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Full text of "Corot und Courbet. 2. Aufl., um 33 neue Abbildungen erw"

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J.MEIER-ORAEFE 

CO  ROT  und  COURBET 

ZWEITE  VERMEHRTE  AUFLAGE 


<_n= 


R.  PIPER  &  CO.  VERLAG  -MÜNCHEN 


MEIER-GRAEFE 
COROT  u.COURBET 


II    in  l»H   I     Itl.KSSKK, 

Photo 


COROT  ind  COURBET 

VON 

JULIUS  MEIER-GRAEFE 


ZWEITE  AUFLAGE 
l'M  33  NEUE  ABBILDUNGEN  ERWEITERT 


Ä 


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MÜNCHEN  ::  ::   R.  PIPER   &  Co.,    191 2 


N 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN 


CAMILLE  COROT 

Kurydice  blessee      1868 — 70 Titelbild 

Selbstportrait  von    1S35 Seite   5 

Ilagar  in  der  Wildnis      1835 nach  Seite   16 

Genzano      1843 Seite    17 

La  nymphe  rappelant  l'amour      1850 — 55 ,       19 

La  Toilette      1859 

Les  Baignemes  de  Bellinzona 47 

Nymphe  couchee  au  bord  de  la  mer      1865 vor  Seite  49 

Le  chemin  aux  pommes      1850  —  60 Seite   57 

Tivoli  von  der  Villa  d'Este  aus  gesehen     1843 nach  Seite  64 

Interieur  limousin      1850 — 60 ,,  .,64 

Le  port  de  la  Rochelle      1851 64 

Paysanne  bretonne      1855  —  65 ,,64 

Altes   Landhaus  in  der   Nähe  von  Semur      1855/60       ....      vor  Sei: 

l'aysanne  ä  la  source      1860 — 65 Seite   77 

Jeune  algerienne,  gegen    1S72 „       79 

Femme  au  chevalet      1865 — 68 nach  Seite  80 

La   liseusc      1868 80 

Meditation      1869/70 ..88 

Dame  im   Atelier      1870 ,,88 

La  dame  bleue      1874 Seite  92 

("oubron      1873 109 

Le  moine      1874 nach  Seite    112 

Chäteau  Thierry     1863 Seite   115 


GUSTAVE  COURBET 

Portrait  von   Henri   Rochefort      1870 Seite  119 

Le  hamac      1844 nach  Seite  128 

Portrait  de  Baudelaire  (gegen    1 S45  < 128 

I.'F.nterrement  d'Ornans      1850     (Text-Abbildung) Seite  134 

L'Aprn-diner  a   <  »rnans      1849 nach  Seite  144 

Proudhon  et  ies  enfants,  gegen    1853 144 


Portrait  de  Mme.  Crocq      1854/55 nach  Seite    144 

Les  demoiselles  de  village      1 85 1 n  148 

L' Atelier  de  Courbet      1885 Seite   151 

Le  ruisseau  du  Puits-Noir nach  Seite    160 

L'enterrement  d'Ornans      1850 ;  160 

L'atelier  de  Courbet      1885 168 

Bonjour  Mr.   Courbet      1854 (j  n       x68 

Les  demoiselles  au  bord  de  la  Seine      1857 168 

Die  Ringer ,  „168 

Les  baigneuses      1853 Seite   169 

Le  repos      1855 n       1?I 

Felsen  in  der  Umgebung  von  Omans nach  Seite   1 76 

Le  retour  de  la  Conference      1862 n  1  -t, 

Au  bord  de  la  mer      1865        Seite   185 

Femme  couchee 1S7 

Le  reveil      1864 nach  Seite   192 

Detail  aus  le  reveil ,       192 

Marine     ca.    1870 Seite   199 

Detail  aus  Demoiselles  au  bord  de  la  Seine ,,       201 

Marine      1865—76 nach  Seite  208 

Halali  du  cerf     1867 „  M       208 

Studie      1865 Seite  219 

Stilleben     gegen   1863 nach  Seite  224 

Les  Oranges      1 87 1 fJ  M      224 


INHALTSVERZEICHNIS 

SEITE 

EINLEITUNG i 

COROT 

MENSCH  UND  KÜNSTLER 6 

DIE  LEHRE 19 

DIE  FRAUEN  COROTS ^ 

DER  LANDSCHAFTER 63 

DIE  BESTE  ZEIT 79 

VERMEER— CHARDIN-COROT 95 

COROTS  STELLUNG  IN  DER  GEGENWART  .     .     .     .  in 

COURBFI 

DER  MENSCH  UND  DER  KÜNSTLER 121 

FRÜHZEIT 135 

VOM  „BEGRÄBNIS  VON  ORNANS"  ZUM   „ATELIER*1  151 

I.K  FAISEUR  DE  CHA1R 171 

DAS  NEUE  PROGRAMM 187 

OOURBETS  STELLUNG  IN  DER  KUNST 201 

»WORT 227 


EINLEITUNG 

DER  Verfasser  versucht  mit  diesem  Buche  eine 
Unterlassungssünde  gutzumachen.  Die  mehr  als 
lückenhafte  Würdigung  der  beiden  Künstler,  denen  diese 
Seiten  gewidmet  sind,  in  seiner  „Entwicklungsgeschichte" 
forderte  berechtigte  Einwände  heraus.  Corots  Ruf  be- 
darf keiner  Förderung,  am  wenigsten  von  so  inkompe- 
tenter Seite.  Er  erfreut  sich  universaler  Schätzung 
und  nähert  sich  jener  weit  sichtbaren  Bedeutung,  die 
das  Eingehen  auf  Nuancen  zuläßt  und  gleichzeitig  einen 
über  den  Kreis  der  zeitgenössischen  Geschichte  hinaus- 
gehenden Vergleich  erlaubt.  Mit  Courbet  steht  es 
anders,  und  sich  bei  der  Betrachtung  dieses  Anführers 
der  modernen  Malerei  mit  Andeutungen  zu  begnügen, 
war  unverzeihliches  Vergehen  —  wenn  nicht  der  Er- 
kenntnis, so  der  Darstellung,  die  infolgedessen,  zumal 
vor  einem  deutschen  Publikum,  wichtige  Elemente  der 
Entwicklung  dem   Mißverständnis  aussetzte. 

DerfreundlicheLeserverzeihe,daßichmit  diesem  persön- 
lichen Bekenntnis  beginne.  Mein  Fall  ist  der  seine.  Unsere 
Schnellebigkeit  erlaubt  uns  nur  zu  oft  nicht,  die  tief- 
gehende Auseinandersetzung  mit  den  entscheidenden 
Werten,  weil  die  aktuellen  zu  viel  oberflächliche  Inter- 
essen absorbieren.  Das  Unrecht  gegen  Courbet  ist  be- 
sonderer Art.  Man  verehrt  seine  Nachfolger  und  kennt 
ihn  selbst  kaum  dem  Namen  nach.  Wenn  uns  Deutschen 
forderlich  ist,  Corot  nahe  zu  kommen,  weil  ihn  viele 
Tugenden  auszeichnen,  die  unseren  Instinkten  zum 
N  hteil  deutscher  Kunst  nur  selten  gelegen  sind:  zu 
Courbet  sollte  uns  schon  die  Erkenntlichkeit  treiben 
als  zu  dem  Meister,  dessen  Einfluß  die  bedeutendste 
Malergeneration  des  zeitgenössischen  Deutschlands  die 
kräftigste  Forderung  verdankt.  Doch  bedarf  es  nicht 
dieser  Erinnerung.      Ich   hoffe  zu  zeigen,  daß,  ganz  wie 


2  EINLEITUNG 

sich  Corot,  jenseits  seiner  historischen  Bedeutung,  jedem 
Blick  auf  eins  seiner  Werke  erschließt,  so  Courbet,  auch 
abgesehen  von  seiner  bei  uns  und  in  anderen  Ländern 
glänzend  gespielten  Rolle,  unmittelbaren  Genußwert 
äußert;  ja  daß  die  Stärke,  mit  der  dieser  große  Künstler 
die  wichtigsten  Wirkungsfaktoren  unserer  Empfindungen 
erkannte,  ihn  vielleicht  der  Gegenwart  noch  näher  bringt 
als  Corots  milde  Größe.  Wir  bringen  ein  Stück  unserer 
Selbst  in  unser  Bewußtsein  zurück  und  stärken  unser 
Vertrauen  auf  unsere  Art,   indem  wir  die  seine   erkennen. 


CAMILLE  COROT 


'   \NIi'  I      Selb»tj.  1835.     o,u 

Offizien,  Florenz. 


MENSCH  UND  KÜNSTLER 

SEINE  Mutter,  von  ihm  „La  belle  dame"  genannt, 
war  eine  der  gesuchtesten  Modistinnen  im  ersten 
und  zweiten  Kaiserreich  und  stammte  aus  der  Schweiz. 
Sein  Vater,  Sohn  eines  Perückenmachers,  hielt  die  Kasse. 
Der  Laden  lag  am  Anfang  der  Rue  du  bac,  gleich  an 
der  Seine  —  vor  hundert  Jahren  war  das  gute  Gegend  — 
nicht  sehr  groß  aber  fein,  .soigniert.  Wer  etwas  auf  sich 
hielt,  ließ  dort  arbeiten.  Es  gibt  von  Gavarni  eine  rei- 
zende Gravüre  aus  dem  Jahre  1830  „modes  de  Mme. 
Corot":  Ein  Pärchen  von  der  heute  wieder  entdeckten, 
intimen  Eleganz  der  Zeit.  Sie  im  süßesten  Kapottehüt- 
chen mit  großen  Bindebändern,  in  dem  großen  gerad- 
linigen Sessel  englischer  Herkunft;  der  Geck  steht  in 
langem  Glockenrock  daneben. 

Die  Mutter  liebte  den  Jungen  zärtlich.  Der  Vater, 
echter,  nüchterner  Bourgeois  mit  anständigem  Embonpoint, 
tadellos  reell,  betrachtete  ihn  mit  Erstaunen,  wunderte 
sich  noch,  als  man  von  dem  fünfzigjährigen  Sohne  ein 
Bild  kaufen  wollte,  und  konnte,  als  die  Ehrenlegion  eintraf, 
nicht  fassen,  daß  die  Auszeichnung  nicht  für  ihn  selbst, 
sondern  für  den  Maler  bestimmt  war.  Man  machte  dem 
Jungen  keine  allzugroßen  Schwierigkeiten,  den  merk- 
würdigen Beruf  eines  Malers  zu  ergreifen,  hänselte  ihn 
allenfalls.  Der  Alte  schrieb  das  Geld  gut,  das  für  die 
Etablierung  eines  Geschäftes  für  den  Sohn  zurückgelegt  war, 
und  zahlte  ihm  eine  anständige  Rente.  Dumme  Streiche 
fürchtete  man  nicht.  Camille  war  ein  gutes  Kind. 
Der  Rest  kam  bei  dem  Gang  der  Geschäfte  nicht  in 
-je. 

Konnte  aus  solchem  Milieu,  in  dem  das  gemütlichste 
Behagen  herrschte  und  nur  die  zärtlichsten  Dinge  ver- 
handelt wurden,  wo  jede  Gebärde  etwas  geschmackvoll 
Frauenhaftes  erhielt,  ein  revolutionärer  Künstler  hervor- 


8  COROT 

gehen?  Nicht  weniger  als  alles  sprach  dagegen.  Zwar 
war  er  körperlich  unglaublich  robust  und  verfügte  wie 
Courbet  über  ungewöhnliche  Kräfte.  Der  Siebzigjährige, 
der  noch  mit  der  Sonne  auszog,  der  Nässe  und  der 
Kälte  trotzte,  wie  ein  Bauer  gekleidet  ging  und  wie 
ein  Handwerksbursche  durch  die  Welt  zog,  schien  eher 
der  Sohn  eines  Landmannes.  Nur  das  Gesicht  verriet 
das  Sanfte  seines  ganzen  Wesens.  Es  sah  fast  wie  das 
eines  Landpastors  aus,  eines  von  der  allerbesten  Sorte, 
dem  die  Frömmigkeit  aus  der  Natur  kommt,  der,  ge- 
wohnt, mit  einfachen  Menschen  umzugehen,  das  salbungs- 
volle Wort  zur  herzlichen  Gebärde   umformt. 

Alles  andere,  nur  kein  Revolutionär.  Er  war  noch 
im  18.  Jahrhundert  geboren,  um  ein  Jahr  älter  als 
Delacroix,  aber  hatte  gar  nichts  von  der  wilden 
Zeit.  In  dem  robusten  Körper  saß  eine  mädchenhafte 
Seele.  Seine  Briefe  an  die  Eltern  und  Freunde  klingen 
wie  Pensionatsergüsse.  Er  war  fromm,  ging  zur  Messe 
und  genierte  sich  nicht,  im  Kreise  der  Bohemiens 
vom  lieben  Gott  zu  sprechen.  Aber  zu  alledem  muß 
man  seine  Eigenheit  hinzurechnen,  das  Corothafte,  das 
all  seinem  Gebaren  etwas  Besonderes  gab.  So  war 
seine  Seele  wohl  mädchenhaft,  aber  hielt  —  nicht  mit 
großen  Worten,  sondern  im  stillen  um  so  energischer  — 
an  seinem  Willen  fest.  So  war  er  sanft,  aber  dieses 
Sanfte  kam  nicht  von  einer  Beschränktheit  der  Persön- 
lichkeit, sondern  von  übergroßem  Reichtum  her,  der 
sich  so  auf  bequemste  Weise  des  Überschusses  entäußerte. 

Kein  Mensch  war  glücklicher.  Seine  geringen  An- 
sprüche konnte  er  mehr  als  in  ausreichendem  Maße 
befriedigen.  Freunde  besaß  er  mehr  als  große  Fürsten, 
Feinde  hat  er  kaum  gehabt.  Warum  sollte  er  nicht 
fromm  sein?  Denn  seine  Frömmigkeit  hielt  sich  nicht 
an  enge  Formeln.  Sie  steckt  in  dem  Ausspruch,  den  er 
einmal  über  das  Jenseits  tat:  „Na,  ich  hoffe,  man  malt 


MENSCH  UND  KÜNSTLER  9 

wenigstens  da  oben!*'  Sie  vermischte,  wie  oft  in  Frank- 
reich, das  von  Gott  Gewollte  mit  dem  Schönen,  die 
Engel  mit  den  Nymphen,  den  Himmel  mit  dem  Olymp. 
Er  war,  obschon  ein  guter  Christ,  kein  schlechter 
Grieche  aus  heidnischen  Zeiten.  Einen  Dichter  nannte 
ihn  Theophile  Gautier,  aber  das  ist  beinahe  zu  richtig. 
Dieser  Dichter  war  ein  echter  Bourgeois.  Als  ihn  ein- 
mal in  reiferen  Jahren  ein  Freund  das  Angeln  lehrte, 
vergaß  Corot  über  diesem,  dem  echten  Pariser  Spießer 
unentbehrlichen  Sport  14  Tage  das  Malen.  Seine 
Leidenschaft  waren  Familienfeste.  Er  fehlte  bei  keiner 
Taufe,  bei  keiner  Trauung;  stand  in  der  Politik  bei  den 
äußersten  Konservativen,  ließ  sich  von  Courbet  gewaltig 
imponieren,  bekehrte  sich  zu  Delacroix  erst  im  Alter 
und  konnte  Manet  nicht  ausstehen.  Sicher  war  der 
Künstler  in  ihm  größer  als  der  Mensch;  so  scheint  es 
wenigstens,  weil  wir  den  Großen  nicht  gern  Gutmütig- 
keit zutrauen.  Und  doch  gehörte  der  Pere  Corot  und 
das,  was  er  machte,  so  zusammen  wie  Leib  und  Seele. 
Es  klingt  verdächtig  seicht,  wenn  er  sich  bei  dem  Land- 
schafter Dutilleux  anmeldet,  um,  wie  er  sagt,  mit  ihm, 
das  heißt  mit  dem  nicht  übermäßig  begabten  Freunde, 
„ordentliche  Chefs-d'ceuvre"  zu  machen,  wenn  er  „seine 
Flöten  putzt",  „um  für  die  kleinen  Vögelchen  im  Walde 
zu  arbeiten".  Wer  glaubt  heute  noch  dergleichen? 
Gibt  es  noch  Kinder  in  der  Welt?  Darf  es  sie  geben? 
I  in  Kind  war  er,  das  trifft  wohl  am  besten  seine 
Art.  Ein  Kind,  das  eines  Morgens  seine  alte  Adele, 
die  Wirtschafterin  des  Junggesellen,  nicht  anzusehen 
wagte,  weil  er  ihr  des  Abends  vorher  ein  nicht  ganz 
sanftes  Wort  gesagt;  der  dem  Freunde,  dessen  unver- 
schämtem Pumpversuche  er  einmal  siegreich  widerstanden 
hatte,  nachlief,  um  ihm  die  Tausendfrankscheine  zu 
bringen;  der  kein  Geschenk  machte,  ohne  dem  unge- 
betenen   Gaste    zu    empfehlen,    recht     bald    wiederzu- 


io  COROT 

kommen.  Den  zweifelhaften  Händlern,  die  ihm  falsche 
Bilder  brachten,  malte  er  echte  auf  die  alten,  —  Roger 
Miles  erzählt  ein  paar  hübsche  Anekdoten  darüber1)  — - 
und  noch  auf  seinem  Sterbebette  signierte  er  Tedesco 
ein  vergessenes  Gemälde.  Er  war  viel  gutmütiger,  als 
Kinder  zu  sein  pflegen,  aber  hatte  den  Optimismus, 
der  ihnen  eigen  ist.  Seine  Biographie,  die  Moreau- 
Nelaton  mit  größtem  Fleiße  zusammengestellt  hat,  liest 
sich  wie  die  Lebensgeschichte  eines  Kindes,  das  80  Jahre 
wurde.-) 

Er  arbeitete  im  spielen,  mit  einer  Phantasie,  wie  sie 
nur  dem  Knabenalter  eigen  zu  sein  pflegt.  Der  Katalog 
Robauts  zählt  2500  Werke.  Noch  in  seinen  letzten 
Lebensjahren  malte  er  an  mehreren  Bildern  zugleich 
und  brachte  manchmal  in  einer  Woche  ein  halbes 
Dutzend  fertig.  Kindlich  ist  die  ganze  Art  seiner 
Kunst.  Ich  habe  bei  jeder  seiner  Zeichnungen  den 
Eindruck,  einen  ganz  jungen  Menschen  vor  mir  zu 
sehen,  der  mit  der  Naivität  des  Anfängers  gestaltet. 
Bis  zum  18.  Jahre  war  er  in  Rouen  auf  der  Schule, 
dann  8  Jahre  Kommis,  dann  kurz  bei  dem  gleichaltrigen, 
frühreifen  Klassizisten  Michallon,  und  als  dieser,  in  ge- 
wissen kleinen  Landschaften  viel  versprechende  Künstler 
schon  1822  starb,8)  trat  Corot  bei  Victor  Bertin  ein,  dem 
Akademiker  par  excellence.  Aber  er  hat  eigentlich  nie 
eine  rechte  Schule  gehabt.  Darin  verbirgt  sich  das  Neu- 
zeitliche seiner  Art,  der  Unterschied  mit  der  alten  Kunst, 
mit  Ingres.     Dieser  war  das  Höchste  von  Schule,   Corot 


J)  Album  classique  des  Chefs  — ■  d'oeuvre  de  Corot  (Braun  &  Cie., 
Paris   1895). 

'-)  L' oeuvre  de  Corot  par  Alfred  Robaut,  catalogue  raisonne  et 
illustre,  precede  de  l'histoire  de  Corot  et  de  ses  ceuvres  par  Etienne 
Moreau-Nelaton  (H.  Floury,  Paris   1Q05). 

s)  Vgl.  über  diesen  ersten  Lehrer  und  Freund  Corots,  der  nicht  ohne 
Einfluß  günstigster  Art  auf  ihn  gewesen  sein  muß,  die  kurzen  Angaben 
bei  Andre  Michel,  „Notes  sur  l'Art  Moderne"  (Colin  &  Co.,  Paris  1896), 
S.  9  u.  ff. 


MENSCH  UND  KÜNSTLER  11 

das  Höchste  von  Autodidakt.  „Confiance  et  conscience" 
war  seine  Parole,  zwei  Worte,  die  für  ihn  im  Grunde 
dasselbe  bedeuteten,  denn  er  bezog  die  conscience  nur 
auf  den  eigenen  Maßstab,  die  eigene  Empfindung,  wie 
sie  durch  die  Natur  gelöst  wird.  Nichts  anderes  ließ 
er  gelten,  an  nichts  anderes  denken,  auch  nicht  an  die 
alten  Meister.  Kind  sein,  die  Augen  aufmachen,  träu- 
men, et  voilä.  Ingres  brachte  es  fertig,  höchste  Kultur 
so  intensiv,  fast  könnte  man  sagen,  physisch  in  sich  auf- 
zunehmen, daß  seine  Formel  beinahe  wie  Natur  erscheint. 
Fast,  denn  ein  Rest  bleibt  bei  ihm  immer.  Man  ver- 
gißt nie,  selbst  nicht  bei  dem  Bain  turc,  daß  man  eine  Ma- 
lerei vor  sich  hat,  eine  Konstruktion,  und  kann  vor  der 
glänzendsten  Odaliskenzeichnung  nicht  ganz  das  Deko- 
rative verwinden.  Corot  ist  nur  Mensch,  aber  ein  so 
selten  reines  Exemplar  von  so  göttlichem  Instinkt,  daß 
ihm  die  lieblichste  Form  zugleich  die  natürlichste  wird. 
Darin  liegt  sein  großer  Reiz  und  auch  seine  schlechter- 
dings alleinstehende  Bedeutung.  Die  Kunst  des  Parti- 
pris  der  Stilisten,  selbst  eines  Ingres,  hat  alle  möglichen 
Schönheiten,  aber  verbirgt  das  Elementare.  Sie  wirkt 
durch  die  Überlieferung.  Der  Künstler  identifiziert 
sich  nicht  vollkommen  mit  ihr.  Der  Beschauer  dringt 
erst  nach  Überwindung  dieser  Überlieferung  zur  eigent- 
lichen Form  des  Künstlers,  zum  Menschlichen,  und  der 
Umweg  macht  ihn  zuweilen  müde.  Nichts  dergleichen 
hemmt  uns  bei  Corot.  Wir  glauben  seinen  Dingen  ohne 
weiteres,  weil  wir  in  der  Art  seiner  Mitteilung,  in  jedem 
Strich,  die  gestaltende  Empfindung  spüren.  Dadurch 
gehört  Corot  zur  Moderne.  Aber  er  gehört  nicht  in 
jedem  Sinne  zu  ihr.  Was  die  vom  Schmuck  der  alten 
Kultur  entblößte  Zeit  am  wesentlichsten  brauchte,  war 
die  schnelle  Fähigkeit,  das  Menschliche  zu  äußern.  Das 
tat  er.  Aber  daraufhin  arbeiteten  auch  Delacroix  und 
Daumier,   und   doch  rechnen  wir  sie  nicht  zu   den  Mo- 


12  COROT 

dernen.  In  beiden  wirkt  noch,  unendlich  modifiziert, 
das  Stilelement  der  Alten.  In  Delacroix  macht  es  die 
Romantik  rhetorisch,  in  Daumier  biegt  es  sich  zur 
Karikatur.  Sie  sind  beide  Encyklopädisten  der  Formen- 
revolution, vertreten  die  Rolle  eines  Diderot,  aber  sind 
noch  nicht  Revolutionäre   der  Tat. 

Deren  sollte  die  Zeit  eine  stattliche  Anzahl  gebären. 
Corot  gehört  nicht  zu  ihnen.  Es  hieße  St.  Vincent 
de  Paul  einen  Jakobiner  nennen,  wollte  man  Corot  Um- 
stürzlerideen zutrauen.  Es  fehlt  ihm  das  subjektiv 
Revolutionäre  der  Rousseau  und  Dupre  und  noch  viel 
mehr  das  der  Courbet-Schule.  Aber  dieser  Mangel 
gibt  ihm  just  die  Ausnahmestellung  in  seinem  Zeitalter 
und  enthält  den  mit  nichts  zu  vergleichenden  Segen 
seines  Wirkens.  Revolutionäre  kamen,  mußten  kommen. 
Die  Zeit  rief  sie.  Das  Programm  ergab  sich  von  selbst. 
Courbets  Realismus  —  freilich  nicht  seine  Malerei  — 
ist  eine  fast  mathematisch  berechenbare  Erscheinung. 
Ein  Corot  aber  stand  nicht  in  dem  Programm.  Er 
war  die  Überraschung  des  Himmels.  Gerade  das  Nicht- 
revolutionäre seiner  Gabe  wirkte  Wunder.  Es  brachte 
ihn  um  den  augenblicklichen  Erfolg,  um  den  Enthusi- 
asmus, der  Courbet  zujubelte  und  dem  Corot  selbst  in 
rührender  Weise  Tribut  brachte  (glaubte  er  doch  einmal, 
angesteckt  von  Daubignys  Enthusiasmus,  dem  Himmel 
danken  zu  müssen,  in  einem  Jahrhundert  mit  Courbet 
zu  leben),  aber  es  bewahrte  ihn  vor  dem  tiefen  und 
ungerechten  Fall,  vor  dem  ungeheuerlichen  Geschick 
Courbets,  den  man  wie  ein  abgebrauchtes  Möbel  in  die 
Ecke  stellte,  nachdem  er  der  Welt  das  Losungswort 
gebracht  hatte.  Man  glaubte  Courbet  mit  seinem  Pro- 
gramm erledigt  und  übersah,  daß  er  himmelhoch  dar- 
über hinwegragte.  Corot  hatte  kein  formuliertes  Pro- 
gramm außer  dem  „Confiance  et  conscience".  Tat- 
sächlich  aber   realisierte   er   das   denkbar  Positivste  aller 


MENSCH  UND   KÜNSTLER  13 

Programme:  die  Erhaltung  der  Überlieferung  im  neuen 
Geiste.  Nicht  die  Form,  sondern  der  Geist  der  Über- 
lieferung lebte  in  ihm  und  wurde  unbewußt  zum  Triebe. 
Er  wollte  nichts  anderes  malen,  als  was  er  sah,  aber 
er  malte  in  Wirklichkeit  alles  mit,  was  ein  Mensch,  der 
durch  und  durch  Franzose  war,  empfand;  allen  Optimis- 
mus der  glücklichen  Rasse,  all  das  reiche  Legendenbewußt- 
sein eines  Volkskindes.  Seine  Nymphen  entstanden  wie 
seine  Bäume.  Er  muß  sie  gesehen  haben.  Sie  sind 
organische  Wesen  seiner  Natur,  und  wo  sie  fehlen,  ist 
die  Natur  so  gemalt,  als  müßten  sie  irgendwo  erscheinen. 
Das  ist  von  Anfang  so,  auch  als  er  an  nichts  anderes 
dachte,  als  von  der  Natur  sehen  —  , lesen  und  schreiben' 
könnte  man  es  bei  ihm  nennen  —  zu  lernen,  und 
schon  dieses  unwillkürlich  gemilderte  Verhältnis  zur 
Natur,  das  wir  noch  deutlicher  zu  zeigen  hoffen,  gab 
ihm  eine  von  den  Malern  in  Barbizon  durchaus  ge- 
sonderte Stellung.  Diese  trat  zunächst  in  seiner  gerin- 
geren Abhängigkeit  vom  Boden  hervor.  Rousseau  und 
Dupre  waren  seßhafte  Leute,  Corot  flog  wie  ein 
Schmetterling  über  die  Welt,  war  bald  hier,  bald  dort, 
von  einer  Beweglichkeit,  die  man  Mühe  hat,  mit  seinem 
Behagen  in  Einklang  zu  bringen,  und  die  trotzdem  so 
gut  dazu  paßte,  daß  sich  niemand  darüber  wunderte, 
ihn   im   Sommer  alle   14  Tage  wo  anders  zu  wissen. 

Am  seltensten  kam  er  Rousseau  ins  Gehege.  Seine 
Welt  war  nicht  der  magistrale  Wald  von  Barbizon, 
sondern  eher  die  Lieblichkeit  des  Teiches  von  Ville 
d'Avray  mit  den  koketten  Ufern,  auf  denen  man  heute 
noch  zuweilen  des  Abends  von  dem  Platz  aus,  wo  das 
Denkmal  steht,  Corotsche  Bilder  zu  sehen  meint;  oder 
Nantes  mit  dem  Fluß  und  den  Brücken,  oder  Arras 
mit  der  langen,  oft  gemalten  Chaussee,  wo  die  Freunde 
wohnten;  einfache,  aufrichtige  Bewunderer,  stille  Leute 
wie  er,   in  deren  Kreise  er  sich  vielleicht  wohler  fühlte, 


i4  COROT 

als  unter  den  philosophierenden  Kollegen.  Oder  Auvers, 
im  lieblichen  Tal  der  Oise,  wo  er  Daumier  das  Haus 
schenkte;  die  Landschaft,  die  später  Cezanne  und  Pissarro, 
zuletzt  van  Gogh  verherrlichten,  und  die  für  die  mo- 
derne Malerei  mindestens  so  wichtig  geworden  ist  wie 
Barbizon. 

Aber  er  gehört  wohl  überhaupt  zu  keiner  besonderen 
Landschaft  der  Natur.  Er  hatte  das  Bild  in  sich  und 
gebrauchte  das  Äußere  nur  zur  Bestätigung  seiner  Träume, 
war  einer  von  den  Wundermenschen,  die  mit  Formen 
geboren  werden,  wie  andere  Leute  mit  anderen  Dingen. 
Man  hat  lange  gemeint,  die  Form  als  solche  wäre  nicht 
seine  Sache  gewesen,  er  hätte  die  Undeutlichkeit  ge- 
sucht, nicht  zeichnen  gekonnt  und  wäre  deshalb  nur 
im  Dämmerlicht  Herr  seiner  Mittel  gewesen.  Soweit 
das  ein  Vorwurf  gegen  seine  Kunst  sein  soll,  ist  es 
nicht  richtig.  „II  ne  faut  laisser  d'indecision  dans 
aucune  chose"  notiert  er  in  seinem  Reisenotizbuch,  als 
er  zum  ersten  Male  nach  Italien  kam.  Mit  seiner  Ge- 
wissenhaftigkeit hätte  sich  solcher  Kompromiß  nicht 
vertragen.  Wer  ihm  ungenügende  Zeichenkunst  vor- 
wirft, tadelt  auch  an  Velasquez,  Rembrandt  und  Rubens 
diesen  vermeintlichen  Mangel.  Zeichnen  im  Kunstsinne 
heißt  nichts  anderes  wie  Malen:  die  Fähigkeit,  mit  Blei- 
stift oder  mit  der  Feder  gleichwie  mit  dem  Pinsel  eine 
Empfindung  durchs  Auge,  der  Art  des  Autors  ent- 
sprechend, und  mit  der  dadurch  bedingten  Voll- 
kommenheit zu  fixieren.  Die  Art  der  Klassizisten  war 
nicht  die  seine.  Auch  die  der  Cinquecentisten  lag  ihm 
nicht.  Während  der  zwei  Jahre  seines  Aufenthalts  in 
Rom  ging  er  kein  einziges  Mal  in  die  Sixtina,  und  als 
er  15  Jahre  später  zurückkehrte,  ließ  ihn  Michelangelo 
kalt.  Also  nicht  der  Umriß  war  seine  Sache,  und  wie 
sollte  der  es  auch  bei  einem  Künstler  sein,  der  alles  nur 
in    großen    Massen    sah,    für    den    es    in    der  Natur  nur 


MENSCH  UND   KÜNSTLER 


»5 


Formen   und  Töne,   ja   im  Grunde  nur  Töne  gab,   der 
aber    mit    dem    Ton    alles    zu    schaffen    wußte.      Seine 
Zeichnungen,    sowohl   die   frühesten,    z.  B.   die    Porträts 
der    Modistinnen    im    elterlichen  Atelier,    als   auch    die 
Tänzerinnen  und  Nymphen  der  siebziger  Jahre,   setzen 
sich  aus  zaghaften  Kritzeleien  zusammen.    Das  Kindliche, 
Autodidaktenhafte    seiner    Kunst    blieb    hier    am    deut- 
lichsten.    Wo  sich  seine  Zeichnung  ganz  auf  den  reinen 
Strich    beschränkt,    ist    sie    tatsächlich    nur    eine   Notiz 
ohne    jede  künstlerische  Prätention.      Er   bediente    sich 
ihrer    wie    mnemotechnischer    Mittel.      Man  findet  zu- 
weilen auf  den  Blättern  kleine  Kreise  und  Quadrate,  die, 
wie  Andre  Michel  berichtet,  seine  Stenographie  darstellen. 
Der    Kreis    besagt    Helligkeit,     das    Quadrat    Schatten. 
Niemandem  wird  einfallen,  solche  Notbehelfe  mit  meister- 
haften  Zeichnungen  zu  vergleichen,   und  insofern  hatte 
die   Kritik  recht,   daß   er  „schlecht"  zeichnete.      Sobald 
er  aber  den  Ton  auf  das  Papier  ließ,  wurde  es  anders. 
Mit   drei   Flecken   Schatten  und  ebenso  vielen   Strichen 
machte   Corot    eine    Landschaft.      Es    blieb    immer   ein 
sehr  zarter  Bau,   denn  er  mußte  nach  dem  Willen  seines 
Schöpfers   beweglich  bleiben,    um    in  das  Herz  des  Be- 
trachters hineinwachsen  zu  können.   „Sa  forme  flottante," 
sagt  Jean  Rousseau  in  seiner  hübschen  Studie,  „semble 
toujours  en   mouvement.     Plus  ecrite  eile  serait  immo- 
bile."1)    Das  gilt  von  seinen  Zeichnungen  wie  von  seinen 
Gemälden.  Ihre  Zartheit  hindert  sie  nicht,  einen  göttlichen 
Hauch  zu   tragen.     Millet  begeisterte  sich  daran.    Seine 
besten   Zeichnungen,   zumal  die  traumhaft  an  die  Antike 


*)  Jean  Rousseau:  Camille  Corot,  suivi  d'un  Appendice  par  Alfred 
Robaut,  Paris,  Librairie  de  l'Art.    1884. 

Corot  war  übrigens  geneigt,  seine  Gabe  gering  zu  schätzen.  Man  er- 
zählt sich  die  hübsche  Anekdote,  daß  er  sich  einmal  zu  Daubigny  über 
ungenügende  Beherrschung  des  ,  .Metier '  beklagte.  Worauf  ihm  der  Freund 
zur  Antwort  gab:  „Comment  tu  manques  de  metier!  Tu  ne  mets  rien 
sur  la  toile,  et  tout  v  est." 


16  COROT 

erinnernden,  sind  von  Corotschem  Geist  durchdrungen. 
Später  hat  sich  Renoir  und  zumal  Pissarro  darauf  be- 
sonnen, und  heute  glaubt  man  in  Bonnards  lithographierten 
Phantasien  ein  ähnlich  kindliches  Genie  aufstehen  zu  sehen. 
Der  Ton  war  Corots  großes  Mittel.  Die  Form  im 
Bilde  sah  er  lediglich  in  der  Gesamtheit  der  Valeurs. 
„Was  es  in  der  Malerei  zu  sehen  gibt,"  sagte  er  ein- 
mal, „oder  vielmehr,  was  ich  suche,  ist  die  Form,  das 
Ganze,  das  Gleichgewicht  der  Töne.  Die  Farbe  kommt 
für  mich  erst  nachher."  Er  machte  die  Farben  mit, 
Licht  und  Schatten  wie  Rembrandt.  Francais  nannte 
ihn  den  Rembrandt  des  Freilichts.  Das  sagt  ein  wenig 
zu  viel.  Nicht  neben  Rousseau,  wie  Corot  in  seiner 
Bescheidenheit  glaubte,  wohl  aber  neben  dem  größten 
Holländer  erscheint  er  wie  die  Lerche  neben  dem  Adler. 
Nur:  wem  würde  es  einfallen,  die  Grazie  mit  der  Kraft 
zu  vergleichen.  Zu  Rembrandts  Werk  bedurfte  es  eines 
Riesen.  So  groß  er  erscheint,  er  durfte  nicht  geringer 
sein,  um  die  Ansprüche,  die  er  selbst  schuf,  zu  erfüllen. 
Solche  Gewalt  hat  in  den  Bildern  Corots  keinen  Platz. 
Ein  Zuviel  davon  hätte  den  Bau  zerstört.  Corot  schuf 
seinem  Genie  genau  das  passende  Nest.  Wie  große  Dinge 
schließlich    daraus   hervorgingen,    hoffen   wir   zu   zeigen. 


-f-    z 
s.   7 

^  -- 


■    - 
-   s. 


LA  NYMPHE   RAPPELAXT  L'AMOUR.  1S50— 55.     0,27 
Photo  Durand  Ruel,  Paris. 


DIE  LEHRE 


ALS  fast  Dreißigjähriger  ging  Corot  1825  nach  Rom, 
um  ernstlich  zu  arbeiten.  Rom  mag  ihn  ursprüng- 
lich angezogen  haben  wie  alle  Zeitgenossen  Ingres'  als 
das  große  Kompendium  des  Schönen,  aus  dem  die  Väter 
Stärke  und  Form  ihres  Enthusiasmus  gewonnen  hatten. 
Er  ging  als  Bertin-Schüler  hin  und  hätte  normalerweise 
wie  dieser  an  der  melkenden  Kuh  ziehen  müssen,  um 
einer  von  vielen  zu  werden.  Dagegen  tat  er  dort  so, 
als  gehöre  Rom  zu  den  Vororten  von  Paris,  wo  man  nicht 
schlechter  nach  der  Natur  arbeiten  könne,  als  jenseits 
der  Fortifikationen  an  der  Seine.  Die  alten  Meister  des 
Marmors  und  der  Malerei  schienen  nicht  zu  existieren. 
Die  Xatur  kopierte  er,  in  seiner  Art,  so  getreu  er  es 
vermochte.  So  überzeugter  Realist  ist  Corot  kaum  je 
wieder  gewesen.  Nachher  wurde  er  es  mit  der  Subjek- 
tivität, die  schließlich  auch  den  Traum  für  Natur  nahm. 
In  Rom  dagegen  war  er  es  so  wirklich,   als  er  es  über- 


20  COROT 

haupt  sein  konnte.  Seine  ersten  Bilder  sind  verhältnis- 
mäßig nüchtern.  Man  fängt  jetzt  an,  diese  frühe,  einst 
verachtete  Zeit  zu  lieben;  es  ist  die  natürliche  Reaktion 
auf  die  Überschätzung  der  singenden  Bilder  der  Spätzeit. 
Manches  der  allerersten  Zeit  grenzt  an  das  Topographische. 
Corot  begann  mit  dem  Anfang.  Er  studierte  die  Welt, 
bevor  er  sie  eroberte.  Es  ist  kein  sehr  merklicher  Unter- 
schied zwischen  den  ersten  römischen  und  den  vorher 
in  Frankreich  entstandenen  Bildern.  Der  Stil  scheint 
mehr  in  der  Wahl  des  Sujets,  im  Ausschnitt,  weniger  in 
der  Mache  zu  stecken.  Aber  unter  diesem  Schein  ver- 
birgt sich  der  ganze  Corot.  Die  oft  kopierte  Tiber-Brücke 
mit  der  Peterskuppel  in  der  Mitte  und  dem  Engel- 
sturm zur  Rechten,  die  etwas  spätere  Ansicht  des  Kolos- 
seums, im  Louvre,  und  ähnliche  kleine  Bilder  kündigen 
schon  das  Raumwirkende  der  Meisterwerke  an,  die 
delikate  Koloristik  und  feine  Abtönung.  Unzählig  sind 
die  Motive  aus  der  Umgegend  Roms  und  verblüffend 
mannigfach.  Je  mehr  sich  später  gewisse  seiner  Land- 
schaften gleichen,  desto  verschiedener  sind  sie  im  An- 
fang. Es  war,  als  suchte  er  möglichst  viele  Formen  in 
sich  aufzunehmen,  um  daraus  nachher  eine  Einheit  zu 
bilden.  Tatsächlich  hat  er  aus  mancher  Landschaft  der 
ersten  römischen  Zeit  ein  viertel  Jahrhundert  später  die 
Szene  zauberischer  Feste  geschaffen.  So  aus  der  kleinen 
Parklandschaft  mit  dem  Kolosseum  im  Hintergrund  des 
Jahres  1826,  früher  in  der  Galerie  Doria,  den  berühmten 
Nymphen-Tanz  des  Salons  von  1850,  heute  im  Louvre. 
Auch  die  Zeichnungen  dieser  Zeit  sind  die  korrektesten, 
die  er  je  gemacht  hat;  zuweilen  von  rührendem  Fleiß, 
um  die  Einzelheit  genau  zu  erfassen.  Aber  schon  damals 
spielte  die  Hand  ihm  den  Streich,  mehr  zu  wollen,  als 
das  Auge  aufnahm.  Aus  den  Felsen  werden  von  selbst 
Terrassen,  die  Baumgruppen  fließen  in  geschwungenen 
Linien  zusammen,  der  Rhythmus  bildet  sich.   Noch  wider- 


DIE  LEHRE  21 

steht  Corot  dem  dichterischen  Drange,  versucht  mehr 
der  Natur  als  sich  selbst  zu  folgen.  Die  ganze  römische 
Zeit  dient  ihm,  die  solide  Anatomie  des  Baues  zu 
schaffen,  die  ihn  später  beherbergen  soll,  und  ein  Teil 
des  großen  Reizes  dieser  Periode  mag  in  den  unterdrück- 
ten Gedichten  liegen,  die  man  unter  der  gewissenhaften 
Sachlichkeit   ahnt. 

Beladen  mit  Bildern  kam  er  1828  zurück,  und  nun 
beginnen  seine  Streifzüge  durch  Frankreich.  Er  malt 
die  ersten  Bilder  von  Ville  d'Avray  und  Fontainebleau, 
schildert  die  See  von  Dieppe  und  Honfleur,  die  Quais 
seiner  alten  Studienstadt  Rouen  und  sucht  das  Ansehen 
in  seiner  Familie  durch  eine  Unmenge  sorgfältiger  Por- 
traits  zu  heben,  die  trotz  ihrer  sauberen  Intensität  den 
mißtrauischen  Seinigen  wie  Karikaturen  erschienen.  Die 
Landschaften  sind  immer  noch  Rekognoszierungen  des 
Künstlers,  glänzende  Terrain -Studien.  1834  gent  er 
zum  zweitenmal  nach  dem  Süden.  Diesmal  bleibt  er 
in  Ober-Italien,  in  Pisa,  wo  er  das  Medaillon  des  Campo 
santo  skizziert,  in  Florenz,  wo  er  im  Boboli-Garten 
eine  seiner  Art  ideal  angepaßte  Szenerie  findet.  In 
Venedig  zeichnet  er  mit  eingehender  Genauigkeit  die 
architektonischen  Details  der  Piazza  und  bringt  wieder 
eine  Menge  intimer  Bilder  kleinen  Formats  nach  Hause. 

1835  tritt  er  zum  erstenmal  mit  einigem  Aplomb  her- 
vor, er  stellt  im  Salon  die  Hagar  in  der  Wüste,  sein 
erstes  großes  Bild,  aus.  Im  Vordergrund  einer  Felsen- 
landschaft kniet  die  verstoßene  Hagar  neben  dem  klei- 
nen schlafenden  Ismael  und  hebt  verzweifelt  die  Arme 
zum   Himmel. 

Man  erkennt  Corot  kaum  wieder.  Nach  den  kleinen 
Bildern  der  Vorzeit,  in  denen  er  mit  größter  Schmieg- 
samkeit anscheinend  nur  der  Natur  folgte,  wirkt  die  Hagar 
in  der  Sammlung  Gallimard  wie  das  Werk  eines  anderen 
Menschen.      Der  Unterschied  berührt  fast  unbehaglich, 


22  COROT 

denn  er  stellt  gerade  das  in  Frage,  was  man  vorher  ge- 
schätzt hat,  die  harmlose  Aufrichtigkeit.  Die  Hagar 
ist  ein  konventionelles  Gemälde,  der  Zusammenhang 
mit  der  französisch-römischen  Landschafter-Schule  springt 
in  die  Augen.  Die  Landschaft  ist  nach  klassischem 
Rezept  komponiert,  die  Staffage  nach  demselben  Vorbild 
hineingesetzt,  das  Motiv  mag  ihm  Benozzo  Gozzoli  im 
Campo  santo  von  Pisa  gegeben  haben.  Und  über  dieser 
leicht  erkenntlichen  Unselbständigkeit  ist  man  versucht, 
in  dem  Bilde  das  zu  übersehen,  was  von  Corot  darin  ist. 
Diese  Enttäuschung  fällt  in  Wirklichkeit  dem  Be- 
trachter zur  Last.  Wer  in  Corot  einen  Revolutionär 
sucht,  wird  immer  zu  kurz  kommen.  Die  Entwicklung 
der  modernen  Kunst  kommt  nicht  von  Corot  her,  er  hat 
von  ihr  genommen  und  hat  ihr  gegeben,  aber  spielt 
nicht  die  entscheidende  Rolle,  die  von  seinen  engeren 
Zeitgenossen  Rousseau  am  deutlichsten  repräsentiert. 
Rousseau  setzte  seine  ganze  Überzeugung  und  ein  außer- 
ordentlich komplexes  Können  ein,  um  eine  neue  Land- 
schaft zu  schaffen,  in  der  kein  Atom  mehr  von  der 
alten  Konstruktion  der  Poussin  und  Claude,  der  franzö- 
sischen Nachfolger  der  Venezianer,  mitspielte.  Er  ge- 
wann die  Anregung  dazu  aus  der  den  Italienern  ent- 
gegengesetzten Kunst,  aus  Holland,  und  betrat  so  den 
einzigen  möglichen  Weg,  um  die  Malerei  geeignet  zu 
machen,  wieder  zu  dem  Medium  individueller  natür- 
licher Anschauung  zu  werden.  Von  dieser  Entscheidungs- 
tat hielt  sich  Corot  fern.  Er  war  in  Italien,  während 
in  Barbizon  die  ersten  Landschaften  —  die  ersten  Axt- 
schläge zur  Gründung  einer  neuen  Ansiedelung  des 
Natürlichen  —  gemacht  wurden.  Vergessen  wir  nicht, 
daß  er  schon  erwachsen  war,  als  Rousseau,  Dupre  und 
Millet  geboren  wurden,  daß  er  Rousseau  und  Millet 
überlebte,  etwa  drei  Jahre  vor  Courbet  und  Daubigny 
starb    und    daß    er    bis    zum    letzten  Moment    arbeitete. 


DIE  LEHRE  23 

Er  vermochte  also  die  ganze  Entwicklung  der  anderen  zu 
umfassen.  Das  gelang  ihm,  aber  er  wäre  nicht  Corot 
gewesen,  wenn  er  darin  aufgegangen  wäre.  Seine  Eigen- 
heit beruht  auf  der  nur  bedingten  Auseinandersetzung 
mit  der  modernen  Tendenz.  Ein  Teil  seines  Wesens 
stand  nach  anderen  Dingen  und  war  mindestens  ebenso 
entscheidend. 

Fromentin  hat  in  einem  glänzenden  Kapitel  die  Er- 
oberung xA.lt -Hollands  durch  die  Franzosen  von  1830 
geschildert.  Darin  stellt  er  Corot  abseits  und  nennt 
ihn  „ nichts  weniger  als  holländisch".1)  Diese  Bemer- 
kung klingt  im  Munde  des  Verehrers  der  Holländer  fast 
wie  ein  Vorwurf  zugunsten  Rousseaus.  So  richtig  sie 
an  sich  ist,  so  falsch  wäre  diese  kritische  Folgerung. 
Ganz  abgesehen  von  den  persönlichen  Resultaten,  könnte 
man  mit  Recht  einwenden,  daß  wenn  es  von  größter 
Wichtigkeit  war,  die  Holländer  zu  erobern,  die  Erhal- 
tung der  französischen  Tradition  kein  geringeres  Inter- 
esse beansprucht;  daß  sich  in  die  erste  Arbeit  viele  große 
Künstler  teilten,  während  die  andere  Aufgabe  im 
wesentlichen   nur  einem   einzigen   zufiel. 

Corot  ist  der  letzte  Nachkomme  Claudes,  und  so  gut 
kein  Erfolg  irgend  einer  Zeit  uns  um  die  göttliche 
Poesie  dieses  großen  Sängers  bringen  kann,  so  wenig 
vermag  die  Einsicht,  daß  Corot  nur  zögernd  dem  Zug 
der  Zeit  folgte,  das  Entzücken  an  seiner  Dichtung  zu 
schmälern,  die  ebenso  echt  und  rein  seiner  Empfindung 
entquoll  wie  die  rauhere  Art  den  Freunden  in  Barbizon. 
Er  stützt  sich  ursprünglich  nur  auf  französische  Vor- 
gänger, und  wenn  die  Schule  Rousseaus  den  WTert  Ruys- 
daels  wiederbelebte,  Corot  verdanken  wir  die  Erinnerung 
an  einen  Kreis,  der  leichter  als  Ruvsdael  der  Vergessen- 
heit anheimfallen  konnte  und  von  Corots  Enthusiasmus 
uns   näher  gerückt  worden  ist. 

*)  Les  Maitres  d'autrefois  (Plon-Xourrit.  Paris   1902),  S.  276. 


24  COROT 

Wenn  die  Kunstbetrachtung  einst  nicht  mehr  auf 
das  rein  Persönliche  gerichtet  sein  wird,  auf  das  Selbst- 
verständliche, über  das  man  nur  zu  leicht  das  Wesent- 
liche vergißt;  wenn  man  weniger  ängstlich  mit  sich  und 
den  Medien  seiner  Erbauung  und  dafür  genußsüchtiger 
und  aufrichtiger  zu  Werke  gehen  wird,  erleben  die 
Museen  vielleicht  eine  gründliche  Reorganisation.  Eine 
neue  Gruppierung,  nicht  mehr  nach  Ländern  oder  Jahr- 
hunderten oder  ähnlichen,  willkürlichen  Begriffen,  son- 
dern nach  Werken,  nach  den  Tendenzen  der  Werke. 
Der  Beschauer  wird  dann  nicht  mehr  genötigt  sein, 
wie  ein  Trapezkünstler  im  Zirkus  Akrobatenstücke  im 
Reiche  der  Empfindungen  aufzuführen,  weil  jedes  Bild 
mit  dem  benachbarten  kontrastiert  und  neue  Einstel- 
lungen verlangt,  sondern  zu  der  Freude  über  das  Kunst- 
werk wird  Behagen  hinzutreten.  Man  denke  sich  die 
Künstler  nach  Familien  geordnet;  nicht  nur  die  Werke 
des  einen  zusammen,  sondern  ihn  ergänzt  mit  allen  Vor- 
gängern und  Nachfolgern,  die  eine  ähnliche  Konstellation 
ihrer  Sinne  mitbrachten.  Nicht  nur  die  Wissenschaft 
würde  dabei  gewinnen,  auch  der  Laie.  Dem  Durch- 
schnittsmenschen, der  ahnungslos  vor  einen  Unbe- 
kannten tritt  und  sich  des  Bädekers  bedient,  um 
seine  Empfindung  zu  konstatieren,  würde  mancher  Mei- 
ster, den  ihm  keine  Kunstgeschichte  klarzumachen  vermag, 
vertraut,  weil  das,  was  ihm  heute  fremd  und  unbegreif- 
lich erscheint  —  man  denke  an  die  Modernen  —  durch 
Abstufungen  verständlich  würde.  Aus  demselben  Grunde 
gelangte  der  Kenner  zu  größren  Genüssen,  denn  der 
latente  Urgrund  alles  ästhetischen  Empfindens,  das 
Chaos  von  Erinnerungen  an  schöne  Dinge,  die  durch 
das  Werk  gelockt  werden,  würde  hier  durch  die  leib- 
haftige Vorführung  wenigstens  eines  Teils  dieser  Elemente 
vervielfacht  werden.  Niemand  käme  dabei  zu  kurz, 
denn   das   Kunstwerk,   das   durch   solche  Familientage   an 


DIE  LEHRE  25 

Rang  verlöre  —  und  vielleicht  wären  das  nicht  wenige 
in  neueren  Museen  — ,  erwiese,  daß  es  nicht  mit  legi- 
timem Recht  am  Platze  war.  Da  der  einzige  Weg  zur 
ästhetischen  Reife  im  fortwährenden  Vergleich  der 
Werke  liegt,  da  hier  gleichzeitig  Wissen  und  Genießen 
das  Maximum  einlösen,  nimmt  es  wunder,  daß  solche 
natürliche  Erleichterung  der  Erkenntnis  nicht  längst 
einmal  versucht  wurde  und  man  sich  immer  noch  im 
besten  Falle  an  die  „Schulen"  hält,  die  von  dieser 
Gemeinsamkeit  gewöhnlich  nur  grobe  Umrisse  zeigen. 
In  unserem  wie  in  jedem  Falle  würden  auf  solche 
Art  eine  Menge  heute  mit  Unrecht  unterschätzter  Meister 
zur  relativen  Geltung  kommen.  Im  Kreise  der  Vor- 
gänger Corots  dürften  z.  B.  die  beiden  Lieblinge  der 
Zeit  Louis'  XVI. ,  Joseph  Vernet  und  Hubert  Robert, 
nicht  fehlen.  Vernet  wurde  von  Diderot,  der  ihn  über 
Claude  Lorrain  zu  stellen  wagte,1)  überschätzt,  von  den 
Nachfolgern  aber  zu  schnell  zu  den  andern  Resten  der 
Vergangenheit  geworfen.  Corot  schwärmte  nicht  für 
die  großen  Lieblingsbilder  Diderots,  sondern  hielt  sich, 
wie  seine  Kopie  nach  Vernet  bei  Cheramy  beweist,  an 
die  intimeren  Landschaften  des  Ruinenmalers  und  ge- 
wann daraus  manche  Anregung  für  das,  was  Diderot 
„elever  des  vapeurs  sur  la  toile"  nannte,  die  Kunst, 
die  schon  in  den  ersten  Rombildern  deutlich  ist.  An 
Hubert  Robert  liebte  er  sicher  weniger  die  ewigen 
Architektur-Arrangements,  um  die  sich  einst  die  Pariser 
Gesellschaft  riß,  als  die  kleinen,  aufrichtigeren  Bilder, 
wie  z.  B.  die  Wasserträgerin-)  im  Louvre,  von  zartem 
Ton  um  die  lebendige  Arabeske.  Zu  Vernet  und 
Hubert  Robert  tritt  vor  allem  L.  G.  Moreau,  einer 
der  feinsten  Landschafter  derselben  Zeit,  dessen  Meudon- 


*)  Diderots  Salon   von   1765   (in  den  Oeuvres  Completes,   Paris,  Gar- 
nier 1876,  Band  X,  S.  315). 
*)  Louvre  Nr.  811. 


26  COROT 

Bilder  die  Frische  der  besten  Zeit  Corots  voraussagen.1) 
Dann  Simon  Lantara,  der  erste  Landschafter  von  Fon- 
tainebleau,  der  schon  um  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts in  dem  berühmten  Walde  malte.  In  dem 
Kreise  des  merkwürdigen  Vagabunden  finden  wir  außer 
Hue  und  Huet  einen  deutschen  Landsmann,  Ferdinand 
Kobell,-)  mit  reizenden  Zeichnungen  im  Stile  dieser  Zeit. 
Joseph  Vernet  und  Hubert  Robert  standen  in  der 
ersten  Reihe  der  Bewegung,  die  die  Rückkehr  zur  An- 
tike, die  Reaktion  auf  Watteau  vollbrachte.  Sie  waren 
für  diese  zweischneidige  Errungenschaft  wesentlicher  als 
David,  der  nach  ihnen  kam  und  der  Reaktion  ein  Ge- 
sicht gab,  das  viele  edle  Tendenzen  dieses  Rückgriffs 
mit  einer  bewegungslosen  Maske  zudeckte.  Gabillot  hat 
dieses  Verhältnis  in  einer  sorgfältigen  Arbeit  klarge- 
stellt/5) David  bediente  sich  der  Antike  als  eines  Ab- 
zeichens für  den  Revolutionär  im  Gegensatz  zu  der 
Kunst  der  gestürzten  Tyrannen.  Tatsächlich  aber  war 
die  eigentliche  Wiedereroberung  der  Antike  das  Werk 
desselben  königlichen  Geistes,  der  das  Dix-huitieme  ge- 
schaffen hatte.  Wie  in  der  Architektur  das  Louis  Seize 
dem  Empire  vorhergeht,  so  hatte  die  Malerei  unter 
Ludwig  XVI.  -in  sehr  viel  graziöserer  Form  voraus- 
gesagt, was  die  Maler  der  Revolution  mit  unzarten 
Händen  ausbeuteten.  Dieser  ganze  Klassizismus  sah  in 
der  Antike  zumal  die  römische,  deren  kompaktere  Reste 
dem  baulustigen  18.  Jahrhundert  bedeutender  als  die  grie- 
chischen erschienen,  weil  er  mit  jenen  mehr  anfangen  konnte. 


])  Von  den  Bildern  im  Louvre  Nr.  650  und  651  namentlich  das  erstere. 
Im  Saal  Daru,  wo  diese  Bilder  und  die  Roberts  hängen,  findet  man  noch 
manche  andere,  die  dazu  gehören.     Moreau  lebte  von   1740  bis   1806. 

*)  Figurierte  in  den  „Expositions  de  la  Jeunesse"  der  Place  Dauphine, 
über  die  sich  in  der  ,, Gazette  der  Beaux-Arts"  vom  Juni  d.  J.  ein  Aut- 
satz von  Dorbec  findet.  Hier  auch  einige  Abbildungen  nach  den  von 
Fr.   Hegi  gravierten  Landschaften   Kobells. 

:i)  Hubert  Robert  et  son  temps  par  C.  Gabillot  (Paris,  Librairie  de 
l'Art,   1895),  namentlich  das  erste  Kapitel. 


DIE   LEHRE  27 

Die  Eroberung  ging  nicht  von  Malern,  sondern  von  Bau- 
meistern aus,  und  die  große  Bedeutung,  die  in  allen  Bildern 
der  Zeit  die  Ruine  darstellt,  die  Wichtigkeit,  die  selbst 
Diderot  diesem  Detail  in  den  Bildern  seiner  Zeitgenossen 
zusprach,  zeigt  noch  die  Abhängigkeit  der  Maler  von  den 
Architekten.  Die  Künstler  waren  sich  des  römischen 
Charakters  der  übernommenen  Antike  durchaus  bewußt. 
Noch  i774erkannteim„MercuredeFrance"Pevre,  einerder 
Architekten  des  Pariser  Odeon-Theaters,  die  Abhängigkeit 
der  Römer  von  den  Griechen  und  Ägyptern,  meinte  aber, 
die  Römer  hätten  ihre  Vorgänger  so  weit  übertroffen, 
daß  man  sich  mit  Recht  nunmehr  nur  an  ihre  Reste 
halten  müsse.  Gabillot  nennt  die  Männer  der  Revo- 
lution ,,so  wenig  griechisch  wie  möglich.  Sie  sind  vor 
allem  Römer.  Sie  hätten  in  Athen  und  Sparta  eben- 
sogut wie  in  Rom  Vorbilder  des  Heroismus  finden  können. 
Ihre   Erziehung  trieb   sie,   Römer   zu   bleiben." 

Nichts  von  dieser  römischen  Antike  findet  sich  in 
Corot.  Er  scheidet  die  Vergröberung  Davids  völlig  aus 
und  hält  sich,  soweit  hier  überhaupt  von  Anlehnung 
die  Rede  sein  kann,  an  die  zarteren  Anreger  aus  dem 
18.  Jahrhundert.  Und  von  diesem  Kreise  findet  man 
leicht  den  Weg  noch  weiter  in  die  Vergangenheit  zu- 
rück. Unter  den  Landschaftern  des  17.  Jahrhunderts 
haben  mehrere  die  eigentümliche  Szenerie  Corots  vor- 
bereitet; am  deutlichsten  Franz  Millet.  Wieder  wirkt 
hier  die  Entwicklungsgeschichte  als  Kontrolle.  Was  Di- 
derot von  Millet  nicht  wollte  und  ,,au  pont  Notre 
Dame"  verwünschte,  nützt  uns  auch  heute  nichts.  Da- 
neben aber  gibt  es  einen  Millet,  der  nicht  zur  Opera 
Comique  gehört,  sondern  ein  echter  Maler  war,  z.  B. 
als  er  die  große  Landschaft  malte,  die  heute  in  der 
Münchener  Pinakothek  hängt,  in  der  die  weichliche  At- 
mosphäre Dughets  durch  die  Frische  eines  nordischen 
Temperamentes   ersetzt  ist  und,   ganz  wie  bei  Corot,   die 


28  COROT 

klassische  Form  nur  gedient  hat,  um  eine  neue,  natür- 
liche Vegetation  zu  tragen.1)  Oder  Moucheron  —  um 
einen  von  vielen  zu  nennen  — ,  dem  zuweilen  eine  Be- 
leuchtung gelang,  die  uns  zwei  Jahrhunderte  später,  als 
unsere  Zeitgenossen  darauf  kamen,  wie  eine  Entdeckung 
erschien.  Man  denke  an  die  kleine  Flußlandschaft  in 
Stockholm-)   und   ähnliche  Bilder. 

Millet  und  Moucheron  sind  französische  Namen;  aber 
der  eine  kam  in  Antwerpen  zur  Welt  und  wird,  ob- 
wohl er  vom  Jünglingsalter  an  bis  zu  seinem  frühen 
Tode  in  Paris  lebte  und  seine  wesentliche  Erziehung 
Frankreich  verdankt,  zu  den  flämischen  Meistern  ge- 
rechnet; der  andere,  Frederik  de  Moucheron,  stammte 
aus  Emden  und  ließ  sich  von  Adrian  van  de  Velde 
und  von  Lingelbach  die  Figuren  in  seine  Landschaften 
malen.  Alle  beide  schöpften  aus  der  holländischen 
Malerei  den  Mut,  sich  menschlich  mit  dem  Klassizis- 
mus auseinanderzusetzen.  Halten  wir  die  Beziehung 
Corots  zu  diesen  und  vielen  anderen  ähnlichen  Mei- 
stern fest,  so  sehen  wir,  daß  Fromentins  Behauptung, 
daß  Corot  nichts  mit  den  Holländern  zu  tun  hatte, 
nur  in  sehr  bedingter  Weise  gilt.  Er  hätte  sogar  in 
Holländern  reinsten  Wassers,  vor  allen  in  Wynants  deut- 
liche Vorbilder  gewisser  und  recht  wesentlicher  Seiten 
Corots  finden  können.3)  Davon  abgesehen  konnte  er 
höchstens  die  Beteiligung  Corots  an  dem  Kanal,  den 
Rousseau  nach  dem  Gelobten  Lande  baute,  beschränken. 
Er  sah  nicht,  daß  Corot  sich  einer  eigenen  Kommuni- 
kation bediente,  indem  er  die  um  zwei  Jahrhunderte 
ältere  Verbindung  fortsetzte,  und  gleichzeitig  das  Haus- 
gesetz der  ganzen  französischen  Kunst  erfüllte,   die  Ver- 

*)  Pinakothek  Nr.  944. 

■)  Museum  von  Stockholm  Nr.   1084. 

3)  Die  ganze  spätere  Zeit  von  Wynants  zeigt  viele  verblüffende  Pa- 
rallelen. Vgl.  außer  vielen  anderen  die  beiden  schönen  Landschaften  in 
der  Münchener  Pinakothek  Nr.   577  und  579. 


DIE  LEHRE  29 

einigung  des  nordischen  und  südlichen  Elementes,  zu 
der  alle  seine  ruhmreichen  Vorgänger  das  ihre  beige- 
tragen hatten. 

Daß  Corot  auf  seine  *Art  schließlich  doch  auch  in 
die  Nähe  Barbizons  gelangte,  werden  wir  später  finden. 
Es  ist  nicht  das  wesentlichste  Stück  seiner  Entwicklung. 
Viel  wichtiger  war  sein  unbewußtes  Eintreten  für  die 
Alten.  Es  gelang  ihm,  seine  virgilische  Poesie  mit  der 
Überzeugung  eines  durchaus  natürlichen  Instinktes  aus- 
zustatten, die  leise  Erinnerung  an  die  Form,  die  Poussin 
und  Claude  unüberwindlich  gemacht  hatten,  mit  der 
Sachlichkeit  eines  Autodidakten  des  19.  Jahrhunderts  zu 
verbinden.  Daß  er  bis  zu  diesem  Ziele  viele  Klippen 
zu  umschiffen  hatte,  liegt  auf  der  Hand.  Die  „Hagar" 
zeigt  eine  von  ihnen.  Das  Bild,  das  allen  Kritikern  der 
alten  Schule,  Lenormant  z.  B.,  die  über  die  „stillosen" 
kleinen  Bilder  Corots  schimpften,  ein  Quell  der  Freude 
war,  entsprang  der  naiven  Vorstellung,  daß  man  ein 
ordentliches  Salongemälde  unmöglich  anders  als  im 
„großen"  Stil  malen  könne,  daß  dafür  die  Einfach- 
heit der  Xaturbildchen  nicht  ausreiche,  daß  man  ein 
Maitre  wie  die  anderen  sein  müsse.  Aber  wenn  die 
Konstruktion  der  „Hagar"  den  Kompromiß  nicht 
verbirgt,  über  das  klassizistische  Gerippe  dehnt  sich 
eine  Malerei  wie  sie  Michallon  und  Bertin  nicht 
geahnt  hatten.  Schon  ist  die  Tonkunst  mächtig  am 
Werk,  um  die  romantischen  Felsen  einzuhüllen  und  die 
konventionelle  Leere  des  Hintergrundes  zu  beleben,  und 
man  entdeckt,  daß  Corot  hier  bereits  die  Fäden  einer 
glänzenden  und  durchaus  harmonischen  Entwicklung  in 
der  Hand  hält. 

Insofern  unterscheidet  er  sich  von  der  Anfangsperiode 
seines  Genossen  Millet.  Der  Unterschied  läßt  genau 
sehen,  wie  hoch  die  Tradition,  auf  die  Corot  zurück- 
griff,   über  Millets  Vorbildern  der  vierziger  Jahre  steht. 


