend antecipirt.
Der Untersatz b ist nur die negative Wendung dessen, was der
Untersatz a schon enthält. Wenn eben nur die Materie der Erscheinung =
Empfindung ist, so ist die Form Nicht -Empfindung, woraus dann der
Schlusssatz sich ergibt, dass sie anderwäi*ts herstammen muss. Wenn ich
von der Empfindung = Materie der Erscheinung alles Formelle aus-
geschlossen habe, dann, aber auch nur dann, kann ich sagen: dasjenige,
worin sich die Empfindungen ordnen, könne nicht selbst wieder Empfindung
sein, sondern das müsse eine „im Gemüthe bereitliegende Form'' sein.
In dem eben formulirten Schlüsse ist, vermöge jener Petitio principiif
nun schon im Sinne Kants ein Beweis für die Apriorität von Raum und
Zeit gegeben, und zwar ein erster allgemeiner Beweis (etwa als Form-
beweis zu bezeichnen), zu dem sich die späteren Beweise als specielle ver-
halten. So haben das auch die Kantianer stets betrachtet : z. B. Schultz in
seinen Erläuterungen S. 20 ff. nennt diese Stelle ausdrücklich einen Beweis,
der dann in den Einzelbeweisen „ umständlicher auseinandergesetzt wird" ;
ebenso Lossius, Lex. III, 514 f. In diesem Sinne betrachtete auch Feder,
Raum u. Gaus. S. 2. 8 u. Ö. die Stelle richtig (trotz des Widerspruches der
A. L. Z. 1788, I, 251). Ganz in diesem Sinne erklärt auch Holder (S. 8 f.)
diese Stelle. Ebenso auch schon Zeller, D. Philos. 425.435; auch Riehl,
Krit. II, a. 104.
Die Materie der Erscheinung ist uns nur a posteriori gegeben.
Hierzu vergleiche man die Parallelstelle A 167: „Da an den Erscheinungen
etwas ist, was niemals a priori erkannt wird, und welches daher auch den
eigentlichen Unterschied des empirischen von dem Erkenntniss a priori aus-
macht, nämlich die Empfindung (als Materie der Wahrnehmung), so folgt,
dass diese es eigentlich sei, was gar nicht antecipirt werden kann'' u. s. w.
Eine etwas auffallende Erläuterung zu dieser Stelle gibt K. Fischer
in seiner Kritik d. K. Phil. 6 ff. Er sagt, den Kantischen Ausdruck „Die
Materie der Erscheinung ist a posteriori gegeben'' dürfe man nicht ver-
tauschen mit dem Ausdruck empirisch. Zwar setze Kant beide Ausdrücke
selbst gelegentlich identisch , so sogleich A 1 , aber nur für die aus der
Empfindung, dem Material, erst mittelst der reinen Formen entstandene
Erfahrung, aber nicht für das Empfindungsmaterial selbst, dem er nur das
Prädicat a posteriori ertheile. Denn es leuchte ein, „dass die Eindrücke,
da sie den Stoff aller Erscheinung und Erfahrung ausmachen , zu den Be-
dingungen und Elementen der Letzteren gehören, also zwar in ihr enthalten
sind, aber nicht durch sie gemacht werden; nicht sie gehen aus der Er-
80 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 72.]
fahrung hervor, sondern diese aus ihnen. Empirisch ist, was uns durch die
Erfahrung gegeben wird; nun sind die Empfindungen das Material der Er-
fahrung, also zu derselben, nicht durch sie gegeben. Ausdrücklich
lehrt Kant [vgl. oben S. 29]: Die Anschauung, welche sich auf den Gegen-
stand durch Empfindung bezieht, heisst empirisch. Der empirische Gegen-
stand setzt die Empfindung voraus. Obwohl sich dieses Verhftltniss der
Empfindung zur Erfahrung von selbst versteht, so ist es doch sehr nöthig.
die richtige Vorstellung desselben einzuschärfen, da man unzählige Male zu
lesen findet: Kant habe gelehrt, dass die Form der Erkenntniss a priori.
' der Stoff derselben a posteriori oder empirisch sei. Kant soll widersinniger
Weise gelehrt haben, dass der Stoff zur Erfahrung durch Erfahrung ge-
geben sei!" u. s. w. Diese Schwierigkeit löst sich aber doch sehr einfach:
„Erfahrung*^ hat eben bei Kant mehrere Bedeutungen, wie schon Comm.
1, 165 f. 177 ff. nachgewiesen wurde, und bedeutet bald das blosse Emptin-
dungsmaterial, bald die aus demselben durch Mitwirkung der Anschanungs-
und Denkformen entstandene Erkenntniss. (Dies verkennt auch Cohen
2. A. 227.) In jenem ersteren Sinne ist also nach Kants eigenem Sprach-
gebrauch die Materie der Erscheinung allerdings „empirisch*^ gegeben, was
man allerdings — und dagegen wendet sich eigentlich Fischer — zunächst
nicht so wenden darf, die Materie der Erscheinung sei uns durch die
empirischen Gegenstände im Räume selbst gegeben. Das ^Gebende'
sind ja die Dinge an sich. (Dass indessen K. jene von Fischer verpönte
Lehre dann doch auch selbst aufgestellt hat , wurde oben S. 52 ff. be*
sprochen. Wenn dies eine „Kopf Stellung^ seiner Lehre ist, so hat er sie
selbst vorgenommen.)
Treffend bemerkt Biehl, Krit. 1, 345 zu dieser Stelle : gin ihr liegt die
Anerkennung des empirischen Erkenntnissfactors neben und gleichbedeutend
mit dem ideellen ausgesprochen;' er findet darin ^eine Grundlage des
Realiamus Kants, der Gegenseite seines Phänomenalismus''. Er fuhrt dies
a. a. 0. 432 ff. weiter aus: „Wenn bewiesen werden kann, dass das Wissen
a priori, das dem Subject entstammende Wissen nur die Form des Er-
kennens betrifft, so ist damit allein schon bewiesen, dass der Inhalt des
Erkennens von einer Existenz herrühren muss, die von derjenigen des Sab-
jects verschieden und unabhängig ist. Nun führt die Kritik in der Thal
diesen Beweis; sie zeigt, dass wir nur formale Erkenntniss a priori aus
uns erzeugen; also beweist sie unter Einem die unabhängige, von uns
unterschiedene Existenz der Dinge.'' Riehl erinnert dabei auch an die ähn-
lichen Ausführungen Schopenhauer's, Par. u. Par. I, *, 99. Vgl. oben S. l<i.
Die Form der Erscheinnng liegt im Gemüthe a priori bereit«
Die Form wird hier als ein fertiges receptaculum betrachtet, welches die
Empfindungen in sich aufnimmt, als ein Geföss, das bereit liegt zur Auf-
nahme, noch ehe die Empfindungen selbst da sind. Diese Stelle war
denjenigen Kantianern daher von jeher unangenehm, welche den grellen
Widerspruch dieser Lehre mit den Thatsachen der empirischen Psychologie
Die im Gemüth a priori , bereit liegende' Form. 81
[R 32. H 56. K 72.] A 20. B 34.
einsahen, und weder diese empirischen Thatsachen verkennen, noch jene Kan-
tische Theorie aufgeben wollten. Besonders hat Cohen sich alle erdenk-
liche Mühe gegeben, durch gewagte Interpretationen dieser Stelle und dieses
Zusammenhanges den Sinn dieser unzweideutigen, derben Erklärungen ab-
zuschwächen, und zwar in doppelter Weise: einmal wendet er sich gegen die
Auffassung der Form als eines von der Materie getrennten Behältnisses,
sodann gegen die Auffassung, jene Form liege als etwas Fertiges in uns.
Cohen hat dem ersteren Zweck viele Seiten seines Werkes gewidmet
(1. A. S. 41-47; 2. A. S. 144-157. 159 ff., 173 ff., 190. 210 ff., 334. 853.
584—589. Vgl. dagegen Witte, Beiträge S. 15. f., Spicker, Kant 24 f.)
Er gibt zu, dass die Ausdrucksweise Kants „der psychologische Ausdruck
der Form* den »Verdacht* nahelegt, es handle sich hier um „eine Art
Substrat, in welchem sich die Empfindungen ordnen *, um ein „ordnendes
Organ''. Aber das ist nach Cohen nur Schein. Durch künstliche Auslegung
(vgl. besonders 146 gegen Krug's Einwände) sucht er sogar die ordnende,
raumgebende Function vom Subject, vom „Gemüth*' soweit wegzurücken,
dass sie zuletzt ganz aus demselben hinausfällt, nur damit die Form nicht
als ein subjectives Organ gefasst werden muss, als eine Form , in welche
wir erst die Empfindungen fassen. Es geht sogar soweit, jene Form geradezu
dem Subject abzusprechen. Er meint noch Kantisch zu reden, wenn er
sagt: Anfänglich seien Form und Materie der Erscheinung untrennbar bei
einander, erst nachher werden sie künstlich getrennt. „Die Form wird von
der Erscheinung abstrahirt.** Kant selbst würde dazu sagen: So wie sich
die Erscheinung unserem gewöhnlichen Bewusstsein darstellt, so ist sie
allerdings die Verbindung von Stoff und Form. Beide bilden Ein Ganzes
und unser wissenschaftliches Bewusstsein kann dann dieses Ganze auch
in seine Elemente auflösen und die Form von der Erscheinung abstrahiren.
Aber die Erscheinung würde jenes Ganze, diese Einheit nicht für unser
gewöhnliches, empirisches Bewusstsein bilden können, wenn nicht unser
ursprüngliches Bewusstsein Beides erst verbunden hätte, wenn nicht der
Stoff der von aussen zugekommenen Empfindungen erst (sagen wir geradezu —
unbewusst) durch die Form in gewisse Ordnung gestellt worden wäre,
und damit das geschehen konnte, dazu eben musste jene Form „im Ge-
müthe bereit liegen". Wo hätte sie denn sonst hergenommen werden
sollen? Wenn sie nicht von aussen stammt, muss sie von innen stammen,
muss sie eben „im Gemüthe bereit liegen**. Cohen mag sich gegen diesen
Ausdruck noch so sehr sträuben — er steht da, und wenn er nicht da
stünde, so müsste.er aus dem ganzen Zusammenhange doch mit Nothwen-
digkeit geradezu ergänzt werden. Und diese bereitliegende Form* ist aller-
dings eine Art Behältniss, in welches die Empfindungen gebracht, in welchem
sie geordnet werden. Cohen will dem nun entgehen durch die eigenthüm-
liche Wendung: die Form sei nur als Gepräge, nicht als Schmelztiegel an-
zusehen. Es ist das nur eine bildliche Wendung für die begriffliche Be-
hauptung, Kant verstehe unter Form nur die Form der Erscheinung, nicht
Vaihi liger, Eant-Commentar. IL 6
82 § 1- Einleitung.
A 20. B 34. [R 32. H 56. E 72.]
aber ein formendes Organ des Subjecis. Aber woher bat denn dann die Er-
scheinung jenes „Gepräge" ? Dazu bedarf es ja eines „ Prägestockes " (um
das Bild Cohens fortzusetzen) und dieser „Prägestock" ist eben die Form,
welche dem von aussen kommenden Stoff vom Subject erst aufgedrückt
wird. Die Form ist eben damit naturgemäss Beides: Gepräge und Präge-
stock: die Form als formirende Thätigkeit (der „Prägestock") stammt
aus dem Subject; die Form als Beschaffenheit der Erscheinung, a1^
„erscheinende Beschaffenheit^ (Cohen) ist eben nur die Folge jener Prägung.
Diesen Doppelsinn des Ausdruckes „Form" macht sich Cohen zu
Nutze, indem er alle Stellen, in welchen Kant von Form im ersten Sinne spricht,
durch die zweite Bedeutung erklärt, ohne zu bedenken, dass doch dieser
zweite Sinn den ersten nothwendig voraussetzt und einschliesst. Wenn
wir also Kants Meinung dahin präcisiren, dass er unter Form versteht eine
lebendige Function des Subjects, ein ordnendes Organ desselben, also auch
eine Art Substrat, in dem sich erst die Empfindungen ordnen — so ist das
nicht bloss „eine aufsteigende Deutung, an der wir sogleich Anstoss nehmen
müssen" (Cohen S. 152), sondern die einzig legitime Erklärung.
Der Ausdruck „Bereitliegen" legt nun aber die Auffassung nahe,
dass Kant da von fertigen Formen spreche, dass Raum und Zeit als ein
für allemal fertige Gefässe in uns liägeu, bereit zur Aufnahme von
Empfindungen. Den fortgeschritteneren Kantianern war diese unpsychologische
Vorstellung allerdings sehr unbequem; und so sucht auch Cohen (1. A. 46,
2. A. 156) den Verdacht abzuwehren, dass das Bereit liegen eine fertige
Form bedeuten könnte. Und er beruft sich zu diesem Zweck auf eine
Stelle aus der Analytik (B 160), wo es heisst: „Raum und Zeit sind nicht
bloss als Formen der Anschauung, sondern als Anschauung selbt vor-
gestellt." Diese Gleichstellung beweise, dass das „Bereitliegen" nicht so
viel als „fertig" sei: „denn die Anschauung, auch die reine, entsteht.*
„Solche Irrungen sind nur möglich, wenn man die transsc. Aesthetik ohne
die transsc. Logik behandelt, wenn man die Einheit der Kantischen Kritik
zerschneidet. " Dagegen ist zunächst zu bemerken, dass jene aus der Analytik
angezogene (nach Laas, Id. u. Pos. Itl, 422 von Cohen „vergewaltigte*') Stelle
weder für noch gegen jene Auslegung zu verwenden ist, da in ihr über
die ganze Frage gar nichts gesagt ist; denn das ist eben die Frage, ob
auch die reine Anschauung „entstehe". Nach unserer Stelle scheint das
eben nicht so, sondern dieselbe liegt schon „bereit". Nun brauchte man
ja allerdings dies „Bereitliegen*' nicht zu pressen. Dies „Bereitliegen* könnte
an sich ein actuelles oder auch ein potentielles sein; und für diese
Potentiairtät sprechen sich denn auch eine grosse Anzahl von beacht«ns-
werthen Stimmen aus.
So sagt J. B, Meyer (Kants Psychologie S. 164 f.): „Die ursprüng-
liche Form unseres Anschauens und Denkens sitzt nicht als fertiger Begriff
in unserer Seele, sondern als eine Actionsform, die sich äussern muss.
sobald ein gegebener sinnlicher Erfahrungsstoff ihre Thätigkeit erregt.
Actuelles oder potentielles , Bereitliegen'* der Form? 83
[R 32. H 56. K 72.] A 20. B 34.
Dieser Besitz unserer Seele wird also nicht von ihr aus der Erfahrung
erworben, sondern nur seine Aeusserung durch die Erfahrung erregt."
Aehnlich, nur mehr physiologisch gewendet, F. A. Lange, Gesch. d. Mat.
II, 15. 34 ff., 44 ff. Liebmann, Obj. Anblick S. 100. So fasst auch
Volkelt Kant 232 das Apriorische als „gesetzmässige Functionsanlage"
auf, und wendet sich damit gegen „die unlebendige Auffassung, wonach
das Apriorische ein in uns liegendes Fertiges ist^. Auch nach Thiele
(Ks. intell. Ansch, S. 85) handelt es sich nur um ein potentielles Zugrunde-
liegen. Es könne sich hier höchstens um eine „nachlässige Ausdrucks-
weise, die in der Kritik bekanntlich nicht allzu selten ist, handeln". Aehnlich
Staudinger, V. f. wiss. Philos. VII, 34. Auch Holder, 15. 53 fasst den
Ausdruck „bereit liegen" bloss als „vorläufig*. Auch Riehl, Kriticismus I,
324 fvgl. 401) meint: „Wir haben es metaphorisch zu verstehen, wenn
K. von bereitliegenden Formen der Ansch. spricht. Denn nur der Grund
ihrer Entstehung liegt nach ihm im empfänglichen Bewusst^sein , und der
Raum ist nicht fertig in diesem Bewusstsein gegeben, sondern er entspringt
in der formalen Synthesis der Eindrücke nach dem Gesetze unseres Vor-
stellens" *. Aehnlich auch Morris ^ Kant 57 f.
Wenn diese Auffassung riclitig wäre^ so würden allerdings alle Ein-
wände hinfällig sein, welche vom Anfang an in so zahlreicher Weise gegen
diese Stelle erhoben worden sind, unter der Voraussetzung, K. lehre hier
das Bereitliegen fertiger Formen. In diesem Sinne waren ja die Einwände
gehalten, welche schon von den ersten Gegnern der Kr. d. r. V. ausgesprochen
wurden, so von Pistorius, Feder, im Anschluss an diesen von Tittel
(Ks. Denkformen S. 90), von Eberhard u. s. w. Dieser Angriff ist besonders
heftig erneuert worden von Herbart, bes. W. W. V, 505 ff., VI, 115.
(Vgl. Volkmann , Psych. II, 6 ff.). „Zu erklären , wie dieses Streben (nach
räumlicher Anordnung) und Wirken in die Vorstellungen komme, das war
die Aufgabe; aber ein paar unendliche leere Gefässe hinzustellen, in welche
die Sinne ihre Empfindungen hineinschütten sollen, ohne irgend einen Grund
der Anordnung und Gestaltung, das war eine völlig gehaltlose, nichtssagende,
unpassende Hypothese." Schon die Fragestellung Ks. in der Aesthetik: „Was
sind Raum und Zeit?" schliesse diesen Irrthum ein. „So wird das Leere
dem Vollen vorangeschickt; das Nichts wird zur Bedingung des Etwas.
Gewiss die seltsamste und ungereimteste aller Täuschungen." Dagegen
Cohen, 2. A. 147 ff.
Aus neuerer Zeit ist besonders bekannt geworden durch den Fischer-
Trendelenburg'schen Streit die Stelle des Letzteren in den Log. Unters.
* Mit diesen Worten weist Riehl auf die später auftretende Lehre Kants
hin, dass der apriorische Raum selbst erst einer synthetischen Function sein
Dasein verdanke. Ueber diese, der transsc. Aesthetik widersprechende, aber aller-
dings Riehls Auffassung begünstigende Lchrmeinung Kants werden wir unten zum
vorletzten Raumargument zu verhandeln haben.
84 § 1- Einleitung.
A20.B84. [B 32. H 56. E 72.]
2. A. S. 166: „Kants Ansiebt ist schier ein Wunder zu denken. In uns
ruht als fertige Form der unendliche Raum und die unendliche Zeit, in
uns den endlichen Wesen, die fertige Form wie ein starrer Guss. Ist es
denn gar nicht zu sagen , aus welchem Fluss diese starren Formen ent-
standen sind?" (y^}' dagegen Arnoldt, R. u. Z. 125 ff. und bes. Cohen,
2. A. 148 ff.). Vgl. auch Lotze, Grundz. d. Met. § 51.
Diese Einwände der Kantgegner stützen sich nun eben hauptsächlich
auf die vorliegende Stelle. Und in der That ist es bei unbefangener Lee-
türe derselben nicht möglich, die Vorstellung fertiger bereitliegender Formen
zurückzuweisen ^ Insbesondere spricht für diese Auffassung noch besonders
die Schluss Wendung dieses Absatzes. Aus dem „Bereitliegen* folgt nun
nämlich, wie es zum Schlüsse heisst, die Möglichkeit einer gesonderten
Betrachtung jener Form. Nach dem Wortlaute dieser Stelle ist die
Möglichkeit dieser gesonderten Betrachtung die directe Folge jener Aprio-
rität. (lieber diese Methode der Absonderung s. unten zu A 22.) Es liegt
darin indirect eingeschlossen, dass eine solche gesonderte Betrachtung der
Empfindungen nicht möglich ist, da ja diese eben nicht „a priori bereit
liegen". Daraus folgt, dass Cohen (I.A. 45; 2. A. 154) nicht den Sinn
Kants trifft, wenn er meint, es handle sich bei der Unterscheidung von Ma-
terie und Form der Erscheinung nur um eine methodische Analyse, um
eine logische Abstraction, um eine künstliche Trennung beider Elemente, und
Kant meine keineswegs, dass nun auch realiter jene Formen, unabhängig von
den Empfindungen, in uns „bereit liegen*. Aber gerade nur dieses »Bereitliegen'
ermöglicht jene gesonderte Betrachtung, und von hier aus muss man dann weiter
schliessen, dass dieses „Bereitliegen" doch sich auf eine fertige, actuelle Form be-
ziehen muss ; denn wenn die Form bloss als Potenz bereit liegen sollte, so Hesse
sie sich nicht „abgesondert von aller Empfindung betrachten". Nur eine
fertig und unmittelbar bereitliegende Form erlaubt eine solche eingehende
ruhige Betrachtung , nicht eine noch unfertige Potenz ; nur auf jene, nicht
auf diese kann es sich beziehen, dass sie „als a priori gegeben" dar-
gestellt werden kann (B 37). Wie auch andere Stellen Kants über diese
Frage lauten mögen , diese Stelle beweist , dass , als Kant sie niederschrieb,
er jedenfalls an eine fertige Form in uns dachte.
Dass Kant in der That an dieser Stelle von fertigen Formen gesprochen
hat, gaben ja, wie wir eben sahen, auch Einige derjenigen zu, welche der
Ansicht sind, Kant habe nicht eigentlich fertige Formen gelehrt; er habe,
so sagen sie, sich hier eben „vorläufig", ,, metaphorisch" ausgedrückt.
Man dürfe aber eben diese Stelle nicht isolirt für sich ins Auge fassen,
man müsse hinter dem Buchstaben den Geist suchen, und diesen habe Kant
* Uebrigens spricht auch Schopenhauer in der Schrift über den Satz vom
Grunde (§21) den Formen ^ein bereits fertiges und aller Erfahrung vorher-
gängiges Dasein'* zu, ja er spricht von ;,dem. dem Verstand a priori bewussten
Räume" I
Riehl sucht Kant gegen Herbart zu vertheidigen. g5
[R 32. H 56. K 72.] A 20. B 34.
an anderen Stellen deutlicher zum Ausdruck gebracht als hier. Man beruft
sich zu diesem Zwecke auf verschiedene Stellen, insbesondere auf diejenigen,
in denen Kant die Theorie des Angeborenseins der apriorischen Formen
zumckweist und das Erworbensein derselben behauptet. Diese Stellen werden
wir gleich unten in einem eigenen kleinen Excurs betrachten , und wollen hier
zunächst nur Eine Stelle ins Auge fassen, auf die sich besonders Riehl für
seine Auslegung berufen hat (ebenso Cohen, 2. A. 540 gegen Trendelenburg).
Die Stelle findet sich in den Antinomien , in den Anmerkungen zur
zweiten Antithesis (A. 429. 481. 433), woselbst es heisst: „Die empirische
Anschauung ist nicht zusammengesetzt aus Erscheinungen und dem Baum
(der Wahrnehmung und der leeren Anschauung). Eines ist nicht des an-
deren Correlatum der Synthesis, sondern nur in einer und derselben empi-
rischen Anschauung verbunden, als Materie und Form derselben. Will
man eines dieser zween Stücke ausser dem anderen setzen (Raum ausserhalb
aller Erscheinungen), so entstehen daraus allerlei leere Bestimmungen der
äusseren Anschauung, die doch nicht mögliche Wahrnehmungen sind, z. B.
Bewegung oder Ruhe der Welt im unendlichen Räume** u. s. w.
Riehl führt (Kriticismus I, 348 Anm.) diese Stelle speciell gegen
Herbarts Einwände ins Feld: „Diese Stelle hat Her hart jedenfalls nicht
gesehen, als er die Behauptung wagte, Kant stelle das Leere dem Vollen
voran, ein unendliches leeres Gefäss habe er im Gemüthe bereit, um die
Dinge hineinzuschütten*'. Allein diese Stelle, wenn in ihr Kant wirklich
seine eigene Meinung ausspricht (er könnte ja vielleicht auch nur den Ver-
treter der Antithesis so sprechen lassen) beweist nur, dass er sich — seiner
Gewohnheit gemäss — widerspricht *. Herbarts Vorwurf bezieht sich aber auf
den vorliegenden Text, und ist in Bezug auf diesen auch berechtigt, mag
Kant sonst auch noch so sehr, im Widerspruch mit dieser Stelle, eine ent-
gegengesetzte Auffassung vertreten haben. Ausserdem kommt in Betracht,
dass Kant an jener Stelle die Annahme eines leeren Raumes ausserhalb
der Welt zurückweisen will; und wenn die Stelle in diesem kosmolo-
gi sehen Sinne genommen wird, so Hesse sich mit der Stelle aus der Dialektik
immer noch die hier in der Aesthetik vertretene Annahme vereinigen, dass
der Raum im erkenntnisstheoretischen Sinne eine ursprünglich inhalts-
leere, in uns bereitliegende Form sei ^
* Den vorliegenden Widerspruch hat schon Feder, Raum S. 92 — 94 mit
Recht gerügt, wogegen Schaumann, Aesth. S. 175 — 180 K. vergeblich vertheidigte.
Vgl. auch Massonius, Aesth. S. 90.
' Aehnlich unterscheidet auch Reinhold, Th. d. Vorst. 389 if., zwischen dem
eigentlich „leeren** Räume und dem „blossen" Räume; die Vorstellung des
ersteren ist für uns aposteriorisch, die des letzteren apriorisch. Reinhold denkt
sich diesen allerdings auch nur als potentiell; vgl. darüber den unten folgenden
Excurs über das Angeborene. — Vgl. auch Kants Opus Postumum, Reicke XIX, 76 N.
Cohen, 2. A. 127 (gegen Wundts und Zöllners Verwechslung von leerem und
reinem Raum).
86 § 1- Einleitung.
A20.B34. [B 32. H 56. E 72.]
Damit stimmt nun auch vollständig überein der Gebrauch des Terminus
a priori in der Aesthetik. Wir haben über den Ausdruck, der an dieser
Stelle innerhalb der Aesthetik zum erstenmale auftritt, der aber
schon in Vorrede A und Einleitung A und B von Kant mehrfach gebraucht
worden war, in dem Commentar zu jenen Theilen hinreichend über Wort
und Sache gesprochen (vgl. I, 134. 166 ff., 169 ff., 178. 189 ff., 197 ff.,
281 ff., 322 ff., 388 ff.) \ Wir haben auch schon daselbst auf die verschie-
denen Bedeutungen des Ausdruckes bei Kant hingewiesen, sowie auf die
entsprechenden verschiedenen Auslegungen desselben. Für unseren Zweck
an dieser Stelle müssen wir diejenigen Stellen, zunächst der Aesthetik, ins
Auge fassen, durch welche jene Auffassung der Formen als bereit-
liegender, fertiger Vorstellungen bestätigt wird. Wie auch Kant
über diese Formen sonst in abweichender Weise sich geäussert haben mag.
wie er auch sonst oder später das Apriori gefasst haben mag — hier kommt
es darauf an, zu zeigen — was eben von Vielen geleugnet wird — , dass
Kant factisch an vielen Stellen jene Auffassung der Formen nicht bloss als
zeitlich vorhergehender, sondern auch als von vorne herein fertig in
uns vorhandener unzweideutig gelehrt hat. Beides (besonders das zeit-
liche Vorhergehen, das freilich nach Harms, Ph. s. K. 154, dem Geist der
K. 'sehen Philos. widersprechen soll) ^ tritt bei den Anschauungsformen stärker
hervor als bei den Denkformen.
So heisst es sogleich im folgenden Absatz, dass „die reine An-
schauung a priori auch ohne einen wirklichen Gegenstand der
Sinne oder Empfindung als eine blosse Form der Sinnlichkeit im Gemüthe
stattfindet'* ; so heisst es in der transsc. Erörterung des Raumes (B 40) :
„Diese Anschauung muss a priori, d. h. YOr aller Wahrnehmung
eines Gegenstandes in uns angetroffen werden, mithin reine, nicht
empirische Anschauung sein;*' und eben auf diese bezieht sich auch die
Frage daselbst: „Wie kann nun eine äussere Anschauung dem Gemüthe
beiwohnen, die vor den Objecten selbst vorhergeht, und in welcher
der Begriff der letzteren a priori bestimmt werden kann?'* Und gleich
darauf, im Schluss b, erhalten wir darauf die Antwort: „Weil nun die
Receptivität des Subjects, von Gegenständen afficirt zu werden, nothwendiger
Weise vor allen Anschauungen dieser Objecte vorhergeht, so lässt sich ver-
^ Vgl. K. Merkel, üeber die Entstehung und inhaltliche Veränderung der
beiden philos. Ausdrücke a priori und a posteriori. Diss. Hai. 1885. — Bau-
mann, R. u. Z. 11, 245.
* So sagt neuerdings auch noch Windelband, Gesch. d. Philos. 1891.
8. 420. 424: „Apriorität ist bei Kant kein psychologisches, sondern ein rein
erkenntnisstheoretisches Merkmal : es bedeutet nicht ein zeitliches Voi^
hergehen vor der Erfahrung, sondern eine sachlich über alle Erfahrung
hinausgehende und durch keine Erfahrung begründbare Allgemeinheit und Noth-
wendigkeit der Geltung von Vernunftprincipien. Wer dies sich nicht klar macht
hat keine Hoffnung, Kant zu verstehen."
Apriori bedeutet hier zeitliches Vorhergehen und actuelles Bereitliegen. 87
[R 82. H 66. E 72.] A 20. B 34.
stehen, wie die Form der Erscheinungen vor allen wirklichen Wahr-
nehmungen, mithin a priori im Gemüthe gegeben sein könne/^
Damit stimme auch die Prolegomena überein. Auch im § 7 wird a
priori erläutert durch: „vor alier Erfahrung oder einzelnen Wahr-
nehmung*'; nach §8 findet die ursprüngliche Anschauung apriori „ohne einen
weder Yorher noch jetzt gegenwärtigen Gegenstand statt". Nach
§ 9 findet reine Anschauung statt „ehe mir noch der Gegenstand vor-
gestellt wird'* und „gehet vor der Wirklichkeit des Gegenstandes
vorher'*. Auch § 10 sagt: Die reinen Anschauungen a priori sind blosse
Formen unserer Sinnlichkeit, die Tor aller empirischen Anschauung,
d, i. „der Wahrnehmung wirklicher Gegenstände vorhergehen müssen".
Und nach § 11 geht „die blosse Form der Sinnlichkeit vorder wirk-
lichen Erscheinung der Gegenstände vorher, indem sie dieselbe in
der Tbat allererst möglich macht".
Mit diesen Stellen der Aesthetik (welche sich übrigens noch vermehren
Hessen) vergleiche man ferner noch z. B. folgende Stellen : „Baum und Zeit
sind rein von allem Empirischen und werden völlig a priori im Ge-
müthe vorgestellt" (A 155 = B 194); A 267 = B 324: „Die Form der
Anschauung (als eine subjective Beschaffenheit der Sinnlichkeit) geht vor
aller Materie (den Empfindungen) vorher, mithin R. u. Z. vor allen Er-
scheinungen und allen Datis der Erfahrung ... Da die sinnliche Anschauung
eine ganz besondere subjective Bedingung ist, welche aller Wahrnehmung
a priori zum Grunde liegt und deren Form ursprünglich ist: so ist die
Form für sich allein gegeben" u. s. w. Vgl. auch A 373: „R. u. Z.
sind Vorstellungen a priori, welche uns als Formen unserer sinnlichen An-
schauung beiwohnen, ehe noch ein wirklicher Gegenstand unseren
Sinn durch Empfindung bestimmt hat." Dazu vergleiche man folgende
Stelle aus den „Fortschr. d. Met.", Ros. I, 496: „Eine Anschauung, die
a priori möglich sein soll, kann nur die Form betreffen, unter welcher der
Gegenstand angeschaut wird: denn das heisst, etwas sich a priori
vorstellen, sich vor der Wahrnehmung, d. i. dem empirischen
Bewnsstsein und unabhängig von demselben eine Vorstellung
davon machen." Dass die reine Anschauung vor aller Wahrnehmung
schon als eine eigene Vorstellung vorhergehe, wird daselbst noch oft
wiederholt. Vgl. Kants Reflexionen II, N. 395: ,,Wie sind Anschauungen
a priori möglich? Nicht anders, als dass die Form etwas durch Sinne an-
zuschauen ohne Materie, d. i. als ein gegebenes Object der Sinne für
sich vorgestellt werden kann." (In dieser Loslösbarkeit sieht Kant
daselbst sogar einen Beweis ihrer Subjectivität N. 402: „dass R. u. Z. An-
schauungen ohne Dinge sind, bedeutet, dass sie keine objectiven Vor-
stellungen, sondern subjective sein müssen.")
Diese Stellen beweisen unzweideutig, dass Kant eine zeitlich in uns
vorhergehende, actu eil fertige Anschauungsform gelehrt habe. Dies schliesst
nun aber bei Kant gar nicht aus, dass er an anderen Stellen unter der An-
88 § 1. Einleitung.
A 20. B a4. [R 32. H 56. E 72.]
scbauung a priori nur eine potentielle Anlage verstanden habe, welche zwar
vor aller Erfahrung vorhergeht, aber ohne sie auch ganz werthlos ist. In
der That leidet die ganze K.'sche Aprioritätslehre im Allgemeinen und seine
Kaumtheorie speciell an der beständigen Verwechslung und Vermischung
jener beiden Auffassungen des Apriori. Die Einsicht in diese durchgängige
Vermischung des actuell-bewussten und des potentiell-unbewussten Apriori
bildet zu vielen Unklarheiten und Schwierigkeiten der tr. Aesthetik den
wichtigsten Schlüssel. Wenn Kant den Raum eine Anschauung a priori
nennt, hat man darunter bald zu verstehen den mathematischen Baum
als eine fertige Vorstellung, bald die Form der Räumlichkeit überhaupt
als eine potentielle Functic^nsweise. Dies haben auch viele Kritiker Ks.
in alten und neuen Zeiten herausgefunden, und auch selbständige Kan-
tianer, wie Reinhold und Beck, haben dies getadelt.
Man kann mit Kurth, Dittes als philos. Kritiker (des Werkes von
Lasswitz über Kant), Dresden 1886, S. 27 flF. eine dreifache Auffassung
des Raumes unterscheiden : R ^ = (unbewusste, potentielle) transscendentale
Anschauungsform, welche vor aller Erfahrung da ist; R2 = die besondere
räumliche Gestalt, welche mit einem sinnlichen Empfindungscomplex zu-
sammen die empirische Anschauung ausmacht und insofern in der Erfahrung
enthalten ist (deren gibt es unbestimmt viele, also = n Rj); R3 = die
Vorstellung des unendlichen mathematischen Raumes, welche erst aus der
Erfahrung gewonnen ist, indem R2 aus der empirischen Anschauung heraus-
• gelöst und in infinitum erweitert wird. Dann ist Kant vorzuwerfen, dass
er R| und R3 fast immer durcheinander geworfen hat. Insbesondere hat
er das Vorhandensein vor aller Erfahrung, das natürlicherweise nur dem
R| zukommen kann, immer wieder auf R 3 übertragen; er hat immer wieder
dem Raum des Mathematikers, welcher doch erst durch Abstraction und
Erweiterung aus den empirischen Räumen (n R2) entstehen kann, die volle
Apriorität zugeschrieben. Vgl. Herbart, W. W. VI, 115. Cohen, 2. A. 584 f.
Kant that dies bekanntlich, weil er des Glaubens lebte, die Noth wen-
digkeit und Apriorität der Sätze der reinen Mathematik allein auf diese
Weise retten zu können. Gerade diese Rücksicht auf die Mathematik be-
stärkte ihn aber in jener Vermischung von Rj und R3; denn Kant ver-
wechselte, wie wir sehen werden, das Problem der Gültigkeit der reinen
Mathematik als solcher mit dem Problem ihrer gültigen Anwendung auf
die empirischen Objecte. Für die Gültigkeit dieser Anwendung der Sätze
der Mathematik auf alle empirischen Gegenstände genügte die Annahme
von R^: die Raumgesetze müssen auf alle Dinge im Räume (n R2) An-
wendung finden, weil dieselben erst durch Rj zu dem geworden sind, was
sie sind. Aber um die Apriorität der reinen Mathematik als solcher be-
haupten zu können, dazu musste die actuelle Apriorität auch von B3 an-
genommen werden. Die später folgende Untersuchung über Ks. Verwechs-
lung jener beiden Probleme der Mathematik wird also auf diese Ver-
wechslung der beiden Fassungen des Apriori rückwärts Licht werfen.
Kant über das Angeborene 1770. 89
Excurs.
Wie verhält sich Kants Apriori zum Angeborenen?
An dieser Stelle nun verlangt die Frage Beantwortung, wie sich Kants
apriorische Formen zu dem Angeborenen verhalten? In der Kr. d. r. V.
hat Kant dieses doch naheliegende Thema mit merkwürdigem Stillschweigen
übergangen; er hat sich aber an anderen Orten zur Genüge darüber ge-
äussert. In der Dissertation § 15 ün. heisst es nach der Erörterung von
Raum und Zeit: „Tandem quasi sponte cuilibet oborilur quaestU), utrum con-
ceptus uterque sit connatus an acquisitus. Posterius quidem per demon-
strata jam videtur refutcUum, prius atäemy quia viam sternü phüosophiae
pigrorum ulteriorem quanUibet indagationem per citationem causae primae
irritam declarantis^ non ita temere admittendum est Verum conceptus uterque
procul dubio acquisitus est, non a sensu quidem objectorum {sensatio enim
materiam dat, non formam cognitionis humanae) abstr actus, sed ab ipsa
mentis actione, secundwn perpetuas leges sensa sua coordinante, quasi typus
immutahilis ideoque intuitive cognoscendus, Sensationes enim excitant hunc mentis
actum, non influunt intuitum, neque aliud hie connatum est, nisi lex
animi, secundum quam certa ratione sensa sua e praesentia objecti conjungit.^
Dazu § 4fin. : Per formam seu speciem objecta sensus non feriunt; ideoque
ut varia objecti sensum afficientia in totum aliquid repraesentationis coalescant,
opus est interno mentis principio, per qiiod varia illa secundum stabiles et
innatas leges speciem quandam induant. Und von der Zeit heisst es § 14, 5:^
Conceptus temporis tantummodo lege mentis interna nititur, neque est intuitus
quid am connatus, adeoque nonnisi sensuum ope actus iUe animi, siia sensa
coordinanti^ , elicitur. Ganz in derselben Weise heisst es daselbst § 8 von
den metaphysischen Begriffen (den späteren Kategorien) : Cum itaque in meto-
physica non reperiantur prindpia empirica, conceptus in ipsa obvii non quaerendi
sunt in sensibus, sed in ipsa natura inteüectus puH, non tanquam conceptus
connati, sed e legibus menti insitis {attendendo ad ejus actiones occasione
experientiae) abstracti, adeoque acquisiti,
Kant bekämpft also hier ganz entschieden die Lehre von den an-
geborenen Ideen: insbesondere Raum und Zeit sind keine angeborenen Vor-
stellungen. Er bekämpft aber auch die entgegengesetzte Lehre, dass der-
artige Vorstellungen aus der Erfahrung abgezogen und erworben seien. (Vgl.
dazu bes. noch § 14, 1.) Kant sucht vielmehr, entsprechend seiner all-
gemeinen Vermittlungstendenz (Comm. 1 , 58 if.), einen Mittelweg zwischen
Cartesius und Locke. Er gibt dem Ersteren zu, dass R. u. Z. nicht aus
Prfahrung stammen, sondern aus — wie er ausdrücklich sagt — ange-
borenen Geistesgesetzen hervorgehen; aber auch nur diese Gesetze der
Coordination sind angeboren, als Functionsformen des menschlichen Gemüthes,
nicht die fertigen bewussten Vorstellungen von Raum und Zeit selbst. Diese
werden erst im Laufe der Zeit gebildet, sie werden erst aus unseren inneren
Actionsformen, durch Richtung der Aufmerksamkeit auf dieselben, abstrahirt,
90 Excurs. Yerhältniss des Apriori zum Angeborenen.
und insofern sind sie erworbene Vorstellungen. Diese spätere Entstehung*
und die Erwerbung gibt Kant Locke zu, aber der Ort, woher die
Erwerbung stammt, ist das Innere; in diesem Inneren finden wir die
Thätigkeit des Geistes bei der Coordination der an sich formlosen Eindrücke.
Diese letzteren bilden nur den Anlass dafür, dass jene Functionsweise des
Gemüths ins Spiel kommt; dieses Spiel beobachten wir und bilden uns
daraus die fertigen bewussten Vorstellungen von B. u. Z. (Vgl. Biehl, Krit.
I, 280; II, 1, 114.) Es fragt sich aber doch sehr, ob diese Bestimmungen
vereinbar sind mit den in der Dissertation entwickelten Beweisen dafür, dass
R. u. Z. intuüus puri seien; schon hier findet dasselbe Schwanken statt,
welches wir soeben in der Kr. d. r. V. rügten, zwischen der Apriorität der
Räumlichkeit (der angeborenen Grundlage) und der Apriorität der mathe-
matischen Raumanschauung (der angeborenen Vorstellung). —
Mit dieser Vermittlung zwischen Gartesius und Locke (vgl. Rieh],
Krit. I, 24. 162. 218; II, a, 114) kommt aber Kant nicht weit über Leibniz
hinaus. Denn was hier Kant vorträgt, ist im Grunde die These der Xou-
veaux Essais von Leibniz, deren Einwirkung auf Kants Dissertation
wir ja schon mehrfach behaupten mussten (Oomm. I, 48. 167. 168. 171 f[.
183). In der ganzen Schilderung, welche Kant entwirft, ist eigentlich kein
Zug, der sich nicht auch schon in jenem Werke nachweisen Hesse. Schon
Leibniz sagt ausdrücklich, dass die angeborenen Ideen trotzdem erlernt
werden müssten: „Nous apprenotis les idSes et les viriUs innies ^ soii ett
prenant garde ä leur source, soit en les vMfiant par VexpSrience; ei je ne
saurais admettre Öette proposition: tout ce qu'on apprend, n^est pas inniJ^
(p. 41 der Original ausg.) Auf die Nouveaux Essais beruft sich in Bezug auf
diese Frage auch schon Herz, Betracht. 60—64, dessen Zeugniss für den Zu-
sammenhang der K.'schen Lehre mit der Leibniz'schen aus naheliegenden
Gründen sehr ins Gewicht fÄllt. (Anders B. Erdmann, Reflex. II, XLVIIL)
Vgl. Windelband, Gesch. d. Philos. S. 366 f. 424 N.
In der Kr. d. r. V. selbst hat Kant, wie schon bemerkt, auffallender
Weise das Thema nirgends direct berührt. Indirecte Hinweise kann man
manche finden; so kann man mit Riehl, Krit. I, 303. 323 und Lasswitz
139. 174 den Anfang der Kritik B, „dass alle Erkenntniss mit der Er-
fahrung anfange", dahin deuten (vgl. Comm. I, 170); vor allem alle jene
Stellen , in welchen Kant darauf hinweist , dass die apriorischen Vermögen
bei Gelegenheit der Erfahrung zur Functionirung erweckt werden (Comm.
I, 171 f.; Riehl I, 372); doch finden sich in der Kritik solche Stellen nur
in Bezug auf die Kategorien. Vgl. jedoch Refl. II, N. 513.
Auch in den Prolegomena wird das Thema nur selten angeschlagen;
so heisst es § 43 in Bezug auf die Ideen: ,,Da ich den Ursprung der
Kategorien in den 4 logischen Functionen aller ürtheile des Verstandes ge-
funden hatte, so war es ganz natürlich, den Ursprung der Ideen in den
3 Functionen der Vernunftschlüsse zu suchen ; denn wenn einmal solche
reine Vernunftbegriffe gegeben sind, so könnten sie, wenn man sie nicht
etwa für angeboren halten will, wohl nirgends anders als in derselben
Kant über das Angeborene 1790. 91
Vernunfthancllung angetroffen werden" u. s. w. Aehnlich lautet eine Stelle
in der Kr. d. pr. Vern. R. VIII, 286 in Bezug auf die Kategorien. Vgl.
dazu Riehl, Krit. I, 307.
Eingehender und mit besonderer Beziehung auf die Anschauungsformen
hat sich Kant über die Frage bekanntlich erst 1790 geäussert in der Replik
gegen Eberhard: „üeber eine Entdeckung" u. s. w. An einer sehr oft
citirten Stelle sagt er da (Or. 68; Ros. I, 444 ff.) ^: „Die Kritik erlaubt
schlechterdings keine anerschaffene oder angeborene Vorstellungen; alle
insgesammt, sie mögen zur Anschauung oder zu Verstandesbegriffen gehören,
nimmt sie als erworben an. Es gibt aber auch eine ursprüngliche Er-
werbung (wie die Lehrer des Naturrechts sich ausdrücken), folglich auch
dessen, was vorher gar nicht existirt, mithin keiner Sache vor dieser Hand-
lung angehört hat. Dergleichen ist . . . erstlich die Form der Dinge in R.
u. Z., zweitens die synthetische Einheit des Mannigfaltigen in Begriffen;
denn keine von beiden nimmt unser Erkenntnissvermögen von den Objecten,
als in ihnen an sich selbst gegeben her, sondern bringt sie aus sich selbst
a priori zu Stande. Es muss aber doch ein Grund dazu im Subjecte sein,
der es möglich macht, dass die gedachten Vorstellungen so und nicht anders
entstehen, und noch dazu auf Objecte, die noch nicht gegeben sind, bezogen
werden können , und dieser Grund wenigstens ist angeboren ... es
ist die blosse eigenthümliche Receptivität des Gemüthes, wenn es von
etwas (in der Empfindung) afficirt wird, seiner subjectiven Beschaffenheit
gemäss eine Vorstellung zu bekommen. Dieser erste formale Grund,
z.B. die Möglichkeit einer Raumanschauung, ist allein angeboren,
nicht die Raumvorstellung selbst. Denn es bedarf immer Eindrücke, um
das Erkenntniss vermögen zuerst zu der Vorstellung eines Objects (die jeder-
zeit eine eigene Handlung ist) zu bestimmen. So entspringt die formale
Anschauung, die man Raum nennt, als ursprünglich erworbene
* Die Stelle ist eine Antwort auf Eberhards Frage im Philos. Mag. I, 387—391:
Was ist der Grund der Wirklichkeit unserer Vemunfterkenntniss oder unserer
Erkenntniss a priori ? Kant habe, fahrt E. aus, diese Frage gar nicht beantwortet.
Nehme er nun an, dass die Anschauungsformen selbst ursprünglich uns anerschaffen
seien, so denke er sich damit eine qualitaa occulta. Nehme er aber an, — und
das sei wohl seine eigentliche Meinung, — dass nur ihre Gründe angeboren seien,
80 sei dies im Wesentlichen identisch mit der Leibniz'schen Lehre. Diese Aehn-
lichkeit sei auch schon einem seiner nEpitomatoren" aufgefallen, Schmid. In der
That hat der Letztere in seinem Wörterbuch, im Artikel A priori (4. Aufl. S. 11 — 18)
treffend die These durchgeführt: „Offenbar und auffallend ist die Ueber-
einstimmung dieser K.'schen Theorie mit Leibnizens Lehre von an-
geborenen Begriffen, wie man sie in den neuen Versuchen über den
menschlichen Verstand am deutlichsten und vollständigsten ent-
wickelt findet." „Kant hat diese vernachlässigte Lehre wieder aus dem Staub
hervorgezogen.* Schmid hat also den historischen Zusammenhang der Kantischen
Lehre mit den Nouveaux Essais schon ganz richtig erkannt ! Ebenso der Kantianer
Seh au mann, Aesth. 25 — 28, ebenso der Kantianer Abicht, vgL Comm. I, 172.
Vgl. auch Feder, Raum 11—21.
92 Excurs. Verhältniss des Apriori zum Angeborenen.
Vorstellung (der Form äusserer Gegenstände überhaupt) , deren Grund
gleichwohl (als blosse Receptivität) angeboren ist, und deren Er-
werbung lange vor dem bestimmten Begriff von Dingen, die dieser
Form gemäss sind, vorhergeht; die Erwerbung der Letzteren ist acqui-
sitio derivativa, indem sie schon allgemeine transscendentale Verstandes-
begriffe voraussetzt, die ebensowohl nicht angeboren, sondern erworben
sind, deren acquUüio aber, wie jene des Raumes, ebensowohl originaria
ist S und nichts Angeborenes , als die subjectiven Bedingungen der Spon-
taneität des Denkens . . . voraussetzt. Üeber diese Bedeutung des Grundes
der Möglichkeit einer reinen sinnlichen Anschauung kann Niemand zweifel-
haft sein^ . . .
Diese Stelle von 1790 steht inhaltlich ganz in Uebereinstimmung mit
den oben mitgetheilten Stellen von 1770. Hinzugekommen ist hier nur der
Vergleich mit dem juristischen Begriff der acquisitio originaria, womit Kant
nach Eberhard (Phil. Arch. II, 1, 52 „die Sache in ein wohlthätiges Dunkel
unter den gelehrten Schatten Ehrfurcht gebietender Kunstwörter stellt "*.
Indessen wird es nicht schwer, dieses Dunkel zu lichten. Jener Begriff spielt
schon im römischen Hecht eine Rolle (Cicero, De offic, I, 7), und ist
dann besonders von Grotius {De jure belli et pacis II, 3), sowie von
Pufendorf {Jus naturae et gentium IV, 6) ausgebildet worden. (Vgl. Mellin
II, 440 ff.) Kant selbst hat sich über den Begriff weitläufiger geäussert in
seiner Rechtslehre § 10 (vgl. § 6. 13. 28. 52 über die Bedeutung des ,üi>
sprünglichen"): ^Nichts Aeusseres ist ursprünglich mein; wohl aber kann es
ursprünglich, d. h. ohne es von dem Seinen irgend eines Anderen abzuleiten,
erworben werden" u. s. w. Das Tertium comparationis liegt eben in der
negativen Bestimmung, dass dasjenige, was dem Subject als Besitzthum
zuwächst, nicht von einem Anderen, Fremden genommen ist. Die
positive Quelle der ursprünglichen Erwerbung ist in den juristischen Fällen
die Besitznahme einer Sache, die Niemand Anderem vorher gehört hat; in
den erkenntniss-theoretischen Fällen besteht die ursprüngliche Erwerbung
darin, dass ich, was ich erwerbe, nicht „von den Objecten als in ihnen
an sich selbst gegeben, herzunehmen" brauche, sondern in mir selbst
finde, indem ich es „aus mir selbst zu Stande bringe'^. Auf dieses
innere Functioniren richte ich meine Aufmerksamkeit und abstrahire mir
aus demselben erst die betreffende Vorstellung. Somit ist diese Vorstellung
^ Der Gegensatz des Ursprünglichen und des Abgeleiteten spielt bei Kant
(wie bei frülieren Philosophen) überhaupt eine grosse Rolle. Er unterscheidet auch
(B 71) einen intuitus originarius und derivativus. Vgl. Borns Werk: üeber die
ursprünglichen Grundlagen des menschl. Denkens, 1791 (§§ 9. 11. 12). Das .Ur-
sprüngliche"* wurde Schlag- und Lieblingswort besonders bei Beck, in Jacobs
Annalen, z. B. II, 395—397, sodann auch bei Fichte. Auch K. Fischer (Kant,
3. A. 330) nennt R. u. Z. „ursprüngliche Vorstellungen' = apriorische. Vgl. auch
Cohen, 2. A. 198 ff. 350 ff. (Unterscheidung des .Ursprünglichen* und des ,An^üig*
liehen**). Ganz so gebraucht K. den Ausdruck originarius Dissert. § 14, 6, § 15, E, a. ö.
Auch den absoluten Raum heisst Kant 1768 so.
Acqumtio originaria. 93
nicht angeboren, sondern „ursprünglich erworben '', aber wohl ist der formale
Grund zu jener Vorstellung in mir angeboren.
Danach kann der Sinn dieser Erläuterung nicht zweifelhaft sein, ebenso
wenig aber, dass diese Auffassung im Wesentlichen mit der Leibniz'schen
identisch ist, wie eben schon sowohl der Kantianer Schmid, als der Anti-
kantianer Eberhard ganz richtig bemerkt haben und wie dies auch Kant
selbst in der Schlussanmerkung II (Ros. I, 480) zugibt. Nicht die formale
Vorstellung des reinen Baumes, wie ihn der Geometer braucht, ist selbst schon
angeboren ; wohl aber ist angeboren die positive Fähigkeit dazu, die Fähigkeit,
die rein qualitativen, formlosen Eindrücke in räumliche Formen zu bringen.
Indem das Gemüth diese raumsetzende und ordnende Thätigkeit ausübt,
achtet es eben auch zugleich auf diese seine eigene Thätigkeit und dadurch
eben wird die formale Baumvorstellung erworben ^ Wie und wann aber
diese Erwerbung stattfinde, gerade diese Hauptfrage hat Kant nicht näher
beantwortet; denn was soll die Bemerkung heissen^ dass sie vor dem be-
stimmten Begriffe von Dingen, die dieser Form gemäss sind, vorhergeht?
Das heisst also wohl, die bestimmten Begriffe der Einzeldinge, welche Sache
der acquisitio derivativa sind, werden später erworben, als jene formale
' Eine interessante Ergänzung hiezu bildet eine bis jetzt ganz unbeachtet
gebliebene Stelle der Kr. d. r. V., im Beweis der 2. Analogie d. Erf. , A 196 =
B 241: ff Es gehet aber hiermit [mit dem Begnff resp. Gesetz der Causalität] so,
wie mit anderen reinen Vorstellungen a priori, z. B. Raum und Zeit, die wir darum
allein aus der Erfahrung als klare Begriffe herausziehen können, weil wir sie in
die Erfahrung gelegt hatten und diese daher durch jene allererst zu Stande
brachten." Diese Stelle ist aus zwei Gründen beachtenswerth : einmal wird als
Quelle der später gebildeten formalen Raumvorstellung nicht das Achten auf die
innere raumsetzende Function angegeben, sondern die äusseren raumbegabten Pro-
ducte selbst, was jedenfalls natürlicher ist (womit auch die Stelle A 293 = 6 349
übereinstimmt: «Wenn nicht ausgedehnte Wesen wahrgenommen werden, kann
man sich keinen Raum vorstellen.* Vgl. Cohen, 2. A. 105. Vgl. auch Refl. II, 1196).
Sodann wird hier die bewusste Raumvorstellung von der unbewussten
apriorischen Raumfunction deutlich unterschieden: denn «klar* ist nach der
Terminologie des vor. Jahrb. so viel als bewusst; sein Gegensatz ist „dunkel"; die
ursprüngliche Raum Vorstellung oder Raumfunction läge also unbewusst in uns;
die bewusste Raumvorstellung wäre erst ein Product der Erfahrung und Abstraction.
In diesem Sinne kann auch ProL § 6 aufgefasst werden, wo es von dem Raum
als Erkenntnissgrund a priori heisst, dass „er tief verborgen liege, sich aber
durch seine Wirkungen offenbare*. Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen Vol-
kelts über „Es. Stellung zum Unbewusst-Logischen*, Philos. Monatsh. 1873, IX, 49 ff.
— Hieher gehört auch eine erst neuerdings bekannt gewordene Aeusserung Ks.
gegen Kästner (Arch. f. Gesch. d. Philos. III, 87) : dass der Raum von sinnlichen
Vorstellungen abstrahirt sei, könne auch für den Metaphysiker gelten; „denn
ohne Anwendung unseres sinnlichen Vorstellungsvermögens auf wirkliche Gegen-
stände der Sinne würde selbst das, was in diesem [Text irrig: diesen] a priori
enthalten sein mag, uns gar nicht bekannt [bewusst] werden. Das darf aber
nicht so verstanden werden, als sei jene Raumvorstellung durch die Sinnen Vorstellung
allererst entstanden und erzeugt worden.*
94 Excurs. Verhältniss des Apriori zum ÄDgeborenen.
Raum Vorstellung , deren ursprüngliche Erwerbung wohl darum schon sehr
frühe stattfinden kann, weil das Gemüth dabei nur auf seine eigene Function
gelegentlich äusserer Eindrücke zu achten hat. Die Stelle (vgl. über dieselbe
auch Riehl I, 324) ist dunkel, kann aber nichts an dem oben hinreichend
festgestellten Sinne des ganzen Passus ändern.
Der Sinn dieser berühmten Stelle verträgt sich nun allerdings schlechter-
dings nicht mit dem Sinn der oben S. 86 f. angeführten Stellen, vor Allem
nicht mit der vorliegenden Textstelle. Dass hier ein Widerspruch vorliege,
haben Gegner Kants von Anfang an mit Recht behauptet, Niemand aber
treffender und eindringlicher, als Schwab im Phil. Mag. IV, 225 in dem
kleinen, aber schwerwiegenden Aufsatz: „Ist H.Kant, in seiner Streitschrift
gegen H. Eberhard, seinem in der Kr. d. r. V. aufgestellten Begriffe vom
Raum getreu geblieben?" Er führt da aus: K. unterscheidet in der Streit-
schrift die Gründe des Raumes und die Raumvorstellung selbst; jene sind
angeboren, diese erworben; er unterscheidet zwar wiederum die ursprüng-
liche und die abgeleitete Erwerbung; allein auch zur Ersteren muss das
Erkenntnissvermögen durch Eindrücke bestimmt werden. Es ist nun die
Frage, wovon Kant gesprochen habe, als er in der Kr. d. r. V. vom Räume
behauptete, er sei eine Anschauung a priori u. s. w. — ob von jenen an-
geborenen Gründen des Raumes oder von dieser ursprünglich erworbenen
Raumvorstellung? Im ersteren Fall aber konnte Kant doch nicht sagen,
dass der Raum eine Anschauung sei; denn alle Anschauung ist nach der
K. 'sehen Philosophie sinnlich ; die angeborenen Gründe des Raumes aber
können nicht sinnlich sein. Auch Hess sich von diesen angeborenen Granden
des Raumes nicht sagen, dass sie als eine unendliche Grösse vorgestellt
werden. Im zweiten Fall ^ aber lässt sich nicht mehr absehen, wie der Raum
noch eine reine Anschauung a priori heissen kann, welche aller äusseren
Anschauung zu Grunde liegt; denn die Raumvorstellung ist ja in diesem
Fall durch äussere Eindrücke bestimmt ; also nicht mehr rein ; rein ist ja
nach Kant eine Vorstellung, in der nichts, was zur Empfindung gehört, an-
getroffen wird. Diejenige Vorstellung, an welcher die Empfindung einigen
Antheil hat, ist also nicht rein; wenn a priori dasjenige ist, was von aller
Ei*fahrung (und nach B 2 selbst von allen Eindrücken der Sinne) un-
abhängig ist, so ist die in oben beschriebener Weise erworbene Raumvor-
stellung nicht a priori. Denn bei ihr sind ja Eindrücke die Voraussetzung
ihrer Entwicklung, und wenn das zugegeben werde, so werde sich auch
schwerlich das Zugeständniss umgehen lassen, dass die Eindrücke, durch
deren Einwirkung jene angeborenen Gründe des Raumes sich in eine sinn-
liche Anschauung verwandeln, hiebei sich bestimmend einmischen, so dass
also die (wenn auch ursprünglich) erworbene Vorstellung doch keineswegs
mehr eine „reine Anschauung a priori** genannt werden könne.
^ Schwab meint, Kant habe wohl diesen Fall in der Kr. d. r. V. im Auge gehabt ;
denn er nenne in der Streitschrift die ursprünglich erworbene Raumvorstellung die
„Form äusserer (Tegenstände"*, und von dieser spreche er ja eben in der Kr. d. r. \ .
Die acquisitio originaria widerspricht der tr. Aesthetik. 95
Diese treffenden Ausführungen schliesst Schwab mit den ebenso treffen-
den Worten: „Debrigens hat das, was H. Kant in seiner Streitschrift über
den Raum sagt, meinen ganzen Beifall, ob ich wohl nicht einsehe, wie sich
diese Theorie in seiner Philosophie rechtfertigen lässt. Sie ist aber nicht
neu, und H. Kant hat sich auch in diesem Punkt, wie in mehreren anderen,
der Leibniz- Wölfischen Philosophie genähert. Ob er sich nicht aber da-
durch von der Kr. d. r. V. entfernt habe, dies ist eine Frage, die nun der
Leser nach den vorgelegten Acten leicht entscheiden kann." Schwab hat
das Thema dann noch einmal behandelt in seiner noch heute. werthvoUen
Schrift: „Von den dunkeln Vorstellungen." 1813. j,Dunkle Vorstellungen"
ist der damalige Terminus statt „unbewusst", und da zeigt er, dass gewisse
Begriffe unbewusst in der Seele schlummern, bis sie durch die Erfahrung
erweckt werden; das sei Leibnizens und Kants Meinung gewesen. Ueber
Kant bandelt Schwab S. 45—53 und zeigt, dass Kant eben in jener Stelle
der „Entdeckung" nur die Leibniz'sche Lehre vom „virtuellen Vorhandensein"
gewisser Begriffe weiter ausgebildet habe, und daher auch „Unrecht gehabt
habe, die angeborenen Vorstellungen, wenigstens im Leibniz'schen Sinne, zu
verwerfen. Es ist aber dieses nicht das einzige Beispiel, dass Kant über
gewisse Gegenstände der speculativen Philosophie sich schwankend bald
so. bald anders ausdrückte, zum Beweis, dass er in Ansehung derselben nicht
ganz ins Reine gekommen war."
Einen Beweis dieser „schwankenden" Ausdrucks weise haben wir eben
in der oben erwiesenen Thatsache, dass die verschiedenen Stellen über die
Apriorität der Rauravorstellung sich widersprechen. Wahrend in der Dis-
sertation von 1770 diese unvereinbaren Behauptungen neben einander stehen,
finden wir sie später auf die Kr. d. r. V. und auf die Streitschrift gegen
Eberhard vertheilt: der Wortlaut nicht bloss, sondern auch der Geist
der transsc. Aesthetik lassen sich nicht mit der Lehre von der
Erwerbung der Raumvorstellung vereinigen. Uebrigens hatten schon
vor Kants Aeusserung von 1790 einige selbständigere Kantianer jene — un-
mögliche — Versöhnung der transsc. Aesthetik mit der empirischen Psycho-
logie versucht, so 1789 Schaumann in seinem beachtenswerthen „Kritischen
Versuch" „lieber die transsc. Aesthetik", bes. S. 29 (vgl. Comm. I, 191), so in
demselben Jahre Reinhold in seiner „Theorie des Vorstellungsvermögens",
S. 389 ff. Den stärksten und zugleich glücklichsten Ausdruck hat Reinhold
seiner Auffassung verliehen a. a. 0. 306: „Man kann die Vorstellungen
a priori als anatomische Präparate des menschlichen Gemüthes
ansehen. Sie haben, wie die wirklichen anatomischen Präparate, insoferne
nnr ein künstliches Dasein, als sie ihren Gegenständen nach nur zum Be-
hufe der Wissenschaft von dem Ganzen, der Vorstellung a posteriori,
woran die Formen der Receptivität und Spontaneität sich allein zuerst in
ihrer natürlichen Bestimmung äussern, abgesondert vorhanden sind." Zum
Zustandekommen jenes Ganzen konnten aber jene Formen nur im Zusammen-
hang mit dem Stoff beitragen, ohne den sie nichts sind, durch den sie
aber nicht sind. Man könne die apnorischen Formen herausheben aus ihrer
96 Excurs. Yerhältniss des Apriori zum Angeborenen.
Verbindung mit dem Stoff und als eigene Vorstellungen hinstellen; aber
ursprünglich seien, sie keineswegs Vorstellungen im eigentlichen Sinne,
sondern Beschaffenheiten des Vorstellungsvermögens: — alles dies
widerspricht aber der tr. Aesthetik selbst schnurstracks: denn für diese
sind R. u. Z. wirklich apriorische Vorstellungen, deren »Grund'' nicht bloss
in uns angeboren ist, sondern welche selbst als solche fertig in uns „bereit
liegen''. Kant kann das Angeborene, nicht nur im abgeschwächten Leibniz*-
schen Sinne, sondern im ursprünglichen Sinne der Cartesianer (und sog.
„Neuplatoniker"), von seiner transsc. Aesthetik nicht abschütteln.
Vgl. hiezu ferner Eberhard, Mag. III, 70—75; Archiv II, 1, 52. 119.
Weiteres aus jener Zeit über das Verhältniss des Kantischen Apriori zum
Angeborenen und über die acquisitio originaria s. bei Mellin I, 227 — 231.
Schmid, Wort. 11 ff. 49 f. Lossius, Lex. I, 257—289. Born, Magazin IL 3.
248 ff. Eberstein II , 184. 241. Schaumann , Aesth. 24 ff. Im Anschluss
an Kants Erklärung von 1790 haben dann besonders Beck und Fichte
ihre Baumtheorien ausgebildet. —
Auch in der neueren Kantliteratur ist diese Frage vielfach discutirt
worden. Doch hat die Discussion darüber , wenigstens bei den hervor-
ragenden Kantianern der Gegenwart, einen anderen Charakter angenommen.
Dass Kant sich in seinen Aeusserungen widersprochen habe, wenn er in der
Streitschrift gegen Eberhard bloss die Anlage zum Raum, nicht die Raum-
vorstellung selbst angeboren sein lässt, wie das doch in der Aesthetik der
Fall ist — das wollen sie nicht Wort haben ; Kant habe nie fertige Formen
gemeint, immer nur die Anlage dazu. Aber auch diese positive Anlage zum
Raum ist den fortgeschritteneren Kantianern unbequem, seitdem die neuere
«mpirische Psychologie auch nicht mehr eine solche Raumanlage stehen lassen
will, sondern das Räumliche auf diese oder jene Weise aus den blossen
Empfindungen als solchen erklären will. Diese sog. empiristische Raum-
theorie ist, allerdings in sehr verschiedener Ausbildung, z. B. von Herbart.
Bain, Wundt aufgestellt worden. Mit dieser suchen jene freieren Kantianer
Fühlung. Dass sie damit das specifisch Kantische preisgeben, wollen sie
ebenfalls nicht Wort haben; denn sie geben nun dem Apriori einen ganz
anderen Sinn. Es sei ein . vollständiges, allerdings durch Kants unvorsichtige
Ausdrucksweise verursachtes Missverständniss des Apriori, wenn man das-
selbe psychologisch auslege; es handle sich dabei um gar nichts Anthropo-
logisches, nicht um ein Vorhergehen irgend einer Vorstellung oder Function
vor der Erfahrung, insbesondere nicht um irgend eine angeborene Vor-
stellung oder auch nur Anlage zu einer Vorstellung, sondern um die
logische Priorität, um dasjenige, was die logische Bedingung der Mög-
lichkeit der Erfahrung ausmacht; was sie dann die transscendentale
Auffassung des Apriori nennen. Diese, später noch weiter zu besprechende
Auffassung des Apriori lässt sich ja nun allerdings mit jener empirischen
Raumtheorie sehr wohl vereinigen, aber sie lässt sich leider nicht mit der
genuinen Kantischen Theorie vereinigen; sie ist eine Vergeistigiing , aber
auch eine gänzliche Verflüchtigung derselben. Während wir also oben nur
Riehl sucht das , Angeborene" ganz zu eKminiren. 97
einen Widerspruch bei Kant zu statuiren hatten, gerftth diese moderne Aus-
legung in einen offenbaren Widerspruch mit Kant. Und da nun jene
Kantianer doch wieder sich auf die Kantischen Originalstellen berufen
müssen, so fallen sie doch theilweise wieder in jene von ihnen selbst ver-
worfene, von Kant aber factisch vertretene Theorie zurück; theilweise aber
deuten sie Kant in ihrem Sinne um, oder machen ihm auch Vorwürfe, dass
er miss verständliche Ausdrücke gebraucht habe u. s. w.
Es trifft dies insbesondere zu bei dem systematisch bedeutendsten
Werke dieser Richtung, bei dem I. Band des geistvollen „Philosophischen
Kriticismus* von Riehl. Er beruft sich mit besonderer Vorliebe auf jene
Kantische Stelle aus der Streitschrift gegen Eberhard, legt dieselbe aber
dahin aus, dass Kant in ihr den gftnzlich empirischen Ursprung der
Anschauungs- und Denkformen als seine eigentliche Meinung ausgesprochen
habe ; die von Kant daselbst behauptete angeborene Anlage zum Raum wird
also ganz eliminirt. So sagt Riehl I, 280: Die Kategorien, ebenso wie die
reinen Anschauungen sind „demnach weder als Vorstellungen noch in der
Gestalt von Anlagen oder Einrichtungen dem Bewusstsein angeboren" ;
ebenso 307 : „Die Begriffe a priori sind weder als Begriffe noch als Anlagen
angeboren' ; wenn Kant einmal (A 66) von „Keimen und Anlagen der reinen
Begriffe im menschlichen Verstände" spreche, so sei dies ein „ungeeigneter
und provisorischer Ausdruck* (324); denn „die Begriffe a priori haben keinen
anderen Ursprung als die empirischen" (373). Wann also „wird die Be-
hauptung verstummen, K. habe von Einrichtungen des Verstandes, d. h. von
angeborenen Begriffen gehandelt, während nach ihm alle Begriffe erworben
sind?" (298). Denn, „wo immer Kant im Zusammenhang seiner Unter-
suchung auf die Ursprungsfrage trifft, da erklärt er sich, was man bisher
ganz übersehen hat, unzweideutig für die empiristische Theorie . . . ^ Das
Bewusstsein der reinen Begriffe ist erworben und enthält ebenso wie die
Vorstellung des Raumes nichts Angeborenes. Bloss die Quelle dieser Be-
griffe und Anschauungen liegt ... in der allgemeinen Form des . . . Be*
wusstseins" (7). In dieser Schlusswendung ist aber doch eben jene angeborene
Einrichtung wieder anerkannt, welche eben geleugnet wurde, jener „Grund",
wie die Schrift gegen Eberhard, jene „leg es mentis innatae^, wie die Dis-
sertation sich ausdrückte. Oanz so heisst es dann ja auch wieder bei Riehl
(324), der „Grund ihrer Entstehung liege im empfänglichen Bewusstsein",
sie „entspringen aus den Gesetzen des Be wusstseins" (367) — das aber sind
ja eben jene oben geleugneten „angeborenen Einrichtungen". Dies ist ja
' Nach Helmholtz dagegen (Optik 456 u. ö.) ist Kant im Gegentheil der
erste Vertreter der Dativistischen Theorie, weil er R. u. Z. „als gegebene
Formen aller Anschauung hinstellt, ohne weiter zu untersuchen, wie viel in der
näheren Ausbildung der einzelnen räumlichen und zeitlichen Anschauungen aus der
Erfahrung hergeleitet sein könne**. Damit stimmt auch überein 6. Erdmann,
Axiome der Geometrie S. 105. Vgl. Tobias, Grenzen der Philos. 104 — 177. Kant
selbst erklärt sich in der Einleitung zur Transsc. Deduction A 86 = B 118 aus-
drücklich gegen ,eine empirische Deduction der Formen der Sinnlichkeit*.
Vaihinger, Kant-Gomraentar. II. 7
98 ExcuTs. Yerhältniss des Aprioii zum Angeborenen.
auch, wie festgestellt wurde, der Sinn jener acquisitio originaria, die mit der
derivativa nicht identificirt werden darf. Dies geschieht aber seitens Riehl
in jenen zuerst mitgetheilten Stellen, in denen eben das specifisch Kantische
aufgegeben war — die Ueberzeugnng, dass die Seele aus ihrem eigenen
Fonds die rein qualitativen Empfindungen in die Raum form bringe, mit
derselben „bekleide'', wie es in der Dissertation heisst (indttere). Die neuere
empiristische Ableitung des Baumes gibt aber eine solche ursprungliche
Ausstattung des „Gemüthes'', eine solche anfänglich latente, aber als positive
Anlage vorhandene Function der räumlichen Synthesis nicht mehr zu, son-
dern will aus den Verhältnissen der raumlosen Empfindungen selbst die
Räumlichkeit erklären. Wer also diese Meinung theilt, wird sich auch auf
die Kantische acquiaiiio originaria nicht mehr berufen können. (Vgl. Riehl
ib. I, 17. 24. 55 f. 67. 303-307. 311. 322. 349 f. 364. 378 f. 400. II, a,
8. 112 ff. 142.) Sehr zutreffend bemerkt daher Riehl später anderwärts
(Viert, f. wiss. Phil. II, 216 ff.): „Den Begriff einer ursprünglichen Er-
werbung dürfte wohl Niemand für eine Lösung der psychologischen Frage
halten; auch gebraucht ihn K. thatsächlich mehr als Gleichniss, wie als
Erklärung.«
Eine ähnliche Stellung zum Angeborenen nimmt nun auch schon
Cohen ein. Er hat die Frage, wie sich das Apriori zum Angeborenen ver^
halte, besonders bei den Anschauungsformen, sehr eingehend behandelt;
1. Aufl. S. 1—3. 87—105. 2. Aufl. 29 ff. (über Cartesius; dazu vgl. Natorp,
Descartes 110 ff.) 43 ff. (über Locke) 70 ff. 90 ff. 160. 195-238. 252 ff. 372.
Er stellt das Problem auf: »Was würde der Leser auf die Frage antworten:
Sind Raum und Zeit nach K. angeboren?" Auch er hat zwei ganz ver-
schiedene Antworten auf die Frage. Wer das Apriori richtig versteht, weiss,
dass dasselbe mit dem Angeborenen gar nichts zu schaffen hat. Die Gleich-
setzung beider Termini verfehlt vielmehr das Verständniss des Apriori. Die
Bestimmung des Angeborenen stammt aus einer vorkantischen Fassung des
Problems der Erkenntnisslehre. Die Frage: angeboren oder erworben? ist
eine vorkritische Disjunction, welche Kant überwunden hat. (195. 196. Vgl.
Cohen, Ks. Ethik, S. 26.) Denn Kant versteht im tiefsten oder höchsten
Sinne unter seinem Apriori „die formalen oder constituirenden Bedingungen
der Erfahrung", aber wohlgemerkt nicht die psychologischen Bedingungen
derselben in uns, sondern die logischen Voraussetzungen derselben an sich.
Dieses Apriori ist nicht äquipollent mit dem Angeborenen, deckt sich nicht
mit ihm (215). Es kümmert uns daher gar nicht, ob angeboren oder nicht:
was wir zur Herstellung der Erfahrungseinheit brauchen, das ist A priori (255).
Das ist „der schlichte transcendentale Standpunkt*' (230). Wer dagegen
„die Tendenz der K.'schen Lehre in der Richtung des Angeborenen ver-
folgt" (237), „verfehlt das Verständniss des Apriori" (196). Als warnende
Beispiele solchen Miss Verständnisses werden gebrandmarkt: J. B. Meyer
(Ks. Psychol. 131), Lotze (Metapb. 202), Helmholtz (Thats. d. Wahrn. 62).
Während nach dieser Darstellung die Bestimmung „angeboren" „in
bündiger Weise aus der Kantischen Lösung ausgeschlossen wurde" (196),
Cohen kommt doch wieder auf das , Angeborene" zurück. 99
gibt Cohen noch eine ganz andere Darstellung, nach welcher das Apriori
doch wieder als „angeboren^' zu bezeichnen ist, natürlich nur der Anlage
nach, nicht als fertige Vorstellung. Jene Kantische Stelle aus der Ent-
deckung ist doch zu deutlich, als dass sie ohne Weiteres wegzudisputiren
wäre. Aber es ist belehrend zu sehen, wie Cohen diese neue Darstellung
mit der vorigen zu vereinigen sucht. Er schlägt dazu nicht weniger als
drei Wege ein, die natürlich bei ihm selbst unmerklich mit einander ab-
wechseln oder in einander übergehen, deren Verschiedenheit aber vor schärferer
Analyse sich nicht verstecken kann. Einer der drei Wege wird nur an-
deutungsweise eingeschlagen (253 f.) : Kant habe sich in jener Stelle der
„Entdeckung" aus pädagogischen Gründen so ausgesprochen; einem Eberhard
gegenüber sei diese Auffassung seines Apriori als „Zugeständnisse zweck-
mässig gewesen. Der zweite Weg führt zu der Auffassung, Kant habe eben
erst allmälig den strengen Begriff des Transscendentalen entwickelt; in der
Dissertation von 1770 fehle das kritische Apriori noch gänzlich; in der
Transsc. Aesthetik sei es noch nicht ganz zum Durchbruch gekommen ; erst
in der Analytik, und zwar eigentlich erst in der 2. Aufl. derselben sei Kant
zum vollen Bewusstsein seiner Entdeckung gelangt (195. 217. 253). So
erkläre sich Kants „Schwanken" hierin genügend, so, wenn er im Anfang
der Aesthetik von den „im Gemüth bereit liegenden Formen" spreche, so,
wenn er in der Schrift gegen Eberhard in die Schulsprache der alten Meta-
physik zurückfalle. Aber noch einen dritten Weg schlägt Cohen ein, und
auf diesem gewinnt nun das vorher von ihm so verschmähte und geschmähte
„Angeborene" auch bei ihm einen positiven Sinn. Wenn man jenes trans-
scendentale Apriori psychologisch betrachte — und diese psychologische Be-
trachtung lasse sich eben doch nicht umgehen — dann stelle es sich uns
dar als das „Ursprüngliche", das sich „der entwicklungsgeschichtlichen
Genese entziehe und als etwas Letztes und Eigen thümlich es anzuerkennen
sei" (198). Diese „ursprünglichen Elemente unseres Bewusstseins" (199. 202)
werden dann weiterhin zweitens erkannt als „die ursprüngliche Thätigkeits-
form unserer Sinnlichkeit" (213). Bei diesen beiden Auffassungen, die auch
als Vorstufen des eigentlichen transscendentalen Apriori im strengen Sinne
charakterisirt werden, besteht nun nach S. 214 ja allerdings „der Schein
der Identität des Apriori mit dem Angeborensein"; aber nach S. 254 darf
diese letztere Bezeichnung doch „getrost" angewendet werden — und damit
sind wir wieder bei der vorher so verschmähten, ja verspotteten acquisitio
originaria, bei dem „angeborenen Grund" Kants, bei der lex menti insUay
conncUa angelangt, wie Robinson.
Diese Rückkehr zu den ursprünglichen Kantischen Bestimmungen ist
nur zu billigen. Ohne dieses Einlenken stünde nicht nur das Apriori gar
zu sehr in der Luft, sondern ohne dasselbe wäre auch die Differenz
von Kant gar zu auffallend, und so wollen wir es als das Ergebnis»
dieser trotzdem anregenden und gedankenreichen Ausführungen Cohens
und Riehls betrachten, dass das Apriori Kants eben doch unleugbar
mit dem Angeborenen grosse Verwandtschaft besitze ; mag auch die Transsc.
<^l;;:""^
V. *-^'
100 Excurs. Verhältniss des Apriori zum Angeborenen.
Analytik uns später zu einer anderen Ausbildung der Aprioritätslehre bei
Kant fuhren, die Aesthetik zeigt dieses ihr fremde Element noch nicht im
Geringsten; ihr ist das Apriori mit dem Angeborenen im Wesentlichen
identisch.
Ganz in diesem Sinne bemerkt durchaus zutreffend Volkelt, Ks. £rk.
231 ff.: „Wir dürfen es als unk antisch zurückweisen, wenn gewisse Kant-
forscher von dem Apriori das Merkmal der psychologischen Ursprünglichkeit
fernhalten." ^ „Dies alles sind Unterscheidungen, die Kant nicht kennt. Es
ist ein überscharfsinniges Missdeuten seiner Bestrebungen, die Ansicht
dass die apriorischen Vorstellungen der Empfindung ihren Ursprung ver-
danken, für verträglich mit seiner Aprioritfttslehre zu halten." Also diese
„überkritische Wegdeutung alles Angeborenen'' ist unkantisch. Vgl. des-
selben „Erfahrung und Denken" S. 493 ff. über das Verh<niss des „erkennt-
niss-theoretischen und des psychologischen Apriori". Vgl. jetzt auch die
durchaus zutreffenden Ausführungen von Stumpf, Psychologie und £rk.-
Theorie, München, 1891, S. 27—29.
Diese Auffassung stimmt denn auch vollständig überein mit der Auf-
fassung Liebmanns, welcher hier in erster Linie gehört zu werden das
Recht hat. In seiner „Analysis der Wirklichkeit" (1. A. 1876, S. 191—240
„Die Metamorphosen des Apriori") hat derselbe die beiden Seiten des Kanti-
schen Apriori, von welchen Cohen und Riehl die Eine, die psychologische,
so gerne eliminiren möchten , als gleich nothwendig anerkannt , und bean-
sprucht damit auch, den „Geist" der Kantischen Lehre wiederzugeben. Er
zeigt, dass das Kantische Apriori einerseits eine Fortbildung der Leibniz'schen
angeborenen Ideen ist, andererseits einen neuen selbständigen Inhalt besitzt
als „Grundnormen des erkennenden Bewusstseins". In jenem Sinn kommt
dem Apriori eine „individuell-psychologische", in diesem eine „metakosmisch-
transscendentale" Bedeutung zu. „In jener Hinsicht können die Erkennt-
nisse a priori nach wie vor mitLeibniz als eotmaissafices viritteües und
idSes innies bezeichnet werden."
Weitere theils historische, theils systematische Ausfuhrungen über
dieses Thema s. z. B. J. Horowicz, De Aprioriiatis Kaniii in philosophia
prineipio, et in quo quum cum dognuUicarum dodrinarum de innatis ideis
principiis congruat, tum ab iis di ff erat. Königsb. Diss. 1872, 16—24. 31 ff.;
Fischer, 3. A. 345; Lotze, Logik § 824 ff.; Classen, Einfluss Kants, S. 41. 69;
Witte , Vorstudien 72 ff. ; derselbe in den Philos. Monatsh. 1881 , 602-613
über das „virtuelle Apriori"; v. Leclair, Krit. Beiträge, S. 1 — 24; Eucken,
Gnindbegr. d. Gegenwart 69 — 78; Lasswitz 174; Volkmann, Psychol.II, 282 ff.:
Engelmann, Ding an sich, S. 19 ff. 29; Aug. Müller, Grundl. d. K. 'sehen
Philos. in der Altpr. Mon. VI, 5 u. 6; bes. auch Spaventa, Kant e V em-
pirismo, 1880, Masci, Le forme deW intuitione, 1881, S. 67; Tocco, Feno-
msni et nomneni, in der Filosofia delle ScuoU italiane, 1881, 12 ff. — Spencer,
* Volkelt wendet sich speciell gegen Cohen, femer gegen Stadler. Grunds.
32. 41. 59 f., und Harms, Phil. s. Kant 150 fi. 173.
^Rein* ,im transscendentalen Verstände*. 101
Princ, of Psychologe § 208, § 332 (deutsch I, 486 ff., II, 193) betrachtet das
Apriori (bes. die Baumvorstellung) als das Resultat der Vererbung: was
frühere Generationen erwerben mnssten, sei den jetzigen schon angeboren.
[R 32. H 56. E 72.] A 20. B 84.
Ich nenne alle Yorstellongen rein u. s. w. Ueber die verschiedenen
Bedeutungen des Terminus „Rein" s. den Ersten Band dieses Commentars
169. 195. 211, 312. 451. Zwei Bedeutungen von „rein" wurden dort bei
Kant festgestellt: a) rein = unabhängig von Erfahrung; b) rein = un-
gemischt mit Erfahrung. Der Ausdruck „rein" ist hier neutral gebraucht
und bezieht sich wohl auf jene beiden Bedeutungen, um so mehr, als diese
beiden Bedeutungen bei Vorstellungen zusammenfallen, während sie bei
Urtheilen auseinanderfallen können. In der Parallelstelle der Dissertation
§ 12 wird purus durch sensationibus vacuus erklärt. Was der Zusatz:
„im transscendentalen Verstände" besagen solle, ist nicht ohne Weiteres
klar. Kant gebraucht auch sonst diese Wendung, so A 266. An dieser
Stelle dürfte der Zusatz wohl sagen wollen, dass der Ausdruck „rein'' nicht
etwa im moralischen Sinne oder sonst einem Sinne zu verstehen sei, nicht in
dem Sinne , wie ihn die Ethik , Aesthetik , Chemie oder andere Wissen-
schaften gebrauchen, sondern in derjenigen Bedeutung, welche dieses Wort
„rein'' in der Theorie des Apriorischen hat und haben muss: denn
das ist ja, wie Comm. I, 467 ff. festgestellt wurde , zunächst der Sinn des
Ausdruckes „transscendental". Dieser Unklarheiten halber ist Gr. Knauer
recht zu geben, welcher (Conträr und contrad. S. 4) den ganzen Satz weg-
wünscht.
Cohen (1. A. 45, 2. A. 155) hat in den Zusatz wieder wunderliche
Andeutungen hineingelegt: „Fasst man diese Abstractionen reiner, von allem
Empfindungsinhalte freier Vorstellungen in der derben Realität leerer Gefässe,
welche im Gemüthe zum Hineinschütten bereit liegen, dann beachtet man die
Parenthese nicht: im transscendentalen Verstände, in welchem nämlich nur
nach der Möglichkeit der apriorischen Erkenntnissart gefragt wird, und in
welchem bereits das Lösungswort: — Erscheinung hindurchschimmert."
Was Cohen mit diesen dunkelklingenden Worten will, geht aus dem
hervor, was er vorher und nachher sagt. Darnach will er eben beweisen,
Kant verstehe unter „reinen Vorstellungen" nicht im Gemüth fertig bereit-
liegende Formen, die als Organe zur Aufnahme der Empfindungen dienen,
sondern er verstehe darunter eben blosse erlaubte Abstractionen aus dem
Ganzen der Erscheinung, die aber für sich keine eigene Existenz haben.
Auch den zweiten Satz sucht Cohen in seinem Sinne auszudeuten.
Besonders gefällt ihm, dass hier nicht von der „ordnenden" Form die Rede
ist: „also nicht mehr geordnet, sondern angeschaut wird das Mannig-
faltige der Erscheinungen in der reinen Form sinnlicher Anschauungen."
Aber die „ordnende Form" ist ja, wie wir sahen, durch andere Stellen
garantirt. Darum ist es auch irrig, wenn Cohen daselbst fortfährt: „Der
Act der Anschauung selbst wird Form genannt, die Form und Methode der
102 § 1- Einleitung.
A 20. B 84. [R 82. H 56. E 72.]
reinen Anschauung/' Sondern Kant sagt vielmehr: der Act der Anschauung
vollzieht sich, indem wir das Mannigfaltige der Erscheinungen in jener
reinen Form in gewissen Verhältnissen anschauen. Die Form bleibt eben
immer doch das Geföss, in welchem wir dem Mannigfaltigen erst Ordnung
zu geben im Stande sind.
Nachdem nun in den beiden ersten Sätzen die Apriorität der Form
betont worden ist, wird in den folgenden deren Anschauungsnatur ins
Licht gestellt.
Reine Anschauung. Dass Kant hier von ,,reiner Sinnlichkeit'\
,, reiner Anschauung" spricht, das ist uns zwar heute geläufig, diese Zu-
sammensetzung hat aber damals die lebhaftesten Bedenken hervorgerufeD.
Da man Anschauung allgemein auf Empfindung zurückführte, so wandte man
ein, der Begriff einer reinen Anschauung sei in sich widerspruchsvoll. Sowohl
die Anhänger von Leibniz als die von Locke erhoben daher lebhaften Wider-
spruch gegen Begriff und Ausdruck der reinen Sinnlichkeit, der Sinnlichkeit
a priori u. s. w. Im Namen jener sprach sich schon Pistorius, A. D. B.
105, I, 29 gegen dieses „Surrogat der Wahrnehmung" aus, und nachher hat
besonders Eberhard die ganze Theorie heftig bekämpft: denn für die Leib-
nizianer war nur der Verstand ein rationales Vermögen, und die Sinnlich-
keit nur eine Trübung der ratio pura. Eine settsuälitas pura, ein intuitus
purus war ihnen daher ein Greuel, während diese Zusammensetzung den
Anhängern Locke's eine Thorheit erschien, da es für sie keine reine Er-
kenntniss, am allerwenigsten aber reine Sinnlichkeit geben konnte. Im
Namen der Letzteren sagt z. B. Seile, De la realiU 587, in einer anderen
Sprache, z. B. im Französischen wäre eine solche Verbindung gar nicht
möglich. Denn dort erinnere sensibilit^ sofort an Sensation, Empfindung,
und ein empfindungsfreies Empfindungsvermögen sei Unsinn. Dagegen im
Deutschen sei das Wort Empfindung nicht von demselben Wortstamme wie
Sinnlichkeit (das Vermögen der Empfindung) und nur desshalb habe Kant
jene Zusammensetzung wagen können ^ Besonders scharfe Kritik auch bei
Gruppe, Wendepunkt, 246 ff., 368: Anschauung a priori sei eine contra-
dictio in adjecto u. s. w. Vgl. Tourtual, Die Sinne, 22. Volkmann.
Psych. 3. A., II, 116 bemerkt treffend: um das erkenntnisstheoretische
Problem zu lösen, fingire Kant mit der reinen Anschauung einen psycho-
logischen Begriff, durch den er alle weiteren Untersuchungen mit Einem
Male abschneide. Aehnlich Riehl unten S. 106.
Die Anhänger Kants nahmen ihn gegen solche Angriffe in Schutz.
Eine in ihrer Art vortreffliche Erörterung über die reine Sinnlichkeit
enthalten die ., Briefe'* Reinholds I, 308 ff., wo er zu zeigen versucht, dass
* Denselben Voni'urf erhebt Herder, wenn er (Suphan XXII, 334, hand-
schriftlich) Ks. ,.Transsc. Aesthetik* umschreibt durch: ,.eine übersinnliche, allem
Gefühl entnommene Gefühlslehre'. — Vgl. Reimarus, Menschl. Erk. 17 und
dagegen A. L. Z. 1788, IV, 833.
Die , reine Anschauung". 103
[R 32. H 56. K 72.] A 20. B 34.
die Sinnlichkeit nicht bloss als empirische, sondern auch als reine, d. h. „ohne
Reizbarkeit der Organisation" zu denken sei. Weiteres über die reine An-
schauung sowie über die ganze Stelle, s. Mellin I, 264 ff., 703. Vgl. auch
Körner im Briefwechsel mit Schiller II, 56. Uebrigens hat auch Schopen-
hauer den Ausdruck reine Sinnlichkeit bemängelt (W. a. W. I, 13), „da
Sinnlichkeit schon Materie voraussetzt". Er hat daher Raum und Zeit dem
Verstände (Intellect) zugewiesen, dagegen den Ausdruck „reine Anschauung"
ohne Skrupel beibehalten. Ueber die „Rangerhöhung der Sinnlich-
keit" zur „reinen" s. auch Cohen, 2. A. 88—100. 107—114. 117. 151.
167. 169. 170. 173. 176. 193. 209-211. 329. 344 ff. 605. Derselbe über
die „reine Anschauung" 217 ff. 228. 231—234. 237 f. 347. 586. Vgl.
Natorp, Descartes, S. 151. Statt „reine Anschauung" will Witte, Vorstudien
S. 80, lieber setzen: unmittelbare Gesammt-Vorstellung. Vgl. auch Lotze,
Logik, § 357.
Eine beachtenswerthe, bis jetzt aber nicht hinreichend beachtete Er-
gänzung seiner Lehre von der reinen Anschauung bietet Kant B 207 in der
Einleitung zu den Antecipationen der Wahrnehmung: „Vom empirischen
Bewusstsein zum reinen ist eine stufenartige Veränderung möglich, da das
Reale desselben ganz verschwindet und ein bloss formales Bewusstsein
(a priori) des Mannigfaltigen in Raum und Zeit übrig bleibt: also auch
eine Synthesis der Grössenerzeugung einer Empfindung, von ihrem Anfange,
der reinen Anschauung = 0 an, bis zu einer beliebigen Grösse der-
selben". Vgl. Cohen, 2. A., 435. Anthropol. § 17 definirt Kant die reine
Anschauung als „unmittelbare Vorstellung des gegebenen Objects ohne bei-
gemischte merkliche Empfindung" und meint, dass unter allen Sinnen der
Gesichtssinn derselben am nächsten komme.
Die reine Form der Sinnliehkeit als reine Anschauung. Aus diesen
und den folgenden Bestimmungen entsteht eiüe nicht unerhebliche Schwierig-
keit: Kant sprach bisher von der Form, in welcher wir das Mannigfaltige
anschauen; als Anschauung wurde gleich am Anfang der tr. Aesthetik
diejenige Vorstellung bezeichnet, welche sich auf die Gegenstände unmittelbar
bezieht. Von der Form dieser Anschauung war nun in den vorhergehenden
Sätzen die Rede. Wie kann nun die Form unserer Anschauungen
selbst auch als eine Anschauung bezeichnet werden? Zumal da diese
reine Anschauung, auch ohne wirklichen Gegenstand, im „Gemüthe statt-
findet", also sich überhaupt nicht auf einen Gegenstand zu beziehen braucht?
Schon die ersten Kantianer haben diese Schwierigkeit gefühlt. So sagt
Schmid in seinem Wörterbuch S. 59; „Die reine Form ist zwar im Be-
wusstsein jedesmal mit einer gegebenen Materie verbunden, kann aber auch
abgesondert von dieser, in abstracto betrachtet und noch immer Anschauung
genannt werden, weil sie einen Bestandtheil des Anschaulichen ausmacht.**
Dieser Grund würde aber doch verständigerweise vielmehr jene Bezeichnung
verbieten: Niemand wird doch dem Theil und dem Ganzen denselben Namen
geben. — Einen anderen Grund gibt Schulz in seinen Erläuterungen S. 20
104 § 1. Einleitung.
A 80. B 84. [B 32. H 56. E 72.]
an: ,,Da die Form der Erscheinung vor aller Empfindung vorhergehen
muss, so muss sie eine Vorstellung a priori sein, die bereits in unserem
Gemüthe selbst liegt, und da sie sieh auf die zu empfindenden Gegenstände
unmittelbar bezieht, so muss sie auch selbst Anschauung sein." Allein
auch dieser Grund erregt Bedenken : die reine Form der Anschauung braucht
sich ja, wie pachher ausdrücklich gesagt wird, auf gar „keinen wirklichen
Gegenstand" zu beziehen, „findet auch ohne einen solchen statt". Wir
können sie ja, wie Kant sogar A 42 sagt, „vor aller wirklichen Wahrneh-
mung erkennen und sie heisset darum reine Anschauung". Gerade also
der Umstand, dass sie eine reine Anschauung ist, und sich zunächst auf
gar keinen Gegenstand bezieht, schliesst jene Erklärung von Schulz aus,
welche auch Arnoldt, R. u. Z. 111 zu haben scheint, wenn er die reine An-
schauung sich auf empirische Objecte beziehen lässt. Kant hat eben jene
Definition der Anschauung, dass sie sich auf ihren Gegenstand unmittelbar
beziehe, offenbar nur auf die empirische Anschauung gemünzt, von welcher
er in jenem Zusammenhange allein sprach, '(Vgl. Pflüger, Aesth. 6.
Hehmke, Welt, 29. Cohen, 2. A. 109.) Auf die reine Anschauung will
jene Definition nicht recht passen; zwar muss sich diese, wenn sie über-
haupt auf einen Gegenstand bezogen wird , auf denselben auch unmittelbar
beziehen; aber sie braucht doch, weil sie vor allen Gegenständen und
ohne solche möglich ist (vgl. oben S. 86 ff.) überhaupt zunächst auf keinen
Gegenstand bezogen zu werden (vgl. Proleg. § 8). Auch nach dem Brief
an Reinhold vom 12. Mai 1789 (R. XI, 98) ist bei der reinen Anschauung
„kein Object gegeben".
Sogleich der Schluss dieses Absatzes besagt ja aufs deutlichste, dass
diese reine Anschauung auch „ohne Empfindung" „im Gemüthe stattfindet",
auch „ohne einen wirklichen Gegenstand" in uns vorhanden ist. Diese
Form ist also nicht bloss etwas künstlich erst aus der Erscheinung Abstra-
hirtes, was nur an der Erscheinung stattfände, wie Cohen willkürlich aus-
legt, sondern sie ist etwas für sich allein, unabhängig von der Materie
und vor aller Erscheinung in uns Existirendes. und zwar ezistirt in uos
vor allen Erscheinungen nicht nur etwa bloss die potentielle Form, so dass dann
die mathematische reine Anschauung erst eine Folge späterer Abstracüon
aus den durch jene Form geformten empirischen Anschauungen wäre — so
könnte man etwa die Stelle A 26 auslegen wollen, wo es heisst, dass die
reine Anschauung da ist, „wenn man von den Gegenständen abstrahirt" (so
Arnoldt, Raum und Zeit, S. 27), — sondern es liegt in uns schon von
vorneherein eine fertige, actuelle Anschauung, wie schon oben S. 82 ff. be-
wiesen worden ist. Vgl. A 52 und A 373 ; ganz genau äussert sich ja Kaut
schon in der Dissertation, § 12: Raum und Zeit, die objeda der Maihisis
pura, sunt omnia intuitt4S non solum principia fonnalia, sed ipsa inUtiius
originarii; sie sind also eben nicht bloss Formen der Anschauung, sondern
zugleich auch schon Inhalte solcher, nicht bloss Erkenntnissbedingungen,
sondern auch schon Erkenntniss gegen stände. Es wird uns in diesem
Die Anschauungdformen sind zugleich anschauliche Vorstellungen. 105
[B 82. H 56. E 72.] A 20. B 84.
Sinne nach B 805 „durch die reinen sinnlichen Formen ein Object gegeben'^
und in diesem Sinne ist auch im letzten Absatz dieses § 1 die eigenthüm-
liche Zusammenstellung zu verstehen: „Wir werden alles, was zur Empfin-
dung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die blosse
Form der Erscheinung übrig bleibe."
Die Anschauungsformen werden also auch in diesem Zusammenhange
(wie oben S. 80) ganz unzweideutig als actuelle Vorstellungen gefasst,
und nicht bloss als potentielle Anlagen. Diejenigen, denen diese Thatsache
unbequem ist, suchen sich über die Stelle durch allerlei Deutungen hinweg-
zuhelfen; so sagt Cohen, 2. A. 204, „der B. sei nicht sowohl selbst Vor-
stellung, als Vorstellungsmitter' ; und (1. A. 46; 2. A. 156): „So sehr ist Kant
bei der yorläufigen Bestimmung dieser . . . Gedanken frei von der Annahme der
Form als eines Organes, einer Kraft im Gemüthe, oder eines substantialisirten Be-
hältnisses in der Seele, dass er ganz unbefangen die Form der Sinnlichkeit,
welche im Gemüthe bereit liegen soll, mit der Anschauung selbst gleich-
setzt ... die Anschauung, auch die reine, entsteht." (V^gl* oben S. 82.)
Gerade diese letztere Behauptung wird von Cohen ohne Beweis hingestellt.
Nach dieser Stelle ist die Form im Gemüthe schon da, braucht nicht erst
zu entstehen, und eben weil sie schon da ist, kann sie Kant eine An-
schauung nennen, welche immer etwas Buhendes und Fertiges bedeutet.
Der Inhalt dieser ruhenden Anschauung ist eben der mathematische Baum.
Dies ist auch einzuwenden gegen Beinhold's Bemühungen (Th. d. Vorst.
389 fif.), die lästige „reine Anschauung*' ganz zu eliminiren. Nicht der
Raum selbst sei schon eine Anschauung, sondern nur die bewusste Vor-
stellung vom Baume ; jene sei nur eine potentielle Form. Dasselbe gilt
gegen Beck's analoge Bestrebungen, der Baum und Zeit nicht als reine
Anschauungen, sondern als ursprüngliches Anschauen selbst fasst (vgl.
Jacob's Annalenll, 88). Dies ist Correctur, nicht Interpretation. A. Krause,
Kant wider K. Fischer, S. 89. 56 sucht sich zu helfen durch Unterscheidung
des Doppelsinnes von Anschauung: „Die Wörter auf ung im Deutschen be-
deuten sowohl die Thätigkeit als deren Product. Die reine Form der Sinn-
lichkeit ist kein Gegenstand, sondern eine Fähigkeit.*' Ebenso Cohen,
Infin. Methode, S. 17 — 20: „Die Anschauung darf als nichts Anderes gedacht
werden, denn als Anschauen.'* Vgl. ib. 106 — 107, 124 ff. Dass K. aber
diese beiden Bedeutungen von Anschauung mit einander confundire, hat
schon J. E. Erdmann, G. d. n. Phil. III, a, 55 bemerkt. Vgl. oben S. 33 f.
Biehl, Krit. I, 345 erläutert apologetisch den Ausdruck „reine An-
schauung" mit folgenden Worten: „Eine Vorstellung, die ihrer Natur nach
zu den sinnlichen Vorstellungen gehört, ohne doch Empfindung zu ent-
halten, ist formale oder reine Anschauung. Der Ausdruck reine An-
schauung soll diese Vorstellung nach zwei Seiten hin begrenzen: er soll
sie von der Empfindung unterscheiden, dem Inhalt der empirischen Anschau-
ung, und von der begrifflichen Vorstellung, deren Wesen die Allgemein-
heit bildet." Anschauung bedeutet also Nicht -Empfindung und Nicht-
106 § 1. Einleitung.
A 20. B 84. [R 82. H 56. E 72.]
BegriflP, aber sie bedeutet keineswegs die Vorstellung eines Bildes oder Ge-
fässes. Derselbe macht aber I, 353 folgende Einwände gegen den Terminus,
in welchem er II, a, 106 die Einführung einer „neuen psychologisch unfass*
baren Vorstellungsciasse" sieht: „Der Ausdruck reine Anschauung hat,
vom Baumschema gebraucht , unleugbar etwas Künstliches , da wir nicht
dieses Schema selbst anschauen, sondern nur in der Anschauung bethätigen
und ihm gemäss Anschauungen einheitlich verknüpfen/' Und weiter 354:
„Das Schema des Baumes kann so wenig wie das der Zeit eigentlich an-
geschaut werden, da es Bedingung, nicht Gegenstand einer An-
schauung ist. Zur Bezeichnung der Vorstellung einer blossen Form
erscheint der Ausdruck unpassend." (Riehl sucht denselben dann zu erläutern
durch den auch sonst von B. u. Z. gebrauchten Ausdruck einer „blossen
Idee"; das hat aber nichts mit einander zu schaffen. Vgl. darüber unten
zu A 25.) Bichtig hat schon Holder, Darst. 12 gesehen, dass für Kant
hier die Form der Anschauung eben als eine für sich construirbare
selbständige anschauliche Vorstellung gilt. A dickes 68 N bemerkt: „Auch
hier zeigt K. sich wieder als echter Bationalist, indem er nicht nur eine
apriorische Form der Anschauung annnimmt, sondern auch eine apriorische
Erkenntniss dieser apriorischen Form, die reine Anschauung." Besonder
scharf hat Spencer, Psych. § 399 (Deutsch II, 364 ff.) sich dagegen aus-
gesprochen, dass nach Kant der Baum nicht bloss Form der Anschauung,
sondern auch Inhalt einer solchen sein solle. Auch Stumpf, Psych, u.
Erk.-Th. S 18 N. hebt diesen Widerspruch Ks. hervor.
Dass Kant selbst auch diese Schwierigkeiten gesehen hat, beweist eine
wenig beachtete * Anmerkung in der zweiten Bearbeitung der Deduction,
welche , wie man wohl vermuthen darf, auf Einwände des mathematisch
geschulten Erläuterers Schulz zurückzuführen sind, der ja, wie wir eben
sahen, hierin mit Becht Schwierigkeiten fand. In der Anmerkung zu B 160
unterscheidet Kant genau zwischen „Form der Anschauung' ' und „for-
maler Anschauung", und identißcirt diese letztere „anschauliche Vor-
stellung" ausdrücklich mit dem ,,Baum als Gegenstand vorgestellt, wie man
es wirklich in der Geometrie bedarf. Dieser Unterschied wird dort als
schon in der Aesthetik gemacht vorausgesetzt, aber seine Erklärung werde
nun erst in der Analytik gegeben. In Anlehnung an die sonstigen Be-
stimmungen der Analytik (insbesondere auch an die Lehre vom inneren
Sinn und vom Verstand , s. Proleg. § 38) wird ausgeführt , dass jene Form
der Anschauung als solche „bloss Mannigfaltiges" enthalte und dass es erst
einer Zusammenfassung dieses Mannigfaltigen zur Einheit bedürfe und zwar
durch den Verstand ; erst dadurch entstehe, wie jede andere Anschauung,
so auch jene anschauliche Bauravorstellung. Auf diesen synthetischen
* Gegenüber dem Einwand Jacobi's. \V. W. III, 77. 78, dass Kant hier ganz
Verschiedenes confundire, haben schon Hegel und J. E. Erdmann, Gesch. d. n.
Phil. III, a, 57 auf diese Stelle hingewiesen.
„Form der Anschauung*^ und «formale Anschauung'^. 107
[R 32. H 56. E 72.] A 20. B 85.
Prozess ist ausführlicher noch unten einmal beim vorletzten Raumargument
zurückzukommen. (Vgl. dazu auch die belehrenden Bemerkungen von
B. Erdmann, Kants Reflexionen II, S. 110 f.) So viel geht schon hier
hervor, dass Kant in der ersten Auflage in der Aesthetik (deren Wortlaut
er hierin aber auch in der zweiten Auflage stehen Hess) ohne Weiteres
sorglos „Form der Anschauung*' und „Anschauung" selbst identiflcirt hatte
— eine Identification, die sich auch ausdrücklich in der Anmerkung zur
zweiten Antithese, A 429 ff. findet — , während er in der zweiten Auflage
beides erst genauer scheidet. Auch in der Gegenschrift gegen Eberhard,
Ros. I, 444 f. macht er denselben Unterschied in ähnlicher Weise. Eb.
hatte es zweifelhaft gefunden (Mag. I, 391), ob Kant unter Form der
Anschauung die Schranken der Erkenntnisskraft (d. h. in Kantischer
Sprache: die Receptivitätsform der Sinnlichkeit) oder die Bilder von R. u.
Z. verstehe (d. h. eben die anschaulichen Vorstellungen von R. und Z. selbst).
Kant findet diesen Zweifel „erklärlich", erklärt sich aber ausdrücklich dahin,
dass er nur das erstere, nicht das letztere darunter verstanden habe. Nur
jenes sei angeboren, der erste formale Grund der Möglichkeit einer Raumes-
anscbauung, nicht die Raumvorstellung selbst; diese sei erst erworben.
(Vgl. oben S. 91 f.) Diese Stellen scheinen die Auffassungen von Cohen
und Riehl zu bestätigen; aber sie beweisen nur, dass Kant sich wieder
einmal widersprochen hat. Diesen fundamentalen Widerspruch Ks. in Bezug
auf die Apriorität des Raumes haben wir ja schon oben S. 88 hinreichend
erörtert, und werden auf denselben noch mehrfach stossen, besonders beim
vorletzten Raumargument. Vgl. auch F. A. Lange, Log. Stud. 132 fp.
Durch diese Identification der Form der Anschauung mit der
reinen Anschauung, dem Gegenstand der Mathematik, entsteht ein eigen-
thümliches Doppel verhältniss der „reinen Anschauung" zur empirischen.
Auf der Einen Seite steht die reine Ajischauung qua Gegenstand der
Mathematik in vollstem Gegensatz zur empirischen Anschauung,
aus welcher niemals die apodiktischen Sätze der Mathematik abzuleiten
wären; dieser Gegensatz wird ausdrücklich betont, z. B. in der transsc.
Erörterung des Raumes und in der zweiten Hälfte der Ersten all-
gemeinen Anmerkung zur Aesthetik. Auf der anderen Seite aber bildet
die reine Anschauung qua Form der Sinnlichkeit einen Bestandtheil
der empirischen Anschauung; in diesem Sinne ist es möglich, dass,
wie gleich hier sowie im letzten Absätze dieses Einleitungsparagraphen
ausgeführt wird, aus der empirischen Anschauung die reine Anschauung,
die doch eigentlich ihr Gegentbeil ist, herausgezogen werden kann. Man
kann dieses eigenthümliche Doppelverhältniss auch dahin dcfiniren, dass der
Gegensatz der reinen Anschauung im ersten Fall ist die ganze Erscheinung,
im zweiten die halbe, die Materie derselben.
Die Absonderung der reinen Anschauung aus der Torstellung
des Körpers. Kant gibt nun sofort eine Erläuterung des Gesagten: er
will erhärten, dass die Form der Anschauung wirklich als eine besondere
108 § 1- Einleitung.
A 20. B 35. [R 32. H 56. E 72.]
reine Anschauung in unserem Oemüthe bereit liegt. Zu diesem Zwecke
analysirt er „die Vorstellung eines Körpers^' in einer Weise, welche Holder,
Darst. S. 9 in folgender Weise hübsch umschreibt: „Haben wir aus dem
Gesammtinhalt unseres Bewusstseins unsere Anschauungen dadurch aus-
geschieden, dass wir von all dem absehen, was erst durch denkende Re-
flexion entstanden ist (von allen Begriffen), so dürfen wir nur weiter von
dem abstrahiren, was sich uns unmittelbar zu empfinden gibt, um die Form
uuserer Anschauungen rein für sich vor uns zu haben." Es sind, genauer
gesagt, 3 Elemente, welche Kant in „der Vorstellung" des Körpers scharf
unterscheidet, eine Unterscheidung, welche er auch in der Einl. B 5, 6 (vgl.
A 106) schon getroffen hat (vgl. Comm. I, 223). Diese 3 Elemente, welche
durch successive Abstraction gewonnen werden, sind, der von Kant selbst
eingehaltenen Reihenfolge nach, folgende:
1) Logische Elemente,
2) Empfindungselemente,
8) Beine Anschauung.
Genau dieselben Elemente, in derselben Reihenfolge, auch unten am
Schluss des § 1.
Sachlich richtiger und übersichtlicher ist folgende Eintheilung:
I. Empirische, materielle Elemente (Empfindungen, Undurch-
dringlichkeit*, Härte, Farbe u. s. w.).
II. Reine formelle Elemente:
a) ästhetische, d.h. die Anschauungsformen, nebst Ausdehnung,
Gestalt u. s. w. ;
b) logische, d.h. die Verstandesformen (Substanz, Kraft, Theil-
barkeit u. s. w.).
Mit den ästhetischen Elementen hat es die transsc. Aesthetik, mit den
logischen die transsc. Analytik zu thun ; bei dem Begriff der Substanz
liegt das auf der Hand ; „Kraft' ^ geht zurück auf die Causalitätskategorie;
„Theilbarkeit*' ist wohl zurückzuführen auf das „Axiom der Anschauung"
(A 162 ff.).
Die Unterscheidung jener 3 Elemente in der Vorstellung des Körpers
und überhaupt aller empirischen Gegenstände ist ganz fundamental.
Um in den Sinn der K. 'sehen Erkenntnisstheorie einzudringen, ist es noth-
wendig, diesen Unterschied stets im Auge zu behalten. Vgl. dazu W^olff.
Zus.hang uns. Vorst. u. s. w. 138 f. Gegen die Stelle bes. Spicker,
Kant 25 f. Nach Schneider, Entw. d. Aprior. 27 „spiegelt sich in diesen
^ Mo Cosh in seinem CfHticisnt of the crit. phil. 23 erhebt hierzu den Einwand:
y,It IS raiher stränge to find impenetrahility here, as ü implies both extention
and force, which, in his System, are supposed to he imposed a priori by the mind
itself^ Die Stellung der Undurchdringlichkeit bei Kant ist allerdings eine
schwankende; wo Kant seine Verwandtschaft mit Locke bespricht, Proh § 13»
Anm. II, wird dieselbe ausdrücklich nicht zu den Empfindungen, sondern zum Räume
gerechnet, wie dies allerdings auch bei Locke ähnlich der Fall gewesen war.
Auflösung des Körpers in lauter subjective Element«. 109
[B 82. H 56. E 72.] A 20. B 35.
yorlättUgen Definitionen der ganze Inhalt der Aesth. wieder." Vgl. Rehmke,
Welt 28 ff., 33. 175. Cohen, 2. A. 110.
Einen interessanten Einblick in die Entstehung dieser Unterscheidung
gewähren die Entwürfe Kants in den Reflexionen II, N. 274 — 278; sie
stammen aus dem Anfang der 70er Jahre; damals unterschied Kant
drei Stufen:
1) Empfindung,
2) Erscheinung,
3) Begriff.
Die Empfindungen werden „gegeben" und enthalten die „Materie
aller Erkenntniss" ; sie entstehen „durch Rührung der Sinne". Wenn die
Empfindungen geordnet werden nach der Form von Raum und Zeit, so ent-
stehen die Erscheinungen. Diese sind also Empfindungen verbunden
mit „intuitiver Form". Wenn nun wiederum diese Erscheinungen „durch
die Vernunft allgemein gemacht" werden, so entstehen Begriffe; wie oben
die „intuitive Form", so tritt hier die „rationale Form" hinzu.
Diese Entwürfe entsprechen ganz genau dem , was K. in der Disser-
tation § 4, 5 ausgeführt hat, woselbst, worauf auch Paulsen, Entw. 104
aufmerksam macht, folgende Stufenfolge der Bearbeitung der sinnlichen
Erkenntniss aufgestellt wird:
1) senaatiOf d. i die einzelne materiale Empfindung.
2) apparentia oder Erscheinung, d. h. die durch die ursprünglichen
Gesetze der sinnlichen Coordination geordneten Empfindungen (vgl. oben S. 32).
3) experientia oder Erfahrung, d. h. die durch den Intellect im
logischen Gebrauch auf Begriffe gebrachten und in ein System der Sub-
ordination eingeordaeten Anschauungen. Jede einzelne Erfahrung ist durch
diese 3 Proceduren hindurchgegangen. Ganz ähnlich wird auch in den
Fortsehr. der Met. Ros. I, 509 unterschieden zwischen Empfindung, Wahr-
nehmung, Erfahrung. —
Hiezu, zu dieser Analyse des Erfahrungsohjects, in lauter
subjective Elemente, gehört nun eine beachtenswerte Ausfuhrung von
Stadler, Reine Erk. 38: „Die Untersuchung geht naturgemäss aus von
der Ansicht des gemeinen Realismus, die den Gegenstand als wirklich
gegeben betrachtet. Der Ausgangspunkt wird Ursache einer Täuschung,
die sich mit der weiteren Reflexion, sogar nachdem sie als Täuschung ent-
hüllt ist, unauflöslich verkettet. WenÄ sich nämlich nach und nach alle
Bestimmungen des Objects als Bestimmungen des Subjects zu erkennen
geben, so erscheint das dem Verstände nicht als ein Auflösen des
Gegenstandes in das Bewusstsein, sondern nur als ein Ablösen der
Eigenschaften von einem realexistirenden Etwas. Zuletzt ist alles, was ihm
anhängt, abgepflückt, aber es muss doch das geblieben sein, dem es anhing.
Der Verstand vergisst, dass sein Object ja von Anfang an nur eine hypo-
thetische Existenz besass. Wie im Auge ein Nachbild bleibt, während der
Gesichtseindruck aufgehört hat, so dauert im Bewusstsein eine Vorstellung
110 § 1. Einleitung.
A 20. B 35. [B 32. H 56. E 72.]
fort, deren Gegenstand es selbst vernichtete. Gerade die Einsicht, dass die
meisten für objectiv gehaltenen Qualitäten nar subjective Eindrücke sind,
erzengt im Verstände, wie durch Contrast Wirkung das negative Streben,
sich Eigenschaften zu denken, die er seinem Etwas gleichsam hinter dem
Bücken des Subjects anheften könnte. Das Unternehmen misslingt, wie es
auch in Angriff genommen werde, auch der vorsichtigste Versuch fuhrt
jedesmal durch Empfindung, Raum und Zeit in das Subject zurück. Das
Etwas zerfliesst zu einem Nichts, wie es überhaupt vorgestellt werden soll.
— Das Ding an sich ist nichts weiter als der Ausdruck für das vergeb-
liche Bemühen des Verstandes, dieses sich ihm natürlich darbietende un-
mögliche Problem zu lösen. Von einer Wirkung der Causalitätskategorie
ist beim Ursprung dieses rein negativen Begriffes gar nicht die Bede,
während er freilich später vor den erkenntnisstheoretischen Grundgesetzen
eine schärfere Zuspitzung erhält. Wer sein Wesen und seine Entstehung
begreifen will, suche sich dasselbe zunächst aus der Aesthetik allein klar
zu machen^ ohne, wie es stets geschieht, die tr. Logik schon vorauszusetzen.
Das Ding an sich wurzelt ganz in der Aesthetik und lässt sich daraus
widerspruchlos entwickeln.** — „Die Missverständnisse, welche unseren
Grenzbegriff fortwährend begleiten, wären unmöglich, wenn man darauf
achten wollte, dass das Ding an sich gerade an dieser Stelle der
erkenntnisstheoretischen Entwicklung geboren wird.**
Diese feinsinnigen Ausführungen Stadlers finden ihr eigenartiges
Gegenstück in den ebenso fein ausgedachten Darlegungen Heblers in seinen
Philos. Aufs. S. 127 ff. Auch H. will nachweisen, dass bei der Conception
des Begriffes vom D. a. s. nicht dem Causalitätsbegriff die Erzeugerrolle
zufalle, sondern dass derselbe als „Residuum des analysirten Erfakrungs-
objects** zu fassen sei. „An der Vorstellung, als Erscheinung, dem gemeinen
Erfahrungsobject ist Etwas, was sich nicht abziehen, nicht aus dem
blossen Vorstellungsvermögen herleiten lässt. Das Ding an sich ist und
bleibt immer von dem Erfahrungsobject hinlänglich unterschieden : 1) dadurch,
dass es nicht das ganze Erfahrungsobject, sondern dieses nur nach Abzug
alles Phänomenalen ist, und 2) dadurch, dass es, weil es nur durch das
Medium des letzteren für uns ist, uns nach seinem wahren Wesen verborgen
bleibt.** „Hiermit wären wir nun zum D. a. s. ohne Causalschiuss und
überhaupt ohne speciell darauf gerichteten Schluss gekommen.** ^
In diesem Begriffe sieht nuh H. aber keine Illusion, sondern im
Gegentheil einen legitimen Begriff, und vertritt demgemäss auch die Meinung,
dass in Ks. Aesthetik jenes auf jene Weise abgeleitete D. a. s. von Kant
durchaus als real angenommen werde.
' Aehnlich auch Riehl, Erit. I, 433 f.: „Die Anerkennmig der Dinge ergab
sich für Kant aus der Analyse der Vorstellungen und der Prüfung der Beschaffen-
heit der Vorstellungselemente." K. habe die D. a. s. nicht auf dem Wege eines
eigentlichen Causalitäisschlusses , ermittelt**, sondern (207) durch Decomposition
der Erscheinung; vgl. dag. oben S. 16. 20. Aehnlich Schopenhauer oben S. 50.
Das Ding an sich als unauflöslicher Rest. Hl
[R 32. H 56. E 72.] A 21. B 85.
Abgesehen von dieser allerdings fandamentalen Differenz betreffend
die Realität des in der geschilderten Weise gewonnenen Begriffes, sind
nun die sonst übereinstimmenden Ausführungen von Hebler und Stadler
immerhin beachtenswerth : nicht durch Causalschluss sei das D. a. s. in der
Aesthetik gewonnen, sondern es sei das Residuum der erkenntnisstheoreti-
schen Entkleidung des Erfahrungsgegenstandes. nDer Gegenstand verlor
zuerst seine Farbe, seine Härte, seinen Ton an die wahrnehmende Seele,
dann zeigte sich, dass er ihr auch sein räumliches Verhältniss und seinen
Platz in der Zeit verdanke." Aber nun bleibt doch noch ein Etwas übrig,
das Ding an sich, sei dies nun nach Heb 1er das wahrhaft Reale, aber
Unbekannte, sei es nach Stadler ein „imaginärer, unwirklicher Begrifft' von
einem „trügerischen Rückstand des unaufgelösten Objects'^ Man kann sich
nun aber nicht des Eindruckes erwehren, als sei dies im Wesentlichen
identisch mit dem Substanzbegriff, und wir hätten dann eben die im
Text vorliegende Elementenreihe: 1) Empfindungen, 2) Anschauungsformen,
3) Begriffsformen. Dann wäre das D. a. s. eben doch durch eine Kategorie
gewonnen, aber nicht durch die der Causalität, sondern durch die der Sub-
stantialität. Für Stadler würde daraus nun vollends die Nichtigkeit des
Begriffes vom D. a. s. folgen, während Hebler dann doch den Widerspruch
zugeben müsste , dass Kant eine Kategorie , welche zunächst nur für das
Erscheinungsding gilt, doch dann widerrechtlich wiederum über die Grenzen
der Erfahrung hinaus anwendet. Dazu kommt aber noch, dass doch Kant
mehrfach besonders gleich am Anfang die Affection durch die Dinge an
sich voraussetzt, in einer Weise, welche zeigt, dass bei dem Begriff der-
selben nicht nur die Substantialitätskategorie, sondern auch die Cau-
salitätskategorie wesentlich mit wirksam gewesen ist^ Vom Standpunkt
der Substanzkategorie aus ist das Ding an sich der nicht mehr ins Subject
auflösbare letzte unbekannte Rest in den Erscheinungen, welcher dann nach
der Cansalitätskategorie als das Afficirende gefasst wird, durch das wir
überhaupt zu Empfindungen gelangen.
Transscendentale Aesthetik« Der Sinn dieses complexen Terminus
ergibt sich schon aus dem , was Comm. 1 , 467 ff. zum Ausdrucke „trans-
scendentaV' gesagt worden ist. „Transscendentale Aesthetik" ist einerseits
ein Theil der allgemeinen Transscendentalphilosophie, und zwar
derjenige, welcher diejenigen apriorischen Elemente unseres Erkennens
behandelt, welche im Sinnlichen liegen ; oder sie ist andererseits ein Theil
der Sinnenlehre überhaupt, und zwar derjenige, der sich mit den
apriorischen Principien des Sinnlichen beschäftigt; (nach A 51 =
B 75 ist Aesthetik „die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt'').
* Vgl. hiezu oben S. 6 ff. 14 ff. 20 f. 27 ff. 35 ff., sowie auch bes. die schon
oben S. 8 erwähnte Monographie von B. E r d m a n n , Die Stellung des Dinges an
sich in Ks. Aesthetik u. s. w. 1873.
112 § 1. Einleitung.
A 21. B 85. [R 82. H 56. E 72.]
Jene beiden Elemente enthält aucli schon gewissermassen die erste H&lfte
des Titels der Inaugural-Dissertation von 1770 : De forma et prindpüs mundi
sefisünlis = Die Formalprincipien der Sinnenwelt. Da Kant nun, wie schon
Comm. 1 , 467 ff. bemerkt worden ist , den Ausdruck .^transscendental" von
der Theorie des Apriorischen auf das Apriorische selbst ausdehnt, so ist auch
der bei Kant und den Kant-Schriftstellern gelegentlich gebrauchte Ausdruck,
Baum und Zeit seien „die transse^ndentalen Elemente der Sinnlichkeit'*
(so B. Erdmann, Phil. Mon. 1884, S. 76) hinlänglich gerechtfertigt, obgleich
K. selbst A 56 sagt, weder der Raum noch eine geometrische Bestimmung
desselben sei eine trahsscendentale Vorstellung, sondern nur die Er kenn t-
niss, dass diese Vorstellungen gar nicht empirischen Ursprungs seien, dass
sie sich aber gleichwohl auf Oegenst&nde der Erfahrung beziehen können.
(Diese, bes. von Cohen, 2. A. 217. 270, hochgeschätzte, später ausfuhrlich zu
besprechende bekannte Stelle ist im üebrigen sehr verworren.)
In wunderlicher Weise spielt Cohen mit dem Ausdrucke „transscenden-
tale Aesthetik''. Er sagt (1. A. 79 jQT., 2. A. 186 fr.): „Der Zusammenhang
zwischen den Lehren über die beiden Erkenntnissprincipien (zwischen transsc.
Aesthetik und transsc. Logik) lässt sich schon an dem Namen der ersteren
aufzeigen. Der Name transsc. Aesthetik bezeichnet die Bichtung und den
Gehalt der Lehre auf eine ebenso deutliche als strenge Weise in dreifacher
Hinsicht; und in jeder derselben wird jener Zusammenhang ersichtlich.*'
In dreifacher Hinsicht enthalte jener Name ein Hinausweisen der Aesthetik
auf die Logik. Erstens sei dies in dem Ausdruck „transscendentar' ent-
halten. Was Cohen hierüber sagt, beruht auf den schon Comm. I, 470 ff.
gerügten Missverständnissen Cohens in Betreff dieses Ausdruckes. Zweitens
verweise der Begriff der Sinnlichkeit als einer Erkenntnissquelle, „das zweite
Bezeichnende an jenem Namen", uns ebenfalls an die transsc. Logik; und
drittens sei der Terminus ,, Aesthetik" bedeutsam, weil die alsfr^xa sogleich
an die voY)Te£ erinnern. Das Wahre hieran ist nur, dass die Lehre von den
apriorischen Elementen der Sinnlichkeit naturgemäss zur Ergänzung die
Lehre von den apriorischen Elementen des Verstandes fordert. Diese banale
Wahrheit wird aber von Cohen daselbst in der Form wunderlich spielerischer,
seltsamer Andeutungen vorgetragen, welche dem geraden, natürlichen Sinne
Kants ganz ferne gelegen sind.
Anmerkung Kants über die ^yAesthetik^^ Diese Anmerkung bietet
in mehrfacher Hinsicht reichen Stoff zur Besprechung. Kant fühlt das Be-
dürfiiiss, seine ungewöhnliche Terminologie zu rechtfertigen; denn er ver-
wendet den Ausdruck „Aesthetik" in einem ganz anderen Sinne, als seine
Zeitgenossen. Wie er selbst bemerkt, diente der Ausdruck „Aesthetik"
damals schon ganz allgemein zur Bezeichnung der Lehre vom Schönen, oder
der Geschmackslehre. Der Ausdruck ,, Aesthetik" für diese philosophische
Wissenschaft war damals allerdings nur in Deutschland gebräuchlich.
In England gebrauchte man den Ausdruck „criticism". In Frankreich sprach
man von der „thSorie des beaux arts^. Der in Deutschland damals schon
Kants »Transscendentale Aesthetik* und Baumgartens „Aesthetica*^. 113
[R 33. H 56. E 72.] A 21. B 35.
ganz übliche Ausdruck ,,Aesthetik^^ (welchen unterdessen die anderen Kultur-
nationen adopürt haben) stammt von Baumgarten her.
„Der vortreffliche Analyst Baumgarten" wird von Kant auch
sonst h&ufig angezogen. Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 — 1762) war
bekanntlich einer der bedeutendsten Schüler Christian Wolffs. Baumgarten
hat bedeutenden Einfluss auf Kant ausgeübt in allen Gebieten der Philo'
Sophie. Bekanntlich hielt auch Kant seine Vorlesungen mit Vorliebe nach
Baumgartens Werken. (Vgl. Ks. „Nachricht von der Einrichtung seiner Vor-
lesungen" 1765/6.) Man erkennt daraus, wie hoch ihn Kant geschätzt haben
muss, welcher sowohl sachlich als auch insbesondere im Punkte der Termino-
logie stark durch Baumgarten beeinflusst worden ist. Schon in der Dis-
sertation von 1770 nennt er ihn den „perspicadssimus coryphaeua tnetaphysi-
cortitn*^ ; in den Proleg. § 3 nennt er ihn „den scharfsinnigen Baumgarten" ;
ebendaselbst § 39 rühmt er seine „gute Ontologie". Kant nennt denselben
hier einen „Analysten", weil seine Hauptstärke in der Zergliederung, in der
logischen Entwicklung der Begriffe, ihres Inhaltes und ihres Zusammenhanges
bestand. An der letztgenannten Stelle wird seine Metaphysik eben wegen
der darin sich findenden vollständigen „Zergliederung der Begriffe" gerühmt,
welche den (von Kant schon in der Einleitung zur Kr. d. r. V., Comm. I, 480,
erwähnten) analytischen Theil der Metaphysik ausmacht. In dieser weit-
getriebenen, scharfsinnigen Analyse liegt aber auch seine Schwäche (vgl.
Mellin 1 , 469) ^ Weiteres über ihn s. bes. J. E. Erdmann , Gesch. d. n.
Philos. II, 2, 375 ff., derselbe in seinem Grundriss d. Gesch. d. Philos. § 290, 10.
Zell er, Gesch. d. deutschen Philos. 285. Rosenkranz, Gesch. d. Kanti-
schen Philos. 51. Vgl. Riehl, Krit. I, 14.
Baumgarten wollte „die kritische Beurtheilung des Schönen
unter Vernunftprincipien bringen und die Regeln derselben zur
Wissenschaft erheben". Dieser Wissenschaft gab er den Namen der
„Aesthetik". Dieser Name wurde allgemeiner gebraucht, seitdem Baumgarten
1750 sein Hauptwerk darüber eben unter dem Titel j,Aesthetica" heraus-
gegeben hatte. Sache und Namen taucht aber schon 15 Jahre früher auf
in Baumgartens Erstlingsschrift vom Jahre 1735: „Meditationes phüosophicae
de nonnuüis ad poema pertinentibus.^ Baumgarien fasste daselbst die uns
seltsam berührende Idee, die Geschmackslehre als einen Theil der Erkenntniss-
lehre zu behandeln, und der Logik, als der Lehre vom denkenden Erkennen,
eine Wissenschaft vom sinnlichen Erkennen an die Seite zu stellen (in
diesem Sinne nennt er jene in seiner Aesthetica § 13 die soror natu major).
Er suchte dann für diese neue Wissenschaft nach einem Namen, Meditationes
^ In diesem Sinne spricht Kant einmal (in der Schrift gegen Eberhard,
Ros. I, 466) von dem , lieben Baumgarten, der auch Begriff för Sache nimmt*.
Dazu vgl. man das Urtheil in Kants Reflexionen II, N. 220 (vgl. N. 96): „Der
Mann war scharfsichtig im Kleinen, aber nicht weitsichtig im Grossen; ein guter
Analyst, aber nicht architektonischer Philosoph. Anstatt seiner Aesthetik passt
sich besser das Wort Kritik des Schönen.**
Vaihinger, Kant-Commentar. II. 8
114 § 1. Einleitung.
A 21 B 35. [R 88. H 56. E 72.]
S. 39 (§ CXVI): „Existente definitione, terminua definitus excogüari faeile
polest. Graeci jam phüosophi et patres inter a\z^x6L xal yov)tdi sedtUo semper
distinxerunt . . . Sint ergo voYjia eognoscenda faeidtate superiore ohjectum
logices, alc^ia morrjjjLTig alod-rjxtxTjg sive AESTHETICAE." Er definirt
sie auch als „scientia, quae dirigat facuUatem cognoscitivam inferiorem/' Man
sieht heraus, wie Baumgarten die Wissenschaft des Schönen in die pedantische
Systematik der Wolffischen Philosophie einzwängen wollte, und wie er nor
aus dieser Systematisirungssucht , durch welche er dieser Wissenschaft eine
ganz schiefe Stellung gab, auf jenen Namen „Aesthetik" gefuhrt wurde.
Wunderlicher Weise ist nun gerade dieser Name an der Wissenschaft bis
heute hängen geblieben, während die Begründung dieser Bezeichnungs-
weise — jene Parallele mit der Logik als Theil der Gnoseologie — gänzlich
fallen gelassen worden ist; war sie doch auch so unglücklich wie möglich.
Das Verdienst Baumgartens beschränkt sich fast auf die Erfindung dieses
Namens ; denn die Sache, die Wissenschaft der Aesthetik hat durch ihn sehr
wenig gewonnen; ihn gar den ,, Begründer der Aesthetik" zu nennen, ist
ganz ungerechtfertigt; waren doch Engländer, Franzosen und Schweizer mit
der wissenschaftlichen Untersuchung der Grundbegriffe der Aesthetik längst
vorangegangen. Was er selbst wollte, war, die Geschmacksurtheile unt«r
strenge und allgemeingültige Regeln zu bringen, welche aus Vemnnft-
principien beweisbar seien. Baumgarten sagt in diesem Sinne ausdrucklich
in der Aesthetica § 5 : „Nostra ars demonstrari potestJ^
„Allein diese Bemühung ist vergeblich" — ist Kants Urtheil.
Wir sehen zunächst von den Aenderungen der 2. Auflage ab, und beschränken
uns auf die Besprechung der unbedingten Verwerfung jedes apriorischen
Elementes in der Aesthetik ; diese scharfe Verurtheilung der rationalistischen
Aesthetik der Wolffischen Schule stimmt ganz überein mit den vorkritischen
Aeusserungen Kants über dieses Thema, insbesondere mit dem Standpunkt
welchen er 1764 in seiner Schrift: „Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen" eingenommen hatte. Er hatte sich damals der
rationalistischen Metaphysik ab- und dem englischen Empirismus zugewandt
(Vgl. Commentar I, 47 ff. Falkenheim, Die Entstehung der Kantischen
Aesthetik [1890] S. 5 ff.) Von diesem empirisch-psychologischen Standpunkt
aus beschäftigte er sich damals — mehr in geistreich plaudernder, als in
wissenschaftlich untersuchender Weise, mehr, wie er selbst sagt, als Beob-
achter, denn als Philosoph — mit den ästhetischen Problemen, in deren
Untersuchung Engländer und Franzosen schon so viel geleistet hatten. Und
an diese englischen und französischen Vorgänger schloss er sich auch an:
Sbaftesbury und Rousseau wurden seine Führer. (Vgl. auch die „Nachricht
von der Einrichtung der Vorlesungen" von 1765 über die „Abstechung der
Kritik des Geschmackes von der der Vernunft".)
In dem Briefe an Herz vom 7. Juni 1771 spricht er gelegentlich
vorübergehend auch von der „Geschmackslehre" in einer Weise, dass man an-
nehmen kann, er habe, entsprechend seiner ganzen Leibnizisch-rationalistischeu
Meinungsänderung Kants über die Geschmackslehre. 115
[R 38. H 56. E 72.] A 21. B 85«
Wendung in dieser Zeit, auch für die Oescbmackslehre wieder apriorische
Prindpien gesucht. Jedenfalls aber hatte er, als er 1781 die erste Auflage
der Er. d, r. Y. veröffentlichter diese Hoffnung ganz aufgegeben, wie aus
dieser Stelle hervorgeht. Zur Erläuterung dieser Stelle kann trefflich ein
Passus dienen, welcher in der von Jäsche 1800 herausgegebenen Logik Kants
glücklicher Weise enthalten ist. Es heisst da in der Einleitung I: „Die
Aesthetik enthält die Regeln der Uebereinstimmung des Erkenntnisses mit
den Gesetzen der Sinnlichkeit; die Logik dagegen die Regeln der Ueberein-
stimmung des Erkenntnisses mit den Gesetzen des Verstandes und der Ver-
nunft. Jene hat nur empirische Principien und kann also nie
Wissenschaft oder Doctrin sein" u. s. w. „Der Philosoph Baum-
garten in Frankfurt hatte den Plan zu einer Aesthetik als Wissenschaft
gemacht. Allein richtiger hat Home die Aesthetik Kritik genannt, da sie
keine Regeln a priori gibt" u. s. w. Natürlich drückt diese Stelle (zu
welcher noch Einl. V, VHI zu vergleichen ist) nicht Kants Meinung vom
Jahre 1800 aus, sondern Jäsche hat kritiklos, wie er war, hier eine Be-
merkung Kants abgedruckt, welche, dem ganzen Tenor nach, weit vor das
Jahr 1781 zu setzen ist. (Vgl. hierüber Nathan, Ks. Logik S. 32, und
B. Erdmann in den Gott. Gel. Anz. 1880, S. 612, und desselben „Re-
flexionen Kants" 1, 26.) Vgl. auch M ellin I, 84. 469.
Diese wenn auch nur nebenbei hingeworfene Bemerkung Kants über
die Unmöglichkeit der Aesthetik als Wissenschaft erregte bald das
Nachdenken und den Widerspruch. Besonders Heydenreich, sonst ein
Anhänger Kants, liess in dem Philos. Magazin von Abicht und Born (1790)
einen Aufsatz erscheinen : „Genauere Prüfung des Kantischen Einwurfes gegen
die Möglichkeit einer philosophischen Geschmackslehre". Weiteres vgl. hierüber
bei Krug, Lexicon H, 229 ff. 422; I, 62.
Unterdessen aber war Kant durch eigenes Nachdenken auf andere
Meinung gekommen; und die ersten Spuren dieser Meinungsänderung
haben wir eben in der entsprechenden Textänderung der 2. Auflage.
Indem Kant das Wort „vornehmsten" einschiebt, statuirt er, dass die
Theorie des Geschmacks doch apriorische Quellen habe, wenn diese auch
nicht zu „bestimmten" apriorischen Geschmacksgesetzen führen. Ueber
diese „spätestens Anfang 1787" eingeschobenen Aenderungen vgl. B. Erd-
mann, Einleitung zu seiner Ausgabe von Kants Kritik der Urtheilskraft
XVn. Dieselben stehen, wie schon Comm. I, 864. 483 bemerkt worden ist,
mit anderen gleichzeitigen sachlichen Aenderungen in Kants System in Zu-
sammenhang. Während er ursprünglich die Transscendentalphilosophie auf
die Erkenntnisstheorie beschränkte, dehnte er dieselbe später auf die Theorie
des W^illens, sowie auf die Theorie des Geschmackes aus. Nachdem er, wie
im Erkenntnissvermögen, so auch im Begehrungsvermögen, apriorische Ele-
mente entdeckt hatte, glaubte er solche auch in dem dritten Hauptvermögen
der menschlichen Seele zu finden, im Gefühls vermögen. Diese seine Ent-
deckung hat er selbst anschaulich geschildert in dem bekannten ersten Briefe
116 § 1. Einleitung.
A 21. B 35. [R 33. H 57. E 73.]
an Reinhold vom 18. Dec. 1787 : „Ich beschäftige mich jetzt mit der Kritik
des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine andere Art von Principien
a priori entdeckt wird, als die bisherigen ... ob ich es zwar sonst für
unmöglich hielt" n. s. w. Diese Stelle gibt in ihrem weiteren Verlaufe
einen vollständig deutlichen Commentar zu den vorliegenden Text&nderangen
der 2. Auflage, welche am Anfang desselben Jahres 1787 erschienen war.
(Vgl. auch die Losen Blätter I, S. 9. 254.) üebrigens erschien das in jenem
Briefe angekündigte Werk bekanntlich erst 1790 unter dem Titel: „Kritik
der Urtheilskraft". lieber die apriorischen Elemente des Geschmacksnrtheiles
s. daselbst die Einleitung IV. V. VIT; sodann § 12, § 30 ff., § 37 u. ü.
Freilich ist der apriorische Charakter der Geschmacksurtheile kein so strenger,
als der der theoretischen und praktischen Grundsätze; bei jenen spielt das
Empirische eine viel grössere Rolle als bei diesen; und so erklärt sich, wie
Kant auch in der 2. Auflage in dieser Anmerkung die Stelle stehen lassen
konnte, dass die Kritik des Geschmacks doch keine „wahre Wissenschaft*'
sei. — Weiteres hierüber bei B. Erdmann in seiner Einleitung zu seiner
Ausgabe von Kants Kr. d. Urth. S. 17 ff. ; in desselben „Kants Kriticismns in
der ersten und zweiten Auflage der Kr. d. r. V." 171; Falkenheim, Die
Entstehung der K.'schen Aesthetik (1890) S. 13 ff. , woselbst aber zwischen
dem Text der 1. und 2. Auflage nicht hinreichend unterschieden wird:
Pluntke, Die Aesthetik und die Philosophie (1875) S. 4. 18.
Die Meinungsänderung Kants hat nun sofort ihren entsprechenden
Ausdruck gefunden in der Aenderung der terminologischen Bestimmungen.
In der ersten Auflage hatte Kant den Vorschlag gemacht, den von Baum-
garten geprägten Ausdruck zwar beizubehalten, aber nicht für die Theorie
des Schönen, sondern für die Erkenntnisstheorie. Ihm selbst lag dieser
Terminus sehr bequem. Er hatte in seiner Inauguraldissertation von 1770
eine neue Theorie der sinnlichen Erkenntniss aufgestellt, er hatte diese scharf
geschieden von der Theorie der Verstandeserkenntniss. Was ist natürlicher,
als dass er, bei der systematischen Darstellung seiner neuen Theorie in der
Kritik d. r. V., nach einem Ausdruck suchte, welcher der Logik als der
Theorie der Verstandeserkenntniss parallel liefe? Der deutsche Ausdruck
„Sinnenlehre^S welchen er am Schluss der Einleitung gebraucht, erschien
ihm wohl zu farblos, und so stiess er, bei dem Versuch der Uebersetzung
dieses Ausdruckes ins Griechische, auf den schon von Baumgarten geprägten,
aber in anderem Sinne verwendeten Ausdruck „Aesthetik'^ Baumgarten
verstand ja darunter allerdings auch die Lehre von der sinnlichen Erkennt-
niss ; aber er schränkte die Bedeutung sogleich wieder ein , indem er nur
die Erkenntniss des sinnlich Schönen behandelte, resp. indem er eben das
Schöne als die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntniss fasste. Diese
letztere wunderlich pedantische Auffassung Hess Kant unter dem Einflus^
der Engländer und Franzosen fallen; aber er gebrauchte in seiner vor-
kritischen Zeit (vgl. die oben S. 114 mitgetheilte Stelle aus dem Programm
von 1765) ebenfalls den Ausdruck „Aesthetik" für die Kritik des Geschmacks.
[B 33. H 57. E 73.] A 21. B 35*
(Vgl. auch „Beweisgrund" Ros. I, 276.) Jetzt aber, 1781, erschien es ihm
vergeblich, die Theorie des Schönen mit derselben wissenschaftlichen Strenge
zu bebandeln, wie die Theorie des Wahren oder die Theorie des Denkens
(Logik), und so schien es ihm doppelt leicht, den Ausdruck „Aesthetik" für
die, dieser parallelgehende, Theorie der sinnlichen Erkenntniss zu verwenden.
Man kann auch sagen, Kant habe den von Baumgarten richtig erkannten
Gedanken, dass es einer eigenen Theorie der sinnlichen Erkenntniss neben
der Theorie der Verstandeserkenntniss bedürfe, in der richtigen Weise erst
ausgeführt. (Vgl. Comm. I, 493.)
Dass man mit diesem Ausdrucke nun „der Sprache und dem Sinne
der Alten näher traf — diesen Gedanken entlehnte Kant auch dem-
selben Autor. Schon oben S. 114 wurde die betreffende Stelle aus Baumgarten
angeführt. Der Gegensatz findet sich bekanntlich zuerst bei den Eleaten
(auf welche auch Kant in seiner Dissertation § 12 anspielt), sodann bei
Empedocles, Demokrit und hat dann besonders in der Platonischen
Philosophie eine weltgeschichtlich bedeutsame Rolle gespielt. An Stelle des
Gegensatzes von alz^xd und vov^xd findet sich dann auch häufig der Gegen-
satz der <patv6{i6va und vcoopieva, auf welchen sich Kant auch schon in der
Dissertation § 3 beruft : prius scholitf veterum phaenofnena^ posterius noumena
audiehat K Einige wunderliche Bemerkungen über diese Stelle findet man
bei Cohen, l. A. 82; 2. A. 189.
Während Kant aus den eben entwickelten Gründen in der 1. Auflage
den radicalen Vorschlag gemacht hatte, die Baumgarten'sche „Benennung
wieder eingehen zu lassen'^ hat er unterdessen, wie wir sahen, seine Einsicht
dahin erweitert, dass die Lehre vom Geschmacke doch auch einige apriorische
Bestandtheile habe und daher, in seinem Sinne, auch des Ehrennamens einer
„Wissenschaft" nicht so ganz unwürdig sei. Und so will er denn die Baum-
garten'sche Verwendung des Ausdruckes „Aesthetik'' auch wieder in Gnaden
annehmen, und gestatten, dass sie neben der seinigen zur Verwendung
komme. Der Terminus „Aesthetik" soll sowohl in erkenntniss- theoretischer
Hinsicht die Lehre vom sinnlichen Erkennen bezeichnen, als wie bisher die
Lehre vom Geschmack. Die Art und Weise, wie Kant diesen — unprakti-
schen — Vorschlag macht, ist ein neuer Hinweis darauf, dass diese Stelle
* Aehnlich Prot, § 32, wonach die Unterscheidung schon „von den ältesten
Zeiten der Philosophie her" sich bei ,den Forschem der reinen Vernunft ** gefunden
habe. Vgl. Krit. A 257. Uebrigens hat Kant, allem Anschein nach, die Ausdrücke
aus dem Studium der alten Skeptiker entnommen, speciell aus Sextus Empiricus,
mit dem Kant nothwendig bekannt gewesen sein muss, wie aus vielen Judicien
hervorgeht — eine Abhängigkeit, welche noch nicht näher untersucht ist. Die
antike Skepsis war, möchte man sagen, auf jenen Gegensatz der ahd^td xal vo-r^rd
aufgebaut Vgl. Natorp, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnissproblems
im Alterthum (1884) S. 96. 114. 130 if. 144. 183. 236. 240. 244. 267. 277 f. 288.
Die directe Beeinflussung Kants durch Sextus behauptete auch schon Galuppi in
Ht^inen Considerazioni sull xdeälismo transscendentale (1. A. 1829; 3. A. 1857) § 24.
118 § 1. EinleituDg.
A 21. B 35. [B 33. H 57. E 73.]
auf dem Uebergang von seiner Yorkritischen empiristischen Auffassang der
Aesthetik zu seiner kritischen geschrieben ist. Denn er sagt: ,,Aesthetik''
solle sowohl im ,,transscendentalen Sinne" als „iii psychologischer Bedeutung"
genommen werden. Aber der späteren Darstellung nach, in der Kr. d. ürth.
(Einl. lY u. V), hat es auch die Kritik der ästhetischen Urtheilskrafi mit
einem a priori gesetzgebenden Vermögen, also mit einem ,,transscendentalen
Princip" zu thun. In der Kr. d. r. V. selbst A 801 wird das „Transscenden-
tale" ausdrücklich dem „Psychologischen, d. i. Empirischen" gegenübergestellt.
Demnach war er sich an dieser Stelle noch nicht ganz und definitir klar
über den wissenschaftlichen Charakter der Geschmackslehre. (VgL hieza
Falkenheim a. a. 0. 17 ff., auch Ks. Beflexionen I, N. 362.)
Die Art und Weise nun, in welcher Kant dann seine beiden Bedeutun-
gen von Aesthetik neben einander gebraucht hat, ist eigenthümlich. £r hat
nämlich das Substantiv „Aesthetik" fast ausschliesslich „im transscendentalen
Sinne", das Adjectiv „ästhetisch" meistentheils für die Wissenschaft des
Schönen verwendet. Einmal spricht K. freilich auch von der „transsc.
Aesthetik der Urtheilskraft" (Kr. d. U. § 29 Anm.) und andererseits wird
das Adjectiv „ästhetisch" auch einmal im erkenntniss-theoretischen Sinne
verwendet : wenn Kant die „ästhetische Deutlichkeit" der logischen gegenüber-
stellt. Vgl. dazu Comm. I, 136 ^ Sonst dient das Adjectiv hauptsächlich
der Lehre vom Oeschmacksurtheil , und über die letztere Verwendung gibt
er selbst Rechenschaft in der Einleitung VII zur Kr. d. Urth. ' „Was an
der Vorstellung eines Objects bloss subjectiv ist, d. h. ihre Beziehung auf
d^s Subject, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische Be-
schaffenheit derselben; was aber an ihr zur Bestimmung des Gegenstandes
(zum Erkenntnisse) dient oder gebraucht werden kann, ist ihre logische
Gültigkeit." Es wird dann die Räumlichkeit, sowie die qualitative Empfin-
dung zur zweiten Gattung geschlagen, die Beziehung auf Lust und Unlust
zur ersten, so dass wir hier also wieder der schon oben S. 29 besprochenen
Einth eilung der Sinnlichkeit in Sinn und Gefühl begegnen. Vgl. Kr. d. Urth.
§ 1. In diesem Sinne spricht nun Kant von der „Kritik der ästhetischen
Urtheilskraft". Nach dem Gesagten bezöge sich der Ausdruck „ästhetisch"
somit auf die Lust- und Unlustgefiihle , speciell bei der Beurtheilung des
Schönen und Hässlichen, somit auf die Gefühlsseite des Empfundenen.
Wenn als Gegensatz zu „ästhetisch" in diesem Sinne hier „logisch" figurirt,
so umfasst hier „logisch" die gesammte Erkenntnissseite des Gegenstandes,
* Einmal spricht Kant Krit. A 57 = B 81 von „Begriffen, aber weder
empirischen noch ästhetischen Ursprungs **. In welchem Sinne wird da der
Ausdruck gebraucht?
* Vgl. dazu die Abhandlung „Ueber Philosophie überhaupt* Res. I, 595 ff.,
wo Kant entwickelt, dass und warum er in der „Transsc Aesthetik* doch nicht
von „ästhetischen Urtheilen" gesprochen habe, weil alle ästhetischen ürtheile,
sowohl die ästhetischen Sinnesurtheile, als die ästhetischen Reflexionsurtheile nichts
mit dem Eikenntnissvermögen zu thun haben, sondern mit Lust und Unlust.
Die verschiedenen Bedeutungen von »Aesthetik" bei Kant. 119
[B 38. H 57. K 73.] A21. B36.
sowohl die sinnliche als die verstandesmässige Erkenntniss desselben. In
einem ähnlichen Sinne werden rational und ästhetisch einander gegenüber-
gestellt im Streit d. Fac. (Res. X, 283). Vgl. oben S. 4.
Eine andere, aber damit verwandte Bedeutung gewinnt der Ausdruck
„ästhetisch" in der Moral. In der Kr. d. pr. V. (B. VIII, 248. 255 u. ö.)
sind „ästhetische" Beweggründe (so viel als „pathologische") solche, welche
auf dem sinnlichen Bedürfniss beruhen. Ihnen sind die „reinen praktischen"
entgegengesetzt. In der Tugendlehre ist (§ XII bis §*XIV der Einleitung) in
diesem Sinne von einer „Aesthetik der Sitten" die R«de. Vgl. §§ 46. 47.
Die Verwandtschaft dieser Verwendung des Ausdruckes mit der vorigen
liegt darin, dass beide Mal „ästhetisch" sich auf die Gefühle bezieht. Vgl.
auch Rechtslehre § 49 A.
Man könnte nunmehr den Versuch machen, im Anschluss an Kants An-
deutungen Aufgabe und Eintheilung der „Aesthetik" überhaupt folgender-
massen auszuführen : „Aesthetik" überhaupt sei die Lehre von der Sinnlich-
keit (im Gegensatz zur Logik, als der Wissenschaft vom Denken). Wie nun die
Sinnlichkeit zerfällt in den auf das Objective gerichteten Sinn und in das
aufs Subjective gehende Gefühl, so zerfällt die Aesthetik im weiteren Sinne
in die Aesthetik des Sinnes und in die Aesthetik des Gefühls resp.
des Geschmacks ^ Jeder dieser beiden Theile muss nun wieder in zwei
üntertheile zerfallen, je nachdem die transscendentale oder die empirische
Seite behandelt wird. Es würde somit zu unterscheiden sein eine trans-
scendentale Aesthetik des Sinnes von einer empirischen Aesthetik der sinn-
lichen Empfindungen. Von dieser letzteren spricht auch Mellin I, 84. Wir
würden heutzutage die „Psychologie der Sinne" als empirische Aesthetik
bezeichnen wollen ^. Ebenso müsste man dann in der Aesthetik des Gefühls
resp. Geschmacks eine transscendentale und eine empirische Hälfte unter-
scheiden. Damach wäre auch die Darstellung bei Mellin, Wörterb. I, 77 ff.,
Kunstspr. I, 8 zu corrigiren. Vgl. auch Krug, Lex. I, 62.
Die Nachkantianer haben sich nicht an Kants Terminologie gehalten.
Der Ausdruck „Aesthetik" wurde selbst von den meisten Kantianern auf
^ Diese Eintheilung wird denn auch bestätigt durch Kants Reflexionen 11,
N. 322: „Aesthetik ist die Philosophie über die Sinnlichkeit, entweder der Er-
kenntniss oder des Gefiihls.'' Nach Refl. II, N. 323 müsste wohl auch noch
eine Lehre von der Sinnlichkeit im Handeln hinzukommen?
' Dies war wohl auch die Absicht G o e t h e's, wenn er von der nothwendigen
,.Kritik der Sinne" spricht. Vgl. Comm. I, 477. Als eine berichtigende Er-
gänzung zur Kantischen Transsc. Aesth. schrieb Tourtual: Die Sinne des
Menschen. Ein Beitrag zur physiologischen Aesthetik. Münster 1827 (bes.
Vonr. V). An die Stelle der Transsc. Aesthetik will der Kantianer G ö r i n g , Raum
u. Stoff VI ff. 14 ff. 151 eine neue „Kntik der Sinne" setzen, welche wesentlich von
der .Kritik der Vernunft" zu scheiden sei, aber auch nicht in die Physiologie der
Sinne gehöre^ sondern eine eigene neue Wissenschaft darstelle. Bergmann,
Metaph. 45 ff. will eine „Kritik des wahrnehmenden Bewusstseins".
120 § 1. Einleitung.
A 22. B 86. [B 33. H 57. E 73.]
die Geschmackslehre beschränkt (so bei Heydenreich, Hensinger,
Ast, Bouterweck, Pölitz u. s. w.). Aus der Erkenntnisstheorie ver-
schwand der Ausdruck bald, da man jene Kantische Doppelverwendung natur-
gemäss als höchst störend empfinden musste. Vgl. noch bes. Zimmermann,
Gesch. d. Aesth. II, 159 ff. 379 ff.; und Lotze, Gesch. d. Aesth. 12. 36 f.
43 f. Rosenkranz, Gesch. d. K. 'sehen Phil. S. 52.
Wir M^erden in der transscendentalen Aesthetik die Sinnlich-
keit isoliren. Dieser bei Kant häufig wiederkehrende Ausdruck „isoliren*'
enthält einen deutlichen Hinweis auf seine decomponirende Methode, welche
darin besteht, dass er die einzelnen „Erkenntnissvermögen" und deren
Functionen zunächst jedes einzeln flir sich betrachtet. (Vgl. Comm. I, 432.)
Ganz ähnlich, wie hier am Anfang der transsc. Aesthetik, heisst es am
Anfang der Analytik, A 62: „In einer transscendentalen Logik iso-
liren wir den Verstand, wie oben in der transscendentalen Aesthetik
die Sinnlichkeit." (Vgl. A 51.) Ebenso wird A 805 am Anfang der
Dialektik die Vernunft „isolirt". — Den Ausdruck „isoliren" erläutert
Kant sogleich selbst durch „absondern" oder auch „abtrennen"; besonders
der erstere Ausdruck findet sich bei Kant häufig; so zweimal in den gleich
vorhergehenden Absätzen, so auch in der Einl. 6 21 Anm. üeber die
Wichtigkeit dieser isolirenden Methode äussert er sich des Weiteren an
einer bekannten Stelle der Methodenlehre A 842: „Es ist von der äussersten
Erheblichkeit, Erkenntnisse, die ihrer Gattung und ihrem Ursprünge nach
von anderen unterschieden sind, zu isoliren, und sorgfältig zu verhüten,
dass sie nicht mit anderen, mit welchen sie im Gebrauche gewöhnlich ver-
bunden sind, in ein Gemische zusammenfliessen. Was Chemiker beim Scheiden
der Materien, was Mathematiker in ihrer reinen Grössenlehre thun, das liegt
noch weit mehr dem Philosophen ob, damit er den Antheil, den eine be-
sondere Art der Erkenntniss am Verstandesgebrauch hat, ihren eigenen
Werth und Einfluss sicher bestimmen könne." Und weiterhin sagt dann
Kant, es sei die Aufgabe, die Metaphysik „geläutert von allem Fremd-
artigen darzustellen". Vgl. die Vorrede zu den Met. Anf. d. Nat. (Ros. V,
307, 812. 317) und besonders die Abhandlung „über die teleologischen
Principien in der Philosophie", Ros. VI, 361.
Bemerkenswerth ist in dieser Stelle der Vergleich mit der Chemie.
Dieser entnimmt Kant, wie schon Oomm. I, 185 gelegentlich erwähnt
wurde, gerne Vergleiche und Ausdrücke. Dort fanden sich „Grundstoff,
Zusatz, Absonderung, Zusammensetzung", hier „rein", „isoliren", sonst
„Gemisch, Elemente, läutern" u. s. w. Auch sonst begegnet man dem Ver-
gleich mit dem Chemiker („Chymiker") häufig, so in der Anmerkung zur
Vorr, B 20; so in der Prolegomena am Schluss (nach § 60), wo Kant he-
kanntlich die Proportion aufstellt:
Kritik: Schul metaphysik = Chemie : Alchemie.
Kants »isolirende Methode**. 121
[R 33. H 57. E 73.] A 22. B 36.
Vgl. Gegenschrift gegen Eberhard I, B, Anm. = Ros. I, 417 über
die Methode des „Abstrahirens". Und am Schlüsse der Krit. d. pr. Yern.
(292) heisst es: „ein der Chemie ähnliches Verfahren, der Scheidung des
Empirischen vom Rationalen."
Diese Vorliebe für chemische Ausdrücke und Vergleiche findet ihre
Erklärung durch eine Stelle bei Jach mann, Kant, 8. 19: „Kant hatte
nach seinem 60. Jahre ganz besonders die Chemie liebgewonnen und stu*
dirte die neuen chemischen Systeme mit dem grössten Eifer*' u. s. w. So
erklärt es sich, dass Eucken constatirt (Bilder und Gleichnisse in der Phi-
losophie S. 24), dass Kant zuerst Begriffe der neueren Chemie zur Veran-
schaulichung angewendet habe.
Doch findet sich der Vergleich auch gelegentlich schon vor Kant. So
bei Hume, in seinen moraMschen Essays^ Appendix Ily „Of self-love**: „The
Epictirean may attempt hy a philosophical chemistry, to resolve the
elements of the passion of friendship , if I may so speak , into those of an
oiher'\ und bei Reid, Inquiry 45, der speciell die erkenntnisstheoretische
Analyse des „helief* mit der ^yChemical analysis" vergleicht.
Die Isolirungsmethode der Chemiker schwebt also Kant als Muster
vor. Aber in der oben angeführten Stelle aus der Streitschrift gegen Eber-
hard macht auch Kant darauf aufmerksam, dass der Philosoph nicht rea-
liter die verschiedenen Erkenntnisselemente von einander abtrennen kann,
sondern nur durch einen rein logischen, begrifflichen Abstractionsprozess.
Die Absonderung der reinen Sinnlichkeit besteht also näher in der Ab-
straction von den beiden anderen Factoren, dem logischen und dem sen-
suellen. Das Charakteristische der Kantischen Methode besteht eben in
diesem Isolirungsprocess, wobei durch Elimination der übrigen Factoren je
Ein Factor herausgelöst und gleichsam für sich präparirt wird. Vgl. Mellin I,
39 ff. (Artikel „Absondern".) . In welcher Weise (nach dem Vorbild der
Anatomie) sich Reinhold dies Absondern vorstellt, haben wir oben
S. 95 gesehen. Gegen diese „anatomische Methode" Kants s. auch Bach-
mann, PhiL m. Z. 147.
Diese „isolirende Methode" erregte nun schon damals mannigfache Be-
denken: so sieht in dieser chemischen Methode Reinhard (System der
christl. Moral I, Vorr.) den Grundfehler der kritischen Philosophie.
Diesen Vorwürfen gegenüber ist zwar die Bemerkung der Jacob'schen
Ann. III, 488 — 493, die Analogie der chemischen Scheidung passe hier
nicht, unrichtig, da Kant selbst das Bild begünstigt. Dagegen sind die
weiteren Berichtigungen beachtenswerth : R. bürde der krit. Phil, das Unter-
nehmen einer reellen Scheidung der Kräfte auf, und sage, dass sie jede
derselben für sich ins Spiel setzen wolle, ein Unternehmen, das nur einem
Unsinnigen einfallen könne. Es sei zunächst eine logische, abstracte Son-
derung, und dann gerade sei es das Bestreben Ks., zu zeigen, wie das
Ganze der Erkenntniss aus diesen verschiedenen Elementen entstehe.
K. habe zu diesem Behufe gezeigt, was die Sinne, was Verstand und
122 § 1. Einleitung.
A 22. B 86. [R 38. H 57. E 78.]
Vernunft bei der Erkenn tniss thuen und wie durch das Zusammenwirken
derselben ein Oanzes — Erkenntniss — entstehe. Die abstracte Heraus-
lösung der Merkmale der einzelnen Vermögen habe zur Ergänzung den
Nachweis des Wirkens derselben im concreten Zusammenhang des £r-
kenntnissprocesses. — Zur Entschuldigung Reinhards mag dienen, dass seine
Vorwürfe sich hauptsächlich auf die Scheidung der Pflicht und der Neigung,
der Tugend und der Glückseligkeit, sowie der theoretischen und der prak-
tischen Vernunft beziehen, sowie auf jenen Zwiespalt, der am Anfang der
Vorrede berührt und schon dort von Reinhard angegriffen wurde. (Vgl.
Commentar I, 82.) — Gegen Ks. „Isoliren"- auch Platner, Aph. ', § 656.
Besonders Hamann und seine Gesinnungsgenossen Herder und Jacobi
erhoben heftige Angriffe auf Ks. Methode; ihr Wortführer wurde besonders
Schlosser und speciell gegen Schlosser's Angriffe auf die analytische, iso-
lirende Methode bemerkt Schiller (Briefw. m. Goethe Nr. 426): „Sie und
wir anderen rechtlichen Leute wissen doch auch, dass der Mensch in seinen
höchsten Functionen immer als ein verbundenes Ganzes handelt, und dass
überhaupt die Natur überall synthetisch verfährt. Desswegen wird uns
doch niemals einfallen , die Unterscheidung und die Analysis, worauf alles
Forschen beruht, in der Philos. zu verkennen, so wenig wir dem Chemiker
den Krieg darüber machen, dass er diß Synthesen der Natur künstlicher-
weise aufhebt. Aber diese Herren Schi, wollen sich auch durch die Meta-
physik hindurch riechen und fühlen, sie wollen überall synthetisch erkennen,
aber" u. s. w. Herder, Metakr.. I, 88 nennt die tr. Aesthetik, weil sie
mit solcher Isolirung arbeitet, eine „sonderbare Wissenschaft". Ueber Ks.
chemische und isolirende Methode vgl. auch Baader, W. W. XI, 165,
406, 'ff., XVI, 417 (K. isolire die Sinnlichkeit wie einen Robinson Crusoe).
Auch Neuere haben an der Kantischen Methode Anstoß genommen;
so sagt der Kantianer F. A. Lange (Gesch. d. Mat. II, 33): „Ks. Methode
durch Isolirung der Sinnlichkeit zu entdecken, was für apriorische Ele-
mente in ihr enthalten sind, kann gerechte Bedenken erwecken, weil sie
auf einer Fiction beruht, deren methodischer Erfolg durch nichts verbürgt
wird. In keinem Erkenntnissakt kann isolirte Sinnlichkeit gleichsam in
ihrer Function beobachtet werden. Kant nimmt aber an, das könne ge-
schehen" und das Resultat ist die Trennung der apriorischen Form vom
empfindungsmässig gegebenen Stoff. Dieselben Vorwürfe bei Lange*s Gegner
Spicker (Kant S. 21 ff. 26 ff.), welcher diese „doppelte Trennung" für
den Grundfehler Kants erklärt; besonders bekämpft derselbe (S. 29 ffl 59)
die Trennung der „Empfindung" von der „empirischen Anschauung" als
ganz illusorisch. Weiteres bei Schneider, Ps. Entw. d. Apriori 6 ff. 122.
Mainzer, Einbildungskraft bei Hume und Kant, 40. 58. 67. 70. 85.
Biese, Erkenntnissl. des Aristoteles u. Kants, S. 62—68. Vgl. oben 65 ff. 71 ff.
Dagegen bat die Kantische Methode einen grossen Lobredner in
Riehl gefunden, welcher in seinem „Philosophischen Kriticismus" I, 343 ff.
(26) sich ausführlicher über diese Methode auslässt: „Die Vorstellungen
Die „Isolü-ung" der Formen der Sinnlichkeit. 123
[R 33. 34. H 57. 58. E 73.] A22.B 36.37.
sind das Material, das in seine ursprünglich erzeugenden Gründe zerlegt
werden soll, und diesen Weg nimmt Kant, den Weg einer rein begrifflichen
Analyse der Vorstellungen, um die Thatsache des Apriori zu begründen . . .
£r selbst zieht die Vergleichung mit der Chemie herbei, um sein Verfahren
zu kennzeichnen. Die Scheidung von Stoff und Form der Erkenntniss, die
SonderuDg der Bedeutung der Objecte in Dinge als Erscheinungen und in
Dinge an sich selbst erschien ihm im Bilde einer chemischen Analyse und
Beduction ... Es ist von Wichtigkeit, diese objective, weil an den Objecten
des Denkens, an den Vorstellungen ausgeübte Methode bei der Beurtheilung
des Kantischen Gedankenganges im Auge zu behalten/' Als blosse „wissen-
schaftliche Abstraction" betrachtet auch Cohen (2. A. 92. 102. 103. 110.
151. 153. 191. 345. 346. 355. 372. 544. 586) in diesem Sinne Ks. „isoli-
rendes*' Verfahren. In diesem Sinne nennt er mit Apelt die reine An-
schauung eine „heroische Abstraction". — Vgl. Schneider, Das Apriori
S. 26. König, Phil. Mon. 1884, 243 ff.
Baum und Zeit als Principien der Erkenntniss a priori. Diese
Stelle kann grammatisch doppelt ausgelegt werden; entweder gehört „a priori^'
zu dem Worte „Erkenntniss", dann heist das so vLbI als: Raum und
Zeit als Quellen apriorischer Wissenschaften, z. B. der Geometrie; oder
das Wort „a priori" gehört zu Principien — dieselbe Wortstellung findet
sich ja in dem vorhergehenden Absatz , woselbst die transsc. Aesthetik de-
finirt wird als die „Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit
a priori" — und dann ist der Sinn : Baum und Zeit als apriorische Prin-
cipien der Erkenntniss. Sachlich kommen beide Auslegungen auf dasselbe
hinaus: doch entspricht die letztere mehr dem Wortgebrauch und der Ab-
sicht Kants. Vgl. Comm. I, 229, Anm. 1.
Erster Abschnitt.
Ton dem Banme.
§ 2.
Metaphysische Erörterung dieses Begriffes.
Torbemerkung. Diese letztere üeberschrift ist Zusatz der 2. Aufl.;
dei'selbe steht im Zusammenhang mit , resp. im Gegensatz zu dem unten
folgenden Abschnitte, welchen die 2. Auflage unter dem Titel: „§ 3. Transscen-
dentale Erörterung" u. s. w. eingeschoben hat. Ueber Sinn und Tragweite
dieser üeberschrift, sowie über den umstrittenen Ausdruck „Begriff* an
dieser Stelle s. unten. Uebrigens steht die ganze üeberschrift streng ge-
nommen hier nicht an der rechten Stelle, sondern würde weiter nach unten
gehören, da ja der ganze erste Absatz sich nicht bloss auf den Baum,
124 § 2. Einleitendes.
A 22. B 37. [R 34. H 58. E 73.]
sondern aacb auf die Zeit als gemeinschaftliche Einleitung bezieht.
Die Ueberschrift wird daher auch erst unten erklärt werden.
Der äussere Sinn. Was die Commentatoren hierüber sagen, erhebt
sich nicht viel über blosse Umschreibungen. So definirt Schulz in seiner
,,Prüfung^^ II, 280: Das „Vermögen, durchs Afficirtwerden zu äusseren empi-
rischen Anschauungen zu gelangen, heisst der äussere Sinn.' ' Vgl. Meli in II,
471 ; V, 295. Lossius, Lex. IV, 168. In diesen rein formellen Erläuterungen
vermisst man insbesondere eine Aufklärung darüber, wie sich denn dieser
allgemeine äussere Sinn zu den 5 speciellen äusseren Sinnen verhalte?
In der Anthropologie § 13 lässt sich Kant so aus : „Die Sinne werden
in die äusseren und den inneren Sinn (sensus externus, internus} ein-
getheilt; der erstere ist der, wo der menschliche Körper (?) durch körper-
liche Dinge, der zweite, wo er (?!) durchs Gemüth afficirt wird." (Vgl.
zu dieser etwas seltsamen Stelle Kieser, Ueber den inneren Sinn. Bonn.
Diss. 1873. S. 21 f.) Der äussere Sinn, der (abgesehen von den „Vitalempfin-
dungen") in die bekannten 5 Sinne zerfallt, bezieht sich nach Anthropologie § 14
„auf äussere Empfindung*^ Diese Bestimmungen sind nicht gerade sehr genau
und scharf ; und auch sonst lässt sich Kant wenig über diesen (bisher wenig
behandelten) Punkt aus. Nur so viel geht hieraus, sowie aus den folgenden
Paragraphen der Anthropologie (bes. § 19) hervor, dass der Singularis „der
äussere Sinn'* abwechselt mit dem Pluralis „die äusseren Sinne'^ ohne dass
Kant sich über das Verhältniss des zusammenfassenden „äusseren Sinnes'"
zu den einzelnen ,, äusseren Sinnen" irgendwie genauer auslässt. Auch in der
Kr. d. r. V. selbst wechseln beide Ausdrücke : so heisst es A 381 „die Physio-
logie der Gegenstände äusserer Sinne". Vgl. auch sogleich unten A 26. Seh atz
sagt in der Jenaer Allg. Litt. Zeit. 1785, III^ 53: „K. nimmt das Wort
, äusseren Sinn* nicht in der gemeinen Bedeutung, da man fünf äussere
Sinne zählet, sondern für diejenige Eigenschaft unserer Sinnlichkeit, wonach
uns Dinge als ausser uns erscheinen. Das eigentliche Werkzeug dieses
äusseren Sinnes ist also das Gefühl; denn das Gesicht würde uns, ohne
in Verbindung mit dem Gefühl zu treten, allein keine Vorstellung von
Erscheinungen, die wir ausser uns selbst setzen würden, geben.*' Dass aber
diese Auslassungen nicht im Sinne Ks. sind, liegt auf der Hand. — Vgl.
hierüber auch Schulz, Prüfung I, 176 fif« (gegen Platners Behauptung«
der Baum sei eine blosse Gesichtsvorstellung). Wie Liebmann, An. d.
Wirk. 1. A. 156 berichtet, hat dagegen J. J. Engel gegen Kant bemerkt,
dass der Baum zunächst nur die Form zweier Sinne sei, des Gesichts und
Getasts. Diesen Einwand findet L. an sich treffend, rechtfertigt Kants all-
gemeinen Satz aber dadurch, „dass in den Gesichts- und Tastraum die
Sensationen der übrigen Sinne eingetragen werden". Uebringens hat auch
Schopenhauer jenen Einwand erhoben und erledigt (Satz v. Grunde
§ 21). — Zu dieser Frage bemerkt Krause in der Popul. Darstellung
S. 43: „Wohlverstanden! Wir haben nicht ein halb Dutzend äussere Sinne.
welche auf Empfindung hin Empfundenes räumlich wahrnehmen, sondern
Der äussere und der innere Sinn. 125
[R 34. H 58. K 74.] A 22. B 37.
einen einzigen äusseren Sinn; und, welche Empfindung auch komme, ob
Licht oder Härte, Ton oder Geruch, so regt sie diesen einen äusseren
Sinn an."
Scharfer bemerkt Riehl, Krit. II, a, 111 (II,. b, 292): „Wäre der
Raum die Vorstellung nur einer Anschauungsform, so müssten alle be-
liebigen Empfindungen in gleicher Weise räumlich geordnet werden können.
Thatsächlich werden es aber unmittelbar nur die Empfindungen des
Gesichts, und — wenn schon in bestimmter Hinsicht auf andere Weise —
die Empfindungen des Tastsinnes; alle übrigen dagegen nur durch (organische)
Association mit Tastempfindungen, die Töne z. B. durch Druck- und viel-
leicht auch Berührungsgefahle in den inneren Theilen des Ohres, die Ge-
schmackseindrücke durch die Tastempfindungen der Zunge. Diese that-
sächliche Verschiedenheit der Qualitäten in ihrer Beziehung zur Baum*
Vorstellung ist für die formalistische Theorie Kants vollkommen unerklärlich.
Warum gehören nur gewisse Empfindungen zum äusseren Sinne und stehen
unter Bestimmungen seiner Form?" Derselbe fuhrt 11, a, 157 weiter aus,
das Element der Baumanschauung sei die extensive Lichtempfindung. Vgl.
dazu Biehl's Aufsatz: der Baum als Gesichts Vorstellung in der Viert, f. w.
Phil. I, 215 ff. Eingehend hat derartige Einwände gegen Kant auch er-
hoben Spencer, Psychol. § 330, § 339 (Deutsch II, 176 ff., 360 ff.): nicht
alle Empfindungen werden in die Baumform gebracht, nur bestimmte.
Gegen die Bezeichnung des Baumes als äusseren Sinnes seitens
Kant erklärt sich Kuno Fischer (2. A. 346, 3. A. 343): Kant hätte besser
gethan, dem Vorgang des englischen Philosophen darin nicht zu folgen, da
die Bezeichnung die von Kant ja nicht getheilte Annahme voraussetze, als
ob die durch den äusseren Sinn wahrzunehmenden Dinge wirklich schon
unabhängig von uns ausser uns im Baume seien, während die äusseren
Wahrnehm ungsobjecte ja erst eben durch unsere Vorstellung als solche ent-
stehen. (Aehnlich Spicker, Kant 46). Vgl. dagegen Cohen, 85, 2. A.
192. 329. Vgl. über die ganze Stelle auch Baum an n, Baum und Zeit II,
654. Vgl. über diese „Paradoxie", dass der Baum, obgleich eine Vorstellung
in uns, doch ausser uns zu sein scheine, auch besonders Beinhold,
Th. d. Vorst. 396.
Der innere Sinn. Viel eingehender als über den äusseren Sinn
äussert sich Kant an vielen Stellen über den inneren Sinn; aber diese seine
Lehre vom inneren Sinn ist auch einer der schwierigsten Punkte seiner
Erkenntnisstheorie. Diese Schwierigkeiten treten allerdings erst später
hervor und sind daher auch erst später zu besprechen. (Vgl. sogleich unten
zu B 66 ff., sowie zur transscendentalen Deduction , besonders in der Dar-
stellung der 2. Auflage). Was Kant hier vom inneren Sinne sagt, ist ver-
hältnissmässig sehr einfach. Er stellt sich den inneren Sinn offenbar
parallel dem äusseren Sinne vor als eine Art Organ, vermittelst dessen wir
unsere eigenen Zustände auffassen. Unsere eigenen, inneren Zustände müssen
nach Kant erst noch durch einen besonderen Sinn erfasst werden, den sie
126 § 2. Einleitendes.
A 22. B 37. LR 34. H 58. E 74.]
afficiren müssen (sowie die Zustände der realen Aussenwelt den äusseren
Sinn), damit sie überhaupt Gegenstände unseres Bewusstseins werden können.
Weil nun dieser innere Sinn, als vermittelndes Organ, aber auch als tra-
bendes Medium, als ),einschränkende Bedingung'* B 158, dazwischen tritt,
erhalten wir eben nicht „die Anschauung der Seele selbst als eines Ob-
jects^S d. h. wie sie an sich ist. Dass „das eigentliche Selbst, so wie es
an sich existiii;, oder das transsceudentale Subject'", die „Seele" im eigent-
lichen Sinn des Wortes uns durch den inneren Sinn nicht gegeben werden
kann, wird A 360 und besonders A 492 deutlich wiederholt. „Allein es ist
doch eine bestimmte Form, unter das die Anschauung ihres inneren Zu-
standes allein möglich ist" — d. h. aber es gibt doch eine bestimmte
Form, [es heisst nicht: allein er ist, sondern es ist doch eine bestinmite
Form,] es muss doch eine bestimmte Form geben, unter der wir, wenn auch
nicht die Seele selbst, so doch ihre Zustände anschauen können. Wenn
wir unsere eigenen inneren Zustände anschauen wollen, so muss es
durch dieses innere Anschauungsvermögen geschehen. Dieses muss also
durch jene inneren Zustände auch erst afficirt werden. Daher sagt Kant
in der Anthropologie § 22: „Der innere Sinn ist nicht ein Bewusstsein
dessen, was der Mensch thut, sondern was er leidet, wiefern er durch
sein eigenes Gedankenspiel afficirt wird. Ihm liegt die innere Anschauung,
folglich das Verhältniss der Vorstellungen in der Zeit (sowie sie darin zu-
gleich oder nacheinander sind) zum Grunde." Die Zeitform ist die Bei-
mischung, der Zusatz, welchen das Organ der inneren Anschauung zu dem
reinen Sein der inneren Zustände hinzuthut, und wodurch eben dasselbe
für uns erst zur inneren Erscheinung werden kann. (Eine andere Aui^assung
dieses schwierigen Punktes bei B. Erdmann, Krit. 50—52, speciell darüber,
was den inneren Sinn afficire? Vgl. Wille, Phil. Mon. XV, 240.) Was die Com-
mentatoren hierüber sagen, erhebt sich meistens kaum über blosse Um-
schreibung des Kantischen Textes. Vgl. Schulz, Prüfung 11, 280;
Jacobs Annalen II, 322. Vgl. die Dissertation von Abel: De sensu
interno. 1797.
Die Lehre, dass es zur Wahrnehmung der psychischen Vorgänge auch
eines eigenen inneren Sinnes bedürfe, ist bekanntlich nicht erst bei Kant
aufgetaucht. Die Lehre vom inneren Sinn hat noch eine ältere Geschichte.
Vgl. hierüber die reichen historischen Nachweise bei Volkmann, Psycho-
logie II, S. 180 ff. Vgl. auch Hans Kieser, üeber den inneren Sinn.
Bonner Dissert. 1873. Diese Geschichte ist freilich dadurch sehr ver-
wickelt, dass der Ausdruck »innerer Sinn", resp. ^innere Sinne* früher für
etwas anderes gebraucht wurde, nämlich für die sog. Seelenvermögen,
speciell die vnaginaiio, memoria, phantasia u. s. w. Die Anwendung des
Ausdrucks „innerer Sinn" auf die Selbst wahr nehmung ist erst später hervor-
getreten. Man spricht zwar in dieser Hinsicht auch schon von einer Lehre
des Aristoteles vom „inneren Sinne'', allein bei ihm findet sich der Ans-
dnick nicht. (Vgl. Siebeck, Gesch. d. Psychologie 1, b, S. 45. 483 und
Der innere Sinn und seine Geschichte. 127
[B 34. H 58. E 74.] A 22. B 37.
bes. Cl. Bänmker, Des Ar. Lehre von den äusseren und inneren Sinnes-
vermögen 1877). Die ,y8ensu8 interni" bei Deseartes haben den oben ange-
deuteten Sinn. (Vgl. Koch, Psych, d. D. 170 ff.). Die Anwendung des Aus-
druckes 9 innerer Sinn'' auf die Selbstwahrnehmung unter Analogie mit
den äusseren Sinnen als Organen der Aussenwahrnehmung findet sich, wie
es scheint, ausdrücklich erst bei Locke. In seinem Essay on hwnan under-
Standing II, 1, § 2 ff. führt er folgendes aus: Unser Beobachten entweder
der äusseren wahrnehmbaren Dinge oder der inneren Vorgänge in unserer
Seele ist es, was den Verstand mit dem Stoff zum Denken versieht. Die £ine
Quelle ist die Sinnes Wahrnehmung (Sensation): sogelangen wir zu den Vor-
stellungen desOelben, Weissen, Heissen, Kalten, Weichen, Harten,
Bittern, Süssen u. w. w. Zweitens ist die andere Quelle die Wahr-
nehmuDg der Vorgänge in unserer eigenen Seele. Wenn die Seele auf
diese inneren Vorgänge blickt und sie betrachtet, so versehen sie den
Verstand mit einer anderen Art von Vorstellungen, die von Aussendingen
nicht erlangt werden können; dahin gehören das Wahrnehmen, das
Denken, Zweifeln, Glauben, Begründen, Wissen, Wollen. Diese
Quelle von Vorstellungen hat Jeder ganz in sich selbst, und obgleich hier
nicht eigentlich von einem Sinn gesprochen werden kann, da sie ja mit
äusseren Gegenständen nichts zu thun hat, so ist sie doch den Sinnen
sehr ähnlich und könnte ganz richtig innerer Sinn genannt
werden. {y,Iniemal Sense"). Da ich jene erste Quelle schon „Sensation **
nannte, so nenne ich diese „Reflexion', Selbstwahrnehmung. Be-
merkenswerth ist nur noch, dass dann Locke später II, 14 die Vorstellung
der Zeit aus der Selbstwahrnehmung ableitet, während die Vorstellung
des Baumes aus der Aussenwahrnehmung entsteht (II, 13). Diese Neben-
einanderstellung mag dann dazu beigetragen haben, dass Kant darauf kam,
wie den Baum als die Form der äusseren, so die Zeit als die Form der
inneren Erscheinungen zu fassen. Ueber die weitere Geschichte dieser Lehre
bei Berkeley und Hume s. Volkmann, Gesch. d. Psych. II, 180 ff. Diese
beiden nehmen die Sache und den Ausdruck unbedenklich von Locke herüber.
Bei Berkeley {Treatise, Sect. LXXXIX) wird der Ausdruck „inward feeling*^
gebraucht. Hume spricht von „the external and intemcA senses*^ Öfters.
Der Gegensatz von „Perception" und „Apperception" bei Leibniz
deckt sich nur theilweise mit jenem Locke'schen Gegensatz von äusserem
und innerem Sinn. In seinen Nouveaux Essais ist Leibniz bei der betref-
fenden Stelle nicht näher auf die Sache eingegangen, spricht aber 402 B (Ed.
Erdmann) von ,yle8 sens externes et internes" Bei Wolff fehlt der Ausdruck
„innerer Sinn", wie es scheint, ganz. Auch Baumeister in seinen De-
finüiones phüosophicae ex systemate Wolffii gebraucht den Ausdruck nicht;
wo er von der Sache spricht, § 692, steht der Ausdruck j^apperceptio". In
der Wolffischen Schule wird der Ausdruck nicht gebraucht. Es gibt aller-
dings ein Göttinger Programm von Feder von 1768: „De sensu intemo",
aber er versteht darunter die damals aufkommende Lehre vom „common .
128 § 2. Einleitendes.
A 22. B 37. [B 34. H 58. K 74.]
sense^^ der Engländer. (Vgl. auch Baumgarten, Metaph. § 396.) Dagegen
hat die eklektische Psychologie jener Zeit den Locke'schen Gegensatz un-
verändert aufgenommen und ihr hat sich Kant darin unbedenklich an-
geschlossen. Speciell hat sich Kant hierin wie in so vielen seiner psycho-
logischen Voraussetzungen an Tetens gehalten. (Vgl. B. Erdmann , Krit.
51. 251.)
In diesem Sinne gebraucht K. den Ausdruck in seinen früheren
Schriften öfters, so z. B. in der Schrift gegen die syllog. Figuren, Ros. I, 73:
„Vermögen des inneren Sinnes, d. h. seine eigenen Vorstellungen zum Objecte
seiner Gedanken zu machen". (Vgl. dazu Bergmann, Logik 216.) lieber die wei-
tere Entwicklung der Sache bis zur kritischen Zeit s. Reflexionen I, S. 49,
N. 66. 70. 108. II, 313. 324. 364. 384 ff. 1291. 1326. Vgl. dazu Kants
Vorl. über Metaphysik, 101. 127. 130. 133. 200 f., 211. 213. 221. 253 f., 255.
304. Vgl. B. Erdmann, Phil. Mon. XIX, 136. XX, 76. Dass die „Zeit
die Form der inneren Sinnlichkeit" sei, tritt zuerst im Brief an Herz vom
21. Februar 1772 auf. Uebrigens gebraucht K. gelegentlich auch den
Plural: die inneren Sinne, so Reflex. II, 324; so auch in der Kritik, gleich
unten A 38: „Der Gegenstand der inneren Sinne" (cf. A 381). Damit schliesst
sich Kant an den oben besprochenen früheren Sprachgebrauch an; es liegt
also in der Stelle A 38 auch wohl kein „Schreibfehler Kants" vor, wie
Seydel meint (Grenzboten, 1883 S. 590).
Mit Rücksicht auf die schwankende Terminologie jener Zeit in Bezug
auf diesen Ausdruck sagt Ulrich in seinen Institutiones Logicae et Meta-
physicae (1785), in welchen er sich in diesem Punkte ganz an Kant
anschloss (§ 46. 52): „Ambiguum sensus interni vocahulum, quo ei ipsas
quctsdam non setisus, sed intelUctus jamjam functioneSf judicia et ratiocmia
temere quidam (e. gr, Helvetius) complectuntur , quodque pluribus non ndnus
ambiguae potestatis vocabulis permutari videmus (e. gr. reflexionis, Selbstgefühl,
Bewusstsein) — adeo in arctum angustumqtte eoncludimus, ut sU ea pars na-
turae sentientis, quae intueatur ea, qucte non sunt in spatio, non extra nos,
et extra se posita, {temporis lege et forma,) veluti ipsos diversos animi
Status, ipsas intellectus functiones et actus, conatus, aciiones et peissiones, im-
petum ac vitn quandam, qua in aliquid ferimur, facUitatem ac difficuUatem,
voluptatem ac taedia^
Volkmann, Psychologie II, 185, macht die durchaus zutreffende, all-
gemeine Bemerkung: „Die Glanzperiode in der Geschichte des inneren Sinnes
bildet die Kantische Auffassung desselben. Kant vermittelt gewissermassen
zwischen der Locke'schen und Leibniz'schen Anschauungsweise; jener nähert
er sich dadurch, dass er den inneren Sinn wieder in die strenge Parallele zu
dem äusseren zurückversetzt: mit dieser stimmt er darin überein, dass er den
Ursprung der allgemeinen Erkenntnissbegriffe nicht aus dem inneren Sinne
in der Locke'schen Bedeutung, sondern aus dem Verstände ableitet.**
Gegen Kants Lehre vom inneren Sinn, die er an dieser Stelle so un-
genirt einführt, ist oft Opposition erhoben worden ; vgl. z. B. Baader, W. W.
Der innere und der äussere Sinn. 129
[B 84. H 58. K 74.] A23.B87.
IV^ 93—106. XI, 32. 86. 208 ff., XVI, 454. Die schärfsten und gelungensten
Angriffe gegen die Lehre sind jedoch von Herbart ausgegangen, besonders in
seiner Psychologie II, 1, Cap. 5, § 115 — 128 „Von der Apperception , dem
inneren Sinn und der Aufmerksamkeit'*. Besonders richtig und für uns
wichtig ist Herbarts Bemerkung daselbst (W. W. VI, 189): „dass Kant
den inneren Sinn in die ersten Zeilen bringe, nicht eben in der Meinung,
ein Problem aufzustellen, sondern vielmehr den Grundstein zu allem
Nachfolgenden zu legen.'* In der That bildet Ks. Lehre vom inneren (wie
vom äusseren) Sinn hier an dieser Stelle eine Prämisse, welche trotz ihrer
ausserordentlichen Tragweite ohne jeden Beweis als selbstverständlich ein-
geführt ist, und zwar eine Prämisse in zwei Sätzen, von welchen jeder
gleich problematisch ist, obgleich beide gleichermassen assertorisch, ja apo-
diktisch eingeführt werden: 1) es bedarf eines eigenen inneren Sinnes, um
die inneren Zustände wahrnehmen zu können; 2) die Form dieses inneren
Sinnes ist die Zeit. In der That eine schwerwiegende Doppelprämissel
Gegen jene Angriffe (welche auch von den Herbartianern wiederholt
wurden, so von Drobisch, Psych. § 56, vod Volkmann a. a. 0., auch von
Nicht-Herbartianern, so von Bergmann, Metaph. 214 f., 225. 233) haben
die Kantianer ihren Meister zu vertheidigen gesucht, bes. J. B. Meyer,
Ks. Psych. 241 f., 268—286, welcher übrigens im Anschluss an Fries Ks.
Lehre einigermassen modificirt, sowie Cohen, 2. A. 328 ff., bes. 335. —
Vgl. Carus, Gesch. d. Ps. 497. Fortlage, Psych. I, 18. Thiele, I, b, 299.
Aeusserlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig
wie der Baum als etwas in uns. Mit diesen Worten (welche von
Mellin 11, 471 falsch erklärt werden) will K. offenbar sagen: unsere inneren
Zustände sind nur in der Zeitform, nicht in der Raumform anschaubar:
daher ist eben der Raum nicht in uns, oder unsere Bewusstseinszustände
tragen ihn nicht an sich, ebensowenig als die physischen Erscheinungen die
Zeit äusserlich an sich tragen, und diese richtige Erklärung hat Mellin
selbst anderwärts (III, 486) aufgestellt. Wie stimmt dies aber zu Kants
sonstigen Aeusserungen, z. B. „alle Dinge sind im Räume, der Raum aber ist
in uns*'; A 373: „Der Gegenstand heisst ein äusserer, wenn er im Räume,
und ein innerer Gegenstand, wenn er lediglich im Zeitverhältnisse vor-
gestellt wird; Raum aber und Zeit sind beide nur in uns anzutreffen'*?
Offenbar hat hier das „in uns'* einen anderen Sinn, als in unserer Stiel le (wie
auch „ausser uns" nach A 378 einen doppelten Sinn hat, einen empirischen
und einen transscendentalen). Das „in uns" an unserer Stelle ist das
empirische Innere; in unserem Innern, sofern es selbst Erscheinung ist,
findet sich nur die Zeit- und nicht die Raum form ; aber beide sind „in
uns", sofern sie Formen unseres Gemüths sind, wobei eben das diese Formen
als Eigenthümlichkeit an sich tragende Ich, das Subject, nicht das gemeine»
sondern das reine, transscendentale Ich ist. Vgl. Mellin III, 481 — 486
(Artikel „Inneres"). Ulrich, Instit. S. 36. 54. 55. Vgl. auch die schon
oben S. 125 angeführte Stelle von Reinhold, Th. d. Vorst. 396.
Vaihinger, Eant-Gommentar. U. 9
130 § 2. Einleitendes.
A 23. B 87. [H 34. H 68. E 74.]
Diesen Gegensatz des äusseren und des inneren Sinnes, von denen jener
das Ministerium des Aeusseren j dieser das des Inneren im Reich der Er-
kenntniss spielt, haben die Commentatoren oft und mit Vorliebe ausgeführt.
Eine besonders gute Umschreibung der Stelle liefert Holder S. 9 (15, 16):
„Entsprechend den zwei Klassen, in welche alle unsere Anschauungen zerfallen,
wird jener Abstractionsprocess von der Empfindung auf zwei Grundformen
unserer Anschauungen uns führen. Als eine Welt farbiger Gestalten, wider-
st andleistender Körper stehen unsere äusseren Anschauungen vor uns,
welche auf Grund unserer Gesichts- und Tastempfindungen entstanden sind;
die letzte Grundform, in welcher sie sich darstellen, ist der Raum. Um-
gekehrt findet sich in unserem Bewusstsein eine Kette von AnscbauungeD,
welchen die sinnliche Frische, die plastische Gestaltung des ersteren fehlt,
welche als Selbstanschauungen, als Wahrnehmungen des eigenen Seelen-
zustandes, sich uns darstellen: ihre Grundform ist die Zeit.^'
In den Reflexionen finden sich einige beachtenswerthe Stellen zur
Entwicklung der Lehre vom äusseren und inneren Sinn. Nach Refl. I,
N. 87. 88 erhalten wir den Raum durch das Gesicht, die Zeit durch das
Gehör, die Substanz durch das Gefühl. Nach Refl. II, N. 396 (397). 632
enthält der Raum die Form aller Coordination in der Anschauung, die Zeit
die der Subordination. (Vgl. oben S. 60.) Nach N. 400 ist der Raum die
Bedingung der unendlichen Aggregation, die Zeit die der unendlichen Appo-
sition. Vgl. ferner ib. N. 399. 404. 405. 506. In dem von B. Erdmann
mitgetheilten Manuscript (Phil. Mon. XX, 76) heisst es: „Die Zeit ist die Be-
dingung des Spiels der Empfindung, der Raum aber des Spiels der Gestalten.''
Eine kurze Geschichte der Lehren von der Sinnlichkeit, Tom
äusseren und vom inneren Sinn gibt Rein hold, Briefe I, Nr. 10 u. 11,
S. 316 ff. : „Die reine Sinnlichkeit, das eigentliche Vermögen afficirt zu
werden, das weder dem Verstände, noch der Organisation, sondern dem
Vorstellungsvermögen zukommt, war also zwischen dem Verstände und dem,
was man sonst Sinnlichkeit nannte, vertheilt, und zwar so, dass von ihren
beiden Bestandtheilen der eine (der innere Sinn) mit dem Verstände,
und der andere (der äussere Sinn) mit der Organisation oder eigent-
licher mit seinen fünf empirischen Modificationen , den fünf Sinnen, zu-
sammen genommen wurde" u. s. w. Reinhold verfolgt dies besonders durch
die griechische Philosophie.
In dem Unterschied des äusseren und inneren Sinnes findet Bilharz,
Erläuterungen 161 „eine der unglücklichsten, verwirrendsten Unterscheidunj^en
Kants" u. s. w. Auch Bergmann, Sein und Erkennen, S. 72 ff. 86. lt)8
hat gegen die Stelle heftig opponirt. Andererseits hat Noire in seinen
verschiedenen Schriften den Unterschied des äusseren und inneren Sinnes,
als dem fundamentalen Gegensatz von Bewegung und Empfindung ent-
sprechend, mit Vorliebe entwickelt.
Was sind nun Raum und Zeit? Diese allgemeine Frage theilt sieb
nun sogleich in mehrere Unterfragen, deren Gliederung nicht ohne Weitere»
Die Problemstellung: Was sind Baum und Zeit? 131
[B 34. H 58. E 74.] A28.B37.
auf der Hand liegt, so wichtig gerade eine solche logisch genaue Problem-
gliedemng ist. Die verschiedenen möglichen Fälle werden von Kant an
mehreren Stellen auch in verschiedenartiger Gliederung aufgezählt ^ In der
Dissertation schon heisst es § 14, 5: Tempus non est objectivum aliquid et
reale, nee suhstantia, nee aceidens, nee relatio, sed subjectiva con-
ditio. Ebendaselbst § 15D: Spatiutn non est aliquid objectivi et realis,
nee substantia, nee aceidens, nee relatio; sed subjeetivum et ideale.
Und ebendaselbst § 15E: Quamquam eonceptus spatii ut objectivi cUicujus
et realis entis vel affectionis sit imaginarius u. s. w. Vgl. dazu Kants
Reflexionen II, N. 393. 395. 706. 1124. Lose Blätter I, S. 249 f. Brief au
Herz vom 21. Febr. 1772. Hier in der Kr. d. r. V. sind folgende Stellen
zu beachten: A 25: „Der Raum stellet gar keine Eigenschaft irgend
einiger Dinge an sich oder sie in ihrem Verhältniss auf einander vor,
d. i. keine Bestimmung derselben, die an den Gegenständen selbst haftete.
Denn weder absolute noch relative Bestimmungen können vor dem Da-
sein der Dinge angeschaut werden." Von der Zeit heisst es A 32: „Die
Zeit ist nicht etwas, was für sich selbst bestünde, oder den Dingen als
objective Bestimmung anhinge." Nachher heisst es: „als eine den
Dingen selbst anhangende Bestimmung oder Ordnung."* Und A 35 wird
weiter von der Zeit gesagt: „Wir streiten ihr allen Anspruch auf absolute
Realität, da sie den Dingen als Bedingung oder Eigenschaft anhinge.
... sie kann den Gegenständen an sich selbst weder subsistirend noch
inhärirend beigezählt werden." Vgl. dazu ferner A 38 N. u. A 39. B 70
wird von „Ungereimtheiten" gesprochen, „in die man sich alsdann ver-
wickelt, indem zwei unendliche Dinge, die nicht Substanzen, auch nicht
etwas wirklich den Substanzen Inhärirendes, dennoch aber Existirendes
sein müssen , übrig bleiben". Diesen Stellen liegt folgende gemeinsame
Gliederung zu Grunde:
* Eine Uebersicht der verschiedenen Möglichkeiten findet sich in jener Zeit
häufig, besonders in Folge des bekannten L ei bniz-Clar keuschen Streites.
Uebrigens findet sich eine solche auch schon bei Gassendi, Dephil, Epic. T, 613.
Opp. Phil. I, 182. Ganz dieselbe Zusammenstellung wie Kant hat schon Cr usius,
Notw. Vemunftwahrheiten, § 49 ff. : „Raum ist kein vollständiges Ding, keine an-
klebende Eigenschaft, auch kein blosses Verhältnisse — Andere Gliederungen bei
Jacob, Metaph. S. 262; bei Weishaupt, Zweifel über die Kantischen Begriffe
von Zeit und Raum, S. 20 ff. — Liebmann, Obj. Anblick 178: »Der Raum ist
Eigenschaft, namenloses Realprincip, ein Verhältniss, eine Substanz oder endlich
gar Nichts. Die Reihe der Möglichkeiten dürfte damit so ziemlich erschöpft und
durchgerathen sein.* Ueber diese ontologischen Kategorien und ihre eventuelle
Anwendbarkeit auf den Raum vgl. auch Lotze, Metaph. S. 196. Diese ganze
Fragestellung verwirft (vgl. oben S. 83) Herbart, W. W. V, 505, weil damit
R. u. Z. schon zu selbständigen Objecten hypostasirt werden, während sie blosse
»Möglichkeiten* seien ; vgl. noch unten Herbarts Polemik gegen das zweite Raum-
argument. Vgl. Cohen, 2. A. 147; Massonius, Aesth. 68 ff. Ueber die Zeitfrago
speciell s. Döring in der Viert, f. wiss. Phil. 1890, 395 ff.
132 § 2. Einleitendes.
A 28. B 87. [R 84. H 58. K 74.]
I. Sind Baum und Zeit etwas Objectives? {objedivuin et reale).
A) Sind sie selbst Substanzen? (substantia).
B) Sind sie etwas den Substanzen Inbärirendes?
a) als (absolute) Eigenscbaftsbestimmungen? {aecidem),
ß) als (relative) Verbältnissbestimmungen? (relaUo).
II. Sind sie etwas bloss Subjectives? (subjecHvum et ideale).
Am besten kommt diese Gliederung zum Vorschein in den beiden zuerst
angeführten Stellen aus der Dissertation. In der dritten oben angeführten
Stelle aus der Dissertation scheint „affectio*' im Gegensatz zu f,en8^ die beiden
Möglichkeiten des „accidens^ und der „relatio'' zusammenfassen zu sollen,
und würde also dem entsprechen, was Kant sonst im Gegensatz zu „Sub-
stanzen'' bezeichnet als „das den Substanzen Inhärirende". Dafür spricht
die Definition , welche die Metaphysiker von affectio geben ; so z. B. B a u-
m eist er, Definitiones Phil. Wolff, N. 375. Doch kann affectio vielleieht
ungenauer Weise auch nur das Eine Glied jener Disjunction, die Eigenschaft
(= aecidem) bezeichnen sollen, wie dies Fischer, Kant, 2. Aufl. 8. 335 N.
annimmt. Solche üngenauigkeiten sind bei Kant häufig (so behandelt er
z. B. an der angeführten Stelle der Dissertation § 15 D doch nicht jene drei
Möglichkeiten, sondern nur zwei: Baum als Substanz = receptactdum, und
Baum als Verhältniss = relatio; den dazwischen liegenden Fall, Baum =
Eigenschaft, führt er daselbst gar nicht aus). In der Stelle A 25 werden
die beiden Fälle: Eigenschaft und Yerhältniss als „absolute" und „relative
Bestimmungen'' bezeichnet; der erste Fall, Baum = Substanz, ist dort un-
genauer Weise ausgefallen, während er in der Parallelstelle über die Zeit
richtig mit aufgeführt ist. Auch der Terminus „Bestimmung" ist nicht
gleichmässig gebraucht; (er entspricht dem lateinischen Terminus „determi-
natio^ ; so Baumgarten, Metaphysica § 41).
Abgesehen von der Annahme der Subjectivität von Baum und 2^it,
für welche Kant selbst sich entscheidet, sind es somit drei Möglichkeiten,
welche in Betracht kommen, wenn man Baum und Zeit als etwas Objectives
betrachtet: sie sind
1) entweder Substanzen,
2) oder Eigenschaften,
8) oder Verhältnisse.
Jene Subjectivität mit eingeschlossen, sind es vier Möglichkeiten. Vgl.
dazu Fischer, Kant, 2. A. 333 ff., 3. A. 339; Trendelenburg, Beiträge
III, 227. 256; Biehl, Krit. I, 312; II, a, 80 ff., woselbst diese „schul-
gerechte Form des Problems" besprochen und die erste Theorie auf Car-
tesius, die zweite auf Spinoza, die dritte aufLeibniz bezogen wird (der
Gegensatz von Substanz und Attribut habe jedoch auf den Baum angewendet
keinen Sinn). Nur drei Möglichkeiten (ein „Trilemma") nimmt an Gott-
schick, Zeitschr. f. Philos. 79. 152 ff., indem er Eigenschaft und Verhältniss
unter der Inhären z zusammenfasst. Uebersichtlicher ist deren Trennung, wie
Was sind Raum und Zeit? Kants Tetralemma. 133
[B 84. H 58. E 74.] A 28. B 87.
oben, so dass wir es also mit einem Tetralemma (im weiteren Sinne, s. üeber-
weg, Logik § 123) zu thun haben.
Die vorliegende Stelle legt übrigens noch eine andere Gliederung, als
die oben gegebene, nahe:
I. Sind Raum und Zeit etwas Subsistirendes?
IT. Sind sie nur etwas Inhärirendes?
A) Inhäriren sie den Dingen an sich?
a) Als Eigen Schaftsbestimmungen?
ß) Als Verhältnissbestimmungen?
ß) Inhäriren sie dem Subjecte?
Diese Gliederung wird denn auch ausdrücklich angegeben, z. B. von
Brastberger, Untersuchungen über Ks. Kr. d. r. V. S. 44, sowie bes. in
dem anonymen Werke „Hauptmomente der kritischen Philos." S. 81. Und
auch den, allerdings im Uebrigen th eilweise sehr wunderlichen Ausführungen
von Cohen, Ks. Theorie d. Erf. I.A. 51 if., 2. A. 166 ff. liegt die richtige
Einsicht in diese Eintheilung zu Grunde, welche auch Erdmann, Kriticismus
S. 19 vertritt. Es lässt sich auch gar nicht leugnen , dass der vorliegende
Text diese Gliederung näher legt, als die vorhin angegebene; indessen ist
jene erstere Gliederung, welche in den Parallelstellen befolgt ist, doch die
natürlichere. Es ist auch logisch zweckmässiger, die eigene Lösung Kants
als die Eine Hauptmöglichkeit zu fassen, und alle anderen bisherigen Lösungen
als Einzelfälle einer zweiten möglichen Hauptauffassung darzustellen.
Interessant sind die historischen Notizen, welche Kant zu der Frage:
„Ist der Raum etwas Wirkliches? Substanz, Accidenz, Relation?'* in einem
Fragment der „Losen Blätter" I, 249 f. hinzufügt: „Hohbes: [spatium] est
phantctsma rei existentis tanquam externae, Cartesius spatium habet pro
abstracto extensionis materiae. His accedit Leibniz. Clarke vero defendit
realUcttem spcUii. Netoton: est sensorium omnipraesentiae divinae. Epicur
behauptete die subsistirende , Wolf die inhärirende Realität des Raumes."^
„Clarke hielt [die Zeit] vor real als reine Zeit ; Leibniz vor einen empiri-
schen Begriff der Succession." Bemerkenswerth ist hieraus besonders der
mehrfache Hinweis auf den grossen Streit zwischen Leibniz und Clarke,
dessen Studium (bes. seit 1765) für Kants Entwicklung entscheidend ge-
worden zu sein scheint; auch für die mit der Aesthetik unmittelbar zu-
sammenhängende Antinomienlehre bekam Kant aus diesem Streite die
lebhafteste Anregung. —
Kant behandelt hier von vorneherein das Problem der Zeit ganz ebenso
wie das des Raumes, ohne sich über die Berechtigung dieser parallelen
Stellung näher auszulassen. Schon in der Abhandlung über die Negativen
Grössen machte Kant die Behandlung der Zeit von der des Raumes abhängig,
* Nach Wulff ist der Raum ^ein bloss der empirischen Anschauung (Wahr-
nehmung) gegebenes Nebeneinandersein des Mannigfaltigen ausser einander", sagt
Kant gelegentlich, in der Vorrede zur Met. d. Sitten (1), Res. IX, 7.
134 § 2. Einleitendes. Ezcurs.
A 28. B 87. [R 84. H 58. E 74.]
Ros. I, 116 (vgl. Dietrich, K. u. Newton 244). Es hat nicht an Stimmen
gefehlt, welche diese Zusammenstellung verwerfen. So tadelt der Kantianer
Göring, Raum und Stoff 15, diese „lockere und doch so gefährliche Ver-
bindung". Schon Feder hat davor gewarnt (Phil. Bibl. III, 133 f.). Vgl.
auch Platner, Aphor. 3. A. § 805. Gegen diese parallele Stellung von
R. und Z. äussert vom Kantischen Standpunkte selbst aus erhebliche Zweifel
auch Riehl, Krit. I, 353 f. „Damit die Zeit Anschauung genannt
werden konnte, musste sie erst in das Bild einer Linie übersetzt werden.
Der Ausdruck ist nicht bloss metaphorisch, sondern geradezu irreführend.
Ich zweifle auch, ob die Zeit in derselben Bedeutung sinnlich heissen
dürfe, wie der Raum . . . Kant selbst empfindet diesen Unterschied. Während
er den Raum mit Recht den Sinnen zuweist, schwebt die Zeit in einer
unbestimmten Mitte zwischen einer rein sinnlichen und rein begrifflichen
Vorstellung [in der Lehre vom Schematismus] . . ." Auch Lotze hat sich
gegen die von K. behauptete „Ebenbürtigkeit" der Zeit mit dem Räume
ausgesprochen, Metaph. S. 289. Diesen Einspruch hat R. Geijer bestritten,
und gegen diesen wieder Hoff ding aufrecht erhalten (Phil. Monatsh. 1888,
428 ff.). Gegnerisch auch Bergmann, Metaph. 210.
Ein anderes, aber damit zusammenhängendes Problem ist, ob nicht
vielleicht die Zeit besser vor den Raum gestellt würde. In der Kr. d. r. V.
stellt Kant die Zeit immer in die zweite Linie, ohne darüber jemals sich
rechtfertigend zu äussern. In der Dissertation dagegen stellte er die Zeit
voran als die allgemeinere und fundamentalere Anschauungsform (vgl. hie^
über noch unten zu A 34, Schluss c betreffs der Zeit). Neuerdings ist diese
Priorität der Zeit wieder mehrfach behauptet worden, so von Wundt,
Logik I, S. 428 ff.; vgl. auch desselben „System", 127 ff.; von Riehl, Krit.
II, a, 115, weil die Vorstellung des Raumes erst mittelst der Zeitvorstelluog
erworben werde (Bain). Vgl. auch B. Erdmann, Axiome d. Geom. 121.
Engelmann, Ding an sich, S. 14 — 22. Spir, Denken und Wirklichkeit
1 , 263 ff. , II , 3 — 14 (nebst scharfer Kritik der K.'schen Zeittheorie über-
haupt). — Diese Priorität der Zeit auch bei Taine, die entgegengesetzte
bei Magy; vgl. hierüber Luguet, Notion d^espace, Paris 1875, S. 107 ff.
Excurs.
Die möglichen Fälle.
Hier liegt nun die Frage sehr nahe, ob Kant in seiner Fragestellung
denn auch alle Möglichkeiten berücksichtigt habe? Dass dies nicht geschehen
sei, dass K. eine Hauptmöglichkeit übersehen habe, war die Behauptung von
Trendelenburg. Dieser Angriff war die Ursache des Trendelenburg-
Fischer'schen Streites (vgl. dazu die Literaturübersicht). Derselbe
wird in der Geschichte der deutschen Gelehrtenstreitigkeiten stets eine her-
vorragende Stellung einnehmen wegen der Bedeutung des Streitobjects, wegen
der weittragenden Consequenzen der verschiedenen Beantwortung der Streit-
Die Controverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer. 135
frage, wegen der Ausdehnung des Streites auf andere mehr oder minder
wichtige Punkte, wegen der hervorragenden Stellung der beiden Kämpfer,
wegen der Menge der beiderseitigen Streitgenossen, wegen der Theilnahme
weiterer Kreise, und nicht zum Letzten wegen der persönlichen Erbitterung
der Kämpfenden. Heute, nach mehr als 20 Jahren, darf die Letztere als
verraucht gelten ; wir wenigstens sind in der glücklichen Lage, ohne jegliche
Voreingenommenheit uns rein an die Sache halten zu können, um die es
uns einzig und allein zu thun ist. Und so können wir hoffen, aus dem
hitzigen Streit jener Tage den rein wissenschaftlichen Ertrag für die Gegen-
wart zu gewinnen.
Wie eben angedeutet, hat sich nun aber der Streit auch auf andere,
mehr oder minder wichtige Punkte ausgedehnt: und hiebei handelte es sich
immer wieder darum , ob K. Fischer in seine Darstellung der Kantischen
Lehre von R. u. Z. Unkantisches aufgenommen habe, ob seine Darstellung
eine authentische oder eine gefärbte, ja verfälschte und verfälschende sei?
Wie es zu gehen pflegt, ist im Verlaufe des Streites dieser ursprüngliche
Nebenpunkt immer mehr in den Vordergrund getreten, wahrend „jene
Hauptfrage immer mehr zur Nebenfrage zusammengeschrumpft ist^' (Cohen,
Z. f. V. 7, 251). Jene rein interpretatorischen Einzel controversen kommen
jedoch gerade für unseren Gommentar sehr in Betracht, und so sind denn
dieselben auch an den betreffenden Orten gebührend berücksichtigt und von
unserem Standpunkt aus entschieden worden. Die Behandlung der ursprüng-
lichen Hauptfrage aber hat an; dieser Stelle zu beginnen, wird sich aber auf
mehrere andere Hauptstellen weiter unten ausdehnen müssen.
Ehe wir in diese Behandlung eintreten, muss eine nothwendige Vor-
bemerkung vorausgesendet werden. Nur ein in der Sache Unkundiger oder
ein in literarischen Streitigkeiten Unerfahrener wird erwarten, dass wir auf
die Frage: Wer hatte Recht? Trendelenburg oder K. Fischer? die runde
Antwort abgeben können: Dieser oder Jener. Denn mehr noch als sonst
bei derartigen Streitigkeiten sind die Streitschriften beider Gegner ein ver-
filzte« Gewebe von Wahrheit und Irrthum, von Scharfsinn und Kurzsichtig-
keit. Wir haben demnach die Aufgabe, Sonne und Schatten nach Gerechtig-
keit auf beide Parteien zu vertheilen, und nur vorher noch mit allem
Nachdruck zu wiederholen, dass ein einfaches Ja oder Nein die Oberfläch-
lichkeit sowohl des Fragers als des Beantworters verrathen würde. —
Trendelenburg bemerkt in den Beiträgen 3, 227 zu dieser Stelle :
„Diesen Fragen liegt eine Eintheilung zum Grunde, in welcher sich die
Möglichkeit , den Kaum aufzufassen , so gliedert : der Raum ist entweder
objectiv, sei es als wirkliches Wesen, sei es als Bestimmung an einem
wirklichen Wesen, oder er haftet nur an der subjectiven Beschaffenheit
unseres Gemüths. Die dritte Möglichkeit ist nicht bedacht.^^ Diese
berühmte „dritte Möglichkeit^' besteht nach den sonstigen Erklärungen Trs.
darin: Der Raum ist objectiv und subjectiv zugleich; in Trs. eigenen
Worten (223): „In der Lehre von R. u. Z. wird es diese drei Ansichten
geben können: Entweder R. u. Z. sind nur objectiv, Erfahrungsgegen-
136 Excars. Die möglichen Fälle.
stände, oder sie sind nur subjectiv, nur Formen in unserem Geiste, oder
sie sind subjectiv und objectiv zugleich, dem Vorstellen nothwendig,
in den Dingen wirklich." Diese „dritte Möglichkeit" wird (246) dahin er-
läutert: „sie spricht dem B. und der Z. einen apriorischen Ursprung in der
Vorstellung, aber zugleich eine Geltung in den Dingen zu". (Vgl. Trend,,
Entg. S. 2.)
Diese Ausführung (welche übrigens noch nicht in den Log. Unters,
enthalten ist) besticht zunächst durch ihre scheinbare logische Prägnanz, bei
näherem Hinsehen entpuppt sie sich als sehr unlogisch. K. wirft hier an
dieser Stelle — um diese handelt es sich zunächst — die Frage
nach der Geltung, nach dem Bealitätswerth von B. u. Z. auf. Und da gibt
es — wenigstens zunächst — nur zwei Möglichkeiten: entweder haben B.
u. Z. reale Gültigkeit, Gültigkeit für die Dinge „an sich", d. h. sie sind
objectiv und real; oder sie haben keine reale Gültigkeit, und dann haben
sie eben nur ideale Gültigkeit, d. h. sie haften nur am Subject, d. h. sie
sind nur subjectiv und nicht real. Diese Disjunction ist trotz Trs. Einspruch
(222) nicht „unvollständig"; die „stillschweigende Voraussetzung" (245)
derselben ist ganz berechtigt bei Kant; denn jene dritte Möglichkeit Trs.
kann es da überhaupt gar nicht geben: „objectiv und subjectiv zugleich"
hiesse ja: der Baum ist erstens etwas Beales, und dazu zweitens etwas
nicht-Beales, d. h. also, er wäre A und non-A zugleich. Das ist also voll-
ständiger Widerspruch.
Die Frage lautet also nicht mehr: Wie ist es möglich, dass K. an
dieser Stelle jene „dritte Möglichkeit nicht bedachte"? sondern: Wie ist es
möglich, dass Trendelenburg, um mit Kant zu reden, „ein Denker von Ge-
werbe", der Verfasser „Logischer Untersuchungen", einen solchen Fehler
gegen das erste Gesetz der Logik machen konnte?
Bei aufmerksamer Leetüre der oben mitgetheilten Worte Trs. entdeckt
man bald die Fehlerquelle.
Tr. hat zwei ganz heterogene Probleme, zwei Fragen, welche in ganz
verschiedenen Ebenen liegen , mit einander verwechselt , nämlich die hier
allein und zunächst in Betracht kommende Geltungsfrage mit der hier
zunächst gar nicht in Betracht kommenden Ursprungsfrage. Ob die ent-
ferntere Schuld dieser Verwechslung nicht auf Kant selbst abzuwälzen sei,
steht hier zunächst nicht in Frage; sondern wir haben jetzt nur bei
Trendelenburg jene verhängniss volle Verwechslung zu verfolgen, und da
finden wir, dass das Medium derselben der Terminus „subjectiv" ist.
Subjectivität des Baumes bedeutet bei Tr. bald , dass der Baum „vom
Objectiven ausgeschlossen sei" (225), dass er keine „Geltung für die Dinge'*
habe (227), dass er ihnen also „abzusprechen" sei, dass ihm also Idealit<ät
(225) zuzuschreiben sei. In diesem Zusammenhange, in welchem es sich nor
um den Geltungswerth des Baumes handelt^ ist subjectiv = ideell (= nur
subjectiv). Bald aber bedeutet bei Tr. Subjectivität des Baumes so viel als,
dass er seinen „Ursprung in der Thätigkeit unseres Geistes" habe (223),
dass „er in uns dem Wahrnehmen und Erfahren vorangehe" (226); in diesem
Trendelenburgs „Dritte Möglichkeit ist formell logisch unrichtig. 137
ZasammeDhange, in welchem es sich um die Ursprungs frage handelt, ist
subjectiv = a priori (225).
Diese beiden ganz heterogenen Bedeutungen von „subjectiv^' sind in
jener Aufz&hlung der drei Möglichkeiten von Tr. promiscue gebraucht worden.
Jene drei Möglichkeiten waren:
1) der Raum objectiv,
2) der Baum nur subjectiv,
3) der Baum subjectiv und objectiv zugleich.
In dem Gegensatz der beiden ersten Möglichkeiten, wie sie von Kant
selbst aufgestellt worden sind , handelt es sich um Bealität (Objectivitftt)
oder Idealität des Baumes: im letzteren Falle, im Falle der Idealität, ist
derselbe ideell = nur subjectiv. Subjectiv ist also hier eben = nur sub-
jectiv, wie ja Kant selbst ganz deutlich erklärt, indem er eben in seinem
Texte selbst das Bedeutsame „nur'' mit aufgenommen hat. In diesem Gegen-
satz handelt es sich zunächst nur um die Geltungs frage. Aber in der
dritten Möglichkeit, welche Trendelenburg hinzufügen zu müssen glaubte,
liegt ja die Sache ganz anders. Hätte „subjectiv'' hier dieselbe Bedeutung
wie oben, so hiesse die dritte Möglichkeit ja: der Baum ist zugleich real
und nicht-real, zugleich reell und ideell — und dies ist ein offenbarer Wider-
spruch. „Subjectiv" hat hier eben die andere Bedeutung = apriorisch, und
nun hat die Behauptung einen Sinn, und zwar eben den Sinn, welchen Tr.
oft genug in allen möglichen Variationen wiederholt: der Baum ist erstens
apriorisch, hat seinen Ursprung im menschlichen Subject — als Vor-
stellang; was aber seine Geltung betrifft, so ist er zweitens trotzdem
zugleich real. (Vgl. die oben S. 135 — 186 mitgetheilten Stellen Trs.)
Hier sieht man nun auf den ersten Blick, dass das dritte Glied gar
nicht auf dieselbe Linie mit den beiden ersten Gliedern zu stellen ist: denn
in den beiden ersten Möglichkeiten handelt es sich nur um die Geltung,
in dem dritten aber um Ursprung und Geltung. Jene Trendelenburg'sche
Zusammenstellung ist also in dieser Form eigentlich nur ein Wort- oder
Begriffsspiel, bei welchem die stilistische Zuspitzung mit der logischen
Schärfe in umgekehrtem Verhältniss steht. Aber gerade diese Verbindung
einer bestechenden Form mit einem undurchdachten Inhalt verschaffte dem
Begriffsspiel überall leichten Eingang und wird wohl auch in Zukunft den-
selben Effect haben. Und doch beruht es auf einem groben Verstoss gegen
eine wichtige Begel der formalen Logik: auf der Vermischung verschiedener
Eintheilungsprincipien !
Der logische Fehler Trendelenburgs liegt also in der Vermischung
der Geltungsfrage und der Ursprungsfrage. Die dritte Möglichkeit
in dem Sinne, in welchem er sie aufstellt, ist somit aus diesem Grunde ganz
unberechtigt. Was er sonst noch vorbringt, ist unten in einem anderen
Contexte zu prüfen ; dort wird auch der Zusammenhang jener beiden Fragen
in Betracht kommen ; insbesondere die Hauptfrage , ob Kant Becht habo^
aus dem apriorischen Ursprung der Baumvorstellung ohne Weiteres auf die
Idealität des Baumes zu schliessen; wir werden dort auch Tr. durchaus
138 Excurs. Die möglichen Fälle.
Becbt geben müssen, wenn er in diesem Beweis eine ,,Lücke^' findet. Aber
hier, wo es sieb um die von Kant aufgeworfene Frage bandelt: Was sind
Baum und Zeit? sind sie etwas Reales oder etwas Ideelles (= nur Sab-
jectives)? hier, wo es sich nur um die Geltung bandelt, musste jene
Trendelenburg'scbe „dritte Möglichkeit^' als ein logisch ganz unberechtigtes
Gebilde zurückgewiesen werden.
Man sollte nun denken, dass jene Quelle des Trendelenburg'schen
Fehlers dem aufmerksameren Nachdenken nicht lange hätte verborgen bleiben
können. Aber in der Hitze des Streites übersah man gerade diese Haupt-
sache; ja selbst die Gegner Trs. Hessen sich durch jene formell zugespitzte
Aufstellung blenden. Aus allem wenigstens, was K. Fischer gegen Tr.
vorgebracht hat (Log. u. Met. 2. A. 174 ff.; Gesch. III, Vorrede IV ff. ; Anti-
Tr. 46 ff.), geht hervor , dass er jene Verwechslung der Geltungs- und der
Ursprungsfrage nicht nur nicht durchschaute, sondern selbst theilte. Ja,
er hat durch seine Darlegungen in der Log. u. Met. (1865) den Fehler,
welchen Tr. in den Beiträgen (1867) beging, offenbar mitverschuldet \
Jene Verwechslung liegt aber bei Trendelenburg offen da, und viele
St.ellen zeigen deutlich, wie sehr er beides in einen falschen Zusammenhang
brachte, so bes. Beiträge 3, 222. Auf dieser falschen Verbindung beruht
folgende Hauptstelle (223): „Hiernach unterscheiden sich drei Ansichten in
voller Schärfe. Denn es ist etwas Anderes, ob man den Raum u. d. Z. für
nur objectiv hält, wie der Empirismus die Vorstellung des R. u. d. Z.
erst aus dem Aeusseren empfängt und entnimmt, und gegen diese Möglich-
keit wendet sich Kant; oder ob man sie für nur subjectiv hält, so dass
sie nichts sind, als in unserem Geist bereit liegende Formen, und diese An-
schauung behauptet Kant; oder ob man sie, wie die Logischen Unter-
suchungen [also Trendelenburg selbst] ausführen, für subjectiv und
objectiv zugleich hält, dergestalt, dass sie aus einer für den Geist and
die Dinge geltenden ursprünglichen Thätigkeit entstanden, beides, snb*
jective und objective Bedeutung haben." Wie in dieser Stelle die Geltungs-
und die Ursprungsfrage durcheinander gewürfelt werden, liegt auf der Hand.
Gerade diese letzte Stelle aus Tr. bietet uns nun den Anlass, die Ver
schiedenheit und den eventuellen Zusammenhang der Geltungs- und der
Ursprungsfrage hier zu erörtern , und auf Grund dieser Erörterung die
möglichen Ansichten über den Raum neu zu disponiren. Aus dem bisher
von uns gegen Tr. Ausgeführten geht hervor, dass es vom Standpunkt der
Geltungsfrage (zunächst) nur zwei Ansichten geben kann:
^ Grapengiesser S. 14 hat denselben jedoch theilweise erkannt, und tadelt
S. 39 die »Confusion* Trs, welche auch Bergmann, Phil. Monatsh. V, 274 offen
zugibt. Unverständlich, wie so häufig, Cohen, Th. d. Erf. 70 ff.; vgl. gegen Cohen
auch E. V. Hartmann, Real. 121. Ganz richtig hat diesen Punkt auch erkannt
C e 8 c a , Doitrina Kantiana 146. Dass jene beiden Probleme — das des Ursprangs
und das der Gültigkeit — genau zu trennen seien, hat besonders stark und deut-
lich auch Lotze wiederholt betont; vgl. bes. Metaphysik, S. 194 ff. Vgl. auch
schon Herbart, W. W. VI, 116.
Richtige Gliederung der Möglichkeiten. 139
I. Der Raum ist etwas Reales.
IL Der Raum ist etwas Nicht-Reales, somit nur Vorgestelltes,
Ideelles.
Vom Standpunkte der Ursprungs frage gibt es (zunächst) ebenfalls
nur zwei Hauptansichten:
I. Die Raumvorstellung des Menseben ist aas der Erfahrung entstan-
den, d. h. in und mit den Empfindungen resp. Wahrnehmungen als
solcben schon mitgegeben, also empirisch resp. aposteriorisch.
II. Die Raumvorstellung des Menseben ist nicht in und mit den
Empfindungen mitgegeben, sie kommt zu diesen erst hinzu aus dem
inneren Fonds des vorstellenden Subjects, ist also aprioriscb.
Die beiden Fragen und deshalb aucb die auf dieselben gegebenen Ant-
worten sind von einander so wenig abhängig, dass vielmehr folgende vier
Combinationen möglieb sind:
1) Der Raum ist seiner Geltung nacb real, seine Vorstellung in uns
ihrem Ursprung nach aposteriorisch.
2) Der Raum ist seiner Geltung nach ideal, seine Vorstellung ihrem
Ursprung nach aposteriorisch.
3) Der Raum ist seiner Geltung nach real, seine Vorstellung ihrem
Ursprung nacb apriorisch.
4) Der Raum ist seiner Geltung nach ideal, seine Vorstellung ihrem
Ursprung nach apriorisch.
Es ist leicht, zu diesen vier Combinationen die entsprechenden histori-
schen Typen aufzufinden:
1) Die erste Ansicht ist die des gewöhnlichen Menschenverstandes,
sowie des Empirismus, voran von Locke.
2) Die zweite Ansicht ist die von Berkeley.
3) Die dritte Ansicht ist die von Trend elenburg.
4) Die vierte Ansicht ist die E antische.
