J.MEIER-ORAEFE
CO ROT und COURBET
ZWEITE VERMEHRTE AUFLAGE
<_n=
R. PIPER & CO. VERLAG -MÜNCHEN
MEIER-GRAEFE
COROT u.COURBET
II in l»H I Itl.KSSKK,
Photo
COROT ind COURBET
VON
JULIUS MEIER-GRAEFE
ZWEITE AUFLAGE
l'M 33 NEUE ABBILDUNGEN ERWEITERT
Ä
wm
MÜNCHEN :: :: R. PIPER & Co., 191 2
N
VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN
CAMILLE COROT
Kurydice blessee 1868 — 70 Titelbild
Selbstportrait von 1S35 Seite 5
Ilagar in der Wildnis 1835 nach Seite 16
Genzano 1843 Seite 17
La nymphe rappelant l'amour 1850 — 55 , 19
La Toilette 1859
Les Baignemes de Bellinzona 47
Nymphe couchee au bord de la mer 1865 vor Seite 49
Le chemin aux pommes 1850 — 60 Seite 57
Tivoli von der Villa d'Este aus gesehen 1843 nach Seite 64
Interieur limousin 1850 — 60 ,, .,64
Le port de la Rochelle 1851 64
Paysanne bretonne 1855 — 65 ,,64
Altes Landhaus in der Nähe von Semur 1855/60 .... vor Sei:
l'aysanne ä la source 1860 — 65 Seite 77
Jeune algerienne, gegen 1S72 „ 79
Femme au chevalet 1865 — 68 nach Seite 80
La liseusc 1868 80
Meditation 1869/70 ..88
Dame im Atelier 1870 ,,88
La dame bleue 1874 Seite 92
("oubron 1873 109
Le moine 1874 nach Seite 112
Chäteau Thierry 1863 Seite 115
GUSTAVE COURBET
Portrait von Henri Rochefort 1870 Seite 119
Le hamac 1844 nach Seite 128
Portrait de Baudelaire (gegen 1 S45 < 128
I.'F.nterrement d'Ornans 1850 (Text-Abbildung) Seite 134
L'Aprn-diner a < »rnans 1849 nach Seite 144
Proudhon et ies enfants, gegen 1853 144
Portrait de Mme. Crocq 1854/55 nach Seite 144
Les demoiselles de village 1 85 1 n 148
L' Atelier de Courbet 1885 Seite 151
Le ruisseau du Puits-Noir nach Seite 160
L'enterrement d'Ornans 1850 ; 160
L'atelier de Courbet 1885 168
Bonjour Mr. Courbet 1854 (j n x68
Les demoiselles au bord de la Seine 1857 168
Die Ringer , „168
Les baigneuses 1853 Seite 169
Le repos 1855 n 1?I
Felsen in der Umgebung von Omans nach Seite 1 76
Le retour de la Conference 1862 n 1 -t,
Au bord de la mer 1865 Seite 185
Femme couchee 1S7
Le reveil 1864 nach Seite 192
Detail aus le reveil , 192
Marine ca. 1870 Seite 199
Detail aus Demoiselles au bord de la Seine ,, 201
Marine 1865—76 nach Seite 208
Halali du cerf 1867 „ M 208
Studie 1865 Seite 219
Stilleben gegen 1863 nach Seite 224
Les Oranges 1 87 1 fJ M 224
INHALTSVERZEICHNIS
SEITE
EINLEITUNG i
COROT
MENSCH UND KÜNSTLER 6
DIE LEHRE 19
DIE FRAUEN COROTS ^
DER LANDSCHAFTER 63
DIE BESTE ZEIT 79
VERMEER— CHARDIN-COROT 95
COROTS STELLUNG IN DER GEGENWART . . . . in
COURBFI
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER 121
FRÜHZEIT 135
VOM „BEGRÄBNIS VON ORNANS" ZUM „ATELIER*1 151
I.K FAISEUR DE CHA1R 171
DAS NEUE PROGRAMM 187
OOURBETS STELLUNG IN DER KUNST 201
»WORT 227
EINLEITUNG
DER Verfasser versucht mit diesem Buche eine
Unterlassungssünde gutzumachen. Die mehr als
lückenhafte Würdigung der beiden Künstler, denen diese
Seiten gewidmet sind, in seiner „Entwicklungsgeschichte"
forderte berechtigte Einwände heraus. Corots Ruf be-
darf keiner Förderung, am wenigsten von so inkompe-
tenter Seite. Er erfreut sich universaler Schätzung
und nähert sich jener weit sichtbaren Bedeutung, die
das Eingehen auf Nuancen zuläßt und gleichzeitig einen
über den Kreis der zeitgenössischen Geschichte hinaus-
gehenden Vergleich erlaubt. Mit Courbet steht es
anders, und sich bei der Betrachtung dieses Anführers
der modernen Malerei mit Andeutungen zu begnügen,
war unverzeihliches Vergehen — wenn nicht der Er-
kenntnis, so der Darstellung, die infolgedessen, zumal
vor einem deutschen Publikum, wichtige Elemente der
Entwicklung dem Mißverständnis aussetzte.
DerfreundlicheLeserverzeihe,daßichmit diesem persön-
lichen Bekenntnis beginne. Mein Fall ist der seine. Unsere
Schnellebigkeit erlaubt uns nur zu oft nicht, die tief-
gehende Auseinandersetzung mit den entscheidenden
Werten, weil die aktuellen zu viel oberflächliche Inter-
essen absorbieren. Das Unrecht gegen Courbet ist be-
sonderer Art. Man verehrt seine Nachfolger und kennt
ihn selbst kaum dem Namen nach. Wenn uns Deutschen
forderlich ist, Corot nahe zu kommen, weil ihn viele
Tugenden auszeichnen, die unseren Instinkten zum
N hteil deutscher Kunst nur selten gelegen sind: zu
Courbet sollte uns schon die Erkenntlichkeit treiben
als zu dem Meister, dessen Einfluß die bedeutendste
Malergeneration des zeitgenössischen Deutschlands die
kräftigste Forderung verdankt. Doch bedarf es nicht
dieser Erinnerung. Ich hoffe zu zeigen, daß, ganz wie
2 EINLEITUNG
sich Corot, jenseits seiner historischen Bedeutung, jedem
Blick auf eins seiner Werke erschließt, so Courbet, auch
abgesehen von seiner bei uns und in anderen Ländern
glänzend gespielten Rolle, unmittelbaren Genußwert
äußert; ja daß die Stärke, mit der dieser große Künstler
die wichtigsten Wirkungsfaktoren unserer Empfindungen
erkannte, ihn vielleicht der Gegenwart noch näher bringt
als Corots milde Größe. Wir bringen ein Stück unserer
Selbst in unser Bewußtsein zurück und stärken unser
Vertrauen auf unsere Art, indem wir die seine erkennen.
CAMILLE COROT
' \NIi' I Selb»tj. 1835. o,u
Offizien, Florenz.
MENSCH UND KÜNSTLER
SEINE Mutter, von ihm „La belle dame" genannt,
war eine der gesuchtesten Modistinnen im ersten
und zweiten Kaiserreich und stammte aus der Schweiz.
Sein Vater, Sohn eines Perückenmachers, hielt die Kasse.
Der Laden lag am Anfang der Rue du bac, gleich an
der Seine — vor hundert Jahren war das gute Gegend —
nicht sehr groß aber fein, .soigniert. Wer etwas auf sich
hielt, ließ dort arbeiten. Es gibt von Gavarni eine rei-
zende Gravüre aus dem Jahre 1830 „modes de Mme.
Corot": Ein Pärchen von der heute wieder entdeckten,
intimen Eleganz der Zeit. Sie im süßesten Kapottehüt-
chen mit großen Bindebändern, in dem großen gerad-
linigen Sessel englischer Herkunft; der Geck steht in
langem Glockenrock daneben.
Die Mutter liebte den Jungen zärtlich. Der Vater,
echter, nüchterner Bourgeois mit anständigem Embonpoint,
tadellos reell, betrachtete ihn mit Erstaunen, wunderte
sich noch, als man von dem fünfzigjährigen Sohne ein
Bild kaufen wollte, und konnte, als die Ehrenlegion eintraf,
nicht fassen, daß die Auszeichnung nicht für ihn selbst,
sondern für den Maler bestimmt war. Man machte dem
Jungen keine allzugroßen Schwierigkeiten, den merk-
würdigen Beruf eines Malers zu ergreifen, hänselte ihn
allenfalls. Der Alte schrieb das Geld gut, das für die
Etablierung eines Geschäftes für den Sohn zurückgelegt war,
und zahlte ihm eine anständige Rente. Dumme Streiche
fürchtete man nicht. Camille war ein gutes Kind.
Der Rest kam bei dem Gang der Geschäfte nicht in
-je.
Konnte aus solchem Milieu, in dem das gemütlichste
Behagen herrschte und nur die zärtlichsten Dinge ver-
handelt wurden, wo jede Gebärde etwas geschmackvoll
Frauenhaftes erhielt, ein revolutionärer Künstler hervor-
8 COROT
gehen? Nicht weniger als alles sprach dagegen. Zwar
war er körperlich unglaublich robust und verfügte wie
Courbet über ungewöhnliche Kräfte. Der Siebzigjährige,
der noch mit der Sonne auszog, der Nässe und der
Kälte trotzte, wie ein Bauer gekleidet ging und wie
ein Handwerksbursche durch die Welt zog, schien eher
der Sohn eines Landmannes. Nur das Gesicht verriet
das Sanfte seines ganzen Wesens. Es sah fast wie das
eines Landpastors aus, eines von der allerbesten Sorte,
dem die Frömmigkeit aus der Natur kommt, der, ge-
wohnt, mit einfachen Menschen umzugehen, das salbungs-
volle Wort zur herzlichen Gebärde umformt.
Alles andere, nur kein Revolutionär. Er war noch
im 18. Jahrhundert geboren, um ein Jahr älter als
Delacroix, aber hatte gar nichts von der wilden
Zeit. In dem robusten Körper saß eine mädchenhafte
Seele. Seine Briefe an die Eltern und Freunde klingen
wie Pensionatsergüsse. Er war fromm, ging zur Messe
und genierte sich nicht, im Kreise der Bohemiens
vom lieben Gott zu sprechen. Aber zu alledem muß
man seine Eigenheit hinzurechnen, das Corothafte, das
all seinem Gebaren etwas Besonderes gab. So war
seine Seele wohl mädchenhaft, aber hielt — nicht mit
großen Worten, sondern im stillen um so energischer —
an seinem Willen fest. So war er sanft, aber dieses
Sanfte kam nicht von einer Beschränktheit der Persön-
lichkeit, sondern von übergroßem Reichtum her, der
sich so auf bequemste Weise des Überschusses entäußerte.
Kein Mensch war glücklicher. Seine geringen An-
sprüche konnte er mehr als in ausreichendem Maße
befriedigen. Freunde besaß er mehr als große Fürsten,
Feinde hat er kaum gehabt. Warum sollte er nicht
fromm sein? Denn seine Frömmigkeit hielt sich nicht
an enge Formeln. Sie steckt in dem Ausspruch, den er
einmal über das Jenseits tat: „Na, ich hoffe, man malt
MENSCH UND KÜNSTLER 9
wenigstens da oben!*' Sie vermischte, wie oft in Frank-
reich, das von Gott Gewollte mit dem Schönen, die
Engel mit den Nymphen, den Himmel mit dem Olymp.
Er war, obschon ein guter Christ, kein schlechter
Grieche aus heidnischen Zeiten. Einen Dichter nannte
ihn Theophile Gautier, aber das ist beinahe zu richtig.
Dieser Dichter war ein echter Bourgeois. Als ihn ein-
mal in reiferen Jahren ein Freund das Angeln lehrte,
vergaß Corot über diesem, dem echten Pariser Spießer
unentbehrlichen Sport 14 Tage das Malen. Seine
Leidenschaft waren Familienfeste. Er fehlte bei keiner
Taufe, bei keiner Trauung; stand in der Politik bei den
äußersten Konservativen, ließ sich von Courbet gewaltig
imponieren, bekehrte sich zu Delacroix erst im Alter
und konnte Manet nicht ausstehen. Sicher war der
Künstler in ihm größer als der Mensch; so scheint es
wenigstens, weil wir den Großen nicht gern Gutmütig-
keit zutrauen. Und doch gehörte der Pere Corot und
das, was er machte, so zusammen wie Leib und Seele.
Es klingt verdächtig seicht, wenn er sich bei dem Land-
schafter Dutilleux anmeldet, um, wie er sagt, mit ihm,
das heißt mit dem nicht übermäßig begabten Freunde,
„ordentliche Chefs-d'ceuvre" zu machen, wenn er „seine
Flöten putzt", „um für die kleinen Vögelchen im Walde
zu arbeiten". Wer glaubt heute noch dergleichen?
Gibt es noch Kinder in der Welt? Darf es sie geben?
I in Kind war er, das trifft wohl am besten seine
Art. Ein Kind, das eines Morgens seine alte Adele,
die Wirtschafterin des Junggesellen, nicht anzusehen
wagte, weil er ihr des Abends vorher ein nicht ganz
sanftes Wort gesagt; der dem Freunde, dessen unver-
schämtem Pumpversuche er einmal siegreich widerstanden
hatte, nachlief, um ihm die Tausendfrankscheine zu
bringen; der kein Geschenk machte, ohne dem unge-
betenen Gaste zu empfehlen, recht bald wiederzu-
io COROT
kommen. Den zweifelhaften Händlern, die ihm falsche
Bilder brachten, malte er echte auf die alten, — Roger
Miles erzählt ein paar hübsche Anekdoten darüber1) — -
und noch auf seinem Sterbebette signierte er Tedesco
ein vergessenes Gemälde. Er war viel gutmütiger, als
Kinder zu sein pflegen, aber hatte den Optimismus,
der ihnen eigen ist. Seine Biographie, die Moreau-
Nelaton mit größtem Fleiße zusammengestellt hat, liest
sich wie die Lebensgeschichte eines Kindes, das 80 Jahre
wurde.-)
Er arbeitete im spielen, mit einer Phantasie, wie sie
nur dem Knabenalter eigen zu sein pflegt. Der Katalog
Robauts zählt 2500 Werke. Noch in seinen letzten
Lebensjahren malte er an mehreren Bildern zugleich
und brachte manchmal in einer Woche ein halbes
Dutzend fertig. Kindlich ist die ganze Art seiner
Kunst. Ich habe bei jeder seiner Zeichnungen den
Eindruck, einen ganz jungen Menschen vor mir zu
sehen, der mit der Naivität des Anfängers gestaltet.
Bis zum 18. Jahre war er in Rouen auf der Schule,
dann 8 Jahre Kommis, dann kurz bei dem gleichaltrigen,
frühreifen Klassizisten Michallon, und als dieser, in ge-
wissen kleinen Landschaften viel versprechende Künstler
schon 1822 starb,8) trat Corot bei Victor Bertin ein, dem
Akademiker par excellence. Aber er hat eigentlich nie
eine rechte Schule gehabt. Darin verbirgt sich das Neu-
zeitliche seiner Art, der Unterschied mit der alten Kunst,
mit Ingres. Dieser war das Höchste von Schule, Corot
J) Album classique des Chefs — ■ d'oeuvre de Corot (Braun & Cie.,
Paris 1895).
'-) L' oeuvre de Corot par Alfred Robaut, catalogue raisonne et
illustre, precede de l'histoire de Corot et de ses ceuvres par Etienne
Moreau-Nelaton (H. Floury, Paris 1Q05).
s) Vgl. über diesen ersten Lehrer und Freund Corots, der nicht ohne
Einfluß günstigster Art auf ihn gewesen sein muß, die kurzen Angaben
bei Andre Michel, „Notes sur l'Art Moderne" (Colin & Co., Paris 1896),
S. 9 u. ff.
MENSCH UND KÜNSTLER 11
das Höchste von Autodidakt. „Confiance et conscience"
war seine Parole, zwei Worte, die für ihn im Grunde
dasselbe bedeuteten, denn er bezog die conscience nur
auf den eigenen Maßstab, die eigene Empfindung, wie
sie durch die Natur gelöst wird. Nichts anderes ließ
er gelten, an nichts anderes denken, auch nicht an die
alten Meister. Kind sein, die Augen aufmachen, träu-
men, et voilä. Ingres brachte es fertig, höchste Kultur
so intensiv, fast könnte man sagen, physisch in sich auf-
zunehmen, daß seine Formel beinahe wie Natur erscheint.
Fast, denn ein Rest bleibt bei ihm immer. Man ver-
gißt nie, selbst nicht bei dem Bain turc, daß man eine Ma-
lerei vor sich hat, eine Konstruktion, und kann vor der
glänzendsten Odaliskenzeichnung nicht ganz das Deko-
rative verwinden. Corot ist nur Mensch, aber ein so
selten reines Exemplar von so göttlichem Instinkt, daß
ihm die lieblichste Form zugleich die natürlichste wird.
Darin liegt sein großer Reiz und auch seine schlechter-
dings alleinstehende Bedeutung. Die Kunst des Parti-
pris der Stilisten, selbst eines Ingres, hat alle möglichen
Schönheiten, aber verbirgt das Elementare. Sie wirkt
durch die Überlieferung. Der Künstler identifiziert
sich nicht vollkommen mit ihr. Der Beschauer dringt
erst nach Überwindung dieser Überlieferung zur eigent-
lichen Form des Künstlers, zum Menschlichen, und der
Umweg macht ihn zuweilen müde. Nichts dergleichen
hemmt uns bei Corot. Wir glauben seinen Dingen ohne
weiteres, weil wir in der Art seiner Mitteilung, in jedem
Strich, die gestaltende Empfindung spüren. Dadurch
gehört Corot zur Moderne. Aber er gehört nicht in
jedem Sinne zu ihr. Was die vom Schmuck der alten
Kultur entblößte Zeit am wesentlichsten brauchte, war
die schnelle Fähigkeit, das Menschliche zu äußern. Das
tat er. Aber daraufhin arbeiteten auch Delacroix und
Daumier, und doch rechnen wir sie nicht zu den Mo-
12 COROT
dernen. In beiden wirkt noch, unendlich modifiziert,
das Stilelement der Alten. In Delacroix macht es die
Romantik rhetorisch, in Daumier biegt es sich zur
Karikatur. Sie sind beide Encyklopädisten der Formen-
revolution, vertreten die Rolle eines Diderot, aber sind
noch nicht Revolutionäre der Tat.
Deren sollte die Zeit eine stattliche Anzahl gebären.
Corot gehört nicht zu ihnen. Es hieße St. Vincent
de Paul einen Jakobiner nennen, wollte man Corot Um-
stürzlerideen zutrauen. Es fehlt ihm das subjektiv
Revolutionäre der Rousseau und Dupre und noch viel
mehr das der Courbet-Schule. Aber dieser Mangel
gibt ihm just die Ausnahmestellung in seinem Zeitalter
und enthält den mit nichts zu vergleichenden Segen
seines Wirkens. Revolutionäre kamen, mußten kommen.
Die Zeit rief sie. Das Programm ergab sich von selbst.
Courbets Realismus — freilich nicht seine Malerei —
ist eine fast mathematisch berechenbare Erscheinung.
Ein Corot aber stand nicht in dem Programm. Er
war die Überraschung des Himmels. Gerade das Nicht-
revolutionäre seiner Gabe wirkte Wunder. Es brachte
ihn um den augenblicklichen Erfolg, um den Enthusi-
asmus, der Courbet zujubelte und dem Corot selbst in
rührender Weise Tribut brachte (glaubte er doch einmal,
angesteckt von Daubignys Enthusiasmus, dem Himmel
danken zu müssen, in einem Jahrhundert mit Courbet
zu leben), aber es bewahrte ihn vor dem tiefen und
ungerechten Fall, vor dem ungeheuerlichen Geschick
Courbets, den man wie ein abgebrauchtes Möbel in die
Ecke stellte, nachdem er der Welt das Losungswort
gebracht hatte. Man glaubte Courbet mit seinem Pro-
gramm erledigt und übersah, daß er himmelhoch dar-
über hinwegragte. Corot hatte kein formuliertes Pro-
gramm außer dem „Confiance et conscience". Tat-
sächlich aber realisierte er das denkbar Positivste aller
MENSCH UND KÜNSTLER 13
Programme: die Erhaltung der Überlieferung im neuen
Geiste. Nicht die Form, sondern der Geist der Über-
lieferung lebte in ihm und wurde unbewußt zum Triebe.
Er wollte nichts anderes malen, als was er sah, aber
er malte in Wirklichkeit alles mit, was ein Mensch, der
durch und durch Franzose war, empfand; allen Optimis-
mus der glücklichen Rasse, all das reiche Legendenbewußt-
sein eines Volkskindes. Seine Nymphen entstanden wie
seine Bäume. Er muß sie gesehen haben. Sie sind
organische Wesen seiner Natur, und wo sie fehlen, ist
die Natur so gemalt, als müßten sie irgendwo erscheinen.
Das ist von Anfang so, auch als er an nichts anderes
dachte, als von der Natur sehen — , lesen und schreiben'
könnte man es bei ihm nennen — zu lernen, und
schon dieses unwillkürlich gemilderte Verhältnis zur
Natur, das wir noch deutlicher zu zeigen hoffen, gab
ihm eine von den Malern in Barbizon durchaus ge-
sonderte Stellung. Diese trat zunächst in seiner gerin-
geren Abhängigkeit vom Boden hervor. Rousseau und
Dupre waren seßhafte Leute, Corot flog wie ein
Schmetterling über die Welt, war bald hier, bald dort,
von einer Beweglichkeit, die man Mühe hat, mit seinem
Behagen in Einklang zu bringen, und die trotzdem so
gut dazu paßte, daß sich niemand darüber wunderte,
ihn im Sommer alle 14 Tage wo anders zu wissen.
Am seltensten kam er Rousseau ins Gehege. Seine
Welt war nicht der magistrale Wald von Barbizon,
sondern eher die Lieblichkeit des Teiches von Ville
d'Avray mit den koketten Ufern, auf denen man heute
noch zuweilen des Abends von dem Platz aus, wo das
Denkmal steht, Corotsche Bilder zu sehen meint; oder
Nantes mit dem Fluß und den Brücken, oder Arras
mit der langen, oft gemalten Chaussee, wo die Freunde
wohnten; einfache, aufrichtige Bewunderer, stille Leute
wie er, in deren Kreise er sich vielleicht wohler fühlte,
i4 COROT
als unter den philosophierenden Kollegen. Oder Auvers,
im lieblichen Tal der Oise, wo er Daumier das Haus
schenkte; die Landschaft, die später Cezanne und Pissarro,
zuletzt van Gogh verherrlichten, und die für die mo-
derne Malerei mindestens so wichtig geworden ist wie
Barbizon.
Aber er gehört wohl überhaupt zu keiner besonderen
Landschaft der Natur. Er hatte das Bild in sich und
gebrauchte das Äußere nur zur Bestätigung seiner Träume,
war einer von den Wundermenschen, die mit Formen
geboren werden, wie andere Leute mit anderen Dingen.
Man hat lange gemeint, die Form als solche wäre nicht
seine Sache gewesen, er hätte die Undeutlichkeit ge-
sucht, nicht zeichnen gekonnt und wäre deshalb nur
im Dämmerlicht Herr seiner Mittel gewesen. Soweit
das ein Vorwurf gegen seine Kunst sein soll, ist es
nicht richtig. „II ne faut laisser d'indecision dans
aucune chose" notiert er in seinem Reisenotizbuch, als
er zum ersten Male nach Italien kam. Mit seiner Ge-
wissenhaftigkeit hätte sich solcher Kompromiß nicht
vertragen. Wer ihm ungenügende Zeichenkunst vor-
wirft, tadelt auch an Velasquez, Rembrandt und Rubens
diesen vermeintlichen Mangel. Zeichnen im Kunstsinne
heißt nichts anderes wie Malen: die Fähigkeit, mit Blei-
stift oder mit der Feder gleichwie mit dem Pinsel eine
Empfindung durchs Auge, der Art des Autors ent-
sprechend, und mit der dadurch bedingten Voll-
kommenheit zu fixieren. Die Art der Klassizisten war
nicht die seine. Auch die der Cinquecentisten lag ihm
nicht. Während der zwei Jahre seines Aufenthalts in
Rom ging er kein einziges Mal in die Sixtina, und als
er 15 Jahre später zurückkehrte, ließ ihn Michelangelo
kalt. Also nicht der Umriß war seine Sache, und wie
sollte der es auch bei einem Künstler sein, der alles nur
in großen Massen sah, für den es in der Natur nur
MENSCH UND KÜNSTLER
»5
Formen und Töne, ja im Grunde nur Töne gab, der
aber mit dem Ton alles zu schaffen wußte. Seine
Zeichnungen, sowohl die frühesten, z. B. die Porträts
der Modistinnen im elterlichen Atelier, als auch die
Tänzerinnen und Nymphen der siebziger Jahre, setzen
sich aus zaghaften Kritzeleien zusammen. Das Kindliche,
Autodidaktenhafte seiner Kunst blieb hier am deut-
lichsten. Wo sich seine Zeichnung ganz auf den reinen
Strich beschränkt, ist sie tatsächlich nur eine Notiz
ohne jede künstlerische Prätention. Er bediente sich
ihrer wie mnemotechnischer Mittel. Man findet zu-
weilen auf den Blättern kleine Kreise und Quadrate, die,
wie Andre Michel berichtet, seine Stenographie darstellen.
Der Kreis besagt Helligkeit, das Quadrat Schatten.
Niemandem wird einfallen, solche Notbehelfe mit meister-
haften Zeichnungen zu vergleichen, und insofern hatte
die Kritik recht, daß er „schlecht" zeichnete. Sobald
er aber den Ton auf das Papier ließ, wurde es anders.
Mit drei Flecken Schatten und ebenso vielen Strichen
machte Corot eine Landschaft. Es blieb immer ein
sehr zarter Bau, denn er mußte nach dem Willen seines
Schöpfers beweglich bleiben, um in das Herz des Be-
trachters hineinwachsen zu können. „Sa forme flottante,"
sagt Jean Rousseau in seiner hübschen Studie, „semble
toujours en mouvement. Plus ecrite eile serait immo-
bile."1) Das gilt von seinen Zeichnungen wie von seinen
Gemälden. Ihre Zartheit hindert sie nicht, einen göttlichen
Hauch zu tragen. Millet begeisterte sich daran. Seine
besten Zeichnungen, zumal die traumhaft an die Antike
*) Jean Rousseau: Camille Corot, suivi d'un Appendice par Alfred
Robaut, Paris, Librairie de l'Art. 1884.
Corot war übrigens geneigt, seine Gabe gering zu schätzen. Man er-
zählt sich die hübsche Anekdote, daß er sich einmal zu Daubigny über
ungenügende Beherrschung des , .Metier ' beklagte. Worauf ihm der Freund
zur Antwort gab: „Comment tu manques de metier! Tu ne mets rien
sur la toile, et tout v est."
16 COROT
erinnernden, sind von Corotschem Geist durchdrungen.
Später hat sich Renoir und zumal Pissarro darauf be-
sonnen, und heute glaubt man in Bonnards lithographierten
Phantasien ein ähnlich kindliches Genie aufstehen zu sehen.
Der Ton war Corots großes Mittel. Die Form im
Bilde sah er lediglich in der Gesamtheit der Valeurs.
„Was es in der Malerei zu sehen gibt," sagte er ein-
mal, „oder vielmehr, was ich suche, ist die Form, das
Ganze, das Gleichgewicht der Töne. Die Farbe kommt
für mich erst nachher." Er machte die Farben mit,
Licht und Schatten wie Rembrandt. Francais nannte
ihn den Rembrandt des Freilichts. Das sagt ein wenig
zu viel. Nicht neben Rousseau, wie Corot in seiner
Bescheidenheit glaubte, wohl aber neben dem größten
Holländer erscheint er wie die Lerche neben dem Adler.
Nur: wem würde es einfallen, die Grazie mit der Kraft
zu vergleichen. Zu Rembrandts Werk bedurfte es eines
Riesen. So groß er erscheint, er durfte nicht geringer
sein, um die Ansprüche, die er selbst schuf, zu erfüllen.
Solche Gewalt hat in den Bildern Corots keinen Platz.
Ein Zuviel davon hätte den Bau zerstört. Corot schuf
seinem Genie genau das passende Nest. Wie große Dinge
schließlich daraus hervorgingen, hoffen wir zu zeigen.
-f- z
s. 7
^ --
■ -
- s.
LA NYMPHE RAPPELAXT L'AMOUR. 1S50— 55. 0,27
Photo Durand Ruel, Paris.
DIE LEHRE
ALS fast Dreißigjähriger ging Corot 1825 nach Rom,
um ernstlich zu arbeiten. Rom mag ihn ursprüng-
lich angezogen haben wie alle Zeitgenossen Ingres' als
das große Kompendium des Schönen, aus dem die Väter
Stärke und Form ihres Enthusiasmus gewonnen hatten.
Er ging als Bertin-Schüler hin und hätte normalerweise
wie dieser an der melkenden Kuh ziehen müssen, um
einer von vielen zu werden. Dagegen tat er dort so,
als gehöre Rom zu den Vororten von Paris, wo man nicht
schlechter nach der Natur arbeiten könne, als jenseits
der Fortifikationen an der Seine. Die alten Meister des
Marmors und der Malerei schienen nicht zu existieren.
Die Xatur kopierte er, in seiner Art, so getreu er es
vermochte. So überzeugter Realist ist Corot kaum je
wieder gewesen. Nachher wurde er es mit der Subjek-
tivität, die schließlich auch den Traum für Natur nahm.
In Rom dagegen war er es so wirklich, als er es über-
20 COROT
haupt sein konnte. Seine ersten Bilder sind verhältnis-
mäßig nüchtern. Man fängt jetzt an, diese frühe, einst
verachtete Zeit zu lieben; es ist die natürliche Reaktion
auf die Überschätzung der singenden Bilder der Spätzeit.
Manches der allerersten Zeit grenzt an das Topographische.
Corot begann mit dem Anfang. Er studierte die Welt,
bevor er sie eroberte. Es ist kein sehr merklicher Unter-
schied zwischen den ersten römischen und den vorher
in Frankreich entstandenen Bildern. Der Stil scheint
mehr in der Wahl des Sujets, im Ausschnitt, weniger in
der Mache zu stecken. Aber unter diesem Schein ver-
birgt sich der ganze Corot. Die oft kopierte Tiber-Brücke
mit der Peterskuppel in der Mitte und dem Engel-
sturm zur Rechten, die etwas spätere Ansicht des Kolos-
seums, im Louvre, und ähnliche kleine Bilder kündigen
schon das Raumwirkende der Meisterwerke an, die
delikate Koloristik und feine Abtönung. Unzählig sind
die Motive aus der Umgegend Roms und verblüffend
mannigfach. Je mehr sich später gewisse seiner Land-
schaften gleichen, desto verschiedener sind sie im An-
fang. Es war, als suchte er möglichst viele Formen in
sich aufzunehmen, um daraus nachher eine Einheit zu
bilden. Tatsächlich hat er aus mancher Landschaft der
ersten römischen Zeit ein viertel Jahrhundert später die
Szene zauberischer Feste geschaffen. So aus der kleinen
Parklandschaft mit dem Kolosseum im Hintergrund des
Jahres 1826, früher in der Galerie Doria, den berühmten
Nymphen-Tanz des Salons von 1850, heute im Louvre.
Auch die Zeichnungen dieser Zeit sind die korrektesten,
die er je gemacht hat; zuweilen von rührendem Fleiß,
um die Einzelheit genau zu erfassen. Aber schon damals
spielte die Hand ihm den Streich, mehr zu wollen, als
das Auge aufnahm. Aus den Felsen werden von selbst
Terrassen, die Baumgruppen fließen in geschwungenen
Linien zusammen, der Rhythmus bildet sich. Noch wider-
DIE LEHRE 21
steht Corot dem dichterischen Drange, versucht mehr
der Natur als sich selbst zu folgen. Die ganze römische
Zeit dient ihm, die solide Anatomie des Baues zu
schaffen, die ihn später beherbergen soll, und ein Teil
des großen Reizes dieser Periode mag in den unterdrück-
ten Gedichten liegen, die man unter der gewissenhaften
Sachlichkeit ahnt.
Beladen mit Bildern kam er 1828 zurück, und nun
beginnen seine Streifzüge durch Frankreich. Er malt
die ersten Bilder von Ville d'Avray und Fontainebleau,
schildert die See von Dieppe und Honfleur, die Quais
seiner alten Studienstadt Rouen und sucht das Ansehen
in seiner Familie durch eine Unmenge sorgfältiger Por-
traits zu heben, die trotz ihrer sauberen Intensität den
mißtrauischen Seinigen wie Karikaturen erschienen. Die
Landschaften sind immer noch Rekognoszierungen des
Künstlers, glänzende Terrain -Studien. 1834 gent er
zum zweitenmal nach dem Süden. Diesmal bleibt er
in Ober-Italien, in Pisa, wo er das Medaillon des Campo
santo skizziert, in Florenz, wo er im Boboli-Garten
eine seiner Art ideal angepaßte Szenerie findet. In
Venedig zeichnet er mit eingehender Genauigkeit die
architektonischen Details der Piazza und bringt wieder
eine Menge intimer Bilder kleinen Formats nach Hause.
1835 tritt er zum erstenmal mit einigem Aplomb her-
vor, er stellt im Salon die Hagar in der Wüste, sein
erstes großes Bild, aus. Im Vordergrund einer Felsen-
landschaft kniet die verstoßene Hagar neben dem klei-
nen schlafenden Ismael und hebt verzweifelt die Arme
zum Himmel.
Man erkennt Corot kaum wieder. Nach den kleinen
Bildern der Vorzeit, in denen er mit größter Schmieg-
samkeit anscheinend nur der Natur folgte, wirkt die Hagar
in der Sammlung Gallimard wie das Werk eines anderen
Menschen. Der Unterschied berührt fast unbehaglich,
22 COROT
denn er stellt gerade das in Frage, was man vorher ge-
schätzt hat, die harmlose Aufrichtigkeit. Die Hagar
ist ein konventionelles Gemälde, der Zusammenhang
mit der französisch-römischen Landschafter-Schule springt
in die Augen. Die Landschaft ist nach klassischem
Rezept komponiert, die Staffage nach demselben Vorbild
hineingesetzt, das Motiv mag ihm Benozzo Gozzoli im
Campo santo von Pisa gegeben haben. Und über dieser
leicht erkenntlichen Unselbständigkeit ist man versucht,
in dem Bilde das zu übersehen, was von Corot darin ist.
Diese Enttäuschung fällt in Wirklichkeit dem Be-
trachter zur Last. Wer in Corot einen Revolutionär
sucht, wird immer zu kurz kommen. Die Entwicklung
der modernen Kunst kommt nicht von Corot her, er hat
von ihr genommen und hat ihr gegeben, aber spielt
nicht die entscheidende Rolle, die von seinen engeren
Zeitgenossen Rousseau am deutlichsten repräsentiert.
Rousseau setzte seine ganze Überzeugung und ein außer-
ordentlich komplexes Können ein, um eine neue Land-
schaft zu schaffen, in der kein Atom mehr von der
alten Konstruktion der Poussin und Claude, der franzö-
sischen Nachfolger der Venezianer, mitspielte. Er ge-
wann die Anregung dazu aus der den Italienern ent-
gegengesetzten Kunst, aus Holland, und betrat so den
einzigen möglichen Weg, um die Malerei geeignet zu
machen, wieder zu dem Medium individueller natür-
licher Anschauung zu werden. Von dieser Entscheidungs-
tat hielt sich Corot fern. Er war in Italien, während
in Barbizon die ersten Landschaften — die ersten Axt-
schläge zur Gründung einer neuen Ansiedelung des
Natürlichen — gemacht wurden. Vergessen wir nicht,
daß er schon erwachsen war, als Rousseau, Dupre und
Millet geboren wurden, daß er Rousseau und Millet
überlebte, etwa drei Jahre vor Courbet und Daubigny
starb und daß er bis zum letzten Moment arbeitete.
DIE LEHRE 23
Er vermochte also die ganze Entwicklung der anderen zu
umfassen. Das gelang ihm, aber er wäre nicht Corot
gewesen, wenn er darin aufgegangen wäre. Seine Eigen-
heit beruht auf der nur bedingten Auseinandersetzung
mit der modernen Tendenz. Ein Teil seines Wesens
stand nach anderen Dingen und war mindestens ebenso
entscheidend.
Fromentin hat in einem glänzenden Kapitel die Er-
oberung xA.lt -Hollands durch die Franzosen von 1830
geschildert. Darin stellt er Corot abseits und nennt
ihn „ nichts weniger als holländisch".1) Diese Bemer-
kung klingt im Munde des Verehrers der Holländer fast
wie ein Vorwurf zugunsten Rousseaus. So richtig sie
an sich ist, so falsch wäre diese kritische Folgerung.
Ganz abgesehen von den persönlichen Resultaten, könnte
man mit Recht einwenden, daß wenn es von größter
Wichtigkeit war, die Holländer zu erobern, die Erhal-
tung der französischen Tradition kein geringeres Inter-
esse beansprucht; daß sich in die erste Arbeit viele große
Künstler teilten, während die andere Aufgabe im
wesentlichen nur einem einzigen zufiel.
Corot ist der letzte Nachkomme Claudes, und so gut
kein Erfolg irgend einer Zeit uns um die göttliche
Poesie dieses großen Sängers bringen kann, so wenig
vermag die Einsicht, daß Corot nur zögernd dem Zug
der Zeit folgte, das Entzücken an seiner Dichtung zu
schmälern, die ebenso echt und rein seiner Empfindung
entquoll wie die rauhere Art den Freunden in Barbizon.
Er stützt sich ursprünglich nur auf französische Vor-
gänger, und wenn die Schule Rousseaus den WTert Ruys-
daels wiederbelebte, Corot verdanken wir die Erinnerung
an einen Kreis, der leichter als Ruvsdael der Vergessen-
heit anheimfallen konnte und von Corots Enthusiasmus
uns näher gerückt worden ist.
*) Les Maitres d'autrefois (Plon-Xourrit. Paris 1902), S. 276.
24 COROT
Wenn die Kunstbetrachtung einst nicht mehr auf
das rein Persönliche gerichtet sein wird, auf das Selbst-
verständliche, über das man nur zu leicht das Wesent-
liche vergißt; wenn man weniger ängstlich mit sich und
den Medien seiner Erbauung und dafür genußsüchtiger
und aufrichtiger zu Werke gehen wird, erleben die
Museen vielleicht eine gründliche Reorganisation. Eine
neue Gruppierung, nicht mehr nach Ländern oder Jahr-
hunderten oder ähnlichen, willkürlichen Begriffen, son-
dern nach Werken, nach den Tendenzen der Werke.
Der Beschauer wird dann nicht mehr genötigt sein,
wie ein Trapezkünstler im Zirkus Akrobatenstücke im
Reiche der Empfindungen aufzuführen, weil jedes Bild
mit dem benachbarten kontrastiert und neue Einstel-
lungen verlangt, sondern zu der Freude über das Kunst-
werk wird Behagen hinzutreten. Man denke sich die
Künstler nach Familien geordnet; nicht nur die Werke
des einen zusammen, sondern ihn ergänzt mit allen Vor-
gängern und Nachfolgern, die eine ähnliche Konstellation
ihrer Sinne mitbrachten. Nicht nur die Wissenschaft
würde dabei gewinnen, auch der Laie. Dem Durch-
schnittsmenschen, der ahnungslos vor einen Unbe-
kannten tritt und sich des Bädekers bedient, um
seine Empfindung zu konstatieren, würde mancher Mei-
ster, den ihm keine Kunstgeschichte klarzumachen vermag,
vertraut, weil das, was ihm heute fremd und unbegreif-
lich erscheint — man denke an die Modernen — durch
Abstufungen verständlich würde. Aus demselben Grunde
gelangte der Kenner zu größren Genüssen, denn der
latente Urgrund alles ästhetischen Empfindens, das
Chaos von Erinnerungen an schöne Dinge, die durch
das Werk gelockt werden, würde hier durch die leib-
haftige Vorführung wenigstens eines Teils dieser Elemente
vervielfacht werden. Niemand käme dabei zu kurz,
denn das Kunstwerk, das durch solche Familientage an
DIE LEHRE 25
Rang verlöre — und vielleicht wären das nicht wenige
in neueren Museen — , erwiese, daß es nicht mit legi-
timem Recht am Platze war. Da der einzige Weg zur
ästhetischen Reife im fortwährenden Vergleich der
Werke liegt, da hier gleichzeitig Wissen und Genießen
das Maximum einlösen, nimmt es wunder, daß solche
natürliche Erleichterung der Erkenntnis nicht längst
einmal versucht wurde und man sich immer noch im
besten Falle an die „Schulen" hält, die von dieser
Gemeinsamkeit gewöhnlich nur grobe Umrisse zeigen.
In unserem wie in jedem Falle würden auf solche
Art eine Menge heute mit Unrecht unterschätzter Meister
zur relativen Geltung kommen. Im Kreise der Vor-
gänger Corots dürften z. B. die beiden Lieblinge der
Zeit Louis' XVI. , Joseph Vernet und Hubert Robert,
nicht fehlen. Vernet wurde von Diderot, der ihn über
Claude Lorrain zu stellen wagte,1) überschätzt, von den
Nachfolgern aber zu schnell zu den andern Resten der
Vergangenheit geworfen. Corot schwärmte nicht für
die großen Lieblingsbilder Diderots, sondern hielt sich,
wie seine Kopie nach Vernet bei Cheramy beweist, an
die intimeren Landschaften des Ruinenmalers und ge-
wann daraus manche Anregung für das, was Diderot
„elever des vapeurs sur la toile" nannte, die Kunst,
die schon in den ersten Rombildern deutlich ist. An
Hubert Robert liebte er sicher weniger die ewigen
Architektur-Arrangements, um die sich einst die Pariser
Gesellschaft riß, als die kleinen, aufrichtigeren Bilder,
wie z. B. die Wasserträgerin-) im Louvre, von zartem
Ton um die lebendige Arabeske. Zu Vernet und
Hubert Robert tritt vor allem L. G. Moreau, einer
der feinsten Landschafter derselben Zeit, dessen Meudon-
*) Diderots Salon von 1765 (in den Oeuvres Completes, Paris, Gar-
nier 1876, Band X, S. 315).
*) Louvre Nr. 811.
26 COROT
Bilder die Frische der besten Zeit Corots voraussagen.1)
Dann Simon Lantara, der erste Landschafter von Fon-
tainebleau, der schon um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts in dem berühmten Walde malte. In dem
Kreise des merkwürdigen Vagabunden finden wir außer
Hue und Huet einen deutschen Landsmann, Ferdinand
Kobell,-) mit reizenden Zeichnungen im Stile dieser Zeit.
Joseph Vernet und Hubert Robert standen in der
ersten Reihe der Bewegung, die die Rückkehr zur An-
tike, die Reaktion auf Watteau vollbrachte. Sie waren
für diese zweischneidige Errungenschaft wesentlicher als
David, der nach ihnen kam und der Reaktion ein Ge-
sicht gab, das viele edle Tendenzen dieses Rückgriffs
mit einer bewegungslosen Maske zudeckte. Gabillot hat
dieses Verhältnis in einer sorgfältigen Arbeit klarge-
stellt/5) David bediente sich der Antike als eines Ab-
zeichens für den Revolutionär im Gegensatz zu der
Kunst der gestürzten Tyrannen. Tatsächlich aber war
die eigentliche Wiedereroberung der Antike das Werk
desselben königlichen Geistes, der das Dix-huitieme ge-
schaffen hatte. Wie in der Architektur das Louis Seize
dem Empire vorhergeht, so hatte die Malerei unter
Ludwig XVI. -in sehr viel graziöserer Form voraus-
gesagt, was die Maler der Revolution mit unzarten
Händen ausbeuteten. Dieser ganze Klassizismus sah in
der Antike zumal die römische, deren kompaktere Reste
dem baulustigen 18. Jahrhundert bedeutender als die grie-
chischen erschienen, weil er mit jenen mehr anfangen konnte.
]) Von den Bildern im Louvre Nr. 650 und 651 namentlich das erstere.
Im Saal Daru, wo diese Bilder und die Roberts hängen, findet man noch
manche andere, die dazu gehören. Moreau lebte von 1740 bis 1806.
*) Figurierte in den „Expositions de la Jeunesse" der Place Dauphine,
über die sich in der ,, Gazette der Beaux-Arts" vom Juni d. J. ein Aut-
satz von Dorbec findet. Hier auch einige Abbildungen nach den von
Fr. Hegi gravierten Landschaften Kobells.
:i) Hubert Robert et son temps par C. Gabillot (Paris, Librairie de
l'Art, 1895), namentlich das erste Kapitel.
DIE LEHRE 27
Die Eroberung ging nicht von Malern, sondern von Bau-
meistern aus, und die große Bedeutung, die in allen Bildern
der Zeit die Ruine darstellt, die Wichtigkeit, die selbst
Diderot diesem Detail in den Bildern seiner Zeitgenossen
zusprach, zeigt noch die Abhängigkeit der Maler von den
Architekten. Die Künstler waren sich des römischen
Charakters der übernommenen Antike durchaus bewußt.
Noch i774erkannteim„MercuredeFrance"Pevre, einerder
Architekten des Pariser Odeon-Theaters, die Abhängigkeit
der Römer von den Griechen und Ägyptern, meinte aber,
die Römer hätten ihre Vorgänger so weit übertroffen,
daß man sich mit Recht nunmehr nur an ihre Reste
halten müsse. Gabillot nennt die Männer der Revo-
lution ,,so wenig griechisch wie möglich. Sie sind vor
allem Römer. Sie hätten in Athen und Sparta eben-
sogut wie in Rom Vorbilder des Heroismus finden können.
Ihre Erziehung trieb sie, Römer zu bleiben."
Nichts von dieser römischen Antike findet sich in
Corot. Er scheidet die Vergröberung Davids völlig aus
und hält sich, soweit hier überhaupt von Anlehnung
die Rede sein kann, an die zarteren Anreger aus dem
18. Jahrhundert. Und von diesem Kreise findet man
leicht den Weg noch weiter in die Vergangenheit zu-
rück. Unter den Landschaftern des 17. Jahrhunderts
haben mehrere die eigentümliche Szenerie Corots vor-
bereitet; am deutlichsten Franz Millet. Wieder wirkt
hier die Entwicklungsgeschichte als Kontrolle. Was Di-
derot von Millet nicht wollte und ,,au pont Notre
Dame" verwünschte, nützt uns auch heute nichts. Da-
neben aber gibt es einen Millet, der nicht zur Opera
Comique gehört, sondern ein echter Maler war, z. B.
als er die große Landschaft malte, die heute in der
Münchener Pinakothek hängt, in der die weichliche At-
mosphäre Dughets durch die Frische eines nordischen
Temperamentes ersetzt ist und, ganz wie bei Corot, die
28 COROT
klassische Form nur gedient hat, um eine neue, natür-
liche Vegetation zu tragen.1) Oder Moucheron — um
einen von vielen zu nennen — , dem zuweilen eine Be-
leuchtung gelang, die uns zwei Jahrhunderte später, als
unsere Zeitgenossen darauf kamen, wie eine Entdeckung
erschien. Man denke an die kleine Flußlandschaft in
Stockholm-) und ähnliche Bilder.
Millet und Moucheron sind französische Namen; aber
der eine kam in Antwerpen zur Welt und wird, ob-
wohl er vom Jünglingsalter an bis zu seinem frühen
Tode in Paris lebte und seine wesentliche Erziehung
Frankreich verdankt, zu den flämischen Meistern ge-
rechnet; der andere, Frederik de Moucheron, stammte
aus Emden und ließ sich von Adrian van de Velde
und von Lingelbach die Figuren in seine Landschaften
malen. Alle beide schöpften aus der holländischen
Malerei den Mut, sich menschlich mit dem Klassizis-
mus auseinanderzusetzen. Halten wir die Beziehung
Corots zu diesen und vielen anderen ähnlichen Mei-
stern fest, so sehen wir, daß Fromentins Behauptung,
daß Corot nichts mit den Holländern zu tun hatte,
nur in sehr bedingter Weise gilt. Er hätte sogar in
Holländern reinsten Wassers, vor allen in Wynants deut-
liche Vorbilder gewisser und recht wesentlicher Seiten
Corots finden können.3) Davon abgesehen konnte er
höchstens die Beteiligung Corots an dem Kanal, den
Rousseau nach dem Gelobten Lande baute, beschränken.
Er sah nicht, daß Corot sich einer eigenen Kommuni-
kation bediente, indem er die um zwei Jahrhunderte
ältere Verbindung fortsetzte, und gleichzeitig das Haus-
gesetz der ganzen französischen Kunst erfüllte, die Ver-
*) Pinakothek Nr. 944.
■) Museum von Stockholm Nr. 1084.
3) Die ganze spätere Zeit von Wynants zeigt viele verblüffende Pa-
rallelen. Vgl. außer vielen anderen die beiden schönen Landschaften in
der Münchener Pinakothek Nr. 577 und 579.
DIE LEHRE 29
einigung des nordischen und südlichen Elementes, zu
der alle seine ruhmreichen Vorgänger das ihre beige-
tragen hatten.
Daß Corot auf seine *Art schließlich doch auch in
die Nähe Barbizons gelangte, werden wir später finden.
Es ist nicht das wesentlichste Stück seiner Entwicklung.
Viel wichtiger war sein unbewußtes Eintreten für die
Alten. Es gelang ihm, seine virgilische Poesie mit der
Überzeugung eines durchaus natürlichen Instinktes aus-
zustatten, die leise Erinnerung an die Form, die Poussin
und Claude unüberwindlich gemacht hatten, mit der
Sachlichkeit eines Autodidakten des 19. Jahrhunderts zu
verbinden. Daß er bis zu diesem Ziele viele Klippen
zu umschiffen hatte, liegt auf der Hand. Die „Hagar"
zeigt eine von ihnen. Das Bild, das allen Kritikern der
alten Schule, Lenormant z. B., die über die „stillosen"
kleinen Bilder Corots schimpften, ein Quell der Freude
war, entsprang der naiven Vorstellung, daß man ein
ordentliches Salongemälde unmöglich anders als im
„großen" Stil malen könne, daß dafür die Einfach-
heit der Xaturbildchen nicht ausreiche, daß man ein
Maitre wie die anderen sein müsse. Aber wenn die
Konstruktion der „Hagar" den Kompromiß nicht
verbirgt, über das klassizistische Gerippe dehnt sich
eine Malerei wie sie Michallon und Bertin nicht
geahnt hatten. Schon ist die Tonkunst mächtig am
Werk, um die romantischen Felsen einzuhüllen und die
konventionelle Leere des Hintergrundes zu beleben, und
man entdeckt, daß Corot hier bereits die Fäden einer
glänzenden und durchaus harmonischen Entwicklung in
der Hand hält.
Insofern unterscheidet er sich von der Anfangsperiode
seines Genossen Millet. Der Unterschied läßt genau
sehen, wie hoch die Tradition, auf die Corot zurück-
griff, über Millets Vorbildern der vierziger Jahre steht.
30 COROT
Dieser hatte das Unglück, bei Delaroche einzutreten
und die Überlieferung aus den Händen dieses Banalen
zu empfangen. Delaroche hatte dem Salonbild die Allüre
gegeben, die es noch heute alle Jahre dem Publikum
darzubieten wagt. Der Stil der großen Landschafts-
kompositionen des 18. Jahrhunderts war öde und leer,
aber er ließ sich, wie Corot zeigte, beleben. Delaroche
blieb ewig eine totgeborne Sache, kein Stil, sondern eine
verdeckte Übereinkunft, den schlechten Instinkten
der Masse zu schmeicheln. Millet sah sich im gleichen
Rahmen, auch wenn er noch größere Malerfertigkeiten
hineingelegt hätte, immer auf unkünstlerische Wirkungen
angewiesen, und seine ersten Versuche, um der Welt zu ge-
fallen — Versuche, die die bittere Not so wenig wähle-
risch wie möglich machte — sind unqualifizierbar. Nach
diesem falschen Start wirkte der ,,Vanneur" des Jahres
184.8 wie eine Explosion. Da erst gab Millet sein erstes
Bild, das mit seiner Vergangenheit nur die geringsten
Beziehungen hatte. Vielleicht brauchte er diese Kata-
strophe, vielleicht hätte sich sein Enthusiasmus nicht
so frei entfalten können, wenn er nicht vorher durch
die schlimmen Anfänge niedergehalten worden wäre.