30  COROT 

Dieser  hatte  das  Unglück,  bei  Delaroche  einzutreten 
und  die  Überlieferung  aus  den  Händen  dieses  Banalen 
zu  empfangen.  Delaroche  hatte  dem  Salonbild  die  Allüre 
gegeben,  die  es  noch  heute  alle  Jahre  dem  Publikum 
darzubieten  wagt.  Der  Stil  der  großen  Landschafts- 
kompositionen des  18.  Jahrhunderts  war  öde  und  leer, 
aber  er  ließ  sich,  wie  Corot  zeigte,  beleben.  Delaroche 
blieb  ewig  eine  totgeborne  Sache,  kein  Stil,  sondern  eine 
verdeckte  Übereinkunft,  den  schlechten  Instinkten 
der  Masse  zu  schmeicheln.  Millet  sah  sich  im  gleichen 
Rahmen,  auch  wenn  er  noch  größere  Malerfertigkeiten 
hineingelegt  hätte,  immer  auf  unkünstlerische  Wirkungen 
angewiesen,  und  seine  ersten  Versuche,  um  der  Welt  zu  ge- 
fallen —  Versuche,  die  die  bittere  Not  so  wenig  wähle- 
risch wie  möglich  machte  —  sind  unqualifizierbar.  Nach 
diesem  falschen  Start  wirkte  der  ,,Vanneur"  des  Jahres 
184.8  wie  eine  Explosion.  Da  erst  gab  Millet  sein  erstes 
Bild,  das  mit  seiner  Vergangenheit  nur  die  geringsten 
Beziehungen  hatte.  Vielleicht  brauchte  er  diese  Kata- 
strophe, vielleicht  hätte  sich  sein  Enthusiasmus  nicht 
so  frei  entfalten  können,  wenn  er  nicht  vorher  durch 
die  schlimmen  Anfänge  niedergehalten  worden  wäre. 
Seine  ganze  Kunst,  ja  die  seines  ganzen  Kreises  bis  zu 
van  Gogh,  hat  den  explosiven  Charakter,  mit  dem  der 
Vanneur  in  die  Welt  trat.  —  Bei  Corot  ist  von  solchen 
gewaltsamen  Entwickelungen  nichts  zu  spüren.  Er  zeigte 
in  der  „Hagar"  seine  Herkunft.  Dieser  ist  er  sein  Le- 
ben lang  treu  geblieben,  nur  hat  seine  glänzende  Lauf- 
bahn diese  Anfänge  mitveredelt.  Sein  äußerster  Kom- 
promiß war  meiner  Ansicht  nach  der  St.-Jerome  mit 
dem  possierlichen  Löwen  des  Jahres  1837.  Man  braucht 
sich  nur  das  Bild  gleichen  Titels  von  Millet  aus  dem 
Jahre  1846,  oder  dessen  banale  Nuditäten  derselben 
Zeit  vorzustellen,  um  den  tiefen  Unterschied  zwischen 
den   parallelen    Entwicklungsstufen   der    beiden   Künstler 


DIE   LEHRE  31 

zu  begreifen.  Corots  „Flucht  nach  Ägypten"  aus 
1839  40  und  der  „Moine"  derselben  Zeit  bei  Moreau- 
Xelaton  zeigen  den  Fortschritt  über  die  „Hagar"  und 
den  „Jerome"  hinaus:  die  Unterdrückung  vorlauter  De- 
tails, die  gesammelte  Stimmung  in  Farbe  und  Zeichnung, 
den  Ersatz  der  gewohnheitsmäßig  respektierten  Über- 
lieferung durch  die  empfundene. 

Wir  werden  auf  die  großen  Kompositionen,  die  sich 
an  diese  religiösen  Bilder  anschließen,  später  zurück- 
kommen. Zur  selben  Zeit,  während  er  seiner  Fröm- 
migkeit einen  würdigen  Ausdruck  zu  geben  suchte,  er- 
gab er  sich  einer  nichts  weniger  als  kirchlichen  Kunst. 
Er  ist  fleißig  des  Sonntags  in  das  Haus  Gottes  gegan- 
gen und  hat  dort  sogar  viele  Bilder  gemalt.  Die  Kirche 
aber,  in  der  er  sicher  am  liebsten  betete  und  malte, 
die  den  reinsten  Corot  in  sich  aufnahm,  lag  draußen 
im  Freien.  Die  Pfeiler  waren  seine  geliebten  Bäume, 
die  Sonne  machte  die  Predigt,  die  Vögel  den  Gesang 
und  die  frommen  Engel  wurden  zu  tanzenden  Baja- 
deren. Schon  1836  hatte  er  eine  badende  Diana  mit 
ihren  Gespielinnen  gemalt,  von  denen  sich  eine,  an  einem 
tief  über  den  Fluß  ragenden  Baume  hängend,  im  Wasser 
schaukelte.  Im  „Silen"  des  Salons  von  1838  tanzten 
zum   ersten  Male  die  Nymphen  im  Walde. 

Die  Lehre  Corots  ist  mit  diesen  Andeutungen  nicht 
erschöpft.  Die  Größe  des  Menschen  beruht  auf  der 
Fähigkeit,  aus  jeder  Phase  des  Lebens  eine  Frucht  zu 
gewinnen,  die  der  in  seiner  Anlage  begründeten  Voll- 
kommenheit eine  natürliche  Ergänzung  zufügt.  Er  lernt 
bis  zuletzt.  Der  große  Künstler  ist  das  verklärte  Ab- 
bild menschlicher  Größe.  Wir  sehen  deutlicher  in  ihm, 
was  jedem  von  uns  zum  Fortschritt  verhilft.  In  einem 
von  den  verwirrenden  Vielseiten  des  Daseins  befreiten 
Exempel  zeigt  er  vor  allen  Blicken  den  Kampf  ums 
Ideal.     Corots    Lehrzeit    dauert    bis   zur   letzten  Arbeit 


32  COROT 

des  Greises.  Sie  darstellen  heißt,  sein  ganzes  Leben 
beschreiben,  und  der  Leser  würde  verwirrt  werden, 
wollte  ich  in  diesem  Kapitel  auch  nur  die  Tendenzen 
andeuten,  denen  Corot  in  den  vielen  Perioden  seines 
Schaffens  folgte.  Wir  werden  sie  nach  und  nach  kennen 
lernen.  Hier  kam  es  nur  darauf  an,  das  Erdreich  zu 
zeigen,  aus  dem  der  Meister  entstammt.  Was  dazu 
kommt,  hat  er  mit  vielen  anderen  gemein.  Es  scheint 
mehr  zu  bedeuten  als  der  Anfang,  und  doch  ist  es 
dieselbe  Wurzel,   die   alle   Zweige   Corots   speist. 


LA  TOILETTE,  1859.     1,40X0,80. 
Sammlung  Mme  Desfosses,  Paris. 


DIE  FRAUEN  COROTS 

ZU  der  echten  Idylle  gehört  das  Ewig -Weibliche. 
Corot  blieb  sein  Leben  lang  Junggeselle,  aber  der 
Grund,  der  Menzel  zum  gleichen  Stande  trieb,  war 
nicht  der  seine.  Der  Passion,  von  der  Menzel  zu  wenig 
hatte,  besaß  Corot  zu  viel,  um  sich  an  einer  einzigen 
Flamme  zu  wärmen.  Das  Frou-Frou  des  Ateliers  seiner 
Mutter  wurde  er  nie  wieder  los,  noch  im  spätesten  Alter 
war  er  von  Frauen  umgeben.  Er  erinnert  an  Goethe. 
Auch  seine  Bilder  waren  Gelegenheitsgedichte,  und  sie 
kamen  ihm  spontan,  wie  dem  verliebten  Dichter  die 
Verse.  Man  könnte  glauben,  er  habe  sich  erst  ganz 
gefunden,  als  er  die  Nymphen  entdeckt  hatte,  und  sei 
erst  mit  40  Jahren  Herr  seiner  selbst  geworden.  Der 
Mann  spielt  in  seinen  Gemälden  eine  höchst  beschränkte 
Rolle.  Freilich  gibt  es  Ausnahmen.  Ich  denke  weniger 
an  die  beschaulichen  frühen  Mönchsbilder,  in  denen  er 
seine  Gutmütigkeit  in  die  Kutte  steckte,  auch  nicht  an 
den  großartigen  Mönch  bei  Frau  Amsinck  in  Hamburg 
aus  der  allerletzten  Zeit;  denn  daß  es  sich  hier  um 
Männer  handelt,  kommt  in  zweiter  Linie.1)  Eher  könnte 
man  die  kleinen  Selbstportraits  nehmen,  von  denen  das 
erste,  1825  noch  vor  der  ersten  italienischen  Reise  in 
Paris  entstanden,  durch  seine  breite  Malerei  weit  über 
die  Zeit  hinausgeht;  das  zweite,  10  Jahre  später  gemalt, 
und  1875,  kurz  vor  seinem  Tode,  der  Portraitgalerie  der 
Uffizien  in  Florenz  überwiesen,  zu  seinen  Meisterwerken 
kleineren  Lrnfangs  gehört.  Seine  zahlreichen  Männer- 
studien für  die  Taufe  Christi  und  die  anderen  religiösen 
Kompositionen  sind  wenig  bedeutend.  Eine  seltene  Höhe 
dagegen   erreichte  er  in   dem   heiligen  Sebastian   aus  der 

')  Dahin  gehören  der  Hallebardier  der  Sammlung  Dieulafoy  und  der 
merkwürdige  Ritter  bei  Cheramy,  etc.  (L'ceuvre  de  Corot,  Robaut- 
Moreau-Nelaton  Nr.   1 509 —  1 5 1 1 ). 


36  COROT 

Mitte  der  fünfziger  Jahre,  sowohl  in  der  Skizze  bei 
Cheramy,  wie  in  dem  fertigeren,  aber  kaum  vollende- 
teren Gemälde  in  der  Sammlung  De  Strada.1)  Sie 
gehören  zu  den  merkwürdigsten  Heiligenbildern.  Die 
Wärme  der  Empfindung  kommt  der  Wucht  eines  Primi- 
tiven gleich.  Die  Verbindung  der  italienischen  Pose 
mit  nordischer  Malerei  dürfte  selten  wieder  so  voll- 
kommen geglückt  sein. 

Aber  diese  Ausnahmen  bestätigen  die  Regel.  Den 
Mann  ließ  er  Millet.  Selbst  wo  Millet  die  Frau  malt, 
gibt  er  das  Männliche  an  ihr,  die  Arbeitsgefährtin  des 
Mannes.  Corot  dagegen  weiht  sich  dem  anderen  Ge- 
schlecht, und  wo  er  Männer  malt,  begnügt  er  sich, 
schöne  Bilder  zu  geben.  Schon  während  seines  ersten 
Aufenthalts  in  Rom  entstanden  zahllose  Frauen  aus  dem 
Volk  neben  sehr  wenigen  Männern.  Er  malte  sie  zuerst 
wie  die  gleichzeitige  Landschaft  mit  denkbar  größter 
Sachlichkeit,  achtete  auf  das  Kostüm  und  benutzte 
es  zu  koloristischen  Effekten.  Nachher  in  Paris  zeichnete 
er  alle  hübschen  Modistinnen,  die  ihm  in  den  Weg 
kamen,  und  fand  aus  hundert  zärtlichen  Gesten  seinen 
Typ,  das  Mädchen,  dessen  Gesicht  man  nicht  genau 
im  Gedächtnis  hat,  von  dessen  Körper  man  kaum  ein 
paar  Linien  ahnt,  von  dem  man  kaum  etwas  anderes 
weiß,  als  daß  man,  als  sie  vorüberging,  das  Glück  in 
den  Augen  hatte  —  eine  Nymphe.  Wie  Collin  von 
ihm  sagte,  malte  er  nicht  die  Natur,  sondern  seine 
Liebe  zu  ihr,  und  so  malte  er  zumal  die  Natur,  die  sich 
ihm  in  der  Frau  darbot  und  die  viel  mehr  im  Zentrum 
seines  Schaffens  stand,  als  irgend  etwas  anderes.  Aber 
der  Satz  gilt  auch  im  weiteren  Umfang.  Weniger 
die  Dinge  auf  seinen   Bildern,  was  sie  auch  sein  mögen, 

')  L'ceuvre  de  Corot  Nr.  1034  u.  1035,  nicht  zu  verwechseln  mit  detp 
großen  Gemälde  S.  Sebastien  secouru  par  les  saintes  femmes  (L'ceuvre 
de  Corot  Nr.  1063),  das  sich  in  der  Sammlung  Walters  in  Baltimore 
befindet. 


DIE   FRAUEN  ;- 

bezaubern,  als  der  Ton,  der  sie  umgibt,  das  eigentüm- 
lich Sphärenhafte  der  Handlung.  Die  Gewinnung  des 
Tons  ist  das  .4  und  Q  seiner  Geschichte.  Er  brachte 
sie  auf  seiner  dritten  italienischen  Reise  ein  entscheidendes 
Stück  voran.  1843  war  er  wieder  in  Rom.  Was  er 
damals  als  Landschafter  gewann,  werden  wir  später 
untersuchen.  Man  geht  kaum  fehl,  die  Landschaft  als 
intermittierendes  Element  in  Corot  aufzufassen,  das  zu 
gewissen  Zeitperioden  in  den  Vordergrund  rückt,  aber 
auch  dann  durchaus  nicht  den  Maler  vollkommen  ab- 
sorbiert. Wir  kommen  seinem  eigentlichen,  viel  um- 
fassenden Wesen  näher,  wenn  wir  zunächst  alle  anderen 
Seiten  deutlich  zu  machen  versuchen  und  zumal  die 
Ausbildung  des  Figürlichen  im  Auge  behalten,  die  den 
Fortschritt  des   Malers  gleichsam   personifiziert. 

In  Rom  studierte  er  die  Frau  nicht  mehr,  wie  15  Jahre 
vorher,  als  Selbstzweck,  sondern  als  Stilelement  des  künf- 
tigen Bildes.  Ingres,  der  bis  1841  die  französische 
Akademie  in  Rom  geleitet  hatte,  übte  damals  auch  auf 
Corot  einen  sozusagen  lokalisierten,  aber  nicht  unwesent- 
lichen Einfluß  aus.  Im  Salon  des  Jahres  1843  stellte 
Corot  eine  liegende  Odaliske  aus,  der  das  berühmte 
Louvrebild    Ingres'    als    ideales    Vorbild    gedient    hatte. 

Das  Bild,  heute  in  der  Sammlung  Hazard,  umfaßt 
nicht  ein  Drittel  der  Ingresschen  Odaliske.  Es  ist 
auch  ärmer  an  Pracht,  ohne  die  aufs  äußerste  abgewogene 
Reinheit  der  Arabeske.  Dafür  wirkt  es  fleischiger, 
menschlicher,  tatsächlicher  und  zeigt  schon  den  Weg, 
auf  dem  es  Corot  gelingen  sollte,  den  großen  Klassi- 
zisten  zu  übertreffen.  Ingres'  glänzende  Gestalt  ver- 
einigt alle  Pracht  der  Modellierung  und  des  Umrisses. 
Aber  sie  atmet  nicht.  Irgendwo  meldet  sich  in  der 
Seele  selbst  des  begeistertsten  Betrachters  die  Wahrneh- 
mung, daß  diesem  Reichtum  etwas  mangele,  etwas,  das 
nichts   mit  den  Details,   mit   der  Linie  oder  der  Model- 


38  COROT 

lierung  zu  tun  hat,  das  der  Art  dieser  ganzen  Kunst  fehit 
und  ihr  fehlen  muß.  Es  ist  der  alte  Unterschied  zwischen 
der  Arabeske  eines  Quattrocentisten  und  der  Malerei 
eines  Rembrandt.  So  geschmeidig  dient  bei  Ingres 
die  Linie  dem  räumlichen  Reiz,  daß  man  vergißt,  eine 
höchst  berechnete,  schematische  Wirkung  vor  sich  zu 
haben.  Nur  wenn  man  einen  Künstler  von  der  anderen 
Seite  daneben  hält,  merkt  man,  wodurch  der  natürliche 
Instinkt  des  Malers  diese  Gestaltung  übertrifft.  Corot 
—  wie  später  Renoir  —  wollte  das  Maximum  einer 
Komposition  behalten,  aber  nicht  auf  den  Lebensnerv 
des  Malers,  die  Wirkung  durch  die  Teilung  der  Mal- 
fläche, verzichten.  Die  Gestalten  Ingres'  sind  schöner  als 
alle  Corots,  aber  sie  sind  ewig  für  sich  allein,  ohne 
Licht  und  Luft,  glänzende  Gegenstände.  Darauf  kam 
es  Corot  an,  diese  schönen  Toten  zu  beleben.  Das 
erwähnte  Bild  ist  nicht  die  erste  seiner  Odalisken. 
Gallimard  besitzt  ein  Bildchen  desselben  Umfanges  mit 
einer  ,, Nymphe  de  la  Seine"1),  das  1837  datiert  ist  und 
den  Anfang  dieser  glänzenden  Serie  darstellt.  Schon 
hier  merkt  man  eine  Wirkung  ins  Weite,  in  die  Luft, 
die  aller  echten  Malerei  Geheimnis  ist.  Ingres  suchte 
alles  in  dem  einen  Körper  zu  konzentrieren  und  umgab 
ihn  mit  anderen  schönen  Formen.  Corot  suchte  die 
Vermittelung  der  Materie  mit  dem  Räume,  nicht  nur 
die  Linienvermittelung,  sondern  machte  aus  dem  Ganzen 
eine  fortlebende  Atmosphäre.  Bis  in  die  siebziger  Jahre 
reicht  die  aufsteigende  Entwickelung  seiner  Odalisken; 
keine  Ausbildung  des  Typs,  sondern  der  Malerei. 
Ungefähr  gleichzeitig  mit  der  liegenden  Figur  der  Samm- 
lung Hazard2)  mag  das  winzige  Bild  mit  der  liegenden 
Nymphe  bei  Katargy:5)  entstanden  sein,  eine  ganz  schlanke, 

1)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.  379. 

2)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.  458,  aus   1843, 

3)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.  540. 


DIE  FRAUEN  39 

sich  kaum  über  den  Boden  erhebende  Linie.  In  den 
fünfziger  Jahren  wächst  der  Körper  zu  breiteren, 
mächtigeren  Formen.  Man  kann  das  Wortspiel  wörtlich 
nehmen.  Die  nackten  Figuren  dieser  Zeit  haben  immer 
noch  etwas  von  der  Linkischkeit  im  Wachstum  begriffener 
Mädchen;  so  die  kleine  Odaliske  imMusee  Rath  in  Genf,1) 
oder  die  hier  abgebildete  Nymphe  mit  dem  Amor.-) 
L  nd  man  glaubt  wahrzunehmen,  wie  das  Wachstum  vor- 
wärts schreitet,  immer  größere  Reize  entfaltend.  Die 
Formen  runden  sich,  die  Glieder  lernen  die  Bewegung, 
das  Fleisch  scheint  sich  elastisch  zu  dehnen,  und 
schließlich  tritt  die  vollendete  Schönheit  unter  die 
Menge.  Es  war  1859,  als  die  „Toilette"  im  Salon 
erschien.3)  Fast  könnte  man  meinen,  Corot  sei  sich  der 
Zukunft  bewußt  gewesen,  als  er  zu  Beginn  der  reifsten 
Schöpfungen,  die  er  der  Frau  widmet,  mit  zarter 
Frühlingsstimmung  ein  junges  Weib  umgab,  das  zum 
Feste  geschmückt  wird.  Die  Toilette  geht  im  Freien 
vor  sich,  zwischen  Birken,  am  Rande  eines  winzigen 
Weihers.  Vorsichtig  legt  die  Dienerin  der  nackten  Schön- 
heit den  Putz  ins  Haar,  und  diese  hilft  mit  zum  Kopf 
gehobenen  Händen  und  träumt  dabei,  man  denkt  an 
Chasseriau's  sinnende  Gestalten.  Die  Pose  ist  göttlich. 
Die  Dienerin  steht  so  nahe  wie  möglich  und  läßt  nur 
die  Rückenlinie  der  vor  ihr  Sitzenden  vor  der  freien 
Luft.  Der  ganze  Reichtum  des  vorderen  Profils  wird 
durch  das  Kleid  der  Dienerin  zusammengehalten,  deren 
einfacher  L'mriß  die  Gruppe  nach  der  anderen  Seite 
abschließt,  so  daß  das  Äußere  der  Gruppe  vor  der  freien 
Luft  eine  geschlossene  ganz  ruhige  Linie  bildet,  während 
sich  im  Inneren  die  Bewegung  zur  größten  Wirkung 
entfaltet   und  die   sehr  weit   vorspringende  Stellung  der 

L'ceuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Xelaton  Xr.  1046. 
2)  L'ceuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Xelaton  Xr.  103 1.    Abb.  S.  19. 
*)  L'ceuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Xelaton  Xr.  1108.      S.  33  abge- 
bildet, leider  nach  einer  massigen  Vorlage. 


4o  COROT 

Kniee  erlaubt.  Dadurch  entsteht  im  Beschauer  das 
Bewußtsein  der  Geschütztheit  des  Nackten,  die  Ver- 
mischung von  lechzender  Freude  an  der  Form  mit  dem 
Genuß  an  der  Intimität.  Das  schöne  Verhältnis  der 
Gruppe  zur  Höhe,  das  glückliche  Format  und  vor  allem 
die  echt  Corotsche  Malerei  tragen  das  ihrige  dazu  bei. 
Die  Farbe  begnügt  sich  mit  dem  Akzent  des  Pinsels 
und  den  Differenzen  der  Modellierung.  Den  einzigen 
starken  Ton  bringt  das  Gelb  in  dem  Kleid  der  Dienerin, 
die  überhaupt  stofflicher,  vehementer  gemalt  ist,  um 
die  leise  sprühende  Fläche  des  nackten  Fleisches  im 
Gleichgewicht  zu  halten.  Das  Sprühen  teilt  sich  dem 
ganzen  Bilde  mit,  es  scheint  in  der  Atmosphäre  zu 
liegen,  die  Gruppe  und  Landschaft  mit  warmem  Leben 
füllt.  An  einem  der  schlanken  Bäume  des  Hintergrundes 
lehnt  eine  Gefährtin,  um  achtzugeben,  daß  niemand 
stört,  oder  um  den  Geliebten  zu  melden,  der  die  Braut 
umfangen   soll. 

Es  ist  schwierig,  aus  der  Analyse  Corots  einen  Begriff 
auszuscheiden,  mit  dem  so  viel  Unfug  getrieben  wurde, 
daß  man  ihn  ungern  verwendet.  Man  riskiert  falsche 
Vorstellungen  wachzurufen,  wenn  man  Corot  keusch 
nennt;  denn  einmal  deckt  sich  das,  was  keusch  an  ihm 
berührt,  nicht  mit  dem  gewohnten  Abstinenzlerbegriff, 
und  dann  gerät  man  in  die  Gefahr,  mit  den  Moral- 
ästhetikern zu  kollidieren,  die  aus  ihrer  Auffassung  von 
dieser  Tugend  ein  Kriterium  der  Kunst  gemacht  und 
die  Menschheit  damit  lange  genug  gelangweilt  haben. 
Die  Keuschheit,  die  aus  Gehorsam  vor  Mama  und  Papa 
und  der  Tante  Sitte  entspringt,  kommt  hier  so  wenig 
in  Frage  wie  das  Gegenteil.  Weder  die  Negierung  noch 
die  Betonung  des  Geschlechtlichen  findet  sich  bei  Corot, 
sondern  jene  höhere  Tugend,  die  von  dem  Sinnlichen 
zuerst  das  Schöne  verlangt,  bevor  sie  untersucht,  ob  es 
moralisch   ist:  die  Reinheit  des  wohlgestaltet  Geborenen. 


DIE  FRAUEN" 


4i 


Sie  fällt  nicht,  weil  sie  nie  in  die  Lage  kommt,  zu 
straucheln,  weil  sie  die  Welt  von  lichteren  Höhen  sieht 
als  der  Begierde,  die  nach  Stillung  dürstet.  Das  erquickt 
in  Corot.  Er  vermeidet  nicht  den  süßen  Reiz  des 
Liebeslebens,  aber  gibt  davon  nur  die  Glückstimmung, 
ein  Paradies,  dem  die  Reue  fern  bleibt,  weil  alles  Glück 
im  Tanz  genossen  wird,  im  holden  Reim  gemäßigter 
Bewegung.  Das  gilt  von  seiner  Komposition,  von  seiner 
glücklichen  Neigung,  die  Sehnsucht  in  Reigen  zu  kleiden. 
Diese  frohsinnige  Keuschheit  kommt  aber  auch  ganz 
instinktiv  in  seiner  Art,  das  Einzelne  zu  gestalten,  zum 
Vorschein,  in  seinem  Strich,  seiner  Handschrift.  Sie 
macht  das  lockere  Gewebe  der  Malerei,  die  Zurück- 
haltung in  der  Materie,  das  unbewußt  Zögernde  in 
der  Entschleierung  des  Reizes,  das  unendlich  Yerwobene, 
L'nausgesprochene,  das  uns,  ohne  daß  wir  es  merken, 
in  die  Jugend  versetzt,  als  man  ohne  Grund  lachte  und 
weinte  und  die  Welt  wie  ein  duftiges  Netz  voll  Perlen 
und  Edelsteine   vor  sich  sah. 

Corots  Keuschheit  ruht  in  dem  Märchenhaften, 
mit  dem  er  die  Liebe  umgab.  Er  idealisierte  sie  auf 
glaubhafte  Weise,  indem  er  das  Svmbol  in  die  Atmo- 
sphäre legte.  Neben  der  „Toilette"  hing  im  selben 
Salon  von  1859  eine  der  gewohnten  Idyllen:  „Cache 
Cache",  in  der  dieselbe  Atmosphäre  zum  Träger  reizender 
Spiele  wurde.1)  Umgeben  von  diesem  duftigen  Zauber, 
erblühten  Corots  Frauen  in  den  sechziger  Jahren 
zu  strahlender  Schönheit.  1865,  im  selben  Jahre  als 
ein  anderer  Kunstheros  der  Zeit  sein  Ideal  verdichtete, 
als  Manets  Olympia  erschien,  zeigte  Corot  die  Nymphe 
auf  dem  Tigerfell")  und  die  Nymphe  Couchee  au 
bord     de    la     mer, :5)      die    letzte   Konsequenz    der    fast 

*)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Xelaton.  Xr.  iiio.  im  Museum 
von  Lille. 

-)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   1377. 

3)  L'oeuvre  de  Corot   Nr.   1376. 


42  COROT 

dreißig  Jahre  vorher  zum  erstenmal  geschaffenen  Figur. 
Unter  diesen  vielen  Odaliskenbildern  ragt  eins  hervor 
aus  etwas  früherer  Zeit,  das  im  ganzen  Werke  Corots 
wohl  am  meisten  überrascht  und  allein  genügte,  ihn 
unsterblich  zu  machen.  Es  ist  die  Bacchantin  mit  dem 
Panther.1)  Panther-Idyll  wäre  der  richtige  Name,  denn 
diesmal  hat  die  ruhende  Frauengestalt  in  einem  Panther 
den  Gespielen  gefunden.  Man  denke  nicht  an  die 
Vierfüßler  Decamps',  nicht  an  Delacroix'  blutdürstige 
Bestie,  nicht  an  die  schleichenden  Katzen,  die  Barye  in 
die  seltenen  Farben  seiner  Pastelle  bannte.  Corot 
läßt  ein  nacktes  Kind  auf  seinem  Panther  reiten.-) 
Ich  glaube  nicht,  daß  er  ihn  nach  der  Natur  malte, 
obwohl  das  Fell  wunderbar  wirkt.  Eher  fand  er 
ihn  in  jener  schöneren  Welt,  wo  auch  Tizian  ihn  sah, 
paarweise  vor  dem  Triumphwagen  des  Bacchus,  als  der 
siegreiche  Gott  zu  Ariadne  entflammte;  da  wo  Poussin 
ihn  wiederfand,  in  demselben  dionysischen  Kreise,  aus 
dem  einst  schwärmende  Griechen  ihn  in  leuchtende 
Reliefs  entführt  hatten.  Die  Gruppe  nimmt  den  Vorder- 
grund einer  traumhaft  angedeuteten  Landschaft  ein  und 
füllt  fast  das  ganze  lange  Format.  Panther  und  Nymphe 
sind  fast  in  einer  Ebene,  beide  ganz  im  Profil,  so  daß 
das  Gegenspiel  der  langgestreckten  nackten  Frauenglieder 
und  des  schweren  Tieres  ganz  ausklingt.  Die  ausgestreckte 
Hand  der  Nymphe  hält  in  den  Fingerspitzen  dem  Panther 
einen  toten  Vogel  als  Lockspeise  hin.  Die  Kurve  dieses 
Armes,  gleichsam  aufgefangen  von  dem  kleinen  rund- 
lichen Reiter,  scheint  dem  Schönen  die  geheimsten  Reize 
zu   entlocken. 


J)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1276,  abgebildet  in  „Kunst  u.  Künstler'' 
(B.  Cassirer  III,  3).  Aus  derselben  Zeit  (1855—60)  die  herrliche  Bacchante 
au  Tambourin  (L'ceuvre  de  Corot  Nr.    1377). 

2)  Dasselbe  Kind  auf  dem  Panther  findet  sich  in  einer  merkwürdigen 
Waldidylle  der  Sammlung  Brun,  wo  tanzende  Nymphen  mit  dem  Reiter 
spielen.      Dieses  Bild  fehlt  im  Oeuvre  de  Corot. 


DIE  FRAUEN  43 

Damals  war  es  mit  der  Alleinherrschaft  Ingres'  aus. 
1864.  bekam  Corot  bei  der  Wahl  zum  Juror  des  Salons 
fast  die  doppelte  Anzahl  Stimmen.  Und  doch  siegte 
etwas  von  Ingres  in  diesem  fernstehenden  Zeitgenossen 
des  grollenden  Löwen.  Ein  Stück  der  göttlichen  Form, 
der  Ingres  sein  Leben  geweiht  hatte,  zu  kostbar,  um 
der  stürmischen  Zukunft  zum  Opfer  zu  fallen,  wurde 
von  Corot  mit  zauberischen  Gewändern  eingehüllt  und 
auf  unantastbare   Höhen  getragen. 

Man  begreift,  daß  Manet  dem  Meister  fernblieb.  Der 
Stürmer  gegen  die  Modellierung,  das  notwendigste  Mittel 
der  Alten,  konnte  ihm  nicht  verständlich  werden;  und 
daß  Courbet  ihm  näher  kam,  lag  in  dem  anderen 
Standpunkt,  den  dieser  in  derselben  Frage  einnahm, 
und  in  der  Meisterschaft,  mit  der  er  darauf  beharrte. 
Sonst  gab  es  nichts,  das  den  Figurenmaler  Corot 
mit  den  anderen  verband  —  wenn  nicht,  daß  er  eben 
nicht  bloß  Figurenmaler  war.  Er  hatte  andere  Pairs 
vor  Augen,  träumte  noch,  als  die  anderen  dekretierten, 
dichtete  noch,  als  Courbet  behauptete,  Poesie  sei  eine 
Gemeinheit.  Nicht  Hals  und  Goya,  die  vor  seinen 
Blicken  in  Frankreich  einzogen,  störten  seine  Idylle. 
Was  diese  der  Jugend  gaben,  fand  er  immer  wieder 
im  Lande  seiner  Träume,  wo  Giorgione  und  Correggio 
gelebt  hatten.  Poussin  dehnte  seine  Form,  aber  blieb 
ihm  verhältnismäßig  fremd.  Seiner  Schüchternheit  ver- 
schloß sich  die  Pracht  der  Bacchanalien.  Giorgione 
dagegen  liebte  er  so,  wie  Poussin  Tizian  verehrte.  Er 
suchte  dem  nackten  Körper  in  der  Landschaft  die 
Wärme  des  „Concert  champetre"  zu  geben.  Ohne  die- 
selben Farben,  die  seiner  Palette  nicht  lagen,  ohne  die 
Pracht,  an  die  er  nicht  heranreicht,  aber  mit  derselben 
unendlich  menschlichen  die  Form  durchdringenden 
Empfindung,  die  Giorgione  über  die  prunkenderen 
Nachfolger  stellt.     Diese  Empfindung  kommt  bei  Corot 


44  COROT 

aus  einem  viel  weniger  ernsten  Temperament.  Mit 
ihrer  Aufrichtigkeit  vertrug  sich  das  Lächeln,  ja  die 
Ausgelassenheit,  und  diese  frohe  Laune  fand  in  Correggio 
einen  idealen  Gefährten.  Nächst  Prud'hon,  den  man 
den  französischen  Correggio  nennt>  ist  niemand  —  auch 
nicht  Diaz,  der  es  zuweilen  darauf  anlegte  —  dem 
Maler  der  Leda  näher  gekommen,  als  Corot.  Er  be- 
trachtete ihn  von  einer  ganz  anderen  Seite  als  Prud'hon 
und  Diaz.  Prud'hon  kannte  kein  schöneres  Ziel  als 
sich  mit  dem  geliebten  Meister  zu  identifizieren, 
wobei  ihm  die  Aufgabe,  eins  der  verstümmelten  Ge- 
mälde zu  ergänzen,  entgegenkam.  Er  adoptierte  das- 
selbe Format,  vergrößerte  den  individuellen  Schwung 
der  Antiope,  summierte  in  schönen  Einzelfiguren 
die  Anregung.  Man  weiß,  wieviel  von  Eigenem 
dazu  kam.  Diaz  wiederum  rückte  mit  seiner 
Schwärmerei  für  die  Italiener  den  Vorbildern  zuweilen 
so  nahe  auf  den  Leib,  daß  seine  kostbaren  Idyllen  mit 
einer  fremden  Empfindungswelt  kollidieren.  Corot  da- 
gegen träumte  vor  Correggio  wie  vor  der  Natur.  Er 
betrachtete  aus  viel  größerer  Entfernung,  wo  der  präzise 
Umriß  der  Körper  sich  verlor  und  behielt  nur  etwas  von 
der  Gemeinsamkeit  vieler  Gesten.  Man  glaubt  in 
manchen  seiner  Nymphentänze  die  Berliner  Ledagruppe 
unendlich  vervielfacht  und  um  ebensoviel  verkleinert 
wiederzufinden.  Szene,  Atmosphäre,  die  ganze  Mache 
des  Bildes,  ist  noch  weiter  von  Correggio  entfernt,  als 
Delacroix  von  Rubens.  Aber  durch  alle  Verschiedenheit 
klingt  die  Stammverwandtschaft  hindurch  und  weckt  in 
uns  dieselbe  wohltuende  Empfindung,  wie  wenn  wir 
in  unserm  Spiegelbild  die  Spuren  verehrter  Ahnen 
finden. 

Corot  verklärte  Correggio,  er  goß  einen  weiteren, 
luftigeren  Raum  um  das  Sensuelle  der  Leda,  erinnerte 
sich  an   noch  süßere  Märchen,   ging,   ohne  den  Meister 


DIE  FRAUEN 


45 


aus  den  Augen  zu  verlieren,  in  fernere,  erhabenere 
Zeiten  zurück,  als  die  Vorbilder  noch  leibhaftig  auf 
Erden  wandelten  und  Virgil  die  Oden  diktierten.  Das 
Keusche,  das  hier  gemeint  wurde,  ist  der  antike  Geist, 
der  ihn  von  Correggio  trennt.  Ob  es  wahr  ist,  daß  er, 
wie  manche  Biographen  berichten,  auf  seine  alten  Tage 
noch  griechisch  lernte,  um  Theokrit  in  der  Ursprache 
zu  lesen,  bleibt  dahingestellt.  Sicher  ist,  daß  er  zu 
den  Griechen  in  intimere  Beziehungen  gelangte,  als 
seinen  Zeitgenossen  gegönnt  war.  Und  gerade  dadurch 
erscheint  uns  seine  Rolle  unendlich  wertvoll.  Wir  sahen 
früher,  wie  der  Klassizismus  des  Kreises  um  Joseph  Vernet 
von  David  zu  dem  Pseudo-Römischen  verzerrt  wurde. 
Prud'hon  erhob  sich  dagegen  mit  sanfter  Gewalt. 
Weniger  seine  großen  Gemälde  als  seine  köstlichen 
Zeichnungen  in  Chantilly,  im  Louvre  usw.  zeigen  den 
Reflex  einer  freieren  Kunst,  eines  erhabeneren  Schattens, 
deuten  auf  den  Geist,  der  sich  nicht  mit  dem 
massiven  Körper  der  römischen  Antike  verband,  auf 
Hellas.  Corot  wagte  in  diesem  Geiste  zu  malen  und 
verbannte  noch  entschiedener  als  Prud'hon  alle  Er- 
innerung an  das  alte  Rom,  um  sich  desto  inniger  einem 
idealen  Hellas  zu  erschließen.  Er  ersah  dieses  Vorbild 
nicht  aus  den  Skulpturen  der  Alten.  David  hätte  ihn 
noch  weniger  für  seinesgleichen  anerkannt,  als  Prud'hon. 
Corot  erträumte  sein  Vorbild.  Er  malte  Landschaften 
—  das  Genre,  das  die  Schule  Davids  für  unzulässig 
und  gemein  erklärte  —  nahm  sie  aus  der  Umgegend 
von  Paris  und  malte  sie  in  griechischem  Geiste.  Er 
ließ  statt  der  Ruinen  Hubert  Roberts  kleine  nackte 
Mädchen  darin  spielen,  die  uns  heute  schon  klassisch 
erscheinen.  Vor  fünfzig  Jahren  hätte  man  den  Vergleich 
frevelhaft  genannt.  Er  tat,  was  in  ihrer  Art  den  beiden 
größten  französischen  Klassikern  der  Vergangenheit, 
Poussin  und  Claude,   auf  gleich  natürliche  Weise  gelang. 


46  COROT 

In  seiner  Salonbesprechung  des  Jahres  1857  schrieb  About, 
daß  Corot  Dinge  in  der  Natur  gesehen,  die  den  beiden 
großen  Meistern  des  XVII.  Jahrhunderts  entgangen 
wären.1)  Unrecht  wäre,  wollte  man  deshalb  den  Spät- 
geborenen über  seine  Vorgänger  stellen.  Poussin  und 
Claude  waren  für  ihre  Zeit  genau  das,  was  Corot  für 
die  seine  wurde,  und  dieser  hätte,  was  er  war,  nicht 
werden  können,  hätten  nicht  die'  beiden  vorher  den 
Pfad,  auf  dem  er  wandeln  sollte,  mit  unsterblichen 
Rosen  bekränzt.  Schon  diese  beiden  durchdrangen  die 
Dinge  der  Alten  mit  neuem  Geist,  übergaben  dem 
Lichte  des  Bildes  die  Geste,  die  vorher  der  scharf  ge- 
zirkelte Umriß  gespielt  hatte,  vollendeten  des  großen 
Veronese  und  Tintoretto's  Erfindung.  Das  XVIII.  Jahr- 
hundert besann  sich  langsam  auf  diese  Tradition.  Corot 
besann  sich  nicht  nur,  sondern  wirkte  weiter,  ging  ein  so 
bedeutendes  Stück  auf  der  alten  Bahn  weiter,  daß  man 
fast  die  vorher  vorhandene  Bahn  übersieht.  Man  kann 
ihn  natürlicher  nennen  als  seine  Vorgänger,  ohne  damit 
einen  Vorwurf  gegen  Poussin  und  Claude  auszusprechen; 
natürlicher,  weil  die  ganze  Welt  so  geworden  ist.  Nicht 
weniger  Poet,  nicht  weniger  klassisch;  und  das  ist  heute 
ein  seltener  Ruhmestitel.  Daß  sich  in  die  schmetternden 
Fanfaren  der  neuen  Kunst  diese  zarten  Lieder  mischten, 
hat  vielen  Herzen  wohlgetan. 

1)  Nos  artistes  au  Salon  de   1857. 


DER  ROMANTIKER 

JENEN  Salon  von  1857,  von  dem  About  berichtete, 
hatte  Corot  mit  sieben  Bildern  beschickt,  darunter 
fünf  Meisterwerken,  die  dem  Sechzigjährigen  die  end- 
gültige Anerkennung  auch  des  Publikums  brachten.  Das 
erste,  das  „Concert  Champetre",  das  Dupre  besaß,  und 
nach  dessen  Tode  vom  Duc  d'Aumale  für  Chantillv 
erworben  wurde,  war  ein  altes  Gemälde,  das  schon  auf 
dem  Salon  von  1844  figuriert  hatte,  aber  jetzt,  verein- 
facht und  verbessert,  dieselbe  Welt  entzückte,  die  da- 
mals achtlos  an  ihm  vorbeigegangen  war.1)  Dann  die 
„Feuersbrunst  von  Sodom",  ebenfalls  schon  in  veränderter 
Form  auf  dem  Salon  von  1844,"2)  dann  die  „Ronde  de 
Nvmphes",0)  endlich  eine  „Hirtin  am  Waldessaum",  bei 
untergehender  Sonne.4)  Damals  schrieb  Theophile  Gau- 
tier, der  schon  1839  den  ^aler  besungen  hatte,  von 
den  „Verdures  Elvseens"  und  den  „Ciels  Crepusculaires". 
Nach  diesem  Vokabularium  hätte  man  fast  glauben 
können,  daß  es  sich  um  einen  Genossen  Delacroix'  han- 
delte. Die  Erinnerung  an  den  Maler  der  „Dantebarke" 
widersetzt  sich  dem  Corotschen  Geiste,  wie  wir  ihn  zu 
erkennen  versucht  haben.  Die  Romantik  des  einen  hat 
mit  der  griechisch  anmutenden  Poesie  des  anderen  gar 
nichts  gemein.  Sie  stehen  sich  wie  Gegensätze,  fast 
wie  fremde  Welten  gegenüber.  Dort  der  flammende 
Kolorist,  der  kühne  Dramatiker,  das  gärende  Tempera- 
ment; hier  der  Liedersänger,  der  seine  Pastorale  in  zarten 
Ton  hüllt.  Aber  in  der  Kunst  sind  große  Persönlich- 
keiten zu  reich,  um  in  so  frappanten  Gegensätzen  auf- 
zugehen.    Am  wenigsten  lassen  sie  sich  erschöpfend  auf 

*)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.    1098. 
-)  L'oeuvre   de   Corot,    Robaut-Moreau-Nelaton   Nr.    1097.      Die   erste 
mg  aus  1843  S.  Nr.  460  unter  dem  Titel  ..La  Destruction  de  Sodom." 
3)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.    1072. 
*)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.    1069. 


50  COROT 

den  groben  Temperamentsmaßstab  zurückführen,  nach 
dem  man  den  Alltagsmenschen  einteilt.  Ihre  Sanftmut 
hat  Abgründe,  ihre  Leidenschaft  hat  friedliche  Oasen, 
und  man  kennt  sie  schlecht,  wenn  man  diese  Wider- 
sprüche außer  acht  läßt,  die  ihr  Wesen  ergänzen.  Eine 
solche  Nuance  ist  in  Corot  das,  was  man  romantisch 
im  Geiste  Delacroix'  in  seinen  Werken  findet.  In  dem 
„Christ  au  jardin  des  Oliviers"  vom  Jahre  18491)  ruht 
wie  unter  Schleiern  das  berühmte  Gemälde  gleichen 
Namens"  von  Delacroix,  umgedacht  durch  eine  fried- 
lichere Seele.  In  der  erwähnten  „Feuersbrunst  von 
Sodom"  ist  der  Einfluß  deutlich.  Als  Corot  1843  das 
Bild  zum  erstenmal  malte,  stand  er  Delacroix  vollkom- 
men fremd  gegenüber  und  gab,  soweit  man  nach  der 
Abbildung  der  Zeit  schätzen  kann,  eine  klassische  Kom- 
position im  Geiste  der  Hagar.  Vierzehn  Jahre  später 
übermalte  Corot  das  Bild  vollständig,  modifizierte  das 
Format  und  gab  der  Komposition  die  dramatische  ein- 
heitliche Form,  die  wie  eine  rührende  Selbstverleugnung 
der  Idylle  erscheint.  Kurz  vorher  war  der  hl.  Seba- 
stian entstanden,  von  dem  wir  schon  sprachen,  in  dessen 
Malerei  —  zumal  in  der  Skizze  —  die  eigentümliche 
Schraffierung  Delacroixscher  Flecken  verwendet  ist.  In 
dem  „Dante  und  Virgil"  des  Jahres  1859  finden  sich 
ähnliche  Beziehungen.2)  Am  deutlichsten  wird  der  Ein- 
fluß in  dem  „Macbeth"  desselben  Jahres. :i)  Der  Besucher 
der  Wallace  Collection,  wo  man  so  viel  Überraschungen 
in  der  französischen  Kunst  aus  der  Zeit  der  Romantik 
erlebt,  steht  einigermaßen  betroffen  vor  dem  großen 
Gemälde.     In   den   drei  Hexen  und   den   beiden   Reitern 


J)  L'oeuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.  610.  Museum  von 
Langres.  Nicht  zu  verwechseln  mit  dem  späteren  Bild  gleichen  Titels, 
das  er  als  Freske  in  die  Kirche  von  Ville  d'Avray  malte  (Nr.   1076). 

2)  L'ceuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.  1099,  Museum  von 
Boston. 

3)  L'ceuvre  de  Corot,  Robaut-Moreau-Nelaton  Nr.  1109,  Wallace 
Collection,  London. 


DER   ROMANTIKER  51 

auf  den  erschreckten  Pferden  in  der  gespenstisch  leuch- 
tenden Landschaft  steckt  ein  großer  dramatischer 
Schwung,  und  man  würde  im  ersten  Moment  weniger 
erstaunt  sein,  den  Namen  Delacroix'  auf  der  Inschrift 
zu  finden,  als  den  seines  wirklichen  Autors.  Wie  groß 
in  Wirklichkeit  der  Unterschied  zwischen  beiden  ist, 
belehrt  schon  der  Blick  auf  das  benachbarte  Bild,  die 
farbenprunkende  Hinrichtung  des  Dogen,  von  Delacroix. 
Der  Corot  wirkt  daneben  dunkel.  Er  gibt  seine  diskretere 
Kunst  nicht  auf,  aber  es  ist,  als  sei  in  das  stille  Leben 
des  Lyrikers,  als  er  das  Bild  malte,  ein  starkes  Ereignis 
getreten  und  habe  ihn,  der  sonst  zärtlichen  Hirtinnen 
zu  lauschen  pflegte,  zu  mächtiger  Sprache  begeistert. 
Der  Einfluß  ist  unleugbar.  Ob  er  auf  ein  bestimmtes 
Bild  Delacroix'  zurückgeht,  weiß  ich  nicht.  Es  ist  nicht 
unmöglich,  daß  Corot  die  Darstellung  desselben  Vor- 
gangs von  Chasseriau  gesehen  hat,  die  Delacroix  nahe- 
steht.1) Als  er  1867  auf  der  Weltausstellung  den  ,,Mac- 
bethiw  wiederfand,  konnte  er  sich  nicht  sarkastischer  Selbst- 
ironie enthalten.  Auch  in  anderen  weniger  spezifischen 
Bildern  findet  man  dieselbe  düstere  Romantik.  Das 
Stedelijk  Museum  von  Amsterdam  beherbergt  im  selben 
Saale  mit  Delacroix'  grandioser  „Medea  auf  der  Flucht" 
die  „Contrebandiers"  Corots,  die  Nacht  im  düsteren  Ge- 
birgstal mit  den  Pferden  der  Schmuggler.  Auch  hier 
scheint  sich  ein  schwacher  Reflex  des  Malers  der  Me- 
dea zu   melden. 

Die  beiden  Meister  lernten  sich  erst,  vermutlich  durch 
ihren  gemeinsamen  Freund  Dutilleux,  in  reifen  Jahren 
kennen.  1847  kam  Delacroix  in  das  Atelier  Corots  und 
schrieb  den  schönen, Eindruck  nieder,  den  die  „Beautes 
naives"  auf  ihn  gemacht  hatten.-)  Der  Ton  ist  der 
Respekt,  in  dem  man  von  einem  durchaus  gleichstehenden 

*)  Sammlung  des  Baron  Arthur  de  Chasseriau,  Paris. 
"-)   Journal  de  Delacroix  vom    14.   März   1847,  I,  289. 


52  COROT 

Kollegen  spricht.  Am  selben  Tage,  an  dem  sich  Delacroix 
an  Corots  leichter  Art,  das  Leben  zu  nehmen,  erfreut, 
notiert  er  mit  der  bekannten  Sachlichkeit  die  gewohnte 
eigene  Melancholie,  die  ihn  auf  dem  Boulevard  befallen 
hatte.  Corot  seinerseits,  der  jeder  schnellen  Erkenntnis 
mangelte,  gelangte  mit  den  Jahren  zu  immer  größerer 
Bewunderung  Delacroix'.  Er  teilte  mit  ihm  manche 
Neigung,  zumal  die  Verehrung  Correggios,  den  Delacroix 
neben  Michelangelo  stellte,  und  mag  für  den  Adel  der 
Gesinnung,  der  aus  allen  Aspirationen  des  großen  Malers 
und  des  Menschen  sprach,  bessere  Organe  gehabt  haben 
als  viele  Zeitgenossen.  Am  meisten  bewunderte  er  den 
Monumentalkünstler,  den  Louvre-Plafond  und  die  gro- 
ßen religiösen  Malereien,  und  möglicherweise  hat  ihn 
das  Vorbild  angeregt,  sich  auch  auf  diesem  Felde  zu 
versuchen. 

Corot  als  Monumentalmaler  ist  ein  wenig  gekanntes 
Kapitel.  Es  wäre  deplaziert,  wollte  man  ihm  diese 
prätentiöse  Überschrift  geben,  denn  Corots  größte  Kunst 
ist  nicht  darin  enthalten.  Es  bedeutet  mehr  eine  quan- 
titative Ausdehnung  seiner  reichen  Tätigkeit,  als  eine 
neue  Seite  seines  Wesens;  aber  dieses  Quantum  umfaßt 
zu  viel  schöne  Dinge,  als  daß  man  es  leichten  Herzens 
übergehen  könnte.  Sein  erster  Versuch  war  typisch  für 
ihn.  Wie  Robaut  erzählt1,)  kam  Corot  eines  Tages, 
Anfang  der  vierziger  Jahre  nach  Mantes  zu  seinem 
Freunde  Robert  und  bemerkte,  daß  die  Anstreicher  ge- 
rade dabei  waren,  das  Badezimmer  neu  zu  schmücken. 
Ohne  viel  Umstände  bat  der  Künstler  die  „geschätzten 
Kollegen",  ihm  den  Platz  zu  überlassen.  Zufälligerweise 
hatte    er    kein  Handwerkszeug    bei  sich.     Er    nahm    die 


1)  In  der  Zeitschrift  L'Art  vom  7.  Dezember  1879  mit  Abbildungen 
nach  Zeichnungen  Robauts.  Text  und  eine  der  Zeichnungen  figurieren 
auch  als  Appendix  zu  der  Rousseauschen  Studie  (im  selben  Verlag  1884). 
Sämtliche  Panneaux  sind  im  Corot -Werk,  Robaut-Moreau-Nelaton,  unter 
Nr.  435  bis  440  abgebildet. 


DER  ROMANTIKER  53 

Pinsel  und  die  Farben  der  Maler,  ergänzte  sie,  so  gut 
sich  das  beim  Farbenhändler  tun  ließ,  und  begab  sich 
an  die  Arbeit.  Die  Geschichte  erinnert  an  die  Impro- 
visation, die  Delacroix  bei  Dumas  zum  besten  gab.  Der 
Raum  war  sehr  eng  und  von  üblen  Verhältnissen  wie 
die  meisten  Badezimmer.  Corot  ließ  sich  nicht  ab- 
schrecken, sondern  bemalte  ohne  jede  Präparation  die 
sechs  Panneaux  dieses  Badezimmers  einer  Villa  im  Herzen 
Frankreichs  mit  ebensoviel  „Souvenirs  d'Italie",  ohne  jeden 
anderen  Anhalt  an  das  Modell  als  seine  eigene  Natur 
und  die  Erinnerung  an  das  geliebte  Land.  Und  es  be- 
findet sich  mindestens  ein  Bild  darunter,  ein  langge- 
strecktes Dessus-de-fenetre  mit  einer  Ansicht  des  großen 
Kanals  von  Venedig,  das  die  Reise  nach  Mantes  be- 
zahlt macht. 

Sehr  viel  anmutiger  als  dieses  Badezimmer  muß  der 
kleine  Kiosk  im  Garten  des  Hauses  von  Ville  d'Avray 
gewirkt  haben,  den  Corot  1847  zum  Geburtstag  seiner 
alten  Mutter  ausmalte,  schon  weil  hier  für  eine  unend- 
lich feine  Zusammenstimmung  der  einzelnen  Panneaux  ge- 
sorgt wurde  und  das  Format  dem  Künstler  entgegen- 
kam. Robaut  stellt  mit  Unrecht  diese  Dekoration  unter  die 
Salle  de  bains  von  Mantes,  weil  ihm  die  einzelnen  Land- 
schaften nicht  genug  individualisiert  erscheinen.1)  Der 
Mangel  war  in  Wirklichkeit  ein  Vorzug  des  Ensemble, 
soweit  man  heute  noch  urteilen  kann.  Das  eine  der 
beiden  größten  Panneaux,  auf  dem  das  Häuschen  selbst 
gemalt  ist,  gehört  zu  den  reizendsten  Schöpfungen  Corots. 
Es  malt  die  Behaglichkeit,  die  hier  empfunden  wurde. 
Die  anderen  Bilder  ergänzen  und  erweitern  dieses 
Behagen.  Jede  stärkere  Betonung  hätte  die  Idylle  ge- 
stört. Die  Reinheit  der  warmen  Sommerstimmung 
erhebt  sich  weit   über  die  Improvisation  in  Mantes,   die, 

*)  Robaut  ebenda.  In  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  600  bis  607.  Die 
Panneaux  befinden  sich  heute  bei  Lemerre  in  Paris. 


54  COROT 

so  gelungen  sie  war,  nicht  die  wertvollste  Gabe  Corots 
ungestört  zu   äußern  vermochte,   seinen  Wohlklang. 

Kurz  vorher  hatte  er  die  ,, Taufe  Christi"  für  die  Kirche 
St.  Nicolas  du  Chardonnet  in  Paris  vollendet,  glücklicher- 
weise nicht  auf  die  Wand,  sondern  auf  Leinwand  gemalt. 
Es  ist  eins  seiner  größten  Gemälde,  fast  vier  Meter  hoch 
und  Corots  kostbarster  Beitrag  zu  der  Monumentalkunst  im 
konventionellen  Sinne.  Die  Handlung  steht  dem  Cin- 
quecento nahe  und  hält  sich  an  die  übliche  Pose;  aber 
sie  verliert  als  solche  jede  wesentliche  Bedeutung  in 
dem  weichen  Schatten,  mit  dem  sie  Corot  umhüllt,  und 
wird  etwas  ganz  Neues  in  der  Landschaft,  in  der  sie 
sich  abspielt.  Man  begreift  vor  dieser  vollkommenen 
Harmonie  die  Begeisterung  Delacroix',  der  hier  einen 
Genossen  erkannte.  Vereinfacht  kommt  dieselbe  Kunst 
in  den  vier  Fresken  der  Kirche  von  Ville  d'Avray  von 
1855  wieder.  Hier  spielt  die  Landschaft  nur  als  Ton 
der  Hintergründe  mit,  dafür  sind  die  Szenen  selbst  — 
zumal  die  Vertreibung  aus  dem  Paradies  —  viel  per- 
sönlicher stilisiert.  Leider  ist  ihre  Lage  über  den  Fen- 
stern so  ungünstig,  daß  der  Betrachter  kaum  ihren  ganzen 
Wert   erschöpfen  kann.1) 

Die  vierzehn  Darstellungen  der  Passionsgeschichte  in 
der  Dorfkirche  von  Rosny  bei  Mantes  kommen  neben 
diesen  Werken  nicht  in  Betracht,  zumal  barbarische 
Vernachlässigung  durch  den  Klerus,  die  übrigens  auch 
der  großen  „Flucht  nach  Ägypten",  Corots  Salonbild 
von  1840,  am  selben  Orte  zuteil  wird,  sie  heute  schon 
zu  Ruinen  gemacht  hat.-)  In  dieselbe  Zeit  fallen 
die  vier,  bei  Decamps  in  Fontainebleau  gemalten,  land- 
schaftlichen Panneaux3),  die  später  in  den  Besitz  Sir  Fre- 

1)  Wie  Robaut  berichtet,  veranlaßte  er  Corot  kurz  vor  seinem  Tode, 
die  Fresken  in  verkleinertem  Maßstabe  auf  Leinwand  zu  übertragen. 
Vgl.  L'ceuvre  de  Corot  Nr.   1074  bis   1077  und  23 11   bis  2314. 

-)  L'ceuvre  de  Corot  Nr.  1083   bis  1096,  entstanden  von  1853  bis  1859. 

3)  L'ceuvre  de  Corot  Nr.    1104  bis   1107,  entstanden  gegen   1858. 


DER  ROMANTIKER  55 

deric  Leightons  übergingen  und  die  vier  kleinen  Ovals 
in  einer  Louis  XV.  -Vertäfelung  des  Schlosses  von  Gru- 
yeres  in  der  Schweiz.1)  In  den  sechziger  Jahren,  als 
Daubigny  sein  schwimmendes  Atelier  auf  der  Oise 
mit  einem  stabileren  Sommersitz  in  Auvers  vertauschte, 
malte  Corot  auf  die  frischen  Wände  im  Hause  des 
Freundes  ein  paar  seiner  schönsten  Dekorationen.  Die 
größte  von  ihnen  diente  einem  Don  Quichotte  Daumiers 
als  Pendant  und  zeigte  im  Hintergrunde  die  beiden 
typischen  Cervantes-Figuren,  die  Daumier  so  oft  gemalt 
hat.  Auch  die  drei  Skizzen  bei  Herrn  Ganz  in  Berlin 
scheinen  zu  einer  Dekoration  zusammengehört  zu  haben."2) 

Die  Liste  ist  damit  noch  nicht  erschöpft,  doch 
lang  genug,  um  die  Art  zu  zeigen.  Diese  Art  unter- 
scheidet sich  im  Grunde  von  den  anderen  Werken  Corots 
nur  durch  das  Format  und  eine  noch  leichtere  Grazie 
der  Gestaltung.  Sie  hat  seinem  Ruhme  kaum  Ent- 
scheidendes zugefügt,  sondern  ist  mehr  der  Überschuß 
einer  schier  unversieglichen  Kraft.  Doch  dient  sie  als 
Schlüssel  zum  Verständnis  des  Meisters.  Sie  hilft  zumal, 
die  Stellung  Corots  zu  der  wichtigsten  Schule  des  19. 
Jahrhunderts  zu  begreifen,  mit  der  man  ihn  vorschnell 
verwechselt  hat.  Die  Betrachtung  des  Landschafters 
wird   uns  darüber  noch    eingehender  aufklären. 

Was  wir  an  dem  Meister  Romantisches  in  der  Art 
Delacroix'  fanden,  wird  durch  die  der  Dekoration  zu- 
geneigte Seite  paralysiert.  Der  Sehnsucht,  die  in  S.  Sul- 
pice  und  im  Louvre-Plafond  brünstige  Hymnen  stammelt, 
versagt  sich  die  milde  Lyrik  stiller  Träume.  Beide 
Künstler  erschöpfen  vereint  das  Genie  ihres  Volkes.  In 
Deutschland  kennt  man  nur  die  Seite  Delacroix'  und 
verkennt  sie,  weil  man  nicht  das  Recht  zur  Pose  be- 
greift.    Die    schlichte  Poesie  Corots  gehört   noch   enger 

')  L'ceuvre  de  Corot    Nr.  1078  bis  108 1,  entstanden  von  1854  bis  1858. 
*)  Fehlen  in  L'ceuvre  de  Corot. 


56  COROT 

zum  Volke.  Sie  stammt  nicht  von  dem  Furor  Pugets, 
den  Delacroix  am  meisten  von  seinen  Vorgängern  ver- 
ehrte, sondern  von  den  freundlichen  Gärtnern  des  17. 
und  18.  Jahrhunderts,  deren  Geist  auch  heute  noch 
zuweilen   die   Kunst   unserer  Nachbarn   schmückt. 


DER  LANDSCHAFTER 

MAN  kann  die  Kunst  der  Primitiven  mit  einer 
Heiligenfigur,  die  Blütezeit  der  alten  Malerei  mit 
dem  Porträt  eines  stattlichen  Mannes,  das  18.  Jahr- 
hundert mit  einer  Schäferszene  darstellen.  Unsere  Zeit 
gibt  sich  in  einer  Landschaft.  Hier  fand  die  einsame 
Malerei  ein  Gebiet,  in  dem  sie  der  Mangel  an  Tra- 
dition nicht  schädigte,  sondern  bevorzugte.  Es  konnte 
im  ganzen  Umfang  erst  entdeckt  werden,  als  die  Per- 
sönlichkeit die  Kraft  gewonnen  hatte,  in  der  Kunst 
auf  sich  selbst  zu  bestehen.  Für  die  Antike  gab  es 
keine  Landschaft.  Die  kirchliche  Kunst  hatte  den 
Blick  auf  freundliche  Gelände  zu  Hintergründen  benutzt. 
Die  Holländer  des  17.  Jahrhunderts,  die  weder  mit  der 
Antike,  noch  mit  der  Kirche  fertig  wurden  und  sich 
schon  in  der  Zwangslage  befanden,  die  sich  200  Jahre 
später  um  vieles  verschärfte,  schnitten  mit  ihren  glor- 
reichen Werken  der  Zukunft  nicht  die  Möglichkeit  ab, 
sich  des  Gebiets  wie  eines  neu  entdeckten  Landes  zu 
bemächtigen.  Was  die  Ruysdael,  Hobbema,  van  Goyen 
und  Aert  van  der  Neer  begonnen  hatten,  forderte  viel- 
mehr die   Fortsetzung  heraus. 

Dieselbe  Begünstigung  der  Neuzeit  läßt  sich  auf  keins 
der  anderen  Gebiete  der  überlieferten  Kunst  aus- 
dehnen. Unsere  Untauglichkeit  für  das  Heiligenbild 
springt  in  die  Augen,  und  die  Gründe  sind  jedem  Laien 
verständlich.  Aber  selbst  das  Porträt,  anscheinend  das 
Neutrum  unter  den  Objekten,  versagt  uns  die  volle 
Pracht  der  Alten,  und  wir  geben  uns  einer  Fiktion  hin, 
wenn  wir  in  der  Art  unserer  Charakteristik  den  vollen  Er- 
satz erblicken.  Es  ist  nicht  vollkommen  richtig,  daß  unsere 
Portraits  unsere  Zeit  so  geben  wie  die  alten  ihre  Epoche. 
Nur  erlaubt  der  Unterschied  nicht  auf  eine  Differenz 
der  künstlerischen  Fähigkeiten  zu  schließen.     Wir  malen 


60  COROT 

keine  Portraits  mehr  wie  die  Alten.  Die  Intensität,  mit 
der  sich  das  16.  und  17.  Jahrhundert  des  Gebiets  be- 
fleißigten, hat  anderen  Tendenzen  Platz  gemacht  und 
mußte  weichen,  um  andere,  uns  gelegenere  Konzentra- 
tionen  zu   ermöglichen. 

So  scheint,  aus  dieser  Entfernung  betrachtet,  die  Ein- 
sicht in  die  Belanglosigkeit  des  Gegenständlichen  er- 
schüttert. Es  ist  nicht  gleichgültig,  was  dargestellt  wird, 
wenn  wirklich  ganze  Epochen  das  eine  besser  als  das 
andere  beherrschten.  Torheit  ist  nur,  das  leicht  er- 
sichtliche Resultat  der  Gewöhnung  für  wichtig  genug  zu 
halten,  um  das  fürs  Allgemeine  Geltende  aufs  Besondere 
zu  übertragen  und  daraus  dem  Einzelnen  eine  Richt- 
schnur zu  knüpfen.  Verderblich  war  der  Aberglaube 
der  Klassizisten,  die  Landschaft  an  sich  sei  nie  der 
Darstellung  wert,  die  Beschränktheit  des  würdigen  Va- 
lenciennes,  des  Malers  und  Ästhetikers  der  Revolution, 
dem  Claude  Lorrain  zu  realistisch  war,  weil  „die  Götter, 
Halbgötter,  Nymphen  und  Satyrn  seinen  schönen  Gegen- 
den zu  fremd  geblieben  seien",  und  der  auf  solchen  An- 
schauungen ein  Werk  über  die  Landschaft  aufbaute.1) 
Und  ein  geringes  dieses  Aberglaubens  haftet  auch  noch 
dem  heutigen  Kunstfreund  an,  der  seine  Liebe  auf  ein 
vom  Titel  der  Werke  bestimmtes  Gebiet  beschränkt 
und  nur  Landschaften  oder  nur  Stilleben  oder  nur 
phantastische  Stoffe  liebt.  Er  übersieht,  daß  er  mit 
solchen  Sach-Einteilungen  vom  Schönen  wenig  sagt, 
nur  von  sich  selbst  einen  kleinen  Organisationsfehler  ver- 
rät, der  sein  Urteil  trübt  wie  der  feine  Sprung  im  Por- 
zellan den   reinen   Klang  des  Gefäßes. 

Das  Heiligenbild  war  in  der  alten  Zeit  gute  Rich- 
tung, weil  man  es  beherrschte,  weil  so  viele  Genera- 
tionen   daran    geschaffen     hatten,     daß     schließlich    der 

a)  Elements  de  perspective  pratique  a  l'usage  des  artistes,  suivis  des 
reflexions  et  conseils  sur  le  genre  du  paysage  (Paris  l'an  VIII). 


DER  LANDSCHAFTER  61 

Künstler  mit  der  besonderen  Befähigung  für  diesen 
Gegenstand  auf  die  Welt  kam.  Das  Porträt  der  Alten 
war  nicht  allein  das  Bildnis  dieses  und  jenes  Bestellers, 
sondern  Abbild  einer  von  der  ganzen  Zeit  gebildeten 
Norm,  eine  Variation  des  Autors  nach  den  Zügen  des 
Bestellers,  daher  ganz  etwas  anderes,  als  wir  heute  dar- 
unter verstehen.  Das  heißt  also,  das  vermeintlich  Gegen- 
ständliche war  auch  damals  in  Wirklichkeit  Form.  Wenn 
David  seinem  gefeierten  Schüler  Gros  empfahl,  nun  end- 
lich mal  ein  ernsthaftes  Historienbild  zu  malen,  meinte 
er  in   Wirklichkeit   die   beliebte   Antike. 

Die  Landschaft  schuf  ein  neues  Geleis.  Sie  strahlt 
so  stark  die  Taten  der  Künstler,  die  sich  mit  ihr  be- 
schäftigt haben,  zurück,  daß  man  zu  dem  Trugschluß 
neigt,  ihr  die  schöpferische  Rolle  zuzutrauen,  die  große 
Maler  mit  ihr  spielten.  Sie  schuf  neue  Anschauungen, 
neue  Mittel,  diese  Anschauungen  zu  Bildern  zu  machen, 
neue  Formen.  Für  den  Maler  der  alten  Zeit,  der  nur 
den  Menschen  darstellungswert  gefunden  hatte,  war  die 
übrige  Natur  ein  kleiner  Rest.  Für  den  Landschafter 
verlor  der  Mensch  die  isolierte  Bedeutung,  die  An- 
schauung wurde  pantheistisch.  Und  mit  der  Bedeutung 
verlor  der  Mensch  die  Formenwelt,  die  sich  um  ihn 
festgenistet  hatte.  Die  große  Arabeske  aus  dem  Lmriß 
des  Nackten  taugte  nicht  für  die  Pläne  mit  den  Feldern 
und  Wäldern  und  dem  Himmel  im  Hintergrund.  Aus 
der  Kurve  wurde  die  Gerade.  Und  wie  die  Kurve  einen 
ganzen  Kosmos  von  geschwungenen  Formen  gebracht  hatte, 
so  schuf  die  Gerade  eine  Welt  von  Strichen,  von  Winkeln 
aller  Art,  den  Schnitten  vergleichbar,  die  der  Spaten  in  die 
Erde  gräbt.  Aber  auch  die  Landschafter  gedachten  nicht, 
auf  die  Darstellung  des  Menschen  zu  verzichten.  Sie 
brachten  ihn  wieder,  aber  er  war  nun  etwas  ganz  anderes 
als  früher,  da  die  dramatische  Kurve  ihn  umspielt  hatte. 
Es  war  der  Mensch   von  Landschaftern,   mit   den  Eigen- 


6z  COROT 

tümlichkeiten  einer  Methode  gemacht,  die  den  Maler 
daran  gewöhnt  hatte,  das  Licht  auf  großen  Flächen  zu 
beobachten.  Der  neue  Mensch  hing  mit  dem  neuen 
Kosmos  zusammen,  war  Teil  und  Untergebener,  wo  er 
vorher   als   König  geherrscht   hatte. 