Aus dieser Aufstellung (welche übrigens auch schon Arnoldt a. a. 0.
119 ff. im ^Wesentlichen richtig aufgefunden , aber nicht weiter gegen Tren-
delen burgs Trilemma verwerthet hat) ergibt sich nun auch, in welch ver-
kehrter Weise Tr. in seiner oben zuletzt aufgeführten Stelle das Geltungs-
und das Ursprungsproblem durcheinander geworfen hat. Wer die Objectivität,
d. fa. die Realität des Raumes behauptet, kann bezüglich des Ursprungs der
menschlichen Raumvorstellung noch jene zwei entgegengesetzten Ansichten
haben , er kann hierin Apriorist (wie Trendelenburg selbst) oder Empirist
sein. Tr. freilich stellt nun als erste Möglichkeit hin: „Der Raum ist nur
objectiv," und dies sei die Ansicht des Empirismus. Dieses „nur — objectiv''
hat streng genommen keinen Sinn; denn Niemand kann lehren, dass der
Raum bloss etwas Objectives sei und nicht auch zugleich eine Vorstellung
in uns ; in der Meinung, welche aber Tr. mit dem Ausdrucke verbindet, sind
wieder Geltung und Ursprung zusamraengekoppelt. K. Fischer (Gesch. III,
140 Excurs. Die möglichen Fälle.
Vorr. IX) umschreibt dies so: „blosse Objectivität" bedeute, dass beide (R.
u. Z.) in der Natur der Dinge ursprünglich gegründet seien, unabhängig
von unserer Anschauung. In dieser Umschreibung sind Geltung und Ur-
sprung wieder in verschwommener Weise verquickt. Durch dieses unrein-
liche Ineinanderfliessenlassen beider an sich heterogenen Gebiete kann also
nur Verwirrung entstehen. Trennt man die beiden Bedeutungen, welche in
dem „nur — objectiv" stecken, so erhalten wir a) die reale Geltung, b) den
aposteriorischen Ursprung. Wird diese Trennung vollzogen, so findet man
eben auch den Fall, welchen Trendelenburg selbst eben deshalb ganz über-
sehen hat: die Berkeley 'sehe Ansicht, welche die Negation der realen Geltung
mit dem aposteriorischen Ursprung verbindet. Ebenso zweideutig, wie jenes
„nur objectiv", ist nun auch das „nur — subjectiv", der zweite Trendelen-
burg'sche Fall. In diesem „nur — subjectiv" sind wiederum zwei Be-
deutungen innig versohlungen: a) die Leugnung der realen Geltung, d. h.
die Idealität ; und b) der apriorische Ursprung. Hebt man die unnatürliche
Verbindung auf, so findet man auch von dieser Seite aus wieder jenen von
Tr. übersehenen Fall der Berkeley'schen resp. Hume'schen Ansicht, welche
die Idealität des Raumes mit der Aposteriorität seiner Vorstellung verbindet.
So ist es denn zunächst Trendelenburg selbst, dem der Vorwurf einer
übersehenen Möglichkeit zu machen ist; und dieses Ueb ersehen hängt bei
ihm, wie wir sahen, mit einem auffallenden logischen Versehen zusammen.
Wie steht es nun mit Kant selbst? Hat er selbst vielleicht jene vier-
gliederige Combination erkannt? Arnoldt hat zwar, a. a. 0. 119, das
plausibel zu machen gesucht, aber davon kann keine Rede sein. Kant
spricht nirgends, weder direct, noch indirect, von einer solchen Combination.
Auch hat er factisch nicht alle Fälle berücksichtigt. Er wendet sich wohl
gegen den empirischen Realismus Locke's, wie gegen den empirischen Idealis-
mus Berkeley's und bekämpft deren Raumtheorien'; aber den dritten Fall
hat er allerdings , wie wir unten zu A 26 (Schluss a) zu erörtern haben
werden, so gut wie unberücksichtigt gelassen. Den Grund dieser Nicht-
Berücksichtigung hat Trendelenburg ganz richtig eingesehen : weil in Kants
Denken Apriorität und exclusive Subjectivität aufs engste mit einander ver-
wachsen waren: diese Gedankenverbindung war ihm zu einer „indissoluble
association^ geworden. Also sachlich hat, wie wir sehen werden,
Trend elenburg doch Recht. Aber die formale Einkleidung seines Ein-
wurfes in das Gewand jener „dritten Möglichkeit" mussten wir als unlogisch
zurückweisen, weil in jener Formel die Geltungs- und die Ursprungsfrage
in unklarster Weise vermischt waren.
* Kant hat, wie wir oben S. 71 if. sahen, dabei ohne Weiteres die Voraus-
setzung gemacht, dass der Raum nicht durch Empfindung gegeben sein könne.
Insofern vermisst Pflüger, Aesthetik, S. 12. 40, mit Recht in Kants Disjnnction
das Glied: „oder sind R. u. Z. Wirkungen von Gegenständen auf unsere Vor-
stellungsfähigkeit, sofern wir von denselben afficirt werden, d. h. sind sie Empfin-
dungen?**
Noch eine weitere Möglichkeit. 141
Diese Vermischung kann man auch schon bei Kant selbst finden. Denn
den zweiten Hanptfall, den der Idealität, hat er so ausgedrückt, dass der
Leser, der an Kants Sprache gewöhnt ist, ohne Weiteres die Idealität mit
der Apriorität verquickt finden muss: denn er drückt den Fall so aus, dass
B. u. Z. „nur an der Form der Anschauung allein haften'^ u. s. w. „Form
der Anschauung'* heisst aber bei K. immer so viel als apriorische Form
der Anschauung, und so würde denn Kant hier selbst die Ursprungs- und
die Greltungsfrage in unklarer, ungeklärter Weise mit einander vermischen.
Allerdings brauchen wir den vorliegenden Ausdruck nicht in jener starken
Weise zu pressen ; dann wäre hier bei Kant nur vob der Geltung die Rede,
und dann bliebe ihm jener Vorwurf erspart — aber nur um einem anderen,
noch schwereren Platz zu machen.
Diesen Vorwurf hat Trendelenburg, welcher doch diese Stelle gründ-
licher ansehen musste, nicht erhoben, obgleich der Vorwurf sowohl dem
Logiker als dem Historiker hätte nahe liegen müssen. Kant hat hier näm-
lich noch eine weitere, sehr wichtige Möglichkeit übersehen, auf welche
wir in der obigen Entwicklung zunächst keine Rücksicht genommen haben,
welche aber jetzt für sich zu discutiren ist. Wir sagten oben: bezüglich
der Oeltung gibt es „zunächst nur zwei Ansichten":
I. Der Raum ist etwas Reales, Objectives.
II. Der Raum ist etwas Nicht- Reales , somit nur Vorgestelltes,
Ideales, Subjectives.
Zwischen diesem A und non-A scheint es kein Drittes geben zu können:
der Raum ist entweder real — oder nicht-real. Man kann hier wieder die
Unzulänglichkeit solcher nach dem Gesetz des ausgeschlossenen Dritten auf-
gestellten Disjunctionen recht deutlich sehen: die Disjunction hat nur dann
Gültigkeit, wenn statt „real" gesetzt wird „absolut-real". Denn es könnte
ja doch sein, dass der Raum theils real, theils nicht-real wäre.
Der Fall ist ja, im Gegensatz zu den beiden anderen Fällen, leicht
auszudenken. Ist der Raum nach der ersten Annahme real, so heisst das:
unserer Raum Vorstellung entspricht in der absoluten Wirklichkeit ein ganz
ebenso geartetes räumliches Verhältniss der realen Dinge. Ist der Raum
nach der zweiten Annahme nicht-real, ideal, so heisst das: unserer Raum-
vorstellung entspricht in der absoluten Wirklichkeit gar nichts; wir haben
in der Raum Vorstellung es mit einem rein-subjectiven Gebilde zu thun. Nun
ist aber doch noch folgender Fall denkbar: unserer Raum Vorstellung ent-
spricht in der absoluten Wirklichkeit ein zwar nicht ebenso geartetes, aber
doch analoges Verhältniss der Dinge an sich. Es gibt doch zwischen Alles
und Nichts ein Mittelding: weder Alles, noch nichts, aber Einiges. Man
kann sich nun dieses analoge Verhältniss der Dinge an sich wiederum
verschieden ausmalen, darauf kommt es aber hier zunächst gar nicht an,
sondern nur-^uf die allgemeine Möglichkeit, dass, wie wir den Fall ausdrücken
können, der Raum theils real, theils ideal, oder wenn wir so sagen wollen,
theils objectiv, theils subjectiv sei in dem eben festgelegten Sinne.
142 Excors. Die möglichen FäUe.
Dass Kant diese Möglichkeit übersehen hat, kann ans nicht Wander
nehmen: wer eine neue philosophische Theorie aufstellt, wird im Eifer, in
der Begeisterung weder nach rechts, noch nach links blicken'; jene rechts
oder links liegenden Wege werden ihm von vorneherein als Irrwege er-
scheinen ; anstatt den Anderen zuzurufen, dass sie auf falschen Wegen gehen,
geht der grosse Mann mit der berechtigten Einseitigkeit eines Genies seinen
eigenen neuen Weg — wenn er auch jenen Anderen wieder als ein Irrweg
erscheinen muss. Solche Rücksichtslosigkeit ist, wie gesagt, das Vorrecht
genialer Naturen. Dafür ist es wieder das Vorrecht der gesunden Durch-
schnittsmenschen, zwischen allen jenen Irrwegen die goldene Mittelstrasse zu
wandeln, und die Einseitigkeitsfehler jener stürmischen Genies in ruhiger,
nüchterner Prüfung zu erkennen.
Auf dieses letztere Vorrecht hat Trendelenburg, der es sonst wohl zu
wahren wusste, in diesem speciellen Falle verzichtet. Dieses üebersehen ist
um so wunderlicher, als ja nicht bloss schon Leibniz jenen dritten Fall
angenommen hatte, sondern auch Herbart und Lotze denselben neuerdings
wieder vertreten. Es ist merkwürdig, dass man in der ganzen Discussion
über die Trendelenburg-Fischer'sche Streitsache nicht auf diesen Punkt zu
sprechen kam, ja dass überhaupt in der neueren Kantliteratur dieser nahe-
liegende Fall nirgends gründlich abgehandelt worden ist. Die Kantliteratur
des vorigen Jahrhunderts, welche der heutigen in vieler Hinsicht qualitativ
überlegen ist, hat diesen Punkt sehr eingehend erörtert. Und mit Recht.
Denn der Punkt ist ausserordentlich wichtig. Wenn Kant diesen Fall nicht
berücksichtigt hat, so hat er nicht bloss an dieser Stelle einen enormen
Fehler gemacht, sondern sein ganzes System schwebt dann in der Lnit
Und Kant hat allerdings gerade diesen Fall hier, wie sonst, mit Still-
schweigen übergangen. Seine Aesthetik ruht von vorneherein auf einer un-
vollständigen Disjunction. Man sieht — dieser Vorwurf lautet ganz ähnlich,
wie oben der Trendelenburg'sche ; aber er betrifft jetzt einen ganz anderen Fall.
Dass Kant jene Möglichkeit übersehen habe, mussten ihm diejenigen,
die sich an Leibniz hielten, bald zum Vorwurf machen ^. Niemand hat dies
^ Weniger günstig beurtheilt Ueberweg jene Einseitigkeit Kants; er wirft
es demselben (Logik § 137) Überhaupt als einen allgemeinen und funda-
mentalen Fehler seines Denkens vor, unvollständige Disjunctionen in
seinen Obersätzen gemacht und deshalb bei den entscheidenden Punkten seiner
theoretischen und praktischen Philosophie immer die , dritte Möglichkeit* Qber-
sehen zu haben.
* Schon Lambert hat in seiner Recension (1773) von Herz' Betrachtungen
(Allg. D. Bibl. 20, 228) auf diese Möglichkeit hingewiesen : ,Wenn man annehmen
will, die Begriffe von R. u. Z. seien Bilder, unter welchen wir uns die Dinge tot-
stellen, so sind es wenigstens nicht leere Bilder, weil in den Dingen selbst noth-
wendig etwas zu Grunde Hegt, das diesen Bildern durchaus und nach allen Modi-
ficationen entsprechen muss, so dass diese Bilder uns durchaus statt dessen dienen
können, was in den Dingen selbst dabei zum Grunde liegt.* Unter den existirenden
Dingen müssen solche Verhältnisse und Verbindungen sein, welche mit den Äum-
Lamberts Einwand: unser Raum ein SimvUacrum des wahren Raumes. 143
•
besser gethan, als Pistorius, jener (besonders unter den Zeichen Sg und
Wo schreibende) scharfsinnige Recensent in Nicolai's Allg. Deutscher Biblio-
thek. Von seinen Recensionen kommen besonders in Betracht die in jeder
Hinsicht meisterhaften Besprechungen von Schulze's Erläuterungen, von
Jacobs Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden und von Schmids
Abhandlung gegen Seile (Bd. 66 , St. 1 ; 87, St. 2 ; 88 , St. 1 ; vgl. St. 2,
S. 153). Es heisst da: ,R. u. Z. können, ehe man über ihre Natur irgend
etwas ausmacht, vorlaufig als Vorstellungen in der menschlichen Seele be-
trachtet werden, von denen es gleichfalls vorläufig kann angenommen werden,
dass sie entweder bloss subjectiv, oder bloss objectiv, oder endlich beides,
subjectiv und objectiv zugleich sind. Dies sind die drei Hypothesen , die
über die Begriffe von R. u. Z. möglich sind . . . Man muss den wahren Sinn
jeder von den drei möglichen Hypothesen darstellen und von der sich auch
hier einmischenden Vieldeutigkeit befreien." Die erste Hypothese sei die
Eantische, die zweite die Newton'sche, die dritte die Leibniz'sche.
Die erste, die Kantische Hypothese, lehrt: „Dass wir die Subjecte im
Räume anschauen, dies rührt lediglich von der besonderen Bildung und Ein-
lichen und zeitlichen eine , durchgängige Vergleichung" zuliessen. In diesem Sinne
muss insbesondere unser Raum ein „Simulacrum" des wahren Raumes sein.
Genau dasselbe hatte Lambert aber auch schon in seinem Briefe an Kant vom
Dec. 1770 gesagt, und ausdrücklich gewünscht: „Ich dächte, das simulacrum
spatii et temporis in der Gedankenwelt könnte bei Ihrer vorhabenden Theorie ganz
wohl mit in Betrachtung kommen.* — Aehnlich hatte auch Mendelssohn in
seinem Briefe an K. vom 23. Dec. 1770 bezüglich der Zeit geäussert: „Die Zeit
ist nach dem Leibniz ein Phaenomenon und hat, wie alle Phänomene, etwas
Objectives und etwas Subjectives.* Schwankend äussert sich Herz in
seinen Betrachtungen, S. 44. 64. 75. 81. 123.
üebrigens hatte Kant das Problem in der Dissertation gestreift; er fragt
§16 ausdrücklich: quonam principio ipsa haec relatio omnium substantiarum nitatur,
quae intuitive spectata vocatur spatium ? Dem von uns wahrgenommenen spatium
entspricht also eine ipsa substantiarum relatio. Er beantwortet die subtilis
quaestio dahin, dass die Verbindung aller Erscheinungen im Raum ein Gegenbild
der Verbindung aller Substanzen in dem Urwesen sei, ideoque spatium, quod est
conditio universalis et neeessaria compraesentiae omnium sensitive cognita, diei potest
omnipraesentia phaenomenon. (§ 22 Scholion,) Doch will Kant auf solche indaga-
tiones mystieas (welche nicht bloss, wie Kant sagt, an Malebranche, sondern noch
viel mehr an Swedenborg erinnern) nicht näher eingehen; und bemerkt nur noch
einmal (§27) ausdrücklich, es sei (wie schon Euler gesehen habe) dem intellectus
humanus unmöglich, diejenigen relationes externas bei den substantiis immaterialibus
zu erkennen , welche dem Raum , der Bedingung der Beziehung der materiellen,
aber nur erscheinenden Dinge entsprechen. — Kant erkennt also relationes der
Dinge an sich an, welche dem Raum correspondiren, hält sie aber für unerkennbar.
Dem gegenüber bleibt der Einwand Lamberts aber doch immer noch, ja um so
mehr im Recht, dass von den räumlichen Beziehungen der Erscheinungen auf die
wahren Beziehungen der Dinge an sich — wenigstens bis zu einem gewisse Grade —
ein Analogieschluss erlaubt, ja geboten ist.
144 Excurs. Die möglichen Fälle.
richtung nnseres Geistes her, ist lediglich hierin und keineswegs in den Ob-
jecten, oder in irgend einer Beschaffenheit nnd in ihnen zugehörigem Prädicat
begründet."
Die andere Hypothese will sagen: „B. n. Z. sind für sich auch ausser
unserer Vorstellungskraft und gänzlich von derselben unabhängige, för sieb
bestehende Dinge, etwa das Convolut, worin die Dinge existiren, oder es
sind wenigstens beständige und inhärirende Eigenschaften der Dinge an sich.'
„Endlich, wie ist die dritte Hypothese, dass die Vorstellungen von
Raum und Zeit beides zugleich subjectiv und objectiv sind, zu ver-
stehen? Ohne Zweifel so, dass man zugestellt, dass irgend eine Eigenheit
in der Natur der menschlichen Vorstellungskraft den Grund enthalte, warum
wir uns die Objecto in Baum und Zeit vorstellen müssen ; aber da diese
Vorstellungen auch objectiv sein sollen, so wird Obiges so eingeschränkt^
dass, jener Eigenheit des menschlichen Geistes ohnerachtet, doch nie eine
Vorstellung von B. u. Z, in demselben entstehen würde, wenn nicht in den
Gegenständen selbst ein Grund und eine Veranlassung dazu läge/
Diese Mittelhypothese sei nicht nur „eine verständliche und denk-
bare Hypothese*, sondern „sie wird uns auch bald die wahrscheinlichste
unter den dreien werden, weil derjenige, der sie annimmt, durch alle die
Gründe, welche sich die Anhänger der beiden anderen entgegensetzen, gar
nicht in Verlegenheit gesetzt wird, sondern alles, was beide Parteien, an
deren Spitze Newton und Kant stehen, für sich anfuhren, sehr gut erklären,
und mit seiner Mittelhypothese vereinigen kann*. P. zeigt im Einzelnen,
dass diese Hypothese sich nicht bloss mit den Kantischen Argu-
menten für die Apriorität der Baumvorstellung ganz gut ver-
trage, sondern auch eine Beihe von Vortheilen biete, welche der Kantischen
Hypothese abgehen *.
Es ist selbstverständlich, dass Pistorias jene „Mittelhypothese* auch
auf die Kategorien und Ideen ausdehnt. Auch diese sind ihm nicht bloss
subjectiv, sondern „subjectiv und objectiv zugleich* in dem oben festgesetzten
Sinne. „Analogische Belationen* müssen zwischen den Dingen an sieb
bestehen, wie wir sie z. B. im Causalgesetz zwischen den Erscheinungen an-
nehmen. In der objectiven Welt „muss Aehnliches oder Entsprechendes
stattfinden * .
Es ist nun ebenso bemerkenswerth als natürlich, dass in Bezug auf
die Verstandesbegriffe sich die Annahme „an alogischer Belationen* der
Dinge an sich immer mehr in die Annahme vollständiger Harmonie ver-
^ Eine naturgemässe (obgleich nicht absolut nothwendige) Er^nzung dieser
Theorie ist es übrigens, dass, wie die Gültigkeit der Baumvorstellung ,theils
subjectiv, theils objectiv" geworden ist, auch ihr Ursprung nicht mehr rein im
Subjectiven gesucht werden kann. Nach Pistorius ist denn auch (ähnlich wie bei
Lotze) zwar die Räumlichkeit auch eine specifische Function des Subjects, aber
sowohl die allgemeine Natur als die specielle Anwendung jener Function wird durch
die Objeete mitbedingt. Insofern haben die Vorstellungen von R. u. Z. eine »ver-
mischte Natur", sie sind theils apriorisch, theils empirisch; sie haben eine ^ Mittelnatur.*
Pistorius* , Mittelh jpoth ese * : Analögische Relationen der Dinge an sich. 1 45
wandelt. «Diese Gesetze der Natur sind zugleich Gesetze des menschlichen
Denkens, die der Geist aus seiner Natur a priori schöpft/
Während nun also Pistorius in Bezug auf die Yerstandesbegriffe sich
zur Annahme einer vollständigen prästabilirten Harmonie zwischen
den apriorischen Yerstandesgesetzen und den wirklichen Verhältnissen der
Dinge an sich hinneigt, bleibt er in Bezug auf Baum und Zeit auf dem
oben genau präcisirten Standpunkt einer bloss partiellen Correspondenz
stehen. Er versichert ausdrücklich und mehrfach, dass er B. u. Z. nicht auf
die Dinge an sich selbst übertragen wolle, dass er vielmehr nur bis zu der
Annahme gehe, dass den räumlichen und zeitlichen Verhältnissen der Er-
scheinungen gewisse , analogische Relationen^ der unräumlichen und
unzeitlichen Dinge an sich entsprechen.
Pistorius beklagt sich bitter, dass nicht bloss Kant selbst diese Hypo-
these ganz übergangen habe, sondern dass auch seine Anhänger auf die-
selbe gar nicht eingingen. „Diese Herren, so laut und dringend sie an-
fangs um Prüfung des neuen Systems angehalten haben, scheinen dergleichen
jetzt gar nicht zu lesen oder zu beachten ; sie sind sich im Voraus bewusst^
ihre Sätze apodiktisch erwiesen zu haben: was kann es also anderes als
Missverstand und schwache Muthmassung sein, was ihren Demonstrationen
entgegengesetzt wird?* Einen Beweis davon liefere eben Jacob, der zwar
in seinem Buche gegen Mendelssohn diese Mittelhypothese zu erwähnen
scheine, aber ganz und gar nicht in der richtigen Weise.
Jacob erwähnt und prüft in der That in seiner „Prüfung" S. 26 die
von einem der Mitunterredner vorgebrachte Möglichkeit, dass „die in der
Natur unserer Seele selbst gegründeten Vorstellungen von K. u. Z." „den
Dingen selbst jedesmal correspondirten*. Zu dieser Stelle, welche noch unten
zu A 26 (Schluss a) näher zu besprechen ist , bemerkt aber Pistorius ganz
treffend, dass „jener Einfall mit seiner Mittelhypothese einige Aehnlichkeit
habe, insofern nach beiden Baum und Zeit nicht bloss subjectiv, sondern
auch zugleich objectiv angenommen werden; aber sonst ist zwischen
beiden doch noch ein grosser Unterschied. Des Herrn Jacob Zuhörer
meint, auch ausser der Seele existire Raum und Zeit, als für sich bestehende
Dinge oder als wesentliche Eigenschaften der Dinge an sich ; nach meiner
Hypothese findet sich bloss in den Dingen an sich ein objectiver Grund,
woraus in so gebildeten und eingeschränkten Denkkräften , als die mensch-
lichen, die Vorstellung von R. u. Z. resultirt."
Es werde Jacob „sehr leicht, den Einfall seines Zuhörers von der Hand
zu weisen*. Aber alle seine Gegengründe treffen jene Pistorius'sche Mittel-
hypothese „nicht im geringsten". Denn diese ist ja mit Kant darin einig,
dass der Baum nicht den Dingen an sich angehöre, aber sie verlangt aller-
dings ein reales Aequivalent für das Baumverhältniss in den analogen
Verhältnissen der unräumlichen Dinge an sich.
Es ist nun allerdings durchaus nothwendig, den schon von Pistorius
in dieser Weise betonten Unterschied jener beiden Mittelhypothesen festzu-
halten. Nennen wir beide der Kürze halber die Trendelenburg'sehe und
Taihinger, Kant-Gommentar. II. 10
146 Excurs. Die mdglichen Fälle.
die Pistorius'sche. Die von Trendelenburg wieder vertretene Hypothese
lehrt: Der Raum ist subjectiv und objectiv zugleich, d. h. er ist erstens
eine apriorische Vorstellung , und ihm entspricht zweitens die objective
Realität der Dinge gänzlich. Die von Pistorius vertretene Hypothese ge-
braucht auch den Ausdruck: Der Raum ist subjectiv und objectiv zugleich,
aber sie versteht darunter, dass jener apriorischen Raum Vorstellung in uns
nur ein analoges Yerhältniss der un räumlichen Dinge an sich entspreche.
Und was die Hauptsache ist — Kant hat jene beiden Möglichkeiten über-
sehen, nicht bloss die Trendelenburg'sche , sondern auch — darauf kommt
es hier an — die Pistorius'sche !
Die Pistorius'sche Hypothese ist, wie er selbst oft bemerkt, nichts
anderes als die Leibniz'sche. Und so ist zu erwarten, dass auch die
anderen Leibnizianer jener Zeit denselben Einwand werden gemacht haben.
Dies ist denn auch der Fall. Insbesondere Eberhard und seine Freunde
wurden nicht müde, Kant jenes Versäumniss vorzurücken. Aber Pistorius
hat jenen Einwand nicht nur zeitlich früher erhoben, als jene, sondern er
hat die Hypothese auch logisch consequenter dargestellte Eberhard hat
nämlich jene beiden, oben scharf geschiedenen, ^Mittelbypothesen* fast durch-
gängig mit einander vermischt. Bald ist ihm die Welt der Dinge an sich
unräumlich, aber sie hat eine derartige Verfassung, dass ihre unräumlichen,
intelligibeln Verhältnisse ein relatives Analogen zu jenen sinnlichen
Raumverhältnissen darstellen. Bald sind ihm die Dinge an sich doch selbst
auch räumlich, so dass zwischen vorgestellter und wirklicher Welt eine
mehr oder minder vollständige Harmonie besteht.
Es kann hier nicht gezeigt, sondern nur darauf hingewiesen werden,
dass dieses Schwanken Eberhards nicht ihm allein zur Last f^llt, sondern
fast der ganzen Leibniz'schen Schule eigen thümlich ist. Es ist dies schon
an einem anderen Orte nachgewiesen worden, s. Strassburger Abhandlungen
^ In einer ebenso consequenten Weise vertrat diesen Standpunkt übrigens
auch Br astberge r, welcher unermüdlich wiederholt, dass die Erscheinungen und
ihre Verhältnisse in „Urdingen" begründet sein müssen, deren Wesen uns «war
unbekannt sei, von denen wir aber wenigstens so viel sagen können, dass sie .nach
Analogie der JCrscheinungen** (430) zu denken sind, unsere Erscheinungswelt ist
also nur ein subjectiv gefärbtes „Nachbild" jenes ^fremden Realgrundes ", welcher
als „Urbild"* zu bezeichnen ist (56, 256; 78, 265). Dieser Realgrund mnss der
Erscheinung „entsprechen*. Aber in den Erscheinungen liege doch eine ,In-
dication" (25Ü) auf die Dinge an sich und deren Verhältnisse (deren speciellere
Bestimmung aber Br. dem Dogmatismus wiederum heftig abstreitet; vgl. Phil.
Arch. I, 4, 91 ff. II, 1, 70 ff. ; 2, 60 ff.). Aehnlich (man möchte sagen : Herbartisch)
drückt sich auch Bornträger aus, welcher zwischen subjectivem und objectivem
Schein unterscheidet, und vom Letzteren sagt, „wo successive Veränderungen des
Scheins sind, müssen sich auch successive Veränderungen des erscheinenden
Dinges finden". Aehnliche Wendungen gebraucht auch Abel in seiner Meta-
physik S. 94—98. Eine ähnliche Stellung nahm auch Ulrich ein (InstUutUmes
S. 235—240. 260 ff. 312 ff.), nach welchem wenigstens unseren zeitlichen und causalen
Vorstellungen etwas in den Dingen an sich entsprechen (respondere) muss.
Eberhards Theorie der .objectiven Gründe* des Raumes. 147
zur Philos. 1884, S. 108 ff. Nach Leibniz sind die Dinge an sich die
Monaden. Aber es gibt, schon bei Leibniz, zwei wesentlich verschiedene
Fassangen des Monadenbegriffs: man kann sie als die metaphysische nnd
als die naturphilosophiscbe Fassung unterscheiden. Nach der ersteren
Fassung sind die Monaden wahrhaft metaphysische Punkte, rein intelligible
Substanzen ohne jegliche Materialität. Diese immaterielle Welt rein geistiger
Substanzen steht in gewissen, ebenfalls rein geistigen Verhältnissen, die sich
in dem vorstellenden Subject, und rein nur in diesem, als eine ausgedehnte,
materielle Welt darstellt. Dies ist die strengere Fassung der Monaden.
Aber nach jener zweiten, laxeren Fassung stellt sich die Sache ganz
anders : zwar die Monaden als solche sind auch» noch immaterieller Natur,
aber ihr factisches Zusammen macht nun objectiv die materielle Welt aus.
Und diese materielle Welt ist eine objective, real vorhandene Wirkung jener
Monaden, nicht bloss eine subjective Wirkung in uns.
Man sieht nun, dass und wie jene beiden von Eberhard vermischten
Mittelbypothesen genau diesen beiden Fassungen der Monaden entsprechen,
und entsprechen müssen.
Jene unklare Vermischung bei Eberhard kommt nun bei ihm in
drei verschiedenen Darstellungs weisen seines „Philosophischen Magazins '^
zum Vorschein.
1) An den meisten Stellen drückt er sich unklar und unbestimmt
aus, so bes. I, 169 ff. 281—289 (ähnlich auch Maass ib. I, 119. 125). Mit
besonderer Vorliebe wird der unbestimmte Ausdruck gebraucht, die Vor-
stellung des E. habe nicht bloss subjective, sondern » zugleich" auch „ob-
jective Gründe", I, 248. 258-262. 265. 803—305. 832. 350. 375. 376.
386. 895. 400. 469; II, 51. 53. 54. 72. 73. 186; III, 276-279. 438. Auch
der Leibniz'schen Formel begegnen wir, der Raum sei ein Phaenomenon bene
fundatum, I, 399. 40:1. 435; II, 499.
2) An einzelnen Stellen tritt deutlich die Wendung auf, dass jene
objeetiven Gründe gänzlich unräumlich seien, dass das Räumliche nur
der menschlichen Vorstellung angehöre; so I, 146. 305. 308. 478. 479.
3) Häufiger tritt die entgegengesetzte deutliche Wendung auf, so
I, 121. 148. 268. 480—487; II, 55 ff. 68; III, 106. Es heisst da ausdrück-
lich: ],Bei dem Bilde des Raumes sind die objeetiven Gründe die neben und
ausser einander seienden Substanzen, die durch gegenseitige Einwirkung mit
einander verknüpft sind." Diese Monaden bringen eben durch diese ihre
reale Verknüpfung objectiv, also noch ohne vorstellendes Subject, ein
räumlich ausgedehntes Zusammengesetztes hervor \
* Einmal tritt eine Wendung auf, in welcher eine Synthese jener beiden
entgegengesetzten Auffassungen versucht wird. Diese Wendung ist um so merk-
würdiger, als sie später, vielleicht unter dem Einfluss dieser Stelle, von Herbart
acceptirt worden ist ; es heisst 11 , 66 f. : „Die Bilder von R. u. Z. sind allerdings
keine Bestimmungen von Dingen an sich, sondern von Erscheinungen, da sie ausser
dem Objeetiven noch etwas Subjectives erfordern. Allein der intelligible Raum
und die intelligible Zeit oder die Verknüpfung der Substanzen selbst und
148 Excurs. Die möglichen Fälle.
Hieraus erklärt sich nun auch die Stellung Kants zu der ganzen
Frage in seiner Streitschrift gegen Eberhard. Da ihm bei diesem jene an
sich so berechtigte Mittelhypothese in einer so verworrenen Weise entgegen-
getreten war, glaubte er sich der Mühe überhoben, auf diese, seiner eigenen
Theorie so gefllhrliche Mittelhypothese näher einzugehen. In seinen nach-
gelassenen Papieren (bei Beicke, Lose Blätter I, 150 ff.) findet sich allerdings
ein Zettel, auf welchem er jener Mittelhypothese gedenkt (darüber unten zu
A 26 zum Schluss a), aber in der Streitschrift selbst ist er über den Einwand
fast stillschweigend hinweggegangen oder besser hinweggeglitten. Er drehte
vieiraehr den Spiess um, und erhob gegen Eberhard den Einwand, die letzten
sinnlichen T heile der Materie mit den überhaupt nicht mehr sinnlich erkenn-
baren übersinnlichen Dingen an sich verwechselt zu haben vermittelst des
zweideutigen Ausdruckes „objectiver Gründe* * (vgl. darüber unten zu
A 43 ff. über Leibnizens Verfälschung des Begriffes der Sinnlichkeit). Kant
ihrer successiven Zustände sind allerdings Bestimmungen von Dingen an sich*
Gegen diese Wendung, welche damals neu gewesen zu sein scheint, polemisirt
Schultz in seiner Prüfung II, 11 ff. 18 ff. 98 ff. 105 ff., der aber wieder in Eber-
stein II, 205 ff. seinen Gegner findet. Etwas Aehnliches wollte Zwanziger
S. 11 ff. Auch Platner spricht in diesem Sinne von einem , idealen Räume*, im
Unterschied vom „ empirischen" (Aphor. 3. A. 437). Aus solchen Ansätzen heraus
hat Herbart seine Lehre vom intelligibeln Baume entwickelt; dass er dabei
hauptsächlich von Eberhard beeinflusst gewesen ist, ist sehr wahrscheinlich ; in viel-
facher Hinsicht erinnert Herbarts Eantkritik an die Eberhard'sche ; schon Eb. ver-
tritt energisch das Princip der , mittelbaren Erfahrung" (Archiv I, 1, 86. 119 ff.;
2, 43; II, 2, 119); auch das bekannte Schlagwort, in welchem Herbart gegen Kant
den Rückschluss von den Erscheinungen auf die Dinge an sich zusammenfasst:
Wo Rauch, da Feuer — findet sich schon bei Eberhard, Archiv H, 4, 53.
' Bei dieser Gelegenheit liess sich Kant eine Unvorsichtigkeit zu Schulden
kommen, welche zu vielen Miss Verständnissen Anlass gegeben hat. Er sagt näm-
lich (Ros. I, 427): „Herr Eberhard sagt: Raum und Zeit haben ausser den sub-
jectiven auch objective Gründe, und diese objectiven Gründe sind keine Erschei-
nungen, sondern wahre erkennbare Binge, ihre letzten Gründe sind Dinge an
sich, welches alles die Kritik buchstäblich und wiederholenüich gleichfalls be-
hauptet." War schon die Anerkennung des vieldeutigen Ausdruckes , Gründe"
nicht vorsichtig, so ist die Anerkennung ihrer „Erkennbarkeit" offenbar eine auf
Uebereilung beruhende Unvorsichtigkeit. Eberhard hat denn auch auf diese Stelle
immer wieder triumphirend hingewiesen (Mag. III, 214. 259. 272. 299. 412. 434:
IV, 190. 194. 212. 307. 491. Archiv 1,2, 41; 4, 64; II, 2, 103). Ebenso wird
V. Eberstein nicht müde, darauf Überall mit dem Finger hinzudeuten (II, ItH.
183. 189. 224. 248. 259. 399. 454. 495. 502). Den Kantianern war dies unbequem,
und so behauptete der Receneent Ebersteins in der A. L. Z. 1799, N. 340, u. Intell.-
Bl. N. 165, es sei das ein „Seh reib versehen" Kants. Darüber entstand eine lange
Debatte, in welche sich auch Schwab mischte (s. Vorrede zu seiner ,Vergleichung
des K.'schen Moralprincips" u. s. w. 1800, XIX— XXXVII, und desselben: .üeber
die Wahrheit der K.'schen Philos. und über die Wahrheitsliebe der A. L. Z, zu
Jena" 1803, S. 2 ff.). Der Angriff der Anti-Kantianer auf die Stelle war kleinlich,
die Vertheidigung derselben durch die Kantianer sophistisch.
Unklarheit Eberhards u. A. über den , dritten Fall". 149
wies eben damit jenen oben ausführlich erörterten Fehler Eberhards nach,
dass er das transscendente Aequivalent unserer Raumvorstellung bald als
wirklich objectives räumliches Reales fasste, bald als rein geistige, aber
in analogen Verhältnissen befasste Monaden weit.
Merkwürdig ist das weitere Verhalten Eberhards. In den ersten Er-
widerungen that er, als ob er das transscendente Aequivalent unserer vor-
gestellten Baumwelt stets nur in dem rein geistigen Sinne verstanden hätte.
Baum und Zeit seien ihm allerdings Phaenomena bene fundata (III, 254.
274. 412 ; vgl. Archiv, II, 8, 48), aber die diesen Phänomenen entsprechende
Bealität sei rein unsinnlich , übersinnlich , einfach , dies Einfache sei kein
Theil der Erscheinung; alles Bäumliche sei blosse Erscheinung (III, 167.
170 flF. 251 ff. 420 ff.). Allein bald verfiel er doch wieder in die andere
Tonart; so heisst es IV, 82: „Der Baum ist ein objectives Verhältniss, das,
ohne Bücksicht auf unsere Sinnlichkeit, den Dingen an sich zukömmt. Nur
heisst das nicht: ein Ding an sich ist selbst räumlich und ausgedehnt,
sondern ein Ganzes von Dingen an sich ist ausgedehnt." Vgl. IV, 496 ff.
Aehnliches Schwanken in Eberhards Metaphysik, 1794, S. 2 ff. 51 ff.
Während also Eberhard so über das reale Aequivalent der subjectiven
Baum Vorstellung schwankt, drückt er sich — was hier zur Ergänzung noch
angeführt sein mag — über die prästabilirte Harmonie zwischen den
Denkformen und den realen Gesetzen der Dinge an sich naturgemäss immer
sehr bestimmt aus: dass, jene subjectiven Verstandesbegriffe auch zugleich
objective Geltung besitzen, ist ihm unzweifelhaft. Vgl. z. B. I, 150 ff., bes.
245 ff.; II, 222 ff. (wo Maass mit Bezug auf Krit. A 92 ausdrücklich den
„dritten Fall" der prästabilirten Harmonie fordert und vertritt); III, 182 ff.
195 ff. ; IV, 86 ff. 173 ff. 201 ; und bes. Archiv 1 , 2 , 85 ff. (wo Eberhard
unter Polemik gegen Krit. B 166 den von Kant verworfenen „dritten Fall*
als seine Meinung vertritt) ; vgl. II, 1, 62 ff. u. ö.
Diesen „dritten Fall" vertritt nun, wie wir hinreichend sehen, Eber-
hard auch in Bezug auf die Baum Vorstellung, wobei es ihm aber passirt,
dass er zwei sehr verschieden werthige Formen desselben immer wieder mit
einander vermischt, zwei Formen, die wir der Kürze halber als die Tren-
delenburg'sche und als die Pistorius'sche unterschieden haben.
Das Vorhandensein dieser Unklarheit bei Eberhard gesteht übrigens
sein Freund Eberstein zu, II, 229 ff. (cfr. 183. 190. 205. 222. 339; dazu
I, 93. 200. 400 über Cochius, der diesen Fehler der Leibnizianer vermieden
habe; cfr. II, 391 über Platner).
Dieselbe unklare Vermischung zeigen nun die meisten damaligen Gegner
Kants. So schon Mendelssohn; dann Beimarus (Menschl. Erk. S. 50 ff.
69 ff.), Feder, Baum u. Causalität, S. 61-109; Phil. Bibl. I, 20; II, 227;
bes. III, 131 ff., wo F. gegen den Kantianer Schaumann den „dritten Fall"
geltend macht, 153 ff. 187; IV, 11. 29. 32. 48 ff.; ähnlich Garve; vgl. Stern,
Beziehungen Garve's zu Kant, S. 53 ff. 57 ff. Ferner Tiedemann, bes. in
seinem „Theätet", welcher nach Vorr. VIII— XIV speciell zu dem Zweck
geschrieben ist, um jenen von Kant übersehenen „Fall'* zu erweisen; s. bes.
150 Excurs. Die möglichen Fälle.
S. 8. 19—34. 47. 59. 84 ff., wo in Kants Eintheilung eine , Lücke" gefunden
wird, 89 (Leibnizisch), 103 ff. 111 ff. 312 ff 402. 481. Dieselbe Vermischung
auch bei Seile in seinen „Grandsätzen d. r. Phil.**, bes. S. 41 ff., und sonst;
ebenso bei Platner, Aphor. 3. A. I, Vorr. XI; 420 ff. 436 ff.; bei Weis-
haupt in den in der „ Literaturübersicht " angeführten Schriften; vgl. auch
desselben , Wahrheit und Vollkommenheit«, 1793, S. 151. 219 ff. 231 ff., so
bei Stattler, Schönberger u. v. A.
Dass Kant jene beiden Möglichkeiten, sowohl die Trendelenbnrg'sche
als die Pistorius'sche, übersehen hat, ist kein Zweifel. Der Nachweis, dass
er die Trendelenburg'sche übersehen hat, wird unten zu A 26 (Schluss a)
geführt werden, wo es sich eben um den Zusammenhang handelt, in welchem
nach Kant die Apriorität der Baumvorstellung und ihre Subjectivität
stehen, welches beides Kant ohne Weiteres gleich setzt. Aus dieser Gleich*
Setzung erklärt sich ebenfalls das Uebersehen der Pistorius 'sehen Möglichkeit,
d. h. der Leibniz'schen , nach der strengeren, rein metaphysischen Fassung
seiner Monadenlehre.
Nun hat Kant allerdings die Leibniz'sche Baumtheorie in seiner
Aesthetik besprochen und sogar zwei Mal, A 39 ff. und 43 ff. (vgl. A 266 ff.),
aber beide Mal mit Umgehung resp. Verkennung des Hauptpunktes. Gerade
die Hauptsache, die prästabilirte Harmonie zwischen unserer Vorstellungs-
welt und einer wenigstens analog gestalteten Real weit hat Kant in jener
Darstellung übergangen. Kants Darstellung gibt eben von dem vielseitigen
und vielseitig aufgefassten Leibniz'schen System nur Eine Seite, und zwar
diejenige, welche Wolff weiter ausgebildet hatte. Aber es gibt auch noch
eine andere Form des Leibniz'schen Systems, auf welche eben Kant an diesen
Stellen keine Bücksicht genommen hat. Unter den Kritikern Kants hat
Pistorius diese genuine Form am reinsten vertreten. Und gerade diese
von Kant übersehene Form ist dann für die Weiterbildung der Philosophie
von entscheidendem Einfluss geworden; denn aus ihr haben Herbart und
später Lotze ihre besten Gedanken entnommen; als Abarten derselben sind
gewissermassen auch Wundts Raumtheorie und Spencers „ Transformations-
theorie" zu betrachten. Die geschichtliche Weiterentwicklung der Kantischon
Raumlehre hat also gerade an jene von Kant übersehene Möglichkeit an-
geknüpft.
Später hat Kant allerdings sich dieser Form der Leibniz'schen Philo-
sophie anzunähern gesucht. In dem wichtigen Anhang zu der Gegenschrift
gegen Eberhard (Ros. I, 479) geschieht dies (1790) in auffallender Weise:
L. habe, wenn auch sein Begriff der Sinnlichkeit als einer , verworrenen,
aber doch relativ richtigen Vorstellungsart* des Wirklichen nicht ganz
damit harmonire, im Grunde zwischen der Körperwelt und der intelligibeln
Welt absolut unterschieden. Jene sei ihm schlechterdings doch nur Er-
scheinung, diese allein (nicht jene) bestehe ihm aus Monaden. An einer
bis jetzt fast unbeachtet gebliebenen Stelle, Met. Anf. d. Nat. Ros. V, 356 — 358
(Hart. IV, 399), hatte Kant schon 1786 dieselbe Auffassung des Leibniz*8cben
Systems entwickelt (vgl. dazu Fischer, 3. A. 341 u. B. Erdmann, Krit. 139),
Kant u. Leibsiz. — , Metaphysische* u. .transscendentale" Erörterung. 151
wobei er mit den merkwürdigen Worten schliesst: „ Daher war Leibniz*
Meinung, so viel ich einsehe, nicht, den Baum durch die Ordnung einfacher
Wesen neben einander zu erklären [wie Wolff], sondern ihm vielmehr diese
als correspondirend, aber zu einer bloss intelligibeln (für uns un-
bekannten) Welt gehörig zur Seite zu setzen, und nichts Anderes zu be-
haupten, als was anderwärts gezeigt worden, nämlich dass der Raum sammt
der Materie, davon er die Form ist, nicht die Welt von Dingen an sich
selbst, sondern nur die Erscheinung derselben enthalte und selbst nur die
Form unserer äusseren sinnlichen Anschauung sei/
Aber in beiden Stellen hat Kant doch wieder den Hauptpunkt um-
gangen, dass eben nach Leibniz nicht bloss überhaupt den Erscheinungen
intelligible Dinge an sich „correspondiren^, sondern dass diese Correspondenz
derart ist, dass den von uns vorgestellten räumlichen Verhältnissen jener
gewisse bestimmte reale analoge Beziehungen dieser entsprechen. Daraus
ergibt sich dann naturgemäss : dass wir aus den Raumverhältnissen der Er-
scheinungen auf die wahrhaft realen Verhältnisse der Dinge an sich wenig-
stens bis zu einem gewissen 6i*ade zurückschliessen können, eine Consequenz,
welche freilich Leibniz selbst, der ja keine reale Einwirkung der Monaden
auf einander zugestehen wollte , nur halb ziehen konnte , welche aber dann
Herbart und bes. Lotze und Wundt gezogen haben. —
[Metaphysische Erörterung des Baumbegriffs.] Um diesen Satz
in der 2. Aufl. bequem einschieben zu können, hat Kant auch den Schluss
des vorhergehenden Satzes verändern müssen. Diese letztere Veränderung
des Textes (von , betrachten" in , erörtern*) hat nur rein formelle Bedeutung.
Die wunderliche Auslegung, welche Cohen S. 9 in diese Aenderung, speciell
in den Ausdruck „Begriff" hineindeutet, hat er in der 2. Aufl. seines Werkes
selbst stillschweigend weggelassen, Grund genug, nicht näher auf dieselbe
einzugehen. Aber das Einschiebsel selbst als solches enthält eine wichtige
Verbesserung des Gedankenganges. (Das Nähere s. in der später folgenden
„Methodologischen Analyse ider Tr. Aesth.") Erst unter dem Einfluss der
durch die Prolegomena herbeigeführten Klärung seiner eigenen Gedanken-
massen fand Kant, dass er zwei wesentlich verschiedene Gedankenreihen in
der 1. Aufl. ohne schärferen unterschied hatte durcheinander gehen lassen.
Den Gegensatz der beiden Aufgaben stellt das Nachgel. Werk (XXI, 565)
dahin dar: „Dass B. u. Z. in dem Mannigfaltigen, was diese Vorstellungen
enthalten, in zweierlei Verhältnissen zum Subject gedacht werden müssen:
erstlich, insofern sie Anschauungen und zwar sinnliche sind; zweitens,
wie das Mannigfaltige derselben überhaupt synthetische Sätze a priori mög-
lich macht" u. s. w. Ueber den unterschied der beiden Erörterungen vgl.
femer Witte, Beiträge 28 f. Paulsen, Entw. 168. 179. Riehl, Kritic.
I, 329 (312). 340 ff. 346 ff. 350 ff. 369. 377.
Es entspricht nun Kants Vorliebe für systematische Architektonik, dass
er diesen Unterschied sofort auch terminologisch fixirt. Die von Kant hiefiir
gewählte Bezeichnungsweise könnte nun allerdings Bedenken erwecken. Wie
152 § 2. Metaphysische Erörterung.
A1^.B38. [B 84. H 58. E 74.]
kann Kant seine jyTransscendentale Aesthetik'' wiederum eintheilen in eine
9 metaphysische'' und in eine »transscendentale* Hälfte? Wie unzweckmässig
ist es, der Hälfte denselben Namen zu geben, wie dem Ganzen? Man
muss nun also zwei Bedeutungen von „transscendental* unterscheiden, eine
weitere und eine engere. (Vgl. E. y. Hartmann, Transsc. Real. XVI and
Bolliger, Anti-Kant 146, über den „Proteus des Transscendentalen'.) Eine
ähnliche Unterscheidung hat Kant dann in der 2. Aufl. auch in der Analytik
gemacht: B 159 (= § 26) sagt Kant: „In der metaphysischen Deduction
wurde der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt . . . dargethan,
in der transscendentalen aber die Möglichkeit derselben als Erkennt-
nisse a priori . . . dargestellt.'
Wie schon B. Erdmann, Krit. 187. 280 bemerkt hat, entspricht jedoch
diese Eintheilung der Kategorienlehre sachlich keineswegs der vorliegenden
Eintheilung der Baum- und Zeitlehre. Es ist deshalb auch unzweckmftssig,
mit Arnoldt, Raum u. Zeit 61 u. ö.^ und Paulsen, Viert, f. wiss. Phil. II, 490,
statt »transscendentale Erörterung" des Raumbegriifes yon einer , trans-
scendentalen Deduction '^ desselben zu reden. Gerade diejenigen Stellen, an
welchen Kant factisch von der „transscendentalen Deduction der Begriffe
des Baumes und der Zeit* spricht, beweisen dies: A 86 — 88, und Prcleg,
§ 12. Es heisst da: „Wir haben oben [in der Aesthetik] die Begriffe des
R. u. d. Z., vermittelst einer transscendentalen Deduction zu ihren Quellen
verfolgt und ihre objective Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt.'
Was die vorliegende Stelle der Aesthetik als „metaphysische" Erörterung
bezeichnet — den Nachweis des apriorischen Ursprungs — das wird an
jener Stelle der Analytik als der erste und Haupttheil der „transscenden-
talen" Deduction bezeichnet; und diese steht daselbst eben deshalb im
Gegensatz zur „empirischen Deduction". (Falsch Cohen 2. A. 106.) Diese
Terminologie steht ja auch in Uebereinstimmung mit der schon in der Ein-
leitung getroffenen Definition von „transscendental", wonach der Ausdruck
eben die Theorie des Apriorischen überhaupt bedeutet. (Vgl. Gomm. I, 467 ff.)
Ausserdem erhebt sich die weitere Frage, warum denn Kant jene
Untersuchung der apriorischen Vorstellungen als solcher eine „meta-
physische" nennt? Was soll denn nun dieser Ausdruck hier? Werden
durch diesen Gebrauch des Ausdruckes nicht die Unklarheiten vermehrt,
welche demselben ohnedies anhängen ? Vgl. hierüber Comm. I, 88 ff. 148 f.
281 ff. 241. 389. 367 ff. 371 ff. 376 ff. 459 ff. 464. 470 f. 473 f. Was Meilin
I, 487 hierüber sagt, ist auch wenig befriedigend. Biehl, Krit. I, 348:
„Der Beweis der Thatsache des reinen Erkennens kann nur aus Begriffen
[durch Analyse der Vorstellungen] geführt werden. Er ist metaphysisch. Denn
unter dem Ausdruck: metaphysisch versteht Kant jede rein aus Begriffen
geführte Untersuchung." Allein dies trifft ja auch für die transscendentale
Erörterung zu. Vgl. auch Adickes 72 N. ; und Cohen , 2. A. 298 (Fries).
Bei dieser Sachlage ist es verwunderlich und doch so recht charakte*
ristisch, dass Cohen den hier entwickelten Gegensatz der metaphysischen
Cohens »Metaphysiaches" und „Transscendentales" Apriori. 153
[R 34. H 58. K 74.] A28.B88.
und der transscendentalen Erörterung zum Fundament seiner Neubearbeitung
der Kantiscben Lehre gemacht hat ^ Während bei Kant selbst dieser Gegen-
satz eine ganz geringe und vorübergehende Rolle spielt, hat Cohen in den-
selben die allertiefste Weisheit Kants hineingelegt und geradezu das richtige
Yerständniss Kants von der Einsicht in jenen Unterschied abhängig gemacht.
Cohen selbst hat aber diesen Unterschied keineswegs in der Weise fest-
gehalten, wie ihn Kant selbst hier bestimmt hat, sondern mit souveräner
Willkür seine eigene specifische Auffassung hineingedeutelt. Um diese letztere
zu verstehen, muss an das erinnert "werden , was oben S. 81 u. S. 96 über
Cohens Auffassung des Apriori gesagt worden ist, wozu auch unten die Be-
merkungen zum ersten Baumargument über Cohen und Riehls logische Auf-
fassung des Apriori zu vergleichen sind. Cohen selbst nennt seine Auf-
fassung die transscendentale und unterscheidet sie wesentlich von der
, metaphysischen". Jene sei die höhere, diese die niederere, jene vollendend,
diese nur vorbereitend ; nur wer jene erreiche, verstehe Kant ; wer nur auf
dieser stehen bleibe, verfehle Kants Grundgedanken. Und diese Unter-
scheidung habe Kant eben hier schon begründet und im weiteren Verlaufe
immer weiter vertieft.
Die y metaphysische" Auffassung des Apriori verstehe dasselbe als ein
ursprüngliches Element unseres Bewusstseins , als ein (mehr oder minder)
angeborenes Besitzthum des Subjects, oder auch als eine ursprüngliche,
psychologisch nicht-ableitbare Form oder Function desselben — also kurz-
weg als „Urbestandtheile des Bewusstseins" (75). Zu dieser Auffassung
stellt sich nun Cohen , wie wir schon oben S. 99 sahen , verschieden ; bald
erkennt er sie als eine noth wendige Vorstufe seiner transscendentalen Auf-
fassung an, bald verwirft er sie vollständig. Diese doppelte Stellung
nimmt Cohen auch in Bezog auf die „metaphysische Erörterung* ein, deren
Aufgabe es eben sei, „die der psychologischen Analyse unzugänglichen, das
will sagen, als a priori anzuerkennenden Elemente des Bewusstseins festzu-
stellen*. Diese Untersuchung erklärt er für eine „nothwendige Vor-
bedingung der transscendentalen* (74. 77. 81 u. Ö.). Aber an anderen
, Stellen erklärt er jene metaphysische Auffassung des Apriori für eine Rück-
ständigkeit , für ein Hinderniss der richtigen , der transscendentalen Auf-
fassung — ganz entsprechend seiner schwankenden Stellung zum Angeborenen.
Von diesem unklaren, zweideutigen Sehwanken sehen wir indessen ab, und
coDstatiren nur die eigenthümliche Terminologie, dass Cohen geradezu von
dem „metaphysischen Apriori* spricht im Unterschied vom transscenden-
talen. Die Veranlassung zu dieser Bezeichnungs weise hat Cohen aus dieser
» Cohen, Ks. Theorie der Erfahrung, 1. A. 1871, S. 35 ff. 47 ff. 87 ff. Eine
noch grössere Rolle spielt der Unterschied in der 2. Aufl. despelben Werkes (1885),
S. 73ff. 81. 83. 97. 99 ff. 106. 122. 124. 130 ff. 134 ff. 149 ff. 155. 179 f. 188. 195 ff.
198-209 ff. 214 ff. 240 ff. 245 f. 249-256. 257 ff. 284. 287 ff 291—299. 351.
580—587. — Vgl. von demselben ,Ks. Begründung der Ethik«, S. 23 ff.; ,Begr.
der Aesthetik*, 102 ff.
154 § ^^' Metaphysische Erörterung.
A 28. B 38. [B 34. H 58. E 74.]
Stelle genommen ; aber im Sinne Kants ist es gewiss nicht gewesen , diese
einmalige und sonst nicht wiederkehrende Verwendung jenes Gegensatzes in
dieser Weise zu gebrauchen und zu verallgemeinern. Wie Kant dazu kommt,
den Ausdruck „metaphysisch^ in diesem Zusammenhang in dieser Weise zn
verwenden, hat Cohen übrigens auch nicht gesagt ; seine eigene Verwendung
desselben in der angeführten Verbindung lässt gelegentlich darauf schliessen,
er wolle andeuten, dass die alten Metaphysiker , ein Cartesius und Leibniz,
das Apriori in jenem Sinne eines Angeborenen genommen hätten, dass aber
die Transscendentalphilosophie Kants es nun in ganz neuer Weise verstanden
und gelehrt habe.
Was nun diese transscendentale Auffassung des Apriori oder kurzweg
„das transscendentale Apriori" betrifft, so habe (583) dasselbe gar
nichts zu schaffen mit Elementen unseres Bewusstseins, sondern sei zu
fassen als der Inbegriff der Elemente unserer Erkenntniss in dem schoo
oben S. 96 u. S. 98 hinreichend gekennzeichneten Sinne. Apriori sei das-
jenige, was als constituirende logische Bedingung unserer Erfahrungs Wissen-
schaft erkannt werde, was sich als Bedingung der Möglichkeit der
Erfahrung (in diesem logischen, nicht etwa im psychologischen Sinne)
herausstelle. Die Aufsuchung dieser Bedingungen — darin bestehe Ks. neue
„transscendentale Methode".
Dabei bemerkt man aber auf den ersten Blick, dass von dem, was
Cohen als transscendentale Methode ausgibt, bei Kant hier gar nichts zn
finden ist. Was Kant selbst transscendentale Erörterung nennt, bedeutet
eine Untersuchung einer apriorischen Vorstellung darauf hin, dass aus
derselben apriorische Erkenntnisssätze sich ergeben. Es wird gezeigt,
dass solche Erkenntnisse a priori sich eben nur dadurch erklären, dass wir
die betreffende Vorstellung als einen ursprünglichen Bestandtheil unseres
Bewusstseins anerkennen. Von einem logischen Constituens der Erfahrung,
von den logisch nothwendigen Voraussetzungen der Erkenntniss ist dabei gar
nicht die Rede. Allerdings spielt dies bei Kant später einmal eine bedeut-
same Rolle, aber erst in der Analytik der Grundsätze, woselbst Kant
theilweise diesen Weg einschlägt bei dem Beweis derselben. Diese später
am gegebenen Orte zu besprechende Beweismethode hat nun Cohen heraus-
gegriffen ; indem er von den anderen wichtigeren Elementen des Kriticismos
absieht, vereinfacht er denselben und so kann er von der transscenden-
talen Methode in diesem beschränkten Sinne als von der „schlichten Auf-
gabe der Kritik" sprechen (77. 230. 580), während doch die Kr. d. r. V, ein
äusserst complicirtes Gewebe der verschiedensten Tendenzen und Aufgaben
ist. Den von ihm so einseitig herausgegriffenen Gedanken hat er nun aber
verallgemeinert: er hat ihn übertragen nicht nur auf die „transscenden-
tale Deduction der Verstandesbegriffe", in welcher sie sich erst andeutungs-
weise findet; er hat ihn auch übertragen auf die Aesthetik, und hat sich
nun eine erstaunliche Mühe gegeben, den jener Beweismethode ganz und
gar zuwiderlaufenden Text der Aesthetik nach jener Auffassung umzudeuten.
„Erörterung* des „Begriffes' vom Räume. 155
[B a4. H 58. E 74.] A 23. B 38.
Ausser der eben besprochenen Eintheilung hat sich nun Kant auch
noch über den logischen Werth der folgenden Erklärung des Baumes
ausgesprochen. Er charakterisirt dieselbe als eine «Erörterung'' (ex-
posUio), üeber das, was er darunter versteht, hat sich Kant ausführlich
ausgesprochen in der Methodenlehre A 727 ff. , sowie in der Logik § 99 ff.,
§ 105: Eigentliche Definitionen im strengen Sinne des Wortes (definitio
completa) hat nur die Mathematik, welche den definirten Gegenstand in der
Anschauung erst macht. Dagegen bei gegebenen Begriffen ist man nie-
mals sicher, ob man auch alle Merkmale genau aufgezählt hat. Dies gilt
sowohl von a posteriori als von a priori gegebenen Begriffen, speciell
von den Letzteren. «Kein a priori gegebener Begriff kann, genau zu reden,
definirt werden*, „denn ich kann niemals sicher sein, dass die deutliche
Vorstellung eines (noch verworren) gegebenen Begriffes ausführlich ent-
wickelt worden, als wenn ich weiss, dass dieselbe dem Gegenstande adäquat
sei/ „Anstatt des Ausdruckes: Definition würde ich lieber den der Ex-
position brauchen" u. s. w.
Dadurch erhält die vorliegende Stelle hinreichende Beleuchtung, aber
es drängen sich uns dafür folgende Bedenken auf: entsprechen die folgenden
Ausführungen über den Raum diesem Bilde? Sind dieselben, wie die oben
gegebene Darstellung der „Exposition* verlangt, ,, durch Analyse* des Be-
griffes vom Baume gewonnen? Ist denn das Folgende überhaupt eine,
wenn auch unvollständige, logische Definition des Baum begriff s, und nicht
vielmehr eine sachliche Untersuchung des Wesens der Raum vor Stellung
(also eine Realdefinition ; vgl. Ks. Logik § 106) ? Und wenn andererseits
Kant in der Logik § 102 sagt, „analytische Definitionen zergliedern, was
im Begriffe liegt, synthetische, was zu ihm gehört', und wenn man
daran denkt, dass auch hier Kant das geben will, „was zu einem Begriffe
gehört*, dann könnte man wieder versucht sein, zu sagen, es handle sich
auch hier um eine synthetische Definition. Aber das geht wieder nicht, da
jene synthetischen Definitionen nur bei mathematischen und bei empirischen
Begriffen möglich sein sollen, aber nicht bei philosophischen. Dazu kommt end-
lich, dass der Begriff der „Erörterung* in der „Transscendentalen Erörterung*
in ganz anderer Weise gebraucht wird ; auch dort ist es eine sachliche Unter-
suchung, nicht eine analytische Definition. Aus alledem ergibt sich, dass, von
dieser Seite aus gesehen, dieser höchst unklare Zusatz keine Verbesserung ist.
Mit der ungeschickten Verwendung des Ausdruckes „Erörterung" seitens
Kant^ hängt nun, wie angedeutet, auch die ebenfalls ungeschickte Verwen-
dung des Terminus „Begriff* zusammen. Kant will, wie er sagt, „den
Begriff des Raumes erörtern* ; und er überschreibt daher auch den ganzen
Abschnitt: „Von dem Räume. Metaphysische Erörterung dieses Begriffes."
Nun ist aber, wie schon oben bemerkt, das Folgende nicht eine logische
Definition des Raum begriff es, sondern eine sachliche Untersuchung der
Raum Vorstellung. Die Verwendung des Ausdruckes „Begriff* an dieser
Stelle für den Raum ist daher, wie schon öfters gegen Kant eingewendet
156 §2. Erstes Raamargumenti
A 28. B 38. [B 84. H 58. 59. E 74.]
worden ist, nicht geschickt. .Dergleichen kleine klassische üngenauigkeiten
sind von Kants Untersuchungen unzertrennlich,'' höhnt Bolliger in seinem
Anti-Kant 273. Schon Meli in I, 495, 11,476 hat hierüber Skrupel gehabt.
Besonders Üeberweg in seinem Grundriss der Geschichte der Philosophie
III, § 18 hat Kant hieraus einen Vorwurf gemacht, und dabei noch be-
sonders darauf hingewiesen, dass Kant doch im dritten und vierten Raum-
argument selbst vom Baume sage, er sei nicht ein Begriff, sondern eine
Anschauung. ,Im Gebrauch der Termini ist Kant oft wenig streng,^ be*
merkt üeberweg mit Recht; und Heinze fiigt die richtige Eh-länterong
hinzu: „Begriff im weiteren Sinne umfasst bei Kant die beiden Klassen:
Begriff im engeren Sinne (oder allgemeine Vorstellung) und andererseits
Einzelvorstellung oder Anschauung/ Diese Bemerkung ist vollständig zu-
treffend und erläutert Ks. Sprachgebrauch hier hinreichend, wie wir sie denn
auch wieder sogleich unten beim ersten Raumargument bestätigt finden
werden. Indessen möcht« man aus der Analyse des Ausdruckes ^Erörterung*
schliessen, dass, wenigstens an dieser Stelle, bei Kant nicht bloss ein laxer
Sprachgebrauch, sondern auch eine sachliche Unklarheit vorliegt.
Gegen jene Vorwürfe, speciell gegen den scharf zugespitzten Vorwurf
von Üeberweg hat man natürlich auch Kant zu vertheidigen gesucht.
Was aber Cohen (1. A. 31; 2. A. 127) dagegen erwidert, ist gänzlich un-
verständlich. Auch was Holder, Darst. S. 12 sagt, kann nicht recht be-
friedigen. Dasselbe gilt von K. Fischer, Anti-Trendelenburg S. 58 (jedoch
richtig im Hauptwerk, 2. A. 264). Vgl. auch Grapengiesser, Kants
Lehre von Baum und Zeit, S. 77. Bratuschek, Phil. Monatsh. V, S. 321.
Michelis, Kant, S. 168. Steckelmacher, Ks. Logik, S. 13 (dazu B. Erd-
mann, Gott. Gel. Anz. 1880, S. 631). Adickes, S. 70 N. Göring U, 130.
Erstes Raomargument
Erster Satz. These: Der Raum ist kein empirischer Begriff,
der von Kasseren Erfahrungen abgezogen worden. Dieser erste Satz
enthält die propositio, These, welche durch den folgenden Satz erst bewiesen
werden soll. Logisch genauer gesprochen: Der erste Satz enthält das ^o^
je et um probationis^, der folgende zweite Satz das „argumentum pro-
bcUionis*', während dann der dritte und letzte Satz die mit der Anfangsthese
übereinstimmende Schlussfolgerung ausdrücklich zieht. Behauptet wird
hier der nicht-empirische Ursprung der Raumvorstellung ^ ; bewiesen wird
* Nach Cohen, 2. A. 94 — 96, ist der Satz gegen Hume gerichtet. Di«
bestreitet C a i r d , Grit. Phil. 1 , 289 N : er richte seine Spitze gegen L e i b n i z.
Das Eine schliesst das Andere nicht aus; wie auch Cohen a. a. 0. 91 richtig be-
merkt: sowohl Locke-Hume als Leibniz hielten den Raum für ein .AbstractumS
wenn auch in etwas verschiedenem Sinne (112 f.); über den Gegensatz gegen Leibniz
8. noch unten zu A .39- 41. Aus den daselbst erörterten entwicklungsgeschichtiicben
Motiven folgt aber, dass der Gegensatz gegen Leibniz hier entschieden die Haupt-
Der Raum ist kein empirischer .Begriff'. 157
[R 34. H 59. E 74.] A23.B88.
derselbe im Folgenden, und zwar durch Berufung auf die Nothwendigkeit
der Priorität der Baum Vorstellung vor der wirklichen Wahruehmung. In
der Dissertation § 15 A lautet die These so : Conceptus spatii non abstrahitur
a sensationibtis extemis. Hier in der Kr. d. r. Y. enthält die These eigent-
lich eine Tautologie: denn , nicht-empirisch '^ und , nicht von äusseren Er-
fahrungen abgezogen' sind Wechselbegriffe. Vgl. Ks. Logik § 8. Auch beim
ersten Zeitargument findet sich dieselbe Tautologie. Es ist deshalb ganz
falsch, wenn Cohen in diesen beiden Satzhälften verschiedenen Sinn sucht.
Seine diesbezügliche Auslegung dieser Stelle (1. A. 7 f. ; 2. A. 95) ist äusserst
gesucht : Insbesondere falsch ist hier die Verweisung Cohens auf verschiedene
Bedeutungen des Erfahrungsbegriffes, welche hier geheimnissvoll mitspielen
sollen : von Erfahrung spricht hier Kant ganz im gewöhnlichen Sinne. Cohen
will aber, wie wir noch ferner sehen werden, in diese Stelle den Sinn hinein-
legen: aus der Erfahrung im gewöhnlichen Sinne kann der Raum allerdings
nicht abgezogen werden, wohl aber aus der Erfahrung im Kantischen Sinne.
Eine verworrene und verwirrende Auslegungskunst 1
Eine Schwierigkeit entsteht hier nur durch den Gebrauch des Aus-
druckes ^Begriff. Es geht aus den nachfolgenden Sätzen allerdings sofort
hervor, dass hier «Begriff" nicht im streng logischen Sinne zu verstehen
ist, sondern im laxeren psychologischen Sinne so viel ist als « Vor-
stellung" : denn Kant spricht ja noch in diesem ersten Baumargument zwei-
mal ausdrücklich von der „Vorstellung des Baumes' ; und derselbe Aus-
druck wird dann in dem zweiten Argument ebenfalls zweimal wiederholt.
Es geht somit aus dem ganzen Zusammenhange deutlich hervor, dass Kant
sich in diesen beiden ersten Baumargumenten nicht gegen diejenige Lehre
wendet, welche im Baume einen „Begriff" sieht, im logischen Sinne des
Wortes, sondern gegen diejenige Lehre, welche die Baumvorstellung über-
haupt aus der Erfahrung ableitet und dieselbe erst mit den Empfindungen
und durch sie von aussen gegeben werden lässt. Gegen diese Lehre wendet
sich ja Kant mit den Worten: „demnach kann die Vorstellung des Baumes
nicht aus den Verbältnissen der äusseren Erscheinung durch Erfahrung
erborgt sein", und dass Kant gegen diese „Erborgung" aufs Heftigste
auch sonst ankämpft , das wissen wir schon — vgl. Commentar 1 , 166 f.
Darauf also kommt es auch hier an, auf den empirischen oder nicht-
empirischen Ursprung der Baumvorstellung, nicht aber auf den rein logischen
Charakter dieser Vorstellung selbst — dieser wird im dritten und vierten
Baumargument untersucht.
Deshalb ist der Gebrauch des Ausdruckes „Begriff" an dieser Stelle
unpassend und kann leicht Irrthümer zur Folge haben. Uebrigens bedient
Sache ist. Dies hat gegen Cohen auch B. Erdmann nachgewiesen, Ks. Beflexionen
II» S. 108. „Gegensatz gegen Leibniz'^ heisst hier natürlich nur: Gegensatz gegen den
Leibniz der Wolffischen Schule. — In der Sprache des Cartesius ausgedrückt,
heisst obige These: Der Baum ist keine idea adientitia, sondern eine idea innaia.
158 §2. Erstes Raumargument.
A 28. B 88. [R 84. H 59. E 74.]
sieb Kant auch sonst dieser Ausdrncksform ; so sagt er z. B. A 156: , Selbst
der Kaum und die Zeit, so rein diese Begriffe auch von allem Empirischen
sind" u. s. w. Auch schon in der bekannten Stelle der Einleitung B 6 heisst
es: ,Aber nicht bloss in Urtheilen, sondern selbst in Begriffen zeigt sich
ein Ursprung einiger derselben a priori,* und dann wird als Beweis — der
Baum angeführt. (Vgl. Commentar I, 223.) Proleg. § 89 sagt Kant: ,&
gelang mir erst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe der
Sinnlichkeit, Raum und Zeit, von denen des Verstandes mit Zuverlässigkeit
zu unterscheiden." Und gleich unten in der „Traussc. Erört." B 39 werden
, Begriff" und , Vorstellung" promiscue gebraucht. — Aufklärung hierüber
findet man auch in Kants Reflexionen IT, S. 83 ff., woselbst es heisst: ,,es
gibt reine Begriffe der Anschauung"; (von .anschauenden Begriffen"
spricht Kant schon in den „Träumen eines Geistersehers", W. W. Hart.
II, 346). Ferner: „alle Begriffe sind entweder sinnliche oder Vemunft-
begriffe." Zu den letzteren werden dann auch R. u. Z. gerechnet. Vgl.
ib. S. 103. 158. 160. (Vgl. auch Erdmanns Mittheilungen aus dem Königs-
berger Manuscript über Metaphysik, Phil. Mon. 1884, S. 76, wo Kant R.
u. Z. „Kategorien der Sinnlichkeit* nennt.) In der Schrift vom Jahr 1768
nennt K. den Raum auch einen „Grundbegriff". — Richtig weist Paulsen,
Entw. 46 (78. 97) auf den früheren laxeren Sprachgebrauch hin, sowohl in
Ks. eigenen früheren Schriften, als bei seinen Zeitgenossen. Besonders
Meier kommt in Betracht; in seiner Vernnnftlehre § 282, sowie im Auszug
aus derselben § 249 werden Begriff und Vorstellung so gut wie identificirt;
ebenso bei Reimarus, Vernunftl. § 30. (Paulsen vermuthet dabei Einflnss
seitens der Locke'schen idea. Kant selbst folgt diesem Sprachgebrauch in
seinen Schriften aus den 60er Jahren.) Diesen richtigen Sachverhalt haben
auch schon Frühere gesehen. So sagt Tiedemann, Theätet S. 59 ausdrück-
lich: „Die Empfindung des äusseren Sinnes kann ohne schon mitgebrachte
Vorstellung oder Begriff (denn beyde Worte werden hier ohne Unter-
schied gebraucht) des Raums nicht vorhanden sein."
Trotzdem nun diese Bedeutung von „ Begriff '^ aus dem Zusammenhang
unzweideutig hervorgeht, hat der Ausdruck doch mehrfach zu irrthümlicher
Auslegung Veranlassung gegeben. So gibt z. B. Schaumann, Transsc.
Aesthetik S. 13 den Sinn dieser Stelle so wieder: „Sollte er ein empirischer
Begriff sein, so müssten, ehe man ihn erhalten könnte, mehrere Gegen-
stände schon wahrgenommen sein, in welchen er als Prädicat enthalten
wäre. Nun aber muss, sobald man einen Gegenstand als äusseren Gegen-
stand wahrnehmen soll, die Vorstellung des Raumes schon zum Grunde
liegen, und es ist unmöglich, ihn erst aus mehreren Wahrnehmungen zu
abstrabiren, weil er bei der allerersten schon da sein muss.* Diese Wieder-
gabe trifft Kants Sinn nicht genau und bringt eine schiefe Wendung hinein :
indem darin zurückgewiesen wird, dass der Begriff des Raumes nicht erst
aus mehreren Wahrnehmungen abstrahirt sei, wird auf die logische Lehre
Rücksicht genommen, dass ein Begriff aus vielen ähnlichen Dingen als Ge-
Conceptu8 spatii non abstrahitur a sensationibus extemis. 159
[R 34. H 59. E 74.] A 28. B 88.
meinsames abstrahirt sei. Ganz dieselbe schiefe Wendung findet sieb auch bei
einigen Neueren, bei B olliger, Anti-Kant 273, und besonders bei Kuno
Fischer, welcher die betreffende Wendung allerdings in der 3. Auflage
seines Werkes gestrichen hat (S. 330). Aber in der 2. Auflage S. 316 hiess
es: ,Wie kommen wir zu den Vorstellungen von Raum und Zeit? Nach
der gewöhnlichen und nächsten Ansicht möchte es scheinen, dass diese Vor-
stellungen auf demselben Wege entstehen , als überhaupt unsere CoUectiv-
oder Gattungsbegriffe. Von einer Menge einzelner Dinge, die wir sinn-
lich wahrnehmen, abstrahireu wir ihre gemeinschaftlichen Merkmale und
bilden daraus ihren Gesammt- oder Gattungsbegriff. Auf eben diese Weise
sind Eaum und Zeit aus der Wahrnehmung geschöpft, von sinnlichen Ein-
drücken abstrahirt. Sie sind also abstracto, aus der Erfahrung abgeleitete
Begriffe: das ist die empirische Erklärung, welche die sensualistischen Philo-
sophen ihrer Zeit gegeben haben, und die unsere sogenannten Realisten
nachsprechen, als ob sie das Selbstverständlichste von der Welt wäre* u. s. w.
Obwohl Kuno Fischer diese Darstellung selbst cassirt hat, muss sie doch
besprochen werden, da der in ihr enthaltene Irrthum noch vielfach verbreitet
ist. Ganz wie Schaumann, so legt auch Fischer hier den Ton auf die
logische Seite: Der Raum ist nicht ein aus vielen einzelnen Wahr-
nehmungen abstrahirter allgemeiner Begriff. Nicht darauf aber liegt
bei Kant der Ton, dass der Raum nicht aus vielen einzelnen Wahr-
nehmungen abstrahirt sei, sondern dass er überhaupt aus keiner Wahr-
nehmung, auch nicht aus einer einzigen, uns zukomme, sondern dass wir
ihn vor aller Wahrnehmung schon in uns haben: er braucht uns nicht
erst von aussen gegeben zu werden.
Es liegt hier eine Verwechslung vor, welche durch den Terminus
,Abstraction" verschuldet wird. Es gibt zweierlei sehr verschiedene Processe,
auf welche der Ausdruck „Abstraction* angewendet wird: 1) Aus einer Ge-
sammtanschauung eines empirischen Gegenstandes, welcher uns mehrere
Qualitäten darbietet, heben wir willkürlich Eine Qualität heraus, indem wir
dabei von den anderen Qualitäten absehen, von ihnen „abstrahiren". So
abstrahiren wir z. B. aus der Gesammtanschauung ,Blut" die Qualität der
Roths. In diesem Sinne ist dann die anschauliche Vorstellung „Roth" aus
dem sinnlichen Eindrucke abstrahirt , entlehnt , erborgt : ich bekomme sie
erst durch die äussere Gesammtanschauung ^Blut" ; ich habe sie aus dieser
herausgehoben, abgelöst, abgesondert, isolirt. 2) Der zweite Fall ist, dass
ich mehrere Gegenstände sehe, welche in Bezug auf die Farbe im Wesent-
lichen gleich sind: dann werde ich das diesen mehreren Gegenständen Ge-
meinsame, die rothe Farbe, herausheben, und mir den Allgemeinbegriff
des Rothseins oder des rothen Körpers bilden: und dann habe ich einen
Ällgemeinbegriff, bei welchem das Wesentliche ist, dass ich ihn eben aus
mehreren ähnlichen Vorstellungen als Gemeinsames herausgenommen habe.
Nun ist gar kein Zweifel, dass Kant hier nur an den ersteren
Process denkt: schon aus dem einfachen Grunde, weil seine Gegeninstanz
160 §2. Erstes Raumargument.
A 28. B 88. [B 84. H 59. E 74.]
gegen die angefochtene Theorie nur auf den ersten Fall passt. Dies allein
ist auch der Sinn der Sätze in der Dissertation § 15 A : conceptus spotii non
abstrahitur a sensaiionibus externis; spatium sensibus hauriri non potest.
Nicht um die Mehrheit der empirischen Gregenstände handelt es sich dabei,
nicht um ein diesen mehreren Gegenständen Gemeinsames, sondern darum,
dass die Baumvorstellung überhaupt nicht erst aus der von aussen ge-
gebenen empirischen Anschauung eines äusseren Gegenstandes herausgelöst
und daher uns eben auch nicht gegeben zu werden braucht; denn jene
Gesammtanschauung des ausgedehnten Körpers kommt ja eben nur dadurch
zu Stande, dass wir die räum- und ortlosen Empfindungen in ein Neben-
und Äussere! n ander verwandeln. Wie wenig der Plural „a sensatioitibus
extemis" bedeutet, der ja auch im Texte der Kr. d. r. V. sich findet (.nicht
von äusseren Erfahrungen abgezogen"), das geht ja auch aus dem Parallel-
argument bei der Zeit hervor, wo es ausdrücklich heisst: «Die Zeit ist kein
empirischer Begriff, der von irgend einer Erfahrung abgezogen worden.^
Zweiter Satz: Beweis. Denn damit gewisse Empfindungen u. s. w.
Dieser Satz enthält den eigentlichen Nervus probandi. Derselbe beruht
auf der Thatsache, dass ich „gewisse Empfindungen" (nicht alle; nur die
, Organempfindungen " werden auf äussere Objecte bezogen, nicht aber die
„Vitalempfindungen', vgl. Anthropologie § 14) „auf etwas ausser mich be-
ziehe'', also, wie man jetzt sagt, „projicire", und dass diese projicirten
Empfindungen sich mir in einem Ausser- und Nebeneinander darstellen:
d. h. ich stelle mir dieselben nicht bloss qualitativ unter einander ver-
schieden vor, sondern auch an verschiedenen Orten (local verschieden).
In der Dissertation § 15 A drückt Kant diese Thatsache so aus: pNon enim
aliquid ut extra me positum concipere licet^ nisi iüud repraesentando tanquam
in locOf ab eo, in quo ipae sunt, diverso; neque res extra se invicem, nisi
iÜas collocando in spatii diversis locis.** — Dass in der zweiten Auflage nicht
bloss das Ausser-, sondern auch das Nebeneinander erwähnt ist, ist eine
„geringe Modification" (ß. Erdmann, Ks. Krit. S. 187): Das „Aussereinander'
betrifft das Verhältniss des Sichausschliessens der sinnlichen Gegenstände:
das „Nebeneinander'' ergänzt diese Bestimmung durch Erinnerung an
das Verhältniss des Aneinandergrenzens derselben.
Ehe wir weitergehen, muss der Ausdruck beachtet werden, „dass ge-
wisse Empfindungen auf etwas ausser mich bezogen werden'. Also
die Empfindungen werden nicht bloss projicirt, sondern als projicirte noch
auf ein „Etwas" bezogen. Diese Beziehung unserer Empfindungen auf einen
Gegenstand wird hier nicht weiter verfolgt; Kant hat dieses Problem in
der Analytik behandelt und geht mit Recht nicht näher hier darauf ein.
Er beschränkt sich auf die Thatsache, dass ich aus meinen inneren Zu-
ständen äussere Gegenstände mache, indem ich die Empfindungen ausser
mich hinaus versetze. Kant gebraucht jedoch diesen später so beliebt ge-
wordenen Ausdruck hier nicht. Dagegen findet sich derselbe bei Kantianern,
so bei Krug, Lexicon III, 427. Kant selbst hat den Ausdruck aber auch
Die , Beziehung" der Empfindungen auf „Etwas" ausser mich. 161
[R 34. H 59. E 74.] A 23. B 38.
schon mehrfach gebraucht an einer interessanten Stelle seiner „Träume*
(R. Vn, a, 68 ; H. II, 852) ; dort wird das Problem der „Versetzung* innerer
Bilder nach aussen eingehend behandelt; der „Ort der Empfindung* sei eine
guothwendige Bedingung der Empfindung, ohne welche es unmöglich wäre,
die Dinge als ausser uns vorzustellen. Hierbei wird es sehr wahrscheinlich,
dass unsere Seele das empfundene Object dahin in ihrer Vorstellung ver-
setze, wo die verschiedenen Bichtungslinien des Eindrucks, die dasselbe
gemacht hat, wenn sie fortgezogen werden, zusammenstossen* u. s. w. Tgl.
dazu Thiele, Philos. Ks. I, b, 50. 276 ff. 292 ff.
Die Beziehung der projicirten Empfindungen auf Gegenstände wird
von den Commentatoren hier mehr oder weniger als selbstverständlich an-
genommen; so bei ß einhold, Theorie des Vorst.- Vermögens 895 ff,, so bei
Metz, Darstellung des K/schen Systems 44 („Beziehung gewisser Empfin-
dungen in mir auf gewisse Dinge ausser mir*). Ulrich in seinen In-
stituHones §47 lässt sich darüber so aus: „Omnis sensatio externa est Status
quidam seu affectio animi mei. Huic vero sua sponte adjunctum est invictum
aliquod de caussa s, objecto quodatn extra nos posito Judicium,^ Er will aber
diese Erscheinung (mit Recht) an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. Es
ist darum auch unvorsichtig, hier schon von einer causalen Beziehung zu
sprechen, wie das z. B. auch die anonymen „Hanptmomente der kritischen
Philosophie* S. 84 thun: „ich stelle meiner Empfindung etwas ausser
ihr gegenüber, von welchem ich annehme, dass es die Ursache dieser
Wirkung ist* ; dies wird dann auch „Gegenstand* genannt. Viel rich-
tiger ist hier die vorsichtige Zurückhaltung Kants selbst. (Nur in dem
Nachgel. Werke XIX, 576 heisst es einmal, dass „wir etwas ausser uns
setzen, wovon wir afficirt werden, d. i. als Erscheinung im Raum und in
der Zeit*.) Ueber den Ausdruck „Beziehen* s. oben S. 2.
Man kann das Stillschweigen Kants hier über diese Frage auf zwei
verschiedene Arten zurechtlegen: entweder versteht Kant unter dem
„Etwas*, auf welches die Empfindungen bezogen werden, das Ding an sich,
die letzte Ursache der Affection; er glaubte dann auf dasselbe nicht ein-
gehen zu müssen, da dessen Voraussetzung durch Kant schon in dem Vor-
hergehenden hinreichend deutlich gemacht war, wobei freilich noch die Frage
bleibt, wie denn das empfindende Individuum selbst zur Annahme eines
solchen komme; denn das Individuum muss doch, um die Empfindungen
auf dasselbe beziehen zu können, erst zu dessen Annahme auf irgend eine
Weise geführt werden. Oder aber — Kant versteht unter dem Etwas nur
den zu der Empfindung von uns hinzugedachten kategorialen Gegenstand,
den wir nur durch unsere apriorische Denkfunction erzeugen; dann aber
erhebt sich die Frage, wie denn dieses Etwas schon bei der Entstehung der
Wahrnehmung eine Rolle spielen kann, da es doch, nach den späteren Dar-
stellungen des Sachverhaltes, erst später zu der Wahrnehmung hinzugefügt
wird, die ihrerseits allein schon durch Verbindung von empirischem Empfin-
dungsmaterial und reiner Anschauungsform entsteht. Hier aber scheint
Yaihinger, Kant-Commentar. 11. 11
162 § 2. Erstes Raumargument.
A23. B38. [R 84. H 59. E 74.]
doch zum Zustandekommen der Wahrnehmung eben schon jenes ^ Etwas*
im Voraus nothwendig zu sein. Vgl. dazu bes. A 234 (B 309) !
Auf diese Weise betrachtet, erscheint Kants Stillschweigen über diesen
Punkt nicht mehr auf Voi*sicht, sondern auf Unklarheit zurückgeführt werden
zu müssen. Vgl. auch oben S. 4. 17. 32 ff. 56 ff.
In dieser Weise hat denn nun auch Schopenhauer dieses Thema
weitergesponnen ^ Er hat dies gethan in dem berühmten § 21 seiner Schrift
über den Satz vom Grunde (vgl. auch die Schrift „Ueber das Sehen und
die Farben", Cap. I, sowie Welt a. W. I, 14; II, 13. 22 ff.). Er wirft da
Kant vor, in der Transsc. Aesthetik die objective Anschauung ohne Weiteres
nur durch Verbindung von Empfindung und reiner Anschauung abgeleitet
zu haben, anstatt zu erkennen, dass in diesem Process der Objectivirung
der rein subjectiven Empfindung schon die Causalfunction eine entscheidende
Rolle spiele. „Kant hat diese Vermittelung der empirischen Anschauung
durch das uns vor aller Erfahrung bewnsste Causalitätsgesetz entweder nicht
eingesehen, oder, weil es zu seinen Absichten nicht passte, umgangen.' .Die
Wahrnehmung ist bei Kant etwas ganz Unmittelbares, welches ohne alle
Beihilfe des Causalnexus und mithin des Verstandes zu Stande kommt '':
dies belegt Schop. mit der Stelle A 367 ff. , woselbst Kant diese Meinung
allerdings unzweideutig ausspricht. Darnach ist die , Wahrnehmung äusserer
Dinge im Baume aller Anwendung des Gausalgesetzes vorhergängig ; es geht
also dieses nicht in jene als Element und Bedingung derselben ein'. Schop.
drückt dies auch so aus, dass für Kant eigentlich empirische Anschauung
mit der Empfindung zusammenfalle, was aber wiederum falsch ist, da ja
nach Kant zur blossen rohQn Empfindung noch die reine ordnende Form
hinzukommen muss. Aber diese reine Anschauungsform ist eben nach
Schop. nicht Sache einer „reinen Sinnlichkeit', sondern auch schon des
„Intellectes", dessen Formen eben Baum, Zeit und Causalität sind. Indem
Schop. diese Formen so in Eine Linie stellt und Einem Vermögen, dem
Verstände, zuschreibt, drückt er damit eben schon aus, dass die Causalität
immer mit Baum und Zeit zugleich ins Spiel komme. Ja, seiner Theorie
nach, kommt sogar die Causalität zuerst und in erster Linie ins Spiel bei
der Verwandlung der rein subjectiven Empfindung in die objective An-
schauung. Er betrachtet diese seine Lehre als eine nothwendige Fortbildung
der Kantischen selbst, welche er „äusserst fehlerhaft" nennt; dieselbe habe
seitdem in der philosophischen Literatur immer fortbestanden (speciell bei
Schelling und Fries), und „Keiner habe sich getraut, sie anzutasten' ; ,ich
habe hier zuerst aufzuräumen gehabt, welches nöthig war, um Licht in den
Mechanismus unseres Erkennens zu bringen*.
Schopenhauer geht hiebei von der schon oben S. 75 gekennzeichneten
Prämisse aus, der von der Empfindung dargebotene Stoff sei etwas ,Aerm-
^ üebrigens findet sich diese Fortbildung Ks. schon bei Fichte. Vgl-
Dilthey, Sitz.-Ber. d. Berl. Acad. 1890, S. 981. 998.
Mitwirkung der Causalität nach Schopenhauer u. A. 1(33
[B 84. H 69. E 74.] A 23. B 88.
liches*', die Hauptsache thue erst der „Intellect* hinzu; „erst wenn der
Verstand ... in Thätigkeit geräth und seine einzige und alleinige Form,
das Gesetz der Causalität in Anwendung bringt, geht eine mächtige Ver-
wandlung vor, indem aus der -subjectiven Empfindung die objective An-
schauung wird. Er nämlich fasst, vermöge seiner selbsteigenen Form, also
a priori, d. h. vor aller Erfahrung (denn diese ist bis dahin nicht möglich)
die gegebene Empfindung des Leibes als eine Wirkung auf (ein Wort,
welches er allein versteht), die als solche noth wendig eine Ursache haben
muss. Zugleich nimmt er die ebenfalls im Intellect, d. h. im Gehirn prä-
disponirt liegende Form des äusseren Sinnes zu Hilfe, den Baum, um jene
Ursache ausserhalb des Organismus zu verlegen: denn dadurch erst ent-
steht ihm das Ausserhalb, dessen Möglichkeit eben der Baum ist; so dass
die reine Anschauung a priori die Grundlage der empirischen abgeben muss."
,Der Baum macht das Nach-aussen- Verlegen einer Ursache, die sich darauf
als Object darstellt, allererst möglich." „Zwischen Empfindung und An-
schauung ist eine grosse Kluft;" jene ist Sache der Sinne, diese „das schöne
Werk* ist Sache des Verstandes ; daher spricht Seh. von der „Intellectualität
der empirischen Anschauung", wobei eben die intellectuelle Function der
Causalität die Hauptrolle spielt.
Während nach Kant die Causalität bloss dazu nothwendig ist, um in
die aus Empfindung und reiner Anschauung entstandenen Wahrnehmungen
erst gesetzmässig geordneten Zusammenhang zu bringen, welche bei Kant
, Erfahrung" heisst — ist bei Schopenhauer die Causalität nicht bloss für
den Zusammenhang der Wahrnehmungen, sondern schon für deren Zu-
standekommen nothwendig (worin derselbe auch den wahren Beweis für
die Apriorität der Causalität sieht). Diese Theorie Schs. von der Mitwir-
kung der Causalitätsfunction beim Zustandekommen der objectiven An-
schauung ist sowohl von Philosophen als von Naturforschern acceptirt und
weiter ausgebildet worden. Unter den Letzteren ist in erster Linie Helm-
holtz zu nennen, welcher in seiner Physiol. Optik § 26 ff. (vgl. seinen Vor-
trag „Ueber das Sehen des Menschen" 40 ff.) jene Theorie in originell aus-
geprägter Weise vertritt. Er betont besonders den auch von Schopenhauer
angedeuteten Umstand, dass jene Anwendung der Causalfunction eine un-
bewusste ist, und speciell als ein unbewusster Schluss bezeichnet werden
kann. Auch Zöllner in seinem Kometenbuch hat dies ausgeführt S. 344 ff.;
El. Theorie d. Materie, Vorr. 68 ff.; Wiss. Abh. I, 218. 226. 237; II, 184.
202. Dagegen Wundt, Logik I, 454 f.
Unter den Philosophen hat besonders 0. Liebmann jene Theorie aus-
gebildet * in dem geistvollen Werke: „Ueber den objectiven Anblick.
* Auch Cohen, 2. A. 355. 365. 454, findet dieselbe richtig, aber nicht neu,
da K. die Sache in der Deduction der Kategorien erörtert habe, wo sie auch erst
hingehöre. K. habe die Lehre von der Sinnlichkeit hier absichtlich „isolirt". Vgl.
oben S. 123. Auch Z e 1 1 e r stimmt hierin mit Helmholtz überein ; vgl. dazu Planck
in d. Viert, f. wiss. Philos. HI, 17 ff. 152 ff. Vgl. Thiele, Philos. Ks. I, b, 298 ff. 309 ff.
164 §2. Erstes Raumargument.
A88.B88. [B 34. H 59. E 74.]
Eine kritische Abhandlung*, 1869 (vgl. desselben Werk: Zur Analysis der
Wirklichkeit, 1. A. 48 ff. 128—169). Liebmann erkennt an, dass , Schopen-
hauer Kanten in diesem Punkte wirklich corrigirt hat'' (112) ; in dem ersten
Raumargument habe Kant nur die Hftlfte dessen gesagt, was zu sagen war ;
denn er habe die Function der Causalität hier übergangen. Das erste
Raumargument „spreche sich so aus: Die Vorstellung des Raumes über-
haupt, als desjenigen , das nach Höhe , Breite und Tiefe yon der empirisch-
realen, materiellen, wahrnehmbaren Welt angefüllt wird, ist nicht ein Pro-
duct der Erfahrung, sondern eine Voraussetzung derselben". — Aber diese
Localisation — und das eben habe Kant übersehen — setzt voraus, dass das
empfindende Subject überhaupt einen Anstoss erhält, seine rein subjective
Empfindung zu objectiviren , und hier setzt eben die » Denkform' der Cau-
salität ein. Und „ vermöge des Schlusses nach der Kategorie der Causalität
füllt sich für das Subject der Raum an. Jetzt muss die Helligkeit, der
Klang, die Wärme, der Druck, die es empfindet, von aussen her gekommen,
d'opad'sv ins Bewusstsein getreten sein". Liebmann geht indessen darin über
Seh. hinaus, dass nach ihm auch noch die Denkform der Substantialität
hier nothwendig ist „als Bedingung der Möglichkeit einer objectiven Sinnes-
anschauung" (126), was entschieden consequenter ist, als Schs. Reduetion
aller Substanz auf blosse Causalität. Der „intellectuelle Mechanismus", der
also beim Zustandekommen des , Mirakels" des objectiven Anblickes zu-
sammenwirkt, besteht 1) aus dem sensualen Factor, 2) aus dem intellectuellen :
letzterer zerfdllt a. in die beiden Anschauungsformen Raum und Zeit, b. in
die beiden Denkformen Causalität und Substantialität ; dazu tritt dann aber
nach Liebmann 3) der „transscendente Factor", d. h. die Relation zwischen
dem unbekannten Etwas, das der Aussen weit zu Grunde liegt, und dem un-
bekannten Etwas, das uns selbst zu Grunde liegt. Aus alle diesem ergibt sich
als „Formel für die Genesis des objectiven Anblicks": „Der transscendente
Factor nöthigt dem sensualen Licht- und Farbenempfindungen ab, deren
Inhalt vom intellectuellen Factor in räumliche Form objectivirt wird." (157.)
Eingehend ist diese Frage neuerdings behandelt worden von Schneider,
Ps. Entw. d. Apriori 79 — 109: „Der Raum im thierischen Innewerden und
im natürlichen menschlichen Bewusstsein." (Vgl. desselben Transscendental-
psychologie, 1891, S. 45 ff. 52 ff.) Dass die apriorische, schöpferische Kraft
den Raum producirt, glaubt er bloss durch die Causalfunction „erklären" zu
können. Dies verficht Schneider gegen Riehl und Classen (Physiologie des
Gesichtssinns 69. 157); und im Anschluss an Schopenhauer, Helmholtz,
Wundt, Sigwart, Liebmann, Lange, v. Hartmann führt er näher aus, dass
wir bei der Projection der Empfindung speciell mit einem Causalschluss
operiren. Bei der Verräumlichung der Sensibilität erscheint somit die Ver-
standesthätigkeit als wesentlich: „Das optische Ich und das logische Ich
fallen zusammen."
Classen, Phys. d. Ges. 157 ff., ist ein Gegner dieser Auffassung: pDie
Empfindung ist nach Kant allerdings die Wirkung eines Gegenstandes auf
Der apriorische Factor der Anschauung. 1(55
[R 34. H 59. K 74.] A 23. B 38.
unsere Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben affioirt werden [vgl.
ol..«i S. 26]. Trotzdem schliessen wir in der Wahrnehmung niemals von
der Wirkung auf ihre Ursache zurück ; denn die Wirkung kommt uns selbst
gar nicht zum Bewusstsein, sondern durch die Wirkung kommt uns der
Gegenstand unmittelbar zum Bewusstsein.* Schneider a. a. 0. 102 ff. sucht
dies zu widerlegen; er hält im Gegentheil die intellectuelle Form der Cau-
salität für den Kern der ^Thathandlung der Verräumlichung* der Eindrücke.
Auf jeden Fall bat Kant selbst „die grosse Lehre von der Intellectualität
der Sinneswahmehmungen* (Dilthey, Arch. f. Gesch. d. Phil. II, 649) in
diesem Sinne noch nicht innerhalb seiner Transsc. Aesthetik aufgestellt;
in welchem Sinne die Analytik den ,Satz der Intellectualität*' aufstellt,
wii'd daselbst zu erörtern sein. —
Also Thatsache ist, dass wir, indem wir die Empfindungen auf ^ Etwas**
ausser uns beziehen, das Ausser- und Nebeneinander der Empfindungen zu
Stande bringen. Nennt man das Erstere die Protection der Empfindungen,
so könnte man das Zweite in der Kürze als Disjection (oder auch Dis-
location) derselben bezeichnen. Diese räumliche Projection und locale Dis-
jection (Juxtaposition) der Empfindungen ist nun — nach Kants Argumen-
tation — nur möglich, wenn »die Vorstellung des Raumes schon zum
Grunde liegt*; das heisst doch wohl: ich könnte die Empfindungen nicht
in den Kaum hinausversetzen und nicht in demselben vertheilen , wenn ich
nicht dazu die Baum Vorstellung schon gleichsam parat hätte, wenn ich sie
nicht schon zur Verfügung hätte. Nur unter dieser Voraussetzung ist jene
Thatsache erklärbar. Für jene Thatsache muss dies als Ursache an-
gesetzt werden. Hiebei ist nun aber stillschweigende Voraussetzung, dass
eben die Empfindungen selbst als solche raumlos , ortlos sind , dass sie erst
durch die Baum Vorstellung in räumliche verwandelt, transformirt
werden müssen. Also jene oben S. 72 besprochene scharfe Scheidung von
Inhalt und Form der Erscheinung wird hier benützt als eine ausserordent-
lich wichtige, aber latent bleibende Prämisse. (Vgl. Cohen, 2. A. 202.)
Man sieht, wie aus jener Annahme, die man doch nur als eine petitio prin-
ciijii charakterisiren kann, alsbald sehr weittragende Consequenzen gezogen
werden. Was dort nur im Allgemeinen behauptet war — dass die Form,
welche die Empfindungen ordnet, „a priori im Gemüthe bereitliegen müsse '^
5, und abgesondert von aller Empfindung betrachtet werden können müsse" —
das wird hier am Beispiel des Raumes speciell gezeigt. (Vgl. Volk elt 216.)
Die allgemeine Raumvorstellung ist also eine Voraussetzung für „alle con-
crete Localisirung** (Ueberweg); „die allgemeine Vorstellung des Raumes ist
die Bedingung aller bestimmten Raumanschauungen " (Zeller, Gesch. der
deutschen Phil. 427). Ich kann also überhaupt „keine Empfindung äusserer
Dinge ohne die Vorstellung des Raumes' haben (Schultz, Erl. S. 22), Aus
dieser Priorität der Letzteren folgt dann eben unmittelbar ihr nicht-
empirischer Ursprung. Das Argument sagt also aus: Der Raum sei nicht
ein Theilinhalt der Wahrnehmung, speciell der Gesichts- und etwa noch der
l(3t) §2. Erstes Raumargument
A 23. B 38. [R 34. H 59. E 74.]
Tastwahrnehmung, sondern eine zu dem Empfindungsinhalt hinzukommende
Form. (Vgl. Liebmann, Anal. d. Wirkl. 216 Anm. In dieser Form könnte
auch ein ganz anderer qualitativer Empfindangsinhalt erscheinen, „der Inhalt
ganz anderer, uns unbekannter Sinne, etwa eines direct magnetischen Sinnes^.)
Hiezu vergleiche man folgende Stelle aus Kants Opus Postumum (XXI.
550) : „Baum und Zeit sind, obzwar a priori in der reinen Anschauung ge-
geben, dennoch als synthetisch bestimmende Erkenntniss, Gründe, welche
nicht aus der Erfahrung, sondern für und zum Behuf derselben, nämlich
als subjectives Princip für die Möglichkeit derselben, die Regel geben.*
Dieser Gegensatz — „nicht aus der Erfahrung, sondern für die Mög-
lichkeit der Erfahrung" — wird überhaupt daselbst sehr oft wiederholt,
z. B. XIX, 126. 263. 265 f. 272. 273. 282. 286 ff. 426. 458. 618 f.; XX, 426;
XXI, 84. 379. 887. In demselben Werke (XIX, 627 vgl. 620) findet sich
folgende beachtenswerthe Formulirung: „Raum, Zeit als subjective Formen,
sind nicht abgeleitete Erkenntnissstücke (repraeseiitatio derivaliva), sondern
ursprünglich (repraesentatio primaria) in dem Vorstellen gegeben.* Ygl.
a. a. 0. 434. 624. 627: „Das Aggregat der Wahrnehmungen zum Bebufe
der Möglichkeit der Erfahrung setzt jene Anschauung, das Formale TOr
• dem Materialen, voraus."
Zu diesem Zweck also muss „die Vorstellung des Raumes schon
zum Grunde liegen". Diese Wendung wiederholt Kant nachher noch
mehrfach in dem parallelen Zeit-, sowie im zweiten Raumargument; dazu
vergleiche man die merkwürdige Stelle A 267 (merkwürdig, weil sie wahr-
scheinlich eine der ältesten Partien der Kr. d. r. V. ist), in welcher jener Aus-
druck in mehreren Variationen gebraucht wird, und wo es dann heisst, die
sinnliche Anschauung sei eine subjective Bedingung, „welche aller Wahr-
nehmung a priori zum Grunde liegt und deren Form ursprünglich ist*.
Und in den Prolegomena § 13 Anm. I heisst es: „Die Form der sinnlichen
Anschauung, die wir a priori in uns finden, enthält den Grund der Mög-
lichkeit aller äusseren Erscheinungen (ihrer Form nach).* „Die Sinnlich-
keit ... ist die subjective Grundlage aller äusseren Erscheinungen.* Ebenso
lautet die Anmerkung Kants in seinem Handexemplar (Erdmann, Nachträge
Nr. XV): „Der Raum ist nicht ein von der Erfahrung hergenommener Be-
griff, sondern ein Grund möglicher äusserer Erfahrung.* Und ganz in
demselben Sinne heisst es schon in der Dissertation § 15 c : „Conceptus
spaiii . . . est sensationibus non conftatus, sed omnis aensationis extemae forma
fundamentalisJ^ Also die Raumvorstellung liegt allen äusseren Anschau-
ungen als eine apriorische Vorstellung zu Grunde. Die Raumvorstellung
ist gleichsam das Fundament, auf welchem erst das Gebäude der äusseren
Erfahrungen aufgebaut werden kann; und dieses Fundament ist im Subjeet
gelegt, insofern eben die Raumvorstellung eine apriorische ist.
Dem gegenüber erscheinen Cohens Bemerkungen hierüber höchst wunder-
lich. Er sagt (1. A. 8; 2. A. 95 f.): „Man darf über dieses Schon zum
Grunde liegen nicht flüchtig hinweggehen ... In welcher Weise die Vor-
Die Vorstellung des Raumes muss „zum Grunde liegen**. 167
[B 84. H 59. E 74.] A2d.B88.
Stellung des Raumes der Vorstellung von der örtlichen Verschiedenheit der
Empfindungen . . . zum Grunde liege und liegen könne, wo der Raum diesen
seinen Grund (?!) habe, ob im Object oder im Subject . . . dies Ä.lles ist
durch den ersten Satz noch nicht ausgemacht. Dahingegen ist dies gesagt:
dass den äusseren Vorstellungen der Raum zum Grunde liege, dass er dem-
nach (!) irgendwie in der Erfahrung enthalten sein müsse (!), ... es wird
anf eine Erfahrung hingewiesen, in welcher der Raum seinen Grund hat."
Und in dieser Weise lässt sich Cohen noch öfters aus über „den vorsichtigen
Ausdruck des zum Grunde Liegens" (99). In der That, eine wunderliche
Auslegung! Eine Auslegung, welche Kant genau das Gegentheil dessen
sagen lässt, was er in Wirklichkeit sagt. Aehnlich wunderlich Stadler,
Reine Erk. 59. Vgl. dazu auch Witte, Beiträge 18. Vgl. oben 157.
Von den meisten Commentatoren wird denn auch der Ausdruck „zum
Grunde liegen" umschrieben durch ^vorhergehen", „vorausgehen", oder ähn-
liche Wendungen; so bei Schulz, Erläuterungen S. 22; in den anonymen
„Hauptmomenten" S. 84; Jacob, Prüfung der Morgenstunden S. 25. 26.
30; Metz, Darstellung des K. 'sehen Systems 44 ; Lossius, Lexicon III, 514.
515; Tiedemann, Theätet S. 58; Weishaupt, Zweifel u. s. w. S. 15;
Eberhard, Philos. Archiv I, 1, 91; Schulze, Kritik der theor. Philosophie
I, 202. (In recht grober und banaler Weise fassten vulgarisirende Kantianer
dies Prioritätsverhältniss der Raum Vorstellung zur Erfahrung, so Bendavid,
Vorl. S. 14; Heusinger, Enc. I, 285.)
Der Ausdruck „vorhergehen" statt „zum Grunde liegen" ist übrigens
auch durch Kants eigenen Gebrauch als Kantisch bezeugt; so sagt Kant in
den Prolegotnefia § 10: Reine Anschauungen, welche den empirischen An-
schauungen „zum Grunde liegen", sind blosse Formen unserer Sinnlichkeit,
„welche vor aller empirischen Anschauung, d. i. der Wahrnehmung wirk-
licher Gegenstände vorhergehen müssen". Dazu stimmt auch die Reflexion
II, N. 336: „Ist der Raum vor den Dingen? Allerdings. Denn das Gesetz
der Co Ordination ist vor den Dingen und liegt ihnen zum Grunde."
Ebenso N. 348: „Der Raum geht vor den Dingen vorher; daher kann er
kein Prädicat der Dinge, sondern nur ein Gesetz der Sinnlichkeit sein,
welches als die Condition aller möglichen Erscheinungen freilich vor allem
Wirklichen vorhergeht." N. 350: „Priorität des Raumes vor den Er-
scheinungen." if. 1428: „Die Zeit und der Raum gehen vor den Dingen
vorher. Das ist ganz natürlich; beide nämlich sind subjective Bedingungen,
unter welchen nur den Sinnen Gegenstände können gegeben werden. Objectiv
genommen würde dieses ungereimt sein." Vgl. das nachgel. Werk XXI, 353.
361 : „Die reine Anschauung a priori muss, nach Lichtenberg und Spinoza,
vor der empirischen (der Wahrnehmung) vorangehen." Im Anschluss an
Kants Inaug.-Dissertation von 1770 behauptet auch Tetens in seinen „Philos.
Versuchen" (vgl. 0. Ziegler, Tetens' Erk.-Th. Diss. Lips. 1888, S. 49. 54),
„dass die Verhältnisse von R. n. Z. wohl noch vor dem Gewahrnehmen der
auf einander bezogenen Sachen vorhergehen."
1(38 § 2. Erstes Raumargument.
A 23. B 38. [R 34. 35. H 59. K 74. 75.]
Ebenso bemerken fast alle Gommentatoren ausdrücklich, dass — was
trotz Cohens Bestreitung allerdings selbstverständlich ist — die RaumTor-
stellung im Subjecte vorhergehen, oder „zum Grunde liegen muss*. So
z. B. Brastberger in seinen Untersuchungen über die Kr. d. r. V. 8. 47;
9 Der Raum kann nicht als Resultat der Wahrnehmung, nicht als entsprungen
aus derselben und als erzeugt durch sie angesehen werden, sondern muss
als ihre Bedingung in dem Gemüthe zum Voraus schon liegen." So
Jacob in seiner Schrift gegen Mendelssohn S. 25: „Raum und Zeit müssen
Vorstellungen sein, welche in der Natur der menschlichen Seele
selbst schon zum Grunde liegen und welche allen übrigen Vorstellungen
vorhergehen oder alle anderen Vorstellungen möglich machen.^ So Lossius
III, 514; so Villers in Riaks „Mancherley" S. 21; Kiese wetter, Fass-
liebe Darstellung S. 29. 30. 32; Ulrich in seinen histitutiones S. 6. 7:
„Visorum ac sensorum externorum spatium forma quaedam est, subjeciiva
Uta quidem, non cum ipso demum viso impresso et adventitia, sed insita
animo nostro, omnique viso extrinseco superior et prior'*; Tiedemann,
Theätet S. 59; Schulze, Kritik der theoret. Philos. I, 207; Cousin, Philos,
de Kant S. 77.
Wenn nun demgemäss von Anfang an alle Gommentatoren das zeit-
liche Vorhergehen der Raumvorstellung im Subjecte vor der
Wahrnehmung gelehrt haben — dieses zeitliche Vorhergehen wird be-
sonders betont von Jacob — , so haben mehrere derselben doch allerdings
hinzugefügt, dieses Vorhergehen sei nur ein potentielles; actuell werde
die Raumvorstellung doch erst durch den Act und in dem Act des Wahr-
nehmens selbst. So Brastberger, Untersuchungen S. 47; Schmid, Cr. d.
r. V. S. 18: „Die empirische Wahrnehmung von Etwas als ausser mir und
aussereinander setzt schon die Vorstellung vom Raum voraus *", und ebenso
ist's mit der Zeit, »obgleich diese Vorstellungen selbst ohne vor-
hergegangene empirische Wahrnehmungen nicht klar bei uns
werden". Die Jenaer Allg. Lit.-Zeit. 1788, I, 251 erläutert: ,Der
allerersten Unterscheidung zweyer Dinge, als ausser einander, sey sie auch
noch so dunkel, muss ja eben schon die Vorstellung des Raumes, wena
auch noch so wenig entwickelt, selbst sogar vor aller Benennung, zum
Grunde liegen.* In der That lässt sich auch die Apriorität der Raumvor-
stellung in diesem ersten Raumargument wohl als eine potentielle fassen —
eine Auslegung, welche freilich bei den beiden letzten Raumargumenten
nicht mehr möglich ist und in der Transsc. Erörterung, bei der Ableitung
der Mathematik aus der apriorischen Raumanschauung, vollständig scheitert.
Dritter Satz : Schlussfolgerung. Demnach kann die Yorstelliuig
des Baumes nicht u. s. w. Dieser mit „demnach" eingeleitete Satz ent-
hält die Schlussfolgerung aus dem vorhergehenden Satze. Diese, mit dem
Inhalt des ersten Satzes, der These, sachlich gleichlautende Schlussfolgerong
ist ebenfalls nur negativ ausgedrückt (,,der Raum ist nicht aus der äusseren
Erfahrung erborgt*') ; und an dieselbe schliesst sich dann in dem mit
Die Raumvorstellang macht die Erfahrung „allererst" möglich. 169
[R 35. H 59. E 75.] A 23. B 38.
,, sondern" eingeleiteten Adversativsätzchen eine nochmalige Wiederholung des
Beweisgrundes in umschreibender Form („Die äussere Erfahrung ist allererst
durch die Raum Vorstellung möglich").
Diese ganze Schlussfolgerung ist in der Dissertation § 15 A so aus-
gedrückt: „Possibüüas ergo perceptionum externarum qua talium supponit
coneeptum spcUii, nan creat; 9icuti etiam, qucte sunt in spatio, sensus afficiunt,
spaiium ipsutn sensibus hauriri non potest/' Charakteristisch ist
die Ausdrucksweise der Prolegomena % 1 di, Anm. I : „Der Raum in Gedanken
macht den physischen Raum, d. i. die Ausdehnung der Materie selbst mög-
lich." In der mehrerwähnten Stelle der Kr. d. r. V. A 267 drückt sich Kant
so aus : „Die Form der Anschauung (als eine subjective Beschaffenheit der
Sinnlichkeit) geht vor aller Materie (der Empfindungen), mithin Raum und
Zeit vor allen Erscheinungen und allen datis der Erfahrung vorher und
macht diese vielmehr allererst möglich . . . Der Intellectualphilosoph
(Leibniz) konnte es nicht leiden, dass die Form vor den Dingen selbst
vorhergehen und fieser ihre Möglichkeit bestimmen sollte" u. s. w.
Bemerkenswerth ist in dieser Parallelstelle die Wiederkehr des be-
zeichnenden Wörtchens „allererst", welches Kant für die Charakteristik
seines Apriori mit Vorliebe verwendet. So heisst es auch in den Prolego-
mena § 11: „Die blosse Form der Sinnlichkeit geht vor der wirklichen Er-
scheinung der Gegenstände vorher, indem sie dieselbe in der That allererst
möglich macht." Ebenso ebendaselbst § 13 Anm. I: „Die Sinnlichkeit macht
durch ihre Form äusserer Anschauung, den Raum, die Gegenstände als
blosse Erscheinungen selbst allererst möglich." Dieses Wörtchen, das
auch schon Crnsius (z. B. Vernunftwahrh. § 49) genau in demselben Sinne
und in derselben Verbindung mit „möglich machen" anwendet, kehrt bei
Kant unzählige Mal wieder. In der Kantliteratur wird der Ausdruck auch
mit Vorliebe angewendet; z, B. in der Jen. Allg. Lit.-Zeitung 1790,
Nr. 282, S. 510; bei Schulze, Kritik der theoret. Philos. II, 205. 210. 211.
Ferner besonders von Schopenhauer und von dem ganzen von ihm beein-
fiussten Neukantianismus (Liebmann, Cohen). Vgl. ferner z. B. Göring,
Raum u. Stoff 95. Riehl, Krit. I, 373.
Aus diesen und vielen anderen Parallelstellen geht der Sinn der Stelle
unzweideutig hervor: die Vorstellung des Raumes wird nicht erst durch
vorhergegangene Erfahrung ermöglicht, sondern die äussere Erscheinung ist
selbst erst ermöglicht durch die Raum Vorstellung. Es handelt sich also
nicht um ein Hervorgehen der Raum Vorstellung aus der Erfahrung,
sondern um ein Vorhergehen derselben vor dieser. Nicht aus der Er-
fahrung also brauche ich die Raumvorstellung erst abzuziehen, nicht ei*st
von ihr zu lernen, zu erfahren, dass es einen Raum gibt; denn um jene
Erfahrung haben zu können, dazu muss ich ja schon die Raumvorstellung
haben. Diese geht, wie jede Bedingung ihrem Bedingten, so der Er-
fahrung voraus. Bündig und gut drückt das Fischer, 2. A. S. 318 f.^ so
aus, der Raum sei nicht das Product der Erfahrung, sondern deren Be-
170 §2. Erstes Raumargument.
A 23. B 88. [R 35. H 59. E 75.]
dingUDg. Nicht in der Erfahrung „ist der Baum enthalten und dann davon
abgezogen worden" (Schmidt, Wörterbuch S. 441), sondern die Erfahrung ist
erst im Räume enthalten und wird erst durch ihn erhalten; und wenn
der Raum nicht „abgezogen ist aus der Erfahrung des äusseren Sinnes und
aus den Verhilltnissen der Dinge in demselben, so ist er auch nicht durch
Einwirkung gewisser Objecte auf unser Gemüth entstanden", wie Schulze
in seiner Kritik der theoret. Philosophie I, 207 im Sinne Kants weiter aus-
fuhrt. Und Tiedemann, Theätet 59, folgert: „Wir bringen also den Raum
zu der Empfindung schon mit und er liegt vor aller Empfindung in unserem
Gemüthe ;" und ib. S. 67 : „Er ist eine unserem Gemüthe vor allen Empfin-
dungen anklebende, folglich aus uns in die Gegenstände hinübergetragene
Vorstellung." —
Nach der üblichen Terminologie kann man das Resultat auch so zu-
sammenfassen: Der Raum ist nicht von der Erfahrung abstrahirt. In-
dessen ist Kant kein Freund dieses Sprachgebrauches, den er in der Schrift
gegen Eberhard (Ros. I, 416) ausdrücklich zurückweist — allerdings aus
nicht stichhaltigen Gründen, die uns also auch nicht abhalten können, jener
Ausdrucks weise uns zu bedienen. Vgl. oben 159. Ausserdem hat Kant jene Aus-
drucksweise selbst adoptirt in seinem Aufsatze gegen Kästner, vgl. oben S. 93.
Daselbst sind auch noch andere Stellen mitgetheilt, aus denen hervor-
geht, dass Kant gelegentlich unterschieden hat zwischen der unwillkürlich
entstandenen Anschauung der Aussenwelt, bei welcher die Raumanschauung
als unbewusster apriorischer Factor mitwirkt, und zwischen der aus den
so entstandenen sinnlichen Vorstellungen erst nachträglich abstrahirten
aposteriorischen bewussten Raum Vorstellung. Dies ist auch der Sinn der
Reflexion II, N. 336: „Ist der Raum vor den Dingen? Allerdings. Denn
das Gesetz der Coordination ist vor den Dingen und liegt ihnen zum Grunde.
Allein ist der Raum ohne Dinge empfindbar, oder kann man ihn nur
durch die Dinge bemerken? Ja." Cohen, dem diese Stelle auch schon
aufgefallen ist, macht dieselbe dafür geltend (2. A. 105), dass nach Kant
der Raum unbeschadet seiner Apriorität empirisch abgeleitet werden muss.
Dies hat nur Sinn in der eben entwickelten Weise, wenn die Apriorität als
unbewusste, die empirische Ableitung als bewusste unterschieden werden.
In der That Hesse das erste Argument als solches diese Auslegung zu; das
„zum Grunde liegen" wäre ein unbewusstes, was nicht ausschliesst, dass wir
aus den so entstandenen sinnlichen Anschauungen der Gegenstände die Raum-
vorstellung für unser Bewusst^sein nachträglich abstrahiren. Aber bei dieser
Auffassung Hesse sich die Apriorität der Mathematik nicht halten. Kant
hat sie also entweder nicht gehabt, oder, wenn er sie gehabt hat, — was
allerdings die oben mitgetheilte Stelle beweist — dann hat er sich eben
widersprochen. Diesen fundamentalen Widerspruch haben wir ja schon oben
S. 88, 93 hinreichend kennen gelernt.
Wenn wir nun das Resume dieser Erklärungen ziehen, so finden wir
bestätigt, was wir schon anfangs vorläufig hinstellten (s. oben S. 156): Das
Die Priorität des Raumes als Beweisgrund für seine Apriorität. 171
[B 35. H 59. K 75.] A 28. B 88.
eij^^entlicbe Beweis thema (objectum prohationis) ist der nicht-empirische, somit
apriorische Ursprung der Baum Vorstellung , die Apriorität des Raumes.
Der Beweisgrund {argumentum prohationis) liegt in der Noth wendigkeit der
Priorität der Baumvorstellung vor jeder wirklichen Wahrnehmung. —
Diese unsere Darstellung wäre nun gänzlich verfehlt, wenn Cohens
Auslegung dieses ersten Baumargumentes richtig wäre. Nach ihm (1. Aufl.
7 ff. 13 ff. 26 ff. ; 2. Aufl. 96 ff.) verhält sich die Sache vielmehr folgender-
massen: Im ersten Baumargument will Kant nur beweisen, dass die
Raumvorstellung „jeder einzelnen Wahrnehmung örtlicher Verschiedenheit
vorhergehe", also die „relative Priorität der Baumvorstellung vor der
Vorstellung des Bäumlichen" ; „nach dem ersten Satze war von dem Baume
nur eine relative Priorität aus den einzelnen Localisirungen geschlossen
worden**. (S. 96. 97. 103. 120. 123.) Erst das zweite Argument beweise
die Apriorität der Baumvorstellung (S. 103. 119. 120); im ersten Argu-
ment aber „ist von einem a priori noch gar nicht die Bede" (96). Ueber-
haupt sei der erste Satz eigentlich nur negativ; „nur den negativen Satz
wollt« Kant beweisen: der Baum ist kein empirischer Begriff** (97). Doch
wird dann dem Satze noch eine gewisse Positivität zugeschrieben, im Unter-
schiede von der Fassung in der Dissertation von 1770; neu sei hier der
Ausdruck „zum Grunde liegen**; dieser Ausdruck sei von „vielsagender,
vielversprechender Positivität**.
An dieser Darstellung Cohens (welche schon von Thiele, Ks. int.
Ansch. S. 186 angegriffen worden ist, sowie von Witte, Beiträge S. 27) ist
alles falsch. Die Behauptung, in dem ersten Argument sei noch nicht von
Apriorität die Bede, lässt sich ja aufs einfachste widerlegen durch den Hin-
weis auf das entsprechende Zeitargument ; da heisst es ja ausdrücklich, dass
„die Vorstellung der Zeit a priori zum Grunde liege**; da haben wir ja den
vermissten Ausdruck in optima forma ! (Cohen hat dies allerdings bemerkt,
aber äusserst gezwungen erklärt, 2. A. 182.) Auch haben alle namhaften
Ausleger den Satz immer so verstanden, vorab der berufenste derselben,
Schultz, in seiner Prüfung I, 114. Der Satz ist also auch nicht bloss
negativ, und wenn auch die negative Ausdrucks weise überwiegt, so doch
sachlich für Kant „nicht-empirisch** und ,, apriorisch** ganz identisch. Vgl.
Comm. I, 169 ff. 191 ff. Zu seiner ungenauen Auslegung hat sich Cohen
verführen lassen durch seine Tendenz, in den Ausdruck a priori mehr hinein?
zulegen, als Kant selbst.
Damit fällt nun auch das andere Missverständniss Cohens, Beweistheraa
sei bloss die Priorität der Baumvorstellung vor den einzelnen räumlichen
Wahrnehmungen; das ist aber nicht das Beweisthema, sondern vielmehr
der Beweisgrund, was eben Cohen so gründlich verkannt hat. Bichtiger
sein Anhänger Stadler, Beine Erk.-Th. 31 ff. ' —
* Recht hat dagegen Cohen, wenn er (1. A. 63, 2. A. 162 ff.) es Trendelen-
bürg. Log. Unters. 2. A. 162, nicht durchgehen läset, welcher sagt, hier sei be-
172 §2. Erstes Raumargument.
A 23. B 38. [R 35. H 69. E 75.]
Uebrigens wird diese psychologische Priorität der allgemeinen Raom-
vorstellung vor jeder einzelnen Localisirung , welche Cohen mit Recht im
ersten Argument findet (nur dass er sie irriger Weise für das probandum
hält statt für das probans) — diese psychologische Priorität wird nachher
von Cohen selbst wieder wegdisputirt. lieber diese eigenthümliche Stellung-
nahme Cohens haben wir uns ja schon oben mehrfach orientirt, S. 96,
S. 98 f., S. 152 ff. Wir fanden da, dass Cohen jene psychologische zeitliche
Priorität dann doch nicht recht will gelten lassen, dass er dieselbe als bloss
,, metaphysisches Apriori*' verdächtigt und heruntersetzt, um an Stelle dieser
niedrigen Auffassung die erhabenere „transscendentale^* zu setzen, wonach
Kant nimmermehr die Raumvorstellung als etwas den einzelnen Wahr-
nehmungen zeitlich Vorhergehendes habe fassen wollen, sondern vielmehr
als einen logisch noth wendigen constituirenden Factor der Erfahrungs-
erkenntniss ^
Ganz in diesem Cohen'schen Sinne sagt auch Adamson, Kant 144 f.:
„R. u. Z. sind nicht rein subjective Gespenster, mit deren Hülfe die Einzel-
intelligenz in das subjective Flickwerk von Sinnlichkeitsacten Ordnung
zaubert, sondern Bedingungen, unter denen die Materie, das Aeussere als
solches, für jedwelche Intelligenz möglich ist. Das ist der eigentliche
Kern seines Beweises, dem unglücklich psychologischen Anstrich
zum Trotz, welchen er bei Kant eingestandener Maassen hat." So auch
Morris, Kant 61. Auch Harms in seiner Gesch. d. Log. S. 219 sagt:
„Nicht nach der zeitlichen Priorität ist das Apriori benannt, sondern nach
seiner von der Erfahrung unabhängigen Gültigkeit.'^ Aehnlich Caird, Crit
Phil, I, 287. Windelband, Gesch. d. Phil. 420. 426.
Dieselbe Auffassung, womöglich noch schärfer ausgeprägt, finden wir
bei Riehl, Krit. I, 347 if . ; auch Riehl dehnt jene Auffassung auf sämmt-
liche vier Beweisgründe aus; „Die Sätze , womit die Thatsache bewiesen
wird, dass die Vorstellung des Raumes a priori sei , ... sind das reine £r-
gebniss einer Analyse der Vorstellung selbst, ohne alle Beziehung auf
ihren subjectiven Ursprung." „Man hat die Beweisgründe Kants nicht
immer richtig verstanden, weil man in ihnen bereits den Ursprung der
Raum Vorstellung aus der Form des Bewusstseins sah, oder sie psychologisch
deutete. In Wahrheit enthalten sie nichts, was nicht unmittelbar aus der
Analyse der RaTimvorstellung folgt. Ohne noch zu entscheiden, ob der Raum
selbst ein Ding oder Unding sei, ob er subjectiv oder objeetiv entspringe,
erläutern sie nur seine Vorstellung. Die Apriorität, die sie lehren,
wiesen, der Raum sei etwas Subjectives und ein a priori. Von der Subjectivitat
= Idealität ist hier noch nicht die Rede, nur von der Apriorität. Vgl. Grapen-
giesser, R. u. Z. 45 f. ; Tiebe a. a. 0. 10 ff.
' Ganz dieselbe Auffassung speciell des Sinnes von Apriori in diesem ersten
Raumargumente hatte übrigens auch schon Schaumann. Transsc. Aesth. (1789)
S. 29, wie schon Comm. I, 191 ausführlicher erörtert worden ist.
Cohen und Riehl gegen das psychologische Apriori. 173
[R 35. H 59. E 75.] A 23. B 88.
bedeutet nicht den Ursprung aus dem Bewusstsein, noch weniger
ein zeitliches Vorangehen der Baumvorstellung vor den Empfindungen äusserer
Dinge. Sie bedeutet nur, dass die Raumvorstellung die Vorstellung von
Dingen im Baume begründe, dass der absolute Baum die Voraussetzung des
relativen sei, dass alle Körperräume Besonderungen des Raumes seien. Baum
gehört zur allgemeinen Form der Erfahrung, er ist mithin unabhängig von
der besonderen Erfahrung vorzustellen, die besondere Erfahrung dagegen als
abhängig und umfasst von ihm."
Diese Auffassung steht im Zusammenhang mit der ganzen von Biehl
vertretenen Darstellung der Kantischen Transscendentalphilosophie. (Vgl.
dazu oben S. 97 f.) Von Anfang bis Ende kämpft Biehl gegen die psycho-
logische Auffassung des Apriori und für die logische ,,transscendentale"
Auslegung desselben. Vgl. a. a. 0. T, 7. 185. 280. 305 ff. 321 ff. 873; ferner
II, a, 8 ff. 86 f. 98 ff. Es sei eine „gänzliche Verkennung des Kantischen
Sinnes des Apriori", wenn man dasselbe psychologisch deute. Bei Kant wie
bei Wolff betreffe der Ausdruck a priori niemals „die psychologische, sondern
stets die logische Nothwendigkeit einer Erkenntniss. Es ist keine Bezeich-
nung des Ursprungs, sondern des Erkenntnissgrundes einer Vorstellung".
Apriori ist eben in diesem Sinne eine Erkenntniss, „deren objective Gültig-
keit unabhängig von der Erfahrung eingesehen und bewiesen werden kann".
In diesem Sinne legt nun also Biehl auch die vorliegenden Textstellen aus;
wenn Kant sage: der Raum ist eine Anschauung a priori, so wolle er
damit nicht etwa sagen: die Raumvorstellung entspringt nicht aus der
Erfahrung der Einzeldinge, sondern aus dem Bewusstsein. Nicht diesen
subjectiv-psychologischen Ursprung der Raumvorstellung wolle Kant
darthun, er wolle vielmehr sagen : die Raumvorstellung ist die nothwendige
logisch-objective Voraussetzung der Denkbarkeit der Einzeldinge, und
in diesem objectiven Sinne eine Bedingung zur Möglichkeit der Er-
fahrung.
Wo Kant von solchen Bedingungen zur „Möglichkeit der Erfahrung"
rede, da sei dieser Ausdruck schlechterdings nicht „in subjectivem Sinne"
zu nehmen. „Kant gebraucht jenen Terminus durchaus objectiv. Mög-
lichkeit der Erfahrung bedeutet demnach für Kant das Wesen oder den
Begriff der Erfahrung, und die Bedingungen einer möglichen Erfahrung
dürfen nicht ohne Weiteres den subjectiven Erkenntnissquellen, aus denen
Erfahrung entspringt, gleichgesetzt werden" (17 f.). Diesen Begriff der
Möglichkeit habe Kant aus Wolff herübergenommen. Dies wird 166 ff.
weiter ausgeführt. Bei Wolff ist „Möglichkeit nicht psychologisch und
genetisch, sondern logisch und objectiv zu fassen. Genau denselben Begriff
von Möglichkeit hat Kant beibehalten. Seine Untersuchung stützt sich auf
die Möglichkeit der Erfahrung" . . . Diese „ist das Princip der gegenständ-
lichen Erkenntniss a priori, der Erkennbarkeit der Dinge aus Begriffen.
Man würde nun Kant gänzlich miss verstehen, wenn man unter dieser Mög-
lichkeit unser Vermögen , Erfahrung zu erwerben , verstünde , wenn man
174 § 2. Erstes Raumargumeiit.
A S3. B 88. [R 35. H 69. E 75.]
Möglichkeit anthropologisch, als Befähigung des Menschen znr Erfahrung,
nicht logisch als Begriff der Erfahrung erfasste. Es handelt sich für Kant
nicht um die Entstehungsgiünde der Erfahrung, sondern um ihre Erkenntniss-
principien, darum, was im Begriffe Erfahrung gedacht wird" u. s. w.
Es ist für uns nun sehr wichtig zu entscheiden, ob diese Auffassung
richtig ist, um so wichtiger, als — was wohl zu bemerken ist — hier der
nachher so ungemein wichtig werdende Terminus der „Möglichkeit der
Erfahrung" zum ersten Mal in der Kr. d. r. V. auftritt (abgesehen
von der im Comm. I, 215 — 222 besprochenen vorläufigen Erwähnung in der
Einleitung B 5). lieber die Bedeutung und Wichtigkeit dieses Princips haben
wir uns schon mehrfach auszusprechen gehabt (Comm. I, 6 ff. 317. 408. 427).
Wir haben gesehen, dass dasselbe dazu dient, zu erklären und zu beweisen,
warum resp. dass die nicht aus der Erfahrung stammenden Begriffe a priori
doch für alle Erfahrungsgegenstände gelten — nämlich weil nur unter ihrer
stillen Mithilfe dieser ganze gesetzliche Zusammenhang der Erfahrungs-
welt zu Stande kommt. Dies ist, wie wir sehen werden, der Sinn der be-
rühmten „Transscendentalen Deduction der Verstandesbegriffe". Man sieht
schon jetzt, dass jene oben entwickelte Cohen-Riehrsche Fassung des Princips
der Mögl. d. Erf. sich in der Analytik der Begriffe nicht bestätigt, weil
ja eben deren subjective Mitwirkung zur Entstehung der Erfahrung
den Grund für ihre nachträgliche allgemeine Anwendbarkeit auf alle Er-
fahrungsdinge abgibt.
Dagegen hat, wie wir sehen werden (vgl. schon Comm. I, 404 Anna.),
jene Cohen-Riehrsche Auffassung der Mögl. d. Erf. allerdings, indessen auch
nur theilweise, Berechtigung für die Analytik der GmndsStze (bes.
für die „Analogien der Erfahrung"). Da will Kant — entsprechend seinem
„methodologischen Problem** (Comm. I, 404 ff.) — eine neue Methode finden,
um die „synthetischen Sätze a priori", z. B. das Causalitätsgesetz , rein
deductiv zu beweisen, ohne Berufung auf die erst inductiv festzustellenden
tausend Fälle der thatsächlichen Geltung desselben. Der Eerngedanke dieses
Beweises ist: diese Gesetze gelten, weil ohne sie gesetzmässige Erfahrun^r.
und damit strenge Naturwissenschaft gar nicht möglich ist. Dieser Beweis
verläuft allerdings aus dem logisch-objectiven Begriff der Erfahrung herans —
hier ist alles Subjective, Psychologische ausgemerzt; und darin eben sehen
Cohen, Riehl u. A. den Kern der „transscendentalen Methode".
Ist es nun aber, wie wir schon S. 154 sahen, unrichtig, diesen Gedanken-
gang der Analytik der Grundsätze auf die Analytik der Begriffe aus-
zudehnen, so ist es vollends unmöglich, denselben aus der Analytik in die
Aesthetik hinüberzutragen. Diesen Uebertragungsversuchen liegt immer
wieder die irrige Voraussetzung zu Grunde, das Kant'sche Gedankensyst«in
sei einfach und „ schlicht" (Cohen), während es doch im Gegentheil ein
äusserst complicirtes Gewebe ist (Comm. I, 448). Auch die einzelnen Theile
der Kr. d. r. V. dürfen keineswegs in jener Weise einfach auf einander redncirt
werden. Der Terminus , Möglichkeit der Erfahrung" hat in den verschiedenen
Welchen Sinn hat hier der Beweis aus der »Möglichkeit der Erfahrung*? 175
[R 35. H 59. E 75.] A 23. B 38.
Theilen verschiedene Bedeutungen, eine andere in der Analytik der Grund-
sätze, eine andere in der Analytik der Begriffe, eine andere in der Aesthetik.
Dass jene späteren Bedeutungen des Princips der Mögl. d. Erf. nicht auf
die Aesthetik, und also speciell auch nicht auf diese erste Stelle, in welcher
der Ausdruck auftritt ^ ühertragbar sind, lehrt ja schon folgende einfache
Betrachtung. Sowohl in der Analytik der Begriffe, als in der der Grundsätze
hat , Erfahrung'' eine ganz andere Bedeutung als hier: nämlich jene strin-
gente Bedeutung, von welcher schon Comm. I, 165. 176. 215 ff. 425 ff. u. ö.
die Hede war, — streng gesetzmässiger Zusammenhang der Einzel dinge.
Aber davon ist hier in der Aesthetik noch gar nicht die Rede. Es ist ja
die stets wiederholte Lehre Kants, dass jener strenge Zusammenhang = Er-
fahrung erst den kategorialen Functionen verdankt werde, nicht aber schon
den Anschauungsformen. Diese bringen mit dem Empiindungsmaterial zu-
sammen erst die Wahrnehmung hervor, noch nicht die gesetzmässige
Erfahrung (vgl. oben S. 80. 109). Schon aus diesen Gründen ist es "gänzlich
unberechtigt, jene späteren Bedeutungen des Princips der Mögl. d. Erf. in
die Aesthetik herüberzutragen ; denn wenn hier davon die Bede ist, dass
,die äussere Erfahrung nur durch die Raumvorstellung allererst mög-
lich sei', so ist dabei die Erfahrung nicht im stringenten Sinne gemeint,
sondern hier ist Erfahrung eben so viel wie Wahrnehmung*. Ganz in
diesem Sinne heisst es im Schluss b) betreffs des Baumes, dass er „die sub-
jective Bedingung der Sinnlichkeit sei, unter der allein uns äussere An-
schauungmöglichist*. (A26==B 42.) Und gleich nachher spricht Kant
von der „subjectiven Bedingung, unter welcher wir allein äussere An-
schauung bekommen können '^; „die Bedingungen der Sinnlichkeit sind
Bedingungen der Erscheinungen*, und nachher wird der Baum noch-
mals , die subjective Bedingung aller äusseren Erscheinungen" genannt,
insofern die Gegenstände uns allein so „Objecte der Sinne" werden
^ Der Ausdruck findet sich innerhalb der Aesthetik noch einmal in der
, metaphysischen Erörtenmg des Begriffes der Zeit", N. 3, wo es heisst: „Diese
Grundsätze [über die Zeit] gelten als Regeln, unter denen überhaupt Erfahrungen
möglich sind, und belehren uns vor denselben, und nicht nur durch dieselben.*
Diese Lehre gehört streng genommen nicht in die Aesthetik hinein, sondern gehört
erst zum .allgemeinen Grundsatz der Analogien der Erfahrung" (A 176 = B 218).
— Dann ist A 28 = B 44, sowie B 78 davon die Rede , dass der Raum nebst der
aus ihm abgeleiteten Mathematik nur für „Objecto möglicher Erfahrung* gelten
könne, dass also der Raum „nur in Ansehung aller möglichen äusseren Erfahrung*
real sei, dagegen, wenn man „die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung weg-
lasse*, nichts sei. Diese letztere Verwendung des Ausdruckes hat mit der ersteren
aber direct nichts zu schaffen : denn es handelt sich dabei nur um die Geltungs-
grenzen, nicht um den Geltungs g r u n d.
* Nur einmal, in der späten Schrift über die Fortschr. d. Met. Ros. I, 507
werden R. u. Z. als Principien a priori der Möglichkeit der Erfahrung im strengen
Sinne des Wortes bezeichnet. — Vgl. femer oben S. 157. 163. 166. 169.
176 §2. Erstes Raumargumeut
A 23. 6 38. [R 35. H 59. E 75.]
können; durch den Raum „ist es allein möglich, dass Dinj^e für uns äussere
Gegenstände seien" (wohei natürlich „Gegenstand' wieder nicht im
prägnanten Sinne zu nehmen ist. Vgl. oben S. 4. 1 7). Nach A 48 := B 65
ist „die subjective Bedingung, a priori anzuschauen, zugleich die allgemeine
Bedingung a priori, unter der allein das Object der äusseren Anschauung
selbst möglich ist*.
Damit werden auch alle Folgerungen hinfällig, welche aus jener
falschen Auslegung gezogen worden sind, speciell die Folgerung, die hier
gelehrte Apriorität der Raumvorstellung sei nicht im subjectiven, sondern
im objectiven Sinne zu verstehen'; es handle sich nicht darum, dass die
Raumvorstellung in uns innerlich als eine nicht aus der Empfindung stam-
mende Vorstellung psychologisch vor aller Wahrnehmung vorhergehe — das
sei vielmehr eine ganz falsche Auslegung (obgleich es doch schon in der
Dissertation §14,1 ganz deutlich heisst: idea temporis non oritur . . . a
sensibus) — sondern es handle sich nur darum, dass die Raumvorstellong
von uns als ein logisch nothwendiges Bestandstück der Erfahrung erkannt
werde. Diese Auslegung ist dem ganzen Zusammenhange nach völlig un-
möglich, zumal ja Kant mehrfach ausdrücklich von den subjectiven Be-
dingungen der äusseren Anschauung spricht (vgl. die eben mitgetheilten
Stellen). Man kann Niemand verwehren, in jenem Gedanken etwas sehr
Wichtiges zu finden, aber wohl muss man sich dagegen verwahren, dass
Kant selbst dies hier habe sagen wollen. Er hätte es ja sagen können
und auch vielleicht in Consequenz seiner „Analytik der Grundsätze* sagen
sollen — das Alles kann man jener Auffassung zugestehen; aber nimmer-
mehr kann man ihr zugestehen, dass Kant das hier oder anderwärts gesagt
habe, weder direct noch indirect: ihm handelt es sich hier in der That um
die anthropologische Befähigung des Menschen, äussere Erfahrung überhaupt
erst zu machen, und diese Befähigung setzt nach ihm eine „a priori in
unserem Gemüthe bereitliegende*, uns „a priori beiwohnende" Vorstellung
des Raumes voraus als eine „subjective* Bedingung unserer Anschauung.
Wie unmöglich es ist, von dieser in der That unumgänglichen Auf-
fassung innerhalb des Kantischen Gedankenkreises loszukommen, dafür
^ Für diese seine Auffassung beruft sich Riehl 1 , 347 f. (vgl. 238. 249. 262.
300) auch besonders auf die Schrift Kants von 1768 über die Gegenden im Ranme.
Auch in dieser handle es sich nicht um den psychologisch-subjectiven ünpnmg der
Raumvorstellung, sondern darum, dass der absolute Baum die objectiv nothwendige
Voraussetzung aller Dinge sei. In dieser Weise müsse man auch die vier Rams-
beweise in der Kritik auffassen. Allein da bringt Riehl denn doch die vorkzitische
Abhandlung von 1768 in zu nahen Zusammenhang mit der kritischen Raumtfaeorie.
worüber das Nähere nicht hier, sondern unten zu A 39 ff. = B 56 ff. zu verhandeln
ist. Ausserdem hat doch Kant auch schon in der Abhandlung von 1768 gesagt
„er sei kein Gegenstand der äusseren Empfindung', sondern ein „Grundbegriff^
u. 8. w. , womit doch der Ursprung aus der Erfahrung abgewiesen und der so?
dem Subject angenommen zu sein scheint.
Missverständnisse und Einwände. 177
[R 35. H 59. E 75.] A 23. B 88.
spricht der bemerkenswerthe Umstand, dass Biehl dann doch factisch selbst
die psychologische Auffassung wieder einfuhren muss. Er unterscheidet
S. 442: ,Apriori ist objectiv genommen die Erkenntniss, welche von
der Erfahrung unabhängig eingesehen und bewiesen werden kann/ „A
priori ist subjectiv genommen derjenige Theil der Erkenntniss, der
unabhängig von der Erfahrung erworben wird, der rein aus der Gesetz-
lichkeit des Bewnsstseins stammt und hervorgebracht wird.* „Die Kritik
schliesst von dem nachgewiesenen Apriori in objectiver Bedeutung auf den
apriorischen Ursprung aus dem Bewusstsein.*' Da kommt also doch
wieder der oben so scharf verpönte „Ursprung aus dem Bewusstsein" wieder
herein. Und ebenso wird S. 433 das „Wissen a priori*, als „das dem Subjecte
entstammende Wissen* definirt. Und in demselben Sinne führt dann Riehl II, a,
107. 110 (vgl. I, 350) weiter aus: die reine Apriorität der Raumvorstellung
müsse durch den Ursprung derselben aus dem Subject erklärt werden.
Verwandt mit der Cohen-Riehrschen Auffassung ist das Missverständ-
niss, welches schon zu Lebzeiten Kants auftauchte, es handle &ich in diesem
ersten Argumente um die logisch-begriffliche, discursive Beurtheilung der
Aussenverhältnisse, während es sich factisch um die anschauliche Wahr-
nehmung derselben handelt. So kämpft Seile (Acad, de Berlin 1786-:-87,
p. 588) gegen das von ihm in dieser falschen Form wiedergegebene Argu-
ment: pour savoir q'une Sensation repr^sente un objet comme existant hors
de nous , ü faut que le reprSsentation de Vespace pr4ckde etc. und erläutert
das weiterhin mit den Worten: pour avoir une notion ou une reprSsentafian
mSdiate d'un objet qui nou^ a 4t4 donnS par intuition externe^ ü nous faut
le caractbre de Vespace four former cette notion, Aehnlich finden wir
diesen Irrthum bei Bendavid, Vorlesungen 14, Heusinger, Encyolop. I,
285, sowie bei Lossius, Lex. III, 503, und bei Feder, Raum S. 21—25.
Gegen dieses wichtige Raumargument sind nun aber auch von Anfang
an die gewichtigsten Einwände gemacht worden. Schon Grarve nannte in
seiner grossen Recension (A. D. B. Anh. zu 37 — 52, 858) den Recurs Kants
auf eine apriorische Anschauung ein asyluni ignorantiae. (Vgl. Stern, Bez.
Garve's zu Kant 60 f.) Dann versuchte Feder in seiner Schrift „Ueber
Raum und Causalität* (1787) Kants Behauptung der Apriorität der Raum-
vorstellung zu widerlegen und eine empiristische Ableitung derselben zu
geben, speciell aus der Verbindung von Gesichts- und Tastempfindungen.
Gegen diese Ableitung bemerkt die A. L. Z. 1788, I, 252: „dass der Sinn
des Gesichts die Vorstellung vom Raum nicht erzeugt, lehrt das Beispiel
der Blindgeborenen S welchen durch den Mangel des Gesichts nicht das
* Der Fall vom Blindgeborenen wurde damals auch sonst häufig in die
Diflcussion hereingezogen; vgl. A. L. Z. 1785, III, 53; HI, 266 (gegen Platner); 1788,
IV, 219. Feder, Raum, 45. 85. Dass Kant sich mit dem Problem beschäftigt
hat, beweist auch ein neuerdings von 6. Erdmann im Arch. f. Gesch. d. Philos.
II, 249 ff. veröffentlichter Brief Kants an ßorowski von 1761.
Vaihinger, Kant-Commentar. IT. 12
X78 §2. Erstes Raumargument.
A23.B88. [B 35. H 59. E 75.]
mindeste vom Begriff des Baumes abgeht, und was das Gefahl betrifft,
so wird zwar die Vorstellung des R. hauptsächlich durch und an den Ein-
drücken dieses Sinnes entwickelt, aber darum doch nicht hervorgebracht.'
Vgl. oben S. 124. Weitere Discussion dieser Einwände bei Schultz, Prüfung
1, 113 flf.; II, 224 ff. Schopenhauer, Grund § 21.
Besonders eindringlich wurde der Kampf von der Eberhard 'sehen
Zeitschrift geführt. Was daselbst Maass I, 123 ff. gegen dieses Argu-
ment vorgebracht hat, ist seitdem oft, aber nicht immer in derselben
Klarheit und Schärfe wiederholt worden. Er sagt: »Die Wahrheit des Unter-
satzes in diesem Schlüsse räume ich ein, und bin überzeugt, dass die Vor-
stellung des Raumes zu Grunde liege, sobald wir uns irgend etwas als ausser
uns oder als ausser einander gedenken. Aber mit dem daraus hergeleiteten
Schlusssatze, dass der Raum demnach kein empirischer Begriff sei, sondern
vor aller Erfahrung in der Seele vorhergehe, bin ich deswegen noch nicbt
einverstanden, weil der Obersatz, worauf er sich stützt, nach meinem Be-
dünken unrichtig ist. Dieser Obersatz lautet: Eine Vorstellung A, die bei
einer Vorstellung B nothwendig zum Grunde liegt, ist nicht aus B genommen,
sondern muss vor derselben dasein. Allein wenn B nicht gedacht werden
kann ohne A, oder wenn A dem B nothwendig zu Grunde liegt, so ist frei-
lich nothwendig, dass A gesetzt werde, sobald B gesetzt wird. Aber es
gibt zwei Fälle: „entweder geht A vor B vorauf, oder es wird zugleich
mit demselben gegeben, und nachher durch Abstraction davon abgesondert,
und allein gedacht. Der Satz: die Vorstellung A (die bei B nothwendig zn
Grunde liegt) kann nicht aus B genommen sein, sondern muss vor dem-
selben vorangehen, ist augenscheinlich unrichtig, und mithin auch alles,
was daraus hergeleitet wird. Wenn also auch die Vorstellung des Ranmes
bei jeder Empfindung, die ich auf etwas als ausser mir beziehe, und worin
ich etwas als ausser einander gedenke, nothwendig zum Grunde liegt, so
folgt daraus doch nicht, dass sie vor den Empfindungen des ausser mir
und ausser einander Befindlichen voraufgehe; sie kann auch zugleich mit
demselben gegeben, und nachher durch Abstraction zu einer besondeien
Vorstellung gemacht werden. Der Raum kann also gar wohl ein empirischer
Begriff sein.'' Dieser Einwand besagt also, dass Kant einen Fall, eine
Möglichkeit der Erklärung übersehen hat — wie wir solches üebersehen
und Uebergehen anderer Möglichkeiten auch schon oben einmal (S. 142)
bei Kant angetroffen haben, und auch später wiederum antreffen werden.
(Diese Eigenthümlichkeit des Kantischen Denkens — die Unvollständigkeit
der Disjunction — hat auch schon [Jeberweg, Logik, 3. A. § 137 scharf
herausgehoben.) Scharfe Einwände auch bei Schulze, Krit. d. th. Philos.
II, 202 ff.
Dieser selbe Einwand ist nun seitdem unzählige Mal wiederholt worden.
oft fast mit denselben Worten; so sagt z. B. v. Kirch mann, Erl. 6: ,Älle^
dings muss man die Vorstellung des Raumes haben, damit man etwas ausser
und neben einander vorstellen kann, aber dies hindert nicht, dass die Vor-
Un widerlegte Gegner. 179
[R 35. H 59. E 75.] A 28. B 88.
Stellung des Raumes zugleich mit der Vorstellung des Materialen bei der
Wahrnehmung eines Dinges der Seele gegeben wird." Dagegen Grapen-
f^iesser, Erkl. 17. (Vgl. dazu auch Hoppe, Pers. Denkthätigkeit 188 ff.
Michelis, Kant 57 ff. Wolff, Spec. u. Phil. I, 186 ff. 294 ff.) Eine ähnliche
scharfe Kritik bei Beyersdorff, Die Raumvoi*stellungen, S. 22—26.
Es ist im Grande derselbe Einwand , nur in anderer Form , wenn
Ueberweg (Gesch. d. Phil. III, § 18) nach Darlegung des Argumentes
hinzufugt: ^was freilich ein Cirkelschluss ist.'' Er meint offenbar, der
ciretdus in demonstrando (vgl. Ueberweg, Logik, 3. A. § 137) bestehe in
Folgendem : Kant wolle die Apriorität der Raumvorstellung durch den Hin-
weis auf deren nothwendige Priorität bei jeder „concreten Localisirung''
beweisen; aber dass alle concrete Localisirung die Raumvorstellung voraus-
setze, sei ein Satz, der selbst nur durch die Annahme der Apriorität der
Raumvorstellung zu beweisen sei (resp. diese Annahme schon als unbewiesene
Voraussetzung enthalte). Kant beweise also die Apriorität durch die Priorität,
die Priorität durch die Apriorität Vgl. auch Scherer, Kritik 25 ff.
Cohen (2. A. 96. 129) meint dagegen: „Wie Ueberweg zu diesem
Urtheil kommt, lässt sich begreifen. Er meint nämlich, dem Gedanken von
der Priorität des Raumes liege der von der Apriorität desselben zum Grunde.
Und 80 sei das Schon-zum-Grunde-liegen des Raumes durch einen Cirkel be-
wiesen, nämlich durch die vorausgesetzte Annahme der Apriorität. Aber
von einem a priori ist an dieser Stelle noch gar nicht die Rede. Man kann
sagen, die Erklärung sei noch nicht vollständig. Sie ist es in der That nicht,
so lange die Art des Zu-Grunde-Liegens nicht angegeben ist : aber man darf
nicht durch eigenes Hinzufügen diesen Satz zum Cirkelschluss machen. '^
Indessen beruht dieser Widerlegungsversuch Cohens auf einer ganz irrigen
Auslegung des Argumentes, welche schon oben S. 171 zurückgewiesen wurde.
Dieser Vertheidigung gegenüber bleibt somit Ueberwegs Einwand bestehen.
Vgl. Caird, Phil, of Kant 237.
Tiefer ist Riehl (Krit. II, a, 99) auf jenen schweren Vorwurf Ueber-
wegs eingegangen: ^Ich finde nicht, dass sich diese Sätze, wie Ueberweg
meint, im Cirkel bewegen. Es wird durch dieselben nur behauptet, dass
die Erkenntniss der räumlichen und zeitlichen Verhältnisse als solcher die
Vorstellungen von Raum und Zeit schon voraussetze; und zwar aus dem
Grunde, weil diese Verhältnisse nur als Bestimmungen und Lagen in Raum
und Zeit vorstellbar sind . . . Wer diesen Beweisgrund Kants bestreiten
wollte, müsste zeigen, dass die Vorstellung: Etwas sei ausser uns nicht
bereits die Vorstellung des Raumes einschliesse , die des Nacheinanderseins
nicht die Vorstellung der Zeit; er müsste zeigen, wie es möglich sei, aus
der äusseren Erfahrung das Raumbewusstsein abzuleiten, — ohne wirklich
in einen Cirkel zu gerathen." Indessen beruht auch diese Zurückweisung
in ihrer spedelleren Ausführung auf einer Auffassung dieses ersten Raum-
argumentes, gegen welche wir schon oben S. 173 Bedenken geltend machen
mussten. Vgl. ferner Riehl I, 41. F. A. Lange, Log. Studien 130. —
180 § 2. Erstes Raumargument.
A28.B88. [R 35. H 59. E 75.]
Weitere kritische Besprechungen des ersten Eaumargumentes findet
man bei v. Hartmann, Transsc. Real. 143 ff. Pflüger, Aesthetik, S. 13—16.
Sidg wick im Mind XXIX, 87 f. Spencer, Psych. I, § 833 ff. § 399. Rehmke,
Welt 154 ff. Göring, Krit. Philos. I, 295. R. Proelss, ürspr. d. menschl.
Erk. 115 ff. Thiele, Philos. Ks. I, b, 276—278. 293—299. Massonius, Aesth.
46 ff. Gruppe, Wendepunkt 249— 251. v. Schubert-Soldern, Erk.-Theorie
271 ff. Lotze, Phil. s. Kant § 14. Drobisch, Psychol. § 23. Wundt,
Logik I, 452 ff. 458 ; vgl. Phys. Psych. 1. A. 491. 631. 685 (dagegen wieder
Cohen, 2. A. 97 f., woselbst auch Stumpfs Einwände besprochen werden).
H. Schwarz, Das Wahrnehmungsproblem (1892) S. 37 ff.
Als ein fundamentaler Einwand gegen dieses Argument ist sodann
Herbarts Frage zu betrachten (W. W. VI, 308): „Woher die bestimmten
Gestalten bestimmter Dinge? . . . Diese Frage ist nach der Kantischen An-
sicht schlechterdings unbeantwortlich.*' lieber diese „Grundfrage'* vgl.
dann bes. noch Herbarts Einl. in Philosophie § 150 (W. W. I, 258; vgl.
I, 67. 176. 190. 275; III, 12; IV, 316; VI, 122). In der That ist hier eine
sehr bedenkliche Lücke der Beweisführung. Nach Kants Darlegung in diesem
Raumargument bedarf es zur objectiven Anschauung zweier Elemente: 1) die
raumlosen, ungeordneten, rein qualitativen Empfindungen, welche uns
a posteriori gegeben werden; 2) die reine Raumanschauung, welche uns
a priori gegeben ist. Aber hier fehlt ein wichtiges Element: warum stelle
ich mir diesen Gegenstand viereckig, jenen dreieckig, diesen rund, jenen
oval vor? In der allgemeinen reinen Raumanschauung kann dazu selbst-
verständlich der Grund nicht liegen; aber in den Empfindungen kann er
nach Kants Erklärungen auch nicht liegen, da ja diese rein qualitativ nicht
bloss, sondern auch ganz ungeordnet, oder wenigstens nicht-geordnet sind,
und deren Coordination doch eben erst durch die apriorische Raumfonn
hergestellt wird. Warum aber diese sich bei diesem Empfindungscomplei
als Viereck, bei jenem als Dreieck, bei diesem als Kreis, bei jenem als Oval
modificirt und speeificirt, dafür fehlt bei Kant der Grund vollständig, oder
wenigstens schweigt Kant darüber hier, wo wir die Angabe des Grundes mit
Recht erwarten, vollständig.
Jene Herbart^sche Frage hat natürlich nicht erst Herbart gestellt; ein
80 naheliegender Einwand wurde schon vorher erhoben. Insbesondere die
Eberhard'sche Zeitschrift (von welcher übrigens, wie oben S. 148 bemerkt.
Herbart beeinflusst gewesen zu sein scheint) hat jenen Einwand unzählige
Mal gemacht. Ebenso hat schon Feder denselben erhoben. Die Kantianer
stellten sich zu dieser Frage verschieden. Diejenigen derselben, welche mit
der Vulgarphilosophie Fühlung behielten, nahmen ohne Weiteres an, da><
jene Bestimmtheit durch die Empfindungen mitgegeben sei; so z. B. Mellin
11,286: „Mau kann sagen, an den Erscheinungen wird die Form angeschaut
und die Materie empfunden, obwohl das Bestimmte der Form, dass sie
nämlich so und nicht anders ist, als etwas Empirisches, oder durch die
Materie Bezeichnetes, ebenfalls empfunden wird" — dies ist aber eine eigen-
Herbarts Problem der Beßtimmtheit der Erscheinungen. 181
[R 35. H 59. E 75.] A 23. B 88.
m richtige Zuthat, von welcher bei Kant wenigstens hier nichts steht. Auch
Keinhold scheint dieselbe Meinung, wie Mellin, gehabt zu haben, drückt
sich aber sehr vorsichtig hierüber aus . (Th. d. Vorst. 299 ff.) , man erkennt
aber, dass auch ihm das „Bestimmte'^ von der Seite der Dinge an sich
herstammt. Vgl. Schulze, Kr. d. tb. Ph. II, 192.
Die entschiedeneren Kantianer, welche von den Dingen an sich nichts
wissen wollten, suchten dagegen vielmehr das „Bestimmte" auf die Pro-
ductivität des Ich zurückzuführen, so Beck. Ebenso machte auch der Halb-
kantianer Bardili in seiner Schrift: „Ueber die Gesetze der Ideenassociation*^
Tüb. 1796, den Versuch, auch das Bestimmte aus der allgemeinen Raum-
und Zeit Vorstellung abzuleiten, wogegen sich aber Jacobs Annalen II, 364
entschieden erklären, da dazu die allgemeinen Formen, worin alles vorgestellt
wird, nimmermehr hinreichen. So neuerdings auch der Schopenhauerianer
Frauenstädt, Briefe an Schop. 143.
Auch Cohen scheint heutzutage hierin dieselbe Stellung einzunehmen
wie Beck. Er sagt (Th. d. Erf. 1. A. 142, 2. A. 322) zunächst, es sei
„schlechterdings falsch, die Kantische Antwort auf diese Frage in der Tr.
Aesthetik zu suchen". Dieselbe sei vielmehr erst in der Analytik ge-
geben, und laute, dass „erst die Synthesis das Object, den bestimmten Raum
gibt". Er verweist zu diesem Zwecke auf die Transsc. Deduction B, § 17,
wo es einmal heisst: „Um aber irgend etwas im Raum zu erkennen, z. B.
eine Linie, muss ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des
gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so dass die Ein-
heit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewusstseins (im Begriff einer
Linie) ist, und dadurch allererst ein Object, ein bestimmter Raum erkannt
wird.* Und dann verweist Cohen noch auf § 26, wo Kant die Entstehung
der empirischen Anschauung eines Hauses erörtert. Diesen Stellen nach
scheint allerdings das , Bestimmte" der reinen productiven Synthesis seine
Entstehung verdanken zu sollen, wobei freilich Kant auch auf »das gegebene
Mannigfaltige* hinweist, in welchem wir es, im Einverständniss mit dem
freilich von Kant und seinen Freunden verachteten gesunden Menschen-
verstand, suchen würden. Vgl. Laas, Id. u. Pos. III, 427.
Diese letztere Stellung nimmt denn nun ausser Lieb mann (Obj. Anbl.
153) auch Riehl ein, welche Beide wir ja auch sonst mit Erfolg bestrebt
sahen , die Kantische Transscendentalphilosophie mit den Ergebnissen der
empirischen Wissenschaften zu versöhnen. Riehl weist (I, 279. 305. 306.
352. 384. 391. 418. [430 mit Rücksicht auf Schopenhauer] 433; II, a, 33. 90)
auf eine Stelle der Transsc. Deduction A 127 hin, wo es heisst: „Empirische
Gesetze als solche können ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstände
herleiten, so wenig als die un ermessliche Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung
binlänglich begriffen werden kann." Ebenso weist Riehl auf die Stelle
A 431 hin: „Dinge als Erscheinungen bestipsmen den Raum, d. i. unter allen
möglichen Prädicaten desselben (Grösse und Verhältniss) machen sie es, dass
Ig2 §2. Erstes Ramnargument.
A 23. B 88. [R 35. H 59. E 75.]
diese oder jene zur Wirklichkeit gehören.* ' In diesen Stellen (wie auch
schon in der Dissertation § 4) lehre Kant, dass die bestimmten räumlichen
Verhältnisse oder Gestalten der Dinge durch die Erfahrung suggerirt sein
müssen; „die bestimmten räumlichen Gestalten der Dinge, ihr Maass and
ihre Lage können aus dem blossen Vorstellungsschema nicht völlig begriffen
werden; sie rühren von den Dingen selbst her, sie bilden den rein empiri-
schen Bestand theil der Raumvorstellungen , der dem Bewusstsein gegeben,
nicht aus ihm hervorgebracht ist." Aber wir fragen billig, in welcher Weise
sollten denn vom Kantischen Standpunkt aus jene speciellen Baumverhält-
nisse in und mit den Empfindungen gegeben werden, da diese doch ganz
ungeordnet, ganz raumlos sein sollen? Aber abgesehen von diesem materialen
Bedenken — warum streift denn Kant dies so wichtige Problem nur nebenbei,
in einer dazu später gestrichenen Stelle? Schliesslich muss doch Riehl selbst
II, a, 90 hier wenigstens eine „Lücke der Beweisführung* anerkennen ; der-
selbe behandelt dann daselbst weiterhin die Frage des Verhältnisses zwischen
Raum form und Rauminhalt eingehender, und weist dann noch auf eine
andere, spätere Stelle Kants hin, aus der sich für denselben, wenn er con-
sequent gewesen wäre, ein Wechselverhältniss von beiden ergeben hätte,
A 155, wo es heisst, dass R. u. Z. zwar „völlig a priori im Gemüthe vor-
gestellt werden*, dass aber ihre Vorstellung ein blosses „Schema* sei, »das
sich immer auf die reproducti ve Einbildungskraft bezieht, welche die Gegen-
stände der Erfahrung herbeiruft, ohne die sie keine Bedeutung baben
würden*. Riehl fügt hinzu: „Ich vei*zichte darauf zu untersuchen, ob diese
Aeusserung mit der Behauptung einer rein productiven Einbildungskraft
vereinbar sei.*
Jenes Herbart'sche Bedenken hat Niemand stärker als Lotze in seiner
Berechtigung gefühlt. Er spricht oft von diesem Punkte; so heisst es in
seiner grossen Metaphysik, § 105 (S. 202. 218. 222): „Es ist ganz unzulässig,
* Es wäre hier auch zu erinnern an eine Stelle der Met. Anf. d. Naturw. II.
Lehrs. 5, Anm. (Res. V, 361) : „Es ist klar, dass die erste Anwendung unserer Be-
griffe von Grössen auf Materie, durch die es uns zuerst möglich wird, unsere
äusseren Wahrnehmungen in den Erfahrungsbegriff [Text: in dem Erfahrungs-
begriffe] einer Materie als Gegenstandes Überhaupt zu verwandeln , nur auf ihrer
Eigenschaft, dadurch sie einen Raum erfüllt, gegründet sei, welche vermittelst des
Sinnes des Gefühls uns die Grösse und Gestalt eines Ausgedehnten, mithin
von einem bestimmten Gegenstande im Räume einen Begriff verschafit, der
allem Uebrigen, was man von diesem Dinge sagen kann, zum Grunde gelegt wird.'
Freilich nimmt Kant hier die Materie selbst als das Afficirende an, nicht mehr die
Dinge an sich. (Vgl. oben S. 55.) Das „Bestimmte" stammt also hier von den
emi)irischen Gegenständen im Räume. Diese Stellung nehmen natürlich auch die
jenigen ein, welche Kant überall so empirisch auslegen (vgl. oben S. 50), so bes.
Krause, Popul. Darstellung 45. 59 u. ö. Vgl. hiegegen Mourly Vold, Krauses
Darstellung der K.'schen Raumtheorie und der K.'schen Lehre von den Gegen-
ständen. Christiania 1885, bes. S. 8. 18 ff.
Lotze's Theorie der «Localzeichen*. 183
[R 86. H 59. E 75.] A 23. B 8a.
so wie namentlich die populären Darstellungen aus seiner Schule förmlich
in diesem Gedanken schwelgten, die Dinge an sich als völlig fremdartig den
Formen zu fassen, in denen sie uns doch erscheinen sollen; für die be-
stimmten Orte, Gestalten und Bewegungen, welche wir die Erscheinungen
im Räume einnehmen, behaupten, oder ausfuhren sehen, ohne sie nach
unserem Gefallen ändern zu können, muss es Bestimmungsgründe in
dem Reiche der Dinge an sich geben; sind die Dinge nicht selbst
räumlicher Gestalt und nicht in Raumbeziehungen zu einander befasst, so
müssen sie in irgend einem Netze anderer veränderlicher intelligibler
Beziehungen zu einander stehen, deren jeder dann, wenn sie von uns in
die Sprache räumlicher Vorstellungen übersetzt werden, eine bestimmte
räumliche Beziehung mit Ausschluss jeder anderen entspricht. Wie wir die
uns angeborene und folglich immer sich selbst gleiche Anschauung des
Raumes, die wir, wie man sagt, zu den Erfahrungen mit hinzubringen, so
anzuwenden im Stande sind, dass die einzelnen scheinbaren Dinge ihre be-
stimmten Plätze in ihr finden, diese ganze Frage ist von Kant nicht
beantwortet worden."
Lotze selbst hat diese schwerwiegende Frage zu beantworten gesucht
durch seine berühmte Theorie der „Localzeichen", d. h. bestimmter, aber
schlechterdings rein qualitativer Kennzeichen der Empfindungen, die wir
bei der Construction der bestimmten Configurationen der einzelnen Er-
scheinungsgegenstände benützen. Diese Kennzeichen sollen uns bloss dazu
beföhigen, die einzelnen Empfindungen in bestimmter Weise zu gruppiren,
dass wir diese Gruppirung aber gerade in der Raumform vornehmen , dies
schrieb Lotze — darin Kantianer — einer apriorischen Function der Seele
zu. Auch ihm erscheint eben die Raumanschauung ein der Seele ursprüng-
lich angehöriges Eigenthum zu sein , aber Lotze musste zugestehen , dass
wir für die specielle Vertheilung und Anordnung der Empfindungen die
Einwirkungen der Dinge an sich herbeiziehen müssen, deren eigenartige
objective Verhältnisse unter einander wir eben durch jene freilich ziemlich
mysteriösen „Localzeichen" errathen sollen. Vgl. auch Lotze, De la for-
rnatiun de la uotion (Vespace {Le theorie des signes locaux). Revue Philos, 1^11^
345-365 (Kleine Schriften IH, 372—396).
Diese seine Theorie der Localzeichen fasste Lotze als eine Ergänzung
der Kantischen Lehre auf. Doch wäre es ein Irrthum , zu meinen , Kant
selbst hätte ohne Inconsequenz diesen Weg einschlagen können. Wenn er
gintelligible Beziehungen der Dinge an sich" angenommen hätte, welche
unseren räumlichen Bildern entsprechen, so hätte er eben damit seine Haupt-
lehre der absoluten Unerkennbarkeit der Dinge an sich aufgeben müssen.
Dieses Theorem zwang ihn geradezu dazu, der Empfindung jede derartige
Bedeutung abzusprechen, wie ihr dieselbe durch Lotze's Theorie zuerkannt
wird. So kommt es^ dass Kant diese Möglichkeit, welche schon oben S. 142 S,
hinreichend erörtert wurde, vollständig übergehen musste. — Auch Helm-
holtz hat die K.'sche Raumtheorie in diesem Sinne corrigirt: er spricht
184 § 2. Zweites Raumargument.
A 24. B 38. [B 35. H 59. E 75.]
(Thatsachen in der Wahrnehmung, S. 64) von „topogenen Momenten'
in dem Eealen: „Von ihrer Natur wissen wir nichts; wir wissen nur, dass
das Zustandekommen räumlich verschiedener Wahrnehmungen eine Ver-
schiedenheit der topogenen Momente voraussetzt. Diese bestimmen, an
welchem Ort im Räume uns ein Object erscheint. '^ In diesem Sinne geben
uns unsere Empfindungen ein der wahrhaft realen Ordnung der Dinge ent-
sprechendes „Zeichensystem ^ (ib. 12 ff.). Damit bringt H. in Zusammen-
hang (ib. 23 ff.), dass mit der a priori gegebenen allgemeinen Raumform
deshalb noch nicht die speciellen, gerade unseren Raum charakterisirenden
Eigenthümliehkeiten a priori gegeben sind. Vgl. Cohen, 2. A. 284. Vgl
hierüber auch Schwertschlager, Kant und Helmholtz, S. 76 ff. Speciell
diesem „Problem der formalen Bestimmtheit der Erscheinungen ** ist gewidmet
die Abhandlung von B. Wenderhold, Zur Metaphysik und Psychologie des
Raumes, Diss. , Halle 1882, S. 1 — 31, welcher für jene Bestimmtheit ein
„transscendentales'* Princip sucht, und dasselbe theils in zeitlichen Differenzen,
theils in Lotze^schen Localzeichen findet. Vgl. Staudinger, Nonmena 131 ff.
Ueberweg, Logik § 38. Ueberhorst, Entst. d. Gesichtswahrn. 168.
Bergmann, Metaph. 169. 327. 451. 479. Spencer, Psych. II, § 410—412.
Stumpf, Psych, u. Erk.-Th. (1891) 21. 25.
Zweites Baumarg^ament.
Zunächst ist zu bemerken, dass, während das erste Raumarg'ument hsX
eine wörtliche Wiedergabe des schon in der Dissertation 1770 enthaltenen
ersten Raumbeweises ist, dieses zweite Raumargument in der Dis-
sertation fehlt und somit erst 1781 hinzugekommen ist. Eine Spur des
hiesigen Gedankenganges könnte man höchstens in einer beiläufigen Be-
stimmung des § 5 finden, wo es von der Form heisst, dass sie auch
„absque omni sensatione" gefunden werden könne, also auch von den Empfin-
dungen unabhängig sein muss. Aber diese beiläufige Bemerkung ist nicht
weiter verwerthet. Das Argument fehlt also 1770 ganz — eine bis jetzt
nicht beachtete Differenz ^
Daraus erklärt sich aucb, dass die Darstellungen der Eantischen Raum-
lehre, welche sich an die Dissertation anschliessen , dieses zweite Raum-
^ Schon J. Weiss hat übrigens in der Leipz. Diss. von 1872, Es. Lehre von
R. u. Z., 13 — 14, auf diesen „bisher übersehenen Punkt** aufmerksam gemacht
Er findet zwar Spuren der Sache in der Dissertation § 12. 14 b. § 15 E, bemerkt
aber auch, dass der Beweis hier in dieser Form ganz neu ist; er will daraus deo
Schluss ziehen, dass Kant sein «Apriori" erst nach der Dissertation entdeckt habe.
Die Abhandlung von Weiss gibt, was hier ein für allemal bemerkt sei, eise
detaillirte, ziemlich sorgfältige Vergl eich ung der Dissertation und der Aesthetik.
— Eine solche gibt (ausser Cantoni, Kant I, 184 ff. und Wolff, Spec. n. Phil.
I, 79—85) auch Cohen, Die systematischen Begriffe in Ks. vorkritischen Schriften
im Verhältniss zum kritischen Idealismus, Marburg 1873, S. 48 — 58, woselbst S. 58
auch auf jenen „auffallenden* Unterschied aufmerksam gemacht wird.
Vorläufiges. 185
[B 35. H 59. E 75.] A 24. B 88.
argument der Kr. d. r. V. entweder ganz weglassen oder mit dem ersten
vermischen. Dies ist insbesondere bei Kuno Fischer der Fall, dessen Um-
schreibung daher hier sehr ungenau geworden ist. Kuno Fischer, welcher
sich ganz an die Dissertation hält, deren Unterschiede von der Kr. d. r. Y.
er auch in anderer Hinsicht ganz verkennt ^ hat in seiner Wiedergabe der
Kantischen Raumlehre das erste und zweite Raumargument vollständig in
einander überfliessen lassen, sowohl in der 2. Auflage (S. 816 ff.) als in der
3. Auflage seines Werkes (S. 330 f.). Selbst wenn beide Raumargumente
so wenig verschieden wären, dass man sie unterschiedslos in einander über-
fliessen lassen dürfte — was keineswegs der Fall ist — , so wäre doch eine
Bemerkung hierüber am Platze gewesen, damit der Leser, welcher den Autor
selbst mit dem Commentator vergleicht, orientirt würde.
Dieses zweite Raumargument besteht nun, wie das erste, aus drei
Sätzen. Diese drei Sätze stehen — wenigstens auf den ersten Blick — in
demselben Verhältnisse zu einander, wie die drei Sätze des ersten Raum-
argumentes. Der erste Satz enthält die These, die zu beweisende Be-
hauptung über die Natur des Raumes: er ist eine allen äusseren Anschau-
ungen zum Grunde liegende Vorstellung a priori. Der zweite Satz muss
den eigentlichen Beweisnerv enthalten: die Nicht- Hin wegdenkbarkeit des
Raumes. Der dritte, mit „also'' eingeleitete Satz gibt die mit der Anfangs-
these übereinstimmende Schlussfolgcrung aus der im zweiten Satz angeführten
Thatsache. Indessen ist, wie wir sehen werden, der logische Bau des Argu-
mentes beträchtlich complicirter, als es hier am Anfang erscheint.
Erster Satz. Zunächst ist die Wendung auffällig: „Der Raum ist
eine nothwendige Vorstellung, a priori." Sollte dies etwa ein Pleonas-
mus sein, da doch Nothwendigkeit das Merkmal der Apriorität ist? (Vgl.
Gommentar I, 206.) Aber man beachte das Komma, welches Kant zwischen
„Vorstellung" und „a priori" gesetzt hat (von B. Erdmann in seiner Aus-
gabe weggelassen). Sollte das etwa den Sinn nahelegen: „eine nothwendige
Vorstellung und daher a priori"? Auf jeden Fall gilt hier nicht, was
Cohen (1. A. S. 51 f.) hineintiftelt : „Es ist dies sehr charakteristisch für den
Gedanken , welchen Kant mit seinem a priori verband ... So wenig deckt
ihm noth wendig den Begriff des a priori. Es heisst tiefer erfasst: der
Raum ist eine nothwendige, allen äusseren Anschauungen zum Grunde
liegende Vorstellung, weil er a priori ist, d. h. weil er die Bedingung
der Möglichkeit der Erscheinungen ist." Diese wunderliche Umdrehung des
Kantischen Gedankenganges (denn die Apriorität soll ja erst bewiesen werden
und ist nicht selbst ein Beweismoment) hat Cohen in der 2. Auflage seines
* Diese Vermengung hat ihm schon Trendelenburg, Beitr. 249, Entg.
9. 13. 29, mit Recht vorgeworfen. Vgl. Fischers Anti-Trend. IS. 55; Bratuschek,
Phil. Mon. V, 304 f. 320. 321; Michelis 171 ff. 175 f.; Cohen, Zeitschr. f. V. Vü,
265 f. 2ö7. 276. Besonders Paulsen 147, Riehl I, 265 und B. Erdmann, Proleg.
LXXXIV, Krit. XLIX sq. haben den Unterschied von Diss. u. Krit. d. r. V. betont.
186 §2. Zweites Raumargument.
A 24. B 88. [R 36. H 59. E 75.]
Werkes S. 104 durch die gerade entgegengesetzten Worte ersetzt: ,Wie
wenig ausgeprägt der Werth des a priori hier noch ist, kann man an seiner
epezegetischen Verwendung sehen/ Auch dies ist falsch: die Apriorität ist
ja das Wesentlichste, gerade das zu Beweisende, und der Ausdruck ist nicht
„epexegetisch"; es heisst ja doch auch in dem Parallelargument über die
Zeit ganz deutlich und breit: „Die Zeit ist also a priori gegeben." üebrigens
bietet die Erklärung des Satzes noch weitere Schwierigkeiten dar, welche
aber erst durch das Folgende aufgehellt werden können.
Bemerkenswerth ist die Wendung, dass die Raum Vorstellung allen
äusseren Anschauungen zu Grunde liege, nicht bloss also, (wie Krause,
Popul. Darst. 48 hinzufügt), dem Tastsinne allein oder dem GesichtssioDe
allein. (Vgl. oben S. 124.)
Zweiter Satz. Der Sinn dieses Satzes ist schon an und für sich klar,
und wird durch die Parallelstellen noch deutlicher. Der Satz besteht aus
zwei Hälften, deren Unterschied wohl zu merken ist, zumal er für den Bau
des entsprechenden Zeitargumentes von grösserer Wichtigkeit werden wird:
a) Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, dass kein Raum
sei, d. h. wir können die Baumvorstellung nicht loswerden; ß) man kann
sich denken, dass keine Gegenstände im Räume angetroffen werden, d. L man
kann die Gegenstände aus dem Räume wegdenken, er ist von diesen Gegen-
ständen unabhängig und bleibt eben auch ohne sie in uns. Diese beiden
Gedanken treffen wir nun auch in den folgenden Parallelstellen. Schon in
der Einleitung B, S. 6 wurde auf diese Thatsachen hingewiesen. (Vgl.
Commentar 1 , 222 f.) Eine ganz ähnliche Stelle fand sich ja auch schon
oben in der Einleitung zur Aesthetik A 21 (vgl. oben S. 108). In den Pro-
legomena § 10 heisst es: „Wenn man von den empirischen Anschauungen
der Körper und ihren Veränderungen (Bewegung) alles Empirische, nämlich
was zur Empfindung gehört, weglässt, so bleiben noch Raum und Zeit
übrig, welche also reine Anschauungen sind, die jenen a priori zum Grande
liegen und daher selbst niemals weggelassen werden können.' Vgl. auch
die Schrift gegen Eberhard (Ros. I, 469): „Jetzt werde ich durch die Kritik
angewiesen, alles Empirische oder wirklich Empfindbare im Baum und der
Zeit wegzulassen, mitbin alle Dinge ihrer empirischen Vorstellung
nach zu vernichten, und so finde ich, dass R. u. Z., gleich als einzeke
Wesen, übrig bleiben, von denen die Anschauung, vor allen Begriffen von
ihnen und der Dinge in ihnen, vorhergeht.'' Also man muss sich immer
eine Vorstellung vom Räume „machen*' (in diesem harmlosen Ausdruck
findet Cohen, 1. A. 13. 23. 52. 112, das Construiren angedeutet; dagegen
Laas, Id. u. Pos. m, 425).
Von alledem ist offenbar der Sinn folgender: Bei successiver Abziebong,
Abstraction aller Qualitäten bleibt ein fester, unauflöslicher Rest übrig, die
Raum Vorstellung, welche sich nicht mehr hinwegdenken lässt. Die Gegen-
stände, die Erscheinungen kann man sich ganz gut aus dem Räume hinweg*
denken, aber den Raum selbst nicht. In dieser Nicht-Hiuweg-Denk-
Wir können die Vorstellung des Baumes nicht weglassen. 187
[R 35. H 69. E 75.] A 24. B 38.
barkeit liegt die vis probandi^. Was die Erfahrung gibt und uns Yon
aussen darbietet, lässt sich ebenso gut wieder hinwegdenken; nicht aber so
das, was uns unsere innere subjective Natur unseres Bewusstseins gibt, und
das ist der Fall bei der Raumvorstellung. Diese ist untrennbar mit unserem
Bewusstsein verbunden, mit unserem Ich verknüpft. „Wir bringen den
Baum und die Zeit überallhin mit, sie sind ein unverftusserliches , uns
inhärirendes Besitzthum. Man annihilire in Gedanken die ganze Aussen-
weit sammt allen inneren Vorgangen: dennoch werden als leere reine An-
schauungsformen der Raum und die Zeit fortfahren zu bestehen*^ (Montgomery,
Kant 44). lieber die Trennung von Form und Stoff dabei vgl. oben S. 70 ff.
Ganz in diesem Sinne ist auch eine Anmerkung Kants in seinem
Handexemplar gehalten (Erdmann, Nachtrüge N. XVII, vgl. N. XXXII):
„Der Raum und die Zeit führen in ihrer Vorstellung zugleich den Begriff
der Noth wendigkeit mit sich. Nun ist dieses keine Nothwendigkeit eines
Begriffes. Denn wir können beweisen, dass sich die Nichtexistenz desselben
[des Raumes] nicht widerspreche. Auch kann Nothwendigkeit nicht in der
empirischen Anschauung liegen. Denn dies kann zwar den Begriff der Exi-
stenz, aber nicht der noth wendigen Existenz mit sich führen. Also ist diese
Nothwendigkeit gar nicht im Objecte — objectiv; folglich ist sie nur eine
dem Subject nothwendige Bedingung vor allen Wahrnehmungen der
Sinne.**
In demselben Sinne äussern sich ältere und neuere Commentatoren ;
z.B. M ellin, Wörterbuch I, 265 (vgl. I, 79): ,,Die reine Anschauung ist, wo ich
mich auch hinwende, wenn ich mir nur derselben bewusst werden will, immer
da . . . ich kann mir den Raum nicht mit wegdenken, er gehört nämlich
zu meinem Gemüth .. ., wir können diesem Räume und dieser Zeit nicht
entlaufen; sie begleiten uns wie unser Schatten, und wir können sie durch
keine Anstrengung der Denkkraft, selbst nicht der dichtenden Phantasie,
aus unserem Erkenntnissvermögen verbannen.' Schultz in den Erläute-
rangen S. 22 sagt einfach: „es sind Vorstellungen, die uns nothwendig an-
kleben.' Schopenhauer, W. a. W. II, 38. F. I, 18—20. II, 46.
Liebmann in der bekannten Schrift „Kant und die Epigonen*' S. 21
drückt sich so aus: „Mit Raum und Zeit würde nicht nur die empirische Welt,
sondern zugleich unser Intellect, ja unser Ich hin wegfallen , von ihm selbst
hinweggedacht werden, was unmöglich ist ... Raum und Zeit kann ich
mir aus dem Subject.unserer Erkenntniss nicht hin wegdenken, ohne dieses
zugleich selbst zu vernichten . . . Was sich so verhält, ist dem Subject
wesentlich, d. i. a priori.** In ähnlicher Weise äussert sich Cohen (1. Aufl.
S. 13; 2. A. S. 103 f.): ,,Man versuche, den Begriff vom Raum zu drehen (? !),
aber er bleibt stehen. Man muss sich durchaus eine Vorstellung davon
* Diese (absolute) Nothwendigkeit der Raumvorstellung wurde schon vor
Kant betont, z. B. von Mosheini; s. dessen Cudworth, Syst. Intell, cap. V, 3. 4, 1:
;;«€« ex anüno meo^ qulcquid etiam moliar, hanc notionem ej teere raieo.*^
|gg § 2. Zweites Raumargument.
A ^. B 88. [B 35. H 59. E 75.]
machen, dass Eaum sei ... Diese Thatsache des Bewusstseins, dass der
Raum allem uoserem Vorstellen anhaftet, macht ihn zum Apriori", und
nachher fragt derselbe in diesem Sinne: nWie kommt es, dass wir nns
von der Vorstellung des Raumes nicht losmachen können? Welcher
sonderbaren Eigenschaft verdankt jene Vorstellung diese feste Nothwen-
digkeit? und derselbe (1. A. S. 24; 2. A. S. 119): .Jene Vorstellung allein,
im Gegensatz zu allen anderen, behauptet sich im Bewusstsein/'
„Alle Gegenstände kann ich aus meinem Räume weisen, mein Raum bleibt'S
er hat, wie Cohen (1. A. S. 28; 2. A. S. 123) sich gut ausdrückt, eine „be-
ständige Gegenwärtigkeit".
In sehr drastischer Weise hat Kuno Fischer (Kant, 2. A. 318)
dieses Argument wiedergegeben; er hat die betreffende, oft citirte Stelle in
der S. Auflage (S. 380) allerdings gestrichen, aber sie verdient als Beweis
einer äusserst plastischen Ausdrucksweise dauernde Aufbewahrung. „Wir
mögen es anstellen, wie wir wollen, Raum und Zeit begleiten uns überall,
unsere wahrnehmende Vernunft geht ohne sie keinen Schritt. Man kann
diese Vorstellungen nie los werden; wer es versucht, dem geht es wie dem
Manne bei Chamisso mit dem Zopf: er dreht sich rechts, er dreht sich links,
der Zopf, der hängt ihm hinten."
Die Nothvvendigkeit, welche in dieser Weise von der Raumvor-
Stellung ausgesagt wird, ist die des Nicht-hinweg-denken-könnens (des Nicht-
nicht-denken-könnens). (Vgl. dazu Kants Reflexionen U, N. 392 : „Der Raum
ist zu aller Zeit, d. i. nothwendig." Volkelt, Ks. Erk. 197. 220.) Die
andere, bei Kant ebenfalls eine grosse Rolle spielende Nothwendigkeit, die
des Nicht- anders-denken-könnens, kommt hier beim Räume nicht in
Betracht, wie schon Commentar I, 222 bemerkt worden ist. Es ist daher
nicht richtig, wenn einige Gommentatoren die letztere Nothwendigkeit (die
sich auf ürtheile, nicht aber wie hier, auf Vorstellungen bezieht) hier an
dieser Stelle hereinraischen. So sagt Mellin II, 473: „Man kann sich ver
mittelst der Einbildungskraft gar nicht vorstellen, dass gar kein Raum da
wäre oder dass er anders beschaffen sein könnte, als er wirküch isC*
Kant spricht aber hier nicht davon, dass wir den Raum nicht als anders
beschaffen vorstellen können, sondern dass wir diese Vorstellung über-
haupt nicht wegschaffen können. Auch Schultz in seiner Prüfung
I, 84 hat jenen Gedankengang: „Wir können uns von jedem Körper vor-
stellen , dass er nicht da wäre ; aber dass kein Raum , und in demselben
keine Punkte, gerade Linien und ebene Flächen wären, oder dass er statt
dieser Grenzen andere hätte, diese Vorstellung ist uns schlechterdings un-
möglich.'*
In diesem Sinne legt auch Stadler (Phil. Monatsh. 1881, 333 ff.)
dieses Argument aus, wenn er versucht, mit seiner Hülfe die Angriffe von
Helmholtz auf Kant zu bekämpfen : „Vor allem ist wichtig, die Bedeutung
recht scharf zu fassen, in welcher K. den Raum eine nothwendige Vor-
stellung genannt hat. Er verstand darunter, dass wir uns von der Raum*
Der Raum ist nothwendig, die Erscheinungen in ihm zufällig. 189
[R 36. H 69. E 76.] A 24. B 38.
anschaüUDg und ihren Grundeigenschaften nnter keinen Umständen frei
machen können. Sie bezeichnet die Grenze unserer Abstractionsfähigheit
einerseits, unserer schöpferischen Phantasie andererseits. Wir vermögen
wohl, unsere Aufmerksamkeit auf Ausdehnungen von weniger als drei Dimen-
sionen zu richten; allein auch diese erscheinen uns nur als Grenzen des un-
veränderten gewöhnlichen Raumes. Von einer vierten Dimension kann aber
auch die geübteste mathematische Einbildungskraft sich nicht die mindeste
Anschauung machen. Wenn also die Noth wendigkeit des Kantischen Raumes
dadurch angegriffen werden soll, dafis man auf die sinnliche Vorstellbarkeit
anderer Rftume hinweist, so muss in erster Linie gezeigt werden, dass die
alte Raumanschauung auch wirklich den neuen Vorstellungen nicht zu
Grunde liegt. Ich glaube nicht, dass dies Helmholtz gelungen ist.''
K. Fischer, Kritik d. K. Phil. 9 ff. meint ähnlich: „Jene Einwürfe, die auf
die Möglichkeit anderer Raumanschauungen eine andere Art der Geometrie
und ihrer Axiome gründen, sind so wenig geeignet, die Lehre Kants zu wider-
legen, dass sie vielmehr auf diese Lehre sich berufen können und sollen.'*
Diesen Einwurf, welcher auf „die relative Geltung der geometrischen Axiome"
begründet ist, sucht F. daselbst im Einzelnen zu widerlegen. Aebnlich
Riehl, Krit. II, a, 118. Vgl. dagegen Laas, Analogien 211 ff., der die
metamathematischen „öden Denkbarkeiten" doch dazu geeignet findet, „dem
Glauben an die Apriorität des Raumes im Sinne einer absoluten Nothwen-
digkeit Terrain streitig zu machen". —
Die Noth wendigkeit des Raumes, von welcher hier die Rede ist, steht
nun offenbar im Gegensatz zu der Zufälligkeit der Erscheinungen in ihm.
Diese als empirisch Gegebene sind auch wieder wegzu nehmen; jener,
als eine a priori uns gegebene oder besser von uns gemachte Vorstellung,
lässt sich eben daher auch nicht wieder aus unserem Bewusstsein entfernen.
Dies wäre aber der Fall, wenn der Raum eine von den Erscheinungen „ab-
hängende Bestimmung" wäre; dann wäre er bloss zufällig wie alle die
anderen empirischen Bestimmungen der Erscheinungen. Diese Seit« des
Gedankenganges wird besonders betont bei Schulze, Kritik d. theoret.
Philos. I, 208; Schultz, Prüfung I, 90. 165; Tiedemann, Theätet S. 67;
Metz, Darstellung 45; Villers in Rinks Mancherley S. 19; „Haupt-
momente" S. 85; Lewes, Gesch. d. Philos. II, 516; Krug im Philos. Lexi-
con III, 429: „Raum und Zeit können nicht Eigenschaften der Dinge sein;
denn diese werden mit den Dingen selbst aufgehoben , wie die Flüssigkeit
oder Festigkeit oder Gestalt oder Farbe eines Körpers mit dem Körper
selbst, nach dem Grundsatze: Sublata re tollitur qualitas rei. Man
kann aber jedes Ding mitsammt seinen Eigenschaften wenigstens in Gedanken
aufheben, ja die ganze Welt auf diese Art vernichten; und dennoch bleibt
uns die Vorstellung von Raum und Zeit übrig."
Dieser ganze Beweis hat es besonders gegen die Leibniz'sche Theorie
abgesehen. K. Fischer stellt daher 2. A. 334; 3. A. 340, den Gedanken richtig
so dar: „Wären Raum und Zeit Eigenschaften, welche den Dingen anhängen.
190 § 2. Zweites Raumargument.
A 24. B 38. [B 35. H 59. E 75.]
oder wären sie, wie Leibniz wollte S Verhältnisse, welche die Dinge änsserlich
ordnen, so könnten sie in beiden Fällen nicht ohne die Dinge vorgestellt
werden, so wäre die Abstraction von den Dingen zugleich die Abstraction
von Baum und Zeit, und mit der Vorstellung von jenen wären aach diese
Vorstellungen aufgehoben. Das aber ist unmöglich. Wir können von den
Dingen abstrahiren, niemals von Baum und Zeit: Beweis genug, dass diese
beiden Vorstellungen nicht mit den Dingen gegeben sind, denn sonst mussten
sie auch mit den Dingen aufgehoben sein."
Man hat schon früher den Einwand gemacht, man könne doch factisch
den Raum sich hinwegdenken ; man könne vom Räume abstrahiren. So z. B.
Brastberger in seinen Untersuchungen S. 48. Dagegen wendet sich
Mellin I, 261 und II, 473: „Es lässt sich freilich durch Begriffe der
Raum hinweg denken, aber es ist hier davon die Rede, dass man ihn in
der Anschauung nicht wegschaffen kann ;" d. h. ein „reales Wegdenken
des Raumes durch die Einbildungskraft'* ist trotz „der logischen Ab-
straction von ihm*' nicht möglich. (Aehnlich auch Cohen, 2. A. 104. 121.)
Diese Unterscheidung ist ganz zutreffend. Dass der Raum wegzudenken
sei, logisch, gibt K. nicht bloss zu, sonderen verlangt es unten sogar selbst
A. 28, wo er die Raumanschauung andern Wesen abspricht. Eingehende
Polemik auch bei Schulze, Krit. d. theor. Philos. 11, 205 ff.
Eingehender hat sich auch Lotze, theil weise in zustimmendem Sinne
mit dem Argument beschäftigt (Metaph. S. 199—201; Phil. s. Kant § 15);
doch ist seine Auffassung desselben, wenn auch feinsinnig wie immer, so
doch nicht von Irrthümern frei ; vgl. dazu Beyersdorff, Die Raum vorstell angen,
S. 26—32. Heymans, Ges. u. El. d. wiss. Denkens, 1890, I, 205. 252. 263.
Einen eigenthümlichen Einwand erhebt Bolliger, Antikant 33. 2H.
386. 390 gegen dieses Argument, das er überhaupt 274 ff. unbarmherzig
zerfasert: Jene absolute Nicht-Hinweg-Denkbarkeit des Raumes rühre eben
daher, dass im Räume sich uns das A\)solute offenbare. Aehnlich mystisch
Th. Weber, Metaph. II, 69. Weitere Einwände bei v. Kirch mann, Erl. 7;
^ Dies hat Kant auch im Auge, wenn er in einer Anmerkung zu seinem
Handexemplar sagt (vgl. B. Erdmann, Nachträge N. XIY): ,Der Raum ist kein
Begriff von äusseren Verhältnissen, wie Leibniz meint, sondern das, was derMdg-
lichkeit äusserer Verhältnisse zum Grunde liegt." Durch die Beziehung auf Leibniz
wird der Text noch deutlicher; denn dieser sah ja eben (nach Kant) den Ramn
als eine von den Dingen respi. Verhältnissen , abhängende Bestimmung' an; nnd
zwar sowohl in dem Sinne, dass der objective Raum durch jene Verhältnisse erst
entstehe, als in dem Sinne, dass unsere Raumvorstellung erst von denselben ab-
geleitet sei. Wenn der Raum so von den Dingen abhängt und durch sie erst
gegeben ist, so ist er auch mit ihnen aufgehoben; während Kant lehrt^ der
Raum kann nicht von den Dingen abhängen, nicht erst mit den Erscheinnngen
gegeben werden, weil er dann auch mit ihnen aufgehoben würde. Nun bleibt er
aber stehen, auch wenn die Dinge in ihm fallen, also ist er unabhängig von
diesen. — Scharfe Einwände macht Maass im Phil. Mag. I, 126 ff.
Missverständniase und Einwände. 191
[B 35. H 59. E 75.] A24.B38.
dagegen Grapengiesser, Erkl. 18. Scharfe Kritik auch bei Beyers-
dorff, Die Raumvor^tellungen, S. 26—32, bei Baumann, R. u.Z. II, 655.
£. y. Hart mann, Transsc. Real. 145 ff. erhebt ebenfalls treffende Einwände.
Ebenso Pflüger, Aesthetik 16-19. Sidgwick im Mind XXIX, 88 ff.
Proelss, ürspr. d. menschl. Erk. 118. Stumpf, Urspr. d. Raumvorst. S. 19
(vgl. oben S. 70. 77); dagegen wieder Cohen, 2. A. 105; hiegegen wiederum
sehr treffend Stumpf, Psych, u. Erk.-Th. (1891) 8. 19 f. v. Schubert-
Soldern, Erk.-Theorie 272 ff. Bergmann, Sein und Erkennen 102 ff.,
169 ff. Schuppe, Logik 174. Wundt, Logik I, 449. A. Schmid, Zu
Ks. Lehre v. Raum. Dias. Leipzig 1890, 8—12. 18.
Gegen dieses Argument, das allerdings „nicht einer gewissen und
keineswegs geringen Scheinbarkeit entbehre**, polemisirt auch Riehl, Krit. II,
a, 101 ff. mit folgenden treffenden Worten: „Kann unser Bewusstsein die
Zumuthung, die ihm K. hiemit stellt, wirklich in der von ihm angegebenen
Weise erfüllen? Kann es sämmtliche Empfindungen, die des eigenen Leibes
xmd die reproduoirten eingeschlossen, wegnehmen, und doch die Vorstellungen
von R. u. Z. in Gedanken übrig behalten? Ich glaube, in diesem Falle
miissten auch die Vorstellungen Raum und Zeit bis auf ihren Namen dahin-
schwinden. Um uns auch nur in Gedanken eine Vorstellung von R. u. Z.
bilden zu können, bedürfen wir jederzeit eines Materials von Empfindungen,
es sei von gedachten, reproducirten , oder den beständigen Empfindungen
unseres Leibes. Ohne dieses Material sind R. u. Z. nicht einmal Abstracta,
sondern blosse Namen für an sich unvorstellbare Schemata möglicher Ver-
hältnisse von Empfindungen." Aehnlich Spencer, ,,Gi*undlagen der Psych.",
§ 330 ff., § 399. Für Kants Beweis Liebmann, An. d. W. 216 N.
Unrichtig ist, in diesem (und in dem ersten vgl. oben 172 N.) Argument
schon einen Beweis für die Subjectivität des Raumes sehen zu wollen;
es handelt sich erst um die Apriorität; (aus dieser wird erst im „Schluss a"
auf die Subjectivität geschlossen). Auf jener fehlerhaften Auslegung be-
ruhen die Einwände von Trendelenburg (Log. Unters. 2. A. I, 162) und
Ueberweg (Grundriss III, § 18). In diesem Sinne hat Cohen, 2. A. 105—107
(124, 129) mit Recht jene Einwände zurückgewiesen.
üeber die hier angewendete Methode Kants bemerkt J. B. Meyer,
Ks. Psychologie S. 167: „Ganz anders (als bei inductiver Feststellung der
Elemente und Gesetze unseres Seelenlebens) verhält es sich mit der Ent-
deckung, dass die Raumanschauung eine ursprüngliche Zuthat unseres Geistes
zur Erfahrung ist. Wir brauchen dazu zwar keine Summe von Beobachtungen,
von inneren Wahrnehmungen, es genügt die einfache Selbstbesinnung,
uns zu vergegenwärtigen, dass wir den Raum gar nicht hinwegdenken
können, weil er die Form unserer Anschauung selber ist." Vgl. dazu Witte,
Beiträge 37, Zur Erk. 19, welcher für jene Selbstbesinnung gar „eine eigenthüm-
liehe transscendental-psychologische Grundkraft" erfindet! Dagegen Schnei-
der, Psych. Entw. d. Apriori S. 6fF. löst dieselbe in die gewöhnliche Reflexion
und Abstraction auf. Ebenso Zimmermann, Ks. Mathem. Vorurtheil, S. 48.
192 §2. Zweites Raumarg^ument.
A 24. B 89. [B 36. H 59. E 75.]
Dritter Satz. Dieser Schlusssatz, der sich durch das y,also" als
Schlussfolgerung zu erkennen gibt, bietet der Erklärung mannigfache Schwierig-
keiten dar. Zunächst ist eine kleine Ungenauigkeit des Textes zu bemerken :
es muss heissen: er wird also als die Bedingung der Unmöglichkeit der
äusseren Erscheinungen angesehen. Das Wort „äussere" hat Kant weg-
gelassen. Was nun die eigentlichen Schwierigkeiten betrifft, so fragt sich
zunächst, wie sich die beiden Hälften des Satzes, welche durch „und" ver-
bunden sind, zu einander verhalten? Geben beide Hälften einen und den-
selben Gedanken in doppelter Form wieder? Man könnte freilich auf den
Gedanken kommen (wie das wohl bei Cohen, 1. A. S. 13 ; 2. A. S. 103 der
Fall ist), die erste Satzhälfte gebe eine nochmalige Zusammenfassung des
ersten Raumargumentes, und nur die zweite beziehe sich auf das zweite
Raumargument: denn wenn in der ersten Hälfte der Raum als die „Be-
dingung der Möglichkeit der Erscheinungen" bezeichnet wird, so scheint dies
ja dasselbe sagen zu wollen, was im ersten Raumargument stand, durch den
Raum werde erst die äussere Erfahrung möglich. Allein abgesehen davon,
dass hiegegen doch die grammatische Verbindung der ganzen Periode spricht,
und dass ein derartiger Gedankengang Kants doch als sehr unzweckmässig
erscheinen muss, so geht schon aus dem Parallelargument bei der Zeit her-
vor, dass diese Auslegung falsch ist: denn dort wird von der Zeit gesagt:
.„sie selbst kann als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit [der
Erscheinungen] nicht aufgehoben werden^'; daraus geht hervor, dass aach
beim Räume die Bezeichnung desselben als der „Bedingung der Möglichkeit
der Erscheinungen" wirklich zum zweiten Argument gehört.
Nun aber erhebt sich die Frage: Ist denn diese mit der These im
ersten Satz genau übereinstimmende Schlussfolgerung ein nothwendiges Er-
gebniss aus dem Beweisnerv des zweiten Satzes? Dieser sagte ja, dass der
Raum nicht hin wegzuschaffen sei, nicht aufgehoben werden könne; alles
kann man sich aus ihm wegdenken, nur ihn selbst nicht. Aber inwiefern
ist denn dies nun ein Beweis dafür, dass der Raum eine Bedingung der
Erscheinungen ist, statt von ihnen abzuhängen? Der Satz — wir können
den Raum absolut nicht los werden — involvirt als Folgerung doch nicht
ohne Weiteres — also ist er die Bedingung der Möglichkeit der Erschei-
nungen; sondern, wie wir bisher sahen, jene Thatsache involvirt unmittelbar
nur die Apriorität der Raumvorstellung als solcher. So fassten ja auch viele
Erklärer Kants die Stelle , besonders Schultz, der berufenste Erklärer Kants,
bei dessen ,, Erläuterungen' ' Kant selbst mitwirkte. Schultz (a. a. 0. 22)
sagt einfach: wir können Raum und Zeit nicht wegdenken; „aber Vor*
Stellungen, die uns ganz nothwendig ankleben^ sind nicht Producte der Er-
fahrung, sondern Vorstellungen a priori." Diese Folgerung zieht ja nun
Kant selbst auch in seinen Text; er sagt ja: „Der Raum ist eine Vorstellung
a priori", aber gibt vorher und nachher noch Bestimmungen, welche Schulu
ganz einfach weggelassen hat, Bestimmungen, welche sagen : „Der Raum ist
also die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen; er liegt noth-
Die Nothwendigkeit des Raumes für die Subjecte und für die Objecto. 193
[E 35. H 69. E 75.] A 24. B 89.
wendiger Weise äusseren Erscheinungen zu Grande." Diese Bestimmungen
sind Zusätze, über welche wir Rechenschaft verlangen.
Bei näherem Zusehen ergibt sich denn auch, dass hier in der That
zwei Gedanken mit einander verkoppelt sind, welche einer schärferen Schei-
dung bedürfen. Wir müssen offenbar den Schlusssatz in folgende zwei Be-
standtheile auseinanderlegen: a) der Raum ist eine Vorstellung a priori;
b) der Raum liegt nothwendiger Weise äusseren Erscheinungen zu Grunde;
er ist die Bediogung der Möglichkeit der Erscheinungen. Der erstere Ge-
danke behauptet die Nothwendigkeit der Raumvorstellung an und für sich
und als solcher im Sinne der Nicht-Hinweg-Denkbarkeit; wir können dafür
auch setzen die Nothwendigkeit für mich, für das vorstellende Subject.
Der zweite Gedanke aber behauptet die Nothwendigkeit der Raumvorstellung
für die äusseren Erscheinungen, für die vorgestellten Objecte. (In diesem
Sinne sagt Kant auch in den Reflex. II, N. 398: „R. u. Z. sind das Noth-
wendige in der Anschauung", nämlich eben in den angeschauten Objecten.)
Diese beiden Noth wendigkeiten, welche Kant ganz ebenso wie hier im Schluss-
satz auch schon im ersten Satze ohne scharfe Scheidung neben einander
stellte, müssen wir nun terminologisch von einander unterscheiden und können
sie am besten als absolute und als relative Nothwendigkeit bezeich-
nen (oder auch als subjective und als objective).
Streng genommen folgt nun, wie wir schon sahen, aus dem den Beweisnerv
enthaltenden zweiten Satze nur die absolute Nothwendigkeit der Raum-
vorstellung als solcher, und damit eben die Hauptsache, auf die es hier
ankommt, die Apriorität derselben: denn diese Nothwendigkeit ist ja das
Merkmal der Apriorität (vgl. Gomm. I, 206. 222 ff.). Die relative Noth-
wendigkeit der Raumvorstellung für die Erscheinungen kann man aber,
wenn sie auch nicht direct aus jenem Beweise folgt, doch als eine nahe-
liegende Folgerung aus demselben ansehen, als ein CoroUar. Denn wenn der
Raum eine mein Bewiisstsein noth wendig begleitende „a priori mir gegebene'*
Vorstellung ist, welche ich nicht los werden kann, welche in mir festhaftet,
auch wenn ich ihren Inhalt gleichsam vollständig hinausgepumpt habe, dann
ist eben diese mich so hartnäckig verfolgende Raumvorstellung auch eine
nothwendige Bedingung meines Vorstellens von äusseren Erscheinungen;
dann kann ich mir keine Dinge anders vorstellen als im I{aume, dann be-
gleitet sie auch alle meine Vorstellungen von Gegenständen, ist deren dauern-
der Hintergrund, deren constante Folie, also eben das, was „nothwendiger
Weise äusseren Erscheinungen zum Grunde liegt."
In diesen Zusammenhang muss man, obgleich der Text dazu nicht
direct anleitet, doch die beiden Nothwendigkeiten bringen, so dass also die
relative Nothwendigkeit der Raumvorstellung aus ihrer absoluten folgt.
So ist denn die relative Nothwendigkeit hier nur eine, wenn auch nahe-
liegende und nicht zu umgehende, Folgerung aus der absoluten; sie wird
nun aber von Kant viel mehr in den Vordergrund gestellt, als ihr logischer
Werth es erlaubt. Dadurch hat Kant den Leser über den Sinn des ganzen
Vaihinger, Kant-Commentar. II. 13
194 § 2. Zweites Rauinargument.
A24.B39. [B 35. H 59. E 75.]
Argumentes selbst getäuscht. Ja es gewinnt sogar den Anschein, als ob die rela-
tive Nothwendigkeit auch ein Beweis für die Apriorität sein solle — eine
Auffassung, welche allerdings durch das entsprechende Zeitargument gestützt
wird, und so kommt es dann, dass in der Kantliteratur dasselbe oft miss-
verstanden worden ist. Die Einen begnügen sich damit, die absolute Noth-
wendigkeit hervorzuheben, auf welche es allerdings in erster Linie abgesehen
ist, weil aus ihr allein eben die Apriorität folgt; aber sie übergehen die
relative, auf welche Kant doch aus jener schliesst. Die Anderen machen
den weit grösseren Fehler, nur die relative Nothwendigkeit zu berücksich-
tigen, auf welche es doch gar nicht in erster Linie ankommt; denn nicht
auf sie zielt der Beweis, und sie beweist ja auch ihrerseits nicht die Apriorität
der Baumvorstellung, welche doch letztes Beweisziel ist. Aber die Meisten
begnügen sich damit, den Eantischen Text mit geringen Variationen, ohne
genaue Unterscheidung jener beiden Punkte, wörtlich wiederzugeben. Und
bei den Wenigsten findet sich eine deutliche Unterscheidung derselben.
Nur die absolute Nothwendigkeit wird in Betracht gezogen — ausser
bei den oben S. 187 f. angefahrten Erklärern — von Lossius, Lexicon ÜI,
515; Born, Sinnenlehre 71, und Versuch über die ursprünglichen Grund-
lagen S. 88; Tiedemann, Theätet S. 68 ff.; Heusinger , Encyclop.I, 286;
Schultz, Prüfung der Kantischen Cr. d. r. V. I, 84 — 96; v. Eberstein,
Gesch. d. Log. II, 10; Feder, Raum und Causalität S. 26 ff.; Allgem.
Lit. Zeit. 1788, I, 258; Schulze, Krit. d. theoret. Philos. I, 207; U, 206:
Schulze sagt ausdrücklich: „In jenem Argumente ist von einer absoluten
und nicht von einer relativen (nur in Beziehung auf etwas Anderes, das
gesetzt worden ist, stattfindenden) Nothwendigkeit, den Baum als etwas
Wirkliches zu denken, die Bede' ; und er beruft sich ausdrücklich hieför auf
Schultz, Prüfung I, 84; II, 158. 178; und richtet seine Kritik auch
nur gegen die Behauptung der absoluten Nothwendigkeit des Raumes.
So auch Schopenhauer öfters, bes. W. W. VI, 46; Deussen, Metaph.
§ 50 nennt das Argument in diesem Sinne den Beweis j^tx adhaesione'.
Auch bei neueren Erklärern finden wir dieselbe Auffassung ; z. B. — ausser
bei den obengenannten — bei Erdmann, Gesch. d. Philos. II, § 298, 3:
bei Holder, S. 10; Stadler, Reine Erk. 32 (dazu S. 57. 138. die merk-
würdig unkantische Erläuterung: , Allerdings kann ich aus B. u. Z. alle
Gegenstände wegnehmen, ohne genöthigt zu sein, sie selbst wegzudenken:
aber sowie ich das thue, werden auch die Einheitsanschauungen völlig
bedeutungslos, ich besitze nicht mehr die mindeste Erkenntniss in ihnen, ich
kann gar nichts über sie aussagen, sie sind gleichsam blind* u. s. w. Jene
reinen, empfindungsleeren Anschauungen enthalten ja die ganze Mathematik!)
Nun gibt es aber Erklärer, welche in dem Argument nur die Behaup-
tung der relativen Nothwendigkeit der Baumvorstellung finden: z. B.
Weishaupt, Zweifel S. 14. 16; Jacob, Logik u. Metaphysik 256. 260.
261; derselbe in seiner Widerlegung Mendelssohns, S. 21. 24. 29; Maimon,
Untersuchungen 73. 74; Will ich, Elements S. 71 (Space and Time muä
Die absolute und die relative Nothwendigkeit ^s Raumes. 195
[R 35. H 69. E 75.] AS4.B89.
he thought aa ihe substratutn of all sensible objects). Ausdrücklich findet
ßeneke, Metaphysik 226 in diesem Argument, das er daselbst eingehend
bekämpft, die , relative Nothwendigkeit" des Raumes. Unter den Neueren
z. B. Thiele, Int. Ansch. 187, ist, wie es scheint, auch Lotze, Metaphysik,
S. 200, welcher das Argument in diesem Sinne billigt und tiefer begründet.
Auch Rehmke, Welt 157. So scheint dies auch der Fall zu sein bei
Riehlf welcher Erit. I, 347 dieses Argument in speciellere Beziehung zu
der Schrift von 1768 bringt, in welcher es heisst, „dass der absolute Raum
unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund
aller Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe." «Nur
durch den absoluten und ursprünglichen Raum ist das Yerhältniss körper-
licher Dinge möglich." Damit «übereinstimmend" sei aber „der zweite Satz
der Kritik, der die Nothwendigkeit der Raumvorstellung erläutert und er-
klärt: der Raum wird als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen
angesehen". Auch schon Eberhard, Phil. Magaz. II, 79 hat die relative
Auffassung, und behauptet, es folge aus der Nothwendigkeit der Raum Vor-
stellung für alle äusseren Anschauungen nur, dass diese nicht ohne jene
sein kann; es seien aber dann noch zwei Fälle möglich; der Raum kann
entweder vor ihnen oder mit ihnen zugleich da sein. (Vgl. oben S. 178).
Bei den meisten Erklärern geht Beides unklar durcheinander: bei
Brastberger, Untersuchungen S. 44. 48. 49 ; bei M e t z , Darstellung S. 44 ;
bei Krug, Handbuch I, 263; bei Bendavid, Vorlesungen S. 14; Beck,
Auszug I, 10.
Beide Arten der Nothwendigkeit sind gleichmässig ausdrücklich berück-
sichtigt bei Seile, Abh. d. Berliner Akad. 1786—1787, 589 f.^ Ebenso bei
Cousin 78; Lewes, Gesch. d. Philos. II, 516. — Wundt, System 148.
Die Nothwendigkeit ist nun hier das Merkmal der Apriorität.
Allein in der Einleitung B 4 (vgl. Commentar I, 206 ff.) hat Kant auch die
Allgemeinheit als ein solches gleichgeordnetes Merkmal der Apriorität
aufgestellt. Wie verhält es sich hier mit dieser? Im Text ist von derselben
allerdings die Rede; es heisst ja: »Der Raum ist eine . . . Vorstellung, die
allen äusseren Anschauungen zum Grunde liegt." Diese Allgemeinheit bezieht
sich also auf die Objecte: alle Objecte müssen im Räume vorgestellt werden;
sie entspricht also der relativen Nothwendigkeit der Raumvorstellung.
^ Gegen die relative Nothwendigkeit bemerkt Seile daselbst, dass für den
Körper die ündurchdringlichkeit eine ebenso nothwendige Vorstellung, ein ebenso
integrirendes Merkmal sei, als die Aasdehnnng im Räume. Wenn man die Idee
eines Körpers haben will, sind diese beiden Merkmale schlechterdings nothwendig.
Also wäre dnrch diesen Beweis zu viel bewiesen. Umgekehrt sei aber auch der
Raum nicht ohne Körper vorstellbar — hiemit wendet sich Seile gegen die Un-
abhängigkeitsauffassung. Was endlich die absolute Nothwendigkeit des
Raumes betrifft — man kann ihn nicht wegdenken — so wolle das nur sagen,
dass man sich das Mögliche nicht als Nicht-möglich vorstellen könne; denn der
R. sei nichts als die ideale Möglichkeit des Körpers.
196 §2. Zweites Raumargument.
A 24. B 39. [R 35. H 59. E 75.]
Es Hesse sich aber auch eine andere Art der Allgemeinheit der
Eaumv orstellung denken : sie muss bei allen Menschen , allen vorstellenden menseb-
lichen Subjecten sich finden ; und diese Allgemeinheit entspricht offenbar der
oben so genannten absoluten Nothwendigkeit der Raumvorstellung. In der
Eantliteratur wird die Allgemeinheit in diesem Sinne fiir die Raumvorstellung
in Anspruch genommen, z.B. bei Bendavid, Vorlesungen S. 14; Weishaupt,
Zweifel S. 15. Beide Arten der Allgemeinheit werden hervorgehoben bei
Jacob, Grundriss der Log. u. Met. 257. 261; Krug, Lexicon ÜI, 430. Un-
bestimmt äussern sich Mellin II, 473; Brastberger, Untersuchungen 48 :
Jacob, Gegen Mendelssohn 24; Villers bei Rink „Mancherley* 22:
Thanner, Transsc. Idealismus S. 28. —
Aber nun erhebt sich eine neue Schwierigkeit. Ist denn dasjenige,
was wir oben als „relative Nothwendigkeit des Raumes*, nämlich
für die Erscheinungen, kennen gelernt und bezeichnet haben, nicht genau das-
selbe, was schon das erste Raumargument gelehrt hatte? War denn nicht
das Resultat desselben gewesen: die äussere Erfahrung ist nicht ohne Raum-
Vorstellung möglich, d. h. diese ist die Bedingung der Möglichkeit jener?
Und ist dies nicht ganz genau dasselbe, wie das, was nun hier gelehrt wird,
der Raum sei eine Vorstellung a priori, welche nothwendiger Weise allen
äusseren Erscheinungen zum Grunde liege und die , Bedingung der Möglichkeit'
jener sei? Diese Fragen scheinen auf den ersten Blick eine bejahende Antwort
zu verlangen. Allein bei genauerem Zusehen bemerkt man doch bald den
feinen Unterschied: der Sinn des ersten Raumargumentes war doch gewesen:
die Erscheinungen sind nicht da vor unserer Raum Vorstellung , so dass diese
erst aus diesen Erscheinungen abstrahirt werden müsste; vielmehr ist die
Raumvorstellung zuerst da, sie geht vorher und die Erscheinungen folgen
nach, weil sie ja durch jene bedingt sind. Der Sinn des zweiten Raum-
argumentes aber (wie er besonders auch aus dem Parallelargument bei der
Zeit sich ergibt, „nur in der Zeit ist die Wirklichkeit der Erscheinungen mög-
lich. Die Zeit ist die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit*) ^ ist offenbar
folgende : Die Erscheinungen sind nicht da ohne die Raum Vorstellung, d. b.
ich kann die Erscheinungen nicht ohne den Raum vorstellen, also der Raum
ist ein nothwendiger Bestandtheil der Erscheinungen und etwas Ausser- räum-
liches, Unräumliches ist gar nicht vorzustellen. Ich kann nicht etwa diesen
Bestandtheil des Raumes heraustrennen, so dass dann die Erscheinungen selbst
noch übrig blieben; wohl aber kann ich das umgekehrte Experiment machen:
ich kann die Erscheinungen wegnehmen, der Raum bleibt doch; er ist also
nicht bloss vor ihrer Entstehung da, er bleibtauch nach deren Aufhebung.
Also nach dem Ersten Raumargument ist der Raum ein unumgäng-
liches Präcedens, nach dem Zweiten ein unerlässliches Ingrediens der
' In diesem Sinne wohl heisst auch A374 (vgl. A429N.) der Raum ,die Vor-
stellung einer blossen Möglichkeit des Beisammenseins". Vgl. dazu Cohen, 2. A
213. 335. 347. 362. 452.
Verhältniss des ersten und zweiten Raumargumentes. 197
[R 35. H 69. E 75.] A 24. B 89.
Erscheinungen. Dort handelt es sich nm das Dass der Erfahrung, hier
um das Wie der Erscheinung; dort um die Existenz, hier um die Essenz
der Wahrnehmung ; dort um die Wahrnehmungsthätigkeit, hier um das
Wahmehmungsobject ^
Demgemäss muss der beidemal gebrauchte Ausdruck „zum Grunde liegen"
jedesmal einen etwas anderen Sinn haben, dort mehr einen psychologisch-
subjectiven, hier mehr einen logisch-objectiven. Dort ist die Raumvorstellung
eine constaute Constructionsbedingung der zu vollziehenden äusseren Wahr-
nehmung , hier ein constantes Substrat der vollzogenen äusseren Wahr-
nehmung. In diesem Zusammenhange und auf diese Weise gewinnt denn auch
jene von Cohen und Riehl vertretene Auffassung, die oben S. 172 ff. entwickelt
worden ist, eine relative Berechtigung. Es wird hier allerdings von Kant
der Gedanke angeschlagen, der Raum sei ein objectiv-noth wendiges
Bestandstück, aber nicht der , Erfahrung", wie Cohen und Riehl sagen,
sondern der »Erscheinungen" — aber dieser Gedanke, dass wir die Erschei-
nungen nicht ohne Raum vorstellen können, dass diese die noth wendige
Folie für jene sei , ist doch aufs engste verbunden mit» dem Gedanken der
Apriorität im Subject, was gerade Cohen und Riehl perhorresciren. — Man
vergleiche dazu die Analyse des entsprechenden Zeitargumentes.
Trotz jener tiefen Verschiedenheit des ersten und zweiten Raum-
argumentes bilden diese beiden Argumente offenbar ein zusammengehöriges
Paar. Es ist streng genommen Ein Theorem mit zwei Beweisen, von
denen der erste als ein indirecter, der zweite als ein directer bezeichnet werden
kann. Dieses Theorem heisst einfach: Der Raum ist eine Vorstellung
a priori. Das Theorem ist das erste Mal negativ, das andere Mal positiv aus-
gedrückt; dass aber beide Mal dasselbe gemeint ist, geht ja schon daraus hervor,
dass , nicht-empirische Vorstellung" und , Vorstellung a priori" ganz identisch
sind, oder dass, wie Holder S. 10. 11 sich ausdrückt, , empirisch" und »noth-
wendig a priori" contradictorische Gegensätze sind. Holder fasst daselbst
auch das Verhältniss der beiden Argumente ganz in dem eben entwickelten Sinne :
es ist „eine doppelte Erwägung, durch welche die Apriorität von Raum und
Zeit erwiesen wird: einmal dass die Anschauung räumlicher und zeitlicher Ver-
hältnisse nur einem Subject möglich ist, welches die Formen von Raum und
Zeit bereits in sich hat, sodann dass Raum und Zeit die einzigen Vorstel-
lungen sind , von welchen wir niemals zu abstrahiren vermögen , welchen
somit eine in unserer subjectiven Organisation begründete Nothwendigkeit
für uns zukommen muss." Abgesehen davon, dass Holder die relative Noth-
wendigkeit ganz ignorirt hat, ist diese Darstellung ganz zutreffend und auch
jedem unbefangenen Leser einleuchtend. Die falsche Auffassung Cohens,
der den Sinn des ersten Argumentes gänzlich verkennt, wurde schon oben
^ Cohen, 2. A. 103: »Nicht bloss das Örtliche Verhältniss, die Lage der
Gegenstände setzt den Raum voraus, sondern der Gegenstand selbst wird durch
die Vorstellung des Raumes bedingt;** u. s. w.
198 §2. Zweites Raumargument.
A 84. B 39. [B 35. H 69. E 75.]
S. 171 zurückgewiesen, ebenso oben S. 185 die unzulängliche Darstellung von
Kuno Fischer, welcher beide Argumente unterschiedslos miteinander ver-
mischt: Das gemeinsame Resultat ist ja allerdings, dass Raum und Zeit
ursprüngliche Vorstellungen sind; allein die Beweise dafür müssen wie
bei Kant selbst scharf getrennt werden. Vgl. darüber auch R^musat, Phüos.
Allem, XIV, 10. —
Gegen dieses zweite Argument hat Herbart an einer vielcitiirten
Stelle (Psych. II, § 144 = W. W. VI, 307) folgenden Einwand vorgebracht
(derselbe findet sich übrigens fast wörtlich ebenso bei Eberhard, Phil.
Mag. II, 80. 88; III, 435—438; Phil. Archiv I, 1. 94 (zu Seile, vgl. oben
S. 195 Anm.); 2. 58; vgl. auch Brastberger, Unters. 48): „Was Kants Beweis
von der Noth wendigkeit der Vorstellung des Raumes und der Zeit anlangt,
so ist dieser Beweis in der Form falsch, denn er ist nicht mehr noch weniger
als ein Syllogismus mit vier Hauptbegriffen. Der Syllogismus
steht so:
Was Erfahrung lehrt, enthält nie das Merkmal der Nothwendigkeit.
Der Raum und die Zeit sind nothwendige Vorstellungen.
Also sind Raum und Zeit nicht aus der Erfahrung gelernt.
Der Untersatz dieses Syllogismus beruht auf dem misslingenden Ver-
suche, Raum und Zeit wegzudenken ; welches in der That nicht thunlich ist.
Aber woher diese Unmöglichkeit, und die entgegenstehende Nothwendigkeit?
Raum und Zeit reprftsentiren die Möglichkeit des Körpers und der Begeben-
heiten ; jene wegdenken, heisst, dies aufheben. Nun versteht sich von selbst,
dass, nachdem einmal die Wirklichkeit der Körper und Begebenheiten
wahrgenommen ist, es der Gipfel der Ungereimtheit sein würde, diese Wirk-
lichen für unmöglich zu erklären. Nachdem die Erfahrung irgend ein
Wirkliches gezeigt hat, wird allemal der Ausdruck der blossen Möglichkeit
dieses Wirklichen ein noth wendiger Gedanke. In diesem Sinne also lehrt
die Erfahrung allerdings das Nothwendige ; in diesem Sinne ist der Obersatz
des Syllogismus falsch, aber auch in diesem Sinne ist er weder von Leibniz
noch von Kant ursprünglich gedacht worden. Also haben wir eine Ver-
wechselung von Begriffen vor Augen , die wir dem grossen Denker nur als
eine Uebereilung anrechnen können.^
An einer anderen Stelle (Metaph. I, § 7 = W, W. III, 80) hat Herbart
diesen seinen Einwand selbst in folgender Weise zusammengefasst : « Spreche
man nicht von einem absoluten Räume, als Voraussetzung aller gemachten
Gonstructionen ! Möglichkeit ist nichts als Gedanke, und sie entsteht dann,
wenn sie gedacht wird; der Raum aber ist nichts, als Möglichkeit, denn er
enthält nichts als Bilder vom Sein; und der absolute Raum ist nichts, als
die, hinterher, nach vollzogener Construction, aus ihr abstrahirte allgemeine
Möglichkeit solcher Gonstructionen. — Die Nothwendigkeit der Vorstellung
des Raumes hätte nie in der Philosophie eine Rolle spielen sollen. Den
Raum wegdenken, heisst die Möglichkeit des zuvor als wirklich Gesetzten
wegdenken; es versteht sich, dass das unmöglich, und das Gegentheil noth-
Herbart wirft Kant eine Quatemio terminorum vor. 199
[B 86. H 69. E 76.] A 24. B 89.
'wendig ist.* (Vgl. auch I, 184; V, 505 — 506.) Die Herbartianer haben
diesen Einwand oft wiederholt; so Thilo, Gesch. d. Philos. II, 192 ff.;
so Drobisch, welcher in seiner Psychol. § 23 denselben weiter ausfährt
and in seiner Logik § 103 diesen Kantischen Beweis als Beispiel eines Fehl-
schlusses aus vier Hauptbegriffen oder einer ,, Erschleichung*' anführt — ein
Ausdruck, welchen auch Herbart selbst (V, 209) gebraucht.