Seine ganze Kunst, ja die seines ganzen Kreises bis zu
van Gogh, hat den explosiven Charakter, mit dem der
Vanneur in die Welt trat. — Bei Corot ist von solchen
gewaltsamen Entwickelungen nichts zu spüren. Er zeigte
in der „Hagar" seine Herkunft. Dieser ist er sein Le-
ben lang treu geblieben, nur hat seine glänzende Lauf-
bahn diese Anfänge mitveredelt. Sein äußerster Kom-
promiß war meiner Ansicht nach der St.-Jerome mit
dem possierlichen Löwen des Jahres 1837. Man braucht
sich nur das Bild gleichen Titels von Millet aus dem
Jahre 1846, oder dessen banale Nuditäten derselben
Zeit vorzustellen, um den tiefen Unterschied zwischen
den parallelen Entwicklungsstufen der beiden Künstler
DIE LEHRE 31
zu begreifen. Corots „Flucht nach Ägypten" aus
1839 40 und der „Moine" derselben Zeit bei Moreau-
Xelaton zeigen den Fortschritt über die „Hagar" und
den „Jerome" hinaus: die Unterdrückung vorlauter De-
tails, die gesammelte Stimmung in Farbe und Zeichnung,
den Ersatz der gewohnheitsmäßig respektierten Über-
lieferung durch die empfundene.
Wir werden auf die großen Kompositionen, die sich
an diese religiösen Bilder anschließen, später zurück-
kommen. Zur selben Zeit, während er seiner Fröm-
migkeit einen würdigen Ausdruck zu geben suchte, er-
gab er sich einer nichts weniger als kirchlichen Kunst.
Er ist fleißig des Sonntags in das Haus Gottes gegan-
gen und hat dort sogar viele Bilder gemalt. Die Kirche
aber, in der er sicher am liebsten betete und malte,
die den reinsten Corot in sich aufnahm, lag draußen
im Freien. Die Pfeiler waren seine geliebten Bäume,
die Sonne machte die Predigt, die Vögel den Gesang
und die frommen Engel wurden zu tanzenden Baja-
deren. Schon 1836 hatte er eine badende Diana mit
ihren Gespielinnen gemalt, von denen sich eine, an einem
tief über den Fluß ragenden Baume hängend, im Wasser
schaukelte. Im „Silen" des Salons von 1838 tanzten
zum ersten Male die Nymphen im Walde.
Die Lehre Corots ist mit diesen Andeutungen nicht
erschöpft. Die Größe des Menschen beruht auf der
Fähigkeit, aus jeder Phase des Lebens eine Frucht zu
gewinnen, die der in seiner Anlage begründeten Voll-
kommenheit eine natürliche Ergänzung zufügt. Er lernt
bis zuletzt. Der große Künstler ist das verklärte Ab-
bild menschlicher Größe. Wir sehen deutlicher in ihm,
was jedem von uns zum Fortschritt verhilft. In einem
von den verwirrenden Vielseiten des Daseins befreiten
Exempel zeigt er vor allen Blicken den Kampf ums
Ideal. Corots Lehrzeit dauert bis zur letzten Arbeit
32 COROT
des Greises. Sie darstellen heißt, sein ganzes Leben
beschreiben, und der Leser würde verwirrt werden,
wollte ich in diesem Kapitel auch nur die Tendenzen
andeuten, denen Corot in den vielen Perioden seines
Schaffens folgte. Wir werden sie nach und nach kennen
lernen. Hier kam es nur darauf an, das Erdreich zu
zeigen, aus dem der Meister entstammt. Was dazu
kommt, hat er mit vielen anderen gemein. Es scheint
mehr zu bedeuten als der Anfang, und doch ist es
dieselbe Wurzel, die alle Zweige Corots speist.
LA TOILETTE, 1859. 1,40X0,80.
Sammlung Mme Desfosses, Paris.
DIE FRAUEN COROTS
ZU der echten Idylle gehört das Ewig -Weibliche.
Corot blieb sein Leben lang Junggeselle, aber der
Grund, der Menzel zum gleichen Stande trieb, war
nicht der seine. Der Passion, von der Menzel zu wenig
hatte, besaß Corot zu viel, um sich an einer einzigen
Flamme zu wärmen. Das Frou-Frou des Ateliers seiner
Mutter wurde er nie wieder los, noch im spätesten Alter
war er von Frauen umgeben. Er erinnert an Goethe.
Auch seine Bilder waren Gelegenheitsgedichte, und sie
kamen ihm spontan, wie dem verliebten Dichter die
Verse. Man könnte glauben, er habe sich erst ganz
gefunden, als er die Nymphen entdeckt hatte, und sei
erst mit 40 Jahren Herr seiner selbst geworden. Der
Mann spielt in seinen Gemälden eine höchst beschränkte
Rolle. Freilich gibt es Ausnahmen. Ich denke weniger
an die beschaulichen frühen Mönchsbilder, in denen er
seine Gutmütigkeit in die Kutte steckte, auch nicht an
den großartigen Mönch bei Frau Amsinck in Hamburg
aus der allerletzten Zeit; denn daß es sich hier um
Männer handelt, kommt in zweiter Linie.1) Eher könnte
man die kleinen Selbstportraits nehmen, von denen das
erste, 1825 noch vor der ersten italienischen Reise in
Paris entstanden, durch seine breite Malerei weit über
die Zeit hinausgeht; das zweite, 10 Jahre später gemalt,
und 1875, kurz vor seinem Tode, der Portraitgalerie der
Uffizien in Florenz überwiesen, zu seinen Meisterwerken
kleineren Lrnfangs gehört. Seine zahlreichen Männer-
studien für die Taufe Christi und die anderen religiösen
Kompositionen sind wenig bedeutend. Eine seltene Höhe
dagegen erreichte er in dem heiligen Sebastian aus der
') Dahin gehören der Hallebardier der Sammlung Dieulafoy und der
merkwürdige Ritter bei Cheramy, etc. (L'ceuvre de Corot, Robaut-
Moreau-Nelaton Nr. 1 509 — 1 5 1 1 ).
36 COROT
Mitte der fünfziger Jahre, sowohl in der Skizze bei
Cheramy, wie in dem fertigeren, aber kaum vollende-
teren Gemälde in der Sammlung De Strada.1) Sie
gehören zu den merkwürdigsten Heiligenbildern. Die
Wärme der Empfindung kommt der Wucht eines Primi-
tiven gleich. Die Verbindung der italienischen Pose
mit nordischer Malerei dürfte selten wieder so voll-
kommen geglückt sein.
Aber diese Ausnahmen bestätigen die Regel. Den
Mann ließ er Millet. Selbst wo Millet die Frau malt,
gibt er das Männliche an ihr, die Arbeitsgefährtin des
Mannes. Corot dagegen weiht sich dem anderen Ge-
schlecht, und wo er Männer malt, begnügt er sich,
schöne Bilder zu geben. Schon während seines ersten
Aufenthalts in Rom entstanden zahllose Frauen aus dem
Volk neben sehr wenigen Männern. Er malte sie zuerst
wie die gleichzeitige Landschaft mit denkbar größter
Sachlichkeit, achtete auf das Kostüm und benutzte
es zu koloristischen Effekten. Nachher in Paris zeichnete
er alle hübschen Modistinnen, die ihm in den Weg
kamen, und fand aus hundert zärtlichen Gesten seinen
Typ, das Mädchen, dessen Gesicht man nicht genau
im Gedächtnis hat, von dessen Körper man kaum ein
paar Linien ahnt, von dem man kaum etwas anderes
weiß, als daß man, als sie vorüberging, das Glück in
den Augen hatte — eine Nymphe. Wie Collin von
ihm sagte, malte er nicht die Natur, sondern seine
Liebe zu ihr, und so malte er zumal die Natur, die sich
ihm in der Frau darbot und die viel mehr im Zentrum
seines Schaffens stand, als irgend etwas anderes. Aber
der Satz gilt auch im weiteren Umfang. Weniger
die Dinge auf seinen Bildern, was sie auch sein mögen,
') L'ceuvre de Corot Nr. 1034 u. 1035, nicht zu verwechseln mit detp
großen Gemälde S. Sebastien secouru par les saintes femmes (L'ceuvre
de Corot Nr. 1063), das sich in der Sammlung Walters in Baltimore
befindet.
DIE FRAUEN ;-
bezaubern, als der Ton, der sie umgibt, das eigentüm-
lich Sphärenhafte der Handlung. Die Gewinnung des
Tons ist das .4 und Q seiner Geschichte. Er brachte
sie auf seiner dritten italienischen Reise ein entscheidendes
Stück voran. 1843 war er wieder in Rom. Was er
damals als Landschafter gewann, werden wir später
untersuchen. Man geht kaum fehl, die Landschaft als
intermittierendes Element in Corot aufzufassen, das zu
gewissen Zeitperioden in den Vordergrund rückt, aber
auch dann durchaus nicht den Maler vollkommen ab-
sorbiert. Wir kommen seinem eigentlichen, viel um-
fassenden Wesen näher, wenn wir zunächst alle anderen
Seiten deutlich zu machen versuchen und zumal die
Ausbildung des Figürlichen im Auge behalten, die den
Fortschritt des Malers gleichsam personifiziert.
In Rom studierte er die Frau nicht mehr, wie 15 Jahre
vorher, als Selbstzweck, sondern als Stilelement des künf-
tigen Bildes. Ingres, der bis 1841 die französische
Akademie in Rom geleitet hatte, übte damals auch auf
Corot einen sozusagen lokalisierten, aber nicht unwesent-
lichen Einfluß aus. Im Salon des Jahres 1843 stellte
Corot eine liegende Odaliske aus, der das berühmte
Louvrebild Ingres' als ideales Vorbild gedient hatte.
Das Bild, heute in der Sammlung Hazard, umfaßt
nicht ein Drittel der Ingresschen Odaliske. Es ist
auch ärmer an Pracht, ohne die aufs äußerste abgewogene
Reinheit der Arabeske. Dafür wirkt es fleischiger,
menschlicher, tatsächlicher und zeigt schon den Weg,
auf dem es Corot gelingen sollte, den großen Klassi-
zisten zu übertreffen. Ingres' glänzende Gestalt ver-
einigt alle Pracht der Modellierung und des Umrisses.
Aber sie atmet nicht. Irgendwo meldet sich in der
Seele selbst des begeistertsten Betrachters die Wahrneh-
mung, daß diesem Reichtum etwas mangele, etwas, das
nichts mit den Details, mit der Linie oder der Model-
38 COROT
lierung zu tun hat, das der Art dieser ganzen Kunst fehit
und ihr fehlen muß. Es ist der alte Unterschied zwischen
der Arabeske eines Quattrocentisten und der Malerei
eines Rembrandt. So geschmeidig dient bei Ingres
die Linie dem räumlichen Reiz, daß man vergißt, eine
höchst berechnete, schematische Wirkung vor sich zu
haben. Nur wenn man einen Künstler von der anderen
Seite daneben hält, merkt man, wodurch der natürliche
Instinkt des Malers diese Gestaltung übertrifft. Corot
— wie später Renoir — wollte das Maximum einer
Komposition behalten, aber nicht auf den Lebensnerv
des Malers, die Wirkung durch die Teilung der Mal-
fläche, verzichten. Die Gestalten Ingres' sind schöner als
alle Corots, aber sie sind ewig für sich allein, ohne
Licht und Luft, glänzende Gegenstände. Darauf kam
es Corot an, diese schönen Toten zu beleben. Das
erwähnte Bild ist nicht die erste seiner Odalisken.
Gallimard besitzt ein Bildchen desselben Umfanges mit
einer ,, Nymphe de la Seine"1), das 1837 datiert ist und
den Anfang dieser glänzenden Serie darstellt. Schon
hier merkt man eine Wirkung ins Weite, in die Luft,
die aller echten Malerei Geheimnis ist. Ingres suchte
alles in dem einen Körper zu konzentrieren und umgab
ihn mit anderen schönen Formen. Corot suchte die
Vermittelung der Materie mit dem Räume, nicht nur
die Linienvermittelung, sondern machte aus dem Ganzen
eine fortlebende Atmosphäre. Bis in die siebziger Jahre
reicht die aufsteigende Entwickelung seiner Odalisken;
keine Ausbildung des Typs, sondern der Malerei.
Ungefähr gleichzeitig mit der liegenden Figur der Samm-
lung Hazard2) mag das winzige Bild mit der liegenden
Nymphe bei Katargy:5) entstanden sein, eine ganz schlanke,
1) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 379.
2) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 458, aus 1843,
3) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 540.
DIE FRAUEN 39
sich kaum über den Boden erhebende Linie. In den
fünfziger Jahren wächst der Körper zu breiteren,
mächtigeren Formen. Man kann das Wortspiel wörtlich
nehmen. Die nackten Figuren dieser Zeit haben immer
noch etwas von der Linkischkeit im Wachstum begriffener
Mädchen; so die kleine Odaliske imMusee Rath in Genf,1)
oder die hier abgebildete Nymphe mit dem Amor.-)
L nd man glaubt wahrzunehmen, wie das Wachstum vor-
wärts schreitet, immer größere Reize entfaltend. Die
Formen runden sich, die Glieder lernen die Bewegung,
das Fleisch scheint sich elastisch zu dehnen, und
schließlich tritt die vollendete Schönheit unter die
Menge. Es war 1859, als die „Toilette" im Salon
erschien.3) Fast könnte man meinen, Corot sei sich der
Zukunft bewußt gewesen, als er zu Beginn der reifsten
Schöpfungen, die er der Frau widmet, mit zarter
Frühlingsstimmung ein junges Weib umgab, das zum
Feste geschmückt wird. Die Toilette geht im Freien
vor sich, zwischen Birken, am Rande eines winzigen
Weihers. Vorsichtig legt die Dienerin der nackten Schön-
heit den Putz ins Haar, und diese hilft mit zum Kopf
gehobenen Händen und träumt dabei, man denkt an
Chasseriau's sinnende Gestalten. Die Pose ist göttlich.
Die Dienerin steht so nahe wie möglich und läßt nur
die Rückenlinie der vor ihr Sitzenden vor der freien
Luft. Der ganze Reichtum des vorderen Profils wird
durch das Kleid der Dienerin zusammengehalten, deren
einfacher L'mriß die Gruppe nach der anderen Seite
abschließt, so daß das Äußere der Gruppe vor der freien
Luft eine geschlossene ganz ruhige Linie bildet, während
sich im Inneren die Bewegung zur größten Wirkung
entfaltet und die sehr weit vorspringende Stellung der
L'ceuvre de Corot, Robaut-Moreau-Xelaton Xr. 1046.
2) L'ceuvre de Corot, Robaut-Moreau-Xelaton Xr. 103 1. Abb. S. 19.
*) L'ceuvre de Corot, Robaut-Moreau-Xelaton Xr. 1108. S. 33 abge-
bildet, leider nach einer massigen Vorlage.
4o COROT
Kniee erlaubt. Dadurch entsteht im Beschauer das
Bewußtsein der Geschütztheit des Nackten, die Ver-
mischung von lechzender Freude an der Form mit dem
Genuß an der Intimität. Das schöne Verhältnis der
Gruppe zur Höhe, das glückliche Format und vor allem
die echt Corotsche Malerei tragen das ihrige dazu bei.
Die Farbe begnügt sich mit dem Akzent des Pinsels
und den Differenzen der Modellierung. Den einzigen
starken Ton bringt das Gelb in dem Kleid der Dienerin,
die überhaupt stofflicher, vehementer gemalt ist, um
die leise sprühende Fläche des nackten Fleisches im
Gleichgewicht zu halten. Das Sprühen teilt sich dem
ganzen Bilde mit, es scheint in der Atmosphäre zu
liegen, die Gruppe und Landschaft mit warmem Leben
füllt. An einem der schlanken Bäume des Hintergrundes
lehnt eine Gefährtin, um achtzugeben, daß niemand
stört, oder um den Geliebten zu melden, der die Braut
umfangen soll.
Es ist schwierig, aus der Analyse Corots einen Begriff
auszuscheiden, mit dem so viel Unfug getrieben wurde,
daß man ihn ungern verwendet. Man riskiert falsche
Vorstellungen wachzurufen, wenn man Corot keusch
nennt; denn einmal deckt sich das, was keusch an ihm
berührt, nicht mit dem gewohnten Abstinenzlerbegriff,
und dann gerät man in die Gefahr, mit den Moral-
ästhetikern zu kollidieren, die aus ihrer Auffassung von
dieser Tugend ein Kriterium der Kunst gemacht und
die Menschheit damit lange genug gelangweilt haben.
Die Keuschheit, die aus Gehorsam vor Mama und Papa
und der Tante Sitte entspringt, kommt hier so wenig
in Frage wie das Gegenteil. Weder die Negierung noch
die Betonung des Geschlechtlichen findet sich bei Corot,
sondern jene höhere Tugend, die von dem Sinnlichen
zuerst das Schöne verlangt, bevor sie untersucht, ob es
moralisch ist: die Reinheit des wohlgestaltet Geborenen.
DIE FRAUEN"
4i
Sie fällt nicht, weil sie nie in die Lage kommt, zu
straucheln, weil sie die Welt von lichteren Höhen sieht
als der Begierde, die nach Stillung dürstet. Das erquickt
in Corot. Er vermeidet nicht den süßen Reiz des
Liebeslebens, aber gibt davon nur die Glückstimmung,
ein Paradies, dem die Reue fern bleibt, weil alles Glück
im Tanz genossen wird, im holden Reim gemäßigter
Bewegung. Das gilt von seiner Komposition, von seiner
glücklichen Neigung, die Sehnsucht in Reigen zu kleiden.
Diese frohsinnige Keuschheit kommt aber auch ganz
instinktiv in seiner Art, das Einzelne zu gestalten, zum
Vorschein, in seinem Strich, seiner Handschrift. Sie
macht das lockere Gewebe der Malerei, die Zurück-
haltung in der Materie, das unbewußt Zögernde in
der Entschleierung des Reizes, das unendlich Yerwobene,
L'nausgesprochene, das uns, ohne daß wir es merken,
in die Jugend versetzt, als man ohne Grund lachte und
weinte und die Welt wie ein duftiges Netz voll Perlen
und Edelsteine vor sich sah.
Corots Keuschheit ruht in dem Märchenhaften,
mit dem er die Liebe umgab. Er idealisierte sie auf
glaubhafte Weise, indem er das Svmbol in die Atmo-
sphäre legte. Neben der „Toilette" hing im selben
Salon von 1859 eine der gewohnten Idyllen: „Cache
Cache", in der dieselbe Atmosphäre zum Träger reizender
Spiele wurde.1) Umgeben von diesem duftigen Zauber,
erblühten Corots Frauen in den sechziger Jahren
zu strahlender Schönheit. 1865, im selben Jahre als
ein anderer Kunstheros der Zeit sein Ideal verdichtete,
als Manets Olympia erschien, zeigte Corot die Nymphe
auf dem Tigerfell") und die Nymphe Couchee au
bord de la mer, :5) die letzte Konsequenz der fast
*) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Xelaton. Xr. iiio. im Museum
von Lille.
-) L'oeuvre de Corot Nr. 1377.
3) L'oeuvre de Corot Nr. 1376.
42 COROT
dreißig Jahre vorher zum erstenmal geschaffenen Figur.
Unter diesen vielen Odaliskenbildern ragt eins hervor
aus etwas früherer Zeit, das im ganzen Werke Corots
wohl am meisten überrascht und allein genügte, ihn
unsterblich zu machen. Es ist die Bacchantin mit dem
Panther.1) Panther-Idyll wäre der richtige Name, denn
diesmal hat die ruhende Frauengestalt in einem Panther
den Gespielen gefunden. Man denke nicht an die
Vierfüßler Decamps', nicht an Delacroix' blutdürstige
Bestie, nicht an die schleichenden Katzen, die Barye in
die seltenen Farben seiner Pastelle bannte. Corot
läßt ein nacktes Kind auf seinem Panther reiten.-)
Ich glaube nicht, daß er ihn nach der Natur malte,
obwohl das Fell wunderbar wirkt. Eher fand er
ihn in jener schöneren Welt, wo auch Tizian ihn sah,
paarweise vor dem Triumphwagen des Bacchus, als der
siegreiche Gott zu Ariadne entflammte; da wo Poussin
ihn wiederfand, in demselben dionysischen Kreise, aus
dem einst schwärmende Griechen ihn in leuchtende
Reliefs entführt hatten. Die Gruppe nimmt den Vorder-
grund einer traumhaft angedeuteten Landschaft ein und
füllt fast das ganze lange Format. Panther und Nymphe
sind fast in einer Ebene, beide ganz im Profil, so daß
das Gegenspiel der langgestreckten nackten Frauenglieder
und des schweren Tieres ganz ausklingt. Die ausgestreckte
Hand der Nymphe hält in den Fingerspitzen dem Panther
einen toten Vogel als Lockspeise hin. Die Kurve dieses
Armes, gleichsam aufgefangen von dem kleinen rund-
lichen Reiter, scheint dem Schönen die geheimsten Reize
zu entlocken.
J) L'oeuvre de Corot Nr. 1276, abgebildet in „Kunst u. Künstler''
(B. Cassirer III, 3). Aus derselben Zeit (1855—60) die herrliche Bacchante
au Tambourin (L'ceuvre de Corot Nr. 1377).
2) Dasselbe Kind auf dem Panther findet sich in einer merkwürdigen
Waldidylle der Sammlung Brun, wo tanzende Nymphen mit dem Reiter
spielen. Dieses Bild fehlt im Oeuvre de Corot.
DIE FRAUEN 43
Damals war es mit der Alleinherrschaft Ingres' aus.
1864. bekam Corot bei der Wahl zum Juror des Salons
fast die doppelte Anzahl Stimmen. Und doch siegte
etwas von Ingres in diesem fernstehenden Zeitgenossen
des grollenden Löwen. Ein Stück der göttlichen Form,
der Ingres sein Leben geweiht hatte, zu kostbar, um
der stürmischen Zukunft zum Opfer zu fallen, wurde
von Corot mit zauberischen Gewändern eingehüllt und
auf unantastbare Höhen getragen.
Man begreift, daß Manet dem Meister fernblieb. Der
Stürmer gegen die Modellierung, das notwendigste Mittel
der Alten, konnte ihm nicht verständlich werden; und
daß Courbet ihm näher kam, lag in dem anderen
Standpunkt, den dieser in derselben Frage einnahm,
und in der Meisterschaft, mit der er darauf beharrte.
Sonst gab es nichts, das den Figurenmaler Corot
mit den anderen verband — wenn nicht, daß er eben
nicht bloß Figurenmaler war. Er hatte andere Pairs
vor Augen, träumte noch, als die anderen dekretierten,
dichtete noch, als Courbet behauptete, Poesie sei eine
Gemeinheit. Nicht Hals und Goya, die vor seinen
Blicken in Frankreich einzogen, störten seine Idylle.
Was diese der Jugend gaben, fand er immer wieder
im Lande seiner Träume, wo Giorgione und Correggio
gelebt hatten. Poussin dehnte seine Form, aber blieb
ihm verhältnismäßig fremd. Seiner Schüchternheit ver-
schloß sich die Pracht der Bacchanalien. Giorgione
dagegen liebte er so, wie Poussin Tizian verehrte. Er
suchte dem nackten Körper in der Landschaft die
Wärme des „Concert champetre" zu geben. Ohne die-
selben Farben, die seiner Palette nicht lagen, ohne die
Pracht, an die er nicht heranreicht, aber mit derselben
unendlich menschlichen die Form durchdringenden
Empfindung, die Giorgione über die prunkenderen
Nachfolger stellt. Diese Empfindung kommt bei Corot
44 COROT
aus einem viel weniger ernsten Temperament. Mit
ihrer Aufrichtigkeit vertrug sich das Lächeln, ja die
Ausgelassenheit, und diese frohe Laune fand in Correggio
einen idealen Gefährten. Nächst Prud'hon, den man
den französischen Correggio nennt> ist niemand — auch
nicht Diaz, der es zuweilen darauf anlegte — dem
Maler der Leda näher gekommen, als Corot. Er be-
trachtete ihn von einer ganz anderen Seite als Prud'hon
und Diaz. Prud'hon kannte kein schöneres Ziel als
sich mit dem geliebten Meister zu identifizieren,
wobei ihm die Aufgabe, eins der verstümmelten Ge-
mälde zu ergänzen, entgegenkam. Er adoptierte das-
selbe Format, vergrößerte den individuellen Schwung
der Antiope, summierte in schönen Einzelfiguren
die Anregung. Man weiß, wieviel von Eigenem
dazu kam. Diaz wiederum rückte mit seiner
Schwärmerei für die Italiener den Vorbildern zuweilen
so nahe auf den Leib, daß seine kostbaren Idyllen mit
einer fremden Empfindungswelt kollidieren. Corot da-
gegen träumte vor Correggio wie vor der Natur. Er
betrachtete aus viel größerer Entfernung, wo der präzise
Umriß der Körper sich verlor und behielt nur etwas von
der Gemeinsamkeit vieler Gesten. Man glaubt in
manchen seiner Nymphentänze die Berliner Ledagruppe
unendlich vervielfacht und um ebensoviel verkleinert
wiederzufinden. Szene, Atmosphäre, die ganze Mache
des Bildes, ist noch weiter von Correggio entfernt, als
Delacroix von Rubens. Aber durch alle Verschiedenheit
klingt die Stammverwandtschaft hindurch und weckt in
uns dieselbe wohltuende Empfindung, wie wenn wir
in unserm Spiegelbild die Spuren verehrter Ahnen
finden.
Corot verklärte Correggio, er goß einen weiteren,
luftigeren Raum um das Sensuelle der Leda, erinnerte
sich an noch süßere Märchen, ging, ohne den Meister
DIE FRAUEN
45
aus den Augen zu verlieren, in fernere, erhabenere
Zeiten zurück, als die Vorbilder noch leibhaftig auf
Erden wandelten und Virgil die Oden diktierten. Das
Keusche, das hier gemeint wurde, ist der antike Geist,
der ihn von Correggio trennt. Ob es wahr ist, daß er,
wie manche Biographen berichten, auf seine alten Tage
noch griechisch lernte, um Theokrit in der Ursprache
zu lesen, bleibt dahingestellt. Sicher ist, daß er zu
den Griechen in intimere Beziehungen gelangte, als
seinen Zeitgenossen gegönnt war. Und gerade dadurch
erscheint uns seine Rolle unendlich wertvoll. Wir sahen
früher, wie der Klassizismus des Kreises um Joseph Vernet
von David zu dem Pseudo-Römischen verzerrt wurde.
Prud'hon erhob sich dagegen mit sanfter Gewalt.
Weniger seine großen Gemälde als seine köstlichen
Zeichnungen in Chantilly, im Louvre usw. zeigen den
Reflex einer freieren Kunst, eines erhabeneren Schattens,
deuten auf den Geist, der sich nicht mit dem
massiven Körper der römischen Antike verband, auf
Hellas. Corot wagte in diesem Geiste zu malen und
verbannte noch entschiedener als Prud'hon alle Er-
innerung an das alte Rom, um sich desto inniger einem
idealen Hellas zu erschließen. Er ersah dieses Vorbild
nicht aus den Skulpturen der Alten. David hätte ihn
noch weniger für seinesgleichen anerkannt, als Prud'hon.
Corot erträumte sein Vorbild. Er malte Landschaften
— das Genre, das die Schule Davids für unzulässig
und gemein erklärte — nahm sie aus der Umgegend
von Paris und malte sie in griechischem Geiste. Er
ließ statt der Ruinen Hubert Roberts kleine nackte
Mädchen darin spielen, die uns heute schon klassisch
erscheinen. Vor fünfzig Jahren hätte man den Vergleich
frevelhaft genannt. Er tat, was in ihrer Art den beiden
größten französischen Klassikern der Vergangenheit,
Poussin und Claude, auf gleich natürliche Weise gelang.
46 COROT
In seiner Salonbesprechung des Jahres 1857 schrieb About,
daß Corot Dinge in der Natur gesehen, die den beiden
großen Meistern des XVII. Jahrhunderts entgangen
wären.1) Unrecht wäre, wollte man deshalb den Spät-
geborenen über seine Vorgänger stellen. Poussin und
Claude waren für ihre Zeit genau das, was Corot für
die seine wurde, und dieser hätte, was er war, nicht
werden können, hätten nicht die' beiden vorher den
Pfad, auf dem er wandeln sollte, mit unsterblichen
Rosen bekränzt. Schon diese beiden durchdrangen die
Dinge der Alten mit neuem Geist, übergaben dem
Lichte des Bildes die Geste, die vorher der scharf ge-
zirkelte Umriß gespielt hatte, vollendeten des großen
Veronese und Tintoretto's Erfindung. Das XVIII. Jahr-
hundert besann sich langsam auf diese Tradition. Corot
besann sich nicht nur, sondern wirkte weiter, ging ein so
bedeutendes Stück auf der alten Bahn weiter, daß man
fast die vorher vorhandene Bahn übersieht. Man kann
ihn natürlicher nennen als seine Vorgänger, ohne damit
einen Vorwurf gegen Poussin und Claude auszusprechen;
natürlicher, weil die ganze Welt so geworden ist. Nicht
weniger Poet, nicht weniger klassisch; und das ist heute
ein seltener Ruhmestitel. Daß sich in die schmetternden
Fanfaren der neuen Kunst diese zarten Lieder mischten,
hat vielen Herzen wohlgetan.
1) Nos artistes au Salon de 1857.
DER ROMANTIKER
JENEN Salon von 1857, von dem About berichtete,
hatte Corot mit sieben Bildern beschickt, darunter
fünf Meisterwerken, die dem Sechzigjährigen die end-
gültige Anerkennung auch des Publikums brachten. Das
erste, das „Concert Champetre", das Dupre besaß, und
nach dessen Tode vom Duc d'Aumale für Chantillv
erworben wurde, war ein altes Gemälde, das schon auf
dem Salon von 1844 figuriert hatte, aber jetzt, verein-
facht und verbessert, dieselbe Welt entzückte, die da-
mals achtlos an ihm vorbeigegangen war.1) Dann die
„Feuersbrunst von Sodom", ebenfalls schon in veränderter
Form auf dem Salon von 1844,"2) dann die „Ronde de
Nvmphes",0) endlich eine „Hirtin am Waldessaum", bei
untergehender Sonne.4) Damals schrieb Theophile Gau-
tier, der schon 1839 den ^aler besungen hatte, von
den „Verdures Elvseens" und den „Ciels Crepusculaires".
Nach diesem Vokabularium hätte man fast glauben
können, daß es sich um einen Genossen Delacroix' han-
delte. Die Erinnerung an den Maler der „Dantebarke"
widersetzt sich dem Corotschen Geiste, wie wir ihn zu
erkennen versucht haben. Die Romantik des einen hat
mit der griechisch anmutenden Poesie des anderen gar
nichts gemein. Sie stehen sich wie Gegensätze, fast
wie fremde Welten gegenüber. Dort der flammende
Kolorist, der kühne Dramatiker, das gärende Tempera-
ment; hier der Liedersänger, der seine Pastorale in zarten
Ton hüllt. Aber in der Kunst sind große Persönlich-
keiten zu reich, um in so frappanten Gegensätzen auf-
zugehen. Am wenigsten lassen sie sich erschöpfend auf
*) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 1098.
-) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 1097. Die erste
mg aus 1843 S. Nr. 460 unter dem Titel ..La Destruction de Sodom."
3) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 1072.
*) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 1069.
50 COROT
den groben Temperamentsmaßstab zurückführen, nach
dem man den Alltagsmenschen einteilt. Ihre Sanftmut
hat Abgründe, ihre Leidenschaft hat friedliche Oasen,
und man kennt sie schlecht, wenn man diese Wider-
sprüche außer acht läßt, die ihr Wesen ergänzen. Eine
solche Nuance ist in Corot das, was man romantisch
im Geiste Delacroix' in seinen Werken findet. In dem
„Christ au jardin des Oliviers" vom Jahre 18491) ruht
wie unter Schleiern das berühmte Gemälde gleichen
Namens" von Delacroix, umgedacht durch eine fried-
lichere Seele. In der erwähnten „Feuersbrunst von
Sodom" ist der Einfluß deutlich. Als Corot 1843 das
Bild zum erstenmal malte, stand er Delacroix vollkom-
men fremd gegenüber und gab, soweit man nach der
Abbildung der Zeit schätzen kann, eine klassische Kom-
position im Geiste der Hagar. Vierzehn Jahre später
übermalte Corot das Bild vollständig, modifizierte das
Format und gab der Komposition die dramatische ein-
heitliche Form, die wie eine rührende Selbstverleugnung
der Idylle erscheint. Kurz vorher war der hl. Seba-
stian entstanden, von dem wir schon sprachen, in dessen
Malerei — zumal in der Skizze — die eigentümliche
Schraffierung Delacroixscher Flecken verwendet ist. In
dem „Dante und Virgil" des Jahres 1859 finden sich
ähnliche Beziehungen.2) Am deutlichsten wird der Ein-
fluß in dem „Macbeth" desselben Jahres. :i) Der Besucher
der Wallace Collection, wo man so viel Überraschungen
in der französischen Kunst aus der Zeit der Romantik
erlebt, steht einigermaßen betroffen vor dem großen
Gemälde. In den drei Hexen und den beiden Reitern
J) L'oeuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 610. Museum von
Langres. Nicht zu verwechseln mit dem späteren Bild gleichen Titels,
das er als Freske in die Kirche von Ville d'Avray malte (Nr. 1076).
2) L'ceuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 1099, Museum von
Boston.
3) L'ceuvre de Corot, Robaut-Moreau-Nelaton Nr. 1109, Wallace
Collection, London.
DER ROMANTIKER 51
auf den erschreckten Pferden in der gespenstisch leuch-
tenden Landschaft steckt ein großer dramatischer
Schwung, und man würde im ersten Moment weniger
erstaunt sein, den Namen Delacroix' auf der Inschrift
zu finden, als den seines wirklichen Autors. Wie groß
in Wirklichkeit der Unterschied zwischen beiden ist,
belehrt schon der Blick auf das benachbarte Bild, die
farbenprunkende Hinrichtung des Dogen, von Delacroix.
Der Corot wirkt daneben dunkel. Er gibt seine diskretere
Kunst nicht auf, aber es ist, als sei in das stille Leben
des Lyrikers, als er das Bild malte, ein starkes Ereignis
getreten und habe ihn, der sonst zärtlichen Hirtinnen
zu lauschen pflegte, zu mächtiger Sprache begeistert.
Der Einfluß ist unleugbar. Ob er auf ein bestimmtes
Bild Delacroix' zurückgeht, weiß ich nicht. Es ist nicht
unmöglich, daß Corot die Darstellung desselben Vor-
gangs von Chasseriau gesehen hat, die Delacroix nahe-
steht.1) Als er 1867 auf der Weltausstellung den ,,Mac-
bethiw wiederfand, konnte er sich nicht sarkastischer Selbst-
ironie enthalten. Auch in anderen weniger spezifischen
Bildern findet man dieselbe düstere Romantik. Das
Stedelijk Museum von Amsterdam beherbergt im selben
Saale mit Delacroix' grandioser „Medea auf der Flucht"
die „Contrebandiers" Corots, die Nacht im düsteren Ge-
birgstal mit den Pferden der Schmuggler. Auch hier
scheint sich ein schwacher Reflex des Malers der Me-
dea zu melden.
Die beiden Meister lernten sich erst, vermutlich durch
ihren gemeinsamen Freund Dutilleux, in reifen Jahren
kennen. 1847 kam Delacroix in das Atelier Corots und
schrieb den schönen, Eindruck nieder, den die „Beautes
naives" auf ihn gemacht hatten.-) Der Ton ist der
Respekt, in dem man von einem durchaus gleichstehenden
*) Sammlung des Baron Arthur de Chasseriau, Paris.
"-) Journal de Delacroix vom 14. März 1847, I, 289.
52 COROT
Kollegen spricht. Am selben Tage, an dem sich Delacroix
an Corots leichter Art, das Leben zu nehmen, erfreut,
notiert er mit der bekannten Sachlichkeit die gewohnte
eigene Melancholie, die ihn auf dem Boulevard befallen
hatte. Corot seinerseits, der jeder schnellen Erkenntnis
mangelte, gelangte mit den Jahren zu immer größerer
Bewunderung Delacroix'. Er teilte mit ihm manche
Neigung, zumal die Verehrung Correggios, den Delacroix
neben Michelangelo stellte, und mag für den Adel der
Gesinnung, der aus allen Aspirationen des großen Malers
und des Menschen sprach, bessere Organe gehabt haben
als viele Zeitgenossen. Am meisten bewunderte er den
Monumentalkünstler, den Louvre-Plafond und die gro-
ßen religiösen Malereien, und möglicherweise hat ihn
das Vorbild angeregt, sich auch auf diesem Felde zu
versuchen.
Corot als Monumentalmaler ist ein wenig gekanntes
Kapitel. Es wäre deplaziert, wollte man ihm diese
prätentiöse Überschrift geben, denn Corots größte Kunst
ist nicht darin enthalten. Es bedeutet mehr eine quan-
titative Ausdehnung seiner reichen Tätigkeit, als eine
neue Seite seines Wesens; aber dieses Quantum umfaßt
zu viel schöne Dinge, als daß man es leichten Herzens
übergehen könnte. Sein erster Versuch war typisch für
ihn. Wie Robaut erzählt1,) kam Corot eines Tages,
Anfang der vierziger Jahre nach Mantes zu seinem
Freunde Robert und bemerkte, daß die Anstreicher ge-
rade dabei waren, das Badezimmer neu zu schmücken.
Ohne viel Umstände bat der Künstler die „geschätzten
Kollegen", ihm den Platz zu überlassen. Zufälligerweise
hatte er kein Handwerkszeug bei sich. Er nahm die
1) In der Zeitschrift L'Art vom 7. Dezember 1879 mit Abbildungen
nach Zeichnungen Robauts. Text und eine der Zeichnungen figurieren
auch als Appendix zu der Rousseauschen Studie (im selben Verlag 1884).
Sämtliche Panneaux sind im Corot -Werk, Robaut-Moreau-Nelaton, unter
Nr. 435 bis 440 abgebildet.
DER ROMANTIKER 53
Pinsel und die Farben der Maler, ergänzte sie, so gut
sich das beim Farbenhändler tun ließ, und begab sich
an die Arbeit. Die Geschichte erinnert an die Impro-
visation, die Delacroix bei Dumas zum besten gab. Der
Raum war sehr eng und von üblen Verhältnissen wie
die meisten Badezimmer. Corot ließ sich nicht ab-
schrecken, sondern bemalte ohne jede Präparation die
sechs Panneaux dieses Badezimmers einer Villa im Herzen
Frankreichs mit ebensoviel „Souvenirs d'Italie", ohne jeden
anderen Anhalt an das Modell als seine eigene Natur
und die Erinnerung an das geliebte Land. Und es be-
findet sich mindestens ein Bild darunter, ein langge-
strecktes Dessus-de-fenetre mit einer Ansicht des großen
Kanals von Venedig, das die Reise nach Mantes be-
zahlt macht.
Sehr viel anmutiger als dieses Badezimmer muß der
kleine Kiosk im Garten des Hauses von Ville d'Avray
gewirkt haben, den Corot 1847 zum Geburtstag seiner
alten Mutter ausmalte, schon weil hier für eine unend-
lich feine Zusammenstimmung der einzelnen Panneaux ge-
sorgt wurde und das Format dem Künstler entgegen-
kam. Robaut stellt mit Unrecht diese Dekoration unter die
Salle de bains von Mantes, weil ihm die einzelnen Land-
schaften nicht genug individualisiert erscheinen.1) Der
Mangel war in Wirklichkeit ein Vorzug des Ensemble,
soweit man heute noch urteilen kann. Das eine der
beiden größten Panneaux, auf dem das Häuschen selbst
gemalt ist, gehört zu den reizendsten Schöpfungen Corots.
Es malt die Behaglichkeit, die hier empfunden wurde.
Die anderen Bilder ergänzen und erweitern dieses
Behagen. Jede stärkere Betonung hätte die Idylle ge-
stört. Die Reinheit der warmen Sommerstimmung
erhebt sich weit über die Improvisation in Mantes, die,
*) Robaut ebenda. In L'oeuvre de Corot Nr. 600 bis 607. Die
Panneaux befinden sich heute bei Lemerre in Paris.
54 COROT
so gelungen sie war, nicht die wertvollste Gabe Corots
ungestört zu äußern vermochte, seinen Wohlklang.
Kurz vorher hatte er die ,, Taufe Christi" für die Kirche
St. Nicolas du Chardonnet in Paris vollendet, glücklicher-
weise nicht auf die Wand, sondern auf Leinwand gemalt.
Es ist eins seiner größten Gemälde, fast vier Meter hoch
und Corots kostbarster Beitrag zu der Monumentalkunst im
konventionellen Sinne. Die Handlung steht dem Cin-
quecento nahe und hält sich an die übliche Pose; aber
sie verliert als solche jede wesentliche Bedeutung in
dem weichen Schatten, mit dem sie Corot umhüllt, und
wird etwas ganz Neues in der Landschaft, in der sie
sich abspielt. Man begreift vor dieser vollkommenen
Harmonie die Begeisterung Delacroix', der hier einen
Genossen erkannte. Vereinfacht kommt dieselbe Kunst
in den vier Fresken der Kirche von Ville d'Avray von
1855 wieder. Hier spielt die Landschaft nur als Ton
der Hintergründe mit, dafür sind die Szenen selbst —
zumal die Vertreibung aus dem Paradies — viel per-
sönlicher stilisiert. Leider ist ihre Lage über den Fen-
stern so ungünstig, daß der Betrachter kaum ihren ganzen
Wert erschöpfen kann.1)
Die vierzehn Darstellungen der Passionsgeschichte in
der Dorfkirche von Rosny bei Mantes kommen neben
diesen Werken nicht in Betracht, zumal barbarische
Vernachlässigung durch den Klerus, die übrigens auch
der großen „Flucht nach Ägypten", Corots Salonbild
von 1840, am selben Orte zuteil wird, sie heute schon
zu Ruinen gemacht hat.-) In dieselbe Zeit fallen
die vier, bei Decamps in Fontainebleau gemalten, land-
schaftlichen Panneaux3), die später in den Besitz Sir Fre-
1) Wie Robaut berichtet, veranlaßte er Corot kurz vor seinem Tode,
die Fresken in verkleinertem Maßstabe auf Leinwand zu übertragen.
Vgl. L'ceuvre de Corot Nr. 1074 bis 1077 und 23 11 bis 2314.
-) L'ceuvre de Corot Nr. 1083 bis 1096, entstanden von 1853 bis 1859.
3) L'ceuvre de Corot Nr. 1104 bis 1107, entstanden gegen 1858.
DER ROMANTIKER 55
deric Leightons übergingen und die vier kleinen Ovals
in einer Louis XV. -Vertäfelung des Schlosses von Gru-
yeres in der Schweiz.1) In den sechziger Jahren, als
Daubigny sein schwimmendes Atelier auf der Oise
mit einem stabileren Sommersitz in Auvers vertauschte,
malte Corot auf die frischen Wände im Hause des
Freundes ein paar seiner schönsten Dekorationen. Die
größte von ihnen diente einem Don Quichotte Daumiers
als Pendant und zeigte im Hintergrunde die beiden
typischen Cervantes-Figuren, die Daumier so oft gemalt
hat. Auch die drei Skizzen bei Herrn Ganz in Berlin
scheinen zu einer Dekoration zusammengehört zu haben."2)
Die Liste ist damit noch nicht erschöpft, doch
lang genug, um die Art zu zeigen. Diese Art unter-
scheidet sich im Grunde von den anderen Werken Corots
nur durch das Format und eine noch leichtere Grazie
der Gestaltung. Sie hat seinem Ruhme kaum Ent-
scheidendes zugefügt, sondern ist mehr der Überschuß
einer schier unversieglichen Kraft. Doch dient sie als
Schlüssel zum Verständnis des Meisters. Sie hilft zumal,
die Stellung Corots zu der wichtigsten Schule des 19.
Jahrhunderts zu begreifen, mit der man ihn vorschnell
verwechselt hat. Die Betrachtung des Landschafters
wird uns darüber noch eingehender aufklären.
Was wir an dem Meister Romantisches in der Art
Delacroix' fanden, wird durch die der Dekoration zu-
geneigte Seite paralysiert. Der Sehnsucht, die in S. Sul-
pice und im Louvre-Plafond brünstige Hymnen stammelt,
versagt sich die milde Lyrik stiller Träume. Beide
Künstler erschöpfen vereint das Genie ihres Volkes. In
Deutschland kennt man nur die Seite Delacroix' und
verkennt sie, weil man nicht das Recht zur Pose be-
greift. Die schlichte Poesie Corots gehört noch enger
') L'ceuvre de Corot Nr. 1078 bis 108 1, entstanden von 1854 bis 1858.
*) Fehlen in L'ceuvre de Corot.
56 COROT
zum Volke. Sie stammt nicht von dem Furor Pugets,
den Delacroix am meisten von seinen Vorgängern ver-
ehrte, sondern von den freundlichen Gärtnern des 17.
und 18. Jahrhunderts, deren Geist auch heute noch
zuweilen die Kunst unserer Nachbarn schmückt.
DER LANDSCHAFTER
MAN kann die Kunst der Primitiven mit einer
Heiligenfigur, die Blütezeit der alten Malerei mit
dem Porträt eines stattlichen Mannes, das 18. Jahr-
hundert mit einer Schäferszene darstellen. Unsere Zeit
gibt sich in einer Landschaft. Hier fand die einsame
Malerei ein Gebiet, in dem sie der Mangel an Tra-
dition nicht schädigte, sondern bevorzugte. Es konnte
im ganzen Umfang erst entdeckt werden, als die Per-
sönlichkeit die Kraft gewonnen hatte, in der Kunst
auf sich selbst zu bestehen. Für die Antike gab es
keine Landschaft. Die kirchliche Kunst hatte den
Blick auf freundliche Gelände zu Hintergründen benutzt.
Die Holländer des 17. Jahrhunderts, die weder mit der
Antike, noch mit der Kirche fertig wurden und sich
schon in der Zwangslage befanden, die sich 200 Jahre
später um vieles verschärfte, schnitten mit ihren glor-
reichen Werken der Zukunft nicht die Möglichkeit ab,
sich des Gebiets wie eines neu entdeckten Landes zu
bemächtigen. Was die Ruysdael, Hobbema, van Goyen
und Aert van der Neer begonnen hatten, forderte viel-
mehr die Fortsetzung heraus.
Dieselbe Begünstigung der Neuzeit läßt sich auf keins
der anderen Gebiete der überlieferten Kunst aus-
dehnen. Unsere Untauglichkeit für das Heiligenbild
springt in die Augen, und die Gründe sind jedem Laien
verständlich. Aber selbst das Porträt, anscheinend das
Neutrum unter den Objekten, versagt uns die volle
Pracht der Alten, und wir geben uns einer Fiktion hin,
wenn wir in der Art unserer Charakteristik den vollen Er-
satz erblicken. Es ist nicht vollkommen richtig, daß unsere
Portraits unsere Zeit so geben wie die alten ihre Epoche.
Nur erlaubt der Unterschied nicht auf eine Differenz
der künstlerischen Fähigkeiten zu schließen. Wir malen
60 COROT
keine Portraits mehr wie die Alten. Die Intensität, mit
der sich das 16. und 17. Jahrhundert des Gebiets be-
fleißigten, hat anderen Tendenzen Platz gemacht und
mußte weichen, um andere, uns gelegenere Konzentra-
tionen zu ermöglichen.
So scheint, aus dieser Entfernung betrachtet, die Ein-
sicht in die Belanglosigkeit des Gegenständlichen er-
schüttert. Es ist nicht gleichgültig, was dargestellt wird,
wenn wirklich ganze Epochen das eine besser als das
andere beherrschten. Torheit ist nur, das leicht er-
sichtliche Resultat der Gewöhnung für wichtig genug zu
halten, um das fürs Allgemeine Geltende aufs Besondere
zu übertragen und daraus dem Einzelnen eine Richt-
schnur zu knüpfen. Verderblich war der Aberglaube
der Klassizisten, die Landschaft an sich sei nie der
Darstellung wert, die Beschränktheit des würdigen Va-
lenciennes, des Malers und Ästhetikers der Revolution,
dem Claude Lorrain zu realistisch war, weil „die Götter,
Halbgötter, Nymphen und Satyrn seinen schönen Gegen-
den zu fremd geblieben seien", und der auf solchen An-
schauungen ein Werk über die Landschaft aufbaute.1)
Und ein geringes dieses Aberglaubens haftet auch noch
dem heutigen Kunstfreund an, der seine Liebe auf ein
vom Titel der Werke bestimmtes Gebiet beschränkt
und nur Landschaften oder nur Stilleben oder nur
phantastische Stoffe liebt. Er übersieht, daß er mit
solchen Sach-Einteilungen vom Schönen wenig sagt,
nur von sich selbst einen kleinen Organisationsfehler ver-
rät, der sein Urteil trübt wie der feine Sprung im Por-
zellan den reinen Klang des Gefäßes.
Das Heiligenbild war in der alten Zeit gute Rich-
tung, weil man es beherrschte, weil so viele Genera-
tionen daran geschaffen hatten, daß schließlich der
a) Elements de perspective pratique a l'usage des artistes, suivis des
reflexions et conseils sur le genre du paysage (Paris l'an VIII).
DER LANDSCHAFTER 61
Künstler mit der besonderen Befähigung für diesen
Gegenstand auf die Welt kam. Das Porträt der Alten
war nicht allein das Bildnis dieses und jenes Bestellers,
sondern Abbild einer von der ganzen Zeit gebildeten
Norm, eine Variation des Autors nach den Zügen des
Bestellers, daher ganz etwas anderes, als wir heute dar-
unter verstehen. Das heißt also, das vermeintlich Gegen-
ständliche war auch damals in Wirklichkeit Form. Wenn
David seinem gefeierten Schüler Gros empfahl, nun end-
lich mal ein ernsthaftes Historienbild zu malen, meinte
er in Wirklichkeit die beliebte Antike.
Die Landschaft schuf ein neues Geleis. Sie strahlt
so stark die Taten der Künstler, die sich mit ihr be-
schäftigt haben, zurück, daß man zu dem Trugschluß
neigt, ihr die schöpferische Rolle zuzutrauen, die große
Maler mit ihr spielten. Sie schuf neue Anschauungen,
neue Mittel, diese Anschauungen zu Bildern zu machen,
neue Formen. Für den Maler der alten Zeit, der nur
den Menschen darstellungswert gefunden hatte, war die
übrige Natur ein kleiner Rest. Für den Landschafter
verlor der Mensch die isolierte Bedeutung, die An-
schauung wurde pantheistisch. Und mit der Bedeutung
verlor der Mensch die Formenwelt, die sich um ihn
festgenistet hatte. Die große Arabeske aus dem Lmriß
des Nackten taugte nicht für die Pläne mit den Feldern
und Wäldern und dem Himmel im Hintergrund. Aus
der Kurve wurde die Gerade. Und wie die Kurve einen
ganzen Kosmos von geschwungenen Formen gebracht hatte,
so schuf die Gerade eine Welt von Strichen, von Winkeln
aller Art, den Schnitten vergleichbar, die der Spaten in die
Erde gräbt. Aber auch die Landschafter gedachten nicht,
auf die Darstellung des Menschen zu verzichten. Sie
brachten ihn wieder, aber er war nun etwas ganz anderes
als früher, da die dramatische Kurve ihn umspielt hatte.
Es war der Mensch von Landschaftern, mit den Eigen-
6z COROT
tümlichkeiten einer Methode gemacht, die den Maler
daran gewöhnt hatte, das Licht auf großen Flächen zu
beobachten. Der neue Mensch hing mit dem neuen
Kosmos zusammen, war Teil und Untergebener, wo er
vorher als König geherrscht hatte.