Corot  war  im  Grunde  nicht  mehr  Landschafter  als 
wie  Poussin,  nur  darf  man  das  Landschaftliche  Pous- 
sins  nicht  zu  gering  anschlagen.  Er  war  nicht 
Nur-Landschafter.  Aber  hat  sich  je  ein  großer  Künstler 
auf  dieses  Nur  beschränkt?  Nicht  die  Genügsamkeit 
mit  einem  Gebiet  der  Natur  meine  ich,  sondern  die 
Enge  der  Anschauung,  die  Beschränkung  auf  eine  Be- 
handlung, die  scheinbar  nur  auf  eine  Gattung,  in  Wirk- 
lichkeit auf  keine  paßt.  Hätte  Rembrandt  nur  Portraits 
gemalt,  so  wäre  er  nichtsdestoweniger  der  inbrünstige 
Phantast;  hätte  er  nur  Legenden  gemalt,  so  wäre  er 
nichtsdestoweniger  der  große  Rechner.  Ja,  war  nicht 
im  Grunde  alles  Porträt  und  gleichzeitig  alles  Legende, 
und  ist  das  nicht  immer  so?  Gibt  es  eine  Kunst,  die 
nicht  beides  selbst  im  beschränktesten  Gegenstande 
vereint? 

Auch  Corot  war  Landschafter  in  dem  Sinne,  daß  er 
im  19.  Jahrhundert  lebte  und  seine  Sprache  mit  den 
Lauten  der  Zeit  bildete.  Er  drückte  sich  im  Grunde, 
wenn  man  das  einzelne  nimmt,  nicht  anders  aus  als 
irgend  einer  der  großen  Landschafter,  aber  erscheint 
♦wie  ein  großer  Dichter  neben  tüchtigen  Prosaisten. 
Nicht  etwa  die  Nymphen  seiner  Bilder  geben  ihm 
diesen  Vorrang,  sondern  seine  Fähigkeit,  bereits  in  voll- 
kommener Freiheit  mit  einer  Form  zu  wirtschaften,  die 
von  ihm  und  anderen,  ja  vielleicht  mehr  noch  von 
anderen,  geschaffen  worden  war,  aber  die  anderen  noch 
an  Einzelheiten  fesselte.  Er  erscheint  uns,  und  so  er- 
schien er  auch  der  folgenden  Generation  von  1870,  als 
die  größere  Persönlichkeit,   als  reicherer  Künstler,   in   dem 


DER  LANDSCHAFTER  63 

das    Resultat    der   Entwicklung   zu    einer    durchaus    ge- 
schlossenen  Form  gediehen   ist. 

Ihm  selbst  war  dieser  Vorsprung  vor  den  Jüngeren 
durchaus  unbewußt.  Er  legte  sich  seine  Sonderstellung 
lediglich  als  Resultat  seiner  intimen  Beziehungen  zur 
altfranzösischen  Tradition  aus  und  fühlte  sich  unter  den 
Genossen  in  Barbizon  als  Fremder.  Die  Erzählung  der 
Kunstgeschichte  von  seinen  intimen  Beziehungen  zu  dem 
Kreise  Rousseaus  gehört  ins  Reich  der  Fabel.  Künstler 
dürfen  verkehrt  urteilen  und  müssen  es  bis  zu  einem 
gewissen  Grade.  Corot  selbst  trotz  seiner  unendlichen 
Milde  machte  keine  Ausnahme.  Gestand  er  doch  ein- 
mal zu  Sensier,  er  könne  sich  mit  dem  „Art  Xouveau" 
nicht  befreunden.  Unter  dem  „Art  Xouveau"  verstand 
er  nicht  etwa  moderne  Stühle,  sondern  Millet;  zehn 
Jahre  vorher  hatte  er  noch  Delacroix  darunter  verstanden. 
Lnd  wieviel  näher  mußten  ihm  diese  beiden  sein  als 
Cabat,  Flers,  Dupre  und  zumal  Rousseau.  Den  Künst- 
lern von  Barbizon  wiederum  galt  er  als  Kompromißler, 
verehrungswürdig  allenfalls,  weil  es  der  brave  Pere  Corot 
war,  aber  mit  der  Bravheit  verband  sich  eine  Nuance 
von  \  ieux  jeu.  Moreau-Xelaton  spricht  von  einem 
„antagonisme  inavoue  mais  reel"1)  der  Barbizonkünstler 
und  stützt  sich  dabei  auf  Zeitgenossen,  die  es  wissen 
mußten.  Zwischen  den  Zeilen  liest  man  bei  Fromentin 
dasselbe  heraus.  Wir  haben  den  wesentlichsten  Grund 
dieses  Verhältnisses  oben  bei  der  Betrachtung  der  Be- 
ziehung der  Landschafter  von  1830  zu  den  Holländern 
gestreift.  Diese  bildeten  sich  ein,  nur  Landschafter  zu 
sein,  nur  nach  der  Xatur  zu  malen,  und  sahen  darin 
ein  Zeugnis  ihrer  Ehrlichkeit.  In  Wirklichkeit  saßen 
sie  etwas  länger  draußen  bei  dem  Xaturstudium,  malten 
während  des  Sehens,  während  Corot  weniger  bei  der 
Arbeit  nach   dem   Modell  schaute;   eine  rein  äußerliche 

*)  L'oeuvre  de  Corot  I,  S.  240. 


64  COROT 

Differenz,  die  auf  den  bekannten  fiktiven  Gattungs- 
unterschied hinauslief.  Corot  malte  Nymphen,  das 
genügte  den  allzu   Gesinnungstüchtigen. 

Unter  dem  Spiel  der  Nymphen  aber  verbarg  sich 
noch  ein  besonderer  Unterschied,  von  dem  sich  weder 
der  eine  Teil  noch  der  andere  Rechenschaft  ablegte:  Corot 
war  Tonmaler,  die  anderen  waren  Koloristen.  Bei 
beiden  gilt  es,  dieses  sachliche  Argument  mit  vielen 
nicht  weniger  sachlichen  Reserven  auszustatten,  um  der 
Wahrheit   treu   zu   bleiben. 

Wir  fanden  schon  im  Anfang  unserer  Arbeit  den  Ton 
als  wichtiges  Entwickelungsmoment  Corots,  sahen,  daß 
er  ihn  sozusagen  mit  auf  die  Welt  brachte,  denn  schon  in 
der  ersten  römischen  Zeit,  als  die  köstlichen  Ansichten 
der  Tiberbrücke  usw.  entstanden,  als  Corot  nur  sach- 
liche Notizen  sammeln  wollte,  tauchte  er  seine  Dinge 
in  duftige  Atmosphäre.  Wie  wenig  solcher  Anfang 
ohne  die  ganz  spezifische  Anlage  Corots  natürlich  war, 
kann  man  ermessen,  wenn  man  sich  der  italienischen  An- 
fänge eines  begabten  Koloristen  wie  Bonington  erinnert, 
der  in  der  gleichen  Lage  die  grausamsten  Härten  sehen 
ließ  und  in  seinen  Ansichten  von  Venedig  gleichsam 
einen   versteinten   Guardi   zeigte. 

Diese  Klippe  hat  es  für  Corot  nie  gegeben.  Seine 
Kunst  war  von  Natur  aus  weich  wie  der  ganze  Mensch. 
Aber  wie  sich  mit  der  sprichwörtlichen  Güte  seines 
Gemüts  eine  hünenhafte  physische  Kraft  verband,  so 
umhüllte  auch  seine  geschmeidige  Form  eine  elementare 
Stärke,  die  dafür  sorgte,  daß  das  Geschmeide  nicht  zum 
sentimentalen  Dusel  wurde. 

Wir  fanden  ihn  bei  seinem  zweiten  Aufenthalt  in 
Rom  im  Jahre  1843  auf  der  Suche  nach  der  Form  für 
seine  Frauenbilder.  Zur  selben  Zeit  ungefähr,  als  die 
„Zerstörung  Sodoms"  entstand,  malte  Corot  eine  Reihe 
sehr    schöner    Landschaften.      Die    Perle    von   ihnen  be- 


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DER  LANDSCHAFTER  6s 

findet  sich  bei  Henri  Rouart,  dem  reichsten  Corot- 
Sammler:1)  die  Gärten  der  Villa  d'Este  in  Tivoli,  mit 
dem  Jungen  auf  der  Mauer.'2)  Das  kleine  Bild  hat 
die  Poesie  der  berühmten  Ansichten  aus  der  Villa 
Medici,  im  Prado,  als  Velasquez  noch  im  Werden  war, 
noch  nicht  den  generalisierenden  Ton,  den  großen  Stil, 
besaß  und  dafür  die  unverhüllte  Zierlichkeit,  prickelnde 
Süße  sehen  ließ.  Ganz  ähnlich  verhalten  sich  die 
Frühwerke  mancher  anderen  Maler  zu  den  berühmteren 
späten  Werken.  Viele  haben  in  ihren  Anfängen  eine 
Art  „Hagar"  gemacht.  Bei  Rembrandt  ist  es  der  kleine 
Geldwechsler  in  Berlin  und  der  nicht  weniger  possierliche 
Paulus  in  Stuttgart.  Alle  streben,  den  relativen  Materialis- 
mus der  Jugend  in  immer  breitere,  umfassendere  Malerei 
zu  lösen.  Die  Aufgabe  ist,  bei  dieser  notwendigen 
Reduktion  möglichst  wenig  zu  verlieren,  die  Größe  vor 
Hohlheit  zu  bewahren,  das  Flache  gleichzeitig  körperlich, 
die  Synthese  so  reich  wie  möglich  zu  machen.  Corot 
zeigt  alle  Licht-  und  Schattenseiten  dieser  Entwickelung. 
Es  ist  ihm  nicht  immer  gelungen,  die  Gefahr  des  Ein- 
tönigen, die  auf  allen  Gipfeln  beherrschter  Mittel  lauert, 
zu  umgehen,  und  die  Bedeutung,  die  für  ihn  das  Figür- 
liche annahm,  drängt,  ähnlich  wie  bei  Velasquez,  später 
die  Landschaft  in  den  Schatten.  Daher  gehören  in 
mancher  Beziehung  die  vierziger  Jahre  zur  glücklichsten 
Zeit  des  Landschafters,  weil  er  während  dieser  Jahre 
die  geringsten  Verluste  zeigt.  Die  Hülle  auf  den  „Gärten 
der  Villa  d'Este"  ist  noch  ganz  durchsichtig.  Der 
Schatten  verschweigt  nichts,  was  man  sehen  möchte. 
Die  Farbe  entsteht  aus  einer  Fülle  deutlicher  Abstu- 
fungen, die,  trotzdem  sie  die  zartesten  Nuancen  um- 
fassen, immer  körnig  bleiben  und  so  den  Reichtum 
immer  wieder  erneuern.     Man   glaubt  eine  zarte  Frucht 


*)  Besitzt  er  doch  nicht   weniger  als  53   Gemälde  des  Meisters. 
-)  L'ceuvre  de  Corot  Nr.  457. 


66  COROT 

zu  genießen  und  merkt,  wie  der  Genuß  durch  den  leisen 
Widerstand  in  der  Zartheit  beständig  erhöht  wird.  Das 
Terrain  kam  Corot  in  Tivoli  entgegen,  die  Kombination 
von  Architektur  und  reicher  Natur,  die  schöne  Über- 
sicht der  Pläne.  Aber  er  siegt  auch,  wo  sich  das  Modell 
nicht  so  bildhaft  darbietet.  So  in  dem  anderen  Bild  bei 
Rouart1),  oder  in  den  „Cascatelles"  bei  Moreau  Nelaton, 
oder  in  dem  merkwürdigen  Genzano-Bildchen  bei  Che- 
ramy,  das  mehr  im  Fluge  gewischt  als  gemalt  scheint 
und  dabei  alle  Differenzen  mit  frappierender  Deutlich- 
keit zeigt:  den  dunklen  Bauern  jungen  auf  dem  gelben 
Sandweg,  die  weiße  Bäuerin  mit  dem  roten  Kopftuch 
und  vorne  das  schöne  Smaragdgrün  der  Gebüsche  neben 
der  dunkelbraunen  Ziege.'2)  In  Hunderten  von  Land- 
schaften der  folgenden  Jahre  ging  Corot  auf  demselben 
Wege  weiter,  bald  die  Weite  des  Horizonts  in  seinen 
Rahmen  spannend,  um  von  einem  lauschigen  Vordergrund 
die  dunstige  Ferne  zu  malen;  bald  den  Landleuten  am 
Wege  oder  auf  der  Wiese  folgend,  um  die  innige  Zu- 
sammengehörigkeit von  Mensch  und  Land  in  warmen 
Tönen  zu  schildern;  bald  —  wie  auf  dem  stillen  Weiher 
der  Sammlung  Sarlin,  der  uns  1900  auf  der  Zentenar- 
ausstellung  entzückte15)  —  um  sich  und  uns  in  Ein- 
samkeit einzuspinnen.  Es  ist  ein  himmlischer  Frieden 
in  dieser  Natur,  man  kann  sich  ihm  nicht  entziehen, 
weil  er  zu  schlicht,  zu  selbstverständlich  ist,  um  den 
Zweifel  zu  wecken.  Man  glaubt  als  unbemerkter  Zu- 
schauer dabei  zu  sein.  Die  Augen  wandeln  mit  den 
kleinen  zufriedenen  Menschen  auf  den  Bildern,  gleiten 
wohlig  über  die  Büsche  zwischen  den  Bäumen  hindurch, 
streifen  gelassen  die  Häuser  und  Kirchtürme.  Es  sind  be- 
kannte Dinge,   obschon   man  nie   dort  war.     Man  sehnt 


1)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  454. 

2)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  457  bis  S.  17  abgebildet. 

3)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  759. 


DER  LANDSCHAFTER  67 

sich  nicht  mal  nach  ihnen,  so  nahe  glaubt  man  zu  sein. 
Es  ist,  als  ob  die  Luft  auf  den  Bildern  auch  uns 
selbst  mit  umspiele. 

Nach  zwei  gleichzeitigen  Richtungen  hin  modifiziert 
sich  diese  reiche  Epoche  Corots.  In  der  einen  gibt  er 
seiner  Dichtung  nach,  überläßt  sich  dem  Ton,  dem 
silbergrauen  Licht,  das  den  Nymphen  so  gut  steht,  und 
vergißt  darüber  manches  andere.  In  der  anderen  wird 
er   Kolorist. 

Werden  die  silbergrauen  Nymphen-Landschaften  immer 
so  geschätzt  werden  wie  heute?  Vom  Publikum  ver- 
mutlich, denn  sie  sind  die  leichteste  Ware  unter  den 
reichen  Schätzen  des  Meisters.  Der  Freund  der  Corot- 
schen  Muse  wird  die  Beweglichkeit  der  Nymphen  viel- 
leicht einmal  geringer  achten  als  die  Beweglichkeit 
des  Pinsels  in  weniger  eintönigen  Bildern.  Die  „Mati- 
nee" mit  dem  Nymphentanz  gefällt  jedem  Besucher 
des  Louvres  zuerst  am  besten;  man  übersieht  das 
Bild  schnell,  das  lose  Spiel  nimmt  sofort  gefangen. 
Aber  es  muß  wohl  an  derselben  losen  Malerei  liegen, 
daß  der  Bewunderer  nicht  festgehalten  wird  und  wenn 
er  oft  dieselbe  Art  in  den  anderen  berühmten  Bildern 
wiederfindet,  fühlt,  wie  sich  eine  gewisse  Kühle  in  die 
Bewunderung  schleicht.  Wir  sind  mit  Recht  wählerisch 
in  der  Kunst.  Wer  nicht  in  der  Kunst  empfindlich 
ist,  ist  es  auch  nicht  im  Leben,  und  hier  wie  dort  ist 
Gewohnheitsliebe  Sünde  am  eigenen  Leibe.  Wir  haben 
um  so  mehr  Recht,  zumal  vor  großen  Meistern  so  zu 
sein,  weil  sie  uns  das  schulden,  was  wir  ihnen  geben. 
Der  neue  Platz,  den  sie,  zuweilen  nicht  ohne  Verluste 
für  uns,  in  unserer  Liebe  erobern,  das  Neue,  das  sie 
uns  aufdrängen,  ihr  ganzer  Anspruch  rechtfertigt  sich 
nur,  wenn  wir  die  Notwendigkeit  ihrer  neuen  Formen 
empfinden.  Diese  Notwendigkeit  wird  zweifelhaft, 
sobald   sich   die   Form   in   die   Manier  verirrt. 


68  COROT 

Was  manieriert  ist,  läßt  sich  in  jeder  Ausstellung 
empfinden,  dagegen  schwer  formulieren.  Wir  verknüpfen 
mit  dem  Wort  den  Tadel  der  Wiederholung,  werfen 
dem  Künstler  vor,  dasselbe  Resultat  immer  wieder  zu 
bringen  und  sich  von  Selbstbewunderung,  nicht  vom 
Drange  zur  Kunst,  tragen  zu  lassen.  Andererseits  ge- 
hört die  Wiederholung  zur  Kunst,  denn  ohne  sie 
läßt  sich  weder  im  einzelnen  Werk,  noch  in  dem 
Lebenswerk  eines  Künstlers  ein  Stil  denken.  Wir 
wissen  nichts  vom  Künstler  außer  seiner  Art,  und 
diese  Art  geht  notwendig  aus  Wiederholungen  hervor. 
Der  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Begriffen,  von 
denen  eins  das  Höchste,  das  andere  das  Niedrigste  be- 
zeichnet, muß  logischerweise  im  Objektiven  liegen,  d.  h. 
eine  sachlich  aus  dem  Werk  hervorgehende  Qualitäts- 
frage sein.  Die  Manier  ist  nicht  etwa  wertvoll  aus 
geschichtlichen  —  etwa  entwicklungsgeschichtlichen  — 
Gründen;  wenn  wir  diese  heranziehen,  bedienen  wir 
uns  nur  einer  Brücke  zu  unserer  Logik,  um  vorher  vor- 
handene Empfindungen  zu  legitimieren.  Wohl  nützt 
uns  der  Vergleich  mit  anderen  Werten;  er  spricht  latent 
bei  jeder  neuen  Erfahrung  mit,  ja  macht  sie  erst  in 
höherem  Sinne  möglich,  bereitet  das  Bett  für  jeden 
neuen  Genußwert.  Nur,  bevor  wir  vergleichen,  um  in 
uns  die  ästhetische  Freude  zu  entzünden,  ist  ein  An- 
sporn anderer,  elementarer  Art  nötig:  das  Bewußtsein, 
keine  Form,  sondern  einen  Menschen  vor  uns  zu 
haben. 

Der  Mangel  fängt  da  an,  wo  der  Vorzug  aufhört. 
Die  Manier  wird  da  zum  Manierismus,  wo  ihre  Not- 
wendigkeit nicht  mehr  vollkommen  gesetzmäßig  er- 
scheint, wo  für  die  Erweisbarkeit  ihres  Wertes  nicht 
ihre  in  sich  abgeschlossene  Welt  auftritt,  wo  die  Manier 
nicht  alle  Grenzen  des  von  ihr  gestalteten  Werkes  um- 
faßt,   sondern    Lücken    läßt.      Die  Manier  ist  so  lange 


DER  LANDSCHAFTER  69 

Kunstmittel,  solange  sie   vollkommen   dem  Zwecke  dient 
und  den  Zusammenklang  des  Subjektiven  und  Objektiven, 
die    Grundbedingung    jedes    Kunstwerkes,    nicht    stört. 
Manierismus  ist   das   Subjekt    ohne   Objekt,   Originalität 
ohne   Bewußtsein,    die   Schale    ohne  den   Kern,   die    Be- 
tonung einer  dem  Autor  oder  der  Welt  gefälligen  Seite 
auf  Kosten  des  Ganzen.      Da  die  Bedeutungen  an  einem 
Punkt  zusammenfließen,   wo  nur  eine  feine  Linie  besagt, 
wann   die  Manier  aufhört  und  der  Manierismus   beginnt, 
lassen  sich  beide   Begriffe  oft  im  selben  Künstler  nach- 
weisen,   ja    sie    treten    zuweilen    im    selben  Werke   auf, 
und    dann    kann    natürlicherweise    der  Manierismus    nur 
eine    Nuance    darstellen.      Dies    ist    der   Fall  Corots   in 
gewissen  Landschaften.      Er  brachte  vorher    durch  eine 
Kette  von  Wirkungen  eine  Erscheinung  hervor,  die  wir 
als  seine  Atmosphäre  lieben  lernten.     Es  ist  eine  Stufen- 
leiter von  sorgfältig  abgewogenen  Effekten,   die  nur  ge- 
troffen  werden,    wenn   der  Maler    mit  voller  Selbstent- 
äußerung an  nichts  als  an  die  Sache  denkt.    Wir  gehen 
diese   Leiter   zum   Genuß  hinauf  und  erblicken  dann  von 
oben   nur  noch  die  Summe   dieser  Reize,   ein  Bild,   das 
keiner    Kontrolle    mehr    bedarf.      Vielleicht    fliegen   wir 
bei    geliebten    Künstlern    die    Stufen    hinan,    ohne    zu 
zählen,  ja  ohne  die  Stufen  zu  berühren:  ein  Blick,  und 
wir  sind  bei  ihm.      Seine  Manier  ist  so  stark  und  wurde 
uns    so   gewohnt,    daß   ein  Wink    uns    zwingt.      Um  so 
sicherer    muß    der   Künstler    seine  Stufen  bauen,    denn 
die    sie    gehen    werden,    sind    nie    dieselben.      So    stark 
müssen  sie  sein,   um   in  aller  Ewigkeit,   solange    das  Haus 
steht,   den   Menschen  zum  Himmel  zu  geleiten. 

Der  solide  Bau  fehlt  manchen  der  berühmten  silber- 
grauen Landschaften  Corots.  Die  Stufen  sind  verwischt, 
in  der  Eile  gemacht.  Bilder,  die  ihrer  Anlage  nach  Tiefe 
haben  müßten,  wirken  flach,  oder  die  Tiefe  ist  mit  gar  zu 
geringen  Mitteln  gegeben.    Die  Nymphen,  die  nur  die  Be- 


jo  COROT 

gleiter  einer  unendlich  zaubervollen  Landschaft  sein  müß- 
ten, tanzen  in  einem  Dekor,  das  nicht  ganz  die  Beziehung 
zum  Theater  vergessen  macht,  aus  der  sie  sehr  oft  entstan- 
den. Das  Grau,  in  das  man  wie  bei  anderen  Corots  tief 
hineinblicken  möchte,  ohne  Ende  zu  finden,  das  nicht  aus 
grauer  Farbe,  sondern  aus  tausend  Dingen  bestand,  deckt 
allzu  oberflächlich  eine  dünne  Leinwand.  Es  ist  immer  noch 
sehr  schön.  Der  Louvre  zeigt  nicht  das  absolut  Beste 
des  Genres.  Man  muß  die  Baigneuses  bei  Henri  Rouart 
sehen  und  die  bei  Cuvelier  und  bei  Coats,  das  Bad 
der  Diana  im  Museum  von  Bordeaux,  die  Nymphen- 
bilder in  Chantilly,  bei  Arnold  und  Tripp,  oder 
das  Pastorale  im  Museum  von  Glasgow.  In  allen 
stecken  unvergängliche  Dinge.  Ob  ein  Corot  in  einer 
Nuance  Manierist  wird,  oder  ein  Besnard  mit  einer 
Nuance  Künstler  bleibt,  ist  zweierlei.  Ja,  hätte  Corot 
nichts  anderes  als  diese  Werke  geschaffen,  bliebe  Grund 
genug,  ihn  zu  verehren.  Nur  soll  man  diese  Kunst 
nicht  als  seine  Haupttat  feiern,  nicht  gerade  das  in  den 
Himmel  heben,  was  allein  im  ganzen  Werk  eine  Kritik 
herausfordert. 

Es  war  nichts  weniger  als  der  feile  Grund  der  Schwachen, 
der  Corot  zu  der  Spur  von  Manierismus  trieb.  Keine 
Gewinnsucht  bei  dem  Generösesten  aller  Kameraden,  kein 
Schielen  nach  oben  —  wir  haben  dafür  sprechende  Beweise — 
auch  keine  Schwächung,  die  begreiflich  wäre.  Andere  sind 
in  jüngeren  Jahren  und  nach  geringerem  Werk  den  sanften 
Pfad  hinabgeglitten;  wie  stark  Corot  bis  an  sein  Ende 
blieb,  werden  wir  noch  erfahren.  Ich  glaube,  es  war 
just  seine  Generosität,  seine  Gutmütigkeit,  was  in 
bewunderungswerte  Dinge  den  Wurm  hineinließ;  der 
Wunsch,  Bilder  zu  geben,  wie  er  Geld  gab,  um  andere 
zu  beglücken;  eine  Sorglosigkeit,  die  fern  von  dem  grü- 
belnden, sich  aufreibenden  Dämon  Delacroix',  fern  von 
dem  Egoismus  der  Genies,  des  Grans  von  Gift  entbehrte, 


DER  LANDSCHAFTER  71 

das  die  Großen  in  sich  haben  müssen,  um  ihre  Werke 
heil  zu   halten. 

Nur,  wenn  es  gerecht  ist,  solche  Reserven  auszu- 
sprechen, muß  man  sich  hüten,  zu  geschwind  zu  gene- 
ralisieren. In  gar  zu  leicht  aufgeklärten  Kunstkreisen 
ist  jene  Reserve  längst  zur  gewohnten  Phrase  geworden, 
und  statt  die  relativ  geringe  Zahl  von  diskutablen  Werken 
zu  präzisieren,  pflegt  man  dort  den  ganzen  älteren  Corot  zu 
verwerfen.  Das  ist  eine  viel  größere  Ungerechtigkeit,  als 
wenn  man  die  Ausnahmen  ganz  verschwiege. 

Um  Ausnahmen  handelt  es  sich.  Nicht  das  Alter 
Corots  kommt  als  Schuldiger  in  Frage,  nicht  mal  eine 
Periode  seines  Alters,  sondern  eine  bestimmte,  über 
viele  Jahre  hinaus  zerstreute  Art  von  Bildern,  die  genau 
gleichzeitig  mit  vollkommen  entgegengesetzten,  nichts 
weniger  als  senilen  Werken  entstanden.  Die  „Matinee" 
erschien  im  Salon  von  1851  und  wurde  das  Jahr  vorher 
gemalt.  Damals  war  Corot  54,  für  seine  Verhältnisse  ein 
Jüngling.  Die  glänzendsten  Werke  in  der  Art  der,, Matinee" 
erschienen  alle  später;  dabei  soll  nicht  geleugnet  werden, 
daß  noch  mäßigere  als  die  „Matinee"  darunter  sind,  z.  B. 
gleich  das  „Souvenir  d'Italie"  des  Louvre.  Aber  man 
braucht  nur  in  den  nächsten  Saal  zu  gehen,  wo 
die  Corots  der  Thomy  Thierv-Sammlung  hängen,  um 
ebenfalls  spätere  Werke  ganz  modernen  Schlages  zu 
finden,  vor  denen  alle  Reserven  wie  Seifenblasen  zergehen. 

Mit  solchen  Bildern  könnte  man  eine  neue  Epoche 
im  Leben  Corots  konstruieren.  Es  scheint  wirklich,  als 
sei  in  den  fünfziger  Jahren  neue  Kraft  über  ihn  ge- 
kommen. Oder  liegt  es  nur  daran,  daß  er  seine  Mittel 
erneute  und  vom  Tonmaler  zum  Koloristen  wurde?  ein 
Kolorist,  der  mit  breitem,  unverhülltem  Pinsel  arbeitete, 
an  alles  andere,  nur  nicht  an  Nymphen  im  Nebel  dachte, 
sondern  die  Natur  spontan  niederstrich. 

Wie    die    Gleichzeitigkeit    solcher   grundverschiedenen 


72  COROT 

Schöpfungsarten  zu  erklären  ist,  dafür  reicht  keine 
Psychologie  aus.  Schon  der  Corot,  der  in  einem  Salon 
den  „Macbeth",  die  „Toilette"  und  „Cache  Cache", 
alle  ungefähr  in  denselben  Maßverhältnissen  ausstellte, 
ist  eine  artige  Nuß  für  Kunstphilosophen.  Und  nun 
denke  man  sich,  daß  er  gleichzeitig  wie  ein  bereicherter 
blonder  Constable  malte,  Hunderte  und  aber  Hunderte 
getreuster  Naturschilderungen  schuf.  Die  Anschauung, 
die  wir  aus  der  logischen  Entwicklung  unserer  Zeit- 
genossen, eines  Monet  oder  Liebermann,  gewinnen,  findet 
in  Corot,  dem  stillen  Idylliker,  manche  Rätsel.  Es 
scheint,  als  ob  die  Kunst  ihm  etwas  weniger  Subjektives 
war,  da  er  so  verschiedenartige  Erscheinungen  daraus  zu 
locken  wußte,  und  doch  kann  man  sich  kaum  unmittel- 
barere Impressionen  denken  als  die  Perlen  der  Thomy 
Thiery-Sammlung.  So  wirkt  die  weite  Ebene  in  dem 
winzigen  „Vallon",1)  so  der  von  Farben  leuchtende  „Chemin 
de  Sevres"2),  so  vor  allem  die  „Porte  de  Jerzual"3)  mit 
dem  unwiderstehlichen  Blick  auf  die  Häuser  jenseits  des 
schattigen  Tores.  Und  wenn  man  lernen  will,  wie  Corot 
kurz  vor  dem  Ende  aus  dem  Grau  Stil  zu  machen 
verstand,  ohne  eine  Spur  von  Kompromiß  merken  zu 
lassen,  braucht  man  nur  die  Route  d'Arras4)  zu  nehmen, 
das  Bild,  in  dem  die  materielle  Farbe  zu  reinstem  Licht 
kondensiert  scheint  und  das  1873  gemalt  wurde.  Diesen 
Werken  stelle  man  noch  gewisse  Studien  zur  Seite,  wie 
das  Haus  von  Semur5)  bei  Durand  Ruel,  oder  den  Hof 
mit  den  Hühnern0)   oder  den   „Beffroi  de  Douai"')  und 


')  Louvre  Nr.    2801. 

2)  Louvre  Nr.  2803. 

3)  Louvre  Nr.  2802.     So  wird  das  Bild  im  Oeuvre  de  Corot  genannt 
(Nr.  990),  im  Louvre  heißt  es  Porte  d'Amiens  (gegen   1860). 

4)  Louvre  Nr.  2810.     Heißt  in  L'oeuvre    la  Corot  de  Route  de  Sinle- 
Nobe  (Nr.  2169). 

f>)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  839  (1855—1860). 
°)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   2176  (1873). 
7)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   2004  (1871). 


\I.TI>   LANDHAUS  IX   DBB  XÄHK  VON  8KMOUB,   1S55— 6p. 

N'aili   dem  Corotlieft  de«   Studio. 
Durand-Kui-l.   Paris. 


DER  LANDSCHAFTER  73 

hundert  andere,  ebenso  viele  Beispiele  der  größten 
Ursprünglichkeit,  der  reichsten  Kunst  eines  nur  der 
Natur  zugewandten  Malers. 

Alle  diese  Werke  entstanden  in  der  letzten  Zeit  und 
soweit  sie  die  Koloristik  betonen,  glaubt  man  in  ihnen 
eine  deutliche  Beziehung  zu  den  Künstlern  von  Bar- 
bizon  zu  finden,  denen  er  vorher  so  fern  schien.  Es 
ist  nicht  unmöglich,  daß  einer  der  jüngsten  der  großen 
Landschafterschule  und  vielleicht  der  bedeutendste,  Dau- 
bigny,  an  dieser  Annäherung  beteiligt  war. 

Corot  war  mit  Daubigny  eng  befreundet.  Vielleicht 
hatte  er  schon  den  Vater  des  Landschafters  gekannt, 
der  auch  Bertins  Schüler  und  ungefähr  gleichzeitig  mit 
Corots  zweiter  italienischer  Reise  in  Italien  war.  Dau- 
bigny selbst  fing  in  der  dem  Meister  vertrauteren  Art  an. 
Auch  er  war  in  Italien,  anfangs  in  den  Fußstapfen  der 
Alten,  freilich  nicht  mit  dem  Erfolge  seines  älteren 
Freundes.  Er  stellte  1840  einen  „Hieronymus  in  der 
Wüste"  aus,  der  Corot  heimatlich  berührt  haben  mag. 
Ein  Dutzend  Jahre  später  trafen  sie  sich  in  der  Dau- 
phine  und  halfen  sich  offenbar  gegenseitig.  Daubigny 
hatte  sich  inzwischen  von  allem  Klassizismus  und  nicht 
weniger  gründlich  als  Millet  aus  den  Händen  seines 
Lehrers  Delaroche  befreit.  In  Corot  glaubt  man  seitdem 
einen  energischeren  Pinselstrich,  eine  entschiedenere  Kolo- 
ristik, etwas  von  der  saftigeren  Malerei  des  Jüngeren  zu 
spüren.     Seine   Flächen  fangen   an,   zu  leuchten. 

Im  Haager  Mesdag- Museum,  wo  Daubigny  ein 
würdiger  Altar  errichtet  wurde,  kann  man  die  beiden 
gut  vergleichen.  Die  Allee  Corots1),  in  ganz  reinem 
fließenden  Grün,  mit  den  blitzend  weißen  Flecken, 
paßt  vortrefflich  zu  den  rapiden,  freilich  nicht  so  rhyth- 
mischen  Skizzen    Daubignys  an  derselben  Stelle. 

Vorbereitet  wurde  diese  Periode  Corots  wahrscheinlich 

')  Katalog  des  Mesdag-Museums  Nr.  69,  datiert   1868. 


74  COROT 

durch  Constable,  der  ja  allen  Franzosen  seiner  Zeit  die 
stärksten  Anregungen  gab.  Corot  war  erst  1862  in 
England,  kann  aber  vorher  in  Paris  genug  Werke  des 
Engländers  gesehen  haben.  „Le  Gue",  das  ganz  frühe 
Bild  mit  dem  belasteten  Leiterwagen  im  Tümpel1),  hat 
manche  äußerliche  Ähnlichkeit  mit  dem  Hay  Wain, 
freilich  nichts  von  dem  Farbenauftrag  Constables. 
Diesen  glaubt  man  eher  in  manchen  Studien  der 
vierziger  Jahre  angedeutet  zu  finden.  So  in  dem 
besten  Corot  des  Mesdag- Museums,  den  „Rosen"-). 
Freilich  hatte  Constable  nicht  die  unglaubliche  Leichtig- 
keit, mit  der  hier  die  riesigen  Felsen  dienstbar  gemacht 
werden,  nicht  die  Kühnheit  des  Standpunktes,  den  Corot 
ganz  tief  annahm,  um  die  steinerne  Masse  um  so 
wirksamer  zu  machen,  und  nicht  das  Spielende  der 
Gestaltung,  die  das  ganze  Bild  wie  eine  Illustration  er- 
scheinen läßt.  Prachtvoll  steht  der  kaffeebraune  Ton 
der  Felsen  zu  den  blaugrünen  Blättern  und  dem  blauen, 
graudurchzogenen  Himmel.  Deutlicher  kommt  eine 
gewisse  Verwandtschaft  der  Anschauung  mit  Constable 
in  späteren  Studien,  wie  z.  B.  dem  erwähnten  Haus 
bei  Semour  zum  Vorschein,  das  an  die  berühmte  Con- 
stable-Skizze   „A   deserted   mill"   u.  a.   erinnert. 

Je  älter  Corot  wird,  desto  breiter  wird  der  Pinsel. 
Nur  ausnahmsweise  zeigt  sich  diese  stark  koloristische 
Malerei  in  großen  Formaten.  Er  reservierte  sie  für  seine 
kleinen  Überraschungen  in  der  Art  der  Bilder  des 
Thomy  Thiery-Saals.  Größerer  Gemälde  hielt  er  nur 
seine  gereimten  Poesien  für  würdig  genug,  und  in 
diesen  ist  der  Auftrag  immer  mehr  dem  Tone  als  dem 
Kontrast  unterworfen.  So  erhält  sich  sein  ganzes  Leben 
der  Dualismus,  den  wir  im  Anfange  fanden.  Seine 
Baigneuses    und     seine    Nymphen    verschönerten,     ver- 

')  L'oeuvre  de  Corot  Nr.   257,  aus   1832. 

2)   Katalog  desMesdag-Museums  65,  aus  1848  (L'oeuvre  de  Corot  Nr.  637). 


DER  LANDSCHAFTER  75 

geistigten  den  Klassizismus,  dem  er  in  der  Jugend  in 
der  „Hagar"  den  Tribut  gezahlt;  die  kleinen  Landschaften 
zeigen  den  intimeren  Corot,  der  sich  in  Rom  nicht  ent- 
schließen konnte,  in  ein  anderes  Museum  als  das  der 
Natur  zu  gehen.  Der  eine  gab  dem  anderen,  es  ist 
derselbe  Mensch,  und  doch  wüßte  ich  kaum  ein  Bild,  in 
dem  sich  beide  Seiten  vollkommen  gelöst  haben.  Und 
dieser  Dualismus  enthält  die  beste  Abwehr  gegen  den 
Vorwurf  eines  bewußten  Manierismus.  Der  Manierierte 
ist  immer  einseitig  und  versucht  vergebens,  seine  Schwäche 
unter  der  Vielheit  der  Gegenstände  zu  verbergen.  Ge- 
wiß hat  Corot  manches  Bild  gemalt,  in  dem  wir  heute, 
wenn  wir  es  mit  den  Perlen  messen,  nicht  die  Not- 
wendigkeit der  Schöpfung  erkennen.  Er  trieb  seine 
Kunst  nicht  mit  dem  Bewußtsein,  etwas  Außerordent- 
liches zu  vollbringen.  Sie  war  ihm  natürliche  Äußerung 
und  gab  ihm  die  befriedigende  Möglichkeit,  sich  mit 
sich  selbst  und  seinen  Mitmenschen  zu  unterhalten.  Er 
pflegte  «in  zehn  Bildern  zu  wiederholen,  was  er  in  einem 
sagte,  aber  man  kann  nicht  behaupten,  daß  das  eine 
der  Art  nach  hätte  konzentrierter  sein  können.  Aus 
der  Menge  darf  man  daher  dem  Meister  keinen  Vor- 
wurf machen,  denn  sie  hinderte  ihn  nicht,  stetig  vor- 
wärts zu  schreiten.  Ein  Mensch,  der  zu  gleicher  Zeit 
mehrere  Gestaltungsarten  beherrscht,  kann  nicht  einseitig 
genannt  werden.  Man  bemerkt  leicht,  daß  sich  die 
Anwendung  der  verschiedenen  Arten,  des  breiten  Strichs 
und  der  starken  Koloristik  auf  der  einen  Seite,  der  tonigen 
Malerei  mit  kleinen  Tupfen  auf  der  anderen,  nach  dem 
Vorwurf  richtete,  nach  dem  Eindruck,  den  er  empfangen 
und  mitteilen  wollte.  Die  nackten  Nixen  verlangten  eine 
andere  Atmosphäre  als  die  Bauern.  Der  Hymnus  an  das 
schönere  Geschlecht  hatte  stets  eine  geheime  Separat- 
kammer im  Herzen  Corots  und  in  seinem  Werke. 
Im    Alter,    als    er    die    Sechzig    längst    überschritten 


76  COROT 

hatte,  brachte  ihm  diese  Liebe  eine  neue  Gattung  von 
Werken.  Wenn  ihm  die  Frau  in  den  Landschaften  zu- 
weilen ein  Schnippchen  geschlagen  hat,  hier,  in  den 
Werken  der  Spätzeit,  wo  sie  sich  allein  behauptet, 
werden  wir  den  Meister  auf  einer  seltenen  —  fast 
könnte  man  sagen,   einzigen  —  Höhe  finden. 


PAYSANNE  A  LA  SOL'RCE,  1860—65.    0,74X0,48. 
Photo  Durand  Ruel,  Paris. 


JEL'XE  ALGERIEXXE  gegen  1872. 
Photo  Durand  Ruel  Paris. 


DIE  BESTE  ZEIT 


COROT  hat  über  zweiundeinhalbtausend  Bilder  ge- 
malt. Wir  haben  versucht,  die  Arten  anzudeuten, 
aus  Hunderten  Gruppen  zu  bilden.  Viele  Arten  zogen 
an  uns  vorüber,  Landschaften,  Portraits,  Idyllen,  roman- 
tische Szenen,  Odalisken,  badende  Nymphen,  Kirchen- 
bilder, Fresken  und  immer  wieder  Landschaften,  eine 
ganze  Kunstgeschichte.  L'nd  wo  man  glaubt,  am  Ende 
zu  sein,  wenigstens  die  einzelnen  Gattungen  aufgezählt  zu 
haben,  da  erscheinen  wieder  Scharen  von  Bildern  mit 
ganz  neuen  Zügen,  die  sich  wieder  zu  einem  Ganzen 
zusammenfinden,  einem  neuen  Gesicht  unter  dieser  Fülle 
von  Gesichten.  Wieder  sind  Frauen  darunter,  umringt 
von  allen  anderen  Arten  der  früheren  Zeit,  aber  diese 
Frauen  heben  sich  ab  von  dem  Haufen.  Schon  daß 
sie  Frauen  sind,  unterscheidet  sie.  Man  erinnert  sich 
bei   ihrem    Anblicke    nicht,    daß    Corot    je   vorher    eine 


80  COROT 

andere  Weiblichkeit  als  kleine  flinke  Mädchen  in  nackter 
Allerlieblichkeit  gemalt  hat.  Jene  sind  ernst  und 
schweigsam,  man  weiß  gar  nicht  mehr,  daß  Corot  früher 
schweigsam  und  ernst  war.  Gelassen  blicken  sie  den 
Beschauer  an,  ein  wenig  nach  der  Seite,  in  die  Ferne. 
Nicht  traurig,  nichts  weniger  als  sentimental,  nachdenk- 
lich vielmehr  wie  klare  Menschen.  Sie  sind  noch  jung, 
aber  sie  sind  nicht  ihrer  Jugend  wegen  da;  das  Matro- 
nenhafte der  berühmten  Mandolinenspielerin,  die  früher 
bei  Desfosses  war,1)  bekleidet  selbst  die  Mädchen  unter 
ihnen.  Die  Italienerin,  die  aus  einer  anderen  leichter 
beherzten  Welt  hierher  kam,  hat  einen  ernstsinnenden 
Zug  bekommen.  Zuweilen  sind  sie  im  Freien  am 
Brunnen,  wie  in  dem  schönen  Bild  der  Sammlung 
Behrens  in  Hamburg;2)  immer  allein,  in  Gedanken 
versunken,  oder  verträumt  auf  demselben  Pantherfell 
ruhend,  auf  dem  andere  —  vielleicht  waren  sie's  selber 
einmal  —  ihre  nackten  Glieder  gesonnt  haben.  Oder  es 
sind  Frauen  mit  ihren  Kindern  in   einsamer  Landschaft. 

Ein  ganz  anderer  Ton  spielt  in  diesen  Idyllen.  Er 
scheint  von  allem  Griechentum  der  früheren  Art  befreit. 
Zwar  findet  man  hier  und  da  eine  Griechin,  aber  es 
ist  keine  tanzende  Nymphe,  sondern  eine  verwundete 
Eurydice.  s) 

Zum  erstenmal  treffen  wir  in  diesem  Kreise  die  Frau 
im  Hause.  Früher  war  es  fast,  als  gediehe  das  Weib- 
liche nur  zwischen  Bäumen,  am  Weiher  im  betauten 
Grase.  Nun  finden  wir  die  Mädchen  in  stillen,  be- 
haglichen Zimmern.  Sie  haben  Bücher  in  der  Hand,, 
ohne    zu   lesen,    oder    haben    sich   verstohlen    mit    einer 


1)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1060.  Eines  der  feinsten  und  vollendetsten 
Bilder  dieser  Art  (Robaut  legt  es  zwischen  1850  und  1855),  von  unbe- 
schreiblicher frauenhafter  Liebenswürdigkeit  im  Ausdruck. 

-)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.  1343,  wohl  die  schönste  Fassung  dieses, 
dreimal  gemalten  Motivs. 

•)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.    1999 — 2001. 


KKM.MK   AI     <  HKVAI.KT,   1865—68.     62X38  cm. 
Photo  Durand-Kuel  et  fils,  Paris. 


**Km 


LA  L.ISEUSE  (1868).     75X42  cm. 


DIE  BESTE  ZEIT  81 

Gitarre  vor  die  Staffelei  des  Künstlers  gesetzt,  ohne  zu 
spielen. 

Nichts  Griechisches,  eher  holländisch.  Aus  der  leich- 
ten Hülle,  wie  sie  in  den  elysäischen  Gefilden  getragen 
wird,  ist  das  adrette  bürgerliche  Kleid  geworden.  Die 
Malerei  hat  sich  angepaßt.  Wir  sind  weit  von  der 
bequemen  Xebelstimmung  der  Xymphenlandschaften. 
In  reichen  Farben  heben  sich  die  Gestalten  von  den 
wohnlichen  Wänden  der  Zimmer  ab.  Die  Kunst,  die 
Atmosphäre  zu  schildern,  zeigt  auch  hier  ihre  Reize, 
aber  sie  rechnet  mit  dem  Koloristen.  Klare  Farben- 
harmonien leben  in  den  Bildern.  Sie  spiegeln  die  ruhige 
Besonnenheit  dieser  Menschen  und  ihres  Schöpfers  wieder. 

Hier  kommt  endlich  mit  unübersehbarer  Deutlichkeit 
der  unmittelbare  Einfluß  desselben  Landes  zum  Vor- 
schein, das  von  den  Malern  von  Barbizon  entdeckt  wor- 
den war.  Aber  auch  jetzt  noch  setzt  sich  Corot  ganz 
anders  mit  Holland  auseinander  als  die  Reihe  von 
Rousseau  zu  Daubignv.  Wohl  ist  der  Einfluß  sichtbarer 
als  in  dem  Idylliker  Corot,  der  sich  auf  die  alten  Be- 
ziehungen zwischen  den  beiden  Malschulen  erinnerte; 
aber  gleichzeitig  offenbart  er  die  tiefere  Durchdringung 
des  holländischen  Geistes.  Wieder  läßt  Corot  alles  mit- 
wirken, was  ihm  die  französische  Tradition  schenkte,  und 
bereichert  seine  Synthese  nur  mit  den  kostbarsten 
Werten.  Die  anderen  erbauten  sich  an  dem  Kreise 
Ruvsdaels.  Corot  geht  zu  den  beiden  Größten  neben 
Hals:    zu   Rembrandt  und  Vermeer. 

Die  Instinktverwandtschaft  mit  Rembrandt  ist  im 
ganzen  Werke  Corots  zu  spüren,  und  sie  beweist,  wie 
frei  man  seinen  Klassizismus  auffassen  muß,  um  solche 
Gemeinschaft  verständlich  zu  finden.  Sie  half  ihm  zu 
der  lockeren  Form.  In  dem  Hl.  Sebastian  steckt  etwas 
von  dem  Christ  an  der  Säule  der  Sammlung  Carstanjen, 
und   als    die  Düsseldorfer  Ausstellung    die    merkwürdige 


82  COROT 

Idylle  Rembrandts  bei  dem  Fürsten  Salm-Salm  „Diana 
und  Aktäon"1)  brachte,  hätte  man  glauben  können, 
selbst  auf  diesem  Felde  eine  entfernte  Verwandtschaft 
zu  finden.  Corot  ist  immer  zierlicher,  nicht  nur  in 
der  Form,  im  Maßstab,  auch  in  der  Erfindung  seiner 
Mittel.  Ganz  rembrandthaft  wirken  die  winzige  thro- 
nende Frau  im  Atelier  des  Hauses  Rouart2)  und  der  dunkle 
„Passeur"  bei  Frau  Desfosses.  In  dem  Bildchen  bei 
Rouart  erreicht  Corot  im  kleinen  Format  mit  einer  ans 
Fabelhafte  grenzenden  Abstufung  des  Graus  eine  ähnliche 
Majestät  der  Erscheinung,  die  wir  in  größter  Pracht 
in  Rembrandts  Delila  oder  dem  Mahl  der  Esther  und, 
weniger  gespenstisch,  in  gewissen  Portraits,  wie  der  Dame 
mit  dem  Fächer,  bei  dem  Herzog  von  Westminster 
finden.  Das  letzte  Bild  hat  Corot  übrigens  bei  seinem 
Aufenthalt   in  London  im   Jahre   1862  gesehen. 

Acht  Jahre  vorher  war  er  mit  Dutilleux  in  Belgien 
und  Holland  gewesen.  Nach  den  Aufzeichnungen  des 
Freundes  hatte  er  nicht  viel  für  die  Anatomie  und 
die  Nachtwache  übrig,  aber  bewunderte  die  Tuch- 
macher, und  sicher,  obwohl  davon  nichts  verlautet, 
dürften  ihm  damals  die  holländischen  Interieurmaler 
näher  gekommen  sein.  Denn  kurz  nach  seiner  Reise 
malte  er  die  beiden  merkwürdigen  Bilder,  die  in  den 
fünfziger  Jahren  ganz  allein  stehen:  ,,Die  Küche  in 
Mantes"  und  ,,das  Zimmer  in  Mas-Bilier."p>)  Die  In- 
timität, mit  der  er  die  Landschaft  wiederzugeben  pflegte, 
zog    hier    aus    dem    typisch    holländischen    Genre    einen 

3)  Bode,  Rembrandt-Werk  Nr.    196. 

'-)  Aus  dem  Jahre   1869,  laut  dem  Katalog  der  Vente  Corot. 

:!)  L'ceuvre  de  Corot:  Interieur  Rustique  au  Mas-Bilier,  Nr.  824 
(Sammlung  Moreau-Nelaton)  und  Interieur  de  Cuisine  ä  Mantes  Nr.  826 
bei  Durand  Ruel.  Robaut  legt  das  erstere  zwischen  1850  und  1860.  Es 
ist  aber  wohl  nicht  vor  1854  gemalt  worden.  Laut  einem  Brief  Lacroix' 
entstand  es  aus  einem  äußeren  Anlaß,  weil  der  Regen  am  Ausgehen 
hinderte,  und  wurde  genau  nach  der  Natur  gemalt  (vgl.  darüber  im  ersten 
Band  der  Oeuvre  de  C,  S.  266)'.  Das  andere  Bild  legt  Robaut  zwischen 
1855    und   1860.     Vorher  hat  Corot  nie  Interieurs  gemalt. 


DIE  BESTE  ZEIT  83 

vollkommen  neuen  Reiz.  Wie  anders  leben  in  dem 
Corotschen  Raum  die  Menschen  und  Dinge,  als  in  den 
schön  gepinselten  Musterzimmern  des  Pieter  de  Hooch. 
Der  holländische  Modemaler  gibt  mit  angenehmen 
Farben  und  sauberem  Auftrag  ein  Bild  von  höchster 
Gefälligkeit.  Auch  das  Licht  ist  nur  dazu  da,  um  die 
Zimmer  zu  möblieren.  Corot  macht  aus  der  Farbe  den 
Stoff  des  Zimmers,  aus  dem  Licht  die  Atmosphäre,  und 
aus  dem  Ganzen  ein  Stückchen  Leben,  in  das  man  un- 
bemerkt hineinschaut. 

Auf  diese  Kunst,  die  er  damals  rein  zufällig  und 
ganz  vorübergehend  unternommen  hatte,  griff  er  später, 
als  das  Behagen  des  Zimmers  dem  Alter  näher  rückte, 
mit  größter  Meisterschaft  zurück.  Die  Form,  d:e 
früher  im  Dämmerlicht  des  Morgens  und  Abends  ver- 
schwamm, aus  hundert  schwebenden,  versteckten,  ver- 
wobenen  Flecken  und  Fleckchen  zusammengesetzt,  trat 
jetzt  in  den  von  der  Zimmerluft  umgebenen,  großen 
Einzelfiguren  mächtig  hervor  und  forderte  von  Corot 
alle  Gaben  eines  sicheren  Pinsels  und  einer  starken 
Koloristik.  Man  begreift  kaum,  wie  der  Siebzigjährige, 
nach  der  ungeheuerlichen  Arbeit,  der  kaum  übersehbaren 
Vielseitigkeit,  zu  dieser  schwersten  Aufgabe,  die  er  sich 
je  gestellt  hatte,  die  Kraft  fand.  Die  ersten  Einzel- 
figuren dieser  Art  fallen  noch  ungefähr  in  die  Zeit  der 
beiden  Interieurs.  Es  waren  Atelierstudien  nach  nea- 
politanischen Modellen,  in  der  Pose  den  ersten  römischen 
Frauenbildern  der  zwanziger  Jahre  ähnlich,  nur  von 
ganz  anderer,  unendlich  reiferer  und  kühnerer  Kunst. 
Cheramy  besitzt  eine  Italienerin,  in  der  die  ganze  Pa- 
lette zum  Vorschein  kommt1);  das  Schwarz  und  Weiß  im 
Haar  und  im  Kopftuch,  das  Fahlgelb  in  dem  Teint 
mit  violettgrauen  Schatten,  das  Rot  in  der  Bekleidung 
des  Rückens  und  in  der  rot-weiß  gestreiften  Schürze,  das 

')  L'oeuvre  de  Corot  Nr.    1037. 


84  COROT 

Violettbraun  in  den  Ärmeln,   und  vor  allem   das   starke 
Blau    in    dem    Rock;    dasselbe    Blau,    das    er    später    zu 
einem  wahren  Triumph  der  Farbe   ausbaute.     Diese  Ita- 
lienerin sitzt    am  Boden  in   natürlichster  Haltung,    den 
einen  Arm  auf  eine  Amphora  gestützt,   Hände  und  Füße 
lässig  verschlungen.     Die  Farben  haben   etwas  von  der- 
selben Natürlichkeit.     Sic  gehören   so  selbstverständlich 
zu  dem  Kleid,  wie  das  Kleid  das  Mädchen  einhüllt,  weil 
eine    höchst    raffinierte   Abstufung   der   Töne    die   Kon- 
traste vermittelt.     Die  Degradation  wird  später  immer 
kunstvoller  und  gestattet   die  Ausdehnung   des   Formats 
und  des  Ausdrucks.     Schon  in  der  etwas  späteren  Femme 
ä  la  pensee,   bei  Durand  Ruel, *)   die  den   Kopf  auf  die 
Hand  stützt,    in   der  anderen  eine  Blume  hält,    kommt 
das  eigentümlich  Gewirkte  zum  Vorschein,   das   so  vielen 
Einzelfiguren    Corots    die    schöne    Wärme    gibt.      Auch 
in    diesem    Genre    von    Bildern   wird,     je     älter    Corot 
wurde,    dem   Pinselstrich   und    der    Farbe    immer    mehr 
die  Rolle   anvertraut,    die  vorher  die  umhüllende  Ton- 
kunst   gespielt   hatte.      Man    kann    das    am    besten    be- 
merken,  wenn   man   die  sechs  Darstellungen  seiner  Frau 
vor     der    Staffelei    miteinander    vergleicht.  -)      Sie     be- 
ginnen   um    das    Jahr    1865    und    enden    mit    der    Frau 
im    schwarzen    Sammetrock    des    Lyoner    Museums,    aus 
1870.     In   den   früheren  scheint  Corot   mehr  am  reinen 
Umriß    zu    haften,     an    der    schönen    Erscheinung    im 
Raum,   den  er  mit  kühler  Sanftheit,   in  blonden  Tönen 
darstellt.     Das  Gemälde   bei   Frau   Esnault-Pelterie,    mit 
dem     schönen    Rosa    des    Rockes,    ist    eine    meisterliche 
Paraphrase    der    holländischen    Interieur-Malerei,     aber 
weicher,   fließender,   freier  als   das  Genrebild  der  Spezia- 
listen des  17.  Jahrhunderts.     In  der  Lyoner  Variante  da- 
gegen dringt  er  wie  Rembrandt  immer  mehr  in  das  Innere 

1)  L'ceuvre  de  Corot  Nr.    1041. 

2)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.    1557 — 1561. 


DIE  BESTE  ZEIT  -; 

der  Materie,  teilt  das  früher  Zusammengehaltene,  selbst 
auf  Kosten  der  Modellierung,  ist  mehr  Architekt  als 
Dekorateur  und  schafft  ein  ganz  und  gar  neuzeitiges 
Werk.  Es  steht  nicht  allein.  In  vielen  Frauenbildern 
derselben  Zeit,  die  Portraits  scheinen  und  nach  Modellen 
gemacht  wurden,  finden  wir  dieselbe  Malerei.  Durand 
Ruel  besaß  eines  der  schönsten,  das  Kniestück  eines 
Mädchens  von  unbeschreiblichem  Ausdruck,  genannt 
„la  jeune  Grecque".1)  Es  ist  so  einfach  und  selbst- 
verständlich wie  das  Mädchen  Rembrandts  in  Stock- 
holm, fast  möchte  man  hinzufügen,  ebenso  unbegreiflich 
meisterlich.  Rembrandt  strich  das  Gesicht  und  das 
Kleid  in  größeren  Strichen  hin  und  verwandte  eine 
stärkere  Koloristik.  Aber  man  ist  geneigt,  diesen  Unter- 
schied nicht  auf  eine  Differenz  des  Könnens,  sondern 
die  Verschiedenheit  der  Temperamente  zu  schieben,  die 
natürlich  unüberbrückbar  ist.  Die  kleine  Emma  Do- 
bignv,  das  Modell  jenes  Bildes,  gibt  so  gut  den  Typ 
Corots  wie  die  sogenannte  Köchin  oder  die  Hendrickje 
Stoffels  den  Rembrandts.  Wir  fühlen  darin  gleich 
deutlich  die  Anschauung  des  Meisters,  ja  seine  Auffassung 
des  Lebens.  Keine  Philosophie.  Es  sind  fleisch- 
gewordene, restlose  Formen  der  Empfindung.  Corot 
gab  in  seinem  Bild  —  und  in  vielen  anderen  —  das 
Nachdenkliche  der  Frau,  das  sich  nicht  in  Gedanken 
vollzieht,  sondern  in  den  Sinnen  bleibt,  das  Träumen 
ohne  festen  Inhalt.  Frauen  —  und  zumal  die  des 
Südens  —  sind  deshalb  so  gute  Vorbilder  für  Maler 
und  Bildhauer,  weil  ihre  ganze  Wesensart  durch  das 
Formale  erschöpft  wird.  Sie  denken,  leben,  schaffen 
Formen,  sind  unversengt  von  der  Intellektualität,  die 
den  Mann  nach  innen  zieht  und  sein  Äußeres  ver- 
kümmern läßt.  Sie  leben  noch  animalisch,  und  da 
sie   das   Animalische    mit    ihren    Instinkten,    nicht    mit 

*)  L'ceuvre  de  Corot,  Xr.    1995   (1868 — 1870). 


86  COROT 

denen  des  Mannes  kultivieren,  vermeiden  sie  das  Häß- 
liche unserer  verborgenen,  ungepflegten  Animalität. 
Corots  Mädchen  ist  überlegene  Natur.  Kein  Hauch 
von  Sentimentalität  oder  Genre -Dichtung  trübt  die 
Keuschheit  der  Konzeption.  Das  Bild  scheint  von 
einem  Wunder-Spiegel  wiedergegeben,  den  sich  das 
Mädchen  —  nicht  der  Künstler  —  vorhält.  Auch 
Rembrandts  Kleine  im  Fenster  im  Stockholmer  Mu- 
seum ist  nachdenklich.  Aber  sie  zeigt,  ohne  zu  wollen, 
all  die  natürliche  Rassen-Energie,  die  selbst  dann  nicht 
schläft,  wenn  sie  nicht  gebraucht  wird.  Sie  ist  immer 
auf  dem  Qui-Vive,  horcht  nach  außen.  Hier  spinnt 
sich  der  Traum  in  bestimmtere  Gedanken  ein,  die  das 
Fleisch  anspannen.  Das  gibt  die  Kunst  Rembrandts 
so  gut  wie  Corots  Malerei  die  Art  seines  Modells. 
Die  kleine  Emma  Dobigny  war  eine  echte  Pariserin, 
und  trotzdem  hatte  man  recht,  das  Bild  ,,La  jeune 
Grecque"  zu  taufen.  Alles  was  man  darüber  in  wenigen 
Worten  sagen  könnte,  beruht  in  dieser  Bezeichnung. 
Es  ist  griechisch  empfunden,  in  einer  noch  höher 
stehenden  Art  als  das  der  gleichen  Welt  zugewandte 
Märchenspiel  Corots.  Und  diese  Empfindung  entscheidet 
gegen  die  Ähnlichkeit  mit  dem  großen  Holländer.  Was 
zu  der  Annäherung  verlockt,  ist  zumal  die  Analogie  der 
Entwicklungen,  beider  Übergang  vom  Ton  zur  Farbe, 
von  der  Hülle  zum  Kern.  Nur  eine  der  vielen  Häute, 
von  denen  man  sich  die  Persönlichkeit  eines  großen 
Künstlers  umgeben  denken  kann,  zeigt  die  Verwandt- 
schaft Corots  mit  Rembrandt.  Darunter  bleibt  derselbe 
Mensch,  der  nach  Rom  ging,  um  seine  Landschaften  zu 
lernen.  Wieviele  der  Häute  man  auch  finden  mag,  immer 
fühlt  man  den  Kern  hellenischer  Empfindung.  Und 
dieser  wirksame  Kern  ist  auch  der  Grund  der  merk- 
würdigen Erscheinung,  daß  unsere  Erinnerung  vor  diesen 
reifsten  Schöpfungen   Corots  von   Rembrandt    zu   einem 


DIE  BESTE  ZEIT  87 

anderen  Meister  pendelt,  der  dem  Holländer  so  ent- 
gegengesetzt wie  möglich  erscheint,  zu  Ingres.  Wir 
bleiben  auch  hier  nicht  haften.  Es  wird  sich  heraus- 
stellen, daß  ein  tieferes  Eindringen  in  die  reiche  Ent- 
wicklungswelt Corots  uns  wieder,  wenn  nicht  zu  Rem- 
brandt,  wenigstens   in   seine   Nähe  zurückbringt. 

Nicht  mehr  der  Schöpfer  der  Odalisken  steht  hier 
vor  uns,  nicht  der  Maler;-  der  Zeichner  Ingres  viel- 
mehr, der  mit  kleinerem  Mittel  Größeres  vollbrachte, 
der  auch  seine  Gesichter  wie  gehauchte  Empfindungen 
in  schlichter  Menschlichkeit  und  doch  von  aller  mensch- 
lichen Last  entkleidet  darstellte.  Der  Bourgeois  In- 
gres, der  ein  göttlicher  Dichter  war.  Ich  meine  seine 
unwahrscheinliche  Plastik  und  verstehe  darunter  nicht, 
daß  er  ein  Ding  rund  in  den  Raum  zu  setzen  wußte, 
sondern  nur  das  Rund;  und  mit  dem  Rund  meine  ich 
das  Hineinwachsen  einer  Macht  ins  Jenseits,  den  Griff 
einer  Hand,  die  wir  nicht  sehen,  von  der  nur  die 
Wirkung  bleibt,  das  Hineingetriebene,  Auseinander- 
gebogene, dem  unsere  Blicke  nachjagen  wie  der  Öffnung 
des  Wassers  unter  dem  Kiele.  Diese  unbegreifliche 
Plastik  ist  auch  in  den  Frauengesichtern  Corots.  Die 
jeune  Grecque  ist  ein  Mädel,  wie  man  es  alle  Tage 
sehen  kann,  so  wahrscheinlich  wie  möglich.  So  blickte 
es  ganz  gewiß,  hielt  sich  so,  ein  gutmütig  verträumtes 
Geschöpf  mit  einem  possierlichen  Hang  zum  Ernst,  das 
richtige  junge  Mädchen.  Und  bei  aller  Einsicht  in 
dieses  Dasein  lockt  uns  eine  unsichtbare  Gewalt,  mehr 
aus  dem  Gesicht  herauszusehen.  Nichts  Psychologisches, 
nichts  zum  Andichten;  mit  alledem  bleibt  das  Merk- 
würdige immer  noch  unberührt,  fassen  wir  nicht  das 
zweite  Gesicht  der  Physiognomie.  Das  etwa  fühlen  wir 
darin:  aus  dem  Profil  wächst  scheinbar  ein  zweites  heraus, 
oder  vielmehr,  es  schwebt  dem  andern  vor  in  kaum 
sichtbaren   Kurven;    ein  Profil,   das  gar  nichts  Mensch- 


88  COROT 

liches  hat,  sondern  ein  Zeichen  ist,  ein  Kreis,  eine 
Ellipse  im  Raum,  etwas  Kugelhaftes.  Dieses  Gedachte, 
eine  vollkommen  regelmäßige  Form,  die  man  mit  einem 
simplen  Wort  benennen  zu  können  glaubt,  bleibt  rätsel- 
haft, weil  es,  obschon  greifbar  vorhanden,  doch  nur  in 
der  Einbildung  existiert  und  Einbildung  bleiben  muß, 
in  Wirklichkeit  von  einem  uns  anblickenden  Mädchen 
mit  Augen,  Nase,  Haaren',  Mund  höchst  unfreiwillig 
gebildet.  Der  sphärenhafte  Ersatz  des  Natürlichen  durch 
eine  abstrakte  Form,  zu  der  uns  der  Künstler  drängt, 
ist  seine  Kunst,  und  nie  hat  sie  Corot  tiefer  und  merk- 
würdiger erreicht  als  in  diesen  Bildern.  Ein  Pendant 
ist  die  Femme  ä  la  perle, 1)  vielleicht  noch  mysteriöser 
als  die  kleine  Griechin,  nicht  ganz  so  einfach.  Hier 
ahnt  man  die  volle  Bewußtheit  des  Künstlers,  zu  einer 
Form  zu  gelangen,  die  wir  der  Einfachheit  halber  antik 
nennen  wollen.  Neben  dem  durchaus  Organischen  der 
Natur  tritt  das  Konstruktive  des  Zeichens  ganz  un- 
mittelbar hervor.  Sobald  wir  aufs  einzelne  gehen,  er- 
kennen wir  auch  die  Brücken,  sehen,  daß  die  Wölbung 
vom  Auge  zur  Stirn  in  Wirklichkeit  nicht  so  sein  kann, 
daß  die  Nase  im  Porträt  ganz  etwas  anderes  ist  als  die 
Erhöhung,  die  sich  in  der  Natur  zwischen  Mund  und 
Augen  befindet,  und  bleiben  doch,  sobald  wir  dieses 
andere  fassen  wollen,  immer  wieder  bei  dem  höchst  wahr- 
scheinlich Abgemalten  haften.  Und  nun  begreifen  wir 
auch  den  größeren  Reichtum  Corots  im  Vergleich  mit 
Ingres.  Das  notgedrungene  Zurückzucken  der  Betrach- 
tung in  das  dargestellte  Abbild  von  der  Natur  als  solcher 
ist  bei  Corot  stärker.  Wir  bleiben  bei  Ingres  leichter 
an  der  Arabeske  hängen,  zumal  in  den  Odaliskenbildern. 
Deren  Schönheit  ist  über  jedes  Lob  erhaben  und  wird 
hier  nicht  in  Frage  gezogen.  Es  handelt  sich  darum, 
unsere  Empfindung  zu   analysieren,   um   das  Jenseits  der 

3)  L'oeuvre  de  Corot  Nr.    1507  (1868 — 70). 


.MKDLTATIOX   (186970).     80X59  cm- 

(La  Mngerie  de  Mwiette,  Portrait  da  M»>e.  Uambey.) 
Sammlung  Jtarcel  von  Nemes,  Budapest. 
Photo  Durand-ßuel  et  fils,  Paris. 


li.V.MK   IM   ATKI.IKK.   1870. 