Einen solchen Einwand eines solchen Gegners gegen ein solch fundamen-
tales Theorem Kants konnten die Anhänger des Letzteren nicht unbeantwortet
lassen. Insbesondere Liebmann und Cohen haben diese Antwort auf sich
genommen; (auch Frauenstädt, Briefe, 143 ff., und Spir, Denken u. Wirkl.
n, 26). Was aber Cohen sagt (1. A. 25; 2. A. 119—122. 147), ist zwar
recht interessant, leider aber mehr oder minder unverständlich. (Vgl. dazu
Laas, Id. u. Pos. UI, 420. 424 ff.) Was dagegen Liebmann (Kant u. d.
Epigonen 21) entgegnet, verdient alle Beachtung. Er sagt: .Hierauf ist zu
erwidern : 1) Dass wir die Bedingungen der Möglichkeit eines von uns als
wirklich anerkannten für nothwendig erklären, lehrt uns nicht die Er-
fahrung, sondern wir fordern es nach subjectiven Denkgesetzen. 2) Nicht
deshalb allein sind Haum und Zeit noth wendige Vorstellungen, weil ohne
sie die Körperwelt unmöglich wäre, sondern vor allen Dingen deshalb,
weil ohne sie unsere eigene Intelligenz, das Subject der Erkennt-
niss, mein eigenes Ich, unmöglich wäre. Wir können ohne Baum und
Zeit nicht nur Nichts, sondern auch nicht vorstellen; sie sind fortwährend
in aller geistigen Thätigkeit gegenwärtig u. s. w. Kurz, wenn man die
Eantische Beweisführung einmal in die Form eines Syllogismus drängen will,
so würde derselbe so lauten:
Alles, was ich mir aus dem Subject der Erkenntniss nicht hinwegdenken
kann, ohne zugleich dieses Subject selbst zu vernichten, ist ihm wesentlich, d. i.
a priori.
Raum und Zeit kann ich mir aus dem Subject der Erkenntniss nicht hinweg-
denken, ohne dieses zugleich selbst zu vernichten.
Also etc.*
Diese Entgegnung sucht, wie es scheint, den Kern des Herbart'schen
Einwandes in der Verwechslung dessen, was wir oben als relative und als
absolute Nothwendigkeit unterschieden haben. Herbart sehe nicht ein, dass
diese letztere, die absolute Nothwendigkeit der Raumvorstellung für das
Subject, den eigentlichen Hauptbeweis in dem Argumente ausmache, nicht
aber jene erstere, die relative Nothwendigkeit des Raumes für die Objecte;
indessen sei auch die Einsicht in diese relative Nothwendigkeit nicht Sache
der Erfahrung, sondern der Vernunft.
Diese Entgegnung hat insofern den Nagel auf den Kopf getroffen, als
allerdings, wie wir wissen, die absolute Nothwendigkeit den Kern des Kan-
tischen Argumentes ausmacht; wenn also Herbart die Apriorität aus der
relativen Nothwendigkeit bewiesen findet, so verkennt er, wie wir dies oben
bei manchen der Kantgegner sahen, den eigentlichen Sinn des Argumentes.
200 § 2. Zweites Raumargument
A d4. B 89. [B 35. H 59. E 75.]
Der Herbart'scbe Einwand scheint aber mehr, ja vielleicht etwas anderes
sagen zu wollen: denn H. spricht doch eben auch von der «Unmöglichkeit»
Raum und Zeit wegzudenken'', und dies eben ist ja eben die absolute
Noth wendigkeit der Raumvorstellung für dasSubject; in dieser absoluten
Noth wendigkeit sucht er richtig den Mittelbegriff des Schlusses. Aber er
leitet diese Nicht-Hinweg-Denkbarkeit, also eben die absolute Nothwendigkeit
der Raumvorstellung, seinerseits — von seinem eigenen psychologischen
Standpunkt aus, nicht im Namen Kants — von der relativen Nothwendigkeit
ab, von der Nothwendigkeit der Raum Vorstellung fiir die Objecto, also
von der Erfahrung, betrachtet sie als ein Product der Empirie, welche in
diesem Sinne auch das Noth wendige lehre. Eben deshalb eigne sich die so
entstandene und abzuleitende Nothwendigkeit der Raumvorstellung nicht
zum Mittelbegriff des Kantischen Schlusses, weil in dessen Obersatz: die
Erfahrung lehrt nichts Nothwendiges — die Nothwendigkeit in einem allen
Erfahrungsursprung ausschliessenden Sinne genommen sei.
Also Herbarts Einwand richtet sich gegen die Meinung, die Nicht-
Hinweg-Denkbarkeit des Raumes könne man als Merkmal der Apriorität ge-
brauchen : denn die empirisch entstandene Nothwendigkeit der Nicht-Hinweg-
Denkbarkeit habe mit der nichtempirischen Nothwendigkeit des (prätendirten)
echten Apriori nichts zu thun.
Nun mag Herbart darin sachlich vollständig Recht haben, yon dem
Boden der wissenschaftlichen Psychologie aus kann man sogar gar nicht anders
urtheilen, aber die Gerechtigkeit erfordert, zu sagen, dass Herbart in der
formellen Begründung seines Einwandes sich selbst — einer QuaUrmo
terminorum schuldig macht. Er wirft Kant eine solche vor in Bezug auf
den Terminus „Nothwendigkeit''; er selbst hat eine solche begangen mit dem
B vieldeutigen Ausdruck" (Sigwart, Logik I, 222) der » Möglichkeit*. Herbart
sagt: der Raum repräsentirt die Möglichkeit der Wirklichkeit der Körper;
jenen wegdenken, heisst diese aufheben; hier ist Möglichkeit so viel als
reale Bedingung. Wenn es aber dann bei H. weiter heisst: der Ausdruck
der blossen Möglichkeit dieses Wirklichen wird allemal ein noth wendiger
Gedanke, man kann sich doch die Möglichkeit des Wirklichen nicht als un-
möglich denken, — so ist hier Möglichkeit in rein logischem Sinne ge-
nommen: was möglich ist, ist natürlich nicht unmöglich. Ist aber Möglichkeit
wieder im Sinne einer realen Bedingung gemeint, so ist der Satz Herbarts
factisch falsch; was die Möglichkeit eines Wirklichen ausmacht, ist noth-
wendig nur, insofern man dieses Wirkliche setzt oder setzen will; sieht man
aber von demselben ab, so wird auch die Möglichkeit hinfällig und ist dann
keineswegs „ein nothwendiger Gedanke". Das Papier bildet die Möglichkeit
des Schreibens, das Auge die Möglichkeit des Lesens. Zum Schreiben ist
das Papier, zum Lesen das Auge nothwendig, aber Papier und Auge sind
nicht nothwendig, wenn ich weder schreiben noch lesen will. Sie sind nur
relativ nothwendig, nicht absolut nothwendig. Ebenso ist innerhalb jener
Herbart'schen Argumentation der Raum die Möglichkeit der Dinge und
Relative und absolute, discursive und intuitive Nothwendigkeit. 201
[R 35. H 59. E 75.] A 24. B 89.
somit ein nothwendiger Gedanke, aber nur relativ für die Dinge, nicht
überhaupt. Wenn ich keine Dinge setzen will, kann ich mir den Raum
ganz mhig ohne jede Beschwerde wegdenken, wie ich mir Papier und Auge
wegdenken kann, wenn überhaupt in der Welt nicht geschrieben oder ge-
sehen werden muss. Aus der relativen Nothwendigkeit kann man also die
absolute nicht ableiten, wie das Herbart doch will — in seinem eigenen
Namen, denn er will ja das von ihm als Thatsache zugestandene Miss-
lingen des Versuchs erklären, den Raum wegzudenken.
Die psychologische Ableitung der Nichthinwegdenkbarkeit des Raumes,
welche Herbart gibt, schliesst also selbst eine Quatemio terminorum ein.
Dies schliesst nun aber nicht aus, dass jene Thatsache auf anderem Wege
doch psychologisch abzuleiten wäre, etwa aus dem Princip der Gewohnheiti
der ^indissoluble association'^. Wenn nun eine solche rein psychologische
Ableitung angenommen wird, so ist es der logischen Kunstsprache nicht
entsprechend den dann von Kant begangenen Fehler als einen „Schluss mit
vier Hauptbegriffen* zu bezeichnen, sondern Kants These würde dann auf
einer falschen Erklärung jener Thatsache beruhen ; statt jene Thatsache eben
rein psychologisch-genetisch zu erklären, nimmt Kant als Erklärungsgrund
für dieselbe eben eine apriorische Form resp. Function des Subjects an. Er
hat von vorneherein erklärt, dass er die Nothwendigkeit = Nicht-Hinweg-
Denkbarkeit gewisser Vorstellungen als das Zeichen ihrer Apriorität betrachte.
Wir haben nun schon Coram. I, 222 (168. 187. 197. 206) gesehen,
dass die Nothwendigkeit in diesem Sinne als Nicht-Hinweg-Denkbarkeit
wesentlich zu unterscheiden ist von der Nothwendigkeit des Nicht-ander s-
sein-könnens; jene bezieht sich auf Vorstellungen, diese auf Sätze. ^ Und
dies führt uns nun auf eine andere Seite des Herbart'schen Einwandes: H.
wirft Kant auch vor, den ursprünglichen und eigentlichen Begriff der Noth-
wendigkeit (im Obersatz) mit einer ganz anderen Nothwendigkeit (im Unter-
satz) verwechselt zu haben. Wenn H. sagt, Leibniz (und Kant selbst ur-
sprünglich) habe die Nothwendigkeit in einem ganz anderen Sinne verstanden^
so meint er eben damit offenbar die Nothwendigkeit eines Satzes, dass sein
Inhalt so und nicht anders gedacht werden kann, — eine solche Noth-
wendigkeit lehre die Erfahrung nie, denn was sie gibt, kann auch immer
anders gedacht werden. Dieser echten Notwendigkeit habe Kant die unechte
Nothwendigkeit des Nicht-Hinweg-Denken-Könnens untergeschoben,
welche sich doch empirisch erklären lasse. Darin besteht nach Herbarts Ur-
theil Kants Quatemio.
* Ueber diesen Unterschied vgl. oben S. 187 f. In demselben Sinne unter-
scheidet Liebmann, V. f. w. Phil. 1, 205 (An, d. Wirkl. 2. A. 77), die intuitive
Nothwendigkeit des Anschauens von der discursiven Nothwendigkeit des Denkens;
dort handelt es sich um die Unmöglichkeit der Abwesenheit, hier um die Unmög-
lichkeit des Gegentheils. Dieses „zweifache Apriori* behandelt ausführlich Fort-
lage, Z. f. Phü. 1880, Bd. 77, S. 149 ff. Vgl. Volkelt, Ph. Mon. XVI, 355.
202 § 2- I^rittes Raumargument (A).
A 24. [R 35. H 59. E 75.]
Aber auch dagegen gilt wiederum dasselbe, was gegen Herbarts Ein-
wand 3chon oben gesagt wurde: die Bezeichnung des Kantischen Fehlers als
„Quatemio^* ist nicht zutreffend, sondern H. musste von einer falschen Theorie
Kants sprechen, welche eben darin besteht, dass Kant auch die Nothwendig-
keit im Sinne der Nicht-Hinweg-Denkbarkeit als Merkmal der Apriorit&t
betrachtet, womit er allerdings über den Cartesianisch-Leibnizischen Begpriff
des Angeborenen hinausging. (Vgl. Comm. I, 206 Anm.) Was man Kant
aber mit Recht vorwerfen kann, ist, dass er diese beiden Arten der Noth-
wendigkeit nicht gleich in der Einleitung hinreichend geschieden hat. Er
hätte dadurch viele Missverständnisse seiner Lehre von vorneherein unmög-
lich gemacht. Wir begegnen hier also dem alten Fehler Kants, der uns
schon so oft aufgehalten hat — der Verwechslung verschiedener Begriffe.
Insoweit Herbart diese „Verwechslung* rügt, ist also sein Einwand doch
in letzter Linie, auch von dieser Seite aus betrachtet, sachlich vollständig
zutreffend, mag er auch formell zu beanstanden sein.
Drittes Eaumarg^iment (nach A; fehlt in B).
Dieser Passus ist in der 2. Auflage ganz weggelassen worden; an
seine Stelle ist die „Transscendent9.1e Erörterung des Raumes" getreten. Es
ist dies ganz entschieden eine formelle Verbesseining der Gedankenganges.
Denn dieser Absatz steht ja, wie man auf den ersten Blick bemerkt, den vier
anderen keineswegs gleich ; er enthält nichts, was die Raumvorstellung selbst
als solche charakterisirt (was sich schon äusserlich darin zeigt, dass er nicht,
wie die vier anderen, mit den Worten beginnt: »Der Raum ist" u. s. w.);
sondern dieser Absatz enthält die Erklärung einer Thatsache, der Apo-
dicticität der Geometrie, aus der durch die beiden ersten Argumente
festgestellten Theorie der Apriorität des Baumes. Diese Frage durch-
bricht aber den logischen Zusammenhang hier in sehr störender Weise und
so ist es nur zu billigen, dass Kant jene formelle Verbesserung getroffen
hatte. Dazu kommt, was Paulsen, Entw. 168 sagt: „Die 2. Auflage hat
diese Ausführungen in besondere Abschnitte gebracht: mit Recht, denn sie
sind der Nerv der Sache." Wir gehen deshalb auch hier nicht näher
auf den Inhalt dieses Absatzes ein, da die ganze Frage bei der „transscen-
dentalen Erörterung'' ausführlich zur Sprache kommen wird.
Natürlich wird in denjenigen Werken der Kantliteratur, welche
vor dem Erscheinen der 2. Auflage (Mai 1787) gedruckt wurden, dieser
Absatz als ein mit den anderen vier Argumenten coordinirtes directes Ar-
gument behandelt, so z. B. bei Schultz in seinen 1784 erschienenen .Er-
läuterungen'' S. 22 (im Anschluss an ihn auch noch 1805 Lossius in seinem
Lexicon III, 515), sowie bei Feder, Raum und Caussalität 1787, S. 30 ff.,
woselbst dieser , Achilles" der Kantischen Raumbeweise sehr eingehend be-
sprochen wird. Der ganze Woi*tlaut zeigt ja aber, dass es sich hier zunächst
nicht um einen Beweis für die Apriorität des Raumes handelt, sondern
Die logische Doppelf unction des dritten Argumentes (A). 203
[B 35. H 59. E 75.] A 24.
dass im Gegentheil diese schon als bewiesen angenommen wird, um aus ihr
die Apodicticität der Mathematik za erklären. So auch Cohen S. 14 (2. Aufl.
S. 106. 123), Volkelt, Ks. Erk. 196, Anm. Romundt, Ref. d. Phil. 24 f.
Da nun diese Apodicticität der Mathematik für Kant als unumstöss-
lieh es Factum gilt, das auf andere Weise gar nicht erklärbar ist, so kann man
allerdings nun in dieser Erklärung auch einen indirecten Beweis für die
Apriorität der Raum Vorstellung sehen. Insofern erfüllt der Absatz eine
logische Doppelfunction: Zuerst handelt es sich um die Anwendung
einer bisher gewonnenen Theorie zur Erklärung einer Thatsache, und dann
wird diese Thatsache ihrerseits rückwärts als Beweis eben für jene Theorie
angesehen ^ eine ganz natürliche methodologische Wendung. (Vgl. darüber
Band I, 396 Anm. 2.) Auch Pflüger, welcher a. a. 0. 19 — 24 das Argu-
ment ausführlich analysirt, hat diese sowohl progressive als regressive Natur
desselben eingesehen. Schon im zweiten Satze des Argumentes macht Kant
(wie schon Volkelt a. a. 0. gesehen hat) die letztere Wendung, indem er
zeigt, dass, wenn der Raum eine aposteriori erworbene Vorstellung wäre,
wie viele wollen, die apodictische. Natur der Geometrie nicht Statt haben
könnte: also muss eben der Raum eine apriorische Vorstellung sein. (Indirecte
Beweisform.) Wenn man nun das Argument von dieser Seite aus betrachtet als
Beweis fassen will, so gehört es doch nicht in dieselbe Linie mit den anderen
Beweisen ; denn die anderen Beweise gehen von der Natur der Raumvorstellung
selbst aus, während dieser erst von der Natur der Geometrie ausgeht, also
viel v^eiter hergeholt ist, und eben darum hat das Argument auch die Form
eines indirecten Beweises bekommen, während die anderen Beweise direct
sind. Es empfahl sich also in jeder Hinsicht, das Argument hier wegzunehmen.
In der Dissertation § 15 C finden sich dieselben beiden Beispiele,
welche Kant auch hier anführt: Hunc intnÜKtn purum in axiomatibus geo»
metriae et qucUibet constructione postulatorum s. etiam prohUmatum mentali
animadvertere procHve est. Non dari enim in spatio plures, quam tres
dimensiones; inter duo puncto non esse nisi rectam unicam; e dato
in superficie plana puncto cum data recta circulum describere etc. non ex
universali spatii notione concludi, sed in ipso tantum, veluti in concreto
cerni potest." Diese, durch das Postulat der Kreisbeschreibung verstärkten
Beweise erfüllen jedoch in der Dissertation eine andere Beweisfunction als
in der Kritik, in letzterer dienen sie zum Beweis der Apriorität, in ersterer
zum Beweis der Anschaulichkeit des Raumes.
B. Erdmann macht in seinen „Axiomen der Geometrie^ S. 172 darauf
aufmerksam, dass Kant hier nur von den geometrischen Grundsätzen
spricht, deren apodictische Gemässheit sich unmittelbar auf die Apriorität des
Raumes stütze; die einzelnen Lehrsätze der Geometrie dagegen werden
deductiv aus jenen Grundsätzen erst gefolgert und ihre Gültigkeit sei somit
nur eine mittelbare, und diese letztere Meinung findet Erdmann überein-
stimmend mit der auf ganz anderer, auf empiristischer Grundlage aufgebauten
Raumtheorie von v. Helmholtz.
204 8 2. Viertes (B drittes) Raumargument,
A24..B89. [B 35. H 59. E 75.]
YierteB (= 2. Aufl. drittes) Eamnarg^imient.
Auch hier, wie beim ersten und beim zweiten Raumargament, enthält
der erste Satz die zu beweisende These. Die drei folgenden Sätze enthalten
den Beweis oder vielmehr die Beweise. Der fünfte Satz , Hieraus folgt,
dass'' u. s. w. zieht die mit der These übereinstimmende Schlussfolgerung.
Der sechste und letzte Satz gibt eine Anwendung dieser These, welche aber,
wie wir sehen werden, streng genommen nicht in diesen Zusammenhang
hereingehört.
Auch in der Dissertation von 1770 findet sich schon dieses Argu-
ment, in dem Abschnitt B des § 15; Conceptus spath est singtäaris reprae-
sentatio, omnia in se comprehendens , non sub se continena notio äbstradaet
communis, Quae enim dicis spatia plura, non sont nisi ejusdem immensi
spatii partes, certo positu se invicem respicientes, neque pedem ctMeutn eon-
cipere tibi potes, nisi anibienti spatio quaquaversum conierminum*' („ohne ihn
durch den, ihn von allen Seiten umgebenden Raum zu begrenzen" übersetzt
Tieftrunk, Ks. kleine Schriften I, 528). Die These entspricht dem Sinne,
wenn auch nicht dem Wortlaute nach, ganz der Darstellung in der Er. d.
r. V.; und der Beweis der Dissertation enthält die beiden unten folgen-
den Beweisgänge des vierten Argumentes in nuce in sich, und gibt dazn
noch ein Beispiel zur Illustration, das in der Kr. d. r. Y. fehlt.
Dieses Lehrstück ist wohl nicht ohne Einfluss von Lambert ent
standen, der in seinem Brief v. 13. Nov. 1765 an Kant schreibt: .Raum
und Dauer ist kein Oenericum; es ist nämlich nur Ein Raum und Eine
Dauer, so ausgedehnt auch beide sein mögen. '^ Vgl. auch den Brief vom
3. Febr. 1766: ^Einfache Begriffe (wie R. u. Z.) sind individuale Begriffe.*
Viele Parallelstellen zu dieser These finden sich in Kants Nachgel.
Werke, bes. XXI, 558. 564 ff., 570. 586. 587. 589. 590 ff.: die Anschauung
des Raumes ist kein Begriff, keine gemeingültige Vorstellung, die in Vielen
anzutreffen ist, nota i. e, repraesentatio pluribus communis, son-
dern Anschauung, d. i. repraesentatio singularis.
Den Uebergang von dem Bisherigen zum Folgenden macht Kuno
Fischer treffend mit folgenden Worten (2. A. 321): Bisher wurde nach-
gewiesen, dass Raum und Zeit ursprüngliche Vorstellnngen sind, d. h.
apriorische. Aber „Vorstellung ist ein * Wort von weitem umfang. Wir
wissen noch nicht, was für Vorstellungen Raum und Zeit sind? Es gibt ver-
schiedene Vorstellungsarten der menschlichen Vernunft, verschiedene Klassen
von Vorstellungen. In welche dieser Klassen gehören Raum und Zeit?*
In der That, in den zwei ersten Beweisen war (abgesehen von der
ungeschickten Verwendung des Terminus „Begriff" im ersten Argumente
vgl. oben S. 157) nur von der „Vorstellung des Raumes" die Rede, und der
zweite Beweis nennt den Raum ausdrücklich zweimal eine „VorstelLong
a priori •*.
Der Raum ist kein „discursiver* BegriflF. 205
[R 35. H 59. E 75.] A 24. B 89.
Nun wissen wir schon (vgl. oben S. 28), dass „Vorstellung** bei Kant
alle theoretischen Zustände und Acte der Seele überhaupt bezeichnet, und
es bleibt noch fraglich, zu welcher Art der allgemeinen Gattung »Vor-
stellung" der Raum gehöre. Den OberbegrifF „Vorstellung" haben wir, und
zwar specificirt als „Vorstellung a priori", aber es bedarf noch einer ge-
naueren Analyse, um die besondere Art der Vorstellung zu finden. War
also bisher Beweisthema die Apriorität der Raumvorstellung, so ist es jetzt
deren Anschaulichkeit oder Intuitivita t.
Erster Satz: These. Dieser erste Satz stellt nun eine bestimmte
Behauptung darüber auf, zu welcher Art von Vorstellungen der Raum ge-
höre. Die Auswahl ist nun in diesem Fall nicht sehr gross. Es gibt nur
die beiden Hauptarten, welche hier in Betracht kommen können, An-
schauungen und Begriffe. Wir können auch mit K. Fischer (2. A. 321)
sagen: »Vor allem müssen zwei Klassen unterschieden werden. Es kommt
darauf an, was wir vorstellen. Das Vorgestellte kann ein einzelnes Object
sein, oder ein allgemeines. Ein einzelnes Object z. B. ist dieser Mensch,
dieser Stein, diese Pflanze u. s. f.; ein allgemeines Object ist die Gattung
Mensch, Stein, Pflanze u. s. f. Die Vorstellung des einzelnen Dinges ist
Anschauung, die der Gattung ist Begriff." In der Logik Kants heisst es
denn auch sogleich im § 1: »Alle Erkenntnisse, d. h. alle mit Bewusstsein
auf ein Object bezogene Vorstellungen sind entweder Anschauungen oder
Begriffe. Die Anschauung ist eine einzelne Vorstellung (repraesentatio singu-
Zam), der Begriff eine allgemeine (repraesentatio per notas commuties) oder
reflectirte Vorstellung (repraesentatio discursiva). Die Erkenntniss durch
Begriffe heisst das Denken (cognitio discursiva). Der Begriff ist der An-
schauung entgegengesetzt; denn er ist eine allgemeine Vorstellung oder eine
Vorstellung dessen, was mehreren Objecten gemein ist, also eine Vorstellung,
sofern sie in verschiedenen enthalten sein kann." Ebenso heisst es in der
Kritik A 320: „Die Anschauung bezieht sich unmittelbar auf den Gegen-
stand und ist einzeln, der Begriff mittelbar, vermittelst eines Merkmals, was
mehreren Dingen gemeinsam sein kann." Jede dieser beiden Vorstellungs-
klassen hat also ihre besonderen Eigenthümlichkeiten ; und es handelt sich
nun für Kant darum, bei der Raum Vorstellung die charakteristischen Merk-
male der einen oder der anderen Gattung zu finden, um sie einer von Beiden
definitiv zuweisen zu können. Vgl. Steckelmacher, Ks. Logik S. 12.
Vgl. oben S. 3. 24.
Das Resultat dieser Untersuchung anticipirt nun die These, indem sie
sagt: »Der Raum ist kein discursiver Begriff." Meilin II, 130 bemerkt
hiezu: »Es möchte hiebe! vielleicht Jemand denken, dass es folglich wohl
auch Begriffe geben könne, die nicht discursiv sind, allein das ist nicht
möglich. Der Verfasser der Kritik bezeichnet nur eine Eigenschaft des
Begriffs durch das Beiwort discursiv, gerade so wie man sagt: ich bin ein
sterblicher Mensch, ohne dass daraus folgt, dass es auch Menschen gebe, die
nicht sterblich sind." Diese Bemerkung Mellins (cfr. ib. II, 474) kann richtig
206 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
Aa4.B39. [B 35. H 59. E 75.]
sein, braucht das aber keineswegs. Denn Kant verwendet ja, wie wir oben
S. 156 ff. sahen, den Ausdruck , Begrifft auch in weiterem Sinn; nnd so legt
Schmid in seinem Wörterbuch S. 98 ^Begriff" im weitesten Sinn aus =
,jedes Product der Thätigkeit des Vorstellungsvermögens, wodurch ein
Mannigfaltiges Einheit bekommt", und davon unterscheidet er erst dann den
adiscursiven Begriff* im engeren Sinne.
In Uebereinstimmung mit der zeitgenössischen und auch heute noch
gebräuchlichen Terminologie gibt Kant dem begrifflichen Denken die Bezeich-
nung der discursiven Erkenntniss im Unterschied von der intuitiven.
Diesen Unterschied trafen wir schon in der Vorrede All; vgl. Commentar I,
186. Wir treffen ihn wieder am Anfang der Analytik A 68, sowie in der
Methodenlehre A 734. Der Unterschiod, der auch in der Dissertation von
1770 erwähnt ist, ist am ausführlichsten entwickelt in der Logik, Einl. V,
Vni, sowie § 1 ff. Vgl. auch die Abhandlung über den „Vornehmen Ton**
u. 8. w. Ros. I, 621; Kr. d. pr. Vern. R. VIII, 280. Kr. d. Urth. § 77,
§ 91 (Anhang). Proleg. § 46, § 57. (Ueber den Sinn des Ausdruckes
„discui'siv** vgl. Mellin II, 130 ff.; Schmid, Wörterbuch 98; Krug, Lex.
Suppl. I, 296; Schulze, Krit. d. theor. Philos. II, 207; Hauptmomente S. 88 f.)
Kant zieht den Ausdruck „discursiver Begriff '^ dem Ausdruck «all-
gemeiner Begriff** vor. Dies nämlich will die etwas eigenthümliche Wendung
sagen : „ discursiver oder wie man sagt, allgemeiner Begriff* (bei der Zeit
heisst es: ^oder wie man ihn nennt*). Schon Mellin 11, 130 hat dies
richtig gesehen. Eine Stelle in Kant, Logik § 1 klärt uns auf; da heisst
es: 9 Es ist eine blosse Tautologie, von allgemeinen oder gemeinsamen
Begriffen zu reden — ein Fehler, der sich auf eine unrichtige Eintheilnng
der Begriffe in allgemeine, besondere und einzelne gründet. Nicht die Be-
griffe selbst — nur ihr Gebrauch kann so eingetheilt werden.* Indessen ist
doch nach den obigen Ausführungen der Ausdruck „discursiver Begriff' auch
eine Tautologie, so dass diese Antipathie Kants keinen rechten Sinn hat.
Dazu kommt, dass Kant sich sonst gar nicht genirt, die Verbindung «all-
gemeiner Begriff* zu gebrauchen, so wenig, dass er am Ende dieses selben
Absatzes selbst davon spricht, die geometrischen Grundsätze werden nicht
aus „allgemeinen Begriffen von Linie und Triangel* abgeleitet. Vgl. hiezn
auch Grapengiesser, Raum und Zeit S. 71. Bratuschek in den Philos.
Monatsh. V, 311, und besonders auch Krugs Logik S. 82 f. u. Steckel-
macher, Ks. Logik S. 12, der auch auf die Stellen A 280 und B 134 N.
aufmerksam macht, wo Kant von „allgemeinen* und ^gemeinsamen* Be-
griffen spricht. Doch ist in der ersten Stelle , allgemein* im Gegensatz zu
„besonderer Begriff* so viel wie höherer und niederer; vgl. B. Erdmann, Gott.
Gel. Anz. 1880, S. 612. Uebrigens sagt Kant auch in der Deduction A 106:
„Der Begriff ist seiner Form nach jederzeit etwas allgemeines und was zur
Regel dient.*
Als das Allgemeine, das den Inhalt der Raumvorstellung ausmachen
müsste, wenn diese ein Begriff wäre, wird von Kant angegeben: »Verhält-
Ob nach Kant alle Begriffe «Gattungsbegriffe'' seien? 207
[B 36. H 69. E 76.] A 24. B 89.
nisse der Dinge überhaupt''. Einen wunderlichen Tiefsinn legt Cohen
(1. A. 28; 2. A. 119. 122. 128) in dieses „überhaupt" hinein: ,Man weiss
jetzt bereits, dass in diesem Ausdruck das überhaupt einen strengen Sinn
hat, der sich schärfer bestimmen wird bei der Lehre von den Kategorien. '^
Dieses „überhaupt'' ist hier natürlich ein ganz unschuldiger, neutraler Aus-
druck, aber beachtenswerth ist, dass Kant in dem Beweise selbst diese
Ad sieht eigentlich nicht widerlegt, denn von den Verhältnissen der Dinge
ist nachher gar nicht mehr die Bede. Der scharfsinnige. Schulze in seiner
Kritik d. theor. Philos. I, 208 sucht auf eigene Faust zwischen dieser These
Tuid dem wirklichen Beweis folgenden Zusammenhang herzustellen: „Der
Baum kann keine allgemeine Vorstellung von Verhältnissen der Dinge
überhaupt sein; denn nach unserer (nach Kants) Vorstellung von ihm ist
er ein einzelnes, von allen anderen Objecten unabhängiges Ding.' Vgl.
dazu ib. II, 207 ff. Vgl. auch Wolff, Spec. u. Phil. I, 189. Was aber
Kant damit meint, geht aus mehreren Parallelstellen hervor. Besonders
deutlich ist die Stelle unten A 89 f. : „Wenn ihnen Baum und Zeit als von
der Erfahrung abstrahirte, obzwar in der Absonderung verworren vorgestellte
Verhältnisse der Erscheinungen neben oder nacheinander gelten, so
sind die Begriffe a priori von Baum und Zeit dieser Meinung nach nur Ge-
schöpfe der Einbildungskraft, deren Quell wirklich in der Erfahrung gesucht
werden muss, aus deren abstrahirten Verhältnissen die Einbildung
etwas gemacht hat, was das Allgemeine derselben enthält.'' \
An Stelle des Ausdruckes „allgemeiner Begriff, den Kant selbst
gebraucht, setzt K. Fischer den Terminus „Gattungsbegriff (2. A.
8. 316. 821 ff., 8. A. S. 881 ff.). Gegen diese Vertauschung der beiden
Ausdrücke hat nun Trendelenburg heftigen Protest erhoben (Beitr. 252 ff.,
Entgegnung 16 ff. 24 ff.). Darüber entstand nun ein von beiden Parteien
mit ungemeiner Erbitterung geführter Streit, welcher um so mehr den Ein-
druck der Sonderbarkeit macht, als es sich in Wirklichkeit um einen
ganz nebensächlichen Punkt drehte. Kuno Fischer hatte offenbar ur-
sprünglich jenen vielumstrittenen Ausdruck ganz harmlos gebraucht in Ueber-
einstimmung mit 'vielen Logikern, welche zwischen Begriff, Allgemein-
begriff, Gattungsbegriff keinen oder keinen scharfen Unterschied
machen. (Vgl. K. Fischer, Logik und Metaphysik, 2. A. S. 6. 9. 10.)
Trendelenburg, welcher an anderen Punkten seines Angriffes glücklicher
war, eröffnete nun gegen diesen Ausdruck ein gänzlich wirkungsloses Feuer.
Sein Haupteinwand bestand in der Berufung auf Kants Logik, woselbst es
im § 10 heisst: „Der höhere Begriff heisst in Bücksicht seiner niederen
Gattung; der niedere in Ansehung seiner höheren Art"; und daraus zog
er den an sich allerdings berechtigten Schluss, dass nach dieser Stelle
Gattungsbegriffe nur solche Begriffe heissen sollten, welche noch Arten
^ Wie man auch aus dieser Stelle sieht, wendet sich der Satz gegen
Leibniz. Vgl. Cohen, 2. Aufl. 110 ff., und Caird, Cnt. Phil. I, 290.
208 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 24. B 89. [R 36. H 59. E 75.]
unter sich haben, nicht aber solche, welche nur noch Individuen unter
sich haben. In diese Stelle verbiss sich nun auch Fischer in seiner Duplik
S. 6 ff. und suchte durch allerlei Auslegungskünste zu beweisen, dass auch
trotz ihr oder vielmehr nach ihr im Sinne Kants jeder Begriff ein Grattnngs-
begriff sei. Vgl. dazu ib. S. 30. 58. In der Literatur dieses damals so
berühmten Streites wurde dieser Punkt dann noch Öfters behandelt, aber
nirgends richtig: vgl. Bratuschek 310 f.; Schlötel 87; Cohen 277 ff. 279.
282. 285; Quäbiker 412 f.; Michelis 154 ff. 162. 163; Grapengiesser
71 ff.; Michelet 72; Prantl in Lit. Centr. Bl. 1870, N. 18. In dem ganzen
Streite wurde von Anfang an übersehen, dass der Ausdruck , Gattung' und
^Gattungsbegriff^ bald in einem weiteren, bald in einem engeren Sinn ge-
braucht wird: im weiteren Sinne versteht man unter Gattung überhaupt
das Allgemeine im Gegensatz zum Einzelnen, im engeren Sinne versteht
man unter Gattung nur den Gegensatz zur Art. Das ergibt sich bei ruhiger
Betrachtung der Streitacten bald, und das hätten die Streitenden ja auch
schon in jedem ordentlichen Lehrbuche der Logik finden können, z. B. bei
Ueberweg § 58. Noch deutlicher und schärfer als dieser hat schon der
alte Krug diesen wichtigen Unterschied entwickelt, sowohl in seinem gHand*
buch der Philosophie' I, § 141, als in seinem Lesicon II, 226. Offenbar
hatte Fischer den Ausdruck , Gattungsbegriff' ursprünglich im weiteren,
laxeren Sinne gebraucht, während sich der Einwand von Trendelenbnrg
nur auf die Gattungsbegriffe im engeren Sinne bezog, wie er sogar selbst
andeutet, indem er in den Beiträgen S. 254 sagt: ^wenn anders die Gattungen
im eigentlichen Sinne genommen werden'. (Vgl. dazu dessen Logische
Untersuchungen, 2. A. II, 228.) In diesem eigentlichen engeren Sbne
spricht auch Kant in seiner Logik § 9, worauf sich Trendelenburg berufen
hatte, von der , Gattung^. Es bedurfte aber gar nicht der Berufung auf
Kants Logik; denn auch schon in der Kritik der r. V. selbst entwickelt
Kant dasselbe und noch viel ausführlicher, nämlich in dem , Anhang znr
transscen dentalen Dialektik' A 650 ff. Uebrigens gebraucht K. daselbst aach
den Ausdruck „Gattung' gelegentlich im weiteren Sinne, ganz identisch
mit dem „Allgemeinen' überhaupt; ja er scheint einmal (A 653) den gBe-
griff der Gattung' und den „allgemeinen Begriff' ausdrücklich zu identi*
üciren. Aber auch wenn er das nicht thun würde, so würde das der Be-
rechtigung der Verwendung des Ausdruckes seitens Fischers in unserem
Zusammenhange keinen Abbruch thun, da eben hier von ihm deutlich rail-
gemeiner Begriff' und „Gattungsbegriff" terminologisch gleichgesetzt werden,
was dem logischen Sprachgebrauche nach immerhin erlaubt ist. Es ist daher
nicht zu tadeln, wenn Fischer in der dritten Auflage sich des mit Unrecht
angegriffenen Ausdruckes wieder ungenirt bedient: der Raum ist kein
Gattungsbegriff. (Weiteres hierüber noch unten beim letzten Baum-
argument.) — Vgl. auch A, Schmid, Ks. Lehre v. Raum, 13 f. 16.
Während sich dieser eben erwähnte Streit auf einen eigentlich ganz
irrelevanten Punkt bezog, ist eine damit verknüpfte Streitfrage viel wich-
Ob nach Kant alle Begriffe «abstrahirf seien? 209
[B 85. H 69. K 75.] A 24. B 39.
tiger. Fischer hatte, 2. A. S. 321 ff., bei den Gattungsbegriffen, von denen
er sprach, die Bestimmung hinzugefügt, dass dieselben von den £inzeldingen
abstrahirt seien: „Wäre der Baum ein Grattungsbegriff, so müsste er
abstrahirt sein von den yerschiedenen Bäumen, wie der Begriff Mensch
abstrahirt ist von den verschiedenen Menschen' (ib. S. 325. Diese Dar-
stellung kehrt wieder in der 3. A. S. 331 f.). Hiegegen wendet sich Tren-
delenburg in den Beiträgen S. 252f.: „Kant würde nie anerkennen, was
doch als kantisch gegeben wird: denn Kant weiss wohl, dass es Gattungs-
begriffe gibt, die nicht abstrahirt sind.** Diesen Einwand wiederholt
dann Trendelenburg in seiner Entgegnung S. 18 f. 24 f. und bringt „Beispiele
des Gegentheils' herbei: erstens die mathematischen Grössenbegriffe:
„die mathematischen Begriffe sind Begriffe aus Construction, nicht aus Ab-
straction'; zweitens die Kategorien: „kein Stammbegriff des Verstandes
ist abstrahirt, er ist a priori'. Gegen diese Einwände wehrt sich Fischer
in seiner Duplik, S. 12—23. 66—68. (Vgl. dazu Bratuschek 312 ff.;
Quäbiker 412 ff.; Grapengiesser 73 f.; Michelis 166 ff. 159 ff.;
Cohen 282 ff. 287 ff.; Michelet 73; Schlötel 85 f.; Prantl, Lit.
Centr. Bl. 1870 , N. 13.) Fischers Berufung auf Kants Logik § 6, wo K.
allerdings sagt: „zu jedem Begriffe gehöre Abstraction^, ist insofern formell
ungerechtfertigt, da Kant daselbst den Terminus „abstrahiren^ in einem
ganz anderen Sinne nimmt, wie Fischer. Aber sachlich ist die Berufung
auf jene Stelle doch richtig, da nach Kant zu jedem Begriffe vor allem
gehört „Komparation und Beflexion'^, was mit der Abstraction im Fischer'schen
Sinne zusammenfällt. Und auch im Einzelnen operirt Fischer mit Glück,
indem er nachweist, dass „Grössengattungsbegriffe als Grössen construirt
werden, aber als Gattungsbegriffe absti'ahirt werden müssen'. Auch
bezüglich der Kategorien weist Fischer den Geg[ner siegreich zurück: denn
Kant hat ausdrücklich in seiner Logik § 5 behauptet, dass alle Begriffe,
wenn logisch genommen, ganz abgesehen von ihrem psychologisch-erkennt-
nisstheoretischen Ursprung, durch Beflexion auf mehrere Einzelobjecte ent-
stehen; und dass dies auch von den Kategorien gilt, hat Fischer (S. 19
seiner Duplik) geschickt nachgewiesen. (Vgl. dazu auch Steckelmacher,
£[s. Logik S. 13 und dagegen B. Erdmann in den Gott. Gel. Anz. 1880,
S. 631.) Er zeigt, dass Kant zweierlei wohl unterscheide: 1) den Ursprung
einer Vorstellung, als Vorstellung ihrem Inhalt nach, im erkenntnisstheo-»
retischen Sinne; 2) den Ursprung des Begriffes, welcher jenen Vorstellungs-
inhalt in begriffliche Form bringt im logischen Sinne. (In ersterer Hinsicht
seien nun die Kategorien apriorischen Ursprungs, in zweiter Hinsicht
seien ihre Begriffe von den Einzel Vorstellungen abstrahirt.) Es mag ja
fraglich sein, ob es Kant selbst, sowie auch Fischer wirklich gelungen sei,
diesen Unterschied streng und consequent durchzuführen; jedenfalls hat
Kant jenen Unterschied gemacht.
Dieser wichtige Unterschied wirft nun ein helles Licht auch auf das
Yerhältniss der einzelnen Raumargumente. Offenbar hat Kant in den beiden
Yaihinger, Kant-Commentar. U. 14
210 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A ^. B 89. [B 35. H 59. E 75.]
ersten Argumenten den erkenntnisstheoretischen Ursprung der
Raumvorstellung erörtert, und die Frage dahin beantwortet: Die Baumvor-
Stellung hat ihren letzten Ursprung im menschlichen Subjecte selbst, nicht
in den von aussen in dasselbe eindringenden Eindrücken. Aber in den
beiden letzten Argumenten wird nur der logische Werth der Raumvor-
Stellung erörtert: ist dieselbe Anschaung oder Begriff? Hat sie die logischen
Eigenschaften der Anschauung oder des Begriffes? Und Kant beantwortet
die Frage dahin, dass er die Raumvorstellung aus dem Gebiete der Begriffe
hinausweist und in das Gebiet der Anschauungen versetzt. —
Mit dieser eben behandelten Controverse war nun noch eine weitere
Streitfrage verknüpft. Trendelenburg (Entgegnung S. 24 f.) wollte die Aus-
drucksweise Fischers, „alle Gattungsbegriffe seien abstrahirt ans den
vielen Einzelobjecten'^, deshalb vor allem nicht zulassen, weil dies nicht
auf die Kategorien passe. Nun sei es aber doch „Kants wesentliche,
vorzüglichste Absicht^ gewesen, die Anschauungen des Raumes von den
Kategorien, den Stammbegriffen des Verstandes, zu scheiden. Da nun jene
Fischer'sche Schilderung der Begriffe auf die Kategorien nicht passe, so werde
auch damit diese Absicht Kants verfehlt, die Vorstellung des Raumes als
apriorische Anschauung von den Vorstellungen der Kategorien als aprio-
rischen Begriffen zu scheiden. Man müsse also die Schilderung der Be-
griffe so geben, dass sie auch auf die Kategorien passe; das sei aber, ans
dem angegebenen Grunde, mit der Fischer'sohen Schilderung derselben nicht
der Fall. Nachdem diese letztere Streitfrage sich zu Gunsten Fischers ent-
schieden hat, erhebt sich nun die Frage, ob es denn in der That auch richtig
sei, dass Kant hier die Raumanschauung von den kategorialen Begriffen in
erster Linie habe unterscheiden wollen. Im Texte selbst ist diese Absiebt
von Kant jedenfalls mit keinem Worte angedeutet, um so weniger, als ja
Kant an dieser Stelle, in der Aesthetik, die Kategorien nicht voraussetzen
kann, deren Existenz er erst in der Analytik erweist. Dies wendet auch
Fischer, Duplik S. 22, mit Recht ein und bemerkt: ;,In der Kantischen
Lehre von Raum und Zeit ist von den Kategorien als solchen nirgends die
Rede, sondern von den Begriffen überhaupt. Unter diese fallen auch die
Kategorien; sie sind, logisch genommen, allgemeine oder abstracte Begriffe,
wie alle übrigen." Auch in diesem Punkte können wir nicht umhin, Fischer
Recht zu geben. (Vgl. hiezu Bratuschek 815 f.; Grapengiesser 75;
Cohen 287 ff ; Adickes 74 N.)
Allerdings stellte sich Kant auch die Aufgabe, Raum und Zeit als
Anschauungen a priori von den Begriffen a priori zu scheiden. £r
selbst betont diese Scheidung als sein Verdienst A 81 gegenüber Aristoteles,
welcher Beides vermischt habe ; und sagt ausdrücklich in den Proleg, § 39:
„Es gelang mir erst nach langem Nachdenken, die reinen Elementarbegriffe
[vgl. hiezu oben S. 158] der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, von denen des
Verstandes mit Zuverlässigkeit zu unterscheiden und abzusondern.' Zn
dieser Sonderung hat gewiss auch dieses vierte Raumargument (nebst dem
Der Raum als repraeseniatio Singular is. 211
[B 35. H 59. E 75.] A 25. B 89.
folgenden fünften) sein Theil beizutragen ; aber noch wichtiger dafür ist die
Transscendentale Erörterung und die Erkenntniss der synthetischen Beschaffen-
heit der anschaulich zu construirenden mathematischen ürtheile. Gewiss
wollte Kant diese Sonderung durchführen gegenüber der Vermischung Beider
bei Aristoteles und wohl auch bei Lambert, aber hier an dieser Stelle
handelt es sich ihm in erster Linie darum, die Haumvorstellung als eine
Anschauung zu charakterisiren gegenüber der Leibniz'schen Lehre (wie
sie wenigstens Kant auffasste), welche die mathematischen Erkenntnisse auf
blosse Begriffsanalysen reducirte und damit auch die Raumvorstellung
als blossen Begriff fasste. —
Noch ein Ausdruck spielte endlich in dem Fischer-Trendelen-
burg'schen Streite eine Rolle. Fischer hatte sich (2. A. S. 322) die Wen-
dung entschlüpfen lassen: «Raum und Zeit sind Anschauungen, weil sie
Einzelvorstellungen, nicht Collectiv- sondern Singularbegriffe sind."
Diesen Ausdruck griff nun Trendelenburg, Beiträge S. 255, diesmal mit Recht,
als missverständlich an. Kuno Fischer berief sich dagegen auf die Ausdrücke
der lateinisch geschriebenen Dissertation, in der allerdings einmal (§ 15, c)
der Baum ein „concepUts singularis^ genannt wird; dass aber die Ueber-
setznng dieser Ausdrücke fraglich sei (wie denn auch factisch die vorhan-
denen üebersetzungen von Tieftrunk, Kirchmann u. A. schwanken), bemerkte
Trendelenburg mit Recht in seiner Entgegnung S. 29, und Fischers Ant-
wort in seiner Duplik S. 57 drehte sich nur um Worte. (Vgl. dazu B r a-
tusehek 330 f.; Grapengiesser S. 77, Michelet S. 73; Schlötel
S. 86 f.) Fischer hat daher Recht daran gethan, in der neuen Auflage den
ominösen Ausdruck ,Singularbegriff^ wegzulassen; dagegen hat er mit
Recht den Ausdruck „Einzelvorstellung^ für Anschauung beibehalten,
welchen Trendelenburg in seinem üebereifer ganz mit Unrecht ebenfalls an-
gezweifelt hatte. Uebrigens war auch der Ausdruck » Singularbegriff* bei
dem schwankenden Kantischen Sprachgebrauch nicht so schlimm; sagt doch
Kant selbst in den Reflexionen II, N. 834: „der Raum ist kein allgemeiner,
sondern einzelner Begriff." Vgl. oben 155 — 158. 204.
Zweiter Satc: Einzigkeit des Baumes. Der Sinn dieses Satzes ist
offenbar: Der Baum ist etwas Einziges, ein Unicum: es gibt nur einen
einzigen Raum, nicht mehrere. Wegen dieser Einzigkeit des Raumes, seiner
Singularität, seiner Natur als Individuum kann die sich auf ihn beziehende
Vorstellung eben nur eine Anschauung, eine „singularis repraeseniatio^^ .
(Dissert. § 15 B) sein, nicht etwa ein Begriff; denn ein Begriff bezieht sich
ja immer auf mehrere Objecte, die noch dazu, wie Bendavid, Vorles. S. 14 richtig
bemerkt, meistens unter einander qualitativ ^in etwas verschieden* sind;
hier haben wir aber nur ein einziges , zudem in sich ganz gleichartiges
Object. Ein Einziges kann eben aus diesem Grunde nur Gegenstand der
auf das Einzelne gehenden Anscbauungsthätigkeit sein. Dass der Satz
diesen Sinn haben muss, dass insbesondere das Wort „einig* hier den Sinn
von , einzig* haben muss, das erhellt ja auch aus dem parallelen Zeitargument:
212 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 89. [B 35. H 59. E 75.]
„die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden
kann, ist Anschauung.^ Und in der Dissertation § 15 E heisst es: „spaHurn
per essentiam non est nisi u nie um, omnia omnino externa senaibäia com-
plectens,*^ Auch in dem Nachgel. Werke XX, 110 wird der Baum .einzig in
seiner Art" genannt. Einmal heisst es daselbst (XXI 586): ,Das Unend-
liche ist einzeln.''
Aber hiegegen kann man einen naheliegenden Einwand machen, welcher
bei Kant denn auch als Selbsteinwand gemacht wird. Der Einwand
lautet: Man spricht aber doch von vielen Bäumen, von diesem und von jenem
Baum ; es gibt also doch nicht bloss einen einzigen Baum. Ist nun nicht
doch die Baumvorstellung ein allgemeiner Begriff, der das Gemeinsame dieser
verschiedenen Bäume zusammenfasst? Sind diese vielen einzelnen Bäume
nicht etwa die mehreren Arten der Gattung Baum oder die vielen Exem-
plare desselben, wie ja der Begriff „Mensch" viele einzelne Menschen und
mehrere Menschenrassen unter sich befasst?
All dieses verneint Kant. Vielmehr ist der Baum ein Einzelnes (wie
etwa ein einzelner Mensch) und jene vielen Bäume sind nur Theilstücke
dieses Einen Baumes. Es gibt nur diesen Einen Baum, nicht mehrere. Es
ist nicht so, als ob die Baumvorstellung als abstracter Gattungsbegriff sich
wiederfände an mehreren Bäumen in concreto, so wie der Begriff „Mensch*
an vielen Menschenrassen und Menschen in concreto. (Vgl. dazu M ellin.
II, 474.) Ein Begriff ist ja ein Zusammen gewisser abstracter Merkmale,
die sich an vielen Einzeldingen jedesmal finden, weshalb durch den Begnf
diese einzelnen Gegenstände begrifflich gedacht werden. Aber der Baum
ist ja selbst eine concrete Vorstellung, eine unmittelbare Anschauung, and
dient nicht dazu, als Allgemeinbegriff sich an verschiedenen Bäumen finden
zu lassen , sondern diese Bäume sind nur Stücke jener individuellen , aber
universalen Baumanschauung. Die Einzelräume sind dem allgemeinen
Einen Baume nicht als einem Begriffe subordinirt, sondern als einer An-
schauung inordinirt. Es handelt sich dabei um ein Worin, nicht um ein
Worunter.
Sehr treffend spricht Kant diesen Gegensatz in seinem Nachgel. Werke
XXI, 587 ff. so aus: Die unbeschränkte Grösse der Baumanschauung ist nicht
Allgemeinheit (universalitaSf d. h . omnitudo conceptus), sondern die All-
heit (universitas, d. h. omnitudo complexus). Beides unterscheidet Kant auch
(a. a. 0. 592) als ,,discursive und intuitive AUgemeinheit". Vgl. auch a. a. 0.
561. 570. 60S. Dazu XIX, 302: „Die discursive Allgemeinheit (Einheit in
Vielem) ist von der intuitiven (Vieles in Einem) zu unterscheiden.'
Allerdings spricht Kant einmal gleich unten, A29, von den ^Arten
des Baumes'', so dass es scheint, als wäre Baum ihm doch ein Gattungs-
begriff; allein wir können zu Gunsten Kants annehmen, er habe damit sagen
wollen, jene verschiedenen, aus dem allgemeinen Baum herausgeschnittenen
Theile des Baumes (die er daselbst auch „Bestimmungen des Baumes* nennt),
seien wieder untereinander, je nach ihrer Form, in verschiedene Gruppen
Man kann sich nur einen ^ einigen* Raum vorstellen. 213
[B 35. H 59. E 75.] A »S. B 89.
einzTxtheilen. Jedenfalls gibt Tiedemann in den Hessischen Beitr&gen 1785,
S. 125, Kants Sinn richtig wieder, wenn er sagt: ,Es gibt keine specifisch
verschiedenen Bänme ; jeder besondere Raum ist Baum überhaupt/ Schütz,
A. L. Z. 1785 in, 53 erläutert: „Unter dem allgemeinen BegriflF der Farbe
sind viele Farben enthalten; nicht aber sind diese bloss Theile einer
wesentlich einzigen Farbe.*
Eine erklärende Weiterbildung dieses Argumentes bei Lotze, Mikrok.
m, 494 ff. (vgl. Metaphysik, S. 197-199, Grundzüge d. Met. § 50). L. geht
aus von dem allgemeinen Gesetz des räumlichen Nebeneinander. Man kann
dies verschieden ausdrücken, etwa so, „dass jeder Punkt von jedem andern aus
durch eine und nur durch eine gerade Linie erreicht werden könne* u. s. w. Der
logischen Form nach ist dieser Ausdruck ein allgemeines Gesetz; die
Eigenthümlichkeit seines- Inhalts unterscheidet ihn jedoch wesentlich von
dem Bildungsgesetz, welches jeder Allgemeinbegriff seinen besonderen Bei-
spielen vorschreibt. Der Allgemeinbegriff verlangt nur, dass jedes seiner
Exemplare für sich genommen eine bestimmte Gruppe von Merkmalen
in bestimmter Weise verknüpft enthalte ; er ordnet die einzelnen Beispiele
sich selbst, dem Allgemeinbegriff unter, stiftet aber keine Verbindung
zwischen ihnen. Dagegen das Gesetz des Nebeneinander bringt seine ver-
schiedenen Fälle in gegenseitige Verknüpfung. Denn jenes Gesetz stiftet ein
Netz von Beziehungen aller Punkte. Es verknüpft seine einzelnen An-
wendungsfälle zu einem Ganzen; es gestattet keinen isolirten Fall u. s. w.
Dadurch werde der Baum zu einem „Bilde ** und darauf beruht es, dass wir
fiir ihn den Namen einer Anschauung (und zwar einer unendlichen) statt
der ein wesentlich anderes Verhalten bezeichnenden Benennung eines
Begriffes vorziehen.
Dass die so entstandene Einzigkeit der Baumvorstellung das nicht
beweise, was K. darin findet, fuhrt aber gegen K. treffend aus Biehl, Krit.
II, a, 106. 186: „B. u. Z. sind einzig in ihrer Art, weil sie Grössenbegriffe
sind. Wo immer das Bewusstsein gleichartige Elemente zur Einheit
eines Begriffes verbunden denkt, muss dieser Begriff als wesentlich einziger
gedacht werden. In der That Hesse sich die nämliche Eigenschaft mit den
nämlichen Worten, die K. gebrauchte, auch von den Begriffen der Materie,
der Kraft, ja der Eealität überhaupt beweisen, wie Her hart zeigt (W. W.
V, 510). Die Einzigkeit dieser Vorstellungen ist nichts als der Beflex der
Einheit des Bewusstseins in ihrer synthetischen Erzeugung.'' Vgl. auch
Trendelenburg, Log. Unters. 2. A. 163: dagegen Cohen 2. A. 127.
Man kann Kants These noch erweitern und schliesslich noch pointirter
auch folgendermassen ausdrücken, wie das Kuno Fischer (2. Aufl. 328 ff.,
3. Aufl. 337 ff., vgl. auch Zeller, Deutsche Philos. 428) gethan hat: „Sollen
diese Vorstellungen (Baum und Zeit) Gattungsbegriffe sein, so muss sich der
Baum zu den verschiedenen Bäumen verhalten, wie der Gattungsbegriff
Mensch zu den verschiedenen Menschen arten und Individuen ; dann muss der
Baum das gemeinsame Merkmal aller verschiedenen Bäume sein;" „so müssten
214 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 89. [B 36. H 59. E 75.]
die Räume dem Räume untergeordnet sein, wie die Arten der Gattung, so
müsste der Raum sie unter sich begreifen, während er sie doch in sich
begreift/' „Der Gattungsbegriff Mensch enthält die verschiedenen Menschen-
arten und Individuen nicht in sich, sondern unter sich. Mit Raum und Zeit
verhält es sich umgekehrt; sie begreifen die Räume und Zeiten, so viele
deren sind, nicht unter sich, sondern in sich; daher sind sie keine Begriffe."
Dies alles sagt zwar Kant nicht ausdrücklich hier ; es ist aber in Kants Sinn
gesagt. Auch hat Kant in der Dissertation (vgl. die oben S. 204 mitgetheilte
Stelle) diese scharf pointirte Darstellung selbst gegeben, indem er sagt:
„c<mceptt*8 spatii est singularis repraeaentatio omnia in se campreJiendens, nan
8ub se eantinens notio ahstrada ei communis" Vgl. ib. § 12: Intuituspurus
(humanus) non est conceptus universalis s. logicus, sub quo, sed singularis,
in quo sensibilia quaelibet cogitantur. Wunderlicherweise hat Kant diese glück-
liche Wendung in der Kr. d. r. V. weggelassen. In der zweiten Auflage
derselben hat Kant allerdings im fünften Argument dies Verhältniss besprochen,
aber wie wir unten S. 240 f. sehen werden, in einem ganz anderen Sinne; es
ist daher ganz falsch, wenn Kuno Fischer sich für jene seine Darstellung
auf dies fünfte Argument beruft, das er irriger- und ungenauerweise mit
dem vierten vermischt.
Der Vollständigkeit halber muss hier folgende Bemerkung eingeschoben
werden. Ursprünglich hatte K. Fischer in diesem Zusammenhange das Ter-
hältniss des Gattungsbegriffes zu dem Einzelnen illustrirt durch die Erinne-
rung an das Verhältniss von Nenner und Zähler. Diesen Vergleich griff
Trendelenburg an, Beitr. 253 ff.; Fischer replicirte darauf in seinem
Kant 2. Aufl. S. 822. Dagegen dann wieder Trend eleu bürg in seiner
Entgegnung S. 21 ff. 26; dann wieder Fischer in seiner Duplik S. 28;
dazu Bratuschek 317 f.; Grapengiesser 74; Michelis 168 f. Da
Fischer in der 3. Auflage den unglücklichen Vergleich selbst aufgegeben hat,
sind wir eines näheren Eingehens darauf überhoben.
Bei K. Fischer findet sich noch eine fernere Erweiterung der Kanti-
sehen Gedankenreihe, welche zwar bei Kant selbst nicht einmal angedeutet
ist, die aber doch wohl im Sinne Kants ausgesponnen ist (2. Aufl. 321 f.:
8. Aufi. 331): Der allgemeine Raum verhält sich den einzelnen Räumen
gegenüber nicht als der an Inhalt ärmere, wie das bei einem Allgemeinb^riff
gegenüber den ihm untergeordneten Arten und Exemplaren regelmässig der
Fall ist, vielmehr hat der Raum überhaupt ganz genau denselben reichen
Inhalt, wie der einzelne bestimmte Raumtheil. Der Raum ist also nicht in
den Einzelräumen als deren allgemeines Merkmal so enthalten, dass diese
als specifische Arten, als Exemplare noch einige individualisirende Merkmale
dazu hätten, also an Inhalt reicher wären.
Mit diesem Gedankengang ist nun noch ein anderer bei Fischer
verquickt, welchen — offenbar im Anschluss an ihn — Holder in seiner
Darstellung S. 11 kurz und scharf so wiedergibt: „Jeder Begriff setzt eine
Mannigfaltigkeit von Einzelvorstellungen voraus, von welcher er abstrahirt
Einzigkeit und Einheitlichkeit der Raumvorstellung. 215
[R 36. H 59. 60. E 75.] A 25. B 39.
ist, und in welchen er als Theil [Fischer sagt: als Theil Vorstellung] sich
vorfindet. Banm und Zeit dagegen bilden je eine ursprüngliche Einheit, in
welcher erst die einzelnen Bäume und Zeiten als Theile derselben vorgestellt
werden.*' Während nun Holder ausdrücklich bemerkt, dass er damit den
Sinn gerade dieses Argumentes wiedergeben wolle, bezieht Fischer selbst
(3. Aufl. 332. 833) diese Darstellung bald auf dieses, bald auf das nächste
Argument. Bei Fischer selbst heisst es (3. Aufl. 331): „Die abstracten
Begriffe sind Theilvorstellungen der Anschauung ; sie sind in der Anschauung
enthalten.'' Ist der Baum ein Gattungsbegriff, „dann muss der Baum das
gemeinsame Merkmal aller verschiedenen Bäume sein, also eine Theilvor-
stellung derselben bilden. Aber die Sache steht umgekehrt. Der Baum ist
nicht in den Bäumen, so viele ihrer sind, enthalten, sondern diese in ihm.''
Man sieht auf den ersten Blick, dass diese an sich niedliche Antithese im
Kantischen Texte sich nicht findet, sondern eine allerdings nicht gerade un-
kantisohe Erweiterung desselben darstellt, die aber jedenfalls nicht auf Kants
eigene Bechnung geschrieben werden darf. Ob diese Darstellung sich im
fünften Argumente findet, wie Fischer auch will, darüber s. unten S. 248.
Eine damit nahe verwandte Darstellung findet sich nun schon bei
einigen älteren Commentatoren, so bei Jacob in seiner Gegenschrift gegen
Mendelssohn S. 23; bei Kiese wett er in seinem Versuch S. 28; bei Schau-
mann S. 45; bei Schmid, Wörterbuch S. 56, sowie bei Eberstein, Gesch. d.
Logik U, 10; am besten ist dieselbe von dem anonymen Verfasser der
„Hauptmomente" S. 89 so wiedergegeben worden : „Allgemeine oder discursive
Begriffe werden in jeglichem besonderen Gegenstande ganz und gar wieder
angetroffen. . . . Hingegen das Einzelne passt nicht mit allem seinem
Mannigfaltigen in den allgemeinen Begriff hinein. Es enthält mehr, als
der allgemeine Begriff zu fassen vermag. Das ist nun aber bei dem Baum
als einer reinen Anschauung ganz anders. Der allgemeine Baum ist nicht
in jedem einzelnen Baume ganz enthalten, wohl aber ist der einzelne Raum-
theil mit allem seinem Mannigfaltigen in dem allgemeinen Baume ent-
halten." Auch diese ganz plausible Erörterung ist eine Erweiterung des
Kantischen Textes, gegen welche allerdings wohl Kant selbst kaum etwas
einzuwenden gehabt hätte.
Dritter und yierter Satz: Die urspriiiigliehe Einheitlichkeit der
BaumyorsteUiing. Der dritte und vierte Satz gehören , wie sich zeigen
wird, zusammen. Das Wörtchen „auch", das dem „erstlich" in dem vorher-
gehenden Satze entspricht, zeigt nun an, dass hier ein neuer Gedanke
kommt. Dies hat auch der scharfsinnige Maass erkannt, der in Eberhards
Magazin I, 135. 137 ausdrücklich zwei Schlüsse unterscheidet und hier einen
„zweyten Beweisgrund" beginnen lässt. Kant weist offenbar hier einen
zweiten Einwand zurück, der gegen seine Theorie erhoben werden kann.
Dieser im dritten Satz erhobene und im dritten und vierten zurückgewiesene
Einwand lautet: Du hast eben gesagt, die einzelnen Bäume seien Theile
des alleinen Baumes ; damit gibst Du zu, dass dieser alleine Baum aus diesen
216 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 26. B 89. [B 36. H 59. 60. E 75.]
Theilen zusammengesetzt ist; nnd diese Bestand tbeile geben vor der Vor-
stellung des alleinen Raumes vorher. Die Raumvorstellung ist also nur
ein Aggregat aus den Einzelvorstellungen jener vielen Räume.
Aber auch dagegen ist Kant gewappnet. Allerdings bat der Raum
Tbeile; aber es ist nicht so, als ob die allgemeine Raumvorstellung erst
möglich würde durch Zusammensetzung aus diesen vielen Einzelräumen als
seinen „Bestandtheilen*^ sondern umgekehrt : Diese Einzelräume sind ^ur
möglich in jenem allgemeinen Räume 0.
Und dazu gibt der vierte Satz sofort eine Erläuterung: Der Raum
ist aber „wesentlich einig" — hier hat „einig** offenbar einen anderen Sinn
als oben; oben war „einig" = „einzig"; hier ist „einig" = „einheitlich".
(Vgl. Amoldt, R. u. Z. 118.) Auch in den Vorl. über Metaphysik, S. 60.
62 unterscheidet Kant in diesem Sinne zwischen ,, einzeln" und „einig". Also
der Raum ist etwas Einheitliches ; und wenn man von „Räumen" spricht,
wenn man — so ist der Text weiterhin zu paraphrasiren — diesen all-
gemeinen Ausdruck gebraucht, so darf man nicht vergessen, dass die Vor-
stellung solcher Räume nur durch Einschränkung der einheitlichen Raum-
vorstellung möglich ist. (Aehnlich auch Schulze, Krit. d. Philos. I, 208.)
Es ist also auch nicht so, als ob die allgemeine Raum Vorstellung erst ent-
stände durch Zusammensetzung aus jenen einzelnen Theilen, sondern im
Gegentheil: diese Tbeile entstehen erst durch Einschränkung des allge-
meinen Raumes. Die Tb eilräume sind somit nichts Anderes, als Raum-
theile. Sie sind nicht selbständige constitutive Bestandtheile, sondern
unselbständige Th eilstücke, oder wie Stadler, Reine Erk. 32 sich aus-
drückt: Die einheitliche Raumanschauung erscheint als Gegebenes, ihr
Theil als Gewordenes.
Also der Raum ist nicht eine mosaikartige Zusammensetzung. Die
Theilstücke des Raumes sind seine Eintheilungen , nicht seine Bestandtheile.
d. h. Tbeile, die sein Bestehen bedingen, wie das der Fall wäre, wenn er
erst aus ihnen zusammengesetzt wäre, wenn er ihr gemeinsames Resultat
wäre, wenn das unendliche Raumgewand der Welt gleichsam aus einzelnen
Raumlappen und Raumfetzen zusammengeflickt wäre. Diese Theilstücke, die
wir in ihm unterscheiden, sind nicht vor ihm, dem Ganzen, da, sondern nur in
ihm. Es ist dies eigentlich eine Uebertragung des ersten Raumargumentes
von den Dingen im Räume auf seine Tbeile. Damals hiess es: Die einzelnen
Erscheinungen sind nicht vor der Raumvorstellung da, sondern nur durch
sie und in ihr vorstellbar; jetzt heisst es: Die einzelnen Raumtheüe sind
nicht vor dem allgemeinen einheitlichen Räume da, sondern sie sind nnr
durch ihn und in ihm möglich.
* Dass diese Theile des Raumes nicht etwa als einfache, als Pmikte gedacht
werden dürfen, sondern als wirkliche Räume, betont die Dialektik in der 2. Anti-
nomie (Antithese). Vgl. femer A 170 (B 211). Vgl. auch B 419: Die Punkte sind
nur Grenzen, nicht Theile des Raumes. Vgl. Diss. § 15, C, Anm.
Alle Theilräume sind nur Raum th eile. 217
[R 36. H 59. 60. E 75.] A 25. B 89.
Diese Raumtbeile sind nun auch nicht actuell da, ehe der ganze Raum
da ist, sondern sie liegen potentiell in ihm und lassen sich aus ihm heraus-
schneiden; sie sind nicht selbständige Objecte, sondern unselbständige Theile
eines Objects; sie sind secundär, nur der alleine Raum ist primär. Somit
ist, wie Schultz in seinen Erläuterungen sagt (S. 28), „hier das Ganze nicht
durch die Theile, sondern die Theile bloss durch das Ganze möglich'^ Jeder
bestimmte Raumtheil ist nicht eigentlich etwas Positives, sondern etwas
Negatives, durch Determination entstanden (Spinoza: omnis determinatio est
negatio) ; nur der Eine und ganze Raum ist etwas Positives ^ Daher können
auch, wie in den „Hauptmomenten'' S. 90 richtig hinzugefügt wird, ,jene
Theile, die einzelnen Räume nur in dem Ganzen des Raumes, nicht aber
abgetrennt von ihm gedacht werden." In der A. L. Z. 1790, III, 796 heisst
es: „Bei Verstandesbegriffen erfordert die Vorstellung der Theile nicht erst
die Vorstellung des Ganzen. Wir können uns aber keine Linie, keinen Punkt,
keine Figur denken, ohne sie uns schon als Etwas im unendlichen Räume
vorzustellen." Im Sinne Kants und zur Erläuterung desselben fügt Metz
in seiner Darstellung S. 46 folgendes hinzu: „Daher auch der Geometer,
wenn er den Gegenstand seiner Wissenschaft vorstellig machen will, nicht
von Punkten, Linien, Flächen anftngt, sondern unmittelbar die Vorstellung
des Baumes als eines einzelnen Ganzen zum Grunde legt, zu den Flächen
als Grenzen des mathematischen Körpers übergeht und von diesen auf Linien
und Punkte kommt. Diese Theile denkt er sich nicht als Bestandtheile, als
mehrere einzelne Räume, die wir nach und nach durch die Zusammensetzung
in ein Ganzes vereinigten." — Ein anderer Kantianer, Watson, Kant 273,
drückt sich so aus: UndifferenticUed space is priori to positions, i, e. litni"
tations of space (was freilich Spencer, Mind, 1890, 307 für eine sinnlose
Phrase erklärt; vgl. desselben Psychol. II, § 399).
Dazu vergleiche man Kants Reflexionen II, N. 348. 352 — 354: „Man
kann sich nur Räume gedenken, insofern man aus dem allgemeinen Räume
etwas ausschneidet." „Was nur durch Einschränkung getheilt werden
kann^ ist nicht möglich durch Zusammensetzung; also nicht der Raum."
Die „Idee des Ganzen oder der Dispertibilität" geht beim Raum
„in Ansehung der Theile" vorher. Ferner N. 392. 393: „Ein Totum syn-
theticum ist, dessen Zusammensetzung sich der Möglichkeit nach auf die
Theile gründet, die auch ohne alle Zusammensetzung sich denken lassen.
Ein Totum analyticum ist, dessen Theile ihrer Möglichkeit nach schon die
Zusammensetzung im Ganzen voraussetzen. Spatium et tempus sind ^o^a
analytiea, die Körper synthetica,** „Totum analyticum nee est compositum
* Eine eigenthümliche Ergänzung dieses Argumentes bietet die aus den
70er Jahren stammende Reflexion Kants II, N. 403: „Weil wir nicht bloss den
Raum des Objects, was unsere Sinne röhrt, sondern den ganzen Raum anschauend
erkennen, so muss der Raum nicht bloss aus der wirklichen Röhrung der Sinne
entspringen, sondern vor ihr vorhergehen."
218 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 39. [B 36. H 59. 60. E 75.]
ex substantiis nee ex accidentibus, sed totum possibüium relationum" N. 612 :
„Ein jedes quantum continuum als ein solches ist das, wodurch eine Menge
homogener Theile gesetzt wird; folglich geht es noth wendig vor der Zu-
sammensetzung vorher." N. 618. 1455. — Man vergleiche auch die An-
merkung zur Thesis der zweiten Antinomie (A 438, B 466): ,,Den Raum sollte
man eigentlich nicht Compositum^ sondern Totum nennen, weil die Theile des-
selben nur im Ganzen und nicht das Ganze durch die Theile möglich ist'* '.
Es erhebt sich nun aber die Frage, was beweist dies alles dagegen,
dass der Raum ein Begriff ist? Ist denn ein Begriff mosaikartig aus seinen
Bestandtheilen zusammengesetzt, welche ihm vorhergehen? Es will dies doch
nicht ohne Weiteres einleuchten, zumal Kants Text keine genauere Auskunft
darüber gibt. Sollte denn jene Schilderung, welche Kant von der Raum-
vorstellung abwehrt, von einem Begriffe gelten, das Zusammengesetzt werden
aus einzelnen Bestandtheilen? Von einem gewöhnlichen Gattungsbegriff
scheint dies nicht zu gelten, und so könnte es vielleicht einen Ausweg aus
dieser Schwierigkeit geben, wenn wir andere Begriffe fänden, auf welche
jene Schilderung passen würde.
Nun gibt es allerdings noch eine andere Art von Begriffen; das sind
die sog. Collectivbegriffe. Sigwart, Log. II, 220 spricht von der
„umfassenden Synthese, welche zu den CoUectivbegriffen führt. Alle Collectiv-
begriffe setzen ein Ganzes, das aus einer Vielheit discreter, für sich als
Einheiten gedachter Theile besteht; ein Ganzes aus Stücken oder Individuen."
Beispiele: „Baumgruppe, Hügelreihe, Sonnensystem, Familie, Wald, Heerde,
Staat." Aebnlich Drobisch, Logik § 29. Diese Theorie der Collectivbegriffe,
welche schon bei Locke angelegt ist, ist bei manchen älteren Logikern nicht
deutlich ausgeprägt; z. B. bei £ant, Schulze, Bach mann, ja selbst bei
Ueberweg ist die Sache ganz vernachlässigt. K. Fischer, Kant 2. A.
S. 816 u. 322, identificirt Gattungs- und Collectivbegriffe ohne Weiteres.
Dasselbe thut Cousin, Kant S. 78. (Einen Anklang an diese Eintheilung
der Begriffe könnte man in Kants Eintheilung der Einheit in die distributive
und coUective finden, A 582, 643; vgl. Mellin II, 243; Lossius II, 140;
Schmid, Wörterb. 107.)
Derartige Begriffe könnte nun Kant im Auge gehabt haben, als er
von Begriffen sprach, welche aus „Bestandtheilen, die vorhergehen, zusammen-
gesetzt sind." Auch ein zeitgenössischer Commentator hat die Stelle schon
so erklärt, Feder, Raum und Caus. S. 10; er lässt Kant sagen: „Es gibt
gar keinen solchen allgemeinen Begriff vom Baume, w^ie es andere allgemeine
Begnffe gfibt, die aus mehreren einfachen Begriffen zusammenge-
setzt, oder aus mehreren ähnlichen Empfindungen abgezogen sind,
z. B. vom Staat, vom Menschen" (bei Feder sind die Beispiele irrthümlich
umgestellt). Also Feder unterscheidet da auch zwei wesentlich verschiedene
^ Doch will Kant „ allenfalls ** die Bezeichnung des Raumes als „Compositum
ideale*^ zulassen. Vgl. darüber unten S. 224 ff.
Der Raum kein Compositum, sondern ein Totum. 219
[B 36. H 59. 60. E 76.] A 26. B 89.
Begnfiisarten, und für dasjenige, was die neueren Logikern „GoUectivbegriff*^
oennen, bringt er genau dasselbe Beispiel bei, wie heute Sigwart: den Be-
griff des Staates.
Allein diese Erklärung ist doch sehr weit hergeholt und macht keinen
befriedigenden Eindruck. Sollte Kant das gemeint haben, so müsste er doch
hier oder sonst, etwa in seiner Logik, davon eine Andeutung haben fallen
lassen. Von einer solchen Unterscheidung der Begriffe ist doch hier nicht
die geringste Spur zu finden, und so müssen wir uns schon dazu verstehen,
die Stelle so auszulegen, dass sie auf alle Begriffe passt. In welchem Sinne
könnte nun noch gesagt sein — was hier indirect gesagt ist — dass jeder
Begriff aus „Bestandtheilen" „zusammengesetzt" ist, welche ihm vorhergehen?
£in Begriff ist in doppelter Hinsicht ein Ganzes: 1) hinsichtlich des Um-
fanges; 2) hinsichtlich des Inhaltes. In ersterer Hinsicht müssten die
betreffenden Bestandtheile sein die einzelnen Exemplare, in zweiter Hinsicht
die Merkmale des Begriffes. Die erstere Auffassung hat z. B. Metz in
seiner „Darstellung" S. 46: Da werden die einzelnen Exemplare, welche
unter den Begriff fallen, als die Theile betrachtet, die ihm vorhergehen und
ans denen er zusammengesetzt ist. Eine solche Auffassung hat bis jetzt
noch kein Logiker vertreten; auch in Kants Logik findet sich davon keine
Spur und so müssen wir auch auf diese Auslegung Verzicht leisten, obgleich
sie sich auch bei Steckelmacher, Ks. Logik S. 13 findet.
Als letzte Auslegung bietet sich nun nur noch die Beziehung auf das
Ganze des Begriffsinhaltes und auf dessen Theile dar, d. h. die Merkmale
des Begriffes. Kann man nun diese als „Bestandtheile*' bezeichnen, welche
dem Begriff „vorhergehen" und aus denen er „zusammengesetzt** ist? Diese
Auffassung des Verhältnisses der Merkmale zum Begriffsganzen finden wir
nun z. B. in Meiers von Kant viel benutzter „Vernunftlehre" § 146: „Ein
Merkmal muss allemal ein Theil derjenigen Erkenntniss sein, welche durch
dasselbe von anderen unterschieden werden soll ... Eine Erkenntniss
wird aus ihren Merkmalen, wie ein Ganzes aus seinen Theilen,
zusammengesetzt." Auch Lambert im ,, Neuen Organen** I, S. 7 nennt
die Merkmale ausdrücklich „Theile** eines Begriffes, und spricht daselbst
8.42 von der „Zusammensetzung** der Merkmale zu Begriffen. Auch Platner
in seinen Aphorismen § 883 spricht davon, dass die Begriffe aus ihren Merk-
malen „zusammengesetzt** seien. Denselben Ausdruck gebraucht auch Krug,
Fundamentalphilosophie, S. 173, Handbuch der Phil. I, § 127, und Logik
§ 28; und Tieft runk in seiner Logik § 34 nennt die Merkmale ausdrück-
lich die „Bestandtheile**, aus denen die Begriffe „zusammengesetzt** seien,
bedient sich somit genau der Kantischen Ausdrücke hier. Und zum Ueber-
flusse kann auch der Ausdruck ,, Bestandtheile** = Merkmale bei Kant selbst
nachgewiesen werden; in seiner Logik, Einl. V gibt er die ,, Merkmale** der
Tugend an, welche zu den „zusammengesetzten** Vorstellungen gehört, und
sagt dann : „Lösen wir so den Begriff der Tugend in seine einzelnen Bestand-
theile auf** u. s. w.
220 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 89. [R 36. H 59. 60. E 75.]
So wird denn das auch hier Kants Meinung gewesen sein (vgl. Cohen,
2. A. 123). Wir haben somit hier einen zweiten Beweisgang vor uns, in
welchem Kant die Rauravorstellung scharf von den Begriffen scheidet ^
Wir können nun auch die beiden Beweisgänge mit einigen wenigen
Worten pointirt so zusammenfassen: Im ersten Beweisgang dieses vierten
Argumentes, das die Anschaulichkeit der Baum Vorstellung zum Thema hat,
wird darauf hingewiesen: der Raum muss Anschauung und kann nicht Be-
griff sein; denn der Begriff enthält das Einzelne unter sich, nicht in sieh,
wie das bei der Raum Vorstellung der Fall ist. Im zweiten Beweisgang
aber wird erwiesen: der Raum muss Anschauung und kann nicht BegnfT
sein; denn beim Begriff gehen seine Theile vorher, während sie beim Räume
erst in ihm möglich sind^ erst aus ihm durch Einschränkung gewonnen
werden können, (üeber die darin liegende Quaternio s. unten.)
Der erste Beweisgang bezieht sich somit auf den umfang, der
zweite auf den Inhalt des Begriffs. In beiden Beziehungen wird der Ranm-
vorstellung der Begriffscharakter abgesprochen. —
Diese Argumentation Kants hat nun Jacobi (Spinoza, 1. Aufl. 118;
2. Aufl. 173) mit der Lehre des Spinoza von der unendlichen Substanz
parallelisirt , welche auch vor den Theilen existire, die nur nach ihr und
als deren Einschränkungen gedacht werden können. Diese Parallele ist trotz
dem Widerspruch der A. L. Z. 1786, I, 294 ganz zutreffend. Auch hat
neuerdings Windelband diesen Wink Jacobi*s benützt zur Darstellung Spinoza's,
vgl. Viert, f. wiss. Philos. I, 432 und den betreffenden Abschnitt in desselben
Gesch. d. n. Philos. I, 186 ff. Diese Zusammenstellung erscheint ganz sach*
gemäss, wenn man findet, dass Kant selbst in der Kr. d. ürth. § 77 sagt:
Der Raum, obgleich nur die formale Bedingung, nicht der Realgrund der
Erzeugungen, habe mit diesem, der dem Zusammenhang nach Gott ist,
,, darin einige Aehnlichkeit , dass in ihm kein Theil ohne in Verhältniss anf
das Ganze (dessen Vorstellung also der Möglichkeit der Theile zum Grnnde
liegt) bestimmt werden kann". Dieser Gedanke muss Kant sehr werthvoU
erschienen sein, denn schon in der Kr. d. r. V. finden wir ihn mehrfach; so
in dem Abschnitt vom „Transscendentalen Ideal", A 578 = B606: „Alle
Mannigfaltigkeit der Dinge ist nur eine ebenso vielfältige Art, den B^iff
der höchsten Realität, der ihr gemeinschaftliches Substratum ist, einzu-
schränken, 80 wie alle Figuren nur als verschiedene Arten, den unendlichen
Raum einzuschränken , möglich sind" ; und A 619 = B 647 : „So wie der
Raum, weil er alle Gestalten, die lediglich verschiedene Einschränkungen
desselben sind, ursprünglich möglich macht, ob er gleich nur ein Principium
der Sinnlichkeit ist, dennoch aber darum für ein schlechterdings nothwendiges
für sich bestehendes Etwas und einen a priori an sich selbst gegebenen
^ Eine etwas wunderliche Weiterbildung der Kantischen Lehre bietet Göring,
Raum und Stoff 179 ff. 226 ff. 230 ff. , der für die allbefassende Raumvorstellong
doch wieder, gegen Kants Terminologie, den Ausdruck Begriff einfahrt.
Spinozas unendliche Substanz und Kants unendlicher Raum. 221
[R 36. H 59. 60. E 75.] A 25. B 89.
Gegenstand gehalten wird/^ so geht es auch ganz natürlich zu, dass jene
,Jdee eines allerrealsten Wesens'^ als ein wirklicher Gegenstand vorgestellt
werde, obgleich sie doch ,,nar als formale Bedingung des Denkens in meiner
Vernunft anzutrefifen sei". (Vgl. oben S. 217.) —
Gegen dieses ganze Argument hat bes. scharf polemisirt Drobisch,
Psych. § 24; treffend bemerkt auch E. von Hart mann (Transsc. Real. 156):
„Ks. Behauptung, dass ich alle endlichen Räume nur als Einschränkungen
des einigen ganzen Raumes vorstelle, ist um nichts besser, als die Be-
hauptung wäre, dass ich alle endlichen Dinge nur als Einschränkungen des
Universums vorzustellen vermöge, und deshalb das Letztere eine Anschauung
a priori sei." Aehnlich meint Adickes 74 N: „Haben diese Beweisgründe
Beweiskraft, so muss die Materie ebensogut eine ursprüngliche Anschauung
sein, wie der Raum. Denn auch sie ist einig, uneingeschränkt, und ihre
Theile entstehen nur durch Einschränkung" u. s. w. Gegen das Argument
spricht sich auch, allerdings mit wunderlichen Einwänden, Bilharz aus
in seinen Erläuterungen 163 ff. YgL auch Pflüger, Aesthetik S. 24—28.
Energische Kritik auch bei Montgomerj, Kant 97ff. : „Es ist das ganz
dasselbe, als ob er behauptet hätte, das allgemeine Dreieck sei eine An-
schauung, welche vor allen besonderen Dreiecken existire und daher den-
selben zu Grunde liege; als ob er überhaupt den alten Realismus ver-
theidigte und nicht vielmehr seine ganze Kritik hauptsächlich darum
geschrieben hätte, um die Universalia ante rem oder extra rem gründlich
auszurotten" u. s. w. —
Hier ist nun eine sehr wichtige Bemerkung einzuschieben, obgleich
diese, wie es scheint, durch Kants Text nicht unmittelbar verlangt wird.
Aber wenn man das von Kant Gesagte genauer überdenkt, so ist der Ge-
danke nicht abzuweisen, dass in demselben eigentlich schon die Unendlich-
keit des Raumes mitgesetzt ist, obgleich das hier nicht ausdrücklich ge-
sagt ist. Aber wenn jeder Raumtheil seine Entstehung nur der Einschränkung
des „einigen" Raumes verdankt, so liegt doch darin (wie ja auch Lotze,
vgl. oben S. 213, verlangt) unmittelbar involvirt, dass dieser Raum als un-
endlich vorzustellen ist ; denn jeder denkbar grösste Raum ist ja doch immer
wieder als Theil eines noch grösseren Raumes, entstanden durch dessen Ein-
schränkung vorzustellen, und so immer wieder aufs Neue — in infinitum.
Man möchte sich daher wundern, dass diese Unendlichkeit hier nicht erwähnt
ist, dass es nicht heisst: jeder Theil des Raumes beruht lediglich auf Ein-
schränkung des einigen, uneingeschränkten und damit eben unend-
lichen Raumes.
Dass nun dies auch wirklich Kants Meinung gewesen sei, folgt einfach
aus der Stelle der Dissertation, welche wir schon oben S. 204 angeführt
haben; da hiess es ja ausdrücklich: „quae enim dicis spatia plura, non sunt
nisi ejusdem spatii immens i partes/' (Dasselbe wird bei der Zeit gesagt
ib. § 14, N. 2; vgl. auch Thiele, Kant I, b, 312); und es ist nur eine Er-
läuterung dieses Satzes, wenn dann Kant im CoroUarium zu § 15 sich über
222 § 2- Viertes (B drittes) Raumargument.
A 26. B 89. [R 36. H 59. 60. E 75.]
Raum und Zeit so vemebmen lässt: „En itaqtie hina cognüionis sensitivae
principiGf non, quemadmodum est in intellectucdibu8,'C0nc^tu8 generales, sed
intuitus singulares, attamen puri; in quibus, non sicut leges rationis prae-
cipiunt, partes et potissimum simplices continent ratianem po89ibüit€tHs com-
positi, sed, secundum exemplar intuitus sensitivi, infinit um eonUnet rationetn
partis cujusque cogitabilis ac tandem simplicis 8, potius termini. Nam nonnisi
dato infinit 0 tarn spatio, quam tempore, spatium et tempus quodlibet definUum
limitando est assignabüey et tam punctum quam momentum per se cogitari non
possunt, sed non concipiuntur nisi in dato jam spatio ei tempore, tamquam
horum termini/^ In beiden Stellen ist also der Gedanke, dass die Tbeile
nur durch Einschränkung entstehen, unlöslich verknüpft mit dem Ge-
danken der Unendlichkeit. Ganz dasselbe finden wir auch in den Losen
Blättern, I, S. 250, da heisst es: „Alle gegebenen Grössen des Raumes
sind Theile eines grösseren. Infinitudo/' Und ebenso: „Alle Tbeile des
Raumes sind wiederum Räume. Gontinuität.*' (Dieselben beiden Sätze aucfa
von der Zeit.)
Besonders häufig wird derselbe Gedanke wiederholt in dem Nacbgel.
Werke XIX, 570. 571. 574; XXI, 538 ff. 542. 544. 548. 553 f. 565 ff. 570.
604 : „Raum und Zeit sind von der eigenthümlichen Art, dass beyde immer
nur als Theile eines noch grösseren Ganzen vorgestellt werden müssen,
welches so viel sagt, als: Raum und Zeit sind Gegenstände der reinen
Sinnenanschauung, deren Grösse als unendlich vorgestellt wird." Derselbe
Gedanke wird oft auch so ausgedrückt, dass dem Raum, weil er Ganzes
oder eine „unbedingte Einheit" sei, das Prädicat der Unendlichkeit
gebühre. Einmal heisst es (XXI, 542): „Beide, Raum und Zeit, sind un-
endlich, weil sie absolute Einheit enthalten und vice versa."
In der Kant-Literatur hat dieser Gedanke mehrfach Ausdruck ge-
funden: Vgl. Meli in II, 474, sowie Schulz, Prüfung I, 99. Richtig aacb
bei Morris, Kant 63. Diese Auffassung liegt auch der Polemik von
Pistorius gegen dieses Argument zu Grunde (A. D. B. 66. 105). Eine
wunderliche Stellung nimmt hier Kuno Fischer ein. Sowohl in der 2. als
in der 3. Auflage seines Werkes hat er die richtige Einsicht, dass die Un-
endlichkeit unmittelbar involvirt ist in der Entstehung der einzelnen Ranm-
theile durch Einschränkung (2. A. 320; 3. A. 333). Allein die Stellung,
welche K. Fischer dieser Erwägung gibt, ist eine falsche. Fischer findet
diesen Gedankengang erst im letzten Raumargument. Aber der Gedanke
der Unendlichkeit ist schon mit dieser Stelle hier nothwendig verknüpft,
und es ist nichts als eine Ungenauigkeit Kants, dass er nicht hier schon
den Ausdruck der Unendlichkeit eingeführt hat, der ihm auf der Zunge oder
besser auf der Feder liegen musste. Und zwar ist die Unendlichkeit des
Raumes nicht, wie das Fischer irriger Weise thut (aus später zu erörternden
Gründen) als ein Beweisthema zu fassen, sondern sie ist, wenigstens zu-
nächst hier, eine blosse Xebenbestimmung zu dem Gedanken, dass die
Theile dem Ganzen nicht vorhergehen, sondern das Ganze den Theilen.
Unendlichkeit und Stetigkeit der Raumanschauung. 223
[R 36. H 60. E 76.] A 25. B 89.
Ganz so wie mit der Unendlichkeit des Raumes, verhält es sich nun
auch mit seiner Stetigkeit. Auch diese ist in den von Kant selbst ent-
wickelten Bestimmungen involvirt, wenn Kant sie auch hier nicht besonders
heraushebt, wie auch Stadler, Reine Erk.-Th. S. 33. 86. 138 richtig erkannt
hat. Wie eng die Stetigkeit des Raumes mit diesem Argument zusammen-
hängt, geht aus den Stellen hervor, wo dieselbe später herbeigezogen wird;
besonders A 170 ist hiefiir beweisend. Die Continuität ist dort mit dem
Gedanken der Entstehung der Raumtheile durch Einschränkung unmittel-
bar verbunden. So war dies in der That auch schon in der Dissertation
von 1770 der Fall gewesen. Hier wurde die Continuität von Raum und
Zeit sogleich in die Erörterung hineingezogen ; jedoch wurde dieselbe nur
bei der Zeit ausführlich bewiesen. Der des Raumes wurde nur in der An-
merkung zu § 15 0 mit einigen Worten gedacht: „Quod spatium neceaaario
condpiendum sit tatiquam quantutn continuum, quam faciU sit demonstratu,
hie praetereo. Inde autem fit, ut simplex in spatio non sit pars, sed ter-
minus. Terminus artem generaliter est idinquanto continuo^ quodrationem
continet limitum" etc.
Dieser Begriff der Stetigkeit steht nun in engster Verbindung mit
dem eben behandelten Begriff der Unendlichkeit. Diesen Zusammenhang
betont schon Villers in Rinks „Mancherley" S. 20, besonders aber Krug
in seinem Lexicon III, 428, sowie in seinem Handbuch der Philos. I, 263,
indem er an den Satz der Scholastiker erinnert: Spatium et tempus est
unum, continuum, infinitum. Und auch Fischer in seiner Darstellung
(2. Aufl. 319; 3. Aufl. 333) stellt die Sache so dar.
Wenn das der Fall ist, dann erbebt sich die Frage, warum denn Kant
nicht auch in der Kr. d. r. V. sogleich an dieser Stelle die Stetigkeit des
Raumes (welche doch mit dessen sonst von Kant so betonter unendlicher
Theilbarkeit enge zusammenhängt) wenigstens mit erwähnt habe? Man kann
sagen: In der Aesthetik hier handelt es sich ja nur um den Beweis, dass
Raum und Zeit reine Anschauungen sind, und daher wird zu diesem Zweck
nur das unumgänglich Nothwendige herbeigezogen. Beweiswerth haben für
diesen Zweck nur die Priorität des Ganzen vor den Theilen und die Ent-
stehung dieser Theile durch Einschränkung; nur diese Gedanken gehören
direct in das Argument herein. Die indirect in jener Thatsache enthaltene
Eigenschaft der Stetigkeit hatte hier weiter keine Bedeutung, und so konnte
diese erst in der Analytik resp. Dialektik zur Sprache kommen.
Fünfter Satz: Schlussfolgerung auf die Anschauungsnatur des
Raumes. Diese Schlussfolgerung, dass der Raum eine unmittelbare Vor-
stellung, eine Anschauung sein muss, beruht eben darauf, dass nur bei einer
solchen jene Verhältnisse stattfinden können, wie sie beim Räume sich finden.
1) Nur eine Anschauung bezieht sich auf ein Einzelnes, niemals ein Begriff;
ein solcher bezieht sich immer auf Mehreres; 2) nur bei einer Anschauung
geht das Ganze vor den Theilen vorher, niemals bei einem B^riff; bei
diesem gehen stets die Theile vorher. Wo jene beiden Eigenthümlichkeiten
224 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 26. B 89. [B 36. H 60. E 76.]
sich finden, kann nur von einem in tut, nicht von einem begriflflichen
discurrere die Rede sein. Da aber der Raam nicht die Charakteristica
des Begriffs an sich trägt, muss er Anschauung sein. Der Begriff hat Eigen-
schaften, welche der Raum nicht hat; der Raum hat Eigenschaften, welche
kein Begriff hat.
Wenn nun Kant hier wie oben in der These den Raum eine An-
schauung nennt, so erhebt sich die Frage, wie sich das zu jener oben
S. 3 behandelten Definition Kants von der Anschauung verhalte, nach
welcher die Anschauung unmittelbar sich auf die Gegenstände bezieht?
Also muss sich auch die Raumvorstellung unmittelbar auf die Gregenstände
beziehen? Aber die Raum Vorstellung hat keinen andern Gegenstand als sich
selbst — den Raum. In diesem Sinne fasst Weishaupt die Sache und sagt
(Zweifel 8. 16) : der Raum sei eine Anschauung, weil er selbst eine unmittel-
bare Vorstellung ist. Andere, so Weber, Versuch S. 8, sowie Lossius,
Lexicon III, 514 denken an die Gegenstände im Räume: „Da die Raum-
vorstellung sich auf die zu empfindenden Gegenstände unmittelbar bezieht,
so muss sie auch selbst Anschauung sein.*' Damit sind wir nun wieder bei
einer Schwierigkeit angelangt, auf welche wir schon einmal oben S. 103 ff.
gestossen sind. Schon damals fanden wir es verwunderlich, mit welchem
Recht Kant die „Form der Anschauung' sofort auch als ;, Anschauung^ be-
zeichne, und constatirten, dass Kant in der zweiten Auflage (B 160) beides
genauer unterschied. Damit sind auch die Fragen gelöst, welche eben zu
dieser Stelle erhoben worden sind. —
Aber es erhebt sich nun eine neue Schwierigkeit. Wie schon oben
S. 106 angeführt wurde, nimmt Kant in späteren Theilen seines Werkes an,
dass die anschauliche Vorstellung des Raumes durch verstandesmässige Zu-
sammenfassung desjenigen Mannigfaltigen entsteht, welches in der .Form
der Anschauung' enthalten ist. Man könnte nun wohl fragen, was deui
das für ein „Mannigfaltiges^ sein soll, von welchem Kant mehrfach (so
bes. A 76. 98. 101. 107, B 136-138, B 150-155, B 160, B 202 f. mit
ausdrücklicher Beziehung auf die Aesthetik) spricht, ohne es jemals näher
zu charakterisiren. (Vgl. dazu Thiele, Ks. int. Ansch. 8. 44 und Cohen, 2. A.
213 ff. 223 ff., welcher aber dieses apriorische Mannigfaltige mit dem oben
S. 59 besprochenen empirischen Mannigfaltigen verwechselt.) Aber sehen
wir auch davon ab, so drängt sich uns doch folgender Widerspruch aaf:
Kant polemisirt hier dagegen, dass der Raum als zusammengesetzt he
trachtet werde, und in der Analytik lehrt er doch ausdrücklich, dass die
formale Anschauung, die anschauliche Vorstellung des Raumes erst einer
verstandesmässigen Synthesis ihr Dasein verdanke. So heisst es A 162 =
B 203: jede specielle extensive Grösse, wie die universalen Anschauungen vod
Raum und Zeit entstehen „durch Synthesis des Mannigfaltigen, d. i. darch
Zusammensetzung des Gleichartigen''; „eine extensive Grösse nenne ich
diejenige, in welcher die Vorstellung der Theile die Vorstellung des Ganzen
möglich macht und also noth wendig vor dieser vorhergeht^ — also wört-
Die Raumanschauung als Product einer synthetischen Function. 225
[R 36. H 60. E 76.] A 25. B 39.
lieh das Gegentheil der hiesigen Bestimmungen! * So heisst es be-
sonders B 136, Anm.: „Der Raum und die Zeit und alle Theile derselben
sind Anschauungen, folglich einzelne Vorstellungen [conceptus singulares, vgl.
oben S. 204. 211] mit dem Mannigfaltigen, das sie in sich enthalten, mitbin
nicht blosse Begriflfe, durch die eben dasselbe Bewusstsein als in vielen Vor-
stellungen, sondern viele Vorstellungen als in Einer und deren Bewusstsein
•enthalten, mithin als zusammengesetzt, folglich die Einheit des Be-
wusstseins als synthetisch aber doch ursprünglich angetroffen wird." In
diesem schlechtgebauten Satze wird gesagt: 1) der Raum ist eine Anschauung
oder eine Einzel Vorstellung, also kein Begriff; und dazu wird wiederholt, was
wir oben gehört haben: beim Begriff wird dasselbe Bewusstsein in vielen
Vorstellungen, den Arten und Exemplaren, angetroffen, bei der Anschauung
sind umgekehrt viele Vorstellungen in Einer enthalten. 2) Mithin, da eben
in der Raumanschauung viele Vorstellungen in Einer enthalten sind, sind
diese zusammengesetzt zu jener , ist jene zusammengesetzt aus diesen , und
dabei ist die synthetische Function des Bewusstseins thätig. üebrigens gilt
jene Zusammensetzung nicht bloss von der Raumanschauung als Ganzer,
sondern auch wiederum von jedem besonders ins Auge gefassten Theile der-
selben, z. B. einer Linie; diese muss, wie Kant mehrfach A 141. 157. 162 f.
234, B 138. J54. 203 wiederholt, erst „gezogen, d. h. durch eine bestimmte
Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande gebracht
werden". (Vgl. dazu Cohen, 2. A. 417 f., Riehl, Krit. II, a, 114, Schneider,
Das Apriori 134, Schulz, Prüfung II, 40 über diesen „Schein Widerspruch**.)
Also selbst bei so beschränkten und bestimmten Theilen der universalen Raum-
anschauung bedarf es einer synthetischen Function, vollends also bei jener all-
umfassenden Raumanschauung selbst. Ohne diese Syntbesis ist der Raum noch
„keine bestimmte Anschauung**, ist ,,noch gar keine Erkenntniss'* ; erst durch
sie wird der Raum zum bestimmten anschaulichen Erkenntnissgegenstand ; erst
durch sie wird er aus einer bloss unbewussten potentiellen Form zur wirk-
lichen „Vorstellung mit Bewusstsein'*, wie „Anschauung** A 320 generell
charakterisirt wird. Kant gibt auch nähere Andeutungen über die Ai*t dieser
synthetischen Function, indem er sie, unter dem Namen der „figürlichen
Synthesis** mit der productiven Einbildungskraft identificirt (B 151 — 154).
Vgl. Anthrop. §22: Raum- und Zeitanschauung verdanken ihre Entstehung
der Einbildungskraft (facultas imaginandi) ; diese „als ein Vermögen der
Anschauungen auch ohne Gegenwart des Gegenstandes'*, ist in diesem Falle
„productiv, d. h. ein Vermögen der ursprünglichen Darstellung des letzteren
{exhibitio originariay\ Vgl. dazu Mainzer, Einbildungskraft bei Hume
* In höchst wunderlicher Weise machen sich diese beiden entgegengesetzten
Auffassungen zusammen geltend in der Antinomienlehre A 505, B 533, wo es aller-
dings ,von den Theilen einer gegebenen Erscheinung" heisst, dass sie , allererst
durch den Regressus der decomponirenden Syntbesis und in demselben ge-
geben werden*. Decomposition ist doch das gerade Gegentheil von Syntbesis!
Vaihinger, Kant-Commentar. n. 15
226 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 89. [B 36. H 60. E 76.]
und Kant, S. 39 ff. Frohschammer, Einb.kraft in der Philos. Ks. 1879,
S. 8—18: Die Raumpotenz „actualisirt" sich nur durch die Einb.kraft zur
Raumanschauung. Vgl. Caird, Crit. FhiL I, 310 ff. über die theils un-
bewusste, theils bewusste synthetische Function des Verstandes hiebei. In
diesem Sinne nennt Kant den Raum resp. die Zeit besonders in seinen früheren
Entwürfen ein „Compositum ideale'*. Vgl. Reflexionen II, 398. 409. 410.
465. 618. 680 ff. 985. „R. u. Z. sind composita idealia, weder von Sub-
stanzen, noch von Accidentieu, sondern von Relationen, die vor Dingen
vorhergehen" (409). Einmal (410) heisst es gar: „R. u. Z. sind beide nichts
als Zusammensetzungen sinnlicher Eindrücke (!). Diese Zusammensetzung
geht ins unendliche, ist aber niemals unendlich.** Vgl. auch bes. die Vor
lesungen über Metaph. S. 59 ff. Auch noch in der Kr. d. r. V. A 438,
B 466 (Anm. zur 2. Antinomie) heisst es: „Der Raum würde allenfalls ein
compositum ideale, aber nicht reale heissen können. Doch dieses ist nur
Subtilität." (Vgl. oben S. 218 Anm.)
Die Hauptsache hiebei ist nun, dass die Einheitlichkeit der anschau-
lichen Raumvorstellung, die hier in der Aesthetik als etwas Selbstverständ-
liches, Ursprüngliches dargestellt wird, doch erst gemacht werden muss, und
zwar nicht durch die Sinnlichkeit selbst, sondern durch die Activität und
Froductivitftt des Verstandes, welcher, als Einheitsfunction des Bewusstseins,
auch erst alle Einheitlichkeit in die Vorstellungen hineinbringen kann. Ueber
diese Discrepanz äussert sich Kant selbst B 160 Anmerkung: „Diese Einheit
hatte ich in der Aesthetik bloss zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu be-
merken, dass sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Sjnthesis,
die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum
und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der
Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschau-
ungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung
a priori zum Räume und der Zeit, und nicht zum Begriffe des Verstandes.'*
(Vgl. auch Kants Nachgel. Werk XXI, 548.) Also: wenn es auch erst einer
synthetischen Function des Verstandes bedarf, um aus dem blossen Mannig-
faltigen der Form der Anschauung formale Anschauung, anschauliche Vor-
stellung des Raumes selbst erst zu machen, so gehört dieses Product jener
synthetischen Thätigkeit des Verstandes, eben die anschauliche Vorstellung
des Raumes, doch nicht in die Lehre vom Verstand selbst (nur dessen
Thätigkeit ist da zu besprechen), sondern in die Lehre von der Sinnlich-
keit, in welcher von jener vorhergehenden synthetischen Function abgesehen,
und ohne Weiteres deren Product, die anschauliche Raumvorstellung, als
gegeben hingenommen wird, und auch hingenommen werden kann.
Aehnliches sagt Kant auch in dem Briefe an Beck vom 8. VII. 92
(Archiv II, 628). Da spricht er von „dem Subjectiven der Anschauung, welches
zwar a priori in uns, aber nicht gedacht (denn nur die Zusammensetzung
als Handlung ist ein Product des Denkens), sondern in uns gegeben sein
muss, mithin eine einzelne Vorstellung und nicht Begriff {repraesentatio
Der Raum als Compositum ideale. 227
[B 36. H 60« K 76.] A 25. B 89.
communis) sein muss/ Sache des synthetisch en Denkens ist eben nur die
Zusammensetzung; das was zusammengesetzt wird, „das Gleichartige' S wird
nicht vom Denken selbst darin hervorgebracht, sondern wird ihm von der
reinen Sinnlichkeit als Gleichartiges, eben zur Zusammensetzung, übergeben.
Gerade diesen fundamentalen Unterschied verkannte Beck. Die von ihm
mehrfach (Auszug III, 369; Grundriss S. 61) citirte Anmerkung hat Beck
dahin missverstanden, als ob der Verstand nicht bloss jenes ihm von der
Sinnlichkeit gegebene Mannigfaltige zusammensetze, sondern selbst hervor-
bringe; und so ist es natürlich, dass ihm die Raumanschauung dann voll-
ständig mit der Kategorie der Grösse zusammenfällt (Auszug III, 140 ff.
149 ff. 170 flf. 198. 259. 846. 367. Vgl. dazu Dilthey im Archiv f. Gesch.
d. Phil. II, 645 f.). Dazu vgl. man Kants Brief an Tieftrunk vom 11. Diez.
1797, in welchem Kant sich über diese „Zusammensetzung' ' weiter auslässt
und den Beck^schen Standpunkt hierin einigermassen zu billigen scheint.
Weitere, wichtige Ausführungen hierzu gibt K. in den „Fortschr. d. Met."
Ros. I, 502. 508 (vgl. Riehl I, 381). Eine ähnliche Auffassung wie bei Beck
findet sich jetzt bei Thiele, Philos. Ks. I, b, 289. 299. 310—313.
Auch in dem Nachgel. Werke finden sich hierüber mehrere bemerkens-
werthe Stellen; so heisst es z. B. XXI, 560: „Raum und Zeit sind Producte
(aber primitive Producte) unserer eigenen Einbildungskraft, mithin selbst*
geschaffene Anschauungen, indem das Subject sich selbst afficirt"; ib. 586:
„Die Vorstellung derselben ist ein Act des Subjects selbst und ein Product
der Einbildungskraft"; dazu XIX, 569. 576.577: „Unsere Sinnenanschauung
ist zuerst nicht Wahrnehmung, denn vor ihr geht ein Princip voraus, sich
selbst zu setzen und sich dieser Position bewusst zu werden, und die Form
dieser Setzung des Mannigfaltigen als durchgängig Verbundenen sind
die reinen Anschauungen." Vgl. XXI, 567: „R. und Z. sind keine spürbaren
Gegenstände, die ausser meiner Vorstellung existiren, sondern selbst Ge*
schöpfe meines Vorstellungsvermögens, also nicht ein Ding an sich, aber
im Verhältniss dieser Vorstellung zum Subject ist es doch etwas Gegebenes
{dabile)^ welches dem denkbaren (^cogitabile) entspricht."
In diesem Sinne sagt der Kantianer Edmund König in seiner „Ent-
wicklung des Causalproblems seit Kant^^ 1890 S. 77: „Die reine Anschauung,
namentlich die Raumanschauung, ist, nicht als eine starr gegebene Mannig-
faltigkeit zu denken; wiederholt wird in der Kr. d. r. V. darauf hingewiesen,
dass die Auffassung eines räumlichen Gebildes stets eine Function der
Synthesis einsehliesse , und wenn der Raum als die Form des äusseren
Sinnes, somit wie es scheint, als etwas fertig und ohne Zuthun der Denk-
thätigkeit Gegebenes definirt wird, so haben wir dabei nicht sowohl an
den Raum der Geometrie, sondern an jene transscendentale Bedingung zu
denken, welche als Function der Synthesis, durch die der Geometer Fi-
guren vorzeichnet, das Gesetz vorschreibt." Ganz dasselbe habe auch Tren-
delenburg mit seiner „constructiven Bewegung" gewollt. Vgl. auch
Adamson, Kant 29 f. Göring, Raum und Stoff 41. 242. Arnoldt, R.
228 § 2. Viertes (B drittes) RaumargumeDt.
A 25. B 89. [B 36. H 60. E 76.]
u. Z. 27 f. 51 f. 54., und bes. Riehl, Krit. I, 195. 305. 324. 351. 356. 373.
378. 381.400: „Die Erklärung, wie die Raumvorstellung überhaupt entsteht,
hat Kant mindestens ebenso bestimmt gegeben, wie die Physiologie. Die
Baum Vorstellung entspringt aus dem formalen Grund der Sinnlichkeit, durch
die synthetische Einheit des Bewusstseins ; sie ist das Product beider Be-
standtheile: der Form der Sinnesthätigkeit und der Einheitsfunction des
Bewusstseins." „Die Lehre von den Anschauungsformen weist mithin notb-
wendig auf die Lehre der Denkfunctionen hin, die Aesthetik wird erst in
der Logik vollendet; weil ohne logische Function keine Anschauung des
Raumes möglich ist." Doch erhebt Riehl II, a, 111 auch Einwände. V^l.
ferner Lange, Log. Stud. 135. 148.
Während so die Anhänger in jenen Bestimmungen der Analytik eine
wesentliche Ergänzung zu den Aufstellungen der Aesthetik finden, sehen
Kants Gegner einen unlösbaren Widerspruch zwischen beiden Darstellungen :
insbesondere bemerkt E. v. Hartmann, Krit. Grundl. 154 zu jener Anmer-
kung B 160: ,, Diese Erklärungen genügen, um Kants Schlussfolgerung in
ihr Gegen th eil zu verkehren. Wenn der einige Raum als gegebenes Ganzes
erst Product einer vom Verstände ausgeführten Synthese des räumlichen
Mannigfaltigen ist, so ist er später als diese, aber nicht früher; es müssen
dann die durch die sinnliche Auschauungsform allein aus der Empfindung
formirten endlichen Anschauungen (das räumliche Mannigfaltige) das frühere
sein, aus welchem erst der einige Raum sich bilden kann, und nimmermehr
können sie ihrer Entstehung nach blosse Einschränkungen dessen sein, was
erst vermittelst ihrer zu Stande kommen kann, indem der Verstand sieh
dieses ihm gegebenen Stoffes combinatorisch bemächtigt. Kant hat leider
nicht bemerkt, dass er in dieser Anmerkung zur 2. Aufl. der Analytik
selbst seine frühere verkehrte Auffassung überwunden und berichtigt hat.
In der Eberhard'schen Kritik erntet er die Frucht seiner Verwirrung von
Raum und Räumlichkeit und in der Entgegnung auf dieselbe erklärt
er ausdrücklich [vgl. oben S. 91. 107], Eberhard habe wissen müssen, dass es
ihm (Kant) nie eingefallen sei, die Anschauungsformen des Raumes und der
Zeit als der Seele innewohnende Bilder aufzufassen, da sie vielmehr nnr
innewohnende passive Beschafifenheiten (Receptivitäten) des Gemüts seien,
auf gewisses Afficirtwerden hin Vorstellungen von einer gewissen Vorstellungs-
form zu bekommen. Nur der erste formale Grund der Möglichkeit einer
Raumanschauung sei das Angeborene, nicht die Raum Vorstellung selbst. Erst
in den Anschauungen, welche aus diesem Grunde hervorquellen, seien Bilder
möglich (W. W. Ros. I, 445 f.). Es ist klar, dass Eberhard sich dadurch hat
irre machen lassen, dass Kant in der Aesth. das Wort Raum sehr gewöhn-
lich für die reine Anschauungsform des Raumes, d. h. für Räumlichkeit
setzt. Unzweideutig aber ist die Erläuterung Kants, welche da5 hieran:»
hervorgegangene Missverständniss widerlegt. Kant gesteht hier der Sache
nach, wenn auch nicht den Worten nach, dasselbe zu, wie in jener Anmer-
kung (B 161), dass nämlich nur die Räumlichkeit, nicht der Raum
Widersprüche in Kants Raumlehre. 229
[R 36. H 60. E 76.] A 25. B 39.
a priori genannt werden könne, nnd, füge ich hinzu, auch diese nicht als
bewusster Begriff, sondern als unbewusste synthetische Function. Nach
diesem Zugeständnisse hätte aber Kant die Nummern 3 und 4
der Begründung der Apriorität des Raumes in der 2. Aufl. con-
sequenter Weise streichen müssen, da in denselben von der synthetisch
durch den Verstand construirten Anschauung des einigen Raumes, und
gar nicht von der räumlichen Anschauungsform die Rede ist." Diese Kritik
müssen wir, als mit unseren früheren Ausführungen (S. 88. 93. 107. 168. 170)
übereinstimmend, als durchaus zutreffend anerkennen. Scharfe Kritik auch bei
Montgomery, Kant 96 f. 106 ff. Vgl. auch Spicker, Kant 56 ff. (scharfe
Kritik des ganzen Argumentes)*. Windelband, Gesch. d. Philos. 423.
Kant hat also die Vorstellung des reinen (absoluten, unendlichen)
Raumes in der Aesthetik der blossen Sinnlichkeit als solcher zugeschrieben.
In der Analytik dagegen schreibt er dieselbe Vorstellung dem Zusammen-
wirken von Sinnlichkeit und Verstand zu. Angesichts dieser Inconsequenz
werden wir nns über eine weitere Inconsequenz desselben nicht wundern.
In der Dialektik, zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach, direct aber
in den Met. Anf. d. Natur w. (I, 1. 2. und IV, Allgem. Anm. Ros. V, 322.
427 ff.) wird dieselbe Vorstellung der Vernunft zugeschrieben. „Der ab-
solute Raum kann kein Gegenstand der Erfahrung sein; denn der Raum
ohne Materie ist kein Object der Wahrnehmung, und dennoch ist er ein
nothwendiger Vernunftbegriff, mithin nichts weiter als eine blosse
Idee." „Der absolute Raum ist also nicht als ein Begriff von einem wirk-
lichen Object, sondern als eine Idee . . . nothwendig." (Vgl. auch Kr. d.
ürth. § 26. 27.)
Wir haben dabei nun angenommen, dass der absolute Raum im Sinne
Kants mit dem Raum als transscendentaler Form der Sinnlichkeit zusammen-
falle. Diese Identification, welche auch Riehl und B. Erdmann vertreten, ist
auch kaum zu umgehen, wenn nach der Darstellung in der Tr. Aesthetik
der Raum als „reine Anschauung", d. h. als eben nicht bloss als Form der
Anschauung, sondern schon als formale Anschauung gefasst wird. Der Wider-
spruch zwischen Aesthetik und Dialektik, dass nach jener die Vorstellung
des unendlichen Raumes reine Anschauung, nach dieser Vernunftbegriff
sein soll, ist dabei freilich sehr hinderlich; denn als irrelevant und bloss
formell kann man jenen Widerspruch doch nicht ansehen : ein Vernunftbegriff
ist doch nicht sinnlich, wie es doch die reine Raumvorstellung nach Kant
sein soll. Dazu kommt die weitere Schwierigkeit, dass nach den Met. Anf.
^ Nach Stadler, Reine Erk. 75 (40. 139), ist aber jene „Inconsequenz blosser
Schein"; und Mahaffy, CriL Phil. I, 59. 84 sagt: „This remarh', thoitgh contained
in a footnote, and not brought promlnently fonvard by Kantj is of the greatest
importance owing to recent objections, wkich asscrt, that Kant unphilosophicalhj iso-
lated the mental faculties, and regarded them as acting separatelg. He found it
necessary to treat them logically as if they tvere sejKiratef biit was not so stupid an
observer as to mistake piain factsJ^
230 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 89. [E 86. H 60. E 76.]
der Nat. Ros. V, 822 jenem absoluten Raum (welchen Kant Y, 427 einen
„sonderbaren Begriff** nennt), „logische Allgemeinheit" zukommt, was doch
gerade hier in der Aesthetik von der reinen Anschauung des Raumes aus-
drücklich geleugnet wird. Oleichwohl ist nicht recht einzusehen, worin
dieser absolute Raum der Physiker von jener reinen Raumanschaaung der
Mathematiker, von welcher die Aesthetik hier spricht, sich noch unter-
scheiden sollte. Man hat um so mehr Veranlassung, diese letztere mit
dem absoluten Raum zu identificiren , als sie ja, wie der Zusammenhang
der Abhandlung von 1768 mit der Dissertation von 1770 lehrt, direct ans
diesem herausgewachsen ist. Auch identificirt Kant in der Kr. d. r. V.
an der einzigen Steile, wo er in ihr den absoluten Raum erwähnt, in
der Anmerkung zur ersten Antinomie (A 431, B 459) offenbar denselben
mit der reinen Anschauung der Aesthetik (schwankt aber allerdings in der
Auffassung derselben als „Form der Anschauung" und „formaler Anschau-
ung" unklar hin und her. Vgl. dazu oben S. 107 u. S. 224). Und wo er in
der Kritik (A 200. 215) von der absoluten Zeit spricht, sagt er von ihr
ganz in derselben Weise, wie von der reinen Form der Anschauung, sie sei
„kein Gegenstand der Wahrnehmung". Auch bei Schulz, dem Freund Kants,
findet sich dieselbe Identification häufig. Vgl. auch Kants Reflexionen II,
N. 851. 413. 1418 ff. 1423. Lose Blätter I, 76 f.
Ganz anders liegt die Sache, wenn man als ursprünglich nur die
„Anlage" zur Raum an schauung betrachtet (vgl. oben S. 91 ff.). Dann ent-
wickelt sich aus dieser Anlage in Verbindung mit den Empfindungen der
empirische, relative Raum, und erst aus diesen empirischen Räumen „ab-
strahiren" (R. V, 322. 433) wir dann den reinen absoluten Raum. In dieser
Weise schildert denn auch Kant in den Anf. d. Nat. die Entstehung des
absoluten Raumes. Die Idee desselben gilt ihm daselbst keineswegs als an-
geboren, noch als a priori, sondern als herausgewachsen aus dem logiseben
Bedürfniss der Naturwissenschaft. Diese (sachlich ganz correcte) Auffassung
hat aber eine bedenkliche Consequenz; wenn der absolute Raum des Phy-
sikers so entstanden ist, warum soll der reine Raum des Mathematikers nicht
auch so entstanden sein? Zieht Kant diese Consequenz, dann fUllt auch die
Apriorität der Mathematik, und damit das ganze auf derselben so künstlich
errichtete Kantische Lehrgebäude. Vgl. auch Kuttner, Ks. versch. An-
sichten üb. d. Wesen d. Materie, Diss., Halle, 1881, S. 68 ff.
Riehl, dem jene Stellen aus den Met. Anf. d. Naturw. auch schon
aufgefallen sind, vermischt Krit. I, 352 ff. diese Fassung der Raumvorstellnng
als Idee = Vernunftbegriff mit der Fassung der Raum Vorstellung als ideal =
blosse Vorstellung, worüber unten zu A 27 weiter zu verhandeln ist. Ihm
gefcillt aber diese Bezeichnung des Raumes als „Idee" sehr gut, viel besser als
der von Kant in der Aesthetik gebrauchte Ausdruck ,, reine Anschauung", und
er bemerkt dann daselbst 355 Anm. ferner, der Nachdruck der Unterschei-
dung (in dem vorliegenden Argument) falle mithin auf die Unterscheidung
der Raumvorstellung von einem Verstandesbegriff (denn diesem entspreche
In welchem Sinne wird der Raum Anschauung a priori genannt? 231
[R 36. H 60. E 76.] A 25. B 39.
ein Gegenstand, dem Vernunftbegriff aber nicht), nicht auf die von einem
Begriffe. „Es wäre vielleicht besser gewesen, R. u. Z. sinnliche Begriffe
zum Unterschied von Denkbegriffen zu nennen, statt reine Anschauungen.
Uebrigens gebrauchen auch die Prolegomena den Ausdruck Elementar-
begriffe der Sinnlichkeit." Aber dass die letztere Bezeichnung nur eine
Keminiscenz Kants an eine frühere Epoche seiner Raumlehre sei, wurde
oben S. 158 gezeigt. Und wenn Kant R. u. Z. im Sinne Riehls als „sinn-
liche Begriffe" hätte bezeichnen sollen, hätte er ja seine ganze Aesthetik
umschreiben müssen, deren Lehre er allerdings, wie eben gezeigt, selbst
später umgestossen hat. —
Die Schlussfolgerung Kants in dem vorliegenden Argument lautet nun
genauer dahin, dass die Raumvorstellung eine apriorische, nichtempirische
Anschauung sein müsse. Aber nun erhebt sich die Frage, ob denn die vor-
hergehenden Beweisgänge dieses Argumentes zugleich auch die Apriorität
der Raumvorstellung, nicht bloss deren Anschaulichkeit beweisen sollen ? Kant
selbst weist mit keinem Worte auf diesen Zusammenhang hin. Man könnte
versucht sein, einen solchen Zusammenhang selbst herzustellen. Man könnte
zwar nicht von der Einzigkeit, wohl aber von der Einheitlichkeit des Raumes
ausgehen und so argumentiren : wenn die einzelnen Räume auf Einschränkung
des Einen, uneingeschränkten Raumes beruhen, so muss, da uns die em-
pirische Anschauung immer nur einen beschränkten Horizont gibt, die An-
schauung des unbeschränkten Raumes eine reine sein, unzweifelhaft könnte
Kant so argumentirt haben, aber wir müssen uns sagen, dass wir das bloss
im Sinne Kants sagen würden, nicht auf Grund seines Wortlautes hier. In
einer ähnlichen Weise Hess auch Fischer in der That in der 2. Aufl. seines
Werkes S. 334 f. Kant argumentiren: der unbegrenzte Raum kann niemals
Gegenstand unserer empirischen Anschauung sein, da diese stets eine be-
grenzte ist. In der 3. Aufl. findet sich diese Stelle jedoch nicht mehr.
Jedenfalls hat es Leser gegeben, welche angenommen haben, Kant
wolle in der That in diesem Argumente auch die Apriorität mit beweisen;
so ist dies der Fall bei dem sonst scharfsinnigen Brastberger, Unter-
suchungen S. 50. Aber er bekennt auch, dass jenes Argument die Apri-
orität nicht beweisen könne, wenn Kant das auch wolle. Auch bei
Villers in Rinks Mancherley S. 20/1 findet sich dieselbe Auffassung. In
diesem Sinne polemisirt besonders auch gegen dies Argument Beyersdorff,
Die Raum Vorstellungen, S. 32—35.
Einen sehr willkommenen Anhalt für die Entscheidung dieses Zwei-
fels finden wir nun in der Dissertation. Sowohl bei Erörterung der Zeit
als des Raumes geht da Kant so vor, dass er zuerst die Apriorität und
sodann die Anschaulichkeit und zwar jede für sich beweist, und diese
beiden Beweise entsprechen, wie wir sahen, theilweise den Argumenten der
Kritik. Bei der Zeit heisst es ausdrücklich (§ 14, 3): ,J(ha itaque tem-
poris est ttituüus, et quoniam ante omnem sensationein concipitur, tanquam
<;onditio respectmnn in sensibilihus ohviormn, est intuitus non senstiaiis, sed
232 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 25. B 39. [R 36. H 60. E 76.]
purus" Aohnlich § 15 C über den Raum: „Conceptus spaiii itaqut est
intuitus piirus; cum sit conceptus singularis, sensationibus non con flatus, sed
omnis sensationis externae forma fundamentalis,^^ Man sieht beidemal die
reinliche Trennung der beiden Gesichtspunkte; nachdem im ersten Beweise
die Apriorität, im zweiten die Anschaulichkeit des Raumes bewiesen worden
war, wird das Resultat gezogen und dabei werden jene beiden Fragen hübsch
gesondert. Dass hier in der Kritik diese Sonderung nicht ebenso deutlich
durchgeführt wird, ist ein entschiedener Fehler. Es müsste in irgend einer
Weise darauf hingewiesen sein, dass die hier eingeführte Behauptung der
Apriorität nicht auf Grund dieses eben behandelten Argumentes selbst auf-
gestellt wird, sondern nur als Recapitulation der beiden ersten Raumargu-
mente gerechtfertigt ist. Für diese Auffassung spricht auch das ent-
sprechende Zeitargument, in welchem die Apriorität im eigentlichen Beweise
gar nicht vorkommt. Dieselbe Auffassung hat auch Fischer, 3. Aufl. S. 332.
Auch der Schluss des Satzes bietet noch Schwierigkeiten. Die erste
Auflage sagt: „allen Begriffen von denselben muss Anschauung zum Grunde
liegen", die zweite sagt „von demselben". „Denselben" bezöge sich auf
die vorher erwähnten ,, Räume", „demselben" auf den allgemeinen Raum
selbst. Die letztere Bezeichnung dürfte wohl die natürlichere sein. Doch
haben namhafte Commentatoren die Beziehung auf die Einzelräume ange-
nommen, z. B. Schulze, Kritik d. th. Philos. I, 209; Maimon, Unter-
suchungen S. 74. Aehnlich auch Beck, Auszug I, 10. Auf einer ähnlichen
Auslegung beruht vielleicht die wunderliche Stelle bei Reinhold, Th. d.
Vorst. 394 f.
Zieht man aber die Lesart der 2. Auflage als die von Kant gewollte
vor, wie das die meisten Erklärer thun, so erhebt sich eine Doppelfrage:
einmal, warum ist denn von Begriffen des Raumes im Plural die Rede?
Wenn das nicht doch auf die Pluralität der Räume in ihm zielen soll, so
müsste „Begriffe" so viel sein als ,,die begrifflichen Bestimmungen" und
Erörterungen der Eigenschaften des Raumes. Sodann könnte man fragen,
wie denn der Raum nun doch zu einem Begriffe oder gar zu Begriffen
komme, nachdem doch von der Raumvorstellung alle Begrifflichkeit zu-
rückgewiesen worden war» nachdem ihre Anschaulichkeit so stark betont
worden war. Darauf antworten die Commentatoren, z. B. Jacob in
seinem Grundriss S. 260: ,,Der Raum ist Anschauung, ob sich gleich manche
gemeinsame Merkmale von den einzelnen Theilen dieser Anschauung ab-
ziehen , und daraus allgemeine Begriffe von den Eigenschaften und Ver-
hältnissen des Raumes bilden lassen, wie dieses bei allen Anschauungen der
Fall ist, wenn sie der Verstand bearbeitet." Dasselbe sprach schon Mellin
aus (IT, 476; vgl. I, 495). Ebenso Schaum an n, Aesthetik 47, 51. Aehn-
lich Holder in seiner Darstellung S. 12: ,,Auch von Raum und Zeit werden
allerdings Begriffe gebildet, sobald man ihr Wesen in bestimmten Worten
auszudrücken versucht; ihr Wesen selbst aber, die ursprüngliche Gestalt,
in der sie im Bewusstsein auftreten, ist Anschauung". Ganz in diesem
Der Raum als intuitus, quem aequitur concepius. 233
[R 36. H 60. E 76.] A 26. B 39.
Sinne sagt auch Kant selbst in der „Transsc. Erört." B 40: „Der Raum
muss ursprünglich Anschauung sein^S d. h. nachher kann wohl ein
Begriff von ihm gebildet werden, aber von Hause aus ist er Anschauung.
Er genügt zur Erklärung der synthetischen Natur der Geometrie nicht, wie
es dort weiter heisst, dass er „blosser Begriff** sei, d. h. nur Begriff (also
von der Raumvorstellung lässt sich auch ein Begriff bilden), aber nur Be-
griff darf der Raum nicht sein, sondern vor allem muss diesem Begriff
eine Anschauung zu Grunde liegen. Vgl. auch Kants Reflexionen II, N. 335:
„Der Raum ist kein Vernunftbegriff, aber die Metaphysik sucht den Ver-
nunftbegriff davon.'* Einen charakteristischen Ausdruck hat Kant dafür in
seinem nachgel. Werk XXI, 565 f. gefunden: Der Raum ist Anschauung
(intuitus), noch nicht Begriff (conceptus), d. ist die Vorstellung des Einzelnen,
noch nicht die, welche vielen gemein ist; er ist ijituitus, quem aequitur
conceptus. In diesem Sinne bemerkt B. Erdmann in seinen „Axiomen der
Geometrie** S. 36: „Die Wahrheit der Classificirung der Raumvorstellung
als einzigartiger Raum an schauung lässt sich nach Kants epochemachenden
Untersuchungen, die wenigstens in diesem Punkt allen Angriffen siegreich
widerstanden haben, nicht mehr bezweifeln. Jedoch ebenso sicher ist, dass
sie nicht die volle Wahrheit enthält. Gerade mathematische Betrachtungen
lehren, dass der Raum unbeschadet dieses seines ursprünglichen Charakters
auch als ein Begriff aufgefasst werden kann, der sich als ein wohlbestimmtes
Glied in eine grosse Reihe entsprechender Begriffe einordnen lässt.** Vgl.
dazu desselben „Kriticismus**, S. 187, Anm. Aehnlieh, aber weitergehend
Riehl, Krit. II, a, 116. Vgl. dazu Schneider, Das Apriori, 109 ff. —
Vgl. Wundt, Logik I, 449—450, und dagegen Cohen, 2. A. 127.
Sechster Satz: Bestätigung^ aus dem Yerfahren der Geometrie*
Der Sinn dieses Satzes als solcher ist sehr klar: er enthält die von Kant so
oft wiederholte Lehre, dass die mathematischen ürtheile nicht auf Begriffen,
sondern auf Anschauungen basiren. (Dass diese Sätze auch apriorische und
apodiktische seien, gehört nicht eigentlich in diesen Zusammenhang.) Kant
wendet sich damit gegen die Lehre von Leibniz; denn nach diesem ist der
Raum als ordo coexisteiHium ein blosser Verstandesbegriff und aus diesem
Begriff fliesse analytisch die Mathematik. Daher haben auch die Leibnizianer
diese Folgerung heftig bekämpft, voran die Eberhard'sche Zeitschrift, bes.
Maass und Schwab. Speciell gegen diesen Satz hat Oavrier noch 1808 seine
Schrift: Theorie der Parallelen (06 S.) geschrieben.
Die Frage ist nun, ob dieser mit „So werden auch" u. s. w. ein-
geleitete Satz seinem logischen Werthe nach hier als Folgerung oder als
Beweismoment anzusehen ist? Für die letztere Auffassung spricht die
Parallelstelle bei der Zeit: „Auch würde sich der Satz, dass verschiedene
Zeiten nicht zugleich sein können, aus einem allgemeinen Begriff nicht her-
leiten lassen. Der Satz ist synthetisch und kann aus Begriffen allein nicht
entspringen. Er ist also in der Anschauung der Zeit unmittelbar enthalten."
Diese Auffassung theilt auch Schultz in seinen Erläutei'ungen S. 23, welcher
234 § 2. Viertes (B drittes) Raumargument.
A 26. B 89. [E 36. H 60. E 76.]
geradezu einen eigenen, besonders aufgezählten Beweis hieraus macht; und
ihm schliesst sich Lossius III, 515 an. Allein für diese Auffassung spricht
weder der Wortlaut der Stelle selbst, noch die naheliegende Parallele mit
dem dritten Raumargument (A). Auch in diesem wurden ja Eigenschaften
der mathematischen Urtheile ins Feld geführt, aber ausdrücklich im Sinne der
Folgerung (vgl. oben S. 203). Diese Auffassung findet sich u. A. bei
Brastb erger, Untersuchungen S. 44, sowie in den „Uauptmomenten''
S. 91, welche beide die Wiedergabe dieses Satzes mit „daher** einleiten.
£ine Mittelstellung zwischen diesen beiden Auffassungen zwischen Beweis-
grund und zwischen Folgerung nimmt die Darstellung der Dissertation
§15 0 ein; wir können sie logisch als Bestätigung bezeichnen: „Hunc
vero intuitum purum in axiomatihus geometriae et qualihet comtmctione posixt-
latorum mentali animadveriere proclive est.*^ (Die Fortsetzung davon s. oben
S. 203 in dem dritten Raumargumente nach der 1. Aufl.) Wenn nun , wie
bemerkt, dieser Satz dem ursprünglichen dritten Raumargument parallel geht,
und wenn dieses in der 2. Auflage gestrichen resp. in die Transscendentale
Erörterung verwandelt worden ist, so fragt sich, warum Kant nicht in der
2. Auflage auch diese Stelle gestrichen hat, da doch der Inhalt derselben
sogleich in der Transscendental-Erörterung , und damit am richtigen Orte,
wiederkehrt. Wenn man zusieht, wie Kant das bei der Zeit gemacht hat
(s. unten zu A 31, B 47), so kann man auch hier nur sagen: der Grand war
eben Nachlässigkeit und Bequemlichkeit; nichts anders. Dagegen sagt Cohen
(1. Aufl. S. 28; 2. Aufl. 123): „Hier ist die Bezugnahme auf die Mathematik
an ihrem Platze; nach dem zweiten Satze [d. h. Beweise] war sie noch
nicht hinlänglich vorbereitet. Darum ist der dritte Satz der 1. Ausg. ge-
strichen worden; aber was sich darauf Bezügliches in dem vierten Satze fand,
ist in der 2. Ausg. beibehalten worden." Die Bezugnahme auf die Mathe-
matik war nach dem zweiten Beweis so gut vorbereitet wie hier, darin
liegt also keine stichhaltige Entschuldigung.
Eine werthvolle Ergänzung und Erläuterung zu dieser Stelle bilden die
Ausführungen der Methodenlehre A 712 ff. = B 740 ff. über den charakteristi-
schen Unterschied des mathematischen Verfahrens vom philosophischen. Der
Unterschied wird von K. kurz so formulirt, dass die Mathematik auf dem
„intuitiven Vernunftgebrauch durch die Construction der Begriffe" beruht,
die Philosophie auf „dem discursiven Vernunftgebrauch vermittelst blosser
Begriffe." Eben deshalb kann ein Philosoph mit dem „Begriff des Triangels"
nichts anfangen (denn bloss analytische Sätze, die er etwa herausbringen
kann, sind werthlos); während der Mathematiker jenen Begriff ,,constniirt*\
d. h. demselben eine Anschauung a priori unterlegt, „entweder durch blosse
Einbildung in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der
empirischen Anschauung, beidemal aber völlig a priori, ohne das Muster
dazu aus irgend einer Erfahrung erborgt zu haben". (Von dieser Con-
struction a priori, welche nachher eine so grosse Rolle spielt, ist hier in
der Aestbetik merkwürdiger Weise noch gar nicht die Rede. Nur im dritten
Die Rolle von Anschauung und Verstand in der Geometrie. 235
[R 36. H 60. E 76.] A 26. B 89.
Argument der ersten Auflage [vgl. oben S. 208] war dieselbe ursprünglich er-
wähnt gewesen, aber nicht am richtigen Orte.) Damit bringt Kant auch
gelegentlich (Tugendlehre, Einl. XIII) in Zusammenhang, dass für einen
und denselben mathematischen Satz eine Mehrheit von Beweisen möglich
ist ; das sei bei Beweisen aus Begriffen nicht möglich, wohl aber bei solchen
aus der Construction der Begriffe in der Anschauung, „weil in der An-
schauung a priori es mehrere Bestimmungen der Beschaffenheit eines Ob-
jectes geben kann, die alle auf denselben Grund zurückführen.*' Eine be-
lehrende Parallelstelle bieten die Reflexionen Kants, II, N. 355 und 356:
„Die synthetischen Sätze des Raumes liegen nicht in dem allgemeinen Be-
giiffe des Raumes, so wenig wie die chemischen Erfahrungssätze vom Golde
im allgemeinen Begriff desselben, sondern werden aus der Anschauung des-
selben gezogen, oder in der Anschauung desselben gefunden."
Kant sagt: Die geometrischen Grundsätze werden aus der Anschauung
abgeleitet; sie sind also nicht, wie Helmholtz („Das Denken in der
Medicin*') Kant sagen lässt, „durch transscendentale Anschauung gegeben.'*
Diesen Ausdruck hat auch schon Riehl, Krit. II, a, 113 zurückgewiesen. —
Kant hat sogar an mehreren Stellen betont, dass es zu der Aufstellung jener
Grundsätze aus der Anschauung der Mitwirkung des Verstandes bedürfe ; so
heisst es A 159, die mathematischen Grundsätze a priori seien aus reinen
Anschauungen, aber „vermittelst des Verstandes** gezogen. Nach B 147 sind
sogar die reinen Verstandesbegriffe dazu nothwendig. Aber trotzdem so
der Verstand zu den mathematischen Grundsätzen nothwendig ist, gehören
dieselben doch, wie K. auch A 149 wiederholt, nicht zu den Grundsätzen
des reinen Verstandes, weil ihr Substrat eben doch die Anschauung ist; so
hiess es auch schon Diss. § 5: quae in geometria reperiuntWj formae sensi-
tivae principia, quantumcunque iniellectus circa illa versetur, argimientanäo
a sensitive datis (per intuiium pumm) secundtim regulas logicas, tarnen 7ion
excedunt sensitioorum classem. Vgl. daselbst § 15, C: , ^Ceter um geometria pro-
positiones suas universales non demonstrat, ohjectum cogitando per concep-
tum universalem^ quod fit in rational ibus , sed illud oculis subjiciendo ^^^r
intuitum singularem, quod fit in sensitivis'" und dazu das Corollar ebenda-
selbst : Ergo omnes affectiones primitivae hortnn conceptuvm (spatii et temporis)
sunt extra can^ellos rationis, ideoque nullo modo intellectualiter explicari
possunt. Nihilo tarnen minus sunt s übst rata intellectus, e datis intuitive
primis, secundum leg es logicas, consectaria concludentis , maxima qua fiei-i
potest certitudine. Diese Rolle des Verstandes bei der Ausbildung der
mathematischen Lehren betont Kant bes. Proleg. § 38.
Solchen Stellen zufolge würde sich Kant wohl gegen die Consequenz
gesträubt haben, welche Schopenhauer aus der hier vorgetragenen Lehre
Kants gezogen hat. Er wirft nämlich der Geometrie, welche sich an Eu-
klides angeschlossen hat, vor, in den Beweisen der einzelnen Sätze an Stelle
der rein anschaulichen Evidenz die logische gesetzt, und damit an Stelle
directer Beweisführung aus der Anschauung den verkehrten Umweg über
236 § '^' Viertes (B drittes) Raumargument.
A 26. 6 39. [B 36. H 60. E 76.]
begriffliche Opeiationen eingeschlagen zu haben. Vgl. Satz vom Grunde
§ 89; Welt als Wille T, 75; 82. ff., und in der daselbst angegängten Kritik
d. K/schen Philosophie 519 wirft er Kant vor, er sei „mit seinen Gedanken
nicht zu Ende gekommen*'; denn nachdem er besonders A 87 gesagt habe,
dass „die geometrische Erkenntniss, weil sie sich auf Anschauung a priori
gründet, unmittelbare Evidenz hat'S hätte er auch die ganze Euklidische
Demonstrirmethode verwerfen müssen. (Schon Schulze, Kr. d. th. Philos. II,
241 habe auf diese Consequenz hingewiesen.) Vgl. Welt II, 142 f., Parergall,
24; Memorabilien 538; Briefw. mit Becker 69 f. Vgl. Kosack, Systematische
Entwicklung der Geometrie aus der Anschauung. Progr. Nordhausen 1853.
J. C. Becker, Reform des mathematischen Unterrichts. Progr. Wertheim l^SSO.
Windelband, Gesch. d. n. Ph. II, 56. B.Erdmann, Axiome d. Geometrie S. 29.
Ein sehr beUchtenswerther Einwand findet sich bei Riehl, Krit. II, a, 10">.
Er lässt Kant an dieser Stelle sagen: „Die wesentlichen Eigenschaften vod
R. u. Z., so die Anzahl ihrer Dimensionen u. s. w. . . . können nicht aus all-
gemeinen Begriffen (etwa dem Begriff der mehrfach ausgedehnten
Mannigfaltigkeit) abgeleitet, sondern nur in R. u. Z. selbst, gleichwie
in concreten Dingen, mithin anschaulich erkannt werden,** macht aber S. 107
dagegen den treffenden Einwand: „dass die Grundeigenschaften von B. u.Z.
nur noch anschaulich, nicht discursiv erkennbar sind, vermag doch nicht ihre
Vorstellungen von den übrigen Begriffen zu unterscheiden, da schliesslich die
Grundlagen aller Begriffe anschaulich sein müssen. Uebrigens Hesse sich noch
im Speciellen zeigen, dass diese anschauliche Erkenntniss der fundamentalen
Eigenschaften von R. u. Z. keine aprioristisch anschauliche ist, dass z. B.
der Begriff der Richtung von bestimmten Bewegungsgefuhlen des Körpers
ausgeht, und die empirische Grundlage des geometrischen Coordinaten-
Systems, worauf der Beweis der nur dreifachen Abmessung des Baumes
beruht, der Gleichgewichtssinn unseres Körpers ist."
Sachlich beachtenswerth ist auch die Bemerkung von B. Erdmann
zu dieser Stelle in seinen „Axiomen der Geometrie**, S. 171: „Eben jene
Eigenschaften des Raumes, die Kant benutzt hat, darzuthun, dass seine Vor-
stellung eine anschauliche, keine begriffliche sei, sind in etwas anderer Be-
tonung zugleich beweiskräftig für die eigenartige, freie [von jeder besonderen
Erfahrung unabhängige] Entwicklung der Geometrie selbst unter der Vor-
aussetzung, dass die Raum Vorstellung empirischen Ursprungs sei. Die Geo-
metrie bedarf keiner besonderen Erfahrung, sie begnügt sich mit der Ranm-
vorstellung als solcher, weil man sich eben, um mit Kant zu reden, nur
einen einigen Raum vorstellen kann und man, wenn man von vielen Räumen
redet, darunter nur Theile eines und desselbigen alleinigen Raumes verstehen
kann." Diese letztere von Kant so betonte Eigenthümlichkeit des Raumes
Hesse sich also auch von der Basis der empirischen Raumtheorie aus ver-
stehen, und auch diese verbürge eben damit die Unabhängigkeit der Geo-
metrie von jeder besondern Erfahrung, die also nicht den aprioristischen
Ursprung der Raumgeometrie beweise.
UebergaDg zum letzten Raumargument. 237
[R 36. H 60. E 76.] A 25.
Fünftes (= 2. Aufl. viertes) Raumargnment.
Torbemerkungeii. Die erste und zweite Auflage differiren in Bezug
auf dieses Argument sehr wesentlich. Mit Ausnahme des ersten Satzes ist
das ganze Argument in der zweiten Auflage ein anderes geworden. Jedes dieser
Argumente muss daher für sich behandelt werden ; und erst wenn der Sinn
jedes Einzelnen für sich genau eruirt ist, kann das gegenseitige Verhältniss
der Beiden festgestellt werden. Eine Vermischung beider Argumente, wie
sieh dies manchmal, z. B. bei Cohen findet, darf durchaus nicht zugelassen
werden. Peinliche Scheidung ist die Vorbedingung einer scharfen Analyse.
Im Uehrigen kann sogleich bemerkt werden: das vorhergehende Argument
bewies, der Begriff habe Eigenschaften, welche die Raumvorstellung nicht
habe, also sei sie kein Begriff; dieses Argument beweist, dass Eigenthüm-
lichkeiten, welche nur bei Anschauungen, nicht bei Begriffen vorkommen,
sich beim Eaum finden; also sei er eine Anschauung.
Erste Bedaction (A). Das Argument besteht in der ersten Auflage
aus drei Sätzen, deren logischer Zusammenhang nicht ohne Weiteres klar ist,
vor allem, weil hier die sonst üblichen Conjunctionen ,,denn" und „also"
fehlen. Trotzdem kann bei aufmerksamer Beobachtung kein Zweifel über
diesen Zusammenhang stattfinden. Der Schlüssel zu demselben liegt hier —
wie das so oft bei verwickeiteren Gedankengängen der Fall ist — im Schluss-
satze: „Kein Begriff von [räumlichen] Verhältnissen würde ein Principium
der Unendlichkeit derselben bei sich führen"; ein solches Principium liegt
nur in der Anschauung, in deren Natur der grenzenlose Fortgang ge-
gründet ist. Also ist es offenbar wiederum der Gegensatz von Begriff
und Anschauung, um den es sich handelt, wie im vorigen Argument,
und daraus folgt als eigentliches Beweisthema der Satz: der Raum ist kein
allgemeiner Begriff von Verhältnissen, sondern — eine Anschauung. Diese
These ist somit genau dieselbe wie im vorigen Argument. Was wir hier
haben, ist nicht eine neue These, sondern ein neuer Beweis für die alte
These. Worin besteht nun der neue Beweisgrund? Offenbar darin, dass
der Raum als unendliche Grösse vorgestellt wird. Diese Unendlichkeit der
Raumvorstellung lässt sich ja, wie der Schlusssatz deutlich sagt, nicht er-
klären, wenn dieselbe als Begriff gefasst wird, sie lässt sich nur erklären,
wenn die Raumvorstellung als Anschauung charakterisirt wird. Also der
Beweisgrund ist die Thatsache der Unendlichkeit der Raumvorstellung. Diese
Thatsache ist in dem ersten Satze ausgedrückt.
Wie verhält sich nun dazu der Mittelsjitz? Derselbe besagt, dass durch
einen allgemeinen Begriff vom Raum „in Ansehung der Grösse nichts be-
stimmt würde". Wäre die Raumvorstellung ein Allgemeinbegriff, der das-
jenige enthielte, was den einzelneu Räumen und räumlichen Verhältnissen
gemeinsam ist (was also z. B. einem Fuss und einer Elle gemeinsam ist),
— so würde in diesem gemeinsamen Merkmalbestand über die Grösse der
238 § 2. Erste Auflage: Fünftes Raumargument.
A 26. [B 86. H 60. E 76.]
Baumvorstellang nichts gesagt sein können : denn die einzelnen Räume haben
ja eine sehr verschiedene Grösse. So enthält ja auch z. B. der Allgemeinbegriff
„Stein*' kein Grössenmerkmal in sich. Wäre also die Raumvorstellnng über-
haupt derjenige Allgemeinbegriff, der nur das Oemeinschaftliche der verschieden
grossen Räume in abstracter Form zusammenfassen würde, so könnte in
diesem Allgemeinbegriff auch über die Grösse der Raumvorstellung keine
Bestimmung getroffen sein. Nun aber ist eben thatsächlich in unserer
Raum Vorstellung über die Grösse des Raumes eine Bestimmung und daza
eine sehr wichtige getroffen : , ,Der Raum wird als eine unendlicheGrÖsse
gegeben vorgestellt.'* Ein allgemeiner Begriff vom Räume kann nun über
die Grösse desselben, wie wir eben sahen, keine Bestimmung entlialten,
„denn die differente Raumgrösse der einzelnen Anschauungen gibt kein
identisches GrössenmerkmaP' (6. Erdmann, Eriticismus S. 165; Eants Re-
flexionen II, S. 110 Anm.); und noch viel weniger kann ein solcher All-
gemeinbegriff gar die Bestimmung der unendlichen Grösse enthalten.
Demnach ist der Zusammenhang genauer folgender: Die stillschweigend
involvirte These des Argumentes ist: die Raumvorstellnng ist Anschauung,
nicht Begriff. Der Beweisgrund für dieselbe ist die Thatsache, dass der
Raum als unendlicheGrÖsse vorgestellt wird. (Erster Satz.) Dies kann
nicht erklärt werden , wenn die Raumvorstellung ein Begriff ist. Ein All-
gemeinbegriff vom Räume, der das Gemeinsame verschieden grosser Räume
zusammenfassen würde, würde überhaupt nichts Gemeinsames bestimmen
können in Ansehung der Grösse jener allgemeinen Raumvorstellnng.
(Zweiter Satz.) Und gar die Bestimmung der Unendlichkeit für jene
Raumvorstellung kann sich niemals aus einem Allgemeinbegriff räumlicher
Verhältnisse ergeben, sondern nur aus einer ins Grenzenlose fortgehenden
Anschauung. (Dritter Satz.) Für diesen Zusammenhang spricht auch fol-
gende Stelle der Prolegomena. Im § 12 heisst es da: „Dass man verlangen
kann, eine Linie soll ins Unendliche gezogen oder eine Reihe Veränderungen
solle ins Unendliche fortgesetzt werden, setzt doch eine Vorstellung des
Raumes und der Zeit voraus, die bloss an der Anschauung hängen kann,
nämlich sofern sie an sich durch nichts begrenzt ist; denn aus Begriffen
könnte sie nie geschlossen werden.'^ Diesen Zusammenhang hat nun Kant
selbst verdunkelt (auch B. Erdmann, Eriticismus 165 wirft der Argu-
mentation Mangel an „Durchsichtigkeit" vor), einmal durch die knappe
Ausführung seiner Gedanken, sodann besonders durch eine eigentbümliche
Inconsequenz der Darstellung: bei den vorhergehenden Beweisen (mit Aus-
nahme des dritten) enthält der erste Satz jedesmal die zu beweisende These;
während hier der erste Satz nicht die These, sondern den Beweisgrund aus-
spricht. Diese Ungenauigkeit ist auch in die 2. Auflage übergegangen, und
hat bei den Commentatoren bisher grosse Verwirrung angerichtet, wie gleich
nachher (S. 253 f.) besprochen werden wird.
Die Commentatoren haben nun fast durchgängig die erste Redaction
dieses Argumentes gar nicht in Betracht gezogen, und sich nur an die zweite
Erste Redaction: Der Raum Anschauang, weil grenzenlos. 239
[B 86. 712. H 60. E 76.] A 25. B 89.
Auflage gehalten. Nur diejenigen Commentatoren , deren Werke vor 1787
erschienen, hahen, da sie nur den Wortlaut der ersten Auflage vor sich
hatten, sich auf denselben einlassen müssen. Schulz (Erl. 23; vgl. auch
Lossius, Lex. III, 516) hat den Sinn des Argumentes verkannt, weil er es
irrthümlicber Weise mit dem letzten Zeitargument zusammenwirft, was (vgl.
unten) gänzlich irrig ist. Dagegen ganz richtig Kants scharfsinniger Gegner
Feder (Raum S. 10 f.).
In der neueren Kant-Literatur ist die erste Redaction selten berück-
sichtigt worden; eine rühmliche Ausnahme macht Cohen, welcher an
mehreren Stellen auf den Wortlaut derselben eingeht. (1. Aufl. S. 29 f.;
50. 65; 2. Aufl. S. 125 f. 129. 166.) Cohen hat (bes. 1. Aufl. S. 30; 2. Aufl.
S. 126) Eines richtig gesehen, nämlich dass die These bewiesen werden soll,
dass der Raum Anschauung ist und nicht Begrifi^. Aber in diese richtige
Einsicht mischt sich ein Irrthum, wenn er sagt, man „dürfe diesen Satz
nicht als einen besonderen Satz, sondern nur als die Bestätigung des
dritten ansehen.^ Aus den obigen Ausführungen geht der Irrthum Cohen's
hervor: dieses Argument ist nicht eine „Bestätigung*^ des vorigen, sondern
es gibt einen neuen Beweisgrund für dieselbe These. Im Uebrigen ist
seine Construction des Zusammenhanges möglichst wunderlich. In dem ersten
Satze des Argumentes findet er eine „dem Räume als reiner Anschauung wider-
strebende, anstössige Thatsache'', welche Kant als Frage und Selbstein wurf
gemeint habe u. s. w. Unsere oben gegebene Analyse des Zusammenhanges
überhebt uns der Nothwendigkeit, hierauf uns hier näher einzulassen. Vgl,
auch Wallace in der Academy, Apr. 1882, S. 518. (Gegen Max MüUer's
Uebersetzung der Stelle.) Nach A dick es 74 N. ist die Fassung von A vor-
zuziehen, weil nur sie wirklich einen neuen Gesichtspunkt bringe.
Zweite Redaction (B). Auch hier wollen wir zuerst den Zusammen-
hang aus dem Kantischen Wortlaut selbst herausstellen, ehe wir auf die
Auffassungen anderer £rklärer eingehen. In der zweiten Auflage besteht
das Argument aus 4 Sätzen. Wäre der Sinn und Zusammenhang derselben
so ohne Weiteres klar, so würde nicht so viel Streit gerade über dieses
Argument entstanden sein. Die allgemeine Absicht des Argumentes lässt
sich auch hier wiederum am leichtesten aus dem Schlusssatz finden,
welcher hier, im Gegensatz zur ersten Auflage, den Vorzug besonderer Klar-
heit hat (wie schon Cohen, 1. A. S. 30, 2. A. S. 126 richtig bemerkt hat).
Hier sagt Kant ja ganz deutlich, was er in dem Argument bewiesen haben .
will: dass die Raumvorstellung nicht Begriff, sondern Anschauung
sei. Wir haben hier somit dasselbe Beweisthema wie in der ersten Auf-
lage, und somit auch dasselbe, wie in dem vorhergehenden Argument. Aber
es ist auf den ersten Blick klar, dass, wenn auch das Beweis thema das-
selbe ist wie in der ersten Auflage, doch der Beweisgrund nicht derselbe
geblieben ist. Zwar wird auch hier wiederum wie in der ersten Auflage,
im ersten Satze mit denselben Worten die Unendlichkeit der Raum Vor-
stellung als Thatsache ins Feld geführt zum Beweis für jene These, aber
240 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 89. 40. [R 712. H 60. K 76.]
diese Thatsache wird doch hier offenbar in einem ganz anderen Sinne ver-
werthet, als vorhin.
Zu welchem Zwecke und in welchem Sinne Kant hier die Unendlichkeit
der Raumvorstellung einführt, das geht aus den beiden Mittelsätzen hervor.
Der erste Mittelsatz gibt im Allgemeinen an, was bei einem Begriff sich finde
und nicht finde; der zweite Mittelsatz wendet diese allgemeine firwSgung auf
die Raum Vorstellung im Speciellen an, um nach jenem Maassstabe zu prüfen,
ob die Raumvorstellung denn ein Begriff sei und sein könne, oder nicht.
Es wird also zu diesem Zweck etwas aus der allgemeinen Theorie
des Begriffes von Kant angeführt, was ganz allgemein bekannt, was gang
und gäbe ist; was also auch in Kants Logik behandelt sein muss. In der
That finden wir die betreffende Lehre daselbst an zwei Stellen erörtert: in
der Einleitung VIII und im § 7. Es handelt sich dabei um das Verhältniss
des Allgemeinbegriffes zu den Vorstellungen der Einzeldinge. Dieses Ver-
hältniss kann nun von zwei Seiten her betrachtet werden: entweder man
setzt die Einzel Vorstellungen voraus und fragt, wie sich zu diesen der All-
gemeinbegriff verhalte, oder man schlägt den umgekehrten Weg ein. Wenn
man die vielen Einzelvorstellungen voraussetzt, so ist der Allgemeinbegriff,
wie es hier heisst, „als ihr gemeinschaftliches Merkmal* in ihnen ent-
halten, oder wie Kant es in der Logik ausgedrückt haben will, jener All-
gemeinbegriff kehrt als „Theilbegriff* in allen diesen Einzelvorstellungen als
gemeinsames Element wieder. Nehmen wir mit Meli in VI, 279 ein Bei-
spiel: „Ein jeder Begriff, z. B. Metall, ist in der Vorstellung der Dinge ent-
halten , als Theilbegriff .... Das Silber z. B. ist ein vollkommenes Metall
von weisser Farbe und einem schönen Glänze. Hier haben wir die Theil-
begriffe: Metall, Farbe, Glanz, vollkommen, weiss, schön; unter ihnen findet
sich also auch der Theilbegriff Metall." „Der Begriff: Metall gehört also
zu dem Inhalt der Begriffe Silber, Gold, Kupfer" u.. s. w. als Theilbegriff
derselben, und findet sich in allen denselben als gemeinschaftliches Element,
und ist somit in ihnen enthalten.
Anders stellt sich das Verhältniss dar, wenn man .den entgegengesetzten
Weg einschlägt, wenn man von dem Allgemeinbegriffe selbst ausgeht: dann
sind die Einzeldinge unter ihm enthalten: denn (so heisst es in K.s
Logik § 8) „so wie man von einem Grunde überhaupt sagt, dass er die
Folge unter sich enthalte, so kann man auch von dem Begriffe sagen, dass
er als Erkenntnissgrund alle diejenigen Dinge unter sich enthalte, von
denen er abstrahirt worden ; z. B. der Begriff Metall das Gold, Silber, Kupfer
u. s. w. Denn da jeder Begriff, als eine allgemeingültige Vorstellung, das-
jenige enthält, was mehreren Vorstellungen von verschiedenen Dingen ge-
mein ist, so können alle diese Dinge, die insofern unter ihm enthalten
sind, durch ihn vorgestellt werden. Und eben dies macht die Brauchbar-
keit eines Begriffes aus." Diese Kantischen Bestimmungen entsprechen durch-
aus der traditionellen und der zeitgenössischen Logik; man vergleiche z. B.
G. F. Meier's Vernunftlehre, Halle, 1752, S. 168 ff. C. Meilin IV, 247 ff.
Aus der Kantisclien Theorie des Begriffs. 241
[R 712. H 60. K 76.] B 39. 40.
Diese Bestimmungen (welche zum Theil dem oben beim vorigen Argu-
ment S. 204. 214 Vorgetragenen entsprechen) erweitert nun Kant in seiner
Kr. d. r. V. hier durch einen eigenthümlichen Zusatz (vgl. Adickes 74 N.) : der
Einzelvorstellungen , in denen ein Allgemeinbegriff immer wieder als deren
Theilbegriff wiederkehrt , können es unzählige sein.' Ganz abgesehen da-
von, dass es unzählige Metall arten geben könnte, so gibt es ja unzählige
Metallgegenstände, in denen, resp. in deren Vorstellung eben jener
Allgemeinbegriff immer wieder als Theilbegriff enthalten ist; denn er ist ja
deren ,, gemeinschaftliches Merkmal^. Eben darum können und müssen es
auch unzählige Dinge resp. Vorstellungen von Einzeldingen sein, welche
unter jenem Allgemein begriff enthalten sind resp. enthalten sein
können. Ganz dasselbe will Kant A 71 sagen, wo er dem allgemeinen
Ur theil die „Unendlichkeit" prädicirt. In diesem Sinne also spricht Kant
von einer »unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstel-
lungen*', in denen jeder Begriff enthalten sein kann, und welche daher
auch unter ihm enthalten sein müssen. Aber in einem anderen Sinne ist
clie Unendlichkeit von dem Wesen der Begriffe abzuweisen: kein eigentlicher
Begriff »als ein solcher**, d.h. keine Vorstellung als Begriff im logischen
Sinne betrachtet, enthält eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich.
Ein Begriff selbst ist in unendlich vielen Einzelvorstellungen enthalten, und
enthält darum auch diese unter sich; aber er kann nicht auch unendlich
viele Einzelvorstellungen in sich enthalten; das liegt nicht in der Natur
eines Begriffes — als solchen.* Offenbar will hier Kant den Ausdruck
„Begriff« premiren; er nimmt ihn in dem streng logischen Sinn gegenüber
■dem (oben S. 158 erwähnten) laxeren Gebrauch des Ausdruckes. Er will
sagen: keine Vorstellung, sofern sie als logischer Begriff betrachtet wird,
ihrer formellen Beschaffenheit nach als Begriff, kann jene Eigenschaft
haben. Eine Vorstellung, welche diese Eigenschaft hat, muss jedenfalls
ihrer Form nach etwas anders sein, auf keinen Fall kann sie sein ein Be-
griff — als ein solcher.
Dieser Kantische Zusatz — als solcher — hat, was hier einge-
schoben sei, auch schon Cohen beschäftigt. Er gibt nicht weniger als drei
Erklärungen davon. In seiner Abhandlung: „Zur Controverse zwischen
* Wer, wie z. B. Brastberger, Unters. 45, gerade diesen springenden Punkt
weglässt, muss darum eben auch den wesentlichen Unterschied dieses und des
vorigen Argumentes verkennen.
^ Sachlich bemerkenswerth ist der Einwand E. von Hartmanns (Transsc.
Keal. 157): ,Ks. Behauptung, dass ein Begriff nicht eine unendliche Menge von
Vorstellungen in sich enthalten könne, ist ebenso unrichtig, wie seine Behauptung,
<ia88 eine Anschauung als unendliche Grösse gegeben vorgestellt werden könne.
Eine matliematische unendliche Reihe ist offenbar ein Combinations begriff, nicht
eine Anschauiuig, denn sie ist eine Summe von höchst abstracten Gliedern. Nichts-
destoweniger enthält ein solcher Begriff eine unendliche Menge von Vorstellungen
in sich, nämlich die Glieder der Reihe." Vgl. unten S. 259.
Yaihiuger, Kant-Commentar. II. 16
242 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 89. 40. [R 712. H 60. E 76.]
Trendelenburg und Fischer^ (Zeitschr. f. Völkerpsych. VII, 284) findet Cohen
in dem Zusatz eine lange Gedankenreihe condensirt: ^Nacb diesem Wortlaut
ist anzunehmen, dass Kant gedacht habe: zwar gibt es auch Begriffe, welche
nicht aus den einzelnen Merkmalen zusammengefasst sind (d. h. welche
nicht aus den unter ihnen enthaltenen verschiedenen Einzeldingen abstrahirt
sind). Von diesen läge nun doch die Vermuthung nahe, als ob sie ihre
Vorstellungen in sich enthielten, wie der Baum, als unendlich gegebene
Grösse. Aber auch von solchen apriorischen, nicht durch Abstraction oder
Zusammensetzung entstandenen Begriffen gilt es, dass kein Begriff als ein
solcher, seine Vorstellungen in sich enthalte." Dieser erkünstelt« Zu-
sammenhang findet in dem Texte Kants gar keine Stütze. In seinem
Werke „Kants Theorie der Erfahrung" gibt Cohen in den beiden Auf-
lagen (1. A. S. 30; 2. A. S. 125) noch zwei andere Erklärungen, welche
sich , soweit sie überhaupt zu verstehen sind, der richtigen Auffassung an-
nähern mögen.
Nachdem nun Kant in dieser Weise ein wichtiges Capitel aus der
Theorie der Begriffe in gedrängten Worten wiedergegeben hat, macht er
die Nutzanwendung davon auf die Raum Vorstellung — die Baum Vorstellung
hat gerade die Eigenthümlichkeit, dass sie eine unendliche Menge von Vor-
stellungen in sich enthält — die unendlich vielen, die unzähligen Baum-
theile : in der unendlichen Baum Vorstellung sind unzählige Baumtheile zugleich
enthalten. (Diese „Theile^ dürfen nicht mit B. Erdmann, Kants Befi. IT, HO,
als „Theilvorstellungen'' bezeichnet werden, weil dieser Ausdruck bei Kant
so viel als Merkmale bedeutet. Vgl. unten zum fünften Zeitargument.) Die
Vorstellungen, welche im Baume enthalten sind, sind natürlich anschauliche
Theile desselben; vgl. Ad ick es 74 N.
Diese Eigenthümlichkeit der Baumvorstellung genügt nun vollständig,
um von ihr aussagen zu lassen, dass sie jedenfalls kein Begriff sein kann:
denn, wie nachgewiesen, kein Begriff kann eine solche Eigenthümlichkeit an
sich haben. ^ Und da es nun nur zwei Hauptarten von Vorstellungen gibt,
so bleibt nur Eine Möglichkeit übrig : ist die Baumvorstellung nicht Begriff,
so muss sie Anschauung sein.
Will man das Argument nun in die strenge logische Form bringen,
so ist der Kern desselben einfach und kurz der Syllogismus:
Obersatz:
Kein Begriff hat eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich.
Untersatz:
Der Baum hat eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich.
Schlusssatz:
Also ist der Baum kein Begi'iff.
Dieser Schluss verläuft nach der zweiten aristotelischen Schlussfigur,
nach dem ersten Modus derselben (Cesare). Alles andere, was in der Kan-
tischen Argumentation steht, ist nur Schale um diesen Kern. Eine ein-
gehendere Analyse wird sogleich zeigen, dass in der That alle sonstigen
Der Raum hat eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich. 243
[R 712. H 60. K 76.] B 39. 40.
Ausführungen Kants nur Erweiterungen und Erläuterungen des obigen
Schlusses resp. seiner drei Sätze sind.
Der Untersatz wird näher begründet durch den Zusatz: „denn alle
Theile des Raumes ins Unendliche sind zugleich.** Und die Voraus-
setzung für diesen Satz bildet wiederum der erste Satz der ganzen Argu-
mentation: „Der Raum wird als eine unendliche gegebene Grösse vorge-
stellt." Dieser Satz bildet somit, wie schon oben S. 222 gegen Fischer be-
merkt wurde, kein selbständiges Beweis t h e m a , sondern ist nur dienendes
Glied im Beweise. Fischers Auffassung verschiebt somit das ganze feine
Beweisgewebe Kants. Richtig ist dagegen die Bemerkung von B. Erd-
mann, Kriticismus S. 165, dass durch diese Stelle dieser Beweis „das in
dem vorhergehenden Argument gewonnene Resultat zu Grunde legt" —
denn da fanden wir ja, vgl. oben S. 221 ff., die Unendlichkeit des Raumes
und damit auch die unendliche Menge seiner durch Einschränkung ent-
standenen Theile als ein Ergebniss.
Der Obersatz ist ebenfalls erweitert. Man könnte gegen den Obersatz
einwenden : aber jeder Begriff hat es doch mit einer unendlichen Menge von
Vorstellungen zu thun. Allerdings, sagt Kant, aber der Begriff (weil in einer
unendlichen Menge von verschiedenen Vorstellungen als deren gemeinschaft-
liches Merkmal enthalten) enthält eine unendliche Menge von Vorstellungen
unter sich; nicht aber enthält er eine unendliche Menge von Vorstellungen
in sich; und nur um dieses letztere Verhältniss handelt es sich in dem vor-
liegenden Schluss. Dieser Zusammenhang w^ird Kant deutlich angezeigt durch
den Anfang des Satzes: „Nun muss man zwar einen jeden Begriff" u. s. w.
Endlich ist auch der Schlusssatz erweitert durch die positive Er-
gänzung, dass, wenn die Raumvorstellung nicht Begriff ist, sie Anschauung
(a priori) sei.
Bemerkens werth ist in dem Schlusssatz der bisher unbeachtet gebliebene
Zusatz, dass die ursprüngliche Vorstellung vom Räume Anschauung
a priori sei. (Vgl. oben S. 92. 233.) Damit kann doch Kant nur sagen wollen:
wenn auch über den Raum in bewusster wissenschaftlicher Reflexion be-
griffliche Bestimmungen aufgestellt werden können, so sind das doch
nur spätere Reflexionen, welche schon eine vorhergehende Raumvorstellung
voraussetzen, und diese vorhergehende Raumvoi'stellung ist eben die
apriorische Anschauung, welche schon unbewusst in jedem Menschen
vorhanden ist. Wahrscheinlich ist dieser, der zweiten Auflage angehörige
Zusatz „ursprüngliche" — schon eine Antwort Kants auf Einwände, welche
ihm gegen die erste Auflage gemacht worden waren, indem man sagte, es
gebe doch einen Begriff vom Räume. Wohl, sagt Kant, einen solchen Be-
griff kann sich der Gelehrte, der Philosoph oder Mathematiker später bilden;
aber die ursprüngliche Raum Vorstellung ist die allen Menschen von Hause
aus angehörige apriorische Anschauung.
Auch hier, wie in dem vorigen Argument, folgert aber Kant („mit
dem naivsten Also der Welt" spöttelt Bolliger in seinem Antikant 278,
244 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 39. 40. [R 712. H 60. K 76.]
wo die ganze Argumentation des Beweises zerblättert wird) nicht nur, dass
die Raumvorstellung Anschauung, sondern auch dass sie Anschauung a priori
sei. Und so erhebt sich auch hier (wie oben S. 231) die Frage, ob denn
die Apriorität der Raumvorstellung auch etwa durch dieses Argument mit
bewiesen werden soll, oder ob der Zusatz „a priori" nur etwa als Recapi-
tulation der beiden ersten Raumargumente zu fassen sei? Aus denselben
Gründen, wie beim vorigen Argument, wird auch hier zu folgern sein, dass
das Letztere der Fall ist. Aber viele Erklärer haben von Anfang an das
Erstere angenommen; so z. B. Feder, Raum und Gaus. S. 8. 11. 53,
welcher ausdrücklich sagt, dass „die Unendlichkeit des Raumes zum Beweise
seines nicht empirischen Ursprunges dienen solle''; so Kiese wette r S. 29 f.:
;^da der Raum unendlich gross ist, so kann er nicht durch die Empfindung
gegeben werden, weil sonst eine unendliche Zeit zu seiner Wahrnehmung
erforderlich wäre," so auch Villers in Rinks „Mancherley" S. 21. Auch
in weiteren Kreisen muss diese Auslegung verbreitet gewesen sein; dies ist
zu schliessen aus einem bekannten humoristischen Epigramm Goethe's in
der Sammlung „Vielen und Einer", in welchem auch die Apriorität und
Subjectivität der Raum Vorstellung aus deren Unendlichkeit abgeleitet wird:
Raum und Zeit, ich empfind' es, sind blosse Formen des Denkens.
Da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir scheint.
Dieselbe Auffassung findet sich auch bei Neueren. Wenn z. B.
Ueberweg in seinem Grundriss III, § 18 zu diesem Argufnente sagt: ,Die
Unendlichkeit der Ausdehnung liegt nur in der Reflexion, dass wir, soweit
wir auch gelangt sein mögen, immer noch weiter fortschreiten könnten, dass
also keine Grenze eine schlechthin un überschreitbare sei; hieraus folgt aber
keineswegs, dass der Raum eine bloss subjective Anschauung sei* — so
liegt diesem Einwände doch die Auffassung zu Grunde, dass Kant mit der
Unendlichkeit die Subjectivität und als deren Bedingung die Apriorität
der Raumvorstellung habe beweisen wollen. Dass aber dies nicht der Fall
sei, dass also eine „verfrühte Polemik" vorliege, hat gegen Ueberweg schon
Cohen richtig bemerkt (1. A. 32; 2. A. 129). — In jenem Sinne polemisirt
aber auch gegen Kant Beyersdorfi*, Die Raum Vorstellungen, S. 36. Vgl.
Deussen, Metaph. § 54. Frauenstädt, Briefe 129.
Doch liegt jener Gedankengang nicht ausserhalb der Linie des Kan-
tischen Denkens und möglicher Weise zielt hierauf die nur halb lesbare An-
merkung Kants in seinem Handexemplar hinter dem fünften Raumargument
(Ei'dmann, Nachträge N. XVI): Beweis der Idealität des Raumes aus dem
synthetischen Satze a priori von der [Unendlichkeit desselben ?]. Auf jeden
Fall aber findet sich dieser Gedanke mehrfach in dem Nachgel. Werke XX,
95 N., XXI, 546. 547: „Der Raum ist ein Ganzes, doch von der besonderen
Art, dass es nur als Theil eines noch grösseren Ganzen, mithin nur als unend-
lich, vorgestellt werden kann, eine Beschaffenheit des Objects, die ihm nur
als Erscheinung (Qualität des Subjects) zukommen kann." »Dies beweiset
Missverständnisse. 245
[R 712. H 60. E 76.] B 39. 40.
die Idealität, desselben"; „da es dann eine Ungereimtheit sein würde, wenn
die Formen des Raumes und der Zeit als Beschaflfenbeiten der Dinge an
sieb und nicbt als blosse Erscheinungen angenommen würden." (Man siebt
bier auch wieder, dass für Kant Apriorität und Idealität obne Weiteres
zusammenfallen.)
Dieses Argument ist von Anfang an zahlreichen Miss Verständnissen
ausgesetzt gewesen; besonders kehren zwei Missverständnisse immer wieder.
Beide Fehler finden sich vereinigt in der sonst so exacten „Darstellung" von
Holder S. 11: „Diese Betrachtung geht davon aus, dass ein Begriff nur
eine bestimmte Anzahl von Vorstellungen als Merkmale in sich enthalten
kann, während Raum und Zeit vorgestellt werden als eine unendliche
Anzahl von Raum- und Zeitt heilen in sich begreifend." Kant spricht erstens
nicbt von einer „bestimmten" Anzahl von Vorstellungen, die nur im Begriffe
enthalten wären ; es handelt sich bei Kant nicht um den Gegensatz von b e-
stimmter und unendlicher Anzahl von Vorstellungen, welche in einer
anderen Vorstellung enthalten seien oder nicht ; sondern es handelt sich bei
Kant vielmehr um den Gegensatz von Unter-sich-enthalten und In-sich-
enthalten. Gemeinsam ist beiden Fällen des Gegensatzes die Unendlich-
keit resp. ünzählbarkeit der enthaltenen Vorstellungen, nur dass sie das
eine Mal sich unter dem Begriff, das andere Mal sich in der Anschauung
enthalten finden. Dies ist der erste Fehler der Hölder'schen Darstellung ^
Der zweite Fehler derselben ist, dass er die Merkmale, welche der Begriff
in sich enthält, im Auge hat, statt der Exemplare, die er unter sich
enthält-; denn eben um solche handelt es sich, d. h. um Vorstellungen, in
denen der Begriff selbst als Merkmal steckt; solche Vorstellungen kann der
Begriff unendlich viele unter sich enthalten. Dagegen die Vorstellungen,
deren der Begriff eben nicht unendlich viele in sich enthalten kann, sind
nicbt näher charakterisirt, und es ist jedenfalls falsch, daraus „Merkmale"
zu machen. Will man aus dem negativen und unbestimmten Satze Kants
eine positiv-bestimmte Behauptung herausnehmen, so braucht man sieh nur
an das Folgende zu halten: darnach handelt es sich eben nicht um den
logischen Inhalt, um die Merkmale, sondern um das mathematische
In-sich-Enth alten von Theilen — dies wird dem Begriffe abgesprochen. Um
das erstere Verhältniss — um Merkmale — handelt es sich hier gar nicht.
Eine treffliche Erläuterung der Kantischen Gedanken dagegen treffen
wir in Sigwarts Logik I, 50 f. 274 ff. 299. 304. Unter Berufung auf
' Dieser Fehler findet sich auch schon bei Metz, Darst. S. 48; dann bei
Trendelenburg, Log. Unt. * I, 157 („Das Wesen des Begriffes ist Bestimmtheit**);
bei Grapengiesser, R. u. Z. 48. 72 f. 75 f.; Bilharz, Erl. 16. 18; Adamson,
Kant 29.
' Dieser Fehler findet sich auch schon bei Maimon, Ki*it. Unters. 74; bei
Aenesidem-Schulze, Krit. d. th. Phil. II, 214; bei Ueberweg, Gesch. d. Phil.
IlT, § 18 Anm. Den Fehler des Letzteren hat schon mit Recht Cohen (I.A. 31;
2. A. 128) gerügt.
246 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 89. 40. [R 712. H 60. K 76.]
diese Stelle spricht er von der Allgemeinheit des Begriffes als seiner
wesentlichsten Eigenschaft, die eben darin besteht, unbestimmt oft, ja un-
endlich oft reproducirt und auf einzelne Fälle angewendet zu werden. Ist
einmal der Begriff losgerissen von der Einzelanschauung, so hat er eine un-
beschränkte Anwandlungsfähigkeit auf unzählige beliebige Fälle. Sigwart
lobt dabei ausdrücklich die Vorsicht Kants, dass er nur von einer unend-
liehen Menge möglicher Vorstellungen rede: denn es sei »der Natur des
Begriffes gegenüber gleichgültig, ob in vielen wirklichen*: d. h. ob von
dieser Möglichkeit auch wirklich überhaupt oder oft Gebrauch gemacht wird.
„Die Fähigkeit irgend einer Vorstellung, eine allgemeine, d. h. auf eine
unbegrenzte Vielheit von Einzel Vorstellungen anwendbare zu werden, ist
schon mit ihrer Natur als Vorstellung gegeben.* Diese „numerische All-
gemeinheit", vermöge der dieselbe Vorstellung in einer unbestimmten
Menge einzeln angeschauter Dinge wiedergefunden wird, ist für das Wesen
des Begriffes völlig gleichgültig ; es ist ein und derselbe Begriff', der in allen
Exemplaren gedacht wird, und sein Wesen verändert sich nicht, ob es von
einem oder von hundert Dingen prädicirt werden kann. Das dem Begriff
Entsprechende kann in Millionen Exemplaren vorhanden sein/ (In ähnlichem
Sinne sagt auch Zell er in seiner Gesch. d. deutschen Phil. 428: „Der Be-
griff befasst. die Einzel Vorstellungen als die Subjecte, deren Prädicat er
ist, unter sich.") Ebenso nett als scharf fasst Cousin, Kant S. 80 das
Argument mit den Worten zusammen: man müsse unterscheiden zwischen
dem „Lifini de Bepresentaiion^ und dem „Infini rSel*^ ; jene ist Sache eines
Begriffes, diese Sache der Eaumanschauung, z. B. : „la hlancheur represente
la qualiU d'etre hlanc dans tous les objects possibles; eile est donc d^une re-
prSsentation infin i e, Mais ce nest pas lä Vi nfini reel, celui de Vespace ;
Vespace est infini, parce que tous les corps 2^ossible8 sont renfennSs dans
son seinJ^
Eine grosse Rolle hat dies Argument in dem Fische r-Trendelen-
burg'schen Streite gespielt, eine grosse, aber keine rühmliche. Besonders
ist der Fischer'schen Darstellung Ungenauigkeit und Willkür vorzuwerfen.
Die hauptsächlichste Quelle seiner Irrthümer hiebei entspringt offenbar aus
der unkritischen Vermischung der einzelnen Argumente. Speciell wird von
Fischer dieses Argument nicht genügend unterschieden von dem vorigen
Raumargument, und — was der eigentliche Hauptfehler ist — es wird ohne
Weiteres zusammengeworfen mit dem letzten Zeitargument. Dass und warum
gerade diese Vermischung irreführend ist, wird bei der Analyse des Letzteren sich
zeigen; hier ist aber schon auf folgende wichtige Fehlerquelle aufmerksam zu
machen: hauptsächlich aus dem letzten Zeitargument nimmt Fischer (nach der
Darstellung in seiner 2. A. S. 324 Anm. 3) folgenden an sich richtigen Lebrpunkt
herüber: jeder Begriff ist eine Theilvorstellung. „Die Anschauung
oder Einzel Vorstellung vereinigt alle Merkmale in sich; wird nun ein oder
das andere Merkmal davon abgesondert und für sich vorgestellt, so wird
von dem Inbegriff der Merkmale ein Theil vorgestellt; eben dies nennt die
Trendelenburg wirft K. Fischer eine Quaternio ierminorum vor. 247
[R 712. H 60. E 76.] B 39. 40.
Logik Theilvorstellung. Daher jedes gemeinschaftliche Merkmal verschiedener
Vorstellungen, d. h. jeder Gattungsbegriff, eine Theilvorstellung ist** u. s. w.
(Anti-Trendelenburg, S. 26). Diese schon oben S. 215 erwähnte Auffassung
legt Fischer nun dem vorliegenden Argument zu Grunde; sie ist nun zwar
an sich ganz richtig, hat aber mit dem Kern dieses Argumentes gar nichts
zu schaffen.
Auf Grund dieser Auffassung gab nun Fischer (1. A. S. 298 ff.) den
Sinn des Argumentes folgendermasscn wieder: „Kaum und Zeit wären
Gattungsbegriffe, wenn sie Theil Vorstellungen wären, Merkmale von Räumen
und Zeiten. Aber es ist umgekehrt: sie sind nicht Theil Vorstellungen, son-
dern das Ganze. Der Raum enthält alle Räume, die Zeit enthält alle Zeiten
in sich: sie sind nicht Theilvorstellungen, also nicht Gattungsbegriffe."
Gegen diese Darstellung erhob Trendelenburg in seinen „Historischen Bei-
trägen** TU, 255 folgende Einwände: „In Kant habe ich dieses Argument
nicht gefunden und ich vermisse das Citat; ich halte es auch darum nicht
für Kantisch, weil es, formal geprüft, den Fehler einer Quaternio terminorum
enthält Der Schlu?s, nackt ausgedrückt, lautet so: alle Merkmale sind
Theile, aber der Raum ist das Ganze (kein Theil); also ist der Raum kein
Merkmal, und, inw^iefern nach Fischers Annahme jedes Merkmal Gattungs-
begriff ist, der Raum kein Gattungsbegriff. In diesem Schluss spielt, ab-
gesehen von anderen Schwierigkeiten, in Theil und Ganzem eine Doppelheit
des Begriffes, eine Homonymie; denn das Merkmal ist ein Theil eines Be-
griffes, also ein Theil, logisch genommen, in Gedanken aufgefasst; aber
der Raum ist das Ganze, sinnlich genommen. Durch diesen Doppelsinn
reisst das Band, das der Schluss im Mittelbegriff, dem Begriff Theil, zu
knüpfen gedachte, entzwei." Gegen diese scharfen Vorwürfe erwiderte
Fischer (2. A. S. 324) ganz kurz, indem er als Belegstelle für seine Dar-
stellung, deren Echtheit Trendelenburg angezweifelt hatte, denselben verwies
auf dieses letzte Raumargument, sowie auf das letzte Zeitargument.
Nun wiederholte aber Trendelenburg („K. Fischer und sein Kant"
S. IC f. 23 — 28) seine Einwände, indem er sie zugleich näher begründete
und positiv ergänzte. Er sucht nachzuweisen, dass Fischer in seiner Dar-
stellung den Mittelbegriff der Kantischen Argumentation ganz und gar ver-
fehlt habe. In Fischers Wiedergabe sei der Terminus medius: Theil resp.
Ganzes ; bei Kant selbst sei Mittelbegriff der Begriff der Unendlichkeit.
Obgleich nun Trendelenburg bei diesem Nachweise selbst mehrere
nebensächliche Verstösse machte, auf welche näher einzugehen kaum lohnen
würde, so ist seine Polemik im Hauptpunkte doch durchaus berechtigt,
Natürlicli konnte Fischer nicht die Antwort schuldig bleiben. Er wiederholt
in seinem „ Anti-Trend elen bürg** S. 25 — 38 seine falsche Darstellung mit einer
wahrhaft imponirenden Sicherheit.
Die oben S. 242 f. gegebene logische Analyse des Argumentes entscheidet
den ganzen Streit mit Einem Male. Auf den ersten Blick sieht man, dass
die Fischer*sche Darstellung falsch ist, während Trendelenburg hier im
248 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 39. 40. [R 712. H 60. K 76.]
Wesentlichen das Richtige getroffen hat. Der Mittelbegriff des Kantiscben
Schlusses muss aber genauer angegeben werden, als das seitens Trendelen-
burgs geschah; er sagt: „Bei Kant ist der Terminus medius des Schlusses
der Begriff der unendlichen Vorstellungen oder der verwandte Begriff des
Uneingeschränkten." Vielmehr ist der Mittelbegriff ganz genau: „eine un-
endliche Menge von Vorstellungen in sich enthalten." Diese Eigenschaft (M)
wird dem Begriff (P) abgesprochen, der Raumvorstellung (S) dagegen zu-
gesprochen. Darum ist S kein P: darum ist die Raumvorstellung kein
Begriff.
Dass dies der Kern des Schlusses ist, dass und wie alles andere
sich nur als Schale zu diesem Kern verhalte, wurde oben hinreichend nach-
gewiesen.
Nun vergleiche man damit die Fischer'sche Wiedergabe des Schlusses.
Er gibt (in seinem Anti-Trendelenburg S. 31—33) dafür zwei verschiedene
Formen an:
I.
Kein Begriff ist ein Ganzes.
Der Raum ist ein Ganzes.
Also ist der Raum kein Begriff.
II.
Jeder Begriff ist eine Theilvorstellung.
Der Raum ist keine Theilvorstellung.
Also ist der Raum kein Begriff.
Beide Schlüsse verlaufen nach der zweiten aristotelischen Schlussfigur;
der erste nach deren erstem Modus: Cesare; der zweite nach deren zweitem
Modus: Camesires, Fischer nennt Beide auch Einen Schluss, insofern der
Obersatz I und der Obersatz II sich als Bejahung und Verneinung derselben
Aussage gegenüberstehen.
Dass nun diese Darstellung falsch ist, sieht man auf den ersten Blick,
wenn man sie mit der oben S. 242 f. gegebenen Analyse vergleicht. Es ist
unmöglich, Fischers Darstellung und Kants Text in Zusammenhang, geschweige
zur Deckung zu bringen.
Die Frage ist nur, wie denn K. Fischer auf diese wunderliche Dar^
Stellung gekommen ist. Wie schon oben S. 246 angedeutet worden ist^
Hess K. Fischer dazu vor Allem verführen durch die irrige Zusammenstellung
dieses Raumargumentes mit dem letzten Zeitargument*, daraus entnahm er
den angeblichen Mittelbegriff der „Theilvorstellung". In seinem Anti-Tren-
delenburg S. 82 f. sucht er aus dem vorliegenden Baumargument selbst
diesen angeblichen Mittelbegriff herauszubekommen. Er schlicsst sich zn
diesem Zweck an den Kantischen Satz an: „Nun muss mau zwar einen jeden
Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von
Vorstellungen als ihr gemeinschaftliches Merkmal enthalten ist", und fährt
erläuternd fort: „Das gemeinschaftliche Merkmal ist nicht der Inbegriff aller
K. Fischer hat dies Argument gänzlich miss verstanden. 249
[R 712. H 60. K 76.] B 89. 40.
Merkmale der Einzelvorstellung, sondern ein Theil davon, eines oder einige,
nie alle. Jeder Begriff ist eine Theilvorstellung. Es gilt demnach von jedem
Begriff, was vom Raum nie gilt: es ist keine Theilvorstellung; es ist also
kein Begriff." Man sieht nun, worin der Fehler liegt: Fischer sucht den
Mittelbegriff in einem Satz, welcher — gemäss der oben gegebenen Analyse —
gar nicht zu dem eigentlichen Schlüsse gehört ; der bloss der Erläuterung
halber eingeschoben ist, im Gegensatz zu der allein wesentlichen Behauptung:
„kein Begriff enthält eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich."'
Und jenen nebensächlichen Satz presst Fischer dazu noch auf eine eigen-
thüraliche Weise, um aus ihm etwas herauszubekommen, was, wenn es auch
an sich richtig ist, doch ganz und gar nicht hieher gehört, nämlich: dass
jeder Begriff, im Verhältniss zu der Anschauung, eine Theilvorstellung des
Letzteren sei. Davon steht aber bei Kant selbst hier kein Wort; es ist
das vielmehr eine ganz entfernte Folgerung, die uns auf etwas ganz Ent-
legenes fuhrt.
Auf ebenso wunderliche Weise ist auch der Correlatbegriff „des Ganzen"
gewonnen. Dazu knüpft Fischer an die Sätze an: „der Kaum wird als
eine unendlich gegebene Grösse vorgestellt"; er „enthält eine unendliche
Menge von Vorstellungen in sich" ; und alle seine „Theile ins Unendliche
sind zugleich". Diese Sätze erläuternd, sagt Fischer: „Etwas, das alle Theile
zugleich oder als gegebene in sich begreift, ist ein Ganzes, und lässt sich
mit keinem anderen Worte bezeichnen. Wenn eine unendliche Grösse als
gegeben oder eine gegebene Grösse als unendlich vorgestellt wird, so wird
sie als Ganzes vorgestellt" u. s. w. Es ist aber zunächst hier (weiteres
hierüber s. noch unten S. 261) zu rügen, dass Fischer hier den Begriff des
„Ganzen" einfuhrt, über dessen dialectische Natur doch Kant sich später
hinreichend äussert (A 483 ; A 505 u. ö.). Es ist doch mindestens fraglich,
ob diese Folgerung in Kants Sinne sei; es könnte leicht nachgewiesen werden,
dass sie ganz gegen seinen Sinn ist. Nach Kants originärer Darstellung ist
aber Mittelbegriff nicht der Begriff des „Ganzen", sondern der Begriff: „un-
endlich viele Vorstellungen in sich enthalten" — welcher dem Begriffe ab-,
der Baum Vorstellung zugeschrieben wird.
Die Aenderungen, welche Fischer am Kantischen Texte vorgenommen
hat, sind somit materiell unrichtig. Aber Trendelenburg erhob gegen Fischers
Darstellung den viel schlimmeren Vorwurf, dass sie formell eine Quaternio
t er minor um enthalte. Fischer sagte, resp. lässt Kant sagen: Kein Begriff
ist ein Ganzes, sondern eine Theilvorstellung; der Raum ist ein Ganzes,
aber keine Theilvorstellung also u. s. w. Was soll heissen: der Begriff ist kein
Ganzes, sondern eine Theilvorstellung? Fischer erklärt sich in den oben
S. 215 und S. 247 angeführten Stellen hinreichend darüber: * er sagt ferner
(a. a. 0. S. 32 f.): „Kein Begriff kann als Ganzes, als Inbegriff aller
Merkmale, sondern muss als eines oder einige Merkmale, die von dem
Inbegriff aller (d. h. von der Anschauung) abgezogen sind, gedacht werden,"
darum ist der Begriff* eben, im Gegensatz zur completen Vorstellung des
250 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 39. 40. [B 712. H 60. K 76.]
Anschauungsgegenstandes, nur eine Theil Vorstellung. — Ganz anders wird
der Begriff des Ganzen beim Baume bestimmt; er heisst ein Ganzes (a. a. 0.
S. 32), weil „er alle seine Theile zugleich oder als gegebene in sich be-
greift **. Sonach ist im Obersatze Ganzes = Inbegriff aller Merkmale, im
Untersatz ist Ganzes = Inbegriff aller Theile. Dort ist es das Ganze des
Inhaltes, hier das Ganze des Umfanges. Im Obersatz ist darnach: Theilvor-
Stellung so viel „Theil eines Inbegriffes von Merkmalen*, im Untersatz ist
Theil Vorstellung = „Theil einer Grösse". Die Quaternio ierniinontm ist
somit ganz unstreitig vorhanden ', und Trendelenburg hat dieselbe , wenn
auch formell nicht ganz zutreffend, so doch sachlich vollständig richtig auf-
gedeckt, wenn er sagt: Theil werde das einemal „logisch genommen^, das
anderemal „sinnlich genommen*^.
Mit diesem Resultate könnten wir schliessen, wenn nicht Fischer ver-
sucht hätte, seiner Quaternio terminomm durch verschiedene Wendungen
aufzuhelfen. Den hauptsächlichsten Versuch macht Fischer dadurch, dass
er jene oben angeführte Darstellung in eine andere Darstellung hinüber-
gleiten lässt, welche sich der richtigen scheinbar nähert, aber nur um sich
um so weiter von ihr zu entfernen. Auf S. 34— 36 des „ Anti-Trendelenburg*"
findet sich nämlich folgende Darstellung des Kantischen Argumentes, die wir
sogleich in die gehörige logische Form stellen:
Was eine unendliche Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen in
sich enthält, ist nicht Begriff, sondern Anschauung.
Der Raum enthält eine solche unendliche Menge von Vorstellungen in sieh.
Also ist der Raum kein Begriff, sondern Anschauung.
Das ist ein Schluss nach dem zweiten Modus der ersten Figur {Celarent).
Der Mittelbegriff ist hier: „eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich
haben" — genau so wie oben (S. 242 und S. 248) in unserer Darstellung.
Die Veränderung der bei Kant sich findenden Schlussform Cesare in
Celarent begründet nach den Regeln der Logik bekanntlich keinen wesent-
lichen Unterschied der Behauptung. Aber trotz dieser formellen Ueberein-
Stimmung ist auch diese Darstellung Fischers falsch. Es erläutert nämlich
den Obers atz so: Jede einzelne empirische Vorstellung (= Anschauung)
enthält eine Fülle von Merkmalen, die sich durch logische Determination
niemals vollenden lassen. In diesem Sinne haben die Anschauungen unend-
lich viele Vorstellungen in sich, dagegen eine begriffliche Vorstellung ist
nicht so gut gestellt; sie enthält nicht in jenem Sinne unendlich viel Vor-
stellungen in sieb. (Vgl. auch a. a. 0. S. 57.) Für diesen bekannten Satz
* Eine gewisse f^ntschuldigung liegt für K. Fischer in dem Umstand, dass
in der That auch Kant selbst einen ähnlichen Fehler begangen hat: in d»?m
vorigen Argument (vgl. oben S. 219 f.) stellt ja Kant die Theile des Raumes mit
den Bestandtheilen = Merkmalen eines Begriffes in eine Linie, obgleich es sich
beim Raum um ein concret-intuitives , beim Begriff um ein abstract-logisches Ver-
hältniss handelt, welche gar nicht mit einander vergleichbar sind.
Ein , Knäuel falscher Vorstellungen** bei K. Fischer. 251
[R 712. H 60. K 76.] B 39. 40.
citirt nun Fischer folgenden Satz aus Kants Logik (§ 15 Nota): ^Da nun
einzelne Dinge oder Individuen durchgängig bestimmt sind, so kann es auch
nur durchgängig bestimmte Erkenntnisse als Anschauungen, nicht aber
als Begriffe geben; in Ansehung der Letzteren kann die logische Be-
stimmung nie als vollendet angesehen werden." Ein merkwürdiges Citat!
»In Ansehung der Letzteren" heisst doch „in Ansehung der Begriffe".
Fischer bezieht aber offenbar „Letztere" auf Anschauungen. Trotz dieser
irrigen Beziehung kann diese Stelle Kants, im Zusammenhang richtig ver-
standen, doch für jenen Lehrsatz geltend gemacht werden, dass die Vorstellungen
der Einzeldinge = Anschauungen eine unübersehbare Fülle von Merk-
malen an sich haben, im Gegensatz zur Armuth der Begriffe. Aber
dieser Obersatz hat mit Kants originärer Darstellung in unserem vorliegen-
den Baumargumente gar nichts mehr zu thun ; für Kant handelt es sich
ja um die sinnlichen T heile der Anschauung, nicht um ihre Merkmale.
Derselbe Fehler haftet dem Fischer'schen Untersatze an, welchen F. selbst
so erklärt: „Rechts und links, oben und unten, vorn und hinten, die ver-
schiedenen Arten der Richtung und Gestaltung, die unendlich vielen ver-
schiedenen Vorstellungen, die hier möglich sind, wird Niemand Theile des
Baumes, wohl aber Eigenschaften oder Merkmale desselben nennen. Der
Raum begreift diese unendliche Menge von Vorstellungen nicht unter sich,
sondern in sich." Aber Kant spricht doch ganz deutlich davon, dass er
unter den unendlich vielen Vorstellungen, welche der Raum in sich enthlUt,
dessen „Theile" versteht, und sonst nichts. In diesem Schlüsse versteht
Fischer darunter „Merkmale", Mit dem wirklichen Sinne der Kantischen
Argumentation hat diese Auslegung also nichts mehr gemein. Das Wunder-
samste an dieser Auslegung ist nun aber, dass Fischer sie als Erläute-
rung seiner ersten Erklärung betrachtet, während sie doch in der Tbat
eine ganz neue, aber freilich ebenso falsche zweite Auffassung bildet. Welcher
„Knäuel falscher Vorstellungen, den wir hier zu entwirren hatten," um mit
Fischer (a. a. 0. S. 39) selbst zu reden! Doch hatte die Analyse desselben
für uns den Vortheil, dass der Sinn des K.'schen Argumentes aufs Neue
eindeutig eruirt wurde.
Aus der zahlreichen Literatur, die sich an diesen Streit angeschlossen
hat, ist auch in Beziehung auf diesen Punkt nicht viel zu lernen. Das Beste
hat hierüber noch Bratuschek gesagt a. a. 0. S. 318—320; er weist im
Anschluss an Trendelenburg Fischers Quaternio ziemlich deutlich nach. Was
Grapengiesser (S. 72 f. 75—77), Michelis (S. 163—168), Michelet
(S. 73) sagen, hat wenig oder nichts zu bedeuten und wirkt eher noch mehr
verwirrend. Vgl. übrigens auch Cohen, 2. A. 128 und in der Zeitschr. f.
Volk. VII, 284. Berg mann, Philos. Monatsh. IV, 409 Anm. Fischer selbst
hat in der neuen Auflage, S. 331 ff. seine falsche Darstellung ruhig wieder
vorgebracht.
Der Vollständigkeit halber ist hier nur noch zu erwähnen, dass eine
Stelle aus diesem Argumente auch noch nach einer anderen Seite hin Gegen-
252 § 2. Zweite Auflage: Viertes Raumargument.
B 89, 40. [R 712. H 60. K 76.]
stand des Streites zwischen Fischer und Trendelenburg war. Es handelt
sich dabei um die schon oben S. 207 besprochene Controverse, ob Fischer
das Recht gehabt habe, statt des bei Kant selbst sich findenden Ausdruckes
„Begriff* in diesem Zusammenhange den Ausdruck „Gattungsbegriff*
zu gebrauchen. Dieser — wie wir sahen, gänzlich untergeordnete — Streit
wurde schon oben dahin entschieden, dass „Gattungsbegriff**, im weiteren
Sinne gebraucht, ganz wohl für „Begriff** gesetzt werden könne. Wir mussten
Trendelenburg, der dies mit ganz unnöthigen Bedenken bestritt, unrecht
geben. Zur Stärkung seiner Position berief sich nun Fischer (2. Auflage
S. 323 Anm.) auch auf den Passus dieses Argumentes: „Man mnss einen
jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge
von yerschiedenen möglichen Vorstellungen als ihr gemeinschaftliches Merk-
mal enthalten ist.** Trendelenburg bemerkte dagegen (Entgegnung S. 18):
„Weder das Wort noch der Sinn des Gattungsbegriffes findet sich in dieser
Stelle. Das Erste sieht jeder; das Zweite ergibt sich aus dem Begriff der
Gattung,'* und nun beruft er sich auf die oben S. 207 angeführte Stelle
aus Kants Logik, wonach es keine Gattung ohne darunter stehende Arten
gebe. „Wo mithin die unendlichen möglichen Vorstellungen, welche ein
Begriff unter sich begreift, nur Individuen sind und keine Arten, da ist
auch der Begriff kein Gattungsbegriff. Kants Ausdruck, — in einer un-
endlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen, kann nur auf
die unter dem Begriff befassten Individuen gehen, nicht auf Arten, welche
nicht als unendlich viele gedacht werden**; somit könne — gemäss dieser
Stelle — auch nicht jeder Begriff als ein Gattungsbegriff bezeichnet werden.
Diesem Einwände gegenüber hatte Fischer leichtes Spiel. In seiner Antwort
(Anti-Trendelenburg S. 6 — 11. 16) lässt er es zwar nicht an einer Reihe von
blossen Fechterstreichen fehlen, aber es findet sich darunter doch auch
die treffende Gegenbemerkung: ,,Darf man fragen, warum die Arten nicht
als unendlich viele gedacht werden dtirfen? warum nicht unendlich viele
Arten sein können? Kant redet von einer unendlichen Menge verschie
dener möglicher Vorstellungen.** In der That lässt sich aus dem Wort-
laut des Kantischen Satzes heraus nicht widerlegen, dass er unter den un-
endlich vielen, unter dem Begriff enthaltenen Vorstellungen nicht auch könnte
Arten verstanden haben (wie das z. B. auch B. Erdmann annimmt, Kants
Refl. II, 110), um so mehr, als Kant in seiner Logik (§ 11) lehrt, es lasse
sich jeder Begriff in infinitum in Arten, Unterarten u. s. w. spalten, indem
immer noch specifische Unterschiede vorhanden sein können. Ob nun Kant
auch diese, mit Sigwart (Logik I, 299) zusprechen, generi sehe Allgemein-
heit (die sich auf qualitativ verschiedene Arten bezieht) oder nur jene nu-
merische Allgemeinheit (die sich auf die blosse Quantität der Individuen
bezieht) gemeint habe, lässt sich nicht ausmachen und ist auch ziemlich
gleichgültig. (Vgl. auch Bratuschek 310 ff.; Grapengiesser 72 f.:
Michelis 155 f.; Cohen 283; Michelet 73; Schlötel 85.) Vgl. B. Erd-
mann, Logik I, 156.
Der Raum als eine unendliche gegebene Grösse. 253
[R 36. 712. H 60. E 76.] A25.B 39.40«
Yerhältniss beider Redactionen: Unterschiede und Gemeinsames.
Nachdem nun der Sinn der beiden Redactionen zuerst einzeln für sich fest-
gestellt worden ist, ist es nun auch erst möglich, das Verhältniss beider
Redactionen scharf zu präcisiren. Nach der obigen Analyse ist es nun nicht
mehr schwer, sowohl Gemeinsames als Verschiedenes genau herauszustellen.
Gemeinsam ist beiden Redactionen die allgemeine Tendenz der Argu-
mentation, welche aber in der 2. Aufl. schärfer hervortritt, das Beweis-
thema: die Raumvorstellung ist nicht Begriff, sondern Anschauung. (Vgl.
oben S. 239.) Auch der Beweisgrund scheint derselbe zu sein, beginnen
doch beide Auflagen mit demselben Factum: der Raum wird als eine un-
endliche Grösse vorgestellt. Aber die Unendlichkeit des Raumes wird beide-
mal in ganz verschiedenem Sinne verwerthet. Die Unendlichkeit, von welcher
in A die Rede ist, ist die Grenzenlosigkeit, die Unendlichkeit nach aussen
hin. In B ist von der Unendlichkeit nach innen hin die Rede, von den
unendlich vielen Theilen des Raumes, von deren Zahllosigkeit, Unzählbarkeit.
In A handelt es sich also um den continuirlichen Fortgang, in B um die
discrete Theilung, dort um die Grösse, hier um die Zahl. In A ist das
Beweismoment die Unendlichkeit der Grösse des Raumes, in B die Unend-
lichkeit der Zahl seiner Theile, oder, um mit Schulze, Kr. d. theor. Philos.
II, 211 zu sprechen, es ist zu unterscheiden zwischen Unendlichkeit der
Grösse des Raumes dem Umfange nach, und zwischen Unendlichkeit der
Theile des Raumes dem Inhalte nach. Es ist sonach irrig, beide Dar-
stellungen in einander überfliessen zu lassen. Besonders Cohen (1. A. S. 30;
2. A. S. 126) thut dies ganz ausgesprochenermassen und findet in beiden
Redactionen ,, den selben Gedanken", nur in der ersten Auflage „schwerer
und dunkler ausgedrückt". Beide Auflagen enthalten vielmehr trotz des
gleichlautenden Eingangssatzes ganz verschiedene Gedankengänge, so dass
auch Erdmanns Ausdruck, das Argument sei „in der ersten Bearbeitung
schwerfällig formulirt" (Kants Reflexionen II, S. 110) und habe in B „eine
schärfere Fassung erhalten" (Kriticismus S. 187), noch zu wenig sagt.
Excurs.
Der Raum als eine unendliche gegebene Grösse.
Dieser gleichlautende Eingangssatz* selbst bietet sowohl formelle
als materielle Schwierigkeiten dar. Die formelle Schwierigkeit besteht in dem
schon oben S. 238 tadelnd hervorgehobenen Umstände, dass die Stellung und
Fassung des Satzes auf den ersten Blick leicht dazu verführen kann, diesen
* Nach A wird der Raum „als unendliche Grösse gegeben vorgestellt", nach
B als „unendliche gegebene Grösse''. Man hat darin sachliche Unterschiede finden
wollen, z. B. Zahn, Die K/sche Unterscheidung von Sinn u. s. w. S. 19 f., welche
die Formulirung von A vorzieht, weil da das Gegebensein erst aus der Unendlich-
keit erschlossen werde. Diese Auslegung ist gezwungen. Kant meint in A das-
selbe wie in B.
254 Excurs. Der unendliche Raum als gegeben.
ersten Satz, entsprechend den Anfangssätzen der anderen Argumente, für
die in dem Argument zu beweisende These zu halten. Der logische Werth
des Satzes ist aber beidemal vielmehr ein ganz anderer: nicht die zu l>e-
weisende These spricht der Satz aus, sondern ein Factum, das als Grundlage
des Beweisgrundes dienen soll. In Folge jener Voranstellung des Satzes —
in scheinbarem Parallelismus mit den Thesen der anderen Argumente — ist
der richtige Zusammenhang häufig verkannt worden. So ist dies z. B. der
Fall bei M ellin II, 475 f. In neuerer Zeit hat besonders Kuno Fischer den
richtigen Zusammenhang verkannt. Er hat sich ebenfalls durch jene parallele
Voranstellung des Satzes täuschen lassen, und behandelt demgemäss die Un-
endlichkeit von Kaum und Zeit als eine besondere These, verkennt also den
dienenden Charakter der Unendlichkeitsvorstellung in der Kantischen Argu-
mentation (vgl. oben S. 222. 248). Da aber Fischer dann doch andererseits
wieder richtig erkennt, dass die Unendlichkeitsvorstellung in diesem Argu-
ment ein Beweismittel für die Anschauungsnatur des Raumes ist, so lässt
er dieses Argument sogar zwei verschiedene Beweisziele haben: einmal soll
das Argument beweisen, dass der Raum eine Anschauung ist (3. Aufl.
S. 383 Anm.), und sodann, dass derselbe eine unendliche Grösse ist (3. Anfl.
S. 334 Anm.). Durch diese Darstellung wird der wahre logische Zusammen-
hang verdeckt.
Grösser sind die materiellen Schwierigkeiten des Satzes. Der Satz
behauptet nicht mehr und nicht weniger, als: der Raum wird als eine un-
endlich gegebene Grösse vorgestellt. Damit wird die actuelle Unendlich-
keit der Raum Vorstellung behauptet, welche, im Anschluss an Kant, von
Ulrich, Instit. S. 54. 232 so ausgedrückt wird: „spatiutn cum Omnibus
figuris et formt s harwnque variationibus est magnum et infinitum quasi
theatrum in nohis'^ ; ja Mellin II, 475 wagt sogar den Ausdruck: Der
Raum ist ein unendliches Individuum. Aber diese Behauptung der actnellen
Unendlichkeit der Raumvorstellung in diesem Satze hat von Anfang an
Bedenken und Anstoss erregt. So meint Schulze in seiner Kritik d. theor.
Philos. II, 212 f., Kant könne hier nicht von der absoluten Unendlichkeit,
sondern nur von der comparativen sprechen, und er beruft sich zu diesem
Zwecke auf die Antinomienlehre (A 428 ff., B 456 ff.); ausserdem fugt er
die beachtenswerthe Bemerkung hinzu, dass die Vorstellung der Unendlich-
keit, da sie alle Grenzen der Erfahrung überschreite, doch nicht der „An-
schauung** zugeschrieben werden könne, wie Kant das hier thue, sondern
nach Kants eigener sonstiger Lehre der „Vernunft**, „welche ja in ihren Ideen
die Schranken der Sinnlichkeit zu überschreiten trachtet". Auch Mellin
V, 618 f. ruft die Antinomien zur Erläuterung und Abschwächung des
„gegeben** zu Hülfe.
Sehr nachdrücklichen Einspruch erhob Kästner im Eberhard'schen
Philos. Mag. II, 407 — 419. In kui'zen, scharfen Sätzen widerlegt er Kant
und formulirt, zum Theil vortrefflich, die entgegengesetzte Ansicht, welche
er mit den Worten des Mathematikers Jos. Raphson (1696) wiedergibt:
es gebe nur ein actu finitum, sed indeterminabile , quod ad infinitum
Kant vertheidigt sich vergeblich gegen Kästner. 255
semper semperque progrediens; aber ein infinüum actu könne es nie werden.
Hiijxis modi infinitum non datiir aparte rei, sed tantum aparte cogltantis.
Hiegegen, sowie gegen Eberhards eigene ähnliche Einwände 11, 84 u. ö.
wendet sich eine grosse Recension ia der Jen. A. L. Z. 1790, III, 785 — 814.
Dieselbe stammt von Job. Schultz und enthält, wie neuerdings von Reicke und
Dilthey entdeckt worden ist, grosse Stücke aus Ks. eigener Feder. Der Origi-
nalaufsatz Ks. ist mitgetheilt im Archiv f. G. d. Ph. 1889, III, 79 — 90, speciell
S. 87—89. K. sucht sich gegen Kästner zu helfen durch Unterscheidung
des Standpunktes des Metaphysikers und des Mathematikers: „Die Metaphysik
muss zeigen, wie man die Vorstellung des Raumes haben, die Geometrie
aber lehrt, wie man einen beschreiben, d. h. in der Vorstellung a priori
darstellen könne. In jener wird der Raum, wie er vor aller Bestimmung
desselben einem gewissen Begriffe vom Object gemäss, gegeben ist, be-
trachtet, in dieser wird einer gemacht. In jener ist er ursprünglich und
nur ein einiger Raum, in dieser ist er abgeleitet und da gibt es viel Räume^
von denen aber der Geometer, einstimmig mit dem Metaphysiker, zufolge
der Grundvorstellung des Raumes gestehen muss, dass sie nur als Theile
des einigen ursprünglichen Raumes gedacht werden können. Nun kann man
eine Grösse, in Vergleich mit der jede anzugebende gleichartige nur einem
Theile derselben gleich ist, nicht anders als unendlich benennen. Also stellt
sich der Geometer, so gut wie der Metaphysiker, den ursprünglichen Raum
als unendlich vor und zwar als unendlich-gegeben vor. Denn das hat die
Raum Vorstellung (und überdem noch die der Zeit) Eigenthümliches, der-
gleichen in gar keinem anderen Begriffe angetroffen wird, an sich : dass alle
Räume nur als Theile eines einzigen möglich und denkbar sind.'* K. geht
also hier zur Bestimmung des Begriffes des Unendlichen auf die im vorigen
Argument (vgl. S. 221 f.) behandelte Thatsache zurück, dass alle Räume immer
nur Theile des Einen Raumes sind, worin eben dessen Unendlichkeit ausge-
sagt ist. Hierauf sucht nun Kant auch das im letzten Argument (A) an-
geführte Kriterium der Unendlichkeit, die Grenzenlosigkeit im Fortgange
zurückzuführen. „Dass eine Linie ins Unendliche fortgezogen werden kann,
wie der Geometer sagt, heisst so viel als: der Raum, in welchem ich die
Linie beschreibe, ist grösser, als eine jede Linie, die ich in ihm beschreiben
mag; und so gründet der Geometer die Möglichkeit seiner Aufgabe, einen
Raum (deren es viele gibt) ins Unendliche zu vergrössern, auf der ur-
sprünglichen Vorstellung eines einigen, unendlichen, subjectiv gegebenen
Raumes. Hiemit stimmt nun ganz wohl zusammen, dass der geometrisch
und objectiv gegebene Raum jederzeit endlich sei; denn er wird nur
dadurch gegeben, dass er gemacht wird." Scheint Kant hiernach die
Bestimmung aufrecht erhalten zu wollen, dass der Raum als unendlich ge-
geben sei, so gibt doch die Fortsetzung wieder eine (schon in dem Vorher-
gehenden vorbereitete) Abschwächung : „Dass der metaphysisch, d. i. ur-
sprünglich, aber bloss subjectiv gegebene Raum .... unendlich sei, damit
wird nur gesagt: dass er in der reinen Form der sinnlichen Vorstellungsart
des Subjects als Anschauung a priori besteht, folglich in dieser, als einzelne
256 Excurs. Der unendliche Raum als gegeben.
Vorstellung, die Möglichkeit aller Räume, die ins Unendliche geht, ge-
geben ist.*^ Aber doch sei wieder das „actu infinituvi a parle cogiiantis
keine erdichtete Vorstellungsart" u. s. w. Man bemerkt das beständige
Schwanken zwischen zwei Meinungen: 1) Die Raumanschauung sei uns als
unendliche wirklich gegeben; 2) diese Unendlichkeit sei nur eine gedachte.
Ueber dieses Schwanken ist K. bezüglich des Raumes auch nie hinausgekommen ;
und dieses Schwanken steht in natürlichem Zusammenhang mit dem oben
S. 107 u. 230 aufgedeckten Schwanken zwischen dem Raum als formaler
Anschauung und als Form der Anschauung. Ebenso schwankend äussert sich
das Nachgel. Werk XIX, 574. 577. 620. 623; XXI. 540. 552. 554. 586. 591.
Viele Ausleger suchen den Kantischen Widerspruch dadurch hinweg-
zubringen, dass sie den Ausdruck „gegeben" möglichst abschwächen; so
%. B. auch Holder in seiner Darstellung S. 11/2: es sei nicht so zu ver-
stehen, „als ob der unendliche Raum und die unendliche Zeit als etwas
Fertiges in uns gegeben wären (wie allerdings der erste Satz ungenau
sich ausdrückt); vielmehr besteht ihre Unendlichkeit genauer darin, dass
wir bei der Construction unserer Raum- und Zeitvorstellung keinen der
Funkte, an welchen w^ir Halt machen, als absolute Grenze anzusehen
vermögen.^ ^ Allerdings spreche Kant den letzteren Gedanken hier in der
transsc. Aesthetik nur in der ersten Auflage aus, aber es liege in ihm doch
«in wesentlicher Bestandtheil der Kantischen Auffassung von Raum und
Zeit. Mit Krause, Popul. Darst. 45 könnte man versuchen, den Schwierig-
keiten so zu entgehen: der Raum wird gegeben genannt, weil er nicht
willkürlich gemacht wird, sondern unwillkürlich eintritt auf Empfindung
hin, und unendlich, weil er niemals verweigert werden kann, weil er
immer wieder eintritt, sobald wir etwa mit ihm aufhören wollten. Dass
dies nicht kantisch sei, weist richtig nach Mourley Vold in den Ver-
handlungen der Acad. zu Christiania 1885, S. 10 — 11. — Caird, Grit,
Phil. I, 291 — 295 sucht die Stelle aus dem provisorischen Gharakter der
Aesthetik zu erklären (um denselben zu wahren, habe K. auch den Passus
von A über den „grenzenlosen Fortgang" in B weggelassen, Phü, of Kant 265;
denn erst in der Analytik ^^we have to consider in the doingy that tchich
ihe Aesthetik generally regards as done^' ib. 271). Mahaffy, Grit. Phil. I, 62
macht darauf aufmerksam, dass Kant sich bei der Zeit vorsichtiger aus-
drückt: yjHence time is originally given as unlimited, Avagueness in absenee
of limits mag he given, though proper infinity cannot. 1 think^ Kants op-
ponents should have given him the benefit of this reasondble explanation."
Auch Gehen hat diese Frage eingehender behandelt, und kommt auf
dieselbe an mehreren Grten zurück. Besonders sind es die Einwände von
Ueber weg und von Trendelenburg, welche er zurückweist. Ueberweg be-
merkt an der mehrfach erwähnten Stelle: „Actuell erstreckt sich der Raum,
den wir uns vorstellen, nicht ins Unendliche, sondern nur höchstens bis zu
dem angeschauten Himmelsgewölbe hin. Die Unendlichkeit der Ausdehnung
liegt nur in der Reflexion, dass wir, wie weit wir auch gelangt sein
mögen, immer noch weiter fortschreiten können, dass also keine Grenze
Gegner und Vertheidiger. 257
-eine schlechtbin unüberschreitbare sei." Dagegen bemerkt Cohen (1. Auf!
S. 32; 2. Aufl. 8. 129), jene „K^flexion", von welcher üeberweg spreche
könne nur sein das wissenschaftliche Sich-bewusst-werden von der „Grenzen
losigkeit im Fortgange der Anschauung'*, von welcher Kant ja selbst spreche
und welche „tief und scharf die construirende, die reine Anschauung be
zeichne." — Trendelenburg in seinen „Logischen Untersuchungen" (2. Aufl
3, 167 f.) bemerkt: „Bei Kant liegt eigentlich im Beiwort ein Widerspruch
wenn er sagt: der Baum wird als eine unendliche Grösse gegeben vorge
«teilt. Denn das Gegebene ist sonst das Begrenzte. Der Widerspruch scheidet
aus, wenn die fertige Unendlichkeit in ihre Quelle zurückgeht, in den
Oedanken einer ursprünglichen und darum sich nicht hemmenden Thätigkeit."
Auch hiegegen macht Cohen (1. A. S. 65; 2. A. S. 129. 166) darauf
aufmerksam, dass ja gerade Kant selbst von der Grenzenlosigkeit im- Fort-
gange der Anschauung spreche S dass gerade die Kantische reine Anschau-
ung „ursprüngliche und darum sich nicht hemmende Thätigkeit" sei. Ueber
diesen „Fortgang" vgl. auch Kants Reflexionen II, N. 642, 1436. Lose
Blätter I, 251.
Aber die unmittelbare Nebeneinanderstellung von „unendlich" und
„gegeben" bleibt doch unbequem; , Jedem Kenner der Antinomienlehre muss
der Widerspruch anstössig sein, in den sich Kant durch die Verbindung der
Begriffe unendlich und gegeben mit jenem Kapitel gesetzt haben würde, welches
er nichtsdestoweniger als indirecten Beweis seiner transsc. Aesthetik be-
zeichnet hat" (Cohen, 2. A. S- 125). So sucht denn Cohen jenen Widerspruch
vollends ganz wegzubringen; die blosse Erläuterung des Satzes durch den
Verweis auf die in der ersten Redaction angeführte „Grenzenlosigkeit im
Fortgange der Anschauung" scheint ihm dazu nicht genug. Cohen fasst zu
jenem Zweck diesen ersten Satz (wie schon oben S. 239 angedeutet worden)
nicht als ein directes Glied der ganzen Argumentation, sondern als — einen
Selbsteinwurf, der dem folgenden Gedankengange zu Grunde liege. Bisher,
in den 3 (resp. 4) ersten Argumenten, habe sich der Raum erwiesen aller-
dings als eine reine Anschauung, aber noch kenne man den vollen Werth
eines solchen nicht; unserer einigen Raumanschauung könnte doch noch
eine unendliche Räumlichkeit real correspondiren ; dafür scheine sogar zu
sprechen, dass der Raum als eine unendlich gegebene Grösse vorgestellt
werde; diese Thatsache widerstrebe dem Räume als reiner Anschauung, und
weise vielmehr darauf hin, dass die Einigkeit der Raumesvorstellung nicht
auf der Reinheit einer intuitiven Anschauung beruht, sondern nur der Ab-
druck sei eines äusseren Gegenstandes, der sie kraft Afl'ection hervorrufe
* Aehnliches wendet gegen Trendelenburg auch Lotze ein, Metaph. S. 200 f.,
welcher eine „billige Auslegung Kants** verlangt. Vgl. ib. 278 ff". Vgl. Beyers-
dorfF, Raumvorstellungen, S. 30. Vgl. Cohen, 2. A. S. 199. 247 gegen die Einwände
von Herbart (W. AV. VI, 115. 329; XII, 377) und S. 220 gegen Mill. Treffende
Einwände im Anschluss an Herbart auch bei Drob i seh. Psych. § 24. Vgl. auch
Schuppe, Logik 170. 175. 423. Wun dt, Logik 1,449. Cantoni, Kant I, 210— 224.
Vaihinger, Kant-Gommentar. II. 17
258 Excurs. Der unendliche Raum als gegeben.
u. s. w. So sei also jener erste Satz von der unendlich gegebenen Raam-
Vorstellung als eine Frage zu fassen, als ein Einwand, auf den erst die
Portsetzung des Argumentes die Antwort ertheile. An dieser wunderlichen
Auffassung hat Cohen eine solche Freude, dass er sie mehrmals wiederholt:
zuerst entwickelt er sie 1. A. S. 29 f., 2. A. S. 125 f., und dann finden
wir sie wieder 1. A S. 81. 50. 65, 2. A. S. 128 f. 166; da sagt er sogar,
dieses 4. Argument gebe auch zugleich die Antwort auf jene oben S. 130 ff.
behandelte Frage: „Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche
Wesen?" ,,Dies ist die Frage. Ihre Lösung erkennen wir ausdrücklich
in dem vierten Satze. Dieser nämlich ging von der Vorstellung des Raumes
als einer Art von Wesen, einer unendlichen gegebenen Grösse aus, löste
dieselbe aber in die einige Anschauung auf, deren Unendlichkeit nur im
endlosen Fortgange bestehe."
So hat denn auch Cohen den Widerspruch nicht hinwegzubringen ver*
mocht. Dieser Widerspruch kehrt bei Kant immer wieder. £s hat deshalb
auch keinen Werth, wenn man sich auf anderslautende Stellen Kants be-
ruft: dies macht den Widerspruch ja nur um so offenbarer. Eine solche
Stelle enthalten auch Kants Metaph. Anf. d. Naturw. I, 1. 3: „Der absolute
Raum ist an sich nichts und gar kein Object, sondern bedeutet nur einen
jeden anderen relativen Raum, den ich mir ausser dem gegebenen jederzeit
denken kann, und den ich nur über jeden gegebenen ins Unendliche hinaus-
rücke, als einen solchen, der diesen einschliesst, und in welchem ich den
ersteren als bewegt annehmen kann." Während Spicker, Kant S. 136 in
dieser Stelle „eine ganz andere Fassung" des Raumbegriffes findet, sagt
Stadler, Ks. Th. d. Materie, S. 26 (vgl. desselben Reine Erk. Th. 33) mit
Beziehung auf diese Stelle: „Hätte man sich beim Studium der Kr. d. r. V.
von diesen Stellen helfen lassen, so wäre Kants Lehre vom Räume weniger
miss verstanden worden. Hier lernen wir, auf welche Weise der Raum als
eine unendliche gegebene Grösse vorzustellen, und dass das Princip der Un-
endlichkeit nur im grenzenlosen Fortgange der Anschauung zu suchen ist.
Hätte Herbart an diese Stelle sich erinnert, er würde sein Bild von den
leeren Gefdssen schwerlich gewagt haben. In der That w^ird hier die Form,
wie wir es deutlicher nicht wünschen können, als ein Fortgang, als eine
Handlung, d. h. ein Process erklärt. Dieser Process ist aber nichts anderes,
als was in der Antinomienlehre Regressus in hidefinitvm genannt wurde,
d. h. das endlose Aufsteigen vom Bedingten zu seiner Bedingung. So hat
man auch daran zu wenig gedacht, dass Ks. Raumtheorie in der Auflösung
der kosmologischen Idee ihre werthvollste Erläuterung besitzt . . . Nun ist
der Trieb in unsere Vernunft gelegt, eine solche Reihe in ihrer Totalitit
vorzustellen, obgleich sich der Vernunft selbst der gesuchte Abschluss als
unerreichbar darstellt. Die Vorstellung dieser unerreichbaren Grenze nenni
K. Idee. Auch die Idee des absoluten Raumes erfüllt ihre nothwendige
regulative Aufgabe." Sehr gut. (Vgl. oben S. 230.) Aber Kant betrachtet
eben hier und auch sonst diesen absoluten, unendlichen Raum nicht als
„Idee", sondern als „gegeben".
Vertheidiger und Gegner. 259
Eine scharfe Kritik an der Kantischen widerspruchsvollen Position übt
E. V. Hartmann, Transsc. Realismus 157: „Als gegebene Grösse ist der
Raum immer endlich, und es ist ein logischer Widerspruch, dass irgend
etwas als unendliche Grösse gegeben sein oder vorgestellt werden könne,
weil alsdann eine vollendete Unendlichkeit gegeben wftre. Nun habe ich
allerdings far meinen subjectiven Vorstellungsraum volle Freiheit, die Grenze
immer weiter herauszuverlegen , aber damit erlange ich nur den negativen
BegrifF, dass für meinen jederzeit endlich gegebenen subjectiven Vorstellungs-
raum keine Grenze der möglichen Erweiterung in mir zu finden ist, und
dieser Begriff als begleitende Vorstellung dem endlich gegebenen Räume
hinzugefügt, macht die Unendlichkeit des Raumes aus, die demnach wie
jede Unendlichkeit nur als potentielle zu fassen ist. Die Unendlichkeit des
Raumes ist also nicht reine concrete Anschauung, sondern Begriff: denn sie
beruht erstens auf der Verstandessynthese des Fortganges, der Bewegung,
und zweitens auf der begleitenden Vorstellung der Negation der Grenze,
d. h. auf einer Kantischen Kategorie. Also ist der unendliche Raum jeden-
falls Begriff und enthält als Begriff eine unendliche Menge möglicher Theil-
vorstellungen in sich." (Vgl. oben S. 241 Anm.) Vgl. übrigens auch schon
Schopenhauer, Kritik d. K. 'sehen Philos. 592 ff. Vgl. auch den Streit
zwischen Lotze und Renouvier über die Actualität resp. Potentialität des
unendlichen Raumes. Auch Spicker, Kant 182 f. weist darauf hin, dass
die Unendlichkeit nicht in der Anschaung, sondern im Denken liege: ,,Kant
selbst ist der Ausdruck gedacht entwischt: gleichwohl wird der Raum so
gedacht, nämlich als eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich
enthaltend. Er hätte sagen müssen: Gleichwohl wird der Raum so ange-
schaut u. s. w." Derselbe Einwand bei v. Kirch mann, Erl. 8; dagegen
Grapengicsser, Erkl. 20. Eine scharfe Kritik dieses Lehrstückes auch bei
Montgomery, Kant 100 ff. (vgl. dazu Volkelt, Kant 190). M. hebt her-
vor, „dass Kant gegen sein eigenes Erkenntnissprincip sündigt, wenn er
einen einigen, allbefassenden unendlichen Raum annimmt. Denn dies sein
Erkenntnissprincip besage, dass nur das, was in der Sinnlichkeit sich dar-
stellt, Gegenstand der Erkenntniss werden könne. Er dürfe daher lediglich
eine Erkenntniss von bestimmten Räumen zugeben, und verwechsele unsere
unbegrenzte Fähigkeit, alle möglichen besonderen Räume zu erzeugen , mit
der Unendlichkeit des Raumes selber." Vgl. ferner Engelmann, Ks. Lehre
vom Ding an sich, S. 17. 29. Vgl. bes. auch Sigwart, Logik, II, 59.
