Full text of "Corsica"
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THE DORSCH LIBRARY.
sere @® 1 Waa
DC
@ il.
C812
C82
— Corsica.
Bon
Ferdinand Gregorovins.
. =
Dritte Anflage.
Erfier Band
. Stuttgart.
— Werlag der J. G. Cotta ſchen Buchhandlung.
. 1878,
. 7 4
wed
Autotrecht vorbehalten.
Buddruderet der J. G. Cotta’igen Buchhandlung in Stuttgart,
6-9 324Um
Haven
Gregorovius, Corsica, 1, 1
A,
Geſchichle ter Corsen.
‘Tuumque
Nomen, Libertas, et inanem prosequar umbram.
Lucanus, Pharsalia,
Erfies Sud.
Erſtes Kapitel.
Die älteſten Nachrichten über Corsica finden ſich bei den
Geſchichtſchreibern und Geographen der Griechen und der Römer.
Sie laſſen uns nicht beſtimmt erkennen, welche Volkſtaͤmme ur⸗
fſprünglich die Inſel bevölkert haben, ob es Phönizier, Etrusker,
Hispanier oder Ligurier waren. Alle dieſe alten Valter find
auf Corsica geweſen, ebe nocd Carthager, photdifdhe Griedhen
und Römer dabin itberfiedelten.
Die Lage der Ynfeln Corsica unb Sardinien madte fie in
bem grofen weftliden Bufen des Mittelmeers jum Kreuzungs⸗
puntt aller umwohnenden Biller, welde Handel trieben und
Pflangftidte anlegten. Nordwaͤrts liegt, eine Tagereife weit,
Gallien, weſtwärts, drei Tagereifen weit, Spanien, oſtwärts
ganz nabe die Küſte Etruriens, ſüdwärts endlich, wenig Tage:
reifen entfernt ber Siftenfaum Wfrifa’s. Die Feftlandvdlfer
ftieBen. alfo auf diefen Inſeln gufammen und driidten ibnen
ihr Geprige auf. Diefe Mannidfaltigkeit der von ihnen binter: -
laffenen Spuren in Bauten, Bildwerfen, Münzen, Spraden
und Gitten, welde wie Erdſchichtungen bie ethnograpbifde Gee
ftaltung ber Inſel beftimmen, maden befonders Garbdinien ju
einem der merfwiirdigften Lander Curopa’s. Beide Ynfeln
liegen auf der Grenglinie, welde jened Weftbeden des Mittel⸗
meers in eine fpanifde und eine italienifde Halfte trennt.
%
ean
¢
Nachdem nun die Cinfliiffe orientalifder und griechiſcher Cin-
wanberungen politiſch binweggetilgt waren, übten jene beiden
Seltlander ihre Beftimmungstraft auf die Bnfeln ans. Bn
Garbinien überwog bas fpanifde Clement; in Corsica dad
italieniſche. Man erfennt bas heute ganz einfach aud der
Sprache. Fir Corsica trat in der jiingeren Beit nod ein
drittes beftimmendes Clement bingu, das frangififde, aber
died ift nur politiſch. Schon in den friibeften Zeiten waren
wie fpanifde, fo gallifd)-celtifhe ober ligurifde Balter auf
die Inſel hinübergegangen. Das fpanifde Wefen, welded
nod bem Pbilofophen Seneca an den Corgen feiner Zeit fo
bedeutend auffiel, wurde überwunden, nur in dem fdweigfam
ditjtern, melancholiſch⸗choleriſchen Naturell hat es fic) erbalten.
Der uralte Name der Ynfel.ift Corsica, der fpdtere Cyrnus.
Sener wird abgeleite: von Corsus, einem Sohn ded Hertules
und Bruber des Sardus, welche beide nad den von ihnen
benannten Ynfeln Colonieen führten. Andere laſſen den Corsus
einen Zrojaner jein und erziblen, daß er Sica eine Nichte
ber Dido entfilbrt habe, wober denn der Name Corsica ent:
ftanden fei. Died ift bie Fabel ded Alteften corsifden Chro⸗
niſten Giovanni della Groſſa.
Der Name Cyrnos war im Gebrauch der Griechen. Pau⸗
ſanias ſagt in ſeiner phokiſchen Geographie: „Die nicht weit
von Sardinien (Ichnuſa) entfernte Inſel wird von den ein:
. gebornen Lybiern Corsica, von den Grieden Cyrnos genannt.”
Die Bezeichnung Libyer ift allgemein fir Phönizier, und
ſchwerlich dachte Paufanias an Ureinwobhner. Sie waren ibm
eingetwanderte Coloniften, wie die in Sardinien. Denn in
demfelben Bud) fagt er, dap zuerſt Libyer nad) Sardjnien kawen,
aber bier ſchon Ginwobner fanden, und dab nad ibnen Griechen
und Hispanier anlangten. Das Wort Cyrnos felbft ift aus
dem phöniziſchen Kir (Gorn, Landbhorn, vorjpringendes Rap) er:
tlart worden. Kurzum dies find Sagen, unbeftimmbare Dinge.
So viel ſcheint nach ben alten eberlieferungen, au3
welden Pauſanias feine Angaben ſchöpfte, gewiß, daß Phö⸗
nizier in ſehr frithen Zeiten anf beiden Inſeln Colonieen grün⸗
deten, daß fie bereits eine Bevölkerung vorfanden, welche ents
weder liguriſch ober etruskiſch-pelasgiſch war, und daß fpater
auch Hispanier hinüber kamen. Seneca, welcher acht Jahre
auf Corsica im Gril lebte, ſchreibt von bier aus ſeine Troſt⸗
febrift an feine Mutter Helvia, worin fic) im achten Kapitel
folgende Gtelle findet: „Auch diefe Inſel bat ihre Bebauer
oft gewedfelt. Das Alte ind Dunkel der Urzeit gebiillte über⸗
gebend fage id) nur, dab bie Grieden, welde jest Maſſilia
bewobnen, nadbem fie Phofia verlaffen batten, zuerſt auf
diefer Inſel fic) niederliefen. Es ift ungewiß, was fie von
bier vertrieb, vielleidht dad unginftige Clima, der Unblid von
Stalien3 wachſender Macht, ober die hafenlofe Küſte; denn
bap die Wildheit der Bewobhner nidt fduld war, erfennt man
daraus, daß fie dod) unter die damals höchſt roben und un-
civilifirten Balter Galliend fid) begaben. Nachher kamen Li⸗
gurier auf diefe Ynfel, und e3 famen aud Hispanier, wad
man aus der Aehnlichkeit der Lebensweife ſchließen fann, dent
es finden ſich Ddiefelben Ropfhededungen, Ddiefelben Fußbeklei⸗
dungen wie bei ben Cantabrern, felbjt mande Worte; aber
bie ganze Sprache bat durd den Umgang mit Grieden und
Liguriern ihren urſprünglichen Chavatter eingebüßt.“ Es ift
bedauern3wiirdig, bap Geneca e8 nicht der Mühe wert bielt,
mebr über den Buftand der Inſel gu erforfdhen. Wud) fiir
ibn war die Altefte Gefdhidte der Corsen in Duntel gehüllt.
Aber Seneca irrt wol, wenn er Ligurier und Spanier erft
nad den Phokäern auf die Inſel fommen läßt. Ich zweifle
nidt baran, dap ibre celtiſchen Stamme die erften und alteften
Bewohner Corsica’s waren; ſelbſt vie Gefichtsbildung der heu⸗
tigen Corsen erfdeint als eine celtiſch⸗-liguriſche.
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ww ~ 8
Zweites Kapitel.
Die erfte gefdidtlich befannte Begebenheit auf Corsica ift
jene Anfunft der flüchtigen Phokäer, welche Herodot mit Haren
Worten erzählt. Man weiß, dab diefe flein-afiatifden Grieden
befdloffen batten, lieber au3 ihrem Baterland in die Frembde
au wanbdern, als die Knechtſchaft de3 Cyrus gu ertragen, und
dap fie nad) einem feierliden Eidſchwur yu den Göttern mit
al’ ihrem Hab und Gut fic ju Schiff begaben. Sie unterban-
velten guerft mit den Chiern wegen Wbtretung der dnufijden
Inſeln; abgewiefen fegelten fie nad) Corsica, nidt durch ein
Ungefabr dahin getrieben, fondern weil fie ſchon zwanzig Sabre
vorher auf jener Inſel die Stadt Wlalia gegriindet batten.
Sie fanben bier ibre eigenen Coloniften und blieben mit ibnen
fünf Jahre, Tempel bauend wie Herodot fagt: „Aber weil
fie ihre Nachbaren mit Pliinderung und Raub heimſuchten,
bradten bie Tyrrhener und die Carthager ſechzig Schiffe in
bas Meer. Die Photier Hatten eine gleiche Zabl ausgerüſtet.
Sie gewannen einen foftbaren Sieg, benn fie verloren vierzig
Schiffe; die ibrigen waren unbraudbar geworbden. Gie kehrten
nad Wlalia guriid, nabmen Weiber und Kinder und ibre Habe
mit fid), verlieBen Cyrnos und fegelten gen Rhegium.” Dab
fie fpater Maſſilia, bas heutige Mtarfeille, gritndeten, ift
befannt. .
Wir haben alfo in Walia, dem heutigen Wleria, eine un-
bezweifelt griechifcbe Colonie, welche nachher in die Gewalt der
Gtruster überging. Dap diefe ſchon vor ben Pbholdern Colo-
niften nad Corsica ausgeführt haben, möchte die Gefdidte |
diefer handeltreibenden Nation wol angunehmen fordern. Denn
tie follte gumal das Corsica nabe gegeniiber gelegene mäch⸗
tige Populonia nidt ſchon lanaft ven Verſuch gemacht haben,
fid der Ofttiifte Corsica’s gu bemadtigen, nachdem es aud
Elba in feinem Befig hatte, Diodor erzählt im fünften Bude:
*
-
7
Zwei ausgezeichnete Städte find in Corsica Calaris und Nicaa.
Calaris (verdorben ſtatt Alalia oder Aleria) gründeten die
Phokäer. Dieſe wurden, nachdem ſie die Inſel eine Zeitlang
bewohnt hatten, von den Tyrrhenern herausgeworfen. - Die
Tyrrhener griindeten Nicäa, al3 fie fico des Meers bemad:
tigten.” Nicäa ift wahrſcheinlich das auf derfelben Küſtenebne
gelegene Mariana. Man darf annehmen, dap diefe Colonie
ſchon neben Walia beftand, und dap die Cinwanderung der
Gefammtgemeinde Phokäa's bei den Tyryhenern Ciferfudt und
Furcht erregte, daher ein Sujammenjftop gwifden ibnen und
den Griechen ftatt fand. Ob die Carthager Befigungen auf
Corsica batten, ift nicht gang gewiß. Wber gleichzeitig befapen
fie folche in bem naben Sardinien. Pauſanias ergiblt, dab
fie fid) die Libyer und Hi8panier auf diefer Ynfel unterwarfen
“und zwei Stadte anlegten Caralis (Cagliari) und Sulchos
(Palma di Solo), Die von den Grieden drohende Gefahr
bewog fie nun mit den Tyrrhenern, welde gleichfalls in Sar⸗
dinien fic) niedergelaffen batten, gegen die pholdiſchen Cin:
dringlinge gemeinfdaftlide Gache 3u maden. Uebrigend er: -
wabnen die alten Gebriftfteller aud) einer Einwanderung der
Corsen nad Sarbinien, wo fie zwölf Stddte follen gegriindet
baben. .
Wir hiren lange Zeit nichts weiter von den Schickſalen
Corgica’s, aus weldem die Ctruster fortfubren Honig, Wachs,
Schiffsbauholz und Sclaven gu begiehen. Ihre allmalig fintende
Macht wid den Carthagern, welche fid in den vollen Beſitz
beider Ynfeln geſetzt gu haben fdeinen, das heift ihrer Em⸗
porten und Hafen, denn die Vilfer de} Ynnern hatte fein
Feind bezwungen. Bn ben punifden Kriegen entrip fodann
pad aufftrebende Rom beide Ynfeln den Carthagern. Corsica
wird guerft nidt genannt weder im Vertrag der Römer zur
Reit des Tarquinius, nod) im FriedenSvertrag de erften pu-
nifden Kriege3. Sardinien war den Römern abgetreten worden.
e
Die Nahe Corsica’s mußte fie reizen auch dieſes Ciland gu ers
obern. Beide im Mittelpuntt jene3 Spanien, Gallien, Italien
und Wfrifa befpitlenden Meeres waren vortrefflide Stationen
nad aller Lander Küſten gewendet, welde Rom gu unterwerfen
ſich anſchickte.
Es wird erzählt, daß im Jahr 260 vor Chriſti Geburt
der Conſul Lucius Cornelius Scipio nach Corsica hinüberging
und die Stadt Aleria zerſtörte, daß er Corsen und Sarden
zugleich und ben Carthager Hanno bekriegte. Die verftiim-
melte Grabſchrift des Scipio bat die Worte: HEC CEPIT
CORSICA ALERIAQUE VRBE. Uber die Unterwerfung
ver wilden Corsen war nicht leicht. Sie leifteten einen eben
fo heldenmiltigen Widerftand al3 die Bolterfdaften in den
famnitifden Bergen. Die Rimer wurden mehrmals gefdlagen.
Ym Jahre 240 fibrte Mt. Claudius ein Heer gegen fie. Bez
fiegt und in vergweifelter Lage bot er ihnen giinftigen Vertrag,
Sie nahmen ibn an, der Senat jedod beftitigte ibn nicht. Gr
befabl dem Conſul ©. Licinius Varus die Corsen mit Gewalt
su ftrafen, den Claudius aber lieferte er ibnen aus, Died —
war ein Verfahren, welches bie Romer anwandten, fo oft fie
. religidfe Scrupel um. einen Eidbruch befdmidtigen wollten.
-— Bie Spanier und Gamniten in gleichem Falle handelten, thaten
aud) die Corsen. Sie weigerten ſich, dew ſchuldloſen General
angunebmen und fandten ibn ungelrantt zurück. Yn Rom ers
würgte man ihn und warf ibn auf die gemonifden Treppen.
Obwol von den Römern unterdriidt erhoben fid) die Corgen
immer pon neuem, und fdon damal3 lafjen fie jene Freiheits⸗
liebe erfennen, welche in viel fpdtern Seiten die Augen der
Welt auf diefes im Meer werlorne fleine Volk gegogen hat. :
Gie erboben fid) jufammen mit den Garden; aber naddem
viefe gefdlagen waren, erlagen aud) die Corsen bem Conful.
Caius Papirius, welder ibnen auf dem Meirtenfeld eine blu:
tige Niederlage beibradte. Dod) faßten fie wieder in den.
Bergen feften Fuß; es fdeint, dap fie den rdmifden General
su einem worteilbaften Vertrage ndtigten.
Aufs neue erhoben fie fic) im Jahr 181. Marcus Pina-
riu3, Praitor von Sarbinien, ging mit einem Heer nach Corsica
und fdlug die Snfulaner in einer Vernidtungsfdladt, von
welder Livius ergablt. Das Voll unterwarf fid, gab Geifeln
und einen Tribut von 100000 Pfunden Wachs. Sieben
Jahre ſpäter ein nener Wufftand und nene blutige Kämpfe.
7000 Gorgen wurden erfdlagen, 2000 gefangen. Der Tribut
ward auf 200000 Pfund Wads erhöht. Behn Yabre fpater
fteht dad tapfere Vol! wieder in Waffen und gwingt die Romer,
ein confularifdhes Heer gegen es auszuſenden. Juventius
Thalna und darauf Scipio Nafica unterwarfen die Inſel vdllig
im Sabre 162.
Mehr als hundert Jahre hatten alfo die Römer mit dieſem
Inſelvolk zu kaͤmpfen gehabt, ehe fie es bezwangen. Sie ver:
walteten Corsica gemeinſchaftlich mit Sardinien durch einen
Prätor, welcher in Cagliari wohnte und einen Legaten nach
Corsica ſandte. Aber erſt in der Zeit des erſten Buͤrgerkrieges
dachten die Rimer ernſtlich daran, Colonieen nad der Inſel
auszuführen. Der berühmte Marius legte auf der Oſtküſte
Mariana an, und Sulla ſpäter auf derſelben Ebene Aleria,
das ehemalige Alalia ver Phokäer wiederherſtellend. Run be:
gann Corsica ſich zu romaniſiren, nach und nach die celtiſch⸗
ſpaniſche Sprache umzuwandeln und römiſche Gebräuche an:
zunehmen. Wir hören nicht, daß ſich die Corsen ſeither gegen
ihre Herren zu erheben wagten, und nur einmal wird die
Inſel wieder geſchichtlich namhaft, als Sertus Pompejus ſich
eine Herrſchaft auf dem Mittelmeer gründete und Corsica,
Sardinien und Sicilien an ſich riß. Sein Reich war nicht
von langer Dauer.
10
Drittes Kapitel.
Dap der Zuftand ver Jnfel unter der langen Herrſchaft
ver Romer feineswegs fo blithend war, al8 man annehbmen
will, lehrt bie Befdaffenheit ihres Innern, welches die Römer
wabrideinlid nie unterworfen batten. Sie begniigten fich mit
jenen beiden Colonieen und einigen Hafen. Sie legten nur
eine eingige Straße in Cor3ica an. Nach dem Stinerarium
des Antonin führte fie von Mariana längſt der Küſte ſüdwärts
nad Aleria, nad Prafidium, nad Portus Favoni, nach Pala,
neben dem heutigen Bonifazio an der Meerenge. Von Hier
war der Ucberfabrtzort nad) Sarbinien, two fic) die Strape
von Portus Tibulé (castrum Aragonese) einem anfebnliden
Ort nad) Caralis dem heutigen Cagliari fortfegte.
Plinius zaͤhlt 33 Stadte in Corsica, nennt aber nur die
beiden Golonien namentlid. Strabo, welder nidt lange vor
ihm ſchrieb, fagt: „Es gibt dort einige Heine Städte, wie
Blefino, Charar, Cniconid und Bapane3.” Diefe Ramen
finden fich fonft nirgend. Plinius bat wahrſcheinlich unter
jedem Caſtell eine Stadt verftanden. Ausführlich aber nennt
Ptolemaius die Ortfdhaften und aud die Völker Corsica's;
piele von fetnen Benennungen find nod heute wol erhalten
over leicht erkenntlich. ,
Aud haben die alten Schriftſteller über Charalter und
Art des corsifden Landes wie Volks aus jener Periode einige
Motizen. Ich ftelle fie einfad hier gujammen, weil e3 merk⸗
wilrdig fein muß, twas fie fagen mit dem gu vergleichen, was
im Mtittelalter und heute von den Corsen beridtet wird.
Strabo fagt von Corsica: „Es wird ſchlecht bewobhnt.
Weil e3 rauh und meift unweafam ijt. Daber fommt es,
dap diejenigen, welche die Berge bewohnen, vom Raube leben
und ungibmbarer find, als die wilden Thiere. Wenn die
römiſchen Feldherren eine’ Unternehmung gegen die Inſel
11
maden und ibre feften Orte angegriffen haben, fithren fie eine
große Zabl von Gclaven mit fic) binweg; dann fann man
in Rom mit Staunen febn, weldhe Wildheit und Thierbeit
ibnen eigen ijt. Denn fie nehmen fic) entweder dad Leben
oder ermüden ibre Herren durd Trop und Stumpfbeit; fo
dab das Kaufgeld reut, aud wenn man fie um einen Spott⸗
prei3 erftanden bat.”
Diodorus: „Als die Tyrrhener die corsifden State eine
Bett lang im Befig batten, forderten fie von den Ctngebornen
Tribut, Harz, Wachs, Honig, welde hier in Menge erzeugt
werden. Die corsiſchen Sclaven von ausgezeichneter Natur,
ſcheinen andern gum Lebensgebraud) vorzuziehn. Die ganze
Inſel iſt großen Teils bergig, reich an ſchattigen Waldern,
von kleinen Flüſſen bewäſſert. Die Einwohner leben von Milch,
Honig und Fleiſch. Das Leben bietet das Alles in Fülle.
Die Corsen ſind gerecht unter ſich und menſchlicher als alle
anderen Barbaren anderswo. Denn findet man in den Bäumen
der Berge Honigwaben, ſo gehören ſie ohne Widerſtreit dem
erſten Finder. Die Schafe durch gewiſſe Merkmale gezeichnet,
bleiben ihrem Herrn auch ohne daß er ſie hütet. Auch in der
übrigen Lebensordnung bewabhrt ein jeder an ſeinem Platz die
Regel des Redhtthuns auf bewundernswürdige Weife. Un-
gewöhnlich und neu ift bet ibnen die Sitte bei Rindergeburten.
Denn um ein gebärendes Weib tragt man feinerlei Gorge.
Sondern ihr Mann legt fic) wie frank und leibe3angeftrengt
an Gtelle ber Gebairenden fiir einige Tage ind Bett. Es
wächſt dort aud viel Buchsbaum und zwar nicht gemeiner.
Davon fchreibt fic) die grope Bitterleit de3 Honigd her. Die
Inſel wird von Barbaren bewobhnt, deren Sprache frembdartig
und ſchwer verftandlidh ift. Die Babl der Einwohner belduft
fid auf mebr als dreißig Tauſend.“
Seneca: — , Denn von ſolchen abſehend, deren anmutige
Gegend und vorteilhafte Lage gar Biele anlodt, gebe ‘an
12
abgelegene Orte, auf raube Bnfeln, gebe nad Sciathu3 und
Seriphu3 und Gyarus und Corsica: du wirft feinen Ber-
bannungSort finden, wo nidt Ciner oder der Andere aus Lieb-
haberei weilte, Wo fann man etwas fo Nadte3, fo auf allen
Seiten. UWbgeriffenes finden, als dieſes Felfeneiland? wo ijt
eines, Das wenn man an Produfte dent, nildterner; wenn man
auf die Menſchen fieht, unwirtlider; wenn man die Lage bes
ridfidtigt, fdjauerlider, oder wenn man auf das Clima ftebt,
unfreundlieher ware? Und doch balten fic) bier mehr Frembde
al3 Ginheimifde auf.”
Nad allen Nachrichten der älteſten Schriftſteller muß man
annebmen, dap Corsica damals ziemlid) unbebaut, und an
Naturprodutten außer feinen Urwaldern arm war. Daf Seneca
iibertreibt, ijt offenbar und geht aud feiner Lage bervor.
Strabo und Diodor find entgegengefegter Anfidt über das
Naturell der corsifden Sclaven. ener hat fiir fic) die Ge-
ſchichte und den bewährten Charafter ber Gorsen, welde fid
immer als im hidften Grade unfabig zur Sclaverei gezeigt
haben, und fein ſchöneres Lob konnte ibnen Strabo nad:
rühmen. Was Diodor, welder fenntnifreidher redet, von dem
Rechtsſinn der Corsen erzählt, ift fo wabr, dab e3 durch alle
Zeiten beftatigt wird.
Unter den Gpigrammen auf Corsica, die Seneca jus
gefdrieben werden, befindet fic) aud) eins, welded von den
Corsen fagt: „Ihr erfted Gefeg ift fic) yu rächen, dads zweite
vom Raube zu leben, lügen das dritte, die Götter leugnen
das vierte.” -
Died find die widtigften Nachrichten der Grieden und
Römer über Corsica.
13
Biertes Kapitel.
Corsica war im Befig der Romer geblieben, von welden
e3 aud) in fpdterer Seit das Chrijtentum empfing; bis der
Sturz Roms die Inſel aufs neue gu einer Beute meer⸗ und
fanddurdfabrender Völker madte. Hier gibt e3 denn neue
Völkeranſchwemmungen und ein buntes Gemiſch von Spraden
und Gitten, wie in der dlteften Zeit.
G3 find Germanen, byzantiniſche Griechen, tauren, Ro-
manen, welche bie Inſel itbergiehn. Dod) hat fic) das Ro-
_ manifde, aufgepragt durch die Romer, verjtarft burch Scharen
flüchtiger Jtaliener, als Grunddaralter der Corsen ſchon feft:
geftellt. Die Vandalen famen unter Genferid) und behaupteten
die Inſel lange Beit, bid fie Belifar vertrieb. Nachdem aud
Gothen und Longobarden eingedrungen waren, fiel fie mit
Sardinien in die Gewalt der Byzantiner und blieb beinabe
zweihundert Sabre lang in ihrem Beſitz. Aus diefer Beit
ſchreiben fid) viele griechiſche Namen und Wurzeln her, welde
Land und Sprade nod) heute auftveist.
Die Herrjchaft ver Griechen war von türkiſcher Art. Sie
ſchienen die Corgen als eine Heerde von Wilden anjufebn:
fie belafteten fie mit unerſchwinglichen Abgaben und zwangen
fie um die Geldfummen aufgubringen felbft ihre Kinder zu
verfaufen. Es beginnt nun fitr Corsica die Zeit unablafjiger
Kämpfe um die Freiheit de3 vaterlandijden Bodens.
Im Jahre 713 erſchienen die erjten Garacenenfdmwarme
auf der Ynfel. Geit Spanien mauriſch geworben war, über⸗
zogen die Muhammedaner alle Inſeln des Dtittelmeer3 mit
Raub und Plünderung und griindeten an vielen Stellen lang:
dauernde Herrfdaften. Die griedhifden Kaiſer gaben den Weſten
preis, welder bierauf an den Franken neue Schutzherren fand.
Daß Carl ner Grofe mit Corsica oder mit den tauren da:
felbft 3u thun hatte, gebt aud aus feinem Geſchichtſchreiber
⸗
. ———
14
Eginhard hervor, welder erzählt, daß ver Kaifer feinen Grafen
Burfhard mit einer Flotte ausfdidte, um Corsica gegen die
Saracenen ju verteidigen. Auch fein Sohn Carl fdlug fie
bet Mariqna aufs Haupt. Diefe Kämpfe mit den Ptauren
haben fic) in Gagen des Lande3 erhalten. Sn ihnen glangt
namentlich der römiſche Cole Hugo Colonna, Rebell gegen den
Papſt Stefan 1V., welder ibn nad) Corsica ſchickte, um ibn
und feine Genofjen Guido Savelli und Amondo Nasica los
gu werden. Colonna eroberte guerft Wleria nad einem ritter⸗
liden Kampf swifden drei Paladinen und drei Mauren. Darauf
fclug er den Mohrenkönig Nugalon bei Mariana und zwang
alles heidniſche Boll der Bnfel zur Taufe. Der corsiſche
Chroniſt gibt diefem Hugo Colonna einen Meffen de3 Ganelon
von Maing gum Vegleiter, und lapt ibn nad) Corsica fommen,
um die Schuld ſeines Gaufes im Mobrenblut absuwafden.
Nun heift es, daß der to8canifde Markgraf Bonifacius,
nadbdem er die Garacenen bei Utica wernichtet batte, beim:
Eehrend an der Südſpitze Corsica's landete und auf dem
Kreidefelfen dafelbft eine Feftung baute, welche von ibm den
Namen Bonifacio erbielt. Dies gefdah im Yabre 833. Lud⸗
wig ber Fromme itbertrug ihm Gorgica als ein Lehn. So
madt die etruriſche Küſte gum gweiten Mal ihre Herrſchaft
itber die nabe Inſel geltend. Es ſteht feft, dab die toscaniſchen
Markgrafen bis auf Lambert, den legten in ihrer Reibe,
Corsica verwaltet haben. Lambert ftarb im Yabre 951.
Nachdem bhierauf Verengar und Adalbert von Friaul aber
die Inſel geherrſcht batten, gab fie der Kaiſer Otto der zweite
dem Markgrafen Hugo von Toscana, feinem Anhanger. Die
weiteren Umiftinde find dunkel und bid auf die Gerrfdaft der
Pifaner unentwirrbar,
In diefer Beit etwa bis auf den Anfang ded elften Jahre
hunderts bat fic) aud) in Corsica, wie in den italienifden
Landern, ein trogiger Abel ausgebildet und in vielen Herr:
15
e
ſchaften verbreitet. Nur zum geringften Teil mochte er corsiſchen
Urjprunges fein. Bor den Barbaren geflüchtete italieniſche
Große, longobardifdhe, gothiſche, griedhifde oder frantifde
Vaſallen, Krieger die als Lohn far den Kampf gegen die
Mauren Land und Lehenstitel fid) erworben batten, bilveten
fid) nad und nad yu erblicen Dynaften aus. Der corsifde
Chronift leitet alle diefe Signoren von jenem Rimer Hugo
Colonna und feiner- Genoffenfdaft ber. Cr madht ibn gum
Grafen Corsica’s und läßt von feinem Gobn Cinarco die bez
rühmteſte Signorenfamilie, die Cinardeft, abftammen, von
einem anderen Gobne Bianco die Viancolacci, von Pino einem
Sobne Savelli’s will er die Pinaſchi ableiten, und fo gibt
es Amondafdhi, Rollandini, Nadhfommen des Ganelon und
andere, Aus diefem Gewühl Heiner Tyrannen traten fpater
einige Familien mächtig hervor, auf dem Cap Corſo die Gentili
und die Herren da Mare, jenfeits der Berge die Herren von
Leca, von Atria und Rocca, die yon Ornano und von Bozio.
Fünftes Kapitel.
Lange Zeit iſt die Geſchichte der Corsen nichts als das
blutige Gemalde ber Tyrannei ihrer Barone und ihrer Kämpfe
mit einanber. Die Riiften wurden öde, die alten Stante Wleria
und Mariana verlaffen; die Strandbewobhner floben aus Furdt
por den Saracenen höher binauf in die Berge, wo fie fefte
Caftelle anlegten. Jn wenigen Lindern fonnte es einen fo
graufamen und fo rohen Adel geben, al in Corsica. Mitten
in einer barbariſchen und armen Bevilferung, in einer rauh⸗
felfigen Natur, uugebandigt nurd bad. Gegengewidt bürger⸗
lider Thatigheit, ungesitgelt durch die Kirche, von der Welt
und ihrem mildernden Verkehr abgefdnitten — man dente fid
16
diefe Herren in ihren Felfen haufen und die einmal auf Be:
wegung angewiefene Natur in Cinnenluft pnd Rauferei aus:
toben. laffen. In anbdern Ländern fammelte fid) dem Abdel
gegenüber alles Geſetzliche, menſchlich fid) Entwidelnde in den
Städten, gliederte fic) in Zünfte, Rechte, Gemeinſchaften und
ſchloß fid) gu einem Wiirgerverband gufammen. Unendlid
ſchwieriger war dies auf Corsica, wo es weder Handel nod
Induſtrie, ‘weder Städte nod einen Bitrgerftand gab. Um
fo merkwürdiger tft die Erſcheinung, dab ein Volf von roben
Bauern zu einer demotratifden Verfafjung fid aufbilft, man
midte fagen auf patriarchaliſche Weife.
Die Barone des Landes, im fortwabrenden Krieg mit dem
gebdriidten Volk der Dörfer und unter fid) um die Herrfdaft
ftreitend, waren am Anfang des elften Yabrhunderts dem
Herrn von Cinarca erlegen, welder fid) yum Tyrannen der
Inſel aufguwerfen gedadte. So ſparſam die Nacridten find,
fo miffen wir aus ihnen entnebmen, dap die Corsen im innern
Lande den Baronen hartnidigen Widerſtand geleiftet batten.
In Gefabr dem Cinarca 3u erliegen, verſammelte fic) dad Bolt
gu einem Landtage. Died erjte VolfSparlament von dem wir
in der corsifden Gefdidte hiren, wurde in Moroſaglia ab-
gebalten. ‘ier erwablten die Cor3en einen tapfern Mann
Sambucuccio yon Alando ju ihrem Haupt, und mit ihm be-
ginnt die lange Reibe corsifder Helden, welche durd Vater-
landsliebe und heroiſchen Mut grop geweſen find.
Sambucuccio fdlug den Herren von Cinarca und warf ibn
in fein Lehn guriid. Den Grfolg yu ficern errichtete er einen
Landesbund, eine Eidgenoſſenſchaft, wie unter ähnlichen Ver-
haltniffen die Bergvölker in ver Schweiz, vod ungleich fpater
thaten. Alles Land von Wleria bis Calvi und bid Brando
vereinigte fid) zu einer freien Gemeinde und nabm den Titel
Terra del Commune an, welder ihm bid auf die jüngſte Zeit
geblieben ift. Die Cinridjtung diefer Gemeine ging aus der
17
‘é
natirliden Ginteilung des Lande3 hervor. Denn diefes wird
purd fein Gebirgsſyſtem in Taler gefondert, ähnlich einem
Bellengewebe. Yn der Regel bilden alle in einem Tal ftehenden
Ortſchaften einen firdliden Gemeindebezirk, welder nod) heute
wie in Ulteften Zeiten pieve (plebs) genannt wird. Jede
pieve umfafte eine gewiſſe Zahl von Communen oder Ort:
ſchaften (paese). Jun wählte gunidft jede Commune in
ibrer BolfSverfammlung vor der Kirche einen Ort8vorjtand
oder podesta und zwei oder mehrere Vater der Gemeine (padri
del commune), wahrſcheinlich wie es ſpaͤter Regel war auf
ein Jahr. Diefe Vater follten ibrem Begriff gemäß fiir das
Wol der Communen forgen, Frieden ftiften und die Schwachen
beſchirmen. Cie traten zufammen und ernannten einen capo-
rale, welder die Befugnif eines Tribuns hatte und ausdriidlid
dazu beftellt war, die Rechte ded Volles gu vertreten. Wiederum
famen bie Podefta zufammen und erwablten die „Zwölfmänner,“
den höchſten gefeggebenden Rat des Landesbundes.
So ditrftig aud) dieje Nachrichten über Gambucuccio und
feine Ginridtungen find, fo gebt dod) daraus hervor, dab die
Corsen ſchon in fo frither Seit und aus eigner Kraft ein
demokratiſches Gemeindewefen zu ſchaffen vermodten. Diefe
Keime bildeten fid unter allen Stürmen fort, veredelten die
tobe Kraft einer eiferartig geſchaffnen Nation, erzeugten eine
beifpielloje Vaterlandsliebe und heroifden Freiheitsfinn, und
madten e3 miglid, dab zu einer Beit, too die grofen Cultur:
völker des Feftlandes in despotiſchen Staat3formen gebannt
lagen, Corsica die demokratiſche Verfaffung ve Pasquale
Paoli erzeugen fonnte, welde entftand ehe Nordamerifa fid
befreite und ebe Frankreich feine Revolution begann. Cor8ica
hatte feine Gclaven, feine Leibeigene; jeder Corse war fret,
mitheteiligt am Leben bed Volkes durd die Selbjtregierung
feiner Commune und die Landesverfammlung — und dad ift
nebft bem Rechtsgefühl und der Vaterlandsliebe der Grund
Gregorovius, Corsica. 1. 2
18
ver politiſchen Freiheit überhaupt. Die Corsen beſaßen, wie
ſchon Diodor es gerühmt hat, Rechtsgefühl, aber die ver:
worrenen Verbaltnijje ihrer Inſel und die Fremdherrſchaft,
welcher ſie bei ihrer Lage und Zahl ſich nie entziehen konnten,
ließen das Volk nicht zum Glück gedeihen.
Sechstes Kapitel.
Es erging Sambucuccio wie vielen andern Geſetzgebern.
Seine Einrichtungen erlitten durch ſeinen Tod einen. pldgliden
Stoß. Die Signoren kamen aus ihren Burgen hervor und
warfen Krieg und Hader in das Land. Da wandte ſich das
Rolf an ben toscaniſchen Markgrafen Malaspina und ſtellte
fid unter’ deffen Schutz. Malaspina fam nad der Infel,
überwand die Barone und jtellte die Rube wieder her. Died
geſchah etwa um das Jahr 1020, und bid 1070 ſcheinen die
Malaspina vie Rectoren der Terra del Commune geblieben
zu fein, während im übrigen Lande die Gignoren berrjdten.
Aud der Papft, welder feine Rechte auf Corsica von den
frantijden Königen ableiten wollte, griff in diefer Zeit in die
Angelegenheiten der Yufel ein. C8 fdeint fogar, dab er fie
als Lehn austeilte und daß Malaspina mit feiner Vewilligung
Graf von Corsica war. Den nadften Anlaß fic) ibrer gu
bemadtigen nahm er dann von den corsijden Bistimern,
deren mit det Beit ſechs eingefegt worden waren, Aleria,
Ajaccio, Accia, Mariana, Nebbio und Sagona.
Gregor der Siebente fandte ben Bifdof von Piſa, Lan:
dulph, nad Corsica, dad Volk yu dem Beſchluſſe su vermögen,
fid) der Kirche zu unterwerfen. Als dies geſchehn war jtellte
er und fodann Urban der Zweite im Bahr 1098 Corsica als
ein Lehn fiir ewige Zeiten unter dad Bistum von Pifa, weldes
19
gum Erzbistum erhoben worden war. So batten fid die Pi:
janer zu Herren der Inſel gemadt und bebaupteten fie, wenn
aud unter fortwährenden Kämpfen und als ein febr ungewiſſes
Befigtum beinahe hundert Yabre hindurd.
Ihre Herrſchaft war weife und geredt; fie wird von allen
Gefcidtfdreibern der Corsen gerühmt. Sie pflegten den
Anbau ves Landes, richteten Städte wieder auf, bauten
Briiden und Strafen und Tiirme an den RKiiften, und ver:
pflangten nad) der Ynfel felbft ihre Kunſt, wenigften3 in
der Architectur der Kirchen. Die beften alten RKirchengebaude
Corsica’ find pifanifden Urfprungs. Wlle zwei Jahre ſchickte
die Republif Pifa einen Beamten nad der Inſel, welder
unter dem Titel eines Richters (Giudice) Redht und Gefeg
bandbabte. Die von Gambucuccio eingeridjtete Gemeinde:
verfafjung blieb befteben.
Indeß hatte Genua die piſaniſche Herrſchaft auf dem be⸗
nachbarten Corsica mit Eiferſucht verfolgt und konnte ſeiner
Nebenbulerin einen ſo vorteilhaften Beſitz im Mittelmeer nicht
laſſen wollen. Schon als Urban der Zweite die Biſchöfe
Corsica's unter die Metropole Piſa ſtellte, proteſtirten die
Genueſen, und mehrmals nötigten ſie die Päpſte jene piſa⸗
niſche Inveſtitur wieder zurückzunehmen. Endlich gab Ynno-
cenz der Zweite im Jahre 1133 den Forderungen Genua's
nad; er teilte die Inveſtitur, indem er dem ebenfalls zum
Erzbistum erhobnen Genua vie corsiſchen Biſchöfe von Ma—
riana, Accia und Nebbio unterordnete, die Bistümer Aleria,
Ajaccio und Sagona aber den Piſanern ließ. Die Genueſen
begnügten ſich mit dieſem Abkommen nicht, fie trachteten viel⸗
mehr nach der ganzen Herrſchaft über die Inſel. Immer im
Krieg mit Piſa benutzten fie eine günſtige Gelegenheit, Boni⸗
fazio zu überfallen, als die Einwohner dieſer Stadt bei einer
Hochzeit ſich beluſtigten. Honorius der Dritte mußte ihnen
den Beſitz des wichtigen Orts im Jahre 1217 beſtätigen. Sie
ao
. 20
befeftigten den unbeswingliden Felfen, madten ibn zum Stig:
puntt ibrer Herrſchaft, gaben der Stadt Handelsfreiheiten,
und bewogen dadurch viele genucfifde Familien dorthin über⸗
zuſiedeln. Bonifazio wurde die erfte genuefifhe Colonie in
Corsica. | )
Siebentes Kapitel.
Die Inſel zerfiel bald in Parteien. Ein Teil der Ein⸗
wohner war piſaniſch geſinnt, ein anderer genueſiſch; viele
Signoren ſtanden für ſich; und wiederum behauptete die Terra
del Commune ihre geſonderte Stellung. Die Piſaner von
ihren mächtigen Feinden in Italien angegriffen und in die
größeſte Not gebracht, waren doch nicht willens Corsica preis
zu geben. Sie ernannten einen Corsen aus der alten Familie
Cinarca zu ihrem Leutnant und Giudice, und übergaben ihm
die Verteidigung der Inſel gegen Genua.
Dieſer Mann hieß Sinucello und iſt unter dem Namen
Giudice della Rocca berühmt worden. Seine Vaterlandsliebe
und ſein Heldenmut, ſeine Weisheit und Gerechtigkeit haben
ihm eine Stelle unter den Männern gegeben, welche in bar⸗
bariſchen Zeiten durch perſönliche Tugend hervorragten. Die
Cinarcheſen waren, wie es heißt, von einem der paͤpſtlichen
Markgrafen nach Sardinien vertrieben worden. Einer ihrer
Nachkommen war Sinucello. Nach Piſa ausgewandert, hatte
er ſich in Dienſten der Republik hervorgethan. Auf ihn nun
hofften die Piſaner. Sie ernannten ihn zum Grafen der
Inſel, gaben ihm Schiffe und ſandten ihn im Jahr 1280
nad) Corsica. Es gelang ihm mit Hilfe ſeiner Anhänger die
genueſiſche Partei unter den Signoren zu Überwältigen und
die piſaniſche Oberhoheit herzuſtellen. Die Genueſen ſandten
vergebens Thomas Spinola mit Truppen ab; er wurde aufs
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’
21
Haupt gefdlagen. Viele Jahre wabrte der Krieg; unermildlid
fegte ihn der tapfre Dtann im Namen der Republif Pifa fort,
aud nachdem diefe die grope Seefdladt bet Meloria gegen
Genua verloren hatte, in Beren Folge die Macht ver Pifaner
unterging und aud) Cor3ica nidt mebr gu bebaupten war.
Die Genuefen bemächtigten fid) jest auch der Ojttiifte der
Inſel. Sie iibertrugen ihrem General Luchetto Doria deren
Unterwerfung und die Bertreibung Giudice’s. Wher aud)
Doria wurde von ibm gefdlagen, und lange Jahre wußte
fic) der Held gu behaupten, im unausgefegten Kampf mit den
genueſiſchen Truppen und den Signoren des Landes, welded
in Unardie aufgeldft lag. Die Chroniften haben die national
corsifde Geftalt de3 Giudice, eine Liebling3figur, mit vielen
Sagen ausgeftattet und feinen Kampfen einen romantifden
Charatter gegeben. So wenig dad die Gefdidte angehen mag,
fo bezeichnet es dod) die Beit, die Qandesart oder die Menfden.
Giudice hatte ſechs Tidter an die angefebenften Männer ded
Landes verbeiratet, fein erbitterter Feind Giovanninello eben:
fall3 ſechs gleich wol verforgte Tochter. Deffen feds Eidame
verſchwören fidi gegen Giudice und tddten in einer Nacht
fiebengig Streiter feines Gefolges. Dieſes wird der Grund
zu einer Gpaltung ber gangen Snfel in zwei Parteien, twelde
nun wie Guelfen und Ghibellinen fic) befehoen und 200 Sabre
im Streit mit einander liegen. Giovanninello wurde nad
Genua vertrieben; bald wieder zurückgekehrt baute er die .
Feſtung Calvi, die fic) dDarauf den Genuefen ergab und ihre
aweite Colonie auf der Ynfel wurde. Bon der Geredptigheit
Giudice’s und von feiner Milde wiffen die Chronijten Manches
gu erzaͤhlen, wie folgenden Zug. Gr hatte einft viele Genuefen
gefangen und verjprad allen denen unter ibnen die Freibeit,
welde beweibt waren, nur follten ihre Weiber ſelbſt herüber⸗
fommen, fie gu Bolen. Es famen die Weiber; einer feiner
Reffen zwang eine Genuefin ihm eine Nacht zu ſchenken.
22
Giudice ließ ihn auf der Stelle enthaupten und ſchickte ſeinem
Verſprechen gemap die Gefangenen heim. So führt dieſer
Mann vorzugsweiſe den Namen „Giudice,“ weil bei einem
barbariſchen Volk und in barbariſchen Zeiten die Richtergewalt
alle andere Macht und Tugend in ſich vereinigt.
Im hohen Alter wurde Giudice blind. Er geriet in Zwiſt
mit ſeinem Baſtardſohn Salneſe, welcher ihm einen Hinterhalt
ſtellte, ihn gefangen nahm und an die Genueſen auslieferte.
Als der alte Mann auf das Schiff gebracht werden ſollte,
warf er ſich am Meeresſtrand auf die Kniee und verfluchte
feierlich ſeinen Sohn und deſſen Nachkommenſchaft. Giudice
della Rocca ſtarb zu Genua im Turm Malapaga im Jahr 1312.
Der corsiſche Geſchichtſchreiber Filippini ſagt von ihm, daß
er einer der merkwürdigſten Menſchen geweſen ſei, welche die
Inſel hervorgebracht habe. Er war tapfer und geſchickt in den
Waffen, bewundernswürdig raſch im Ausführen ſeiner Unter⸗
nehmungen, Vollſtrecker der Gerechtigkeit, freigebig gegen die
Seinigen und feſt im Unglück — Charakterzüge, welche faſt
alle ausgezeichnete Corsen beſeſſen haben. Mit Giudice zer⸗
fiel die Herrſchaft der Piſaner in Corsica.
ne — — — —
Achtes Kapitel.
Piſa trat die Inſel an Genua ab, und dreißig Jahre nad
dem Vode Giudice’s’fiigten fid aud die Terra del Commune
und der größte Teil her Signoren in diefe Oberhobeit. Das
Gemeindeland fdidte Boten an den genuefifdhen Senat und
ſprach ſeine Unterwerfung mit der Bedingung aus, daf die
Corsen feine andere Abgabe als zwanzig Goldi fir jede Feuer:
ftelle zablen durften. Der Senat nabm dies an, und fo ging
im abr 1348 der erſte genuefifde Vandpfleger auf die Inſel.
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23
a
€3 war Boccanera, ein Mann deffen Kraft und Ginfidt ge:
rühmt wird, und welcher mabrend feiner einjabrigen Verwal⸗
tung dem Lande Rube gab. Raum aber war er von feinem
Poften guriidgefehrt, als die Factionen aufs neue ihr Haupt
erhoben. Denn die Herrjdhaftsredte Genua’s waren nidt un-
beftritten, weil der Papft Bonifagius der Achte ſchon im
Sabre 1296, in Kraft der vorgebliden Lehnsredte des paͤpſt⸗
iden Stuls, Corsica und Sardinien dem König Jacob von
Aragon guerteilt hatte. Cine neue Macht, Spanien, in grauen
Zeiten an Corsica beteiligt, fdhien ihren Einfluß auf die Inſel
geltend maden ju wollen, und fo fanden diejenigen Corsen -
an dem Qaufe Aragon einen Ridbalt, welche die Herrſchaft
Genua's nicht anerkennen wollten.
Die nachſte Periode zeigt auch die blutigſten Kämpfe der
Signoren gegen Genua. Gleich nach dem Tode des Giudice
war ſo viel Verwirrung entſtanden und das Volk in ſo große
Not geraten, daß der corsiſche Chroniſt ſich verwundert, wie
es ſich nicht allgeſammt erhob und auswanderte. Die Barone
übten tyranniſche Gewalt, einige auf ihre Fauſt, andere indem
ſie an Genua Tribut zahlten. Alle ſuchten zu herrſchen, zu
erpreſſen. Die Auflöſung ver Ordnung erzeugte damals eine
ſchwärmeriſche Secte von Communiſten, eine merkwürdige Er⸗
ſcheinung auf dem wilden Corsica, welche zu gleicher Zeit
auch in Italien ſichtbar wurde. Dieſe Secte machte ſich unter
dem Ramen der Giovannali furchtbar. Sie entſtand in dem
Landden Carbini jenfeits der Berge. Ihre Urheber waren
Baftarde ded Guglielmuccio, gwei Brüder Polo und Arrigo,
Herren von Attala. „In ihr, fo ergablt der Chronijt, waren
pie Weiber wie die Männer, und ihr Geſetz enthielt, dab alle
Dinge gemein fein follten, fowol die Weiber ald die Kinder
al8 Hab und Gut. Bielleicht wollten fie jenes golone Zeit:
alter erneuern, von bem die Poeten didteten, dab es zur Beit
de3 Saturn beftanden babe. Diefe Giovannalen übten gewiffe
24
Büßungen auf ibre Weife aus und famen Nachts in den
Kirchen zufammen um ihre Opfer gu verridten, wobei fie denn
gemäß gewiffer abergläubiſcher Vorſtellungen und falfder Cere-
monien, welche fie verridteten, die Lichter verbargen und auf
‘die unanjftindigfte Weife fic) ergdgten der cine mit dem anbdern,
jo mit dem Weib wie mit dem Mann, je nachdem fie Luft
batten. Polo war derjenige, welder died teufliſche Bolt leitete,
das fid) wunderbar zu vermebren anbob, nidt-allein dieſſeits
fondern auch jenfetts der Berge allenthalben.”
Der Papſt ſchickte Truppen nad) Corsica; die Giovannalen,
denen viele Signoren beigetreten wares, erlagen in ihrer Vefte
Alefani. Wo man einen Sectirer antraf, ward er todtgefdlagen.
Gewiß ift diefe Erſcheinung merhwiirdig; es ift miglid, dab
bie Yoee von Btalien heriibergebradt wurde, und nidt auf:
fallend, daß fie unter den zerrütteten Corsen, welche die Gleichheit
der Menſchen als etwas Natitrlides betradteten, eine fo wunder⸗
bare Verbreitung fand, wie der Chronift fagt. Niemals ſchlug
fonft kirchliche Schwaͤrmerei oder gar Pfaffenberrjdhaft im Volf
der Corsen Wurzel, und wenigften3 von diefen Plagen blieb ihre
Inſel verfdont.
Nenutes Kapitel.
Das von den Signoren zur Verzweiflung getriebene Voll
wandte ſich nad) Boccanera's Abgange hülfeſuchend nad Genua.
Die Republik ſandte Tridano della Torre auf die Inſel. Er
zwang die Barone und regierte fieben volle Jahre kräftig und
in Frieden.
Hier tritt der zweite bedeutende Mann aus dem Geſchlecht
der Cinarca auf, Arrigo della Rocca, jung, kräftig, ungeftim,
zum Gerrfden geboren, bartnidig wie Giudice, ebenfo un-
erſchöpflich in Ratſchlüſſen und gleid gewaltiq in Waffen.
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i)
25
— —
Schon ſein Vater Guglielmo hatte mit den Genueſen in Kampf
gelegen, war abet von ihnen erſchlagen worden. Der Sohn
nahm den Kampf auf. Erſt unglücklich verließ er ſein Vater⸗
land und wanderte nach Spanien, dem Hauſe Aragon ſeine
Dienſte anzutragen und es aufzuſtacheln, die Rechte in An⸗
ſpruch zu nehmen, welche ihm der Papſt zuerkannt hatte.
Während Arrigo's Abweſenheit war Tridano umgebracht worden,
die Signoren hatten ſich empört, die Inſel ſich in zwei neue
Parteien Caggionacci und Riſtagnacci geſpalten, und der blu⸗
tigſte Krieg war ausgebrochen.
Da erſchien im Jahre 1392 Arrigo della Rocca ſo gut
wie gar nicht gerüſtet und gleichſam auf ſeine eigne Hand in
Corsica, und wie er ſich zeigte, lief ihm das Volk zu. Lio⸗
nello Lomellino und Aluigi Tortorino waren damals Gover⸗
natoren, in drangvoller Zeit zwei auf einmal. Sie verſam⸗
melten einen Landtag in Corte, ratend und abmahnend.
Arrigo indeß war ſchnell auf Cinarca gerückt, hatte die ge⸗
nueſiſchen Truppen geſchlagen, ſtand vor Biguglia der Reſidenz
des Gouverneurs, ſtürmte den Ort, verſammelte das Volk und
ließ ſich zum Grafen von Corsica ausrufen. Beſtürzt wichen
die Befehlshaber nach Genua zurück, alles Land in den Händen
ver Corsen laſſend mit Ausnahme von Calvi, Bonifazio und
San Columbano.
Arrigo regierte die Inſel vier Jahr lang unbeſtritten, kraft⸗
voll, gerecht, doch grauſam. Vielen, ſelbſt ſeinen eigenen Ver⸗
wandten ließ er die Köpfe abſchlagen. Vielleicht erbitterte dieſe
Harte, vielleicht war es der corsiſche Parteigeiſt, der ibm einen
Teil des Volle3s abwendig machte. Die Herreit vom Cap Corſo
erhoben fic) juerjt, im Cinvernehmen mit Genua; dod zwang
fie Arrigo mit den Waffen und dritdte mit eiſernem Arm jede
Empörung nieder. Gr führte in feinem Banner einen Greifen
fiber dem Wappen von Aragon, ein Zeiden, bab er die Inſel
in den Schutz Spaniens geftellt habe.
26
Genua war in Verlegenheit. So viele Jahre hatte e3 um
Corsica gefampft und nichts gewonnen. Die Zeitumftinde
banbden ber Republif die Hinde, fo dab fie Corsica aufgeben
gu wollen fdien. Da vereinigten ſich fünf Nobili zu einer
Actiengefellfdhaft und madten dem Genat den Wntrag, ihnen
bie Inſel gu iiberlaffen mit allem BVorbehalt ver Oberhoheit
von Geiten der Republif. Es waren die Herren Magnera,
Lortorino, Fiesco, Taruffo, Lomellino. Gie nannten fid die
Geſellſchaft Mahona, ein jeder von ihnen Governator von
Corsica, denn der genueſiſche Senat hatte in den Vertrag ge⸗
willigt.
Mit tauſend Mann kamen ſie auf die Inſel, wo ihrer
ſchon die mit Arrigo mißvergnügte Partei wartete. Sie rich⸗
teten wenig aus, wurden vielmehr von dem tapfern Manne
ſo ſehr in die Enge getrieben, daß ſie daran dachten ſich
gütlich mit ihm zu vergleichen. Arrigo ging auf den Vor⸗
ſchlag ein, ergriff aber nad) kurzer Zeit wiederum die Waffen,
weil er ſich getäuſcht ſah, und nach einem blutigen Kampf
ſchlug er die Mahona aus der Inſel heraus. Eine Streit⸗
macht, welche Genua darauf abſchickte, war glücklicher. Cie
nötigte Arrigo zum zweiten Mal auszuwandern.
Er ging wieder nach Spanien vom aragoniſchen König
Unterſtützung zu erlangen. Johann gab ihm bereitwillig zwei
Galeeren und einiges Kriegsvolk, und fo erſchien der kühne
Krieger nad zwei Monaten wiederum in Corsica. Gr über⸗
wand und fing den genuefifden Governator Zoaglia und be:
madtigte fic) der ganzen Ynfel bis auf die feften Plage Calvi
und Banifazio. Dies gejdhah im Jahr 1394. Die Republit
ſchickte neue Befehlshaber und neue Truppen. Was nidt bem
Schwert gelang, gelang bem Gift. Wrrigo della Rocca ftarb
plötzlich im Jahre 1401. Zu eben diefer Zeit erlag Genua
dem frangbfifchen Rinige Carl dem Sechsſten. Gr ernannte
Rionello Lomellino zu feinem Lebnsgrafen der Inſel. C3 ift
27
— — — — —
derſelbe, welchem Corsica die- Gründung ſeiner größten Stadt
Baſtia verdankt. Dieſe wurde Sitz der Governatoren, nachdem
es vorher das nahegelegene Schloß Biguglia geweſen war.
Zehntes Kapitel.
Die Stelle Arrigo's begann jetzt ein Mann derſelben Art
einzunehmen. Bei ſich gleich bleibenden Verhältniſſen des Landes
gleichen einander auch dieſe kühnen Menſchen; ſie bilden bis
auf Paoli und Napoleon eine fortlaufende Reihe unermüdlicher,
tragiſcher Helden, deren Geſchichte mit Ausnahme ded einen
Mannes in Mitteln und Schichſalen ſo dieſelbe iſt, wie der
Jahrhunderte lange Kampf der Inſel gegen die Herrſchaft der
Genueſen ein und derſelbe iſt. Der Beginn der Laufbahn
dieſer Manner, welche alle aus der Verbannung hervorkommen,
tragt jedesmal ben Charalter des Whenteuerliden.