DIE  BESTE  ZEIT  89 

eng  begrenzten  Sphäre  Ingresscher  Kunst  zu  erkennen. 
Wir  bemerken  leicht,  daß  das  scharf  Umzirkelte  des 
Klassischen  weicht,  sobald  wir  uns  Ingres  Portraits  zu- 
wenden, und  daß  sich  das  ganze  Verhältnis  ändert,  so- 
bald wir  an  Stelle  des  Malers  den  Zeichner  nehmen.  In- 
gres' Zeichnungen  sind  deshalb  soviel  wert,  weil  sie  die 
Form  restlos  in  die  Materie  aufgehen  lassen.  Alle  den 
Maler  hemmenden  Beschränkungen  fallen  hier  fort.  Die 
natürliche  Reduktion  der  Palette  auf  das  Grau  und 
Weiß  des  Bleis  und  Papiers  läßt  keine  Reste.  Bei  dem 
Maler  Ingres  empfangen  wir  wohl  eine  höchst  präzise 
Form,  aber  nicht  mit  gleicher  Bestimmtheit  den  Doppel- 
schlag aus  Zeichen  und  Natur,  der  unsere  höheren 
Deutungskräfte  spannt.  Der  Autor  der  Femme  ä  la 
perle  dagegen  verstärkt  diesen  Impuls.  Er  wirkt,  grob 
gesprochen,  doppelt,  natürlich  ohne  das  Doppelte  der 
spezifisch  Ingresschen  Wirkung  zu  treffen.  Die  Schön- 
heit der  Femme  ä  la  perle  besteht  nicht  allein  in  dem 
vollen  Oval  des  Gesichtes,  in  der  herrlichen  mit  größter 
Meisterschaft  modellierten  Pose,  dem  Gleichmaß  der 
übereinandergelegten  Hände  und  der  Wirkung  dieser 
schön  geformten  Masse  vor  dem  Hintergrund,  sondern 
auch  in  dem  Blühen  des  Fleisches,  über  das  sich  ein 
aus  herrlichen  Farben  gewirkter  Stoff  legt;  vor  allem  aber 
darin,  daß  die  ganze  Form  aus  einem  Gewebe  geschaffen 
wurde,  das  dem  Zusammenhang  der  Teile  eine  minde- 
stens ebenso  wichtige  Stütze  verleiht  als  die  Arabeske. 
Die  Erkenntnis  des  Vorzugs  entspringt  nicht  etwa 
einer  Reaktion  des  Geschmacks.  Dieser  kommt  hier  nicht 
in  Betracht.  Die  Regeln  des  Geschmacks,  von  Ingres 
stets  sublim  erfüllt,  entsprechen  nur  relativen  Forderungen. 
Vielmehr  wirkt  in  Corot  die  größere  Einsicht  in  die 
Bedingungen  der  Malerei,  eine  Einsicht,  die  uns  nicht 
durch  die  Konsequenz  ihrer  Logik  besticht,  als  Ver- 
standessache überhaupt  nicht  mitspricht,  sondern  selbst- 


9o  COROT 

tätig  unsere  Kritik  beeinflußt,  weil  uns  ihre  Resultate 
durch  die  Entwicklungsgeschichte  gewohnt  geworden 
sind.  Daher  entbehren  wir  selbst  bei  vollkommener 
Schätzung  des  individuellen  Aüfbaus  eines  Ingresschen 
Werkes  und  finden,  daß  Corot  größere  Vorteile  gewinnt. 
Er  nützt  das  Material  besser  aus.  Die  Entscheidung 
wäre  ungerecht,  wenn  Corot  sich  prinzipiell  anderer 
Materialien  bediente  und  z.  B.  wie  Manet  malte,  der 
auf  Unterdrückung  der  Modellierung  drang.  Das  ist 
nicht  der  Fall.  Corots  Frauenbilder  zeigen  eine  wunder- 
bare Plastizität.  Sie  ist  es  ja  allein,  die  uns  überhaupt  auf 
Ingres  bringt,  ganz  wie  Ingres  Corot  darauf  brachte.  Er 
zeigt  dies  und  ein  Plus,  vervielfacht  die  Möglichkeiten, 
ohne  die  engeren  Zwecke  des  Klassizisten  hintenanzusetzen; 
nicht  dadurch,  daß  er  das  Plastische  steigert,  aber  durch 
reichere  Erfüllung  derselben  Absicht,  der  das  Plastische 
dient.  Er  macht  es  wirksamer  als  Ingres.  Wir  haben  bei 
Corots  Bildern  mehr  Teile  zusammenzuziehen.  Die 
Sprünge  unserer  Phantasie,  die  Hebel  des  Genusses,  sind 
größer  und  trotzdem  ebenso  sicher.  Ja,  sie  sind  sicherer, 
denn  was  unserem  Gefühl  für  Wahrscheinlichkeit  zu- 
gemutet wird,  ist  bei  Corot  geringer,  weil  die  Träger 
der  Wirkung  zahlreicher  sind.  Wir  genießen  hier  die 
Kombination  des  Ideals  des  Plastischen  in  der  Art  der 
Antike,  das  bei  Ingres  überwiegt,  mit  dem  Ideal  des 
Flächigen  in  der  Art  Rembrandts.  Ingres'  absoluter 
Verzicht  auf  das  Rembrandtsche  Ideal  erscheint  nicht 
als  Lücke  innerhalb  seiner  Art.  Er  tönt  mit  bewun- 
derungswerter Treffsicherheit  seine  Flächen,  —  nichts  ist 
verkehrter,  als  ihn  in  diesem  Sinne  einen  schlechten 
Koloristen  zu  nennen.  Corot  aber  erreicht  dieselbe 
relative  Reinheit  innerhalb  seiner  Mittel  und  mehr  mit 
dem  Mittel,  weil  er  nicht   nur   tönt,   sondern   malt. 

So  nähern  wir  uns  wieder  Rembrandt.   Wohlverstanden, 
dieser   Name    dient  jetzt  nur   einem    geläufigen   Begriff, 


DIE  BESTE  ZEIT 


91 


dem  Malerischen  durch  Anwendung  differenzierter  Teilung, 
und  soll  die  Stellung  Corots  nur  ganz  summarisch  be- 
grenzen. Daher  kümmert  uns  hier  nicht,  was  man  er- 
widern könnte,  daß  Rembrandt  zuletzt  in  seiner  Art 
so  einseitig  vorging  wie  Ingres  in  der  seinen,  und  daß 
das  eine  Extrem  nicht  gegen  das  andere  ausgespielt  werden 
dürfe.  Denn  abgesehen  von  der  Schiefheit  solcher  Er- 
widerung, die  das  in  der  Natur  der  Malerei  als  solcher 
tiefbegründete  Ideal  gegen  ein  durchaus  abgeleitetes 
und  aller  natürlichen  Vorzüge  entbehrendes  setzt,  haben 
wir  uns  zu  erinnern,  daß  Corot  durchaus  nicht 
extrem  war.  Rembrandts  Genie  verlangte  die  Einseitig- 
keit, die  er  zuletzt  erreichte,  Ingres'  Genie  die  seine. 
Corot  erweist  gerade  in  der  Kombination  sein  Genie 
und  kann  daher  weder  mit  dem  einen,  noch  dem  an- 
deren verglichen  werden,  wenn  man  ihn  erschöpfen 
will.  Beide  zeigen  die  Extreme  von  Arten,  die  sich  in 
Corots  Werke  vereint  finden. 

Begnügen  wir  uns  hier,  bevor  wir  die  Analyse 
weiter  zu  treiben  versuchen,  mit  der  Konstatierung  der 
auffallenden  Steigerung  des  Niveaus,  auf  dem  die  Werte 
Corots  diskutiert  werden,  je  näher  wir  dem  Ende  kommen. 

Man  könnte  aufstellen,  daß  ein  Künstler  um  so  mehr 
wert  ist,  \e  größer  die  Bedeutung  der  überlieferten 
Werte  ist,  die  sein  Werk  zum  erneuten  Bewußtsein 
bringt.  Das  klingt  paradox,  ist  doch,  so  glaubt  man, 
das  Werk  des  Autors,  nicht  der  anderen  wegen  da ;  und 
zumal  bei  der  modernen  Kunstbetrachtung,  wie  sie  in 
Deutschland  üblich  ist,  hätte  die  Formel  kein  Glück. 
Wo  die  Regel  herrscht,  die  Empfindung  von  der  Kunst 
in  Benebelung  des  Bewußtseins  umzusetzen,  wird  jedes 
Moment,  das  der  Analyse  den  Vergleich  nahelegt,  störend. 
Wo  der  Wunsch  herrscht,  über  die  Empfindung  zur 
Klarheit  zu  gelangen,  und  die  Empfindung  stark  genug 
ist,  auch  bei  vollem  Bewußtsein  des  Betrachters  zu  bestehen, 


92  COROT 

wird  die  vergleichende  Analyse  nicht  nur  wissenschaft- 
lich fördern,  sondern  den  Genuß  mitbestimmen.  Er- 
reicht das  neue  Werk  nichts  als  eine  Erinnerung  an 
alte  Werke,  so  ist  es  Plagiat  und  scheidet  aus.  Wenn 
aber  die  Erinnerung  die  neue  Gabe  nicht  auslöscht, 
sondern  im  Werte  erhöht,  nicht  weil  das  neue  über 
dem  alten  steht,  sondern  weil  die  vom  alten  hervor- 
gerufene Bewegung  großer  seelischer  Komplexe  hier 
einen  neuen  Ansporn  erfährt,  so  identifiziert  sich  die 
Erinnerung  mit  dem  Genuß  und  symbolisiert  zum  min- 
desten die  Freude,  die  uns  das  neue  bereitet.  Die 
Sichtbarkeit  von  Momenten,  die  den  Vergleich  heraus- 
fordern, steht  infolge  unserer  Unfähigkeit,  das  Werk 
ganz  zu  erforschen,  nicht  fest.  Daß  solche  Momente 
immer  vorhanden  sein  müssen,  daran  kann  nur  zweifeln, 
wer  die   Kunst  als  Willkür  betrachtet. 

Die  Werke  der  anderen,  die  Corot  vor  unserem  Geiste 
erstehen  läßt,  machen  ihn  nicht  kleiner.  Wir  gelangen 
mit  ihnen  zur  Bestimmung  des  Reiches,  in  dessen  weit- 
gezogenen Grenzen  der  Thron  seiner  Kunst  emporragt. 
Wie  Zeichen  im  Walde  sorgen  sie  dafür,  daß  wir  den 
Weg  nie  wieder  verlieren  können. 


LA  DAME   BLEUE,  1S74.     0,80X0,50. 
Sammlung  Henri  Rouart,  Paris. 


VERMEER  —  CHARDIX  —  COROT 

WIR  vermochten  mit  dem  Rembrandthaften  der 
späteren  Art  Corots  nur  wenige  Seiten  seines 
Werkes  anzudeuten.  Aber  in  Rembrandts  Nähe  gibt 
es  einen  Künstler,  der  seine  Bedeutung  neben  dem 
Schöpfer  der  Tuchmacher  aus  denselben  Gründen  ge- 
winnt, die  uns  erlauben,  Corot  mit  ihm  in  Parallele 
zu  bringen:  Vermeer.  Und  dieser  Vergleich  läßt  uns 
wesentliche   Eigenschaften   Corots  tiefer  erkennen. 

Sehr  selten  dürfte  man  in  zwei  Künstlern  so  ver- 
schiedener Rassen  und  Zeiten  gleich  intime  Berührungs- 
punkte finden.  Wir  wissen  sehr  wenig  von  Vermeer, 
und  vor  fünfzig  Jahren  war  er  noch  so  gut  wie  ganz 
unbekannt.  Bis  zum  gewissen  Grade  verdankt  er  der 
Landschafterschule  von  1830  seine  Wiederentdeckung. 
Burger-Thore,  ihr  beredter  Verteidiger,  stellte  die  Per- 
sönlichkeit des  Delfter  Meisters  fest,  die  sich  bis  dahin 
im  Schatten  unendlich  geringerer  Zeitgenossen  ver- 
borgen hatte.  Als  Autor  seiner  Kostbarkeiten  galt  u.  a. 
Pieter  de  Hooch,  und  das  dünkt  uns  heute,  als  wollte 
man  Corot  mit  Fantin  Latour  verwechseln.  Erklärlich 
wird  es  durch  den  Reichtum  der  Entwicklung  Vermeers, 
die  selbst  in  den  einigen  dreißig  Bildern,  die  bis  heute 
als  sein  Eigentum  erkannt  sind,  merkwürdig  viele  Seiten 
zeigt  und  die  bequeme  Erkenntnis  des  „Genres",  das 
sich  dazumal  immer  auf  den  Inhalt  der  Genrebildchen 
beschränkte,  nicht  erleichtert.  Uns  erscheint  er  gerade  auf 
Grund  seiner  Entwicklung  als  eine  der  bestimmtesten 
Persönlichkeiten  des  17.  Jahrhunderts.  Wir  glauben  in 
seinen  Bildern  seinen  geheimsten  Regungen  nahe- 
zukommen, so  unverhüllt  zeigt  sich  die  Art,  so  auffallend 
unterscheidet  sie  sich  von  den  Zeitgenossen.  Dafür 
finden  wir  in  dieser  Persönlichkeit  frappierende  Ähn- 
lichkeiten mit  manchen  modernen  Künstlern,  nicht  allein 


96  COROT 

mit    Corot.      Corot    aber    nähert    sich   ihm     in    seinen 
seltensten  Eigenschaften. 

Schon  der  Landschafter  Vermeer  bewegt  sich  auf 
entfernt  verwandten  Pfaden  wie  Corot  in  gewissen 
Zeiten.  Die  Häuser-Fassade  bei  Six  und  die  großartige 
Kanallandschaft  der  Haager  Galerie  verraten  eine  An- 
schauung, die  von  der  des  Koloristen  Corot  durch  keine 
Abgründe  getrennt  ist.  Wohl  scheint  Vermeer  prä- 
ziser. Seine  blitzenden  Punkte  sind  sauberer  gesät,  die 
Kontraste  liegen  wie  die  Häuser  seiner  Stadtviertel 
zusammen,  der  Pinsel  wogt  nicht  auf  einmal  über  die 
ganze  Bildfläche,  sondern  teilt  sie  akkurat  ein.  Aber 
innerhalb  dieser  mit  vielen  Landsleuten  gemeinsamen 
Sorgfalt,  die  mehr  Gemeingut  der  ganzen  Schule  ist, 
glauben  wir  ein  ebenso  kindliches,  sich  seine  Welt  im 
stillen  zurecht  zimmerndes  Temperament  zu  finden. 
Es  taucht  nicht  wie  Rembrandt  in  alle  Tiefen  unter, 
wird  nicht  groß  durch  die  letzte  Konsequenz  eines 
gewaltigen  Dramas,  sondern  schmückt  sich  mit  den 
Nuancen  einer  in  leisen  Windungen  regsamen  Seele 
und  zwingt  uns  mit  der  Zartheit  seines  Appells  zur 
Bewunderung.  Das  Zierliche  verehren  wir  in  Vermeer. 
Er  war  einer  der  vornehmsten  Maler  seiner  Zeit.  Seine 
Feinfühligkeit  für  unverbrauchte  Wirkungen  delikatester 
Art  und  seine  Erfindungsgabe  schlössen  jeden  Manie- 
rismus aus.  Aber  auch  das  lieben  wir  in  Vermeer,  daß 
die  Weisheit  ihn  nicht  anspruchsvoll  machte,  daß  er 
die  noch  heute  kaum  im  ganzen  Umfang  gewürdigte 
Fähigkeit,  der  Kunst  neue  Wirkungen  zu  erschließen, 
spielend,  fast  könnte  man  sagen,  tänzelnd  vortrug,  mit 
einer  jedes  Unterstreichen  verachtenden  Eleganz,  mit 
dem  naiven  Sinn  des  Dichters.  Und  hier  kommen  wir 
der  Parallele  schon  näher.  Auch  im  Experimentalen  der 
gestaltenden  Mittel  finden  wir  viele  Berührungen.  Frei- 
lich darf  man  diese  Momente,  soweit  sie  den  Landschafter 


YERMEER  —  CHARDIX  —   COROT  97 

Vermeer  angehen,  nicht  überschätzen.  Die  kleinen 
Personellen  in  den  Fluren  der  Häuser  bei  Six  oder 
die  schwarz-weiß  leuchtenden  Leute  auf  dem  lachs- 
farbenen Ufer  des  Delfter  Kanals  haben  nicht  nur 
bis  in  die  Bilder  Corots  ihre  Unsterblichkeit  bewährt. 
Die  ganze  moderne  Malerei,  bei  Constable  angefangen, 
erblickt  im  Impressionismus  Vermeers  den  Vorläufer,  und 
Signac  hatte  unrecht,  die  Vorgeschichte  seiner  Gruppe 
nicht  bis  zu  diesem  bewußtesten  Farbenteiler  der  Alten 
zu   verfolgen. 

\  iel  intimer  ist  die  Beziehung  zwischen  den  Frauen- 
bildern beider  Maler,  zumal  wenn  wir  die  letzte  Zeit 
Corots  in  Betracht  ziehen.  Hier  kann  man  bis  in  Nu- 
ancen eine  merkwürdige  Übereinstimmung  ihrer  Anlagen 
verfolgen.  Das  Mädchenprofil  des  Palais  Arenberg  in 
Brüssel  und  noch  mehr  der  glorreiche  Kopf  der 
Haager  Galerie  zeigen  dieselbe  ans  Mysteriöse  grenzende 
Kombination  einer  vollendeten  Plastik  mit  allen  Reizen 
der  Malerei.  Die  Reinheit  der  Modellierung  hat  kein 
Holländer  je  wieder  erreicht,  geschweige  übertroffen. 
Was  Ingres  mit  dem  Bleistift  malte,  die  gehauchte 
rundliche  Fülle,  ist  hier  vollkommen  erhalten,  und  dabei 
spielen  in  dem  Hauch  berückende  Farben,  und  die  Ver- 
mehrung des  farbigen  Reizes  scheint  das  Immaterielle  nur 
noch  zarter  zu  machen.  Unser  Wissen  von  den  Eigen- 
schaften der  Rasse  erfährt  hier  eine  bedeutungsvolle 
Erweiterung,  denn  ich  wüßte  nicht,  was  uns  abhalten 
könnte,  die  Profile  Vermeers  im  wörtlichsten  Sinne 
klassisch  zu  nennen,  ebenso  klassisch  wie  das  200  Jahre 
vorher  gemalte  Mädchenköpfchen  des  Petrus  Christus 
in  der  Berliner  Galerie,  eins  der  Ahnenbilder  der  ganzen 
Reihe.  Man  kann  das  Mädchen  Vermeers  so  gut  zu 
einer  jungen  Griechin  machen  wie  Corots  Modell. 
Wie  bei  der  Femme  ä  la  perle  nicht  etwa  der  zufällige 
Schnitt  des  Gesichtes,   den  das  Modell  trug,   entscheidet 


98  COROT 

—  das  Modell  hieß  Bertha  Goldschmidt  und  war  also 
vermutlich  germanischen  Ursprungs  —  vielmehr  die 
Modifikation  des  Künstlers,  so  liegt  selbstverständlich 
auch  in  dem  jungen  Mädchen  im  Haag  und  in  Brüssel, 
oder  in  der  Spitzenklöpplerin  des  Louvre  der  Reiz  in 
dem  zweiten  Gesicht,  das  Vermeer  aus  seinem  Vorbilde 
schuf.  Aber  bei  beiden  bleibt  in  unendlich  wohltuender 
Weise  das  durchaus  Volkstümliche  des  Gesichtes  erhalten. 
Man  hat  nichts  weniger  als  eine  hergerichtete  griechische 
Statue  vor  sich,  sondern  eine  Holländerin,  eine  Französin, 
denen  man  sogar  ihren  bürgerlichen  Kreis  nachweisen 
könnte.  Bei  Vermeers  strengerer  Form  tritt  das  vielleicht 
im  ersten  Augenblick  nicht  mit  gleicher  Selbstverständ- 
lichkeit hervor,  wirkt  er  doch  beinahe  noch  ingresker 
als  Corot.  Aber  auch  er  bildet  mit  der  unverhüllten 
natürlichen  Herkunft  der  Figur  —  am  deutlichsten  in 
der  Spitzenklöpplerin  des  Louvre  —  das  Vorspiel  und 
sichert  sich  damit  die  solide  Grundlage  der  Wirkung. 
Seine  Holländerin  ist  sicher  von  der  Hendrickje  Stoffels 
weit  entfernt,  aber  darum  doch  ein  echt  holländischer 
Typ;  den  Knochenbau  des  Gesichtes  kann  man  in  groben 
Umrissen  noch  alle  Tage  auf  der  Straße  sehen.  Trotz- 
dem entströmt  dem  Oval  eine  höhere  Form,  die  uns 
ebenso  griechisch  anmutet  wie  Corots  Frauenfiguren. 
Die  Einzelheit  des  rein  Malerischen  ist  bei  der  anor- 
malen Craquelure  auf  den  beiden  Bildern  Vermeers  im 
Haag  und  in  Brüssel  nicht  mehr  genau  zu  verfolgen.  Immer- 
hin wird  man  sich  wenigstens  vor  dem  gutgehängten 
Haager  Kopf  noch  der  Hauptsachen  bewußt.  Die  Farben- 
wirkung liegt  in  dem  wundervollen  Kontrast  der  Lieblings- 
farben beider  Künstler,  gelb  und  blau,  und  der  gegen- 
seitigen Durchsetzung  dieser  Farben,  sodaß  unreine 
Mischungen  vermieden  werden.  In  der  Jacke  ist  das 
Gelb  des  Kopftuches  verdunkelt  und  mit  blauen  Tonen 
so   durchzogen,   daß   es  mehr   nach  olive    spielt.    Im  Ge- 


YERMEER  —  CHARDIX  —  COROT  99 

sieht  schattiert  das  dunklere  Gelb  auf  Rosa.  Dieses  Rosa 
ist  in  den  Lippen  wunderbar  degradiert  und  nimmt  nach 
dem  Innern  des  Mundes  zu.  Die  stärkere  Nuance  liegt, 
abgeschlossen  als  Flecken,  auf  der  helleren  und  wahrt 
dadurch  eine  deutlich  absetzende  Abstufung.  Die  Methode 
ist  vorsichtiger,  man  möchte  sagen,  appetitlicher  als  die 
Corots,  aber  im  Prinzip  sehr  ähnlich  und  zwar  bis  in 
die  Art  des  Auftrags.  Die  Mischung  von  sehr  dünner 
Malerei  mit  ökonomisch  verteilten,  in  Relief  aufge- 
tragenen Partieen  ist  für  beide  bezeichnend.  Das  ge- 
häufte Weiß  im  Augapfel,  die  Art  wie  der  Ohrring 
gemacht  ist;  die  Sammlung  der  erhöhten  Farben  auf 
matterem  Ton,  so  daß  der  prickelnde  Punkt  den  Ton 
krönt;  die  Erhöhung  des  Gelbs  im  herunterhängenden 
Teil  des  Kopftuchs  durch  den  reliefartigen  Auftrag  der 
helleren  Nuancen,  endlich  der  breite,  weiße  Strich  als 
Kragen :  alles  das  sind  Wirkungen ,  deren  Art  sich  in 
vereinfachter  Form  auch  bei  Corot  findet.  Es  bleibt 
die  abgeschlossene,  relativ  weniger  beschattete  Form 
Vermeers.  Aber  man  braucht  nur  an  die  Wärme  seiner 
Gesichter  in  anderen  Bildern  zu  denken,  in  dem  Milch- 
mädchen bei  Six  oder  vor  allem  in  der  Briefleserin 
der  Dresdener  Galerie,  um  auch  in  dieser  Überein- 
stimmung eine  Bestätigung  der  Verwandtschaft  zu  finden. 
Denn  gerade  wie  Vermeer  in  der  wärmeren  Art  seiner 
Gemälde  die  Gesichter  einhüllt,  ist  eine  seiner  meister- 
lichsten Gaben.  Sie  unterscheidet  ihn  wieder  durchaus 
von  Pieter  de  Hooch  und  Ter  Borch,  die  zuweilen  alles 
zum  gleichen  Zweck  aufbieten  und  selbst  in  ihren 
glänzendsten  Werken  zurücktreten,  weil  sie  des  Guten 
zu  viel  tun  und  die  Aufbietung  merken  lassen.  Vermeer 
verstand  zu  opfern  und  störte  nicht  den  Gesamtton 
des  Fleisches  durch  viele  Farben,  ließ  aber  das  Fleisch 
unter  dem  tanzenden  Pinsel  vibrieren.  Corot  machte 
es    nicht    anders    und    verstärkte    noch    in    der    Jeune 


ioo  COROT 

Grecque  das  Porenöffnende  des  Pinsels,  wie  er's  schon 
viel  früher  in   der   „Toilette"  gelernt  hatte. 

Alle  diese  Beziehungen  dürfen  nicht  so  wörtlich  ge- 
nommen werden,  als  es  hier  der  Deutlichkeit  wegen 
geschieht.  Wörtlich  ist  nur  die  Übereinstimmung  vieler 
Empfindungen  beider  Künstler.  Bei  der  Betrachtung 
der  Mittel  legt  die  Entwicklungsgeschichte  ihr  Veto 
gegen  allzu  enge  Vergleiche  ein.  Man  kann  die  Evolution 
des  Manuellen  nicht  übersehen.  Die  Handschrift  ist  von 
Vermeer  bis  Corot  ausgeschriebener  geworden.  Corot 
scheidet  nicht  mehr  so  sauber  Ton  und  Kontrast,  läßt 
sich  mehr  gehen  und  eignet  sich  eine  notwendig  frag- 
mentarische Form  an,  um  der  Schnelligkeit  seiner  Ein- 
fälle folgen  zu  können.  Aber  diese  verhältnismäßig 
saloppe  Technik  geht  nichtsdestoweniger  bis  zum  ge- 
wissen Grade  auf  Vermeer  zurück.  Man  kann  den 
Werdegang  am  besten  dadurch  andeuten,  wenn  man 
sich  vorstellt,  daß  Corot  bei  gleichem  Format  alle 
wesentlichen  Träger  der  Wirkung  verstärkt  und  infolge- 
dessen auf  viele  anderen  Faktoren  Vermeers  verzichtet  hat. 
Wo  dieser  z.  B.  eine  komplizierte  Unterlage  schuf  und 
die  wesentliche  Wirkung  erst  zuletzt  wie  einen  Zauber- 
mantel über  die  Erscheinung  deckte,  der  sowohl  durch 
seine  Schönheit  wie  durch  das,  was  er  durchscheinen 
läßt,  wirkt,  hält  sich  Corot  lediglich  an  das  letzte  Re- 
sultat und  sichert  dem  Einzelnen  von  vornherein  die 
Wirkung,    die   nachher   im  Ensemble  den  Ausschlag  gibt. 

In  dem  prachtvollen  Gemälde  der  National  Gallery 
in  London  könnte  man  ein  unmittelbares  Vorbild  der 
Femme  ä  la  perle  vermuten.  In  der  Pracht  der  Mo- 
dellierung geht  hier  Vermeer  ähnlich  über  seine  Art 
hinaus  wie  Corot  in  dem  genannten  Bilde.  In  der 
Stirnpartie,  die  bei  beiden  dem  Gesicht  den  typischen 
Schmuck  verleiht,  äußert  sich  eine  ganz  verwandte 
Ornamentik.    Man  möchte  sogar  die  glänzende  Erfindung 


^"ERMEER  —  CHARDIN  —  COROT  101 

Corots,  seiner  Frau  eine  Perle  an  die  Stirne  zu  hängen 
und  so  in  einem  winzigen  Detail  etwas  durchaus  Sym- 
bolisches von  der  ganzen  Form  zu  melden,  Vermeer 
gutschreiben  —  man  denke  an  die  eigentümliche  Wirkung 
seiner  Ohrringe  und  dergl.  Sehr  wahrscheinlich  hat 
Corot  das  Londoner  Bild,  das  zu  seiner  Zeit  bei  Bürger 
hing,   gesehen  und  eifrig  studiert. 

Doch  erschöpft  die  Vermutung  einer  vereinzelten 
bewußten  Anlehnung  nicht  die  seltene  Tiefe  der  Be- 
ziehungen. Corot  brachte  seinen  Anregern  immer  sehr 
viel  Gepäck  mit,  war  zu  reich,  um  sich  einseitig  hin- 
zugeben, und  die  letzten  Jahre  würden  uns  kaum  als 
Blüte  erscheinen,  wenn  in  ihnen  der  Grundzug  seiner 
Art  zurückträte.  Als  solchen  erkannten  wir  schon  früh 
die  Eigentümlichkeit  Corots,  die  Einflüsse  Hollands  durch 
ein  französisches  Medium  zu  empfangen.  Das  ist  auch  hier 
der  Fall.  Sicher  hat  er  mit  eigenen  Augen  Vermeer  ge- 
sehen, und  der  Delfter  Meister  mag  ihm  das  gewesen 
sein,  was  für  die  Maler  von  Barbizon  Hobbema  wurde; 
aber  daneben  profitiert  er  wiederum  von  der  Vor- 
bereitung des  Einflusses  durch  einen  französischen  Meister 
des    18.   Jahrhunderts. 

Nicht  alles,  was  Vermeer  den  Holländern  ist,  aber 
einen  guten  Teil  dieser  Bedeutung  messen  die  Franzosen 
Chardin  zu,  dem  Meister  der  Stilleben  und  Interieurs. 
Auch  dieser  sah  sich  die  Holländer  an  —  nicht  nur  die, 
um  derentwillen  er  in  Frankreich  eine  Zeitlang  als  ver- 
meintlicher Nachahmer  gefeiert  wurde  —  und  setzte  sie 
fort.  Corots  Beziehung  zu  einem  um  zweihundert  Jahre 
vorher  lebenden  Meister  mußte  vorsichtig  untersucht 
werden,  weil  sich  gewisse,  von  dem  Einzelnen  unabhängige 
Momente  der  Schöpfung  während  eines  so  langen  Zeit- 
raums notwendig  stark  modifizieren  und  den  Vergleich 
trüben.  Die  hundert  Jahre  weniger  kommen  uns  bei 
Chardin   zu  gute,    weil    sie   eine   geringere  Veränderung 


102  COROT 

der  gemeinsamen  Schöpfungsmomente  umfassen  als  die- 
selbe Spanne  zwischen  Chardin  und  Corot.  Dehnt  man 
die  Geschichte  bis  zu  einem  Petrus  Christus  aus,  so 
werden  die  zwei  Jahrhunderte  zwischen  Vermeer  und 
seinen  Ahnen  das  gleiche  bedeuten  wie  dieselbe  Zeit 
zwischen  dem  Delfter  Meister  und  seinem  Enkel.  Char- 
dins  Abhängigkeit  von  Holland  springt  denn  auch  ohne 
weiteres  in  die  Augen,  weil  die  Gegenstände  sich  mit  den 
beliebtesten  Motiven  der  alten  Holländer  decken.  Tritt 
man  der  Beziehung  näher,  so  verflüchtigt  sich  der  Eindruck 
allzunaher  Verwandtschaft,  soweit  er  sich  nicht  auf 
rein  stoffliche  Fragen  beruft.  Man  beginnt,  nach,  den 
Holländern  zu  suchen,  die  sich  wirklich  mit  der  Eigen- 
heit Chardins  decken,  und  es  bleibt  zuletzt  auffallend 
wenig  von  der  verblüffenden  Ähnlichkeit  übrig.  Nur 
von  den  allerbesten  Zeugnissen  der  Stilleben -Maler 
des  17.  Jahrhunderts  führt  der  Weg  zu  den  Frucht- 
stücken des  französischen  Meisters.  Kalf's  hängende 
Zitronenschale  im  Berliner  Museum  zeigt  eine  Sta- 
tion. Unter  den  sehr  ungleichen  Werken  Beyerens 
sind  ein  paar  bezeichnende  Bilder,  z.  B.  im  Haag  die 
Schale  mit  den  Fischstücken,  deren  Fleisch  durch 
glänzend  weiße  Farbensplitter  auf  grauweißem  Ton 
entsteht.  Noch  deutlicher  ist  der  Hinweis  in  dem 
schönsten  Beyeren  mit  Hase,  Huhn  und  rötlichem  Ge- 
kröse, der  erst  vor  kurzem  in  die  Haager  Galerie  gelangt 
ist.  Hier  hebt  eine  in  zartesten  Nuancen  vollkommene 
Harmonie  die  Erscheinung  aus  dem  Stofflichen  heraus. 
An  solche  Dinge  denkt  man  bei  Chardin.  Aber  soviel 
er  offenbar  diesen  Vorgängern  verdankt,  er  ist  ent- 
scheidend größer.  Nicht  nur  weil  ihm  die  Gleichheit 
der  Perfektion  natürlich  war  und  er  nie  den  Gefahren  des 
Manierismus  unterlag;  auch  seine  Art  als  solche  ist  be- 
deutender. Er  beherrscht  spielend,  was  jenen  Meistern 
nur    in    sehr   seltenen  Werken   gelang,    und    erreicht    es 


\  ERMEER  —  CHARDIX  —  COROT  103 

auf  gesicherterem  Wege.  Der  berühmte  Hase  in  Stock- 
holm ist  einfacher  und  wirkt  fast  monumental  neben 
den  Holländern,  und  doch  sind  die  Elemente  der 
Wirkung  vervielfacht.  Der  winzige  Apfel  auf  dem  Hasen- 
bild wirkt  ganz  allein  reicher  und  stärker  als  ein  volles 
Gemälde  von  Kalf.  Dagegen  nähert  sich  das  Niveau 
Chardins  dem  Meister,  der  auch  zuweilen  Stilleben 
malte,  ohne  daß  man  ihn  mit  den  Stillebenmalern  in 
einem  Atem  nennen  dürfte,  dem  Vermeer  des  lesenden 
Mädchens  in  der  Dresdner  Galerie,  der  den  Vorder- 
grund dieses  Kleinods  mit  dem  Teller  mit  Früchten 
schmückte  in  einem  glühenden  Olive,  das  den  ganzen 
Sinn  des  Bildes  enthält.  Neben  dieser  berückenden 
Farbenglut,  die  nicht  mit  Hilfe  des  Kontrastes,  sondern 
des  Auftrags  entsteht  und  auch  bei  Chardin  bemerkt 
wird,  finden  wir  noch  ein  anderes  gemeinsames  Merk- 
mal. Nicht  der  monumentale  Ernst  des  Dresdner  In- 
terieurs läßt  sich  mit  Chardin  vergleichen.  Vermeer 
hat  aber  neben  der  Art  des  Dresdner  Bildes  und  des 
Mädchens  in  der  pelzbesetzten  Jacke  im  Berliner  Mu- 
seum etc.  einige  Interieurs  geschaffen,  in  denen  sein 
Ernst  nicht  auf  das  ganz  Abgeklärte  einer  mit  nichts 
zu  vergleichenden  Harmonie  der  Formen  gerichtet  war, 
sondern  die  zweite,  schon  oben  angedeutete  Eigen- 
schaft des  Künstlers  in  den  Vordergrund  rückt.  Ich 
meine  die  Bilder,  in  denen  seine  Zierlichkeit  eine  mehr 
den  Landschaften  verwandte  Darstellung  der  Frau  voll- 
bringt. So  in  dem  prickelnden  Bildchen  im  Ryks- 
museum,  der  Mandolinenspielerin  mit  der  unglaublich 
lebendigen  Dienerin,  oder  in  der  großen  „Allegorie" 
im  Haag.  Hier  handhabt  Vermeer  seine  glänzende  Ton- 
kunst mehr  als  Dekorateur,  schmückt  die  Hintergründe 
damit  und  stellt  in  die  von  Tönen  prunkenden  Ge- 
mächer seine  Frauen  mit  der  Keckheit  eines  Junkers. 
Das  Barock  der  „Allegorie",  das  schon  die  Pose  verrät,  mit 


104 


COROT 


der  die  Frau  den  Fuß  auf  den  Globus  setzt,  ist  Träger 
dieser  Verwandlung  der  Technik.  Der  Kontrast  schreckt 
hier  und  in  dem  Bilde  mit  den  beiden  Frauen  des  Ryks- 
museums  nicht  vor  gewissen  notwendigen  Härten  zurück, 
und  wieder  finden  wir  hier  wie  in  den  Landschaften 
die  Wirkung  mit  den  blitzenden  Punkten.  Der  Land- 
schafter sagt  mit  dieser  Technik  die  Canalettos  voraus, 
die  die  Art  eigentlich  nur  verallgemeinerten  und  ver- 
gröberten ;  der  Interieurmaler  deutet  auf  Chardin  und 
wurde  von  diesem  in  sublimer  Weise  fortgesetzt.  Auch 
in  Chardins  intimen  Szenen  des  Lebens  im  Hause  ge- 
lingt der  Malerei  die  Weichheit  vollendeter  Abtönungen 
und  gleichzeitig  die  Frische  des  Kontrastes.  Nicht  so 
sehr  seine  Koloristik  als  die  relative  Körnigkeit  seiner 
Malerei  —  während  sich  Chardins  meiste  Genossen  immer 
mehr  dem  flinken  dekorativen  Strich  ergaben  —  geht 
auf  Vermeer  zurück. 

„Seine  Art,  zu  malen,  ist  sonderbar,"  schrieb  Bach- 
aumont  von  Chardin.  „Er  stellt  eine  Farbe  neben  die 
andere,  fast  ohne  sie  zu  mischen,  so  daß  sein  Werk  ein 
wenig  dem  Mosaik  oder  eingelegter  Arbeit  gleicht,  wie 
die  Nadelstickerei,  die  man  ,point  carre'  nennt."  Und 
Gaston  Schefer,  der  diese  zeitgenössische  Kritik  zitiert, 
fügt  hinzu:  „Chardin  war  also  eine  Art  Pointillist.  Von 
nahem  sind  seine  Dinge  nur  angedeutet.  Sobald  man 
weiter  zurücktritt,  erhellt  sich,  verdeutlicht  sich  alles 
und  fließt  in  wunderbare  Harmonie  zusammen."1) 

Das  gab  zuzeiten  Diderots  einem  Maler  die  Merk- 
würdigkeit, nicht  mehr  in  den  Tagen  des  alten  Corot, 
als  dieser  „Pointillismus"  sich  schon  viele  Arten  erschlossen 
hatte.  Und  hätte  Diderots  Zeit  nicht  über  dem  da- 
mals lächerlich  überschätzten  Teniers  einen  Vermeer 
vergessen,  so  hätte  man  in  dem  Delfter  Meister  denselben 
Pointillismus  schon  hundert  Jahre  vorher  gefunden.  Immer 

')  Les  grands  artistes.     Chardin  (Paris,  Laurens,  o.  D.). 


VERMEER  —  CHARDIX  —  COROT  105 

verrät  Chardin  das  18.  Jahrhundert,  aber  der  Holländer 
dämpft  und  vertieft  seine  Art.  Schon  daß  er  in  seinen 
Interieurs  die  Szene  reduzierte  und  dafür  intensiver  aus- 
stattete, daß  er  seine  Frauen  bürgerlich  werden  ließ, 
nicht  ohne  sie  um  so  reizender  zu  machen,  ist  hollän- 
discher Geist.  Das  Leben  in  diesen  köstlichen  Puppen- 
stuben ist  zierlicher  als  in  den  holländischen  Zimmern, 
lichter,  heiterer,  graziöser,  aber  es  liegt  ein  Hauch  der- 
selben Intensität  darüber,  die  uns  das  holländische  In- 
terieur teuer  macht.  Der  Holländer  wiederum  mischt 
die  Milde  einer  höchst  abgeklärten  Anschauung  mit  der 
Lust  an  kecken  Akzenten.  In  Chardin  erinnert  sich  das 
Dix-huitieme  an  die  ruhmreiche  Vorzeit,  in  Vermeer 
verjüngt  sich  eine  von  allen  Reizen  des  17.  Jahrhunderts 
getragenen  Schönheit  durch  den  Zusammenhang  mit 
der  folgenden  Epoche. 

Corot  hat  von  beiden.  Er  erfüllt,  was  alle  Meister 
des  19.  Jahrhunderts  erfüllen :  bildet  Glied  einer  bis 
zu  ihm  gedrungenen  Entwickelung  und  greift  gleich- 
zeitig auf  das  17.  Jahrhundert  zurück,  ganz  wie  Dela- 
croix,  Courbet,  Manet  und  viele  andere.  Aber  von  ihm 
wurde  auch  das  18.  Jahrhundert  nicht  so  stiefmütterlich 
behandelt  wie  von  den  anderen,  die  sich  nur  im  Vor- 
übergehen auf  die  Watteau  und  Fragonard  besannen. 
Chardin  und  Vermeer  zusammengetan,  geben  sicher  noch 
nicht  Corot,  so  einfach  liegen  die  Exempel  nicht.  Aber 
der  Geist,  der  beide  ganz  erfaßt  hat,  wird  Corot  wie 
eine  fast  notwendige  Ergänzung  betrachten. 

Jedesmal,  wenn  ich  im  Louvre  die  Pastells  mit  dem 
famosen  alten  Kopf  mit  der  Hornbrille  sehe,  die  Selbst- 
portraits  des  fast  achtzigjährigen  Chardin,  muß  ich  an 
den  Pere  Corot  denken.  Es  ist  derselbe  Typ,  dieselbe 
unverwüstliche  Behaglichkeit,  fast  dasselbe  kluge  Bourgeois- 
gesicht. Sie  scheinen,  obwohl  durch  ein  Jahrhundert  ge- 
trennt, näher  zusammen  zu  gehören,  als  Corot  mit  der  ihm 


io  6  COROT 

folgenden  Generation.  Näher  auch  im  Grunde,  als  Corot 
mit  Vermeer.  Freilich  scheinen  viele  Einzelfiguren  Co- 
rots  dem  Ernst  der  bedeutendsten  Frauen  Vermeers  ver- 
wandter als  den  kleinen  Bürgerinnen  Chardins.  Aber 
die  Nuance,  die  sich  der  Parallele  Vermeer — Corot  ent- 
gegenstellt, ist  just  das,  was  der  Meister  von  Ville 
d'Avray  mit  Chardin  teilt:  das  Leichte,  Flüssige  der 
Gestaltung,  fast  möchte  man  sagen  der  Lebensart.  Corot 
verhält  sich  zu  dem  Landsmann  umgekehrt  als  dieser 
zu  Vermeer.  Er  entfernte  aus  dem  Interieur  alles 
Puppenstubenhafte  —  die  Puppen  blieben  in  dem  silber- 
grauen Walde  —  vergrößerte  den  Maßstab,  sah  viel 
mehr  auf  den  Menschen  als  die  Umgebung,  ja  häufte 
in  seinen  Figuren  all  den  Reichtum,  den  Chardin  durch 
die  losen  Details  seiner  köstlichen  Welt  andeutete. 
Wie  ernst  wir  geworden  sind,  kann  man  an  dem  Alter 
des  Heitersten  unserer  Zeit  ermessen,  wenn  wir  ihn  mit 
dem  Ernstesten  des  Dix-huitieme  vergleichen.  Auch 
Corot   sammelt  sich  im   Schatten   Rembrandts. 

Und  doch  trügt  nicht  die  Ähnlichkeit  der  beiden 
Portraits.  Auch  in  dem  alten  Corot  lebt  noch  ein  letzter 
Schimmer  der  goldenen  Zeit,  die  nichts  von  der  Kehr- 
seite des  Lebens  wissen  wollte.  Was  seine  letzten  Ge- 
stalten ernster  erscheinen  macht  als  die  früheren,  ist 
in  demselben  Maße  die  Bereicherung  der  Wirkungen 
des  Künstlers,  neben  der  man  andere  Momente  vergißt, 
als  der  natürliche  Hang  des  reifen  Menschen,  seine  Be- 
schaulichkeit zu  vertiefen. 

So  schließt  sich  der  Ring.  Alle  drei  trachteten  nach 
derselben  schweigsamen  Schönheit.  Jeder  ist  in  seinem 
Jahrhundert  und  wächst  gleichzeitig  darüber  hinaus, 
und  in  diesem  Stück,  mit  dem  er  nicht  zu  seiner  Zeit, 
sondern  zur  Ewigkeit  gehört,  berührt  er  sich  mit' den 
anderen.  So  gehören  die  Rhapsodie  in  Olive  der  Dres- 
dener Galerie,    das    „Benedicite"  Chardins    und    Corots 


VERMEER  —  CHARDIX  —  COROT  107 

letzte  Frau  vor  der  Staffelei  zusammen.  Noch  näher 
kommen  sie  sich,  wenn  man  von  einzelnen  Bildern  ab- 
sieht, wenn  man  sich  nur  an  das  hält,  was  einem  von 
jedem  der  drei  als  Form  im  weitesten  Sinne,  als  indi- 
viduelles  Organ,   als   Seele,   vorschwebt. 

Denn  die  Ähnlichkeit  ist  ja  keine  wörtliche,  sonst 
wäre  einer  von  ihnen  entbehrlich.  Es  sind  Ver- 
wandte, wenn  man  so  weit  von  ihnen  zurücktritt,  daß 
Länder  und  Zeiten,  in  denen  sie  lebten,  wie  begrenzte 
Massen  erscheinen  und  ihre  Silhouetten  um  so  deut- 
licher sehen  lassen,  alles  Nebensächlichen  entblößt,  das 
der  vergängliche  Tag  in  sie  hinein  dichtete.  Zu  dem 
Nebensächlichen  rechne  ich  auch  die  zufälligen  Be- 
ziehungen zwischen  den  Malmethoden  verschiedener 
Künstler.  Wer  aber  die  Kunst  im  ganzen  Umfang  be- 
greift, wird  finden,  daß  nicht  der  Zufall  solche  Be- 
ziehungen bestimmt,  sobald  es  sich  um  große  Meister 
handelt.  Vertieft  man  sich  in  die  drei  Künstler  aus 
drei  kunstreichen  Zeiten,  die  wir  hier  nebeneinander- 
stellten, so  ergibt  sich  immer  mehr,  daß  die  Art  ihrer 
Malerei  der  Art  ihres  Menschentums  aufs  innigste  ent- 
spricht, und  daß  der  Versuch,  ihre  Technik  als  eine  vom 
Menschen  getrennte  Eigentümlichkeit  zu  fassen,  ihr 
Wesen  nicht  erschöpft.  Und  daran  merkt  man,  daß 
die  Beziehungen  zwischen  der  Malerei  der  drei  hier 
verglichenen  Meister  nicht  auf  Zufall  beruhen,  sondern 
auf  dem  Umstand,  daß  drei  Menschen,  die  einander 
ähnlich  waren  —  soweit  solche  Ähnlichkeit  bei  der 
Verschiedenheit  der  Zeiten  denkbar  ist  — ,  sich  ent- 
schlossen,  ihre  Kunst  getreu  ihrer  Natur  zu  handhaben. 

Wenn  die  Zukunft  uns  einst  aus  größerer  Entfernung 
mißt,  wird  sie  vielleicht  Grund  zu  haben  glauben,  die 
unbegrenzte  Schätzung,  die  unsere  Zeit  manchen  Künst- 
lern entgegenbringt,  zu  kontrollieren.  Sie  wird  die  treffen, 
deren   Beziehung    zu   anderen   zufällig  erscheint.     Kaum 


108  COROT 

dürfte  je  eine  Zeit  an  dem  Corot  rütteln,  der  sich  mit 
dem  Geist  Chardins  und  Vermeers  vermählte.  Solange 
man  einen  der  dreie  schätzt,  wird  man  die  anderen 
nicht  missen  wollen. 


COL'BROX,  1873.     0,55x0,46. 
Photo  Durand  Ruel,  Paris. 


COROTS  STELLUNG  IN  DER  GEGENWART 

WIR  bedürfen  nicht  der  Erkenntnis  all  dieser  ver- 
steckten Beziehungen,  um  Corot  zu  lieben.  Leichter 
als  irgend  einer  der  Großen  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
erschließt  er  sich  dem  Freunde  der  Kunst.  Der  Laie, 
der  vor  vielen  Zeitgenossen  wie  vor  Rätseln  steht,  wird 
hier  von  sanften  Schwingen  zum  Lobe  des  Schönen  ge- 
lockt. So  viel  ist  des  Alten,  Wohlvertrauten  in  ihm,  so 
natürlich  erscheint  uns  seine  Neuheit.  Corots  Empfin- 
dung liegt  in  allen  Bildern  so  unverhohlen  zutage,  daß 
man  nur  selbst  ein  Empfindender  zu  sein  braucht,  um 
zum   Bewunderer  zu  werden. 

Die  Konsequenz  seiner  letzten  und  stärksten  Periode 
machte  nur  vor  dem  Tode  Halt.  Bis  zu  den  allerspätesten 
Bildern  vergrößert  sich  seine  Koloristik.  Die  Dame 
bleue1)  bei  Henri  Rouart  —  ein  wahres  Geschmeide  in 
Blau,  dessen  Reichtum  mehr  auf  dem  reichen  Schliff 
der  vehementen  Pinselstriche  als  auf  der  Verschieden- 
heit der  Töne  beruht  —  und  der  Cello  spielende  Mönch"2) 
bei  Frau  Amsinck  in  Hamburg,  beide  aus  dem  Jahre 
1874,  a^s  Corot  den  achtzig  nahe  war,  zeigen  dieselbe 
Kühnheit  des  Koloristen.  Was  Heilbut  von  dem  Mönch 
sagt,  daß  diese  breite  Malerei  keine  Spur  von  zitterndem 
Verweilen  bei  einem  novellistischen  Thema  aufweise,3) 
gilt  von  allen   Bildern  des  Greises. 

Nicht  die  breite  Malerei,  die  uns  heute  nahesteht,  sondern 
das  ganz  Menschliche  dieser  Kunst  läßt  mich  die  letzten 
Jahre  Corots  die  glücklichsten  nennen.  Er  ist  sich  immer 
treu  gewesen,  auch  wenn  er  spielte.  Hier  aber  erscheint 
er  als  großer  Mensch,   den  nicht   mehr  das   Spiel  reizt, 


J)  L'ceuvre  de  Corot.  Xr.  2180.     S.  95  abgebildet. 

2)  L'oeuvre  de  Corot,  Nr.   2129. 

3)  In  dem  früher  zitierten  Heft  von  „Kunst  und  Künstler"  (Verlag 
Bruno  Cassirer,  Berlin),  III.,  3,  mit  gelungenen  Abbildungen  dieser  Art 
Corots;  fast  alle  aus  dem  letzten  Jahrzehnt. 


ii2  COROT 

sondern  die  Tiefe,  der  bewußter  als  je  alles  aufbietet, 
um  die  verschwenderischen  Gaben  seines  Genies  auf 
die  Spitze  zu  treiben.  Jenseits  aller  Spekulation  und 
jedes  Manierismus.  Wenn  je  ein  Hauch  von  Nachgiebig- 
keit in  früheren  Jahren  das  Bild  trübte,  die  besten  Bilder 
seiner  letzten  Zeit  sind  Offenbarungen  eines  Menschen, 
der  nur  darauf  bedacht  ist,  seinem  Schöpfer  Rechen- 
schaft abzulegen. 

Sieht  man  von  den  vielen  Dingen  ab,  die  sich  in 
allen  Perioden  finden  und  nur  modifizierte  Wieder- 
holungen früherer  Erfindungen  sind,  hält  man  sich 
lediglich  an  das  jeweilig  Neue  seiner  Produktion,  so 
ist  die  konsequente  Annäherung  an  typische  Ziele 
der  modernen  Malerei  unverkennbar.  Und  doch  wird 
man  Corot  nie  ganz  zu  den  Modernen  rechnen;  die 
Form  seiner  Schöpfung  hat  nichts  Zwingendes  mit  den 
Impressionisten  zu  tun.  Er  ging  ein  Stück  ihres  Weges, 
aber  hielt  immer  die  Augen  auf  Dinge  gerichtet,  die  den 
anderen  längst   entschwunden  waren. 

Corot  träumte.  Das  Temperament  der  großen  Er- 
oberer, die  mit  ihren  Bildern  die  Welt  bestürmten, 
war  ihm  nicht  gegeben.  Daher  mag  es  kommen,  daß 
sich  sein  Einfluß  auf  einen  kleinen  Kreis  beschränkte. 
Der  Nutzen  ist  weniger  sichtbar,  als  das  was  Delacroix 
und  Ingres  den  Nachfolgern  hinterließen.  Corot  war 
nicht  eindeutig  genug  und  seiner  Fülle  zu  unbewußt, 
um  zu  einer  Schule  im  engeren  Sinne  zu  führen.  Was 
kleine  Leute  wie  Lepine  in  seinem  Geiste  weiterbauten, 
kommt  kaum  in  Betracht.  Wohl  aber  entdeckt  man 
versteckte  Anklänge  in  den  bedeutendsten  Künstlern  der 
Epoche.  Nicht  in  Manet;  er  wußte  sich  unverstanden 
von  Corot  und  stand  ihm  fremd  gegenüber,  fast  wie 
der  entgegengesetzte  Pol.  Die  anderen  Impressionisten 
aber  verdankten  dem  verschwiegenen  Meister  nicht 
wenig.     Seine  warme  Tonkunst  gab    ihrem   Debüt  eine 


!.K   MUINK  (1874).     72X50  cm. 

Krau   Amsinc-k,   Hamburg. 

Photo  Durand-Ruel  et  rils,  Paris. 


COROTS  STELLUNG  IN  DER  GEGENWART  113 

wertvolle  Stütze.  Pissarro  ist  ihm  am  meisten  ver- 
pflichtet, dann  Monet,  Sislev  und  andere.  Die  ersten 
Landschaften  der  neuen  Schule  haben  ihre  eigentüm- 
liche Milde  der  Lyrik  Corots  entnommen.  Während  der 
Eroberung  des  Lichtes  trat  die  Erinnerung  an  den 
Maler  der  Dämmerung  zurück.  Seitdem  man  anfängt, 
mit  diesem  Siege  gelassen  zu  rechnen,  wird  Corots  Geist 
wieder  fruchtbar.  In  Bonnard  lebt  etwas  von  dem  großen 
Idylliker.  Während  Maurice  Denis  die  Nachfolgerschaft 
Ingres'  antritt,  zeigt  Bonnard  den  höheren  Klassizismus, 
mit  dem  er  den  Genossen  ebenso  sicher  überwindet 
wie  Corot  den  Maler  der  Odalisken.  Weniger  klassisch 
haben  die  Schotten  versucht  aus  derselben  Quelle  zu 
schöpfen.  Ihr  Manierismus  machte  aus  den  Schwächen 
des  Vorbilds  eine  gefällige  Tugend. 

Von  deutschen  Zeitgenossen  hat  wohl  Waldmüller 
als  erster  Corots  Bedeutung  erkannt,  ohne  daß  es  mög- 
lich wäre,  praktische  Folgen  seiner  enthusiastischen  Ver- 
ehrung in  seinem  Werke  zu  finden.  Dagegen  verrät  der 
Frankfurter  Kreis  der  Burnitz,  Eysen,  Victor  Müller  usw. 
die  wohltätige  Anregung  des  Meisters.  Den  frühen 
Böcklin  hat  Corot  von  der  Trockenheit  Schirmers 
befreit.    Die  Anregung  hat  leider  nicht  gehalten. 

Unbegrenzte  Verehrung  bringt  ihm  das  französische 
Publikum  entgegen.  Seine  Popularität  hat  selbst  Millet 
in  den  Schatten  gedrängt.  Die  materielle  Schätzung  seiner 
Bilder  übersteigt  jedes  vernünftige  Maß.  Er  ist  der 
einzige  Landschafter  der  berühmten  Generation,  dessen 
Preise  noch  heute  im  Steigen  begriffen  sind.  Gemälde, 
für  die  Corot  in  der  letzten  Zeit  1000  Fr.  aussetzte, 
werden  heute  mit  dem  hundertfachen  Betrage  gezahlt. 
Die  Schätzung  stützt  sich  nicht  allein  auf  die  wandel- 
bare Liebe  der  Amateure,  sondern  trägt  einem  legi- 
timeren Instinkte  Rechnung.  Corot  war  einer  der  Sel- 
tensten.   Nicht  nur  der  Schöpfer  glorreicher  Werke  ging 


ii4 


COROT 


mit  ihm  zu  Grabe,  die  ganze  Art  einer  Kunst  ver- 
schwand. Er  steht  hinter  uns,  wir  haben  von  der  Zu- 
kunft seinesgleichen  nicht  mehr  zu  erwarten.  Denn  bei 
all  seiner  unübersehbaren  Vielseitigkeit,  trotz  der  Fülle 
von  Beziehungen  zu  den  erlauchtesten  Geistern,  kann 
nicht  übersehen  werden,  daß  Corot  seine  Zeit  nicht 
erschöpfte.  Er  wurzelt  nicht  in  der  Gegenwart  wie  Con- 
stable  oder  Menzel,  hat  nicht  die  erstaunliche  Begabung 
für  eine  neue  Synthese,  wie  sie  Courbet  brachte,  ist 
nicht  so  notwendig  wie  Manet.  Die  Kühnheit  eines  Re- 
noir war  ihm  nicht  gegeben.  Wie  ein  freundliches, 
wohlgeschütztes  Gestade,  das  die  Wellen  benetzen,  nicht 
umbrausen,  schuf  er  seine  Kunst.  Unsere  flammende 
Leidenschaft  bleibt  leichter  an  den  großen  Einsamen 
hangen,  die  unsere  eigene  Einsamkeit  in  gewaltigen 
Monumenten  spiegeln,  felsigen  Inseln  gleich  im  Kampfe 
mit  feindlichen  Elementen.  Wenn  wir  uns  von  diesen 
begeisterter  fühlen,  weil  sie  sich  aus  Tiefen  erheben, 
in  die  wir  zu  versinken  drohen,  weil  sie  zur  Gestaltung 
bringen,  wonach  unsere  Seele  bangt:  wer  möchte  nicht, 
erschreckt  von  all  den  neuen  ringenden  Kräften,  zuweilen 
in  die  traulichen  Gefilde  flüchten,  die  Corot  dem  Reste 
unserer  Zärtlichkeit  geschenkt  hat! 


GUSTAVE  COURBET 


PORTRAT  VON  HENRI  ROCHEFORT,  vor  1870.     0,65x0.54. 
Durand- Ruel  Paris. 


DER  MENSCH  UND  DER  KÜNSTLER 

MAN  wird  den  Maler  schwer,  den  Menschen  nie  er- 
setzen," sagte  Dupre  am  Grabe  Corots.  Chenne- 
vieres  sprach  von  dem  „bonhomme",  der  den  Himmel, 
die  Bäume  und  die  Vögelchen  des  lieben  Gottes  gefeiert 
hatte.  Faure  sang  das  Requiem  aus  der  Beethovenschen 
Symphonie,  die  Corot  geliebt  hatte. 

Es  ist  uns  heute  noch,  als  wäre  damals  eine  kleine 
Welt  gestorben.  Nicht  nur  der  Künstler,  die  Art  dieses 
Künstlertums  verschwand.  Corot  gehörte  immer  noch, 
mindestens  mit  vielen  Fäden,  wenn  nicht  mit  allen,  zu 
den  Alten.  Mit  Delacroix  verband  ihn  schon  das  Musi- 
kalische seiner  Malerei  und  die  schöne  Sentimentalität 
seiner  Gesinnung.  Wie  dieser  liebte  er  das  Theater  und 
brachte  manche  Pose  abends  mit  nach  Hause,  die  anderen 
Tags  in  einer  anderen  Sphäre  neuerstand.  Gewiß  war  er 
Natur.  Aber  wer  wäre  es  nicht  von  den  großen  Künst- 
lern irgendeiner  Zeit!  —  Natur  in  seiner  Art  und  dem 
Stand  der  Entwicklung  entsprechend  und  demgemäß 
immer  mit  dem  stillen  Vorbehalt,  daß  eine  gewisse,  fein 
gezogene  Grenze  nicht  überschritten  wurde,  daß  das 
köstliche  Gewand  erhalten*  blieb,  mit  dem  Corot  alles, 
was  er  in  die  Hand  nahm,  unwillkürlich  bekleidete. 

Diesen  Schleier  riß  Courbet  entzwei.  Er  war  der  Revolu- 
tionär, ein  neuer  Mensch :  der  bis  zur  Erbitterung  inbrün- 
stige Prolet,  der  mit  seinem  Pinsel  wie  mit  einer  gewaltigen 
Schaufel  die  Erde  umgrub,  um  neue  Frucht  zu  gewinnen. 
Die  Nymphen  zerstoben  in  alle  Winde.  Aus  war  es  mit 
dem  Spiel  beschaulicher  Gesinnung,  aus  mit  dem  Sang  der 
kleinen  Vögel  und  der  Sage  vom  lieben  Gott,  mit  allen  Ge- 
legenheitsgedichten. Am  Eingang  dieser  neuen  Geschichte 
steht  ein  großes,  düsteres  Gruppenbild:  ein  Begräbnis. 

Man  riskiert  mit  dem  Vergleich  Corot — Courbet  den 
Vorwurf,   sich   die   Aufgabe   zu   leicht   zu   machen.      Die 


122  COURBET 

Unterschiede  sind  zu  kraß.  Aber  die  Zeit  fordert  den 
Vergleich.  Man  kann  ihre  entscheidendste  Diskrepanz 
nicht  treffender  schildern,  als  wenn  man  sich  der  Gemein- 
schaft dieser  beiden  Gegensätze  erinnert,  und  begeht 
dabei  keine  Willkür.  Denn  nicht  weniger  scharf  als 
zwischen  diesen,  noch  schärfer  gähnt  zwischen  Courbet 
und  Delacroix  und  Daumier  und  vielen  anderen  der  Spalt. 
Man  wird  selbst  bei  den  scheinbar  auf  gleichen  Pfaden 
wandelnden  Revolutionären  Rousseau,  Dupre  und  Millet 
im  Grunde  wenig  Verwandtes  mit  diesem  Eroberer  finden. 
Nicht  nur  die  Kunst,  das  ganze  Menschentum  dieses 
Künstlers  war  Eroberung.  Nichts  Zaghaftes,  nichts  vom 
Kinde,  nichts  Gutmütiges  haftet  Courbet  an.  Er  ist  der 
Individualist  mit  starken  Ellbogen.  Corot  hatte  die  jahr- 
zehntelange Zurücksetzung  ganz  natürlich  gefunden,  Dela- 
croix darüber  verächtlich  gelächelt,  Millet  dazu  geseufzt. 
Sie  lebten  mit  ihrer  Kunst,  waren  Kinder  ihrer  Muse 
und  schlechte  Geschäftsleute.  Courbet  wehrte  sich  mit 
Händen  und  Füßen.  Mit  unerhörter  Rücksichtslosigkeit 
brach  er  sich  Bahn.  Er  wurde  der  erste  Manager  der 
modernen  Kunst.  Sein  Schüler  Whistler  adoptierte  die 
Methode,  aber  machte  sie  mondäner,  versteckter.  Courbet 
teilte  seine  Zeit  in  zwei  Hälften.  In  der  einen  malte  er, 
in  der  anderen  machte  er  Theorie,  und  eigentlich  machte 
er  in  beiden  dasselbe.  Denn  seine  Bilder  waren  Doku- 
mente seiner  Lehre.  Er  beschränkte  sich  nicht  auf  die 
Kunst,  sondern  dehnte  sein  System  auf  alle  erreichbaren 
Gebiete  aus,  war  Politiker  und  wurde  —  uns  Deutschen 
zum  Nutzen  —  der  erste  Künstler-Kosmopolit.  Sein 
Raffinement  war  sein  brutales  Bauerntum.  Um  einen 
neuen  Ton  zu  finden,  gab  es  nichts  Besseres.  Bayersdörfer 
hat  sein  Auftreten  in  München  geschildert.1)  Hier  mochten 


x)  In  dem  launigen  Steckbrief,  der  1872  in  der  Neuen  Freien  Presse 
erschien,  abgedruckt  in  den  gesammelten  Schriften  (Verlagsanstalt  Bruck- 
mann,   1902,  S.   121). 


DER  MENSCH  UND  DER  KÜNSTLER  123 

die  Umgangsformen  des  Starkbesaiteten  nicht  gerade 
fremdartig  berühren.  In  Paris  wirkte  die  Sachlichkeit 
dieses  Fanatikers  wie  der  Bär  im  Bienennest.  Er  hat 
dafür  büßen  müssen.  Ich  glaube,  daß  weniger  die 
nach  Beendigung  der  Kommune  siegreiche  Abnei- 
gung gegen  seine  Politik  als  die  Wut  auf  seine  per- 
sönliche Kunst  den  Prozeß  um  die  Vendome-Säule  herbei- 
führte, den  Nagel  zum  Sarge  des  Meisters. 

Es  hat  nie  einen  weniger  französischen  Künstler  ge- 
geben, und  nie  ist  ein  weniger  Pariserischer  Meister  in 
Paris  zum  Ruhme  gelangt.  Man  kann  ihn  drehen  und 
wenden,  wie  man  will,  man  findet  alles  mögliche,  nur 
keine  der  urfranzösischen  Eigenschaften.  Nichts  Lyrisches, 
nichts  Dekoratives  im  Sinne  der  großen  Landschafter 
des  17.  Jahrhunderts;  kein  Atom  von  dem  spielerischen 
Reiz  der  Watteau-Schule,  nichts  von  der  Dramatik  Dela- 
croix'.  Den  Gegensatz  zu  diesem  Eroberer  hat  Camille 
Lemonnier  in  einem  glänzenden  Essay  fixiert.1)  Er  deutet 
auf  den  literarisch  vertieften,  trotz  alles  Heroismus  unper- 
sönlichen Enthusiasmus  Delacroix',  nennt  ihn  den  Cid  der 
Malerei,  den  Besieger  der  theatralischen  Geste,  der  die 
Kulisse  der  Früheren  durch  das  flammende  Farbe  ge- 
wordene Drama  ersetzte,  und  zeigt  neben  diesem  „ä 
coups  de  cervelle"  schaffenden  Empfinder  das  ganz  Un- 
intellektuelle  Courbets,  des  „grandpeintre  bete",  der  nicht 
einsah,  warum  man  etwas  anderes  malen  solle,  als  was  man 
unter  den  Füßen  fühlte,  den  Maler  der  groben  Materie. 
Aber  unrecht  hatte  Lemonnier,  wenn  er  auf  Grund  dieser 
Erkenntnis  Courbet  die  Größe  absprach,  ihm  nur  das  Ver- 
dienst ließ,  eine  Formel  skizziert  zu  haben,  wenn  er 
ihn  unter  Millet,  Rousseau,  Corot,  ja  selbst  Daubigny 
stellte,  weil  ihm  die  Menschlichkeit  fehle,  ihn  einen 
„Vertierer  der  Malerei",  einen  „Virtuosen  der   Bestiali- 


x)  G.  Courbet  et  son  ceuvre,  Paris,  Lemerre   1878. 


124  COURBET 

tat"  nannte.  Dieses  Unrecht  beging  nicht  nur  Lemon- 
nier.  Ein  Zeitgenosse,  H.  d'Ideville,  urteilte  im  selben 
Jahre  als  Lemonniers  Buch  erschien,  ähnlich,  soweit 
er  überhaupt  urteilte.1)  Und  das  war  kurz  nach  dem 
Tode,  also  bei  milder  Stimmung.  Vorher  ging  es  Courbet 
schlecht  bei  der  Pariser  Kritik,  schlechter  als  irgend  einem. 
Man  verzieh  ihm  nicht  die  Häßlichkeit  seiner  Modelle. 
Theophile  Gautier  behauptete,  in  spanischen  Spelunken 
nichts  Häßlicheres  gesehen  zu  haben.  Noch  1863  äußert 
sich  Bürger  Thore  mehr  als  zurückhaltend.  Beaudelaire, 
der  ihm  anfangs  beigestanden  hatte,  wurde  später  sein 
schlimmster  Feind.  Silvestre  und  Castagnary,  am  frühsten 
glaube  ich  Champfleury  hielten  zu  ihm,  aber  überzeugten 
nicht.  Der  Begeistertste  von  allen,  Proudhon,  hat  ihm 
am   meisten  geschadet. 