Corot war im Grunde nicht mehr Landschafter als
wie Poussin, nur darf man das Landschaftliche Pous-
sins nicht zu gering anschlagen. Er war nicht
Nur-Landschafter. Aber hat sich je ein großer Künstler
auf dieses Nur beschränkt? Nicht die Genügsamkeit
mit einem Gebiet der Natur meine ich, sondern die
Enge der Anschauung, die Beschränkung auf eine Be-
handlung, die scheinbar nur auf eine Gattung, in Wirk-
lichkeit auf keine paßt. Hätte Rembrandt nur Portraits
gemalt, so wäre er nichtsdestoweniger der inbrünstige
Phantast; hätte er nur Legenden gemalt, so wäre er
nichtsdestoweniger der große Rechner. Ja, war nicht
im Grunde alles Porträt und gleichzeitig alles Legende,
und ist das nicht immer so? Gibt es eine Kunst, die
nicht beides selbst im beschränktesten Gegenstande
vereint?
Auch Corot war Landschafter in dem Sinne, daß er
im 19. Jahrhundert lebte und seine Sprache mit den
Lauten der Zeit bildete. Er drückte sich im Grunde,
wenn man das einzelne nimmt, nicht anders aus als
irgend einer der großen Landschafter, aber erscheint
♦wie ein großer Dichter neben tüchtigen Prosaisten.
Nicht etwa die Nymphen seiner Bilder geben ihm
diesen Vorrang, sondern seine Fähigkeit, bereits in voll-
kommener Freiheit mit einer Form zu wirtschaften, die
von ihm und anderen, ja vielleicht mehr noch von
anderen, geschaffen worden war, aber die anderen noch
an Einzelheiten fesselte. Er erscheint uns, und so er-
schien er auch der folgenden Generation von 1870, als
die größere Persönlichkeit, als reicherer Künstler, in dem
DER LANDSCHAFTER 63
das Resultat der Entwicklung zu einer durchaus ge-
schlossenen Form gediehen ist.
Ihm selbst war dieser Vorsprung vor den Jüngeren
durchaus unbewußt. Er legte sich seine Sonderstellung
lediglich als Resultat seiner intimen Beziehungen zur
altfranzösischen Tradition aus und fühlte sich unter den
Genossen in Barbizon als Fremder. Die Erzählung der
Kunstgeschichte von seinen intimen Beziehungen zu dem
Kreise Rousseaus gehört ins Reich der Fabel. Künstler
dürfen verkehrt urteilen und müssen es bis zu einem
gewissen Grade. Corot selbst trotz seiner unendlichen
Milde machte keine Ausnahme. Gestand er doch ein-
mal zu Sensier, er könne sich mit dem „Art Xouveau"
nicht befreunden. Unter dem „Art Xouveau" verstand
er nicht etwa moderne Stühle, sondern Millet; zehn
Jahre vorher hatte er noch Delacroix darunter verstanden.
Lnd wieviel näher mußten ihm diese beiden sein als
Cabat, Flers, Dupre und zumal Rousseau. Den Künst-
lern von Barbizon wiederum galt er als Kompromißler,
verehrungswürdig allenfalls, weil es der brave Pere Corot
war, aber mit der Bravheit verband sich eine Nuance
von \ ieux jeu. Moreau-Xelaton spricht von einem
„antagonisme inavoue mais reel"1) der Barbizonkünstler
und stützt sich dabei auf Zeitgenossen, die es wissen
mußten. Zwischen den Zeilen liest man bei Fromentin
dasselbe heraus. Wir haben den wesentlichsten Grund
dieses Verhältnisses oben bei der Betrachtung der Be-
ziehung der Landschafter von 1830 zu den Holländern
gestreift. Diese bildeten sich ein, nur Landschafter zu
sein, nur nach der Xatur zu malen, und sahen darin
ein Zeugnis ihrer Ehrlichkeit. In Wirklichkeit saßen
sie etwas länger draußen bei dem Xaturstudium, malten
während des Sehens, während Corot weniger bei der
Arbeit nach dem Modell schaute; eine rein äußerliche
*) L'oeuvre de Corot I, S. 240.
64 COROT
Differenz, die auf den bekannten fiktiven Gattungs-
unterschied hinauslief. Corot malte Nymphen, das
genügte den allzu Gesinnungstüchtigen.
Unter dem Spiel der Nymphen aber verbarg sich
noch ein besonderer Unterschied, von dem sich weder
der eine Teil noch der andere Rechenschaft ablegte: Corot
war Tonmaler, die anderen waren Koloristen. Bei
beiden gilt es, dieses sachliche Argument mit vielen
nicht weniger sachlichen Reserven auszustatten, um der
Wahrheit treu zu bleiben.
Wir fanden schon im Anfang unserer Arbeit den Ton
als wichtiges Entwickelungsmoment Corots, sahen, daß
er ihn sozusagen mit auf die Welt brachte, denn schon in
der ersten römischen Zeit, als die köstlichen Ansichten
der Tiberbrücke usw. entstanden, als Corot nur sach-
liche Notizen sammeln wollte, tauchte er seine Dinge
in duftige Atmosphäre. Wie wenig solcher Anfang
ohne die ganz spezifische Anlage Corots natürlich war,
kann man ermessen, wenn man sich der italienischen An-
fänge eines begabten Koloristen wie Bonington erinnert,
der in der gleichen Lage die grausamsten Härten sehen
ließ und in seinen Ansichten von Venedig gleichsam
einen versteinten Guardi zeigte.
Diese Klippe hat es für Corot nie gegeben. Seine
Kunst war von Natur aus weich wie der ganze Mensch.
Aber wie sich mit der sprichwörtlichen Güte seines
Gemüts eine hünenhafte physische Kraft verband, so
umhüllte auch seine geschmeidige Form eine elementare
Stärke, die dafür sorgte, daß das Geschmeide nicht zum
sentimentalen Dusel wurde.
Wir fanden ihn bei seinem zweiten Aufenthalt in
Rom im Jahre 1843 auf der Suche nach der Form für
seine Frauenbilder. Zur selben Zeit ungefähr, als die
„Zerstörung Sodoms" entstand, malte Corot eine Reihe
sehr schöner Landschaften. Die Perle von ihnen be-
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DER LANDSCHAFTER 6s
findet sich bei Henri Rouart, dem reichsten Corot-
Sammler:1) die Gärten der Villa d'Este in Tivoli, mit
dem Jungen auf der Mauer.'2) Das kleine Bild hat
die Poesie der berühmten Ansichten aus der Villa
Medici, im Prado, als Velasquez noch im Werden war,
noch nicht den generalisierenden Ton, den großen Stil,
besaß und dafür die unverhüllte Zierlichkeit, prickelnde
Süße sehen ließ. Ganz ähnlich verhalten sich die
Frühwerke mancher anderen Maler zu den berühmteren
späten Werken. Viele haben in ihren Anfängen eine
Art „Hagar" gemacht. Bei Rembrandt ist es der kleine
Geldwechsler in Berlin und der nicht weniger possierliche
Paulus in Stuttgart. Alle streben, den relativen Materialis-
mus der Jugend in immer breitere, umfassendere Malerei
zu lösen. Die Aufgabe ist, bei dieser notwendigen
Reduktion möglichst wenig zu verlieren, die Größe vor
Hohlheit zu bewahren, das Flache gleichzeitig körperlich,
die Synthese so reich wie möglich zu machen. Corot
zeigt alle Licht- und Schattenseiten dieser Entwickelung.
Es ist ihm nicht immer gelungen, die Gefahr des Ein-
tönigen, die auf allen Gipfeln beherrschter Mittel lauert,
zu umgehen, und die Bedeutung, die für ihn das Figür-
liche annahm, drängt, ähnlich wie bei Velasquez, später
die Landschaft in den Schatten. Daher gehören in
mancher Beziehung die vierziger Jahre zur glücklichsten
Zeit des Landschafters, weil er während dieser Jahre
die geringsten Verluste zeigt. Die Hülle auf den „Gärten
der Villa d'Este" ist noch ganz durchsichtig. Der
Schatten verschweigt nichts, was man sehen möchte.
Die Farbe entsteht aus einer Fülle deutlicher Abstu-
fungen, die, trotzdem sie die zartesten Nuancen um-
fassen, immer körnig bleiben und so den Reichtum
immer wieder erneuern. Man glaubt eine zarte Frucht
*) Besitzt er doch nicht weniger als 53 Gemälde des Meisters.
-) L'ceuvre de Corot Nr. 457.
66 COROT
zu genießen und merkt, wie der Genuß durch den leisen
Widerstand in der Zartheit beständig erhöht wird. Das
Terrain kam Corot in Tivoli entgegen, die Kombination
von Architektur und reicher Natur, die schöne Über-
sicht der Pläne. Aber er siegt auch, wo sich das Modell
nicht so bildhaft darbietet. So in dem anderen Bild bei
Rouart1), oder in den „Cascatelles" bei Moreau Nelaton,
oder in dem merkwürdigen Genzano-Bildchen bei Che-
ramy, das mehr im Fluge gewischt als gemalt scheint
und dabei alle Differenzen mit frappierender Deutlich-
keit zeigt: den dunklen Bauern jungen auf dem gelben
Sandweg, die weiße Bäuerin mit dem roten Kopftuch
und vorne das schöne Smaragdgrün der Gebüsche neben
der dunkelbraunen Ziege.'2) In Hunderten von Land-
schaften der folgenden Jahre ging Corot auf demselben
Wege weiter, bald die Weite des Horizonts in seinen
Rahmen spannend, um von einem lauschigen Vordergrund
die dunstige Ferne zu malen; bald den Landleuten am
Wege oder auf der Wiese folgend, um die innige Zu-
sammengehörigkeit von Mensch und Land in warmen
Tönen zu schildern; bald — wie auf dem stillen Weiher
der Sammlung Sarlin, der uns 1900 auf der Zentenar-
ausstellung entzückte15) — um sich und uns in Ein-
samkeit einzuspinnen. Es ist ein himmlischer Frieden
in dieser Natur, man kann sich ihm nicht entziehen,
weil er zu schlicht, zu selbstverständlich ist, um den
Zweifel zu wecken. Man glaubt als unbemerkter Zu-
schauer dabei zu sein. Die Augen wandeln mit den
kleinen zufriedenen Menschen auf den Bildern, gleiten
wohlig über die Büsche zwischen den Bäumen hindurch,
streifen gelassen die Häuser und Kirchtürme. Es sind be-
kannte Dinge, obschon man nie dort war. Man sehnt
1) L'oeuvre de Corot Nr. 454.
2) L'oeuvre de Corot Nr. 457 bis S. 17 abgebildet.
3) L'oeuvre de Corot Nr. 759.
DER LANDSCHAFTER 67
sich nicht mal nach ihnen, so nahe glaubt man zu sein.
Es ist, als ob die Luft auf den Bildern auch uns
selbst mit umspiele.
Nach zwei gleichzeitigen Richtungen hin modifiziert
sich diese reiche Epoche Corots. In der einen gibt er
seiner Dichtung nach, überläßt sich dem Ton, dem
silbergrauen Licht, das den Nymphen so gut steht, und
vergißt darüber manches andere. In der anderen wird
er Kolorist.
Werden die silbergrauen Nymphen-Landschaften immer
so geschätzt werden wie heute? Vom Publikum ver-
mutlich, denn sie sind die leichteste Ware unter den
reichen Schätzen des Meisters. Der Freund der Corot-
schen Muse wird die Beweglichkeit der Nymphen viel-
leicht einmal geringer achten als die Beweglichkeit
des Pinsels in weniger eintönigen Bildern. Die „Mati-
nee" mit dem Nymphentanz gefällt jedem Besucher
des Louvres zuerst am besten; man übersieht das
Bild schnell, das lose Spiel nimmt sofort gefangen.
Aber es muß wohl an derselben losen Malerei liegen,
daß der Bewunderer nicht festgehalten wird und wenn
er oft dieselbe Art in den anderen berühmten Bildern
wiederfindet, fühlt, wie sich eine gewisse Kühle in die
Bewunderung schleicht. Wir sind mit Recht wählerisch
in der Kunst. Wer nicht in der Kunst empfindlich
ist, ist es auch nicht im Leben, und hier wie dort ist
Gewohnheitsliebe Sünde am eigenen Leibe. Wir haben
um so mehr Recht, zumal vor großen Meistern so zu
sein, weil sie uns das schulden, was wir ihnen geben.
Der neue Platz, den sie, zuweilen nicht ohne Verluste
für uns, in unserer Liebe erobern, das Neue, das sie
uns aufdrängen, ihr ganzer Anspruch rechtfertigt sich
nur, wenn wir die Notwendigkeit ihrer neuen Formen
empfinden. Diese Notwendigkeit wird zweifelhaft,
sobald sich die Form in die Manier verirrt.
68 COROT
Was manieriert ist, läßt sich in jeder Ausstellung
empfinden, dagegen schwer formulieren. Wir verknüpfen
mit dem Wort den Tadel der Wiederholung, werfen
dem Künstler vor, dasselbe Resultat immer wieder zu
bringen und sich von Selbstbewunderung, nicht vom
Drange zur Kunst, tragen zu lassen. Andererseits ge-
hört die Wiederholung zur Kunst, denn ohne sie
läßt sich weder im einzelnen Werk, noch in dem
Lebenswerk eines Künstlers ein Stil denken. Wir
wissen nichts vom Künstler außer seiner Art, und
diese Art geht notwendig aus Wiederholungen hervor.
Der Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen, von
denen eins das Höchste, das andere das Niedrigste be-
zeichnet, muß logischerweise im Objektiven liegen, d. h.
eine sachlich aus dem Werk hervorgehende Qualitäts-
frage sein. Die Manier ist nicht etwa wertvoll aus
geschichtlichen — etwa entwicklungsgeschichtlichen —
Gründen; wenn wir diese heranziehen, bedienen wir
uns nur einer Brücke zu unserer Logik, um vorher vor-
handene Empfindungen zu legitimieren. Wohl nützt
uns der Vergleich mit anderen Werten; er spricht latent
bei jeder neuen Erfahrung mit, ja macht sie erst in
höherem Sinne möglich, bereitet das Bett für jeden
neuen Genußwert. Nur, bevor wir vergleichen, um in
uns die ästhetische Freude zu entzünden, ist ein An-
sporn anderer, elementarer Art nötig: das Bewußtsein,
keine Form, sondern einen Menschen vor uns zu
haben.
Der Mangel fängt da an, wo der Vorzug aufhört.
Die Manier wird da zum Manierismus, wo ihre Not-
wendigkeit nicht mehr vollkommen gesetzmäßig er-
scheint, wo für die Erweisbarkeit ihres Wertes nicht
ihre in sich abgeschlossene Welt auftritt, wo die Manier
nicht alle Grenzen des von ihr gestalteten Werkes um-
faßt, sondern Lücken läßt. Die Manier ist so lange
DER LANDSCHAFTER 69
Kunstmittel, solange sie vollkommen dem Zwecke dient
und den Zusammenklang des Subjektiven und Objektiven,
die Grundbedingung jedes Kunstwerkes, nicht stört.
Manierismus ist das Subjekt ohne Objekt, Originalität
ohne Bewußtsein, die Schale ohne den Kern, die Be-
tonung einer dem Autor oder der Welt gefälligen Seite
auf Kosten des Ganzen. Da die Bedeutungen an einem
Punkt zusammenfließen, wo nur eine feine Linie besagt,
wann die Manier aufhört und der Manierismus beginnt,
lassen sich beide Begriffe oft im selben Künstler nach-
weisen, ja sie treten zuweilen im selben Werke auf,
und dann kann natürlicherweise der Manierismus nur
eine Nuance darstellen. Dies ist der Fall Corots in
gewissen Landschaften. Er brachte vorher durch eine
Kette von Wirkungen eine Erscheinung hervor, die wir
als seine Atmosphäre lieben lernten. Es ist eine Stufen-
leiter von sorgfältig abgewogenen Effekten, die nur ge-
troffen werden, wenn der Maler mit voller Selbstent-
äußerung an nichts als an die Sache denkt. Wir gehen
diese Leiter zum Genuß hinauf und erblicken dann von
oben nur noch die Summe dieser Reize, ein Bild, das
keiner Kontrolle mehr bedarf. Vielleicht fliegen wir
bei geliebten Künstlern die Stufen hinan, ohne zu
zählen, ja ohne die Stufen zu berühren: ein Blick, und
wir sind bei ihm. Seine Manier ist so stark und wurde
uns so gewohnt, daß ein Wink uns zwingt. Um so
sicherer muß der Künstler seine Stufen bauen, denn
die sie gehen werden, sind nie dieselben. So stark
müssen sie sein, um in aller Ewigkeit, solange das Haus
steht, den Menschen zum Himmel zu geleiten.
Der solide Bau fehlt manchen der berühmten silber-
grauen Landschaften Corots. Die Stufen sind verwischt,
in der Eile gemacht. Bilder, die ihrer Anlage nach Tiefe
haben müßten, wirken flach, oder die Tiefe ist mit gar zu
geringen Mitteln gegeben. Die Nymphen, die nur die Be-
jo COROT
gleiter einer unendlich zaubervollen Landschaft sein müß-
ten, tanzen in einem Dekor, das nicht ganz die Beziehung
zum Theater vergessen macht, aus der sie sehr oft entstan-
den. Das Grau, in das man wie bei anderen Corots tief
hineinblicken möchte, ohne Ende zu finden, das nicht aus
grauer Farbe, sondern aus tausend Dingen bestand, deckt
allzu oberflächlich eine dünne Leinwand. Es ist immer noch
sehr schön. Der Louvre zeigt nicht das absolut Beste
des Genres. Man muß die Baigneuses bei Henri Rouart
sehen und die bei Cuvelier und bei Coats, das Bad
der Diana im Museum von Bordeaux, die Nymphen-
bilder in Chantilly, bei Arnold und Tripp, oder
das Pastorale im Museum von Glasgow. In allen
stecken unvergängliche Dinge. Ob ein Corot in einer
Nuance Manierist wird, oder ein Besnard mit einer
Nuance Künstler bleibt, ist zweierlei. Ja, hätte Corot
nichts anderes als diese Werke geschaffen, bliebe Grund
genug, ihn zu verehren. Nur soll man diese Kunst
nicht als seine Haupttat feiern, nicht gerade das in den
Himmel heben, was allein im ganzen Werk eine Kritik
herausfordert.
Es war nichts weniger als der feile Grund der Schwachen,
der Corot zu der Spur von Manierismus trieb. Keine
Gewinnsucht bei dem Generösesten aller Kameraden, kein
Schielen nach oben — wir haben dafür sprechende Beweise —
auch keine Schwächung, die begreiflich wäre. Andere sind
in jüngeren Jahren und nach geringerem Werk den sanften
Pfad hinabgeglitten; wie stark Corot bis an sein Ende
blieb, werden wir noch erfahren. Ich glaube, es war
just seine Generosität, seine Gutmütigkeit, was in
bewunderungswerte Dinge den Wurm hineinließ; der
Wunsch, Bilder zu geben, wie er Geld gab, um andere
zu beglücken; eine Sorglosigkeit, die fern von dem grü-
belnden, sich aufreibenden Dämon Delacroix', fern von
dem Egoismus der Genies, des Grans von Gift entbehrte,
DER LANDSCHAFTER 71
das die Großen in sich haben müssen, um ihre Werke
heil zu halten.
Nur, wenn es gerecht ist, solche Reserven auszu-
sprechen, muß man sich hüten, zu geschwind zu gene-
ralisieren. In gar zu leicht aufgeklärten Kunstkreisen
ist jene Reserve längst zur gewohnten Phrase geworden,
und statt die relativ geringe Zahl von diskutablen Werken
zu präzisieren, pflegt man dort den ganzen älteren Corot zu
verwerfen. Das ist eine viel größere Ungerechtigkeit, als
wenn man die Ausnahmen ganz verschwiege.
Um Ausnahmen handelt es sich. Nicht das Alter
Corots kommt als Schuldiger in Frage, nicht mal eine
Periode seines Alters, sondern eine bestimmte, über
viele Jahre hinaus zerstreute Art von Bildern, die genau
gleichzeitig mit vollkommen entgegengesetzten, nichts
weniger als senilen Werken entstanden. Die „Matinee"
erschien im Salon von 1851 und wurde das Jahr vorher
gemalt. Damals war Corot 54, für seine Verhältnisse ein
Jüngling. Die glänzendsten Werke in der Art der,, Matinee"
erschienen alle später; dabei soll nicht geleugnet werden,
daß noch mäßigere als die „Matinee" darunter sind, z. B.
gleich das „Souvenir d'Italie" des Louvre. Aber man
braucht nur in den nächsten Saal zu gehen, wo
die Corots der Thomy Thierv-Sammlung hängen, um
ebenfalls spätere Werke ganz modernen Schlages zu
finden, vor denen alle Reserven wie Seifenblasen zergehen.
Mit solchen Bildern könnte man eine neue Epoche
im Leben Corots konstruieren. Es scheint wirklich, als
sei in den fünfziger Jahren neue Kraft über ihn ge-
kommen. Oder liegt es nur daran, daß er seine Mittel
erneute und vom Tonmaler zum Koloristen wurde? ein
Kolorist, der mit breitem, unverhülltem Pinsel arbeitete,
an alles andere, nur nicht an Nymphen im Nebel dachte,
sondern die Natur spontan niederstrich.
Wie die Gleichzeitigkeit solcher grundverschiedenen
72 COROT
Schöpfungsarten zu erklären ist, dafür reicht keine
Psychologie aus. Schon der Corot, der in einem Salon
den „Macbeth", die „Toilette" und „Cache Cache",
alle ungefähr in denselben Maßverhältnissen ausstellte,
ist eine artige Nuß für Kunstphilosophen. Und nun
denke man sich, daß er gleichzeitig wie ein bereicherter
blonder Constable malte, Hunderte und aber Hunderte
getreuster Naturschilderungen schuf. Die Anschauung,
die wir aus der logischen Entwicklung unserer Zeit-
genossen, eines Monet oder Liebermann, gewinnen, findet
in Corot, dem stillen Idylliker, manche Rätsel. Es
scheint, als ob die Kunst ihm etwas weniger Subjektives
war, da er so verschiedenartige Erscheinungen daraus zu
locken wußte, und doch kann man sich kaum unmittel-
barere Impressionen denken als die Perlen der Thomy
Thiery-Sammlung. So wirkt die weite Ebene in dem
winzigen „Vallon",1) so der von Farben leuchtende „Chemin
de Sevres"2), so vor allem die „Porte de Jerzual"3) mit
dem unwiderstehlichen Blick auf die Häuser jenseits des
schattigen Tores. Und wenn man lernen will, wie Corot
kurz vor dem Ende aus dem Grau Stil zu machen
verstand, ohne eine Spur von Kompromiß merken zu
lassen, braucht man nur die Route d'Arras4) zu nehmen,
das Bild, in dem die materielle Farbe zu reinstem Licht
kondensiert scheint und das 1873 gemalt wurde. Diesen
Werken stelle man noch gewisse Studien zur Seite, wie
das Haus von Semur5) bei Durand Ruel, oder den Hof
mit den Hühnern0) oder den „Beffroi de Douai"') und
') Louvre Nr. 2801.
2) Louvre Nr. 2803.
3) Louvre Nr. 2802. So wird das Bild im Oeuvre de Corot genannt
(Nr. 990), im Louvre heißt es Porte d'Amiens (gegen 1860).
4) Louvre Nr. 2810. Heißt in L'oeuvre la Corot de Route de Sinle-
Nobe (Nr. 2169).
f>) L'oeuvre de Corot Nr. 839 (1855—1860).
°) L'oeuvre de Corot Nr. 2176 (1873).
7) L'oeuvre de Corot Nr. 2004 (1871).
\I.TI> LANDHAUS IX DBB XÄHK VON 8KMOUB, 1S55— 6p.
N'aili dem Corotlieft de« Studio.
Durand-Kui-l. Paris.
DER LANDSCHAFTER 73
hundert andere, ebenso viele Beispiele der größten
Ursprünglichkeit, der reichsten Kunst eines nur der
Natur zugewandten Malers.
Alle diese Werke entstanden in der letzten Zeit und
soweit sie die Koloristik betonen, glaubt man in ihnen
eine deutliche Beziehung zu den Künstlern von Bar-
bizon zu finden, denen er vorher so fern schien. Es
ist nicht unmöglich, daß einer der jüngsten der großen
Landschafterschule und vielleicht der bedeutendste, Dau-
bigny, an dieser Annäherung beteiligt war.
Corot war mit Daubigny eng befreundet. Vielleicht
hatte er schon den Vater des Landschafters gekannt,
der auch Bertins Schüler und ungefähr gleichzeitig mit
Corots zweiter italienischer Reise in Italien war. Dau-
bigny selbst fing in der dem Meister vertrauteren Art an.
Auch er war in Italien, anfangs in den Fußstapfen der
Alten, freilich nicht mit dem Erfolge seines älteren
Freundes. Er stellte 1840 einen „Hieronymus in der
Wüste" aus, der Corot heimatlich berührt haben mag.
Ein Dutzend Jahre später trafen sie sich in der Dau-
phine und halfen sich offenbar gegenseitig. Daubigny
hatte sich inzwischen von allem Klassizismus und nicht
weniger gründlich als Millet aus den Händen seines
Lehrers Delaroche befreit. In Corot glaubt man seitdem
einen energischeren Pinselstrich, eine entschiedenere Kolo-
ristik, etwas von der saftigeren Malerei des Jüngeren zu
spüren. Seine Flächen fangen an, zu leuchten.
Im Haager Mesdag- Museum, wo Daubigny ein
würdiger Altar errichtet wurde, kann man die beiden
gut vergleichen. Die Allee Corots1), in ganz reinem
fließenden Grün, mit den blitzend weißen Flecken,
paßt vortrefflich zu den rapiden, freilich nicht so rhyth-
mischen Skizzen Daubignys an derselben Stelle.
Vorbereitet wurde diese Periode Corots wahrscheinlich
') Katalog des Mesdag-Museums Nr. 69, datiert 1868.
74 COROT
durch Constable, der ja allen Franzosen seiner Zeit die
stärksten Anregungen gab. Corot war erst 1862 in
England, kann aber vorher in Paris genug Werke des
Engländers gesehen haben. „Le Gue", das ganz frühe
Bild mit dem belasteten Leiterwagen im Tümpel1), hat
manche äußerliche Ähnlichkeit mit dem Hay Wain,
freilich nichts von dem Farbenauftrag Constables.
Diesen glaubt man eher in manchen Studien der
vierziger Jahre angedeutet zu finden. So in dem
besten Corot des Mesdag- Museums, den „Rosen"-).
Freilich hatte Constable nicht die unglaubliche Leichtig-
keit, mit der hier die riesigen Felsen dienstbar gemacht
werden, nicht die Kühnheit des Standpunktes, den Corot
ganz tief annahm, um die steinerne Masse um so
wirksamer zu machen, und nicht das Spielende der
Gestaltung, die das ganze Bild wie eine Illustration er-
scheinen läßt. Prachtvoll steht der kaffeebraune Ton
der Felsen zu den blaugrünen Blättern und dem blauen,
graudurchzogenen Himmel. Deutlicher kommt eine
gewisse Verwandtschaft der Anschauung mit Constable
in späteren Studien, wie z. B. dem erwähnten Haus
bei Semour zum Vorschein, das an die berühmte Con-
stable-Skizze „A deserted mill" u. a. erinnert.
Je älter Corot wird, desto breiter wird der Pinsel.
Nur ausnahmsweise zeigt sich diese stark koloristische
Malerei in großen Formaten. Er reservierte sie für seine
kleinen Überraschungen in der Art der Bilder des
Thomy Thiery-Saals. Größerer Gemälde hielt er nur
seine gereimten Poesien für würdig genug, und in
diesen ist der Auftrag immer mehr dem Tone als dem
Kontrast unterworfen. So erhält sich sein ganzes Leben
der Dualismus, den wir im Anfange fanden. Seine
Baigneuses und seine Nymphen verschönerten, ver-
') L'oeuvre de Corot Nr. 257, aus 1832.
2) Katalog desMesdag-Museums 65, aus 1848 (L'oeuvre de Corot Nr. 637).
DER LANDSCHAFTER 75
geistigten den Klassizismus, dem er in der Jugend in
der „Hagar" den Tribut gezahlt; die kleinen Landschaften
zeigen den intimeren Corot, der sich in Rom nicht ent-
schließen konnte, in ein anderes Museum als das der
Natur zu gehen. Der eine gab dem anderen, es ist
derselbe Mensch, und doch wüßte ich kaum ein Bild, in
dem sich beide Seiten vollkommen gelöst haben. Und
dieser Dualismus enthält die beste Abwehr gegen den
Vorwurf eines bewußten Manierismus. Der Manierierte
ist immer einseitig und versucht vergebens, seine Schwäche
unter der Vielheit der Gegenstände zu verbergen. Ge-
wiß hat Corot manches Bild gemalt, in dem wir heute,
wenn wir es mit den Perlen messen, nicht die Not-
wendigkeit der Schöpfung erkennen. Er trieb seine
Kunst nicht mit dem Bewußtsein, etwas Außerordent-
liches zu vollbringen. Sie war ihm natürliche Äußerung
und gab ihm die befriedigende Möglichkeit, sich mit
sich selbst und seinen Mitmenschen zu unterhalten. Er
pflegte «in zehn Bildern zu wiederholen, was er in einem
sagte, aber man kann nicht behaupten, daß das eine
der Art nach hätte konzentrierter sein können. Aus
der Menge darf man daher dem Meister keinen Vor-
wurf machen, denn sie hinderte ihn nicht, stetig vor-
wärts zu schreiten. Ein Mensch, der zu gleicher Zeit
mehrere Gestaltungsarten beherrscht, kann nicht einseitig
genannt werden. Man bemerkt leicht, daß sich die
Anwendung der verschiedenen Arten, des breiten Strichs
und der starken Koloristik auf der einen Seite, der tonigen
Malerei mit kleinen Tupfen auf der anderen, nach dem
Vorwurf richtete, nach dem Eindruck, den er empfangen
und mitteilen wollte. Die nackten Nixen verlangten eine
andere Atmosphäre als die Bauern. Der Hymnus an das
schönere Geschlecht hatte stets eine geheime Separat-
kammer im Herzen Corots und in seinem Werke.
Im Alter, als er die Sechzig längst überschritten
76 COROT
hatte, brachte ihm diese Liebe eine neue Gattung von
Werken. Wenn ihm die Frau in den Landschaften zu-
weilen ein Schnippchen geschlagen hat, hier, in den
Werken der Spätzeit, wo sie sich allein behauptet,
werden wir den Meister auf einer seltenen — fast
könnte man sagen, einzigen — Höhe finden.
PAYSANNE A LA SOL'RCE, 1860—65. 0,74X0,48.
Photo Durand Ruel, Paris.
JEL'XE ALGERIEXXE gegen 1872.
Photo Durand Ruel Paris.
DIE BESTE ZEIT
COROT hat über zweiundeinhalbtausend Bilder ge-
malt. Wir haben versucht, die Arten anzudeuten,
aus Hunderten Gruppen zu bilden. Viele Arten zogen
an uns vorüber, Landschaften, Portraits, Idyllen, roman-
tische Szenen, Odalisken, badende Nymphen, Kirchen-
bilder, Fresken und immer wieder Landschaften, eine
ganze Kunstgeschichte. L'nd wo man glaubt, am Ende
zu sein, wenigstens die einzelnen Gattungen aufgezählt zu
haben, da erscheinen wieder Scharen von Bildern mit
ganz neuen Zügen, die sich wieder zu einem Ganzen
zusammenfinden, einem neuen Gesicht unter dieser Fülle
von Gesichten. Wieder sind Frauen darunter, umringt
von allen anderen Arten der früheren Zeit, aber diese
Frauen heben sich ab von dem Haufen. Schon daß
sie Frauen sind, unterscheidet sie. Man erinnert sich
bei ihrem Anblicke nicht, daß Corot je vorher eine
80 COROT
andere Weiblichkeit als kleine flinke Mädchen in nackter
Allerlieblichkeit gemalt hat. Jene sind ernst und
schweigsam, man weiß gar nicht mehr, daß Corot früher
schweigsam und ernst war. Gelassen blicken sie den
Beschauer an, ein wenig nach der Seite, in die Ferne.
Nicht traurig, nichts weniger als sentimental, nachdenk-
lich vielmehr wie klare Menschen. Sie sind noch jung,
aber sie sind nicht ihrer Jugend wegen da; das Matro-
nenhafte der berühmten Mandolinenspielerin, die früher
bei Desfosses war,1) bekleidet selbst die Mädchen unter
ihnen. Die Italienerin, die aus einer anderen leichter
beherzten Welt hierher kam, hat einen ernstsinnenden
Zug bekommen. Zuweilen sind sie im Freien am
Brunnen, wie in dem schönen Bild der Sammlung
Behrens in Hamburg;2) immer allein, in Gedanken
versunken, oder verträumt auf demselben Pantherfell
ruhend, auf dem andere — vielleicht waren sie's selber
einmal — ihre nackten Glieder gesonnt haben. Oder es
sind Frauen mit ihren Kindern in einsamer Landschaft.
Ein ganz anderer Ton spielt in diesen Idyllen. Er
scheint von allem Griechentum der früheren Art befreit.
Zwar findet man hier und da eine Griechin, aber es
ist keine tanzende Nymphe, sondern eine verwundete
Eurydice. s)
Zum erstenmal treffen wir in diesem Kreise die Frau
im Hause. Früher war es fast, als gediehe das Weib-
liche nur zwischen Bäumen, am Weiher im betauten
Grase. Nun finden wir die Mädchen in stillen, be-
haglichen Zimmern. Sie haben Bücher in der Hand,,
ohne zu lesen, oder haben sich verstohlen mit einer
1) L'oeuvre de Corot Nr. 1060. Eines der feinsten und vollendetsten
Bilder dieser Art (Robaut legt es zwischen 1850 und 1855), von unbe-
schreiblicher frauenhafter Liebenswürdigkeit im Ausdruck.
-) L'oeuvre de Corot Nr. 1343, wohl die schönste Fassung dieses,
dreimal gemalten Motivs.
•) L'oeuvre de Corot Nr. 1999 — 2001.
KKM.MK AI < HKVAI.KT, 1865—68. 62X38 cm.
Photo Durand-Kuel et fils, Paris.
**Km
LA L.ISEUSE (1868). 75X42 cm.
DIE BESTE ZEIT 81
Gitarre vor die Staffelei des Künstlers gesetzt, ohne zu
spielen.
Nichts Griechisches, eher holländisch. Aus der leich-
ten Hülle, wie sie in den elysäischen Gefilden getragen
wird, ist das adrette bürgerliche Kleid geworden. Die
Malerei hat sich angepaßt. Wir sind weit von der
bequemen Xebelstimmung der Xymphenlandschaften.
In reichen Farben heben sich die Gestalten von den
wohnlichen Wänden der Zimmer ab. Die Kunst, die
Atmosphäre zu schildern, zeigt auch hier ihre Reize,
aber sie rechnet mit dem Koloristen. Klare Farben-
harmonien leben in den Bildern. Sie spiegeln die ruhige
Besonnenheit dieser Menschen und ihres Schöpfers wieder.
Hier kommt endlich mit unübersehbarer Deutlichkeit
der unmittelbare Einfluß desselben Landes zum Vor-
schein, das von den Malern von Barbizon entdeckt wor-
den war. Aber auch jetzt noch setzt sich Corot ganz
anders mit Holland auseinander als die Reihe von
Rousseau zu Daubignv. Wohl ist der Einfluß sichtbarer
als in dem Idylliker Corot, der sich auf die alten Be-
ziehungen zwischen den beiden Malschulen erinnerte;
aber gleichzeitig offenbart er die tiefere Durchdringung
des holländischen Geistes. Wieder läßt Corot alles mit-
wirken, was ihm die französische Tradition schenkte, und
bereichert seine Synthese nur mit den kostbarsten
Werten. Die anderen erbauten sich an dem Kreise
Ruvsdaels. Corot geht zu den beiden Größten neben
Hals: zu Rembrandt und Vermeer.
Die Instinktverwandtschaft mit Rembrandt ist im
ganzen Werke Corots zu spüren, und sie beweist, wie
frei man seinen Klassizismus auffassen muß, um solche
Gemeinschaft verständlich zu finden. Sie half ihm zu
der lockeren Form. In dem Hl. Sebastian steckt etwas
von dem Christ an der Säule der Sammlung Carstanjen,
und als die Düsseldorfer Ausstellung die merkwürdige
82 COROT
Idylle Rembrandts bei dem Fürsten Salm-Salm „Diana
und Aktäon"1) brachte, hätte man glauben können,
selbst auf diesem Felde eine entfernte Verwandtschaft
zu finden. Corot ist immer zierlicher, nicht nur in
der Form, im Maßstab, auch in der Erfindung seiner
Mittel. Ganz rembrandthaft wirken die winzige thro-
nende Frau im Atelier des Hauses Rouart2) und der dunkle
„Passeur" bei Frau Desfosses. In dem Bildchen bei
Rouart erreicht Corot im kleinen Format mit einer ans
Fabelhafte grenzenden Abstufung des Graus eine ähnliche
Majestät der Erscheinung, die wir in größter Pracht
in Rembrandts Delila oder dem Mahl der Esther und,
weniger gespenstisch, in gewissen Portraits, wie der Dame
mit dem Fächer, bei dem Herzog von Westminster
finden. Das letzte Bild hat Corot übrigens bei seinem
Aufenthalt in London im Jahre 1862 gesehen.
Acht Jahre vorher war er mit Dutilleux in Belgien
und Holland gewesen. Nach den Aufzeichnungen des
Freundes hatte er nicht viel für die Anatomie und
die Nachtwache übrig, aber bewunderte die Tuch-
macher, und sicher, obwohl davon nichts verlautet,
dürften ihm damals die holländischen Interieurmaler
näher gekommen sein. Denn kurz nach seiner Reise
malte er die beiden merkwürdigen Bilder, die in den
fünfziger Jahren ganz allein stehen: ,,Die Küche in
Mantes" und ,,das Zimmer in Mas-Bilier."p>) Die In-
timität, mit der er die Landschaft wiederzugeben pflegte,
zog hier aus dem typisch holländischen Genre einen
3) Bode, Rembrandt-Werk Nr. 196.
'-) Aus dem Jahre 1869, laut dem Katalog der Vente Corot.
:!) L'ceuvre de Corot: Interieur Rustique au Mas-Bilier, Nr. 824
(Sammlung Moreau-Nelaton) und Interieur de Cuisine ä Mantes Nr. 826
bei Durand Ruel. Robaut legt das erstere zwischen 1850 und 1860. Es
ist aber wohl nicht vor 1854 gemalt worden. Laut einem Brief Lacroix'
entstand es aus einem äußeren Anlaß, weil der Regen am Ausgehen
hinderte, und wurde genau nach der Natur gemalt (vgl. darüber im ersten
Band der Oeuvre de C, S. 266)'. Das andere Bild legt Robaut zwischen
1855 und 1860. Vorher hat Corot nie Interieurs gemalt.
DIE BESTE ZEIT 83
vollkommen neuen Reiz. Wie anders leben in dem
Corotschen Raum die Menschen und Dinge, als in den
schön gepinselten Musterzimmern des Pieter de Hooch.
Der holländische Modemaler gibt mit angenehmen
Farben und sauberem Auftrag ein Bild von höchster
Gefälligkeit. Auch das Licht ist nur dazu da, um die
Zimmer zu möblieren. Corot macht aus der Farbe den
Stoff des Zimmers, aus dem Licht die Atmosphäre, und
aus dem Ganzen ein Stückchen Leben, in das man un-
bemerkt hineinschaut.
Auf diese Kunst, die er damals rein zufällig und
ganz vorübergehend unternommen hatte, griff er später,
als das Behagen des Zimmers dem Alter näher rückte,
mit größter Meisterschaft zurück. Die Form, d:e
früher im Dämmerlicht des Morgens und Abends ver-
schwamm, aus hundert schwebenden, versteckten, ver-
wobenen Flecken und Fleckchen zusammengesetzt, trat
jetzt in den von der Zimmerluft umgebenen, großen
Einzelfiguren mächtig hervor und forderte von Corot
alle Gaben eines sicheren Pinsels und einer starken
Koloristik. Man begreift kaum, wie der Siebzigjährige,
nach der ungeheuerlichen Arbeit, der kaum übersehbaren
Vielseitigkeit, zu dieser schwersten Aufgabe, die er sich
je gestellt hatte, die Kraft fand. Die ersten Einzel-
figuren dieser Art fallen noch ungefähr in die Zeit der
beiden Interieurs. Es waren Atelierstudien nach nea-
politanischen Modellen, in der Pose den ersten römischen
Frauenbildern der zwanziger Jahre ähnlich, nur von
ganz anderer, unendlich reiferer und kühnerer Kunst.
Cheramy besitzt eine Italienerin, in der die ganze Pa-
lette zum Vorschein kommt1); das Schwarz und Weiß im
Haar und im Kopftuch, das Fahlgelb in dem Teint
mit violettgrauen Schatten, das Rot in der Bekleidung
des Rückens und in der rot-weiß gestreiften Schürze, das
') L'oeuvre de Corot Nr. 1037.
84 COROT
Violettbraun in den Ärmeln, und vor allem das starke
Blau in dem Rock; dasselbe Blau, das er später zu
einem wahren Triumph der Farbe ausbaute. Diese Ita-
lienerin sitzt am Boden in natürlichster Haltung, den
einen Arm auf eine Amphora gestützt, Hände und Füße
lässig verschlungen. Die Farben haben etwas von der-
selben Natürlichkeit. Sic gehören so selbstverständlich
zu dem Kleid, wie das Kleid das Mädchen einhüllt, weil
eine höchst raffinierte Abstufung der Töne die Kon-
traste vermittelt. Die Degradation wird später immer
kunstvoller und gestattet die Ausdehnung des Formats
und des Ausdrucks. Schon in der etwas späteren Femme
ä la pensee, bei Durand Ruel, *) die den Kopf auf die
Hand stützt, in der anderen eine Blume hält, kommt
das eigentümlich Gewirkte zum Vorschein, das so vielen
Einzelfiguren Corots die schöne Wärme gibt. Auch
in diesem Genre von Bildern wird, je älter Corot
wurde, dem Pinselstrich und der Farbe immer mehr
die Rolle anvertraut, die vorher die umhüllende Ton-
kunst gespielt hatte. Man kann das am besten be-
merken, wenn man die sechs Darstellungen seiner Frau
vor der Staffelei miteinander vergleicht. -) Sie be-
ginnen um das Jahr 1865 und enden mit der Frau
im schwarzen Sammetrock des Lyoner Museums, aus
1870. In den früheren scheint Corot mehr am reinen
Umriß zu haften, an der schönen Erscheinung im
Raum, den er mit kühler Sanftheit, in blonden Tönen
darstellt. Das Gemälde bei Frau Esnault-Pelterie, mit
dem schönen Rosa des Rockes, ist eine meisterliche
Paraphrase der holländischen Interieur-Malerei, aber
weicher, fließender, freier als das Genrebild der Spezia-
listen des 17. Jahrhunderts. In der Lyoner Variante da-
gegen dringt er wie Rembrandt immer mehr in das Innere
1) L'ceuvre de Corot Nr. 1041.
2) L'oeuvre de Corot Nr. 1557 — 1561.
DIE BESTE ZEIT -;
der Materie, teilt das früher Zusammengehaltene, selbst
auf Kosten der Modellierung, ist mehr Architekt als
Dekorateur und schafft ein ganz und gar neuzeitiges
Werk. Es steht nicht allein. In vielen Frauenbildern
derselben Zeit, die Portraits scheinen und nach Modellen
gemacht wurden, finden wir dieselbe Malerei. Durand
Ruel besaß eines der schönsten, das Kniestück eines
Mädchens von unbeschreiblichem Ausdruck, genannt
„la jeune Grecque".1) Es ist so einfach und selbst-
verständlich wie das Mädchen Rembrandts in Stock-
holm, fast möchte man hinzufügen, ebenso unbegreiflich
meisterlich. Rembrandt strich das Gesicht und das
Kleid in größeren Strichen hin und verwandte eine
stärkere Koloristik. Aber man ist geneigt, diesen Unter-
schied nicht auf eine Differenz des Könnens, sondern
die Verschiedenheit der Temperamente zu schieben, die
natürlich unüberbrückbar ist. Die kleine Emma Do-
bignv, das Modell jenes Bildes, gibt so gut den Typ
Corots wie die sogenannte Köchin oder die Hendrickje
Stoffels den Rembrandts. Wir fühlen darin gleich
deutlich die Anschauung des Meisters, ja seine Auffassung
des Lebens. Keine Philosophie. Es sind fleisch-
gewordene, restlose Formen der Empfindung. Corot
gab in seinem Bild — und in vielen anderen — das
Nachdenkliche der Frau, das sich nicht in Gedanken
vollzieht, sondern in den Sinnen bleibt, das Träumen
ohne festen Inhalt. Frauen — und zumal die des
Südens — sind deshalb so gute Vorbilder für Maler
und Bildhauer, weil ihre ganze Wesensart durch das
Formale erschöpft wird. Sie denken, leben, schaffen
Formen, sind unversengt von der Intellektualität, die
den Mann nach innen zieht und sein Äußeres ver-
kümmern läßt. Sie leben noch animalisch, und da
sie das Animalische mit ihren Instinkten, nicht mit
*) L'ceuvre de Corot, Xr. 1995 (1868 — 1870).
86 COROT
denen des Mannes kultivieren, vermeiden sie das Häß-
liche unserer verborgenen, ungepflegten Animalität.
Corots Mädchen ist überlegene Natur. Kein Hauch
von Sentimentalität oder Genre -Dichtung trübt die
Keuschheit der Konzeption. Das Bild scheint von
einem Wunder-Spiegel wiedergegeben, den sich das
Mädchen — nicht der Künstler — vorhält. Auch
Rembrandts Kleine im Fenster im Stockholmer Mu-
seum ist nachdenklich. Aber sie zeigt, ohne zu wollen,
all die natürliche Rassen-Energie, die selbst dann nicht
schläft, wenn sie nicht gebraucht wird. Sie ist immer
auf dem Qui-Vive, horcht nach außen. Hier spinnt
sich der Traum in bestimmtere Gedanken ein, die das
Fleisch anspannen. Das gibt die Kunst Rembrandts
so gut wie Corots Malerei die Art seines Modells.
Die kleine Emma Dobigny war eine echte Pariserin,
und trotzdem hatte man recht, das Bild ,,La jeune
Grecque" zu taufen. Alles was man darüber in wenigen
Worten sagen könnte, beruht in dieser Bezeichnung.
Es ist griechisch empfunden, in einer noch höher
stehenden Art als das der gleichen Welt zugewandte
Märchenspiel Corots. Und diese Empfindung entscheidet
gegen die Ähnlichkeit mit dem großen Holländer. Was
zu der Annäherung verlockt, ist zumal die Analogie der
Entwicklungen, beider Übergang vom Ton zur Farbe,
von der Hülle zum Kern. Nur eine der vielen Häute,
von denen man sich die Persönlichkeit eines großen
Künstlers umgeben denken kann, zeigt die Verwandt-
schaft Corots mit Rembrandt. Darunter bleibt derselbe
Mensch, der nach Rom ging, um seine Landschaften zu
lernen. Wieviele der Häute man auch finden mag, immer
fühlt man den Kern hellenischer Empfindung. Und
dieser wirksame Kern ist auch der Grund der merk-
würdigen Erscheinung, daß unsere Erinnerung vor diesen
reifsten Schöpfungen Corots von Rembrandt zu einem
DIE BESTE ZEIT 87
anderen Meister pendelt, der dem Holländer so ent-
gegengesetzt wie möglich erscheint, zu Ingres. Wir
bleiben auch hier nicht haften. Es wird sich heraus-
stellen, daß ein tieferes Eindringen in die reiche Ent-
wicklungswelt Corots uns wieder, wenn nicht zu Rem-
brandt, wenigstens in seine Nähe zurückbringt.
Nicht mehr der Schöpfer der Odalisken steht hier
vor uns, nicht der Maler;- der Zeichner Ingres viel-
mehr, der mit kleinerem Mittel Größeres vollbrachte,
der auch seine Gesichter wie gehauchte Empfindungen
in schlichter Menschlichkeit und doch von aller mensch-
lichen Last entkleidet darstellte. Der Bourgeois In-
gres, der ein göttlicher Dichter war. Ich meine seine
unwahrscheinliche Plastik und verstehe darunter nicht,
daß er ein Ding rund in den Raum zu setzen wußte,
sondern nur das Rund; und mit dem Rund meine ich
das Hineinwachsen einer Macht ins Jenseits, den Griff
einer Hand, die wir nicht sehen, von der nur die
Wirkung bleibt, das Hineingetriebene, Auseinander-
gebogene, dem unsere Blicke nachjagen wie der Öffnung
des Wassers unter dem Kiele. Diese unbegreifliche
Plastik ist auch in den Frauengesichtern Corots. Die
jeune Grecque ist ein Mädel, wie man es alle Tage
sehen kann, so wahrscheinlich wie möglich. So blickte
es ganz gewiß, hielt sich so, ein gutmütig verträumtes
Geschöpf mit einem possierlichen Hang zum Ernst, das
richtige junge Mädchen. Und bei aller Einsicht in
dieses Dasein lockt uns eine unsichtbare Gewalt, mehr
aus dem Gesicht herauszusehen. Nichts Psychologisches,
nichts zum Andichten; mit alledem bleibt das Merk-
würdige immer noch unberührt, fassen wir nicht das
zweite Gesicht der Physiognomie. Das etwa fühlen wir
darin: aus dem Profil wächst scheinbar ein zweites heraus,
oder vielmehr, es schwebt dem andern vor in kaum
sichtbaren Kurven; ein Profil, das gar nichts Mensch-
88 COROT
liches hat, sondern ein Zeichen ist, ein Kreis, eine
Ellipse im Raum, etwas Kugelhaftes. Dieses Gedachte,
eine vollkommen regelmäßige Form, die man mit einem
simplen Wort benennen zu können glaubt, bleibt rätsel-
haft, weil es, obschon greifbar vorhanden, doch nur in
der Einbildung existiert und Einbildung bleiben muß,
in Wirklichkeit von einem uns anblickenden Mädchen
mit Augen, Nase, Haaren', Mund höchst unfreiwillig
gebildet. Der sphärenhafte Ersatz des Natürlichen durch
eine abstrakte Form, zu der uns der Künstler drängt,
ist seine Kunst, und nie hat sie Corot tiefer und merk-
würdiger erreicht als in diesen Bildern. Ein Pendant
ist die Femme ä la perle, 1) vielleicht noch mysteriöser
als die kleine Griechin, nicht ganz so einfach. Hier
ahnt man die volle Bewußtheit des Künstlers, zu einer
Form zu gelangen, die wir der Einfachheit halber antik
nennen wollen. Neben dem durchaus Organischen der
Natur tritt das Konstruktive des Zeichens ganz un-
mittelbar hervor. Sobald wir aufs einzelne gehen, er-
kennen wir auch die Brücken, sehen, daß die Wölbung
vom Auge zur Stirn in Wirklichkeit nicht so sein kann,
daß die Nase im Porträt ganz etwas anderes ist als die
Erhöhung, die sich in der Natur zwischen Mund und
Augen befindet, und bleiben doch, sobald wir dieses
andere fassen wollen, immer wieder bei dem höchst wahr-
scheinlich Abgemalten haften. Und nun begreifen wir
auch den größeren Reichtum Corots im Vergleich mit
Ingres. Das notgedrungene Zurückzucken der Betrach-
tung in das dargestellte Abbild von der Natur als solcher
ist bei Corot stärker. Wir bleiben bei Ingres leichter
an der Arabeske hängen, zumal in den Odaliskenbildern.
Deren Schönheit ist über jedes Lob erhaben und wird
hier nicht in Frage gezogen. Es handelt sich darum,
unsere Empfindung zu analysieren, um das Jenseits der
3) L'oeuvre de Corot Nr. 1507 (1868 — 70).
.MKDLTATIOX (186970). 80X59 cm-
(La Mngerie de Mwiette, Portrait da M»>e. Uambey.)
Sammlung Jtarcel von Nemes, Budapest.
Photo Durand-ßuel et fils, Paris.
li.V.MK IM ATKI.IKK. 1870.