Vincentello d'gſtria war ein Neffe Arrigo's, Sohn einer
feiner Schweſtern und Gbilfuccio’s, eined edlen Corsen. Wud
ev war in feiner Sugend an den Hof von Aragon gegangen,
batte dort Dienfte genommen und durd glingende Waffen:
thaten fid) ausgezeichnet. Später hatte er mit aragonifden
Sdiffen einen glücklichen Cor3arentrieg gegen die Genuefen
gefiibrt und feinen Namen auf dem Mittelmeer ſchrecklich ge:
madt. Gr beſchloß eine Landung in feiner Heimat zu ver:
fuden, wo der Graf Lomellino durch eine harte Regierung
fic) verhaßt gemadt hatte, und wo Francesco della Rocca,
natiitlider Sohn Arrigo’, welder im Ramen Genua’s die -
Serra del Commune ald Vicegraf regierte, eine ftarfe Gegen-
partet fruchtlos befampfte.
Bincentello landete unvermutet in Gagona, 30g fdnell auf
Cinarca, nabm Biguglia, verfammelte das Volf und madte
A
28
ſich zum Grafen Corsica’s. Francesco fiel durch Meuchelmord,
aber feine Schweſter Biolanta, ein mannlide3 Weib, griff zu
ben Waffen, bis fie von Vincentello überwunden ward. Wud
Baſtia ergab ſich. Nun fdidte Genua fdleunig Truppen;
nad zwei Jahren wurde Vincentello gendtigt, Corsica zu vere
laſſen, weil ein Teil der ſelbſtſüchtigen Signoren mit Genua
gemeine Gade madte.
Nad furger Zeit fehrte er mit aragonifden Völkern uri,
und wieder entriß er den Genuefen die ganze Inſel bis auf
Calvi und Bonifagio. Als ibm died gelungen war, madte fid
aud bet junge König Wlfonfo von Aragon, unternehmungs⸗
luftiger als feine Vorganger, mit einer Flotte auf, die vers
meintlichen argoniſchen Redhte an die Inſel mit Waffengewalt
durchzuſetzen. Cr fam im Yabr 1420 von Sarbdinien ber,
legte fid) vor Calvi und zwang dieſe genueſiſche Stadt fid
ibm yu ergeben. Sodann fegelte er vor Bonifazio. Während
die Corsen feiner Partei dieſe unbezwingliche Feftung von der
Landfeite beftiirmten, griff fie die Flotte von der Seefeite an.
Die Belagerung VBonifazio’s ijt durd den Heldenmut der Birger
berithmt geworden. Genua tren, meift felbft genuefifdher Ab⸗
kunft, blieben fie unerjdittterlic) wie ihre Felfen, und weder
Hunger nod Peft, nod Feuer und Schwert beugten fie in
Tanger Not. Alle Stitrme wurden abgefdlagen. Lange Mo⸗
nate fampften fie, auf Entfag hoffend, und beugten den Stolz
ber Spanier, bid Wlfonfo endlid) müde wurde und befdhamt
hinweg ging, indem er Bincentello die Fortfibrung der Be-
lagerung überließ. Wher e3 fam der genuefifhe Cntfag und
befreite die erſchöpfte Stadt am Borabend ibres Falles.
Bincentello ging zurück, und weil gu der Beit aud Calvi
wieder in genueſiſche Getwalt gefallen war, fonnte fid) die
Republif nod) auf-beide Feftungen ftiigen. Der Kinig Alfonſo
madjte feitbem feinen Verſuch mehr, in den Befig Corsica’s
zu gelangen. Bincentello auf feine eigne Mittel befdrantt,
a
. 29
verlor nad und nad) den Boden, weil die Ranke Genua’s
mehr ausridteten ald die Waffen, und ber Haver der Sig:
noren eine gemeinfame Grhebung verbinderte.
Die genuefifdhe Partei war befonders auf dem Cap Corso
ftart, wo die Herrn da Mare viel Macht beſaßen. Mit ihrer
und der Caporali Hilfe, weldhe aus Vollstribunen allmalig
gu Tyrannen ausgeartet waren und einen neuen Gefdledter-
adel gebildet batten, warf Genua Vincentello guriid und bes
ſchraͤnkte ihn auf fein Lehn Cinarca. Der tapfere Mann
ftiirgte fid) gum Teil durch eigne Schuld; wolliiftig wie er war,
entfibrte er ein junges Madden aus Viguglia, was zur Folge
batte, dap die Sippfdaft derfelben gu den Waffen griff und
der Ort in die Hande de3 Simon da Ptare fiel. Der un:
glidlide BVincentello beſchloß nun, aufs neue die Hiilfe Ar-
ragons angugeben, aber Zacharias Spinola nabm die Galeere,
welde ibn nad Gicilien bringen follte, und brachte den ſchredc⸗
liden Feind gefangen vor den Senat in Genua, Wuf der
grofen Treppe bes Gemeinde: Palafts ſchlug man Vincentello
d'Iſtria bas Haupt ab, im Jahr 1434. Gr war ein ruhm⸗
teicher Menſch gewejen, wie der Chronift der Corsen fagt.
Elftes Kapitel.
Nad dem Tode Vincentello's ſtritten die Signoren um
pie Herrſchaft. Simon da Mare, Giudice d'Iſtria, Renuccio
de eca, Paolo della Rocca, bald der eine, bald der andre,
nannten fid) Graf von Corsica, Bon Gena her, wo die
Fregoſi und die Adorni die Republif zerfpalten batten, ſuchten
beide Familien Corsica gum Befigtum ihres Hauſes gu machen.
Die gab neue Kriege und neues Clend. Das Volk hatte fein
Friedensjahr. Alles ftand fortoauernd in Waffen, griff an
30
oder verteidigte fid. Die ganze Inſel war nichts als Brand,
Empörung und Krieg.
Sm Jahr 1443 trug ein Teil der Corsen die Hertſchaft
ihres Landes Eugen dem Vierten an, vielleicht daß die Kirche
vie Parteien bändigen und Rube ſtiften möchte. Der Papſt
ſchickte ſeine Bevollmächtigten mit Truppen, aber ſie vermehrten
nur die Verwirrung. Da ſammelte ſich das Volk zu einem
Tage in Moroſaglia und ernannte einen großherzigen Mann
Mariano da Gaggio zu ſeinem Generalleutnant. Mariano
überwand die verwilderten Caporali, warf ſie aus ihren Felſen⸗
türmen, zerſtörte deren viele und erklärte ihre Würde für ab-
geſchafft. Ihrerſeits riefen die Caporali den Genueſen Adorno
ins Land. Das Volk ſtellte ſich nun von neuem unter den
Schutz des Papſtes, und Nicolaus der Fünfte übertrug die
Regierung der Inſel dem Lodovico Campo Fregoſo im Jahre
1449. Vergebens lehnte ſich das Volk unter Mariano dagegen
auf. Die Verwirrung noch zu mehren, erſchien auch der Vice⸗
könig Imbiſora, im Namen Aragons Unterwefung fordernd..
Das verzweifelnde Volk verſammelte ſich hierauf am Lago
Benedetto und faßte den verhängnißvollen Beſchluß, ſich unter
bie Bank des heiligen Georg von Gentia gu ſtellen. Dieſe
berühmte Gefellfdhaft war im Jahre 1346 als eine Companie
von Capitaliften geftiftet worden, welche ber Republif Geld
darlieh und dafür gewiffe dffentlide Cintiinfte empfing. Auf
den Antrag der Corsen trat der genueſiſche Senat Corsica an
jene Bank ab, und gegen ein Berzidtungsgeld gaben die
Fregoſi ibre Vitel auf.
So iibernahm die Companie des heiligen Georg im Jahr
1453 Corsica als eine Domine, aus welder miglidft grofe
Einkünfte zu ergielen feien.
Aber es vergingen Jahre, ehe e8 ihr glitdte, Herrin der
Inſel gu werden. Die Signoren jenfeits ver Berge leifteten
im Bunde mit Aragon vergweifelten Widerftand. Mit Strenge
31:
verfubren die Befeblshaber der Bank; viele Köpfe fielen, andere
Edle wanderten ind Gril und fammelten fid) um Zomafino
Bregofo, welder fic), feitdem fein Obeim Lobovico Doge ge:
worden war, an bie Unfprilde feiner Familie lebhaft yu er:
innern begann. Gr fam, begleitet von den Emigranten, warf
vie Truppen der Bank ther den Haufen und fegte fid in
Befig eines grofen Teils der Inſel, nachdem ibn das Volk
zum Grafen ausgerufen batte.
Da fiel Genua im Yabre 1464 in die Gewalt de3 Fran:
zesco Sforza von Mailand, und eine Madt, welche mit Corsica
niemal3 etwas zu thun gebabt hatte, betradtete jegt die Inſel
al3 ibr Befigtum. Die Coren, denen jeder andere al der
genuefjifde Herr genehm war, ſchworen auf bem Tage in Bi:
guglia den Gid in bie Hinde de3 mailandifden Hauptmanns
Antonio Cotta. Aber auf vemfelben Tage gab ein Zwift die
Veranlaffung ganz Corsica wieder in Flammen zu fegen. Cin
paar Bauern aus Nebbio waren mit den Lenten der Signoren
von jenfeits der Berge in Zank geraten; der mailindifde Be⸗
febl3haber ftrafte bie Schuldigen, und die badurd in ihrem
GHerrenredht gekränkten Signoren ritten wütend nad Hanfe,
ohne ein Wort zu fagen. Man riiftete den Krieg. Diefen
abguwenden, verfjammelte fic) bad Volk ded Gemeinlandes in
ber Gafinca und ernannte Gambucuccio d'Alando, einen Ab⸗
fommen jenes erften corsifden Gefeggeber3, gum Vicar mit
ner Vollmacht, vie Rube wiederberzuftellen. Sambucuccio's
Dictatur fdredte; man hielt fic) rubig; eine neue Verfamm:
Iung fandte ihn und andere nad Mailand, die Lage der
Dinge bem Herzog vorzuftelen und um Wbberufung Cotta’s
zu bitten.
Cotta wurde abgeldft urd den ſchlimmeren Amelia, welder
einen jabrelangen Krieg hervorrief. Qn allen diefen Stitrmen
bielt jene demofratifdhe Terra del Commune, rings von hen
Signoren iumgeben, felt zuſammen, und fie ftellte eigentlid)
32
— —
das Volk der Corsen dar. Schon ſeit faſt zweihundert Jahren
geſchah nichts Entſcheidendes ohne die Volkstage (veduta).
Als nun der Krieg zwiſchen Corsen und Mailändern im
vollen Gange war, erſchien jener Tomaſo Campo Fregoſo
wieder, fein Glück zu verſuchen. Die Mailaänder ſchickten ihn
gefangen nach ihrer Stadt. Wunderlicher Weiſe kehrte er von
hier zurück mit Diplomen, welche ihm im Wege des Rechts
Corsica zuſprachen, im Jahr 1480. Seine wie ſeines Sohns
Janus Regierung war ſo grauſam, daß ſie nicht von Dauer
ſein konnte, obwol ſie ſich mit dem angeſehenſten Manne der
Inſel mit Giampolo da Leca verwandtſchaftlich verbunden hatten.
Das Volk indeß ernannte Renuccio da Leca zu ſeinem
Führer; dieſer wandte ſich an den Herrn von Piombino, Ap⸗
piano den Vierten, und trug ihm Corsica unter der Bedingung
an, daß er hinreichende Truppen ſchickte, um die Inſel von
allen Tyrannen zu befreien. Wie elend war die Lage des
Volks, da es bald dieſen bald jenen Deſpoten hereinrief, die
eigenen Tyrannen nod durch Fremde vermehrend. Dem Herrn
yon Piombino ſchien es gut fein Glück auf Corsica zu ver—⸗
ſuchen, da er ſchon einen Teil Elba's in ſeiner Gewalt hatte.
Er ſchickte ſeinen Bruder Gherardo di Montagnara mit einem
kleinen Heer. Gherardo war jung und ſchön, von glänzender
Art, von theatraliſchem Anſtande. Gr fam mit köſtlichen Ge-
wandern angethan, mit einem pridtigen Gefolge, mit herr:
lidhen Bferden, Hunden, Mufitanten und Gautelfpielern. Er
that, al8 wollte er die Inſel mit Muſik erobern. Die Corsen,
welde faum dad liebe Brod hatten, ftaunten ibn wie ein
frembe3 Wefen an, führten ibn auf ihre Volksverſammlung
an den Lago Benedetto und madten ihn mit gropem Subel
zum Grafen von Corsica, im Yabr 1483. Die Fregofi ver-
Loren jet ben Mut; ihre Gace aufgebend verfauften fie nad
furjer Beit ihre Anſprüche an die genuefifdde Bank fir zwei⸗
taufend Goldfcudi. Die Bank rüſtete nun energiſch den Krieg
33
gegen Gherardo und Rinuccio. Rinuccio wurde gefdlagen.
Das erfdredte ben Herrn von Piombino dermafen, dab er
eilig bie Inſel verließ.
Zwölftes Kapitel.
Wiederum erheben ſich nach einander zwei kühne Manner,
Genua 3u bekämpfen. Giampolo da Leca war, wie wir ge-
feben haben, mit ben Fregofi in Verwandtſchaft getreten.
Obwol diefe Herren ihre Titel per Bank iibertragen batten,
fonnten fie dod) den Verluft ihrer Herrſchaft nidt verſchmerzen.
Sanus reigte feinen Bertwandten zur Empörung gegen den
Governator Matia Fiedco. Giampolo begann den Krieg.
Uber er fah fid) gendtigt die Waffen niedergulegen und mit
Weib und Kind und Freunden nad Sardinien ausguwandern,
im Jahre 1487.
Kaum verging ein Yabr, alS er wieder erfdhien, gerufen
von feinen Unhangern. Wiederum unglidlid entwid er zum
zweiten Mal nad Gardinien. Mit Grauſamkeit beftraften jest
- die Genuefen die Wufftindifden; die Gährung wud3; zehn
Sabre lang ſchwoll ner Hap. So lange fap Giampolo in
feinem Gril, radefinnend, die Augen immer auf feine mit
Gewalt erdriidte Heimat geridtet. Dann fam er wieder. Gr
hatte nicht Geld nod) Waffen, vier Corsen und fedh3 Spanier
waren fein alleiniged? Heer, und mit demſelben landete er.
Das Volk liebte ihn, tweil er edel und tapfer, und von
groper Schönheit der Geftalt war. G3 liefen ibm die Corsen
fofort 3u, die von Cinarca, von Vico, von Niolo und Moro⸗
jaglia. Bald hatte er 7000 Mann ju Fup und 200 zu
Pferde, eine Macht, welde ver Bank in Genua Schrecken
einflépte. Sie ſchickte Ambrofio Negri, einen bewährten Feld:
Gregorovius, Corsica. I. 3
34
hauptmann, auf die Inſel. Negri wupte einen Teil der
Partei Giampolo’3 an fic) gu ziehn und namentlid) Renuccio
della Rocca, einen kühnen Edeln, zu feffeln. Giampolo’s
Macht zerrann, der Reft wurde am Pap del Sorbo gefdlagen.
Nachdem aud fein Sohn Orlando gefangen war, ſchloß er
einen Bertrag, welder ihm geftattete, ausguivandern. Dit
fünfzig Cor3en ging er wieder nad) Gardinien, im Jahr 1501,
im bittern Schmerz fein Leben zu vertrauern.
Giampolo’3 Fall war hauptfidlid die Schuld des Rez
nuccio della Rocca. Diefer Mann, das Haupt der ftolzen
Samilie Cinarca, erfannte, dab die genuefifde Bank den Plan
verfolgte, die Macht der Signoren, die befonders jenfeits der
Berge ihren Sig batten, aud) tm legten Reft und fiir immer
su bredhen, und dab an ibn felber die Reihe fommen werde.
Died erfennend ftand er pliglid in Waffen, im Jahr 1502.
Der Kampf war fury und fiir Genua glücklich, deſſen Befehls⸗
haber damal3 einer der Doria war, welde fic) durd Kraft
und Graufamfeit auszeichneten und denen allein e3 die Repu⸗
blit verdanfte, dab der Adel Corsica’s endlich gebroden wurde.
Nicola Doria zwang Renuccio 3u einem Vergleich und legte
ihm die Verpflidtung auf, mit Weib und RKindern fortan in
Genua zu wobnen.
Nod immer fap Giampolo in Sardinien Ihn fürchtete
Genua vor allen und machte mehrmals Verſuche, ſich gütlich
mit ihm zu vertragen. Sein Sohn Orlando war gerade aus
dem Kerker entflohen uud nad Rom gegangen, von wo aus
er in feinen Water drang, der ftummen Thatlofigteit fid gu
entreiBen. Diefer aber verbarrte in feinem Schweigen und
hörte webder auf die Cinflifterungen feines Sohnes nod auf
die Genua’s. Da verfdwand pliglid Renuccio von dort im
Yabre 1504; Weib und Kinder lies er dem Feind und ging
heimlid) nad) Sardinien Giampolo aufyujuden, welden er
ehedem in bad Glend geſtürzt hatte. Doch diefer ließ ibn
.
iin Tai
35 .
nicht vor fic. Gr webrte aud den Bitten der Coren, welche
alle ibn erwarteten. Seine eigenen Verwanbdten batten unters
deß feinen Gobn ermordet. Der Vicelinig hatte die Marder
gefangen und wollte fie bintidten laſſen, um Giampolo ein
Seiden der Freundfdaft gu geben. Wher der edle Pann
vergieh ibnen und bat um ibre Freilafjung.
Remuccio fammelte indeß achtzehn entſchloßne Manner und
landete in Corsica, nicht guriidgebalten durch⸗ dad Schichſal
feiner Kinder, welche man gleich nad fener Flucht in einen
finftern Turm geworfen hatte. Nicola Doria ſäumte nidt
ibn zu treffen und im erften Anlauf zu überwältigen. Um
ibn zu erſchüttern ließ er feinem alteften Gobne den Ropf ab-
ſchlagen und drobte dem jiingften ein gleided zu thun, nur
die flebentliden Bitten bes Knaben verhinderten die Unthat.
Der ungliidlide Vater, überall gefdlagen, floh nad Sardi⸗
nien, weiter nad) Aragon. Doria aber wütete gegen alle die
ibm angebangen; weite Streden ber Inſel legte er wüſt, die
Dörfer niederbrennend und die Einwohner zerſtreuend.
Renuccio della Rocca fam wieder im Yabr 1507. Gr wollte
eber fterben, als die Herrfdaft Genua’s aud nur von weitem
febn. Ser unkeugfame Mann war gang der Widerfprud zu
bem verfdloffenen, fdmersvollen Giampolo. Mit nur zwanzig
Menſchen betrat er fein Vaterland. Diesmal fam ibm ein
anberer Doria entgegen, Andrea, ber nadymal3 grope Doge,
welder unter feinem Vetter Nicold gedient hatte. Der corsifce
Gefhidtidreiber Filippini verfdhweigt oie Graufamfeiten nidt,
welche Andrea in diefem kurzen Kampf beging. C8 gelang
ibm ſchnell, Renuccio gu erdriiden und ihn zu gwingen mit
freiem Geleit fic) ein gweites Mal nad Genua eingufdiffen.
Als ver Corse dort ankam wollte ihn dad Bolt zerreißen;
ſchnell barg ibn der franzöſiſche Gouverneur in fein Cajtell.
Drei Jahre waren vergangen. Plötzlich zeigte fic) Renuccio
wieder in Corsica. Aus Genua entflohen hatte er vergebens
⸗
‘ 36
bei den Fiirften Curopa’s um Hiilfe gebeten, und noch einmal
dem Schickſal trogend, war er mit adt Freunden ausgezogen
und i feiner Heimat gelandet. Weinend empfingen ihn
frithere Vajallen in Freto, erfdittert von dem gebauften Un-
gliid be3 Dtannes und feiner beifpiellos fibnen Geele. Gr
fprad zu ibnen und beſchwor fie nod einmal das Schwert zu
ziehn. Sie fdwiegen und gingen. Ginige Tage blieb er in
Freto verftedt Da fam jufillig Nicolo Pinello, Schützen⸗
hauptmann aus AUjaccio-auf feinem Pferde. Der Anblid des⸗
felben erbitterte Renuccto -fo febr, bap er ibn Nachts überfiel
und erfdlug, fein Pferd nahm und nun öffentlich fid) zeigte.
Auf die Runde von feiner Anweſenheit zogen bie Truppen aus
Ajaccio, ibn eingufangen. Gr floh in die Berge, gehetzt wie
ein Bandit oder ein wildes Thier. Weil nun die Verfolger
vie Bauern feinetwillen peinigten, zogen diefe e8 vor ihrer Mot
ein Ende gu maden und ibn zu tddten. Man fand Renuccio
della Rocca im Ptonat Mai ves Jahres 1511 elend erfdlagen
in den Bergen. Gr war einer der mannbafteften vom edlen
Haufe der Cinarca. Man fagt, fo erzablt det corsiſche Chronift,
dap er bid zu feinem legten Ende fid) gleich blieb, in fetnem
Tove aber, nidt weniger Heldenmut zeigte als in feinem Leben,
und das wahrlich gu feinem gropen Lobe, tweil ein hochherziger
Mann niemals den Adel ſeiner Seele verlieren darf, auch
wenn bas Schickſal ihn zu einem ſchmählichen Tode zwingt.
Giampolo war unterdeß nach Rom gegangen, um bei dem
Papſt Leo vem Zehnten Hülfe zu ſuchen, und unglücklich in
ſeinem Bemühm, war er im Jahre 1515 dort geſtorben.
Dreizehntes RKapitel.
. Mit Giampolo und Renuccio endete der Widerſtand ver
corsiſchen Signoren. Der Adel ver Inſel fank, feine Burgen
37
serfielen, und faum fieht man beute hie und da auf den
Felfen Corsica's die ſchwarzen Mauern ragen, weldye ehedem
bie Schlöſſer der Cinarca, der Iſtria, ber Leca, der Ornani
getwefen waren. Aber Genua hatte, indem es diefen fürchter⸗
liden Feind zu Boden warf, einen weit fdjredlicderen fic) auf
die Füße geftellt, vied war das corsifdhe Volk felbjt.
Uebrigens wanbderten, al die Herrfdaft der genuefifden
Bank mit eijerner Schwere fic) auf bie Inſel legte, viele
thattraftige Manner aus, um in der Fremde Ruhm und Chre
qu erwerben. Sie nabmen Dienjte im Wusland und wurden
nambaft alZ Felbhauptleute und Condottieri. Einige ftanden
im Golde ber Medici, andere in dem der Strozzi, oder fie
bienten bei den BVenetianern, in Rom, bet den Gonzaga, bet
ben Franzoſen. Filippini nennt ibrer eine grope Schar, dar-
unter Guglielmo von Caſabianca, Baptijta von Leca, Barte-
lemy von Bivario mit dem Beinamen Telamon, Gafparino
Ceccaldi, GSampiero von Baftelica. Gin Corse Arfano von
Baftia madte befonderes Glück, da er als Renegat zum Konig
von Algier fic) aufſchwang unter dem Namen Lazzaro. Dies
ijt um fo wunderlider, als gerade in diefer Zeit Corsica von
den Barbaresfen fo viel zu leiden hatte, weshalb die Bant
die ganze Inſel mit Feuerwaden und Tirmen umftellte und
Porto Vecdhio an der Südoſtküſte gu einem Fort madte.
Nad den Kriegen mit Giampolo und Renuccio wurde
Corsica durch die Bank anfangs milde regiert und erfreute
fic) einer guten Ordnung. Sie fandte jabrlid) einen Gover:
natore auf die Inſel, welder in Baftia wohnte. Gr hatte
neben fic) einen Bicar, cinen Doctor der Rechte. Ihm ge-
biibrte die gefammte BVerwaltung, die oberfte ridterlide und
militäriſche Gewalt. Wiederum hatte er feine Leutnant3 in
Calvi, Algajola, San Fiorenzo, Ajaccio, Bonifazio, Sartene,
Vico, Cervione und Corte. Bon ihrem Urteil fonnte an ihn
appeHlirt werden. Alle Siefe Behörden wedfelten nad) einem
38
‘
oder zwei Jahren. Bum Schutz des Volks gegen ihre Ueber:
grifje hatte man einen Syndicat eingefegt, vor welchem Rlage
gefiibrt werden durfte.. War fie begritndet, fo fonnten die
Handlungen des Magijtrats umgeſtoßen, er felbft mit Whfegung
geſtraft werden. Die Gyndici waren ſechs an der Zabl, drei
aus dem Bolt, vrei aus dem Adel, ſowol Cor3en als Ge:
nuefen. .
Außerdem hatte das Volk das widtige Redt, die Zwölf—⸗
manner zu ernennen, und gwar jedesmal beim Wedfel der
oberften Magiſtratur; zwölf namlid) fir das Land dieſſeits,
ſechs für bad Land jenjfeits ver Berge. Diefe Zwölfmänner
vertraten die Rechte ded Volks, fo dab obne fie nidt3 auf
der Ynfel angeordnet, geändert und gefdymalert werden durfte.
Aus ibnen ging Giner als Orator oder Gefandter nad) Genua.
Die Grundlage der Verfaffung der Communen mit ihren
Gemeindevatern und Podeftd wurde nidt gedndert, nod) wurde
die Volfsverfammlung (veduta oder consulta) abgeftellt. Der
Governator pflegte fie in Biguglia gu verfammeln, fo oft
etwas allgemein Wichtiges angeordnet werden follte.
Man fieht, diefe Cinridtungen waren demokratiſcher Naz
tur, lieBen dem Volk Freiheit fid) gu bewegen und Anteil an
der Regierung, gaben ihm Halt an fdiigenden Gefegen und
sligelten die Willkür der Beamten. Und fo fonnte fid) Corsica
ihrer wol erfreuen, ja im Bergleid) mit andern Laindern
Europas modte e3 hochbevorzugt erſcheinen, wenn jene Gefege
wirllic) gebandbabt wurden. Dap aber hier Genua bald,: wie
bie Republif Venedig, den großen Febler beging, feine aus:
wartigen Provingen durch Tyrannei abzuftopen, ftatt fie durch
Wolthaten an fic) gu feffeln, werden wir in den folgenden
Rapiteln ſehn. Und bald ftellte Cor8ica wider jene Republif
feinen tapferften Mann auf, einen der hervorragendften Chara:
tere jene3 Jahrhunderts.
* 39
Vierzehntes Kapitel.
Sampiero war in Baſtelica geboren, einem Ort der ober⸗
halb Ajaccio liegt; nicht aus alter Familie entſproſſen, ſon⸗
dern Sohn unbekannter Eltern. Man nennt als ſeinen Vater
Guglielmo Enkel Vinciguerra's. Andere nennen die Porri als
ſeine Familie.
Gleich anderen jungen Corsen ging Sampiero frůh auf
das Feſtland, bei frembden Herren Sold yu nehmen. Wir
finden ibn im Dienft de3 Cardinals Hippolyt von Medici,
unter ben ſchwarzen Banden zu Floreng, und bald madte er °
‘alle Welt durch feine Waffenthaten wie durd) den Adel feines
Wefens von fic reden. Den Medici war er Schwert und
Schild im Kampf gegen die Pazzi. Aus ibren Dienften als
Bandenhauptmann trat er, um fir feinen thatenluftigen Geift
ein größeres Feld gu fuden, unter die Fabnen Franz ded
Grjten von Frankreich. Der Kinig madte ihn zum Oberften
eines Gorsenregiment3. Bayard wurde fein Freund und Carl
von Bourbon ebrte jeine ungejtiime Zapferteit und feine
kriegeriſche Ginfidt. „An einem Sdladttage, fo fagte der
Connetabel, gilt ber Corsenoberft 10,000 Mann.” Bn vielen
- Sdladten, vor mander Fefte zeichnete ſich Gampiero aus,
und fein Ruf war gleid) groß beim Feinde wie beim Freunde.
~ Gang bem Krieg zwiſchen Frankreich und Spanien hin:
gegeben, hatte er doc Auge und Obr fiir fein Vaterland,
von dem oft Stimmen zu ihm drangen, welde ibm bad Her;
bewegten. Gr fam im Jahr 1547 nad Corsica, ein Weib
aus feiner Heimat zu nehmen, und er nabm e3 aus einem
der älteſten Häuſer jenfeits ber Berge. Obwol er ohne Whnen
war, galt bod bem Francesco Ornano Sampiero’s Rubm und
Mannestraft al8 ein nicht gu. veradhtendes Adelsdiplom; der
ftolge Corse gab ihm fein einziges Sind, bie ſchöne Vannina,
und mit ibrer Gand bas Erbe ber Familie.
40
Kaum fah der Governator der genuefijdhen Bank Gam: -
piero, in weldem er den grimmigften Feind abnte, in feinem
Bereich gu Vaftia, als er wider alles Redht ihn überfallen
und in ben Turm wwerfen lieb. Der frangdfifde Gefandte in
Genua forderte und erbielt feine Freilaffung. So war der
ibm angethane Schimpf fiir Sampiero ein perſönlicher Antrieb
mehr, den langgenährten Haß gegen Genua und den heißen
Wunſch ſein Vaterland zu befreien, zur That zu fördern.
Der Krieg zwiſchen Frankreich und Carl dem Fiinften gaben
ibm bald dazu Gelegenbeit.
Heinrich der Bweite, Gemal der Catharina von Medici,
tief “vertwidelt in die italieniſchen Wngelegenheiten, im heftigen
Krieg mit dem Kaiſer und verbiindet mit den Türken, welde
eine Slotte ind weſtliche Mittelmeer abgujenden im Begriff
ftanden, ging auf den Plan einer Unternehmung gegen Corsica
ein. Gin dDoppelter Zweck ſchien damit erreidbar; einmal wurde
hier Genua bedroht, und weil dieſe Republik, feitdem fie Andrea
Doria vom Frangofenjod befreit hatte, mit Carl dem Fünften
enge verbunden war, aud) der Raifer felbft befriegt; endlid
bot die Ynfel einen treffliden Anlehnungspunkt für die ver⸗
einigte frangdfijde und türkiſche Flotte. So befam der Marſchall
Thermes in Stalien, wo feine Zruppen Giena befept bielten,
nen Befebl fic) an die Croberung Corsica’s yu maden.
Sampiero begebrte nichts als ber Befreier feines Lande3
zu fein’ er ftellte Thermes die ſichern Grfolge des Unters
nehmung vor, und fie wurde fdnell ind Werk gefept.. Die
Frangofen durften nur landen, um das corsiſche Voll augen⸗
blidlid) in Waffen gu rufen. Der Hab gegen die Herrfdaft
ber genuefifden Raufleute war feit nem Falle Renuccio’s bis
auf duperfte geftiegen. Gr hatte feinen Grund nidt allein
in dem ungerjtirbaren Freiheitsgefühle der Nation, er hatte
ibn aud in materiellen Dingen. Denn fobald die Bant
ihrer Gewalt ficher geworden zu fein ſchien, mißbrauchte fie
41 yO
diefelbe. Man hatte den Coren alle ihre Rechte genommen, den
Syndicat, die Zwölfmänner, vie alte Gemeindeobrigfeit. Das
Recht war feil, der Mord frei, wenigften wurde ver Mörder
in Genua beſchützt und mit Greibriefen verſehn. Alle Schreden
der Blutrade wurzelten deshalb feft und unaustilgbar.
Sampiero hatte den Corsen Wltobello de’ Gentilt auf die
Inſel gefdhidt, die Stimmung ded Voll zu erhorden; jeine
Briefe und die Hoffnung auf ihn entgiindeten dort eine wilde
Freude. Man zitterte der Ankunft der Flotte entgegen.
Therme3 und der Admiral Paulin, deffen Gefchwader fid
bei Elba mit der Tirfenflotte unter Dragut vereinigt batte,
fegelten gegen Cor3ica im Auguſt 1553. Mit ibnen war aud
ver tapfere Piero Strozzi und feine Companie, dod nidt auf
ange, mit ibnen die Hoffnung der Corsen Gampiero, Giovannt
Ornano, Rafaele Gentili, Witobello, alle racheglühend und voll
Begierde fic) im Blut der Genuefen ju baden. °
Gie landeten an der Menella bei Baftia. Sampiero jeigte
fid faum auf den Mauern der Stadt, welde man mit Sturm:
leitern erftiegen hatte, als das Bolf vie Tore aufrib. Obne
Saumen ging man an die Croberung der anderen feften Plage
und des Innern. Paulin legte fid) vor Calvi, der Türke
Dragut vor Bonifazio, Therme3 zog auf San Fiorenzo,
Sampiero auf Corte, die widtigfte Befte im Innern. Aud
hier zeigte er fid) faum, als dad Volt ihm wie Tore öffnete.
Alles Land wurde wie im Triumf erobert, nur Ajaccio, Bo-
nifazio und Calvi trogten auf ibre Lage. Nicht Paulin gur
See nod) Sampiero 3u Lande fonnten Calvi erſchüttern. Man
hob die Belagerung auf und Sampiero eilte vor Ajaccio zu
erfdeinen. Lamba Doria ritftete fich hier zur duferiten Bers
teidbigung, aber das Bolt that dem Befreier die Stadt au.
Man plinderte die Haufer der Genuefen; doch fo heilig zetgte
fic) aud) bier bad corsiſche Naturgeſetz der Großmut und der
Gaſtfreundſchaft felbft gegen Feinde, daß viele Genuefen Schutz
42
a —
bei ihren Haſſern fanben, in deren Dérfer fie gingen das
Gaftredht anzuflehen. Francesco Ornano-nahm Lamba Doria
felbjt in fein eigned Haus auf.
— — —
Fünfzehntes Kapitel.
Unterdeß ſtürmte der Türke Bonifazio, rings umher alles
Land verwüſtend, und erbittert über ben Heldenmut der Voni-
faziner, welche fic) ihrer Vorfahren yur Beit Alfonſo's von
Aragon würdig zeigten. Tag und Nadt, troy Hunger und
Ermüdung, ftanden fie auf den Mauern, jeden Sturm zurück⸗
-werfend, Manner und Weiber gleich heldenmütig. Wud)
Sampiero erſchien vor Bonifazio. Die unablaffig beftiirmte
Stadt wantte nidt, im mannbaften Kampf auf Entſatz bof:
fend. Denn ein Bote, Cattacciolo, Birger Bonifazio’s,
wurbe von Genua her ertwartet. Gr fam den naben Entſatz
anjufiindigen, und er fiel in die Hinde der Franjofen. Cie
madten ibn gum Berrater, fo dab er gefälſchte Briefe in die
“Stadt trug, welche dem Befehlshaber die Hoffnung auf Entſatz
benabmen. Deshalb übergab diefer pie unbezwungene Stadt
unter ber Bedingung, dap. fie nicht gepliindert werde, und
vie Befagung in.allen Ehren fic nach Genua einfchiffen dürfe.
Die tapferen Vertetdiger waren faum aus den Mauern geriidt,
al3 ber barbarifde Türke bem Cide Hohn fpredend, Aber fie
herfiel und fie gufammenjubauen begann. Sampiero rettete mit
Mithe, was von den Bonifaginern nod zu retten war. Mit
diefer Race nicht zufrieden, forberte Dragut die Pliinderung
der Stadt, und da man ihm dieſe nidt gugeftand, ein hohes
Wbftandsgeld, welches Therme3 nicht zablen fonnte, aber zu
zahlen verfprad. Crbittert ſetzte ſich Dragut zu Schiff und ging
nad Mfien unter Segel. Genueſiſches Gold hatte ihn gewonnen.
43
Nad dem Falle Bonifazio’s war den Genuefen fein Fle
Landes mehr in Corsica geblieben, al3 das „immergetreue“
Calvi. G3 war daber feine Beit gu verlieren, wenn man dte
Snjel wiedergewinnen wollte. Der Raijer hatte Hiilfe zuge⸗
ſagt, er ftellte Genua einige taufend Deutſche und Spanier
qur Verfügung, aud Cosmus von Medict gab Truppen ber.
Um den Grfolg außer Frage yu ftellen ibertrug man ben
Oberbefehl dem beriihmteften Feldherrn, Wndrea Doria.
Doria war damals 86 Jahre alt. Go dringend erfdien
die Lage der Dinge, dab ver Greis die Aufforderung nidt
ausjdlug. Bn der Kathedrale Genua’s empfing er das Banner
der Unternehmung von Genatoren, Brotectoren der Bant,
Clerus und Bolf.
Am 20. Movember 1553 landete er im Golf S. Fiorenzo,
und in kurzer Seit wandte fic) dad Glid zu Gunjten Genua’s,
GS. Fiorengo, welded ver Marfdall Thermed ſtark befeftigt
hatte, fiel, Baftia ergab fid), die Frangofen widen überall.
Damals hatte fic) Sampiero mit Thermes tiberworfen und
war fiir eine kurze Beit an den Hof Frankreich's entfernt wor-
ben; aber nachdem er feine Verleumder befiegt hatte, jtand
er glangender und al8 bie Geele ded Rrieges da, weldem der
untüchtige Thermes nicht gewadjen war. Cr war unerfdhipf-
lich im Widerftand, im Angriff, im Heinen Kriege. Cr fdlug
Spinola empfindlid) auf dem Golofelde, aber eine Wunde die
er in der Schlacht empfing, madte ibn fir eine Weile un-
thatig, in welder fein Gegner die Corsen bei Morofaglia
ſchlug. Jetzt lies Sampiero feiner Wunde nidt Beit gum
Heilen, er erfdien wieder im Feld und überwand Spanier
und Deutfde am Gol di Tenda, im Jahr 1554.
Der Krieg wurde mit gleich groper Wut nod fiinf Fabre
lang fortgefithrt. Corsica ſchien des franzöſiſchen Schutzes fitr
immer ficer und fid überhaupt als einen Teil Frantreidh3 zu
betradten. Franz der Bweite hatte Jordan Orfini bereits zu
44
— =
jeinem Vicekönig ernannt, und diefer in der Volksverſamm⸗
lung im Namen feines Kinigs die GCinverleibung der Inſel
in Frankreich feierlich erflart. Co ſchien ihr Schidfal {don
damal3 an dle franzöſiſche Mtonardhie gebunden und fie jelbft
aus dem Bereich der italienijden Staaten, in welche fie durd)
Natur gehört, ausgefdieden gu fein. Aber faum hatte der
Konig jene feierlide Bufage gegeben, als. der Friedensſchluß
zu Chateau Cambrefis, im Sabre 1559, alle Hoffnungen der
Corsen zertrümmerte.
Frankreich ſchloß mit Philipp von Spanien und mit deſſen
Verbündeten Frieden und verpflichtete ſich Corsica den Genueſen
herauszugeben. So lieferten die Franzoſen alle noch von
ihnen beſetzten Plätze in die Hände Genua's und ſchifften ihre
Truppen ein. Ein verzweifelter Krieg von ſechs Jahren war
nutzlos geführt, ſo viel Ströme Bluts waren der Politik zum
Spiele vergoſſen worden; die Corsen ſahen ſich durch ein
Platt Papier, ein Friedensdocument, in ihr altes Elend zurück⸗
geſchleudert, und der Rache Genua's wehrlos Preis gegeben.
Dieſer Treubruch und dieſer Schlag preßte dem Lande einen
Schrei der Verzweiflung aus, aber er ward nicht beachtet.
Sechzehntes Kapitel.
Von hier ab zeigte ſich Sampiero in ſeiner ganzen Größe;
denn nur derjenige Mann iſt wahrhaft groß, welcher durch
das Schickſal ungebeugt aus dem Unglück doppelt ſtark zu
erſtehn vermag. Geächtet war er hinweggegangen. Der
Friede hatte ihm das Schwert genommen, die ganz vers
heerte Inſel konnte einen Kampf für ſich ſelbſt nicht mehr
wagen, ſie bedurfte der Erholung, der neue Krieg einer neuen
Stütze an einer auswärtigen Macht. Alſo durchwanderte der
45
unermiidlide Mann vier Sabre lang vie Welt, die entfernteften
Macdhte .Curopa’s um Hilfe angugehen. ‘ Gr eilte nad Frank—
reid) 3u Catharina, boffend fie alter Dtenfte, die er dem
Hauje Medici geleiftet hatte, noch eingedent zu finden; er ging
nad Navarra; zum Herjog von Floreng; gu den Fregoft; von
‘einem Hofe Italiens zum andern; er ſchiffte nad Algier zu Bar:
baroffa; nach Conftantinopel zum Sultan Soliman. Seine
adtunggebietende Crideinung, die Kraft feiner Worte, fein
durchdringender Verſtand, feine glithende Vaterlandsliebe flip:
ten allen Bewunderung ein, den Chriften wie den Barbaren;
aber man vertriftete ibn mit leeren Hoffnungen.
Wabrend Sampiero ‘fo die Welt -durdhwanderte, hatte
Genua ibn nidt aus den Wugen verlorén; es erjdraf vor
den möglichen Grfolgen feiner Bemiihungen. Dem fiirdter:
liden Mann für immer die Hand yu lähmen mußte man auf
irgend eine Weiſe verfuden. Gift und Dteudelmord, fo fagt
man, ‘batten feblgefdlagen. Man beſchloß daher das Natur:
gefühl de3 Vaters und des Gatten mit der Leidenſchaft zum Vater⸗
lande in Krieg zu bringen. Man wollte ſein Herz erſchlagen.
Sampiero's Weib Vannina lebte in ihrem Hauſe zu Mar:
ſeille im Schutze Frankreichs. Ihren jüngſten Sohn Antonio
Francesco hatte ſie bei ſich, der ältere, Alfonſo, war am
Hofe Catharina's. Die Genueſen umgaben ſie mit ihren
Spähern. Es kam ihnen darauf an, Sampiero's Weib und
Kind nad Genua zu locken. Zu dieſem Swed bedienten fie
ſich des Michel Angelo Ombrone, eines Prieſters, welcher
Lehrer der jungen Söhne Sampiero's geweſen war und deſſen
Vertrauen im höchſten Maße genoß; ferner eines gewandten
Agenten Agoſto Bazzicalupa. Vannina war eine bewegliche
Natur, empfänglich fiir Einflüſterungen, ſtolz auf den alten
Namen der Ornani. Man hatte ihr das Los vorgeftellt,
welche3 die Kinder ihres Gatten erwarten mußte. Mit ihres
Vaters Acht beladen, de3 Lehns der Ahnen beraubt, arm,
46
nicht einmal ihres Lebens ſicher: was ſollte einſt aus ihnen
werden? Man zeigte ihrer Phantaſie dieſe ihre geliebten Kin⸗
der in dem Elend der Fremde, das Brod der Gnade eſſend,
oder, was ſchlimmer war, wenn ſie den Spuren des Vaters
folgten, als Banditen in den Bergen herumgehetzt, endlich ge⸗
fangen und an die Galeren geſchmiedet.
Vannina ward erſchüttert, der Gedanke nach Genua zu
gehen, ihr immer weniger ſchrecklich und weniger befremdlich.
Dort, ſo ſagten ihr Ombrone und Bazzicalupa, wird man
euren Kindern das Lehen Ornano wieder zuerkennen, und eurer
milden Seele wird es gelingen, aud) Gampiero mit ber Re:
publif gu verfdbnen. Des armen Weibes Herz erlag. Das
natürliche Gefühl gab den Ausfdhlag, und da8 begriff nichts
von diefem grofen, rauben, firdterliden Charatter de3 Mannes,
welcher nur lebte, weil er fein Baterland liebte und feine Unter:
drücker hapte, und der mit feinem eigenen Gelbft died ver:
zebrende Feuer feiner Leidenſchaft nabrte, alle andere Habe
Scheit auf Scheit hineinwerfend. Alſo rang das verblendete
Herz Vannina den Entfdlup ab nach Genua zu geben. Eines
Tages, fo fagte fie fic), werden wir glitdlid), friedlid) und
verſöhnt fein.
SndeB war Sampiero in Wlgier, wo der kühne Renegat
Barbaroffa Konig des Lande3, thm mit glangenden Chren ent-
gegendgefommen wat, al8 ein Schiff von Marfeille vie Nad:
tidt bradte: Vannina, fein Weib, von Genuefen umringt,
gebe bamit um, mit ihrem Rinde nad Genua zu entweiden.
Wie Sampiero die Möglichkeit diefer Flucht gu begreifen an⸗
fing, wollte er fid) augenblids ind Schiff werfen und nad
Marfeille eilen; dann gebot er feinem Freunde Antonio von
San Fiorengo auf der Stelle abzureifen und zu hindern, wenn
es miglidy fei. Gr felbjt blieb, unterbanbdelte mit Barbaroffa
wegen eines Buges gegen Genua, und ging dann yu Sdiff
nad Conftantinopel, aud dort mit bem Sultan e3 gu vere
47 ⸗
ſuchen, dann erſt nach Marſeille zurückzukehren, nach ſeinem
Weibe zu ſehn.
Antonio war fortgeeilt. Jn dad Haus Vannina's ſtürzend
fand er es ausgeräumt und leer. Sie war nebſt ihrem Kinde
auf einem genueſiſchen Schiff hinweg, mit Ombrone und Bazzi⸗
calupa, heimlich, Tags zuvor. In Haſt raffte Antonio Freunde,
Corsen, Bewaffnete zuſammen, warf ſich in eine Brigantine
und ſegelte mit allen Segeln in der Richtung, welche die Flüch⸗
tigen muften genommen haben. Jn der Höhe von Antibes
fab er bad genuefifde Fahrzeug vor ſich. Gr gab ein Zeichen,
dab man halten folle. Bannina bat in fdredlider Angſt, wie
fie die Verfolger abnte und ibrer gewiß war, fie and Land
su fegen, und fie wußte nicht, was fie thun und wollen diirfe.
Wher Antonio erreicdte fie an der Kifte, und im Namen Sam:
piero’s und des Königs von Franfreid) nahm er die Flüchtige
an fid).
Der edle Mann bradte fie in das Haus de Bijdofs von
Antibes, die ganz in Schmerz vergebende Frau ourd den Troft
ver Religion aufzurichten. Schreckliche Gedanten, die er ver-
ſchwieg, madten das ratſam. Aber dem Bifdof bangte vor
‘einer Verantwortung, die er nidt auf fic laden modte; er
gab Vannina in bie Hande de3 Parlament3 von Mir. Dade
felbe erflarte fic) beveit, fie gegen jedermann in Schutz gu
nebinen. Dod Vannina lehnte das ab. Sie fet, fo fagte fie,
ibres Manned Weib, und was Gampiero über fie verbingen
werde, das wolle fie fiber fic) ergeben laſſen.
Nun fam Gampiero aus ber Türkei, wo Soliman den be-
rühmten Corgen mit Bewunderung eine Beit lang am Hofe
gebalten hatte, nad) Marſeille, fic) felbft und dem twas ibm
das Herz bewegte guritdgegeben. Wntonio trat ibm entgegen,
beftitigte was geſchehen war, und ſuchte den Zorn feines Freun⸗
des niederzuhalten. Einer von Sampiero's Veriwandten, Pier
Giovanni von Calvi, lich die unvorſichtige Aeußerung fallen,
dap er Vannina’s Fludht Tange geahnt habe. Und du ver-
ſchwiegſt, was du abnteft? rief Gampiero, und augenblids
etftac) er ihn mit dem Dold. Gr warf fic) aufs Pferd und
jagte nad Wir, wo auf dem Schloß Zaifi fein Weib ihm ent:
gegengzitterte, Antonio folate ibm nad, voll fürchterlicher Angſt,
ob er vielleicht Schreckliches noch abwenden finne.
Unter den Fenſtern des Schloſſes wartete Sampiero bis
es Morgen wurde. Dann ging er zu ſeinem Weibe und führte
ſie nach Marſeille. In ſeiner verſchloſſenen Seele konnte nie⸗
mand leſen. Als er mit ihr in ſein Haus eintrat, welches
ausgeräumt und wüſte ſtand, fiel ihm die ganze Gewalt des
ihm angethanen Schimpfes und Verrats krampfhaft auf das
Herz, und indem der Gedanke noch einmal durch ſeine Seele
drang, daß es ſein Weib war, welches dem verhaßten Landes⸗
feinde ſich und ſein Kind in die Hände gegeben hatte, ergriff
ihn beſinnungslos der Dämon, und mit der eignen Hand gab
er ſeinem Weibe den Tod.
Sampiero, fo fagt der corsiſche Geſchichtſchreiber, liebte
ſein Weib leidenſchaftlich, aber als Corse, das heißt bis zur
allerletzten Vendetta.
Prachtvoll ließ er die Todte in der Kirche des heiligen
Franciscus beſtatten, dann ging er, dem Hofe von Paris unter
die Augen zu treten. Es war im Jahr 1562.
Siebenzehutes Kapitel.
In Frankreich empfing man Sampiero mit Kälte, die Hife
linge ziſchelten, vermieden ibn, höhnten ibn aus der Tugend⸗
maske heraus. Sampiero war nicht der Mann, fid durd
Höflinge ſchrecken zu laſſen, nod war der Hof Catharina’s
pon Medici das Tribunal, vor welchem eine ungeheure That
“
49
geridjtet werden durfte, die einer der bedeutendften Menfden
feiner Zeit auf ſich geladen hatte. Catharina und Heinrich
vergaßen den Gattenmord, aber fie wollten fiir Corsica nidts
mebr thun, al3 feine Befretung gerne feben.
Nachdem Sampiero als Diplomat alles verjudt hatte, was
ibm möglich geweſen mar, und fic) feine Ausſicht auf frembe
Unterjtigung zeigte, beſchloß er als Mann zu bandeln und
feiner wie feines Bolles Kraft allein gu vertrauen. Gr ſchrieb
an feine Freunde in Corsica, dag er fommen werde, fein
Vaterland' gu befreien oder gu fterberi. „Es ift unfere Sade,
fo fagte er, eine letzte Anſtrengung gu verjuden, um das
Glid und den Ruhm einer vollftindigen Freibeit zu erlangen.
Wir haben an die Cabinette von Frantreid), von Navarra
und Gonjftantinopel gepodt. Wenn wir die Waffen nur an
bem Tag ergreifen, wo wir im Kampf durch die Hilfe Frant:
reichs oder Toscana's unterftiigt fein werden, fo wird die
Unterdriidung nod Tange Zeit das Los de3 Landes fein. Und
iiberhaupt, wa würde der Preis fiir eine Freiheit aus frem⸗
dem Urſprunge fein? Um fid dem Bod der Perfer gu ent:
ziehn und ibre-Unabhangigkeit 3u retten, fah man die Grieden
qu ibren Nachbarn nad Hilfe geben? Die italienifden Repu:
blifen bieten un3 neue Veifpiele von dem, was der ftarke Wille
eines Volks vermag, wenn e3 mit ibm dte Liebe zum Vater:
lande vereint. Doria vermodte fein Land von dem Drud
" einer übermütigen Wriftofratie zu befreten, und wir follen war-
ten, um und gu erbeben, bid die Soldaten des Königs von
Navarra fommen in unjern Reihen zu fampfen?”
Wm 12. Juli, 1564 landete Gampiero im Golf Valinco
mit zwei Schiffen und einer. Schar von zwanzig Corsen und
von fünf und zwanzig Frangofen. Cr verjentte die Galere, auf
welder er gefabren war. Als man ibn fragte, warum er dad
thue und wo er Rettung fuden wolle, wenn die Genuefen
ibn überraſchten, antwortete er: in meinem Schwert. Mit
Gregorovius, Corsica. 1. | 4
50
feinem Haͤuflein warf er fid) auf das Schloß Sftria, nahm
dieſes und ftiirmte fort auf Corte, Hier zogen ihm die Genue⸗
fen entgegen mit weit itberlegener Macht, da Sampiero’s
Sahar nur erft hundert Mann zählte. Wber fo groß war der
Sdreden, den fein bloßer Name einflipte, daß fie ibn faum
fommen faben, als fie ohne bas Schwert ju ziehen davonfloben.
Corte that ihm die Tore auf, und fo hatte er den erften Stig:
punft gewonnen. Das Gemeindeland jzdgerte nicht mit ibm
gemeinjdaftlide Sade gu machen.
Vorwärts 40g Samptero auf Vescovato, die reichſte Land⸗
ſchaft der Inſel, an den Whhangen der Berge gelegen, welde
fid) gur ſchönen Kajftenebene Mariana’s niederfenten. Bei feinem
Nahen verfammelte fic) bas Volt, fiir die Grndten bange, in
Angſt vor dem RKrieg8gewitter und in Bewegung geſetzt durd
den Archidiaconus Filippini, ven Gefdictidreiber ver Corsen.
Filippini riet dringend, fich ftill gu balten und Sampiero nidt
gu feben, was er aud thite. Als nun Gampiero in Vesco⸗
vato eingog, fand er den Ort ftill und dad Volf in den Haus
fern, bid e3 endlich der Neugierde oder der Sympathie nad:
gab und hervorkam. Gr redete es an und warf ihm vor, was
e8 verdiente, Dtangel an Vaterlandsliebe. Geine Worte madten
tiefen Cindrud. Man bot thm Gaſtfreundſchaft; aber er ftrafte
Vescovato mit Veradhtung derfelben und ibernadtete unter
fretem Himmel. ,
Der Ort wurde nidtsdeftoweniger der Schauplatz einer
blutigen Schlacht. Denn Nicola Negri fiihrte vie Genuefen
gegen ibn zum Sturm. G38 war ein mörderiſcher Kampf, wm
fo mebr, als er bet der verbaltnipmapig geringen Zahl der
Streitenden den Charakter des Gingelfampfes haben mufte.
Wud Corsen kämpften gegen Corser, weil eine Sdhar von
ibnen im Dienft Genua’s geblieben war, Als diefe heran⸗
brang, wart fie Sampiero juriid, indem er ihnen gurief, es
ſei eine Schmach das BVaterland zu beftreiten. Der Sieg neigte
51
ſich {hon auf die Seite Gepua's, da einer der tapferften Corsen⸗
capitane Brufdino gefallen war; aber Sampiero ftellte die
Reihen wieder her, und es gelang ihm die Genuefen gu werfen.
Der Sieg bei Vescovato vergriferte die Streitfrafte Sam⸗
piero’3; ein zweiter bei Caccia, in welchem Negri blieb, bradte
das ganze innere Land unter Waffen. Nun hoffte Sampiero
auf ernftliden Beiftand von Toscana und felbft von den Türken,
denn indem er mit fo wenigen Mitteln Spanier und Gennefen
überwunden hatte, zeigte er, mad die Freibettaliebe der Corsen
vermoigen würde, wenn man fie nod unterftitgte.
Nad Negri’s Tode hatten die Genuefen ihren beften Führer
auf die Ynfel gefandt, Stefano Doria, würdig dieſes Namen3,
durch feine Tapferkeit, feine Cinfidht und feine Harte. Gin
Heer von 4000 erfauften Deutiden und Stalienern folgte ihm.