Wer  über  den  Künstler  hinwegkam,  rieb  sich  an  der 
sogenannten  Dummheit  des  Menschen.  Die  Dummheit 
lag  in  seinem  Programm.  Vielleicht  nicht  so  sehr  die 
Formel  selbst,  als  daß  er  sich  überhaupt  zu  einem  Pro- 
gramm bekannte,  war  sein  Fehler.  Mit  Theorien  läßt 
sich  in  Deutschland  und  England  etwas  erreichen, 
nicht  in  Frankreich.  Die  Formel  hätte  sogar  gescheit  sein 
können,  der  Franzose  ist  viel  zu  sehr  Kultur,  oder  sagen  wir 
Blagueur,  um  solche  Demonstration  jenseits  des  Werkes  zu- 
zulassen. Jeder  Kommentar  macht  ihn  argwöhnisch,  auch 
der  ungeschickteste.  Dagegen  will  der  Bourgeois  überall,  in 
allen  Ländern  selbst  kommentieren  können.  So  aber 
stand  der  Fall  Courbet :  ein  Kommentar,  der  niemanden 
interessierte,  der  von  sozialen  Dingen  und  Politik  han- 
delte; eine  Kunst,  die  niemanden  anzog.  Programme 
hatten  auch  die  anderen,  alle,  ohne  Ausnahme,  von 
Poussin  bis  Ingres  und  Delacroix.  Wir  besitzen  darüber 
genügend  Dokumente.    Wer  an  der  zuweilen  verspotteten 

1)   G.  Courbet,   notes   et  documents  sur  sa  vie  et   son  ceuvre,    Paris 
Grav6   1878. 


DER  MENSCH  UND  DER  KUNSTLER  125 

gallischen  Klarheit  zweifelt,  braucht  sich  nur  an  die 
eiserne  Logik  zu  halten,  zu  der  jeder  bedeutende  Fran- 
zose seine  Muse  nötigt.  Nur  sprachen  sie  nicht  davon 
vor  der  Öffentlichkeit.  Sie  vergruben  ihre  Theorie  in 
Tagebüchern,  ließen  ihre  Schüler  und  Korrespondenten 
daraus  Nutzen  ziehen,  aber  affichierten  sie  nicht.  In 
der  Neuerung  sah  man  einmal  eine  ungeheuerliche  Un- 
bescheidenheit.  Mit  Recht.  Die  Art,  wie  Courbet  mit 
Silvestre  über  Tizian  und  Lionardo  sprach,  empörte 
jeden  vernünftigen  Menschen.  Die  Formulierung  einer 
sozialen  Theorie  zu  einer  Ästhetik,  die,  sobald  man  sie 
lediglich  auf  das  Soziale  hin  untersuchte,  zur  größten 
Kinderei  wurde  und  nur  gelten  sollte,  weil  Courbet  sie 
aussprach,  reizte  zum  Lachen.  Dann  aber,  und  das  ist 
die  Hauptsache,  sah  man  überhaupt  nicht  mehr  den 
Maler,  den  Künstler,  sondern  nur  sein  Programm,  seine 
Beschränktheit  als  Denker  und  die  höchst  greifbaren 
Schwächen  des  Menschen.  Zu  bemerken,  daß  das  eine 
nicht  das  mindeste  mit  dem  anderen  zu  tun  hatte,  daß 
diese  ganze  Theorie  des  Monsieur  Courbet  so  wichtig 
für  seine  Kunst  war,  wie  sein  Hut  oder  seine  Tabakpfeife, 
fiel  niemandem  ein.  Man  fand  die  Sauce  unschmack- 
haft und  stieß  den  Braten  beiseite.  Man  nahm  seine 
Theorie  —  die  echten  Redensarten  eines  Alkoholikers  — 
ernst  und  vergaß  nicht  nur,  daß  dieser  Mensch  immen- 
surabel trank,  sondern  auch,  daß  er  malte.  Ursprüng- 
lich dachte  Courbet  nicht  das  mindeste  bei  seiner 
Malerei.  Er  fand,  was  er  machte,  gut  und  notwendig 
und  hatte  verteufelt  recht,  darauf  stolz  zu  sein.  Bauer, 
wie  er  war,  konnte  er  nicht  auf  den  Erfolg  warten  und 
nahm  jedes  Mittel,  um  durchzudringen,  auch  das  ver- 
kehrteste. Wenn  Proudhon  ihm  eingeredet  hätte,  daß 
seine  Malerei  imstande  sei,  die  Gicht  zu  heilen,  er 
hätte  wahrscheinlich  auch  diese  Gabe  nicht  verschwiegen. 
Man   müßte   Zola   wiederholen,   wollte   man  das  Ver- 


126  COURBET 

hältnis  Proudhons  zu  Courbet  prüfen.  Alles  was  darüber 
gesägt  werden  könnte,  steht  in  „Mes  haines".  Proudhons 
ungeheuerliche  Blasphemie  „Du  principe  de  l'art  et  de 
sa  destination  sociale"  hätte  einen  Germanen  zum  Ver- 
fasser haben  können.  (Dieser  Autor  hätte  statt  Courbets 
einen  Böcklin  oder  einen  Präraphaeliten  gefunden,  und 
beide  gälten  für  alle  Zeiten  als  große  Leute.)  In  Frank- 
reich ereignete  sich  der  merkwürdige  Fall,  daß  der  Künst- 
ler ein  Genie  und  der  Dolmetscher  blind  war,  und  daß 
Zola  die  Unterschätzung,  deren  sich  der  Phantast  schuldig 
machte,  nachweisen  konnte.  Der  unbescheidene  Courbet, 
über  dessen  Gebaren  gesittete  Leute  die  Hände  rangen, 
war  nie  bescheidener,  als  da  er  sich  zur  „Destination 
sociale"  seines  bornierten  Freundes  hergab. 

In  seiner  eigenen  Theorie,  wie  er  sie  zum  besten  gab, 
war  nicht  alles  Unsinn.  Wahrheit  wollte  er,  mehr  Wahr- 
heit als  die  Zeitgenossen  brachten.  Aber  welche?  Die 
Bilder  sind  da,  um  zu  demonstrieren,  der  Demagoge 
ärgert  niemanden  mehr.  Hat  er  wirklich  jemals  Pro- 
gramme gemalt?  Ich  kenne  höchstens  ein  Bild  ,,1'Aumone 
d'un  mendiant",  vom  Ende  der  sechziger  Jahre,  in  dem 
ein  Bettler  einem  kleinen  Jungen  eine  Münze  schenkt, 
das  man  tendenziös  nennen  könnte;  und  selbst  in  diesem 
nichts  weniger  als  typischen  Werke  überwindet  die  Malerei 
einen  Teil  des  peniblen  Eindrucks.  Sonst  nichts  als  reine 
Kunst  vom  ersten  Selbstporträt  bis  zu  den  grandiosen  Reh- 
bildern und  der  „Woge".  Die  Wahrheit,  die  er  sah,  war 
nicht  der  grobe  Realismus,  der  1855  in  klobigen  Buchstaben 
das  Schild  der  Ausstellungs-Baracke  schmückte.  „Faire 
de  l'art  vivant,  tel  est  mon  but!"  sagte  in  Castagnarys 
Feder  die  pompöse  Einleitung  des  Katalogs.  Das  brachte 
Courbet:  ein  stärkeres  Leben  als  irgend  einer  seiner  Zeit. 
Und  damit  kam  das  Notwendige,  Nützliche.  Er  fand 
ein  neues  Zellensystem  für  die  Kunst,  einen  Ausdruck, 
der   das,   was  die  Menschheit  brauchen  konnte,  enthielt 


DER  MENSCH  UND  DER  KÜNSTLER  127 

und  dem  Genie  eine  unmittelbar  zugängliche  Form 
öffnete.  Wohl  grenzte  seine  Überhebung  über  seine 
Zeitgenossen  an  Frechheit.  1862  sagte  er  mal  zu  Corot : 
„Wer  sind  heute  die  wirklichen  Maler  in  Frankreich? 
—  Ich!"  Lange  Pause.  „Und  dann  Sie!"  Und 
Corot  meinte  nachher  zu  einem  Freunde :  „Wenn  ich 
nicht  dabei  gewesen  wäre,  hätte  er  mich  gern  vergessen." 
Aber  dieses  Selbstbewußtsein  hing  nicht  in  der  Luft.  Es 
stand  nicht  auf  der  Illustration  Proudhons,  nicht  auf 
seiner  Theorie.  Es  war  der  höchst  natürliche  Ausdruck 
einer  unantastbaren  Überlegenheit,  das  Bewußtsein  des 
Menschen,  der  seine  Muskeln  stärker  fühlt,  als  die  seiner 
Nachbarn,  der  das,  was  er  will,  besser  kann  als  irgendeiner. 
Wohl  waren  sie  alle  herrliche  Künstler,  von  Corot  ange- 
fangen bis  zu  dem  letzten  der  großen  Generation  von  1830; 
machten  aus  ihrer  Sache,  was  sie  machen  mußten,  erreichten 
ihre  Ziele.  Aber  dieser  grobe  Bauer  stand  jenseits,  in  einer 
neuenWelt,  von  der  die  anderen  kaum  die  Anfänge  ahnten. 
Er  konnte  nicht  dichten,  vermochte  sich  nicht  aus  dem 
Theater  seine  Inspiration  zu  holen,  las  noch  weniger  als 
Millet  und  schrieb  den  Stil  eines  größenwahnsinnigen 
Provinz-Friseurs.  Dafür  war  er  in  der  gesicherten  Lage, 
dieser  Mittel  der  anderen  nicht  zu  bedürfen.  Corot  rückte 
dem  Instinkt  ein  gewaltiges  Stück  näher,  aber  blieb  der 
Träumer.  Courbet  verzehnfachte  das  Stück  und  blieb 
absolut  bewußt.  Und  wenn  sich  dies  Bewußtsein,  die 
Entwicklung  mit  einem  Schlage  um  Generationen  ge- 
fördert zu  haben,  in  halb  irren  Sätzen  äußerte,  muß  man 
bedenken,  daß  er  in  seiner  wesentlichen  und  bleibenden 
Äußerung,  seiner  Malerei,  bis  zum  letzten  großen  Bilde 
vorwärts  schritt  und  vielleicht  mehr  Grund  zur  Ein- 
bildung hatte,  als  er  glaubte.  Sicher  hätte  er  greifbarere 
Belege  für  seine  Bedeutung  anführen  können,  als  die 
Sätze  seiner  Pronunciamientos. 

Seine  Kunst  enthielt  nichtsdestoweniger  ein  Programm 


128  COURBET 

wirksamer  Art;  nicht  das  von  Proudhon,  sondern  das  der 
kommenden  Malerei.  Die  soziale  Phrase  schweigt  vor  der 
„Woge".  Delacroix  hatte  bei  aller  Macht  für  solche  elemen- 
taren Erscheinungen  keine  Organe.  Gericault,  einer  der  er- 
sten Modernen,  dieVelasquez  kopierten,  hatte  ähnliche  Dinge 
geahnt,  aber  nur  angedeutet;  Constable  sie  in  winzigen 
Skizzen  vollbracht.  Die  übrigen,  alle  ohne  Ausnahme, 
hingen  anderen  Dingen  nach,  die,  mögen  sie  den  Lieb- 
haber noch  so  befriedigen,  mögen  sie  in  sich  vollendet 
und  über  jedes  Lob  erhaben  sein,  nicht  dies  Notwendige 
zeigen.  Das  fühlen  wir  in  Rembrandt,  in  Velasquez,. 
in  Rubens  neben  der  Freude  an  ihren  Werken:  daß  in 
solchen  Menschen  die  Geschichte  der  Kunst,  der  Mensch- 
heit, der  Erde,  einen  Schritt  weiter  tut  und  wir  Sta- 
tionen der  Kultur  erblicken.  Auch  darin  liegen  Ele- 
mente unserer  Begeisterung.  Nicht  Geschichtskenntnis 
allein  erschließt  diese  Einsicht,  so  wenig  man  ohne  jedes 
Wissen  von  der  Zeit  den  Umfang  der  Neuheit  würdigen 
kann.  Im  Werke  selbst  steckt  neben  dem  Schönen  der 
Anprall  an  die  Grenzen,  die  es  stürzte,  das  Phänomen 
einer  seltenen  Kraft,  eines  unendlich  seltenen  Zu- 
sammentreffens dieser  Kraft  mit  den  Momenten,  die  sie 
auszulösen  vermögen. 

Courbet  war  als  Bauer  geboren,  mit  all  den  anima- 
lischen Instinkten  des  Landmenschen.  Stark,  ungebrochen 
sinnlich,  ungeschwächt  von  irgend  einem,  nicht  auf  nüch- 
ternstem Zweckbewußtsein  beruhenden  Vorurteil.  Ich, 
ich  und  immer  wieder  ich.  Wie  komme  ich  zur  Macht, 
zum  Genuß  ?  —  Das  ist  sein  Evangelium.  Dieser  Mensch 
will  malen.  Er  geht  in  die  Galerien  und  findet  die  Meister, 
die  das  am  besten  gekonnt  haben.  Er  versteht  unter 
der  Malerei  nicht  dieses  oder  jenes,  sondern  nur  das 
eine :  die  größte,  unmittelbarste  Wirkung  mit  Pinsel  und 
Farbe.  Er  denkt  nicht  im  Traume  an  seelische  Dinge 
dabei,    übersetzt   nicht,    reflektiert    nicht,    sondern    faßt 


s  « 


—  S  - 


DER  MENSCH  UND  DER  KÜNSTLER 


[29 


das  Ding  an  der  Wurzel.  Generationen  mögen  in  ihm  das 
Wissen  von  derXatur  zur  Erfahrung  aufgeschichtet  haben; 
Bauern  wie  er,  die  immer  nur  an  den  Erwerb  der  Erde 
dachten,  an  den  materiellen  Nutzen  aus  der  Materie.  Jetzt 
greift  er  so  sicher  zu  Hals  und  Zurbaran  und  Ribera, 
das  heißt  zu  den  großen  Materiellen,  wie  seine  Vorfahren 
die  richtige  Erde  für  ihren  Bedarf  zu  finden  wußten. 
Die  Ausschließlichkeit  seiner  Neigungen  wird  seine  Stärke. 
Keiner  seiner  malenden  Vorgänger  hatte  sich  vor  den 
Italienern  verschließen  können.  Es  lag  in  ihrer  Rasse, 
in  ihrer  Kultur.  Das  Italienertum  half  ihnen,  brachte 
das  Mitspielen  verwandter  Elemente,  zog  die  Lyrik  und 
das  Dekorative  heran,  aber  schwächte,  wie  jeder  Eklekti- 
zismus auch  den  Stärksten  schwächt.  Courbet  ist  der 
erste  Franzose,  der  sich  lachend  von  ihnen  abwendet. 
Was  er  über  Raffael  sagt,  klingt  fast  wörtlich  wie  das 
berühmte  Wort  des  Velasquez.  Wenn  er  dagegen  die 
Spanier  und  Holländer  nimmt,  tut  er's  wie  der  Bauer, 
der  ein  gutes  Düngemittel  für  seinen  Boden  findet. 
Theophile  Silvestre  zitiert:  „J'ai  traverse  la  tradition 
comme  un  bon  nageur  passerait  une  riviere:  les  aca- 
demiciens  s'y  sont  tous  noyes."  Die  Leute  selbst  sind 
Courbet  ebenso  gleichgültig  wie  die  Italiener.  Wie 
haben  sie's  gemacht?  —  Nicht  was  sie  gedacht  haben, 
nicht  was  sie  ihrer  Zeit  brachten,  interessiert  ihn. 
Was  sie  ihm  in  diesem  Augenblick  nützen  können, 
kommt  allein  in  Frage.  So  hilft  ihm  die  Barbarei.  Sie 
schneidet  alles  weg,  was  zu  viel  für  das  rein  Instinktive  sein 
könnte.  Er  wird  nicht  geistiger  durch  die  Jahre,  er  wird 
mächtiger.  Jede  Spur  von  Intellektualität  hätte  ihn  ge- 
schwächt, jede  Zutat  von  Spiritualismus  seine  Kraft  ge- 
mindert. Er  besitzt  den  Intellekt  und  den  Esprit,  den 
Courbet  brauchen  kann,  der  malende  Bauer.  Hätte  er  nicht 
Genie,  so  würde  aus  alledem  nichts  werden,  das  versteht  sich 
von  selbst.    Er  ist  aber  um  so  mehr  Genie,  je  mehr  Bauer 


i3o  COURBET 

er  bleibt,  das  war  sein  Scharfsinn.  „Savoir  pour  pouvoir!" 
stand  in  der  berühmten  Vorrede  des  Katalogs  von  1855. 
Dieser  Bauer  war  nichts  weniger  als  unwissend.  Aber  er 
hatte  mit  den  Augen,  mit  den  Händen,  nicht  mit  dem 
Gehirn  gelernt.  „C'est  dans  le  doigt  qu'est  la  finesse," 
sagte  er  in  der  Schweiz  zu  seinem  Arzte  und  lachte  über 
die  Kollegen,  die  sich  mit  teuren  Farben  ruinierten.  Er 
war  ein  ähnlicher  Typ  als  Maler  wie  Taine  als  Philosoph. 
„Denken,  namentlich  schnell  denken,  ist  ein  Fest,"  heißt 
es  bei  diesem.1)  Taine  dachte  animalisch,  wie  Courbet 
animalisch  malte.  Malen,  namentlich  schnell  malen,  ist 
ein  Fest.  Und  damit  legte  er  den  Finger  auf  die  Zu- 
kunft. Denn  so,  nur  so,  mit  dieser  Schnelligkeit,  die 
sich  mit  dem  modernen  Leben  in  Einklang  zu  setzen 
wußte,  konnte  fürderhin  gemalt  werden,  wollte  die  Kunst 
überhaupt  einen  Rest  von  Beziehungen  mit  dem  Leben 
bewahren.  Während  aber  Taine  bei  diesem  schnellen 
Verfahren  die  wichtigsten  Dinge  unter  den  Tisch  fallen 
ließ  und  daher  zu  kurz  kam,  weil  dem  philosophischen 
Denken  die  vorsichtige  und  umsichtige  Konzentration 
unentbehrlich  ist,  gelangte  Courbets  Einseitigkeit  zu  der 
unvergleichlichen  Kraft,  die  seine  Meisterwerke  auszeich- 
net. Und  seine  Kraft  hilft  uns  über  die  Mängel  hinweg. 
Auch  diese  Methode  war  Kunst  im  höchsten  Sinne, 
sonst  wäre  sie  resultatlos  geblieben.  Hier  lag  der  Irr- 
tum Delacroix'  in  seiner  Schätzung  Courbets.  Wie  Paul 
Fiat  richtig  bemerkte,  waren  für  den  Maler  der  Dante- 
barke,, Imagination"  und  „Idealisation"  dieselben  Begriffe.-) 
Die  unentbehrliche  Transformation  der  Natur  verlief  bei 
ihm  nach  einem  höchst  persönlich  verstandenen,  aber 
nichtsdestoweniger    bis    zum    gewissen   Grade    übernom- 


*)  „Penser,  surtout  penser  vite  est  une  fete.  L'Esprit  y  trouve 
une  sorte  de  bal;  jugez  de  quel  empressement  il  s'y  porte."  Histoire 
de  la  litterature  anglaise  III,  273  (letzte  Ausg.). 

2)  Vorrede  zum  „Journal". 


DER  MENSCH  UND   DER  KÜNSTLER  131 

menen  Schema,  das  Rubens,  und  zwar  der  von  Michel- 
angelo herkommende  Rubens  geformt  hatte.  Es  ist  nicht 
dieselbe  Art  von  Beeinflussung,  die  Courbet  von  Hals  und 
Ribera  empfing.  Mit  der  Hinnahme  der  Vorgänger  Dela- 
croix'  war  die  spirituelle  Durchdringung  des  Stofflichen 
mit  Hilfe  vieler  Literatur  oder  eigener  Gedankenpro- 
duktion unentbehrlich  verbunden.  Mit  der  Halsschen 
Art  gelangte  man  zur  Natur.  Subjektiv  freilich  standen 
beide  ihren  Vorbildern  ähnlichgegenüber.  WasfürDelacroix 
Michelangelo  bedeutete,  hat  George  Sand  festgelegt,1)  und 
es  steckt  in  den  Zeilen,  die  Delacroix  über  den  von  ihm 
angebeteten  Meister  schrieb.  Ihm  war  das  „Jüngste  Ge- 
richt" etwas  Ähnliches  als  für  Courbet  etwa  die  Halsschen 
Portraits  oder  die  Rembrandtschen  Weiber.  Denn  er  glaubte 
in  dem  Christ  Michelangelos  „weder  einen  Philosophen  noch 
einen  Romanhelden"  zu  sehen,  sondern  pries  das  „Jüngste 
Gericht"  als  ein  „Fest  des  Fleisches".  So  fleischlich  dünkten 
auch  Courbet  die  Gebilde  seiner  Lieblinge.  Aber  dies 
Fleischliche  ist  ein  relativer  Begriff,  der  von  Delacroix  zu 
Courbet  die  stärkstenWandlungen  erfährt.  Courbet  fand  mit 
seiner  Methode  eine  Vergrößerung  der  Absicht  und  wurde 
immer  freier;  Delacroix  dagegen  schrieb:  „Nach  allen 
neuen  Verirrungen,  zu  denen  die  Kunst  durch  Laune 
und  Neuerungssucht  verleitet  werden  kann,  wird  der 
große  Stil  des  Florentiners  stets  der  Pol  werden,  nach 
dem  man  sich  von  neuem  richten  muß,  um  die  Bahn 
aller  Größe  und  aller  Schönheit  wiederzufinden."  Darin 
irrte  er.  Selbst  einem  Michelangelo  wird  immer  nur  ein 
relativer  Anteil  an  der  Entwicklungsgeschichte  unserer 
Zeit  zukommen,  so  begeistert  wir  ihn  preisen  und  alle 
zukünftigen  Geschlechter  ihn,  wenn  sie  kunstgesinnt  sind, 

x)  George  Sand,  Histoire  de  ma  vie,  Calmann  Levy,  Paris,  S.  242 — 252. 
Hier  auch  die  wichtigsten  Passagen  des  Delacroixschen  Aufsatzes  über 
Michelangelo,  den  man  in  extenso  in  „Eugene  Delacroix,  sa  vie  et  ses 
ceuvres"  Paris.  Imprimerie  Jules  Claye,  1865  findet.  Der  ungenannte 
Verfasser  des  für   die  Freunde  D.'s  privat    gedruckten  Buches   ist  Piron. 


132 


COURBET 


preisen  werden.  Und  dieser  Anteil  ist  für  die  Malerei 
viel  beschränkter  als  der  eines  Rembrandt  oder  Velasquez 
oder  Franz  Hals,  wie  wir  heute  schon  seit  den  paar  Ge- 
nerationen seit  Delacroix  konstatieren  können.  Von 
Michelangelo  wie  von  der  ganzen  Renaissance  gilt  für 
die  moderne  Malerei  das  geistvolle  Wort  Fromentins  über 
Poussin:  „On  le  consulte,  on  l'admire,  on  ne  s'en  sert 
pas."  Der  Wert  steht  außer  Frage,  wir  fassen  ihn  heute 
lebendiger  als  vor  hundert  Jahren,  aber  wissen,  daß  dieses 
Verhältnis  platonisch  bleiben  muß,  um  uns  nicht  zu  ver- 
irren. Die  Größe  Gericaults  beruht  auf  dieser  Erkenntnis, 
mit  der  er  Delacroix  übertrifft.  Er  fand  ein  natürliches 
Mittel,  das  zu  erreichen  —  mindestens  zu  erstreben  — , 
was  Delacroix  einmal  als  Ideal  aufstellte  und  das  sich 
bewußt  nicht  erreichen  läßt :  die  Vereinigung  der  Art  des 
Velasquez  mit  der  Art  Michelangelos.  Bewußt  versucht 
erscheinen  solche  Kombinationen  unsinnig,  denn  die  Art 
des  einen  schließt  die  des  anderen  aus.  Aber  vorher, 
bevor  der  Geist  sich  seines  Willens  bewußt  wird, 
kann  in  dem  dunklen  Triebleben  des  Künstlers  solch 
köstliche  Vermengung  stattfinden,  und  sie  schien  einen 
Moment  realisiert,  als  Gericault,  der  Schöpfer  des  Me- 
dusenflosses,  seine  Reiter  malte.  Daher  die  unbegrenzte 
Verehrung  Delacroix'  für  seinen  früh  verstorbenen  Vor- 
gänger und  seine  höchst  skeptische  Stellung  zu  Millet. 
Das  Michelangeleske  des  Bauernmalers,  der  naiv  genug 
war,  Delacroix  seine  geringen  literarischen  Kenntnisse 
sehen  zu  lassen,  schien  ihm  „prätentiös",  d.  h.  äußerlich, 
und  wer  zwischen  den  Zeilen  lesen  kann,  bemerkt,  daß 
er,  bei  aller  Abneigung  gegen  Courbet,  vor  diesem  mehr 
Respekt  hatte  als  vor  Millet.  Millet  hatte  Michelangelo 
nicht  durchdacht.  In  Courbet  dagegen  sah  Delacroix 
eine  ideell  beschränkte,  aber  vor  nichts  zurückschreckende 
Konsequenz.  Der  Mangel  Courbets  an  jeder  Beziehung  zur 
klassischen    Kunst    schloß  jede  Annäherung  zwischen  den 


DER  MENSCH  UND  DER  KÜNSTLER  133 

beiden  aus.  Soweit  vermochte  selbst  Delacroix'  blenden- 
der Geist  nicht  zu  sehen,  daß  es  auch  ohne  das  ging; 
aber  er  bewunderte  schon  an  einem  der  ersten  Bilder 
Courbets,  das  ihm  vor  Augen  kam,  die  Kraft  des 
jungen  Meisters.1)  Er  kam  damals  nicht  über  den 
Gegenstand  hinweg.  Der  Maler,  dem  die  Geste  ungefähr 
so  viel  wie  Farbe  bedeutete,  der  mit  ihr  malte,  mußte 
die  Anfänge  Courbets  unterschätzen,  selbst  wenn  sein 
Esprit  nicht  vor  der  Unbeholfenheit  des  anderen,  wenn 
der  Aristokrat  nicht  vor  dem  Proletarier  zurückgeschreckt 
wäre.  Aber  seine  Weisheit  geht  auch  aus  diesem  denkbar 
schwierigsten  Exempel,  das  seinem  Urteil  zugemutet  wer- 
den konnte,  siegreich  hervor,  denn  wir  werden  sehen,  daß  er 
im  Grunde  dieser  neuen  Welt  Eigenschaften  wohl  erkannte, 
auch  wenn  er  sich  nicht  damit  zu  begnügen  vermochte. 
Was  Delacroix  abstieß,  Courbets  persönliches  Auf- 
treten, hat  dem  Meister  von  Omans  zu  Lebzeiten 
manchen  fein  besaiteten  Kunstfreund  entfremdet.  Damit 
es  uns  nicht  ebenso  gehe,  müssen  wir  vorsichtig  scheiden 
und  uns  den  Anschein  zunutze  machen,  als  gebe  es 
in  Courbet  zwei  verschiedene  Dinge,  seine  Kunst  und 
sein  Menschentum.  Daß  dem  nicht  so  ist,  bedarf  keines 
Nachweises.  Wenn  wir  von  menschlichen  Schwächen 
eines  Künstlers  reden,  die  von  den  Tugenden  des 
Künstlers  aufgewogen  werden,  sagen  wir  nichts  anderes 
als  die  in  unserer  beschränkten  Natur  umschlossene 
Tatsache,  daß  sich  in  jeder  Persönlichkeit,  und  stehe 
sie  noch  so  hoch,  Fehler  neben  Vorzügen  finden.  Der 
tieferen  Erkenntnis  wird  nicht  entgehen,  daß  sie  zu- 
sammengehören und  einer  einzigen  Ursache  entstammen, 

*)  Die  „Baigneuses"  des  Salons  von  1853.  Man  muß  bei  Delacroix 
zwischen  seiner  Feindschaft  gegen  den  Realismus  als  Theorie  und  seiner 
Abneigung  gegen  Courbet  wohl  unterscheiden.  Die  eine  war  ohne  Grenzen, 
die  andere  höchst  gemäßigt.  So  wendet  sich  der  Satz,  der  sich  im  Jour- 
nal I  159  findet,  gegen  den  Realismus  im  allgemeinen,  und  er  hat  sicher 
nicht  beabsichtigt,  unseren  Denner,  der  bei  dieser  Gelegenheit  abgeführt 
wird,  auf  gleiche  Höhe  mit  Courbet  zu  stellen. 


i34  COURBET 

der  natürlichen  Anlage.  Der  große  Künstler  ist  der 
große  Mensch.  Wenn  das  bei  einem  Courbet  schwer 
glaubhaft  erscheint,  vergessen  wir  nicht,  daß  die  Gründe 
unseres  Zweifels  auf  schwachen  Füßen  stehen.  Denn 
was  uns  von  seinen  persönlichen  Missetaten  überliefert 
wird,  trägt  alle  Anzeichen  subjektiver  Färbung.  Die 
Zeugen  waren  gewöhnlich  Feinde  seiner  Kunst  und 
müssen  abgelehnt  werden.  Mindestens  vermögen  wir 
nicht  mehr,  alle  Zusammenhänge  der  Kleinigkeiten  zu 
übersehen,  um  die  Schuldfrage  zu  entscheiden.  Das 
Kunstwerk  aber  liegt  in  aller  Deutlichkeit  vor  uns. 
Daher  ist  der  Schein  des  Dualismus  eine  harmlose 
Täuschung,  sobald  man  einsieht,  daß  jede  Kunst  auf 
Menschentum  beruht,  und  förderlich,  weil  er  uns  drängt, 
von  allen  Zufällen  abzusehen  und  uns  an  das  zu  halten, 
was  im  Künstlerdasein  allein  höhere  Beachtung  verdient. 


L'ENTERREMEXT  D'ORXAXS,  1850.     340x4,07- 
Louvre,  Paris. 


FRÜHZEIT 


Corots  Entwicklung  läuft,  wenn  nicht  in  einer  einzigen, 
ununterbrochenen  Linie,  so  wenigstens  in  einer 
Fläche,  die  gleichmäßig  wichtige  Eigenschaften  des  Künst- 
lers der  Vollendung  nähert.  Wir  konnten  bei  ihm  von 
einer  Lehrzeit  sprechen.  Seine  Beschaulichkeit  ließ  geduldig 
eine  Frucht  nach  der  anderen  reifen.  Wohl  gab  es  dabei 
Überraschungen.  Die  unbändige  Fruchtbarkeit  ließ  gewisse 
Seiten  schneller  wachsen  als  andere.  Das  Wachstum  selbst 
aber  steht  außer  Frage.  Corot  gleicht  einem  gesunden 
Baum,  der  sich  auf  der  ganzen  Oberfläche  immer  mehr 
mit  Zweigen  und  Blättern  bedeckt  und  den  Schatten  be- 
ständig vergrößert. 

Courbets  Werdegang  ist  ein  schwer  zu  enträtselndes 
Problem.  Es  ist  etwas  Wahres  an  Durets  Behauptung, 
daß  der  Meister  von  Omans  überhaupt  keine  Entwickelung 
zeige,  weil  sich  gewisse  Fehler  des  Anfangs  in  den  spätesten 
Bildern  wiederholen,  daß  er  vielmehr  rein  vegetativ  produ- 
ziere und  ein  Jahr  gute,  das  andere  Jahr  schlechte  Früchte 
hervorbringe,  ohne  daß  für  den  Wechsel  zwingende  Gründe 


136  COURBET 

gefunden  werden  könnten.1)  Jedenfalls  kommt  man  hier 
mit  so  einfachen  Begriffen  wie  dem  Ausbau  des  Malerischen 
nicht  aus.  Courbet  hat  nicht  eine,  sondern  viele  Entwick- 
lungen. Diese  laufen  kreuz  und  quer  durcheinander,  wider- 
sprechen sich  scheinbar  und  komplizieren  das  Bild  derart, 
daß  man  wohl  versteht,  warum  es  bisher  niemandem  ein- 
gefallen ist,  nach  einem  Organismus  zu  suchen.  Selbst  die 
nächsten  Freunde  gaben  sich  darüber  den  größten  Irr- 
tümern hin,  und  Castagnary  beging  noch  1882  im  Katalog 
der  Courbet-Ausstellung  in  der  Ecole  des  Beaux-Arts 
schwere  Fehler  in  der  Datierung  der  Werke,  weil  ihm  der 
Werdegang  des  Künstlers  nicht  klar  war.2) 

Zwei  Dinge  wetteifern  in  Courbet,  um  den  Ausdruck 
zu  erhöhen :  das  Plastische  und  das  der  Fläche  dienende 
Malerische.  Das  eine  deutet  auf  einen  sehr  großen  Künst- 
ler älteren  Stils,  der  auf  die  plastische  Form  zielt,  daher 
das  Werkzeug  zurückdrängt  und  möglichst  glatt  malt. 
Das  andere  auf  einen  sehr  großen  Künstler  neuen  Stils, 
der  sich  mehr  auf  instinktive  Gestaltung  verläßt  und 
die  Form  aus  der  Pinselschrift  gewinnt;  ein  Flachmaler, 
Fortsetzer  der  Rubens,  Rembrandt  und  Velasquez,  ein 
Schöpfer  der  Materie.  Die  Verwirrung  kommt  daher, 
daß  die  der  Plastik  zugewandte  Periode  nicht  scharf 
umgrenzt  ist.  Wir  finden  gleichzeitig  Werke  beider  Art, 
ja  beide  Tendenzen  auf  einem  und  demselben  Bilde. 
Der  Landschafter  Courbet  ist  der  reinere  Maler,  vor 
der   Landschaft    kam    seine   Natur    am   ursprünglichsten 

1)  Les  Peintres  francais  en  1867  par  Theodore  Duret  (Paris,  Dentu, 
1867).  Dabei  darf  freilich  nicht  vergessen  werden,  daß  Courbet  im  Jahre 
1867  noch  nicht  abgeschlossen  hatte. 

-)  So  legt  er  den  ,,Homme  bless6"  in  das  Jahr  1854,  während  das  Bild 
schon  1844  im  Salon  refüsiert  wurde,  und  weist  in  der  kleinen  Note  vor 
dem  Katalog  ausdrücklich  darauf  hin.  Auch  Estignard  ist  wenig  ver- 
läßlich; er  legt  die  beiden  Kopien  nach  Hals  und  Rembrandt,  die  1869 
entstanden,  in  das  Jahr  1842,  den^,Homme  ä  la  ceinture  de  cuir"  in  das 
Jahr  1844  usw-  Selbst  die  Hauptdaten  schwanken.  So  nennt  der  Louvre- 
Katalog  für  das  „Enterremenf' den  Salon  185 1,  während  alle  Biographen 
mit  Recht  den  Salon  des  vorhergehenden  Jahres  angeben. 


FRÜHZEIT 


137 


zum  Vorschein.  Auch  das  Einzelporträt  gehört  fast 
immer  zu  derselben  Kategorie.  In  beiden  ist  eine 
beständige  Vergrößerung  des  rein  malerischen  Reizes 
deutlich.  Diese  Entwicklung  wird  durch  den  Kompo- 
sitionsmaler, das  Genre-  und  Figurenstück,  zuweilen  unter- 
brochen. Hier  kommt  die  der  Plastik  zugeneigte  Richtung 
zum  Wort.  Sie  deckt  sich  bezeichnenderweise  mit  dem, 
was  man  in  Courbet  tendenziös  nennen  kann.  Sie  kom- 
promittiert nicht  die  Kunst,  wie  bereits  betont  wurde  — 
der  Sozialismus  Courbets  ist  eine  Journalistenphrase  — 
sondern  fügt  ihr  rein  formale  Elemente  hinzu.  Der 
Hauptstrang  der  Geschichte  wird  dadurch  kompliziert 
und  viele  Bilder  erscheinen  infolgedessen  als  Übergangs- 
stufen. Wir  werden  sehen,  daß  schließlich  das  letzte 
Resultat  durch  die  Doppel-Tendenz  gewonnen  hat. 

Die  nach  Plastik  strebende  Periode  liegt  also  innerhalb 
der  malerischen.  Sie  umfaßt  zeitlich  so- getrennte  Werke 
wiedie„Cribleuses  de  ble"  des  Jahres  i854und  das  Gruppen- 
porträt Proudhons  aus  dem  Jahre  1865.  Es  wiederholt 
sich  hier  das  Lmgekehrte  der  Erscheinung,  die  wir  bei 
den  Portraits  Davids  und  zumal  Ingres'  beobachten,  die 
in  die  der  Plastik  zueilende  Ausdehnung  mehr  oder  weniger 
isolierte,  malerische  Tendenzen  hineintragen. 

Im  Beginn  malt  Courbet  mit  weichstem  Pinsel. 
„L'homme  blesse"  des  Louvre  und  die  ,,Amants  heureux", 
aus  1844/45,  der  „Homme  ä  la  pipe"  des  Museums  von 
Montpellier  und  viele  andere  Frühwerke  sind  von  zar- 
testem Auftrag.  Man  denkt  an  van  Dyck,  den  er  um 
diese  Zeit  kopierte,  und  an  gewisse  dem  Rubens  nahe- 
stehende Delacroix.  Unzweifelhaft  gab  ihm  der  große 
Romantiker  in  der  ersten  Zeit,  wie  die  Kopie  der  Dante- 
barke bezeugt.  Auch  in  manchen  Landschaften  findet 
man  denselben  Einfluß.  Delacroix'  „Park  von  Xohant"  der 
Sammlung  Cheramy,  der  1842  oder  1343  gemalt  wurde, 
gleicht  ganz  auffallend  der  Courbetschen  Waldlandschaft 


i38  COURBET 

derselben  Sammlung,  in  der  flachen  Art,  wie  das  Blätterwerk 
behandelt  ist.  Übrigens  hat  Delacroix  in  einzelnen,  seltenen 
Werken  oder  Fragmenten  auch  den  sogenannten  Realis- 
mus Courbets  gerechtfertigt.  Bilder  wie  das  merkwürdige 
Gesicht  der  alten  „Religieuse",  etwa  aus  dem  Jahre  1843, 
wie  die  „Katze"  oder  wie  das  Blumenstück  —  alle  bei 
Cheramy —  oder  wie  der  ,, Atelierwinkel"  bei  Henri  Rouart 
und  andere  Interieur -Skizzen  und  Stilleben  sind  von 
schärferer  Sachlichkeit,  fast  könnte  man  sagen,  Genauig- 
keit,  als   die  entsprechenden  Courbets  der  Frühzeit. 

Diese  weiche  Malerei  zieht  sich  in  den  folgenden  Jahren 
allmählich  zusammen,  und  dabei  hilft  ihm  der  Meister, 
der  von  allen  Zeitgenossen  offenbar  den  stärksten  Ein- 
fluß auf  ihn  ausübte:  Gericault.  Das  herrliche  Porträt 
Gericaults  in  dem  Saal  der  Bildnisse  des  Louvre,  das 
sein  Selbstporträt  sein  soll,  und  der  „Homme  ä  la  ceinture 
de  cuir",  im  oberen  Stockwerk,  das  beste  Frühporträt 
Courbets,  aus  dem  Jahre  1849,  sind  nahe  Verwandte.  Es 
ist  dieselbe  Generosität  in  der  Auffassung,  nicht  nur  in 
der  Pose;  eine  Noblesse  in  dem,  was  gezeigt  wird  und 
wie  es  gezeigt  wird,  in  der  man  ein  Selbstporträt  des 
Künstlers  erkennt,  auch  wenn  der  Dargestellte  eine  andere 
Person  wäre.  Alles  was  über  die  Roheit  und  Dummheit 
Courbets  geschrieben  wurde,  wird  vor  diesem  Bilde  zu 
nichte.  Wir  werden  sehen,  ob  er  später  den  Tadel  ver- 
dient. Damals  jedenfalls,  zur  Zeit  jenes  glorreichen  Selbst- 
porträts war  er,  was  jeder  Künstler  in  seiner  Kunst  sein 
muß,  ein  Edelmann.  Das  Bildnis  Gericaults  ist  noch  sub- 
jektiver als  das  Courbets.  Der  weiße  wolkige  Hintergrund 
gibt  mit  dem  fahlen  Ton  der  Gestalt  einen  ganz  einfachen, 
mächtigen  Akkord ;  auch  das  Format  ist  günstiger,  die  Breite 
tut  wohl.  Dem  Courbet  verleihen  die  meisterhaft  model- 
lierten Hände  eine  größere  Elastizität.  Aber  auch  hier  wird 
die  größere  Präzision  von  dem  wundervollen  dunklen  Ge- 
samtton gebändigt.     Noch  in   späten   Portraits  wie  dem 


FRÜHZEIT 


139 


schwarzen  Rochefort1)  bringt  dieselbe  dunkle  weiche  Mo- 
dellierung wahre  Wunder  der  Bildnismalerei   hervor. 

Noch  deutlicher  ist  die  Beziehung  zu  dem  bekannteren 
Genre  Gericaults,  zum  Schöpfer  des  prachtvollen 
„Carabiniers"  des  Louvre  usw.,  den  Bildern,  in  denen  der 
Pinsel  in  gewaltigen  Zügen  malt  und  nicht  mehr  des 
verhüllenden  Tones  bedarf,  um  Harmonien  zu  schaffen. 
Sie  begleitet  den  späteren  Courbet.  Vorher  müssen  wir 
der  mittleren  Periode  des  Künstlers  gedenken,  der  merk- 
würdigsten, in  der  er  die  Werke  schuf,  mit  denen  sein 
Name  für  alle  Zeiten  in  die  Geschichte  geschrieben  wurde. 

Die  Bilder  des  Jahres  1850  mögen  wie  ein  Kanonen- 
schuß gewirkt  haben.  Sie  sind  heute  noch  von  ganz 
verblüffender  Wirkung.  In  dem  Durchgangssaal  des 
Louvre,  in  dem  das  „Enterrement"  recht  miserabel  ver- 
kümmert, drückt  man  sich  an  der  gegenüberliegenden 
Wand  platt,  um  das  Maximum  von  Abstand  zu  gewinnen. 
Abstand  nicht  nur  von  dem  Riesenformat  mit  den  fünfzig 
lebensgroßen  Figuren,  von  der  riesigen  Landschaft,  deren 
graue  Felsenlinie  den  Hintergrund  wie  ein  natürlicher 
Zirkus  abschließt,  vielmehr  Abstand  von  der  Gewalt  des 
Ausdrucks.  Es  ist  eher  eine  Auferstehung  als  ein  Begräb- 
nis. Und  das  gilt  in  vielerlei  Sinn.  Einmal  kommt  hier 
zum  erstenmal  seit  dem  siebzehnten  Jahrhundert  ein  bür- 
gerliches Gruppenbild  wieder,  den  besten  Gemälden  solcher 
Art  von  Hals  und  Rembrandt  ebenbürtig  und  gleich  reich 
an  volkspsychologischen  Momenten,  deren  Gesamtheit  den 
Eindruck  einer  mehr  als  persönlichen  Aussprache  hervorruft. 
Zweitens  steht  hier  eine  den  größten  Malern  der  Ver- 
gangenheit ebenbürtige  Kunst  wieder  auf,  mit  allen  Reizen 
der  Altmeisterlichkeit  und  doch  durch  den  gebieterischen 
Ernst  des  Ganzen  dem  Liebhaberhaften  weit  entrückt. 
Es  gab  schon  zuzeiten  des  „Enterrement"  modernere 
Bilder,  will  sagen  Werke,   die  die  Eigentümlichkeiten  der 

*)  Hier  abgebildet. 


140 


COURBET 


Impressionisten  deutlicher  voraussagen,  undCourbet  selbst 
hat  bald  nachher  deren  eine  schöne  Anzahl  gemacht,  die 
viel  größeren  Einfluß  ausübten.  Es  gibt  kein  einziges  im 
ganzen  Jahrhundert,  das  mit  gleicher  Macht  den  Besitz  der 
alten  Kunstmittel  verrät  und  durch  die  Geschlossenheit 
dieses  Besitzes,  durch  das  höchst  Individuelle  der  Hand- 
habung überlieferter  Werte  ebenso  würdig  wirkt.  Gericaults 
,, Medusenfloß"  und  das,, Massacre  von  Chi  os"sindseine  Vor- 
gänger, nicht  Verwandte,  sondern  Partner.  Nachher  kommt 
im  ganzen  Jahrhundert  nur  nochmal  Manet  als  Schöpfer 
gleichbedeutender  Repräsentationsbilder  in  Frage.  Selbst 
in  dieser  aufs  Äußerste  beschränkten  Reihe  nimmt  das 
„Enterrement"  einen  hervorragenden  Platz  ein.  Es  fehlt 
ihm  der  besondere  Reiz  der  Gericault  und  Delacroix, 
schon  weil  ihm  jede  Beziehung  zum  klassischen  Element 
der  Franzosen  abgeht,  und  es  mangelt  der  besonderen 
Schönheit  der  Nachfolger,  weil  ihm  die  moderne  Kolo- 
ristik  verschlossen  ist.  Aber  während  die  anderen  diese 
Reize  nur  mit  einem  Verlust  aufwiegen,  der,  mag  er  uns 
auch  noch  so  unwesentlich  erscheinen,  ihnen  im  Ver- 
gleich zu  den  Alten  einen  Hauch  von  Decadence,  nennen 
wir  es  Unfertigkeit,  gibt,  steht  das  „Begräbnis"  in  einer 
gewissermaßen  zeitlich  begrenzten,  aber  innerhalb  dieser 
Grenzen  unübertrefflichen  Meisterschaft  vor  uns:  ein 
Stück  Malerei,  wie  es  sonst  unseren  Zeiten  versagt  ist. 

Es  bleibt  ein  unergründliches  Rätsel,  daß  gerade 
Courbet,  der  ,, Idiot",  diesen  Abschluß  vollbrachte;  daß 
er,  der  seiner  vermeintlichen  Gesittung  nach  durchaus 
primitiver  Autodidakt  sein  müßte,  in  diesem  Bilde  und 
in  allen  anderen  nicht  eine  Spur  davon  verrät;  daß  dem 
Bauer,  dem  Peintre-Bete,  eine  Evokation  edelster  Werte 
der  alten  Malerei  gelang.  Und  man  wird  sich  wohl  ent- 
schließen müssen,  diese  Epitheta   nicht  zu  eng  zu  nehmen. 

Was  mit  Courbet  vorgegangen  war,  als  er  an  das  Riesen- 
werk heranging,  können  wir  in  Ermangelung  jeder  halb- 


FRÜHZEIT  141 

wegs  verständigen  Biographie  nur  erraten.  Er  war  vorher, 
wie  wir  sahen,  in  den  Bahnen  van  Dycks.  Die  sieben 
Bilder  des  Salons  von  1849,  unter  denen  die  „Apres-diner 
ä  Omans"  mit  drei  lebensgroßen  Figuren  hervorragt, 
gehören  immer  noch  zur  ersten  Zeit,  wenn  sich  auch 
schon  in  ihnen  die  Folge  vorbereitet.  Das  „Begräbnis", 
das  mit  nicht  weniger  als  acht  anderen  Gemälden  im 
Salon  von  1850  erschien,  steht  ganz  auf  der  entgegen- 
gesetzten Seite.  Es  hat  fast  nichts  von  dem  Rubens- 
Kreise,  fast  alles  von  den  Spaniern  und  Franz  Hals.  Die 
Spanier,  von  denen  er  stets  begeistert  sprach,1)  müssen 
ihm  wie  eine  plötzliche  Offenbarung  erschienen  sein;  und 
zwar  nicht  nur  Velasquez,  fast  noch  eindringlicher  der 
lange  unterschätzte  Freund  des  großen  Bildnismalers : 
Zurbaran.  In  der  Landschaft,  zumal  in  dem  wundervoll 
eingehüllten  Gehöft  der  linken  Seite  ist  der  Velasquez 
der  Reitschulen,  der  Saujagd  und  ähnlicher  Werke  fast 
ungeändert  übertragen.  In  den  Figuren  dagegen  mischt 
sich  das  spanische  und  nordische  Element  auf  wunder- 
bare Art,  und  zwar  rückt  an  die  Stelle  des  spanischen 
Tonmalers  der  spanische  Kolorist.  Man  sollte  meinen, 
Courbet  habe  Zurbarans  vier  Darstellungen  aus  dem 
Leben  des  hl.  Bonaventura  gesehen,  die  bis  in  den 
fünfziger  Jahren  bei  Soult  in  Paris  zusammen  waren, 
und  von  denen  jetzt  zwei  imLouvre,  je  eins  in  der  Dres- 
dener und  der  Berliner  Galerie  hängen.  Auch  die  einstige 
Sammlung  Louis  Philippes  im  Louvre  besaß  damals  noch 
den  Meister,  nämlich  die  beiden  Londoner  Bilder.  Am 
genauesten  hat  Courbet  offenbar  Zurbarans  schönstes 
Werk  in  unseren  Breiten,  die  „Aufbahrung  des  Bischofs", 
im  Louvre,  studiert.  Die  Ähnlichkeit  mancher  und 
zwar  der  kostbarsten  Details,  zumal  auf  der  linken  Hälfte 


*)  In  der  bereits  zitierten  Unterhaltung  mit  Silvestre  sagte  er: 
„Ribera,  Zurbaran  et  surtout  Velasquez,  je  les  admire;  Ostade  et  Craes- 
beeck  mc  seduisent  entre  tous  les   Hollandais  et  je  venere  Holbein. •• 


i42  COURBET 

des  „Begräbnisses",  springt  in  die  Augen.  Der  Chorknabe 
vorn  im  weißen  Gewand  mit  dem  vom  roten  Käppi  be- 
deckten, rabenschwarzen  Haar  und  den  leuchtenden  Augen 
ist  als  Malerei  mit  dem  Jungen,  der  auf  dem  Zurbaran 
zu  Häupten  des  Bischofs  steht,  identisch.  Es  ist  dieselbe 
ganz  enthüllte  Pracht,  durch  die  sich  der  spanische 
Kolorist  von  seinem  verschwiegeneren  Landsmann  unter- 
scheidet, von  einer  Harmonie,  die  weniger  von  der  Selten- 
heit der  Farbe,  als  der  fabelhaften  Abgewogenheit  des 
unvermischten  Schwarz,  Weiß,  Rot  und  des  Gelbs  des 
Weihkessels  herkommt,  von  einem  kühlen  Leuchten,  das 
wie  der  Blick  aus  großen,  dunkelumschatteten  Augen 
berührt.  Dabei  vergaß  Courbet  nicht,  was  in  Zurbaran 
von  Caravaggio  steckt;1)  die  großen  weißen  Tücher  der 
Sargträger,  deren  stolze,  spanische  Allüre  das  Bild 
nach  links  abschließt,  leuchten  wie  die  Gesichter  des 
Italieners. 

Diese  unverhohlene  Verwendung  der  Spanier  scheidet 
Courbet  von  der  Schule  von  Barbizon.  Sie  läßt  ihn 
wie  den  Menschen  einer  anderen  Rasse  erscheinen. 
Man  kann  nicht  die  Entdeckung  Spaniens  auf  ihn  zu- 
rückführen, denn  vor  ihm  hatte  Daumier  einen  Blick 
in  die  von  Goya  beschlossene  Kunst  getan,  und  es 
scheint  mir  wahrscheinlich,  daß  noch  früher  die  per- 
sönliche Anwesenheit  Goyas  in  Frankreich,  wenn  auch 
Bordeaux  weitab  von  Paris  liegt,  gewisse  Berührungen 
mit  der  französischen  Kunst  zur  Folge  hatte.  Gericault 
hat  Goyas  Bilder  genau  gekannt,  Delacroix  besaß  in  den 
zwanziger  Jahren  ein  Bild  des  Meisters  der  Maja  in  seinem 
Atelier  und  ^sprach  sich  wiederholt  begeistert  über  ihn 
aus.  Als  er  1832  nach  Spanien  reiste,  war  es  wiederum 
Goya,  der  ihn  am  meisten  beschäftigte.    Aber  alle   diese 

J)  Auf  die  Parallele  Courbet-Caravaggio,  in  Hinblick  auf  den  Realis- 
mus und  das  ähnliche  Verhalten  des  Publikums  gegen  beide  Künstler, 
hat  Muther  hingewiesen.  (Geschichte  der  Malerei  im  19.  Jahrhundert, 
II  438  und  449). 


FRÜHZEIT  143 

Beziehungen  gehen  nicht  über  Nuancen  hinaus.  Courbet 
brachte  die  Entscheidung,  indem  er  aus  der  resoluten 
Aneignung  der  Spanier  den  Schlüssel  einer  neuen  und 
reichen  Entwicklung  gewann. 

Man  erkennt  aus  solchen  Zügen  der  Geschichte  immer 
wieder  die  Beschränktheit  der  gewohnten  Auffassung  von 
der  Persönlichkeit.  Ohne  Spanien  wäre  Courbet,  dieser 
Revolutionär,  in  dem  die  Zeitgenossen  nur  den  Um- 
stürzler, viele  einen  Feind  der  Kunst  sahen,  undenkbar, 
und  ebensowenig  wäre  die  Errungenschaft  der  Impres- 
sionisten, die  sich  auf  Courbet  aufbauen,  möglich.  Die 
Anlehnung  schmälerte  nicht  nur  nicht  seine  Persön- 
lichkeit, sie  brachte  seinen  Wert  zur  Erscheinung,  be- 
reitete das  typisch  Courbethafte  vor.  Sie  machte 
just  das  aus  ihm,  was  seine  Zeit  über  dem  Realismus 
übersah,  den  höchst  subjektiven  Künstler.  Freilich  blieb 
er  nicht  bei  der  Entdeckung  stehen.  Er  eroberte,  um 
zu  besitzen.  Um  das  eine  zu  haben,  tat  er  noch  man- 
ches andere  dazu.  Nicht  willkürlich,  er  fand  genau  das 
Amalgam,  das  er  brauchen  konnte.  Er  schöpfte  es  nicht 
nur  aus  dem  eigenen  Besitz,  sondern  griff  wiederum  zu 
überlieferten  Werten.  Solange,  bis  eine  neue  Einheit, 
der  reife  Courbet,   daraus  wurde. 

Darin  liegt  der  Fortschritt,  den  Duret  vermißte.  Es 
ist  die  Art,  wie  alle  Kunstwerte  entstehen.  Man  braucht 
nur  zu  verfolgen,  wie  sich  in  Courbet  das  Spanische, 
das  im  „Enterrement"  noch  verhältnismäßig  unver-  ! 
mengt  sichtbar  bleibt,  später  zu  einem  immer  organi- 
scheren, um  nicht  zu  sagen,  persönlicheren  Mittel  zu- 
sammenzieht, um  eine  das  ganze  Leben  des  scheinbar  ziel- 
losen  Künstlers  ausfüllende  Kunstgeschichte  zu  finden. 

Mit  dem  Spanischen  vereinigt  sich  die  Energie  des 
Franz  Hals.  Die  Kombination  ist  nicht  auffallender  als 
die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  jungen  Mann  mit  dem 
Federbarett  auf  dem  berühmten  Spielerbild  Caravaggios 


i44 


COURBET 


in  Dresden  und  gewissen,  lose  gemalten  Köpfen  des 
Meisters  von  Haarlem.  Die  Beziehung  zu  Hals  ist  freier 
als  die  zu  den  Spaniern.  Man  möchte  den  Geist  der 
ganzen  Gruppe  des  „Begräbnisses"  halsisch  nennen,  das 
strotzende  Leben  der  Menschen  mit  den  urkräftigen  Ge- 
sichtern und  die  Sachlichkeit,  mit  der  es  gemalt  ist; 
auch  die  übertriebene  Verwendung  des  Schwarz,  das 
ganz  wie  bei  gewissen  Hals  vergeblich  versucht,  die 
Energie  der  Zeichnung  zu  töten.  Jeder  Kopf  ist  Por- 
trät, und  nicht  nur  jeder  Kopf,  jede  Gestalt,  jede 
der  unendlich  mannigfachen  Posen.  Im  Porträt  ist 
Courbet  auch  später  kaum  wesentlich  über  die  Kunst 
des  „Enterrement"  hinausgegangen.  Der  Kopf  Corbinauds 
aus  1863,  den  Duret  besitzt,  und  viele  Portraits  der 
sechziger  Jahre  haben  dieselbe  in  rötlichen  Ton  ge- 
tauchte Materie,  deren  spiegelglatte  Fläche  man  mit  der 
Hand  streicheln  möchte,  und  dieselbe  unerschütterliche 
Naturtreue  der  Darstellung.  Man  nannte  dies  damals 
Realismus  und  schimpfte  auf  die  Häßlichkeit  der  Wahr- 
heit. Die  wenigen  Freunde,  wie  Champfleury,  den 
Courbet  1854  m  dem  meisterhaften  Louvre-Porträt  ver- 
ewigte, begnügten  sich,  den  Realismus  zu  verteidigen, 
schoben  die  Schuld  auf  die  Modelle  des  Künstlers,  auf 
die  allgemeine  und  besondere  Häßlichkeit  der  Welt,  für 
die  ein  ehrlicher  Künstler  nicht  verantwortlich  gemacht 
werden  könnte,  d.  h.  begingen  dieselbe  oder  eine  noch 
größere  Willkür  wie  die  Gegner.  Niemand  sah  die  Kunst 
aus  dieser  Naturtreue;  niemand  nahm  den  nötigen  Ab- 
stand von  dem  Werke,  um  den  Einheitsgedanken  der 
Riesenfläche  in  sich  aufzunehmen.  Was  man  Courbet 
vorwarf,  die  Beschränkung  der  Auffassung  auf  die  dem 
Auge  dargebotene  Einzelheit  der  Natur,  beging  in  Wirk- 
lichkeit jeder  Betrachter  des  Bildes,  der  darauf  ausging, 
die  Disharmonien  aus  dem  Ganzen  herauszulesen.  Man 
vergaß,  daß  ein  so  großes  Orchester  starker  Motive  zur 


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Photo  Drrrand-Bae]  et  tils,  Paris. 


FRÜHZEIT  145 

Belebung  bedarf,  und  daß  selbst  die  Karikatur,  und  sei 
sie  beißende  Lauge,  zur  Bereicherung  der  Materie  bei- 
trägt.   Man    übersah  die   Hauptsache:    den   Stil. 

Was  den  Stil  des  „Begräbnisses"  ausmacht,  ist  mit  Worten 
ungemein  schwer  zu  sagen.  Hier  liegt  das  Neuzeitliche 
des  Bildes,  das,  was  Courbet  Franz  Hals  und  den  Spaniern 
hinzufügt,  die  Berechtigung  für  seine  Verwendung  der 
Alten,  sein  Werk.  Es  wurde  damals  nicht  als  Stil  er- 
kannt, weil  ihm  die  Form  gewohnter  Stile  abging,  so- 
viel auch  vom  alten  darin  war.  Stil  ist  Verbindung. 
Man  schätzte  diesen  Begriff  im  Jahre  1850  zumal  als 
eine  Verbindung  von  Linien,  namentlich  solcher,  die  das 
Schöne  des  klassischen  Zeitalters  umschrieben,  und  achtete 
Delacroix,  weil  man  in  seinen  Bildern  dieses  Linienspiel 
unter  leuchtenden  Flächen  ahnte.  Corot,  nicht  der 
Schwärmer,  sondern  der  große  Kolorist,  Rousseau  und 
Daubigny  wurden,  weil  sie  auf  der  anderen  Seite  standen, 
nur  geduldet;  das  Idyllische  ihrer  Bilder  forderte  nicht 
die  erboste  Abwehr  heraus.  Der  Stil  Courbets  war  den 
verzärtlichten  Augen  der  Pariser  eine  Beleidigung.  Seine 
\\  irkung  trieb  die  Abneigung  gegen  den  Naturalismus  nur 
noch  auf  den  Gipfel.  Weil  er  formulierte,  bestätigte  er 
die  Leute  in  dem  Glauben,  es  hier  mit  einer  Formulierung 
des  Häßlichen  zu  tun  zu  haben. 

Courbets  Stilbildung  beginnt  in  der  Frühzeit  und  endet  in 
den  letzten  bedeutenden  Werken.  Sie  ist  nicht  nur  bedeut- 
sam für  seine  Geschichte,  sondern  von  unübersehbarer 
Wichtigkeit  für  die  ganze  moderne  Malerei.  Sie  besteht  nicht 
in  einer  Modifikation  einer  Einzelheit,  sondern  in  der  fort- 
,  schreitenden  Veränderung  seiner  ganzen  Anschauung  und 
infolgedessen  jedes  seiner  Mittel.  Das, .Begräbnis"  bildet  eine 
der  ersten  Stationen  dieses  höchst  verschlungenen  Weges. 
Sein  Stil  liegt  weniger  in  den  außerordentlich  mannig- 
fachen Elementen  —  wenn  auch  das  genauer  hinsehende 
Auge  in  ihnen  viele  höchst  bewußte  Stilmittel  findet,  die 


146  COURBET 

sich  nur  zum  Schein  unter  dem  Zufall  verbergen  —  als 
in  der  summarischen  Verwendung  der  Elemente.  Einmal 
in  der  Einteilung  der  ganzen  Gruppe,  die,  so  authentisch 
sie  wirkt,  die  vielen  Gesichter  so  hinstellt,  daß  sie  die 
denkbar  größte  Abwechslung  und  daraus  einen  unkon- 
trollierbaren, aber  wirksamen  Rhythmus  bilden.  Daß 
das  möglich  ist,  hat  schon  Hals  in  seinen  großen  Schützen- 
stücken bewiesen.  Insbesondere  stilisiert  die  Koloristik.  Hier 
scheidet  sich  Courbet  von  Zurbaran,  der  vor  allem  an  Prunk 
dachte,  als  er  mit  seinen  Farben  die  großen  Flächen  des 
Louvrebildes  scheinbar  noch  weiter  ausdehnte.  Courbet 
zieht  die  seinen  zusammen.  Das  ganze  Bild  istauf  denHaupt- 
kontrast  von  Rot  und  Schwarz  vor  dem  Velazquez-Hinter- 
grund  gebaut.  Das  Rot  ist  flüssig  wie  Blut.  Es  strömt 
aus  dem  Fleisch  und  schwebt  über  den  schwarzen  Ge- 
stalten wie  ein  Symbol  des  Lebens  über  dem  Grabe. 
Denn  es  unterstreicht  das  psychologische  Moment  des 
Bildes,  den  Kontrast  zwischen  der  Trauer  dieser  Leute 
und  ihrer  aus  allen  Gesichtern  sprechenden  Lebendigkeit. 
Diese  Lebendigkeit  wird  durch  das  Rot  erhöht,  gleich- 
zeitig aber  nicht  ins  Dramatische,  sondern  in  das  Monu- 
mentale vergrößert.  Die  über  die  Gesichter  gegossene 
gleiche  Röte  mildert  das  lebhafte  Detail  der  Physio- 
gnomien, nimmt  ihnen  das  Genrehafte  und  läßt  das  Be- 
wegliche nur  der  Fläche  zugute  kommen.  Am  stärksten  ist 
sie  in  den  beiden  Vorsängern  hinter  dem  knieenden  Toten- 
gräber. Ihre  Alkoholgesichter  unter  dem  merkwürdigen^ 
wie  Hahnenkämme  leuchtenden  Kopfputz  wärmen  das 
ganze  Bild. 

Die  Zeit  hat  wie  bei  allen  Courbets  und  wie  bei  allen 
alten  Meistern  die  Farben  veredelt  und  zu  dem  Gesamtton 
nicht  wenig  beigetragen.  In  der  rechten  Hälfte  hat  das 
Schwarz  geschadet.  Man  muß  sich  die  Frauengruppe 
verhältnismäßig  so  reich  denken  wie  den  ., Garde  cham- 
petre",   der  davorsteht,    im    grauen   Frack   auf    rötlicher 


FRÜHZEIT  1+7 

Weste,  in  Kniehosen  aus  Orange  auf  blaugrauen  Strümpfen. 
Die  dunklen  Olivtöne  der  Frauengewänder  sind  alle  schwarz 
geworden.  Der  Louvre  täte  ein  gutes  Werk,  wenn  er  sie 
wieder  hervorholte. 

Man  kann  gegen  das  „Begräbnis"  einwenden,  was  von 
allen  großen  Repräsentationsbildern  des  19.  Jahrhunderts 
gilt;  es  ist  verhältnismäßig  wenig  repräsentativ  für  den 
Autor.  Die  Wirkung  des  Gemäldes  auf  Publikum  und 
Kollegen,  die  beispiellos  war,  kam  vom  Gegenstande 
her.  Das  Wagnis,  ein  richtiges  Begräbnis  darzustellen, 
nicht  mit  sentimentalen  Posen,  sondern  mit  dem  un- 
abwendbar idiotischen  Ausdruck  der  Gesichter  bei  solchen 
Gelegenheiten,  noch  dazu  mit  Portraits  höchst  gleich- 
gültiger Leute,  überstieg  das  viel  größere  Wagnis,  solche 
Momentdarstellungen  mit  Hilfe  der  alten  Meister  fertig 
zu  bringen.  Der  Vorwurf  gegen  den  ungebildeten  Idioten 
könnte  sich  in  die  Verurteilung  eines  nur  zu  weisen 
Eklektikers  umkehren.  Doch  wäre  das  eine  nicht  ge- 
rechter als  das  andere,  und  solche  Anschauung  müßte, 
wenn  sie  konsequent  sein  wollte,  dann  auch  die  erha- 
bensten Werke  der  Zeitgenossen  ebensoviel  tiefer  hängen. 
Der  kleine  „Christ  im  Olivengarten"  sagt  mehr  von  Dela- 
croix'  eigenster  Meisterschaft  als  das  „Massacre  von  Chios"; 
der  „Carabinier"  bedeutet  fürGericault  mehr  als  das  „Me- 
dusenfloß", und  ein  Blumenbukett  aus  Manets  Spätzeit  ist 
origineller  als  seine  „Olympia".  Aber  was  wir  repräsentativ 
nenrsen,  umschließt  ja  gerade  das  Zurückgedrängte  der 
Eigenart  des  einzelnen  zugunsten  einer  Vielheit,  die  der 
Darstellung  wert  ist.  Wir  sehen  mehr  darin  als  eine  Ent- 
wicklungsphase des  Künstlers.  In  solchen  Bildern  wird 
das  Gefäß  für  eine  ganze  Epoche  gewonnen;  das  Maß 
nicht  für  den  Grad  des  Artistischen  allein,  sondern  auch 
für  die  Generosität,  die  Leidenschaft,  die  Gesittung  einer 
Zeit.  Das  Volumen  ist  zu  groß,  als  daß  es  die  feinen 
Rippen   der  bis  ins   kleinste  gehenden  Individualisierung 


i48  .  COURBET 

zeigen  könnte,  die  uns  an  den  typischsten  Werken 
unserer  Meister  begeistert.  Die  Kunst  erobert  sich  in 
solchen  Augenblicken  scheinbar  das  Recht  zurück,  zum 
Volke  zu  sprechen,  und  in  der  Schönheit  dieses  Glaubens 
findet  auch  der  Liebhaber  der  Kunst  seine  stille  Freude. 


3* 


~:-l 


_  a 


L' ATELIER  DE  COURBET,  1885.     3,50X6,00. 
Sammlung  Mme.  Desfosses,  Paris. 


VOM   „BEGRÄBNIS   VON   ORNANS"   ZUM 
„ATELIER". 

Das  „Begräbnis  vonOrnans"ist  nicht  das  umfangreichste 
Gemälde;  der  „Combat  de  cerfs"  ist  größer,  das 
„Atelier"  mit  dreieinhalb  zu  sechs  Metern  dürfte  das 
größte  sein.  Diese  Werke  stehen  nicht  allein.  Es  gibt 
Dutzende  von  großen  Formaten,  wenn  sie  auch  nicht 
an  die  genannten  drei  heranreichen.  Die  verhältnismäßig 
große    Fläche    war    dem    Meister    natürlich. 