DIE BESTE ZEIT 89
eng begrenzten Sphäre Ingresscher Kunst zu erkennen.
Wir bemerken leicht, daß das scharf Umzirkelte des
Klassischen weicht, sobald wir uns Ingres Portraits zu-
wenden, und daß sich das ganze Verhältnis ändert, so-
bald wir an Stelle des Malers den Zeichner nehmen. In-
gres' Zeichnungen sind deshalb soviel wert, weil sie die
Form restlos in die Materie aufgehen lassen. Alle den
Maler hemmenden Beschränkungen fallen hier fort. Die
natürliche Reduktion der Palette auf das Grau und
Weiß des Bleis und Papiers läßt keine Reste. Bei dem
Maler Ingres empfangen wir wohl eine höchst präzise
Form, aber nicht mit gleicher Bestimmtheit den Doppel-
schlag aus Zeichen und Natur, der unsere höheren
Deutungskräfte spannt. Der Autor der Femme ä la
perle dagegen verstärkt diesen Impuls. Er wirkt, grob
gesprochen, doppelt, natürlich ohne das Doppelte der
spezifisch Ingresschen Wirkung zu treffen. Die Schön-
heit der Femme ä la perle besteht nicht allein in dem
vollen Oval des Gesichtes, in der herrlichen mit größter
Meisterschaft modellierten Pose, dem Gleichmaß der
übereinandergelegten Hände und der Wirkung dieser
schön geformten Masse vor dem Hintergrund, sondern
auch in dem Blühen des Fleisches, über das sich ein
aus herrlichen Farben gewirkter Stoff legt; vor allem aber
darin, daß die ganze Form aus einem Gewebe geschaffen
wurde, das dem Zusammenhang der Teile eine minde-
stens ebenso wichtige Stütze verleiht als die Arabeske.
Die Erkenntnis des Vorzugs entspringt nicht etwa
einer Reaktion des Geschmacks. Dieser kommt hier nicht
in Betracht. Die Regeln des Geschmacks, von Ingres
stets sublim erfüllt, entsprechen nur relativen Forderungen.
Vielmehr wirkt in Corot die größere Einsicht in die
Bedingungen der Malerei, eine Einsicht, die uns nicht
durch die Konsequenz ihrer Logik besticht, als Ver-
standessache überhaupt nicht mitspricht, sondern selbst-
9o COROT
tätig unsere Kritik beeinflußt, weil uns ihre Resultate
durch die Entwicklungsgeschichte gewohnt geworden
sind. Daher entbehren wir selbst bei vollkommener
Schätzung des individuellen Aüfbaus eines Ingresschen
Werkes und finden, daß Corot größere Vorteile gewinnt.
Er nützt das Material besser aus. Die Entscheidung
wäre ungerecht, wenn Corot sich prinzipiell anderer
Materialien bediente und z. B. wie Manet malte, der
auf Unterdrückung der Modellierung drang. Das ist
nicht der Fall. Corots Frauenbilder zeigen eine wunder-
bare Plastizität. Sie ist es ja allein, die uns überhaupt auf
Ingres bringt, ganz wie Ingres Corot darauf brachte. Er
zeigt dies und ein Plus, vervielfacht die Möglichkeiten,
ohne die engeren Zwecke des Klassizisten hintenanzusetzen;
nicht dadurch, daß er das Plastische steigert, aber durch
reichere Erfüllung derselben Absicht, der das Plastische
dient. Er macht es wirksamer als Ingres. Wir haben bei
Corots Bildern mehr Teile zusammenzuziehen. Die
Sprünge unserer Phantasie, die Hebel des Genusses, sind
größer und trotzdem ebenso sicher. Ja, sie sind sicherer,
denn was unserem Gefühl für Wahrscheinlichkeit zu-
gemutet wird, ist bei Corot geringer, weil die Träger
der Wirkung zahlreicher sind. Wir genießen hier die
Kombination des Ideals des Plastischen in der Art der
Antike, das bei Ingres überwiegt, mit dem Ideal des
Flächigen in der Art Rembrandts. Ingres' absoluter
Verzicht auf das Rembrandtsche Ideal erscheint nicht
als Lücke innerhalb seiner Art. Er tönt mit bewun-
derungswerter Treffsicherheit seine Flächen, — nichts ist
verkehrter, als ihn in diesem Sinne einen schlechten
Koloristen zu nennen. Corot aber erreicht dieselbe
relative Reinheit innerhalb seiner Mittel und mehr mit
dem Mittel, weil er nicht nur tönt, sondern malt.
So nähern wir uns wieder Rembrandt. Wohlverstanden,
dieser Name dient jetzt nur einem geläufigen Begriff,
DIE BESTE ZEIT
91
dem Malerischen durch Anwendung differenzierter Teilung,
und soll die Stellung Corots nur ganz summarisch be-
grenzen. Daher kümmert uns hier nicht, was man er-
widern könnte, daß Rembrandt zuletzt in seiner Art
so einseitig vorging wie Ingres in der seinen, und daß
das eine Extrem nicht gegen das andere ausgespielt werden
dürfe. Denn abgesehen von der Schiefheit solcher Er-
widerung, die das in der Natur der Malerei als solcher
tiefbegründete Ideal gegen ein durchaus abgeleitetes
und aller natürlichen Vorzüge entbehrendes setzt, haben
wir uns zu erinnern, daß Corot durchaus nicht
extrem war. Rembrandts Genie verlangte die Einseitig-
keit, die er zuletzt erreichte, Ingres' Genie die seine.
Corot erweist gerade in der Kombination sein Genie
und kann daher weder mit dem einen, noch dem an-
deren verglichen werden, wenn man ihn erschöpfen
will. Beide zeigen die Extreme von Arten, die sich in
Corots Werke vereint finden.
Begnügen wir uns hier, bevor wir die Analyse
weiter zu treiben versuchen, mit der Konstatierung der
auffallenden Steigerung des Niveaus, auf dem die Werte
Corots diskutiert werden, je näher wir dem Ende kommen.
Man könnte aufstellen, daß ein Künstler um so mehr
wert ist, \e größer die Bedeutung der überlieferten
Werte ist, die sein Werk zum erneuten Bewußtsein
bringt. Das klingt paradox, ist doch, so glaubt man,
das Werk des Autors, nicht der anderen wegen da ; und
zumal bei der modernen Kunstbetrachtung, wie sie in
Deutschland üblich ist, hätte die Formel kein Glück.
Wo die Regel herrscht, die Empfindung von der Kunst
in Benebelung des Bewußtseins umzusetzen, wird jedes
Moment, das der Analyse den Vergleich nahelegt, störend.
Wo der Wunsch herrscht, über die Empfindung zur
Klarheit zu gelangen, und die Empfindung stark genug
ist, auch bei vollem Bewußtsein des Betrachters zu bestehen,
92 COROT
wird die vergleichende Analyse nicht nur wissenschaft-
lich fördern, sondern den Genuß mitbestimmen. Er-
reicht das neue Werk nichts als eine Erinnerung an
alte Werke, so ist es Plagiat und scheidet aus. Wenn
aber die Erinnerung die neue Gabe nicht auslöscht,
sondern im Werte erhöht, nicht weil das neue über
dem alten steht, sondern weil die vom alten hervor-
gerufene Bewegung großer seelischer Komplexe hier
einen neuen Ansporn erfährt, so identifiziert sich die
Erinnerung mit dem Genuß und symbolisiert zum min-
desten die Freude, die uns das neue bereitet. Die
Sichtbarkeit von Momenten, die den Vergleich heraus-
fordern, steht infolge unserer Unfähigkeit, das Werk
ganz zu erforschen, nicht fest. Daß solche Momente
immer vorhanden sein müssen, daran kann nur zweifeln,
wer die Kunst als Willkür betrachtet.
Die Werke der anderen, die Corot vor unserem Geiste
erstehen läßt, machen ihn nicht kleiner. Wir gelangen
mit ihnen zur Bestimmung des Reiches, in dessen weit-
gezogenen Grenzen der Thron seiner Kunst emporragt.
Wie Zeichen im Walde sorgen sie dafür, daß wir den
Weg nie wieder verlieren können.
LA DAME BLEUE, 1S74. 0,80X0,50.
Sammlung Henri Rouart, Paris.
VERMEER — CHARDIX — COROT
WIR vermochten mit dem Rembrandthaften der
späteren Art Corots nur wenige Seiten seines
Werkes anzudeuten. Aber in Rembrandts Nähe gibt
es einen Künstler, der seine Bedeutung neben dem
Schöpfer der Tuchmacher aus denselben Gründen ge-
winnt, die uns erlauben, Corot mit ihm in Parallele
zu bringen: Vermeer. Und dieser Vergleich läßt uns
wesentliche Eigenschaften Corots tiefer erkennen.
Sehr selten dürfte man in zwei Künstlern so ver-
schiedener Rassen und Zeiten gleich intime Berührungs-
punkte finden. Wir wissen sehr wenig von Vermeer,
und vor fünfzig Jahren war er noch so gut wie ganz
unbekannt. Bis zum gewissen Grade verdankt er der
Landschafterschule von 1830 seine Wiederentdeckung.
Burger-Thore, ihr beredter Verteidiger, stellte die Per-
sönlichkeit des Delfter Meisters fest, die sich bis dahin
im Schatten unendlich geringerer Zeitgenossen ver-
borgen hatte. Als Autor seiner Kostbarkeiten galt u. a.
Pieter de Hooch, und das dünkt uns heute, als wollte
man Corot mit Fantin Latour verwechseln. Erklärlich
wird es durch den Reichtum der Entwicklung Vermeers,
die selbst in den einigen dreißig Bildern, die bis heute
als sein Eigentum erkannt sind, merkwürdig viele Seiten
zeigt und die bequeme Erkenntnis des „Genres", das
sich dazumal immer auf den Inhalt der Genrebildchen
beschränkte, nicht erleichtert. Uns erscheint er gerade auf
Grund seiner Entwicklung als eine der bestimmtesten
Persönlichkeiten des 17. Jahrhunderts. Wir glauben in
seinen Bildern seinen geheimsten Regungen nahe-
zukommen, so unverhüllt zeigt sich die Art, so auffallend
unterscheidet sie sich von den Zeitgenossen. Dafür
finden wir in dieser Persönlichkeit frappierende Ähn-
lichkeiten mit manchen modernen Künstlern, nicht allein
96 COROT
mit Corot. Corot aber nähert sich ihm in seinen
seltensten Eigenschaften.
Schon der Landschafter Vermeer bewegt sich auf
entfernt verwandten Pfaden wie Corot in gewissen
Zeiten. Die Häuser-Fassade bei Six und die großartige
Kanallandschaft der Haager Galerie verraten eine An-
schauung, die von der des Koloristen Corot durch keine
Abgründe getrennt ist. Wohl scheint Vermeer prä-
ziser. Seine blitzenden Punkte sind sauberer gesät, die
Kontraste liegen wie die Häuser seiner Stadtviertel
zusammen, der Pinsel wogt nicht auf einmal über die
ganze Bildfläche, sondern teilt sie akkurat ein. Aber
innerhalb dieser mit vielen Landsleuten gemeinsamen
Sorgfalt, die mehr Gemeingut der ganzen Schule ist,
glauben wir ein ebenso kindliches, sich seine Welt im
stillen zurecht zimmerndes Temperament zu finden.
Es taucht nicht wie Rembrandt in alle Tiefen unter,
wird nicht groß durch die letzte Konsequenz eines
gewaltigen Dramas, sondern schmückt sich mit den
Nuancen einer in leisen Windungen regsamen Seele
und zwingt uns mit der Zartheit seines Appells zur
Bewunderung. Das Zierliche verehren wir in Vermeer.
Er war einer der vornehmsten Maler seiner Zeit. Seine
Feinfühligkeit für unverbrauchte Wirkungen delikatester
Art und seine Erfindungsgabe schlössen jeden Manie-
rismus aus. Aber auch das lieben wir in Vermeer, daß
die Weisheit ihn nicht anspruchsvoll machte, daß er
die noch heute kaum im ganzen Umfang gewürdigte
Fähigkeit, der Kunst neue Wirkungen zu erschließen,
spielend, fast könnte man sagen, tänzelnd vortrug, mit
einer jedes Unterstreichen verachtenden Eleganz, mit
dem naiven Sinn des Dichters. Und hier kommen wir
der Parallele schon näher. Auch im Experimentalen der
gestaltenden Mittel finden wir viele Berührungen. Frei-
lich darf man diese Momente, soweit sie den Landschafter
YERMEER — CHARDIX — COROT 97
Vermeer angehen, nicht überschätzen. Die kleinen
Personellen in den Fluren der Häuser bei Six oder
die schwarz-weiß leuchtenden Leute auf dem lachs-
farbenen Ufer des Delfter Kanals haben nicht nur
bis in die Bilder Corots ihre Unsterblichkeit bewährt.
Die ganze moderne Malerei, bei Constable angefangen,
erblickt im Impressionismus Vermeers den Vorläufer, und
Signac hatte unrecht, die Vorgeschichte seiner Gruppe
nicht bis zu diesem bewußtesten Farbenteiler der Alten
zu verfolgen.
\ iel intimer ist die Beziehung zwischen den Frauen-
bildern beider Maler, zumal wenn wir die letzte Zeit
Corots in Betracht ziehen. Hier kann man bis in Nu-
ancen eine merkwürdige Übereinstimmung ihrer Anlagen
verfolgen. Das Mädchenprofil des Palais Arenberg in
Brüssel und noch mehr der glorreiche Kopf der
Haager Galerie zeigen dieselbe ans Mysteriöse grenzende
Kombination einer vollendeten Plastik mit allen Reizen
der Malerei. Die Reinheit der Modellierung hat kein
Holländer je wieder erreicht, geschweige übertroffen.
Was Ingres mit dem Bleistift malte, die gehauchte
rundliche Fülle, ist hier vollkommen erhalten, und dabei
spielen in dem Hauch berückende Farben, und die Ver-
mehrung des farbigen Reizes scheint das Immaterielle nur
noch zarter zu machen. Unser Wissen von den Eigen-
schaften der Rasse erfährt hier eine bedeutungsvolle
Erweiterung, denn ich wüßte nicht, was uns abhalten
könnte, die Profile Vermeers im wörtlichsten Sinne
klassisch zu nennen, ebenso klassisch wie das 200 Jahre
vorher gemalte Mädchenköpfchen des Petrus Christus
in der Berliner Galerie, eins der Ahnenbilder der ganzen
Reihe. Man kann das Mädchen Vermeers so gut zu
einer jungen Griechin machen wie Corots Modell.
Wie bei der Femme ä la perle nicht etwa der zufällige
Schnitt des Gesichtes, den das Modell trug, entscheidet
98 COROT
— das Modell hieß Bertha Goldschmidt und war also
vermutlich germanischen Ursprungs — vielmehr die
Modifikation des Künstlers, so liegt selbstverständlich
auch in dem jungen Mädchen im Haag und in Brüssel,
oder in der Spitzenklöpplerin des Louvre der Reiz in
dem zweiten Gesicht, das Vermeer aus seinem Vorbilde
schuf. Aber bei beiden bleibt in unendlich wohltuender
Weise das durchaus Volkstümliche des Gesichtes erhalten.
Man hat nichts weniger als eine hergerichtete griechische
Statue vor sich, sondern eine Holländerin, eine Französin,
denen man sogar ihren bürgerlichen Kreis nachweisen
könnte. Bei Vermeers strengerer Form tritt das vielleicht
im ersten Augenblick nicht mit gleicher Selbstverständ-
lichkeit hervor, wirkt er doch beinahe noch ingresker
als Corot. Aber auch er bildet mit der unverhüllten
natürlichen Herkunft der Figur — am deutlichsten in
der Spitzenklöpplerin des Louvre — das Vorspiel und
sichert sich damit die solide Grundlage der Wirkung.
Seine Holländerin ist sicher von der Hendrickje Stoffels
weit entfernt, aber darum doch ein echt holländischer
Typ; den Knochenbau des Gesichtes kann man in groben
Umrissen noch alle Tage auf der Straße sehen. Trotz-
dem entströmt dem Oval eine höhere Form, die uns
ebenso griechisch anmutet wie Corots Frauenfiguren.
Die Einzelheit des rein Malerischen ist bei der anor-
malen Craquelure auf den beiden Bildern Vermeers im
Haag und in Brüssel nicht mehr genau zu verfolgen. Immer-
hin wird man sich wenigstens vor dem gutgehängten
Haager Kopf noch der Hauptsachen bewußt. Die Farben-
wirkung liegt in dem wundervollen Kontrast der Lieblings-
farben beider Künstler, gelb und blau, und der gegen-
seitigen Durchsetzung dieser Farben, sodaß unreine
Mischungen vermieden werden. In der Jacke ist das
Gelb des Kopftuches verdunkelt und mit blauen Tonen
so durchzogen, daß es mehr nach olive spielt. Im Ge-
YERMEER — CHARDIX — COROT 99
sieht schattiert das dunklere Gelb auf Rosa. Dieses Rosa
ist in den Lippen wunderbar degradiert und nimmt nach
dem Innern des Mundes zu. Die stärkere Nuance liegt,
abgeschlossen als Flecken, auf der helleren und wahrt
dadurch eine deutlich absetzende Abstufung. Die Methode
ist vorsichtiger, man möchte sagen, appetitlicher als die
Corots, aber im Prinzip sehr ähnlich und zwar bis in
die Art des Auftrags. Die Mischung von sehr dünner
Malerei mit ökonomisch verteilten, in Relief aufge-
tragenen Partieen ist für beide bezeichnend. Das ge-
häufte Weiß im Augapfel, die Art wie der Ohrring
gemacht ist; die Sammlung der erhöhten Farben auf
matterem Ton, so daß der prickelnde Punkt den Ton
krönt; die Erhöhung des Gelbs im herunterhängenden
Teil des Kopftuchs durch den reliefartigen Auftrag der
helleren Nuancen, endlich der breite, weiße Strich als
Kragen : alles das sind Wirkungen , deren Art sich in
vereinfachter Form auch bei Corot findet. Es bleibt
die abgeschlossene, relativ weniger beschattete Form
Vermeers. Aber man braucht nur an die Wärme seiner
Gesichter in anderen Bildern zu denken, in dem Milch-
mädchen bei Six oder vor allem in der Briefleserin
der Dresdener Galerie, um auch in dieser Überein-
stimmung eine Bestätigung der Verwandtschaft zu finden.
Denn gerade wie Vermeer in der wärmeren Art seiner
Gemälde die Gesichter einhüllt, ist eine seiner meister-
lichsten Gaben. Sie unterscheidet ihn wieder durchaus
von Pieter de Hooch und Ter Borch, die zuweilen alles
zum gleichen Zweck aufbieten und selbst in ihren
glänzendsten Werken zurücktreten, weil sie des Guten
zu viel tun und die Aufbietung merken lassen. Vermeer
verstand zu opfern und störte nicht den Gesamtton
des Fleisches durch viele Farben, ließ aber das Fleisch
unter dem tanzenden Pinsel vibrieren. Corot machte
es nicht anders und verstärkte noch in der Jeune
ioo COROT
Grecque das Porenöffnende des Pinsels, wie er's schon
viel früher in der „Toilette" gelernt hatte.
Alle diese Beziehungen dürfen nicht so wörtlich ge-
nommen werden, als es hier der Deutlichkeit wegen
geschieht. Wörtlich ist nur die Übereinstimmung vieler
Empfindungen beider Künstler. Bei der Betrachtung
der Mittel legt die Entwicklungsgeschichte ihr Veto
gegen allzu enge Vergleiche ein. Man kann die Evolution
des Manuellen nicht übersehen. Die Handschrift ist von
Vermeer bis Corot ausgeschriebener geworden. Corot
scheidet nicht mehr so sauber Ton und Kontrast, läßt
sich mehr gehen und eignet sich eine notwendig frag-
mentarische Form an, um der Schnelligkeit seiner Ein-
fälle folgen zu können. Aber diese verhältnismäßig
saloppe Technik geht nichtsdestoweniger bis zum ge-
wissen Grade auf Vermeer zurück. Man kann den
Werdegang am besten dadurch andeuten, wenn man
sich vorstellt, daß Corot bei gleichem Format alle
wesentlichen Träger der Wirkung verstärkt und infolge-
dessen auf viele anderen Faktoren Vermeers verzichtet hat.
Wo dieser z. B. eine komplizierte Unterlage schuf und
die wesentliche Wirkung erst zuletzt wie einen Zauber-
mantel über die Erscheinung deckte, der sowohl durch
seine Schönheit wie durch das, was er durchscheinen
läßt, wirkt, hält sich Corot lediglich an das letzte Re-
sultat und sichert dem Einzelnen von vornherein die
Wirkung, die nachher im Ensemble den Ausschlag gibt.
In dem prachtvollen Gemälde der National Gallery
in London könnte man ein unmittelbares Vorbild der
Femme ä la perle vermuten. In der Pracht der Mo-
dellierung geht hier Vermeer ähnlich über seine Art
hinaus wie Corot in dem genannten Bilde. In der
Stirnpartie, die bei beiden dem Gesicht den typischen
Schmuck verleiht, äußert sich eine ganz verwandte
Ornamentik. Man möchte sogar die glänzende Erfindung
^"ERMEER — CHARDIN — COROT 101
Corots, seiner Frau eine Perle an die Stirne zu hängen
und so in einem winzigen Detail etwas durchaus Sym-
bolisches von der ganzen Form zu melden, Vermeer
gutschreiben — man denke an die eigentümliche Wirkung
seiner Ohrringe und dergl. Sehr wahrscheinlich hat
Corot das Londoner Bild, das zu seiner Zeit bei Bürger
hing, gesehen und eifrig studiert.
Doch erschöpft die Vermutung einer vereinzelten
bewußten Anlehnung nicht die seltene Tiefe der Be-
ziehungen. Corot brachte seinen Anregern immer sehr
viel Gepäck mit, war zu reich, um sich einseitig hin-
zugeben, und die letzten Jahre würden uns kaum als
Blüte erscheinen, wenn in ihnen der Grundzug seiner
Art zurückträte. Als solchen erkannten wir schon früh
die Eigentümlichkeit Corots, die Einflüsse Hollands durch
ein französisches Medium zu empfangen. Das ist auch hier
der Fall. Sicher hat er mit eigenen Augen Vermeer ge-
sehen, und der Delfter Meister mag ihm das gewesen
sein, was für die Maler von Barbizon Hobbema wurde;
aber daneben profitiert er wiederum von der Vor-
bereitung des Einflusses durch einen französischen Meister
des 18. Jahrhunderts.
Nicht alles, was Vermeer den Holländern ist, aber
einen guten Teil dieser Bedeutung messen die Franzosen
Chardin zu, dem Meister der Stilleben und Interieurs.
Auch dieser sah sich die Holländer an — nicht nur die,
um derentwillen er in Frankreich eine Zeitlang als ver-
meintlicher Nachahmer gefeiert wurde — und setzte sie
fort. Corots Beziehung zu einem um zweihundert Jahre
vorher lebenden Meister mußte vorsichtig untersucht
werden, weil sich gewisse, von dem Einzelnen unabhängige
Momente der Schöpfung während eines so langen Zeit-
raums notwendig stark modifizieren und den Vergleich
trüben. Die hundert Jahre weniger kommen uns bei
Chardin zu gute, weil sie eine geringere Veränderung
102 COROT
der gemeinsamen Schöpfungsmomente umfassen als die-
selbe Spanne zwischen Chardin und Corot. Dehnt man
die Geschichte bis zu einem Petrus Christus aus, so
werden die zwei Jahrhunderte zwischen Vermeer und
seinen Ahnen das gleiche bedeuten wie dieselbe Zeit
zwischen dem Delfter Meister und seinem Enkel. Char-
dins Abhängigkeit von Holland springt denn auch ohne
weiteres in die Augen, weil die Gegenstände sich mit den
beliebtesten Motiven der alten Holländer decken. Tritt
man der Beziehung näher, so verflüchtigt sich der Eindruck
allzunaher Verwandtschaft, soweit er sich nicht auf
rein stoffliche Fragen beruft. Man beginnt, nach, den
Holländern zu suchen, die sich wirklich mit der Eigen-
heit Chardins decken, und es bleibt zuletzt auffallend
wenig von der verblüffenden Ähnlichkeit übrig. Nur
von den allerbesten Zeugnissen der Stilleben -Maler
des 17. Jahrhunderts führt der Weg zu den Frucht-
stücken des französischen Meisters. Kalf's hängende
Zitronenschale im Berliner Museum zeigt eine Sta-
tion. Unter den sehr ungleichen Werken Beyerens
sind ein paar bezeichnende Bilder, z. B. im Haag die
Schale mit den Fischstücken, deren Fleisch durch
glänzend weiße Farbensplitter auf grauweißem Ton
entsteht. Noch deutlicher ist der Hinweis in dem
schönsten Beyeren mit Hase, Huhn und rötlichem Ge-
kröse, der erst vor kurzem in die Haager Galerie gelangt
ist. Hier hebt eine in zartesten Nuancen vollkommene
Harmonie die Erscheinung aus dem Stofflichen heraus.
An solche Dinge denkt man bei Chardin. Aber soviel
er offenbar diesen Vorgängern verdankt, er ist ent-
scheidend größer. Nicht nur weil ihm die Gleichheit
der Perfektion natürlich war und er nie den Gefahren des
Manierismus unterlag; auch seine Art als solche ist be-
deutender. Er beherrscht spielend, was jenen Meistern
nur in sehr seltenen Werken gelang, und erreicht es
\ ERMEER — CHARDIX — COROT 103
auf gesicherterem Wege. Der berühmte Hase in Stock-
holm ist einfacher und wirkt fast monumental neben
den Holländern, und doch sind die Elemente der
Wirkung vervielfacht. Der winzige Apfel auf dem Hasen-
bild wirkt ganz allein reicher und stärker als ein volles
Gemälde von Kalf. Dagegen nähert sich das Niveau
Chardins dem Meister, der auch zuweilen Stilleben
malte, ohne daß man ihn mit den Stillebenmalern in
einem Atem nennen dürfte, dem Vermeer des lesenden
Mädchens in der Dresdner Galerie, der den Vorder-
grund dieses Kleinods mit dem Teller mit Früchten
schmückte in einem glühenden Olive, das den ganzen
Sinn des Bildes enthält. Neben dieser berückenden
Farbenglut, die nicht mit Hilfe des Kontrastes, sondern
des Auftrags entsteht und auch bei Chardin bemerkt
wird, finden wir noch ein anderes gemeinsames Merk-
mal. Nicht der monumentale Ernst des Dresdner In-
terieurs läßt sich mit Chardin vergleichen. Vermeer
hat aber neben der Art des Dresdner Bildes und des
Mädchens in der pelzbesetzten Jacke im Berliner Mu-
seum etc. einige Interieurs geschaffen, in denen sein
Ernst nicht auf das ganz Abgeklärte einer mit nichts
zu vergleichenden Harmonie der Formen gerichtet war,
sondern die zweite, schon oben angedeutete Eigen-
schaft des Künstlers in den Vordergrund rückt. Ich
meine die Bilder, in denen seine Zierlichkeit eine mehr
den Landschaften verwandte Darstellung der Frau voll-
bringt. So in dem prickelnden Bildchen im Ryks-
museum, der Mandolinenspielerin mit der unglaublich
lebendigen Dienerin, oder in der großen „Allegorie"
im Haag. Hier handhabt Vermeer seine glänzende Ton-
kunst mehr als Dekorateur, schmückt die Hintergründe
damit und stellt in die von Tönen prunkenden Ge-
mächer seine Frauen mit der Keckheit eines Junkers.
Das Barock der „Allegorie", das schon die Pose verrät, mit
104
COROT
der die Frau den Fuß auf den Globus setzt, ist Träger
dieser Verwandlung der Technik. Der Kontrast schreckt
hier und in dem Bilde mit den beiden Frauen des Ryks-
museums nicht vor gewissen notwendigen Härten zurück,
und wieder finden wir hier wie in den Landschaften
die Wirkung mit den blitzenden Punkten. Der Land-
schafter sagt mit dieser Technik die Canalettos voraus,
die die Art eigentlich nur verallgemeinerten und ver-
gröberten ; der Interieurmaler deutet auf Chardin und
wurde von diesem in sublimer Weise fortgesetzt. Auch
in Chardins intimen Szenen des Lebens im Hause ge-
lingt der Malerei die Weichheit vollendeter Abtönungen
und gleichzeitig die Frische des Kontrastes. Nicht so
sehr seine Koloristik als die relative Körnigkeit seiner
Malerei — während sich Chardins meiste Genossen immer
mehr dem flinken dekorativen Strich ergaben — geht
auf Vermeer zurück.
„Seine Art, zu malen, ist sonderbar," schrieb Bach-
aumont von Chardin. „Er stellt eine Farbe neben die
andere, fast ohne sie zu mischen, so daß sein Werk ein
wenig dem Mosaik oder eingelegter Arbeit gleicht, wie
die Nadelstickerei, die man ,point carre' nennt." Und
Gaston Schefer, der diese zeitgenössische Kritik zitiert,
fügt hinzu: „Chardin war also eine Art Pointillist. Von
nahem sind seine Dinge nur angedeutet. Sobald man
weiter zurücktritt, erhellt sich, verdeutlicht sich alles
und fließt in wunderbare Harmonie zusammen."1)
Das gab zuzeiten Diderots einem Maler die Merk-
würdigkeit, nicht mehr in den Tagen des alten Corot,
als dieser „Pointillismus" sich schon viele Arten erschlossen
hatte. Und hätte Diderots Zeit nicht über dem da-
mals lächerlich überschätzten Teniers einen Vermeer
vergessen, so hätte man in dem Delfter Meister denselben
Pointillismus schon hundert Jahre vorher gefunden. Immer
') Les grands artistes. Chardin (Paris, Laurens, o. D.).
VERMEER — CHARDIX — COROT 105
verrät Chardin das 18. Jahrhundert, aber der Holländer
dämpft und vertieft seine Art. Schon daß er in seinen
Interieurs die Szene reduzierte und dafür intensiver aus-
stattete, daß er seine Frauen bürgerlich werden ließ,
nicht ohne sie um so reizender zu machen, ist hollän-
discher Geist. Das Leben in diesen köstlichen Puppen-
stuben ist zierlicher als in den holländischen Zimmern,
lichter, heiterer, graziöser, aber es liegt ein Hauch der-
selben Intensität darüber, die uns das holländische In-
terieur teuer macht. Der Holländer wiederum mischt
die Milde einer höchst abgeklärten Anschauung mit der
Lust an kecken Akzenten. In Chardin erinnert sich das
Dix-huitieme an die ruhmreiche Vorzeit, in Vermeer
verjüngt sich eine von allen Reizen des 17. Jahrhunderts
getragenen Schönheit durch den Zusammenhang mit
der folgenden Epoche.
Corot hat von beiden. Er erfüllt, was alle Meister
des 19. Jahrhunderts erfüllen : bildet Glied einer bis
zu ihm gedrungenen Entwickelung und greift gleich-
zeitig auf das 17. Jahrhundert zurück, ganz wie Dela-
croix, Courbet, Manet und viele andere. Aber von ihm
wurde auch das 18. Jahrhundert nicht so stiefmütterlich
behandelt wie von den anderen, die sich nur im Vor-
übergehen auf die Watteau und Fragonard besannen.
Chardin und Vermeer zusammengetan, geben sicher noch
nicht Corot, so einfach liegen die Exempel nicht. Aber
der Geist, der beide ganz erfaßt hat, wird Corot wie
eine fast notwendige Ergänzung betrachten.
Jedesmal, wenn ich im Louvre die Pastells mit dem
famosen alten Kopf mit der Hornbrille sehe, die Selbst-
portraits des fast achtzigjährigen Chardin, muß ich an
den Pere Corot denken. Es ist derselbe Typ, dieselbe
unverwüstliche Behaglichkeit, fast dasselbe kluge Bourgeois-
gesicht. Sie scheinen, obwohl durch ein Jahrhundert ge-
trennt, näher zusammen zu gehören, als Corot mit der ihm
io 6 COROT
folgenden Generation. Näher auch im Grunde, als Corot
mit Vermeer. Freilich scheinen viele Einzelfiguren Co-
rots dem Ernst der bedeutendsten Frauen Vermeers ver-
wandter als den kleinen Bürgerinnen Chardins. Aber
die Nuance, die sich der Parallele Vermeer — Corot ent-
gegenstellt, ist just das, was der Meister von Ville
d'Avray mit Chardin teilt: das Leichte, Flüssige der
Gestaltung, fast möchte man sagen der Lebensart. Corot
verhält sich zu dem Landsmann umgekehrt als dieser
zu Vermeer. Er entfernte aus dem Interieur alles
Puppenstubenhafte — die Puppen blieben in dem silber-
grauen Walde — vergrößerte den Maßstab, sah viel
mehr auf den Menschen als die Umgebung, ja häufte
in seinen Figuren all den Reichtum, den Chardin durch
die losen Details seiner köstlichen Welt andeutete.
Wie ernst wir geworden sind, kann man an dem Alter
des Heitersten unserer Zeit ermessen, wenn wir ihn mit
dem Ernstesten des Dix-huitieme vergleichen. Auch
Corot sammelt sich im Schatten Rembrandts.
Und doch trügt nicht die Ähnlichkeit der beiden
Portraits. Auch in dem alten Corot lebt noch ein letzter
Schimmer der goldenen Zeit, die nichts von der Kehr-
seite des Lebens wissen wollte. Was seine letzten Ge-
stalten ernster erscheinen macht als die früheren, ist
in demselben Maße die Bereicherung der Wirkungen
des Künstlers, neben der man andere Momente vergißt,
als der natürliche Hang des reifen Menschen, seine Be-
schaulichkeit zu vertiefen.
So schließt sich der Ring. Alle drei trachteten nach
derselben schweigsamen Schönheit. Jeder ist in seinem
Jahrhundert und wächst gleichzeitig darüber hinaus,
und in diesem Stück, mit dem er nicht zu seiner Zeit,
sondern zur Ewigkeit gehört, berührt er sich mit' den
anderen. So gehören die Rhapsodie in Olive der Dres-
dener Galerie, das „Benedicite" Chardins und Corots
VERMEER — CHARDIX — COROT 107
letzte Frau vor der Staffelei zusammen. Noch näher
kommen sie sich, wenn man von einzelnen Bildern ab-
sieht, wenn man sich nur an das hält, was einem von
jedem der drei als Form im weitesten Sinne, als indi-
viduelles Organ, als Seele, vorschwebt.
Denn die Ähnlichkeit ist ja keine wörtliche, sonst
wäre einer von ihnen entbehrlich. Es sind Ver-
wandte, wenn man so weit von ihnen zurücktritt, daß
Länder und Zeiten, in denen sie lebten, wie begrenzte
Massen erscheinen und ihre Silhouetten um so deut-
licher sehen lassen, alles Nebensächlichen entblößt, das
der vergängliche Tag in sie hinein dichtete. Zu dem
Nebensächlichen rechne ich auch die zufälligen Be-
ziehungen zwischen den Malmethoden verschiedener
Künstler. Wer aber die Kunst im ganzen Umfang be-
greift, wird finden, daß nicht der Zufall solche Be-
ziehungen bestimmt, sobald es sich um große Meister
handelt. Vertieft man sich in die drei Künstler aus
drei kunstreichen Zeiten, die wir hier nebeneinander-
stellten, so ergibt sich immer mehr, daß die Art ihrer
Malerei der Art ihres Menschentums aufs innigste ent-
spricht, und daß der Versuch, ihre Technik als eine vom
Menschen getrennte Eigentümlichkeit zu fassen, ihr
Wesen nicht erschöpft. Und daran merkt man, daß
die Beziehungen zwischen der Malerei der drei hier
verglichenen Meister nicht auf Zufall beruhen, sondern
auf dem Umstand, daß drei Menschen, die einander
ähnlich waren — soweit solche Ähnlichkeit bei der
Verschiedenheit der Zeiten denkbar ist — , sich ent-
schlossen, ihre Kunst getreu ihrer Natur zu handhaben.
Wenn die Zukunft uns einst aus größerer Entfernung
mißt, wird sie vielleicht Grund zu haben glauben, die
unbegrenzte Schätzung, die unsere Zeit manchen Künst-
lern entgegenbringt, zu kontrollieren. Sie wird die treffen,
deren Beziehung zu anderen zufällig erscheint. Kaum
108 COROT
dürfte je eine Zeit an dem Corot rütteln, der sich mit
dem Geist Chardins und Vermeers vermählte. Solange
man einen der dreie schätzt, wird man die anderen
nicht missen wollen.
COL'BROX, 1873. 0,55x0,46.
Photo Durand Ruel, Paris.
COROTS STELLUNG IN DER GEGENWART
WIR bedürfen nicht der Erkenntnis all dieser ver-
steckten Beziehungen, um Corot zu lieben. Leichter
als irgend einer der Großen des neunzehnten Jahrhunderts
erschließt er sich dem Freunde der Kunst. Der Laie,
der vor vielen Zeitgenossen wie vor Rätseln steht, wird
hier von sanften Schwingen zum Lobe des Schönen ge-
lockt. So viel ist des Alten, Wohlvertrauten in ihm, so
natürlich erscheint uns seine Neuheit. Corots Empfin-
dung liegt in allen Bildern so unverhohlen zutage, daß
man nur selbst ein Empfindender zu sein braucht, um
zum Bewunderer zu werden.
Die Konsequenz seiner letzten und stärksten Periode
machte nur vor dem Tode Halt. Bis zu den allerspätesten
Bildern vergrößert sich seine Koloristik. Die Dame
bleue1) bei Henri Rouart — ein wahres Geschmeide in
Blau, dessen Reichtum mehr auf dem reichen Schliff
der vehementen Pinselstriche als auf der Verschieden-
heit der Töne beruht — und der Cello spielende Mönch"2)
bei Frau Amsinck in Hamburg, beide aus dem Jahre
1874, a^s Corot den achtzig nahe war, zeigen dieselbe
Kühnheit des Koloristen. Was Heilbut von dem Mönch
sagt, daß diese breite Malerei keine Spur von zitterndem
Verweilen bei einem novellistischen Thema aufweise,3)
gilt von allen Bildern des Greises.
Nicht die breite Malerei, die uns heute nahesteht, sondern
das ganz Menschliche dieser Kunst läßt mich die letzten
Jahre Corots die glücklichsten nennen. Er ist sich immer
treu gewesen, auch wenn er spielte. Hier aber erscheint
er als großer Mensch, den nicht mehr das Spiel reizt,
J) L'ceuvre de Corot. Xr. 2180. S. 95 abgebildet.
2) L'oeuvre de Corot, Nr. 2129.
3) In dem früher zitierten Heft von „Kunst und Künstler" (Verlag
Bruno Cassirer, Berlin), III., 3, mit gelungenen Abbildungen dieser Art
Corots; fast alle aus dem letzten Jahrzehnt.
ii2 COROT
sondern die Tiefe, der bewußter als je alles aufbietet,
um die verschwenderischen Gaben seines Genies auf
die Spitze zu treiben. Jenseits aller Spekulation und
jedes Manierismus. Wenn je ein Hauch von Nachgiebig-
keit in früheren Jahren das Bild trübte, die besten Bilder
seiner letzten Zeit sind Offenbarungen eines Menschen,
der nur darauf bedacht ist, seinem Schöpfer Rechen-
schaft abzulegen.
Sieht man von den vielen Dingen ab, die sich in
allen Perioden finden und nur modifizierte Wieder-
holungen früherer Erfindungen sind, hält man sich
lediglich an das jeweilig Neue seiner Produktion, so
ist die konsequente Annäherung an typische Ziele
der modernen Malerei unverkennbar. Und doch wird
man Corot nie ganz zu den Modernen rechnen; die
Form seiner Schöpfung hat nichts Zwingendes mit den
Impressionisten zu tun. Er ging ein Stück ihres Weges,
aber hielt immer die Augen auf Dinge gerichtet, die den
anderen längst entschwunden waren.
Corot träumte. Das Temperament der großen Er-
oberer, die mit ihren Bildern die Welt bestürmten,
war ihm nicht gegeben. Daher mag es kommen, daß
sich sein Einfluß auf einen kleinen Kreis beschränkte.
Der Nutzen ist weniger sichtbar, als das was Delacroix
und Ingres den Nachfolgern hinterließen. Corot war
nicht eindeutig genug und seiner Fülle zu unbewußt,
um zu einer Schule im engeren Sinne zu führen. Was
kleine Leute wie Lepine in seinem Geiste weiterbauten,
kommt kaum in Betracht. Wohl aber entdeckt man
versteckte Anklänge in den bedeutendsten Künstlern der
Epoche. Nicht in Manet; er wußte sich unverstanden
von Corot und stand ihm fremd gegenüber, fast wie
der entgegengesetzte Pol. Die anderen Impressionisten
aber verdankten dem verschwiegenen Meister nicht
wenig. Seine warme Tonkunst gab ihrem Debüt eine
!.K MUINK (1874). 72X50 cm.
Krau Amsinc-k, Hamburg.
Photo Durand-Ruel et rils, Paris.
COROTS STELLUNG IN DER GEGENWART 113
wertvolle Stütze. Pissarro ist ihm am meisten ver-
pflichtet, dann Monet, Sislev und andere. Die ersten
Landschaften der neuen Schule haben ihre eigentüm-
liche Milde der Lyrik Corots entnommen. Während der
Eroberung des Lichtes trat die Erinnerung an den
Maler der Dämmerung zurück. Seitdem man anfängt,
mit diesem Siege gelassen zu rechnen, wird Corots Geist
wieder fruchtbar. In Bonnard lebt etwas von dem großen
Idylliker. Während Maurice Denis die Nachfolgerschaft
Ingres' antritt, zeigt Bonnard den höheren Klassizismus,
mit dem er den Genossen ebenso sicher überwindet
wie Corot den Maler der Odalisken. Weniger klassisch
haben die Schotten versucht aus derselben Quelle zu
schöpfen. Ihr Manierismus machte aus den Schwächen
des Vorbilds eine gefällige Tugend.
Von deutschen Zeitgenossen hat wohl Waldmüller
als erster Corots Bedeutung erkannt, ohne daß es mög-
lich wäre, praktische Folgen seiner enthusiastischen Ver-
ehrung in seinem Werke zu finden. Dagegen verrät der
Frankfurter Kreis der Burnitz, Eysen, Victor Müller usw.
die wohltätige Anregung des Meisters. Den frühen
Böcklin hat Corot von der Trockenheit Schirmers
befreit. Die Anregung hat leider nicht gehalten.
Unbegrenzte Verehrung bringt ihm das französische
Publikum entgegen. Seine Popularität hat selbst Millet
in den Schatten gedrängt. Die materielle Schätzung seiner
Bilder übersteigt jedes vernünftige Maß. Er ist der
einzige Landschafter der berühmten Generation, dessen
Preise noch heute im Steigen begriffen sind. Gemälde,
für die Corot in der letzten Zeit 1000 Fr. aussetzte,
werden heute mit dem hundertfachen Betrage gezahlt.
Die Schätzung stützt sich nicht allein auf die wandel-
bare Liebe der Amateure, sondern trägt einem legi-
timeren Instinkte Rechnung. Corot war einer der Sel-
tensten. Nicht nur der Schöpfer glorreicher Werke ging
ii4
COROT
mit ihm zu Grabe, die ganze Art einer Kunst ver-
schwand. Er steht hinter uns, wir haben von der Zu-
kunft seinesgleichen nicht mehr zu erwarten. Denn bei
all seiner unübersehbaren Vielseitigkeit, trotz der Fülle
von Beziehungen zu den erlauchtesten Geistern, kann
nicht übersehen werden, daß Corot seine Zeit nicht
erschöpfte. Er wurzelt nicht in der Gegenwart wie Con-
stable oder Menzel, hat nicht die erstaunliche Begabung
für eine neue Synthese, wie sie Courbet brachte, ist
nicht so notwendig wie Manet. Die Kühnheit eines Re-
noir war ihm nicht gegeben. Wie ein freundliches,
wohlgeschütztes Gestade, das die Wellen benetzen, nicht
umbrausen, schuf er seine Kunst. Unsere flammende
Leidenschaft bleibt leichter an den großen Einsamen
hangen, die unsere eigene Einsamkeit in gewaltigen
Monumenten spiegeln, felsigen Inseln gleich im Kampfe
mit feindlichen Elementen. Wenn wir uns von diesen
begeisterter fühlen, weil sie sich aus Tiefen erheben,
in die wir zu versinken drohen, weil sie zur Gestaltung
bringen, wonach unsere Seele bangt: wer möchte nicht,
erschreckt von all den neuen ringenden Kräften, zuweilen
in die traulichen Gefilde flüchten, die Corot dem Reste
unserer Zärtlichkeit geschenkt hat!
GUSTAVE COURBET
PORTRAT VON HENRI ROCHEFORT, vor 1870. 0,65x0.54.
Durand- Ruel Paris.
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER
MAN wird den Maler schwer, den Menschen nie er-
setzen," sagte Dupre am Grabe Corots. Chenne-
vieres sprach von dem „bonhomme", der den Himmel,
die Bäume und die Vögelchen des lieben Gottes gefeiert
hatte. Faure sang das Requiem aus der Beethovenschen
Symphonie, die Corot geliebt hatte.
Es ist uns heute noch, als wäre damals eine kleine
Welt gestorben. Nicht nur der Künstler, die Art dieses
Künstlertums verschwand. Corot gehörte immer noch,
mindestens mit vielen Fäden, wenn nicht mit allen, zu
den Alten. Mit Delacroix verband ihn schon das Musi-
kalische seiner Malerei und die schöne Sentimentalität
seiner Gesinnung. Wie dieser liebte er das Theater und
brachte manche Pose abends mit nach Hause, die anderen
Tags in einer anderen Sphäre neuerstand. Gewiß war er
Natur. Aber wer wäre es nicht von den großen Künst-
lern irgendeiner Zeit! — Natur in seiner Art und dem
Stand der Entwicklung entsprechend und demgemäß
immer mit dem stillen Vorbehalt, daß eine gewisse, fein
gezogene Grenze nicht überschritten wurde, daß das
köstliche Gewand erhalten* blieb, mit dem Corot alles,
was er in die Hand nahm, unwillkürlich bekleidete.
Diesen Schleier riß Courbet entzwei. Er war der Revolu-
tionär, ein neuer Mensch : der bis zur Erbitterung inbrün-
stige Prolet, der mit seinem Pinsel wie mit einer gewaltigen
Schaufel die Erde umgrub, um neue Frucht zu gewinnen.
Die Nymphen zerstoben in alle Winde. Aus war es mit
dem Spiel beschaulicher Gesinnung, aus mit dem Sang der
kleinen Vögel und der Sage vom lieben Gott, mit allen Ge-
legenheitsgedichten. Am Eingang dieser neuen Geschichte
steht ein großes, düsteres Gruppenbild: ein Begräbnis.
Man riskiert mit dem Vergleich Corot — Courbet den
Vorwurf, sich die Aufgabe zu leicht zu machen. Die
122 COURBET
Unterschiede sind zu kraß. Aber die Zeit fordert den
Vergleich. Man kann ihre entscheidendste Diskrepanz
nicht treffender schildern, als wenn man sich der Gemein-
schaft dieser beiden Gegensätze erinnert, und begeht
dabei keine Willkür. Denn nicht weniger scharf als
zwischen diesen, noch schärfer gähnt zwischen Courbet
und Delacroix und Daumier und vielen anderen der Spalt.
Man wird selbst bei den scheinbar auf gleichen Pfaden
wandelnden Revolutionären Rousseau, Dupre und Millet
im Grunde wenig Verwandtes mit diesem Eroberer finden.
Nicht nur die Kunst, das ganze Menschentum dieses
Künstlers war Eroberung. Nichts Zaghaftes, nichts vom
Kinde, nichts Gutmütiges haftet Courbet an. Er ist der
Individualist mit starken Ellbogen. Corot hatte die jahr-
zehntelange Zurücksetzung ganz natürlich gefunden, Dela-
croix darüber verächtlich gelächelt, Millet dazu geseufzt.
Sie lebten mit ihrer Kunst, waren Kinder ihrer Muse
und schlechte Geschäftsleute. Courbet wehrte sich mit
Händen und Füßen. Mit unerhörter Rücksichtslosigkeit
brach er sich Bahn. Er wurde der erste Manager der
modernen Kunst. Sein Schüler Whistler adoptierte die
Methode, aber machte sie mondäner, versteckter. Courbet
teilte seine Zeit in zwei Hälften. In der einen malte er,
in der anderen machte er Theorie, und eigentlich machte
er in beiden dasselbe. Denn seine Bilder waren Doku-
mente seiner Lehre. Er beschränkte sich nicht auf die
Kunst, sondern dehnte sein System auf alle erreichbaren
Gebiete aus, war Politiker und wurde — uns Deutschen
zum Nutzen — der erste Künstler-Kosmopolit. Sein
Raffinement war sein brutales Bauerntum. Um einen
neuen Ton zu finden, gab es nichts Besseres. Bayersdörfer
hat sein Auftreten in München geschildert.1) Hier mochten
x) In dem launigen Steckbrief, der 1872 in der Neuen Freien Presse
erschien, abgedruckt in den gesammelten Schriften (Verlagsanstalt Bruck-
mann, 1902, S. 121).
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER 123
die Umgangsformen des Starkbesaiteten nicht gerade
fremdartig berühren. In Paris wirkte die Sachlichkeit
dieses Fanatikers wie der Bär im Bienennest. Er hat
dafür büßen müssen. Ich glaube, daß weniger die
nach Beendigung der Kommune siegreiche Abnei-
gung gegen seine Politik als die Wut auf seine per-
sönliche Kunst den Prozeß um die Vendome-Säule herbei-
führte, den Nagel zum Sarge des Meisters.
Es hat nie einen weniger französischen Künstler ge-
geben, und nie ist ein weniger Pariserischer Meister in
Paris zum Ruhme gelangt. Man kann ihn drehen und
wenden, wie man will, man findet alles mögliche, nur
keine der urfranzösischen Eigenschaften. Nichts Lyrisches,
nichts Dekoratives im Sinne der großen Landschafter
des 17. Jahrhunderts; kein Atom von dem spielerischen
Reiz der Watteau-Schule, nichts von der Dramatik Dela-
croix'. Den Gegensatz zu diesem Eroberer hat Camille
Lemonnier in einem glänzenden Essay fixiert.1) Er deutet
auf den literarisch vertieften, trotz alles Heroismus unper-
sönlichen Enthusiasmus Delacroix', nennt ihn den Cid der
Malerei, den Besieger der theatralischen Geste, der die
Kulisse der Früheren durch das flammende Farbe ge-
wordene Drama ersetzte, und zeigt neben diesem „ä
coups de cervelle" schaffenden Empfinder das ganz Un-
intellektuelle Courbets, des „grandpeintre bete", der nicht
einsah, warum man etwas anderes malen solle, als was man
unter den Füßen fühlte, den Maler der groben Materie.
Aber unrecht hatte Lemonnier, wenn er auf Grund dieser
Erkenntnis Courbet die Größe absprach, ihm nur das Ver-
dienst ließ, eine Formel skizziert zu haben, wenn er
ihn unter Millet, Rousseau, Corot, ja selbst Daubigny
stellte, weil ihm die Menschlichkeit fehle, ihn einen
„Vertierer der Malerei", einen „Virtuosen der Bestiali-
x) G. Courbet et son ceuvre, Paris, Lemerre 1878.
124 COURBET
tat" nannte. Dieses Unrecht beging nicht nur Lemon-
nier. Ein Zeitgenosse, H. d'Ideville, urteilte im selben
Jahre als Lemonniers Buch erschien, ähnlich, soweit
er überhaupt urteilte.1) Und das war kurz nach dem
Tode, also bei milder Stimmung. Vorher ging es Courbet
schlecht bei der Pariser Kritik, schlechter als irgend einem.
Man verzieh ihm nicht die Häßlichkeit seiner Modelle.
Theophile Gautier behauptete, in spanischen Spelunken
nichts Häßlicheres gesehen zu haben. Noch 1863 äußert
sich Bürger Thore mehr als zurückhaltend. Beaudelaire,
der ihm anfangs beigestanden hatte, wurde später sein
schlimmster Feind. Silvestre und Castagnary, am frühsten
glaube ich Champfleury hielten zu ihm, aber überzeugten
nicht. Der Begeistertste von allen, Proudhon, hat ihm
am meisten geschadet.