Der Krieg entbrannte mit neuer Wut. Mehrere Niederlagen
erlitten die Corsen, mehre die Genuejen, welche nocd einmal
nad Baftia zurückgeworfen wurden. Doria hatte einen Ueber:
fall auf Baftelica gemadt, diefen Geburtsort Sampiero's in
Aſche gelegt, und fein Haus dem Erdboden gleid) machen
laffen. Was galt Sampiero Haus, Habe und Gut, ihm welder
fein Weib bem BVaterland geopfert hatte? Wher immer bleibt
vie Politif Genua’s, bemerfenswert, den Patriotismus der
Corsen mit ihren perſönlichen Gefühlen in tragiſchen Streit
zu bringen. Was fie vergebens bei Sampiero verfudt batten,
gelang ihnen bet Achill von Campocaffo, einem Mtanne von
ungewöhnlichem Heldenmut, aus einem hodangefebenen Haufe
alter Gaporali. Man fing feine Mutter. Der Sohn ſchwankte
nidt einen Augenblid, er warf fein Schwert fort und eilte
in das Lager Genua’s, die Mutter zu retten. Aber weil ibm
ber Feind gumutete, Gampiero’s Mörder gu werden, entwid
er, und bielt fid) ſtill daheim. Smmer mebr ftand Sampiero
pon ftarfen Freunden verlaffen da, feitdem Brujdino gefallen,
Campocaffo zum Feinde gegangen, und aud Napoleon von
52
Santa Lucia gefdlagen worden war, der erfte Gorge, welder ~
biefen Namen durch Waffenthaten ausgezeichnet bat. :
Wenn ver ganze Hab von Corse und Genuefe in zwei
Namen fid) nennen läßt, fo find e3 die von Sampiero und
Doria. Stefano Doria iibertraf alle feine Vorgänger an Grau-
famfeit. Gr hatte geſchworen, “das corsiſche Volt zu vertilgen,
‘ und died find feine ausgefprodenen Grundfaige: ,, 213 die
Athener nad) fiebenmonatlichhem Widerftande fic) der Haupt:
ftadt von Melos, der Verbiindeten Sparta’s bemadtigten, lieben
fie alle Einwohner über vierzehn Jahre fterben und ſchickten
dann eine Colonie, um die Stadt neu zu bevölkern und im
Gehorſam zu halten. Warum ahmen wir dies Beiſpiel nicht
nad? Cita weil die Corsen weniger ſtrafbar find als die
Rebellen jenes Landjtriches? Durch diefe ſchrecklichen Straf-
gerichte wollten die Athener zur Eroberung des Peloponnefes,
des ganzen Griedenlands, Afrika's, Ytaliens und Siciliens
gelangen. Indem ſie alle ihre Feinde über die Klinge ſpringen
ließen, ſtellten ſie die Achtung und den Schrecken ihrer Waffen
wieder ber. . Man wird ſagen, dab wir mit dem Völkerrecht
alle Gefege der Menſchlichkeit verlegen. Was thut e3? wenn
fie un3 nur fürchten, das ift alles wornad) id frage. Ich
mace mir mebr aus dem Urteil Genua’s als aus dem der
Nachwelt, mit dem man mid vergebens fdredt. Dies leere
Wort Nachwelt hemmt nur Menſchen, welde ſchwach und un:
entidloffen find. Unſer Vorteil tft es, den Kreis unferer Cr:
oberung auszudehnen und den Empörern alles zu nebmen, was
den Krieg ernähren fann. Nun, ic febe nur zwei Wege, Vers
nidtung der Erndten, Miederbrennen der Dirfer und Umſtürzen
der Türme, wo fie fid) verſchanzen, wenn fie anders nidt
fimpfen können.“
Diefe Ratſchläge Doria’s ſprechen den bid zur Verzweif=
lung gefteigerten Hab Genua’s gegen das unzähmbare Bolt
ber Corgen aus. Doria verwitftete die halbe Inſel, ohne dod
53
Sampiero überwinden zu können. Diefer hatte in Bozio eine
, Bolt8verfammlung gebalten, die allgemeine Sache neu gu be-
feftigen, bie Zwölfmänner und andere volkstümliche Behörden
neu zu ordnen und enbdlid) eine Erhebung in Maſſe miglid
au maden. Sampiero war nidt blob ein Kriegshauptmann,
fein Blid reichte weit. Cr wollte feinem Lande mit der Un:
abbangigteit eine freie republikaniſche Verfaffung geben, geſtützt
auf die alten Ginridtungen.de3 Gambucuccio von Alando. Gr
wollte aus der Lage der Ynfel, aus ihren Forften und Pro-
dukten alle die Borteile giehen, welche fte befähigten eine See-
madt gu werden; in Verbindung mit Frantreich wollte er
Corsica frei, madtig und berrfdend maden, wie einft Rho⸗
dus und Tyrus e3 waren. Gr felbft ftrebte nicht nad) dem
Litel eines Grafen von Corsica; er war der erfte Vater de3
Vaterlandes, und die Zeiten ber Signoren waren voritber.
Gr fandte Boten nad dem Feftland, die Höfe, namentlid
Frankreich um Unterftiigung angugehen; dod) man überließ die
Corsen ibrem Schickſal. Antonio Padovano fam von Frank:
reid mit leeren Händen zurück; er bradte nur mit fid Alfonſo
den jungen Sohn Gampiero’s, 10000 Thaler Geld und drei⸗
zehn Fahnen, worauf gefdrieben ftand: Pugna pro Patria.
Gleichwol erhoben die Corsen ein Freudengefdrei; die Fabnen
welche Sampiero an die Capitaine verteilte, gaben Anlaß ju
gefährlicher Eiferſucht.
Hier ſind Briefe, welche Sampiero ſchrieb:
An Catharina von Frankreich. Unſere Angelegenheiten ſind
bis fo weit ſehr gut gegangen. Yd) kann Ew. Majeſtäͤt ver:
ſichern, daß wir ohne die geheime und offene Unterſtützung,
welche den Genueſen von Seiten des katholiſchen Königs von
Spanien zugekommen iſt, anfangs in 22 Galeren und 4 Schif⸗
fen mit einer großen Zahl Spanier, unfere Feinde fo in die
Enge gebract batten, dab fie heute ohne fefte Stellung fein
würden. Nichtsdeſtoweniger und fomme was da wolle, wir
54
geben nie den einmal gefaßten Entſchluß auf, eher zu ſterben,
als uns in welcher Weiſe es ſei der Herrſchaft der Republik
qu unterwerfen. Ich bitte folglich Ew. Majeſtät in dieſen Um-
ſtäͤnden meine Ergebenheit an Ihre Perſon und die meines
Vaterlandes an Frankreich nicht zu vergeſſen. Wenn der ka⸗
tholiſche König ſich den Genueſen ſo geneigt zeigte, die ſchon
ohnehin an ſich ſo mächtig gegen uns ſind, die wir von aller
Welt verlaſſen da ſtehn, wird Ew. Majeſtät zugeben, daß wir
unter den Händen unſerer grauſamen Feinde umkommen?
An den Herzog von Parma. Sollten wir der ottomani⸗
{cen Bforte tributbar werden, mit Gefabr alle Fürſten der
Chriftenbeit zu beleidigen, fo ſteht unfer Entſchluß unwider⸗
ruflich feft: hundertmal Lieber die Türken als die Herrſchaft
der Genuefen. Frankreich ſelbſt hat den Friedensſchluß nicdt
geadtet, welder dod, fo fagte man, unfere Redhte ſichern und
unfern Leiden ein Ende machen follte. Wenn id mir die Frei:
beit nehme, Sie mit den WAngelegenheiten der Ynfel zu bes
belligen, jo geſchieht es damit Ew. Hobeit im Notfall fie beim
Hof gu Rom gegen die Angriffe unferer Feinde verteidigen
können. Ich will, dab meine Worte wenigftens ein feierlicder
Proteſt gegen die graufame Gleidgilltigheit der fatholifden
Fürſten bleiben und eine Berufung an die göttliche Gered-
tigkeit.
Achtzehntes Kapitel.
Noch einmal gingen Geſandte nach Frankreich ab. Es waren
ihrer fünf; die Genueſen fingen fie an der Küſte auf. Der
Krieg nahm den Charafter ſchonungsloſer Vendetta von beiden
Seiten an. Doria rictete nichts aus. Bu wiederbolten Malen
hatte ihn Gampiero aufs Haupt gejdlagen, endlid in den
Päſſen von Luminanda beinabe vernicdtet, und nur einem fo
55
, A
kühnen Heerführer al Sener war, gliidte e3 zu entrinnen.
Erſchöpft und vergweifelnd fam er in Gan Fiorenzo an, und
bald darauf verlieB er die Qnfel. Die Republif erſetzte ihn
durch Vivaldi, dann durd) den raintevollen Fornari. Wber fie
madte fid feine Hoffnung mehr, Sampiero mit offener Ge: *
walt 3u vernidten. Gegen diefen Mann, welder al Gedd-
teter mit ein Paar Geidteten auf die Ynfel gefommen war,
batte fie nad) und nach ibre ganze Macht ins Feld gefdidt,
ihre und eine fpanifde. Flotte, ihre Söldner, Deutſche, 15000
Mann Spanier, ihre grépten Generale Doria, Centurione und
Spinola; und fie, weldhe die Pifaner und Benedig itber-
wunden hatte, wermodte nidt ein arme3 und von aller
Welt wverlaffenes Volk zu bändigen, das in den Krieg 40g,
bungernd, gerlumpt, unbeſchuht, ſchlecht bewaffnet, und welded,
wenn e3 nad Hauſe fam, nidt3 fand, als die Wide feiner -
Dörfer.
Deshalb war man zu dem Entſchluſſe gekommen, Sampiero
zu ermorden.
Zwiſtigkeiten zwiſchen ihm und den Nachkommen der alten
Signoren hatte man ſchon lange geſät. Einige wie Hercules
von Iſtria waren von ibm abgefallen, weil der genueſiſche
Lohn ihre Habſucht reigte, ober ihr Stolz fic) gegen den Ge-
danken emporte, den Befeblen eines Mtannes yu geborden,
welder aus dem Staube emporgefommen war. Andere batten
eine Blutfduld yu rachen. Dies waren die Ornani, drei Brii:
der Antonio, Francesco und Michel Angelo, BVettern der Van-
nina. Genua hatte fie durd Gold und die Ausſicht auf dad
Lehen Ornano gewonnen, welches den Rindern der BVannina
gebührte. Die Ornani gewannen ibrerfeits einen Mind Am⸗
brofius von Bajtelica und Sampiero’s eigenen Waffenmeifter
Bittolo, und fo fdmiedeten fie einen WAnfdlag den Helden in
einem Hinterbalt umgubringen. Fornari übertrug die Aus—
führung dem Rafael Giuftiniani.
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Sampiero war in Bico, alZ der Mind ihm falſche Briefe
bradjte, welde ihn dringend aufforderten, nad) Rocca zu fom-
men, wo ein Aufftand gegen die Volksſache ausgebroden fei.
Augenblids fdidte er Vittolo mit zwanzig Pferden nad Cavro
voraus und felber fam er nad. Mit ihm waren fen Cobn
Alfonſo, Andrea de’ Gentili, Anton Pietro von Corte, Bat-
tifta ba Pietra. Vittolo benadridtigte unterdep die Ornani
und Giuftintani, daß Gampiero durch das Bergtal von Cavro
ziehen werde, worauf diefe mit vielem Volk yu Fuß und yu Pferde
aufbraden und fid in den Hinterhalt legten. Als Sampiero
mit feiner kleinen Shar ahnungslos durd den Paß 30g, fab
er ſich pliglid von allen Seiten angegriffen und die Berge
puufel von Bewaffneten. Da erfannte er, dab feine Stunde
gefomimen fei. Gr befabl feinem Sohne, ibn den Bater ju
perlaffen, zu fliehen und fid) dem Vaterlande zu erhalten. Der
Sohn gebordte und entfloh. Während nun die Seinen tapfer
fampfend erlagen — e3 war Morgengrauen — ſtürzte ſich
Sampiero in das Gewiihl. fid) durchzuhauen, wenn e3 miglid
war, Die Ornani drangen auf ibn ein, gefolgt von genue-
ſiſchen Soldaten. Gr fampfte verzweifelt; Antonio Ornano ver:
wundete er mit einem Piſtolenſchuß am Halſe; fein Gewehr
verfagte, denn Bittolo hatte, al er e3 lud, zuerſt die Kugel
und dann das Pulver hineingethan.. Sampiero's Gefidt war
von Blut itberftrémt; mit der Linken fid) die Augen von ihm
befreicnd, webrte fid) die Rechte mit dem Sdwert. Da ſchoß
ibn Vittolo von binten ber durd den Ritden; er fiel; die Ore -
nani ftitrgten fid) wittend auf den Sterbenden. Gein Haupt
brachten fie bem genuefifden Statthalter, Es war am 17. Ya:
nuar de3 Sabres 1567.
Neun und ſechzig Jahre hatte Sampiero erreicht, unge⸗
ſchwächt durch Alter und Mühſal, durch Charaktergröße und
Vaterlandsliebe der Unſterblichkeit wert. Cr erlag wie Viria⸗
thus nur dem Meuchelmorde. Durch ſein erhebendes Beiſpiel
la.
D7
hat er gegeigt, twas der edle Ptann vermag, enn er einer
gropen Leidenſchaft unerſchütterlich treu bleibt.
Sampiero war von hoher Geſtalt, von finſterm und krie⸗
geriſchem Anſehn, von ſtolzem Weſen, ountelbartig, von ſchwarzen
und krauſen Haaren. Sein Blick durchdringend, ſeine Rede
kurz, feſt und gewaltig. Obwol ein Sohn der Natur und ohne
Erziehung beſaß er dod) einen feinen Verſtand und ein vor-
treffliche3 Urteil. Seine Feinde warfen ihm wor, dab er nad
der Königskrone feiner Inſel ftrebte, dod er ftrebte nur nad
ihrer Freiheit. Gr lebte ſchlicht wie ein Hirte, trug den wolle⸗
nen Rittel ſeines Yande3 und ſchlief auf nadter Erde. Er hatte
mit ben am meiften ſchwelgeriſchen Höfen der Welt verkehrt,
mit Floreng und Berfailles, dod nidts von der Falfdbeit
ibrer Grundfaige und der Verderbnif ihrer Sitten gelernt. Der
raube Mann fonnte fein Weib ermorden, weil fie fic) und
ibt Rind dem Lanbesfeind verraten- hatte, aber er wußte nichts
von jenen Berbreden, welche die Natur verkehren und ihre
Schaͤndung zu einer verfeinerten Lebensphilofophie ftempeln.
Gr war ein Menſch vom Geprage urfprtinglidfter Natur.
Neunzehntes Kapitel.
Als Sampiero gefallen war, frohlockte Genua mit Glocken⸗
geliute und Freudenlichtern. Aber auf das corsiſche Land fiel
ein ſchrecklicher Schmerz, Sie famen jufammen in Oregja;
3000 Manner in Waffen, viele weinend, alle traurig ftanden
fie auf dem Rirdhenplag. Das Schweigen unterbrad Lionardo
pon Cafanova, der Waffenbruder Sampiero's, dem Gefallenen
vie Leichenrede zu balten.
Diefen Mann hatte eben ein beifpiellofes Sdidfal betroffen.
Get war in die Gefangenfdaft der Genuefen gefallen, welche
58
ign in den Turm gu Baftia geworfen hatter Gein Sobn An:
tonio hatte Tag und Nacht darauf gefonnen, wie er feinen
Vater erretten könne. Bn die Reider eines Weibes gehüllt,
welches dem Gefangenen die Speiſe zu bringen pflegte, war
er zu ihm in den Kerker gedrungen. Er hatte ihn beſchworen,
zu entweichen und ihn zurückzulaſſen; denn ſollte auch er, der
Jüngling, ſterben, ſo werde doch ſein Tod ihn ehren, der
Freiheit aber den Arm und die Einſicht feines Vaters erhalten.
Dies gebiete die Liebe gum Vaterlande. Lange fchwantte diefer
in bem fiirdterliden Rampf, dann erfannte er, dap et fo ban:
deln miiffe, wie fein Sohn gefagt batte, @ riß fid) von ihm
los, und entfam. Die Kerkermeiſter fanden den Yingling. Cr
gab fid) ihnen ſtolz und glidlid. Sie führten ihn vor den
Gouverneur, und auf deffen Befehl wurde er am Fenjfter von
Jeines Vaters Burg Fiziani gehenkt.
Lionardo erbob fid) vor dem verfammelten Volk und bielt
Sampiero die Leidenrede.
„Die Sclaven weinen, die freien Manner raden fid. Reine
Heinmiitigen Ragen! Unfere Berge follen nur von Kriegs⸗
geſchrei widerhallen. eigen wir durch die Kraft unferes Han:
delns, bab er nidt gang geftorben ift. Hat er uns nidt dads
Beiſpiel ſeines Lebens hinterlaſſen? Seht, das haben un die
Fornari und die Vittoli nidt rauben können. Dad ijt ihren
Anſchlägen und den meuchelmörderiſchen Kugeln entgangen.
Warum fdrie er feinem Sohne gu: rette dich! Obne Sweifel,
damit dem Baterland ein Held, den Kriegern ein Haupt, den
Genuefen ein furdtharer Feind zuritdbleibe. Ya, Gampiero
bat an feine Mörder den Schimpf feines Tode3 und an den
jungen Alfonſo vie Pflicht ver Race gebeftet. Laßt und diefed
.edle Berk vollenden belfen. Schlieben wir. unfre Reiben! Der
Geift des Vaters lebt in dem Sobne fort. Bd fenne hen Ding:
ling. Er ift des Namens den er tragt und bes Vertrauens de3 Lanz
be3 witrdig. Gr hat von feiner Jugend nidt3 als die Glut. Dit.
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Reife des Urteils eilt bidweilen der Bahl ver Sabre voraus.
Dieſes Geſchenk hat ihm der Himmel nicht verfagt. Seit langer
Beit teilte er die Gefabren und die Muühen feine3 Vaters. Alle
Welt weip, dab er des rauhen Waffenhandwerks Meifter ift.
Die Krieger begehren unter feinén Befeblen zu marfdiren. Ihr
fdnnt euch ber Sicherheit ihres Tactes vertrauen, er täuſcht
nie, Die Maſſen abnen die Menſchen. Sie wergreifen fid
felten in der Wahl derjenigen, welde fie für fähig halten fie
gu führen. Und ferner, welde glangendere Huldigung gibt
e3 fiir bas Andenken Sampiero's al3 die Wabl feines Sohnes?
Diejenigen, welde mid hören, haben ibe Herz gu hod ge:
ftellt, um nidt fir die Furdht ungugdnglid yu fein.
„Gibt e3 aber unter und Menſchen, welde niedrig genug
find die ſchimpfliche Sicherheit der Sclaveret den Stiirmen und
Gefabren der Freibeit vorzuziehen, fo migen fie geben und
fidh von dem Reft des Volkes ſcheiden. Sie mdgen uns fagen,
wie fie heißen. Nachdem wir ibre Namen auf eine Schand⸗
faule gegraben, welde wir an dem Ort, wo Sampiero ge:
meudelmorbdet ward, erridyten werden, wollen wir fie mit Schmach
bededt binwegfdhiden, den Gof Fornari’s neben Vittolo und
Michel Angelo zu vermehren. Sonſt mögen fie wiffen, dab
vie Kämpfe und die Waffen, welde der rithmlidfte Teil fiir
freie und tapfere Dtinner find, aud) das Sicherſte find fiir die
Sdhwaden. Wenn fie nod ſchwanken, möchte id) ihnen fagen:
auf der einen Seite ftehn der Ruhm fiir unfere Fahne, die
Freiheit fir uns, die Unabbangigteit fiir dad Land; auf der
anderen die Galere, die Schande, die Verachtung und alle
anberen Uebel der Sclaverei. Wablet!
Das Volk ernannte durd) Zuruf Wlfonfo v’Ornano zum
Haupt und General der Corsen. Siebzehn Jahre war Alfonfo
alt, aber er war Sampiero's Sohn. Rod zwei Jahre bielt
ver Yingling, in mander Schlacht fieqreid, den Genuefen
» Stand.
*
60.
Indeß hatte der lange Krieg beide Teile erſchöpft. Genua
wollte ben Frieden; die Inſel „damals in die Parteien der
Roffi und der Negri gefpalten, befand ſich in einer vergweifel:
ten Lage und dem Frieden geneigt. Die Republit, welde
ſchon im Jahre 1561 Cordich der Bank des heiligen Georg
wieder abgenommen hatte, rief nun den verhaßten Fornari ab
und ſchickte Georg Doria auf die Inſel, den eingigen. diefed —
Namen, weldem die Cor8en ein freundlides Wndenfen bez
wahrt haben. Die erfte Handlung diefe3 weifen Manne3 war
die BVerfiindigung einer allgemeinen Amneſtie. Viele Land:
ſchaften unteriwarfen fic), viele Capitaine legten die Waffen ab.
Dem Biſchof von Sagona gelang e3, aud) den jungen Alfonfo
sum Bertrag ju ftimmen, welder zwiſchen ibm und Genua
auf folgende Bedingungen gefdlofien wurde: vollftandige Am⸗
neftie fitr Wfonfo und feine Anhänger; Freiheit ſich nach dem
Feſtlande einzuſchiffen für Manner und Weiber; Freiheit aber
ihre Güter zu verfilgen durd) Verfauf oder Wominiftration ;
Rückgabe de3 Lehn Ornano an Alfonfo; Ueberweifung der Pieve
Vico an vie Partifanen Alfonſo's bis zu ibrer Einſchiffung;
eine Friſt von 40 Tagen zur Ordnung ibrer Wngelegenbeiten;
Sreibeit fiir jeden Mann ein Pferd und einige Hunde mitzu-
nehmen; Erlaß der Schulden fiir die, welde Schuldner ded
Fiscus find; fir alle dbrigen eine Frift von fünf Jahren in Be:
tract ber großen LandeSnot; Freilaffung einiger Cingelerferter.
Alfonſo verließ fein Vaterland mit 300 Begleitern, im
Sabre 1569; er wanbderte nad Frantreid aus, wo der König
Carl ber Neunte ihn mit Ehren aufnabm. und zum Oberjten
des Corsenregiment3 madte, welded er bildete. Biele Corsen
gingen nad Benedig, viele nahm der Papft in feinen Dienft,
und griindete aus ihnen feine berithmte Corsengarde.
i.
Zweites Bud).
Erſtes Kapitel.
Nach der Beendigung der Kriege Sampiero's legte ſich erſt
das ganze Elend der Inſel blos. Sie war einer Wüſte gleich
geworden, das Volk vermindert durch den Krieg, durch ge⸗
zwungene oder freiwillige Auswanderung, gänzlich verarmt
und verwildert. Mehrmals trat die Peſt auf, die Leiden voll
zu machen, und Hungersnot zwang die Einwohner ſich wie
Thiere von Eicheln und Kraut ju nähren. Außerdem ſtreiften
die Corsaren an den Küſten, überfielen die Dörfer und ſchlepp⸗
ten die Menſchen in die Sclaverei. In ſolchem Zuſtand über⸗
nahm Georg Doria die Inſel als Regent, und ſo lange er
ſie verwaltete, erfreute ſie ſich ſeiner Sorge, ſeiner Milde und
der gewiſſenhaften Achtung des Friedensvertrages, welcher die
Rechte der Terra del Commune geſichert hatte.
Kaum war Doria von ſeinem Poſten abgelöst, als Genua
in die alte Bahn wieder einlenkte. So blind find in der Regel
Gewalthaber, dap fie weder die Vergangenheit nod) die Bus
funft feben. Mit ber Beit verdrangte man die Corsen aus
allen weltlichen und geiſtlichen Wemtern, befegte auc) die ge-
tingfte Stelle mit Genuefen, unterdriidte die Statuten und
fiibrte ein partetifdes Regiment ein. Man betradtete die Inſel
lediglid) als eine Domine; perarmte genueſiſche Nobili lieben fid
62
dort Wemter erteilen, um ihre Finanzen wieder emporjubringen.
Verſchuldet wie bas corsifdhe Volk war, fiel e3 Wuderern,
meiften3 Geiftliden, in die Hinde, um die Auflagen aufzu-
bringen. Der Vicefdnig felbft war anzuſehn wie ein Gatrap ;
bei feiner Ankunft in Baftia empfing er ein Scepter al Sym-
bol feiner Madt; feine Befolbung auf Landesfoften war nidt
fein, auger ihr mufte das Land feine Tafel mit Natural-
lieferungen verforgen. Ihm gebithrten 25 Brocent von. den
Strafgeldern, den Configcationen und Beſchlagnahmen. Bm
Verhaltnifje hat man feine Leutnant3 gu ſchätzen. Cr bradte
mit fid) auf bie Inſel einen Fiscaladvokaten, einen Ceremonien-
meifter, einen Generalfecretar und gewöhnlichen Secretar, einen
Hafencommandanten, einen Cavalleriecapitin, Polizeicapitin
und Oberterfermeifter. Alle diefe Beamte waren Vampyre.
Die Auflagen wurden immer driidender, die Criverb3zweige
jtodten; der Handel war nidtig, weil dad Gefeg alle Erzeug⸗
niffe de3 Landes nur in den Hafen Genua’s auszuführen zwang.
Rad den Beridten aller Schriftiteller, welche von diefer
Periode gefdrieben haben, war die Lage Corsica's von allen
Landern der Welt die unfeligite. Dem Hunger, der Peft, der
Verwiiftung durch den Krieg erlegen, von Barbaresten unab-
laffig geplagt, vom Genuefen um Recht und Freibeit gebradt,
bedrückt, ausgefogen, bet feiler Juſtiz nod) von den Parteien,
den Schwargen und den Roten innerlid) jerriffen, triefend von
der Blutrade, das ganze Land eine eingige Wunde — das ift
das Bild Corsica's, einer durch alle Clemente der Natur ge-
fegneten Inſel. Filippini zählt gu feiner Zeit 61 gum Land⸗
bau wol geeignete Orte, welde verlafjen ftanden, Haus und
Kirche nod) aufredt, ein Unblid, wie er fagt, zum Weinen.
Das corsijdhe Volt hatte fich gänzlich aufldfen müſſen, und
ware in Horden jerfallen, wenn nicht das Allgemeingefühl ded
Vaterlandes fo wunderbar ſtark feiner fic) bemadtigt hatte. -
Det corsiſche Gefdhidtidreiber fagt: ,,Wenn man die Vater:
63
landsliebe in irgend einer Zeit, und irgendwo in der Welt
auf Menſchen eine Gewalt ausüben ſah, fo muß man wahr⸗
lich ſagen, daß ſie auf der Inſel Corsica mächtiger geweſen
fet, als irgendwo anders; id bin hocherſtaunt, daß dieſe Vater
landsliebe die Corsen in jeder Zeit an dem freiwilligen Ent-
ſchluß zur Auswanderung verbindert hat. Denn verfolgt man
von den erften Bewohnern bis auf den beutigen Tag ihre Ge-
fdidte, fo fiebht man, dap died Volk in fo vielen Jahrhun⸗
derten niemal3, alles zuſammengezaählt, aud nur hundert Sabre
Ruhe und Erholung hatte; und daß fie alfo trogdem niemal3
fid) entfdloffen haben hinwegzugehn, um den unfagliden Ruin
in Folge fo vieler graufamer Kriege gu vermeiden, welche ver:
bunden waren mit Hungersnot, Brand, Feindfdaften, Meuchel⸗
mord, Haber, Gewalt von fo verfdhiedenen fremden Nationen,
Raub an ibrer Habe, den fo haufigen Cinfallen der graufamen
Barbaren, der Corsaren, und endlid) mit fo ungesablten end:
loſen anderen Leiden.” In einem Zeitraum von nur dreißig
Yabren wurden in Corsica damal3 28000 Meuchelmorde veritbt.
Gin großes Ungliid, fo fagt jener Gefdidtfdreiber, ift
fiir Gor8ica die grope Menge der Radflinten. Die genuefifde
Regierung 30g nämlich eine beträchtliche Abgabe aus den Paz
tenten, welde deren Gebraud) geftatteten. „Es gibt, fo er⸗
zaͤhlt Gilippini, mehr als 7000 Patente, und auferdem be:
figen viele Gewebre aud ohne Patente und befonder3 in
den Bergen, wo man nidts anbderes fieht al Sdaren vor
zwanzig und dreifig und mehr Archibuſen⸗Maͤnnern. Diefe
Patente bringen jede Bahr 7000 Lire von dem efenden Corsica
auf. Seder neue Regent fdafft nie Patente feines Vorganger3
ab um fie bann neu zu beftitigen. Wher das Kaufen derfelben
ift dad fclimmere. Denn man findet feinen nod fo armen
Menſchen, der nicht fein Gewehr hatte, mindeftens im Wert
pon finfund feds Scudi, auger der Ausgabe fiir Pulver
und Blei; wer nidts hat, verfauft feinen Weinberg, feine
64
— — — — —
Caſtanien, oper anderes Beſitztum um eine Flinte zu ‘taufen,
als wenn man ohne ſie nicht leben könnte. Wahrlich es iſt
zum Verwundern, denn der größte Teil jener Leute hat keinen
_ Rod auf dem Leibe im Wert von einem halben Scudo, und
im Haufe nichts gu effen, und dod halt er fic) far beſchimpft,
wenn er neben Andern ohne Glinte erfdeint. Daraus enti
fpringf, daß Weinberge und Aeder nidt mehr angebaut find,
ſondern al3 Buſchwald liegen bleiben, und die Menſchen ge:
zwungen twerden fid) dem Strapenraub zu ergeben. Wo fie
dazu nicht Gelegenbeit haben, ziehen fie folde mit Gewalt
herbei, um den Ochſen, die Rub und anderes Vieh derer zu
tauben, welche ihre Geſchäfte verridten, um ihre arme Familie
au erhalten. Daraus folgt folded Glend, daß der Aderbau
aus Corsica verbannt ift, die eingige wenige Habe die man
zum Unterbalt hatte, und die eingige Kunſt, welche die Inſu⸗
laner erndbrte. Und heute hindern diejenigen, welde fo itbler
Weiſe leben aud) die andern, fo gut zu handeln als fie wollen
midten. Dod Hier endigt das Uebel nicht; denn auberdem
hört man alle Tage von Meudelmord bald in diefem Dorf,
bald in jenem, wegen der Leichtigfeit mit welder fie vermige
ver Ardibufen Schaden thun. Als man folde Waffen nod
nidt gebraudte, trafen fic) Blutsfeinde auf ben Strapen, und
wenn auc) der andere um drei oder vier im Vorteil war, wagte
er bod nidt den Angriff. Wenn aber heute einer Groll auf
den anbern hat, fo wirft er fic), da er dod) mit anderer Waffen:
art nidt wagen würde ibm ins Geficht yu febn, in einen Bujd,
und obne irgend ein Bedenfen morbdet er ibn wie man auf
ein Thier ſchießt, ohne dab man nachher fid) darum kümmert.
Denn die Geredtigheit barf ihre Schuld nicdt thun. Wuperdem
find bie Corsen mit diefen Flinten fo gefdhidt geworden, dab
Gott und nur vor Kriegsgefahr wabren möge, denn diejenigen,
denen fie feind find, mögen fid) wol vorjehen, weil bis auf
die Kinder von acht bis zehn Jahren, welde die Flinte kaum
65
tragen und den Habn in Rube laffen fonnen, fie dent gangen -
Zag vor dem Biele liegen; und ift es nur fo groß ald ein
Scudo, fo treffen fie es ſicher.“
Filippini, ver Zeitgenoffe Sampiero's, fab die Flinten ein:
fiibren, welde bid yum Jahre 1553, wie er fagt, auf der
Inſel unbefannt waren. Der Marfdall Therme3, alfo die
Srangofen felbft brachten die erften nad Corsica. C8 war
ein Lacherliches Weſen, fagt Filippini, denn die Corsen wußten
fie weder gu laden nod abzuſchießen, und ſchoßen fie, fo
batten fie nicht geringere Furdt als die Wilden. Was der
Gejdhidtidreiber von den Folgen der Einführung der Flinten
in Gorsica gefagt bat, gilt nad dreihunbdert Jahren ebenjo
wie bamal3, und ein heute fcreibender Chronift könnte daran
fein Sota anbdern.
Mitten in diefem Clend ijt die plötzliche Erſcheinung einer
Griechencolonie. auf dem fo fdredlid) verwüſteten Lande vers
wunderfam. Fremde feindliche Clemente in. das corsiſche Volk
bineinguwerfen war ein lange gebegtes Streben der Genuefen.
Pielleicht hatte daffelbe einen nicht unbedeutenden WAnteil an
dem Plan eine Griedencolonie in Corsica angzufiedeln, welder
im Sabr 1676 ausgefithrt wurde. C8 batten nämlich Mai-
noten vom Golf von Kolokythia, de3 unertragliden Yous der
Türken müde, gleich jenen alten Phokäern bie das Perferjod
nidt batten tragen wollen, den Entſchluß gefapt, mit Weib
und Kind auszuwandern und fid) eine neue Heimat zu griinden.
Nad langem Suden war ihr Wbgefandter Johannes Stepha-
nopulo3 aud nad Genua gefommen und hatte dem Senat
die Wiinfde feiner Landsleute vorgetragen. Die Republif
ſchlug den Grieden das Landden Paomia vor, einen Kiften:
ftrid) am weſtlichen Rande Corsica’s zwiſchen den Golfen von
Porto und Sagona. Stefanopulos überzeugte fic) von der
günſtigen Befdaffenbeit des Landes und hierauf fdloffen die
Mainoten mit dem genuefifdhen Senat einen Vertrag, wonach
Gregorovius, Corsica. 1. | 5
66
ibnen Paomia, Ruvida und Galogna als Golonieland ab-
getreten wurde, mit Zuſchuß de8 Nötigſten fiir den Wnfang,
mit Gewabr ihrer heimiſchen Religion und Gemeindeverfafjung,
wogegen fie Genua Treue ſchworen und fid) einem genuefifden
Regens, welder in die Colonie geſchickt werden follte,. unter:
zuordnen atten. Man ſah int März 1676 diefe Grieden,
730 an der Zabl, auf ihren Fabrjeugen in Genua Landen,
wo fie zwei Monate bliecben, dann von ibrer neuen Heimat
Beſitz nahmen. Genua hatte an diefen tapfern Männern eine
treue Schar gewonnen, gleidfam einen Webrpoften in Feinded-
land. Und nimmer fonnten die Grieden mit den Corsen ge⸗
meine Gace maden. Dieſe betrachteten die Frembdlinge, neue
Phokier, mit Verwunderung. Vielleicht veradhteten fie Manner,
welde ibr Vaterland: nicht liebten, weil fie e3 verlaffen batten;
ficher empirte fie ber Gedanfe, dab man diefe Cindringlinge
ohne Weiteres in ibr Gigentum gefept hatte. Den armen
Grieden follte e3 in ihrer neuen Heimat nimmer wol werden.
— — — — ——
Zweites Kapitel.
Gin halbes Jahrhundert hindurch [ag die Inſel in Gr:
{hdpfung, wabrend der Hab gegen Genua fic) von dem all:
gemeinen und befondern Elende nabrte und endlid) alles andere
Empfinden verfdlang. Diefes Bolt lebte von feinem Hab;
er allein ließ es nicht untergebn.
Bieles war unterdeß gufammengefommen, um die Empörung
sum Wusbrud zu treiben. Den Cinfidhtigen, den Zwölfmännern,
- welche in ber Form nod fortbeſtanden, dünkte der Mtipbraud
mit bem Verkauf per Gewebrpatente vor allem die Quelle der
innern Uebel gu fein. Ynnerhalb dreipig Jahren waren, wie
gefagt tft, 28000 Meucelmorde verübt worden. Die Zwölf
67
wandten ſich mit dringenden Vorftellungen an den Genat der
Republif und verlangten die Aufhebung jener Patente. Der
Senat gab nad. Gr verbot Waffen zu verfaufen und itber-
trug Commiſſarien, die Inſel zu entwaffnen. Weil aber mit
vem Verkauf der Patente eine jabrlide Cinnabme fir den
Fiscus verloren ging, wurde eine Auflage von zwölf Soldi
auf jede Qeuerftelle bed Landes gelegt. Das Volk jzablte
mutrend; und nidjtsdeftoweniger dauerte der Verkauf der Paz
tente beimlid) wie öffentlich fort.
Gine andere Ginridtung reigte den Groll ber Corsen im
Sabre 1724, Damals teilte man bas Land in zwei Halften,
indem man den Leutnant von Ajaccio ebenfallZ zum Gover:
nator machte. Beide Vice-Könige Hatten die unverantwort-
lide Macht ohne ProceB zu den Galeren wie zum Tode zu
verurteilen, aus informirtem Gewijfen (ex informata cons-
cientia).
Unterdep lieB aud) der befondere Anlaß zum Ausbrud der
Empörung nidt auf fic) warten. Jn einem Stadtdhen Ligu-
riens war ein Goldat, ein Gorge, ſchimpflich beftraft worden.
Gin QHaufe höhnenden Volf3 umftand den Mtann, welder auf
einem hölzernen Pferde gur Schau fap. Deſſen Waffengefabrten
fielen fiber die Spötter her und tddteten einige. Die Behörde
ließ fie hinrichten. Die Nadridt. von diefem Vorfall fegte den
Nationalftol; ber Corgsen in Bewegung. Als nun aud der
Zag erſchien, an dem jene Whgabe eingenommen werden follte,
fiel ber Funke ind Pulver.
Der Leutnant von Corte war mit feinem GCinnebmer in
vie Pieve Bozio gegangen, das Volt befand fic) auf dem
Gelde. Nur ein armer Greis erwartete den Beamten und gab .
ibm feine Tare. G3 war ein Geldſtück darunter, weldem der
Wert eines halben Soldo feblte. Der Leutnant weigerte die
Annabme. Der Greis bat vergebens auf feine bittere Wrmut
Rückſicht zu nehmen. Buriidgewiefen und mit Crecution be-
68
droht, wenn er nidt folgenden Tags. die feblenden zwei Pfen-
nige einbradjte, ging der alte Dtann von dannen, folde Harte
in fich erwägend und vor fid bin beſprechend. Ihm begeg⸗
neten Andere, blieben ſtehn, hörten, ſammelten ſich am Wege.
Der Alte hob an zu klagen, dann von ſich zum Lande fort⸗
gehend riß er ſeine Zuhdrer zur Wut hin, mit Beredſamkeit
ihnen die Not des Volks und die Tyrannei der Genueſen vor⸗
ſtellend und am Schluſſe ausrufend: Jetzt iſt es Zeit mit un⸗
ſern Unterdrückern ein Ende zu machen. Alſobald zerſtreute
ſich der Haufe, das Wort des Alten lief durch das Land und
erweckte allenthalben das alte Rachegeſchrei: libertà, popolo.
Man hörte von Ort zu Ort das Muſchelhorn blaſen und die
Lärmglocke läuten. Das geſchah im October 1729.
Auf die Kunde von der Bewegung des Volks in Bozio
ſandte der Governator Felix Pinelli hundert Mann dort hin.
Sie übernachteten in Poggio be Tavagna. Einer der Gin:
wobner, Pompiliani fabte den Plan, fie gu entwaffnen. Man
führte ibn aus und ließ die Webrlofen nad Baſtia zurid:
geben. Sofort war Pompeliani erflartes Haupt der Empörer.
Diefe bewaffneten fid) mit Werten und Winzermeffern, ftiirgten
fidh auf das Fort in AWleria, erſtürmten daffelbe, hieben die
Befagung nieder, nabmen Waffen und Ptunition und jogen -
gegen Baftia. Mehr als 5000 Menſchen lagerten fic) vor
biefer Stadt, in deren Feftung fic) Pinelli einſchloß. Wm
Beit gu gewinnen fdidte er den Bifdof von Mariana in das
Lager der Aufſtändiſchen, giitlid) mit ihnen zu unterbandeln.
Sie forderten Abſtellung aller Befdwerden des. corsifden Volks,
Der Biſchof aber bewog fie einen Waffenftillftand von viers
undzwanzig Tagen angunebmen, in die Berge zurückzukehren
und abzuwarten, bid ver Senat Genua’s auf ihre Forderungen
werbe geantwortet haben. Diefe Frift benugte Pinelli, Ber-
ftarfungen an fich gu ziehn, umliegende Burgen yu _befeftigen
und Zwietracht auszuſtreuen. Da ſich nun das Boll hin:
69
gebalten und getãuſcht ſah, ſtieg es zu zehn Tauſenden an⸗
gewachſen wieder die Berge herab und lagerte vor Baſtia.
Der Aufſtand war nicht mehr zu hemmen, vergebens ſchickte
Genua Unterhändler ab. ,
Gine Volf8verfammlung war in Furiani gebalten worden.
Pompiliani, in erjter Not gum Führer erwählt, hatte fid
untüchtig gezeigt, er wurde befeitigt und an feine Stelle ſetzte
man zwei gewiegte Manner Andrea Colonna GCeccaldi aus
Vescovato und Don Luis Giafferi von Talajani, und erflarte
beibe zu Generalen des Volks. Von neuem wurde Baſtia an:
gegriffen, und wieder ging der Biſchof ins Lager des Volks,
e3 zu befdwidtigen. Man fdhlop Waffenſtillſtand auf vier
Monate. Beide Teile benugten ihn fic) zu ruſten; aud) Ranke
nad alter Art wurden von bem genuefifden Abgejandten
Camillo Doria gejdmiedet, aber ein Ptordanfdlag auf Gec-
caldi's Leben ſchlug fehl. Diefer hatte mit Giaffert bas Innere
des Landes durdyogen, die Familientriege gefdlicdtet, das
Recht wieder hergeftellt, dann im Februar 1731 eine Ver⸗
jammlung in Corte erdffnet. C3 wurden hier Gefege erlafjen,
Anordnungen zur allgemeinen Erhebung getroffen, Milizen
und Obtigfeiten eingeridtet. Mit feierlidem Schwur verband
man fid), nimmermebr das Yod) Genua’s zu tragen. Es war
das ganje Golf von dieffeits wie von jenfeits ver Berge,
welches in einem eingigen Gefühl fid erbob. Auch die Stimme
der Religion wurde befragt. Die Geiftlidhfeit ver Ynfel trat
in Orezza zuſammen, und fabte einmiltig den Schluß, dap
wenn die Republif nas Recht mweigere, der Krieg Notwebr fei
und bas Volk ledig feines Untertanencides.
70
Drittes Kapitel.
Man hatte den Canonicus Orticoni nach dem Feſtlande
gefendet, den Schutz der fremden Mächte anzugehen, Giafferi
nad) Toscana, Waffen zu holen, welche fehlten. Indeß war
| der Stillſtand abgelaufen. Genua, das in nichts willigte,
forderte unbebdingte Unterwerfung und Wuslieferung der beiden
Häupter. Wie nun der RKrieq auf allen Puntten fic ent:
. zündete, bie Corsen aber, nachdem fie mebre fefte Orte hin:
y weggenommen batten, Baftia, Wjaccio und Calvi enge um-
ſchloſſen bielten, erfannte die Republif die große Gefabr und
wanbdte fid) an den Raijer Carl den Sed3ten um Hiilfe.
Der Kaijer bewilligte 8000 Mann deutſcher Truppen, in:
dem er wie ein Raufberr mit Raufberren einen Contract ſchloß.
ee G3 begann vamals die Beit, wo deutſche Fürſten bas Blut
F ihrer Landeskinder um Geld verkauften. Aber es war auch
die Beit, in welcher die Völker erwachten. Cin neuer Geiſt
ging durch die Welt. Das arme Volk ner Corsen hat den
bleibenden Ruhm, diefe Periode erdffnet zu haben.
F Der Kaifer verhandelte übrigens die 8000 Deutſchen unter
febr giinftigen Bedingungen. Die Republif verpflidtete fic,
fie zu unterbalten, monatlich 30000 Gulden zu gablen und
| fiir jeden Grfdlagenen oder Ueberläufer hundert Gulden zu
*:° erſetzen. Daher geſchah es, dab bie Corsen fo oft: fie einen
7 Deutſchen erſchlugen, ausriefen: Genua, hundert Gulden!
Die verkauften Söldner kamen am 10. Auguſt 1731 nach
ae Corsica, erft 4000 Mann, wenn die andere HAlfte hatte der
genuefifhe Senat guritdgelegt, in der Hoffnung audsgureiden.
Gie ftanden unter dem Befehl ded Generals Wadtendont.
Kaum ausgefdhifft, gwangen fie bie Coren, von der Belages
tung Baftia’s abzuſtehen.
Mit Bangigteit fahen diefe den Raifer felbft als ihren
a
en ———
71
Unterdrücker einfdreiten. Ihnen feblte bas Nötigſte. Bar:
Haupt und barfuß liefen fie in die Sdladht Wn wen follten
fie fid) wenden, ibrerfeits Hilfe gu finden? Sie fonnten auf
Niemand rednen, als auf ihre verbannten Landsleute. Yn
einer Volksverſammlung beſchloßen fie daher diefe hereingurufen,
wo fie immer auf dem Feftlande feien, und fie richteten an
fie folgende Wufforderung :
Landsleute! unfere Bemithungen um Abftellung unferer
rechtlichen Beſchwerden find frudtlos geblieben, wir haben’ uns
entſchloſſen unfere Freiheit hurd) die Waffen gu erringen. Es
gibt fein Schwanken mehr. Entweder fommen wir aus dem
Bujtand der Erniedrigung heraus, oder wir wiſſen zu fterben
und unfere Leiden wie unfere Retten im Blut zu ertränken.
Wenn fich fein Fiirft findet, welder von der Erzählung unfere3
Unglücks gerührt unfere Rlagen birt und uns gegen unfere
Unterdritder verteidigt, fo gibt e3 einen allmadtigen Gott,
und wir ftehn bewaffnet fiir die Rettung ded Baterlandes.
Gilt berbei, alle ihr Kinder Corsica's, welde der Zufall von
unferen Küſten entfernen mocte, neben euern Brüdern ju
fampfen, zu ſiegen ober zu fterben. apt euch durch nidt3
suriidbalten, nebmt die Waffen und fommt. Das Vaterland
ruft euch und bietet end) ein Grab und die Unjterblidfeit. —
Sie famen; von Toscana, von Rom, von Neapel, von
Marfeille. C3 verging fein Tag, an bem nicht der eine ober
Der anbere landete, und wer nicht fampfen fonnte, ſchickte was
er vermodte, Geld und Waffen. Einer diefer ins BVaterland
suriideilenden Corsen, Feliciano Leoni aus der Balagna, bisher
Capitan im Dienft Neapels, landete eines Tags bei San
Fiorenzo in demfelben Wugenblid, als fein alter Vater Gero-
nimo mit einem Trupp vorbeizog, ben Turm von Nonza an:
zugreifen. Weinend umarmten fid) Vater und Sohn. Dann
fagte ber Wte: mein Sohn, gut bab du gefommen bift, gebe
du an meiner Statt und wirf die Genuefen aus dem Turm.
72
Der Sohn fithrte den Trupp auf der Stelle weiter; der Vater
blieb und wartete auf den Ausgang. Leoni nahm Nonja,
aber den jungen Gieger ftredte eine Kugel nieder. Cin Bote
eilte bie Trauerfunde dem Vater zu bringen. Der alte Mann
fab ihn beranfommen und fragte ibn, wie die Gaden ſtünden.
Traurig, vief der Bote, denn dein Sohn ijt gefallen. —
Nonza ift genommen? — G3 ift genommen. — Mun denn,
rief der Greis, e3 lebe das BVaterland! —
Unterdeß verwüſtete Camillo Doria die Ynfel, der General
Wachtendonk aber 30g in das Ynnere, die Proving Balagna
qu unterdriiden. Hier jedoch umpingelten ihn die Corsen bet
S. Pellegrino, nachdem fie ihm viel Volk erfdlagen batten.
Der faiferliche General fonnte nidt rückwärts nidt vorwärts
und war verloren. Gtimmen wurden laut, dieſe Fremden
alle niedergubauen. Aber der weife Giafferi wollte den Zorn
des Kaifers nicht auf fein arme3 Baterland heraufbefdwiren
und entließ Wadtendon mit feinem Heer ungekränkt nad
Baftia, indem er nur died ausbedang, dab ber General die
Beſchwerden der Corsen bet Carl dem Sechsten vermittele.
Wadtendont verſprach e8; er ftaunte über Die Großmut diefer
Menfchen, welche er als eine wilde Horde von Rebellen yu —
bandigen gefommen war. Pan hatte einen Waffenftillftand
von zwei Monaten gefdloffen. Die Vefdwerden der Corser
wurden nad Wien gefdidt, ehe aber bie Antwort eintraf,
war ber Waffenjtilljtand abgelaufen und der Krieg begann
aufs Neue.
Die gweite Halfte der Eaiferliden Hilfsfdar, neue 4000
Mann famen herüber; mebrmals fiegten vie Corsen und zu⸗
mal am 2. Februar 1732 vernidteten fie die Deutiden unter
Doria und de Vins in der blutigen Schlacht bei Calengana.
GHierauf bat die Republif ben Kaiſer zum drittenmal um 4000
Mann Truppen. Die Welt aber begann lebhafte Sympathie
fir das kühne Volk zu offenbaren, welches in der bitterften
73 .
Verlaffenbeit eingig aus fetner Vaterlandsliebe die Mittel nahm,
zwei fo furdtbaren Feinden glorreid) gu widerfteben.
Das neue faiferlide Heer führte Ludwig Pring von Wür⸗
temberg, ein berithmter Feldberr. Sofort verfitndete er Am:
neftie unter der Bedingung, dab das Bolt die Waffen nieder:
lege und fic Genua untertwerfe. Wber auf dieſe Bedingung
wollten die Coren nidt unterhandeln. Daber ritdten Wür⸗
temberg, der Pring von Culmbad, die Generale Wachtendonk,
Sdmettau und Waldjtein nad einem gemeinfamen Plan in
das Land, wabrend die Corsen fic) in die Berge zogen, den
Feind durd den Guerillatrieg aufgureiben. Plötzlich famen
die Antworten des kaiſerlichen Hofed auf bie Befdwerden de3
corsifden Volks, und Befeble an den Pringen von Würtem⸗
berg möglichſt gütlich mit ihm ſich gu vergleiden, weil man
etfenne, bab e3 in feinen Rechten gefrantt fei.
Am 11. Mat 1732 wurde hierauf gu Corte Friede ges
ſchloſſen, unter folgenden Bedingungen: allgemeine Wmneftie ;
PVerzicht auf jede Entſchaäͤdigung der Krieg3foften; Erlaß aller
ſchuldigen Steuern; Zulaſſung der Corsen zu allen weltliden
und geiftliden Wemtern; bas Recht Schulen yu griinden und
die Lehrfreiheit; Wiederbherftellung ver Zwölfmänner und der
Seh3minner mit allen Privilegien eine3 Oratore; das Redt
ber Verteidigung fiir Angeklagte; Crridtung einer Behörde,
welde die Vergehen aller öffentlichen Beamten darzulegen habe.
Diefer fir vie Cor8en günſtige Vertrag follte die perſön⸗
lide Gewaͤhr des Raifers erhalten. Demnad verlieBen die
meiften deutſchen Truppen die Ynfel, nadbem ibrer mehr als
3000 ihr Grab auf Corsica gefunden batten. Nur Wachten⸗
pont blieb nod zurück, den Vollzug bes Vertrages yu ver:
wirklichen.
74
Biertes Kapitel.
Che die kaiſerliche Beſtaäͤtigung eintraf, ließ fic) der genue⸗
ſiſche Genat zu einer widerredtliden Handlung fortreipen,
welde dad corsiſche Voll aufs neue empiren mute. Geccalbdi,
Giafferi, der Abbé AWitelli und Raffaelli, die Haupter der
Corsen,. welde dad FriedenSdocument im Namen ihrer Nation
unterzeichnet batten, wurden plötzlich feftgenommen und unter
bem Vorwand hodverraterifdher Abſichten nad) Genua gefdleppt.
Gin Schrei der Empörung erhob fid) auf der Ynfel; man eilte
su Wachtendonk und machte feine Chre fiir diefe Gewaltthat
verantwortlid), man fdrieb an ben Pringen von Wiirtemberg,
an den Raifer felbft umd forderte den vertragsmapigen Schutz.
DieS hatte die Folge, daß der Raifer den Friedensvertrag
vollzog und die Eingekerkerten in Freiheit gefept wurden, aber
der Senat fudjte ibnen die Verpflidtung absundtigen niemals
mebr in ihr Qaterland zurückzukehren. Ceccaldi begab ſſich
nad Spanien, wo er Dienfte nabm; Raffaelli nad Rom;
Aitelli und Giaffert gingen nad Livorno in der Nähe ihres
Baterlandes die Zuſtände ju beobachten, welche nicht auf die
Dauer baltbar waren.
Am 15. Juni 1733 hatte aud Badtendont mit ben letten
Deutſchen die Inſel verlaſſen, welche nun im Beſitz der recht⸗
mäßig vollzogenen Friedensurkunde ſich Genua wieder gegen⸗
über fand. Die beiden Todfeinde ſahen ſich kaum ins Geſicht,
als ſie zu den Waffen griffen. Nichts anders mehr als Kampf
auf Leben und Tod war zwiſchen Corsen und Genueſen mög⸗
lich. In fo langen Jahrhunderten war der Hag Natur ge—⸗
worden. Der Genueſe kam racheathmend und ränkevoll: der
Corse unverſöhnt, mißtrauiſch, ſtolz auf ſeine erprobte Kraft
und im Bewußtſein ſeiner Selbſtändigkeit. Gin paar Ver—
haftungen und Mordanſchläge, und das Volk ſtand auf und
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. fammelte ſich in Roſtino um Spacint Paoli einen entſchloßnen
und tapfern Biirger aus Morofaglia. Gr war ein Mann von
bedeutenden Gaben, Redner, Dichter und Staatsmann; denn
in ber Schule des Ungliids und der Rampfe waren dem roben
Corsenvolf Manner gereift, welche Europa in Erftaunen fepen
follten. G8 ernannte Hyacint und Caftineta gu Generalen.
Nidt fobald war ver Kampf mit Genua wieder auf:
genomimen tworden, als Giafferi in Corsica landete. Jn
Gorte, twelde3 man erftiirmt batte, wurde die erfte Volks⸗
verfammlung gebalten. Hier erflarte man einftimmig Genua
pen Krieg, und man faßte den Beſchluß fid) unter den Schutz
des Königs von Spanien yu ftellen, deſſen Banner man in
Corte aufpflangte. Orticoni wurbe an den Hof yu Madrid
gefandt, ibm bdiefen Wunſch des Bolted vorgutragen.
Don Luis Giafferi war auf neue gum General der Corsen
ernannt worden, und biefem gefdidten Heerführer war 3
wabrend des Jahres 1734 gelungen, den Genuefen alles Land
bis auf die feften Seeplätze gu entreißen. Darauf hatte er
im Januar 1735 eine Generalverfammlung in Corte vereinigt.
Hier forderte und erbielt er Hyacint Paoli zu ſeinem Collegen.
Die denkwiirdige Verfammlung aber fpradh die ewige Tren-
nung Corsica’s von Genua aus und verlindigte als Grund:
lagen der Landesverfaffung: Selbftregierung des Volks; eine
Junta von Sechsmännern, von jener ernannt und alle drei
Monate erneuert; ein Rat von Viermannern, beauftragt mit
ner Rechtspflege, mit den Finangen und dem Handel. Als
alleinige Quelle ver Geſetze wurde das Boll erklaͤrt. Cin Geſetz⸗
bud follte von der oberften Junta verfabt werden.
Dies waren die Grundzüge der Verfaffung, welche Seba:
ftiano Coſta entwarf, und die fic) im Jahr 1735, mitten in
ver Barbarei damaliger europäiſcher Staaten, ein Volt gab
pon dem dad Geriicht dann und wann die duntle Kunde auf
pas Feftland Curopa’s bradte, daß es fdredlich wild und
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barbarifd fei. Hier zeigt fic), dab die Erzieherin zur Freibeit -
nidt immer die Wiffenfdaft ift, nod ber Reichtum und der
Glanz der politifden Greigniffe, öfter vielletht die Armut,
das Unglid und die Liebe gum Baterland. Gin kleines Volt
ohne Literatur und ohne Snduftrie hatte an politiſcher Weisheit
alle Culturvilfer Curopa’s durd eigene Kraft überflügelt; ſeine
Staatseinridtung war nidt auf dem Boden der philofophifden
Syfteme, fondern auf dem der Bedürfniſſe erwachſen.
Giaffert, Ceccaldi und Paoli waren alle drei an die Spige
ber Nation geftellt worden. Unterdeß war aud) Orticoni von
fetner fpanifden Sendung zurückgekehrt und batte die Untwort
gebradt, dap der katholiſche Konig es ablebne, Corsica in
feinen Gchug gu nehmen, dap er aber erflare, Genua nie mit
Aruppen unterftiigen gu wollen. Weil nun die Corgen auf
feine andere fiirftlicde Hilfe zu redjnen batten, thaten fie in
ibrer Verlaffenbeit was italienifche Republiten im Mittelalter
bigweilen gethan haben: fie ftellten fid) durch Volksbeſchluß
unter ben Schutß der beiligen Qungfrau, deren Bild in die
Fahnen bes Landes aufgenommen wurde, und fie erwablten
Yefus Chriftus gu ihrem Bannertrager.
Indeß bot Genua, weldem ber Raifer wegen feiner Ver⸗
widlungen in ‘die polnifden Wngelegenbheiten feine Hilfe leiften
fonnte, feine duperfte Rraft auf. Nach einander fandte die
Republif Felix Pinelli, den ebemaligen graufamen Landpfleger,
und ibren tapferften General Baul Battijta Rivarola mit allen
Truppen, welche aufgebradt werden fonnten. Und allerdings
war bie Lage der Corsen vergweifelt. Denn es feblte ihnen
an allem Nötigen, weil: das Land gänzlich erfddpft war und
bie genuefifden Kreuzer alle Zufuhr hinderten. Go groß war
ibre Bedrängniß, bap fie bereits einen FriedenSantrag madten,
welchen Genua jedoch verwarf. Die ganze Ynfel war belagert,
jeder Verkehr ftodte, Waffen, namentlid) Geſchütze feblten.