Diese  Vorliebe  unterscheidet  Courbet  von  seinen  Zeit- 
genossen seit  Delacroix  und  wäre  allein  schon  geeignet 
gewesen,  den  Gegnern  seines  Realismus  zu  denken  zu 
geben.  Sie  ist  mit  ein  Grund  seiner  Unpopularität.  Der 
französische  Amateur  will  das  Bild  in  die  Hand  nehmen 
können,  und  die  Gestelle  der  Händler  in  der  Rue  Laffitte 
sind  für  bescheidene  Größen  berechnet.  Je  mehr  man 
draußen  vor  der  Natur  malt,  desto  mehr  gewöhnt  sich 
der  Künstler  an  bequemes  Handwerkszeug.  Bei  den 
Engländern  und  zumal  den  Deutschen  ist  es  anders.  Con- 


i52  COURBET 

stable  dort,  hier  Leibl  und  Liebermann  werden  der  kleinen 
Rahmen  wegen  vom  Laien  gering  geschätzt.  Zu  dem  rich- 
tigen englischen  Academy-Schlager  gehört  ein  zärtliches, 
aber  bekleidetes  Paar,  zu  dem  richtigen  deutschen  Aus- 
stellungserfolg ein  nacktes :  Adam  und  Eva.  Beide  Paare 
ergehen  sich  mit  Vorliebe  in  großen  Dimensionen,  aber 
bleiben  immer  nur  kleine  Faits  divers. 

Wer  mit  lebensgroßen  Figuren  wirtschaften,  weite 
Flächen  beleben  will,  muß  notwendig  Monumental- 
künstler werden.  Tatsächlich  war  das  ,, Begräbnis  von 
Omans"  die  Lösung  eines  Monumental-Problems,  eines 
der  vielen,  die  dem  Meister  geglückt  sind.  Aus  der  langen 
Reihe  von  Menschen  löst  sich  ein  gemeinsamer  großer 
Zug.  In  den  „Steinklopfern"  desselben  Salons,  heute  in 
der  Dresdener  Galerie,  brachte  Courbet  diesen  Zug  in 
eine  konzentriertere  Form  geringeren  Umfangs  und  zeigte, 
wie  differenziert  er  seine  Monumentalität  vorhatte. 

Darauf  kommt  alles  an.  Stil  ist  wie  geprägtes  Metall. 
Der  eine  hat  die  ganze  Tasche  voll  großer,  dicker  Kupfer- 
münzen, das  Gewicht  ist  beträchtlich,  die  Tasche  bläht 
sich.  Der  andere  trägt  dieselbe  Anzahl  Stücke  in  Gold 
und  schreitet  leicht  mit  dem  tausendmal  reicheren  Schatz. 
Wir  leben  in  der  Kunst  im  Zeichen  der  Kupferwährung. 
Viel  Scheidemünze,  kleine  Beträge.  Die  paar  Goldstücke 
verschwinden  unter  dem  Haufen  von  Kleingeld.  Alles 
ist  Stil.  Das  eine  wie  das  andere  klingt  in  der  Tasche, 
ja  der  Kurant  macht  den  meisten  Skandal.  Der  Fall 
Courbet  beruht  auf  der  Anomalie,  daß  es  ihm  einfiel, 
seine  Taschen  mit  Massen  von  Goldstücken  zu  füllen 
und  damit  so  umzugehen,  als  wäre  es  lauter  Kupfer. 
Daß  ihn  die  Menschen  infolgedessen  für  einen  Falsch- 
münzer hielten,  versteht   sich   fast   von   selbst. 

Wäre  es  so  schwer  gewesen,  aus  der  Form  der  „Stein- 
klopfer" einen  leicht  lesbaren  Stil  zu  machen?  Heute 
kann  das  jeder  bessere  Kommis  eines  Möbelladens.     War 


VOM  ..BEGRÄBNIS   VON  ORNANS"  ZUM  ..ATELIER"    153 

es  damals  schwerer?  Die  Engländer,  denen  naive  Kritiker 
die  Herkunft  von  Courbet  nachrühmten,  zeigten  das 
Gegenteil.  Ein  Geschickterer  hätte  z.  B.  den  Jungen, 
der  die  Steine  wegträgt,  schematischer  zu  dem  Klopfer 
gestellt,  vielleicht  gar  in  Parallelen,  und  hätte  womöglich 
noch  drei  andere  Arbeiter  in  kongruenten  Posen  daneben 
gesetzt  und  sich  dann  eingebildet,  die  Agineten  zu  über- 
treffen. Courbet  malte  seine  Gestalten  so  stark  wie 
möglich,  zeigte  aber,  daß  es  ihm  nicht  auf  die  Linie  an- 
kam, sondern  auf  die  Fläche,  und  nicht  nur  auf  Fläche, 
sondern  auch  auf  Tiefenwirkung.  Und  das  war  keine 
fixe  Idee  bei  ihm,  sondern  die  Sehnsucht  nach  Reichtum, 
nach  größerer  Macht,  und  —  das  Bewußtsein,  so  wirken  zu 
können.  Millet  war  bescheidener.  Die  Ehrfurcht,  die 
wir  ihm  entgegenbringen,  hindert  uns  nicht,  in  ihm  eine 
leichtere  Schreibart  zu  erkennen,  wohl  angemessen  seiner 
Persönlichkeit  und  von  nicht  geringerer  Ehrlichkeit,  von 
großem  Reiz,  nicht  von  derselben  Stärke.  Er  hat  nie  so 
gewaltig  gemalt  wie  Courbet  in  jenem  der  Milletschen 
Formenwelt  nahestehenden  Gemälde.  Man  kann  an- 
nehmen, daß  Courbet  den  beginnenden  Millet  mit  In- 
teresse verfolgte.  Obwohl  dieser  fünf  Jahre  älter  war,  ist 
ihr  Start  fast  gleichzeitig.  Courbets  erste  Landschaften 
sind  aus  184.1.  Was  Millet  vor  diesem  Jahre  gemacht 
hat,  kommt  nicht  in  Frage.  Ja,  rechnet  man  als  Start 
das  erste  bedeutende  Bild,  so  ist  Courbet  früher,  denn 
als  er  seine  ersten  Portraits  malte,  stellte  Millet  die  „Laitiere" 
im  Salon  aus,  die  Bürger  Thore  freundlich  genug  war, 
„une  jolie  esquisse  dans  le  goüt  de  Boucher"  zu  nennen. 
Die  „Steinklopfer"  entstehen  nach  Millets  „Vanneur"  von 
1848  und  gleichzeitig  mit  dem  „Semeur"  von  1850.  Selbst 
wenn  Courbet  aus  diesen  Bildern  eine  ganz  äußerliche 
Anregung  gewonnen  haben  sollte,  berechtigt  nichts  zu 
der  von  der  Kunstliteratur  verbreiteten  Annahme  einer 
Abhängigkeit.     Man  könnte  mit  demselben,  vielleicht  so- 


15+ 


COURBET 


gar  mit  mehr  Recht,  annehmen,  daß  Millet  unter  dem 
Einflüsse  Courbets  war,  als  er  später,  während  des  Kriegs- 
jahres, mit  den  merkwürdigen  Cherbourger  Marinen  in 
das  Gebiet  des  Jüngeren  übergriff.1) 

Denn  in  Wirklichkeit  ist  zwischen  den  Bildern  beider 
Meister  nicht  mehr  Ähnlichkeit  als  zwischen  zwei  beliebigen 
Menschen,  denen  man  im  selben  Saale  begegnet.  Ich 
habe  an  anderer  Stelle  Millets  Verwandtschaft  mit  Dau- 
mier  und  seine  klassische  Herkunft  gezeigt.  Er  war 
durchaus  Programmaler  im  Gegensatz  zu  Courbet,  von 
dessen  Programm  alle  Welt  und  er  selber  faselte,  sprach  mit 
größter  Bestimmtheit  seinen  Drang  nach  Synthese  aus  und 
verfolgte  dieses  Ziel  vom  „Vanneur"  an  in  allen  Werken. 
Courbets  Synthese  besteht  erst  heute^  wo  wir  den  ganzen 
Menschen  und  sein  Gefolge  überblicken  ^ulicT^erkehnen, 
was  ihm  selbst  unbewußt  bHerü  Sie  trieb" ihn  so  gutfwie 
Millet,  ^ja  mächtiger  als  Millet,  aber  blieb  im  Instinkt, 
war  deshalb  so  mächtig  und  —  so  ungeschickt.  In  Mil- 
let kam  eine  harmonischere  Persönlichkeit  begrenzteren 
Gaben  zu  Hilfe.  Courbet  wurde  von  seinem  unge- 
zügelten Temperament  in  alle  Richtungen  getrieben, 
auch  dahin,  wo  Millet  stand,  aber  es  ist  nur  eine  Seite 
von  vielen,  und  er  beherrschte  sie,  wie  er  jede  beherrscht 
hat.  Millet  war  immer  derselbe  und  schwankte,  sobald 
er  von  der  engen  Bahn  wich.  Er  übertrug  eine  schöne 
Formel  auf  viele  Dinge;  seine  Bilder  unterscheiden  sich 
untereinander  mehr  durch  die  Symbolik  als  durch  das 
malerische  Mittel,  das  er  von  den  Alten  nahm  und,  ohne 
es  weiter  zu  bilden,  reduzierte.  Er  ist  daher  in  einem  viel 
konventionelleren  Sinne  monumental  als  sein  Landsmann. 
In  einem  wesentlich  schwächeren,  sowohl  quantitativ  wie 
qualitativ  beschränkteren,  muß  man  hinzufügen.  Er  hat 
nie    ohne    empfindliche    Einbuße   versucht,    die    schöne 

J)  Vgl.  z.  B.  die  Marine  Millet's  im  Stockholmer  Museum    (No.  588, 
Sammlung  Heilborn). 


VOM   „BEGRÄBNIS  VON  ORXAXS"  ZUM  „ATELIER"    155 

Kunst  seiner  kleinen  Bilder,  seiner  wirklichen  Perlen, 
in  großen  Maßstab  zu  übertragen.  Der  „Angelus"  steht 
unter  jedem  mäßigen  Bilde  Courbets,  und  der  räumlich 
größte  Versuch  Millets  einer  weit  sichtbaren  Monumental- 
wirkung, das  Riesenbild  ,,Hagar  und  Ismael"  im  Medag- 
Museum  des  Haags,  ist  ganz  verunglückt.  Es  fehlt  hier 
und  in  vielen  anderen  Bildern  Millets  das  schlechter- 
dings Wesentliche,  die  Beherrschung  des  Malerischen. 
Damit  deckt  sich,  daß  Millet  mit  der  linearen  Zeichnung 
einen  sehr  großen  Teil  seines  Wesens  zu  äußern  ver- 
mochte, während  Courbet  ohne  Farbe  und  Pinsel  ein 
Mensch  ohne  Glieder  gewesen  wäre.  Von  den  „Stein- 
klopfern" oder  dem  „Begräbnis",  geschweige  von  den  spä- 
teren Werken,  könnte  auch  die  genialste  Kohlenzeich- 
nung keinen  Begriff  geben.  Sie  sind  ihrer  ganzen,  höchst 
komplexen  Natur   nach   nur    als    Malerei   möglich. 

Dieser  Unterschied  könnte  nur  gewerblicher  Art, 
Millet  ebenso  großer  Zeichner  als  Courbet  Maler  sein. 
Aber  die  Gerechtigkeit  gegen  unseren  Meister  verlangt, 
die  Verschiedenheit  der  Potenzen  beider  zu  erkennen. 
Der  Stil  in  Millet,  ob  mit  dem  Bleistift  oder  dem  Pinsel 
hervorgebracht,  ist  fester  als  Millet  selbst,  und  darin 
liegt  die  Beschränkung  der  Persönlichkeit.  Der  Künstler 
behielt  nichts  außer  einer  einseitigen  Form  übrig,  die  sein 
Wesen  wohl  auslöst,  gleichzeitig  aber  auch  seine  engen 
Grenzen  sehen  läßt,  da  er  nicht  imstande  ist,  die  Form 
flüssig,  d.  i.  ausdehnbar  zu  erhalten.  Er  ist  fertig,  so- 
bald er  das  erste  Mal  die  ihm  angepaßte  Form  trifft, 
und  spielt  nachher  mehr  die  Stelle  eines  Handwerkers 
seiner  Erfindung  als  die  eines  Genies.  Courbet  dagegen 
ist  mit  keinem  Werke  vollkommen  zu  identifizieren.  Er 
erfindet,  bis  er  abtritt.  D.  h.,  der  Unterschied  zwischen 
Courbet  und  Millet  deckt  sich  mit  dem  Unterschied 
7.  wischen  Genie  und  Talent,  auch  wenn  zugegeben 
werden  muß,   daß  Millet  den  Begriff  Talent  in  ungemein 


156  COURBET 

reichem  Maße  ausfüllt,  während  Courbet  vielleicht  manche 
Forderungen  an  das  Genie  schuldig  bleibt.  Millet  ver- 
1  suchte  den  Mangel  durch  eine  sehr  vornehm  gehand- 
habte literarische  Tendenz  zu  ersetzen,  und  der  Ersatz 
hat  ihm  nach  dem  Tode  eine  Herde  sentimentaler  An- 
hänger und  Nachfolger  gebracht.  Die  wenigen  großen 
Künstler,  die  den  unvergänglichen  Teil  Millets  weiter 
ausgebaut  haben,  verschwinden  in  der  Masse.  Man 
kann  auch  hier  wieder  einmal,  ohne  MilletsGröße  zu  verken- 
nen, leicht  verfolgen,  daß  die  Betonung  des  Gedanklichen 
ein  Hilfsmittel  war,  um  Schwächen  des  Künstlers  zu 
verdecken.  Courbet  hat  man  aus  dem  Verzicht  auf  die 
gleiche  Hilfe  unberechtigte   Vorwürfe  gemacht. 

Millet  trug  in  die  Atmosphäre  der  Holländer  und 
Spanier  starke  Linien  hinein,  Courbet  trachtete,  plastische 
Körper  hineinzustellen  d.  h.  die  Resultate  der  alten  Kunst 
mit  denen  der  neuen  zu  vereinen.  Bei  der  Vehemenz, 
mit  der  er  vorging,  mußte  er  dabei  auf  schlechterdings 
unrealisierbare  Aufgaben  geraten.  Hier  liegt  das  Proble- 
matische seiner  Kunst.  Als  Landschafter  war  er  durch- 
aus Flächenmaler,  identifizierte  sich  zuerst  mit  Velaz- 
quez,  machte  die  Landschaft  dann  immer  mächtiger  an 
Ton  und  Farbe,  malte  sie  mit  einem  von  keiner  Reflexion 
gehemmten  Temperament,  wie  Hals  seine  Menschen 
malte:  nur  Materie,  nur  Farbe  und  Pinsel,  nur  Fläche. 
Das  genügte  ihm  nicht.  Seine  Rhetorik  verlangte  eine 
Personifikation;  nicht  die  des  Genrebildes,  dafür  war  er 
zu  durchdrungen  von  den  alten  Meistern  und  zu  ehrlich; 
aber  mindestens  die  bedeutsame  Gegenwart  des  Menschen 
und  des  Tiers  in  der  Landschaft.  Da  er  nun  von  Jugend 
auf  dem  Menschen  als  sachlicher  Porträtist  gegenüberstand, 
mußte  bei  der  Kombination  beider  Gebiete  um  so  leichter 
eine  Differenz  entstehen,  als  sich  beide  Stoffe  nicht  in  der 
ihm  geeignet  scheinenden  Weise  vereint  in  der  Natur 
fanden.     In   dem   „Begräbnis"   und   den  ,, Steinklopfern" 


VOM  „BEGRÄBNIS   VON"  ORNANS"  ZUM  „ATELIER"    157 

tritt  diese  Differenz  noch  nicht  hervor.  Er  hatte  beide  Male 
glückliche  Eingebungen,  Format  und  Farbe  halfen  ihm, 
nicht  ohne  daß  das  vermittelnde  Schwarz  die  Lösung 
übereilte.  Courbet  sah  die  verheerende  Rolle  des  Asphalts 
und  war  allen  Kompromissen  zu  abgeneigt,  um  sich  mit 
diesen  Notbehelfen  zu  begnügen.  Sobald  er  aber  an  den  Er- 
satz durch  solidere  Farben  heranging,  oder  versuchte,  den 
Schatten  wirksam  zu  machen,  mußte  das  Problem  in  aller 
Schärfe  hervortreten.  Dies  geschah  schon  ganz  deutlich 
im  nächsten  Jahre,  1851,  in  den  „Demoiselles  de  Village". 
Courbet  malte  Landschaft  und  Figuren  getrennt,  jedes 
in  seiner  Art  unübertrefflich.  Die  Landschaft,  die  be- 
lebte Kulisse  des  „Enterrement",  wäre  ohne  die  Figuren 
ein  wunderbares  Meisterwerk;  die  Figuren,  die  drei 
reizenden  Frauen  mit  der  kleinen  Hirtin,  ohne  die 
Landschaft  eine  köstliche  Gruppe.  Beide  Dinge  in  dem- 
selben Rahmen  wirken  wie  von  zwei  verschiedenen  Men- 
schen gemacht,  und  ihre   Zusammenstellung   schadet. 

Wir  haben  für  diese  Methode  Courbets  keinen  ge- 
ringeren Zeugen  als  Delacroix,  der  die  „Baigneuses"  des 
Salons  von  18531)  einer  scharfen,  aber  nicht  ganz  unge- 
rechtfertigten Kritik  unterwarf.  Nicht  nur  der  Mangel 
an  psvchologischen  Beziehungen  zwischen  den  beiden 
nackten  Gestalten,  daß  „die  Geste  nichts  ausdrückte", 
stieß  ihn  ab;  auch  das  unmalerische  Verhältnis  der  Figuren 
zu  ihrer  Umgebung.  Delacroix  bewies  das  Recht  seiner 
Anschauung  mit  der  Tatsache,  daß  er  vorher  im  Atelier 

*)  Journal  II,  159.  In  der  Fußnote  wird  das  Bild  „Demoiselles  de 
Village"  genannt  und  figuriert  oft  unter  dieser  Bezeichnung,  die  Courbet 
auch  im  Katalog  des  Salons  von  1853  gewählt  hatte.  Es  ist  nicht  mit  den 
obenerwähnten  „Demoiselles  de  Village  faisant  l'anmöne  ä  une  gardienne 
de  vaches"  aus  185 1  zu  verwechseln.  Ich  nenne  dieses  stets  ..Demoiselles 
de  Village",  das  andere,  das  heute  im  Museum  von  Montpellier  hängt, 
..Baigneuses".  Beide  Werke  sind  hier  abgebildet.  Das  dritte  Bild  dieser 
Reihe  sind  die  ..Demoiselles  au  bord  de  la  Seine"  des  Salons  von  1857, 
gemalt  1856,  die  beiden  im  Grase  ruhenden  bekleideten  Damen,  auf  die 
Proudhon  seine  Moralreflexionen,  den  Vergleich  mit  den  Casseurs  de  pierre, 
anwendete.     Aus  diesen  ist  hier  ein  Detail  abgebildet. 


i58  COURBET 

Courbets  die  Skizze  zu  der  Landschaft  gesehen  hatte. 
Diese  fand  er  auf  dem  Gemälde  vergrößert,  und  die 
beiden  badenden  Frauen  waren  von  außen  her  dazu  ge- 
kommen; ein  Verfahren,  das  auf  diesem  Bilde  noch  greller 
als  auf  den  „Demoiselles  de  Village"  hervortritt,  und  das 
niemandem  mehr  als  Delacroix,  dem  Schöpfer  der  flüssig- 
sten Malerei,  mißfallen  mußte.  Ebenso  beurteilte  er  die 
„Lutteurs"  und  die  „Fileuse"  desselben  Salons.  Von  den 
ersten  meinte  er,  der  Hintergrund  töte  die  beiden  Fi- 
guren, man  müsse  mehr  als  drei  Fuß  rund  herum  weg- 
schneiden. An  der  „Fileuse"  lobte  er  begeistert  den 
Spinnrocken  und  fand  die  Figur  der  Schlafenden  an- 
erkennungswert, tadelte  aber  die  Schwere  des  Kleides 
und  des  Sessels.  Diese  letzte  Kritik  scheint  uns  heute, 
wenn  wir  vor  der  Perle  des  Museums  von  Montpellier 
stehen,  übertrieben.  Mag  sein,  daß  die  Zeit  die  Differen- 
zen verwischt  hat,  für  die  Delacroix  so  empfindlich  war. 
Sehr  fein  bemerkt  Delacroix  bei  dieser  Gelegenheit, 
daß  der  Zusammenhang  der  Hauptsache  mit  den  Neben- 
sachen den  meisten  großen  Malern  der  Vergangenheit  ab- 
gehe, und  berührt  damit  den  springenden  Punkt,  der 
die  moderne  Kunst  von  der  alten  scheidet.  Denn  sicher  be- 
steht die  ganze  Entwicklung  der  Kunst  in  einer  beständigen 
Modifikation  dieses  Zusammenhangs.  Man  denke  daran,  wie 
anders  die  Primitiven  und  die  Maler  des  17.  Jahrhunderts 
den  Zusammenhang  suchten.  Bei  den  Flächendekorateu- 
ren der  christlichen  Kunst  wurden  die  Dinge  durch  große 
Schriftzüge  verbunden.  Diese  Verbindung  löst  sich  bei 
den  Primitiven  durch  die  Eroberung  der  Perspektive  und 
der  Plastizität.  Rembrandt  und  Velazquez  vollbringen 
die  Konzentration  der  Erscheinung  im  Raum,  Rubens 
führt  sie  auf  die  Fläche  zurück.  Er  ist  wieder  De- 
korateur, aber  wie  anders  wirkt  diese  Dekoration  im  Ver- 
gleich zu  den  geschriebenen  Ornamenten  der  frühsten 
Epoche.      Die   Neuzeit,    die   beide   Ideale   besitzt,   packt 


VOM  ..BEGRÄBNIS  VON  ORNANS"  ZUM  „ATELIER"    159 

beide  gleichzeitig  an:  Delacroix  und  Ingres.  In  Courbet 
finden  wir  beide  Ideale  in  einem  und  demselben  Künstler. 
Wir  lernen  daraus,  wie  arm  unsere  Sprache  ist,  um 
die  Gesetze  der  Kunst  zu  formulieren.  In  Worte  gefaßt 
scheint  es  sich  immer  nur  um  ein  Aufnehmen  und  Auf- 
geben derselben  Begriffe  zu  handeln;  der  Grad,  auf  den 
alles  ankommt,  wird  nur  durch  die  Namen  der  Künstler 
deutlich,  die  ihn  vollbringen.  Wie  wenig  sagt  heute,  daß 
Courbet  ein  Meister  der  Perspektive  war,  heute  wo  die 
Perspektive  in  der  Mittelschule  gelernt  wird  und  jeder 
Aquarellist  die  kompliziertesten  perspektivischen  Dar- 
stellungen fertig  bringt.  Wieviel  sagt  es,  wenn  wir  die 
,,Cribleuses  de  ble"  im  Museum  von  Nantes  betrachten, 
Courbets  Meisterwerk  des  Jahres  1854.  Man  möchte 
gern  ein  Urteil  Delacroix'  über  dieses  merkwürdige  In- 
terieur. Auch  was  Ingres  dazu  gesagt  haben  mag,  wäre 
wissenswert.  Auf  der  Weltausstellung  von  1900  stand 
man  davor  wie  vor  einem  Rätsel,  und  so  mag  man  auch 
in  der  Weltausstellung  von  1855  davor  gestanden  haben. 
Im  Plastischen  der  Malerei  ist  Courbet  kaum  weiter  ge- 
gangen, und  man  begreift  vor  diesem  Bilde  leicht,  daß 
sein  Autor  eines  Tages  zur  Bildhauerei  greifen  mußte. 
Es  ist  das  Plastische  ohne  Klassizismus,  ein  Vorkommen, 
das  es  bis  zu  Courbet,  von  den  Primitiven  abgesehen, 
in  Frankreich  nicht  gegeben  hat.  Es  hat  etwas  von 
den  großen  alten  Stillosen  des  Nordens,  in  denen  alles 
Natur,  nichts  Konvenienz  scheint  und  nur  die  rück- 
sichtslose Offenheit  zur  strengen  Form  wird.  Das 
Zimmer  ist  fast  luftleer,  nur  von  Formen  gefüllt,  aber 
diese  so  genial  getroffen,  daß  durch  ihre  scheinbar  will- 
kürliche Lage  jeder  Winkel  des  Raumes  gleichsam  nach 
allen  Dimensionen  fixiert  wird.  Das  knieende  Mädchen, 
das  das  Sieb  schüttelt  —  About  nannte  es  indezent  — 
ist  ein  ebensolches  Wunder  der  Verkürzung  wie,  in  einer 
anderen  Ordnung  der  Dinge,  die  Sibyllen  Michelangelos. 


160  COURBET 

Von  einem  malerischen  Zusammenhang  der  Einzelheiten 
ist  keine  Rede;  der  Junge,  der  in  den  Getreidekasten 
schaut,  ist  ein  Spiel  —  beinahe  ein  Kunststück  —  für 
sich.  In  der  Gruppe  der  beiden  Mädchen  ergeben  die 
Formen  einen  unbeschreiblichen  Reichtum  von  Ara- 
besken; die  modellierte  Arabeske  im  Gegensatz  zu  der 
linearen  der  Alten.  Und  wieder  wirkt  hier  ähnlich  wie 
im  „Begräbnis"  die  Koloristik  als  geheimes  Bindemittel 
unter  den  unverbundenen  Massen.  Nur  ist  das  Schwarz 
des  Frühbildes  ganz  dem  schönsten  Blond  gewichen,  mit 
dem  das  Grau  und  Rosa  der  Kleider  so  köstlich  zu- 
sammenklingt, als  hätte  Velazquez  die  fast  unwirtliche 
Sachlichkeit   mit  seinem  Geiste  angehaucht. 

Derselbe  Geist  wirkt  noch  deutlicher  seinen  Zauber 
in  dem  Riesengemälde  des  Jahres  1855.  Das  „Atelier" 
ist  wie  ein  Ruhepunkt  im  Aufstieg,  eine  Sammlung. 
Die  fünf  Jahre  zwischen  „Begräbnis"  und  „Atelier" 
sind  keine  durchaus  entscheidende  Epoche,  die  stärkste 
Entwicklung  hebt  erst  später  an.  Freilich,  wer  fände 
sich  in  diesem  Chaos  von  gigantischen  Absichten,  die 
in  einem  Jahr  begonnen,  im  nächsten  abgebrochen, 
zehn  Jahre  darauf  fortgesetzt  werden  und  dabei  in 
jedem  Augenblick,  wo  sie  in  Erscheinung  treten, 
Meisterwerke  hervorbringen,  mit  Sicherheit  zurecht!  Es 
scheint  fast,  daß  sich  Courbet  gegen  seine  eigene  Ent- 
wicklung sträubte,  um  nicht  den  Teil  seiner  Meisterlich- 
keit zu  opfern,  an  dessen  Stelle  das  Neue  zu  treten  ver- 
mochte. Man  kann  in  vielen  gleichzeitigen  Gemälden 
heterogene  Anschauungen  nachweisen.  Unmittelbar  nach 
den  „Cribleuses",  dem  stärksten  Argument  für  das  Plastische 
seiner  Kunst,  entsteht  das  weichste,  tonreichste  seiner 
Werke,  die  Rekapitulation  aller  Dinge,  die  den  Nach- 
kommen der  Spanier  beschäftigten.  Er  drückte  das  in 
seiner  Art  aus,  indem  er  dem  Titel  im  Katalog  den  pom- 
pösen Satz  hinzufügte  „allegorie  reelle,  determinant  une 


-  - 

§  I 

7.  =■ 

f.  . 


VOM   ..BEGRÄBNIS  VON  ORNANS"  ZUM  „ATELIER"    161 

phase  de  sept  annees  de  ma  vie  artistique";  eine  absolute 
Wahrheit,  denn  wirklich  haben  wir  im  „Atelier"  den  künst- 
lerischen Extrakt  eines  Teils  seines  Wesens  und  Lebens. 
Das  Fatale  daran  lag  wiederum  nur  in  dem  Umstand,  daß 
die  Formulierung  vom  Autor  selbst  herrührte.  Natürlich 
lachte  das  Publikum,  und  die  Kritiker  hielten  sich  an 
die  Allegorie,  glaubten  mit  Recht  oder  Unrecht,  Courbet 
habe  damit  nur  wieder  seinen  Sozialismus  anrufen  wrollen, 
weil  sich  auf  dem  Bilde  alle  möglichen  Zeitgenossen,  die 
Beziehungen  zu  ihm  hatten,  und  verschiedene  Klassen- 
typen, die  er  auch  sonst  gemalt  hatte,  um  die  Staffelei 
gruppierten.1)    Heute  ist  die  Bedeutung  dieser  Menschen 


J)  So  beschrieb  Theophile  Silvestre  das  Bild:  ....  .,11  s'est  obstine 
en  diable  dans  ce  titre  qui  ne  signifie  absolument  rien  dans  aucune 
langue.  II  entend  resumer  dans  cette  vaste  machine  tous  les  types  vivants 
et  toutes  les  idees  qui  ont  rempli  sa  vie  et  ses  ouvrages,  depuis  sept  ans. 
On  le  voit  au  milieu  de  son  atelier  occupe  ä  peindre  un  paysage,  pre- 
texte  ingenieux  qu'il  a  pris  pour  nous  presenter  encore  une  fois  son  Por- 
trait. Derriere  lui,  une  femme  nue  personnine  le  modele  vivant;  un 
monsieur  et  une  dame  figurent  les  gens  du  monde,  qui  de  temps  en 
temps  viennent  le  visiter;  son  ami  Champfleury  le  regarde  travaüler, 
M.  M.  Bruvas  et  Promayet  l'admirent  sans  reserve;  Charles  Baudelaire 
lit  dans  un  coin;  des  amoureux  s'embrassent  avec  delices  au  fond  de 
l'atelier,  ce  qui  signifie:  vive  l'amour  libre! 

Au  pied  du  chevalet  un  marmot  de  cinq  ou  six  ans  l'examine,  hebete; 
une  grosse  irlandaise,  souvenir  lamentable  des  nies  de  Londres,  est 
accroupie  et  entortillee  avec  son  enfant  ä  la  mamelle  dans  un  madras 
en  lambeaux  qui  voile  mal  son  horrible  nudite;  le  braconnier  tenant  ses 
chiens  en  laisse;  le  faucheur,  le  terrassier  expriment  la  rüde  vie  des 
champs ;  le  proletaire  des  villes  represente  le  chömage.  Le  Juif,  le  mar- 
chand  de  vieux  habits,  vieux  galons,  le  paillasse,  le  eure  et  le  croque- 
mort  veulent  dire:  nous  vivons  de  la  credulite  du  monde,  de  sa  mort 
et  de  ses  debris.  Le  sombrero  ä  plumes  noires  et  le  poignard  qui  rou- 
lent  dans  la  poussiere  sont  les  emblemes  de  la  poesie  romantique,  et  la 
tete  de  mort  posee  comme  un  serre-papier  sur  le  Journal  des  Debats, 
deploye  sur  un  gueridon,  c'est  sans  doute  la  reponse  de  Courbet  aux 
articles  de  cette  feuille,  ou  bien  la  traduetion  libre  de  cette  phrase  de 
Proudhon:  „les  journaux  sont  les  eimetieres  des  idees."  (Histoire  des 
Artistes  vivants,  p.  264  etc.) 

Courbet  selbst  schrieb  über  das  Bild  an  einen  Freund:  „Le  sujet  de 
mon  tableau  est  si  long  ä  expliquer  que  je  veux  te  le  laisser  deviner 
quand  tu  le  verras,  c'est  Thistoire  de  mon  atelier  ce  qui  s'y  passe 
moralement  et  physiquement  c'est  passablement  mysterieux  devinera  qui 
pourra.'*  (Der  Brief,  ein  Spezimen  der  Courbetschen  Grammatik,  findet 
sich  in  TArt,   1883,  Band  34  und  35.) 


i62  COURBET 

und  Dinge  für  den  besonderen  Fall  verschwunden;  wir 
achten  kaum  noch  auf  die  glänzende  Charakterisierung 
der  Portraits,  fragen  uns  nicht,  wen  sie  darstellen.  Wir 
haben   eine  Dekoration   wunderbarer   Art  vor  uns. 

Das  Gemälde  steht  von  allen  Werken  Courbets  Velaz- 
quez  am  nächsten.  Es  ist  eine  Unterwerfung  unter  die 
Manen  des  großen  Spaniers,  wie  sie  nicht  würdiger  ge- 
dacht werden  kann.  Denn  sie  bringt  nicht  das  Opfer 
der  Persönlichkeit  mit  sich.  Kein  Klischee  wird  aus 
Velazquez  gemacht,  nichts  Gefälliges,  was  diesem  nicht 
gefallen  hätte.  Ein  Meister  bringt  einem  anderen  seine 
Huldigung  dar  und  dient   sich  und  dem  Vorgänger. 

Das  „Atelier"  ist  das  lyrische  Pendant  zu  dem  „Begräbnis", 
ebenso  sehr  lichte  Grazie  und  Lieblichkeit,  wie  das  andere 
finsterer,  wuchtiger  Ernst.  Es  ist  leichter,  lockerer  kon- 
struiert, ein  in  die  Tiefe  gehender  Halbkreis  statt  der 
erdrückenden  Front  des  „Begräbnisses".  Wo  sich  in  diesem 
die  kolossale  Felsenlinie  ausdehnt,  schließt  die  Atelier- 
Wand  mit  den  malerischen  Bilderflecken,  in  demselben 
Velazquez-Ton  des  anderen  Hintergrundes,  die  Szene. 
Das  Zentrum  ist  der  Maler  in  tiefgrauer  Jacke  mit  dem 
schönen  Profil  vor  dem  köstlichen  Bild  —  einer  braunen 
Baumlandschaft  mit  blauem  Himmel  —  eng  verbunden 
mit  dem  nackten,  wundervoll  profilierten  Modell,  dessen 
Fleisch,  in  natürlichem,  rötlich  grauen  Ton,  das  ganze 
Gemälde  mild  beleuchtet.  Der  Junge  zur  Linken  des 
Malers  ist  die  lebendigste  Stelle,  konzentriertes  Grau  mit 
stark  leuchtendem  Fleisch;  eine  Reminiszenz  des  köstlichen 
Chorknabens  auf  dem  „Begräbnis",  aber  von  wärmerer, 
schlichterer  Natur.  Der  Stoff  auf  dem  Boden  neben 
dem  nackten  Modell  produziert  den  Rosa-Ton  des  Velaz- 
quez. Von  diesem  reichen  Zentrum  entweicht  die  Farbe 
in  alle  Winkel  des  großen  Saals.  Es  ist  das  Verfahren, 
das  Velazquez  in  seinen  Einzelportraits  der  Infantin  an- 
wandte,  auf  das  Monumentale   übertragen.    Was  in  den 


VOM  „BEGRÄBNIS  VON  ORNANS"  ZUM  „ATELIER"    163 

Bildern  des  Spaniers  das  Gesicht  ist,  wird  hier  zur  Gruppe 
in  der  Mitte;  die  phantastische  Coiffure  ist  hier  das 
Rankenwerk  der  grotesken  Nebenfiguren,  und  noch  im 
Dunkel  regen  sich  Formen  und  Gesichter.  Courbet 
profitiert  nicht  von  dem  gefälligen  Schatten,  den  Velaz- 
quez  um  so  viele  Reize  legte,  daß  sich  manche  seiner  Nach- 
kommen noch  heute  mit  der  Malerei  des  Nimbus  begnügen, 
ohne  den  Körper  zu  geben,  von  dem  er  ausstrahlt.  Er  bleibt 
immer  körnig,  simuliert  nicht  die  Form,  sondern  malt  sie. 
Sein  ruheloses  Können  schafft  in  dem  Umhang  der  fabel- 
haften Frauenfigur  auf  der  äußersten  rechten  Seite  ein 
Prunkstück,  das  an  die  Ornamentik  auf  den  Stoffen  flä- 
mischer Meister  erinnert.  Kein  Kompromiß,  lieber  von 
der  Einheitlichkeit  opfern.  Wo  andere  sich  nach  reich- 
licher Anstrengung  mit  ein  paar  gefälligen  Strichen  be- 
gnügen würden,  um  die  äußersten  Grenzen  des  Bildes 
anzudeuten,  malt  Courbet  naturgetreue  Portraits. 

Das  Gemälde  genießt  in  der  Sammlung  Desfosses  einen 
nur  selten  unseren  Bildwerken  gegönnten  Vorzug.  Ihm 
zuliebe  hat  sich  die  Begeisterung  eines  Kunstfreundes 
zu  einer  königlichen  Tat  entschlossen.  Der  Besitzer  hat 
ihm  einen  eigenen  Raum  geweiht.  Es  ist  ein  riesiger 
Oberlichtsaal  von  prachtvollen  Verhältnissen  und  mit 
denkbar  größtem  Prunk  ausgestattet.  Schwere  goldene 
Architektur  wechselt  mit  regelmäßigen  Feldern  vieler 
Gobelins,  die  das  Auge  an  eine  graublaue  Basis  gewöhnen. 
Am  Kopf  des  Saals,  die  ganze  Breite  einnehmend,  ist 
das  Gemälde  in  große  goldene  Pilaster  eingelassen1).  Der 
Eindruck  ist  gewaltig.  Er  liefert  einen  Beweis  einzig  in 
seiner  Art,  daß  dieser  viel  geschmähte  Realismus,  dessen 
Daseinswert  man  zuweilen  auf  unwesentliche  Wahrheits- 
bestätigungen beschränkt  glaubte,  mit  der  größten  Kunst, 

J)  Es  dient  gleichzeitig  als  Vorhang  einer  Bühne  und  kann,  wenn 
das  Theater  benutzt  wird,  in  den  Boden  versenkt  werden.  Diese  Ver- 
wendung hätte  den  Realisten  nicht  sonderlich  begeistert,  schmälert  aber 
durchaus  nicht  den  höheren  Nutzwert  des  Bildes. 


164  COURBET 

die  je  die  Kirchen  und  Paläste  schmückte,  in  Konkurrenz 
zu  treten  vermag;  daß  es  nicht  zwei  Künste  gibt,  eine 
monumentale  und  eine  andere,  sondern  nur  eine,  die  Kunst 
des  Schönen.  Kein  Primitiver  würde  hier  besser  wirken. 
Man  denke  sich  den,,  Frühling"  Botticellis  an  die  Stelle,  oder 
das  Altarwerk  eines  alten  rheinischen  Künstlers.  Die 
Wirkung  wäre  zweifellos  stärker,  infolge  des  sichtbareren 
Ausdrucks  der  architektonischen  Linien,  und  um  so  über- 
raschender, je  weniger  sich  der  Betrachter  in  diesen  Linien 
wiederfände.  Daß  die  Fremdheit  im  Werke  des  Modernen 
vermißt  wird,  kann  nicht  als  Mangel  gelten.  Jeder  wahr- 
haft Lebendige  wird  es  als  Vorzug  preisen.  Und  daß 
die  Kraft  hier  kleiner  sein  soll,  sagt  nur  der  Hang  zu 
jener  Fremdheit  und  die  Ungeduld  des  ersten  Augenblicks, 
die  sich  der  stilleren  Wirkungen  entzieht.  Mir  gab  der 
Saal  ein  unerschütterliches  Vertrauen  in  unsere  Kunst 
und  bestätigte  mir  die  geheime  Abwehr  gegen  alles,  was 
nicht  dem  natürlichen  Instinkt  der  Persönlichkeit  ent- 
springt. Den  Botticelli  hätte  ich  ehrerbietig  gegrüßt, 
doch  ihn  hier  weniger  zu  Hause  als  in  der  Vorratskammer 
der  Florentiner  Akademie  gefunden.  Willkommener  wäre 
mir  vielleicht  das  wundersame  Abendmahl  aus  S.  Salvi 
gewesen  mit  seiner  uns  schon  so  nahen  Harmonie,  und 
doch  konnte  mir  auch  del  Sarto  in  diesem  Moment 
nicht  so  vertraut  werden  wie  Courbets  unfrommes  Werk. 
Ich  kam,  als  ich  zum  letztenmal  das  „Atelier"  sah, 
gerade  von  den  Primitiven  in  Düsseldorf  und  war  In- 
begriff, zu  den  Sienesen  zu  fahren.  Unser  bewegliches 
Dasein  beschert  uns  Empfindungen,  von  denen  sich  unsere 
Grossväter  in  der  Postkutsche  nichts  träumen  Hessen.  Der 
Gegensatz  war  fast  unerträglich,  wenn  ich  vor  dem 
rosigen  Blond  des  Modernen  an  das  schaurige  Altarstück 
des  alten  Niederrheinländers  dachte,  eines  der  wilden 
Grandiosen,  die  uns  auf  der  Düsseldorfer  Ausstellung 
entzückt  hatten.     Und    ich    empfand    auf   einmal  einen 


VOM  „BEGRÄBNIS  VON  ORXAXS"  ZUM  „ATELIER"    105 

leisen  Widerwillen,  weniger  vor  jener  primitiven  Kunst 
als  vor  dem  Grad  von  Lüge  der  eigenen  uneingestandenen 
Schwäche,  die  sich  vor  keiner  Stärke  zu  retten  weiß,  vor 
unserer   allzubeweglichen  Rundreise-Empfindung. 

Am  dankbarsten  wird  man  vor  dem  ,, Atelier"  an  Velaz- 
quez,  an  Rubens  und  Rembrandt  denken.  Auch  zwischen 
diesen  und  uns  liegen  Jahrhunderte,  und  doch  sind  sie 
uns  ganz  unverhältnismäßig  näher  als  die  Primitiven. 
In  abermals  dreihundert  Jahren,  wenn  sich  die  Spanne 
verdoppelt  hat,  und  die  Zeitdifferenz  zwischen  Velaz- 
quez  und  den  Vorgängern  entsprechend  geringer  scheint, 
werden  Velazquez  und  die  anderen  den  Malern,  die  dann 
leben,  nicht  fremder  geworden  sein.  Und  in  aller  Ewigkeit, 
solange  nur  gemalt  wird,  wird  man  diese  großen  Maler  als  zu 
der  Kunst,  nicht  zur  wandelnden  Zeit  gehörig  schätzen, 
wie   es   uns  schon  heute  mit  den  großen  Griechen  geht. 

Woraus  gewinnen  wir  das  eigentliche  Recht  solcher 
Zuversicht,  die  viel  zu  mächtig,  zu  reich  an  hunderterlei 
bestätigenden    Symptomen   ist,  um  Einbildung  zu  sein? 

Man  ist  nie  so  gut  zur  kunstgeschichtlichen  Forschung 
aufgelegt  als  vor  ausserordentlichen  Bildern.  Man  denkt 
mit  dem  Auge,  kontrolliert  rapide;  es  ist,  als  rufe  ein 
solcher  Eindruck  alles  wach,  was  für  und  gegen  ihn 
spricht.  Mit  der  Schärfe,  mit  der  wir  das  gegenwärtige 
Werk  erfassen,  begreifen  wir  die  abwesenden,  weil  es  ja 
nicht  das  Sehen  allein  ist,  das  uns  die  Kunst  erschließt, 
sondern  jener  dem  Schaffen  verwandte  hellseherische  Zu- 
stand, in  dem  sich  unsere,  lebendige  Kraft  gewordene 
Erfahrung  mit   tausend  schönen  Erinnerungen  stärkt. 

Man  kommt  jenem  Grund  näher,  wenn  man  vorsichtig 
die  einzelnen  Effekte  prüft,  die  uns  in  solchen  Momenten 
alle  möglichen  typischen  Werke  bereiten.  Der  Rhein- 
länder oder  Westfale  in  Düsseldorf  schlug  mit  seinen 
grimmigen  Grotesken  die  Seele  zu  Boden.  Man  wäre 
damals  unfähig  gewesen,  sich  an  der  warmen  Modellierung 


i66  COURBET 

des  Courbetschen  Aktes  zu  freuen.  Die  Empfängnis  befand 
sich  in  einem  anormalen  Zustand,  wie  brutalisiert  von 
einem  plötzlichen,  fast  tierischen  Instinkt.  Ich  weiß  noch, 
daß  mir  der  schöne  Teint  der  Freundin,  mit  der  ich  vor 
dem  Bilde  stand,  weh  tat,  und  ich  mich  nach  noch  krasseren 
Dingen  sehnte,  als  da  gemalt  waren.  Kein  schlechtes 
Bild,  von  den  Gelehrten  hoch  geschätzt,  von  Ästhetikern 
umschwärmt;  wie  wirksam  es  noch  nach  500  Jahren  war, 
dafür  zeugte  meine  Ergriffenheit.  Nur  wirkte  es  auf  ganz 
andere,  mindere  Empfindungen  als  der  Coürbet.  Dieser 
war  mir  wie  ein  großes  menschliches  Gesicht  meiner  Zeit. 
Ich  entrückte  dem  Tag  nicht,  sondern  kam  ihm  näher, 
kam  mir  selber  näher,  erkannte  Dinge  in  mir,  die  mir 
notwendig  schienen,  legitimierte  mich  damit  und  meinen 
Instinkt.  Der  Primitive  führte  mich  abseits.  Nicht  was 
er  darstellte,  entfernte  mich  —  unsereins  sieht  keine  Legen- 
den mehr  —  sondern  wieer's  machte :  das  wilde  Eingekerbte, 
Eingebrannte  seiner  Inbrunst,  das  tief  Unterwürfige  nicht 
seines  Märtyrers,  sondern  seiner  eigenen  Seele,  das  Hohn- 
lachen nicht  seiner  Häscher,  sondern  seiner  eigenen  Emp- 
findung. Nicht  seine  Legende,  sondern  die  Eindringlich- 
keit, mit  der  er  sie  mir  vorhielt,  stieß  mich  ab.  Er  ap- 
pellierte an  arme  Augen,  tat  so,  als  sei  ich  fühllos,  als 
müsse  er  hundertmal  mechanisch  wiederholen,  was  mich 
beim  ersten  Blick  ergriff.  War  stets  dasselbe,  ein  finsterer, 
meinem  Wesen  fremder  Vorgang,  der  unerschütterlich, 
ewig  unveränderlich  vor  mir  blieb  und  durch  die  Starr- 
heit seines  unverrückbaren  Blickes  den  meinen  gebannt  hielt. 

Vor  solchen  Bildern  betete  man.  Die  Angst  brachte 
zur  Gottheit.  Und  noch  heute  tut  man  nicht  viel 
anderes  vor  ihnen.  Den  Genuß  umschlingt  ein  un- 
bewußt simuliertes  Beten,  das  Stammeln  von  Sinnen, 
die    nicht    mehr  mit    dem  Geist   verkehren:  Hypnose. 

In  anderen  milderte  sich  der  Eindruck.  Wir  regten 
uns  erleichtert  bei  dem  Behagen  Schongauers,  empfanden 


VOM  „BEGRÄBNIS  VON  ORXANS"  ZUM  „ATELIER"    167 

wie  einen  Gruß  die  Milde  des  frommen  Stelldicheins 
am  Brunnen  von  Jan  Joest,  die  Beschaulichkeit  Alarmions 
Hess  uns  plaudern.  Das  Gesicht  verliert  die  Starre. 
Stephan  Lochner  lächelt.  Nicht  etwa  der  sanftere 
Vorgang,  sondern  die  Art,  wie  er  dargestellt  ist;  die 
leise  Bewegtheit  des  Menschen,  der  das  malte,  der 
sich  heute  noch  regt.  Warum  nennen  wir  das  sich 
Regende  ebenso  Malerei  wie  das  Starre  ?  Man  sieht  Lochner 
nie  mit  denselben  xA.ugen;  er  lebt  mit  uns,  seine  tausend 
Töne  der  einen  Farbe  geben  immer  neue  Gebilde.  Warum 
malte  er  nicht  einfach  blau  oder  rot  wie  der  Primitive, 
sondern  bereitete  sich  die  Farbe  erst  im  Bilde,  machte 
sie  zu  etwas  jenseits  vom  Vorgang,  zum  zweiten  eigent- 
lichen Sakramente  und  zum  Abbild  seiner  Eigenheit! 

So  gab  es  damals  in  Düsseldorf  noch  tausend  andere 
Unterschiede  zwischen  Menschen  und  Zeiten.  Der 
mächtigste  aber  kam,  wenn  man  zu  dem  oberen  Stock- 
werk der  Ausstellung  hinaufstieg,  wo  gleich  im  ersten 
Saal  der  Cuyp  hing  und  der  Christ  an  der  Säule  von 
Rembrandt  und  das  lachende  Selbstporträt.  Mit  einem 
Mal  rückte  alles  andere  auf  ein  tieferes  Niveau,  man  kam 
sich  vor  wie  zur  Freiheit  emporgestiegen.  Ein  buntes 
Leben.  Lachen  tönte  aus  ernsten  Rahmen,  unterdrücktes 
Schluchzen  aus  heiteren  Bildern.  Alle  sprachen  miteinander 
und  sprachen  mit  uns,  und  man  erlaubte  sich  beinahe,  mit 
Rembrandt  zu  diskutieren.  Das  ist  Malerei.  Das  Malen 
fing  an,  als  die  Menschen  in  der  Kunst  anfingen,  und  die 
Legenden  aufhörten,  als  man  vor  Bildern  nicht  mehr 
das  Beten  simulierte,  sondern  die  Seele  sich  begeistert  und 
bewußt  vor  großen   Persönlichkeiten  zu  Füßen  streckte. 

Zu  dieser  Kunst  gehört  Courbets  große  Dekoration. 
Man  hat  für  seine  Art  und  die  des  Primitiven  nur  dasselbe 
Wort :  monumental.  Es  schildert  die  gesteigerte  Geistesart 
zweier  verschiedener  Welten.  In  der  einen  muß  man 
das  Dasein  vergessen,    um    genießen   zu   können,    in  der 


i68  COURBET 

anderen  muß  man  genießen  können,  um  sich  des  Daseins 
zu   freuen. 

Welche  von  beiden  höher  steht  —  eine  Entscheidung, 
die,  das  Interesse  des  Liebhabers  weit  überspringend,  sich 
an  den  tiefsten  Impuls  dem  Schönen  zugeneigter  Per- 
sönlichkeiten wendet  —  darüber  kann  nur  im  Zweifel 
sein,  wer  den  Umfang  der  Frage  noch  nicht  erkannt  hat. 


f.  z  — 


DIB  RIMOBB. 

Berlin,  bei  Paul  Oiwirir. 


LES  BAIGN'EL'SES,  1853. 
Museum  von  Montpellier. 


LE  REPOS,  1855.     0,50X0,65. 
Photo  Durand-Ruel. 


LE  FAISEUR  DE  CHAIR 


DER  Einfluß  des  Velazquez  erscheint  ebenso  deutlich  in 
vielen  anderen  Werken  derselben  Zeit,  auch  noch  in 
dem  „Rencontre"  oder  „Bon  jour,  Monsieur  Courbet",  der- 
selben Weltausstellung  von  1855,  heute  im  Museum  von 
Montpellier,  mit  dem  der  junge  Meister  seinen  ersten  Ver- 
ehrer Bruyas,  den  Käufer  der  „Casseurs  de  pierre",  der 
,,Baigneuses",  „Fileuse"  u.v.a.  verewigte.  Aber  gleichzeitig 
erhält  sich  das  Gegenteil  des  Velazquez,  die  starke  Model- 
lierung. Auf  dem  ,, Rencontre"  erscheinen  die  Profile  der 
drei  Gestalten  wie  ausgeschnitten  vor  dem  hohen  Horizont, 
zumal  der  prachtvolle  Kopf  des  Malers  mit  dem  viel  ver- 
spotteten „assyrischen"  Profil;  und  dabei  glaubt  man  ebenso 
scharf  alle  anderen  Ausdehnungen  der  Körper  vor  sich  zu 


172 


COURBET 


haben.  Beide  Tendenzen  sind  in  den  „Demoiselles  au  bord 
de  la  Seine"  von  1856,  sogar  noch  in  dem  1863  entstandenen 
Gruppenbild  der  Familie  Proudhon  deutlich,  das  heute  im 
Petit  Palais  hängt.  Wie  die  beiden  Daten  links  auf  dem 
„Proudhon"  und  die  Angaben  des  Katalogs  der  Courbet- 
Ausstellung  von  1882  berichten,  malte  der  Künstler  den 
Freund  aus  dem  Gedächtnis,  wie  dieser  ihm  185  3,  zwölf  Jahre 
vorher,  auf  der  Schwelle  seines  Hauses  sitzend,  erschienen 
war.  Diese  ein  wahres  Phänomen  von  Gedächtnis  enthül- 
lende Entstehungsgeschichte,  wäre  leichter  begreiflich,  wenn 
Courbet  mit  dem  Bilde  ein  psychologisches  Denkmal  ver- 
sucht hätte,  was  zumal  bei  der  Art  seiner  Beziehungen 
zu  dem  Philosophen  nahe  lag.  In  Wirklichkeit  ist  das 
Bild  treuste  Sachlichkeit  und  mehr  rein  künstleri- 
sches, fast  mathematisches  Problem  als  irgend  ein  an- 
deres. Die  Beibehaltung  des  Plastischen  in  der  Ver- 
kürzung der  Hauptperson  grenzt  ans  Unglaubliche. 
Dabei  die  verblüffendste  Wahrscheinlichkeit  des  Porträts 
und  Sachlichkeit  aller  Details.  Die  blauen  Hosen,  der 
weißgraue  Kittel  sind  in  jeder  Falte  exakt.  Man  wird 
nicht  ganz  den  Eindruck  los,  daß  der  Künstler  sich  hier 
festmalte,  den  Körper  zu  genau  fixierte,  als  dass  es  noch 
gelingen  konnte,  das  unentbehrlich  Bewegliche  zu  be- 
halten. Dazu  trägt  auch  das  gedrückte  Format  bei 
und  der  Mangel  des  Zusammenhangs  mit  der  Gruppe 
auf  der  rechten  Seite.  Die  Kinder,  in  Momentposen, 
sind  ein  Bild  für  sich  von  raffiniertestem  Kolorit;  ein 
Resedaton  in  den  Kleidern,  durchleuchtet  von  dem 
jungen  Fleisch  in  zartestem  Rosa;  eine  scheinbar  schwim- 
mende Malerei  von  vollendeter  Meisterschaft.  Nichts  von 
alledem  fand  Gnade  vor  den  Augen  der  Kritiker.  Selbst 
halbe  Anhänger  wie  Bürger  schimpften,  und  noch  heute 
gilt  das  Werk  des  „mangelnden  Geistes"  wegen  für  mäßig. 
In  der  1896  erschienenen  Biographie  von  Estignard,  frei- 
lich ungefähr  der  schlimmsten  Arbeit,   die  über  den  Maler 


LE  FAISEUR  DE  CHAIR  173 

verbrochen  wurde,  wird  das  Bild  mit  erstaunlicher 
Sicherheit  wie   die  kindlichste    Stümperei   behandelt.1) 

Solche  Kritik  war  kein  Kunststück.  Die  Fehler  in  den 
„Demoiselles  au  bord  de  la  Seine",  dem  „Proudhon"  und 
vielen  verwandten  Werken  springen  in  die  Augen.  Daß  solche 
Bilder  daneben  kostbare  Dinge  enthalten,  daß  ihre  ganze 
Art  das  Aburteilen  nach  einem  von  jedem  mittelmäßigen 
Maler  erfüllten  Kriterium  nicht  zuließ,  daß  es  ungeheuer 
leicht  gewesen  wäre,  den  Cribleuses  oder  Demoiselles  be- 
schaulichere Posen  zu  geben,  den  Proudhon  ohne  die 
Kinder  oder  die  Kinder  ohne  Proudhon  zu  malen,  ent- 
ging den  Gestrengen.  Courbet  fehlte  ein  Stück  Har- 
monie, das  lassen  solche  Werke  nicht  verkennen;  nur  darf 
man  nicht  übersehen,  daß  dieser  Mensch  größere  Kom- 
plexe zu  bewältigen  hatte,  als  andere.  Der  unerbittliche 
Vorwurf  gegen  ihn  gehört  in  die  Kategorie  der  Tadel, 
die  man  Michelangelo  Jahrhunderte  nachzureden  wagte, 
und  bei  denen  ein  anmutiger  Knabe  besser  wegkam  als 
das  größte  Genie  der  Menschheit.  Menschen,  die  sich 
ganz  erschöpfen,  müssen  Fragmente  zeigen.  Der  Mangel 
ist  Folge  ihres  Reichtums,  ihres  ganz  aufs  Produktive 
gestimmten  Wesens,  ihres  Hasses  auf  jeden  Kompromiß. 
Was  ihnen  fehlt,  besorgen  die  Nachkommen,  die  sich  um 
solche  Genies  sammeln  wie  die  Jünger  um  den  Christ 
und  das  ihrige  tun,  das  Gold  in  Münze  zu  prägen. 

Aber  in  Wirklichkeit  war  der  Vorwurf  artistischer  Art 
nur  ein  Vorwand,  hinter  dem  sich  die  Abneigung  gegen 
ganz  andere  Seiten  Courbets  versteckte.  Nicht  daß  seine 
Mathematik  an  gewisse  Grenzen  stieß,  empörte  das  Publi- 
kum, nicht  die  Art  seiner  Rechnung,  sondern  daß  er 
überhaupt    rechnete.     Was   man    ihm    vorwarf,   war  das 

1)  Courbet,  sa  vie,  ses  ceuvres  par  A.  Estignard  (Besancon,  Dela- 
grange-Louys,  1896).  Schnurrigerweise  meint  der  Autor,  Proudhon  selbst 
sei  über  das  Bild  entsetzt  gewesen  (S.  52),  berichtet  aber  hundert  Seiten 
nachher  (S.  163)  gan»  richtig,  daß  das  Slodell  nicht  mehr  am  Leben  war. 
als  es  von  Courbet  gemalt  wurde. 


17+ 


COURBET 


Gegenteil  der  Kritik,  die  man  formulierte.  Es  gelang 
Courbet  nur  zu  gut,  was  ihm  die  Leute  als  Mißlingen 
auslegten;  denn  sie  schrien  nicht  weniger  vor  seinen 
Einzelfiguren,  wo  der  Tadel  selbst  die  relative  Be- 
rechtigung verlor,  vor  seinen  Einzelportraits  oder  seinen 
Schilderungen  nackten  Fleisches,  ja,  die  waren  vielleicht 
die  verhaßtesten  Werke.  Diesem  Haß  gab  Courbets 
Entwicklung  in  den  sechziger  Jahren  die  denkbar  größte 
Nahrung.  Als  Sozialist,  als  der  er  —  wir  sahen  mit  welchem 
Rechte  —  während  der  fünfziger  Jahre  der  Menge  er- 
schien, wurde  er  harmloser  genommen.  Man  diskutierte 
seine  vermeintliche  Philosophie  und  fand  darin  möglicher- 
weise ein  Füllsel  leerer  Stunden,  den  Reiz  des  Kontrastes 
zur  lustigen  Zeit  des  zweiten  Kaiserreiches.  Nachdem 
Courbet  sein  auf  die  ,, reelle  Allegorie"  zielendes  Gelüst 
befriedigt  und  genug  revolutionäre  Dinge  gemacht  hatte, 
malte  er  nur  noch  und  wurde  Revolutionär  in  einem  Sinne, 
für   den  dem  echten  Bourgeois  alle   Begriffe   fehlten. 

Die  Neuerung  steckt  namentlich  in  den  Landschaften. 
Schon  in  den  fünfziger  Jahren  hebt  die  große  Serie  der 
Wald-  und  Jagdbilder  an.  Im  Museum  von  Marseille 
hängt  ein  Hirsch  aus  1853.  Vier  Jahre  darauf  entstand 
die  Jagdszene  „La  Curee"  mit  dem  am  Baum  hängenden 
Wild,  dem  Jäger,  dem  blasenden  Treiber  und  den  beiden 
Hunden.  In  die  sechziger  Jahre  fallen  die  berühmtesten 
Waldbilder.  Am  Schluß  der  Reihe  steht  das  merkwür- 
dige Halali  mit  dem  verendenden  Wild  und  dem  Reiter, 
im  Museum  von  Besancon;  die  dramatische  Szene  einer 
Treibjagd  in  prachtvoller  Schneelandschaft,  das  letzte 
große  Figurenbild.  Noch  einmal  ein  riesiges  Format, 
die  Apotheose  dieser  Seite   des  unerschöpflichen  Meisters. 

Der  Louvre  besitzt  auch  aus  dieser  Periode  annähernd 
das  Beste,  wie  ja  überhaupt  Courbet  bis  vor  kurzem  glän- 
zender und  übersichtlicher  im  Louvre  vertreten  war  als 
irgend     einer    seiner     Zeitgenossen.       Erst     die     schöne 


LE  FAISEUR  DE  CHAIR  175 

Sammlung  Thomy  Thiery  mit  ihren  Perlen  der  Generation 
von  1830  hat  das  Verhältnis  gerechterweise  verschoben. 

In  dieser  Periode  von  1853  bis  Ende  der  sechziger  Jahre 
entwickelt     Courbet    seine    Landschaft.      „Le   Alirage", 
die  grosse  Teichlandschaft  aus    1855,   die  vor  kurzem  in 
Berliner     Privatbesitz     überging,1)     zeigt     bei     all     ihrer 
eigentümlich   lyrischen    Schönheit   eine    gewisse     Zahm- 
heit der  Behandlung.     Die   „Curee"  scheint,    mit    dem 
,, Halali"   verglichen,    trotz   großer  Reize   in   der  Model- 
lierung hart  und  stumpf;  Hunde,  Menschen  und  Bäume 
sind   gewissenhaft    detailliert,    aber    bleiben   isoliert,   der 
Wald   wirkt    nüchtern,    man   zählt    die   Bäume.     Welche 
Masse    von    Schönheit    aber    in    dem  Bilde    steckt,    kann 
man  an  dem  Gemälde  des  Mesdag- Museums  sehen,   das 
ein    Hauptdetail    der   „Curee"    darstellt.     Courbet,    der 
vielleicht  selbst  die  unökonomische  Verschwendung  merkte, 
nahm  das  tote  Reh  ungeändert  heraus  und  machte  dar- 
aus   eins    seiner    herrlichsten    Bilder.  -)     Hier    fließt    das 
Grün   des  Waldes  um  das  prachtvolle  Braun  der  Stämme. 
Das  hängende  Tier  im  Vordergrund  degradiert  dasselbe 
Braun    in    allen   Tonarten.     So    umhüllt   die    kostbarste 
Tonmalerei    die   gewaltige    Plastik  der   Erscheinung  und 
treibt  zu  einer  geradezu  einzigen  Wirkung.     Nicht  nur 
im  Mesdag-Museum,  wo  es  nicht  an   schönen  zeitgenös- 
sischen Bildern  fehlt,  behauptet  dieses  Werk  einen  Ehren- 
platz.     Man   möchte  es  mal    im    Mauritshuis   sehen,   an 
der  Seite  der  besten  alten  Holländer.    Ich  glaube  nicht, 
daß   es  vor  irgend   einem  der  Glorreichen  zurückstände. 
Der  Vergleich   ließe    sich    ohne    alle   konditionellen  Er- 
wägungen  vornehmen.     Man   braucht   nicht  wie  bei   so 
vielen  Modernen  Reserven  irgendwelcher  Art  zu  machen 

')  Sammlung  Schwabach,   Kerzendorf  bei  Berlin. 

2)  Das  Bild  scheint  1855  datiert.  Doch  dürfte  die  Zahl  (sie  ist  nicht 
mehr  deutlich  erkennbar)  wohl  richtiger  57  heißen.  Es  ist  wenigstens 
kaum  anzunehmen,  daß  dies  Fragment  früher  als  die  „Curee*  entstand, 
die  1857  gemalt  wurde. 


i76  COURBET 

und  darauf  hinzuweisen,  daß  unsere  Zeitgenossen  anderen 
Idealen  dienen  als  die  alten  Leute.  Das  Bild  ist  ganz 
genau  so  gemalt  wie  ein  alter  Holländer.  Beim  Abtasten 
mit  der  Hand  rindet  man  nicht  eine  unebene  Stelle. 
Ganz  so  geht  es  dem  Abtasten  des  Auges.  Es  gleitet 
geschmeidig  über  die  große  Fläche  und  sättigt  sich  an 
allen  Teilen,  ohne  irgendwo  haften  zu  müssen.  Die 
Schönheit  des  Materials,  die  man,  ganz  abgesehen  von 
dem  Kunstgehalt,  bei  alten  Meistern  als  eine  besondere, 
sagen  wir,  kunstgewerbliche  Gabe  noch  mitgeschenkt 
bekommt,  hat  Courbet  hier  und  in  vielen  anderen  Werken 
gleichfalls  dazu  gegeben.  Wir  haben  uns  gewöhnt,  von 
diesem  Vorzug  abzusehen,  und  er  ist  in  der  Tat  nicht 
entscheidend,  war  es  schon  nicht  mehr,  als  der  ältere  Rem- 
brandt  seine  Flächen  zu  schmieden  begann,  und  mußte 
eines  Tages  zugunsten  anderer  wichtigerer  Momente 
aufgegeben  werden.  Es  bleibt  bei  alledem  merkwürdig 
genug,  daß  gerade  der  Fortschrittler  der  neuen  Malerei 
in  einem  seiner  typischsten  Werke  den  Alten  nahe  blieb 
und  die  Vorschrift  der  Gildenmeister  glänzend  erfüllte. 
Der  große  ,, Combat  de  Cerfs"  von  1861,  den  Courbet, 
soviel  ich  weiss,  während  eines  Aufenthalts  in  Frankfurt 
malte1),  spielt  in  dieser  Periode  eine  ähnliche  Rolle  wie 
vorher  das  „Atelier"  und  das  „Begräbnis".  Er  sammelt 
die  Resultate  und  breitet  sie  einheitlich  aus.  Da  das  Bild 
im  Louvre  die  wenig  vorteilhafte  Stelle  in  der  Nähe  des 
Plafonds  einnimmt,  die  man  friedlichen  Schulbildern  zu 
geben  pflegt,  so  gelangt  der  Besucher  selten  zu  einem 
lebendigen  Verhältnis.  Es  ist  wie  die  meisten  Gemälde 
dieser  Zeit  dünn  gemalt,  von  sehr  beschränkter  Palette 
und  birgt  eine  der  schönsten  Kompositionen  des  Meisters. 
Vor  dem  geradlinigen  System  von  Bäumen  bilden  die  drei 

*)  Aus  dieser  Zeit  besitzt  Trübner  ein  Selbstporträt  Courbets.  Nach 
Bayersdorfer  war  Courbet  damals  ein  ganzes  Jahr  in  Frankfurt.  Aus 
der  gleichen  Zeit  datiert  der  Einfluß  auf  Viktor  Müller,  der  so  segens- 
reiche Folgen  haben  sollte. 


LE  FAISEUR  DE  CHAIR  177 

Hirsche  ein  kühn  geschwungenes  Ornament.  Die  glück- 
liche Wahl  der  Pläne,  das  äußerst  günstige  Verhältnis  der 
Gruppe  zum  Format  und  die  ruhige  Harmonie  der  Farben 
sorgen  für  die  ganz  ausgeglichene  Wirkung.  Das  Bild 
ist  eine  Freske  neuen  Stils.  Wäre  es  wie  das  „Ate- 
lier" aufgestellt,  so  würde  man  in  ihm  einen  der  selten- 
sten Belege  für  die  Monumentalkunst  Courbets  finden. 
Denn  diesmal  hat  er  eine  Komposition  getroffen, 
die  trotz  des  Riesenformats  das  ganze  Bild  gleichmäßig 
beteiligt.  Als  Begleitstücke  des  Werkes,  das  hoffentlich 
einmal  eine  würdige  Aufstellung  erhält,  könnten  die 
anderen  Gemälde  desselben  Salons  von  1861  verwendet 
werden,  die  fast  sämtlich  das  Weidwerk  illustrieren.  Die 
Ausnahme  machte  die  „Roche  Oragnon",  eine  Felsenpartie 
des  Tales  von  Maizieres,  die  Theophile  Gautier  für  das 
WTerk  eines  „magistralen  Talentes"  erklärte  und  in  der 
sich  bereits  eine  neue  Phase  Courbets  meldet.  Um  die 
Mitte  der  sechziger  Jahre,  als  die  großen  Waldbilder 
des  „Puits  Noir",  die  „Remise  de  Chevreuils"  u.  s.  w.  ent- 
standen,  kommt  die  Landschaft  Courbets  zur  Blüte. 