Wer über den Künstler hinwegkam, rieb sich an der
sogenannten Dummheit des Menschen. Die Dummheit
lag in seinem Programm. Vielleicht nicht so sehr die
Formel selbst, als daß er sich überhaupt zu einem Pro-
gramm bekannte, war sein Fehler. Mit Theorien läßt
sich in Deutschland und England etwas erreichen,
nicht in Frankreich. Die Formel hätte sogar gescheit sein
können, der Franzose ist viel zu sehr Kultur, oder sagen wir
Blagueur, um solche Demonstration jenseits des Werkes zu-
zulassen. Jeder Kommentar macht ihn argwöhnisch, auch
der ungeschickteste. Dagegen will der Bourgeois überall, in
allen Ländern selbst kommentieren können. So aber
stand der Fall Courbet : ein Kommentar, der niemanden
interessierte, der von sozialen Dingen und Politik han-
delte; eine Kunst, die niemanden anzog. Programme
hatten auch die anderen, alle, ohne Ausnahme, von
Poussin bis Ingres und Delacroix. Wir besitzen darüber
genügend Dokumente. Wer an der zuweilen verspotteten
1) G. Courbet, notes et documents sur sa vie et son ceuvre, Paris
Grav6 1878.
DER MENSCH UND DER KUNSTLER 125
gallischen Klarheit zweifelt, braucht sich nur an die
eiserne Logik zu halten, zu der jeder bedeutende Fran-
zose seine Muse nötigt. Nur sprachen sie nicht davon
vor der Öffentlichkeit. Sie vergruben ihre Theorie in
Tagebüchern, ließen ihre Schüler und Korrespondenten
daraus Nutzen ziehen, aber affichierten sie nicht. In
der Neuerung sah man einmal eine ungeheuerliche Un-
bescheidenheit. Mit Recht. Die Art, wie Courbet mit
Silvestre über Tizian und Lionardo sprach, empörte
jeden vernünftigen Menschen. Die Formulierung einer
sozialen Theorie zu einer Ästhetik, die, sobald man sie
lediglich auf das Soziale hin untersuchte, zur größten
Kinderei wurde und nur gelten sollte, weil Courbet sie
aussprach, reizte zum Lachen. Dann aber, und das ist
die Hauptsache, sah man überhaupt nicht mehr den
Maler, den Künstler, sondern nur sein Programm, seine
Beschränktheit als Denker und die höchst greifbaren
Schwächen des Menschen. Zu bemerken, daß das eine
nicht das mindeste mit dem anderen zu tun hatte, daß
diese ganze Theorie des Monsieur Courbet so wichtig
für seine Kunst war, wie sein Hut oder seine Tabakpfeife,
fiel niemandem ein. Man fand die Sauce unschmack-
haft und stieß den Braten beiseite. Man nahm seine
Theorie — die echten Redensarten eines Alkoholikers —
ernst und vergaß nicht nur, daß dieser Mensch immen-
surabel trank, sondern auch, daß er malte. Ursprüng-
lich dachte Courbet nicht das mindeste bei seiner
Malerei. Er fand, was er machte, gut und notwendig
und hatte verteufelt recht, darauf stolz zu sein. Bauer,
wie er war, konnte er nicht auf den Erfolg warten und
nahm jedes Mittel, um durchzudringen, auch das ver-
kehrteste. Wenn Proudhon ihm eingeredet hätte, daß
seine Malerei imstande sei, die Gicht zu heilen, er
hätte wahrscheinlich auch diese Gabe nicht verschwiegen.
Man müßte Zola wiederholen, wollte man das Ver-
126 COURBET
hältnis Proudhons zu Courbet prüfen. Alles was darüber
gesägt werden könnte, steht in „Mes haines". Proudhons
ungeheuerliche Blasphemie „Du principe de l'art et de
sa destination sociale" hätte einen Germanen zum Ver-
fasser haben können. (Dieser Autor hätte statt Courbets
einen Böcklin oder einen Präraphaeliten gefunden, und
beide gälten für alle Zeiten als große Leute.) In Frank-
reich ereignete sich der merkwürdige Fall, daß der Künst-
ler ein Genie und der Dolmetscher blind war, und daß
Zola die Unterschätzung, deren sich der Phantast schuldig
machte, nachweisen konnte. Der unbescheidene Courbet,
über dessen Gebaren gesittete Leute die Hände rangen,
war nie bescheidener, als da er sich zur „Destination
sociale" seines bornierten Freundes hergab.
In seiner eigenen Theorie, wie er sie zum besten gab,
war nicht alles Unsinn. Wahrheit wollte er, mehr Wahr-
heit als die Zeitgenossen brachten. Aber welche? Die
Bilder sind da, um zu demonstrieren, der Demagoge
ärgert niemanden mehr. Hat er wirklich jemals Pro-
gramme gemalt? Ich kenne höchstens ein Bild ,,1'Aumone
d'un mendiant", vom Ende der sechziger Jahre, in dem
ein Bettler einem kleinen Jungen eine Münze schenkt,
das man tendenziös nennen könnte; und selbst in diesem
nichts weniger als typischen Werke überwindet die Malerei
einen Teil des peniblen Eindrucks. Sonst nichts als reine
Kunst vom ersten Selbstporträt bis zu den grandiosen Reh-
bildern und der „Woge". Die Wahrheit, die er sah, war
nicht der grobe Realismus, der 1855 in klobigen Buchstaben
das Schild der Ausstellungs-Baracke schmückte. „Faire
de l'art vivant, tel est mon but!" sagte in Castagnarys
Feder die pompöse Einleitung des Katalogs. Das brachte
Courbet: ein stärkeres Leben als irgend einer seiner Zeit.
Und damit kam das Notwendige, Nützliche. Er fand
ein neues Zellensystem für die Kunst, einen Ausdruck,
der das, was die Menschheit brauchen konnte, enthielt
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER 127
und dem Genie eine unmittelbar zugängliche Form
öffnete. Wohl grenzte seine Überhebung über seine
Zeitgenossen an Frechheit. 1862 sagte er mal zu Corot :
„Wer sind heute die wirklichen Maler in Frankreich?
— Ich!" Lange Pause. „Und dann Sie!" Und
Corot meinte nachher zu einem Freunde : „Wenn ich
nicht dabei gewesen wäre, hätte er mich gern vergessen."
Aber dieses Selbstbewußtsein hing nicht in der Luft. Es
stand nicht auf der Illustration Proudhons, nicht auf
seiner Theorie. Es war der höchst natürliche Ausdruck
einer unantastbaren Überlegenheit, das Bewußtsein des
Menschen, der seine Muskeln stärker fühlt, als die seiner
Nachbarn, der das, was er will, besser kann als irgendeiner.
Wohl waren sie alle herrliche Künstler, von Corot ange-
fangen bis zu dem letzten der großen Generation von 1830;
machten aus ihrer Sache, was sie machen mußten, erreichten
ihre Ziele. Aber dieser grobe Bauer stand jenseits, in einer
neuenWelt, von der die anderen kaum die Anfänge ahnten.
Er konnte nicht dichten, vermochte sich nicht aus dem
Theater seine Inspiration zu holen, las noch weniger als
Millet und schrieb den Stil eines größenwahnsinnigen
Provinz-Friseurs. Dafür war er in der gesicherten Lage,
dieser Mittel der anderen nicht zu bedürfen. Corot rückte
dem Instinkt ein gewaltiges Stück näher, aber blieb der
Träumer. Courbet verzehnfachte das Stück und blieb
absolut bewußt. Und wenn sich dies Bewußtsein, die
Entwicklung mit einem Schlage um Generationen ge-
fördert zu haben, in halb irren Sätzen äußerte, muß man
bedenken, daß er in seiner wesentlichen und bleibenden
Äußerung, seiner Malerei, bis zum letzten großen Bilde
vorwärts schritt und vielleicht mehr Grund zur Ein-
bildung hatte, als er glaubte. Sicher hätte er greifbarere
Belege für seine Bedeutung anführen können, als die
Sätze seiner Pronunciamientos.
Seine Kunst enthielt nichtsdestoweniger ein Programm
128 COURBET
wirksamer Art; nicht das von Proudhon, sondern das der
kommenden Malerei. Die soziale Phrase schweigt vor der
„Woge". Delacroix hatte bei aller Macht für solche elemen-
taren Erscheinungen keine Organe. Gericault, einer der er-
sten Modernen, dieVelasquez kopierten, hatte ähnliche Dinge
geahnt, aber nur angedeutet; Constable sie in winzigen
Skizzen vollbracht. Die übrigen, alle ohne Ausnahme,
hingen anderen Dingen nach, die, mögen sie den Lieb-
haber noch so befriedigen, mögen sie in sich vollendet
und über jedes Lob erhaben sein, nicht dies Notwendige
zeigen. Das fühlen wir in Rembrandt, in Velasquez,.
in Rubens neben der Freude an ihren Werken: daß in
solchen Menschen die Geschichte der Kunst, der Mensch-
heit, der Erde, einen Schritt weiter tut und wir Sta-
tionen der Kultur erblicken. Auch darin liegen Ele-
mente unserer Begeisterung. Nicht Geschichtskenntnis
allein erschließt diese Einsicht, so wenig man ohne jedes
Wissen von der Zeit den Umfang der Neuheit würdigen
kann. Im Werke selbst steckt neben dem Schönen der
Anprall an die Grenzen, die es stürzte, das Phänomen
einer seltenen Kraft, eines unendlich seltenen Zu-
sammentreffens dieser Kraft mit den Momenten, die sie
auszulösen vermögen.
Courbet war als Bauer geboren, mit all den anima-
lischen Instinkten des Landmenschen. Stark, ungebrochen
sinnlich, ungeschwächt von irgend einem, nicht auf nüch-
ternstem Zweckbewußtsein beruhenden Vorurteil. Ich,
ich und immer wieder ich. Wie komme ich zur Macht,
zum Genuß ? — Das ist sein Evangelium. Dieser Mensch
will malen. Er geht in die Galerien und findet die Meister,
die das am besten gekonnt haben. Er versteht unter
der Malerei nicht dieses oder jenes, sondern nur das
eine : die größte, unmittelbarste Wirkung mit Pinsel und
Farbe. Er denkt nicht im Traume an seelische Dinge
dabei, übersetzt nicht, reflektiert nicht, sondern faßt
s «
— S -
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER
[29
das Ding an der Wurzel. Generationen mögen in ihm das
Wissen von derXatur zur Erfahrung aufgeschichtet haben;
Bauern wie er, die immer nur an den Erwerb der Erde
dachten, an den materiellen Nutzen aus der Materie. Jetzt
greift er so sicher zu Hals und Zurbaran und Ribera,
das heißt zu den großen Materiellen, wie seine Vorfahren
die richtige Erde für ihren Bedarf zu finden wußten.
Die Ausschließlichkeit seiner Neigungen wird seine Stärke.
Keiner seiner malenden Vorgänger hatte sich vor den
Italienern verschließen können. Es lag in ihrer Rasse,
in ihrer Kultur. Das Italienertum half ihnen, brachte
das Mitspielen verwandter Elemente, zog die Lyrik und
das Dekorative heran, aber schwächte, wie jeder Eklekti-
zismus auch den Stärksten schwächt. Courbet ist der
erste Franzose, der sich lachend von ihnen abwendet.
Was er über Raffael sagt, klingt fast wörtlich wie das
berühmte Wort des Velasquez. Wenn er dagegen die
Spanier und Holländer nimmt, tut er's wie der Bauer,
der ein gutes Düngemittel für seinen Boden findet.
Theophile Silvestre zitiert: „J'ai traverse la tradition
comme un bon nageur passerait une riviere: les aca-
demiciens s'y sont tous noyes." Die Leute selbst sind
Courbet ebenso gleichgültig wie die Italiener. Wie
haben sie's gemacht? — Nicht was sie gedacht haben,
nicht was sie ihrer Zeit brachten, interessiert ihn.
Was sie ihm in diesem Augenblick nützen können,
kommt allein in Frage. So hilft ihm die Barbarei. Sie
schneidet alles weg, was zu viel für das rein Instinktive sein
könnte. Er wird nicht geistiger durch die Jahre, er wird
mächtiger. Jede Spur von Intellektualität hätte ihn ge-
schwächt, jede Zutat von Spiritualismus seine Kraft ge-
mindert. Er besitzt den Intellekt und den Esprit, den
Courbet brauchen kann, der malende Bauer. Hätte er nicht
Genie, so würde aus alledem nichts werden, das versteht sich
von selbst. Er ist aber um so mehr Genie, je mehr Bauer
i3o COURBET
er bleibt, das war sein Scharfsinn. „Savoir pour pouvoir!"
stand in der berühmten Vorrede des Katalogs von 1855.
Dieser Bauer war nichts weniger als unwissend. Aber er
hatte mit den Augen, mit den Händen, nicht mit dem
Gehirn gelernt. „C'est dans le doigt qu'est la finesse,"
sagte er in der Schweiz zu seinem Arzte und lachte über
die Kollegen, die sich mit teuren Farben ruinierten. Er
war ein ähnlicher Typ als Maler wie Taine als Philosoph.
„Denken, namentlich schnell denken, ist ein Fest," heißt
es bei diesem.1) Taine dachte animalisch, wie Courbet
animalisch malte. Malen, namentlich schnell malen, ist
ein Fest. Und damit legte er den Finger auf die Zu-
kunft. Denn so, nur so, mit dieser Schnelligkeit, die
sich mit dem modernen Leben in Einklang zu setzen
wußte, konnte fürderhin gemalt werden, wollte die Kunst
überhaupt einen Rest von Beziehungen mit dem Leben
bewahren. Während aber Taine bei diesem schnellen
Verfahren die wichtigsten Dinge unter den Tisch fallen
ließ und daher zu kurz kam, weil dem philosophischen
Denken die vorsichtige und umsichtige Konzentration
unentbehrlich ist, gelangte Courbets Einseitigkeit zu der
unvergleichlichen Kraft, die seine Meisterwerke auszeich-
net. Und seine Kraft hilft uns über die Mängel hinweg.
Auch diese Methode war Kunst im höchsten Sinne,
sonst wäre sie resultatlos geblieben. Hier lag der Irr-
tum Delacroix' in seiner Schätzung Courbets. Wie Paul
Fiat richtig bemerkte, waren für den Maler der Dante-
barke,, Imagination" und „Idealisation" dieselben Begriffe.-)
Die unentbehrliche Transformation der Natur verlief bei
ihm nach einem höchst persönlich verstandenen, aber
nichtsdestoweniger bis zum gewissen Grade übernom-
*) „Penser, surtout penser vite est une fete. L'Esprit y trouve
une sorte de bal; jugez de quel empressement il s'y porte." Histoire
de la litterature anglaise III, 273 (letzte Ausg.).
2) Vorrede zum „Journal".
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER 131
menen Schema, das Rubens, und zwar der von Michel-
angelo herkommende Rubens geformt hatte. Es ist nicht
dieselbe Art von Beeinflussung, die Courbet von Hals und
Ribera empfing. Mit der Hinnahme der Vorgänger Dela-
croix' war die spirituelle Durchdringung des Stofflichen
mit Hilfe vieler Literatur oder eigener Gedankenpro-
duktion unentbehrlich verbunden. Mit der Halsschen
Art gelangte man zur Natur. Subjektiv freilich standen
beide ihren Vorbildern ähnlichgegenüber. WasfürDelacroix
Michelangelo bedeutete, hat George Sand festgelegt,1) und
es steckt in den Zeilen, die Delacroix über den von ihm
angebeteten Meister schrieb. Ihm war das „Jüngste Ge-
richt" etwas Ähnliches als für Courbet etwa die Halsschen
Portraits oder die Rembrandtschen Weiber. Denn er glaubte
in dem Christ Michelangelos „weder einen Philosophen noch
einen Romanhelden" zu sehen, sondern pries das „Jüngste
Gericht" als ein „Fest des Fleisches". So fleischlich dünkten
auch Courbet die Gebilde seiner Lieblinge. Aber dies
Fleischliche ist ein relativer Begriff, der von Delacroix zu
Courbet die stärkstenWandlungen erfährt. Courbet fand mit
seiner Methode eine Vergrößerung der Absicht und wurde
immer freier; Delacroix dagegen schrieb: „Nach allen
neuen Verirrungen, zu denen die Kunst durch Laune
und Neuerungssucht verleitet werden kann, wird der
große Stil des Florentiners stets der Pol werden, nach
dem man sich von neuem richten muß, um die Bahn
aller Größe und aller Schönheit wiederzufinden." Darin
irrte er. Selbst einem Michelangelo wird immer nur ein
relativer Anteil an der Entwicklungsgeschichte unserer
Zeit zukommen, so begeistert wir ihn preisen und alle
zukünftigen Geschlechter ihn, wenn sie kunstgesinnt sind,
x) George Sand, Histoire de ma vie, Calmann Levy, Paris, S. 242 — 252.
Hier auch die wichtigsten Passagen des Delacroixschen Aufsatzes über
Michelangelo, den man in extenso in „Eugene Delacroix, sa vie et ses
ceuvres" Paris. Imprimerie Jules Claye, 1865 findet. Der ungenannte
Verfasser des für die Freunde D.'s privat gedruckten Buches ist Piron.
132
COURBET
preisen werden. Und dieser Anteil ist für die Malerei
viel beschränkter als der eines Rembrandt oder Velasquez
oder Franz Hals, wie wir heute schon seit den paar Ge-
nerationen seit Delacroix konstatieren können. Von
Michelangelo wie von der ganzen Renaissance gilt für
die moderne Malerei das geistvolle Wort Fromentins über
Poussin: „On le consulte, on l'admire, on ne s'en sert
pas." Der Wert steht außer Frage, wir fassen ihn heute
lebendiger als vor hundert Jahren, aber wissen, daß dieses
Verhältnis platonisch bleiben muß, um uns nicht zu ver-
irren. Die Größe Gericaults beruht auf dieser Erkenntnis,
mit der er Delacroix übertrifft. Er fand ein natürliches
Mittel, das zu erreichen — mindestens zu erstreben — ,
was Delacroix einmal als Ideal aufstellte und das sich
bewußt nicht erreichen läßt : die Vereinigung der Art des
Velasquez mit der Art Michelangelos. Bewußt versucht
erscheinen solche Kombinationen unsinnig, denn die Art
des einen schließt die des anderen aus. Aber vorher,
bevor der Geist sich seines Willens bewußt wird,
kann in dem dunklen Triebleben des Künstlers solch
köstliche Vermengung stattfinden, und sie schien einen
Moment realisiert, als Gericault, der Schöpfer des Me-
dusenflosses, seine Reiter malte. Daher die unbegrenzte
Verehrung Delacroix' für seinen früh verstorbenen Vor-
gänger und seine höchst skeptische Stellung zu Millet.
Das Michelangeleske des Bauernmalers, der naiv genug
war, Delacroix seine geringen literarischen Kenntnisse
sehen zu lassen, schien ihm „prätentiös", d. h. äußerlich,
und wer zwischen den Zeilen lesen kann, bemerkt, daß
er, bei aller Abneigung gegen Courbet, vor diesem mehr
Respekt hatte als vor Millet. Millet hatte Michelangelo
nicht durchdacht. In Courbet dagegen sah Delacroix
eine ideell beschränkte, aber vor nichts zurückschreckende
Konsequenz. Der Mangel Courbets an jeder Beziehung zur
klassischen Kunst schloß jede Annäherung zwischen den
DER MENSCH UND DER KÜNSTLER 133
beiden aus. Soweit vermochte selbst Delacroix' blenden-
der Geist nicht zu sehen, daß es auch ohne das ging;
aber er bewunderte schon an einem der ersten Bilder
Courbets, das ihm vor Augen kam, die Kraft des
jungen Meisters.1) Er kam damals nicht über den
Gegenstand hinweg. Der Maler, dem die Geste ungefähr
so viel wie Farbe bedeutete, der mit ihr malte, mußte
die Anfänge Courbets unterschätzen, selbst wenn sein
Esprit nicht vor der Unbeholfenheit des anderen, wenn
der Aristokrat nicht vor dem Proletarier zurückgeschreckt
wäre. Aber seine Weisheit geht auch aus diesem denkbar
schwierigsten Exempel, das seinem Urteil zugemutet wer-
den konnte, siegreich hervor, denn wir werden sehen, daß er
im Grunde dieser neuen Welt Eigenschaften wohl erkannte,
auch wenn er sich nicht damit zu begnügen vermochte.
Was Delacroix abstieß, Courbets persönliches Auf-
treten, hat dem Meister von Omans zu Lebzeiten
manchen fein besaiteten Kunstfreund entfremdet. Damit
es uns nicht ebenso gehe, müssen wir vorsichtig scheiden
und uns den Anschein zunutze machen, als gebe es
in Courbet zwei verschiedene Dinge, seine Kunst und
sein Menschentum. Daß dem nicht so ist, bedarf keines
Nachweises. Wenn wir von menschlichen Schwächen
eines Künstlers reden, die von den Tugenden des
Künstlers aufgewogen werden, sagen wir nichts anderes
als die in unserer beschränkten Natur umschlossene
Tatsache, daß sich in jeder Persönlichkeit, und stehe
sie noch so hoch, Fehler neben Vorzügen finden. Der
tieferen Erkenntnis wird nicht entgehen, daß sie zu-
sammengehören und einer einzigen Ursache entstammen,
*) Die „Baigneuses" des Salons von 1853. Man muß bei Delacroix
zwischen seiner Feindschaft gegen den Realismus als Theorie und seiner
Abneigung gegen Courbet wohl unterscheiden. Die eine war ohne Grenzen,
die andere höchst gemäßigt. So wendet sich der Satz, der sich im Jour-
nal I 159 findet, gegen den Realismus im allgemeinen, und er hat sicher
nicht beabsichtigt, unseren Denner, der bei dieser Gelegenheit abgeführt
wird, auf gleiche Höhe mit Courbet zu stellen.
i34 COURBET
der natürlichen Anlage. Der große Künstler ist der
große Mensch. Wenn das bei einem Courbet schwer
glaubhaft erscheint, vergessen wir nicht, daß die Gründe
unseres Zweifels auf schwachen Füßen stehen. Denn
was uns von seinen persönlichen Missetaten überliefert
wird, trägt alle Anzeichen subjektiver Färbung. Die
Zeugen waren gewöhnlich Feinde seiner Kunst und
müssen abgelehnt werden. Mindestens vermögen wir
nicht mehr, alle Zusammenhänge der Kleinigkeiten zu
übersehen, um die Schuldfrage zu entscheiden. Das
Kunstwerk aber liegt in aller Deutlichkeit vor uns.
Daher ist der Schein des Dualismus eine harmlose
Täuschung, sobald man einsieht, daß jede Kunst auf
Menschentum beruht, und förderlich, weil er uns drängt,
von allen Zufällen abzusehen und uns an das zu halten,
was im Künstlerdasein allein höhere Beachtung verdient.
L'ENTERREMEXT D'ORXAXS, 1850. 340x4,07-
Louvre, Paris.
FRÜHZEIT
Corots Entwicklung läuft, wenn nicht in einer einzigen,
ununterbrochenen Linie, so wenigstens in einer
Fläche, die gleichmäßig wichtige Eigenschaften des Künst-
lers der Vollendung nähert. Wir konnten bei ihm von
einer Lehrzeit sprechen. Seine Beschaulichkeit ließ geduldig
eine Frucht nach der anderen reifen. Wohl gab es dabei
Überraschungen. Die unbändige Fruchtbarkeit ließ gewisse
Seiten schneller wachsen als andere. Das Wachstum selbst
aber steht außer Frage. Corot gleicht einem gesunden
Baum, der sich auf der ganzen Oberfläche immer mehr
mit Zweigen und Blättern bedeckt und den Schatten be-
ständig vergrößert.
Courbets Werdegang ist ein schwer zu enträtselndes
Problem. Es ist etwas Wahres an Durets Behauptung,
daß der Meister von Omans überhaupt keine Entwickelung
zeige, weil sich gewisse Fehler des Anfangs in den spätesten
Bildern wiederholen, daß er vielmehr rein vegetativ produ-
ziere und ein Jahr gute, das andere Jahr schlechte Früchte
hervorbringe, ohne daß für den Wechsel zwingende Gründe
136 COURBET
gefunden werden könnten.1) Jedenfalls kommt man hier
mit so einfachen Begriffen wie dem Ausbau des Malerischen
nicht aus. Courbet hat nicht eine, sondern viele Entwick-
lungen. Diese laufen kreuz und quer durcheinander, wider-
sprechen sich scheinbar und komplizieren das Bild derart,
daß man wohl versteht, warum es bisher niemandem ein-
gefallen ist, nach einem Organismus zu suchen. Selbst die
nächsten Freunde gaben sich darüber den größten Irr-
tümern hin, und Castagnary beging noch 1882 im Katalog
der Courbet-Ausstellung in der Ecole des Beaux-Arts
schwere Fehler in der Datierung der Werke, weil ihm der
Werdegang des Künstlers nicht klar war.2)
Zwei Dinge wetteifern in Courbet, um den Ausdruck
zu erhöhen : das Plastische und das der Fläche dienende
Malerische. Das eine deutet auf einen sehr großen Künst-
ler älteren Stils, der auf die plastische Form zielt, daher
das Werkzeug zurückdrängt und möglichst glatt malt.
Das andere auf einen sehr großen Künstler neuen Stils,
der sich mehr auf instinktive Gestaltung verläßt und
die Form aus der Pinselschrift gewinnt; ein Flachmaler,
Fortsetzer der Rubens, Rembrandt und Velasquez, ein
Schöpfer der Materie. Die Verwirrung kommt daher,
daß die der Plastik zugewandte Periode nicht scharf
umgrenzt ist. Wir finden gleichzeitig Werke beider Art,
ja beide Tendenzen auf einem und demselben Bilde.
Der Landschafter Courbet ist der reinere Maler, vor
der Landschaft kam seine Natur am ursprünglichsten
1) Les Peintres francais en 1867 par Theodore Duret (Paris, Dentu,
1867). Dabei darf freilich nicht vergessen werden, daß Courbet im Jahre
1867 noch nicht abgeschlossen hatte.
-) So legt er den ,,Homme bless6" in das Jahr 1854, während das Bild
schon 1844 im Salon refüsiert wurde, und weist in der kleinen Note vor
dem Katalog ausdrücklich darauf hin. Auch Estignard ist wenig ver-
läßlich; er legt die beiden Kopien nach Hals und Rembrandt, die 1869
entstanden, in das Jahr 1842, den^,Homme ä la ceinture de cuir" in das
Jahr 1844 usw- Selbst die Hauptdaten schwanken. So nennt der Louvre-
Katalog für das „Enterremenf' den Salon 185 1, während alle Biographen
mit Recht den Salon des vorhergehenden Jahres angeben.
FRÜHZEIT
137
zum Vorschein. Auch das Einzelporträt gehört fast
immer zu derselben Kategorie. In beiden ist eine
beständige Vergrößerung des rein malerischen Reizes
deutlich. Diese Entwicklung wird durch den Kompo-
sitionsmaler, das Genre- und Figurenstück, zuweilen unter-
brochen. Hier kommt die der Plastik zugeneigte Richtung
zum Wort. Sie deckt sich bezeichnenderweise mit dem,
was man in Courbet tendenziös nennen kann. Sie kom-
promittiert nicht die Kunst, wie bereits betont wurde —
der Sozialismus Courbets ist eine Journalistenphrase —
sondern fügt ihr rein formale Elemente hinzu. Der
Hauptstrang der Geschichte wird dadurch kompliziert
und viele Bilder erscheinen infolgedessen als Übergangs-
stufen. Wir werden sehen, daß schließlich das letzte
Resultat durch die Doppel-Tendenz gewonnen hat.
Die nach Plastik strebende Periode liegt also innerhalb
der malerischen. Sie umfaßt zeitlich so- getrennte Werke
wiedie„Cribleuses de ble" des Jahres i854und das Gruppen-
porträt Proudhons aus dem Jahre 1865. Es wiederholt
sich hier das Lmgekehrte der Erscheinung, die wir bei
den Portraits Davids und zumal Ingres' beobachten, die
in die der Plastik zueilende Ausdehnung mehr oder weniger
isolierte, malerische Tendenzen hineintragen.
Im Beginn malt Courbet mit weichstem Pinsel.
„L'homme blesse" des Louvre und die ,,Amants heureux",
aus 1844/45, der „Homme ä la pipe" des Museums von
Montpellier und viele andere Frühwerke sind von zar-
testem Auftrag. Man denkt an van Dyck, den er um
diese Zeit kopierte, und an gewisse dem Rubens nahe-
stehende Delacroix. Unzweifelhaft gab ihm der große
Romantiker in der ersten Zeit, wie die Kopie der Dante-
barke bezeugt. Auch in manchen Landschaften findet
man denselben Einfluß. Delacroix' „Park von Xohant" der
Sammlung Cheramy, der 1842 oder 1343 gemalt wurde,
gleicht ganz auffallend der Courbetschen Waldlandschaft
i38 COURBET
derselben Sammlung, in der flachen Art, wie das Blätterwerk
behandelt ist. Übrigens hat Delacroix in einzelnen, seltenen
Werken oder Fragmenten auch den sogenannten Realis-
mus Courbets gerechtfertigt. Bilder wie das merkwürdige
Gesicht der alten „Religieuse", etwa aus dem Jahre 1843,
wie die „Katze" oder wie das Blumenstück — alle bei
Cheramy — oder wie der ,, Atelierwinkel" bei Henri Rouart
und andere Interieur -Skizzen und Stilleben sind von
schärferer Sachlichkeit, fast könnte man sagen, Genauig-
keit, als die entsprechenden Courbets der Frühzeit.
Diese weiche Malerei zieht sich in den folgenden Jahren
allmählich zusammen, und dabei hilft ihm der Meister,
der von allen Zeitgenossen offenbar den stärksten Ein-
fluß auf ihn ausübte: Gericault. Das herrliche Porträt
Gericaults in dem Saal der Bildnisse des Louvre, das
sein Selbstporträt sein soll, und der „Homme ä la ceinture
de cuir", im oberen Stockwerk, das beste Frühporträt
Courbets, aus dem Jahre 1849, sind nahe Verwandte. Es
ist dieselbe Generosität in der Auffassung, nicht nur in
der Pose; eine Noblesse in dem, was gezeigt wird und
wie es gezeigt wird, in der man ein Selbstporträt des
Künstlers erkennt, auch wenn der Dargestellte eine andere
Person wäre. Alles was über die Roheit und Dummheit
Courbets geschrieben wurde, wird vor diesem Bilde zu
nichte. Wir werden sehen, ob er später den Tadel ver-
dient. Damals jedenfalls, zur Zeit jenes glorreichen Selbst-
porträts war er, was jeder Künstler in seiner Kunst sein
muß, ein Edelmann. Das Bildnis Gericaults ist noch sub-
jektiver als das Courbets. Der weiße wolkige Hintergrund
gibt mit dem fahlen Ton der Gestalt einen ganz einfachen,
mächtigen Akkord ; auch das Format ist günstiger, die Breite
tut wohl. Dem Courbet verleihen die meisterhaft model-
lierten Hände eine größere Elastizität. Aber auch hier wird
die größere Präzision von dem wundervollen dunklen Ge-
samtton gebändigt. Noch in späten Portraits wie dem
FRÜHZEIT
139
schwarzen Rochefort1) bringt dieselbe dunkle weiche Mo-
dellierung wahre Wunder der Bildnismalerei hervor.
Noch deutlicher ist die Beziehung zu dem bekannteren
Genre Gericaults, zum Schöpfer des prachtvollen
„Carabiniers" des Louvre usw., den Bildern, in denen der
Pinsel in gewaltigen Zügen malt und nicht mehr des
verhüllenden Tones bedarf, um Harmonien zu schaffen.
Sie begleitet den späteren Courbet. Vorher müssen wir
der mittleren Periode des Künstlers gedenken, der merk-
würdigsten, in der er die Werke schuf, mit denen sein
Name für alle Zeiten in die Geschichte geschrieben wurde.
Die Bilder des Jahres 1850 mögen wie ein Kanonen-
schuß gewirkt haben. Sie sind heute noch von ganz
verblüffender Wirkung. In dem Durchgangssaal des
Louvre, in dem das „Enterrement" recht miserabel ver-
kümmert, drückt man sich an der gegenüberliegenden
Wand platt, um das Maximum von Abstand zu gewinnen.
Abstand nicht nur von dem Riesenformat mit den fünfzig
lebensgroßen Figuren, von der riesigen Landschaft, deren
graue Felsenlinie den Hintergrund wie ein natürlicher
Zirkus abschließt, vielmehr Abstand von der Gewalt des
Ausdrucks. Es ist eher eine Auferstehung als ein Begräb-
nis. Und das gilt in vielerlei Sinn. Einmal kommt hier
zum erstenmal seit dem siebzehnten Jahrhundert ein bür-
gerliches Gruppenbild wieder, den besten Gemälden solcher
Art von Hals und Rembrandt ebenbürtig und gleich reich
an volkspsychologischen Momenten, deren Gesamtheit den
Eindruck einer mehr als persönlichen Aussprache hervorruft.
Zweitens steht hier eine den größten Malern der Ver-
gangenheit ebenbürtige Kunst wieder auf, mit allen Reizen
der Altmeisterlichkeit und doch durch den gebieterischen
Ernst des Ganzen dem Liebhaberhaften weit entrückt.
Es gab schon zuzeiten des „Enterrement" modernere
Bilder, will sagen Werke, die die Eigentümlichkeiten der
*) Hier abgebildet.
140
COURBET
Impressionisten deutlicher voraussagen, undCourbet selbst
hat bald nachher deren eine schöne Anzahl gemacht, die
viel größeren Einfluß ausübten. Es gibt kein einziges im
ganzen Jahrhundert, das mit gleicher Macht den Besitz der
alten Kunstmittel verrät und durch die Geschlossenheit
dieses Besitzes, durch das höchst Individuelle der Hand-
habung überlieferter Werte ebenso würdig wirkt. Gericaults
,, Medusenfloß" und das,, Massacre von Chi os"sindseine Vor-
gänger, nicht Verwandte, sondern Partner. Nachher kommt
im ganzen Jahrhundert nur nochmal Manet als Schöpfer
gleichbedeutender Repräsentationsbilder in Frage. Selbst
in dieser aufs Äußerste beschränkten Reihe nimmt das
„Enterrement" einen hervorragenden Platz ein. Es fehlt
ihm der besondere Reiz der Gericault und Delacroix,
schon weil ihm jede Beziehung zum klassischen Element
der Franzosen abgeht, und es mangelt der besonderen
Schönheit der Nachfolger, weil ihm die moderne Kolo-
ristik verschlossen ist. Aber während die anderen diese
Reize nur mit einem Verlust aufwiegen, der, mag er uns
auch noch so unwesentlich erscheinen, ihnen im Ver-
gleich zu den Alten einen Hauch von Decadence, nennen
wir es Unfertigkeit, gibt, steht das „Begräbnis" in einer
gewissermaßen zeitlich begrenzten, aber innerhalb dieser
Grenzen unübertrefflichen Meisterschaft vor uns: ein
Stück Malerei, wie es sonst unseren Zeiten versagt ist.
Es bleibt ein unergründliches Rätsel, daß gerade
Courbet, der ,, Idiot", diesen Abschluß vollbrachte; daß
er, der seiner vermeintlichen Gesittung nach durchaus
primitiver Autodidakt sein müßte, in diesem Bilde und
in allen anderen nicht eine Spur davon verrät; daß dem
Bauer, dem Peintre-Bete, eine Evokation edelster Werte
der alten Malerei gelang. Und man wird sich wohl ent-
schließen müssen, diese Epitheta nicht zu eng zu nehmen.
Was mit Courbet vorgegangen war, als er an das Riesen-
werk heranging, können wir in Ermangelung jeder halb-
FRÜHZEIT 141
wegs verständigen Biographie nur erraten. Er war vorher,
wie wir sahen, in den Bahnen van Dycks. Die sieben
Bilder des Salons von 1849, unter denen die „Apres-diner
ä Omans" mit drei lebensgroßen Figuren hervorragt,
gehören immer noch zur ersten Zeit, wenn sich auch
schon in ihnen die Folge vorbereitet. Das „Begräbnis",
das mit nicht weniger als acht anderen Gemälden im
Salon von 1850 erschien, steht ganz auf der entgegen-
gesetzten Seite. Es hat fast nichts von dem Rubens-
Kreise, fast alles von den Spaniern und Franz Hals. Die
Spanier, von denen er stets begeistert sprach,1) müssen
ihm wie eine plötzliche Offenbarung erschienen sein; und
zwar nicht nur Velasquez, fast noch eindringlicher der
lange unterschätzte Freund des großen Bildnismalers :
Zurbaran. In der Landschaft, zumal in dem wundervoll
eingehüllten Gehöft der linken Seite ist der Velasquez
der Reitschulen, der Saujagd und ähnlicher Werke fast
ungeändert übertragen. In den Figuren dagegen mischt
sich das spanische und nordische Element auf wunder-
bare Art, und zwar rückt an die Stelle des spanischen
Tonmalers der spanische Kolorist. Man sollte meinen,
Courbet habe Zurbarans vier Darstellungen aus dem
Leben des hl. Bonaventura gesehen, die bis in den
fünfziger Jahren bei Soult in Paris zusammen waren,
und von denen jetzt zwei imLouvre, je eins in der Dres-
dener und der Berliner Galerie hängen. Auch die einstige
Sammlung Louis Philippes im Louvre besaß damals noch
den Meister, nämlich die beiden Londoner Bilder. Am
genauesten hat Courbet offenbar Zurbarans schönstes
Werk in unseren Breiten, die „Aufbahrung des Bischofs",
im Louvre, studiert. Die Ähnlichkeit mancher und
zwar der kostbarsten Details, zumal auf der linken Hälfte
*) In der bereits zitierten Unterhaltung mit Silvestre sagte er:
„Ribera, Zurbaran et surtout Velasquez, je les admire; Ostade et Craes-
beeck mc seduisent entre tous les Hollandais et je venere Holbein. ••
i42 COURBET
des „Begräbnisses", springt in die Augen. Der Chorknabe
vorn im weißen Gewand mit dem vom roten Käppi be-
deckten, rabenschwarzen Haar und den leuchtenden Augen
ist als Malerei mit dem Jungen, der auf dem Zurbaran
zu Häupten des Bischofs steht, identisch. Es ist dieselbe
ganz enthüllte Pracht, durch die sich der spanische
Kolorist von seinem verschwiegeneren Landsmann unter-
scheidet, von einer Harmonie, die weniger von der Selten-
heit der Farbe, als der fabelhaften Abgewogenheit des
unvermischten Schwarz, Weiß, Rot und des Gelbs des
Weihkessels herkommt, von einem kühlen Leuchten, das
wie der Blick aus großen, dunkelumschatteten Augen
berührt. Dabei vergaß Courbet nicht, was in Zurbaran
von Caravaggio steckt;1) die großen weißen Tücher der
Sargträger, deren stolze, spanische Allüre das Bild
nach links abschließt, leuchten wie die Gesichter des
Italieners.
Diese unverhohlene Verwendung der Spanier scheidet
Courbet von der Schule von Barbizon. Sie läßt ihn
wie den Menschen einer anderen Rasse erscheinen.
Man kann nicht die Entdeckung Spaniens auf ihn zu-
rückführen, denn vor ihm hatte Daumier einen Blick
in die von Goya beschlossene Kunst getan, und es
scheint mir wahrscheinlich, daß noch früher die per-
sönliche Anwesenheit Goyas in Frankreich, wenn auch
Bordeaux weitab von Paris liegt, gewisse Berührungen
mit der französischen Kunst zur Folge hatte. Gericault
hat Goyas Bilder genau gekannt, Delacroix besaß in den
zwanziger Jahren ein Bild des Meisters der Maja in seinem
Atelier und ^sprach sich wiederholt begeistert über ihn
aus. Als er 1832 nach Spanien reiste, war es wiederum
Goya, der ihn am meisten beschäftigte. Aber alle diese
J) Auf die Parallele Courbet-Caravaggio, in Hinblick auf den Realis-
mus und das ähnliche Verhalten des Publikums gegen beide Künstler,
hat Muther hingewiesen. (Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert,
II 438 und 449).
FRÜHZEIT 143
Beziehungen gehen nicht über Nuancen hinaus. Courbet
brachte die Entscheidung, indem er aus der resoluten
Aneignung der Spanier den Schlüssel einer neuen und
reichen Entwicklung gewann.
Man erkennt aus solchen Zügen der Geschichte immer
wieder die Beschränktheit der gewohnten Auffassung von
der Persönlichkeit. Ohne Spanien wäre Courbet, dieser
Revolutionär, in dem die Zeitgenossen nur den Um-
stürzler, viele einen Feind der Kunst sahen, undenkbar,
und ebensowenig wäre die Errungenschaft der Impres-
sionisten, die sich auf Courbet aufbauen, möglich. Die
Anlehnung schmälerte nicht nur nicht seine Persön-
lichkeit, sie brachte seinen Wert zur Erscheinung, be-
reitete das typisch Courbethafte vor. Sie machte
just das aus ihm, was seine Zeit über dem Realismus
übersah, den höchst subjektiven Künstler. Freilich blieb
er nicht bei der Entdeckung stehen. Er eroberte, um
zu besitzen. Um das eine zu haben, tat er noch man-
ches andere dazu. Nicht willkürlich, er fand genau das
Amalgam, das er brauchen konnte. Er schöpfte es nicht
nur aus dem eigenen Besitz, sondern griff wiederum zu
überlieferten Werten. Solange, bis eine neue Einheit,
der reife Courbet, daraus wurde.
Darin liegt der Fortschritt, den Duret vermißte. Es
ist die Art, wie alle Kunstwerte entstehen. Man braucht
nur zu verfolgen, wie sich in Courbet das Spanische,
das im „Enterrement" noch verhältnismäßig unver- !
mengt sichtbar bleibt, später zu einem immer organi-
scheren, um nicht zu sagen, persönlicheren Mittel zu-
sammenzieht, um eine das ganze Leben des scheinbar ziel-
losen Künstlers ausfüllende Kunstgeschichte zu finden.
Mit dem Spanischen vereinigt sich die Energie des
Franz Hals. Die Kombination ist nicht auffallender als
die Ähnlichkeit zwischen dem jungen Mann mit dem
Federbarett auf dem berühmten Spielerbild Caravaggios
i44
COURBET
in Dresden und gewissen, lose gemalten Köpfen des
Meisters von Haarlem. Die Beziehung zu Hals ist freier
als die zu den Spaniern. Man möchte den Geist der
ganzen Gruppe des „Begräbnisses" halsisch nennen, das
strotzende Leben der Menschen mit den urkräftigen Ge-
sichtern und die Sachlichkeit, mit der es gemalt ist;
auch die übertriebene Verwendung des Schwarz, das
ganz wie bei gewissen Hals vergeblich versucht, die
Energie der Zeichnung zu töten. Jeder Kopf ist Por-
trät, und nicht nur jeder Kopf, jede Gestalt, jede
der unendlich mannigfachen Posen. Im Porträt ist
Courbet auch später kaum wesentlich über die Kunst
des „Enterrement" hinausgegangen. Der Kopf Corbinauds
aus 1863, den Duret besitzt, und viele Portraits der
sechziger Jahre haben dieselbe in rötlichen Ton ge-
tauchte Materie, deren spiegelglatte Fläche man mit der
Hand streicheln möchte, und dieselbe unerschütterliche
Naturtreue der Darstellung. Man nannte dies damals
Realismus und schimpfte auf die Häßlichkeit der Wahr-
heit. Die wenigen Freunde, wie Champfleury, den
Courbet 1854 m dem meisterhaften Louvre-Porträt ver-
ewigte, begnügten sich, den Realismus zu verteidigen,
schoben die Schuld auf die Modelle des Künstlers, auf
die allgemeine und besondere Häßlichkeit der Welt, für
die ein ehrlicher Künstler nicht verantwortlich gemacht
werden könnte, d. h. begingen dieselbe oder eine noch
größere Willkür wie die Gegner. Niemand sah die Kunst
aus dieser Naturtreue; niemand nahm den nötigen Ab-
stand von dem Werke, um den Einheitsgedanken der
Riesenfläche in sich aufzunehmen. Was man Courbet
vorwarf, die Beschränkung der Auffassung auf die dem
Auge dargebotene Einzelheit der Natur, beging in Wirk-
lichkeit jeder Betrachter des Bildes, der darauf ausging,
die Disharmonien aus dem Ganzen herauszulesen. Man
vergaß, daß ein so großes Orchester starker Motive zur
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PORTKAIT DB MMK. QBOOQ, 1854/55. 1,75x1,10 m.
Photo Drrrand-Bae] et tils, Paris.
FRÜHZEIT 145
Belebung bedarf, und daß selbst die Karikatur, und sei
sie beißende Lauge, zur Bereicherung der Materie bei-
trägt. Man übersah die Hauptsache: den Stil.
Was den Stil des „Begräbnisses" ausmacht, ist mit Worten
ungemein schwer zu sagen. Hier liegt das Neuzeitliche
des Bildes, das, was Courbet Franz Hals und den Spaniern
hinzufügt, die Berechtigung für seine Verwendung der
Alten, sein Werk. Es wurde damals nicht als Stil er-
kannt, weil ihm die Form gewohnter Stile abging, so-
viel auch vom alten darin war. Stil ist Verbindung.
Man schätzte diesen Begriff im Jahre 1850 zumal als
eine Verbindung von Linien, namentlich solcher, die das
Schöne des klassischen Zeitalters umschrieben, und achtete
Delacroix, weil man in seinen Bildern dieses Linienspiel
unter leuchtenden Flächen ahnte. Corot, nicht der
Schwärmer, sondern der große Kolorist, Rousseau und
Daubigny wurden, weil sie auf der anderen Seite standen,
nur geduldet; das Idyllische ihrer Bilder forderte nicht
die erboste Abwehr heraus. Der Stil Courbets war den
verzärtlichten Augen der Pariser eine Beleidigung. Seine
\\ irkung trieb die Abneigung gegen den Naturalismus nur
noch auf den Gipfel. Weil er formulierte, bestätigte er
die Leute in dem Glauben, es hier mit einer Formulierung
des Häßlichen zu tun zu haben.
Courbets Stilbildung beginnt in der Frühzeit und endet in
den letzten bedeutenden Werken. Sie ist nicht nur bedeut-
sam für seine Geschichte, sondern von unübersehbarer
Wichtigkeit für die ganze moderne Malerei. Sie besteht nicht
in einer Modifikation einer Einzelheit, sondern in der fort-
, schreitenden Veränderung seiner ganzen Anschauung und
infolgedessen jedes seiner Mittel. Das, .Begräbnis" bildet eine
der ersten Stationen dieses höchst verschlungenen Weges.
Sein Stil liegt weniger in den außerordentlich mannig-
fachen Elementen — wenn auch das genauer hinsehende
Auge in ihnen viele höchst bewußte Stilmittel findet, die
146 COURBET
sich nur zum Schein unter dem Zufall verbergen — als
in der summarischen Verwendung der Elemente. Einmal
in der Einteilung der ganzen Gruppe, die, so authentisch
sie wirkt, die vielen Gesichter so hinstellt, daß sie die
denkbar größte Abwechslung und daraus einen unkon-
trollierbaren, aber wirksamen Rhythmus bilden. Daß
das möglich ist, hat schon Hals in seinen großen Schützen-
stücken bewiesen. Insbesondere stilisiert die Koloristik. Hier
scheidet sich Courbet von Zurbaran, der vor allem an Prunk
dachte, als er mit seinen Farben die großen Flächen des
Louvrebildes scheinbar noch weiter ausdehnte. Courbet
zieht die seinen zusammen. Das ganze Bild istauf denHaupt-
kontrast von Rot und Schwarz vor dem Velazquez-Hinter-
grund gebaut. Das Rot ist flüssig wie Blut. Es strömt
aus dem Fleisch und schwebt über den schwarzen Ge-
stalten wie ein Symbol des Lebens über dem Grabe.
Denn es unterstreicht das psychologische Moment des
Bildes, den Kontrast zwischen der Trauer dieser Leute
und ihrer aus allen Gesichtern sprechenden Lebendigkeit.
Diese Lebendigkeit wird durch das Rot erhöht, gleich-
zeitig aber nicht ins Dramatische, sondern in das Monu-
mentale vergrößert. Die über die Gesichter gegossene
gleiche Röte mildert das lebhafte Detail der Physio-
gnomien, nimmt ihnen das Genrehafte und läßt das Be-
wegliche nur der Fläche zugute kommen. Am stärksten ist
sie in den beiden Vorsängern hinter dem knieenden Toten-
gräber. Ihre Alkoholgesichter unter dem merkwürdigen^
wie Hahnenkämme leuchtenden Kopfputz wärmen das
ganze Bild.
Die Zeit hat wie bei allen Courbets und wie bei allen
alten Meistern die Farben veredelt und zu dem Gesamtton
nicht wenig beigetragen. In der rechten Hälfte hat das
Schwarz geschadet. Man muß sich die Frauengruppe
verhältnismäßig so reich denken wie den ., Garde cham-
petre", der davorsteht, im grauen Frack auf rötlicher
FRÜHZEIT 1+7
Weste, in Kniehosen aus Orange auf blaugrauen Strümpfen.
Die dunklen Olivtöne der Frauengewänder sind alle schwarz
geworden. Der Louvre täte ein gutes Werk, wenn er sie
wieder hervorholte.
Man kann gegen das „Begräbnis" einwenden, was von
allen großen Repräsentationsbildern des 19. Jahrhunderts
gilt; es ist verhältnismäßig wenig repräsentativ für den
Autor. Die Wirkung des Gemäldes auf Publikum und
Kollegen, die beispiellos war, kam vom Gegenstande
her. Das Wagnis, ein richtiges Begräbnis darzustellen,
nicht mit sentimentalen Posen, sondern mit dem un-
abwendbar idiotischen Ausdruck der Gesichter bei solchen
Gelegenheiten, noch dazu mit Portraits höchst gleich-
gültiger Leute, überstieg das viel größere Wagnis, solche
Momentdarstellungen mit Hilfe der alten Meister fertig
zu bringen. Der Vorwurf gegen den ungebildeten Idioten
könnte sich in die Verurteilung eines nur zu weisen
Eklektikers umkehren. Doch wäre das eine nicht ge-
rechter als das andere, und solche Anschauung müßte,
wenn sie konsequent sein wollte, dann auch die erha-
bensten Werke der Zeitgenossen ebensoviel tiefer hängen.
Der kleine „Christ im Olivengarten" sagt mehr von Dela-
croix' eigenster Meisterschaft als das „Massacre von Chios";
der „Carabinier" bedeutet fürGericault mehr als das „Me-
dusenfloß", und ein Blumenbukett aus Manets Spätzeit ist
origineller als seine „Olympia". Aber was wir repräsentativ
nenrsen, umschließt ja gerade das Zurückgedrängte der
Eigenart des einzelnen zugunsten einer Vielheit, die der
Darstellung wert ist. Wir sehen mehr darin als eine Ent-
wicklungsphase des Künstlers. In solchen Bildern wird
das Gefäß für eine ganze Epoche gewonnen; das Maß
nicht für den Grad des Artistischen allein, sondern auch
für die Generosität, die Leidenschaft, die Gesittung einer
Zeit. Das Volumen ist zu groß, als daß es die feinen
Rippen der bis ins kleinste gehenden Individualisierung
i48 . COURBET
zeigen könnte, die uns an den typischsten Werken
unserer Meister begeistert. Die Kunst erobert sich in
solchen Augenblicken scheinbar das Recht zurück, zum
Volke zu sprechen, und in der Schönheit dieses Glaubens
findet auch der Liebhaber der Kunst seine stille Freude.
3*
~:-l
_ a
L' ATELIER DE COURBET, 1885. 3,50X6,00.
Sammlung Mme. Desfosses, Paris.
VOM „BEGRÄBNIS VON ORNANS" ZUM
„ATELIER".