Als die Not aufs Hddfte geftiegen war, ereiqnete es fid) eines
—
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Tags, daß zwei fremde Schiffe im Golf von Iſola Roſſa vor
Anker gingen und eine große Zahl von Lebensmitteln und
Kriegsbedarf ausluden, Geſchenke für die Corsen von un⸗
bekannten Gebern. Die Capitäne der Schiffe verſchmähten
jede Entſchädigung, ſie baten nur um corsiſchen Wein, um
ihn auf das Wol der tapfern Nation zu trinken. Dann
gingen ſie unter den lauten Segenswünſchen des Volks wie⸗
der in See. Dieſes kleine Zeichen fremder Teilnahme ver⸗
ſetzte die Corsen in Trunkenheit. In allen Dörfern läutete
man die Glocken. Man ſagte ſich, dap bie göttliche Vor⸗
ſehung dem armen Land ihre Rettungsengel ſende, man
hoffte nun, daß irgend eine fremde Macht ihm ihren Schutz
werde angedeihen laſſen. Der Eindruck dieſes Ereigniſſes war
fo groß, dab Genua fürchtete, was die Corsen hofften, und
augenbdlidlid um Frieden unterbandelte. Wher man lehnte
ibn ab.
Jene Schiffe batten gropberzige Englander ausgerüſtet,
Freunde der Freiheit und Bewunderer des corsiſchen Helden⸗
muts. Bald ſollte durch die Erhebung Nordamerika's ihr
Patriotismus mit ihrem Edelſinn in Kampf geraten. Die
englanbifde Gabe verhalf den Corsen zur Erſtürmung Aleria's,
wo ſie vier Kanonen erbeuteten. Sie griffen nun Calvi und
Baſtia an. Aber ihre Lage wurde mit jedem Augenblick ver⸗
zweifelter. Man hatte alle Mittel ausgegeben und keine fremde
Macht trat ein. In jenen Tagen bemächtigte ſich der Corsen
eine tief religidfe Stimmung. Sie glichen ben Juden unter
den Makkabäern, als fie auf einen Meſſias hofften.
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Fünftes Rapitel.
Da fteuerte am 12. Marz 1736 in der Morgenfriihe ein
Schiff mit brittifder Flagge nad der Küſte Aleria's. Das
herzuſtrömende Volk begrüßte daffelbe mit Jauchzen, weil es
vermutete, es ſei mit Munition beladen. Das Fahrzeug warf
Anker aus, und bald darauf ſah man die angeſehenſten
Manner der Inſel ſich an Bord begeben und einem rätſel⸗
haften Frembden aufwarten, der fid) auf dem Schiff befand.
Diefer Mann war von feierlicem Wefen und theatralijd
gefleivet.- Gr war angethan mit einem langen Kaftan von
ſcharlachroter Seide, mit mauriſchen Bantalon3 und gelben
Schuhen; ein fpanifdher Hut mit einer Feder bededte fein
Haupt, im Giirtel von gelber Seide ftedten reid) ausgelegte
Piftolen; ein Schleppfabel hing an feiner Seite; in der rechten
Hand hielt er einen Scepterjtab. Dinter ihm ber ftieqen ans
Land in ebrfitrdtiger Haltung ſechszehn Herren feines Ge:
folge3, elf Dtaliener, zwei frangdfifde Officiere und dret
Mauren. So betrat diefer grope Unbefannte Corsica mit der
Miene eines Kinigd und mit dem Willen e3 zu fein.
Die Corsen umringten die gebeimnipvolle Perfon mit
Staunen. Man war itberzeugt, dab fie, wenn nidt ein
frember Pring, fo dod) der Wbgefandte eines wolwollenden
Monarchen fei. Wud) Iud dad Schiff alsbald vor den Augen
der Mtenge feinen Inhalt aus, 10 Kanonen, 4000 Flinten,
3000 Baar Schuh, 700 Gade Getreide, eine große Mtafje
Muniton, einige Fabdhen voll Zedinen und eine nidt geringe
Summe von Geldmünzen aus der Berberei. C3 fchien dab
bie Haupter der Ynfel um die Ankunft und die Perfon des
Fremden toupten. Man ſah Xaverius Matra ihn Mit der
Achtung begriipen, welche einem Könige gebithrt. Man führte
ibn im Triumf nach Cervione.
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Der jeltjame Ankömmling war ein Deutfder, der weft:
philifdhe Baron Theodor von Neuhoff, von allen Whenteurern
feiner Zeit wenn nicht der genialfte fo dod) der gliidlidjte. Cr
hatte in feiner Qugend am Hof der Herzgogin von Orleans als
Page gebdient, war dann in fpanifde Dienfte gegangen und
wieder nad Frankreich zurückgekehrt. Sein ungewöhnlicher Geiſt
hatte ihn mit allen bedeutenden Perſönlichkeiten der Zeit in
Berührung gebracht, mit Alberoni zumal, mit Ripperda und
Law, in deſſen Finanzſpeculationen er ſich vertieff hatte. Neu⸗
hoff hatte alles erlebt, alles geſehn, alles gedacht, verſucht,
genoſſen und gelitten. Seiner Natur gemäß hatte er alle
möglichen Geſtalten, in welchen das Glück erſcheinen kann,
durchlaufen und war bei der zufälligen Vorſtellung angelangt,
daß es für einen ehrgeizigen Mann wünſchenswert ſein müſſe,
König zu ſein. Und dies dachte er nicht in der Hirnverrückung
des Don Quijote, welcher in die Welt hineinreitend ſich vor⸗
ſtellte, daß der Lohn ſeiner künftigen Thaten zum mindeſten
das Kaiſertum Trebiſonde ſein werde; ſondern der Zufall
warf ibm den beſtimmten Gedanken an eine Königskrone in
feinen ganz Haren Verftand, und fo beſchloß er König zu fein,
auf natürlichem Wege e3 yu werden, und ex wurde es.
In Curopa umberftreifend war Neuhoff gerade in bem |
Augenbli€ nad Genua geflommen, al Giafferi, Ceccalbdi,
Aitelli und Raffaelli gefangen eingebradt wurden. C3 fdeint,
dap er bier gum erften Dtal auf die Corsen aufmerffam wurde,
deren Dapferteit er bewunderte; er Enilpfte Verbindungen mit
foldben an, welde in Genua waren, befonder3 mit Ptannern
aus der Proving VBalagna, und indem er Einſicht in die Bus
ftinde der Ynfel gewann, reifte in ibm der Gedante, in diefem
romantifden Land aufgutreten. Sofort ging er nach Livorno,
wo fid) ber mit den Wngelegenbeiten Corsica’s beauftragte
Orticoni befand. Gr fegte fid mit ihm in Berbindung und
feinem Genie gelang es, ihm Bertrauen in die gropartigen
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Verſprechungen einguflipen, welche er madte. Denn mit allen
Höfen vertraut, wie er fagte, verſprach er in Jahresfriſt alle
die Mtittel herbeizuſchaffen, welche ndtig feien, die Genuefen
fiir immer gu vertreiben. Gr verlangte al3 Belohnung nits
mebr als dies, dab die Corsen ihn gu ibrem Könige frinten.
Orticoni, bingeriffen von dem Geift des Mtanne3, won der
Unerſchöpflichkeit ſeiner Berednungen, von der Gewandtheit
feiner diplomatifdhen, ökonomiſchen und politifden Ideen, und
erfennend, dap Neuboff feinem Lande wirklide Dienfte zu leiften
vermige, wandte fid) anfragend an die Generale der Inſel.
Sie gaben ihm in ihrer vergweifelten Lage die Vollmadt,
mit Neuboff zu unterbandeln. Orticonit flop aljo mit dem
Baron den Rertrag, dab ihn die Corsen zu ihrem König ause
rufen follten, fobald er fie in den Stand fege, fic) von Genua
zu befreien. .
Wie nun Theodor diefer Ausſicht gewiß war, begann er
mit einer fo gropen Gnergie an ibrer Berwirllidung gu ar:
beiten, dap fie allein binreicht, von feinem Genie Zeugniß
gu geben. Gr fegte fid) mit bem englifden Conful in Livorno
und mit foldjen Raufleuten in Berbindung, weldhe mit der
Berberei Handel trieben, er verfchaffte fid) dahin Empfehlungs⸗
briefe, er ging nad Afrika, und nachdem er Hier, wie in
Guropa durd feine Agenten, Himmel und Erde in Bewegung
gebracht hatte, gelang es ibm fid in den Befip jener Hilfe:
mittel gu ſetzen, mit welden er dann pliglid) in Corsica landete.
Gr erfcien bier in der Beit der höchſten Mot. Indem er
pen Häuptern der Inſel die Kriegsvorräte übergab, erklärte
et, daß fie nur der kleinſte Theil von bem ſeien, wad nach⸗
folgen werde. Gr ftellte ihnen vor, dap feine Verbindungen
mit den Hifen Curopa’s, fdon jet madtig, mit nem Wugen-
blid eine andere Grundlage befommen müßten, wo die Gee
nuefen gefdlagen fein witrden und wo er ald ein Fürſt mit
Fürſten zu unterhandeln vermöchte. Cr begebrte die Krone.
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Hyacint Paoli, Giafferi und der gelehrte Coſta, Maͤnner
des ruhigſten Verſtandes, von dem Wirklichſten erfüllt, was
handelnden Menſchen je auferlegt werden kann, von der Wuf-
gabe iby Volk zu befreien, gingen trogbem auf dies Begebren
ein. Die Verpflidtung gegen den Mann und feine Dienfte,
bie den Volksgeiſt auffdwingende Neuheit des Creigniffes, die
Ausfidten auf weitere Hilfe, endlich die Vergweiflung for-
perten bas. Theodor bezog feine befdeidene Wohnung i:
dem biſchöflichen Haufe zu Cervione, und am 15. April vere
fammelte fid) bad Bolf im Convent Wlefani; um fiber die
Ginfegung bes Rinigtums Beſchluß yu faffen. De zwei Ver-
treter der Communen des Landes, Whgeordnete der Geiftlicdfeit
und der Klöſter amen zuſammen; mebr al8 2000 Menſchen
aus dem Volk umlagerten den Ort. Man legte dem Parla:
ment folgende Conjtitution vor: Die Krone des Kinigreidhs
-Corsica wird der Familie des Baron Theodor von Neuhoff
erblid) fibertragen; ber Rinig bat neben fid) einen Rat von
_ 24 vom Bolf gemablten Mannern, ohne deren und de3 Par:
lament3 Zuftimmung er feinen Cntfdlup faffen, nod irgend
welde Wuflage erbeben darf. Wile Aemter gebithren den
Gorden; die Gefeggebung bleibt beim Volk und feiner Ber:
tretung.
Diefe Urtitel las der Doctor Gaffori dem verjammelten Volt
por, welded fie annabm; dann unterjeidjnete fie der Baron
und fdwor auf dad beilige Evangelium der Verfafjung treu
su bleiben. Rach diefem Akt wurde er in die Kirche gefihrt,
wo nad einem feierliden Hochamt die Generale ihm eine Rrone
auf bas Haupt fepten. Die Corsen waren arm; fie batten
. feine Rrone von Gold; fie flodten eine von Lorbeer- und von
Eichenzweigen und fepten fie auf dad Haupt ihres erften und
legten Königs. So wurde Theodor von Neuhoff, welder ſich
bereits Grande von Spanien, Lord von Grofbritannien, Pair
von Frankreich, Graf des heiligen Reichs, Fürſt ded rdmifden
Gregorovius, Corsica. I. 6
82
Reichs nannte, Kinig der Corsen, ſeines Namens Theodor
- ber Grite.
Grflart fic) dieſes feltfame Ereigniß, wie aus fritheren Gr:
ſcheinungen der corsifden Geſchichte, fo aus der damaligen
Rage ver Corsen, fo bleibt es dod) immer ſtaunenswürdig.
Denn fo groß war bie Liebe zur Freibeit bei diefem Volk, daß
e3 um jene yu erringen und bad Vaterland zu retten, einen
fremden Abenteurer gu feinem Konig madte, weil er ibm Goffe
nungen auf die Freibeit gab, und daß feine tapferen Generale,
bie Häupter des Landes, obne Bigers und Reid ihrer Gewalt
ſich ruhig entkleideten.
Sechstes Kapitel.
Sim Befig des koniglichen Titels wollte Theodor auch einen
königlichen Hof um ſich ſehen, und war deshalb nicht ſparſam
mit Austeilung von Würden. Er ernannte Don Luis Giafferi
und Hyacint Paoli zu feinen erften Mtiniftern und verlieh ibnen
pen Grafentitel. Xaverius Matra wurde Marquis und Groß—⸗
marfdall des Palafts, Giacomo Caftagnetta Graf und Com:
mandant von Roftino, Arrighi Graf und Generalinfpector der
königlichen Truppen. Roch andere ernannte Theodor yu Baro-
nen, Marfgrafen, Generallieutenant3, königlichen Gardecapi⸗
tinen und fete fie 3 Commanbdanten verfdiedener Landesteile
ein. Der Wdvocat Cofta, nunmehr Graf Cofta, wurde Grof-
fangler de3 Reichs, und der Doctor Gaffori, nunmehr Marz
quis Gaffori, Gecretir des Cabinet3 feiner Majeſtät des con:
ftitutionellen Königs.
So lachenswert alle diefe pompbhaften Gintidtungen auf
bem Grunde des corsifden Clends auc) erfdeinen muften, fo .
-nabm der König Theodor e3 dod ernft mit feiner Wufgabe.
In furger Beit hatte er die Rube im Lande wiederbhergeftellt,
_ 83
die Familientriege gefdhlidtet, ein wolgeordnetes und in Com:
panieen geteilte3 Heer aufgebradt, mit weldem er dann gleid
im April 1736 Porto Vechio und Sartene den Feinden ent:
tip. Der Senat Genua’s batte das Ratfelhafte, was vor
feinen Augen gefdah, erft voll Furcht angeftaunt, e3 midten
Abfidten einer fremben Macht dabhinter verborgen-fein; al3 fid
aber der Baron Theodor enthitllte, war man eilig ibn durd
Pampbhlete lacherlid zu machen und ald einen tiefverfduldeten
Glücksritter gu brandmarten. Der Kénig Theodorus antwortete
auf diefe genuefifden Manifefte mit deutſcher Grobbeit. Gr
40g dann in Perfon gegen Baftia, tampfte heldenmütig vor
ben Mauern der Stadt, und da er fie nidt nehmen fonnte,
ſchloß er fie ein, ftreifte gu gleichher Beit in bas Innere der
Inſel, vernidtete feindlide Heerbaufen und ftrafte abgefallene
Orte mit Strenge. Die Genuefen waren bald auf ibre feften
Plage am Meer beſchränkt. In ihrer Verlegenbeit hatten fie
damals gu einem abjdeuliden Mittel gegriffen, um ſich gu
verſtaͤrlen. Sie batten Banditen und Galerenfclaven yu einer
Bande vereinigt, deren -Zabl auf 1500 Mann fid belief, und
viefen Auswurf ver Gefellfdaft bewaffnet und gegen Corsica
losgelaffen. Diefe Scharen veritbten gabllofe Griuel. Man
nannte fie BVittoli mad dem Meudelmirder Sampiero's, oder
Oriundi.
Indeß war König Theodor nicht müde geworden, fiir die
Hebung des Landes Sorge zu tragen. Er hatte Waffenfabriken,
Salinen, Zeugwirkereien angelegt, die Induſtrie zu beleben,
durch Handelsvorteile Fremde herbeizulocken, durch Ausrüſtung
von Kaperſchiffen den genueſiſchen Kreuzern die Wage zu halten
geſucht. Das corsiſche Nationalbanner war grin und gelb
und enthielt den Spruch: In te Domine speravi. Theodor
hatte endlich aud) Geld ſchlagen laſſen, Gold⸗, Silber⸗ und
RKupfermiingen. Diefe Münzen zeigten auf dem Avers ein lor⸗
beerbefrangte3 Schild, daritber eine Krone mit den Cbiffern
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T. R., auf dem Revers: pro bono et libertate. Man be⸗
gablte fie auf bem Feftland aus Neugierde um den dreißig⸗
facen Wert. Wber alle diefe Dinge halfen wenig, die Mot
ftieg, die verfprodene Hiilfe fam nidt, das Voll murrte. Der
Konig kündigte ftet3 das Erſcheinen einer befreundeten Flotte
an, und fie blieb aus. Als nun die Stimmen des Landes
bedentlider wurden, verjammelte Theodor am 2 September
bas Parlament in Cafacconi; bier erflarte er, dap er die Krone
niederlegen werde, wenn bid gum Ende de3 October die anges
kündigte Hülfe nicht erſchienen fei, oder bab er dann felber
auf das Feltland geben werde fie yu befdleunigen. Gr war
in derſelben verziveifelten Lage, wie der Gage nad Columbu3,
als bas angeltindigte Land nidt erfdeinen wollte.
Sobald vas Parlament, weldjes auf des Königs Vorſchlag
eine Vermigensfteuer genehmigt hatte, auseinander gegangen
war, ftieg Theodor zu Pferde, fein Reich auc) jenfeits der
Berge fennen yu lernen. Ym dortigen Lande, dem Hauptfig
ver alten Signoren Corica’s batten fich bie ariſtokratiſchen
Geliijte nod erhalten. Luca Ornano empfing den Monarden
mit ben angefebenften Herren jener Gegenden und fabrte ibn
int feſtlichen Geleit nad Gartene. Hier fam Theodor auf den
Gedanten einen neuen Mitterorden gu ftiften; der Ginfall war
zugleich praktiſch, wie wir überhaupt feben, daß ber deutſche
Baron und Corsenfdnig nicht minder klug fic zu benehmen
wupte, al andere Emportdmmlinge von grdperen Dimenfionen
ihrer Herrfdaft vor und nad ibm. Der neue Orden hieß:
von der Befreiung (della Liberazione). Der König war
fein Grofmeifter und. ernannte die Ritter. Man fagt, daß
der Orden in weniger als zwei Monaten mehr denn vierhun:
bert Mitglieder gahlte, und dap mebr als ein Viertel davon
Ausländer waren, welde um der Seltſamkeit ober um der
tapfern Corsen willen die Chre der Mitgliedſchaft nachſuchten.
Diefe war teuer; ‘enn im Statut war fejtgefept, dab jeder
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Ritter bei feinem Gintritt 1000 Scubdi zahlen folle, von welden
er zeitlebens eine Leibrente von zehn Prozent zu beziehen hatte.
Dies war der befte Bwed bes Ordens, nämlich eine Anleibe
Chrenhalber möglich yu machen. Yn Sartene verlieh der Kinig
auf den Wunſch ber Edeln de Landed jenfeits ver Berge mit
verſchwenderiſcher Hand Titel von Grafen, Baronen und Freie
herren, mit welden getrBftet die Nachkommen der Ornani, der
Sftria, der Rocca und Leca nad Haufe ginger.
Während er die Ynfel mit Cavalieren und Grafen erfillte,
al8 mare bad arme Corsica über Racht ein reides Kaiſertum
geworden, driidten ihn in ber Stille die bitterften Regenten-
forgen. Denn fid) die Wahrheit gu geftehn, fo war fein Koͤnig⸗
reid) dod) nur ein gemaltes, und mit Lufterfdeinungen atte
er fic) umgeben. Yene angeliindigte Flotte wollte fic) nimmer
geigen, weil aud) fie eine gemalte Flotte war. Diefe aber
verfegte den König im größere Beforgnip, als e3 eine wirt:
lide Flotte von hundert wol gerüſteten feindliden Schiffen
würde gethan haben. Gr fing an fid) mifbebaglid) gu fühlen.
Bereits gab es eine ungufriedene Partei im Lande, unter bem
Ramen der Indifferenten. Aitelli und Rafaellt hatten fie ges
bildet, Hyacint Paoli felbft war auf ihre Seite getreten. Schon
batten die finigliden Truppen mit den Yudifferenten einen
Zuſammenſtoß gebabt und waren gefdlagen worden. Das Reid)
Theodors ſchien zerplagen gu wollen wie eine Seifenblaje; Giaf:
fert allein beſchwor ben Sturm nod far eine Weile.
Unter folden Umftindenebielt der König es für wolgetban,
bem Unwetter aus dem Wege yu gebn und die Inſel gu vers
laſſen; nidt heimlich fondern als Fürſt, welder auf dad Feſt⸗
land eilt, in eigener Perfon die zögernde Hilfe berbeigubolen.
Gr berief einen Zag nad) Gartene, erflirte dab und warum
er abreifen wolle, orbnete die Reichsſsregentſchaft, ernannte Giaf-
feri, Hyacint und Luca Ornano ju feinen Verweſern, ſetzte
27 Freiherren und Grafen zu Statthaltern der Provinzen ein,
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erließ ein Mtanifeft und begab fic) von jabllofer Menge be-
gleitet am 11. Movember 1736 nad Aleria, wo er fid) unter
franzöſiſcher Flagge einfdiffte, mit fid) nehmend den Grafen
Coſta, feinen Groplangler und einige Officiere feines Haufes.
Gin genuefifder Kreuzer hatte ben König nod im Angefidt
ſeines Landes aufgeboben und nad Genua eingeliefert , tenn
ihn nidt die Flagge Frankreichs ſchützte. Yn Livorno landete
er in der Kleidung eines Whbé, um incognito gu bleiben, dann
retjte er nad Florenz, nad Rom, nad Neapel, und indem
er bier feinen Gropfangler und feine Officiere zurückließ, ſchiffte
er fic) nad Wmfterdam ein, von two, tie er fagte, feine Unter-
tanen bald gute Nachrichten von ibm Hiren follten.
- Siebentes Rapitel.
Die Cor8en glaubten nidt an die Rückkehr ihres Königs,
nod an die Hilfe, bie er gu fenden thnen verfproden batte.
Bon der Not gedringt, hatte das arme Bolt, trudten von
Freiheitsliebe, felbjt die Lächerlichkeit hingenommen, welde dem
Kbnigtum eines Abenteurers anhaftet, In feiner Vergweiflung
hatte e3 nad einem Strohhalme gegriffen; und twas bitte e3
nidt aus Hab gegen Genua und aus Freibeitsorang gethan?
Nunmebr fah man fic bem Ziel um nichts näher geriidt. Viele
seigten ihren Unwillen. In biefee Lage fuchten die Regenten
mit’ Rivarola Unterbandlungen angulniipfen, welde indeſſen
nidt zu Gtande famen, weil ber Genuefe unbedingte Unter:
werfung verlangte. Man berief das Voll, feine Meinung gu
hören. G3 bebarrte darauf, dab man dem Könige, weldem
man Treue geſchworen habe, treu bleiben und keinen andern
Herrn als ibn anerfennen milffe.
Theodor unterdep hatte einen Teil Curopa’s durdreift, neue
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Verbindungen angetnitpft, Geld aufgebradht, Ritter ernannt,
Polen und Deutfde geworben; und obwol ibn feine Glaubiger
qu Amfterdam in den Schuldturm gefegt, war e3 dem Genie
des tounderbaren Menfden dennod gegliidt, Hiilfsmittel zu—⸗
fammen gu bringen, welde er dann nad) Corsica abgeben lies.
Von Zeit zu Beit fam ejn Schiff mit Kriegsbedarf, und ein
Aufruf, welder die Corsen zur Standbaftigkeit ermunterte.
Dies und die Furcht, es möchte dem raftlos thatigen Manne
endlic) doc) gelingen eine Macht des Fejtlandes fiir fid gu
gewinnen, dngjtigte Genua, Der Genat hatte einen Preis
von sweitaufend Genuinen auf den Kopf des Corsenkönigs ge-
fegt unb bie Waenten der Republif verfolgten feine Schritte
bei allen Höfen. Gelber in Geldverlegenbeit nabm Genua von
ber Bank drei Mtillionen auf und mietete drei Regimenter
Schweizer. Der Eleine Krieg nahm feinen Fortgang und er wurde
mit duperjter Graufamfeit gefithrt, ba man fid) daran gewöhnt
hatte keinen Pardon mehr zu geben. Endlich entſchloß ſich
vie Republik die Hülfe Frankreichs anzurufen. Sie hatte bia:
her gezaudert eine fremde Macht anzugehen, weil ihr Schatz
erſchöpft war und frühere Erfahrungen ſie nicht ermunterten.
Das franzöſiſche Cabinet nahm die Gelegenheit bereitwillig
auf, wenigſtens zu verhindern, dap ein anderer Staat feinen
Einfluß auf eine Inſel geltend machte, deren Lage an den
Grenzen Frankreichs von ſo großer Wichtigkeit war. Deshalb
ſchloß der Cardinal Fleury am 12. Juli 1737 einen Vertrag
mit Genua, in Kraft deſſen Frankreich verſprach, ein Heer
nach Corsica zu ſchicken zu dem Zweck die „Rebellen“ der Re⸗
publik gu unterwerfen. Manifeſte gingen ab dieſen Entſchluß
dem corsiſchen Volke kund zu thun. Sie erregten große Be⸗
ſtürzung, um ſo mehr als eine Macht die Corsen bekriegen
wollte, welche in früheren Zeiten in weit anderen Verhaͤltniſſen
au ihnen geftanden hatte. Das corsiſche Volt antwortete mit
vet Grilarung, nimmermebr unter die Herrſchaft Genua’s zu⸗
—
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viidtebren gu wollen und mit einem verzweifelten Anruf an
das Mitleiden des franzöſiſchen Königs.
Fünf Regimenter Franzoſen landeten unter dem Befehl des
Grafen Boiſſieux in Corsica im Februar 1738. Der General
hatte gemeſſene Befehle, friedliche Unterhandlungen zu ver⸗
ſuchen, und Genua hoffte, dap fein bloßes Erſcheinen hinreichen
würde, die Corsen zu entwaffnen. Aber dieſe blieben feſt.
Das ganze Land erhob ſich beim Nahen der Franzoſen wie
ein Mann; Feuerzeichen auf den Bergen, die Muſchelhörner
in den Dörfern, die Glocken in den Klöſtern riefen zu. den
Waffen. Alles was ſie tragen konnte ſammelte ſich, ein jeder
Mann verſehen mit Brod auf acht Tage. Jedes Dorf bildete
ſeine Schar, jede Provinz ihr Lager. So ſtand man gerüſtet
und wastend. Boiffieur knüpfte Unterhandlungen an; fie dauer⸗
ten feds Monate lang, bis von Verjailles die Erklärung kam,
daß die Corsen fid) unbedingt Genua unterwerfen follten. Diefe
flebten nod einmal Ludwig den Fünfzehnten an, des Wnteils
gedent gu fein, welden feine erlaudjten Whnen an Corsica ge⸗
nommen batten, und fie erflirten, Lieber den letzten Bluts⸗
tropfen vergießen, al8 unter die mörderiſche Herrſchäft Genua’s
zurückkehren 3u wollen. Indeß gab man in der bittern Mot
bie verlangten Geißeln und erflirte ſich bereit, bem franzöſi⸗
ſchen König gu vertrauen und feines Entfdeide3 zu barren.
Auf diefem Puntt ftanden die Dinge, als eines Tags der
Baron Drofte, Neffe Theodor3, in Wleria landete, eine Menge
Munition und die Nadridt mit fic) bringend, daß der Konig
der Corsen mit nächſtem wiebdererfdeinen werde. Der rätſel⸗
hafte Mann landete wirklich in Wleria am 15. September,
trefflider unh fSniglicher ausgeritftet al er gum erften Mal
gefommen war. Drei Sdiffe brachte er mit ſich, dad eine
yon 64, das andere von 60, das dritte von 55 Ranonen,
auperdem Bombardierfdhaluppen und viele Transportfdiffe. Sie
waren beladen mit 27 Kanonen, mit 7000 Bajonetflinten,
Ny
89
1000 grofen Musteten, 2000 Piftolen, mit 24,000 Pfunden
groben, 100,000 Pfunden feinen Pulvers, 200,000 Pfunden
Blei, 400,000 Feuerfteinen, 50,000 Pfunden Gifen, 2000
Lanjen, 2000 Granaten und Bomben. Alle diefe Artikel hatte
perfelbe Mann aufgebradht, welchen feine Gliubiger in Amfters
bam in ben Schuldturm geworfen batten. Seiner Ueberres
dungsgabe war e3 gelungen, die Hollander fiir Corsica zu
gewinnen und ibnen eine Verbindung mit diefer Ynfel wünſchens⸗
wert gu maden. Cine Companie von Capitaliften, die reichen
Haäuſer Boom, Trondain und Reuville hatten fic) zuſammen⸗
getban und dem Corsentinig Sdiffe, Geld und Kriegsbedürf⸗
nifje bergeliehen. Go war Theodor unter holländiſcher Flagge
in feinem Königreich gelandet. Aber er fand die Angelegen:
heiten in einer Wendung, welde alle feine Hoffnungen nieder:
ſchlug; er mupte erfabren, bab er nur König war als Glücks⸗
ritter und dap er died nidt mehr fein fonnte, al3 er in könig⸗
licher Weife und mit Mitten fam, feinen Titel ju verwirls
lichen. Gr fand das Land widerftrebend und in voller Unter:
handlung mit Frankreidh. Dad Volk gwar führte ihn im Triumf
wieder nad) Cervione, wo man ibn einft gekrönt hatte, aber
bie Generale, feine eigenen Grafen, lieben ihn wiffen, dab
pie Umſtände fie zwängen, nidts mehr mit ihm gemetn ju
haben, fondern mit Frankreich) zu unterbandeln. Boifjieur
hatte gleih nad Theodors Landung einen Aufruf erlaffen,
welder jeden zum Hodverraiter erflarte, der dem geddteten
Baron Gehoͤr geben witrde; und fo fab fid der Konig vor
denen verleugnet, welche ev kurz vorber 3u Grafen, Markgrafen,
Paronen und Cavalieren erhoben hatte. Die Hollander, in
ihren Erwartungen getäuſcht und von frangdfifden und gene:
ſiſchen Schiffen bedrobt, entidloffen ſich turg und gingen voll
Unwillen unter Gegel nach Neapel. Theodor fab ſich deshalb
gezwungen gleidfalld hinwegzugehn, und voll Gram {diffte
er ſich nad dem Feftlande ein.
90
Ahtes Kapitel.
Jn den letzten Tagen bes October fam die Entfdeidung
von Berfailles, in Form eines dicts, weldes der Doge und
Senat Genua’s erlaffen und Frantreid) und der Raifer unter:
geidhnet batten, Es entbielt bet einigen Bugeftindniffen den
Befehl zur Unterwerfung. Fünfzehn Tage gab Boiffieur den
Corsen dazu Zeit. Sie verfammelten fic fofort in Orezza zur
Beratung und erflarten: ,, Wir werden den Mut nicht verlieren;
uns mit bent mannlicden Entſchluß gu fterben waffnend, wer:
ben wir e3 vorziehn mit Rubm, die Waffen in der Hand zu
enden, als elende müßige Zuſchauer der Leiden unſeres Vater⸗
landes zu ſein, und als in Ketten zu leben und die Sclaverei
auf unſre Nachkommen zu vererben. Wir denken und wir
ſagen mit den Makkabäern: melius est mori in bello,
quam videre mala gentis nostrae,“
Schon hatten die Feindfeligkeiten begonnen. Boiſſieux hatte
400 Mann nad Borgo gefdidt, die dortige Bevdlterung nod
por der gefepten rift gu entwaffnen. Chen tagte dad Bolt
in Orezza. Wuf die Nachricht von dem Einrücken der Franzoſen
in Borgo, erhob fic) der alte Ruf: libertà, popolo. Gie
ftiirgten nad Borgo, fielen auf die Fremblinge und fdlofjen
fie ein. Der. Commandant des Corps ſchickte Boten zu Boif:
fieur, welcher ſogleich mit 2000 Mann herbeizng, bie Bedrohten
gu retten. Aber bie Corsen zerſchlugen ihre Bataillone und
trieben fie vor fid) her in die Mauern Baftia’s, Hierauf fanbdte
Boiſſieur Depeſchen nad) Frantreih, Verſtärkung zu fordern,
und ſelber todkrank begehrte er ſeine Entlaſſung. Er, ein Neffe
des berühmten Villars, ſtarb in Baſtia am 2. Februar 1739.
Sein Nachfolger war der Marquis von Maillebois, welcher
mit beträchtlicher Macht im Frühjahr auf Corsica landete.
Maillebois ſtreng und gerecht, raſch und ſicher im Handeln,
91
— —
war ganz der Mann, ſeine Aufgabe durchzuführen. Nachdem
die Friſt abgelaufen war, welche er den Corsen geſetzt hatte,
ließ er ſeine Truppen in verſchiedenen Richtungen vorrücken.
Hyacint Paoli, in der Balagna angegriffen, wich zurück; mehr
Politiker als Kriegsmann verzweifelte er am Widerſtand und,
unterwarf ſich. Dies hatte zur Folge, daß auch Giafferi ein
Gleiches that. Maillebois empfing hierauf die Häupter der
Corsen in Moroſaglia und ſtellte ihnen vor, daß die Ruhe
des Landes ihre Auswanderung gebiete. Sie fügten ſich, und
ſo verließen im Sommer 1739 zweiundzwanzig angefehene
Manner ihe Vaterland. Unter ihnen befanden ſich Hyacint
Paoli mit ſeinem vierzehnjährigen Sohn Pasquale, Giafferi
mit ſeinem Sohn, Caſtineta und Pasqualini.
Das Land dieſſeits ver Berge war unterworfen; aber jen⸗
feit3 behaupteten fid) nod) zwei tapfere Reffen ded Königs Theos
por, der Baron von Drofte und Friedrid) von Neuhoff, welde
befonder3 an den Mannern Bicavo’3 einen Anhalt fanbden.
Nad mutigem Kampf und nadhdem Friedrich) eine Beit in den
Bergen und Bufdwaldern als Guerilla umbergeirrt war, ers
bielten fie ehrenvolle Paͤſſe ins Ausland.
Maillebois, jest die Bnfel tegierend, hemmte den genue-
fifden Bicetdnig in feinen Whfidten, und hielt mit Kraft Ord-
nung und Gerechtigheit aufrecht. Alle diejenigen Corsen, welche
pie Rache Genua’s fiirdhteten und Luft batten unter frangd-
fifcher Fahne zu dienen, vereinigte er gu einem Regiment, bas
den Namen Rovyal-Corse erbielt. Dann riefen ibn die Creig:
niffe auf dem Feftland nad) Frankreich zurück. Gr verließ
Corsica im Jahr' 1741, und bald folgte ihm auch der Reft
ber frangififden Truppen nad.
Raum batten diefe vie Ynfel geraumt, als der Genuejen:
haf wieder in lichten Flammen aufſchlug. Gr war ein Erbteil
ver Geſchichte des Landes, eine nationale Eigenſchaft geworbden.
"Der Regent Domenico Spinola madte den Verſuch die alte
92
Auflage der due seini eingutreiben. Augenblids Aufftand des
Volks, Kampf und Niederlage ver Genuefen. Der Heine Krieg
breitete fic) iiber das Land aus.
Da erſchien plbglid) im Sanuar 1743 der verfdollene Konig
Sheodor wieder. Gr landete mit drei englifden Kriegsſchiffen
in Isola Roffa, wie ehedem wol verfehen mit betradtlident
Krieg8material. Gr war nad England gegangen und feinem
Gifer gelang bier nocd) einmal, was ibm in Amfterdam gegliidt
war. Jetzt anferte er an der corsiſchen Kifte, teilte Waffen
aus und ſchickte Wufrufe ins Land, welde in der Sprade
eines gefrantten und gornigen Rinig3 die Verrater ftraften und
die Treuen aufforberten fid) um feine Perfon zu fdharen. Das
Bolt ſchwieg; was er hirte überzeugte den beſtürzten Herrfder,
bap ber Traum feined Reichs fir immer jerronnen fei. Mit
fummervollem Herzen ließ er die Antler lichten und fegelte da-
pon, fein Ynfelfdnigreid nie mebr wieder gu ſehn. Gr jog
fic) nad England zurück.
Corsen und Genuefen waren unterdef gu einem neuen Bers
trage geneigt. Man fdlop ibn auf Bedingungen, welde dem
Lanbe fonft fdon begebrte dod) immer wieder verlegte Rechte
suriidgaben. Hierauf ſchien fic) die Rube in zwei Friedens⸗
jabren gu befeftigen, wenn gleich bie Inſel durch die Blutrade
zerriſſen wurde. Um diefe Uebel abzuftellen ernannte das Boll
Gaffori, Venturini und Wlerius Matra .3u PBrotectoren ded
Vaterlandes, und diefe Triumvirn erfdienen fir jest als dte
Landeshdupter. Wher andere, verbannte, unternebmungsluftige
Männer erfannten, dab die fortlodernde Glut nur bededt fei,
und. fie entfdloffen fic gu einem neuen Angriff auf die ge-
nueſiſche Herrſchaft.
Im Dienſt des Königs von Sardinien ſtand damals der
Graf Domenico Rivarola, ein Genueſe von Geburt aus Baſtia,
welcher aber mit der Republik tödtlich verfeindet war. Er ſam⸗
melte mehrere Corsen um ſich, ſtellte dem König Carl Emanuel
93
— — — — —
den günſtigen Erfolg einer Unternehmung zu Gunſten Corsi⸗
ca's vor, erhielt Schiffe und eroberte mit englaͤndiſcher Unter⸗
ſtützung Baſtia. Die Corsen erflarten ſich für ihn, und der
Krieg wurde wieder allgemein. Nun zog Giampietro Gaffori,
ein Mann von bewundernswürdigem Heldenmut, auf Corte
und beſtürmte die auf einem ſchroffen Felſen gelegene Feſtung.
Der genueſiſche Befehlshaber ſah den Fall derſelben voraus,
wenn die Corsen fortfuhren nachdrücklich zu feuern und noch
eine VBreſche zu ſchießen. Gr ergriff den jungen gefangenen
Sohn Gaffori's und ließ ibn an die Mauer ber Feſtung bin-
ven. Als die Corsen dieſen dort ſchweben faben, fdwiegen
ibre Kanonen und fein Schuß fiel. Giampietro Gaffori fdau-
verte, dann rief er nad) einer tiefen Stille pliglid: Feuer!
und mit verdoppelter Wut begann das Gefdhdg gegen die
Mauer gu feuern. Das Caftell fiel; der Knabe war unver⸗
ſehrt; der heroiſche Vater ſchloß ihn weinend in feine Arme.
Nad vem Fall Corte’3 erhob fid) alles Land im Ynnern
der Inſel, und eine Volksverſammlung fprad am 10. Auguſt
1746 aufs neue die Unabbangigfeit Corsica’s aus. Gaffori,
- Venturini und Matra wurden wieder gu Protectoren der Nation
erflart; man erlieB eine Wufforderung an alle überſeeiſchen
Gorgen in ihr Vaterland heimzukehren. Die Hoffnung auf
Sarbinien jerrann übrigens bald, denn dieſe Hiilfe war ungu-
reichend, Baftia fiel wieder in die Hände der Genuefen, und
Rivarola mupte fid) nad Turin entfernen. Der genuefifde
Genat aber nahm nodmals gu Frankreich feine Zufludt.
Sweitaufend Frangofen gingen im Yabre 1748 unter dem
Befehl de Generals Curfay nad Corsica. Weil nun aud
der Aadener Friede jede Hoffnung auf die fardinifde Unter:
ſtützung vernidtet hatte, verftanden fich die Corsen dazu die
Vermittlung Frankreich's anzunehmen. Curfay felbft war ein
Mann von dem ebelften Weſen, menfdenfreundlid, twolwollend
und geredt; die Corsen batten ibn faum fennen gelernt alg
94
fie ihn liebten und ihre Sache vertrauend in feine Hände gaben.
So fam im Juli 1751 ein Vertrag zu Stande, welder ihnen
mebr Rechte gewährte ald fie bisher erhalten batten und vor
allem ibre Gelbftandigfeit ſchirmte. Wher Curfay geriet des⸗
balb mit der Republik Genua in Feindfdaft; e3 fanden blu:
tige Wuftritte ftatt und der Liebling ded Voltes hatte in einem
Sumult in Wjaccio fein Leben verloren, wire nicht Gaffori
gu feiner Hilfe berbeigecilt. Run verldumbdeten ibn die Ge⸗
nuefer bet feinem Hof, nannten ibn die Urſache fortbauernder
Unruben, einen Pflidtvergeffenen und gaben gu verftehn, dap
er in Corsica nad dem Königtum ftrebe. Frankreich rief den
edlen Mann zurück; er wurde als Gefangener de3 Staats in
den Turm zu Antibes gebradht, wo er verbleiben follte bis
fein Proceß entſchieden fei.
Das Schickſal Curfay’3s fegte die Corsen in Wut; alles
Volk diefjeits und jenfeits ber Berge gtiff zu den Waffen. Jn
Orezzo wurde Giampietro Gaffori gum alleinigen General der
Nation ernannt.
) Und diefer Mann ward jest ber Sdreden Genua’s. Yn
feinem Heldengeiſt ſchien Gampiero wieder aufgelebt gu fein.
Raum war er an bie Spige ſeines Volkes geftellt, fo fammelte
ex deſſen Rrafte, warf fic) mit Schnelligkeit auf ben Feind,
ſchlug ibn allenthalben und entriß ibm die ganze Inſel bis
auf die feften Riftenplage. Damal3 war Grimaldi Governator ;
rantevoll und liftig wie einft Fornari, erſah er feine andere
Rettung als in der Ermordung des gewaltigen Gegners. Gaf⸗
fort hatte nad) corsiſcher Weife Todfeinde, Racer, Manner
aus Corte, mit Ramen Romei. Solche gewann der Genuefe,
und damit die That nod abfdeulider werde, ließ fid) auch
ber eigene Bruder Gaffori’s Anton-Franceseo befteden. Diefe
Verſchworenen lodten pen Helden in einen Hinterhalt und er-
morbdeten ibn, am 3. October 1753. Die Strafe ereilte nur
den unnatiirliden Bruder; denn wenige Tage nad der voll
° 95
brachten Unthat gefangen, wurde er mit dem Rabe geridtet.
Man erziblt, daß Giampietro’s Weib nad) vem Tode ihres
Gatten ihren zwölfjährigen Sohn an den Wtar fabrte und ibn
ſchwören ließ, ben Mord feines Vaters gu riden. Dads cors
Zifthe Volt hatte feinen edelften Patrioten verloren. Giampietro
Gaffori, etn Doctor der Rechte und gelebrter Mann, in einem
porgefdrittenen Jahrhundert gebildet, grofmiitig, von unge-
wöhnlichem GSeelenadel, far fein Volk alles zu opfern bereit,
war würdig in ber Geſchichte feines Landes neben Sampiero
gepriefen gu twerden. Gin Volk aber, welches foldhe Manner
fort und fort aufzuſtellen hatte, mußte unbegwinglid) fein.
Gaffort war todt; und Pasquale Paoli ftand ba.
Die Corsen famen wie einft nad dem Falle Sampiero’s
au einem Lage zuſammen, um ihren Helden durch Todtenehren
au feiern. Dann befdloffen fie einftimmig ben Krieg gegen
Genua und erklaͤrten alle fiir ded Todes ſchuldig, welde es
agen würden von Unterhandlungen mit dem Grbfeind ju
reden. Man ftellte fünf Manner an die Spige der Regierung,
Glemen3 Paoli, Hyacints aAlteften Sohn, Zomafo Santucci,
Simon Pietro Frediant und ben Doctor Grimaldi.
Bwei Jahre leiteten die Fünf die Angelegenbeiten des Lanz
des und den Rrieg gegen die Republif, aber es madte fid
dad Bediirfnip fiblbar die Krafte aller in einer eingigen ſtarken
Hanb zu vereinigen, und deShalb berief man einen Mann,
welder beftimmt war nidt aflein der Ruhm feines Volkes,
fondern auch eine Bierde der Menſchheit yu werden.
Nenntes Kapitel.
Pasquale Paoli war der jiingfte Sohn Hyacints. Ym Alter
pon vierzehn Jahren hatte ihn der Vater mit fid in die Bers
bannung nad Reapel genommen. Hier verfpraden die Wns
96 .
lagen des Knaben einen Mann, welder dereinft feinem Lande
grope Dienfte leiften werde. Mit Sorgfalt lieb ihn fein hoch⸗
gebildeter Vater erziehn und ihn den Unterricht der berithmteftert
Manner der Stadt geniefen. Neapel war damals und durch
das ganze achtzehnte Jahrhundert ein Vereiniqungspuntt jener
großen italienifden Philoſophenſchule der Humanitit, der Geez
fcidte und der Staat3sfonomie, welche Manner zaͤhlte wie
Vico, Giannone, Filangieri, Galiani, Genovefi. Der Legtere
namentlid, der große Nationaldtonom, war Pasquale’s Lehrer
und legte Zeugnip von dem Genie feines Schülers ab. Aus
biefer Schule ging Paoli hervor, einer der grdften jener prak⸗
tifhen Humanitätsphiloſophen de3 18. Yabrhundert3, welche
ibre Grundfage als Gejeggeber und Ordner der Staatdgefell-
ſchaft gu verwirklichen gefudt baben,
WIZ die in Corsica eingefegte Fiinfregierung den Bediirf-
niſſen nidt entfprad, war Clemens Paoli es felbft, welder
bie Wiinfche der Corsen auf feinen Bruder Pasquale lentte.
Diefer war damal3 Soldat in Dienften Neapels, durch Tapfer⸗
feit im calabriſchen Kriege bereits nambaft geworben und allen
wert dburd den Adel feiner Perjon und feinen gebildeten Geift.
Sein Bruder Clemens {dried ibm eines Tags, bab er nad
feiner Inſel guriidfebren folle, weil e3 ber Wille feiner Lands:
leute fei, ihn als General an ihre Spige ju ftellen. Pasquale
ſchwankte. Gebe, mein Sohn, fo fagte der alte Hyacint gu
ihm, thue deine Pflidt und fei der Befreier deines Vaterlandes.
Am 29. April 1755 landete der junge Paoli in Wleria,
auf derjelben Stelle, wo neunzehn Jahre frither Theodor ges
landet war. Yn fo wenig Jahren weld ein anderes Geprige
ſchienen die Dinge befommen zu haben. Cin junger Sohn
des Landes war es, weber dutd) Thaten ausgezeichnet, nod
purd einflupreihe Verbindungen, noc von verbeipender Hoff:
nung auf frembde Hiilfe; fein Planemacher, ohne theatralifdes
Sdaugepringe; er fam mit leeren Händen, zaghaft, und
97
brachte nichts mit fic) ald feine Liebe gum Vaterland, feine
Willenstraft und feine Philoſophie, mit’ welder er ein ver:
wilberte3, vom Familienhaß und ver Blutrache zerfleiſchtes
Naturvolk befreien und gu einer fittliden Staatsgeſellſchaft
umbiloen wollte. Dies Problem war in -der Weltgeſchichte
unerbirt, und wie e3 vor den Augen Curopa’s gelingen wollte
in einer Beit, wo ähnliche Verſuche an den Culturviltern
fceiterten, tourde der Beweis gegeben, dap dte robe Cinfalt
per Ratur far die demokratiſche Freiheit empfanglider fei, als
die Verderbtheit der verfeinerten Cultur e3 fein fann.
Pasquale war damal3 29 Yabre alt, von kräftig edler
Geftalt, von achtunggebietendem Wefen; feine anfprudlofe
Weife, die Feftigkeit und Milde feines Wntliges, die wol⸗
tinende Stimme, die fdlidte und bod itberredende Sprache
und der klarſte Verftand erwedten ibm fofort Vertrauen. Man
abnte den Mann des Volfs und ben gropen Birger. Als
ſich nun jenes, in Gant’ Antonio della Cafabianca verfammelt,
babin erklaärt hatte, daß Pasquale Paoli alleiniger General
fein folle, lebnte er zuerſt die Berufung ab, feine Yugend
und Unerfabrung vorftellend; dod nidt einmal darauf ging
man. ein, daß man ibm einen Gollegen zur Seite ftelle. Wm
15. Quli 1755 übernahm er die oberfte Regierung feines
BVaterlandes.
Gr fanb daffelbe in diefem Zuſtande: die Genuefen auf
ibre Feltungen befdrink den Krieg ritftend; den größten Teil
der Ynfel frei; dad Volk der Gefebe ungewöhnt, von Parteien
und der Blutrache zerriſſen; Ackerbau, Induſtrie, Wiffenfdhaften
vernadlaffigt oder nicht vorhanden; alles ungeordneter roher
Stoff, bod) voll von geſunden Keimen, welche frühere Jahr⸗
hunderte gepflanzt, fpdtere nicht erſtickt hatten. Gr fand endlich
ein Volk vor, deſſen edelſte Eigenſchaften Vaterlandsliebe und
Freiheitsſinn faſt bis zur raſenden Leidenſchaft geſteigert waren.
Gleich die erſten Maßregeln Paoli's gingen | an die Wurzel
Gregorovius, Corsica, 1. 7
98
des Uebel. Es wurde ein Gefeg erlafjen, welches die Bene
betta mit der Schandſäule und. mit Tod durch Henkershand
beftrafte. Nicht allein Furdht, aud Ehrgefühl follten elfen,
wie moralijde Belebrung. Geiſtliche, Ptiffiondre gegen die
Blutrache, zogen umber und predigten auf den. Felbern, daß
man feinen Feinden verzeiben milffe. Paoli felbft durchreiste
das Land, hafentbrannte Familien zu verſöhnen. Giner feiner
Verwandten hatte bem Gefeg gum Trop Blutradhe geübt; er
ſchwankte feinen Augenblid; er ließ ibn binridten. Diefe
Heltigheit und der Anblid unpartetifder Gerechtigleit machten
tiefen Eindruck.
Mitten in ſolcher Thätigkeit überraſchte Paoli die Rach
ridt, dab Emanuel Matra feine Anhänger um fich verfammelt,
vie Waffen erhoben habe und gegen ihn herangiebe. Matra,
aus einem Haus alter Caporali von jenfeits der Berge, war
durch Chrgeig und Neid gu diefem Entſchluß getrieben worden.
Gr hatte ſich felbjt Rednung gemadt, dite höchſte Stelle zu
befleiden; feinem Mebenbuler fie ju entreifen war er auf:
geftanden. Geine Macht war drobend. Paoli wollte das
Paterland vor einem innern Krieg bewabhren, er bof feinem
Gegner an, die Waffen ruben gu laffen und einer Volls⸗
verfammlung die Entſcheidung anbetm gu geben, wer von
ibnen General fein folle. Der trogige Matra verwarf diefen
Vorſchlag, er podte auf feine Tapferkeit, feine Kriegserfah⸗
tung, fogar auf die Unterftiigung durch Genua. In mebhren
Treffen überwand er die Heerhaufen Paoli's, dann felbft zu⸗
ritdgeworfen erfdien er im Anfang bes Jahres 1756 mit
) genuefifher Hilfe wieder, und mit groper Kabnbeit überfiel
er Paoli in Bozio. Pasquale warf fid jdnell in bas Kloſter
und verfdangte fich dafelbft. Die Gefabr war grop; ſchon
brannten die Thitren, die Flamme ergriff bereits das Innere
des Gebiude3; Paoli gab ſich verloren. Da liefen fic von
den Bergen Muſchelhörner hören und herab fam fein Bruder
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Glemen3 mit Tomafo Carnoni, Pasquale’s bisherigem Tod:
feinde, welchen die eigne Dtutter bewaffnet hatte um den
Gegner ju retten, und eine Gchar anberer Zapferer. Man
fagt, daß Matra, al8 vie Seinigen tobt ober geflohen waren,
mit einer beifpiellofen Wildheit timpfte und felbft dann ju
fampfen fortfubr, als ibn ein Schuß bereits in die Rniee
geworfen hatte, bid thn ein zweiter niederftredte. Wn der
Leiche des Feindes weinte Paoli vor Kummer, einen Dtann
von folder Heldentraft unter Berraitern todt und feinem
Baterlan’ verloxen yu. ſehn. Die Gefahr war befeitigt und
nie Parte? Pintra’s vernidtet; ihrer wenige nur batten fid
nad) Baftia qu den Genuefen geflüchtet, um bet giinftiger
Seit wieder zu erfdeinen. .
G3 zeigte ſich übrigens, daß Genua ſchon erjddpft war.
Dieſe einſt ſo mächtige Republik ſtand am Vorabend ihres
Falls. Geängſtigt durch die Fortſchritte ber Corsen, deren
Regierung ſich von Tag zu Tage mehr befeſtigte, machte ſie
zwar Verſuche ſie mit Waffengewalt zu erdrücken, aber dieſe
hatten nicht mehr die Kraft wie in der Zeit der Doria und
der Spinola. Die Republik nahm mehrmals Schweizer und
Deutſche in Sold und griff Paoli in der Nähe Baſtia's an,
doch ohne Erfolg. Hierauf wandte ſie ſich wieder an Frank⸗
reich. Um gu hindern, daß nicht die Englander einen Küſten⸗
platz in Corsica beſetzten, ſchickte das franzöſiſche Cabinet im
Jahr 1756 Beſatzungen nach den feſten Städten der Inſel.
Dod hielten ſich die Franzoſen neutral und thaten nichts mehr
als dieſe Orte beſetzen, welche ſie endlich im Jahr 1759 wieder
raͤumten.
Genua verzagte. Es ſah die Corsen gu einem geordneten
Staat zuſammenwachſen und das Land in kurzer Zeit wunder⸗
bar emporbluhen. Die Finanzen waren geregelt, ver Ackerbau
rührte ſich, Fabriken, ſelbſt Pulvermühlen waren in Gang
gekommen, eine neue Stadt Isola Rossa entſtand vor den
100
Augen bes Feindes; Paoli hatte felbft eine Flotte aufgeftellt;
bie corsiſchen Kreuzer madten bad Mteer fiir genuefifde Schiffe
unfider. Gang Corsica, vom Familienhabder gereinigt, war
wol bewebrt und wol geriiftet; immer enger waren bie legten
feften Stante umfdloffen, welche die Republi nod beſaß.
Solche Cntwidlung hatte bas corsifde Vol! unter einer weiſen
Regierung und aus eigner Kraft genommen, dap es feiner
fremden Hilfe mehr beburfte. Genua ließ fic) nun berbei,
Sriedensantrage zu machen; aber die Corsen erflirten nur
bann auf folde eingeben zu twollen, wenn bie Genuefen ibre
Inſel gänzlich würden geräumt haben.
Noch einmal verſuchte die Republik den Krieg. Sie wandte
ſich wieder an die Matra, an Antonio und Alerius, welcher
ehedem neben Gaffori Regent der Nation geweſen war. Einer
nach dem andern, zum genueſiſchen Marſchall ernannt und
mit Truppen verſehn, erregte Cmpirung und wurde nach
kurzem Kampf überwältigt. Da erkannte der genueſiſche Senat,
daß die Corsen nicht mehr zu überwinden ſeien, es ſei denn
durch einen ernſtlichen Angriff von Seiten Frankreichs, und
er ſchloß am 7. Auguſt 1764 zu Compiegne einen Vertrag
mit dem franzöſiſchen Könige, wonach dieſer ſich aufs neue
verpflichtete waͤhrend vier Jahre die Küſtenſtädte der Inſel
beſetzt zu halten. Sechs Bataillone Franzoſen landeten hierauf
in Corsica unter dem Befehl bes Grafen Marbeuf, welder
den Corsen anfiindigte, bab er zwiſchen ihnen und ber Rez
publit vollfommne Neutralität beobachten werbe, ba fein ver⸗
tragsmapiger Bwed nur die Befegung der Sitftenplage fei.
Wher den Corsen war diefe Beſetzung, welche fie nicht hindern
fonnten, feindlid), und eine Meutralitat war nidtig, welde
ibnen verwebrte, die vorgeriidten Belagerungen gu Ende ju
führen. Sie proteftirten, boc) fie boben die Belagerung San
Fiorenzo's auf, weldes bem Fall fchon mabe war.
vekh owe, .
- . *
So blieben die WAngelegenbeiten vier Yabre lang: bie Ges .
=
— —
- a
(Reet neo ete ee a
a 101
nuefen unthatig; die Frangofen, in feiner Weife von ihnen
abbangig, im Befip der feften Plage und freundfdaftlid) mit
‘pen Corsen verfebrend; diefe raftlos thatig, ihre Verfaffung
befeftigend, ihrer Selbftandigteit froh und voll Hoffnung, bab
nad) bem Verfluß jener vier Vertragsjahre fie bas Biel ihrer
heroiſchen Kämpfe endlich erreichen würden.