In  der  besten  Zeit  drängen  sich  Courbets  Gaben  zu 
einem  geschlossenen  Ausdruck  zusammen.  Die  Kraft, 
die  sich  vorher  auf  Einzelheiten  bedeutender,  aber  mit- 
unter problematischer  Art  gerichtet  hatte,  floß  jetzt  in 
eine  einzige  gewaltige  Form.  Form  klingt  gewagt,  wo 
es  sich  um  Rhythmen  des  Pinsels  handelt.  Einem  engen 
Spezialisten  mag  die  Modellierung  des  „Proudhon"  for- 
maler als  die  Materie  des  „Puits  Noir"  erscheinen. 
Courbet  selbst  war  sich  darüber  offenbar  im  unklaren. 
Denn  er  dachte  nicht  daran,  konsequent  festzuhalten,  was 
ihm  in  Momenten  glücklichster  Eingebung  gelang :  die  in 
einem  einzigen  Rhvthmus  wogende  Fläche.  Selbst 
auf  seinen  glänzendsten  Werken  dieser  Zeit  ist  noch  ein 
auf  Reflexion,  nicht  auf  Instinkt  zurückgehender  Rest 
von  Materialverschiedenheit  zu  spüren,  sobald  er  sich  der 


i78  COURBET 

Staffage  bedient.  Die  Rehe  auf  der  ,, Remise  de  Chev- 
reuils"  —  das  Erlauchteste  von  Tiermalerei  —  sind 
immer  noch  nicht  vollkommen  gelöste  Bestandteile  des 
Bildes.  Noch  in  der  kolossalen  „Siesta"  des  Jahres  1868, 
heute  im  Petit-Palais,  kämpft  die  Gewalt  des  Braun- 
Weiß  der  Rinder  mit  dem  Grün  der  Landschaft.  Freilich 
ist  dieser  Kampf  ein  grandioses  Schauspiel,  und  was  man 
dagegen  sagen  kann,  sind  geringfügige  Reserven.  Immer- 
hin genügt  der  Einwand,  um  die  Landschaften  ohne 
Staffage,  wie  den  „Ruisseau  du  Puits  Noir"  des  Louvre 
und  die  von  Haro  vor  einem  Dutzend  Jahren  nach  Ame- 
rika verkaufte  Variante  höher  zu  stellen.  In  ihnen  tritt 
der  Fortschritt,  den  Courbet  in  der  Entwicklungsgeschichte 
bedeutet,  und  zugleich  seine  Größe  am  deutlichsten  hervor. 


Dieser  Fortschritt  beruht  auf  der  Erkenntnis,  daß  das 
Ding  an  sich  in  der  Kunst  keine  Rolle  spielen  darf,  und 
daß  man  es  unterdrücken  kann,  ohne  sich  eines  über- 
lieferten Stilmittels  zu  bedienen;  daß  nur  die  Kraft  sich 
behauptet;  daß  die  Form  eines  Baumes,  und  sei  sie  noch 
so  schön,  nicht  imstande  ist,  den  Wald  zu  ersetzen;  daß 
das  einzelne  nicht  das  Organische  der  Masse  enthält. 
Ich  glaube  nicht,  daß  Courbet  durch  Reflexion  darauf 
kam,  denn  latent  ist  diese  Einsicht  in  allen  seinen  Ge- 
mälden der  Frühzeit  zu  spüren,  und  ganz  ohne  sie  wäre 
auch  der  größte  Maler  nicht  imstande,  Kunstwerke  her- 
vorzubringen. Der  Fortschritt  war  vielmehr  eine  logi- 
sche, man  könnte  sagen,  selbsttätige  Folge  der  Früheren. 

Zola  nannte  ihn  einen  Faiseur  de  Chair  und  hatte  dabei 
nur  die  Weiber  des  Meisters  im  Sinn,  die„Femme  couchee", 
die  „Femme  ä  la  vague",  die  „Femme  au  perroquet" und  wie 
sie  sonst  noch  heißen;  die  Namenlosen,  von  denen  Courbet 
die  animalische  Art,   das  Elementare  ihres  Wesens  malte. 


LE  FAISEUR  DE  CHAIR  179 

Wieder  meldet  sich  die  Erinnerung  an  die  alten 
Meister.  Wir  haben  herrliche  nackte  Frauen  von  Tizian 
und  seinem  Kreis  und  von  Rubens.  An  beide  denkt 
man  vor  Courbets  Gestalten,  ohne  sie  zu  der  Art  des  einen 
oder  anderen  rechnen  zu  können.  Sie  sind  zu  ungestüm 
für  das  ruhig  atmende  Fleisch  der  Venezianer  und  zu 
gelassen  für  die  Rubenssche  Pracht.  Das  Blond  auf 
manchen  Bildern  und  wie  sich  das  Haar  um  die  Haut 
legt,  mag  an  den  Flamen  erinnern,  die  Pose  wiederum 
Tizian  nahe  erscheinen.  Es  ist  noch  etwas  anderes 
darin,  das  Tizian  nur  im  Vorübergehen  lockte  und 
das  uns  zu  gemäßigt  erscheint,  um  es  mit  der  größten 
Gabe  des  Rubens  zu  vergleichen:  die  Darstellung  des 
Fleisches  um  des  Fleisches  willen.  Man  wird  natürlich 
am  leichtesten  Beziehungen  zu  der  Fleischmalerei  Rubens' 
finden.  In  den  „Baigneuses"  sind  sie  sogar  in  der  Wahl 
des  Motivs  deutlich.  Nachher  aber  entfernt  sich  Courbet 
durchaus  von  dem  größten  Verherrlicher  der  Frau.  Rubens 
hatte  ein  glänzendes  Schema  für  das  Nackte.  Seine 
entblößten  Märtyrer  zeigen  immer  dasselbe  bläuliche 
Grau,  seine  Frauen  immer  dieselbe  Pfirsichblüte,  auch 
wenn  die  Harmonie  des  Bildes  nicht  unbedingt  auf 
diese  Farben  gestimmt  ist.  In  seinen  eigenhändigen 
Werken,  zumal  in  den  besten,  ist  die  Harmonie  getroffen; 
die  anderen  Farben  richten  sich  nach  der  des  Fleisches 
und  überziehen  diese  zuweilen  mit  vermittelnden  kon- 
trastierenden Tönen.  In  anderen  reißt  die  großartige 
Komposition  und  die  Verve  des  Pinsels  den  Betrachter 
mit  sich  fort,  auch  wenn  ihn  die  Farben  verstimmen. 
Selbst  in  den  vollkommen  harmonischen  Gemälden  ist 
es  scheinbar  nicht  so  sehr  die  beruhigende  Harmonie,  die  uns 
entzückt,  sondern  die  Lebhaftigkeit  der  Bewegung,  die  uns 
erst  nach  einer  herrlichen  Treibjagd  aufregendster  Art  die 
Beschaulichkeit  gönnt.  Im  Anfang  bestürzt  uns  ein 
Chaos,   und   Rubens'  Größe   macht,    daß   wir    des  Chaos 


180  COURBET 

Herr  werden.  Courbet  geht  ganz  anders  vor.  Er 
malt  seine  nackten  Frauen  mehr  wie  die  Holländer 
ihr  Stilleben.  Ein  sehr  reizendes  Beispiel  hängt  im 
Mesdag- Museum.  Hier  ruht  eine  blonde  zarte  Ge- 
stalt auf  einem  Bett  mit  rotem  Kissen.  Den  grauen 
Hintergrund  deckt  zum  .Teil  ein  Vorhang  aus  dunklem 
Olive.  Das  Grau  kommt  sanfter  in  den  Falten  des 
weißen  Lakens  wieder  und  noch  gemäßigter  im  Fleisch, 
wo  es  sich  mit  einem  sehr  zarten  Ton  des  roten  Kissens 
paart.  Wie  diese  Farben  stehen  alle  anderen  zu  ein- 
ander in  wohl  geordneter  Beziehung,  teils  in  warmen 
Kontrasten,  teils  in  organischer  Mischung.1)  Vermißt 
wird  jede  bedeutungsvolle  Geste,  jedes  Moment,  das 
zum  Dramatischen  treiben  könnte.  Dagegen  sind  die 
Formen  vollendet  plastisch  gebildet  und  wundervoll 
in  den  Raum  komponiert.  Die  Frauen  liegen  so,  wie 
man  einen  angenehmen  Gegenstand  nicht  besser  legen 
kann,  um  ihn  so  günstig  wie  möglich  mit  den  anderen 
Dingen  desselben   Rahmens  zusammenzubringen. 

Pls  versteht  sich,  daß  dies  kein  neues  Verfahren  ist, 
das  Courbet  entdeckte.  Die  Schönheit  jedes  Gemäldes 
geht,  mehr  oder  weniger  kontrollierbar,  auf  dasselbe 
Prinzip  der  Anlage  zurück.  Nur  liefert  in  allen  anderen 
Gemälden  von  der  Frau  der  bewußte  oder  unbewußte 
Symbolismus  des  Künstlers  eine  entscheidend  erscheinende 
Zutat.  Dieser  hebt  die  Frau  durch  eine  geistige  Beziehung 
hervor,  malt  sie  deshalb,  sei  es  auch  nur  in  Nuancen 
anders  wie  den  Rest  und  läßt  unseren  Genuß  von  der 
Schönheit  des  Hervorgehobenen  auf  das  übrige  des 
Bildes  zurückstrahlen.  Tizians  ruhende  Venus,  in  der 
Tribuna,  ist  die  Königin  des  Bildes,  die  mit  ihrer  Schön- 
heit spielt.  Ein  Hauch  von  ihr  ruht  auf  allen  Dingen 
des  Gemachs.     Rubens  Weiber  in  den  Bacchanalen  teilen 

')  Auch  die  Harmonie  der  beiden  hier  wiedergegebenen  Bilder  mit 
ruhenden  Frauen  ist  auf  ähnliche  Art  gewonnen. 


LE   FAISEUR  DE  CHAIR  181 

ihre  Raserei  den  Genossen  mit,  oder,  was  sie  und  ihre 
Genossen  treibt,  ist  ein  wilder  Liebesinstinkt,  der  schnell 
die  Brücke  zu  unserer  Deutung  schlägt  und  das  durch 
den  Pinsel  rücksichtslos  Zusammengefaßte  zur  gesteiger- 
ten Empfindung  wandelt.  Auch  für  Courbet  bleibt  die  Frau 
die  Hauptperson,  aber  nur  insofern,  als  sie  sich  von 
einer  Gardine  oder  einem  Kissen  oder  irgend  einem 
anderen  Gegenstand  durch  den  größeren  Reichtum  an 
Flächen  und  Linien,  an  Farbe  unterscheidet.  Die  Frau 
ist  nur  das  reichste  Detail  des  Bildes,  nicht  das  Subjekt. 
Er  unterstreicht  dieses  Verhältnis,  faßt  die  Frau  so  äußer- 
lich wie  möglich  und  erfaßt  dadurch  ihre  allein  darstell- 
baren Eigenschaften  mit  bewunderungswerter  Intensität. 
In  dieser  Anschauung  machte  Courbet  Fortschritte. 
Er  übertrug  seine  Auffassung  der  „Chair",  die  in  allem, 
was  gemalt  werden  kann,  nur  Materie  erblickt,  auf  die 
ganze  Natur  und  gelangte  notwendig  da  zur  größten 
Wirkung,  wo  es  sich  um  eine  besondere  Vielheit  der 
Objekte  handelt,  in  der  Landschaft.  So  schön  seine 
Frauen  und  Tiere  sind,  man  merkt  deutlich,  daß  sie 
seinem  Ehrgeiz  nie  ganz  die  Aufbietung  aller  in- 
dividuellen Kräfte  gestatteten.  Der  merkwürdige  Dualismus 
seiner  Begabung,  gleichzeitig  besonders  begünstigt  zu 
sein,  der  Malerei  einen  Fortschritt  zu  bringen  und  alle 
Werke  der  Vergangenheit  zu  konservieren,  trieb  ihn 
immer,  wo  das  Motiv  die  Konkurrenz  mit  den  alten 
Meistern  nahelegte,  mit  den  Mitteln  der  Vorgänger  zu  ar- 
beiten. Er  nahm  seine  ganze  Kraft  nur  in  der  Land- 
schaft zusammen,  dem  verhältnismäßig  am  wenigsten 
von  den  Alten  eroberten  Feld,  und  gab  tatsächlich 
eine  neue  Auffassung  von  der  Natur,  weil  er  neue,  d.  h. 
weitergehende  Konzentrationen  der  Vielheit  erreichte. 
Als  er  nur  an  sich  selbst  dachte,  bekam  die  Materie 
seiner  Bilder  ein  vollkommen  neues  Gesicht.  Das  Kolo- 
rit  der  Flamen   verschwand,   die   auf  das  Abgeschliffene 


x82  COURBET 

der  Fläche  gerichtete  Sorgfalt  trat  zurück.  Aus  dem 
Pinsel  wird  ein  neues  Werkzeug  —  Pinsel,  Bürste,  Messer 
zugleich.  Courbet  malt  in  seinen  besten  Bildern  nicht  mehr, 
sondern  schmiedet,  modelliert,  kleistert  seine  Flächen.  Und 
daraus  entstehen  Wirkungen,  die  den  altmeisterlichen 
Courbet,    so  groß   er  sein    mag,   weit  hinter  sich  lassen. 

Die  ganze  Geschichte  der  Malerei  ist  ein  immer 
weiter  greifendes  öffnen  der  Fläche.  Immer  lebendiger 
wird  die  Epidermis  des  Bildes,  immer  näher  rückt 
das  Symbol  der  Natur,  immer  weiter,  umfassender  wird 
der  Begriff  der  Form.  In  dieser  Entwicklung  gelingt 
Courbet  für  unsere  Zeit  eine  Entscheidung.  Er  macht 
die  Schönheit  des  Nackten,  nicht  nur  des  Weibes,  viel  mehr 
noch  der  Landschaft  zum  Bilde,  entkleidet  von  allem, 
was  nicht  aufs  Auge  wirkt.  So  entsteht  eine  neue  Syn- 
these der  Elemente  der  Landschaftsmalerei,  eine  neue 
Materie,  die  dem  Wasser,  dem  Wald,  dem  Felsen,  der 
Erde  ein  gemeinsames  Merkmal  abringt.  Mit  ihm  stellt 
Courbet  ihre  Gesamtheit  dar.  Er  malt  die  Natur  nicht 
wie  etwas  Objektives,  sondern  vereint  sich  mit  ihr.  Seine 
Pinselstriche  sind  Frucht-Atome  des  Lebens,  das  unter 
der  meisterlich   gebundenen  Erscheinung  mächtig  atmet. 

Damit  verglichen  ist  die  Landschaft  der  Alten  trotz 
aller  dekorativen  Reize  matt.  Kein  Primitiver  rührt 
an  diesen  Impuls,  der  alle  Empfindungen  in  Kraft 
verwandelt.  Die  stärkste  Linie  wirkt  daneben  wie  win- 
ziges Detail.  Wohl  ist  die  neue  Form  in  letzter  In- 
stanz ein  konventioneller  Begriff  wie  die  Linie  —  auch 
wenn  es  lange  genug  dauerte,  bis  man  ihn  erkannte  — 
aber  das  Wissen  von  diesem  Begriff  bleibt  von  der 
Wallung  des  Instinktes  umhüllt.  Die  Form  bleibt  Form, 
gibt  nichts  an  den  Verstand  ab,  wirkt  so  natürlich  wie 
die  Natur  selbst,  bei  der  wir  ja  auch  das  Schöne  längst 
empfunden  haben,  bevor  wir  fragen,  woher  es  stammt 
—  wenn  wir  uns  überhaupt  die    Frage   vorlegen. 


LE   FAISEUR  DE  CHAIR  183 

Von  den  Landschaftern  des  17.  Jahrhunderts  aber 
scheidet  Courbet  das,  was  ihn  selbst  von  seiner 
altmeisterlichen  Periode  trennt.  Ihn  unbedingt  über 
sie  zu  stellen,  wäre  Yerkennung  ihrer  Eigentümlichkeit 
und  der  Notwendigkeiten  der  Entwicklungsgeschichte. 
Der  wesentliche  Reiz,  den  wir  in  ihnen  finden,  gehört 
ihnen  und  ist  in  gleicher  Art  nicht  zu  übertreffen.  Courbet 
hat  ihn  bei  Seite  gelassen.  Wohl  aber  erfaßte  er,  was 
ihnen  in  ersten  Andeutungen  vorschwebte:  den  Ersatz 
der  glatten  Fläche  durch  die  Arabeske  des  Farben-Auf- 
trags. Zwar  besaß  Rembrandt  wie  wenige  nach  ihm 
das  Geheimnis  der  Hieroglyphe  des  Pinsels,  die  das 
sprühende  Leben  enthält,  aber  übte  sie  mehr  am  Por- 
trät, um  zu  dem  mit  nichts  vergleichbaren  Ausdruck 
seiner  Menschen  zu  gelangen.  Vermeer  war  Pfadfinder 
in  der  Landschaft  und  bildete  sich  dafür  ein  besonderes 
Schema,  das  seinen  berühmten  Kanal  wie  von  anderer 
Hand  gemalt  erscheinen  läßt,  aber  blieb  auch  dabei 
der  intime  Holländer.  Manche  Prärien  Cuyps  verbinden 
mit  gehauchter  Tonkunst,  die  ihn  in  die  Nähe  Poussins 
bringt,  die  Kühnheit  stark  aufgesetzter  Reflexe,  den 
goldigen  Spritzern  Rembrandts  ähnlich.  Aert  van  der 
Neer  überzog  seine  Brettchen  mit  einem  dunklen  Bern- 
steinglanz, der  die  kostbarsten  Lacke  Japans  aussticht 
und  malte  darin  vom  Mond  beleuchtete  Dörfer  von  ver- 
blüffendem Realismus.  Er  und  van  Goyen  deuten  schon 
mit  den  gekritzelten  Silhouetten  ihrer  Hintergründe  die 
Handschrift  ihrer  Enkel  an.  Aus  Hunderten  von  Bil- 
dern sproß  der  Samen.  Wir  hätten  nichts,  wären  nicht 
die  Alten  gewesen.  Aber  zu  reichen  Garben  ist  die 
Saat  gediehen.  Die  Eigenart  der  Vorfahren,  die  Kombination 
kostbaren  Kolorits  mit  den  Impressionen  des  Naturkindes, 
die  dem  Liebhaber  der  Holländer  das  Wasser  im  Munde 
zusammenzieht,  haben  wir  nicht,  und  wer  die  Neuzeit 
recht  versteht,   begreift,    daß    darauf   verzichtet   werden 


i84  COURBET 

mußte.  Unsere  Kunst  bedurfte  breiterer  Flächen,  um 
unseren  dumpfen  Sinn  mächtig  genug  zu  erschüttern, 
eines  stärkeren  Pathos,  um  den  Willen  der  Seltenen  zu 
äußern.  Je  gewaltsamer  die  Zeit  das  Genie  bedrängt, 
um  so  rückhaltloser  zeigt  sich  sein  Temperament,  um 
so  reiner  tritt  das  Unpersönliche  hervor.  Man  könnte 
Courbet,  im  Vergleich  zu  den  Malern  der  holländischen 
Kanäle,  einen  Dramatiker  nennen,  auch  wenn  er  nie 
ein  Drama  gemalt  hat.  Seine  Kraft  war  in  sich  dra- 
matisch, denn  sie  gewann  lediglich  aus  der  Fähigkeit, 
die  Erscheinung  zu  durchdringen,  das  Zusammenfassende 
dramatischen  Schwungs.  Daher  bedurfte  er  nicht  des 
Gegenständlichen,  ja  es  schädigte  ihn.  Je  reduzierter,  je 
weniger  psychologisch,  je  geistloser  der  sogenannte  In- 
halt, um  so  reicher,  bis  zum  Dämonischen  stürmischer, 
bis   zum    Erhabenen   gewaltiger   das   Gemälde    Courbets. 


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FEMME  COUCHEE. 


DAS  NEUE  PROGRAMM 

MAX  begreift,  wie  weit  sich  die  Anschauung  Courbets 
von  der  gewohnten  Methode  entfernt,  durch  die 
szenarische  Komposition  des  Gemäldes  zu  wirken.  Auch 
der  Naturalist,  der  nur  das  Gesehene  darzustellen  meint, 
wählt  die  Xatur  so,  wie  sie  sich  am  besten  für  seine 
Zwecke  ausnimmt,  korrigiert  sie  daraufhin,  um  durch 
das  Gegenständliche  charakteristische  Wirkungen  dieser 
oder  jener  Art  zu  erzielen,  d.  h.  komponiert.  Für  Cour- 
bet  dagegen  trat  die  räumliche  Bedeutung  des  Gegen- 
standes —  ganz  abgesehen  von  der  symbolischen,  die 
überhaupt  für  ihn  nicht  existierte  —  immer  mehr  zurück. 
Er,  der  so  viel  nach  Form  rang,  zielte  gleichzeitig  dar- 
auf hin,  das  Gemisch  der  Xatur  zu  malen,  nicht  die  Form 
des   einen  oder   anderen   Dinges.     Selbst  das   Licht   und 


188  COURBET 

die  Luft  verloren  für  ihn  die  hervorragende  Wichtigkeit. 
Er  hat  sich  übrigens  nie  bewußt  mit  Licht-Problemen 
beschäftigt.  Die  Landschaft,  von  1860,  im  Amsterdamer 
Stedelijk  Museum,  wo  er  mal  ausnahmsweise  dem  Spiel 
der  Atmosphäre  nachging,  wirkt  auffallend  flau  und 
stumpf.  Die  Luftleere  im  „Proudhon"  und  vielen  an- 
deren Bildern  trieb  die  Zeitgenossen  zu  manchem  be- 
rechtigten Vorwurf.  Nur  ließen  sie  außer  acht,  daß  Cour- 
bet  seiner  ganzen  Art  nach  nicht  anders  sein  konnte,  so- 
lange er  die  Reinheit  seiner  Formen  bewahren  wollte, 
und  daß  der  Verzicht  auf  einheitliche  Lichtwirkung  oder 
besser  auf  die  Betonung  der  einheitlichen  Lichtwirkung 
mit  seiner  Abneigung  zusammenhing,  die  Pracht  seiner 
Realitäten  zu  schmälern.  Es  ist  eine  der  vielen  Merk- 
würdigkeiten dieser  Künstlerlaufbahn,  daßderselbeMensch, 
der  sich  in  dieser  Abneigung  Ingres  näherte,  nachher 
die  Natur  sozusagen  in  einen  Mörser  tat,  um  zu  einer 
absoluten  Einheit  zu  gelangen.  Aber  auch  hier  wieder- 
um ist  es  nicht  die  Rücksicht  auf  Licht  und  Luft,  was 
ihn  treibt.  Nicht  die  Luft  leuchtet  auf  seinen  späteren 
Bildern,  sondern  die  Farbe.  Das  Partikel  Farbe,  wie  er 
es  auf  der  Leinwand  formte,  wird  der  Träger  aller  der 
suggestiven  Momente,  die  in  gelungenen  Bildern  seiner  Vor- 
gänger den  Eindruck  des  Organischen  hervorrufen.  Er 
reduzierte  sozusagen  die  Sprache  des  Malerischen  auf 
Naturlaute.  Es  bedurfte  dafür  seiner  außerordent- 
lichen Beherrschung  aller  nur  erdenklichen  Mittel  des 
Berufs  und  kaltblütiger  Kühnheit.  Daß  aber  dies  Ver- 
fahren auf  Betrachter,  die  gewohnt  waren,  aus  den  Händen 
des  Künstlers  gebundene  Vorstellungen,  abgeschlossene 
Gedanken  zu  empfangen,  wie  die  Sprache  eines  Wilden 
wirkte,  kann  uns  kaum  wundernehmen.  Die  generali- 
sierende Behandlung  empörte  um  so  mehr,  wo  sie  sich 
auf  den  geheiligten  Leib  des  Menschen  erstreckte.  Cour- 
bet    sah  in  dem  Menschen  so  gut  ein  Stück  Fleisch  wie 


DAS  NEUE  PROGRAMM  189 

in  dem  Ochsen,  den  er  seinen  Schülern  als  Modell  gab, 
und  der  Ochse  war  ihm  so  gut  ein  Stück  Zellengewebe, 
wie  die  Borke  des  Baumes  oder  der  bemooste  Felsen. 
Das  Publikum  empfand  das  als  persönliche  Beleidigung. 
Jeder  Betrachter  identifizierte  sich  unbewußt  mit  den 
Helden  der  Bilder  —  auch  wo  Ochsen  die  Helden 
waren  —  und  fühlte  sich  als  vegetative  Materie  be- 
handelt. Daß  Delacroix,  wenn  er  den  „Christ  im 
Olivengarten"  wie  ein  Stück  zuckenden  Fleisches  auf  den 
Boden  warf,  im  Grunde  dieser  Anschauung  nicht  fern- 
stand, entging  dem  Romantiker  selbst  und  seinem  Kreise. 
Auch  Delacroix  generalisierte  wie  jeder  Maler,  der  da- 
nach trachtet,  das  Einzelne  zum  Ganzen  zu  verbinden. 
Er  stellt  ausdrücklich  im  Journal  das  Genie  schlecht- 
weg als  die  Gabe,  zu  generalisieren,  hin  und  sucht  gerade 
mit  diesem  Satz  Courbet  zu  widerlegen.1)  Der  Schein, 
daß  er  etwas  anderes  als  Courbet  tat,  war  selbst  für 
seine  Weisheit  überzeugend.  In  Wirklichkeit  war  der 
Unterschied  nur  der,  daß  Delacroix  den  spirituellen  Be- 
weggrund, der  ihn  zum  Generalisieren  trieb,  ahnen  ließ. 
Er  versteckte  nicht  seine  persönliche  Teilnahme,  die  ihn 
so  handeln  ließ,  sondern  zeigte  sie  vielmehr  im  drama- 
tischen Stoffe;  ein  unbewußter  und  unwesentlicher 
Kompromiß,  der  nichtsdestoweniger  die  Zuschauer  ge- 
fangen nahm.  Man  nahm  Courbet  für  etwas  prinzipiell 
anderes,  das  vielleicht  —  im  besten  Fall  —  respektabel 
war,  aber  durchaus  nicht  das  Eigentliche  der  Kunst 
sehen  ließ.  Selbst  ein  so  überzeugter  Verehrer  Courbets 
wie  Duret  stellte  noch  1867  die  ,,Absence  d'imagina- 
tion"  und  „Absence  d'emotion"  des  Freundes  als  Tat- 
sache hin"2)  und  übersah,  dass  er  damit  den  Künstler 
leugnete.  Denn  ohne  Erregung  gibt  es  keine  Kunst. 
Auch    Courbet    war   erregt.     Ohne    das    wäre   er   nie 

1)  Journal  II,   159. 

-)  In  dem  zitierten  Buch  „les  Peintres   Francais". 


190 


COURBET 


auf  den  Gedanken  gekommen,  zu  malen.  Er  sprach  das 
einmal,  als  ihn  jemand  fragte,  wie  er  seine  Landschaften 
male,  wörtlich  aus,  indem  er  erwiderte:  „Je  suis  emu". 
Das  Wort  wie  alle  anderen  diente,  zumal  er  es  mit  dem 
Akzent  des  Provinzlers  sagte,  nur  wieder  dazu,  ihn  lächer- 
lich zu  machen.  Sicher  fand  Lafenestre  wenig  Verständnis 
bei  seinen  Lesern,  als  er  bei  seiner  Salonbesprechung  über 
Corot  und  Courbet  sagte,  daß  es  tausend  Arten  der  Er- 
regung durch  die  Natur  gäbe  und  daß  Courbet  in  nicht 
geringerem  Maße  erregt  sei  als  Corot,  nur  auf  andere 
Weise.1)  Man  begriff  nicht,  daß  in  Courbet  das 
Medium  der  Erregung  nur  um  eine  Station  tiefer 
gerückt  war,  und  diese  Verschiebung  notwendige 
Modifikationen  der  Wirkung  auf  den  Betrachter  —  der 
Gegenerregung  —  zur  Folge  hatte.  Man  ahnte  nicht,  daß 
sich  hier  eine  der  Wandlungen  vollzog,  die  die  Geschichte 
schon  Dutzende  Male  vorher  erlebt  hatte. 

Denn  was  anderes  unterscheidet  eine  Kunstepoche  von 
der  vorhergehenden,  eine  Menschheit  von  der  anderen,  wenn 
nicht  diese  Wandlung.  Das  Objekt,  die  Welt,  der  Gegen- 
stand, das  Gesetz,  alles  das  bleibt  immer  dasselbe.  Nur 
das  Subjekt  wechselt,  das  heißt,  die  Erregung,  die  Lösung. 
Die  Maße  erneuern  sich.  Jede  Veränderung  des  Maß- 
stabes aber  empört  die  Menge  und  muß  sie  empören, 
denn  sie  vollzieht  sich  gegen  ihren  Willen  und  nimmt 
für  sie  daher  sofort  den  Charakter  der  Demütigung  an, 
auch  wenn  es  sich  nur  um  ästhetische  Dinge  handelt. 
Delacroix  malte  die  Dinge  wie  Schlachtenbilder,  das  ließ 
sich  der  Mob  gern  gefallen,  auch  wenn  er  durchaus  nicht 
schlachtenmäßig  gesinnt  war.  Courbet  malte  sie  wie  Still- 
leben; das  wurde  als  gefühllos  empfunden.  Generali- 
sieren war  des  einen  Kunst  wie  die  des  anderen,  nur  der 
Generalisator  wechselte.  Dabei  war  die  Art  Courbets 
ursprünglich  durchaus  nicht  unediert.     So  hatten  schon 

x)  L'Art  vivant  (S.  Fischbacher,   Paris    1887). 


DAS  NEUE  PROGRAMM  191 

im  Prinzip  viele  Holländer  gemalt.  Nur  rührte,  so  schien 
es,  ihre  Art  zu  generalisieren  von  einer  Anschauung 
her,  deren  burschikose  Sorglosigkeit  die  Nachlebenden 
amüsierte.  Das  Genrehafte  half  ihnen.  Denen  freilich, 
die  ohne  jede  Rücksicht  über  das  Genrehafte  hinaus- 
gingen, wie  der  alte  Rembrandt,  bekam  die  Methode 
schlecht.  Über  die  zweite  Anatomie  mögen  die  Leute 
nicht  weniger  erbost  gewesen  sein,  als  die  Zeitgenossen 
Courbets  über  die  „Femme  couchee".  Noch  dazu  tat 
Courbet  persönlich  alles,  um  seine  Art  dem  Publikum 
noch  verabscheuungswürdiger  zu  machen.  Er  barst  vor 
Lachen,  wenn  man  ihm  von  Seele  sprach,  und  fand 
nicht  die  Zeit  zur  Einsicht,  noch  die  Worte,  noch  war  er 
sich  selbst  im  Grunde  bewußt,  daß  über  den  Begriff  Seele 
auch  in  seinen  Sachen  sehr  wohl  zu  diskutieren  war,  sobald 
man  sich  nicht  darauf  beschränkte,  immer  nur  die  Seele 
malender  Dichter  in  Aktion  sehen  zu  wollen. 

Denn  es  wäre  nicht  verwegen,  ihn  zu  der  Romantik  zu 
rechnen;  nicht  zu  der  Romantik  der  Delacroix-Schwärmer, 
wohl  aber  zum  weitesten  Gebiet  der  Delacroixschen  Kunst, 
wenn  man  diese,  allen  literarischen  Beiwerks  entkleidet, 
auf  ihr  Wesen  untersucht.  Wir  fanden  im  Anfang 
Beziehungen  zum  Maler  der  Dantebarke.  Diese  ver- 
schwinden im  Laufe  der  Jahre,  aber  treten  in  der  Blüte- 
zeit, den  sechziger  Jahren,  wieder  hervor.  Nur  weniger 
wörtlich,  auf  größerem  Fuß,  in  einer  des  Künstlers 
^würdigeren  Weise.  Nicht  in  der  Legende  ruht 
Delacroix'  Bedeutung,  sondern  in  seiner  dämonischen 
Fähigkeit,  die  Fläche  vibrieren  zu  machen,  in  der  Musik 
seiner  Bilder,  die  gleich  groß,  gleich  ungehemmt  vom 
Inhalt,  gleich  reine  Leidenschaft  erscheint,  wie  die  Töne 
seines  Freundes  Chopin.  Mit  anderen  Mitteln  zielte 
Courbet  auf  ähnliche  Wirkung.  Es  gehörte  nichts  so 
sehr  als  seine  Phantasie  dazu,  um  die  Flecken  zu 
erfinden,   aus  denen  er  die  Materie  seiner  Bilder  schuf, 


192 


COURBET 


nichts  so  sehr  als  sein  stahlhartes  Temperament. 
Daß  er  uns  so  anders  als  Delacroix  erscheint,  ist 
vielleicht  weniger  seine  Schuld  als  die  unsere,  da  wir 
uns  so  schwer  vom  Gegenstand  losmachen  und  von 
der  größeren  Verstecktheit  seiner  Romantik  betrogen 
werden.  Leichter  wird  der  entfernte  Anschluß  an  Dau- 
mier  erkannt.  Ihn  sahen  schon  die  Zeitgenossen  und 
benutzten  ihn  natürlich  zur  Heruntersetzung  Courbets. 
Man  warf  ihm  vor,  sich  an  Daumiers  Karikaturen  zu 
inspirieren  und  Hogarth  den  Rang  streitig  zu  machen. 
Das  erscheint  uns  heute  weniger  als  Schimpf  als  vor 
50  Jahren,  als  man  mit  diesem  Vergleich  sowohl  das 
fiktive  Vorbild  wie  den  vermeintlichen  Nachahmer  schmä- 
lern wollte.  Daumiers  starklinige  Zeichnungen  mögen 
Courbet  wohl  gefallen  haben,  auch  wenn  er  sich  aus 
anderem  Holze  fühlte.  Näher  aber  war  ihm  der  große 
Maler  Daumier,  der  Schöpfer  des  ,, Waggon  de  III.  Classe" 
usw.  In  manchen  Skizzen  Courbets  wie  der  neulich 
im  Pariser  Handel  aufgetauchten  prachtvollen  Studie  zu  dem 
,, Retour  de  la  Conference",  dem  Hauptwerk  des  Jahres  1862, 
glaubt  man  einen  Niederschlag  Daumiers  zu  finden.  Noch 
deutlicher,  ja  ganz  unverkennbar  ist  die  Beziehung  zu 
einem  anderen,  von  Delacroix  und  Daumier  hochge- 
schätzten Meister  derselben  Zeit,  zu  Decamps.  Decamps 
und  Courbet  sind  nahe  Verwandte,  nicht  nur  als  Tier- 
maler, als  die  sich  beide  derselben  breiten  Art  bedienen 
—  die  beiden  Hunde  auf  der  „Curee"  sehen  den  berühmten 
Kötern  Decamps'  ähnlich  — ,  überhaupt  als  Bildnismaler, 
wenn  man  die  Fleischmalereien  Courbets  so  nennen  kann 
und  auch  Bildnisse  von  Vierfüßlern  als  Portraits  zuläßt. 
Es  ist  dieselbe  Sachlichkeit,  die  auf  gleichem  Wege  zum 
Monumentalen  führt.  Als  Decamps  in  jungen  Jahren 
die  „Defaite  des  Cimbres",  heute  im  Louvre,  malte,  — 
eins  der  glorreichsten  Zeugnisse  der  französischen  Kunst, 
das   weit   über  alles,   was    ihn    später    populär    gemacht 


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DAS  NEUE  PROGRAMM 


193 


hat,  hinausging  —  ließ  er  die  Menschen-Herden  aus  dem 
Boden  wachsen  und  erzielte  damit  die  unbeschreib- 
liche Massenwirkung.  Fast  brauchte  man  die  Herden 
gar  nicht  zu  sehen,  um  denselben  Eindruck  des  ungeheuer 
belebten  Gefildes  zu  haben,  so  eigentümlich  dramatisch 
ist  die  Fläche  gestaltet.  So  dachte  Courbet  und  darin 
wurde  er  von  dem  Anblick  des  größten  Genies  jener  Ge- 
neration, dem  Keim  aller  anderen,  bestärkt,  von  Gericault. 
Auch  Gericaults  Spuren  fanden  wir  schon  am  Anfang. 
Es  schien  ein  mehr  zufälliges  Zusammentreffen,  wenn 
auch  feststeht,  daß  Courbet  in  jungen  Jahren  den  anderen 
kopiert  hat.  Aber  gerade  in  der  reifsten  Zeit  tritt  uns 
der  Maler  des  „Medusenflosses"  deutlich  vor  Augen,  nicht 
so  sehr  in  bestimmten  Bildern — wenn  schon  manche 
Landschaften  Gericaults,  z.  B.  das  prachtvolle  Bild,  das 
gegenwärtig  bei  Haro  hängt,  den  Vergleich  herauszufordern 
scheinen  —  vielmehr  als  Anschauung,  als  Temperament. 
Dieselbe  Dramatik,  die  Gericault  ohne  äußerliche 
Handlung  einer  Physiognomie,  einem  Pferd,  einem  Ter- 
rain, und  sei  es  auch  noch  so  flach,  zu  geben  wußte, 
die  Dramatik,  die  in  der  Erfassung  der  Begebenheit  und 
in  der  Wucht  der  Wiedergabe,  im  Nerv  der  Hand  liegt, 
hat  auch  Courbet  erwiesen.  Nicht  so  verlockend,  das  sei 
dem  großen  Vorgänger  gern  zugegeben,  der  in  jedem 
Bild  die  in  alle  Tiefen  dringende  Generosität  eines 
meteorähnlichen  Daseins  ahnen  läßt;  nicht  so  reizvoll 
durch  die  herrliche  Koloristik,  die  Gericault  noch  zuletzt 
eroberte.  Courbet  blieb  immer  von  altmodischer  Palette. 
Auch  fehlt  ihm  des  jungen  Giganten  Hellenentum,  und 
das  Proletarische  mancher  Äußerlichkeiten  des  Pseudo- 
Sozialisten lag  der  geborenen  Noblesse  des  Kavalier-Malers 
fern.  Aber  die  Kraft  des  Instinkts,  die  Unerschrocken- 
heit  zur  Kraft  ist  beiden  gemeinsam.  Beide  wußten, 
wo  das  Geheimnis  der  größten  Wirkung  liegt.  Die  Er- 
oberungslust,  die  aus  Gericault  hervorbricht,   schmettert 


i94 


COURBET 


ihren  Optimismus  auch  in  Courbet  heraus,  und  in  der 
Befruchtung,  die  dieser  Optimismus  auf  die  Zeitgenossen 
oder  Nachkommen  ausübte,  reichen  sie    sich  die  Hände. 

Gericault  geleitet  Courbet  zur  Schwelle  seiner  letzten 
Phase  seines  Künstlertums,  die  man  die  seiner  reinen 
Vernunft  nennen  könnte,  einer  kurzen,  aber  unvergäng- 
lichen Epoche.  Die  letzte  Stufe  selbst  ist  Courbet  ganz 
allein  gegangen.  So  viel  der  Einflüsse  sind,  die  sich  vor- 
her verfolgen  lassen,  denen  er  mit  vollem  Bewußtsein, 
nach  seinem  eigenen  schönen  Eingeständnis,  nachgab,  zu- 
letzt finden  wir  ihn  auf  einer  einsamen  Höhe,  die  wohl 
nach  ihm  mit  seiner  Hilfe  wieder  erreicht  wurde,  nicht 
vor  seiner  Zeit  erstritten  worden  ist.  Es  ist  die  Periode, 
aus  der  das  späteste  Louvrebild,  die  „Woge",  stammt.  Sie 
ist  wiederum  durchaus  nicht  zeitlich  zu  präzisieren.  Es 
gibt  eine  Menge  gleichzeitiger  Bilder,  Portraits  nament- 
lich, die  keinerlei  Beziehung  zu  ihr  verraten  und  ebensogut 
zehn    Jahre    vorher    gemacht    sein   könnten. 

Um  die  Mitte  der  sechziger  Jahre  beginnen  die  Ma- 
rinen von  Trouville.  Sie  sind  Legion.  Castagnary  be- 
hauptet, daß  Courbet  täglich  eine  in  ein  paar  Stunden  malte ; 
im  Sommer  1865  sollen  allein  deren  vierzig  entstanden 
sein.  Es  waren  zuerst  ruhige  Plan-Schilderungen  von 
glänzender  Einteilung,  in  denen  die  Perspektive  nur  durch 
die  Tönungen  des  Wassers  unter  den  verschieden  auf- 
fallenden Lichtstrahlen  belebt  wird.  Sein  berühmtes 
Wort  „Le  paysage  est  une  affaire  de  tons"  gilt  nirgends 
mit  so  viel  Recht  wie  von  seinen  Seebildern.  Seebildnisse 
könnte  man  sie  nennen.  Er  malte  sie  anfangs  mit  Liebe, 
fast  mit  Zärtlichkeit,  so  behutsam  ging  er  der  blauen  Fläche 
nach,  die  ihren  Schein  in  den  Himmel  wirft  und  von  dort 
wieder  reflektiert  wird.  Jedes  der  folgenden  Jahre  kam 
er  wieder  und  mit  jedem  Jahre  näherte  er  sich  mehr  dem 
Element.  Er  wurde  hier  zum  Dichter.  Die  „Femme 
ä  la  vague"  der  Sammlung  Faure  in  Paris,   1868  gemalt, 


DAS  NEUE  PROGRAMM  195 

für  Courbet  vielleicht  nur  die  Studie  eines  nackten  Ober- 
körpers im  Wasser,  wurde  ein  gewaltiges  Symbol.  Noch 
einmal  legte  er  hier  alle  Kraft  in  die  Plastik  eines  Frauen- 
leibes, modellierte  die  Brust,  die  über  den  Kopf  ver- 
flochtenen Arme  mit  größter  Meisterschaft  und  erhielt 
trotz  der  minutiösen  Malerei  des  Körpers  so  voll- 
kommen den  Rhythmus  des  Meeres,  daß  man  in  der  Frau 
eine  Personifizierung  der  Wellen  vor  sich  zu  haben  glaubt. 

Aber  nichts  kommt  der  Macht  des  Ausdrucks  gleich, 
mit  der  er  um  diese  Zeit  das  Element  selbst  ohne  alles 
Beiwerk  darstellte.  Er  faßte  den  Ausschnitt  des  Meeres 
immer  enger,  machte  es  hier  gerade  so,  wie  mit  vielen 
gleichzeitigen  Landschaften,  wo  er  —  man  denke  an  die 
Grottenbilder  —  den  Felsen  oder  die  Erde  dem  Be- 
schauer ganz  nahe  rückt  und  einen  Einblick  in  das  Innerste 
der  Materie  öffnet.  Bei  dem  Meer  kommt  die  Bewegung 
hinzu.  Er  war  ein  noch  leidenschaftlicherer  Schwimmer 
als  Jäger.  Man  fühlt  es  in  den  letzten  Marinen:  sie  sind 
von  der  Liebe  zum  Wasser  gemalt,  vom  Meere,  nicht  vom 
Lande  aus  gesehen;  die  Wellen,  wie  sie  dem  mit  ihnen 
Ringenden  erscheinen.  Er  stellte  in  großem  Format  mit 
einem  verhältnismäßigen  Minimum  von  gesehenem  Raum 
das  Maximum  von  Kraft  dar,  Querschnitte  durch  das 
ganze  tobende  Kräfte-Chaos  des  Meeres. 

Die  „Vague"  des  Louvres  von  1870  ist  ein  Höhepunkt 
dieser  Zeit.  Nicht  der  einzige.  Es  gibt  sicher  ein  Dutzend 
^  arianten;  zwei  davon  sind  in  deutschem  Besitz,  eine  der 
größten  seit  kurzem  in  der  Berliner  Nationalgalerie,  die 
auch  eine  kleine  Landschaft  aus  den  sechziger  Jahren 
besitzt;  eine  nicht  so  bedeutende  im  Stedelijk  Mu- 
seum von  Amsterdam,  eine  andere  ist  hier  abgebildet. 
In  der  Louvre-  Fassung  ist  das  Verhältnis  des  Wassers 
zu  dem  blaugrauen  Himmel  außerordentlich  schön, 
dagegen  stört  neben  dem  gewaltig  brandenden  Meer 
das  gar    zu   Gegenständliche    der    Kähne  am  Ufer    und 


196  COURBET 

das  Ufer  selbst.  Sein  alter  Fehler,  den  Delacroix 
rügte,  ist  selbst  jetzt  noch  nicht  überwunden,  man  ist 
beinahe  geneigt,  auch  darin  ein  Zeichen  seiner  Stärke 
zu  sehen.  Es  ist  derselbe  Fehler,  der  die  glänzenden 
Grottenbilder  um  eine  Nuance  trübt.  Auf  einem  von  ihnen 
sitzt  ein  Mensch  in  der  Höhlung,  auf  einem  anderen  sieht 
man  ein  paar  Rehe.  Die  Verhältnisse  dieses  Beiwerks  zu  dem 
Rest  sind  ganz  verfehlt.  Nicht  nur  die  Größenverhält- 
nisse, vor  allem  die  des  Materials.  Das  Gestein  ist  em- 
pfunden, in  eine  neue  wunderbare  Materie  übertragen, 
nicht  das  Detail  ist  gegeben,  so  nahe  man  davor  zu  stehen 
meint;  die  Gewalt  dieser  tragenden  und  getragenen,  zu- 
sammengewachsenen, aufeinandergeschweißten  Massen  ist 
gemalt.  Die  Staffage  wirkt  daneben  wie  Spielerei.  Das 
merkwürdige  ist,  daß  man  sich  gar  nicht  vorstellen  kann, 
wie  sie  gemalt  sein  müßte.  Die  Einsamkeit  dieser  Massen 
lebt  so  gewaltig,  daß  der  Gedanke  an  lebende  Wesen 
nicht  aufkommt.  In  der  Berliner  Fassung  der  ,,Woge"  ist 
das  Ufer  auf  ein  winziges  Stück  der  linken  Seite  beschränkt. 
In  anderen  sieht  man  nur  das  Meer  und  den  Himmel. 
Nie  ist  ihm  gelungen,  seine  brausenden  Wogen  glaubhaft 
mit  Schiffen  zu  bevölkern.  Das  Menschliche  wirkt  im 
Rahmen  dieser  Naturbilder  wie  willkürlicher  Frevel. 

Mit  dem  Jahre  1870  überschreitet  Courbet  den  Gipfel  sei- 
ner Kunst  und  steigt  schnell  zu  Tal.  Er  versuchte  in  der 
Kommune  eine  Rolle  zu  spielen  und  litt  dabei  Schiff- 
bruch. Welcher  Art  sein  Unrecht  war,  ob  er  verdienter- 
weise verurteilt  wurde,  ob  die  Freunde  im  Recht  sind, 
die  ihn  selbst  von  jeder  Schuld  an  der  Zerstörung  der 
Vendome-Säule  rein  zu  waschen  suchten,  interessiert  uns 
heute  nicht  mehr.  Seine  Teilnahme  an  der  Politik  war 
eine  der  vielen  Disharmonien  seines  Lebens,  und  wie  alle 
anderen  rührte  sie  von  Überschuß  an  Kraft  her.  Er 
hielt  die  Politik  für  einen  Bierulk  und  fand  Leute,  die  den 
Politiker  ernst  nahmen,   anstatt  den   Künstler  laufen  zu 


DAS  NEUE  PROGRAMM  197 

lassen.  Mir  scheint  übrigens,  es  ließen  sich  in  gewissen 
Reden  des  großen  Patrioten  Davids  nicht  weniger  ernste 
Argumente  für  die  säulenstürzende  Gesinnung  finden,  die 
man  Courbet  vorwarf. 

Die  späteren  Jahre  haben  außer  Portraits  noch  viele 
Stilleben  gebracht,  in  denen  seine  Freude  an  der  Ma- 
terie den  letzten  Sieg  feierte.  Ein  sehr  schönes,  helles 
Selbstporträt,  1871  im  Gefängnis  von  S.  Pelagie  gemalt, 
heute  im  Mesdag-Museum,  als  Pendant  des  merkwürdigen 
Selbstporträts  Delacroix',  zeigt  die  Kombination  einer 
markigen  Strichmalerei  mit  feinster  Tonkunst  in  Haar  und 
Bart,  eine  Kombination,  wie  sie  nur  dem  Tausend- 
künstler gelingen  konnte.  Die  Stilleben  derselben  Zeit 
geben  ein  letztes  Rätsel  zu  lösen  auf.  Nichts  ist  merk- 
würdiger, als  daß  Courbet  noch  in  dieser  Zeit,  nach 
den  glänzenden  Landschaften  und  Marinen  ganz  die 
dort  gefundenen  Resultate  außer  acht  läßt,  und  seine 
Früchte  wie  ein  alter  Meister  malt.  In  derselben 
Haager  Galerie  findet  man  ein  Bild  mit  fabelhaften 
Äpfeln,  gleichfalls  im  Gefängnis  entstanden.  Die 
Früchte  glühen  wie  die  Gesichter  auf  dem  ,,Enterrement", 
nur  viel  zarter  und  reiner,  mit  ganz  dünnem  Pinsel  ge- 
rundet. In  dem  herrlich  geglätteten  tiefroten  Material 
spiegeln  sich  weißliche  Lichter.  Die  Äpfel  liegen  vereint 
mit  einer  Ente  und  einer  blauen  Delfter  Vase  in  einer  — 
Landschaft.  Ein  stattlicher  brauner  Baum  belebt  den 
zweiten  Plan,  und  dahinter  dehnt  sich  ein  prachtvoller 
weißgrauer  Himmel.  Noch  frappierender  ist  das  Arrange- 
ment in  dem  ähnlichen,  aber  nicht  ganz  so  gelungenen 
Stilleben  des  Amsterdamer  Ryksmuseums. *)  Die  Äpfel 
sind  wieder  in  dem  glühenden  Rot,  nur  einer  sticht 
in  prachtvollem  Gelb  heraus.  Die  Landschaft  ist  hier 
noch  mehr  als   im  Haag    so    behandelt,    als    wären    die 

x)  Datiert  1872.  Übrigens  der  einzige  echte  Courbet  des  Ryks- 
museums.   Die  beiden  Landschaften  sind  gefälscht. 


i98  COURBET 

Äpfel  große  handelnde  Personagen.  Der  Baum  hinter 
ihnen  müßte  von  Rechts  wegen  viermal  so  groß  und  die 
rötliche  Landschaft  um  ebensoviel  umfangreicher  sein. 
Und  selbst  dieser  grobe  Schnitzer  in  der  Perspektive, 
offenbar  die  Folge  der  ungewohnten  Malerei  ohne  Vor- 
bild, wird  durch  die  vollendete  Materie  überwunden. 
Der  Betrachter  glaubt  angesichts  dieser  Schönheit  eher, 
sich  selbst  zu  irren,  als  daß  er  wagen  möchte,  dem  Meister 
einen  ganz  offenkundigen   Fehler  nachzuweisen. 

Große  Werke  hat  der  Verbannte  nicht  mehr  ge- 
schaffen. Von  der  Pariser  Katastrophe  abgesehen,  mag 
seine  wenig  geregelte  Lebensweise,  namentlich  über- 
mäßiges Trinken,  sein  frühes  Ende  verursacht  haben. 
Er  starb  im  Schweizer  Dorfe  La  Tour  de  Peilz  am  letz- 
ten Tage  des  Jahres  1877,  im  Alter  von  57   Jahren. 


2    i 

<  i 


Detail  aus  den  „DEMOISELLES  AU  BORD  DE  LA  SEINE" 
P.  Cassirer,  Berlin. 


1857. 


COURBETS  STELLUNG  IN  DER  KUNST 

•     • 

Überblickt  man  das  ganze  Werk,  soweit  das  überhaupt 
möglich  ist,  so  wird  die  Entwicklung  einigermaßen 
deutlich.  Wir  sehen  mindestens  einen  Gang,  und  daß  dieser 
nicht  der  einzige  ist,  daß  das  Problem  sich  nicht  kate- 
gorisch lösen  läßt,  erhöht  das  Interesse  statt  den  Künstler 
zu  verkleinern.  Wir  begreifen,  daß  die  Weichheit  der  vier- 
ziger Jahre  weichen  mußte,  um  die  entscheidenden  Werke 
zur  Zeit  des  „Begräbnisses"  zu  ermöglichen;  daß  die  At- 
mosphäre, aus  der  diese  entstanden,  von  dem  gewaltigeren 
Material  des  späteren  Landschafters  ersetzt  werden  mußte. 
Wir  sehen  die  immer  mächtigere  Einheit,  die  schließlich 


202  COURBET 

in  den  Waldbildern,  zuletzt  in  den  Marinen  hervortritt, 
und  können  uns  denken,  daß  der  immer  wieder  auf- 
tauchende Gegensatz  zwischen  der  Modellierung  der 
Einzelheit  und  der  Generalisierung  notwendig  war,  um 
das  Ende  so  prächtig  zu  gestalten. 

Es  nimmt  uns  heute  wunder,  daß  niemand  zu  Leb- 
zeiten des  Meisters  auf  diese  für  die  künstlerische  Be- 
trachtung wesentlichste  Seite  wies,  mindestens  das  geradezu 
einzige  Zusammentreffen  der  wichtigsten  Probleme  der 
Malerei  in  einem  Menschen  andeutete;  daß  man  über 
alles  mögliche  mit  Recht  oder  Unrecht  stritt,  ohne  vor 
allem  die  über  jeden  Zweifel  erhabene  künstlerische  Ge- 
sinnung Courbets  festzustellen.  Diesem  Komplex  von 
Erscheinungen  Beschränkung  vorwerfen,  Courbet  abtun, 
indem  man  ihn  einen  dummen  Kerl  nannte,  wie  es  in 
fast  allen  Arbeiten  über  ihn  bis  in  unsere  Tage  geschehen 
ist,  scheint  mir  der  Gipfel  von  Unverstand.  Es  kommt 
mir  gerade  so  vor,  als  wollte  man  unsere  Zeit,  weil  sie 
kompliziert  ist,  dumm  nennen,  und  es  ist  ebenso  un- 
sachlich und  häßlich  wie  der  oft  geübte  Versuch,  bewun- 
derungswerte, nützliche  Taten  eines  Menschen  nach  subal- 
ternen Beweggründen  persönlicher  Art  zu  durchforschen. 
Man  entgegnet  zuweilen  dem  Kritiker,  der  einem  Maler 
am  Zeuge  flickt,  er  habe  kein  Recht  zur  Schärfe,  weil  er 
es  selbst  nicht  besser  zu  machen  vermöchte.  Der  Vor- 
wurf ist  unsinnig.  Anders  steht  es,  wenn  der  Kritiker 
sich  an  persönliche  Dinge  hält,  wie  es  alle  Biographen 
Courbets  bis  heute  getan  haben.  Ihnen,  die  Courbet 
als  Dummen  verspotten,  könnte  man  mit  Recht  das 
Wort  zurückgeben.  Denn  dieses  Argument  hat  hier  nichts 
zu  tun,  selbst  wenn  es  wahr  wäre.  Mag  der  Künstler 
aus  Dummheit  kluge  Dinge  tun,  oder  ihn  der  Zufall 
treiben,  das  sagt  vom  Effekt  seiner  Handlung  noch 
nicht  das  geringste.  Courbets  viel  berüchtigte  Dumm- 
heit ist  ein  biographisches  Detail  zweiter  Ordnung.    Ge- 


COURBETS  STELLUNG  IX   DER   KUNST  203 

wiß  wirkt,  was  wir  an  Aussprüchen  von  ihm  haben  und 
von  manchen  Handlungen  wissen,  nicht  bedeutend.  Aber, 
liegt  es  nicht  nahe,  daß  ein  Mensch,  der  als  Künstler  alles 
konnte,  was  er  wollte,  und  zu  dem  schier  allmächtigen 
Können  aus  niederer  Geburt  emporstieg,  ohne  je  trotz  aller 
Anhänger  vernünftige  Kameraden  als  Freunde  zu  finden, 
daß  dieser  Mensch  die  Bewußtheit  und  Klarheit  als 
Künstler  mit  Schwächen  anderer  Seiten  seiner  Intelligenz 
bezahlte!  Man  braucht  kein  Genie  der  Analvse  zu  sein, 
um  die  Zusammensetzung  von  größtem  Künstlertum 
und  Allzumenschlichem  zu  begreifen:  das  von  alkoholi- 
lischer  Einbildung  gehetzte  Genie,  das  verurteilt  war, 
den  Sinn  eines  schlauen,  gewinn-  und  herrschsüchtigen 
Bauern  mit  sich  herumzutragen  und  sich  den  groben 
Leuten  seiner  Umgebung  in  der  halb  von  Rabelais,  halb 
aus  Don  Quichotte  gemachten  Maske  zu  produzieren. 
Das  einzige  vernünftige  Buch,  das  es  bis  heute  über 
Courbet  gibt,  ist  die  derbe  Psychologie  eines  Kneip- 
Kumpanen,  der  sich  scheinbar  begnügt,  die  Streiche  und 
Spaße  des  Menschen  aufzuzählen,  und  dabei  so  aufrichtig 
verfährt,  daß  aus  der  Tragikomik  das  wahre  Gesicht  des 
Künstlers  merkwürdig   ergreifend  hervorschaut.1) 

1)  Gros-Kost:  Courbet,  Souvenirs  intimes  (Paris.  Derveaux.  1880). 
Wie  ich  höre,  arbeitet  Riat  an  einem  Courbet-Werk,  das  bei  Floury, 
Paris,  herauskommen  soll,  wodurch  hoffentlich  diesem  empfindlichen 
Mangel  der  französischen  Literatur  abgeholfen  werden  wird.  Noch  in 
dem  dieses  Jahr  erschienenen  Buche  von  George  Lanoe  ,,L'Histoire  de 
l'Ecole  francaise  de  Paysage  depuis  Chintreuil"  (Nantes,  1905,  Societe 
Nantaise  d'Ldition)  wird  das  Urteil  über  Courbet  nicht  modifiziert.  Die 
Kritik  der  Bilder  stützt  sich  auf  die  bekannten  Quellen.  Über  das  ..Ate- 
lier" heißt  es:  „Cette  immense  toile  est  fort  mauvaise"  etc.  Während  ich 
dies  korrigiere,  bringt  die  Zeitschrift  ..Kunst  und  Künstler"  (B.  Cassirer, 
Verlag,  Berlin,  Augustheft)  einen  Aufsatz  des  Grafen  Keßler  über  Whist- 
ler, in  dem  energisch  auf  die  Notwendigkeit  der  Revision  des  Urteils 
über  Courbet  hingewiesen  wird.  Wie  mir  der  unermüdliche  Theodore 
Duret  vor  kurzem  erzählte,  hofft  er  im  nächsten  Herbst  in  Paris  eine 
Courbet-Ausstellung  zusammenzubringen.  Hoffentlich  gelingt  es  bei  dieser 
Gelegenheit,  die  unnahbare  Schwester  des  Künstlers,  die  noch  über  einen 
sehr  großen  Teil  der  Werke  Courbets  verfügt,  und  darüber  wie  ein  Cerberus 
wacht,  zum  öffnen  ihrer  Pariser  Kemenate  zu  bewegen.  Sie  soll  bestrebt 
sein,   dem  Bruder   ein  eigenes  Museum  in  seiner  Heimat  zu  errichten. 


204 


COURBET 


Ob  die  Leute,  die  sich  mit  Kunst  in  Frankreich  be- 
schäftigen, ihn  gekannt  haben,  lasse  ich  dahingestellt. 
Jedenfalls  urteilte  man  voreilig.  Denn  beispielsweise  ge- 
nügte schon  die  Tatsache,  daß  er  mit  Vorliebe  Selbstportraits 
malte,  den  Biographen  —  ich  könnte  ein  halbes  Dutzend 
nennen  — ,  um  seine  bornierte  Eitelkeit  festzunageln.  Es 
gibt  kein  einziges  Selbstbildnis  Courbets,  das  nicht  ein 
Meisterwerk  der  Malerei  oder  der  Zeichnung  wäre,  und 
das  sollte  reichlich  genügen,  das  Dasein  aller  zu  erklären. 
Niemandem  fiel  bisher  ein,  Rembrandt  aus  derselben 
Vorliebe  für  sein  Antlitz  einen  ähnlichen  Vorwurf  zu 
machen;  es  gibt  sogar  Bewunderer,  die  gerade  in  dieser 
Leidenschaft  ein   Zeichen  seiner  Größe  erblicken. 

Mit  größerem  Recht  konnte  man  ihn  einen  Bauern 
nennen.  Dafür  spricht  seine  Zähigkeit,  die  bis  zur  Plump- 
heit getriebene  Rechtschaffenheit  des  Künstlers.  Dagegen 
spricht  just  sein  Künstlertum.  Bauern  sind  keine  Künstler, 
am  wenigsten  Künstler,  die  den  Pfaden  eines  Velazquez 
und  Rembrandt  nachsteigen  und  dabei  sich  so  hoch- 
gesinnt verhalten.  Bauer  ist  Courbet  in  der  Rücksichts- 
losigkeit seiner  Instinkte,  in  dem  allem  Eklektizismus  Ent- 
gegengesetzten seiner  Art,  in  der  gesunden  Inkonsequenz 
seiner  ganzen  Entwicklung.  Er  übertrieb  vielleicht  das 
bäurische  Selbstbewußtsein,  um  allen  Kompromissen  zu 
entgehen,  stellte  sich  weniger  gebildet,  als  er  war.  Denn 
hätte  er  sich  zu  dem  geringsten  Kompromiß  herbeige- 
lassen, wäre  ihm  just  der  Vorsprung  vor  den  Nichtbauern 
verloren  gegangen.  Im  bewußten  Eklektizismus  wären 
ihm  alle  gebildeten  Maler  über  gewesen.  Damit  soll 
nichts  von  der  Selbständigkeit  seiner  Kunst  gesagt  werden, 
denn  die  eigene  Courbetsche  Form  geht,  wie  wir  sahen, 
aus  der  alten  Kunst  hervor;  sie  ist  wie  jeder  echte 
Wert  eine  Bestätigung  der  Entwicklungsgeschichte.  Ja, 
es  gibt  wenig  große  Künstler,  die  die  natürliche  Ab- 
hängigkeit   von    den     alten    Meistern    gleich    unverhüllt 


COURBETS  STELLUNG   IX   DER  KUNST  205 

sehen  lassen.  Wenn  ich  ihn  das  Gegenteil  eines  Eklektikers 
nenne,  meine  ich  damit  die  absolute  Selbständigkeit  seines 
Bewußtseins.  Er  nahm  seinetwegen  die  Alten,  nicht 
ihretwegen.  Daher  seine  unglaublich  einseitige  Kritik, 
die  auf  ein  paar  Namen  beschränkte  Auswahl,  die  frevel- 
haft wäre,  wenn  sie  nicht  das  subjektive  Recht  seiner  Mei- 
nung verträte,  wenn  sie  nicht  mit  größter  Konsequenz 
das  für  die  eigene  Art  Zuträgliche  fände  und  wenn 
diese  Art  nicht  den  tatsächlich  bedeutendsten  maleri- 
schen Wert  und  damit  die  Zukunft  umfaßte.  Er  war 
weniger  Kompromißler  als  irgend  ein  Maler  seit  Rem- 
brandt.  Das  kann  ihm  nach  dem,  was  vorhergeht, 
nicht  als  Vorzug  angerechnet  werden,  denn  es  war 
Selbsterhaltung.  Aber  die  Tatsache  ist  in  dieser  Aus- 
dehnung zu  selten,  um  nicht  hervorgehoben  zu  werden. 
Keiner  seiner  Vorgänger  oder  Nachfolger  ist  freier,  weil 
keiner  der  eigenen  Natur  gleich  unterworfen  war.  Alle 
anderen  suchten  mit  der  größten  Anstrengung  natürlich 
zu  werden  oder  zu  bleiben,  alle  die  Dinge,  die  ihrem 
Instinkte  vorschwebten,  in  einem  rationellen  Organismus 
zu  vereinigen.  Diese  Grundbedingung  brachte  Courbet 
als  Prämisse  mit.  Er  hätte  überhaupt  nicht  malen  können, 
wenn  nicht  als  Bauer,  als  Untertan  der  Erde,  der  Materie. 
W^enn  nicht  die  Konstellation  der  Malerei  eine  Instinkt- 
gestaltung, wie  er  sie  betrieb,  zuließ,  wäre  ihm  jede 
Möglichkeit  starker   Kunst  versagt  geblieben. 