Das „Begräbnis vonOrnans"ist nicht das umfangreichste
Gemälde; der „Combat de cerfs" ist größer, das
„Atelier" mit dreieinhalb zu sechs Metern dürfte das
größte sein. Diese Werke stehen nicht allein. Es gibt
Dutzende von großen Formaten, wenn sie auch nicht
an die genannten drei heranreichen. Die verhältnismäßig
große Fläche war dem Meister natürlich.
Diese Vorliebe unterscheidet Courbet von seinen Zeit-
genossen seit Delacroix und wäre allein schon geeignet
gewesen, den Gegnern seines Realismus zu denken zu
geben. Sie ist mit ein Grund seiner Unpopularität. Der
französische Amateur will das Bild in die Hand nehmen
können, und die Gestelle der Händler in der Rue Laffitte
sind für bescheidene Größen berechnet. Je mehr man
draußen vor der Natur malt, desto mehr gewöhnt sich
der Künstler an bequemes Handwerkszeug. Bei den
Engländern und zumal den Deutschen ist es anders. Con-
i52 COURBET
stable dort, hier Leibl und Liebermann werden der kleinen
Rahmen wegen vom Laien gering geschätzt. Zu dem rich-
tigen englischen Academy-Schlager gehört ein zärtliches,
aber bekleidetes Paar, zu dem richtigen deutschen Aus-
stellungserfolg ein nacktes : Adam und Eva. Beide Paare
ergehen sich mit Vorliebe in großen Dimensionen, aber
bleiben immer nur kleine Faits divers.
Wer mit lebensgroßen Figuren wirtschaften, weite
Flächen beleben will, muß notwendig Monumental-
künstler werden. Tatsächlich war das ,, Begräbnis von
Omans" die Lösung eines Monumental-Problems, eines
der vielen, die dem Meister geglückt sind. Aus der langen
Reihe von Menschen löst sich ein gemeinsamer großer
Zug. In den „Steinklopfern" desselben Salons, heute in
der Dresdener Galerie, brachte Courbet diesen Zug in
eine konzentriertere Form geringeren Umfangs und zeigte,
wie differenziert er seine Monumentalität vorhatte.
Darauf kommt alles an. Stil ist wie geprägtes Metall.
Der eine hat die ganze Tasche voll großer, dicker Kupfer-
münzen, das Gewicht ist beträchtlich, die Tasche bläht
sich. Der andere trägt dieselbe Anzahl Stücke in Gold
und schreitet leicht mit dem tausendmal reicheren Schatz.
Wir leben in der Kunst im Zeichen der Kupferwährung.
Viel Scheidemünze, kleine Beträge. Die paar Goldstücke
verschwinden unter dem Haufen von Kleingeld. Alles
ist Stil. Das eine wie das andere klingt in der Tasche,
ja der Kurant macht den meisten Skandal. Der Fall
Courbet beruht auf der Anomalie, daß es ihm einfiel,
seine Taschen mit Massen von Goldstücken zu füllen
und damit so umzugehen, als wäre es lauter Kupfer.
Daß ihn die Menschen infolgedessen für einen Falsch-
münzer hielten, versteht sich fast von selbst.
Wäre es so schwer gewesen, aus der Form der „Stein-
klopfer" einen leicht lesbaren Stil zu machen? Heute
kann das jeder bessere Kommis eines Möbelladens. War
VOM ..BEGRÄBNIS VON ORNANS" ZUM ..ATELIER" 153
es damals schwerer? Die Engländer, denen naive Kritiker
die Herkunft von Courbet nachrühmten, zeigten das
Gegenteil. Ein Geschickterer hätte z. B. den Jungen,
der die Steine wegträgt, schematischer zu dem Klopfer
gestellt, vielleicht gar in Parallelen, und hätte womöglich
noch drei andere Arbeiter in kongruenten Posen daneben
gesetzt und sich dann eingebildet, die Agineten zu über-
treffen. Courbet malte seine Gestalten so stark wie
möglich, zeigte aber, daß es ihm nicht auf die Linie an-
kam, sondern auf die Fläche, und nicht nur auf Fläche,
sondern auch auf Tiefenwirkung. Und das war keine
fixe Idee bei ihm, sondern die Sehnsucht nach Reichtum,
nach größerer Macht, und — das Bewußtsein, so wirken zu
können. Millet war bescheidener. Die Ehrfurcht, die
wir ihm entgegenbringen, hindert uns nicht, in ihm eine
leichtere Schreibart zu erkennen, wohl angemessen seiner
Persönlichkeit und von nicht geringerer Ehrlichkeit, von
großem Reiz, nicht von derselben Stärke. Er hat nie so
gewaltig gemalt wie Courbet in jenem der Milletschen
Formenwelt nahestehenden Gemälde. Man kann an-
nehmen, daß Courbet den beginnenden Millet mit In-
teresse verfolgte. Obwohl dieser fünf Jahre älter war, ist
ihr Start fast gleichzeitig. Courbets erste Landschaften
sind aus 184.1. Was Millet vor diesem Jahre gemacht
hat, kommt nicht in Frage. Ja, rechnet man als Start
das erste bedeutende Bild, so ist Courbet früher, denn
als er seine ersten Portraits malte, stellte Millet die „Laitiere"
im Salon aus, die Bürger Thore freundlich genug war,
„une jolie esquisse dans le goüt de Boucher" zu nennen.
Die „Steinklopfer" entstehen nach Millets „Vanneur" von
1848 und gleichzeitig mit dem „Semeur" von 1850. Selbst
wenn Courbet aus diesen Bildern eine ganz äußerliche
Anregung gewonnen haben sollte, berechtigt nichts zu
der von der Kunstliteratur verbreiteten Annahme einer
Abhängigkeit. Man könnte mit demselben, vielleicht so-
15+
COURBET
gar mit mehr Recht, annehmen, daß Millet unter dem
Einflüsse Courbets war, als er später, während des Kriegs-
jahres, mit den merkwürdigen Cherbourger Marinen in
das Gebiet des Jüngeren übergriff.1)
Denn in Wirklichkeit ist zwischen den Bildern beider
Meister nicht mehr Ähnlichkeit als zwischen zwei beliebigen
Menschen, denen man im selben Saale begegnet. Ich
habe an anderer Stelle Millets Verwandtschaft mit Dau-
mier und seine klassische Herkunft gezeigt. Er war
durchaus Programmaler im Gegensatz zu Courbet, von
dessen Programm alle Welt und er selber faselte, sprach mit
größter Bestimmtheit seinen Drang nach Synthese aus und
verfolgte dieses Ziel vom „Vanneur" an in allen Werken.
Courbets Synthese besteht erst heute^ wo wir den ganzen
Menschen und sein Gefolge überblicken ^ulicT^erkehnen,
was ihm selbst unbewußt bHerü Sie trieb" ihn so gutfwie
Millet, ^ja mächtiger als Millet, aber blieb im Instinkt,
war deshalb so mächtig und — so ungeschickt. In Mil-
let kam eine harmonischere Persönlichkeit begrenzteren
Gaben zu Hilfe. Courbet wurde von seinem unge-
zügelten Temperament in alle Richtungen getrieben,
auch dahin, wo Millet stand, aber es ist nur eine Seite
von vielen, und er beherrschte sie, wie er jede beherrscht
hat. Millet war immer derselbe und schwankte, sobald
er von der engen Bahn wich. Er übertrug eine schöne
Formel auf viele Dinge; seine Bilder unterscheiden sich
untereinander mehr durch die Symbolik als durch das
malerische Mittel, das er von den Alten nahm und, ohne
es weiter zu bilden, reduzierte. Er ist daher in einem viel
konventionelleren Sinne monumental als sein Landsmann.
In einem wesentlich schwächeren, sowohl quantitativ wie
qualitativ beschränkteren, muß man hinzufügen. Er hat
nie ohne empfindliche Einbuße versucht, die schöne
J) Vgl. z. B. die Marine Millet's im Stockholmer Museum (No. 588,
Sammlung Heilborn).
VOM „BEGRÄBNIS VON ORXAXS" ZUM „ATELIER" 155
Kunst seiner kleinen Bilder, seiner wirklichen Perlen,
in großen Maßstab zu übertragen. Der „Angelus" steht
unter jedem mäßigen Bilde Courbets, und der räumlich
größte Versuch Millets einer weit sichtbaren Monumental-
wirkung, das Riesenbild ,,Hagar und Ismael" im Medag-
Museum des Haags, ist ganz verunglückt. Es fehlt hier
und in vielen anderen Bildern Millets das schlechter-
dings Wesentliche, die Beherrschung des Malerischen.
Damit deckt sich, daß Millet mit der linearen Zeichnung
einen sehr großen Teil seines Wesens zu äußern ver-
mochte, während Courbet ohne Farbe und Pinsel ein
Mensch ohne Glieder gewesen wäre. Von den „Stein-
klopfern" oder dem „Begräbnis", geschweige von den spä-
teren Werken, könnte auch die genialste Kohlenzeich-
nung keinen Begriff geben. Sie sind ihrer ganzen, höchst
komplexen Natur nach nur als Malerei möglich.
Dieser Unterschied könnte nur gewerblicher Art,
Millet ebenso großer Zeichner als Courbet Maler sein.
Aber die Gerechtigkeit gegen unseren Meister verlangt,
die Verschiedenheit der Potenzen beider zu erkennen.
Der Stil in Millet, ob mit dem Bleistift oder dem Pinsel
hervorgebracht, ist fester als Millet selbst, und darin
liegt die Beschränkung der Persönlichkeit. Der Künstler
behielt nichts außer einer einseitigen Form übrig, die sein
Wesen wohl auslöst, gleichzeitig aber auch seine engen
Grenzen sehen läßt, da er nicht imstande ist, die Form
flüssig, d. i. ausdehnbar zu erhalten. Er ist fertig, so-
bald er das erste Mal die ihm angepaßte Form trifft,
und spielt nachher mehr die Stelle eines Handwerkers
seiner Erfindung als die eines Genies. Courbet dagegen
ist mit keinem Werke vollkommen zu identifizieren. Er
erfindet, bis er abtritt. D. h., der Unterschied zwischen
Courbet und Millet deckt sich mit dem Unterschied
7. wischen Genie und Talent, auch wenn zugegeben
werden muß, daß Millet den Begriff Talent in ungemein
156 COURBET
reichem Maße ausfüllt, während Courbet vielleicht manche
Forderungen an das Genie schuldig bleibt. Millet ver-
1 suchte den Mangel durch eine sehr vornehm gehand-
habte literarische Tendenz zu ersetzen, und der Ersatz
hat ihm nach dem Tode eine Herde sentimentaler An-
hänger und Nachfolger gebracht. Die wenigen großen
Künstler, die den unvergänglichen Teil Millets weiter
ausgebaut haben, verschwinden in der Masse. Man
kann auch hier wieder einmal, ohne MilletsGröße zu verken-
nen, leicht verfolgen, daß die Betonung des Gedanklichen
ein Hilfsmittel war, um Schwächen des Künstlers zu
verdecken. Courbet hat man aus dem Verzicht auf die
gleiche Hilfe unberechtigte Vorwürfe gemacht.
Millet trug in die Atmosphäre der Holländer und
Spanier starke Linien hinein, Courbet trachtete, plastische
Körper hineinzustellen d. h. die Resultate der alten Kunst
mit denen der neuen zu vereinen. Bei der Vehemenz,
mit der er vorging, mußte er dabei auf schlechterdings
unrealisierbare Aufgaben geraten. Hier liegt das Proble-
matische seiner Kunst. Als Landschafter war er durch-
aus Flächenmaler, identifizierte sich zuerst mit Velaz-
quez, machte die Landschaft dann immer mächtiger an
Ton und Farbe, malte sie mit einem von keiner Reflexion
gehemmten Temperament, wie Hals seine Menschen
malte: nur Materie, nur Farbe und Pinsel, nur Fläche.
Das genügte ihm nicht. Seine Rhetorik verlangte eine
Personifikation; nicht die des Genrebildes, dafür war er
zu durchdrungen von den alten Meistern und zu ehrlich;
aber mindestens die bedeutsame Gegenwart des Menschen
und des Tiers in der Landschaft. Da er nun von Jugend
auf dem Menschen als sachlicher Porträtist gegenüberstand,
mußte bei der Kombination beider Gebiete um so leichter
eine Differenz entstehen, als sich beide Stoffe nicht in der
ihm geeignet scheinenden Weise vereint in der Natur
fanden. In dem „Begräbnis" und den ,, Steinklopfern"
VOM „BEGRÄBNIS VON" ORNANS" ZUM „ATELIER" 157
tritt diese Differenz noch nicht hervor. Er hatte beide Male
glückliche Eingebungen, Format und Farbe halfen ihm,
nicht ohne daß das vermittelnde Schwarz die Lösung
übereilte. Courbet sah die verheerende Rolle des Asphalts
und war allen Kompromissen zu abgeneigt, um sich mit
diesen Notbehelfen zu begnügen. Sobald er aber an den Er-
satz durch solidere Farben heranging, oder versuchte, den
Schatten wirksam zu machen, mußte das Problem in aller
Schärfe hervortreten. Dies geschah schon ganz deutlich
im nächsten Jahre, 1851, in den „Demoiselles de Village".
Courbet malte Landschaft und Figuren getrennt, jedes
in seiner Art unübertrefflich. Die Landschaft, die be-
lebte Kulisse des „Enterrement", wäre ohne die Figuren
ein wunderbares Meisterwerk; die Figuren, die drei
reizenden Frauen mit der kleinen Hirtin, ohne die
Landschaft eine köstliche Gruppe. Beide Dinge in dem-
selben Rahmen wirken wie von zwei verschiedenen Men-
schen gemacht, und ihre Zusammenstellung schadet.
Wir haben für diese Methode Courbets keinen ge-
ringeren Zeugen als Delacroix, der die „Baigneuses" des
Salons von 18531) einer scharfen, aber nicht ganz unge-
rechtfertigten Kritik unterwarf. Nicht nur der Mangel
an psvchologischen Beziehungen zwischen den beiden
nackten Gestalten, daß „die Geste nichts ausdrückte",
stieß ihn ab; auch das unmalerische Verhältnis der Figuren
zu ihrer Umgebung. Delacroix bewies das Recht seiner
Anschauung mit der Tatsache, daß er vorher im Atelier
*) Journal II, 159. In der Fußnote wird das Bild „Demoiselles de
Village" genannt und figuriert oft unter dieser Bezeichnung, die Courbet
auch im Katalog des Salons von 1853 gewählt hatte. Es ist nicht mit den
obenerwähnten „Demoiselles de Village faisant l'anmöne ä une gardienne
de vaches" aus 185 1 zu verwechseln. Ich nenne dieses stets ..Demoiselles
de Village", das andere, das heute im Museum von Montpellier hängt,
..Baigneuses". Beide Werke sind hier abgebildet. Das dritte Bild dieser
Reihe sind die ..Demoiselles au bord de la Seine" des Salons von 1857,
gemalt 1856, die beiden im Grase ruhenden bekleideten Damen, auf die
Proudhon seine Moralreflexionen, den Vergleich mit den Casseurs de pierre,
anwendete. Aus diesen ist hier ein Detail abgebildet.
i58 COURBET
Courbets die Skizze zu der Landschaft gesehen hatte.
Diese fand er auf dem Gemälde vergrößert, und die
beiden badenden Frauen waren von außen her dazu ge-
kommen; ein Verfahren, das auf diesem Bilde noch greller
als auf den „Demoiselles de Village" hervortritt, und das
niemandem mehr als Delacroix, dem Schöpfer der flüssig-
sten Malerei, mißfallen mußte. Ebenso beurteilte er die
„Lutteurs" und die „Fileuse" desselben Salons. Von den
ersten meinte er, der Hintergrund töte die beiden Fi-
guren, man müsse mehr als drei Fuß rund herum weg-
schneiden. An der „Fileuse" lobte er begeistert den
Spinnrocken und fand die Figur der Schlafenden an-
erkennungswert, tadelte aber die Schwere des Kleides
und des Sessels. Diese letzte Kritik scheint uns heute,
wenn wir vor der Perle des Museums von Montpellier
stehen, übertrieben. Mag sein, daß die Zeit die Differen-
zen verwischt hat, für die Delacroix so empfindlich war.
Sehr fein bemerkt Delacroix bei dieser Gelegenheit,
daß der Zusammenhang der Hauptsache mit den Neben-
sachen den meisten großen Malern der Vergangenheit ab-
gehe, und berührt damit den springenden Punkt, der
die moderne Kunst von der alten scheidet. Denn sicher be-
steht die ganze Entwicklung der Kunst in einer beständigen
Modifikation dieses Zusammenhangs. Man denke daran, wie
anders die Primitiven und die Maler des 17. Jahrhunderts
den Zusammenhang suchten. Bei den Flächendekorateu-
ren der christlichen Kunst wurden die Dinge durch große
Schriftzüge verbunden. Diese Verbindung löst sich bei
den Primitiven durch die Eroberung der Perspektive und
der Plastizität. Rembrandt und Velazquez vollbringen
die Konzentration der Erscheinung im Raum, Rubens
führt sie auf die Fläche zurück. Er ist wieder De-
korateur, aber wie anders wirkt diese Dekoration im Ver-
gleich zu den geschriebenen Ornamenten der frühsten
Epoche. Die Neuzeit, die beide Ideale besitzt, packt
VOM ..BEGRÄBNIS VON ORNANS" ZUM „ATELIER" 159
beide gleichzeitig an: Delacroix und Ingres. In Courbet
finden wir beide Ideale in einem und demselben Künstler.
Wir lernen daraus, wie arm unsere Sprache ist, um
die Gesetze der Kunst zu formulieren. In Worte gefaßt
scheint es sich immer nur um ein Aufnehmen und Auf-
geben derselben Begriffe zu handeln; der Grad, auf den
alles ankommt, wird nur durch die Namen der Künstler
deutlich, die ihn vollbringen. Wie wenig sagt heute, daß
Courbet ein Meister der Perspektive war, heute wo die
Perspektive in der Mittelschule gelernt wird und jeder
Aquarellist die kompliziertesten perspektivischen Dar-
stellungen fertig bringt. Wieviel sagt es, wenn wir die
,,Cribleuses de ble" im Museum von Nantes betrachten,
Courbets Meisterwerk des Jahres 1854. Man möchte
gern ein Urteil Delacroix' über dieses merkwürdige In-
terieur. Auch was Ingres dazu gesagt haben mag, wäre
wissenswert. Auf der Weltausstellung von 1900 stand
man davor wie vor einem Rätsel, und so mag man auch
in der Weltausstellung von 1855 davor gestanden haben.
Im Plastischen der Malerei ist Courbet kaum weiter ge-
gangen, und man begreift vor diesem Bilde leicht, daß
sein Autor eines Tages zur Bildhauerei greifen mußte.
Es ist das Plastische ohne Klassizismus, ein Vorkommen,
das es bis zu Courbet, von den Primitiven abgesehen,
in Frankreich nicht gegeben hat. Es hat etwas von
den großen alten Stillosen des Nordens, in denen alles
Natur, nichts Konvenienz scheint und nur die rück-
sichtslose Offenheit zur strengen Form wird. Das
Zimmer ist fast luftleer, nur von Formen gefüllt, aber
diese so genial getroffen, daß durch ihre scheinbar will-
kürliche Lage jeder Winkel des Raumes gleichsam nach
allen Dimensionen fixiert wird. Das knieende Mädchen,
das das Sieb schüttelt — About nannte es indezent —
ist ein ebensolches Wunder der Verkürzung wie, in einer
anderen Ordnung der Dinge, die Sibyllen Michelangelos.
160 COURBET
Von einem malerischen Zusammenhang der Einzelheiten
ist keine Rede; der Junge, der in den Getreidekasten
schaut, ist ein Spiel — beinahe ein Kunststück — für
sich. In der Gruppe der beiden Mädchen ergeben die
Formen einen unbeschreiblichen Reichtum von Ara-
besken; die modellierte Arabeske im Gegensatz zu der
linearen der Alten. Und wieder wirkt hier ähnlich wie
im „Begräbnis" die Koloristik als geheimes Bindemittel
unter den unverbundenen Massen. Nur ist das Schwarz
des Frühbildes ganz dem schönsten Blond gewichen, mit
dem das Grau und Rosa der Kleider so köstlich zu-
sammenklingt, als hätte Velazquez die fast unwirtliche
Sachlichkeit mit seinem Geiste angehaucht.
Derselbe Geist wirkt noch deutlicher seinen Zauber
in dem Riesengemälde des Jahres 1855. Das „Atelier"
ist wie ein Ruhepunkt im Aufstieg, eine Sammlung.
Die fünf Jahre zwischen „Begräbnis" und „Atelier"
sind keine durchaus entscheidende Epoche, die stärkste
Entwicklung hebt erst später an. Freilich, wer fände
sich in diesem Chaos von gigantischen Absichten, die
in einem Jahr begonnen, im nächsten abgebrochen,
zehn Jahre darauf fortgesetzt werden und dabei in
jedem Augenblick, wo sie in Erscheinung treten,
Meisterwerke hervorbringen, mit Sicherheit zurecht! Es
scheint fast, daß sich Courbet gegen seine eigene Ent-
wicklung sträubte, um nicht den Teil seiner Meisterlich-
keit zu opfern, an dessen Stelle das Neue zu treten ver-
mochte. Man kann in vielen gleichzeitigen Gemälden
heterogene Anschauungen nachweisen. Unmittelbar nach
den „Cribleuses", dem stärksten Argument für das Plastische
seiner Kunst, entsteht das weichste, tonreichste seiner
Werke, die Rekapitulation aller Dinge, die den Nach-
kommen der Spanier beschäftigten. Er drückte das in
seiner Art aus, indem er dem Titel im Katalog den pom-
pösen Satz hinzufügte „allegorie reelle, determinant une
- -
§ I
7. =■
f. .
VOM ..BEGRÄBNIS VON ORNANS" ZUM „ATELIER" 161
phase de sept annees de ma vie artistique"; eine absolute
Wahrheit, denn wirklich haben wir im „Atelier" den künst-
lerischen Extrakt eines Teils seines Wesens und Lebens.
Das Fatale daran lag wiederum nur in dem Umstand, daß
die Formulierung vom Autor selbst herrührte. Natürlich
lachte das Publikum, und die Kritiker hielten sich an
die Allegorie, glaubten mit Recht oder Unrecht, Courbet
habe damit nur wieder seinen Sozialismus anrufen wrollen,
weil sich auf dem Bilde alle möglichen Zeitgenossen, die
Beziehungen zu ihm hatten, und verschiedene Klassen-
typen, die er auch sonst gemalt hatte, um die Staffelei
gruppierten.1) Heute ist die Bedeutung dieser Menschen
J) So beschrieb Theophile Silvestre das Bild: .... .,11 s'est obstine
en diable dans ce titre qui ne signifie absolument rien dans aucune
langue. II entend resumer dans cette vaste machine tous les types vivants
et toutes les idees qui ont rempli sa vie et ses ouvrages, depuis sept ans.
On le voit au milieu de son atelier occupe ä peindre un paysage, pre-
texte ingenieux qu'il a pris pour nous presenter encore une fois son Por-
trait. Derriere lui, une femme nue personnine le modele vivant; un
monsieur et une dame figurent les gens du monde, qui de temps en
temps viennent le visiter; son ami Champfleury le regarde travaüler,
M. M. Bruvas et Promayet l'admirent sans reserve; Charles Baudelaire
lit dans un coin; des amoureux s'embrassent avec delices au fond de
l'atelier, ce qui signifie: vive l'amour libre!
Au pied du chevalet un marmot de cinq ou six ans l'examine, hebete;
une grosse irlandaise, souvenir lamentable des nies de Londres, est
accroupie et entortillee avec son enfant ä la mamelle dans un madras
en lambeaux qui voile mal son horrible nudite; le braconnier tenant ses
chiens en laisse; le faucheur, le terrassier expriment la rüde vie des
champs ; le proletaire des villes represente le chömage. Le Juif, le mar-
chand de vieux habits, vieux galons, le paillasse, le eure et le croque-
mort veulent dire: nous vivons de la credulite du monde, de sa mort
et de ses debris. Le sombrero ä plumes noires et le poignard qui rou-
lent dans la poussiere sont les emblemes de la poesie romantique, et la
tete de mort posee comme un serre-papier sur le Journal des Debats,
deploye sur un gueridon, c'est sans doute la reponse de Courbet aux
articles de cette feuille, ou bien la traduetion libre de cette phrase de
Proudhon: „les journaux sont les eimetieres des idees." (Histoire des
Artistes vivants, p. 264 etc.)
Courbet selbst schrieb über das Bild an einen Freund: „Le sujet de
mon tableau est si long ä expliquer que je veux te le laisser deviner
quand tu le verras, c'est Thistoire de mon atelier ce qui s'y passe
moralement et physiquement c'est passablement mysterieux devinera qui
pourra.'* (Der Brief, ein Spezimen der Courbetschen Grammatik, findet
sich in TArt, 1883, Band 34 und 35.)
i62 COURBET
und Dinge für den besonderen Fall verschwunden; wir
achten kaum noch auf die glänzende Charakterisierung
der Portraits, fragen uns nicht, wen sie darstellen. Wir
haben eine Dekoration wunderbarer Art vor uns.
Das Gemälde steht von allen Werken Courbets Velaz-
quez am nächsten. Es ist eine Unterwerfung unter die
Manen des großen Spaniers, wie sie nicht würdiger ge-
dacht werden kann. Denn sie bringt nicht das Opfer
der Persönlichkeit mit sich. Kein Klischee wird aus
Velazquez gemacht, nichts Gefälliges, was diesem nicht
gefallen hätte. Ein Meister bringt einem anderen seine
Huldigung dar und dient sich und dem Vorgänger.
Das „Atelier" ist das lyrische Pendant zu dem „Begräbnis",
ebenso sehr lichte Grazie und Lieblichkeit, wie das andere
finsterer, wuchtiger Ernst. Es ist leichter, lockerer kon-
struiert, ein in die Tiefe gehender Halbkreis statt der
erdrückenden Front des „Begräbnisses". Wo sich in diesem
die kolossale Felsenlinie ausdehnt, schließt die Atelier-
Wand mit den malerischen Bilderflecken, in demselben
Velazquez-Ton des anderen Hintergrundes, die Szene.
Das Zentrum ist der Maler in tiefgrauer Jacke mit dem
schönen Profil vor dem köstlichen Bild — einer braunen
Baumlandschaft mit blauem Himmel — eng verbunden
mit dem nackten, wundervoll profilierten Modell, dessen
Fleisch, in natürlichem, rötlich grauen Ton, das ganze
Gemälde mild beleuchtet. Der Junge zur Linken des
Malers ist die lebendigste Stelle, konzentriertes Grau mit
stark leuchtendem Fleisch; eine Reminiszenz des köstlichen
Chorknabens auf dem „Begräbnis", aber von wärmerer,
schlichterer Natur. Der Stoff auf dem Boden neben
dem nackten Modell produziert den Rosa-Ton des Velaz-
quez. Von diesem reichen Zentrum entweicht die Farbe
in alle Winkel des großen Saals. Es ist das Verfahren,
das Velazquez in seinen Einzelportraits der Infantin an-
wandte, auf das Monumentale übertragen. Was in den
VOM „BEGRÄBNIS VON ORNANS" ZUM „ATELIER" 163
Bildern des Spaniers das Gesicht ist, wird hier zur Gruppe
in der Mitte; die phantastische Coiffure ist hier das
Rankenwerk der grotesken Nebenfiguren, und noch im
Dunkel regen sich Formen und Gesichter. Courbet
profitiert nicht von dem gefälligen Schatten, den Velaz-
quez um so viele Reize legte, daß sich manche seiner Nach-
kommen noch heute mit der Malerei des Nimbus begnügen,
ohne den Körper zu geben, von dem er ausstrahlt. Er bleibt
immer körnig, simuliert nicht die Form, sondern malt sie.
Sein ruheloses Können schafft in dem Umhang der fabel-
haften Frauenfigur auf der äußersten rechten Seite ein
Prunkstück, das an die Ornamentik auf den Stoffen flä-
mischer Meister erinnert. Kein Kompromiß, lieber von
der Einheitlichkeit opfern. Wo andere sich nach reich-
licher Anstrengung mit ein paar gefälligen Strichen be-
gnügen würden, um die äußersten Grenzen des Bildes
anzudeuten, malt Courbet naturgetreue Portraits.
Das Gemälde genießt in der Sammlung Desfosses einen
nur selten unseren Bildwerken gegönnten Vorzug. Ihm
zuliebe hat sich die Begeisterung eines Kunstfreundes
zu einer königlichen Tat entschlossen. Der Besitzer hat
ihm einen eigenen Raum geweiht. Es ist ein riesiger
Oberlichtsaal von prachtvollen Verhältnissen und mit
denkbar größtem Prunk ausgestattet. Schwere goldene
Architektur wechselt mit regelmäßigen Feldern vieler
Gobelins, die das Auge an eine graublaue Basis gewöhnen.
Am Kopf des Saals, die ganze Breite einnehmend, ist
das Gemälde in große goldene Pilaster eingelassen1). Der
Eindruck ist gewaltig. Er liefert einen Beweis einzig in
seiner Art, daß dieser viel geschmähte Realismus, dessen
Daseinswert man zuweilen auf unwesentliche Wahrheits-
bestätigungen beschränkt glaubte, mit der größten Kunst,
J) Es dient gleichzeitig als Vorhang einer Bühne und kann, wenn
das Theater benutzt wird, in den Boden versenkt werden. Diese Ver-
wendung hätte den Realisten nicht sonderlich begeistert, schmälert aber
durchaus nicht den höheren Nutzwert des Bildes.
164 COURBET
die je die Kirchen und Paläste schmückte, in Konkurrenz
zu treten vermag; daß es nicht zwei Künste gibt, eine
monumentale und eine andere, sondern nur eine, die Kunst
des Schönen. Kein Primitiver würde hier besser wirken.
Man denke sich den,, Frühling" Botticellis an die Stelle, oder
das Altarwerk eines alten rheinischen Künstlers. Die
Wirkung wäre zweifellos stärker, infolge des sichtbareren
Ausdrucks der architektonischen Linien, und um so über-
raschender, je weniger sich der Betrachter in diesen Linien
wiederfände. Daß die Fremdheit im Werke des Modernen
vermißt wird, kann nicht als Mangel gelten. Jeder wahr-
haft Lebendige wird es als Vorzug preisen. Und daß
die Kraft hier kleiner sein soll, sagt nur der Hang zu
jener Fremdheit und die Ungeduld des ersten Augenblicks,
die sich der stilleren Wirkungen entzieht. Mir gab der
Saal ein unerschütterliches Vertrauen in unsere Kunst
und bestätigte mir die geheime Abwehr gegen alles, was
nicht dem natürlichen Instinkt der Persönlichkeit ent-
springt. Den Botticelli hätte ich ehrerbietig gegrüßt,
doch ihn hier weniger zu Hause als in der Vorratskammer
der Florentiner Akademie gefunden. Willkommener wäre
mir vielleicht das wundersame Abendmahl aus S. Salvi
gewesen mit seiner uns schon so nahen Harmonie, und
doch konnte mir auch del Sarto in diesem Moment
nicht so vertraut werden wie Courbets unfrommes Werk.
Ich kam, als ich zum letztenmal das „Atelier" sah,
gerade von den Primitiven in Düsseldorf und war In-
begriff, zu den Sienesen zu fahren. Unser bewegliches
Dasein beschert uns Empfindungen, von denen sich unsere
Grossväter in der Postkutsche nichts träumen Hessen. Der
Gegensatz war fast unerträglich, wenn ich vor dem
rosigen Blond des Modernen an das schaurige Altarstück
des alten Niederrheinländers dachte, eines der wilden
Grandiosen, die uns auf der Düsseldorfer Ausstellung
entzückt hatten. Und ich empfand auf einmal einen
VOM „BEGRÄBNIS VON ORXAXS" ZUM „ATELIER" 105
leisen Widerwillen, weniger vor jener primitiven Kunst
als vor dem Grad von Lüge der eigenen uneingestandenen
Schwäche, die sich vor keiner Stärke zu retten weiß, vor
unserer allzubeweglichen Rundreise-Empfindung.
Am dankbarsten wird man vor dem ,, Atelier" an Velaz-
quez, an Rubens und Rembrandt denken. Auch zwischen
diesen und uns liegen Jahrhunderte, und doch sind sie
uns ganz unverhältnismäßig näher als die Primitiven.
In abermals dreihundert Jahren, wenn sich die Spanne
verdoppelt hat, und die Zeitdifferenz zwischen Velaz-
quez und den Vorgängern entsprechend geringer scheint,
werden Velazquez und die anderen den Malern, die dann
leben, nicht fremder geworden sein. Und in aller Ewigkeit,
solange nur gemalt wird, wird man diese großen Maler als zu
der Kunst, nicht zur wandelnden Zeit gehörig schätzen,
wie es uns schon heute mit den großen Griechen geht.
Woraus gewinnen wir das eigentliche Recht solcher
Zuversicht, die viel zu mächtig, zu reich an hunderterlei
bestätigenden Symptomen ist, um Einbildung zu sein?
Man ist nie so gut zur kunstgeschichtlichen Forschung
aufgelegt als vor ausserordentlichen Bildern. Man denkt
mit dem Auge, kontrolliert rapide; es ist, als rufe ein
solcher Eindruck alles wach, was für und gegen ihn
spricht. Mit der Schärfe, mit der wir das gegenwärtige
Werk erfassen, begreifen wir die abwesenden, weil es ja
nicht das Sehen allein ist, das uns die Kunst erschließt,
sondern jener dem Schaffen verwandte hellseherische Zu-
stand, in dem sich unsere, lebendige Kraft gewordene
Erfahrung mit tausend schönen Erinnerungen stärkt.
Man kommt jenem Grund näher, wenn man vorsichtig
die einzelnen Effekte prüft, die uns in solchen Momenten
alle möglichen typischen Werke bereiten. Der Rhein-
länder oder Westfale in Düsseldorf schlug mit seinen
grimmigen Grotesken die Seele zu Boden. Man wäre
damals unfähig gewesen, sich an der warmen Modellierung
i66 COURBET
des Courbetschen Aktes zu freuen. Die Empfängnis befand
sich in einem anormalen Zustand, wie brutalisiert von
einem plötzlichen, fast tierischen Instinkt. Ich weiß noch,
daß mir der schöne Teint der Freundin, mit der ich vor
dem Bilde stand, weh tat, und ich mich nach noch krasseren
Dingen sehnte, als da gemalt waren. Kein schlechtes
Bild, von den Gelehrten hoch geschätzt, von Ästhetikern
umschwärmt; wie wirksam es noch nach 500 Jahren war,
dafür zeugte meine Ergriffenheit. Nur wirkte es auf ganz
andere, mindere Empfindungen als der Coürbet. Dieser
war mir wie ein großes menschliches Gesicht meiner Zeit.
Ich entrückte dem Tag nicht, sondern kam ihm näher,
kam mir selber näher, erkannte Dinge in mir, die mir
notwendig schienen, legitimierte mich damit und meinen
Instinkt. Der Primitive führte mich abseits. Nicht was
er darstellte, entfernte mich — unsereins sieht keine Legen-
den mehr — sondern wieer's machte : das wilde Eingekerbte,
Eingebrannte seiner Inbrunst, das tief Unterwürfige nicht
seines Märtyrers, sondern seiner eigenen Seele, das Hohn-
lachen nicht seiner Häscher, sondern seiner eigenen Emp-
findung. Nicht seine Legende, sondern die Eindringlich-
keit, mit der er sie mir vorhielt, stieß mich ab. Er ap-
pellierte an arme Augen, tat so, als sei ich fühllos, als
müsse er hundertmal mechanisch wiederholen, was mich
beim ersten Blick ergriff. War stets dasselbe, ein finsterer,
meinem Wesen fremder Vorgang, der unerschütterlich,
ewig unveränderlich vor mir blieb und durch die Starr-
heit seines unverrückbaren Blickes den meinen gebannt hielt.
Vor solchen Bildern betete man. Die Angst brachte
zur Gottheit. Und noch heute tut man nicht viel
anderes vor ihnen. Den Genuß umschlingt ein un-
bewußt simuliertes Beten, das Stammeln von Sinnen,
die nicht mehr mit dem Geist verkehren: Hypnose.
In anderen milderte sich der Eindruck. Wir regten
uns erleichtert bei dem Behagen Schongauers, empfanden
VOM „BEGRÄBNIS VON ORXANS" ZUM „ATELIER" 167
wie einen Gruß die Milde des frommen Stelldicheins
am Brunnen von Jan Joest, die Beschaulichkeit Alarmions
Hess uns plaudern. Das Gesicht verliert die Starre.
Stephan Lochner lächelt. Nicht etwa der sanftere
Vorgang, sondern die Art, wie er dargestellt ist; die
leise Bewegtheit des Menschen, der das malte, der
sich heute noch regt. Warum nennen wir das sich
Regende ebenso Malerei wie das Starre ? Man sieht Lochner
nie mit denselben xA.ugen; er lebt mit uns, seine tausend
Töne der einen Farbe geben immer neue Gebilde. Warum
malte er nicht einfach blau oder rot wie der Primitive,
sondern bereitete sich die Farbe erst im Bilde, machte
sie zu etwas jenseits vom Vorgang, zum zweiten eigent-
lichen Sakramente und zum Abbild seiner Eigenheit!
So gab es damals in Düsseldorf noch tausend andere
Unterschiede zwischen Menschen und Zeiten. Der
mächtigste aber kam, wenn man zu dem oberen Stock-
werk der Ausstellung hinaufstieg, wo gleich im ersten
Saal der Cuyp hing und der Christ an der Säule von
Rembrandt und das lachende Selbstporträt. Mit einem
Mal rückte alles andere auf ein tieferes Niveau, man kam
sich vor wie zur Freiheit emporgestiegen. Ein buntes
Leben. Lachen tönte aus ernsten Rahmen, unterdrücktes
Schluchzen aus heiteren Bildern. Alle sprachen miteinander
und sprachen mit uns, und man erlaubte sich beinahe, mit
Rembrandt zu diskutieren. Das ist Malerei. Das Malen
fing an, als die Menschen in der Kunst anfingen, und die
Legenden aufhörten, als man vor Bildern nicht mehr
das Beten simulierte, sondern die Seele sich begeistert und
bewußt vor großen Persönlichkeiten zu Füßen streckte.
Zu dieser Kunst gehört Courbets große Dekoration.
Man hat für seine Art und die des Primitiven nur dasselbe
Wort : monumental. Es schildert die gesteigerte Geistesart
zweier verschiedener Welten. In der einen muß man
das Dasein vergessen, um genießen zu können, in der
i68 COURBET
anderen muß man genießen können, um sich des Daseins
zu freuen.
Welche von beiden höher steht — eine Entscheidung,
die, das Interesse des Liebhabers weit überspringend, sich
an den tiefsten Impuls dem Schönen zugeneigter Per-
sönlichkeiten wendet — darüber kann nur im Zweifel
sein, wer den Umfang der Frage noch nicht erkannt hat.
f. z —
DIB RIMOBB.
Berlin, bei Paul Oiwirir.
LES BAIGN'EL'SES, 1853.
Museum von Montpellier.
LE REPOS, 1855. 0,50X0,65.
Photo Durand-Ruel.
LE FAISEUR DE CHAIR
DER Einfluß des Velazquez erscheint ebenso deutlich in
vielen anderen Werken derselben Zeit, auch noch in
dem „Rencontre" oder „Bon jour, Monsieur Courbet", der-
selben Weltausstellung von 1855, heute im Museum von
Montpellier, mit dem der junge Meister seinen ersten Ver-
ehrer Bruyas, den Käufer der „Casseurs de pierre", der
,,Baigneuses", „Fileuse" u.v.a. verewigte. Aber gleichzeitig
erhält sich das Gegenteil des Velazquez, die starke Model-
lierung. Auf dem ,, Rencontre" erscheinen die Profile der
drei Gestalten wie ausgeschnitten vor dem hohen Horizont,
zumal der prachtvolle Kopf des Malers mit dem viel ver-
spotteten „assyrischen" Profil; und dabei glaubt man ebenso
scharf alle anderen Ausdehnungen der Körper vor sich zu
172
COURBET
haben. Beide Tendenzen sind in den „Demoiselles au bord
de la Seine" von 1856, sogar noch in dem 1863 entstandenen
Gruppenbild der Familie Proudhon deutlich, das heute im
Petit Palais hängt. Wie die beiden Daten links auf dem
„Proudhon" und die Angaben des Katalogs der Courbet-
Ausstellung von 1882 berichten, malte der Künstler den
Freund aus dem Gedächtnis, wie dieser ihm 185 3, zwölf Jahre
vorher, auf der Schwelle seines Hauses sitzend, erschienen
war. Diese ein wahres Phänomen von Gedächtnis enthül-
lende Entstehungsgeschichte, wäre leichter begreiflich, wenn
Courbet mit dem Bilde ein psychologisches Denkmal ver-
sucht hätte, was zumal bei der Art seiner Beziehungen
zu dem Philosophen nahe lag. In Wirklichkeit ist das
Bild treuste Sachlichkeit und mehr rein künstleri-
sches, fast mathematisches Problem als irgend ein an-
deres. Die Beibehaltung des Plastischen in der Ver-
kürzung der Hauptperson grenzt ans Unglaubliche.
Dabei die verblüffendste Wahrscheinlichkeit des Porträts
und Sachlichkeit aller Details. Die blauen Hosen, der
weißgraue Kittel sind in jeder Falte exakt. Man wird
nicht ganz den Eindruck los, daß der Künstler sich hier
festmalte, den Körper zu genau fixierte, als dass es noch
gelingen konnte, das unentbehrlich Bewegliche zu be-
halten. Dazu trägt auch das gedrückte Format bei
und der Mangel des Zusammenhangs mit der Gruppe
auf der rechten Seite. Die Kinder, in Momentposen,
sind ein Bild für sich von raffiniertestem Kolorit; ein
Resedaton in den Kleidern, durchleuchtet von dem
jungen Fleisch in zartestem Rosa; eine scheinbar schwim-
mende Malerei von vollendeter Meisterschaft. Nichts von
alledem fand Gnade vor den Augen der Kritiker. Selbst
halbe Anhänger wie Bürger schimpften, und noch heute
gilt das Werk des „mangelnden Geistes" wegen für mäßig.
In der 1896 erschienenen Biographie von Estignard, frei-
lich ungefähr der schlimmsten Arbeit, die über den Maler
LE FAISEUR DE CHAIR 173
verbrochen wurde, wird das Bild mit erstaunlicher
Sicherheit wie die kindlichste Stümperei behandelt.1)
Solche Kritik war kein Kunststück. Die Fehler in den
„Demoiselles au bord de la Seine", dem „Proudhon" und
vielen verwandten Werken springen in die Augen. Daß solche
Bilder daneben kostbare Dinge enthalten, daß ihre ganze
Art das Aburteilen nach einem von jedem mittelmäßigen
Maler erfüllten Kriterium nicht zuließ, daß es ungeheuer
leicht gewesen wäre, den Cribleuses oder Demoiselles be-
schaulichere Posen zu geben, den Proudhon ohne die
Kinder oder die Kinder ohne Proudhon zu malen, ent-
ging den Gestrengen. Courbet fehlte ein Stück Har-
monie, das lassen solche Werke nicht verkennen; nur darf
man nicht übersehen, daß dieser Mensch größere Kom-
plexe zu bewältigen hatte, als andere. Der unerbittliche
Vorwurf gegen ihn gehört in die Kategorie der Tadel,
die man Michelangelo Jahrhunderte nachzureden wagte,
und bei denen ein anmutiger Knabe besser wegkam als
das größte Genie der Menschheit. Menschen, die sich
ganz erschöpfen, müssen Fragmente zeigen. Der Mangel
ist Folge ihres Reichtums, ihres ganz aufs Produktive
gestimmten Wesens, ihres Hasses auf jeden Kompromiß.
Was ihnen fehlt, besorgen die Nachkommen, die sich um
solche Genies sammeln wie die Jünger um den Christ
und das ihrige tun, das Gold in Münze zu prägen.
Aber in Wirklichkeit war der Vorwurf artistischer Art
nur ein Vorwand, hinter dem sich die Abneigung gegen
ganz andere Seiten Courbets versteckte. Nicht daß seine
Mathematik an gewisse Grenzen stieß, empörte das Publi-
kum, nicht die Art seiner Rechnung, sondern daß er
überhaupt rechnete. Was man ihm vorwarf, war das
1) Courbet, sa vie, ses ceuvres par A. Estignard (Besancon, Dela-
grange-Louys, 1896). Schnurrigerweise meint der Autor, Proudhon selbst
sei über das Bild entsetzt gewesen (S. 52), berichtet aber hundert Seiten
nachher (S. 163) gan» richtig, daß das Slodell nicht mehr am Leben war.
als es von Courbet gemalt wurde.
17+
COURBET
Gegenteil der Kritik, die man formulierte. Es gelang
Courbet nur zu gut, was ihm die Leute als Mißlingen
auslegten; denn sie schrien nicht weniger vor seinen
Einzelfiguren, wo der Tadel selbst die relative Be-
rechtigung verlor, vor seinen Einzelportraits oder seinen
Schilderungen nackten Fleisches, ja, die waren vielleicht
die verhaßtesten Werke. Diesem Haß gab Courbets
Entwicklung in den sechziger Jahren die denkbar größte
Nahrung. Als Sozialist, als der er — wir sahen mit welchem
Rechte — während der fünfziger Jahre der Menge er-
schien, wurde er harmloser genommen. Man diskutierte
seine vermeintliche Philosophie und fand darin möglicher-
weise ein Füllsel leerer Stunden, den Reiz des Kontrastes
zur lustigen Zeit des zweiten Kaiserreiches. Nachdem
Courbet sein auf die ,, reelle Allegorie" zielendes Gelüst
befriedigt und genug revolutionäre Dinge gemacht hatte,
malte er nur noch und wurde Revolutionär in einem Sinne,
für den dem echten Bourgeois alle Begriffe fehlten.
Die Neuerung steckt namentlich in den Landschaften.
Schon in den fünfziger Jahren hebt die große Serie der
Wald- und Jagdbilder an. Im Museum von Marseille
hängt ein Hirsch aus 1853. Vier Jahre darauf entstand
die Jagdszene „La Curee" mit dem am Baum hängenden
Wild, dem Jäger, dem blasenden Treiber und den beiden
Hunden. In die sechziger Jahre fallen die berühmtesten
Waldbilder. Am Schluß der Reihe steht das merkwür-
dige Halali mit dem verendenden Wild und dem Reiter,
im Museum von Besancon; die dramatische Szene einer
Treibjagd in prachtvoller Schneelandschaft, das letzte
große Figurenbild. Noch einmal ein riesiges Format,
die Apotheose dieser Seite des unerschöpflichen Meisters.
Der Louvre besitzt auch aus dieser Periode annähernd
das Beste, wie ja überhaupt Courbet bis vor kurzem glän-
zender und übersichtlicher im Louvre vertreten war als
irgend einer seiner Zeitgenossen. Erst die schöne
LE FAISEUR DE CHAIR 175
Sammlung Thomy Thiery mit ihren Perlen der Generation
von 1830 hat das Verhältnis gerechterweise verschoben.
In dieser Periode von 1853 bis Ende der sechziger Jahre
entwickelt Courbet seine Landschaft. „Le Alirage",
die grosse Teichlandschaft aus 1855, die vor kurzem in
Berliner Privatbesitz überging,1) zeigt bei all ihrer
eigentümlich lyrischen Schönheit eine gewisse Zahm-
heit der Behandlung. Die „Curee" scheint, mit dem
,, Halali" verglichen, trotz großer Reize in der Model-
lierung hart und stumpf; Hunde, Menschen und Bäume
sind gewissenhaft detailliert, aber bleiben isoliert, der
Wald wirkt nüchtern, man zählt die Bäume. Welche
Masse von Schönheit aber in dem Bilde steckt, kann
man an dem Gemälde des Mesdag- Museums sehen, das
ein Hauptdetail der „Curee" darstellt. Courbet, der
vielleicht selbst die unökonomische Verschwendung merkte,
nahm das tote Reh ungeändert heraus und machte dar-
aus eins seiner herrlichsten Bilder. -) Hier fließt das
Grün des Waldes um das prachtvolle Braun der Stämme.
Das hängende Tier im Vordergrund degradiert dasselbe
Braun in allen Tonarten. So umhüllt die kostbarste
Tonmalerei die gewaltige Plastik der Erscheinung und
treibt zu einer geradezu einzigen Wirkung. Nicht nur
im Mesdag-Museum, wo es nicht an schönen zeitgenös-
sischen Bildern fehlt, behauptet dieses Werk einen Ehren-
platz. Man möchte es mal im Mauritshuis sehen, an
der Seite der besten alten Holländer. Ich glaube nicht,
daß es vor irgend einem der Glorreichen zurückstände.
Der Vergleich ließe sich ohne alle konditionellen Er-
wägungen vornehmen. Man braucht nicht wie bei so
vielen Modernen Reserven irgendwelcher Art zu machen
') Sammlung Schwabach, Kerzendorf bei Berlin.
2) Das Bild scheint 1855 datiert. Doch dürfte die Zahl (sie ist nicht
mehr deutlich erkennbar) wohl richtiger 57 heißen. Es ist wenigstens
kaum anzunehmen, daß dies Fragment früher als die „Curee* entstand,
die 1857 gemalt wurde.
i76 COURBET
und darauf hinzuweisen, daß unsere Zeitgenossen anderen
Idealen dienen als die alten Leute. Das Bild ist ganz
genau so gemalt wie ein alter Holländer. Beim Abtasten
mit der Hand rindet man nicht eine unebene Stelle.
Ganz so geht es dem Abtasten des Auges. Es gleitet
geschmeidig über die große Fläche und sättigt sich an
allen Teilen, ohne irgendwo haften zu müssen. Die
Schönheit des Materials, die man, ganz abgesehen von
dem Kunstgehalt, bei alten Meistern als eine besondere,
sagen wir, kunstgewerbliche Gabe noch mitgeschenkt
bekommt, hat Courbet hier und in vielen anderen Werken
gleichfalls dazu gegeben. Wir haben uns gewöhnt, von
diesem Vorzug abzusehen, und er ist in der Tat nicht
entscheidend, war es schon nicht mehr, als der ältere Rem-
brandt seine Flächen zu schmieden begann, und mußte
eines Tages zugunsten anderer wichtigerer Momente
aufgegeben werden. Es bleibt bei alledem merkwürdig
genug, daß gerade der Fortschrittler der neuen Malerei
in einem seiner typischsten Werke den Alten nahe blieb
und die Vorschrift der Gildenmeister glänzend erfüllte.
Der große ,, Combat de Cerfs" von 1861, den Courbet,
soviel ich weiss, während eines Aufenthalts in Frankfurt
malte1), spielt in dieser Periode eine ähnliche Rolle wie
vorher das „Atelier" und das „Begräbnis". Er sammelt
die Resultate und breitet sie einheitlich aus. Da das Bild
im Louvre die wenig vorteilhafte Stelle in der Nähe des
Plafonds einnimmt, die man friedlichen Schulbildern zu
geben pflegt, so gelangt der Besucher selten zu einem
lebendigen Verhältnis. Es ist wie die meisten Gemälde
dieser Zeit dünn gemalt, von sehr beschränkter Palette
und birgt eine der schönsten Kompositionen des Meisters.
Vor dem geradlinigen System von Bäumen bilden die drei
*) Aus dieser Zeit besitzt Trübner ein Selbstporträt Courbets. Nach
Bayersdorfer war Courbet damals ein ganzes Jahr in Frankfurt. Aus
der gleichen Zeit datiert der Einfluß auf Viktor Müller, der so segens-
reiche Folgen haben sollte.
LE FAISEUR DE CHAIR 177
Hirsche ein kühn geschwungenes Ornament. Die glück-
liche Wahl der Pläne, das äußerst günstige Verhältnis der
Gruppe zum Format und die ruhige Harmonie der Farben
sorgen für die ganz ausgeglichene Wirkung. Das Bild
ist eine Freske neuen Stils. Wäre es wie das „Ate-
lier" aufgestellt, so würde man in ihm einen der selten-
sten Belege für die Monumentalkunst Courbets finden.