Ganz Europa pries die corsiſche Verfaſſung als das Muſter
voltstümlicher Freiheit, und fie war allerdings preiswürdig
durch ihre Einfachheit und Geſundheit, das beſte Denkmal
welches die Staatsweisheit des Jahrhunderts der Humanitat
ſich aufgeſtellt hat.
Zehntes Kapitel.
Als Pasquale die corsiſche Republik ordnete, ging er von
den einfachen Grundſätzen aus, daß das Volk die alleinige
Quelle der Macht und der Geſetze ſei, und daß dieſe nur den
Zweck haben, deſſen Wol auszuſprechen und zu erhalten. Als
er die Form der Regierung regelte war ſein Gedanke der:
daß ſie eine Art nationaler Jury bilden ſollte, in eben ſo
viele Zweige untergeordnet als es Zweige der Verwaltung
oder des Rechtes gab, und daß die Verwaltung einem Hauſe
yon Kryſtall gleichen müſſe, worin jeder ſehen könne was vor
ſich geht; denn das geheimnißvolle Dunkel begünſtige die Will⸗
kurherrſchaft und ernähre dad Mißtrauen.
Er nahm zur Grundlage ſeiner Staatseinrichtung jene volks⸗
tümliche Gemeindeordnung der Terra del Commune, mit ihren
Bürgermeiſtern und Vatern der Gemeine.
Wie fiber 25 Jahre alten Birger ber Gemeine waren
Wahler zur Generalverjammlung (consulta). Sie vereinigten
fid unter dem Borfig des Podefta des Ortes und ſchworen
; : | 102
zuvor nur folde Manner gu wablen, welche fie fiir die Wür⸗
bigften bielten.
Wuf je 1000 Geelen fam ein Bertreter zur General:
verfammlung.
Diefe felbft beſaß die Herrfdhaft im Namen des Volks.
Sie bildete fich aus ben Abgeordneten der Communen, denen
der Geiftlidteit und den BVorftehern der Provingialbebirden.
Sie beftimmte die Abgaben, entfdhied über Krieg und Frieden
und gab Gefege. Eine Mehrheit von zwei Dritteln madte.
bie Befdliffe geſetzeskräftig.
Aus der Generalverfammlung ging der. oberfte Staatsrat
(consiglio supremo) hervor, eine Körperſchaft von Neun⸗
mannern, darftellend die 9 freien Provingen Corsica's: Nebbio,
Cafinca, Balagna, Campoloro, Orezza, Ornano, Rogna, Vico
und Ginarca. Der Staat8rat war die ausübende Behörde,
ec berief die Generalverjammliing, vertrat fie in politifden
Angelegenbheiten, ordnete die Hffentliden Arbeiten und wadte
über bie Siderbeit de3 Landed. Gr hatte aud dad Recht in
den widtigften Fallen die höchſte Inſtanz yu fein, und ein
Beto gegen die Beſchlüſſe ber Generalverfammlung bis gu
einer neuen Beratung eingulegen. Gein Prafident mar der
General ‘des Volks; ohne den Beirat vey Staat8rate fonnte
er nidts vollgiehen.
Beide Gewalten, Prajinent und Staatsrat, waren ver-
antwortlid und fonnten durch Volksbeſchluß entfegt und ge⸗
ftraft werden. Die Staat8rate wurden überdies von der
Generalverfammlung felbft und auf ein Jahr ernannt, mupten
über 35 Yabre alt und bercitS Prafidenten der Proving ge-
weſen fein. Ebenſo ernannte die Generalverfjammlung die.
fünf Syndici oder Cenforen.
Der Syndicat war eine Behirde, welche die Provingen
bereifte, um die Klagen des Volks gegen Verwaltung oder
Redhtspflege zu vernehmen und vollgültige Entſcheide gu treffen,
108
welde ber General nidt umſtoßen durfte. Diefer ernannte
alle Berwaltungsbeamte und die CSteuercinnehmer, weld
wieberum ber Cenfur der Fünfmänner unterworfen waren.
Die Juſtiz war in folgender Weife geordnet. Jeder Po⸗
vefta fonnte Falle entſcheiden bis gum Betrag von jehn Lire;
weiter binauf bis gu dreipig Lire mufte er die beiden Gemein⸗
pater zuziehen. Was dreipig Lire tiberftieg, gehörte vor bas
Tribunal ver Proving, eine Behörde mit einem Prdfidenten
und zwei Affefforen, welche die Generalverfammlung ernannte,
und einem Fiscaladvofaten, weldhen der Staat8rat ernannte.
Das Tribunal ber Proving wechſelte jedes Jahr.
Von ihm fonnte man an bie Rota civile appelliren, eine
hoͤchſte Behörde von drei Doctoren des Rechts, weldhe auf
Lebenszeit ernannt waren. Diefelben Tribunale übten aud)
vie Criminaljujti; mit jedesmaliger Zuziehung won feds Fa-
milienvatern, weldje die That aus bem Zeugenverhör ju er:
mitteln, dad Schuldig oder Nidtfdulbig zu fpreden batten.
Die Mitglieder des Staatsrates, bes Syndicat3, der Tris
bunale ber Provingen durften erft nad zwei Sabrent wieder
gewablt werden. Ebenſo wedfelten alljabrlid die Podefta und
Vater der Gemeine, welde von den Biirgern des Orts, die
fiber 25 Jahre alt waren, jedes Jahr in der Verfammlung
auf dem Rirdenplag gewählt wurden.
Jn dringenden Fallen, bet Empdrung und Tumult auf
irgend einem Punkt der Inſel, hatte der General die Gewalt,
eine vorübergehende dictatorijde Behörde fiir ben betreffenden
Ort gu ernennen, die Giunta de3 Krieg (giunta di osser-
vazione o di guerra) genannt. Sie beftand aus drei ober
mehr Mitgliedern mit einem Staatsrat an ber Spige; und
mit unbedingter Macht eingujdreiten, gu ftrafen, war diefer
augenblidlide Gerichtshof fdredlid genug. Man nannte ihn
im Bolt die giustizia Paolina. War feine Sendung erfüllt,
fo legte er vor ben Genjoren Rechenſchaft ab.
104
, a
Died find die Gründzüge der Gefeggebung Paoli's und
ber corsifden Republif. Sieht man auf ibre leitenden deen,
Selbftregierung des Volks, gefeplid) geregelte Freiheit ded
Bürgers, Teilnabme am Staatsleben, Oeffentlidfeit und Ein⸗
fadbeit der Verwaltung, volkstümliche Geridte; fo muf man
wol geftebn, baf der Staat der Corsen menſchlicher eingeridtet
war, als jeder anbere defjelben Jahrhunderts. Sieht man
endlid) auf die Seit ſeines Entſtehns, welde dem Staat de3
grofen Wafhington und den Gefeggebungen ber Franjofen
um Jahrzehnte voranging, fo gebithrt Pasquale Paoli und
feinem Volk nod) mehr Bewunderung.
Ginem ftebenden Golbatenwefen war Paoli Feind. Gr
ſelber ſagte: „In einem Lande, welded frei fein will, muß
jeder Birger Soldat fein und fid) immer bereit balten für bie
Verteibigung feiner Rechte fich gu bewaffnen. Die disciplinirten
Sruppen leiften mebr fiir ben Despotismus ald fir die Freibeit.
Rom hörte an dem Tage auf, fret gu fein,- an weldem es
bezablte Soldaten hatte, und die unbegwingliden Phalangen
Sparta’s waren aus bem Aufgebot der Maſſen gebildet. —
Endlich fobald e8 eine ftehende Armee gibt, bildet fid ein
Kaſtengeiſt; man ſpricht von der Tapferfeit diefeds Regiments,
dieſer Companie; bad find ernftere Uebel als man denft, und.
es ift gut, fie fo viel als miglid) gu vermeiden. Man mus
von ber Entidloffenheit reden, welde diefe Commune, von
ber Selbjtaufopferung, welche die Glieder diefer Familie, von
ber Tapferfeit, welche diefe Birger bewiefen haben; auf ſolche
Art erwedt man den Gifer bet einem freien Boll Wenn
unfre Gitten fo fein werben, wie fie fein follen, fo wird unfer
ganged Bolt eine Milig und unbefiegbar fein.”
Nur notgedrungen gab Paoli fo weit nad, dab man eine
kleine Babl ftebender Truppen ſchuf, um die feften Orte gu
befegen. G3 waren zwei Regimenter gu vierhundert Pann,
befebligt von Jacopo Balbaffari und Sito Buttafuoco. Jede
105
Companie hatte zwei Capitine find zwei Lentnant3. Fran⸗
zöſiſche, preußiſche und ſchweizeriſche Officiere übten fie ein.
Jeder Soldat war bewajfiret mit einer Vajonetflinte, mit einem
Paar Piftolen und einem Doldh. Die Rleidung war das
ſchwarze Wollentucd bes Lande3; den Officier zeichnete allein
dies aus, dah er eine Lreffe am Rodkragen trug, und dab
feiner Flinte bas Bajonet feblte. We Hatten Magen von
corsifdem Eberfell und lange Gamafden von Ralbleder bis
gum Knie. Man ribmte die guten Dienfte, weldhe dieſe beiden
Regimenter leifteten.
Die Miliz oder die Volksbewaffnung war folgender Art
eingericjtet. We Corsen von 16 bid zu 60 Jahren waren
Soldaten. Jede Commune hatte eine, ober je nad ihrer
Gripe mehre Companien aufzuftellen, deren Officiere fie felbft
wablte. Jede Pieve wiederum bildete ein Lager unter einem
Oberſten, welden der General ernannte. Die gefammte Mili;
war in drei Wufgebote geteilt, von denen jedes fünfzehn Tage
lang eintrat. Als Regel galt, die Sippfdaften zuſammen⸗
guftellen, fo dab die Soldaten einer Companie meift Bluts⸗
freunde waren. Die in den feften Plagen lagen, befamen
jabrliden Sold, die Anderen nur fo lange fie im Belbe waren.
Die Dirfer gaben das Brod.
We Staatsausgaben beftritten fic) aus den zwei Liven
Abgabe fiir jede Familie und aus den Gefillen vom Sals,
ver Corallenfijderei und anderen Steuern.
Nichts was eines Volkes Wol begriinden und mehren fann,
iiberfah Paoli. Dem Aderbau widmete er große Sorgfalt;
jabrlid) ernannte die Generalverſammlung zwei Whgeordnete
fiir jede Proving, welde ihn gu pflegen batten. Man pflangte
ven Oelbaum, die Caftanie, den Mais; man entwarf Plane,
Sümpfe auszutrodnen, Wege yu babnen. Merkwilrdige Lage
der Dinge! Mit der einen Hand webhrte damals ver Corse feinen
Feind ab, mit der andern ftreute er Pflangenfamen in feine Erde.
106
Aud vie Wiffenfdhaft, aller Freibeit und alles Glückes
hidfte Gewähr und edelfte Vollendung, fudte Paoli feinem
Volk zu geben. Die eifernen Zeiten Hatten fie nicht auffommen
laffen. Die Corsen waren Naturkinder geblicben, unwiffend
bod) reid) an Mutterwig. Genua, fo fagt man, hatte dad
Schulweſen mit Whfidt vernadlaffigt. Mun fab man unter
bem Regiment Paoli’3 überall Volksſchulen entftehen, und die
corsifden Geiftlidben, tapfere und frete Manner, beeiferten fid,
bie Jugend gu unterweiſen. Gn Corte wurde eine Drucerei
geſchaffen, aus welder nur dem Unterridt und der Volksauf⸗
flarung gewidmete Bilder. hervorgingen. Die Kinder fanden
barin gefdrieben, bap die Liebe gum Vaterland die höchſte
Sugend eines edlen Mannes fei, und daß alle diejenigen,
welche im Kampf fir die Freiheit gefallen, im Himmel ihren
Sig befommen Hatten unter den Heiligen.
Am 3. Januar 1765 erdffnete Paoli die cor8ifde Univer-
fiit in Corte. - Man lehrte auf ibr Theologie, Philoſophie,
Mathematit, das Recht, bie Humanitatswijjenfdaften. Mtedicin
und Chirurgie wurden ausgefept, bis man im Stande fein
würde, die ndtigen Ynftrumente angufdaffen. We Profefforen
waren Corsen, die erften: Guelfucci von Belgodere, Stefani
von Genaco, Mariani von Corbara, Grimaldi von Sampoloro,
Ferdinandi von Brando, Vincenti von Santa Lucia. Arme
Schüler wurden auf Koften des Volks verpflegt. Wm Ende
eines jeden Curjus wurde eine feierlide Pritfung in Gegenwart
ber Mitglieder der Generalverfammlung und der Regierung
abgebalten. Die Anweſenheit der edelften Birger erhdhte den
Tadel wie das Lob. Vor ihren Augen wufte fid dieje Jugend
alg bie junge Landesbürgerſchaft angeſehn, welde fiber tury
oder fang an bem Werk der Befreiung des Vaterlande3 mit
au arbeiten berufen war. So aufwadfend mitten in den
Kämpfen des eignen Volf3, unter den ftiirmifden Creigniffen
felbft, hatte fie bad eine hohe Ideal feft und wirllid vor
107
Augen. Welder Geift baber in dieſer Jugend webte, ift leicht
gu erfennen, und mag ibn bas folgende Bruchſtück einer der
Reden beweifen, die nad der sffentliden Prüfung irgend ein
Schüler der Rhetorik im Beifein der Whgeordneten und Vater
des Landes gu halten pflegte. Gin Schüler fprach vor ibnen
und vor Paoli:
„Die Rationen, welche nad) ber Freiheit geftrebt haben,
haben grofe Wedfelfalle erlitten; e3 gab unter ihnen weniger
mächtige und weniger tapfere al8 die unfrige iſt. Dennod
haben fie mit Bebarrlidfeit am Cnde alle Schwierigkeiten über⸗
wunden, Wenn man die Freibeit hurd bloße Reden gewönne,
fo ware alle Welt fret. Wber es bedarf bagu einer unerſchütter⸗
lichen Standbaftigheit, welche über alle Hindernijje hinausgebt,
und weil biefe Zugend unter Menſchen felten ijt, fo bat man
diejenigen immer als Halbgitter angefebn, welde davon
Zeugniß gaben. Gewif, die BVorredte und die Lage eines
freien Volkes find zu unſchätzbar, als daß man fte ihrer Wid:
tigteit gemap auseinander fegen finnte. Dod iſt genug ge:
fagt, wenn man fic) erinnert, dap fie die Bewunderung der
größten Menfden erregten. Was uns betrijft, fo gefalle e3
bem Himmel, dap er und dem Lauf unjerer Gejdide folgen
laffe. Aber unfer Volk, defjen Herz groper ift, als fein Glück,
obwol arm und in ein grobe3 Gewand gebillt, ift ein Bor-
wurf für bas gange unter der Laft fchwerer Ketten triage ge:
worbdene Curopa, und man fühlt die Notwendigkeit, und
unfer Dafein zu rauben.
„Tapfere Landsleute, ber verhängnißvolle Augenblick ift
ba. Der Sturm brauft fdon über unfern Hduptern, von
allen Geiten broben un3 die Gefabren; laßt uns wiffen, wie
wir und iiber den Verhältniſſen erhalten und uns mit der
Zahl unfrer Feinde vergrdpern; es handelt fic) um die Ver:
teidigung unferes Namens, unferer Freiheit, unferer Ehre.
Umfonft wiirden wir bid auf den heutigen Tag heroiſche Ge:
108
fithle gezeigt haben, umfonft würden unfre Vorfabren Strime
von Blut vergoffer und unerbirte Leiden erduldet haben.
Wenn wir ſchwach werden, ift alles verloren ohne Ridfebhr.
Wir ſchwach werden! Crhabene Schatten unferer Vater, ihr,
die iby fo viel gethan babt, um und die Freiheit zu hinter⸗
laffen als bag reichſte Erbe, fürchtet nicht, dab wir euch ob
eurer Opfer werden errdten madden. Mein, niemal3! Cure
Cnfel werden in allem euer Beiſpiel nachahmen, entſchloſſen,
wie fie find, fret gu Teben oder gu fterben, fampfend fiir die
Verteidigung ihr unverlegliden und heiligen Rechte. Wir
können un3 nicht entfdliepen, ju glauben, daß der König pon
Frankreich die Partei unfrer Feinde ergreifend feine Waffen
gegen unfer Land ridjte: nein, ein Ereigniß diefer Natur darf
nidt Statt haben. Aber wenn es dod in dem erznen Bude
gefdrieben ftebt, daß ber mächtigſte Monarch der Grde eins
per kleinſten Volker Curopa’s befimpfen foll, fo haben wir
nod einen geredten Grund, ftolg gu fein, denn wir find fider
entweder fret fiir immer und rubmvoll ju leben, ober unfern
Fall unfterblid gu machen. Mögen diejenigen, welche fid) einer
foldhen Tugend nidt fdr fabig halten, nicht erſchrecken: meine
Worte richten fic nur an die wabren Corgen, beren Gefable
befannt find.
, as uns betrifft, tapfere Jünglinge, feiner, id ſchwdre
es bei den Manen unſrer Vater! nein, keiner wird den zweiten
Aufruf abwarten; e& gilt im Ungeficht der Welt gu zeigen,
dap wir verbienen, tapfere genannt gu fein. Wenn die
Fremden an unfern Küſten landen, bereit Schlachten ju
fdlagen, um die Anſprüche ihrer BVerbiindeten aufredt zu
alten, werden wir, bie wir fampfen für unfere eigene Wol⸗
fabrt, fir dad Wol unferer Enkel, fitr die Verteidigung uns
feres BVaterlandes, für die Aufrecdhthaltung der geredjten und
gropberzigen Cntfdliffe unferer Bater, werden wir dann
ſchwanken, allen Gefabren gu trogen, unfer Leben auszuſetzen
109
und dbafjelbe zu opfern? Tapfre Mitbürger, die Freibeit ift unfer
Biel und twas e3 von edlen Seelen in Curopa gibt, fiebt auf
uns, nimmt Teil an uns, erbebt Wiinfde fir den Sieg unfrer
Gade. Möge unſere Entſchloſſenheit bie algemeine Wufmert:
famfeit iiberbieten, und mögen unfere Feinde, wie aud ibr
Name fet, aus ver Erfahrung lernen, dab die Eroberung
Corsica's nicht fo leidt fei al8 man denkt. Es gibt bier in
diefem Lande frete Menſchen und der freie Mann weiß zu
fterben.”
Elftes Kapitel.
So war alles Denken und Wollen des corsiſchen Volks
jedes Alters und Geſchlechts auf das gemeinfame Biel gerichtet.
Frei und ſtark war diejer Volksgeiſt, hodgeadelt durd die
teinfte Vaterlandsliebe, durch ererbte Tapferkeit, nurd die belle
Vernunft der Verfaffung, welche feine fremd heritbergebradte
Theorie erfligelt, fonbern der heimijde Boden erzeugt hatte.
Der große Barger Pasquale war der Vater des Vaterlandes.
Wo er fich zeigte, trat ihm die Liebe und der Segen feined
Volts entgegen; man jah Weiber und Greife ihre Kinder und
Enkel auf den Armen erbeben, daß fie den Mann ſehen follten,
welder vas Volk glitdlid) gemacht hatte. Auch die Küſten⸗
ftadte, bie nod) in der Gewalt Genua’s verblieben waren,
trugen Berlangen, das Glück der corsifden BVerfafjung zu
teilen. G8 fanden Bewegungen Statt. Carlo Mafjeria und
fein Sobn, beide heldenmütig, batten e3 über fic) genommen,
das Caſtell Ajaccio burd Lift und Gewalt in die Hinde der
Nationalen zu bringen. Die That miplang; der Sohn fiel
im Kampf, der verwunbdete Vater ftarb obne Klagelaut auf
der Holter.
So ſehr erftartt aber war dads corsiſche Voll, dab es weit
110
davon entfernt, feine Augen ängſtlich auf Hilfe vom Aus:
lande gu ridjten, in fic) felber nicht allein die Dtittel zum
Widerftande, fondern aud gum Angriff fand. Schon webte
fein Banner auf bem Mtittelmeer; de Perez, ein Malteferritter,
war Admiral der fleinen Flotte, welche bereits anfing den
Genuefen furdtbar zu werden. Man ſprach in Corsica davon,
bap die Lage ver Inſel fie wol beredtige eine Seemacht ju
werden, wie einft griechiſche Inſeln im Oftmeer es gewefen
waren; man hörte fogar von der Ptdglidfeit einer Landung
der Corsen auf der Kuſte Liguriens.
Mun gab die itberrafdende Croberung der naben Buffet
Capraja migliden Vorftellungen gripere Wahrſcheinlichkeit und
ber Gurdht grifere Begriindung. Diefe Meine Infel war in
fritberen Setter ver corsiſchen Signorenfamilie ba Mare dienſt⸗
bar geweſen, dann in den Beſitz der Genuefen übergegangen.
Sie ift unfrudtbar, aber ein widtiger und fdwer zu neb-
mender Landungsplag im genuefifd-to8canifden Canal. Gin
Corde Centuri faßte den Gedanten, fie zu überrumpeln. Paoli
ging darauf ein, und fo lief im Februar 1765 eine Heine
Flotte mit zweibundert Mann Truppen und einer Sdar Mi⸗
lizen vom Cap Corſo aus. Sie itberfielen bie Stadt Capraja,
welde anfangs Iebbaften Widerftand leiftete, dann mit ibnen
gemeine Gade madjte. Da Caftell aber hielt der genuefifde
Oberft Bernardo Ottone mit riihmlider Tapferkeit. Aud ſchickte
Genua auf die Kunde von dem Ereigniß eilig feine Flotte
unter dem Admiral Pineli. Sie wurde guritdgetrieben, gu
dreien Mtalen. Der Zorn und die Sham, einer Handvoll
Corsen, welde fid) dort feftgefept batten, Capraja nidt ent:
reifen zu ténnen, waren fo grop, dab alte Senatoren in
Tränen ausbraden. Rod einmal ließ der Senat die Flotte
gegen bas Giland auslaufen, viergig Kriegsſchiffe an der Zahl.
Die finfhundert Corsen unter Adill Murati warfen die Gee
nuefen in dad Meer guriid. Da ergab fic aud Bernardo
111
Ottone im Mai 1767, und Capraja von den Corsen in Beſitz
genommen, wurde gu ihrer Proving erklärt. Go fab die ge⸗
nuefijde Republif ihren Handel durch eine Corsenfeftung faft
_ vor thren Doren bedrobt.
Der Fall Capraja’s befdleunigte die Notwendigkett das
unbaltbare Corsica endlid) gang aufgugeben. Doc zdgerte
die alternde Republik, den Entſchluß auszuſprechen, bid ein
Mißgriff, welchen fie machte, fie bagu nbtigte. Damals waren
die Jeſuiten fowol aus Spanien als aus Frankreich vertrieben
worden; der ſpaniſche König aber hatte ben genuefifden Senat
erfudt, den Verbannten ein Aſil in Corsica gu geftatten. Ihm
gu Gefallen war Genua darauf eingegangen, und eines Tages
jab man eine große Zabl von Vatern Jeſu in Ajaccio Landen.
Die Frangofen, welche die ewige Verbannung der Nefuiten
ausgejproden batten, nabmen e8 al3 eine Beleidigung von
Seiten Genua’s auf, dab der Senat jenen die corsifden See-
ſtaͤdte Sffnete, welche Frankreich felbft befegt hielt. Sofort
befam der Graf Marbeuf Befebl, feine Truppen aus Ajaccio,
au3 Calvi und Wgajola herauszuziehn, und faum war died
gefdebn, als bie Corsen die Stadt Ajaccio befegten bid auf
bie Gitadelle, in welde die Genuefen eingeriidt waren.
Unter diefen Umftinden und bei der beftigen Spamtung,
weld zwiſchen Frantreid) und Genua eingetreten war, ſah der
Senat voraus, dab er den Corsen würde weiden müſſen.
Alſo tam er yu dem ſchmahlichen Entſchluß, feine vorgebliden
Rechte auf bie Infel an. Frankreich freiwillig ju verfaufen.
. Shoifeul ergriff den Antrag mit Freuden. Die Erwerbung
einer fo widtigen Inſel im Mittelmeer erſchien als ein Erſatz
zu einer Seit, in welder man Canada verloren hatte. - Der
Vertrag wurde am 15. Mai 1768 gu Verſailles gefdlofjen
und geseidnet. von Choiſeul fiir Frankreich und von Domenico
Sorba fir Genua. Wider alles Völkerrecht übertrug die Re-
publit ein freie3 Bolt, auf weldje3 fie feine andere Rechte
112.
befaB, al3 die langft verfallenen der Groberung, an eine
frembe Macht, welde mit jenem bidher als mit einer une
abbangigen Nation verfebrt hatte. Genna hatte noch die ent:
würdigende Bedingung geftellt, wieder in feine Rechte auf .
Corsica guriidgutreten, fo bald e3 im Stande fei, die Roften
abjutragen, weldhe Frankreich die Befegung der Inſel maden
werde.
Che die franzöſiſche Flotte aus den Hafen ver Provence
abjegelte, twar das Geriicht von bem erft gebeim gebaltenen
Pertrage in Corsica verbreitet worden. Die am 22. Pai
nad Corte berufene Landesverfammlung beſchloß einftimmig
Gegenwehr und Crhebung in Maſſe. Hier hatte Carlo Bo-
naparte, Paoli’s Secretar, mit feuriger Beredſamkeit gefproden.
Unterdeß war der Graf Narbonne mit Truppen in Wjaccio
gelandet; die erftaunten Bewohner der Stadt batten bas ge-
nuefifde Banner herunternehmen und die weiße Fabne Frank:
reichs aufpflanzen feben. Gleichwol leugneten die Frangofen
noch die eigentliche Abſicht ihrer Ankunft und ſuchten die
Corsen durch falſche Vorſpiegelungen zu taͤuſchen, bis Chauvelin,
mit dem Oberbefehl in Corsica beauftragt, in Baſtia landete.
Am 7. Auguſt deſſelben Jahres ſollte jener auf vier Jahre
abgeſchloſſene Beſetzungsvertrag ablaufen, an dieſem Tag er⸗
wartete man den Beginn der Feindſeligkeiten. Aber ſchon
am 30. Juli rückten die Franzoſen 5000 Mann ſtark von
Baſtia gegen San Fiorenzo und bemächtigten ſich nach einem
ungleichen Kampf einiger Orte in Nebbio. So ward offen⸗
kundig, daß dad letzte Schickſal an den Corsen vollzogen.
werden ſollte. Immer ihnen feind hatte es ſtets fremde Des⸗
poten zwiſchen ſie und Genua geſtellt, und am Vorabend ihrer
Befreiung ſie jedesmal in das alte Elend zurückgeworfen.
Pasquale eilte nach dem Nebbio mit einigen Milizen. Sein
Bruder Clemens hatte daſelbſt ſchon mit 4000 Mtann ſich auf⸗
geſtellt. Aber beide konnten nicht hindern, daß Marbeuf das
Be
113
Cap Corſo unterwarf. Nun wandte fid aud Chauvelin gegen
pas ſtark befeftigte Furiani, begleitet von Matia Buttafuoco
aus BVescovato, welder vie Schande auf fid) lud, vom Feinde
Lohn und Titel gu erwerben. Der Kampf um Furiani war
versweifelt. Mur 200 Coren bielten den Platz unter Carlo
Galiceti und Riftori, aber fie ergaben fic) aud dann nidt,
al ber gange Ort gu einem Schutthaufen jerfdoffen war, |
fondern fie ſchlugen ſich nad der Seefitfte durd.
Gin gleid) mörderiſcher Rampf fand in ber Cajinca und
an der Golobritde ftatt. Auf allen Puntten wurden die Frans
zoſen zurückgeworfen; Clemens Paoli bebdedte fid) mit Rubm.
Ihn und Pietro Colle nennt man als die tapferften Helden
in dem legten Fretheitsfampf ber Corsen.
Die Tritmmer der gefdlagnen frangdfifdhen Armee warfen
fid) auf Borgo, einen hod) gelegnen Ort auf den Bergen bei
Mariana, und fie verftdriten deffen Beſatzung. Um jeden
Preis wollte Paoli diefen Ort gewinnen; er begann deshalb
den Sturm am 1. October, in der Nacht. Es war die glin:
zendſte Waffenthat. Bon Baſtia zog Chauvelin herbei; ihm
warf ſich Clemens entgegen; Colle, Grimaldi, Agoſtini, Ser⸗
pentini, Pasquale Paoli, Achille Murati ſtürmten gegen Borgo.
Von beiden Seiten wurde jede Kraft herangezogen. Dreimal
machte die ganze Stärke ber franzöſiſchen Armee einen ver:
sweifelten Anlauf und dreimal wurde fie getworfen. Die corsi⸗
ſchen Milizen, an Zabl um fo vieles geringer, sertriimmerten
hier die gefdloffenen Reihen einer Armee, welche feit Lud⸗
wig XIV. in dem Rufe ftand,- die befte Europa's gu fein.
Maw fah aud Weiber mit der Flinte und dem Sdwert fid
unter die Feinde ſtürzen. Endlich widen diefe nad) Baftia;
ibrer viele waren erfdlagen, viele, darunter Marbeuf, ver-
wundet; 700 Mann mit dem Oberften Ludre, die Befagung
yon Borgo, ftredten bas Gewebr.
| Die rubmvolle Sdladt bet Borgo zeigte ben Frangofen,
Gregorovins, Corsica. I. 8
114
welches Volk fie gu unterjoden gefommen waren. Gie batten
nun alles Land wieder verloren bid auf die fefter Plage.
Chauvelin aber berictete an feinen Hof feine Verlufte und
forderte neue Truppen. Man fanbdte ibm 10 Bataillone.
Zwölftes Rapitel. = + —
Zu diefer Zeit war vie Sympathie fitr die Corsen ſtärker
geworden als je. Jn England namentlid fprad die sffentlide
Meinung laut fiir dad unterdritdte Volf und forderte die Rez
gierung auf gegen den Despotismus eingufdreiten, deſſen
Grundfage Frankreich fo fdamlos in Ausfibrung bradte.
Man fagte, dap Lord Chatham wirtlid) ben Gedanten fabte,
einen Madhtfprud yu Gunften der Corsen eingulegen. Diefe
bielten ihre Augen freilidh auf England geridtet, bhoffend,
bap eine grofe und freie Nation ein freies Volk nicht werde
untergebn laſſen. Gie taufdten fic. Die brittiſche Regierung
unterfagte wie im Jahre 1760 allen Verkehr mit den corsiſchen
„Rebellen.“ Nur auf private Weife ſprach fic) bas englifde
Volk aus, und bei folden Kundgebungen und Geldjpenden
verblieb 3.
Trotz ver Erfolge, welche ſein Volk errungen hatte, fab
Paoli die ganze Gefabr feiner Lage. Gr ſchlug Frantreid
einen Vergleid) vor, wonad dem Könige die Vandeshobeit,
den Corsen ihre Verfafjung bleiben, Genua eine Entſchädigung
erhalten follte. Dan verwarf die? Anerbieten. Chauvelin
fühlte indeß feine Schwäche. Wie Sampiero und wie Gaffori
follte deshalb aud) Paoli durch Meuchelmord enden. In der
Geſchichte eines jeden freien Vols wird niemals der Verrat
vermißt; denn die menfdlide Natur ſcheint bes Schattens der
Gemeinbeit nicht entbebren zu tinnen, wo fie am reinjten
115
glangt. Es fand fic) ein Berrater in dem Sohn des eigenen
Kanzlers Paoli's, Matia Maſſeſi; Briefe vie er verlor ents:
hüllten die gebeime Abſicht. Bor den Staatsrat geftellt ge:
ftand er und wurde dem Genter dberliefert. Cin anderer An⸗
ſchlag von dem unrubigen Dumouriez, welder damals in
Gorsica diente, geſchmiedet, um Paoli in feinem Haufe zu
Isola Rossa aufzubeben, miplang gleidfalls.
Chauvelin hatte die neuen Bataillone ind Feld geftellt;
aber aud) Ddiefe waren von den Cor8en in Nebbio juriid:
gefdhlagen worden: Tief beſchämt ſchickte der ftolze Marquis
Boten nad Frantreid, welde die Schwierigkeit, Corsica ju
bandigen, ‘erfliren follten. Die franzöſiſche Regierung rief
bierauf Ghauvelin von feinem Poſten ab, im December 1768,
und ernannte Marbeuf zum einftweiligen Oberbefehl3haber,
bid der Nachfolger, der Graf de Vaur eingetroffen fein wiirde. -
De Vaur hatte unter Mtaillebois in Corsica gedient; er
fannte das Land und wußte wie man dort den Rrieg gu
fibren -babe. Wusgeriiftet mit einer Waffenmadt von 45 Ba-
taillonen, vier Regimentern Reiterei und betridtlider Artillerie,
beſchloß er den Kampf mit einem Sdlage zu endigen. Ym
Angeſicht diefer Gefahr berief Paoli das Volk nad) ber Caz
finca am 15. April 1769. Mtan fate hier ven Beſchluß bis
gum letzten Blutstropfen zu kämpfen und jeden Mann im
Lande aufgubieten. Lord Pembrode, der Admiral Smittoy,
andere Cnglander, Deutſche und Staliener, Freunde der corsi⸗
ſchen Sache, welde gugegen waren, erjtaunten über die ges
faßte Haltung der nach der Cafinca ſtrömenden Milizen. Viele
Fremde ftellten -fid) unter die Reiben der Corsen. Auf ihrer
Seite ftand aud) eine ganze Companie Preufen, welde aus
genueſiſchem Dienft in den corsiſchen getreten waren. Dod
durfte fid niemand das Vergiweifelte ber Lage verbergen; es
wirlte bereit3 franzöſiſches Geld im Lande, der Verrat taudte
auf; felbft Gapraja war durch folden gefallen.
116
Mit aller Macht marfdhirten die Franjofen gegen Mebbio.
Diefe von einem langen und ſchmalen Tal durchſchnittene Berg:
proving war fdon oft ver Schauplatz entſcheidender Kämpfe
geweſen. Paoli hatte bier feinen. Standort genommen, nad:
bem er Galiceti und Gerpentini in der Cafinca gelaffen batte.
Der Angriff begann am 3. Mai. Rach einem Kampf von
drei Tagen wurde Paoli aus Murato, feinem Lager, ver:
trieben. Gr befdlop nun über den Golo zu ziehen und dieſen
Fluß swifden fid und bem Feinde zu halten. Bn Roftino
blieh er ftehen und übertrug Gaffori und Grimaldi die Ber:
teidigung von Leuto und Canavaggia, denn auf diefen Punkten
fonnten die Frangofen leicht vorwarts dringen. Aber Gri-
malbi wurbe gum Verrater, und Gaffori, ungewiß aus welchen
Griinden bebauptete feine Stellung nicht.
So geſchah es, dab die Feinde von den Hibben herab-
famen und gegen Pontenuovo, die Britde, weldhe über den
Goloflup führt, vordbrangen. Wm Golo ftanden die Corsen
ausgebreitet, bie Preupencompanie und mebr als 1000 Mann
hielten die Bride. Die Frangofen trieben die Miligen vor
fidh ber, und diefe ftiirmten -gegen den Flup, um hinüber
gu fommen. Die Preußen gaben in der Verwirrung Feuer
auf ibre eigenen Freunde, während zugleich bie Frangofen
mit bem Bajonet andrangen. Das fdredlide Wort ,, Verrat!”
lieB fic) hören. Bergebens ſuchte Gentili die Aufldjung ju
bemmen; fie wurde allgemein; feine Stelung war mebr halts
bar, und in wilber Flucht zerftreuten fid) die Milizen in die
Walder und das umliegende Land. Die unglidlide Schlacht
bet Pontenuovo wurde gefdlagen am 9. Mai 1769; an
dieſem Tage derlor bas Volk der Corsen feine Freiheit und
ſeine Selbſtändigkeit.
Noch verſuchte Paoli den Feind am Eindringen in die
Proving Cafinca zu hindern. Es war zu ſpät. Das ganze
Land dieſſeits der Berge fiel in wenig Tagen in franzöſiſche
117
Gewalt, denn jenes inftinctartige Gefühl der Rettungsloſigkeit,
weldeS die Gemilter eines Volks in ſchweren Wugenbliden yu
ergreifen pflegt, batte fid) der Corsen bemadtigt. Es feblte
ibnen ein Mann wie Gampiero war. Paoli verjiweifelte. Er
war nad Corte geeilt, der Entſchluß fein Vaterland yu ver:
laffen war ibm nabe gefommen. Der tapfere Serpentini hielt
zwar nod) in der Balagna Stand, und Clemend Paoli neben
ihm war entfdloffen bis auf den letzten Atemzug gu kämpfen,
Abatucci endlich bebauptete fich noch jenfeits der Berge mit
einer Schar kühner Patrioten. Es war nod nicht alles ver-
loren; wenigſtens fonnte man den fleinen Krieg fortfihren,
wie ebedem Rinuccio, BVincentello und Sampiero es gethan
batten. Wher ein Mann wie Pasquale Paoli fonnte nicht die
Hartnadigkeit des Charakters befigen gleid) jenen Menſchen
vergangener Zeit, nod) wollte er, der Gefeggeber feines Volts,
gum Bandenführer in ben Bergen herabfinken. Gr ergab fid
der Rotwendigkit. Bu ibm ftieBen fein Bruder Clemens,
Serpentini, Whatucci und andere. Die Heine Scar eilte
nad Vivario, dann am 11. Bunt nad dem Golf von Porto |
Vecchio. Dort fcifften fie fic), dreihundert Corsen an der
Zahl, auf einem engliſchen Schiff ein; fie gingen über Tos⸗
cana nad England, welded fortan bid auf unfre Sage das
Aſyl der Fliidjtigen verungliidter Nationen geworden ift, und
feither niemal3 edlere Flidtige gaftlid) aufgenommen bat.
G8 hat nidt an Golden gefeblt, welde im Hinblid, auf
die alten tragifden Corsenhelden Paoli der Schwachheit an-
geflagt baben. Wie er felber fic erfannte, beweifen feine
eignen Worte. Gr fagte in einem Brief: ,Wenn Sampiero
in meiner Beit gelebt hatte, fo würde mir bie Befreiung des
Landes weniger Mühe gefoftet haben. Was wir fir die Ord-
nung unferes Volks verfudten, das hatte er vollendet. Es
bedurfte damals eines Mannes, der jo kühn und unternehmend
war, daß er ben Schrecken bid in die Bankſtuben von Genua
118
warf. Frankreich hatte fic) nicht in den Kampf gemifdt, oder
e3 würde bod) einen furdtbarern Gegner gefunden baben,
al alle diejenigen waren, die id) ibm entgegenftellen fonnte.
Wie oft habe ich bas nicht beklagt! Sider, es war nidt
Mut, nod heroiſche Bebarrlidfeit, was den Corsen feblte,
fonbdern ein Führer, ber den Krieq in Gegenwart von et:
fabrenen Generalen leiten fonnte. Wir batten uns in dieſes
edle Werk geteilt; während id an einem Geſetzbuch arbeitete,
weldes den Gebrauden und Bediirfniffen der Ynfel entjprad,
bitte fein gewaltiges Schwert unfer gemeinfames Werk be-
feftigt.“
Am 12. Juni 1769 war das corsifde Volk ben Fran:
zoſen erlegen. Doc mitten in dem großen Schmerz, dab nun
vod) Jahrhunderte beifpiellojer RKampfe die geliebte Freibeit
nidt gu retten vermodt batten, und nod unter bem Waffen:
[arm der alles Land dieffeits wie jenfeits der Berge befependen
Franzoſen, gebar dieſes corsiſche Voll in unerſchöpfter Helden:
fraft am 15. Wuguft Napoleon Bonaparte, den Vernidter:
Genua’s, Unterjodher Frankreihs, und Rader feined Volts.
Solde Genugthuung wollte das Sdidjal ben Corsen in ihrem
Sturze geben und die Heldentragdnie ihrer Gefdidte vers
ſöhnend ſchließen.
Corsican,
Aus meiner Wanderfdaft im Sommer 1852.
Nel mezzo del cammin di nostra vita
Mi ritrovai per una selva oscura,
Che la diritta via era smarrita,
Ahi quanto a dir qual era 4 cosa dura,
Questa selva selvaggia ed aspra e forte — —
Ma per trattar del ben ch’ i’ vi trovai,
Dird dell’ altre cose, ch' io v'ho soorto.
Dante.
Erfies Sud.
‘
— —
Erſtes Kapitel.
Eintritt in Corsica.
Lasciate ogni speranza voi ch’entrate.
Dante.
Die Fabrt von Livorno gegen Corsica hin ift unterbals
tender al3 die von dort nad Genua. Denn ftets bat man
pen UAnblid ver Bnfeln des toscanifden Canals vor fid.
Ginter uns lag Livorno mit fetnem Maſtenwald yu Füßen
des Monte Nero, wor uns der einfame durchbrochene Turm
~ auf Meloria, jener Klippe im Meer, an welder die Pifaner
unter Ugolino von ben Genuefen vernidtet wurden, fo dap
ibre Seemadt fant und Genua feitbem aud in den Befit
Corsica's fam; weiterhin die Felfeninfel Gorgona, ihr nabe
im Weften das Eiland Capraja. Jn ibrem Angefidt erinnert
man fid) an die Verſe Dante’s in feinem Ugolino-Gefange:
Weh vic! o Pifa, allem Volk gehäſſig
Im fdhinen Land, wo man das Si birt klingen;
Weil vid) gu ftrafen deine Nachbarn laffig,
Bor mag Capraja und Gorgona dringen,
De3 Arno Mundung daͤmmend gu verftopfen,
Dah feine Fluten all dein Volk verjdlingen.
- 122
Die Inſel Caprajq verdedt das Weftende Corsica’s, aber
binter ibr fteigen die blauen Berge des Cap Corso in weit
ausgedebnten Linien aus dem Meere auf. oc weiter weft
lid) geigt fic) Elba, ein madtig herausgehobenes Felfenciland,
nad dem Feftland abjinfend und der Terra Firma Piombino’s
gugetebrt, welche in ſchwachen Linien angedentet ift. ;
Das Meer ftralte in dem tiefften Purpurblau, und die
binter Capraja unterfinfende Sonne überzog bie Segel vorüber⸗
fabrender Schiffe mit einem fanften Roſenrot. Eine Fabrt
auf diefem Beden de3 Mittelmeer3 ijt in Wahrheit eine Fabrt
burd die Geſchichte ſelber. Ich dachte mir diefed ſchöne Meer
bevölkert von Flotten der PHsnizier und ber Griechen, von den
Sdiffen jener Phokäer, weldhe einft hier herumfdwarmten —
dann Hasdrubal und die Carthager, die Etruster, die Römer,
Mauren und Spanier, die Pifaner und Genuefen. Wher nod)
eindringlider. mabnt der Wnblid Elba's und Cor3ica’s an das
gripte Weltorama der neuen Heit, welches den Namen Na⸗
poleon tragt. Beide Inſeln liegen friedlich neben etnander,
fo nabe faft wie eines Menſchen Wiege und fein Grab. Corsica,
welde3 Napoleon gebar, dehnt fic) weit vor den Bliden aus,
Elba ift Hein. Dad alfo war die Felfengwangsjade die man
vem Rieſen anlegte. Gr zerfprengte fie fo leicht, wie Simfon
pie Bande der Pbilifter. Dann ſtürzte er bet Waterloo. Gr
war von Elba ab nur ein Abenteurer wie Murat, der von —
Corsica aus, Napoleon nadabmend, mit einem Haͤuflein
Solbdaten Neapel erobern ging und tragifd endete.
Der VBlid auf Elba wirft in die angeregte Phantafie eine
Fata Morgana, bas Bild ber fernen afrifanifdhen Sanct’
Helena, Vier Inſeln beftimmten das Gefdhid Napoleons:
Corsica, England, Elba, Sanct’ Helena. Gr felber war eine
Inſel im Ocean der Weltgefdhidte, unico nel mondo, fo
fagte ber corsiſche Schiffsmann, neben bem id) ftand, im Wns
geſicht Corsica’s von Napoleon fpredend.
° 123
—
Mittlerweile ward es dunkel. Die Sterne leuchteten, die
Meereswellen phosphorescirten. Hoch über Corsica blinkte die
Venus, die stellona, der große Stern, wie ibn die Schiffer
nennen, und auf welden dad Schiff bielt. Wir fegelten
zwiſchen Elba und Capraja und bart an den Felfen dieſes
Giland3 vorbei. Dort fap einft der Gefdhidtidreiber Paul
Diaconus in der Verbannung. Capraja ijt ein nadter Granit-
fels. Gin genuefifher Turm fteht auf einer Klippe und der
- eingige Ort der Inſel, ihres Namens, verſteckt fic furdhtfam
binter bem gigantifden Felfen welden die Feftung krönt. Die
weipen Mauern und ‘Hauser, bas rötliche Geftein, vie Dede —
und Weltverlaffenheit maden den Eindruck irgend einer fyris
ſchen Selfenftadt. Capraja, bas die Corsen zur Beit Paoli’s
eroberten, war ben Genueſen geblicben al8 fie Corsica an
Frankreich verhandelten. Mit Genua fiel die Ynfel an Piemont.
Wir nabten dem Ufer Corsica’s, auf. weldem ein Feuer⸗
fdhein bin und her blinkte, bid endlid) dad Schiff auf den
Fanal von Baftia losftenerte. Wir waren im Hafen. Die
Stadt umringt ibn, links dad alte genuefifdhe Fort, rechts die
Marina, hod daritber ountle Berge. Cin Boot fam ans Sdiff
und nabm die Paffagiere auf, welde an3 Land fteigen wollten.
So betrat ich denn dieſe Inſel wirklich, die mid ſchon
als Kind fo mächtig gelodt hatte, wenn ich fie auf ber Rarte
betradtete. Der Eintritt in ein fremdes Land, zumal in der
Nacht welche es geheimnipvoll verfdleiert,. ift ermartungsvoll
fpannend, und die erften Eindrücke pflegen für Tage 3u be—⸗
ftimmen. Ich geftebe, meine Stimmung war die unbeimlidjte
und id fonnte mid ihrer lange nicht erwebren. Wir in
Deutfdland wiffen von Corsica faum mehr als dab Napoleon
dort geboren wurde, daß Pasquale Paoli dort heldenmiitig um
die Freibeit fampfte, un¥ daß die Corsen die Blutrade und
die Gajtfreundfdaft üben und die verwegenften Banditen find.
Ich batte die duntelften Vorftellungen mit mir gebradht, und
124 e
die erften Begegniffe waren ber Art, dab fie wol beredtigt
au fein fdienen. |
Das Bot landete am Kai, auf weldem beim fparlicen
Sdein von Gandlaternen eine Gruppe von Doganieri und
Matrofen ftand. Der Botsmann fprang an3 Land. Ich fab
wenige Menfden von fo abfdredender Geftalt. Gr trug die
phrygiſche Mũtze von roter Wolle auf dem Ropf und ein
weifes Tud) fiber dad eine Auge gebunden; die grundlofe
Wut, mit welder er fluchend und das empfangene Ueberfahrts⸗
geld bet ber Laterne befebend, die Reifenden anfdrie, gab
_ mir cine erfte Brobe vom corsiſchen Jahzorn.
Die auf dem Kai Stehenden waren im eifrigften Gefprad.
Ich hörte fie ergablen, daß vor einer Viertelftunde ein Mann
feinen Nachbar mit Doldfticen ermordet habe (amazzato,
amazzato, ein Wort das id in Corsica ungeziblte Male
gehört habe; amazzato con tre colpi di pugnale). Wes:
balb? — „Nur in der Hitze de Streit3; die Sbirren laufen
binter ihm ber; er wird fdon in der Macchia fein.” Die
Macchia ift ver Buſchwald. Bn Corsica hbrte id das Wort
macchia ebenfo oft alg amazzato ober tumbato.. Gr ijt
in die Macchia gegangen heißt fo viel als: er ift Bandit ge-
worden.
Ich empfand jene Spannung, welche die Erwartung aben⸗
teuerlicher Dinge erregt; ich war im Begriff eine Locanda
aufzuſuchen. Ein junger Mann trat auf mich zu und ſagte
mir auf toscaniſch, daß er mich in ein Gaſthaus führen wolle.
Ich folgte dem freundlichen Italiener, einem Bildhauer aus
Carrara. Kein Licht als die Sterne am Himmel brannte in
den engen Straßen Baſtia's. Wir klopften an vier Locanden
vergebens; keine offnete. Wir klopften an der fünften; niemand
hörte. Hier werden ſie nicht aufthun, ſagte der Carrareſe,
denn des Wirten Tochter liegt auf der Todtenbahre. Wir
gingen eine Stunde in ber Sden Stadt umber, niemand mochte
&
125
unfer Poden hören. Iſt die alfo die gerühmte corsiſche
Gajtlidfeit? Mid oink, id bin in die Stadt bed Todes - gee
fommen, und morgenden Tags will id) über das Tor von
Baftia ſchreiben Ihr die ihr eingeht, laßt jede Hoffnung
ſchwinden.
Wir wollten indeß noch einen Verſuch machen. So weiter
wankend ſtießen wir auf einen Trupp von Reiſenden, welche
fo unglücklich geweſen waren als ich. Es waren zwei Fran:
zoſen, ein italieniſcher Emigrant und ein engliſcher Convertit.
Ich ſchloß mich ihnen an, und nochmals machten wir die
Rundreiſe der Gaſthäuſer. Das brachte mir nun vorweg
keinen guten Begriff von der Cultur Corsica's bei, denn
Baſtia iſt die größte Stadt der Inſel und zählt etwa 15000
Einwohner. Fand der Fremde ſchon hier keine Aufnahme,
was ſollte er im Innern des Landes finden?
Unterdeß begegnete uns eine Rotte .Sbirren, coriſche
Gendarmen, braune Kerle mit ſchwarzen Bärten, in blauen
Leibröcken mit weißen Achſelſchnüren, die Doppelflinten auf
den Schultern. Wir klagten ihnen unſre Not. Es erbot ſich
einer uns zu einem Soldaten ju führen, der einen Weinſchank
halte; dort, ſo meinte er, würden wir unterkommen. Er
führte uns an ein altes Haus gegenüber dem Fort. Wir
klopften ſo lange, bis der Soldatenwirt wach wurde und ſich
am Fenſter zeigte. In demſelben Augenblick rannte jemand
an uns vorüber, unſer Sbirre ihm nach ohne ein Wort zu
ſagen, und beide waren im Dunkel der Nacht verſchwunden.
Was war's? was ſoll dieſe Jagd bedeuten? Nach einer Weile
kehrte der Mann zurück; er hatte geglaubt der Laufende fei
der Moͤrder geweſen. „Aber, fo ſagte ev’, der iſt ſchon in
den Bergen, oder ein Fiſcher hat ihn nach Elba oder Capraja
hinübergefahren. Vor Kurzem haben wir den Arrighi im
Gebirg erſchoſſen, auch den Maſſoni und den Serafino. Er
hat uns funf Leute getödtet.“
v
126
G3 erfchien ber alte Soldatenwirt und führte uns in ein
großes, febr unfaubres Bimmer. Wir fegten un3 froh um —
ben Tiſch und lieBen uns das Nachtmal wol gefallen, treff-
liden corsifden Wein, der an Feuer dem fpanijden gleidt,
gute Waizenbrod und friſchen Sdaffafe. Cine dunftige Oel⸗
lampe erbellte dies bhomerifdhe Wandermal, dem die Laune
nidt feblte. Da wurde mander gute Trunk auf die Helden
Corgica’s ausgebradt; und eine Flafde nah der andern holte
der Sbirrenwirt aus der Gde hervor. Wir waren vier Maz
tionen beifammen, Corse, Franzoſe, Deutfder und Lombarde.
$d) nannte einmal den Namen Louis Bonaparte und that
eine Frage — da verftummte ploglid) die Gefellfdhaft, und
die muntern Franjofen machten ein niedergefdlagnes Gefidt.
WNmalig graute der Morgen. Wir verlieBen die Caja” des
alten Corgen, wanbderten an dad Meer und weideten uns an
vem Schimmer der Frühe, welder auf ihm glangte. Die
Sonne ftieg auf und erhellte die drei Ynfeln, die man von
Baftia aus vor fid liegen fieht, Capraja, Elba und das Heine
Monte Crifto. Die vierte in diefer Reibe ijt Pianofa, dad
alte Planafia, auf welder Tiberius ben Entel ded Auguftus,
Agrippa Pofthumus, erwürgen ließ; fie ift flac) wie ihr Name
e3 fagt und be8halb von bier aus nicht zu erfennen. Der
beftindige Anblick jener drei blauen Inſeln am Saum ded
Meers macht die Spaziergänge in Baftia doppelt fain.
Ich febte mic) auf das Gemäuer des Forts und blidte
auf das Pteer und den fleinen Hafen der Stadt, in welchem
faum ſechs Schiffe anterten. Die braunen Ufer, die griinen
Höhen mit ibren Olivenbainen, kleine Capellen am Strand,
eingelne graue Türme aus der Genuefengeit, das Meer in aller
Pracht ſüdlicher Farbe, das Gefühl in ibm verloren auf einer
fremben Inſel gu ftehn, dad madte damals einen unauslöſch⸗
lichen Cindrud auf mein Gemiit. , |
Als id) das Fort verließ, um nun am hellen Tag in etn |
127
Gajthaus überzuſiedeln, hatte ic) wieder eine Scene vor mit,
welhe wild und bigarr genug war. Cine Ptenfdenmenge
“ umftand zwei Carabinier3 gu Pferd; fie batten vor fid) an
einer Leine einen Mann gebunbden, welder die twounderlidften
Spritnge madte und alle Bewegungen eines Pferdes nad:
abmte. Ich erfannte, dag der Mann ein Verritdter fei und
ſich mit der Vorſtellung ſchmeichelte, ein edles Roß zu fein.
Niemand von den Umftebenden lachte. Alle ftanden ernft und
ſtill; und da id diefe Menfden in ſolchem Schweigen vor
nem Glend fab, wurde mic gum erften Mal auf ibrer Inſel
wol und id fagte mir, dap bie Corsen nidt Barbaren feten.
Die Reiter ritten mit dem Verritdten endlid ab, welder die
ganze Strape entlang wie ein Pferd an der Leine trottirte
und feclenvergnilgt gu fein fdien. Diefe Art, ihn an feinen
Heftimmungsort zu fdaffen, indem man fic) feiner firen Yoee
dabei bediente, erfchien mir ſchlau und zugleich naiv.
Zweites Kapitel.
Die Stadt Baſtia.
Die Lage Baſtia's iſt wenn auch nicht ausgezeichnet doch
immer überraſchend. Die Stadt liegt im Amphitheater um
ven fleinen Hafen; das Meer biloet hier feinen Golf, fon-
bern nur einen Landungsplag, eine Cala. Die rechte Seite
des Hafens fperrt ein gigantifder ſchwarzer Fels, vom Volk
Leone genannt, teil er einem Löwen ähnlich fieht. Ueber ihm
ftebt das finftre genuefifde Fort, ber Donjon. Links laiuft
ner Rai in einen Molo aus, der auf-feiner Spige einen
Leudtturm tragt. Ueber dem Hafen fteigt die Stadt in
Lerraffen auf, hohe Häuſer, eng zuſammen, turmartig, mit
vielen Balfonen: über ber Stadt grüne Berge mit verlafjenen
128
Klöſtern und Olivenbainen; aud) Frudtgdrten von Orangen,
Citronen und Mandeln gibt e3 da in Fille.
Bajtia hat feinen Namen von der Baftei, welde die, Ge⸗
nuefen dort bauten. Die Stadt iſt nidt alt, weder Plinius —
nod Strabo oder Ptolemaus nennen einen Ort auf ihrer Stelle.