Fruchtbar ist die Frage, welche B. Erdmann zu Kants Reflexionen II,
N. 357 aufgeworfen hat: ob dieser von Kant hier behauptete ,, unendlich
gegebene" Raum identisch sei mit der ,,Form der Anschauung" oder mit der
„formalen Anschauung" — ein Gegensatz, der oben S. 103 ff u. S. 256 hin-
reichend auseinandergesetzt worden ist. Erdmann selbst nimmt das Erstere
an ; aber es muss wohl im Gegentheil das Zweite angenommen werden, wie
schon oben S. 256 angedeutet wurde. Jene bloss potentielle „Form der An-
schauung" ist weder endlich noch unendlich; sie ist nur die „Bedingung"
des räumlichen Anschauens überhaupt; aber aus dieser potentiellen Form
260 Excurs. Der unendliche Raum als gegeben.
entstellt nun zweierlei: verbindet sich jene Form mit den durch Affection
entstandenen Empfindungen, so entstehen die empirischen Anschauungen der
äusseren Gegenstände, wobei, w^ie hier antecipatorisch zu bemerken ist, zu-
gleich der Verstand durch seine kategorialen synthetischen Functionen
mitwirkt. Wird jene Form aber selbständig für sich herausgegriffen und
zur bestimmten reinen Anschauung ausgebildet, so entsteht eben die reine
Anschauung des geometrischen Raumes als solchen, wobei wiederum jene
synthetische Function bedingend mitwirkt. (Vgl. oben S« 224 f.) Nun ist diese
synthetische Function, welche auch mit der productiven Einbildungskraft
identificirt wird, bei jenen empirischen Anschauungen der äusseren Gegen-
stände an das bestimmte begrenzte Material gebunden, das ihr durch die
Empfindung gegeben wird. Dagegen ist die productive Synthesis bei der
Ausgestaltung der reinen Raum an schauung an gar keine Grenzen gebunden;
das„Mannigfaltige^^ was hier in Betracht kommt, gibt gar keine Veranlassung,
irgendwo innezuhalten, im Gegentheil, überall und immer ist wieder die
Gelegenheit zu neuer Synthesis vorhanden ; also braucht diese auch nirgends
aufzuhören, und ihr Product ist eben der — unendliche Raum. Jene syn-
thetische productive Function erlaubt und fordert in diesem Falle den
,,Progressus in infinÜMn'', s. Kants Refl. II, N. 358—360. 410—412; „Der
Raum ist unendlich progressive, aber nicht' collective." Vgl. N. 1420 — 1425.
1436 — 1450 (schwankende Aeusserungen über das infinitum quantum da tum
und dabile), sowie Kants Aeusserungen in seiner Metaphysik- Vorlesung über
Maximum und Illimitatum, Phil. Mon. 1884, S. 83. Vgl. Pölitz, Kants Me-
taphysik S. 65 f. Diese synthetische Function ist immer schon in Thätigkeit
getreten und vollzogen, wenn wir die reine geometrische Raumanschauung
haben; durch jene wird ja, wie in der oben S. 226 besprochenen Stelle ge-
sagt wird, ,,der Raum als Anschauung zuerst gegeben"; wird nun jene
productive Synthesis in ihrer Thätigkeit nirgends aufgehalten, so ist damit
eben auch der Raum als unendliche Anschauung gegeben. Aber es
bleibt darin doch immer der üble Widerspruch bestehen, dass jener pro-
gressus in infinitum als vollendet gedacht werden soll — ein Widerspruch,
der auch in widersprechenden Wendungen der eben erwähnten Stellen aus
Kants Reflexionen deutlich zum Vorschein kommt.
In den eben citirten Reflexionen Kants II, N. 357 ff. (vgl. N. 415)
erhalten wir übrigens nun auch eine interessante Andeutung, welche ge-
eignet ist, auf den schon oben S. 243 angeführten Zusatz der 2. Aufl., —
denn alle Theiie des Raumes ins Unendliche sind zugleich — Licht zu
werfen. Dort heisst es: „Durch das Zugleich ist das Gegebensein ange-
zeigt." „Die omnitudo collectiva oder Totalität beruht auf der positione simul*
ianea,^^ „Die Zeit ist in Ansehung der potentialeu Simultaneität unend-
lich. Daher stellen wir uns den Raum actualiter unendlich vor." Dai'aus
ist zu schliessen, dass die Setzung der Raumtheile durch die synthetisch-
productive Function nicht eigentlich ein Nacheinander von Zeit momenten
erfordert, sondern in Gleichzeitigkeit vollzogen wird. Allein dies steht
wiederum im Widerspruch mit den ganz anders lautenden Erklärungen in
Infinitum quantum datum oder dahile'f 261
der These der ersten Antinomie A 428, wonach eben die unendlich vielen Theile
der Welt „nicht als zugleich gegeben angesehen werden" können. Dies
schliesst ja auch schon der Begriff des progressus in infinitum ein. Gleich-
wohl ist jene Bestimmung der positio simultanea eine dankenswerthe Er-
läuterung des Textes hier: die unendlich vielen Theile der gegebenen
Raumanschauung sind ja auch allerdings als zugleich vorhanden zu denken,
wenn auch die dazu nöthige synthetische Function ein Nacheinander der
Acte erfordert.
Auch in dem Fischer-Trendelenburg'schen Streite hat die
Auslegung des Satzes vom unendlich gegebenen Räume eine Rolle gespielt,
wie schon oben S. 247 ff. bemerkt worden ist. Fischer zog (2. Aufl. S. 322)
aus dem Satze vom ,, unendlichen gegebenen Räume" die Bestimmung, dass
der Raum ein Ganzes sei. Gegen diese, auch schon oben von uns ver-
worfene Bestimmung hat schon Trendelenburg mit Recht sich gewendet.
Er sagt in seiner Entgegnung S. 25: „Es ist misslich, den unendlichen
Raum dasGanzezu nennen, da sich uns mit einem Ganzen die Vorstellung
des Umgrenzten verknüpft." Fischers Vertheidigung (Duplik S. 30—32)
ist oben S. 249 wiedergegeben und seine Behauptung schon dort hio reichend
zurückgewiesen worden. lieber die Anwendung der Begriffe omnitudo und
totalitas auf den Raum vgl. übrigens auch Kants schwankende Aeusserungen
in seinen Reflexionen II, N. 358 ff. 607 ff. 1422 ff., besonders aber Kr. d.
ürth. § 26, wonach die Zusammenfassung beim Unendlichen zu einem Ganzen
eine die mathematische Grössenschätzung überragende „intellectuelle" Thfttig-
keit der Vernunft ist (also eine „Idee"); das Unendliche wird übrigens auch
danach als „gegeben gedacht"; doch nennt K. dies selbst ,, einen in
sich selbst widersprechenden Begriff"! —
Uebersicht der Raumargumente. Auf Grund der speciellen Analyse
der einzelnen Rauraargumente sind wir nun in den Stand gesetzt, das gegen-
seitige Verhaltniss und den Zusammenhang derselben genauer zu bestimmen.
Auf den ersten Blick ist klar, dass die beiden ersten, sowie die beiden letzten
Argumente je ein zusammengehöriges Paar bilden; dies wurde oben auch
schon mehrfach S. 197. 205. 210. 237 erörtert. Die beiden ersten Argumente
wollen die Ansicht von der empirischen Natur der Raumvorstellung wider-
legen und ihren apriorischen Charakter darthun. Die beiden letzten
Beweise wollen dagegen die Ansicht von der discursiven (begreiflichen)
Natur der Raum Vorstellung zurückweisen und ihren intuitiven Charakter
erweisen. 'Vgl. den Entwurf in den Reflexionen II, N. 334: „Der Raum
ist kein Erfahrungsbegriff. Er ist auch kein Vernunftbegriff." Das
Problem der beiden ersten Argumente ist der erkenntnisstheoretische
Ursprung der Raum Vorstellung , das der beiden letzten deren logischer
Werth.
Zwischen den beiden ersten Argumenten für sich besteht ferner der
Unterschied, dass das erste auf indirectem, das zweite auf directem
Wege sein Ziel erreicht: der directeste Weg für den Beweis der Apriorität
besteht ja in dem Nachweis von der Nothwendigkeit der betreffenden Vor-
262 Uebersicht der Raumargumente.
»
Stellung selbst, diesen Weg schlägt das zweite Argument ein, während das
erste den Umweg einschlägt, über die „Möglichkeit der Erfahrung* — die
Baum Vorstellung ist eine unentbehrliche Voraussetzung für das Znstande-
kommen unserer Wahrnehmung.
Auch den unterschied der beiden letzten Argumente kann man in
ähnlicher Weise bestimmen: das vorletzte Argument zeigt, dass der Kaum
kein Begriff sei, direct durch den Hinweis darauf, dass der BaumTorstellaDg
Eigenschaften fehlen, welche jeder Begriff hat: die Allgemeinheit und die
Zusammengesetztheit, sondern sie hat die Prädicate der Einzigkeit und Ein-
heitlichkeit. Im letzten Argument dagegen wird zu demselben Zwecke ein
Umweg eingeschlagen, und es wird ein entfernteres Merkmal des Raumes,
die Unendlichkeit, zum Beweis verwerthet. '
Uebersicht der Baumargumente.
Erstes Theorem (phjectum probationis) :
Der Raum ist nicht eine empirische, sondern eine aprio-
rische Vorstellung.
Beweise (argumenta pröhatioma) \
A u. B I. Indirecter Beweis: Aus der Priorität der Raumvorstellung
vor jeder äusseren Wahrnehmung.
A u. B II. Directer Beweis: Aus der Nothwendigkeit der Raumvor-
stellung. Biese ist näher zu bezeichnen:
a) als absolute Nothwendigkeit für das vorstellende Subje ct.
Dazu kommt als Folgerung (oder als Nebenbeweis?):
b) die relative Nothwendigkeit für die vorgestellten Objecte.
[FolgeiTing AIII: Die Apodicticität der Geometrie: in B weggefallen.]
Zweites Theorem {phjectum probationis) :
Die Raumvorstellung ist ursprünglich nicht Begriff, son-
dern Anschauung.
Beweise (argume'nta 2>rohQtiom8) :
A IV = B in. Directe Beweise :
a) aus der Einzigkeit der Raumvorstellung (die Einzelräume sind
nicht Exemplare,^ wie sie ein Begriff unter sich hat, sondern
Theile, wie sie nur eine Anschauung in sich haben kann);
b) aus der Einheitlichkeit der Raumvorstellung (die Einzeliüame
sind nicht selbständige vorhergehende Bestandtheile, wie die
* Hiezu vergleiche man : Schulz, Erläut. S. 23 ff. ; Schmid, Wörterb. 441:
Thanner, Idealismus 28; Mirbt, Kant 73; Fischer (vgl. oben S. 204. 209 f):
Cohen, Zeitschr. f. V. VII, 279; Cohen, Th. d. Erf. 1. Aufl. S. 28. 50: 2. Aufl.
S. 123. 166; Holder, Darstellung S. 10 f; Zeller, D. Philos. 427; Arnoldt.
R. u. Z. 118; v. Hartmann, Transsc. Realismus 142 (unrichtig); Witte, Beitrage
27 ff. Ganz andere und falsche Beurtheilung und Eintheilung der Argumente bei
Görin g, Raum u. Stoff 36 ff. Eigenartig bei Deussen, Metaph. § 48 ff. — Den
^Entwurf einer anderen Anordnung der Raumargumente'' macht Kant in seinem
Handexemplar (Erdmann , Nachträge N. 13). Schon aus der Zeit der 70er Jahre
haben wir einen Entwurf in den Reflexionen II, N. 334.
Rolle der „Transscendentalen" Erörterung. 263
Merkmale, aus denen ein Begriff zusammengesetzt wird; son-
dern unselbständige Theilstücke, welche erst aus der Einen
Raumvorstellung herausgeschnitten werden).
[Dazu c) eine Bestätigung aus der synthetischen Natur der Geometrie.]
AV = B IV. Indirecte Beweise (aus der Unendlichkeit der Raum-
vorstellung) :
Erste Auflage: Aus der Grenzenlosigkeit derselben. (Dies ist eine
Grössenbestimmung, wie sie kein Begriff enthalten kann.)
Zweite Auflage: Aus der Unzählbarkeit der Raumtheile. (Kein
Begriff kann eine solche unendliche Menge von Voi-stellungen in
sich haben; nur unter sich hat er eine solche.)
§ 3.
Transscendentale Erörterung des Baumbegriffs.
In welchem Sinne die »Transsc. Erörterung*' der „metaphysischen"
gegenübersteht, wurde oben S. 151 ff. hinlänglich besprochen. Die metapb.
Er ort. untersuchte den Vorstellungswerth der Raum Vorstellung und erweist
dieselbe als „a priori gegebene" Vorstellung. Die transsc. Er ort. zeigt,
dass und wie aus diesem Begriffe noch etwas „anderes Apriorisches, nämlich
synthetische Erkenntniss a priori" folge (vgl. B 132). Ueber das Verhält-
niss dieser transsc. Erörterung des Raumes zu der transsc. Deduction
der Kategorien vgl. schon oben S. 152. — Vgl. Cantoni, Kant I, 161 ff.
Was die allgemeine Tendenz des Abschnittes betrifft, so ist beachtens-
werth, was Paulsen, Entw. 179 sagt: er betrachtet (vgl. Comm. I, 67 ff.)
den Rationalismus als den eigentlichen Hauptzweck der Kr. d. r. V.,
dem der Idealismus nur als „nothwendige Voraussetzung zu
dienen habe." „Namentlich die transsc. Deduction, sowohl die etwas ver-
kümmerte in der Aesthetik, als die ausgeführte in der Analytik, hat nichts
Anderes zu ihrem Gegenstand als den Nachweis, dass wir reine Vernunft-
erkenntniss von allen Dingen als Erscheinungen haben können." Paulsen
beruft sich (185) hauptsächlich auf den Anhang in den Prolegomena, woselbst
K. selbst sagt: „Mein sog. Idealismus ist also von ganz eigcnthümlicher Art,
nämlich so, dass er den gewöhnlichen umstürzt, dass durch ihn alle Erkennt-
niss a priori, selbst die der Geometrie, erst objective Realität bekommt."
Dagegen Erdmann, Krit. 188. Wir haben schon Comm. I, 70 zu dieser
Streitfrage Stellung genommen. Rationalismus, Idealismus, Empirismus u. s. w.
sind einzelne Seiten an dem Kriticismus, nicht er selbst. Dass die transsc.
Erörterung den Rationalismus besonders hervorhebt, liegt in ihrer Aufgabe ;
Ks. System im Ganzen ist deshalb noch nicht einseitig als Rationalismus
zu bezeichnen; mit solchen exclusiven Auffassungen verschliesst man sich das
Verständniss der Totalität des kritischen Systems. Dies gilt auch gegen
Adickes 71. 76.
Paulsen, Entw. 168 will nun folgenden wesentlichen Unterschied
der beiden Auflagen herausfinden: ,.Es ist bemerkenswerth, dass die trans-
204 § 3. Raum: transscendentale Erörterung.
B 40. [R 712. H 60. K 76.]
scendentalen Erörterungen der 1. Aufl. das Resultat nicht in die Formel
ziehen: folglich sind unter dieser Bedingung synthetische Urtheile
a priori in der Mathematik möglich. Erst die 2. Aufl. benutzt die Frage-
stellung für die Antwort. Es darf daraus wenigstens dies entnommen
werden, dass die Formel ihm bei der ersten Bearbeitung noch weniger ge-
läufig war." Allerdings fehlt in den correspondirenden Nummern 3 der
1. Aufl. jene Formel, allein sie findet sich ja (abgesehen von der vorüber-
gehenden halben Erwägung in dem Zeitargument N. 4) zweimal sehr deut-
lich und ausführlich in A : 38 ff. und 46 ff. Die Behauptung Paulsens ist
also, wie schon Comm. 1, 833 bemerkt werden musste, thatsächlich irrig.
Seitdem hat nun (1889) Adickes in seiner Ausgabe der Kr. d. r. V. (bes.
S. 75. 82. 86. 89) wahrscheinlich zu machen gesucht, dass alle Abschnitte
und Stellen, in welchen das synthetische Urtheil erwähnt wird, in dem ur-
sprünglichen Entwurf d. Kr. d. r. V. gar nicht schon enthalten gewesen
seien, sondern erst nachher in den Context desselben eingeschoben worden
seien. Diese Hypothese ist, wenigstens in der Form, in welcher sie vorge-
tragen ist, sehr unwahrscheinlich, wie schon aus den Erörterungen über die
Entstehung des Unterschiedes des analytischen und synthetischen ürtheils I,
269 ff. 288 f. 327 ff. hervorgeht. Vgl. Archiv f. G. d. Ph. IV, 727.
Dieser ganze Abschnitt ist in der 2. Aufl. erst eingefügt worden. Er
ist eine Erweiterung des dafür weggelassenen dritten Raumargumentes der
1. Aufl.; vgl. oben S. 202. Aus der in den beiden ersten Argumenten be-
wiesenen Apriorität der Raum Vorstellung wurde da die Apodicticität der
Geometrie erklärt. Die Gründe, warum diese Argumentation nicht an jene
Stelle gehört, wurden dort hinreichend entwickelt. Dazu tritt noch eine
kleine Ungenauigkeit der ersten Auflage: Kant sagte da, auf die Apriorität
der Raumvorstellung gründe sich auch die Möglichkeit der geometriscfaeD
Constructionen a priori (vgl. oben S. 203); aber das gehörte noch nicht
dahin; denn zur Construction wird ja Anschauung erfordert (s. Krit, A 712 f.
718); davon aber, dass die Raum Vorstellung Anschauung sei, war ja bis
dahin keine Rede gewesen. Davon ist erst nachher die Rede und so wird
denn auch am Schlüsse des vorletzten Raumargumentes wieder auf die
Eigenthümlichkeit der Geometrie hingewiesen, ihre Sätze nicht aus Begriffen,
sondern aus Anschauungen zu erweisen. Auch diese Bemerkung war, wie
wir sahen S. 234, dort eigentlich deplacirt, und hätte daher consequenter
Weise in der zweiten Auflage ebenso gestrichen werden müssen, wie das
dritte Argument; denn auch sie wird in der „Transscendentalen Er-
örterung" erst im richtigen Zusammenhang vorgebracht. Es ist daher auch
irrig, wenn A dickes 75 zur Unterstützung seiner eben erwähnten Hypo-
these behauptet, im dritten und vierten Argument von A sei nur von Xoth-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit die Rede gewesen: Kant spricht auch
von der Anschaulichkeit der geometrischen Urthoile, und weist damit deut-
lich schon hier auf deren synthetische Natur hin, nicht nur auf ihre
apriorische.
Erste und zweite Auflage der Kr. d. r. V. Die Prolegomena. 265
[R 713. H 60. K 76.] B 40.
Man würde jedoch, wie aus dem Folgenden hervorgehen wird, diese
„Transsc. Erörterung" ganz missverstehen (so z. B. Adickes 75 N.), wenn
man in ihr nur eine Erweiterung des in der zweiten Auflage weggefallenen
ursprünglichen dritten Raumargumentes sehen wollte. Dieses (nebst der
Schlussbemerkung des urspünglichen vierten Raumarguments) bezieht sich
nämlich nur auf die reine Mathematik als solche. Nun aber bezieht sich —
dies nachzuweisen ' wird unsere Hauptaufgabe sein — die transsc. Er-
örterung selbst auch auf die angewandte Mathematik. Diese war nun
auch schon in der ersten Auflage gleich unten im Schluss b erwähnt worden.
In der Transsc. Erörterung von B sind also das (in B weggefallene) dritte
Raumarguraent von A, und der (auch in B erhaltene) Schluss b nach A
von Kant in Eine Erörterung zusammengefasst worden. Er spricht sowohl
von der reinen, als von der angewandten Mathematik, und zwar promiscue,
wie das auch schon in A in den beiden wichtigen Parallelstellen A 38 ff.
und A 46 ff. der Fall gewesen war. Die Transsc. Erörterung enthält somit
inhaltlich nichts Neues gegenüber der ersten Auflage, ist aber formell sehr
wichtig geworden wegen ihrer prononcirten Stellung. Diese ihre prononcirte
Stellung verdankt die Transsc. Erörterung jedenfalls der Einwirkung der
Prolegomena. (Vgl. Er d mann, Ks. Krit. 187 ff.) Wie sich Kritik und
Prolegomena sachlich hierin verhalten, ist unten zu erörtern; das metho-
dische Verhältniss ist sogleich hier zu erwägen.
Schon im ersten Bande dieses Commentares wurde ausführlich dar-
gethan, wie sich Prolegomena und Kritik im Allgemeinen zu einander ver-
halten. Es wurde I, 412 ff. ausgeführt, inwiefern die Kritik synthetisch
verfährt, während die Prolegomena den analytischen Weg einschlagen. Die
Kritik untersucht die Bedingungen unserer Erkenntniss, um diese aus jenen
dann abzuleiten; jene bedingenden Factoren werden ganz selbständig erst
untersucht und für sich festgestellt, und erst dann gezeigt, wie aus solchen
Factoren unsere Erkenntniss sich zusammensetze. Die Prolegomena nehmen
gerade diese unsere Erkenntniss (ein gegebenes Factum) als Ausgangspunkt
und suchen die erklärenden Bedingungen zu dieser Thatsache. Dieser Unter-
schied gilt für beide Auflagen der Kritik, mit geringen Ausnahmen. Zu
diesen Ausnahmen gehört, wie schon I, 415 Anm. angedeutet wurde, eben
die vorliegende Stelle. Denn in diesem Abschnitte verlässt Kant ja den
synthetischen Weg. In dem dritten Raumargument, wie es die erste Auf-
lage darbot, hatte Kant noch den synthetischen Weg eingehalten (wenn auch
mit merklicher Hinneigung zum analytischen) ; er ging ja daselbst, wie er
selbst in der Logik § 117 von der synthetischen Methode sagt, aprincipiis
ad principiata: d. h. von der Apriorität der Raumvorstellung ging er zur
Apodicticität der Mathematik als ihrer Folge (vgl. dazu B. Erdmann,
Ks. Prolegomena Einl. XXXII, Kriticismus, S. 187). Diese dem synthetischen
Gang angemessene Darstellung verliess er in der „Transscend. Erört.*, wie
sie von der zweiten Auflage dargeboten wird. Denn in ihr geht Kant ja
von der Thatsache der Apodicticität der Mathematik aus, um von dieser
26G § 3- Kaum: transscendentale Erörterung.
B 40. 41. [R 712. H 60. K 76.]
aus auf die Apriorität der Raum Vorstellung zu schliessen, indem er die
quaesita für jenes datum aufstellt. Er fragt ja: Wie muss die Raum-
Vorstellung gedacht werden, damit die thatsächlich vorhandene apriorische
Erkenntniss der Mathematik genügend erklärt werde? (Es handelt sich um
eine Erklärung, welche, um mit den alten Methodologen zu sprechen, zum
GcuCeo^cc'- ta cpaiv6{ieya genügend ist.) Indem also Kant diesen analytisch ge-
führten Abschnitt einschiebt, setzt er hier ganz frisch ein, und thut, als ob
bisher gar nichts geschehen wäre. Dies neue Einsetzen erhöht den Reiz der
Darstellung; und so wird wohl Kant auch an diese Stelle gedacht haben,
wenn er in der Vorrede B 42 sagte, er habe bei seinen , Weglassungen ^
und „Einschaltungen" auch gelegentlich „die Methode des Vortrages* ver-
ändert, um grössere „Fasslichkeit" zu erreichen. Denn die analytische
Methode hat ja den Vorzug grösserer Popularität (vgl. die Stellen darüber
in den Phil. Monatsh. XVI, 57 f.). Was aber die Dai*stellung so an Popu-
larität gewann, das verlor sie an Strenge und logischer Klarheit. Hierüber
vgl. man den methodologischen Excurs unten zu A 26 (hinter dem Schlüsse b).
Die Transsc. Erörterung zerfällt in vier Absätze.
Der erste Absatz gibt eine vorläufige Uebersicht über den Gang
der Argumentation: 1) Nachweis wirklicher synth. Erkenntnisse a priori;
2) Erklärung ihrer Möglichkeit.
Der zweite Absatz führt dieses Programm aus. In der Geometrie
ist jene Wirklichkeit gegeben'; sie ist eine Exposition der Eigenschaften der
Raumvorstellung (hiegegen opponirt heftig Bolliger, Antikant 184. 380),
und zwar sind ihre Sätze a) synthetisch und b) doch a priori. (Zu diesem
„doch" vgl. Comm. I, 288.) Diese beiden Eigenthümlichkeiten müssen er-
klärt werden. Nach analytischer Methode verfahrend, fragt Kant : was muss
die Raumvorstellung sein, wenn jene Sätze über den Raum möglich sein
sollen ?
Ad a) wenn synthetische Sätze über ihn möglich sein sollen — und
sie sind wirklich — , so darf er nicht sein — Begriff, so muss er sein —
Anschauung^ Dies ist eine Wiederholung dessen, was schon der Schlnss
' Herbart urtheilt einmal: „Als Kant die Geometrie aus der reinen An-
schauung des Raumes erklärte, da vergass er die Musik mit ihren synthetischen
Sätzen a priori von Intervallen und Aecorden.* Dazu bemerkt Stumpf, Ton-
psychologie I, Vorr. VIII: »Wir werden zwar nicht in diesem Punkte, aber in
genug anderen die Ton* und Raum Vorstellungen einander analog finden. Man
könnte in der That den ganzen ersten Theil der Transscend. Elem.-Lehre so xu
sagen in Musik setzen."
' Eine Anschauung a priori, setzt Kant in der Abhandlung über den »Vor-
nehmen Ton" u. s. w. Ros. I, 623 f. (vgl. Kr. d. Urth. § 62; Proleg, Ros. III. 155
Anm.) auseinander, brauche man jedenfalls, um die synth. ürtheile der Math, za
erklären; wenn man nun nicht mit ihm eine sinnliche annehme, so müsse man
mit Piaton eine übersinnliche, intellectuelle, von Gott abgeleitete annehmen.
Platon sei zu loben, dass er die Nothwendigkeit einer Anschauung a priori filr die
Erklärung der synthetisch-apriorischen Urtheile in der Geometrie. 267
[R 713. H 61. K 77.] B 40. 41.
des vorletzten Raumargumentes ausgesprochen hatte (vgl. oben S. 233 ff.).
Zur Sache vergleiche man Laas, Analogien 209 ff. 323 und bes. Bolliger,
Antikant 377 ff., welcher den Zusammenhang zwischen Anschaulichkeit und
synthetischen Urtheilen vermisst; ferner v. Kirchmann, Erl. S. 9. 13, und
dagegen Grapengiesser, Erkl. 22. 28. Rehmke, Welt 175 ff. Nach
Bergmann, Metaph. 126 f. beweisen Ks. Beispiele vielmehr die Intel-
lectualität des Raumes. Maass in Eberhards Magazin I, 129 — 133.
Ad b) Um die Apodicticität der geometrischen Urtheile möglich zu
machen, dazu darf die Raumvorstellung nicht sein eine empirische, sie muss
sein eine apriorische. Sonach muss der Raum sein eine Anschauung
a priori; nur unter dieser Voraussetzung ist jenes Factum überhaupt „be-
greiflich*, es muss ein „apriorisches Bindeglied* für die synthetischen Sätze
a priori da sein (Holder, 14) — die reine Anschauung. Das im ersten Ab-
sätze gestellte Problem ist gelöst und soweit ist der Gedankengang ganz
durchsichtig und abgeschlossen ^
Hier ist nun besonders an die scharfe Kritik zu erinnern, welche
Helm hol tz an diesem Zusammenhang geübt hat (vgl. oben S. 184). Immer
wieder, besonders aber in den „Thatsachen in der Wahrnehmung", S. 22 ff.
51 ff*, macht er darauf aufmerksam, dass die Apriorität oder „Transscen-
dentalität** der allgemeinen Raumanschauung gar nicht nothwendig zusammen-
hängt mit der Annahme der Apriorität der speciellen Raumaxiome. Diese
können aus der Erfahrung stammen, wenn jene auch als apriorische An-
schauungsform anerkannt wird. Vgl. Helmholt z, Ueber den Ursprung und
die Bedeutung der geometr. Axiome, Popul.-wiss. Vorträge III, p. 21. Vgl.
auch Riemann, , Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde
liegen*, Habil.schrift 1854, Abh. d. Kgl. Gesellsch. der Wissensch. Göttingen
Mathematik eingesehen habe; nur habe er mit jener seiner Annahme der Schwärmerei
Thür und Thor geöffnet. Dasselbe gelte mutatis mutandis auch von des Py t ha-
ger as Zahlenlehre. Gegen die historische Richtigkeit dieser Barstellung erhob
aber Schlosser Einspruch in seinem , Schreiben" u. s. w., S. 78 ff.
* Ueber das Beispiel Kants: Der Raum hat nur drei Abmessungen, vgl.
Bolliger, Antikant 378 f., welcher daselbst eine analytische Ableitung des nach
Kant synthetischen Satzes versucht. Denselben Satz sucht Riehl, Krit. 11, a, 167
als einen Satz nicht der reinen, sondern der empirischen Anschauung zu erweisen.
Vgl. über das Thema auch Renouvier, Essais I, 290, und Cohen, 2. A. 212 ff.,
sowie Liebmann, Raumcharakteristik und Raumdeduction in der V. f. wiss.
Philos. I, 201 ff., der auch an § 9 der „Gedanken von der wahren Schätzung der
lebendigen Kräfte" erinnert, woselbst K. sich gegen die mathematisch-logischen
Ableitungs versuche der Dreidimensionalität des Raumes erklärt und bemerkt:
7 Daher beruht die Noth wendigkeit der dreifachen Abmessung vielmehr auf einer
gewissen anderen Noth wendigkeit, die ich noch nicht zu erklären im Stande bin."
K. sucht diese Nothwendigkeit daselbst in dem Gravitationsgesetz. In seiner kriti-
schen Periode nimmt K. die Dreidimensionalität des Raumes als eine nicht weiter
erklärbare nothwendige Eigenthümlichkeit unserer Raumanschauung hin. Vgl.
Diss. § 15, C, D. (Vgl. oben S. 203.)
268 § 8. Raum: transscendenfcale Erörterung.
B 41. [R 713. H 61. K 77.J
Bd. XIII ; Gesammelte Werke, herausg. von Weber, p. 254. Vgl. dagegen
Cohen, 2. A. 214. 222 ff. (gegen Riemann) 227—238. Vgl. ib. 218 fif. über
den Streit zwischen Mill und Wh e well über die reine Anschauung als
Bedingung der Mathematik. Gegen Mills Einwände auch Konig, Philos.
Mon. 1884, 234 ff. Hey m ans, Viert, f. wiss. Phil. 1888, 429 ff., und ein-
gehend in den „Ges. u. El. d. wiss. Denkens*, 1890, I, 200 ff. Lange, Log.
Stud. 130 ff. Wundt, Logik I, 445 f. Lasswitz, Die Lehre Kants 141 ff.
Zur Sache vgl. ferner auch die scharfe, th eil weise treffende Kritik von
Beyersdorff, Die Raumvorstellungen, S. 37 — 51, welcher besonders betont,
dass die Apriorität der Raumvorstellung eine ganz andere ist, als die der
mathematischen Sätze, daher diese letztere nicht aus der ersteren abgeleitet
werden kann. Auf diesen wichtigen Punkt ist auch schon Comm. I, 222
aufmerksam gemacht worden: die Vorstellung ist a priori, insofern sie vor
der Erfahrung vorhergeht; der Satz ist a priori, insofern er ohne Erfahrung
gilt. (Darauf kommt im Wesentlichen auch Cohens Unterscheidung des
metaphysischen und des transscendentalen Apriori hinaus; vgl. oben S. 152 flf.)
Dass Kant diesen „Doppelsinn"^ des Ausdruckes Apriori hier missbraucht
hat, daraufhatte auch schon Zimmermann, Ks. mathem. Vorurtheil, 1871,
S. 30 aufmerksam gemacht, welcher daselbst S. 15 ff., 31 f. diese Stelle
scharf angreift. (So auch schon Maass in Eberhards Magazin I, 129--183
und auch der anonyme Verfasser des Versuches „Ueber Raum und Zeit* 1790,
S. 33 ff.) Vgl. auch Röder, Das Wort Apriori, Frankf. 1866, S. 12-19,
welcher die Lösung des Problems nicht bei Kant, sondern bei Spinoza findet.
Laas, Id. u. Pos. III, 445 ff. Wolff, Spec. u. Phil. I, 176 ff. 194 ff.
V. Schubert-Soldern, Erk. Theorie, 270. 305 ff. Lotze, Phil. s. Kant § 18.
Wundt, Studien I, 108 ff. 127. —
Der dritte Absatz (vgl. darüber auch Thiele, Ks. int. Ansch. 199 ff.;
Cohen, 2. A. 60. 66. 144-145. 158. 161 ff.; Laas, Id. u. Pos. III, 504) beginnt
nun aber eine Gedankenreihe, welche weit über das Bisherige hinausgeht,
welche sogar etwas ganz Neues enthält, und insofern ganz unerwartet ist,
als ja das im ersten Absatz gestellte Problem gelöst ist. Was dort gesagt
worden ist, sollte vollständig genügen. Aber es wird nun doch noch eine neue
Frage aufgeworfen. Die Frage knüpft allerdings an an den Satz des zweiten
Absatzes: der Raum ist eine Anschauung a priori, „welche vor aller Wahr-
nehmung eines Gegenstandes in uns angetroffen wird". Aber daraus
entwickelt sich ein ganz neues Problem: wie kann denn eine solche vor
den Objecten selbst vorhergehende Anschauung dem Gemüthe bei-
wohnen, „in welcher doch der Begriff der Letzteren a priori be
stimmt werden kann?" Was soll das heissen? Offenbar findet Kant
darin etwas Erklärungsbedürftiges, dass wir über die Objecte apriorische
Aussagen — natürlich mathematischer Natur — machen können mittelst
der Raum Vorstellung, welche doch vor jenen Objecten „unserem Gemüthe
beiwohnt". Das Neue ist die Bezugnahme auf die Objecte. Bisher war
nur davon die Rede, dass die Sätze der Geometrie ohne Zuhülfenahroe der
Kant geht von der reinen Mathematik zur angewandten über. 269
[R 713. H 61. K 77.] B 41.
Erfahrung und vor ihr aus der reinen Raumanschauung abgeleitet wei'den ;
insofern bietet die Geometrie synthetische Sätze a priori; nach dem zweiten
Absatz handelt es sich in der Mathematik um eine „Erkenntniss vom
Räume", jetzt dagegen um eine Erkenntniss der Objecte; nun ist von
der Gültigkeit dieser Sätze nicht mehr an sich, nicht in abstracto, sondern
in concreto von den Objecten die Rede. Und nun lautet die Frage: wie
das aber möglich, da doch jene Raumanschauung vor den Objecten in uns ist?
OflFenbar haben wir hier genau das antithetische Problem vor uns,
welches Band I, 388 ff. entwickelt worden ist — das Grundproblem der
ganzen Kantischen Philosophie. Es ist ein Widerspruch da, der gelöst werden
muss. Wie kann das, was in jener apriorischen Raumanschauung liegt,
gültig sein für die Objecte, die uns doch erst a posteriori gegeben werden?*
Dieser Widerspruch wird gelöst in dem folgenden Satze: „offenbar
nicht anders", als sofern jene Raumanschauung die Form der äusseren An-
schauung der Objecte ist. Jene Raumanschauung ist die „Form des äusseren
Sinnes"*, d. h. „die formale Beschaffenheit, von den Objecten afficirt zu
werden und dadurch Anschauung derselben zu bekommen." Nach den
früheren Erklärungen über Form des äusseren Sinnes (oben S. 59 ff. u. S. 124)
heisst das nun ja, dass die Vorstellung der empirischen Objecte für uns nur
dadurch zu Stande kommt, dass sie, d. h. als Objecte an sich uns afficiren',
und dass wir eben jene Affectionen in der Form des äusseren Sinnes em-
pfangen, eben als räumliche. Die empirischen Objecte sind nur dadurch
räumliche für uns, dass wir sie in die Raumform bringen, dass ihre Raum-
form aus uns stammt. Damit ist nun jenes Räthsel gelöst. Bringen wir
die Affectionen erst in die Form der in uns liegenden Raumanschauung, so
müssen alle sich aus dieser Raumanschauung ergebenden Raumgesetze sich
auch auf jene empirischen Objecte anwenden lassen ; so ist es natürlich, dass
wir „den Begriff der Letzteren a priori bestimmen können", obgleich jene
Raumanschauung a priori „unserem Gemüthe beiwohnt" '*.
^ Montgomery, Kant 89, stellt Kants Argumentation richtig so dar: „Der
augenfällige Widerspruch zwischen der Apriori-Beschaffenheit [und Gültig-
keit!] der geometrischen Constructionen und der scheinbaren objectiven Existenz
des Raumes würde sich nur auf eine einzige Art lösen, nämlich wenn es sich bei
näherer Untersuchung ergeben sollte, dass auch die Grundanschauung, dass auch
der Raum subjectiven, idealen Ursprungs ist."
' J. Weiss, Ks. Lehre von R. u. Z. (Diss. Leipz. 1872) S. 18—21 legt Werth
darauf, dass der Raum in A nur als Form der Erscheinungen des äusseren Sinnes,
erst in ß als Form des äusseren Sinnes selbst bezeichnet wird. Cantoni, Kant I, 195.
^ Man beachte hier wieder die oft gerügte Unklarheit in Begriff der Objecte;
vgl. oben S. 6 ff. 54; Cohen, 2. A. 165 nimmt hier ausdrücklich empirische
Objecte an; ebenso Laas, Id. u. Pos. III, 345.
^ In diesem Sinne ist es wohl aufzufassen, wenn Riehl, in Uebereinstimmung
mit Cohen, sagt (Krit. I, 346. 350. 352; II, a, 107): „Die Thatsache der Apriorität der
Raumesanschauung wird durch die Transsc. Erörterung erklärt." „Der Ursprung
270 § 3. Raum: transscendentale Erörterung.
B 41. [R 713. H 61. K 77.]
Diese Auffassung wird vollständig bestätigt durch folgende Parallel-
stelle aus der Einleitung zur transsc. Deduction der Kategorien A 89: ,AVir
haben oben an den Begriffen des Raumes und der Zeit mit leichter Mühe
begreiflich machen können, wie diese als Erkenntnisse a priori sich gleich-
wohl auf Gegenstände nothwendig beziehen müssen und eine synthetische
Erkenntniss derselben, unabhängig von aller Erfahrung, möglich machten.
Denn da nur vermittelst solcher reinen Formen der Sinnlichkeit uns ein
Gegenstand erscheinen, d. i. ein Object der empirischen Anschauung sein
kann, so sind R. u. Z. reine Anschauungen, welche die Bedingung der Mög-
lichkeit der Gegenstände als Erscheinungen a priori enthalten und die Syn-
thesis in denselben hat objective Gültigkeit." Ebendaselbst (A 87) heisst
es: „Wir haben oben die Begriffe des R. u. d. Z., vermittelst einer trans-
scendentalen Deduction, zu ihren Quellen verfolgt und ihre objective
Gültigkeit a priori erklärt und bestimmt. Gleichwohl geht die Geometrie
ihren sicheren Schritt durch lauter -Erkenntnisse a priori, ohne dass sie sich
wegen der reinen und gesetz massigen Abkunft ihres Grundbegriffes vom
Räume vor der Philosophie einen Beglaubigungsschein erbitten darf. Allein
der Gebrauch dieses Begriffs geht in dieser Wissenschaft auch nur auf
die äussere Sinnenwelt, von welcher der Raum die reine Form ihrer An-
schauung ist, in welcher also alle geometrische Erkenntniss, weil sie sich
auf Anschauung a priori gründet, unmittelbare Evidenz hat, und die Gegen-
stände durch die Erkenntniss selbst a priori (der Form nach) in der An-
schauung gegeben werden." Dazu gehören dann die weiteren Stellen A 90:
„Denn dass Gegenstände der sinnlichen Anschauung der im Gemüth a priori
liegenden formalen Bedingungen der Sinnlichkeit gemäss sein müssen, ist
daraus klar, weil sie sonst nicht Gegenstände vor uns sein würden;' A 93:
„Es ist aber aus dem Obigen klar, dass die Bedingung, unter der allein
Gegenstände angeschaut werden können, in der That den Objecten der Form
nach a priori im Gemüth zum Grunde liegt. Mit dieser formalen Bedingung
der Sinnlichkeit stimmen also alle Erscheinungen nothwendig überein, weil sie
nur durch dieselbe erscheinen, d. i. empirisch angeschaut und gegeben werden
können." Vgl. auch A 110. 111. 117 Anm. 127. 128. In diesen schon in der
ersten Aufläge enthaltenen Stellen ist genau dasselbe gesagt, was in dem
dritten Absatz der Transsc. Erörterung steht — es kann auch Beides überein-
stimmen, weil eben, wie bemerkt, die Transsc. Erört. inhaltlich nicht« Neues
gibt, was nicht schon in der ersten Auflage der Aesthetik gestanden hätte.
von R. u. Z. aus der subjectiven Form des sinnlichen Bewusstseins erklärt allein
die reine Apriorität ihrer Vorstellung. Die ti^anssc. Idealität erklärt die reine
Apriorität der Raum- und Zeitanschauung. * Aber nicht die Transsc. Erörterung
als solche gibt jene Erklärung, sondern nur dieser dritte Absatz derselben, und
gerade dieser gehört, wie wir bei der unten folgenden „Methodologischen
Analyse'* sehen werden, im Grunde gar nicht in die Transsc. Erörterung herein.
Der üebergang von der „reinen Anschauung** zur „Form der Anschauung' konnte
vielmehr erst im Schlüsse b gemacht werden, wie sich daselbst ergeben wird.
Missverständliche und berechtigte Einwände. 271
[R 713. H 61. K 77.] B 41.
Auf eine dieser eben angezogenen Stellen, und zwar auf die erste, hat
sich auch Arnoldt, R. u. Z. S. 32 berufen, um seine Auffassang der Stelle
zu stützen. Arnoldt hat den Sinn dieser „transscen dentalen Deduction des
Raumes* (ib. 58 ff) insofern richtig erkannt, als er bemerkte, dass Kant hier
von der objectiven Gültigkeit der Mathematik für die empirischen Gegen-
stände redet ^ Er formulirt (ib. 23. 25 ff.) ganz richtig den Schluss Kants
dahin: B. u. Z. sind, obwohl a priori, dennoch objectiv gültig, wenn sie
nur subjective Anschauungsformen sind. Darin ist der Kern der Sache
richtig getroffen ^ Fussend auf dieser richtigen Auslegung, hat Arnoldt
S. 32—35. 122 f. auch gegen Trendelenburgs irrige Auslegung der Stelle
mit Glück polemisirt. (Vgl. auch Cohen, Erf. 1. A. 75—77; 2. A. 163—165;
Gottschick in d. Z. f. Philos. 79, 154.)
Gegen diese Stelle hat nämlich Trendelenburg, Beitr. 3, 228 oppo*
nirt, spec. gegen den darin enthaltenen Schluss auf die blosse Subjectivität
des Baumes. »Dies bloss und nur,^ diese ausschliessenden Bestimmungen
tragen gar nichts zur Erklärung dessen bei, was erklärt werden soll, und
sind nur durch einen Spimng hineingekommen . . . Das für das Subjective
eifersüchtige Bloss und Nur thut nichts zur Sache." In einem (etwas
schwerfälligen, hier dem Sinne nach erläuterten) Zwischensatz erklärt Trend,
dazu : Die Möglichkeit, dass der Raumanschauung trotz ihrer Apriorität ein
realer Raum der Dinge an sich entspreche, sei doch auch zu berück-
sichtigen, und auch vom Standpunkt dieser Theorie aus stelle sich ja der
Raum neben seiner Realität, zugleich als apriorische Anschauung dar, und
nur dies könne gefordert werden zur Erklärung der Geometrie als einer
Wissenschaft a priori, nicht mehr, nicht jene exclusive Subjectivität. Trend,
macht diesen Einwand von der Meinung aus, Kant habe hier die reine
^ Genauer genommen unterscheidet Arnoldt a. a. 0. 29 ff. 40 ff. 66 ff. zwischen
objectiver Gültigkeit der Mathematik und Anwendung der Mathematik auf empirische
Objecte; nur von der Ersteren sei hier die Rede, noch nicht von der Letzteren.
Diese Unterscheidung hat, wenn sie richtig verstanden wird, eine gewisse Berech-
tigung, wie weiter unten zu A 47 (Anm. I zur Aesth.) weiter auszuführen ist. Die
Art aber, wie A. unterscheidet, ist falsch ; an dieser Stelle handelt es sich factisch
um die Anwendung der Mathematik auf , Objecte", wie ja deutlich im Texte steht.
Arnoldt hat zum Glück jene seine falsche Auslegung nicht consequent festgehalten,
sondern bezieht die Stelle dann doch wieder auf die angewandte Mathematik, und
um dieser „glücklichen Inconsequenz** willen konnte seine Auslegung oben doch
als richtig bezeichnet werden.
2 Vgl. auch Krit. A 239 f. „obgleich — dennoch\ Vgl. Dissertation § 14, 6
und bes. § 15 „quanquam — tarnen''. Vgl. bes. noch die Erklärungen über „trans-
scendental* Krit. A 56: „gleichwohl*; Froley, 205 „zwar — doch**, lieber dieses
„dennoch* vgl. auch Riehl, Krit. II, a, HO. Montgomery, Erk. 43 und bes. Comm.
I, 388—395.
' Das nur hat, wie man sich leicht aus dem Text überzeugen kann, übrigens
eine andere grammatische Function, als das bloss. Trs. Einwand trifft nur das
letztere.
272 § '^- Raum: transscendentale Erörterung.
B 41. [R 713. H 61. K 77.J
Mathematik im Auge. Und von diesem Standpunkt aus ist der Einwand
Trs. ganz berechtigt und nichts gegen denselben einzuwenden. Kant aber
hatte, wie dargelegt, in diesem Absatz gar nicht mehr die reine, sondern
schon die angewandte im Auge. Nun scheint der Schluss Kants doch ganz
stichhaltig ; wenn die Sätze vom Eaume auch von den Objecten gelten, ohne
aus diesen abstrahirt zu sein, so müssen diese Objecte eben erst durch jene
apriorische Raumanschauung räumlich geworden sein, so ist der Raum und
die Objecte im Kaume mit ihm bloss im Subject. Die Anwendbarheit der
Mathematik ist ihm der Beweis für die blosse Subjectivität des Baumes.
Allein auch gegen diesen Beweis bleibt, wie noch unten zu Schluss a
zu erörtern ist, Trends. Einwand bestehen. Dass der Raum für die von
uns vorgestellten empirischen Objecte, die Erscheinungen gilt, mag im Sinne
Kants beweisen, dass die Letzteren eben ihre Form der formalen, im Subjecte
liegenden Raumanschauung verdanken; aber er kann nie und nimmer be-
weisen, dass die Dinge an sich nicht doch auch zugleich im Räume sein
könnten. Dies hat auch Volkelt, Ks. Erk. Th. 46 ff. mit Recht gegen
Cohen, Erf. 48 ff. 2. A. 163 ff. geltend gemacht: „Dieser Kantforscher
macht einen übereilten Schluss, wenn er meint, dass darum, weil das Kan-
tische Apriori als formale Beschaffenheit des Subjects die Objecte erzeuge,
construire, die Subjectivität des Raumes eine ausschli essende sein müsse.
Denn wenn auch der Raum, in welchem uns die Objecte erscheinen, durch
die formale Beschaffenheit des Subjectes construirt ist, warum soll es nicht
eine, den Dingen an sich anhaftende Form des Raumes geben? „Kant schiebe
hier wie selbstverständlich das Wörtchen „bloss" ein, aber dieses subjectivistische
Resultat sei ganz plötzlich, ohne jede Vermittlung und Begründung ausge-
sprochen." Staudinger, Noumena 121 — 125 macht gegen Ks. Beweis den
eben dahin zielenden Einwurf des „Cirkels". Im Wesentlichen kommt hierauf
auch hinaus, was Helmholtz, Tbats. in d. Wahrnehmung, S. 55 — 68 hier
gegen Kant, resp. gegen Krause und Land einwendet: auch wenn seine
Lehre vom transscendentalen Ursprung der geometrischen Axiome richtig
wäre (was sie nach H. nicht ist, vgl. oben S. 267), so würden diese i-ein
apriorischen Axiome deshalb noch keine Geltung haben für die Verhältnisse
der objectiven Welt; die aus diesen zu ziehende „physische Geometrie* müsste
nicht noth wendig mit jenen übereinstimmen; denn diese physische Geometrie
wäre ja bedingt durch die realen Verhältnisse der wahren Welt der Dinge
an sich, die uns zwar als solche unbekannt ist, aber doch gewisse der em-
pirischen Welt entsprechende „topogene Momente" aufweisen muss. (Vgl.
oben S. 184.)
Aus der Erkenntniss, dass es sich hier, im dritten Absatz, um die
angewandte Mathematik handelt, vorhin im zweiten, um die reine, fliesst
nun eine weitere wichtige Unterscheidung. Ist das Zu-Erklärende ein doppeltes,
80 inuss auch das Erklärungsprincip ein doppeltes sein. Das £rkl&rungs>
princip ist beidemal die Apriorität der Raumanschauung; aber diese moss
in beiden Füllen einen anderen Sinn haben. Für die Apodicticität der
Anschauung a priori und apriorische Anschauungsform. 273
[R 718. H 61. K 77.] B 41.
geometrischen Sätze als solcher genügte die Apriorität der Raumanschauang,
wie sie im zweiten Absatz festgestellt worden ist: die Raamvorstellang
darf nicht ans der Erfahrung stammen, darf ,nicht empirische Anschauung
sein"; sie muss , ursprüngliche ', „ reine' Anschauung sein, muss also aus
dem Subject selbst entspringen. Genügt das auch für den zweiten Fall?
Die weit schwerer wiegende apodictische Gültigkeit der geometrischen Sätze
für die Objecte wird, doch durch jene einfache Apriorität der Bauman-
schauung noch nicht erklärt. Dazu muss dieselbe mehr sein — sie muss
die 9 dem Gemüth beiwohnende' Form des äusseren Sinnes sein; sie darf
nicht bloss apriorische Anschauung sein, sie muss apriorische
Anschauungsform sein, d. h. sie muss die Form sein, welche alle empi-
rischen Objecte als unsere Anschauungen erst annehmen müssend Und in
diesem Sinne spricht denn auch dieser dritte Absatz von dem Baum als
9 apriorischer' Form des äusseren Sinnes überhaupt. Die Apriorität in
diesem Sinne hat eine viel tiefer gehende Bedeutung. (Weiteres
über diesen äusserst wichtigen Unterschied s. noch unten S. 279 f.) ^
Der vierte Absatz weist — gewissermassen triumphirend — darauf
hin, dass die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntniss
a priori einzig und allein durch die bisher vorgetragene Theorie der Baum-
vorstellung begreiflich gemacht sei. Allein in diesen harmlosen Worten
liegt eine grosse Schwierigkeit. Die Geometrie stellte sich uns in doppelter
Hinsicht als eine synthetische Erkenntniss a priori hin; erstens, insofern
ihre Sätze an sich apodictische Gültigkeit beanspruchen; z. B. jene oben
^ Unter , Anschauung a priori" versteht Kant daher bald den mathematischen
Raum als eine fertige Vorstellung, bald die Form der Räumlichkeit über-
haupt als eine potentielle Functionsweise. Dass Kant diese beiden Auffassungen
des Apriori beständig vermischt, dann wurde schon oben S. 88 die Hauptquelle
aller Unklarheiten der Transsc. Aesthetik erkannt. Während Kant aber oben in
der Einleitung die Anschauungsform ohne Weiteres als Anschauung fasst,
geht er hier umgekehrt von der Anschauung ohne Weiteres zur Anschauungs-
form über — beide Mal ohne genaue Unterscheidung und ohne zureichende Be-
gründung. Diese Vermischung hängt nun also aufs Engste zusammen
mit der durchgängigen Vermischung des Problems der reinen und der an-
gewandten Mathematik: zur Erklärung jener dient eben das actuell-bewusste,
zur Erklärung dieser das potentiell-unbewusste Apriori. Ohne eine actuelle fertige
reine Anschauung des Raumes fiele die Apriorität der reinen Mathematik gänzlich
dahin; ohne die bereitliegende potentielle Anschauungsform der Räumlichkeit,
durch welche die Empfindungen in räumliche Anschauungen verwandelt werden,
wäre die Gültigkeit der reinen Mathematik für die empirischen Objecte unerklärbar.
* Diese Unterscheidung mag auch Arnoldt im Auge gehabt haben,* wenn
er, freilich sehr unkantisch im Ausdruck, zwischen apriorischer Vorstellung
und apriorischer Anschauung des Raumes unterscheidet (R. u. Z. 26 ff. 47 ff.).
Unter Anschauung a priori versteht Arnoldt die „objectivgültige". Diese Unter-
scheidung spielt, wie wir unten S. 297 f. sehen werden, eine fundamentale Rolle
in dem Kampfe Anioldts und anderer Kantianer gegen Trendelenburg.
Vaihinger, Kant-Commentar. U. 18
274 § 3. Raum: transscendeiitale Erörterung.
B 41. [B 713. H 61. K 77.]
angeführten Sätze , zwischen zween Punkten ist nur eine gerade Linie*;
oder: „Der Raum hat nur drei Abmessungen". Diese Sätze gelten von dem
Raum als solchem, von dem mathematischen Raum; sie sind als apodictische
nicht empirisch gefunden, sondern sie sind a priori ans der apriorischen
Raumanschauung gewonnen. Aber noch in einem zweiten Sinne haben
die geometrischen Sätze sich uns als apriorische erwiesen; sie gelten nicht
bloss an sich, vom mathematischen Räume und von den mathematischen
Figuren; sondern sie gelten auch von den Objecten im Räume und werden
über diese a priori, vor aller Erfahrung derselben ausgesprochen.
In welchem Sinne ist nun die Geometrie , begreiflich' gemacht? In
dem ersten? oder in dem zweiten? Man muss annehmen, dass Kant Beides
gemeint hat, und sein Fehler besteht eben darin, dass er diese doppelte
Beziehung nicht näher ausführt, ja dass er sich offenbar derselben gar nicht
bewusst geworden ist, oder vielmehr, dass er das Bewusstsein davon nicht
festgehalten hat, dass ihm die Unterscheidung, die er an manchen Stellen
ganz klar gemacht hat, immer wieder aus den Händen oder vielmehr ans
dem Sinn geschlüpft ist. Dies wird nachher noch näher zu erörtern sein.
Hier ist nur noch auf Folgendes aufmerksam zu machen: in dem Schlusssatz
macht Kant eine bemerkenswerthe Anspielung. Man hatte seiner neuen
Raumtheorie vorgeworfen, sie habe die grösste Aehnlichkeit mit der Leib-
niz'schen oder mit der Berkeley'schen. Kant verfehlt nicht, auf das
Charakteristische seiner Theorie aufmerksam zu machen: nur diese seine
Theorie sei im Stande, die Geometrie begreiflich zu machen. Dies hatte er
indessen auch schon gleich in der ersten Auflage betont, A 38 ff. (auch 46 ff.):
er hatte da speciell gegenüber Leibniz auf jenen Vorzug seiner Theorie
aufmerksam gemacht; und auch an jener Stelle vermischt er, wie wir sehen
werden, das Problem der reinen und das der angewandten Mathematik, genau
wie hier. In den Proleg, wirft er ebenso dem Berkeley'schen Idealismus vor,
dass er die Mathematik unmöglich mache. (Vgl. dazu die Erklärung zur
Anm. III zur Aesthetik, B 70.)
Diese Stelle („nur unsere Erklärung macht die Möglichkeit der
Geometrie begreiflich") wurde auch in den Trend eleu bürg- Fi seherischen
Streit hineingezogen. Fischer hatte (Log. u. Met. 2. A. 175) dafür die
Wendung eingesetzt: ,Wäre der Raum etwas Reales an sich, so würde daraus
die Unmöglichkeit der Mathematik folgen." Diese Wendung griff Trend.
(Beiträge 8, 244) als nicht „behutsam" an. „Kant kann nur meinen: so
bliebe die Möglichkeit der Mathematik unerklärt. Thatsachen, deren Mög-
lichkeit noch nicht begreiflich geworden, sind darum nicht unmöglich.*
Fischer vertheidigte jene seine Wendung als kantisch (Gesch. III, 2. A. 338—340,
3. A. 342; Anti-Trend. 48 — 51), nach Kants wahrer Meinung sei die Mathe-
matik ohne seinen Idealismus nicht bloss , unerklärt", sondern auch ,aner
klärlich und darum unmöglich." Vgl. dazu Arnoldt, B. u. Z. 39—41.
Der ganze Streit hierüber leidet an dem Mangel der Unterscheidung der
reinen und der angewandten Mathematik. Nach Kants Meinung ist die
Excurs. Analyse der Proleyomena § 6. 275
reine Mathematik auch ohne seine Theorie möglich, bleibt aber unerklärt;
dagegen sei die Thatsache der zutreffenden Anwendung derselben ohne
seine Theorie nicht zu begreifen, und das (von Hume u. A.) bestrittene
Recht jener Anwendung sei ohne seine Theorie nicht zu erweisen, und in
diesem Sinne sei angewandte Mathematik unmöglich. Vgl. übrigens auch
Comm. I, 390, Anra. 1. 392. 394 ff. 400 Anm. 2. 401. Bratuschek, Phil.
Mon. V, 298—300. Cohen in d. Zeitschr. f. Volk. VII, 263 ff.
Excurs.
Reine und angewandte Mathematik.
Die Vermischung der beiden Probleme, des Problems der
reinen Mathematik als solcher, und ihrer Anwendung auf die
empirischen Objecte, ist nun ein umstand von so grosser Tragweite
für Verständniss und Beurtheilung der Aesthetik und weiterhin des ganzen
Kriticismus, dass wir dieser Vermischung noch tiefer auf den Grund gehen
müssen. Wir thun dies zunächst am besten durch eine Analyse der
entsprechenden Paragraphen (§ 6 ff.) in den Prolegomena. Wir
dürfen erwarten, daselbst dieselbe Verwirrung zu finden, weil ja, wie schon
oben S. 265 bemerkt, die Transsc. Erörterung in ihrer Form auf die Ein-
wirkung der 1783 erschienen Prolegomena zurückzufuhren ist.
Die Ueberschrift des Ersten Theiles derselben hat allerdings den Titel :
„Wie ist reine Mathematik möglich?" lieber dessen Sinn und Entstehung
s. Comm. I, 272 ff. 293 ff. 316 ff. und bes. 327 ff. 371 ff. 388 ff. 396. 412 ff.
Schon damals mussten wir mehrfach (816. 317. 323—324. 328-333. 388. 391)
darauf hinweisen, dass Kant in dieser Fragestellung jene beiden Probleme
unklar zusammen gefasst habe. Was dort im Zusammenhang mit der
historischen Entstehung des Kriticismus nur vorläufig erörtert werden
konnte, ist hier aus dem logischen Zusammenhang der Dai'stellnng in den
Prolegomena * ausführlicher nachzuweisen, und dieser Nachweis wird zur Be-
stätigung unserer bisherigen Analyse der Transsc. Erörterung dienen.
§6.
In diesem Paragraph wird das Problem, welches durch die Existenz
der reinen Mathematik aufgegeben ist, mit grosser Klarheit und Schärfe
gestellt. Wir haben in der Mathematik synthetische Erkenntniss von apo-
dictischer Gewissheit. »Setzt dieses Vermögen, da es nicht auf Erfahrung
fusst, nicht irgend einen Erkenntnissgrund a priori voraus, der tief verborgen
liegt, der sich aber durch diese seine Wirkungen offenbaren dürfte, wenn
man den ersten Anfängen derselben nur fleissig nachspürte?" Wir haben
also Wirkungen; wir suchen die Ursache. Die Data sind gewiss, aber un-
begreiflich ohne eine Ergänzung durch ihre Bedingung. (Vgl. Comm, I, 367.)
* üeber die in den Prolegomena angewendete analytische Methode s. die
atiBfÜhrlichen Erörterungen Comm. I, 417—422. üeber das Sachliche vgl. daselbst
392. 394 N. 395. 396. 397. 421 N.
276 Excurs. Reine und angewandte Mathematik.
§7.
In diesem Paragraph erhalten wir noch nicht die Lösung des Problems
selbst, sondern das, was Kant in seiner Logik § 38 die Resolution nennt:
„Zum Problem gehört 1) die Quästion, die das enthält, was geleistet
werden soll; 2) die Resolution, die die Art und Weise enthält, wie das
zu Leistende könne ausgeführt werden, und 3) die Demonstration, dass,
wenn ich so werde verfahren haben, das Geforderte geschehen werde.* (Vgl.
Sigwart, Logik II, 250.)
Kant macht zunächst eine „Beobachtung in Ansehung der Natur der
Mathematik.* Dieselbe muss ihre Begriffe in reiner, nicht-empirischer An-
schauung darstellen: ihre Urtheile sind intuitiv. Damit haben wir „schon
eine Leitung auf die erste und oberste Bedingung ihrer Möglichkeit, näm-
lieh: es muss ,ihr irgend eine „reine Anschauung zum Grunde liegen, in
welcher sie alle ihre Begriffe in concreto und dennoch a priori darstellen
oder construiren kann.* Die Mathematik wäre „erklärt* (vgl. Conun. I,
391 ff.), wenn „wir diese reine Anschauung und die Möglichkeit einer solchen
ausfinden könnten*. Die Frage ist: gibt es eine Vorstellung, welche dieser
Forderung Genüge leisten kann?
§ 8.
In diesem Paragraphen erwarten wir die Antwort auf jene Frage,
und wir erwarten als Antwort auf dieselbe eine Ausfährung des Inhalts,
dass die gesuchten apriorischen anschaulichen Vorstellungen seien: Raum
und 2eit; dieselben seien erstens apriorischer Natur, seien zweitens An-
schauungen. Wir erwarten die Beweise für das Erste, wie für das Zweite
in der Weise, wie sie in der Kritik in der „Metaphysischen Erörterung*
gegeben worden sind. Durch eine solche Ausfuhrung >vürden wir zunächst
vollständig befriedigt sein. Statt dessen erhalten wir eine Ausfuhrung, in
welcher Kant unmerklich in ein ganz neues Fahrwasser hinübergleitet. Kant
wirft am Anfang des Paragraphen die Frage auf: „Wie ist es möglich,
etwas a priori anzuschauen?* Der Sinn dieser Frage ist, nach der sich daran
anschliessenden Erläuterung, folgender: wie ist eine reine Anschauung über-
haupt denkbar? Eine solche „müsste alsdann ohne einen weder vorher noch
jetzt gegenwärtigen Gegenstand, worauf sie sich bezöge, stattfinden.* Würde
Kant hier sogleich von der Vorstellung von R. u. Z. sprechen, so würde er,
in Uebereinstimmung mit seinen sonstigen Erklärungen über dieselben, eben
ausführen müssen, dass das allerdings bei der reinen Anschauung von
R. u. Z. der Fall sei. Das behauptet er ja tausend und abertausend Mal.
Statt so auf die Sache selbst loszugehen, schiebt er eine Erörterung über
den Begriff der reinen Anschauung ein, vermittelst welcher er die Discnssion
in ein ganz anderes Problem einmünden lässt: Anschauung könne nicht ohne
Gegenstand stattfinden. Also erhebe sich jetzt die Frage: „wie kann An-
schauung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst vorhergehen?'
Aber, fragen wir erstaunt, welches Gegenstandes denn? Von Gegenständen
war doch bis jetzt, und bei der ganzen Problemstellung in § 6 gar nicht
Analyse der Prolegomena § 7 — 9. 277
die Rede. Es handelte sich um die reine Mathematik, nm deren apriorische
Urtheile, die sich nach § 7 auf eine reine Anschauung beziehen sollten.
Diese Anschauung muss, wie am Anfang von § 8 noch angedeutet wird,
ohne Gegenstand stattfinden. Aber jetzt heisst es: sie finde vor dem
Gegenstand statt. Aus der Art, wie Kant dann weiterhin im § 9 über
diesen Gegenstand spricht, geht hervor ^ dass er die real-empirischen Gegen-
stände meint. Man bemerkt: Kant ist plötzlich unmerklich aus dem Problem
der reinen Mathematik als solchen in das der Anwendung derselben auf
die empirischen Objecte hinübergeglitten. Nun ist eine ganz neue „Quästion*
aufgestellt. So bildet dieser Paragraph gleichsam die Weiche, vermittelst
welcher wir von dem Geleise der reinen Mathematik in das der angewandten
übergeführt werden.
§ 9.
Mit diesem Paragraphen sind wir nun ganz in dem Geleise der Frage,
wie ich vor einem Gegenstand doch Anschauung desselben haben kann;
wie ich, ehe ich den Gegenstand selbst bekommen habe, über denselben
a priori bindende Aussagen machen kann ? Dieser § 9 verhält sich zu der
am Schluss von § 8 aufgestellten Frage, wie sich § 7 zu dem Problem des
§ 6 verhielt. Wie im § 7 die Bedingungen vorläufig discutirt wurden,
welche zur Lösung des Problems vom § 6 nothwendig sind, so geschieht es
hier: es wird im Allgemeinen gezeigt, welche Vorausssetzungen nothwendig
sind, um die Lösung des Problems von § 8 (Schluss) zu ermöglichen.
Eine Anschauung der Dinge a priori würde zunächst nicht möglich
sein, wenn wir es mit Dingen an sich zu thun hätten; ^denn was in dem
Gegenstande an sich selbst enthalten sei, kann ich nur wissen, wenn er mir
gegenwärtig und gegeben ist." Wie freilich in diesem Falle die Eigenschaften
der Gegenstände an sich in meine Vorstellungskraft „ hinüber wandern* könnten,
ist auch unbegreiflich; das ist aber eine Sache für sich. Jedenfalls könnte
ich von Dingen an sich nur eine empirische Anschauung haben, d. h. nicht,
ehe mir der Gegenstand , vorgestellt*, d.h. gegeben würde. (Anmerkungs-
weise fügt Kant die Bemerkung ein, dass allerdings in Einem Falle es doch
eine Anschauung a priori von Dingen an sich geben könnte, nämlich wenn
jene Anschauung a priori „auf Eingebung beruhen würde* — eine Möglich-
keit, welche Kant offenbar mit einer Art verächtlichen Abscheus von sich
weist. Vgl. unten S. 299 u. 303.)
Aus diesen Negationen ergibt sich die Position von selbst, welche denn
auch deutlichst herausgestellt wird: „Es ist also nur auf eine einzige Art
möglich, dassmeine Anschauung vor der Wirklichkeit des Gegenstandes
vorhergehe, und als Erkenntniss a priori stattfinde, wenn sie nämlich
nichts anderes enthält, als die Form der Sinnlichkeit, die in
meinem Subject vor allen wirklichen Eindrücken vorhergeht.
* Es geht daraus auch hervor, dass es sich bei diesem ^ Gegenstand" nicht
etwa um die idealen Gegenstände der reinen Mathematik als solcher handelt, von
welchen oben S. 271 Anm. 1 und bes. unten zu A 47 die Rede ist.
278 Excurs. Reine und angewandte Mathematik.
dadurch ich von Gegenständen afficirt werde u. s, w. (Zu diesem
Paragraphen vgl. Cohen, Erf. 2. A. 175. Grapengiesser, R. u. Z. 62 f.
Sidgwick im Mind. XXIX, 89-91. Massonius, Aesth. S. 24—44.)
§ 10.
Nachdem nun die beiden Probleme gestellt (§ 6, § 8) und deren
Bedingungen discutirt (§7, §9) worden sind, erwarten wir die eigent-
liche Lösung. Aber wir müssen noch eine andere Erwartung hegen: es
sind zwei Probleme gestellt, wir müssen auch zwei Lösungen haben; und
jene beiden Probleme gingen unmerklich und unterschiedslos in einander
über, also wird diese unklare Vermischung auch bei den Lösungen statt-
finden. (Hiezu vgl. man die oben S. 88, 273 gegebenen Ausfuhrungen.) Diese
dreifache Erwartung wird nicht getäuscht. Der § 10 erfüllt alle unsere
Hoffnungen und Forderungen.
Im ersten Absatz wird die Voraussetzung aus § 9 nochmals wieder-
holt, aber diese Voraussetzung wird dann auf die Möglichkeit synthetischer
Sätze a priori in einem Sinne bezogen, der eher an § 6 und 7 als an § 8
und 9 anklingt.
Der zweite Absatz bringt nun endlich die Lösung. Die erste grossere
Hälfte des Absatzes bezieht sich ebenso deutlich auf das erste Problem, da>;
der reinen Mathematik als solcher, wie die zweite kleinere Hälfte auf das
zweite Problem, das der Gültigkeit der reinen Mathematik für die Dinge.
In jener ersten Hälfte wird ganz deutlich und eindeutig entwickelt, dass .die
reine Mathematik*' Raum und Zeit als Anschauungen a priori voraussetze;
die reine Anschauung gebe der Mathematik „Stoff zu synthetischen Urtheilen
a priori^. Damit ist jenes erste Problem für sich vollständig gelöst. Nun muss
aber das zweite Problem an die Reihe kommen ; dessen wird mit den Schluss-
worten des Paragraphen gedacht: „Raum und Zeit beweisen eben dadurch, dass
sie reine Anschauungen a priori sind, dass sie blosse Formen unserer Sina-
lichkeit sind, die vor aller empirischen Anschauung, d. i. der Wahrnehmung
wirklicher Gegenstände vorhergehen müssen, und denen gemäss Gegenstände
a priori erkannt werden können, aber freilich nur wie sie uns erscheinen/
Das letztere ist nur möglich, wenn Raum und Zeit „blosse Formen unserer
Sinnlichkeit" sind ; das ist zunächst einleuchtend. Aber merkwürdig ist die
Wendung, dass die Vorstellungen von R. u. Z. eben dadurch, dass sie
reine Anschauungen a priori sind, auch beweisen sollen, dass sie auch blosse
Formen der Sinnlichkeit seien. Dies „eben dadurch* will uns ganz und
gar nicht einleuchten, und ist nur geeignet, das Ueberfliessen beider Probleme
in einander zu ermöglichen und zugleich zu verdecken. Aber, wenn R. u. Z.
„blosse Formen unserer Sinnlichkeit" sind, dann ist es allerdings erklärt, wie
die Anwendung der reinen Mathematik auf die Dinge möglich ist: diese
empirischen Dinge sind eben der Jurisdiction der Mathematik unterworfen,
weil sie ja erst durch die Anschauungsformen von R. u. Z. hindurchgegangen
sind. Der Erklärungsgrund und zugleich der Rechtsnachweis fiir die Anwen-
dung der reinen Mathematik auf die empirischen Gegenstände ist geliefert.
Analyse der Prolegomena § 10 und 11. 279
§ 11.
Dieser Paragraph ist für die bei Kant herrschende Verwirrung wieder
charakteristisch; derselbe beginnt mit den Worten: » Die Aufgabe des gegen-
wärtigen Abschnittes ist also aufgelöst. Keine Mathematik ist, als synthe-
tische Erkenntniss a priori, nur dadurch möglich, das^ sie auf keine andere,
als blosse Gegenstände der Sinne geht, deren empirischer Anschauung eine
reine Anschauung (des Raumes und der Zeit) und zwar a priori zum Grunde
liegt, und darum zum Grunde liegen kann, weil diese nichts anderes als
die blosse Form der Sinnlichkeit ist, welche vor der wirklichen Erscheinung
der Gegenstände vorhergeht, indem sie dieselbe in der That allererst möglich
macht." Die , Aufgabe des gegenwärtigen Abschnittes'' war, wie aus der
Einleitung der Prolegomena (vgl. Comm. I, 164. 415) und aus § 6 hinreichend
hervorgeht, zunächst nur die reine Mathematik als solche gewesen. Wenn
es aber jetzt heisst, dass , reine Mathematik als synthetische Erkenntniss
a priori nur dadurch möglich sei, dass sie auf blosse Gegenstände der Sinne
gehe*, so heisst das so viel als: Die reine Mathematik nicht als solche,
sondern als objectiv gültige Wissenschaft, welche über die Verhältnisse der
Dinge synthetische Aussagen a priori macht, ist nur dadurch möglich, dass
eben diese Dinge keine Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen sind.
Jene Wendung: „reine Mathematik als synthetische Erkenntniss a priori''
ist aber zweideutig und unbestimmt, indem sie den Eindruck macht, es
handle sich um die reine Mathematik als solche, während es sich doch nach
dem zweiten Theil des Satzes um deren Gültigkeit für die Objecte handelt.
Vermittelst dieser zweideutigen Wendung vermischt Kant den Unterschied
der beiden Probleme in verwirrendster Weise, und gleitet hier, wie so oft
anderwärts, unmerklich von dem einen ins andere über.
Die Fortsetzung des Paragraphen ist zunächst im Sinne des zweiten
Problems gehalten und wiederholt Bisheriges (vgl. dazu Gottschick in
d. Z. f. Phil. 79, 156): wir können „a priori und also vor aller Bekanntschaft
mit den Dingen wissen," wie ihre Anschauung beschaffen sein muss; das ist
begreiflich, sobald R. u. Z. „für nichts weiter, als formale Bedingungen
unserer Sinnlichkeit, die Gegenstände aber bloss für Erscheinungen gelten:
denn alsdann kann die Form der Erscheinung, d. i. die reine Anschauung
allerdings aus uns selbst, d. i. a priori vorgestellt werden." Mit der letzteren
Wendung ist wieder leise der Uebergang zum ersten Problem gemacht^ und
zur reinen Anschauung als solcher, welche der reinen Mathematik als solcher
zu Grunde liegt, von welcher der § 12 nun wieder ausführlich handelt.
Der Passus ist auch recht geeignet, eine weitere Zweideutigkeit aufzudecken,
vermittelst deren Kant mehrfach (bes. oben in § 8) von dem einen zum
anderen Problem hinübergleitet.
Diese Zweideutigkeit besteht in dem Gebrauch des Terminus a priori,
Anschauuung a priori (vgl. hierüber schon oben S. 273). Bald ist „An-
schauung a priori", wie in der Schlusswendung jenes Passus eine Vorstellung,
welche »aus uns selbst", unabhängig von Erfahrung, d. h. von den Ein-
280 Excui*s. Reine und angewandte Mathematik.
drücken äusserer Gegenstände stattfindet ; und in diesem Sinne sind R. n. Z.
Anschauungen a priori, welche eben darum die reine Mathematik als solche
ermöglichen. Bald bedeutet , Anschauung a priori ''^ wie unmittelbar vorher,
dass wir ^b. priori und also vor aller Bekanntschaft mit den
Dingen wissen', wie sie beschaffen sind. Dort handelt es sich um eine
innere Noth wendigkeit, hier um eine äussere Antecipation. (Auch der Aus-
druck, „das Vermögen a priori anzuschauen', nimmt an dieser Zweideutig-
keit Theil. In diesem Paragraphen wird derselbe im zweiten Sinne gebraucht,
in der Krit. A 46 im ersten.) Wenn R. u. Z. Anschauungen a priori im
zweiten Sinne genannt werden, heisst das nicht bloss, dass ihre Vorstellung
aus uns selbst, nicht von aussen stammt, sondern dass wir vermittelst ihrer
Aussagen über die Dinge schon vor -der Bekanntschaft mit diesen machen
können: in diesem Falle handelt es sich also um die Anwendung der
Sätze der reinen Mathematik auf die Objecte.
§ 12.
Dieser Paragraph behandelt nun, wie schon bemerkt, wieder die reine
Mathematik als solche. „Zur Erläuterung und Bestätigung' gibt Kant drei
Beispiele vom „Verfahren der Geometiie": 1) Die Deckung congruenter
Figuren; 2) den Satz von der Dreidimensionalität des Raumes; 3) die Fort-
setzung einer Linie oder Reihe ins unendliche. Es wird gezeigt, dass der
Geometer diese Sätze nur vermittelst einer Anschauung und zwar nur ver-
mittelst reiner Anschauung a priori beweisen kann. „Also liegen docb
wirklich der Mathematik reine Anschauungen a priori zum Grunde, welche
ihre synthetischen und apodictisch geltenden Sätze möglich machen; und
daher erklärt unsere transscendentale Deduction der Begriffe [im] Baum und
Zeit zugleich die Möglichkeit einer reinen Mathematik, die ohne eine solche
Deduction, und ohne dass wir annehmen : alles, was unseren Sinnen gegeben
werden mag, werde von uns nur angeschaut, wie es uns erscheint, nicht wie
es an sich selbst ist, zwar eingeräumt, aber keineswegs eingesehen werden
könnte.' Es braucht wohl nicht erst darauf aufmerksam gemacht zu werden,
dass Kant in dem letzteren Satze wieder ebenso plötzlich als unmerklich in
das andere Problem hinübergeglitten ist.
§ 13.
Dieser Paragraph knüpft an den Schluss des vorhergehenden an. Zur
Erklärung der Gültigkeit der reinen Mathematik für die Objecte ist die
Voraussetzung nothwendig, dass diese Objecte nicht Dinge an sieb, sondern
nur Erscheinungen sind, dass eben R. u. Z. nur „formale Beding^ingen unserer
Sinnlichkeit' sind. Zum Beweis für diese „Ab Würdigung des Raumes
und der Zeit zu blossen Formen unserer sinnlichen Anschauung*^
bringt Kant in diesem Paragraphen das bekannte viel citirte Beispiel der
symmetrischen, aber incongruenten Gegenstände vor. Auf die Details dieses
Paragraphen brauchen wir hier somit nicht näher einzugehen.
Analyse der Prolegomena §11 — 13. 281
Anni. I.
Von den drei wichtigen Anmerkungen, welche K. dem ersten Theile
der Prol, hinzugefügt hat, kommt für uns vor allem die erste in Betracht ;
in ihr behandelt Kant das zweite Problem mit seltener Klarheit. Vielleicht
ist diese Klarheit darauf zurückzufahren, dass Kant, wie B. Erdmann plau-
sibel gemacht hat, die Anmerkungen I — III dem Text seiner Proleg. erst
nachher hinzugefügt hat als Antwort auf Angriffe und Missverständnisse
(s. Erdmanns Einl. zu seiner Ausg. d. Proleg, S. 20. 21. 68. 78). In jener
ominösen Garve-Feder*schen Eecension hatte er diesen Punkt gar nicht be-
rücksichtigt gefunden, obgleich er ihn in der 1. A. A 39 und bes. A 46 be-
handelt hatte. Freilich litt diese Behandlung, wie schon bemerkt, auch
schon an jener von uns eben jetzt aufgedeckten fundamentalen Unklarheit.
So sieht er sich denn jetzt veranlasst, mit aller Energie jenes Problem der
objectiven Gültigkeit der Mathematik zu erörtern und seinen Idealismus als
die einzig mögliche Lösung dieses Problems hinzustellen.
Schon in den ersten Worten gibt er das Thema seiner Erörterung
und seine eigene These mit möglichster Deutlichkeit an: ^Die reine Mathe-
matik und namentlich die reine Geometrie kann nur unter der Bedingung
allein objective Gültigkeit haben, dass sie bloss auf Gegenstände der Sinne
gehty in Ansehung deren aber der Grundsatz feststeht, dass unsere sinnliche
Vorstellung keineswegs eine Vorstellung der Dinge an sich selbst, sondern
nur der Art sei, wie sie uns erscheinen." Die ganze Anmerkung ist ferner-
hin nur eine klai'e Ausführung dieses Gedankens. Es sei merkwürdig, „dass
selbst Mathematiker, die zugleich Philosophen waren, zwar nicht an der
Richtigkeit ihrer Sätze, sofern sie bloss den Raum beträfen,
aber an der objectiven Gültigkeit und Anwendung dieses Be-
griffes selbst und aller geometrischen Bestimmungen desselben
auf Natur zu zweifeln anfingen." Gegen solche „Chikanen einer seichten
Metaphysik" sei der Geometer nun durch die Kantische Lehre definitiv ge-
sichert. (Vgl. dazu Trendelenburg, Hist. Beitr. III, 246.) In der von uns
gesperrt gedruckten Stelle haben wir nun endlich eine klare Unterscheidung
der beiden Fragen : 1) Die geometrischen Sätze, sofern sie bloss den
Raum betreffen. 2) Die objective Gültigkeit und Anwendung
derselben auf Natur.
Anm. II.
Auf diese den „Idealismus" betreffende Anmerkung brauchen wir hier
nicht einzugehen.
Anm. III.
Auch diese Anmerkung bezieht sich auf die Idealismusfrage; Kant
kommt mehrfach darauf zu sprechen, dass nur seine idealistische Theorie
,die Anwendung der Mathematik auf wirkliche Gegenstände" garantire.
282 Excurs. Reine und angewandte Mathematik.
Diese ausfiibrliche Analyse der PröUgamena war noth wendig: denn in
der Unterscheidung des Problems der reinen und der angewandten Mathe-
matik liegt der Schlüssel zu der ganzen Aesthetik (vgl. oben S. 88).
Wer diesen Unterschied nicht einsieht, versteht nicht die transscendentale
Erörterung, versteht damit auch nicht die transsc. Aesthetik, und damit
wiederum nicht die Grundlage des ganzen Kriticismus.
Dass die transsc. Erörterung — der noeud vital der Transsc. Aesthetik —
nur durch diese Unterscheidung Sinn bekommt, haben wir gesehen. Man
erkennt auch leicht, inwiefern nun die transsc. Erörterung als ein aller-
dings sehr knapper Auszug der § 6 — 11 der Prolegomena zu betrachten
ist: der zweite Absatz entspricht dem ersten Problem, dem der reinen Ma-
thematik als solchen; der dritte Absatz dem zweiten Problem, dem der
angewandten. Was die Analyse der transsc. Erört. als solcher selbstftndig
ergab, wird durch die der Prolegomena somit lediglich bestätigt.
Diesen Thatbestand hat Kant selbst in unerquicklichster Weise ver-
dunkelt. Diese Verdunkelung hat drei Ursachen: Einmal die schwankende
und unklare Darstellung selbst, deren beständiges Hinüber- und Herüber-
gleiten von dem Einen Problem in das Andere wir soeben sattsam kennen
gelernt haben; sodann die unglückliche Fragestellung: wie ist reine Mathe-
matik möglich?, deren miss verständliche Formulirung wir Band I, 327 ff.
388 ff. hinreichend aufgedeckt haben ; drittens besonders den Umstand, dass
Kant von der Anwendung der reinen Mathematik später noch einmal spricht,
nämlich in der Analytik, in den „Axiomen der Anschauung'^ (A 162 ff.
B 202 ff.)^ Der Grundsatz derselben lautet: „alle Anschauungen sind exten-
sive Grössen"; und von diesem heisst es dann: „Dieser transscendentale
Grundsatz der Mathematik der Erscheinungen gibt unserer Erkenntniss
a priori grosse Erweiterung. Denn er ist es allein, welcher die reine Mathe-
matik in ihrer ganzen Präcision auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar
macht, welches ohne diesen Grundsatz nicht so von selbst erhellen möchte,
ja auch manchen Widerspruch veranlasset hat." Empirische Anschauung
sei nur durch die reine möglich ; was Geometrie also von dieser sage, gelte
auch von jener; die Ausflüchte, als wenn Gegenstände der Sinne nicht den
Regeln der Construction im Räume gemäss sein dürften, seien blosse Cfai-
kanen. „Denn dadurch spricht man dem Räume und mit ihm zugleich aller
Mathematik objective Gültigkeit ab und weiss nicht mehr, warum und
wieweit sie auf Erscheinungen anzuwenden sei." Auf diese Weise sei
„Geometrie selbst nicht möglich".
Man sieht, dass hierin auch nicht das Mindeste mehr gesagt ist, ak
in dem, was wir bisher kennen gelernt haben, dass vielmehr diese Stelle
wortwörtlich mit den bisherigen Stellen übereinstimmt, sowohl mit denen
» Hieher gehören auch die Stellen A 87. 150. 156—158. 178. Vgl. auch
Kants Reflexionen (zur Kr. d. r. V.) 11, S. 274. 296. 298; daselbst unterscheidet
Kant streng: „1) Möglichkeit der reinen Mathematik. 2) Möglich-
keit der anjfewandten."
Schwanken Kants. 283
ans der Krit. d. r. V. (also mit der transsc. Erörterung, mit A 26. 39—41.
47 — 48), als besonders mit denen aus den Prolegomena. Es ist also eben
einfach gar nicht wahr, dass erst jener Grundsatz, und zwar er allein,
die Anwendung der reinen Mathematik auf Objecte ermögliche. Dazu
brauchen wir (wie auch aus den oben S. 270 mitgetheilten Stellen der De-
duction A 87 hervorgeht) die Analytik gar nicht abzuwarten, das steht
schon des Weiten und Breiten in der Aesthetik^
Wir haben hier also wieder eine jener zahllosen Ungenauigkeiten resp.
Widersprüche, wie sie uns bei Kant auch bisher auf Schritt und Tritt be-
gegnet sind. An der Genialität des Mannes brauchen wir desshalb nicht
zu zweifeln : es gehört eben zur „psyehologie des granda hommes*^ dass geniale
Geistesbegabung im Grossen solche auffallende Verwirrung in Einzelfragen
nicht ausschliesst, ja vielleicht fordert.
Uebrigens ist schon in der Dissertation von 1770 dasselbe Schwanken
bemerkbar. So heisst es daselbst § 15 C : „Geometria prindpiis utitur nan
indubitatis aolum ac diacursims, sed suh obtutum merUis caderUibus, et evi-
dentia in demonstrationibus , {quae est claritas certae cognitionis , quatenua
(tssimüatur aenauali,) non aolum in ipaa est maxima, aed et unica, quae datur
in aeientiia puria, omniaque evidentiae in aliia exetnplar et medium; quia
cum geometria apatii relationea contempletur,. cujua conceptua ipaam omnia
intuüus aenaualia formam in ae continet, nihil poteat in perceptia aenau externo
darum eaae et perapieuum, niai mediante eodem intuitu, in quo eontemplando
acientia iüa veraaturJ' Man erkennt leicht, wie auch hier reine Mathematik
und deren Anwendung in Eins zusammengeworfen werden. Scheinbar nur
auf die reine Mathematik bezieht sich folgende Stelle § 15 D : „Si omnea
apatii affectionea nonniai per experientiam a relationibua externia mutuatae aunt,
(,,entlehnt", „erborgt" sind), axiomatibua geometricia non ineat univeraalitaa
niai comparativa, qwilia acquiritur per inductionem h, e, aeque lote patena, ac
obaervatur, neque neceaaitaa, niai aecundum atabiliUM naturae legea, neque pi'ae-
dsio, niai arbitrario conficta, et apea eat, ut fit in empiricia, apatium tili'
quando detegendi aliia affectionibua primitivia praeditum, et forte etiam bili-
neum, rectilineum" An der Parallelstelle der Kr. d. r. V. A 89 — 41 handelt
es sich aber vor Allem um die Anwendung der Mathematik. Auf jeden
' Es ist deshalb auch nicht richtig, wenn Pauls en, Entw. 164 meint, die
These von der Anwendbarkeit der Mathematik müsse erst aus dem System der
Grundsätze an ihren richtigen Ort, die Aesthetik, „zurückversetzt werden", wo die-
selbe fehle. Sie ist in der Aesthetik enthalten, und nicht bloss versteckt, sondern
offen. Vgl. auch A dick es, Ks. Systematik, S. 51 f. und in seiner Ausgabe der
Kr. d. r. V., S. 190 N. Besonders aber hat sich Arnold t, R. u. Z. 41 f., durch
jenen „Grundsatz" dazu verführen lassen, die Lehre von der Anwendung der Mathe-
matik in der Aesthetik, und sogar in den Prolegomena (gegen Trendelenburg,
Beitr. 3, 246) direct hinwegzudisputiren. (Vgl. oben S. 271 Anm. 1.) Derselbe
Irrthum bei Stadler, Reine Erk. 76 f 147 (vgl. desselben Ks. Th. d. Materie
S. 79), insbesondere aber bei Fischer, Gesch. 111, 2. A. Vorr. V (gegen Trendelen-
burg). Das Richtige findet sich bei Riehl, Krit. I, 406 f
284 Excurs. Reine und angewandte Mathematik.
Fall bezieht sich die folgende Stelle nur auf die angewandte Mathematik:
§ 15 E: „Cum nihil omnino sensibus sit dabiUy nisi primitivis spatii axia-
matibus ejusque consectariis (geometria praecipiente) conformiter^ — quan-
quam horum principium non sit nisi subjectivum^ — tarnen neeessario hisce
conseniiet, quia hactenus sibimet ipsi consentü. Et lege$ sensualitaiis
erunt leges naturae, quatenus in sensus cadere potest. Natura itaque
geometriae praeceptis ad amussim iubjecta est, quoad omnes affeetiones spatü
ibi demonstratas , non ex hypothesi ficta, $ed intuitive data, tanquam con-
ditione subjectiva omnium phaenomenorum, quibus unquam natura sensibus
patefieri potest. Gerte, nisi conceptus spatii per mentis naturam originarie
datus esset (ita, ut, qui relationes quascunque alias, qtuim per ipsum prae-
cipiuntur, mente effingere aüaboraret, operam luderet, quia hoc ipso coneeptu
in figmenti sui subsidium uti coactus esset), geometriae in philosophia
naturali usus parum totus foret; dubitari mim passet, an ipsa natio
haec ab experientia depromta („entlehnt^^) satis cum natura consentiat.^^
(Dieses consentire auch § 14, 6 in Bezug auf die Zeit; das Gegentheil als
„absonum^^.)
Mit ziemlicher Klarheit macht Kant den unterschied in der Abhand-
lung über die „Fortschr. d. M." Ros. I, 495 ff. Er unterscheidet daselbst drei
Schritte in der Geschichte der Transscendentalphilosophie: 1) den Unterschied
analytischer und synthetischer Urtheile; 2) die Frage: wie sind synthe-
tische Urtheile a priori möglich? 3) die Frage: wie ist aus synthe-
tischen Urtheilen eine Erkenntniss a priori möglich? Die letztere,
etwas sonderbare Frage deckt sich jedoch (vgl. Comm. I, 323—324) voll-
ständig mit unserer oben unterschiedenen zweiten Frage, wie aus Kants
eigenen weiteren Bemerkungen hervorgeht. K. unterscheidet hier somit scharf
zwischen synthetischen Urtheilen a priori und synthetischen Erkennt-
nissen a priori; jenes bezieht sich auf die „Urtheile der reinen Mathematik*',
dies auf ihre Anwendung in der Erfahrungswelt. Die weitere Ausfuhrung
daselbst entspricht ganz dem Gange der Prolegomena, an welche jene
Schrift sich eng anschliesst. Uebrigens hält Kant den Unterschied dann
weiterhin doch wieder nicht fest.
Angesichts dieser Sachlage ist es kein Wunder, dass die secundäre
Literatur in diesem Punkte meistens grosse Verwirrung zeigt. Es war dies
schon in der Literatur des vorigen Jahrhunderts der Fall. Nur bei einigen
Autoren findet sich das Richtige. Dass es sich um zwei ganz heterogene
Gedankenreihen handle, hat z. B. Metz in seiner Darstellung 54 richtig
erkannt. Er sagt: „Sind R. u. Z. Prädicate aller Erscheinungen, so haben
sie eben deswegen objective Realität, denn was dem noth wendigen Merk-
male eines Dinges zukommt, kommt dem Dinge selbst zu*' (nota notae est
nota rei) . . . Die Anwendbarkeit der Mathematik (welche selbst von
den grössten Mathematikern für eine bloss ideale Wissenschaft gehalten
wurde) auf die wirkliche Welt ist nach der Kantischen Aesthetik gerettet
und über alle Einwendungen erhaben." „Zugleich wäre es verständlich,
woher die anschauende Gewissheit (Evidenz) komme, welche allen Sätzen
Widersprüche der Ausleger. 285
und Demonstrationen der Mathem. anklebt^' n. s. w. Selbst der sonst so
schwache Heusinger hat trotz anfänglicher Vermischung beider Fragen
ihren unterschied doch sehr scharf bestimmt (Encycl. I, 280 ff.).
Von den Neueren hat besonders E. Fischer nur das Problem der
reinen Mathematik als solcher berücksichtigt (1. A. 269. 293. 314. 839;
2. A. 307. 328 ff.). Seine Darstellung ist dann für viele andere massgebend
geworden. Dagegen legt Cohen überall (bes. 2. A. 22-24. 222. 238. 416
bis 422) den Hauptwerth auf die angewandte Mathematik als wichtigtes
Fundament der mathematischen Naturwissenschaft. Vgl. desselben ,Jnfin.
Methode", S. 131-133.
Die eigenthümliche Stellung, welche Paulsen in dieser Frage einnimmt,
im Zusammenhang mit seiner falschen Auffassung des synthetischen ürtheils,
haben wir schon Bd. I, 327 ff. dargestellt und widerlegt. Paulsen identificirt
das synthetische ürtheil a priori ohne Weiteres mit dem realgültigen, während
doch in der reinen Mathematik als solcher diese reale Gültigkeit noch gar
nicht in Frage kommt; er geht dabei davon aus (Entw. 7. 136. 155. 174),
Kant habe vor allem Hume's Angriffe auf die Gegenständlichkeit der Ma-
thematik, d. h. auf deren objective Gültigkeit fiir die Dinge zurückschlagen
wollen , habe also vor allem das Recht der angewendeten Mathematik be-
weisen wollen. Allein dieser Ausgangspunkt ist, sowohl was Hume als was
Kant betrifft, falsch, wie wir damals gesehen haben. Von jenem falschen
Punkte ausgehend, sucht nun Paulsen zu erweisen, es habe sich für Kant
stets nur um die angewandte Mathematik gehandelt, so in der Abhandlung
von 1768 (Entw. 141. 142), so in der Dissertation von 1770 (ib. 119. 120.
136—138), so im Brief an Herz von 1772 (ib. 151), so in der Kr. d. r. V.
(155. 160 ff. 164 f. 168. 174 f.), so in den ProUgomena (161. 165. 175. 185).
So richtig die Erkenntniss Paulsens ist, dass es sich in der Aesthetik facti seh
um die angewandte Mathematik handelt, so unrichtig ist die Meinung des-
selben, es handle sich nur um diese. Vielmehr war für Kant auch die
reine Mathematik als solche ein ebenso wichtiges Problem. Dass dieselbe
nach Kants mehrfach wiederholten Aeusserungen (z. B. A 157) an und für
sich, ohne Anwendung, „Beschäftigung mit einem blossen Hirngespinnst'*
wäre, ändert daran nicht das Geringste; die Frage bleibt bestehen, wie ich
ein solches System streng zusammenhängender Sätze synthetisch a priori zu
Stande bringen kann. Diese Frage hat Paulsen vollständig ignorirt. Die-
selbe Einseitigkeit hat auch Wallace, Kant S. 162.
Dass es sich wirklich um jene beiden Probleme handelt, hat Biehl
richtig erkannt. Derselbe erinnert auch (Krit. I, 59) daran, dass schon
Locke (IV, 4, § 6) beide Probleme geschieden habe, zeigt (69. 88 ff. 96 ff.
100 ff. 103), dass Hume die Anwendbarkeit der Mathematik auf die wirk-
lichen Dinge (bes. die Gültigkeit der unendlichen Theilbarkeit) bestritten
habe, und bemerkt (98) richtig: „Ohne Zweifel war für Kant dieses Di-
lemma zwischen Mathematik und Naturphilosophie [mit dem sich derselbe
schon in seiner Monadologia physica 1756 beschäftigt habe] mit ein Motiv
zur Ausbildung der Lehre, dass der allgemeine Raum ausschliesslich eine
280 § 3. Raum: transacendentale Erörterung. — Schlüsse.
Vorstellungsform sei." In der Darstellung der Kantischen Lehre berück-
sichtigt Riehl daher auch vorzugsweise dieses letztere Problem (l, 317. 329.
331. 341. 405 flf.; n, a, 88. 109 f.), aber er hat doch auch (347. 350 f.)
bemerkt, dass auch die reine Mathematik als solche ein Problem für sich
sei, dessen Lösung Kant geben wollte (vgl. dagegen Comm. I, 323 — 324).
Mit vollendeter Klarheit hat bes. G. Thiele den Unterschied entwickelt in
seiner Dissertation: Wie sind die synthetischen Urtheile der Mathematik
a priori möglich? (Halle 1869): „Dies Problem zerfllllt in die zwei: Wie
kann unser Denken a priori zu den synthetischen Urtheilen der Mathematik
kommen ? und : Wie können diese subjectiv gefundenen Sätze objective Gültig-
keit haben ?" Scharf unterscheidet auch Desdouits, La phUoa. de Kantf
Paris 1876, S. 274 flf. zwischen possibilitS und valeur der Mathematik.
Auch E. V. Hartmann (Transsc. Beal. 162) hat hier richtig gesehen:
„Es handelt sich hier um zwei völlig von einander zu trennende Probleme,
nämlich um das, was die Geometrie für Figuren unserer Einbildungskraft,
und um das, was sie für Figuren der Wahrnehmung ist'* u. s. w. Weiteres
u. A. bei Dietrich, Kant und Newton 119. Kerry, Viert, f. wissensch.
Ph. 1891, S. 148 ff. Natorp, Descartes, S. 49. 91. 155.
Schlüsse in Bezug auf den Raum.
Diese Schlüsse^ „aus obigen Begriffen'*, d. h. aus den bisher aufge-
fundenen und festgestellten Bestimmungen über das Wesen des Raumes
zerfallen in fünf Absätze, von denen aber nur die beiden ersten durch
Buchstaben a und b nummerirt sind. In der That enthalten auch nur diese
beiden principielle Schlussfolgerungen: Der erste Absatz (a) folgert aus
dem Umstand, dass der Baum eine Anschauung a priori ist, dass derselbe
den Dingen an sich nicht angehören kann. Der zweite Absatz (b) trifit
die Bestimmung, dass der Baum nur die Form unserer äusseren Anschauung
sei, und erklärt daraus die Gültigkeit der reinen Geometrie für die em-
pirischen Gegenstände. Der dritte unterscheidet auf Grund davon zwischen
empirischer Bealität und transscendentaler Idealität des Baumes. Der vierte
Absatz enthält eine „Anmerkung* ^ in welcher die apriorische Rauman-
schauung von den subjectiven Sinnesempfindungen unterschieden wird, und
der fünfte Absatz fügt die wichtige Bestimmung hinzu, dass die Unter-
scheidung von Erscheinung und Ding an sich nicht empirisch, sondern
transscendental zu verstehen sei.
Es ist zu beachten, dass an dieser Stelle, und zwar zuerst sogleich
^ Es wäre zweckmässig gewesen, wenn Kant für diese , Schlüsse'^ so wie
er es bei der „Zeit" that (§ 6), einen eigenen Paragraphen angesetzt hätte. (Vgl«
Adickes 76 N.) — Es ist sehr zu beachten, dass, wenn Kant von Schlüssen ,ao8
obigen Begriffen" redet, die , Transacendentale Erörterung' nicht zu diesen
n obigen Begriffen" zu rechnen ist, da dieselbe in A ja noch fehlte.
Schluss a: Der Raum keine Bestimmung der Dinge an sich. 287
[B 36. H 61. E 77. 78.] A 26. B 42.
im Schluss a, der Ausdruck: Ding an sich bei Kant zum ersten Male
sich findet, unter anderen Ausdrücken kam die Sache natürlich schon in
der Dissertation vor, so § 4 im Gegensatz von apparere und esse, § 11 als
jjobsoluta objectorvm quaHtas", § 13 als „existentia in se". Der später so
berühmt und so verhängnissvoll gewordene Ausdruck: Ding an sich tritt
hier aber als ein Novum auf. Vgl. Mellin I, 131 ff., II, 108 ff. Liebmann,
K. u. .die Epig. 35. Lehmann, Ks. Lehre y. D. a. s. Diss. Berl. S. 8: es habe
sich für diesen Ausdruck erst allmälig die feste Bedeutung eines Terminus
aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch entwickelt. Nach Liebmann stammt
der Begriff aus der Leibniz- Wolffischen Philosophie, nach Lehmann aus der
Locke'schen. Cohen (2. A. 167. 518) hat den „ominösen Ausdruck" zum ersten
Male erst unten A 42, in der gegen Leibniz gerichteten Anmerkung, gefunden,
und meint daher auch; „der Anlass, von Dingen an sich zu reden, lag somit
in der Bezugnahme auf Leibniz". Vgl. hie zu unten S. 358 Anm. 2.
Erster Absatz (Schlnss a).
Dieser Absatz will nachweisen, dass der Raum weder eine Eigen-
schafts- noch eine Verhältnissbestimmung der Dinge an sich sei (die
natürlich hier wiederum als real existirend von Kant vorausgesetzt werden;
gegen Krause, Kant wider Fischer S. 86); hierzu vergleiche man das Schema
S. 132 ^ Wenn der Raum das wäre, so würde er „an den Gegenständen
selbst haften'^, und würde er das thun, so würde er auch „bleiben^^ ganz
abgesehen von dem anschauenden, vorstellenden Subjecte. Aber all das ist
nicht der Fall: der Raum ist „weder eine absolute noch eine relative
Bestimmung der Dinge an sich", d. h. eben weder Eigenschaft eines
jeden derselben für sich, noch ein Verhältniss derselben unter einander^.
Dies ist der Inhalt dieser Folgerung. Wie aber ist sie gewonnen? Den
Berechtigungsgrund zu dieser weittragenden Folgerung soll der nächste Satz
geben: objective Bestimmungen der Dinge (absolute oder relative) lassen
sich eben nicht, wie das beim Raum der Fall ist, a priori anschauen; wir
haben also hier folgenden Schluss vor uns:
Obersatz:
Objective Bestimmungen der Dinge selbst können nicht vor dem
Dasein der Dinge a priori angeschaut werden.
Untersatz:
Der Raum wird vor dem Dasein der Dinge a priori angeschaut.
Schlussatz:
Also ist der Raum keine objective Bestimmung der Dinge selbst.
' Dass hier der Fall der Substantialität des Raumes übergangen ist, ist
natürlich blosse Nachlässigkeit Kants. Anders Gottschick in d. Z. f. Phil. 79, 154 :
Der Fall habe in dem philosophischen Gesichtskreis der Zeit keine Bedeutung gehabt.
' In höchst confuser Weise bezieht Arnoldt, R. u. Z. 104 ff., .absoluf auf
die Dinge an sich, „relativ** auf die Erscheinungen!
288 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Kaum.
A 26. B 42. [R 36. H 61. E 77. 78.]
In diesem , nach dem Modus ,,Cesare'* verlaufenden Schlüsse ist der
Untersatz eben das Resultat der bisherigen Untersuchungen, spedell der
5 resp. 4 Raumargumente. Insofern ist das Ganze wohl als „Schluss aus
obigen Begriffen*' aufzuführen. Aber der Obersatz' ist neu hinzugekommen:
keine objective Bestimmungen der Dinge lassen sich a priori ansebauen,
oder, wie es eingehender heisst: „vor dem Dasein der Dinge, welchen sie
zukommen^' — natürlich vor ihrem Dasein für uns, d. h. vor der Wahr-
nehmung derselben, bevor wir von ihrem Dasein Kunde bekommen.
Der Schluss Kants lässt sich übrigens (woran auch schon Arnoldt
R. u. Z. 103 erinnert hat) auch in folgender Form darstellen:
Obersatz:
Alles, was a priori angeschaut werden kann, kann nicht den Ding«rn
selbst als solchen angehören.
Untersatz:
Der Raum ist eine apriorische Anschauung.
Schlusssatz:
Also kann der Raum nicht den Dingen selbst angehören.
In diesem nach „Celarent" verlaufenden Schlüsse ist der Obers atz
durch conversio siinplex aus dem Obersatz des vorigen Schlusses gewonnen.
Der Sinn desselben ist: Etwas, was a priori, d. h. überhaupt vor aller
Wahrnehmung in uns liegt als eine a priori uns angehörende Anschauung,
das kann überhaupt niemals irgend welchen Objecten selbst angehören,
das kann überhaupt niemals objective Eigenschaft „irgend eines Dinges"
sein. Kant fragt nach dem Realitätswerth einer apriorischen Anschaung,
einer anschaulichen Vorstellung, welche die Eigenthümlichkeit hat, dass wir
sie a priori, d. i. vor aller Wahrnehmung eines Gegenstandes in uns an-
treffen. Kant meint, sie könne nichts Wirkliches zum Inhalt haben: denn
von wahrhaft Wirklichem und dessen Bestimmungen können wir keine zu*
treffende apriorische Vorstellung haben.
Wohl zu beachten ist, dass der Obersatz dieses Schlusses in seinen
beiden Formen nur negativ ist und dass dem entsprechend auch der Schluss-
satz diese Negation ausspricht: der Raum gilt nicht von Dingen an sich.
Bei jenem negativen Obersatz ist aber natürlich eine positive Aussage mit
eingeschlossen und daher zu subintelligiren : die Aussage, dass eine solche
apriorische Vorstellung zwar nicht von Dingen an sich gelten könne, aber
natürlich nur von Erscheinungen. Diese positive Seite des Schlusses bildet
dann weiterhin die Grundlage des Schlusses b. Hier im Schluss a hat Kant
sich nur auf die negative Form jener Argumentation beschränkt.
Wie geläufig der Schluss von der Apriorität auf die Subjectivität Kant
geworden ist, beweisen mehrfache Wiederholungen desselben; z. B. am Schluss
des Briefes an Reinhold vom 7. März 1788 (reine Anschauung sei nur als
* Von Trendelenburg, Beitr. 3, 229, wunderlicher Weise als Untewati
bezeichnet! Vgl. dagegen Arnold t, R. u. Z. 103.
Der Schluss von der Apriorität auf die Subjectivität des Raumes. 289
[R 36. H 61. K 77. 78.] A26.B48.
Form des Subjects denkbar), besonders aber die bald darauf geschriebene
Stelle in der Streitschrift gegen Eberhard (Ros. I, 469): Die reinen An-
schauungen, die vor den Dingen vorhergehen, seien ,, nimmermehr anders,
als blosse subjective Formen meiner Sinnlichkeit, nicht als Formen der
Dinge an sich selbst, mithin blosser Erscheinungen zu denken^^ Die kür-
zeste und deutlichste Wiederholung findet sich aber Proleg, § 10 (fin.), wo
Kant mit dürren Worten sagt, dass Raum und Zeit „eben dadurch, dass sie
reine Anschauungen a priori sind, beweisen, dass sie blosse Formen unserer
Sinnlichkeit sind" u. s. w. (Vgl. oben S. 278.) Ebenso wird es gleich unten
A 27 als selbstverständlich angenommen ^ dass „wir die besonderen Be-
dingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Möglichkeit der Sachen,
sondern nur ihrer Erscheinungen machen können", und dass ebendeshalb der
Raum nicht die „Dinge an sich selbst" befassen könne. In den „Losen
Blättern", mitgeth. von Reicke in der Altpr. Monatsschr. XXVIII (1891)
S. 419 heisst es: „Die Anschauungsform der Gegenstände in R. u. Z., weil
sie a priori und als nothwendig vorgestellt wird, beweiset ihre Sub-
jectivität" u. s. w.
Aber dieser Schluss ist nicht im geringsten zwingend. Denn ganz
abgesehen von Denen, welche auf Grund der wissenschaftlichen Psychologie
den Untersatz verwerfen , wird der Obersatz auch bei Rationalisten selbst
Widerspruch herausfordern. Man wird in ihm einePetitio jonwci/ni findend Wa-
rum sollte denn eine apriorische Anschauung, wie die Raum Vorstellung, nicht
auch doch noch zugleich als objective Eigenschaft den Dingen angehören
können? Wir wollen ja zugestehen, dass es gegen die lex paraimoniae in
der Natur verstösst, wenn das der Fall wäre; aber wir können doch min-
destens verlangen, dass der Autor etwas nicht als eine unumstössliche Prämisse
behandle, was in der That im günstigsten Falle nur einige Wahrscheinlich-
keit für sich hat. Wir wollen zugestehen, dass es unwahrscheinlich wäre,
dass eine a priori angeschaute Bestimmung zugleich auch noch den Dingen
^ Man könnte den Beweisfehler auch als Quaternio bezeichnen; denn die
Dinge, vor deren Dasein der Raum a priori angeschaut wird und von denen der
Untersatz spricht, sind Erscheinungsdinge ; dagegen die Dinge, deren Bestimmungen
nicht a priori angeschaut werden können und von welchen der Obersatz spricht,
sind die realen Dinge an sich. Deshalb beweist das Argument auch nur die Sub-
jectivität des Raumes in Ansehung der Dinge im Räume, nicht aber in Ansehung
der Dinge an sich. So scheint übrigens auch schon Brastberger den Fehler
aufgefasst zu haben; vgl. den folgenden Excurs S. 317. Aehnlich auch Beyer«»
dorff. Die Raum Vorstellungen S. 52 ff. In diesem Sinne bemerkte auch Wytten-
bach, Kant sei durch die von Niemand geleugnete Thatsache, dass alle Sinnes-
wahmehmung an R. u. Z. gebunden ist, zu dem Schlüsse verleitet worden, dass
alles Nicht-Sinnliche nicht an R. u. Z. gebunden sei ; das sei ebenso unbedacht und
verfehlt, wie wenn man z. B. folgendermassen schliessen wollte: «Alle Hunde haben
vier Fasse; folglich hat Alles, was nicht Hund ist, nicht vier Füsse." (Prantl,
Sitz-Ber. d. Münch. Akad. 1877, S. 285.) — Vgl. auch oben S. 54, N. 1.
Yaihinger, Kant-Commentar. II. 19
290 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
A 26. B 42. [B 86. H 61. E 77. 78.]
selbst angehören würde, aber wir wollen wenigstens nicht eine Unwahr-
scheinlichkeit in eine Unmöglichkeit verwandelt sehen. Es werden aber Viele
gerade das Gegentheil des im Obersatz Gesagten wahrscheinlich finden; sie
werden sogar eine besondere Teleologie der Natur darin erblicken, dass die
a priori angeschaute Bestimmung auch zugleich den Dingen selbst angehöret
Für Kant dagegen ist es selbstverständlich', dass das Apriorische zu-
gleich rein subjectiv sei.
Excurs.
Der Streit zwischen Trendelenburg und Fischer.
Dieser Fehler, den unsere Analyse auf diese Weise aufgedeckt hat,
ist nun genau derselbe, welchen Trendelenburg der Kantischen Argumen-
tation vorgeworfen hat. Tr. hat diese richtige Erkenntniss nur dadurch wieder
verdorben, dass er sie in jene Form einer „dritten Möglichkeit" kleidete,
deren logische Mangelhaftigkeit wir oben Seite 136 ff. aufdecken mussten. Wenn
also auch jene „dritte Möglichkeit" nach Trends. Formulirung fällt, so bleibt
doch die „Lücke". Was Trend, über die Schlussgerechtigkeit dieser Argu-
mentation als solcher sagt, ist grossen theils zutreffend. Kant schloss, sagt er
(Beitr. 3, 228, vgl. 216 f. 240. Log. Unters. 1. A. 126 ff; 2. A. 157 ff.), in dieser
Weise : „Raum und Zeit sind a priori, weil nothwendig und allgemein, und
wenn a priori, so sind sie subjectiv, also nur subjectiv." Trend, sucht dies
durch specielle Analyse der vier Raumbeweise zu zeigen (L. ü. 1. A. 128; 2. A.
162); aber diese haben ja an sich noch nichts mit diesem weittragenden
Schlüsse hier zu thun (vgl. oben S. 171, N. 191). Nach Trends, richtiger Einsicht
haben wir die „entscheidende Hauptstelle" aber eben doch hier vor uns.
(Vgl. jedoch auch schon oben S. 271.) Ist nun, fragt Trend. 229, „dieser Be-
weis Kants bündig? und gibt es ausser jenem apriori einen Grand for die
Unmöglichkeit, dass Raum und Zeit objective Geltung haben?" „Die Kraft
dieses Argumentes (dass der Raum nur subjectiv sei, weil er a priori ist)
bestreiten die logischen Untersuchungen, weil er eine Lücke enthält; denn
die Möglichkeit, dass das apriori, im Geiste subjectiv, doch zugleich objec-
tive Geltung habe, ist ausser Acht gelassen'^ (230). „Wenn K. so schloss,
... ist die Lücke augenscheinlich. Denn an und für sich ist kein Hindemiss
da, dass das Nothwendige und Allgemeine, woraus der apriorische Ursprang
erschlossen ist, nicht auch den Dingen nothwendig sei'' (228). Nach Trend,
beweist also die Apriorität nicht die Subjectivität. „Das apriori drückt einen
Ursprung in unserem Erkennen aus. Die Form des Raumes, die Form
der Zeit . . . haben einen Ursprung in der Thätigkeit unseres Geistes . . .
insofern sind sie subjectiv. Aber das hindert nicht, dass ihnen etwas in
* Diese „Teleologie" nimmt in der That an Volkelt, Erfahrung u. Denken.
S. 502 ff. Gisevius, Ks. Lehre 13.
^ So drückt dies auch aus Spir, Denken und Wirklichkeit I, 11 ff., welcher
daselbst auch diese Annahme Ks. vertheidigt.
Trendelenburgs Angriff auf Kant. Fischer vertheidigt Kant. 291
den Dingen entspreche" (223 ; cfr. 222. 225. 230). „Wir dürfen also keines-
wegs Raum und Zeit den Dingen absprechen, weil K. sie im Denken
fand" (226). In diesem Sinne gab Trendelen bürg seiner Abhandlung in
seinen „Historischen Beitragen znr Philosophie" (III. Band, 1867) den ganz
zutreffenden Titel: „Ueber eine Lücke in Kants Beweis von der ausschliessen-
den Subjectivität des Raumes und der Zeit."
Unsere obige Analyse der vorliegenden Stelle gibt diesem Einwände
Trs. f^egen dieselbe vollständig Recht. In diesem Beweis als solchem ist
jene „Lücke" entschieden vorhanden. Der Einwurf Trs. gegen die vorlie-
gende Stelle ist also sachlich ganz berechtigt; man beachte aber unseren
vorsichtigen Ausdruck: ,,gegen die vorliegende Stelle". Denn es fragt sich
nun, ob Kant nicht an einer anderen Stelle, sei es der Aesthetik, sei es
der Kr. d. r. V. oder seiner anderen Werke, das hiesige Versehen wieder
gut gemacht, die hier gelassene Lücke wieder ergänzt habe? Diese Frage
hat Tr. selbst aufgeworfen und auch mit Entschiedenheit verneint. Er sagt
(Log. Unt. 1. A. 129, 2. A. 163; Beitr. 3, 225): „Wenn wir nun den Argumenten
zugeben, dass sie den R. u. die Z. als subjective Bedingungen darthun, die
in uns dem Wahrnehmen und Erfahren vorangehen, so ist doch mit keinem
Worte bewiesen , dass sie nicht zugleich auch objective Formen sein können.
Kant hat kaum [die erste Auflage hat „nicht einmal"] an die Möglichkeit
gedacht, dass sie beides zusammen seien."
Diesen mächtigen Angriff gegen Kant nahm nun K. Fischer auf ^ In
seiner Log. u. Met. 2. A. (1866) wendet er sich zunächst gegen die Redaction
jenes Angriffes, wie sie in den Log. ünt. 2. A. (1862) vorlag.
I. An erster Stelle gehört hierher folgende Gegenbemerkung Fischers
(S. 178): „So wenig wird die objective Geltung des Raumes durch seinen
Charakter als blosse Anschauung beeinträchtigt, dass sie vielmehr erst da-
durch erklärt wird : die einzig mögliche Objectivität, die es überhaupt gibt . . .
Diese Geltung von R. u. Z. in Rücksicht aller Erscheinungen nannte Kant
deren empirische Realität." Dies wiederholt F. in der Gesch. III, Vorr. V, VI.
Es liegt aber auf der Hand, dass dieser Einwand die Streitfrage gar nicht
trifft, da er eine fierdgctoK; sl; äXXo ^ivoc enthält '. Trend, bemerkt ganz richtig
* Die weitere Literatur über diesen berühmten Streit s. in der Literatur-
angabe am Schlüsse dieses Bandes.
' Es ist charakteristisch für die Kantianer, dass dieselbe Ausflucht auch
schon im vorigen Jahrhundert genau in derselben Weise genommen worden ist, so
von Schulz in seiner Recension des Eberhard'schen Magazins (A. L. Z. 1790, III,
785 ff., vgl. Prüfung, II, 180 ff.), wogegen sich Eberhard im Mag. IV, 246 in
treffenden Worten wendet. Auch eine wahrscheinlich von Reinhold herrührende
Recension der Weishaupt'schen Schriften in der A. L. Z. 1788, III, 10 ff. bediente
sich derselben Ausrede gegen den Vorwurf der Subjectivität. Vgl. auch Rein-
hold, Beitrage II, 202 ff. Vgl. dazu auch die treffenden Gegenbemerkungen des
wackeren v. Eberstein, II, 75 f. 114. 393. 394: .Die fatale Subjectivität lehnen
die Kantianer ja nur durch eine andere Bedeutung des Wortes objectiv von sich
ab.* Vgl. auch Eberhard im Phil. Arch. I, 1, 103 über Kants „subjective Ob-
292 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
in seiner Entgegnung, S. 4 f.: „Wer sich mit Kants Lehre irgendwie be-
schäftigt hat, erinnert sich, dass das, was K. innerhalb seiner Lehre em-
pirische Objectivität nennt (Anwendung auf Erscheinungen), gerade durch die
ausschliessende Subjectivität von B. u. Z. bedingt ist und deswegen fi&r
nicht hieb er gehört." (üeber diese missbräuchliche Verwendung des Ter-
minus „Objectivität'^ bei Kant vgl. auch Beneke, Kant 36 f. ; Metaphysik 234
Vgl. Riehl, Krit. II, a, 109 f. Bratuschek, Phil. Mon. V, 296. Seligkowitz
in d. Viert, f. wiss. Phil. XVI [1892], S. 89 f. mit Bezug auf Schulze-
Aenesidems und Piatners Einwände gegen K.) Vgl. unten S. 349. 355 ff.
Ausserdem ist dabei übersehen, dass, wenn Kant dem R. und der Z.
allerdings in Bezug auf die Ersch ein ungs weit „objective Gültigkeit, Realität'^
zuschreibt (A 27, 34 ff. öfters), er denselben doch auch ausdrücklich und wört-
lich die „objective" Gültigkeit im absoluten Sinne abspricht Kant
hat ja selbst diese Wendung mehrfach gebraucht, so A 32: „Die Zeit ist nicht
etwas, was für sich selbst bestünde oder den Dingen als objective Bestim-
mung anhinge'S ebenso A 37 Anm. ; ebenso A47: „Setzet, R. u. Z. seien
an sich selbst objectiv und Bedingungen der Möglichkeit der Dinge an
sich selbst;" B 70: wenn man jenen Vorstellungsformen objective Rea-
lität beilegt, so werde alles in blossen Schein verwandelt; B 72: „Es bleibt
nichts übrig, wenn man sie [R. u. Z.] nicht zu objectiven Formen alier
Dinge machen will, als dass man sie zu subjectiven Formen macht." An-
gesichts solcher Stellen war es doch geradezu eine, wenn auch subjectiv nicht
beabsichtigte, so doch objective Fälschung des Thatbestandes, nicht bloss dem
Sinne, sondern auch sogar dem Wortlaut nach, wenn gesagt werden konnte,
„objective Geltung" könne im Sinne Kants keinen anderen als den empiri-
schen Sinn haben! Dieser misslungene Fischer'sche Rettungsversuch ist
nichtsdestoweniger oft wiederholt worden; vgl. Arnoldt, R. u. Z. 8—15:
Cohen 70, 2. A 163. 170. 419. 502 (vgl. Philos. Monatsh. 1890, 304 ff.):
Qrapengiesser S. 17. 18; Witte a. a. 0. 52; Masci, Polemica 9—48; Mahaffv,
Grit. Phil. I, 68. Vgl. Wundt, Phys. Psych. 1874, S. 691 u. Philos. Studien,
VII, 1891, 41—42. Vgl. Knauer, Reflexionsbegriffe 35. Vgl. auch den Streit
Wyttenbachs und van Hemerts über „objectiv" bei Prantl, Sitz.-Ber, der
Ak. München 1877, 279. Vgl. Renouvier, CHt. Philos, 1880, 83 ff. und da-
gegen treffend Lotze, Revue Philos. 1880, 481 ff. (Kl. Sehr. III, 492 ff.).
II. Ferner erhebt Fischer folgenden allgemeinen Einwand (Log. u. Met.
176 — 178): nach Trs. Annahme gebe es zwei Originalräume, den subjectiven
und den objectiven. Es könne aber nicht zwei Originalräume geben. „Wenn es
jectivität", wie Seile sich ausdrückte. Ein Recensent von dessen Abhandlung
gegen Kant (vgl. oben S. 195 und unten S. 315) entblödet sich nicht, zu sagen:
„Es ist ganz falsch, dass Kant behauptet hätte, R. u. Z. hätten nur subjective
Realität. Die ganze Kr. d. r. V. beschäftigt sich damit, die objective Realität
dieser Vorstellungen zu beweisen!' (Kossmanns Allg. Mag. I, 2, 204.) Uebrigens
verschmäht auch Kant selbst nicht diesen Ausweg; s. seine Bemerkungen gegen
Eberhard gleich am Anfang des Briefes an Reinhold vom 19. Mai 1789.
Fischer vertheidigt Kant ohne Erfolg. 293
vom Raum zwei Exemplare gibt, so ist eins davon sicherlich aus zweiter
Hand." Aber diese ganze Argumentation leidet an dem Fehler der Petitio
principiif welche in dem begründenden Satze enthalten ist: ,,da der Raum
nur einer sein kann, da es nicht zwei Originalräume gibt.'* Dies ist ja
eben die Tr.'sche Annahme (vgl. dessen Beiträge 3, 262 f.) , deren logische
Berechtigung durch diese apodiktischen Verneinungen nicht widerlegt ist.
Dasselbe gilt auch von dem, was Riehl, Krit. II, a, 107 ff, gegen Trend, im
Sinne Kants ausfuhrt.
III. Weiter heisst es zu Gunsten Kants bei Fischer (Log. u. Met. 175):
„In der Vemunftkritik . . . wurde die Unmöglichkeit einer transscendentalen
Realität des Raumes bewiesen. Diesen Beweis wollen die Log. Unt. ver-
missen. In der That ist er gefuhrt. Denn gesetzt, er sei unabhängig von
der Anschauung etwas an sich, so könnte dieser Raum uns nur durch Er-
fahrung gegeben, so müsste er ein Erfahrungsobject und die mathematischen
Einsichten Erfahrungsurtheile sein, die als solche weder allgemein noch noth-
wendig sein können. Wäre der Raum etwas Reales an sich, so würde
daraus die Unmöglichkeit der Mathematik folgen." Die auf die Schluss-
wendung bezügliche rein formelle Controverse haben wir schon oben S. 274
besprochen. Was das Materielle betrifft, so enthält diese Stelle zunächst
einmal eine ignoratio elenchi, welcher wir bei Fischer (unten S. 301) noch
einmal begegnen werden; vgl. Quäbiker in den Phil. Mon. IV, 410. Cohen
in der Zeitschr. f. V. 7, 259. Denn es handelt sich ja nicht darum, dass
K. die Unmöglichkeit eines realen Raumes bewiesen habe, oder habe be-
weisen wollen, sondern ob er die Unvereinbarkeit der Apriorität und der
Realität des Raumes nachgewiesen habe. Dies ist das punctum quciestionisl
(Vgl. Trend. Beitr. 3, 246.)
Die Fischer'sche Stelle enthält aber noch einen weiteren Fehler, näm-
lich nichts weniger als eine Petitio principii, Fischer sagt, dass, wenn der
Raum etwas Reales wäre, er uns „nur durch Erfahrung gegeben sein könnte'^
In dieser harmlosen Folgerung steckt ja eben die bestrittene Voraussetzung,
welche Fischer auch S. 176 — 178 mehrfach ebenso harmlos wiederholt,
indem er ausführt: wenn es einen realen Raum gebe, könnte die An-
schauung des Raumes nur empirisch entstehen ; denn es könne nur Einen
Originalraum geben , entweder nur einen apriorischen oder einen realen,
nicht aber zwei zugleich (vgl. oben sub II). Wenn der Raum etwas
Reales an sich ist, kann er (resp. seine Vorstellung) ja trotzdem zu-
gleich auch eine apriorische Anschauung sein — genau so, wie er, wenn er
(resp. seine Vorstellung) auch eine apriorische Anschauung ist, trotzdem
zugleich etwas Reales an sich sein kann, d. h. es kann jener apriorischen
Raumvorstellung ein realer Raum an sich entsprechen. Diesen Sachver-
halt hat schon Trend. (Beitr. 3, 243 — 246) richtig eingesehen , wenn auch
mangelhaft dargestellt. Richtig bemerkt auch Bratuschek (Phil. Mon. V,
292 f.): „Die Lücke in der Kantischen Beweisführung findet sich in der
Fischer'schen Reproduktion somit einfach wiederholt." Vgl. Quäbiker,
Phil. Mon. IV, 240. Schlötel 87.
294 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Uod dieselbe Argumentation gilt auch gegen die zweite Hälfte der
Fischer*schen Stelle: die mathematischen Einsichten würden zu Erfalirungs-
urtheilen, oder wie Fischer S. 177 pathetisch ausruft: „Wo bleibt noch die
Möglichkeit der reinen Mathematik?*'. Es ist dies nicht im mindesten noth-
wendig ; gibt es auch einen realen Kaum an sich , so kann es doch auch
zugleich eine entsprechende apriorische Vorstellung desselben geben, ans wel-
cher sämmtliche mathematische Sätze a priori abgeleitet werden können, was
auch Trend. (Beitr. 3, 246. cfr. 228) selbst richtig gegen F. bemerkt hat
Vgl. dazu oben S. 271. Vgl. auch Volkelt 60.
IV. Aber nicht bloss die Möglichkeit der reinen, sondern auch die
der angewandten Mathematik wird von Fischer gegen Trend, zum Zeug-
niss eingeführt. „Wenn also/' heisst es Log. u. Met. 178, „aus Raam und
Zeit als blosser Anschauung die Apriorität der [reinen] Mathematik sich
rechtfertigt, so wird aus demselben Grunde die objective Geltung der
Mathematik so wenig beeinträchtigt oder in Frage gestellt, dass sie viel-
mehr erst dadurch erklärt und gesichert wird.*' Es bezieht sich dies aaf
Trs. Angriff (Log. Unt. 2. A. 160): „Indem K. durch das Apriori von R.
u. Z. die Frage, wie eine reine Mathem. möglich sei, beantwortet, also die
reine Mathem. erklärt, versperrt er, das Apriori zu einem nur sabjec-
ti ven machend, der Erklärung der angewandten Mathematik den Weg.'*
(Eine weitere Ausführung davon gibt Trend, in der 3. Aufl. der Log.
Unters. I, 311. Vgl. dagegen Arnoldt, B. u. Z. 90 ff.) In der Gesch. d.
Philos. III, 2. A. Vorr. V, heisst es weiter bei Fischer: „Es ist keineswegs
richtig, dass nach K. Baum und Zeit nur subjectiv seien in einem die Ob-
jectivität ausschliessenden Sinn ; es ist ebenso unrichtig, dass K. sich die Er-
klärung der angewandten Mathematik versperrt habe, da er ja gerade diese
Erklärung in dem ersten mathematischen Grundsatz des reinen Verstandes
ausdrücklich gegeben haben will. Er sagt von dem Axiom der Anschauung
(A 164): Dieser Grundsatz ist es allein, welcher die reine Mathematik in
ihrer ganzen Präcision auf Gegenstände der Erfahrung möglich macht. ^'
Fischer hätte nicht so weit zu greifen gebraucht, um diese Lehre bei Kant
zu finden ; sie ist^ wie wir sahen (S. 282 f.), schon in der Aesthetik da, was
freilich K. selbst durch seine schiefe Formulirung seiner ersten Hauptfrage
selbst verdeckt hat.
Ob Trend, hiedurch geschlagen sei, diese Frage haben wir schon
oben (S. 272) aufgeworfen. Es scheint so (auch hat es Arnoldt, R. a.
Z. 36 behauptet), aber es scheint auch nur so. Denn mit dem Aus-
druck der objectiven Geltung wird . hier von F, dasselbe Spiel getrieben, wie
oben (S. 291 f.). Nicht um die objective Geltung für die Erscheinungen han-
delt es sich, sondern um diejenige für die Dinge an sich. Das hatte Trend,
auch gesagt in den Log. Unt. 2. A. 160 ff.: „Es ist der spannende Nerv
in allem Erkennen , dass wir das Ding erreichen wollen , wie es ist ; wir
wollen das Ding, nicht uns.*' Nach Kants Ansicht aber ist die Mathematik
nicht von den Dingen an sich gültig, sie gibt uns keine Erkenntniss der
Dinge an sich und ihrer Verhältnisse; ihre Anwendung auf die Dinge an
r
Der Kampf um die Mathematik. Ai-noldt greift ein. 295
sich ist uns allerdings versperrt. Diese ist nach Tr. nur dann garantirt, wenn
dem apriorischen Raum in uns ein realer Raum entspricht ^ Dies ist auch
ein ganz berechtigter Gedanke, nur hätte Tr., was er meint, deutlicher sagen
müssen. Er hat es nämlich dadurch undeutlich gemacht, dass er einen
zweiten, an sich richtigen Gedankengang dazwischen hineinschiebt. Er will
nämlich auch beweisen, dass auch das, was Kant auf dem Boden seiner idea-
listischen Theorie „Anwendung der Mathematik" heisst, nämlich auf Er-
scheinungen, unmöglich ist. (Vgl. dazu Beitr. 3, 217, 223, 246.)
Kant würde sagen, meint Trend., nicht die Dinge, sondern nur die
Erscheinungen braucht die Mathematik in ihren Gesetzen aufzufassen. „Wir
nehmen diese Berichtigung auf und gehen in sie ein. Die Dinge werden
Erscheinungen, indem sie die Sinne afficiren und in uns Vorstellungen wecken,
und dies geschieht, indem der Geist sie in seine Formen, in R. u. Z. fasst . . .
Wären nun R. u. Z. nur Formen des subjectiven Geistes, so könnte die
Mathematik nur das erfassen, was an den Erscheinungen unser eigenes Er-
kenntnissvermögen aus sich hergibt [die Form], aber die andere Hälfte der
Erscheinung [die Materie] müsste sie unberührt lassen; es wäre also ange-
wandte Mathematik, welche doch nur dadurch die Erscheinung begreifen
und zum Gehorsam bestimmen könnte, dass sie in ihr beide Elemente er-
fasste, unmöglich. Indem die Dinge zu Erscheinungen werden, folgen sie
den Gesetzen von R. u. Z., und indem sie sich in R. u. Z. fassen lassen,
muss dies ihrer eigenen Natur nach möglich sein. Es wäre nicht denkbar,
dass sie mit den Formen von R. u. Z. eine Gemeinschaft eingehen, wenn sie
nicht selbst in irgend einer Weise an R. u. Z. Theil hätten." (Vgl. oben
S. 182.) Auch gegen diese Argumentation lässt sich sachlich nichts Stich-
haltiges vorbringen, wenn man auch mit Arnoldt, R. u. Z. 84—89 mit
Recht in der Wiedergabe der Kantischen Theorie die strenge Kanticität des
Ausdruckes vermisst. Vgl. auch Grapengiesser 42—45. Tiebe 5 — 6. 9 — 10.
V. Mit dem vorigen Argument hängt nun der Einwand zusammen,
welchen Arnoldt (unabhängig von Fischer) erhoben hat und welcher den
Kern seiner Abhandlung bildet : „Kants transscendentale Idealität des Raumes
und der Zeit. Für Kant gegen Trendelenburg.' ^ In diesem äusserst schwer-
fälligen und schwerverständlichen Opus kehrt in den mannigfachsten Varia-
tionen folgender (bes. S. 25 — 32 ausgeführter) Grundgedanke wieder (derselbe
findet sich auch bei Grapengiesser S. 22 und Cohen, 2. A. 161 ff.): Trend,
hat Kants Schluss auf die Idealität unrichtig dargestellt; Kant schloss
nicht, wie Trendelenburg ihn schliessen lässt: „Raum und Zeit sind
a pripri, weil noth wendig und allgemein, und wenn a priori, sind sie sub-
jectiv, also nur subjeetiv;'* sondern Kant schloss nach Arnoldt in
Wirklichkeit folgendermassen: „R. u. Z. sind a priori, weil nothwen-
* Eine nicht besonders geschickte Wendung hat Ueberweg (Logik § 44)
diesem Gedanken gegeben, indem er das Newton'sche Gravitationsgesetz gegen die
Idealität des Raumes ins Feld führt. Liebmann, Anal. d. Wirk. 64 ff. hat diese
Wendung treffend widerlegt.
296 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
dig und allgemein, und sie sind, obwohl a priori, dennoch objectiv gültig,
wenn transscendentaHdeal, wenn nur subjectiv;'^ d. h. trotz ihrer Apriorität
haben R. u. Z. objective Gültigkeit für die Erscheinungen, aber nur dann,
wenn sie keine Gültigkeit haben für die Dinge an sich.
Kant hat allerdings so geschlossen, und zwar, wie wir gesehen haben,
in der Transsc. Erörterung, oder vielmehr besser: in dem dritten Absatz
derselben (vgl. oben S. 268 f.). Richtig ist auch, dass Trend, diese Schlussweise
Kants nicht erkannt hat (vgl. oben S. 271). Aber richtig ist eben auch, dass
Kant selbst diese seine Schlussweise verdeckt hat durch seine beständige Ver-
wechslung der Frage nach der reinen und der angewandten Mathematik,
so dass man es Trend, nicht übel zu nehmen braucht, dass er jene Stelle
nicht richtig ausgelegt hat, zumal dasselbe auch von K. Fischer gilt.
Ist es somit unrichtig, diesen Fehler Trs. zu einem Capital verbrechen
desselben zu machen, so ist es doppelt und dreifach unrichtig von Arnoldt, diese
Schlussweise Kants gegen Trs. Vorwurf der „Lücke" als angeblichen Gegen-
beweis ins Feld zu führen. Denn erstens, was das Sachliche betrifft, so
schliesst die Gültigkeit jener Anschauungsformen für die Erscheinungen deren
absolute Realität im Gebiet der (nach Kant selbst ja unbekannten) Dinge
an sich doch nicht im geringsten aus. Man mag mit Arnoldt dieser An-
sicht das Prädicat der „Seltsamkeit" geben, aber logisch unmöglich ist die*
selbe nicht im geringsten, und damit bleibt eben die „Lücke". Dazu kommt
zweitens, dass Trend, an den oben sub IV erörterten Stellen jenen Gedanken-
gang Kants doch de facto berücksichtigt hat. Drittens schliesst ja der um-
stand, dass Kant in der Transsc. Efört. jene von Arnoldt vertretene
Schlussweise einschlägt, nicht im geringsten aus, dass er an einer anderen
Stelle, also an der von uns hier besprochenen, im Schluss a jene von
Trendelenburg vertretene Sohlussweise hat.
Das leugnet nun freilich Arnoldt und behauptet, auch in diesem
„Schluss a" schliesse Kant nach seiner, Arnoidts, Weise, nicht nach Tren-
delen burg*scher Manier. Das muss nun ausgemacht werden, denn jene
beiden Schlussweisen, die Trendelenburg'sche und die Arnoldt'sche, sind total
verschiedener Natur; und es muss das auch ausgemacht werden können,
wenn überhaupt eine Kant-Interpretation als wissenschaftliche Methode existirt.
Es ist leicht nachzuweisen, dass Arnoldt sich geirrt hat; und es ist
auch leicht nachzuweisen, wie er zu seinem Irrthum gekommen ist. Arnoldt
hat, wie wir gesehen haben (S. 271), den 3. Absatz der Transsc. Erörterung
richtig ausgelegt, aber er thut unrecht daran, den dort aufgefundenen Be-
weis Kants auf diese Stelle hier zu übertragen. Er sagt S. 123: „Nach der
Transsc Erörterung zieht Kant die Schlüsse aus obigen Begriffen und
stellt in dem ersten Schlüsse unter Nr. a das negative Ergebniss fest, das,
was der Raum nicht ist. Andeutend reproducirt er dabei, wenn man will,
den ganzen [eben in der Transsc. Erörterung enthaltenen] Beweis für die
Transsc. Idealität des Raumes", der also eben auf der objectiven Gültigkeit
der Geometrie für die Erscheinungsobjeete beruhe. Hier ist aber Arnoldt
ein sehr fataler Fehler begegnet: ,, Schlüsse aus obigen Begriffen" — so hiess
Arnoldt kämpft fQr Kant mit Missverständnissen. 297
es schon in der ersten Auflage, in welcher die ganze Transsc. Erörterung
noch gar nicht stand ! Also bezieht sich die Wendung ,ySchlüsse aus obigen
Begriffen'* auch gar nicht auf dieselbe, sondern nur auf die speciellen Raum-
beweise. Nun war allerdings in der 1. Auflage unter diesen, sub N. 3,
auch die Aprioritftt der Geometrie eingeführt worden, aber man erinnert
sich (vgl. oben S. 202 u. S. 265), dass es sich da eben nur um die Apriorität
der reinen Mathematik als solcher handeln konnte, nicht um deren objec-
tive Gültigkeit für die Erscheinungen, wie im 3. Abs. der Transsc. Erörte-
rung. Also kann auch dieses letztere Argument nicht als eine schon vorher
verhandelte Vorbedingung des Schlusses a gelten, und Trendelenbbrgs Aus-
legung (Beitr. 3, 230) bleibt so schliesslich doch in Ehren: „Wenn die Thesis,
dass der Raum keine Eigenschaft vorstelle, welche an den Dingen selbst
haftet, als Schluss aus dem Vorangehenden betrachtet werden soll, so geht
der Beweis dahin, dass der Raum nur subjectiv sei, weil er a priori
ist, und die Kraft dieses Argumentes bestreiten die Log. Unters., weil es
eine Lücke enthält; denn die Möglichkeit, dass das apriori, im Geiste sub-
jectiv, doch zugleich objective Geltung [für die Dinge an sich] habe, ist
ausser Acht gelassen.'*
Es ist aber noch ein anderer Gegengrund gegen Arnoidts Auffassung
geltend zu machen: das Argument, welches er im Schlüsse a finden will,
findet sich allerdings hier, aber nicht im Schluss a, sondern ganz deutlichst
im Schlüsse b. Es ist somit äusserst unwahrscheinlich, dass auch der Schluss a
dasselbe Argument enthalten werde. Dazu kommt, dass dieser Gedanke
— die objective Gültigkeit der Mathematik für die Erscheinungsobjecte — von
Kant weder dort im Schluss b, noch überhaupt in diesem Zusammenhang
als ein Beweismoment eingeführt wird, wie das doch Arnoldt haben will.
Damit hat aber Arnoldt den ganzen Gedankengang der Aesthetik ihrem
methodischen Zusammenhange nach gänzlich verkannt, worüber gleich nach-
her beim , Schlüsse b** ausführlich zu sprechen ist.
Was so durch Berücksichtigung der vorhergehenden und nachfolgenden
Stellen gewonnen ist, das wird durch eine Analyse der vorliegenden Stelle
selbst bestätigt. Es handelt sich dabei vor Allem um die Auslegung der
Worte Kants: „Denn weder absolute noch relative Bestimmungen
können vor dem Dasein der Dinge, welchen sie zukommen, mit-
hin nicht a priori angeschaut werden. '^ Der Sinn des Satzes erhellt
aus unserer oben (S. 288) gegebenen Analyse: Was wir a priori anschauen
können, das kann nicht den Dingen an sich angehören, sondern — dies ist
natürlich zu ergänzen (vgl. oben S. 288 und Arnoldt 109) — nur den Erschei-
nungen (Obers atz). Weil nun eben der Raum — so schliesst Kant weiter — a
priori angeschaut werden kann (Untersatz), kann er nicht den Dingen,
sondern muss nur den Erscheinungen angehören (Schlusssatz). Dass der
Raum eine Anschauung a priori sei, wurde vorher bewiesen; natürlich nur
eine Anschauung a priori in dem Sinne der 4 speciellen Raumbeweise, dass
er eben eine von der Erfahrung unabhängige anschauliche Vorstellung sei.
Arnoldt aber meint (S. 115. 119. 122. 123), der Terminus: Anschauung
298 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
a priori in den Prämissen habe schon die tiefere Bedeutung, dass die Raam-
yorstellung die objectiv-gültige Anschauungsform fär die Erscheinungen sei;
und er findet (S. 25 — 32) sogar darin die Quelle des Trendelenburg'schen Miss-
Verständnisses, dass derselbe nicht die (von uns oben S. 273. 279 besprochene)
Unterscheidung des Raumes als apriorischer Vorstellung und apriori-
scher objectiv-gültiger Anschauung gemacht habe. Diese Unter-
scheidung ist, wie wir sahen, sachlich richtig, aber an dieser Stelle handelt
es sich, dem Wortlaut und dem Zusammenhang nach, nur darum, dass der
Raum eine von der Erfahrung unabhängige anschauliche Vorstellung sei.
Nur so viel kann der Untersatz sagen; man mische doch nicht den 3. Ab-
satz der Transsc. Erörterungen hinein, sondern vergegenwärtige sich, dass
der Schluss a ja geschrieben war, ehe die Transsc. Erörterung bestand, dass
Anschauung a priori — der Terminus medius — also nur in dem durch
die speciellen Raumbeweise festgesetzten Sinne verstanden sein kann. Dass
die Anschauung a priori in diesem Sinne auch zugleich eine subjective An-
schauungsform in jenem weittragenden Sinne sei, das kann hier noch nicht
mitenthalten sein, weil es ja erst bewiesen werden muss ; dieser Beweis soll
ja erst jetzt geliefert werden. Diesen Beweis haben wir aber in dem hier
im Schluss a von Kant entwickelten Gedanken, dass eine Vorstellung, welche
wir a priori vor allem Dasein der Dinge in uns antreffen, keinen wahren
Realitätswerth haben kann, dass sie sich nicht auf Dinge an sich beziehen
kann, dass sie, wie daraus folgt und im Schluss b auch wirklich gefolgert
wird, sich nur auf Erscheinungen beziehen kann. Es ist also eine vollständige
ignoratio elenchij welche wir Arnoldt vorwerfen müssen, obgleich derselbe
noch vor Kurzem (Altpr. Monatsschr. 1888, XXV, S. 21. 47) seine Dar-
legungen von 1870 für „unwiderleglich** erklärt hat. (Derselbe Fehler
bei Paulsen, Entw. 189, sowie bes. bei Cohen, Erf. 2. A. 163. 171. Ebenso
bei Caird, Phil of Kant 258 ff., und Cnt. Phil, of Kant I, 306 ff., Masci,
Polemica 68—80.)
Der Vollständigkeit halber ist hier noch folgendes zu bemerken:
wir haben oben (wie auch oben S. 288) zu dem negativen Obersatz Kants
— objective Bestimmungen der Dinge lassen sich nicht a priori anschauen
— die positive Ergänzung hinzugefugt: sondern nur subjective. Man
könnte den Satz auch in anderer Weise ergänzen: objective Bestimmungen
der Dinge lassen sich nicht a priori anschauen, sondern nur a posteriori.
Diese Ergänzung ist an sich nicht unlogisch, aber in diesem Zusammenhange
hier wenigstens nicht von Bedeutung. Deshalb sind auch die Einwinde
Trendelenburgs (Beitr. 3, 229) gegen diese Wendung ohne Bedeutung; er
sagt: „Dieser Satz ist gesetzt, aber weder bewiesen, noch leuchtet er wie
ein Grundsatz aus sich ein; er gehört zu solchen in Kants Kritik, weiche
aus der gewöhnlichen Betrachtungsweise des Empirismus stillschweigend
entlehnt sind. Aber selbst dieser kann man seine Schwäche klar machen.
Allem Dasein der Dinge gehen Bedingungen voran , welche auch vor dem
Dasein der Dinge können erkannt werden, das Eisen z. B. vor dem Seh wert,
dem es als Bestimmung zukommt. Nichts hindert daher, dass B. u. Z. als
Der Kantiäche Beweis ist nicht mehr zu retten. 299
solche Bedingungen vor dem Dasein der Dinge, welchen sie . . . zukommen,
a priori können angeschaut werden.^ Allerdings beginnt Kant den § 9 der
Prolegomena (vgl. über denselben auch Massonius, Aesth. 28 flF. Vgl. auch
oben S. 277) mit den Worten: „Müsste unsere Anschauung von der Art sein,
dass sie Dinge vorstellte, so wie sie an sich selbst sind, so würde gar keine
Anschauung a priori stattfinden, sondern sie wäre allemal empirisch. Denn
was in dem Gegenstande an sich selbst enthalten sei, kann ich nur wissen,
wenn er mir gegenwärtig und gegeben ist.^ Aber Kant föhrt dann foi*t:
„Freilich ist es mir auch alsdann unbegreiflich, wie die Anschauung einer
gegenwäiügen Sache mir diese sollte zu erkennen geben, wie sie an sich ist,
da ihre Eigenschaften nicht in meine Vorstellungskraft hinüberwandern
können ; allein die Möglichkeit davon eingeräumt, so würde doch dergleichen
Anschauung nicht a priori stattfinden, d. i. ehe mir noch der Gegenstand
vorgestellt würde." Diese Möglichkeit ist also für Kant selbst doch eine Un-
möglichkeit, üebrigens hat auch Arnoldt 104 — 117 ^egen Trend,, freilich in
seiner Weise, schon polemisirt, ebenso Grapengiesser S. 22—25. Vgl.
dagegen auch Bergmann, Phil. Mon. V, 276 f. Cohen, Erf. 1. A. 77—79.
2. A. 171. . Bejersdorff, Die Raumvorstellungen, 8. 54. Indessen ist
hervorzuheben, dass dieses Missverständniss Trendelenburgs an der Richtig-
keit seines Einwurfes bezüglich der „ Lücke ** nicht das Geringste ändert.
Wir haben gesehen, dass die fünf von Fischer und Arnoldt vorgebrachten
Gründe die Scblussgerechtigkeit der Kant'schen Argumentation nicht zu
stützen im Stande waren \ Im Gegentheil! immer deutlicher wurde unsere
^ Man könnte versucht sein, noch folgenden Weg zur Rettung des Kantischen
Beweises einzuschlagen: Kants eigentliche Tendenz in seinen 4 — 5 Raumargumenten
sei nicht auf die Raumvorstellung, sondern auf den Raum selbst gegangen;
nicht von jener habe er zeigen wollen, dass sie als apriorische und anschauliche
Vorstellung zu charakterisiren sei, sondern von dem Raum selbst habe er beweisen
wollen, dass er immer nur als eine Anschauung a priori zu denken sei; d. h.
wenn ich das, was wir Raum nennen, untersuche, finde ich, dass es eben nur eine
Anschauung a priori sein kann, etwa ebenso, wie ich, wenn ich das, was wir Farbe
nennen, untersuche, finde, dass es eben nur subjectiv ist. Würde nun Jemand
doch wieder etwa die Dinge selbst als räumlich fassen wollen, so würde man ihm
einfach sagen, dass genau dieselbe Argumentation auch diesen Raum treffen würde :
auch er würde doch wieder nur Anschauung a priori sein können, und so in in-
finitum. — Wenn dies die Meinung Kants gewesen sein sollte — und manche
Stellen bei den Kantianern (so bei Arnoldt, Cohen, Fischer, F. A. Lange, Riehl u. A.)
klingen so — , dann würde damit der Kantischen Argumentation doch nicht auf-
geholfen werden können. Denn dann stäke der Fehler in den 4-5 Raumargu-
menten selbst: dann würde eben in denselben das, was man immer nur von
unserer Vorstellung des Raumes beweisen kann, nämlich, dass sie Anschauung
a priori sei, auf denRaum selbst übertragen. ^- Es könnten nun die Kantianer
einwenden, darin bestehe eben die Natur alles Räumlichen, immer nur Vorstellung
zu sein ; man könne daher eben nicht mehr zwischen der Vorstellung des Raumes
und dem Räume unterscheiden, Raum sei eben immer nur Vorstellung ; es sei das
ähnlich wie bei der Farbe; man könne nicht zwischen Vorstellung der Farbe und
300 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Erkenntniss, dass Kants Argumentation an der vorliegenden Stelle eine Lücke
hat, dass an ihr ein „Sprung" vorliegt, wie auch Thiele in seiner Dissertation
über die Synth. Urth. a priori S. 36 zugibt. Dies ist bewiesen, aber weiter
ist auch nicht bewiesen. Nun erhebt sich die Frage: hat Kant nicht an
anderen Stellen jene Lücke ausgefüllt? Nach Trendelenburg: Nein! Sollte
er diese Lücke am Ende wirklich ganz und gar übersehen haben? Nach
Trendelenburg: Ja! Dieser Theil seines Angriffe ist also noch zu untersuchen.
Auch hierauf haben die Vorkämpfer Kants Antwort gewusst.
Fischer führt aus (Log. u. Met. 2. A. 178 f.; vgl. Gesch. III, Vorr. VI):
„Die Log. Unt. behaupten, um kantisch zu reden, die transscendentale Realit&t
in R. und Z., d. h. dass sie unabhängig von aller Anschauung Objecto an
sich sind. Auch diese Vorstellungsweise hat K. so wenig übersehen, dass
er vielmehr ihre Unmöglichkeit von allen Seiten dargethan und erleuchtet
hat, direct und indirect, und nicht bloss in der transsc. Aesthetik. Aus dieser
Vorstellungsweise fliess^ die Antinomien, die unmöglichen Weltbegriffe.
Darum erklärt K. ausdrücklich die Antinomien für einen indirecten Beweis
der Aesthetik: sie beweisen, dass R. und Z. blosse Anschauungen sein müssen,
weil sie unmöglich Objecte an sich sein können. Und ebenso lässt er die
Möglichkeit der Freiheit, worauf seine Sittenlehre beruht, für die Tr. Aesthetik
zeugen . . . wäre die Zeit nicht blosse Anschauung .... so wäre jede Art
der Freiheit unmöglich. Und ebenso lässt K. die unendliche Theilbarkeit der
Materie für die Tr. Aesthetik zeugen. . . . Die Freiheit beweist, dass die Zeit
blosse Erscheinungsform (Anschauung) ist. Die Materie beweist dasselbe
vom Raum. Wie also konnten die Log. Unters, die Beweise, dass Baum
und Zeit blosse Anschauungen seien, in der Kantischen Kritik vermissen,
als ob sie hier gar nicht vorhanden wären? Sie sind vorhanden in der
Tr. Aesthetik, in der Widerlegung der rationalen Kosmologie, in den met
Anf. der Naturwissenschaft, in der Kr. d. prakt. Vernunft."
der Farbe selbst unterscheiden, Farbe sei eben immer nur Vorstellung, niemals
etwas Objectives, und so auch der Raum; das eben habe Kant beweisen wollen
und deshalb habe auch der Beweis der Subjectivität des Raumes keine Lücke. —
Darauf wäre aber zu erwidern, dass dann auch im günstigsten Falle, wie bei der
Farbe, nur geschlossen werden könnte : Alles, was wir Raum heissen, ist als solches
subjectiv, wie alles, was wir Farbe heissen, Als solches subjectiv ist Aber wie der
subjectiven Farbe gewisse objective Verhältnisse zu Grunde liegen, so müssen auch
dem subjectiven Räume gewisse objective Beziehungen der Dinge an sich zu Grunde
liegen, und damit kommen wir auf die Leibniz-Herbart-Lotze^sche Metaphysik. —
Aber Kants Beweis verläuft gar nicht in dieser eben angenommenen Form, und
hat gar nicht die ihr eben zugeschriebene und geliehene Tendenz. Kant will die
, Vorstellung des Raumes" als ^a priori gegeben** darstellen im Gegensatz zu
der aposteriorischen Vorstellung, besonders zum Zweck der Erklärung der Apriorität
der reinen Mathematik; Kant müsste seinen ganzen rationalistischen Apriorismus
erst aufgeben, ehe er jenen Gedankengang einschlüge, der ja zudem den Raum
mit den Sinnesqualitäten in Eine Linie stellt, was Kant ausdrücklich von sich
ablehnt.
Fischer führt vergeblich die Antinomien ins Feld. 301
•
Der Kern dieser Vertheidigung steckt in dem Hinweis auf die Anti-
nomien. Die Vertheidigung ist auf den ersten Anblick sehr bestechend,
verfehlt aber doch gerade die Hauptsache. Der Angriff Trs. steckt nämlich in
folgender kurzen Argumentation: Kant schliesst aus der Apriorität der Raum-
anschauung auf deren ausschliessliche Subjectivität, d. h. auf deren Idealität;
dieser Beweis zieht aber aus einer richtigen Voraussetzung (Aprioriät des
Raumes) eine falsche Consequenz (dessen Idealität); denn mit der Apriorität
der Raumvorstellung ist auch die Realität eines Raumes an sich ganz gut
verträglich. Hier habe also ,, Kants Beweis von der ausschliessenden Sub-
jectivität des Raumes und der Zeit eine Lücke'* — wie der Titel des Auf-
satzes in den Beiträgen lautet. Diese ,,Lücke" wäre eben nur dadurch
auszufüllen, dass Kant nachwiese, dass aus der Apriorität der Raumvorstel-
lung die Idealität des Raumes absolut nothwendig folgte, resp. dass die
Apriorität der Raumvorstellung sich mit der Realität des Raumes absolut
nicht verträgt. Einen solchen Nachweis geben aber die Antimonien nicht,
und können ihn auch gar nicht geben, weil sie ihn überhaupt ihrer ganzen
Bestimmung nach nicht geben wollen. Sondern was wollen sie? Sie wollen
zeigen, dass die Annahme der Realität der Raum- und Zeitwelt auf Wider-
sprüche führen, dass daher der Welt in Raum und Zeit nur Idealität zuzu-
schreiben sei. Wir haben also in den Antinomien allerdings einen neuen
Beweis für die Idealität von R. und Z. ; in diesem Sinne also, auch eine Er-
gänzung des in der Tr. Aesthetik gegebenen Beweises; aber diese Ergänzung
besteht in einem neuen (indirecten) Beweis, nicht in einer Aufbesserung
jenes als unzulänglich erkannten directen Beweises. Diese beiden Dinge hat
K. Fischer verwechselt. Kant hat natürlich daran gedacht, dass R. und Z.
objectiv sein könnten, und der Widerlegung dieser Annahme ist ja ein grosser
Theil seines Kritidsmus, sind auch die Antinomien gewidmet. Ja schon in
der Aesthetik selbst A 39 ff., wo K. gegen Newtons und Leibniz' Raum-
theorie polemisirt, wird von ihm die Annahme der Objectivität des Raumes
widerlegt. Aber K. hat allerdings nicht daran gedacht; dass der in der
Aesthetik im Schluss a hiefür gegebene und zugleich als YoUstKndig aus-
gegebene Beweis — aus der Apriorität der Raumanschauung — als solcher
ganz unzulänglich ist, da diese Apriorität der Raumanschauung die Realität
eines Raumes an sich nicht im geringsten logisch ausschliesst, wie Kant
eben an dieser Stelle stillschweigend angenommen hat. (Vgl. hiezu Bratn-
schek in den Philos. Mon. V, 291—297 und bes. Volkelt 66—68. Ganz
irrig ist Lotze's Meinung, Metaph. S. 201, K. habe in der Aesth. nur die
Apriorität, noch nicht die exclusive Subjectivität des Raumes beweisen
wollen.)
Man wende also auch nicht etwa ein, Kant habe jene Trendelenburg-
sehe Möglichkeit von seinem Standpunkte aus gar nicht zu berücksichtigen
gehabt, da ja bei der Annahme, der Raum sei neben seiner Apriorität in
uns auch noch objectiv real, alle jene Schwierigkeiten sich wiederholen
würden, welche er in seiner Antinomienlehre eben habe vermeiden wollen.
Nicht darum handelt es sich, ob die Annahme der Objectivität des Raumes
302 Excurs. Der Trendelenburg-Pischer'sche Streit.
selbst anf innere Widersprüche führe, sondern ob die Annahme der Objectivitftt
mit der Annahme der Aprioritftt der Raumvorsteilnng im Widerspruch stehe?
Man kann nur sagen, dass Kant, welcher ja, nach B. Erdmann, ursprünglich
hauptsächlich durch die Antinomien auf seinen Idealismus gebracht worden
ist, eben aus diesem Grunde von der Richtigkeit und Nothwendigkeit des-
selben so innerlich durchdrungen war, dass er die Annahme der Objeetivität
des Raumes gar keiner Beachtung mehr würdigte. Diese Entschuldigung
gilt aber nur vom historischen Gesichtspunkte aus, sachlich bleibt doch
der Vorwurf, dass die systematische Darstellung seiner Lehre hier eine
Lücke zeigt, welche Kant nur durch einen Sprung überbrückt.
Trendelenburg ist somit in dieser Richtung gerechtfertigt. Aber was
er in diesem Punkte gegen Fischer zu seiner Rechtfertigung selbst vorgebracht
hat (Beitr. 3, 281 — 240 ; Entgegnung 6 — 8), ist logisch schwach und unklar;
in der Hitze und Aufregung des Streites fiel ihm der Ariadnefaden durch
das verworrene Labyrinth von Bede und Gegenrede selbst aus der Hand;
er liess sich des Weiteren und Breiteren darauf ein, zu beweisen, 1) dass
die Kant'schen Antinomien überhaupt keine wahren Antinomien seien, 2) dass,
wenn sie es wären, sie nicht dadurch gelöst würden, dass Raum und Zeit
nur subjectiver Art seien. Darauf aber kommt es ja bei der ganzen Frage
gar nicht an, und nur zum Schluss berührt er, wie im Yorüberfluge, die
eigentliche Hauptsache: „Wir gewinnen an sich aus dem indirecten Beweise,
der durch die Auflösung der Antinomien soll geführt sein, nichts Neues,
das den Beweis der Transsc. Aesthetik ergänzte [richtiger „verbesserte"]:
Raum und Zeit haben einen Ursprung a priori ; also sind sie subjectiv, nur
subjeetiv."
Eine weitere Wendung zu Gunsten Kants ist folgende bei Fischer
(Log. und Met. 175): „In seiner letzten vorkritischen Schrift vom ersten
Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum hat Kant den R. als ur-
sprüngliche Anschauung und zugleich als ursprüngliche Realität behauptet.
Diese Vorstellungsweise also war dem Geiste Kants keineswegs fremd." Es
fragt sich zunächst, ob diese Auffassung jener Schrift (deren entwicklungs-
geschichtliche Bedeutung unten zu A 39 zu behandeln ist) die richtige ist.
Trend, hat sie bestritten (Beitr. 246 — 248), Fischer sie aufrechterhalten
(Gesch. ni, 263—265, 3. Aufl. 282). Gegen die Fischer'sche Wiedergabe
des Gedankenganges dieser Schrift lässt sich zwar viel einwenden; aber, so-
weit die halben, fragmentarischen Andeutungen Kants überhaupt zu ver-
stehen sind, scheint er allerdings an etwas Aehnliches gedacht zu haben.
Er spricht erstens von der ,, eigenen Realität^' des „absoluten und ursprüng-
lichen Raumes*', und dann heisst es zweitens am Schluss: „Der absolute Raum
ist kein Gegenstand einer äusseren Empfindung, sondern ein Grundbegriff,
der also dieselbe erst möglich macht.*' Dass der Ausdruck „Begriff" hier
im weiteren Sinne = Vorstellung zu nehmen ist, und keine Instanz gegen
die Anschauungsnatur des Raumes ist, hat F. richtig gegen Tr. dargethan.
Tr. hat auch nichts mehr darauf erwidert, was ihm Fischer, Anti-Tr. 46
triumphirend vorhält. Es scheint somit allerdings, dass Kant damals zugleich
Die Schrift von 1768. Die ProUg<mAna, 303
die Apriorität der Ranmvorstellung und die Bealität des Kaumeß an sich
angenommen habe.
Damit w&ren wir dem Kern der Frage schon näher gekommen. Kant
hätte denn doch irgendeinmal wirklich an jene Möglichkeit gedacht und sie
selbst sogar yorübergehend angenommen. Aber abgesehen davon, dass jene
Auslegung der Schrift von 1768 unsicher ist, so würde die Schwere des
Trendelenburg'schen Vorwurfes ja dadurch nur noch grösser werden ^ Denn
wenn Kant jene Möglichkeit selbst einmal aufgestellt hat, warum schlüpft
er über dieselbe hier in der Kr. d. r. V. mit so verdächtigem Stillschweigen
hinweg? Wussteer vielleicht keinen stichhaltigen Einwand gegen jene Theorie?
Oder entspringt das Stillschweigen aus einer Vergesslichkeit , welche das
schwierigste Problem auf die leichte Achsel nimmt?
Hier kommt nun Arnoldt seinem Meister Kant mit sehr beachtens-
werthen Gründen zu Hülfe. Er gibt, wenn auch widerwillig, S. 37 — 39 die
Trendelenburg'sche Möglichkeit zu, dass der apriorischen Baumanschauung
doch ein absolut realer Raum entsprechen könnte. Er nennt die Möglich-
keit eine „leere", er nennt diese Weltansicht eine „seltsame" — aber, immer-
hin er gibt sie (obgleich ihm die Frage von „untergeordneter Bedeutung"
erscheint S. 22; vgl. Paulsen 189) „für einen Augenblick" zu. Aber er
wendet vom Kant'schen Standpunkt dagegen ein, „dass jede Uebereinstim*
mung zwischen der menschlichen Erkenntniss von dem Gegenstande, den die
Anschauung a priori dai'stellt, und der — sei es, welchem Wesen es sei,
beizulegenden — Erkenntniss von dem anderen Gegenstande, welcher als dem
der apriorischen Anschauung entsprechend, und als wirklich da seiend ange-
nommen wird, aus einem vernunftgemässen Hergang nicht abzuleiten, und,
soll demnach eine Uebereinstimmung dieser Art Statt haben, nur als durch
übernatürliche Vermittlung hergestellt zu denken ist." A. beruft sich
hiefür auf § 8 und 9 der Prol, Er meint wohl die Fortsetzung jener oben
S. 277 angeführten Stelle, welche mit dem Gedanken schloss, dass eine An-
schauung von Gegenständen an sich nicht a priori stattfinden könne, „d. h.
ehe mir noch der Gegenstand vorgestellt würde; denn ohne das kann kein
Grund der Beziehung meiner Vorstellung auf ihn erdacht werden, sie
müsste denn auf Eingebung beruhen." Hier hat also Kant die Tren-
delenburg'sche Möglichkeit berücksichtigt und von seinem Standpunkt aus
beurtheilt und verurtheilt. (Vgl. dazu auch Massonius, Aesth. S. 30 flf. Vgl.
oben S. 277.)
Auf diese Stelle hatte übrigens schon Thiele in seiner Dissertation
über die Synthet. Urtheile a priori 1869, S. 36 f. hingewiesen; er hat auf
dieselbe in seinem Werke über die Int. Ansch. 197 wieder die Aufmerksam-
keit gelenkt und noch auf einige andere Stellen aus den Frolegomena , in
welchen Kant immer wieder hervorhebt, dass sich die Nothwendigkeit
der Uebereinstimmung zwischen apriorischer Baum Vorstellung und den
* Was Trend, selbst dagegen sagt (Beitr. 8, 246 ff.), ist schwach ; dasselbe
gilt von Bratuschek (Philos. Mon. V, 293. 295).
304 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
objectiven Dingen an sich eben auf keine Weise ausmachen Hesse. So weist
Kant darauf hin ProL § 13 Anm. I: da erwägt er den Fall, ,,dass die Sinne
die Objecto vorstellen, wie sie an sich sind''. In diesem Falle würde die
Nothwendigkeit der Uebereinstimmung der Dinge „mit dem Bilde,
das wir von uns selbst und zum Voraus von ihnen machen'', d. h. ^niit der
apriorischen Raumanschauung gar nicht eingesehen werden können". Vgl.
daselbst Anm. III, wonach es „unmöglich wäre, auszumachen, ob nicht
die Anschauungen von B. und Z., die wir von keiner Erfahrung entlehnen,
und die dennoch in unserer Vorstellung a priori liegen, blosse selbstgemachte
Hirngespinnste wären, denen gar kein Gegenstand, wenigstens nicht adäquat
correspondirte." Letztere Stelle auch bei Arnoldt 120.
Noch auf eine andere Stelle der Prolegotnena macht Cohen, Erf. 1. A. 73
(2. A. 162) aufmerksam. In der Anmerkung II hinter § 13 der Proleg, sagt
Kant von der Behauptung, dass die Vorstellung vom Räume dem Ob-
jecte völlig ähnlich sei — es sei dies „eine Behauptung, mit der ich
keinen Sinn verbinden kann, so wenig als dass die Empfindung des
Rothen mit der Eigenschaft des Zinnobers, der diese Empfindung in mir er-
regt, eine Aehnlichkeit habe''. Kant spricht in dieser Stelle zwar nicbi
ausdrücklich von der Apriorität der Raumvorstellung, die er ja im
Gegentheil hier mit den empirischen Sinnesqualitäten zusammenwirft, wird
aber doch wohl eigentlich an die Möglichkeit, dass der apriorischen
Raumvorstöllung ein ähnliches Object entspreche, gedacht haben \ Vgl.
auch E. V. Hartmann, Transsc. Real. S. 121. 136. Thiele, Int. Ansch.
197, und schon in seiner Dissertation S. 38 ff. Volkelt 55. Oaird, Phil.
of Kant 261, CHt. Phil. I, 307. Cesca, DoUrina Kantiana 146. Tiebe 12.
— An eine ähnliche Stelle der ProU § 52 c erinnert Laas, Ks. Analogie 345:
„Es ist offenbar widersprechend , zu sagen, dass eine blosse Vorstellungsart
auch ausser unserer Vorstellung existire.* Offenbar will Kant damit das-
selbe sagen, was er A 385 so ausdrückte: „Der Raum ist nichts als eine
Vorstellung, deren Oegenbild in derselben Qualität ausser der Seele gar nicht
angetroffen werden kann." Die Annahme einer solchen Verdoppelung
* Man kann in dieser Stelle noch etwas Anderes finden, wenn man sie in
Zusammenhang bringt mit dem , was oben S. 109 ff. gesagt worden ist. Damach
erschiene das Verfahren Kants so, dass er von dem gegebenen Dinge alles abzieht»
was nur dem Subject angehört, zuerst die Empfindungsqualitäten, dann die An-
schauungsformen, dann die Denkbegriffe, und der unbekannte Rest = X ist dann
das, was man als ,Ding an sich" bezeichnen kann. Was also an dem gegebenen
Ding auf das Subject zurückgeführt werden kann, kann eben deshalb nicht jenem
Reste angehören. Ist das Ding eben dasjenige, was übrig bleibt nach Abzug der
subjectiven Zuthaten , so hat es gar „keinen Sinn', jene subjectiven Formen etm
auch in diesem Reste noch einmal wiederfinden zu wollen. — Wenn dies der Ge-
dankengang Ks. gewesen sein sollte (vgl. Schopenhauer, Par. I, 99; Riehl, Krit.
I, 429 ff.), so bleibt die Lücke auch in dieser Form des Beweises stehen : denn
eben das, dass Raum und Zeit nur subjective Zuthaten seien, welche wir ron dem
Dinge einfach abrechnen dürfen, — eben das. ist ja die pttitio principii.
Kant vei-wirft die «Prästabilirte Harmonie". 305
erscheint also Kant hier ganz unsinnig. Auf diese Stelle verweist auch
Thiele, Int. Ansch. 195. Diese „formal-logische Begründung des exclusiven
Subjectivismus bei Kant" deckt Yolkelt, Ks. Erk. 51 S. als ein „fehler-
haftes Argument" auf und weist denselben Fehler bei Berkeley nach.
Mit der „Eingebung" auf gleicher Stufe steht für Kant die intellec-
taelle Anschauung. Auch eine solche würde, wie Arnoldt weiter im
Sinne Kants ausführt (54 — 56. 59 — 60. 62. 78. 121), jenen Parallelismus
von apriorischer Anschauung und Gegenstand an sich ermöglichen. Aber
eine intellectuelle Anschauung (einen intuitiven Verstand) hat der Mensch
nach Kant nicht; die menschliche Anschauung ist sinnlich. Vgl. darüber
oben S. 25, sowie unten zu B 68 und B 71. Vgl. auch „Fortschr." Ros.
I, 497. Und auch gegen diese Möglichkeit macht Kant (im Brief an Herz
vom 26. Mai 1789 mit Beziehung auf Maimon) geltend: wenn wir eine
intell. Ansch. der Dinge an sich hätten, würde derselben, da sie ja blosse Wahr-
nehmung wäre, das Gefühl der Noth wendigkeit abgehen, das wir einmal
bei unseren Erkenntnissen a priori haben.
Und noch eine dritte Form jener Trendelenburg'schen Möglichkeit hat
Kant nach Arnoidts Ausführungen (95—97. 99. 119—121, vgl. 63, 78) in Er-
wägung gezogen. Wenn Anschauung a priori (doch will Arnoldt in diesem
Falle lieber „apriorische Vorstellung der Phantasie" sagen, vgl. oben S. 273 N. 2).
und Gegenstand an sich übereinstimmen, so könnte diese üebereinstimmung
ja auch auf einer prästabilirten Harmonie beruhen. Aber in einem
solchen System kommt, wie Kant in der Vorrede zu den Met. Anf. d. Naturw.
(R. V, 316) sagt*, „objective Nothwendigkeit nicht heraus, sondern alles
bleibt bloss subjectiv nothwendige, objectiv aber bloss zufällige Zusammen-
stellung" [Zusammenstimmung?]. Mit diesen Worten wendet sich Kant
gegen den (unbekannt gebliebenen) Verfasser einer Recension von ül rieh's
InstütUiones Logicae (1785) in der Jen. Allg. Lit. Zeitung 1785, Nr. 295.
Schon Ulrich selbst hatte in der Vorrede auf die Möglichkeit aufmerksam
gemacht, dass den apriorischen Formen doch auch zugleich reale Wirklichkeit
entsprechen (responäere) könne, und hatte dies spec. in Bezug auf die
Zeit (S. 235—240) behauptet, sowie in Bezug auf die Causalität (260 flp. 312 ff.).
Vgl. oben S. 146. Jener Recensent zweifelte bes. die Beweiskraft der Deduction
an und glaubte sich, um mit Kant zu sprechen (der übrigens das. was der
Recensent vom „Prästabilirtsein" sagt, missverstand) in die ihm gewiss selbst
„unangenehm fallende Nothwendigkeit versetzt, wegen der befremdlichen
Einstimmung der Erscheinungen zu den Verstandesgesetzen, ob diese gleich
von jenen ganz verschiedene Quellen haben, zu einer prästabilirten Harmonie
seine Zuflucht zu nehmen, einem Rettungsmittel, welches weit schlimmer
* In derselben Schrift, gleich am Anfang, I, 1, Anm. 2 (Ros. I, 321), streift
Kant den Fall auch einmal: „Ob der Raum, die Form aller äusseren sinnlichen
Anschauung, auch dem äusseren Object, das wir Materie nennen, an
sich selbst zukomme, oder nur in der Beschaffenheit unseres Sinnes bleibe,
davon ist hier gar nicht die Frage/
Vai hinger, Kant-Commentar. II. 20
306 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer sehe Streit.
wäre, als das Uebel, dawider es helfen soll und das dagegen doch wirklich
nichts helfen kann/ Und nun gibt Kant jenen oben angeführten Einwand
gegen diesen Ausweg an.
Kant hat jene Gedanken an einer bekannten Stelle der 2. Aufl. seiner
Kr. d. r. V. weiter ausgeführt. Am Schluss der Deduction in ihrer neuen
Bearbeitung (B. 166 f.) bemerkt Kant: es gebe nur zwei Wege, auf welchen
eine nothwendige Uebereinstimmung der Erfahrung mit den Begrififen von
ihren Gegenständen gedacht werden könne: entweder die Erfahrung macht
diese Begriffe möglich, oder die Begriffe machen die Erfahrung möglich.
„Wollte Jemand zwischen den zwei genannten einzigen Wegen noch einen
Mittelweg vorschlagen, nämlich dass die Kategorien weder selbstgedachte
erste Principien a priori unserer Erkenntniss, noch aus der Erfahrung ge-
schöpft, sondern subjective, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte
Anlagen zum Denken wären, die von unserem Urheber so eingerichtet worden,
dass ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfah-
rung fortläuft, genau stimmt (eine Art von Präformationssjstem der reinen
Vernunft), so würde .... das wider gedachten Mittelweg entscheidend sein, dass
in solchem Falle den Kategorien die Nothwendigkeit mangeln würde, die
ihrem Begriffe wesentlich angehört" u. s. w.
Auf diese Stelle hatte nun freilich schon Trendelenburg seihst hin-
gewiesen (Beitr. 3, 240—243), sie erörtere „etwas jener dritten Möglich-
keit Analoges"; „aber dieser Mittelweg ist der gesuchte Mittelweg nicht ^
u. s. w. Dieser Einwand beruht aber auf einer groben Vertauscbung von
genus und species. Zuerst warf Tr. Kant vor, er habe nicht an die Mög-
lichkeit gedacht, dass der Baum subjectiv und objectiv zugleich sein
könnte. Hier, wo Kant in der That eine solche Möglichkeit aufstellt
und zurückweist, wirft Tr. Kant vor, dass er nicht an die besondere,
gerade von Tr. selbst aufgestellte Theorie gedacht habe, wie Apriorität und
Objectivität des Raumes zugleich stattfinden könnten , nämlich durch jene
bekannte Trendelenburg'sche Bewegung, welche sowohl geistig als äusser-
lich sein soll. Dieser Einwand von Trend, ist also werthlos. (Vgl. Grapen-
giesser 37.)
Wohl aber hätte Trendelenburg auf folgenden Einwand kommen müssen:
erstens beziehe Kant diesen Mittelweg nur auf die Kategorien, nicht aber
auf Raum und Zeit; zweitens aber, auch wenn er denselben auf R. und Z.
ausgedehnt hätte, so beweise ja diese Stelle gerade, dass Kant ursprünglich
nicht an jenen Mittelweg gedacht habe: denn die Stelle finde sich ja erst
in der zweiten Auflage und verdanke ihre Entstehung jenem Hinweis des
Jenaischen Recensenten auf diesen Mittelweg.
Wie wenig Kant in der That ursprünglich auf diesen Mittelw^ ge-
geben hat, das beweist ja der Umstand, dass Kant in der 1. Aufl. der De
duction jenen Mittelweg nicht der geringsten Erwähnung würdigt. In dem
Uebergang zu derselben (A 92) constatirt er nur jene beiden Fälle. Von dem
dritten möglichen Fall, dass Vorstellungen und Gegenstände zusammentreffen und
mit einander übereinstimmen könnten, weil beide ursprünglich auf einander
Fries u. A. über das „ Präformationssystem". 307
angelegt wären, ist hier nicht die ßede^ Diese Lücke ist nun schon Fries
aufgefallen. Er fragt in der Vorrede zum Bd. I der 2. Aufl. seiner neuen
Kr. d. V. (1828). pag. XXIV: , Woher wissen wir denn, ob nicht irgend
eine dritte höhere Ursache möglich sei, welche die üeberein Stimmung zwischen
Vorstellung und ihrem Gegenstand bestimmt, indem sie beide möglich macht?"
Fries hat nun mit grossem Scharfblick schon gesehen, dass genau dieselbe
Nichtbeachtung der dritten Möglichkeit auch in dem Schluss a der Aesthetik
vorliegt. Indem er daselbst den Schluss a analysirt, sagt er: „Beachten
wir nun näher, welchen Beweisgrund Kant hier in dem denn [denn weder
absolute noch relative u. s. w.] voraussetzt, so findet sich leicht, dass es
kein anderer sein könne, als die Behauptung," dass eben nur jene beiden
Fälle möglich seien. , Diese Behauptung zugegeben, so ist der obige Beweis
leicht gerechtfertigt. Aber eben diese Behauptung wird sich nicht recht-
fertigen lassen.* Denn es wäre eben jener dritte Fall noch möglich. Wäre
aber dieser Fall, „so könnten allerdings die Dinge a priori so angeschaut
werden, wie sie an sich sind. Dieser Kantische Beweisgrund für die Idealität
von R. u. Z. wird also wohl verworfen werden müssen." (Aehnlich II,
S. 97.) Fries nennt dies einen Fehler Kants, „den ich bey niemand' noch
richtig beurtheilt finde." Dieser Passus aus Fries, welchen der Anhänger
desselben Grapengiesser R. u. Z. S. 59 flf. „im Munde von Fries nicht
begreifen" konnte, ist äusserst interessant. Er hat nicht nur die Lücke in
dem Schluss a richtig bemerkt, er hat dieselbe auch in den richtigen Zu-
sammenhang gebracht mit den allgemeinen Anschauungen Kants, die sich
in jener Stelle A 92 ausprägen, in der Kant jenen dritten Fall absolut igno-
rirt. Dass „diese Annahme für Kant undenkbar war", wie Gottschick,
Z. f. Philos. 79. 156, bemerkt, das ist ja eben Kants Fehler. Die Lücke
dieser Stelle A 92 hat auch sehr treffend nachgewiesen Volkelt S. 56 ff., und
zugleich erinnert an Prol, § 37 (wo Kant aber jenen dritten Fall wenigstens
anmerkungsweise erwähnt) und an die Vorrede B XVI, woselbst K. auch
wieder nur die bekannten beiden Fälle kennt. Dieselbe Alternative kehrt
auch in der Schrift über die Fortschr. d. Met. Ros I, 506 wieder. Auch
B. Erdmann hat in seiner Dissertation (1873) über das Ding an sich
S. 6 richtig darauf hingewiesen, dass Kant den Mittelweg des Präformations-
systems in seinem Schluss a übersehen hat und dass dieser Letztere daher
eine Petitio principii enthält; „für Kant sind Apriorität und ausschliessliche
Subjectivität allerdings Wechselbegriffe", sagt derselbe in den Axiomen der
Geometrie 111.
* An einer versteckten Stelle der 1. Aufl., auf welche übrigens schon B. Erd-
mann (Bas Ding an sich- S. 6) gestossen ist, hat Kant allerdings jenen Fall im
Vorüberfluge gestreift, A 129. Auch dort macht Kant gegen den dritten Fall den
Einwand, dass die üebereinstimmung der apriorischen Vorstellung mit der „Be-
schaffenheit" der Dinge an sich nicht mit Sicherheit constatirt werden könnte.
* Dass schon 40 Jahre früher Eberhard, Maass, Feder, Tiedemann
u. A. diesen Fehler Kants richtig beurtheilt haben, haben wir oben S. 149 hin-
reichend gefunden und werden wir gleich unten S. 311 ff. wiederum finden.
308 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Kant hat also in der ursprünglichen Darstellung A 92 jenen Mittel-
weg gar nicht in Betracht gezogen, hat ihn gewissermassen nur nothge-
drungen erst später gelegentlich erwähnt und ist auch dann nur mit einer
Mischung von Aergerlichkeit und Verachtung auf denselben eingegangen.
Dies ist nun allerdings ein schwerwiegender Grund für Trendelenburg gegen
Kant; und derselbe Grund trifft auch jene oben mitgetheilten Stellen aas
den Prolegoniena; denn diese alle sind später als der Schluss a; Kant bat
sich also erst nachträglich mit jenem dritten Falle nothgedrungen abgefunden.
Und was dann den weiteren Ausweg Arnoidts ^ den Hinweis auf die sonst
nöthig werdende Annahme einer intellectuellen Anschauung, betrifft, so ist
dieser Einwand einmal nicht selbst von Kant erhoben worden, sondern nur
in seinem Sinne gemacht; zudem gehören auch die Ausfuhrungen über und
gegen die int. Ansch. fast alle der 2. Aufl. an. Und so bliebe, trotz der
Arnoldt'schen Rettungsversuche, jener Vorwurf von Trendelenburg, bei seinem
Schlüsse a an jene so wichtige Möglichkeit gar nicht gedacht zu haben und
diese Möglichkeit auch sonst kaum in Betracht gezogen zu haben, doch
auf Kant sitzen.
Aber wir sind nun doch in der Lage, zu beweisen, dass Kant an jenen
Fall wirklich gedacht hat, dass er ihn auch bedacht und überdacht hat.
In dem bekannten Brief an Herz vom 21. Febr. 17'J2 ' wirft Kant die Frage
auf, woher es komme, dass unsere apriorischen Begriffe und Axiome mit
den Gegenständen übereinstimmen? Seine eigene spätere Antwort auf diese
Gardin alfrage hat er noch nicht gewonnen, aber die Beantwortungen Anderer
erwägt er daselbst: „Plato nahm ein geistiges ehemaliges Anschauen der
Gottheit zum Urquell der reinen Verstandesbegriffe ... an. Malebranche
ein noch dauerndes immerwährendes Anschauen dieses Urwesens . . . Crusius
gewisse eingepflanzte Kegeln, zu urtheilen, und Begriffe, die Gott schon, so
wie sie sein müssen, um mit den Dingen zu harmoniren, in die mensch-
lichen Seelen pflanzte ; von welchen Systemen man die ersteren den influxw»
hyperphysicum^ das letzte aber die harmoniam prästabilitam inieüectuaUm
nennen könnte. Allein der J)eus ex machina^ ist in der Bestimmung des
Ursprungs und der Gültigkeit unserer Erkenntnisse das Ungereimteste, was
man nur wählen kann, und hat ausser dem betrüglichen Cirkel in der
* Auf denselben hat übrigens auch schon Paulsen, Entw. 189 hingewiesen:
femer Windelband in der Viert, f. wies. Philos. I, 242, sowie Gottschick,
Z. f. Philos. Bd. 79, 156. Vgl. femer bes. Volkeil 54 ff., welcher ausführt, dass
der „metaphysische Dualismus", den Kant in diesem Briefe einnehme, ihn ver-
hindert habe, den „idealistischen Monismus' zu würdigen, welcher annehme, ,das3
die ursprünglichen Bewusstseinsformen mit den ebenso ursprünglichen Formen der
Naturdinge übereinstimmen*. Diese Uebereinstimmung von Denken und Sein nimmt,
im Anschluss an Aristoteles und Hegel, eben auch Trendelenborg an.
* Auf den Dens ex machina recurrirt Kant aber selbst. In dem Brief vom
26. Mai 1789 an denselben Herz sagt er, „von der Zusammenstimmung von Sinn-
lichkeit und Verstand zu Einem Erfahrungserkenntnisse* können wir , weiter keinen
Grund, als den göttlichen Urheber von uns selbst angeben*.
Der Brief vom 21. Februar 1772. Ein „Loses Blatt^ 309
Schlussreihe unserer Erkenntnisse noch das Nachtheilige, dass er in der
Grille [es muss wohl heissen: Stille] dem andächtigen oder grüblerischen
Hirngespinnst Vorschub leistet."
Allein bei genauerem Hinsehen sind wir auch damit in der Hauptfrage
keinen Schritt weitergekommen. Im Gegentheil. Kant spricht in dem an-
gezogenen Briefe ausdrücklich nur von den „ In tellectual- Vorstellungen", von
den „reinen Verstandesbegriffen" im Gegensatz zur Sinnlichkeit. In Bezug
auf die sinnlichen Vorstellungen des Raumes und der Zeit hat er schon seine
Lösung gefunden, dass diese der „Empfänglichkeit" des Subjects angehören,
dass die sich auf dieselben beziehenden „aus der Natur unserer Seele ent-
lehnten Grundsätze" (die geometrischen) „eine begreifliche Gültigkeit für alle
Dinge haben, insofern sie Gegenstände der Sinne sein sollten". Da vermissen
wir ja gerade die Möglichkeit, dass auch trotz der Apriorität der Anschauungen
von R. u. Z., und trotzdem, dass sie von empirischen phänomenalen Gegen-
ständen gelten, doch auch die Dinge an sich zugleich räumlich und zeitlich
sein könnten. Der Vorwurf bleibt also immer noch und immer unzweideutiger
auf Kant sitzen.
Aber wir haben nun doch noch eine Stelle in petto, in welcher jene
Möglichkeit auch in Bezug auf Raum und Zeit erwogen ist; sie ßndet sich
in den von Reicke herausgegebenen „Losen Blättern aus Ks. Nachlass",
1. H. 1889, S. 151 ff., und steht auf einem Dimissionsattest vom 22. März
1780. Es wird da zuerst die unendlich oft wiederholte Lehre ausgeführt,
dass Raum und Zeit sowie auch die Kategorien gültige synthetische ür-
theile von wirklichen äusseren Objecten ermöglichen, dass diese synthetischen
Sätze a priori jedoch nur von Erscheinungen gelten können, aber nicht von
Dingen an sich selbst. „Die Vernunft, die sich diese Einschränkung nicht
will gefallen lassen, supponirt, dass unsere Erfahrungen und auch unsere Er-
kenntnisse a priori unmittelbar auf Objecte gehen, und nicht zunächst auf die
subjectiven Bedingungen der Sinnlichkeit und der Apperception [= des Ver-
standes], und vermittelst deren auf unbekannte Objecte, die durch jene allein
vorgestellt werden. Sie schlägt daher verschiedene Wege ein: 1) den em-
pirischen Weg und Allgemeinheit durch Induction; 2) den fanatischen
der Anschauung durch den Verstand; 3) den der Vorbestimmung durch
angeborene Begriffe; 4) die qualitas occulta des gesunden Verstandes, der
gar keine Rechenschaft gibt. Wenn man diese einräumt, so heben sie alle
Kritik d. r. V. auf, und öffnen allen Erdichtungen ein weites Feld. Daher
gehört's zur Disciplin der reinen Vernunft, sie zu untersuchen und nach
Befinden dergleichen Wege zu verstopfen." Von diesen vier Wegen ist nachher
(153 und 155) nochmals die Rede; nur der erste, der Empirismus (von Locke
und Aristoteles) wird mit einigen wenigen Worten bedacht; der zweite, der
der „mystischen" Anschauung, der dritte, auch der der Involution genannt,
(vgl: Kr. d. ürth. § 81), und der vierte, auch der der „angeborenen igtio-
rantia'' genannt, werden nur nochmals aufgezählt. Bleibt das Kantische
System der „Epigenesis", die nicht „angeborene", sondern ursprünglich „er-
worbene" Vorstellungen a priori annimmt.
310 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Aas diesem Blatt ist allerdings zu ersehen, dass Kant die fragliche
Möglichkeit, unter Nr. 3, auch in Bezug auf Baum und Zeit wenigstens er-
wogen hat. Allein aus welcher Zeit stammt das Blatt? Nicht aus 1780,
wie es zuerst erschien (vgl. Zeitschr. f. Philos. 96, 19), sondern das Blatt
gehört dem ganzen Tenor und Habitus nach offenbar zu den Blättern, die
sich auf die Gegenschrift gegen Eberhard beziehen, ist also erst geschrieben,
nachdem Kant erst durch fremde Einwände auf jene Möglichkeit aufmerk-
sam geworden war. (Vgl. oben S. 148, sowie oben S. 305.)
Wir sind jetzt nun in der Lage, das definitive ürtheil über den
berühmten Streit auszusprechen. Ueber den allgemeinen Charakter desselben
haben wir uns schon oben S. 135 geäussert, und haben da auch gesehen,
1) dass Trendelenburg seinen Einwand gegen Kant in die unlogische
Formel kleidete, Kant habe die , dritte Möglichkeit^ übersehen, dass der
Baum subjectiv und objectiv zugleich sein könnte. Erwies sich diese For-
mulirung als unlogisch, so bleibt doch — dies ist das Ergebniss der jetzigen
Untersuchung — 2) sachlich der Vorwurf Trendelenburgs gegen Kant zu
Becht bestehen, Kant habe in dem Schluss a und überhaupt in der Aesthetik
übersehen, dass der Baum trotz seiner Apriorität doch zugleich objective
Bealität haben könnte. Piese Lücke im Beweis der exclusiven Subjectivität
des Baumes hat Trendelenburg ganz richtig erkannt. 3) Die Ausdehnung
dieses Vorwurfes, Kant habe an jene Möglichkeit überhaupt nicht oder
wenigstens kaum gedacht, musste dagegen wieder eingeschränkt werden.
Kant hat an den Fall, dass der Baum zugleich Anschauung a priori und
absolute Bealität wäre, allerdings gedacht: vielleicht schon 1768, wahrschein-
lich 1772, jedenfalls 1783 ff. Aber er ist auf diesen Fall früher nie ernst-
lich eingegangen, und auch später hat er ihn nur mit Widerstreben und
Missachtung erwähnt und ihn keiner eingehenden Widerlegung gewürdigt,
weil er ihn eben — und dies ist sein grösster Fehler — nicht ernst nahm.
Was nun Fischer betrifft, so hatte er, wie wir sahen (S. 207—211.
251 f. 302) , in mehreren Nebenfragen Becht, in welchen Trendelen bur^g
sich Blossen gegeben hatte. Aber in Bezug auf die drei Seiten der Haupt-
frage, die formale, die materiale und die historische, war er nicht glücklich.
1) Den formalen Mangel des Trendelenburg'schen Einwandes sah er
so wenig, dass er einen Hauptpunkt desselben theilte. (Vgl. S. 138.)
2) Die materielle Bichtigkeit jenes Einwandes hat er so wenig stich-
haltig angegriffen, dass er vielmehr den eigentlichen Mittelpunkt desselben
gar nicht traf. (Vgl. oben S. 291 ff.)
3) In Bezug auf die historische Ausdehnung jenes Vorwurfes ist
ihm der Hinweis auf die Schrift von 1768 zu danken ; aber er hat diese, an
sich precäre Andeutung so wenig weiter verfolgt, dass er alle Stellen übersah,
in denen Kant jenen Fall doch wenigstens einigermassen in Betracht zog.
Wir müssen somit das Besultat der Untersuchung in das nun hin-
reichend motivirte Urtheil zusammenfassen: in der Hauptsache, in der
Behauptung der Lückenhaftigkeit der Kantischen Beweisfüh-
rung, hat Trendelenburg entschieden Becht.
Entscheidung für Trendelen bürg. Hinweis auf Vorgänger desselben. 311
Dasjenige indessen, was das Merkwürdigste bei dem ganzen Streite ist,
haben wir bis jetzt noch nicht besprochen: das Aufsehen, das der Trendelen-
bnrg'sche Einwand machte und die Meinung, derselbe sei etwas ganz Neues
und Unerhörtes. In der That ist der Einwand doch so naheliegend,
dass er eigentlich Jedem von selbst einfallen muss, der nicht von vorneherein
sich von den transscendentalphilosophischen Formeln bestechen lässt. Daraus
folgt, dass man die Erwartung aussprechen kann, dass der Einwand schon
lange vor Trendelenburg erhoben worden ist. Nun haben wir schon oben
S. 142 ff. gesehen, dass der Vorwurf der ün Vollständigkeit seiner Disjunction
gegen Kant schon im vorigen Jahrhundert erhoben worden ist, und mit
dem Üebersehen einer oder mehrerer Möglichkeiten in der Aufzählung der
denkbaren Fälle hängt ja der Vorwurf einer Lücke in dem vorliegenden
Beweise aufs engste zusammen. Kant hat eben nicht alle Fälle erwogen,
weil er annahm, dass aus der Apriorität einer Vorstellung deren Subjectivität
sich ergebe, und in dem Beweise für diese Annahme eben fanden wir mit
Trendelenburg eine „Lücke". Wer also den Vorwurf der ün Vollständigkeit
der Disjunction gegen Kant erhebt, wird die tiefere Ursache dieser Unvoll-
stäudigkeit bald in diesem lückenhaften Schlüsse finden. Der Vorwurf
dieser Lückenhaftigkeit ist denn auch in der That schon im vorigen Jahr-
hundert gegen Kant von den verschiedensten Seiten erhoben worden.
Der Vorwurf wurde erhoben einmal von den strengen Rationalisten,
welche mit dem alten Dogmatismus gewisse Vorstellungen als angeboren
ansahen, aber in diesem Angeborensein nicht nur kein Hinderniss gegen,
sondern eher eine Bürgschaft für die reale Gültigkeit jener Vorstellungen
sahen. Er wurde erhoben von den Empiristen, welche den Ursprung aller
Vorstellungen aus der Erfahrung ableiteten^ und bei der Kritik der entgegen-
stehenden Ansicht Kants bald diesen schwachen Punkt in dessen Systeme
entdeckten, gegen den sie nun mit Vorliebe ihre Angriffe richteten. Er
wurde natürlich auch erhoben von den Eklektikern, deren Stärke ja von
jeher in der Auffindung solcher Schwächen bei Anderen bestanden hat.
In dem Angriff auf diesen schwachen Punkt vereinigten sich ferner
diejenigen, welche die Realität eines unserer subjectiven Raumvorstellung
ganz und gar entsprechenden objectiven Raumes annehmen, mit denjenigen,
welche sich auf die Annahme beschränken, der subjectiven Raum Vorstellung
entspreche ein gewisses analoges Verhältniss der Dinge an sich untereinander ;
wer zwischen diesen beiden Annahmen unklar hin und her schwankt (wie
z. B. Eberhard und seine Freunde, vgl. oben S. 147), wird natürlich den
Vorwurf ebenfalls erheben.
So finden wir, um sogleich mit der Eber bardischen Zeitschrift anzu-
fangen, in dieser jenen Vorwurf mehrfach direct und indirect erhoben.
Nach dem, was wir oben 8. 146 ff. über Eberhards Angriffe auf Kants
Raumlehre gehört haben, werden wir nichts Anderes erwarten. Schon in
den dort mitgetheilten Stellen liegt der Vorwurf indirect enthalten. Ganz
deutlich hat ihn Eberhard erhoben in seinen „Dogmatischen Briefen*, im
Phil. Archiv I, 2. 47 ff., allerdings allgemein in Bezug auf die synthetischen
312 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Urtheile a priori überhaupt, aber da unter diesen auch die geometrischeD,
auf die Raumvorstellung bezüglichen sind, so gilt jener allgemeine Vorwurf
eben auch für die Raumvorstellung. Die Apriorität beweise nicht die Snb-
jectivität: „Die Noth wendigkeit der synthet. Urtheile a priori und die
Noth wendigkeit der Bestimmungen der Gegenstände können in einem ge-
meinschaftlichen Dritten gegründet sein." Auch schon Eberhard spricht
(a. a. 0. 71. 75) in diesem Sinne von den „Lücken des Kantischen
Systems**.
Auch der scharfsinnige Maass hat diese Lücke deutlich gesehen. In
seinem vortrefflichen grossen Aufsatz „üeber die Tr. Aesthetik" im Phil. Mag. I,
117 — 149 sagt er: „Der Geist des Kantischen Systems führt unvermeid-
lich auf die Behauptung, die auch Kant an mehreren Orten äussert, dass
wir von den Dingen, wie sie an sich sein mögen, schlechterdings nichts
wissen u. s. w. Wenn nun dies alles seine ^Richtigkeit hat, so dürft« da-
durch auch die Möglichkeit und Wahrheit der Behauptung, dass B. und Z.
bloss subjective Formen der Sinnlichkeit seien, dass ihnen in den Dingen
an sich gar nichts entspreche, aufgehoben werden; denn in Absicht einer
Bestimmung der Dinge an sich können wir weder etwas bejahen noch ver-
neinen, und ihnen folglich auch das Prädicat des Raumes und der Zeit
weder absprechen noch zuerkennen. Hieraus lässt sich zum Voraus einsehen,
dass die Beweise für die angeführte Behauptung in der Tr. Aesthetik nicht
ganz hinlänglich seyn, sondern höchstens nur soweit reichen können, als
nothwendig ist, um darzuthun, dass R. und Z. bey uns subjective Formen
der Sinnlichkeit seyn; woraus aber noch nicht erhellt, dass sie bloss solche
sind und dass ihnen in den Dingen ausser der Vorstellung nichts entspricht."
Dies wird von M. im Einzelnen geprüft, und das Resultat ist: „die Be-
hauptung, dass R. und Z. bloss subjective Einrichtungen unserer Sinnlich-
keit seien, ist unerwiesen" (S. 145). Auch er spricht (ib. 470) ausdrück-
lich in diesem Sinne von den „Lücken" der Tr. Aesthetik; er hatte diese
Lücke, resp. jenen Widerspruch schon in den „Briefen über die Antinomie
der Vernunft" 1788 S. 11. 26 berührt; die A. L. Z. 1789, I, S. 159 hatte
darauf mit den üblichen Ausflüchten geantwortet, worauf Maass im Phil.
Mag. I, 340 — 343 seinen Einwand wiederholte. Da das, was Rehberg in
der A. L. Z. 1789, I, 713 gegen jenen grossen Aufsatz vorbrachte, wieder
ganz schwach war, wurde es Maass sehr leicht gemacht, im Phil. Mag. II,
30 ff. seinen fundamentalen Einwand aufs Neue scharf zu wiederholen, spec.
mit Bezug auf die Stelle Krit. A 26 (Schluss a). Vgl. gegen Reh her gs
ebenso schwache Duplik in der A. L. Z. 1789, Int.-Bl. N. 145 die weitere
Antwort von Maass im Phil. Mag. II, 507 fp. Vgl. hiezu auch Schaumann,
Aesth. 117 ff. Natürlich hat auch Pistorius in seinen oben S. 143 ff. be-
sprochenen Ausführungen diesen Vorwurf mehrfach erhoben. Ebenso der
anonyme Verfasser des Versuches „Ueber Raum und Zeit" 1790, S. 54 ff.
72. 151.
Gegen diese unangenehmen Mahnungen erfand nun Rein hold einen
apriorischen Beweis für die absolute Unräumlichkeit der Dinge an sich,
Eberhard, Maass u. A. gegen Kant. Reinhold für Kant. 313
welcher damals viel besprochen worden ist. (Th. der Vorst. 244 ff.) Den Be-
weis fiihi*t Reinhold vermittelst des bekannten Gegensatzes von Form und
Stoff der Vorstellung: Die Form der Vorstellung müsse eben dem Gegen-
stande an sich , mangeln". Gegen den Einwand: warum soll nicht dem
Ding an sich eben dieselbe Form zukommen, die dasselbe in der blossen
Vorstellung hat? macht R. geltend: „Die Form der Vorstellung ist das-
jenige, wodurch sich die Vorstellung von allem, was nicht Vorstellung ist,
auszeichnet. Wenn also die Vertheidiger der Vorstellbarkeit des Dinges an
sich zugeben, dass das Ding an sich keine Vorstellung ist, so müssen sie
auch zugeben, dass ihm die Form der Vorstellung nicht zukomme.* Dies
wird (ib. 419—421) spec. auf R. u. Z. angewendet, welche aus diesem Grunde,
weil sie eben Formen der Vorstellung sind, nicht zugleich „Merkmale der
Dinge an sich sein können." Vgl. Beitr. I, 185 f. 323—333. Vgl. die
Recension von Flatt's Fragm. Beitr. (1788) in der A. L. Z. 1789, I, 18 ff.
wo derselbe Beweis von Reinhold so zusammengefasst wird: „Also nicht das
Ding an sich , aber die Vorstellung desselben ist ein Unding." Vgl. auch
Fundament 66. 73: Das grosse Hauptresultat der Kr. d. r. V., dass Dinge
an sich nicht erkennbar sind, hängt von dem Beweise der zwei Sätze ab:
„dass a priori nicht als die Form der blossen Vorstellung erkennbar sei",
und „dass die Form der blossen Vorstellung nicht Form der Dinge an sich
sein könne." Die beiden Sätze (um die es sich eben im Schluss a handelt)
habe Kant nur durch eine vollständige Induction bewiesen; er selbst, Rein-
hold, aber habe einen unumstösslichen apriorischen Beweis dafür geliefert.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Reinhold'sche Versuch jenen ein-
stimmigen Vorwurf der Kantgegner, Raum und Zeit könnten, unbeschadet
ihrer Apriorität, zugleich auch den Dingen an sich zukommen, nicht wider-
legt, sondern nur umgeht. Dies fanden denn die Gegner bald heraus, so
Flatt (Tüb. Gel. Anz. 1790, Nr. 39; dag. wieder Reinhold, Beitr. I,
419 — 421), soTiedemann im „Theätet", S. 156 ff. Ebensowenig Hess sich
der scharfsinnige Maass dadurch blenden, welcher im Phil. Mag. I, 409 — 412
ausführt, ein Gegenstand an sich könne freilich nicht die Form einer Vor-
stellung qua Vorstellung an sich haben, wohl aber könnte eine „reale
Bestimmung desselben mit irgend einem Prädicate übereinkommen, das
ihm im Gemüth unter der Form der Vorstellung beygelegt wird". Was
Reinhold dagegen sagt (A. L. Z. 1789, II, 595), ist blosse Wiederholung,
und es wird Maass leicht, gegen dieselbe aufs Neue aufzutreten (Phil. Mag. II,
236 — 243) mit der Behauptung, der ganze angebliche Beweis Reinholds be-
ruhe auf der petitio principii, „dass die Form der Vorstellung, sofern diese
überhaupt Vorstellung ist, alle üebereinstimmung desjenigen, dessen
wir uns in ihr bewusst sind, mit dem Ding an sich aufhebe*.
Jener Reinhold'sche Beweis wurde aber immer wieder gegen jenen
Einwand ins Feld geführt. Als F. V. Reinhard in der Vorr. zum System
der christl. Moral I. Band, 3. Aufl. 1797 den Schluss Kants aus der Apriorität
auf die exclusive Subjectivität als eine „Erschleichung" treffend charakteri-
sii-t hatte, antworteten die Jacob'schen Annalen III, 482 ganz mit jenem
314 Excui-s. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Reinhold ^schen Argument: Der Raum sei der Actus des äusseren Vorstellens,
könne also nichts anderes sein, als eben ein Act des Subjects. Uebrigens
brachten die Jacob'schen Annalen den Einwand selbst an anderer Stelle
(in, 186) in folgender eigenartiger Pormulirung vor: Der Satz, dass die
reine Anschauung lediglich in dem metaphysisch gedachten Subjecte ihren
Grund habe, sei synthetisch. Denn »man zergliedere den Begriff einer
Vorstellung a priori so viel man will, man wird nie auf das Prädicat
kommen, dass sie lediglich im Subjecte der Erkenntniss ihren Sitz habe/
Sonach sei jener Satz synthetisch. Kant aber beweise diesen Satz gar
nicht und mache auch gar keinen Versuch dazu; damit ist eben die Lücke
im Eantischen Beweise zugestanden.
Besonders bekämpfte dann Schwab jenen Reinhold'schen Beweis. Er
sagt (Phil. Mag. III, 148 ff., vgl. 369), jener Einwurf, den R. sich selbst
mache („Warum soll nicht dem Ding an sich eben dieselbe Form zu-
kommen, die dasselbe in der blossen Vorstellung hat?") „scheint mir sehr
wichtig, aber von ihm nicht hinlänglich beantwortet zu sein. In der That
ist es gar nicht widersprechend, dem Ding an sich, wo nicht ganz, doch zum
Theil eben die Form beizulegen, die dasselbe in unserer Vorstellung hat.'
„Es ist nicht ungereimt, zu sagen, dass der Gegenstand mit der Vorstellung
coincidire." Was Forberg darauf erwidert (in Reinhold^s Fundament
Anhang S. 183—222, bes. 188. 189. 191. 215 ff.,) ist eine blosse Wieder
holung der unbewiesenen Voraussetzung: „Die Form der Vorstellung kann
unmöglich zugleich die Form der Dinge an sich sein" (a. a, 0. 215.) Vgl.
dagegen Schwab im Phil. Arch. I, 1. 25 ff. (auch I, 2. 59 ff.) Schwab hat
den Fehler, welchen Kant macht und seine Anhänger immer wieder aufs
Neue machen, auch in Beziehung auf die Kategorien ganz deutlich gekenn-
zeichnet (Phil. Mag. IV, 200; auf diese Stelle weist auch Gesca, La doUrina
Kantiana, 1885, S. 145 hin) mit folgenden Worten: „Kant schliesst aus der
Allgemeinheit und Nothwendigkeit der höchsten Grundsätze des Verstandes,
dass sie a priori und rein vor aller Erfahrung im Gemüthe vorhanden sein
müssen. Gut! allein, dass sie bloss subjective Bestimmungen des Gemütfas
seien, das folgt so wenig daraus, dass man mit weit mehr Grund schliessen
kann, sie seien zugleich in den Dingen an sich und in dem Verstand ge-
gründet." »Auf diese Weise entsteht zwischen dem ursprünglichen Subjectiven
in der menschlichen Seele und dem Objectiven ausser ihr eine Harmonie,
welche anzunehmen für den gemeinen Menschenverstand Bedüi*fniss ist, und
die ebensogut ein Postulat der reinen Vernunft genannt werden könnte,
als mancher andere Satz, der in der Kantischen Philosophie dafür aus-
gegeben wird." Schwab hat dies weiter ausgeführt in der Abhandlung:
„Sur la correspondance de nos idSes avec les objets", in den Minioires de VÄeadhnif
Royale, (1788 u. 1789), Berlin 1793, S. 417—435. Dass Kant jene Harmonie
auch als ein nothwendiges Postulat hätte ansetzen müssen, behauptet auch
Breyer in seinen Erlanger Programmen, betr. den »Sieg der praktischen
Vernunft über die speculative" (1786 — 89): „Mit welchem Rechte legt Kant
der Idee der praktischen Vernunft von der vollkommenen Harmonie der
Schwab, G. E. Schulze, Seile gegen Kant. 315
Sittlichkeit mit der Glückseligkeit objective Realität bei, wenn er nicht
überhaupt eine vollkommene Uebereinstimmung der subjectiv-noth-
wendigen Gesetze unserer Vernunft mit dem Objectiven voraussetzt?" Es
sei nicht einzusehen, warum nur in praktischen Fragen „die subjective Ver-
standesnoth wendigkeit mit dem Objectiven harmoniren soU^, und nicht
auch im theoretischen Gebiet.
Dass auch G. E. Schulze in seinem Aenesidem gegen jenen Bein-
heldischen Beweis auftritt, ist natürlich; s. S. 273—275. 282 ff. 300 ff. Er
wendet sich natürlich auch gegen Kant selbst , bes. 8. 149 ff. ; Kant habe
(es wird dabei eben auf den Schluss a angespielt) behauptet, Vorstellungen
a priori könnten bloss die Formen der erscheinenden Gegenstände sein.
Aber die „Vorstellungen und Begriffe a priori könnten sich auch vermöge
einer präformirtenHarmonie der Wirkungen unseres Erkenntniss Vermögens
mit den objectiven Beschaffenheiten der Sachen ausser uns auf diese Be-
schaffenheiten beziehen ; und dieser Harmonie gemäss würde dem Gemüthe
durch die Anschauungen und Begriffe a priori, deren es sich bei seinen
Thätigkeiten bedienen müsste, etwas vorgestellt werden, das nicht bloss
subjective Gültigkeit in unserer Erkenntnissart hätte, sondern das auch den
Beschaffenheiten des Dinges an sich entspräche und dieselben repräsentii'te.
Etwas Absurdes oder Ungedenkbares enthielte die Hypothese von einer solchen
prästabilirten Harmonie zwischen den Vorstellungen a priori und zwischen
dem objectiv Vorhandenen doch gewiss nicht". Die Natur könne wohl eine
solche Einrichtung getroffen haben. Ausser dieser prächtigen Stelle (auf
welche auch schon Volkelt S. 61 hingewiesen hat), vgl. noch ib. 222 ff.
257. 299. 437. Vgl. desselben Kr. d. th. Phil. H, 224. Was gegen diesen
Einwand Meilin, Wort. III, 583, V, 346 und Fichte in seiner be-
kannten Recension des Aenesidemus W. W. I, 15. 19 vorbringen, ist gänzlich
unzulänglich.
Der Kantische Schlu.ss von der Apriorität der Eaumvorstellung auf
deren Subjectivität fand einen heftigen Gegner auch in Seile. Selbst
Empirist, bekämpfte er energisch Kants „Rationalismus'', liess sich aber in
seiner Abhandlung: „De la realiii et de Vidialiie des objets de nos connaissances^
(vgl. oben S. 195) in eklektischer Weise zu einigen Zugeständnissen an
Kants Apriorismus herbei (wie dies damals vielfach bei Empiristen der Fall
war, z. B. bei Feder und Tiedemann), aber nur, um jetzt desto heftiger
den Einwand zu erheben, dass aus der Apriorität noch keineswegs die
Subjectivität fliesse. Während indessen die betr. Abhandlung an vielen Un-
bestimmtheiten und Widersprüchen leidet, ist uns eine erst vor 14 Jahren
bekannt gewordene Aeusserung hierüber erhalten geblieben, welche sehr ent-
schieden ist: Kiesewetter nämlich in seinem Brief an Kant vom
20. April 1790 (mitg. von Reicke in der Altpr. Mon. 1878, XV, 212 f.)
berichtet: »Prof. Seile hat eine Abhandlung gegen Ihr System in der
Akademie vorgelesen und wird sie auch drucken lassen: er glaubt, wie er
sagt, Ihrem System dadurch den Todesstoss gegeben zu haben. So viel
ich gehört habe, so zweckt sein Hauptargument dahin, dass, gesetzt auch,
310 Excurs. Der Trendelenburg- Fischer'sche Streit.
Sie hättei^ bewiesen, Baum und Zeit wären die Formen unserer Sinnlichkeit,
Sie doch nicht zeigen könnten, dass sie nur Formen der Sinnlichkeit wären,
weil es immer doch möglich sei, sich zu denken, dass B. und Z. den
Dingen an sich zukämen, welches Sie um so weniger leugnen könnten, da
Sie selbst behaupteten, man könne von den Dingen an sich nichts wissen,
und es daher ganz wohl möglich sei, dass B. und Z. den Dingen an sieh
zukämen. Ueberdies könne man auf die Art allein die Frage beantworten,
warum w^ir gerade in diesen und keinen anderen Formen anschaaten.
Seiner Meinung nach wären H. und Z. zwar subjectiv nothwendige Be-
dingungen unserer Anschauungen, aber es correspondiren ihnen dem un-
geachtet auch Eigenschaften der Dinge an sich." Was Kant darauf er
widert hat, wissen -wir nicht. Was Kiesewetter selbst dagegen sagt, ist
ziemlich schwach. „Sollte es wahr sein, dass der ganze Einwurf nichts
Wichtigeres enthält, so finde ich ihn eben so schreckhaft nicht. Wodurch
will Herr Seile beweisen, dass B. und Z. den Dingen an sich selbst zu-
kommen? [Es handelt sich aber doch in Wahrheit nicht um etwas, was
Seile beweisen soll, sondern um etwas, was Kant nicht bewiesen hat!]
Und gibt er zu, dass B. u. Z. Formen der Sinnlichkeit sind, wie will er be-
haupten, dass sie doch von den Dingen an sich abhingen; denn werden sie
uns durch die Objecte gegeben, so gehören sie ja sodann zur Materie der
Anschauung und nicht zur Form derselben." [Die Form könnte unbeschadet
ihrer Apriorität im Allgemeinen doch im Speciellen durch die Objecte mit-
bedingt sein; aber auch wenn darin eine Inconsequenz Selle*s läge, so wäre
dieselbe doch keine Gegeninstanz gegen den Vorwurf, den Seile gegen Kant
erhebt, sein Beweis der Subjectivität von B. und Z. habe ein Lücke.] Die
Antikantianer begrüssten diese Abhandlung Seile's natürlich sehr sympathisch,
bes. Eberhard im Phil. Arch. I, 1. 81 — 125; was in Kossmanns Allg.
Mag. I, 2. 194 — 208 gegen den „ transscendentalen Bealismus* Seile's gesagt
wird, ist schwach. Vgl. oben S. 292 Anm.
Die Lückenhaftigkeit des K.'schen Beweises wird ferner behauptet von
Ouvrier in seiner Schrift „Idealismi examen" 1789, §17. Besonders scharf
hat Tiedemann den Vorwurf erhoben in seinem „Theätet**, bes. S. 47. 84.
481; er spricht ausdrücklich von , einer nicht unbeträchtlichen Lücke dieser
Theorie". Und zwar ist ihm diese Lücke eine doppelte: gZugegeben, dass
B. und Z. Formen der äusseren- und inneren Anschauung sind", so folgt
daraus erstens nicht, dass diese Formen nur uns Menschen angehören:
auch die Empfindungsart anderer denkenden Wesen kann dieselbe sein; ,K. n.
Z. könnten dem ungeachtet gar wohl Formen Mex Sinnlichkeit sein; und
wenn das ist, so ist hieraus allein nicht klar, dass B. und Z. nur uns
Menschen Gültigkeit und Bealität haben.* Viel wichtiger ist aber der
zweite: „Auch könnten diese Formen gar wohl mit den Formen der
Gegenstände übereinkommen, mithin gilt hieraus allein kein Schluss, dass
sie in den Dingen an sich gar nicht gefunden werden. Immerhin also kann
man zugeben, dass sie Formen unserer Sinnlichkeit sind, und ihre objectiv»*
Bealität dennoch behaupten."
8elle, Tiedemann, Brastberger, Platner gegen Kant. 317
Auch die „Untersuchungen über Kants Kr. d. r. V." von Brast-
berger (1790), dessen kritische Einwände gegen Kant schon Comm. 1, 172 — 174
hervorgehoben wurden, sind speciell diesem Nachweis gewidmet. Es ist der
stets wiederkehrende Grundgedanke der Schrift, dass Kant zwar die Unab-
hängigkeit der Vorstellungen des Raumes und der Zeit von den empirischen
Gegenständen, also ihre Apriorität erwiesen habe, dass er aber kein Recht
gehabt habe, daraus den Schluss zu ziehen, dass diese apriorischen Vor-
stellungen unseres Gemüthes nicht doch zugleich in den Dingen an sich
gegründet seien (vgl. oben 8. 289 N.) ; er bezieht das sowohl auf den Ursprung
als auf die Geltung der Raum- und Zeitvorstellung: wenn diese Vorstellungen
auch nicht durch die empirischen Gegenstände in uns entspringen, denen sie
vielmehr vorhergehen, so könnten sie doch durch die Einwirkung der Dinge
an sich in uns veranlasst sein; und wenn auch die empirischen Gegen-
stände , denen die Raum- und Zeitvorstellung vorhergehe , ebendeshalb als
blosse Erscheinungen zu fassen seien, so „sei dadurch nicht ausgeschlossen",
(55. 60. 61. 78) dass eben jene Dinge an sich ihrerseits sich in gewissen
„analogen' Verhältnissen befinden (vgl. dazu oben S. 146). Er kämpft mit
vollstem Bewusstsein gegen jenen falschen „Schluss" Kants S. 5 — 7. 9—13.
40. 41. 43. 46. 51. 55. 57. 69. 70; jene „Folge ist erschlichen", „es kann
wenigstens noch ein Drittes als denkbar vorausgesetzt werden" (21. 39);
in der Eintheilung der Möglichkeiten bei Kant sei hier ein „fehlendes Glied"
(45—47), und schon die blosse Denkbarkeit dieser Möglichkeit stürze Kants
Subjectivismus (58) um, in welchem die „Hauptsache seines Systems" liege
(691) es fehle demselben eben an einem „gültigen Beweis" (45. 71). Dies
weist Brastberger noch einmal ausführlich nach gegenüber der Recension
in der A. L. Z. 1792, Nr. 222, in der Vorrede zu seinen „Untersuchungen
über Ks. Kr. d. prakt. Vernunft" (1792) S. 6—40.
Auch Platner in der Vorrede zur 3. A. der Aphorismen XI erhebt
den Einwand in einer ähnlichen Form wie oben Maass. Sein Recensent in
der A. L. Z. 1794, Nr. 379 f. meint freilich: Da apodiktisch erwiesen sei,
dass R. und Z. die in der Natur der reinen Sinnlichkeit bestimmten apriorischen
Formen der sinnlichen Anschauung seien, könnten sie den Dingen an sich,
die eben nicht angeschaut würden, nicht zukommen. Das ist aber eben die
gewöhnliche petitio principii der Kantianer, wie auch Heinze, Platner S. 13
bemerkt: „Es ist damit nicht bewiesen, dass sie als Formen nur in der
reinen Sinnlichkeit liegen." PI. wiederholt daher mit Recht seine Einwände
in seinem „Lehrbuch der Logik und Met." (1795), § 312 ff. Vgl. auch
Seligkowitz in der Viert, f. wiss. Phil. XVI (1892), S. 88 f.
Auf all diese Einwände bleiben die Kantianer entweder die Antwort
schuldig, oder sie beschränken sich auf leere Wiederholungen der Kantischen
Argumentationen, oder auf das sophistische Spiel mit dem Worte „objectiv"
(vgl. oben S. 291 N. 2), oder, wenn sie, wie Reinhold, einen neuen Beweis zu
geben versuchen, so war in demselben doch wieder indirect dieselbe petitio
principii enthalten, welche eben den Hauptfehler jener Kantischen Argumen-
tationen ausmacht. Schon v. Eber stein hält sich (Gesch. d. Log. u. Met.
318 Excurs. Der Trendelenburg-Fischersche Streit.
II, 308. 387. 391. 485) darüber auf, dass ,die Kantianer sich auf diesen Punkt
nie ordentlich eingelassen haben", dass sie diese Einwände „nie gründlich
beantwortet haben*, dass die Frage gar nicht von ihnen erörtert worden sei,
„ob nicht den Formen der Sinnlichkeit etwas in den Dingen^ an sich ent-
sprechen, und die Formen beider mit einander übereinstimmen können.'
Wie schon oben S. 145 bemerkt wurde, hatte z. B. Jacob in seiner
Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden S. 26 den Einwand eines
Mitunterredners berücksichtigt, dass die Prädicate B. und Z. auch den
Dingen an sich zukämen „und unsere Vorstellungen den Dingen selbst
jedesmal correspondirten' u. s. w. Auf diesen gewichtigen Einwand gibt
Jacob folgende Antwort: „Diese Hypothese macht Ihrem Scharfsinn Ehre,
lieber L. Aber wir können hier schon deswegen keine Bücksicht darauf
nehmen, weil es eine Hjrpothese ist (1). üeberdem so sprechen gerade alle
Philosophen den Dingen an sich alle Prädicate des Baumes und der Z«it
ab ; Sie werden sich erinnern, dass die Monaden keinen Baum einnehmen (2).
Gott kann nicht ausgedehnt sein, und in seinen Kenntnissen und Vorstellungen
darf keine Zeit gedacht werden (3). Der Fehler Ihrer Hypothese liegt darin,
dass Sie sich die Sinnen weit als einen Gegenstand an sich zu denken scheinen.
allein sie ist nichts als Phänomen für uns, und da alle Prädicate nur von
Phänomenen gelten, so können wir kein einziges auffinden, welches auf die
Objecte selbst passte (4). Ordnung, Harmonie und Alles, was Sie vorbringen
mögen, ist völlig ohne Bedeutung, wenn Sie es nicht von Erscheinungen in
der Sinnen weit verstehen (5). Sie müssen sich nur immer daran erinnern,
dass, w.enn unsere äusseren Sinne anders gebaut wären, auch unsere Vor-
stellungen von den Dingen ganz anders sein würden u. s. w. (6). Wären
B. und Z. Prädicate der Dinge selbst, so müsste ein jedes Wesen, welches
sie erkennen wollte, sie sich in dieser Form vorstellen , also auch die Gott-
heit, von der aber dieses auf keine Art gelten kann, weil jede Succession
Abwechslung voraussetzt, welche in die Idee von Gott nicht kommen darf* (7).
„Ja es lässt sich überhaupt durch gar nichts erweisen, dass andere endliche
Geschöpfe, die wir nicht kennen, nothwendig an diese Form gebunden sein
müssten^ (8). Dass in diesen 8 Gegengründen kein halbwegs stichhaltiger
Beweis vorgebracht wird, liegt auf der Hand. Gegen den ersten Gegen-
grund wendet sich schon Pistorius (s. oben S. 145) mit den treffenden
Worten: „Wenn Jacob sagt, dass er schon darum keine Bücksicht daranf
nehmen könne, weil es eine Hypothese sei, so kömmt es mir sehr sonder-
bar vor, wie er sich überreden könne, dass seines Lehrers Gedanken über
B. und Z. etwas mehr als Hypothese seien. Wenn über einen Gegenstand
mehrere Vorstellungsarten stattfinden, alle an sich möglich und gedenkbar,
wie dies hier in Bücksicht auf B. und Z. unleugbar der Fall ist, so kann
wohl unmöglich eine derselben im Voraus die Benennung einer Hypothese
von sich ablehnen. Nur dadurch kann sie sich über diesen Bang erheben,
dass sie sich als die einzige beweist, die unter allen möglichen zur Erklärung
aller zu erklärenden Umstände hinreicht; aber auch von ihren Nebenbuhlerinnen
zeigt, dass sie dies nicht leisten können, sondern dass ihnen vielmehr einige
Jacob und Schultz für Kant. 319
Punkte gerade entgegenstehen und sie ansschliessen. So lange aber irgend
eine mögliche Hypothese übergangen worden^ so behält diese noch immer
das Recht zu fordern ^ dass auch auf sie Rücksicht genommen und sie mit
ihrem Anbringen gehört werde. Bevor dieses geschehen, darf sie nicht
präcludirt werden, indem eine vorläufige Präclusiverkenntniss zu Gunsten
einer verschiedenen, vorgeblich erwiesenen Hypothese nicht eher möglich ist,
als bis die übergangene Hypothese mit ihren Ansprüchen und Rechtsgründen
auch gehört und abgewiesen worden. Indessen ist dies nicht der einzige
Fall, wo sich das Kantische System dieser logicalischen Ungerechtigkeit zu
Schulden kommen lässt."
Ebensowenig Stichhaltiges hat Schultz vorgebracht, welcher zu der
Frage mehrfach Stellung nimmt ^ Nachdem er (Prüfung II, 232) den Eanti-
sehen Schluss von der Apriorität auf die exclusive Subjectivität einfach
wiederholt hat, erwägt er die Möglichkeit, dass der Raum „objectiv und sub*
jeetiv zugleich "^ sein könne, und erklärt dieselbe ohne Weiteres für einen offen-
baren Widerspruch' : ,Denn was einem Dinge an sich zukommt, kann eben
daher nicht von unserem Yorstellungsvermögen abhängig sein, und was von
diesem abhängig ist, kann eben darum den Dingen nicht an sich zukommen.
Ein Begriff von etwas, was in dem angezeigten Sinne subjectiv und objectiv
zugleich ist, ist daher das, was der Begriff eines hölzernen Eisens ist. '^ Allein
Schultz macht hier eine logisch bedenkliche Volte. „In dem angezeigten
Sinue' hat Niemand behauptet, dass der Raum , zugleich objectiv und sub-
jectiv*' sei; denn die Behauptung „in diesem Sinne'' genommen ist identisch
mit jenem oben S. 136 hinreichend gekennzeichneten Widerspruch, dass der
^ In seiner (später unten zu § 7 zu erwähnenden) Recension der Dissertation
von 1770 hatte Schultz (1771), ehe er Anhänger Ks. wurde, den Einwand selbst
erhoben. Er sagte da in dieser seiner , vorkritischen ** Zeit sehr treffend: «Die
Untersuchung der principiorum fonnae mundi betrifft die Hauptmaterie und ver-
dient daher die strengste Prüfung. Die Art, auf welche der Verf. die Begriffe des
Raumes und der Zeit behandelt, hat uns nicht nur wegen ihrer Neuheit, sondern
auch wegen ihrer Evidenz vorzüglich gefallen. Nur kommt es zuletzt auf die
Hauptfrage an, ob diese beiden Begriffe die eigenthümlichen principia formae mundi
sensibiliSf oder ob sie nicht vielleicht ^rtncf^ta communia formae mundi tarn
sensibilis quam intelligibilis sind. Da der Verf. das Erstere behauptet, so
wünschen wir in allen Dingen die Unmöglichkeit des Letzteren auf die strengste
Art erwiesen zu sehen. Allein aus allen seinen Prämissen folgt nichts mehr, als
dass wir ohne den Begriff des R. u. d. Z. keine anschauende Erkenntniss von der
Körperwelt haben können. Denn daraus, dass diese Begriffe intuitus sind, folgt
noch nicht, dass sie die intellectualia nicht angehen. Mithin bleibt noch immerhin
die Hauptfrage unentschieden, ob nicht R. u. Z. die principia der gemeinschaft-
lichen Form alles Existirenden sind, ohne welche kein Wesen, es sey materiell
oder immateriell, gedacht werden kann.* Schultz sucht dies sodann im Einzelnen
nachzuweisen, zuerst in Bezug auf die Zeit, dann auf den Raum. Vgl. Ks. kurze
und nichtssagende Antwort darauf im Brief an Herz vom 21. Febr. 1772. (Vgl.
dazu Caird, CnU Phil 1, 181. 300.) Werthvoller sind Kants Erwägungen hier-
über in seinen nReflexionen** II, S. 107 (her. v. B. Erdmann).