Denn diesmal hat er eine Komposition getroffen,
die trotz des Riesenformats das ganze Bild gleichmäßig
beteiligt. Als Begleitstücke des Werkes, das hoffentlich
einmal eine würdige Aufstellung erhält, könnten die
anderen Gemälde desselben Salons von 1861 verwendet
werden, die fast sämtlich das Weidwerk illustrieren. Die
Ausnahme machte die „Roche Oragnon", eine Felsenpartie
des Tales von Maizieres, die Theophile Gautier für das
WTerk eines „magistralen Talentes" erklärte und in der
sich bereits eine neue Phase Courbets meldet. Um die
Mitte der sechziger Jahre, als die großen Waldbilder
des „Puits Noir", die „Remise de Chevreuils" u. s. w. ent-
standen, kommt die Landschaft Courbets zur Blüte.
In der besten Zeit drängen sich Courbets Gaben zu
einem geschlossenen Ausdruck zusammen. Die Kraft,
die sich vorher auf Einzelheiten bedeutender, aber mit-
unter problematischer Art gerichtet hatte, floß jetzt in
eine einzige gewaltige Form. Form klingt gewagt, wo
es sich um Rhythmen des Pinsels handelt. Einem engen
Spezialisten mag die Modellierung des „Proudhon" for-
maler als die Materie des „Puits Noir" erscheinen.
Courbet selbst war sich darüber offenbar im unklaren.
Denn er dachte nicht daran, konsequent festzuhalten, was
ihm in Momenten glücklichster Eingebung gelang : die in
einem einzigen Rhvthmus wogende Fläche. Selbst
auf seinen glänzendsten Werken dieser Zeit ist noch ein
auf Reflexion, nicht auf Instinkt zurückgehender Rest
von Materialverschiedenheit zu spüren, sobald er sich der
i78 COURBET
Staffage bedient. Die Rehe auf der ,, Remise de Chev-
reuils" — das Erlauchteste von Tiermalerei — sind
immer noch nicht vollkommen gelöste Bestandteile des
Bildes. Noch in der kolossalen „Siesta" des Jahres 1868,
heute im Petit-Palais, kämpft die Gewalt des Braun-
Weiß der Rinder mit dem Grün der Landschaft. Freilich
ist dieser Kampf ein grandioses Schauspiel, und was man
dagegen sagen kann, sind geringfügige Reserven. Immer-
hin genügt der Einwand, um die Landschaften ohne
Staffage, wie den „Ruisseau du Puits Noir" des Louvre
und die von Haro vor einem Dutzend Jahren nach Ame-
rika verkaufte Variante höher zu stellen. In ihnen tritt
der Fortschritt, den Courbet in der Entwicklungsgeschichte
bedeutet, und zugleich seine Größe am deutlichsten hervor.
Dieser Fortschritt beruht auf der Erkenntnis, daß das
Ding an sich in der Kunst keine Rolle spielen darf, und
daß man es unterdrücken kann, ohne sich eines über-
lieferten Stilmittels zu bedienen; daß nur die Kraft sich
behauptet; daß die Form eines Baumes, und sei sie noch
so schön, nicht imstande ist, den Wald zu ersetzen; daß
das einzelne nicht das Organische der Masse enthält.
Ich glaube nicht, daß Courbet durch Reflexion darauf
kam, denn latent ist diese Einsicht in allen seinen Ge-
mälden der Frühzeit zu spüren, und ganz ohne sie wäre
auch der größte Maler nicht imstande, Kunstwerke her-
vorzubringen. Der Fortschritt war vielmehr eine logi-
sche, man könnte sagen, selbsttätige Folge der Früheren.
Zola nannte ihn einen Faiseur de Chair und hatte dabei
nur die Weiber des Meisters im Sinn, die„Femme couchee",
die „Femme ä la vague", die „Femme au perroquet" und wie
sie sonst noch heißen; die Namenlosen, von denen Courbet
die animalische Art, das Elementare ihres Wesens malte.
LE FAISEUR DE CHAIR 179
Wieder meldet sich die Erinnerung an die alten
Meister. Wir haben herrliche nackte Frauen von Tizian
und seinem Kreis und von Rubens. An beide denkt
man vor Courbets Gestalten, ohne sie zu der Art des einen
oder anderen rechnen zu können. Sie sind zu ungestüm
für das ruhig atmende Fleisch der Venezianer und zu
gelassen für die Rubenssche Pracht. Das Blond auf
manchen Bildern und wie sich das Haar um die Haut
legt, mag an den Flamen erinnern, die Pose wiederum
Tizian nahe erscheinen. Es ist noch etwas anderes
darin, das Tizian nur im Vorübergehen lockte und
das uns zu gemäßigt erscheint, um es mit der größten
Gabe des Rubens zu vergleichen: die Darstellung des
Fleisches um des Fleisches willen. Man wird natürlich
am leichtesten Beziehungen zu der Fleischmalerei Rubens'
finden. In den „Baigneuses" sind sie sogar in der Wahl
des Motivs deutlich. Nachher aber entfernt sich Courbet
durchaus von dem größten Verherrlicher der Frau. Rubens
hatte ein glänzendes Schema für das Nackte. Seine
entblößten Märtyrer zeigen immer dasselbe bläuliche
Grau, seine Frauen immer dieselbe Pfirsichblüte, auch
wenn die Harmonie des Bildes nicht unbedingt auf
diese Farben gestimmt ist. In seinen eigenhändigen
Werken, zumal in den besten, ist die Harmonie getroffen;
die anderen Farben richten sich nach der des Fleisches
und überziehen diese zuweilen mit vermittelnden kon-
trastierenden Tönen. In anderen reißt die großartige
Komposition und die Verve des Pinsels den Betrachter
mit sich fort, auch wenn ihn die Farben verstimmen.
Selbst in den vollkommen harmonischen Gemälden ist
es scheinbar nicht so sehr die beruhigende Harmonie, die uns
entzückt, sondern die Lebhaftigkeit der Bewegung, die uns
erst nach einer herrlichen Treibjagd aufregendster Art die
Beschaulichkeit gönnt. Im Anfang bestürzt uns ein
Chaos, und Rubens' Größe macht, daß wir des Chaos
180 COURBET
Herr werden. Courbet geht ganz anders vor. Er
malt seine nackten Frauen mehr wie die Holländer
ihr Stilleben. Ein sehr reizendes Beispiel hängt im
Mesdag- Museum. Hier ruht eine blonde zarte Ge-
stalt auf einem Bett mit rotem Kissen. Den grauen
Hintergrund deckt zum .Teil ein Vorhang aus dunklem
Olive. Das Grau kommt sanfter in den Falten des
weißen Lakens wieder und noch gemäßigter im Fleisch,
wo es sich mit einem sehr zarten Ton des roten Kissens
paart. Wie diese Farben stehen alle anderen zu ein-
ander in wohl geordneter Beziehung, teils in warmen
Kontrasten, teils in organischer Mischung.1) Vermißt
wird jede bedeutungsvolle Geste, jedes Moment, das
zum Dramatischen treiben könnte. Dagegen sind die
Formen vollendet plastisch gebildet und wundervoll
in den Raum komponiert. Die Frauen liegen so, wie
man einen angenehmen Gegenstand nicht besser legen
kann, um ihn so günstig wie möglich mit den anderen
Dingen desselben Rahmens zusammenzubringen.
Pls versteht sich, daß dies kein neues Verfahren ist,
das Courbet entdeckte. Die Schönheit jedes Gemäldes
geht, mehr oder weniger kontrollierbar, auf dasselbe
Prinzip der Anlage zurück. Nur liefert in allen anderen
Gemälden von der Frau der bewußte oder unbewußte
Symbolismus des Künstlers eine entscheidend erscheinende
Zutat. Dieser hebt die Frau durch eine geistige Beziehung
hervor, malt sie deshalb, sei es auch nur in Nuancen
anders wie den Rest und läßt unseren Genuß von der
Schönheit des Hervorgehobenen auf das übrige des
Bildes zurückstrahlen. Tizians ruhende Venus, in der
Tribuna, ist die Königin des Bildes, die mit ihrer Schön-
heit spielt. Ein Hauch von ihr ruht auf allen Dingen
des Gemachs. Rubens Weiber in den Bacchanalen teilen
') Auch die Harmonie der beiden hier wiedergegebenen Bilder mit
ruhenden Frauen ist auf ähnliche Art gewonnen.
LE FAISEUR DE CHAIR 181
ihre Raserei den Genossen mit, oder, was sie und ihre
Genossen treibt, ist ein wilder Liebesinstinkt, der schnell
die Brücke zu unserer Deutung schlägt und das durch
den Pinsel rücksichtslos Zusammengefaßte zur gesteiger-
ten Empfindung wandelt. Auch für Courbet bleibt die Frau
die Hauptperson, aber nur insofern, als sie sich von
einer Gardine oder einem Kissen oder irgend einem
anderen Gegenstand durch den größeren Reichtum an
Flächen und Linien, an Farbe unterscheidet. Die Frau
ist nur das reichste Detail des Bildes, nicht das Subjekt.
Er unterstreicht dieses Verhältnis, faßt die Frau so äußer-
lich wie möglich und erfaßt dadurch ihre allein darstell-
baren Eigenschaften mit bewunderungswerter Intensität.
In dieser Anschauung machte Courbet Fortschritte.
Er übertrug seine Auffassung der „Chair", die in allem,
was gemalt werden kann, nur Materie erblickt, auf die
ganze Natur und gelangte notwendig da zur größten
Wirkung, wo es sich um eine besondere Vielheit der
Objekte handelt, in der Landschaft. So schön seine
Frauen und Tiere sind, man merkt deutlich, daß sie
seinem Ehrgeiz nie ganz die Aufbietung aller in-
dividuellen Kräfte gestatteten. Der merkwürdige Dualismus
seiner Begabung, gleichzeitig besonders begünstigt zu
sein, der Malerei einen Fortschritt zu bringen und alle
Werke der Vergangenheit zu konservieren, trieb ihn
immer, wo das Motiv die Konkurrenz mit den alten
Meistern nahelegte, mit den Mitteln der Vorgänger zu ar-
beiten. Er nahm seine ganze Kraft nur in der Land-
schaft zusammen, dem verhältnismäßig am wenigsten
von den Alten eroberten Feld, und gab tatsächlich
eine neue Auffassung von der Natur, weil er neue, d. h.
weitergehende Konzentrationen der Vielheit erreichte.
Als er nur an sich selbst dachte, bekam die Materie
seiner Bilder ein vollkommen neues Gesicht. Das Kolo-
rit der Flamen verschwand, die auf das Abgeschliffene
x82 COURBET
der Fläche gerichtete Sorgfalt trat zurück. Aus dem
Pinsel wird ein neues Werkzeug — Pinsel, Bürste, Messer
zugleich. Courbet malt in seinen besten Bildern nicht mehr,
sondern schmiedet, modelliert, kleistert seine Flächen. Und
daraus entstehen Wirkungen, die den altmeisterlichen
Courbet, so groß er sein mag, weit hinter sich lassen.
Die ganze Geschichte der Malerei ist ein immer
weiter greifendes öffnen der Fläche. Immer lebendiger
wird die Epidermis des Bildes, immer näher rückt
das Symbol der Natur, immer weiter, umfassender wird
der Begriff der Form. In dieser Entwicklung gelingt
Courbet für unsere Zeit eine Entscheidung. Er macht
die Schönheit des Nackten, nicht nur des Weibes, viel mehr
noch der Landschaft zum Bilde, entkleidet von allem,
was nicht aufs Auge wirkt. So entsteht eine neue Syn-
these der Elemente der Landschaftsmalerei, eine neue
Materie, die dem Wasser, dem Wald, dem Felsen, der
Erde ein gemeinsames Merkmal abringt. Mit ihm stellt
Courbet ihre Gesamtheit dar. Er malt die Natur nicht
wie etwas Objektives, sondern vereint sich mit ihr. Seine
Pinselstriche sind Frucht-Atome des Lebens, das unter
der meisterlich gebundenen Erscheinung mächtig atmet.
Damit verglichen ist die Landschaft der Alten trotz
aller dekorativen Reize matt. Kein Primitiver rührt
an diesen Impuls, der alle Empfindungen in Kraft
verwandelt. Die stärkste Linie wirkt daneben wie win-
ziges Detail. Wohl ist die neue Form in letzter In-
stanz ein konventioneller Begriff wie die Linie — auch
wenn es lange genug dauerte, bis man ihn erkannte —
aber das Wissen von diesem Begriff bleibt von der
Wallung des Instinktes umhüllt. Die Form bleibt Form,
gibt nichts an den Verstand ab, wirkt so natürlich wie
die Natur selbst, bei der wir ja auch das Schöne längst
empfunden haben, bevor wir fragen, woher es stammt
— wenn wir uns überhaupt die Frage vorlegen.
LE FAISEUR DE CHAIR 183
Von den Landschaftern des 17. Jahrhunderts aber
scheidet Courbet das, was ihn selbst von seiner
altmeisterlichen Periode trennt. Ihn unbedingt über
sie zu stellen, wäre Yerkennung ihrer Eigentümlichkeit
und der Notwendigkeiten der Entwicklungsgeschichte.
Der wesentliche Reiz, den wir in ihnen finden, gehört
ihnen und ist in gleicher Art nicht zu übertreffen. Courbet
hat ihn bei Seite gelassen. Wohl aber erfaßte er, was
ihnen in ersten Andeutungen vorschwebte: den Ersatz
der glatten Fläche durch die Arabeske des Farben-Auf-
trags. Zwar besaß Rembrandt wie wenige nach ihm
das Geheimnis der Hieroglyphe des Pinsels, die das
sprühende Leben enthält, aber übte sie mehr am Por-
trät, um zu dem mit nichts vergleichbaren Ausdruck
seiner Menschen zu gelangen. Vermeer war Pfadfinder
in der Landschaft und bildete sich dafür ein besonderes
Schema, das seinen berühmten Kanal wie von anderer
Hand gemalt erscheinen läßt, aber blieb auch dabei
der intime Holländer. Manche Prärien Cuyps verbinden
mit gehauchter Tonkunst, die ihn in die Nähe Poussins
bringt, die Kühnheit stark aufgesetzter Reflexe, den
goldigen Spritzern Rembrandts ähnlich. Aert van der
Neer überzog seine Brettchen mit einem dunklen Bern-
steinglanz, der die kostbarsten Lacke Japans aussticht
und malte darin vom Mond beleuchtete Dörfer von ver-
blüffendem Realismus. Er und van Goyen deuten schon
mit den gekritzelten Silhouetten ihrer Hintergründe die
Handschrift ihrer Enkel an. Aus Hunderten von Bil-
dern sproß der Samen. Wir hätten nichts, wären nicht
die Alten gewesen. Aber zu reichen Garben ist die
Saat gediehen. Die Eigenart der Vorfahren, die Kombination
kostbaren Kolorits mit den Impressionen des Naturkindes,
die dem Liebhaber der Holländer das Wasser im Munde
zusammenzieht, haben wir nicht, und wer die Neuzeit
recht versteht, begreift, daß darauf verzichtet werden
i84 COURBET
mußte. Unsere Kunst bedurfte breiterer Flächen, um
unseren dumpfen Sinn mächtig genug zu erschüttern,
eines stärkeren Pathos, um den Willen der Seltenen zu
äußern. Je gewaltsamer die Zeit das Genie bedrängt,
um so rückhaltloser zeigt sich sein Temperament, um
so reiner tritt das Unpersönliche hervor. Man könnte
Courbet, im Vergleich zu den Malern der holländischen
Kanäle, einen Dramatiker nennen, auch wenn er nie
ein Drama gemalt hat. Seine Kraft war in sich dra-
matisch, denn sie gewann lediglich aus der Fähigkeit,
die Erscheinung zu durchdringen, das Zusammenfassende
dramatischen Schwungs. Daher bedurfte er nicht des
Gegenständlichen, ja es schädigte ihn. Je reduzierter, je
weniger psychologisch, je geistloser der sogenannte In-
halt, um so reicher, bis zum Dämonischen stürmischer,
bis zum Erhabenen gewaltiger das Gemälde Courbets.
gl
o w
83 o
FEMME COUCHEE.
DAS NEUE PROGRAMM
MAX begreift, wie weit sich die Anschauung Courbets
von der gewohnten Methode entfernt, durch die
szenarische Komposition des Gemäldes zu wirken. Auch
der Naturalist, der nur das Gesehene darzustellen meint,
wählt die Xatur so, wie sie sich am besten für seine
Zwecke ausnimmt, korrigiert sie daraufhin, um durch
das Gegenständliche charakteristische Wirkungen dieser
oder jener Art zu erzielen, d. h. komponiert. Für Cour-
bet dagegen trat die räumliche Bedeutung des Gegen-
standes — ganz abgesehen von der symbolischen, die
überhaupt für ihn nicht existierte — immer mehr zurück.
Er, der so viel nach Form rang, zielte gleichzeitig dar-
auf hin, das Gemisch der Xatur zu malen, nicht die Form
des einen oder anderen Dinges. Selbst das Licht und
188 COURBET
die Luft verloren für ihn die hervorragende Wichtigkeit.
Er hat sich übrigens nie bewußt mit Licht-Problemen
beschäftigt. Die Landschaft, von 1860, im Amsterdamer
Stedelijk Museum, wo er mal ausnahmsweise dem Spiel
der Atmosphäre nachging, wirkt auffallend flau und
stumpf. Die Luftleere im „Proudhon" und vielen an-
deren Bildern trieb die Zeitgenossen zu manchem be-
rechtigten Vorwurf. Nur ließen sie außer acht, daß Cour-
bet seiner ganzen Art nach nicht anders sein konnte, so-
lange er die Reinheit seiner Formen bewahren wollte,
und daß der Verzicht auf einheitliche Lichtwirkung oder
besser auf die Betonung der einheitlichen Lichtwirkung
mit seiner Abneigung zusammenhing, die Pracht seiner
Realitäten zu schmälern. Es ist eine der vielen Merk-
würdigkeiten dieser Künstlerlaufbahn, daßderselbeMensch,
der sich in dieser Abneigung Ingres näherte, nachher
die Natur sozusagen in einen Mörser tat, um zu einer
absoluten Einheit zu gelangen. Aber auch hier wieder-
um ist es nicht die Rücksicht auf Licht und Luft, was
ihn treibt. Nicht die Luft leuchtet auf seinen späteren
Bildern, sondern die Farbe. Das Partikel Farbe, wie er
es auf der Leinwand formte, wird der Träger aller der
suggestiven Momente, die in gelungenen Bildern seiner Vor-
gänger den Eindruck des Organischen hervorrufen. Er
reduzierte sozusagen die Sprache des Malerischen auf
Naturlaute. Es bedurfte dafür seiner außerordent-
lichen Beherrschung aller nur erdenklichen Mittel des
Berufs und kaltblütiger Kühnheit. Daß aber dies Ver-
fahren auf Betrachter, die gewohnt waren, aus den Händen
des Künstlers gebundene Vorstellungen, abgeschlossene
Gedanken zu empfangen, wie die Sprache eines Wilden
wirkte, kann uns kaum wundernehmen. Die generali-
sierende Behandlung empörte um so mehr, wo sie sich
auf den geheiligten Leib des Menschen erstreckte. Cour-
bet sah in dem Menschen so gut ein Stück Fleisch wie
DAS NEUE PROGRAMM 189
in dem Ochsen, den er seinen Schülern als Modell gab,
und der Ochse war ihm so gut ein Stück Zellengewebe,
wie die Borke des Baumes oder der bemooste Felsen.
Das Publikum empfand das als persönliche Beleidigung.
Jeder Betrachter identifizierte sich unbewußt mit den
Helden der Bilder — auch wo Ochsen die Helden
waren — und fühlte sich als vegetative Materie be-
handelt. Daß Delacroix, wenn er den „Christ im
Olivengarten" wie ein Stück zuckenden Fleisches auf den
Boden warf, im Grunde dieser Anschauung nicht fern-
stand, entging dem Romantiker selbst und seinem Kreise.
Auch Delacroix generalisierte wie jeder Maler, der da-
nach trachtet, das Einzelne zum Ganzen zu verbinden.
Er stellt ausdrücklich im Journal das Genie schlecht-
weg als die Gabe, zu generalisieren, hin und sucht gerade
mit diesem Satz Courbet zu widerlegen.1) Der Schein,
daß er etwas anderes als Courbet tat, war selbst für
seine Weisheit überzeugend. In Wirklichkeit war der
Unterschied nur der, daß Delacroix den spirituellen Be-
weggrund, der ihn zum Generalisieren trieb, ahnen ließ.
Er versteckte nicht seine persönliche Teilnahme, die ihn
so handeln ließ, sondern zeigte sie vielmehr im drama-
tischen Stoffe; ein unbewußter und unwesentlicher
Kompromiß, der nichtsdestoweniger die Zuschauer ge-
fangen nahm. Man nahm Courbet für etwas prinzipiell
anderes, das vielleicht — im besten Fall — respektabel
war, aber durchaus nicht das Eigentliche der Kunst
sehen ließ. Selbst ein so überzeugter Verehrer Courbets
wie Duret stellte noch 1867 die ,,Absence d'imagina-
tion" und „Absence d'emotion" des Freundes als Tat-
sache hin"2) und übersah, dass er damit den Künstler
leugnete. Denn ohne Erregung gibt es keine Kunst.
Auch Courbet war erregt. Ohne das wäre er nie
1) Journal II, 159.
-) In dem zitierten Buch „les Peintres Francais".
190
COURBET
auf den Gedanken gekommen, zu malen. Er sprach das
einmal, als ihn jemand fragte, wie er seine Landschaften
male, wörtlich aus, indem er erwiderte: „Je suis emu".
Das Wort wie alle anderen diente, zumal er es mit dem
Akzent des Provinzlers sagte, nur wieder dazu, ihn lächer-
lich zu machen. Sicher fand Lafenestre wenig Verständnis
bei seinen Lesern, als er bei seiner Salonbesprechung über
Corot und Courbet sagte, daß es tausend Arten der Er-
regung durch die Natur gäbe und daß Courbet in nicht
geringerem Maße erregt sei als Corot, nur auf andere
Weise.1) Man begriff nicht, daß in Courbet das
Medium der Erregung nur um eine Station tiefer
gerückt war, und diese Verschiebung notwendige
Modifikationen der Wirkung auf den Betrachter — der
Gegenerregung — zur Folge hatte. Man ahnte nicht, daß
sich hier eine der Wandlungen vollzog, die die Geschichte
schon Dutzende Male vorher erlebt hatte.
Denn was anderes unterscheidet eine Kunstepoche von
der vorhergehenden, eine Menschheit von der anderen, wenn
nicht diese Wandlung. Das Objekt, die Welt, der Gegen-
stand, das Gesetz, alles das bleibt immer dasselbe. Nur
das Subjekt wechselt, das heißt, die Erregung, die Lösung.
Die Maße erneuern sich. Jede Veränderung des Maß-
stabes aber empört die Menge und muß sie empören,
denn sie vollzieht sich gegen ihren Willen und nimmt
für sie daher sofort den Charakter der Demütigung an,
auch wenn es sich nur um ästhetische Dinge handelt.
Delacroix malte die Dinge wie Schlachtenbilder, das ließ
sich der Mob gern gefallen, auch wenn er durchaus nicht
schlachtenmäßig gesinnt war. Courbet malte sie wie Still-
leben; das wurde als gefühllos empfunden. Generali-
sieren war des einen Kunst wie die des anderen, nur der
Generalisator wechselte. Dabei war die Art Courbets
ursprünglich durchaus nicht unediert. So hatten schon
x) L'Art vivant (S. Fischbacher, Paris 1887).
DAS NEUE PROGRAMM 191
im Prinzip viele Holländer gemalt. Nur rührte, so schien
es, ihre Art zu generalisieren von einer Anschauung
her, deren burschikose Sorglosigkeit die Nachlebenden
amüsierte. Das Genrehafte half ihnen. Denen freilich,
die ohne jede Rücksicht über das Genrehafte hinaus-
gingen, wie der alte Rembrandt, bekam die Methode
schlecht. Über die zweite Anatomie mögen die Leute
nicht weniger erbost gewesen sein, als die Zeitgenossen
Courbets über die „Femme couchee". Noch dazu tat
Courbet persönlich alles, um seine Art dem Publikum
noch verabscheuungswürdiger zu machen. Er barst vor
Lachen, wenn man ihm von Seele sprach, und fand
nicht die Zeit zur Einsicht, noch die Worte, noch war er
sich selbst im Grunde bewußt, daß über den Begriff Seele
auch in seinen Sachen sehr wohl zu diskutieren war, sobald
man sich nicht darauf beschränkte, immer nur die Seele
malender Dichter in Aktion sehen zu wollen.
Denn es wäre nicht verwegen, ihn zu der Romantik zu
rechnen; nicht zu der Romantik der Delacroix-Schwärmer,
wohl aber zum weitesten Gebiet der Delacroixschen Kunst,
wenn man diese, allen literarischen Beiwerks entkleidet,
auf ihr Wesen untersucht. Wir fanden im Anfang
Beziehungen zum Maler der Dantebarke. Diese ver-
schwinden im Laufe der Jahre, aber treten in der Blüte-
zeit, den sechziger Jahren, wieder hervor. Nur weniger
wörtlich, auf größerem Fuß, in einer des Künstlers
^würdigeren Weise. Nicht in der Legende ruht
Delacroix' Bedeutung, sondern in seiner dämonischen
Fähigkeit, die Fläche vibrieren zu machen, in der Musik
seiner Bilder, die gleich groß, gleich ungehemmt vom
Inhalt, gleich reine Leidenschaft erscheint, wie die Töne
seines Freundes Chopin. Mit anderen Mitteln zielte
Courbet auf ähnliche Wirkung. Es gehörte nichts so
sehr als seine Phantasie dazu, um die Flecken zu
erfinden, aus denen er die Materie seiner Bilder schuf,
192
COURBET
nichts so sehr als sein stahlhartes Temperament.
Daß er uns so anders als Delacroix erscheint, ist
vielleicht weniger seine Schuld als die unsere, da wir
uns so schwer vom Gegenstand losmachen und von
der größeren Verstecktheit seiner Romantik betrogen
werden. Leichter wird der entfernte Anschluß an Dau-
mier erkannt. Ihn sahen schon die Zeitgenossen und
benutzten ihn natürlich zur Heruntersetzung Courbets.
Man warf ihm vor, sich an Daumiers Karikaturen zu
inspirieren und Hogarth den Rang streitig zu machen.
Das erscheint uns heute weniger als Schimpf als vor
50 Jahren, als man mit diesem Vergleich sowohl das
fiktive Vorbild wie den vermeintlichen Nachahmer schmä-
lern wollte. Daumiers starklinige Zeichnungen mögen
Courbet wohl gefallen haben, auch wenn er sich aus
anderem Holze fühlte. Näher aber war ihm der große
Maler Daumier, der Schöpfer des ,, Waggon de III. Classe"
usw. In manchen Skizzen Courbets wie der neulich
im Pariser Handel aufgetauchten prachtvollen Studie zu dem
,, Retour de la Conference", dem Hauptwerk des Jahres 1862,
glaubt man einen Niederschlag Daumiers zu finden. Noch
deutlicher, ja ganz unverkennbar ist die Beziehung zu
einem anderen, von Delacroix und Daumier hochge-
schätzten Meister derselben Zeit, zu Decamps. Decamps
und Courbet sind nahe Verwandte, nicht nur als Tier-
maler, als die sich beide derselben breiten Art bedienen
— die beiden Hunde auf der „Curee" sehen den berühmten
Kötern Decamps' ähnlich — , überhaupt als Bildnismaler,
wenn man die Fleischmalereien Courbets so nennen kann
und auch Bildnisse von Vierfüßlern als Portraits zuläßt.
Es ist dieselbe Sachlichkeit, die auf gleichem Wege zum
Monumentalen führt. Als Decamps in jungen Jahren
die „Defaite des Cimbres", heute im Louvre, malte, —
eins der glorreichsten Zeugnisse der französischen Kunst,
das weit über alles, was ihn später populär gemacht
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DAS NEUE PROGRAMM
193
hat, hinausging — ließ er die Menschen-Herden aus dem
Boden wachsen und erzielte damit die unbeschreib-
liche Massenwirkung. Fast brauchte man die Herden
gar nicht zu sehen, um denselben Eindruck des ungeheuer
belebten Gefildes zu haben, so eigentümlich dramatisch
ist die Fläche gestaltet. So dachte Courbet und darin
wurde er von dem Anblick des größten Genies jener Ge-
neration, dem Keim aller anderen, bestärkt, von Gericault.
Auch Gericaults Spuren fanden wir schon am Anfang.
Es schien ein mehr zufälliges Zusammentreffen, wenn
auch feststeht, daß Courbet in jungen Jahren den anderen
kopiert hat. Aber gerade in der reifsten Zeit tritt uns
der Maler des „Medusenflosses" deutlich vor Augen, nicht
so sehr in bestimmten Bildern — wenn schon manche
Landschaften Gericaults, z. B. das prachtvolle Bild, das
gegenwärtig bei Haro hängt, den Vergleich herauszufordern
scheinen — vielmehr als Anschauung, als Temperament.
Dieselbe Dramatik, die Gericault ohne äußerliche
Handlung einer Physiognomie, einem Pferd, einem Ter-
rain, und sei es auch noch so flach, zu geben wußte,
die Dramatik, die in der Erfassung der Begebenheit und
in der Wucht der Wiedergabe, im Nerv der Hand liegt,
hat auch Courbet erwiesen. Nicht so verlockend, das sei
dem großen Vorgänger gern zugegeben, der in jedem
Bild die in alle Tiefen dringende Generosität eines
meteorähnlichen Daseins ahnen läßt; nicht so reizvoll
durch die herrliche Koloristik, die Gericault noch zuletzt
eroberte. Courbet blieb immer von altmodischer Palette.
Auch fehlt ihm des jungen Giganten Hellenentum, und
das Proletarische mancher Äußerlichkeiten des Pseudo-
Sozialisten lag der geborenen Noblesse des Kavalier-Malers
fern. Aber die Kraft des Instinkts, die Unerschrocken-
heit zur Kraft ist beiden gemeinsam. Beide wußten,
wo das Geheimnis der größten Wirkung liegt. Die Er-
oberungslust, die aus Gericault hervorbricht, schmettert
i94
COURBET
ihren Optimismus auch in Courbet heraus, und in der
Befruchtung, die dieser Optimismus auf die Zeitgenossen
oder Nachkommen ausübte, reichen sie sich die Hände.
Gericault geleitet Courbet zur Schwelle seiner letzten
Phase seines Künstlertums, die man die seiner reinen
Vernunft nennen könnte, einer kurzen, aber unvergäng-
lichen Epoche. Die letzte Stufe selbst ist Courbet ganz
allein gegangen. So viel der Einflüsse sind, die sich vor-
her verfolgen lassen, denen er mit vollem Bewußtsein,
nach seinem eigenen schönen Eingeständnis, nachgab, zu-
letzt finden wir ihn auf einer einsamen Höhe, die wohl
nach ihm mit seiner Hilfe wieder erreicht wurde, nicht
vor seiner Zeit erstritten worden ist. Es ist die Periode,
aus der das späteste Louvrebild, die „Woge", stammt. Sie
ist wiederum durchaus nicht zeitlich zu präzisieren. Es
gibt eine Menge gleichzeitiger Bilder, Portraits nament-
lich, die keinerlei Beziehung zu ihr verraten und ebensogut
zehn Jahre vorher gemacht sein könnten.
Um die Mitte der sechziger Jahre beginnen die Ma-
rinen von Trouville. Sie sind Legion. Castagnary be-
hauptet, daß Courbet täglich eine in ein paar Stunden malte ;
im Sommer 1865 sollen allein deren vierzig entstanden
sein. Es waren zuerst ruhige Plan-Schilderungen von
glänzender Einteilung, in denen die Perspektive nur durch
die Tönungen des Wassers unter den verschieden auf-
fallenden Lichtstrahlen belebt wird. Sein berühmtes
Wort „Le paysage est une affaire de tons" gilt nirgends
mit so viel Recht wie von seinen Seebildern. Seebildnisse
könnte man sie nennen. Er malte sie anfangs mit Liebe,
fast mit Zärtlichkeit, so behutsam ging er der blauen Fläche
nach, die ihren Schein in den Himmel wirft und von dort
wieder reflektiert wird. Jedes der folgenden Jahre kam
er wieder und mit jedem Jahre näherte er sich mehr dem
Element. Er wurde hier zum Dichter. Die „Femme
ä la vague" der Sammlung Faure in Paris, 1868 gemalt,
DAS NEUE PROGRAMM 195
für Courbet vielleicht nur die Studie eines nackten Ober-
körpers im Wasser, wurde ein gewaltiges Symbol. Noch
einmal legte er hier alle Kraft in die Plastik eines Frauen-
leibes, modellierte die Brust, die über den Kopf ver-
flochtenen Arme mit größter Meisterschaft und erhielt
trotz der minutiösen Malerei des Körpers so voll-
kommen den Rhythmus des Meeres, daß man in der Frau
eine Personifizierung der Wellen vor sich zu haben glaubt.
Aber nichts kommt der Macht des Ausdrucks gleich,
mit der er um diese Zeit das Element selbst ohne alles
Beiwerk darstellte. Er faßte den Ausschnitt des Meeres
immer enger, machte es hier gerade so, wie mit vielen
gleichzeitigen Landschaften, wo er — man denke an die
Grottenbilder — den Felsen oder die Erde dem Be-
schauer ganz nahe rückt und einen Einblick in das Innerste
der Materie öffnet. Bei dem Meer kommt die Bewegung
hinzu. Er war ein noch leidenschaftlicherer Schwimmer
als Jäger. Man fühlt es in den letzten Marinen: sie sind
von der Liebe zum Wasser gemalt, vom Meere, nicht vom
Lande aus gesehen; die Wellen, wie sie dem mit ihnen
Ringenden erscheinen. Er stellte in großem Format mit
einem verhältnismäßigen Minimum von gesehenem Raum
das Maximum von Kraft dar, Querschnitte durch das
ganze tobende Kräfte-Chaos des Meeres.
Die „Vague" des Louvres von 1870 ist ein Höhepunkt
dieser Zeit. Nicht der einzige. Es gibt sicher ein Dutzend
^ arianten; zwei davon sind in deutschem Besitz, eine der
größten seit kurzem in der Berliner Nationalgalerie, die
auch eine kleine Landschaft aus den sechziger Jahren
besitzt; eine nicht so bedeutende im Stedelijk Mu-
seum von Amsterdam, eine andere ist hier abgebildet.
In der Louvre- Fassung ist das Verhältnis des Wassers
zu dem blaugrauen Himmel außerordentlich schön,
dagegen stört neben dem gewaltig brandenden Meer
das gar zu Gegenständliche der Kähne am Ufer und
196 COURBET
das Ufer selbst. Sein alter Fehler, den Delacroix
rügte, ist selbst jetzt noch nicht überwunden, man ist
beinahe geneigt, auch darin ein Zeichen seiner Stärke
zu sehen. Es ist derselbe Fehler, der die glänzenden
Grottenbilder um eine Nuance trübt. Auf einem von ihnen
sitzt ein Mensch in der Höhlung, auf einem anderen sieht
man ein paar Rehe. Die Verhältnisse dieses Beiwerks zu dem
Rest sind ganz verfehlt. Nicht nur die Größenverhält-
nisse, vor allem die des Materials. Das Gestein ist em-
pfunden, in eine neue wunderbare Materie übertragen,
nicht das Detail ist gegeben, so nahe man davor zu stehen
meint; die Gewalt dieser tragenden und getragenen, zu-
sammengewachsenen, aufeinandergeschweißten Massen ist
gemalt. Die Staffage wirkt daneben wie Spielerei. Das
merkwürdige ist, daß man sich gar nicht vorstellen kann,
wie sie gemalt sein müßte. Die Einsamkeit dieser Massen
lebt so gewaltig, daß der Gedanke an lebende Wesen
nicht aufkommt. In der Berliner Fassung der ,,Woge" ist
das Ufer auf ein winziges Stück der linken Seite beschränkt.
In anderen sieht man nur das Meer und den Himmel.
Nie ist ihm gelungen, seine brausenden Wogen glaubhaft
mit Schiffen zu bevölkern. Das Menschliche wirkt im
Rahmen dieser Naturbilder wie willkürlicher Frevel.
Mit dem Jahre 1870 überschreitet Courbet den Gipfel sei-
ner Kunst und steigt schnell zu Tal. Er versuchte in der
Kommune eine Rolle zu spielen und litt dabei Schiff-
bruch. Welcher Art sein Unrecht war, ob er verdienter-
weise verurteilt wurde, ob die Freunde im Recht sind,
die ihn selbst von jeder Schuld an der Zerstörung der
Vendome-Säule rein zu waschen suchten, interessiert uns
heute nicht mehr. Seine Teilnahme an der Politik war
eine der vielen Disharmonien seines Lebens, und wie alle
anderen rührte sie von Überschuß an Kraft her. Er
hielt die Politik für einen Bierulk und fand Leute, die den
Politiker ernst nahmen, anstatt den Künstler laufen zu
DAS NEUE PROGRAMM 197
lassen. Mir scheint übrigens, es ließen sich in gewissen
Reden des großen Patrioten Davids nicht weniger ernste
Argumente für die säulenstürzende Gesinnung finden, die
man Courbet vorwarf.
Die späteren Jahre haben außer Portraits noch viele
Stilleben gebracht, in denen seine Freude an der Ma-
terie den letzten Sieg feierte. Ein sehr schönes, helles
Selbstporträt, 1871 im Gefängnis von S. Pelagie gemalt,
heute im Mesdag-Museum, als Pendant des merkwürdigen
Selbstporträts Delacroix', zeigt die Kombination einer
markigen Strichmalerei mit feinster Tonkunst in Haar und
Bart, eine Kombination, wie sie nur dem Tausend-
künstler gelingen konnte. Die Stilleben derselben Zeit
geben ein letztes Rätsel zu lösen auf. Nichts ist merk-
würdiger, als daß Courbet noch in dieser Zeit, nach
den glänzenden Landschaften und Marinen ganz die
dort gefundenen Resultate außer acht läßt, und seine
Früchte wie ein alter Meister malt. In derselben
Haager Galerie findet man ein Bild mit fabelhaften
Äpfeln, gleichfalls im Gefängnis entstanden. Die
Früchte glühen wie die Gesichter auf dem ,,Enterrement",
nur viel zarter und reiner, mit ganz dünnem Pinsel ge-
rundet. In dem herrlich geglätteten tiefroten Material
spiegeln sich weißliche Lichter. Die Äpfel liegen vereint
mit einer Ente und einer blauen Delfter Vase in einer —
Landschaft. Ein stattlicher brauner Baum belebt den
zweiten Plan, und dahinter dehnt sich ein prachtvoller
weißgrauer Himmel. Noch frappierender ist das Arrange-
ment in dem ähnlichen, aber nicht ganz so gelungenen
Stilleben des Amsterdamer Ryksmuseums. *) Die Äpfel
sind wieder in dem glühenden Rot, nur einer sticht
in prachtvollem Gelb heraus. Die Landschaft ist hier
noch mehr als im Haag so behandelt, als wären die
x) Datiert 1872. Übrigens der einzige echte Courbet des Ryks-
museums. Die beiden Landschaften sind gefälscht.
i98 COURBET
Äpfel große handelnde Personagen. Der Baum hinter
ihnen müßte von Rechts wegen viermal so groß und die
rötliche Landschaft um ebensoviel umfangreicher sein.
Und selbst dieser grobe Schnitzer in der Perspektive,
offenbar die Folge der ungewohnten Malerei ohne Vor-
bild, wird durch die vollendete Materie überwunden.
Der Betrachter glaubt angesichts dieser Schönheit eher,
sich selbst zu irren, als daß er wagen möchte, dem Meister
einen ganz offenkundigen Fehler nachzuweisen.
Große Werke hat der Verbannte nicht mehr ge-
schaffen. Von der Pariser Katastrophe abgesehen, mag
seine wenig geregelte Lebensweise, namentlich über-
mäßiges Trinken, sein frühes Ende verursacht haben.
Er starb im Schweizer Dorfe La Tour de Peilz am letz-
ten Tage des Jahres 1877, im Alter von 57 Jahren.
2 i
< i
Detail aus den „DEMOISELLES AU BORD DE LA SEINE"
P. Cassirer, Berlin.
1857.
COURBETS STELLUNG IN DER KUNST
• •
Überblickt man das ganze Werk, soweit das überhaupt
möglich ist, so wird die Entwicklung einigermaßen
deutlich. Wir sehen mindestens einen Gang, und daß dieser
nicht der einzige ist, daß das Problem sich nicht kate-
gorisch lösen läßt, erhöht das Interesse statt den Künstler
zu verkleinern. Wir begreifen, daß die Weichheit der vier-
ziger Jahre weichen mußte, um die entscheidenden Werke
zur Zeit des „Begräbnisses" zu ermöglichen; daß die At-
mosphäre, aus der diese entstanden, von dem gewaltigeren
Material des späteren Landschafters ersetzt werden mußte.
Wir sehen die immer mächtigere Einheit, die schließlich
202 COURBET
in den Waldbildern, zuletzt in den Marinen hervortritt,
und können uns denken, daß der immer wieder auf-
tauchende Gegensatz zwischen der Modellierung der
Einzelheit und der Generalisierung notwendig war, um
das Ende so prächtig zu gestalten.
Es nimmt uns heute wunder, daß niemand zu Leb-
zeiten des Meisters auf diese für die künstlerische Be-
trachtung wesentlichste Seite wies, mindestens das geradezu
einzige Zusammentreffen der wichtigsten Probleme der
Malerei in einem Menschen andeutete; daß man über
alles mögliche mit Recht oder Unrecht stritt, ohne vor
allem die über jeden Zweifel erhabene künstlerische Ge-
sinnung Courbets festzustellen. Diesem Komplex von
Erscheinungen Beschränkung vorwerfen, Courbet abtun,
indem man ihn einen dummen Kerl nannte, wie es in
fast allen Arbeiten über ihn bis in unsere Tage geschehen
ist, scheint mir der Gipfel von Unverstand. Es kommt
mir gerade so vor, als wollte man unsere Zeit, weil sie
kompliziert ist, dumm nennen, und es ist ebenso un-
sachlich und häßlich wie der oft geübte Versuch, bewun-
derungswerte, nützliche Taten eines Menschen nach subal-
ternen Beweggründen persönlicher Art zu durchforschen.
Man entgegnet zuweilen dem Kritiker, der einem Maler
am Zeuge flickt, er habe kein Recht zur Schärfe, weil er
es selbst nicht besser zu machen vermöchte. Der Vor-
wurf ist unsinnig. Anders steht es, wenn der Kritiker
sich an persönliche Dinge hält, wie es alle Biographen
Courbets bis heute getan haben. Ihnen, die Courbet
als Dummen verspotten, könnte man mit Recht das
Wort zurückgeben. Denn dieses Argument hat hier nichts
zu tun, selbst wenn es wahr wäre. Mag der Künstler
aus Dummheit kluge Dinge tun, oder ihn der Zufall
treiben, das sagt vom Effekt seiner Handlung noch
nicht das geringste. Courbets viel berüchtigte Dumm-
heit ist ein biographisches Detail zweiter Ordnung. Ge-
COURBETS STELLUNG IX DER KUNST 203
wiß wirkt, was wir an Aussprüchen von ihm haben und
von manchen Handlungen wissen, nicht bedeutend. Aber,
liegt es nicht nahe, daß ein Mensch, der als Künstler alles
konnte, was er wollte, und zu dem schier allmächtigen
Können aus niederer Geburt emporstieg, ohne je trotz aller
Anhänger vernünftige Kameraden als Freunde zu finden,
daß dieser Mensch die Bewußtheit und Klarheit als
Künstler mit Schwächen anderer Seiten seiner Intelligenz
bezahlte! Man braucht kein Genie der Analvse zu sein,
um die Zusammensetzung von größtem Künstlertum
und Allzumenschlichem zu begreifen: das von alkoholi-
lischer Einbildung gehetzte Genie, das verurteilt war,
den Sinn eines schlauen, gewinn- und herrschsüchtigen
Bauern mit sich herumzutragen und sich den groben
Leuten seiner Umgebung in der halb von Rabelais, halb
aus Don Quichotte gemachten Maske zu produzieren.
Das einzige vernünftige Buch, das es bis heute über
Courbet gibt, ist die derbe Psychologie eines Kneip-
Kumpanen, der sich scheinbar begnügt, die Streiche und
Spaße des Menschen aufzuzählen, und dabei so aufrichtig
verfährt, daß aus der Tragikomik das wahre Gesicht des
Künstlers merkwürdig ergreifend hervorschaut.1)
1) Gros-Kost: Courbet, Souvenirs intimes (Paris. Derveaux. 1880).
Wie ich höre, arbeitet Riat an einem Courbet-Werk, das bei Floury,
Paris, herauskommen soll, wodurch hoffentlich diesem empfindlichen
Mangel der französischen Literatur abgeholfen werden wird. Noch in
dem dieses Jahr erschienenen Buche von George Lanoe ,,L'Histoire de
l'Ecole francaise de Paysage depuis Chintreuil" (Nantes, 1905, Societe
Nantaise d'Ldition) wird das Urteil über Courbet nicht modifiziert. Die
Kritik der Bilder stützt sich auf die bekannten Quellen. Über das ..Ate-
lier" heißt es: „Cette immense toile est fort mauvaise" etc. Während ich
dies korrigiere, bringt die Zeitschrift ..Kunst und Künstler" (B. Cassirer,
Verlag, Berlin, Augustheft) einen Aufsatz des Grafen Keßler über Whist-
ler, in dem energisch auf die Notwendigkeit der Revision des Urteils
über Courbet hingewiesen wird. Wie mir der unermüdliche Theodore
Duret vor kurzem erzählte, hofft er im nächsten Herbst in Paris eine
Courbet-Ausstellung zusammenzubringen. Hoffentlich gelingt es bei dieser
Gelegenheit, die unnahbare Schwester des Künstlers, die noch über einen
sehr großen Teil der Werke Courbets verfügt, und darüber wie ein Cerberus
wacht, zum öffnen ihrer Pariser Kemenate zu bewegen. Sie soll bestrebt
sein, dem Bruder ein eigenes Museum in seiner Heimat zu errichten.
204
COURBET
Ob die Leute, die sich mit Kunst in Frankreich be-
schäftigen, ihn gekannt haben, lasse ich dahingestellt.
Jedenfalls urteilte man voreilig. Denn beispielsweise ge-
nügte schon die Tatsache, daß er mit Vorliebe Selbstportraits
malte, den Biographen — ich könnte ein halbes Dutzend
nennen — , um seine bornierte Eitelkeit festzunageln. Es
gibt kein einziges Selbstbildnis Courbets, das nicht ein
Meisterwerk der Malerei oder der Zeichnung wäre, und
das sollte reichlich genügen, das Dasein aller zu erklären.
Niemandem fiel bisher ein, Rembrandt aus derselben
Vorliebe für sein Antlitz einen ähnlichen Vorwurf zu
machen; es gibt sogar Bewunderer, die gerade in dieser
Leidenschaft ein Zeichen seiner Größe erblicken.
Mit größerem Recht konnte man ihn einen Bauern
nennen. Dafür spricht seine Zähigkeit, die bis zur Plump-
heit getriebene Rechtschaffenheit des Künstlers. Dagegen
spricht just sein Künstlertum. Bauern sind keine Künstler,
am wenigsten Künstler, die den Pfaden eines Velazquez
und Rembrandt nachsteigen und dabei sich so hoch-
gesinnt verhalten. Bauer ist Courbet in der Rücksichts-
losigkeit seiner Instinkte, in dem allem Eklektizismus Ent-
gegengesetzten seiner Art, in der gesunden Inkonsequenz
seiner ganzen Entwicklung. Er übertrieb vielleicht das
bäurische Selbstbewußtsein, um allen Kompromissen zu
entgehen, stellte sich weniger gebildet, als er war. Denn
hätte er sich zu dem geringsten Kompromiß herbeige-
lassen, wäre ihm just der Vorsprung vor den Nichtbauern
verloren gegangen. Im bewußten Eklektizismus wären
ihm alle gebildeten Maler über gewesen. Damit soll
nichts von der Selbständigkeit seiner Kunst gesagt werden,
denn die eigene Courbetsche Form geht, wie wir sahen,
aus der alten Kunst hervor; sie ist wie jeder echte
Wert eine Bestätigung der Entwicklungsgeschichte. Ja,
es gibt wenig große Künstler, die die natürliche Ab-
hängigkeit von den alten Meistern gleich unverhüllt
COURBETS STELLUNG IX DER KUNST 205
sehen lassen. Wenn ich ihn das Gegenteil eines Eklektikers
nenne, meine ich damit die absolute Selbständigkeit seines
Bewußtseins. Er nahm seinetwegen die Alten, nicht
ihretwegen. Daher seine unglaublich einseitige Kritik,
die auf ein paar Namen beschränkte Auswahl, die frevel-
haft wäre, wenn sie nicht das subjektive Recht seiner Mei-
nung verträte, wenn sie nicht mit größter Konsequenz
das für die eigene Art Zuträgliche fände und wenn
diese Art nicht den tatsächlich bedeutendsten maleri-
schen Wert und damit die Zukunft umfaßte. Er war
weniger Kompromißler als irgend ein Maler seit Rem-
brandt. Das kann ihm nach dem, was vorhergeht,
nicht als Vorzug angerechnet werden, denn es war
Selbsterhaltung. Aber die Tatsache ist in dieser Aus-
dehnung zu selten, um nicht hervorgehoben zu werden.
Keiner seiner Vorgänger oder Nachfolger ist freier, weil
keiner der eigenen Natur gleich unterworfen war. Alle
anderen suchten mit der größten Anstrengung natürlich
zu werden oder zu bleiben, alle die Dinge, die ihrem
Instinkte vorschwebten, in einem rationellen Organismus
zu vereinigen. Diese Grundbedingung brachte Courbet
als Prämisse mit. Er hätte überhaupt nicht malen können,
wenn nicht als Bauer, als Untertan der Erde, der Materie.
W^enn nicht die Konstellation der Malerei eine Instinkt-
gestaltung, wie er sie betrieb, zuließ, wäre ihm jede
Möglichkeit starker Kunst versagt geblieben.
Diese Konstellation aber war seit den großen Hollän-
dern gegeben. Rembrandt, auf Grund einer minutiösen,
nur dem gewaltigsten Geiste gelingenden Entwicklung
hatte eine Form gebracht, die mit einer nie vor ihm
gesehenen Unmittelbarkeit den Gedanken gestaltete.
Velazquez war mit schwächeren Mitteln zu einer ähnlich
wirksamen Einheit gelangt. Zwischen beiden gab es
Dutzende in der Art verwandter Exempel. Daß ihnen
allen diese Einfachheit ihrer vollendeten Äußerung erst
2o6 COURBET
nach unendlichen Experimenten gelang, folgte aus ihrem
Künstlertum, aus ihrer Lehre, ihrer Rasse, und dem alten
Erfahrungssatz, daß man unendlich viel lernen muß, um
nachher unendlich viel wieder zu vergessen. Courbet
ging es nicht anders, wir haben seine Experimente gefunden,
aber er war besser daran durch das beispiellos Rücksichts-
lose, animalisch Produktive seiner Anlage. Seine Liebe
zu den Alten war mehr das Verhältnis des Instinktes zu
Blutsverwandten als pietätvolle Anbetung des Liebhabers.
Daß niemandem dieser fast unbegreifliche Zusammen-
hang Courbets mit den größten Malern zu denken gab !
Vielleicht weil es so selbstverständlich war, weil die Men-
schen Instinkt-Regungen geringer schätzen als ringende
Arbeit. Lemonnier nennt Courbet ,,ein Temperament in
einem Mechanismus" und denkt dabei an die blöde Theorie
des Realismus. Als ob sich damit ein Bild machen ließe!
Mechanisch oder niederer Art war in Courbet allenfalls
das Bewußtsein der Zusammenhänge seiner Äußerung mit
dem moralischen oder überhaupt geistigen Zentrum, d. h.
die Interpretation seines Instinktes. Willkürlich war,
wenn er die Folgerung einer sozialistischen Propaganda
aus seinen Werken zuließ, wobei mir übrigens immer
wieder Zweifel an dem Ernst seiner Erlasse aufsteigen.