Ehemals ftand dort die Heine Marina ded Ortes Cardo, welder
~ in der Nabe liegt. Darauf ließ im Jahr 1383 der genuefifde
Vicekönig Lionello Lomellino bas Caftell erbauen, um welded
bald ein Stadtteil, die Terra nuova, entftand; der urfpriing:
lide, untere hieß nun die Terra Vecchia. -Beide bilden nod
heute zwei getrennte Cantons. Die Genuefen verlegten ben
Sig ihrer corsifdhen Regierung von Viguglia nad Baftia,
und bier wobnten die Fregofi, bie Spinola, bie Doria —
elf Doria regierten Corsica in mehr als 400 Jahren — die
Fieschi, Cibd, Giuftiniani, Negri, Vivaldi, Fornari und fo
viele anbere Gole beriihmter Familien Genua’s. Als Corsica
unter franzöſiſcher Herrfdhaft im Jahr 1797 in zwei Departe-
ment3 gefdieden wurde, twelde nad) den Flüſſen Golo und
Liamone genannt wurden, blich Baſtia ver Hauptort de
‘erften. Im Jahr 1811 vereinigte man beide wieder, und
nun tourde das kleinere Wjaccio die Landeshauptftadt. Mod
heute fann Baftia es nidt verſchmerzen, dap e8 einft das
Haupt der Ynfel war, und jept gu einer Souspräfectur herab-
gejunten ijt, aber obne Zweifel ijt e3 durch Induſtrie, Handel
und Bilbung nod immer das Haupt Corsica’s. Die gegen:
feitige Giferfudt der Baftianer und der Birger Wjaccio’s
würde als laderlide Kleinſtädterei erſcheinen, wenn man nidt
wilpte, dap die Scheidung Corsica's in bas Land dieffeit3
und jenfeits der Berge uralt hiſtoriſch ift, und fo ift aud der
Charatter der Bewohner beider Landeshalften verfdieden. Jen⸗
feitS der Berge, welde Corsica von Nord nad) Sitd teilen,
herrjdt bei weitem mehr Wildbeit; alles geht dort bewaffnet;
dieffeitS ijt mebr Cultur, mehr Wderbau, mehr milde Citte:
129
Die Terra Vecchia iſt jetzt eigentlic) gur Terra Nuova ge-
worden, denn fie enthalt die beften Straßen. Die anfebnlidfte
ift die erft wenige Sabre alte Via Traverfa, eine nad dem
Meer hingebogene Strafe von ſechs⸗- und fiebenftodigen Hau-
fern, welche nod) fortgebaut wird. Ihre Lage erinnerte mid
an die ſchönſte Straße, bie ich nod irgend fab, die Strada
Balbi und Nuova in Genua. Wber die Häuſer, obwol palaft-
artig, baben nichts von Runft nod von edlem Material an
fis. Corsica hat die edelften Steinarten in faum glaublider
Fille, Marmor, Porphyr, Serpentin, Wlabafter, Granite
köſtlicher Art, dod) werden fie faum verwendet. Die Natur
liegt bier fiberall verwabrioft, fie ijt eine {chine vergauberte
Prinzeſſin.
Man baut jetzt in der Via Traverſa einen Juſtizpalaſt,
für deſſen Arcaden ich in den Marmorbrüchen bei Corte die
Gaulen heraushauen ſah. Sonſt fab id) mid vergebens nad
Marmorfhmud um; dod, und wer wird es glauben, die
gange Stadt Baftia ift mit Dtarmor gepflaftert, einem rit:
lidhen Stein, welder in Brando gebroden wird. Yh weiß
nicht, ob es wabr ijt, dab Baftia das vortrefflidjte Pflaſter
in der gangen Welt habe. Sagen babe id es hören.
Troy ihrer Lange und Breite ift vie Via Traverfa die
Sdefte von allen Straßen Baftia’s. Wier Verkehr fammelt
fid auf dem Blak Favalelli, auf bem Rai und in der Terra
Nuova um das Fort. Abends luftwandelt die ſchöne Welt
auf den großen Platz Gan Micolao am Meer, wo die Unter:
präfectur und der oberfte Gerichtshof fteben.
Kein fddner Bau feffelt hier den Fremden, feine Unter⸗
haltung find allein bie Gpagiergange am Meer und in die
vom Oelbaum umjdatteten Berge. Die RKirden find zum
Seil groß und reid, aber plump im Aeußern und obne be:
fondere Kunft. Der Dom mit mandhem Grab genuefifder-
Herren, liegt in ber Terra Nuova, in der Terra Vecdia ſteht
Gregorovinus, Corsica, I. 9
130
die anfebnlide Kirche Sanct Yohanni3 de3 Täufers. Ich nenne
fie nur um des Grabes Marbeuf's willen. Mtarbeuf hatte
Corsica fechzehn Jahre lang regiert; er war der Freund de3
Carlo Bonaparte, des einft fo warmen Anhängers Paoli's
gewejen, und er hatte bie Laufbabn Napoleons eröffnet, in⸗
bem er ihm eine Ctelle in der Militärſchule zu Brienne ver=
ſchaffte. Gein Grab in jener Kirche hat feine Inſchrift, weil
bie utjpritnglide zur Beit der paoliſtiſchen Revolution gegen
Frankreich vernidtet ward. Die corsifden Patrioten batten
damals auf dew Grabjtein Marbeuf3 geſchrieben: „Das Monu⸗
ment welches die ſchimpfliche Lüge und die feile Schmeichelei
dem Tyrannen des ſeufzenden Corsica gewidmet, hatte nun
bie wabre Freiheit und die freie Wahrheit de3 ganzen jubeln-
den Corsica zerſtört.“ Nachdem Bonaparte Raifer geworden,
wollte Madame Letitia der Wittwe Marbeufs ven erften Rang
einer Hofdame verleiben, aber Napoleon vermied diefe Vact-
lofigfeit, indem er erfannte, dab e3 unfdidlic) fet Madame
Marbeuf einen Dienſt in derjenigen Familte angutragen, welche
der Gönnerſchaft ihres Gemals fo viel zu verdanfen hatte. Gr
bewilligte bem Gobne Marbeufs ein Yahrgehalt von 10000 Fran-
fen, aber der junge General fiel an der Spige feines Regi-
ment3 in Rupland. — Das fleine Theater Baſtia's ijt ein Dent:
mal Marbeufs, er hat e3 auf feine Koſten erbauen laſſen.
Nod eines andern nambaften Franzoſen Grab liegt in
Sanct Johann, das de3 Grafen Boiffieur, welder im Jahre
1738 ſtarb. Gr war Neffe des berifhmten Villars, in der
Kriegführung hatte er fein Glück gebabt.
Die grdpte Ungiehung hatte fiir mid in Baſtia das Leben
im Hafen und das Treiben auf den Markten.
Da ift der Fiſchmarkt. Ich unterließ e3 nicht jeden Mor-
gen den Meerthieren meinen Befud zu machen, und wenn die
Stider etwas abſonderliches gefangen batten, fo zeigten ſie's
mir freunblid) unb fagten: died heißt murena, und died ift
PS
131
bie razza und das ber pesce spada und der pesce prete, und
die triglia, bie fo fain rot ift, und ber capone und ber
grongo. Da im Winkel, wie nicht zünftig, figen die Teich—
fifcher; die Oſtküſte Cor3ica’s hat große Teiche, welche durd
ſchmale Nehrungen vom Meer getrennt find und mit ibm in
Verbindung ftehen. Die Fifder fangen dort in Binſenreuſen
große und ſchmackhafte Fiſche. Der ſchönſte aller ift vie Mu—⸗
rene; fie gleidt einer Schlange, aus dem edelften Porphyr gee
bildet. Sie verfolgt ben Seekrebs (legusta), in ben fie ſich binein-
faugt; die Leguſta fript wieder die Scorpena und die Scor⸗
pena wiederum die Pturena. Da haben wir das fdharffinnige
Wigfpiel von Wolf, Lamm und Kohlkopf, und wie diefe über
einen Fluß yu bringen feien. Ich bin zu wenig Diplomat
um dieſen verfreuzten Krieg der drei Fiſche zu fdlidten; die
Fiſcher fangen oft alle drei in einem und demfelben Meg.
Man fängt in den Golfen viel Thunfijde und Sardinen, be-
fonder3 bei Wjaccio und Bonifazio. Die Römer mochten feine
Sclaven aus Corsica, weil fie zu trogig waren, aber die
Fiſche der Inſel prangten auf den Vifden der Gropen und
felbft Suvenal weiß fie zu rühmen.
Der Markt am Platz Favalelli gewahrt de} Morgens einen
lebhaften Unblid. Dort figen namlid) die Gemüſe- und Frucht⸗
hanbdlerinnen mit ihren Körben, aus denen die fchinen Früchte
des Südens Laden. Man braudt-nur auf diefen Markt zu
geben um gu fernen, wa die Natur Corsica’s hervorbringt ;
da find Birnen und Aepfel, Pfirfiche und Aprifofen, Pflau⸗
men jeder Art, bier griine Mtandeln, Orangen und Limonen,
Gtanatapfel, daneben RKartoffeln, wieder Blumenftrdusdhen,
dort griine oder blaue Feigen, und die unvermeidliden Pomi
d'oro (pommes d’amour); da die köſtlichſten Melonen, das
Stid fitr einen Gofdo: mit dem Auguft finden fid) aud die
- Muscatellertrauben vom Cap Corso ein. Aus den Dérfern
in der Nahe fommen in voller Morgenfrithe Frauen und Mäd—
132
den berab, Früchte nad der Stadt gu tragen. Mande ſchöne
Geftalt -fieht man unter ibnen. Eines Whends wanderte ‘id
am Meer entlang nad) Pietra Nera yu, und traf ein junges
Mädchen, welches den leeren’ Frudtforb auf dem Kopf nad
ibrem Dorf juriidging. Buona sera — Evviva siore.
Mun gab’s eine lebhafte Unterhaltung. Die junge Cordsin
ergablte mir mit der grifeften Unbefangenbeit die Gefdidte
ihres Herzens; ihre Mutter zwingt fie einem jungen Menfden
die Hand gu geben, weldjen fie nit mag. Warum migt
ihr ihn nicht? Beil mir fein Wefen nicht gefallt, ah ma-
donna! — Iſt er eiferfiidtig? — Come un diavolo, ah
madonna! Ich wollte ſchon nad Ajaccio entfliehen.” — Jn:
bem wit fo fortredeten, fam ein Corse un3 entgegen, welder
mit dem Rruge in der Hand zur Wafferquelle ging. ,, Wenn
Ihr Wafer trinken wollt, fagte er, jo wartet ein wenig, bis
id berabfomme, und du, Baolina, komme nadber zu mir,
id babe dir wegen deiner Heirat etwas zu ſagen.“
Sebet, fagte mir dad Madden, das ijt einer aus meiner
Sippſchaft, fie find mir alle gut, und wenn id des Weges
gebe, fo bieten fie mir einen guten Abend, und feiner will
e3 3ugeben, daß id) den Antonio heirate. — Wir waren
ibrem Hauſe nabegefommen. - Paolina wandte fic pliglid
ſehr ernft zu mir und fagte: Siore, jest müßt thr umfebren.
denn fomme id mit eud) gufammen in mein Dorf, fo werden
bie Leute eine bdfe Rede maden (faranno mal grido).
Kommt aber morgen, wenn ihr wollt, und feid Gaft bei
meiner Mutter, und dann wollen wir eud) ju unfern BVer-
wandten fdiden, denn wir haben Freundfdhaft genug im
gangen Cap Corso. — Ich kehrte um, und im Anblid des
ſchönen Meeres und der ftillen Berge, auf denen Ziegen⸗
hirten ibre Feuer angugiinden begannen, wurde mir recht home⸗
rif zu Ginne, fo dab id der gaſlichen Phaͤaken und der
Nauſikaa gedenken mußte.
“a
133
—
Die Frauen in Corsica tragen das Mandile, ein Tuch
von beliebiger Farbe, welches die Stirn bedeckt und glatt auf:
liegend um den Zopf gewunden wird, ſo daß die Haare nicht
zu ſehen find. Yn ganz Corsica iſt es gebräuchlich; es iſt
uralt, denn ſchon Frauengeſtalten auf etruriſchen Vaſen ſind
mit bem Mandile abgebildet. Junge Mädchen kleidet es vor⸗
züglich, ältliche Frauen weniger; es gibt dieſen dad Ausſehen
von Judenweibern. Die Kopfbedeckung des Mannes iſt das
braune ober rote Berretto, die uralte phrygiſche Mütze, die
ſchon Paris, der Sohn des Priamus getragen hat. So tragt
fie aud) ber perfifde Mithras. Bei den Rimern war die phry-
gifde Miige das Symbol der Barbaren; died lehren die daci⸗
fen Krieg8gefangenen vom Triumfbogen de3 Trajan, welde
jebt auf dem Bogen des Conftantin ftehen, und andere Bar-
barentinige, Garmaten und Afiaten, die in Triumfzügen ab-
gebilbet find. Diefelbe phrygifde Mtge trugen die Dogen
ber BVenetianer al Zeidhen ihrer Würde.
Die Weiber in Corsica tragen alle Laften auf bem Kopf,
und es ift kaum glaublid) wie viel fie 3u bezwingen vermigen;
fo befdwert alten fie oft nod) bie Spindel in der Hand und
fpinnen im Geben. Gebr fain ſieht e3 aus, wenn fie die
ebernen gweibenteligen Waffergefaffe auf bem Ropfe tragen.
Sh fab fie nur in Baftia; jenfeits ver Berge ſchöpft man bas
Waffer in fteinernen Kritgen von roben, aber dod) nod an
pas Etruriſche ftreifenden Formen.
„Sehen Sie jene Frau mit dem Waſſerkeſſel auf bem
Kopf?” — Ja; was ift an ihr merkwürdig? — ,,Sie wire
heute vielleicht Pringeffin von Sdweden und Gemalin eines
Königs.“ — Madre di Dio! — „Sehen Gie dort jenen
Ort auf dem Berge? das ift Cardo. Cined Tags verliebte fid
der gemeine Soldat Bernadntte dort in eine Bauerstodter.
Die Cltern wiefen den armen Sdluder zurück. Der povero
diavolo wurbe aber eines Tages Kinig, und hatte er jened
134
Madden gebeivatet, fo ware fie eine Kinigin geworden. Da
geht nun ihre Todter die das Wafer auf dem Kopfe tragt
und ſich gramt, daß fie nicht Pringeffin von Schweden ift.”
G3 war auf der Strape von Bajtia nad Gan Fiorengo, wo
Bernadotte als Soldat am Wege arbeitete. Wm Ponte
d'Ucciani wurde er Corporal und war hidft glücklich über feine
Grhdhung; er wadhte nun als Strafenvogt aber die Arbeiter,
dann ſchrieb er fiir Imbrico, den Grefjier am Geridtshof die
Regifterrollen. Es gibt deren nod) eine große Maſſe von
feiner Hand im Ardhin zu Paris.
An der Golobriide, einige Meilen von BVaftia, war es wo
Maſſena zum Corporal ernannt wurde. Ja, Corsica ift eine
wunderbare Inſel. C3 ging mander bier in ben einjamen
Bergen ohne zu träumen, dab er einft eine Rrone tragen
follte, Den Anfang madte der Papft Formofus im neunten
Jahrhundert, welder aus dem corsiſchen Dorf Vivario ge⸗
birtig war, dann folgte.ihm im ſechszehnten ein Corse aus
Baftia Lazaro, Renegat und dann Dey won Algier; eine
Corsin war zur Beit Napoleons erſte Raiferin von Marocco,
und Napoleon felber war erjter Kaiſer Europa's.
Drittes Kapitel.
Gegend um Baſtia.
Wie fchin find hier bie Spaziergänge in ber Morgenfrithe
oder im Abendlicht. Mit wenig Schritten ift man am gropen
Glement oder in ben Bergen, und dort wie bier der Welt ab-
hanben gefommen und in ber wolthuendften Cinjamfeit der
Natur. Wm Meer ftehn dichte Olivenbaine. Oft lagerte id
mid) dort bei einer Familiengruft mit maurifder Kuppel an
einem wonnefam verfdwiegnen Plag, und blidte über die See
135
“
binaus nad ben drei Ynfeln an ihrem Gaum. Die Luft ift
fo fonnig, und fo balfamifd und wobin dad Auge blidt,
jteben in Feiertagsftille braune Felfen am Strand, mit ftad-
lichtem Cactus bebdedt, vereinfamte Wadttiirme, nidt Menſch
nod Vogel auf dem Waffer, rechts und links himmelhohe
Berge, warm und fonnig. .
Sh ftieg über Baftia gu den nächſten Höhen binauf. Wein:
und Olivengdrten, Orangenbaume, kleine Landhäuſer von den
bigarriten Formen, hie und da eine Fächerpalme, Grabfapellen
unter Gypreffen, von Cpheu gang erftidte Ruinen, das liegt
dort gerftreut. Die Stege find beſchwerlich; man wandert itber
Steingerdl und an Mauern, zwiſchen Brombeerbeden und
Eeheugewinden und wildem Diftelgewuder. Der Blid nad
ver Südküſte Baftia’s überraſchte mid. Dort treten die Verge,
wie faft alle Gorsica’s von den ſchönſten Byramidenformen,
weiter zurück und fenfen fanft eine lachende Ebne nieder. Da
liegt der grope Zeid Biguglia, von Schilf umkränzt, todt
und ftill, kaum von einem fdmalen Fiſcherkahn durdfurdt.
Die Abendfonne ging eben unter, als ich diefen Blick genof.
Der Teich -erfchimmerte rofenrot, bie Berge deSgleiden, das
Meer war voll vom Abendglang, ein eingelnes Schiff glitt
daritber hinweg. Die Stille einer grofen Natur weiht die
Geele wie in Mtyfterien ein. Bur linken Hand fab id da
Rlofter Sant’ Antonio unter Olivenbdumen unb Cyprefjen;
zwei Geiftlide ſaßen vor der Halle, und eben traten aus der
Kirche fcdwarzverfdleierte Frauen heraus. Bd fab einft ein
Bild, welches eine ficilianifde Vefperftunde darftellte und er-
innerte mid augenblidlid defjen, da id) es bier wieder fand.
Nun zur Landftrabe hinunter fteigend, fam id) auf den
einen Weg, welder nad Gervione führt; Hirten trieben ihre
Biegenheerden heim und Reiter auf roten Pferden jagten an
mir vorüber, alle die phrygiſche Mütze auf dem Kopf, bas
ſchwarzbraune Wamm3 von Schafwolle itbergeworfen, die
136
Doppelflinte umgehingt, wilde Rerle mit brongenen Geſichtern.
Sh fah ihrer bidweilen zwei auf demfelben Pferde figen,
oft Mann und Weib hinter einander, und in der Sonnen⸗
glut niemals obne den großen Gonnenfdhirm itber fic auf:
gefpannt 3u balten. Der Sonnenſchirm ift bier unentbebrlid ;
id fab häufig Manner wie Weiber am Ufer im Meere figen,
pie Weiber bekleinet, die Männer nadt, und fo fapen fie ges
—ruhig im Waffer und bielten über fic) den Sonnenſchirm,
und ibnen war fannibalijd) wol. Die Weiber reiten hier wie
pie Männer unb find flint auf bem Thier. Der Pann hat
immer die Bucca, bie runde Kürbißflaſche übergehängt, oft
aud einen fleinen Ziegenfdhlaud, den Zaino, um den Leib aker
pie Cardera, einen ledernen Gurt, worin die Kartuſchen fteden.
Vor mir her fdritten viele Manner, welde von der Feld-
arbeit nad der Stadt zurückkehrten. Ich ſchloß mid an fie
an und erfubr von ibnen, dap fie Staliener vom Feftlande
ſeien. Jährlich fommen nämlich von der Terra Firma, be:
fonder3 aus Ligurien, aus Lucca und von Piombino, mebr
al8 5000 Arbeiter auf bie Ynfel, um fiir die faulen Corsen
nie Feldarbeit zu verridten. Mod bid auf ben heutigen Tag
haben fic) die Corsen den wolbegriindeten Ruf der Wrbeit-
. feu bewabrt, und darin find fie andern tapfesn Vergvölkern,
wie den Samniten, durchaus unabnlid. Bene fremden Ar⸗
beiter heißen bier allgemein Luccheſi. Ich habe mid felbft
davon überzeugen können, in welder gritndliden Veradtung
diefe fleipigen Menſchen bei ben Corsen ftehn, weil fie ibre
Heimat verlaffen haben und im Schweiß ihres Angeſichts
der Fieberluft ausgefegt arbeiten, um ein Lohnerſparniß
mit nad Gaufe yu bringen. Oftmals bitte id das Wort
Luccheſe als Schimpfwort gebrauden, und befonder3 ift alle
Seldarbeit in ben Bergen des Bnnern verhaßt und als eines
freien Mannes unwürdig angefehn. Nad der uralten Sitte
per Vater ift dort der Corse ein Hirt, begnitgt ſich mit feinen
137
Biegen, mit dem Mehl feiner Caftanien, dem friſchen Trunk
ſeiner Quelle und der Jagdbeute. .
Ich erfubr zu gleider Zeit, dab Corsica gegenwartig der
Aufenthalt vieler italienifder Demokraten fei, welde nad) der
mifglidten Revolution fic) auf diefe Inſel flidteten. G3 gab
ibrer im Sommer ungefabr 150, Manner aus allen Standen;
die meiften lebten in Baftia. Bd hatte Gelegenbeit die An-
gefebenften dieſer Flüchtlinge kennen ju Ternen und fie auf
ibren Spaziergingen zu begleiten. Es war eine Gefellfdaft,
bunt wie dad politifde Italien, Combarden, Benetianer, Nea⸗
politaner, Romer, Florentiner. Yoh madte die Erfabrung, daß
in einem culturlofen Lanbe Staliener und Deutſche fid) fofort
gegenfeitig angieben und auf neutralem Boden ein freund-
liches Gefühl fiir einander haben; aud hat die Wgemein:
beit der Völkerſchickſale im Jahr 1848 ‘viele Schranken nieder-
gerifjen und gewiſſe Theorien ergeugt, worin der Einzelne,
mag er einer Nation angebiren, welder er wolle, auf gleide
Weife yu Haufe ift. Ich fand unter den Verbannten auf
Corsica Planner und Jünglinge von allen Sdidten, wie fie
eine gleide Gefellfchaft aud) bet uns zuſammenbringt, über⸗
fpannte Schwärmer, andere wieder erfabrene Manner von lebens⸗
fraftigen Grundjagen und hellem Verftande.
Die Welt ift jest voll von Flictlingen der Nationen
Curopa’s; beſonders find fie über bie Inſeln zerſtreut, welde
durch ibre Natur feit alten Seiten zu Wfilen beftimmt find.
G3 leben viele Verbannte auf den jonifden Inſeln, auf denen
Griedhenlands, viele auf Sardinien und Corica, viele auf
den normannifden Inſeln, die meiften in Britannien. C3 ijt
ein europadifdes Los, welches fie tragen, nur der Ort ift vers
ſchieden; dad politifde Schidfal aber der Verbannung ift fo
alt als die Gefdidte der Staaten. Ich erinnerte mid leb⸗
haft daran, wie ehedem Ynfeln de Mtittelmeer3, Samos,
Delos, Aegina, Corcyra, Lesbos, Rhodus die Sufluchtsorte
&
138
®
der politifden Flidtlinge Griedenlands gewefen waren, fo
oft fie Revolutionen aus Athen oder Theben, aus Korinth |
oder Sparta vertrieben batten; id) gedadte ver vielen Ver⸗ |
bannten, welde Rom gur Raifergeit auf die Inſeln verwies, |
wie den Agrippa Pofthumus nad Planafia bet Corsica, den
Philofophen Seneca nach Corsica felbjt. Und befonders war
diefes Giland zu allen Zeiten fowol ein Verbannungsort als
ein Zufluchtsort, alfo im eigentlichen Wortfinn eine Banditen:
infel, und dad ift fie nod bis auf den heutigen Tag. Bn
ben Bergen irren heimatlos die Blutrader, in ben Städten
wohnen heimatlos bie politifden Flüchtlinge. Auf diefen wie |
auf jenen laftet bie Acht, und Kerker wenn nidt Tod würde :
fie treffen, wenn fie dad Geſetz erreichte.
Corsica erfüllt an ben BVerbannten Btalien3 mebr nod
alg die Religion der Gaftlichfeit, aud) die der Dankbarkeit.
Denn in fritheren Yabrhunderten haben verbannte Corsen in
allen Landern Staliens Aufnahme gefunden. Die frangdfifde
Regierung hat ihre Gäſte auf der Ynjel bisher in. liberaler
Weiſe gedulbet. Die Abgefdiedenheit zwingt die Verbannten
su einem befdauliden und wuͤrdigen Stillleben. Sie migen
deshalb gliidlider daran fein al ihre Leidensbrüder auf Jerſey
oder in London. | |
Viertes Kapitel.
Mer Florxrentiner Francesco Marmocchi.
„Zwei, bie Verbannung nur, und ber Verbannte ſind hier.”
Seneca auf Corsica.
Hloosxuvovuytes tyy siuaguEevny Copot
AefSot(us im Prometheus.”
- Man hatte mir in der Budbhandlung Fabiani, wohin ich
gegangen war, eine Geograpbie ber Inſel zu juchen, gefagt,
pap eine folde eben in ber Pree und ihr Verfaffer ein ver:
' 139
— — — — —
bannter Florentiner, Francesco Marmocchi ſei. Ich ſuchte
dieſen Herrn auf und machte in ihm eine meiner trefflichſten
Bekanntſchaften Italiens. Bd fand einen Mann von einneh⸗
mendem Aeußern, in pen letzten dreißiger Jahren; er war
unter Büchern vergraben. Es möchte wenig Emigranten⸗
ſtübchen von dieſem friedlichen Charakter geben. In den
Bücherſchränken die beſten klaſſiſchen Werke, auch Humboldts
Kosmos, auf welchen mein Blick mit nicht geringer Freude
fiel, Kupferſtiche an den Wänden, welche Anſichten von Flo⸗
renz darſtellten; — all dieſes ließ mich hier nicht allein die
Zurückgezogenheit eines Gelehrten, ſondern die eines feingebil⸗
deten Florentiners erkennen. Es gibt vielleicht keinen Frößern
Gegenſatz als den zwiſchen Florenz und Corsica, und mir
ſelbſt war im Anfang wunderlich zu Sinn, da ich nach einem
ſechswöchentlichen Leben in Florenz von den Madonnen Ra:
phaels unmittelbar unter bie Banditen Corsica's mid ver⸗
ſchlagen fand; indeß Corsica iſt immer eine Inſel von bezau⸗
bernder Schönheit, und bleibt gleich die Verbannung ſelbſt
im Paradieſe ein Gril, fo kann ſich doch beſonders ein Natur:
forjder bier in ungeftdrter Stille ebenſo mit der gropen Natur
getriften, wie Seneca e3 that. Alles was diefer alte Rimer
in feiner cor3ifden Verbannung an feine Mutter Helvia vom
Troſt' der Naturbetradtung und der Wiſſenſchaft gefdrieben
bat, fann im-vollen Mab Francesco Parmocdi auf fid felbjt
anwenden, und diefer ehemalige florentiner Profeffor erfdien
mir in ber wiirbevollen Muße ſeiner Studien als der glück⸗
lichſte aller Verbannten.
Marmocchi war in der Revolutionszeit neben Guerazi Mi⸗
niſter Toscana's, dann Miniſterſecretär geweſen; er war glück⸗
licher als ſein politiſcher Freund; er entwich von Florenz nach
Rom, von Rom endlich nach Corsica, wo er bereits drei Jahre
verlebt hatte. Seine raſtloſe Thätigkeit und die ſtoiſche Heiter⸗
keit, mit welder er fein Schicſſal erträgt, geben Beweis
140
von feiner männlichen Rraft. Gr gehört yu den geiftvollften
Geographen Ytaliens. Auper feinem grofen Werk, einer all
gemeinen Geographie in fed3 Quartbänden, welde jetzt neu
aufgelegt wird, bat er eine Geographie Stalien3 in zwei Bän⸗
den, eine hiſtoriſche Geographie des Altertums, des Mittel⸗
~ alter unb der neueren Zeit, eine Naturgefdhidte Ytaliens
und andere Werke gefdrieben. Ich fand ihn Aber der Durd)-
fidht feiner Geographie Corsica's, eined treffliden Handbuches,
welde3 er hat franzöſiſch fdreiben milffen. Dieſes Bud) ijt
bet Fabiani in Baſtia erfdienen; id) verdanke ihm gute Mads
tidten fiber Corsica.
Einkes Morgens gingen wir vor Sonnenaufgang in die
Berge Cardo’s, und bier unmittelbar in der blithenden Natur
ijt e3 gut den Geographen felbft als Naturausdeuter angu-
hören unb uns über die Inſel belebren gu laſſen; ic folge
bier faft wörtlich feiner Geograpbie.
Corsica verdantt einer Sufammenballung ber herausge⸗
hobenen Maſſen ſein ganzes Daſein; in einem langen Zeitraum
hat es drei große vulcaniſche Proceſſe gehabt, woher ſich die
bizarren und abgeriſſenen Formen ſeines Landes erklären. Es
laſſen ſich die dreierlei Erhebungen wol unterſcheiden. Die
erſte fand in der Richtung von Nordweſt nach Südweſt ſtatt;
ihre Kennzeichen ſind die großen Bergrippen, welche parallel
in der Richtung von Nordoſt und Südweſt nach dem Meer
hinabſteigen und die anſehnlichſten Vorgebirge der Inſel auf
ver Weſtküſte bilden. Es war alſo damals die Are Corsica's
eine andere, und die Inſeln im Canal von Bonifazio wie
“ein Teil vom Nordoſten Sardiniens ſtanden im Zuſammen⸗
hang mit Corsica. Das Material dieſer erſten Erhebung be-
ſteht größten Teils aus Urgranit; zur Zeit jener Urrevolution
zeigte alſo die Inſel keinen Lebensfunken.
Die zweite Erhebung fand von Südweſt nad Nordoſt ſtatt,
und aud in ihr beſteht ein gutes Teil in Granitoiden. Je
141
mebr man nad Nordoſt vorfdreitet, defto mehr geht dad Ur⸗
granitgeftein in ophiolitiſches Erdreich über. Uebrigens ift die
sweite Erhebung faum kenntlich. Sie gerftdrte offenbar gropen
Teils den ndrdliden Ramm der erften; aber die corfifde Geos
logie hat davon faum einige Spuren aufbewabrt.
Die beinahe gdnglide Zertrimmerung des ſüdlichen Teil3
per erften Erhebung war die Wirkung der dritten und legten,
wodurd die Ynfel ihre gegenwartige Geftalt erhalten bat. Sie
fand Statt in der Ridtung von Norden nad Süden. So
lange bie Maffe diefer legten nicht mit den durch die vorauf-
gegangenen Grhebungen gebildeten in Berührung fommt, bat
fie eine-regelmapige Ridtung bebalten, wie das die Gebirgstette
des Cap Corſo zeigt. Mit einem firdterliden Stop hatte fie
bie ſüdlicher aufgetiirmten Felfentimme gu durdbreden; ſie
warf tiber den Haufen, anderte ihre Ridtung, zerbrad felber
an vielen Stellen, wie es die Ausmündungen von Talern
beweifen, welde aus dem Snnern nad der Ebne der Oſtküſte
führen und bas Bette der Strime geworden find, die auf
viefer Seite ind Meer rollen:. ded Bevinco, des Golo, Ta:
vignano, Fiumorbo und anbderer.
Die Felfenlagen diefer dritten Erhebung find urfpriinglid
opbiolitifd und calcaͤr, an verfdiedenen Stellen von fecun:
daärem Crdreid) wieder bedeckt.
Die primitiven Landmaffen, welde alfo den Süden und
Weften ber Inſel einnehmen, beftehen beinabe ganz aus Granit.
An ibren Grangen ſchließen fie einige Lagen von Gneiß und
pon Schiefer cin. Beinahe überall ift ver Granit bedect, und
dies ift ein Beweis, dap die Periode *fetner Entlaffung der:
jenigen: voraufging, wo fid) die Maffen im Schooß de3 Oceans
bildeten und fic) in borigontalen Lagen auf die criftallinijden
Granitmafjen legten. Porphyriſche und euritifde Lager durd):
ſtoßen die Granite; eine entidiedene Porphyrbiloung front die
Berge Cinto, Vagliorba und Perturato, die hddften Berge
142
des Miolo, und bededt pie Granite. Dieſe Porphyre find
wiederum von zwei bid bret Fup madtigem Griinftein ourd-
ſchnitten.
Die intermediären Maſſen nehmen das ganze Cap Corſo
und den Oſten der Inſel ein. Sie beſtehen in blaugrauen
Kalken, in maſſenhaftem Talk, in Tropfſtein, Serpentin, Eu⸗
photiden, in Quarz, Feldſpath und Porphyren.
Das tertiäre Gelände zeigt ſich nur in einzelnen Streifen,
wie bei S. Fiorenzo, Volpajola, Aleria und Bonifazio. Sie
enthalten viele Foſſile von Seethieren untergeordneter Gattung,
von Meerigeln, Meerkämmen, Polypen, und anderen Verſteine⸗
rungen in den Kalklagen.
Was die Ebnen der Oſtküſte wie diejenige von Biguglia,
Mariana und Aleria betrifft, ſo ſind ſie Anſchwemmungen
jener Zeit, als die Fluten eine große Menge von Thier⸗—
geſchlechtern vertilgten. Yn der Mahe Baſtia's bat man unter
den Foffilen den Kopf eines Lagomys gefunden, eines fleinen
Hafen ohne Schwanz, welder heute in Sibirien lebt.
Corsica befigt feinen Vulcan, dod) Spuren alter Bulcane
bei Porto Vecchio, Wleria, Baliftro, Ganta Manga und an:
dern Stellen.
G3 fdeint faft unglaublih, dap eine Qnfel, nahe bei
Sardinien gelegen, nabe bei Toscana und vor allem bet der
Gifeninfel Glba, fo arm an Metallen fein finite, als fie es
wirklich ift. Es finden fich freilid) zahlreiche Anzeichen metal:
lifher Minen Aberall, hier von Gifen oder Kupfer, dort von
Blei, von Antimonium, Magnefia, Reibblei, Spuren von
Ouedfilber, Cobalt, Gold und Silber. Wber fie find nur
fheinbar wie Gueymard in ſeinem Werk über die Geologie und
Mineralogie Corsica’s gezeigt bat.
Die eingigen von Belang, welche ausgebeutet werden können,
find gegenwartig die Gifenminen von Olmeta und Farinole
auf bem Cap Gorfo, und die bei Venzolasca, die Kupfermine
if
143
von Linguiszetta; die WAntimoniummine von Erfa auf dem
Cap Corſo, die Mtagnefiagruben bei Wefani.
Dagegen ift Corsica eine unerſchöpfliche Schagfammer der
feltenften Steine, ein Glyfium der Geologie. Doch fie liegen
unbenugt, den Scag bebt Niemand. Es verlohnt fich hier der
Mühe, dieſe pradtvollen Steine zu ordnen, wie fie die Geo-
logie bisher geordnet bat.
1) Granite. Roter Granit, ähnlich dem orientalifden,
zwiſchen Orto und dem Gee von Greno.
Gorallenroter bei Olmiccia.
Rofenroter bet Cargefe.
Roter mit leichtem Violet bet Witone.
Rofiger von Carbuccta.
Rofiger von Porto.
Rofenroter bet Wlgajola.
Granit mit Granaten (in der Grdge einer Nuß) bei Vizzavona.
2) Porphyre. Bariirter Porphyr in Niolo.
Schwarzer, roſig gefledt bei Porto Vecdio.
Blabgelber mit rofigem Feldfpath bei Porto BVecdio.
Graugriiner mit Wmethift an ver Reftonica.
3) Serpentine.
Grüune, ſehr barte, wieber tran3parente Serpentine bei
Gorte, bei Mtatra, bet Bajtia:
4) Guriten, Ampbiboliten und Euphotiden.
Globuleuſer Eurit bei Curſo und Girolata, im Niolo ꝛc.
Globuleuſer Amphibolit, gemeinhin orbiculärer Granit (die
Kügelchen beſtehn aus Feldſpath und Amphibolen in concen-
triſchen Lagen), in iſolirten Blöchen bei Sollucaro, am Taravo,
im Tale Campolaggio ꝛc.
Amphibolit mit Criſtallen von ſchwarzer Hornblende in
einem weißen Feldſpath, bei Olmeto, bei Levie und Mela.
Euphotiden, aud) Verde von Corsica und Verde d'Orezza
genannt, im Bette de3 Fiumalto, im Tale von Bevinco.
144
5) Jaspi3 und Achate.
Jaspis (in Graniten und Porphyren) im Niolo und im
Zale von Stagno.
Adate (ebenfalls in ven Graniten und Porphyren) eben:
daſelbſt.
6) Marmor und Alabaſter.
Weißer ſtatuariſcher Marmor von blendender Schöne, bei
Ortiporio, bei Caſacconi, bei Borgo de Cavignano ꝛc.
Blaugrauer Marmor bei Corte.
Gelber Alabaſter im Tale von S. Lucia bei Baſtia.
Weißer Alabaſter, halb durchſichtig, geblättert und gefaſert,
in einer Grotte hinter Tuara, im Golf von Girolata.
Fünftes Kapitel.
Eine zweite Vorlefung.
Es war ein lehrreicher Vortrag, welchen mir Francesco
Marmocchi, weiland Profeſſor der Naturgeſchichte, weiland
Miniſter von Toscana und jetzt Fuoruscito und armer Ein⸗
ſiedel, in der allerroſigſten Morgenſtunde hoch oben auf dem
grünen Berge Cardo hielt, da wir zu Füßen unter uns das
ſchöne Mittelmeer hatten, deſſen Farbe gerade fo war, wie
Dante es geſagt bat: color dell'oriental zaffiro.
„Sehen Sie, fagte Marmocdhi, dort dritben zeigt fid der
‘ blaue Saum, das ift dad fdine Toscana.”
O wol,.id febe Toscana ganz deutlid), id) febe gang
deutlich das ſchoͤne Floren; und mitten in die Uffizien hinein,
wo die Vilofaulen der grofen Toscaner ftehn, Giotto, Ors
gagna, Nicola Pifano, Dante, Petrarca, Boceaccio, Macchia⸗
velli, Galilei und der göttliche Michelangelo. Es geben eben
dreitaufend Croaten unter den Bildſaͤulen fpagieren; die Luft
145
ift fo far, man fann alle3 febn und alle3 hören. Hören
Sie, Francesco, was der fteinerne Michelangelo eben far
einen treffliden Vers zum Dante fpridt:
„Mir iſk fo lieb mein Schlaf und daß id bin pon Steine,
So lang die Sdhmad nod dauert, diefes Wehgeſchick;
Nichts ſehn, nidts hdren, das ift nun mein Olid;
Drum wed’ mid nidt, fprid leife, ad! und weine!”
Aber fehen Ste, wie diefer dürre braune Feld fid) gang
und gar mit Blumen gejdmiidt hat! Wuf feinem Haupt trigt
er einen berrliden Buſch von weiß überblüheten Mirten, und
feine Bruft ift dreifad) von Gnadentetten umwunden, von
Gpheu, von Vrombeerranten und der zarten weißen Walbdrebe,
per Clematis. — G3 gibt nidt ſchönere Guirlanden als diefe
Clematistrange mit den weipen Blatenbifdeln und feinen
Blattern; ſchon die Alten liebten fie und haben fie gern in
boragifden Stunden ums Haupt getragen.
Auf einem Umkreis von wenig Sdritten, welche Fille vor
Pflangen neben einander! Da ift Rosmarin und Citifus, hier
ver wilde Spargel, daneben ein hoher Buſch lilablittiger Erika,
wieder bier die giftige Cuforbia, welche den milchweißen Saft .
ausftrdmt, wenn man fie bridt, und bier dad fompathifde
GHelianthemum mit fddnen gelben Blüten, welde nad und
nad und allgefammt abfallen, fobald man einen eingelnen
Bweig abgerifien bat. Da fteht wieder fremd und bigarr, wie
ein maurifder Heide ber ſtachlichte Cactus, daneben der wilde
DHOelftraud), die Korkeiche, ver Lentiscus, die wilde Feige, und
gu ibren Füßen blühen die twolbefannten Kinder meined
BVaterlandes die Scabiofa, das Geranium, die Malve. Wie
ſchön, durddringend, ftarfend find dieſe Wolgerüche, welde
al’ pas bliibende Kraut aushaudt, Raute, Lawendel und
Mente und all’ diefe Labieen. Sagte nidt Napoleon auf
Sanct’ Helena, da feine traurigen Gedanten wieder gu feiner
Gregorovius, Corsica. 1. 10
146
ſchönen Heimatsinfel zurückkehrten: „Alles war dort beffer, bid
auf den Duft bes Bodens; am Wolgerud) allein würde id
mit gejdlofjenen Wugen Corsica erfennen!” .
Hören wir nun von Marmocdhi etwas fiber pie Botanik
der Inſel im Wllgemeinen.
Corsica tft die centralfte Proving bes gropen Pflangen:
reichs ber mittelländiſchen Zone; eines Reides, welches charakte⸗
riſtiſch iſt durch die Ueberfülle der duftigen Labieen und der
graziöſen Caryophylleen. Dieſe Pflanzen bedecken alle Teile
der Inſel und durchduften zu jeder Jahreszeit ihre Luft.
Wegen dieſer centralen Lage verbindet ſich die corsiſche
Pflanzenwelt mit der aller andern Provinzen jenes unge-
heuren Reiches: durch das Cap Corſo mit den Pflanzen Ligu⸗
riens, durch die Oſtküſte mit denen Toscana's und Roms,
durch die Weſt- und Südküſte mit der Pflanzenwelt der Pro⸗
vence, Spaniens, der Berberei, Siciliens und des Orients,
und endlich durch die ſehr hohe Region des Innern mit dem
Pflanzenwuchs der Alpen und der Pyrenäen. Welch' ein
wunderbarer Reichtum alſo in der corsiſchen Vegetation! Das
iſt eine Mannigfaltigkeit, welche die Schönheit der Gegenden
„dieſer Inſel, die ſchon durch die Natur und den Boden le
malerifd find, unendlid) erhöht.
Ginige ihrer Forften auf den Abhängen der Berge find io
ſchön wie die herrlidften Curopa’s; die beiden vorzüglichſten
die von Aitone und Vizzavona. Außerdem find viele Pro-
vinzen Corsica's mit unermepliden Caftanienbainen bededt,
deren Baume ebenfo gewaltiq und frudtbar find als die
fcinften auf den Apeninnen oder dem Aetna. Olivenpflan-
zungen, umfangretd) gleid) Waldern, umkränzen Hiigel und
Täler, welde fid) nad dem Meere hingiehen oder feinen Cin-
fliffen offen liegen. Ueberall, felbft auf den rauben und
zadigen Seiten der boben Berge fdlingen fid) Weinreben um
Fruchtbaumgärten und breiten dem Blid ibre gritnen Blatter
147
und ibre purpurnen Trauben aus. Fruchtbare Ebnen, golden
von reichen Erndten, dehnen ſich an den Küſten der Inſel
hin; und der Waizen wie der Roggen ſchmücken hie und da
die Berghänge mit ihrem friſchen Grün, welches mit dem
tieferen Grün der Buſchwälder und mit den kalten Tönen der
Steine und der nackten Felſen ſo ſchön abwechſelt.
Der Ahorn und der Wallnußbaum gedeihen wie die Ca⸗⸗
ftanie frdblid in Talern und auf Höhen; bie Cyprefje und
bie Meerpinie lieben die minder hohen Gegenden; bie Forjten
find voll von Korkeichen und immergrünen Ciden; der Wrz
> butus, die Mirte wadfen yu Baumen auf. Der Pyrus und
befonder3 der wilde Oleafter bededen weite Streden auf den
Hibben. Der immergriine Wlatern, der Ginjter Spaniens und
Corsica’s find mit mannidfaltigen aber immer gleid) jdinen
Haiden vermifdht; man unterfdeidet unter diefen die Crica
arborea, weldje oft eine ungemeine Höhe erreidt.
Yn den Striden, die durch Austreten ver Strdme und
Bade gewafjert werden, wadfen der Ginfter vom Ctna mit
feinen pradtigen gologelben Blitten, die Gijten, die Lentisten,
pie Zerebinthen überall da wo die Erde nidt von Mtenfden-
hand berithrt wird. Ziefer unten gibt es nidt Holweg nod
Ral, welches nidt von der grazidfen Lorbeerrofe umſchattet
ware, deren Zweige gegen die Seeküſten hin fic) mit denen der
Tamarinden verfdwiftern.
Die Faderpalme wächſt auf den Felſen am Meeresſtrand,
und die Dattelpalme, wahrſcheinlich aus Africa hergebracht,
auf den geſchützteſten Stellen der Küſten. Die Cactus opuntia
und die amerikaniſche Agave wachſen überall an warmen, fel:
ſigen dürren Orten.
Was ſoll ich von den prächtigen Cotyledonen ſagen, von
den ſchönen Hülſengewächſen, den großen Verbaceen, den herr⸗
lichen gepurpurten Digitalen, welche die Berge der Inſel
zieren? Und von den Malven, den Orchideen, Liliaceen, So⸗
—
148
laneen, ben Gentaureen und den Difteln, Pflanzen, welde
die ſonnenheißen, kühlen oder fdattigen Gegenden, in welden
ihre natirliden Sympathieen fie wadfen laſſen, fo wol ver-
zieren?
Die Feige, die Granate, der Weinſtock geben in Corsica
gute Früchte, ſelbſt wenn der Landmann ſie nicht pflegt, und
.das Clima wie der Boden der Kuſten dieſer ſchönen Inſel
ſind der Limone und der Orange und andern Bäumen der⸗
ſelben Familie ſo günſtig, daß ſie hier wahre Wälder bilden.
Die Mandel, die Kirſche, die Pflaume, der Apfelbaum,
ver Birnbaum, der Pfirſich und die Apricoſe und im Allge⸗
meinen alle Obſtbaͤume Guropa’s find bier gemein. In den
heifeften Striden fommen die Früchte de? Johannisbrodbaumes,
des Mispelbaumes von mehren Arten, des Bruſtbeerbaumes ju
vollfommner Reife.
Endlich könnte der Menſch, wenn er e3 wollte, je nad den
verfdiedenen Gegenden und obne viel Muhe dad Zuderrobr,
die Baumwolle, den Tabak, die Ananas, den Krapp und
felbft den Indigo mit Grfolg anpflangen; mit einem Wort,
Corsica könnte fir Frankreich) dad Kein: Indien de3 Mitte:
meere3 fein.
Diefe überaus herrlidhe Vegetation wird durch dad Clima
begiinftigt. Das corsiſche Clima ‘hat drei beftimmte Tempe-
raturgonen, welche fic) nad ber Bobdenerbebung abjtufen. Dte
erfte fteigt vom Spiegel des Meeres bis gur Höhe von
580 Metres auf, die zweite von da bid zur Hobe von 1950 Me⸗
tre3, bie dritte bid zum Gipfel der Berge.
Die erfte Bone, alfo überhaupt die Mteerestifte, ift warm
wie die parallelen Stride Staliens und Spaniens. Sie
hat eigentlich) nur zwei Dabresgeiten, den Frühling und den
Sommer, felten fallt. das Thermometer hier ein ober zwei
Grade unter Null und nur fiir wenige Stunden. Auf allen
RKiiften ijt die Sonne felbft im Januar warm, aber die Nadte
,
ie
149
und der Schatten kühl und das in allen Jahreszeiten. Der
Himmel bewölkt fic) nur fiir Paufen; der eingige Wind von
Südoſt, der ſchwere Scirocco bringt anbaltende Nebeldünſte,
welde der heftige Südweſt, ber Libeccio, wieder vertreibt.
Auf die gemafigte Kalte des Januar folgt bald eine Hunds⸗
tagbige fir acht Monate, und die Temperatur fteigt von
8 Graben gu 18 und felbft yu 26 Graden im Schatten. Es
ift ein Unglid fiir die Vegetation, wenn es dann nidt im
Marz oder April regnet, und diefed Unglid ift haufig, nod
haben die Baume Corsica’s allgemein harte und zähe Blatter,
welche ber Diirre twiderftehen, wie der Oleander, die Ptirte, |
ber Ciftus, ner Lentiscus, der wilde Oelbaum. Sn Corsica,
wie in allen heißen Climaten, find die Niederungen, die wafer:
haltigen und fdattigen Gegenden faft peftaushaudend; man
wandelt ba nicht Abends, ohne fic) lange und ſchwere Fieber-
qu holen, welche, wenn man nidt gänzlich die Luft veran-
dert, mit Wafferfudt und Tod endigen.
Die zweite climatijde Zone der Inſel kommt dem Clima
Frankreichs, namentlid in Burgund, Morvan und. Bretagne
gleid. Da dauert der Schnee, der fic) im November jeigt,
bi8weilen 20 Tage; aber er thut merfwitrdiger Weife bem
Oelbaum nicht Schaden bis zur Hobe von 1160 Metres, fon-
dern er madt ibn nod) frudtbarer. Die Caſtanie fdeint der
eigentlide Baum dieſer Zone gu fein, denn fie enbigt in der
Höhe von 1950 Metres und weidt dann den griinen Ciden,
- “den Tannen, Buden, Burusbiumen und Wadboldern. Yn
diefem Clima wohnt aud) der größere Teil der Corsen in zer⸗
ftreuten Dörfern auf BVerghangen und in Talern.
Das dritte Clima ift falt und ſtürmiſch wie dad Nor⸗
wegens wabrend adt Dtonate im Yabr. Die eingigen bewobnten
Orte in diefer Bone find das Niolo und die beiden Forts von
Vivario upd von Vizzavona, Ueber dieje bewobnten Orte
hinaus erblidt bas Auge keine Vegetation mehr als Tannen,
4
150
weldhe an grauen Felfen hangen. Dort wobhnt der Geier und
dag Wildſchaf, und dort ift das Vorratshaus und die Wiege
der vielen Ströme, welde ins Land hinunterraufden.
Man fann alfo Corsica als eine Pyramive betradten,
welde in drei horigontalen Stufen fic) abftuft, von denen die
unterjte warm und feudt, die oberfte falt und troden ift,
und die mittlere an beiden Beſchaffenheiten Anteil hat.
Sechstes Kapitel.
Gelehrte Männer.
Betrachtet man die Reihe bedeutender Menſchen, welche
Corsica in faum hundert Jahren hervorgebracht hat, fo muß
man ſtaunen, dab eine fo kleine und fo gering bevölkerte
Inſel aud) in ber Crzeugung groper Männer fo reich ift.
Ihre Staatsmanner und Feldherrn find von europdifder Be⸗
deutung, weniger bedeutendé freilid) ihre wiſſenſchaftlichen Ta⸗
Tente, welche bet ver Befdaffenbeit der Inſel und ihrer Ge⸗
ſchichte natürlich hinter jenen guriidtreten mußten.
Wher aud die Wiffenfdaft hat in neuerer Zeit mande
gute Kraft von einbeimifder Wirkſamkeit ergogen, und Namen
wie Pompei, Renucci, Savelli, Raffaelli, Giubega, Salvatore
Viale, Caraffa, Gregori find BZierden Corsica's. Es ift be-
merfensiwert, bag die meiften glangenden Köpfe unter ibnen
vem Advokatenſtand angehören. Sie haben fid) befonders in
ver Rechtswiffenfdaft und in der Geſchichtſchreibung ihres Lan-
des hervorgethan.
Vor allen zeichnet ſich Giovanni Carlo Gregori aus, einer
ber verdienſtvollſten Maänner Corsica's, deſſen Andenken dort
nicht erlöſchen wird. Gr war im Jahre 1797 in Baſtia ge:
boren aus einer ſehr angefehenen Familie der Inſel. Dem
151
—
Recht ſich widmend wurde er nad und. nad) Auditeur in
Baftia, Bnftructionsridter ine Ajaccio, Rat am königlichen
Hof in Riom, dann am Appellhof yu Lyon, wo er aud als
Prdfident der Alademie der Wiffenfdaften thatig war und am
a7. Mai 1852 ftarb. Auer feinen Studien über das Römiſche
Recht beſchäftigte ihn unablaffig die patriotifdhe Leidenſchaft
fiir die Geſchichte Corsica’s, Gr hatte den Plan gefaft, fie
gu ſchreiben, er hatte viele Materialien dafür gefammelt, aber
der Zod iberrafdhte ihn, und der BVerluft feiner Arbeit ijt
nicht genug zu beflagen. Indeſſen hat Gregori feinem Vater:
lande ſchon grope Dienfte geleiftet; er beforgté die neue Aus⸗
gabe des nationalen Hiftorifer3 Filippini, welchen er hatte
fortfegen twollen; ebenfo die Herausgabe der corsifden Ge-
fchidtsbitcher de Petrus Cyrnaeus; im Bahr 1843 gab er
ein höchſt widtiges Werk heraus, vie Statuten Corsica's.
Yn jiingeren Jahren hatte er eine Tragddie Gampiero ge:
ſchrieben.
Unter ſeinen nachgelaſſenen Manuſcripten befindet ſich ein
Teil ſeiner Geſchichte Corsica's und reiches Material zu einer
Geſchichte des Handels der Seenationen. Der Tod Gregori's
erfüllte nicht allein Corsica, ſondern auch die Männer der
Wiſſenſchaft in Frankreich und in Italien mit tiefem Schmerz.
Gr und Renucci erwarben ſich Verdienſte um die Biblio—⸗
thet in Baftia, welche 16000 Bande ftarf in dem ebemaligen
Gebdude der Yefuiten aufgeftellt ift. Sie haben Ddiefelbe
eigentlid) erft gefdaffen; fie ift jegt neben der Bibliothel in
Ajaccio vie sweite der Ynfel. Das wwiffenfdhaftlide Leben
Corsica's ift überhaupt nod) febr jung. Wie der Gefdidt:
fdreiber Filippini, der Zeitgenoffe Sampiero’s klagte, ließ dte
burd den ewigen Krieg wefentlid friegerifd) gewordene Natur
ver Corsen und die daraus folgende Unwiffenbeit die Literatur
nicht gedeihen. Aber es ift vod merkwürdig, dab die Corsen
im Jahre 1650 eine Ucademie der Wiffenfdaften ftifteter,
152
deren erfter Prdfident der Didter, Advocat, Theolog und —
Hiftorifer Geronimo Bigualia war. Yn jener Beit liebte man
e3 folden Academieen die wunderlidften Namen beigulegen;
die Corgen nannten die ibrige Academia dei Vagabondi, und
pafjender fonnten fie damals den Ramen nidt wablen. Der
Marquis von Curfay, deffen Andenfen in Corsica ſehr ges
feiert ift, ftellte diefe Academie wieder her, und Roujjeau,
felber ein Bagabunde in feinem Leben, ſchrieb fiir fie eine
Abhandlung: „welches ift bie fir Helden notwendigfte Tu⸗
gend, und welded find bie Helden, weldjen diefe Tugend ge⸗
mangelt bat?” Auch diefe Mufgabe ift edjt corfifd.
Die literarifdhen Anftalten — jene Academie ift aufge-
sft — find in Corsica tiberbaupt febr dürftig. Baſtia be-
figt ein Lyceum und geringere Schulen. Ich wobnte einer
Preisverteilung in der erften Mädchenſchule bei. Sie fand
im Hof des Yefuitencollegium ftatt, welcher zierlich ausge⸗
ſchmückt und Abends erleuchtet war. Die Minden, alle weiß
gefleidet, faben in Reiben vor den angefebenften Biirgern und
den Behörden der Stadt und empfingen Lorbeerfrange, wenn.
fie diefelben fic) errungen batten. Die erfte Lehrerin rief
den Namen ber Giegerin auf, worauf dieſe an das Katheder
trat und ben Lorbeerfrang empfing; fie bradjte diefen einem
ber angefehenen Herren ber Stadt, ibm ftillfdhweigend die
Gunft gebend, fie gu krönen. Was dann in jierlicher Weiſe
geſchah. Es wurden folder Lorbeerfrange ungezählte ausge-
teilt, und manches licblide Rind trug deren wol zehn biz
zwölf für feine unfterbliden Wrbeiten davon, und wußte fie
mit Grazie gu empfangen. Dod fdien es mir, als ſchmei⸗
delte man gu febr angefebenen Gltern oder alten Jamis
lien, und obne Aufhören frdnte man Fraulein Colonna
d'Iſtria, Fraulein Whbatucci, Fräulein Saliceti, fo bab diefe
jungen Damen mebr Lorbeeren nad Hauje trugen, al8 genug
fein würde, die unſterblichen Poeten eines Saculum ju frdnen.