320 Excurs. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
Kaum zugleich real und nicht real sei. Nur im Ausdruck könnte man
diesen Widerspruch in jener Wendung finden, aber sachlich ist es durch-
aus kein Widerspruch, zu behaupten, dass in der Welt der objectiven
Dinge an sich Baum und räumliche Verhältnisse vorhanden seien, und dass
zugleich die Baum Vorstellung in der Einrichtung unseres Subjects wurzele.
Jener Widerspruch wird ja aber auch noch auf andere Weise vermieden:
wenn man (vgl. oben S. 141 ff.) mit Leibniz dem Raum eine theils subjective,
theils objective Bedeutung vindicirt, wenn also ein Theil der Bestimtmungen
des Baumes auf Kosten des Subjects, der andere auf Bechnung des Objects
angesetzt wird. Diese Auffassung kann auch in die Formel gekleidet wer-
den, der Baum sei „etwas Objectives und Subjectives zugleich"; hingegen
hatte Schultz nun schon I, 205 eingewendet, das sei „eine Bastardart von
Begriff, der ich keinen Namen zu geben weiss* Eberhard wendet (Phil.
Mag. IV, 81) mit Becht ein: „Wenn dieses eine Bastardart sein soll, so sind
alle Begriffe von Erscheinungen, so sind Begriffe von Tönen, Farben u. s. w.
Bastardarten." Was Schultz II, 233 erwidert, ist ausweichend, dazu ist es
unklar mit dem Obigen vermischt. — Dass Schultz sich gegen die Leibniz-
Eberhard'sche Annahme eines „intelligibeln Baumes* wendet, wurde schon
oben S. 147 N. erwähnt. Dass ein solcher doch immer wieder auf den sinnlichen
Baum hinauskomme, ist von Seh. richtig bemerkt; seltsam aber ist der
Einwand (II, 11 ff.), nichts verbürge die Pluralität der Dinge an sich: es
könnte ja auch nur ein einziges Ding an sich geben und damit falle das
intelligible Ausser- und Nebeneinander der Dinge an sich von selbst weg.
Und dabei redet Kant selbst oft von den „Dingen an sich* im Plural; eine
Pluralität von Dingen an sich ist ja auch schon durch die Mehrheit der Sub-
jecte gegeben, deren Jedem ja nach Kant auch ein „homo noumenon*' entspricht.
Schultz hat denn selbst wohl das Unbefriedigende solcher Ausfläcbte
gefühlt, und kommt noch einmal auf das Problem zurück. Er sagt (IL
290 ff.): „Ob überhaupt eine Sinnlichkeit von der Art möglich ist, dass ihre
ursprünglichen Formen zugleich die Formen der Dinge an sich sind, dieses
ist eine Frage, deren Beantwortung, sie möchte bejahend oder verneinend
ausfallen, zwar in Absicht auf die apodiktische Gewissheit der Kantischen
Theorie unserer Sinnlichkeit völlig gleichgültig sein würde; allein wofern
sie sich a priori als verneinend erweisen liesse, so würde der wissenschaft-
liche Vortrag dieser Theorie hierdurch ungemein gewinnen.* Für ^die
Kantische Theorie unserer Sinnlichkeit* ist die Beantwortung der Frage
allerdings insofern gleichgültig, als in dem einen wie in dem anderen Falle
Kants Lehre von der Apriorität der Anschauungsformen als solcher bestehen
bleiben könnte. Aber zur „Kantischen Theorie unserer Sinnlichkeit* gehört doch
gerade als wesentlichstes Besultat die Lehre von der exclusivenSubjectivität
jener Formen, und diese Lehre ist ja gerade mit der Verneinung jener Frage
identisch! Weiter: „Es scheint allerdings, dass diese Frage durchaus verneint
werden müsse, indem es ganz unbegreiflich ist, wie die Form eines sinnlichen
Anschauungs Vermögens mit der Form der Dinge an sich, die von jenem nicht
nur gänzlich verschieden, sondern als Dinge an sich zugleich ganz unabhängig
Schultz hat das Problem verdunkelt 321
Yon ihm sein müssen, einerlei sein könnte, unser Weltweiser bat auch in der
That einen sehr deutlichen Wink gegeben, wie einleuchtend ihm die Unmög-
lichkeit hieven sei, da er in der Erscheinung das, was der Empfindung cor-
respondirt, die Materie, das aber, welches macht, dass das Mannigfaltige
der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, die Form
der Erscheinung nennt, und nun folgenden Schluss macht (vgl. oben S. 74 ff.):
^Da das, worinnen sich die Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form
gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist
uns zwar die Materie aller Erscheinungen nur a posteriori gegeben, die
Form derselben aber muss zu ihnen insgesammt a priori bereit liegen/ Er
folgert also aus dem blossen Begriffe der Sinnlichkeit, dass ibr nur
die Materie oder der Stoff, nicht aber die Form der Anschauung von den
Dingen an sich gegeben werden könne, und was heisst dieses anders, als:
die Form der Sinnlichkeit, von welcher Art sie auch immer sei, kann nie
die Form der Dinge an sich sein." Die von uns unterstrichenen Worte
zeigen die neue Verwechslung an, deren Schultz sich hier schuldig macht:
selbst wenn wir den (natürlich unbewiesenen) Satz als bewiesen an nehmen
wollten, dass die Form der Erscheinungen uns nicht von den Dingen an sich
gegeben sei, sondern somit ganz allein aus uns selbst stamme, so bleibt
ja noch immer die Möglichkeit, dass die Form der Sinnlichkeit und die Form
der Dinge an sich von vorneherein in einer prastabilirten Harmonie stehen.
Also immer wieder die alte petitio principiil
Indessen meint nun Schultz, Kant habe jenen Satz, dass die Form der
Sinnlichkeit nie die Form der Dinge an sich sein könne, nicht allgemein
für jede Sinnlichkeit überhaupt bewiesen; jene Stelle enthalte nur einen
Wink; Kant selbst habe aber nicht jenen „kurzen Weg zur Gründung seiner
Theorie" gewählt, sondern einzeln von Baum und Zeit gezeigt, dass sie „nicht
mit dem Stoffe der Empfindungen mitgegeben, mithin nichts weiter als Vor-
stellungen der Form unseres sinnlichen An seh auungs Vermögens sein können.
Also blieb die Frage, ob überhaupt die Formen irgend einer Sinnlichkeit
mit den Formen der Dinge an sich einerlei sein könnten, noch immer unent-
schieden. Herr Rath Reinhold hat sich daher ein nicht geringes Verdienst
um die Philosophie erworben, dass er in seiner Theorie des Vorstellungs-
vermögens die noth wendige Verneinung dieser Frage nicht nur in Ansehung
der Formen der Sinnlichkeit, sondern in Ansehung der Formen des Vor-
stellungsvermögens überhaupt mit seltenem Tiefsinn und meisterhafter Zer-
gliederungskunst aus dem blossen Thema des Bewusstseins : Ich stelle mir
etwas vor, zu erweisen gesucht".
Was es mit dem Reinhold'schen Beweis auf sich hat, haben wir oben
S. 312 ff. gesehen. Anzuerkennen ist, dass Schultz doch zuletzt noch überhaupt
eine Lücke hier bei Kant zugibt. Im Uebrigen hat er, wie wir gesehen,
nichts zur Erhellung dieses dunklen Punktes beigebracht, vielmehr die Ver-
dunkelung derFrage nur befördert; es ist dies umso mehr zu betonen,
als das Werk noch neuerdings „ein Meisterwerk von Klarheit und Eleganz*
genannt worden (Arch. f. Gesch. der Phil. 1889, III, 281). In diesem Punkte
Yaihinger, Kant-Commentar. n. 21
322 Excure. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
wenigstens hat der Lieblingsscbüler Kants nicht klärend, sondern verdunkelnd
gewirkt. Und wir dürfen mit Fug annehmen, dass, wenn es Schultz so miss-
lungen ist, diese Frage befriedigend zu beantworten, weder Kant selbst noch
die übrigen Kantianer eine befriedigende Antwort, eine zulängliche Recht-
fertigung zu geben vermochten. Darauf deutet auch die schon von v. Eberstein
bemerkte allgemeine Zurückhaltung der Kantianer in diesem Hauptpunkte bin.
Angeführt sei nur noch die Meinung von Maimon (Logik S. 142), die Frage:
ob die Vorstellungen von Zeit und Raum in den Dingen an sich oder im
Erkenntnissvermögen ihren Grund haben, müsse unentschieden bleiben,
weil wir von den Dingen an sich und vom Erkenntniss vermögen an sich
keinen bestimmten Begriff haben. Mag da unter , Grund* bloss Ursprung
oder Geltung oder beides gemeint sein — in jedem Falle ist damit das
Charakteristicum der Kantischen Lehre aufgegeben, welche von den Dingen
an sich die Räumlichkeit und Zeitlichkeit bestimmt negirt, und dieselben
mit aller Bestimmtheit ausschliesslich dem Subject und seinem Erkenntniss-
vermögen zuweist.
Uebrigens haben einige Kantianer, so Jacob selbst in der 2. Aafl.
seiner Metaphysik, Heydenreich, Jenisch u. A. durch alle jene Anfech-
tungen sich doch später zu dem Zugeständniss verstanden, dass man ans den
Verhältnissen der Erscheinungen doch wenigstens partiell auf correspondirende
Verhältnisse der Dinge an sich schliessen könne; durch diese Annäherung
an den Leibnizianismus stellen solche Kantianer den inneren und äusseren
Uebergang von Kant zu Herbart her, welch letzterer ebenfalls gegen
die Bündigkeit des Kantischen Beweises sich aussprach (W. W. V, 504—507,
und besonders VI, 116—117 mit ausdrücklicher Berufung aufLeibniz), im
Uebrigen aber die Raumvorstellung selbst empirisch zu Stande kommen Hess.
Herbart nennt (V, 507) Ks. Behauptung der exclusiven Idealität des Raumes
geradezu eine „unkritische Uebereilung".
Die Unzulänglichkeit des Kantischen Beweises ist dann auch fernerhin
natürlich häufig behauptet worden; so haben wir schon oben S. 307 Fries
in dieser Hinsicht auf der Seite der Kantgegner getroffen. Eine ähnliche
Stellung nimmt Krug, entsprechend seinem „Synthetismus", Fundaroental-
lehre 107 ff. 125 ein. Besonders Beneke hat dann Kants Beweis scharf
verurtheilt; schon 1820 in seiner kleinen Erkenntnisslehre 141. 156 sagt er»
man könne es ebenso wahrscheinlich finden, dass „die Dinge mit den Formen
unseres Geistes übereinstimmen '', und ,man kann trotz der zugestandenen
Idealität (als Geistesformen) doch zugleich die vollständige Realität r&nm-
lieber und zeitlicher Ausdehnung behaupten*. Dieser Streit sei durchaus
nicht zu schlichten; „und hat man fast allgemein dem Urheber der Vernunft-
kritik seine Behauptung zugestanden, so liegt der Gimnd davon .... einzig
und allein in dem sinnlichen Bild von einer Form, in welche erst die Dinge
an sich als Materie zusammengefasst werden sollen und also das Gepräge
dieser Form nicht an sich tragen können**. (Vgl. oben S. 65.) Vgl. desselben
Metaphysik, S. 71. 92. 175. 224 ff. 234, wo er sich selbst für ,die gemässigte
idealistische Ansicht" ausspricht, dass die Dinge an sich in einem ^Zusammen*
Herbart, Fries, Beneke, Schleiermacher, üeberweg u. A. gegen Kant. 323
sich befinden, ^ welches in dem räumlichen Zusammen abgespiegelt wird''.
Daher könne der Baum auch nicht bloss einen rein subjectiven, sondern er
müsse auch einen objectiven Ursprung haben.
Eine ähnliche Stellung nimmt auch J. H. Fichte, einer der Haupt-
Vertreter des' »Bealidealismus", ein, bes. in seinen Beitr. z. Charakt. d. n.
Philos. 2. A. 188 AT.; vgl. Gegensätze u. s. w. I, 172, II, 186 ff. 264; Theist.
Weltansicht 164 ff.; Fragen und Bedenken 131. Aehnlich auch Berg, Epi-
kritik 245 ff. 253 ff.; G essner, Speculation und Traum (1830) 1, 264, II, 302 ff.;
besonders scharf und wörtlich mit Trendelenburg's Formulirung übereinstim-
mend Zimmermann, Untersuchungen über Raum und Zeit (Frei bürg 1824)
S. 13. 16. 22. 31; vgl. auch Ule, Raum und Raumtheorien (1850) 6. 36.
38. 42 ff. Auch Tourtual, Die Sinne des Menschen, 1827, LI sq. ent-
wickelte diese , mittlere Ansicht".
Dass Raum und Zeit zugleich vom menschlichen Geiste frei producirt
werden und in der Natur der Dinge sich finden, dass deshalb Kants Beweis
von der Apriorität auf die Subjectivität falsch sei, das war im Grunde auch
Schellings und Hegels Ansicht ^ Aber schon Fichte hat den Uebergang
dazu gemacht; er suchte zwar zuerst, wie wir oben S. 315 sahen, Aenesidems
Angriff zurückzuschlagen, aber spätere Stellen klingen anders; so W. W.
I, 190: ,Es ist das Resultat unserer Synthesis, dass beide [der Idealist und
der Realist] Unrecht haben; dass jenes Gesetz weder ein bloss subjectives
und ideales, noch ein bloss objectives und reales sei, sondern dass der Grund
desselben im Object und Subject zugleich liegen müsse." Vgl. W. W.
I, 343, VIII, 415. — Schelling äusserte sich in seinen früheren Schriften
auch ziemlich unklar (vgl. z, B. W. W. I, 3. 22 ff.), gelangte aber in seiner
letzten Periode zu einem deutlich ausgeprägten Realismus in Bezug auf den
Raum, von welchem aus er gegen Ks. Subjectivitätslehre entschieden auftritt
(W. W. I, 10. 315 ff.) und auf welchem dann E. v. Hartmann seinen
,transscendentalen Realismus" aufgebaut hat. (Vgl. darüber auch Lotze,
Metaph. 227.) Vgl. Hegel, Enc. § 244; Logik I, 279, III, 353; W. W.
VII, 44—47. (Vgl. M. Rackwitz, Hegels Ansicht über die Apriorität von
Zeit und Raum 1891, S. 1—8. 72—82.) Eine Weiterbildung davon bei
C. H. Weisse, bes. .Grundzüge der Metaphysik" (1835) S. 94. 317. 348.
508. 559 (Raum als subjective Kategorie und zugleich als objective Realität).
Auch Schleiermacher fand Kants Beweis unzulänglich. Er sagt
ausdrücklich (Dial. S. 335): „Raum und Zeit sind die Art und Weise zu
sein der Dinge selbst, nicht nur unserer Vorstellungen." Vgl. ib. 397 über
die Identität des realen und des idealen Seins. In directem Anschluss an
Schleiermacher bat dann Üeberweg den Kantisöhen Subjectivitätsbeweis
besonders heftig angegriffen, hauptsächlich in seiner Logik § 44: „üeber die
Realität von Raum und Zeit", woselbst er seine Stellung gegen Kant so
präcisirt: „Nur die Qualitäten (Ton, Farbe, Wärme u. s. w.) sind als solche
rein subjectiv, jedoch Symbole von Bewegungen; Raum und Zeit aber sind
* Aehnlich auch schon Bardili, Philos. Elem. II, 114 ff.
324 Excurg. Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit.
subjectiv und objectiv zugleich;" vgl. ferner die Abhandlungen üeberwegs
in der Altpr. Monatsschr. 1869, VI, H. 3, in Fichte's Zeitschr. f. Philos.
XXX, 1857, 191—225, und in Henle's Zeit«chr. f. rat. Medicin V, 185^
268 — 282. üeberweg hat dabei bes. daraufhingewiesen, dass die Bestimmt-
heit der Empfindungen und ihrer Anordnung sich nur durch eine ähnliche
reale Ordnung der Dinge selbst erklären lasse. (Vgl. oben S. 180 ff. 184.)
Aehnlich Czolbe, Menschl. Erk. 104.
Auch nach dem Trend.-Fischer'schen Streite ist der Vorwurf der Lücken-
haftigkeit des Beweises wieder häufig wiederholt worden ; so bes. scharf tod
E. y. Hartmann, welcher „die dogmatisch angenommene Alternative
ohne den geringsten Schein von Begründung' tadelt (Transsc. Beal. 142: ygl
119 ff.); ebenfalls sehr gut auch von Volkelt (Ks. Erk. 45. 51. 66; vgl.
oben 308 N.). Eine ausführliche und selbständige „Entwicklung des Tr.*schen
Vorwurfes* gibt Massonius, lieber Ks. Transsc. Aesth. Diss. Lips. l'^i*«'.
Ebenso vom Standpunkt des „kritischen Realismus '^ E. L. Fischer, Grundfr.
d. Erk.-Theorie, S. 116 — 166. In erster Linie ist hier aber hinzuweisen ant
den Aufsatz Zellers: „lieber die Gründe unseres Glaubens an die Realität
der Aussenwelt" (Vorträge und Abhandlungen, III 1884, S. 225—285); er
nennt Es. Behauptung „übereilt, da durchaus nicht abzusehen i.st, weshalb
die Bedingungen des äusseren Daseins in den apriorischen Gesetzen unserer
Vorstellungsthätigkeit nicht sollten zum Ausdruck kommen können, weshalb
die Letzteren nicht objective Geltung haben könnten* (271). Vgl. desselben
Gesch. d. deutschen Philos. 1. A. 438, 2. A. 354. Aehnlich auch schon
Baum an n, R. u. Z. II, 654 ff. 674; Philos. a. Orientirung [mehrfach]. Aueb
AI. Wiessner, in dem wunderlichen Buch: Die wesenhafte oder absolute
Realität des Raumes, begründet auf einer Kritik der idealistischen Theorien.
1877, S. 22 ff. 30 ff. 64 ff. 150 ff. ; wunderlich und sonderbar auch v. Hellen-
bach, Vorurtheile d. Menschh. III, 49 ff. 86 ff. ; v. Feldegg, Kosmobiologie
(1891), 24 ff. 48 ff.; v. Varnbüler, Widerlegung der Kr. d. r. V. (1890).
S. 35 ff
Energisch spricht sich auch Lotze gegen die Kantische Identification
der Apriorität mit der exclusiven Phänomenalität des Raumes aus. Zwar
nimmt Lotze selbst auch nicht die absolute Realität eines ausser uns befind-
lichen dreidimensionalen Raumes an, aber er nimmt doch an, dass den von
uns vorgestellten räumlichen Beziehungen der Erscheinungen wahre intelli-
gible Beziehungen der Dinge an sich „entsprechen*' (vgl. oben S. 142 ff.). In
der »Phil. s. Kant*, § 17 sagt er treffend: „So lange wir nicht besonders
beweisen können , dass Dinge ausser uns so , wie wir sie denken müssen,
räumlich-zeitliche Beschaffenheiten nicht vertragen, so lange bleibt die ß^
hauptung der transscendentalen Bedeutungslosigkeit von R. u. Z. ein nicht
begründeter Üeberschuss der Behauptung.'^ Er nennt Kants These
daher geradezu eine „unbesonnene Uebertreibung' ; „eine blosse Er-
scheinung in uns ist der Raum nicht, der nichts im Reellen entspräche : jeder
einzelne Zug vielmehr unserer räumlichen Anschauungen entspricht einem
Grunde, den er in der Welt der Dinge hat; nur mit denjenigen Eigenschaften.
Volkelt, Zeller, Lotse, Wundt gegen Kant. 325
die der Ranm in unserem Bewasstsein hat, kann er nicht ungedacht und
unangeschaut für sich bestehen/ ' (Metaphysik 218; ygl. 202. 222 u. ö.)
Für die Zeit dagegen nimmt Lotze ib. 297 die volle Objectivität in Anspruch.
(Vgl. Eyfferth, Ueber die Zeit, 24 ff.) Vgl. hiezu BoUiger, Antikant 372 bis
374. Aehnlich Beyersdorff, Die Raumvorstellungen, S. 52—59, und neuer-
dings auch z. B. Hamerling in seiner Atomistik des Willens , 1891 , I,
181 ff. Denselben Standpunkt eines „gemässigten Idealismus'* im Gegensatz
zum , extremen Idealismus ** und Subjectivismus Ks. nimmt auch H. Bender
ein in der Zeitsehr. f. Philos. 1885, S. 1—48, und „Z. Lösung des metaph.
Problems*, 1886, 24 ff. 65 ff. Ebenso Dorner, Menschl. Erk. 72 ff. P. Wide-
mann. Sein u. Erk,, 1886. Vgl. auch Liebmann, An. d. Wirkl. 68. Auf
jenen «gemässigten Idealismus" (den man aber ebenso gut als „ gemässigten
Realismus'' bezeichnen kann) kommt auch Wundt hinaus, welcher (Logik I,
461 — 464) gegen Kant ausfuhrt, die Raumvorstellung beruht zwar auf einer
^subjectiven psychischen Synthese" ; , gleichwohl kann ihr nicht bloss die Bedeu-
tung einer subjectiven Anschauungsform zukommen, welcher die objective
Wirklichkeit in nichts entspräche". Vielmehr weise der „Zwang", die Dinge
in bestimmte Raumformen zu bringen (vgl. oben S. 182), auf „objective
Bestimmungsgrunde" hin; wenn wir das Subjective abziehen, „so bleibt als
Rest die regelmässige Ordnung eines Mannigfaltigen, das aus einzelnen
selbständig gegebenen realen Objecten besteht"; (analog bei der Zeit ib. 434);
vgl. desselben „System", 147 ff. Zu einem solchen mehr oder weniger Leib-
niz'schen Spiritualismus bekennt sich, Kant gegenüber, auch Bergmann,
Metaph. 187. 292. 323 ff., Logik 71.
Auch im Ausland ist ganz in demselben Sinne oft ^n Kant Kritik
geübt worden, bes. in Italien. Die Italiener haben sich von jeher mit Kant
sehr eingehend, gründlich und fruchtbar beschäftigt. Vgl. auch K. Werner,
Kant in Italien. Wien 1881; bes. S. 20—26 über Galuppi, S. 30 über
Rosmini, S. 58 über Mamiani. Nicht erwähnt ist aber daselbst Spaventa,
von dessen verschiedenen Schriften über Kant besonders hier zu erwähnen
ist: Kant e VempirismOy 1880. In dieser Schrift wird, speciell in Bezug auf
Raum und Zeit, die These durchgeführt, che Verrore consiste nel credere che
la auhieüiüitä escluda affato Vobietiivüä e viceversa. (Vgl. auch desselben Schrift :
Tempo e spaiio nella prima forma del sistema di Grioherti,) Hiegegen hat sich
' Ueber Lotze^s Stellung zu dieser Frage vgl. femer auch seine „R^ponse
ä M. Renauvier: L'infini aetuel esi-il contradictoire»*' Revue Philos, 1880, 481 ff.
(Kleine Schriften III, 1891, 492 ff.). Der Kern der Lotze'schen Position ist in dem
treffenden Satze enthalten: „C'est alors que commence cette perpHuelle torture
de Veeprit condamni ä la fois ä chercher dans les choses en soi les conditions qui
dHerminent la diver eiti de Vapparition , des ph^omenes, et ä refuser ä ces meines
choses toutes les däerminations de muUitude, de vaH4i4y de relation, qui leur seraient
cependant necessaires pour conditionner ce cours si variS des faits d*expirienceJ^ —
Vgl. auch J. Franke , Lotze's Lehre von der Phänomenalität des Raumes , Diss.,
Halle 1884, bes. S. 25; und Koppelmann, Lotze's Stellung zu Ks. Kriticismus,
Z. f. Philos. 88. Bd. (1886) S. 4 ff. 19—28.
326 Excurs. — § 8. Schlüsse in Bezug aaf den Raum.
nun wieder gewendet S. Turbiglio in seiner gründlichen AnaUsi storica-
critica della critica della ragion pura^ 1881, S. 44—51. Cantoni, Kant I, 225.
Auch die französische Literatur bietet vieles treffliche Material far
dieses Problem dar. Erwähnt sei nur Ott, Critique de VidiaUame 1883,
welcher sich bes. gegen Renouviers Kantianismus in diesem Punkte wendet
(8. 12. 110. 135. 168. 316. 372).
Aus der englischen Literatur verdient in erster Linie Erwähnung die
Kritik Spencers (Grundl. d. Psych. I, § 47; II, § 399. Vgl. auch Mind, 1890,
S. 305 ff. Vgl. oben S. 150. 217). Vgl. ferner Man sei, Prijleg. Log. 82.
Lewes, Gesch. d. Phil, deutsch II, 571. Wir schliessen diese üebersicht
mit dem Amerikaner Morris, welcher in seinem „Kant* (1882) S. 72 — 79
den Schluss Ks. aus der Apriorität auf die Subjectivität eingehend analvsirt:
er schliesst diese Analyse mit einem energischen: Non stquitur.
Zweiter Absatz (Schluss b).
A 26. B 42. [R 37. H 61. E 78.]
Dieser zweite Absatz der „Schlüsse aus obigen Begriffen*^ besteht ans
zwei Sätzen, welche getrennt besprochen werden müssen. Der erste Satz stellt
die These auf, der Baum sei die Form der äusseren Anschauung. (Prägnant
ist hiefür der Ausdruck der Dissertation: § 15 C: conceptus spcUii (sensatio-
fiibus non con flatus) j sed omnis sensationis externae forma fundamentalis.
ib C: spatii conceptus ipsam omnis intuitus sensualis formam in se eontinetj
Wie wird dieser vielsagende Satz erreicht? Es könnte erscheinen, als sei
dieser Satz nichts als die unmittelbare Folgerung aus dem Schluss a: in
diesem wurde gesagt, was der Raum nicht ist — er ist nichts, was irgend-
wie den Dingen selbst angehört ; daraus scheint unmittelbar zu folgen,
was der Raum sein müsse: die Form der Erscheinungen, die subjectire
Form unserer Sinnlichkeit. So fasst z. B. Arnoldt R. u. Z. 123 diese These
auf als eine blosse positive Ergänzung zu dem negativen Ergebniss des
Schlussesa. (Vgl. Cohen, 2. A. 172.) Allein die beiden Resultate, welche
wir bisher erreicht haben: 1) der Raum ist eine reine Anschauung; 2) er
gehört den Dingen an sich nicht an — diese beiden Sätze würden nicht
genügen, um daraus den Schluss ziehen zu lassen — also ist er die Form
des äusseren Sinnes. Weder von „Form'', noch von „äusserem Sinn' ist in
jenen zwei Sätzen die Rede gewesen. Diese beiden Bestimmungen „Form' und
„äusserer Sinn" sind etwas Neues, was mit grosser Plötzlichkeit auftritt, ru
dessen Annahme wir wohl überrumpelt, aber nicht überzeugt werden sollen.
Im Handumdrehen wird die apriorische Anschauung, die nicht fnr die
Dinge an sich gilt, zur apriorischen „Form" der Receptivität, ver-
mittelst welcher allein uns alle äussere Anschauung möglich sein soll. Für diese
Ernennung zur „Form", zum ,, äusseren Sinn" fehlt die Prämisse. Die Trag-
weite dieses, hier nicht genügend gerechtfertigten üeberganges
wurde schon oben S. 273. 279. 298 hinreichend gekennzeichnet Es
ist nöthig, immer wieder den Finger auf diesen logischen Schaden zu legen.
Der Raum als die ^Form*' der äusseren Erscheinungen. 327
[B 87. H 6L 62. E 78.] A 26. B 42.
Es bleibt nichts übrig als anzunehmen, dass Kant hier noch etwas
stillschweigend vorausgesetzt habe. Und das brauchen wir nicht lange zu
suchen. Das besteht eben in jenen Voraussetzungen Kants über die ,,Form"
und den „äusseren Sinn", welche wir oben S. 61 ff. und S. 124 ff. hinreichend
kennen gelernt haben. Diese unbewiesenen Voraussetzungen werfen also
ihre Schatten in diese Argumentation hinein, und ohne selbst dort irgend-
wie bewiesen zu sein, werden sie hier als Beweismittel verwendet. (Aehnlich
A dickes, S. 77 N.) Erst in den Proleg. § 8 ff . (vgl. oben S. 276 ff.) hat
Kant die „Form** näher, aber nicht glücklicher zu begründen gesucht. (Vgl.
Erdmann, Nachträge S. 16.)
Für Kant ist es nun freilich erwiesen, dass die reine Anschau-
ung des Raumes zugleich die noth wendige Form der äusseren Anschauung
sei, d. h. dass jene apriorische Vorstellung des Raumes nicht anders
begreiflich sei , als wenn wir in ihr eben zugleich die formale Be-
schaffenheit haben, vermittelst welcher wir die durch Affection seitens der
Dinge an sich entstandenen Empfindungen als äussere räumliche Anschau-
ungen erfassen. Die reine Anschauung ist nur begreiflich als Form
der Anschauung. Dieser von Kant und seinen Anhängern oft wieder-
holte Satz findet also hier seine freilich sehr mangelhafte Begründung. Der
nervus probandi dafür ist für die rein synthetische Darstellung , nach der
Meinung Kants, eben im Schlüsse a enthalten. So stehen wir denn hier an
dem entscheidenden Wendepunkt der Argumentation. Die Kantianer
selbst haben diesen Satz meistens ohne jede Begründung wiederholt, häufig *
auch anders zu begründen gesucht. Vgl. z.B. Schultz, Erl. 24. Heusinger,
Enc. I, 286. 301. 303. Arnoldt, R. u. Z. 36 f. Riehl, Krit. II, a, 107 ff.
(vgl. dazu oben S. 269 Anm. 4). Schopenhauer, Kr. d. Kantischen Philos.
518 f., behauptet geradezu, „Erkenntnisse a priori^' und „selbsteigene Formen
des Intellects" seien gewissermassen Synonyma.
Auch Kant selbst hat diesen Satz oft, ebenfalls ohne Begründung,
wiederholt. So z. B. in den Reflexionen II, 397; in dem Nachgel. Werk
XXI, 554. Sehr bemerkenswerth ist der Einwand, welchen Pistorius (A.
D. Bibl. Bd. 89, I) hiegegen macht: „Wir wollen nur bemerken, dass, wenn
wir uns nicht gänzlich irren, in dem Schlüsse von der Nothwendigkeit ge-
wisser Vorstellungen auf ihren alleinigen Grund im Erkenntniss vermögen,
die objective Realität des Principiums der Causalität vorausgesetzt werde* ^
was Ks. späteren Aeusserungen über dessen rein subjective Gültigkeit wider-
spreche. (Vgl. oben S. 11.) —
Der zweite Satz dieses Schlusses b) will durch das Bisherige eine That-
sache ,, verstehen" lehren, welche also ohne diese Erklärung räthselhaft bleiben
müsste. Diese Thatsache ist der Umstand, dass wir „vor aller Erfahrung*'
über „die Verhältnisse der Gegenstände** Aussagen machen können, m. a. W.,
dass wir über die Erfahrungsgegenstände vor aller Erfahrung gültige Aus-
sagen machen können. Es ist dies nichts anderes, als das uns wohlbekannte
antithetische Problem (Band I, 390 ff.), das Grundproblem der K. d. r. V.
328 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A26.B42. [R 87. H 62. E 78.]
überhaupt. Genauer genommen wird diese Thatsache in einer doppelten
Wendung ausgedrückt: 1) „Die Form aller Erscheinungen ist vor allen
wirklichen Wahrnehmungen im Gemüthe gegeben", d. h. concret: alle Er-
scheinungen sind im Baume, müssen im Baume sein; 2) wir können aber
nicht nur allgemein sagen, dass jeder Gegenstand, der uns vorkommen kann,
im Baume sein muss, sondern wir können auch sagen, dass alle geometri-
schen Sätze nun von diesen Gegenständen gelten müssen, wir können eben
deswegen „die Verhältnisse der Gegenstände vor aller Erfahrung bestimmen".
(So auch Schultz, Erl. S. 25, Biehl I., 352.) Inwiefern lässt sich diese That-
sache denn nun „verstehen"? (üeber diese Wendung vgl. Comm. I, 389 — 390.)
Weil eben schon erkannt worden ist, dass der Baum nur subjectiv ist, nur
die Form des äusseren Sinnes, und weil eben diese formale Beceptivität,
diese Beceptivitätsform allen concreten Anschauungen vorhergehen muss, da
ja diese erst durch sie ihrer formalen Beschaffenheit nach zu Stande kommen.
Eben weil der Baum nichts ist als eine Functions form unseres Gemüthes,
müssen wir nothwendig im Stande sein, die Aussenf orm der empirischen
Gegenstände vorherzusagen und über dieselbe apriorische Sätze auszusagen^
(Diese beiden Bedeutungen hat der hier zweimal gebrauchte Ausdmck
„Form".) — Ueber die „Objecte" hier vgl. oben S. 54.
Das hier Gelehrte wird auch in dem Nachgel. Werke mehrfach treffend
vorgetragen, XIX, 570. 576; XXI, 551. 554. 555. 557 ff. 563. 568. 583: „Die
Idealität der gegebenen Vorstellung als Erscheinung enthält den Grund
der Möglichkeit, dasselbe a priori im Baum und der Zeit vorstellig za
machen." „Das Princip der Idealität des Banmes und der Zeit ist der
Schlüssel der Transscendentalphilosophie, nach welchem das Erkenntniss syn-
thetisch und a priori allein erweitert werden kann." So heisst es auch in
der Kr. d. ü. § 58 (vgl. Einl. IX): „Die Idealität der Gegenstände derSmne
als Erscheinungen ist die einzige Art, die Möglichkeit zu erklären, dass ihre
Formen a priori bestimmt werden können."
Stadler fasst (Philos. Mon. 1881, 337, 339) diesen Schluss in folgende
Formel: „Das Bewusstsein der Nothwendigkeit entspringt aus der apriori-
schen Einsicht, dass aus dem Wechsel der Empfindungen keine Formen her-
vorgehen können, welche den Prinoipien der Anschauung widerstreiten; dena
diese letzteren enthalten die Bedingungen, unter denen es überhaupt allein
möglich ist, aus dem Wechsel der Empfindungen Formen zu prodnciren.''
„Wenn die Baumanschauung bei jeder einzelnen Erfahrung im Bewusstsein
schon vorhanden sein muss, wenn letztere nur als Etwas erscheint, das in
sie aufgenommen wird , so kann die einzelne Erfahrung auch nicht über
Eigenschaften des Baumes neuen Aufschluss bringen." Auf Grund dieses
Argumentes bekämpft Stadler daselbst die Meinung von v. Helmholtz, es
könnten einmal Bäume oder Gegenstände in denselben gefunden werden, auf
welche unsere Mathematik nicht passe.
Das logische Gefüge der Transsc. Aesthetik. 329
Excurs.
Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
Hier ist nun eine Stelle, an welcher wir innehalten und gewissermassen
Athem schöpfen müssen. Hier, wo Kant offenbar seine Beweisführung
scbliesst und zu Folgerungen übergeht, müssen wir uns Rechenschaft
geben über den zurückgelegten Weg, über den methodischen Zusammenhang
der Schritte, die wir bisher einzeln analysirt haben. Diese Einsicht in das
logische Oefüge der gesammten bisherigen Argumentation ist ebenso wichtig
als schwierig. Kant selbst hat diese Einsicht durch mancherlei Unklarheiten
und Inconsequenzen erschwert, und daraus entsprangen dann Unklarheiten
und Streitigkeiten seiner Ausleger. Für uns selbst sind die Schwierigkeiten
indessen nicht mehr so gross: wir können uns stützen auf die, Band I^
384—450 gegebene, „Methodologische Analyse der Kr. d. r. Y.^^
Was wir damals erarbeitet haben, davon können wir jetzt Yortheil ziehen.
Es würde sogar genügen, wenn wir den Leser einfach auf jene fundamentale
Untersuchung verweisen würden; denn alles Wesentliche ist dort schon vor-
weggenommen. Wir werden indessen hier zunächst selbständig vorgehen;
die folgende methodologische Analyse setzt von Neuem ein, und wird rück-
wärts jenen Excurs des I. Bandes bestätigen und zugleich ergänzen.
Der entscheidende Gedankengang der Tr. Aesthetik, ihr Kern ist ent-
halten in der , Metaphysischen und Transscendentalen Erörterung", sowie
in den „Schlüssen" bis zu dieser Stelle. Was vorhergeht, sind Definitionen
und Prämissen; was folg^, sind Folgerungen und Scholien. Nur jene da*
zwischenliegende Partie enthält die eigentliche Theorie. Nach Kants Logik
§ 89 sind von einer Theorie wesentlich zu unterscheiden 1) die Corollarien
== unmittelbare Folgerungen aus der Theorie; 2) die Scholien = Erläute-
rungssätze, die nicht als Olieder zum Ganzen des Systems gehören. (Vgl.
die lateinischen Schriften Kants von 1755 und 1756, in welchen er diese
logischen Schemata sehr streng eingehalten hat.) Die folgenden Theile der
Aesthetik (natürlich mit Ausnahme der der Kaumtheorie entsprechenden
Theorie der Zeit) sind also theils Corollarien, theils Scholien. Was wir
bisher gehabt haben, enthält die eigentliche Theorie. Diese zerfällt (s. Logik
a. a. 0.) in Thesis und Demonstration. Die Demonstration kommt zu Stande^
indem der Inhalt der Thesis j,aus unmittelbar gewissen Sätzen durch eine
Reihe von Folgen gezogen wird". Diese „unmittelbar gewissen Sätze" (vgL
Logik §33 — 35) sind nun die in den Prämissen und Definitionen * der Ein-
leitung ausgesprochenen „Principien" : und zwar gilt dies sowohl von der
Allgemeinen Einleitung zur Kr. d. r. V., welche Bd. I, 158—496 besprochen
* Indem Kant gleich am Anfang eine grosse Anzahl von Definitionen voran-
stellt, fehlt er gegen seine eigene Regel, in der Philosophie solle die Definition
das Werk eher schliessen als anfangen (A 780, ß 758). Diesen Tadel erhebt
übrigens auch ein Kantianer, König, Phil. Mon. 1884, 243.
330 Excurs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
wurde, als von der in diesem Bande 1 — 184 behandelten Speciellen Einleitung
zur Transsc. Aesthetik. Also steckt eben in jenen Definitionen und Prä-
missen schon die ganze Theorie in nuce^ (vgl. oben S. 34); sie bilden im
Folgenden die verschwiegenen fufidamefita probationis.
Die Definitionen und Prämissen sind grösstentheils schon Bd. I,
425 ff. 430 f. 494 f. herausgestellt worden^; auch ist oben mehrfach auf
den methodologischen Werth der einzelnen Positionen der Einleitung auf-
merksam gemacht worden. Eine grün d wesentliche Prämisse bildet die Vor-
aussetzung afficirender Dinge an sich, S. 6—9. 14 ff. 20 f. 23. 27 ff. 109—111
(vgl. den Excurs über dieses Thema, S. 35 — 55). Das Gegenstück dazu
bildet die Voraussetzung dessen, worauf jene Affection ausgeübt wird, de::
Gemüths, S. 9 — 12; ferner die damit zusammenhängende Voraussetzung der
Gemüthskräfte oder Seelen vermögen, S. 13 f., speciell der Sinnlich-
keit und des Verstandes, und ihres Unterschiedes, S. 13 f. 22 ff. Damit
hängen zusammen die Definitionen von Empfindung (S. 26 ff.), Anschauung
(S. 5. 29) und Erscheinung (S. 30—35) ', sowie von empirischer An-
schauung (S. 29 ff.) und reiner Anschauung (S. 101—107). Wichtig
sind ferner die Voraussetzungen, dass unsere Anschauung nur sinnlich
sein könne (S. 24 — 26), dass es aber doch möglicherweise noch eine andere
nicht-sinnliche intellectuelle Anschauung geben könne (S. 24 ff.).
Dazu kommen nun folgende für die Aesthetik besonders wichtige
Prämissen: die Trennbarkeit von Form und Materie in der Erschei-
nung, S. 56—69, und damit zusammenhängend die nicht genug zn beachtende
^ Man könnte versucht sein, aus den Definitionen und Prämiesen die ganze
Transsc. Aesthetik tnore geometrico in strengstem Zusammenhang abzuleiten
(vgl. Comm. I, 494). Einen beachtenswerthen Versuch dieser Art hat schon Fülle-
born, 1797, in seinen .Beiträgen z. Gesch. d. Philos.* 5. St. S. 128 ff. gemacht
* Vgl. hiezu jetzt W. Münz, Die Grundlagen der K.*schen Erkenntnisstheorie,
2. A. 1885. Derselbe unterscheidet 1) logische Prämissen (Unterschied des
analytischen und synthetischen Urtheils, des apriorischen und aposteriorischen Ur-
theils); 2) psychologische Prämissen (Sinnlichkeit und Verstand; Stoff und
Form); 3) metaphysische Prämissen (das Ding an sich). — Sieben (fakcheJ
Voraussetzungen von Kants Aesthetik zählt vom Wundt'schen Standpunkte ao^
auf Ad. Schmid, Zu Ks. Lehre vom Raum. Diss. Leipz. 1890, S. 16—20. —
Vgl. übrigens auch noch F. A. Lange, Gesch. d. Mat. II, 124. — Die wichtigste
Prämisse aus der Allgemeinen Einleitung der Er. d. r. V. ist die Comm. I, 206 ffi
425 ff. besprochene Annahme : strenge Allgemeinheit und Nothwendigkeit seien die
Merkmale apriorischen Ursprunges. Vgl. oben S. 78—88. 186 ff. 193—196. 200 f.
^ Es ist wohl zu beachten, dass nur die Definition der , Erscheinung' in
dem oben S. 35 festgesetzten neutralen Sinne eine Prämisse bildet^ dagegen ist
der Begriff der „Erscheinung" im „transscendentaleh Sinne* erst eine (unten S. 35^
gezogene) Folgerung. Dem entsprechend besagt die oben an erster "Stelle mit
aufgezählte Prämisse afficirender Dinge an sich nur^ dass gewisse Dinge un?
afficiren müssen, damit wir Empfindungen bekommen; aber dass diese Dinge uns
gänzlich unbekannte, jedenfalls aber um*äumliche Gegenstände («Dinge an sich* im
,tran8scendentalen Sinne") seien, ist erst eine Folgerung.
Definitionen und Prämissen. — Erste Auflage. 331
Doppelprftmisse, dass die Empfindungen rein qualitativ seien ^, und dass
der Baum nicht empfindbar sei, S. 69—80. Sodann die weitere Doppel-
prämisse der Existenz eines äusseren, insbesondere aber dereines inneren
Sinnes S. 124 — 130. Nicht zu vergessen ist endlich die allgemeine methodo-
logische Voraussetzung der Isolirbarkeit von Sinnlichkeit und Verstand,
Form und Materie u. s. w., S. 107 f. 120—128.
Den Anfang der eigentlichen selbständigen Untersuchung der Aesthetik
hat Kant selbst ganz scharf kenntlich gemacht: es ist das jene Stelle, vgl.
oben S. 130, in welcher er das Problem von Baum und Zeit auf wirft und
die möglichen Lösungen zergliedert. Unmittelbar hinter dieser Problem-
stellung, oben S. 156, beginnt die eigentliche Untersuchung; in welchem
Sinne Kant dieselbe in der 2. Aufl. als „Erörterung* bezeichnet, wurde oben
S. 155 besprochen. In welchem Sinne er diese Erörterung ebenfalls erst in
B in eine „metaphysische* und in eine „transscendentale* spaltet, wurde
ebenfalls oben S. 151 ff. 263 verhandelt und wird sogleich unten noch einmal
kritisch zu besprechen sein.
A. Der ursprfingliche Gedankengang in der ersten Auflage.
Der Gang ist hier folgender: 1) Die Untersuchung setzt ganz selb-
ständig ein; aus der „Beschaffenheit der Vorstellung vom Raum" (Vorr.
B XXII) als solcher sucht Kant den Lehrsatz (genauer eigentlich den Doppel-
lehrsatz) zu beweisen, dass dieselbe sein müsse 1) eine apriorische, 2) eine
anschauliche Vorstellung. Eine genaue Zusammenstellung dieser Beweise
' Nicht zu verwechseln ist damit die Annahme, dass die Empfindungen, weil
sie von unserer Beschaffenheit abhängen, subjectiv sind. Diese allen Philosophen
der neueren Zeit seit Cartesius gemeinsame Annahme der Subjeetivität der
Empfindungen hat Kant zwar auch getheilt (vgl. A 378: „Man kann doch ausser
sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst*^), aber sie dient nicht als Prämisse
in seinem entscheidenden Gedankengange; er stellt dies zwar so dar in den Fro-
legomena § 13, Anh. II, worüber die Bemerkungen zu Aesth. A 28 — 30 unten zu
vergleichen sind, woselbst eben von der Subjeetivität der Empfindungen bei Kant
die Rede ist. Aber in dem ausschlaggebenden Passus der Aesthetik, den wir hier
analysiren , spielt jene Voraussetzung nicht die geringste Rolle. Und in dem un-
mittelbar folgenden Passus A 26—28, in welchem die anthropocentrische idealistische
Weltanschauung auf Grund des Vorhergehenden entwickelt wird, wird die
Idealität der „ausgedehnten Wesen'', der Dinge im Räume direct aus der Sub-
jeetivität und Idealität des Raumes abgeleitet, ohne jede Benützung des Mittel-
gedankens, dass ja ohnedies die Sinnesqualitäten nur subjectiv seien; dieser Ge-
danke ist nicht einmal urgumentum auxiliare dabei. Kurz, aber scharf hat Kant
diese seine Argumentation zusammengefasst A 374 : Der Raum sei nichts Anderes
als blosse Vorstellung, mithin bestehe auch alles Wirkliche in ihm nur aus Vor-
stellungen. Vortrefflich hat dies schon Zell er (Gesch. d. D. Philos. 426, 2. A. 345)
ausgesprochen: „So stark Kant auch die Subjeetivität aller unserer Wahrnehmungen
hervorhebt, so begründet er sie doch immer nur damit, dass die Formen, unter
denen die Empfindungen von uns zusammengefasst werden, nicht damit, dass auch
schon die Empfindungen als solche durch apriorische Vorstellungsgesetze bestimmt
werden.» (Vgl. Paulsen, Entw. 188 f.) Windelband, Gesch. d. n. Phil. II, 37.
332 Excurs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
haben wir oben 8. 261—263 gegeben. Auf die Prämissen, welche in diesen
Beweisen eine Rolle spielen, wurde oben mehrfach S. 165. 186 ff. 193 — 196.
200 ff. aufmerksam gemacht.
2) In diesen Beweisgang hat Kant nun ungenauerweise Gedanken hinein-
geschoben, welche streng genommen absolut nicht in diesen Zusammenhang
hineingehören : er zeigte, dass aus der so nachgewiesenen Beschaffenheit der
Raumvorstellung sich die Eigenthümlichkeit der Urtheile der reinen Mathe-
matik als solcher erkläre. Ueber die eigenthümliche methodologische
Stellung dieser Abschnitte haben wir uns oben S. 202 f. 233 f. hinreichend
ausgesprochen. Das 3. Raumargument der ersten Auflage steht den an-
deren Argumenten nicht gleich, weder materiell, noch formell; nicht mate-
riell, denn es handelt sich dabei nicht um die „Beschaffenheit der Vorstellung
vom Raum^ selbst, sondern um die mathematischen urtheile, die ans ihr
fliessen. Aber auch nicht formell; denn der fragliche Passus ist zunächst
kein Beweis, wie die anderen Beweise, sondern es handelt sich dabei um
eine Folgerung (aus der allerdings rückwärts wieder ein indirecter Beweis
geschmiedet werden kann S. 203 ; vgl. Comm. I, 434). Die Folgerungsnatur
dieser Bezugnahme auf die reine Mathematik tritt noch deutlicher entgegen
aus der Schlussbemerkung des vorletzten Raumargumentes, deren methodo-
logische Function 8. 233 f. erörtert wurde.
3) Wir sehen nun zunächst ab von den Aenderungen der 2. Auf-
lage, speciell von der erst in B eingeschobenen „transscendentalen Erörte-
rung", und verfolgen die 1. Auflage weiter: in ihr folgten nun sogleich die
„Schlüsse aus obigen Begriffen^; zuerst der Schluss a): der Raum bezieht
sich nicht auf Dinge an sich ; dann der Schluss b) : der Raum ist die Form
der Erscheinungen des äusseren Sinnes. In welchem Sinne diese Thesen
Schlüsse aus „obigen Begriffen" seien, haben wir hinreichend erörtert; die
„obigen Begriffe", welche zu Schluss a) verwendet werden, bestehen eben in
der Erkenntniss, dass der Raum sei eine apriorische und eine anschauliche
Vorstellung; aber es bedurfte noch einer anderen sehr vielsagenden Prämisse,
um aus beiden Prämissen zusammen den Schluss zu ziehen : Der Raum bezieht
sich nicht auf die Dinge an sich. Dies wurde oben 8. 287 — 290 eingehend
erörtert. Dem Schluss b) mussten wir S. 326 das Prädicat einer gewissen
Plötzlichkeit geben: Die „obigen Begriffe" und der Schluss a) bilden in ihm
die eine Prämisse, aber die andere Prämisse, welche zu jenem Schluss b)
berechtigt hätte, verraissten wir an Ort und Stelle. Aber in den knappen
Worten der beiden Schlüsse fanden wir den innersten Kern derTr.
Aesthetik: Die These, dass der Raum als Form der Erscheinungen sich nicht
auf Dinge an sich beziehen könne.
4) An den Schluss b) ist nun, wie wir oben fanden (S. 327) ein Zosatz
angefügt, welcher sehr wesentlich von der These als solcher zu trennen ist.
Dieser Zusatz bezieht sich auf die Möglichkeit, die Verhältnisse der Er-
fahrungsgegenstände vor aller Erfahrung zu bestimmen, d. h. auf die Mög-
lichkeit, vermittelst der mathematischen Sätze die Eigenschaften der Er-
fahrungsgegenstände vorherzusagen , also m. a. W. auf die Gültigkeit und
Logischer Bau und logische Mängel der ersten Auflage. 333
Berechtigung der Anwendung der reinen Mathematik auf die empirischen
Objecte. Mit der These als solcher hat dieser Gedanke nichts zu thun, die
These bestünde auch ohne diesen Zusatz. Derselbe ist vielmehr nur eine
beiläufige Folgerung aus der These: Aus dem Umstand, dass der Raum
nichts ist als die Form der Erscheinungen des äusseren Sinnes, lässt sich
nun auch verst-ehen, warum wir vermittelst der mathematischen Urtheile
die Beschaffenheit der Erscheinungsobject antecipiren können.
Wenn wir nun diese ursprüngliche Darstellung in der 1. Auflage
rein far sich ins Auge fassen, noch ohne jegliche Bücksicht auf B, so finden
wir in derselben folgende Schritte (deren Zusammenhang schon oben S. 278
Anm. erörtert wurde):
1) Kant beweist zunächst als ersten Doppel- Lehrsatz, dass der Raum
sei eine apriorische und eine anschauliche Vorstellung.
2) Als eine eingeschobene Folgerung aus diesem Lehrsatz ergibt sich die
Erklärung der Sätze der reinen Mathematik als nothwendiger und synthetischer.
8) Dann wird der zweite Doppel-Lehrsatz aufgestellt und bewiesen,
nämlich, dass der Raum nicht gelte für die Dinge an sich, sondern sei die Form
der Erscheinungen des äusseren Sinnes.
4) Als eine angehängte Folgerung aus diesem zweiten Lehrsatz ergibt
sich die Erklärung der Gültigkeit der Anwendung der reinen Mathematik auf
<lie Erfahrungsgegenstände.
Wenn wir nun die Entwicklung dieser Gedanken bei Kant eben wieder
nur in A prüfen, so haben wir an derselben folgende formelle Ausstellungen
zu machen: die beiden Folgerungen sind nicht hinreichend von den beiden
Lehrsätzen, aus denen sie fiiessen, geschieden. Die erste Folgerung ist recht
ungeschickt mitten in die Beweisgänge des ersten Lehrsatzes hineingesprengt;
die zweite Folgerung ist hinten an den zweiten Lehrsatz nur so beiläufig an-
gehängt. Die beiden wichtigen Folgerungen sollten vielmehr deutlich und
klar herausgehoben, hinter ihren Lehrsätzen für sich aufgestellt und eben
als Folgerungen gekennzeichnet sein. Es wäre dies nothwendig schon aus
dem rein formellen Grunde, dass eben methodologisch Lehrsatz und Folge-
rung sich wesentlich unterscheiden , also auch geschieden werden müssen ;
es wäre aber auch nothwendig wegen der Wichtigkeit des Inhalts: denn
dass in diesen Folgerungen 1) die reine Mathematik und 2) das Recht ihrer
Anwendung auf die Dinge begründet wird, das ist doch wichtig genug, um
diese Folgerungen recht deutlich und scharf herauszuheben.
B. Die Einschaltung der transscendentälen Erörterung in der
zweiten Auflage« Diese Nothwendigkeit hat nun auch Kant gefühlt und
eben darum in B die „transscendentale Erörterung^ eingeschoben. Diese
Einschiebung erfüllt ja jene von uns aufgestellten Forderungen, aber in einer
Weise, welche vom Kantischen Standpunkt aus selbst gar nicht zu billigen
ist. Auf den ersten Blick freilich nimmt sich die «Transscendentale Er-
örterung des Begriffs vom Räume'' sehr schön aus. (Vgl. P au 1 s e n , Entw. 168.)
Mit wünschenswerthester Deutlichkeit wird gezeigt, dass aus der gegebenen
^ Erklärungsart " des Raumes sich die Möglichkeit der Geometrie ergebe.
334 Excurs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
um diesen Nachweis recht deutlich von der bisherigen Untersachung der
Raumvorstellung als solcher zu trennen, wird diese als metaphysische, jener
als transscendentale Erörterung des Raumbegrififs bezeichnet. Die meta-
physische Erörterung untersucht die Raumvorstellung und stellt als Er-
gebniss den Lehrsatz auf, dass dieselbe sei apriorisch und anschaulich. Die
transscendentale zeigt, dass und wie aus dieser Anschauung a priori synthe-
tische Sätze a priori fliessen^ zieht also eine Folgerung aus jenem Lehrsatz.
(Vgl. oben S. 151. 263.)
Nun wäre das Alles recht schön und gut, wenn Kant nicht eben in
diese Transsc. Erörterung seinen dritten Absatz hineingeschoben hütt« (vgl.
oben S. 268). Durch diesen hat er den ganzen Zusammenhang verdunkelt,
ja verdorben. Denn das geht aus dem Bisherigen klärlichst hervor, dass
die bis dahin in der metaphysischen Erörterung „gegebene Erklärungsart'
der Raum Vorstellung nur die Möglichkeit der reinen Mathematik als
solcher „begreiflich macht": ist der Raum eine Anschauung a priori, so
sind die auf ihn bezüglichen Sätze synthetische a priori. Aus der bis dahin
gegebenen Erklärungsart ergibt sich aber noch nicht im Mindesten auch
das Recht der Anwendung der reinen Mathematik auf die empirischen
Objecte im Räume: dies ergibt sich erst, wenn der Raum eben nicht bloss
als Anschauung a priori, sondern wenn diese Anschauung a priori auch
zugleich als Form des äusseren Sinnes erkannt ist. Dieser Nachweis
wird ja aber in der Kr. d. r. V. erst in den Schlüssen a) und b) geliefert.
Also hätte Kant nicht nur den dritten Absatz aus der Transsc. Er-
örterung weglassen müssen, sondern er hätte auch au Stelle der zweiten
Hälfte des Schlusses b) einen eigenen selbständigen Abschnitt einschieben
müssen, des Inhalts, dass nur aus dem Umstand, dass der Raum nicht nur
als Anschauung a priori, sondern auch als Form des äusseren Sinnes er-
kannt sei, die Berechtigung der Anwendung der reinen Mathematik auf
die Objecte eingesehen und bewiesen werden könne. Dass der Raum die
apriorische Form des äusseren Sinnes ist, bedeutet sehr viel mehr, als dass er
nur eine Anschauung a priori ist. Und in demselben Maasse will es viel
mehr bedeuten, dass die mathematischen Sätze auf die Objecte angewendet
werden können, als dass sie nur für sich als Sätze vom Räume aufgestellt
werden. (Vgl. oben S. 268 ff.)
Durch diesen Doppelfehler — 1) die Einschiebung des dritten Absatzes
in der Transsc. Erörterung, 2) der Weglassung eines eigenen gesonderten
Abschnittes hinter den Schlüssen a) und b) — durch diese beiden scheinbar
kleinen Ungenauigkeiten hat nun Kant den ganzen Zusammenhang ver-
dorben und das Verständniss seiner Aesthetik erschwert, ja im Grunde un-
möglich gemacht. Man bezog die Transsc. Erörterung fast durchaus nur
auf die reine Mathematik (unter Ignorirung des ominösen dritten Absatzes);
dann war es ganz richtig, wenn man eben die Geometrie als synthetische
Erkenntniss a pi^ori aus der „gegebenen Erklärungsart' des Raumes als
einer Anschauung a priori ableitete. Aber dann verkannte man die viel
wichtigere andere Hälfte der Sache: dass die Anwendung jener reinen
Die logische Yerwirrung in der zweiten Auflage. 335
Mathematik auf die Objecte aus den Schlüssen a) und b) folgt : hätte Kant,
hier, wie er sollte, den kurzen Hinweis der 1. Aufl. darauf in der 2. Aufl.
weiter ausgeführt und eben einen der Transsc. Erörterung parallelen Ab-
schnitt über die angewandte Mathematik eingeschoben, so wäre darüber nie
ein Zweifel entstanden, dass gerade diese hier begründet wird, dass gerade
diese der Tr. Aesthetik nicht minder am Herzen liegt, als die reine Mathe-
matik, ja, dass sie geradezu den eigentlichen Herzpunkt derselben bildet.
Wenn man aber die Transsc. Erörterung sowohl auf die reine, als
auf die angewandte Mathematik bezieht, dann hat man zwar material das
Richtige, und eben das, was Kant gemeint hat, aber der formell richtige
Zusammenhang der Gedankenreihen ist durch Kants eigene Schuld voll-
ständig verschoben; es fällt dann eben die Einsicht in die eigentliche Ab-
hängigkeit der einzelnen Glieder der Argumentationskette auseinander:
Zuerst wird durch eine selbständige Untersuchung bewiesen, dass der Kaum
ist eine apriorische anschauliche Vorstellung; und daraus wird folgerungs-
weise die Möglichkeit der reinen Geometrie abgeleitet. Dann wird die
selbständige Untersuchung fortgesetzt und bewiesen, dass die Anschauung
a priori vom Räume sein muss zugleich die Form des äusseren Sinnes ; und
daraus erst ergibt sich dann folgerungsweise die Möglichkeit der Anwen-
dung der Geometrie auf Objecte. Nicht aber folgt diese schon aus dem
ersten Doppel-Lehrsatze, wie das doch nach Kants eigener Darstellung in
der Transsc. Erörterung erscheint!
Die Darstellungsmängel der 2. Aufl. sind also viel schlimmer und
verhängnissvoller, als die der 1. Aufl. Die Transsc. Erörterung, in Bezug
auf die reine Mathematik zunächst sachlich ^ eine wesentliche Verbesserung,
ist durch ihre Bezugnahme auf die angewandte Mathematik im dritten Absatz
zu einer vollständigen Verschlechterung geworden (gegen Riehl I, 346).
Denn vor den „Schlüssen* konnte von der Anwendung der Mathematik
keine Rede sein: jene erweisen ja die reine Anschauung erst als Form des
äusseren Sinnes.
Zu jener Verschlechterung der Darstellung Hess sich Kant, bei dem
ja solche Ungenauigkeiten an der Tagesordnung sind, durch die Prolegomeua
bringen. Die Transsc. Erörterung ist, wie wir sahen, ein kurzer Auszug
der §§ 6—11 der Prolegomena; und gerade in diesen war, wie wir ferner
sahen, jene Verwirrung zwischen der reinen und der angewandten Mathe-
matik besonders stark. So kam es, dass Kant in dem Auszug dieselbe
Verwirrung hat. Wenn Kant freilich den Text der 1. Aufl. zuerst genauer
angesehen hätte, ehe er die Transsc. Erörterung einschob, so hätte er bald
bemerken müssen, dass er von der angewandten Mathematik erst nach den
Schlüssen a) und b) sprechen konnte, an deren Ende dieselbe ja auch schon
in A berücksichtigt war: in dem Passus, den er — vom Standpunkte
der Transsc. Erörterung aus eigentlich überflüssigerweise — in B stehen
^ Methodisch ist sie auch in Bezug auf die reine Mathematik eine Ver-
schlechterung, wie gleich unten 338—339 gezeigt werden wird.
334 Excurs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
Um diesen Nachweis recht deutlich von der bisherigen Untersachung der
Raumvorstellung als solcher zu trennen, wird diese als metaphysische, jener
als transscendentale Erörterung des Raumbegriffs bezeichnet. Die meta-
physische Erörterung untersucht die Raumvorstellung und stellt ab Er-
gebniss den Lehrsatz auf, dass dieselbe sei apriorisch und anschaulich. Die
transscendentale zeigt, dass und wie aus dieser Anschauung a priori synthe-
tische Sätze a priori fliessen^ zieht also eine Folgerung aus jenem Lehrsatz.
(Vgl. oben S. 151. 263.)
Nun wäre das Alles recht schön und gut, wenn Kant nicht eben in
diese Transsc. Erörterung seinen dritten Absatz hineingeschoben hätt-e (vgl.
oben S. 268). Durch diesen hat er den ganzen Zusammenhang verdunkelt,
ja verdorben. Denn das geht aus dem Bisherigen klärlichst hervor, dass
die bis dahin in der metaphysischen Erörterung „gegebene Erklftrungsart*
der Raum Vorstellung nur die Möglichkeit der reinen Mathematik als
solcher „begreiflich macht'': ist der Raum eine Anschauung a priori, so
sind die auf ihn bezüglichen Sätze synthetische a priori. Aus der bis dahin
gegebenen Erklärungsart ergibt sich aber noch nicht im Mindesten auch
das Recht der Anwendung der reinen Mathematik auf die empirischen
Objecte im Räume: dies ergibt sich erst, wenn der Raum eben nicht bloss
als Anschauung a priori, sondern wenn diese Anschauung a prioii auch
zugleich als Form des äusseren Sinnes erkannt ist. Dieser Nachweis
wird ja aber in der Kr. d. r. V. erst in den Schlüssen a) und b) geliefert.
Also hätte Kant nicht nur den dritten Absatz aus der Transsc. Er-
örterung weglassen müssen , sondern er hätte auch au Stelle der zweiten
Hälfte des Schlusses b) einen eigenen selbständigen Abschnitt einschieben
müssen, des Inhalts, dass nur aus dem Umstand, dass der Raum nicht nar
als Anschauung a priori, sondern auch als Form des äusseren Sinnes er^
kannt sei, die Berechtigung der Anwendung der reinen Mathematik auf
die Objecte eingesehen und bewiesen werden könne. Dass der Raum die
apriorische Form des äusseren Sinnes ist, bedeutet sehr viel mehr, als dass er
nur eine Anschauung a priori ist. Und in demselben Maasse will es viel
mehr bedeuten, dass die mathematischen Sätze auf die Objecte angewendet
werden können, als dass sie nur für sich als Sätze vom Räume aufgestellt
werden. (Vgl. oben S. 268 ff.)
Durch diesen Doppelfehler — 1) die Einschiebung des dritten Absatzes
in der Transsc. Erörterung, 2) der Weglassung eines eigenen gesonderten
Abschnittes hinter den Schlüssen a) und b) — durch diese beiden scheinbar
kleinen Ungenauigkeiten hat nun Kant den ganzen Zusammenhang ver-
dorben und das Verständniss seiner Aesthetik erschwert, ja im Grunde un-
möglich gemacht. Man bezog die Transsc. Erörterung fast durchaus nur
auf die reine Mathematik (unter Ignorirung des ominösen dritten Absatzes):
dann war es ganz richtig, wenn man eben die Geometrie als synthetische
Erkenntniss a priori aus der „gegebenen Erklärungsart' des Raumes als
einer Anschauung a priori ableitete. Aber dann verkannte man die yiel
wichtigere andere Hälfte der Sache: dass die Anwendung jener reinen
Die logische Verwirrung in der zweiten Auflage. 335
Mathematik auf die Objecte aus den Schlüssen a) und b) folgt : hätte Kant,
hier, wie er sollte, den kurzen Hinweis der 1. Aufl. darauf in der 2. Aufl.
weiter ausgeführt und eben einen der Transsc. Erörterung parallelen Ab-
schnitt über die angewandte Mathenoiatik eingeschoben, so wäre darüber nie
ein Zweifel entstanden, dass gerade diese hier begründet wird, dass gerade
diese der Tr. Aesthetik nicht minder am Herzen liegt, als die reine Mathe-
matik, ja, dass sie geradezu den eigentlichen Herzpunkt derselben bildet.
Wenn man aber die Transsc. Erörterung sowohl auf die reine, als
auf die angewandte Mathematik bezieht, dann hat man zwar material das
Richtige, und eben das, was Kant gemeint hat, aber der formell richtige
Zusammenhang der Gedankenreihen ist durch Kants eigene Schuld voll-
ständig verschoben; es fällt dann eben die Einsicht in die eigentliche Ab-
hängigkeit der einzelnen Glieder der Argumentationskette auseinander:
Zuerst wird durch eine selbständige Untersuchung bewiesen, dass der Kaum
ist eine apriorische anschauliche Vorstellung; und daraus wird folgerungs-
weise die Möglichkeit der reinen Geometrie abgeleitet. Dann wird die
selbständige Untersuchung fortgesetzt und bewiesen, dass die Anschauung
a priori vom Räume sein muss zugleich die Form des äusseren Sinnes ; und
daraus erst ergibt sich dann folgerungs weise die Möglichkeit der Anwen-
dung der Geometrie auf Objecte. Nicht aber folgt diese schon aus dem
ersten Doppel-Lehrsatze, wie das doch nach Kants eigener Darstellung in
der Transsc. Erörterung erscheint!
Die Darstellungsmängel der 2. Aufl. sind also viel schlimmer und
verhängnissvoller, als die der 1. Aufl. Die Transsc. Erörterung, in Bezug
auf die reine Mathematik zunächst sachlich ^ eine wesentliche Verbesserung,
ist durch ihre Bezugnahme auf die angewandte Mathematik im dritten Absatz
zu einer vollständigen Verschlechterung geworden (gegen Riehl I, 346).
Denn vor den , Schlüssen" konnte von der Anwendung der Mathematik
keine Rede sein: jene erweisen ja die reine Anschauung erst als Form des
äusseren Sinnes.
Zu jener Verschlechterung der Darstellung liess sich Kant , bei dem
ja solche Ungenauigkeiten an der Tagesordnung sind, durch die Prolegomena
bringen. Die Transsc. Erörterung ist, wie wir sahen, ein kurzer Auszug
der §§ 6—11 der Prolegomena ; und gerade in diesen war, wie wir ferner
sahen, jene Verwirrung zwischen der reinen und der angewandten Mathe-
matik besonders stark. So kam es, dass Kant in dem Auszug dieselbe
Verwirrung hat. Wenn Kant freilich den Text der 1. Aufl. zuerst genauer
angesehen hätte, ehe er die Transsc. Erörterung einschob, so hätte er bald
bemerken müssen, dass er von der angewandten Mathematik erst nach den
Schlüssen a) und b) sprechen konnte, an deren Ende dieselbe ja auch schon
in A berücksichtigt war: in dem Passus, den er — vom Standpunkte
der Transsc. Erörterung aus eigentlich überflüssigerweise — in B stehen
* Methodisch ist sie auch in Bezug auf die reine Mathematik eine Ver-
schlechterung, wie gleich unten 338—339 gezeigt werden wird.
336 Ezcurs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
Hess (vgl. B. Erdmann, Krit. 188); dann hätte er sehen müssen, dass,
wenn er im dritten Absatz der Transsc. Erörterung von der Anschanong
a priori zur Form des äusseren Sinnes übergeht, er damit etwas antecipirt,
was im Texte ja erst in den Schlüssen a) und b) begründet wird; dann
hätte er eingesehen, dass er auch am Ende dieser Schlüsse einen eigenen
neuen selbständigen Abschnitt über das Recht der angewandten Mathematik
einschalten müsse.
C. Die methodologische Rolle der Mathematik in der Transsc*
Aesthetik. 1) Nun können und müssen wir auch die methodologische EoUe
eingehender besprechen, welche die reine und die angewandte Mathemathik
überhaupt in dem ganzen Zusammenhang spielen. Wir haben dies oben
mehrfach so foimulirt, dass die Erklärung der Möglichkeit der Mathematik,
sowohl der reinen als der angewandten, als Folgerungen aus den beiden
Hauptlehrsätzen auftreten, entsprechend dem synthetisch-progressiven Lehr-
gang. Das ist strenggenommen nicht ganz richtig. Nur das dritte Baum-
argument der 1. Aufl. und auch dies nur in seinem Anfang ist von Kant
als Folgerung im engeren Sinne behandelt. Dort heisst es, dass sich auf
die Nothwendigkeit der Raumvorstellung die apodiktische Gewissheit der
geometrischen Sätze „gründe". Aber nun fehlt die Ausfuhrung dieses
Gedankens, welche etwa so hätte lauten müssen: „Ist der Raum eine Vor-
stellung a priori, so müssen auch die Sätze über ihn a priori sein; und
diese unsere Folgerung flndet nun in der That Bestätigung ; die Geometrie,
welche über die Natur des Raumes Sätze aufstellt, ist factisch eine aprio-
rische Wissenschaft.' Dieselbe streng folgernde Darstellung müsste der
Schluss des vorletzten Raumargumentes, müsste die Transsc. ErCrterung,
müsste der Endzusatz zum Schluss b) haben. Nur eine solche streng fol-
gernde Darstellung würde dem synthetischen Charakter der Kr. d. r. Y.
entsprechen, der ja von Kant stark betont wird. (Vgl. Comm. I, 412 ff.)
Aber der Ungeduld Kants ist jener langsame und vorsichtige Gang, wie ihn
ein Spinoza mit unerschütterlicher Ruhe verfolgte, zu langweilig, und so
verftillt er — am stärksten in der Transsc. Erörterung — immer wieder in
eine andere Darstellung: er setzt die Mathematik als gegeben voraus, und
freut sich nun, dass dieselbe (als apriorische, als synthetische, als reine
und angewandte) sich aus den aufgestellten Thesen über den Baum , ver-
stehen lässt*. Ueber diese Wendung des Schlusses b) siehe Comm. I, 390,
392. 394 N.) Er verwendet diese Thesen also zur Erklärung der Mathe-
matik.
Zu dieser Darstellung ist nun Kant ja insofern berechtigt, als er
schon in A, noch mehr aber und deutlicher in B eben die mathematischen
Urtheile als erklärungsbedürftige Phänomene sogleich in der Einleitung
herausgestellt hatte. Es ist nun natürlich, dass Kant die selbständig anf
synthetischem Wege gefundenen Thesen über den Raum kurzweg zur Er-
klärung jener Phänomene verwendet, anstatt diese erst langsam als noth-
wendige Folgerungen zu deduciren und dann erst die Realität des so
Gefolgerten zu erweisen.
Methodologische Rolle der Mathematik in der Transsc. Aesthetik. 337
2) Selbstverständlich ist nun, dass im ursprünglichen, genuinen Zu-
sammenhange der Kr. d. r. V. die Mathematik, sowohl die reine als die
angewandte , nicht als Beweismoment eingeführt wird ; dies würde ja dem
synthetischen Gange widersprechen. Aus der Natur der Vorstellung des
Raumes als solcher wird in der Kr. d. r. V. bewiesen, dass dieselbe sein
müsse 1) apriorische Anschauung, 2) Form des äusseren Sinnes; und
daraus wird dann die Möglichkeit 1) der reinen, 2) der angewandten Mathe-
matik erst abgeleitet. In der Kr. d. r. V. ist die Natur der Mathematik
somit ursprünglich kein Beweismoment, sondern ein Ergebniss.
Nun ist es aber natürlich und entspricht den Regeln der Logik (vgl.
-z. B. Drobisch § 140; Sigwart § 81), dass eine Folgerung aus einer These,
wenn sich der Inhalt dieser Folgerung unabhängig von dieser Schlusskette
als gültig erweist, rückwärts als Beweis für jene These verwenden lässt.
Von dieser methodologischen Umkehrung hat Kant — und dies ist sehr zu
beachten — schon in der ersten Auflage mehrfach Gebrauch gemacht.
Schon das dritte Raumargument der ersten Auflage hatte, wie wir oben
S. 203 sahen, diese Wendung genommen, vielleicht auch schon der Schluss
des vorletzten Eaumargumentes ; in dem Abschnitt A 39 — 4L (Polemik
gegen Newton und Leibniz) wurde dieser Ton angeschlagen. Besonders aber
in dem Abschnitt A 47 — 49 hat Kant (schon in der 1. Auflage) jene üm-
kebrung vorgenommen. Da nimmt er die Existenz der Mathematik als
Ausgangspunkt, zuerst die reine, dann die angewandte, und fragt beidemal:
wie ist dieselbe möglich? Zuerst gibt er die Antwort: die reine Mathematik
ist nur möglieb, wenn der Raum eine Anschauung a priori ist; dann gibt
<er die Antwort: die angewandte Mathematik ist nur möglich, wenn diese
Anschauung a priori die Form des äusseren Sinnes ist. Diesen Gedanken-
gang betrachtet er daselbst als einen absolut stringenten Beweis für seine
Raumtheorie; und der Beweisnerv liegt eben in der Existenz der Mathe-
matik. Zu dieser methodischen ümkehrung war Kant auch berechtigt,
wenigstens in Bezug auf die reine Mathematik ; in Bezug auf die angewandte
Mathematik liegt die Sache insofern anders, als ja eben die Berechtigung
der Anwendung der reinen Mathematik auf „äussere Objecte*' bestritten war.
(Vgl. Comm. I, 226. 388 ff. 396. 421 N.) Diese Berechtigung musste ja
erst eben auf dem Wege synthetischer Folgerung erwiesen werden. An jener
Stelle sieht Kant von diesen „Chikanen^ einer irregeleiteten Metaphysik
ab, ^ und nimmt auch die angewandte Mathematik als feste Operationsbasis,
um von hier aus liickwärts seine Raumtheorie zu beweisen.
3} Einzig diesen analytischen Weg hat nun auch Kant in seinen
Prolegomena eingeschlagen. Hier geht er ja — unter Vorschiebung der
rationalistischen Seite seines Kriticismus — nur von der reinen und ange-
' Inwiefern er dazu durch das von ihm gebrauchte Beispiel vom Triangel
berechtigt war, darüber vgl. Comm. I, 421 Anm. 3, woselbst das Schwanken Kants
zwischen Erklärung und Beweis der Gültigkeit der angewandten Mathematik
besprochen wird.
Vaihinger, Kant-Commentar. 11. 22
338 Excurs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
wandten Mathematik aus, nm von ihnen aus auf regressivem Wege zu den
Thesen über den Baum selbst zu kommen. Wahrend im synthetischen Qang
aus den Thesen die Data als Folgerungen abgeleitet werden, werden im
analytischen Gang für die Data jene Thesen als Forderungen aufgestellt
und bewiesen. Was dort gleichsam als Nebenproduct der ArgumentstioD
abföUt, wird hier zu ihrem Ausgangspunkt. Dies hat ja auch unsere
ausführliche Zergliederung der Prolegomena § 6 — 13 gezeigt. Dieser W^
ist also kein neuer, sondern schon die 1. Auflage der Er. d. r. Y. hatte
ihn eben besonders zum Schlüsse eingeschlagen ; und in diesem Sinne, aber
auch nur in diesem kann man sagen, dass die Mathematik für Kant
auch in der 1. Auflage der Kr. d. r. V. Beweismoment und Argumen-
tationsmittel ist. (Vgl. Comm. I, 415. 425.) Ursprünglich aber ist die
Einsicht in ihr Wesen für dieselbe nur ein Ergebniss.
4) Aus diesem eigenthümlichen Yerhältniss erklärt sich nun auch, wie
der oft gehörte Vorwurf gegen Kant entstehen konnte, er habe in diesem
Punkte sich eines Cirkels schuldig gemacht. Insbesondere die Eber^
hard'schen Zeitschriften ' haben diesen Vorwurf mehrfach wiederholt, Mag.
IV, 184. 193. 231. 360. Arch. I, 4. 67: «Die Nothwendigkeit a priori des
Raumes wird aus der Nothwendigkeit und Allgemeinheit der geometrischen
Wahrheiten bewiesen, und diese Nothwendigkeit und Allgemeinheit der
geometrischen Wahrheiten aus der Nothwendigkeit a priori der Anschauung
des Raumes/ (Vgl. auch Aenesidem S. 149 und Materialien z. Krit. Philos.
CXI.) Selbst Anhänger Kants haben diesen Vorwurf erhoben, so Rein-
hold, Fundament S. 130 (vgl. Comm. I, 227). Dass Kant sonst sich Tor
einem circulus vUiosus nicht gescheut hat, haben wir Comm. I, 440 f. ge-
sehen (vgl. Schulze, Krit. d. theor. Philos. II, 524; Paulsen, 175 N.; Vol-
kelt 201); aber in diesem speciellen Falle ist, wie aus dem Bisherigen
hervorgeht, der Vorwurf nicht berechtigt.
5) Nun*lässt sich auch endlich die vielumstrittene methodologische Fooc-
tion der Transsc. Erörterung in B definitiv bestimmen. Dieselbe befolgt
wie oben S. 265 f. ausführlich schon erörtert wurde, den analytischen Gang.
Die Mathematik wird darin als Ausgangspunkt benützt, um die Natur der
Raumvorstellung zu erschliessen , um also den Raum als eine Anschanong
a priori zu beweisen. Wird der Beweis für die apriorische und anschau-
liche Natur des Raumes, wie er in der »Metaphysischen Erörterung* aus
der Natur der Raumvorstellung selbst (Vorr. B XXII) gefuhrt wurde, ein
directer genannt, so kann dieser Beweis in der ^Transscendentalen Er
örterung" aus der Natur der Mathematik alsindirecter bezeichnet werden.
Speciell der 2. Absatz der Transsc. Erörterung ist ganz in diesem Sinne
gehalten. Aber sowohl im 1. als im 4. Absatz spielt die Auffassung herein,
dass die bisher schon bewiesene Raumtheorie jetzt dazu benützt wird, nm
das Wesen der Mathematik zu erklären. Die methodologische Function
des Abschnittes ist daher eine schillernde: sie schillert zwischen analytischer
und synthetischer Methode hin und her.
So stellt sich denn die Transsc. Erörterung auch vom rein metho-
Analytischer oder synthetischer Gang der Transsc. Erörterung? 339
dologischen Gesichtspunkt ans als eine bedenkliche Verschlechterung des
ursprünglichen Gedankenganges heraus, sowohl für die reine als für die
angewandte Mathematik. In ihr durchbricht Kant den ursprünglichen, streng-
wissenschaftlichen, rein synthetischen Gang und schlägt den an&lytischen
Weg ein, wodurch er den klaren Zusammenhang seiner Gedanken selbst
verdunkelt hat; und er steigert diese Verwirrung noch dadurch, dass er
nun nicht einmal wieder diesen analytischen Gang rein innehält, sondern
zwischen analytischer und synthetischer Methode unklar hin- und her-
schwankt.
6) Aus dem letzteren Umstand erklären sich auch die entgegengesetzten
Auffassungen, welche dieser Abschnitt gefunden hat. Indem Riehl nur
die synthetische Seite desselben ins Auge fasst, sagt er richtig (Krit. I, 329.
331. 341. 350. 352; vgl. dazu Comm. L, 403. 428): .Die Transsc. Erörte-
rung leitet die Idealität des Raumes nicht von der Geometrie, sondern für
dieselbe ab;* S. 352: »Die Kritik geht nicht von der Gültigkeit der Geo-
metrie aus, sondern führt auf dieselbe '^ ; Kant will diese Gültigkeit erst
beweisen. Dieselbe Auffassung hat Paulsen, Entw. 174. 189. Dagegen
hat Volkelt nur die analytische Seite im Auge, wenn er (195 ff. 220;
vgl. Comm. I, 416) gegen diese Auffassung von Riehl polemisirt, und
gerade umgekehrt hier die Mathematik als „ Beweisgrund* der Apriorität
des Raumes ansieht. (So auch Cohen 27, Holder S. 12 — 15, und Sommer,
Neugestaltung 102. Bes. auch Helmholtz, Thatsachen in d. Wahrn. S. 22.
Vgl. Hey m ans, Ueber Ks. »analytische Methode" in der Aesth., Phil. Mo-
natsh. 1889, 24 — 26.) Wie Riehl nur die synthetische, so sieht Volkelt nur
die analytische Seite des Abschnittes, welcher zwischen beiden Wegen un-
klar hin- und herschwankt. Dieses Schwanken und Schillern hat indessen
auch schon Volkelt insofern bemerkt, als er darauf hinweist, die Definition,
welche Kant selbst von seiner ^Transsc. Erört." im ersten Absatz gebe, sei
, zweideutig", da dieselbe an sich sowohl auf die synthetische als auf die
analytische Methode passe. Kants eigene Unklarheit ist also auch hier
wieder die Ursache der Streitigkeiten über seine eigentliche Meinung ge-
wesen. (Vgl. Comm. I, 386 ff. 414 ff. 428 ff.)
7) So herrschten auch in dem Streit zwischen Trendelenburg und
Fischer in dieser Hinsicht auf beiden Seiten Unklarheiten: unter den Vor-
würfen, welche Trend, der Fischer'schon Darstellung der Kantischen Lehre
machte, war auch der (Beiträge 3, 251 f.), dass Fischer von der reinen
Mathematik als Factum ausgehe und die erste Aufgabe der Transsc. Sinnen-
lehre darin finde, dies Factum zu begreifen; erst von da komme Fischer
dann zu den inneren Gründen, warum R. u. Z. Anschauungen a priori
seien. Diese „ Anlage dürfte dem Gedanken Kants nicht gemäss sein. In
der Kr. d. r. V. verfährt Kant gerade umgekehrt. Er will die Sinneslehre
untersuchen und dabei geht ihn zunächst die reine Mathematik nichts
an*^ u. s. w., „das ist die nothwendige Abfolge der Kantischen Untersuchung. '^
Aber in jener umgekehrten Ordnung des „ Weges '^ sei Kants Aestbetik nicht
mehr das von Fischer gerühmte „Muster wissenschaftlicher Genauigkeit und
340 £xcur8. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik.
Methode*. Es war Fischer ein Leichtes, diese Vorwürfe zurückza weisen
(Gesch. lU, 315 f.) : zu jener seiner Darstellung sei er durch die ProUgomena
autorisirt, die ja auch im didactischen Interesse geschrieben seien. «Meine
Darstellung geht von Raum und Zeit als Bedingungen der reinen Mathe-
matik, genau so wie die ProUgomena; und dann begründet sie aus den ge-
fundenen Bedingungen die Mathematik, genauso wie die Kritik.' Darauf
hat Tr. nichts zu erwidern gewusst, was ihm Fischer (Anti-Tr. 47) höhnisch
ankreidet; auch Bratnschek (Phil. Mon. V, 808) gibt F. darin Recht.
Es wäre nun an sich gegen diese Bevorzugung der analytischen Me-
thode nichts einzuwenden, so lange sie sich eben bloss als ein didaetisches
Hilfsmittel gibt; so lange man sich klar bleibt, dass die analytische Dar-
stellung dem originären Gedankengang der Kr. d. r. V. absolut nicht ge-
recht werden kann. Aber gerade diese Einsicht ist bei Fischer zu ver-
missen, wie sich auch aus seinen übrigen Einwänden gegen Tr. ergab (vgl.
oben S. 274. 293 ff.).
Jener von Trendelenburg selbst aufgegebene Einwand ist deshalb auch
einige Jahre später wieder selbständig von Paulsen, Riehl, Göring und
Windelband aufgenommen worden. Die dadurch entstandene sehr ver^
worrene Controverse haben wir, da sie vor allem auf dem unterschied der
Einleitung A und B beruht, im I. Bande hinreichend besprochen S. 386 ff.
394 ff. 400 ff. 411. 413 ff. Das dort Gefundene hat in der hier angestellten
Untersuchung lediglich seine Bestätigung und Fortsetzung erhalten.
8) Aus der eben gegebenen methodologischen Analyse der Aesthetik
folgt nun auch nochmals die Irrthümlichkeit des Arnold t 'sehen Rettungs-
versuches „für Kant gegen Trendelenburg". Was oben S. 297 schon vor-
läufig gegen A. geltend gemacht worden ist, das stellt sich jetzt als definitiv
stichhaltig heraus. Arnoldt hat den ganzen Zusammenhang der Aesthetik
verkannt, wenn er Kant in dem Schluss a die Idealität des Raumes aus der
objectiven Gültigkeit der Mathematik erschliessen lässt. Diese Gültigkeit ist.
wie wir sahen, ursprünglich an dieser Stelle noch nicht vorausgesetzt
als ein Factum, von dem man zum Beweis einer Theorie ausgehen kann,
sondern diese Theorie wird selbständig aufgestellt, und dann erst jene>
Factum hinterher aus jener Theorie abgeleitet. Das haben wir zur Genüge
bewiesen. Der von manchen Seiten (z. ß. Caird, CrU. Phil. I, 306 — 809)
so hochgestellte Arnoldt'sche Rettungsversuch beruht also gerade seinem
Baue nach auf einem gründlichen Missverständniss der ganzen Kantischen
Argumentation in der Aesthetik.
9) Aus dem bisher Entwickelten folgt nun auch andererseits als natürlich
die Erwartung, dass Kant, wenn es ihm nicht auf den streng synthetischen
Gang ankommt, die Mathematik allerdings als einen Hauptbeweis für
seine Raumtheorie geltend machen wird. Diese Erwartung wird denn auch
nicht getäuscht. Eine besonders deutliche Stelle geben die von Reicke
herausgegebenen „Losen Blätter" I, 18: „Das ist ein Beweis, dass der Raum
eine subjective Bedingung sey, weil, da die Sätze davon synthetisch seyen
und dadurch Objecto a priori erkannt werden können, dieses unmöglich
Inwiefern soll die Mathematik Kants Raumtheorie beweisen? 341
seyn würde, wenn der Baum nicht eine subjective Bedingung der Vorstellung
dieser Objecte wäre/ Vgl. ib. 28 und bes. 151 ff.: „Ich frage Jedermann,
woher er die mathematischen und nothwendigen synthetischen Sätze von
Dingen im Baume hernehmen will, wenn der Baum nicht schon in uns
a priori die Bedingung der Möglichkeit der empirischen Vorstellung der
Objecte wäre ? " In diesen Stellen ist die a n g e w a n d te Mathematik Beweis
für die Idealität des Baumes; ebenso in der Stelle der „ Losen Blätter'',
welche Beicke in der Altpr. Mon. XXVIII, 1891, S. 532 mittheilt: „Dass
alle unsere Anschauungen blosse Formen der Dinge sind, wie sie uns er-
scheinen, nicht wie sie sind, folgt daraus, weil es sonst gar keine syn-
thetische Sätze a priori . . . geben könnte.*' Vgl. ib. 547 f.
In den von Erdmann herausgegebenen Beflexionen Kants 11, 396 findet
sich femer folgende charakteristische Stelle bei Oelegenheit der Besprechung
des Antinomien: , Dadurch wird die Idealität des B. u. d. Z. indirect be-
wiesen, weil Widersprüche mit sich selbst aus dem Gegentheil erfolgen.
Aber ich habe sie auch direct bewiesen und zwar daraus, dass synthetische
Erkenntnisse a priori sind, dass diese aber ohne Anschauung a priori
unmöglich sind, dass endlich reine Anschauunjg^, wo die Form derselben nicht
vor dem Object im Subject gegeben ist, unmöglich sei, folglich dass wir
nur Erscheinungen antecipiren können, mithin alle Gegenstände der Sinne
lauter Erscheinungen sind."
10) Diese Stelle ist nun sehr geeignet, um eine bei Kant und seinen
Anhängern häufig wiederholte Mischform des Beweises für die Idealität des
Baumes kenntlich zu machen: 1. Der Beweis setzt analytisch ein mit der
reinen Mathematik und leitet als Bedingung dafür die reine Anschauung
des Baumes ab. 2. Dann fährt der Beweis aber synthetisch fort, indem
nun gezeigt (factisch freilich fast immer einfach postulirt) wird, dass die
reine Anschauung nur als »Form des Subjects" denkbar sei (vgl. dazu oben
S. 273. 279. 326), und daraus wird dann 3. synthetisch die Gültigkeit der
Anwendung der reinen Mathematik für die Objecte abgeleitet. In dieser
Mischform ist also nur die reine Mathematik Ausgangspunkt und Beweis-
moment ; die angewandte dagegen ist hier nur Folgerung.
Diese Mischform findet sich nun ganz besonders deutlich bei Schultz,
dem Freunde Kants. Schon in seinen Erläuterungen 23 ff., besonders aber
in seiner zweibändigen , Prüfung der Kantischen Kritik'' schlägt er diesen
Weg ein. 1. Ihm, dem Mathematiker, ist die reine Mathematik der erste
und wichtigste Beweis für die Apriorität der Baumvorstellung: I, 54 — 84,
II, 44 — 158, 274; die eigentlichen ursprünglichen synthetischen 4 Argu-
mente für dieselbe rangiren ihm erst hinter jenem analytischen Beweis.
2. Dass nun die Anschauung a priori auch zugleich „die noth wendige sub-
jective Form der äusseren Wahrnehmung" sei, das wird von Schultz I, 211,
II, 232. 272 ohne weiteren Beweis fast als selbstverständlich postulirt.
3. Und aus dieser These wird nun II, 284 f. — gewissermassen nur bei-
läufig — die Folgerung gezogen: „Da alle äusseren Erscheinungen
schlechterdings im Baum sein müssen, so hat der Baum in Ansehung aller
342 Excurs. — § B. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
äusseren Erscheinungen objective Oültigkeit. Also sind alle Sätze der Geo-
metrie für alle äusseren Erscheinungen noth wendig und auf das Präciseste
gültig, mitbin rührt es bloss von unserer Schwäche her, wenn bej der
Grössenm essung empirischer Gegenstände die Resultate, die wir gefunden,
nicht immer in der grossesten Schärfe richtig sind. Und so ist mit apodik-
tischer Gewissheit auch die Frage entschieden: wie ist angewandte
Mathematik möglich?''
Es liegt auf der Hand, weshalb gerade diese Mischform bei Kant und
den Kantianern so beliebt werden musste (in neuerer Zeit besonders bei
Biehl, vgl. dessen Krit. I, 831; II, a, 108). Von der reinen Mathematik
ging man natürlich gerne aus, weil dieser Ausgangspunkt ein unbestrittener
war; dieser analytische Gang war geeignet, auf weiteste Kreise ioiponirend
und fascinirend zu wirken. Auf die angewandte Mathematik musste man
aber erst durch synthetische Folgerung kommen, weil ja eben die Gültigkeit
derselben vielfach bestritten war. Im urspünglichen , streng synthetischen
Gedankengang Kants aber durfte auch die reine Mathematik nur als Fol-
gerung, nicht als Beweis fnngiren.
Dritter Absatz.
A 26. B 42. [R 87. H 62. E 78.]
In diesem wichtigen Absatz wird zwar eigentlich kein einziger Ge-
danke vorgebracht, der nicht schon im Bisherigen involvirt wäre; aber
der Werth des Absatzes besteht eben darin, dass die volle Tragweite des
bisher Gefundenen dem Leser vor Augen gestellt wird *. Indem Kant den
Abschnitt mit „demnach" beginnt, charakterisirt er denselben eben als
eine Beihe von Folgerungen aus dem Bisherigen. Diese Folgerungen lassen
sich alle zusammenfassen unter dem Namen des sog. anthropocentri-
schen Standpunktes, dessen Grundzüge hier mit wenigen, aber markigen
Strichen gezogen werden: wir können »nur aus dem Standpunkte eines
Menschen vom Räume, von ausgedehnten Wesen u. s. w. reden.*
Dieses „nur" wird in diesem Absatz nicht weniger als viermal wiederholt.
Der Raum ist nur „die subjective Bedingung" (conditio subjectiva , sagt
^ Dass der Idealismus von Kant hier erst in den „Schlüssen* als eine Fol-
gerung eingeführt wird, soll nach A dickes S. 76 N. beweisen, dass „ihm hier
noch die Begründung der apriorischen Erkenntniss (Rettung des Rationaüsmus) die
Hauptsache ist, nicht der Idealismus*. Aber diese Anordnung ist durch den syn-
thetischen Gang der Darstellung bedingt; auch Spinoza bringt oft gerade in
den Folgerungen dasjenige vor, was ihm die Hauptsache ist. Uebrigens rertritt
Adickes eine vielfach bestrittene Anschauung. Wer kann denn nach den Aus-
führungen Volkelts, sowie nach den zahlreichen Nachweisen, welche im eisten
Bande dieses Commentars gegeben worden sind, ohne weitere Begründung
behaupten, Kant habe entweder den Rationalismus oder den Idealismus als
„Hauptsache* betrachtet? Eine solche einseitige Anschauung dürfte durch die
neuere Kantforschung doch als etwas erschüttert gelten.
Die anthropocentrischen Folgerungen. 343
[R 37. H 62. K 78.] A26.27.B43.
die Dissertation § 14, 5 und § 15 E), unter der wir, zafolge der Aifection
„von den Gegenständen', empirische Anschauung derselben bekommen können.
Das „Prädicaf der Räumlichkeit kann den Dingen nur beigelegt werden,
, insofern (vgl. das beliebte „quatenus" des Spinoza) sie uns erscheinen". Der
Kaum ist eben ,die beständige (constante) Form unserer Beceptivitäf* (vgl.
dazu oben S. 62), die reine Form unserer Anschauung der Gegen-
stände und, wenn man von diesen abstrahirt, reine Anschauung selbst
(vgl. dazu oben S. 104). Diese „ Bedingung unserer Sinnlichkeit'' ist natürlich
nicht eine „Bedingung der Möglichkeit'' der Dinge selbst an sich, sondern
nur ihrer Erscheinungen für uns ^ aber für diese ist der Baum auch das
unumgänglich noth wendige receptaculum: so hatten ja auch Newton und
Clarke den Baum genannt, aber im absoluten, objectiven Sinne. Diesem
Newton'schen Ausdruck gibt Kant eben jene seine subjectivistische Wendung :
„Der Baum umfasst alle Dinge, die uns äusserlich erscheinen mögen, aber
nicht alle Dinge an sich selbst." — Der weitere Verlauf der Stelle unter-
scheidet nun darin mehrere Fälle: die Räumlichkeit gilt nicht für alle Dinge
an sich selbst, sei es, dass dieselben [von irgend einem anderen Wesen als
von uns] angeschaut werden, oder dass sie überhaupt nicht angeschaut werden.
Den letzteren Fall — dass sie überhaupt nicht angeschaut werden — ana-
lysirt Kant nicht; gerade auf diesen wichtigen Fall ist er nicht eingegangen;
er hätte ja Rechenschaft darüber geben müssen , weshalb wir denn den
Dingen an sich, die wir nicht kennen, die Räumlichkeit absprechen dürfen.
Wenn es auch nicht wahrscheinlich sein sollte, dass unsere Anschauungs-
bedingungen zugleich Sachbedingungen sind, so hätte Kant doch einen
zwingenden Grund dafür resp. dagegen nicht angeben können, und so ist
zu verstehen, dass er, wie Erdmann in seinen „Nachträgen" S. 18, sub XXII
anführt, in seinem Handexemplar diesen Fall gestrichen hat. Der erstere Fall
dagegen wird dahin erweitert, dass es dabei ganz gleichgültig sei, was das für
Subjecte sein mögen; es. gelte das für die Anschauung seitens aller beliebigen
anderen Wesen. Denn diese „anderen denkenden Wesen" (Wesen auf anderen
Wohnorten, höhere Geister, Gott) brauchen ja nicht „an die nämlichen Bedin-
gungen" gebunden zu sein, nicht an diejenigen, die uns „einschränken", sondern
an andere; oder vielleicht auch an gar keine *. »Wir kennen ja nichts als unsere
Art, die uns eigenthümlich ist, die auch nicht nothwendig jedem Wesen,
' „Wir dürfen die Bedingungen unserer Sinnlichkeit nicht für Bedingungen
der Möglichkeit der Sachen ausgeben: — dies ist die einfache Reflexion, welche
genügt, um den festgewurzelten Glauben an die transsc. Realität des Raumes zu er-
schüttern, und die transsc. Idealität desselben wenn nicht assertorisch zu be-
haupten, doch in einem problematischen TJrtbeil auszusagen. '^ Arnoldt, R. u. Z. 58.
* Eine beachtenswerthe Ergänzung dieser Gedanken bietet A 557 ; man könne
die Frage nicht beantworten, ja dürfe sie nicht einmal aufwerfen: „woher der
transscendentale Gegenstand unserer äusseren sinnlichen Anschauung gerade nur
Anschauimg im Räume . und nicht irgend eine andere gebe." Dieses „geben" ist
übrigens zu beachten ! Eigentlich „geben* die Dinge an sich nur StofiF, nicht Form.
344 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A27.B48. [B 37. H 62. E 78.]
obzwar jedem Menschen, zukommen muss" — heisst es unten A 42 bei der
Zusammenfassung der Transsc. Aesthetik, wo dieser, schon bei Leibniz
sich häufig findende Gedanke wiederum verwerthet wird. Jedenfalls sind
wir an jene Bedingungen ^gebunden*' , diese Bedingungen wirken «ein-
schränkend" auf uns, d. h. sie erlauben uns nicht über die «Schranken*
unserer subjectiven Anschauung, über die g Schranken*^ der Erscheinung
hinauszugehen — natürlich zu den Dingen, wie sie an sich sein mögen:
dass wir in solche ^Schranken*' eingeschlossen sind, ist eine Wendung, welche
ja Kant sehr liebt (s. bes. die Schrift gegen Eberhard, Abschn. C). Es ist
wesentlich und zu beachten, dass schon hier die Sinnlichkeit als eine »Ein-
schränkung' erscheint. Kant wiederholt dies noch häufig, so z. B. A 640
= B 669: das höchste Wesen werde wohl nicht 9 allen Einschränkungen
unterworfen sein müssen, welche die Sinnlichkeit den Intelligenzen, die wir
durch Erfahining kennen, unvermeidlich auferlegt."
Die ganze Natur ist also nur für uns da. Dies formulirt Kant aus-
drücklich als das Resultat der Aesthetik in den Proleg. § 36 so: «Wie ist
Natur in materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der
Inbegriff der Erscheinungen, wie ist Baum, Zeit und das, was beide erfüllt,
der Gegenstand der Empfindung, überhaupt möglich? Die Antwort ist:
vermittelst der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit, nach welcher sie auf die
ihr eigenthümliche Art von Gegenständen, die ihr an sich selbst unbekannt
und von jenen Erscheinungen ganz unterschieden sind, gerührt wird.' &>
gilt denn diese Raumanschauung nur für diese empirische Natur und nur
für uns als empirische Subjecte, aber sie ist weder für alle Objecte an
sich gültig, noch für alle Subjecte.
Auf dieses Resultat der Aesthetik beruft sich Kant häufig in den späteren
Theilen der Kr. d. r. V.: so bes. in der Transsc. Dialektik, in den .Paralo-
gismen' A 356: „Wir haben in der Transsc. Aesthetik unleugbar bewiesen,
dass Körper blosse Erscheinungen unseres äusseren Sinnesund nicht Dinge an sich
selbst sind.' »Für diesen Transsc. Idealism [der zugleich empirischer Realism
ist] haben wir uns schon am Anfang erklärt,* ib. A 370. 378. Ferner
bei den Antinomien in dem bekannten Abschnitt: «Der Transsc. Idealism,
als der Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik', A 490
= B 518: »Wir haben in der Tr. Aesthetik hinreichend bewiesen u. s.w.*
B 148 wird hervorgehoben, dass »die Transsc. Aesthetik die Grenze des Ge
brauchs der reinen Form unserer sinnlichen Anschauung bestimmte: R. u. Z.
gelten, als Bedingungen der Möglichkeit, wie uns Gegenstände gegeben
werden können, nicht weiter, als für Gegenstände der Sinne, mithin nur der
Erfahrung. Ueber diese Grenzen hinaus stellen sie gar nichts vor; denn sie
sind nur in den Sinnen und haben ausser ihnen keine Wirklichkeit.* Als
wesentliche Ergänzung hiezu ist aber zu beachten, was A 251 gesagt
wird: „Dies war das Resultat der ganzen Tr. Aesthetik, und es folgt auch
natürlicherweise aus dem Begriffe einer Erscheinung überhaupt: dass ihr
etwas entsprechen muss, was nicht Erscheinung ist' u. s. w.
Der Mensch im Gegensatz zu «anderen denkenden Wesen ^ 345
[R 37. H 62. E 78.] A27.B48.
Der obige Hinweis Kants auf «andere denkende Wesen" ist nicht
etwa bloss, wie man das häufig so auffasst, eine bloss dialektische Wendung,
sondern durchaus ernst gemeint. Die Existenz und Natur der , Geisterwelt"
war für Kant von Anfang an ein interessantes Problem. In der Naturgesch.
des Himmels, R. VI, 179 ff. und bes. 206 ff. „von den Bewohnern der
Gestirne" gibt K. «Muthmassungen" über die „ verschiedenen Grade der
Geisterwelt", die verschiedenen , Klassen vernünftiger Wesen", die „Gattungen
denkender Naturen", über die verschiedenen , Wohnplätze" dieser „vernünf-
tigen Creaturen". Er spricht ausführlich über die Abhängigkeit der „gei-
stigen Fähigkeiten" der verschiedenen Planetenbewohner von der gröberen
oder feineren, schwereren oder leichteren Materie, je nach dem „Abstand der
Wohnplätze von der Sonne". Die Bewohner des Jupiter oder Saturn gehören
zu den „erhabensten Klassen vernünftiger Creaturen". Diese haben jeden-
falls eine andere Zeitvorstellung, als wir, sind dem Tod nicht in demselben
Maasse unterworfen als wir u. s. w. Der Mensch nimmt eine mittlere Stellung
zwischen jenen voiirefflichsten und zwischen unvollkommeneren Gattungen
der „denkenden Naturen" ein. Diese Gedanken, denen ausdrücklich „Wahr-
scheinlichkeit" zugesprochen wird, hat Kant in den „Träumen eines Geister-
sehers u. s. w." in jener halb ernsten, halb ironischen Weise fortgesponnen,
welche diese merkwürdige Schrift kennzeichnet. (Eine andere Ausführung
dieser Gedanken gibt Du Prel, Die Planetenbewohner 1880, S. 114 — 175.)
Vgl. Fortschr. d. Met. Ros. I, 497: „Wir könnten uns wohl eine unmittel-
bare Yorstellungsart eines Gegenstandes denken, die nicht nach Sinnlich-
keitsbedingungen, also durch den Verstand die Objecte anschaut. Aber von
einer solchen haben wir keinen haltbaren Begriff; doch ist es nöthig, sich
einen solchen zu denken, um unserer Anschauungsform nicht alle Wesen,
die Erkenntnissvermögen haben, zu unterwerfen. Denn es mag sein, dass
einige Weltwesen unter anderer Form dieselben Gegenstände anschauen
dürften ' ; es kann auch sein , dass diese Form in allen Weltwesen , und
zwar nothwendig ebendieselbe ist, so sehen wir diese Nothwendigkeit doch
nicht ein." Auf die letztere Möglichkeit weist übrigens Kant auch unten
in der der 2. Auflage angehörigen Anmerkung 11 zur Aesthetik hinein, be-
merkt aber, dass diese Ausdehnung der Raumanschauung auf „alles endliche
denkende Wesen" an deren Subjectivität nichts ändern würde'. Sehr deutlich
^ Dieser Beschränkung der A nach auungs formen auf die Menschen, und dem
Zweifel, ob dieselben für andere denkende Wesen gelten, steht eigenthümlich gegen-
über die bekannte Ausdehnung der sittlichen Vorstellungsformen auf „alle Ver-
nunftwesen", vgl. z. B. Grundleg. z. Met. d. Sitten, Vorrede (Ros. VIII, 5). Dieser
Widerspruch ist Kant öfters vorgeworfen worden (vgl. Tobias, Grenzen der Philos. 327).
* Herbart dagegen meint (W. W. IV, 248), jener Beschränkung halber bleibe
für Kant der Raum doch bloss »subjeetiver Schein'; erst wenn man zeige, dass
das Zusammen der Realen in jedem denkenden Wesen wie in einem Spiegel das
unreale Bild des Räumlichen hervorrufe, fasse man den Raum als „objectiven
Schein*. Vgl. Trendelenburg, Log. Unt. I, 203 ff.
346 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Kaum.
A 27. B 48. [B 87. H 62. E 78.]
erklärt auch Kant in der Grundl. z. Met. d. Sitten, 8. Abschn. (R. VIII, 84).
lydass die Sinnen weit nach Verschiedenheit der Sinnlichkeit in mancherlei
Weltbeschauern auch sehr verschieden sein kann, indess die Verstandes-
welt, die ihr zum Grunde liegt, immer dieselbe bleibt.' (Vgl. Lange, Gesch.
d. Mat. II, 36. 129.) Kant hat also diese aus seiner vorkritischen Zeit
stammende Idee auch in seiner „kritischen*' Zeit allen Ernstes festgehalten.
Schneider, Psych. Entw. d. Apriori S. 22 ff. macht zu dieser Stelle
die treffende Bemerkung : „Von den anderen denkenden Wesen maasst sich
der kritische Philosoph nicht an, etwas zu wissen; er beschrftnkt sich auf
uns Menschen so sehr, dass ihm nach meinem Dafürhalten hieraus ein be
rechtigter Einwand erwächst. Denn offenbar kennen wir in den Thieren
Wesen, welche eine den Menschen entweder gleiche oder wenigstens ähnliche
Art der Kaum- und Zeitanschauung besitzen, und zwar ohne dabei syn-
thetische Urtheile a priori in Mathematik und Physik zu haben. Kants
Fehler ist es aber, den psychologischen Gesichtspunkt zu sehr vernachlässigt
zu haben; sonst hätte er diese thierischen Vorstellungen yon R. u. Z. io
den Bereich seiner Betrachtungen mithineingezogen, und dann musste er zu
einem anderen Resultate als dem der blossen Idealität jener Anschauungs-
formen gelangen.* Schneider, ein gemässigter Anhänger Kants, behandelt
demgemäss S. 79 ff. 123 ff. R. u. Z. ,im thierischen Innewerden' . Aehnlicb
schon Kiese Wetter 1792, in Kosmanns Allg. Magazin für krit. u. popul.
Philos. I, 2, 36 — 61: „Ueber das Erkenntnissvermögen der Thiere und der
Gottheit." Ueber Thiere vgl. auch Schopenhauer, W. W. II, 520; Lange,
G. d. Mat. II, 46.
Man hat in der neueren Zeit die Gedanken Kants dahin erweitert, dass
es ja auch denkbar sei, dass andere Wesen eine andere Form der Raum-
anschauung haben könnten, statt der dreidimensionalen eine zweidimen-
sionale oder vierdimensionale u. s. w. Einer der Ersten, welcher diesen
Gedankengang einschlug, ist F. A. Lange, schon 1866 in der 1. Aufl. seiner
Gesch. des Materialismus, dann daselbst in der 2. Aufl. II, S. 429 f. 450 f.
„Es ist überflüssig, solche Möglichkeiten weiter aufzuzählen; vielmehr ge-
nügt es vollständig zu constatiren, dass ihrer unendlich viele sind, und
dass die Gültigkeit unserer Anschauung von Raum und Zeit für das Ding
an sich daher äusserst zweifelhaft erscheint.*' Lange hat daselbst (450)
diese Gedanken auch gegenüber den Einwänden von Lotze (Logik S. 217)
und Dühring (Princ. der Mechanik S. 488) aufrecht zu halten gesucht.
Weil unsere dreidimensionale Raumanschauung nur ein Specialfall aller
denkbaren Raumanschauungen ist, erscheint dieselbe Lange also schwerlich
für die absolute Welt der Dinge an sich gültig.
Derartige Gedanken haben dann bekanntlich von mathematischer Seite
tJnterstützung erfahren durch die sog. metageometrischen Speculationen
von Riemann und Helmholtz, vgl. oben 267. Vgl. B. Erdmann, Die
Axiome der Geometrie. Eine philosophische Untersuchung der Riemann-Helm-
holtz'schen Raumtheorie, 1877, bes. S. 109 ff. Dagegen Tobias, Grenzender
Metageometrische Specalationen. 347
[B 87. H 62. E 78.] A27.B43.
Philosophie, 1875, S. 38 ff., 104 ff. und Krause, Kant und Helmholtz
über den Ursprung und die Bedeutung der Raumanschauung und der geo-
metrischen Axiome, 1878. Schwertschlager, Kant und Helmholtz er-
kenntnisstheoretisch verglichen, 1883, S. 46 ff. Pesch, S. J., Das Welt-
phänomen, S. 100 — 107. Fr. Schulze, Philos. d. Naturwissenschaft II,
132—153. Cohen, Th. der Erfahrung, 2. Aufl., 223 ff. Besonders werthvoll
und treffend sind Lotze's Ausführungen hierüber, Metaphysik S. 195.
233—267. Vgl. übrigens auch schon Herbart, Allg. Metaph. II, 253— 262.
Vgl. auch noch besonders Wundt, Logik I, 439—452. Auch Gutberiet,
Die neuere Baumtheorie, 1882, S. 36.
Im Anschluss an Gauss, Biemann und Helmholtz hat neuerdings bes.
Liebmann, Z. Analysis der Wirklichkeit, 1876, S. 53 ff. (vgl. Viert, f. wiss.
Phil. I, 203) den Gedanken weiter ausgebildet, dass unsere menschliche
Baumanschauung nur ein „Specialfall* unter verschiedenen Möglichkeiten
sei, und findet in diesen „subtilen Speculationen der modernen Mathematik*
eine „Bewährung* des Kantischen Idealismus (womit auch übereinstimmt
Fortlage, Jen. Lit. Zeit. 1876, S. 266). „Da der Begriff eines Anschauungs-
vermögens, welches vollkommen anders geartet ist, als das unserige, keinen
logischen Widerspruch involvirt (man denke doch z. B. an die Fechner'sche
Flächenintelligenz oder an die Thiere mit Facetten äugen, in deren seltsame
Weltanschauung sich Niemand hineinversetzen kann) so ist klar, dass die Mög-
lichkeit von Intelligenzen , die einen uns unbegreiflichen Baum anschauen,
sowie dass ein von unserer Baumanschauung völlig verschiedener absoluter
Baum realiter existire, schlechthin offen und unbestreitbar bleibt* u. s. w.
Auch Gauss habe die drei Dimensionen des Baumes als eine „specifische
Eigen thümlichkeit der menschlichen Intelligenz* betrachtet.
Während viele Kantianer mit Liebmann in solchen Gedanken eine Be-
stätigung der Kantischen Baumtheorie sehen, finden Andere beides unver-
träglich und sind der Meinung, Kant selbst würde solche Gedanken weit von
sich gewiesen haben, weil dadurch die objective Gültigkeit der Mathematik
in seinem Sinne ihm beeinträchtigt erscheinen müsste. So bes. Lasswitz,
Die Lehre Kants, 1883, S. 139—167. Tobias, Grenzen d. Phil. 64.
Kant selbst würde wohl in dieser, wie in so vielen anderen Fragen eine
schwankende Stellung eingenommen haben. Vgl. übrigens oben S. 267 sowie
die wichtige Bemerkung in den Proleg, § 12, „dass der vollständige Baum
(der selbst keine Grenze eines anderen Baumes mehr ist) drei Abmessungen
habe, und Baum überhaupt auch nicht mehr derselben haben
könne*. Nach dieser Stelle wenigstens wären ihm jene Gedanken nicht
sympathisch gewesen, aber viele sonstige Aeusserungen Kants aus früherer
und späterer Zeit lassen darauf schliessen, dass ihm jene Gedankengänge
von Lange und Liebmann ganz gelegen gewesen wären. ^
* Nur im Vorbeigehen seien die wunderlichen Ausgeburten der Zöllner*schen
Phantasie erwähnt. Er lehrte mit Kant die Subjectivitat unserer Baumanschauung,
348 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A 27. B 43. [R 88. H 62. E 79.]
Seinem oben entwickelten Ergebniss gibt nun Kant noch einen anderen
Ausdruck: Jene Einschränkung trifft den, dem gewöhnlichen Bewusstsein
so naheliegenden Grundsatz, dass alle Dinge im Räume seien, hart; es gilt
jetzt auch der gegentheilige Satz : nicht alle Dinge sind im Räume ; es gibt
Dinge, die nicht im Räume sind. Eine ^ allgemeine Regel '^ gibt man aber
nicht gerne auf. Man kann aber die Allgemeinheit jener Regel durch
eine einfache logische Operation retten: man setzt die einschränkende Be
dingung zum Subject selbst hinzu, dann lässt sich jene Regel doch wieder,
logisch genommen, in der Form der Allgemeinheit aussprechen. Wir hatten
bisher den allgemeinen Satz : Alle 8 sind P ; da zeigt sich , dass wir jene
Allgemeinheit irrigerweise angenommen haben ; es gibt S, welche nicht P sind.
Jener Satz: alle S sind P, gilt nämlich nur unter einer Bedingung B, welche
zwar in den gewöhnlichen Fällen zutrifft, aber in aussergewöhnlicben Fällen
fehlt, unser allgemeiner Satz: alle S sind P, ist zerstört; ich bin um eine
allgemeine Erkenntniss ärmer, und doch sind allgemeine Sätze für unser
Erkennen so wichtig. Wenn ich nun die Bedingung B sogleich zum Subject
hinzufüge, dann bleibt mir doch formell ein allgemeiner Satz: alle S,
insofern B bei ihnen zutrifft, sind P. Aber diese Restriction darf ich
nun nicht mehr weglassen, sonst wird der Satz falsch. (Vgl. zu dieser
logischen Operation Kants Logik § 21, Anm. 4, sowie auch Krit. A 147—149
über diese Restriction im Gegensatz zur ^Amplification.') Mit jener
Restriction gilt der Satz aber auch ganz allgemein, und, da wir es nur mit
den Fällen zu thun haben, in denen jene Restriction sich findet, so haben
wir für unser empirisches Erkennen doch den werthvoUen, allgemeinen Satz
gewonnen: alle Dinge, mit denen wir es zu thun haben, die jemals in
unseren Anschauungskreis fallen, sind räumlich und müssen es sein^
Das Resultat dieser „Erörterungen" (vgl. Cohen, 2. A. 176!) wird nun
nahm aber an, die Welt der Dinge an sich sei nicht onraumlich, sondern in einem
anderen als dem dreidimensionalen Räume : die Kantischen Dinge an sich und die
Platonischen Ideen seien Gegenstände einer , vierten Dimension" ! Wo übrigens
Zöllner Kant citirt, legt er ihn ohne Ausnahme falsch aus; s. Theorie d. Materie,
Vorr. 75. 82 ff. Wiss. Abhandl. I, 220. 259. 279. 505. 725; II, 892 f.; ÜI, 585. 592.
Naturwiss. u. christl. Offenb. 71 ff. lieber Oetinger und Fricker als Voii^biger
der Idee einer vierten Dimension s. Wiss. Abhandl. III, 577 ff., Über More s. Skalen-
photometer, 102 ff. Ueber die damit zusammenhängende Theorie der .symmetn-
sehen Gegenstände" s. den später folgenden Ezcurs.
^ Ganz ähnlich äussert sich Kant schon in der Dissertation § 27. Man
erkennt daselbst auch leicht, dass die Einschränkung des Raumes auf das Sinn-
liche besonders im Interesse des Gottesbegriffes geschehen ist, wie ja auch B 70—71
zeigt. Dies tritt auch besonders stark hervor bei M. H e r z , Betrachtungen, 177L
S. 97—101. 133—135, woraus sich auch ergibt, dass K. mit dieser aEinschränknng'
sich speciell gegen Grus ins wendet, welcher (Nothw. Vem. Wahrh. § 48) jenen
Satz allgemein aufgestellt hatte. Vgl. C. Festner, Chr. Aug. Crusius als Met«-
physiker. Diss. Halle, 1892, S. 15. 33. 39. 59.
Die ^empirische Realität*' des Raumes. 349
[B 88. H 62. E 79.] A28.B44.
von Kant noch in eine neue, schärfere Formel gebracht. Die beiden Schlu8S-
sätze des Absatzes geben diese neue Formel in doppelter Redaction. Jener
oben gewonnene allgemeine Satz lehrt eben, dass der Raum „in Ansehung
alles dessen, was äusserlich als Gegenstand uns vorkommen kann**, ,in An-
sehung aller möglichen äusseren Erfahrung*' (vgl. Cohen 59, 2. A. 179)
,, gültig' ist; för diese empirischen Gegenstände ist dem Raum ,, Realität"
zuzuerkennen, d.h. eben , Gültigkeit'', oder noch schärfer „objective Gültig-
keit"; es soll und kann das eben nichts anderes heissen, als dass der
Raum für alle Erscheinungen nothwendig ist, da^ sie erst durch ihn zu
empirisch wahrnehmbaren, sinnlichen Objecten für uns werden. Für diese
Erscheinungen ist der Raum nothwendig und allgemeingültig, d. h. objectiv,
real; in Bezug auf sie hat die Raumvorstellung, wie Kant sonst wohl sagt,
„Bedeutung* ; eine Vorstellung hat eben Bedeutung, wenn sie „Beziehung
auf Objecte" hat (Lossius, Lex. I, 478); sonst ist sie ein blosses Product der
Einbildung. In Ansehung der Erscheinungen ist er objectiv, obwohl er
(oder vielmehr gerade weil er) eine subjective Anschauungsform ist. „Ob-
jective Realität" ist also hier so viel als Allgemeingültigkeit ; der Raum ist
in empirischer Hinsicht ^ objectiv real"; weil er sich auf alle empirischen
Gegenstände anwenden lässt, weil diese Gegenstände ihm und seinen Ver-
hältnissen nothwendig entsprechen, weil sie sogar ohne ihn nichts sind
und nicht wären. (Ueber ^ objectiv* in diesem Sinne bei Kant vgl. oben
S. 292). Der Ausdruck: objective Realität (Gültigkeit, Gebrauch u. s. w.)
in dem festgesetzten Sinne wird von nun ab bei Kant sehr oft wiederholt, bes.
unten A 34 f . in dem entsprechenden Abschnitt über die Zeit ^ Diese em-
pirische Realität des Raumes schilderte Kant schon sehr eindringlich in der
Dissertation § 15E: Quamquam conceptus spatii, ut ohjectivi alicujus et
realis etUiSy vel affectioniSy sit imaginaritts , nikilo tarnen secitts respective ad
sensibilia quaecunque non solum «5/ verissimiis, sed et omnis veritatis
in sensualüaU extuma fundamentum. Nam res non possunt 8ub Ulla specie
sensibus apparere, niai mediante vi animi, omnes aensationes secundum stabilem
et naturae suae insitam legem coordinante. Ebenso nennt er daselbst noch
einmal Raum und Zeit conceptus verissimi; im Brief an Lambert vom
2. Sept. desselben Jahres nennt er sie „in Betracht der Gegenstände der
Sinne sehr real"; und in den Fortschr. der Met. Ros. I, 499 heisst es:
„Diese Idealität des R. u. d. Z. ist gleichwohl zugleich eine Lehre der voll-
kommenen Realität derselben in Ansehung der Gegenstände der Sinne."
Ebendeshalb weist Kant daselbst auch (vgl. darüber das Nähere gleich
nachher) den Vergleich dieser Anschauungen mit den subjectiven Sinnes-
^ Diese empirische Objectivität des Raumes schliesst natürlich nicht aus,
sondern im Gegentheil ein, dass er im absoluten Sinne doch schliesslich nur
Bubjecüv ist und nicht „objectiv", was, in Üebereinstimmung mit Sinn und Wort-
laut Kants ; schon oben S. 292 für Trendelenburg gegen Fischer hinreichend er-
örtert worden ist. — Vgl. übrigens auch oben S. 54. 55.
350 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A88.B44. [B 88. H 62. 63. E 79.]
qualitäten zurück. Ausführlicheres über die , empirische Realität* von R.
u. Z. siehe A 369 £f., sowie A 490 £f. über die empirische Wahrheit der Gegen-
stände aller äusseren und inneren Anschauung, welche durch den Transsc
Idealismus nicht aufgehoben, sondern vielmehr erst wahrhaft garantirt werde.
Diese Wirklichkeit des Raumes schildert auch Lotze im Eant*scfaen
Sinne Mikr. III, 497. „Nicht seine Wirklichkeit wird hiedurch geschmälert,
sondern die Art derselben bestimmt. Sowie Ereignisse wirklich geschehen,
obgleich sie nie sind, sowie das Licht wirklich glänzt, obgleich nie ausser
dem Sinn, der es empfindet ... ganz ebenso hat der Raum Wirklichkeit
obgleich er nicht ist, sondern nur erscheint." Es gebe eben verschiedene
Arten der Wirklichkeit. In der That kann man sagen, dass Kant hier
einen neuen Begriff der Wirklichkeit aufgestellt habe, den der rela-
tiven Wirklichkeit im Gegensatz zu der absoluten ; die letztere gibt er preis,
um die erstere uns um so stärker zu sichern. Dementsprechend ist auch
ein neuer Begriff der Wahrheit von Kant aufgestellt worden: der Begrif
der relativen Wahrheit. Man kann dies in Analogie mit dem Copernikani-
sehen System so ausdrücken, dass, wie für uns als wahrnehmende Wesen
die Erde ruht und die Sonne sich bewegt, so auch für uns als anschauende
Wesen der Raum sammt seinem ganzen Inhalt real ist. Kant hat also —
mit einem Wort — die Begriffe der Wirklichkeit und der Wahrheit rela-
tivirt.
Aber dafür ist der Raum nun ganz und gar „ nichts' in Hinsicht auf
die Dinge an sich. Eine Vorstellung ist »real', wenn sie Gültigkeit besitzt
für die Dinge ; sie ist „ideal" , wenn sie in Bezug auf die Dinge ungültig
ist. War der Raum in Hinsicht auf die empirischen Dinge ,real" , so ist
er in Bezug auf die Dinge an sich „ideal", d. h. ungültig, mit Einem Worte
nichts, oder wie Schultz, Erl. S. 25 sich kurzweg ausdrückt: „Raum und
Zeit sind idealische Dinge, d. i. Nichts." Also nur in Bezug auf Ei^
fahrungs dinge ist der Raum etwas; „lassen wir diese Bedingung der Mög-
lichkeit aller Erfahrung weg", machen wir also nicht mehr diese Restriction
(vgl. oben S. 175 Anm. 1 ; vgl. auch Cohen 60, 2. A. 179), so ist der Raum
nichts. Den „Dingen an sich selbst liegt er nicht zu Grunde", in Bezug auf
diese hat die Raum Vorstellung den Courswerth Null. Dass der Raum trans-
scendental-ideal sei, ist die Folge des Schlusses a; dass er aber dennoch
oder ebendeshalb empirisch-real sei, ist die Folge des Schlusses b.
Während nun jene Gültigkeit des Raumes für die empirischen Gegen-
stände mit einem durchaus verständlichen Ausdrucke „empirische Rea-
lität" desselben genannt wird, wird die Ungültigkeit des Raumes in Bezug
auf die Dinge an sich mit einer Wendung gekennzeichnet, welche eine be-
sondere Erklärung verlangt: denn sie besteht aus zwei Termini — trans-
scendentale Idealität — , deren jeder seine besonderen Schwierigkeiten hat
Zunächst „Idealität". Dass diese Idealität mit dem modernen Schlagwort
der „Idealität der Gesinnung" und ähnlichen Wendungen nichts zu thon
hat, ist bekannt. In diesem Zusammenhange hier ist „ideal" so viel als
Die gtransscendentale Idealität ** des Raumes. 351
[B 38. H 68. E 79.] A 28. B 44.
eine bloss subjective Vorstellung, welche in Bezug auf das Reale un*
gültig ist (vgl. idea im Gegensatz zu res bei Cartesius und Locke). Wie
der Ausdruck zu dieser Bedeutung gekommen sei, ist hier nicht zu erörtern.
Man vergleiche darüber Eucken, Philos. Terminologie, S. 132, S. 199 ff. Des-
selben „Grundbegriffe der Gegenwart^, S. 224 ff.; auch Philos. Monatshefte
XX, 27 f. Näheres auch in meiner Abhandlung: „Zu Kants Widerlegung
des Idealismus '^ in den „Strassburger Abhandlungen z. Phil.' 1884 S. 94 f.
Nicht in diesem Ausdruck liegt die Schwierigkeit, sondern in dem mit ihm
zusammengekoppelten.
unrichtig ist es, wenn Rieh], Krit. I, 351 f., Kant sagen lässt: „Trans-
scendental, d. h. auf Dinge überhaupt angewandt ist der Raum eine blosse
Idee . . . Die Idealität des Raumes gilt nur für den allgemeinen oder
reinen Raum ... Nur der reine Raum ist, an sich genommen, eine Idee."
(Ebenso auch Cohen 59, 2. Ä.. 178 f.) Unter ^Idee* versteht Kant immer
einen Vernunftbegriff im Gegensatz zu Kategorien als Verstandesbegriffen.
Diese Verwendung des Ausdruckes „Idee'' bei Kant darf aber nicht identi-
ficirt- werden mit seinem Terminus: ideal, Idealität, Idealismus; denn das
ist im Wesentlichen identisch mit »bloss in unserer Vorstellung befindlich",
„bloss unsere Vorstellung". Allerdings wendet Kant auch jenen Ausdruck „Idee"
auf die Raum Vorstellung an, aber in einem ganz andern Sinne, wie oben 229,
vgl. 258, festgestellt worden ist.
In welchem Sinne kann denn Kant diese Idealität des Raumes eine
ytransscendentale" nennen? Mit der Bedeutung, welche die Einleitung
feststellte (vgl. Comm. I, 467 ff.), „auf das Apriori bezüglich", oder „zur
Theorie des Apriorischen gehörig" — mit dieser Bedeutung scheinen wir
zunächst hier nichts anfangen zu können. Im Gegentheil, der ganze Zu-
sammenhang gibt uns eine ganz an der» Erklärung an die Hand. Dem Raum
wird „empirische Realität" zugeschrieben, weil er real, d. h. gültig ist für
die empirischen Dinge, für das Empirische. So wird ihm also „transscen-
dentale Idealität" zugeschrieben, weil er ideal, d. h. ungültig ist für die trans-
scendentön Dinge, für das Transscendente. Diese Erklärung wird hier ebenso
durch den logischen Zusammenhang wie durch den grammatischen Wortlaut
gefordert. Dieselbe Auslegung fordern auch die Parallelstellen. Schon was
gleich unten A 36 von der „transscendentalen Idealität" der Zeit gesagt wird,
lässt sich ja auch nicht anders auslegen. Zudem wird ja auch daselbst
zweimal die „absolute und transscendentale Realität" der relativen,
empirischen entgegengesetzt. So heisst es auch A 369: „Ich verstehe unter
dem transsc. Idealismus aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem
wir sie insgesammt als blosse Vorstellungen und nicht als Dinge
an sich selbst ansehen, und demgemäss Zeit und Raum nur sinnliche
Formen unserer Anschauung, nicht aber für sich gegebene Bestimmungen
oder Bedingungen die Objecte als Dinge an sich selbst sind." Vgl.
A 373 den unterschied von „empirisch" und „transscendental"-äusserlichen
Dingen, d. h. von Erscheinungen und Dingen an sich. Und so heisst es ja
352 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A28.B44. [B 38. H 63. E 79.]
dann auch an der bekannten Stelle in den „Antinomien* A 490: .Wir
haben in der TransscendentalenAesthetik hinreichend bewiesen: dass alles,
was im Baume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände
einer uns möglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d. i. blosse
Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte
Wesen oder Reihen von Veränderungen ausser unseren Gedanken keine an
sich gegründete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den trans-
scendentalen Idealism*. Aus allen diesen Stellen leuchtet dieselbe Auffassung
und Erklärung des fraglichen Ausdruckes hervor.
Wenn das aber nun so ist, dann haben wir unsern Autor ja wiederum
auf einer schlimmen Inconsequenz ertappt. (Vgl. Gomm. I, 469.) Ohne
davon zu sprechen, verwendet er einen, ja den Haupt-Terminus seiner Phi-
losophie in einem ganz andern, als dem definirten Sinne. Diese Inoonsequenz
kommt am störendsten in der letzten der eben angeführten Parallelstellen
zum Vorschein : in Einem Athem wird da von der „Transscendentalen Aesthe-
tik ** gesprochen, deren Resultat der gtransscendentale Idealismus" ist — förwahr
eine starke Amphibolie der Ausdrücke! Man vergleiche doch oben S. 111!
Orthodoxe Kantianer werden sich damit nicht zufrieden geben. Ge*
rade diese letztgenannte Parallelstelle wird es ihnen unwahrscheinlich machen,
dass ihr Kant eine solche Inconsequenz begangen habe; sie werden rasch
bei der Hand sein, und die Inconsequenz wegdeuten : „Transscendentale Idea-
lität" des Raumes heisse, der Raum sei eine blosse Vorstellung, aber weil
er a priori sei und weil diese Apriorität der Raumvorstellung apriorische
Erkenntnisse (Geometrie) möglich mache. Diese Auslegung klingt nicht übel,
und wir können jenen Kantianern noch zu einer Stelle verhelfen, in welcher
Kant selbst diese Auslegung andeutet. Proleg. § 13, Anm. III, spricht Kant
wieder von seinem «transscendentalen Idealismus" gegenüber den mannig-
fachen wirklichen oder eingebildeten Missverständnissen seiner ersten Kritiker
und bemerkt da: „Das. Wort transscendental aber, welohes bei mir nie-
mals eine Beziehung unserer Erkenntniss auf Dinge, sondern nur aufe Er-
kenntnissvermögen bedeutet, sollte diese Missdeutung verhüten" — * nämlich,
als ob es sich bei Kants Idealismus um die Leugnung der Dinge an sich
handelte. Also „transscendental" soll auch hier nur bedeuten ,eine Bezie-
hung (unserer Erkenntniss?) aufs Erkenntniss vermögen", also natürlich mit
Rücksicht darauf, dass wir eine apriorische Erkenntnissart von Gegen-
ständen haben, wie Kant in der Einleitung sich ausdrückt '. und noch
deutlicher ist ja jene bekannte Anmerkung zu dem Anhang der Proleg,
(Or. 205), woesheisst: „transscendental bedeutet nicht etwas, das über alle
Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr a priori zwar vorhergeht, aber
doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntniss
möglich zu machen."
^ Die dunklen und widerspruchsvollen Aeusserungen des bekannten Paasiu
A 56 = B 80 über „transscendental' können erst an Ort und Stelle erklärt werdai.
Was heisst: „ti-ansscen dentale" Idealität des Raumes? 353
[B 38. H 63. K 7».] A 28. B 44.
Wir sind geschlagen. Aber wir haben dem Gegner nur zum Triumph
verhelfen, um ihn desto kräftiger zurückweisen zu können. Es lässt sich
nämlich sehr einfach beweisen, dass wir es hier wieder mit einem jener Ge*
dächtnissfehler zu thun haben, von denen wir bei Kant schon mehrfach Proben
gefunden haben. Als Kant diese letztcitirten Stellen niederschrieb, hatte er
einfach vergessen, dass er ursprünglich in der Verbindung, „transscendentale
Idealität' den Ausdruck ^transscendental^ in der Bedeutung: auf das
Transscendente bezüglich gebraucht hatte, nicht aber in der in der
Einleitung festgestellten Bedeutung: auf das Apriori bezüglich. Dass
Kant diese beiden ganz heterogenen Bedeutungen mit einander verwechselt,
haben wir ja schon Band I, 469 gesehen. Dass er sie hier ebenfalls ver-
wechselt, lä^st sich, wie bemerkt, auch stricte beweisen. Der Beweis kann
ßowohl indirect als direct geführt werden : Kant spricht an der Stelle A 369,
490, auch von dem „empirischen Idealismus*'; nach dem Zusammenhang bezieht
sich derselbe eben auf die empirischen Dinge im Baume; e contrario
bezieht sich „transscendental' in der Verbindung „der transscendentale Idea-
lismus" auf die transscendenten Dinge an sich. Noch zwingender ist aber
folgender directer Beweis : An der oben mitangeführten Stelle A 369 (ebenso
A 490) spricht nämlich Kant auch von dem „transscendentalen Realismus'^,
„der Zeit und Baum als etwas an sich (unabhängig von unserer Sinnlichkeit)
Gegebenes ansieht. Der transscendentale Bealist stellet sich also äussere Er-
scheinungen (wenn man ihre Wirklichkeit einräumt) als Dinge an sich
selbst vor." In der Verbindung „transscendentaler Realismus '^ hat die
Bedeutung: aufs Apriorische bezüglich, gar keinen Sinn, sondern nur jene
andere, schon oben zuerst festgestellte: aufs Transscendente, d. h. auf die
Dinge an sich bezüglich. Dies war die ursprüngliche Bedeutung des Aus-
druckes in dieser Verbindung, aber es entspricht ganz der Sorglosigkeit, ja
Nachlässigkeit Kants im Gebrauch seiner Terminologie, dass er dies nachher
vergass, und um so eher die andere Bedeutung in diese Verbindung hinein-
legte, je mehr der Ausdruck „transscendental" = aufs Apriori bezüglich zum
Schlagwort seiner Philosophie und seiner Schule wurde.
Aus diesem Sachverhalt erklären sich auch die Widersprüche der Com-
mentatoren. In der 2. Auflage seines Werkes über Kant S. 348 drückte
sich Fischer etwas zweideutig aus; aber in der 3. Auflage S. 348 sagt er
ganz entschieden: „Raum und Zeit sind als Dinge an sich oder in Anwen-
dung auf dieselben imaginär . . . Diese Idealität ist transscendental, weil
sie aus einer Untersuchung einleuchtet, die sich auf unser sinnliches Er-
kenntnissvermögen bezieht oder weil sie unter dem transscendentalen Ge-
sichtspunkt entdeckt wird.* Paulsen (Viert, f. wiss. Philos. 11, 487) er-
klärt: „Diese Theorie nennt K. transsc. Id., d. h. einen Idealismus (Phäno-
menalismus), der objective, d. h. allgemeine und nothwendige Erkenntniss
möglich mache." B. Erdmann (Einl. in die Frolegomena S. LVIII) erklärt:
„Transscenden taler, d. i. aus der Kritik der Erkenntniss gefolgerter Idealis*
mus**. Dagegen Riehl, Krit. I, 351: „Der Gebrauch einer Vorstellung von
Yaihinger, Eant-Commentar. II. 23
354 § 3- Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A 28. B 44. [B 88. H 68. E 79.]
Dingen überhaupt ist transscendental. So angewandt ist der Baum eine
blosse Idee. Sein transscendentaler Gebrauch ist imaginär, sein Gebrauch
für die Anschauung der Dinge reell;* IT, a, 89 (109): , Nichtigkeit des Irans-
scendentalen Gebrauchs". Was Cohen (S. 60; 2. A. 179—180) hierüber
sagt, ist wieder fast ganz unverständlich. Richtig A dickes S. 78 N., auch
Lotze, Phil. s. Kant § 16.
Obgleich Kant an dieser Stelle die „transscendentale Idealität'
des Raumes lehrt, hat er doch für diese seine Lehre nicht schon den Aus-
druck „transscendentaler Idealismus* selbst gebraucht, mit dem er
erst später, in der Dialektik, diese seine Lehre bezeichnet. An zwei Stellen
der Dialektik ist dies geschehen: zuerst in der Kritik der rationalen Psy-
chologie, A 869 ff., zweitens in der Antinomienlehre A 490 ff. Man wird
darin, dass Kant jenes zusammenfassende Sjstemwort erst später einführte,
nicht schon hier, schwerlich weiter als einen blossen Zufall zu sehen haben. Es
ist jedoch hier zu erwähnen, dass B. Erdmann auf diese äusserliche Differenz
— die freilich so gering ist, dass man sie kaum als solche bezeichnen
kann — grossen Werth legt: Einleitung in die Prolegomena S. XLIV ff. (dazu
Arnoidts Gegenschrift S. 57), Kriticismus 66, Beflexionen II, Einl. XXVI,
XLV. Vgl. hiezu unten zu A 41 Anm. I.
In dem eben besprochenen Absatz findet sich noch eine Wendung,
welche commentirender Bemerkungen bedarf. Kant behauptet die , Idealität
des Baumes in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich
selbst erwogen werden, d. i. ohne Bücksicht auf die Beschaffenheit unserer
Sinnlichkeit zu nehmen". Wie kann nach den sonstigen Lehren der Kr.
d. r. V. „die Vernunft die Dinge an sich erwägen*? Nach dem Zusammen-
hang, mit Berücksichtigung des Gegensatzes „Sinnlichkeit'', kann Kant hier
nur sagen wollen: die Dinge, sofern sie Objecte der Sinnlichkeit sind, sind
räumlich; sofern sie Objecte der Vernunft sind, sind sie unräumlich. Nun
entspricht diese Auffassung ganz der Dissertation von 1770, welche die in-
teüigibilia und sensihüia einander ganz in derselben Weise gegenüberstellt.
Wir haben in dieser Wendung hier somit noch eine jener Eierschalen, welche
sich in der Kr. d. r. V. noch mannigfach finden. Entweder stammt die
Wendung und damit die ganze Stelle noch aus einer Zeit, in der Kant noch
auf dem Standpunkt der Dissertation stand — und dann ist die Abfassung?
der ganzen Stelle und vielleicht der ganzen Aesthetik in die frühern 70er
Jahre zu setzen ; oder die Wendung ist als eine archaistische zu fassen, welche
Kant noch in die Feder geflossen ist, als er über jenen Standpunkt schon
hin ausgelangt war. Solche paläontologische Beste finden sich noch mehr-
fach in der Aesthetik, so A 40—41 (Beurtheilung der Gegenstände nicht
als Erscheinungen , sondern im Verhältniss auf den Verstand) , und A 45
(über den Unterschied der Sinnlichkeit vom Intellectuellen), In Bezug auf
das Ich kommt diese Wendung sogar noch in B vor; z. B. : Ich, nicht wie
ich vor dem Verstände bin, sondern wie ich mir erscheine" (B 155).
Endlich ist noch zu bemerken, dass Kant in seinem Handexemplar zu
Der Raum »a priori objectiv". 355
[B 38. 89. H 6a E 79.] A28.B44.
diesem Absatz eine Reihe von Anmerkungen hinzugefügt hat (Erdmann,
Nachträge Nr. XVITI — XXVII), welche theils formelle Verbesserungen des
Textes, theils sachliche Zusätze enthalten. Die ersteren sind, mit Ausnahme
der oben S. 343 besprochenen, belanglos, die zweiten gehören zu den beiden
in der 2. Aufl. hinzugesetzten Anmerkungen III und IV,^ woselbst sie auch
besprochen werden werden.
Vierter Absatz.
Erste Auflage. Dieser Absatz, welcher von Kant selbst nachher,
und bei der Zeit A 86 als „Anmerkung* bezeichnet wird, knüpft au
die Bestimmung des vorigen an: der Raum besitze Realität, d. i. objective
Gültigkeit in Hinsicht auf die empirischen Dinge. Von demselben Raum
ist in dem ersten und zweiten Absatz gelehrt worden, er sei eine rein sub*
jective Vorstellung. Der Raum ist demnach eine subjective Vorstellung,
welche doch zugleich objectiv heissen kann. Diese paradoxe Behauptung^
löst sich so auf: Der Raum ist eben subjec-tiv angesichts der Dinge an
sich, objectiv angesichts der Erscheinungen, und in Hinsicht auf die
letzteren ist er auch a priori gültig — also, um es kurz zu sagen, „a priori
objectiv*. In diesen Bestimmungen — Apriorität und Objectivität — liegt
nun das Eigenthümliche , was die subjective Raumvorstellung von anderen
subjectiven Vorstellungen unterscheidet. Denn diese Frage schwebt ja jedem
einigermassen in Philosophie Bewanderten nun auf der Zunge, wie sich denn
die von Kant neu behauptete Subjectivität der Raum Vorstellung zu der schon
bekannten Subjectivität gewisser anderer Vorstellungen verhalte? Solche
sind ja die sog. secundären Sinnesqualitäten, von denen Kant selbst die
Geschmacks- und Gesiehtsempfindungen anführt. Aber mit solchen soll die
Raumvorstellung nicht „verglichen* werden. Warum nicht? Weil sie, wie
Kant zeigt, weder objectiv noch apriorisch sind, wie doch die Raum-
vorstellung. — (Vgl. übrigens auch oben S. 54 f.)
Es wird also zuerst gezeigt, dass sie nicht, wie der Raum, in Bezug
auf die Gegenstände, an denen sie sich finden, objectiv gültig sind; d. h.
sie sind nicht objective Bestimmungen oder Beschaffenheiten der Körper,
sondern nur subjective Modificationen oder Affectionen der Sinne. Dies
wird weiterhin dahin erläutert, dass sie nicht, wie die Raum Vorstellung,
nothwendige und allgemeingültige Bestandtheile oder gar Bedingungen der
* Mit Unrecht finden Einige hierin eine contradictio in adjecto, so Czolbe,
Menschl. Erk. 102; Michelis, Kant 40 ff.; Bilharz, Erläut. 17. 164 (bes. über ,a priori
objectiv"). Eine treffende Auseinandersetzung hierüber bei Knauer.. Reflexions-
begriffe 32 ff.: es kommt auf das Forum an; vor dem Forum aller Menschen
ist der Raum objectiv; vor dem Forum aller Wesen überhaupt ist er nur
subjectiv. Vgl. hiezu auch oben S. 292. Vgl, Cohen, 2. A. 177: „Hier sehen wir
in glücklicher Bestimmtheit das Subjective mit dem Objectiven verbunden." In
diesem Sinne spricht auch Herbart, W. W. IV, 248 vom , objectiven Schein**.
356 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A 29. B 44. [B 89. 714. H 63. E 79. 80.]
Sinuesobjecte selbst sind, sondern nur zuf&Uige und individuelle Zusätze zu
denselben: denselben also nicht ursprünglich und eigenthümlich angehörig,
sondern nur, wie es auch unten in der Parallelstelle zur Zeit heisst (A 36),
i,p«' subreptionetn** — durch Erschleichung — „beigefügt".
Sodann wird ausgeführt, dass jene Sinnesqualitäten auch nicht, wie
das bei der Raum Vorstellung der Fall ist, auf Apriorität Anspruch machen
können. Sie sind weder a priori, noch kann man sich von ihnen a priori
eine Vorstellung machen ; vielmehr beruhen sie auf Empfindung, sind somit
a posteriori ^ Ganz anders die Raumvorstellung: sie hat nichts mit Em-
pfindung zu schaffen, ist somit a priori, und man kann sich daher auch
vom Räume und von den einzelnen Formgestalten im Räume a priori eine
Vorstellung machen. Bemerkenswerth ist der Schlusssatz, dass durch den
Raum allein „Dinge für uns äussere Gegenstände" werden können, worin
man mit Pünjer, Religionslehre Ks. 4, mit Recht eines der vielen Zeugnisse
für die Voraussetzung der Dinge an sich erblicken muss.
Zweite Auflage. In dieser Redaction ist der erste Satz, der die
These enthält, stehengeblieben. Nur die Begründung hat Kant anders for-
mulirt. Zwar kehren auch beide Gedanken wieder: 1) nur der Raum macht
die objective Erfahrung möglich; 2) nur der Raum macht dem Subject
apriorische Urtheile möglich; aber hier spricht er umgekehrt zueist
von der den Sinnesqualitäten mangelnden Apriorität, speciell in der Forro,
dass sich aus ihnen keine synthetischen Sätze a priori gewinnen lassen, wie
das von der Raumvorstellung in der Transsc. Erört. (§ 3) nachgewiesen wor-
den sei (vgl. Cohen, 2. A. 177). Deshalb komme ihnen, strenggenommen,
keine „Idealität" zu — offenbar will Kant hier diesen Ausdruck reserviren
^ Vgl. A 175: „Die Qualität der Empfindung ist jederzeit bloss empirisch
und kann a priori gar nicht vorgestellt werden (Farben, Geschmack u. s. w.)*.
Vgl. A 723. — Nach Reimarus, Menschl. Erk. 17, müsste aber consequent^r
Weise auch die Anlage zu Farbenvorstellungen reine Ansch. heissen; auch die
Farben seien nothwendige Formen der Gesichtsvorstellungen. Aber dagegen bemerkt
die A. L. Z. 1788, IV, 883: es lasse sich nicht jede Anlage zu einer jeden Vorstellnng
abgesondert von der letzteren vorstellen, und so wie R. u. Z. von dem Mathe-
matiker selbstthätig modificiren ; darauf beruhe aber der Anspruch jener Ankgeo
auf den Titel wirklicher Anschauungen a priori. — Auch Liebmann, Analjd.
216 N., wendet sich gegen den Einwand, dass ,mit gleichem Rechte auch die
Apriorität der Farben behauptet werden könne, da ohne Farbe die (Gesichta-.»
Vorstellung räumlicher Gegenstände auch unmöglich sei*.^ Diese Sorte von Apriorität
sei eine ganz relative und secundäre im Vergleich zu der des Raumes, und folge
nur aus der specifischen Sinnesenergie der mit uns gleichartig organisirten Wesen:
mau könne sich wohl denken, dass andere Wesen andere specifische Sinneseneigien
hätten, aber nicht, dass sie die Aussenwelt raumlos anschauen. (Vgl. aber oben
347.) Schopenhauer behauptet übrigens in seiner Schrift «über das Sehen und
die Farben** S. 33 f., dass die Farben gewissermassen auch a priori erkannt werden.
— Aehnlich Lange, Gesch. d. Mat. II, 33. Vgl. über diese Stelle auch Tonrtaal.
Die Sinne des Menschen XLIX, 24 ff.
Die Idealität des Raumes und die Subjectivität der Empfindungen. 357
[R 89. 714. H 68. 64. E 79. 80.] A29.644.45.
für Vorstellungen, welche ideal = subjectiv nnd zugleich apriorisch sind,
obwohl er von dieser letzteren Beschränkung bisher nichts gesagt. Er unter-
scheidet also eine Idealität in diesem strengeren Sinne („die constructive
Idealität im echten transscendentalen Sinne'S Cohen 2. A. 180), und eine Idea-
lität in einem laxeren Sinne ; im letzteren Sinne ist Idealität so viel als Sub-
jectivität und diese kommt ja, wie nun weiter ausgeführt wird, den Sinnes-
qualitäten gemeinsam mit der Raumvorstellung zu. Das haben also beide
gemeinsam, dass sie „zur subjectiven Beschaffenheit der Sinnesart gehören'^ ;
aber trotz dieser Zugehörigkeit zu einem gemeinschaftlichen Genus — sind doch
beide wieder specifisch sehr verschieden; denn innerhalb der Subjectivität
der „Sinnesart" ist nun zu unterscheiden zwischen der auf Apriorität der
Anschauung beruhenden Subjectivität der Raumvorstellung und der auf
blosser Empfindung beruhenden Subjectivität der Sinnesqualitäten; denn
letztere ermöglicht (,an sich*', d. h. ohne Mitwirkung der apriorischen Raum-
vorstellung) überhaupt keine Erkenntniss eines „Objects", und noch weniger
eine , apriorische '^ — ,a priori objectiv* ist ja nur die Raumvorstellung.
(Vgl. dagegen v. Kirch mann, Erläut. 2. 10, und dagegen wieder Grapen-
giesser, Erkl. 10. 24.)
Dass nun der Raumvorstellung dieser Vorzüge wegen „Idealität" zu-
geschrieben wird, während sie den Sinnesqualitäten vorenthalten wird, ist
zwar laut obiger Erklärung hinreichend motivirt, aber es wirkt doch etwas
befremdend ; es ist daher nicht zu verwundern, dass die Stelle den Erklärern
Schwierigkeiten gemacht hat. So hat Meilin die Stelle ganz verkannt; er
findet (IV, 770) hier den Gegensatz von Idealität beim Räume und — Rea-
lität bei den Sinnesqualitäten ! ^ — Laas dagegen wollte (Id. u. Pos. III,
339) statt „Idealität" — „Realität" lesen, was aber den Sinn der Stelle
vollends zerstören würde. Ganz unverständlich ist die Erklärung bei Ma-
haffy, Grit. Phil. I, 68.
Fünfter Absatz.
Nun wird die eigentliche „Absicht" der vorhergehenden Erörteningen
erst deutlich herausgestellt: Kant will den im vorigen Absatz schon
vorläufig zurückgewiesenen Vergleich der Idealität der Raumvorstellung
mit der Subjectivität der Sinnesqualitäten nicht aufkommen lassen. Er
will sich damit scharf scheiden von Berkeley and Hume, welche
(bes. Berkeley, Principles, X, XCIX) die quantitativen Anschauungen
R. u. Z. von den rein qualitativen Empfindungen nicht hinlänglich unter-
scheiden (eine Unterscheidung, die auch bei Tetens mangelte.) Die letzteren
* Ein ganz ähnliches Missverstandniss begegnete Hamilton in seiner Aus-
gabe von Reid, indem er meint, Kant halte die primären Qualitäten fiir mehr
subjectiv, als die secundären ; hiegegen wendet sich Fred. P u r s e r , in der Dubliner
Zeitschrift Heitnathena, 1874, 1, 301 ff.: On the Kantian theory of external perception.
358 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A2gLB0.B44.45. [B 39. H 64. E 80.]
werden ja „mit Recht'' nicht als „Beschaffenheiten der Dinge", sondern bloss
als „Veränderungen des Subjects'^ betrachtet; da läge ja der Vergleich mit
der Raum Vorstellung sehr nahe, da ja auch auf sie jene Beschreibung, ausser-
lieh genommen, ganz passt : denn auch sie gehört nicht den Dingen, sondern
dem Subjecte an. Aber diese Vergleichung geht nicht an; jene Beispiele der
Sinnesqualitäten, Farben, Geschmack u. s, w. sind „unzulänglich". Man sagt
ja allerdings auch: die Farbe einer Rose ist nur eine subjective Erscheinung,
die Rose an sich selbst ist nicht farbig ^ und so fanden wir ja auch oben:
die Räumlichkeit gehört nur zur Erscheinung ; die Dinge an sich selbst sind
nicht räumlich. Allein der Gegensatz von Dingen an sich und Erscheinung
wird beidemal doch ganz verschieden gefasst : im empirischen und im „trans-
scendentalen" Sinne. In Hinsicht auf das Empirisch-Gegebene ist die Rose
ein Ding an sich selbst ^ das jedem Auge in Ansehung der Farbe anders
•erscheinen kann. Allein in Rücksicht auf das Transscendente , Nicht-Ge-
gebene (oder vom „Standpunkt der Transscendentalphilosophie aus*' im Ge
gensatz zum Standpunkt der empirischen Psychologie ?) ist jene Böse, da sie
noch im Räume ist, keine Sache an sich, sondern „selbst nur Erscheinung*' ;
als räumlich ist sie nur „Vorstellung unserer Sinnlichkeit", aber es entspricht
4hr ein wirkliches, jedoch gänzlich unerkennbares, für uns aber auch nicht
in Betracht kommendes Ding an sich, das als „wahres Correlatum**
unserer Vorstellungen bezeichnet wird, „da alle Erscheinungen Vorstellungen
sind und nicht etwa Gegenstände ausser und unabhängig von denselben"
(Fischer, Kr. d. K. Ph. 19).
In diesen letzten Worten des Abschnittes wird die Realität, aber auch
die Unerkennbarkeit des D. a. s. noch einmal deutlich betont. Romundt.
Ref. d. Phil. 34: „Nach diesem durch Absehen von der Sinnenbedingtheit
* Vgl. Fortschr. d. Met. Res. I, 499: ,In der Sprache der Erfahrung
sind diese Gegenstände der Sinne ... z. B. der Himmel mit allen seinen Sternen,
ob er zwar blos Erscheinung ist, wie Dinge an sich selbst gedacht." Diesen Dingen
an sich selbst im empirischen Sinn entspricht denn auch wieder die .physische
Erscheinung", z. B. der Umstand, dass der Himmel als ein Gewölbe erscheint Es
gibt für Kant gewissermassen eine doppelte Wahrheit, eine natorwissenschait-
liche und eine philosophische (wie man im Mittelalter die doppelte Wahrheit in
Theologie und Philosophie unterschied) : nach der naturwissenschaftlichen Wahrheit
gibt es Atome im Räume, deren Schwingungen unsere Sinne afßciren, dagegen
nach der philosophischen Wahrheit gibt es keine solche, weil der Raum sanunt
Allem in ihm nur subjective Erscheinung ist.
' In diesem empirischen Sinne spricht auch schon Lambert von der ,Be-
urtheilung dessen, was die Dinge an sich sind" (Neues Organon U, 246, Phä-
nomenologie, § 51; vgl. dazu Eucken, Philos. Terminologie, S. 135). Wohl mit
stiller Beziehung auf Lambert eben will Kant am Schluss des Abschnitts: Vom
Grund der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Nou-
mena (A 258, B 313) scharf unterschieden wissen zwischen der empirischen und
der transscendentalen Bedeutung des An-sich.
Bing an sich und Erscheinung. 359
[R 89. H 64. E 80.] A39.30.B44.45.
gewonnenen Begriffe wird aber auch in der Erfahrung niemals gefragt : Die
Besinnung verwehrte Kant von der grünen Weide der Wissenschaften auf
die Dürre leerer Speculation sich zu verirren." Dass aber auf der anderen
Seite die Existenz der Dinge an sich (im Plural) fest behauptet und voraus-
gesetzt wird, darauf muss, der unbegreiflichen Vertuschung und Verleugnung
dieser Thatsache gegenüber, immer wieder mit den Fingern hingewiesen
werden; diesen Dingen an sich stehen eben die Erscheinungen gegenüber
,im transscendentalen Sinn'' , welchen Kant hier hinreichend deutlich er-
klärt hat.
üeber diesen „transscendentalen Begriff der Erscheinung" vgl. oben
S. 35. Diejenigen Kantianer, welche den Begriff des Dinges an sich
als widerspruchsvoll erkennen und verwerfen, mussten naturgemäss auch
den Correlatbegriff der „Erscheinung* verwerfen und vermeiden. Diese lobens-
werthe Consequenz haben indessen nur Wenige zu ziehen den Muth gehabt.
Am schneidigsten geschah dies seitens Lieb mann, K. u. d. Epigonen
S. 27: „Kant nennt die in Baum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit
von Datis der inneren und äusseren Erfahrung: Erscheinung. — Wie
kommt er darauf? Was berechtigt ihn dazu? Die Welt darf und muss
-sich diesen Titel verbitten ; denn sie wird durch ihn ihrer Dignität, der ihr
zugestandenen empirischen Realität d. i. Wirklichkeit verlustig. In dem
Titel: Erscheinung würde offenbar das liegen, dass etwas vorausgesetzt werden
^olle, was erscheint." „Ein ausserhalb von Baum und Zeit Liegendes ist aber
ein für allemal Unsinn. Demnach darf die räumlich -zeitliche Welt nicht:
Erscheinung betitelt werden." Vgl. ib. S. 88 f., wo Liebmann Kants Schluss
auf das Ding an sich als einen Trugschluss der Fallacia falsi medii charak-
terisirt. VgL Lange, Gesch. des Mat. II, 49 f. Lehmann, Ks. Lehre vom
D. a. s. Dias. Berl. S. 6 ,ff.
Von diesem „transscendentalen Begriff der Erscheinung" kann man
etwa als »metaphysischen Begriff« derselben diejenige Bedeutung unter-
scheiden, welche der Ausdruck bei den Nachkantianern, bes. Schelling und
Hegel erhalten hat^ Demnach ist „Erscheinung" eine „unabhängig vom
subjectiven Vorstellungsact sich vollziehende Objectivation [Manifestation]
eines metaphysischen Wesens", wie E. v. Hartmann, Transsc. Real. S. 2, 28
•treffend definirt. Erscheinung in diesem Sinne (auch als „objective Erschei-
nung* bezeichnet) liegt allerdings von Kants Denken weit ab, wenigstens
insofern in dieser „objectiven Erscheinung" das Wesen des Dinges an sich
* Vom Kantischen kritischen Begriff , Erscheinung* ist auch der vor-
kritisch e , -wesentlich Leibniz'sche Sinn der „Erscheinung" zu unterscheiden, der
sich auch in Kants früheren Schriften mehrfach findet: darnach erhalten wir in
der Erscheinung ein durch unsere Sinnlichkeit verdunkeltes Bild des wahrhaft
Seienden. Vgl. hiezu B. Erdmann, Ks. Reflexionen, II, S. 80, woselbst auf diese
Verwendung aufmerksam gemacht wird ; so nennt Kant (in der Monad, /?%«.) den
Raum das „phaenomenou relationis externae unitarum monadum", die Bewegung das
„phaenomenon nexua suhstantiarum permutati" (in der Nova Dil). Vgl. oben S. 147.
360 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A29.80.B44.45. [R 39. H 64. E 80.]
zum Ansdmck^ zur Darstellung kommen soll. Aber in dem Sinne, dass die
Erscheinung eine gewisse vom empirischen Subject unabhängige Existenz
hat, kann man allerdings auch bei Kant von „objectiver Erscheinung*
sprechen, wie schon oben im Excurs S. 52 ff. bemerkt worden ist. —
Bemerkenswerth ist, dass dies die einzige Stelle der Aesthetik ist, in
welcher Kant die Subjectivität der Empfindungen, der Materie unserer Anschau-
ungen, erwähnt. Hierauf weist auch Thiele hin, K*s. int. Ansch. S. 43. Vgl.
auch Zeller, Gesch. d. D. Philos. 426: „Dass auch schon unsere Empfin-
dungen nur Vorgänge in unserem Bewusstsein sind, welche vermöge der
Einrichtung unserer Natur durch gewisse äussere Eindrücke hervorgerufen
werden, dies hat Kant zwar nicht ganz übersehen [§ 4 der Inaug.-Diss. be-
merkt er: die Empfindung, welche den Stoff der sinnlichen Empfindung
ausmache, hänge hinsichtlich ihrer Qualität von der Natur des empfindenden
Subjects abj ; aber doch hat er diesen Punct nicht weiter verfolgt** u. s, w.
Vgl. oben S. 331 N. Dass Kant nicht von der Subjectivität der Empfindungen
ausging, dafür spricht eben auch die vorliegende Stelle: er hat erst nach-
träglich seine neue A priori tätstheorie des Raumes mit der alten Subjec*
tivitätstheorie der Empfindungen in Verhältniss gesetzt; und er stellt bald
beides — die apriorische Baumanschauung und die subjectiven Empfin-
dungen — in dieselbe Linie als bloss „an der subjectiven Beschaffenheit der
Sinnesart '^ hängend, bald befestigt er zwischen beiden eine Kluft und sucht
der ersteren eine grössere Dignität und mehr Objectivitätswerth zuzuschreiben,
als den Empfindungen. Vgl. A 44 ff. und B. 69 Anm.
In den „Fortschritten der Metaphysik" (W.W. Ed. Kirchmann
V, 4, S. 108; Ros. I, 499) findet sich noch eine interessante Parallelstelle:
es wird ausgeführt, dass „dasjenige Subjec tive, was die Beschaffenheit der
Sinnesanschauung, in Ansehung ihres Materialen, nämlich der Empfindung
betrifft, z. B. Körper im Licht als Farbe, im Schalle als Töne, oder im Salze
als Säuren u. s. w., bloss subjectiv bleiben, und kein Erkenntniss des
Objects, mithin keine für Jedermann gültige Vorstellung in der em-
pirischen Anschauung darlegen, kein Beispiel von jenen abgeben können,
indem sie nicht, so wie Raum und Zeit, Data zur Erkenntniss a priori ent-
halten, und überhaupt nicht einmal zur Erkenntniss der Objecto gezählt
werden können.'' Diese Stelle schliesst sich eng an die Darstellung der
2. Aufi. an ; als unterscheidende Merkmale der reinen Formen von den Sinnes-
qualitäten gelten hier ebenfalls Apriorität und Objectivität = Allgemein-
gültigkeit, üeber das Letztere s. unten zu A 44. Damit vergleiche man
auch die Unterscheidung der Sinne in objective und subjective in der Anthro-
pologie § 14 ff. ; vgl. die Vorlesungen über Metaphysik S. 142 f.
Eine gute Erläuterung bieten die Losen Blätter I, S. 210, wo Kant
darauf aufmerksam macht, „dass diese Form der Dinge in der Ei*scheinung
vor jeder anderen, welche dasjenige enthält , was nicht den Objecten ausser
uns, sondern bloss unserer Vorstellungsart anhängt, dadurch hinlänglich
unterschieden werde, dass wir dadurch a priori die Erscheinungen bestimmen
Objecüvität des Raumes im Gegensatz zur Subjectivität der Empfindungen. 36 1
[B 39. H 64. E 80.] A^.30.B44.45.
können, welches [wir] bey einem Tone zum Unterschied vom Schalle, bey
der Wärme zum Unterschied von der Wahrnehmung einer alle anderen Ma-
terie durchdringenden und sie ausdehnenden Flüssigkeit nicht sagen können,
mithin die Form der Erscheinung den äusseren Sinn überhaupt, und
nicht gewisse besondere Arten, zu empfinden und unmittelbar wahrzunehmen,
angehe. **
Eine abweichende Darstellung gibt K. in der Kr. d. Urth., Einl. VII,
sowie § 1. Da wird die Empfindung in Hinsicht auf objective Erkenntniss
ganz parallel dem Räume behandelt, welcher, „seiner bloss subjectiven Qua-
lität ungeachtet, gleichwohl doch ein Erkenntnissstück der Dinge als Er-
scheinungen'^ ist. Ganz dasselbe gilt daselbst auch von den Empfindungen,
während denselben hier als ganz subjectiv jeder objective Erkenntnisswerth
abgesprochen wird. Die Differenz erklärt sich daraus, dass an jener Stelle
die Empfindungen sammt dem Baum zusammengenommen als Erkenntnis»-
zustände von den Gefühlen unterschieden werden (vgl. oben S. 29); letzteren
gegenüber, welche gänzlich subjectiv sind, haben die ersteren, welche in
letzter Linie freilich auch nur subjectiv sind, doch einen objectiven Werth,
wobei nun eben freilich wieder die Raumanschauung objectiver ist, als die
Empfindungen. Kant hat dieObjectivitätsscala der psychischen Zustände
(Gefühle, Empfindungen, Raum) damit ganz richtig gekennzeichnet.
Feinsinnige Bemerkungen über dieses Thema finden sich bei Riehl,
Krit. II, a, 31 ff.: „Die Empfindung kann nach Kant kein Bestimmungs-
grund für ein objectiv-gültiges Urtheil werden, weil sie nur den Zustand
des urtheilenden Subjectes bedeutet, und von dessen persönlicher und gleich-
sam zufölliger Lage abhängt. Dieselbe Zufälligkeit wie die Empfindungen
haben auch die aus ihnen gebildeten Wahrnehmungen, während gerade das
rein Formale in den Vorstellungen von R., Z. und Kategorien diese zu
Grundlagen einer allgemeinen, vom persönlichen Standpunkt des Subjectes
unabhängigen, also insoferne objectiven Erkenntniss geeignet macht. In
diesem Sinne unterscheidet K. Wahrnehmungsurth eile und Erfahrungs-
urtheile. (Ueber diesen hier mit Recht herbeigezogenen Unterschied, Proleg,
% 18 ff., muss der Commentar zur Analytik weiter verhandeln.) Richtig
heisst es dann weiter: „Was indess die Empfindung bei Kant im Vergleich
mit den Anschauungsformen dadurch verliert, dass sie nicht wie diese zu
einer Grundlage für übereinstimmende Erkenntniss geeignet sein soll, gewinnt
sie wieder dadurch, dass ihr auch nach der Lehre Kants in der Wirklichkeit
etwas entspricht, während jene Formen in der Realität selbst keine Correlate
haben . . . Obgleich also die Empfindung ihrer Beschaffenheit zufolge
rein subjectiv sein und nichts als die Materie der Erscheinung {realitas
phaenomenon) bezeichnen soll, weist sie doch ihrer Entstehung nach auf
die nicht phänomenale Realität zurück . . . Aus dieser Doppelstellung
der Empfindung wird das eigenthümliche Verhältniss begreiflich, das ihr
nach K. in der Gesammtheit der Erkenntniss zugeschrieben wird.** Weiteres
über unsere Stelle s. auch bei Thiele, Kant I, b, 290 f. Windelband,
362 § 3. Schlüsse in Bezug auf den Raum.
AS8-^30344.46. [B 88. 89. H 68. 64. E 76.]
Gesch. d. n. Phil. II, 61; Gesch. d. Phil. 425. Stumpf, Ursprung der
Raumvorst. 1873, S. 24 ff.
Bemerkungen zum Tierten und fünften Abschnitt. Diese beiden
zusammeugehörigen Absätze bieten nun, genauer angesehen, mannigfache
3chwiengkeiten dar. Die Absicht, welche Kant darin verfolgt, ist ja
sehr klar: er will die Subjectivität der Raum Vorstellung von der Subjec-
tivität der gewöhnlichen Sinnesqualitäten unterscheiden und ihr eine höhere
„Dignitäf (cfr. A 92) zuweisen; gemeinsam ist beiden die Subjectivität
im weiteren Sinne, aber innerhalb dieser Subjectiviät im weiteren Sinne
macht nun Kant noch einmal den Unterschied von Objectivität und von Sub-
jectivität im engeren Sinne! Dem Raum wird also eine Ausnahmestellung
vindicirt. Allerdings ist er subjectiv, ideal und nichtig in Ansehung der Dinge
an sich, aber er ist doch objectiv, real und gültig in Bezug auf die Erscheinungen
oder empirischen Objecte, gegenüber anderen Bestimmungen, die nicht
bloss im Verhältniss zu den Dingen an sich, sondern auch im
Verhältniss zu diesen empirischen Objecten nun wieder gänz-
lich subjectiv sind. Diese letzteren Bestimmungen, die Sinnesqualitäten,
sind al$o gleichsam subjectiv in zweiter Potenz, der Raum aber ist
subjectiv -objectiv. Man wird zugestehen, dass diese Auffassung schoo
rein terminologisch genommen schwere Bedenken erregt.
Bei der Begründung dieses Unterschiedes schliesst sich Kant nun an
die bekannte Unterscheidung der secundären und der primären Qualitäten
an, eine „Voraussetzung' (A 86), welche, wie er hier ausdrücklich sagt,
„mit Recht" gemacht wird. Der „Wohlgeschmack des Weines", die „Farbe
der Rose** sind nicht „Beschaffenheiten der Körper" , sondern gehören nur
„dem geniessenden Subjecte" an und dessen „Sinnen"; sie sind also rein
subjectiv. Sie sind den Objecten nicht noth wendig, sind je nach dem Indi-
viduum verschieden u. s. w. Was ist aber den Objecten nothwendig und
eine . untrennbare , wesentliche Grundlage derselben ? Die Räumlichkeit.
Wohl. Aber nur der Raum ? Doch wohl auch Undurchdringlichkeit, Härte,
Schwere. — kurz, die eigentliche Materialität. Auch das sind „nothwendige
Bedingungen, unter denen die Gegenstände allein für uns Objecte der Sinne
werden können". Eine Rose „im empirischen Verstände" ist doch nicht
bloss eine bestimmte Raumg^stalt, sondern physisch erfüllter Raum. Dies
meint jener Unterschied der primären und secundären Qualitäten, welchen
Kant hier als «mit Recht" gemacht anei*kennt. Wohlweislich hat daher
Kant hier nur von Wohlgeschmack und Farbe gesprochen, d. h. von den
Geschmacks- und Gesichtsempfindungen. Allerdings in der 2. Aufl. fugt er
auch Gefühlsempfindungen hinzu, aber wohlgemerkt nicht alle, sondern nur —
Wärme ! Die anderen Gefühls- resp. Tastempfindungen, eben Undurchdring-
lichkeit, Härte u. s. w. fallen also , ganz wie das die historische Lehre von
dem Unterschied der primären und secundären Sinnesqualitäten behauptet,
auf die objective Seite jener empirischen Objecte; Farben, Töne, Wohlge-
schmack, Wärme .auf die subjective, Dieser Unterschied wird „mit Recht*
Die primären und die secundären Qualitäten. 368
[B 88. 89, H 63. 64. E 80.] A28— 30.B44.45.
gemacht. Nach der bisher uns bekannt gewordenen Meinung Kants müsste
aber doch die Theilung anders gemacht sein. Wir wissen ja, dass ^Undurch-
dringlichkeit, Härte, Farbe u. s. w.* in Eine Linie gestellt werden als Em-
pfindungen, und als solche der Raumanschauung gegenüber gestellt
werden. (A20; 6. 5; ygl. oben S. 108 N.) Von diesem Standpunkt aus kann
man doch nicht sagen, dass die historische Unterscheidung der primären und
secundären Qualitäten „mit Kecht'' gemacht sei, da ja hier der Trennungs*
schnitt ganz falsch gemacht ist. Somit erscheint schon von dieser
Erwägung aus die Berufung auf jenen historischen Unterschied als verfehlt.
Wie verfehlt diese Berufung ist, zeigt sich aber sofort noch aus einer
anderen Erwägung. Jene „mit Bechf gemachte Unterscheidung der pri-
mären und der secundären Qualitäten beruht doch auf der Annahme, dass
die primären Qualitäten unsere Sinne afficiren, und dass dadurch neben den
wahren Empfindungen der primären Qualitäten die unwahren, rein subjec-
tiven der secundären Qualitäten in uns entstehen. In der That hat Kant
in der ersten Auflage auch diesen Bestandtheil jener Lehre mit herüber-
genommen; denn da stehen ja die merkwürdigen Worte: „Farben sind nur
Modificationen des Gesichts, welches vom Lichte auf gewisse Weise
afficirt wird.* (Vgl. dazu oben S. 54.) Das Licht, d. h. die Schwin-
gungen materieller Theile ist also hier etwas Reales, das uns afficirt. Nun
aber sind doch alle Dinge im Räume nur Erscheinungen, welche erst ihrer-
seits durch Affection seitens der unbekannten Dinge an sich in uns entstehen.
Wie können denn diese Erscheinungen wiederum ihrerseits „objective Realität"
(A 36) in Anspruch nehmen, sich als Objecte gebahren, welche noch einmal
auf uns wirken als Affectionsheerde, und uns nochmals Empfindungen
verursachen? In welch missliche Lage hat sich Kant somit gebracht!
Die Erscheinungsobjecte bekommen jetzt eine merkwürdige Zwischenstellung
zwischen den Dingen an sich und den rein subjectiven Sinnesqualitäten.
Wir haben erstens unbekannte Dinge an sich, die unsere Sinnlichkeit affi-
ciren ; dadurch entstehen zweitens die Erscheinungsobjecte, die unsere Sinne
ihrerseits nochmals afßciren, und dadurch erhalten wir drittens die Vor-
stellung jener Erscheinungsobjecte nochmals plus den Sinnesqualitäten. Jene
Erscheinungsobjecte sind wahre Zwitter: einmal subjective Erscheinungen
gegenüber den Dingen an sich, andererseits objective Dinge an sich gegen-
über den Sinnesqualitäten. In diesem Sinne heisst es: Der Wohlgeschmack
des Weines gehöre nicht zu den objectiven Bestimmungen des Weines, auch
wenn man dieses Object: Wein „sogar* wieder als Erscheinung betrachte.
So ist denn der Wein als körperliches Object und überhaupt jedes empirische
Object etwas halbreales; ideell im Gegensatz zu den eigentlichen letzten
Dingen an sich, reell im Gegensatz zu Wohlgeschmack, Farbe u. s. w.
Es liegt auf der Hand, dass Kant damit in eine ganz unhaltbare
Situation gerathen ist; und so ist es nicht zu verwundern, dass er in der
zweiten Auflage die Stelle veränderte, insbesondere, um jene ominöse
Affection der Sinne durch die Lichtschwingungen wieder hinwegzubringen.
364 § 3- Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A28— 80.B44.45. [R 38. 39. H 63. 64. E 80.]
In der verkürzten Darstellung der 2. Aufl. ist davon keine Rede mehr.
(Vgl. auch Cohen, 2. A. 177.) Fast geflissentlich hebt jetzt Kant das
Gemeinsame hervor, was Raumvorstellung und Sinnesqualitäten haben,
nämlich, dass sie beide „bloss zur subjectiveu Beschaffenheit der Sinnesart
gehören". Aber doch hat der Raum mehr Objectivitäts werth , »weil er ein
Object und zwar a priori erkennen lässt.'* Also nicht mehr ein Realitäts-
unterschied, sondern ein Erkenn tniss unterschied wird jetzt gemacht und
damit will Kant wohl sagen: die blossen Sinnesempfindungen sind etwas
rein Innerliches, geben uns kein Ausser-uns; erst die Raumanschauung er-
möglicht uns ja (vgl. oben S. 160. 165), diese rein innerlichen Empfindungen
in ein Ausser-uns zu verwandeln; erst dadurch, dass die Raumanschauung
unsere rein innerlichen Empfindungen veräusserlicht , vergegenwärtigt, ob-
jectivirt, erhalten wir empirische Objecte. Jetzt erst haben wir äussere
Gegenstände, die uns gegenüberstehen. So erhalten wir Objecte erst durch
die Raumanschauung, und darum ist der Raum auch diesen nothwendig;
und darum sind wir ja auch im Stande, über diese Objecte aprioriscbe
Aussagen zu machen. So ermöglicht es uns also die Raum Vorstellung, um
hier Stellen aus der Analytik herbeizuziehen zur Erklärung der Ausdrücke
hier, „etwas als einen Gegenstand zu erkennen" (A 92), sie hat ^objec-
tive Realität, weil sie die Form der Erfahrung überhaupt a priori in
sich enthält" (A 221). »Nur vermittelst solcher reinen Formen der Sinn-
lichkeit kann uns ein Gegenstand erscheinen, d. h. ein Object der empiriseben
Anschauung sein" A 89. (Vgl. Comm. 1 , 188). Diese Darstellung enthalt
nun gar keinen Widerspruch mehr mit den sonstigen uns bekannt gewordenen
Anschauungen Kants. Nur hätte dann Kant in der 2. Auflage auch jenes Znge-
ständniss unterdrücken oder wenigstens restringiren sollen, dass die Unter
Scheidung der primären und secundären Qualitäten, welche doch gar nicht
in sein System hereinpasst, »mit Recht" gemacht sei; denn der von ihm
so gebilligte Unterschied zerrinnt ihm ja unter den Händen.
Er hat sich indessen über diese Unterscheidung nochmals geäussert,
A 44 f., in den „allgemeinen Anmerkungen zur Aesthetik", in einer viel
gereifteren Weise , so dass man fast glauben möchte , jene Stelle sei später
niedergeschrieben worden, als die vorliegende.
Nun lässt sich aber noch ein weiterer Einwand gegen Kant erheben.
Trotzdem er uns den Unterschied der Raumvorstellung und der Sinnes-
qualitäten recht zu Gemüthe geführt hat, so lässt sich doch nicht leugnen,
dass die bekannte historische Theorie der Sinnesqualitäten, wie sie von
Cartesius, Hobbes, Keppler, und bes. von Locke aufgestellt worden ist, dam
geeignet ist, zum Vergleich und zur Illustration für die Kantische Baum*
theorie zu dienen. Wir haben ja doch die Proportion: Wie sich nach der
Locke'schen Theorie die Sinnesqualitäten zu den empirischen Objecten ver-
halten, so oder ähnlich verhält sich nach der Kant'schen Theorie die Raum-
vorstellung zu den transscendenten Objecten. Oder man kann auch so
formuliren: Nach Locke verhalten sich Sinnesqualitäten und empirische
Kant vergleicht den Raum doch mit den Sinnesqualiiäten. 865
[B 38. 89. H 63^ 64. K 80.] A28— 30.B44.45.
Objecte wie Erscheinung und Ding an sich. So oder ähnlich Yerhalten
sich nach Kant die ganzen Dinge im Räume zu den wahren Dingen, die
nicht im Räume sind. Kant hatte demnach keinen rechten Grund, jenen
Vergleich mit solcher Emphase zurückzuweisen. Wenn er die nöthigen
Cautelen hinzufügte, konnte er ruhig sich jenes Vergleiches bedienen.
In den Prolegomena, welche allerdings der Popularität manches Opfer
bringen (vgl. Phil. Monatsh. XVI, 59), hat Kant sich denn auch in einer
bekannten Stelle ohne Weiteres des verpönten Vergleiches ^ zur Erläuterung
und Rechtfertigung seiner Theorie bedient ^, In den Prolegomena ' sagt eben
Kant § 18 Anm. II : ^Dass man, unbeschadet der wirklichen Existenz äusserer
Dinge, von einer Menge ihrer Prädicate sagen könne : sie gehörten nicht zu
diesen Dingen an sich selbst, sondern nur zu ihren Erscheinungen, und
hätten ausser unserer Vorstellung keine eigene Existenz, ist etwas, was schon
lange vor Locke's Zeiten, am meisten aber nach diesem allgemein ange-
nommen xind zugestanden ist. Dahin gehören die Wärme, die Farbe, der
Geschmack etc. Dass ich aber noch über diese, aus wichtigen Ursachen, die
übrigen Qualitäten der Körper, die man primarias nennt, die Ausdehnung,
* Es ist deshalb ein ganz ungerechter Vorwurf, welchen Adamson, Kant
17. 113. 138 gegen Zeller erhebt, „es bekunde eine seltsam mangelhafte Auf-
fassung der Grundeigenthümlichkeit der Philosophie*, wenn er den Satz, dass Raum
and Zeit Bedingungen der Anschauuog seien, mit „dem Satz, dass Farben, Geräusche
n. 8. w. von der Structur der Sinnesorgane abhängen, auf gleiches Niveau stelle",
denn E. hat das selbst gethan. Die Kantianer suchen freilich die Stelle der Prol.
abzuschwächen^ vgl. Tobias, Grenzen der Philos. S. 32 ff. 296 ff. und bes. Witte,
Vorstudien, S. 76—84.
* Angesichts dieser Stelle ist es einseitig, wenn Pauls en, Entw. 186 aus-
führt: wenn es K.'s Absicht gewesen wäre, den Phänomenalismus zu lehren, so
wäre er doch gewiss davon ausgegangen, „dass der Zucker nicht süss ist, als in
Berührung mit der Zunge, und Zinnober nicht roth, ausser im Auge". Statt dieser
, einleuchtenden Anführungen* habe er seine „ schwerzugänglichen Erörterungen*
gewählt, weil er eben nicht den Phänomenalismus, sondern den Rationalismus
gelehrt habe u. s. w. (Ebenso Adickes S. 78, N. 2.) Dagegen ist zu sagen, 1. dass
Kant ja doch thatsächlich gelegentlich die Subjectivität der Empfindungen zur
Hechtfertigung seiner Lehre herbeizog; 2. dass er in der Kritik selbst nicht von
diesem Gesichtspunkt ausging, weil er den Phänomenalismus resp. Idealismus eben
ganz anders als bisher begi'ünden und verstanden haben wissen wollte; 3. dass
Kant Phänomenalismus und Rationalismus zugleich in seiner Lehre organisch
verband. (Vgl. schon oben S. 263 und S. 342 N., sowie bes. Comm. I, 70.)
* VgL über diese Stelle auch B. Erdmann, Einl, zu den Prolegomena,
S. LXVIII, LXX, und Kritic. S. 93, sowie Phil. Mon. 1884, S. 76, woselbst auch
eine interessante Parallelstelle aus dem Königsberger Metaphysik-Manuscript mit-
getheilt wird: „Abstrahiren wir die sinnliche Anschauung, so ist R. u. Z. gar
nichts, ebenso wie es keine Annehmlichkeit des Süssen ohne Zunge geben kann.*
— Uebrigens findet sich die Zusammenstellung schon bei Wolf f , Psych, rat. § 103;
Ontologie § 548 ff.; vgL Bilfinger, Dilucid. § 97, 204 ff.
366 § B* Schlüsse in Bezug auf den Raum.
A28-30.644.45. [B 88. 39. H 63. 64. E 80.]
den Ort, und überhaupt den Baum, mit Allem, was ihm anhängig ist (Un-
durchdringlichkeit oder Materialität, Gestalt etc.) auch mit zu blossen Er-
scheinungen zähle, dawider kann man nicht den mindesten Qrund der ünzulfissig-
keit anführen ; und so wenig , wie der, so die Farben nicht als Eigenschaften,
die dem Object an sich selbst , sondern nur dem Sinn des Sehens als Modi-
ficationen anhängen^ will gelten lassen, darum ein Idealist heissen kann, so
wenig kann mein Lehrbegriff idealistisch heissen, bloss deshalb, weil ich
finde, dass noch mehr, ja alle Eigenschaften, die die Anschauung
eines Körpers ausmachen, bloss zu seiner Erscheinung gehören; denn
die Existenz des Dinges, was erscheint, wird dadurch nicht wie beim wirk-
lichen Idealismus aufgehoben, sondern nur gezeigt, dass wir es, wie es an
sich selbst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können. Ich möchte gerne
wissen, wie denn meine Behauptungen beschaffen sein müssten, damit sie
nicht einen Idealismus enthielten. Ohne Zweifel müsste ich sagen: dass die
Vorstellung vom Baume nicht bloss dem Verhältnisse, was unsere Sinnlich-
keit -zu den Objecten hat, vollkommen gemäss sei, denn das habe ich gesagt,
sondern dass sie sogar dem Object völlig ähnlich sei; eine Behauptung, mit
der ich keinen Sinn verbinden kann, so wenig als dass die Empfindung des
Bothen mit der Eigenschaft des Zinnobers, der diese Empfindung in mir
erregt, eine Aehnlichkeit habe." ^ (Vgl. oben S. 304.)
Bekanntlich hat Schopenhauer, im Anschluss an diese Stelle der
Prolegomena, die K.'sche Philosophie als die directe Fortsetzung und Voll-
endung der Locke'schen angesehen. Er sagt (W. I, 494 — 495): , Kants
grösstes Verdienst ist die Unterscheidung der Erscheinung vom
Dinge an sich — auf Grund der Nachweisung, dass zwischen den Dingen
und uns immer noch der Intellect steht, weshalb sie nicht nach dem, was
sie an sich selbst sein mögen, erkannt werden können. Auf diesen Weg geführt
wurde er durch Locke. Dieser hatte nachgewiesen, dass die secundären
Eigenschaften der Dinge, wie Klang, Geruch, Farbe, Härte, Weiche, Gl&tte
u. dgl., als auf die Affectionen der Sinne gegründet, dem objectiven Körper,
dem Dinge an sich selbst nicht angehörten, welchem er vielmehr nur die
primären Eigenschaften, d. h. solche, welche bloss den Baum und die Ün-
durchdringlichkeit voraussetzen, also Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Zahl.
Beweglichkeit beilegte. Allein diese leicht zu findende Locke'sche Untere
^ Zu dieser Stelle ist jedoch an^merken, dass auch in ihr Kant, wie im
ursprünglichen Texte der Kr. d. r. V. den Ei-scheinungen eine Affection zuschreibt:
Denn „der Zinnober erregt ja die Empfindung des Rothen in mir* — nach dem
Zusammenhang ganz deutlich das empirische Object, der Körper, Zinnober genanüt,
natürlich ohne die rein subjective Eigenschaft des Rothseins. Dies steht nun
T^ieder mit dem Anfang der Stelle in Widerspruch, womach ja alle räumlicheB
Eigenschaften zur blossen Erscheinung gehören. Wie aber soll eine »blosse E^
scheinung"' in uns uns noch afficiren können? üeber dieses Schwanken hinsichtlich
der Realität der empirischen Objecte ist Kant nie hinausgekommen, wie wir ja
schon oben in dem Excurs S. 52 ff. gesehen haben.
Physiologie der Sinne und Kantisclie Raumlehre. 367
[R 38. 39. H 63. 64. E 80.] A28— 30.B44.45.
Scheidung, welche sich anf der Oberfläche der Dinge hält, war gleichsam nur
ein jugendliches Vorspiel der Kantischen. Diese nämlich, von einem ungleich
höheren Standpunkt ausgehend, erklärt alles Das, was Locke als qualitates
primarias, d. h. Eigenschäften des Dinges an sich selbst, gelten gelassen hatte,
für ebenfalls nur der Erscheinung desselben in unserem Auffassungsvermögen
an gehörig und zwar gerade deshalb, weil die Bedingungen desselben. Kaum,
Zeit und Causalität, von uns a priori erkannt wei'den. Also hatte Locke
vom Dinge an sich den Antheil, welchen die Sinnesorgane an der Er-
scheinung desselben haben, abgezogen; Kant aber zog nun noch den Antheil
der Gehirn functionen (wiewohl nicht unter diesem Namen) ab; wodurch
jetzt die Unterscheidung der Erscheinung vom Dinge an sich eine unendlich
grössere Bedeutung und einen sehr viel tieferen Sinn erhielt." In diesem
Sinne nennt Seh. Kants Kr. d. r. V. geradezu eine „Kritik der Gehirn-
functionen** (W. II, 13; vgl. bes. ib. 23 ff. 89. 216. 823 f. 666. VgU
Par. I, 18. 93. Grund § 34). Aehnlich im Anschluss an die Physiologen
Johannes Müller, Helmholtz, Fick („Welt als Vorstellung", 1870,
S. 11 ff.) u. A. sodann bes. Lange, Gesch. d. Mat. II, 408 ff.: „Die Physiologie
der Sinnesorgane und die Welt als Vorstellung", wobei er Baum und Sinnes-
qualitäten gleichermassen auf die „psychophysische Organisation" zurückführt!
(Vgl. oben S. 10. 11.) Auch Lotze stellt Raum und Farben zusammen. Log.
§ 324 ff., Metaph. § 99. 113. 114. Vgl. Liebmann, Anal. d. Wirkl. 37 ff.
Dagegen Joh. Rehmke, Physiologie und Kantianismus 1883; (vgl. „Welt
als Wahrnehmung" 47 ff. 183 ff.) Schwertschlager, Kant und Helmholtz,
S. 48 ff. 104 ff. Vgl. bes. Helmholtz, Thatsachen in der Wahrnehmung,
S. 8 ff. 14. ff. 42. Vgl. auch Pflüger a. a. 0. 31—40; Stadler, Teleologie 4;
Cohen, 2. A. 231—233. Hieher gehört auch bes. die Abhandlung von
Aug. Müller, Die Grundlagen der K.'schen Philos. vom naturwissenschaft-
lichen Standpunkt aus. Altpr. Mon. 1869, VI, H. 5 u. 6. C lassen, Physio-
logie des Gesichtssinns, zum erstenmal begründet auf Kants Theorie der
Erfahrung 1876 ; derselbe , Ueber den Einfluss Kants auf die Theorie der
Sinneswahmehmung 1886. (S. 112 ff. „empirische Aesthetik".) Vgl. Massonius,
Aesth. 8. 56 ff. Hemann Ersch. d. Dinge S. 93—108. Laas, Id. u. Pos. III,
455 ff.; woselbst dann dieser „semikan tische Synkretismus" eingehend besprochen
wird bei Schopenhauer (522 ff.), Joh. MüUer (556 ff.), Lotze (563 ff.),
Helmholtz(572 ff.), Fick (597 ff.), F. A. Lange (613 ff.), Liebmann (630 ff.).
Gegen die Vermischung der Sinnesphysiologie mit Kants Raumlehre spricht
sich auch der Kantianer Tobias, Grenzen der Philos. 108 ff. 142 ff. aus.
Vgl. dazu auch oben S. 119 über die Rolle einer „empirischen Aesthetik''
innerhalb Kants Kr. d. r. V.
368 § ^- ^i*stes Zeitargument.
Zweiter Abschnitt
Von der Zeit.
Metaphysische Erörterung dieses Begriffes.
Erstes Zeitargument.
AdO.B46. [R 40. H 64. E 81.]
Dieses Argument ist sachlich dem ersten Raumargument vollständig
parallel, dient aber in einigen Beziehungen zur Erläuterung desselben, wie
bei den betreffenden Gelegenheiten oben bemerkt worden ist (S. 157. 160.
166. 171). Der Sinn ist klar und einfach, obwohl sich Kant hier etwas
kürzer gefasst hat, als beim Baum^ Diese Argumentation gibt Kant in
drei Sätzen, deren logischer Werth folgender ist: Der erste Satz enthält
(wie beim ßaum) die These, welche bewiesen werden soll — der nicht-
empirische Ursprung der ZeitYorstellung. Der zweite Satz entlüilt (wie
beim Baum) den Beweisgrund: die Noth wendigkeit der Zeitvorstellnn^
f^r das Zustandekommen der Wahrnehmung des Zugleichseins und der Auf-
einanderfolge; Der dritte Satz gibt nicht wie beim Baume, eine Wieder-
holung der These, sondern nur eine erläuternde Umschreibung des Beweis*
ginindes.
In der Dissertation § 14, 1 liatte Kant die Sache so gefasst: „Idea tetth
poris non oritur, sed supponitur a sensibus. Quaeemm in sensui
incurrunt, idrum simul sint an post se invicem, nonnisi per ideam temporis rt-
praesentari polest \ neque sticcessio gignü conceptum temporis ^ sed ad iUum
provocat. (Deutsch: Die Aufeinanderfolge ist nicht der Ursprung der
Baumvorstellung , sondern nur deren Veranlassung). Ideoque ten^ris
notioy veluti per experientiam acquisita, pessime definitur per seriem aetuaUum
post se invicem existentium. Nam quid significat vocula posij non üUdligo,
nisi praevio jam temporis conceptu. Sunt enim post se invicem, quae existu/il
iemporibus diversis^ quemadmodum simul sunt, quae existunt tempore
eodem/^ Und dazu die Erläuterung § 14, 5: „Suhstantias pariter ac aed-
dentia coordinamus, tum secundum simultaneitatem, quam secessionem, nonnisi
^ Wenn K. sagt: „Das Zugleichsein würde nicht in die WahmehmuDg
kommen, wenn u. s. w.", so heisst das nicht etwa: das Zugleichsein sei schon da
auch ohne uns, und komme dann erst in uns hinein, sondern: jenes Zugleich-
sein, jene Aufeinanderfolge kommt überhaupt erst zu Stande. (Die erstere Aus-
legung wäre allerdings auch insofern möglich, als ja Kant den empirischen
Dingen gelegentlich eine gewisse selbständige Realität verleiht; vgl. oben S. 52 ff-
und S. 363.)
Idea temporis non oritur, sed supponitur a sensibus. 369
[R 40. H 65. E 81.] A 30. B 46.
per conceptum tetnporis; ideoque hujus notio, tanquam principium formae,
istorum conceptibus est antiquior/' Vgl. M. Herz, Betrachtungen S. 47 ff.
(„Die Zeit selbst kein Abstractum der sinnlichen Erkenntniss" u. s. w.).
Einen besonderen Werth legt Kant in der Dissertation § 14, 5 darauf,
dass auch das Yerhältniss des Zugleichseins bei der Zeit zur Geltung
kommt; die Vernachlässigung dieses Umstandes wirft er der Leibniz'schen
Schule vor, welche die Zeit einfach als die Folge der Zustände definirt
hatte. Vgl. Fischer, 3. A. S. 337. In der Kritik hat Kant davon nicht
gesprochen. Vgl. unten S. 393 f.
Beachten s werth ist, dass Kant einen anderen Vorwurf, den er der
Leibniz'schen Schule macht, in der Kritik nicht wiederholt hat, den
schweren Vorwurf eines circulus ritiosus in der Bestimmung der Zeit
und auch des Baumes. Er macht diesen Vorwurf schon in der oben an-
geführten Stelle indirect, dann direct zweimal in Bezug auf die Zeit,
§ 14, 2 und § 14, 5, und einmal in Bezug auf den Raum § 15, D. Er
sagt: Leibnüius et asseclae statuunt, tempus esse abstractum reale a succes-
sione statuum intemorum. Jn hac temporis definitione — sieht er eben einen
circulus vitiosus. Wie gesagt, Kant hat diesen Vorwurf in der Kritik selbst
nicht wiederholt, und das mit Recht: denn der Vorwurf ist, wenigstens in
jener Form , nicht gerade sehr geschickt. Es wird jener Auffassung ein
Cirkel in der Definition vorgeworfen: aber es handelt sich ja doch nicht
um eine Definition, eine Erklärung sensu logico, sondern um eine causale
Erklärung sensu reali. Wenn es sich bloss um eine logische Definition des
Raumes handelt, so kann derselbe Fehler ja auch vom Kantischen Stand-
punkt aus gemacht werden. Was Kant offenbar wirklich tadeln will, ist
der Cirkel in der genetischen Ableitung. Jene Ableitung sagt : die Zeit-
vorstellung entsteht erst aus der Vorstellung der aufeinanderfolgenden Dinge.
Allein — wirft Kant ein — die Vorstellung aufeinanderfolgender Dinge ist
nur möglich, wenn eine Voi'stellung der Zeit schon vorhergeht. Die Vor-
stellung der Zeit aus der Vorstellung wahrgenommener und beobachteter
Zeitfolge abzuleiten, ist verkehrt. Diese Umkehrung, diese Verwechslung
von Ursache und Wirkung ist aber doch nicht richtig bezeichnet mit dem
logischen Ausdruck eines circulus vitiosus, und so mag Kant absichtlich
später diese ungenaue Bezeichnung weggelassen haben. K. Fischer (2. A.
S. 317. 329 ff., 3, A. S. 330. 337) hat sie jedoch acceptirt.
Weitere Ausführung des Argumentes bei Stadler,' Erk. 35 ff.,
Cohen, 2. A. 182, Vgl. Schneider, Ps. Entw. des Apriori, 25 über den
hier vorliegenden „psychologischen Sachverhalt". Scharfe Kritik des Argu-
mentes bei Wundt, Logik I, 428—433. Eine vollständige Zerfaserung
des ganzen Argumentes s. in Bolligers Anti-Kant S. 385 ff. ; die ganze
Kritik wird dahin zusammengefasst : „Kant legt also nicht bloss einen That-
bestand unrichtig aus; er hat den Thatbestand selbst der Wirklichkeit zu-
wider erst fingirt." Vgl. auch Spencer, Psych. I, § 338.
Vaihinger, Kant-Gommentar. II. 24
370 §4. Zweites Zeitargument.
A 81. B 46. [B 40. H 65. E 81.]
Zweites Zeitargument.
Dieses Argument enthält dieselben Schwierigkeiten, wie das ent-
sprechende Baumargument, ist aber noch complicirter gebaut. Es besteht
aus 5 Sätzchen, von denen das mittelste die eigentliche Schlussfolgerung
enthält, auf welche es in erster Linie ankommt: Die Zeit ist also
a priori gegeben. Der Beweis für diese Apriorität der Zeitvorstellung
kann, wie wir schon vom zweiten Baumargument her wissen, nur in der abso-
luten Nothwendigkeit , d. h. Nicht-Hinweg-Denkbarkeit der Zeit liegeD.
Während diese Nicht-Aufhebbarkeit beim Baume den eigentlichen Beweis-
nerv bildete, ist hier bei der Zeit diese absolute Nothwendigkeit hinter die
relative zurückgetreten. In der 1. Auflage kam jene wenigstens noch am
Schlüsse zur Geltung: „Die Erscheinungen können insgesammt wegfallen,
aber sie selbst — kann nicht aufgehoben werden." Darin steckt eben die
absolute Nothwendigkeit, und zwar genau in derselben Doppelwendung, die
wir auch oben S. 186 beim Baume unterschieden, nur in umgekehrter An-
ordnung: ß) man kann die Erscheinungen „aus der Zeit wegnehmen';
a) die Zeit selbst kann man nicht loswerden. In der 2. Auflage hat Kant
durch den Einsatz „als die allgemeine Bedingung ihrer Möglichkeit' diese
absolute Nothwendigkeit vollends ganz in die relative verwandelt, hat also
durch diesen Zusatz den eigentlichen Beweisnerv getödtet. Denn alles andere
bezieht sich nur auf die relative Nothwendigkeit, welche hier aber nicht
bloss wie beim Baum als blosses Corollar der absoluten erscheint, sondern
auch selbständig bewiesen wird: denn man kann „in Ansehung der Erschei-
nungen überhaupt die Zeit Selbsten nicht aufheben*.
Diese Hervorkehrung der relativen Nothwendigkeit der Zeitvorstellung
ist vom Standpunkt Kants selbst aus ein Fehler; denn diese relative Noth-
wendigkeit ist doch kein stringenter Beweis für die Apriorität; dass ich
Erscheinungen nicht ohne Zeit vorstellen kann, beweist noch nicht, dass die
Zeitvorstellung eine den Empfindungen vorhergehende Vorstellung ist,
und dies eben soll doch bewiesen werden, dass die Zeitvorstellung „a priori
gegeben" ist. Da war das entsprechende Baumargument logisch viel besser
gebaut, weil es den eigentlichen entscheidenden Beweissatz in die Mitte
nahm, wenn auch in der These und in der Schlussfolgerung absolute und
relative Nothwendigkeit nicht hinreichend klar geschieden waren. Hier
aber gewinnt es den Anschein, dass Kant in der That in der relativen Noth-
wendigkeit auch einen Beweis für die Apriorität habe sehen wollen; dann
würden auch jene oben S. 194 f. 198 f. wiedergegebenen Darstellungen, resp.
Angriffe auf Kants Darstellung gerechtfertigt sein. Der Wortlaut diese»
Zeitargumentes legt diese Auslegung in der That sehr nahe.
Der so aufgefundene logische Zusammenhang lässt sich für das
zweite Baum- und Zeitargument in folgender Weise übersichtlich darstellen:
Absolute und relative Nothwendigkeit der Zeit. 371
[B 40. H 65. K 81.] A31.B46.47.
Hauptthese: Raum und Zeit sind a priori gegeben.
Beweisnerv: ihre absolute Nothwendigkeit.
a) R. u. Z. sind nicht aufzuheben, sie sind dem Subject nothwendig.
ß) Die Erscheinungen aber kann man aus R. u. Z. wegnehmen.
Nebengedanke (im Raumargument als C o r o 1 1 a r aus der absoluten Noth-
wendigkeit, im Zeitargument als Beweis fQr die Apriorität):
R. u. Z. sind in Ansehung der Erscheinungen nicht aufzuheben,
sie sind dem Object nothwendig.
Der unmerkliche Uebergang von der absoluten Nothwendigkeit zur
relativen bei Kant wird durch folgenden umstand erleichtert: Der Satz /?
hat einerseits znm Gegenstück den Satz cc: die Erscheinungen kann ich
aus Raum und Zeit wegnehmen, aber diese letzeren bleiben im Subject
haften ; andererseits kann jener Satz /^ auch so gefasst werden, dass er zu
dem Nebengedanken den Gegensatz bildet: die Erscheinungen kann ich
wohl aus Raum und Zeit wegnehmen, aber diese kann ich nicht aus den
Erscheinungen wegnehmen. Der Satz /j bildet somit gleichsam die
Weiche, vermittelst welcher Kant von einem Geleise auf das andere hin-
übergleitet.
Gegen dieses Argument macht Bau mann, Raum, ZeitundMath.il,
667 den sachlichen Einwand: j,K. ging von dem astronomischen Idealbild
aus und wollte es als eine reine Anschauung des Gemüths gleich der des
reinen Raumes erweisen; aber es ist klar, wenn man nach ihm selbst die
Erscheinungen aus der Zeit wegdenkt, so bleibt die Aufeinanderfolge der
Vorstellungen; man kann aber auch diese selbst wegdenken, dann bleibt
nicht die Zeit, sondern die einfache Empßndung des Ich als seiend, aber
ohne Aufeinanderfolge, ohne Verlauf und merkliche Unterschiede; das ist
aber vielmehr die Idee der Ewigkeit, diese im wirklichen Sinne gefasst, und
nicht mit der Unendlichkeit der Zeit verwechselt, und ist nicht das, was
wir Alle mit Zeit meinen.* Dagegen Stadler, Reine Erk. 138: , Gewiss
bleibt die Zeit so wenig wie der Raum als eine deutliche Vorstellung zurück
(vgl. oben S. 191), denn es liegt ja in der Natur der Verhältnissvorstellung,
dass ihre Function nur an einem gegebenen Mannigfaltigen zu Tage treten
kann. Aber der Sinn dieses Bestehen-Bleibens ist auch nur der, dass, wenn
alle besonderen Zeitbestimmungen weggedacht werden, damit die Zeit als
Ganzes nicht aufgehoben wird; es bleibt die unbestimmte allgemeine An-
schauung, von welcher nur noch die Beharrlichkeit des Subjects einen eben-
falls unbestimmten Theil abgrenzt." Weitere Einwürfe gegen das Argument
s. bei Spicker, Kant 74, und bes. bei Bolliger, Anti-Kant 390 — 95; bei
V. Kirchmann, Erkl. 11 (dagegen Grapengiesser, Erkl. 24 ff.); bes.
auch bei Wundt, Logik, I, 429; Spencer, Psychol. II, § 399.
Drittes Zeitargument.
Wie beim Räume behandeln wir auch hier diesen Passus sachgemäss
unter der „Transsc. Erörterung", § 5. Es ist eine blosse Ungenauigkeit
372 § 4- Drittes und viertes Zeitargument.
A 81. B 47. [B 41. H 65. E 82.]
Kants, dass er nicht den Parallelismus mit der 2. Auflage der metaphysi-
schen Erörterung des Raumes soweit herstellte, um auch diesen Abschnitt
hier wegzunehmen, und demgemäss dann auch den § 5 entsprechend umzu-
arbeiten. »Um kurz zu sein*, wie Kant am Anfang von § 5 sagt, ist keine
Entschuldigung, denn die Sache hätte an der rechten Stelle keine Zeile mehr
Baum eingenommen (so auch A dickes). Es ist deshalb eine unzu-
reichende Entschuldigung dieser Nachlässigkeit, wenn Cohen, S. 14 (2, Aufl.
S. 106. 181) bemerkt, „für die Zeit war schon die transscendentale Er-
örterung des Raumes vorausgegangen." Das überhebt aber nicht der Pflicht
der Vermeidung einer solchen störenden Inconcinnität. Mit Recht wirft
deshalb Paulsen K. hier „ünzuverlässigkeit" vor (Viert, f. wiss. Phil. 11,
490). — Ueber den letzten Satz vgl. oben S. 175 Anm. 1.
Viertes Zeitargoment.
Dass dieses Argument dem vierten Raumargument der 1. Auflage
(resp. dem dritten Raumargument der 2. Auflage) entspricht, daran ist kein
Zweifel. Der erste Satz hier entspricht fast wörtlich dem dortigen ersten
Satze, und enthält wieder die These, dass die Zeit kein Begriff, sondern eine
Anschauung sei. Das letztere ist hier abweichend ausgedrückt: ^sondern
eine reine Form der sinnlichen Anschauung*. Da aber der Gegensatz von
Begriff und Anschauung die Hauptsache ist, so hat es hier keinen rechten
Sinn, von Form der Anschauung zu sprechen. In dieser störenden Incon-
cinnität sieht Cohen natürlich wieder eine geheimnissvolle tiefere Beziehung.
Er sagt (1. Aufl. S. 26; 2. Aufl. S. 122): „Es darf nicht unbeachtet bleiben,
dass der Beweis des dritten Satzes vom Räume auf die Bestimmung von der
reinen Anschauung als einer reinen Form der Sinnlichkeit nicht Bezug nimmt,
während in dem homologen Satze von der Zeit dieser bündige Gedanke sich
unmittelbar ausspricht. Der Grund ist auch hier ohne Schwierigkeit zu er-
kennen : dazwischen liegt die Transscendentale Erörterung, in deren Bereich
jene Bestimmung fällt." Eine recht wunderliche Entschuldigung! Kant
hat hier bei der Zeit auf die Transsc. Erörterung vom Räume doch keine
Rücksicht zu nehmen ! Es ist einfach eine der zahllosen Ungenauigkeiten
von Kant.
Die beiden folgenden Sätze entsprechen inhaltlich ganz der ersten
Hälfte des vorletzten Raumargumentes (vgl. oben S. 211 ff.). Nur wäre zu er-
warten gewesen, dass Kant gesagt hätte: „Denn man kann sich nur eine
einige Zeit vorstellen; verschiedene Zeiten sind nur Theile eben derselben
Zeit." Warum Kant den ersten Satztheil unterdrückt hat, ist nicht recht
einzusehen. Es liegt eben wieder eine üngenauigkeit Kants oder auch ein
Versehen des Setzers vor. Nur in dieser Vervollständigung enthält der Satz
den eigentlichen Beweisgrund, den wir auch oben beim Räume getroffen
haben : die Zeit ist ein Unicum; und zu diesem Beweisgrund verhält
sich der Satz, dass, wenn man von verschiedenen Zeiten rede, man darunter
Idea temporia est singtilaris, non generalis, 373
[B 41* H 65. E 82.] A 32. B 47.
nur Theile einer und derselben Zeit verstehe , bloss als ein , einen nahe-
liegenden Einwand abwehrender Zusatz. Der nächste Satz/ der beim Baume
fehlte, zieht die Consequenz aus jener Thatsache, dass die Zeit ein ünicum
ist: von einem ünicum gibt es keinen Begriff, nur eine Anschauung. Wun-
derlich ist die Ausdrucks weise von j,der Vorstellung, die nur durch einen
einzigen Gegenstand gegeben werden kann" — als ob die Zeit Vorstellung
durch einen Gegenstand: Zeit gegeben wäre ! Vgl. unten S. 399 Anm. 1.
Auffallend ist nun im höchsten Grade, dass die andere zweite Wen-
dung, welche das vorletzte Raumargument von hier an nahm, hier gänzlich
fehlt: wir erwarten ja hier die Wendung, dass die Theile der Zeit auch
nicht als Bestandtheile der einigen allbefassenden Zeit vorangehen, son-
dern nur in ihr gedacht werden als Einschränkungen der Einen, unum-
schränkten Zeit. Das fehlt hier ganz, denn die 3 Sätzchen, welche im
vierten Zeitargument nun folgen, entsprechen ganz genau dem Schlusssatz
im vorletzten Raum argument, dass die geometrischen Sätze nicht auf Begriffen,
sondern auf Anschauungen vom Räume beruhen. Etwas Aehnliches wird
hier gesagt von den Sätzen, die sich auf die Zeit beziehen. Das Axiom:
a verschiedene Zeiten können nicht zugleich sein" — lässt sich nicht aus
einem allgemeinen Begriff von der Zeit ableiten, sondern ist nur möglich,
wenn die Zeitvorstelking eine Anschauung ist. Dass jenes Axiom also ein
synthetischer Satz ist, ist eine beim Räume an der entsprechenden Stelle
fehlende Bemerkung, welche nach Adickes' freilich sehr zweifelhafter Ver-
muthung (vgl. oben S. 264) hier erst später eingeschoben sei; unrichtig ist
desselben Behauptung, dass dies Zeitargument durch diesen Zusatz „aus
der Parallele zu § 2 ganz heraustrete" ; es fehlte daselbst beim Räume nur
das Wort, nicht die Sache (vgl. S. 233). Und dass, was Adickes auffallend
findet, hier in Nr. 4 derselbe Satz synthetisch genannt wird, welcher in
Nr. 3 als apodiktisch bezeichnet wurde (,verschiedeDe Zeiten sind nicht zu-
gleich"), das ist doch ganz natürlich: aus den beiden ersten Argumenten
kann doch nur die apriorische Natur der betr. Grundsätze abgeleitet
werden; deren synthetische Natur kann doch erst abgeleitet werden,
wenn die Zeitvorstellung als Anschauung erwiesen ist, und das geschieht
ja erst in diesem Argument.
Bemerkenswerth ist, dass das hier gewählte Beispiel nicht etwa ein
arithmetischer Satz ist, so wie es beim Raum ein geometrischer Satz war,
sondern ein Satz, der sich auf die Zeit selbst bezieht und der daher auch
^in der Anschauung der Zeit unmittelbar enthalten ist". Natürlich ge-
hört die ganze Stelle, wie beim Räume, nicht eigentlich hieher, sondern in
die »Transsc. Erörterung". Vgl. Schneider, Ps. Entw. d. Apriori. 29.
Bol liger, Anti-Kant 396. Der Satz, dass verschiedene Zeiten nicht zu-
gleich sind, ist nach Wundt, Logik I, 430 fF. nicht synthetisch, sondern ana-
lytisch, resp. tautologisch.
In der Dissertation findet sich das entsprechende Argument § 14, 2:
Idea temporis est singulariSj non generalis, Tempus enim quodlibet
374 § 4* Viertes und fünftes Zeitargument.
A 82. B 47. [R 41. H 65. E 82.]
non cogitatur, nisi tanquam pars unius ejusdem temporis immensi, Duos
annos si cogUas, non potes tibi repraesentare, nisi determincUo ergo se invicem
posüu, et si immediate se non sequantur, nonnisi tempore quodam intermedio
sibimet junctos. Quodnam autem temporum diversorum sit prius, quodnam
posterius, nuüa ratione per nolas aliquas intellectui conceptibiles defimri
pdtest, nisi in circtdum vitiosum incurrere velis, et mens iüud non discemüj
nisi per intuitum singularem. Praeterea omnia concipis actuaHia in tempore
posita, non sub ipsius notione, generali, tanquam nota communi, contenta, (Vgl.
Kants Reflexionen II, N. 373.)
Bemerkenswerth ist in diesem Passus der Hinweis darauf, dass wir
die Unterschiede der Zeit nicht durch begriffliche Merkmale, sondern nnr
durch Anschauung feststellen können. Diese Bestimmung, welche in der
Dissertation beim Räume nicht in dieser Weise ausgesprochen ist, und
welche Kant selbst in der Kritik weggelassen hat, hat Kuno Fischer (2. Aufl.
S. 325 f., 3. Aufl. S. 334) aufgegriffen und so weiter ausgeführt: gWären
Raum und Zeit Begriffe, so müssten ihre Unterschiede sich begreifen und
logisch verdeutlichen lassen. Der Unterschied zwischen hier und dort, oben
und unten, rechts und links, früher und später u. s. f. ist nicht zu defi-
niren. Diese Bestimmungen zu unterscheiden, hilft kein Verstand der Ver-
ständigen, die subjective Anschauung thut Alles. '^
Sachliche Einwände bei Riehl II, a, 117, II, b, 293, nach welchen
bei der Zeitvorstellung mehr das Denken als das Anschauen betheiligt ist.
Auch Wundt, Logik I, 430—433 betont die begriffliche Natur der Zeit
gegen Kant.
Fünftes Zeitargpiment.
Dieses Argument stellt der Erklärung wieder grosse Schwierigkeiten
entgegen, die sich in der Litteratur über dasselbe spiegeln. Wir sehen zu-
nächst von allen anderen Erklärungen ab und suchen in den Sinn des
Argumentes selbst durch Analyse einzudringen. Hiebei sehen wir auch zu-
nächst von allen etwaigen Parallelen mit den Raumargumenten ab, um
unbefangen die Bedeutung dieses Beweises aus seinem eigenen Schooss zu
eruiren. Diese Analyse beginnen wir wieder am besten mit dem Scblnss;
es ist eine wichtige, werthvoUe, methodische Regel für die Analyse schwieriger
Partien philosophischer Autoren , mit den Schlusssätzen derselben zu be-
ginnen, da der Autor natürlicherweise bald absichtlich, bald unwillkürlich
in den Schlussworten die Tendenz seiner ganzen Argumentation mehr oder
weniger deutlich zusammenfasst. Die Erklärung findet nun hier besondere
Schwierigkeiten endlich darin, dass gerade der Schlusssatz in beiden Auf-
lagen einen abweichenden Wortlaut hat, während die beiden ersten Sätze
beidemal gleich lauten. Wir halten uns naturgemäss zunächst an den Wort-
laut der ersten Auflage.
Erste Redaction (A). Aus den Schlussworten des ganzen Beweises
geht nun unzweideutig hervor, dass er dahin zielt, die Zeitvorstellung als
Die Theile der Zeit sind nur durch Einschränkung möglich. 375
[B 41. H 65. E 82.] A 32. B 48.
Anschauung zu charakterisiren im Gegensatz zu der Meinung, dieselbe
sei ein Begriff. Womit wird dies bewiesen? Von dem dazu dienenden
Syllogismus haben wir in dem dritten und letzten Satze offenbar den Ober-
satz, und aus diesem können wir leicht den ganzen Syllogismus selbständig
ergänzen :
Eine Vorstellung, von der die Theile (u. s. w.) nur durch Einschränkung
möglich sind, ist nicht Begriff, sondern Anschauung.
Die Zeit ist eine solche Vorstellung, von der die Theile nur durch Ein-
schränkung möglich sind.
Also ist die Zeitvorstellung nicht Begriff, sondern Anschauung.
Wenn wir nun damit den Text vergleichen, so fällt sofort in die
Augen, dass der erste Satz des Eantischen Textes den Untersatz enthält.
Den Schlusssatz hat Kant der Kürze halber unterdrückt. Was noch sonst —
ausser dem oben dargestellten Syllogismus — in dem Kantischen Texte ent-
halten ist, ist nur Schale um den Kern, und, mit dieser Erkenntniss aus-
gerüstet, wird es uns nun nicht mehr schwer fallen, jenen Text vollständig
zu analysiren.
Schliessen wir uns dabei der Reihenfolge an, welche Kant selbst ein-
gehalten hat, inden wir zuerst den Untersatz näher betrachten. Der
Kern desselben ist die Behauptung: Die Zeit ist eine Vorstellung,
vor der die Theile nur durch Einschränkung möglich sind.
Diese Eigenthümlichkeit der Zeitvorstellung wird nun in dem ersten Satze
mit der Unendlichkeit derselben in Verbindung gebracht. In jener
Eigenthümlichkeit besteht eben die Unendlichkeit der Zeit. Der Umstand,
dass jede einzelne bestimmte Zeitgrösse nur möglich ist durch Einschränkung
der Einen Zeit, ist eben involvirt in dem Prädikat der Unendlichkeit. Man
möchte sagen: jener Umstand sei die Folge dieses Prädikates, wenn nicht
der folgende zweite Satz einen anderen, ja gerade den entgegengesetzten
logischen Zusammenhang vorschriebe: daher, weil jede bestimmte Zeit-
grösse nur durch Einschränkung der Einen Zeit möglich ist, muss diese
Zeit uneingeschränkt sein, oder, wie Kant sich hier wiederum ungenau
Husseit, „als uneingeschränkt gegeben sein**. Also die Behauptung der Un-
endlichkeit der Zeit erscheint hier offenbar demnach als eine Folge des Satzes,
dass alle bestimmte Zeitgrösse nur durch Einschränkung der Einen Zeit mög-
lich ist. Dies ist sehr wichtig für das Verständniss des Zusammenhanges: die
Behauptung der Unendlichkeit der Zeit erscheint hier somit auch nur als eine
Art Nebenprodukt der Discussion, und könnte daher auch eigentlich
weggeblieben sein: der Kern des Syllogismus bliebe doch intact. Man
siebt hieraus aufs Neue, wie irrig K. Fischers Auffassung ist (vgl. oben
S. 222 u. S. 243), den Satz von der Unendlichkeit von Baum und Zeit als
«eibständiges Beweisthema zu fassen, während er überall nicht zum eigent-
lichen Kern des Syllogismus gehört.
Bemerkens werth ist die Wendung : „die ursprüngliche Vorstellung
der Zeit muss uneingeschränkt sein''; natürlich gibt es auch Vorstellungen
376 § 4. Fünftes Zeitargument.
A 32. B 48. [B 41. H 65. E 82. J
endlicher Zeitgrössen, aber dies3 sind erst secandär; ursprünglich, von Hause
aus ist die Zeitvorstellung unendlich. (Gegen die Sache vgl. Bolliger,
Anti Kant 396 f.) Vgl. auch oben S. 243.
Auch der Obersatz hat eine kleine, aber sehr bemerkenswerthe er-
läuternde Erweiterung erfahren. Bei Begriffen ist nämlich das Verhältniss
der Theile zum Ganzen ein anderes als bei der anschaulichen Zeitvorstellung.
Bei dieser entstehen die Theile erst durch Einschränkung der Einen Zeit-
anschauung; aber bei Begriffen, da gehen die , Theile der Vorstellung* (die
TheilvorstelluDgen) der ganzen Vorstellung vorher; also beim Begriffe sind
die Theile die Voraussetzung des Ganzen, bei der Zeit aber ist das Ganze
die Voraussetzung der Theile. Beim Begriff gehen die Theile vorher
vor dem Ganzen, bei der Zeitvorstellung gehen sie erst aus dem Ganzen
hervor.
Wie ist es denn nun aber gemeint, wenn Kant sagt, dass beim Begriffe
die „Theilvorstellungen" , vorhergehen", unter „Theilvorstel-
lungen" versteht Kant an anderen Stellen immer (mit Ausnahme von
Anthropologie § 3) Merkmale. So finden wir das vor Allem in seiner
Logik, Einl. Cap. VIII, sowie § 7 (vgl. dazu Meilin IV, 247 ff.); und so sagt
auch Kant unten in der Kr. d. r. V. noch in der Transsc. Aesthetik A 42:
„Merkmale und Theilvorstellungen " ; in der Schrift gegen Eberhard S. 52
nennt Kant den Begriff des Einfachen eine „Partialvorstellung*, welche in
der Vorstellung der Materie enthalten ist. Nach Kants Logik, Einl. VIII
besteht nun (mit Ausnahme der einfachen Begriffe) jeder Begriff aus einer
Anzahl von Theilbegriffen oder Merkmalen. So z. B. hat der Begriff Mensch
die Merkmale der Vernünftigen, des Thierischen , des Sterblichen u. s. w.
in sich. So hat z. B. der Begriff des Körpers (vgl. oben S. 108) die Merk-
male: Substanz, Kraft, Theilbarkait , ündurchdringUchkeit, Härte, Farbe^
Ausdehnung, Gestalt in sich; diese Merkmale sind die Theil begriffe jenes
Begriffes, seine Theilvorstellungen. Kant bezeichnet diese ausdrücklich
mehrfach als „Theile** des „ganzen Begriffes". Natürlich sind nicht mit
Steckelmacher, Ks. Logik S. 13 (vgl. oben S. 219) die Theilvorstel-
lungen als eine „wirkliche Mehrheit von Objectsvorstellungen" aufzufassen,
sondern es sind eben die Merkmale, wie ganz deutlich auch aus Anthropo-
logie § 6 hervorgeht, woselbst es heisst, dass jede Erkenntniss aus Theil-
vorstellungen „zusammengesetzt" sei. (Vgl. oben S. 219 f.)
Wie aber kann nun Kant sagen, dass diese Theilvorstellungen dem
Begriffe vorhergehen? Nach Kants Logik, Einl. VIII gilt dies aacb
strenggenommen nicht von allen Begriffen, sondern nur von denjenigen, die
wir selbst machen. Von diesen heisst es: „Die Aggregation coordinirter
Merkmale macht die Totalität des Begriffes aus." Also bei solchen Begriffen
und insofern gehen die Theilvorstellungen dem ganzen Begriff vorher, üebri-
gens betrachtet Kant nachher in seiner Logik § 5 f. jeden Begriff als er-
zeugt aus gegebenen „Vorstellungen", auch sonst lehrt K. in seiner Kr. d.
r. V., dass jeder Analyse eine Synthese vorangegangen sein muss, so dass
Letztes Zeitargument und letztes Raumargument sind nicht identisch. 377
[R 41. H 65. E 82.] A 82. B 48.
es somit auch ganz mit Kants sonstigen Erklärungen übereinstimmt, wenn
er liier lehrt, dass bei „dem Begriff", also bei jedem Begriff seine Theil-
vorstellungen vorhergehen ^
Ganz dieselbe Auffassung des Verhältnisses von Begriffsganzem und
Theilvorstellungen finden wir nun bei den Kantianern , so bes. ausnihrlich
bei Krug, Logik § 24 ff. Vgl. auch desselben „Handbuch der Philos.* T,
§ 126 f., sowie seine „ Fundamentalphilosophie " § 79. Ebenso bei Kiese-
wetter, Grundr. d. allg. Logik § 22; bei Fries, Logik §20; bei Tief-
trunk, Logik § 34; bei Jacob, Grundriss der Logik und Metaphysik
§ 106. 129. Dieselbe Auslegung der Stelle gibt auch Schmid, Kritik S. 17.
Erst nach dieser Analyse sind wir nun im Stande, die Frage zu be-
antworten, wie sich das fünfte und letzte Zeitargument zu dem letzten Baum-
argument verhalte?
1) Vergleichen wir zunächst fünftes Zeitargument A mit fünftem Baum-
argument A. Kern des fünften Baumargumentes A s. oben S. 237 ff.:
Kein Allgemeinbegriff kann eine Grössenbestimmung enthalten; wäre also die
Vorstellung vom Baume ein Allgemeinbegriff, gewonnen aus dem den Einzel-
räumen Gemeinsamen, so könnte in demselben nichts enthalten sein über
die Grösse des Baumes. Unsere Baumvorstellung enthält aber factisch eine
Grössenbestimmung: denn der Baum wird als eine unendliche Grösse vor-
gestellt. Also ist der Baum nicht Begriff, sondern Anschauung.
Kern des fünften Zeitargumentes A s. oben S. 375: Bei
keinem Begriffe werden die Theile erst durch Einschränkung gebildet, son-
dern da gehen sie vorher. Bei der Zeitvorstellung ist das erstere der Fall —
daher wird sie auch als unendlich vorgestellt. Also ist die Vorstellung der
Zeit nicht Begriff, sondern Anschauung.
Diese Confrontirung lehrt, dass beide Argumente trotz ihrer gleichen
Bezifferung ganz verschieden sind; gemeinsam ist ihnen zwar dieselbe Ten-
denz: Baum und Zeit sind keine Begriffe , sondern Anschauungen ; aber
das Ziel wird auf ganz verschiedenem Wege erreicht. Auf diesem Wege
spielt allerdings beidemal die Vorstellung der Unendlichkeit eine Bolle, aber
beim Baume ist dieselbe eine unentbehrliche Voraussetzung des Unter-
satzes; bei der Zeit dagegen eine nebensächliche Folgerung aus dem-
selben.
2) Vergleichen wir ^ nun fünftes Zeitargument A mit letztem Baum-
argument B: der Kern des letzteren ist (s. oben S. 242): Kein Begriff ent-
hält eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich (wohl aber unter
^ Möglicherweise ist hieher auch die (schon oben S. 222 angeführte) Stelle
aus der Dissertation (§ 15 CoroU.) zu ziehen, wo es von Baum und Zeit heisst,
es seien intuitiis, in quibus non sicut leges rcUionis praecipiunt, partes et potisaimum
simplices continent rationem possibilitatis cotnpositi, sed, secundtim exentplar
intuitus semitivi, infinitum continet rationem partis ctijusque cogitabilis ac tandem
simplicis sive potiu8 termini.
378 § 4. Fünftes Zeitargoment.
A 82. B 48. [B 4L H 65. E 82.]
sieb); beim Baume ist das aber der Fall; denn er wird als unendlich
vorgestellt; und das beisst eben: er bat unendlicb viele Theile zugleicb in
sieb. Also ist seine Vorstellung niebt Begriff, sondern Ansebaaung.
Aucb in dieser Bedaction ist das letzte Baumargument niebt mit dem
fünften Zeitargument identiseb. Zwar ist aucb wieder gemeinsam das Ziel:
Baum und Zeit sind niebt Begriffe, sondern Ansebauungen. Aber der We^
ist wiederum ein ganz anderer. Allerdings begegnen wir auf diesem Wege
wiederum beidemal dem Begriffe der ünend liebkeit; aber beim Baume ist
derselbe wieder eine Voraussetzung des Untersatzes, bei der Zeit aber
eben dessen Folge. Wenn daber B. Erdmann, Kritieismus S. 165 sagt,
das letzte Baumargument B sei „eine erläuternde, klare Beproduetion des
letzten Beweisgrundes für die Anscbauliebkeit der Zeit*', so ist dies sebwer-
lieb zutreffend.
Aber das Argument, das wir bier bei der Zeit finden, klingt, uns doch
bekannt. In der That, aueb beim Baume baben wir dasselbe angetroffen,
nur niebt im letzten, sondern — als zweiten Beweisgang des vorletzteo
Argumentes. Dort fanden wir ja — S. 220 — genau dasselbe als eigent-
lieben Inbalt des dritten und viei'ten Satzes jenes Argumentes, welcbe uns
bei der Analyse so grosse Sebwierigkeiten macbten (S. 215 — 223). Und
I nun können wir das, was wir bier eonstatirt baben, aucb rückwärts als
Beweis verwenden für die Auffassung jener Stelle über die ,Bestandtbeile\
aus denen der Begriff „ zusammengesetzt ** ist und die ibm daber , vorher-
geben'' ; naeb längerer Ueberlegung fanden wir, unter jenen , Bestand tbeilen^
müssten doeb Merkmale gemeint sein, und ganz genau dasselbe finden wir
bier, nur dass bier der Ausdruck „Tbeil Vorstellungen'' ganz unzweideutig
auf Merkmale binweist. Jene Auffassung wird somit durch diese Stelle
bestätigt.