Diese  Konstellation  aber  war  seit  den  großen  Hollän- 
dern gegeben.  Rembrandt,  auf  Grund  einer  minutiösen, 
nur  dem  gewaltigsten  Geiste  gelingenden  Entwicklung 
hatte  eine  Form  gebracht,  die  mit  einer  nie  vor  ihm 
gesehenen  Unmittelbarkeit  den  Gedanken  gestaltete. 
Velazquez  war  mit  schwächeren  Mitteln  zu  einer  ähnlich 
wirksamen  Einheit  gelangt.  Zwischen  beiden  gab  es 
Dutzende  in  der  Art  verwandter  Exempel.  Daß  ihnen 
allen  diese  Einfachheit  ihrer  vollendeten  Äußerung  erst 


2o6  COURBET 

nach  unendlichen  Experimenten  gelang,  folgte  aus  ihrem 
Künstlertum,  aus  ihrer  Lehre,  ihrer  Rasse,  und  dem  alten 
Erfahrungssatz,  daß  man  unendlich  viel  lernen  muß,  um 
nachher  unendlich  viel  wieder  zu  vergessen.  Courbet 
ging  es  nicht  anders,  wir  haben  seine  Experimente  gefunden, 
aber  er  war  besser  daran  durch  das  beispiellos  Rücksichts- 
lose, animalisch  Produktive  seiner  Anlage.  Seine  Liebe 
zu  den  Alten  war  mehr  das  Verhältnis  des  Instinktes  zu 
Blutsverwandten  als  pietätvolle  Anbetung  des  Liebhabers. 
Daß  niemandem  dieser  fast  unbegreifliche  Zusammen- 
hang Courbets  mit  den  größten  Malern  zu  denken  gab ! 
Vielleicht  weil  es  so  selbstverständlich  war,  weil  die  Men- 
schen Instinkt-Regungen  geringer  schätzen  als  ringende 
Arbeit.  Lemonnier  nennt  Courbet  ,,ein  Temperament  in 
einem  Mechanismus"  und  denkt  dabei  an  die  blöde  Theorie 
des  Realismus.  Als  ob  sich  damit  ein  Bild  machen  ließe! 
Mechanisch  oder  niederer  Art  war  in  Courbet  allenfalls 
das  Bewußtsein  der  Zusammenhänge  seiner  Äußerung  mit 
dem  moralischen  oder  überhaupt  geistigen  Zentrum,  d.  h. 
die  Interpretation  seines  Instinktes.  Willkürlich  war, 
wenn  er  die  Folgerung  einer  sozialistischen  Propaganda 
aus  seinen  Werken  zuließ,  wobei  mir  übrigens  immer 
wieder  Zweifel  an  dem  Ernst  seiner  Erlasse  aufsteigen. 
Was  er  wollte  und  wie  er  es  erreichte  als  Künstler,  der 
allein  in  Frage  steht,  war  ihm  weniger  mechanisch  als 
irgend  einem  Maler  seiner  Zeit.  Denn  keiner  hat  so  un- 
mittelbar mit  der  Hand  zu  wirken  vermocht,  was  dem 
Geiste  einfiel,  d.  h.  keiner  war  im  gleichen  Umfang  Herr 
seiner  selbst.  Keiner  konnte  so  viel.  Man  vergleiche  die 
Tastversuche  aller  anderen  seiner  Generation  mit  seinen 
Frühwerken.  Er  war  viel  zu  wirkungslustig,  um  auf  gleiche 
Art  zu  werden;  auch  viel  zu  anspruchsvoll.  In  der  Bahn 
Millets  oder  Corots  wäre  er  verunglückt.  Millet  kam  von 
mäßigen  Vorbildern  her,  Corot  ging  überhaupt  nicht  in 
die  Museen,  wenigstens  nicht  solange  er  jung  war.  Courbet, 


COURBETS  STELLUNG   IN  DER  KUNST  207 

der  Naturmensch,  hatte  ursprünglich  kein  größeres  Ziel, 
als  wie  die  Meister  der  besten  Malerei  zu  arbeiten.  Er 
nahm  das  Mittel  der  Alten  zunächst  wie  es  war,  weil  er 
es  so  brauchen  konnte,  und  modifizierte  es  nachher  auf  die 
denkbar  zweckdienlichste  Weise.  Darüber  ließen  sich 
lehrreichere  Bücher  schreiben  als  über  seine  Philosophie. 
Er  handhabte  den  Pinsel  mit  gleicher  Meisterschaft 
wie  die  Alten,  und  wo  er  erkannte,  daß  man  mit 
dem  Messer  weiter  kam,  warf  er  ihn  weg.  Auch  das 
haben  ihm  die  Kritiker  mit  stupender  Willkür  als  Mangel 
angerechnet.  Lemonnier  tut  so,  als  hätte  Courbet  das 
,,vice  nouveau",  mit  dem  Spachtel  zu  arbeiten,  entdeckt, 
als  hätte  nicht  vorher  Decamps1),  vor  diesem  Constable 
und  vor  Constable  glorreiche  andere,  vor  allem  Rem- 
brandt,  demselben  Laster  gehuldigt.  Tatsächlich  setzt 
Courbet  fast  wörtlich  die  Alten  fort,  nur  daß  er  in  einem 
Menschenleben  eine  ähnliche  Entwicklung  durchlief  wie 
im  17.  Jahrhundert  einem  Rembrandt,  in  noch  früheren 
Zeiten  nur  ganzen  Generationen  gegeben  war.  Hätten 
Rembrandt  und  Hals  einige  hundert  Jahre  länger  ge- 
lebt, so  wären  sie  auf  Courbets  beste  Art  gekommen. 
Mit  diesem  Hinweis  holen  wir  ein  analytisches  Moment 
nach,  das,  um  den  Zusammenhang  vorher  nicht  zu  sehr 
zu  belasten,  vernachlässigt  wurde.  Um  den  Spaniern  ihr 
entscheidendes  Patenrecht  zu  lassen,  haben  wir  den  Einfluß 


1)  Über  die  Technik  Decamps'  vgl.  A.  Moreau:  Decamps  et  son  oeuvre 
(Jouaust,  Paris  1869).  Die  Beziehung  der  Technik  Courbets  zu  Decamps 
hat  Albert  Wolff  angedeutet.  Vgl.  den  Aufsatz  in  ,.La  Capitale  de 
l'Arf  (Paris  Havard  1886),  S.  192,  193:  „Um  den  weißen,  in  der  Sonne 
leuchtenden  Mauern  mehr  Relief  zu  geben,  baute  sie  Decamps  sozusagen 
aus  Farbe.  Mit  einem  von  ihm  erfundenen  Verfahren  verdickte  er 
diese  Gebilde,  ließ  sie  trocknen,  kratzte  sie  mit  einem  Rasiermesser  ab 
und  malte  die  Mauern  noch  einmal,  wobei  er  alle  Zufälle  dieser  eigen- 
tümlichen Arbeit  benutzte,  die  eigentlich  eine  Spielerei,  in  Wirklichkeit 
den  gemalten  Mauern  das  Solide  von  tatsächlich  gebauten  gab.  Man  hat 
diese  eigentümliche  Malerei  vielfach  nachgeahmt.  Courbet  bemächtigte  sich 
ihrer  und  trug  die  Farbe  mit  einem  Palettenmesser  auf  die  Leinwand." 
Neben  vielen  Zeitgenossen  hat  auch  Diaz  in  vielen  Landschaften  so  ge- 
arbeitet und  scheint  einen  gewissen  Einfluß  auf  Courbet  gehabt  zu  haben. 


208  COURBET 

der  Holländer  nur  angedeutet.  Diese  setzen  da  ein,  wo  der 
Einfluß  derVelazquez  und  Zurbaran  zu  weichen  beginnt. 
Merkwürdigerweise  erinnert  Courbet  weniger  an  die 
großen  Tonmaler  Hollands,  als  an  die  Meister,  denen 
vor  allem  an  der  Form  gelegen  war.  Sein  autobiogra- 
phischer Hinweis  auf  Craesbeeck  und  Ostade  entsprang 
offenbar  einer  momentanen  Laune.  Courbet  überragt 
die  beiden  dermaßen,  daß  der  Vergleich  aller  Elemente 
entbehrt,  es  sei  denn,  daß  man  sich  mit  der  vagen  Ge- 
meinschaft ihres  Realismus  begnügen  wollte.  Dagegen 
erinnert  er  an  Potter,  und  zwar  an  den  „harten"  Potter, 
der  den  jungen  Stier  im  Mauritshuis  malte.  Die  Schwäche 
dieses  Hauptwerks,  sein  Mangel  an  Luft,  ist  auch  die 
Schwäche  Courbets.  Aber  auch  die  Vorzüge  sind  die- 
selben, die  schöne  Plastik,  die  rücksichtslose  Erschöpfung 
des  Themas  im  vorgenommenen  Sinne.  Die  prachtvolle 
Figur  des  Mannes  am  Baum  glaubt  man  in  vielen 
Bildern  des  Franzosen  wiederzufinden.  Der  Realismus 
Courbets  war,  trotz  aller  Redereien  der  Zeitgenossen, 
sehr  viel  zurückhaltender  als  die  holländische  Sachlich- 
keit. Potter  geht  so  weit,  die  Stirnhaare  der  liegenden 
Kuh  im  Relief  nachzubilden.  Die  Striche  des  Pinsels 
suchen  plastisch  die  Haarlagerungen  zu  formen  und 
wirken  wie  aufgeklebtes  Haar.  Zu  solchen  Spielereien  hat 
sich  Courbet  nie  verstiegen.  Von  den  Interieurmalern 
hat  ihn  vermutlich  weniger  Craesbeeck,  als  Aertsen  an- 
gezogen, und  zwar  der  Aertsen  ohne  braune  Sauce,  der 
die  Köchin  in  der  weißen  Schürze  und  dem  roten  Rock 
der  Brüsseler  Galerie  mehr  emaillierte  als  malte.  Hals 
fanden  wir  schon  am  Anfang.  Courbet  blieb  ihm  sein 
ganzes  Leben  treu.  Noch  in  den  Stilleben  der  sieb- 
ziger Jahre  lebt  die  Farbenlust  der  Haarlemer  Schützen- 
stücke. In  der  Blütezeit  tritt  der  größte  Holländer  mit  der 
durchflossenen  Materie  der  Spätzeit  in  seinen  Kreis. 
Die  Puits-Noir-Landschaften  sind,   wie  Rembrandts  letzte 


_     -     - 


COURBETS  STELLUNG  IX  DER  KUNST  209 

Selbstportraits,  gemalt.  Die  Beziehung  zu  Hals  ist  in- 
timer. Courbet  langt  nicht  in  die  geistige  Sphäre  der 
Tuchmacher  und  stand  der  Legende  fern.  Auch  sein 
Menschentum  gehört  zu  Hals.  Nach  allem,  was  wir  von 
dem  Haarlemer  wissen,  muß  er  eine  ähnliche  Natur  ge- 
wesen  sein:   ein  Genie,  dem  es  an  der  Oberfläche  gefiel. 

Beide,  Hals  und  Rembrandt,  studierte  Courbet  noch 
in  der  letzten  Zeit.  Im  Jahre  1869,  auf  seiner  be- 
rühmten deutschen  Reise,  die  ihn  wie  den  Messias  einer 
neuen  Kunst  erscheinen  ließ,  kopierte  er  die  Hille  Bobbe, 
die  damals  noch  in  der  Suermondtschen  Sammlung  in 
Aachen  hing,  und  das  angezweifelte  Selbstporträt  Rem- 
brandts  in  München.  Die  zweite  Kopie  kenne  ich  nicht. 
Die  erste  hängt  bei  Cheramv  in  Paris  und  rechtfertigt  den 
Bericht  ihres  Autors,  den  er  gern  zum  besten  gab,  daß 
die  Nachbildung  einige  Tage  an  Stelle  des  Originals  im 
Rahmen  blieb,  ohne  daß  der  Besitzer  den  Tausch  merkte. 
Sie  erscheint  manchem  Betrachter  heute  vielleicht  noch 
echter,  weil  frischer,  als  das  Vorbild  im  Berliner  Museum. 

Wie  in  Corots  Bildern  drängt  auch  in  der  Malerei 
Courbets  der  Pinselstrich  mit  den  Jahren  den  Ton  immer 
mehr  zurück.  Der  reife  Landschafter  hat  nichts  mehr  von 
der  Art  der  Velazquez  und  Zurbaran.  Wohl  aber  kann  man 
in  Govaschen  Landschaften  eine  ähnliche  Gestaltung 
finden.  Die  vor  kurzem  in  die  Berliner  Nationalgalerie 
gelangte  kostbare  Skizze  „Der  Maibaum"  mit  den  großen, 
vomMesser geschlichteten  Flächen  hätteCourbet begeistert. 

Unter  den  unmittelbaren  Vorgängern  des  Landschafters 
ist  Constable  nicht  zu  übersehen,  und  auch  diese  Beziehung 
brachte  Courbet  und  Corot  einander  näher.  Nur  war 
der  Eindruck  des  Engländers  auf  sie  ganz  verschie- 
dener Art.  Corot  hatte  den  größeren  Vorteil,  er  reinigte 
seine  Palette.  Courbets  Koloristik  blieb  ganz  unbeein- 
flußt, dagegen  gewann  er  möglicherweise  aus  der  Con- 
stableschen   Art   des    Farbenauftrags    manche    Anregung. 


2io  COURBET 

Seine  Anschauung  weicht  noch  weiter  von  der  des  Eng- 
länders ab,  als  Corots  weniger  scharf  begrenzte  Eigen- 
art. Die  Technik  Courbets,  gerade  so  wie  Corots  Methode, 
verbreiterte  sich  mit  den  Jahren  immer  mehr,  während 
sich  Constable  zuspitzte,  und  war  überhaupt  nicht  auf 
so  einfache  Entwicklungsreihen  gestellt.  Daß  er  aber 
Constable  gesehen  hat,  versteht  sich  von  selbst.  Außer- 
dem mag  ihm  Georges  Michel  als  Vermittler  gedient 
haben,  einer  der  ersten  Maler  des  Waldes  von  Fontaine- 
bleau,  dessen  Vorläuferrolle  leider  noch  nicht  genügend 
definiert  ist.1)  Michel  besuchte  England  zur  Zeit  der 
größten  Erfolge  Constables.  Die  Ähnlichkeit  vieler  seiner 
Bilder,  nicht  nur  des  „Waldinneren"  im  Louvre,  sondern 
auch  ausgedehnterer  Landschaften  mit  gewissen  Courbets 
springt  in  die  Augen.  Freilich  darf  man  sich  nicht  ge- 
rade  an  die   besten  Gemälde   unseres   Meisters   halten. 

Diese  unentbehrliche  Analyse  könnte  den  Leser  auf 
den  Gedanken  bringen,  Courbet  wäre  nur  durch  die 
Zusammensetzung  interessant  oder  rege  nur  zu  Speku- 
lationen über  die  Technik  an.  Der  Leser  würde  damit 
einen  Vorwurf,  der  dem  Autor  dieses  Buches  gilt,  an 
die  Adresse  seines  Helden  richten.  Nur  die  trockene 
Darstellung  wäre  schuld  an  solcher  Unterschätzung.  So 
glänzend  Courbet  malte,  niemand  war  weniger  auf  das 
einseitig  Handwerkliche  gerichtet.  Man  kann  den  Unter- 
schied  nur    durch  Vergleiche   feststellen.    Techniker  be- 

*)  Georges  Michel  lebte  1763 — 1843  und  war,  bevor  er  Constable 
kennen  lernte,  einer  der  meist  Beteiligten  an  dem  Einzug  der  Holländer 
in  Frankreich.  Einmal  tat  er  nicht  wenig  dazu,  die  alten  Meister  durch 
ihre  Werke  zu  propagieren,  indem  er,  wie  Andre  Michel  erzählt,  für  die 
wenigen  aufgeklärten  Amateure  des  ersten  Viertels  des  19.  Jahrhunderts 
die  Bilder  der  Ruysdael,  Cuyp  und  van  Goyen  reinigte.  Dann,  durch 
diese  Beschäftigung  in  das  Wesen  der  Meister  eingedrungen,  begann  er, 
wie  sie  zu  malen,  und  wurde  der  Vorläufer  Rousseaus.  Die  Beziehung 
zu  Courbet  ist  nicht  weniger  deutlich,  aber  beschränkt  sich  naturgemäß 
auf  ein  kleineres  Gebiet.  Vgl.  Andrä  Michel:  Notes  sur  l'art  moderne 
(Colin  &  Cie.,  Paris  1896).  Interessante  Bilder  Michels,  typischer  als 
das  im  Louvre,  finden  sich  in  Pariser  Privatbesitz  und  im  Haager  Mes- 
dag-Museum.     Über  die   Beziehung  Michels   zu  Rousseau   vergl.    Sensier. 


COURBETS  STELLUNG  IN  DER  KUNST  211 

schränkter  Art  war  z.  B.  ein  in  mancher  Hinsicht  Cour- 
bet  verwandter  Künstler,  von  dem  hier  schon  wiederholt 
die  Rede  war,  Decamps,  und  gerade  das  Technische, 
oder  besser  das  Technologische  seiner  Anschauung,  stellt 
ihn  weit  unter  den  Meister  von  Omans.  Decamps  ist 
viel  weniger  zusammengesetzt,  hat  gewiß  den  besten  An- 
spruch, für  eigenartig  zu  gelten,  und  brachte  das  Zeug 
zu  einem  Genie  auf  die  Welt.  Davon  merkt  man  in 
den  vielen  Galerien,  die  seine  Werke  beherbergen  und 
sich  noch  heute  um  jedes,  das  auf  den  Markt  kommt, 
reißen,  ungemein  wenig.  Wohl  frappiert  jedes  seiner 
Bilder,  es  ist  anders  als  der  Nachbar,  mag  dieser  sein 
wie  er  wolle,  besser  sogar  in  einem  ungemein  be- 
schränkten Sinne,  strahlender,  ja,  von  unheimlicher 
Leuchtkraft;  der  Blick  droht  an  dem  brünstigen  Orange 
und  dem  Rot  zu  versengen.  Und  über  dem  Brennen 
und  Leuchten  vergißt  man  das  Bild,  wird  physiologisch 
beeinflußt,  starrt  wie  auf  eine  Sonderbarkeit  und  kommt 
zu  keinem  Genuß.  Decamps  selber  ging  es  nicht  anders. 
Die  Prozedur  seines  Malens  faszinierte  ihn  dermaßen, 
daß  er  schließlich  nur  noch  den  einen  Gedanken  hatte, 
wie  man  das  Gewebe  auf  dem  Bilde  noch  solider  und 
leuchtender  machen  könne.  Seine  Malerei  wurde  eine 
Art  komplizierter  Handarbeit;  er  stickte  seine  Bilder 
und  dachte  dabei  nur  ans  Sticken.  Nicolaes  Maes  ist 
im  17.  Jahrhundert  die  gleiche  Erscheinung.  Bei  Decamps 
trat,  wie  er  selbst  in  einer  trüben  Stunde  eingestanden  hat, 
bewußte  Schwäche  des  Willens  dazu;  die  Unfähigkeit, 
den  Verführungen  der  Hunde-  und  Affen-Liebhaber  zu 
widerstehen  und  dem  Publikum  die  Art  der  „Defaite 
des  Cimbres"  aufzudrängen.  Er  wurde  aus  Notbehelf 
Handwerker,   glänzender   Routinier,   aber   Manierist. 

Vor  solchen,  das  ganze  Werk  deprimierenden  Unfällen 
blieb  Courbet  schon  durch  die  Sorglosigkeit  und  Un- 
berechenbarkeit   des    Bohemien    bewahrt.      Freilich    hat 


212  COURBET 

auch  ihn  zuweilen  seine  Geschicklichkeit  zu  Bildern  ge- 
trieben, die  dem  Gesamtwerk  nicht  zum  Vorteil  gereichen. 
Darüber   kann    man    sich    im  Brüsseler   Museum    unter- 
richten,  das   eine   merkwürdig   unglückliche  Hand  hatte, 
drei    ganz   verschiedene    und   gleich    minderwertige   Ge- 
mälde   zu    erwerben.      Das    Stevens -Portrait    in   einem 
braunroten,    höchst    unbehaglichen   Ton    zeigt    uns    die 
Glattmalerei  ohne   die  Widerstände,    die   Courbet   dabei 
zu    überwinden    vermochte    und    die    man    fühlen    muß, 
um    die    Gabe    zu    würdigen.     Das    Bildnis    der    Mme. 
Fontaine    erweist   in    anderer  — ■   blauschwarzer  —   Fär- 
bung denselben  Nachteil.     In  dem  Hauptbild,   der  Tän- 
zerin Guerrero,   unterliegen  große  Qualitäten  allen   mög- 
lichen  Schwächen.     Freilich  hängt   das  Bild  so  hoch  in 
dem  abominabel  vernachlässigten  Raum,   daß   man   kaum 
gerecht  urteilen  kann.     Auch  der  ungeheuerliche  Rahmen 
—    der    komplizierte    Ausschnitt    erinnert    an    Hänge- 
kalender —  stört    maßlos   und  fällt    Courbet    zur    Last. 
Das  Portrait  leidet  zumal  an  der  ganz  ungelösten  Kolo- 
ristik.     Das  Abspielen    des  Rots   im   Rock   in    das  deto- 
nierende   Gelbrot   des  Vorhangs   links    und    des   matten 
Hintergrundes    rechts   ist    so    unglücklich   wie    möglich. 
Die  Malerei  ist  sehr  flott,   aber  nähert  sich  der  bedenk- 
lichen spanischen   Note,   die  in   unseren   Tagen  Zuloaga 
zur  Freude  leicht  befriedigter  Ausstellungsbesucher  vertritt. 
Glücklicherweise  sind  diese  Ausnahmen  selten  und  haben 
nie   das  Organisierte   der  Irrtümer  des  Manieristen.    Er 
machte  weder  aus  seinen  Vorzügen   noch  seinen  Fehlern 
ein  Programm,   und  da  die  Tugenden   bei   weitem  über- 
wiegen,  kommen  wir   bei  diesem  Mangel  nicht   schlecht 
weg.     Seine  Biographie   steht  infolgedessen   ganz   abseits 
von    der    anderer   Künstler,    und    er  hat  sie  womöglich 
mutwillig  noch   verwirrt,    um    dem   Bourgeois   recht  zu 
zeigen,   daß  man  ihm  nicht  in  die  Karten  sehen  konnte. 
Dadurch    unterscheidet    er    sich    am    auffallendsten   von 


COURBETS  STELLUNG  IX   DER   KUNST  213 

den  alten  Meistern,  zumal  von  denen,  die  ihm  am 
besten  gefielen.  Bei  Rembrandt  und  Hals  freuen  wir 
uns  der  vollkommenen  Logik  ihrer  Entwicklung.  Wenn 
man  im  Hauptsaal  des  Stadthauses  von  Haarlem  die 
Reihe  von  rechts  nach  links  heruntergeht,  genießt  das 
Auge  und  der  künstlerische  Sinn  nicht  nur  mit  jedem 
Schritte  mehr,  auch  der  Mensch  freut  sich  über  den 
Fortschritt  des  Menschen.  Er  wird  ernster,  wie  die 
Bilder  ernster  werden,  nicht  weil  in  den  letzten  weniger 
gelacht  wird,  sondern  weil  das  Gebotene  eine  konzen- 
triertere  Teilnahme  fordert.  Wir  merken,  wie  der  Zweck 
zunimmt  und  wie  das  Mittel  Schritt  hält,  und  erkennen 
in  dem  Wachstum  das  Größerwerden  des  Genies. 
Bei  Courbet  ist  diese  Konsequenz,  wie  wir  sahen,  nur 
mit  Reserven  nachweisbar.  Er  ist  gewiß  Ende  der  sech- 
ziger Jahre  ungefähr  am  größten,  aber  der  Höhe- 
punkt befindet  sich  nicht  genau  über  der  Basis  der  Früh- 
werke. Sicher  ist  es  derselbe  Künstler,  viele  Seiten 
sind  fortgebildet.  Aber  viele  andere  bleiben  abseits,  und 
wir  bemerken,  daß  sie  zu  großartigen  Dingen  führten. 
Das  Merkwürdige  liegt  in  dem  hohen  Niveau  des 
Anfangs.  i\ndere  Künstler  kommen  mit  Talent  zur 
Welt.  Courbet  scheint  mit  Meisterschaft  geboren.  Er 
ist  wie  ein  wandelnder  Behälter  schönster  Dinge.  Dünkt 
uns  das  in  unserer  traditionslosen  Zeit  schon  merk- 
würdig genug,  der  Umstand,  daß  dieser  Behälter  von 
einem  Bauern  getragen  wird,  macht  ein  Phänomen  dar- 
aus. Untersuchungen  der  Malmethode  prallen  wirkungs- 
los davon  ab,  denn  sie  enthüllen  kein  Geheimnis.  Sie 
bringen  uns  vielleicht  einzelne  Bilder,  einzelne  Phasen 
näher,   aber  melden  nichts   von  der  Quelle  des   Stromes. 


So  erscheint  der  kühne  Revolutionär  bei  aller  Selbstherr- 
lichkeit seiner  neuen  Kunst  mit  den  edelsten  Werten  der 


214 


COURBET 


Vergangenheit  verbunden;  sowohl  mit  den  alten  Meistern, 
mit  den  Größten  der  ruhmreichsten  Epoche  der  Malerei, 
den  Holländern  und  Spaniern;  nicht  weniger  eng  mit  den 
bedeutendsten  Künstlern  der  unmittelbar  vorhergehenden 
Zeit,  mit  den  entscheidenden  Malern,  die  der  Kunst  des 
19.  Jahrhunderts  unentbehrliche  Wege  gewiesen  haben. 

Bedürften  wir  noch  eines  Arguments  für  die  erneute 
Verehrung  des  Meisters,  so  wäre  an  die  Führer-Stellung  zu 
erinnern,  die  Courbet  in  der  Kunst  der  Gegenwart  be- 
hauptet. Die  Generation  der  zweiten  Hälfte  des  19. 
Jahrhunderts  in  Frankreich,  Holland,  Belgien,  Deutsch- 
land, bis  zum  gewissen  Grade  auch  in  England,  die  uns 
die  moderne  Malerei  gebracht  hat,  feiert  in  Courbet 
einen  segensreichen  Lehrer.  Viele  Tendenzen  sind  leben- 
dig. Je  weiter  die  Kunst  fortschreitet,  desto  mannig- 
faltiger wird  sie.  Will  man  den  Menschen  nennen,  der  den 
mächtigsten  Einfluß  ausübte,  ohne  den  die  wichtigste 
Entwicklung  unserer  Zeit  undenkbar  erscheint,  so  wird  man 
Courbet  zitieren.  In  Frankreich  sind  ihm  die  erlauchtesten 
Persönlichkeiten  in  ihren  Anfängen  so  Untertan,  daß  man 
ihnen  kaum  zu  viel  tut,  sie  Schüler  zu  nennen.  Manet, 
Renoir,  Cezanne,  Pissarro,  Sisley,  Monet  u.  a.  hängen, 
mindestens  in  bedeutenden  Seiten  ihres  Wesens,  mit 
Courbet  eng  zusammen.  Bei  den  Landschaftern  unter 
ihnen  teilt  sich  anfangs  Courbet  mit  Corot  in  den  Ein- 
fluß. Diese  Gemeinschaft  trieb  mich,  zwei  so  verschie- 
dene Meister  in  einem  Buch  zu  vereinen.  Denn  beide 
gelten  der  Gegenwart  als  unentbehrliche  Helfer.  Cour- 
bets  Einfluß  ist  aktueller  und  gewinnt  später,  in  der 
Monetschen  Richtung,  ausschließliche  Rechte.  Pissarro, 
der  Älteste,  begann,  als  er  1855,  im  Alter  von  25  Jahren 
nach  Paris  kam,  die  Reihe  und  regte  Monet  und  Sisley 
zu  gleichen  Bestrebungen  an.  In  Monets  Marinen  der  mitt- 
leren Zeit  wurde  Courbet  in  einer  für  ihn  wie  für  Monet 
gleich  würdigen  Weise  fortgesetzt.    Manet,  Cezanne  und 


COURBETS  STELLUNG   IX  DER  KUNST  215 

Renoir,  die  Größten  der  Generation,  gehören  in  einer 
anderen  Weise  zu  ihm.  In  Manets  ,, Nymphe  Surprise" 
des  Jahres  1861  ist  der  Eindruck,  den  Courbets  ge- 
waltige Fleischmalerei  auf  den  Schöpfer  der  „Olympia" 
gemacht  hatte,  unverkennbar,  nicht  ohne  gleichzeitig 
die  glänzende  Neuerung,  die  zusammenfließende  Har- 
monie, ahnen  zu  lassen.  Cezannes  schwarze  Stilleben 
der  Frühzeit  gehören  in  dieselbe  Richtung.  Am  auf- 
fälligsten von  allen  zeigt  Renoir  den  Einfluß,  und  er  läßt 
gleichzeitig  am  deutlichsten  die  Zutat  erkennen,  die  in 
verschiedenen  Formen  sowohl  ihm,  wie  Manet  und  Ce- 
zanne  förderlich  wurde :  Delacroix.Viele  seiner  Fruchtstücke 
der  ersten  Zeit  sind  wie  die  letzten  Courbets  gemalt; 
das  große  Stilleben  bei  Liebermann  in  Berlin  könnte  von 
Courbet  signiert  sein;  von  manchen  seiner  ersten  Land- 
schaften gilt  das  gleiche.  Und  Renoir  zeigt  auch  in 
seiner  wechselvollen  weiteren  Laufbahn,  die  ihn  am 
weitesten  von  Courbet  entfernen  sollte,  ein  ähnliches 
Geschick.  Sein  immer  wieder  auftauchendes  Bestreben, 
das  Plastische  zu  erhalten,  die  Tendenz,  die  von  Manet 
neutralisiert  wurde,  bildet  auf  einem  farbigeren  Feld  die 
Parallele  zu  Courbet.  In  gewisser  Hinsicht  könnte  man 
endlich  auch  zu  Degas,  dem  fremdartigsten  und  ver- 
schlossensten von  allen,  eine  lose  Beziehung  finden. 
Wenn  man  1900  auf  der  Pariser  Weltausstellung  von  den 
„Cribleuses"  vor  die  „Baumwollfaktorei  in  New  Orleans" 
trat,  blieb  man  im  Reiche  derselben  Kunst. 

In  England  brachte  es  der  Realismus  nur  zu  einer 
Auseinandersetzung  mit  den  Ideen,  die  in  Frankreich 
Courbet  unterschoben  wurden,  nicht  mit  der  Malerei 
des  Meisters.  Dagegen  wurde  der  Maler  von  Omans  in 
Deutschland  um  so  intensiver  begriffen.  Hier  gab  er 
zuerst  Viktor  Müller,  dann  Leibl  den  Anstoß.  AuchThoma 
verdankt  diesem  Impuls  die  schönen  Bilder  seiner  Früh- 
zeit.   Um    Leibl    und  Trübner,    schließlich  um  Lieber- 


2i6  COURBET 

mann  bildete  sich  eine  Schule,  die  einzige  im  Deutschland 
des  19.  Jahrhunderts,  die  nichts  anderes  als  malen  wollte. 
Sie  verehrt  neben  den  Alten  zumal  in  Courbet  ihren 
intellektuellen,  wenn  nicht  persönlich  wirksamen  Begründer. 

Ebensoviel  verdankt  Belgien  dem  Meister.  Louis 
Dubois  und  Arton,  Baron,  Boulenger,  Sacre  und  Rops 
—  soweit  er  zu  malen  versuchte  —  kurz  die  ganze 
Schaar  ernsthafter  Künstler,  die  neben  Alfred  Ste- 
vens, dem  Freunde  Courbets,  und  Henri  de  Bracke- 
leer das  Beste  der  modernen  belgischen  Malerei  ge- 
leistet haben,  geht  mehr  oder  weniger  direkt  auf  Cour- 
bet zurück.      Viele  Jüngere   danken  ihm   ihr  Debüt. 

Im  Holland  der  Maris,  Mauve  und  Mesdag  teilt  er  sich 
mitDaubigny  und  den  älteren  Fontainebleauern  in  die  Rolle 
des  Anregers.  In  Skandinavien  und  in  der  Schweiz  und  in 
allen  Ländern,  überall  wo  die  Künstler  sich  auf  das 
eigentliche  Wesen  der  Malerei  besannen,  wurde  der  Geist 
Courbets  zum  Förderer.  Sein  Name  hat  viele  Tor- 
heiten gedeckt,  die  der  Meister  zurückgewiesen  hätte. 
Hält  man  sich  an  das  Wesentliche,  so  bleibt  sein  Ruhm 
bestehen,  daß   er  notwendige  Befreiung  gebracht   hat. 

Trotz  dieser  universellen  Bedeutung,  trotz  des  um- 
fassenden Werkes,  das  man,  ohne  an  alle  diese  Folgen 
zu  denken,  wie  ein  gewaltiges  unsterbliches  Leben 
empfindet,  steht  Courbet  im  Schatten  der  Vergessen- 
heit. Der  Händler  schätzt  die  Bilder  der  Nach- 
kommen mit  zehn-  und  zwanzigmal  höheren  Preisen;  der 
Kunstbeflissene  begnügt  sich  mit  der  historischen  Be- 
trachtung. Die  Verantwortung  trifft  Frankreich,  das  sich 
nicht  entschließen  konnte,  über  dem  großen  Künstler  den 
Menschen  zu  vergessen.  Vermutlich  wird  diese  Gesinnung 
mit  den  Zuschauern  der  Ereignisse  von  1871  verschwinden. 
Eine  gewisse  Schuld  fällt  auch  dem  Künstler  Courbet  zur 
Last,  weil  er  sich  in  den  letzten  Jahren  geringer  Mitarbeiter 
bediente  und  seine  Signatur  durch  eine  Menge  kaum  von 


COURBETS  STELLUNG  IX  DER   KUNST  217 

ihm  berührter  Landschaften  entwertete.1)  Die  mit  er- 
lauchten Vorgängen  geteilte  Schwäche  entschuldigt  nicht 
die  Ungerechtigkeit  gegen  den  Künstler,  der  wahrlich 
genug  Werke  von  weit  sichtbarer  Eigenart  geschaffen  hat. 

Am  empfindlichsten  hat  ihm  merkwürdigerweise  der 
gewaltig  aufsteigende  Ruhm  der  Impressionisten  geschadet. 
Frankreich  sehnte  sich  nach  französischeren  Künstlern. 
Die  Zeit  stand  nach  lichteren  Farben,  nach  größerem  Ge- 
schmack, nach  reinerer  Harmonie.  Das  „Begräbnis  von 
Omans"  verschwand  hinter  der  leuchtenden  Pracht  des 
„Dejeuner  sur  l'herbe".  Dieser  Instinkt  hat  uns  zu  viel 
köstliche,  nicht  weniger  bedeutende,  im  Grunde  noch  ent- 
scheidendere Werte  erschlossen,  als  daß  er  zu  tadeln  wäre. 
Kein  Hinweis  auf  die  Geschichte  hat  uns  in  Fragen 
der  Empfindung  zu  leiten,  nicht  die  Gerechtigkeit  gegen 
einen  Toten  —  er  hat  nichts  mehr  davon.  Und  wenn 
wir  wählen  müßten:  wer  möchte  nicht  ohne  Bedenken  auf 
den  einen  verzichten,  wenn  der  Besitz  uns  nötigen  sollte, 
die  unserer  Verehrung  Unentbehrlichen  einzubüßen. 

Aber  bedarf  es  wirklich  so  harten  Ausgleichs:  Ist 
der  Raum  für  große  Leute  in  unserem  Gedächtnis  be- 
schränkt wie  der  Platz  im  Theater?  Haben  wir  nicht 
andere  zurückerobert,  die  Jahrzehnte-,  jahrhunderte- 
lang der  Liebe  der  Menschen  entbehrten,  weil  man 
ihre  Vorgänger  oder  Nachfolger  oder  ihre  Zeitgenossen 
vorzog,  weil  sie  nicht  dem  Geschmacke  entsprachen !  L  nd 
hier  glaube  ich  das  verkehrte  Kriterium  zu  berühren, 
gegen  das  wir  kämpfen  müssen:  man  darf  große  Künstler 
nicht  wie  Geschmacksachen  behandeln.  Nicht  der  Ge- 
rechtigkeit gegen  sie,  sondern  der  Rücksicht  auf  uns  schulden 
wir  ernstere  Wertung.  Was  Generationen  den  Genuß  Rem- 
brandts  verschloß,   war  die  Dunkelheit  seiner  Leinwände, 


1)  Viele  von  dem  jungen  Freund  seiner  letzten  Jahre  B.  Pata,  der 
an  diesem  Mißbrauch,  wie  bei  Gros-Kost  berichtet  wird,  keine  Schuld 
tragen  soll. 


2i  8  COURBET 

die  gegen  die  beliebten  Farben  der  Wohnungen  oder  der 
Frauenkleider  verstieß,  oder  das  durchaus  nicht  Zier- 
liche seiner  Gestalten,  während  die  Mode  auf  Rokoko 
stand.  Eine  andere  Zeit  wandte  sich  von  Rubens  ab, 
weil  ihre  Strenge  ihn  barock  fand,  einer  zärtlichen  Epoche 
waren  die  Primitiven  verschlossen.  Moden  vergehen.  Sie 
sind  berechtigte  Äußerungen,  Erfüllungen  notwendiger  Re- 
aktionsbedürfnisse. Große  Künstler  sollten  auf  einer  ge- 
sicherteren Neigung  stehen,  weil  die  Relation  zum  Ge- 
schmack, den  ihre  Werke  so  gut  wie  alle  menschlichen 
Produktionen  verraten,  nicht  ihren  Wert  erschöpft.  Was 
wir  an  ihnen  lieben,  woraus  wir  Nutzen  ziehen,  ist  mehr 
als  die  unmittelbar  nutzbare  Anregung;  mehr  als  die 
Stärkung  unseres  Farben-  oder  Liniensinns,  selbst 
mehr  als  die  Bereicherung  unseres  Formgefühls  im  all- 
gemeinen, obschon  diese  Wohltat  unendlich  viel  be- 
deutet. Alles  das  sind  Nützlichkeiten,  nicht  Beweg- 
gründe; Vorteile,  von  der  Tat  des  Künstlers  mit- 
geschwemmt. Das  Große  der  Tat  besteht  in  der 
Erschließung  einer  Möglichkeit  rein  geistigen  Genusses. 
Jedes  Kunstwerk  ist  ein  Sieg  über  die  Materie.  Seine 
Farben  und  Formen  sind  nur  die  Fahnen  des  Siegers. 
Seine  Errungenschaft  ist,  was  wir  zu  jeder  Stunde  neu 
erringen  können:  die  Schwingung,  die  uns  in  die  Höhe 
trägt,  die  unerschöpflich  ist,  weil  es  uns  nicht  möglich 
ist,  zweimal  im  selben  Zustand  vor  dasselbe  Werk  zu 
treten.  Darin  beruht  der  Kunst  unsterbliche  Wohltat.  Sie 
gibt  uns  immer  wieder,  sobald  wir  nur  wollen,  sobald 
wir  uns  nicht  von  Trägheit,  von  Äußerlichkeiten  —  auch 
der  Geschmack  des  Tages  gehört  dazu  —  zum  Wider- 
stand verleiten  lassen.  Und  da  wir  durch  die  Gabe 
reicher  werden,  liegt  es  in  unserem  Interesse,  die  Menge 
der  großen  Vergessenen  zu  vermindern.  Denn  jedes  ver- 
gessene Genie  zählt  tausend  unserer  Seligkeit  gestohlene 
Stunden. 


STUDIE,  gegen  i»6 
Photo  Durand-Ruel. 


COURBETS  STELLUNG  IN  DER  ZEIT 

WIR  haben  Courbet  Genie  genannt.  Der  Leser 
sieht  in  dem  Wort  das  selbstverständliche  Epi- 
theton jeder  Biographie  und  denkt  darüber  nicht 
weiter  nach.  Zum  Glück,  denn  sonst  würde  er  schließ- 
lich als  einziges  Xichtgenie  übrig  bleiben.  Wenn  wir 
nun  aber  mal  das  Wort  ernst  nehmen  und  ihm  alle 
verdiente  Bedeutung  zumessen:  kann  dann  Courbet  so  ge- 
nannt werden?  Man  wird  den  Begriff  des  Genies,  der 
schwankend   ist   wie    warm  und  kalt,    wie  alle    Gefühls- 


220  COURBET 

messungen,  nur  dann  einigermaßen  formulieren,  wenn 
man  die  genialen  Individuen,  aus  deren  gemeinschaft- 
lichen Eigentümlichkeiten  er  füglich  nur  gewonnen  werden 
kann,  von  allen  Nebensachen  befreit.  Geniale  Allüren 
haben  nichts  damit  zu  tun,  und  daß  man  diese  an  Cour- 
bet  vermißt,  ist  irrelevant.  Die  Geste,  die  zählt,  ist 
lediglich  das  Werk.  Zweierlei  mindestens  gehört  zum 
genialen  Werk,  zwei  Eigenschaften,  die  sich  widersprechen 
und  jede  knappe  Formel  paradoxal  machen,  deren  ge- 
meinsame Existenz  aber  nichtsdestoweniger  bei  allen 
Genies  nachweisbar  ist:  ein  höchst  Persönliches  und  ein 
höchst  Unpersönliches.  Da  die  Vollkommenheit  in  der 
Kunst  wie  im  Leben  immer  nur  relativ  ist,  d.  h.  immer 
nur  aus  den  Bedingungen  des  einen  Werkes,  des  einen  Künst- 
lers gefolgert,  nicht  etwa  an ,, Idealen",  sondern  nur  mit  sinn- 
gemäß abstrahierenden  Vergleichen  mit  anderen  Werten 
gleicher  Art  gemessen  werden  darf,  kann  sie  nur  in  einer 
Steigerung  der  Persönlichkeit  liegen.  Damit  aber  die 
Steigerung  zur  Vollkommenheit  wahrgenommen  werde, 
muß  sie  notwendig  gleichzeitig  unpersönlich  sein,  nämlich 
sich  den  Bedingungen  vernünftiger  Äußerungsmittel,  einer 
Sprache,  unterwerfen.  Das  Kunstwerk  realisiert  diesen  wi- 
derspruchsvollen Dualismus  durch  Aufgabe  und  Lösung. 
Die  Lösung  ist  persönlich,  die  Aufgabe  unpersönlich.  Nach 
der  heute  allgemeinen  Anschauung  hält  man  sich  nur  an 
die  Lösung  und  glaubt  die  Aufgabe  indifferent.  Das 
wäre  richtig,  wenn  sich  Aufgabe  mit  Materie,  Lösung 
mit  Kunst  deckten.  Das  ist  aber,  wie  wir  soeben  ge- 
sehen haben,  durchaus  nicht  der  Fall,  denn  sonst  hätten 
wir  nur  einen  Begriff,  der  isoliert  gar  nichts  bedeutet. 
Die  Materie,  der  Gegenstand,  der  Stoff  deckt  sich  durch- 
aus nicht  mit  der  Aufgabe.  Die  Wahl  der  Aufgabe 
nimmt  vielmehr  an  dem  Künstlerischen  teil,  wenn  auch 
nicht  in  der  simplen  Form,  mit  der  sich  die  Freunde 
des    Genrebildchens    zufrieden    geben.      Wir   bemerken, 


COURBETS   STELLUNG  IN  DER  ZEIT  221 

daß  die  Kunst  um  so  bedeutendere  Wirkungen  vollbringt, 
je  weniger  persönlich,  je  allgemeiner,  weitere  Kreise  um- 
fassend, sie  die  Aufgabe  wählt  und  desto  persönlicher, 
kürzeste  Wege  wählend,  sie  ihre  Aufgabe   erfüllt. 

Dadurch  strömen  gleichzeitig  Masse  und  Individuum  in 
das  Werk,  und  diese  Zweiheit  fühlen  wir  in  allen  Großen. 
Wir  bewundern  nicht  nur,  wir  können  uns  angliedern, 
treten  zu  einer  Vielheit.  Das  Eindringen  in  Rembrandt 
führt  uns  nicht  nur  in  unser  eigenes  Innere,  sondern  läßt 
uns  unser  Ich  in  einer  größeren  Welt  wiederfinden.  Der 
Genuß  konzentriert  uns  nicht  nur,  sondern  macht  uns 
mitteilsam,  gibt  uns  den  Wunsch,  unsere  Nebenmenschen 
zu  umarmen;  die  Illusion  einer  Verbrüderung  der 
ganzen  Menschheit.  Das  W7erk,  die  Lösung,  so  groß 
die  Vollkommenheit  sein  mag,  scheint  uns  nur  der  Teil 
eines  Kosmos.  Schon  deshalb  brennt  man  mehr  darauf, 
das  neue  Werk  eines  Künstlers,  den  man  kennt,  und  sei 
es  auch  das  tausendste,  zu  erblicken,  als  das  Werk  eines 
t  nbekannten,  auch  wenn  uns  von  ihm  Wunderdinge 
erzählt  werden.  Aus  dem  gleichen  Grunde  dulden  wir 
an  einem  geliebten  Künstler  gewisse  Mängel,  weil  wir 
mit  ihm  in  die  Welt  gedrungen  sind  und  gleichsam  sehen, 
von  welcher  Stelle  er  das  Fragment  nahm.  Wir  ergänzen 
es  mit  dem  übrigen.  Die  Vollkommenheit  ergibt  sich 
als  Notwendigkeit,  das  heißt,  als  stärkster  Gegensatz  des 
Zufalls.  Das  Genie  scheint  uns  ein  Mittel,  neue  Not- 
wendigkeiten zu  erkennen.  Dabei  liegt  das  Gewicht  auf 
der  Notwendigkeit,  weniger  auf  der  klaren  Erkenntnis. 
Denn  diese  wissen  wir  nicht  nur  vom  Darstellungsver- 
mögen des  Künstlers,  sondern  auch  von  unserer  Erkenntnis- 
kraft abhängig;  jene  aber  drängt  sich  uns  mit  entschei- 
dender Deutlichkeit  auf.  Wir  besitzen,  wenn  wir  Velaz- 
quez  begreifen,  nicht  nur  die  Portraits  Philipps  oder  die 
Meninas  usw.,  sondern  ein  Plus,  das,  auch  wenn  wir  alle 
Velazquez   kennen,   nicht   erschöpft   wird,  das   über  seine 


222  COURBET 

Vollkommenheit  hinausgeht.  Wir  werden  nicht  nur  um 
Bilder,  sondern  um  eine  Welt  reicher.  Unsere  Lebens- 
tätigkeit steigert  sich  infolgedessen.  Der  Genuß  setzt 
die   selbsttätige  Veredelung  unserer   Art  in   Bewegung. 

Das  trifft  bei  Courbet  zu.  Er  gab  nicht  nur  außer- 
ordentliche Werke,  sondern  ließ  etwas  sehen,  das  über 
ihn  hinausging.  Es  war  mehr  als  Realisierung  eines  Einzel- 
falls, vielmehr  eine  allen  offenbare  Notwendigkeit  neuer 
Erfüllung,  an  der  man  teilnehmen,  mitarbeiten  konnte. 
Daß  er  Nachfolger  hatte,  ist  kein  Beweis;  Nachahmer  hat 
auch  manche  Eintagsfliege.  Eher  kann  man  die  Tatsache, 
daß  diese  Nachfolger  ausnahmslos  große  Künstler  wurden, 
daß  sich  unter  seinem  Vortritt  eine  Glanzzeit  entwickelte, 
die  einst  so  gefeiert  werden  wird,  wie  wir  heute  die  Ve- 
nezianer oder  die  Holländer  preisen,  als  Beweis  seines 
Genies  nehmen.  Denn  keinem  der  Nachfolger,  so  groß 
sie  sind,  gelang,  den  Wert-Komplex  der  Eigenart  Cour- 
bets  zu  ersetzen  und  entbehrlich  zu  machen.  Alle  Genies, 
das  ist  ohne  weiteres  aus  der  Geschichte  beweisbar,  machten 
auf  gleiche  Art  über  kurz  oder  lang  Epoche.  Und  wenn 
man  Courbet  alles  abstreiten  will:  daß  er  in  der  Malerei 
die  neue  Zeit   gebracht  hat,   muß   ihm  der  Neid  lassen. 

EinNovum  gehört  zum  Genie,  weit  genug  reichend,  einen 
neuen  Menschheitsbegriff  zu  finden.  Courbet  führte 
der  Malerei  keine  neue  Technik  zu,  er  brachte 
eine  neue  Anschauung.  Diese  ist  nicht  mit  Farben 
und  Linien  abgetan,  sie  ist  das  Symbol  einer  weit  über  die 
Malerei  hinausgehenden  geistigen  Strömung   der  Zeit. 

Wenn  man  die  Kritiken  für  und  wider  den  Meister 
von  Omans  durchblättert,  kommt  unwillkürlich  ein  an- 
derer Franzose  ins  Gedächtnis,  der  zur  selben  Zeit  ebenso 
lebhaft  angegriffen  und  verteidigt  wurde:  Flaubert.  Das 
Requisitoire  des  berühmten  Prozesses  von  1857  gegen  den 
Verfasser  der  Madame  Bovary  bediente  sich  ungefähr  der- 
selben Argumente,  die  man  gegen  den  Maler  vorbrachte; 


COURBETS  STELLUNG  IN  DER  ZEIT  223 

ein  wenig  intelligenter  übrigens  bei  aller  Beschränktheit. 
Mit  Gründen,  die  weder  für  noch  gegen  den  Dichter 
Flaubert  sprachen,  verteidigte  der  Anwalt  Senard, 
dem  der  dankbare  Autor  nachher  das  Buch  widmete, 
seinen  Schützling;  wiederum  intelligenter,  sachlicher 
als  die  mit  der  Malerei  beschäftigten  Literaten. 
Angriffe  und  Verteidigung  geschriebener  Werke  sind 
zu  allen  Zeiten  ein  wenig  intelligenter  als  die  Boxe- 
reien für  und  wider  die  bildende  Kunst  gewesen. 
Senard  wies  nach,  daß  die  Dinge  so  sind,  wie  sie  Flaubert 
malte,  und  ließ  sich,  zum  Glück  für  den  Angeklagten, 
darauf  ein,  die  Moral  durch  die  Abschreckungstheorie  zu 
rechtfertigen.  Die  gleichen  Argumente  führten  Proudhon 
und  die  mit  Courbet  befreundeten  Kritiker  ins  Feld. 
Ganz  in  derselben  Weise  suchte  man  zur  selben  Zeit 
in  Deutschland  Rembrandt  zu  rechtfertigen,  den  Kugler 
in  den  dreißiger  Jahren  mit  der  Mäßigung  eines  milden 
Richters  geduldet  hatte.  Ähnlich  verhielt  sich  bis  vor 
kurzem    die   Bourgeosie   zu    den   Romanen   Emile    Zolas. 

Freunden  und  Feinden  entging,  daß  hier  etwas  ganz 
anderes  zu  verteidigen  oder  anzugreifen  war,  als  die  per- 
sönliche Moral;  daß  nicht  dieser  oder  jener  Künstler, 
sondern  die  Gegenwart  handelte,  wenn  Courbet  oder 
Flaubert,   Manet  oder    Zola  ihre  Bilder  entrollten. 

Die  neue  Kunst  des  19.  Jahrhunderts  verlegte  das 
Heroische  auf  einen  neuen  Standpunkt,  entrückte  das 
Individuelle  aus  dem  Bereiche  der  Einzelheit,  verall- 
gemeinerte, was  man  vorher  die  Seele  nannte,  materiali- 
sierte sie  und  entmaterialisierte  dafür  in  höherem  Maße 
die  Bilder.  Sie  schuf  eine  neue  Einheit  und  diente  in 
ihrem  Bereich  —  im  Bereich  der  Literatur,  der  bildenden 
Künste  und  am  deutlichsten  von  allen  in  der  neueren  Musik — 
demselben  Prinzip,  das  die  Philosophie  gleichzeitig  in 
strahlenden  Geistern  erkämpfte.  Die  Entwicklung,  die 
mit  Kant  begann,  amputierte  der  Menschheit  eine  Illusion, 


224 


COURBET 


nahm  ihr  das  Recht  zu  den  phantastischen  Vorstellungen 
der  alten  Metaphysik  und  leitete  sie  durch  Schopenhauer 
zu  einem  schwankenden  aber  realeren  System,  dem  der 
Pessimismus  nur  eine,  durchaus  nicht  die  einzige  An- 
wendung gab.  Schopenhauer  rettete  sich  vor  dem  düsteren 
Schluß  der  Selbstvernichtung  in  das  Reich  der  Künste. 
Und  war  nicht  gerade  die  moderne  Kunst,  die  dem 
Zweifel  am  Wert  des  Einzelwesens  konsequent  Rech- 
nung trug,  dieser  Negation  aber  das  Positive  eines 
größeren  Kosmos  gegenüberstellte,  zur  Zuflucht  geeignet  ? 
Courbet  zerstörte  den  Gedanken  als  Spiritus  rector  des 
Bildes,  die  abstrakte  Idee,  die  an  sich  geeignet  sein  sollte, 
den  Menschen  zu  erbauen;  den  Dualismus  von  Körper 
und  Seele  des  Kunstwerks.  Nicht  die  Seele  hob  er  auf,  nur 
widerlegte  er  den  Aberglauben  von  einem  isolierten  Sitz  der 
Seele,  des  Schönen,  und  brach  mit  der  scheinbaren  Handlung, 
die  sich  vor  jeder  Reflexion  als  ohnmächtig  erweist.  Und 
gleichzeitig,  während  er  auf  solche  Weise  das  Signal  zum 
Aufräumen  mit  vielen  Vorurteilen  gab,  zeigte  er  den 
stärkeren  Faktor:  .die  Masse,  die  mit  der  Bewegung 
allein  das  Schöne  hervorbringt.  Man  schimpfte  ihn 
einen  unpersönlichen  Kopisten  der  Natur.  Tatsächlich 
entfernte  er  das  Persönliche  nur  aus  einem  Teil  des  Kunst- 
werks, der  ungebildeten  Augen  als  wesentlicher  Vor- 
gang erschienen  war.  Dieser  Teil  wurde  zum  seelen- 
losen Detail,  zum  Fleisch,  das  nicht  mehr  Anspruch  hatte 
als  das  Tuch,  auf  dem  es  ruhte,  oder  der  Vorhang  da- 
neben. Er  tat  die  Idee  dafür  in  das  All,  in  den  gesamten 
Kosmos,  durchströmte  Fleisch  und  Tuch  und  Vorhang 
mit  demselben  Impuls,  malte  die  Landschaft  wie  einen 
einzigen  Körper,  das  Meer  wie  eine  atmende  Menge. 
Das  heißt,  er  malte,  was  die  Philosophen  der  Zeit  als  den 
Ursprung  des  Seins  formulierten :  die  Kraft,  den  Willen. 
Diese  in  der  Philosophie  unserer  Tage  ausklingende 
Tat  scheint  mir  der  größte  Triumph  der  neueren  Kunst, 


'■Z     = 


COURBETS  STELLUNG  IN  DER  ZEIT  225 

die  wir  von  Rembrandt  an  rechnen.  Auch  die  dekora- 
tiven Gebilde  der  Früheren  erlaubten  dem  Teilnehmer 
am  Spiel,  sich  in  der  Kunst  wiederzufinden.  Er  fand 
sein  Kleid,  seine  Geste,  seinen  Geschmack,  seinen  Stil. 
Der  Stil  war  der  Schatten  der  Vielheit.  Man  erkennt 
ihn  in  den  Epochen,  die  uns  als  Stilperioden  erscheinen, 
als  das  Bezwungene  der  einzelnen.  Denn  wenn  sich 
die  Persönlichkeit  stark  genug  fühlte,  brach  sie  die  kom- 
pakte Überlieferung  und  ließ  sich  von  ihr  höchstens  den 
Rahmen  um  das  Bild  fertigen.  Oberflächliche  Schätzung 
unserer  größten  Besitztümer  hat  den  Gemeinplatz  ge- 
schaffen, unsere  Zeit  sei  jeden  Stiles  bar,  weil  wir  keine 
Stühle,  Tische  und  Mietshäuser  nach  eigens  vollendeten 
Schemas  besitzen.  Die  Malerei  von  Rembrandt  bis  zu 
Courbet  und  darüber  hinaus  weist  solche  Aufgaben  als 
ihrer  unwürdig  zurück.  Die  Empörung  gegen  die  Ein- 
teilung in  große  und  kleine  Künste  war,  obgleich  sie 
wohltätige  Folgen  brachte,  barbarischer  Atavismus. 
Schemas  für  das  Gewerbe  werden  in  der  Zukunft  me- 
chanisch, mit  der  Maschine,  geschaffen  werden;  die 
Gegenwart  zeigt  schon  deutlich  den  Weg.  Daß  man  ein 
paar  Jahrzehnte  darauf  vergessen  hat,  ist  kein  welt- 
erschütterndes Unheil,  man  hatte  wichtigere  Dinge  zu 
tun.  Was  die  Kunst  zu  bringen  hatte,  war  ein  Stil 
höherer  Art,  geeignet,  die  Menschen  zur  Besinnung 
auf  ihres  Geistes  edelste  Kraft  zu  treiben;  Gemeinschaften 
zu  deuten,  die  sich  in  lichteren  Zeichen  als  der  Not- 
durft abgelauschten  Formen  verraten;  Scheidungen  zu 
vollziehen,  die  tiefer  gehen  als  die  Differenzen  zwischen 
Massen  gleichen  Grades.  Nicht  persönlich  allein  ist 
die  Kunst  unserer  Zeit.  Wäre  sies,  so  vermöchten  wir 
nicht,  von  ihr  zur  Liebe  zu  den  größten  Meistern  der 
Vergangenheit  zu  gelangen,  deren  Namen  sich  auf  Schritt 
und  Tritt,  wenn  wir  von  den  unseren  erzählen,  auf 
die   Lippen    drängen.      Auch   jene    standen  abseits  vom 


226  COURBET 

Gepräge  ihrer  Tage.  Kein  Rembrandt,  kein  Velazquez, 
kein  Vermeer,  kein  Hals  verraten  uns  die  Formen,  deren 
man  sich  zu  ihrer  Zeit  für  materielle  Bedürfnisse  be- 
diente. Aber  jeder  von  ihnen  bildete  an  den  Gliedern 
einer  ewigen  Sprache  und  steigerte  die  Vorstellung  von 
den  höchsten  Fähigkeiten  der  Menschheit;  der  geistigen 
Kraft  und  des  geläuterten  Willens  der  Persönlichkeit. 
.  Nicht  als  Monisten  feiern  wir  Courbet,  sondern  als  Maler. 
Das  eine  war  er  unbewußt,  und  hätte  er  es  nicht  zur  Form 
gebracht,  brauchten  wir  nicht  daran  zu  glauben.  Nicht 
das  Prinzip  ist  sein  Werk.  Er  brachte  nur  eine  uralte 
Wahrheit,  die  alle  großen  Werke  erkennen  lassen,  zur 
Sprache.  Nicht  daß  er  auf  die  Kraft  wies,  stimmt  uns 
zur  Bewunderung;  sondern  daß  er  seine  höchsteigene  Kraft 
so  zu  formen  wußte,  daß  sie  zu  Unvergänglichem  wurde. 


SCHLUSSWORT 

COROT  und  Courbet  sind  ungemein  komplizierte 
Erscheinungen.  Der  eine  infolge  eines  überreichen 
Lebens,  das  bis  zum  letzten  Tage  tätig  blieb,  zwar 
höchst  organisch,  aber  unübersehbare  Mannigfaltigkeit 
entfaltend.  Der  andere,  weil  er  eine  einzigartige  Konstel- 
lation scheinbar  heterogener  Fähigkeiten  mitbrachte.  Ich 
verhehle  mir  nicht,  manche  Seiten  beider  Künstler  kaum 
berührt  zu  haben,  aber  mußte  mit  der  Gefahr  rechnen, 
bei  Vergrößerung  des  Bildes  zu  verwirren  statt  zu  klären. 
Denn  selbst  bei  Corot  und  Courbet  darf  man  in  Deutsch- 
land kaum  auf  vorbereitete  Leser  hoffen.  Ich  meine 
Leser,  die  soviel  von  beiden  kennen,  um  den  notwendig 
andeutenden  Betrachtungen  literarischer  Darstellung  zu 
folgen.  Deutschland  hat  sich  an  dem  Enthusiasmus  der 
Amateure  Frankreichs  für  Corot  nur  spärlich  beteiligt. 
Es  gibt,  so  viel  ich  weiß,  in  keiner  einzigen  unserer  öffent- 
lichen Galerien  ein  Werk  seines  Namens;  Courbet  ist  erst 
seit  kurzem  in  Berlin  und  Dresden  vertreten.  Die  besser 
versehenen  Privatsammlungen  in  Hamburg,  Berlin  und 
Frankfurt  a.  M.  sind  dünn  gesät.  Die  Ausstellungen,  diese 
heute  wichtigsten  Pflegeanstalten  der  Kunst,  auch  wenn 
sie  zuweilen  Lazaretten  gleichen,  sehen  in  den  beiden  Mei- 
stern dagewesene  Leute,  laufen  den  Pariser  Tagesgrößen 
nach,  die  dort  nur  im  Salon  gelten,  oder  befleißigen  sich,  die 
Jüngsten  herüberzuholen,  bewunderungswerte  Künstler, 
die  hier  nicht  verstanden  werden.  Nicht  verstanden 
werden  können,  scheint  mir.  Es  gibt  gewisse  elementare 
Erscheinungen  wie  van  Gogh-,  von  so  heftiger  Einseitigkeit, 
daß  sie  in  jedem,  auch  dem  am  wenigsten  vorbereiteten 
Milieu,  vielleicht  gerade  da  am  ersten,  das  Staunen 
hervorrufen,  das  ein  Zufall  zur  Bewunderung  werden 
läßt.  Es  fragt  sich,  ob  das  Zündende  immer  die  Kunst 
van     Goghs    ist,     oder    das     ungewohnte     Krasse,     das 


228  SCHLUSSWORT 

Barbarische,  das  man  in  ihm  findet,  und  die  pikante  bio- 
graphische Notiz,  daß  er  verrückt  war.  Und  diese  Ver- 
mutung, die  unter  anderen  Umständen  grotesk  erscheinen 
würde,  erhält  vielsagende  Bekräftigung  durch  die  Art, 
mit  der  man  andere  eingeborene  Künstler  preist,  die  über 
ihrer  ungewohnten,  barbarischen  Kraßheit  vergessen 
haben,  sich  die  Entschuldigung  van  Goghs,  sein  unan- 
tastbares Künstlertum,  anzueignen.  Schwerer  wird  es 
diskreteren  Leuten,  wie  dem  Kreise  Bonnards  oder  den 
Neo-Impressionisten,  denen  man  Fingerfertigkeit  vorwirft, 
weil  man  ihre  Gestaltung  in  Wirklichkeit  nicht  sieht. 
Techniker  in  dem  unabweisbar  verächtlichen  Sinne  sind 
in  Deutschland  immer  die  Leute,  die  keine  Geschichten 
erzählen.  Aber  auch  viele  Künstler  der  älteren  Generation 
werden  nicht  besser  verstanden.  Noch  vor  kurzem  ging 
eine  Blütenlese  Renoirs  spurlos  an  Berlin  vorüber,  und 
man  konnte  bei  dieser  Gelegenheit  erstaunliche  Dinge  in 
den  Zeitungen  lesen.  Dagegen  wird  Manet  gefeiert. 
Der  Grund  dieser  schwer  verständlichen  Disharmonien 
des  Urteils  liegt  an  der  mangelhaften  Diät,  mit  der  das 
Aufnahmevermögen  traktiert  wird.  Mit  dem  Prinzip, 
dem  Gaumen  immerfort  neue  Nahrung  zu  bieten, 
gleichgültig  ob  sie  Gauguin  oder  Monet  heißt,  wird  die 
solideste  Empfängnis  verdorben.  Zudem  scheint  mir 
das  Empfängnisvermögen  der  Deutschen  von  vornherein 
nichts  weniger  als  zuverlässig,  sondern  mehr  einem 
Basar  vergleichbar,  in  den  jeder  hineingeht,  der  fünf 
Minuten  übrig  hat.  Dieses  Vermögen  läßt  sich  nur  durch 
rationelle  Pflege  verbessern.  Unsere  Kunstpflege  müßte 
den  flinken  Snob  abstreifen  und  dafür  etwas  vom  sorg- 
lichen Hausvater  bekommen.  Die  Gleichzeitigkeit,  mit 
der  man  heute  alles  mögliche  und  unmögliche  in  das 
geduldige  Publikum  hineinstopft,  würde  durch  ein  weniger 
übereiltes  Hintereinander  der  Erscheinung  vorteilhaft  er- 
setzt.     Und    wenn    dadurch    der    Schein    des    aktuellen 


SCHLÜSSWORT  229 

Deutschlands  verlöre,  dessen  Kern  doch  nicht  stark  genug 
ist,  um  nicht  von  hier  bis  Paris  seine  grotesken  Seiten 
sehen  zu  lassen,  der  Bestand  an  wirklichem  Besitz,  der 
nicht  nur  zur  Unterhaltung,  sondern  zur  Entwicklung 
dient,  würde  gewinnen.  Solange  man  in  Deutschland 
den  Kreis  der  Gericault,  Daumier,  Delacroix,  Corot, 
Courbet  und  die  Impressionisten  nicht  so  intensiv  kennt, 
wie  man  etwa  heute  Böcklin  zu  kennen  glaubt,  sollte 
man  jüngere  Franzosen  nicht  über  die  Grenze  lassen. 
Diese  haben  uns  nicht  nötig,  lachen  unsere  steife  Mo- 
derne im  stillen  nur  aus,  und  wir  können  sie  noch  nicht 
brauchen.  Es  ist  unmöglich,  ein  geordnetes  Kunstbild 
zu  erhalten,  solange  wir  in  einem  Atem  Dinge  preisen, 
die  sich  gegenseitig  aufheben,  wie  das  tagtäglich  bei 
uns  geschieht.  1  Die  Weitherzigkeit  schmückt  sich  mit 
dem  Prestige  des  Liberalismus  und  weist  Bestrebungen, 
die  sich  gegen  die  zehntausend  Standpunkte  sträuben, 
als  enge  Richtungspolitik  zurück.  Aber  handelt  es  sich 
wirklich  um  Richtungen?  Wem  es  gefällt,  der  mag  in 
Manet  eine  andere  Richtung  als  in  Puvis,  in  Rembrandt 
eine  andere  als  in  Poussin  erkennen.  Verfolgt  er  jede 
weit  genug,  so  entgeht  ihm  nicht  der  Punkt,  wo  die 
eine  die  andere  berührt,  und  er  entdeckt,  daß  es  nicht 
verschiedener  Standpunkte  bedarf,  um  beiden  gerecht 
zu  werden.  Er  findet  zumal,  daß  die  ganze  moderne 
Kunst,  soweit  sie  zu  Recht  besteht,  sich  nicht  um  ein 
Haar  von  den  Grundlagen  entfernt,  die  der  an  alter 
Kunst  gelernten  Ästhetik  gedient  haben.  Corot  und 
Courbet   sind   dafür  unzweideutige   Exempel. 

Der  herrschenden  Verwirrung  sucht  man  bei  uns  mit 
dünnwandigen  Systemen  beizukommen.  Der  deutsche 
Ästhet  gleicht  dem  Registratur,  der  jedem  Stück  ein 
besonderes  Fach  anweist  und,  da  er  dann  mit  ebenso- 
vielen  Fächern  hantiert  als  Akten  da  waren,  sich  nur 
noch   schwerer  als  vorher  zurechtfindet.     Er  ordnet  nicht, 


23o  SCHLUSSWORT 

sondern  etikettiert  nur  und  gewinnt  den  scheinbaren 
Vorteil,  Auseinandersetzungen  zu  vermeiden.  Das  Ver- 
fahren, aus  Qualitätsunterschieden  willkürlich  Arten  zu 
bilden  und  daraus  die  Erlaubnis  zu  gewinnen,  jede  Art 
dankend  zu  quittieren,  verböte  sich  in  jedem  anderen 
Beruf.  Daß  wir  uns  damit  zufrieden  geben,  ist  unserer 
Gesittung  schlimmster  Mangel  und  läßt  unser  Kunst- 
Jeben  verkümmern.  Unsere  vielen  Richtungen  haben 
uns  die  eine  vorenthalten,  die  einzig  ist.  Es  gibt  nur 
eine  Kunst,  wie  es  nur  eine  Natur  gibt.  Sie  ist  auch 
bei  uns  erkennbar,  nur  müssen  wir  ernster  als  bisher 
Farbe  bekennen  und  entscheiden,  was  von  den  Rich- 
tungen, die  sich  bei  uns  wie  Gegensätze  gegenüberstehen 
und  unmöglich  alle  denselben  höchsten  Zweck  gleich 
gut  erfüllen  können,  uns  zu  fördern  vermag.  Wir  be- 
dürfen einer  Kontrolle  unserer  einheimischen  Kunst. 
Wir  werden  sie  nicht  gewinnen,  solange  das  würdige 
Vergleichsobjekt  nicht  erkannt  wird;  wir  können  e:s  nicht 
erkennen,  wenn  wir  es  alle  fünf  Minuten  ändern.  Unsere 
Zeit  ist  arm,  denn  sie  entbehrt  der  Vielheit  der  Felder, 
die  einst  von  kunstgeübter  Hand  bestellt  wurden.  Die 
Kunstgebiete  der  Alten  gleichen  heute  verfallenen  Ka- 
nälen, und  es  steht  dahin,  ob  wir  uns  ihrer  jemals 
wieder  bedienen  werden.  Unsere  Zeit  ist  reich,  denn 
sie  besitzt  eine  Kunst,  die  uns  zur  Verinnerlichung  treibt 
und  ihre  Wohltat  gibt,  ohne  sich  den  unabweisbaren 
Forderungen  unseres  materiellen  Daseins  zu  widersetzen. 
Was  unsere  edelsten  Instinkte  ihr  verdanken,  ist  soviel, 
daß  der  Verzicht  auf  die  verlockende  Vielheit  der  alten 
Kunst  uns  wie  gerechte,  ja  wie  eine  notwendige  Kom- 
pensation erscheint.  Arm  werden  wir  erst,  wenn  wir 
den    einzigen   Weg    zum   Glück    aus    den  Augen   lassen. 


ND 

553 

C8M45 


Meier-Graefe,  Julius 
Corot  und  Courbet 


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