153
Den Schluß diefer Feter, die wol nichts anderes ift, als eine
franzöſiſche Schmeichelei ber Eitelkeit, madte ein Heines Bühnen⸗
ſtück, welches die jungen Madden gang artig aufzuführen wupten.
Gine eingige Zeitung bat Bajtia, die L’ére nouvelle,
Journal de la Corse, welde aud nur am Freitage erfdeint.
Ihr Redalteur war bis gum Gommer der Advocat Arrighi,
ein talentvoller Mann; ber neue Prafect Corsica’s, den man
mir als einen jungen Beamten ohne Grfabrung {cilberte,
eifrig bemüht fid) bemerflid) gu machen, wie ehemals die rö⸗
mifden Prafecten in ibren Provingen e3 thaten, bedrohte jede.
mifliebige Aeußerung der corsiſchen Preffe, der unfduldigften
in der Welt, mit Cntziehung der Druderlaubnifb, und er
zwang fo Herrn Arrighi zurückzutreten. Das Yournal, gang
bonapartifd gefinnt, befteht nod) fort; bas gweite Corsica’s
ift ba Regierungsblatt in Ajaccio.
Baftia hat drei Budbandlungen, von denen die Libreria
Fabiani felbft einer mittlern deutſchen Stadt Chre madden
wiirde. Gut ausgeftattete Werle find in ihrem Verlag ers
ſchienen.
Siebentes Kapitel.
Gin ſtatiſtiſches Kapitel.
Ich habe im Journal Baſtia's vom 16. Juli 1852 die
Statiſtik Corsica's nach der Berechnung des Jahrs 1851 ge⸗
funden und teile ſie hier mit.
Corsica hatte. im Jahr 1740 nur 120,380 Einwohner,
» n- 1760 , 130,000 "
» » 1790 , 150,638 "
» n» 1821 =, 180,348 h
» on 1827)» 188,079 "
» pn 1831 , 197,967 n
154
im- Jahr 1836 nur 207,889 Cinwohner,
non 1841 © ”" 221,463 "
n vn 1846 , 230,271 "
" 1851 , 236,251 "
Nach den fain] WArrondifjements famen auf
Wjaccio 55,008
Bajftia 20,288
Calvi 24,390
Corte 56,830
Gattene 29,735.
Corsica zerfallt in 61 Cantone, 355 Communen, 30,438
Häuſer, 50,985 Haushaltungen.
Ledige 75,543)5
Männliches Geſchlecht \ erheitatete sin 117,938.
( sBittwer 5,680
Ledige 68,229 |
Verheiratete 36,916 ( 118,313.
Wittwen 13,168 |
236,187 Einwohner find rdmifde Ratholiten, 54 refor-
mirte Chriſten. Franzoſen durch Geburt, d. h. inbegriffen
die Corsen, gibt es 231,653.
Naturaliſirte Franzoſen. 353,
Deutſchee..411,
Gnglinber. 2. 2 .12,
Hollander 7 © © © © 8 6,
Gpanier . . . 2... 7,
Staliener . . . .. . 3806,
Polen. . . .... 12, *
Schweiger. 2. 2. ww (88S,
Andre Fremdbe . . . .. 285.
Wn RKranten zablte man im Jahre 1851 2554 Perjonen,
pavon waren 435 auf beiden, 568 auf einem Wuge blind,
344 taubjtumm, 183 verritdt, 176 Klumpfüße.
Weibliches Geſchlecht
185
Beſchäftigung: 32,364 Manner und Weiber waren Acker⸗
eigentiimer, 34,427 Tagelöhner, 6924 Dienftboten. Bau:
handwerker (Maurer, Zimmerer, Sdloffer, Maler 2.) 3194.
Handler mit gewirften Waaren und Scneider 4517. Handler
mit MNabrungsmitteln 2981. ubrwerfer 1623. Lurus:
handler (Ubrmader, Goldſchmiede, Graveure 2c.) 55. Renz
tiers: Manner und Weiber 13,160. Staatsbeamte 1229.
Communalbeamte 803. Militärs und Marinari 5627. Bhar: ©
macijten und Aerzte 311. Geiſtliche 955. Advocaten 200.
Lehrer 635. Künſtler 105. itteraten 51. Liederliche Wei-
ber 91. Bagabunden und Bettler 688, Kranke im Hofpital
85. Gine und zwar die originellfte Mtenjdenclafje der Inſel
ift in diefer Aufpablung nicht beftimmt, id meine die Hirten.
Die Bahl der eigentliden Banditen gibt man auf 200 an;
ebenjoviel corsijde Banditen migen in Sardinien fladtig fein.
Ich gebe in Kürze das Nötige fiber die allgemeine Ber:
waltung Corsica's, bamit man aud bieritber eine Hare Bor:
ftellung babe.
Seit dem Jahre 1811 bildet Corgica ein Departement.
Gin Präfect, deſſen Sig Wjaccio ift, verwaltet daffelbe; fir
das Arrondiffement Ajaccio verfieht er gugleid) die Stellung ©
eines Unterprafecten. Unter ihm fteben in den fibrigen vier
Arrondifjement3 vier Unterprafecten. Dem Prafecten fteht zur
Seite der Prafecturrat von drei Mtitgliedern, welder über die
Reclamationen betreffs der Steuern, der öffentlichen Wrbeiten,
ber Gemeinde: und Mationalgitter zu entfdeiden hat. Den
Vorſitz führt der Prafect, man appellirt an den Staatsrat.
Jedes Jahr verfammelt fid) in Wjaccio der General -Rat,-
befjen Mitglieder durch die Wabler eines jeden Cantons ge-
wablt werden, um über öffentliche Angelegenbheiten zu beraten.
Seine Befugnif ijt die Verteilung per directen Steuern unter
pie Arrondifjement3. Der General: Rat fann fic nur nad
einem Wufruf de3 Staat3oberhauptes verjammeln, welder die
156
Dauer der Sigung beftimmt, Cs gibt fiir jeden Canton einen
Reprajentanten; alfo im Gangen 61.
Jedes Arrondiffement verfammelt in feinem Hauptort einen
Bezirks-Rat von fo viel Mitgliedern, als es Ganton3 bat.
Diejenigen Birger, welde nad) franzöſiſchem Staatsgeſetz be-
rechtigte Wähler find, haben aud) das Recht zur legislativen
Verfammlung ju wablen. Es gibt etwa 50,000 beredtigte
. Babler in Corsica.
Maires und Adjuncten, welde vom Prafecten ernannt
werden, verwalten die Communen; dieſes demokratiſche Recht
ift bem Volk geblieben, dab e3 den Ptunicipalrat ettoaiblen
barf, welder dem Maire zur Seite ftebt.
Was die Geridtsbarkeit anbetrifft, fo fteht da’ Departe-
ment unter dem Appellhof in Baftia, welder befteht aus
1 Oberprafidenten, 2 Kammerprafiventen, 17 Räten, 1 Au-
vitorrat, 1 General:-Procurator, 2 General-Aovofaten, 1 Sub⸗
ftituten, 5 Greffiers.
Der WAffifenhof halt feine Sigungen in Bajtia und befteht
aus 3-Uppell- Rater, dem General: Procurator und einem
Greffier; die Sigungen finden in ber Regel alle Vierteljahre
ftatt. Es gibt ein Tribunal erfter Ynftang in jedem Haupt⸗
ort des AUrrondiffement3; außerdem in jedem Canton einen
Griedensridter. Yn jeder Commune befindet fid) ein Tribunal
ber einfachen Municipalpolizei, welches aus bem Maire und
feinen Adjuncten beftebt.
Die geiftlide Verwaltung fteht unter der Dibeefe Ajaccio,
deſſen Biſchof, der einzige Corsica's, Suffragan ves Erz⸗
biſchofs von Air iſt.
Corsica bildet die 17. Militardivifion Frankreichs. Ihr
Generalquartier iſt Baſtia, wo der Diviſionsgeneral ſeinen Sitz
hat. Die Gendarmerie, für Corſica fo wichtig, bildet die 17. Lez
gion und ftebt ebenfall3 in Baftia. C8 gehören gu ibe vier Com:
panien mit vier Chef8, 16 Leutnantſchaften und 102 Brigaden.
157
Ich füge noc einiged über Landbau und induftrielle Vers
haltnifje bingu. Der Wderbau, die Grundlage alles National:
reichtums liegt in Corsica febr im Urgen. Das geht fdon
allein baraus hervor, dab vie bebauten Lander der Inſel heute
nur ein weniges mebr al3 dret Zehntel ihrer Oberfläche bes
tragen. Genau wird diefe auf 874,741 Hectaren beftimmt.
Die Fortfdritte des Landbaues werden erſchwert durch das
Banditenwefen, die Familienfriege, die Communallanderet,
purd den Mangel an Wegen, die grofe Cntfernung der
Weder von den Wohnungen, durd die Ungefundheit der Luft
auf den Ebenen, endlich durch die corsiſche Tragheit.
Weil ver Aderbau in, Corsica darniederliegt, fo ift aud
pie Induſtrie in dilrftigem Buftande. Sie beſchränkt fid auf
pie nddften Bedirfniffe, die notwendigen Artifel des Hand-
werlS und der Nahrung; die Weiber weben faft überall dads
braune, grobe Tuch (panno corso), welches man aud pe-
lone nennt. Die Hirten bereiten den Kafe und den Kafe:
tuden broccio. Im Golf von Porto Vecdio allein gibt es
Galinen. Sardinen, Thunfiſche, Corallen werden an vielen
Kiiften gefifdht, aber diefe Fiſcherei wird nicht eifrig betrieben,
Der Handel ijt ebenfallS gering. Man führt hauptſäch⸗
lid Del aus, wovon bie Ynfel eine ſolche Menge befigt, dab -
fie bei größerer Cultur allein fir 60 Millionen Franten lie:
fern fénnte; ferner Limonen, Wein, Hülſenfrüchte, Caftanien,
friſche und gefalzene Fiſche, Hols, Farbepflangen, Haute, Co-
rallen, Marmor, viel Fabrittabaf, namentlid) Cigarren, wofür
dad Blatt eingeführt wird. Eingeführt wird hauptfadlid :
Getreide, Rorn, Waizen, Reis, Buder, Caffee, Vieh, Seide,
Baumwolle, Lein, Leder, Gifenmineral und gegoffenes Cijen,
Biegelfteine, Glas, Tongut.
Ausfubr und Ginfubr ftehn in einem ſchreienden Mißver⸗
haͤltniß zu einander. Die Douane oriidt alle Manufactur
und allen Handel nieder; fie verbindert die Fremben ihre
158
Erzeugniſſe fiir Lande8producte umzuſetzen, daber miiffen die
Corsen dad Zehnfache fiir ihre GebraudZartitel in Frankreich
qablen, während man felbft Wein aus der Provence ohne
Boll einfibrt und fo die Weinproduftion der Inſel berab-
vriidt. Gelbjt Mehl und Gemitfe merden aus der Provence
fiir bie Truppen auf die Ynfel gefdidt. Tabak auf das Feft-
land ausgufithren ijt verboten. Das tyrannifde Gefeg der
Douane laftet ſchwer auf der armen Inſel, und fie welche
jabrlid) fir drei Millionen Artikel aus Frantreidh zu kaufen
gezwungen ift, fept an dieſes felbft nur eine und eine balbe
Million ab. Wn ven Schatz jablt Corsica jährlich eine
Million und 150,000 Franten. oo
Der Haupthandel gebdrt den Hafen Bajtia, Ajaccio,
Isola Ros8a und Bonifazio.
So traurig nun die Lage Corsica’s im Gangen ift, fo
ſchützt es wenigſtens die geringe Bevilferung vor der Geifel
de3 Proletariats ,-weldhes in den großen Culturlindern des
Feſtlandes viel fdredlidere Leiden aufzuweiſen hat, als jene
des Banditenwefens und ber Blutrade in Corsica find.
Fünf und achtzig Jahre find nunmehr, mit geringen Un⸗
terbrechungen, die Franzoſen im Beſitz der Inſel, und weder
iſt es ihnen geglückt, die immer offne Wunde des corsiſchen
Volkes zu heilen, nod haben fie mit allen Mitteln ihrer Cul⸗
tur mehr für das Land gethan, als einige geringe Verbeſſe⸗
rungen. Die Inſel, welche Frankreich zweimal ihre Kaiſer
gegeben hat, hat davon nichts mehr gewonnen als die Sätti⸗
gung ibrer Rade. Der Corse wird e3 nie vergeffen, auf
welche ſchmähliche Weife Frankreich fein Vaterland fid) zu
eigen madte, und niemal3 lernt ein tapfered Volk feine Be-
swinger lieben. Wenn id) die Corsen nod heute Genua heftig
ſchmähen hörte, fagte id) ihnen: laßt diefe alte Republif
ruben; ein Gorge, Mapoleon, hat fie vernidtet — Frant:
reid) bat euch betrogen und um eure Freibeit gebracht, ihr
159
babt eure vendetta an Frankreich vollzogen, denn ihr ſchicktet
ibm Napoleon, der e3 unterwarf — und aud heute ift dieſes
große Land eine corsifde Croberung und eure eigene Proving.
Bwei Kaiſer, zwei Corsen‘ auf Frankreichs Tron mit des⸗
potifder Gewalt die frangdfifde Nation niederbeugend: nun,
wenn eine ideelle Vorftellung’ den Wert des Wirkliden haben
fann, fo muß man fagen, niemal3 ift ein tapferes Volk glain-
zender an feinen Unterjodern geradt worden. Der Rame Naz
poleon ift bas eingige Band, welches Corsika mit Frantreidh
gufammenbalt; ohne dieſes ftinde e3 zu Frankreich nidt an:
der3 als andere eroberte Lander gu ihren fremden Herren.
Ich babe bei vielen Schriftſtellern die Verſicherung gelefen,
dab die corsifde Nation im Grunde ihres Herzens frangdfifd
fet. Ich halte diefe Verfiderung fiir einen Irrtum oder eine
abfidtlide Unwabrbeit. Rimmer babe id) mid) davon üÜber⸗
zeugt. Den Corgen und den Franzoſen trennt eine tiefe Muft
ber Abftammung, des innerften Wefens und Empfindens.
Der Corse ijt entfdieden Staliener, feine Sprache ijt aner-
fannt einer der reinjten Dialecte Stalien3; feine Natur, fein
Boden, feine Geſchichte fetten nocd den verlornen Sohn an
da alte Mutterland. Die Frangofen felbft fühlen ſich auf dtefem
Giland fremd, und Soldaten wie Beamte betrachten ihren Dienſt
daſelbſt als eine ,,troftlofe Verbannung auf die Ziegeninſel.“
G3 gibt corsifden Patriotismus nod) heute; id fab ihn bis:
weilen hervorbrecen. Nod) jept regt fic) in ben Corsen der Grol,
welden bad Andenken an die Schlacht bei Ponte Nuovo erweckt.
WZ id eines Tags fiber jenes Schlachtfeld fuhr, ſtieß mid
ein neben mir figender Corse, ein Landmann, beftig an und
tief mit leidenjdaftlider Geberde: ,, Dies ift der Ort wo die
Genueſen unjere Freiheit ermordet haben, ich wollte fagen die
Srangofen.” Mtan wird den Sinn verjtehen, fobalb man
weif, daß fiir den Corgen der Name Genuefe fo viel bedeutet
al8 Todfeind, denn der Hab gegen Genua, fo fagten mir
160
vie Corsen felbft, ift bei ihnen unfterblid. Cin anbdermal
fragte id) einen Coren, einen wolgebiloeten Dtann, ob er
ein Ytaliener fei? Qa, fagte er, weil id cin Corse bin. Ich
verftand bas Wort wol und reichte ibm die Hand. Dies nun
find Gingelbeiten, Zufälligkeiten, aber oft wirft ein lebendiges
Wort aus dem Munde de Volks ein belles Lidt in feine
Stimmung und enthüllt pliglidh die Wahrheit, welche nidt
in den Büchern fdreibender VBeamten ftebt.
Ich babe es vielmal und in allen Zeilen des Landed
gebirt: wir Corsen midten mit Freuden italienifd fein,
denn wir find ja Italiener, wenn nur Btalien einig und ftarf
ware; fo wie e8 beute fteht, find wir franzöſiſch, denn wir
brauden eine grope Macht, die und aufbilft, va wir allein
zu arm find. .
Die Regierung thut das Mögliche, um die italieniſch
Sprache durd) bie frangdfifde gu verdraingen. Alle gebiideten
Corsen fpreden frangdfifd), und man fagt, gut; die Mode-
fudt, bad Bedürfniß, die Wusfidht auf Wemter ndtigt vielen
nas Frangifijde auf. Mit Bedauern ſtieß ich aud) auf folde
Corsen, es waren died allemal junge Mtanner, welde offenbar
aus Gitelfeit unter einander frangdfifd fpradhen. Ich fonnte
mid dann nidt entbalten, mich) vor ibnen gu verwundern,
dap fie ihre ſchöne Landesſprache fo leicdtfinnig gegen die
Sprade ber Frangofen vertaujdten. Bn den Stadten ſpricht
man viel frangififd), aber dad Volk redet nur italienifdh, aud
wenn es in. der Schule oder durd den Verkehr das Franzöſiſche
erlernt bat. In das Ynnere und in die Berge ijt die frembde
Sprade gar nidt eingedrungen; da bat fid) aud die Sitte
der Vater, die Unfdhuld der Naturguftinhe, die Hergenseinfalt,
vie Gerechtigheit, ber Coelmut, die Freiheitsliecbe unangetaftet
ethalten. Schlimm wire e8 fiir dad edle Volk der Corsen,
wenn fie eines Tages die Tugenden ihrer roben aber grofen
Vater gegen die raffinirten Sitten der parijer Geſellſchaft vers
».
161
taufdten. Die ganze Gefdhichte der Corsen wurzelt in dem
Naturgeſetz der Unverleplidfeit und Heiligheit der Familie,
und felbft ibre freie Verfaffung, welche fie im Lauf der Zeit
fid) gaben und unter Paoli abſchloßen, ift nur eine Entwick⸗
lung der Familie, Wile Tugenden der Corsen entfpringen
aus dieſem Geift, fogar die Nachtſeiten ihrer Geſellſchaft, wie
die Blutracdhe, gehören diefer gemeinfamen Wurzel an,
Wir bliden mit Scaudern auf den Blutrader, der von
ven Bergen herabfommt, feines Feindes Sippfdaft Glied fitr
lied zu erdolden; dod fann diefer blutige Vampyr an Kraft,
an Edelmut, Rechtsgefühl und BVaterlandsliebe immer nod)
ein Held gegen den blutlofen Schleicher fein, wie er in der
großen Gefellfdaft unferer Civilifation umhergeht und heimlich
die Seelen feiner Mitmenfden ausfaugt.
Achtes Kapitel.
Bracciamozzo, der Bandit.
Che bello onor s’acquista in far vendetta.
° Dante.
Am gweiten Tag nad meiner Anlunft in Baftia wedte
mid gegen die Nacht ein entfeplider Larm in meiner Locanda
in der Straße der Jeſuiten. C3 war nicht anders, ald follten
vie Bapithen und die Centauren handgemein werden. Yd
fpringe an die Thüre — da gab’ im Speifezimmer folgende
Gcene: der Wirt, wiitend und fdreiend, hat die Flinte auf
einen Menfden angelegt, der vor ibm auf den Rnicen liegt,
andere fdteien dazwiſchen und befdwidtigen. Sener bittet
um Gnade: man wirft thn aus dem Hauſe. Es war ein
junger Menſch, welder fic) fiir einen Marfeiller ausgegeben,
ben vornebmen Herrn gefpielt hatte und am Ende feine Zeche
nicht bezahlen fonnte.
Gregorovius, Corsica. l. 11
162.
Bald darnad ging id in der Morgenfrifde ber San
Nicolao, den Sffentliden Promenadeplag, um ein Bad im Meer
qu nebmen. Die Henfer erridteten eben die Guillotine neben
dem Tribunal, und wenn aud) nidt in der Mitte, fo dod
immer auf dem Bromenadeplag felbjt. Carabinier3 und Bol
umftanden Ddiefe graufige Scene, wozu dad Meer und die fried:
lidjen Olivenbaine im fdjneidendften Widerfprud ftanden. Die
Luft war dumpf und fdwer vom Scirocco. Am Rai ftanden
gruppenweiſe Ptarinari und Arbeiter, fdweigfam ihre Ralf:
pfeifen rauchend und den roten Pfal anftarrend, und mander -
von ibnen in feinem fpigen Berretto, die braune Sade balb
übergehängt, die braune Brujt blop, ein rote Halstud) nad-
laäſſig umgeknüpft, fab aus als hatte er mit der Guillotine
mebr ju thun al3 fie zu betradten. Und in Wahrheit modte
nidt Giner unter dem Volkshaufen ftehn, den nicht daffelbe
Schidfal treffen fonnte das den Banditen erwartete, wenn naͤm⸗
lid der Zufall es fiigte, dab die gebeiligte Sitte ber Blutradhe
ibn gum Morde und der Mord zum Banditenleben zwang.
Wen wird man ridten?
Den Bracciamozzo (Stummelarm). Gr ift erft 23 Jahre
alt. Die Sbirren haben ihn in den Bergen gefangen; wie ein
Teufel hat er fic) gewebrt; fie haben ibm einen Arm zerſchoſſen,
den Arm haben ſie ihm abgenommen und er iſt geheilt.
Was hat er verbrochen?
Er hat zehn Menſchen umgebracht!
Zehn Menſchenleben! und warum?
Aus Capriccio.
Ich eilte ſchnell ins Meer mir durch ein Bad wol zu thun,
und dann in meine Locanda zurück, um dem Zuge nicht mehr
zu begegnen. Die Eindrücke waren ſo gräßlich, daß mich in
dieſer wilden Einſamkeit ein Schauer überfiel. Ich nahm den
Dante hervor; mir war zu Mut als ſollte ich eine ſeiner
wilden Phantaſien aus ber Halle leſen, wo die Pechteufel die
163
armen Geelen mit Garpunen hinunterftofen, fo oft fie auf:
tauden wollen, Luft zu fdnappen. Meine Locanda lag in
der engen und diiftern Strape der Yefuiten. Gine Stunde
war verfloffen, da rief mid) ein Dumpfe3 Mturmeln und Pferde-
trott an bas Fenfter — Bracciamozzo wurde vorbeigefiibrt,
geleitet von ben Todtenbrüdern in ihren Kaputzmänteln, welde
“pom Gefidt nichts frei laſſen als die Augen, die gefpenftifd
durch bie Lider herausſehen — leibhaftige Damonengeftalten,
dumpf vor fic) binmurmelnd, fdauerlid, wie aus der Dante⸗
ſchen Hille in die Wirkidfeit gefprungen. Der Bandit ging
feften Schrittes zwiſchen zwei Prieftern, von denen der Cine
ibm ein Crucifir vorbielt. Es war ein junger Menſch mittlerer
Größe, ein finer brongener Kopf mit rabenſchwarzen krauſen
_ Haaren, das Geſicht erblabt und die Bläſſe nod geboben
durch einen dünnen Schnurrbart. Der linfe Wrm war ibm auf
ven Rücken gebunden, der andere war ein Stummel. Gein
Auge, wol feurig wie das eines Tiger3 wenn ihn die Mordluft
durchzuckte, war ftill und rubig. Ym Gehen murmelte er, wie
e3 fcien, Gebete. Gein Schritt mar fider und feine Haltung
aufredht. Borauf ritten dem Zuge Gendarmen, die Schwerter
bloß; binter bem Banditen gingen paarwmeife die Todtenbriider;
den Zug ſchloß ver ſchwarze Sarg; ein weißes Kreuz war dar:
auf gepinfelt und ein Todtenkopf. Vier Barmherzige trugen
ibn. Langfam 30g der Bug durch die Defuitenftrape, gefolgt
pon ber murmelnden Menfdhenmenge, und fo führten fie den
Vampyr mit dem zerfdhofferten Fliigel nach dem Blutpfal. Ich
babe niemal3 eine fdauerlidere Scene mit Augen gefehn, und .
wenige die fid) bid auf die fleinften Züge wider meinen Willen
in mein Gedächtniß fo eingeprigt haben.
Man fagte mir darnad, dab ber Bandit ohne Zagen ges
ftorben fei, und daß feine legten Worte waren: id bitte Gott
und die Welt um BVerzethung, denn id erfenne dap id viel
Böſes gethan babe.
164
Diefer junge Menſch war nidt eigentlid) Blutrader aus -
perfinliden BVeranlaffungen, fondern Bandit aus Chrgetz ge-
‘worden. Seine Geſchichte wirft viel Licht in die erfdredenden
Buftande der Ynfel. Bur Beit der Bliite Maffoni’s, der eines
Verwandten Blut geroden hatte und dann Bandit geworden
war, trug ibm Bracciamozzo, wie das Boll den jungen Gia:
comino fofort nannte, naddem ibm der Arm verftiimmelt wor-
den war, die Lebensmittel gu. Denn dieſe Banditen fteben
immer im Ginverftandniffe mit Freunden und mit Ziegenhirten,
welde ihnen in ibre Schlupfwinkel Nabrung3mittel bringen
und Bezahlung empfangen, wenn Geld vorhanden ijt. Gia:
comino, beraufdt von dem Ruhm ded tapfern Ptaffoni, fegte
fid) in den Ropf, ihm gleich zu werden und fid von ganj
Corsica bewundern zu laſſen. Gr tddtete einen Menfden,
jprang dann in den Bufdwald und wurde Bandit. Das
Volf nannte ibn bald „Vecchio“, den Alten, wabrideinlid
deshalb weil er al3 ein blutjunger Menſch ſchon fo viel Blut
vergoffen hatte, als ein alter Bandit. Eines Tages erſchoß
ber Vecchio den allgemein beliebten Arzt Mtalafpina, ben Ontel
eines mir gaftfreundliden Manned aus der Balagna; er hatte
fidh in einen Buſch geftellt und feuerte mitten in den Poft-
wagen, welder von Baftia des Weges fam. Der wilde Zeufel
jprang dann in die Berge, bis ihn die Strafe ereilte.
Gine Lebensgeſchichte fo fürchterlicher Art kann alfo ver
Menſch in Corsica haben. Niemand veradtet dort ben Ban⸗
diten, welder weder Dieb nod Mauber ijt, fonbdern nur
RKampfer, Rader und frei wie ver. Adler auf den Bergen.
Schwärmeriſche Köpfe entziinden fid) an der Vorjtellung, durd
Waffenthaten Ruhm gu erndten und in den Liedern de3 Vol⸗
fe3 forguleben. Dad feurige Weſen diefer Menſchen, die durch
feine Cultur gezähmt find, welche die Arbeit als Cntehrung
ſcheuen, welche nach Thaten dürſtend nichts von der Welt
kennen als die wilden Berge, in denen ſie die Natur mitten
— —
165
im Meer eingeengt hat, fdeint wie ein Vulcan einen uss
brud) gu verlangen. Auf einem grdferen Raum und unter
anbdern Bedingungen witrden diefelben Menfden, welche jabre:
lang in ben Berghöhlen haufen und in den Bufdwaldern mit
ven Sbirren kämpfen, KriegShelden werden wie Gampiero und
Gaffori. Die Natur ver Corsen ift die Kämpfernatur, und
id) finde feinen paffenderen Begriff fir fie als welchen Platon
der jum Rriegerftande gebornen Menfdengattung beilegt,
namlid) „eiferartig“. Die Corsen find eiferartige Naturen;
Giferfudt, Rubmfudt, Ehrſucht, Rachſucht, all diefe verzeh⸗
renden Leidenfdaften find die ibren, und fie find geborne
Streiter in jedem Sinne des Worts.
adh Bracciamozzo's Hinridtung war ich neugierig zu er:
fabren, ob des Whends die Frauenwelt auf dem Plag San
Nicolao fpagieren gehen wiirde, und ic verfaumte nidt mid
port eingufinden. Und fiehe da, es wanbdelten auf demfelben
Platz, wo de3 Morgens bas Banditenblut geflofien war, einige
Frauen Baftia’s. Nichts verriet mebr die Scene des Morgens,
es war als ware nidts geſchehn. Wud) ich) wanderte dort
umber, denn dad Deer war gar yu wonneſam von Farbe.
« Barfen fdhwammen darauf mit ihren Lidtern, und Fifder
fangen bas ſchöne Lied: O pescator dell’ onde.
e
@
Neuntes Kapitel.
Die Vendetta.
X Eterna faremo vendotta.
Corsifwes Lied.
Der Urjprung des Banditenwefens ijt faft ourdaus in der
uralten Gitte der Blutrade gu ſuchen. Fait alle Sdriftfteller,
bie id) darüber las, leiten die corfijhe Bandetta aus den
Betten her, da die genuefifde Juſtiz fetl war oder den Mord —
166
begiin{tigte. Obne Bweifel bat der beftindige Krieg und
die Stodung der Geredhtigheitspflege viel dazu beigetragen,
‘ jene barbarifde Gitte eintourjeln gu laffen, aber die Wurgel
felbft liegt two ander3. Denn die Blutrache findet ſich nidt in
Corsica allein, fondern aud in andern Landern, in Sarbdi-
nien, Galabrien und Gicilien, bei den Wlbanefen und Monte⸗
negrinern, bei den Gircaffiern, Drufen, Beduinen.
Die gleihe Erſcheinung muß daber gleide Bedingungen
haben. Sie find leit aufgufinden, weil der gefellfdaftlide
Zuſtand aller diefer Völker fic) ähnlich ift. We Leben fie in
éinem friegerifden Zuſtand, in einer wilden und großen Naz
. tur; alle mit Wusnabme ber Beduinen find fie arme Berg:
völker, leben alfo in Gegenden, welche der Cultur nidt leidt
zugänglich find und die uralten barbarifden Sitten auf das
hartnäckigſte fefthalten. Alle endlid find fie von dem gleiden
Familiengeift durdorungen, welder die heiligſte Grundlage
ihrer Geſellſchaft bildet. Im Naturzuftand und in einer durd
allgemeinen Krieg und Unfiderbeit aufgeldsten - Gefellfdaft
wird bie Familie ein Staat fiir fic); die Glieder derjelben
halten feft zuſammen; wo eines verlegt wird, wird der gange
Heine Staat verlegt. Die Familie übt nur durd fic felbft .
die Geredhtigheit, ihre Form wird die Rade. Und fo geſchieht
e3 bab die Blutradhe, obwol eine Barbarei, dod) aus dem
verlegten Rechtsgefühl und aus der natürlichen Liebe yu den
Blutsverwandten entfpringt, und dab ibre Quelle eine edle,
das menfdlide Herz tft. Die Bendetta ijt eine barbarifde
Geredtigheit. Der Gerechtigkeitsfinn der Corser aber wird
ſchon von den alten Schrifſtellern anerfannt und gepriefen.
Bwei edle und grofe Leidenfdaften beberrfden den Corsen,
bie Liebe zur Familie und die Liebe gum Vaterland. Bei
einem ganz armen Bolt, welde3 auf einer abgefdiedenen Inſel
lebt, die obenein nod von einer heroiſchen Gebirgsnatur iit,
milffen diefe Leidenſchaften ſehr mächtig fein und ibm die Welt
167
erſetzen. Die Liebe gum Baterland hat jene Heldengeſchichte
Corsica's erzeugt, welche eigentlich nichts ift als eine uralte,
fort und fort geerbte Blutrache der Corsen gegen Genua; die
Liebe zur Familie hat die nicht minder blutige und nidt minder
heroiſche Gefdidte der Vendetta erzeugt, deren Trauerſpiel
nod heute fortgefpielt wird. Man muß die Urtraft diefes
Volks wahrlich unbegreiflic finden, da es fic) felber auf das
Blutigfte zerfleiſchend dennoch zu gleicer Zeit die Starke befag,
fo unablafjige und fo glorreide Kämpfe mit den LandeSfeinden
zu kämpfen.
Die Liebe zu den Seinen iſt wie in den alten Heldentagen,
ſo noch heute dem Corsen eine Religion; nur die Liebe zum
Vaterland iſt ihm eine höhere Pflicht. Viele Beiſpiele aus der
Geſchichte zeigen dies. Wie bei den Hellenen die Geſchwiſter⸗
liebe als die höchſte und reinſte Form der Liebe überhaupt
galt, ſo iſt es auch bei den Corsen. In Corsica gilt das
geſchwiſterliche Verhältniß für das heiligſte; und der Name Bru⸗
der und Schweſter bezeichnet das reinſte Glück des Herzens,
ſeinen edelſten Schatz oder ſeinen ſchmerzlichſten Verluſt. Der
älteſte Bruder, als die Stütze der Familie, iſt eine Perſon
der Verehrung ſchon an ſich. Ich glaube nichts ſpricht ſo klar
das geſammte Empfinden und das ſittliche Weſen eines Volkes
aus, als ſein Lied. Das corsiſche Lied iſt ganz eigentlich
bie Todtenklage oder das Rachelied; und die meiſten dieſer
Radelieder find die Rlagen der Schweſter um den Bruder,
welder gefallen iſt. Ich babe überhaupt gefunden, dap wo
in diefen Gefangen alles Lob und alle Liebe auf den Todten
gebiuft wird, e3 von ibm beipt: er war mein Bruder. Selbſt
pas Weib nennt den Mann im hidften Wusdrud der Liebe:
Bruder, G8 überraſchte mid eben diefelbe Ausdrucks- und Ge-
fühlsweiſe im jerbifden Bolksliede wieder zu finden, denn
aud die Serbin bezeichnet ihren Mann mit dem höchſten
Liebesnamen Bruder, und wo bei ben Gerben der heilige
168
@
. Schwur gefdhworen wird, ſchwört man ihn bei dem Bruder.
-
— Bei unverdorbnen Völkern bewabrt ſich vie Naturreligion
bes Hergens in ihren einfadften Empfindungsweifen; fie find
auf das gegriindet was das allein dauernde in den Verbilt:
nifjen des Lebens ift, denn das Gefühl ded Volkes haftet an
_ dem was einfad ift und was beftebt. Die Gefdwifterliebe
wie die Clternliebe ift bad einfadfte und dauerndfte Verhaltnif
auf Erden, weil e3 leidenſchaftslos iſt. Die Geſchichte des
menfdliden Elends aber beginnt mit bem Rain, dem Brurer-
mörder.
Wehe alſo dem, welcher des Corsen Bruder oder Bluts⸗
verwandten erſchlagen hat. Die That iſt geſchehn — der
Mörder entſpringt aus doppelter Furcht, vor der Juſtiz, welche
den Mord beſtraft, und vor der Verwandtſchaft des Erſchlagnen,
welche den Mord rächt. Denn ſobald die That ruchbar ge⸗
worden iſt, greifen die Verwandten des Gefallenen zu den
Waffen und eilen, den Mörder zu treffen. Der Mörder ent⸗
ſprang zum Buſchwald, er klimmt dort vielleicht zum ewigen
Schnee empor; feine Spur iſt verloren.. Wher er hat Ver⸗
wandte, Brüder, Vettern, einen Vater; die Verwandten wiſſen,
daß ſie mit ihrem Blut für die That einſtehen müſſen. Sie
bewaffnen ſich alſo und ſind auf ihrer Hut. Das Leben derer,
welche im Stande der Vendetta ſich befinden, iſt ungemein
elend. Wer die Vendetta zu fürchten hat, ſchließt ſich in ſein
Haus und verrammelt ſofort die Thüren und Fenſter, in
welchen er nur Schießſcharten übrig läßt. Mit Stroh und
Matragen werden die Fenfter verkleidet, man nennt die3 in-
ceppar le fenestre. Da8 corsiſche Haus in den Bergen,
ſchon an fic) bod, faft turmartig, enge, mit einer febr
boben fteinernen Treppe, wird leicht gur Feſtung. Jn diefer
Schanze halt fid der Corse, immer auf feiner Gut, dab ibn
nidt eine Kugel durd das Fenfter erreiche. Bewaffnet acern
feine Verwandten, ftellen Waden aus, find keines Schrittes
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mebr auf dem elde ficer. Man erzdblte mir von Beifpiclen,
daß Corsen zehn, ja fünfzehn Jahre lang ihre verſchanzte
Wohnung nicht verließen und in ſteter Todesangſt ſo lange
Zeit ihres Lebens belagert hinbrachten. Denn die corsiſche
Rache ſchläft nimmer und der Corse vergißt nicht. Es ers
eignete ſich in Ajaccio vor kurzer Zeit, daß ein Mann welcher
zehn Jahre in ſeinem Zimmer gelebt und endlich ſich auf die
Straße gewagt hatte, bei ſeiner Riidftehr vor der Schwelle
ſeines Hauſes todt niederſtürzte. Die Kugel deſſen, der zehn
Jahre lang über ihm gewacht, hatte ibm, das Herz durchbohrt.
Ich ſehe hier in den Straßen Baſtia's einen Mann umher
gehen, den das Volk Naſone nennt, weil er eine große Naſe
hat. Er iſt ein Gigant an Geſtalt und überdieß noch durch
ein zerriſſenes Auge entſtellt. Vor Jahren lebte er in dem
benachbarten Ort Pietra Nera. Er beleidigte einen aus dem
Dorf. Dieſer ſchwor Rache. Naſone verſchanzte ſich in ſeinem
Haus und verſperrte die Fenſter, um vor einem Flintenſchuſſe
ſich zu ſchützen. Eine geraume Zeit verging, da wagte er
ſich eines Tages auf die Straße; augenbliclich ſprang fein
Feind auf ihn zu, ein Winzermeſſer in der Hand. Sie rangen
fürchterlich, Naſone unterlag, und ſein Gegner, der ihm be⸗
reits einen Hieb in den Nacken gegeben hatte, machte ſich eben
daran ihm den Kopf auf einem Baumſtumpf abzuſchlagen, als
Leute herzukamen. Naſone ward geheilt, jener entwich in die
Macchia. Wieder verging eine geraume Zeit. Eines Tags
wagte ſich Naſone auf die Straße — eine Kugel kam ge⸗
flogen und fuhr durch ſein Auge. Man hob den Verwun⸗
deten auf, und wieder ſiegte ſeine rieſige Natur und heilte
ihn. Der ergrimmte Bandit verwüſtete nun Nachts den
Weinherg ſeines Feindes und warf Feuer in ſein Haus.
Naſone zog in die Stadt, und geht da umher als lebendiges
Beiſpiel corsiſcher Rache, grauenvoll für den friedlichen Fremd⸗
ling, der ſich feine Geſchichte erzaͤhlen ließ. Ich ſah den ents
170
febliden Mann eines Tages am Meer, aber nicdt ohne feine
Doppelflinte; feine Geftalt flipte mix Schrecken ein, er war
angufebn wie ber Rachedämon felbft.
| Sid nicht gu raiden gilt bet nen echten Corsen fiir ent:
ehrend. Das Rachegefihl ijt bei ibnen ein Naturgefabl, eine
Leidenfdaft welde gebeiligt ift. In ibren Liedern hat die
Rade einen Cultus und wird gefeiert wie eine Religion. der
Pietät. Cin Gefühl aber welches das Volk in fein Lied auf:
genommen bat, ift unaustilgbar und im höchſten Maße dann,
wenn e3 aud das Weib als fein Gmpfinden geadelt hat. Die
meijten Radelieder ber Corsen haben Mädchen und Weiber
gedictet, und man fingt fie von den Bergen bid yum Strande.
Das gibt eine wabhrbafte Rache-Atmoſphäre, in welder das
Volk lebt und die Kinder aufwadfen, und fo faugen fie den
wilben Ginn der Bendetta fdon mit der DPtuttermild ein.
In einem jener Lieder wird gefungen: Zwölf Seelen find nod
gu wenig, um de3 Gefallnen — — Stiefeln gu rächen. Das
ift corsiſch. — Ginen Menfden wie Hamlet, welder darnad
ringt fid mit dem Geiſt der Blutrade zu erfiillen und das
nidt vermag, wilrden die Corsen fiir dad elendefte aller Gub:
jecte erflaren. Mirgend in ber Welt vielleidht gilt Menſchenblut
und Menfdenleben fo wenig, al8 in Corsica. Der Corse
ijt bereit e3 zu vergieben, aber er ijt aud) bereit gu ſterben.
Wer zögert, fic) gu rächen, wem vielleicht ein milderer
Sinn oder einige Philofophie etwas vom Hamlet gegeben hat,
bem raunen die Vertwwandten zu und Andere befdimpfen ihn,
daß er fich nicht geradht babe. Das nennt man rimbeccare,
porwerfen, eine nicht geridte Beleidigung erbuldet zu haben.
Den rimbecco beftrafte bas alte genuefifdhe Statut als Auf⸗
reizung zum Mord. Es lautet das Geſetz im 19. Capitel
dieſer Statuten fo:
oon denen welde vorwerfen oder rimbecco fagen.
Wenn einer vorwirft ober in feiner Gegenwart yu andern
171
o*
rimbecco fagt, weil er den Tod de Vaters, de Bruders
oder anberer Blutsvermandten nidt geradt hat, oder weil er
fic) nicht wegen anderer Beleidigungen und Schimpf ibm felber
angethan geradt bat, fo foll er fiir jede3 Mal von 25 bis
50 ire beftraft werden, nad) Gutdiinfen der Behörde und in
Riidfidt auf die Gigenfdaft der Perfonen und andere Um⸗
ftambe; und wenn er nidt zablt oder die Buße innerhalb adt
agen nidt zablen fann, foll er auf ein Jahr von der Inſel
gebannt fein, oder es foll an ihm einmal die Corda anges
gogen werden, nad) Gutdiinten ded Richters.“
Ym Jahr 1581 wurde da3 Gefeg felbft fo weit verfdharft,
bap bem rimbecco fagenden die Bunge öffentlich durdftoden
wurde. — Jun find es befonder3 die Frauen, welde die
Manner zur Race antreiben, durd) da3 Radhelied an der Leide
des Gridlagenen und durdh das Vorzeigen des blutigen Hem-
be3. Die Mutter heftet wol aud ihrem Sohn einen blutigen
Seven vom Hemd des Vaters an dads Kleid, al beftdndige
Mahnung, dab er fid) zu radjen habe.
Yn chemaligen Zeiten hatten die Coren die ritterlice
Fehdeſitte, den Blutrachekrieg zuvor anjuliindigen und aud
bis gu weldem Gliede die Rade ſich erftreden follte. Die Sitte
ift abgefommen. Bei der engen Verbindung Ber Sippfdaften
(parentado) freugt fic) natitrlid) die Vendetta; foldhe kreuz⸗
weife Rache nennt man in Corsica vendetta transversale.
Es hangt nun damit als ganz natiirlide Folge der corsiſche
Familienkrieg zufammen, nod) bid auf den beutigen Tag die
Geifel des unglidliden Lande3. Denn diejenigen Familien
welde in der Vendetta liegen, ziehen fofort alle ibre Ver-
wandte und felbft Freunde mit binein, und in Corsica gibt
e3 wie bei Nationen ähnlicher Gefellfdaftslage aud) nod das .
fefte Band bes Stammes. So entſtehen Familientriege inner:
halb ein und deſſelben Dorfs oder von Dorffdhaft zu Dorf:
ſchaft, von Tal gu Tal, und jabrelang wird Krieg geſührt
172
und Blut vergoffen. Blutrache oder geringere Beleidigungen,
qufallige Anläſſe geben dazu die Gelegenbeit, und bei dem
Jahzorn der Corsen muß jeder Hader leicht blutig werden, ba |
fie alle bewaffnet find. Der Krieg erftredt fic) bid auf die
Kinder; man fennt Beifpiele, daß Knaben aus feindliden
Sippſchaften einander erdoldt oder erfdhofjen haben. Es gibt
in Corsica gewiffe Clientelverbindungen, Ueberreſte der alten
Feudalzuſtaäͤnde aus ber Beit der Gignoren, und befonder3
bat fic) diefer Batronat im Lande jenfeits ber Berge erhalten,
wo die Nachkommen der alten Gignoren nod in ihren Orten
wohnen. Sie baben feine Lehnvafallen mehr, aber von ihnen
abbingige Leute, Freunde, Verpflidtete, Dienftbare. Leicht
ſcharen fich dieſe als Familienanhbang jufammen, und died
find denn nad corsiſchem Wusdrud die patrocinatori oder
geniali. Wie im Mittelalter in den italieniſchen Städten wird
aljo in Corsica ber Krieg der Familien nocd fortgefilbrt als
legter Reft der Cignorenfebden, wenn man will. Hartnidig
bat bie granitne Inſel das Wltertum feftgebalten, und ibre
Gefdhidte, der fortbauernde Biirgertrieg auf ibr, veranlaft
durch den Ehrgeiz und den Kampfesitbermut der Signoren,
bat dem Lande bis auf den heutigen Tag den Parteigeift
aufgedriidt.
In Corsica hat der fürchterliche Begriff Feindſchaft feine
. vole, alte Bedeutung. Der Feind ift dort der Todfeind; wer
in Feindfdaft lebt geht aus auf Feindesblut und fein eigenes
Blut mup er daran geben. Wud) wir haben den alten Be-
griff Lodfeind nod) aus dem Maturgujtande herüber genommen,
aber wir drücken mebr Wbftracted damit aus. Unſere Tod⸗
feinde wollen und nicht morben, fie thun un3 Böſes binter
dem Rücken an, fie verleumben uns, fie {ddden und heim⸗
lid) auf jede Weife; oft wiffen wir nicht einmal, wer fie find.
Die Feindfdhaften in der Givilijation haben in der Regel
etwas Gemeines, baber fann der edle Menfd in unferer Gee
173
ſellſchaft nicht mehr Feind fein, er fann nur veradten. Auf
ven Leib aber geben fic) die Todfeinde in Corsica, die Waffen
in der Hand; fie haben fic laut und offentlich Rade bis aufs -
Blut gefdhworen, und wo fie fic) treffen dolchen und er:
ſchießen fie cinanbder. Das hat etwas fürchterlich Mannlides,
naturfraftig Wildes. Go barbarifdh ein folder Geſellſchafts⸗
zuſtand ijt, fo nötigt er und ddd, die natiirliche Kraft zu
adjten, gumal da der corſiſche Blutrader oft eine wabrbaft
tragifde Perfon ift, vom Sdidjal, weil von der gebeiligten
Sitte yum Mord gejwungen. Denn aud) ein von Natur
edler Menſch tann dort gum Rain werden, und wer auf den
Bergen diefer Inſel als Bandit umberirrt trigt oftmals nur
den Flud der barbarifdhen Gitte, und fann ein Menfd von
ſolchen Zugenden fein, welche ibn in der biirgerliden Geſell⸗
ſchaft ebren und auszeichnen würden.
Eine einzige Leidenſchaft aus edler Quelle entſprungen —
Rache und nichts mehr als Rade! es iſt wunderbar, mit
welcher unwiderſtehlichen Gewalt ſie den Menſchen ergreift.
Die Rache iſt die Schickſalsgöttin der armen Corsen, ſie macht
ihre Lebensgeſchichte. Und fo wird hier der Menſch durch
eine einige Leidenſchaft gu dem firdterlidften Damon und
ſchonungsloſer als der Wiirgengel, denn er begnügt ſich nidt
mit der Erſtgeburt. Wber fo nächtig dunkel die Menſchen⸗
geftalt bier erſcheint, fo erzeugt diefe finftre Leidenſchaft wieder
ibre lidtvollen Gegenfige. Wo Feinde auf Tod und Leben
find, find aud Freunde auf Tod und Leben; wo die Rade
vas Herz mit Tigermordgier zerfleiſcht, da fommt aud die
Menſchenliebe und reipt e3 zu den erbabenften Entſchlüſſen
Hin; ba ift ein heroiſches Selbſtvergeſſen und die göttliche
Milde ded Verzeihens, und nirgend möchte man die criftlide
Moral: Liebe deinen Feind, chriftlider verwirklicht finden, als
in dem Lande der Blutrache.
Oft legen ſich auch Mittler, Parolanti genannt, zwiſchen
174
die Feindſchaften, und in ihre Hand ſchwören die Parteien
ven Eid ber Verſöhnung. Der Cid ift heilig wie die Religion;
- twer ibn gebroden bat ift vor Gott und Menſchen ehrlos und
geächtet. Celten wird er gebroden, aber dod) gebroden,
denn im menfdhliden Herzen hat der Damon fein Meft gemadt. -
Zehntes Kapitel.
Banditenleben.
Nur weiter! Dies iſt ſeine Fährte effenbar;
. Rad ſpürt bem ſtymmen Rate ber Verrätrin Spur!
Denn wie ber Spfirhund einem angefdoffnen Reh,
So wittern, feinem Schweiß unb Blut nad, wir ihn aus.
Die Eumeniben des Aeſchylus.
Wie nun der Corse gezwungen werden fann, al3 Bandit
“gu leben, aud feiner rubigen Häuslichkeit urplötzlich in die
Bergwildniß gefdleudert zu werden und in einen gang ftaat:
lofen Menſchen, in ein vogelfreies Wefen fic) zu verwanbdeln,
wird aus ber Blutrade klar fein.
Der corsifdhe Bandit ijt nicht wie der italienifhe Dieb
und Rduber, fondern bas, was fein Name fagt, ein vom
Geſetz Verbannter. Ym alten Statut heißen urfpriinglid alle
diejenigen Banditi, welche von der Inſel verbannt find, weil
fie die Geredtigtit in ihre Gewalt nidht bat betommen
' fonnen; fie wurden für vogelfret ertlart, und e3 war einem
Jeden erlaubt einen Banditen, wenn er fid) blicen lieB, zu
erfdlagen. Der Begriff des Verbannten ift alfo gang einfad
auf alle Menfden iibergegangen, welde im Bann des Ge:
ſetzes leben.
Die Abgeſchiedenheit Corsica's, die Mittelloſigkeit, endlich
die Vaterlandsliebe hindern oft den flüchtigen Corsen, ſeine
Inſel zu verlaſſen. In früheren Zeiten retteten ſich corsiſche
175
Banditen bisweilen nach Griedhenland, wo fie tapfer fampften;
heute flüchten mande nad Stalien, die meiften aber nad
Sarbinien, wenn fie e3 vorgiehn ibre Geimat gu verlaffen.
Die Fludt vor dem Gefeg ift nirgend in der Welt leidter,
als in Corsica. Denn faum ift das Blut gefloffen, fo fpringt
ber Thäter in bie Berge, welche itberall nabe find, und birgt
fid) in ber ſchwer durdbdringliden Macchia. Bon diefem
Augenblid an heipt er Bandit. Die Verwandten und Freunde
wiffen um feine Gpur; jo lange es möglich ijt, verforgen
fie thn mit bem Nötigſten, und nebmen ibn wol aud in
mander beimliden Nacht in ihr Haus auf. Jn der hidften
Rot findet der Bandit immer Biegenbirten, welche ibn er-
nähren.
Der Hauptſchlupfwinkel der Banditen ift zwiſchen Tor und
bem Berge Santo Appiano, in den Wildniffen des Monte
Cinto und des Monte Rotondo, in-den untwegfamen Gegen⸗
den ded Niolo. Dort bedecfen Urwalder, welde nimmer eine
Art gefehbn, und didtefte Büſche von Eichengeſtrüpp, von Al⸗
batro, Mirten und Haide die Abhänge der Berge; dunkle
pom Wildwaffer durdbrauste Schluchten in denen fic) jeder
Pfad verliert, Hilen und Grotten und jertriimmertes Gee
ftein geben Berborgenbeit. Dort lebt ver Bandit mit dem
Falken, mit dem Fuchs, mit vem Wildfdaf ein Leben, wel⸗
ches romantifder und troftlofer ift al das des amerifanifden
Wilden. Die Geredtigkeit geht ihren Lauf; fie bat den Ban⸗
diten in contumaciam verurteilt; er lacht deffen, er fagt in
jeiner wunderliden Ausdrudsweije: id habe bas sonetto
empfangen, das beipt die Senteng in Contumaciam. Die
Sbirren ſpüren auf feiner Fährte, nicht minder die Blutrader;
er ift auf beftandiger Sludt, er ift der ewige Jude in
den wilften Bergen. Mun gibt es Kimpfe mit den Gendar-
men, heroiſche, fürchterliche Rampfe; das Blut hauft ſich; aber
es ift nicht Sbirrenblut allein; denn der Bandit ift aud ein
176
Blutradher, nidt vie Liebe gu dem elenden Leben, vielmehr
die Rade ift e3, von der er lebt. Gr bat der feindliden
Sippſchaft den Zod gefdworen; man fann fid vorftellen, wie
das Rachegefühl in der Wildniß ver Verge unter beftindigen
Gedanfen an den Tod und den Träumen von dem roten Pfal
fid) ind Ungebeure fteigern mup. Bisweilen fommt der Bandit
berab, feinen Feind zu erfdlagen; wenn er feine Rade voll:
gogen hat, verfdwindet er wieder. Manchesmal wirft er fid
gum Carl Moor der Gefellfdhaft auf. Man tennt nod in
Corsica die Gefdichte des Banditen Capracinta aus Prunelli;
bie Juſtiz hatte feinen Vater ungeredht zu den Galeren ver⸗
urteilt; der Gobn ging mit einigen Blutsverwandten in die
Macchia, und von den Bergen ftiegen dieſe Rader von Zeit
au Beit berab. und erdoldten-und erſchoſſen perſönliche Feinde,
Goldaten, Spione; fie fingen eines Tages auch den öffent⸗
liden Henter und volljogen an ibm felber die Hinridtung.
G3 liegt ſehr nabe, dab die VBanditen fid oft aud als
Werkzeuge Anderer gebraucen lafjen, welde etne Vendetta gu
vollziehen haben und nun an jene fid) wenden, damit fie ibnen
ibren Dold) und ihre Kugel leiben. Bei der gropen Verzwei⸗
gung der Familien auf einem fo fleinen Lande muf die
Furchtbarkeit der Banditen natürlich wadfen. Sie werden die
Blutgeipel bes Landes; der Acker bleibt wüſte, der Weinberg
wird nidt gepflegt; denn wer wagt fid) ind Feld, wenn Maſ⸗
joni oder Serafino ihm drobt? G3 gibt ferner unter den
Banditen Manner, bie ehedem gewohnt waren, Cinflup auf
Andere auszuüben oder am öffentlichen Leben fich gu beteiligen ;
in die Wildniß verbannt wird e3 ihnen unertriglid, außerhalb
folder Wirkſamkeit gu bleiben. Man verſicherte mid, daß
Ginige nod in ihren Hölen und Schlupfwinkeln fortfabren
felbft Zeitungen gu Tefen, welde fie fich gu verſchaffen wiſſen.
Oft üben fie einen fchredenden Einfluß auf die Communal:
wablen und felbft auf nie Wablen gum Landesrat aus, und
177
nidt’ ſelten haben ſie Zeugen und Richter bedroht oder ſich
blutig an ihnen gerächt. Dies and obnehin die ſehr milbde
' Beurteilung der Gefdhwornen hat zu dem ſchon vielfad aus:
gefprodnen Verlangen Grund gegeben, man midte die Jury
in Corsica ganz abſchaffen. G8 ift nicht gu läugnen, dab
das corsiſche Geſchworengericht unter dem Einfluß der Furdt
vor der Banditenrace fteben fann; wenn man ibm aber eine
qu milde Whurteilung yum Vorwurf madt, fo wird man ibm
in vielen Gallen Unredht thun, denn das Banditenleben und
feine Urjachen wollen aus den Bedingungen der corsifden Ge:
jellfdaft betradtet werden. Ich wobhnte einer Sigung der Gury
in Baftia bei, eine Stunde nad der Hinridtung des Braccia-
mo330 und in demfelben Gebäude, vor welchem er geridtet
worden twar; mir fdien der Gindrud des Hinridtungsacted
fiblbar in- den Mienen der Gefdhwotnen und der Zuſchauer,
aber nicht in dem Geſicht des Angeklagten. Es war ein junger
Menſch, welcher einen Mann erſchoſſen hatte; er hatte ein
ſtumpfes, verſteintes Geſicht und ſein Schädel ſah aus wie
eines Negers Schädel, als könnte man thn yum Amboß ge-
brauchen. Weder die eben vollzogene Hinrichtung, noch die
Feierlichkeit der Aſſiſenhandlung machte auf den jungen Menſchen
Eindruck; er zeigte nicht bie geringfte Spur von Befangenheit
oder Furcht, ſondern antwortete auf alle Fragen de? Verhörs⸗
richters mit der größten Raltblitigheit, fic) tury und bündig
über die Umſtände feiner Blutthat auslaffend. Ich weiß nicht
mebr, gu wie viel Jahren Gefangnip man ibn verurteilte.