Oben S. 373 bei der Analyse des vierten Zeitargumentes vermissten wir
bei der Zeit den zweiten Beweisgang, den das vorletzte Baumargument ein*
gescblagen hatte. Wir verwunderten uns dort böeblicb über die Weglassung :
um so mehr sind wir erfreut, den vermissten Beweis bier im fünften Zeit-
argument wieder zu finden. Aber die Freude dieser Wiedererkennungsscene
wird uns getrübt durcb den Gedanken an die enorme Ungenauigkeit
Kants, die er sieb somit bier bat zu Schulden kommen lassen: es fehlt
vollständig an dem richtigen Parallelismus membrorum. Indessen —
wir sind solche Ungenauigkeiten des grossen Mannes zu sebr gewöhnt, als
dass wir uns des Weiteren daiüber aufbalten sollten.
Wichtig aber ist Etwas, auf das wir bier noeb aufmerksam machen
müssen. Die Erkennung des eigentlichen Sachverhaltes wird uns nämlich
erscbwert durcb den umstand, dass dieses fünfte Zeitargument, ebenso wie
das letzte Baumargument, mit der ünendlicbkeit anfängt. Bei dem letzten
Baumargument wurde ja der Satz vorangesebickt : der Baum wird als eine
unendliche Grösse gegeben vorgestellt. Und das fünfte Zeitargument beginnt
mit den Worten: -Die ünendlicbkeit der Zeit bedeutet nichts weiter*
Unendlichkeit und Continuität der Zeit. 379
[R 4i: H 65. K 82.] A 32. B 48.
u. s. f. Dadurch muss man ja zunächst nothwendig verfühi-t werden, zu
meinen, es handle sich beidemal um denselben Gedankengang. Dass aber
der Begriff der Unendlichkeit beidemal eine ganz andere Rolle spielt, geht aus
der jedesmaligen Analyse hervor: beim letzten Ranmargument bildet die Un-
endlichkeit eine nothwendige Voraussetzung des Untersatzes (S. 243); beim
fünften Zeitargument dagegen bildet der Begriff der Unendlichkeit eine neben-
sächliche Folge des Untersatzes (S. 375) *. Aber wir erinnern uns jetzt, dass
wir diesen letztgenannten Zusammenhang auch schon beim zweiten Beweisgang
des vorletzten Raumargumentes angetroffen haben. Es wurde damals S. 221 ff.
gezeigt, dass der Begriff der Unendlichkeit des Raumes als unmittelbare Folge
sich aus der Bestimmung ergebe, dass die Raumtheile durch Einschränkung
des 9 einigen" Raumes entstehen. Dieser einige oder einheitliche (vgl. S. 216)
Raum erwies sich bei näherer Besichtigung sofort als ein unendlicher.
Genau diesen Zusammenhang haben wir hier: Die „einige, zum Grunde
liegende Zeit" — diese einheitliche Zeitvorstellung ist eben „daher* eine
uneingeschränkte, eine unendliche. So bestätigt diese Stelle auch hierin unsere
Auffassung des zweiten Beweisganges beim vorletzten Rauraargument.
Dass mit diesem Argument die Continuität aufs engste zusammen-
hängt, wurde schon beim Räume erwähnt (S. 223). Hier bedarf es noch des
Hinweises darauf, dass, wie schon in der Dissertation, so auch in der Kritik
die Continuität der Zeit wichtiger und principieller ist, als die des Raumes,
wovon der Grund jedoch hier noch nicht anzugeben ist. Alles auf die Con-
tinuität Bezügliche ist in der Analytik und Dialektik anzubringen, sowohl
die eigene (mathematische) Continuität von Raum und Zeit, als die aus
ihnen abzuleitende (metaphysische) Continuität der Erscheinungen und
Vorgänge (s. zu A 170. 210 u. ö.). In der Dissertation hatte Kant sich im An-
schluss an die Raum- und Zeitbeweise eingehender auf die Sache eingelassen ;
und daher hat auch K. Fischer (2. Aufl. S. 329 ff., 3. Aufl. S. 337 f.) die
Continuität in diesem Zusammenhange behandelt. Wir haben keinen Grund,
uns hier darauf näher einzulassen.
Zweite Bedaction (B). Die durch die bisherige Analyse aufgeklärte
Sachlage wird nun wiederum verdunkelt durch die eigenthümliche Verän-
derung des Textes in der zweiten Auflage. Der erläuternde Zwischensatz
„denn da gehen die Theilvorstellungen vorher" ist ja ersetzt durch
die Worte: „Denn die enthalten nur Theilvorstellungen". Diese
Aenderung ist nicht bloss etwa formell , sondern dadurch ist der logische
Zusammenhang des ganzen Argumentes wesentlich verschoben. Nach dem
Wortlaute der ersten Auflage war der Sinn: bei den Begriffen gehen deren
Theile, die Theilvorstellungen, dem Ganzen vorher; aber bei der Zeitvor-
stellung gehen die Theile erst aus dem Ganzen hervor. Dieser Gegensatz
* Vgl. zu diesem Punkte — Unendlichkeit der Zeitvorstellung — die sach-
lichen Bemerkungen von Höffding (Phil. Mon. 1888, 430 ff.) mit Bezug auf Lotze
und Geijer. Vgl. auch Wundt, Logik I, 433.
380 § 4. Fünftes Zeitargument.
A82.B48. [B 41. H 65. E 82.]
ist nun vollständig verschwunden. Wer .sagt: „denn die Begriffe enibalten
nur Tbeilvorstellnngen", will als Gegensatz dazu offenbar etwas ganz Anderes
sagen, als vorhin; er will wohl sagen: aber die Zeit enthält nicht ,nnr
Theil Vorstellungen", sondern etwas Anderes, etwas WerthvoUeres. Die Paren-
these erfordert als Ergänzung offenbar den Satz : aber die Zeit enthält wirk-
liche Theile, nicht bloss Theilvorstellungen. Der Gegensatz wäre somit
jetzt der: Ein Begriff enthält nicht wirkliche, anschauliche, concrete Theile,
sondern nur uneigentlich sogenannte, begriffliche, abstracte Theile, seine
Merkmale; diese sind eben nicht eigentliche Theile, sondern nur Theilvor^
Stellungen.
Durch diesen Einsatz hat nun Kant seinen ursprünglichen Gedanken-
gang nicht nur wesentlich verändert, sondern auch erheblich verschlech-
tert. Der Zusatz der zweiten Auflage passt schlechterdings nicht zu dem
sonst beibehaltenen Wortlaut der ersten Auflage. Denn bei diesem handelt
es sich um das Verhältniss der Theile zum Ganzen; wenn gesagt wird,
dass die Zeittheile nur durch Einschränkung der ganzen Zeitvorstellung ge-
wonnen werden, so hat dazu nur der Gegensatz Sinn, dass bei Begriffen das
Verhältniss der Theile zum Ganzen ein umgekehrtes sei, nicht ein Hervor-
gehen, sondern ein Vorhergehen. Ein anderer Gegensatz hat hier keinen
Sinn. Diesem einzig möglichen Gegensatz ist aber in der 2. Auflage ein
ganz anderer untergeschoben worden, zu dem im Context selbst nicht die
geringste Handhabe geboten wird: ein Gegensatz, der sich auf die Art der
Theile bezieht. Die Parenthese der 2. Auflage hat somit den Gedanken-
zusammenhang in unorganischer Weise zerrissen; die Parenthese steht gar
nicht im Gegensatz zu dem Texte. Dies zeigt sich auch z. B. in der Wie-
dergabe Mellins (II, 481): „Begriffe enthalten nur Theilvorstellungen;
die Theile der Zeit aber werden bloss durch Einschränkung bestimmt;* —
das ist aber doch gar kein reiner Gegensatz: er hinkt.
Die Frage ist nun : wie ist Kant zu dieser Verschlechterung seines ur-
sprünglichen Textes gekommen? Die einzig plausible Erklärung davon
scheint folgende zu sein : als Kant bei der Ausarbeitung der 2. Auflage das
letzte Raumargument vollständig umgestaltet hatte, las er auch das fünfte
Zeitargument flüchtig durch \ Nun kam es ihm nicht mehr zum Bewusstsein,
dass dieses fünfte Zeitargument in Folge jener oben S. 378 gerügten Unge-
nauigkeit, ja gar nicht dem letzten Raumargument entspricht, sondern dem
zweiten Beweisgang des vorletzten Raumargumentes. In Folge der falschen
Stellung und Bezifferung des fünften Zeitargumentes brachte er es jetzt mit
dem letzten Raumargument zusammen, mit dem es doch gar nichts zu than
hat. Er wollte dasselbe nun auch dem umgearbeiteten letzten Baum-
argumente accomodiren, d. h. ohne vollständige Umarbeitung annähernd
* Auch die verfehlte Aenderung des „ihr* in , ihnen* im letzten Satz^ed
ist, wie auch Adickes S. 81 N. 1 bemerkt, auf einen solchen Flüchtigkeitsfehler
zurückzuführen .
Kant hat das fünfte Zeitargument in der zweiten Auflage verschlechtert. 381
[B 41. H 65. E 82.] A 32. B 48.
gleichmachen. Und das erreichte er auch gewissermassen durch jene kleine
Modification. Dieselbe besagt also : Ein Begriff enthält nur Theilvorstellungen,
die Zeit aber enthält wirkliche Theile. Das letzte Baumargument B sagte
(s. oben S. 242): Kein Begriff enthält eine unendliche Menge von Vorstel-
lungen in sich, wohl aber der Baum; d. h. der Baum hat eben seine un-
endlich vielen Theile in sich ; diese bilden Theile der unendlichen Gesammt-
vorstellung Baum; und zwar wirklich anschauliche Theile, welche concret
in der concreten Baumanschauung enthalten sind ; auch im Begriffe ist
allerdings etwas enthalten; das sind aber nicht wirkliche Theile, sondern
nur abstracte Theil Vorstellungen. In dieser Weise ausgesponnen, führt
das letzte Baumargument B auf das fünfte Zeitargument B, aber identisch
sind sie darum doch lange nicht: denn im fünften Zeitargument B fehlt ja
gerade der Mittelbegriff des letzten Baumargumentes B: der Begriff der
unendlich vielen Vorstellungen. Nicht darauf liegt ja hier der Ton, auf
der unendlichen Menge der etwa in der Zeitanschauung enthaltenen
Theile — davon ist vielmehr hier gar nicht die Bede: der Ton liegt jetzt nicht
auf der Quantität, sondern auf der Qualität der Theile; beim Begriff
sind es nur abstracte Theilvorstellungen, bei der Anschauung aber wirkliche,
concrete, aus der concreten Zeitanschauung herausgeschnittene, durch Ein-
schränkung gewonnene Theile. Dieses fünfte Zeitargument B ist also ein
neues Argument, und lässt sich natürlich ebenso auf den Baum über-
tragen, wie das letzte Baumargument B auf die Zeit übertragen wer-
den kann.
Es kann uns nach alledem nicht Wunder nehmen, dass gerade der Sinn
dieses fünften Zeitargumentes bis jetzt immer verfehlt worden ist. Um nur
einige Beispiele anzuführen, so finden wir z. B., dass Schultz in seinen Er-
läuterungen S. 23 das fünfte Zeitargument A mit dem fünften Baumargu-
ment A in unklarster Weise zusammengeworfen hat. Verwechslung beider
auch bei Cohen 30, 2. A. 126. Vgl. auch Knauer, Gesch. d. Philos.
2. A. 173. Falsch auch Adickes 74 N. Nur Einer scheint richtig geahnt
zu haben, dass das fünfte Zeitargument A mit dem vierten Baumargument A
(resp. dritten Baumargument B) zusammengehört; das ist Jacob i. In seiner
berühmten Schrift „Ueber die Lehre des Spinoza" 2. Aufl. S. 173 f. stellt
er wenigstens beide Argumente als zusammengehörige neben einander, und
verwendet sie dazu, um die Lehre des Spinoza von der substantia in finita
zu veranschaulichen. (Vgl. oben S. 220).
Dieses Argument wurde nun auch in den Fischer-Trendelen-
burg'schen Streit hineingezogen, und da war nun des Missverstehens natür-
lich kein Ende. Der erste Fehler war, dass man beiderseits nur die Eedac-
tion B berücksichtigte, welche, wie gezeigt, so wie sie dasteht, ganz unlogisch
ist. Dass man nun ferner dies fünfte Zeitargument B mit dem letzten Bauni-
argument B identificirte , das kann bei der oben aufgewiesenen Verwirrung
Kants selbst entschuldigt werden. Weniger entschuldbar sind die übrigen
Missverständnisse, besonders bei Fischer; da seine Missverständnisse noch in
382 § 4. Fünftes Zeitargument.
A32.B48. [B 41. H 65. K 82.]
der neuesten Auflage seines Werkes wiederkehren, muss etwas näher auf
dieselben eingegangen werden. Wie schon früher (S. 215 und S. 246) bemerkt,
berief sich Fischer auf dieses fünfte Zeitargument für seine schon dort er-
wähnte Lehre: jeder Begriff ist eine TheiWorstellung. Dieser Satz
bildete ja, wie wir S. 248 sahen, den Obersatz in dem Fischer'schen Schlüsse,
dessen Untersatz heisst: Der Eaum ist keine Theil Vorstellung, sondern ein
Ganzes; ebenso ist dies bei der Zeit der Fall; und daraus wird der Schluss-
satz abgeleitet: also sind Raum und Zeit keine Begriffe, sondern An-
schauungen.
Für jenen Obersatz beruft sich nun Fischer (2. Aufl. S. 824), gegen-
über der Anzweifelung der Echtheit dieser Darstellung bei Trendelenburg
(Hist. Beiträge, 3, 255), besonders auch auf dieses Argument, in seiner Fassung
nach der 2. Auflage; speciell auf die von ihm gesperrt gedruckte Parenthese:
„Denn diese [Begriffe] enthalten nur Theilvorstellungen.* Wer
sieht aber nicht auf den ersten Blick , dass dieses Citat jenen Satz nicht
deckt? Denn Kant sagt: Begriffe enthalten Theilvorstellungen. Aber
Fischer sagt: Begriffe sind Theilvorstellungen.
Fischer hat somit zwei ganz verschiedene Verhältnisse mit einander
verwechselt. Der Unterschied derselben lässt sich am kürzesten durch eine
Stelle aus der Logik von Fries, 2. A. S. 107 klarlegen: ,Die Form des
Begriffes besteht in der Allgemeinheit der Vorstellung, d. h. darin, dass
mehrere andere Vorstellungen, denen er als Theil Vorstellung zukommt, unter
ihm stehen, er aber andere, die seine Theilvorstellungen sind, in sich ent-
hält." Bei Kant ist an dieser Stelle nur von dem letzteren Verhältniss die
Eede, nicht, wie Fischer auslegt, von dem ersteren.
Wie so der Obersatz des Fischer'schen Schlusses irrig ist, so verhält es
sich nun natürlich auch mit dem Untersatz, der natürlich ebenfalls unrichtig
sein muss. Fischers Untersatz lautet ja : Die Zeit ist keine Theil Vorstellung,
sondern ein Ganzes. Es braucht nach dem oben S. 249 Gesagten nicht näher
ausgeführt werden, dass und warum auch dieser Untersatz unkantisch ist.
Allerdings gebraucht Kant hier den Ausdruck: «ganze Vorstellung*, aber
aus der oben S. 375 gegebenen Analyse des Argumentes geht hervor, dass
Kant sagen will: Eine Vorstellung, von der die Theile nur durch Einschrän-
. kung möglich sind, ist als Ganzes nicht Begriff, sondern Anschauung. Es
handelt sich um eine ganz irrelevante Nebenbestimmung des Obersatzes,
welche ebensogut hätte wegbleiben können. Aehnlich schon Trendelenburg,
Entgegnung S. 25; vgl. dagegen Grapengiesser S. 75.
Uebrigens hat auch Trendelenburg den Sinn des Argumentes voll-
ständig verfehlt. Derselbe findet (Entgegnung S. 26) dieses Argument e ver-
wandt" mit dem letzten Raumargument (vgl. dazu Fischers Duplik S. 35);
während in dem letzteren der Mittelbegriff sei „der Begriff der unendlichen
Vorstellungen* (vgl. oben S. 248), bestehe er hier in dem „Begriff des Unein-
geschränkten"; „die Vorstellung der Zeit ist kein Begriff, weil sie unein-
geschränkt, jedoch kein Begriff uneingeschränkt ist/ Die gänzliche Verfehlt-
Die synthetisch-apriorischen Zeitaxiome. 3g3
[B 716. H 66. K 82.] B 48.
heit dieser Auffassung leuchtet aus der oben gegebenen richtigen Analyse
hervor; Trendelenburg macht die nebensachliche Bestimmung der üneinge-
schränktheit der Zeit zur Hauptsache und erfindet dazu den Gegensatz von
der Eingeschränktheit der Begriffe, wovon nicht das Geringste dasteht. Falsch
auch bei Bratuschek, Phil. Mon. V, 320. Vgl. auch Cohen, 2. A. 126.
§5.
Transscendentale Erörterung des Zeitbegriffes.
Schon oben S. 371 f. wurde das Verhältniss des dritten Zeitargumentes
zu dieser ^Transscendentalen Erörterung*' besprochen. Da dasselbe eigentlich
hieher gehört, ist es auch hier zu besprechen. Eant leitet, ganz entsprechend
der Argumentation beim Räume, aus der Apriorität der Zeitvorstellung die
Apodicticität der Zeitaxiome ab, die dann wieder rückwärts einen Beweis
für die Apriorität der Zeitvorstellung abgibt. Jener Zeitaxiome sind es
hier zwei: 1) die Zeit hat nur Eine Dimension; 2) verschiedene Zeiten sind
nicht zugleich, sondern nach einander \ Diese Axiome' gelten zunächst von
der Zeitvorstellung als solcher; es wird aber (was im dritten Raumargument
A fehlt) sogleich hinzugefügt, dass diese Axiome auch nothwendige Regeln
der Möglichkeit der Erfahrung sind; vor der Erfahrung, nicht erst durch
sie haben wir diese Erkenntnisse, und doch gelten sie von allen Erfahrungs-
vorgängen. (Vgl. oben S. 175 Anm. 1). Eine Parallelstelle aus der Dissertation
§ 14, 5 lautet hiezu : Die Meinung, dass die Zeit ein empirischer, a successiane
staiuum abstrahirter Begriff sei, „ornnem sanae rationis tisum interturhat, quod
non motus leges secundum tefnporis mensuram, sed tempus ipsum, quoad ipsius
naturam, per observata in motu aut qualihet mutaiionum internarum serie
determinari postuUt, quo omnis regularum certitudo plane aholeturJ'
Dass nun diese Axiome über die Zeit synthetischer Natur sind, hat
Kant ebenfalls schon ausgeführt im vierten Zeitargument (vgl. oben S. 373) ; es
folgt dies daraus, dass die Zeitvorstellung Anschauung ist. So haben wir
denn nun die beiden Bestimmungen bei einander, welche Kant in der trans-
scendentalen Erörterung des Raumes viel schärfer heraushebt und sondert:
die Apriorität der Zeitvorstellung erklärt die Apodicticität, die Anschaulich-
keit derselben die synthetische Natur der Zeitaxiome.
Zu der letzteren Bestimmung — Anschaulichkeit der Zeitvorstellung —
gehört nun dasjenige, was Kant in diesem Abschnitte § 5 noch hinzusetzt: dass
^ Dass die Theile der Zeit nach einander, die des Raumes zugleich
sind, dieser unterschied spielt später in der Dialektik eine grosse Rolle, bes. A 412
= B4d8, wo Kant das so ausdrückt, dass die Zeit eine Reihe, der Raum ein
Aggregat ist. Vgl. auch A 189. — In diesem Sinne wohl lässt Ii'ischer (2. A.
327; 3. A. 335) Kant sagen: „Die Zeit scheidet, wo der Ort vereinigt.*
' Dass jene beiden Axiome im Grunde nur Eines seien, behauptet Beller-
mann, Beweis a. d. n. Raumtheorie u. s. w., Progr. 1889, S. 7.
384 § 5. Zeit: transscendentale Erört«ruDg.
B 48. [E 715. H 66. E 82.]
nur dadurch unsere Erfahrungen und Vorstellungen von Veränderung und
damit auch von Bewegung der Dinge möglich und begreiflich werden. Vgl.
Dissertation von 1770, § 14, 5: „A enim et non-A non repugnant, nisi simul
{h. e. tempore eodem) cogitata deeodem, post se autem {diversis tempatibusj eidetn
competere possunt, Inde possibüitas tnutationum nonnisi in tetnpore cogita-
hüiSj neque tempiis cogüahile per mutationes, sed vice versa."
Jede Veränderung schliesst nämlich genau genommen einen Wider-
spruch ein, enthält eine Verbindung contra dictorisch entgegengesetzter Prü-
dicate. Dies wird an einem Beispiel quantitativer Veränderung (= Bewegung i
gezeigt. „Wenn ich von einem Objecte Veränderung des Ortes prädicire,
so prädicire ich von ihm das Sein am Orte A und das Nichtsein am Orte A.
Allein dieses Sein und Nichtsein desselben Dinges an demselben Orte zn-
sammengedacht, ist nach blossen Begriffen ein offenbarer Widerspruch, und
bloss dadurch möglich, dass ich mir dasselbe als nach einander oder auf
einander folgend vorstelle.'' (Schultz, Prüf. II, 272.) Dies geschieht nun
eben in der Zeitanschauung: nur indem ich sage: der Körper war in der
vorhergehenden Zeit da am Orte A, aber in der gegenwärtigen Zeit ist er
nicht mehr da. „Lassen wir das nicht mehr ganz weg, so heisst: Ein Körper
verändert den Ort, so viel als: er ist an einem Ort und ist nicht an diesem
Ort, welches zwei contradictorisch entgegengesetzte oder sich einander völlig
aufhebende Prädicate sind. Das Nicht mehr macht also den Begriff der
Veränderung erst möglich, folglich der Zeitbegriff, durch welchen allein ein
Nacheinander gedacht werden kann" (Mellin I, 574; V, 728). Die letztere
Wendung Mellins verfehlt aber den eigentlichen Sinn: es muss vielmehr
heissen: erst in der Zeitvorstellung, in welcher das Nacheinander uns an-
schaulich gegeben ist, ist die Vorstellung der Veränderung möglirh.
(Veränderung wird übrigens A 82 zu den Prädicabilien der Modalitat ge-
rechnet, gehört also eigentlich erst in die Kategorienlehre).
Bemerkenswerth ist, dass diese Bestimmungen über die Veränderung
gerade im Texte der 2. Auflage noch mehrfach wiederkehren ; so in der
Vorbemerkung zur 2. Analogie (Grundsatz der Erzeugung), B 233, und
B 291. Dass Kant über dieses Thema zwischen der 1. und 2. Auflage nach-
gedacht hat, beweist auch die Anmerkung in seinem Handexemplar (Erd-
mann, Nachträge CXLIII): „Können zwei entgegengesetzte Bestimmungen in
einer Veränderung sich einander in dem Dinge an sich selbst w^iderstreitend,
aber einstimmig im Phänomenon seyn?**
Uebrigens ist dieser Punkt auch schon angedeutet in der ersten Auf-
lage A 144. 171. 187 ff. 207 und auch ausgeführt A 458—460 (Anmerkungen
zur vierten Antinomie) ; auch in den Reflexionen finden sich darüber aus der
Zeit der 70 er Jahre beraerkenswerthe Aussprüche : II, N. 374: ,Was macht
das möglich, was nach dem blossen Begriff eines Dinges unmöglich ist?
die Zeit: deierminationes oppositae können einander bloss succediren. Also
ist die Zeit nicht zu dem Begriffe eines Dinges an sich gehörig, sondern
zu der Art, wie wir sie anschauen.* Kant findet also in jener Eigen-
Ohne Zeit keine Veränderung. Das Nirwana. 385
[R 715. H 66. K 82.] B 48.
ßchaft der Zeit hier einen Beweis für ihre Subjectivität. Vgl. N. 375. 377.
378. 380. 383: die Zeit enthält den Grnnd davon, quod mutationes sint
possihilea. Vgl. dazu N. 735 — 765. 1081 flf. 1164. Besonders interessant
ist N. 1187 : ,Es wurde objicirt, dass das unbekannte Etwas X, welches zu
Einer Zeit die Erscheinung des Eies hervorbringt, in mir zur anderen Zeit
die des Küchleins hervorbringe: also müsse sich im Objecte etwas ver-
ändert haben [und also die Zeit objective Realität besitzen], weil es nicht
den Grund von zwei entgegengesetzten Bestimmungen zugleich enthalten
könnte. Ich antworte: Es ist dasselbe Object, welches den Grund der
Erscheinung zweier entgegengesetzter Zustände als successiv existirender
hervorbringt, und also die Erscheinung einer Veränderung. Dieses ist nicht
schwieriger zu erklären, als wie Veränderung möglich sei, d. i., da ein Ding
oder eine Menge Dinge den Grund von zwei Gegentheilen enthalten solle.''
Vgl. auch Lose Blätter I, S. 21. Aehnlich Schopenhauer, W. a. W. I,
209. In eigen thümlicher Weise hat Her hart die Lehre weitergebildet, dass
die Veränderung Widersprechendes enthalte: W. W. I, 194—216. 263 ff.,
III, 80 ff., IV, 280. 285; vgl. dazu Spir, Denken und Wirklichkeit I, 266 ff.,
II, 7—12. Cohen, 2. A. 182. Feuerbach, W. W. II, 335.
Die Abhängigkeit der Veränderung von der Zeit benützt Kant in
dem — wenig beachteten — Aufsatz: Das Ende aller Dinge (Ros. VII, a,
409 ff.), um den Unterschied des zeitlichen Lebens vom ewigen zu erörtern,
wobei er allerdings, wie er selbst sagt, „bloss mit Ideen spielen'^ will.
Wenn das ewige Leben überhaupt gedacht werden soll, muss es als unzeit-
liches gedacht werden, und da Veränderung eben nur in der Zeit möglich
ist, als ein Zustand der ünveränderlichkeit {duraiio nounienon). „In der
Apokalypse (X, 5. 6) bebt ein Engel seine Hand gen Bimmel und schwört
bei dem Lebendigen: dass hinfort keine Zeit mehr sein soll. Wenn
man nicht annimmt, dass dieser Engel ,mit seiner Stimme von sieben
Donnern' (v. 3) habe Unsinn schreien wollen, so muss er damit gemeint
haben, dass hinfort keine Veränderung sein soll; denn wäre in der Welt
noch Veränderung, so wäre auch die Zeit da, weil jene nur in dieser statt-
finden kann und ohne ihre Voraussetzung gar nicht denkbar ist'' u. s. w.
Auch die christliche Eeligion stelle sich das ewige Leben, sowohl das selige,
aIs das unselige, als einen , Mangel alles Wechsels" vor. Ueber solche Ge-
danken gerathe nun leicht „der nachgrübelnde Mensch in die Mystik**; der
Mensch mache nun Versuche , schon innerhalb des zeitlichen Lebens jenen
Zustand der Unzeitlichkeit und absoluten ünveränderlichkeit hervorzurufen:
^daher kommt das Ungeheuer von System des Laokiun [Kant verwechselt
hier den Laokiün = Laotse mit Buddha, vgl. Kants Physische Geographie
Ros. VI, 703. 733 über Asien] von dem höchsten Gut, das in Nichts be-
steben soll: d. h. im Bewusstsein, sich in den Abgrund der Gottheit, durch
das Zusammenfliessen mit derselben und also durch Vernichtung seiner
Persönlichkeit verschlungen zu fühlen; von welchem Zustande die Vor-
hin pfindung zu haben, sinesische Philosophen sich in dunkeln Zimmern mit
Taihinger, Kant-GommentAr. IL 25
38(5 § 5- Zeit: transscendentale Erörterung.
B 48. [B 715. H 66. K 82.]
geschlossenen Augen anstrengen, dieses ihr Nichts zu denken nnd zu
empfinden/ —
Dieser § 5 hat übrigens auch im Fischer-Trendelenburg'schen Streite
eine Rolle gespielt, gelegentlich einer allerdings erst später zu besprechenden
Streitfrage: in der Einleitung zu dem „System der Grundsätze' bat Kant
(A 152 f.) nebenbei bemerkt, dass die übliche Formel des Satzes Yom Wider-
spruche: „es ist unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei' durch
die Hereinmischung der Zeitbestimmung „zugleich' gewissermassen verun-
reinigt sei; der Satz des Widerspruches, als ein blos logischer Grundsatz,
dürfe nicht durch die Bedingung der Zeit afficirt werden. Hiebei polemistrt
Kant gegen sich selbst, denn in der Dissertation von 1770, § 14, 5. 6 und
§ 15 hatte er selbst behauptet, der Satz des Widerspruchs lasse sich ohne
jede Zeitbedingung gar nicht aufstellen noch anwenden. Fischer, welcher
in seiner Darstellung bekanntlich Dissertation und Kritik durcheinander
mengt (vgl. oben S. 185), sucht diesen Unterschied hinwegzudisputiren, und
fügt demgemäss auch in seine Wiedergabe der Kantischen Baum- und Zeit-
lehre jene Lehre aus der Dissertation ein, welche doch in der Analytik von
Kant selbst revocirt, resp. restringirt worden ist. Darüber von Trendelen-
burg zur Rede gestellt, berief er sich denn nun in seiner „Duplik' S. 60
auch auf diesen Passus.
Er will nämlich in demselben jene Lehre indirect ausgesprochen
finden. „Wenn contradictorisch-entgegengesetzte Prädicate in einem Dinge
nur möglich und begreiflich sind in verschiedenen Zeiten, so sind sie
unmöglich und unbegreiflich in derselben Zeit. Beide Sätze haben voll-
kommen gleichen Inhalt.' — Ohne die Zeitvorstellung könne nun nach
Kants Aussage „kein Begriff die Möglichkeit einer Verbindung contra-
dictorisch-entgegengesesetzter Prädicate in einem und demselben Objecto be-
greiflich machen''. Also könne „ohne die Zeitvorstellung auch kein .Begriff
die Unmöglichkeit einer solchen Verbindung begreiflich machen. Die
Möglichkeit hängt ab von dem Nacheinander. Die Unmöglichkeit hängt
ab von dem Zugleich. Ohne dieses Zugleich kann kein Begriff die Un-
möglichkeit einer Verbindung contradictorisch-entgegengesetzter Prädicate
in einem und demselben Objecte, d. h. das logische Denkgesetz des Wider-
spruchs begreiflich machen oder erklären^.
In dieser Beweisführung ist, wie schon Bra tusch ek, Philos. Monatsh. V,
306 f. erkannt hat, eine Lücke. Aus diesem Passus folgt allerdings, dass
Entgegengesetztes nicht zugleich stattfinden kann an Einem und demselben
Object, und natürlich auch, dass die Vorstellung dieses Zugleich im*
möglich ist ohne die Zeitanschauung. Keineswegs folgt aber daraus^
dass es nun auch Kants Meinung sei, dass nun der Satz des Widerspruchs
als solcher sich überhaupt nicht auch ohne jenes „Zugleich' aussprechen lasse.
Auf diese Lösung weist ja Kant selbst hin A 152, wenn er sagt:
wenn man das Wort zugleich hinzusetzt, so sage der Satz des Wider-
spruchs gleichsam: „Ein Ding = A, welches etwas = B ist,, kann nicht
Allgemeine Bewegungslehre und allgemeine Zeitlehre. 387
[R 716. H 66. E 83.] B 48. 49.
zu gleicher Zeit non-B sein; aber es kann gar wohl Beides (B sowohl
als non-B) nacheinander sein.* Aber diese ganze Pormulimng sei der
Absicht des Satzes vom Widerspruche als solchen ganz zuwider, und bringe
in ihn eine Synthese hinein, die in ihm als rein analytischem Grundsatze
nicht liege. Allerdings gilt dies nur vom rein ,, formalen Grundsatz" ; in
der praktischen Anwendung , wie eben z. B. hier , stellt sich -jene für die
Anwendung bequemere Formel und damit eben auch jene Einmischung der
Zeitvorstellung bald wieder ein. —
Noch bietet der § 5 eine wichtige Schlussbemerkung dar: Diese
apriorische Anschauung der Zeit ermöglicht und erklärt nun auch erst die
sich auf die Bewegung beziehenden synthetischen Sätze a priori, ,,die all-
gemeine Bewegungslehre", die Phoronomie. Diese hatte ja Kant unter-
dessen 1786 in den ,, Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft"
entwickelt, und so fand er hier eine willkommene Gelegenheit, die Grund-
lagen derselben in der Kr. d. r. V. zu legen. Allerdings ist der Begriff
der Bewegung selbst , wie auch der Begriff der Veränderung empirisch *
(vgl. Band I, 196. 211 f.). Vgl. auch Mellin I, 574. Nach Schultz,
Prüf. I, 286, II, 272 ist es speciell die Mechanik, auf welche Kant zielt.
Weiteres bei Riehl, Krit. II, a, 86. 94. 110 f. (R. u. Z. alö Principien
der Begreiflichkeit der Bewegung). Vgl. auch Baggesen, Phil. Nachlass
I, 68 ff. Sachliche Einwände gegen die Stelle bei v. Kirch mann, Erl. 11
(dagegen Grapengiesser , Erkl. 26). Vgl. Schuppe, Logik 433 ff. Vgl.
auch Wundt, Logik, I, 484 ff. Eingehend behandelt auch Heymans,
Ges. u. El. d. wiss. Denkens, 1890, I, 259—270 im Sinne Ks. die Idealität
der Zeit als Fundament der , Kinematik*^.
Bemerkenswerth ist die Parallele, welche hier von Kant, wenn auch
nicht ausdrücklich, so doch sachlich gestiftet wird: wie oben (vgl. S. 266 ff.) die
neue Raumtheorie ,,die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen
Erkenntniss a priori begreiflich" machte, so soll hier unser Zeitbegriff „die
Möglichkeit der synthetischen Erkenntnisse a priori der allg. Bewegungs-
lehre erklären". Diese Parallele ist nun aber doch vom Kantischen Stand-
punkte selbst aus verfehlt, da doch Bewegung erstens ein empirischer Begriff
ist, und dieselbe zweitens ausser der Zeit ja auch noch den Raum voraussetzt.
Die Analogie geht also durchaus in die Brüche. Vielleicht hat Kant mit
dieser Stelle der 2. Auflage einem Einwurf begegnen wollen, welcher schon
gegen die erste von Garve gemacht worden war. Dieser findet (A. D. B.
Anhang zu 37 — 53, S. 859) eine Schwierigkeit darin, „dass das Anschauliche
der Zeit uns kaum zu einem oder dem anderen Satze, das des Raumes aber
zu einer ganzen Wissenschaft verljolfen hat".
Kant selbst hat an einer anderen Stelle sich ganz anders ausgedrückt.
In der Abhandlung „über Philos. überhaupt" Ros. I, 606 sagt er: »All-
* Daher sind die synthetischen ürtheile a priori der allgemeinen Bewegungs-
lehre auch als , gemischte** zu bezeichnen. Vgl. Comm. I, 195 f.
388 § ^- ^^it: transscendentaJe Erörterung.
B 49. [B 715. H 66. K 83.]
gemeine Zeitlehre gibt nicht so wie die reine Banmlehre (Geometrie)
genügsamen Stoff zu einer ganzen Wissenschaft her.*' Er bringt das damit
in Zusammenhang, dass die Zeit nur Eine Dimension habe. Man könne
indessen aus dem letzteren Umstände auf die ,, Stetigkeit aller Veränderangen*'
schliessen. (Nach der Dissertation § 14, 6 gehört die continuitas zu den
prima temporis puri postfdata.) Vgl. Vorrede zu den Met. Anf. d. Nat.
Bos. V, 310, wo schon genau dasselbe gesagt worden war. Nach diesen
Stellen liegt die Sache ganz anders. Darnach hat die Geometrie als Wissen-
schaft vom Baum kein eigentliches Pendant an einer Wissenschaft
von der Zeit, weil die Zeitanschauung dazu zu arm ist. Höchstens können
die paar Axiome über die Zeit (vgl. oben S. 373. 383) ein verkümmertes
Gegenstück zu den Axiomen der Geometrie abgeben. Indessen haben die
Anhänger Kants diese Axiome über die Zeit zu vermehren gesucht ; so zahlt
Schultz, Prüfung I, 236 f., II, 263 ff. 7 Axiome und 2 Postulate der
„Chronometrie oder Zeit Wissenschaft** auf (vgl. dazu Mellin VI, 277) ; und
Schopenhauer, W. a. W. II, 55 ff. zählt in seiner bekannten Tabelle
gar 28 Axiome oder „Grundwahrheiten** über die Zeit auf. Vgl. Lieb-
mann, Analysis der Wirklichkeit, S. 87, Dagegen spricht sich Wundt, Logik
I, 430 — 431- energisch gegen jede Aufstellung von Zeitaxiomen aus, sie seien
«tiivial** und „tautologisch". Aehnliches hat auch schon F. A. Lange,
Logische Studien 139 f. eingewendet.
Inzwischen finden wir bei den Anhängern Kants noch eine dritte Dar-
stellung, welche nun ganz landläufig geworden ist : darnach soll sich die Arith-
metik verhalten zur Zeit wie die Geometrie zum Räume. Zum ersten Male
findet sich diese Zusammenstellung bei Schultz in seinen bekannten Er-
läuterungen S. 24. Ausser Pistorius bemerkte aber schon Eberhard,
Mag. II, 178 f., dass diese Beziehung der Arithmetik auf die Zeit sich
nicht selbst bei Kant finde; sie widerspreche auch den sonstigen Lehren
Kants ; wenn man die Zahlen als durch zeitliche Succession entstanden
darstelle, so übersehe man dabei, dass diese subjective Entstehung der
Zahlen ihre objective, logische Natur gar nicht treffe. Schultz antwortete
darauf in der A. L. Z. 1790, III, Nr. 283, S. 806, und wies dabei zum
Beweis für die Echtheit seiner Darstellung auf A 142 ff. (B 182 ff.) hin. Noch
deutlicher aber als an jener Stelle (welche gleich nachher nochmals zu be-
sprechen ist) sprach sich.K. in den Prolegomena aus; Schultz hätte sich auf
Prol. § 10 berufen sollen, woselbst es heisst: , Geometrie legt die reine An-
schauung* des Kaum es zum Grunde. Arithmetik bringt selbst ihre Zahl-
begriffe durch successive Hinzusetzung in der Zeit zu Stande, vornämlich
aber reine Mechanik kann ihre Begriffe von Bewegung nur vermittelst
der Vorstellung der Zeit zu Stande bringen.** Diese „reine Mechanik'*
werden wir wohl mit der „allgemeinen Bewegungslehre*' identificiren dürfen,
von welcher hier in der Kritik § 5 die Eede ist. Um so mehr dürfen wir
erstaunt sein , dass Kant hier an dieser Stelle der Kritik die naheliegende-
Parallele der Geometrie mit der Arithmetik nicht selbst gezogen hat, um
Schwankende Stellung der Arithmetik bei Kant. 389
[R 716. H 66. K 88.] B 49.
so mehr, als doch von der Arithmetik schon in der Einleitung Y (vgl.
Comm. I, 295 — 300) die Rede gewesen war ^
Die Parallele von Geometrie und Arithmetik ist denn auch die übliche
Darstellung geworden, bes. durch Schul tz, Prüfung 1, 211—234, II, 235—263
(gegen Einwürfe Eberhards). Vgl. Schmid, Grit. 17. Metz, Darst. 54.
Dann hat bes. wieder Schopenhauer auf jene Parallele gedrungen, Grund
§ 38, W. a. W. I, 90, II, 39—40 (unter heftiger Polemik gegen Rosenkranz*
Bestreitung jener Parallele); Par. II, 52. Durch K.Fischers Darstellung
(2. A. 314. 337) ist die Parallele dann heutzutage ganz allgemein geworden.
Vgl. Cohen, 2. A. 136. 169. 183. 184. 211. 239. 416. 585. Lasswitz
81—84. Vgl. femer Mahaffy 64 fF. Schneider, Das Apriori 181; Trans-
scendentalpsychologie S. 137 ff. 224 ff.; Bolliger, Antikant 381. Vgl. auch
Wundt, Logik I, 468 ff. und auch Helmholt z' bekannte Abhandlung
„Ueber Zählen und Messen" in den „Philosoph. Aufsätzen", Zeller gewidmet,
1887, S. 17 ff., und dazu Cohen, Phil. Monatsh. 1888, S. 259 ff. Vgl. auch
W.Hamilton: Essay on Algebra as the science of pure time. (Transactians
of the Royal Irish Äcademy, 1835, Vol. XVII. Vgl. dazu die Dubliner Zeit-
schrift „Hermathena^, Vol. III, 1879, 469 ff.). Gegen diese Kantische Ab-
leitung der Zahl aus der Zeitvorstellung hat sich neuerdings bes. B. Erd-
mann, Logik, I, 108 f. ausgesprochen.
Kant hat sich nun aber über die Zahlen und die Zahlenlehre noch
an späteren Stellen seiner Kritik in ganz anderer Weise ausgesprochen, in
einer Weise, dass man darauf schliessen muss, die Zahlen seien ihm vielmehr
erst als ein Product der kategorialen Synthesis erschienen, nicht
schon als einfache Consequenzen der reinen blossen Zeitanschauung ^ Vgl.
A 78, wo das Zählen ,,eine Synthesis nach Begriffen" genannt wird; ß 100, wo
die Zahl mit der Kategorie der Allheit in Verbindung gebracht wird ; A 101 —
^ Nach jener Stelle der Einleitung soll man freilich den arithmetischen
Sätzen die Anschauung von Punkten oder gar Figuren zu Grunde legen. (Vgl.
A 140.) Dies würde darauf führen, dass auch die Arithmetik zuletzt auf die An-
schauung des Raumes, nicht aber auf die der Zeit zu begründen wäre. Diese
Consequenz hat denn auch F. A. Lange, Log. Stud. 140 ff., in der That gezogen,
und schon vor ihm Baumann (worüber man Husserl, Phil. d. Arithm. I, 32 — 49
vergleiche). Vgl. auch Stadler, Erk. 79. Sachlich könnte das richtig sein, aber
Kantisch wird es schwerlich sein , wie schon I, 299 bemerkt werden musste. Ein-
gehende und sorgfältige Erörterung der Frage durch F. A. Tarleton in der
Dubliner Zeitschrift „Hermathena", Vol. I, 1874, p. 210-232. Tarleton verwirft
die Meinung von Mahaffy und Monck, Kant begründe die Arithmetik auf die
Raumanschauung, und vertheidigt geschickt die These von Kuno Fischer und
M ansei, Kant begründe dieselbe schlechterdings nur auf die apriorische Zeit-
anschauung. Dagegen aber wieder Mahaffy, Cn't Phil, I, 64 ff.
* Hiebei ist übrigens daran zu erinnern, dass auch bei der Geometrie neben
der Anschauung der Verstand ins Spiel kommt; vgl. oben S. 285; und zwar nicht
nur die gewöhnliche logische, sondern auch die kategoriale Verstandesthätigkeit.
390 § ^- Z^it.: transscendentale Erörterung. § 6. Schlüsse.
B 49. [B 716. H 66. K 83.]
104, wo das Zählen mit der ,, Einheit der Sjnthesis** u. s. w. in Verhindang ge-
bracht wird ; A 142 ff. (B 182 ff.), wo die Zahl als Schema der Kategorie der
Grösse betrachtet wird (numerus est qtMntüas phaenomenon); A 164, wo die
Zahlformeln anf „Synthesis der Einheiten** zurückgeführt werden (vgl. A 170).
Dazu kommen dann die Bemerkungen in der Methodenlehre A 717—734.
(Weiteres hierüber später in dem Commentar zur Analytik, speciell zu der
Hauptstelle A 142 ff. [B 182 ff.].) — Vgl. dazu auch Pries, Neue Kritik
II, 118 ff.
In ähnlicher Weise betrachtete Kant die Sache schon in der Disser-
tation. Die Hauptstelle lautet § 12: Hinc Mathesis pura spatium considerat
in geometria, tempus in mechanica pura. Accedit hisce conceptus quidam^ in
se quidem intellectualis; sed cujus tarnen actuatio in concreto exigU opi-
tulantes notiones temporis et spatii (successive addendo plura et juxta se simul
ponendo), qui est conceptus numeri, quem tractat Arithmetica. Vgl« daselbst
auch dieselbe Beziehung der Zahl auf Raum und Zeit zugleich § 15 fin.
Daselbst § 23 werden Eaum, Zeit und Zahl aber wieder als reine Anschau-
ungen zusammengestellt. (Vgl. auch § 28.) Vgl. Dietrich, Kant u. Newton,
110. 287. 251.
Daraus folgt, dass Kant über die Stellung der Zahlenlehre sich schwan-
kend geäussert hat, und sich über dieselbe auch wohl nicht klar geworden
ist. In vortrefflicher Weise ist dies dargelegt worden (vom Kantischen
Standpunkte selbst aus) von C. Th. Michaölis, lieber Ks. Zahlbegriff. Pro-
gramm der Charlottenschule Berlin 1884 (18 S.). Ks. Zahlbegriff schwanke
hin und her und sei ein doppelter; bald ziehe er die Analogie zwischen
Arithmetik und Geometrie, so in jener Stelle der Proleg, § 10; bald aber
lehne er dieselbe ab, so hier Kritik § 5. Kant habe die Arithmetik „stief-
mütterlich behandelt**, die „arithmetischen Grundbegriffe vernachlässigt*',
seine Auffassung sei „verfehlt** ; indessen habe das K.'sche System selbst
„die Hülfsmittel gegeben, jene verfehlte Lehre zu berichtigen und von Wider-
sprüchen zu befreien**: die Zahl sei nicht auf die Anschauung der Zeit,
sondern auf die Verstandesthätigkeit der Kategorien zu basiren. Und diese
Auffassung stimmt denn auch, wie wir sahen, mit der Majorität der Stellen
Kants überein, und von diesem Gesichtspunkt aus würde dann allerdings
das Stillschweigen Ks. über die Arithmetik hier in der Aesthetik zu recht-
fertigen sein. Aehnlich neuerdings auch Walter Brix, in Wundts Philos.
Studien VI, 118—121. 156 ff.; und besonders E. Husserl, Philos. d.
Arithmetik I, 30 ff. 36 ff.; Kerry, Viert, f. wiss. Phil. 1889, 121 ff.
§ 6.
Schlüsse in Bezug auf die Zeit.
Diese „Schlüsse** zerfallen ebenfallSi wie die auf den Baum bezüglichen,
in fünf Absätze ; allein diese fünf Absätze entsprechen den fünf Absätzen beim
Haume keineswegs durchaus, wie die specielle Analyse alsbald ergeben wird.
Die Zeit ist nar sabjectiv. 391
[B 42. H 66. E 88.] A 32. B 49.
Erster Absatz (Schluss a). Dieser Absatz entspricht im Allgemeinen
dem gleichbezifferten Absatz beim Räume, ist aber nach zwei Seiten hin
erweitert. Einmal ist hier — und das ist ein formeller Vorzug — noch
ein Fall erwogen, welcher beim Räume (vgl. oben S. 287 Anm. 1) übergangen
war, und welcher doch in dem oben S. 132 aufgestellten Schema gleich zuerst
aufgezählt worden war: die Möglichkeit, dass die Zeit etwas ist, „was für
sich selbst bestünde", also eine Substanz. Das ist nicht möglich; denn in
diesem Fall würde „sie etwas sein, was ohne wirklichen Gegenstand dennoch
wirklich wäre". Darin findet Kant offenbar einen Widerspruch ; er meint das-
selbe, was er unten A 39 so ausdrückt : wer die absolute Realität des Raumes
und der Zeit behaupte, der nehme damit zwei ewige und für sich bestehende
Undinge an; und ähnlich spricht er*B 70 speciell von „der für sich be-
stehenden Realität eines Undinges, wie die Zeit". Ein Unding ist eben
logisch ein in sich widerspruchsvolles Ding, und der Widerspruch liegt eben
in Folgendem: ist die Zeit als solche, d. h. ohne Dinge resp. Vorgänge in
ihr, ein far sich bestehendes Ding, so ist sie etwas Wirkliches, ohne dass
doch etwas Wirkliches in ihr wäre. Alle äussere empirische Wirklichkeit
ist aber erfahrungsgemäss immer etwas Materiell-Wirkliches und Wirksames.
Bei der Zeit würde das fehlen , und doch soll sie noch etwas Wirkliches
sein; so wäre sie dann etwas wirkliches Unwirkliches, oder etwas unwirk-
liches Wirkliches, und das wäre ein barer Widerspruch.
Nun erhebt sich aber die Frage, inwiefern dies denn ein „Schluss aus
obigen Begriffen" ist? Inwiefern ist dies denn in den Zeitargumenten
irgendwie involvirt? Man wird den Gedanken am besten mit dem zweiten
Zeitargument in Verbindung bringen, wonach die Zeit bleibt, auch wenn
man alle Erscheinungen aus ihr hinweggenommen hat. Dies muss doch als
zugestanden angenommen werden, wenn man jenen Widerspruch constatiren
will: das übrig bleibende Substrat, die Zeit als solche, könne also auch
nicht als selbständige objective Substanz gedacht werden, da dies auf jenen
Widerspruch führe, sondern müsse als subjective Form bestimmt werden.
Ob dies Kants Gedankengang wirklich gewesen ist, lässt sich nicht mit
Sicherheit behaupten, da er selbst hier viel zu kurz sich gefasst hat.
Die beiden anderen Möglichkeiten — Zeit als eine den Dingen in-
bärirende Eigenschaft oder als ein sie ordnendes Verbal tniss — werden
beide zusammen mit demselben Argument zurückgewiesen, wie beim Räume:
es ist die Priorität der Zeit vor den Gegenständen und ihre damit eng ver-
bundene apriorische Anschaubarkeit vor denselben ^; dieses lässt sich nicht
begreifen, wenn die Zeit überhaupt etwas Objectives ist.
Dass es sich nur begreifen lässt, wenn die Zeit als subjective Be-
dingung, also „Form der inneren Anschauung", allen Anschauungen
' Die Bemerkung, die sich daran schliesst, über die synthetischen Urtheile,
soll nach Adickes S. 81 N. späterer Zusatz sein (vgl. oben S. 264). Ein zwingender
Onind zu dieser Annahme ist nicht vorhanden.
392 § 6. Schlüsse in Bezug auf die Zeit.
A82.38.B49. [B 42. H 67. E 88.]
in uns vorangeht, ist dazu die positive Ergänzung, welche oben beim Räume
(vgl. S. 326) den Schluss b) bildete. Hier ist dieselbe richtiger mit dem
Schluss a) zusammengenommen, während dafür hier der weitere Gedanke
des Schlusses b) beim Baume übergangen ist, dass erst dadurch sich „ver^
stehen lasse'S dass die Sätze vom Räume auch a priori von allen Gegen-
ständen in ihm gelten. Dieser Schluss wird in Bezug auf die Zeit erst im
Schlüsse c) gezogen.
Zweiter Absatz (Schluss b). Dieser Absatz beginnt mit denselben
Worten, wie der gleichbezifferte Absatz beim Räume, hat aber factisch einen
ganz anderen Inhalt. Der Ton im ersten Satze liegt hier nicht wie beim
Räume darauf, dass die Zeit blosse Anschauungsform sei — das sagte
hier schon Schluss a) — , sondern 'darauf, dass die Zeit nur Form der
inneren Anschauuug ist. Das geht ja aus dem folgenden, begründenden
Satze hervor: „Denn'* die Zeit hat mit den Hauptbedingungen der äusseren
Erscheinungen, mit Gestalt, Lage u. s. w. nichts zu schaffen, und betrifft
nur das Verhältniss der inneren, der psychischen Phänomene. Inwiefern ist
dies ein ,, Schluss aus den obigen Begriffen'*? In den fünf Zeitargumenten
war davon naturgemäss nicht die Rede, dagegen wiederholt Kant hier nur,
was er schon am Anfange der Erörterung von Raum und Zeit gesagt hat
(A 23; vgl. oben S. 129): dass „die Zeit äusserlich nicht angeschaut
werden kann". Vgl. dazu Reflex. II, N. 384.
Damit, dass „die innere Anschauung keine Gestalt gibt" (wohl aber
ist sie „eine Grösse", Nachgel. Werk XXI, 361), bringt nun Kant den Um-
stand in Zusammenhang, dass wir die Zeitfolge uns als eine fortlaufende
Linie versinnlichen. Dieser wichtige Vergleich ist weiter ausgeführt B 155
und B 292. Vgl. dazu auch Lose Blätter I, 54: ,,Ohne Raum würde Zeit
selbst nicht als Grösse vorgestellt werden und überhaupt dieser Begriff" (!)
keinen Gegenstand haben." Schon in den „Träumen" (Ros. VII, a, 61) beisst
es: ,,so stellt der Geometra die Zeit durch eine Linie vor, obgleich R. u. Z-
nur eine Uebereinkunft in Verhältnissen haben und also wohl der Analogie
nach, niemals aber der Qualität nach mit einander übereintreffen/' Be-
achtenswerth ist eine Bemerkung in den Reflexionen II, N. 407, welche aus
den 70er Jahren stammt: „Der Raum hat darin etwas vor dem Begriff der
Zeit Besonderes, dass der Begriff der Zeit, mithin die ganze Sinnlichkeit
an den Bestimmungen desselben kann gedacht werden." Daraus, dass die
Zeitvorstellung dieser Anlehnung an die Raumyorstellung bedarf, leitet es
Kant daselbst zum Theil ab, dass „positive principia inteUectualia der Physik,
aber nicht der Psychologie möglich sind".
Bemerkenswerth ist, dass Kant diese Unselbständigkeit der Zeit-
vorstellung in der 2. Aufl. B 274 ff. zur Grundlage seiner Widerlegung-
des Idealismus gemacht hat: da die Zeitvorstellung sich gleichsam an der
Anschauung der Raum Verhältnisse und der Dinge und Vorgänge im Räume
erst hin aufranken muss, so wird daraus weiterhin abgeleitet, dass die inneren
Vorgänge in der Zeit die äusseren Dinge im Räume voraussetzen, womit
Die Zeitfolge als ins Unendliche fortlaufende Linie. 393
[R 42. H 67. E 83.] A 33. B 60.
eben die Realität der Letzteren (freilich nur deren empirische Eealität als Er-
scheinungen) unmittelbar erwiesen ist. Ueber diesen Zusammenhang s. B 277
(Anm. 2), cfr. B 155; Lose Blatter I, S. 201, und über die Abhängigkeit
der inneren Erfahrung von der äusseren Eiehl, Krit. I, 7. 295. Wegen
dieser Abhängigkeit der Zeit vom Räume spricht F. A. Lange, Log. Stud.
139 f. der Zeit überhaupt den Charakter der reinen Anschauung ab.
Wenn Kant sagt: „wir schliessen aus den Eigenschaften dieser Linie
auf alle Eigenschaften der Zeit'^ so ist, nach Stadler, Reine Erk. 138,
darunter nicht zu verstehen, dass wir die Stetigkeit der Zeit nur aus der
des Raumes folgern. Dies meine z. B. Wundt, Phys. Ps. * 684. Nach
Stadler aber geht die Stetigkeit der Zeit „unmittelbar aus ihrer Eigen-
schaft als bedingende Verhältnissvorstellung hervor". — Uebrigens vermisst
Stadler (a. a. 0. 86. 149) bei K. hier die Bemerkung, dass jene Analogie
der Zeit mit einer Linie nicht bloss zulässig, sondern auch „nothwendig ist,
weil wir uns sonst überhaupt von der aus der Substanz sich ergebenden
ZeitgrÖsse keine Vorstellung machen können". Vgl. auch Spicker, Kant 67.
Die Vergleichung der Zeit mit einer Linie schliesst ein, dass die Zeit
nur Eine Dimension hat, was Kant schon oben im dritten Zeitargument
bemerkt hat (vgl. S. 383). Die Zeit besitzt „eine, freilich sterile Quasi-
Dimension", Laas, Analogien 211. Ueber diese Sterilität vgl. oben S. 388.
Vgl. ferner über und gegen die ganze Lehre Schopenhauer, W. a. W. 11^ 55.
314. Par. 1,107. Lotze, Metaph. 268ff. Bilharz, Erläut. 166 ff. BoUiger,
Antikant 402. Besonders Wundt, Logik I, 430 hat sich gegen diese
„räumlichen Bilder" bei der Zeitvorstellung ausgesprochen. Mit dieser Frage
der Dimensionen der Zeit hat sich Kant viel beschäftigt; so finden wir Be-
merkungen hierüber in den Reflexionen II, N. 365-369. 373. 384. 390. 391.
Da statuirt Kant bald e i n e Dimension, bald zwei, bald drei Dimensionen
der Zeit ; die Zweiheit umfasst , wie in der Dissertation , das Nacheinander
und das Zugleich, nach N. 381. 382 die zeitliche Subordination und die
zeitliche Coordination ; die Dreiheit Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, oder
auch Zugleich, Vorher und Nachher. Kant knüpft an diese Beziehungen
daselbst allerlei „artige Betrachtungen". In den Losen Blättern I, S. 45 (98)
nennt Kant sogar einmal die drei Begriffe Substanz, Grund und Ganzes
Functionen oder Dimensionen der Zeit — offenbar im Sinne der Lehre vom
Schematismus (A 140 ff.). Vgl. Schopenhauer, Nachl. 380.
In der Dissertation von 1770, § 15 Coroll., heisst es schon: Horum
quidem conceptuum alter proprie intuitum ohjecti, alter statum concernit in-
primis repraesentativum. Ideo etiam spatium temporis ipsius conceptui
ceu typ US adhibetur^ repraesentando hoc per lineam^ ejusque terminos
(momenta) per puncta. Dazu bringt § 14, 5, N. eine sehr bemerkenswerthe
Ergänzung. Das Zugleichsein, dessen Nichtberücksichtigung er daselbst
Leibniz und seinen Anhängern vorwirft (vgl. oben S. 369), ist in diesem Schema
nicht unterzubringen. Jenes Schema, die Linie, dient nur der Veranschau-
lichung der Succession als einer Punktreihe {conjunctio aliqua, quae est per
394 § 6. Schlüsse in Bezug auf die Zeit.
A83.B50. [B 42. H 67. E 88.]
seriem tettiporis), aber daraus ergibt sieb noch nicht die Simaltaneitftt, die
andere wahrhafte Relation, alia vera relaiio, qualis est conjunetio (nnmum in
tnamento eodem. SimuUanea enim perinde jungurUur eodem iemporis momenio,
quam successiva diversis. Dieses neue Zeitverhältniss muss also auch be-
rücksichtigt werden: ideo, quamquam tempus sit unius tantum ditnenaionis,
tarnen ubiquitas tetnporis (tä cum Newtone loquar), per quam omnia sensüUe
cogitabilia sunt aliquando, addit quanto actuaJium alter am dimensionem,
quatenus veluti pendent ab eodem temporis puncto, Nam si tempus designes
linea recta in infinitum producta, et simuUanea in quolibet temporis
puncto per lineas ordinatim applicatas: superficies quae ita generatur, reprae-
sentabit mundum phaenomenon, tam quoad substantiam, tarn quoad aed-
dentiam.
Diese Bestimmungen der Dissertation bilden eine sehr beachtens-
werthe Ergänzung, welche Kant in der Kritik seltsamerweise fallen Hess:
vgl. oben S. 369. (Vgl. Max Eyfferth, lieber die Zeit 48 ff.) Denn das liegt
ja auf der Hand, dass die Veranschaulichung der Zeit durch eine ins Un-
endliche verlaufende Linie ein sehr unvollständiges Bild derselben gibt, da es
nur die Zeitfolge berücksichtigt, während doch in jedem der auf einander
folgenden Zeitpunkte eine grosse (vielleicht ebenfalls unendliche!) Anzahl von
Ereignissen zugleich stattfindet. Dies will Kant also in der Dissertation
dadurch veranschaulichen, dass auf der Zeitlinie als auf der Abscisse Ordi-
naten angebracht werden. Dadurch wird aber das die Zeit veranschau-
lichende Schema aus einer Linie = Punktreihe zu einem Streifen oder Band,
oder, wie man gemeinhin sich ausdrückt, zu einem mehr oder minder
breiten Fluss, der unaufhaltsam hinrollt, und auf seinem breiten Wogen-
rücken Vieles zugleich — in Einer Querlinie — mit sich reisst. Auch Kant
selbst spricht Anthr. § 58 von dem „Strom der Zeit".
Nun spricht K. auch in der Kr. von dem Zugleichsein als einem
modus der Zeit, gleich unten B 67, dann bes. A 177. An einer anderen
Stelle A 182 aber heisst es wieder wie hier : „Das Zugleichsein sei nicht ein
modus der Zeit selbst, als in welcher gar keine Theile zugleich, sondern
alle nach einander sind.'^ Man erkennt somit, dass durch Ks. Zeitlebre in
der Kritik eine tiefe Unklarheit sich hindurchzieht \ Mainzer will (Zeitschr.
f. Philos. Bd. 93, S. 98 ff.) die Schwierigkeit dadurch heben , dass erst die
kategorial bestimmte Zeit jenen modus des Zugleichseins an sich habe. Diese
Frage (wie auch die folgende) kann erst in der Analytik eingehend besprochen
werden; hier sei dagegen nur so viel antecipirt: 1) Die Zeit qua sabjecfäve
Function von uns hat nach K. nur Succession, aber 2) qua objective Form
der Erscheinungen hat sie auch Zugleichsein. Mit der ersteren Be-
stimmung hängt der fundamentale Satz der Analytik zusammen, dass alle
^ Dazu kommt die Unsicherheit Ks. über den 3. Modus der Zeit, die Daaer;
nach A 182 ist sie kein eigener Modus, nach A 177 ist sie einer, nach B 67 ist sie
aus den beiden andern Modis zusammenc^esetzt.
Kants Schwanken über die Simultaneität. 395
[B 42. H 67. K 88.] A 33. B 50.
^hensioD des Mannigfaltigen stets nur successiv sein kann (A 182.
vgl. A 98. 162).
Es hat sich nun neuerdings ein Streit darüber erhoben , ob Kant nicht
eine simultane Apprehension lehre. Gegen St Öhr hat Witte
3ehauptet und sich dabei speciell auf die hier sich findende Wendung
tzt, dass die Theile der räumlichen Linie ,,zugleich sind*' (K.'scher
3. S. 12-13; Zeitschr. f. Philos. Bd. 94, S. 255—276). Mainzer
O.) sucht nachzuweisen, dass diese Wendung jene Auslegung nicht
sr endig mache. In der That ist diese Wendung als solche viel zu vag
knap}) hiezu, aber andere Stellen Es. können es uns allerdings nahelegen,
K. auch eine simultane Apprehension angenommen habe, aber natürlich
im Widerspruch mit jenem Lehrsatz. Vgl. oben S. 260 f. Vgl. Spir,
en und Wirkl. I, 15. 152; 11, 10. 25, welcher darauf hinweist, dass
i die Bezeichnung des Raumes als der sinnlichen Form der äusseren/
hauung die simultane Wahrnehmung einschliesse ; sonst hätte Kant nur
1 dürfen von einer „Disposition des Subjects, den successiv gegebenen
It ins Räumliche zu übersetzen". Vgl. Adickes in seiner Ausg. d. Kr.
366. Kant sagt in der That A 428 = B 456 auch ausdrücklich, dass
ein begrenztes Raumquantum ,,ohne successive Sjnthesis seiner Theile
in Ganzes anschauen". Da Kant aber in der Analytik behauptet, alle
rehension eines Mannigfaltigen könne immer nur successiv stattfinden,
aben wir hier somit wieder den Fall, dass K. Lehren, welche er in der
hetik (und Dialektik) aufgestellt hat, in der Analytik zurücknimmt
umändert '. Ganz so wurde ja auch schon oben S. 224 ff. nachgewiesen,
Kant die Raumanschauung, welche nach der Aesthetik (und Dialektik)
fertige ist, in der Analytik erst durch successiveSynthesen entstehen
. Die Analytik in der Form, in der sie uns in der ersten Auflage
liefert ist, ist denn auch wahrscheinlich der zuletzt ausgearbeitete Theil
ganzen Werkes.
Zum Schluss des Absatzes gibt Kant noch einen nachträglichen Neben-
eis für die Anschaulichkeit der Zeitvorstellung: er findet ihn in dem
i besprochenen Umstand, dass sich ,,alle ihre Verhältnisse an einer
eren Anschauung ausdrücken lassen".
Dritter Absatz (Schluss c). Der Beweis für den Satz, dass die
die formelle Bedingung a priori für alle Erscheinungen überhaupt ist,
ebensowenig als der vorige Absatz ein „Schluss aus obigen Begriffen",
* Nur vom Standpunkt der Analytik aus ist es daher gerechtfertigt, wenn
eher (2. A. 340; 3. A. 343) bei Kant die Antithese ausführt: «Wir können die
mgrösse nur mit Hülfe der Zeit, und die Zeitgrösse nur mit Hülfe des Raumes
teilen." Dass wir zur Anschauung des Raumes die zeitlich auf einander folgende
thesis der Theile bedürfen (vgl. auch Morris, Kant 66), gilt nach der oben
^etheilten Stelle A 428 nur für ein unbegrenztes Raumquantum, aber nicht für
begrenztes.
396 § 6. Schlüsse in Bezug auf die Zeit.
A 34. B 50. [B 43. H 67. E 84.]
wenn darunter bloss die bekannten fünf Argumente verstanden werden,
sondern basirt auf der schon gleich am Anfang A 23 getroffenen vorläufigen
Bestimmung: „Aeusserlich kann die Zeit nicht angeschaut werden, so wenig
wie der Baum als etwas in uns/ Vgl. oben S. 129. Der Baum also ist
nur auf äussere Erscheinungen eingeschränkt, (obwohl er nach dem vorigen
Absatz zur Veranschaulichung der inneren Anschauungsform noth-
wendig ist). Dass die Zeit dagegen ihr Machtgebiet nicht bloss auf die
inneren ^ sondern auch auf die äusseren Erscheinungen erstreckt, wurde
schon oben in der „Transsc. Erört. der Zeit* in Bezug auf die Bewegung
speciell erwiesen, und wird hier allgemein damit bewiesen, dass ja alle
Vorstellungen, also auch diejenigen, welche äussere Phänomene zum Inhalt
haben , ihrerseits wiederum qua Vorstellungen psychologische Phänomene
sind, die daher auch unter die Zeitform fallen. (Vgl. hierüber besonders
Schneider, Ps. Entw. d. Apriori S. 24 ff. über diese, jener Ueberordnung
der Zeit zu Grunde liegenden „psychologischen Beobachtungen*.) und so
stehen auch die äusseren Erscheinungen unter der Bedingung der Zeit, nur
indirect, nicht direct, wie die inneren. (Vgl. Einl. in die Rechtslehre I,
Ros. IX, 13.) Damit löst sich auch der scheinbare Widerspruch dieses
Absatzes mit der Behauptung in dem vorigem Absätze: ,die Zeit kann
keine Bestimmung äusserer Erscheinungen sein* ; allerdings kann sie es
nicht direct sein, wohl aber indirect: den äusseren Erscheinungen ist das
Raumverhältniss das Natürliche, das Zeitverhältniss ist nur auf sie über-
tragen — was, nebenbei bemerkt, sachlich freilich auf unlösbare
Schwierigkeiten führt. Strümpell, Psychol. Pädag. 8 erläutert dies im
Sinne Herbarts so: „Das Bewusstsein der Zeitlichkeit, d. h. des Wechsels
unserer eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen gleitet auch auf das
räumliche Bild über, dessen Veränderung niemals als ein äusseres Zeit-
liches würde zum Bewusstsein kommen können, wenn nicht ein rein Innerliches
zuvor als ein Zeitliches vorgestellt wäre."
Schon in der Dissertation § 15 Cor oll. ist das mit folgenden Worten
angedeutet: Tempus universali atque rationali coneepiui magis appropinquat,
complectendo omnia omnino suis respectibus, nempe spatium ipsum et prae-
terea accidentia, quae in relationibus spatii comprehensa non sunt, tat coffi*
tationes animi {cogitationes hier im Cartesianischen Sinne, womach cogitare
sämmtliche Bewusstsein szust an de unifasst). Damit hängt es wohl auch zu-
sammen, dass Kant in der Dissertation die Zeit vor dem Räume behandelte.
In der Kritik selbst hat Kant dies allerdings aufgegeben. (Vgl. oben S. 134.
Vgl. auch J. Weisz, Ks. Lehre von R. u. Z. Diss. Leipz. 1872, S. 3 — 5.) Die
Umstellung beider in der Kritik scheint den Grund zu haben , dass die
Argumente für die reine Anschauungsnatur beim Räume unmittelbarer ein-
leuchten, als bei der Zeit (welche ja, wie sich oben zeigte, zu ihrer Veran-
' Den Inbegriff der inneren Erscheinungen nennt Kant hier „Seele*. Vgl-
hierüber oben S. 9 Anm. 2.
Stellung der Zeit im Yerhältniss zum Räume. 397
[B 43. H 67. K 84.] A 34. B 50.
ilicbang erst noch des Raumes bedarf); auch mochte die Idealität der
ren Erscheinungen für Kant wichtiger sein, als die der inneren, welch
)re ja auch viel grössere Schwierigkeiten hat, auch von Kant (in der
leitslehre) nicht consequent durchgeführt wird.
Nichtsdestoweniger kann die Umstellung insofern befremden, als gerade
ündamentale Bedeutung der Zeitform später immer stärker hervortritt,
sich dieselbe sogar als die Grundlage der ganzen Analytik entpuppt,
hat Kant in der ersten Redaction der Transsc. Deduction der
egorien A 98 selbst so ausgedrückt: „Unsere Vorstellungen mögen
)ringen , woher sie wollen , so gehören sie doch als Modificationen des
üths zum inneren Sinn, und als solche sind alle unsere Erkenntnisse
:zt doch der formalen Bedingung des inneren Sinnes, nämlich der Zeit,
rworfen, als in welcher sie insgesammt geordnet, verknüpft und in Yer-
lisse gebracht werden müssen.*' — Ueber den Zusammenhang der Zeit
der Lehre vom Schematismus, sowie mit der trausscend. Apper-
tion später. Auf diese noth wendige Ergänzung der Tr. Aesthetik durch
Tr. Logik in diesem Punkte weist bes. auch Cohen hin (S. 61. 85;
.. 191; vgl. 181. 184).
Der Absatz schliesst mit dem Gedanken, dass daher alle Gegenstände
Zeitgesetzen unterworfen sind, d. h. mit den Zeitgesetzen übereinstimmen
sen, ein Gedanke, welcher in der Dissertation § 14, 6 des Weiteren so
geführt ist: „Quanquam autem tempus in se et absolute posiium sif ens .
finarium, tarnen, quatenus ad immutahilem legem sensibüium qua talium
inet, est conceptus verissimus (vgl. oben S. 349), et per omnia possi-
\ sensuum objecta in infinitum j^dtens intuitivae repraesentationis conditio,
i enim simtätanea qua talia sensihus obvia fieri non possint, nisi ope temporis,
ftiiones autem non sint, nisi per tempus cogitabiles (vgl. oben S. 384), patet:
c concept um universalem phaenomenorum formam contiyiere, adeoque omnes
nundo eventus observäbiles , omnes motus omnesque internas vicissitudines
pssario cum axiomatibus de tempore cognoscetidis partimque a
Is pxpositis consentire, quoniam nonnisi sub hlsce conditionibus sensuum
cta esse et coordinari possunt.
Zur Sache vgl. A. Krause, Kant wider Fischer 78 ff. 88. Dagegen
Kirchmann, Erl. 12, welcher meint, dass die Zeit auch den äusseren
cheinuDgen unmittelbar zukomme; (dagegen Grapengiesser, Erkl. 26 f.)
3h Trendelenburg, Log. Unters. 2. A. II, 164, wendet sich gegen
Argument mit folgenden sehr beachtenswerthen Worten : „ Die Kantische
sieht entfernt sich von dem gemeinen Bewusstsein, indem sie die Zeit
Dingen der äusseren Anschauung entzieht, und in diese nur mittelbar
einwirft, wenn sie als Erscheinungen durch den inneren Sinn und die
jtände der Seele hindurchgehen. Nach einer solchen Vorstellung lässt
1 nicht einmal das Gesetz des Falles verstehen , in welchem R. u. Z. für
i fallenden Körper selbst in ein bestimmtes Verhältniss treten, noch viel
aiger die Entwicklung des organischen Lebens, das sich an bestimmte
398 § 6. Schlüsse in Bezug auf die Zeit
Ld4-36.B61— 53.[R 43. 44. H 67. 68. E 84. 85.]
Stadien des Ablaufes bindet. Daher setzt die gewöhnliche Vorstellang die
Zeit als die Dinge bestimmend und regierend, und lässt sie in den Dingen
ebenso einwohnen, wie der Kaum dieselben umfasst. Wenigstens müsste
erklärt werden, wie denn durch mittelbare Uebertragung die Form des inneren
Sinnes jemals als unmittelbar in allen Dingen erscheinen könne. Diese Er-
klärung ist nirgends gegeben worden." Vgl. dagegen Arnoldt, R. u. Z. 90,
Grapengiesser 48 ff. und Cohen, 2. A. 340 u. 343 über diese ,Ueber-
ordnung des inneren Sinnes über den äusseren.' Auch Wundt, Logik I, 434
opponirt energisch; vgl. dagegen Cohen 2. A. 184. Vgl. auch Lieb mann,
Anal. d. Wirkl. 80 ff.
Vierter Absatz« Dieser Absatz entspricht durchaus der ersten grösseren
Hälfte des dritten Absatzes beim Räume; vgl. oben S. 342 ff. Nur ist hier
stärker als oben die uns schon bekannte Lehre Kants betont, dass unsere
Anschauungsform, die eben nur uns Menschen „ eigen thümlich ist', eine
sinnliche, d.h. aufAffection beruhende ist, woraus indirect folgt, dass es
also auch eine nicht auf Affection beruhende geben muss, die sog. intellec-
tuelle. Vgl. oben S. 25. Im Uebrigen haben wir hier die der Raumtheorie
genau entsprechende Begründung der absoluten Subjectivität * der Zeit — eine
Lehre, mit welcher Kant den früheren Idealismus eines Leibniz und Berkeley
weit übertrumpft *.
Fünfter Absatz. Die erste grössere Hälfte dieses Absatzes enthält
genau dasselbe wie die zweite kleinere Hälfte des dritten Absatzes beim
Räume, vgl. oben S. 349 ff. Nur Eine ungenaue Wendung fällt auf: »Eigen-
schaften der Dinge an sich können uns durch die Sinne auch niemals ge-
geben werden* — als ob uns die Zeit durch ,die Sinne gegeben*, und
^ Man beachte die genaue Unterscheidung, welche Kant selbst trifft zwisch^
„objectiver Gültigkeit in Ansehung der Erscheinungen*' und ,objectiy, wenn
man von der Sinnlichkeit . . . abstrahirt und von Dingen überhaupt redet*. Damit
vergleiche man den oben S. 291 f. besprochenen Einwand K. Fischers gegen
Trendelenburg, Kant spreche von „objectiver" Gültigkeit immer nur im empirischen
Sinne! (Vgl. auch oben S. 349 Anm.)
' Die Subjectivität der Zeit hatte eigentlich auch Spinoza gelehrt, der
sie für eine Folge der imaginath erklärte. Vgl. Herder, Gott, 1. — 3. Gesprach.
Vgl. Kömer an Schiller (Briefw. I, 145): „üeber die Zeit dachte Sp. richtig. Er
sah sie für eine Bestimmung abhängiger, beschränkter, veränderlicher Wesen an,
deren das unabhängige selbständige Wesen nicht fähig ist. Eben dieses würde
er vom Räume eingesehen haben, wenn die Begriffe über das Wesen der Materie
zu seiner Zeit mehr aufgehellt gewesen wären. ** Vgl. auch Pollock, Spinoza 18*5.
394. — üeber das Verhältniss zur Aristotelischen Lehre vgl. Eucken, Meth. d. Ar.
Forschung 24. Vgl. hierüber auch Schopenhauer, W. a. W. II, 40. 43; Par. I, 4. 68.
90; II, 43. — Die Veranlassung zu der Theorie der Phänomenalität der inneren
Erscheinungen nahm K. vermuthlich aus Leibnizens Lehre, dass die inneren
Sinnesvorstellungen nicht minder verworrene Verstandesvorstellungen sind als die
äusseren, wie schon in Jacobs Ann. III, 397 angedeutet wird. Nach Reinhold,
Briefe I, 243 soll auch schon Locke das .ziemlich bestimmt angedeutet haben!'
Die Subjectivität der Zeit und die Einwände gegen dieselbe. 399
[R 46. H 69. K 86.] A 36. B 58.
vielmehr reine, also nicht-gegebene sinnliche Anschauung wäre! (Eine
irliche Ausdeutung und Ausbeutun^f der wunderlichen Stelle ^ liefert
Idt, R. u. Z. 59. 101. Vgl. Massonius, Aesth. S. 63.) — Der Schluss
bsatzes entspricht ganz dem vierten und fünften Absatz beim Baume,
eiche Kant ja auch selbst verweist. Zum Texte ist nur noch zu be-
D, dass es offenbar heissen muss: , ausser, sofern sie bloss empirisch
. i. man den Gegenstand selbst bloss als Erscheinung ansieht. ** Das
fehlt in allen Ausgaben. — Der Ausdruck ,8ubreptionen der
idung'^ (vgl. oben S. 356) findet sich auch in den Reflexionen I, 1,
jjvitium subreptionis f dadurch man. das Wasser kälter als die Luft,
ie Keller im Sommer wärmer als im Winter hält.* Vgl. ib. S. 82.
§ 7.
Erläuterung zur Zeittheorie (Confxitatio dubiorum).
Torbemerkungen. Die Erläuterung zur Zeittheorie ist natürlich nur
beiden ersten Absätzen des § 7 enthalten; die beiden letzten Absätze
)en haben damit absolut nichts zu schaffen. (Bilharz, Erl. 19 zieht
ii'rig zusammen.) In jenen beiden Absätzen weist nun Kant einen
vurf von einsehenden Männern** gegen seine Theorie zurück,
jr nur deshalb schon in der 1. Aufl. der Kr. d. r. V. berücksichtigt
1 konnte, weil ja Kant jene Theorie schon eilf Jahre früher in seiner
tation öffentlich vorgetragen hatte. Er hatte dieselbe einer Anzahl
elehrten mitgetheilt, von denen Einige nicht säumten, ihre Bedenken
Kants neue Theorien zu äussern. Besonders Lambert und Mendels-
thaten dies und zwar brieflich, zur grossen Freude von Kant, welcher
im 21. Febr. 1772 an Herz schreibt: »Ein Brief von Mendelssohn
Li am her t verschlägt mehr, den Verfasser auf die Prüfung seiner
i zurückzufuhren, als zehn solche Beurtheilungen mit leichter Feder* —
9 nämlich, zum Aerger Kants, die Gelehrtenzeitungen von Göttingen
Breslau gegen die im Kantischen Sinne geschriebene Schrift seines
gers Marcus Herz („Betrachtungen aus der speculativen Weltweis-
1771) gebracht hatten. Jene Einwände dagegen von Mendelssohn und
jrt waren ihm sehr werthvoU; und ein Einwurf derselben war ihm
wichtiger, als er auch von Schultz gemacht wurde. „Dieser Ein-
schreibt er in demselben Brief an Herz, „hat mich in einiges Nach-
1 gezogen, weil es scheint, dass er der wesentlichste ist, den man dem
?griffe machen kann, der auch Jedermann sehr natürlich befallen
— was Kant wörtlich auch hier in der Kr. d. r. V. wiederholt.
* Eine ähnliche seltsame Wendung fanden wir auch oben S. 873. Vgl.
lie oben S. 343 Anm. 3 angeführte Stelle. Sonst betont doch Kant aus-
ch, dass die Gegenstände uns nur den Stoff „geben", nie aber die Form.
}en S. 66. 73 N. 91. 321.
400 § 7. Erläuterung zur Zeittheorie.
A 36. B 58. [B 45. H 69. E 86.]
Lambeirts Einwand in seinem Brief an Kant vom Anf. Dec. 1770 (vgl.
seine Recension über Herz in d. AUg. D. Bibl. 20, 228 oben S. 142 f.) lautet:
„Alle Veränderungen sind an die Zeit gebunden, und lassen sich ohne Zeit
nicht gedenken. Sind die Veränderungen real, so ist die Zeit real,
was sie auch immer sein mag. Ist die Zeit nicht real, so ist auch
keine Veränderung real. Es däucht mich aber doch, dass auch selbst
ein Idealist wenigstens in seinen Vorstellungen Veränderungen,
ein Anfangen und Aufhören derselben zugeben muss, das wirklich
vorgeht und existirt. Und damit kann die Zeit nicht als etwas Nicht-
Reales angesehen werden. ' Diese Realität könne freilich nicht näher
bestimmt werden; sie sei etwas Einfaches, in Absicht auf alles übrige
Heterogenes, und bleibe am besten unbenannt, undefinirt, müsse aber ge-
dacht werden. Dauer (nach Lambert der der Zeit übergeordnete Begriff)
sei von der Existenz unzertrennlich, möge diese Dauer nun eine absolute
(unendliche) oder (relative) endliche sein. Endliche Dauer heisst Lambert
Zeit, absolute — Ewigkeit. Die endlichen Dinge „sind nach der Zeit ge-
ordnet, sofern sie anfangen, fortdauern, sich ändern, aufhören etc. Da ich
den Veränderungen die Realität nicht absprechen kann ... so
kann ich . . . auch nicht sagen, dass die Zeit . . . nur ein Hülfsmittel zum
Behuf der menschlichen Vorstellungen sei." Er wiederholt diesen Gedanken
nochmals: Mit den Veränderungen sind auch die Zeit und Dauer
etwas Reelles. Mit der Zeit werden auch die Veränderungen zum Schein.
Sollte aber auch Kants Theorie richtig sein, so würden Zeit und Baum doch
reeller Schein sein, „wobei etwas zum Grunde liegt, das sich so genau
und beständig nach dem Schein richtet, als genau und beständig die geo-
metrischen Wahrheiten immer sein mögen. Die Sprache des Scheins wird
also ebenso genau statt der unbekannten wahren Sprache dienen.* (.^
ständiger Schein ist für uns Wahrheit, wobei das zu Grunde Liegende nie
oder nur künftig entdeckt wird.") Aber, fügt er hinzu, und kehrt damit
zu seinem eigentlichen Einwurf zurück, „ich muss doch sagen, dass ein so
schlechthin nie trügender Schein wohl mehr als nur Schein sein dürfte.*
Den Einwand Lamberts rühmt K. auch gegen Herz (a. a. 0.) noch einmal
besonders, ebenso noch gegen Bernoulli (16. November 1781), dem er auch
ausdrücklich sagt, dass er Lamberts Einwand in seiner Kritik auf
S. 36 — 38 beantwortet habe. (Aus jener Briefstelle ist zu vermuthen,
dass wohl auch Sulz er ähnliche Einwände erhob.)
Mendelssohn schrieb an Kant Ende December 1770; er formulirt
seinen Einwand folgendermassen : „Dass die Zeit bloss Subjectives sein sollte,
kann ich mich aus mehreren Ursachen nicht bereden. Die Succession ist
doch wenigstens eine nothwendige Bedingung der Vorstellungen endlicher
Geister. Nun sind die endlichen Geister nicht nur subjectiv, sondern auch
Objecte der Vorstellungen sowohl Gottes, als ihrer Nebengeister, mithin die
Folge auf einander auch als etwas Objectives anzusehen. Da wir übrigens
in den vorstellenden Wesen und ihren Veränderungen eine Folge zugehen
Einwürfe von Lambert, Mendelssohn, Schultz gegen Kants Zeittheorie. 401
[B 45. H 69. E 86.] A 36. B 53.
müssen, warnm nicht auch in dem objectiven Muster und Vorbilde der Vor-
stellungen in der Welt?** Und dazu: „Die Zeit ist, nach dem Leibniz, ein
Phänomen, und hat, wie ^lle Phänomene, etwas Objectives und etwas Sub-
jectives. Das Subjective davon ist die Continuität, die man sich dabei vor-
stellt, das Objective hingegen ist die Folge von Veränderungen, die von
einem Grunde gleich weit entfernte Rationata sind.* Vgl. oben S. 143 u. 320.
(Vgl. hiezu die übrigens nicht zutreffenden Bemerkungen von v. Kirchmann
in seinen Erläuterungen zu Kants Verm. Sehr. S. 59.)
Johannes Schultz, der spätere Professor der Theologie und Mathe-
matik in Königsberg, der bekannte Verfasser der 1785 erschienenen „Er-
läuterungen über des HeiTn Professor Kant Kr. d. r. V.", damals noch
Pastor zu Löwenhagen bei Königsberg, nach Kants ürtheil (a. a. 0.) „der
beste philosophische Kopf, den ich in unserer Gegend kenne*, recensirte
Kants Dissertation in den Kanter'schen „Königsbergischen Gelehrten und
Politischen Zeitungen", 94. u. 95. Stück vom 22. u. 25. Nov. 1771, S. 369—371
u. 373—375. (Vgl. oben S. 319.) Nach den Mittheilungen R. ßeicke's,
denen diese Notiz zu verdanken ist, äusserte sich Schulz über diesen
Punkt wörtlich so : „Uns dünkt zuvörderst, dass in dieser Materie vor allen
Dingen die genaueste Betrachtung des Unterschiedes der äusserlichen und
innerlichen Empfindungen unausbleiblich nothwendig ist, welche der Herr
V. indessen gänzlich übergangen. Daher kommt es, dass er § 10 allen in-
tuitum intellectualium für uns unmöglich hält. Ein Satz, der durch die ganze
Abhandlung zum Grunde liegt, und gleichwohl unserer Meinung nach un-
erweislich ist. Denn vermöge der innerlichen Empfindung beschaut die Seele
sich selbst, und Alles, was gegenwärtig in ihr vorgehet, nämlich sie empfindet
unmittelbar die Gegenwart aller Veränderungen, die in ihr wirklich ge-
schehen, sie mögen herrühren, woher sie wollen, und entweder Eindrücke
von äusseren Dingen oder reine Vorstellungen des Verstandes oder Volitiones
sein, und ist sich daher derselben bewusst. Dieser intuitus ist deshalb
nichtsdestoweniger leidend, denn die Seele wird hier ebensowohl von der
Gegenwart der inneren Objecte afficirt, als es bei der äusserlichen Empfindung
von der Gegenwart der äusseren geschieht."
Den Einwand von Schultz referirt Kant selbst in dem Briefe an
M. Herz vom 21. Febr. 1772, indem er ihn als identisch mit dem Lam-
bert'schen anerkennt: „Veränderangen sind etwas Wirkliches (laut dem
Zeugniss des inneren Sinnes) ; nun sind sie nur unter der Voraussetzung der
Zeit möglich; also ist die Zeit etwas Wirkliches, was den Bestimmungen
der Dinge an sich selbst anhängt.** Diese Kant selbst angehörige Zusammen-
fassung vom Jahre 1772 stimmt nun fast wortwörtlich mit der hier in der
Kritik 1781 gegebenen Fassung überein.
In demselben Briefe an Herz beantwortet nun Kant den Ein-
wurf mit folgenden Worten: „Es ist kein Zweifel, dass ich nicht meinen
eigenen Zustand unter der Form der Zeit gedenken sollte, und dass also
die Form der inneren Sinnlichkeit mir nicht die Erscheinung von Verände-
Yaihinger, Kant-Gommentar. II. 26
402 § 7. Erläuterung zur Zeittheorie.
A 36. B 63. [B 45. H 69. E 86.]
rungen gebe. Dass nun Veränderungen etwas Wirkliches seien, leugne
ich ebensowenig, als dass Körper etwas Wirkliches sind, ob ich gleich
darunter nur verstehe, dass etwas Wirkliches der Erscheinung correspon-
dire. [Vgl. oben S. 350.] Ich kann nicht einmal sagen, die innere Er-
scheinung verändere sich [d. h. verändere sich wirklich, objectiv, an sich
betrachtet]; denn wodurch wollte ich diese Veränderung beobachten, wenn
sie meinem inneren Sinn nicht erschiene.**
Diese Beantwortung des gemeinsamen Einwandes wiederholt eigentlich
doch nur die angegriffene Behauptung; denn Kant sagt nur, die inneren
Veränderungen sind bloss als Erscheinungen wirklich, haben bloss Er-
scheinungsrealität; sie werden durch das Medium des inneren Sinnes wahr-
genommen, sind also nicht in ihrem wahren Esse uns zugänglich. Er fugt
hier noch eine interessante Bemerkung hinzu. „Wollte man sagen, dass
hieraus folge: Alles in der Welt sei, objectiv und an sich selber, unver-
änderlich, so würde ich antworten: weder veränderlich noch unveränder-
lich , so wie Baumgarten , Metaphys. § 18 sagt * : Das absolut Unmögliche
ist weder hypothetisch möglich noch unmöglich; denn es kann gar nicht
unter irgend einer Bedingung betrachtet werden; so auch: Die Dinge der
Welt sind, objectiv oder an sich selbst, weder in einerlei Zustand in ver-
schiedenen Zeiten [d. h. unveränderlich], noch in verschiedenem Zustand
[d. h. veränderlich] ; denn sie werden in diesem Verstände gar nicht in der
Zeit vorgestellt.^* Diese Bemerkung beruht auf demselben methodologischen
Kunstgriff, den K. in der Dialektik angewendet hat, und worüber er sich
Kritik A 502 ff. und ProL § 52 b und § 52 c des Näheren auslässt: Zwei
entgegengesetzte Urtheile sind alle beide falsch, wenn ihre Entgegensetzung,
die Disjunction, auf einer falschen Voraussetzung beruht; diese falsche Voraus-
setzung ist hier, dass die Welt an sich überhaupt etwas mit der 2^it zu
schaffen habe ; denn nur unter dieser Voraussetzung kann ich sagen , die
Welt an sich ist entweder unveränderlich oder veränderlich. Diese beiden
* Begriffe setzen aber die Zeit voraus (vgl. die obige Umschreibung beider).
Nun aber hat die Welt an sich mit der Zeit überhaupt nichts zu tfaun.
Daher ist die Folgerung, die Dinge an sich seien unveränderlich, unstatthaft,
eine unerlaubte Consequenz, da ja eben dieses Urtheil gegen die Voraus-
setzung verstösst, dass die Zeit auf die Welt der Dinge an sich überhau])t
und in keiner Weise Anwendung finde. Der ganze Gedanke ist durchaus
im Sinne der Kritik gehalten und kann daher als Ergänzung zur Transsc.
Aesthetik gelten. Auch in den Reflexionen finden sich Spuren, dass Kant
über das Problem nachgedacht hat; s. 11, N. 885. 386. 418.
Erster Absatz. Die Beantwortung des Einwurfs in der
Kritik — unterscheidet sich nun nicht unerheblich im Gange von der vom
Jahre 1772. Damals ging K. von den Veränderungen aus (dem Untersatz
* Original : ,y(thAolute impossihiUa nee hypothetice possibilia ^unt nee im-
possibilia/*
Kant beantwortet die Einwürfe gegen seine Zeittheorie. 403
[R 45. H 69. E 86.] A37.B63.54.
jenes Einwandes) und gab deren Wirklichkeit zu, nur ist nach ihm diese
Wirklichkeit bloss eine Erscheinungsrealität. Hier geht er von der Zeit
aus (dem Schlusssatz) und gibt deren Wirklichkeit zu. Allein diese
„Wirklichkeit der Zeit" wird nun von Kant folgendermassen commentirt:
Die Zeit ist wirklich; sicher; aber diese Wirklichkeit kommt hier nicht
der Zeit sammt ihrem ganzen Inhalt und Reichthum an Veränderungen zu,
sondern der factisch in mir liegenden Vorstellungsfunction, der inneren An-
schauungsform. Die Zeit als diese Form, als diese Function, als diese sub-
jective Thätigkeit — diese Zeit ist wirklich; denn ich habe diese
Function factisch. Dies der Inhalt des ersten Satzes. Die beiden
folgenden sind Folgerungen („also") daraus: „Sie hat also subjective Realität"
u. s. w. „Subjective Realität" ist hier nicht identisch mit empirischer
Realität = „Realität, aber nur für Erscheinungen", sondern nach Ks. eigener
Erklärung ist dieser Ausdruck nur eine Ausführung und Folge des im
ersten Satze Gesagten und heisst: „Realität, aber nur als factisch dem Subject
eigenthümliehe Form." Der Satz will also sagen: in meiner inneren Er-
fahrung habe ich, finde ich die Zeitvorstellung als eine reell dem Subject
angehörige Form, und bin mir bewusst, einen Vorstellungsinhalt in ihr (als
Modificationen meines Subjects) zeitlich verlaufend zu haben. Diese for-
melle Function ist eine reelle Thatsache des Bewusstseins. Somit
schlägt hier K. den Einwand nicht zurück durch eine Wendung des Begriffs
„Wirklichkeit" = empirische Wirklichkeit des Vorgestellten, wie 1772, son-
dern durch Beziehung der Wirklichkeit auf die Zeit als formelle Function
des Vorstellen s. Somit wiederholt die Antwort auch hier eigentlich nur
die ursprüngliche Behauptung, dass die Zeit subjectiv sei ; aber das erste Mal
sagt Kant: Die Veränderungen in der Zeit sind wirklich, das ist aber
nur eine Erscheinungs Wirklichkeit. Das zweite Mal: die Zeit ist wirklich,
aber die Zeit nur als innerer Sinn. Dort behauptet er die blos empirische
Wirklichkeit des Zeit Inhalts gegenüber der Behauptung der absoluten
Realität desselben; hier behauptet er, die Zeit als subjective Form sei
wirklich, gegenüber der Behauptung, sie sei als Ob je et wirklich und darum
sei auch ihr Inhalt wirklich. Kant stellt Behauptung gegen Behauptung,
nicht aber einen Vertheidigungsgrund gegen einen Einwand. Seine Meinung
ist jedoch ganz klar. Aus der Wirklichkeit der Form als Form, als for-
meller Function leitet K. eben die Un Wirklichkeit dieser Form im Ver-
bal tniss zu den Dingen an sich, ihre Ungültigkeit in Bezug auf die absolute
Realität ab, sowie die nur empirische Wirklichkeit derselben, d. h. ihre
Gültigkeit für die Erscheinungen.
Denselben Inhalt haben auch die Anmerkungen Kant's hiezu in seinem
Handexemplar (Erdmann, Nachträge XXIX und XXXI). Dass übrigens diese
Lehre von der Idealität der inneren Vorgänge „befremdlich-auffallend* sei,
gibt Kant noch in den Fortschr. d. Met. Ros. I, 500 zu.
Kant gibt nun dazu an unserer Stelle hier noch folgende Erläuterungen:
Würde diese, wirklich vorhandene Vorstellungsform nicht von mir selbst
404 § 7« Erläuterung zur Zeittheorie.
A 87. B 54. [R 45. H 69. E 86.]
und Anderen zu meinem inneren Vorstellungsiühalt hinzugebracht, dessen
Bewusstsein also von ihr, d. h. von der Natur des inneren Sinnes abhängt,
so würde das, was uns sich jetzt als zeitlich verlaufende Veränderungen
darstellt, sich uns jedenfalls ohne diese Zeitform geben, die nur die Be-
dingung unserer Sinnlichkeit ist. Da sie aber die Bedingung unserer Er-
fahrungen ist, so ist sie nur für die Erscheinungswelt gültig, nicht für die
Welt der Dinge an sich.
Dazu fügt die Anmerkung unter dem Text folgendes hinzu: Aller-
dings sind meine Vorstellangen in zeitlicher Folge, aber das sind sie nur
für mich, für mein Bewusstsein. Die Zeitfolge meiner Vorstellungen
ist keine letzte, unbedingte Realität, sondern sie ist bedingt durch meine
innere Vorstellungsform, in die ich den Vorstellungsinhalt erst fasse. Eben
deshalb ist die Zeit nichts Objectives, weder Substanz noch Accidens.
Kant schliesst dann den Absatz mit folgenden Erwägungen: Nimmt
man, oder vielmehr nähme man von der inneren Anschauung, der Anschauung
der Innenwelt die blos unserer Sinnlichkeit angehörige Bedingung, d. h. eben
die Zeitform weg, so hört auch damit die Rolle des Zeitbegriffs überhaupt
auf; die Zeit hängt nicht an den Objecten (auch nicht an den psychischen
Objecten, d. h. den Subjecten als selbständigen Wesen betrachtet), sondern
nur am Subject, das diese Objecte (und darunter auch sich selbst) vorstellt,
eine Vorstellung, die immer durch jene Form vermittelt sein muse, die sich
zwischen das Object, wie es an sich ist, und das Subject, das die Objecte
sich zum Bewusstsein bringen will, hineinschiebt.
Eine werthvolle Ergänzung hiezu bieten die Erörterungen in den Losen
Blättern I, S. 98—100 über den paradoxen Satz: »Die Zeit ist in mir
und ich bin in der Zeit. Das continens ist zugleich das contentum^.
„Die Zeit ist als ein Inbegriff von Verhältnissen in mir, d.h.
ich muss mein Dasejn voraussetzen, um die Zeit (als Bestimmung dieses
meines Daseyns) denken zu können. Gleichwohl sage ich doch auch: ich
bin in derZeit, d. h. ich muss die Zeit voraussetzen, um sie durch mein
Daseyn empirisch bestimmen zu können. Wäre nun mein Daseyn hier
in derselben Bedeutung zu verstehen, so wäre hierin ein Widerspruch.
Also muss mein Daseyn, welches ich voraussetze, in anderer Bedeutung ge-
nommen werden, als eben dasselbe, wenn ich es nur als Bestimmung der
Zeit betrachte." Also müsse mein Dasein als eines Dinges an sich unter
schieden werden von meinem Dasein als Erscheinung; jenes Ding an sieh
ist „nicht in der Zeit bestimmt* und „unerkannt*, aber bei dieser
Erscheinung „muss die Zeit vorausgesetzt werden, mich als mein Daseyn zu
bestimmen.* „Das erste bedeutet: alle Dinge ausser mir sind Erscheinungen,
denn die Bedingung, ihr Dasein zu bestimmen, ist in mir; das zweite:
Ich selbst bin Erscheinung, und die Zeit, die blos in mir ist, kann nur mir
selbst zur Bedingung dienen, sofern ich mein reines Ich davon unterscheide.*
„Also dass ich in der Zeit bin, welche doch ein blosses Verhältniss in mir
ist, folglich das confinefis ein contenium und ich in mir selber bin, das zeigt
Kant findet seine Gegner im vulgären Idealismus befangen. 405
[R 45. 46. H 69. E 86. 87.] A37.d8.B54.
schon an, dass ich mich in zweifacher Bedeutung denke." Vgl.
hiezu die oben S. 129 gegebenen Ausführungen.
Die Vorstellung der Zeit als einer formalen Function des trans-
scendentalen Subjects muss übrigens leicht zu dem Einwände führen , dass,
da diese Function doch selbst vom Sabject jetzt und dann, also zeitlich
ausgeübt werde, die Ausübung der Function selbst seitens des Subjects die
Realität der Zeit voraussetze. Man müsste sich also die Ausübung dieser
Function selbst ausserzeitlich vorstellen, was aber ohne Widerspruch doch
auch nicht denkbar ist.
Gegen die „spitzfindige Art**, auf die sich Kant dem obige;i Einwurf
, entwindet" vgl. Spicker, Kant 70 f., und bes. Laas, Analogien S. 270
bis 274, der seine ausführliche Kritik dahin zusammenfasst: „Was Kant
seiner Entgegnung als Bericht über die ihm entgegenstehende Ansicht zum
Grunde legt, erschöpft Lamberts Einwände nicht; und was er davon mit-
theilt, widerlegt er nicht ausreichend." Vgl. auch Bilh arz, Erläuterungen 169.
Eine ausführliche, treffende Kritik liefert auch Spir, Denken u. Wirklich-
keit I, 263 ff. (2. A. I, 207 ff.): „Kant unterschied nicht die Vorstellung
selbst als einen objectiven Vorgang von demjenigen, was in ihr vorgestellt
wird". Aehnlich Döring, in Viert, f. wiss. Phil. 1890, 400 ff. Berg-
mann, Metaph. 293 ff. — Vgl. Cohen, 2. A. 329.
Zweiter Absatz. Im zweiten Absatz sucht Kant die Ursache
festzustellen, weswegen dieser Einwurf gegen die Idealität der. Zeit von
Vielen so einstimmig gemacht wird, trotzdem doch von denselben gegen die
Idealität des Raumes nichts Einleuchtendes eingewendet wird, und hofft
durch Aufdeckung jener Ursache auch den Einwand ein für allemal abzu-
schneiden. Schon in dem mehrfach erwähnten Briefe an Herz ging er so vor:
„Warum (sagte ich zu mir selber) schliesst man nicht diesem Argumente
parallel: Körper sind wirklich (laut dem Zeugniss der äusseren Dinge); nun
sind Körj.er nur unter der Bedingung des Raumes möglich; also ist der Raum
etwas Objectives und Reales, was den Dingen selber inhärirt? Die Ur-
sache liegt darin, weil man wohl bemerkt, dass man in Ansehung äusserer
Dinge aus der Wirklichkeit der Vorstellungen auf die der Gegen-
stände nicht schliessen kann; bei dem inneren Sinne aber ist das Denken
oder das Existiren des Gedankens und meiner Selbst einerlei." Vgl. dazu
B. Erdmann in den Phil. Mon. 1833, S. 136 f.
Die Ursache jener ungleichen Behandlung von Zeit und Raum seitens
seiner Gegner findet Kant in der Befangenheit derselben in den Vorurtheilen
des vulgären oder problematischen Idealismus. * Gegen diesen wendet er sich
ja auch später, Kritik A 367 ff., B 275 ff., und macht daselbst diesem ge-
meinen Idealismus auch denselben Vorwurf der ungleichen Behandlung der
* Vgl. B. Erdmann, Ks. Proleg, LXXVIl. K. gebraucht hier den Auedruck
Idealismus noch ganz im hergebrachten Sinne ohne jeden Zusatz. Vgl. Strassb.
Abhandl. 1884, S. 115.
406 § 7. Erläuterung zur Zeittheorie.
A 88. B 55. [R 46. H 70. E 87.]
äusseren und der inneren Erscheinungen. Die gemeinen Idealisten glauben,
die Wirklichkeit äusserer Gegenstände sei nicht streng zu beweisen, die
inneren Vorgänge dagegen seien unmittelbar sicher. {Cogito , ergo sttm. D»
oninibus aliis dubitandum). Den inneren Vorgängen schreiben jene falschen
Idealisten eine primäre und apodiktische Sicherheit zu, die Realität der
Aussen weit erscheint ihnen dagegen als problematisch, ja es erscheint ihnen
wohl möglich, dass es in Wahrheit äussere Gegenstände gar nicht gibt, dass
diese blosser „Schein" sind.
Was Kant sonst gegen diese ihm höchst antipathische Form des Idea-
lismus einyvendet, ist an den genannten Stellen nachzusehen. Hier begnügt
Kant sich einfach darauf hinzuweisen ^ dass dieser, seinen Zeitgenossen ge-
läufige, aber darum nicht minder, ja vielmehr eben darum um so eher
falsche Gedankengang es ist, aus dem jene Bekämpfung seiner Lehre stammt.
Darauf weist er auch A 491 hin, wo er dem „längst so verschrieenen em-
pirischen Idealismus" vorwirft: „was die Erscheinungen des inneren Sinnes
in der Zeit betrifft an denen, als wirklichen Dingen, findet er keine
Schwierigkeit; ja er behauptet sogar: dass diese innere Erfahrung das wirk-
liche Dasein ihres Objects (an sich selbst), (mit aller dieser Zeitbestim-
mung), einzig und allein hinreichend bestimme." (Vgl. Beck, Standpunkt 246.)
Dieser falsche Idealismus unterscheidet nicht zwischen „Schein* und
„Erscheinung", und hat eben deshalb nicht den richtigen Begriff von „Er-
scheinung", im Unterschied von den Dingen an sich. Kant setzt seinen
eigenen Idealismus, welcher zwischen Erscheinung und Ding an sich den
richtigen Schnitt macht, jenem falschen Idealismus entgegen. Während
dieser letztere die apodiktische Wahrheit und Gewissheit der Innenwelt
schroff von der problematischen Natur der Aussenwelt trennt, erkennt eben
der wahre Idealismus in Beiden nur Erscheinungen, aber Erscheinungen, welchen
reale, wenn auch unbekannte (oder wenigstens „ihrer Beschaffenheit nach
problematische") Dinge an sich entsprechen. Trotzdem sie aber nur Er-
scheinungen sind, ist ihre Wirklichkeit als Vorstellung in uns unbestreitbar,
d. h. als Modificationen unseres Subjects, das beide Vorstellungsweisen gleich-
berechtigt und gleich gewiss in sich entwickelt, und beiden seine subjectiven
Formen aufprägt, die ihnen daher auch in diesem Sinne „wirklich und noth-
wendig zukommen." Weitere Erläuterungen hierüber bei Meilin, III, 846.
Erläuternd bemerkt auch Körner an Schiller II, 136. „Ohne die Zeit
\ würde der Mensch zwar sein, aber nicht erscheinen. Nicht seine Wirk-
lichkeit,, sondern seine Erscheinung ist von der Bedingung der Zeit ab-
hängig." — »Der Mensch ist nicht, sondern erscheint, wenn er sich
verändert. "
Bemerkenswerth ist in diesem Passus die Wendung, dass „die Be-
schafl'enheit der Objecte an sich jederzeit problematisch bleibe*. Es
stimmt dies nicht ganz dazu, dass Kant bisher den Dingen an sich doch
ganz apodiktisch die Bäumlichkeit und Zeitlichkeit abgesprochen hat.
Nach dieser Stelle müsste er aber sagen: man kann ihnen jene Eigenschaften
Der falsche und der wahre Idealismus. Schein und Erscheinung. 407
[R 46. H 70. K 87.] A 38. B 55.
weder zu- noch absprechen. Vgl. oben S. 312. Dieses Schwanken ist immer-
hin sehr der Beachtung werth.
Der Schluss des Absatzes enthält aber jedenfalls die Anerkennung,
dass jedem einzelnen Erscheinungsgegenstand je ein Ding an sich entspreche.
Es liegt darin, wie B. Er dm an n, S. 6, Proleg. XLV sich ausdrückt: „die
Voraussetzung einer Vielheit wirkender Dinge an sich, deren jedes
einer bestimmten Erscheinung entspricht.* Diese natürliche Auslegung der
Stelle hat Amol dt in seiner Gegenschrift S. 47 — 53 angefochten. (Vgl.
oben S. 6—9.) Nach ihm ist diese Stelle „kein Beleg" für jene Auffassung.
Man könne, nach Kants sonstigen Erklärungen, über das den Erscheinungen
zum Grunde Liegende nichts aussagen, weder Dasein, noch Vielheit, noch
Causalität u. s. w. Er gesteht aber dann doch nicht blos zu, dass Kants
Ausdrücke hier „gewagt" seien — denn sie enthalten ja gerade das, was
Arnoldt als unkantisch ansetzt — sondern er gibt dann im Verlaufe seiner
Erklärung doch wieder die angefochtene Sache selbst zu, so dass sein
Einwand in sich selbst zusammenfällt. Uebrigens findet sich eine ähnliche
falsche Auslegung der Stelle schon bei Meilin, III, 847, welcher — ganz
im Gegensatz zum Wortlaut der Stelle bei Kant selbst — hier die Ansicht
findet: „Der Gegenstand mit allen seinen Beschaffenheiten ist problema-
tisch, man kann nicht entscheiden, ob er wirklich oder auch nur möglich
ist.* Nach dem Wortlaut und Sinn Kants ist nicht die Existenz, sondern
die Beschaffenheit des Gegenstandes an sich „problematisch*; wenn er
jenes meinen würde, würde sein Gegensatz von Ding an sich und Er-
scheinung ja auch ganz sinnlos werden; diese Unterscheidung ist aber
durchaus ernst gemeint und „in dieser Unterscheidung liegt der Schwer-
punkt der Kantischen Philosophie* (Spicker, Kant S. 12). Kant sagt hier
genau dasselbe, was er in der Vorrede B. XXVII so ausdrückt: „Die Kritik
lehrt das Object in zweierlei Bedeutung nehmen, nämlich als Er-
scheinung, oder als Ding an sich selbst." Vgl. Riehl, Kritic. I, 10, 313.
Es ist selbstverständlich, dass auch diese „Erläuterung* der Lehre
von der Idealität der Zeit keinen Eingang verschaffen konnte. Gerade gegen
diese Lehre erhob sich von Anfang an — man möchte sagen — ein Ent-
rüstungssturm. Was in den „Kritischen Beiträgen zur Gesch. d. Gelehrs." 1789,
IV, 1, S. 262 gesagt wurde, war im Sinne der meisten Leser gesprochen und
gilt noch heute: „Dies ist Etwas von dem allerabenteuerlichsten in der ganzen
Welt, und musste die Philosophen nothwendig an sich selbst irre machen."
Vortrefflich und von dauernder Gültigkeit sind die Einwendungen von
Pistorius, dem Recensenten in der A. D. B. gegen die Idealität der
inneren Erscheinungen ; es ist seitdem nichts Besseres dagegen gesagt worden.
Er führt (daselbst 59, 845) aus: Dann wäre nichts als Schein da, und es
bliebe kein reelles Object übrig, dem etwas erschiene. „Wie ist es zu
denken, dass Vorstellungen, die man doch immer als reell oder als Dinge
an sich selbst voraussetzen muss, wenn man überhaupt erklären will, wie
ein Scheinen möglich sei, selbst nur ein Schein sein können, und was das-
408 § '7* Erläuterung zur Zeittheorie.
A 38. B 65. [B 46. H 70. E 87.]
jenige dann ist, wodurch und warum dieser Schein existire?' Derselbe nennt
(ib. 66, 93) dies die beträchtlichste Schwierigkeit, die er in Kant
fand. „Wie ist überhaupt Schein möglich, wenn das, wodurch alles Scheinen
möglich wird (was folglich immer vor allem Schein vorausgesetzt werden
muss und also nicht selbst Schein sein kann), mit einem Wort, wenn Vor-
stellung und Denken selbst Schein sein sollten?* Er fuhrt das weiter so
aus: Nach K. sind die Vorstellungen nicht wahre, d. h. mit dem Subjeet
gleichartige Wirkungen desselben, sondern nur scheinbare Wirkungen, d. h.
nur solche, wie sie einem dritten Subjeet erscheinen, oder wie dieses dritte
Subjeet sie sich vorstellt. So verlieren wir uns von einem Schein in den
anderen, und gerathen, was selbst unsere individuelle Existenz betrifiFt, in
eine so missliche und schwebende Lage, dass wir uns an nichts halten nnd
auf nichts fussen können. „Die Existenz des inneren Subjects wird ebenso
problematisch, als die der äusseren Objecte. Es kann also nach diesem
Systeme sehr wohl sein, dass es nichts als Schein bis in's Unendliche
gibt. Was wir nach gemeinem Sprachgebrauch unsere Seele nennen, ist
dann nur ein logisches, d. h. scheinbares Subjeet, nicht eine wahre für sich
bestehende Substanz — ein Fluss von Vorstellungen, der ent-
springt, man weiss nicht woher, strömt fort, man weiss nicht
für wen und wozu, und fliesst ab, man weiss nicht wohin?
Wodurch sollen die Vorstellungen Schein werden? Durch eine neue Vor-
stellungskraft. Aber wenn diese, um auch Erscheinung zu sein, einer neuen
Vorstellungskraft bedarf, so erhalten wir einen regressus in infinitum^*.
Vgl. hiezu B. Erdmann, Kriticismus 106—107.
Gegen die Subjectivität der Zeit wendet sich auch Ulrich, Inst.
§ 238, 239. Erscheinungen sind nichts anderes als gewisse Vorstellungen,
in einem Bewusstsein vereinigt, mithin sind sie ohne ein Bewusstsein,
welchem sie erscheinen, gar nichts. Unser Bewusstsein selbst kann keinem
anderen Bewusstsein erscheinen, sei also ein Ding an sich. Nun sei in
unserem Bewusstsein Succession, also sei die Zeit objectiv. Selbst der
vollkommenste Verstand müsse die successiven Thätigkeiten unseres Ver-
standes als successive anschauen. Vgl. oben S. 146. 305. Vgl. hieiüber
auch Abicht's Philos. Journal II, 194 flF.
Unter denjenigen, welche in neuerer Zeit ähnliche Einwände erhoben
haben (z. B. Trendelenburg, E. v. Hartmann u. A.) sei noch auf Riehl
hingewiesen. Er sagt (Krit. I, 354): „Vielleicht liegt in diesem von Kant
nicht genug aufgehellten Punkte [spec. ist die Lehre vor der Zeit als
Schema gemeint] der Anstoss, den Viele an seiner Idealitätslehre der Zeit
nehmen, welche die Idealitätslehre des Raumes in der Hauptsache richtiiT
finden. Vom Räumlich- werden der Empfindungen in der Vorstellung lässt
sich ein deutlicher Begriff gewinnen, nie aber vom Zeitlich-werden der Vor-
gänge erst in der* Auffassung. Der Wechsel der Vorgänge wird
nicht im formalen Bewusstsein erzeugt, sondern ist dem-
selben gegeben.** — Vgl. auch Lazarus, Ideale Fragen 181 ff.
Alte und neue Einwände gegen Kants Zeittheorie. 409
[R 46. H 70. K 87.] A 38. B 5B.
Gegen die Idealität der Zeit drängt sich aber besonders folgender,
übrigens auch von Lotze angedeuteter Einwand auf: Während die Idealität
des Kaumes immer noch eine caasale Welterklärung möglich macht, ist
eine solche bei der Idealität der Zeit völlig ausgeschlossen. Wenn das
absolut reale Sein und Geschehen nicht mehr zeitlich gedacht werden soll,
so hört überhaupt alle Möglichkeit auf, sich die Welt und die Weltgeschichte
begreiflich zu machen. Wenn aber andererseits die Antinomien wiederum
die Annahme der Objectivität der Zeit verbieten, so ist aus Beidem zusammen
zu schliessen, dass sowohl die übliche Vorstellung der Objectivität der Zeit,
wie die Kantische Lehre ihrer Subjectivität gleichermassen unzulänglich sind.
Die Idealität der Zeit ist denn auch von den W^enigsten der Kantianer
ernstlich durchgeführt worden. Auch solche, welche dem Phänomenalismus
sonst nicht abgeneigt waren, wie z. B. Lotze, nahmen die volle Objectivität
der Zeit an (Metaph. S. 297); vgl. oben S. 325. Nur Schopenhauer hat
gerade diese Lehre Kants mit Energie aufrecht erhalten und mit neuen Gründen
zu stützen gesucht. In dem ^Versuch über Geistersehen" (Par. I, 305) hat er
sich sogar gelegentlich auf die Natur gewisser Träume berufen, in denen
wir aus Anlass eines objectiv zufälligen ümstandes eine lange Geschichte
träumen, deren Ende eben mit jenem Umstand abschliesst. Diese „empirische
Bestätigung* der Idealität der Zeit hat Du Prel weiter ausgeführt in
seinem originellen „Oneirokritikon", Deutsche Viertjschr. 1869, II, 188 — 241.
K. Fischer, Kritik der K. Phil. 10 ff. schildert und bekämpft die
aus »der natürlichen Weltansicht" erhobenen Einwürfe: »Weil die Aesthetik
behauptet, dass ß. u. Z. blosse Anschauungen der menschlichen Vernunft
und unabhängig von dieser nichts sind, ist sie unter allen Kantischen Lehren
den in unserer natürlichen Denkweise festgewurzelten Bedenken am meisten
ausgesetzt gewesen. Demnach können, wie es scheint, R. u. Z. in die Welt
erst mit unserer Vernunft, also mit dem Dasein der Menschheit eintreten,
und weder vor deren Entstehung gegeben sein, noch nach deren Unter-
gange fortdauern. Nun müssen wir uns das Menschengeschlecht als ent-
standen und vergänglich vorstellen, während wir das Universum, das die
Bedingungen des Ursprungs wie der Zerstörung der Erde und ihrer Be-
wohner in sich enthält, unmöglich ohne R. u. Z. vorstellen können. Es
erscheint daher höchst ungereimt, jene beiden Grundbedingungen alles
natürlichen Daseins in die Einrichtung und die Schranken der menschlichen
Vernunft einschliessen zu wollen, als ob sie deren Besitz und Monopol
wären. Hat doch Kant selbst, bevor er seine neue Lehre von der Idealität
von R. u. Z. einführte, die mechanische Entstehung und Entwicklung des
Kosmos, die Naturgeschichte des Himmels, der Erde und ihrer organischen
Geschöpfe gelehrt. Mit dieser entwicklungsgeschichtlichen Welt-
ansicht steht nun die idealistische Lehre von R. u. Z. allem Anscheine
nach im offenbarsten Widerstreite. Freilich muss der Philosoph diesen Wider-
streit nicht empfanden haben, da er ihn nirgends zum Gegenstande einer
besonderen Erörterung und Aufklärung gemacht hat. Indessen beharren
410 § 7. Erläuterung zur Zeittheorie.
A 38. B 55. [B 46. H 70. E 87.]
jene Einwürfe des natürlichen Bewusstseins, das sich mit seinen Vorstellan^en
von B. u. Z. in die Kantischen schlechterdings nicht zu finden weiss . . .
aber Kants Lehre von R. u. Z. ist die Grundlage seiner Erkenntnisslebre
und der Weg zu seiner Freiheitslehre. Man wird daher von der kritischen
Philosophie nichts übrig behalten, wenn man diese Lehre verwirft.'
K. Fischer sucht nun eingehend nachzuweisen, dass ^zwischen Kants
naturgeschichtlicher Weltansicht und seiner Vernunftkritik kein Widerstreit'
bestehe. Er sucht zu zeigen, dass den apriorischen Weltbedingungen Kants
nur irrthümlicherweise anthropologische oder psychologische Geltung zuzu-
schreiben sei; der naturgeschichtliche Mensch, wie ihn die Anthropologie
betrachtet, sei nicht der Eigenthümer von R. u. Z.; »diese sind nicht von
ihm abhängig, sondern er ist, wie alle Erscheinungen überhaupt, durch sie
bedingt. Wenn R. u. Z. die reinen Anschauungen der menschlichen Ver-
nunft genannt werden, so muss man wohl unterscheiden, in welchem Sinne
dieses Wort zu nehmen ist: es bezeichnet den Menschen als das Subject
des Erkennens, nicht als eines der Erkenntnissobjecte. Als Subject
alles Erkennens ist unsere Vernunft die Bedingung aller Objecte überhaupt,
der gesammten Sinnenwelt, worin im Laufe der Zeit das natürliche Menschen-
geschlecht erscheint und sich in einer Zeitfolge entwickelt . . . Aber das
Subject des Erkennens ist nicht in der Zeit, sondern diese ist in ihm,*
Aber der „natürliche" Verstand wird doch immer wieder sagen: aber .das
Subject des Erkennens" ist, lebt und entwickelt sich doch auch in der Zeit,
und ist in seinem Sein und Werden abhängig von der Existenz und Ent-
wicklung des naturgeschichtlichen Objects. Will man also jenen circulus
vitiosus, in welchen nach Fischer nur Schopenhauer, nicht Kant verfallen
sei^ vom Standpunkt des Letzteren aus selbst vermeiden, so muss man mit
Windel band in seiner Gesch. d. n. Philos. jene Formen nicht dem indi-
viduellen, sondern einem „überindividuellen" Ich zuschreiben (vgl. oben S. 12.
49); macht man aber diese Wendung, so kommt man ins Spinozistische Fahr^
wasser und wird dem Fichte'schen Nebel zugetrieben.
Allgemeines Resultat der Transseendentalen Aesthetik.
Der ganze folgende Abschnitt, welcher beginnt: „Zeit und Raum
sind dem n ach" \ bis zum Anfang der „Allgemeinen Anmerkungen" gehört
^ Hiezu bemerkt A dick es: „Uebrigens zeigt auch das demnach des ersten
Satzes, dem in dem Vorhergehenden jede Beziehung fehlt, da«s wir es hier mit
einem späteren Zusatz zu der ganzen Aesthetik zu thun haben.' Das ^demnach*
hat allerdings zu dem unmittelbar hervorgehenden Passus, zu der Erläuterung der
Zeittheorie, keine Beziehung, wohl aber zu allem demjenigen^ was vorher kam.
Man wird also vielmehr darauf schliessen können, dass eben der Passus zur Er-
läuterung der Zeittheorie, welcher den Zusammenhang unterbricht, später ein-
geschoben worden ist. Dass es nicht der folgende Abschnitt ist, welcher spater
Das aUgemeine Resultat der Transsc. Aesthetik. 411
[R 46. H 70. E 87.] A 89. B 56.
nicht zu § 7, wie es durch die Eintheilung der 2. Auflage den Anschein
hat, sondern müsste eigentlich consequenter Weise eine eigene Paragraphen-
nummer tragen, denn er fasst alles Vorhergehende zusammen, gibt das
Allgemeine Resultat der Aesthetik, stellt dieses in Gegensatz zu
den abweichenden Theorien und schliesst die eigentliche Discussion des
Themas ab. Wie oben am Anfang (vgl. S. 123), so ist also hier am Ende
eine Ungenauigkeit; denn der Beginn des § 2 gehört ebensowenig zu diesem
Paragraphen, als der Schluss des § 7 zu dem letzteren. Der folgende Ab-
satz correspondirt jenem Eingang. Dort wurde das Problem gestellt, hier
wird seine Lösung recapijulirt.
In diesem Resume betont nun Kant besonders den Umstand, dass Raum
und Zeit als Quelle für synthetische Erkenntnisse a priori^ zu be-
trachten sind. Und zwar leitet er dies hier, dem urspi*ünglichen methodischen
Gange der Kritik gemäss, auf synthetische Weise ab. Dabei ist bemerkens-
werth, dass auch hier die reine Mathematik alsbald in die angewandte über-
geht; denn im ersten Satze ist von den „Erkenntnissen vom Räume und
dessen Verhältnissen' die Rede, in den folgenden Sätzen wird von deren
, Gültigkeit* für die „Gegenstände als Erscheinungen" geredet. Auch in
Mellin's Wiedergabe dieser Stelle (III, 847) geht beides durcheinander,
während S c h m i d in seinem kleinen Grundriss der Kr. d. r. V. S. 23 richtig
beides unterscheidet.
Hieran schliesst sich nun ein Satz, dessen Anfang : „DieseRealität
des Raumes und der Zeit lässt übrigens die Erfahrungserkenntniss unan-
getastet" — etwas wunderlich ist. Denn das kann doch nur heissen: „Die
eingeschoben worden ist, dafür spricht auch der — gleich nachher zu erörternde —
Umstand, dass derselbe fast wörtlich aus der Dissertation herübergenommen ist.
(Ueber die anderen von Adickes vorgebrachten Gründe vgl. oben S. 264 und S. 342.)
Die Erläuterung zur Zeittheorie ist nun wohl bald nach der Erhebung jener Ein-
würfe (1770, 1771) niedergeschrieben worden; für diese frühe Abfassung derselben
spricht auch der Gebrauch des Ausdruckes , Idealismus" (vgl. oben S. 405 Anm.).
Daraus wäre dann zu schliessen, dass die deutsche Bearbeitung der Dissertation,
wie sie uns in der Transsc. Aesthetik vorliegt, wenigstens ihren Haupttheilen nach
unmittelbar nach 1770 stattgefunden haben müsste, wofür auch Kants Mitthei-
lungen über den Fortschritt seiner Arbeit in seinem gleichzeitigen Briefwechsel zu
sprechen scheinen.
* Die „synthetischen Erkenntnisse* sind „voraehmlich* die der reinen Mathe-
matik ; von anderen als von diesen spricht Kant nur oben S. 387, wo er noch die
Säze der „allgemeinen Bewegungslehre** anführt. Jene reine Mathematik wird
nun hier ganz mit der Geometrie identificirt, so dass also auch danach die
Arithmetik vollständig ignorirt wird. (Vgl. oben S. 388.) Da dies der Sinn des
Textes ist, so wirft T arieton, liermathena, Vol. 1, 1874, S. 230 (vgl. oben S. 389
Anm.) mit Unrecht dem Uebersetzer Meiklejohn, der sich an den Text gehalten
hat, Ungenauigkeit vor. Sollte Kant hier ausser der Geometrie auch auf die
Arithmetik anspielen, so müsste das Wort „vornehmlich" auf die Worte „die reine
Mathematik'* folgen, nicht aber denselben vorangehen.
412 § 7. Allgemeines Resultat der Transac. Aesthetik.
A 39. B 56. [R 46. 47. H 70. K 87.]
so beschränkte und bestimmte Realität, diese Art der Realität, nämlich die
bloss empirische^ ; aber so würde der Satz ja eine blosse Tautologie sein.
Diese Unebenheit haben ja auch die üebersetzer gespürt: so sagt Meikle-
john: Jhis formal reality^\ und Max Müller: ^this peculiar reality*.
„Realität" ist aber offenbar nur Schreib- oder Druckfehler statt Idealität.
Diese Vermuthung, die schon an sich unter Betrachtung des Zusammen-
hanges wahrscheinlich ist und die auch Laas gehabt hat, wird zur Gewiss-
heit durch Herbeiziehung der Parallelstellen aus der Dissertation § 14, 6
und § 15, welche oben zu S. 349 und S. 397 angeführt worden sind, üebrigens
hat auch schon A dick es die Verbesserung in seiner Ausgabe angebracht.
Auf diese Weise bekommen wir folgenden Zusammenhang: es handelt
sich um die Sicherheit und Gewissheit unserer Erfahrung. Werden dieselben
nicht erschüttert durch die Lehre, Raum und Zeit seien nur subjeetiv, seien
ideal in Bezug auf die Dinge an sich? Können wir dann noch mit vollem
Fug und Recht den allgemeinen Satz aussprechen, dass alle Dinge in Raum
und Zeit beschlossen seien? Das konnten wir, als wir noch annahmen, Baum
und Zeit seien objective, nothwendige Eigenschaften aller Dinge an sich,
aber wir scheinen es nicht mehr zu können, seitdem wir die Erkenntniss ge-
wonnen haben, dass Raum und Zeit nur subjectividealer Natur sind. Wir
können es aber doch! Denn nothwendige und allgemeine Eigenschaften
sind Raum und Zeit .auch in diesem Falle, nur nicht mehr der Dinge an
sich, sondern der Erscheinungen. Und diesen gehören sie nothwendig zu,
weil sie unserer Anschauungsweise nothwendig anhängen. Vgl. hiezu oben
S. 348. 349. Eine charakteristische Ergänzung hiezu bietet eine Stelle des
Nachgel. Werkes, XXI, 586: „Die [transcendentale] Idealität äusserer Gegen-
stände ist zugleich der Grund der [empirischen] Realität eben derselben aU
Sachen ausser uns, in Raum und Zeit.*
Nachdem Kant so das Wesentliche seiner Raum- und Zeit-
theorie resümirt hat, stellt er in dem weiteren Verlauf dieses Absatzes
dieser seiner Theorie die hauptsächlichsten bisherigen anderen Theorien
gegenüber, um zu zeigen, dass diese Letzteren aus verschiedenen Gründen
falsch seien. Er fühlt das Bedürfniss der Auseinandersetzung mit den
anderen Theorien, um deren Fehler aufzudecken, und die Vorzüge seiner
eigenen Theorie ans Licht zu stellen. Kant prüft und verwirft in diesem
Sinne zwei andere Theorien: 1) Die Theorie, der Raum sei eine Substanz,
2) derselbe sei ein blosses Verhältnisse (Vgl. dazu Thiele, Ks. int.
Ansch. 194. Vgl. auch Arnold t, R. u. Z. 119 ff., der aber die folgenden
Stellen im Detail anders auslegt.) Diese ganze Stelle ist nun beinahe wört-
» Vgl. Garve (A. D. B. Anh. zu 37-53. 858): .Es gibt in dem Umfang
unserer ganzen Erkenntniss kaum "so ausserordentliche, von allen anderen sich so
unterscheidende, so unbegreifliche Ideen wie Zeit und Raiun. Sie als Dinge an-
zusehen, ist unserem Verstände, sie als Verhältnisse anzusehen, ist unserer
Imagination unmöglich."
Die beiden bisherigen Haupttheorien Über Raum und Zeit. 413
«
[R 47. H 70. K 88.] A 39. B 56.
lieh aus der Dissertation herübergenommen. Da heisst es § 15, D: ^,Qui
spatti realUatem defendunf, vel ülud, ^d dbsolutum et immmensum rerum possi-
hilium receptaculttm (Behältnis s) sihi conc'qmmt, quae settteMia, post
Anglos, geoynetrarum plunmis arridet, vel contendmvb esse ipsam rerum exi-
Stent i um relationem (Verhältniss), rebus sublatis plane evanescentem et
fionnisi in actualibus cogitahilem , vti post Leibnitium nostratum lüurimi sta-
tuunt, Quod attinet primum ilhid inane rationis commetitum, cum veras re-
laJtiones infinitaSf absque ullis erga se relatis entibus fingat, pertinet ad mundum
fabulosum. Verum qui sententiam posteriorem abeunt, longe deteriore errore
lahuntur. Quippe cum Uli nonnisi conceptibus rationulibus s. ad noumena per-
tifientibus offendicidum ponuyit, ceteroquin intellectui maxime absconditis^ e. g,
quaestionibus de mundo spiritiHili, de omnipraesetüia etc.y hl ipsis phaeno-
menis et omnium phaenomenorum fidis»imo interpreti, geometriae, adversa
fronte repugnant, Nam . . . geometriam ab apice certitudinis deiurbatam, in
earum scientiarum censum rejiciunt^ quarum princlpia sunt empiricaJ' (Vgl.
dazu Cohen in d. Zeitschr. f. Volk. u. Spr. 7, 265 f.) Aehnlich bei der
Zeit, § 14, 5 : „Qui realitatem temporis objectivam asserwit, aut illud tanquam
fkixum aliquem in exsistendo continuum absque uUa tamen re existente {com-
mentum absurdissimum) concipiunt, uti potissimum Anglorum philosophi, aut
tanquam abstr actum reale a successione statuum internorum, ut Leibnitius et
asseclae, statuunt/^
Ganz ähnlich auch schon in dem Aufsatz von 1768: „Von dem ersten
Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume." Darin stellt K. auch
zwei entgegengesetzte , Begriffe des Raumes" (= Raumtheorien) gegenüber:
1) Den a Begriff des absoluten Raumes" ; er wird von den „Mechanikern
und Messkünstlern" aufgestellt, ja „scharfsinnige Philosophen haben ihn in
den Lehrbegriff der Naturwissenschaft aufgenommen". Demnach hat „der
absolute Baum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als
der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität".
Es gibt einen „absoluten ursprünglichen Raum, weil nur durch ihn das
Verhältniss körperlicher Dinge möglich ist" ; 2) Die entgegengesetzte Raum-
theorie behauptet, dass der Raum „aus der Abstraction von dem Verhält-
nisse wirklicher Dinge entpringt" ; es ist dies der Begriff „vieler neueren
Philosophen, vornehmlich der Deutschen, dass der Raum nur in dem
äusseren Verhältniss der nebeneinander befindlichen Theile der Materie be-
stehe". Kant prüft nun daselbst beide Theorien an dem aposteriorischen
Probirstein der symmetrischen Figuren, und entscheidet sich gegen die
zweite Theorie, „weil die Folgen dieses angenommenen Begriffes der augen-
scheinlichsten Erfahrung widersprechen," verkennt aber nicht, dass „es nicht
an Schwierigkeiten fehlt, die den ersten Begriff umgeben, wenn man seine
Realität, welche dem inneren Sinn anschauend genug ist, durch Vernunft-
ideen fassen will".
Diese Stellen bestätigen nun, was schon die Analyse des Textes in
der Kritik selbst ergibt, dass Kant bei dieser Schilderung nichts Anderes
414 § 7. Allgemeines Resultat der Transsc. Aesthetik.
A 89. B 56. [R 47. H 70. 71. K 88.]
im Sinne haben konnte, als den berühmten Streit über Kaum und
Zeit zwischen Clarke und Leibniz. Dieser Streit {^. Leihnitii Opera
Philosophica, Edit. Erdmann 1840, II, 746 — 788), welcher seinerzeit die euro-
päische Gelehrtenwelt in Aufregung versetzte, ist nun eine bis jetzt merk-
würdiger Weise noch gar nicht in ihrer Wichtigkeit erkannte Quelle für
die Entstehung der Kantischen Theorie. (Vgl. auch oben S. 133). Es könnte
und müsste im Einzelnen gezeigt werden, dass und wie Kant durch das
Studium der Acten dieses Streites zur Aufstellung seiner eigenthümlichen
Theorie mit angeregt worden ist. Für die Entwicklungsgeschichte Kants
liegen hier noch viele interessante Punkte. Hierauf kann natürlich hier nicht
näher eingegangen werden: es genüge, mit dem Finger darauf hingewiesen
zu haben. Näheres hierüber unten. Uebrigens hat auch schon Mellin
III, 826—852 diesen Zusammenhang ahnungsweise erkannt.
Kant stellt beide Parteien gegenüber, wie er charakteristisch sagt,
als die der „mathematischen Naturforscher", und die „ der metaphysischen
Naturlehrer". Jenes sind die Anhänger Newtons, deren bedeutendster,
Clarke, die betreffende Theorie mit grosser Energie vertrat, dieses sind die
Anhänger von Leibniz, welcher selbst noch mit Clarke in einen heftigen
Streit über diese Probleme gerieth.
Beiden wirft Kant vor, dass sie mit den „Principien der Er-
fahrung" in Conüict gerathen. Diese Behauptung stimmt nicht ganz zu
dem Folgenden. Denn da wird zuerst gezeigt, dass die Naturforscher ^fur
sich bestehende Undinge" annehmen. Damit gerathen sie aber mit dem
Satz des Widerspruches in Conflict. Nachher wird gezeigt, dass dieselben
sich bei metaphysischen Fragen verwirren. Und den Metaphysikern wird
vorgeworfen, dass sie die apodictische Natur der Geometrie nicht erklären
und dass sie deren Anwendung auf Erfahrung nicht garantiren könüen : nur
auf diesen allerletzten Vorwurf passt jene obige Bestimmung.
Erste Partei: Die mathematischen Naturforscher.
(Clarke.)
Gegen diese wendet Kant Folgendes ein : Diejenigen, welche wie Newton
und Clarke Raum und Zeit als eigene Substanzen ansehen, müssen Sub-
stanzen annehmen, die doch nichts Wirkliches sind. (Vgl. oben S. 391.)
Sie setzen das Leere, den leeren Kaum und die leere Zeit, also das Nichts
als ein Etwas, sie betrachten die Null als Eins. Substanzen, welche doch
nichts Wirkliches sind, sind aber (wie schon Leibniz gegen Clarke zeigte),
logische Undinge. Denn da Raum und Zeit da sein sollen, auch ohne
dass etwas Wirkliches da ist und in ihnen ist, so sind sie als leer gedacht,
und sollen doch trotz dieser Leerheit und Nichtigkeit — denn beide w&ren
leere Gefilsse, nur ohne Wände, d. h. eben Nichts — Etwas sein. Das Ter-
stösst gegen den Satz des Widerspruchs. Was Nichts ist, kann nicht zu-
gleich Nicht-Nichts oder Etwas sein. Was Etwas ist, kann nicht zugleich
Gegen die Newton-Clarke'sche Theorie von Raum und Zeit. 415
[R 47. H 71. K 88.] A39.40.B56.57,
Nicht-Etwas oder Nichts sein. Sollen R. u. Z. alles Wirkliche als Ge-
fasse in sich befassen, so sind das eben Geisse, ohne doch Gefässe zu
sein, weil sie keine materiellen Wandungen haben. Kurz, R. u. Z. sind
nach dieser Theorie ganz widerspruchsvolle Dinge; mit anderen Worten, die
Theorie muss falsch sein^ Vgl. A 433 (Anmerkung zur ersten Anti-
these) über „diese zwei Undinge, den leeren Raum ausser und die leere
Zeit vor der Welt*. Eine Ausführung dieses Gedankens bei Sommer, Neu-
gestaltung 87 ff., „die Unhaltbarkeit der gewöhnlichen Auffassung der Rea-
lität des R. u. d. Z." — Sachliche Einwände hiegegen bei v. Kirch mann,
Erl. 12 (dagegen Grapengiesser, Erkl. 27), und bei Massonius, Aesth. S. 63 ff.
161, (für die „Undinge").
Weiter unten kommt Kant nochmals auf diese Theorie zurück, um
sie zu prüfen an zwei wichtigen Problemen, deren Lösung ihm
gleich sehr am Herzen lag: die apodiktische Gültigkeit der Ma-
thematik für alle Erscheinungen, und die Nachforschungen,
die über das Feld der Erfahrung hinausgehen, also insbesondere
der Gottesbegriff (vgl. Band I, 230 ff.). Diejenigen nun, denen der Raum
das substantiell existirende Gefäss aller Dinge ist, brauchen keine besondere
Garantie für die stetige Gültigkeit und Anwendbarkeit der Mathematik.
Denn da dieses Geföss unendlich ist und Alles umfasst, so ist es selbstverständ-
lich, dass alle uns je vorkommenden, ja überhaupt vorhandenen Dinge nicht
nur im Allgemeinen im Räume sind, sondern auch seinen speciellen Gesetzen
unterworfen sind. Aber dieselbe Voraussetzung des unendlichen, alle Dinge
befassenden Gefässes verhindert es nun unbedingt, dass der Verstand das
Gebiet der Erscheinungen überschreite, mag er nun überhaupt übersinnliche
Dinge an sich annehmen wollen, oder auch speciell etwa Gott, Unsterb-
lichkeit und Freiheit zu postuliren für nöthig finden. Das ist dann gründ-
lich abgeschnitten, wenigstens für einen logisch disciplinirten Verstand, was
ja nicht hindert, dass nicht, wie historisch geschehen, auch diese Forderungen
mit jener Voraussetzung verknüpft werden. Factisch haben ja Clarke und
Newton Gott und alle nicht-sinnlichen Dinge auch in Raum und Zeit ge-
setzt. — Wenn K. hiebei sagt, sie verwirren sich „durch diese Bedingungen",
so erhält diese Bemerkung ihre Erläuterung durch die Stelle B 71, wo von
der Newton'schen Theorie gesagt ist, dass bei ihr Raum und Zeit „Be-
dingungen der Existenz a priori" sind, welche ȟbrig bleiben, wenn man
gleich die Dinge selbst aufgehoben hätte". Jene Stelle ist eine Ausführung-
^ Die Newton sehe Anschauung des Raumes als eines abaque ullis ergo
se relatis entihus Existirenden (§ 15, D) und der Zeit als eines absque ulla
re (§ 14, 5) Existirenden ist für Kant ein absurdes Figment. Unabhängig von den
als real gedachten Dingen und doch selbst etwas Seiendes — das ist unsinnig,
dann sind Raum und Zeit „Undinge**; aber unabhängig von den als sensationes
erkannten Erfahrungsgegenständen können Raum und Zeit allerdings sein, weil
sie dann ja doch immer noch vom Subjecte getragen werden. Dies lehrt ja das
zweite Raum- und Zeitargument, oben S. 186 ff. 370 f.
416 § 7. Allgemeines Resultat der Transsc. Aesthetik.
A39.40.B56.57. [R 47. H 71. K 88.]
des hier nur kurz angedeuteten Gedankens, dass die Newton-Clarke'sche
Theorie besonders mit dem GottesbegrifF in unlösbaren Conflict komme.
Dies hatte auch schon Berkeley zu seinem Idealismus gebracht, dies
^dangerous dilemma*^, dass der Raum entweder identisch mit Gott sei oder
etwas neben Gott. (Princ. § 117.) Vgl. Caird, Grit. Phil. I, 304. Vgl.
dazu Schneider, Ps. Entw. d. Apriori, S. 23.
Zweite Partei: Philosophische Naturlehrer.
(Leibniz.)
Diese Partei verhält sich zu den beiden Problemen, welche dem Kri-
tiker als Prüfsteine einer wahren Raum- und Zeittheorie gelten, gerade
umgekehrt, als die vorige. Was bei jenen Vorigen anstandslos möglich
war — die apodiktische Gültigkeit der Mathematik für alle wirklichen Dinge
im Räume — , das will hier bei dieser Theorie nicht stimmen. Woran aber
jene Ersteren scheiterten — die Möglichkeit übersinnlicher Wesen — , das
habe hier gar keine Schwierigkeit.
Schwierigkeiten aber finden wir in der Kantischen Darstellung
dieser Lehre und ihres Verhältnisses zu jenen beiden Problemen, und die
erste fundamentalste Schwierigkeit ist folgende: wie kann Kant diese von ihm
so dargestellte Theorie zu denjenigen Theorien rechnen, welche, wie er
doch oben sagte, „die absolute Realität des Raumes und der Zeit' be-
haupten? Er selbst sagt doch: nach dieser Theorie seien Raum und Zeit
abstrahirte „Verhältnisse der Erscheinungen", und erklärt eben daraus
den Vortheil dieser Theorie, dass bei ihr Raum und Zeit nicht hindernd im
Wege stehen, wenn man die Gegenstände nicht mehr als Erscheinungen,
sondern „im Verhältniss auf den Verstand*, d. h. als Dinge an sich be-
trachtet. Darin liegt ja doch involvirt, dass diese Theorie gerade nicht die
„absolute Realität* von R. u. Z. behauptet.
Die Auflösung dieser Schwierigkeit muss sowohl in der Eigen thümlich-
keit der Leibniz'schen Lehre selbst, als in ihrer Auffassung durch Kant ge-
sucht werden. Beides führt auf dasselbe. Wie Kant die Leibniz'sche Lehre
von Raum und Zeit auffasste, darüber hat er sich ja eingehender aus-
gesprochen in dem Abschnitt von der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe ^,
A 260 ff., sowie bes. in der dazu gehörigen Anmerkung, A 268 ff. Kant
wirft seinem grossen Vorgänger „transscendentale Amphibolie* vor, d. h. »Ver-
wechslung des reinen Verstandesobjects mit der Erscheinung". , Erscheinung
war ihm die Vorstellung des Dinges an sich selbst, obgleich von der Er-
kenntniss durch den Verstand der logischen Form nach unterschieden',
da nämlich jene, aus Mangel richtiger „Zergliederung*, verworrene ^Neben-
vorstellungen' mit hineinzieht; so nahm er denn „die Erscheinungen ab
Dinge an sich selbst, mithin für intelligibiUa y d. i. Gegenstände des reinen
Verstandes, ob er gleich, wegen der Verworrenheit ihrer Vorstellungen, die-
selben mit dem Namen der Phänomene belegte.* „Wir schauen also die
Kant gegen die Leibniz*8che Raum- und Zeittheorie. 417
[B 47. H 71. K 88.] A 40. B 57.
Dinge an, wie sie sind, obgleich mit verworrener Vorstellung." Dazu bes.
A 275 f.: ,So dachte sich nun Leibniz auch den Raum als eine gewisse Ord-
nung in der Gemeinschaft der Substanzen, und die Zeit als die dynamische
Folge ihrer Zustände. Das Eigenthümliche aber und von Dingen Unab-
hftngige, was Beide an sich zu haben scheinen, schrieb er der Verworrenheit
dieser Begriffe zu, welche machte, dass dasjenige, was eine blosse Form
dynamischer Verhältnisse ist, für eine eigene, für sich bestehende und vor
den Dingen selbst vorhergehende Anschauung gehalten wird. Also waren
Raum und Zeit die intelligible Form der Verknüpfung der
Dinge an sich selbst. Die Dinge waren intelligible Substanzen. Gleich-
wohl wollte er diese Begriffe für Erscheinungen geltend machen, weil er
der Sinnlichkeit keine eigene Art der Anschauung zugestand*' u. s. w.
Diese Stellen sind nun vollständig hinreichend, auch die oben auf-
gedeckte Schwierigkeit der vorliegenden Stelle zu erhellen. Es erklärt sich
daraus, wie Kant dazu kommt, die Leibniz'sche Lehre von Raum und Zeit
auf der einen Seite zu denjenigen zu rechnen, welche die „absolute Realität'
derselben behaupten, und wie er doch wieder auf der anderen Seite davon
sprechen kann, dass sie „Verhältnisse der Erscheinungen'' vorstellen. Auch
geht daraus hervor, dass und inwiefern Kant sagen kann, nach dieser Lehre
seien Raum und Zeit den Dingen „inhärirend", während sie nach Newton-
Clarke selbst „subsistirend" sind.
Diese Darstellung, welche Kant von der Leibniz'schen Raumlehre gibt,
entspricht ja nun auch ganz in ihrem Schwanken zwischen einer wirklich
transscendenten und einer nur empirischen Gültigkeit der Raumvorstellung
der Schilderung, welche wir oben S. 146 f. von der Leibniz'schen Monaden-
lehre entworfen haben. Es findet sich bei Leibniz ein unangenehmes Schwanken
zwischen zwei Fassungen der Monaden- und damit auch der Raumlehre:
Bald ist ihm der Raum ein objectiv-reales Verhältniss der an sich ganz
unräumlichen Monaden, bald ist er ihm nur ein rein subjectives Phänomen
in uns, das in verworrener Vorstellungsweise die an sich seienden, rein
intelligibeln Verhältnisse der rein intelligibeln Substanzen repräsentirt. Nach
der ersteren Fassung ist der Raum etwas den Dingen an sich „Inhärirendes*,
nach der anderen nur ein „Verhältniss der Erscheinungen ''.
Jetzt erklärt sich nun auch die Stellung der Leibniz'schen Theorie zu
jenen beiden Problemen. Den „metaphysischen Naturlehrern'' k la Leibniz
„kommen die Vorstellungen von Raum und Zeit nicht in den Weg, wenn
sie von Gegenständen nicht als Erscheinungen, sondern bloss im Ver-
hältniss aufdenVerstand urtheilen wollen " (zu dieser Wendung vgl.
oben S. 854); d. h. weil eben Raum und Zeit nicht eigentlich die Verhält-
nisse der intelligibeln Substanzen selbst sind, sondern nur der verworrene
Ausdruck von dynamischen Verhältnissen derselben, können zwar Raum und
Zeit einerseits gewissermassen als real bezeichnet werden, aber doch sind
andererseits die Substanzen selbst, deren dynamische Verhältnisse jenen
raumzeitlichen Formen zu Grunde liegen, intelligibel, selbst nicht
Vaihinger, Kant-Commentar. II. 27
418 § 7. AUgemeineR Resultat der Transec. Aesthetik.
A40.B57. [R 47. H 71. E 88.]
räumlicb, sondern nach Leibniz einfache, geistige Substanzen, Monaden —
eine Anschauung, mit welcher ja sich dann weiterhin alle möglichen meta-
physischen Speculationen verbinden lassen, da Baum und Zeit nicht mehr
hindernd in den Weg treten; und wenn nun auch Kant auf die meta-
physischen Speculationen selbst keinen Werth legt, so liegt ihm doch be-
kanntlich daran, zur „Rettung" von Oott, Freiheit und Unsterblichkeit eine
übersinnliche Welt wenigstens als möglich denken zu können. Das ist nun
hier ebenso möglich, als es nach der Newton-Clarke'schen Theorie unmög-
lich ist.
Aber dieser Vortheil der Leibniz'schen Theorie wird nun durch einen
erheblichen Nachtheil aufgewogen: die Gültigkeit der Mathematik
für die Dinge wird dadurch nicht garantirt^ Die apodiktische
Oewissheit dieser Gültigkeit lässt sich ja a posteriori nicht gewinnen; denn
die Erfahrung sagt uns ja nur, dass wohl alle bis jetzt uns vorgekommenen
Eörperdinge den mathematischen Raumgesetzen gehorsamen ; darin liegt aber
keine absolut sichere Gewähr, dass dies bei allen uns fernerhin aufstossenden
äusseren Erscheinungen stattfinden werde. Warum aber garantirt jene Auf-
fassung nicht die objective Gültigkeit der mathematischen Sätze? Weil
jene Allgemeinbegriffe von Raum und Zeit „nur Geschöpfe der Einbildungs-
kraft'^ sind, nur „ideale Fictionen", wie Leibniz selbst sagte: da lässt sich
ja dann allerdings nicht einsehen, warum Sätze, welche sich auf diesen er-
dachten Raumbegriff beziehen , von den concreten Erscheinungen gelten
sollen ? ^
Dass dies der Zusammenhang ist, geht aus den Prolegomena § 13,
Anm. I hervor, woselbst Kant ebenfalls gegen die Meinung polemisirt, als
hätten wir es in der Geometrie nur mit den Bestimmungen eines blossen
„Geschöpfes unserer dichtenden Phantasie" zu thun, die nicht „mit Zuverlässig-
keit auf wirkliche Gegenstände könnten bezogen werden".
Diese üebereinstimmung wird aber, wie dort weiterhin ausgeföhrt
wird, dadurch erklärt, dass eben der Raum „die wesentliche Eigenschaft
unserer Sinnlichkeit ist", dass wir also in ihm, wie es hier heisst, „eine
wahre und objectiv gültige Anschauung a priori" haben (vgl. hiezu Arnold t,
R. u. Z. 29), in welcher nun für „die Möglichkeit mathematischer Er kennt-
^ Vgl. dazu die ausführliche Entwicklung in den Fortechr. d. Metapfa. Ros
1,511 — 513, wo es von Leibniz heisst: „Dieser Metaphysiker von altem Schrot
und Korn muss den Raum als bloss empirische und verworrene Vorstellnng des
Nebeneinanderseins des Mannigfaltigen ausserhalb einander gelten lassen*, aei eben
darum aber auch nicht im Stande, von der Apodikticität der Mathematik Rechen-
schaft zu geben.
' In dieser Weise betrachtet z. B. Mendelssohn W. W. IV, 1, 504 ff-
(Literaturbr. 1759) die Mathematik: die Mathematik beruhe auf Abstractionen und
Erfindungen, auf erdichteten Begriffen und Voraussetzungen, die man nicht auf
das Wirkliche anwenden und nicht für wirklich ausgeben dürfe. Das seien Ein-
bildungen.
Kant wendet sich gegen die „Chikanen* der .Monadisten*'. 419
[R 47. H 71. K 88.] A40.B57.
nisse a priori", d. h. in diesem Falle angewandter, der , Grund'' zu
suchen ist.
An jener Stelle der Prolegomena^ gibt Kant noch näheren Anf-
schluss über das, was er hier meint; speciell das hier, nicht ganz logisch
durch „weder — noch" hinzugefügte Sätzchen — dass jene Leibnizianer die
Erfahrungssätze nicht mit jenen Behauptungen der Mathematik in noth-
wendige Einstimmung bringen können — erhält durch jene Stelle erst seine
volle Bedeutung. Die Mathematiker besorgten, eine Linie in der Natur
möchte doch wohl aus physischen Punkten, mithin der wahre Baum im
Objecte aus einfachen Theilen bestehen, obgleich der Baum, den der Geo-
meter in Gedanken hat, daraus keineswegs bestehen kann. Sie erkannten
nicht, dass dieser Baum in Gedanken den physischen, d. i. die Ausdehnung
der Materie selbst möglich mache u. s. w. (Vgl. oben S. 169.) „Auf solche
und keine andere Art kann der Geometer wider die Chikanen einer
seichten Metaphysik wegen der ungezweifelten objectiven Bealität seiner
Sätze gesichert werden, so befremdend sie auch dieser, weil sie nicht bis zu
den Quellen ihrer Begriffe zurückgeht, scheinen muss" (im Text steht fälsch-
lich 9 müssen"; was der bisherigen seichten Metaphysik , befremdend" er-
scheint, das ist eben die objective Gültigkeit der mathematischen Sätze für
die Erfahiningsgegenstände, nicht jene „Chikanen", die sie ja selbst macht).
Denselben Ausdruck und dasselbe Beispiel bringt K. in der Analytik
bei den Axiomen der Anschauung (A 165): „Die Ausflüchte, als wenn
Gegenstände der Sinne nicht den Begeln der Cpnstruction im Baume (z. E.
der unendlichen Theilbarkeit der Linien oder Winkel) gemäss
sein dürfen, müssen wegfallen." „Alle Einwürfe dawider sind nur Chi-
kanen einer falsch belehrten Vernunft." Dasselbe Beispiel auch in der
bemerkenswerthen BeHexion II, N. 414, in welcher Kant u. A. sagt: „Es
ist so weit gefehlt, dass die sinnlichen Anschauungen von B. u. Z. sollten
verworrene Vorstellungen sein, dass sie vielmehr die deutlichsten Erkennt-
nisse unter allen, nämlich die mathematischen verschaffen." Nur der Um-
stand, dass B. n. Z. Formen seien, mache die Mathematik begreiflich u. s. w.
Dazu nehme man noch die sehr deutliche Stelle der Prolegomena § 13,
Anm. III. (Vgl. oben S. 281.) Dazu vergl. man noch den Anhang der
Proleg, y Orig. S. 207 : die objective Bealität der Geometrie habe auch „von
den eifrigsten Bealisten" bisher nicht strict behauptet werden können;
sie sei vielmehr erst durch seinen Idealismus garantirt. Ganz in demselben
Sinne sind auch zwei Anmerkungen Kants in seinem Handexemplar gehalten
(Erdmann, Nachträge XXVIII und XXX).
^ Vgl. über dieselbe B. Erdmanns Einl. zu seiner Ausgabe XXI u. LXXVIII.
Vgl. auch oben S. 265 ff. und S. 281. Beachtenswerth ist an diesen Stellen, wie auch
im vorliegenden Texte das schon Comm. I, 421, Anm. 3 besprochene logische
Schwanken zwischen den zwei verschiedenen Problemen der Erklärung und des
Beweises der Gültigkeit der angewandten Mathematik.
420 § '7- Allgemeines Resultat der Transsc. Aesthetik.
A 40. B 57. [R 47. 48. H 71. K 88.]
Dass E. die8 im Auge hatte, erhellt vollends aus der Anmerkung zur
II. Antinomie (A 439. 441. 443). Die .unendliche Theilung der Materie*
wird dort aus der unendlichen Theilbarkeit des Raumes, also durch einen
, mathematischen Beweisgrund'' bewiesen. Wider jene Theilung haben nun,
sagt K., 9 die Monadisten Einwürfe gemacht, welche sich schon dadurch
verdächtig machen, dass sie die klarsten mathematischen Beweise nicht für
Einsichten in die Beschaffenheit des Raumes, sofern er in der That die
formale Bedingung der Möglichkeit aller Materie ist, wollen gelten lassen,
sondern sie nur als Schlüsse aus abstracten, aber willkürlichen Begriffen
ansehen, die auf wirkliche Dinge nicht bezogen werden könnten" u. s. w.
.Wenn die Philosophie hier mit der Mathematik chikanirt' [= Händel
anfängt], so geschieht es darum, .weil sie vergisst, dass es in dieser Frage
nur um Erscheinung und deren Bedingung zu thun sei." Die Monadisten
wollen der Schwierigkeit aber dadurch . ausweichen, dass sie nicht den Raum
als eine Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände äusserer Anschauung
(Körper), sondern diese und das dynamische Verhältniss der Substanzen
überhaupt, als die Bedingung der Möglichkeit des Raumes voraussetzen.
Nun haben wir von Körpern nur als Erscheinungen einen Begriff, als solche
aber setzen sie den Raum als die Bedingung der Möglichkeit aller äusseren
Anschauung nothwendig voraus, und die Ausflucht ist vergeblich, wie sie
denn auch oben in der Transsc. Aesth. hinreichend ist ab-
geschnitten worden." lieber das Problem der unendlichen Theilbarkeit
der Materie und seiner Lösung durch den transc. Idealismus s. auch Met.
Anf. der Naturw. II, Lehrs. 4, Anm. 2 (Ros. V, 354—358). Vgl. auch
Metz, Darst. S. 54.
Diese Ausführungen sind nun auch geeignet, noch zwei Dunkelheiten
^ des Kantischen Textes zu erhellen. (Vgl. Cohen, 2. A. 166). Einmal er-
scheint es wunderlich, dass Kant sagt: nach Leibniz seien .die Begriffe
a priori von Raum und Zeit nur Geschöpfe der Einbildungskraft, deren
Quell wirklich in der Erfahrung gesucht werden muss"; (ähnlich Proleg.
% 13, 1). Kant will wohl sagen: der letzte Quell jener Vorstellungen ist nach
Leibniz allerdings die Erfahrung, aber die Einbildungskraft hat nun diese
Abstractionen so selbständig verarbeitet, dass sie als eine Art Begriffe
a priori sich präsentiren \ Darauf bezieht sich aber auch die andere Dunkel-
heit, die sich unmittelbar daran anschliesst: .Die Einbildung hat aus den
abstrahirten Verhältnissen der Erfahrung etwas gemacht, was zwar das AU-
^ Diese Theorie der Mathematik passt ja nun auf den historischen
Leibniz gar nicht mehr, der stets streng an der Apriorität der Mathematik fert-
hielt, und erklärt sich nur theils aus gewissen Unklarheiten der Leibniz^schen Lehre
selbst, aus denen jene empirische Entstehung der mathematischen Begriffe als
Consequenz gezogen werden kann, theils aus den empiristischen ümbiegongen der
originären Leibniz'schen Theorie bei einzelnen seiner späteren Anhänger resp.
Fortsetzer. — Vgl. Baumann, Die Lehren von R., Z. u. Math. II, S. 13 ff.
Die Leibniz*8che Theorie über Raum, Zeit und Mathematik. 421
[B 48. H 71. K 88.] A40.B57.
gemeine derselben enthält, was aber ohne die Bestrictionen , welche die
Natur mit denselben verknüpft, nicht Statt haben kann/ d. h. die Phantasie
hat in jenen von ihr durch Abstraction isolirten Begriffen von Baum und
Zeit nur das Allgemeine der raumzeitlichen Verhältnisse herausgehoben, das
zwar logisch so von uns isolirt gedacht werden kann, das aber in Wirk-
lichkeit nicht existiren kann ohne die näheren Bestimmungen, welche in der
Natur sich stets bei jenem Allgemeinen findend Eben deshalb aber ist
daran zu zweifeln, ob denn Sätze, die sich nur auf jenen erdachten all-
gemeinen Begriff vom Baum beziehen, in der concreten Wirklichkeit Gültig-
keit haben, wie z. B. der Satz von der unendlichen Theilbarkeit des Baumes ^
Endlich sind jene Ausführungen auch noch geeignet, einen nahe-
liegenden Einwand gegen Kants Darstellung zu entkräften (welcher denn
auch in der That nachher von Leibnizianern erhoben worden ist, so von
Pistorius, A. D. B. 93, 457, welcher die Anwendbarkeit der Mathematik
gerade aus der Leibniz'schen Lehre zu erweisen sucht). Man wird ja leicht
dazu kommen, zu sagen: wenn nach der Leibniz'schen Lehre die Begriffe
von Baum und Zeit in letzter Linie aus der Erfahrung stammen, so ist es
ja ganz selbstverständlich und braucht nicht erst umständlich erklärt zu
werden , dass die auf jene Begriffe bezüglichen mathematischen Sätze wieder
von den Erfahrungsgegenständen gelten. Aber nach der Leibniz'schen Lehre
werden jene von der Erfahrung abstrahirten Begriffe von der Einbildungs-
kraft verändert, und, was von diesen so veränderten Begriffen gilt,
braucht desshalb nicht ohne Weiteres von den Erfahrungsdingen auch
zu gelten. —
Nachdem Kant so die Vortheile und Nachtheile der beiden Theorien
gegen einander abgewogen hat, verfehlt er nicht, darauf hinzuweisen, dass
seine eigene Theorie die Vortheile beider vereinige, ohne deren Nachtheile
herüberzunehmen. Denn bei ihm, wie bei der Newton'schen Theorie ist die
immanente Gültigkeit der Mathematik garantirt, und wie bei der Leib-
niz'schen Theorie, wird auch bei ihm die Möglichkeit transscendenter
Wesen sichergestellt. Natürlich wird, wenn auch Kant diesen Punkt nicht
ausdrücklich hervorhebt, dieses günstige Besultat nur dadurch erreicht, dass
Kant es verstanden hat, zwischen den beiden feindlichen Theorien eine
Vermittelung zu stiften. (Vgl. Comm. I, 59.) Die allgemeine Ver-
mittelungstendenz Kants haben wir ja kennen gelernt (vgl. Band I, S. 49 ff.).
Die Vermittelung besteht hier näher in Folgendem: Von Newton nimmt
Kant herüber die Bestimmung, dass der Baum (dasselbe gilt dann auch
von der Zeit) ein Etwas sei, was alles Wirkliche befasst, und so müssen
^ Ist dies vielleicht auch der Sinn der dunkeln Stelle der Dissertation von
1770, § 15 E fffiegatis forsitan, a quibus ahstracta erat, determinationihua^^ ? (Den
Anfang dieser Stelle s. oben S. 284.)
2 Vgl. hiezu Reichardt in Wundts Philos. Studien , IV (1888) , S. 613 ff.
(Leibniz' und Wolffs Ansicht über die Entstehung der mathematischen Begriffe).
422 Excurs. Entstehung der Kantischen Raum- und Zeitlehre.
A 40. B 57. [R 48, H 71. K 88.]
die Sätze vom Räume von Allem im Räume gelten ; aber jenes allumfassende
Etwas ist unsere Anschauungsform, wir selbst sind gleichsam die Träger
jenes ungeheuren, unermesslichen Gefösses, in welchem alles Wirkliche unter-
gebracht wird: aber nur alles Empirisch- Wirkliche; denn indem jene Form
eben eine Function unseres Subjectes ist, gilt die Form auch nur von dem,
was uns empirisch vorkommen kann. Und darin liegt ja auch das an
Leibniz erinnernde Moment: indem jene Raumform eben nur von Erschei-
nungen gilt und gelten kann, bleibt noch ein an sich seiendes Gebiet von
Dingen an sich übrig, welche als übersinnliche jene Form nicht an sich
haben oder wenigstens nicht an sich zu haben brauchen. Mit jener Be-
stimmung, der Raum sei subjective Form, hebt ja Kant auch noch alle
Schwierigkeiten, welche der Leibniz'schen Raum- und Zeittheorie ankleben,
insbesondere jene unklare Vermischung von Phänomenen und Dingen an
sich, jenes Schwanken zwischen bloss empirisch-phänomenaler und zwischen
transscendenter Gültigkeit von Raum und Zeit. Und sehr nahe liegt ja
nun die Vermuthung, dass Kant, ehe er jenen vermittelnden Ausweg fand,
die entgegengesetzten Theorien von Leibniz und Newton selbst nach einander
getheilt und in sich selbst gewissermassen erlebt habe. Nur, nachdem er
es mit beiden Theorien versucht hatte, nachdem er aber in beiden unlösbare
Schwierigkeiten gefunden hatte, konnte er zwischen Scylla und Charybdis
die sichere Durchfahrt gewinnen.
Excurs.
Die historiBche Entstehung der Kantischen Baum- und Zeitlehre.
Hier ist nun der richtige Ort, eine vielbehandelte und schwierige Streit^
frage im Zusammenhang zu erörtern, die Frage nach der historischen Ent-
stehung der Kantischen Raum- und Zeitlehre, eines der schwierigsten Probleme
der Kantischen Entwicklungsgeschichte. Wir haben eben noch die Vermuthung
gewagt, Kant habe die beiden von ihm hier bekämpften Theorien selbst
nach einander getheilt, und, so zu sagen, in sich selbst durchgemacht. Diese
Vermuthung wird durch Kants frühere, vorkritische Schriften bestätigt ^
^ üeber Kants vorkritische Raumtheorien und deren Verhältniss zu Leibniz
und Newton vgl. die Comm. I, 47 angeführte entwicklungsgeschichtliche Literatur,
und besonders femer Ueberweg, Der Grundgedanke des K.*fichen Kriticismns
nach seiner Entstehungszeit (1769), Altpr. Monatsschr. Bd. VI (1869) H. 3. Cohen,
Die System. Begriffe in Ks. vorkritischen Schriften, 1878, S. 44—58. Nolen, La
critique de Kant et la metaphysique de Leibniz, 1875, S. 162 ff. Fischer, in,*,
119ff. 125 f. 129. 171 f. 207. 216. 276-282. Thiele, Philosophie Kants I, a, 122ff.
152 ff. 173 ff. I, b, 50. 135. 236—250. H. Wolff, Spec. u. Phil. I, 35-40. 74 ff.
Windelband, Gesch. d. n. Phil. II, 18 f. 33 f. 35 ff. Derselbe auch in der Allg.
Encyclop. Art. Kant S. 350 ff. Weisz, Ks. Lehre von Raum u. Zeit. Diss. Leipz.
1872, S. l—ll. Kuttner, Hist.-gen. Darstellung v. Ks. versch. Ansichten üb. d.
Kants Ansichten über Raum und Zeit 1746-1758. 423
Mit den Problemen von Raum und Zeit, speciell mit der Frage nach
dem Wesen des Raumes, hat sich Kant von Anfang an intensiv beschäftigt.
Er schloss sich in diesem, wie in den anderen Hauptpunkten, zuerst an die
L ei bniz-Wolf fische Schule an.. Sogleich in seiner ersten Schrift, den
Gedanken von der wahren Schätzung u. s. w. (1746) erklärt Kant (§ 6—9):
„Es ist leicht zu erweisen, dass kein Raum und keine Ausdehnung sein
würden, wenn die Substanzen keine Kraft hätten, ausser sich zu wirken.
Denn ohne diese Kraft ist keine Verbindung, ohne diese keine Ordnung,
und ohne diese endlich kein Raum.'' Eine Consequenz davon ist, dass es
mehrere Welten geben kann, weil eben jede Welt = eine zusammengehörige
Vielheit wirkender Substanzen ihren eigenen Raum hervorbringt (§ 8), und
dass die Räume dieser anderen Welten „Ausdehnungen von mehr als drei
Abmessungen", also „andere Raumesarten'' sein können (§ 10. 11 ; vgl. oben
S. 267. 347). Von grösserer praktischer Tragweite ist die Consequenz, dass
zwischen der auf blossen, theilweise willkürlichen Abstractionen beruhenden
Mathematik und der sich strict an die concreten Kräfte haltenden Natur-
lehre (resp. Metaphysik) Differenzen entstehen können: »Der Körper der
Mathematik, die den Begriff von ihrem Körper selber festsetzt, ist ein Ding^
welches von dem Körper der Natur ganz unterschieden ist, und es kann
daher etwas bei jenem wahr sein, was doch auf diesen nicht zu ziehen ist"
(§ 114. 115). Während die Nova Dilucidatio (1755) UI, prop. 12 u. 13, 2, 5
jene Theorie wiederholt: Qtwniam locus, situs, spatium sunt relationes suh-
stantiarum, und: spatii notio implicatis substantiarum actianibus absolvitur,
jedoch mit dem Zusatz, dass das Princip dieser actio die attractio Netotoniana
sei, während auch die „Allg. Naturgesch. d. Himmels" (1755) in ähnlicher
Weise sagt: „Die Anziehung ist ohne Zweifel eine ebenso weit ausgedehnte
Eigenschaft der Materie, als die Coexistenz, welche den Raum
macht, indem sie [die Attraction] die Substanzen durch gegenseitige Ab-
hängigkeiten verbindet" u. s. w. (R. VI, 154) — sucht dagegen die Monado-
logia Physica (1756) ^ jenen in der Leibniz^schen Schule behaupteten Wider-
streit zwischen Geometrie und Metaphysik aufzuheben, und den „usus meta-
phy siede cum geometria junctae" nachzuweisen. „Sed quo tandem pcLcto
metaphysicam geometriae concüiare licet, cum gryphes fadlius equis, quam
phüosophia transscendentalis geometriae jungi posse videiUur ? Etenim cum illa
spatium in infinitum divisibüe esse praefracte neget, haec eadem, qua cetera
solet, certitudine asseverat, etc.^ Diesen Widerspruch, auf den Kant, wie wir
Wesen d. Materie. Diss. Halle 1881, S. 6 ff. Caird, CrH. Phil I, 164 ff. In
russischer Sprache ist erschienen: Kosloff, Die Entwicklung der Raum- und Zeit-
lehre Ks. Kiew 1884- Vgl. Du Marchie van Voorthuysen, Nagelaten Geschriften,
I (1886); (vgl. Phü. Monatsh. XXIV, 209. Archiv f. Gesch. d. Phüos. III, 507.)
* üeber die Wichtigkeit dieser kleinen Schrift für die Entwicklung der
Kantischen Raumlehre vgl. Simmel, Das Wesen d. Materie nach Ks. Phys. Monad.
Diss. Berlin 1881, S. 23—25, sowie Kuttners eben erwähnte Dissertation,
S. 23 ff. 48 ff.
424 Ezcnrs. Entstehung der Eantischen Raum- und ZeiÜehre.
sahen (S. 281 ff. 418 ff.) ^ noch oft zurückgekommen ist, ist offenbar auch
eine Antinomiej die zu den treibenden Factoren bei der Ausbildung des
transsc. Idealismus gehört'; auch hier will Kant sie schon iGsen, aber noch
ganz vom Boden der Leibniz'schen ßaumtheorie aus; denn daran h< er
fest: spatiutn est suhstantialitatis plane expers, et relationis extemae
unitarum monadum phaenomenon {Prop. V, vgl. oben S. 359 N.) ; spatium nan
est suhstcvntia, sed est quoddam externae substantianim relationis phaenomenon
{Prep, V); spatium solis externis respeetibus absolvitur {Prop, VII). Da nun
jenen SuhstafUiae = Monaden nach der Leibniz'schen Schule Einfachheit (sim-
plicitas, indivisibilitas) zukommt, so geräth dieselbe mit der mathematischen
Lehre von der infinita divisibilitas spatii in Conflict. Während die Leibniz'sebe
Schule daher die diversitcts spatiorum geometrici et naturalis behauptet, et^ qui
monadibus suhscribunt, spatii geometrici affectiones pro imaginariis habere,
suarum partium rati sint, sucht Kant zu zeigen, dass auch der physische
Baum („spatium physicum'^ vgl. Prot, § 13 I, vgl. oben S. 169) unendlich
theilbar sein könne, unbeschadet der simplicitas seiner Componenten, der
Monaden: Die Monade ist zwar, metaphysisch genommen, einfach, erfüllt
aber, physisch genommen, einen bestimmten, also auch ins unendliche theil-
baren Raum. K. Fischer (3. A. 276 f.) lässt Kant in diesen Schriften schon
die ursprünglich keit des Baumes im Newton'schen Sinne behaupten; aber
wie sehr Kant um diese Zeit noch principiell auf dem Boden der Leibniz-
sehen Baumtheorie steht, zeigt auch noch der „Neue Lehrbegriff der Be-
wegung und Buhe" (1758), worin Kant sich nicht den „mathematischen
Baum leer von allen Geschöpfen als ein Behältniss der Körper einbilden^*
will; diese Schrift gehört ja noch der dogmatischen Periode Kants an.
Die zweite, empiristische Periode der Käntischen Schriftstellerei
bringt zunächst skeptische Aeusserungen über die bisherigen metaphysischen
Baumtheorien, um in dem entschiedenen Anschluss an die Theorie des
Führers der „mathematischen Naturforscher", Newtons zu endigen \ In
dem ,. Beweisgrund" (1762; ich folge in der Datirung der Schriften dieser
Periode B. Erdmann, Beflez. II, XVII) heisst es I, 1: „Ich zweifle, dass
Einer jemals richtig erklärt habe, was der Baum sei" u. s. w. In der
Preisschrift „Ueber die Deutlichkeit" (1763) heisst es entsprechend (2. Betr.
Anf.): „Ich getraue mir zu sagen, dass, ob man gleich viel Wahres und
Scharfsinniges von der Zeit gesagt hat, dennoch die Bealerklärung derselben
niemals gegeben worden ;" was die Methode dazu betrifft, so wiederholt Kant
mehrfach, dass die Philosophie darauf angewiesen sei, diese „uns gegebenen
Ideen" durch Zergliederung, Analysis aufzuhellen, und dass dieselbe dabei
auf „unerweisliche Begriffe und Grundurtheile" stosse, die man nicht mehr
„beweisen", sondern nur „anschauend erkennen" könne: daraus folgt, dass
^ Ueber den Einfluss Newtons vgl. speciell Dietrich, Kant und Newton,
1877. Vgl. Cohen, 2. A. 22—24. 63—66. 68 ff. 81. 85. 86 f. Biehl, Krit
I, 234—242. 256 ff. Derselbe weist ib. 36—43 auch auf Locke als .psychologiachea
Vorgänger Kants* in der Baumlehre hin.
Kants Ansichten über Raum und Zeit 1762-1768. 1770. 425
ihm auch der Raum, den er vorher mit Leibniz noch ableiten wollte, ein
nicht weiter analysirbarer „Grundbegriff* geworden ist. Im Verlauf der
zweiten Betrachtung: „einzig sichere Methode der Metaphysik in der Er-
kenntniss der Natur der Körper" wird zwar wieder von den „einfachen Sub-
stanzen" oder „Elementen" im Leibniz'schen Sinne gesprochen, aber es heisst
jetzt bezeichnender Weise nicht mehr, dass das Zusammen derselben erst den
Baum hervorbringe^ sondern dass die Elemente in nexu cum cUm einen
Raum einnehmen. In welchem Sinne dies gemeint ist, darauf weist auch
die Vorrede zu den „Negativen Grössen" (1763) hin, in welcher Kant den
Metaphysikern Vorwürfe macht, dass sie „aus den Begriffen des Mathe-
matikers nichts als feine Erdichtungen machen", anstatt im Gegentheil bei
ihnen Forschungen nach der „Natur des Raumes und dem obersten Grund,
daraus sich dessen Möglichkeit verstehen lässt", von den Errungenschaften der
Mathematik auszugehen; diese entdecke die allgemeinsten Eigenschaften des
(concreten) Raumes, während die Metaphysik diesen „auf eine ganz abstracte
Art denkt" ; besonders werden die Metaphysiker an dieselbe Abhandlung
Eulers von 1748 (Befleanons sur Vespace et le tems) gewiesen, auf welche
Kant dann auch in dem Aufsatz von 1768 sich beruft, und in welcher jener
Gegensatz zwischen den „McUhemcUiciens^* und den „Metaphysiclens" sehr klar
entwickelt wird. Dazwischen liegen noch die „Träume" (1766), aus denen
nur zu erwähnen ist, dass in dem Abschnitt, der allein ernst zu nehmen ist
(Erster Theil, 1. Hauptst.), mehrfach wieder davon die Rede ist, dass die
einfachen Substanzen „in dem Räume vereinigt", „durch ihre äussere Wir-
kung in einander" „einen Raum einnehmen". Dass nun dieser Raum
„unabhängig von dem Dasein der Materie und selbst als der erste Grund
der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe" — dieses
durch die vier eben besprochenen vorhergehenden Schriften vorbereitete Er-
gebniss wird nun endlich 1768 in voller Klarheit ausgesprochen in dem
Aufsatz über die „Gegenden im Räume", in welchem Kant der Raumtheorie
der ,, deutschen Philosophen" eine definitive Absage schreibt, und sich den-
jenigen „scharfsinnigen Philosophen" anschliesst, welche den Raum der „Mess-
künstler" in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft aufgenommen haben.
Kant schliesst sich an Eulers ,,espace ahsoW an und damit ist der An-
schluss an Newton und Clarke vollzogen. Der Raum ist jetzt für Kant ein
anschaulicher Grundbegriff, nicht mehr im Sinne der Leibnizianer ein ab-
stracter Folgebegriff. Vgl. oben S. 413.
Die Dissertation von 1770 enthält schon Kants kritische Raum-
theorie in allen ihren wesentlichen Zügen. Seine vorkritischen Anschau-
ungen über den Raum sind also in der That, wie uns die Analyse des
Textes der Kr. d. r. V. vermuthen liess, durch die beiden Stadien der
Leibniz'schen und der Newton'schen Raumtheorie hindurchgegangen.
Aber wenn auch diese beiden Theorien sich dadurch wesentlich unterscheiden,
dass der ersteren der Raum ein blosses Folgeverhältniss ist, der zweiten da-
gegen eine ursprüngliche Substanz, so haben sie doch das Gemeinsame, dass
der Raum beiden etwas Reales und Objectives ist : sie „behaupten die abso-
426 Excurs. Entstehung der Kantischen Raum- und Zeitlehre.
lute Realität * des Raumes nnd der Zeit'', die erstere „als inhärirend'', die
andere ,,als subsistirend'', um mit Kants eigenen Worten aus der Kr. d. r. V.
zu sprechen. Auch Kant glaubt, um uns Fischers treffender Worte (3. A.
120) zu bedienen, „an das objective Dasein des Ranmes sowohl in seiner
ersten Schrift von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746), als
in der letzten (1768), die von dem k r i t i s c h e n Wendepunkte nur um zwei
Jahre absteht . . . Vergleichen wir diese Urtheile, welche Kants erste [vor-
kritische] Periode begrenzen, so halten beide den Raum für etwas Ob-
jectives, aber im ersten erscheint der Raum als das Product der Körper,
im zweiten als deren Voraussetzung. Vergleichen wir mit diesem Ur-
theile die kritische Philosophie [seit 1770], so halten beide den Raum für
etwas Ursprüngliches, aber nach jenem bildet der Raum eine ursprüngliche
Realität, unabhängig von unserer Anschauung; nach dieser ist er nichts
Anderes, als eine Grundform der letzteren. Kant endet seine vorkritische
Periode damit, dass er die Ursprünglichkeit des Raumes behauptet und die
Objectivität desselben festhält, wogegen die kritische damit beginnt, dass er
die Ursprünglichkeit des Raumes festhält und die Idealität desselben entdeckt/'
Die Position Kants im Jahre 1770 ist, wie auch aus dieser Schildemng
hervorgeht, somit im Grunde als eine eigenartige Synthese der L#eibniz-
sehen und der Newton'schen Raumtheorie zu betrachten (vgl. Comm. l, 59
und oben S. 343 u. 421 f.) *. Die Vermittlung von Gegensätzen ist ja, wie
wir schon Comm. I, 58 statuirten und seitdem oft bestätigt fanden, ein
hervorstechendes Merkmal in Kants geistiger Constitution. Von Newton
nimmt Kant die Ueberzeugung herüber', dass der Raum das Prius der
Körper ist, dass er erst die Objecte und deren Verhältnisse möglich macht;
aber dieser die Körper in ihm erst ermöglichende Raum, der im Verhältniss
^ Inwiefern auch die Leibniz'sche Philosophie die „absolute Realität* des
Raumes und der Zeit lehre, ist oben S. 416 ff. hinreichend erläutert worden.
* Wie sehr die Idee einer solchen Vermittlung in der Luft lag, beweist der
Umstand, dass Beguelin 1769 in der Berliner Academie (Vol. XXV, 344 ff. ; vgL
XXII , 365 ff.) eine Abhandlung unter dem Titel veröffentlichte : ConcHiation des
idies de Newton et de Leibnitz sur Vespace et le vuide.
' Kant hat 1770 von Newton auch die eigenthümliche Idee herübergenommen
von dem spatium als dem sensorium Dei. Auch M. Herz in seinen , Betrachtungen
a. d. sp. Weltweisheit '', S. 84 betont diesen Zusammenhang. Siehe Weiteres hiei^
über bei B. Erdmann, Ks. Reflexionen, II, 104—106. — Auf einen anderen Zn-
sammenhang mit Newton deuten die Bemerkungen hin, welche Kant in dem Opm^t
Postumum, XXI, 352. 356. 359. 360 über die Ableitung der Idealitätslehre aus dem
,Newton'schen Attractionssysteme* macht. — Den leichten Uebeigang von Newton
zu Kant behauptete auch Schwab, in Eberhards Philos. Magazin III, 132 (vgl.
auch in der Berliner Monatsschr. XVII, 89): Kant scheine , seinen Begriff vom
»
R-aume durch Uebertragung des Newton'schen Sensorii von der Gottheit auf das
menschliche Gemüth formirt zu haben** (wogegen Forberg in Reinholds .Fnnda-
ment** S. 200 heftig opponirt). — Weiteres über das Verhältniss Kants zu Newton
8. bei Caird, Phil of Kant 245. Cnt, Phil. I, 181. 288. 304.
Wie kam Kant zu seiner Entdeckung vom Jahre 1770? Durch Uume? 427
zu den Körpern in ihm absolut ist, ist nun nach Kant im Yerhältniss zu
dem vorstellenden Subject nur relativ: er wird vom Subject getragen; und
dieser Gedanke ist nichts als eine Art Umbildung der L e i b n i z'schen Re-
lativitätstheorie, sowie seines Begriffes vom phaenamenan, welche beide Kant
von ihren Widersprüchen befreite, indem er von der in der Wolffischen
Schule üblichen Fassung der Monaden, wonach sie den physischen Raum
ausser uns realiter hervorbringen, auf die streng metaphysische Fassung der
Monadenlehre bei Leibniz zurückgriff, wonach der Raum schlechterdings nur
ein ideelles Phänomen in uns ist. Vgl. oben S. 147. Das Originale an jener
Synthese bleibt aber der Gedanke der apriorischen Anschauungs-
form, welcher als durchaus neu' in Anspruch zu nehmen ist (vgl. oben
S. 102— 106): vermittelst dieses Begriffes gelingt es Kant, „den unendlichen
leeren Weltenraum als subjective Denkform in das eigene Hirn hineinzu-
pressen" (Bilharz, Erl. zu Ks. Kr. d. r. V. 160).
Wie nun aber Kant zu dieser Entdeckung vom Jahre 1770 gekommen
sei, ist eine vielumstrittene Frage. Der allgemeinen Möglichkeiten, welche
hier vorliegen, sind es drei: entweder durch einen äusseren Anstoss, oder
durch immanente Entwicklung, oder durch Beides zusammen. Die erstere
Ansicht ist entwickelt worden von Göring, System der krit. Phil. II (1875),
S. 121 ff., sowie gleichzeitig, aber viel schärfer von Paulsen, Entw. der
K.'schen Erk.-Theorie, 1875, S. 125 — 146. Paulsen meint, wie auch Göring,
nicht „in rein innerer Entwicklung" habe Kant das Resultat von 1770 ge-
Wonnen, sondern es sei der Einfiuss Hume's, „aus welchem ihm der neue
Gesichtspunkt der kritischen Philosophie entsprang", d. h. nicht etwa der
positive Einfiuss desselben, sondern die Re actio n gegen seinen Skepti-
cismus. Hume's skeptische Behandlung des Gausalbegriffes habe Kant den
Untergang aller Wissenschaft befürchten lassen ; Kant sei daher zur Ansicht
gelangt, der Causalbegriff sei nicht ein empirischer, sondern ein reiner Ver-
standesbegriff, ein apriorisches Gesetz des Verstandes, das Gültigkeit besitzt
für die Noumena. Erst von hier aus habe Kant nun auch die Idee aprio-
rischer Gesetze der Sinnlichkeit gefasst und habe durch die Theorie solcher
auch die von Hume (136—138) und von der Leibniz- Wolffischen Schule
(141 — 143) bestrittene Gültigkeit der angewandten Mathematik gerettet '.
* Durch diesen Begriff unterscheidet sich Kants Raumtheorie scharf von
allen ähnlichen Theorien, mit denen man dieselbe verglichen hat, nicht nur von
der Leibni Zusehen, sondern auch von denen Berkeley's und Maupertuis'
(über Letzteren als Vorgänger Kants vgl. Frauenstädt , Briefe 140 ff. ; Gwinner,
Schopenhauers Leben, 2. A., 1878, S. 560—563, dazu Schopenhauer selbst, W. a. W.
II, 57; übrigens auch schon Villers, Phil, de Kant, 11, 173 ff.)- Bass Hobbes auf
dem Wege zu Kant gewesen sei, behaupten die Jacob'schen Annalen I, 417 ff.
natürlich mit Unrecht; vgl. darüber auch Tiedemann, Geist d. specul. Philos.
VI, 43 ff. Ueber Condillac's Raumtheorie im Verhältniss zur Kantischen vgl.
Neeb, Verm. Schriften I, 144 ff.
• Vgl. auch Cohen, Ks. Theorie d. Erf. 2. A. 94. Ueber das Verhältniss
Hume's hierin zu Kant vgl. auch Compayre, Hume 135 ff.
428 Excurs. Entstehung der Eantiflchen Raum- und Zeitlehre.
Die Baumtheorie von 1770 erscheint hier also als ein blosses Neben-
pro duct jener Beaction gegen Hume, deren Zeit, unter Benutzung d^
bekannten Ean tischen Selbstzeugnisses von 1783 (vgl. Comm. I, 340 ff.) Paulsen
eben ins Jahr 1770 verlegt. Allein diese Auffassung fahrt zu einer äusserst
gezwungenen Auslegung der Dissertation von 1770, deren Schwerpunkt doch
eben in der Baum- und Zeitlehre liegt, während die Causalitätslehre gerade
in ihr so gut wie keine Bolle spielt. Auch passt der Einfluss Hume's auf
Kant, wie ihn Letzterer so drastisch 1783 geschildert hat, auf dieses Jahr
am allerwenigsten, sondern nur entweder auf 1762 oder auf 1772, oder auch
auf Beides, aber nimmermehr auf 1770 (vgl. Comm. I, 48. 347). Das schliesst
natürlich nicht aus, dass manche von den mannigfachen Oedankenreihen,
welche Hume in Kants Geiste seit 1762 aufgeregt hatte, auch noch im
Jahre 1770 wirkten und mitwirkten. Diese anvi^ia ist den Hume'schen
Problemen auch im Jahre 1770 neidlos zuzugestehend Aber dass sie, wie
Paulsen meint, in jener von Kant 1783 geschilderten Weise im Jahre 1770
entscheidend eingegriffen hätten, kann nicht anerkannt werden. Jene
Auffassung Paulsens ist mitbedingt durch sein Bestreben, aus der Ent-
wicklungsgeschichte der Kantischen Erkenntnisstheorie auch seine Auf-
fassung vom Hauptzweck des erkennto isstheoretischen Systems Kants zu
stützen , als welcher ihm der Bationalismus gilt (Comm. I; 67 ff.). Diese
Frage lässt sich aber, wenn für sie überhaupt sichere entwicklungsgeschicht-
liche Kriterien in Betracht kommen, mindestens nicht aus der Genesis des
Standpunktes von 1770 beantworten, sondern nur aus der Beurtheilung der
Jahre 1772 ff., in welchen, wie B. Erdmann gezeigt hat, erst die entscheidende
kritische Wendung zu Stande gekommen ist. Vgl. hierüber auch B. Erd-
mann in der Einl. zu Ks. Beflex. II, XXIV.
In anderer Weise hat Windelband (Viert, f. wiss. Phil. I, 1876,
233—289. Gesch. d. n. Phil. II, 30 ff. Gesch. d. Philos. 366 f.) die Theorie
des äusseren Anstosses für das Jahr 1770 ausgebildet: die erst im Jahr 1765
ans Licht getretenen Nouveaux Essais von Leibniz haben die Wendung
im Jahre 1770 bei Kant zur Folge gehabt; aus ihnen entnahm Kant den pla-
tonisirenden scharfen unterschied des mundus sensibilis und inteUigibüis, aus
ihnen die Lehre von angeborenen Gesetzen der Vernunft, welche bei Ge-
legenheit der Erfahrung in Action treten ; diese „Abhängigkeit schlage aller^
dings in partiellen Gegensatz um'', insofern Kant den graduellen Unterschied
von Sinnlichkeit und Verstand bei Leibniz in einen qualitativen verwandle',
und die Sinnlichkeit als ein positives Vermögen a priori, als Function der
^ Ob Kant durch Hume schon um jene Zeit und überhaupt vor dem Jahre
1772 in erkenntnisstheoretischer Hinsicht beeinflusst worden sei, ist allerdings durch
die eindringenden Untersuchungen von B. Erdmann, Kant und Hume um 1762«
im Arch. f. Gesch. d. Philos. I, 62 ff. 216 ff. wieder sehr fraglich geworden.
^ Kant polemisirt ja deshalb, wie zu A 42 ff. (s. unten 447 ff.) zu behandeln
sein wird, heftig gegen die bloss graduelle Unterscheidung Beider in der Leibnix-
Wolffischen Philosophie.
Der EinfluBS der Leibniz'schen Nouveaux Essais (1765). 429
reinen Anschauung fasse. „Der Ursprung dieses originellsten Gedankens der
K. 'sehen Philosophie liege, wie schon K. Fischer gesehen habe, in der Mathe-
matik, resp. in Es. Auffassung derselben als einer zugleich sinnlichen und
apriorischen Erkenntniss'^ ; auch „zu den Betrachtungen Hume's, mit denen
Kant rang, lasse sich von der Leibniz'schen Lehre aus sehr einfach eine
Brücke schlagen** — aber das entscheidende Motiv der Wendung von
1770 liege doch in dem Leibniz'schen Einflüsse. Dass dieser Einfluss die
Dissertation von 1770 in der That wesentlich mitbedingt hat, hat auch
dieser Commentar Ton Anfang an behauptet, I, 47, und durch Hinweis
auf yiele Uebereinstimmungen im Einzelnen zu beweisen gesucht (I, 157.
167. 168. 170—172. 175. 178. 183 f. 197. 201. 202. 206. 211. 218. 237. 242.
341. 360. 382. 452 ; II, 90—95) K
Hingegen haben K. Fischer (Gesch. III, *, 312 ff.) , welcher aber ib.
S. 341 die Verwandtschaft von Leibniz und Kant in der Raumlehre selbst
zugibt, und B. Erdmann (Ks. Reflex. II, XXIII. XL VIII) opponirt, indem
sie auf die Unterschiede zwischen den Nouveaitx Essais und der Dissertation
hinweisen; aber tiefgehende Differenzen auf der einen Seite schliessen tief-
gehende Verwandtschaft auf der anderen Seite doch nicht aus. Jene
nahe Verwandtschaft, welche unter den gegebenen zeitlichen Verhältnissen
schwerlich anders denn als Beeinflussung aufgefasst werden kann, hat ja
auch Kant selbst hervorgehoben, nicht bloss 1790 in der Schrift gegen den
Leibnizianer Eberhard, am Schlüsse (vgl. bes. sub II daselbst), wo er auch
die Kr. d. r. V. „die eigentliche Apologie für Leibniz" nennt, sondern noch
viel directer an einer bis jetzt kaum beachteten Stelle, in den Met. Anf. d.
Nat. n, Lehrs. 4, Anm. 2 (Ros. V, 357 f.). Danach habe Leibniz im Wesent-
lichen dasselbe sagen gewollt, wie Kant; nur seine Nachfolger hätten ihn
„übelverstanden". Es sei eine „Missdeutung" derselben, dass der Raum
eine verworrene Vorstellung der Verhältnisse der Monaden sei; Leibniz'
selbst habe denselben nur als „subjective Form unserer Sinnlichkeit" an-
gesehen. Aus dieser Stelle kann man wohl schliessen, dass Kant, welcher
ursprünglich der landläufigen Theorie der Leibniz- Wolffischen Schule folgte
— gegen diese sind ja, wie wir S. 156 Anm. 1, 189 f. 207 Anm. 1, 211.
233 sahen, die Raumargumente gerichtet, ~ dem Originalstudium der Leibniz-
schen Werke, besonders eben der 1765 erschienenen Nouveaux Essais den
^ Es darf hier auch an die gleichzeitige Einwirkung der Nouveaux Essais
auf Herder erinnert werden, welche Haym, der feinsinnige und verdienstvolle Bio-
graph des Dichterphilosophen I in seinem monumentalen Werk über denselben
n, 265 ff. 667 im Einzelnen verfolgt hat. Da Hamann Herder schon am 21. Jan.
1765 anf die Nouveaux Essais aufmerksam machte, ist anzunehmen, dass das Werk
auch anderen Königsbergem, in erster Linie Kant, nicht unbekannt geblieben sein
wird. Vgl. auch Kronenberg, Herders Philosophie, 1889, S. 85 ff.
' Dass die ganze Stelle auf Leibniz zielt, nicht, wie Frauenstädt, Briefe 140 ff.
meint, auf Maupertuis, hat im Anschlass an Schopenhauer auch Gwinner aus-
geführt in dem .Leben" des Letzteren, 2. A. 1878, S. 560 ff. — Vgl. über die Stelle
auch oben S. 150 f.
430 Excurs. Entstehung der Kantischen Raum- und Zeitlehre.
Anstoss znr Aufstellung seiner Raumtheorie mit verdankt. Wie wenig aber
dieser Anstoss, wenn er stattgefunden hat, als eine sclavische Abhängigkeit
aufzufassen ist, darauf wurde ja oben S. 142 -- 151 hinreichend hingewiesen,
wo ja Kant die ungenügende Berücksichtigung Leibniz'scher Gedanken vor-
geworfen werden musste.
Es wäre also ein Irrthum, wollte man die tiefgehenden Differenzen
zwischen Leibniz und Kant in diesem Punkte übersehen; wie das Letztere
eine Ungerechtigkeit gegen Kant einschlösse, so würde es aber auch eine
Unbilligkeit gegen Leibniz sein, wollte man ihm das Verdienst absprechen,
der Kantischen Raum- und Zeitlehre durch seine eigene Theorie erst die
Wege geebnet zu haben, Kant auf den richtigen Weg gefuhrt zu haben.
Dass speciell die Nouveaux Essais mit ihrer scharfen Unterscheidung des mundus
sensibilis und inteUigibilis Keime der Kantischen Dissertation von 1770 und
damit der Transscendentalen Aesthelik auch von 1781 enthalten , hat man
schon im vorigen Jahrhundert vielfach und bald eingesehen: als Zeugen
haben wir oben S. 91 Anm. 1 Schmid, Schaumanu, Abicht von den Kantianern,
Eberhard und Feder von den Kantgegnern angeführt. Es sei hier noch auf
Einen hingewiesen, der zwischen diesen beiden Kategorien in der Mitte steht,
Platner, welcher (Aphorismen, 3. A. 1793, S. 486 f., auch 420) die These
aufstellt und durchführt: „Wenn Kant sagt, der Baum ist eine Urform
der Sinnlichkeit, so ist es, meiner Vorstellung nach, ganz dasselbe, was
Leibniz lehrt: dass die Ausdehnung eine Weise unseres Vorstellungs-
vermögens und nichts in den Dingen selbst ist/' Ist es nun auch viel zu
weitgehend \ zu sagen, Beides sei „ganz dasselbe'^ — denn bei Leibniz fehlt
eben das specifisch Kantische: der Begriff der reinen Anschauungsform — ,
so ist es immer wieder wer th voll, daran zu erinnern, dass die Wurzeln der
Kantischen Philosophie im Leibniz'schen Systeme liegen, wie dies denn auch
ein Fragment eines Briefes von Kant an Kästner aus dem Jahre 1790 aus-
sagt (mitgetheilt von J. G. Mussmann, Im. Kant, Halle 1822, 8. 16; vgl.
oben S. 255): ,,Wenn sein System völlig entwickelt wäre, würde man sehen,
dass er die Leibnizische Theorie nicht bestreiten, sondern erläutern und be-
festigen wolle." Darf doch auch in diesem Zusammenhange daran erinnert
werden, dass Kants Dinge an sich, wie B. Erdmann nachgewiesen hat,
nichts anderes sind, als so zu sagen, verschämte Leibniz'sche Monaden.
^ Platner hatte diese Identification der beiden Theorien schon 1784, in
der 2. A. seiner Aphorismen S. 305 ff. vollzogen. Hiegegen wendete sich Jacob
in der , Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden*, 1786, S. 322—3^.
Platner antwortete hierauf in der 3. A. der Aphorismen 1793, S. 438 f. Gegen
Platner wendete sich auch Schulz in seiner Prüfung, I (1791), S. 208 ff. Uebrigens
hatte ja auch schon Marcus Herz 1772 den Zusammenhang Kants mit Leibniz
betont, vgl. oben S. 90. Feinsinnige Bemerkungen über den Zusammenhang der
Kantischen mit der Leibniz'schen Raumlehre auch bei Eerbart, Einleitung, § 157,
sowie in dem schon Bd. I, S. 341 N. gerühmten Buche von Bolin S. 73 ff. Vgl.
femer Rosenkranz, Gesch. d. K. 'sehen Philos. 46 (343). P a u 1 s e n , Entw. 145 N.
Cohen, Th. d. Erf. 19 f. 2. A. 111 ff.
Aeussere und innere Motive der Entdeckung. 431
Ist somit ein äusserer Anstoss, und zwar speciell durch Leibniz*
Nouveaux Essais am Ende der 60er Jahre als wahrscheinlich anzusetzen ^,
so fragt es sich nur mehr, ob dieser Anstoss das einzige Entscheidende
gewesen sei, oder ob Kant auch zugleich aus seiner eigenen Entwicklung
heraus auf innerem Wege zu jener Wendung von 1770 gedrängt worden
sei? Man wird schon a priori aus allgemein psychologischen Gründen es
als das Wahrscheinlichste finden, dass äussere Anstösse und innere Motive
bei Kant in derselben Weise zusammengewirkt haben, wie sie bei allen
grossen culturhistorischen Wendungen als auvaiiia aufgetreten sind. Wir
werden es also als eine willkommene Ergänzung resp. Gorrectur des Bis-
herigen zu betrachten haben, dass nun auch von anderer Seite den rein
immanenten Motiven der Wendung von 1770 nachgespürt worden ist; wenn
dabei gelegentlich die äusseren Motive ganz geleugnet werden, so ist dies
ebenso einseitig, als wenn diese äusseren Motive in übertriebener Weise
hervorgehoben werden; doch ist zuzugeben, dass eine Vernachlässigung der
inneren Motive ein weitaus grösserer Fehler sein würde, als die Nicht-
berücksichtigung der äusseren Factoren: denn was gross an den Menschen
ist, wird trotz aller äusseren Begünstigung oder auch Hemmung doch aus
dem tiefsten Schooss ihres Inneren herausgeboren : dort liegen doch zuletzt die
ODvexTixa ftttta verborgen.
unter denjenigen Theorien , welche die Wendung von 1770 auf rein
innere Motive zurückführen, ist zunächst der Versuch zu erwähnen, den zu-
^ Auch an die Suggerirung des Begriffes der „Form'* durch Lambert um
jene Zeit ist mit Windelband, Gesch. d. n. Phil. II, 30 ff. zu erinnern, vgl. oben
S. 63 f., sowie S. 204. — Laas, Id. u. Pos. I, 169 ff. macht auf den Einfluss
Eulers aufmerksam, dessen 1769 erschienene .Briefe an eine deutsche Prinzessin*
Kant in der Diss. § 27. 30 beifalligst citirt. Vgl. oben S. 143 Anm. und S. 425. —
Derselbe findet (ib. I, 168), wohl im Anschluss an Dühring, Krit. Gescb. d. Phil. 396,
in Kants Dissertation auch Swedenbor g'sche Einflüsse, eine zunächst auffallende
Ansicht, die aber nicht a limine abzuweisen ist ; schon oben S. 143 Anm. (vgl. auch
S. 345) wurde gelegentlich darauf hingewiesen. Es braucht ja auch bloss daran
erinnert zu werden, dass in den « Träumen", I, 2 u. II, 2, Swedenborgs Theorie
von „zweien Welten' eingehend besprochen wird, und dass Swedenborg, welcher
die sinnliche Welt im Räume nur für ein Phänomen der unräumlichen Geisterwelt
ansah, für die beiden Welten genau dieselben Ausdrücke anwendete, welche auch
Kant 1770 gebraucht: mundus intelligihilis et sensibilis. Vgl. auch Kants Vorl.
über Metaph., herausgeg. v. Pölitz (1821) , S. 257. Unter Berücksichtigung dieser
Stelle hat auch Riehl, Krit. I, 229 N. Beeinflussung Kants durch Swedenborg
angenommen. Vgl. meine Anzeige der Ausgabe von „Kants Vorlesungen über
Psychologie ; mit einer Einleitung : Kants mystische Weltanschauung" durch Du Prel
(1889) im Arch. f. Gesch. d. Phil. IV , 721 ff. Wenn letzterer Autor den Zu-
sanunenhang Kants mit Swedenborg stark übertreibt, so darf man darum doch
nicht in den entgegengesetzten Fehler verfallen, das positive Verhältniss Kants zu
Swedenborg ganz hinwegzuleugnen, das auch in der kritischen Zeit noch gelegent-
lich hindurchbricht; so z. B. Krit. A 394; A 808, B 836 (Idee des Corpus mysticum
der Vemunftwesen) ; Kr. d. pr. V. I, 2, 1 (Ros. VIII, 242, Hart. V, 112).
432 Excurs. Entstehung der Eantischen Raum- und ZeiÜehre.
reichenden Grund derselben einzig und allein in der Schrift von 1768 selbst
zu finden. Besonders nach Riehl (Krit. I, 238. 249—251. 262—265. 300.
847 f.) ist „der Schritt von dem Ergebniss jener Schrift zur kritischen Ein-
sicht sowohl zeitlich als sachlich ein kurzer. Die Prämissen waren s&mmt-
lich gegeben, aus denen die Folgeining entspringen musste". Jene Schrift
von 1768 „steht auf der Schwelle der kritischen Lehre. Ein Theil ihrer Ei^
gebnisse ging in das kritische System ein ^ In ihr wurde bereits der ab-
solute und ursprüngliche Raum als ein Grundbegriff erwiesen, der kein
Gegenstand einer äusseren Empfindung ist, vielmehr alle äussere Empfindung
erst möglich macht. Es fehlte nur die Zurückfuhrung der RaumvorsteUnng
auf die empfängliche Seite des Bewusstseins, die Einsicht, dass der Ursprung
dieses Begriffes in der Form der sinnlichen Anschauung zu suchen sei, —
und der Standpunkt der Transsc. Aesthetik war erreicht." Diesen Stand-
punkt lässt Riehl Kant in diesem Zusammenhang durch Erwägungen ge-
winnen, welche nur in der Raumlehre von 1768 selbst wurzeln: Kant hatte
den Raum, das Princip der Möglichkeit der Dinge, als eine nicht durch
Empfindung gegebene Raumanschauung erkannt und musste sie daher weiter-
hin consequent als Form der Anschauung fassen. Diese Ausfuhrungen von
Riehl sind sehr feinsinnig, aber sie bauen wohl zu viel auf die wegen
ihrer Kürze unklare oder wenigstens unbestimmte Schlusswendung ' der
Schrift von 17t)8: „Der absolute Raum ist kein Gegenstand einer äusseren
Empfindung, sondern ein Grundbegriff, der alle dieselbe erst möglich macht"
u. s. w. Ist schon die Stelle an sich kurz und unbestimmt, so kommt noch
dazu, dass auch die Lesart derselben schwankt: denn während Rosenkranz
,, dieselbe" liest, setzt Hartenstein „dieselben" '; damit verändert sich aber der
Sinn nicht unwesentlich; im letzteren Sinne erläutert Thiele, Phil. Kants,
I, b, 250 : „wir werden bei ,alle dieselben*, entsprechend dem Vorhergehenden,
an die Gegenstände der äusseren Empfindung, und beim absoluten Raum
als »Grundbegriff* zunächst daran zu denken haben, dass dieser Raum die
Grundlage der Möglichkeit der äusseren Gegenstände ist"^; es handle sich
^ Vgl. dazu den später unten folgenden Ezcars über Kants Theorie der
.Symmetrischen Gegenstände".
* Wir mussten schon einmal, Fischer III, ', 282 gegenüber, die Unbestimmt-
heit der Stelle betonen, vgl. oben S. 802. (Vgl. auch S. 176. 195 gegenüber RiehL
Vgl. übrigens auch oben S. 230.) Weiteres über dieselbe Stelle auch bei Cohen,
Th. d. Erf. 2. A. 87. Zell er, Deutsche Phil. 419. Dietrich, Kant und Newton
105—107. 116. Caird, Phil, of Kant 256, Grit. Phü. I, 167.
' Nach R. Reicke's Mittheilung hat das Original «dieselbe', wobei aber
schon ein Druckfehler vorliegen könnte.
^ In demselben Sinne heisst es am Anfang derselben Abhandlung von 1768,
der Raum sei „der erste Grund der Möglichkeit der Zusammensetsung der
Materie*. Auch Leibniz nennt (Ed. Erdmann 752, a, 4, 5, vgl. 758, 41) den Raum
la poasibilit^ de mettre des corps, l' ordre, qui fait que les corps sont situabUs, aber
diese possibilitd ist rein aristotelisch zu fassen, wägend Kant hier im Sinne Demo-
krits dem Raum eine eigene Realität zuschreibt.
/
Die Abhandlang vom Jahre 1768. Das Problem der Mathematik. 433
also in der Stelle nicht um die subjectiv- erkenntnisstheoretische Frage des
Ursprungs der Raum Vorstellung , sondern um seine objective Existenz.
Indessen nimmt doch auch Thiele selbst seinerseits an (ib. 249 f. 291—293.
307), dass die Veranlassung zu dem Schritt von 1770 eben in der Schrift
von 1768 gegeben sei: die „negative^* Behauptung von 1768: „der absolute
Raum kein Gegenstand einer äusseren Empfindung** werde 1770 durch die
„positive Behauptung von der Aprioritftt des Raumes vervollständigt". Was
1768 gesagt werde, dass der Raum für die Materie „der erste Grund der
Möglichkeit ihrer Zusammensetzung" sei, gelte auch 1770: „nur muss das
Alles subjectiv gewendet werden". Also bei Thiele wie oben bei Riehl fehlt
gerade „nur" — die subjectivistische Wendung; aber gerade sie ist ja die
Hauptsache, das Neue von 1770. Also müssen doch noch andere Erwägungen
schwerer wiegender Art dazu gekommen sein, Erwägungen,, welche über die
Schrift von 1768 hinausreichen müssen, welche also aus der Gesammtlage
des damaligen Kantischen philosophischen Bewusstseins zu ergänzen sind.
Riehl hat diese Ergänzung weiterhin selbst vorgenommen ; aber ehe wir uns
zu dieser Vervollständigung seiner Theorie wenden, müssen wir die Fischer'sche
Ansicht kennen lernen, welche an dieser Stelle ihren systematischen Platz
beansprucht.
E. Fischer statuirt ausdrücklich eine „Kluft" zwischen 1768 und
1770 (3. A. 311. 314) und erhebt daher die Frage nach den immanenten
Triebkräften der Wendung von 1768. Er hat dieselbe dahin beantwortet,
dass das entscheidende Motiv der Entdeckung in dem „Problem der
mathematischen Erkenntniss" gelegen habe. (2. A. 204 ff. 260 ff. 280.
303. 306-308. 312 ff. 337 ff. 3. A. 275 ff. 289. 294 ff. 305—308. 330. 341 f.)
Um jene Zeit habe Kant schon die Einsicht gewonnen gehabt, dass die Ur-
theile der Mathematik, deren apriorische Natur ihm schon vorher sicher
gewesen sei, auch synthetisch seien, weil anschauender Natur. Im Zu-
sammenhang damit habe Kant eben 1768 die Ueberzeugung ausgesprochen,
dass der Raum anschaulicher Natur sei und eine eigene Realität besitze.
Aber eben daraus scheine ja nun die empirische Natur der mathematischen
Urtheile gefolgert werden zu müssen; „nun steht am Schluss der vorkriti-
schen Periode die Sache so : dass der Grund, der die mathematischen Urtheile
synthetisch macht, zugleich droht, sie in empirische Urtheile zu verwandeln".
Nun stand aber deren apriorischer Charakter für Kant fest. „Diese That-
Sache zu begründen, musste Kant seine Lehre vom Raum ändern, er musste
denselben nicht mehr für ein gegebenes Anschauungsobject, sondern für eine
reine Vernunftanschauung erklären: nicht für einen Gegenstand, sondern
für die blosse Form unserer Anschauung. Diese Einsicht gewann er im
Jahre 1769. Es war der Schritt, der die kritische Philosophie eröffnete."
(3. A. 282. 308. 312.) Dass Kant in der That um diese Zeit die Urtheile
der Mathematik zuerst deutlich als synthetische a priori erkannte, haben
wir Comm. I, 274 f. bestätigt gefunden ; dass auch diese Erkenntniss bei
der Entdeckung des Jahres 1770 zwar nicht das allein Ausschlag gebende
Motiv war, aber doch entscheidend mitwirkte, muss zugegeben werden, aber
Yaihinger, Eant^Comiiieiitar. n. 28
434 Excurs. Entstehung der Kantischen Raum- und Zeitlehre.
doch nur, wenn man an der Fischer'schen Darstellong, welche nur das
Problem der reinen Mathematik berücksichtigt, jene fundamentale Correctur
vornimmt, welche durch die S. 268 ff. (vgl. Comm, I, 327 — 334) gegebenen
Ausführungen gefordert wird, dass nämlich für Kant dabei zwei, übrigens
von ihm gerade in der Dissertation von 1770 klarer als sonst unterschiedene
Probleme der mathematischen Erkenntniss in Frage kamen: erstens das
Problem der reinen und zweitens das der angewandten Mathematik. Die
synthetisch-apriorische Natur der Urtheile der reinen Mathematik erforderte,
dass der Raum als reine Anschauung gefasst werde (Diss. § 15, G); dass
derselbe auch als „blosse Form'' unserer Anschauung gelte, war durch die
Natur der reinen Mathematik als solcher noch nicht nahe gelegt, son-
dern wurde erst durch die durchgängige Gültigkeit der angewandten
Mathematik für alle Objecte gefordert (Diss. § 15, E). Während Fischer
einseitig nur das erste Problem berücksichtigt, hat Paulsen ebenso ein-
seitig nur das zweite Problem ins Auge gefasst (vgl. oben S. 285 und
I, 327 ff.). Vgl. hiezu die grundlegenden, oben S. 273. 279 gegebenen Aus-
führungen.
Gerade dieses zweite Problem war aber für Kant ungleich wichtiger,
als das erstere. Bei dem ersteren Problem handelte es sich nur darum, zu
erklären, wie reine Mathematik möglich sei; bei dem zweiten Problem
handelte es sich nicht bloss darum, die Möglichkeit der Anwendung der
reinen Mathematik auf die empirischen Objecte zu erklären, sondern zum
Theil auch erst das Recht jener Anwendung zu beweisen (vgl. Comm.
I, 390. 396. 421 N.); jenes Recht war ja bezweifelt, war bestritten worden;
und es war wohl weniger die Bezweifelung jenes Rechtes durch Hume, als
die Bestreitung desselben durch die Leibniz'sche Schule, welche Kant irritirte
(vgl. Comm. I, 328. 361 f. 396). Diesem Problem sind wir auf dem Kanti-
schen Lebenswege schon einmal begegnet: wie wir oben sahen, verdankt die
„Physische Monadologie" von 1756 dem Ringen mit diesem schon 1746 auf-
tauchenden Problem ihre Entstehung. Es ist Ri eh Is Verdienst, darauf hin-
gewiesen zu haben (Krit. I, 98), dass dieses Problem bei der idealistischen
Wendung von 1770 eine entscheidende Rolle spielte: „Ohne Zweifel war für
Kant dieses Dilemma zwischen Mathematik und Naturphilosophie mit ein
Motiv zur Ausbildung der Lehre, dass der allgemeine Raum ausschliesslich
eine Vorstellungsform sei** (vgl. oben S. 285) ; speciell das Problem der un-
endlichen Theilbarkeit habe auf den Gedankengang Kants grossen Einfluss
genommen; nur lässt Riebl (Krit. I, 88 — 104) das Problem bei Kant aus
dem Hume'schen Zweifel an der angewandten Mathematik entstehen, während
es nachweisbar aus der Bestreitung des Rechtes derselben durch die Leib-
niz'sche Schule entstanden ist. Kant selbst weist auf diesen Zusammen*
hang deutlich hin, hier selbst in der Kr. d. r. V., wie oben S. 418 ff. erörtert
worden ist, ferner z. B. Diss. § 15, E, wo er eben zeigt, dass durch
seine Lehre vom spatium als einem sithjectivvm et ideale die absolute Gültig-
keit der Geometrie für die Natur garantirt werde (vgl. dazu oben S. 283 f.
'349. 397); ja die Lösung des Problems im Jahre 1770 ist nichts als eine
Die Antinomien haben den Umschwung von 1769 herbeigeführt. 435
Weiterbildung der Entscheidung von 1756; wenn es jetzt heisst: die Sätze
der Geometrie über die unendliche Theilbarkeit haben unbedingte Gültig-
keit auch für die Materie im Räume, also für den mundus sensibilis, aber
im mundus intelligihilis knag die Metaphysik Becht haben, dagegen die Yer-
mischung der sensitiva und der intellectualia sei analog der Quadratur des
Kreises (Diss. § 27) — , so ist diese Lösung von der Entscheidung von
1756 nur durch den scharfen Schnitt zwischen Sinnlichkeit und Verstand
verschieden.
Dass also das Problem der angewandten Mathematik bei der Wendung
von 1770 mitwirkte, kann keine Frage mehr sein, speciell das Problem, ob
das Recht bestehe, die Sätze der Geometrie über die unendliche Theilbarkeit
des Raumes auf die Objecte im Räume anzuwenden. Dieses Problem ist
aber identisch mit der zweiten Antinomie. Auf diesen Zusammenhang
stiess nun auch schon Rieh 1, Krit. I, 241 f. 274. Die weitere Untersuchung
der Dissertation von 1770 lehrte ihn aber bald, dass in derselben auch die
anderen Unendlichkeitsschwierigkeiten eine fundamentale Rolle spielen; und
so kommt er ib. I, 270—274 zu der allgemeinen Einsicht: „Die Anti-
nomie trieb zur Unterscheidung der phänomenalen von der in-
telligibeln Welt.'*
Damit ist nun in der That der wichtigste Punkt erreicht. Diese An-
sicht, welche Riehl 1876 aussprach, welche auch Dietrich, Kant und Newton,
1877, S. 107 f. kurz entwickelte, fand dann ungeahnte Bestätigung durch
die Funde von B. Erdmann, welche derselbe 1878 in der Einleitung zu
seiner Ausgabe der Prolegomena LXXXVII mittheilte. B. Erdmann hatte
schon vorher durch selbständige Untersuchungen der Aeusserungen Ks. über die
Antinomien in den Prolegomena Or.-Ausg. 142 ff. die Ueberzeugung gewonnen,
dass, während der vielbesprochene flume'sche Einfluss erst nach 1772 ein-
getreten sei, der Umschwung von 1769 durch die Antinomienlehre
herbeigeführt worden sei. Diese Auffassung wurde nun bestätigt durch
Aufzeichnungen Kants, in denen er die Entstehung der Antinomien schildert
und mit Bezug auf dieselben sagt: „Das Jahr 69 gab mir grosses Licht.''
Ausführlich sind diese Aufzeichnungen Kants mitgetheilt von Erdmann in
„Kants Reflexionen", 1884, II, S. 3—5; Erdmann hat daselbst P. XXIII—
XLIX die ganze Frage ebenso eingehend als lichtvoll behandelt und ein
für allemal bewiesen, dass das definitiv entscheidende Motiv
für „die Umkippung" des Jahres 1769 in dem Antinomienproblem
zu suchen ist; und zwar ist „die Schwerpunktsveränderung zu jener Um-
kippung durch die genetische Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand
statt der logischen (von Leibniz) gegeben" (XXXVII), m. a. W. durch die
Entdeckung der „reinen Anschauung". Vgl. oben S. 427. In demselben
Jahre gewann diese Erdmann'sche Auffassung eine neue Bestätigung durch
die Auffindung des Briefes Kants an Garve vom 21. IX. 98 (A. Stern, Be-
ziehungen Garve's zu K. 43 — 45) : „Die Antinomie war es , welche mich
aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte." Wenn Kant am
Schluss der Schrift von 1768 von „Schwierigkeiten" spricht, die er in
436 Excurs. — § 7. Schlussbemerkung Kante.
dem Raumbegriff finde, so hat er damit eben nichts anderes als die Anti-
nomien gemeint K
Die entwicklangsgeschichtliche Wichtigkeit der Antinomien ist denn
auch in Folge jener Darlegungen durch B. Erdmann fast allgemein an-
erkannt worden, wobei aber die Meisten auch noch die Wirkung eines oder
mehrerer anderer Motive zugleich annehmen; so Paulsen, Viert, f. wiss.
Phil. II, 492 — 497 (Hume, Die Antinomien); Janitsch, Kants ürtheile
über Berkeley, Diss. , Strassb. 1879, 81. 47—51 (Die Antinomien, Hume,
Leibniz); Windelband, Gesch. d. n. Phil. II, 29 — 36 (Lambert, Leibniz,
Die Mathematik, Die Antinomien) ; Martin, Ks. phil. Anschauungen in den
Jahren 1762—1766, Diss., Freib. 1887, S. 40—47 (Die Antinomien, Hume);
Adickes in seiner Ausgabe der Kr. d. r. V. XIV — XVI (Hume, Die Anti-
nomien, Leibniz); Caird, Crit. Phil. I, 161 ff. (Die Antinomien, Leibniz).
Vgl. auch meine Ausführungen Gomm. I, 843 f. und Viert, f. wiss. Philos.
XI, 213—224.
Die Erdmann'sche Ansicht, dass die Antinomien in der That das
entscheidende Motiv gewesen sind, wird noch durch einen anderen umstand
erwiesen: Kant muss nämlich in der Zeit von 1768—1770 die Acten des
grossen Streites zwischen Leibniz und Clarke wieder genauer studirt
haben, wie in dem später in diesem Bande folgenden Excurse über die
„Symmetrischen Gegenstände^* wahrscheinlich gemacht werden wird; dass
Kant durch diesen Streit sehr angeregt worden ist, beweisen ausser der oben
S. 133 angeführten Stelle auch unsere Ausführungen unten zur Anmerkung IV
der Aesthetik (B 71). In dem Streit zwischen Leibniz und Clarke
aber spielen gerade diejenigen Probleme eine Hauptrolle, welche
Kant unter dem Namen der Antinomien abgehandelt hat.
Schlnssbemerkung.
Zu dem oben erörterten allgemeinen Resultat fugt Kant noch eine
kurze, aber wichtige Schlussbemerkung hinzu. Kant beantwortet die
bei jedem Leser unwillkürlich auftauchende Frage, ob Raum und Zeit
die einzigen Principien apriori der Sinnlichkeit seien?* Nach
^ Und zwar scheint ea besonders die zweite und die vierte Antinomie
gewesen zu sein, deren Schwierigkeiten die energische Geistesanstrengong des
grossen Denkers im Jahre 1769 hervorriefen: auf diese beiden Probleme spielt ja
Kant auch in dem oben S. 414 ff. erörterten Texte der Kr. d. r. V. an : auf d&s
Problem der unendlichen Theilbarkeit der Materie, das sich mit der zweiten
Antinomie deckt, und auf das Gottesproblem, das Thema der vierten Antinomie.
So ergänzen sich die Analyse des Textes und die historische üntersachang der
Lehrentwicklung.
' £s gibt nach A 81 auch noch „mo<?t der reinen Sinnlichkeit', quando^
uhi, Situs, prius, simul (welche Aristoteles fälschlicherweise als Kategorien auf-
gestellt habe). Einer systematischen Aufzählung dieser modi hat sich Kant über-
Bewegung und Veränderung sind keine DcUa a priori, 437
■ ■
[R 48. H 71. E 8d.] A 41. B 58.
B 146 lässt sich „ein Grund dafür ebensowenig angeben", als für die
Zahl der Kategorien. A priori lässt sich das also nicht beweisen, wohl
aber kann der empirische Weg eingeschlagen werden, dass man nachweist,
dass „alle anderen zur Sinnlichkeit gehörigen Begriffe etwas Empirisches
voraussetzen.*' Kant selbst sucht dies bei zwei Begriffen nachzuweisen, bei
denen man wohl versucht sein könnte, sie ebenfalls als apriorische Prin-
cipien der Sinnlichkeit in Anspruch zu nehmen, bei den Begriffen der Be*
wegung und der Veränderung. Dies sind aber in Wirklichkeit empi-
rische Vorstellungen, welche wir erst durch die Erfahrung daseiender, im
Raum beweglicher, in der Zeit veränderlicher Dinge erhalten. (Vgl. oben
S. 387.) Im reinen Raum, in der reinen Zeit als solchen ist weder Jenes,
noch Dieses enthalten. Nur was im Räume ist, bewegt sich; nur was
in der Zeit ist, verändert sich. Dazu sind aber empirische Data erforder-
lich. (Also würden Bewegung und Veränderung, wenn sie nicht zur trans-
scendentalen Aesthetik gehören, zur „empirischen Aesthetik* zu rechnen
sein? Vgl. oben S. 119.)
Von dem Begriff der Bewegung wird zunächst gesagt, dass er
„beide Stücke, d. h. Raum und Zeit vereinige"; in welchem Sinne dies ge-
meint sei, darüber s. oben S. 387. Diese Bemerkung, dass die Bewegung
eine Synthese von Raum und Zeit sei, bildet, neben den später zu be-
sprechenden Stellen besonders B 111 f., eine der Quellen für die von Fichte
erfundene und von Hegel ausgebildete dialectische Methode, deren
Kern eben die Ableitung eines dritten Begriffes durch Synthese aus zwei
anderen ist. Doch ist diese Bemerkung nur nebenbei hingeworfen. Die Haupt-
sache ist der Nachweis, dass Bewegung „etwas Empirisches voraussetze".
„Bewegung setzt die Wahrnehmung von etwas Beweglichem voraus". Im
Räume als solchem ist aber nichts Bewegliches. Dieses Bewegliche ist also
nur auf empirischem Wege zu constatiren — ist „ein empirisches Datum*.
Jenes „Bewegliche im Räume" ist natürlich die Materie; so lautet
ja gleich die erste „Erklärung" in den „Metaphys. Anfangsgründen der
Naturwissenschaft" ; und in der dazu gehörigen Anmerkung 2 sagt Kant:
„Schliesslich merke ich noch an, dass, da die Beweglichkeit eines Gegen-
standes im Raum a priori und ohne Belehrung durch Erfahrung nicht er-
kannt werden kann, sie von mir eben darum in der Kr. d. r. V. auch nicht
unter die reinen Verstandesbegriffe gezählt werden konnte, und dass dieser
Begriff als empirisch nur in einer Naturwissenschaft, als angewandter
Metaphysik, welche sich mit einem durch Erfahrung gegebenen Begriffe,
obwohl nach Principien a priori beschäftigt, Platz finden könne." ^ (Vgl.
hoben (vgl. Comm. I, 150. 480), weil das zur „Analysis* gehöre. Von seinen
Schülern haben nur Wenige dies Gebiet angebaut; so Snell, Lehrbuch 214 f.
Dagegen hat später Hegel diese Aufgabe in seiner Weise in Angriff genommen.
* Freilich setzt sich Kant dadurch in Widerspruch mit sich selbst, indem
er ja oben (vgl. oben S. 387) die Sätze der allgemeinen Bewegungslehre selbst
438 8 7. Schlassbemerkung.
A 41. B 58. [R 48. H 71. E 89.]
Stadler, Es. Th. d. Materie 8.) Aus diesem Grunde tadelt Kant auch den
Aristoteles (A 81; vgl. Proleg. § 39), dass er den Begriff der Bewegung
(motus) sin das Stammregister des Verstandes^ aufgenommen habe, wohin
solch ein „empirischer Begrifft „gar nicht gehöre ''. Hiezu vergleiche man
Kants Reflexionen II, N. 321. 325. 326 f. (»Ich habe anfangs gezweifelt,
ob die Bewegung mit zur transsc. Aesth. gehöre. '')
Allerdings gibt es, wie Kant sonst ausführt, auch im reinen Raum
eine reine Bewegung, welche zur apriorischen Construction der mathema-
tischen Figuren nothwendig ist. Aber dies ist eine vom anschauenden
Subject ausgeführte Bewegung, nicht die Bewegung eines Objects.
(Obgleich Kant sie in der K. d. Urth. § 27 „objective Bewegung in der
Einbildung" nennt.) In diesem Sinne sagt Kant in der Anmerkung zu B 155:
„Bewegung eines Objects im Räume gehört nicht in eine reine Wissen-
Schaft; folglich auch nicht in die Geometrie; weil, dass etwas beweglich
sei, nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann.
Aber Bewegung als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner Actus
der successiven Sjnthesis des Mannigfaltigen in der äusseren Anschauung
überhaupt durch productive Einbildungskraft, und gehört nicht allein zur
Geometrie, sondern sogar zur Transscendentalphilosophie". (üeber diese Syn-
thesis vgl. auch schon oben S. 224 ff. ^) Diese Bemerkung ist gegen den Ein-
wand „eines der einsichtsvollsten ersten Schüler ** Kants gerichtet, gegen
Schütz, den Herausgeber der „Jenaer AUgem. Litt. Zeitung', welcher in der
im Jahrgang 1 785 (Bd. III, S. 43) enthaltenen Besprechung der Kr. d. r. Y.
den Einwurf machte: wenn man eine Linie auch nur in Gedanken ziehe,
so vollführe man damit doch eine Art Bewegung, man bedürfe also, da
als synthetische a priori ohne jede Einschränkung prodamirte , was doch die
Apriorität der BewegungsvorsteUung voraussetzt. — Da Mansel, Proiegomena
logica, Appendix A auch eine apriorische Mechanik auf Kantische Grandsätze
basirte, hielt ihm Mahaffy, Grit, Phil. I, 73 die hier erörterte Stelle der Kr. d.
r. V. mit Recht entgegen.