Was er wollte und wie er es erreichte als Künstler, der
allein in Frage steht, war ihm weniger mechanisch als
irgend einem Maler seiner Zeit. Denn keiner hat so un-
mittelbar mit der Hand zu wirken vermocht, was dem
Geiste einfiel, d. h. keiner war im gleichen Umfang Herr
seiner selbst. Keiner konnte so viel. Man vergleiche die
Tastversuche aller anderen seiner Generation mit seinen
Frühwerken. Er war viel zu wirkungslustig, um auf gleiche
Art zu werden; auch viel zu anspruchsvoll. In der Bahn
Millets oder Corots wäre er verunglückt. Millet kam von
mäßigen Vorbildern her, Corot ging überhaupt nicht in
die Museen, wenigstens nicht solange er jung war. Courbet,
COURBETS STELLUNG IN DER KUNST 207
der Naturmensch, hatte ursprünglich kein größeres Ziel,
als wie die Meister der besten Malerei zu arbeiten. Er
nahm das Mittel der Alten zunächst wie es war, weil er
es so brauchen konnte, und modifizierte es nachher auf die
denkbar zweckdienlichste Weise. Darüber ließen sich
lehrreichere Bücher schreiben als über seine Philosophie.
Er handhabte den Pinsel mit gleicher Meisterschaft
wie die Alten, und wo er erkannte, daß man mit
dem Messer weiter kam, warf er ihn weg. Auch das
haben ihm die Kritiker mit stupender Willkür als Mangel
angerechnet. Lemonnier tut so, als hätte Courbet das
,,vice nouveau", mit dem Spachtel zu arbeiten, entdeckt,
als hätte nicht vorher Decamps1), vor diesem Constable
und vor Constable glorreiche andere, vor allem Rem-
brandt, demselben Laster gehuldigt. Tatsächlich setzt
Courbet fast wörtlich die Alten fort, nur daß er in einem
Menschenleben eine ähnliche Entwicklung durchlief wie
im 17. Jahrhundert einem Rembrandt, in noch früheren
Zeiten nur ganzen Generationen gegeben war. Hätten
Rembrandt und Hals einige hundert Jahre länger ge-
lebt, so wären sie auf Courbets beste Art gekommen.
Mit diesem Hinweis holen wir ein analytisches Moment
nach, das, um den Zusammenhang vorher nicht zu sehr
zu belasten, vernachlässigt wurde. Um den Spaniern ihr
entscheidendes Patenrecht zu lassen, haben wir den Einfluß
1) Über die Technik Decamps' vgl. A. Moreau: Decamps et son oeuvre
(Jouaust, Paris 1869). Die Beziehung der Technik Courbets zu Decamps
hat Albert Wolff angedeutet. Vgl. den Aufsatz in ,.La Capitale de
l'Arf (Paris Havard 1886), S. 192, 193: „Um den weißen, in der Sonne
leuchtenden Mauern mehr Relief zu geben, baute sie Decamps sozusagen
aus Farbe. Mit einem von ihm erfundenen Verfahren verdickte er
diese Gebilde, ließ sie trocknen, kratzte sie mit einem Rasiermesser ab
und malte die Mauern noch einmal, wobei er alle Zufälle dieser eigen-
tümlichen Arbeit benutzte, die eigentlich eine Spielerei, in Wirklichkeit
den gemalten Mauern das Solide von tatsächlich gebauten gab. Man hat
diese eigentümliche Malerei vielfach nachgeahmt. Courbet bemächtigte sich
ihrer und trug die Farbe mit einem Palettenmesser auf die Leinwand."
Neben vielen Zeitgenossen hat auch Diaz in vielen Landschaften so ge-
arbeitet und scheint einen gewissen Einfluß auf Courbet gehabt zu haben.
208 COURBET
der Holländer nur angedeutet. Diese setzen da ein, wo der
Einfluß derVelazquez und Zurbaran zu weichen beginnt.
Merkwürdigerweise erinnert Courbet weniger an die
großen Tonmaler Hollands, als an die Meister, denen
vor allem an der Form gelegen war. Sein autobiogra-
phischer Hinweis auf Craesbeeck und Ostade entsprang
offenbar einer momentanen Laune. Courbet überragt
die beiden dermaßen, daß der Vergleich aller Elemente
entbehrt, es sei denn, daß man sich mit der vagen Ge-
meinschaft ihres Realismus begnügen wollte. Dagegen
erinnert er an Potter, und zwar an den „harten" Potter,
der den jungen Stier im Mauritshuis malte. Die Schwäche
dieses Hauptwerks, sein Mangel an Luft, ist auch die
Schwäche Courbets. Aber auch die Vorzüge sind die-
selben, die schöne Plastik, die rücksichtslose Erschöpfung
des Themas im vorgenommenen Sinne. Die prachtvolle
Figur des Mannes am Baum glaubt man in vielen
Bildern des Franzosen wiederzufinden. Der Realismus
Courbets war, trotz aller Redereien der Zeitgenossen,
sehr viel zurückhaltender als die holländische Sachlich-
keit. Potter geht so weit, die Stirnhaare der liegenden
Kuh im Relief nachzubilden. Die Striche des Pinsels
suchen plastisch die Haarlagerungen zu formen und
wirken wie aufgeklebtes Haar. Zu solchen Spielereien hat
sich Courbet nie verstiegen. Von den Interieurmalern
hat ihn vermutlich weniger Craesbeeck, als Aertsen an-
gezogen, und zwar der Aertsen ohne braune Sauce, der
die Köchin in der weißen Schürze und dem roten Rock
der Brüsseler Galerie mehr emaillierte als malte. Hals
fanden wir schon am Anfang. Courbet blieb ihm sein
ganzes Leben treu. Noch in den Stilleben der sieb-
ziger Jahre lebt die Farbenlust der Haarlemer Schützen-
stücke. In der Blütezeit tritt der größte Holländer mit der
durchflossenen Materie der Spätzeit in seinen Kreis.
Die Puits-Noir-Landschaften sind, wie Rembrandts letzte
_ - -
COURBETS STELLUNG IX DER KUNST 209
Selbstportraits, gemalt. Die Beziehung zu Hals ist in-
timer. Courbet langt nicht in die geistige Sphäre der
Tuchmacher und stand der Legende fern. Auch sein
Menschentum gehört zu Hals. Nach allem, was wir von
dem Haarlemer wissen, muß er eine ähnliche Natur ge-
wesen sein: ein Genie, dem es an der Oberfläche gefiel.
Beide, Hals und Rembrandt, studierte Courbet noch
in der letzten Zeit. Im Jahre 1869, auf seiner be-
rühmten deutschen Reise, die ihn wie den Messias einer
neuen Kunst erscheinen ließ, kopierte er die Hille Bobbe,
die damals noch in der Suermondtschen Sammlung in
Aachen hing, und das angezweifelte Selbstporträt Rem-
brandts in München. Die zweite Kopie kenne ich nicht.
Die erste hängt bei Cheramv in Paris und rechtfertigt den
Bericht ihres Autors, den er gern zum besten gab, daß
die Nachbildung einige Tage an Stelle des Originals im
Rahmen blieb, ohne daß der Besitzer den Tausch merkte.
Sie erscheint manchem Betrachter heute vielleicht noch
echter, weil frischer, als das Vorbild im Berliner Museum.
Wie in Corots Bildern drängt auch in der Malerei
Courbets der Pinselstrich mit den Jahren den Ton immer
mehr zurück. Der reife Landschafter hat nichts mehr von
der Art der Velazquez und Zurbaran. Wohl aber kann man
in Govaschen Landschaften eine ähnliche Gestaltung
finden. Die vor kurzem in die Berliner Nationalgalerie
gelangte kostbare Skizze „Der Maibaum" mit den großen,
vomMesser geschlichteten Flächen hätteCourbet begeistert.
Unter den unmittelbaren Vorgängern des Landschafters
ist Constable nicht zu übersehen, und auch diese Beziehung
brachte Courbet und Corot einander näher. Nur war
der Eindruck des Engländers auf sie ganz verschie-
dener Art. Corot hatte den größeren Vorteil, er reinigte
seine Palette. Courbets Koloristik blieb ganz unbeein-
flußt, dagegen gewann er möglicherweise aus der Con-
stableschen Art des Farbenauftrags manche Anregung.
2io COURBET
Seine Anschauung weicht noch weiter von der des Eng-
länders ab, als Corots weniger scharf begrenzte Eigen-
art. Die Technik Courbets, gerade so wie Corots Methode,
verbreiterte sich mit den Jahren immer mehr, während
sich Constable zuspitzte, und war überhaupt nicht auf
so einfache Entwicklungsreihen gestellt. Daß er aber
Constable gesehen hat, versteht sich von selbst. Außer-
dem mag ihm Georges Michel als Vermittler gedient
haben, einer der ersten Maler des Waldes von Fontaine-
bleau, dessen Vorläuferrolle leider noch nicht genügend
definiert ist.1) Michel besuchte England zur Zeit der
größten Erfolge Constables. Die Ähnlichkeit vieler seiner
Bilder, nicht nur des „Waldinneren" im Louvre, sondern
auch ausgedehnterer Landschaften mit gewissen Courbets
springt in die Augen. Freilich darf man sich nicht ge-
rade an die besten Gemälde unseres Meisters halten.
Diese unentbehrliche Analyse könnte den Leser auf
den Gedanken bringen, Courbet wäre nur durch die
Zusammensetzung interessant oder rege nur zu Speku-
lationen über die Technik an. Der Leser würde damit
einen Vorwurf, der dem Autor dieses Buches gilt, an
die Adresse seines Helden richten. Nur die trockene
Darstellung wäre schuld an solcher Unterschätzung. So
glänzend Courbet malte, niemand war weniger auf das
einseitig Handwerkliche gerichtet. Man kann den Unter-
schied nur durch Vergleiche feststellen. Techniker be-
*) Georges Michel lebte 1763 — 1843 und war, bevor er Constable
kennen lernte, einer der meist Beteiligten an dem Einzug der Holländer
in Frankreich. Einmal tat er nicht wenig dazu, die alten Meister durch
ihre Werke zu propagieren, indem er, wie Andre Michel erzählt, für die
wenigen aufgeklärten Amateure des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts
die Bilder der Ruysdael, Cuyp und van Goyen reinigte. Dann, durch
diese Beschäftigung in das Wesen der Meister eingedrungen, begann er,
wie sie zu malen, und wurde der Vorläufer Rousseaus. Die Beziehung
zu Courbet ist nicht weniger deutlich, aber beschränkt sich naturgemäß
auf ein kleineres Gebiet. Vgl. Andrä Michel: Notes sur l'art moderne
(Colin & Cie., Paris 1896). Interessante Bilder Michels, typischer als
das im Louvre, finden sich in Pariser Privatbesitz und im Haager Mes-
dag-Museum. Über die Beziehung Michels zu Rousseau vergl. Sensier.
COURBETS STELLUNG IN DER KUNST 211
schränkter Art war z. B. ein in mancher Hinsicht Cour-
bet verwandter Künstler, von dem hier schon wiederholt
die Rede war, Decamps, und gerade das Technische,
oder besser das Technologische seiner Anschauung, stellt
ihn weit unter den Meister von Omans. Decamps ist
viel weniger zusammengesetzt, hat gewiß den besten An-
spruch, für eigenartig zu gelten, und brachte das Zeug
zu einem Genie auf die Welt. Davon merkt man in
den vielen Galerien, die seine Werke beherbergen und
sich noch heute um jedes, das auf den Markt kommt,
reißen, ungemein wenig. Wohl frappiert jedes seiner
Bilder, es ist anders als der Nachbar, mag dieser sein
wie er wolle, besser sogar in einem ungemein be-
schränkten Sinne, strahlender, ja, von unheimlicher
Leuchtkraft; der Blick droht an dem brünstigen Orange
und dem Rot zu versengen. Und über dem Brennen
und Leuchten vergißt man das Bild, wird physiologisch
beeinflußt, starrt wie auf eine Sonderbarkeit und kommt
zu keinem Genuß. Decamps selber ging es nicht anders.
Die Prozedur seines Malens faszinierte ihn dermaßen,
daß er schließlich nur noch den einen Gedanken hatte,
wie man das Gewebe auf dem Bilde noch solider und
leuchtender machen könne. Seine Malerei wurde eine
Art komplizierter Handarbeit; er stickte seine Bilder
und dachte dabei nur ans Sticken. Nicolaes Maes ist
im 17. Jahrhundert die gleiche Erscheinung. Bei Decamps
trat, wie er selbst in einer trüben Stunde eingestanden hat,
bewußte Schwäche des Willens dazu; die Unfähigkeit,
den Verführungen der Hunde- und Affen-Liebhaber zu
widerstehen und dem Publikum die Art der „Defaite
des Cimbres" aufzudrängen. Er wurde aus Notbehelf
Handwerker, glänzender Routinier, aber Manierist.
Vor solchen, das ganze Werk deprimierenden Unfällen
blieb Courbet schon durch die Sorglosigkeit und Un-
berechenbarkeit des Bohemien bewahrt. Freilich hat
212 COURBET
auch ihn zuweilen seine Geschicklichkeit zu Bildern ge-
trieben, die dem Gesamtwerk nicht zum Vorteil gereichen.
Darüber kann man sich im Brüsseler Museum unter-
richten, das eine merkwürdig unglückliche Hand hatte,
drei ganz verschiedene und gleich minderwertige Ge-
mälde zu erwerben. Das Stevens -Portrait in einem
braunroten, höchst unbehaglichen Ton zeigt uns die
Glattmalerei ohne die Widerstände, die Courbet dabei
zu überwinden vermochte und die man fühlen muß,
um die Gabe zu würdigen. Das Bildnis der Mme.
Fontaine erweist in anderer — ■ blauschwarzer — Fär-
bung denselben Nachteil. In dem Hauptbild, der Tän-
zerin Guerrero, unterliegen große Qualitäten allen mög-
lichen Schwächen. Freilich hängt das Bild so hoch in
dem abominabel vernachlässigten Raum, daß man kaum
gerecht urteilen kann. Auch der ungeheuerliche Rahmen
— der komplizierte Ausschnitt erinnert an Hänge-
kalender — stört maßlos und fällt Courbet zur Last.
Das Portrait leidet zumal an der ganz ungelösten Kolo-
ristik. Das Abspielen des Rots im Rock in das deto-
nierende Gelbrot des Vorhangs links und des matten
Hintergrundes rechts ist so unglücklich wie möglich.
Die Malerei ist sehr flott, aber nähert sich der bedenk-
lichen spanischen Note, die in unseren Tagen Zuloaga
zur Freude leicht befriedigter Ausstellungsbesucher vertritt.
Glücklicherweise sind diese Ausnahmen selten und haben
nie das Organisierte der Irrtümer des Manieristen. Er
machte weder aus seinen Vorzügen noch seinen Fehlern
ein Programm, und da die Tugenden bei weitem über-
wiegen, kommen wir bei diesem Mangel nicht schlecht
weg. Seine Biographie steht infolgedessen ganz abseits
von der anderer Künstler, und er hat sie womöglich
mutwillig noch verwirrt, um dem Bourgeois recht zu
zeigen, daß man ihm nicht in die Karten sehen konnte.
Dadurch unterscheidet er sich am auffallendsten von
COURBETS STELLUNG IX DER KUNST 213
den alten Meistern, zumal von denen, die ihm am
besten gefielen. Bei Rembrandt und Hals freuen wir
uns der vollkommenen Logik ihrer Entwicklung. Wenn
man im Hauptsaal des Stadthauses von Haarlem die
Reihe von rechts nach links heruntergeht, genießt das
Auge und der künstlerische Sinn nicht nur mit jedem
Schritte mehr, auch der Mensch freut sich über den
Fortschritt des Menschen. Er wird ernster, wie die
Bilder ernster werden, nicht weil in den letzten weniger
gelacht wird, sondern weil das Gebotene eine konzen-
triertere Teilnahme fordert. Wir merken, wie der Zweck
zunimmt und wie das Mittel Schritt hält, und erkennen
in dem Wachstum das Größerwerden des Genies.
Bei Courbet ist diese Konsequenz, wie wir sahen, nur
mit Reserven nachweisbar. Er ist gewiß Ende der sech-
ziger Jahre ungefähr am größten, aber der Höhe-
punkt befindet sich nicht genau über der Basis der Früh-
werke. Sicher ist es derselbe Künstler, viele Seiten
sind fortgebildet. Aber viele andere bleiben abseits, und
wir bemerken, daß sie zu großartigen Dingen führten.
Das Merkwürdige liegt in dem hohen Niveau des
Anfangs. i\ndere Künstler kommen mit Talent zur
Welt. Courbet scheint mit Meisterschaft geboren. Er
ist wie ein wandelnder Behälter schönster Dinge. Dünkt
uns das in unserer traditionslosen Zeit schon merk-
würdig genug, der Umstand, daß dieser Behälter von
einem Bauern getragen wird, macht ein Phänomen dar-
aus. Untersuchungen der Malmethode prallen wirkungs-
los davon ab, denn sie enthüllen kein Geheimnis. Sie
bringen uns vielleicht einzelne Bilder, einzelne Phasen
näher, aber melden nichts von der Quelle des Stromes.
So erscheint der kühne Revolutionär bei aller Selbstherr-
lichkeit seiner neuen Kunst mit den edelsten Werten der
214
COURBET
Vergangenheit verbunden; sowohl mit den alten Meistern,
mit den Größten der ruhmreichsten Epoche der Malerei,
den Holländern und Spaniern; nicht weniger eng mit den
bedeutendsten Künstlern der unmittelbar vorhergehenden
Zeit, mit den entscheidenden Malern, die der Kunst des
19. Jahrhunderts unentbehrliche Wege gewiesen haben.
Bedürften wir noch eines Arguments für die erneute
Verehrung des Meisters, so wäre an die Führer-Stellung zu
erinnern, die Courbet in der Kunst der Gegenwart be-
hauptet. Die Generation der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts in Frankreich, Holland, Belgien, Deutsch-
land, bis zum gewissen Grade auch in England, die uns
die moderne Malerei gebracht hat, feiert in Courbet
einen segensreichen Lehrer. Viele Tendenzen sind leben-
dig. Je weiter die Kunst fortschreitet, desto mannig-
faltiger wird sie. Will man den Menschen nennen, der den
mächtigsten Einfluß ausübte, ohne den die wichtigste
Entwicklung unserer Zeit undenkbar erscheint, so wird man
Courbet zitieren. In Frankreich sind ihm die erlauchtesten
Persönlichkeiten in ihren Anfängen so Untertan, daß man
ihnen kaum zu viel tut, sie Schüler zu nennen. Manet,
Renoir, Cezanne, Pissarro, Sisley, Monet u. a. hängen,
mindestens in bedeutenden Seiten ihres Wesens, mit
Courbet eng zusammen. Bei den Landschaftern unter
ihnen teilt sich anfangs Courbet mit Corot in den Ein-
fluß. Diese Gemeinschaft trieb mich, zwei so verschie-
dene Meister in einem Buch zu vereinen. Denn beide
gelten der Gegenwart als unentbehrliche Helfer. Cour-
bets Einfluß ist aktueller und gewinnt später, in der
Monetschen Richtung, ausschließliche Rechte. Pissarro,
der Älteste, begann, als er 1855, im Alter von 25 Jahren
nach Paris kam, die Reihe und regte Monet und Sisley
zu gleichen Bestrebungen an. In Monets Marinen der mitt-
leren Zeit wurde Courbet in einer für ihn wie für Monet
gleich würdigen Weise fortgesetzt. Manet, Cezanne und
COURBETS STELLUNG IX DER KUNST 215
Renoir, die Größten der Generation, gehören in einer
anderen Weise zu ihm. In Manets ,, Nymphe Surprise"
des Jahres 1861 ist der Eindruck, den Courbets ge-
waltige Fleischmalerei auf den Schöpfer der „Olympia"
gemacht hatte, unverkennbar, nicht ohne gleichzeitig
die glänzende Neuerung, die zusammenfließende Har-
monie, ahnen zu lassen. Cezannes schwarze Stilleben
der Frühzeit gehören in dieselbe Richtung. Am auf-
fälligsten von allen zeigt Renoir den Einfluß, und er läßt
gleichzeitig am deutlichsten die Zutat erkennen, die in
verschiedenen Formen sowohl ihm, wie Manet und Ce-
zanne förderlich wurde : Delacroix.Viele seiner Fruchtstücke
der ersten Zeit sind wie die letzten Courbets gemalt;
das große Stilleben bei Liebermann in Berlin könnte von
Courbet signiert sein; von manchen seiner ersten Land-
schaften gilt das gleiche. Und Renoir zeigt auch in
seiner wechselvollen weiteren Laufbahn, die ihn am
weitesten von Courbet entfernen sollte, ein ähnliches
Geschick. Sein immer wieder auftauchendes Bestreben,
das Plastische zu erhalten, die Tendenz, die von Manet
neutralisiert wurde, bildet auf einem farbigeren Feld die
Parallele zu Courbet. In gewisser Hinsicht könnte man
endlich auch zu Degas, dem fremdartigsten und ver-
schlossensten von allen, eine lose Beziehung finden.
Wenn man 1900 auf der Pariser Weltausstellung von den
„Cribleuses" vor die „Baumwollfaktorei in New Orleans"
trat, blieb man im Reiche derselben Kunst.
In England brachte es der Realismus nur zu einer
Auseinandersetzung mit den Ideen, die in Frankreich
Courbet unterschoben wurden, nicht mit der Malerei
des Meisters. Dagegen wurde der Maler von Omans in
Deutschland um so intensiver begriffen. Hier gab er
zuerst Viktor Müller, dann Leibl den Anstoß. AuchThoma
verdankt diesem Impuls die schönen Bilder seiner Früh-
zeit. Um Leibl und Trübner, schließlich um Lieber-
2i6 COURBET
mann bildete sich eine Schule, die einzige im Deutschland
des 19. Jahrhunderts, die nichts anderes als malen wollte.
Sie verehrt neben den Alten zumal in Courbet ihren
intellektuellen, wenn nicht persönlich wirksamen Begründer.
Ebensoviel verdankt Belgien dem Meister. Louis
Dubois und Arton, Baron, Boulenger, Sacre und Rops
— soweit er zu malen versuchte — kurz die ganze
Schaar ernsthafter Künstler, die neben Alfred Ste-
vens, dem Freunde Courbets, und Henri de Bracke-
leer das Beste der modernen belgischen Malerei ge-
leistet haben, geht mehr oder weniger direkt auf Cour-
bet zurück. Viele Jüngere danken ihm ihr Debüt.
Im Holland der Maris, Mauve und Mesdag teilt er sich
mitDaubigny und den älteren Fontainebleauern in die Rolle
des Anregers. In Skandinavien und in der Schweiz und in
allen Ländern, überall wo die Künstler sich auf das
eigentliche Wesen der Malerei besannen, wurde der Geist
Courbets zum Förderer. Sein Name hat viele Tor-
heiten gedeckt, die der Meister zurückgewiesen hätte.
Hält man sich an das Wesentliche, so bleibt sein Ruhm
bestehen, daß er notwendige Befreiung gebracht hat.
Trotz dieser universellen Bedeutung, trotz des um-
fassenden Werkes, das man, ohne an alle diese Folgen
zu denken, wie ein gewaltiges unsterbliches Leben
empfindet, steht Courbet im Schatten der Vergessen-
heit. Der Händler schätzt die Bilder der Nach-
kommen mit zehn- und zwanzigmal höheren Preisen; der
Kunstbeflissene begnügt sich mit der historischen Be-
trachtung. Die Verantwortung trifft Frankreich, das sich
nicht entschließen konnte, über dem großen Künstler den
Menschen zu vergessen. Vermutlich wird diese Gesinnung
mit den Zuschauern der Ereignisse von 1871 verschwinden.
Eine gewisse Schuld fällt auch dem Künstler Courbet zur
Last, weil er sich in den letzten Jahren geringer Mitarbeiter
bediente und seine Signatur durch eine Menge kaum von
COURBETS STELLUNG IX DER KUNST 217
ihm berührter Landschaften entwertete.1) Die mit er-
lauchten Vorgängen geteilte Schwäche entschuldigt nicht
die Ungerechtigkeit gegen den Künstler, der wahrlich
genug Werke von weit sichtbarer Eigenart geschaffen hat.
Am empfindlichsten hat ihm merkwürdigerweise der
gewaltig aufsteigende Ruhm der Impressionisten geschadet.
Frankreich sehnte sich nach französischeren Künstlern.
Die Zeit stand nach lichteren Farben, nach größerem Ge-
schmack, nach reinerer Harmonie. Das „Begräbnis von
Omans" verschwand hinter der leuchtenden Pracht des
„Dejeuner sur l'herbe". Dieser Instinkt hat uns zu viel
köstliche, nicht weniger bedeutende, im Grunde noch ent-
scheidendere Werte erschlossen, als daß er zu tadeln wäre.
Kein Hinweis auf die Geschichte hat uns in Fragen
der Empfindung zu leiten, nicht die Gerechtigkeit gegen
einen Toten — er hat nichts mehr davon. Und wenn
wir wählen müßten: wer möchte nicht ohne Bedenken auf
den einen verzichten, wenn der Besitz uns nötigen sollte,
die unserer Verehrung Unentbehrlichen einzubüßen.
Aber bedarf es wirklich so harten Ausgleichs: Ist
der Raum für große Leute in unserem Gedächtnis be-
schränkt wie der Platz im Theater? Haben wir nicht
andere zurückerobert, die Jahrzehnte-, jahrhunderte-
lang der Liebe der Menschen entbehrten, weil man
ihre Vorgänger oder Nachfolger oder ihre Zeitgenossen
vorzog, weil sie nicht dem Geschmacke entsprachen ! L nd
hier glaube ich das verkehrte Kriterium zu berühren,
gegen das wir kämpfen müssen: man darf große Künstler
nicht wie Geschmacksachen behandeln. Nicht der Ge-
rechtigkeit gegen sie, sondern der Rücksicht auf uns schulden
wir ernstere Wertung. Was Generationen den Genuß Rem-
brandts verschloß, war die Dunkelheit seiner Leinwände,
1) Viele von dem jungen Freund seiner letzten Jahre B. Pata, der
an diesem Mißbrauch, wie bei Gros-Kost berichtet wird, keine Schuld
tragen soll.
2i 8 COURBET
die gegen die beliebten Farben der Wohnungen oder der
Frauenkleider verstieß, oder das durchaus nicht Zier-
liche seiner Gestalten, während die Mode auf Rokoko
stand. Eine andere Zeit wandte sich von Rubens ab,
weil ihre Strenge ihn barock fand, einer zärtlichen Epoche
waren die Primitiven verschlossen. Moden vergehen. Sie
sind berechtigte Äußerungen, Erfüllungen notwendiger Re-
aktionsbedürfnisse. Große Künstler sollten auf einer ge-
sicherteren Neigung stehen, weil die Relation zum Ge-
schmack, den ihre Werke so gut wie alle menschlichen
Produktionen verraten, nicht ihren Wert erschöpft. Was
wir an ihnen lieben, woraus wir Nutzen ziehen, ist mehr
als die unmittelbar nutzbare Anregung; mehr als die
Stärkung unseres Farben- oder Liniensinns, selbst
mehr als die Bereicherung unseres Formgefühls im all-
gemeinen, obschon diese Wohltat unendlich viel be-
deutet. Alles das sind Nützlichkeiten, nicht Beweg-
gründe; Vorteile, von der Tat des Künstlers mit-
geschwemmt. Das Große der Tat besteht in der
Erschließung einer Möglichkeit rein geistigen Genusses.
Jedes Kunstwerk ist ein Sieg über die Materie. Seine
Farben und Formen sind nur die Fahnen des Siegers.
Seine Errungenschaft ist, was wir zu jeder Stunde neu
erringen können: die Schwingung, die uns in die Höhe
trägt, die unerschöpflich ist, weil es uns nicht möglich
ist, zweimal im selben Zustand vor dasselbe Werk zu
treten. Darin beruht der Kunst unsterbliche Wohltat. Sie
gibt uns immer wieder, sobald wir nur wollen, sobald
wir uns nicht von Trägheit, von Äußerlichkeiten — auch
der Geschmack des Tages gehört dazu — zum Wider-
stand verleiten lassen. Und da wir durch die Gabe
reicher werden, liegt es in unserem Interesse, die Menge
der großen Vergessenen zu vermindern. Denn jedes ver-
gessene Genie zählt tausend unserer Seligkeit gestohlene
Stunden.
STUDIE, gegen i»6
Photo Durand-Ruel.
COURBETS STELLUNG IN DER ZEIT
WIR haben Courbet Genie genannt. Der Leser
sieht in dem Wort das selbstverständliche Epi-
theton jeder Biographie und denkt darüber nicht
weiter nach. Zum Glück, denn sonst würde er schließ-
lich als einziges Xichtgenie übrig bleiben. Wenn wir
nun aber mal das Wort ernst nehmen und ihm alle
verdiente Bedeutung zumessen: kann dann Courbet so ge-
nannt werden? Man wird den Begriff des Genies, der
schwankend ist wie warm und kalt, wie alle Gefühls-
220 COURBET
messungen, nur dann einigermaßen formulieren, wenn
man die genialen Individuen, aus deren gemeinschaft-
lichen Eigentümlichkeiten er füglich nur gewonnen werden
kann, von allen Nebensachen befreit. Geniale Allüren
haben nichts damit zu tun, und daß man diese an Cour-
bet vermißt, ist irrelevant. Die Geste, die zählt, ist
lediglich das Werk. Zweierlei mindestens gehört zum
genialen Werk, zwei Eigenschaften, die sich widersprechen
und jede knappe Formel paradoxal machen, deren ge-
meinsame Existenz aber nichtsdestoweniger bei allen
Genies nachweisbar ist: ein höchst Persönliches und ein
höchst Unpersönliches. Da die Vollkommenheit in der
Kunst wie im Leben immer nur relativ ist, d. h. immer
nur aus den Bedingungen des einen Werkes, des einen Künst-
lers gefolgert, nicht etwa an ,, Idealen", sondern nur mit sinn-
gemäß abstrahierenden Vergleichen mit anderen Werten
gleicher Art gemessen werden darf, kann sie nur in einer
Steigerung der Persönlichkeit liegen. Damit aber die
Steigerung zur Vollkommenheit wahrgenommen werde,
muß sie notwendig gleichzeitig unpersönlich sein, nämlich
sich den Bedingungen vernünftiger Äußerungsmittel, einer
Sprache, unterwerfen. Das Kunstwerk realisiert diesen wi-
derspruchsvollen Dualismus durch Aufgabe und Lösung.
Die Lösung ist persönlich, die Aufgabe unpersönlich. Nach
der heute allgemeinen Anschauung hält man sich nur an
die Lösung und glaubt die Aufgabe indifferent. Das
wäre richtig, wenn sich Aufgabe mit Materie, Lösung
mit Kunst deckten. Das ist aber, wie wir soeben ge-
sehen haben, durchaus nicht der Fall, denn sonst hätten
wir nur einen Begriff, der isoliert gar nichts bedeutet.
Die Materie, der Gegenstand, der Stoff deckt sich durch-
aus nicht mit der Aufgabe. Die Wahl der Aufgabe
nimmt vielmehr an dem Künstlerischen teil, wenn auch
nicht in der simplen Form, mit der sich die Freunde
des Genrebildchens zufrieden geben. Wir bemerken,
COURBETS STELLUNG IN DER ZEIT 221
daß die Kunst um so bedeutendere Wirkungen vollbringt,
je weniger persönlich, je allgemeiner, weitere Kreise um-
fassend, sie die Aufgabe wählt und desto persönlicher,
kürzeste Wege wählend, sie ihre Aufgabe erfüllt.
Dadurch strömen gleichzeitig Masse und Individuum in
das Werk, und diese Zweiheit fühlen wir in allen Großen.
Wir bewundern nicht nur, wir können uns angliedern,
treten zu einer Vielheit. Das Eindringen in Rembrandt
führt uns nicht nur in unser eigenes Innere, sondern läßt
uns unser Ich in einer größeren Welt wiederfinden. Der
Genuß konzentriert uns nicht nur, sondern macht uns
mitteilsam, gibt uns den Wunsch, unsere Nebenmenschen
zu umarmen; die Illusion einer Verbrüderung der
ganzen Menschheit. Das W7erk, die Lösung, so groß
die Vollkommenheit sein mag, scheint uns nur der Teil
eines Kosmos. Schon deshalb brennt man mehr darauf,
das neue Werk eines Künstlers, den man kennt, und sei
es auch das tausendste, zu erblicken, als das Werk eines
t nbekannten, auch wenn uns von ihm Wunderdinge
erzählt werden. Aus dem gleichen Grunde dulden wir
an einem geliebten Künstler gewisse Mängel, weil wir
mit ihm in die Welt gedrungen sind und gleichsam sehen,
von welcher Stelle er das Fragment nahm. Wir ergänzen
es mit dem übrigen. Die Vollkommenheit ergibt sich
als Notwendigkeit, das heißt, als stärkster Gegensatz des
Zufalls. Das Genie scheint uns ein Mittel, neue Not-
wendigkeiten zu erkennen. Dabei liegt das Gewicht auf
der Notwendigkeit, weniger auf der klaren Erkenntnis.
Denn diese wissen wir nicht nur vom Darstellungsver-
mögen des Künstlers, sondern auch von unserer Erkenntnis-
kraft abhängig; jene aber drängt sich uns mit entschei-
dender Deutlichkeit auf. Wir besitzen, wenn wir Velaz-
quez begreifen, nicht nur die Portraits Philipps oder die
Meninas usw., sondern ein Plus, das, auch wenn wir alle
Velazquez kennen, nicht erschöpft wird, das über seine
222 COURBET
Vollkommenheit hinausgeht. Wir werden nicht nur um
Bilder, sondern um eine Welt reicher. Unsere Lebens-
tätigkeit steigert sich infolgedessen. Der Genuß setzt
die selbsttätige Veredelung unserer Art in Bewegung.
Das trifft bei Courbet zu. Er gab nicht nur außer-
ordentliche Werke, sondern ließ etwas sehen, das über
ihn hinausging. Es war mehr als Realisierung eines Einzel-
falls, vielmehr eine allen offenbare Notwendigkeit neuer
Erfüllung, an der man teilnehmen, mitarbeiten konnte.
Daß er Nachfolger hatte, ist kein Beweis; Nachahmer hat
auch manche Eintagsfliege. Eher kann man die Tatsache,
daß diese Nachfolger ausnahmslos große Künstler wurden,
daß sich unter seinem Vortritt eine Glanzzeit entwickelte,
die einst so gefeiert werden wird, wie wir heute die Ve-
nezianer oder die Holländer preisen, als Beweis seines
Genies nehmen. Denn keinem der Nachfolger, so groß
sie sind, gelang, den Wert-Komplex der Eigenart Cour-
bets zu ersetzen und entbehrlich zu machen. Alle Genies,
das ist ohne weiteres aus der Geschichte beweisbar, machten
auf gleiche Art über kurz oder lang Epoche. Und wenn
man Courbet alles abstreiten will: daß er in der Malerei
die neue Zeit gebracht hat, muß ihm der Neid lassen.
EinNovum gehört zum Genie, weit genug reichend, einen
neuen Menschheitsbegriff zu finden. Courbet führte
der Malerei keine neue Technik zu, er brachte
eine neue Anschauung. Diese ist nicht mit Farben
und Linien abgetan, sie ist das Symbol einer weit über die
Malerei hinausgehenden geistigen Strömung der Zeit.
Wenn man die Kritiken für und wider den Meister
von Omans durchblättert, kommt unwillkürlich ein an-
derer Franzose ins Gedächtnis, der zur selben Zeit ebenso
lebhaft angegriffen und verteidigt wurde: Flaubert. Das
Requisitoire des berühmten Prozesses von 1857 gegen den
Verfasser der Madame Bovary bediente sich ungefähr der-
selben Argumente, die man gegen den Maler vorbrachte;
COURBETS STELLUNG IN DER ZEIT 223
ein wenig intelligenter übrigens bei aller Beschränktheit.
Mit Gründen, die weder für noch gegen den Dichter
Flaubert sprachen, verteidigte der Anwalt Senard,
dem der dankbare Autor nachher das Buch widmete,
seinen Schützling; wiederum intelligenter, sachlicher
als die mit der Malerei beschäftigten Literaten.
Angriffe und Verteidigung geschriebener Werke sind
zu allen Zeiten ein wenig intelligenter als die Boxe-
reien für und wider die bildende Kunst gewesen.
Senard wies nach, daß die Dinge so sind, wie sie Flaubert
malte, und ließ sich, zum Glück für den Angeklagten,
darauf ein, die Moral durch die Abschreckungstheorie zu
rechtfertigen. Die gleichen Argumente führten Proudhon
und die mit Courbet befreundeten Kritiker ins Feld.
Ganz in derselben Weise suchte man zur selben Zeit
in Deutschland Rembrandt zu rechtfertigen, den Kugler
in den dreißiger Jahren mit der Mäßigung eines milden
Richters geduldet hatte. Ähnlich verhielt sich bis vor
kurzem die Bourgeosie zu den Romanen Emile Zolas.
Freunden und Feinden entging, daß hier etwas ganz
anderes zu verteidigen oder anzugreifen war, als die per-
sönliche Moral; daß nicht dieser oder jener Künstler,
sondern die Gegenwart handelte, wenn Courbet oder
Flaubert, Manet oder Zola ihre Bilder entrollten.
Die neue Kunst des 19. Jahrhunderts verlegte das
Heroische auf einen neuen Standpunkt, entrückte das
Individuelle aus dem Bereiche der Einzelheit, verall-
gemeinerte, was man vorher die Seele nannte, materiali-
sierte sie und entmaterialisierte dafür in höherem Maße
die Bilder. Sie schuf eine neue Einheit und diente in
ihrem Bereich — im Bereich der Literatur, der bildenden
Künste und am deutlichsten von allen in der neueren Musik —
demselben Prinzip, das die Philosophie gleichzeitig in
strahlenden Geistern erkämpfte. Die Entwicklung, die
mit Kant begann, amputierte der Menschheit eine Illusion,
224
COURBET
nahm ihr das Recht zu den phantastischen Vorstellungen
der alten Metaphysik und leitete sie durch Schopenhauer
zu einem schwankenden aber realeren System, dem der
Pessimismus nur eine, durchaus nicht die einzige An-
wendung gab. Schopenhauer rettete sich vor dem düsteren
Schluß der Selbstvernichtung in das Reich der Künste.
Und war nicht gerade die moderne Kunst, die dem
Zweifel am Wert des Einzelwesens konsequent Rech-
nung trug, dieser Negation aber das Positive eines
größeren Kosmos gegenüberstellte, zur Zuflucht geeignet ?
Courbet zerstörte den Gedanken als Spiritus rector des
Bildes, die abstrakte Idee, die an sich geeignet sein sollte,
den Menschen zu erbauen; den Dualismus von Körper
und Seele des Kunstwerks. Nicht die Seele hob er auf, nur
widerlegte er den Aberglauben von einem isolierten Sitz der
Seele, des Schönen, und brach mit der scheinbaren Handlung,
die sich vor jeder Reflexion als ohnmächtig erweist. Und
gleichzeitig, während er auf solche Weise das Signal zum
Aufräumen mit vielen Vorurteilen gab, zeigte er den
stärkeren Faktor: .die Masse, die mit der Bewegung
allein das Schöne hervorbringt. Man schimpfte ihn
einen unpersönlichen Kopisten der Natur. Tatsächlich
entfernte er das Persönliche nur aus einem Teil des Kunst-
werks, der ungebildeten Augen als wesentlicher Vor-
gang erschienen war. Dieser Teil wurde zum seelen-
losen Detail, zum Fleisch, das nicht mehr Anspruch hatte
als das Tuch, auf dem es ruhte, oder der Vorhang da-
neben. Er tat die Idee dafür in das All, in den gesamten
Kosmos, durchströmte Fleisch und Tuch und Vorhang
mit demselben Impuls, malte die Landschaft wie einen
einzigen Körper, das Meer wie eine atmende Menge.
Das heißt, er malte, was die Philosophen der Zeit als den
Ursprung des Seins formulierten : die Kraft, den Willen.
Diese in der Philosophie unserer Tage ausklingende
Tat scheint mir der größte Triumph der neueren Kunst,
'■Z =
COURBETS STELLUNG IN DER ZEIT 225
die wir von Rembrandt an rechnen. Auch die dekora-
tiven Gebilde der Früheren erlaubten dem Teilnehmer
am Spiel, sich in der Kunst wiederzufinden. Er fand
sein Kleid, seine Geste, seinen Geschmack, seinen Stil.
Der Stil war der Schatten der Vielheit. Man erkennt
ihn in den Epochen, die uns als Stilperioden erscheinen,
als das Bezwungene der einzelnen. Denn wenn sich
die Persönlichkeit stark genug fühlte, brach sie die kom-
pakte Überlieferung und ließ sich von ihr höchstens den
Rahmen um das Bild fertigen. Oberflächliche Schätzung
unserer größten Besitztümer hat den Gemeinplatz ge-
schaffen, unsere Zeit sei jeden Stiles bar, weil wir keine
Stühle, Tische und Mietshäuser nach eigens vollendeten
Schemas besitzen. Die Malerei von Rembrandt bis zu
Courbet und darüber hinaus weist solche Aufgaben als
ihrer unwürdig zurück. Die Empörung gegen die Ein-
teilung in große und kleine Künste war, obgleich sie
wohltätige Folgen brachte, barbarischer Atavismus.
Schemas für das Gewerbe werden in der Zukunft me-
chanisch, mit der Maschine, geschaffen werden; die
Gegenwart zeigt schon deutlich den Weg. Daß man ein
paar Jahrzehnte darauf vergessen hat, ist kein welt-
erschütterndes Unheil, man hatte wichtigere Dinge zu
tun. Was die Kunst zu bringen hatte, war ein Stil
höherer Art, geeignet, die Menschen zur Besinnung
auf ihres Geistes edelste Kraft zu treiben; Gemeinschaften
zu deuten, die sich in lichteren Zeichen als der Not-
durft abgelauschten Formen verraten; Scheidungen zu
vollziehen, die tiefer gehen als die Differenzen zwischen
Massen gleichen Grades. Nicht persönlich allein ist
die Kunst unserer Zeit. Wäre sies, so vermöchten wir
nicht, von ihr zur Liebe zu den größten Meistern der
Vergangenheit zu gelangen, deren Namen sich auf Schritt
und Tritt, wenn wir von den unseren erzählen, auf
die Lippen drängen. Auch jene standen abseits vom
226 COURBET
Gepräge ihrer Tage. Kein Rembrandt, kein Velazquez,
kein Vermeer, kein Hals verraten uns die Formen, deren
man sich zu ihrer Zeit für materielle Bedürfnisse be-
diente. Aber jeder von ihnen bildete an den Gliedern
einer ewigen Sprache und steigerte die Vorstellung von
den höchsten Fähigkeiten der Menschheit; der geistigen
Kraft und des geläuterten Willens der Persönlichkeit.
. Nicht als Monisten feiern wir Courbet, sondern als Maler.
Das eine war er unbewußt, und hätte er es nicht zur Form
gebracht, brauchten wir nicht daran zu glauben. Nicht
das Prinzip ist sein Werk. Er brachte nur eine uralte
Wahrheit, die alle großen Werke erkennen lassen, zur
Sprache. Nicht daß er auf die Kraft wies, stimmt uns
zur Bewunderung; sondern daß er seine höchsteigene Kraft
so zu formen wußte, daß sie zu Unvergänglichem wurde.
SCHLUSSWORT
COROT und Courbet sind ungemein komplizierte
Erscheinungen. Der eine infolge eines überreichen
Lebens, das bis zum letzten Tage tätig blieb, zwar
höchst organisch, aber unübersehbare Mannigfaltigkeit
entfaltend. Der andere, weil er eine einzigartige Konstel-
lation scheinbar heterogener Fähigkeiten mitbrachte. Ich
verhehle mir nicht, manche Seiten beider Künstler kaum
berührt zu haben, aber mußte mit der Gefahr rechnen,
bei Vergrößerung des Bildes zu verwirren statt zu klären.
Denn selbst bei Corot und Courbet darf man in Deutsch-
land kaum auf vorbereitete Leser hoffen. Ich meine
Leser, die soviel von beiden kennen, um den notwendig
andeutenden Betrachtungen literarischer Darstellung zu
folgen. Deutschland hat sich an dem Enthusiasmus der
Amateure Frankreichs für Corot nur spärlich beteiligt.
Es gibt, so viel ich weiß, in keiner einzigen unserer öffent-
lichen Galerien ein Werk seines Namens; Courbet ist erst
seit kurzem in Berlin und Dresden vertreten. Die besser
versehenen Privatsammlungen in Hamburg, Berlin und
Frankfurt a. M. sind dünn gesät. Die Ausstellungen, diese
heute wichtigsten Pflegeanstalten der Kunst, auch wenn
sie zuweilen Lazaretten gleichen, sehen in den beiden Mei-
stern dagewesene Leute, laufen den Pariser Tagesgrößen
nach, die dort nur im Salon gelten, oder befleißigen sich, die
Jüngsten herüberzuholen, bewunderungswerte Künstler,
die hier nicht verstanden werden. Nicht verstanden
werden können, scheint mir. Es gibt gewisse elementare
Erscheinungen wie van Gogh-, von so heftiger Einseitigkeit,
daß sie in jedem, auch dem am wenigsten vorbereiteten
Milieu, vielleicht gerade da am ersten, das Staunen
hervorrufen, das ein Zufall zur Bewunderung werden
läßt. Es fragt sich, ob das Zündende immer die Kunst
van Goghs ist, oder das ungewohnte Krasse, das
228 SCHLUSSWORT
Barbarische, das man in ihm findet, und die pikante bio-
graphische Notiz, daß er verrückt war. Und diese Ver-
mutung, die unter anderen Umständen grotesk erscheinen
würde, erhält vielsagende Bekräftigung durch die Art,
mit der man andere eingeborene Künstler preist, die über
ihrer ungewohnten, barbarischen Kraßheit vergessen
haben, sich die Entschuldigung van Goghs, sein unan-
tastbares Künstlertum, anzueignen. Schwerer wird es
diskreteren Leuten, wie dem Kreise Bonnards oder den
Neo-Impressionisten, denen man Fingerfertigkeit vorwirft,
weil man ihre Gestaltung in Wirklichkeit nicht sieht.
Techniker in dem unabweisbar verächtlichen Sinne sind
in Deutschland immer die Leute, die keine Geschichten
erzählen. Aber auch viele Künstler der älteren Generation
werden nicht besser verstanden. Noch vor kurzem ging
eine Blütenlese Renoirs spurlos an Berlin vorüber, und
man konnte bei dieser Gelegenheit erstaunliche Dinge in
den Zeitungen lesen. Dagegen wird Manet gefeiert.
Der Grund dieser schwer verständlichen Disharmonien
des Urteils liegt an der mangelhaften Diät, mit der das
Aufnahmevermögen traktiert wird. Mit dem Prinzip,
dem Gaumen immerfort neue Nahrung zu bieten,
gleichgültig ob sie Gauguin oder Monet heißt, wird die
solideste Empfängnis verdorben. Zudem scheint mir
das Empfängnisvermögen der Deutschen von vornherein
nichts weniger als zuverlässig, sondern mehr einem
Basar vergleichbar, in den jeder hineingeht, der fünf
Minuten übrig hat. Dieses Vermögen läßt sich nur durch
rationelle Pflege verbessern. Unsere Kunstpflege müßte
den flinken Snob abstreifen und dafür etwas vom sorg-
lichen Hausvater bekommen. Die Gleichzeitigkeit, mit
der man heute alles mögliche und unmögliche in das
geduldige Publikum hineinstopft, würde durch ein weniger
übereiltes Hintereinander der Erscheinung vorteilhaft er-
setzt. Und wenn dadurch der Schein des aktuellen
SCHLÜSSWORT 229
Deutschlands verlöre, dessen Kern doch nicht stark genug
ist, um nicht von hier bis Paris seine grotesken Seiten
sehen zu lassen, der Bestand an wirklichem Besitz, der
nicht nur zur Unterhaltung, sondern zur Entwicklung
dient, würde gewinnen. Solange man in Deutschland
den Kreis der Gericault, Daumier, Delacroix, Corot,
Courbet und die Impressionisten nicht so intensiv kennt,
wie man etwa heute Böcklin zu kennen glaubt, sollte
man jüngere Franzosen nicht über die Grenze lassen.
Diese haben uns nicht nötig, lachen unsere steife Mo-
derne im stillen nur aus, und wir können sie noch nicht
brauchen. Es ist unmöglich, ein geordnetes Kunstbild
zu erhalten, solange wir in einem Atem Dinge preisen,
die sich gegenseitig aufheben, wie das tagtäglich bei
uns geschieht. 1 Die Weitherzigkeit schmückt sich mit
dem Prestige des Liberalismus und weist Bestrebungen,
die sich gegen die zehntausend Standpunkte sträuben,
als enge Richtungspolitik zurück. Aber handelt es sich
wirklich um Richtungen? Wem es gefällt, der mag in
Manet eine andere Richtung als in Puvis, in Rembrandt
eine andere als in Poussin erkennen. Verfolgt er jede
weit genug, so entgeht ihm nicht der Punkt, wo die
eine die andere berührt, und er entdeckt, daß es nicht
verschiedener Standpunkte bedarf, um beiden gerecht
zu werden. Er findet zumal, daß die ganze moderne
Kunst, soweit sie zu Recht besteht, sich nicht um ein
Haar von den Grundlagen entfernt, die der an alter
Kunst gelernten Ästhetik gedient haben. Corot und
Courbet sind dafür unzweideutige Exempel.
Der herrschenden Verwirrung sucht man bei uns mit
dünnwandigen Systemen beizukommen. Der deutsche
Ästhet gleicht dem Registratur, der jedem Stück ein
besonderes Fach anweist und, da er dann mit ebenso-
vielen Fächern hantiert als Akten da waren, sich nur
noch schwerer als vorher zurechtfindet. Er ordnet nicht,
23o SCHLUSSWORT
sondern etikettiert nur und gewinnt den scheinbaren
Vorteil, Auseinandersetzungen zu vermeiden. Das Ver-
fahren, aus Qualitätsunterschieden willkürlich Arten zu
bilden und daraus die Erlaubnis zu gewinnen, jede Art
dankend zu quittieren, verböte sich in jedem anderen
Beruf. Daß wir uns damit zufrieden geben, ist unserer
Gesittung schlimmster Mangel und läßt unser Kunst-
Jeben verkümmern. Unsere vielen Richtungen haben
uns die eine vorenthalten, die einzig ist. Es gibt nur
eine Kunst, wie es nur eine Natur gibt. Sie ist auch
bei uns erkennbar, nur müssen wir ernster als bisher
Farbe bekennen und entscheiden, was von den Rich-
tungen, die sich bei uns wie Gegensätze gegenüberstehen
und unmöglich alle denselben höchsten Zweck gleich
gut erfüllen können, uns zu fördern vermag. Wir be-
dürfen einer Kontrolle unserer einheimischen Kunst.
Wir werden sie nicht gewinnen, solange das würdige
Vergleichsobjekt nicht erkannt wird; wir können e:s nicht
erkennen, wenn wir es alle fünf Minuten ändern. Unsere
Zeit ist arm, denn sie entbehrt der Vielheit der Felder,
die einst von kunstgeübter Hand bestellt wurden. Die
Kunstgebiete der Alten gleichen heute verfallenen Ka-
nälen, und es steht dahin, ob wir uns ihrer jemals
wieder bedienen werden. Unsere Zeit ist reich, denn
sie besitzt eine Kunst, die uns zur Verinnerlichung treibt
und ihre Wohltat gibt, ohne sich den unabweisbaren
Forderungen unseres materiellen Daseins zu widersetzen.
Was unsere edelsten Instinkte ihr verdanken, ist soviel,
daß der Verzicht auf die verlockende Vielheit der alten
Kunst uns wie gerechte, ja wie eine notwendige Kom-
pensation erscheint. Arm werden wir erst, wenn wir
den einzigen Weg zum Glück aus den Augen lassen.
ND
553
C8M45
Meier-Graefe, Julius
Corot und Courbet
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