' Dies erhält auch eine Bestätigung durch folgende eigenartige Stelle in
dem Nachgel. Werke XXI, 138: , Obgleich der Raum als subjective Vorstellongsart
der äusseren Gegenstände blos das Förmliche der Anschauung enthält, seine Vor-
stellung also objectiv nicht empirisch ist, so können wir ihn durch Bewegung,
es sey der Betastung unseres eigenen Körpers, oder auch der Hände Bew^ung
im Räume, selbst zum Erfahrungsgegenstande und zwar diesen a priori machen,
ohne seine Existenz von der Wahruehmung zu entlehnen, als welche zu dieser
Form eines Ganzen unzureichend ist.** In demselben Werke, XIX, 620 wird sogar
die Bewegung, d. i. der Act der Beschreibung des Raumes in einer gewissen Zeit,
welche also ^ beide Anschauungen, die äussere und innere, in Einer verbindet*,
zu den „Formen der Sinnen- Anschauung' gerechnet, die dem Subject a priori
angehören. — Diese „Bewegung a priori" hatte auch Maimon als Yoraussetzung
der reinen Geometrie verlangt, schon Transsc-Phil. 50, bes. aber Untersuchungen
S. 88—90. Aehnlich auch Fries, N. Kr. d. V. II, 108 f.
Raum und Zeit sind die einzigen apriorischen Formen der Sinnlichkeit. 439
[R 48. H 71. E 89.] A 41. B 58.
Bewegung eben ein empirischer Begriff sei, stets einer empirischen Beihilfe;
also sei auch die mathematische Construction nicht rein apriorisch, und
biebei konnte er sich eben auf diese Stelle berufen, in welcher Kant die
Bewegung für eine empirische Vorstellung erklärte. (Vgl. B. Erdmann,
Kriticismus S. 115. 168.) Dass übrigens diese Annahme Kants von einer
apriorischen constructiven Bewegung unhaltbar sei, dass diese auf Er-
innerungen an wirkliche, empirisch wahrgenommene Bewegungen beruht,
bemerkt B. Erdmann richtig in seinen „Axiomen der Geometrie'', S. 150.
In interessanter Weise hat dies, im Anschluss an Bain, gegen Kant
weiter ausgeführt Montgomery, Ks. Erkenntnisslehre widerlegt vom Stand-
punkt der Empirie 101 ff. 105 ff. 120 ff. 129 ff.: Kant habe in jener Stelle
(B 155) eine Ahnung des Richtigen gezeigt: die Raum Vorstellung beruhe
in der That auf Bewegung. „Jede Bewegung als Handlung des Subjects ist
nun natürlicher- und noth wendiger weise eine Muskelthätigkeit;* in
diesem Falle kommen besonders die Augenmuskeln in Betracht. Vgl. hiezu
auch Stumpf, Psych, u. Erk.-Th. 1891, S. 20.
Was zweitens den Begriff der Veränderung betrifft, so weist auch
schon die Einleitung B (vgl. Band I, S. 196. 211 f.) auf dessen empirischen
Ursprung hin. Und auch sonst hat Kant mehrfach die Gelegenheit er-
griffen, dies zu bemerken; so besonders bei dem Grundsatz der „Anteci-
pation der Wahrnehmung" A 171: „Veränderlichkeit treffe nur gewisse Be-
stimmungen der Erscheinung, welche die Erfahrung allein lehren könne;
sie gehöre also nicht in die Grenzen der Ti*ansscendentalphilosophie, sondern
zu der allgemeinen Naturwissenschaft, welche auf gewisse Grunderfahrungen
gebauet ist*; ähnlich bei dem Grundsatz der Causalität A 207: „dass auf
einen Zustand ein entgegengesetzter folgen könne, davon haben wir a priori
nicht den mindesten Begriff. Hiezu wird die Kenntniss wirklicher Kräfte
erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann, z. B. der bewegenden
Kräfte, oder, welches einerlei ist, gewisser successiver Erscheinungen.*
Nur die Form jeder Veränderung könne a priori erwogen werden, nach
dem Gesetze der Causalität und den Bedingungen der Zeit.
Also Bewegung und Veränderung gehören nicht zu den reinen Formen
der Anschauung; bloss Raum und Zeit dürfen darauf Anspruch machen.
„Andere Formen der Anschauung, als Raum und Zeit ... ob sie gleich
möglich wären, können wir uns doch auf keinerlei Weise erdenken und
fasslich machen, aber wenn wir es auch könnten, so würden sie doch nicht
zur Erfahrung, als dem einzigen Erkenntniss gehören, worin uns Gegen-
stände gegeben werden. Ob andere Wahrnehmungen, als überhaupt zu
unserer gesammten möglichen Erfahrung gehören, und also ein ganz anderes
Feld der Materie nach stattfinden könne, kann der Verstand nicht ent-
scheiden ; er hat es nur mit der Synthesis dessen zu thun, was gegeben ist. *
(A 214.) Dass also „Raum und Zeit die beiden einzigen Formen der
Sinnlichkeit seien, und dass ihr Verhältniss durch die Coordination des
äusseren und inneren Sinnes hinreichend bestimmt sei, hat Kant nur bei-
440 § 7. SchlusebemerkuDg.
A 41. B 58. [R 48. H 71. E 89.]
läufig und in einer Weise besprochen, welche zeigt, dass hier für ihn kein
Problem mehr vorlag* (B. Erdmann, Kriticismus S. 22).
Schelling wirft es K. vor (Vom Ich. Vorr. XI), ,dass er Raum
und Zeit die einzig möglichen Formen sinnlicher Anschauung nenne, ohne
sie nach irgend einem Princip (wie z. 6. die Kategorien nach dem Princip
der logischen Functionen des Urtheilens) erschöpft zu haben.' Es bedarf also
, höherer Principien", wie auch die Jacob'schen Annalen (Beck?) gelegentlich
verlangen. Auch Beinhold, Fichte und Hegel haben dasselbe Verlangen gestellt.
Auch in neuerer Zeit hat Trendelenburg, Log. Unt. I, 166 den
Einwurf gemacht: «Wenn wir B. u. Z. als zwei Formen in uns finden, so
fragt man billig, warum gibt es nicht mehrere solcher Formen? Warum
genügen diese?' Mit Recht hat Arnold t, B. u. Z. 57. 126 denselben als
gegenstandslos zurückgewiesen. Die Erscheinungen erscheinen eben einmal
in diesen Formen; nach der Ursache der bestimmten Anzahl zn forschen,
überschreitet das Gebiet der Erfahrung und die Befugniss der transscenden-
talen Methode. (Aehnlich schon J. B. Meyer, Ks. Psych. 179. Vgl. Witte,
Beitr. 41.) Arnoldt zeigt daselbst 128 auch, dass, wenn diese Schwierigkeit
vorhanden wäre, sie mindestens durch Tr.'s eigene Theorie von R. n. Z.
nicht gehoben wäre. Man könne auch hier ebenso , billig' fragen: warum
producirt die productive Bewegung unserer Imagination (Hist. Beitr. III,
218 f.) nicht mehr solcher Formen? Nach Tr.'s eigener Theorie sollte ja
eben erst die productive Bewegung sowohl den Raum als die Zeit ,er-
zeugen"; und Tr. tadelt Kant von diesem seinem Standpunkt aus ausser-
dem auch noch, dass K. dieses natürliche Verhältniss von Bewegung und
Baum umgekehrt habe. Diese Ümkehrung des Verhältnisses von Raum
und Bewegung führt Tr. bis auf Cartesius zurück (Log. Unt. 2 A. 317 flf.);
denn schon dieser sagt (Princ. Phil. I, 53): ,^Motus non polest intelligi, nisi m
spatio extenso. Sed e contra potest inteUigi extensio sine motn.*^ (Dasselbe bei
Spinoza). „Der Iriiihum des Cartesius hat sich durch die Systeme fort-
gepflanzt. In Kants Tr. Aesth., nach welcher der Raum (die Ausdehnung)
die vorangegebene fertige Form der Anschauung ist, hat die Eine Seite des-
selben ihre Spitze erreicht." Vgl. Fischer, Log. u. Met. 2 A. 174 und da-
gegen Trend. Beitr. 3, 248. — Zu der ganzen Frage vgl. auch Spencer,
Psychol. § 341 (deutsche Ausgabe II, 215 ff.).
Auch Lange, Gesch. d. Mat. II, 33 findet „die Beschränkung des
Apriorischen auf R. u. Z. nicht überzeugend". Man könnte noch fragen, ob
nicht die Bewegung hineingehörte; man kann vielleicht beweisen, dass
mehrere Kategorien in Wahrheit nicht reine Verstandesbegriffe sind, sondern
Anschauungen, wie z. B. die einer beharrenden Substanz in der Veränderung.
Selbst dieQualitätenderSinneseindrücke, wie Farbe, Ton u. s. w.
verdienen vielleicht nicht so ganz und gar als etwas Individuelles, als ein
Sabjectives, woraus keine apriorischen Sätze fliessen können, und was des-
halb keine Objectivität begründen kann, verworfen zu werden." (Vgl. dazu
oben S. 856 Anm.)
Allgemeine Anmerkungen Kants zur Transsc. Aesthetik. 441
[R 48. 49. H 72. K 89.] A 41. B 59.
Andere wollten die Zahl neben Raum und Zeit als gleichberechtigte
Anschauungsform a priori stellen (zugleich in der Absicht, die oben
S. 888 ff. berührten Schwierigkeiten der K. 'sehen Theorie über die Zahl zu
heben); so bes. Weisse, Die Idee der Gottheit 67 ff., vgl. Fichte's Zeit-
schrift f. Philos. 1865, Bd. 46, 194 ff.; im Anschluss an ihn Seydel,
Schopenhauer 40 f. und bes. Viert, f. wiss. Philos. VII, 329-333; ähnlich
Zeller, Vortr. u. Abb, 11, 502 ff.. Baumann, B. Z. u. Mathem. 11, 668 ff.,
Sigwart, Logik 11, 38 ff., Wundt, Logik, 428 ff. Bei Einigen dieser
findet sich auch die Vierzahl: Baum, Zeit, Zahl, Bewegung.
§ 8.
Allgemeine Anmerkungen zur Transscendentalen Aesthetik.
In diesen , Allgemeinen Anmerkungen", welche in der 2. Auflage stark
vermehrt worden sind, fügt Kant eine Reihe werthvoUer Erläuterungen
hinzu, die er in B zur leichteren üebersicht mit römischen Ziffern ver-
sehen hat.
Anmerkung L
Die erste Anmerkung — das Einzige, was die ursprüngliche Ausgabe
enthielt — zerfallt in zwei Theile, deren Inhalt und Zusammenhang von
Kant selbst genau angegeben wird. In der ersten Hälfte derselben
präcisirt er das allgemeineBesultat seiner Lehre „ von der sinnlichen
Erkenntniss überhaupt'', und stellt das Verhältniss derselben zu den beiden
wichtigsten anderen Theorien der Sinnlichkeit fest, welche zu jener Zeit im
Schwange waren.
In der zweiten Hälfte der Anmerkung sucht er zu zeigen, dass diese
seine Lehre von der Sinnlichkeit nicht bloss eine „scheinbare Hypothese",
sondern eine „gewisse und ungezweifelte Theorie" sei. (Vgl. die ähnliche
Eintheilung der Vorrede A in Materie und Form der Untersuchung
Band I, S. 81.)
Erster Theü.
In dem ersten Absätze wiederholt Kant (abgesehen von den beiden
letzten Sätzen, welche eine neue Wendung bringen) nur dasjenige in ge-
drängten Worten, was wir schon bisher erfahren und auch hinreichend be-
sprochen haben. Gleichwohl haben sich auch an diese Zusammenfassungen
— eben wegen ihrer gedrängten pointirten Kürze — einige nicht uninteressante
Discussionen angeknüpft.
B. Erdmann hat in seiner Einleitung zu den Prolegomena p. XL VI ff.
diese Stelle eingehend besprochen: , Dieses Ergebniss enthält denselben Ge-
danken in doppelter Wendung. Denn es besagt einerseits: Unsere
sinnlichen Vorstellungen geben nur die Erscheinungen der
442 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A 42. B 69. [B 49. H 72. E 89. 90.]
Dinge an sich, und behauptet andererseits: die Gegenstände in
Baum und Zeit existiren lediglich als Vorstellungen in uns.
Beide Male also haben wir den gleichen Gedanken vor uns, das Resultat
nämlich der Aesthetik: die Dinge, die wir anschauen, sind nicht das an sich
selbst, wofür wir sie anschauen. Dieser Gedanke aber ist in dem ersten
Falle bezogen auf die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntnis s, im zweiten
dagegen auf die Existenz der Gegenstände derselben.* Jenes nannte
B. Erdmann die empiristische, dieses die idealistische Wendung. In
seinem Werke über „Kants Kriticismus* S. 66 nennt er die erstere Wendung
jetzt die kritische: „ derselbe Gedanke ist das erste Mal kritisch ge-
fasst, er bezieht sich auf die Grenzbestimmung der sinnlichen Erkenntniss,
die nichts als Erfahrungen gibt; das zweite Mal dagegen wird er idealistisch
gewendet, sofern er sagt, die Objecte unserer sinnlichen Erkenntniss exi-
stiren nur in uns.* Diese scharfe analytische Scheidung muss man an-
erkennen und zugleich durch die Bemerkung erläutern, dass man a priori
sagen kann, dass dieser doppelte Ausdruck jenes R^ultates der Aesthetik
noth wendig sich bei Kant wird finden müssen: da es sich eben bei seinen
Untersuchungen um das Yerhältniss unserer Erkenntniss zu den Gegen-
ständen handelt, so wird für jenes Resultat eine doppelte Formel sich
ergeben, je nachdem man ausgeht von der Erkenntniss, um deren Trag-
weite zu bestimmen, oder von den Gegenständen, um deren Bealitätswerth
festzustellen ; und jene erste Formel wird dann lauten : unsere sinnliche £ r-
kenntniss gibt uns nur Erscheinungen von Dingen an sich. Diese zweite
wird lauten müssen: die empirischen Gegenstände sind als solche nnr
sinnliche Vorstellungen in uns. Diese Unterscheidung ist also bis hieher
trotz der Einwendungen von Arnoldt in seiner Gegenschrift: Kants Pro-
legomena, S. 54 als ganz berechtigt festzuhalten.
Aber B. Erdmann hat nun zu dieser richtigen Unterscheidung zwei
weitere Bemerkungen hinzugefugt, welche Bedenken erregen: einmal stellt
er die Sache so dar, als ob jene Doppelwendung das ganze Ergebniss der
Aesthetik befasste. Aber in dem weiteren Verlaufe des Absatzes tritt audi
die rationalistische Seite scharf hervor; denn es heisst ja: ,Raum
und Zeit können wir allein a priori, d. h. vor aller wirklichen Wahr-
nehmungerkennen*; und auf dieser apriorischen Anschaubarkeit,
insbesondere der Baum Vorstellung , beruhen ja doch die synthetischen
Sätze a priori der Mathematik, die ihm so sehr am Herzen liegen,
dass er so oft auf dieselben zurückkommt, und zwar, wie wir ja immer
constatirten , nicht nur bezüglich ihrer Natur als Sätze der reinen Mathe-
matik, sondern vor Allem bezüglich ihrer apriorischen Geltung für die
Gegenstände der Erfahrung (202 f. 233 ff. 263-286. 327 f. 336—342. 356.
373. 383—390), und so ist denn auch hier wiederum unsere I, 67 ff. ent-
wickelte Auffassung bestätigt, dass für Kant die verschiedenen Seiten seines
neuen erkenntniss -theoretischen Systems gleichwerthig sind, und dass ins-
besondere die rationalistische Seite nicht übersehen werden darf. Vgl. hiezn
Die empiristisch-kiitische und die idealistische Wendung. 443
[B 49. H 72. E 90.] A 42. B 69.
Arnoldt ä. a. 0. S. 55 ff. Es ist eben schwerlich richtig, wenn Erdmann
das ganze Ergebniss der Aesthetik nur in dem ersten Satze sucht (bis
zu den Worten: » nur in uns existiren können"), anstatt in dem ganzen Ab-
sätze. Diese Voraussetzung liegt auch seinen späteren Ausführungen, Kiiti-
cismus S. 19 ff. zu Grunde, woselbst er nach dem „eigentlichen Besultate''
sucht, das den „Schwerpunkt der Aesthetik^ ausmache, und da drei
Möglichkeiten aufstellt. Der Schwerpunkt müsse nämlich in einem der
drei folgenden Sätze liegen:
1) Baum und Zeit sind Anschauungen a priori.
2) Baum und Zeit sind Formen der Sinnlichkeit. (Dieser Satz ent-
spreche der ursprünglichen Fragestellung. Vgl. oben S. 131 ff.)
3) Alle unsere sinnlichen Vorstellungen geben lediglich die Er-
scheinungen der Dinge an sich zu erkennen.
Nur in diesem letzten Satze liege der „Schwerpunkt der Aesthetik",
das eigentliche Besultat, das also mit der ursprünglichen Fragestel-
lung in einem gewissen Missverhältniss stehe; es liege hier sogar eine
„Inhaltsverschiebung" vor.
Ist aber das mechanische Bild des „Schwerpunktes" geeignet, um
den organischen Zusammenhang (vgl. Band I, S. 70) des Kantischen
Gedankensystems auszudrücken? Warum soll denn die Aesthetik gerade
nur Eine Spitze haben, gerade sich auf Einen Satz reduciren lassen? Sie
ist, wie die ganze Kantische Philosophie, ein weitverzweigtes System von
Gedanken, die sich niemals auf E i n e n Faden aufreihen lassen, sondern die
zu ihrer geordneten Darstellung, wenn man überhaupt einmal Bilder aus
den exacten Wissenschaften verwenden will, immer mindestens zwei
Coordinaten bedürfen, den phänomenalistischen und den rationalistischen
Grundgedanken. Jenem phänomenalistischen Grundgedanken kann man nun
wieder allerdings jene Erdmann'sche Doppelwendung geben, die „empiristisch-
kritische* und die „idealistische", darf aber dabei nicht vergessen, dass — wenig-
stens in diesem Zusammenhange hier — diese beiden Wendungen nur formell
verschieden, inhaltlich dagegen gleichwerthig sind. Vgl. Volkelt, Kant 82 f.
Noch eine zweite Bemerkung von B. Erdmann müssen wir be-
sprechen. Von jenen beiden Wendungen nämlich liege die erste, die
empiristische, „ausschliesslich der Analytik, die zweite ebenso aus-
schliesslich der Dialektik" zu Grunde (Einleitung zu den Proleg, XLVI ff.,
LIV ff., Kriticismus S. 65 ff.) In jener ersten, empiristischen oder kritischen
Wendung bilde das Besultat der Aesthetik die Voraussetzung der Deduction
der Kategorien [in der Analytik], die dadurch möglich wird, weil, wie
Kant sich ausdrückt, „unsere Erkenntniss es mit nichts als Erscheinungen
zu thun hat" ; in der zweiten Wendung dagegen bilde es den Inhalt des in
der Dialektik näher definirten transscendentalen Idealismus, der nach
Kant A 490 behauptet, „dass alle Gegenstände einer uns möglichen Er-
fahrung blosse Vorstellungen sind, die so, wie sie vorgestellt werden, ausser
unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben."
444 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A42.B59. [B 49. H 72. E 90.]
Allein Erdmann selbst muss dann docli selbst (Proleg. Einl. LXXV)
zugeben, dass ^jene Trennung zwischen der empiristischen und idealistischen
Wendung des Besultates der Aestbetik doch nur eineAbstraction ist,*
die zwar auch von Kant selbst vollzogen, jedoch sicher nicht so scharf aus*
gedacht worden sei. Und in der That — die beiden Seiten jener Doppel-
wendung fordern sich gegenseitig zur Ergänzung und lassen sich nur durch
eine künstliche Abstraction von einander trennen. Ist dies aber der Fall, dann
kann man auch kaum sagen, die Eine liege der Analytik, die Andere der Dia-
lektik 9 ausschliesslich' zu Grunde. Das ist in dieser Form schwerlich richtig:
denn abgesehen, dass doch auch der Abschnitt über die Unterscheidung der
Phaenomena und Noumena zur Analytik gehört, so wird doch ausdrücklich
schon in der ersten Auflage der Deduction A 113 f und A 129 gerade die
idealistische Wendung als Voraussetzung der Richtigkeit der Deduction ein-
geführt. (Weiteres bei Amol dt in seiner Gegenschrift S. 59 — 68.) Erd-
mann selbst bemerkt daher ib. LXXV (vgl. dazu Eriticismus S. 65) ganz
richtig, dass die nachdrückliche Beziehung des transscendentalen Idealismus
auf die Analytik als deren unentbehrliches Beweismittel, wie sie in den
Prolegomena hervortrete, „den ursprünglichen Gedankengang nicht ver-
ändere, sondern nur eine stärkere Färbung und deutlichere Verknüpfung
einzelner Fäden des Geflechts enthalte.*' Damit wird eben jene Behauptung
dahin restringirt, dass die empiristische Wendung nur vorzugsweise
(nicht „ausschliesslich') in der Analytik, die idealistische vorzugsweise
in der Dialektik hervortrete; was natürlich ist, da jene es zu thun hat mit
der Analyse des Verstandes, diese mit den metaphysischen Behauptungen
über die Dinge an sich.
Noch macht B. Erdmann [Proleg. Einl. XLVI flF. XLVTII; Eriticis-
mus S. 20 f.) auf Folgendes aufmerksam: Eant fügt hier die Bemerkung
bei, was es für eine Bewandtniss mit den Gegenständen an sich habe,
bleibe uns gänzlich unbekannte Mit Recht nennt B. Erdmann diese
Bemerkung „auffallend''; denn sie enthält offenbar mehr, als die Aestbetik
bewiesen hat. Denn daraus, dass wir von den Dingen nichts kennen, als
unsere Art sie wahrzunehmen, folgt doch nur für Eant das Eine, dass
wir kein Prädicat der sinnlichen Wahrnehmung, weder ihrer Materie noch
ihrer Form nach, auf die Dinge selbst übertragen können. Eant durfte
^ Den Vorwurf, Kant habe dieses „gänzlich unbekannt* nicht bnchstäblich
eingehalten, sucht Cohen, Kants Ethik 18 ff., von demselben abzuwälzen. Der
Vorwurf lautet, eigentlich müsse nicht bloss das was, sondern sogar auch das
dass der Dinge an sich unbekannt bleiben; darin bestehe der echte Eriticismus,
welcher ja die Causalkategorie auf die Erfahrung einschränke. Cohen sucht den
— durchaus berechtigten — Vorwurf durch eine eigenthümliche ümdeutung der
Kantischen Dinge an sich zu entkräften: er fasst sie, ähnlich wie Lotze die
Platonischen Ideen, als die Gesetze in den Erscheinungen. — Vgl. zar Stelle
auch Zimmermann, Ks. Wid. d. Idealismus S. 20. Vgl. unten S. 451 f.
Die Dinge an sich bleiben uns , gänzlich unbekannt". 445
[R 49. H 72. E 90.] A42.B59.
also nur schliessen: was es für eine Bewandtniss mit den Dingen an sich
habe, davon können uns unsere sinnlichen Vorstellungen nichts lehren.
Wenn nun Kant jenen allgemeinen Schluss trotz seiner offenbaren Unzuläng-
lichkeit aus dem Resultat der Aesthetik dennoch diesem beifügt, so kann
dies nur in Hinsicht darauf geschehen sein, dass spätere Betrachtungen
seines Werkes dieses Resultat zu einem solchen Ergebniss weiterführen.
Es handelt sich hier also um eine Antecipation j,späterer Ergebnisse'^, resp.
um eine , Vor Wirkung ** derselben. Diese späteren Ergebnisse liegen in der
Analytik, in der Deduction der Kategorien, und in dem Nachweis, dass
auch die Yer Standesbegriffe, wie die siunlichen Anschauungen, nur auf
Erscheinungen sich beziehen.
Man kann indessen die Stelle auch einfacher erklären. Nach dem ganzen
Zusammenhang und nach den vielen Parallelstellen in der Aesthetik will
eben Kant auch nur sagen: was es für eine Bewandtniss mit den Gegen-
ständen an sich und unabhängig von aller dieser Receptivität unserer Sinn-
lichkeit haben möge, bleibt uns, eben als sinnlich vorstellenden Wesen,
gänzlich unbekannt ; so sehr wir auch, wie es weiter iieisst, diese sinnlichen
Vorstellungen analysiren, die Gegenstände an sich selbst werden uns „doch
niemals bekannt werden". „Die Vorstellung eines Körpers enthält in der
Anschauung gar nichts, was einem Gegenstande an sich zukommen könnte',
auch „wenn wir die Erscheinung bis auf den Grund durchschauen*'.
Und es heisst dann in dem Absatz gegen die Leibniz- Wolfische Philosophie,
dass wir „durch die Sinnlichkeit die Beschaffenheit der Dinge an sich
gar nicht verkennen.* Jenen Zusatz — durch die Sinnlichkeit — hat
Kant hier aus Nachlässigkeit weggelassen. Beide Formeln finden sich
auch schon oben A 29, am Schluss des Abschnittes vom Räume; da heisst
es zuerst: „dass uns die Gegenstände an sich gar nicht bekannt seien*,
und gleich nachher, „dass das Bing an sich selbst dadurch, d. h. durch
den Baum gar nicht erkannt wird*.
Welche Auslegung man nun auch wählen mag — die Zeche bezahlt
beidemal Kant; denn Erdmann wirft ihm hier „Sorglosigkeit in der äusseren
Darstellung seiner Gedanken* vor, und wir mussten ihm Nachlässigkeit
vorwerfen. Die zweite Auslegung hat übrigens auch schon Arnoldt,
ProUg, S. 59 nahe gelegt; unrichtig ist dagegen, wenn derselbe gegen die
erste Auslegung einwendet, auch wenn Kant das, was ihn B. Erdmann
sagen lässt, hier habe sagen wollen, so hätte er dazu „nicht in die Ana-
lytik voraus, sondern nur auf den Anfang der Aesthetik zurückzu-
greifen* gebraucht; da habe ja schon Kant gesagt, dass alles Denken sich
zuletzt auf Anschauungen beziehen müsse (vgl. oben S. 3). Jene Bestim-
mungen über das Denken in der Einleitung zur Aesthetik können doch
ebenfalls nur als vorläufige Antecipationen eben wieder der Analytik gelten ;
denn an jener Stelle hat ja Kant sie ohne jeden Beweis hingestellt.
Beachtenswerth ist, worauf Heb 1er (Philos. Aufs. 123 ff.) hinweist;
Kant sagt hier gleich am Anfang, „dass die Dingt, die wir anschauen.
446 § 3- Allgemeine AnmerkuDgen. I.
A42.43.B59.60. [B 49. H 72. E 90.]
nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Vei^
hältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen.^ K.
spricht hier von Verhaltnissen der Dinge an sich untereinander,
ähnlich, wie es in den Met. Anf. d. Naturw. I, 2, 3 heisst: „dass der Baum
bloss zu der subjectiven Form unserer sinnlichen Anschauung von Dingen
oder Verhältnissen, die uns nach dem, was sie an sich sein mögen,
völlig unbekannt bleiben, gehöre." Man kann darin mit Hebler einen Ueber-
rest jener früheren Bestrebungen Kants finden, die besonders in den .Trftumen
eines Geistersehers", sowie in der Dissertation § 4 und § 27 hervortreten,
die räumlichen Verhältnisse auf geistig-dynamische zurückzuführen. Hat
Kant diese dogmatische Reduction auch in seiner kritischen Zeit aufgegeben,
so blieb denn doch der allgemeine Gedanke an reale Verhältnisse der realen
Dinge an sich übrig, und die allgemeine Voraussetzung, dass die empirischen
Verhältnisse der Phänomena jene realen Verhältnisse der Noumena in einer
freilich ganz unerkennbaren Weise zum Ausdruck bringen. Vgl. oben
S. 143 N.
Die Wendung, dass K. u. Z. „verschwinden würden, wenn wir
unser Subject aufhöben", ist eine natürliche Folge der früheren Bestimmungen,
wornach B. u. Z. nur durch uns gesetzt sind, weil unser Subject die
conditio sine qua non derselben ist; was durch unser Subject bedingt ist,
muss auch mit demselben „verschwinden" *. Diese Wendung hat aber
gerade von Anfang an besonderen Anstoss erregt und z. B. Feder hat (in
seiner Phil. Bibl.) mehrfach erklärt, dass er gerade diesen Satz Kant
nicht verzeihen könne. Uebrigens hatte Feder (Raum u. Caus. 2) in
dem Satze irrigerweise absoluten Idealismus gefunden ; denn nach dem Ver-
schwinden von R. u. Z. und von den „Erscheinungen", „die nur in uns
existiren können", bleiben ja noch die Dinge an sich, wie die A. L. Z. 178S,
I, 251 gegen Feder monirt. Vgl. über diese „verfängliche Wen düng ** „nur
in uns" auch Laas, Id. u. Pos. III, 328. 329. 332. 336. 346. 451. 506.
518. 542. 563. 635.
Wie schon bemerkt, bringen nur die beiden listzten Sätze dieses ersten
Absatzes eine neue Wendung. Kant setzt hier mit einem Gedanken ein,
den er bis hieb er aufgespart hat, der aber bedeutend genug ist, scharf her-
vorgehoben zu »werden, weil er sehr wichtige Consequenzen nach sich zieht.
Wenn „all unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Er-
scheinung ist", wenn Raum und Zeit nebst Allem, was in ihnen ist, nur
von unserer Sinnlichkeit abhängen, so fallen die Dinge an sich ganz aus
dieser anschaulichen, raumzeitlichen Welt hinaus; wir mögen diese anschau-
liche Welt in Raum und Zeit noch so gründlich durchsuchen, durchforschen
und bis aufs Letzte analysiren, wir werden doch niemals auf diesem Wege
* In den Jacob'schen Annalen I, 2&5 (Anz.) erinnert Grille zu dieser Stelle
an den Ausspruch von Montaigne: „Die Dinge werden mit uns geboren und
sterben auch wieder mit uns." Kant schätzte seinen „Montagne" sehr.
Polemik gegen die bisherigen Theorien der Sinnlichkeit. 447
[R 49. 50. H 72. 73. E 90.] A48.B60.
auf ein Ding an sich stossen, wir bleiben stets im Kreise der Erscheinung,
weil wir den Bann unserer Subjectivität nicht durchbrechen können.
Dies hat Kant in einer bekannten Stelle , in der , Anmerkung zur
Amphibolie der BeflexionsbegrifPe'^ A 277 näher ausgeführt: ,Ins Innere
der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und
man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde'' u. s. w.
Er betont, es sei unmöglich, dass wir „ein so unschickliches Werkzeug*, wie
unsere Sinnlichkeit sei, dazu brauchen können, , etwas Anderes, als immer
wieder Erscheinungen aufzufinden, deren nicht-sinnliche Ursache
wir doch gern erforschen wollten.*
Dies verkannt zu haben, wirft nun im Folgenden Kant den bisherigen
Theorien der Sinnlichkeit vor — denn darum dreht sich eben die ganze
Polemik gegen dieselben. Die Bekämpfung der Leibniz'schen Lehre gipfelt
in dem Satze: ^Die Vorstellung eines Körpers in der Anschauung enthält
gar nichts, was einem Gegenstand an sich zukommen könnte*; diese sinn-
liche Vorstellung »bleibt von der Erkenntniss des Gegenstandes an sich selbst,
ob man jene, die Erscheinung, gleich bis auf den Grund durch-
schauen möchte, dennoch himmelweit unterschieden.*
Und ebenso steckt der Kern der Polemik gegen Locke's Theorie in dem
Satz: wir glauben da fälschlicherweise aDinge an sich zu erkennen, ob wir
es gleich überall in der Sinnenwelt selbst bis zu der tiefsten Er-
forschung ihrer Gegenstände mit nichts als Erscheinungen zu thun haben.*
Auch die „tiefste Erforschung*, auch die hellste Durchleuchtung, und,
so zu sagen, Durchgeistigung der Anschauungen führt nie über die Er-
scheinung hinaus zu den Dingen an sich. Auch bei höchster quantita-
tiver Steigerung schlägt die sinnliche Erkenntniss der Erscheinungen nicht
in eine andere Art, in eine qualitativ andere Erkenntnissart um, in die
Erkenntniss der Dinge an sich. (Vgl. Grundl. z. M. d. Sitten, R. VIII, 84.)
A. Polemik gegen Leibniz-Wolff.
Zwei Absätze widmet nun Kant der Widerlegung der Leibniz-
schen Theorie der Sinnlichkeit; er erwähnt zwar den Namen von Leibniz
resp. Wolff erst im zweiten Absätze, aber natürlich zielt auch der erste
auf dieselbe Theorie ab ^ Aus der oben besprochenen Ausführung folgt
(„daher*), dass diese Ansicht falsch sein muss, die Ansicht, dass die Sinn-
lichkeit doch eine Erkenntniss der Dinge an sich sei, wenn auch eine ver-
worrene; dass wir in den sinnlichen Vorstellungen nur undeutliche An-
häufungen von Merkmalen haben, dass es also nlir einer verdeutlichenden
* Eine bemerkenswerthe Diatribe über diese ganze Stelle gab C. G. Schütz
in seinem Programm : „/>« vero sentiendi ifUelligendique facultcUis discrimine. Leib-
nitianae philosophiae cum Kantiana comparatio. Jenae 1789." Vgl. Opuscula, 280 ff.
(Wiederabg. bei Hausius, Materialien z. Gesch. d. krit. Phil. I, 1793, S. 106 — 114.)
448 § 3« Allgemeine Anmerkungen. I.
A 43. B 60. [B 60. H 78. E 90.]
logischen Analyse bedürfe, um aus den sinnlichen Vorstellungen selbst
heraus die wahre, verstandesmässige, begriffliche, deutliche Erkenntniss der
Dinge an sich zu gewinnen. Somit ist, dieser Ansieht nach, der unterschied
der sinnlichen und der begrifflichen, wahren Erkenntniss nur ein gradueller,
ein quantitativer. Wie, derselben Ansicht nach, Erscheinung und Ding an
sich nicht der Art nach unterschieden sind, so sind auch die scheinbare sinn-
liche und die wahre verstandesmässige Erkenntniss nicht der Art, nur dem
Grade nach verschieden. Vgl. die oben S. 416 ff. angeführten Stellen.
Dieser quantitative unterschied der beiden Vorstellungsarten wird
näher so gefasst. Deutlich sind die Verstandesbegriffe, weil sie, je mehr
sie sich der Einfachheit nähern, desto weniger Merkmale haben.
Eine Vorstellung dagegen, welche eine unzählige Menge von Merkmalen
enthält, ist dem Verstände eben darum um so viel weniger durchsichtig.
Die Vorstellungen bilden eine continuirliche Kette von dem Einen Extrem
der deutlichsten, weil einfachsten Vorstellung (Etwas) bis zur undeutlichsten,
weil zusammengesetztesten Vorstellung (sinnliche Einzel Vorstellungen). Auf
dieser Scala gehen Verstand und Sinnlichkeit unmerkbar in einander über.
Bei den sinnlichen Vorstellungen sind die Merkmale durcheinander gewirrt,
übereinander gehäuft, bilden einen „verworrenen Plunder* (Hauptm. 131),
den das deutliche Bewusstsein mit seinem Lichte nicht mehr durchdringen
kann. Sie sind für den Verstand undurchsichtig, während jedes einzelne ein-
fachste Merkmal für den Verstand durchsichtig ist, wie etwa ein Haufen
vieler Glassplitter übereinander undurchsichtig ist, während jeder einzelne
durchsichtig ist. Der Gesammteindruck des sinnlichen Einzelnen ist somit
ein verworrener. Durch die Verstandesanalyse glaubt nun der Leibnizianer
jenen verworrenen Haufen allmälig durchschauen zu können. Jeder Gegen-
stand der Sinne kann so lange in der Retorte des Verstandes destillirt, sub-
limirt und präcipitirt werden, die Scheidung kann so weit gefuhrt werden,
bis man endlich auf dasjenige kommt, was dem Verstände durchsichtig ist.
Die Sinnesobjecte werden dadurch Verstandesobjecte; der Verstand kann
somit die sinnlichen Gegenstände ganz in seinen Bereich herüberziehen, in-
dem er sie allmälig in die einzelnen „Theilvorstellungen* analysirt. Dem-
nach geben die Sinnesvorstellungen auch denselben Inhalt wie der Verstand,
nur in verdunkelter Form, aber so, dass der Verstand ans ihnen heraus die
wahre Grundbeschaffenheit der Dinge zu entwickeln im Stande ist. Es gibt
somit eine Brücke zwischen Anschauungen und Verstand, der die Dinge an
sich erkennt: und jene sinnlichen Vorstellungen geben auch die Eigenschaften
der Dinge an sich, wenn auch in verworrenem Zustande. Wenn daher
Leibniz die sinnlichen Vorstellungen Erscheinungen nennt, so sind das
zwar verworrene, aber in letzter Linie doch wahre und reale Erkenntnisse
der Dinge an sich, die nur perspectiv isch etwas verschoben sind. VgL oben
S. 359 N.
Diese Theorie von Leibniz über die „verworrene* Erkenntniss ist von
demselben sehr häufig entwickelt worden und ist ein Fundamentalartike]
Leibniz habe den Begriff der Sinnlichkeit »verfälscht*. 449
[R 50. H 73. E 90.] A 43. B 60.
der Leibniz- Wolff 'sehen Schule und ihres philosophischen Katechismus. Die
Sinnlichkeit, welche die Erscheinung, das „phantöme sen^Uip gibt, besteht
aus idies sensitives, confuses, peu SclairSes u. s. w. Vgl. die Stellen in
J. E. Erdmanns Gesch. d. n. Philos. II, 2, Anhang XLII sq.*
Auch hier, wie bei allen Leibniz- Wolff'schen Lehrstücken bezog sich
übrigens Kant direct auf Baumgartens Metaphysik, wo der bezügliche
Unterschied § 510. 511. 514. 515. 519-533. 624 entwickelt wird. Be-
sonders § 520 wird der graduelle Unterschied laut betont: Cognitio clara
major est, quam obscura. Hinc obscuritas minor, claritas major cognitionis
gradus est. Daher heisst die Sinnlichkeit ebenfalls mit einer graduellen
Bezeichnung facultas cognoscitira inferior^.
Diese Ansicht nennt nun Kant, dem es nach einer bekannten Stelle
in Schultz' Erläuterungen S. 1 88 (vgl. E r d m a n n , Kriticismus S. 132)
in erster Linie darum zu thun war, „die wahre Natur der Sinnlichkeit und
ihren Unterschied vom Verstände zu bestimmen" (vgl. Göring, Raum
und Stoff 261), eine Verfälschung des Begriffes der „Sinnlichkeit", eine
Verfälschung des Begriffes der » Erscheinung". Die Sinnlichkeit wird
hier zu einer verworrenen Art der Verstandeserkenntniss , die Erscheinung
zu einem getrübten Ding an sich: der qualitative Unterschied von Er-
scheinung und Ding an sich wird also zu einem bloss quantitativen
abgestumpft; darin sieht Kant mit einem starken Ausdruck eine »Ver-
fUlschung", ein Ausdruck, welcher unglücklich gewählt ist, weil er, neben
einem unwillkürlichen Irrthum, auch eine absichtliche Verdrehung be-
deuten kann.
Ueber diesen Ausdruck Verfälschung entspann sich nun im Jahre
1789 eine Contro versa, welche für die Signatur der damaligen Zeit charak-
teristisch ist und wodurch diese Stelle nach Eberhards Ausdruck , be-
rüchtigt" worden ist. Eberhard hatte im Phil. Mag. T, 290. 298 (vgl.
I, 145 u. II, 39) die Leibniz'sche Philosophie gegen den Vorwurf jener
^ Bei einzelnen Leibnizianem führte dies zu dem Bestreben, die Grenzen
zwischen Physik und Metaphysik niederzureissen, so bes. bei Beguälin.
' Diese Ansicht hatte Kant natürlich in seiner vorkritischen Zeit auch stramm
getheilt; erst in der Dissertation von 1770 ist ihm die neue Erkennntniss auf-
gegangen. Allerdings hat K. Fischer III, ',176 die qualitative Trennung von
Sinnlichkeit und Verstand an Stelle der graduellen durch Kant schon in das
Jahr 1762 in die Schrift von der Spitzfindigkeit der syllogist. Fig. zurQckverlegen
wollen; allein Cohen, System. Begriffe 17, und Pauls en, Entw. 87. 103 ff. haben
die Irrigkeit dieser Auslegung nachgewiesen; Fischer hat III, ^ 182 vergeblich
dagegen remonstrirt. Vgl. Cohen, 2. A. 110—114. — Vortrefflich hat Windel-
band die grundlegende Bedeutung dieser bei Kant eben im Jahre 1770 zuerst
auftretenden , totalen Differenz der Sinnlichkeit und Vernunft" gekennzeichnet
(Viert, f. wiss. Pbil. I, 237 ff. Gesch. d. n. Philos. II, .34 ff). Vgl. B. Erdmann,
Reflexionen I, N. 35; II, N. 316 ff. 414. 1120 (dazu desselben Einleitung S. 87.
45. 46. 48). Vgl. Comm. I, 489 f., sowie oben S. 22. 428.
Yaihinger, Kant-Gommentar. U. 29
450 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A43.B60. [R 50. H 73. E 90.]
» Vermischung ■ in Schutz genommen, dessen üebereilung hart getadelt und
insbesondere über den Ausdruck der „Verfälschung* sich beklagt. Der
Becensent des betreffenden Heftes, Reinhold, behauptete nun schlechtweg
(AUg. Lit. Zeit. 1789, II, S. 595), es walte hier „ein nicht unbedeutender
Schreib- oder Gedächtniss fehler* ob, „der dem mehr als zu viel
miss verstandenen Verfasser dieses von seinen Prüfern so sehr gem isshandelten
Werkes vielleicht am wenigsten gleichgültig sein dürfte.* Der Ausdruck
„verfälscht* finde sich bei Kant nicht. Es heisse bei ihm auf S. 44 (der
I. Ausg.; diese Seite hatte Eberh. selbst citirt), Leibniz „habe ... einen
ganz unrechten Gesichtspunkt angewiesen*. Und Reinhold lässt Eberhard
hart an wegen seiner ungenauen Citirung. Sofort erliess Eb. hiegegen eine
Erklärung im Int. Bl. d. A. L. Z. 1789, Nr. 87, S. 730 und zeigt das ver-
hängnissvolle Wort in dem nämlichen Contexte, nur auf der unmittelbar
vorhergehenden Seite 43. Denn Reinh. hatte, weil nur S. 44 angeführt war,
nur diese nachgeschlagen. Gegen diesen unangenehmen Zwischenfall war
Reinhold sophistisch und jesuitisch genug, einen Ausweg zu ergreifen, der,
wie Eberh. sagt, „unter allen der schlechteste ist*. Er war dreist genug,
in derselben Nummer eine Gegenerklärung zu erlassen, worin er sich der
elenden Ausflucht bediente, der fragliche Ausdruck finde sich nicht an der
von Eberhard citirten Stelle, sondern eine Seite vorher, und da sei noch nicht
von der Leibniz- Wolff'schen Philosophie die Rede. Dass dies doch der Fall
sei, konnte Eberhard aber leicht nachweisen, Phil. Mag. II, 244—250 (vgl.
260. 270 — 272); er schliesst daher mit den Worten: „er sehe mit Beschämung
auf diesen elenden Wortstreit zurück.* Aber wer sich zu schämen hatte
und zwar gründlich, war Reinhold. Es ist bedauerlich, darf aber nicht
verschwiegen werden, dass auch Kant selbst sich derselben Ungerechtig-
keit schuldig gemacht hat. In der Streitschrift gegen Eberh. beschuldigt
er denselben sogleich am Anfang der „Wortverdrehung*, und S. 62, Anm.
(W. W. Ros. I, 441) sagt er: „Herr Eb. schilt und ereifert sich auch auf
eine belustigende Art über die Vermessenheit eines solchen Tadels [nämlich
eben der Leibniz'schen Philosophie] (dem er obenein einen falschen
Ausdruck unterschiebt).* Und im Text führt auch er nur den Aus-
druck „unrichtiger Standpunkt* an. Auf die Aufforderung Eberhards
(Ph. Mag. III, 156. 158, vgl. IV, 81), diesen „falschen Ausdruck anzugeben*,
musste K. natürlich schweigen. —
Gegen diese „Verfälschung* also protestirt Kant bei der Wichtig-
keit der Sache auch sonst nicht selten, so besonders in dem schon mehrfach
citirten Abschnitte: „Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe*, A 263 ff., 271.
(„Die Sinnlichkeit war ihm nur eine verworrene Vorsteliungs-
art und kein besonderer Quell der Vorstellungen. Erscheinung war ihm
die Vorstellung des Dinges an sich selbst u. s. w.) „Mit Einem
Worte: Leibniz intellectuirte die Erscheinungen.* Vgl. A 276.
(Vgl. Cohen, 2. A. 174.) Auch die Anthropologie (§ 7, Anm.) enthält
eine beachtenswerthe Stelle hierüber: „Die Sinnlichkeit bloss in der
Leibniz habe Sinnlichkeit und Verstand nur graduell geschieden. 451
[R 50. H 73. E 91.] A 43. B 61.
ündeutlichkeit der Vorstellungen, die Intellectualität dagegen in der
Deutlichkeit zu setzen, und hiemit einen bloss formalen (logischen) Unter-
schied des Bewusstseins, statt des realen (psychologischen) ... zu setzen, war
ein grosser Fehler der Leibniz- Wolff'schen Schule, nämlich die Sinnlichkeit
bloss in einem Mangel ... zu setzen, ... da jene doch etwas sehr Positives
ist*, u. s. w. Auch in der Logik (Einleitung V, vgl. auch VIII) beschäftigt
sich Kant mit diesem Thema. An der Wolff'schen Theorie der Sinnlich-
keit macht er da zunächst die formelle Ausstellung, dass sie den Aus-
druck , verworrene Erkenntniss" in unrichtiger Weise verwendet habe.
Es sei besser dafür zu setzen: „undeutlich*. (Doch verwendet Kant den
ersteren selbst A 268 flp.; auch schon A 5; vgl. Comm. I, 249.) Weiterhin
heisst es daselbst, es falle eben nicht der Unterschied undeutlicher und
deutlicher Vorstellungen mit dem sinnlicher und intellectueller
zusammen; sondern jede Vorstellung, ob sinnlich oder intellectuell , kann
deutlich oder undeutlich sein u. s. w.; so sei z. B. die Milchstrasse im
Telescop gesehen, eine deutliche Anschauung, die unanalysirte Idee der
Schönheit ein undeutlicher Begriff. Niemand werde aber eine deutliche An-
schauung darum aus dem Gebiete der Anschauungen herausheben und ihrer
Deutlichkeit wegen eine intellectuelle Erkenntniss nennen, und ebensowenig
wird Jemand einen undeutlichen Verstandesbegriff seiner Ündeutlichkeit
halber aus dem Kreise der Begriffe herausnehmen und als sinnlich be-
zeichnen. Dasselbe erklärt dann Kant auch in seiner Gegenschrift gegen
den Haupt Vertreter der Leibniz- Wolff'schen Philosophie, Eberhard, 8. 60
Anm. Vgl. dazu Meilin II, 87. Vgl. dazu Steckelmacher, Ks. Logik S. 20 ff.
Zur mehreren Erläuterung bringt Kant hier im Texte noch ein anderes
Beispiel (gegen dessen Hiehergehörigkeit übrigens Eberhard im Phil. Mag.
I, 300 protestirt) herbei: Der Begriff vom Rechte ist ein intellectueller Be-
griff, betreffend die moralische resp. legale Beschaffenheit der Handlungen
(vgl. Erdmann, Nachträge S. 21), kann aber sowohl (beim Rechtsgelehrten)
deutlich sein, als (beim gemeinen Manne) undeutlich. Fiele nun der Unter-
schied deutlicher und undeutlicher Erkenntniss mit dem Unterschiede intel-
lectueller und sinnlicher Vorstellungen zusammen, so müsste man die Rechts-
vorstellung des gemeinen Mannes eine „sinnliche" nennen, was doch Nie-
mand thun wird. Dann müsste jene Rechtsvorstellung des gemeinen Mannes
identisch sein mit einer Erscheinung, und das hätte vollends keinen Sinn.
Denn der Rechtsbegriff, als ein Verstandesbegriff, ist überhaupt nicht etwas,
was sinnlich erscheinen kann ; und die juridisch-moralische Beurtheilung be-
zieht sich auf Eigenschaften der Handlungen an sich selbst, nicht auf Er-
scheinungen. Diese letztere Wendung Kants, welche eine Steigerung sein
soll, ist in der That eine Abschwächung : denn man kann sie aus zwei
Gründen nicht als eine glückliche bezeichnen: erstens nicht formell: denn
er mischt hier, in die Beurtheilung der Leibniz'schen Theorie, seinen
eigenen Erscheinungsbegriff hinein; aber vor allem zweitens nicht materiell:
denn nachdem er zwei Seiten vorher (oben S. 444) erklärt hat, die Dinge an
452 § 8. Allgemeine Anmerkungen. 1.
A 44. B 61. [R 50. H 73. K 91.]
sich seien uns „gänzlich unbekannt", macht es einen eigenthümlichcn Ein-
druck, hier zu hören, dass der Rechtsbegriff sich auf die Dinge an sich beziehe.
Diese Herbeiziehung seiner so widerspruchsvollen Freiheitslehre wäre hier
gar nicht nothwendig gewesen. (Vgl. hiezu auch A 476. 728 ff., B 414 ff.,
wo immer wieder dasselbe Beispiel vom Recht wiederkehrt. Vgl. auch
Mellin I, 81.) Auch in der Vorrede und Einleitung zu den ,Metaphys.
Anfangsgründen der Rechtslehre " (Ros. IX, 3 ff. 31 ff. 70. 85) kommt Kant
hierauf zu sprechen; ebenso auch in der Abhandlung: „Ueber Philos. über-
haupt", Ros. I, 601. Auch in der Kr. d. ürth. § 15 w^ird dieses Beispiel
des Rechtsbegriffs herangezogen in einem ähnlichen Zusammenhange,
wo nämlich der speci fische Unterschied des ästhetischen und des logi-
schen ürtheils behauptet wird, gegenüber Baumgarten, welcher beides
in den bloss graduellen Unterschied verworrener und deutlicher Erkennt -
niss aufgelöst hatte.
Den wahren Begriff der Sinnlichkeit also verfehlt, einen falschen
dafür aufgestellt zu haben , das wirft Kant der Leibniz-Wolff'schen Philo-
sophie vor; und eben darum habe sie auch den wahren Begriff der Er-
scheinung verfehlt und dafür einen falschen aufgestellt, durch den alles
Unheil über die bisherige Metaphysik in Deutschland gekommen sei. Jene
falsche Theorie der Sinnlichkeit beruhe aber weiterhin auf einer Verkennung
der Grenzen zwischen Logik und Transscendentalphilosophie.
Denn wenn jener Unterschied von sinnlicher und intellectueller Er-
kenntniss ein bloss formeller wäre, wenn er bloss die Art und Weise
beträfe, wie eine Vorstellung in unserem Bewusstsein erscheint, ob deutlich
oder undeutlich, so wäre dieser Unterschied logisch und gehörte in die
Logik. Denn diese behandelt die blosse Form der Vorstellungen, und die
Unterschiede der Deutlichkeit und ündeutlichkeit sind solche formale Unter-
schiede, wie sie denn auch Kant in der Logik, Einl. V behandelt. Aber
der Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand ist transscendental
und gehört in die Transscendentalphilosophie, d. h. er bezieht sich
auf den Ursprung und Inhalt der Vorstellungen. Der Unterscliied ist
also, nach Mellin III, 388, ein genetischer, nicht bloss ein logischer. Denn
„wir sehen in der Logik nicht, wie Vorstellungen entspringen. . . . Das
überlässt sie der Metaphysik." (Logik a. a. 0.) Metaphysik gebraucht K.
in seinen übrigen Schriften , besonders in der Logik , nicht selten in dem
Sinne von Transsc.-Philos. Wenn K. hier sagt, der Unterschied von Sinn-
lichkeit und Verstand sei „transscendental", so wird hier das Wort in einem
Sinne gebraucht, der aus dem Gegensatz logisch erhellt: es heisst so viel
als „zur Transsc.-Philos. gehörig*, wie logisch = zur Logik ge-
hörig; also hier nicht so viel als „das Apriori betreffend*. Letztere Be-
deutung liesse sich hier nur mit Umschweifen anwenden (wie z. B. bei
Mellin I, 82: „Der Untersch. ist transsc, oder hängt von dem Ursprung
der Vorstellungen a priori und der darin liegenden Möglichkeit der sinn-
lichen und Verstandes-Gegenstände selbst ab"). „Transscendentalphilosophie*
Nach Kant sind Sinnlichkeit und Intel lectuelles specifisch verschieden. 453
[B 50. H 73. K 91.] A 44. B 62.
hat hier offenbar einen Sinn, der sich nicht ganz mit dem in der Einleitung
festgestellten deckt; sondern etwa mit dem heutigen Begriffe „Erkenntniss-
theorie". Denn wenn K. sagt, jener Unterschied von Sinnlichkeit und Ver-
stand beziehe sich auf Ursprung und Inhalt, so ist ja darin noch nicht
gesagt, dass der Ursprung ein apriorischer sei, sondern es ist nur allgemein
vom Ursprung gesprochen. „Erkenntnisstheorie" ist das Allgemeinere, und
„Transscendentalphilosophie" heisst zunächst nicht: Theorie der Erkenntniss,
sondern specieller: Theorie der apriorischen Erkenntniss. K. fühlte eben
wohl (wie auch B. Er d mann in seiner Einleitung zu den Prolegotnena
S. XXXIII richtig andeutet) das Bedürfniss eines solchen allgemeineren und
neutralen Terminus, und scheint in Ermangelung eines solchen (denn der
Ausdruck „Erkenntnisstheorie" ist sehr viel später erst aufgekommen, vgl.
Philos. Monatsh. XII, 84 ff. 188) den Ausdruck „Transsc.-Phil." gelegentlich
und so auch hier in jenem allgemeineren Sinne zu gebrauchen. Es darf
also auch auf den letzteren Ausdruck nicht das sonstige ganze Gewicht
dieses Begriffes gelegt werden, wie das bei Cohen S. 54 (2. A. 167. 170)
der Fall ist.
Nun müssen wir aber der Verwunderung Ausdruck geben über die
Art, wie Kant sich hier ausgedrückt hat. Er spricht hier von dem „Unter-
schied der Sinnlichkeit vom Intellectuellen* in einer Weise, wie wenn er
noch auf dem Standpunkt der Dissertation von 1770 sich befände. Das
Lob der „Schärfe", das Bilharz, Erl. 171 dieser Kritik des Leibniz'schen
Irrthums ertheilt, ist deshalb wesentlich einzuschränken. Es klingt ja doch
fast, als wollte er sagen, „dass wir durch die erstere die Beschaffenheit der
Dinge an sich selbst gar nicht erkennen", wohl aber durch das zweite;
man ist wenigstens nach dem Zusammenhang unwillkürlich versucht, das
Letztere zu ergänzen. Ist es denn richtig vom Standpunkt von 1781 aus,
zu sagen, Sinnlichkeit und „Intellectuelles" (schon der Ausdruck ist ganz
ungewöhnlich vom Standpunkt der Kr. d. r. V. aus) seien nach Ursprung
und Inhalt so wesentlich verschieden? Hat nicht das „Intellectuelle" sowie
auch das Sinnliche nur immanenten Erkenntnisswerth ? * Haben nicht beide
einen apriorischen und einen aposteriorischen Bestandtheil , und hat nicht
jener beidemal die Aufgabe, „die Erfahrung möglich zu machen"? Wir
haben es also hier offenbar wieder mit einer jener Stellen zu thun, wie wir
sie schon mehrfach trafen (vgl. oben S. 354. 411 N. 417), in denen die
Dissertation von 1770 nachklingt. Es liegt daher auch nahe, anzu-
nehmen^, der Passus stamme daher wohl auch aus einer früheren Zeit.
* Aus diesen Schwierigkeiten erklärt sich, wie ein Kantianer (Schmid, Grit. 14)
dazu kommen konnte, hier die intellectuelle Anschauung einzusetzen im Gegensatz
zur sinnlichen, womit die Sache natürlich vollends verdorben wird.
* Dasselbe ist der Fall mit einer ähnlichen hieher gehörigen Stelle A 248 f.
(welche unten S. 465 in einem anderen Zusammenhang ausführlich mitgetheilt
ist). Indessen ist der Schluss auf einen früheren Ursprung solcher Stellen nicht
454 § ^- Allgemeine Anmerkungen. 1.
A 44. B 62. [R 50. H 73. K 91.]
Der ganze Abschnitt ist denn auch thatsächlich mit geringen Ver-
änderungen aus der Diss. herübergenommen. Es ist dort der § 7 (vgl. auch
schon § 5), der dieser Stelle entspricht und so lautet: „Ex liisee videre est:
sensitivum male exponi per confusius cognitum, intellectuale per id, cujus est
cognitio distincta, Nam haec sunt tantum discrimina logica, et quae data,
quae omni logicae comparationi suhsternuntur, plane non tangunt. Possuni
atdem sensitiva admodum esse distincta et intellectualia maxime confusa. Prius
anim advertimus in sensitivae cognitionis prototypo, geometria, posterius in
intellectualium omnium organo, metaphysica, quae, quantum operae navet ad
dispellendaSf quas inieUectum communem ohfuscatU, confusionis nehtdas . . . in
propatulo est. Nihilo tarnen secius harum cognitionum quaelihet stemmaiis sui
Signum tuetur, ita, ut priores, quantumcunque distinctae, ob originem vocentur
sensitivae; posteriores, utut confusae, maneant intellectuales : quales v. g. sunt
conceptus m orales, non experiundo, sed per ipsum inteUectum purum cogniti.
Vereor autem, ne WOLFIUS per hoc inter sensitiva et intellectualia discrimen,
quod ipsi non est nisi logicum, nohilissimum illud antiquitatis de phaeno-
menorum et noumenorum indole disserendi institutum [vgl. oben S. 117],
magno philosophiae detrimento, totum forsitan aboleverit animosque ab ipsorum
indagations ad logica s saepenumero minufias averterit/' —
Diese scharfe Polemik gegen die Leib niz- Wolf fische Philosophie hatte
nun natürlich die Folge, dass die noch vorhandenen überzeugten Anhänger
derselben darauf nicht die Antwort schuldig blieben. Der überzeugteste
derselben war Eberhard, dessen „Philos. Magazin" geradezu als eine Er-
widerung auf diese Stelle bezeichnet werden kann *. Den äusseren Verlauf
dieses grossen Streites und seiner wechselnden Phasen können wir hier nicht
unbedingt zwingend: Denn auch noch in den 1786 geschriebenen , Bemerkungen
zu Jakob's Prüfung* u. s. w. (Res. I, 397) unterscheidet Kant ^daa Sinnliche und
die Erscheinung von dem, was durch den Verstand als zu Sachen an sich gehörig
betrachtet werden kann**. Man sieht sich also zu der Annahme gedrängt, dass
„die verschiedenen Phasen der Kantischen Lehre vom Ding an sich* (Windelband
in der Z. f. wiss. Philos. I, 224 ff.) in Kants Kopfe sehr ungeordnet durch ein-
ander gingen. — Vgl. auch Comm. I, 490.
* üebrigens hat auch Platner, Aphorismen, 3. A. 1793 in einem eigenen
Paragraphen (§ 765) Leibniz gegen Kants Vorwürfe in Schutz genommen: „Wenn
Kant der Leibniz'schen Philosophie diesen Vorwurf macht [er weise der Sinnlich-
keit einen falschen Gesichtspunkt an], so weiset er damit dieser Philosophie
einen ganz falschen Gesichtspunkt an." Damit steht das oben S. 430 erwähnte
Bestreben -Platners in Zusammenhang, die Verwandtschaft zwischen Leibniz und
Kant heiTorzuheben, und den neuen Wein der Kantischen Philosophie in die alten
Schläuche des Leibnizianismus zu füllen. Vgl. P. Rohr, Platner u. Kant. Diss.
Leipz. 1890, S. 46 ff. — Ein entgegengesetztes Bestreben zeigt die vielfach unkritische
„Neue Darstellung der Leibnizischen Monadenlehre* von E. Dill mann (1891).
S. 264 ff. (vgl. 77. 248 ff. 260 ff.), welcher die Leibniz'sche Lehre von der Sinnlich-
keit als verworrener Vorstellungsweise in Kantisch-idealistischem Sinne umdeutet.
Eberhard hat die Leibniz/sche Theorie unglücklich vertheidigt. 455
[R 50. H 73. K 91.] A 44. B 62.
näher verfolgen, der innerste Kern desselben ist schon oben S. 146 — 149
hinreichend zur Sprache gekommen. Wir erkannten, dass Eberhards eigene
Position unklar war, insofern er die Leibniz'schen Monaden bald als im-
materielle Elemente der Materie selbst, bald als etwas ausser der Sinnenwelt
überhaupt liegendes rein Intelligibles definirte. Da Eberhard stets in dieser
Verwirrung stecken blieb, so musste seine Theorie der Sinnlichkeit den
Stempel derselben Verwirrung tragen ; vergeblich wendet er daher auch ein
(Mag. II, 262), Kant habe Leibniz in diesem Punkte „missverstanden". Wo
er sich auch (an den oben S. 147. 149 angeführten Stellen, bes. aber in dem
Aufsatz I, 290—305 „üeber den wesentlichen Unterschied der Erkenntniss
durch die Sinne und durch den Verstand") darüber äussert — immer be-
gegnen wir derselben Unklarheit: nach der Theorie, wonach die Monaden
etwas ganz ausser der Sinnen weit überhaupt liegendes rein Intelligibles sind,
sind ihm auch Sinnlichkeit und Verstand „wesentlich unterschieden";
denn dann haben es ja beide mit ganz verschiedenen Gegenständen zu
thun. Dagegen nach der Theorie, wonach die Monaden die immateriellen
Elemente der Materie selbst sind, sind ihm Verstand und Sinnlichkeit nur
graduell unterschieden als deutliche und verworrene Erkenntniss eines
und desselben Gegenstandes. Da nun Eberhard — mit der ganzen
Leibniz- Wolffischen Schule — zwischen jenen beiden Auffassungen unklar
hin und her schwankt, so bekommt seine ganze Darstellung hierin etwas
Schillerndes und Zweideutiges.
Dies hat nun Kant glücklich herausgefunden und scharf ans Licht ge-
stellt. Dieser Nachweis gibt seiner Schrift gegen Eberhard das Ueberzeugende,
ja Ueberwältigende ; und so ist es gekommen, dass Eberhard, der in anderen
Punkten gegen Kant vollständig Becht hatte, in solchen Misskredit gekommen
ist. Aber in jenem Punkte hatte Eberhard — ganz abgesehen von der
Frage nach der materiellen Wahrheit — schon formell Unrecht, weil er
seine Theorie nicht gründlich durchgedacht, nicht in innere Harmonie ge-
bracht hatte. Hier setzte Kant ein; ein beträchtlicher Theil seiner Gegen-
schrift (S. 25—76, Ros. I, 416 — 450) ist dem Nachweis jener Verwirrung
gewidmet, und damit zugleich eine werthvolle Ergänzung zu diesem Ab-
schnitte der Kr. d. r. V. Denn, was hier theoretisch behauptet wurde, dass
keine noch so gründliche Analyse der sinnlichen Vorstellungen resp. Gegen-
stände zu den Dingen an sich führe, das wird dort praktisch an dem
warnenden Beispiel Eberhards gezeigt, welcher es versucht habe, eine „Me-
thode, vom Sinnlichen zum Nichtsinnlichen aufzusteigen", zu zeigen, der
aber dabei sich die schlimmsten Verwechslungen habe zu Schulden kommen
lassen. Insbesondere der Begriff des , Nichtsinnlichen" sei *von Eb. zu
jenem Sprung missbraucht worden. Unter „nichtsinnlich" werde nämiich
bald verstanden dasjenige, „was gar nicht, auch nicht dem mindesten Theile
nach, in einer sinnlichen Anschauung enthalten sein kann", also das eigent-
liche Ding an sich, „der uns völlig unerkennbare Grund der Erscheinung",
bald dasjenige am Sinnenobjecte selbst, „was nicht mehr mit Bewusstsein
45Ö § ^* Allgemeine Anmerkungen. I.
A 44. B 62. [R 60. H 73. E 91.]
empfunden wird, wovon aber doch der Verstand erkennt, dass es da sei,
so wie die kleinen Theile der Körper", wie z. B. „Newtons kleine BlRttcben,
daraus die Farbetheilcben der Körper besteben, die nocb kein Mikroskop
bat entdecken können, deren Dasein der Verstand aber nicht nur erkennt
oder vermatbet, sondern die auch wirklich in unserer empirischen Anschauung,
obzwar ohne Bewusstsein, vorgestellt werden" (als „Theilempfindungen*).
Indem nun Eb. beide Bedeutungen mit einander verwechsle und die erstere
der zweiten unmerklich „ unterschiebe", glaube er plausibel machen zu
können, wie man eben doch durch genaue Analyse der sinnlichen Vor-
stellungen in den Sinnengegenständen selbst das Ding an sich (die „Ver-
staudeswesen") entdecken und begrifflich bestimmen könne.
Hiebei spiele der Begriff des Einfachen, dessen objective Realität £b.
ohne alle kritische Untersuchung ohne Weiteres annehme, auch eine bedenk-
liebe Rolle ; denn Eb. suche zu zeigen, dass die Erscheinungen in Raum und
Zeit aus einfachen Theilen (Elementen) bestehen müssen, und diese einfachen
Theile gebe er dann eben für die Dinge an sich aus. Allein in der Er-
scheinung gebe es, wie in Raum und Zeit, nichts absolut Einfaches, viel-
mehr herrsche da die unendliche Theilbarkeit (welche Kant eben aus diesem
Grunde überall so energisch betont), und auf die Dinge an sich sei der
Begriff des Einfachen nur mit grosser Vorsicht anwendbar. Aber auch wenn
es in der Erscheinurigswelt wirklich Einfaches gäbe, so wäre dieses Einfache
dann doch immer wieder etwas Sinnliches, also nur Erscheinung, nicht das
eigentliche übersinnliche Ding an sich ; selbst wenn dieses Letztere seinerseits
auch als Einfaches bezeichnet werden müsste, so wäre dieses Metaphysisch-
Einfache vom Physisch-Einfachen immer noch himmelweit verschieden \ und
jedenfalls, mangels einer Anschauung, unserer Erkenntniss gänzlich entzogen.
Auch mit den Ausdrücken : Theile, Elemente, Gründe spiele Eber-
hard dabei ein frivoles Spiel. Er gehe davon aus, dass die sinnlichen Gegen-
stände doch ihre letzten Theile, ihre Elemente, ihre letzten Gründe haben
müssten, und wenn man ihm dies für die sinnlichen Erscheinungen zugebe,
so mache er flugs daraus im Handumdrehen die übersinnlichen Dinge an
sich. Hier sei aber ein gewaltiger Sprung, der am besten daraus erhelle,
dass ja dann nach Eb. „die sinnliche Anschauung aus Theilen zusammen-
gesetzt wäre, die nicht sinnlich sind"; das aber sei „ein offenbarer Wider-
spruch" ; es kann nicht „das Ganze einer empirischen Anschauung innerhalb,
die einfachen Elemente derselben Anschauung aber völlig ausserhalb der
Sphäre der Sinnlichkeit liegen". Sondern man müsse da wesentlich unter-
scheiden zwischen den letzten sinnlichen Theilen des Sinnlichen und den
eigentlichen übersinnlichen Gründen desselben. Man müsse allerdings kleine
(wenn auch wegen der unendlichen Theilbarkeit nicht kleinste) Theile der
* Es ist von Interesse, daran zu erinnern, dass Kant schon in den ,, Traumen*"
(Res. VII, a, 38 ff.) ganz ähnlich unterscheidet zwischen dem Immateriell-Einfachen
und dem Materiell-Einfachen.
Die Eberhard'schen Homonymien. 457
[R 50. H 73. E 91.] A 44. B 62.
Materie annehmen, welche, wenn sie auch unseren Sinnen, ja selbst unseren
Instrumenten nicht mehr zugänglich, also nicht mehr „empfindbar' sind,
doch noch eben als Theile der sinnlich-wahrnehmbaren Gegenstände, selbst
auch noch innerhalb der Sphäre der Sinnlichkeit (als möglicher Weise
wahrnehmbar) sich befinden, und nicht „aufhören, sinnlich zu sein'. Im
Gegentheil, diese kleinen Theile gehören eben darum, weil sie Theile des
Sinnlichen sind, noch selbst zur Erscheinung als solcher, und sind noch lange
nicht die Dinge an sich selbst, welche in der „Sphäre des üebersinnlichen*
liegen. Diese Grenze verwische aber Eb. mit jenen seinen zweideutigen
Ausdrücken, insbesondere mit dem Ausdruck der „Gründe'; denn „Gründe
des Sinnlichen' kann man sowohl jene (erkennbaren) „sinnlichen Theile des
Sinnlichen', als die dem Sinnlichen in letzter Linie zu Grunde liegenden
übersinnlichen (unerkennbaren) Dinge an sich nennen. Indem nun Eb. nach-
weise, dass man jene ersteren durch verstandesmässige Analyse des Sinn-
lichen erkennen könne, springe er unmerklich über zu diesen letzteren, und
gebe vor, eben diese seien dem Verstände zugänglich. Darin eben bestehe
seine famose „Methode, vom Sinnlichen zum Nichtsinnlichen aufzusteigen'.
Dieselbe bestehe also in einer jetzt ganz durchsichtigen Verwechselung der
letzten raumzeitlichen Theile des Sinnlichen und der ersten übersinnlichen
Gründe desselben, der Dinge an sich , „die nicht im Raum und in der Zeit
zu suchen sind'. Zusammenfassend sagt Kant: „Nach der Kritik ist also
Alles in einer Erscheinung selbst wiederum Erscheinung, so weit der Ver-
stand sie immer in ihre Theile auflösen und die Wirklichkeit der Theile,
zu deren klarer Wahrnehmung die Sinne nicht mehr zulangen , beweisen
mag; nach Herrn Eberhard aber hören sie alsdann sofort auf, Erscheinungen
zu sein und sind die Sache selbst.' Kant macht Letzteres an einem drasti-
schen Beispiel klar *: „es ist also (nach Eberhard) zwischen einem Ding als
Phänomen und der Vorstellung des ihm zu Grunde liegenden Noumens kein
anderer Unterschied, als zwischen einem Haufen Menschen, den ich in grosser
Ferne sehe, und ebendemselben, wenn ich ihm so nahe bin, dass ich die
einzelnen zählen kann' u. s. w. Wenn diese Leibniz- Wolffische Unter-
scheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand (nach Eberhards Behauptung,
Kant lehre im Grunde nur dasselbe wie Leibniz) dieselbe wäre, „die die
Kritik in ihrer Aesthetik mit so grossem Aufwände zwischen der Erkennt-
niss der Dinge als Erscheinungen und dem Begriffe von ihnen nach dem,
was sie als Dinge an sich selbst sind, macht, so wäre diese Unterscheidung
eine blosse Kinderei gewesen!' Um diesen „schalen und in der Meta-
physik gänzlich zwecklosen' rein logischen Unterschied zu machen, hätte
es nicht jenes grossen Apparates der Kr. d. r. V. bedurft , die vielmehr he-
* Ein noch drastischeres Beispiel gibt Schütz in der A. L. Z. 1785, 111,54:
flWenn man gleich den Schimmel auf dem Käse durch das Vergrösserungsglas
weit deutlicher anschaut, als mit blossen Augen, so bleibt er doch immer Er-
scheinung, und die Voi-stellung davon wird nie intellectual.**
458 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A 44. B 62. [R 60. H 73. K 91.]
weisen will, dass in der Körperwelt, „wenn unsere Sinne auch ins Unend-
liche geschürft würden '', doch niemals die eigentlichen Dinge an sich anzu
treffen sind; und dies ist der transscendentale Begriff der Sinnlichkeit.
Nach Leibniz ist die Sinnlichkeit etwa wie ein Schleier, durch den hin-
durch wir die wahren Umrisse der Dinge undeutlich erkennen können, nach
Kant aber wie eine Mauer, welche uns jeden Ausblick auf die Dinge an
sich versperrt.
Um diesen Unterschied recht klar zu machen , geht Kant auf ein be-
rühmtes Beispiel ein, welches Eberhard (I, 272. 292) aus Leibniz angeführt
hatte (welches übrigens schon aus Arnaulds Logik I, 1 stammt), ,die Sinne
und die Einbildungskraft des Menschen in seinem gegenwärtigen Zustande
können sich von einem Tausendeck kein genaues Bild machen, d. h. ein
Bild, wodurch sie es z. B. von einem Neunhundertneunundneunzigeck unter
scheiden könnten. Allein sobald ich weiss, dass eine Figur ein Tausendeck
ist, so kann mein Verstand ihr verschiedene Prädicate beilegen u. s. w,*
Somit habe der Verstand von den Dingen an sich .eine Erkenntniss. Hiegegen
hat Kaut leichtes Spiel: ein Dreieck oder Fünfeck, das man noch mit den
Sinnen übersehen kann , wäre also nach Eberhard ein Sinnenwesen , ein
Tausendeck schon ein blosses Verstandeswesen , etwas Nichtsinnliches: ,ich
besorge, ein Neuneck werde schon über dem halben Wege vom Sinnlichen
zum Uebersinnlichen hinausliegen ". Eb. wolle also die Sinnengegenstände,
, sofern sie nur entweder für den Grad der Schärfe unserer Sinne zu klein,
oder die Vielheit derselben in^ einer gegebenen sinnlichen Anschauung für
den dermaligen Grad der Einbildungskraft zu gross ist, für nichtsinnliche
Gegenstände gehalten wissen, von denen wir Vieles sollen durch den Ver-
stand erkennen können ''. Eb. betrachte also die Sinnlichkeit in der That
als eine verworrene Vorsteilungsweise, welcher die Verstandeserkenntniss als
deutliche gegenüberstehe, fasse also beide als bloss graduell verschieden,
und verdiene damit eben die »Rüge der Kritik**, den Begriff der Sinnlich-
keit verfälscht zu haben, insofern die Letztere, richtig gefasst, gar keine
Erkenntniss der Dinge an sich gebe. (Vgl. dazu oben S. 148 N.)
Die Falschheit jener Auffassung der Sinnlichkeit als einer verworrenen
Erkenntniss des Realen , als einer „empirischen Apprehension der Dinge an
sich, die sich nur durch die Undeutlichkeit von einer int^llectuellen An-
schauung^ unterscheide, zeige sich auch darin, dass Eb. die Sinnlichkeit als
beruhend auf dem „Unvermögen**, auf „Ohnmacht", auf den ., Schranken^
der Vorstellungskraft fasse, sonach als rein negativ ^ Aber aus etwas
Negativem könne man doch „keine positiven Bestimmungen der Objecte her-
leiten", wie das doch in der Mathematik geschehe bezüglich der Eigen-
^ Ueber diesen wichtigen Punkt äussert sich gut auch Pistorius, A. D. B.
59, 332; ebendeshalb könne man nach Leibniz durch Analyse des Verworrenen
den Dingen auf den Grund kommen, währenddem bei Kant die Sinnlichkeit als
ein positives Hinderniss im Wege steht. Vgl. oben S. 451.
Kant hat sehr glücklich gegen Eberhard opponirt. 459
[R 50. H 73. E 91.] A 44. B 62.
Schäften des Raumes und der Gegenstände in ihm. A priori sich erweiternde
Wissenschaften könne man doch nicht aus lauter „Mängeln" ableiten. Dazu
bedürfe es eines eigenen positiven Vermögens; die Sinnlichkeit sei also zu
fassen als „eine besondere Anschauungs a r t , welche ihre a priori nach all-
gemeinen Principien bestimmbare Form hat". Unter Sinnlichkeit können
wir also nur „die Art verstehen, wie wir von einem an sich selbst uns ganz
unbekannten Object afficirt werden, und da besteht die Sinnlichkeit so gar
nicht in der Verworrenheit, dass vielmehr ihre Anschauung immerhin auch
den höchsten Grad der Deutlichkeit haben möchte, und wofern in ihr ein-
fache Theile stecken, sich auch auf diese ihre klare Unterscheidung er-
strecken könnte, dennoch aber nicht im mindesten etwas mehr als blosse
Erscheinung enthalten würde". Dies fasst Kant in den prägnanten, äusserst
glücklich gewählten Worten zusammen: „Die Gegenstände als Dinge
an sich geben den Stoff zu empirischen Anschauungen (sie enthalten
den Grund , das Vorstellungsverraögen , seiner Sinnlichkeit gemäss zu be-
stimmen)^ aber sie sind nicht der Stoff derselben." Vgl. oben S. 66.
Durch diese scharfe Formulirung hat Kant nicht nur Eberhards Ver-
worrenheit deutlich aufgelöst, sondern auch dem philosophischen Denken
überhaupt einen grossen Dienst geleistet. Wie man auch über den sach-
lichen Werth dieser Kantischen Position denken mag — formell hat Kant
durch diese Kritik jedenfalls Nebel zerstreut und Klarheit der Situation
geschaffen. —
Diese schroffe Gegenüberstellung von Sinnlichkeit und Verstand als
speci fisch verschiedener Erkenntnissquellen war von jeher vielen Kantianern
ein Anstoss, zumal sie, wie oben S. 453 ausgeführt wurde, übel mit anderen
Lehren Ks. stimmt. So versuchte schon Beck (vgl. oben S. 22) denselben
hinwegzudeuten. Dies hat auch neuerdings Adamson (Kant 22) vom „neu-
kantischen" Standpunkt Cohens aus versucht: „Vieles, was bei Kant ver-
wirrend. Vieles, w^as auf den ersten Blick mit seiner ganzen Theorie un-
vereinbar ist, schreibt sich von seiner beharrlichen Opposition gegen die
Leibniz'sche Metaphysik und Erkenntnisstheorie her. So ist der Unterschied
zwischen Sinnlichkeit und Verstand so stark betont, dass mitunter der Schein
erweckt wird, als ob jedes von beiden Vermögen von Kant als die Quelle
einer specifischen Erkenntnissart betrachtet würde ; seine allgemeine Theorie
jedoch und seine ausdrücklichen Erklärungen schützen uns davor, ihm eine
solche Ansicht zuzuschreiben." Dies ist aber eine kecke Verschiebung
des Kantischen Lehrbegriffes. Wem die vorliegenden Stellen selbst noch
* Natürlich sind diese Dinge an sich auch als das Afficirende gemeint in
der Stelle des Textes A 44, B 61: „Die Erscheinung von Etwas, und die Art,
wie wir dadurch afficirt werden.** Laas, Id. u. Pos. III, 845 N. hält es zwar
für möglich, das „dadurch" auch auf ,. Erscheinung** zu beziehen; aber, so sehr
sonst Kant hierin gelegentlich schwankt (vgl. oben S. 54 f. 363) — diese Stelle
wenigstens ist nicht „zweideutig".
460 § ^- Allgemeine Anmerkungen. I.
A44.45.B62.63. [B 51. H 74. K 91. 92.]
nicht deutlich genug sind , der halte sich an die Stelle in den Fortschr. d.
Met. Kos. I, 511—513, wo ausdrücklich ausgeführt wird, dass Anschauung
und Begriff nicht „nur dem Grade des Bewusstseins nach", sondern
«speci fisch unterschieden '^ seien; „dass Anschauung (dergleichen die Vor-
stellung des Raumes ist) und Begriff der Species nach ganz verschiedene
Vorstellungsarten sind " .
B. Polemik gegen Locke.
Nun wendet sich Kant gegen eine andere Verfälschung des Begriffes
der Sinnlichkeit und der Erscheinung, gegen eine Ansicht, welche in der
Geschichte der Philosophie mit dem Namen von Locke verbunden wird,
welchen Kant hier allerdings nicht ausdrücklich nennt. Dass er aber eben
dessen Lehre meint, geht ja auch aus der oben S. 865 angeführten Stelle
aus den Prolegomena hervor. Es ist ja die Lehre, dass die «secundären
Qualitäten" nur subjectiv seien , dass wir dagegen in der Vorstellung der
„primären Qualitäten '^ eine wahre Erkenntniss der Dinge an sich besitzen.
Was uns die secundären Qualitäten geben (Farben, Töne, Gerüche, Ge-
schmäcke, Wärme), das also ist bloss subjective , Erschein ung**, während
wir in den Tast- und in einem Theil der Gesichtsempfindungen die in Wirk-
lichkeit ausgedehnten „Dinge an sich'' unmittelbar erfassen.
Als Beispiel dient der bekannte Fall vom Regenbogen* (vgl. Bil-
harz, Erläuterungen 20; auch Haffner, Gesch. d. Philos. 943). Dieser ist
eine rein subjective Erscheinung, welcher nichts entspricht als eine Anzahl
Regentropfen, welche zur Sonne eine gewisse Stellung einnehmen. Nur
wenn jene Regentropfen eine sogenannte Regenwand bilden, nur wenn die
Sonne dieselbe gerade bescheint, nur wenn der Zuschauer die Sonne gerade
im Rücken hat, nur wenn die aus der Sonne kommenden Lichtstrahlen mit
den aus den Regentropfen reflectirten und unser Auge treffenden Strahlen
einen gewissen Winkel (42*^30') bilden — nur dann tritt jene subjective Er-
scheinung ein. Diese zufällig zusammentreffenden Bedingungen in ihrer
Gesammtheit bilden eigentlich das objective Ding an sich, doch beschränkt
man sich der Kürze halber darauf, nur den Regen als die .Sache an sich
selbst" zu bezeichnen. Dieser Regen besteht ja aus Regentropfen, also aus
ausgedehnten, materiellen Gegenständen; Ausdehnung, Materialität sind eben
„primäre" Eigenschaften, dagegen die prismatischen Farben des Regenbogens
sind bloss „secundäre", und eben darum nur Erscheinungen.
Wenn diese beliebte Unterscheidung nun als eine definitive aufgestellt
* „L^arc-ett-cieV* spielt auch in der Leibniz'schen Erkenntnisstheorie eine
sehr beliebte Rolle; so in den youveaux Essais, Op. Erdnu 238b. 348b. 352a: vgl.
die Math. Werke, Ed. Pertz, II, 1, 50. 60. 116 (Baumann, Lehren von Raum. Zeit
u. s. w. II, 66 f.) Weiteres bei Dillmann, Leibn. Monadenlehre, 1891, S. 259 ff.
(mit Bezug auf Gerhardts Ausg. II, 97. 276. 306).
Polemik gegen die Locke'sche Theorie der Sinnlichkeit. 461
[R 51. H 74. E 92.] A 45. B 63.
wird, so ist sie nach Kants Urtheil falsch. Diese Theorie weist der Sinn-
lichkeit einen falschen Werth zu: danach soll ein Theil unserer Sinnlich-
keit im Stande sein, die Dinge an sich, wie sie wirklich sind, direct zu
erkennen ; der andere Theil der Sinnlichkeit dagegen soll uns nur subjective
Phänomene geben. Der Unterschied von Erscheinung und Ding an sich liegt
also hier im Empirischen. Die Dinge an sich sind innerhalb der Erfahrung
aufzufinden, und die Sinnlichkeit ist ohne Weiteres im Stande, dieselben zu
geben , wenn wir es nur verstehen , jenen phänomenalen Theil (Farben,
Töne u. s. w.) davon abzuziehen. Wenn wir dieses Subtractionsexempel
gemacht haben , dann haben wir ohne weitere Mühe die Dinge an sich vor
uns. Diesen Standpunkt nennt Göring, Raum und Stoff 31. 53 ff. 63 „das
kritische Bewusstsein auf halber Höhe", „das halbkritische Bewusstsein".
Diese Theorie muss Kant natürlich verwerfen. »Auf der Höhe des
kritischen Bewusstseins ist jener Unterschied ebenso vernichtet, wie auf dem
Niveau des unkritischen Geistes, der von einem solchen Unterschiede auch
nicht die leiseste Ahnung hatte" (Göring a. a. 0. 31). Aber der Unterschied
zwischen primären und secundären Qualitäten ist nun doch zu gut begründet,
als dass Kant nicht versuchen sollte, ihn in den Rahmen seiner Auffassung
hineinzunehmen, mit der nöthigen Reserve. Im empirischen Sinne — ab-
gesehen von allen philosophischen Fragen nach dem letzten Grunde unserer
Erkenntniss — kann man jenen Unterschied wohl verwenden, wenn man ihn
nur richtig versteht. Und zwar gibt Kant in dem Absätze hier mehrere
Kriterien an für dasjenige, was wir empirisch als Ding an sich gelten
lassen wollen: 1) dasjenige, was der Anschauung der empirischen Gegen-
stände wesentlich und nothwendig anhängt; 2) dasjenige, was für
jeden (normalen) menschlichen Sinn überhaupt gilt, oder wie es nachher
heisst: „was mit jedem Menschensinne einstimmt*^; (vgl. dazu Spicker,
Kant 157 ; Schneider, Ps. Entw. d. Apriori 29) ; und 3) dasjenige, was sich auf
die „Sinnlichkeit überhaupt" bezieht; 4) dasjenige, „was in der all-
gemeinen Erfahrung unter allen verschiedenen Lagen zu den Sinnen
doch in der Anschauung so und nicht anders bestimmt ist". (Hierin sieht
Göring, Raum und Stoff, Vorr. X den „Kernpunkt" der Stelle.) Als Kriterien
für dasjenige, das wir empirisch als blosse Erscheinung bezeichnen wollen,
ergeben sich daraus folgende Merkmale: 1) dasjenige, was der Anschauung
der empirischen Gegenstände nicht wesentlich, nicht nothwendig, sondern
nur zufällig anhängt; 2) dasjenige, was nur für einzelne Menschen
gilt, besonders in abnormem Zustande; dafür gelte als Beispiel der viel-
citirte Fall, den auch Meilin II, 899 hiezu anführt, vom Gelbsüchtigen, der
Alles gelb sieht, „ein nur für die subjective Organisation eines einzelnen
Sinnes gültiges Phänomen" ; 3) dasjenige, was nur für einzelne „Sinne* gilt,
für diesen oder jenen ; 4) dasjenige, was nur „für eine besondere Stellung
oder Organisation dieses oder jenes Sinnes gültig ist".
Treffende Erläuterungen hiezu gibt Reinhold in seinen Briefen I,
276 ff. Er unterscheidet die Sinnlichkeit als Receptivität unseres Er-
462 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A 45. B 63. [B 51. H 74. E 92.]
kenntnissvermögens von der Receptivität der einzelnen Sinnesorgane. Jene
sei unserer Natur wesentlich , gehöre dem Gemüthe an und gebe uns All-
gemeines und Noth wendiges, die unveränderliche Erscheinung; diese aber
seien unserer Natur nur nebensächlich, gehören dem Körper an, und geben
uns nur Besonderes und Zufälliges, den veränderlichen Schein. Die unter*
Scheidung dieser beiden Elemente sei ein grosses Verdienst Kants, während
die früheren Skeptiker und Idealisten jenen Unterschied übersehen hätten. —
Ob diese Unterscheidung (vgl. über dieselbe auch oben S. 44) gegen alle
Einwände stichhaltig ist, ist zweifelhaft. Dagegen ist sie jedenfalls mehr im
Sinne Kants, als jene besonders von F. A. Lange eingeführte Auffassung,
welche die apriorischen Formen der Sinnlichkeit und die empirischen Em-
pfindungsqualitäten mit einem unbestimmten und allgemeinen Ausdruck ge-
meinsam unserer „Organisation* zuschreibt; vgl. oben S. 867.
Es liesse sich nun sehr darüber streiten, ob jene von Kant aufgestellten
vier Kriterien gleichwerthig seien, ob sie auf einander zu reduciren seien,
ob sie sich nicht gegenseitig stören u. s. w. ; doch ist so Vieles auf den
ersten Blick klar, besonders wenn man diese Stelle mit der oben S. 362
besprochenen zusammenhält, dass Kant hier versucht, jenen Locke'schen
Unterschied objectiver (primärer) und subjectiver (secundärer) Eigenschaften
zu verwandeln in den Unterschied verschiedener Grade innerhalb der
Subjectivität selbst; das Allgemein-Subjective wird bei ihm dem
Individuell-Subjectiven gegenübergestellt. Was von allen Subjecten so
vorgestellt wird, was der allgemeinen Subjectivität entspringt, das kann man
ge wisser massen als objectiv bezeichnen, als Ding an sich im empirischen
Sinne ; was nur von Diesem oder Jenem so vorgestellt wird, was nur unter
besonderen Verhältnissen entspringt, das sei als subjectiv im engeren Sinne
gekennzeichnet, als blosse Erscheinung im empirischen Sinne. Der gemeine
Unterschied zwischen objectiv und subjectiv wird also von Kant auf ver-
schiedene Grade der Subjectivität reducirt, man möchte sagen, auf den
Unterschied obligatorischer und facultativer, nothwendiger und
zufälliger Bestimmungen derselben; dieser Unterschied fällt ja für Kant
(oft, z. B. Proleg. § 22) vollständig mit dem von objectiv und subjectiv
zusammen. So verwandelt Kant, kann man auch sagen, jenen qualitativen
Unterschied primärer und secundärer Qualitäten in einen quantitativen*.
Und so dient diese Stelle zur Ergänzung und Erläuterung für jenen
oben S. 355 ff. besprochenen widerspruchsvollen Passus A 28 f., wie schon oben
S. 864 bemerkt wurde. In gereifterer Weise sehen wir hier Kant Stellung
^ Darauf weist auch Stadler (Ks. Th. d. Materie 10) hin: .Der Gegensatz
von primären und seeundären Qualitäten, zwischen dem, was zum Wesen der
Materie gehört, und dem, was von der Beschaffenheit des Subjects abhängt, behält
auf dem neuen Standpunkte sein volles Gewicht." Das Object sei zwar ,2Dr
blossen Vorstellung" geworden, aber man müsse diese objective Vorstellung unter-
scheiden von denjenigen , Vorstellungen, die uns nur das Subjeet beschreiben* u. s, w.
Locke's empirisches, Kants transscendentales Ding an sich. 463
[R 51. H 74. K 92.] A45.46.B63.
nehmen zu der Loeke'schen Theorie, mit welcher ja die Naturwissenschaft
seit Cartesius, Kepler u. A. übereinstimmt. Es gelingt ihm hier viel mehr
als dort, jener Unterscheidung primärer und secundftrer Qualitäten eine
widerspruchslose Stelle in seinem eigenen Systeme einzuräumen. Vor Allem
ist hier fast vollständig verschwunden jene fatale Bestimmung , dass die
empirischen Dinge an sich, die doch wahrhaft nur unsere Erscheinungen sind,
uns hinwiederum „afficiren" sollen; wohl nur fälschlicherweise legt A. Krause,
Kant wider Fischer 87 ff. diesen Sinn hinein; doch vgl. oben S. 54.
Jene Unterscheidung ist also „richtig**, wenn man nur nicht „dabei
stehen bleibt, wie es gemeiniglich geschieht". Wenn das Letztere der Fall
ist, dann glaubt man allerdings, in jenen empirischen Gegenständen, wie wir
sie uns ohne die secundären Qualitäten denken, „Dinge an sich zu erkennen '.
Das Richtige aber wäre, dass wir jene empirischen Gegenstände „wiederum*'
als „blosse Erscheinungen^ ansehen, den wahren, eigentlichen Dingen gegen-
über. Dieser Darstellung nach wäre es also das Richtige, den Unterschied
von Erscheinung und Ding an sich von dem Gegensatz der secundären und
primären Qualitäten hinauszuschieben bis zu dem Gegensatz zwischen pri-
mären Qualitäten und den diesen correspondirenden eigentlichen, aber gänz-
lich unbekannten Dingen an sich.
Mit leichter Nuance lehrt dasselbe die zweite Hälfte des Absatzes.
Es wird da an uns die Forderung gestellt, „das Empirische überhaupt' zu
nehmen, ohne erst eine Scheidung innerhalb desselben durchzuführen, und nun
die Frage zu stellen, nicht mehr, ob alle Menschen in einer Vorstellung
übereinstimmen, sondern ob diese Vorstellung selbst mit dem entsprechenden
Dinge an sich übereinstimme, ob wir also in dem Empirischen überhaupt
Dinge an sich finden ; solche Dinge an sich sind aber nicht die Regentropfen
(dies ist der Sinn der grammatisch schlecht gebauten Parenthese), denn diese
sind eben von diesem neuen Gesichtspunkt aus schon als Erscheinungen
bloss empirische Objecte, nicht wahre, transscendente Objecte an sich.
Wenn wir also die Frage so stellen , nach dem Erkenntnisswerth des »Em-
pirischen überhaupt", dann ergibt sich, dass alles Empirische überhaupt
blosse Erscheinung eines „Unbekannten" ist, dass also in specie jene Regen-
tropfen , ihre Gestalt und der Raum , in dem sie fallen , blosse Erschei-
nungen sind.
Im Gegensatz zu dem Regenbogen sind jene Regentropfen wohl Dinge
an sich im physischen oder empirischen Sinne, aber im Gegensatz zu dem
wahren Sein sind jene Regentropfen doch wiederum nur Erscheinungen im
„transscendentalen" Sinne. Vgl. oben S. 351 — 354.
Auch .hier reicht die von K. in der Einleitung aufgestellte Bedeutung
von „transscendental" nicht aus, und auch hier muss der Sinn wieder aus
dem Gegensatz eruirt werden. Der Gegensatz ist hier: „empirisch*. Der
Locke'sche Unterschied zwischen primären und secundären Qualitäten ist nur
„empirisch", d. h. er gehört in die Erfahrungs Wissenschaften, in die Physik
im weiteren Sinn und daher hiess das „empirische" Ding an sich auch
464 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A 46. B 63. [R 51. H 74. K 92,]
, physisch". Aber der Unterschied der raumzeitlichen Erscheinung, wozu
auch die Regentropfen gehören, von dem unbekannten Gegenstande an sich,
und die Frage, ob die Regentropfen Dinge an sich selbst seien, diese
Frage von der Beziehung der Vorstellung auf den Gegenstand ist «trans-
scendental*, das heisst also, Unterschied und Frage sind transscendental-
philosophisch, d. h. sie gehören in jene Wissenschaft, welche das Apriori
behandelt, und, können wir hinzusetzen, welche, indem sie insbesondere die
Apriorität des Raumes beweist, zeigt, dass auch die raumerfüllenden Körper
nur Erscheinungen sind. Aber klingt nicht in diesem Unterschied von
empirisch und transscendental noch eine Saite mit, welche an den Unterschied
des Empirischen und Transscendenten erinnert? Sollte der „empirische'
Unterschied nicht auch deshalb so heissen, weil dabei nur die empirischen
raumerfüllenden Objecte berücksichtigt werden, während beim ^transscen-
dentalen" Unterschied auch das transscendente Object, oder wie es eben hier
heisst, das „transscendentale Object' ins Spiel kommt?
Diesen Ausdruck haben wir nun hier zum Erstenmal. „Transscendental*
hat aber ofiFenbarer, wenn auch wunderbarer Weise hier eine ganz andere
Bedeutung als bisher und bedeutet das über den Erfahrungsumkreis
Hinausliegende, das Transscendente! Welche unerhörte Ungenauigkeit der
Terminologie! (Vgl. Comm. I, 468.) Nur mit höchstem Zwang könnte man
diesem Wortcomplex mit Hilfe der bisherigen Definition von transscendental
= auf das Apriori bezüglich — einen Sinn geben. Aber das wSre verlorene
Liebesmühe. Denn aus späteren Stellen wird ganz klar, dass ,ytransscen-
dental" in dieser Verbindung bedeutet „transscendent*, d. b. das
Nicht-Empirische, das Metempirische , das jenseits des Erfahrungsfeldes
Liegende; so heisst es A 191: „sobald ich meinen Begriff vom Gegenstande
bis zur transscen dentalen Bedeutung steigere, so ist das Haus gar kein
Ding an sich selbst, sondern nur eine Erscheinung, d. i. Vorstellung, deren
transscenden taler Gegenstand unbekannt ist.' So auch Schmid in seinem
Auszug aus der Kr. S. 23 ; sowie Meilin I, 83 , II, 400 f. Schulz (Erl. 27)
lässt uns dagegen hier im Stich. So heisst es ferner ja z. B. A 492 : „das
eigentliche Selbst, so wie es an sich existirt oder das transscendentale
Subject*. —
Eine treffende zusammenfassende Bemerkung über das Resultat dieser
ganzen Erörterung findet sich bei Riehl, Krit. II, b, 292: „Das wesent-
liche Ergebniss der Tr. Aesthetik, welches auch allein als gesichert zn
betrachten ist, besteht in dem Satze, dass alle sinnlichen Eigenschaften der
Dinge, auch die von Locke sogenannten primären Eigenschaften,
relativ sind und daher zur Erscheinung der Dinge gehören. Man darf die
Tragweite dieses Satzes nicht unterschätzen ; er ist gleichbedeutend mit der
Relativität der Erkenntniss überhaupt, wodurch aller aus reinen Begriffen
schöpfenden Metaphysik, zugleich aber auch aller die Anschauungen ver-
dinglichenden Dogmatik der Naturwissenschaften ein Ende gemacht wird.
Da sich alle Erkenntniss auf Anschauung beziehen muss, die Anschauung
Leibniz und Locke haben daa Wesen der Sinnlichkeit verkannt. 465
[B 61. H 74. E 92.] A 46. B 63.
aber relativ ist, so folgt, dass die Erkenntniss überhaupt relativ sein muss,
sofern sie sachliche und nicht bloss formale Erkenntniss sein soll/
Gegen Kant halten Viele noch mit Bewusstsein fest an der alten Unter-
scheidung; so z. B. der bekannte Common-Sense-Philosoph Mc Cosh in
seinen Criticism of the critical philosophy 18, der zwar the distinction often
ül — expressed nennt, aber doch sachlich an ihr festhält. Ueber Hamil-
tons schwankende Anschauung hierüber s. Bolton, Kant and Hamilton 208 ff.
So hat denn Kant sowohl der an Leibniz als der an Locke sich an-
schliessenden Philosophie fundamentale Irrthümer über das Wesen der Sinn-
lichkeit vorgeworfen. (Vgl. oben S. 447.) Beide Parteien nehmen die Mög-
lichkeit der Erkenntniss der Dinge an sich durch die Sinnlichkeit an, Leibniz
mehr indirect. Locke direct. Nach Leibniz muss der Verstand die sinnlichen
Vorstellungen analytisch durchdringen, das Verworrene in seine Theilvor-
stellungen auflösen, dann findet er als die Elemente die immateriellen Mo-
naden als Dinge an sich. Nach Locke muss man durch verstandesmässige
Beflexionen trennen die secundären Qualitäten von den primären, dann
hat man in den letzteren unmittelbar die Dinge an sich, die materiellen
Corpuskeln.
So verkennen Beide den wahren, den ,,transscendentalen" Unterschied
von Erscheinung und Ding an sich; der Eine, Leibniz, macht daraus- einen
logischen, der Andere, Locke, einen empirischen Unterschied, und so
verfehlen Beide die Wahrheit. In dem mehrerwähnten Abschnitt von der
Amphib. d. Beflex. A 271 hat Kant dies Ergebniss mit den oft citirten
Worten zusammengefasst : „Leibniz intellectuirte die Erscheinungen,
so wie Locke die Verstandesbegriffe insgesammt sensificirt, d. h. für
nichts als empirische... Begriffe ausgegeben hatte. Anstatt im Ver-
stände und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene Quellen von Vor-
stellungen zu suchen, . . . hielt sich ein jeder dieser grossen Männer nur an
eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf
Dinge an sich selbst bezöge, indessen, dass die andere nichts that,
als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen."
Jenem Vorwurf hat nun Kant auch noch einen anderen Ausdruck
gegeben: er wirft Beiden vor, den Unterschied des rnundus sensihilis
et intelligibilis nicht richtig gefasst zu haben. In der ersten Bedaction
des Abschnittes über die Unterscheidung der Phaenomena und Naumena^
A 248, spricht Kant von „dem durch die Transsc. Aesthetik eingeschränkten
Begriff der Erscheinung", von der daselbst begründeten „Eintheilung der
Gegenstände in Phaenomena und Noumena^ mithin auch der Welt in eine
Sinnen- und Verstandeswelt, und zwar so, dass der Unterschied nicht bloss
die logische Form der undeutlichen oder deutlichen Erkenntniss eines und
desselben Dinges, sondern die Verschiedenheit treffe, wie sie unserer Er-
kenntniss ursprünglich gegeben werden können, und nach welcher sie an
sich selbst, der Gattung nach [also nicht bloss dem Grade nach !} unter-
schieden sind". Dass diese Stelle (vgl. über dieselbe oben S. 453 Anm. 2)
Yaihinger, Eant-Oommentax. IL 30
466 § 8. Allgemeine Anmerkungen. I.
A 46. B 68. [B 62. H 74. E 92. 93.]
auf L e i b D i z zielt, liegt auf der Hand, und in demselben Abschnitt A 257 f.
klagt er darüber, dass „in den Schriften der Neueren" die Ausdrücke eines
mundi sensibüis und inteUigihüis ^ abweichend von dem Sinne der Alten, ge-
braucht werden: denn es „hat Einigen beliebt, den Inbegriff der Erschei-
nungen, sofern er angeschaut wird, die Sinnenwelt, sofern aber der Zu-
sammenhang derselben nach allgemeinen Verstandesgesetzen gedacht wird,
die Verstandeswelt zu nennen". Wenn man z. B. die Sterne so beschreibe,
wie sie sich den Sinnen darstellen, halte man sich an die blosse Erscheinung,
an die Sinnenwelt; wenn man ihre Bewegungen nach Copernikus und Newton
erkläre, an die Verstandeswelt. Dies kommt nun aber im Wesentlichen
a.uf den Locke'schen Unterschied hinaus, und so kann auch Locke vor-
geworfen werden, er habe den wahren Begriff des tnundus semibilis et in-
telligibUis verfehlt.
Zweiter Theil.
Die allgemeine Absicht dieser zweiten Hälfte der Anmerkung I ist
schon oben angegeben worden (S. 441) : Kant will den Beweis liefern, dass
seine neue Lehre über Baum und Zeit nicht bloss eine ,,scheinbare Hypo-
these" ist, welche „Gunst erwerben" mag (vgl. dazu Band I, S. 132 f.
u. 391 Anm. 4) ^, sondern eine gewisse, die Anerkennung also erzwingende
Theorie, welche „zum Organen" dienen kann (vgl. dazu Band I, 459 ff.);
„dessen" Gültigkeit soll augenscheinlich gemacht werden. (Diese selbst-
gewissen Ausdrücke sind schon Hamann aufgefallen, s. Reinholds Beytt^e
2. Heft [1801], S. 209.) In dieser Stelle liegt auch eine Widerlegung der
eigenthümlichen Auffassung von Göring, Baum und Stoff 32 ff., wonach
Kant seine Theorie nicht habe beweisen, sondern nur nachweisen wollen.
Uebrigens gebraucht Kant unten B 72 selbst den Ausdruck „Beweisgrund",
was G. übersehen hat. — Vgl. oben S. 336-342.
Mit einer grammatisch saloppen Wendung hat Kant hier in der
2. Auß. die Bemerkung hinzugefügt, dass die folgende Ausfuhrung zur Er-
läuterung des § 3, also der in der 2. Aufl. erst hinzugefagten „Transscen-
dentalen Erörterung des Begriffes vom Räume" dienen kann. In der That
enthält dieser folgende Passus im Wesentlichen dasselbe, was die Transsc.
Erörterung sagt, und vertrat somit für die 1. Aufl. diesen in der 2. Aufl.
* in der Vorr. B. XXIII Anm. heisst es: „Ich stelle in dieser Vorrede die
in der Kr. vorgetragene, jener Hypothese [des Copernikus] analogische Umändemng
der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst
aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen von R. u. Z. . . . nicht hypothetisch,
sondern apodiktisch bewiesen wird." Auch in den , Fortschritten" (Ros. I, 498 f.)
wird, ganz im Sinne dieser Stelle hier, ausführlich erörtert, dass diese Lehre von
der Idealität des R. und der Z. „nicht etwa bloss Hypothese, sondern demonstrirte
Wahrheit sei^ Vgl. dazu Amoldt, R. u. Z. 129. Vgl. auch oben S. 318. Dagegen
Aenesidem 401, dafür Schopenhauer, W. a. W. II, 6. Laas, Id. u. Pos. III, 336, 448.
»
Die Mathematik als Beweis der Kantischen Raumtheorie. 467
[B 52. H 74. 76. K 93.] A 46. B 64.
erst hinzugefügten Abschnitt; dieser letztere enthält somit nichts principiell
Neues (vgl. oben S. 265). Vielmehr sind die Paragraphen der Prolegomena,
welche dasselbe Thema behandeln und ans denen dann jene Transsc. Er-
örterung in B erst zusammengezogen worden ist, erst aus diesem Passus
der 1. Aufl. der Kritik heraus entwickelt worden, lieber das Verhältniss
beider in diesem Punkte s. Erdmann, Ks. Proleg. Einl. XXXI sq. Man
kann den Passus auch als Ausführung dessen betrachten, was Kant in dem
Abschnitt über die Leibniz'sche und Newton'sche Baumtheorie über dieses
Thema gesagt hat (vgl. oben S. 415 ff. 418 ff.).
Nach dem bei der „Transsc. Erörterung" Gesagten dürfen und müssen
wir erwarten, dass auch in diesem, derselben correspondirenden Abschnitt
sich dieselbe A n Ordnung, aber auch dieselbe ü n Ordnung, also dieselbe Ver-
mischung der reinen und der angewandten Mathematik zeigen werde, wie .
dort. In der That finden wir auch hier beide wieder, ohne dass Kant beide
scharf und unzweideutig geschieden hätte. Doch hat Kant den Unterschied
beider Gedankengänge wenigstens angedeutet: nachdem er im ersten Vorder-
sätze, nach Art der indirecten Beweisführung, dazu aufgefordert hat, das
Gegentheil seiner These, also die absolute Objectivität des Raumes und der
Zeit zu setzen, unterscheidet er zwei verschiedene Gedankengänge: „erst-
licV, dass von beiden, besonders vom Baume (der hier, wie überall in der
Aesthetik, in die erste Linie tritt) synthetische Sätze a priori aufgestellt
werden. Es wird nun zunächst untersucht, was der Baum sein muss, damit
wir solche Sätze über ihn aufstellen können? Antwort: Er muss Anschauung
a priori sein. Erst nachdem dieser Gedankengang abgeschlossen ist, beginnt
der neue, zweite: „Läge nun in euch nicht ein Vermögen, a priori anzu-
schauen, wäre diese subjective Bedingung der Form nach nicht zugleich
die allgemeine Bedingung, unter der allein das Object dieser äusseren An-
schauung selbst möglich ist . . ., so könntet ihr a priori ganz und gar
nichts über äussere Objecte synthetisch ausmachen." Wie jener erste
Gedankengang offenbar auf die reine Mathematik abzielt, so dieser zweite
ebenso offenbar auf die angewandte. Beide Gedankengänge müssen daher
zunächst getrennt besprochen werden. (Vgl. auch Adickes 92—93.) *
Erster Oedankengang.
„Es zeigt sich" also, dass in der Geometrie synthetische Sätze a priori
über den Baum aufgestellt werden. Kant schlägt die analytische Methode
ein, wie an den obengenannten Parallelstellen (vgl. hierüber oben S. 265),
und fragt : Wie ist das möglich ? „Worauf stützt sieh unser Verstand" (vgl.
Band I, 279. 291), um zu solchen Urtheilen zu gelangen?
^ Eine sehr eingehende, scharfkritische Besprechung dieser celebris, sed
jmiativa Demonstratio Kantiana liefert schon Horvath, J. B. Declaratio infirmi-
tatis fundamentorum operis Rantiani, Budae 1797, S. 112—131.
468 § 8. Allgememe Anmerkangen. I.
A 47. B 64. [B 62. H 75. E 93.]
Vier „Wege** werden unterschieden , welche zur Lösung eingeschlagen
werden können. Die möglichen Fälle sind folgende:
I. Begriffe
1) a posteriori,
2) a priori.
II. Anschauungen
1) a posteriori,
2) a priori.
Dieses Schema wird aher in der folgenden Darstellung von dem anderen,
ebenso brauchbaren Eintheilungsschema gekreuzt:
I. Empirische Vorstellungen.:
1) Begriffe,
2) Anschauungen.
n. Beine Vorstellungen:
1) Begriffe,
2) Anschauungen.
Kant wirft beide Schemata durcheinander, von denen das erste sich
auf den Unterschied analytischer und synthetischer, das zweite auf den
aposteriorischer und apriorischer ürtheile gründet; wir halten uns der üeber-
sichtlichkeit halber nur an eines, und zwar an das erstere, welchem ent-
sprechend wir die Fälle disponiren und die betreffenden Bemerkungen Kants
über dieselben anordnen. Im Uebrigen verfolgen wir ganz das sinnreiche
Verfahren Kants, zuerst alle denkbaren Fälle durch Combination zu ex-
poniren, und dann diejenigen, welche der Aufgabe kein Genüge leisten,
zu eliminiren, so dass der einzig richtige Fall am Ende von selbst herans-
springen muss.
Erster Fall: Begriffe a posteriori. Aus solchen die synthetischen
Sätze a priori abzuleiten, ist ganz unmöglich. Denn einmal würde „das
Charakteristische aller Sätze der Geometrie'*, die Apodikticität auf diese
Weise nicht zu Stande kommen, sodann lassen sich aus aposteriorischen Be-
griffen keine synthetischen Sätze ableiten: diesen Mangel haben dieselben
gemein mit den apriorischen Begriffen, weshalb, was von diesen in dieser
Hinsicht im Folgenden gesagt werden wird , auch von jenen gilt. Dieser
erste Fall entfernt sich von der Wahrheit am weitesten, weil in ihm beide
Mängel zusammen sich finden, während in den beiden folgenden Fällen immer
nur Ein Mangel da ist.
Zweiter Fall: Begriffe a priori. Während bei diesem Fall für die
Apodikticität der Geometrie gesorgt wäre, macht sich nun auch hier wieder,
wie auch vorhin, der Mangel geltend, dass aus Begriffen allein keine syn-
thetischen Erkenntnisse zu gewinnen sind. Kant gibt dafür ein Beispiel,
das er zuerst in negativer, dann in positiver Form ausspricht: 1) „durch
zwei gerade Linien lässt sich gar kein Raum eiuschliessen , ist somit keine
Figur möglich", und 2) „aus dreien geraden Linien ist eine Figur möglich".
Kant springt von der reinen zur angewandten Mathematik Über. 469
[B 62. 58. H 75. E 98. 94.] A47.48.B65.
Diese Sätze sind nicht aus dem Begriff der geraden Linie und der Zahl
Zwei resp. Brei analytisch abzuleiten. Das Gegentheil sucht nachzuweisen
B. Seydel in dem Aufsatz über Ks. synthet. ürtheile a priori, in der Zeitschr.
f. Philos., Bd. 94, 8. 23 f. Auch Lotze, Logik § 354. Zustimmend Zöllner,
Wissensch. Abhandl. II, 1, 212 ff.
Dritter Fall: Anschauungen a posteriori. In diesem Falle wäre
nun für die synthetische Natur der geometrischen Sätze gesorgt, aber nun
geht wieder deren Apodikticität verloren.
Yierter Fall: Anschauungen a priori. In diesem Falle sind nun
jene beiden Eigenschaften der Geometrie gerettet : die synthetische Natur
derselben durch die Anschaulichkeit, die Apodikticität derselben durch die
Apriorität der Vorstellungen, aus denen die Sätze gewonnen werden. Dieser
Fall, Anschauungen a priori, steht nun wiederum dem ersten Falle, Begriffe
a posteriori, diametral gegenüber. War dieser erste Fall von der Wahrheit
am weitesten entfernt, so wird der vierte — mit dem wir es hier zu thun
haben — mit der Wahrheit zusammenfallen. In der That sind, nach Kants
Meinung, nun die synthetischen Sätze a priori, wie sie in der Geometrie sich
finden, als erklärt zu betrachten ; aber auch nur, insofern wir uns dabei auf
die reine Mathematik als solche beschränken. Die angewandte Mathe-
matik ist ein Problem für sich, und erfordert auch eine eigene Lösung.
Zweiter Oedankengang.
Zu dem Problem der angewandten Mathematik geht nun, wie ge-
sagt, Kant über in dem Satze, welcher mit den Worten beginnt: »Läge nun
in euch nicht ein Vermögen' u. s. w. Sinn und Zusammenhang dieser Stelle,
welche auch von Arnoldt, Kants Proleg. S. 56 so erläutert wird, sind
folgendermassen zu umschreiben: Wenn nun diese im Bisherigen für die
Möglichkeit der reinen Mathematik als noth wendig nachgewiesenen An-
schauungen a priori nicht auf einem Vermögen der apriorischen Anschauung
überhaupt beruhen würden, und wenn dieses uns angehörige, subjective An-
schauungsvermögen nicht zugleich die nothwendige und allgemeine Bedingung
der Anschauung der äusseren Objecte im ßaume wäre, so könnte man auch
nicht behaupten, dass alle Eigenschaften, welche jener reinen Anschauung
zukommen und welche die reine Geometrie in ihrem System von Sätzen in
sich zusammenhängend entwickelt, auch allen äusseren Objecte n zukommen
und sich bei ihnen finden müssen. Wäre der Raum nicht bloss nicht über-
haupt eine von der Erfahrung unabhängige reine Anschauung, sondern
wären auch nicht umgekehrt die Erfahrungsobjecte von ihm abhängig, so
wäre es schlechterdings unmöglich, synthetische Sätze a priori über diese
äusseren Objecte auszumachen und aufzustellen. Das ist nur möglich, weil
diese äusseren Objecte in ihrer räumlichen Qualität von jener reinen An-
schauung abhängig sind, weil jene reine Anschauung nicht bloss etwa neben
den äusseren Objecten als empirischen gleichgültig hergeht , sondern weil
470 §3- Allgemeine Anmerkungen. I.
A48.B65. [B 53. H 75. E 94.]
diese nur durch jene reine Anschauung möglich werden und nur mit
Hilfe jener das sind, was sie sind, nämlich räumlich ausgedehnte und nach
Raumrelationen dislocirte Objecte. (Man erkennt hier wieder den wichtigen,
fundamentalen Unterschied der blossen Anschauung a priori und der
eigentlichen apriorischen Anschauungsform; vgl. oben S. 273. 279 L)
Diesen Gedankengang hat nun Kant durch ein Beispiel erläutert, welches
unglücklich gewählt und ungeschickt entwickelt ist, und mehr dazu gedient
hat, den Zusammenbang zu verderben, als ihn zu erläutern. Es ist das
Beispiel vom Triangel. Man könnte nun aus Kants Worten zunächst die
Meinung sich bilden, die Spitze des ganzen Beweisganges richte sich auf das
Dreieck der reinen Mathematik an und für sich, und es handle sich somit
nur um eine erweiterte Wiederholung des schon im vorigen Gedankengang
(s. oben S. 468 u.) angeführten Beispiels ; da hiess es, der Satz, dass aus dreien
geraden Linien eine Figur möglich sei, sei nicht aus diesen Begriffen, auch
wenn sie a priori seien, abzuleiten, sondern dazu bedürfe es der Anschauung
a priori. So heisst es ja auch hier: „ihr könntet doch zu euren Begriffen
von drei Linien nichts Neues, die Figur hinzufügen*. Dass der Triangel
hier ein „Gegenstand" genannt wird, würde uns von dieser Auslegung nicht
abhalten, denn der Triangel wird eben auch sonst von Kant als mathe
matischer „Gegenstand'' bezeichnet, so A 105 (vgl. A 124), und besonders
in der bekannten Stelle in der Methodenlehre A 715 — 718 (723), an deren
Schluss die mathematischen Figuren, die Schemata (vgl. A 140 „das Schema
des Triangels"), sogar als „Gegenstände an sich selbst" bezeichnet werden.
Und A 223 heisst es: „wir können dem Triangel gänzlich a priori einen
Gegenstand geben, d. i. ihn construiren". Aber gerade diese letztcitirte Stelle
(cfr. A 155. 163. 219. 220; auch 239 f., woselbst beides ebenfalls durch-
einander geworfen ist, vgl. auch Kr. d. Urth. § 62), lehrt uns, dass dem
„Begriff" des Dreiecks zwei verschiedene „Gegenstände" gegenüberstehen:
1) das wirkliche, mathematische, anschaulich vorgestellte Dreieck, das Schema,
also die im mathematischen Baume durch Construction a priori (vgl.
Bos. I, 407) verzeichnete Figur des mathematischen Dreiecks; und nun 2) das
wirkliche concrete Dreieck, d. h. der dreieckige materielle Gegenstand ^ Jenes
Erste, das Schema, ist doch „nur die Form von einem Gegenstande" im
letzteren Sinne, und könnte als solche „immer nur ein Product der Ein-
bildung bleiben". Aber dass diesem in der reinen Anschauung vorgestellten
Dreieck nun ein Gegenstand im zweiten Sinne entsprechen, „correspondiren"
kann, das wird durch folgende daselbst ausgeführte Erwägung klar: „dass
der Raum eine formale Bedingung a priori von äusseren Erfahrungen ist,
dass eben dieselbe bildende Sjnthesis, wodurch wir in der Einbildungskraft
einen Triangel construiren, mit derjenigen gänzlich einerlei sei, welche wir
in der Apprehension einer Erscheinung ausüben, um uns davon einen Er-
^ Aehnlich, aber sehr weitschweifig und doch nicht klar Amol dt, R. o. Z.
(gegen Trendelenburg) S. 29 f. 34 f. 40 ff. 65-83. 98. Vgl. oben S. 271 Aam. 1.
Der Triangel der Mathematik und das Dreieck in der Natur. 471
[B 68. H 75. E 94.] A 48. B 65.
fahrnngsbegriff zu machen — das ist es allein was mit diesem Begriffe
die Vorstellung von der Möglichkeit eines solchen Dinges verknüpft,* d. h.
dreieckige Dinge in unserer Erfahrung sind nur dadurch mOglich, dass wir
bei der Bildung dieser empirischen Anschauung dieselbe synthetische Function
ausüben, welche wir anwenden, um das mathematische Dreieck im Baume
zu construiren, und weil eben dieser Baum die apriorische Form aller An-
schauung ist.
So gibt uns denn sowohl die Analyse des vorliegenden Textes selbst,
als die Bücksicht auf jene Parallelstelle folgende Erklärung dieser diMcilen
Stelle an die Hand: „Wenn der dreieckige Gegenstand (sagen wir z. B. das
Nildelta oder eine der vier Flächen einer egyptischen Pyramide) etwas an
sich selbst wäre, ohne Beziehung auf euer Subject, wie könntet ihr sagen,
dass dasjenige, was in euren subjectiven Bedingungen der Construction eines
mathematischen Triangels in der mathematischen Einbildungskraft liegt und
sich daraus ergibt, nun auch jenem dreieckigen Gegenstande an sich selbst
nothwendig zukommen müsse 9^^ Hier würde man nun etwa als erläuterndes
Beispiel einen Satz erwarten, wie etwa folgenden: ihr könntet z. B. nicht
den Satz: ,in jedem (ebenen) Dreieck sind die drei Winkel gleich zwei
Bechten" ohne Weiteres a priori auf jene wirklichen concreten dreieckigen
Gegenstände mit dem Anspruch unbedingter Gültigkeit anwenden, da ja doch
diese concreten Dinge vor der Aufstellung eurer mathematischen Sätze und
unabhängig von der Erkenntnis derselben vorhanden sind. Das ist eben
nur dadurch möglich, dass der Baum, in welchem sich diese äusseren Gegen-
stände befinden, nur eure subjective Form ist. Jene dreieckigen Gegenstände
sind eben doch abhängig von eurem Subject, sind eben nichts ,an sich selbst
ohne Beziehung auf euer Subject". Jetzt erst wird klar, warum ich im
Stande bin zu sagen : an dem Nildelta, an der Pyramiden Seitenfläche müssen
sieh nothwendig alle Eigenschaften finden, welche ich in dem von mir subjectiv
in meinem Kopfe construirten, rein mathematischen und schematischen Dreieck
gefunden habe.
Aus diesem Beispiel heraus ist nun auch erst die ungeschickt gewählte
Exemplifioation Kants selbst zu erklären. Wir stellen in der reinen Mathe-
matik den synthetischen Satz a priori auf: nur aus drei geraden Linien
ist eine Figur möglich. Dieser Satz wird nun auch mit dem Anspruch auf
objective Gültigkeit in Bezug auf die concreten Dinge in der Natur aus-
gesprochen und muss auch „nothwendig an dem Gegenstande angetroffen
werden". Ich kann a priori sagen: aus zwei geraden Holzbalken oder aus
zwei geraden Eisenstäben kann Niemand eine geschlossene Figur herstellen ;
er muss mindestens noch einen dritten geraden Balken oder Eisenstab hinzu-
nehmen. Diesen und ähnliche Sätze kann ich nur darum a priori „über
äussere Objecte" aussagen, weil eben diese erst durch die Baum Vorstellung
selbt zu äusseren Objecten werden ; aus jener Baum Vorstellung heraus aber
habe ich a priori jene Sätze geschöpft, also müssen sie auch von den Gegen-
ständen im Baume gelten. Ich kann sicher sein, dass sich kein Gegenstand,
\
472 § 8. Allgemeine Anmerkimgen. I.
A48.49.B66. [B 58. 54. H 76. E 94.]
keine Erscheinung jemals gegen solche a priori ausgesprochenen synthetischen
S&tze gleichsam empören werde; denn alle Erscheinungen sind jenen Ge-
setzen schon vorher „unterworfen" — ihre Existenz als Erscheinung hängt
ja von jener reinen Raumanschauung ab, auf die sich jene synthetischen
Sätze a priori beziehen. (Vgl. auch Comm. I, 328 ff.)
Dieselbe Auslegung bietet auch Mahaffy, Crit. Phü, I. 177; auch
Bilharz, Erläuterungen S. 21. Eine ganz andere Auffassung bei Thiele,
Int. Ansch. 195 ff. Bedenken bei Schneider, Es. Entw. d. Apriori 28.
Ganz dieselbe Auslegung dieser Stelle treffen wir nun auch — abgesehen
von einigen Schwankungen und Unklarheiten — bei Mellin, III, 879 — 381
(Vgl. dazu I, 83; I, 817—819; II, 284; V, 109) theil weise mit drastischen
Beispielen, z.B.: „Eein Tischler kann mir einen zweieckigt«n Tisch machen,
vorausgesetzt, dass die Seiten geradlinigt sind' u. s. w.
Dass Eant in der apriorischen Gültigkeit der Mathematik für die Ob*
jecte aber auch einen stringenten Beweis für seine , ästhetische Theorie*
(B 72) sah, geht aus dem vorliegenden Passus hinlänglich hervor, wird aber
auch sonst häufig von demselben wiederholt, besonders in den Losen Blättern
I. 18. 28. 151 f. 155. Vgl. hiezu die oben S. 340 f. gegebenen Ausführungen.
Auch noch in dem Nachgel. Werke XX. 85 heisst es: „Wenn es auch keine
directen Beweise von der Wesenlosigkeit der Gegenstände der Sinne als Dinge
an sich selbst gäbe, so kann die Mathematik es durch die Formen ihrer
Erscheinung in der Anschauung a priori apagogisch mit Evidenz darthun.*
Also dieses beweist eben, meint Eant, dass Baum und Zeit , bloss'
subjective Bedingungen eben unserer Anschauung sind; und daraus eben
erklärt er einerseits, dass und warum wir über die Form der empirisch an-
geschauten Dinge a priori Vieles sagen können, und andererseits, dass und
warum wir ,von dem Dinge an sich nicht das Mindeste sagen können,
das diesen Erscheinungen zu Grunde liegen mag*'. Man beachte in diesem
Satze, mit welchem die Aesthetik in der ersten Auflage abschloss.
1) den Singular: „das Ding an sich*, gegenüber dem Plural: ,die Er-
scheinungen*'; 2) den vorsichtigen Ausdruck des blossen «Mögens*.
Dieses »mag* ist besonders beachtenswerth. Mit Recht hat 0. Grundke,
Eants Entwicklung. Diss. Bresl. 1889 , S. 21 , auf diese Stelle aufmerksam
gemacht, da in ihr der spätere Skepticismus Eants in Bezug auf die Existenz
der Dinge an sich, „weun auch vorläufig nur leise, angedeutet wird*. Während
sonst in der Aesthetik (vgl. Grundke S. 9 — 22) überall die Sachen an sich
als unbezweifelte Grundsteine der Eant'schen Erkenntnisstheorie gelten,
kommt hier ihre Natur als Grenzsteine, welche später in der Analytik
hervortritt \ schon vorandeutend zum Vorschein. Es ist dies in der That
eine charakteristische Differenz zwischen dem Anfang und dem Ende der
Aesthetik (nach der ersten Auflage): am Anfang der Aesthetik sind ,die
Gegenstände an sich für Eants Erkenntnisstheorie das primum movenSy das-
* Genau dasselbe „mag** kehrt wieder A 277 und A 372.
Noch eine , Bestätigung' der Eantischen Theorie. 473
[B 54. 716. H 76. E 94. 96.] A 49. B 66.
jenige, welches erst der Maschinerie unserer Erkenntnissfähigkeit Inhalt zu-
fahren muss, um dadurch dieselbe in Bewegung zu setzen ''; am Ende der
Aesthetik drohen dieselben dagegen in einem skeptischen Nebel zu ver-
schwinden. (Vgl. oben S. 37 ff.) Hebler dagegen (Philos. Aufs. 128) meint,
man solle sich nicht an diesen problematischen Ausdrücken „stossen";
die Existenz der Dinge an sich sei doch für Kant unzweifelhaft fest-
gestanden. Vgl. hiezu Volkelt, Ks. Erkenntnisstheorie S. 87 — 93. Stau-
dinger, Noumena 4. 74. VgU auch schon Seh äff er, Inconsequenzen Es. S. 150.
Anmerkung n.
Diese erst in der zweiten Auflage hinzugefügte Anmerkung (vgl. Erd-
mann, Eriticismus S. 190) besteht aus zwei Hälften, welche sehr wohl
zu trennen sind. Die erste Hälfte bezieht sich auf den äusseren, die
zweite auf den inneren Sinn. Es hat zunächst auf den ersten Blick den
Anschein, als ob der zweite Tbeil nur eine Palinodie des ersten Theiles
wäre; aber es sind, wie sich bei eingehender Analyse zeigen wird, formell
und materiell bedeutende Unterschiede zwischen beiden Hälften, welche daher
auch getrennt zu behandeln sind.
Erste Hälfte (Aeusserer Sinn).
Diese erst in der zweiten Auflage hinzugefügte Bemerkung über den
äusseren Sinn resp. über die äusseren Anschauungen enthält sachlich nichts
Neues, denn sie fusst ganz auf dem, was schon in der ersten Auflage in
dem Anhang: Von der Amphibolie der Eeflezionsbegriffe gesagt
worden war. In den drei inhaltlich gleichwerthigen Entwürfen, welche unter •
jenem Titel vereinigt sind, finden wir diese Ausführung jedesmal wieder : in
der ersten Darstellung A 265 f.; in der zweiten A 274 und 277 f.; in der
dritten A 283 — 285^. Es ist immer folgender Grundgedanke: Wenn wir
Yon Dingen überhaupt, als Gegenständen des reinen Verstandes sprechen, so
gilt von ihnen, dass sie etwas Inneres haben müssen, das ganz auf sich
selbst beruht, etwas Absolutes ist und gar keine Relationen mehr zu Anderem,
Aeusserem' einschliesst ; ich kann also auch von allen diesen äusseren Ver-
hältnissen abstrahiren, ^und es muss dennoch ein Begriff von dem übrig
bleiben, das gar kein Verhältniss, sondern bloss innere Bestimmungen be-
deutet". Dieses letzte, Schlechthin-Innerliche der Dinge, ist uns Menschen
vollständig unzugänglich.
^ Vgl. auch Kants Reflexionen II, N. 362. 532: « unsere Vernunft enthält
nichts als Relationen". N. 1045. Entgegengesetzt hatte sich K. hierüber 1756
geäussert, in der Monadologia physica I, 7 (Res. V, 265); vgl. hieza Simmel in
der oben S. 423 N. erwähnten Dissertation , S. 25 f. Weiteres in den Met. Anf.
d. Naturw. W. W. Hart. IV, 371. 455 u. ö.«
474 § 8. Allgemeine Anmerkungen. II.
B 66. [R 716. H 76. K 95.]
Wenn wir aber von Dingen für uns als Gegenständen unserer An-
schauung sprechen, dann gilt jener Satz von ihnen nicht mehr: da braucht
nichts angenommen zu werden, was unabhängig von den äusseren Ver-
hältnissen noch „übrig bliebe*, da gibt es nichts Inneres, sondern die £r^
scheinungen bestehen eben aus lauter Relationen, ohne ein diesen Relationen
innerhalb der Erscheinung entsprechendes Absolutes, Inneres im strengen
Sinne des Wortes. Allerdings sprechen wir bei den Erscheinungsgegenständen
auch von einem Inneren , Innerlichen ; aber dies ist nicht ein Schlechthin-,
sondern nur ein Comparativ-Innerliches, und besteht seinerseits auch wieder
aus blossen Verhältnissen*. Vgl. oben S. 447.
Dies führt Kant dort im Einzelnen aus : der Raum mit Allem, was er
enthält, besteht aus lauter formalen oder auch realen Verhältnissen. Was wir
an der Materie kennen, sind lauter Verhältnisse. Die inneren Bestimmungen
einer Substantia phaenomenon im Räume sind nichts als Verhältnisse und sie
selbst ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen: die Substanz im
Räume kennen wir nur durch die Kräfte, die in demselben wirksam sind,
entweder andere dahin zu treiben (Anziehung) oder vom Eindringen in ihn
abzuhalten (Zurückstossung und Undurchdringlichkeit); andere Eigenschaften
kennen wir nicht, die den Begriff von der Substanz, die im Räume erscheint,
und die wir Materie nennen, ausmachen. Ort, Gestalt, Berührung und Be.
wegung sind lauter äussere Verhältnisse. Wir können deshalb eben auch
die empirischen Substanzen, die materiellen Dinge, vollständig analjsiren,
oder wenigstens zu analysiren hoffen, weil wir es eben nur mit Verhältnissen
zu thun haben. Wenn ich von diesen Verhältnissen abstrahire, bleibt nichts
übrig, und habe ich auch nichts weiter zu denken: „freilich macht es stutzig,
zu hören, dass «in Ding ganz und gar aus Verhältnissen bestehen solle; aber
ein solches Ding ist auch blosse Erscheinung; es besteht selbst in dem
blossen Verhältnisse von Etwas überhaupt zu den Sinnen*.
In jener Stelle haben wir somit die Vorlage, aus welcher der vor-
liegende Text der zweiten Auflage herausgewachsen ist; Sinn und Tragweite
des Letzteren wird dadurch aufgehellt. Auch hier haben wir ja dieselbe
Lehre: Alles was der äussere Sinn gibt, sowohl das Reine (Raum) als das
Empirische (Materie), besteht nur aus Verhältnissen. Ausdehnung, Be-
wegung (vgl. dazu Cohen, 2. A. S. 68) und bewegende Kräfte — alle drei
sind nur durch Verhältnisse (mathematische, phoronomische und mechanische)
zu charakterisiren. Nur Verhältnisse gibt somit der äussere Sinn in seinen
Anschauungen , niemals aber das eigentliche Ding an sich selbst , das
Schlechthin-Innere des Gegenstandes, der hinter diesen Verh<nissen
steckt, weder nach seiner Existenz, noch nach seiner Wirkung; und aus
^ Man erkennt hier auch leicht den Zasammenhang dieser Lehre Ke. mit
seinen oben S. 355 ff. 460 ff. dargelegten Anschauungen über den Unterschied der
primären und secundären Qualitäten. Mit der Aufhebung dieses Unterschiedes
musste auch das .Innere** der Materie fallen.
Auflösung der Aussen weit in lauter Relationen. 475
[R 716. H 76. Z 95.] B 66. 67.
jener Parallelstelle dürfen wir dazu die Bemerkung ergänzen, dass, wie weit
wir auch in der Erforschung der Materie kommen und kommen mögen, wir
doch immer nur auf Verhältnisse stossen. Alle materiellen Dinge, welche
man etwa als Träger, als Ansatz- und Ausgangspunkte jener Verhältnisse
betrachten möchte, lösen sich immer wieder in Verhältnisse in infinüum auf.
Jede Bestimmung eines einzelnen Körpers geschieht durch Angabe von Ver-
hältnissen, also von „etwas Anderem, was er nicht selbst ist' (Mellin III, 382).
Wenn uns nun so der äussere Sinn schlechterdings nur Verhältnisse
gibt, so steht zu vermuthen, dass das, was er uns gebe, eben selbst nichts
wahrhaft Wirkliches sei, sondern selbst nur eine durch das Verhältniss eines
unbekannten Gegenstandes zu unserem Subject producirte Erscheinung, also
selbst wiederum nur — ein Verhältniss; es steht zu vermuthen, dass «die
Erscheinungen nicht an sich existiren, sondern nur relativ auf das Subject,
sofern es Sinne hat" (B 163), dass „die Beschaffenheit des Objects nur von
der Anschauungsart des Subjects in der Relation des gegebenen Gegen-
standes zu ihm abhängt" (B 68, Anmerkung III, unten S. 486).
B. Er d mann macht zu dem Beweise in seiner Dissertation über „die
Stellung des Dinges an sich' S. 7 folgende kritische Bemerkung: „Dieser
Beweis stützt sich auf den allgemeinen Gedanken, dass, da unsere Erkenntniss
ans einer Wechselwirkung zwischen dem Dinge an sich und unserem Ich
entspringt, es keinen Sinn hat, einzelne Factoren derselben auch dem Dinge,
abgesehen von diesem Verhältniss, zuzuschreiben. Dieser Beweis ist nicht
stichhaltig. Er wäre es nur, wenn Kant zweifellos bewiesen hätte, dass alle
Momente der Erscheinung aus jenem Wechselverhältniss entspringen, dass
sie nicht auch solche enthält, welche die Möglichkeit derselben bedingen
und desshalb beiden Gliedern für sich zukommen müss«ft.' Vgl. auch
V. Kirchmann, Erl. S, 6. 13; dagegen wieder Grapengiesser S. 29. Wolff,
Spec. und Phil. I. 189. — Staudinger, Noumena 30. 39. 141 hat seine
realistische Ansicht auch in dieser Stelle selbst finden wollen, indem Kant
den Baum ein (reales) Verhältniss des Gegenstandes zum Subject nenne;
aber er übersieht das bedeutungsvolle idealistische „nur'.
So benützt denn also Kant hier jene von ihm behauptete Thatsache,
dass alle äussere Anschauung nur Verhältnisse enthalte, als Beweis, resp. als
„Bestätigung' für seine Theorie des Relativismus. Dies ist hier der
logische Zusammenhang. Anders oder vielmehr geradezu umgekehrt war
derselbe in den citirten Parallelstellen, oben S. 473: da betrachtet Kant die
Lehre, dass alle äussere Anschauung sich in blosse Verhältnisse auflöse, zwar
auch als eine Thatsache, aber als eine paradoxe, welche selbst erst der
Erklärung bedarf, und da wird diese Thatsache plausibel gemacht, resp.
erklärt gerade durch den Relativismus.
Eine weitere dankenswerthe, sachliche und historische Aufhellung er-
hält diese Stelle durch die im Jahre 1786 veröffentlichten „Bemerkungen
zu Jakobs Prüfung der Mendelssohn'schen Morgenstunden' von Kant.
Mendelssohn hatte (Morgenstunden 116) die Frage nach dem An-sich der
\
476 § B. Allgemeine Anmerkungen. IL
B 67. [B 716. H 76. E 95.]
Dinge überhaupt für absurd erklärt; es genüge die Erkenntniss dessen, «was
ein Ding würket oder leidet". Darauf antwortet Kant: »Wenn ich doch
aber . . . einsehe, dass wir von der körperlichen Natur nichts anderes er-
kennen, als den Baum (der noch gar nichts Existirendes, sondern bloss die
Bedingung zu Oertern ausserhalb einander, mithin zu blossen Süsseren Ver-
hältnissen ist), das Ding im Baume ausser dem, dass auch Baum in ihm
(d. i. es selbst ausgedehnt) ist, keine andere Wirkung als Bewegung (Ver-
änderung des Orts, mithin blosser Verhältnisse), folglich keine andere
Kraft oder leidende Eigenschaft, als bewegende Kraft und Beweglichkeit
(Veränderung äusserer Verhältnisse) zu erkennen gibt: — so mag mir
Mendelssohn . . . doch sagen, ob ich glauben könne, ein Ding nach dem,
was es ist, zu erkennen, wenn ich weiter nichts von ihm weiss, als dass
es Etwas sei, das in äusseren Verhältnissen ist, in welchem selbst äussere
Verhältnisse sind, dass jene an ihm und durch dasselbe an anderen ver-
ändert werden können, so dass der Grund dazu (bewegende Kraft) in den-
selben liegt, — mit Einem Wort, ob, da ich nichts als Beziehungen von
Etwas kenne, auf etwas Anderes, davon ich gleichfalls nur äussere Be-
ziehungen wissen kann, ohne dass mir irgend ein Inneres gegeben ist oder
gegeben werden kann, — ob ich da sagen könne, ich habe einen Begriff von
dem Dinge an sich, und ob nicht die Frage ganz rechtmässig sei: was denn
das Ding, das in allen diesen Verhältnissen das Subject ist, an sich seihst
sey/ (Bos. I, 896, vgl. ib. 570.) In diesem unendlichen Satze haben wir
nicht nur eine Erläuterung zu unserer vorliegenden Stelle, sondern zugleich
auch die unmittelbare Vorlage zu derselben ; denn jene Stelle gegen Mendels-
sohn fällt in das Jahr 1786, die vorliegende in das Jahr 1787.
Auch in dieser Stelle gegen Mendelssohn, in welcher Kant die Bolle
des Dogmatisten gegenüber einer kritischen, fast positivistischen Anwandlung
Mendelssohns übernimmt (vgl. Erdmann, Kriticismus S. 121. 137. 190),
wird die Thaisache der Belativität der äusseren Anschauung als Argument
für den Idealismus verwendet. Eben weil wir es nur mit Verhältnissen zu
thun haben, bleibt uns das denselben zu Grunde liegende Object stets ver-
borgen; eben deshalb gibt uns der äussere Sinn nur die Wirkung jenes un-
bekannten Gegenstandes auf unser Subject, nie aber sein Inneres, sein An-sich\
Dass Kant um dieselbe Zeit, in dem Sexennium zwischen 1781 und 1787,
mit diesem Puncto sich gerne beschäftigt hat, bezeugen auch seine An-
merkungen in seinem Handexemplar (Erdmann, Nachträge Nr. 32. 77. 80.
^ Man erkennt aus diesen Stellen auch leicht, wie falsch die Auslegung ist,
welche neuere Kantianer, bes. A. Krause Kant in diesem Punkte angedeihen lassen:
sie führen mit Vorliebe die Aeusserungen Kants gegen das Innere der Materie
an, verwechseln aber dabei das Empirisch-Innere, dessen Auflösbarkeit durch unsere
Erkenntniss Kant lehrt, mit dem Absolut-Inneren (dem Ding an sich), dessen
Erkennbarkeit er leugnet. Richtig Lange, Gesch. d. Mat. II, 131, welcher die
Auflösung der Materie in blosse Kräfterelationen mit K. durchföhrt.
Die Relativität des Maasses von Raum und Zeit. 477
[E 716. H 76. K 95.] B 67.
81. 105. 148). Vgl. auch Met. Anf. d. Nat. Ros. V. 407. Vgl. auch Cohen,
2. A. 238. Fick, Welt als Vorstellung S. 12 ff. Herbart, W. W. I, 177;
IV, 817 flf. Dagegen Stumpf, ürspr. d. Raumvorst. S. 15. 80. —
Eine originelle Anwendung dieses Relationsargumentes findet sich in
dem Nachgelassenen Werke XIV, 610, 611; XX, 85, 86; XXI, 92, 362,374:
„Der Beweis, dass die Dinge in Raum und Zeit bloss Erscheinungen sind,
kann auch darauf gegründet werden, dass die ganze Welt in einer Nuss-
schale und die ganze zerflossene Zeit in eine Secunde eingeschlossen sein könne,
ohne dass der mindeste Unterschied hierin anzutreffen.*' »Das beweiset ge-
rade, dass alle unsere Sinnen Vorstellungen uns nichts Anderes geben, als
Erscheinungen.'' In Bezug auf die Zeit erinnert Kant an ^jenen Der-
wisch', welcher sagte, er könne „die ganze verflossene Zeit in der Be-
wegung eines einzigen Kopfnickens begreiflich machen '; in Bezug auf den
Baum beruft sich Kant mehrfach auf De Luc (wohl Joh. Andreas De Luc
1727 — 1812; einmal beruft sich K. auch auf Newton selbst), welcher «glaubt,
etwas Besonderes gesagt zu haben, wenn er spricht, er könne das ganze
Universum in einer Nussschale begreiflich machen" ; das ist aber ,kein
kühner und gewagter Ausdruck", sondern sagt nichts weiter, als dass die
Grösse und Menge der Materie nichts Absolutes, sondern nur etwas Relatives
ist. Auf die Relativität der Zeit hatte K. schon in der Naturgeschichte
d. Himmels, R. VI. 217, hingewiesen: die Jupitersbewohner haben ein anderes
Zeitmass als wir: „eben dieselbe Zeit, die für eine Art der Geschöpfe gleich-
sam nur Ein Augenblick ist, kann für eine andere eine lange Periode sein".
Vgl, oben S. 345. Weitere Ausführungen über die Relativität und Sub-
jectivität des Maasses von Raum und Zeit bieten v. Bär, Reden I. 240 ff.
und im Anschluss daran Liebmann, An. d. Wirk. 82 ff., 2. A. 99 ff. ; Hey-
mans, Ges. u. El. d. wiss. Denkens I. 268 ff. und bes. Du Prel, Phil.
d. Mystik 73 — 94. Mit Berufung auf Kant auch Eberty, Die Gestirne und
die Weltgeschichte. Gedanken über Baum, Zeit und Ewigkeit. 3. Aufl. 1874,
S. 37—48.
Zweite Hälfte (Innerer Sinn).
Dieselbe Argumentation will nun Kant auch auf den inneren Sinn,
auf die innere Anschauung anwenden. Schon in der oben angeführten Stelle
gegen Mendelssohn hatte Kant gesagt: „Eben dieses lässt sich auch gar
wohl an dem Erfahrungsbegriff unserer Seele darthun, dass er blosse Er-
scheinungen des inneren Sinnes enthalte und noch nicht den bestimmten
Begriff des Subjectes selbst , allein es würde mich hier in zu grosse Weit-
läufigkeit führen." (Vgl. dazu Erdmann, Kriticismus S. 138. 190.) Das
dort Versäumte wird nun hier nachgeholt.
Kant soll und will demnach also beweisen, dass wir auch in der
inneren Anschauung nichts als blosse Verhältnisse erhalten. Wie weist
Kant nun dies nach? Erstens bemerkt er, dass ja „darin die Vorstellungen
äusserer Sinne den eigentlichen Stoff ausmachen, womit wir unser Gemüth
478 § 8* Allgemeine Anmerkongen. IL
B 67. [R 717. H 77. K 95.]
besetzen". Diese Bemerkung muss uns billig Wunder nehmen. (Vgl. dazu
Cohen, 2. A. 330. 339. 343 u. 331—333 über den Zusammenhang der Stelle
mit der „Widerlegung des Idealismus".) Oben A 34 hiess es: die Zeit sei
die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seele) und eben dadurch
auch mittelbar der äusseren Erscheinungen. Danach kommen die Vor-
stellungen der äusseren Dinge doch erst in zweiter Linie. Aber wenn wir
auch zugeben wollen, dass, wenn diese auch logisch erst in zweiter Linie
kommen, sie doch quantitativ in unserem Inneren weit überwiegen, und
insofern den „eigentlichen Stoff* der inneren Anschauung ausmachen mögen,
so bleibt doch noch ein grosses Gebiet übrig, das hier gar nicht erwähnt
wird, eben der andere und ursprüngliche Stoff unserer inneren Anschauung,
die Anschauung unserer inneren Vorgänge selbst als solcher, also der Ge-
fühle, der Wollungen, und der Vorstellungen, diese nicht ihrem Inhalt nach,
sondern eben ihrer Function nach als innere Vorgänge. Gerade von diesem
eigentlichen und ursprünglichen Stoff der inneren Anschauung hätte also,
ebenso wie vom Stoff der äusseren Anschauung, von der Materie, nachgewiesen
werden müssen, dass dieser Stoff selbst auch nur aus Verhältnissen bestehe.
(Dies Fehlen findet auch Schneider, Ps. Entw. d. Apriori 30 „überraschend**,
vgl. Bilharz, Erläuterungen 173. Bergmann, Metaph. 215 ff. 222.) Das
hätte nun bei allen drei Hauptklassen des inneren Geschehens leicht nach-
gewiesen werden können; denn alle Erkenntnissphänomene schliessen ja
ein Verhältniss des Vorstellenden zum Vorgestellten ein, und dass Ge-
fühle und Wo 11 un gen nur ein Verhältniss ausdrücken, lehrt ja auch das
neuerdings so viel betonte Gesetz der Relativität (Bain, Zeller, Wandt,
Höffding u. A.); seltsamer Weise hat nun Kant schon in der ersten Hälfte
der Ajimerkung Gefühle und Wollungen von seiner Betrachtung aus-
geschlossen, allerdings in einer unklaren Weise, so dass man nicht recht
weiss, ob er sie nur von der Betrachtung des äusseren Sinnes oder von
seiner ganzen Relationstheorie überhaupt ausschliessen will — wie denn die
ganze Stelle überhaupt etwas den Charakter der Flüchtigkeit an sich tillgt.
Von diesem eigentlichen und ursprünglichen, unmittelbaren Stoff der
inneren Anschauung sieht nun Kant also ab (während doch gerade dieser,
inclusive der Gefühle und Wollungen, der wichtigste für uns ist), und be-
gnügt sich mit dem Hinweis auf den mittelbaren Stoff derselben, auf die
schon in der ersten Hälfte der Anmerkung auf blosse Verhältnisse reducirten
äusseren Anschauungen.
Eine bemerkenswerthe Ergänzung hiezu bietet nun eine Anmerkung
Kants in seinem Handexemplar (Erdmann, Nachträge, Nr. GV): „Wie man
sagen könne, dass Körper Erscheinungen sind. Sie bestehen aus lauter Rt-
lationen. Seele besteht aus lauter Synthesis und Analysis dieser
Vorstellungen. Das Ich ist Noumenon, Ich als Intelligenz.** Diese An-
merkung deutet an, in welcher Weise Kant den hier angeknüpften Paden
fortspinnen wollte — geschehen ist es aber nicht. Auch eine Stelle io
den Reflexionen I, 1, S. 87 wirft Licht hierauf: „Wir haben auch nur innere
Aach die Innenwelt besteht aus lauter Relationen. 479
[R 717. H 77. K 95.] B 67.
Empfindungen, indem wir unserer Leiden und Thätigkeiten in Ansehung der
äusseren uns bewusst werden." Vgl. auch II, N. 1326. Eine sehr werth-
voUe Erläuterung und Ergänzung bieten die Losen Blätter I , S. 99 f. :
„Ebenso löse ich, wenn ich auf die Vorstellungen des inneren Sinnes Acht
gebe, Alles in lauter Zeitverhältnisse auf, und das Absolute für den Ver-
stand fehlt. Alles ist in uns Vorstellung und in Zeitverhältnissen gesetzt,
und fragen wir uns, was sie denn vorstelle, so sind es entweder das
Aeussere, wovon wir gesehen haben, dass es sich auf lauter Raum Ver-
hältnisse bezieht, wozu das Ding an sich für uns unerkennbar ist ; oder die
innere Beziehung dieser Vorstellungen in der Zeit auf einander
wo die reine Sjnthesis, die die Verstandesbegriffe aussagen, wiederum
nichts anderes als Verknüpfung dieser Vorstellungen in Ansehung der
Zeiteinheit ist ; wo das Gefühl der Lust, und das mit ihm verknüpfte B e-
gehrungsvermögen nur jener Vorstellungen ihr Verhältniss aufs Sub-
ject ohne Erkenntniss oder aufs Object durch die Bestimmung der Cau-
salität des Subjects, mithin auch keine Erkenntniss des Dinges an sich liefert,
und von diesem nichts als die Idee von Etwas übrig bleibt, was mein von
allen diesen Zeitbedingungen unabhängiges Selbstbewusstsein als ein Object
andeutet, aber nichts an die Hand gibt, wie es an sich selbst und ohne
Verhältniss auf die Causalität meines Selbst in der Sinnenwelt erkenn-
bar wäre."
Zweitens weist Kant in unserer Stelle darauf hin, dass die Zeit-
anschauung, die formale Bedeutung aller, also auch der äusseren Vor-
stellungen, nur Verhältnisse enthalte, die Relationen der Succession, der
Simultaneität ^, und der aus beiden gewissermassen zusammengesetzten Con-
stanz (über solche Synthesen vgl. oben S. 487). So besteht also die Zeit
wie der Raum, aus blossen Relationen (vgl. Cohen, 2. A. 831).
Von hier aus hätte man nun folgenden Fortgang der Argumentation
erwartet: Weil die inneren Anschauungen (genau, wie die äusseren, sowohl,
dem Inhalt als der Form nach) nur Verhältnisse sind, wobei das eigent-
lich zu Grunde liegende Subject, das Absolut-Innere der inneren Vorgänge,
gar nicht in Betracht kommt , so ist zu vermuthen , dass eben alle innere
Anschauung überhaupt nicht etwas An-sich-seiendes , etwas Absolutes gebe
und zu geben vermöge, sondern nur etwas Relatives, und zwar in diesem
Falle das Verhältniss des Subjects nicht zu einem ausser ihm liegenden
Dinge an sich, sondern das Verhältniss des Subjects zu sich selbst, oder da
dies eigentlich sinnlos ist, das Verhältniss eines Theils des Subjects zu einem
anderen Theile desselben Subjects; nur so können wir ja ein Verhältniss
innerhalb des Subjects selbst herausbekommen, wenn wir uns das Subject
in zwei Theile zerspalten denken, welche nun gegenseitig in ein Ver-
hältniss zu einander treten ; wir erhalten nun in unserer inneren Anschauung
\
^ üeber die Auslegung dieser Stelle zu Gunsten einer , simultanen Appre-
hension* durch Witte s. oben S. 394 f.
480 § S. Allgemeine Anxnerkimgen. II.
B 67. 68. [R 717. H 77. K 95.]
nur das Resultat dieses Verhältnisses als innere Erscheinungen, nicht
aber das ursprüngliche Subjeet an sich selbst.
In dieser eben entworfenen Argumentation ist also auch wieder die
Tbatsache der blossen Relativität der inneren Anschauungen als Beweis
verwendet für die Idealität derselben, und damit haben wir einen mit der
ersten Hälfte der Anmerkung ganz gleichlaufenden Beweisgang. Bei Kant
selbst ist diese Argumentation sachlich auch vorhanden, aber formell nicht
so klar und scharf herausgearbeitet, wie es im Interesse der Sache noth-
wendig nnd wünschenswerth gewesen wäre; im Gegentheil, die ganze Dar-
legung leidet an grosser Unklarheit der Gedanken, und selbst an Unbeholfen-
heit des Ausdruckes. Die ganze Theorie des inneren Sinnes ist ja eines der
schwierigsten Gapitel bei Kant, und es ist daher kein Wunder, dass er gerade
in der 2. Aufl. diese, bald und viel angegriffene, Theorie eingehender aus-
einanderzusetzen suchte. Vgl. dazu die orientirenden Bemerkungen von
B. Erdmann, Krit. S. 50 ff. 138 f. 153. 190. 212 ff. 215. 221 f.
Die beste Auflösung der schwierigen Stelle finden wir nun, wenn wir
von vorneherein jene oben entworfene, in der Consequenz des Kantischeo
Gedankenganges liegende Argumentation als Leitfaden in dem Labyrinth
der bei Kant selbst folgenden Ausführungen festhalten. Die Hauptsache ist
dabei der von Kant selbst angedeutete, theilweise auch ausgeführte Par-
allelismus der inneren Anschauung mit der äusseren. Im An-
schluss an Kants eigene Andeutungen unterscheiden wir dabei 1) die zu
Grunde liegenden Elemente; 2) die ins Spiel gesetzten Processe, welche
sich aus dem Zusaramenstossen jener Elemente ergeben ; und 3) das dadurch
zu Stande kommende Resultat. (Vgl. oben S. 125—130.)
L Die Elemente. Damit die inneren Erscheinungen zu Stande
kommen können, damit deren Wirklichkeit — sie sind Thatsacben, von
denen ausgegangen wird — erklärt werden kann, dazu bedarf es nach Ana-
logie des durchsichtigeren Zustandekommens der äusseren Erscheinungen
zweierlei: 1) ein aufzunehmendes Wirkliche an sich, 2) ein aufnehmendes
Organ, den inneren Sinn. Das aufzunehmende Wirkliche an sich sind nnn
in diesem Falle nicht die Einwirkungen äusserer Dinge an sich — diese
werden ja vom äusseren Sinn der Räumlichkeit auf- und wahrgenommen —,
sondern es müssen Vorgänge in dem Ich selbst sein. (Vgl. Cohen, 2. A.
334. 339.) Beim äusseren Sinn sind die beiden fundamentalen Elementet
das Afficirende und das Apprehendirende, auf zwei verschiedene Gegen-
stände vertheilt, hier aber, beim inneren Sinn, sind beide in einem nad
demselben Gegenstand, als zwei verschiedene Seiten desselben, ver-
einigt ^ Im Ich sind somit jene beiden Momente zu trennen : das actire,
wirkende, materiale, und das passive, aufnehmende und formale.
^ Vgl. Lose Blätter I, S. 124: , Doppeltes Ich. Es ist nicht ein doppeltes
Subjeet des Bewusstseins, sondern ein und dasselbe Subjeet, welches sich selbst
modificirt und sich verändert, da dann der, welcher die Veränderung macht, doch
Elemente, Processe und Resultate beim inneren Sinn. 4g 1
[R 717. H 77. K 96.] B 67.
IL Die Processe. Das formale aufnehmende Element des Ich, der
innere Sinn mit seiner Zeitform kann nun nach Analogie des äusseren Sinnes
natürlich nur ins Spiel gesetzt und zur Functionirung gebracht werden durch
eine Affection seitens jenes actiyen Theiles, also dadurch, dass „das Ge-
müth durch sich selbst afQcirt wird^, und zwar eben, wie es bei Kant weiter
heisst, g durch eigene Thätigkeit** , d. h. eben, indem jener active Theil im
Ich thätig ist, sich bethfttigt. (Vgl. Cohen, 2. A. 156. 331. 334. 337.)
Worin besteht nun diese Thätigkeit? Kant antwortet: „im Setzen einer
Vorstellung* (im Text heisst es: „ihrer Vorstellung" ; Erdmann und Kehr-
bach verändern dies in „seiner Vorstellung' ; aber dadurch wird der Sinn
nicht viel besser). Also im Setzen einer Vorstellung besteht jene Thätig-
keit. Bemerkenswerth ist hier die viermalige Wiederholung des Ausdruckes
, Setzen*, der nachher ja bei Fichte eine so grosse Rolle gespielt hat, welch
Letzterer bei seiner Lehre von der „Selbstthätigkeit" des Ich von dieser und
von ähnlichen Stellen ausging. Indem also das Gemüth, d. h. der active
Theil desselben, durch seine „Thätigkeit" eine „Vorstellung setzt", afßcirt
es durch diese seine eigene Thätigkeit zugleich seinen eigenen passiven Theil,
das aufnehmende Organ, den inneren Sinn. (Dagegen Bergmann, Metaph.
217 ff. 314 f.) Dadurch eben sind wir im Stande, den Inhalt jener Thätig-
keit uns in der Form der Zeit zum Bewusstsein zu bringen; so erhalten wir
eine „innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subject vorher-
gegeben wird". So ist es verständlich, wie Kant sagen kann, „wenn das
Vermögen sich bewusst zu werden, das, was im Gemüthe liegt, aufnehmen
(apprehendiren) soll, so muss es [das, was im Gemüthe an sich ist und ge-
schieht] dasselbe [das Vermögen, sich bewusst zu werden, eben bei uns
den inneren Sinn] afficiren". Im Texte wird hier freilich „apprehendiren"
mit „aufsuchen" übersetzt; allein, trotz B 185 („unser Verstand kann nur
denken und muss in den Sinnen die Anschauung suchen") und obgleich
Erdmann, Kritic. 213 gerade diesen Ausdruck besonders auszeichnet, so ist
doch hier ein Druckfehler anzunehmen, da „aufsuchen" gar nicht in die
sonstige Lehre Kants vom inneren Sinne passt und da Kant sonst immer
ausdrücklich den Terminus „apprehendiren" mit „aufnehmen" wiedergibt,
so A 120: „Die Einbildungskraft muss die Eindrücke in ihre Thätigkeit
aufnehmen, d. i. apprehendiren," und dementsprechend heisst es gleich
darauf A 123, dass „die Erscheinungen ins Gemüth kommen oder apprehen-
dirt werden"; dann besonders B 202; „Die Erscheinungen können nicht
anders apprehendirt, d. i. ins empirische Bewusstsein aufgenommen werden,
als durch die Synthesis des Mannigfaltigen;" und demgemäss heisst A 189
Apprehension die „Aufnahme in die Synthesis der Einbildungskraft". Dazu
von dem, was verändert wird, unterschieden sein muss* u. s. w. Diese Verdoppelung
des Ich steht mit der oben S. 129. 404 f. besprochenen Scheidung des Ich in ein
transscendentes und ein empirisches Ich in naher Beziehung, ist aber nicht mit
ihr identisch.
Yaihinger, Kant-Commentar. II. 31
482 § 3- Allgemeine Anmerkungen. IL
B 67. [R 717. H 77. K 95.]
vergleiche man Kr. d. ürth. § 26 (Apprehension = Auffassung) nnd Rechts-
lehre § 10 (Apprehension = Besitznehmung) \
III. Das Resultat i^t nun eben, dass jenes Mannigfaltige, was im
Gemlith an sich liegt, in die Form des afficirten inneren Sinnes aufgenommen
wird: der innere Sinn wird nun ins Spiel gesetzt und funetionirt, indem er
jenes Mannigfaltige mit seiner Form, ,,die vorher im Gemüth zu Grunde
liegt '^j mit der Zeitanschauung überzieht, und jenes Mannigfaltige also erst
in die Verhältnisse der Succession, Simultaneität und Constanz bringt. Dieser
formale Factor tritt also zu jenem mannigfaltigen Inhalt als ein Neues
hinzu, und was nun so, in dieser Zeitform, vor unser Bewusstsein tritt, das
ist eben nicht mehr das ursprüngliche Mannigfaltige an sich, sondern das
ist eben jetzt zur blossen Erscheinung für uns geworden. So wie man
also einen inneren Sinn , einräumt', so muss man auch daraus die Gon-
sequenz zu ziehen sich bequemen, dass , all es, was durch einen Sinn vor-
gestellt wird, sofern jederzeit Erscheinung ist** ; das liegt im Begriff des
„Sinnest (Vgl. Cohen, 2. A. 332.)
Zu dieser ganzen Theorie ist nun aber eine wesentliche Beetriction
zu machen: beim äusseren Sinn besteht das Mannigfaltige, das erst in die
Raumform gebracht wird, aus den Empfindungen, welche selbst ihrerseits
wieder Reactionen des Subjects auf die Affectionen der Dinge an sich sind.
Dieses Mannigfaltige ist also selbst schon subjectiv, und gibt in keiner
Weise das Objective selbst wieder. Ganz anders beim inneren Sinne! Da
besteht das Mannigfaltige aus den Thätigkeitsacten des activen Theiles des
Ich, und diese Thätigkeit besteht im „Setzen von Vorstellungen*. Dieses
Mannigfaltige ist aber etwas Unmittelbares und Objectives, nicht erst wie
beim äusseren Sinn durch das Medium der fünf Sinne Hindurchgegangenes:
das Analogen zu den letzteren fehlt beim inneren Sinn, nnd
daran scheitert die ganze Parallele. Das Mannigfaltige, das dem
inneren Sinn dargeboten wird, ist daher nicht, wie das Mannigfaltige beim
äusseren Sinn, selbst schon subjectiv, sondern etwas Objeotiv-seiendes. Was
zu demselben hinzukommt, ist nur die Zeitvorstellung; jene an sich zeitlos
seienden Vorgänge (freilich ein unausdenkbarer Gedanke 1) werden somit
verzeitlicht, und nur diese zeitliche Form an ihnen ist Erscheinung, dagegen
ihr materialer Inhalt ist eine unmittelbare objectiv- wirkliche Beth&tignng
^ Witte hat gelegentlich seiner Controverse mit Mainzer über die simultaDe
Apprehension bei Kant (vgl. oben S. 395 u. S. 479 Anm.) sich auch anf diese
Stelle hier berufen, und dabei behauptet, Apprehension sei hier in einem anderen
und weiteren Sinne genommen, als in der Analytik; in letzterer bedeute dieselbe
eine active, spontane Thätigkeit (bes. A 98), hier in der Aesthetik spreche K. toh
einem sinnlichen, reeeptiven Vorgang. Es seien somit zwei Arten von Apprehension
bei Kant zu unterscheiden; jene erstere nur sei eben streng successiv, diese zweite
könne auch simultan sein. Zu so weitgehenden Schlüssen berechtigt die vorHegende
Stelle noch nicht; der E.^sche Apprehensionsbegriff leidet aber in der That an
einer derartigen Zweideutigkeit, welche in der Analytik zu besprechen sein wiri
Kants Theorie des Bewusstseins. 483
[R 717. H 77. K 96.] B 68.
des Subjects an sich. Somit durfte Kant — und dies ist ein schwerer
Vorwurf — strenggenommen hier nicht von den inneren Vorgängen in
demselben Sinne und mit demselben Nachdrucke wie von den äusseren
den Erscheinungscharakter aussagen. In den inneren Vorgängen ist danach
etwas y und zwar sehr viel direct vom Ding an sich herübergekommen, in
den äusseren aber gar nichts, als die blosse Affection! In der That hat
Kant auch in seinen späteren Ausführungen, besonders bei den ans Praktische
streifenden Fragen überall den Inhalt des Bewusstseins selbst als real an-
genommen, und die Idealität nur auf die Zeitform beschränkt.
Diese seine Theorie des Bewusstseins erläutert und erweitert nun
Kant durch eine fernere Uebertragung eines Punktes seiner Lehre vom
äusseren Sinn auf den inneren, die sich noch nicht in der ersten Auflage
findet (vgl. Erdmann, Kriticismus 139. 215; vgl. Thiele, Ks. int. Ansch.
S. 38. 88 — 93). Schon bei mehreren Gelegenheiten hat ja Kant der sinn-
lichen Anschauung des Menschen eine andere, übersinnliche, unsinnliche,
intellectuelle Anschauung hypothetisch gegenübergestellt (vgl. oben S. 25.
345. 398), oder wenigstens darauf angespielt. Diese eigenthümliche hypo-
thetische Theorie eines nicht mehr menschlichen, sondern — man möchte
sagen — übermenschlichen Bewusstseins finden wir nun auch hier, wenigstens
angedeutet , und aus diesen Andeutungen ergibt sich Folgendes , was , wie
der anonyme Verfasser der , Hauptmomente " S. 149 sagt, „zu den tiefsten
und subtilsten Speculationen der Kantischen Philosophie gehört".
Es ist eine nicht weiter ableitbare, ursprüngliche Eigenschaft des Sub-
jects, „sich selbst innerlich anzuschauen". Diese Eigenschaft ist nicht weiter
abzuleiten, und es besteht hierin eine fundamentale „Schwierigkeit" aller
Bewusstseinstheorien überhaupt (vgl. B 155) ^ (Vgl. Schneider, Ps. Entw.
d. Apriori 27, dem aufföllt, „in welch leichtem Tone sich dieser ernsteste
Denker über dieses letzte und höchste philosophische Bäthsel forthilft ''.
Cohen, 2. A. 335.) Dies ist also einfach als ein irreducibles Factum
hinzunehmen; mag darin auch ein noch so tiefes Problem stecken, dies ist
wenigstens hier nicht zu discutiren. In jener Fähigkeit, „sich selbst inner-
lich anzuschauen", besteht eben „das Bewusstsein seiner selbst", „die ein-
fache Vorstellung des Ich", wofür Kant hier auch noch in Klammern den
Ausdruck „Apperception" anwendet, der in den späteren Theilen seiner
Kritik eine so grosse Rolle spielt. Also das Ich hat die Fähigkeit, zu sich
selbst zu kommen, zum Bewusstsein seiner Selbst zu erwachen. Wie das
überhaupt geschehen kann, wird also nicht gesagt; doch kann man wenigstens
hier die Andeutung finden, dass es. dazu eines „Mannigfaltigen" be-
darf; erst durch dieses wird jenes ursprünglich unbewusste Ich zu einem
selbstbewussten. Aber diese leise Andeutung verfolgen wir hier nicht weiter
* Vgl. hierüber auch bes. Volkmann, Psychologie, 2. A. 1885, 11, 218
(§ 115). Volkmann gibt überhaupt ib. S. 5 ff. (§ 86) eine eindringende Kritik der
Transsc. Aesthetik.
484 § B. Allgemeine Anmerkangen. IL
B 68. [R 717. H 77. K 96.]
— Fichte hat aus solchen Andeutungen seine Philosophie des Ich heraus-
gesponnen — , sondern halten uns an das, worauf Kant deutlicher hinweist :
Jenes Selbstbewusstsein , jene innere Selbstanschauung kann nämlich nach
Kant auf eine doppelte Weise zu Stande kommen, oder wenigstens als ent-
standen gedacht werden ; diese beiden Möglichkeiten unterscheiden sich nach
der Art, wie „das Mannigfaltige im Subject gegeben" wird, entweder
„selbstthätig* oder «ohne Spontaneit&t".
Im ersteren Falle wird zugleich in und mit der Selbstanschaunng das
Mannigfaltige spontan in uns hervorgebracht. In diesem Falle ist gar keine
innere Spaltung zwischen einem activen und einem passiven Theil des Sab-
jects; dieser Dualismus im Ich ist hier nicht vorhanden; und jener Unter-
schied hat in diesem Fall gar keinen Sinn ; denn, nähmen wir einen activen
Theil im Ich an, so wäre dieser, da das Selbstbewusstsein ein unmittelbares
ist, gewissermassen selbst zugleich der passive Theil. Und andererseits:
gingen wir von dem passiven Theil im Ich aus, so wäre dieser, da in ihm
selbst schon das Mannigfaltige gegeben wäre, selber auch der active Theil,
somit selbstthätig. Also: das Thätige würde sich selbst vorstellen, und die
Selbstvorstellung wäre selbst unmittelbar thätig, kurz — die ganze Spaltung
hat also in diesem Falle ganz und gar keinen Sinn. Ungetheilt und un-
gebrochen ist in diesem Falle das Ich und ist unmittelbar seine eigene
Selbstanschauung.
Anders im anderen Falle. Da tritt eben jene Spaltung des Subjects
in einen activen und in einen passiven Theil ein, in eine materiale und in
eine formale, in eine productive und in eine receptive Seite. Jetzt wird das
Mannigfaltige nicht ursprünglich vom ungetheilten Ich hervorgebracht,
sondern es wird von dem einen, dem activen Theil, dem anderen, dem
passiven Theil erst dargebracht und von diesem erst förmlich und feier-
lich aufgenommen. Dieser passive Theil ist also nicht mehr selbstthätig,
ihm wird „das Mannigfaltige" erst «vorher gegeben', er muss es zwar nicht
ganz von aussen, aber doch von einem anderen Theile des Ich „au&ehmen*.
Wo es sich aber um eine „Aufnahme" handelt, da gibt es auch ein auf-
nehmendes Organ, eine aufnehmende Form, einen aufnehmenden Sinn; da
erhalten wir also das Mannigfaltige nicht in seiner an sich seienden Ur-
sprünglichkeit, sondern schon hindurchgegangen eben durch jene Form, in
diesem Falle durch die Form der Zeitlichkeit. In diesem FaUe ist also die
Selbstanschauung des Ich eine durch jenen Sinn vermittelte, also eine „sinn-
liche" ; und dieser gegenüber wird jene unmittelbare Selbstanschauung ab
eine „intellectuelle" bezeichnet, weil hier eben der Geist sich selbst, das aus
ihm selbst herausquellende Mannigfaltige in seiner Ursprünglichkeit an-
schauen würde, nicht getrübt durch den Schleier, das Medium der Sinnlich-
keit — die Zeitform.
Bei dieser Darstellung haben wir nun ganz abgesehen von den vielen
Parallelstellen über das Ich und den inneren Sinn, und haben nur das ent-
wickelt, was in der vorliegenden Stelle selbst theils direct, theils indirect
Schwierigkeiten der Lehre vom inneren Sinn. 485
[R 717. H 77. K 96.] B 68.
gesagt ist. Von jenen Parallelstellen kommt insbesondere in Betracht der
Passus in der zweiten Auflage der Transscendentalen Deduction der Kate-
gorien B 152 — 158, auf den wir hier aber noch nicht eingehen können.
(Vgl. dazu Cohen, 2. A. 191—193.) Ebensowenig ist hier schon zu erörtern,
ob, wie Meilin I, 328. 830 (vgl. III, 383—388) behauptet, hier „Apperception*
in einem ungewöhnlichen Sinne genommen sei : sonst sei Apperception näm-
lich so viel als Selbstbe wusst sein, hier an dieser einzigen Stelle aber als
Vermögen, sich bewusst zu werden. Für das Verständniss der vor-
liegenden Stelle ist diese Frage irrelevant.
So viel ist aber schon hier im Voraus zu bemerken: Kant hat seine
Lehre vom inneren Sinn in der zweiten Auflage weiter gebildet. Vgl. hiezu
die treffenden Ausführungen von Erdmann, Kriticismus S. 215 f.: „trotz des
immanent klärenden Charakters aber dieser ergänzenden Fortbildung ist
dieselbe durch polemische Motive bedingt. Es kündigt sich dies schon '
äusserlich dadurch an, dass Kant (B 152. 156 N. 168) ausdrücklich die
Schwierigkeit betont, die man darin finde, dass der innere Sinn von uns
selbst afficirt werde. Denn gerade gegen diese Lehre waren schon früh be-
sondere Bedenken ausgesprochen worden [so z. B. von Garve, Pistorius,
Ulrich], Wir werden sogar kaum irre gehen^ wenn wir annehmen, dass
Kant auch auf privatem Wege gerade in diesem Punkte vielfach zur Er-
läuterung und Begründung aufgefordert wurde, der der Sache nach zu
den wunderlichsten Paradoxien nicht einer hyperkritischen Vernunft, wie
Hamann gesagt hat, sondern gleichsam eines hypokritischen Zusammen-
banges mit der schon durch Locke gestifteten Verwirrung gehört. Kants
Beziehung nämlich auf jene behaupteten Schwierigkeiten ist prägnanter, als
jene Literatur uns begreiflich macht. Wäre es berechtigt, eine unbestimmte
Vermuthung zu wagen, wo jeder Anlass zu bestimmter historischer Re-
construction fehlt, man möchte auf Kraus rathen, der sicher am meisten
fähig war, Kant zu einer tieferen Einfügung der ganzen Lehre in sein
System zu veranlassen.* Vgl. oben S. 127.
Treffende Bemerkungen finden sich bei Cousin, Pä. d. Kant (3. A.
1857) S. Vin u. S. 70 — 75 über ,yce passage, emharassS et assez superficiel
malgrS un certain air de profondeur". „La nSgligence inconcevahle , avec la-
quelle cette prHention est avancSe et comme cacMe dans un coin de Vesthetique
transsc, Va jusqt^ici dirohSe ä V attention ^ tandis qu^eUe mSritait un examen
approfondi; car eile contient des consSquences inomies; eile est la radne in-
apergue des erreurs de Kant et de Celles de ses successeurs/' Bei dieser
„itrange tMorw'^ habe Kant an Condillac angeknüpft; er habe aber damit
das Cartesianische Fundament der Philosophie, die Selbstgewissheit des Ich,
untergraben: y,d'un trait de plutne, sans aticune discttssionj Kant a ötS le
ferme fandenient de la philosophie moderne^ le rempart üevi par Descartes
contre le scepticisme/* Vgl. Massonius, Aesth. 134 — 151 . Ueberweg, Logik
§ 40. B en ek e , Metaphysik, Vorr. X. 14 ff. 65 ff. 68 ff. 170 ff. 181 ff. 185 ff
204 ff. 258 ff. B e r g m a n n , Z. Beurih. d. Kriticismus S. 8 ff. Metaph. 214 ff.
I
486 § 8. AUgeiseine Anmerkangen. III.
B 69. [B 718. H 77. 78. E 96.]
Anmerkung DI.
Diese Anmerkung ist der Zurückweisung eines naheliegenden Miss-
verständnisses gewidmet: der Verwechslung von Erscheinung und
Schein. Es liegt nahe, zu meinen^ Kant verwandle äussere und innere
Erfahrung in blossen Schein, wenn er sagt: in der äusseren und inneren
Anschauung sind uns die Dinge und das Ich nur gegeben, so wie sie unsere
Sinne afficiren, also nicht unmittelbar an sich selbst, oder wenn er gar sich
so ausdrückt, wie wir das mehrfach finden : Die Dinge in Baum und Zeit sind
blosse Vorstellungen, nicht Dinge an sich selbst. Dass dann die ganze Aussen-
weit und sogar auch die Innenwelt in puren Schein, in eine blosse Phantasma-
gorie verwandelt werde, ist ein allerdings sehr naheliegender Einwand, dessen
Widerlegung ja auch Schill er's bekanntes Xenion gewidmet ist:
Von dem Ding weiss ich nichts, und weiss auch nichts von der Seele.
Beide erscheinen mir nur, aber sie sind doch kein Schein.
Dieses Xenion ist ganz aus der vorstehenden Stelle herausgewachsen,
und theilt mit derselben auch eine namhafte Ungenauigkeit des Ausdruckes:
Denn, wenn Schiller sagt, dass Beide, Ding und Seele, erscheinen, aber kein
Schein sind, so bezieht sich das „erscheinen' auf die uns unbekannten Dinge
an sich, „von denen ich nichts weiss', die uns aber durch Vermittlung
der Sinnlichkeit zur Erscheinung kommen, während das .nicht Schein sein'
ja von den empirischen Objecten ausgesagt wird. Doch ist diese Un-
genauigkeit — wie auch im ersten Satze des Kantischen Textes — bloss
eine formell-grammatische; sachlich ist schon klar, was gemeint ist.
Diese „Anmerkung III' zerfallt nun in drei Theile. Diese drei Theile
sind der besseren üebersicht halber getrennt zu behandeln.
1) Kant weist den Vorwurf zurück, er verwandle alle Erfahirmg
in blossen Schein.
Jenen Vorwurf weist Kant als gänzlich unbegründet zurück. Denn
„in der Erscheinung', d. h. indem ich lehre, alle Erfahrung sei nur Er-
scheinung, sehe ich die Existenz der Objecto als etwas „wirklich Gegebenes'
an, unterscheide aber die Objecte, insofern sie an sich sind und insofern sie
mir, dem Subject, erscheinen (vgl. dazu Biehl, Krit. I, 425). Ja selbst die
Qualität der Objecte kann als etwas „wirklich Gegebenes' angesehen
werden, nur ist dieses Gegebensein der Qualität so zu verstehen, dass wir
zu der Beilegung dieser qualitativen Prädicate durch die gegebene Belation
des gegebenen Gegenstandes zu uns veranlasst resp. gezwungen werden;
ihrem Inhalte nach aber hängt diese Qualität von unserer subjectiven Organi-
sation ab. Wir haben also bei allen Gegenständen die uns zugekehrte Er-
acheinungsseite von der uns abgekehrten, wahrhaft objectiven Beschaffenheit
i
Die Verwandlung aller Dinge in Schein weist Kant von sich zurück. 487
[R 718. H 78. E 96.] B 69. 70.
scharf zu unterscheiden; die Objecte selbst aber sind ihrem Dass, ihrer Exi-
stenz nach ungezweifelt gegeben; nur ihr Wie, ihre Qualität ist durch
unsere Organisation bedingt und bestimmt. In ersterer Hinsicht sind die
Objecte vom Subject ganz unabhängig (als Dinge an sich), in zweiter
Hinsicht ganz abhängig (als Erscheinungen); denn da hängen sie ab von
der Art, wie wir durch sie afficirt, wie sie durch uns apprehendirt
werden. „Wenn ich also behaupte, dass die Qualität des Baumes und der
Zeit ... in meiner Anschauungsart und nicht in den Objecten an sich liege',
so sage ich damit doch nicht: die Körper scheinen bloss ausser mir zu
sein. Baum und Zeit gehören vielmehr zur Erscheinung, d. h. zu der
Art und Weise, wie sich die uns afficirenden Gegenstände uns darstellen,
unseren Anschauungsbedingungen gemäss. „Unser Princip der Idealität aller
unserer sinnlichen Anschauungen' gibt zu einer solchen Verwechslung der
Ausdrücke, zu einer solchen Vertauschtlng der Standpunkte keine Ver-
anlassung. Auf diesen Unterschied von Schein und Erscheinung hatte Kant
schon in der ersten Auflage der Aesthetik, A 38 (vgl. oben S. 406), hin-
gewiesen. -
In dem so wiedergegebenen Abschnitte hat Kant jedoch keinen ge-
nauen sachlichen und terminologischen Unterschied von Erscheinung und
Schein angegeben^; insbesondere hat er „Schein* nicht definirt, sondern
nur den allgemeinen Sprachgebrauch dabei vorausgesetzt. Was er unter
„Erscheinung' versteht, hat er allerdings genau angegeben: Erscheinung
ist eine Vorstellung in uns, welcher ein seinem Wie nach von jener Vor-
stellungsart total verschiedenes, seinem Dass nach aber unbezweifeltes Ding
an sich entspricht, durch welches das vorstellende Subject afficirt wird (falsch
bei Krause, Kant wider Fischer S. 81). Dem Zusammenhang des Textes
nach versteht Kant hier unter Schein, dem allgemeinen Sprachgebrauch
folgend, eine Vorstellung in uns, welcher nichts Beales, weder der Qualität
noch der Bealität nach entspricht. Der Schein entspringt also ganz allein
aus uns selbst, während die Erscheinung durch Eindrücke auf unsere Sinne
in uns erst entsteht und daher auch die Existenz objectiver, afficirender
Dinge an sich involvirt.
Man kann diesen Unterschied erläutern durch die bekannte (wenigstens
früher übliche, wenn auch jetzt nicht mehr streng haltbare) psychologische
Unterscheidung zwischen Illusion und Hallucination: danach ist Illusion
eine falsche, einseitige, subjective Deutung eines unbestreitbar objectiven
Vorganges; Hallucination aber eine ganz aus dem Innern stammende, rein
subjective Vorstellung, ohne jeglichen ihr correspondirenden, objectiven Vor-
* Ueber die Unterscheidung von Schein und Erscheinung vgl. Proleg. § 32,
auch die Vorl. über Metaph. S. 147 f.; Reflexionen Ks., I, N. 41. 49. 51. 74 f. 194;
II, N. 419 f. Lose Blätter I, 209. Weiteres über den Unterschied sagt Kant
Anthrop. § 7, § 10. Femer Fortschr. d. Met. Ros. I, 499. Met. Anf. d. Nat
Bos. V, 422. 430.
488 § 3- Allgemeine Anmeitengen. III.
B 69. 70. [R 718. H 78. E 97.]
gang oder Gegenstand, also eine blosse Vorspiegelung des Bewusstseins, eini"
Phantasmagorie, wie im Fieberwahn oder im Traume.
Auf jeden Fall sind Kants Gedankengang und Ausdrucksweise bis zu
diesem Punkte widerspruchslos, klar und einleuchtend.
2) Kant unterscheidet zwischen Erscheinung und Schein.
Die Fussnote, vermuthlich erst nachträglich und flüchtig hinzugesetzt,
in welcher diese Unterscheidung getroffen wird, bringt nun in die bis jetzt
gewonnenen klaren Ergebnisse eine peinliche, ja widerwärtige Verwirrung
hinein, welche Kant sich und seinen Lesern durch strengere Gedanken-
fuhrung wohl hätte ersparen können. Anstatt, wie seine Absicht war, den
Text zu erläutern, hat Kant ihn nur verdunkelt.
Der Schlüssel zur Auflösung besteht in der Erkenntniss, dass Kant
zwei ganz verschiedene Definitionen von Schein durcheinander mischt,
welche gar nichts mit einander zu schaffen haben:
1) die gewöhnliche, welche er auch im Texte stillschweigend zu
Grunde gelegt hatte ; danach ist Schein eine unwillkürlich entstandene, sub-
jective Vorstellung ohne entsprechendes Reales, und zwar dem Zusammen-
hange nach hier eine anschauliche Vorstellung: denn es handelt sich ja
um diö Vorstellung der materiellen Dinge im B&ume. Im Laufe der Fuss-
note wird aber damit vermischt
2) die speci fisch Kantische Definition von Schein, welche Kant
schon A 298 f. 396 entwickelt hatte ; auch da wollte Kant verhüten , dass
„Erscheinung und Schein für einerlei gehalten werden", und sagt: , Wahr-
heit oder Schein sind nicht [wie das bei der Erscheinung der Fall ist] im
Gegenstand, sofern er angeschaut wird, sondern im Urth eile über den-
selben, sofern er gedacht wird.' „Schein = Verleitung zum Irrthum ist nur
im Urtheile, d. h. nur im Verhältnisse des Gegenstandes zu unserem Ver-
stände anzutreffen ... die Sinne aber irren nicht ... In den Sinnen ist
gar kein ürtheil, weder ein wahres, noch ein falsches." Wie wenig diese
beiden Bedeutungen von Schein mit einander zu thun haben, erhellt daraus,
dass der Gegensatz zu Schein im ersten Sinne ist: Erscheinung; aber der
Gegensatz zu Schein im zweiten Sinne ist: Wahrheit.
Man sieht auf den ersten Blick, dass die Vermischung von zwei so
verschiedenen Definitionen eines und desselben Ausdruckes zu Verwirmng
führen muss. Es zerfällt denn auch die Note in zwei verschiedene Gedanken-
ketten, welche aber — und das erhöht die Verwirrung — durcheinander
geflochten sind. Indessen ist es, auf Grund dieser Vorbemerkungen, möglich,
eine Entwirrung vorzunehmen.
Von den drei Sätzen, aus denen die Note besteht, beginnt der erste
damit, die Erscheinungsprädicate von den Scheinprädicaten zu unter-
scheiden; von jenen wird gesagt: die Erscheinungsprädicate „können
dem Objecte selbst, im Verhältniss auf unseren Sinn, beigelegt werden*;
Erscheinnng und Schein. Schein = Sinnestäuschung. 489
[R 718. H 78. K 97.] B 70.
Beispiele sind die rothe Farbe und der liebliche Geruch der Rose ^ Nun er-
warten wir in der zweiten Hälfte dieses Satzes eine ebenso unzweideutige
Aussage über die Scheinprädicate, und es heisst auch: „Der Schein kann
niemals als Prädicat dem Gegenstande beigelegt werden '; was nun weiter
folgt (yon „eben darum' an bis „beilegf), ist ein ganz unorganisches Ein-
schiebsel, das gar nicht hieher passt und wohl auch erst nachher ein-
geschoben worden ist, auf Grund der zweiten Definition von Schein,
während der Satz ursprünglich auf jene erste Definition gemünzt war;
ohne diesen störenden Zusatz ist der Zusammenhang daher auch klar ; denn
es folgt ein recht gut gewähltes Beispiel für ein Seh ein prädicat: die Satum-
henkel, eine optische Täuschung, welche von einer besonderen zufälligen
Stellung der Saturnringe zu dem Beobachter abhängt. Zu solchem Schein
gehört auch der Stab, der im Wasser gebrochen erscheint, der viereckige
Thurm, der aus weiter Ferne rund erscheint, die Sonne, welche um die Erde
zu laufen, auf- und niederzugehen scheint, die Planeten, welche gelegentlich
rückläufige Bewegungen zu machen scheinen (vgl. Proleg. § 13. III).
Im zweiten Satz wird dies noch weiter erläutert: Erscheinung ist
das, was, wenn es auch dem Object als solchem ganz und gar nicht an-
gehört, doch von unserer Vorstellung von demselben unzertrennlich ist,
weil es jederzeit sich aus dem Yerhältniss jenes Objectes zum Subject
ergibt und aufs Neue erzeugt. M. a. W.: was dem Objecte im Verhältniss
zu uns noth wendig und allgemein, constant anhängt, ist Erscheinung; und
daraus ergibt sich von selbst der Gegensatz: was dem Objecte im Verhältniss
zu uns nur zufällig, vorübergehend und unter besonderen Verhältnissen an-
hängt, ist nur Schein; diesen darf und kann ich daher auch dem Objecte
im Verhältniss zu uns nicht zuschreiben, dagegen darf oder vielmehr muss
ich jene ersteren Prädicate, wie es oben im ersten Satze hiess, «dem Objecte
selbst beilegen, im Verhältniss auf unsern Sinn*, weil sie dasselbe ja
jederzeit und nothwendig begleiten; ich werde also sagen dürfen und müssen:
die Hose ist, im Verhältniss auf mein Auge, roth; im Verhältniss zu meiner
Nase wohlriechend; „und so werden die Prädicate des Baumes und der
Zeit mit Becht den Gegenständen der Sinne als solchen beigelegt*; ich
werde also sagen dürfen und müssen: die Gegenstände sind im Verhältniss
auf meine Sinne, räumlich resp. zeitlich ausgedehnt. (Vgl. oben S. 462.)
Bis hieher ist die Argumentation klar, durchsichtig und widerspruchslos,
wenn es uns auch wundern mag, dass Kant hier die oben S. 355 flF. 460 flF.
^ Die , Erscheinung* wird also in der Fussnote nach einer anderen Seite
hin charakterisirt, als im Texte. Im Texte wurde von der Erscheinung, im unter-
schied vom Schein, ausgesagt, dass sie sich stets auf ein correspondirendes wirk-
liches Ding an sich beziehe; in der Fussnote wird der Erscheinung das Zeugniss
ausgestellt, dass sie stets dem empirischen Object „beigelegt** werden kann
(„dem Object im Verhältniss auf unseren Sinn") , was beim blossen Schein nicht
angeht.
490 § 8. Allgemeine Anmerkungen, m.
B 70. [R 718. H 78. K 97.]
so verpönte Parallele zwischen Baum (resp. Zeit) und Sinnesqualitäten selbst
zieht, und hier eben so ausdrücklich gestattet, als er dort eindringlich ver-
bot : die Sinn esquali täten in demselbenSinne auf die empirischen Objecte
zu beziehen, wie den Raum!
Dieser bis jetzt so durchsichtige Zusammenhang wird nun getrübt
durch die Hereinmischung der andern, der zweiten Definition von Schein:
danach ist Schein ein Irrthum, welcher durch ein falsches ürtheil über
die sinnlichen Vorstellungen erst entsteht; Schein entsteht durch irrige im
„ürtheil'' ausgesprochene Beziehung einer sinnlichen Vorstellung auf ein
Object.
Im dritten Satz ist diese Definition in genetischer Form verwerthet:
Schein^Irrthum entspringt, wenn ich jene £rscheinungsprädicate, welche
den Objecten nur im Verhältniss auf unsere Sinne zuzusprechen sind,
ohne diese Einschränkung (Restriction vgl. oben S. 348) den Objecten
an sich selbst durch ein willkürliches „Urtheil" beilege; wenn ich also, ohne
jene noth wendige Restriction hinzuzufügen, einfach sage: die Rose an sich
ist roth, die äusseren Gegenstände an sich sind ausgedehnt, während doch
jener Rose die Röthe nur im Verhältniss auf mein Auge, allen äusseren
Gegenständen die Ausdehnung nur im Verhältniss auf meine Sinnlichkeit
zuzusprechen ist; und so lang ich das so ausdrücke, ist, wie es am Schluss
des zweiten Satzes heisst, „hierin kein Schein", nichts unrichtiges, Irrthüm-
liches; ich thue es im Gegentheil „mit Recht*. Schreibe ich die Prädicate
von Raum und Zeit aber den Gegenständen selbst zu, dann entsteht Schein,
und da das Kants Gegner thun, so wirft er den Vorwurf des „Scheines*
auf sie selbst zurück; aber seine Gegner werfen ihm den Schein im ersten
Sinne vor, während er ihnen hier in der Fussnote Schein im zweiten Sinne
als Gegenvorwurf zurückschleudert.
Mitten zwischen diese beiden, nach der obigen Darstellung im ersten
Satz zusammengehörigen Beispiele stellt nun Kant wunderlicher Weise
auch das Beispiel der Saturnhenkel, das doch eben von jenen Fällen in dem-
selben ersten Satze streng unterschieden wurde. (So auch richtig schon
Schäffer, Inconsequenzen Ks. S. 72 — 76.) Denn die Röthe der Rose, die Aus-
dehnung der empirischen Gegenstände sind, im oben festgestellten Sinne,
Ersch ei nungs prädicate, die Saturnhenkel sind aber bloss sinnlicher Schein,
wobei Schein im ersten Sinne genommen ist. Wenn ich nun solchen sinn-
lichen Schein (im ersten Sinne) den Objecten selbst, also in diesem Falle
dem Saturn selbst, als empirischem Objecte, beilege, so entsteht daraus ein
Schein (im zweiten Sinne), d. h. ein Irrthum, ein falsches Urtheil. Indem
so das Beispiel der Saturnhenkel (des Scheines) hier mitten zwischen die
beiden anderen Beispiele der Erscheinung hineingestellt ist \ denen es doch im
' Die Zusammenstellung der heterogenen Beispiele läset sich nur noch etwa
in folgender Weise einigermassen rechtfertigen; es „entspringt Schein* (im zweiten
Sinn = Irrthum) auf zwei Wegen: a) wenn ich ein Scheinprädicat (Schein im
Wahrheit und Schein. Schein = Verstandeairrthum. 491
[R 718. H 78. K 97.] B 70.
ersten Satze gegenübergestellt wurde, ist der Gegensatz von Erscheinung
und Schein selbst zum — Schein geworden; denn Kant hat ja am Ende
der Note den Gegensatz selbst wieder aufgehoben, den er am Anfang der-
selben statuirte: am Anfang handelte es sich um den Gegensatz von
Erscheinung und Schein, am Ende um den Gegensatz von Wahr-
heit (Bichtigkeit) und Schein.
Diesen letzteren Gegensatz hat nun Kant auch noch nachträglich in
den ersten Satz hineingetragen , indem er da , wo wir die erste Definition
von Schein erwarten, unvermittelt die zweite hineinfiickt: der Schein ist ein
irrthümliches Urtheil, in welchem wir, ,was dem Object nur im Verhältniss
auf die Sinne zukommt, dem Object selbst beilegen'', was in dem dortigen
Zusammenhang nicht nur keinen Sinn hat, sondern den Sinn daselbst voll-
ständig zerstört (vgl. oben S. 489).
So stellt sich die ganze Note als eine flüchtig, ja undurchdacht hin-
geworfene Bemerkung dar, welche den ganzen Zusammenhang verdunkelt
nnd verwirrt, und nur solchen klar erscheinen kann, welche selbst nicht
klar und scharf denkend
Dieselbe Verwirrung, wie in dieser Stelle, finden wir nun auch in der
bekannten Parallelstelle der Prolegomena, § 13 Anm. III. Auch in dieser
ausführlichen Darstellung herrscht, wie derselbe Unwille über den „leicht
vorherzusehenden, aber nichtigen Einwurf", so auch dieselbe Unklarheit in
dessen Abweisung, die ihm ,gar leicht" vorkommt. Ja die Verwirrung ist
daselbst noch grösser, weil auch , Erscheinung" doppelsinnig gebraucht wird,
bald in dem oben festgestellten, scharfbestimmten Sinne, bald (und zwar
gleich zuerst) in der neutralen Bedeutung: sinnliche Vorstellung, von der
ersten Sinne = Sinnestäuschung) dem empirischen Objecte zuschreibe, z. B.
die Satumhenkel dem Saturn; b) wenn ich ein Erscheinungsprädicat dem Ding an
sich selbst, dem transscendenten Objecte zuschreibe, z. B. die Röthe der
Rose an sich, die Ausdehnung den Gegenständen an sich. Der Schein im zweiten
Sinne = Irrthum entspringt also stets durch eine in einem „Urtheil* vollzogene
falsche Beziehung eines Bewusstseinsinhaltes auf ein nicht zugehöriges Object.
Vgl. Piatons Theaetet 194 B— 196 C über die »^eoSTjc 8o5a als hiavolaz icpöc aio^otv
«apaXXaify] (oxoXti StavojjiYj, aovaYODfYi).
^ In der sonstigen Kantliteratur suchen wir vergeblich um Hülfe für die
Auflösung der Schwierigkeiten der Stelle; man vergleiche z. B. M ellin II, 402,
III, 388—393. Schmid, Wörterbuch S. 231 f. Schulz, Prüfung II, 294 f ; Haupt-
momente 151; Brastberger, Unters. 75 f.; Schulze, Krit. d. th. Philos. I, 244 ff.;
Bendavid, Preisschrift S. 29 f. Eine scharfe Analyse der „verworrenen** An-
merkung gab Schaff er, Inconsequenzen Ks. S. 70 — 78. Vgl. auch Tennemann
in seiner Uebersetzung der Vergl. Gesch. d. Philos. von Degerando II, 484 — 485.
Vgl. neuerdings Spir, Denken und Wirkl. I, 374—382. Wenn Stumpf, Tonpsych.
I, 32 die Anmerkung Es. „nicht recht klar* nennt, so darf dieser bescheidene
Tadel erheblich verstärkt werden. Ueber diese „verkniffene Anmerkung* vgl. auch
Laas, Id. u. Pos. III, 340. „Etwas verworren' nennt auch Bergmann, Metaph.
315 (vgl. 220. 271) diese Auseinandersetzung.
492 § 8. Allgemeine Anmerkusgen. III.
B 70. [R 718. 719. H 78. E 97.]
erst ausgemacht werden soll, ob ihr etwas Objectives entspricht oder nicht.
(Vgl. dazu Proleg, § 32.) Vgl. oben S. 35. In der Discussion hierüber ist
Schein bald = falsche Vorstellung, welche durch ein irriges ürtheil entsteht,
also soviel als Irrthum (vgl. Proleg, § 40, am Ende), bald = falsche
sinnliche Vorstellung, welche nicht in den gesetzmässigen Zusammenhang
der übrigen empirischen Anschauungen hereinpasst, also soviel als Sinnes-
täuschung oder Traum. (Vgl. A 492.) Diese Verwirrung macht dem
Scharfsinn Kants keine Ehre, und es ist ehrlicher, dies offen zu sagen, als
Andere oder gar sich selbst darüber zu täuschen.
Diese Vorwürfe erhalten aber durch einen eigenartigen Umstand noch
eine Verschärfung. Seinen , Morgenstunden* (1785) hatte Mendelssohn
eine Einleitung vorangesendet: ,Vorerkenntniss von Wahrheit, Schein und
Irrthum' und hatte darin S. 45 ff. 62 ff. 69. 80. 82. 108. 111. 145 f. unter-
schieden zwischen Wahrheit und Unwahrheit, und letztere vnederum sehr
scharf eingetheilt in Sinnenschein (Täuschung durch die niederen Seelen-
kräfte) und Irrthum (unrichtige Urtheile und falsche Schlüsse). Diese
Untersuchungen hat Kant gelesen , und rühmt ihnen in einem Briefe an
Schütz (bei Er d mann, Kriticismus S. 145) nach, es sei darin ^Scharf-
sinniges. Neues und musterhaft Deutliches gesagt'. Es ist nun nur zu be-
dauern, dass Kant aus diesen Untersuchungen so wenig gelernt hat, dass
er 1787 so wenig Scharfsinniges, so überaus Undeutliches vorbringen mochte.
3) Kant gibt den Vorwurf — Verwandlung der ganzen Welt in lanter
Schein — seinen realistischen Gegnern zurück.
In der zweiten Hälfte des Textes („ vielmehr, wenn man jenen Vor-
stellungsformen objective Realität beilegt" u. s. w.) macht Kant nun eine
kühne polemische Wendung, eine avrtoxpofrj, er geht von der Vertheidigung
zum Angriff über. Man hat seinem Lehrbegriff Schuld gegeben, die Welt
in blossen Schein zu verwandeln, d. h. in ein Vorstellungsspiel ohne jegliche
correspondirende Realität. « Er weist das von sich ab, indem er zeigt , dass
nach ihm die Welt, anstatt blosser Schein zu sein, vielmehr Erscheinung
sei, d. h. dass ihr eine, wenn auch unbekannte, so doch auch ungezweifelte
Welt der Dinge an sich entspreche, deren Existenz nicht in Frage zu stellen
sei. Seine Gegner also haben einen ganz verkehrten Vorwurf gegen ihn
erhoben, und dabei die Begriffe Schein und Erscheinung verwechselt.
Den Vorwurf, die empirische Welt in blossen Schein zu verwandeln,
schiebt nun Kant seinen Gegnern zurück. Nicht bei meinem Lehrbegriff
wird die Welt in Schein verwandelt — so hiess die negative Abwehr; im
Gegentheil, gerade aus eurem Lehrbegrift* ergibt sich diese gefürchtete An-
schauung als noth wendige Consequenz — so heisst nun der positive Angrifft
^ Auch schon in der Fussnote hat, wie wir oben sahen, Kant seinen
Gegnern den Vorwurf zurückgegeben , aber in einem anderen Sinne: Wenn
Nach Kant verwandeln vielmehr seine Gegner . alles in blossen Schein'. 493
[R 719. H 78. K 97.] B 70.
Also nicht der idealistische Lehrbegriff Kants, sondern gerade der rea-
listische Lehrbegriff fuhrt logisch und historisch dazu, die Welt in
blossen Schein zu verwandeln. Wie kann Kant diese — auf den ersten
Blick so ungeheuerliche — Beschuldigung beweisen?
Kants Argumentation ist folgende: nimmt man Baum und Zeit als
,,objectiv real^ an, schreibt man ihnen absolute Bealität zu — dies ist
natürlich hier gemeint (vgl. oben S. 349 N. 398 N.) — , so erhält man, genau
genommen, eine widerspruchsvolle Vorstellung: denn man hat damit zwei
unendliche Dinge, welche doch keine Dinge sind ; welche, ohne selbst wirklich
zu existiren , die nothwendigen Bedingungen aller existirenden Wesen sind ;
welche, obgleich sie nichts sind, doch übrig bleiben, wenn die Dinge aus ihnen
herausgenommen worden sind. Wir erhalten damit zwei unendliche Gefässe
ohne Inhalt, denen die Wandungen fehlen, also genau das Lichtenberg'sche
Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt, d. h. also widerspruchsvolle
, Undinge", wie Kant sie schon einmal (vgl. oben S. 891. 414) genannt hat.
Vgl. Mellin III, 391.
Also die realistische Annahme führt auf „Ungereimtheiten"; nach ihr
erscheinen Baum und Zeit als widerspruchsvolle „Undinge". Damit verlieren
sie aber jeden Anspruch auf Bealitätswerth , „Undinge" sind eben Nichts^
also sind Raum und Zeit Nichts, und scheinen nur Etwas zu sein. Und
„wenn der Purpur fällt, so muss auch der Herzog nach" — ist die Form
ein Unding, so reisst sie auch ihren Inhalt mit hinab in den Abgrund der
Nichtigkeit, des blossen Scheinst Das gilt nicht bloss von den Körpern,
welche mit dem Raum in blossen Schein verwandelt werden; es gilt sogar
auch von Unserem eigenen Innern, das mit dem „Unding" Zeit ebenfalls
in blossen Schein verwandelt wird — und das wäre doch eine beispiellose
und bodenlose „Ungereimtheit". Vgl. hiezu E. v. Hartmann, Transsc.
Real. 159 ff. Arnoldt, R. u. Z. 124 f.
Diese bedenklichen, ja sinnlosen Consequenzen treten aber nur vom
Standpunkt der realistischen Annahme aus ein, also wenn und weil der
Baum und die Zeit, welche als real angesetzt werden, zugleich die noth-
wendige Bedingung der Dinge an sich selbst sein sollen. Reichen aber, nach
dem Kantischen idealistischen Princip, die Dinge an sich gleichsam hinaus über
den Raum, unterscheide ich den Raum als blosse Form der Erscheinung
von den Dingen an sich, die nicht in Raum und Zeit sind, dann wird
Ihr den „äusseren Gegenständen die Ausdehnung an sich beilegt ... so entspringt
Schein*; da war Schein = Irrthum (wie ähnlich auch Kant in der unten S. 496
mitgetheilten Stelle dem Realismus vorwirft, auf „transscendentalen Schein'' zu
führen). Wenn aber Kant jetzt im Text seinen Gegnern jenen Vorwurf zurück-
gibt, so ist Schein = Sinnestäuschung.
^ Auf diesem Wege sei „der gute Berkeley* dazu gekommen, „die Körper
zu blossem Schein herabzusetzen*. Ueber das Verhältniss Kants zu Berkeley,
soweit es zur Erklärung dieser Stelle zu besprechen ist, folgt ein eigener Excurs.
494 § B. Allgemeine Anmerkungen. III. — Excure.
B 70. [B 719. H 78. K 97.]
weder Körper noch Seele zum blossen Schein herabgesetzt, anch wenn Ranm
nnd Zeit in das Subject hineingenommen werden ; denn draussen bleiben als
wahre Dinge die jenen Erscheinungen, ihren Stellvertretern, als Correlate
entsprechenden Dinge an sich übrig. So glaubt Kant die wahre Realität
der Objecte, ihre absolute, von uns unabhängige Existenz nur retten zn
können um den Preis der Aufopferung der objectiven Realität der Qualität
(„die Idealität der Raumform ist das einzige Mittel, die Realität von nns
unterschiedener Dinge zu beweisen." Riehl, Krit. I, 428; 9, 207, 314):
nehme ich Räumlichkeit und Zeitlichkeit als bloss subjectiv an, dann bleiben
mir die räum- und zeitlosen Dinge an sich unerschütterlich stehen. Nehme
ich aber .Räumlichkeit und Zeitlichkeit als objectiv real an, so verwandelt
sich, mit ihnen, alles in lauter Schein, wie der Qold klumpen in der Sage,
der bei Tageslicht besehen aus purer Asche bestand.
Excurs.
Kant und Berkeley.
1) Dass nun diese ganze eben erläuterte Anmerkung auf gegnerische
Einwände gemünzt ist, das liegt auf der Hand. Schon gegen die Dissertation,
in welcher ja der transscendentale Idealismus begründet worden ist, wurde
der Einwand erhoben, Kants Lehre verwandle die materielle Welt in Raum
und Zeit in Schein. Diese Verwechslung von Erscheinung und Schein findet
sich schon in dem Briefe von Lambert an Kant vom Dec. 1770: „Ich lasse
es ganz wohl geschehen, wenn man Zeit und Raum als blosse Bilder und
Erscheinungen ansieht. Denn beständiger Schein ist für uns Wahr-
heit. * Wechselt Lambert so (man vergleiche dazu auch den Schloss des
Briefes) unbedenklich zwischen den beiden Ausdrücken, so hat er doch
sachlich schon dieselbe Unterscheidung gemacht, welche Kant hier so sehr
betont, denn Lambert fährt daselbst so fort: „Der Metaphysiker kann Alles als
Schein annehmen, den leeren vom reellen absondern, aus dem reellen
auf das Wahre schliessen.* Vgl. oben S. 142 N. 2. Jener Lambert'scfae
Unterschied von „leerem und reellem Schein" entspricht ganz dem K aufsehen
Unterschied von „Schein und Erscheinung*. Aber trotz jenes Unterschiedes
lässt sich nicht leugnen, dass der Gebrauch des Ausdruckes Schein bei
Lambert leicht zu Missverständnissen führen kann. Vgl. dazu Riehl, Krit.
I, 186. Die beiden Ausdrücke wurden, wie es scheint, damals überhaupt
nicht streng geschieden *; so z. B. auch bei Tetens, Philos. Versuche 11, 152.
Vgl. dazu 0. Ziegler, Tetens' Erkenntnisstheorie (Diss. Lips. 1888) S. 41 f.
2) So war es auch gegen die Kr. d. r. V. der erste und häufigste Vor-
^ Leibniz unterschied allerdings sehr scharf zwischen phaenamena reaUa ei
tantum apparentia ; aber der ausgezeichnete, höchst interessante Aufsatz, in welchem
er das that: De modo disHnguendi phaenomena realia ab imaginariis (Erdmann
443—445; Gerhardt VIT, 319) ist erst von Erdmann 1840 veröffentlicht worden.
Kant hört überall den Vorwurf, er verwandle die Welt in Schein. 495
warf, welchen Kant zu hören bekam, dass er die materielle Welt im Baume
und in der Zeit in blossen Schein verwandle. (Vgl. Erdmann, Proleg. S. 20.)
Bekanntlich war es schon die erste Becension des Werkes, welche diesen
Vorwurf erhob: es ist dies die Garve-Feder'sche Becension in den „ Göt-
tinger gelehrten Anzeigen'^ vom 19. Jan. 1782 (wieder abgedruckt in der
Ausgabe der Prolegomena von Karl Schulz S. 4 — 11). Garve hatte die-
selbe verfasst, Feder hatte sie als Herausgeber gekürzt und überarbeitet;
vgl. darüber Bosenkranz, Gesch. der K.'schen Philos. S. 350; J. E. Erd-
mann, Gesch. d. n. Philos. III, 1, S. 286; B. Erdmann, Einleitung zu
den Proleg, 8. 11 ff.; Stern, Garve und Kant S. 17 ff. Die Stellen der
Becension, in welcher jener Vorwurf erhoben wird, sind von Feder redigirt.
Allerdings ist in der Becension der Ausdruck „ Schein' selbst nicht ge-
braucht, aber sachlich ist der Vorwurf doch in derselben enthalten (gegen
Erdmann, Proleg, S. 70), sogar in Worten, auf welche Kant selbst an-
spielt: in der Becension wird Kant ein , Idealismus '^ vorgeworfen, „der Geist
und Materie auf gleiche Weise umfasst, die Welt und uns selbst in Vor-
stellungen verwandelt". In der oben erwähnten Anmerkung III zu
§ 13 der Prolegomena wehrt sich nun Kant zweimal gegen den Vorwurf,
dass „sein Lehrbegriff die Dinge der Sinnen weit in lauter Schein ver-
wandle"; und ebenso wird auch hier im Texte der Kr. d. r. V. zweimal
dieselbe Wendung gebraucht — wohl Beweis genug, dass er sich hier direct
gegen die Göttinger Becension wendet.
Aehnliche Vorwürfe machten auch Andere; so z. B. Pistorius in der
.Allgemeinen deutschen BibUothek" 1784, Bd. 59, S. 322 ff. (vgl. Erd-
mann, Kriticismus S. 106 f. Vgl. daselbst auch S. 109 ff. über Ulrichs
Behauptung der Unsicherheit der Existenz der Dinge an sich).
Besonders aber Mendelssohn in seinen „ Morgenstunden" 1785 schlug
dann wieder denselben Ton an. (Vgl. Erdmann, Kriticismus S. 118 ff. 138.)
Ohne Kant selbst zu nennen, führt er ihn doch als den . Idealisten" ein,
und dieser „Anhänger des Idealismus hält alle Phaenomena unserer Sinne
für Accidenzen des menschlichen Geistes, und glaubet nicht, dass ausserhalb
desselben ein materielles Urbild anzutreffen sei, dem sie als Beschaffenheiten
zukommen" (112); ,es ist Sinn entäu seh ung, davon der Grund in unserem
Unvermögen anzutreffen ist" (108); , Sinnentäuschung" ist aber (S. 45 ff.)
so viel als Schein. Jener Idealist, welchen Mendelssohn S. 173 sagen lässt,
„er habe den Streitpunkt letzthin ins Beine gebracht", ist natürlich Niemand
anders, als der im Vorwort IV erwähnte „alles zermalmende Kant". So hat
sich denn Kant sicher „keinen Augenblick verhehlt, dass Mendelssohns Argu-
mentationen wider den Idealismus direct gegen ihn gemünzt seien" (Erd-
mann, Kriticismus 144).
3) Gegen dieses Missverständniss hat nun Kant schon in den Prole-
gomena § 13, III gekämpft, woraus schon oben S. 489. 491 Einiges angeführt
worden ist. Der Kampf in den Proleg, wird aber viel heftiger geführt, als
hier in der Kritik. Naturgemäss : damals war sein Unwille noch frisch über
jenen „unverzeihlichen und beinahe aus vorsätzlicher Missdeutung" {Proleg,)
496 Excurs. Kant und Berkeley.
entsprungenen Einwand, über „das thörichte Baisonnement eines ungescbalien
metaphysischen Denkens" (Erdmann, Prol. S. 70). In der Kritik spricht
er viel ruhiger, der Zorn war verraucht; auch wollte er sein Hauptwerk
wohl nicht durch hässliche Polemik verunstalten, und so ist diese Anmerkung,
die nach Kants ursprünglichem Entwurf (s. Erdmann , Nachträge Nr. CV)
für den Abschnitt über die Phaenomena und Naumena bestimmt war, nur
noch ein schwacher Nachklang jener ersten heftigen Aufwallung.
Aber auch inhaltlich unterscheiden sich beide Redactionen. Vor Allem
tritt hier in der Kritik der Unterschied zwischen Schein und Erscheinung
viel schärfer hervor; er fehlt nicht ganz in den Prolegomena^ aber daselbst
hat, wie schon oben S. 491 bemerkt wurde, Erscheinung meistens den
neutralen unbestimmten Sinn ; dieser ist hier ganz verschwunden, und scharf
hebt sich der Unterschied von Schein und Erscheinung hervor. Möglich,
dass Kant zu dieser schärferen Ausprägung durch das Studium der Mendels-
sohn'schen „Morgenstunden" gekommen ist: er bemerkte vielleicht gerade bei
diesem einerseits denselben Fehler, die mangelhafte Unterscheidung der beiden
Termim Schein und Erscheinung (z. B. S. 111. 112. 168. 210), andererseits
die scharfsinnige Distinction zwischen Vorstellung und Darstellung (S. 69. 82),
welche sich im Wesentlichen mit der von Schein und Erscheinung deckt.
(Vgl. oben S. 492. 495.)
Dazu kommt Folgendes: Auch in den Prolegomena macht Kant die
Wendung, den „Schein* von seinem System abzuwälzen und den Gegnern
den Vorwurf zurückzugeben, aber doch in ganz anderer Weise. Der
transscendentale Realismus führt danach in doppelter Hinsicht auf Schein:
einmal weil er die ganze Mathematik in blossen , Schein' verwandelt; denn,
wenn die Aussendinge im Räume unabhängig von uns Realität besitzen,
woher weiss ich, dass die Sätze der a priori aufgestellten Mathematik von
ihnen gelten? Dann ist die ganze Mathematik eic^ blosses „Hirngespinnst*^.
Zweitens führt der Realismus auf den „transscendentalen Schein*: denn,
wenn man die empirischen Gegenstände für Sachen an sich selbst hält, ge-
räth man in alle Schwierigkeiten der Metaphysik, und endigt damit, nach
metaphysischen „ Seifenblasen* zu haschen. Auf diese Klippen also (welche
Kant auch A 39 f. — vgl. oben S. 414 ff. — geschildert hat) , geräth der
Realismus.
4) Jener » nichtige Einwurf gegen Kants Lehrbegriff war nun nicht
selten durch die Bemerkung verschärft gewesen, Kant lehre in dieser Hinsicht
dasselbe wie Berkeley. Dieser Vergleich brachte Kant besonders in Har-
nisch. Einmal lag darin der jedem Autor so unwillkommene Vorwurf des
Mangels an Originalität, andererseits die Imputation einer absurden oder ihm
selbst wenigstens absurd erscheinenden Lehre. Diesen giftigen Pfeil hatte
Feder abgeschossen, welcher in der erwähnten Göttinger Recension in einer
Parenthese jenen Vergleich zog, so dass es da hiess: „Auf diesen Begriffen
von den Empfindungen als blossen Modificationen unserer selbst [worauf
auch Berkeley seinen Idealismus hauptsächlich baut], vom
Räume und von der Zeit beruht der eine Grundpfeiler des Kantischen Sy-
Kant weist die Zusammenstellung mit Berkeley mit Recht zurück. 497
stems." Vgl. B. Erdmann, Prolegomena S. 12. 67 über diesen „in jeder Hin-
sicht ganz oberflächlichen und thörichten Vergleich*', und über den ^Unrnuth
Kants über diese Interpretation, die er in der That nur als ein Miss-
verständniss flüchtigster Leetüre auffassen mnsste*'. Vgl. auch Stern, Be-
ziehungen Garve's zu Kant, S. 20 ff.
5) Gegen diesen Vergleich hat sich nun Kant schon in den Prolegomena
mit Händen und Füssen gesträubt. In der mehrerwähnten Anmerkung III
zu § 13 verwahrt sich Kant ausdrücklich dagegen, dass sein Lehrbegriff mit
dem Berkelej'schen verwechselt werde. „Dass ich selbst dieser meiner Theorie
den Namen eines transscendentalen Idealismus gegeben habe, kann Keinen
berechtigen ,' ihn mit dem empirischen Idealismus des Descartes oder mit
dem mystischen und schwärmerischen des Berkeley (wowider und andere
ähnliche Hirngespinnste unsere Kritik vielmehr das eigentliche Gegenmittel
enthält) zu verwechseln/ In welchem Sinne das zu verstehen sei, wird
dann weiterhin so ausgeführt: „Denn dieser von mir so genannte Idealismus
betraf nicht die Existenz der Sachen (die Bezweifelung derselben aber macht
eigentlich den Idealismus in recipirter Bedeutung aus), denn die zu be-
zweifeln^ ist mir niemals in den Sinn gekommen, sondern bloss die sinnliche
Vorstellung der Sachen, dazu Raum und Zeit zu oberst gehören' u. s. w.;
für Berkeley aber werden die empirischen Dinge zu blossem Schein, da
er die Existenz der Dinge an sich leugnet.
Im Anhang zu den Prolegomena kommt Kant nochmals auf den-
selben Vergleich zu sprechen. Aber da wirft er Berkeley in einem ganz
anderen Sinne „Schein* vor (vgl. B. Erdmann, Proleg. S. 70. 76. 78).
Dort sieht Kant den Hauptunterschied seiner Lehre von der Berkeley 'sehen
in der Apriorität des Baumes und der Zeit und der sich aus denselben er-
gebenden mathematischen Gesetze; denn durch dieselben erst werde in das
Chaos der Empfindungen gesetzmässiger Zusammenhang gebracht; so sei es
erst möglich, empirische objective Wahrheit von blossem rein subjectivem
Schein zu unterscheiden. Bei Berkeley aber mangle jenes Fundament der
Apriorität und daher werde bei ihm alle Erfahrung zu lauter Scheint
(Vgl. hiezu Paulsen, Entw. 187. Frederichs, Berkeley und Kant 25. 32.)
Diese Bemerkung erinnert lebhaft an die oben S. 355 ff. besprochene Unter-
scheidung Kants zwischen der apriorischen Baumform und den empirischen
Sinnesqualitäten; in der That wendete sich Kant dort, wie wir sahen
(S. 357), ebenfalls geradezu gegen Berkeley's Vermischung beider.
^ Denselben Vorwurf gegen Berkeley drückt Kant auch so aus, dass er den
Unterschied zwischen „Traum und Wahrheit* aufhebe (A 490 — 492; vgl. Proleg.
§ 13, III, und den Anhang zu denselben). Während Kant so seinen transscendentalen
Idealismus dem „ Traumidealismus " gegenüberstellt, hat er doch selbst an anderer
Stelle (A 780) den Vergleich der Erscheinungswelt mit einem Traum zugelassen.
Vgl. unten S. 512. Der Vergleich ist also nicht so ganz unkantisch, als Manche
behaupten. Bekanntlich hat Schopenhauer mit Vorliebe diesen Vergleich ge-
zogen (bes. W. a. W. I, 19 ff., II, 493. 561, Par. II, 44), und derselbe hat daher
auch die Verwandtschaft Kants mit Berkeley immer energisch vertreten.
Vaihinger, Kant-Commentar. II. 32
498 Excurs. Kant und Berkeley.
Bestand in dieser Stelle der Vorwurf darin, dass Berkeley's Lehre die
Erfahrung in Schein verwandle, weil es in ihr an apriorischen Kriterien
fehle, so wird an anderen Stellen darauf hingewiesen, dass Berkeley 's Lehre,
ebenso wie der Realismus, auch die Mathematik und alle Erkenntniss
a priori in blossen Schein verwandle. Gleich nachher heisst es: .Mein
Idealismus ist von ganz eigen thümlicher Art , nämlich so , dass er den ge*
wohnlichen umstürzt, dass durch ihn alle Erkenntniss a priori, selbst die
der Geometrie zuerst objective Realität bekömmt." Hieher gehört nun auch
vor Allem die oben S. 418 f. mitgetheilte Stelle. Und ganz so lautet auch
eine Anmerkung in Kants Handexemplar (Erdmann, Nachträge Nr. XXVII).
Kant hätte hier leicht darauf hinweisen können, dass Berkeley eine besondere
Freude daran fand, die Grundsätze und Methoden der Mathematiker zu be-
zweifeln, mit allerlei „Chikanen" betreffs der Gültigkeit der Differential-
rechnung, der unendlichen Theilung u. s. w.
Und noch in einer vierten Wendung wirft Kant dem Berkeley .Schein*
vor: Berkeley lehre, im Einverständniss mit allen Idealisten ,von der Elea-
tischen Schule an", dass die Sinne uns nur Schein geben, während allein
in den Ideen der Vernunft Wahrheit liege. Eine solche Vemunftidee ist
ja im Berkeley'schen System die Gottesidee, auf welche Berkeley zuletzt alles
zurückführt, aus der er alles ableitet. Aber dagegen macht Kant den Ein-
wand: alle metaphysische Erkenntniss aus reiner Vernunft, alle transscendenten
Sätze sind blosser Schein und führen auf „transscendentalen Schein*.
Dazu vergleiche man die interessante Stelle in den Losen Blättei*n I, S. 262,
woselbst Kant von sich und seiner Lehre in diesem Sinne sagt: ,Da ist
unsere Theorie die Widerlegung des Idealismus.*'
6) Die drei letztgenannten Darstellungen kehren in der Ejritik nicht
wieder; wohl aber die erste; denn gerade darin sieht ja, wie wir fanden,
Kant hier den Unterschied von Schein und Erscheinung, dass jenem das
correspondirende Ding an sich fehlt, das dieser zugesprochen wird. Und
jene Verwandlung aller Dinge in blossen Schein wird hier wiederum Berkeley
Schuld gegeben. Aber diese Stelle ist nun durch einen eigenthümlichen
Zusatz bereichert. Kant gibt hier nämlich den Grund an, welcher — seiner
Ansicht nach — den Berkeley zu dieser seltsamen Lehre gefuhrt habe. Dieser
Grund liege eben im vulgären Realismus ; dieser führe einen logisch denkenden
Kopf nothwendig zu jenem extremen Idealismus. Den Gedankengang, welchen
Kant hier meint, haben wir nun schon oben S. 493 hinreichend entwickelt:
Die Annahme der objectiven Realität von Raum und Zeit führe auf Wider-
sprüche, diese stellen sich als Undinge heraus, können also nichts wahrhaft
Wirkliches sein, sondern sie — und mit ihnen, ihr Inhalt, die Körperwelt
muss blosser Schein sein. Es macht den Eindruck, als wollte Kant sagen,
die realistische Annahme Newtons und Clarke's sei durch den Idealismus
Berkeley's, der in der angegebenen Weise aus jenen gefolgert gewesen sei,
ad absurdum geführt worden. (Vgl. dagegen Zimmermann, Ks. Wid.
d. Id. 34—87, welcher entschieden leugnet, dass Berkeley selbst so argu-
raentirt habe.)
Ob Kant gegen Berkeley ungerecht gewesen sei? 499
Noch aD einer anderen Stelle der 2. Auflage findet sich derselbe Ge-
dankengang dem Berkeley zugeschrieben, in der bekannten , Widerlegung
des Idealismus* B 275: „Der dogmatische Idealismus (Berkeley's) ist un-
vermeidlich, wenn man den Baum als Eigenschaft, die den Dingen an sich
selbst zukommen soll, ansieht; denn da ist er mit Allem, dem er zur Be-
dingung dient, ein Unding. Der Grund zu diesem Idealismus aber ist von
uns in der transscendentalen Aesthetik gehoben/
Bemerkenswerth in unserer Stelle gegen Berkeley ist noch die Schluss-
wendung, in welcher Kant (wie noch nicht in den eben angeführten Stellen
aus den Prolegometia) darauf hinweist (vgl. auch A 491), dass Berkeley
inconsequenter Weise nicht auch die Zeit nebst ihrem Inhalt, den inneren
Erscheinungen, für blossen Schein erklärt habe. Auf diesen absoluten
Illusionismus komme man aber auf demselben Wege. Eine solche Leugnung
des Ich an sich wäre freilich die denkbar grösste Ungereimtheit. So wird
also , wie B. Erdmann , Kriticismus S. 191 und 221 f. (95. 138 , vgl. dazu
dessen Prolegomena Pag. C), bemerkt, der absolute Idealismus auch vom
Gegenstand des inneren Sinnes abgewehrt. Insofern steht diese Stelle in
Zusammenhang mit den anderen Stellen der 2. Auflage über die Lehre vom
Ich (vgl. dazu oben S. 477 ff.), besonders mit der Stelle der Deduction B 157.
7) Zweierlei ist in jenen Darstellungen Kants wohl auseinanderzuhalten :
erstens: die allgemeine sachliche Beschuldigung, Berkeley lehre, die
Aussenwelt in Baum und Zeit sei blosser Schein; zweitens: die historische
Kotiz, Berkeley sei auf diese Lehre gekommen durch die Bemerkung, dass
die Annahme der Objectivitftt des Raumes auf Widersprüche führe.
Beides, die Beschuldigung und die Notiz, sind schon sehr bald angegriffen
worden ; jene als ungerecht, diese als ungenau. Der erstere Angriff findet sich
z. B. bei Platner, Aphorismen 3. Aufl. S. 409 ff., vgl. desselben Logik S. 126.
Beide Angriffe zugleich finden sich z. B. bei Herder, Metakritik I, 363 — 414;
speciell S. 404 N. wird über jene Stelle B 274 gesagt: „so viel Worte, so
viel Aufbürdungen, dem Berkeley 'sehen System fremde". Wenig Ausbeute
geben Meilin I, 533 ff.; III, 391 f. und Schulze, Kritik d. Philos. I, 239 ff.
Auch in neuerer Zeit sind jene Vorwürfe Kants gegen Berkeley für
ungerecht erklärt worden; und da heisst es bald: auch Berkeley habe die
Aussenwelt für Erscheinung erklärt, nicht für „Sehein"; bald aber: auch
Kants Lehrbegriff erkläre im Grunde die Aussenwelt für blossen Schein,
wenn er auch von „Erscheinung" spreche.
Dass Kant und Berkeley in der Hauptsache in letzter Linie überein-
stimmen, behauptete dann besonders Schopenhauer, W. a. W. I, 4. 24.
514 f.; II, 4—5. 9. 13-14. 356; Par. I, 14. 83; S. v. Grund, § 21; Kant
sei dem , Verdienst" Berkeley *s „nicht gerecht geworden". Aehnlich dann
K. Fischer. Ebenso auch Frederichs in seinem Programm: „Der phä-
nomenale Idealismus Berkeley's und Kants" 1871, bes. S. 8. 17 f.: Kant habe
Berkeley auf Grund unzuverlässiger Referate miss verstanden.
Jene wesentliche Uebereinstimmung Kants mit Berkeley ist dann aber
auch von Gegnern Kants behauptet worden; so bes. von Zimmermann,
500 Excurs. Kant und Berkeley.
Ueber Ks. Widerlegung des Idealismus von Berkeley 1871, S. 6. 11. 14. 28.
33—37; dann von E. v. Hartmann; von Spicker, Kant, Hume und Berkeley
S. 90 ff. 132; Ueberweg, Gesch. d. Philos. III, 5. A. S. 218 N. Dieckert
Verhältniss Berkeley's zu Kant, Progr. 1888, S. 33—35.
Neuere Forscher haben nun die Vermuthung ausgesprochen, jene Dar-
stellung, welche Kant dem Berkeley'schen System angedeihen lasse, lasse sich
kaum anders erklären, als dass Kant den Berkeley gar nicht aus eigenem
Studium gekannt habe; so schon Frederichs, dann Spicker, Kant, Hume
und Berkeley S. 161, so Riehl, Kriticismus I, 161; so B. Erdmann, Einl.
zu den Prolegomena LXXVI und Kriticismus S. 191. Diese These hat speciell
ausgeführt J. Janitsch in seiner Strassburger In.-Dissertation 1879, «Kants
ürtheile über Berkeley*, in welcher er nachzuweisen sucht, dass bei Kant
nur „eine flüchtige Kenntnissnahme secundärer Quellen^ (Hamann, Hume,
Beattie) zu constatiren sei, dass Kant Berkeley's damals noch unübersetztes
Hauptwerk um so weniger im Original habe studiren können, als er des
Englischen gar nicht mächtig gewesen sei. Letzteres nimmt auch B. Erd-
mann an im Archiv f. Gesch. d. Phil. I, 64. Diese Annahme ist aber un-
wahrscheinlich, wie ich Phil. Mon. 1883 S. 501 ff. nachgewiesen habe.
8) Es braucht nun nicht hier durch eine Detailuntersuchung zur Ent-
scheidung gebracht zu werden, ob jener Vorwurf Kants gegen Berkeley ge-
recht oder ungerecht sei, und ob jene historische Notiz genau oder ungenau
sei. Eine unparteiische Beurtheilung scheint uns mit Nothwendigkeit darauf
zu führen, dass Kants Auffassung in diesem Falle richtig ist: es fehlen eben
einmal bei Berkeley jene Dinge an sich, welche Kant hinter jeder Erscheinung
als afflcirende ansetzt. Ja selbst jene bisher allgemein verworfene historische
Notiz Kants über die Entstehung der Lehre Berkeley's könnte durch einige
Stellen aus Berkeley's „Prindylea^ bestätigt werden. Indessen für den Zweck,
den wir hier verfolgen, genügt es vollständig, constatirt zu haben, wie Kant
(übereinstimmend mit seinen Zeitgenossen und auch mit seinen Gegnern)
Berkeley aufgefasst hat, und wie er (abweichend von eben jenen seinen
Gegnern) sich von ihm unterschieden wissen will. Und in Bezug auf diesen
Hauptpunkt hat sich Kant ganz unzweideutig ausgedrückt: denn, fassen wir
das Resultat der ganzen Anmerkung in wenigen Worten zusammen, so er-
gibt sich, dass Kant hier, wenn er es auch hier nicht ausdrücklich sagt,
den Unterschied seines transscendentalen, formalen, kritischen
Idealismus von dem empirischen, materiellen, schwärmerischen
Idealismus Berkeley's hervorheben will. Dies geht ja hinreichend ans
den oben S. 495 ff. mitgetheilten Parallelstellen der Prolegomena hervor,
in denen er Veranlassung hatte und nahm, sich darüber gegenüber den ge-
äusserten Missverständnissen des Näheren auszulassen. Es war für Kant
sehr leicht, dieses Missverständniss zu heben : er brauchte sich nur auf den
der ganzen Aesthetik zu Grunde liegenden Doppelbegriff von Gegenstand =
Erscheinung und Ding an sich zu berufen (vgl. oben S. 6 ff.). Diejenigen,
welche jenes Missverständniss hatten, „behielten die Bedeutung jener von
Kant unbezweifelten Voraussetzung wirkender Dinge an sich nicht stets vor
Kant schiebt gegen Berkeley seine Dinge an sich in den Vordergrund. 501
Augen* (Erdmann, ProL 67). Kant hatte also leichtes Spiel, jenes Miss-
verständniss abzuwehren : er konnte leicht zeigen, dass sein kritischer Idealis-
mus^ sich eben in jenem Punkte von dem , Idealismus in reeipirter Be-
deutung" sehr wesentlich unterscheide ; dieser ^reine Idealismus" leugne die
Existenz der Dinge an sich; sein kritischer schliesse dieselbe ein (dass der
kritische sie „unentschieden lasse", ist nur ein gelegentliches Selbstmiss-
verständniss Kants ; vgl. Erdmann , Nachträge S. 18 f. 58) ; indem er dies
that, hob er jene Voraussetzung selbst viel stärker hervor, als das frtlher
geschehen war.
üeber diese Aenderung hat B. Erdmann eindringende Untersuchungen
angestellt in seiner Einleitung zu den Prolegamena S. 43 — 78, woselbst S. 71
scharfsinnig gezeigt wird: ,Die Existenz der Dinge ist aus einer unbezweifelten
Voraussetzung zu einem specifischen Merkmal des Begriffes des trans-
scendentalen Idealismus geworden* u. s. w. Vgl. desselben Kriticismus
S. 86—97. 190 ff.
9) Diese deutlichen Erklärungen Kants haben jedoch auch späterhin
Missverständnisse nicht ausgeschlossen. Nach einem Berichte Becks an Kant
vom XO. XI. 1792 hat z. B. Garve in einem Gespräch mit Eberhard später
wiederum die Identität des Kant'schen und Berkeley'schen Idealismus be-
hauptet (Altpr. Mon. XXII, 419). Kant versäumt nicht, am 4. XII. 1792 zu
antworten (Archiv II, 634). Seine Antwort stimmt ganz mit der vorliegenden
Stelle überein: Kant weist auf das Ding an sich hin, das ihn von Berkeley
scheidet. Es bedarf keiner besonderen Versicherung, dass diese Erklärung
Kants ganz in Harmonie steht mit dem vorliegenden Texte: dem ganzen
Tenor der Stelle nach versteht er auch in jenem Briefe unter den Objecten
die Dinge an sich , deren „Existenz* eben Berkeley leugnete , und insofern
hat er allen Grund und alles Recht, sich gegen jene Identification mit
Berkeley entschieden zur Wehre zu setzen.
Ganz anders freilieh fasste Beck die Sache auf. In demselben Briefe,
in welchem er an Kant jene Nachricht gelangen Hess, sagt er nämlich:
^Erscheinungen sind die Gegenstände der Anschauung, und Jedermann meint
dieselben, wenn er von Gegenständen spricht, die ihn umgeben, und eben
dieser Gegenstände Daseyn läugnete Berkeley, welches die Kritik gegen ihn
dargethan hat.* Beck also setzt die Differenz zwischen Kant und Berkeley
an eine ganz andere Stelle als Kant selbst: Nach Kant leugnet Berkeley
die Existenz der Dinge an sieh, welche unseren empirisch vorgestellten
Erscheinungsgegenständen im Räume entsprechen. Nach Beck dagegen
leugnet Berkeley die Existenz der Dinge im Baume selbst, welche unseren
Vorstellungen von denselben noch entsprechen sollen. In dieser Weise
fasst Beck die Sache und die Stelle auf in seinem Auszuge I, 14 ff.: „Die
^ Eine bemerkenswerthe Ergänzung hiezu bieten einige Reflexionen Kants
aus der späteren Zeit des Kriticismus 11, N. 1189 ff., bes. N. 1194, wo Kant seine
eigene Lehre sogar als „Realismus* bezeichnet im Gegensatz zum Berkeley 'sehen
.Idealismus".
502 Excurs. Kant und Berkeley.
Erscheinungen sind genau diejenigen Gegenstände, die Jedermann im Sinne
hat, wenn er Gegenstände der Erfahrung meint, und die er auch ganz
richtig von den Vorstellungen davo n unterscheidet. Mithin
ist der gegenwärtige Lehrbegriff gar sehr Yon dem (materialen) Idealismus
verschieden* u. s. w. Dieselbe Darstellung gibt Beck in seinem Auszug 1, 87 ff. ;
III, 9 — 13: , Berkeley läugnete ... die Existenz der Dinge im Räume*;
ebenso 246. Kant aber habe diese gelehrt, S. 157. 172.
Für diese Auslegung beruft sich Beck wiederholt (a. a. 0. III, 13. 27.
248) auf das bekannte Einschiebsel der 2. Aufl. der Kr. d. r. V. B 274 ff. :
, Widerlegung des Idealismus*. Da Kant in diesem Einschiebsel allerdings,
wie Beck richtig auslegt, das Dasein der Gegenstände im Räume,
mithin der Erscheinungen, nicht der Dinge an sich zu beweisen sucht (vgl.
Strassb. Abhandlungen 1874, 107 ff. 110. 119. 125 ff.), so überträgt Beck
den Sinn der Stelle B 274 ff. auf die hiesige Stelle B 68 ff. , ohne den Fall
in Betracht zu ziehen, dass Kant an verschiedenen Stellen ganz Verschiedenes,
ja Entgegengesetztes behauptet haben könnte. So hat jenes Einschiebsel denn
in dem Kopfe des guten Beck (wie so manches Anderen seitdem) eine schlimme
Verwüstung angerichtet — »der Kant hat sie alle verwirret*.
Dass diese Auslegung der vorliegenden Stelle nicht die gewöhnliche
ist, weiss Beck wohl ; er polemisirt gegen die Letztere auch energisch a. a. 0.
ni, 159 und bes. S. 247 f. : Wer behaupte, dass Kant überhaupt, und speciell
hier zum Unterschied von Berkeley, die Existenz von Dingen an sich ponire,
der lasse ihn eine unglaubliche „Ungereimtheit* begehen, der lege ihn dog-
matisch aus, nicht kritisch; der habe vom »Geist der Transscendental-
philosophie* keinen Hauch verspürt, und halte sich an blosse »Buchstaben*. |
So treffen wir hier am Ende, wie oben S. 4 f. 14 f. 17 f. 22. 41 ff. am
Anfang, Becks eigentbümlichen »Standpunkt*.
Jene buchstäbliche, dogmatische Auslegung der Kr. d. r. V. sei aber
nicht bloss falsch, sondern sie führe auch, sobald man über dieselbe gründ-
licher nachdenke, zu den gräulichsten Widersprüchen und Ungereimtheiten.
Wenn man sich nun dadurch dazu bringen lasse, die Unrichtigkeit jener
dogmatischen Auslegung einzusehen, ohne zugleich die oben dargestellte
richtige, „wahrhaft-kritische, transscendentale'^ zu haben (d. h. wenn man
nur die Dinge an sich leugne ; ohne die von unseren Vorstellungen un-
abhängige Existenz der Erscheinungen anzunehmen), so löse sich Einem die
Kantische Philosophie unter der Hand in baarsten Skepticismus auf, ja falle
ganz mit dem mateiialen Idealismus Berkeley's zusammen, welcher die ganze
Welt in ein subjectives Spiel, in „Traum" verwandelt. Dies führt Beck
YOfLvaoTixutc aus a. a. 0. III, 12. 27. 44. 60. Dieses Zusammenfallen des
Kantischen Idealismus mit dem Berkeley'schen könne man eben nur ver-
hindern von jenem „transscendentalen Standpunkte" aus, wornach Kant eben
Vorstellung und Erscheinung nicht identificire, sondern zwischen beidem
sehr wesentlich unterscheide. In diesem Sinne sei also auch diese Stelle
auszulegen, und Kant habe hier innerhalb des Erfahrungsgebietes
selbst zwischen solchen Vorstellungen unterscheiden wollen, welchen eben
i
Wie Beck und Cohen diese Stelle auslegen. 503
empirische Gegenstände entsprechen = Erscheinungen, und zwischen
solchen, bei denen das nicht der Fall sei, die also blossen Schein enthalten
(a. a. 0. 172).
Wir haben die oft wirr durcheinander gehenden interpretatorischen
Irrgänge dieses scharfsinnig-schwerfälligen Mannes hier auseinander gelegt,
weil der Mann historisch von grossem Einfluss war, weil die neuere Kant-
auslegung (Cohen, Caird u. A.) auf ihn mehrfach zurückgegangen ist, und
endlich, weil sein Briefwechsel mit Kant neuerdings als ein besonders inter-
essantes Document jener Zeit herausgegeben worden ist. Wir haben hier
einen typischen und lehrreichen Fall vor uns, wie man zu interpretatorischen
Gewaltthätigkeiten gezwungen wird, wenn man davon ausgeht, Kant sei ein
widerspruchsloser Autor. In der That, wenn man sich einmal in jene „Wider-
legung des Idealismus^^ festgebissen hat, in welcher Kant thatsächlich die
Existenz der Gegenstände im Baume gegen den Idealismus beweist, und wenn
man zugleich die Lehre von den Dingen an sich als „ungereimt" verwirft,
so kann man die vorliegende Stelle nicht anders auslegen, als das eben
Beck gethan hat. — Vgl. übrigens auch oben S. 55 Nr. 7.
Unter den Neueren hat Cohen diesen Standpunkt am schärfsten zum
Ausdruck gebracht (1. A. 246—253; 2. A. 608—616. Vgl. Natorp, Des-
rartes S. 100. Stadler, Ks. Teleologie S. 5.) Ihm ist das Ding an sich
(vgl. oben S. 50. 109 ff.) nur eine „Ausgeburt der synthetischen Einheiten",
nichts Wirkliches, nur Sehein. Cohen sieht ein und gesteht zu, dass „in Folge
dieser Degradation der wirkenden Ursache", des afficirenden Dinges an sich
zu blossem subjectivem Schein, nun auch die empirische Erscheinungswelt
ihrerseits sich in blossen Schein zu verwandeln droht. Dieser unausweich-
lichen Consequenz sucht Cohen durch die merkwürdige Wendung zu ent-
gehen: „Der Schein bleibt — aber er heisst Erscheinung."
Dieses Zugeständniss (auf welches auch schon E. \r. Hartmann, Transsc.
Beal. 28 hinwies; vgl. auch Lehmann, Ks. Ding a. s. S. 25) registriren wir
hier einfach. Es ist nach dem Gesagten wohl nicht mehr nothwendig, Cohen
gegenüber zum so und so vielten Male zu beweisen, dass Kant selbst gerade
in der vorliegenden Anmerkung III sich alle Mühe gab, zu zeigen, dass ihm
die Erscheinung nicht bloss Erscheinung heisst, sondern auch ist — eben
Erscheinung eines realen Dinges an sich , ohne welches ihm die empirische
Welt zum blossen Schein würde.
10) Indessen haben die energischen Reclamationen Kants in dieser An-
merkung III seine Gegner auch späterhin nicht überzeugt. Immer wieder
ist der Vorwurf gegen Kant erhoben worden, dass er die Welt in lauter
Schein verwandle. Ein Beispiel dieses erneuten Vorwurfes hatten wir ja.
eben S. 501 in dem dort erwähnten Gespräche zwischen Garve und Eber-
hard; der Letztere hat diesem Vorwurf auch in seinen philos. Zeitschriften
mehrfach Ausdruck gegeben. Auch in neuerer Zeit haben Kants Gegner
diesen Vorwurf immer wieder erhoben.
Nicht überzeugt von Kants Reclamationen ist auch Trendelenburg,
Log. Unt. I, 159: ,, Allerdings hat Kant gegen jenen Einwurf kräftige Ein-
504 Excurs. Kant nnd Berkeley.
sage gethan. Aber wir stellen nicht dar, was Kant wollte, sondern wir
sagen, was sich auch gegen seinen Willen ergibt. Zweierlei rückt in Kants
Betrachtung die Erscheinung dem Schein nahe'*; erstens die Inconsequenz,
dass Kant von wirkenden Dingen an sich spricht, während doch Cansalitftt
nur subjectiv sein soll^; zweitens jener bekannte Vergleich von Raum und Zeit
mit den Sinnesqualitäten in den Proleg, (vgl. oben S. 365): „B. u. Z., die letzten,
alles umfassenden Formen, verhalten sich anders, als die rothe Empfindung,
die in einem beschränkten Kreise eine vielfach bedingte Wirkung ist. Wenn
R. u. Z., jene allgemeinsten Elemente, mit dem Object nichts zu thun haben,
so fehlt jeder Bezug zu den Dingen, und es verlässt uns dann die Furcht
nicht, dass in der Erscheinung der Schein spiele." Vgl. dazu Cohen, I.A.
247, und Witte, Beiträge S. 53 f., der den Vorwurf des „Eidolismus" von
Kaut abzuwehren sucht. Dasselbe Bestreben hat Grapengiesser, Ks.
Lehre von R. u. Z. S. 52 — 57, mit besonderer Beziehung auf Fries, Neue
Kr. d. V. II, § 128 ff., welch Letzterer übrigens daselbst (S. 198) zugibt,
dass Kant „den unterschied zwischen Schein und Erscheinung nicht gehörig
entwickelt hatte' ^ Ebenso sucht Grapengiesser, Erkl. 30, v. Kirch mann's
Einwände in dessen Erl. 14 zurückzuweisen. Weiteres s. Herbart, W. W.
IV, 248 (vgl. oben S. 355 N.) ; Michelet , Gesch. d. 1. Systeme der Philos.
I, 231; Thiele in der oben 8. 286 erwähnten Dissertation S. 37; und bes.
Glogau, Abriss II, 87 ff.
Besonders E. v. Hartmann hat dann den Vorwurf des absoluten
Illusionismus gegen Kant erhoben (Transsc. Realismus S. 23 ff. 42 ff.).
Dazu hatte freilich Schopenhauers hyperidealistische Wiedergabe des Kantischen
Idealismus (vgl. oben S. 497 N.) den Boden geebnet: wo Kant „Erscheinung"
sagt, sagt Schopenhauer „Vorstellung" (z. B. Welt als Wille und Vor-
stellung). Vgl. auch N 0 i r ö , Monistische Erkenntnisstheorie S. 20 ff.
Aber so oft auch der Vorwurf, Kant verwandle die ganze Welt in
blossen Schein, erhoben werden mag, so oft er in diesem Sinne mit Berkeley
zusammengestellt werden mag — der Vorwurf und die Zusammenstellung
bleiben doch unberechtigt, wenigstens vom Standpunkt der Transsc. Aesthetik
aus. Mögen auch in der Analytik die Dinge an sich gelegentlich zu ver-
schwinden drohen, in der Aesthetik hält Kant an denselben unerschütterlich
fest, und diese Dinge an sich, deren jedes jeder einzelnen Erscheinung cor-
^ Mit Bezug auf diesen heiklen Punkt (vgl. oben S. 39) hat auch Aenesidem
immer wieder jenen Vorwurf gegen Kant energisch erhoben (vgl. bes. 17-5. 224. 2ß0.
309. 380). Ebenso motivirt den Einwand auch die A. D. L. 103. 136, speciell gegen
Schaumann, welcher (Transsc. Aesthetik 1789, S. 173 ff.) Kant gegen Feder in Schatz
genommen hatte: wenn man, heisst es in jenem Nicolai'schen Organ, nach Kant
die wahre Aussenwelt gar nicht kenne und auf ihre Beschaffenheit nicht schlieasen
könne, so sei dies gerade so gut, als ob gar keine da wäre, und als ob es nur
Erscheinungen, d. h. in diesem Falle nur Schein gäbe. Berkeley gebe doch wenigstens
die Ursache dieser Vorstellungen an — Gott, Kant aber entscheide hierüber gar
nicht«. — Vgl. Baggesen, Nachlass I, 48 ff. Auch Fr. Baader bei Stählin, Kant,
Lotze und Ritschi S. 13.
Kants Unterschied von Berkeley. — Anmerkung IV. 505
[E 719. H 79, K 98.] B 7L
respondirt, und welche, wie B. Erdmann nachgewiesen hat, aus den Leibniz-
sehen Monaden entstanden sind — diese Dinge an sich stehen hier fest wie
eine Palissadenwand hinter den Erscheinungen, verhindern deren Ver-
flüchtigung in Schein und verbieten die Zusammenstellung Kants
mit Berkeley.
Anmerkung IT.
Zur Bestätigung seiner Theorie von Baum und Zeit geht Kant hier
noch auf einen wichtigen und schwierigen Punkt der Beligionsphilosophie
ein, welcher Theologen und Philosophen von jeher im Alterthum, in der
Scholastik und in der Neuzeit sehr beschäftigt und zu der höchsten An-
spannung des Scharfsinns gezwungen hat: wie sich Gott sowohl seiner
Existenz als seiner Erkenntnissweise nach zu Baum und Zeit verhalte?
Dieses Problem hatte schon bei Crusius, besonders aber in dem Streit
zwischen Leibniz und Clarke eine sehr grosse Bolle gespielt; es sind
das „die theologischen Schwierigkeiten, die besonders seit Leibniz' und Clarke's
Zeiten die Lehre vom Baum mit Dornen angefüllt haben'S wie Lambert
in seinem Briefe vom Dec. 1770 an Kant sagt, und höchst wahrscheinlich
ist die Beschäftigung mit diesem Problem auch eines der Hauptmotive für
Kants Transscendentalen Idealismus gewesen. Diese Erläuterung ist daher
auch nicht etwa als ein erst nachträglich von Kant hinzugefundener Gedanke
2SU betrachten, den er etwa erst bei der Ausarbeitung der 2. Auflage aus-
gebildet hätte, sondern er greift mit dieser Erläuterung auf ein Motiv
zurück, welches im Gegentheil schon von Anfang an seinem Denken gerade
die transscendental-idealistische Bichtung gab ^ Dass dabei speciell der Streit
zwischen Leibniz und Clarke bestimmend mitwirkte, ist schon oben S. 436
bemerkt worden; es ist sogar diese ganze Anmerkung nichts anderes, denn
eine speciellere Ausführung des schon auf S. 415 f. besprochenen Gedankens,
den Kant oben A 39 ff. entwickelt hatte , dass die Newton'sche realistische
Baumtheorie (welche eben auch hier wiederum offenbar getroffen werden
soll) „sich sehr verwirre, wenn der Verstand über das Feld der Erscheinungen
hinausgehen wil^^
Diese Probleme waren Kant schon von seiner Studienzeit an geläufig.
Sein Lehrer K nutzen hatte sich mit diesen Fragen beschäftigt, speciell
mit dem Verhältniss der Ewigkeit Gottes zu der Endlichkeit oder Unend-
^ Es gilt von diesem Einschiebsel der Transsc. Aesthetik, was B. Erdmann,
Ks. Beflex. II, 252 sehr treffend von dem ebenfalls in B eingeschobenen § 12 der
Kr. d. r. V. sagt: ,Kant gibt daselbst nicht sowohl eine Probe seiner Kunst, er-
starrte Begriffsformen dem neuen Inhalt seiner kritischen Gedanken anzupassen,
als vielmehr eine Abrechnung mit Gedanken, die noch in den siebenziger Jahren
Ideen fflr die Umbildung der Ontologie zur Transsc. Analytik abgaben." Dieselbe
Erwägung gilt auch in Bezug auf das nachher behandelte Problem der symmetri-
schen Gegenstände.
506 § 8. Allgemeine Anmerkungen. lY.
B 71. [E 719. H 79. K 98.]
lichkeit der Welt, also mit dem Verhältniss Gottes zur Zeit. In seiner
Dissertation „de aetemitate mundi impossibiW* (aaf welche, neben der Ab-
handlung de imfnaterialilate animi K. auch schon in der Vorr. A Vill anspielt,
vgl. Bd. I, 181) hatte Knutzen jenes Problem behandelt; Tgl. B. Erdmann,
Martin Knutzen und seine Zeit S. 98 £f. , woselbst auch die Stellungnahme
von Wolff, Lange, Budde, Thümmig, Bilfinger, Beusch, Cantz,
Schultz, sowie von Cudworth und Bayle behandelt wird. Dass Gottes
Erkenntniss nicht als discursives Denken bestimmt werden dürfe, hat Kant
schon 1755 in seiner Nova Dilucidatio, im Anschluss an den perspica-
cissimus CrusiuSj vertreten; s. Ädditamenta problemaixs IX (Bos. I, 29; vgl.
S. 9. 39). — Vgl. ferner Allg. Naturg. Bos. VI, 155. 179; MonadologUi phys.
V, 265; Spitzfind. I, 59; Deutlichkeit I, 106. Auch die Schrift über den
„Einzig möglichen Beweisgrund' ' (für das Dasein Gottes) behandelt das
Thema an vielen Stellen. In der Dissertation werden diese Probleme be-
handelt § 10. 19. 22. 27. Auch spricht Kant daselbst § 27 von quaestiones
in an es, welche durch Vermischung der sensitiva und inteUectualia entstehen.
Was Kant damit meint, sagt deutlicher sein Anhänger Marcus Herz in
seinen „Betrachtungen" S. 18 ; er spricht von ,Jenen berüchtigten Schwierig-
keiten über den Ort der Seele, die Allgegenwart Gottes, die unendliche
Theilbarkeit" u. s. w., welche durch Kants neuen Lehrbegrifif von Baum und
Zeit definitiv gelöst worden seien. Vgl. ib. 109 über diese „Quaestionen" ;
spec. S. 57. 97. 100. 107—109. 133 über das Verhältniss Gottes zu B. u. Z.
Vgl. auch Natorp, Descartes, S. 61 ff.
Einen sehr interessanten Best derartiger Speculationen finden wir auch
in Kants Beflexionen II, N. 331: „Wenn der Baum die Form der äusseren
Verhältnisse an sich wäre, so würde es mehrere entia realissima geben
können.*' Also im objectiven Weltraum würden mehrere Götter möglich
sein: die Einheit Gottes wird nur garantirt durch die Subjectivität des
Baumes. Vgl. dagegen Beflexionen II, N. 342 und dazu die belehrenden
Bemerkungen Erdmanns daselbst zu N. 337 — 344 über die Genesis der da-
selbst auftretenden Kantischen Lehre vom Baum als der Omnipraesentia
phaenometion. (Vgl. oben S. 426 N. 3.) Vgl auch N. 363. 1379. Das Ver-
hältniss Gottes zum Baume war also von jeher ein Lieblingsthema Kants
gewesen.
Auch über das Verhältniss Gottes zur Zeit finden sich in den
Beflexionen bemerkenswerthe Aussprüche; s. II, N. 371. 375. 376. 377. 387.
388. 1416. 1431. Vom Wesen Gottes muss die Zeit streng ferngehalten
werden, da er seiner Natur nach unveränderlich ist, die Zeit aber die Be-
dingung und Form der Veränderungen ist. Vgl. oben S. 385. (Vgl. Diss. von
1770: § 19.) Noch in dem Nacbgel. Werke XXI, 396 heisst es einmal: „Das
praesens, praeteritum und futurum findet bei Gott nicht statt." Hiezu bieten
dankenswerthe Ergänzungen die von Pölitz herausgegebenen Vorlesungen
Kants über Phil. Keligionslehre , S. 51. 81. 89—92. 130—133. 203-206,
sowie die Vorlesungen über Metaphysik S. 62. 302—304. 338—340. VgL
Wie verhält sich Gott zu Raum und Zeit? 507
[B 719. H 79. E 98.] B TL
auch die Bemerkang in der „B^ligion innerhalb*' u. s. w., Kos. X, 167.
Logik, Einl. VIII; vgl. dazu Krit. B 149. Besonders kräftig drückt sich
Kant am Schluss der Kr. d. Ürth. (Bos. IV, 893) aus: vom Wesen Gottes sei
Baum und Zeit zu yerneineh; eben deshalb sei es schwer, ihn als „ersten
Beweger** zu denken; man müsse ihn vielmehr als Weltordner fassen, „weil
da die lästige Bedingung des Baumes und der Ausdehnung wegfällt'*. Vgl.
auch die Schrift gegen Eberhard, Bos. I, 465. Vgl. Krit. A 641 = B 669.
Lagen demnach diese Probleme dem Verfasser der Kr. d. r. V. schon
von Hause aus am Herzen , so hatte derselbe aber auch einen speciellen
Qrund, gerade jetzt auf diese Frage einzugehend Mendelssohn nämlich
hatte in seinen „Morgenstunden** dieselbe aufgerührt, und zwar im Zu-
sammenhange mit dem Problem des Idealismus. Er meint (S. 105) : „Wenn
wir überführt sein könnten, dass der allerhöchste Verstand sich die [ma-
teriellen] Dinge ausser uns, als würkliche Objecte [im Baume] darstellte,
so würde unsere Versicherung von ihrem Daseyn den höchsten Grad der
Evidenz erlangt haben, und keinen ferneren Zuwachs mehr leiden** u. s. w.
Auf diesen Gedanken kommt nun Mendelssohn sehr häufig zurück in allerlei
Variationen S. 177. 204 f. 242 ff. 276. 325. 327. S. 205 heisst es in onto-
logischer Argumentation : „Da nun Gott nur das Vollkommenste zur Würk-
lichkeit bringt, so wird die Welt, die er erschaffen hat, ^ nicht bloss idealisch
sejn, sondern auch würkliche Materie enthalten, so wie es die grösste Har-
monie erfordert.*' Dass Kant, welcher die „Morgenstunden** genau studirt
hat, auch diese Stellen gelesen hat, ist selbstverständlich, geht aber auch
aus dem Briefe Kants an Schultz hervor, welcher bei Er dm an n, Kriticismus
S. 145 abgedruckt ist, in welchem Kant jenes Buch Mendelssohns bespricht
und auch eingehend sich über den „unendlichen und zugleich thätigen Ver-
stand** des höchsten Wesens äussert, den Mendelssohn angenommen habe.
Ein weiterer Beweis liegt in den Anmerkungen Kants in seinem Hand-
exemplar (Erdmann, Nachträge XVIII— XX. XXXII), woselbst Kant direct
auf Mendelssohn Bezug nimmt.
Kant verschmäht es nun aber, in dieser seiner Antwort auf alle jene
Argumentationen, die im Stile des alten Dogmatismus gehalten sind, einzeln
einzugehen. Er dreht vielmehr auch hier, wie in der vorigen Anmerkung,
den Spiess herum, und weist darauf hin, dass gerade im Gegentheil, wenn
man eine objective Welt im Raum^ und in der Zeit annimmt, die schwierig-
sten Fragen über Dasein, Erkenntniss- und Wirkungsweise Gottes ent.stehen,
dass die „natürliche Theologie**, um welche Mendelssohn S. 166 so zittert,
nur gerettet werden kann, wenn man die Objectivität von Baum , Zeit und
Materie opfert.
^ Vgl B. Erdmann, Kriticismus S. 190. Diese Vorschiebung des religiösen
Interesses hier in B steht in Zusammenhang mit der ähnlich starken Betonung
desselben Gegenstandes Hume gegenüber in den Proleg, § 57—59; vgl. dazu
B. Erdmanns Einl. zu denselben, S. 106—110.
508 § 8. Allgemeine Anmerkungen. IV.
B 71, [R 719. H 79. K 98.]
Kant entwickelt nun hier zunächst die Bestimmungen der Relifrlons-
Philosophie über den Gottesbegriff. Es handelt sich dabei vorerst um drei
Gedanken, welche scharf zu unterscheiden sind.
Erstens. Gott ist für uns kein Gegenstand der Anschauung;
er ist, wie Mellin I, 262 hiezu weiter ausführt, kein sinnlicher Gegenstand,
keine blosse Erscheinung; wir können ihn daher nicht erkennen, und daher
rührt es, dass alles, was wir von Gott aussagen, eigentlich negative Prädicate
sind. (Vgl. dazu bes. die Ausführungen B 149 über das ,,Object einer nicht-
sinnlichen Anschauung'^)
Zweitens. Gott ist für sich selbst kein Gegenstand der sinn-
lichen Anschauung, d. h. seine Selbstanschauung ist nicht an die „ein-
schränkende Bedingung eines inneren Sinnes'* (B 159) gebunden, ihr nicht
„unterworfen". Vgl. oben S. 484.
Drittens. Gottes Erkenntnissweise von den Dingen kann
nur intuitiv sein, nicht discursiv: Gottes Erkenntnissweise ist die denk-
bar vollkommenste, aber die discursive Erkenntnissform, das Denken, ist
schon beschränkt (vgl. oben S. 24. 206). (Vgl. dazu die Abhandlung über den
„Vornehmen Ton**, Ros. I, 634.) „Denken,** sagt Mellin III, 414 hiezu,
„beweiset jederzeit Schranken , indem ich im Denken nicht den Gegenstand
selbst, sondern nur meine Gedanken habe** u. s. w. Ist nun also Gottes
Erkenntnissweise von den Dingen eine intuitive, so kann doch diese seine
Anschauungsthätigkeit nicht an die Bedingungen von Baum und Zeit ge-
bunden sein; wenigstens ist man „in der natürlichen Theologie sorgfältig
darauf bedacht, diese Bedingungen von Gottes Anschauungsthätigkeit wegzu-
schaffen**. Warum? sagt Kant hier nicht, dagegen hat Mellin III, 414 das
— im Anschluss an die früheren Dogmatiker — weiter ausgeführt: „Man
wird nicht zugeben, dass Gott auch Alles in Kaum und Zeit erkenne, denn
alsdann könnte er so wenig allwissend und allgegenwärtig sein, als wir,
und hinge, in seiner Erkenn tniss, von den Gesetzen der Zeit und des Baumes
ab. Er müsste dann ebenso, wie wir, die Geschichte im Gedächtniss be-
halten, denn die vergangene Zeit wäre auch für ihn vergangen, welches un-
gereimt ist** u. s. w. ^ Baum und Zeit nun aus der Erkenntnissweise Gt)ttes
auszuschliessen — wäre man nun nicht berechtigt, wenn man Raum und
Zeit „vorher zu Formen der Dinge an sich selbst gemacht hat**; sind eben
die Dinge an sich selbst raumzeitlich, so kann man aus der Erkenntnissweise
des göttlichen Wesens diese Factoren nicht ausschliessen. (Vgl. Mellin III, 414.)
In dem Satze, in welchem Kant diese Gedanken andeutet, macht er
nun aber noch eine neue Wendung, welche man nicht gerade als streng
logisch bezeichnen kann. Denn der Anfang des Satzes, der mit den Worten
beginnt: „Aber mit welchem Rechte kann man dieses thun?** weist zurück
* Ueber dies Problem vgl. auch Schopenhauer, W. a. W. II, 152. Lotse,
Metaph. 272 ff. Dilthey, Einl. I, 412 ff. Michelet, Entw. d. n. d. Philos. 28 ff.
Grassmann, Wissenschafbslehre 4, 127 ff.
Gott ist in keiner Hinsicht an die Formen von Raum und Zeit gebunden. 509
[R 719. 720. H 79. K 98.] B 71. 72.
auf die „WegschafiPang der Bedingungen von Zeit und Raum*' aus der gött-
lichen Erkenntnissthätigkeit; aber das Ende des Satzes zielt auf etwas
ganz anderes, auf die Wegschaffung der Bedingungen von Zeit und Raum
aus dem Dasein Gottes. Ganz dieselbe Gedankenentgleisung finden wir
auch in der ,,Kritik aller speculativen Theologie", A 640 f. üebrigens findet
sich ganz dieselbe Unklarheit auch in dem Streit zwischen Leibniz und
Clarke. In der secundären Literatur sind diese beiden Gedanken denn
auch zur Geltung gekommen; so „Hauptmomente" S. 120; so behandelt
Mellin III, 414 f. beide nach einander. Den zweiten Gedanken führt dann
Mellin III, 92 ff. nochmals eingehender aus, woselbst Mellin (mit Hinweis
auf Crusius, vgl. I, 867 ff.) alle die Schwierigkeiten entwickelt, welche
sich aus der Annahme der Realität von Raum und Zeit für das Wesen
Gottes ergeben '.
So „bleibt" denn also, wenn man jenen schlimmen Consequenzen aus-
weichen will, „nichts übrig", als dass man Zeit und Raum zu subjectiven
Formen unserer menschlichen Anschauung mache. Diese unsere menschliche
Anschauung heisst nun Kant eine sinnliche im Gegensatz zu der in-
tellectuellen, welche er hier und im folgenden Absatz der Gottheit zu-
schreibt. Der Unterschied ist einleuchtend. Vgl. oben S. 24 — 26.
Die sinnliche Anschauung ist „von dem Dasein des Objects ab-
hängig, mithin nur dadurch möglich; dass die Yorstellungsffthigkeit des
Subjects durch dasselbe, das Object, afficirt wird". Wir sind eben abhängige
Wesen, nicht bloss „unserem Dasein nach, sondern auch unserer Anschauung
nach", und diese letztere Abhängigkeit „bestimmt unser Dasein in Beziehung
auf gegebene Objecte" ; wir sind eben, wie es Proleg. § 57 heisst, „von den
Erscheinungen abhängig oder damit als Bedingungen unserer Bestim-
mung verfiochten", d. h. unser empirisches Dasein, besonders unsere Vor-
stellungsthätigkeit ist bedingt und bestimmt durch die uns in der Erfahrung
gegebenen Objecte. Wir, als so abhängige Wesen, haben nur jene sinnliche
Anschauung, und können nur eine solche haben.
Hiezu fugt Kant noch eine wichtige, ergänzende Bemerkung hinzu.
^ Trocken bemerkt zu diesem Argument v. Kirchmann, Erl. 14: „Wenn
der von der natürlichen Theologie aufgestellte Begriff Gottes und die Wirklichkeit
von Raum und Zeit unverträglich mit einander sind, so folgt für den Philosophen
nicht die ün Wirklichkeit dieser, sondern jenes." Dagegen Mc Cosh, Crüicism of
tke crit, phil. dl, entscheidet die Frage gegen Kant wieder ganz im Sinne von
Clarke. Vgl. auch Michelis, Kant 62. — Dagegen eine warme Anerkennung der
„Läuterung, welche unsere religiöse Weltansicht durch die Erkenntniss der Idealität
des R. u. d. Z. ei*fährt", im Sinne Lotze's bei Sommer, Neugestaltung 174 ff. —
Die nachkantische Religionsphilosophie hat in Eschenmayer^ Schelling, Schleier-
macher, Fichte jr., Weisse, Lotze u. A. an diese Kantischen Bestimmungen an-
geknüpft, üeber die „Unbestimmbarkeit des Absoluten durch Zeit und Raum*
vgl. auch Seh ad, Fichte'sches System, III § 82. Vgl. auch Bachmann, Phil,
meiner Zeit 232 ff.
510 § 8. Allgemeine Anmerkungen. lY.
B 72. [R 720. H 79. K 98.]
Selbst wenn (was sich aber nicht entscheiden lässt) alle endlichen, denkenden
Wesen an dieselben Formen der Sinnlichkeit gebunden sind, d. h. an Raum
und Zeit, so würde uns diese Allgemeingültigkeit doch nicht berechtigen, zu
meinen, darum sei diese uns mit jenen Wesen gemeinsame Anschauungsart
keine ,, sinnliche"; denn auch in jenem angenommenen Falle wäre sie doch
immer noch eine „abgeleitete", würde nur den „endlichen" Wesen zukommen,
welche „ihrem Dasein und ihrer Anschauung nach abhängig sind". — Auf
diese ,, anderen denkenden Wesen" hatte Kant ja schon einmal hingewiesen
(vgl. oben S. 345); damals allerdings mit der Bemerkung, dass diese viel-
leicht an andere Bedingungen gebunden sein können als wir, wenn sie auch
endlich sind. Damals war die Absicht zu zeigen, dass eben deshalb unsere
Anschauungsform etwas Speci fisch -Mensch liebes sei. Hier aber ^ird
gerade die entgegengesetzte Möglichkeit angenommen: auch wenn jene
anderen denkenden Wesen dieselbe Anschauungsform haben, bleibt sie
darum doch eine abgeleitete, und gibt darum doch nur Erscheinung, nicht
die Dinge an sich.
Die Bemerkung macht ganz den Eindruck, als ob sie die Antwort auf
einen Einwurf wäre. Das ist auch der Fall. Auch hier ist es wiederum
Mendelssohn, welchen Kant im Auge hat. Jener meint (entsprechend dem
Gottesbeweis e consensu gentium), die Wahrheit unserer Vorstellungsweise werde
dadurch garantirt, dass nicht nur alle Menschen, sondern auch Thiere und
höhere Wesen, überhaupt alle „denkenden Wesen" unsere Vorstellungsweise
wohl theilen werden (Morgenstunden, S. 16. 24. 104 f. 111 f. 166 f. 174. 324).
Diese Stellen, auf welche auch Erdmann, Eriticismus S. 120 hinweist,
liegen der Eantischen Bemerkung offenbar zu Grunde ; diese letztere verdient
daher auch nicht den Vorwurf Erdmanns (Erit. S. 191), sie sei eine „in-
haltlich recht überflüssige Wendung"; auch dass sie „aus dem Charakter
der früheren Auflage heraustrete", kann ihr nicht mit Fug vorgeworfen
werden. — Uebrigens bezieht sich auf diesen Punkt auch eine Anmerkung
Eants in seinem Handexemplar (Erdmann, Nachträge XVIII): „Es mögen
vielleicht alle erschaffenen Wesen daran [an die Baumanschauung] gebunden
seyn, das wissen wir nicht. So viel kann man wissen, dass es eine blosse
sinnliche Form ist. Das Vornehmste ist, dass sie einen bestimmten Begriff
a priori gibt." Zur Sache vgl. Baumann, Philos. Monatsh. 1882, 268 f.
Ganz anders das „ürwesen". Dieses hat, wie Eant in einem Briefe
an Hamann (s. dessen Werke VIII, 1, 237) sagt, „die Göttersprache der an-
schauenden Vernunft", oder wie er also hier sich ausdrückt, intellectuelle
Anschauung, d. h. ,,eine solche, durch die selbst das Dasein des Objects
der Anschauung gegeben wird". Hier ist also das angeschaute Object nicht
vor der Anschauung da, sondern wird erst durch die Anschauung, in und
mit ihr selbst gegeben, also hervorgebracht. Diese intellectuelle Anschauung
schafft also aus sich selbst heraus im Act des Anschauens zugleich
ihre Objecte. Gottes Schauen ist Schaffen, Gottes Schaffen ist Schauen. Gott
schaut die Objecte gleichsam hin, projicirt seine Anschauungen 'als reale
Intuitus denvativus und iniuitus originarius. 511
[R 720. H 79. K 98.] B 73.
Dinge aus sich selbst hinaus. Die Objecte sind gleichsam realisirte Blicke
Gottes, wie nach einer tiefsinnigen indianischen Sage die Sterne entstanden
sind, indem der Grosse Geist sie vor sich hinausblickte. Gott blickt —
und die Dinge sind.
Diesem unterschied gibt Kant noch einen anderen Ausdruck: Die
menschlich-sinnliche Anschauung wird charakterisirt als intuitus deri-
vativus (vgl. die alte Lehre vom ,,secundär6n Intellect"), die göttlich-
intellectuelle als intuitus originarius, Gottes Anschauungsart ist eine
„ursprüngliche^', weil seine Anschauungen eben nicht abhängig, nicht ab-
geleitet sind von den Objecten, sondern weil diese Objecte vielmehr erst
durch den Act des Anschauens werden und sind, und somit aus Gott selbst
fiiessen. Unsere Anschauung aber ist abhängig von den uns coordinirt
gegenüberstehenden Objecten an sich, ist also von diesen uns erst afficiren-
den Dingen an sich abgeleitet; sie ist sinnlich, weil nur unsere Sinnlichkeit
die Beziehung zwischen uns und diesen Objecten vermittelt. Uns eignet
diese Anschauungsweise; die intellectuelle kann „aus dem angeführten
Grunde^' nur dem Urwesen zukommen, weil dieses allein unabhängig ist von
den Objecten; diese sind vielmehr von ihm abhängig. Freilich sind auch
die Erscheinungen qua Erscheinungen von uns abhängig, ja wir schaffen
die ganze Erscheinungsweit im Act unseres Anschauens, aber nur auf Grund
der Affection seitens der Dinge an sich. Gott aber schafft, erschafft diese
selbst, und zwar ohne Affection von aussen, rein aus sich heraus, durch seine
schöpferische Anschauungsthätigkeit, durch seine anschauliche Schöpferthätig-
keit. „Wie er gebeut, so steht es da" (Fischer, Kr. d. K. Phil. 16 f.).
Dazu vergleiche man die Lehre vom intellectus archetypus in der Kr. d.
Urtheilskraft § 77 und schon in der Kr. d. r. V. A 695 = B 723. Auch
schon in der Dissertation § 10 heisst es sehr entschieden: Divimis intuitus,
qui ohjectorum est principium, non principiatum , cum sit independens, est
archetypus et propterea perfecte intellectualis, (Vgl. Baumgarten, Met. § 346.
866 über die cognitio archetypa sive exemplaris.)
So treffen wir denn hier zum zweiten Male (beidemal in der zweiten
Auflage) auf den Unterschied der sinnlichen und der intellectuellen An-
schauung. Zwar handelte es sich das erste Mal (vgl. oben S. 484) um die
Anschauung des Selbst, hier um die Anschauung der Dinge ; aber wir finden
beidemal doch im Wesentlichen dieselbe Definition des Unterschiedes: Bei
der intellectuellen Anschauung wird das Angeschaute durch das Anschauende
selbst hervorgebracht; bei der sinnlichen dagegen wird dem Anschauenden
das Angeschaute von anderwärts her dargebracht. Und das Resultat ist:
Nur bei Gott findet sich die intellectuelle Anschauung, sowohl
der Dinge, als seiner Selbst. Der Mensch hat nur die sinnliche
Anschauung, sowohl seiner Selbst, als der Dinge.
Weiteres hierüber bieten Kants Reflexionen II, N. 313, woselbst Kant
unterscheidet: 1) organisches oder physisches Anschauen durch den
Körper, 2) pneumatisches oder mystisches Anschauen durch den Geist
512 § 8- Allgemeine Aumerkungen. lY.
B 72. [R 720. H 79. Z 98.]
ohne Mithilfe des Körpers. Die menschliche Anschauung ist nur phjaiscb.
In den Vorlesungen über Metaphysik, S. 255, heisst es: «unser Bewusstsein
ist an die animalische Anschauung adstringirt." Hiezu vergleiche man
Eeflex. n, N. 929 über Gottes „intuitiven Verstand^ im Gegensatz zu dem der
„endlichen Wesen". Vgl. N. 1652. Dazu vergleiche man auch die Mit-
theilungen B. Erdmanns aus dem Manuscript der metaphysischen Vorlesung
Kants, Phil. Monatsh. 1884, S. 77. Vgl. auch Kants Metaphysik, Ed. Pölitz,
S. 306 — 310, sowie die von demselben herausgegebenen Vorles. über Philos.
Religionslehre, S. 102 — 115. Auch in dem Brief an Herz vom 21. Febr. 1772
wird des Unterschieds Erwähnung gethan. — Wie B. Erdmann (Reflex.
II, 313) richtig bemerkt, steht die Annahme jener „pneumatischen An-
schauung^ in offenbarem Zusammenhang mit der , philosophischen £i^
dichtung' des mundus intelligibilis und seiner „pneumatischen' G^etsmfissig-
keit: die pneumatische Welt ist nur der pneumatischen Anschauung offen:
der Mensch hat diese nicht, nur Gott. Aber dass der Mensch jene ihm ver-
sagte pneumatische Anschauung doch einmal erwerben werde, das ist nach
Kant nicht ausgeschlossen. Es besteht sogar die Unsterblichkeit des
Menschen eben in jener Erwerbung, in der Veränderung der sinnlichen
raumzeitlichen Anschauung in die geistige unzeitliche und unräumliche
Anschauung, und das sei eben „die andere Welt*'; dieselbe sei also nicht
ein anderer Ort, sondern nur eine andere Anschauung eben dieser Welt.
Diese Hypothese findet sich in den „Träumen*' (Ros. VII, a, 52 ff. 93, Hart.
II, 346. 378); in jener halb ernsten, halb scherzhaften Form, welche so sehr
an Piatons Vortrag seiner fj.6d-ot erinnert; dann zwischen 177Q und 1780
in den „Vorlesungen über Metaph.'^ S. 255 f.; dann aber auch in der Kr. d.
r. V. selbst A 393 f., bes. aber in der Methodenlehre A 779 = B 807, wo
Kant jene Annahme als „transscendentale Hypothese^ zulässt, ja geradezu
empfiehlt, in einem Zusammenhang, in welchem er, in demselben Sinne, die
Hypothese „aufbietet^ ; „dass dieses Leben nichts als eine blosse Erscheinung,
d. h. eine sinnliche Vorstellung von dem rein geistigen Leben, und die
ganze Sinnenwelt ein blosses Bild sei, welches unserer jetzigen Erkennt*
nissart vorschwebt, und wie ein Traum an sich keine objeotive
Realität habe: dass, wenn wir die Sachen und uns selbst anschauen
sollen, wie sie sind, wir uns in einer Welt geistiger Naturen sehen würden.*
Vgl. oben S. 497 N. Jene „Welt geistiger Naturen* bildet dann das zeitlose
„corpus tnysticum der vernünftigen Wesen" (A 808 = B 836). Von
diesem corpus tnysticum hatte Kant schon in den „Träumen" gesprochen, als
einem „geistigen Körper", einer „GeistersocietÄt" (Ros. VII, a, 96). Diese Seite
Kants bot ja von Anfang an, von Jung-Stilling bis auf Du Prel, den „Mystikern*
willkommene Anknüpfungspunkte. Auch Schopenhauer hat ja Kants
transsc. Idealismus gelegentlich zum Mysticismus verwendet; besonders aber
war Jung-Stilling (W. W. I, 14 ff.; II, 131) ein Verehrer der Aesthetik, weil
er in dem verschlungenen Gewebe ihrer Argumentationen den Sweden-
borg'schen Einschlag herausfühlte. Dessen Ideen nennt Kant ja «sehr
Kants intuitiv originariua und Swedenborgs gpneomatische Anschauung'. 513
[R 720. H 79. K 98.] B 72.
erhaben" (Metaphysik, Ed. Pölitz, S. 257; vgl. Du Prel, Ks. Vorlesungen
über Psychologie, 1889; vgl. dazu Riehl, Krit. I, 229): , Swedenborg
sagt: die Geisterwelt macht ein besonderes reales Universum aus; dieses ist
der mundus intelligihilis, der von diesem mundo sensibili muss unter-
schieden werden. Er sagt: alle geistigen Naturen stehen mit einander in
Verbindung" u. s. w. »Nun stehen unsere Seelen mit einander als Geister
in dieser Verbindung und Gemeinschaft, und zwar schon hier in dieser
Welt; nur sehen wir uns nicht in dieser Gemeinschaft, weil wir noch eine
sinnliche Anschauung haben; aber obgleich wir uns darinnen nicht
sehen, so stehen wir doch darinnen. Wenn nun das Hinderniss der geistigen
Anschauung auf einmal aufgehoben wird, so sehen wir uns in dieser
geistigen Gemeinschaft, und dies ist die andere Welt ; nun sind dieses nicht
andere Dinge, sondern dieselben, die wir aber anders anschauen." Mögen
diese Worte aus 1788 oder aus 1774 stammen (Erdmann, Phil. Mon. XIX,
129 fip., nimmt aber mit Eecht das letztere an), so lassen sie doch vielleicht
darauf schliessen, dass Kant bei dem Gegensatz der sinnlichen und der
geistigen Anschauung von Swedenborg'schen Einflüssen mitbestimmt
war, so dass die Diss. von 1770 und mit ihr die Aesthetik in einem wenn
auch losen, so doch positiven Verhältniss zu den „Träumen" von 1766 und
damit auch zu Swedenborg stünde. Vgl. oben S. 481 N. Vgl. auch Ks.
Refl. II, N. 1291, wo Kant mit der Idee einer , mystischen Welt" spielt.
Aber der wild gährende Most des Swedenborg'schen Mysticismus ist bei Kant
zu dem edeln, milden und doch kräftigen Wein des Kriticismus abgeklärte
^ Trotzdem oder vielmehr eben deshalb ist es ganz ungerechtfertigt, Kant
zu einem „Mystiker** im modernen Sinne stempeln zu wollen. Mögen auch einige
Swedenborg'sche Conceptionen die Ausbildung des Standpunktes von 1770 mit
begünstigt haben, wie auch oben S. 431 N. als möglich angenommen wurde, so
hat Kant doch schon im Jahre 1770 es abgelehnt, auf solche indagationes mysticas
näher einzugehen; vgl. oben S. 143 N. Vollends als Kant (nach Erdmanns Nach-
weis) seit der Mitte der siebenziger Jahre den specifischen Kern seines
Kriticismus ausbildete — seine kritische Erfahrungsl ehre, wie sie die Analytik
entwickelt — , war für ihn fortan jedes ernstliche Eingehen auf Swedenborg'sche
Phantasien gänzlich ausgeschlossen. Dass Kant eine Zeit lang jenen Phantasien
sein Ohr geliehen hatte, wirkte von da ab gewissermassen wie eine Schutzimpfung
gegen alle ernstlichen Anfälle der Swedenborg'schen Krankheit. Wenn Kant noch
in der Kr. d. r. V. von dem corpus tnystiaim u. s. w. spricht (vgl. oben) , so ist
dieser Gedanke selbst nicht Mysticismus , denn jene grob dogmatische Vorstellung
eines Swedenborg ist an jener Stelle zu „einer blossen, aber doch praktischen Idee"
im Sinne Kants gemildert. Wenn ein etwas drastischer Vergleich gestattet ist, so
kann man sagen : so wenig Theerderivate noch selbst Theer sind, so wenig sind diese
, Ideen ** des Kriticismus mit jenen Dogmen des Mysticismus noch identisch. Die
Kantische Erfahrungswelt, wie sie durch die „Analogien der Erfahrung** geregelt
ist, Bchliesst jedes Durchbrechen des gesetzmässigen Naturzusammenhanges durch
uncontrolirbare „Spirits** aus, und Kant würde den modernen Mysticismus, soweit
er sich an seinen Rockschössen festhalten will, energisch von sich geschüttelt haben.
Yaihinger, Kant-Commentar. ü. 33
514 § 8. Allgemeine Anmerkungen. lY.
B 73. [R 720. H 79. E 98.]
Kant scbliesst diese Anmerkung mit dem wesentlichen methodologisehen
Hinweis, dass ,,die letztere Bemerkung zu unserer ästhetischen Theorie nur als
Erläuterung, nicht als Beweisgrund gezählt werden muss". Diese „letztere
Bemerkung'' ist natürlich die ganze Anmerkung lY. Vgl. hiezu Arnoldt,
Id. S. 60, der übrigens den Rosen kr anzusehen Druckfehler „Beweggrund"'
statt „Beweisgrund'' ahnungslos abdruckt und damit den Sinn der ganzen
Stelle verfehlt: es handelt sich eben um eine methodologische Reservation,
welche Kant oft macht, welche er z. B. auch schon in der Vorrede zur
Preisschrift von 1764 mit den Worten gemacht hat: „Einiges, welches man
noch unsicher finden möchte, wird von der Art sein, dass es nur zur Er-
läuterung, nicht zum Beweis gebraucht wird." Freilich wollte ja Kant
ursprünglich aus seiner Er. d. r. Y. (vgl. Band I, 132 ff. 140 ff.) alles bloss
Hypothetische , Problematische ausschliessen , aber in der 2. Auflage fand
er es doch zweckmässig, solche der Popularität dienenden Erläuterungen
einzuschieben, welche, wenn sie auch nicht als strenge Beweise dienen
konnten, doch wenigstens den Zweck einer argumentatio ad hominem
erfüllten.
Zu dieser methodologischen Reservation hatte nun Kant allen Grund:
Denn Gottes Dasein ist ja für Kants theoretische Philosophie „nur eine
Idee", und ebenso ist es mit den, jenem Wesen zugeschriebenen Eigen-
schaften; besonders eben jene Gott beigelegte intellectuelle Anschauung ist
ein rein fictiver Gedanke, aus dem daher auch keine zwingenden Beweise
gezogen werden können, den man eben nur der Erläuterung halber herbei-
ziehen kann. So heisst es ja A 256 : „ein Verstand, welcher nicht discnrsiv
durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nichtsinnlichen Anschauung seinen
Gegenstand erkenne", sei „ein Problema", und „wir können uns von einem
solchen nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen".
Aehnlich A 770 und Froleg. § 57 ; vgl. auch B 145 \
üebrigens hätte Kant auch noch in derselben Weise die Freiheitslehre
als erläuterndes Argument herbeiziehen können, welche dann speciell
^ Meli in (1, 203) macht die richtige Bemerkung, dieser Begriff einer Verstandes-
anschauung sei ein rein negativer: „Er entsteht nur dadurch, dass die Beschaffen-
heit der unsrigen verneint wird, folglich ist der Begriff derselben eigentlich leer,
eine blosse Verneinung (nihil privativum),'^ Weiteres bei Amol dt, R. u. Z. 60
und bei Lange, Gesch. d. Mat. II, 129 (das «Phantom' der int. Ansch.). Eine
ausfQhrliche Besprechung dieser Stelle s. bei Thiele, Ks. intell. Anschannng
S. 85 — 89 (117); Thiele schliesst: „Dieser Begriff der intell. Anschauung ist ein
blosser Grenzbegriff. . . . Aber der abstracto Begriff einer solchen ist wider-
spruchslos und überdies unentbehrlich, um über unsere sinnliche Anschauung und
Überhaupt über unser ganzes Denken klar zu werden, und seine Grenzen lo
erkennen. * Gegenüber solcher kritischer Besonnenheit haben Fichte und Schelling
in kühnem Dogmatismus dem Ich die intellectuelle Anschauung zugesprochen, nnd
dann daher consequenterweise das Ich auch mit dem .Ürwesen', mit der WeU-
vemunft identificirt. Vgl. oben S. 24 — 26.
Gott, ^Freiheit und die Antinomien als Bestätigungen der Tr. Aesthetik. 515
[R 720. H 79. E 98.] B 72.
die Idealität der Zeit illustrirt hätte. Das hat Kant in der That an anderen
Stellen gethan; so heisst es in den Losen Blättern, I, S. 217: „Die Realität
des Freiheitsbegriflfes zieht unvermeidlicher Weise die Lehre von der Idealität
der Gegenstände als Objecto der Anschauung im Baume und der Zeit nach
sich. Denn wären diese Anschauungen nicht bloss subjective Formen der
Sinnlichkeit, sondern [Formen] der Gegenstände an sich, so wurde der
praktische Gebrauch derselben, d. i. die Handlungen würden schlechterdings
nur von dem Mechanism der Natur abhängen , und Freiheit sammt ihrer
Folge, der Moralität, wäre vernichtet." Vgl. auch Kants Recension über
Ulrichs Eleutheriologie , Phil. Mon. 1880, S. 205. Beide Punkte, die Prei-
heitslehre und die Gotteslehre, in ihrem tieferen Zusammenhang, werden
besonders in der Kr. d. pr. Vem. auf die Idealität der Zeit bezogen. Nicht
bloss die Freiheit als solche sei nur zu „retten' ' durch die Subjectivität der
Zeit (R. Vni, 225), sondern vor Allem im Verhältniss zur Allmacht Gottes
(R. Vin, 231—235). Nehme man die Zeit, nebst dem Raum, als objectiv,
so verfalle man (wenn man sich nicht mit Mendelssohns widerspruchsvollen
Positionen behelfen wolle) nothwendig dem Spinozismus, welcher con-
sequenter Weise die menschliche Freiheit leugne. (Aehnlich in den Vorl.
über Metaph. S. 62.) Nur wenn man sowohl Gott als „unabhängig von
allen Zeitbedingnngen'' fasse (denn ihm, „dem unendlichen ist die Zeit-
bedingung nichts' ^ ib. 262), als auch beim Menschen das zeitlose Wesen
von der zeitlichen Erscheinung unterscheide, sei die Freiheit zu „retten''.
In diesen Zusammenhang gehört' die Erinnerung, dass Kant noch einen
anderen wirklichen ,,Beweisgrund" für seine „ästhetische Theorie" parat
hat: die Antinomien; diese, deren Typus die Frage ist, ob die Welt
endlich oder unendlich sei, gehören ja auch zu jenen „quaestionea inanea^y
von denen wir eben eine interessante Probe kennen gelernt haben. Kant
sagt ausdrücklich Kr. A506: „Man kann aus dieser Antinomie einen wahren,
zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doctrinalen Nutzen ziehen :
nämlich die transscendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirect
zu beweisen, wenn Jemand etwa an dem directen Beweise der trans-
scendentalen Aesthetik nicht genug hätte" u. s. w. Vgl. oben S. 300 ff. üeber
dieses „Experiment der Vernunft" vgl. auch die Preisschr. über die Fortschr.
d. Met. (Hart. VIII, 552). Vgl. Ks. Reflexionen H, Nr. 1386.
B. Erdmann (Kants Reflexionen II, Einl. XXVII) erinnert hiezu noch
an eine andere Stelle, welche jedoch nicht auf die Antinomien bezogen werden
kann , aber , richtig ausgelegt , einen neuen interessanten Gedanken ergibt.
In der Streitschrift gegen Eberhard (Or. 106; Hart. VI, 59; Ros. I, 470)
weist Kant darauf hin, dass auch aus der Analytik sich ein solcher, un-
abhängig von der Aesthetik geführter Beweis für die Idealität von Raum
und Zeit gewinnen lasse. Das Hauptresultat der Analytik sei nämlich der
Satz , dass . synthetische ürtheile nicht anders möglich seien , als unter der
Bedingung einer dem Begriffe ihres Subjectes untergelegten Anschauung,
welche, sind es synthetische Ürtheile a priori, reine Anschauung a priori
516 § 8. Allgemeine Anmerkungen. IV. — Beschlusa.
«
B 78. 78. [R 720. H 79. 80. E 98. 99.]
sein müsse. Dieser Satz habe wichtige Folgen auf die Einsiebt in die wahre
Natur unserer Sinnlichkeit, denn er könne (wie Kant einige Seiten vorher
gezeigt hat) „unabhängig von der Ableitung der Vorstellungen des Raumes
und der Zeit bewiesen werden, und so der Idealität der Letzteren zum Be-
weise dienen, noch ehe wir sie aus deren innerer Beschaffenheit [wie in der
Aesthetik] gefolgert haben". Also auch aus der Analytik ist ein in-
directer Beweis für die Idealität von B. u. Z. zu gewinnen, wie oben aus
der Dialektik — naturgemäss, da ja das idealistische Resultat sowohl
der einen als der anderen zu Grunde liegt (vgl. dazu oben S. 444). Aber
die Antinomien stehen allerdings in einem sehr viel engeren
— sachlichen und historischen — Yerhältniss zum trans-
scendentalen Idealismus, worauf B. Erdmann wiederholt mit Recht
aufmerksam gemacht hat {Prolegomena, Einl. 85 ff. 93; Reflexionen 11, Einl.
23 ff. 36 f.; vgl. Comm. I, 344). Vgl. oben 435 f.
Beschluss der Transscendentalen Aesthetik.
In diesem Schlussabsatz (vgl. Erdmann, Kriticismus S. 189) greift
Kant auf jene in der 2. Auflage so vorgeschobene Fragestellung nach der
Möglichkeit synthetischer Sätze a priori zurück, welche bei der Er-
klärung der Einleitung, Band I, 227. 316 ff. 380 ff. 384 ff. 412 ff. hinreichend
besprochen worden ist. „Eines der erforderlichen Stücke zur Auflösung
jener allgemeinen Aufgabe" ist nun geliefert, nämlich die Bedingungen,
welche die mathematischen Sätze möglich machen (Band I, 292 ff. 366.
372 ff.). Damals wurde die Frage aufgeworfen, wie es möglich sei, in der
Mathematik Sätze a priori aufzustellen, in denen einem Subject ein Prftdicat
zugeschrieben wird, das nicht analytisch in dem Begriff jenes Subjectes liegt?
Es wurde nach dem X gefragt, nach dem Dritten, das die Verbindung
jener Prädicate ermöglicht (Band I, 279. 291). Dieses X — es ist nun in
Bezug auf mathematische Urtheile gefunden. Es ist die reine Anschauung,
die sich gliedert als apriorische Anschauung des Raumes und der Zeit. Vgl.
oben S. 202 f. 233 f. 266 f. 332 f. 383 ff. 467 ff. In diesen apriorischen An-
schauungen erhält der mathematische Begriff durch Construction a priori
seine anschauliche Grundlage, und in dieser apriorischen Anschauung „ent-
decke*' ich a priori jene Prädicate , die ich nun dem Subject synthetisch
hinzuzufügen das Recht habe. (Vgl. dazu Michelis, Kant 64.)
Hiezu macht Kant die Schlussbemerkung: ,, welche Urtheile aber aus
diesem Grunde nie weiter als auf Gegenstände der Sinne reichen und nur
für Objecte möglicher Erfahrung gelten können." Der logische Zusammen-
hang ist nicht recht klar: „aus diesem Grunde". Aus welchem? E2s wurde
ja vorher nichts gesagt, was diese Consequenz, die Grenzbestim mang der
Gültigkeit der mathematischen Urtheile für die Gegenstände der Sinne, haben
könnte. Uns ist ja nach allen vorhergehenden Erörterungen der Sinn wohl
klar, aber der Zusammenhang der Stelle hier hat einen Riss, der freilich
Schluss: Die Auflösung der gestellten Aufgabe. 517
[B 721. H 80. E 99.] B 73.
in Mellins Wiedergabe I, 83 gänzlich verdeckt ist, den aber Erdmann,
Kriticismns S. 189 herausgefühlt hat. Ja, der üebergang ist so schrofif, dass
man vermuthen möchte, es sei hier ein Sätzchen ausgefallen, das vielleicht
ebenfalls mit „welche'* begann, und das daher auch leicht ausfallen konnte,
und das etwa so gelautet haben müsste: „welche [reine Anschauungen], als
Bedingungen unserer Sinnlichkeit, es möglich machen, dass wir die Be-
schaffenheit der Objecte vor aller Erfahrung in Urtheilen a priori bestimmen
können, welche Urtheile aber aus diesem Grunde u. s. w. So ist der
Zusammenhang ganz nach Analogie der früheren Erörterungen ergänzt;
speciell die Stelle A 39 (vgl. oben S. 411) dient zur Parallele: „aber diese
Erkenntnissquellen a priori bestimmen sich eben dadurch (dass sie blosse
Bedingungen der Sinnlichkeit sind) ihre Grenzen" u. s. w.
Kaum bedarf es, nach den mehrfachen früheren Erläuterungen (vgl.
oben 8. 268—286. 332—342. 433—435. 466—472) noch einmal des Hin-
weises darauf, dass in den letzten Worten der Schlussanmerkung das Problem
der Anwendung der Mathematik berührt wird, während der Anfang dieser
Schlussbemerkung nur auf das Problem der reinen Mathematik zielt.
Unmerklich gleitet auch hier Kant von diesem Problem in jenes über, und
bleibt sich so in seiner unklaren Vermischung beider heterogener Probleme
unentwegt bis zum Schlüsse treu.
Anhang.
Das Paradoxon der symmetrischen Gegenstände.
Die transsc. Aesthetik in der ersten Bedaction von 1781 schloss mit
dem oben S. 466 ff. analysirten Versuche Kants, seine neue Lehre .nicht
bloss als scheinbare Hypothese", sondern als «ungezweifelte Theorie* dar-
zustellen, zu welchem Zwecke er „den Fall der synthetischen S&tze
a priori** wählte, an welchem die Gültigkeit derselben , augenscheinlich
werden kann**. Die darauf folgenden Zusätze, welche ihre Entstehung der
Redaction von 1787 verdanken, begannen wiederum mit einem Versuche
Kants, für seine „Theorie von der Idealität des äusseren sowohl als inneren
Sinnes** eine „Bestätigung** zu gewinnen durch den Gedanken, dass es sich
sowohl dort als hier um blosseVerhältnisse handle. Vgl. oben S. 473 ff.
Zwischen diese beiden Versuche von 1781 und von 1787, für seine neue
Theorie bestätigende Beweisgründe zu finden, fällt der Zeit nach ein dritter
derartiger Versuch, welchen Kant auffallenderweise nicht in die Kr. d. r. V.
selbst mit aufgenommen hat; es ist dies das bekannte „Paradoxon ahn*
lieber und gleicher, aber doch incongruenter Dinge*', welches
Kant 1783 im § 13 der Prolegomena auseinandersetzte K (VgL oben S. 280.)
Es ist gegenüber andersartigen Auslegungen der Stelle wohl zu beachten,
dass dieses Paradoxon nach Kants ausdrücklicher Erklärung die idea-
listische Theorie bestätigen soll: denn Kant beginnt seine Darlegung
der Sache mit den unzweideutigen Worten: „Diejenigen, welche noch nicht
von dem Begriffe loskommen können, als ob ßaum und Zeit wirkliche Be-
^ Erläuterndes bei M ellin I, 585—588, IV, 807-819 (mit Literatumngaben
und Figuren); Villers, Phil, de Kant I, 178; J. E. Erdmann, Gesch. d. n. Phil.
m, 1, 59; Apelt, Metaph. 73-81; K. Fischer III, 2. A. 260 ff. 325-327; 3. A,
279-282. 334-385; Dietrich, Kant u. Newton 102-107. 238-235; Riehl, Krit
I, 288. 258—264, II, a, 96—98; Harms, Phil. s. Kant 145; Cohen, System. Begr.
46-47; Ks. Th. d. Erf. 2. A, 86 f.; Luguet, Notion d'eapace 88. 114; Falckenberg,
Gesch. d. n. Phil. 263 ; Steffen, Ks. Lehre vom D. a. s. 23 ; Ritter, K. u. Home 19 ;
Caird, Phil, of Kant 164 ff., Grit. Phil. I, 164 ff. 180 ; Thiele, Die Philos, I. Kanta
I, b, 236—250. G. Cantor gab zu Schulz' Ausgabe der Prolegomena (1888)
S. 229—230 sehr zweckmässige geometrische Figuren und Erläuterungen.
Das Paradoxon der symmetrischen Gregenstände. 519
schaffenheiten wären, die den Dingen an sich selbst anhingen, können ihre
Scharfsinnigkeit an folgendem Paradoxon üben, und wenn sie dessen Auf-
lösung vergebens versucht haben, wenigstens auf einige Augenblicke von
Vorurtheilen frei, vermuthen, dass doch vielleicht die Ab Würdigung des
Baumes und der Zeit zu blossen Formen unserer sinnlichen
Anschauung Grund haben möge." An einer bis jetzt unbeachtet ge-
bliebenen Stelle der 1786 erschienenen Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. I,
Erkl. 2, Anm. 3 (Ros. V, 825) sagt Kant ausdrücklich mit Bezug auf diese
Prolegomenastelle: „Ich habe anderwärts gezeigt, dass, da sich dieser Unter-
schied zwar in der Anschauung geben, aber gar nicht auf deutliche Begriffe
bringen, mithin nicht verständlich erklären (dari, non intelligi) lässt, er einen
guten bestätigenden Beweisgrund zu dem Satze abgebe: dass der
Raum überhaupt nicht zu den Eigenschaften oder Verhältnissen der Dinge
an sich selbst, die sich nothwendig auf objective Begriffe müssten bringen
lassen, sondern bloss zu der subjectiven Form unserer sinnlichen Anschauung
von Dingen oder Verhältnissen, die uns nach dem, was sie an sich sein
mögen^ völlig unbekannt bleiben, gehöre.*' Einen so »guten bestätigenden
Beweisgrund*' müssen wir nothwendig kennen lernen. Das „Paradoxon'
lautet :
„Wenn zwei Dinge in allen Stücken, die an jedem für sich nur immer
können erkannt werden (in allen zur Grösse und Qualität gehörigen Bestim-
mungen), völlig einerlei sind, so muss doch folgen, dass eins in allen Fällen
und Beziehungen an die Stelle des anderen könne gesetzt werden, ohne dass
diese Vertauschung den mindesten kenntlichen Unterschied verursachen
würde. In der That verhält sich dies auch so mit ebenen Figuren in der
Geometrie; allein verschiedene sphärische zeigen, ohnerachtet jener völligen,
inneren Uebereinstimmung, doch eine solche [Verschiedenheit^] im äusseren
Verhältniss, dass sich eine an die Stelle der anderen gar nicht setzen lässt,
z. B. zwei sphärische Triangel von beiden Hemisphären, die einen Bogen des
Aequators zur gemeinschaftlichen Basis haben, können völlig gleich sein, in
Ansehung der Seiten sowohl als Winkel, so dass an keinem, wenn er allein
und zugleich vollständig beschrieben wird, nichts angetroffen wird, was nicht
zugleich in der Beschreibung des anderen läge, und dennoch kann einer
nicht an die Stelle des anderen (nämlich auf dem entgegengesetzten Hemi-
sphär) gesetzt werden; und hier ist denn doch eine innere Verschiedenheit
beider Triangel, die kein Verstand als innerlich angeben kann, und die
sich nur durch das äussere Verhältniss im Räume offenbart. Allein
ich will gewöhnlichere Fälle anführen, die aus dem gemeinen Leben ge-
nommen werden können. Was kann wohl meiner Hand oder meinem Ohr
ähnlicher und in allen Stücken gleicher sein als ihr Bild im Spiegel? Und
dennoch kann ich eine solche Hand, als im Spiegel gesehen wird, nicht an
die Stelle ihres Urbildes setzen; denn wenn dieses eine rechte Hand war,
so ist jene im Spiegel eine linke, und das Bild des rechten Ohres ist ein
> üeber diese Correctur vgl. Phil. Mon. XVI, 1880, S. 69.
520 Anhang. Die symmetrischen Gegenstände.
linkes, das nimmermehr die Stelle des ersteren vertreten kann. Nan sind
hier keine inneren unterschiede, die irgend ein Verstand nur denken
könnt«; und dennoch sind die Unterschiede innerlich, soweit die Sinne
lehren, denn die linke Hand kanit mit der rechten, ohnerachtet aller beider-
seitigen Gleichheit und Aehnlichkeit, doch nicht zwischen denselben Grenzen
eingeschlossen sein (sie können nicht congruiren); der Handschuh der einen
Hand kann nicht auf der anderen gebraucht werden. Was ist nun die
Auflösung?"
Die nebenstehenden im Anschluss an G. Cantor (vgl. oben S. 518
Anm.) entworfenen Figuren veranschaulichen das Gesagte.
>CL
Fig. 1. Fig. 2.
Die beiden ebenen Dreieke ahc und ahd (Fig. 1) seien der Figor
nach völlig ähnlich, der Grösse nach völlig gleich. Diese beiden Dreiecke
lassen sich zur Deckung bringen (und zwar nicht durch blosse Verschiebung
in der Ebene, sondern nur durch Umwenden um die gemeinschaftliche
Basis a\>).
Ganz anders die beiden sphärischen Dreiecke a'h'c' und a*b'd\
welche ein Stück eines Bogens des Aequators, a'b', zur gemeinschaftlichen
Basis haben (Fig. 2). Dieselben seien ^in Ansehung der Seiten sowohl als
Winkel völlig gleich", trotzdem ist es gänzlich unmöglich, diese beiden
„sphärischen Triangel" so zur Deckung zu bringen, dass der Eine ,an die
Stelle des Anderen gesetzt werden kann". (Der Grund dieser Unmöglichkeit
liegt in der Krümmung der Eugeloberfläche.)
Mit diesem Problem ist nach Kants Erklärung in den Met Anf. d.
Nat. 1. Hptst. Erkl. 2 Anm. 3 enge verwandt ein anderes, nämlich die Frage,
nach welcher Seite eine Kreisbewegung gerichtet sei? es ist das »eine
Frage, die mit der Verwandtschaft hat: worauf beruht der innere üntei^
schied der Schnecken, die sonst ähnlich und sogar gleich, aber davon eine
Species rechts, die andere links gewunden ist ; oder des Windens der Schwert-
bohnen und des Hopfens, davon die ersteren wie ein Propfenzieher, oder wie
die Seeleute es ausdrücken würden, wider die Sonne, der andere mit der
Sonne um ihre Stange laufen? ein Begriff, der sich zwar construiren,
aber als Begriff, für sich durch allgemeine Merkmale und in
Das Paradoxon und seine Auflösiing. 521
der discursiven Erkennissart gar nicht deutlich machen lÄsst, und
der in den Dingen selbst (z. B, an denen seltenen Menschen, bei denen die
Leicheneröffnung alle Theile nach der physiologischen Regel mit anderen
Menschen einstimmig, nur alle Eingeweide links oder rechts, wider die ge-
wöhnliche Ordnung versetzt fand) keinen erdenklichen Unterschied in den
inneren Folgen geben kann, und demnach ein wahrhafter mathematischer
und zwar innerer Unterschied ist, womit der von dem Unterschied zweier,
sonst in allen Stücken gleichen, der Richtung nach aber verschiedenen
Kreisbewegungen, obgleich nicht völlig einerlei, dennoch aber zusammen-
hängend ist.*'
Worin nun besteht das , Paradoxe* dieser Falle? Was ist darin
wider alle Erwartung? Zu erwarten wäre, dass Dinge, die in allen Stücken
völlig einerlei sind, insbesondere der Figur nach völlig ähnlich, der Grösse
der Ausdehnung nach völlig gleich, dass solche Dinge in allen Fällen ein-
ander substituirt werden können, ohne dass man die Vertauschung be-
merken müsste; begrifflich absolut identische Gegenstände, welche genau
dieselbe Definition ergeben, müssten einander ersetzen können, so dass der
Eine ohne Umstände an die Stelle des Anderen gesetzt werden könnte. Diese
natürliche Erwartung aber wird in gewissen Fällen getäuscht: die rechte
und die linke Hand, oder zwei sphärische Dreiecke, die einen Aequatorbogen
zur gemeinschaftlichen Basis haben, mögen in allen Stücken absolut gleich
sein; sie lassen sich trotz ihrer absolut identischen begrifflichen Definition
nicht anschaulich zwischen denselben Grenzen einschliessen. Das „Paradozon*
besteht also darin, dass zwischen begrifflich absolut identischen Gebilden
doch noch eine anschauliche Verschiedenheit bestehen kann, welche die
Congruenz verhindert. Dies ist wider die Erwartung, dies ist ein Räthsel.
„Was ist nun die Auflösung?* Sie lautet Proleg. § 13:
(1) „Diese Gegenstände sind nicht etwa Vorstellungen der Dinge, wie
sie an sich selbst sind und wie [sie] der pure Verstand erkennen würde,
sondern es sind sinnliche Anschauungen, d. i. Erscheinungen, deren Möglich-
keit auf dem Verhältniss gewisser an sich unbekannter Dinge zu etwas
Anderem, nämlich unserer Sinnlichkeit beruht. (2) Von dieser ist nun der
Baum die Form der äusseren Anschauung und die innere Bestimmung eines
jeden Raumes ist nur durch die Bestimmung der äusseren Verhältnisse zu
dem ganzen Räume, davon jeder ein Theil ist (dem Verhältniss zum äusseren
Sinn), d. i. der Theil ist nur durchs Ganze möglich, welches bei Dingen an
sich selbst, als Gegenständen des blossen Verstandes niemals, wohl aber bei
blossen Erscheinungen stattfindet. (3) Wir können daher auch den Unter-
schied ähnlicher und gleicher, aber doch incongruenter Dinge (z. B. wider-
sinnig gewundener Schnecken) durch keinen einzigen Begriff verständlich
machen, sondern nur durch das Verhältniss zur rechten und linken Hand,
welches unmittelbar auf Anschauung geht.*
Wenn wir diese Stelle, die aus drei Sätzen besteht, welche wir der
Uebersichtlichkeit halber mit Ziffern versehen haben, zusammenhalten mit
dem oben S. 519 aus den Met. Anf. d. Nat. mitgetheilten Passus, so erhalten
522 Anhang. Die symmetrischen Gregenstände.
wir folgenden Sinn: der erste Satz sagt, dass wir es bei den in Frage
stehenden ähnlichen und gleichen and doch incongmenten Gegenständen nicht
mit Dingen an sich zu thun haben: , Dinge an sich selbst*', „wie sie der
pure Verstand erkennen würde' ^ smüssten sich noth wendig auf objective
Begriffe bringen lassen'', d. h. wir müssten bei Dingen an sich als Objecten
des Verstandes im Stande sein, sie derartig zu definiren, dass wir auch die-
jenige Verschiedenheit derselben, welche ihre Congruenz hindert, begrifflich
fassen und formuliren könnten. Diejenige Eigenschaft, durch welche nun jene
Gegenstände trotz ihrer Aehnlichkeit und Gleichheit doch an der Congruenz
verhindert werden, kann also nicht eine „objective'' Eigenschaft derselben
sein — denn eine solche müsste eben dem .puren Verstände' zugänglich
sein, sondern es kann sich dabei nur um eine subjective Bestimmung han-
deln, welche auf dem Verhältniss jener Dinge zu unserer Sinnlichkeit beruht,
m. a. W. jene Gegenstände können keine Dinge an sich, sondern müssen
Erscheinungen sein. In dem Gebiet derjenigen Dinge, die nur Sache des
„puren Verstandes' sind, d. h. der Dinge an sich, müssten Gegenstände, die
den Verstand als völlig identisch erklärt, einfach congruent sein. Das in-
congruente Verhalten absolut ähnlicher und gleicher Gegenstände weist also
darauf hin, dass wir es dabei nur mit Erscheinungen zu thun haben, die
nicht Sache des Verstandes, sondern der Sinnlichkeit sind.
Der zweite Satz spinnt diesen Gedanken weiter, aber mit einem
bemerkenswerthen Zusatz, welcher die bisherigen negativen Bestimmungen
durch eine positive Beobachtung ergänzt; diese aber ist sehr gedrängt
ausgedrückt, so dass der Sinn des Satzes nur durch Ergänzungen zu eruiren
ist, welche aus der unten zu erwähnenden Schrift von 1768 stillschweigend
herübergenommen werden müssen: die innere Verschiedenheit der in Frage
stehenden Gegenstände, welche trotz absoluter Aehnlichkeit und Gleichheit
nicht zur Congruenz zu bringen sind, beruht auf ihrem äusseren Verhält-
nisse zum absoluten Baume; sie sind Theile des ganzen Baumes, und das
verschiedenartige Verhältniss des Theiles zum Ganzen bedingt jene Vel^
schiedenheit der ähnlichen und gleichen und doch incongruenten Gegenstände.
Somit sind hier die Theile durch das Ganze bedingt und bestimmt, und das
gilt überhaupt von allen Baumtheilen: sie sind bedingt durch ihr Verbllt-
niss zum ganzen Baum, resp. da dieser mit der Form der äusseren An-
schauung identisch ist, zum äusseren Sinn. Ein solches Verhältniss ist nun
bei Dingen an sich selbst nicht statthaft: ein Ding an sich ist eben unbe-
dingt, und ist nicht erst als Theil eines Ganzen erst durch dieses bedingt.
(Anders, aber zweifellos falsch Mellin IV, 814 f.) Wo also ein solches Ver-
hältniss — Ermöglichung des Theiles durch das Ganze — stattfindet, kann
es sich nicht um Dinge an sich handeln, sondern nur um Erscheinungen.
* Ueber diese archaistische Wendung vgl. oben S. 354. 417. 453. Diese
archaistische Voraussetzung ist vielleicht der Grand, weshalb Kant das „Paradoxon^
nicht in die Kr. d. r. V. aufgenommen hat, in welcher jene Voraussetzung freilich
auch nicht consequent vermieden ist. Vgl. hierüber noch imten S. 528.
Die symmetrischen Gegenstände in der Dissertation von 1770. 528
Der dritte und letzte Satz der „Auflösung' zieht eine Consequenz aus
dem Bisherigen: der unterschied ähnlicher und gleicher, aber doch incon-
gruenter Dinge lässt sich (wie aus dem ersten Satz folgt) durch keinen
Begriff verständlich machen, sondern geht (wie aus dem zweiten Satze
folgt) unmittelbar auf Anschauung; er lässt sich, wie Kant sich in den
Met. Auf. d. Nat. so treffend ausdrückt, nur dari, non intelligi. Auf
diese Weise ist nun also eben jene paradoxe Thatsache erklärt, dass be-
grifflich Identisches doch noch anschaulich verschieden sein kann.
Eine ganz andere methodische Rolle spielte nun aber jene paradoxe
Thatsache in der Dissertation von 1770: da wird sie überhaupt nicht
als etwas Paradoxes und zu Erklärendes hingestellt, sondern da findet
sich das Beispiel der ähnlichen und gleichen und doch incongruenten Gegen-
stände im § 15 c, als einer der Beweise für den Satz: Cancepius spatii est
intuitus purus, cum sit canceptus singülaris. Neben anderen Beweisen
dafür, dass die Mathematik nicht mit Begriffen operire, sondern der An-
schauung bedürfe, heisst es da: Qitae jaceant in spafio dato unam plagam ver-
sus ^ quae in opposilam vergant, discursive describi s. ad notas inteUectuales
revocari nulla mentis acte posaunt, ideoque ci4m in solidis perfecte similUms
atque aequalxbus, sed discongruentibtis , cujus generis sunt manus sinistra et
dextra {quatenus solum secundum extensionem concipiunttcr) aut triangula sphae-
rica e duohus hemisphaeriis oppositis, sit diversitas, per quam impossibüe est,
ut termini extensionis coincidant, quanquam per omnia, quae notis menti per
sermonem inteUigibilibus efferre licet, sibi substitui possint, patet hie: nonnisi
quadam intuitione pura diversitatem, nempe discongruentiam, notari passe.
Dass das Beispiel der incongruenten Gegenstände hier nicht als Beweis für
die Idealität der Räumlichkeit dienen soll, ergibt sich ja auch daraus, dass
in demselben § 15 erst nachher, unter D, die These bewiesen wird: spa-
tium non est aliquid objectivi et realis, sed subjectivum et ideale. Wir können
die Differenz von 1770 und 1783 hierin auch so formuliren: 1770 wird das
Beispiel der incongruenten ^^genstände nur für den Gedanken verwendet,
dass der Raum eine reine Anschauung sei, 1783 dagegen dafür, dass
er Form der Anschauung sei (vgl. über diesen wichtigen Unterschied
und seine Verwechslung durch Kant oben S. 273. 279 f. 470). Im Jahre 1770
wurde das Beispiel also in einem viel harmloseren Sinne angewendet: nicht
gegen die Realität des Raumes, sondern nur gegen die Lehre, der Raum sei
ein Begriff.
Wiederum anders ist das Verhältniss der Prolegomenastelle zu dem
bekannten, vielbesprochenen Aufsatz von 1768: „Von dem ersten Grunde
des Unterschiedes der Gegenden im Räume." In diesem Aufsatz
wirft Kant dasselbe Problem auf, aber er gibt eine ganz andere Lösung
desselben. Er weist erstens dasselbe Problem* auf, und verwendet dazu
* Es ist wohl zu beachten, dass Kant das Problem in dem Aufsatz von 1768
verquickt hat mit einem damit nur scheinbar verwandten Umstand, nämlich, dass wir
zur Orientirung „des Gefühls der rechten und linken Seite' bedürfen. (Vgl. dazu
524 Anhang. Die symmetrischen Gegenstände.
fast durchaus dieselben Beispiele: die sphärischen Dreiecke, die Hand und
ihr Bild im Spiegel, die rechte und die linke Hand; ausserdem findet sich
daselbst folgendes treffende Beispiel: «Ein Schraubengewinde, welches um
seine Spindel von der Linken gegen die Rechte geführt wird, wird in eine
solche Mutter niemals passen, deren Gänge von der Rechten gegen die Linke
laufen ; obgleich die Dicke der Spindel und die Zahl der Schraubeng&nge in
gleicher Höhe einstimmig wären.' «Doch das gemeinste und klarste Bei-
spiel haben wir an den Gliedmassen des menschlichen Körpers, welche gegen
die Vertikalfläche derselben symmetrisch geordnet sind. Die rechte Hand
ist der linken ähnlich und gleich, und wenn man bloss auf eine derselben
allein sieht, auf die Proportion der Lage der Theile unt«r einander und
auf die Grösse des Ganzen, so muss eine vollständige Beschreibung der
einen in allen Stücken auch von der anderen gelten. — Ich nenne einen
Körper, der einem anderen völlig gleich und ähnlich ist, ob er gleich nicht
in denselben Grenzen kann beschlossen werden, sein incongruentes Gegen-
stück." Es existirt somit „die Möglichkeit völlig ähnlicher
und gleicher und doch incongruenter Räume*. , Eis ist schon aus
dem gemeinen Beispiele beider Hände offenbar, dass die Figur eines Körpers
der Figur eines anderen völlig ähnlich und der Grösse der Aasdehnung
ganz gleich sein könne, so dass dennoch ein innerer Unterschied übrig
bleibt, nämlich der, dass die Oberfläche, die den einen beschliesst, den
anderen unmöglich einschliessen könne. Weil diese Oberfläche den körper-
lichen Raum des Einen begrenzt, die dem Anderen nicht zur Grenze dienen
kann, man mag ihn drehen und wenden wie man will, so muss
diese Verschiedenheit eine solche sein, die auf einem inneren Grunde beruht.
Dieser innere Grund der Verschiedenheit aber kann nicht auf die unter-
scheidende Art der Verbindung der Theile des Körpers unter einander an-
kommen; denn wie man aus dem angeführten Beispiele sieht, so kann in
Ansehung dessen Alles völlig einerlei sein. Gleichwohl wenn man sich vor-
stellt, das erste Schöpfungsstück solle eine Menschenhand sein, so ist es noth-
wendig entweder eine rechte oder eine linke und um die eine herrorzn-
bringen, war eine andere Handlung der schaffenden Ursache nöthig, als die,
wodurch ihr Gegenstück gemacht werden konnte. ' Dieser Unterschied lässt
sich eben nicht begrifflich bestimmen, es beruht nicht auf dem begrifflich
bestimmbaren Verhältniss der Theile zu einander, sondern «lässt sich nur
auch Phys. Geogr. § 71.) Später hat Kant richtiger beides getrennt: das Problem
der symmetrischen Körper findet sich in den ProUgomena (1783) nnd in den
Met. Anf. d. Naturw. (1786), das Problem der Orientirung behandelt der Auf-
satz von 1786: ,Was heisst sich im Denken orientiren?" Dort handelt es sich
darum, dass die Unterschiede symmetrischer Gegenstände nur durch die Beziehung
auf den absoluten Raum zu erklären sind, hier darum, dass wir diese Unterschiede,
wie überhaupt die Unterschiede von rechts und links nur durch die Beziehung auf
unseren Körper beurtheilen. Doch hat Kant auch in dem dritten Satz der oben
mitgetheilten Prolegomenastelle Beides wieder in einen allerdings losen Zusammen-
hang gebracht.
Dasselbe Problem, aber eine andere Lösung im Jahre 1768. 525
durch die Gegenhaltung*' der sich so verhaltenden Körper d. h. in der An-
schauung „vernehmen''; es lässt sich nur „unmittelbar wahrnehmen''
(vgl. Comm. I, 274).
Aus diesen Anführungen erhellt, dass es sich 1768 genau um dasselbe
Problem handelt wie 1783. Wie aber verhält es sich nun zweitens mit
der Lösung? Dieselbe besteht in folgenden Gedanken: „Die Lagen der
Theile des Raumes in Beziehung auf einander setzen die Gegend voraus,
nach welcher sie in solchem Verhältniss geordnet seien, und im abgezogensten
Verstände besteht die Gegend nicht in der Beziehung eines Dinges im Baume
auf das andere, welches eigentlich der Begriff der Lage ist, sondern in dem
Verhältnisse des Systems dieser Lagen zu dem absoluten Welträume.
Bei allem Ausgedehnten ist die Lage seiner Theile gegen einander aus ihm
selbst hinreichend zu erkennen ; die Gegend aber, wohin diese Ordnung der
Theile gerichtet ist, bezieht sich auf den Raum ausser demselben und zwar . . .
auf den allgemeinen Raum als eine Einheit, wovon jede Aus-
dehnung wie ein Theil angesehen werden muss". »Der voll-
ständige Bestimmungsgrund einer körperlichen Gestalt beruht nicht lediglich
auf dem Verhältniss und der Lage seiner Theile gegen einander, sondern
noch überdem auf einer Beziehung gegen den allgemeinen, abso-
luten Raum, so wie ihn sich die Messkünstler denken." Kant will
eben „selbst den Messkünstlern einen überzeugenden Grund an die Hand
geben, mit der ihnen gewöhnlichen Evidenz die Wirklichkeit ihres
absoluten Raumes behaupten zu können". Er will einen „evidenten
Beweis" geben, „dass der absolute Raum unabhängig von dem Dasein der
Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammen-
setzung eine eigene Realität habe". „Ein nachsinnender Leser wird daher
den Begriff des Raumes, so wie ihn der Messkünstler denkt, nicht
für ein blosses Gedanken ding halten." Aus alledem erkennt man leicht,
dass Kant in dem damals tobenden Streit der Anhänger von Newton und
von Leibniz (vgl. über denselben und die Stellung der Abhandlung von
1768 zu demselben oben 8. 425. 436) sich auf die Seite der Ersteren stellt
und denselben eben einen „evidenten Beweis" zugeführt zu haben glaubt.
Dem Leibniz'schen Raumbegriff gibt er eine ebenso unzweideutige als ent-
schiedene Absage (vgl. oben S. 425): er wendet sich gegen „denjenigen Be-
griff des Raumes, der aus der Abstraction von dem Verhältnisse wirklicher
Dinge entspringt" (vgl. dazu oben S. 416 ff.); auch die folgende Bemerkung
wendet ihre Spitze offenbar gegen Leibniz: „Die Bestimmungen des Raumes
sind nicht Folgen von den Lagen der Theile der Materie gegen einander,
sondern diese sind Folgen von jenen ; in der Beschaffenheit der Körper können
also Unterschiede angetroffen werden , und zwar wahre Unterschiede , die
sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen [reinen]
Raum beziehen, weil nur durch ihn das Verhältniss körperlicher Dinge mög-
lich istj* Und mit Bezug auf die oben S. 524 erwähnte fictive Aufgabe,
„das erste Schöpfungsstück solle eine Menschenhand sein", heisst es endlich
deutlichst: „Nimmt man den Begriff vieler neueren Philosophen, vornehmlich
526 Anhang. Die symmetriBchen Gegenstände.
der deutschen an [vgl. dazu oben S. 425], dass der Baum nur in dem äus-
seren Verhältnisse der neben einander befindlichen Theile der Materie besteht,
so würde aller wirkliche Raum in dem angefahrten Falle nur derjenige
sein, den diese Hand einnimmt. Weil aber gar kein unterschied in dem
Verhältniss der Theile derselben unter sich stattfindet, sie mag eine rechte
oder linke sein, so würde diese Hand in Ansehung einer solchen Eigen-
schaft gänzlich unbestimmt sein, d. h. sie würde auf jede Seite des mensch-
lichen Körpers passen, welches unmöglich ist.''
Man wird auf den ersten Blick geneigt sein, das ürtheil ganz zu theilen,
welches schon häufig ausgesprochen worden ist\ so von v. Eirchmann
in seinen Erläuterungen zu diesem Aufsatz (S. 116), sowie zu den Prole-
gomena (S. 31): Kant habe mit dem Beispiel der symmetrischen Gegenstände
beidemal gerade „das Entgegengesetzte" beweisen wollen, 1768 die Realität,
178ä die Idealität des Raumes. So einfach ist jedoch das Verhältniss der
beiden Beweisgänge nicht; noch weniger aber trifft das Urtheil von Zöllner
zu (auf das freilich überhaupt kaum etwas zu geben ist), Kant habe beide-
mal 9 vollkommen dieselbe Ueberzeugung*' ausgesprochen (Wissensch. Abbandl.
1878, I, 225, vgl. II, 812, III, 587 ff. gegen A. Krause, Kant und Helm-
holtz S. 40). Es wurde schon oben S. 522 darauf hingewiesen, dass eine
Stelle der Argumentation von 1783 nur verständlich sei durch Erinnerung
an die Schrift von 1768: es war das der Gedanke, dass die Bestimmung der
Unterschiede symmetrischer Gegenstände in Bezug auf die Richtung derselben
nur möglich sei durch Beziehung auf den ganzen Raum: „der Theil ist
nur durchs Ganze möglich''. In der That ist dieser Gedanke beiden Dar-
stellungen, der von 1768 und der von 178B, gemeinsam; die körperlichen
Dinge als Theile sind nur möglich durch den , allgemeinen Raum als eine
Einheit, wovon jede Ausdehnung wie ein Theil angesehen werden muss'.
Diese Wendung von 1768 ist nun aber durchaus identisch mit dem vorletzten
Raumargument in der Kr. d. r. V. (vgl. oben S. 215 ff. 230). Und wenn femer
1768 gesagt wird, der absolute Raum sei der erste Grund der Möglichkeit
der Materie, so kehrt auch diese Wendung in der kritischen Periode im
zweiten Raumargument wieder (vgl. oben S. 195). Gemeinschaftlich ist also
der vorkritischen Schrift von 1768 und der kritischen Zeit die Auffassung.
dass der Raum als Ganzes seinen Theilen vorhergeht und dieselben erst
möglich mache. Dies soll das Beispiel der symmetrischen Gegenstände
beidemal beweisen; auf diesen gemeinsamen Kern der beiden Argumen-
tationen hat auch richtig schon Riehl, Krit. I, 262 f., 347 f. (vgl. oben
S. 176. 195 U.432) hingewiesen. Erst von hier an nun gehen die beiden Beweis-
gänge auseinander: 1768 schliesst Kant aus jenem Verhältniss des Raumes
zu seinen Theilen auf seine Realität im Sinne von Newton und Clarke;
1783 dagegen wird geschlossen, dass ein solches Verhältniss zwischen Theil
und Ganzem nicht bei Dingen an sich^ sondern nur bei Erscheinungen statt-
' Auch Cohen, Systematische Begriffe Ks. S. 47 behauptet eine «totale
Veränderung des Standpunktes". Ebenso H. Wolff, Spec. u. Phil, l, 40.
Einwände. 527
finden könne, dass die betreffenden GegeQstände nebst dem Baume, in welchem
sie sich befinden, also bloss ideell seien. Trotz jenes gemeinsamen Eemes
ist nun aber diese Differenz so fundamental, dass sie von selbst die Kritik
herausfordert: der Einwand liegt nahe, dass ein Fall, welcher in so ent-
gegengesetzter Weise von einem und demselben Autor ausgebeutet
wurde, für die betreffende Frage überhaupt nichts beweist und weder für
noch gegen die Realität des Baumes ins Feld geführt werden kann. Be-
sonders y. Kirchmann hat (a. d. a. 0.) diesen auch ganz berechtigten Ein-
wand gemacht.
Aber auch abgesehen von diesem naheliegendem argumentum ad
hominem sind gegen Kants Argumentation von 1783 schwere Bedenken laut
geworden. Besonders BoUiger; Anti-Kant 382, kann, wie schon y. Kirch-
mann in den Erl. z. d. Proleg, S. 29. 31, nicht yerstehen, „wie uns Kant
einreden will, dass seine Baumlehre yon selbst für jenes Bäthsel eine Er-
klärung abgebe, da es doch im Idealismus der Auflösung bedürfte, wie im
Bealismus. Wenn nun auch Hände, Handschuhe und Triangel blosse Er-
scheinungen und nicht Dinge sind, ist es darum um Haaresbreite weniger
scandalös, dass das, was gar keine unterschiede hat, nicht zusammenstimmen
will?" Auch Massonius, Ks. Aesthetik, S. 43, yermisst jede „logische Ver-
bindung zwischen dem Umstände, dass die symmetrischen Figuren nicht
einander decken, und der transscendentalen Idealität des Baumes".
Im Gegentheil finden Andere in jenem Beispiele einen Beweis für die
Bealität des Baumes. So Gauss an einer bekannten Stelle yom 15. April 1831
(W. W. II, 177): „Dieser Unterschied zwischen rechts und links ist, sobald
man yorwärts und rückwärts in der Ebene, und oben und unten in Be.
Ziehung auf die beiden Seiten der Ebene einmal (nach Gefallen) festgesetzt
hat, in sich yöllig bestimmt, wenn wir gleich unsere Anschauung dieses
Unterschiedes Anderen nur durch Nachweisung an wirklich yorhandenen
materiellen Dingen nachweisen können". Dazu die Anmerkung: „Beide Be-
merkungen hat schon Kant gemacht, aber man begreift Dicht, wie dieser
scharfsinnige Philosoph in der ersteren einen Beweis für seine Meinung,
dass der Baum nur Form unserer äusseren Anschauung sei, zu finden
glauben konnte, da die zweite so klar das Gegentheil, und dass der Baum
unabhängig yon unserer Anschauungsart eine reelle Bedeutung haben
muss, beweist." Diese Bemerkungen yon Gauss sind in dieser Form leider
zu kurz, als dass man sie discutiren könnte. Was J. C. Becker, Abhandl.
a. d. Grenzgebiet d. Math. u. Phil. 1870, S. 5 — 16, sowie Zöllner, Wiss.
Abb. I, 227 gegen Gauss y orbringen, ist nicht yon Werth.
Indessen wird nicht bloss, wie yon den eben genannten Autoren,
Kants Schluss mit Becht angegriffen, sondern es wird auch mit Fug die
Voraussetzung desselben in Anspruch genommen: jener Unterschied lasse
sich gar nicht begrifflich definiren, sondern nur anschaulich construiren.
Schon Tiedemann in den Hessischen Beyträgen z. Gel. 1784, 1. St. hat
dagegen opponirt; besonders treffend hat K. Chr. Fr. Krause in seinen
Göttinger Vorlesungen (1827 — 1829): Zur Geschichte der neueren philos.
528 Anhang. Die symmetrischen Gegenstände.
Systeme (veröffentl. 1889) S. 103—104 gezeigt, dass ein ganz wohl zn be-
schreibender „qualitativer Gegensatz hier obwalte*'. Schon „ Aristoteles
habe das Prädicamentum : Sütis ganz richtig unterschieden''. Denselben
Nachweis liefert dann v. Kirchmann a. a. 0. S. 29: „Wenn Kant be-
hauptet, dieser Unterschied sei nicht durch den Verstand anzugeben, so
kann derselbe doch deutlich genug dadurch bezeichnet werden, dass die
Gestalt der Hände u. s. w. eine symmetrische genannt wird, d. h. die an
diesen Händen bestehenden Unterschiede in der Gestalt sind, einzeln genom-
men, einander in beiden Händen gleich ; diese Unterschiede folgen sich aber,
von einem Punkte zwischen ihnen aus gerechnet, in entgegengesetzten Rich-
tungen. Hiermit ist der Unterschied beider Hände in begrifflichen Bestim-
mungen wirklich angegeben. '^ Aehnlich auch Schmitz-Dumont, Zeit und
Raum, 1875, S. 54 — 57; ferner auch Bolliger, Anti-Kant 383, Mas so-
tt ins, Aesth, 46, Thiele, Phil. Ks. I, b, 247 — 248, welcher, wie auch
schon V. Kirchmann, richtig ausführt, dass die symmetrische Anordnung
keineswegs den absoluten Raum voraussetze, sondern nur eine feste Mittel-
linie zwischen den betreffenden Gegenständen.
Es lässt sich aber gegen Kants Beweisgang von 1783 auch noch geltend
machen, dass derselbe vom Kantischen kritischen Standpunkt aus selbst als
hinfällig erscheint. Wie schon oben S. 522 Anm. bemerkt wurde, beruht
ja die ganze Argumentation von 1783 (und 1786) auf der Voraussetzung,
die Dinge an sich seien j, Gegenstände des blossen Verstandes". Nur auf
Grund dieser Voraussetzung hat ja Kant daselbst aus dem Vorhandensein
begrifflich identischer und doch anschaulich nicht congruirender Gegenstände
auf deren Idealität geschlossen. Jene Voraussetzung ist ja aber das Wider-
spiei des Kantischen Kriticismus und ein archaistischer Rückfall in den
Dogmatismus. So wird also durch diese immanente Kritik, noch ohne jeg-
liche sachliche Erwägung, der ganze Beweiswerth des berühmten Argumentes
auf Null reducirt. Ausserdem erhebt sich die Frage, was es denn eben von
dem kritischen Standpunkte aus heissen solle, wenn Kant sagt: »hier ist
denn doch eine innere Verschiedenheit beider Triangel, die kein Verstand
als innerlich angeben kann" „und demnach sind die Unterschiede innerlich,
soweit die Sinne lehren''. Nach Kants sonstigen Lehren, die wir hinreichend
kennen gelernt haben, handelt es sich ja doch bei den mathematischen Be-
stimmungen nicht um begriffliche Merkmale, sondern um rein anschauliche;
also fragt es sich doch gar nicht, ob der Verstand jenen Unterschied
auffinden, sondern ob derselbe sich anschaulich angeben Iftsst; das aber
ist nach Kants eigenen Erklärungen der Fall. Damit fällt ja aber alles
hinweg, was den Fall vom Kantischen Standpunkt aus zu einem , Para-
doxon" machen könnte.
So macht denn die ganze Stelle den Eindruck, als ob sie aus Gedanken-
gängen bestünde, welche aus älterer Zeit stammen und noch halb auf dog-
matischem Boden stehen; vgl. oben S. 505 N. Schon G. E. Schulze in
seiner Kritik d. theor. Phil. (1801), II, 225 (vgl. I, 229) bemerkt: .diese Be-
stätigung möchte denjenigen allenfalls wohl in Verlegenheit setzen können,
Verh<niss zum Leibniz'schen Principiutn identitatis indiscernibilium, 529
der etwa die Erkenntniss der Dinge an sich mit Leibnizen aaf die deut-
lichen Begriffe des Verstandes einschränkte.* Damit hat Schulze ganz richtig
das punctum saliens und zugleich den Fehler des ganzen Argumentes erkannt.
Dies fuhrt uns nun auch auf die Entstehung des seltsamen Argu-
mentes. Schon K. Fischer hat auf den Zusammenhang des Argumentes
mit dem Kampf Kants gegen das Leibniz'sche Principiutn identitatis indis'
cemibilium hingewiesen. Die betreffenden Ausfuhrungen von Fischer (2. A. 326,
3. A. 335) sind allerdings tbeilweise sehr unzutreffend; insbesondere hat
Fischer nicht gesehen, dass es sich zunächst bei dem principium identitatis
indiscernibilium um etwas anderes handelt; das Leibniz'sche Princip besagt:
begrifflich Identisches (Ununterscheidbares) muss auch numerisch iden-
tisch sein, d. h. eben, es gibt nicht zwei (oder mehrere) Gegenstände,
welche qualitativ und quantitativ absolut dieselben Eigenschaften hätten.
Hier aber handelt es sich ja nur darum, dass begrifflich identische Gegen-
stände eigentlich auch geometrisch zur Deckung müssten gebracht werden
können; die Forderung ist also hier: begrifflich Identisches (Nicht-mehr-
Unterscheidbares) muss geometrisch congruent sein. Der erstere Satz
möchte die Mehrheit begrifflich ununterscheidbarer Gegenstände ganz aus-
schliessen; der zweite dagegen lässt diese Mehrheit ruhig zu und verlangt
nur, dass solche Gegenstände müssten vertauscht werden können.
Trotz dieser Verschiedenheit besteht zwischen Beidem ein naher Zu-
sammenhang: im Kampf gegen das principium identitatis indiscemibüium ver-
wendet Kant dasselbe Argument, wie Prot. § 13 zur Erklärung des Para-
doxon: wie er dort zugibt,, dass das Leibniz'sche Princip im Gebiet der
, Dinge an sich selbst als inteüigibilia d. i. der Gegenstände des reinen Ver-
standes'' gelte, nicht aber im Gebiet der anschaulichen Erscheinungen, ^so
erklärt er auch Prot. § 13, dass jene Forderung, begrifflich Identisches müsste
auch geometrisch congruent sein, bei , Dingen an sich selbst als Gegen-
ständen des puren Verstandes" zutreffen müsse; da sie nicht zutreffe, habe
man es eben nicht mit solcben, sondern mit anschaulichen Erscheinungen zu
thun. Der Abschnitt: , Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe'', woselbst
Kant jenen Kampf gegen das Leibniz'sche Princip führt (A 263 ff., B 319 ff.),
der daselbst auch eingehender wird zu besprechen sein, wird sich nun als
einer der frühesten der ganzen Kr. d. r. V. herausstellen. Aus dieser Zeit
muss auch jene Argumentation der Prolegomena stammen, welche also Kant
nur der , Popularität" halber (vgl. Comm. I, 141. 143) aus älterer Zeit
ohne viele Scrupel in jene Erläuterungsschrift aufnahm, während er sie
nicht der Aufnahme in die Hauptschrift würdigte, in deren „erstem Entwürfe"
(Gomm. I, 138 ff.) sie aber wohl gestanden haben mag.
Der Zusammenhang des Argumentes mit dem Kampf gegen das prin-
cipium identitatis indiscemibüium wird übrigens auch erwiesen durch die
wörtlichen üebereinstimmungen der Prolegomenastelle , besonders aber des
lateinischen Textes der analogen Stelle der Dissertation (§ 15 C) mit der
Stelle der Nova Dilucidatio, Sect. II, Prop, XI, wo jenes Princip schon be-
kämpft wird {„perfecte similia*\ „intemae notae" „diversitas^*, congruere"),
Valhinger, Kant-Commentar. n. 34
530 Anhang. Die symmetriBchen Gegenstände.
Beim Kampf gegen jenes Princip ist Kant also wobl auch auf diesen eigen-
artigen Fall gestossen.
Dieser historische Zusammenhang lässt sich übrigens noch weiter zn-
rückverfolgen : in dem Streit zwischen Leibniz nnd Olarke waren
nämlich schon ganz ähnliche Fragen zur Spracbe gekommen \ Leibniz
hatte II, 1 sein Principe de la raison süffisante aufgestellt; Clarke erwidert
n, 1: dafür, dass von zwei ganz gleichen Körpern der eine an den einen
Ort, der andere an einen anderen gestellt werde, sei die einzige raison süffi-
sante la simple volonU de Dieu. Leibniz hält III, 5 (7) eine solche Wahl für
y chimärisch'; anch die Voraussetzung von Clarke, der Baum sei etwas Ab-
solutes, sei falsch ; wäre der Baum etwas Absolutes, so liesse sich nicht ein-
sehen: pourquoi tout n*a pas iU pris ä rebours (par exemple), par tm
iehange de VOrient ei de VOccident. Mais si VEspace t/est autre chose que
cet ordre ou rapport et West rien du tout sans les corps . . . , ces deux itaU,
Vun tel qu'il est, V autre supposi ä rebours, ne diffireroient point entre eux,
Clarke erwidert III, 2 (5, 7, 8): Supposi que Vespace ne fütt rien de rM,
mais seulement un simple ordre des corps, la volonti de Dieu ne laisseroit pas
d^Hre la seule possible raison pour Ictqueüe trois partiades 4gales auroieni iU
plaeSes ou rangSes dans Vordre Ä, B, C, plutöt que dans un ordre con-
traire. Nun entwickelt Leibniz IV, 3 — 6 sein Principe de VldentiU des indis-
cemables: es gebe eben keine solchq particules Sgales; denn sonst würde Gott
eben sans raison süffisante handeln; bei der Uniformität des Raumes könne
der Grund der Entscheidung Gottes für die eine oder andre Disposition nur
in inneren Unterschieden liegen, IV, 18. 19. Clarke IV, 1—6. 18. 19,
bekämpft dieses Princip; es gebe eben absolut gleiche einfache Körper;
wenn Gott mehrere derselben zusammenstellt, ü auroit pu avec la mime
facäitS les placer ä rebours ... Le mSme raisonnement a lieu aussi par
rapport ä la premih'e dStermination du mouvement d'un certain cdtS, ou du cM
opposL Leibniz antwortet darauf sehr gereizt, V, 16 — 20. 21 — 25. 26 — 32.
66 — 71, während Clarke auf diese gereizte Antwort sehr ruhig erwidert.
Dass Kant durch diese Controverse zwischen Leibniz ' und Clarke
direct auf sein Beispiel der symmetrischen Gegenstände gefuhrt worden
ist, kann wohl mit Sicherheit angenommen werden'. Er hat diese 1715 bis
^ Dass dieser Streit auf Kant stark eingewirkt habe, wurde schon oben
S. 133. 414. 436. 505 plausibel gemacht.
' Leibniz hat das Problem der congruenten resp. incongruenten Figuren
auch sonst gelegentlich berührt, so Mathem. Sehr. her. v. Pertz, V, 144. 155. 172 €.
178 ff. (Änalysis Situs), VII, 263 ff. 275 ff. — üebrigens scheint auch schon Demo-
krit auf die Sache aufmerksam geworden zu sein : er lässt nach Aristoteles' Zeug-
nisB, Metaph. I, 4, die Atome sich unterscheiden diftd-iY^, was Aristoteles durch
'zdiii wiedergibt und zugleich erläutert durch die verschiedene Stellung von AN
und NA. Vgl. Zeller, Die Philos. d. Griechen I, 5. A. S. 855 Anm. 1 (1892).
' Natürlich werden noch weitere Einflüsse mit eingewirkt haben, welchen
schwerlich mehr nachzuspüren ist. Auch Euler hat in seiner von Kant selbst 1768
citirten Abhandlung von 1748 : Riflexiona sur Vespace et le tems {Acad, BerL 1750),
Der Streit zwischen Leibniz und Glarke. — Zöllneriana. 531
1716 geführte Debatte 1768 mit Geschick weiter geführt, nnd hat das von
ihm erweiterte Beispiel der symmetrischen Anordnung gewisser Gegen-
stände der Leibniz^schen Baumtheorie glücklich entgegengehalten , besonders
in dem fictiven Postulat der Schöpfung einer Menschenhand, das sich ganz
an Clarke's Einwände gegen Leibniz anschliesst. Während er sich aber 1768
ganz auf die Seite von Glarke resp. Newton stellte, hat er 1770 diesen
Standpunkt gegen seinen Idealismus vertauscht, für den er dann 1788 jenes
Beispiel in sehr unglücklicher Weise ins Feld führte.
Ein merkwürdiges Nachspiel hat das Kantische , Paradoxon '^ in neuester
Zeit erlebt. Fr. Zöllner hat, bei seinen an Gauss, Biemann, Helmholtz u. s. w.
sich anschliessenden Studien über die Natur des Baumes resp. über die Möglich*
keit Nicht-Euklidischer Bäume, diese „von Kant entdeckte geometrische An-
tinomie' durch die Annahme einer vierten Dimension zu lösen gesucht. (Vgl.
oben S. 347 Anm.; vgl. auch S. 267 und S. 423.) In den „Principien einer
electrodynamischen Theorie der Materie*, I, 1876, Vorr. 70 ff., 78 f. fuhrt
er Folgendes aus: Zwischen begrifflich identisch definirten räumlichen Ge-
bilden dürfe auch anschaulich kein UnterscMed mehr existiren; bei sym-
metrischen Gebilden in der Ebene lasse sich nun jener Widerspruch zwischen
den Anforderungen des Denkens und den Leistungen der Anschauung heben
durch umklappen d. h. durch Heraustreten aus der Ebene in die dritte Dimen-
sion (durch y Drehen und Wenden'^, wie Kant sagt, oben S. 524); bei der
Symmetrie körperlicher Figuren, bei denen derselbe Widerspruch stattfindet,
sei nun eine solche Umwendung nicht möglich, denn dazu müssten wir
einen Baum haben, der eine Dimension mehr habe, als der unsrige; eine
solche vierte Dimension müsse nun aber der reale Baum haben, — denn
sonst bliebe jene Antinomie ungelöst — unsere subjective Baumanschauung
sei aber in ihrer Unvoll kommenheit auf dem dreidimensionalen Baume stehen
geblieben; die Welt der Kantischen Dinge an sich (identisch mit der Welt
der Platonischen Ideen) sei eine vierdimensionale. Diesen sonderbaren Ge-
dankengang setzte Zöllner dann fort in seinen „Wissensch. Abhandlungen',
I, (1878) 224 ff. 241 ff. 248 f. 264 ff. (mit Beispielen der Symmetrie aus
der Chemie u. s. w.) 502 ff.; III (1879), Vorr. 88, S. 592; das »Wunder
der Symmetrie' lasse »eine widerspruchsfreie Erklärung" nur zu durch die
Annahme einer vierten Dimension, für deren Bealität dann besonders die
spiritistischen Phänomene sprechen sollten.
unter N. XYI u. XYII das Thema gestreift: das principe des indiscemables lasse
sich nicht auf den Raum als solchen anwenden; nur im absoluten Baume, nicht
im Leibniz'schen lasse sich die identiU de direction d'un mouvement nachweisen.
Auf weitere gleichzeitige Quellen kann man scbliessen aus E^lügels Artikel über
Symmetrie im Math. Wort. IV, 859 : er bemerkt, dass schon die Alten (Theodosius
nnd Menelaus) die Incongruenz symmetrischer sphärischer Dreiecke gekannt haben;
und unter den Neueren haben Segner (1741) und Karsten (1760) dieselbe berück-
sichtigt, Wolff und Kästner dieselbe jedoch vernachlässigt. Da Kant Segner auch
sonst citirt (vgl. Gomm. I, 299), so mag er durch ihn mit auf dieselbe geführt
worden sein.
532 Anhang. Die eymmetrisclien Gegenstände.
Dieser abenteuerliche Ged9.nke fand Beifall bei geistesverwandten
Naturen, so z. B. bei M. Wirth, Fr. Zöllner, Vortrag, 1882, S. 8—11, bei
Oisevius, Es. Lehre von Raum und Zeit, 1890, S. 29 — 38 und vielen An-
deren, scharfe und treffende Zurückweisung dagegen von B. Erdmann,
Die Axiome der Geometrie, 1877, Vorr. IV — VI, welcher besonders darauf
hinweist, dass dasselbe Problem ja „bei der Supposition vierfach ausge-
dehnter Dinge an sich wiederkehren' würde; denselben Einwand erhebt
Stumpf, Phil. Mon. 1878, XIV, S. 16—21 (hier ist .Nichts paradox, als
das Argument selber"), auch S. Günther im , Kosmos', 1877, 9. H. 8. 281 f.;
was Zöllner dagegen sagt; Wiss. Abb. I, 244 f. 248 f. ist schwach. Ebenso
treffend sind die Einwände von Riehl gegen Zöllner, Phil. Erit. II, a, 97
und bes. Lit. Centralbl. 1877, Nr. 9. Weiteres hierüber bei Michelis: Ist
die Annahme eines Raumes mit mehr als 3 Dimensionen wissenschafUich
berechtigt? 1879, S. 5 ff. 26 ff. 32 ff. Dreher, Beitrage zu e. exacten Psycho-
physiologie, 1880, 8. 33—38. V. Schlegel, über den sogen, vierdimensionalen
Raum, 1888; S. 20 ff. G. Bellermann, Beweis a. d. n. Raumtheorie u. s. w.,
Progr. (1889, Nr. 95) S. 27 ff. Mach, Beitr. z. Anal, der Empfindungen,
S. 44. 76. Stumpf, Psychologie u. Erk. Theorie, 1891, 8. 41.
Zöllner hat übrigens den Sinn des Kantischen , Paradoxons' gar nicht
richtig erfasst. Zöllner stellt die Sache so dar, als bestehe nach Kant in
diesen Fällen ein Widerspruch zwischen den berechtigten Forderungen des
Denkens und den mangelhaften Leistungen unserer jetzigen Anschauungs-
form; an Stelle dieser müsse also die Hypothese einer anderen gesetzt
werden, in welcher die Congruenz jener symmetrischen Figuren wirklich
zur Ausführung gebracht werden könne. Anders Kant selbst : er verlangt
ja gar nicht, dass die symmetrischen Körper zur Deckung
gebracht werden sollen; dass dieselben dem begrifflichen Denken als
identisch erscheinen, ist ihm vielmehr ein Zeichen der Unzulänglichkeit des
begrifflichen Denkens, das gar nicht im Stande ist, jenen dem begrifflichen
Denken verborgenen, in Wirklichkeit aber vorhandenen , inneren Unterschied'
jener symmetrischen Gegenstände zu erfassen; der Unterschied ist vorhanden,
aber nur der unmittelbaren. Anschauung zugänglich. Daraus schliesst Kant,
wie wir sahen, in seiner Weise weiter, dass jene symmetrischen Gegenstände
sammt dem Räume, auf den sie sich beziehen, blosse Erscheinungen gänz-
lich unbekannter und jedenfalls unräumlicher Dinge an sich sind,
während Zöllner den ganz unkantischen Schluss zieht, also seien jene sym-
metrischen Gegenstände im dreidimensionalen Räume blosse ,Schattenpro-
jectionen' vierdimensionaler Gegenstände. Zöllner schliesst also im hellsten
Gegensatz gegen Kant aus der Thatsache symmetrischer Gegenstände auf
die transscendentale Realität der Raumbestimmungen, die er
um jener Thatsache willen sogar um eine Dimension vermehrt, während
Kant vielmehr aus derselben einen Beweisgrund für seinen trans*
scendentalen Idealismus entnimmt, welchem zufolge die Räumlichkeit
überhaupt den Dingen an sich abgesprochen wird.
Specialliteratur.
Yorbemerkmig» Wie schon im ersten Bande S. 159 f. die Special-
literatnr zur Einleitung, sowie ib. S. 165. 253. 293 die besondere Literatur zu
den einzelnen Abschnitten derselben aufgef&hrt wurde, so haben wir auch
hier die Specialliteratur zur transscendentalen Aesthetik auf-
zuzählen. Man wurde jedoch ganz irre gehen, wenn man glauben würde, in
dieser Specialliteratur liege der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Dis-
cussionen über die Eantische Raum- und Zeitlehre. Viel wichtiger sind hie-
für die allgemeinen Erläuterungsschriften, von denen die werth-
vollsten Bd. I, S. 19 — 22 aufgeführt worden sind.
Aus der ersten Periode kommen so aus der fast unübersehbaren Masse
der Kantliteratur für die transsc. Aesthetik besonders in Betracht die Werke
der Kantianer Schultz, Schmid, Mellin, Kiesewetter, Jacob; der
Portbildner Beinhold, Beck, Maimon; der Halbkantianer Ulrich,
Platner, Brastberger; der Kantgegner Feder, Tiedemann, Seile,
ö. E. Schulze (Aenesidem), Eberhard, Schwab, Herder. Die wich-
tigsten Schriften derselben sind Bd. I, S. 19 ff. namentlich aufgeführt wor-
den, die anderen findet man leicht in Krugs Encycl.-philosophischem Lexicon,
2. A. 1882, in Rosenkranz*s Geschichte der Kantischen Philosophie (Kants
Werke Bd. XII) 1840, in Ersch-Geissler, Literatur der Philosophie, 3. A. 1850,
in Gumposch, Die philosophische Literatur der Deutschen, Regensburg 1851.
Speclalschrlften der ersten Periode (1771-1800).
1) Kantianer: Marcus Herz, Betrachtungen aus der speculativen
Weltweisheit. Königsberg 1771. — Schütz, 0. G. Kantianae de spatio doc-
trinae brems explanatio, sowie Kantianae de temporis notione sententiae brevis
expositio. Zwei Jenaer Programme von 1788 (wieder abgedruckt in Schütz,
Opusculaj 1880, 298 ff., 306 ff., auch in den anonym erschienenen, von Hausius
herausgegebenen, reichhaltigen , Materialien zur Geschichte der kritischen
Philosophie". Leipzig 1793, II, 1—18. (Ein weiteres Programm von Schütz
s. oben S. 447 Anm.) — Reuss, Aesthetica transscendentalis , sowie: Ana-
lyiiea sensualitatis purae, und Theoria sensualttatis. Drei Würzburger Pro-
534 Specialliteratur.
gramme von 1788, 1789, 1793. — Dorsch, J. A. Beitr&ge. 5. Heft: Theorie
der äusseren Sinnlichkeit. 1789. — Forberg (der bekannte Urheber des
späteren Fichte'schen Atheismusstreites) De aesthetica transscendentali. Jenae
1792. — Fremling, Math. De spatio secundutn decreta Kantiana» Vier
Dissertationen von Lund. 1796, 1797. — Schmidt, W. Ueber das sinnliche
Erkenntnissvermögen. Fassliche Darstellung der Kantischen Begriffe von Raum
und Zeit. 1797. —
2) Gegner: Tiedemann, Ueber die Natur der Metaphysik, in den
„Hessischen Beiträgen z. Gelehrs. u. Kunst", 1784; drei Aufsätze, deren
erster speciell , Gegen die Aesthetik*' geschrieben ist. (Auch wieder abge-
druckt in den oben erwähnten , Materialien z. Gesch. d. kr. Philos.* 1793,
II, 53 — 76. Viel gründlicher und mit noch jetzt beachtenswerthen Ein-
wänden bekämpft Tiedemann die K.'sche Tr. Aesthetik später in seinem
.Theätet od. über das menschliche Wissen*. 1794, 8. 19—34. 40—115, be-
sonders gegen die Kantianer Born, Jacob, Schultz, Abicht, Schaumann, Reh-
berg, Reinhold, Beck. Vgl. oben S. 149. 316.) — Feder, Ueber Raum und
Causalität. Zur Prüfung der K.'schen Philosophie. 1787. (Eine noch jetzt
schätzenswerthe Gegenschrift.) — Pistorius (vgl. oben S. 143), Ueber die
mathematische Evidenz. In Nicolai's Allg. D. Biblioth. Bd. 93, St. 2, S. 454 ff.
— Weishaupt, Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum.
1788; Ueber die Kantischen Anschauungen und Erscheinungen, 1788. —
Ouvrier, Idealismi sie dieti transscendefitalis examen aecuratius 1789. —
Anonymus : UeberRaumundZeit. Ein Versuch in Bezug auf die K.'sche
Philosophie. Dresd. u. Leipz. 1789. — Anonymus, Kritische Briefe an
Kant. 1794, S. 69—278. (Vgl. Bd. I, 158.) — Christjernin, P. N.
Disputatio temporis et aetermtatis discrimen hreviter evokens. Upsalae 1791.
— Rozgonyi, Dubia de initiis tr, idealistni. Pest 1792. — Pappen-
heimer, Beiträge. Dasein der Zeit und des Raumes aus der Erfahrung.
1794. — Horvath, J. B. Declaratio infirmitatis fundamentarutn operis Kan'
tiani: Kr. d. r. V. Budae 1797, S. 17 ff. 66—134. — Heynig, Heraus-
forderung an den Prof. Kant u. s. w. 1798. (Vgl. Bd. I, 158). —
3) Antworten der Kantianer: Born, Versuch über die ersten
Gründe der Sinnenlehre, zur Prüfung verschiedener, vornehmlich der Weis-
haupt'schen Zweifel über die K.'schen Begriffe von R. u. Z. 1788. (Born
wendet sich auch gegen Abel, Seile, Feder, Bornträger u. A.) — Gegen
Feder's oben angeführte Schrift wendet sich Schaumann, Ueber die transsc.
Aesthetik. Nebst einem Schreiben an Feder über den transsc. Idealismus.
1789. (Eine achtungswerthe Leistung. Vgl. Feders Antwort in den GOtt.
Gel. Anz. 1789, St. 1Ö9, und in seiner Philos. Bibliothek III, 121—142.) —
Gegen Feder und Weishaupt wendet sich Kosmann, DissertcUio, qua de-
monstratur, spatium non universalem conceptuvn, sed intuüum purum esse. Diss.
Francofurt. 1789, theilw. abgedr. in deutscher Sprache in Kosmanns Maga-
zin, 1791, I, S. 99—113. — Gegen Seile, Tiedemann, Reimarus, Feder,
Weishaupt, Abel, Stattler, Platner, Tittel, Bornträger wendet sich der College,
Freund und Anbänger Kants Job. Schultz in dem 1789 erschienenen I. Band
Specialschriften der ersten Periode. Der Streit mit Eberhard. 535
seiner „Prüfung der K.'schen Kr. d. r. V.* Während dieser erste Band sich
Yorzugsweise gegen die Empiristen wendet, ist der zweite Band (1792) gegen
die Vertreter der Leibniz'schen Schale, spec. gegen die Eberhard'sche Zeit-
schrift gerichtet. — Auf Herders Angriff antwortet Jftsche in Kinks
Mancherley zur Gesch. d. metakritischen Invasion, 1800, S. 57 — 119: Baum,
Zeit und Kraft.
Die Eberhard'schen Streitigkeiten.
Besonders erwähnenswerth ist der Angriff Eberhards durch sein noch
im Jahre 1788 begonnenes , Philosophisches Magazin". Er gründete diese
Zeitschrift, in ausgesprochenem Gegensatz gegen die Kantfreundliche von
Schütz 1785 ins Leben gerufene Jenaische , Allgemeine Literatur-Zeitung*,
in welcher die Kantgegner Mendelssohn, Meiners, Platner, Seile, Stattler,
Tittel, Feder, Reimarus, Bomträger, Weishaupt, Flatt, Jacobi, Abel, Ulrich,
Tiedemann, Brastberger bekämpft wurden. Eberhard begründete nun sein
„Magazin" mit der Absicht, ein Centralorgan für alle auf Leibniz'schem
Boden stehende Gegner Kants zu schaffen. So entspann sich zwischen der
Kantischen und Leibniz'schen Richtung ein Kampf auf Leben und Tod.
Wir werden hier natürlich nur die auf die tr. Aesthetik bezüglichen
Aktenstücke anführen, und müssen uns auch darin auf das Wichtigste dieses
ja neuerdings wieder vielbehandelten gewaltigen Streites zweier Weltan-
schauungen beschr linken. Zur besseren Uebersicht dieses weitverzweigten
Kampfes werden wir gut thun, denselben in einzelne Phasen zu scheiden.
1) Erster Band des Philos. Mag. in 4 Stücken, 1788 u. 1789.
Erstes Stück: Der Streit in Bezug auf Raum und Zeit wird angesagt S. 25.
Der Weishaupt'sche Angriff wird ziemlich verächtlich abgethan S. 111 — 116
von Maass, welcher nun das 2. Stück eröffnet mit einer treffenden Kritik
der tr. Aesthetik S. 117—149. Vgl. oben S. 312. (Vgl. dazu desselben
Kritik der Antinomienlehre St. 4, S. 469 — 495.) Diese negative Kritik wird
durch Eberhard selbst St. 2, S. 167-175. St. 3, 257-262. 281—282,
St. 4, 887—891. 393—404 durch positive Aufstellungen ergänzt. St. 8,
S. 290 — 306 weist derselbe den Angriff Kants auf die Leibniz'sche Unter-
scheidung von Sinnlichkeit und Verstand zurück. Vgl. oben S. 91 u.
S. 449 f. 454 ff. Vgl. ferner oben S. 147 ff. 311 ff. 455 ff.
2) Die Allg. Lit.-Zeit. nahm den Streit sofort auf. Die Recensionen
von St. 1 u. 2 finden sich 1789, Nr. 10 (I, 77 ff.) und Nr. 90 (I, 718—716).
Diese beiden Recensionen rühren von R e h b e r g her ; (vgl iarüber Dilthey,
Archiv f. Gesch. d. Phil. III, 275 ff.). Diese beiden Recensionen sind ziem-
lich matt; insbesondere was gegen Maass' schneidige Kritik der Aesthetik vor-
gebracht wird, ist ganz unzulänglich. — St. 3 u. 4 werden recensirt 1789,
Nr. 174—176 (II, 577 — 597). Diese Recension beschäftigt sich nur mit dem
Aufsatze Eberhards „Ueber die Unterscheidung der Urteile in analytische
und synthetische" (Phil. Mag. I, 3, 307 ff.), welcher die Probleme der Tr.
Aesthetik nicht näher berührt. Auch die eingehende Recension streift diese
586 Specialliterator.
Probleme nur gelegentlich. Die Recension beruft sich auf Kant selbst, der
auch Materialien für dieselbe geliefert habe. Die Recension stammt, wie
man aus «Reinholds Leben'' 1825 erfuhr, von diesem. Daselbst sind
auch S. 134 ff. die bezüglichen brieflichen Mittheilungen Kants an Reinbold
abgedruckt.
3) Das Phil. Mag. blieb die Antwort nicht schuldig. Nach einer
kurzen Erwiderung auf die erste Recension schon I, 3, 333 — 339 erfolgte
II, 1, S. 29—52 (vgl. IT, 380, III, 56) eine ausführliche Antwort auf jene
zweite Recension (1789, Nr. 90). Maass und Eberhard rechtfertigen
sich gegen die Einwände der Recensenten und halten ihre Angriffe speeiell
gegen die Tr. Aesthetik aufrecht in einer formell und sachlich treffenden
Antwort. Darauf replicirte Rehberg in dem Int. Bl. der AUg. Lit.-Zeit.
1789, Nr. 145, S. 1207—1212 nicht ungeschickt; aber noch geschickter ist
die Duplik jener Beiden zuerst in demselben Int. BL, 1790, Anfang, dann
im Phil. Mag. II, 4, 497—510 (vgl. III, 408—411 gegen die Bemerkungen
von Schulz zu diesem Streit in der A. L.-Z. 1790, Nr. 281). Dieser Streit
spann sich nun selbständig weiter fort: R e h b e r g beantwortete diese Duplik
nunmehr im Neuen Deutschen Museum, 1791, St. 3, unter seinem Namen;
darauf folgten Eberhards Bemerkungen im Phil. Mag. III, 3, 302 — 316.
Im 4. St. desselben Bands (1792) erschien sodann S. 447—460 eine Antwort
Rehbergs u. d. T. „Ueber die Natur der geometrischen Evidenz.* In dieser
Abhandlung wendet sich R. zugleich gegen Schwab, welcher die Ableitung
der Geometrie nicht aus Anschauung, sondern aus Begriffen behauptet hatte
(P. M. III, 4, 397 ff. 480 ff.). Rehberg, welcher dieses Problem von Anfang
an als die , Hauptsache* behandelt hatte, hat hier die Schwäche der Leib-
nizianer richtig erkannt. (Vgl. auch Rehbergs sämmtl. Schriften, 1828,
I, S. 51—60.) Schwabs Antwort (IV, 461 — 469) ist daher auch nicht be-
friedigend. Vgl. auch denselben im Phil. Arch. I, 3, 16 ff. Vgl. oben S. 312.
Erbitterter wurde der Streit gegen die Reinhol d'sche Recension ge-
fuhrt, (vgl. die hässliche Controverse über den Kantischen Ausdruck ,Ver^
fUlschung" in der Aesthetik, worüber das Nähere oben S. 449 f.). Die Erwide-
rungen von Maass II, 2, 186—231. 232—243, und von Eberhard, II, 3,
257—284. 285-315. III, 1, 83—88 streifen jedoch nur gelegentlich das Ge-
biet der Aesthetik. (Ueber das hiebei mitspielende, durch Kant selbst
verschuldete Missverständniss s. meine Abhandlung über eine Blattversetzung
in Ks. Prolegomena, Phil. Mon. 1879, XV, 321—332 und bes. 513—532.)
4) Mitten in diese Erörterungen der Kantianer und Antikantianer fiel
Kants eigene Schrift gegen Eberhard wie eine Bombe. (Die Ent-
würfe zu derselben s. in dem oben sub 2) erwähnten Briefwechsel mit Rein-
hold, sowie in den Losen Blättern a. Ks. Nachlass, I, (1889) S. 142 — 144.
163—179. 226—232; 79. 150—156.) Scharf bezeichnet Kant schon auf dem
Titel, um was es sich handelt: Ueber eine Entdeckung, nach der alle neue
Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden
soll (1790); es handelt sich um den Vorwurf Eberhards: Das Gute bei Kant
ist nicht neu; schon Leibniz hat's gesagt. Das Neue aber ist nicht gut.
Die £berbard*8chen Streitigkeiten. 587
Scharf, wie der Titel, ist auch der Ton, viel zn scharf, bis zur Ungerechtig-
keit, ja bis zur persönlichen Beleidigung. Nicht zu leugnen ist aber auch
die seltene logische Schärfe, mit welcher Kant Unklarheiten seines Gegners
aufhellt, zugleich auch freilich die Geschicklichkeit, mit welcher er berech-
tigten Einwänden ausweicht. Für die Aesthetik kommt bes. in Betracht
Abschnitt I, B u. C, S. 25 — 76. Was Kant hier über den Unterschied letzter
Theile im Bäumlichen von ersten Gründen des Bäumlichen sagt, hat
ausserordentlich klärend gewirkt auf die ganze Discussion über die Baum-
lehre. VgL oben S. 148 u. S. 455 ff.
5) Diese klärende Einwirkung der Kantischen Schrift zeigt sich in den
Erwiderungen Eberhards auf dieselbe (vgl. oben S. 148 f.), die übrigens
viel ruhiger und sachlicher gehalten sind, als Kants Gegenschrift. Aber Eber-
hard und seine Streitgenossen verstehen es auch, die Schwächen, Inkon-
sequenzen und Widersprüche Kants deutlich ans Licht zu stellen. Diese
Entgegnungen finden sich im III. Band des Phil. Mag. Für die Aesthetik
kommen bes. 3 Abhandlungen Eberhards in Betracht, S. 148—172. 212-~216.
251 — 279. Aber auch in den übrigen Abhandlungen desselben, S. 181 — 194.
194—204. 205—211. 280—803 wird gelegentlich die Aesthetik berührt. Vgl.
auch die Abhandlung von Schwab S. 480—490. — Vgl. auch IV, 93 ff.
199. 201 ff. (Schwab), 208 ff. 214—224. 233 ff 307 ff. 488. 490—508. Be-
sondere Beachtung verdient eine Abhandlung von Schwab IV, 225 — 230:
„Ist H. Kant, in seiner Streitschrift gegen H. Eberhard, seinem in der Kr.
d. r. V. aufgestellten Begriffe vom Baum getreu geblieben?" Schwab weist
die Widersprüche zwischen beiden Darstellungen sehr scharf nach, wie auch
Eberhard selbst überall auf dieselben mit Glück aufmerksam macht. Vgl.
oben S. 94. — Vgl. ferner Philos. Arch. I, 1, 90; 2, 40 ff.; 3, 1; H, 1, 51;
2, 60—101 (Brastberger, vgl. oben S. 146 N.).
6) Alle diese Erörterungen bezogen sich indessen nur auf die Angriffe,
welche im Ersten Band des Phil. Mag. enthalten gewesen waren. Nun
brachte aber auch der Zweite Band des Phil. Mag., abgesehen von den
unter Nr. 3 erwähnten Erwiderungen, neue selbständige Angriffe 9,uf das
Kantische System, insbes. auch wieder auf die Aesthetik, bes. den grossen
Artikel von Eberhard S. 53—92 gegen Ks. Raum- und Zeitlehre; ferner
152 ff. 227 ff. 232 ff. 316—341 (Ueber die Evidenz der mathem. Ur-
theile), 380—383; 431—435. 486-492 (Die Eigenschaften der Dinge an
sich nach Kant selbst); 460 — 485. 511—514 (Die Mathem. nimmt ihre Be-
weise nicht aus Anschauung, sondern aus Begriffen). Ausserdem brachte
dieser Band S. 1 — 28 den Schluss einer Abhandlung von Klügel, Ueber die
Grundsätze der reinen Mechanik, deren Anfang schon I, 435—468 erschienen
war; insbesondere aber brachte das 4. Stück, S. 391 — 430 drei Abband-
lungen von Kästner: Was heisst in Euclid's Geometrie möglich? Ueber
den mathematischen Begriff des Raumes. Ueber die geometrischen Axiome.
Diese Abhandlungen von Klügel u. Kästner (wieder abgedr. in deren Philos.-
Mathem. Abhandlungen, 1807) waren indessen nur indirect gegen Kant
gerichtet.
^38 Specialliteratur.
7) Gerade diese Betheiligung der angesehensten Mathematiker jener
Zeit an dem antikantischen Magazin war Kant sehr anangenehm. Es kam
ihm sehr darauf an, zu zeigen, dass die Anschauungen jener Mathematiker
über den Baum weder etwas gegen die Eantische, noch für die Eberhard'scbe
Raumtheorie bewiesen. Wie erst neuerdings gefunden worden ist (vgl.
Reicke, Lose Blätter, I, 79; Dilthey im Archiv f. Gesch. d. Phil. III, 79—90,
275^281), hat Kant selbst einen (in Rostock gefundenen, von Dilthey a. a. O.
veröffentlichten) Aufsatz über Kästners Abhandlung in jenem Sinne ge-
schrieben (vgl. oben S. 93 u. S. 254 f.), .und denselben an Joh. Schultz
gegeben, der ihn in seine grosse Recension des Zweiten Bandes des
Phil. Mag. in der Allg. Lit.-Zeit. 1790, Nr. 281—284 (HI, 785-814)
mitaufgenommen hat. Auch was darin (788—797) gegen den oben sub 6
erwähnten grossen Artikel Eberhards über Ks. Raum- und Zeitlehre (PhiL
Mag. II, 53—92) gesagt ist, ist offenbar auf ein Kantisches Originalmanu-
skript zurückzufuhren. So ist denn diese Recension für die Aesthetik sehr
wichtig.
8) Natürlich hat Eberhard hiezu nicht geschwiegen. Er antwortet
ausführlich III, S. 408 — 479; bes. was er über die Raumfrage sagt, ist be-
achtenswerth. Vgl. auch Schwab's Aufsatz über die geometrischen Beweise,
397—408. Vgl. ferner IV, 94 ff. 286—253 (Maass), 502; endlich Phüos.
Archiv, II, 1, 44.
9) Indessen brachte der III. u. IV. Band des Philo s. Mag. auch
wieder neue, selbständige Angriffe auf Kants Lehre, und natürlich auch
wieder auf die Aesthetik, bes. III, S. 67 ff. 89 — 110 (unter Bezugnahme
auf Schultz, Prüfung I, 1789); ferner S. 70—82. 480—490; sodann IV. 1,
68—83 (wiederum speciell gegen Schultz); ferner 100 ff, 183 f., 188—194,
271 ff. (406 ff.) (Bendavid), 354—359 (lieber die Anschauung des inneren
Sinnes) 389 ff. (Brastberger).
10) Als eine Erwiderung auf diese neuen Angriffe ist der 2. Band
der Schultz'schen Prüfung der K.'schen Kr. d. r. V. 1792 (296 S.) an-
zusehen. Der Band ist nichts als eine Fortsetzung jener sub 7) erwähnten
Schultz'schen Recension. Die Erwiderungen von Schultz erstrecken sich noch
bis auf das 1. Stück des IV. Bandes des Phil. Mag. und betreffen aus-
schliesslich die transsc. Aesthetik. Fast der ganze Band ist den Ein-
wänden von Eberhard gewidmet; ausserdem sind noch berücksichtigt die
Einwände von Maass (38—42. 56—58. 269), Schwab (121—132. 135),
Kästner (86—94. 119 ff. 188 ff.), Brastberger (227—232, 270 ff.). Man
darf annehmen, dass Schultz sich dabei vielfach der Mitarbeit von Kant
habe erfreuen dürfen.
11) Die Antwort hierauf hat Schwab in Eberhards Philos. Archiv
übernommen, woselbst er I, 2, 109—119; 8. 1-21. 63—69. 70-79 bes.
Schultz' Theorie der Geometrie, der Arithmetik und des Unendlichen zu
widerlegen sucht.
12) Nach der Beendigung der 4 Bände des Philos. Magazins (1788—1792)
liess Eberhard (von 1792—1795) als Fortsetzung noch zwei weitere Bände er-
i
Die £berhard*8chen Streitigkeiten. 539
Bcbelnen, jetzt u. d. N.: Philosophisches Archiv, in welchem alle jene
bisherigen Einwftnde wiederholt and die Resultate gezogen wurden. Für die
Aesthetik kommt in Betracht: I, 1, 81—125 (Auszug aus Seile's Abhand-
lung gegen Kant; vgl. oben S. 816), 126 — 140 (Beweis der Oeometrie aus
Begriffen); I, 2, 37—91 (.Dogmatische Briefe* von Eberhard; Eb. will nach
S. 78. 91 „den subjectiven Dogmatismus der kritischen Philosophie durch
den objektiven von seinen Widersprüchen befreien"); I, 3, 96 — 100. 100 — 113
(Maass, Beweis der Geometrie aus Begriffen, dag. Beck, Standpunkt 1796,
201 ff.); I, 4, 59 ff. (Verhältniss Gottes zu R. u. Z.); II, 1, 38—69 (Kant
habe die Quelle der ewigen Wahrheiten aus dem göttlichen Verstand in den
menschlichen verlegt ; daraus fliessen alle seine Fehler, auch die der Aesthetik),
112—124 (Schwab über die synthetischen Urtheile); II, 3, 48 ff., II, 4, 71 ff.
Vgl. oben S. 811 f. — (In diesen Bänden wird die Polemik auch auf die
übrigen Schriften Ks. ausgedehnt).
13) Was sagte allem diesem gegenüber die „Allg. Li t.- Zeitung'?
Wir haben seit Nr. 7 nichts mehr von ihr über den Streit gehört. In der
That hat sie sich seitdem vollständig über denselben ausgeschwiegen. Die
tieferen Gründe dieses Schweigens errathen wir aus einer merkwürdigen,
bis jetzt unbeachteten Kecension der 2. u. 3. Aufl. der Er. d. r. V. in der
Allg. Lit.-Zeit. 1791, Nr. 54 u. 55 (I, 425—435), bei der es nicht erst des
Abdruckes derselben in Beinhold's „Beyträgen zur Berichtigung bisheriger
Missverständnisse der Philosophen* II, 1794, 409—436 bedurft hätte, um eben
Beinhold als Verfasser zu erkennen. Diese Kecension (welche auch darum
merkwürdig ist, weil in ihr die Differenzen der 1. u. 2. Aufl. der Kr. d. r. V.
genau erörtert werden) spricht mit dürren Worten aus: die bisherigen
Missverständnisse über die Kr. d. r. V. seien aus den Mängeln derselben
entstanden; es fehle derselben (insbesondere auch der transsc. Aesthetik)
an dem wahren wissenschaftlichen Fundament; dies sei in der ^Elementar-
Philosophie* erst geliefert worden. So lange man das nicht erkenne, d. h.
so lange man nicht Kants , Voraussetzungen entdecke, entwickle und
bis auf ihre letzten Gründe zui-ückfiihre* sei der ganze Streit zwischen Kan-
tianern und Antikantianern vollständig nutzlos. Ganz in diesem Sinne hatte
Beinhold schon in dem I. Band jener , Beiträge' (1790) S. 287 die ketze-
rische Meinung geäussert: Kant mache bestimmte, verschwiegene und un-
bewiesene Voraussetzungen (vgl. Comm. I, 226. 428), wer diese nicht theile,
könne sein System nicht für richtig halten und brauche es auch nicht;
^sollte es sich hieraus nicht begreifen lassen, wie ein Mann, dem das Leib-
niz'sche System durch langen Gebrauch geläufig geworden ist, z. B. H. Eber-
hard, die Beweise des K.'schen Systems ihrer Gründlichkeit unbeschadet
jnit dem besten Willen und ohne sie völlig miss verstanden zu haben, gleich-
wohl nicht überzeugend finden könne?' Aehnlich: Ueber das Fundament
des philos. Wissens, 1791, S. 131.
So war denn der Streit nicht ohne Pnicht geblieben. Im Gegentheil:
mit diesem Streit trat die Peripetie des Kantianismus ein. Die Opposition
Eberhards und seiner Freunde war doch so geschickt und hartnäckig geführt
540 Specialliteratar.
worden, dass die Schwierigkeiten, Inconsequenzen und Widersprüche des
E. 'sehen Systems, insbesondere der Aesthetik und des in ihr enthaltenen
transsc. Idealismus immer mehr ans Tageslicht kamen. Und Kant hatte in
seiner Entgegnung (vgl. oben S. 9 1 ff. 148. 455 ff.) Hehreres so anders als in
der Kr. d. r. V. ausgedrückt, dass diese Modificationen als Zugestftndnisse oder
als Inconsequenzen erscheinen mussten. Die selbständigen Oeister unter den
Kantianern: ein Beinhold, ein Beck, ein Maimon gingen von da an ihre
eigenen Wege, nur die , Buchstabier* blieben Kant treu.
Darin liegt auch die Ehrenrettung des bis auf den heutigen Tag so
viel geschmähten Eberhard. Es ist wahr, er hat Kant, besonders anfäng-
lich, vielfach missverstanden, aber an diesen Miss Verständnissen trägt Kant
selbst auch Schuld. Aber abgesehen davon, hat er in durchaus ehrlicher
und ruhiger Arbeit die Mängel des Kantischen Systems so scharf nachgewiesen,
dass die 6 Bände, die seinen Namen tragen, noch heute* als ein unerschöpf-
liches Arsenal von Waffen gegen Kant zu gebrauchen sind. In den letzten
Bänden hat er sogar schon ganz in der Linie gearbeitet, in welcher nachher
Schelling und Hegel die Philosophie weitergeführt haben ; denn er verlangte
die Weiterführung „des subjectiven Dogmatismus der kritischen Philosophie
zu einem objectiven Dogmatismus **, die Erweiterung des endlichen Geistes
zum unendlichen, der Kategorien im menschlichen Geiste zu Ideen im gött-
lichen. Dass die Zeitschrift auch auf Herbart einwirkte, wurde oben S. 148
bemerkt.
Eine vortreffliche, jedoch keineswegs vollständige üebersicht all dieser
Streitigkeiten (von einem gemässigt Leibniz'schen Standpunkt aus) findet
man in dem sehr brauchbaren Werke von W. L. G. von Eberstein, Ver-
such einer Geschichte der Logik und Metaphysik bey den Deutschen, von
Leibniz bis auf gegenwärtige Zeit. Zweiter Band. Halle 1799. Derselbe
behandelt im 1. Absichnitt S. 53 — 115 die Angriffe der Empiristen (bes.
Feder und Weishaupt); im 3. Abschnitt S. 165—232 die Eberhard 'sehen
Streitigkeiten, 247 — 291 die Theorien von Zwanziger und Brastberger; im
4. Abschn. S. 302 — 347 die Reinhold'sche Lehre und ihre Bestreitung durch
Eberhard und Schwab ; im 5. Abschn. S. 370—385 den Aenesidemus, 386 ff.
Platner, 395 ff. Maimon ; im 6. Abschn. S. 403 — 444 Abicht, Jacob, Ulrich,
Abel, 478—486 Tiedemann's Theätet.
Zweite Periode (1800 -- 1860).
Natürlich gilt auch für diese Periode, ja für diese noch mehr als für
die erste, was oben in Bezug auf die letztere bemerkt wurde: dass nich^
in den sehr wenigen Specialschriften, sondern in den allgemeineren
Werken die wichtigeren Discussionen über das Raum- und Zeitproblem zu
suchen sind. Weniger in den Werken von Fichte, Schelling und
Hegel, welche Drei für dieses Thema ziemlich unergiebig sind, als in den
Schriften von H e r b a r t und Schopenhauer, welche beide dieses Problem
Specialschriften der zweiten Periode. 541
eingehendst bebandelt baben, Letzterer als Anbänger Kants in diesem Punkte,
Ersterer unter lebbafter Polemik gegen Kant. Fruchtbare Gedanken finden
sieb ausser bei Scbleiermacber, Krause und Beneke besonders aucb
bei Fries und seinem Schüler Apelt. Aucb die Gruppe Weisse, Ulrici,
J. H. Ficbte, Ritter, Gbalybäus bietet Manches, was noch recht
beachtenswerth ist. Lotze's bedeutsame Ansichten entstanden um dieselbe
Zeit, gehören der Wirkung nach aber in die folgende Periode. Eine üeber-
sicht über die nachkantischen Baumtheorien nebst eigener Kantkritik bietet
Trendelenburg im ersten Band seiner „Logischen Untersuchungen*' Abb. VI
(ausser Aristoteles und Kant sind behandelt Hegel, Weisse, J. H. Fichte,
Herbart). Eine noch jetzt schätzbare „Geschichte der Begriffe Baum und
Zeit mit Beziehung auf den Dualismus* nebst selbständiger Kantkritik gab
der Empirist Gruppe (Wendepunkt der Philosophie im XIX. Jahrh. Berlin
1834, S. 156 — 256). Schätzenswerthe Beiträge lieferte auch Hamilton in
seinen verschiedenen Werken.
Zimmermann, Dr. F. J. Untersuchungen über B. u. Z. Progr.
Freib. i. Br. 1824. (Vgl. oben S. 323.) — Müller, Jobs. Zur vergleichen-
den Physiologie des Gesichtssinnes. 1826. — Tourtual, C. Tb. Die Sinne
des Menschen. Ein Beitrag zur physiologischen Aesthetik. Münster 1827. —
Fortlage, 0. Aur. Augustini doctrina de tempore, Aristotdieae, Kantianae
aliarumque iheoHarum recensione aucta, et congruis hodiemae philosophiae
ideis amplificata. Heidelberg 1836. — Volkmut h. üeber Baum und Zeit.
In Achterbolds Zeitschr. f. Pbilos. i, 1840. — Lotze, Bemerkungen über
den Begriff des Baumes, Fichte's Zeitschr. f. Philos. (VIII), 1841, N. F. IV,
S. 1—24. — Dazu Weisse, üeber die metaphysische Begründung des Baum-
begriffs, ib. S. 25—70. — Daza J. Prince-Smith, Deduction des Baum-
begriffe, ib. X, 1843, S. 83 — 130. — Hasenclever, B. Die Baumvor-
stellung aus dem Gesichtssinne. Berlin 1842. — Felix Eberty. Die Gestirne
und die Weltgeschichte. Gedanken über Baum, Zeit und Ewigkeit. 1846.
2. Aufl. 1874. — Werkmeister, W. Philosophische Entwicklung der Baum-
bestimmungen. Berlin 1850. — ü 1 e , Dr. 0. Untersuchung über den Baum
und die Baumtheorien des Aristoteles und Kant nebst einer philosophischen
Entwicklung des Baumbegriffs als Verhältniss. Halle 1850. (Vgl. oben
S. 323.) — Lescoeur. De spatio quid sit. Paris 1850. — Biemann.
üeber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. Göttingen
1854. (Vgl. oben 8. 267.). — üeberweg. Zur logischen Theorie der
Wahrnehmung. Zeitschr. f. Philos. Bd. XXX, 1857, S. 91— 125. — üeber-
weg. Zur Theorie der Bichtung des Sehens, in Henle's und Pfeuffers
Zeitschr. f. rationelle Medicin, 1858, V, 268— 282. — Fichte, J. H. üeber
den psychologischen Ursprung der Baumvorstellung. Zeitschr. f. Philos.
Bd. 33 (1858) S. 81-107. (Vgl. ib. Bd. 38, 136 ff.) - Intlekofer, M.
Die sinnliche Auffassung von B. u. Z. Progr. Offenburg 1858.
542 Specialliteratar.
Dritte Periode (1860-1892).
Während die zweite Periode, erf&Ut von rein speculativen Interessen,
das specifisch erkenntnisstheoretische Problem von Baum und Zeit TerhAlt-
nissmässig vernachlässigt hatte, hat die dritte Periode gerade dieses Problem
wiedemm stark in den Vordergrund gestellt. Es wirkten dabei mehrere
Umstände begünstigend mit: so die steigende Einwirkung der Seh o pen-
haue raschen Philosophie, welche auf diesen Theil der Kantischen Lehre be-
sonderen Ton legte ; so der wachsende Einfluss L o t z e's, welcher der Kanti-
sehen Transsc. Aesthetik in wesentlichen Punkten zustimmte und dieselbe
durch seine Theorie der ^Localzeichen' ergänzte (vgl. oben S. 182 f.); so, damit
zusammenhängend, die Fortschritte der Sinnesphjsiologie, welche, durch
Johannes Müller neubegründet, durch Helmholtz* Physiologische Optik (1867)
in neue Bahnen gelenkt wurde (vgl. oben S. 367); so endlich die originellen
Metageometrisohen Speculationen , welche durch Biemann begonnen,
durch Helmholtz fortgesetzt wurden (vgl. oben S. 346 f.). Dazu kam — laM,
not least — die geistvolle Reproduction des Kantischen Systems durch Kuno
Fischer, welcher gerade die Transsc. Aesthetik mit besonderer Vorliebe
behandelte. Diese Umstände wirkten zusammen, dass in der in den sechziger
Jahren beginnenden , Neukantischen Strömung* die Transsc. Aesthetik als
das wichtigste Lehrstück des Kantischen Systems behandelt wurde. So ist
dies der Fall bei den beiden Hauptbegründern des Neukantianismus:
F. A. Lange und 0. Liebmann; besonders die Abhandlungen des Letzteren
in seinem Werke: ,Zur Analysis der Wirklichkeif (1. A. 1876, 2. A, 1880)
sind als sehr werthvolle und einflussreiche Beiträge zur Transsc. Aesthetik
in erster Linie zu erwähnen. Wichtige Beiträge liefern sodann die Bd. I,
S. 21 f. näher aufgeführten Werke von Cohen, Riehl, Stadler, von
Holder und Paulsen, von Caird und Cantoni. Von fundamentaler
Wichtigkeit sind die verschiedenen Kantschriften von B. Erdmann, welche
sowohl durch seine a. a. 0. aufgeführten Werke, als auch durch seine Herans-
gabe von „Kants Beflexionen zur Kr. d. r. V.*, Leipzig 1884, das Verst&nd-
niss der Transsc. Aesthetik nach allen Bichtungen hin wesentlich gefordert
hat. Weitere Beiträge zur Exegese und Weiterbildung liefern die ver-
schiedenen Werke folgender, Kant mehr oder minder nahestehender Autoren :
Baumann, Deussen, Dorner, A. Krause, J. B. Heyer, Noire,
C.Peters, Benouvier, F. Schnitze, Spir, Watson, Witte. Dank-
bar zu erwähnen sind die Beiträge der Historiker: Falkenberg, Harms,
Windelband. Selbständige Kritiken der Transsc. Aesthetik finden sich
bei Bergmann, Glogau, E. v. Hartmann, v. Kirchmann, Laas,
Lipps, Behmke, Biehl, Schuppe, Spencer, Stirling, Stampf,
Teichmüller, Thiele, Thilo, Volkelt, Volkmann, Wundt u. v. A.
Dühring, Eug. De tempore^ spatio, causalitcUe etc. Diss. Berl. 1861.
—r Cornelius. Die Theorie des Sehens und räumlicHen Vorstellens, vom
Speciakchriften der dritten Periode. 543
physikalischen, physiologischen und psychologischen Standpunkte. Halle
1861. — Paganini. Dello apazio. Pisa 1862. — Hodgson. Time and
spaci, 1865. — Pflüger, W. Untersuchungen über die Einleitung und
den ersten Abschnitt der transscendentalen Aesthetik Kants. Diss. Mar-
burg 1867. — Müller, J. J. Ueber die Entstehung unserer Gesichtswahr-
nehmung. Z. f. Philos. Bd. 53, 1868, S. 69—122. — Engel, G. Die Idee
des Baumes und der Baum. Berlin 1868. — Liebmann, Otto. Ueber den
objectiyen Anblick. Eine kritische Abhandlung. Stuttgart 1869. (Vgl. oben
8. 163 f.) — Thiele, Günther. Wie sind die synthetischen Urtheile der
Mathematik a priori möglich? Diss. Halle 1869, (Vgl. Bd. I, S. 293). —
Du Prel. Oneirokritikon. Der Traum vom Standpunkte des transsc. Idea-
lismus. Deutsche Vierteljahrsschr. 1869. S. 188-241. (Vgl. oben S. 409.) —
Hoppe, B. Der Begriff der Zeit. Paderborn 1870. — Michelis.
De Kantii libello: De mundi aensibüis et intelUgibüis forma etc, Braunsberg
1870. — Fick. Die Welt als Vorstellung. Würzburg 1870. — Becker, J. C.
Abhandlungen aus dem Grenzgebiete der Mathematik und Philosophie.
Zürich 1870. — Zimmermann, R. Ueber Kants mathematisches VorurtheiL
Wien 1871. — Eyffert. Ueber die Zeit. Berlin 1871. (Vgl. dazu Berg-
mann, Philos. Monatsh. VIII, 1872, S. 89—66.) — Liebmann, Otto. Ueber
die Phänomenalität des Baumes. Ueber subjective, objectiye und absolute Zeit.
Philos. Monatsh. VII, 1871 (wiederabgedr. in dem schon oben gerühmten
Werke „Zur Analysis der Wirklichkeit", 1876, 2. Aufl. 1880, nebst anderen auf
die Transsc. Aesthetik bezüglichen Abhandlungen). ~ Scherer, Georg. Kritik
über Kants Subjectivitftt und Apriorit&t des Baumes und der Zeit. (Diss.
Bestock.) Prankfurt a. M. 1871. — Weisz, Joseph. Kants Lehre von
Baum und Zeit. Diss. Leipzig 1872. — Erdmann, Benno. Die Stellung
des Dinges an sich in Kants Aesthetik und Analytik. Diss. Berlin 1873. —
Stumpf, C. Ueber den psychologischen Ursprung der Baumvorstellung.
Leipzig 1873. — Czclbe, Heinr. Grundzüge einer extensionalen Erkenntniss-
theorie. Plauen 1875. — Schmitz-Dümont. Zeit und Baum. Leipzig
1875. — Luguet, Henry. iHiMte sur la notian d'espcLce d'apris Descartea,
Leümiz et Kant. Thkse. Paris 1875. — Göring, W. Baum und Stoff.
Ideen zu einer Kritik der Sinne. Berlin 1876. — Olassen, Aug. Physio-
logie des Gesichtssinns, zum ersten Mal begründet auf Kants Theorie der
Erfahrung. Braunschweig 1876. — Laurie, S. Interpretation of Kants
transsc. Aesthetic. Joum. of spec. Philos. 1876, VIII, S. 305 — 315. — Ueb er-
hörst, Carl. Die Entstehung der Gesichts Wahrnehmung. Göttingen 1876. —
Helmholtz, H. Ueber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen
Axiome, in den Populärwissenschaftl. Vorträgen. HL H. Braunscbweig
1876; auch in engl. Sprache im Mind, Vol. I, 1876, P. 301-324. (Vgl. oben
S. 267.) — Dagegen Land, Kants space and modern Mathematics. Mind^
Vol. II, 1877, P. 38-46; vgl. Vol. HI, 1878, P. 551-555. — Beplik von
Helmholtz, The origin and meaning of Geometrical aonoms. Mind, Vol. IH,
1878, P. 212 — 225. — Erdmann, Benno. Die Axiome der Geometrie. Eine
philosophische Untersuchung der Biemann-Helmholtz'schen Baumtheorie.
544 Specialb'teratur.
Leipzig 1877. (Vgl. oben S. 203^ 236 u. ö.) — Krause, Albrecht. Kant
und Helmholtz über den Ursprung und die Bedei^tung der Baumanschaaung
und der geometrischen Axiome. Lahr 1878. (^^^1. dagegen die unten er-
wähnte Abhandlung von Yold. 1885.) — Helmholtz, H. Die Thatsacfaen
in der Wahrnehmung. Berlin 1879. — Weissenborn, H. lieber die neueren
Ansichten vom Baum und von den geometrischen Axiomen. Viertel], f.
wissensch. Philos. II, 1878, 222. 314. 449. — Wiessner, AL Die wesen-
hafte oder absolute Bealität des Baumes. Begründet an einer Kritik der
idealistischen Theorien. Leipzig 1877. — Phipps, D. W. Kants trans-
scenderUaL Aesthefic. Joum. of spectd. Philos. IX. St. Louis 1877, S. 299—310.
— Goebel, Carl. Ueber Baum und Zeit. Gütersloh 1878. — Beyera-
dorff, B. Die Baumvorstellungen. I. Th. Metaphysische Untersuchung.
Diss. Leipzig 1879. (Mit bes. Beziehung auf Kant und Lotze.) —
Caspari, 0. Das Baumproblem. Mit Bücksicht a. d. specul. Bichtungen
d. Math, im »Ausland" 1880, N. 23. 24. — Fortlage. Vom zwiefachen
Apriori der menschl. Vernunft, als der denkenden und anschauenden. Zeitschr.
f. Philos. 77. Bd. 1880. S. 149-173. — Behmke, Job. Die Welt als Wahr-
nehmung und Begriff. Eine Erkenntnisstheorie. Berlin 1880. — Büdinger, M.
Zeit und Baum bei dem indogermanischen Volke. Eine universalhistorische
Studie. Wien (Sitzungsber. der Kais. Acad. d. Wiss.) 1881. — Filippo
Masci. Le forme delV intuizione, Programm des Liceo-GinnasiaU zu Chieti
(Abruzzen) 1881. — Dreher, Dr. Eug. Das Wesen der Sinnes Wahrnehmungen
und Baum und Zeit, in der , Deutschen Hochschule* 1882, N. 22. 26. 27. —
Bolliger, Ad. Anti-Kant. I. Band. Basel 1882 (Zur Einleitung und zur
Transscendentalen Aesthetik). — Wenderhold. Zur Metaphysik und Psycho-
logie des Baumes. Diss. Halle 1882. — Sommer, Hugo. Die Neugestaltung
unserer Weltansicht durch die Erkenntniss der Idealität des Baumes und
der Zeit. Eine allg.verst. Darst. Berlin 1882. — Lasswitz, Dr. Kurd.
Die Lehre Ks. von der Idealität des B. u. d. Z., im Zusammenhange mit
seiner Kritik des Erkennens allg.verst. dargestellt. Gekrönte Preisschrift.
Berlin 1883. — Last, Elise. Die realistische und die idealistische Welt-
anschauung entwickelt an Ks. Idealität von Z. u. B. Leipzig 1884. (Diese
drei Schriften von Sommer, Lasswitz und E. Last verdanken ihre Ent-
stehung einer im Jahre 1880 von J. Gillis veranlassten Preisbewerbung, bei
welcher die Schrift von Lasswitz nach dem Urtheil der Preisrichter Laas,
Wundt und Heinze mit Becht den Preis . davontrug.) — Seydel^ Bud.
Baum, Zeit, Zahl. Viert, f. wiss. Philos. 1883, VII, S. 329 ff. — Seydel, Bud.
Zur Auslegung Kants (gegen Krause und Classen), in den ,, Grenzboten*
1883, N. 25, II, S. 582—595. Dagegen Classen, ebenda, N. 26, II, 650 ff.
Darauf wieder Seydel, ebenda HI, 55. — Classen, Aug. Die Entstehung
der sinnlichen Wahrnehmung. Grenzboten,' 1883, N. 33. — Gutzeit, B.
Descartes* angeborene Ideen verglichen mit Ks. Anschauungs- und Denk-
formen a priori. Progr. Bromberg 1883. — Behmke, Jobs. Physiologie
und Kantianismus. Eisenach 1883. — Sachtleer, Herm. Ueber den Baum-
und Zeitbegriff, in der Zeitschr. f. Philos. 1883, Bd. 88, S. 47-69. —
Specialschriften der dritten Periode. 545
Franke, Jobs. Üeber Lotze^s Lehre von der Phänomenalität des Baumes.
Diss. Halle 1884. — D u n a n , Charles. Essai sur les f armes a priori de
la sensibiliti. These, Pa is 1884. — Jahn. Die Subjectivität des Baumes
und die Axiome der Geometrie. Programm. Dramburg 1884. — König,
Dr. Edmund. Einige Gedanken für Kants Aesthetik gegen Empirismus und
Bealismus, in den Philos. Monatsh. 1884, Bd. XX, S. 233 ff. — Michaelis,
üeber Kants Zahlbegriflf. Progr. Berlin 1884. — Bender, Hedwig, üeber
die Idealität von B. u. Z. Ein Beitrag zum Kapitel der Transsc. Aesth. in
der Zeitschr. f. Philos. 1885, Bd. 87, S. 1—48 (auch in der Schrift: Zur
Lösung des metaphysischen Problems, Berlin 1886, S. 44 — 93). — Ben-
dizson, Arthur. Kritiska studier tiU Kants transsc. ästetik. Äkademisk
afhandling. üpsala 1885. — Franke, E» Untersuchungen über den Baum
und sein Verhältniss zu den Dingen. Progr. Hirschberg 1885. — Schneid,
Dr. Mathias. Die philos. Lehre von Z. u. B. Fünf Abhandlungen in der Zeit-
schrift „Der Katholik', Jahrg. 65 u. 66 (1885 u. 1886), auch separat Mainz
1886. — Vold, Mourly A. Krause's Darstellung der Kantischen Baum-
theorie u. s. w. beurtheilt. Ohristiania 1885. (Vgl. oben S. 182 N.) —
Wehr. Die Subjectivität des Baumes. Wien 1885. — Classen, Dr. Aug.
üeber den Einfluss Ks. auf die Theorie der Sinn es Wahrnehmung und die
Sicherheit ihrer Ergebnisse. Leipzig 1886. — Schmidt, P. 0. Ursprung
und Bedeutung des Baum- und Zeitbegriffs im Lichte der modernen Physik.
Diss. Halle 1887. — Shand, Alex. Space and Time, im „Mind" 1888,
Nr. 51, S. 839 — 855. — Hoff ding. Lotzes Lehren über Baum und Zeit
und B. Geijers Beurtheilung derselben, Philos. Monatsh. XXIV, 1888,
S. 422 — 440. — Beichardt. Kants Lehre von den synthetischen ürtheilen
a priori in ihrer Bedeutung für die Mathematik. Philos. Studien, IV, 1888,
S. 595 — 639. — Seydel. Kants synthetische ürtheile a priori, insbes. in
der Mathematik. Zeitschr. f. Philos. Bd. 94 (1888), S. 1—29. — Drews,
Arthur. Die Lehre von B. u. Z. in der nachkantischen Philosophie. Ein
Beitrag zur Geschichte der Erkenntnisstheorie und Apologetik der Metaphysik.
Diss. Halle 1889. — Bellermann. Beweis aus der neueren Baumtheorie
für die Bealität von Zeit und Baum u. s. w. Progr. Berlin 1889. —
Gisevius, Hubertus. Kants Lehre von B. u. Z., kritisch beleuchtet
vom Standpunkte des gemeinen Menschenverstandes aus. Hannover 1890. —
Massonius, Marian. üeber Ks. Transsc. Aesthetik. Eine kritische Unter-
suchung. Diss. Leipzig 1890. — Schmid, Albert. Zu Kants Lehre vom
Baum. Diss. 1890. — Spencer, H. Our space-comciousness, A reply
againstMr. Watson, Mind, Vol. XV, 1890, P. 305—324. — fiackwitz, Max.
Hegels Ansicht über die Apriorität von Zeit und Baum und die Kantischen
Kategorien. Halle 1891. —
Der Streit zwischen Trendelenburg und Fischer.
Die Einzelcontroversen dieses ausgedehnten Streites sind in diesem
Bande an folgenden Stellen behandelt worden: S. 73 N. (83 f.) 134 ff. 185 N.
Yalhinger, Eant-Commentar. II. 35
546 Spedalliteratar.
207—211. 214. 246—252. 261. 271 f. 274 f. 283 N. 290—326. 339 f. 381—
883. 886 f. 898 N. (440). Hier folgt nun die S. 134 n. 291 in Aussicht ge-
stellte 'üebersicbt über die gesammte Literatur des Streites.
Erster Angriff Trendelenbnrgs aaf Kants Theorie von Baum und
Zeit in seinen i, Logiseben Untersacbongen', 1840, S. 124 — 183; Wiederholung
des Angriffes in der 2. Aufl. desselben Werkes, 1862, S. 156—168. — Yer-
theidigung Kants gegen diesen Angriff dnrcb Fischer, System der Logik
und Metaphysik, 2. A. 1865, S. 178—180. — Dagegen Trendelenburg
in seinen Historischen Beiträgen zur Pbilos. IIL Band, 1867, N. VII: ,Ueber
eine Lücke in Kants Beweis von der ausscbliessenden Subjectivitllt des
Baumes und der Zeit. Ein kritisches und antikritiscbes Blatt.' S. 215 — 276.
Tr. wiederholt nochmals seinen Angriff auf K., weist Fischers Vertheidigung
des letzteren zurück, und greift dabei Fischers Darstellung der Kantisdien
Transsc. Aesth. überhaupt an. — Dagegen Fischer, Oesch. d. neueren
Phüos. HI, 2. A. 1869, Vorr. IV— XYI, und Anmerkungen zu S. 263—265.
315—816. 322—325. 328—330. 335—336. 338—340. 547—550. Bd. IV,
137—139. — Gegen diese Vertheidigung Fischers schrieb Trendelen bürg
die Broschüre: Kuno Fischer und sein Kant. Eine Entgegnung. 1869. (40 S.)
Vgl. dazu die 3. Aufl. der Log. Unters. (1870) S. 164 f. — Darauf folgte
Fischers: Anti-Trendelenburg. Eine Duplik (77 S.) 1870 (2. A. auch 1870).
Dazu vgl. man die 3. Aufl. von Fischers Gesch. d. n. Pbilos. DI, 1882,
S. 282. 333. 337. 342. 486.
Für Fischer resp. für Kant gegen Trendelenburg erklärten sich:
J. B. Meyer, Zeitschr. f. Philos. Bd. 37 (1860), S. 249 ff. — Knauer,
Gonträr und contradictorisch. 1868, S. 3 ; Die Reflexionsbegriffe. 1881, S. 35.
— J. Becker, Abhandl. a. d. Grenzgebiet der Mathem. und Philos. 1870,
S. 13 — 14. — Arnoldt, Kants transsoendentale Idealität des Baumes und
der Zeit. Für Kant gegen Trend. Sep.-Abdr. a. d. Altpr. Monatsschr. VII — IX.
Königsberg 1870—1872 (131 S.). — An Arnoldt schliesst sich an: Caird
in der Äeademy, 1870, N. 15; vgl. desselben Phüos, of Kant, \%11, S. 258—
262, und The crüical phüosophy of Kant, 1889, I, 306—309. — Grapen-
giesser, Kants Lehre von B. u. Z. Fischer und Trend. 1870 (95 S.); gegen
die Recension dieser Broschüre durch Bergmann (Phil. Mon. V, 278 — 278)
schrieb derselbe eine Antikritik in Fichte's Zeitschr. f. Philos. Bd. 58, 289 ff.
— Michelet, Hegel der un widerlegte Weltphilosoph. 1870. S. 67 — 80. —
Mahaffy, The crüical phüosophy, 1872, I, 1, S. 60 f. 68 f. 80. — Masci,
üna polemica su Kant. Napoli 1873 (80 8.). — Dühring, Krit. Gesch. d.
Philos. 2. A. 1873, S. 409. — Witte, Beiträge zum Verständniss Kants.
1874. S. 41—43. 51—54. — Wundt, Phys. Psychologie, 1874, 8. 691 N.
Vgl. desselben System 147 ff. und die Abhandlung: „Was soll uns Kant
nicht sein?^ in den Philos. Studien, VIT, 41 f. — Ragnisco, La critiea
della ragion pura. Napoli 1875, S. 61 — 66. — F. A. Lange, Gesch. d. Hat.
2. A. II, 1875, S. 49. 130 f. — Tobias, Grenzen der Philos. 1875, S. 111 f.
149 f. — Steffen, Ks. Lehre vom Ding an sich. Diss. Leipzig 1876,
S. 21—26. 98. 102. — Windelband, Viert, f. wiss. Philos. I, 1877, S. 342;
Literatur des Streites zwischen Trendelenborg und Fischer. 547
Ge^oh. der neneren Philos. tt, 61 ; Gesch. d. Philos. 425 ; AUgem. Enoyklop.
(Sect. n, Bd. 32) Art. ^Kant", S. 357. — A. v. Leolair, Der Realismus.
1879, 229 f. — Riehl, Der philos. KriÜcisraus, II, a, 1879, 8. 89. 107 ft —
öottsohick, Zeitschr.f, Philos. Bd. 79, 1881, S. 152—156.. — Engel-
mann, Kritik der E.'schen Lehre vom Ding an sieh. Diss. Halle 1883,
S. 22. 30—32.
Für Trendelenburg traten ein: Eym, Trend/s Log. Unters, und
ihre Gegner, in Fichte's Zeitschr. Bd. 54, S. 261 ff., bes. 8. 809 f. — Thiele,
Wie sind die synth. Urth. d. Math, möglich? Diss. Halle 1869, 8. 36 ff.
Ygl. desselben: Kants intell. Anschauung, 1876, S. 198 ff. — Qnäbiker,
Phil. Mon. IV, 286—249. 408—413. — Bergmann, Phil. Mon. V, 273—278.
— Bratuschek, Phil. Mon. V, 279—323; Vm, 488 f. — Classen in
Virchows Archiv XXXVIH, 1 u. 4, und in v. Graefe's Archiv für Ophthalmo-
logie 1873, XIX, 3. — Ueberwegin den verschiedenen Ausgaben der Gesch.
d. Philos. m, § 18. Vgl. desselben Aufsatz: Zur logischen Theorie der
Wahrnehmung, in Fichte's Zeitschr. f. Philos. Bd. XXX, S. 96. — E. v. Hart-
mann, in den „Blatt, f. Lit. Unterh.% 1870, N. 19; 1871, N. 10 (hiegegen
das Schriftchen von E. Fleischl, Eine Lücke in Kants Philosophie und
Ed. V. Hartmann. Wien 1872. 24 S.) ; ebendaselbst 1879 , N. 46 ; femer
besonders: Kritische Grundlegung des transsc. Realismus. 2. A. 1875, S. 119 —
122. 141—142. — Volkelt, Kants Erkenntnisstheorie. 1879. S. 45—47.
51 — 61. 66 — 68 (weitaus das Beste, was über den ganzen Streit geschrieben
worden ist). — Beyersdorff, Die Baum Vorstellungen. I. Diss. Leipzig
1879, S. 52 ff. — Heinze, Platner als Gegner Kants. Progr. Leipzig 1880,
S. 13. — Stern, Ueber die Beziehungen Garve's zu Kant. 1884, S. 66 f. —
Drews, Die Lehre von B. u. Z. in der nachkantischen Philosophie. Diss.
Halle 1889, S. 19. 42 — 45. — Massonius, Ueber Ks. Transsc. Aesthetik.
Diss. Leipzig 1890. (Gegen diesen: E. König, Phil. Monatsh. XXVm, 1892,
S. 494 ff.) — Ueber Zeller, Lotze u. A. s. oben S. 324 f. —
Eine Mittelstellung nimmt Cohen ein. In seiner Abhandlung in der
Zeitschr. f. Völkerpsychologie und Sprachw. Bd. VQ, 1871, S. 249—296 stellt
er sich in allen Nebenfragen auf Seite von Trendelenburg; aber in , Kants
Theorie der Erfahrung% 1871, Vorr. IV— V, S. 62-79. (260 ff.); 2. Aufl.
1885 , 8. 162 ff. stellt er sich in der Hauptfrage zu Kant gegen Trendelen-
burgs Angriffe.
Ueber den Streit vergleiche man femer: Bau mann, Doctrina Car-
tesiana, Diss. Berlin 1863, S. 39. — Beil. z. Augsb. AUgem. Zeit. 1869,
N. 205; 1870, N. 62. — Prantl im Lit. Centr.-Bl. 1870, N. 13. — Katzen-
berger im Bonner Theolog. Lit.-Bl. 1870, N. 1. — Michelis, Kant vor
und nach dem Jahre 1770. 1871, S. 152—182. — Schlötel, Die Berliner
Academie und die Wissenschaft. Prüfung log. Untersuchungen. 1874,
8. 85 ff. — Paulsen, Entw.gesch. der K.'schen Erk.-Th. 1875, S. 189. —
Lewes, Geschichte d. Philos. Deutsch 1876, S. 486. 571. — Theodor,
Der Unendlichkeitsbegriff bei Kant und Aristoteles. 1877, S. 11—13. —
Wiessner, Die Realität des Raumes. 1877, S. 63 ff. — Wolff, Speculation
548 Specialliieratur.
n. Phüos. 1878, 1, 183. — Kirchner, Metaphysik. 1880, S. S6. — Pfleiderer,
Eantiflcher Eritidsmus. 1881, S. 41. — Poetter, Gesch. d. Philos. 2. A.
1882, 8. 255—261. — Gesca, La doUrina Kantiana ddP Äpriari. 1885,
a 144—149. — Dieckert, Berkeley u. Kant. Progr. Conitz 1888, 8. 481 —
Moeltzner, Aug. S. Maimons Verbesserungsversuche der K.'schen Philo-
sophie. Diss. Greifsw. 1889, S. 28. — Rohr, Paul. Platner u. Kant- Diss.
Leipzig 1890, S. 57. — Rasch ig, Erkenntnissth. Einleitung in die Geo-
metrie. Progr. Schneeberg 1890. — Tiebe, Die Angriffe Trendelenbnigs
^egen Kants Lehre u. s. w. Festschrift. Stettin 1890. (Eine beachtenswerthe
Monographie.) —
Inhalt.
Seite
Vorwort m-VllI
Conunentar zur Transscendentalen AesthetüL
Vorbemerkaiigen. Die Paragraphen-Emtheilung 1
§1.
Einleitimg 1—128
Die Arten der Erkenntniss 2. — Weitere und engere Bedeutung von
aErkenntniss" 2. — Wälirend alles Denken sicli zuletzt auf die
Anschauung beziehen muss, bezieht sich die Anschauung unmittel-
bar auf die , Gegenstände* 3. — S. Beck contra Eant; strengerer
und laxerer Begriff von .Gegenstand" 4. — Becks Accommo-
dationstheorie und die .historische Theorie* 5. — Der Begriff der
.Anschauung' 5. — .Der Gegenstand wird uns dadurch gegeben,
dass er uns afßcirt* 6. — Empirische und transscendentale Be-
deutung von .Gegenstand* 6*- 8. — Streit zwischen B. Erdmann
und E. Amoldt über die Dinge an sich als Voraussetzung 8— 9. —
Das .Gemüth* im Gegensatz zur .Seele* ; Kritik des Eantischen
yGemüthes* 9—12. — Begriff der .Sinnlichkeit* als eines .Ver-
mögens*, und die Wolff-Eantische Vermögenslehre 12. — Dinge
an sich als vorausgesetzte Correlate der Sinnlichkeit; Kants Protest
gegen Beck und Fichte 14—16. — Kann schon die Sinnlichkeit
f&rsich uns .Gegenstände* geben? Beck gegen Kant; nochmals
gegen die Accommodationstheorie 16—19. — Das .Gegebene*
und die Dinge an sich 19—22. — Die Passivität der Sinnlichkeit
und die Activiillt des Verstandes 22 — 24. — Anschauung und
Denken 24. — Sinnlichkeit — die spedfisch menschliche An-
Bchauungsart; die intellectuelle Anschauung 25. — Nur die Sinn-
lichkeit kann uns Gegenstände geben 26.
Die Empfindung: sensaüo praesentiam objecti arguit; die Voraus-
setzung afficirender Gegenstände 26 — 28. — .Vorstellung*, .Em-
pfindung*, .Gefühl*, .Anschauung*, .Wahrnehmung* 28—30. —
Die Erscheinimg als der .unbestimmte* Gegenstand einer An-
550 Inhalt.
Behauung 30 — 32. — Was heisst: Erscheinung ist der , Gegen-
stand ** einer Anschauung? 32 — 34. — Neutrale und prägnante
Bedeutung von , Erscheinung* 35.
Ezcurs. Die affioirenden (Gegenstände
Kants Prämisse von „afficirenden Gegenständen* 35. — Das Jaco bi-
sche Dilemma 36 — 38. — Aenesidems Kritik der einwirkenden
Objecte 38 — 40. — Reinhold, Jacob, Brastberger 40. — Das Ding
an sich als „Unding", als \/^l[ bei Maimon 41. — S. Becks
.einzig möglicher Standpunkt* : Das Afficirende sind nicht Dinge
an sich, sondern die Erscheinungen selbst; Becks Girkel 41 — 43.
— Mellin und die Jacob*schen Annalen 44. — Fichte eliminirt
das „leidige*, „todte Ding an sich*, und zerstreut Reinholds
Bedenken durch eine merkwürdige Auslegung des Einganges
zur Aesthetik 44 — 49. — Nach Beck und Fichte sind die Er-
scheinungen selbst das Afficirende 49. — Auch Neukantianer,
bes. Cohen, setzen an Stelle der transscendenten Affection die
empirische 49 — 51. — Kant selbst lehrt in der That eine doppelte
Affection: eine transscendente und eine empirische 51 — 53. —
Das Trilemma der afficirenden Gegenstände 53. — Die Affection
durch empirische Gegenstände in der Transsc. Aesthetik 53 — 55.
Was kann in der Erscheinung der Empfindung „correspondiren* ?
Vier Auslegungen 56 — 59. — Die Materie oder das Mannigfaltige
der Erscheinung und die Form oder das Coordinationsprincip
derselben 59 — 61. — Materie und Form der Erscheinung:
Bilder für diesen Gegensatz; Geschichtliches: Lambert; Kant als
Vertreter des scholastischen Princips : forma dat esse rei 61—65.
— Herder gegen „das grobe Töpferwort Form*^ Beneke gegen
Kants „Mythologie*; Bolliger gegen Kants Erneuerung des
antiken Dualismus von Form und Stoff 65 — 67. — Weiterbildung
des Unterschiedes bei Reinhold, Schiller, Fichte u. s. w. 67 — 69.
— Sechs unbewiesene Prämissen Kants : 1) Das ordnende Princip
kann nicht in den Empfindungen selbst liegen ; 2) Stoff und Form
sind trennbar; 3) Stoff und Form haben nicht denselben Ur-
sprung; 4) die Empfindungen als solche sind schlechthin un-
räumlich; 5) die Raumanschauung als solche hat nichts mit
Empfindung zu schaffen; 6) Sensatio mcUeriam dat, non formam
69—74. — Herbart, Cohen, Schopenhauer, Lotze, F. A. Lange
für Kant 74—76. — Riehl, Stumpf, Ueberweg gegen Kant
76 — 78. — Erster, allgemeiner Beweis für die Apriorität der
Form 78 — 79. — Die Materie der Erscheinung nur aposteriorisch 79.
— Die im Gemüth a priori „bereitliegende* Form ; Cohen gegen
die Form als ein „Geföss* ; derselbe gegen das „Bereitliegen* ;
actuelles oder potentielles „Bereitliegen* der Form? 80 — 84. —
Die Formen liegen actuell bereit ; gegen diesen Einwand Herbarts
sucht Riehl Kant zu vertheidigen ; aber das Apriori bedeutet
hier in der That zeitliches Vorhergehen und actuelles Bereitüegen
84 — 87. — Kant verwechselt den actuellen mathematischen Baum
mit der potentiellen Form der Räumlichkeit 87 — 88.
S«ite
Inhalt. 551
Seite
Ezcun. Wie Terhält sich Kants Apriori siim Angeborenen? . . 89—101
Kant Über das Angeborene 1770. Kant vermittelt Gartesius und
Locke im Anschluss an Leibniz' Nouveaux Essais 89 — 90. —
Kant über das Angeborene 1790 : Die acquisitio originaria 90 — 94.
— Wie schon Schwab nachwies, widerspricht die Theorie der
acquisitio originaria der Darstellung in der Transsc. Aesthetik
94 — 96. — Riehl und Cohen suchen nicht bloss die angeborenen
Vorstellungen, sondern auch den angeborenen Grund, das
Fundament der Lehre von der acquisitio originaria, zu eliminiren
96 — 100. — Liebmanns und Volkelts richtige Auffassung 100.
»Rein* im .transscendentalen Verstände" 101. — , Reine An-
schauung' 102. — Die ,reine Form der Anschauung* soll zu-
gleich selbst eine »reine Anschauung* sein; Schwierigkeiten in
dieser Identification von «Form der Anschauung* und , formaler
Anschauung* 103 — 107. — Die Absonderung der reinen An-
schauung aus der Vorstellung des Körpers und die Auflösung
des letzteren in lauter subjective Elemente, wobei das «Ding an
sich' nach Stadler und Hebler als «unauflöslicher Rest* übrig
bleiben soll 107-111.
Sinn und Tendenz einer «Transscendentalen Aesthetik* 111. —
Verhältniss der letzteren zu Baumgartens Aesthetica 112. — Kant
spricht sich in der 1. Aufl. gegen die Wissenschaftlichkeit der
Geschmackslehre aus, gibt dieselbe aber in der 2. Aufl. zu
114 — 117. — Ato^xa xal vofjxd 117. — Doppelte Verwendung
des Ausdruckes «Aesthetik* bei Kant: in der Erkenntniss- und
in der Geschmackslehre 117 — 120. — Die «Isolirung* der Sinn-
lichkeit in der Transsc. Aesthetik und Kants «isolirende Me-
thode* überhaupt 120—123.
Erster Abschnitt.
Von dem Saume.
§ 2.
Metaphysische Erörterung des Baumbegriffs . 128—268
Einleitendes: Der äussere Sinn 124. — Der innere Sinn; Ge-
schichtliches 125 — 129. — Verhältniss des äusseren und des
inneren Sinnes 129.
Die Problemstellung: Was sind Raum und Zeit? 130. — Ver-
schiedene Gliederungen der Möglichkeiten; Kants Tetralemma
131 — 133. — Gleichstellung der Zeit mit dem Räume und Voran-
stellung des letzteren 133—134.
Ezonrs. Die möglichen Fälle 184—151
Der Trendelenburg-Fischer'sche Streit. Allgemeiner Charakter des-
selben 134. — Trendelenburg macht Kant den Vorwurf, bei
seiner Problemstellung die «dritte Möglichkeit* übersehen zu
haben, dass Raum und Zeit sowohl objectiv als subjectiv sein
552 Inhalt.
Seite
konnten 135. — Trendelenburgs , dritte Möglichkeit" ist formell
logisch unrichtig, weil in derselben Geltungsfrage und Ursprungs-
frage vermischt sind 1 86-— 138. — Richtige Gliederung der Mög-
lichkeiten: vier Fälle; Trendelenburg selbst hat eine Möglich-
keit übersehen 188—140. — Wie stellt sich Kant hiezu? Kant
hat jene dritte Möglichkeit in der That übersehen; Trendelen-
burg hat also facti seh doch Recht 140. — Noch eine weitere
Möglichkeit, welche Kant übersehen hat : dem Raum entsprechen
zwar nicht identische, aber analogische Verhältnisse der Dinge
an sich (Leibniz, Herbart, Lotze) 141 — 142. — Lamberts Ein-
wand gegen Kant: unser Raum sei ein HmtUaerum des wahren
Raumes. Kants Theorie von 1770. 142. — Die .Mittelhjpothese*
von Pistorius: analogische Relationen der Dinge an sich;
Pistorius contra Jacob. Brastberger 143 — 146. — Eberhards
Theorie der ,objectiven Gründe' des Raumes ; Unklarheit Eber-
hards und Anderer über den .dritten Fall' : Vermischung zweier
ganz verschiedener Fälle. Kants Gegenschrift gegen Eberhard
146—150. — Kants schwankendes Verhältniss zur schwankenden
Raumtheorie von Leibniz 150 — 151.
«Metaphysische' Erörterung des Raumbegriffs. Verhält-
niss zur .transscendentalen^ 151. — Im Anschluss hieran trifPt
Cohen die falsche Eintheüung in ein «metaphysisches' und
«transscendentales' Apriori 152 — 154. — Ungeschickte Verwen-
dung des Ausdruckes «Erörterang' 155. — Ungeschickte Ver-
wendung des Ausdruckes: der .Begriff" des Raumes 155.
Erstes Raumargument 166—184
Logische Gliederung 156. — Erster Satz. These (gegen Leibniz) :
Der Raum ist kein empirischer Begriff; unpassender Gebrauch
des Ausdruckes , Begriff' 157. — Conceptus spatii non abHrahitur
a sensationibus externia; zweierlei Arten der Abstraction 158—160.
— Zweiter Satz. Der Nervus probandi 160. — Die Projection
nach aussen oder die „Beziehung' der Empfindungen auf „Etwas'
ausser mich. Wie kommen wir zu diesem .Etwas'? 160 — 162.
— Schopenhauers ergänzende Behauptung, dazu bedürfe es der
Causalität 162. — Helmholtz* Theorie des unbewussten Causal-
schlusses 163. — Nach Liebmann bedarf es zum .objectiven An-
blick' ausserdem noch der Substantialität 168 — 164. — Der Satz
von der „Intellectualität der Sinnes Wahrnehmung' findet sich
hier noch nicht bei Kant 165. — Der apriorische Factor der
Anschauung. Kants Petitio principii 165. — Die Vorstellung des
Raumes muss .zum Grunde liegen', d. h. im Subject .vorher-
gehen'; ob actuell, ist hier noch die Frage 166—168. — Dritter
Satz: Die Schlussfolgerung. Die a priori in uns vorhergehende
RaumvorsteUung macht die Erfahrung .allerergt' möglich 168 —
170. — Liegt die Raumvorstellung bewusst oder unbewusst in
uns zum Grunde? 170. — Die Priorität des Raumes als Beweis-
gpnmd für seine Apriorität; gegen Cohen 170. — Cohen und
Riehl gegen das .psychologische' Apriori: es handle sich hier
Inhalt. 553
Seite
nicht um eine psychologische Bedingung in uns, sondern um eine
rein logische Voraussetzung 172 — 174. — Der Beweis aus der
»Möglichkeit der Erfahrung'^ in der Analytik und in der Aesthetik;
es handelt sich in der letzteren in der That um subjective
Bedingungen 174 — 177. — Einwände gegen dies Argument:
Garve, Feder, Eberhard, Maass 177. — üeberwegs Einwand eines
Cirkels im Schlnss 179. — Herbarts Frage nach dem Grund der
Bestimmtheit der einzelnen Erscheinungen 180. — Cohens und
Riehls Stellung zu der Frage 181. — Lotze erneuert Herbarts
Frage und beantwortet sie durch seine Theorie der ,Local-
zeichen* 182—184.
Zweites Raumargument 184—802
Yerh<niss zur Dissertation von 1770. 184. — Logische Gliederung
185. — Erster Satz. These. Schwierigkeiten im Ausdruck 185.
— Zweiter Satz. Nerpus probandi: Wir können die Vorstellung
des Raumes nicht weglassen 186. — Die Nicht-Hinweg-Denkbar-
keit des Raumes 187. — Der Raum ist nothwendig, die Erschei-
nungen in ihm zuf&llig 188. — Der Satz wendet sich gegen
Leibniz 189. — Einwände und Missverständnisse 190. — Kants
Methode 191. — Dritter Satz. Kant unterscheidet nicht scharf
genug zwischen der Nothwendigkeit des Raumes für die vor-
stellenden Subjecte und derjenigen für die vorgestellten Ob-
jecte 192. — Daraus erklärt sich die verschiedene Auffassung
dieses Argumentes: die Einen finden darin die absolute, die
Anderen die relative Nothwendigkeit des Raumes ausgesprochen
194. — Verhältniss zum ersten Raumargument: unterschied und
Zusammenhang 196. — Herbart wirft Kant eine Quaternio Ur-
tninorum vor 198. — Liebmanns Entgegnung 199. — Herbart
hat formell Unrecht, sachlich Recht 200. — Relative und abso-
lute, discursive und intuitive Nothwendigkeit 201.
Drittes Raumargument der ersten Auflage . . . 202—208
(in der zweiten Auflage weggelassen).
Verhältniss zur «Transscendentalen Erörterung' in der 2. Aufl. 202.
— Die logische Doppelfunction dieses Argumentes: die Raum-
theorie erklärt die Apodikticität der Mathematik, und diese
beweist ihrerseits eben jene Raumtheorie 203.
Viertes Raumargument der ersten Auflage = Drittes Raum-
argument der zweiten Aufiage 204—286
Vorbemerkungen 204. — Erster Satz. These. Der Raum ist kein
discursiver (allgemeiner) Begriff 205. — Der Satz wendet sich
gegen Leibniz 207. — Streit zwischen E. Fischer und Trendelen-
burg: 1) ob nach Kant alle Begriffe , Gattungsbegriffe" seien?
2) ob nach Kant alle Begriffe «abstrahirt** seien? 8) ob Kant
hier die Raumanschauung habe den Kategorien gegenüberstellen
wollen? 4) ob nach Kant der Raum ein „Singularbegriff* sei?
207 — 211. — Zweiter Satz. Die Einzigkeit des Raumes
211. — Die vielen Einzelräume sind nur TheilstÜcke des Einen
554 Inlialt.
Seite
Baumes 212. — Lotze für Kant, Biehl gegen Kant 218. — Er-
weiterung der KanÜBchen These durch K. Fischer u. A. 213—215.
— Dritter und vierter Satz. Die ursprüngliche Einheit-
lichkeit der RauniYorstellung 215. — Der Raum ist keine
mosaikartige Zusammensetzung : alle Theüräume sind nur Raum-
theile 216. — Der Raum kein CompoHtum, sondern ein Tahtm,
also eine Anschauung 218. — Inwiefern sind aber Begriffe zu-
sammengesetzt? Aus Merkmalen 218 — 220. — Jacobi vergleicht
Kants unendlichen Raum mit Spinoza's unendlicher Substanz
220. — Einwände gegen dies Argument 221. — Die Unendlich-
keit und die Stetigkeit der Raumanschauung 221 — 228. —
Fünfter Satz. Schluss auf die Anschauungsnatur des Raumes
228. — Während Kant hier lehrt, der Raum sei nicht zu-
sammengesetzt, fasst er in der Analytik doch den Raum als
Product einer synthetischen Function des Verstandes, als Com-
positum ideale 224 — 227. — Darin sehen die Anhänger Kants
eine Ergänzung der Aesthetik, seine Qegner einen Widerspruch
zu derselben 227 — 229. — Später erklärt Kant die Vorstellung
des absoluten Raumes für einen Vernunft begriff (Idee); Verhält-
niss des absoluten Raumes zur reinen Anschauung des Raumes
229—281. — Soll dies Argument auch die Apriorität der Raum-
vorstellung beweisen? 281. — Der Raum als intuitua, quem Sequi-
lar conceptus 282. — Sechster Satz. Bestätigung aus dem
Verfahren der Geometrie. Folgerung oder Beweismoment? 288. —
Die Rolle des Verstandes neben der Anschauung in der Mathe-
matik 284. — Einwände von Riehl und B. Erdmann 286.
FOnfle« RaumargumeDt der ersten Ayflage = Viertes Raim-
argument der zweiten Auflage 287—868
Erste Redaction (A). Logische Griiederung. Beweisthema: Der
Raum nicht Begriff, sondern Anschauung. Beweisgrund: Der
Raum eine unendliche Grösse, weil ins Grenzenlose fortgehend.
Ein Allgemeinbegriff aber enthält kein Grössenmerkmal , am
wenigsten das Merkmal der Unendlichkeit 287 — ^289.
Zweite Redaction (B). Logische Gliederung 289. — Aus der
Kantischen Theorie des Begriffes: Jeder Begpriff hat unendlich
viele Vorstellungen unter sich, kein Begriff hat unendlich viele
Vorstellungen in sich 240 — 242. — Beim Raum ist das letztere
der Fall, also ist er kein Begriff, sondern Anschauung 242. —
Soll die Unendlichkeit des Raumes auch dessen Apriorität be-
weisen? 243 — 245. — Missversi&ndniss des Argumentes durch
Holder u. A., Erläuterung desselben durch Sigwart 245. — Streit
zwischen Trendelenburg und K. Fischer über dies Argument:
1) K. Fischer hat thatsächlich den Mittelbegriff der Argumentation
verfehlt ; 2) K. Fischer hat thatsächlich Kant eine QucUernio termi-
norum begehen lassen; 3) K. Fischer hat nicht mit Unrecht im Sinne
Kants jeden Begriff als »Gattungsbegriff* bezeichnet 246 — 252.
Verhältniss der beiden Redactionen: Unterschiede und Ge-
meinsames 253.
Inhalt. 555
Seite
Exonn. Der Baum als eine nnendliclie gegebene GhrOsBe .... 25S— 261
Formelle Schwierigkeiten 253. — MaterieUe Schwierigkeiten. Ein-
wände von 6. E. Schulze und Kästner 254. — Kant vertheidigt
sich vergeblich gegen Kästners Angriff 255. — Abschwächungs-
▼ersuche der Stelle bei Holder, Caird, Mahaffy, Lotze, Cohen,
Stadler ; Angriffe von üeberweg, Trendelenburg, E. v. Hartmann,
Montgomery 256 — 259. — Infinitum quantum datum oder dabile ?
260. — Alle Theile des Raumes ins Unendliche sind zugleich 260.
— Der unendliche Raum ein , Ganzes*? 261. —
Uebersioht der Raamargumente 261—268
§3.
1) Transseendentale Erörterung des Baumbegriffs 268—286
Yerhältniss zur .metaphysischen* Erörterung 263. — Rationalistische
Tendenz des Abschnittes 263. — Yerhältniss der 1. und 2. Auf-
lage 263 — 265. — Verhältniss zu den ProUgomena 265. — Erster
und zweiter Absatz: Erklärung der synthetisch-apriorischen
Urtheile der Geometrie durch die neue Raumtheorie. Einwände
vonHelmholtz u. A. 266 — 268. — Dritter Absatz: Kant geht
von der reinen Mathematik zur angewandten über 268 — 270. —
Missverständnisse und Einwände, bes. von Trendelenburg 271. —
Fundamentaler Unterschied zwischen Anschauung a priori und
apriorischer Anschauungsform 272 — 273. — Vierter Absatz:
In welchem Sinne ist die Geometrie begreiflich gemacht? Streit
zwischen K. Fischer und Trendelenburg 273 — 275.
Exonrs. Beine nnd angewandte Mathematik 275—286
Analyse der entsprechenden Paragraphen (§ 6 — 13) der Prolegomena :
Kant vermischt durchaus die beiden heterogenen Probleme der
reinen und der angewandten Mathematik 275 — 281. — Die
, Axiome der Anschauung* 282. — Wie steht die Sache in der
Dissertation von 1770? 283. — Widersprüche der Ausleger
(Fischer, Cohen, Paulsen). Richtige Erkenntniss bei Riehl, Thiele,
£. V. Hartmann 285.
2) Sehlfisse in Bezug auf den Raum . . . 286—667
Gliederung 286. — Auftreten des «Dinges an sich* 287.
Erster Absatz (Schluss a). Zwei Formen dieses Syllogismus 287.
— Kants Schluss von der Apriorität des Raumes auf seine Sub-
jectivität 289. — Dieser Schluss ist nicht zwingend 289 — 290.
Exchtb. Der Streit zwischen Trendelenburg nnd Fischer . , . 290—826
Trendelenburg findet eine «Lücke* in Kants Beweis von der aus-
sehliessenden Subjectivität des Raumes: Der Raum könne, trotz
seiner Apriorität im Subject, doch zugleich objective Geltung
haben 290 — 291. — Fischer vertheidigt Kant: I. Auch bei Kant
habe der Raum objective Geltung. II. Es könne nicht zwei
556 Inhalt
Originalräume geben. III. Wäre der Raum etwas Reales, so w&re
der Raum ein Erfahrungsobject, und reine Mathematik wäre
unmöglich. lY. Die angewandte Mathematik sei kein stich-
haltiger Gegengrund gegen Kant 291 — 295. — Ein ftlnftes Argu-
ment zu Kants Gunsten erhebt Amol dt: Eant schliesse über-
haupt nicht von der Apriorität des Raumes auf seine Idealität,
sondern er schliesse von der objectiven Gültigkeit des apriorischen
Raumes für die Erscheinungen auf seine Ungültigkeit für die
Dinge an sich 295 — 299. — Trotz dieser Yertheidigungsversuche
ist Kants Beweis in keiner Weise mehr zu retten: er enth<
die Trendelenburg^sche «Lücke" 299. — Diese Lücke ist auch
nicht durch die Antinomien ausgefüllt worden 300 — 302. — Hat
Kant die Trendelenbijirg'sche „dritte Möglichkeit' sonst irgendwo
berücksichtigt? Vielleicht im Jahre 1768? 302. — Thatsächlich
mehrfach in den Prolegomena 303 — 305. — Kant hat, wie schon
Fries erkannte, ursprünglich den Mittelweg des Pi^ormations-
systems übergangen, hat sich aber später geg^n denselben als
eine blosse prästabilirte Harmonie ausgesprochen 305 — 307. —
Spuren jenes Mittelweges in einem Brief und auf einem „Losen
Blatt" 308—310. — Definitive Entscheidung des Streites: Tren-
delenburg hat in der Hanptsaehe Recht und K. Fischer
Unrecht, denn der Kantische Beweis ist thatsächlich lücken-
haft 310. — Vor^nger Trendelenburgs in der Entdeckung jener
„Lücke" : Eberhard^ Maass, Pistorius 311. — Reinhold sucht ver-
geblich dem Kantischen Beweis aufzuhelfen 312— 314. — Schwab,
G. E. Schulze, Seile, Tiedemann, Brastberger, Platner, v. Eber-
stein haben die „Lücke" ebenfalls erkannt 314 — 318. — Jacob
und J. Schultz haben Kants Beweis ohne Erfolg zu halten ge-
sucht 318—322. — Auch Herbart, Krug, Fries, Beneke u. A.
haben die „Lücke" erkannt, ebenso Schleiermacher, Ueberweg,
E. V. Hartmann, Volkelt, Zeller, Lotze u. A. 822—326. —
Zweiter Absatz (Schluss b). Der Raum als die „Form" der
äusseren Erscheinungen 326. — Stillschweigende Prämissen Kants
327. — Ableitung des Rechtes der angewandten Mathematik 327.
Excnrs. Methodologische Analyse der Transsc. Aesthetik . . . 829— S42
Hier beim Abschluss der eigentlichen Beweisführung Nothwendig-
keit einer methodologischen Analyse derselben 829. — Die De-
finitionen und Prämissen Kants 330. — A. Der ursprüngliche
Gedankengang in der 1. Aufl. Logische Gliederung und
logische Mängel desselben 381 — 333. — B. Die Einschaltung
der Transsc. Erörterung in der 2. Aufl. Der dabei be-
gangene Doppelfehler und die dadurch entstandene logische Ver-
wirrung 333 — 386. — C. Die methodologische Rolle der
Mathematik in der Transsc. Aesthetik. 1) Der ursprüng-
liche synthetische Gang : Die Mathematik als Folgerung. 2) Die
analytische Wendung : Die Mathematik als Beweis. 3) Die Pro-
legomena, 4) Ein circuhiB viHosus? 5) Schwankender methodo-
logischer Charakter der Transsc. Erörterung. 6) Dadurch erklärt
Inhalt. 557
Seite
sich der Streit zwischen Riehl und Volkelt, 7) sowie zwischen
Trendelenbnrg und Fischer über die methodische Stellung der
Mathematik ; sowie auch 8) das Missverständniss von Amoldt.
9) Inwiefern soll nach Kant die Mathematik seine idealistische
Raumtheorie beweisen? 10) Eine beliebte Mischform dieses Be-
weises 336—342.
Dritter Absatz. Die anthropocentrischen Folgerungen: Die ganze
Natur ist nur fQr uns Menschen da 342 — 344. — , Andere denkende
Wesen* als .Weltbeschauer« 345. — Die Thiere? 346. — Unsere
Raumanschauung als ein Specialfall; metageometrische Specu-
lationen 346. — Die unbeschränkte , empirische Realität* des
Raumes 348—350. — Die .transscendentale Idealität' des Raumes.
Widerspruchsvoller Gebrauch des Ausdruckes .tsansscendental«.
350 — 354. — Archaistische Wendungen Kants 354.
Vierter Absatz (1. und 2. Aufl.). Die Raumvorstellung als ,a priori
objectiv* im Unterschied von den bloss empirischen und gänz-
lich subjectiven Sinnesempfindungen 355 — 357.
Fünfter Absatz. Der Gegensatz von Ding an sich und Erschei-
nung im empirischen Sinne und im transscendentalen Sinne
357 — 359. — Kritischer, vorkritischer und nachkritischer Begriff
der Erscheinung 359. — Die Objectivität des Raumes im Gegen-
satz zur Subjectivität der Empfindungen 360 — 362.
Bemerkungen zum vierten und fünften Absatz. Bedenk-
liche Terminologie von subjectiv und objectiv 362. — Die von
Kant hier gebilligte Unterscheidung der primären und der secun-
dären Qualitäten passt gar nicht in sein eigenes System hinein
362 — 364. — Kant hat den in der Kr. d. r. V. zurückgewiesenen
Vergleich des Raumes mit den Sinnesqualitäten doch in den
Prolegomena selbst gezogen 364 — 366. — Die Physiologie der
Sinne und Kants Raumlehre 367.
Zweiter Abschnitt.
Von der Zeit.
§4.
Metaphysische Erörterung des Zeithegriffs 868—888
Erstes Zeitargument 808-869
Verhältniss zum ersten Raumargument 368. — Idea temporis non
aritur, sed supponitur a sensibus 368. — Kant macht der Leibniz-
sehen Definition der Zeit den Vorwurf des circulus vitiosus 369.
Zweites Zeitargument . 870-ll71
Verhältniss zum entsprechenden Raumargument 370. — Kant unter-
scheidet nicht scharf genug zwischen absoluter und relativer
Nothwendigkeit 370.
558 Inhalt.
Seite
Drittes ZeitarguneBt 971—872
VerhSltniss zur Transscendentalen ErOrtenmg.
Viertes Zeitargument 872— S74
Verhältniss zum enteprechenden Raamargnment 372. — Unvoll-
ständigkeit dieses Zeitarguments 378. — Idea temparis est singu-
lariSf non generalis 378.
FOnfles Zeitargument 874—888
Erste Redaction (A). Die Theile der Zeit sind nur durch Ein-
schränkung möglich' 875. — Unendlichkeit eine Folge davon
875. — Beim BegriflF gehen die Theilvorstellungen vorher, bei
der Zeit ist das Yerhältniss umgekehrt 376. — Das letzte Zeit-
argument ist nicht mit dem letzten Raumargument identisch,
sondern mit dem zweiten Theil des vorletzten 877. — Unend-
lichkeit und Gontinuität der Zeit 378. — Zweite Redaction (B).
Kant hat das fünfte Zeitargument in der zweiten Auflage ver-
schlechtert 879 — 881. — Streit zwischen K. Fischer und Tren-
delenburg 881—883.
§5.
Transscendentale ErSrterung des ZeitbegrUb . 888—880
Die synthetisch-apriorischen Zeitaxiome 888. — Possibüitas mutatio-
num nonnisi in tempore cogitabilis; determinationes oppositae
können einander nur succediren 884. — Ohne Zeit keine Ver-
änderung; Kant über das Nirwana als den .Zustand der Unver-
änderlichkeit* 885. — Streit zwischen K. Fischer und Trendelen-
burg über die Zeit als Bedingung des Satzes vom Widerspruch
886. — Die synthetisch-apriorischen Sätze der allgemeinen Be-
wegungslehre 387. — Kümmerlichkeit einer , allgemeinen Zeit-
lehre" 388. — Schwankende Stellung der Arithmetik bei Kant
im Yerhältniss zur Zeit 388—890.
§6.
Schlüsse in Bezug auf die Zeit .... 880—899
•
Die Zeit ist nur subjectiv 891. — Die Zeit als Form der inneren
Anschauung 392. — Unselbständigkeit der Zeitvorstellung 392. —
Die Zeitfolge als eine ins Unendliche fortlaufende Linie 893. —
Das Zugleichsein als zweite Dimension der Zeit 898. — Schwanken
Kants über das Zugleichsein 394. — Der Streit Über die simultane
Apprehension 895. — Uebertragung der Zeit von den inneren
Vorgängen auf die äusseren Erscheinungen; Stellung der Zeit
im Yerhältniss zum Räume 895 — 398. — Die Subjeotivität der
Zeit 398. •
Inhalt. 559
Seite
§7.
1) Erl&uterttng zur Zeittheorie .... 899—410
Conftäatio dubiorum. Der , Einwarf einsehender Männer" (Lambert,
Mendelssohn, Schultz): «Aus der Realitöt der inneren Vor-
gänge folgt die Objectivität der Zeit" 399—401. — Antwort
Kants darauf im Jahre 1772. 402. — Die Beantwortung des Ein-
wurfs in der Kr. d. r. Y. selbst 402—404. — Das Paradozon : '
,Die Zeit ist in mir und ich in der Zeit' und die Auflösung
desselben 404. — Kant findet die Ursache jenes Einwurfs im
Befangensein seiner Gegner im vulgären Idealismus 405. — Der
falsche und der wahre Idealismus : Schein und Erscheinung 406.
— Die Yoraussetzimg einer Vielheit wirkender Dinge an sich
407. — Alte und neue Einwände gegen Kants Zeittheorie:
Pistorius, Ulrich; Riehl, Lotze 407—409. — K. Fischer sucht
Kants naturgeschichtliche Weltansicht vergeblich mit der idealisti-
schen Erkenntnisstheorie desselben zu versöhnen 410.
2) Allgemeines Resultat der Transse. Aesthetik 410—422
Feststellung der allgemeinen Ergebnisse 411. — Transscendentale
Idealität von Raum und Zeit als Grund der empirischen Realität
derselben 412. — Die beiden bisherigen Haupttheorien Aber
Raum und Zeit: die englische Theorie des receptaeulum , die
Leibniz*8che Theorie der relatio 413. — Der Streit zwischen
Clarke und Leibniz 414.
Erste Partei. Die mathematischen Naturforscher (Clarke)
>//^ 417.'— Raum und Zeit als Substanzen — sind .Undinge* 415. —
Die Newton-Clarke*8che Theorie ermöglicht zwar die Anwendung
der Mathematik für alles Sinnliche, macht aber alles Uebersinn-
liche unmöglich 415.
Zweite Partei. Philosophische Naturlehrer (Leibniz) 416. —
Schvrierigkeiten in der Kantischen Darstellung der Leibniz'schen
Lehre: Inwiefern schreibt Leibniz dem Raum, der doch nur ein
phaenomenon ist, zugleich «absolute Realität* zu? 417. — Die
Leibniz'sche Theorie ermöglicht zwar die Annahme des Ueber-
sinnlichen, garanürt aber nicht die Gültigkeit der Mathematik
für alle sinnlichen Gregenstände 417. — Das Problem der unend-
lichen Theilbarkeit der Materie; die «Chikanen* der «Monadisten*
gegen dieselbe 419. — Die Leibniz*Bche Theorie der Mathe-
matik 420.
Nach Kant löst seine Theorie aUe Schwierigkeiten; dieselbe ist eine
Verbindung Newton*scher und Leibniz*scher Elemente 421.
EzourB. Die hiatoriBche Entstehung der EanÜBchen Raum- und
Zeitlehre 422-486
Kants Ansichten über Raum und Zeit in seiner dogmatischen
Periode (1746—1758). Kant schliesst sich im Allgemeinen der
Leibniz- Wolffischen Theorie an, sucht aber den Widerstreit
zwischen der Metaphysik und Geometrie schon zu lösen 428. —
560
Inhalt.
Seite
Kants Ansichten über Raum und Zeit in seiner empiristischen
Periode (1762 — 1768). Kant geht von den Metaphjsikem all-
mSJig zu den Mathematikern resp. Newton über 424. — Kants
kritische Raumtheorie (1770) — eine Synthese der Leibniz'schen
und der Newton'schen Theorie 425 — 427.
Wie kam Kant zu seiner Entdeckung vom Jahre
1770? Nach Paulsen durch Reaction auf den Hume'schen An-
stoss 427. — Widerlegung dieser Ansicht 428. — Nach Windel-
band durch die 1765 erschienenen Nottveaitx Essais von Leibniz.
Zustimmung zu dieser Ansicht 428—430. — Swedenborgs Ein-
fluss? 481. — Höhere Wichtigkeit der inneren, als der äusseren
Motive 431. — Riehl und Thiele finden den zureichenden
Qrund in der Abhandlung von 1768. 482. — K. Fischer findet
das entscheidende Motiv in dem , Problem der mathematischen
Erkenntniss*^, übersieht dabei aber das Problem der angewandten
Mathematik, welch letzteres von Riehl richtig gewürdigt wird
488 — 435. — Riehl bemerkt und B. Erdmann beweist, dass
die Antinomien den Umschwung herbeigeführt haben 485.
3) Schlussanmerkimg yon § 7 ... .
Sind Raum und Zeit die einzigen Prindpien a priori der Sinnlich-
keit? 486. — Der Begriff der Bewegung setzt Erfahrung voraus;
doch nimmt Kant auch eine apriorische Bewegung an 487—489.
— Auch der Begriff der Veränderung gehört nicht zu den Data
a priori 439. — Raum und Zeit sind die beiden einzigen apriori-
schen Anschauungsformen 489. — Nach Schelling und Trendelen-
burg hätte Kant das beweisen sollen 440. — Versuche, noch
andere apriorische Elemente der Sinnlichkeit aufzufinden 440.
486—441
§ 8.
Allgemeine Anmerkungen zur Transsc. Aesthetik
Anmerkung I
Erster Theil. Zusammenfassung des Resultates : die empiristisch-
kritische und die idealistische Wendung desselben nach B. Erd-
mann. Verhältniss dieser beiden Wendungen zur Analytik und
Dialektik 441 — 444. — Mit welchem Recht kann Kant hier
sagen: „Die Dinge an sich bleiben uns gänzlich unbekannt?'
445. — Die unbekannten „ Verhältnisse' der Dinge an sich 446.
— Raum und Zeit »verschwinden* mit dem Subject 446. —
Keine noch so tiefe Erforschung der Sinnenwelt führt zu den
Dingen an sich. Dies verkannt zu haben, ist der Fehler der
bisherigen Theorien der Sinnlichkeit 447. — A. Polemik gegen
Leibnlz-Wolffy d. h. gegen die Theorie, die Sinnlichkeit sei nur
eine verworrene Verstandeserkenntniss der Dinge an sich 447. —
Darin sieht Kant eine »Verfälschung" des Begriffes von Sinn-
lichkeit und von Erscheinung. Streit über den Ausdruck »Ver-
fälschung' zwischen Eberhard und Reinhold 449. — Kant wirft
Leibniz vor, Sinnlichkeit und Verstand nur graduell geschieden
441—617
441— 47S
InhaU. 5(31
Seite
zu haben; das Beispiel vom „Recht** 451. — Nach Kant sind
Sinnlichkeit und Intellectuelles vielmehr speci fisch verschieden,
fltransscendental*, nicht bloss logisch; archaistische Wendung
Kants; Verhältniss zur Dissertation von 1770. 452 — 454. — Eber-
hard hat die Leibniz'sche Theorie gegen diesen Kantischen An-
griff unglücklich vertheidigt 454. — Kant hat Eberhards Homo-
nymien hiebei in den Begriffen des , Nichtsinnlichen'' und
^Einfachen'*, der .Theile*, „Elemente*, „Gründe" scharf auf-
gedeckt 455 — 459. — Kants schroffe Gegenüberstellung von Sinn-
lichkeit und Verstand 459. — B. Polemik gegen Loeke^ d. h.
gegen die Theorie, ein Theil der Sinnlichkeit gebe zvrar nur
subjective Erkenntniss, der andere aber gebe objective 460. —
Das Beispiel vom Regenbogen 460. — Lockens empirischer
Unterschied von Ding an sich und Erscheinung und Kants
transscendentaler Unterschied zwischen Beiden 461 — 463. — Auf-
fallendes Schillern in der Bedeutung des „Transscendentalen*
463. — Leibniz und Locke haben Beide das Wesen der Sinnlich-
keit nach entgegengesetzten Seiten hin verkannt und den Unter-
schied des mundus sensibilia et inteüigibüis nicht richtig gefasst 465.
Zweiter Theil. Die Transsc. Aesthetik nicht bloss „scheinbare
Hypothese", sondern beweisbare „Theorie" 466. — Die Mathe-
matik als Beweis 467. — Erster Gedankengang: Die Sätze
der reinen Mathematik setzen als synthetische a priori zu
ihrer Erklärung Anschauung a priori voraus 467 — 469. —
Zweiter Gedankengang: Uebergang zur angewandten
Mathematik; mathematische Aussagen über die Objecte setzen
zu ihrer Erklärung eine apriorische Anschauungsform
voraus 470. — Der Triangel in der Mathematik und das Dreieck
in der Natur 470 — 472. — Schluss der Transsc. Aesthetik nach
der ersten Auflage : Die Dinge an sich werden aus Grundsteinen
zu Grenzsteinen 472.
Anmerkung II 478—485
Noch eine „Bestätigung dieser Theorie von der Idealität des
äusseren sowohl als inneren Sinnes" 473. — Erste Hälfte:
Aeusserer Sinn. Auflösung der Aussenwelt in lauter Re-
lationen. Entstehung dieser Lehre von 1787 aus früheren Stellen
von 1781 und 1786. 473—476. — Eine Anwendung dieses Re-
lationsargumentes ist die Relativität des Maasses von Raum und
Zeit: der orientalische „Derwisch" und „das Universum in einer
Nussschale" 477. — Zweite Hälfte: Innerer Sinn. Ueber-
tragung jenes Relationsargumentes auf die Innenwelt: auch diese
besteht aus lauter Relationen 477 — 480. — Kants Theorie des
Bewusstseins : Spaltung des Ich in einen activen und passiven
Theil; die Processe und Resultate, die aus dem Zusammenwirken
dieser beiden Elemente sich ergeben 480 — 482. — Fundamentaler
Fehler dieser Theorie 482. — Das Selbstbewusstsein als irreducibles
Factum 483. — Die sinnliche und die intellectuelle Selbstanschau-
ung 484. — Schwierigkeiten der Lehre vom inneren Sinn 485.
Vaihinger, Kant-Commentar. II. 36
562 Inhalt.
Seite
Anmerkung III 486—494
Ein Schiller'sches Xenion 486. — 1) Kant weist den Vorwurf zurück,
er verwandle alle Erfahrung in blossen Schein; er unterscheide
vielmehr den Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als
Object an sich 486 — 488. — 2) Kant hat hiezu eine erläuternde
Fussnote über den unterschied von Erscheinung und Schein
hinzugefügt, in welcher er Schein = Sinnestäuschung und
Schein = Yerstandesirrthum unklar mit einander vermischt
488 — 492. — 3) Kant gibt den ihm gemachten Vorwurf — Ver-
wandlung der ganzen Welt in lauter Schein — seinen realisti-
schen Gegnern zurück 492 — 494.
Ezcurs. Kant und Berkeley 494— o05
1) Lambert über Erscheinung und Schein 494. — 2) Garve-
Feder, Mendelssohn u. A. erheben gegen Kant den Vor-
wurf, er verwandle die ganze Welt in Schein 495. — 3) Kant
kämpft gegen dies Misaverständniss in den Prolegomena 495. —
4) Verschärfung jenes Vorwurfes durch Zusammenstellung Kants
mit Berkeley durch Feder 496. — 5) Kant sträubt sich mit
Recht heftig gegen diese Zusammenstellung in seinen Prolego-
mena 497. — 6) Kants ürtheil über Berkeley in der Kr. d. r. V.
498. — 7) Unzulängliche Vertheidigung Berkeley's gegen dies
ürtheil durch Schopenhauer u. A. 499. — 8) Bestätigung
des Kantischen Urtheils. Kant schiebt Berkeley gegenüber seine
Dinge an sich in den Vordergrund 500. — 9) Nach Beck spricht
Kant hier nicht von den Dingen an sich, sondern von den
Dingen im Räume. Cohens Auffassung der Stelle 501 — 503. —
10) Der auch neuerdings von Trendelenburg, E. v. Hart-
mann u. A. wiederholte Vorwurf, Kants Lehre führe zum
Illusionismus, ist unberechtigt, unterschied Kants von Berkeley
503—505.
Anmerkung IV 505 — 516
Das Problem; wie sich Gott zu Raum und Zeit verhalte? K nutzen,
M. Herz, Mendelssohn 505—507. — Drei Fragen, welche
in jenem Problem enthalten sind 508. — Gott ist in keiner Hin-
sicht an die Formen von Raum und Zeit gebunden 509. — Die
sinnliche Anschauung und die intellectuelle Anschauung: in-
tuitua derivatives und intuitus originarius 509—511. — Kants
intuitus originart'u8 und Swedenborgs , pneumatisches* Anschauen;
positives und negatives Verhältniss Kants zu Swedenborgs
Mysticismus 511 — 513. — Die Gotteslehre und die Freiheitslehre
als Bestätigungen der Transsc. Aesthetik; Verhältniss derselben
zur Analytik und zur Dialektik 514 — 516.
Beschluss der Transsc. Aesthetik. Das Problem der syn-
thetischen Urtheile a priori ist in Bezug auf die Mathematik
gelöst 516—517
Inhalt. 563
Seite
Anhang.
Das Paradoxon der symmetrischen Gegenstände 518—532
Das p Paradoxon* ähnlicher und gleicher, aber doch incongruenter
Gegenstände als Bestätigung der Idealität des Raumes 518. —
Das Problem und seine Veranschaulichung durch Figuren 519. —
Auflösung des Problems durch die Unterscheidung von Erschei-
nung und Ding an sich 521. — Unbedeutende Rolle der sym-
metrischen Gegenstände in der Dissertation von 1770. 523. —
Die symmetrischen Gegenstände in dem Aufsatz von 1768; das-
selbe Problem, aber entgegengesetzte Lösung desselben 523 --527.
— Andere Bedenken gegen Kants Argumentation 527. — Ver-
wandtschaft des Argumentes mit dem Kampf gegen das Leibniz*sche
principium identitatis indiscemibilium 529. — Zusammenhang des
Argumentes mit dem Streit zwischen Leibniz und
C 1 a r k e 530. — Spiritistische Ausbeutung des Kantischen Para-
doxons zu Gunsten einer vierten Dimension durch Zöllner 531. —
Zöllner hat das Kantische Paradoxon total missverstanden 532.
Specialliteratur 533— 54S
Specialschriften der ersten Periode 533. — Die Eberhard' sehen
Streitigkeiten 535 — 540. — Specialschriften der zweiten Periode
540. — Specialschriften der dritten Periode 542. — Der Streit
zwischen Trendelenburg und Fischer 545 — 548.
C o r r i g e n d a.
Seite 85, Linie 9 von oben lies „ersten" statt ^zweiten'
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