Obwol der corsiſche Bandit. fic) niemals durch gemeinen
Raub ſchändet, halt er es vod nicht unter feiner ritterliden
Ghre, Geld zu erprefjen. Die Banditen fdreiben Contribu-
tionen aus, fie taxiren Gingelne, oft gange Dörfer und Ge:
meinden nad dem Vermögen, fie fordern mit Strenge ibren
Tribut ein. Als Konige des Buſchwaldes legen ſie ihre
Steuern auf, und man ſagt, ſolche Steuerpflichtige bezahlten
Gregorovius, Corsica. I. 12
178
ihre Schuld eiliger und getwiffenbafter als fie diefelbe je dem
Könige von Frankreich leifteten. C8 gefdieht ſehr haufig, dab
der Bandit irgend einem wolbabenden Mann einen Contti.
bution3fdein in das Haus ſchickt mit der Aufforderung ihm
fo und fo viel taufend Franken an einem beftimmten Ort
niedergulegen, wenn nidt, fo werde er ibn, fein Haus und
feinen Uder vernidten. Die übliche Drobformel ijt: si pre-
parasse: Gr foll fic) bereit balten. Andere fallen in die
Gewalt der Banditen und müſſen ein Ldfegeld zahlen. Mit
dent erprepten Gelde beretdern diefe ihre Verwandten und
Freunde und erwerben fid) mande Gunſt: ihrem eigenen Leben
fommt Geld jonft faum gu Gut, denn Hatten fie e3 bergebod
aufgehauft, fie leben dennoch nad) wie vor in den Hélen der
Wildniß und auf der Flucdt.
G8 gibt viele Banditen, welde fünfzehn bis zwanzig Jahre
lang ihe Wefen fortgefithrt haben und auf fo Heinem Raum
al3 ibre Berge ihnen gewährten, fic) gegen die betwaffnete
Macht behaupten tonnten, bi8 fie erlagen. Sie leben nidt
in Banden vereinigt, weil fie fo das Land nidt nabren
würde; aud) ſträubt fid) die corsiſche Natur dagegen, ben
Beſehlen eines Hauptmanns gu gehorden. Meiſtens find fie
au jweien, in einer Art Waffenbritoerfdaft. Wud) fie haben
unter fid) ihre Blutrade und ihre Todfeindfdaften; died ift
ſtaunenswert, denn fo gewaltig ift das perſönliche Rachegefühl
des Corsen, dab ein gleiches Clend und ein gleiches Los den
Banditen mit bem Banditen niemals verjdhnt, wenn zwiſchen
ibnen die Vendetta beftand. Man erzählt fid) von mandem
Peifpiel, dab ein Bandit den andern um der Blutrade willen
in ben Bergen gejagt und erfdlagen habe. Aud Maſſoni
und Serafino, die Banbditenbelden Corsica's aus der jiingften
Vergangenheit, lagen in der Vendetta und fdoffen auf ein⸗
ander, wenn fie fid) trafen. Maſſoni ; batte dem Serafino
einen Finger abgefdoffen.
179
Die Geſchichte der corsiſchen Banditen ift reich an heroifden,
daͤmonifchen und ritterliden Charatterziigen. Im gangen Lande
fingt dad Volk vie Banditentodtenflagen, es ijt ja da8 eigne
Sdidfal und der eigne Schmerz, den es in diefen Liedern
flagt. Viele Banditen find unfterblid) geworden, vor allen
glangt Giner durch feine kühnen Thaten. Gr heißt Teodoro,
und felber nannte er fic) Rinig der Berge. C8 hat alfo
Corsica zwei Könige de3 Namens Theodor gebabt. Teodoro
Poli war eines Tags, im Anfang diefes Jahrhunderts, cons
ſeribirt worden; er forbderte eine Frift, um dad Geld fiir ven
Stellvertreter gu beſchaffen. Die bewaffnete Macht ergriff ibn
um ibn einjuftellen. Teodoro's Freiheitsliebe empörte ſich.
Gr warf fid in die Berge und lebte als Bandit. Gang
Corsica rip er zur Bewunderung feiner Kibnbeit hin, er war
pas Sereden der Inſel; aber feine Gemeinbeit befledte ibn,
im Gegenteil rithmte man feine Gropmut, und felbft Bers
wanbdten feiner Geinde vergieh er. Gr war febr fdin und
liebte, wie fein Namensvetter der König, pradtige Kleidung.
Mit ihm teilte fein Los feine Geliebte, twelde von den
Steuern (taglia) bie Theodor auf die Ortfdaften legte, in
Freuden lebte. Mit ihm war aud ein Bandit Brusco, weldem
' er unverbriidlide Freundfdaft gelobt hatte, und fein Obeim
Augelfone. Augellone heißt bdfer Vogel; es ift nämlich Sitt?,
pap die VBanditen fid Zunamen geben. Der böſe Vogel wurde
neibifd) auf Brusco, welden Teodoro fo. febr liebte, und
eines Tags ſtieß er ihm dad falte Eiſen etwas zu tief in die
Bruft. Darauf fprang er ins Geftein. Wie Teodoro den
Fall. feines Brusco erfannte, fdrie er vor Schmerz nidt
ander3 auf al8 Adil nad dem Falle des Patroclus, und
nad alter Radherfitte ließ er fid) den Bart wachſen und fdwor,
ibn nimmer gu fdneiden, ebe er fic) nicht in dem Blut des
bifen Vogels würde gebadet haben. C8 verging eine fleine
Beit, da fah man Teodoro wieder mit gefdnittenem Bart.
180
Das find die kleinen Zragddien, welde in der Bergwildnif
aud unter ben Banditen fpielen; denn dad menfdlide Herz
fest itberall feine Leidenfdaften fort. Teodoro wurde endlid
franf. Gin Gpion jeigte den Schlupfwinkel des franten Lowen
an. Da famen die wilden Wolfshunde, vie Sbirren auf die
Berge gefprungen — in einer Capanne madten fie Teodoro
todt. Das Volkslied rithmt von ihm, dab er gefallen fet die
Piftole in der Hand und da3 Fucile an der Flanle, come
un fiero paladino, wie ein ftolzer Paladin. Go grop war
die Achtung, welde diefer König der Berge eingeflipt hatte,
bap man felbft nod) nad feinem Fall ihm Steuern bezablte.
Perfonen, welche fie ſchuldeten, famen und legten dad Geld in
bie Wiege ded kleinen Kindes, welches Teodoro mit feiner
Königin erzeugt hatte. Cr fand feinen Tod im Jahr 1827.
Berühmt ift aud Gallochio. Geine Geliebte hatte ibn
treulos verlaffen, er verboten, dap jemand ibre Hand begebre.
Cefario Negroni warb um fie. Der junge Gallochio gab
einem feiner Freunde einen Wink, daß er den Schwiegervater
verwunden folle. Die Hochzeitsgajte tangen, luſtig flingen
Geigen und Ptandolinen — ein Schuß! Die Kugel verfeblt
das Biel und durdbohrt dem Sehwiegervater das Herz. Gal:
lechio wird Bandit. Cefario verſchanzt fidh. Aber jener jagt
ibn aus dem Bau, hetzt ibn durch die Berge, trifft ibn,
madt ibn falt. — Mun floh Gallochio nad Griecdenland
und kämpfte dort gegen die Türken. Eines Tages tam Runde
au ihm, dap fein leiblider Bruder im Vendettakrieg gefallen
fet, dent diefer war unablafjig fortgefithrt worden um den
todten Gdhwiegervater und den todten Ceſario. Gallocdio
fam jurtid, tidtete zwei Brüder Ceſario's und nod andere,
und die ganze Sippſchaft tilgte er aus. Der rote Gambini
war fein Begleiter; mit ibm vereint ſchlug er die Gendarmen,
und einen banbden fie an den Schwanz eines Pferdes und
fleiften ihn fo itber dad Geftein. Gambini floh nach Griedens
181
land, wo ibm die Türken den Kopf abjdnitten; Gallocdio
aber ftarh im Schlaf, denn ein Berrater erſchoß ihn.
Berühmt ift auc Giammardi, welder den Bufdwald hielt
16 Jahre lang, Camillo Ornano, der die Berge hielt 14 Yabre,
Joſeph Antommardi, welder 17 Jahre Bandit war.
Kurze Zeit vor meiner Ankunft in Corsica wurde der be-
rithmte Serafino erfdoffen; man batte ibn verraten und im
Schlaf getddtet. Wud) Arrighi und der furdtbhare Mafjoni
‘hatten kurz vorber ihr Ende gefunden; e3 war fo wildroman:
tifd) wie ibr Leben gewefen war. |
Maffoni war ein Menſch von beifpiellofer Kraft. Blut:
rade hatte ibn, den Sobn einer. wolbabenden Familie au3
ver Balagna, in die Berge getrieben. Dort lebte er, von
feinen Verwandten unterftigt und von Hirten begiin{tigt,
viele Jahre lang und tödtete in vielen Kämpfen eine grofe
Zahl Sbirren. Mit thm war fein Bruder und der tapfere
Arrighi. Eines Tages fudte ein Mann der Proving Balagna,
welder Verwandtenblut an einer madhtigen Familie zu rächen
hatte, Dtaffoni auf und bat um feinen Beiftand. Der Bandit
nabm ibn gaftfret auf, und da es ibm an einer Malzeit feblte,
ging er gu einem Dirten auf dem Monte Rotondo und forbderte
pon dem ein Lamm. Der Hirt gab ihm eins aus feiner
Herde. Mafjoni aber wies e3 von fid), indem er fagte: du
gibſt mir ein mageres Lanim, und dod will id heute einen
Gaft ebren, ſiehe da jene3 ijt fett, bas will id) haben; und
auf der Stelle ſchoß er dad fette Camm nieder und trug es
in feine Höle.
Der Hirt ergrimmte über diefe Gewaltthat. Wuf Race
finnend ging er den Berg hinab und jeigte den Sbirren den
Schlupfwinkel Maſſoni's an. Das Lammesblut wollte der
Hirte rächen. Die Shirren ftiegen in großer Zabl in die
Berge. Diejfe corsifdhen Gendarmen, mit der Natur des
Lande3 wol vertraut und im Banditenkampf geilbt, find
182
nidjt weniger verwegen al3 bad Wild, bad fie jagen. Yor
Leben ift in fteter Gefabr; denn die Banditen find wadhjam,
fie ſpähen mit ihren Gernrdhren, welche fie ſtets mit ſich fahren,
aus ihren Gdlupfwinteln, und wenn fic) Gefabr zeigt, find
fie auf und davon und bebender al der Muffro, dad wilbe
Schaf; oder fie laffen den Häſcher auf Sdhupweite heran⸗
fommen, und nie verfeblen fie ihr Siel.
Die Sbirren alfo ftiegen in die Berge; der Hirt voran;
auf nur ibm befannten Pfaden frodjen fie die Felfen empor.
In einer Hole befanden fic) die Banditen. Sie war faft un-
zugänglich, durd einen Buſch verdedt. Arrighi und Maſſoni's
Bruder Tagen darin, Maffoni aber fab hinter vem Buſch auf
per Wadt.
Auf einem Pfade waren die Sbhirren über der Hole empor-
gefroden, andere batten den Schlund befegt. Die dort oben -
lagen, blidten auf den Bufd, ob fie etwas entdeden möchten.
Gin Sbirre nabm einen Stein und warf ibn auf den Bujd, in
weldem er etwas Schwarzes gu bemerfen glaubte. Wugenblids
jprang ein Mann auf und feuerte eine Piftole ab, die gu wecken,
welche in ber Höle lagen. Wher in demfelben Mugenblid knall⸗
ten aud) die Hafderflinten, und Maffoni ſtürzte todt nieder.
Wie die Schüſſe fielen, fprang ein Pann aus der Hile,
Maffoni’s Bruder. Gleid) der Bergziege fepte er in wilden
Spriingen von Klippe zu Klippe, von Kugeln umfauft. Cine
traf ibn tddtlid), fo dab er ind Geftein ftiirgte. Arright, der
alles fah, wad vorging, bielt fid in der Höle. Die Gen:
barmen Ddrangen bebutfam vor, dod) wagte Riemand in die
Grotte zu dringen, bid endlich die Waghalfigften hineinſtiegen
Niemand war darin fidtbar; trogdem ließen ſich die Hafder
nidt irren und beftanden darauf, dap die Hile nod ihren
Mann verberge. Ihr Cingang wurde befegt.
G3 fam die Nadht. Man giindete Fadeln und Lagerfeuer
an. Man befdlop Arrighi ausgubungern; Morgens gingen
t
—
183
Ginige an die der Haile nabe Quelle, um Waffer yu ſchoöpfen.
Da fiel ein Schuß und nod einer, und zwei Sbirren fttirgten.
Ihre Gefabrten feuerten wutfdreiend ihre Flinten “en bie
Hole ab. Wes war frill.
- Mun galt es die beiden Todten oder Sterbenden zu Y olen.
Man gauderte lange, dann entfdloffen ſich einige dagu, und.
wieder foftete e3 einem dad Leben. Mod ein Tag verging.
Sept fiel Giner auf den Gedanten, den Banditen wie einen
Dachs auszurdudern, ein Mittel, das man fdon in Wigier
mit Erfolg angewandt hatte. So tiirmte man vor dem Gins
gang ber Höle trodne3 Holy auf und zundete daffelbe an.
Aber der Rauch verzog fic) durd die Spalten, Arrighi harte
jede3 Wort, das man fprad, und hielt Dialoge mit den
Sbirren, welche ibn weder feben nocd treffen fonnten. Gr
weigerte fid), fid) gu ergeben, wofiir man ihm Gnade ver-
fprodhen hatte. Endlich lieB der Brocurator, den man von
Ajaccio gerufen hatte, Mtilitér und einen Yngenieur aus der
Stadt Corte holen, Der Gngenieur erflarte, daß e3 möglich
fei, in die Haile Petarden zu werfen. Arrighi hörte was man
verbandelte, und der Gedante, mit der Hole im Trimmer:
grau3 aufzuknallen, jagte ibm ein foldhes Entfegen ein, dab —
er die Flucht beſchloß.
Gr wartete die Nacht ab, rollte dann Steine in falfder
Ridtung hinab und fprang von Fels gu Fels, einen andern
Berg zu erreichen. Dinter ibm her tnallten ins Ungewiffe die
Flintenſchüſſe der Sbirren. Cine Kugel traf ibn am Sdentel.
Gr blutete ftart und feine Kräfte erſchöpften fid); als es Tag
wurde, verriet ibn die Blutfpur, wie das wunde Wild durd
feinen Blutſchweiß ſich verrät. Auf der Fabrte dte Verfolger.
Arrighi hatte fic) ermattet unter einen Felsblod gedudt; ein
Sbirre fid auf diefen aufgeſchwungen, die Flinte gum Schuß
fertig. Der Bandit ftredte den Kopf hervor, fid) umzuſchauen,
ein Knall, und die Kugel zerſchmetterte thn.
184
So ftarben jene drei Racer, glidlid, dab fie nidt am
roten Pfal endcten. So groß aber war die Achtung, in
welder fie beim Volke ftanden, dab feiner der Umwohner ded
Monty Rotondo fein Maulthier hergeben modte, um die
Leiden der Gefallnen fortzubringen. Denn, fo fagten diefe
Leute, wir wollen feinen Teil an bem Blut haben, dad ibr
vergoffen habt. Als nun die Maulthiere aufgetrieben waren,
lud man die Todten, Banditen und Sbirren, auf ihren Riden,
und fo ftieg ber Bug die Berge herab nad Corte, acht Pinner
mit fid) führend, die im Banditenfampf erfdlagen waren.
Wenn diefes Ciland all das Blut, welches auf ihm im
auf der Zeiten vergofjen wurde, Sdlacdtenblut und Vendetta:
blut wieder ausſpeien wollte, fo würde es feine Stadte und
Dorfer iberfluten und fein Volk erfaufen und das Meer rot
farben vom Snfelufer bis nad) Genua.
Man möchte es nicht glauben, was Filippini erzählt, daß
in dreißig Jahren ſeiner Zeit 28000 Corsen ſich aus Rache
gemordet haben. Nach der Berechnung eines andern corsiſchen
Geſchichtſchreibers finde ich, daß in 32 Jahren bis auf das
Jahr 1715 28715 Morde in Corsica verübt worden ſind.
Derſelbe berechnet, daß die Summe der durch die Vendetta
Ermordeten innerhalb des Zeitraums vom Jahr 1359 bis
zum Jahre 1729 geweſen ſei: 333000. Ebenſo viel, meint
er, müſſe man an Verwundeten rechnen. Das gäbe alſo
666000 Corsen, welche von Mörderhand geſchlagen wurden.
Dies Volk gleicht der Hyder; ob man ihr alle Köpfe abhaut,
bod wachſen ſie von neuem.
Nach der Anrede, welche der Präfect Corsica's vor dem
Departements⸗Generalrat im Auguſt 1852 gebalten hat, fine
feit 1821 4300 Morde (assassinats) in Corsica verübt, in den
legten vier Jahren deren 833, in den legten zwei Jahren 319,
in den erften fieben Dtonaten de3 Jahres 1852 aber 99 Mord:
thaten geſchehen.
185
Die Infel zablt 250000 Einwohner.
Die Regierung will vie Blutradhe und das Banditenweſen
durch allgemeine Entwaffnung ausrotten. Ob und wie das
ausführbar ſein wird, weiß ich nicht. Unheil wird es genug
geben, denn man wird die Banditen nicht zugleich entwaffnen
können, und ihre Feinde werden dann wehrlos ihren Kugeln
ausgeſetzt ſein. Die Familienkriege und die Vendetta haben
es bidber nötig gemacht, das Tragen der Waffen zu geſtatten.
Denn weil das Geſetz den Einzelnen nicht ſchützen kann, muß
es ihm überlaſſen, ſich ſelbſt zu ſchützen, und ſo geſchieht es,
daß die corsiſche Geſellſchaft ſich gleichſam außer dem Staat
befindet. Piſtolen und Dolche zu tragen iſt ſchon lange ver:
boten; alles aber trägt bier Doppelflinten, und halbe Ort⸗
ſchaften fand ich unter Waffen, wie im Krieg gegen andringende
Barbaren; ein Anblick von bizarrer Wildheit, dieſe trotzigen
Manner im Pelone und der phrygiſchen Mütze in düſtern Fels⸗
gegenden um ſich her zu ſehen, alle den Kartuſchengurt um
den Leib, und die Doppelflinte auf der Schulter.
Es möchte wol kein anderes Mittel geben, die Blutrache
und das Banditenleben ſicher zu vertilgen, als die Cultur. Aber
nur langſam ſchreitet ſie in Corsica vor. Coloniſation, Anbah⸗
nung von Wegen durch das Innre, Steigerung des Verkehrs
und der Production, welche auch die Häfen beleben würde —
dieſes wäre wol die allgemeine Entwaffnung des Landes. Die
franzöſiſche Regierung, ganz unmächtig gegen den corsiſchen
Trotz, verdient die gerechteſten Vorwürfe, daß ſie eine Inſel,
welche das ſchönſte Klima, fruchtreiche Landſtriche, eine das ganze
Mittelmeer zwiſchen Spanien, Frankreich, Italien und Afrika
beherrſchende Lage und die herrlichſten Golfe und Ankerplaͤtze be-
figt, welche reid) ift an Forſten, an Mtineralien, an heilſamen
Ouellen und an Friidten, und von einem tapfern, ju gropen
Dingen befabigten Volk bewohnt wird — vaf fie Corsica zu
einem DPtontenegro oder jum italienifden Irland werden Apt.
186
Elftes Kapitel.
Die Erzählung, welche hier folgt, verdanke ich einer freund⸗
lichen Mitteilung des corsiſchen Dichters Salvator Viale von
Baſtia, der mir eine Sammlung ſeiner und anderer corsiſcher
Poeſien zuſandte, in welche er dieſes merkwürdige Charakter⸗
ſtück corsiſcher Sittengeſchichte aufgenommen bat. Viale felbſt
entlehnte daſſelbe einem einzigen lateiniſchen Manuſcript und
übertrug es ins Italieniſche. Gr betrachtet die Erzäͤhlung als
einen Anhung zu dem Werk de rebus Corsicis jenes Ge⸗
ſchichtſchreibers Petrus Cyrnäus, welcher hier eine Epiſode aus
ſeinem romantiſch bewegten Leben erzaäͤhlt. Ueber die Aechtheit
derſelben ſtellt er weder Zweifel noch Beweiſe auf; der lächelnde
Leſer wird leicht erraten, warum.
Ich habe dieſe meiſterhafte Novelle aus dem Italieniſchen
Viale's übertragen, ohne mir Zuſätze oder Abkürzungen zu
erlauben. Sie erſcheint mir nicht allein merkwürdig als origi⸗
nelles Charaftergemalde, welches aud) fiir die Gegenwart corsi⸗
ſcher Zuftinde gang und gar vollgiltig tft, fondern and) aus:
gezeichnet durch ihre Runft, und jenen ſchwermütigen Gand,
welder den meiften corsiſchen Poefien eigen ift und aud im
bejondern Salvatore Viale kennzeichnet, den fruchtbarſten Poeten
ver Inſel, einen würdigen Greis von unerſchöpfter Thatigfeit.
— — — — —
Das Gelübde ves Velrxus Cyrnäus.
Hiſtoriſche Novelle von Salvator Viale.
— Revenge, sent from the infernal kingdom,
To ease the gnawing vulture of thy mind,
By working wreakful vengeance on thy*foes.
Shakespeare.
Die Spanier, die Genuefen, der Papft und endlid) Ga-
leazzo von Mailand batten faum aufgebdrt, unter fic) umd
_ 187
mit den Corsen um den Vefig der Ynfel gu ftreiten, ald die
Herren von Cinarca einen Biirgerfrieg erregten, welder unter
uns jede Grundlage des Rechts zerſtörte. Dies gefdah, weil
ihr Stolz durch eine Handlung offner Unparteilidfeit von
Seiten. des Vicekönigs Gianantonio Cotta beleidigt worden
war. Hieraus folgte natürlich, daß während de3 Stillfdweigens
der Gefege und der Ungewißheit der Staat3gewalt alle Feinde
ber Regierung die Herren fpielten, und dab die Banditen und
bie Verurteilten im Bufdwald gleidfam Recht und Urteil
fpraden.
G3 war in diefer Beit, und gerade im Gommer de3 Jahres
1468, dab id, Pietro da Felce, an Perjon wie an Habe von
einem midtigen Feind beleidigt, geswungen war, mir unter
den Banditen einen Verteidiger und Kampen yu fuden. Groß
war damals die Zahl der fogenanntert „Könige de3 Felde3,"
und aller Haupt war der berühmte Gigante. Diefer Mann
war einer der wenigen Banditen mit weißem Bart, die man
Beteranen nennen fann; und twabrlid, fdon im Alter von
dretundvierzig Jahren hieß er der Decan der Banditen auf
der Inſel. Zwar fagte dad Gerücht fdon lange, er fei frank;
vod je lauter daffelbe in der Pieve ward, defto weniger ward
e3 geglaubt; viel eber ſchien die Nadridt von ber Krankheit
bes Gigante den dffentliden Schreck gu fteigern, als zu mindern.
Grinnerten fic) dod) viele, daß er, wenn einer feiner Feinde
aus Furdt vor ibm fic) im Haus verrammelte, fic) felber in
eine Höle oudte und ſich todt ftellte, um jenen heraus gu
loden und dann unverjeben3 abzuthun. Daber pflegte bei der
Nachricht von Gigante’s Rrantheit immer eine neue Frevelthat
gu erfolgen.
Diefer Gauptbandit führte aud den Namen Settejacari
(vom arabijden Wort jacaro, weldes Bade heißt); aber wel
feiner Namen fo viele waren, als die Formen, in die er fid
vertvandelte, hatte er aud den birtentibliden Ramen des
188.
Leitftiers angenommen und ließ fic) Tintinnajo nennen. Go
nannten ibn nämlich feine Landsleute, weil er einft dem Stier
feineS Feindes die Glode abgenommen und mit deren Geldiute
jenen in den Hinterhalt gelodt hatte. In Wabrheit, diefer
Urfprung des Namens, den ich ſpäter erfubr, war der eingige
Grund, der mid) vom intinnajo entfernte. Ich ging nun
bet mir gu Rate. Indem ich unter den VBanditen einen Mann
von anerfannter Klugheit und Redlidfeit ausmablen wollte,
tidtete ich endlid) meine Gedanfen auf Galvano ba Cbiatra.
Galvano war mein Verwandter; ſchon friiber hatte er mid,
eine biilfloje Waife, mit Rat und That unterſtützt, ehe er bei
der Regierung in Ungnade fiel und id felber häuslichen Un-
glücks halber nad) der Romagna wanderte. Gr war zuerſt aus
Vaterlandsliebe Bandit over Rebell geworden, d. h. aus Hab
gegen die Fremdherrſchaft; mit der Beit aber hatte er fic,
ſei's gu feiner eigenen Berteidbigung, oder aus Berwandten-
pflicht und Gemeinſchaftlichkeit des Schickſals an jene Bers
bannten angefdloffen, welde fic) Parrocchiani nannten, nach
dem Grzpriefter von Aleſani. Nach dem Tode Paganello’s
und nad der Verbannung ver Parrocdhiani behauptete Gal:
vano gang allein den Namen und die Hoffnungen feiner
Partei gegenitber den Genuefen. Weil er nun immer jum
Herzog von Ptailand gebalten hatte, durdjtreifte er bas Land
unter dem Namen Galeagzino; aber wegen einer Maske, mit
ber er oft fein Geſicht bededte, nannten ihn die Genuefen die
neiferne Maske.“ Außerdem hatte er fic) durch eine fürchter⸗
liche Slinte ſchrecklich gemacht, die man, wie id) nachher erfubr,:
Sanjfone nannte. Und grof war feine Fertigheit, fie zu hand⸗
baben und mit ihr dad Biel gu treffen. Dieſe Flinte war
eine von ben tragbaren Bombarbden, die aud Musketen ge⸗
nannt tourden, und welche durch FeuerStraft einer fleinen
Bleifugel eine unglaublide Gewalt gaben. Es war aber diefes
Geſchoß mit vielen andern in die Hinde der Unfern gefallen,
189
al die Gatalanen bet Loreta vernidtet wurden, und zur Beit
des Biindniffes der vier Pievi gegen die Bifogni oder die
barfüßigen und unbefoldeten Kriegsleute des Königs von
Aragon.
Ich ging alſo in der Stille nach dem Gebirg S. Aleſio,
welches über der Pieve Aleſani aufſteigt und ihr den Namen
gibt. Ich klomm bis zum Gipfel des Bergs, wo unter dicht
verwachſenen Eichen, welche Sturm und Alter gebeugt hatte,
keine Spur eines lebenden Weſens ſich zeigte, außer hie und
da das einſame Lager eines Wildſchweins und die zerſtreuten
Federn der Falkenmauſe, oder die Knochen vom Raub der
Adler. Wie ich nun tief in das Dickicht eindrang, erſtaunte
ich, Galvano in der Geſellſchaft eines ältlichen Mannes vor
mir zu ſehen, welcher nach dem Anſtand und der Würde der
Perſon, nach der Feinheit der Kleidung und des Benehmens
gu ſchließen, von nicht gewöhnlichem Stande war. Die Pby-
fiognomie diefes Mannes, ganz und gar leutfelig und dod)
ernft, und in fo gropem Widerfpruc) mit jenem Ort und
feiner Gefelljcdaft, hatte in meinen Augen etwas unfaglid
Frembdes und Ratjelhaftes. Wahrlich, id) glaubte, er fei eher
ein Schupflehender wie id, als ein Banditengenoß. Yd
wagte weder Galvano mid yu nähern, nod ibm einen Gruß
au bieten, ebe nicht ber Unbekannte auf einen Wink von ibm
fidy zurückzog.
Da erft ging id) mit herglidem Vertrauen auf Gatvano
au; id erzählte ibm viele Dinge, die id) bier nicht wieder:
holen mag nod darf; id) wied ihm befonder3 den Zuſammen⸗
hang meine3 Streites mit der dffentliden und berühmten
Feindſchaft ber Commune von Petricaggio nad; ja id teilte
ibm fogar meinen anfingliden Blan mit, mid an Gigante
gu wenben. Hierauf -fepte ic) ihm der Reibe nad all das
Unbeil augseinander, das id) feit lange an meiner Chre und
Habe erlitten hatte, nämlich heimlide Verlaumbungen, öffent⸗
a
190
liden Schimpf, Ausreifen der Grengpfaile, Verwiftung der
Gebege, Vertilgung des Viehs, Tode3drohungen gegen meine
Hirten und Inſaßen, und ähnlichen Schaden.
Galvano hörte die Geſchichte meiner Leiden mit unglaub⸗
lichem Gleichmut an, ich ſage beſſer mit einem verächtlichen
Ladeln, das mid in Erſtaunen ſetzte. „Mein Neffe,“ fo
fagte er, ,wir leben in gar fdwierigen Seiten. Du fiebft
es: nad Paganello’s Tode und nad der BVertreibung der
Parrochiani war der Bandit Gigante allerdings eine Zeitlang
mein Begleiter; dod feit lange fdon habe id feine Spur
verloren; ja feit einigen Monaten weiß id nidts mehr vor
ibm. Du fiebft alfo, id bin bier obne andere Gefellfchaft
alZ bie meine3 magern Hundes, meiner treuen Flinte und
dieſes beiligen Gcapuliers, der einzigen Hinterlafjenfdaft, die
id gegenwartig von meinem Vater befige; und in diefer Cin:
ſamkeit muß id) außer beftindiger Pein und Rot nod) die
ganze Laſt meiner Privatfeindfdaften und diejenige aller
meiner todten oder verbannten Genofjen tragen. Ich will
bir nidt fagen, wie viel Gefabren id in diefem meinem
tubelofen Leben erduldet habe, immer auf der Fludt, Hier
und dort, von Berg yu Meer; und du weißt gar wol, mie
‘ie Streifercien der Hafder und die anlandenden Galeren der
Genuefen fo RKiifte mie Berg, fo Verweilen wie Fludt un⸗
ſicher machen. Kurz und gut, in diefem Buftand ber Un:
fiderbeit und Cinfamfeit, und miirbe von Mühſal und Yabren,
midte id mid Lieber den Gefabren der Fludt ausfegen; id
moͤchte lieber, wenn es Gott gefallt, Corsica und Stalien für
immer verlafjen. Folge alfo bem Rat, den id alg redlider
Veriwandter dir gebe: um dieſer Kleinigkeiten willen, die did
franten, wende did) an. die gewöhnliche Duftiz, oder vergeth
deinem Feinde; willft bu aber weber bas eine nod) dad ane
pete, fo folge meinem Beiſpiel und verlaſſe zum zweitenmal
das Vaterland.“
191
Ich erftaunte, daß er all bie wirtliden Leiden und Ber-
lufte, um die id klagte, Kleinigkeiten nannte, und nod ein:
mal und mit mebr Feuer fepte ic ihm alles aud einanbder.
Sh gebraudte alle Gritnde, mit welden die Leidenfdaft ihre
eigenen Ausbrüche gu färben und gu redtfertigen pflegt; id
fagte ibm, dab Verzeihen oder Auswandern mir nidt allein
den griften Schaden bringen, fondern aud meine Familie
nod griferen Gefahren ausfegen wüͤrde; benn wide id der
Uebergewalt eines andern, fo fei id nicht allein bem Spott
aller meiner Land3leute oder Freunde und Feinde preisqegeben,
fondern id) und meine Nächſten milften den Hohn der Feig:
ften ertragen, twelde immer bie Grften feien, gegen einen
ſchwachen Fladtling oder einen Ungeridten gemeine Gade zu
maden. „Alſo,“ fagte ih, „wenn id an meinem Feinde
nidt die fduldige Rade nehme, fann id in meinem Dorf
weder mit Siderbeit und Chre wohnen, nod) daffelbe ver:
laffen. Was aber die Zufludt zur Juftis betrifft, wo ift diefe
heute in Cor8ica? Und was fann ic von unſern Bebdrden
gegen einen reiden und madtigen Feind hoffen? Du kennſt
die traurige Lage des Konigreichs in diefen verworrenen Zeiten ;
fie ift ver Art, dab wenn id einft deinem Rat folgte, und
ih will nidt fagen Corsica, fondern mein Haus und mein
Dorf verließe, id) dad allein thäte, um mid den Feinden
diefer Regierung, den freien Verteidigern des Vaterlands an⸗
zuſchließen.“
„Dies,“ unterbrach mich Galvano, „iſt ein anderer Gegen⸗
ſtand, welcher mit unſerer Sache wenig oder nichts zu thun
bat. Weil du aber auf die dffentliden Zuſtaͤnde zu ſprechen
fommft, fo will id) bir fagen, dab ich dic) mit foldem Leim
leit fangen fénnte. Ich erinnere mid wol, dab id in
deinen Jahren mit dieſem Gerede von Vaterlandsliebe in den
Buſchwald gelodt ward; fie ijt im Grunde nidts als Cigen:
liebe oder perfinlider Hab gegen dieſen und jenen; id) mertte
192
e8 leider erft, als e3 gu ſpät war umzukehren. Wher id) ward
rechtſchaffener als meine Genofjen, denn wenigſtens ladte td
feither immer bell auf, wenn fie mir von Baterlandsliebe
fpraden. Du fiebft, Pietro, daß ich weder felbjt betrogen
fein, nod) andere betriigen will. alte vid alfo, wenigſtens
für jet, an meinen erften Rat: kehre friedlich in dein Dorf
zurück, und nod) einen Monat lang bemiibe dich auszuweichen,
nidt3 gu wiffen, und wo miglid) den Trog. und die Heraus⸗
forderung deine3 Feindes gu ertragen. Mittlerweile wirft du
Mupe haben, mit reiflider Ueberlegung didy zu entſchließen;
denn jegt ift dein Blut in Wallung, und id weiß nidt, ob
bir der Kopf auf nem redten Flede fist. Haft du dann nad)
dreißig Tagen dein Gefühl nicht geändert, fo erwarte ic) did
bier unfeblbar am dreißigſten Tage, und fet ficher, wir wer⸗
den dann ein Heilmittel ausgefunden haben.”
Nad meiner Riidfehr nad Felce dauerte in mir der Grol
gegen meinen Feind fort; aber entſchloſſen, den Rat meines
Ohms treu zu befolgen, bemühte ic) mid, fo viel als miglid
einfam und unbemerft gu leben. Ich floh den Wnblid und
die Begegnung meines Feindes, felbjt meiner Mitbiirger. Und
obwol dieſe erzwungene Cinfamfeit und die ungewöhnliche Un-
thatigteit mid) nadbenflider und empfindlider machten, fand
id) bod die Kraft, den unaufhdrlichen Webermut meines heraus⸗
forbernden Feindes zu ertragen. Gein Hap gegen mid war,
wie ic glaube, von einem verſteckten Wufftadler ſchlau ge:
nabrt worden, einem Menfden, der meine Worte und Hand:
Iungen ibm binterbradjte. Ich ſpreche von einem jener Uebel:
jtifter, die ſich zwiſchen zwei Feinde drängen und die Hand-
Iungen de8 einen iibertreiben und verfdlimmern, aus ver:
ftelltem Gifer fiir den andern und mit dem beimliden Blan,
beiden 3u fchaden. Als nun mein Feind, durch foldhe Cin:
flijterungen aufgeftadhelt, mein Sdweigen und meinen offen:
baren Stumpfſinn fab, fand er dod) dad Mittel, mid in
193
Harniſch gu jagen. Gr bediente fid) ih weif nicht weldes
Borwande3, um feinen alten und neuen Groll gegen einen
würdigen Geiſtlichen gu wenden, meinen teuerften, Blut3ver-
Wwandten; er wupte wol, daß id) diefe neue Beleidigung als
eine perſönliche betradten milffe, weil fie in ber That aus Hah
gegen mid) wider einen unfduldigen Vetter geridtet war. Wie
tdh nun jenen tugendbaften Greis um. das Beneficium einer
erbliden Kaplanei gebradt fah, und fogar eines Gonntag3
in der Sirde feinen Namen laut von der Tafel ablefen hoͤrte
mit öffentlicher Drohung, ober mit dem Todtengruß des Pater
noster, al3 id fab, wie er gezwungen war, fid) auferbalb
feiner Pieve einen Sufludtsort und das Brod yu erbitten, da
freilid) ging mir die Geduld aus, und am feftgefepten Tage
fudte id Galvano auf, am bezeichneten Ort auf dem Berge
Sant’ Aleffio. .
Sm trug ibm, und nidt obne gerechte Uebertreibung,
meine zweite Silage vor, ich ergiblte ibm, wie die Frevel
meines Feindes meinen Vetter und mid felbjt zur Fludt aus
bem Dorf geswungen; id) fügte hingu, wie die wiederbolten.
Beleidigungen eines ſolchen Menjden gegen einen feiner Meffen
eine offenbare Nichtachtung feiner ſelbſt befundeten, und wie
er wenigftens aus Verwandtenpflidt an meiner geredten Race
Anteil nehmen müſſe.
Galvano hörte aufmerkſam und ruhig meine neue Klage
an, aber bei dem letzten Vorſchlag zog er die Augenbrauen
zuſammen. „Ei,“ rief er, „ſprich die Wahrheit, kamſt du
her, daß ich allein mich mit deiner Rache belade? Bin ich
in deinen Augen ſo elend und verworfen, daß du mich wie
ein feiles Wertzeug deines Gaffes, oder, wie man ſagt, wie
deine Lange zu gebrauden wähneſt?“
„Nein,“ antwortete id, „ich fam nur, um von dir Rat
und Hilfe zu erbitten; und wenn du in diefem Fall fie ver:
weigerft, fo werde id) ben Weg gu Gigante finden, und fei
Gregorovius, Corsica. I. 13
194
es wie es fei, ich bin entſchloſſen, auf jede Weiſe mid felbft
zu rächen.“ — „Biſt ou,” antwortete Galvano, „wirklich
feſt in dieſem Entſchluſſe, ſo brauchſt du, wie ich glaube,
wenig Rat. In Wahrheit, was hindert dich, dem Beijpiel
deines Gegners zu folgen und ihm Gleiches für Gleiches zurück⸗
zugeben?“
Hier begann der Bandit mir alle Arten, andern zu ſchaden,
aufzuzaäͤhlen, wie fie die böſeſten Menſchen anwenden, d. h.
Felder und Weinberge verwüſten, die Einmieter bedrohen, die
Ackersleute, die Zeugen, die Richter einſchüchtern, den Feind
und ſeine Partiſanen bedrohen und angeben, eigene Freunde
und deſſen Feinde zu ſeinem Schaden in die Verſchwörung
ziehen.
yh nun," fuhr er fort, „könnte did), wenn td wollte,
in allen diefen Stücken thatfadlid) oder durd meine Ver⸗
trauten unterftiigen, und wiffe, dab id deren nicht wenige
unter den Reichen und Betitelten zable, die mir im Notfall
helfen würden. Denn da wir Banditen alle ndtig haben, fo
müſſen wir e3 dabin bringen, dab aud) We unfer im Guten
oder Schlimmen einigermapen bendtigt find. Daber mangelt
e3 und keineswegs an freiwilliger Freundfdaft und gefalligem
Anhang, nod an edlen Gevatterfdaften und, wenn e3 Not
thut, an gelabrten Gecretiren. Ja, zwiſchen zwei ftreitenden
Parteien halt der Bandit immer, das Gleidhgewidt, und der
Neid der Familien ernährt uns. Dod um ‘auf unjern Gegen-
ftand zurückzukommen, glaube meinen Jahren und meiner Gr-
fabrung: alle jene Bergeltungen, alle jene Angriffe, bie id
vid) lebrte, find ein ewiges Hin und Her, das dich frith ober
{pat nötigt, gu fterben oder fterben gu madden. Und fage
mir dreift, baft du den Mut, zwiſchen dieſen Gefabren zu
fteben ? Daft bu den Mut, wenn du, - ftatt gu fterben, ein
Mörder werden folltejt, alle die Folgen davon zu ertragen?
Denke ernftlid) nad, Pietro: diefe Frage ift nicht zufallig, id
195
thue fie mit Wbfidt, denn bift du von jest ab zu jenem
Schluß bereit — fag’ mir — ware es dann nidt befjer, dab
bu begdnneft, wo du aufhören müßteſt? So wirjt du wentg:
ften3 die Freiheit der Wahl zwiſchen beiden Entſchlüſſen haben.“
G8 war faum vierundjwangig Stunden her, daß die Ranke
meine3 Berfolgers mid) und meinen Verwandten zur Fludt
aus der Heimat geswungen batten; daher fabte mid) jene wie-
verbolte und dringende Frage Galvano's gerade im heißeſten
Borngefiibl, in der wildeften Rachluſt, und ich befenne, daß
id) in jenem Augenblick dem heftigen Vorfdlag bes Banbditen
bejabend antwortete.
noe nehme did) beim Wort,” fagte ex; „und weil du
dad Herz haſt, den mutigften und kürzeſten Entſchluß gu faffen,
fo verdienft du mein Vertrauen und meine Hilfe. Auf! nimm
deine Lange, fomm mit mir und glaube mir, es third der
morgenve Tag nidt untergeben, bevor dir genug gefdabh, nein,
nidt einmal der heutige.”
Indem er jo fprad, blieb er einen Wugenblid ftehen, wie
in Gebdanfen, und nachdem er den Mond genau betradtet
hatte, wie die Banditen pflegen, fubr er fort: ,Nein, fo lange
piefer Vollmond dauert, fann man nits thun, aus Liebe
gum Octavarium des heiligen Pancrazius. Du muft dir
merfen, bap diefer Heilige der Whvocat und Beſchützer der
Verbannten ijt, und id im befondern adjte diefe Woche wegen
eine3 feierliden Gelübdes heilig. Vor dem Neumond, der
auf den erften Zag nad der Octave fallt, wiirde id mir ein
Gewiffen mahen, irgend wen gu ſchädigen, ware es felbft
ein Catalan ober ein Genuefe; ja ich witrde nidt einmal ges
ftatten, dag ein anbderer in meiner Begleitung einem Men⸗
fen ein Haar krümmt. An einem diefer Tage — es find
jebt gerade drei Sabre — verwundete mid der Pfeil eines
Spaniers zwiſchen den beiden Knochen des rechten Beins,
ohne mid) febr yu beſchädigen. Hätte er nun aber zufällig
196
-einen oder den anbdern Knoden jzerbroden oder jerfplittert,
‘fo witrde bie Wunde tödtlich gewefen fein; denn fie wiirde mid .
gegen mid felbft zu einem ſchlimmen Dienft gezwungen haben.
In Gbnliden Fallen jah ich, wie einer meiner Genofjen dem
andern folden Dienft leijtete, verfteht fid, auf feine Bitte.“
Waͤhrend er die3 ſprach, lief er aus feinem Aermel den blanfen
und fdon etwas abgeniigten Knauf eines fleinen Dolches her⸗
vor blicken. — „Seit jenem Gelübde,“ fuhr er fort, „mache
ich an dieſen Tagen gleichſam Ferien, oder vielmehr Abſtinenz.
Und das ſollſt auch du mir dem Heiligen zu Liebe halten.
Ich werde dieſen kurzen Waffenftillſftand benutzen, um did zu
belehren und für dieſes neue Kriegsleben ein wenig geſchickt
zu machen. Vertraue did), Pietro, meiner Schule, und binnen
acht Tagen hoffe ich dich in einen neuen Menſchen verwandelt
zu ſehen. Ja, weil du meinen Freund Gigante aufſuchen
wollteſt — ja wol, in wenig Tagen beſuchen wir ibn, und,
merk' es dir gut, hier auf eben dieſer Stelle.“
So ſprach der Bandit und dann warf er ſeine Kapuze und
den Ranzen ber bie Schulter und fiigte hinzu: ,,Crinnere did,
daß deine, id wollte ſagen unfere Rade bid yum Neumond
vertagt ift. Aber du mußt fie von jest an als vollgogen an⸗
feben, d. h. du mußt von jept an al8 guter Refrut und Ras
merad mit mir leben und bandeln.”
. Raum hatte er diefe Worte gefagt, fo verdnderten fid) mit
einemmal fein Wefen und feine Sprache; ja feine Geſichts⸗
silge wurden andere, fo daß es ſchien, er nabm nun den Na—
men und dad Antlitz des Galeaggino und der eifernen Maske
an unb mit ibm alle ſchrecklichen Cigenfdaften jener Kämpfer⸗
namen. Gr fdien mir firwabr in einen andern Menſchen
veriwandelt, als er ben Sturmbelm auf dad Haupt gefdnallt
und bie Vifirmaste herunter gelaffen, bie Mustete ergriff und
mit tury abgebrodenem und herriſchem Ton mir befabl, voran
zu marfdiren gegen den Berg Punta a tre Pievi.
$
197
Wahrend id nun, wortlos, mit gefenttem Haupt die
Straße einſchlug, lief feine Dogge Brusco, ſchon an folde
Wanderungen gewdhnt, und als wilfte fie die Gedanten feines
Herrn, knurrend vorqus, und fie litt nidt, dab id ibm aud
nur einen Schritt voran that. ;
Ich hatte von Mandem die Waghalfigkeit, die Freibeit
und die Macht der „Männer vom Bufdwald” rühmen hören,
und obwol id ein wenig wider Willen bem unerwarteten Be-
feb! Galvano’s gebordte, fo hatte ic) doch aus jugendlider
Lebhaftigkeit eine Luft daran, einige Tage lang dieſes wilde,
giigelloje und von aller dffentliden Pteinung und allem Gefeg
frete Leben nicht allein fennen ju lernen, fonbdern felbft 3u
leben. Außerdem war id) ja den Nadftellungen meiner Dorf:
genoffen entgangen, und id) fühlte mic ficerer in der Geſell⸗
ſchaft dieſes fiirdterliden und vergweifelten Mannes. Frei
alfo in meinem Gefühl und in meinem Hap, empfand id
nicht einmal, in welde fdredlide Whhangigkeit id) mid eben
gegeben hatte; ich trdftete mic) mit bem Gedanten, dap id
nidt allein meinen Feind nicht mehr yu fiirdten braude,
_fondern dap id) ibm furdtbar werden müſſe, fobald er erfubr,
welden verzweifelten Entſchluß ic gefaßt hatte.
Nod nie zuvor hatte id) mid) fo unabhängig gefühlt, nod
nie fo febr als Herr meines ganzen Wefens, als wie id) vom
Gipfel der Rotonda und des Calleruccio mit einem Blid die
ganze Küſte ber Inſel umfaßte, von den Chenen von Galen:
sara bid yur Spige des Cap Corfo. Ich war nun gum zweiten⸗
mal aus meinem beimatliden Tal getrieben, und id) betrachtete
mit Crftaunen jene weite ynd herrliche Anſicht. Bon diefer
Cntfernung aus fab id hinab in die Nebel und Schlünde
meiner Pieve, und kaum unterfdied id) die Haufer von Pez
tricaggio, flein wie eben fo viele Bienenſtöcke.
Galvano rubte mit mir ber dem Gipfel von Calleruccio.
Gr hatte feinen Ranzen, feinen Helm und das Vifir auf die
198°
Grbe abgelegt, und naddem id nun ein wenig Odem ge-
ſchöpft, weigerte ic) mid nidt, ibm yu Liebe den Mantelfad
und jene Riftung auf mid yu laden und die Pergfteile binab-
gutragen. Aber ic) hatte nod nicht eine halbe Mteile guriid:
gelegt, als id, ſchweißtriefend und atemlo3, 3u ibm fagte:
„Ich begreife nicht, wie ein Bandit, der dod flint gu Fuße
fein foll, fic) bie Laft folden Gepades aufbiirden mag.” —
„Du weißt aljo nicht,“ antwortete jener, „daß der Flidtling
fett Haus auf dem Rilden tragt, wie die Sdnede 2?”
Und bier fagte er mir, bab ſchon das Zurücklaſſen eines
feiner Schuhe an irgend einem Ort feinen Wufenthalt verraten
wiirbe; und er ergablte mir von einem Banditen mit Namen
Sette-Fiati (Sieben-Lunge), und befannter unter bem Namen
Micione, weil er die Rage fo gar gefdidt nachmachen fonnte,
wie ber viele, Jahre lang die Verfolgungen der Suftiz hinter-
gangen hatte und endlid) dod in bie Hanbe der Hafder ge-
fallen war, weil ihn im Grunde einer Haile eine Spur ver-
tiet; ben Spion aber batten gemadt ein kleines Grucifir und
eine Kürbisflaſche.
„Merke dir ald Regel,” fiigte-er bingu, „daß in diefem
Rangen all meine Notdurft enthalten ijt, d. h. Lebensmittel,
ein wenig Wafdhe, Koch-⸗ und Schreibebedarf, der Stal, ein
Paddhen Sublimat, desgleichen eines mit Wundfalbe und
zwei Bilder, die Cangonen des Petrarca und der Sterbende
Chrift bes Pater Guglielmo. von Speloncato.”
Unter den verfdiedenen Rleinigheiten, welche Galvano’s
Ranzen enthielt, will id ein feltfames Gerdt nicht vergeffen;
e3 war died eine Glode, jener de3 Tintinnajo ähnlich, welche
Galvano al Signal diente, wenn er mit jenem Banditen eine
Zufammentunft hatte. „Mir gab fie Gigante,” fagte er, „und
er hat mid gelehrt mit ibr gu fragen, ju antworten, ja felbjt
von einem elfen gum andern mic yu unterbalten. Gr lebrte
mid aud) jenes Geldute der Rub nachahmen, twenn fie weidet, -
«
199
und biefer Ton hat mir mebr als einmal das Leben ge:
rettet; denn oft bat er im Gewirre de3 Buſchwaldes die Hafder
pon meinen Spuren abgelentt.”
Wir entfernten uns immer mebr von der Piewe WAlefani,
und bald durdfdritten wir das tieffte Gebifd, bald liefen
wir um unfere Fußſpur gu verbergen oder fein Geräuſch zu
maden, barfuß über das Dornidt und den fpigigen Ries der
Wildbäche. Ich erinnere mid, dab wir nie zwei Nadte hinter-
einander an demfelben Ort verweilten, und wegen einer Raft
von fünf oder fed3 Stunden, die wir an irgend einem Ort
nabmen, twaren wir dann gezwungen, und in Gile 25 oder
30 Millien gu entfernen, um die Berfolgungen der Feinde
und bed Geridt3 gu téufden. Aus bemfelben Grunbde nabmen
wir taglid eine entgegengefepte Rictung, immer von Oft nad
Weft, von Weft nad Oft, und durch die waldigften und un-
zugänglichſten Gegenden. Nie bielten wir an, auper wenn es
nitig war, und durch Speiſe und Schlaf gu ſtärken. Mit
dieſen mühſamen Zickzackwanderungen glaube id) in der Linge
und Breite ein gutes Dritteil Corsica's durchirrt zu haben;
und al nun unjer Mundvorrat ausging, fagte id gu Gal:
vano, dap id) obne Speiſe dieſes beſtändige ziellofe Laufen
ſchwerlich ertragen könne.
Wir wollten uns von der Hitze des Tages erholen und
machten eine lange Raſt im Schatten eines Eichengebüſches,
wo ber Berg von S. Appiano ſich gegen vie Täler von Aleſani
hinab erjtredt. Ich irrte kreuz und quer durch jene alten Urs
wilder, und da id nichts fand als Gidelbitlfen und fette
Grajer, wegen deren jener Berg berithmt ift, pried id Gal:
vano meine Gefdidlidteit, Cher und Haſen mit dem Pfeil
zu treffen, und id erbot mid) fiir unſere Malzeit reiches Wild:
pret zu liefern.
„Da fiebt man,” antwortete Galvano, „daß du nod ein
Rnabe bijt, denn du glaubft wabrlid, bier mit mir auf einer
200
Luftjagd yu fein. Schlage dir, id) bitte bid), dieſen Cinfall
aus dem Sinn, und fdone deine Pfeile und deine Langen-
{pige fiir eine ernftere Gelegenbeit. Merle dir, dab wir weder
dad Wild jagen, nod fein Fleiſch rdften tonnen, ohne unfern
Seinden und bem Volk uns zu verraten; würden diefe den
Hund ‘bellen hören oder den Rauch des Feuers fehen, fo midten
fie leit auf und felber Jagd machen. Aud all diefen Grün⸗
ben pflegen wir Banditen mit dem Wild in Frieden zu leben,
und wir efjen nur geſalzenes Fleiſch. Yh will dir fagen,
daß mein Brusco ehemals ein trefflider Jagdhund war; aber
gegenwartig bat er allen Gerud verloren, auger wenn es gilt,
die Catalanen und Bigogni zu paden, und wabrlid, er er⸗
fennt fie am Atem und faft fie beffer als eine Dogge den
Hafen.” ‘
Hierauf jeigte er mir ein fettes Ralb, welde3 auf einer
naben Weide graste, und fagte mir, bab wir nidt einmal
diefe3 un3 aneignen dürften; aud) fei e3 eine Gchurferei, ein
fremde3 Thier gu tddtert, nur um es gu effen, und könnte
nicht minder gefabrlid) fein, weil es die Sabl der Feinde ohne
Rot vermehrte. — Yd) antwortete auf diefe Reden fein Yota,
aber meine Miene mußte ein wenig verändert und beſtürzt
erſcheinen, benn er fab mid ſcharf an und fiigte bingu:
„Du leideſt, Pietro, id febe e3; aber du würdeſt weniger
empfindlid) und befiimmert fein, wenn du did beffer deſſen
erinnerteft, was did) dein Feind hat erdulden laffen; ja es
ware nidt fibel, hatte er dir einen guten Denkjettel mitge-
geben, Auf und Mut gefaft! und meré auf eine andere
Belehrung! Gib wol Adt, mit mir heiter und guten Muts
gu fein und mir weder Trübſinn nod Mißtrauen gu erregen;
denn was ift das fiir eine Radluft, die nidt vrei Tage der
Nüchternheit aushalt? Willſt du, daß ich dir trauen foll, fo
balte mir wader den Hunger aus und gewöhne did, wie wir
su fagen pflegen, bie Quarefima des Teufels durchzumachen.“
901
Bei diefen letzten Worten fühlte id) meine Mniee cin
wenig jittern; aber ich wollte meinen Gefabrten von meinem
guten Willen Abergeugen, warf mein Mipbehagen ab und be-
eilte den Schritt aufwärts fiber die Flanke bed Berges von
Mutari.
Als wir beim Portello angelangt waren, das heift an-
jener Oeffnung des Berges, durch welde von jener Seite dad
Lal vow Alejani ſich aufgubreden fdeint, befabl mir der
Bandit, aus Furdht vor dem gefabrliden Ort, von der Strafe
abgulenten.. Sc mufte nun ihm auf den Ferfen die Felfen
empor flettern, die jenen Schlund überragen. Alſo trod) id
auf Ganden und Füßen bis zum letzten Blod hinan, uud
dort oben warf id& mid, von der Mühſal erſchöpft, unter
einen Baum. Dann betradtete ich mit einem gemifdten Ge-
fibl von Freude und Kummer jum zweitenmal meine Pieve
wieder.
Wir madhten uns wieder auf und famen an einen Ort,
pon wo wir das Dorf Felce erblidten und fogar bie Balfone
und die Schießſcharten meines väterlichen Hauſes und die
meines Feindes. Galvano jeigte mir ber Reihe nach meine
. Felder und Gebege, welde teils mit Gewalt in Befig genom-
men waren, teilS offen und unverteidigt da Tagen. Jener
Hap, welden die Entfernung und fo viele Strapazen higher
in meinem Herzen eingefdlafert batten, erwachte plötzlich bei
diejem Wnblid in voller Heftigheit. Mattigkeit, Melancholie,
~Furdht, Hunger, alles war mit einemmal vergeffen; ich fühlte
nidt3 al Hab und Radegroll, und felbft ver Gedante der.
evduldeten Mühen reigte die Wut gegen meinen Feind auf,
ftatt fie yu minbdern, und ließ mid ihm allein alle jene Leiden
und meine eigene Torbeit aufbiirden.
So ftand ich von diefen Gedanfen bewegt, als Galvano
qu mic fagte: ,Sdau, Pietro, Pirelli liegt nabe und du haft
Speife nötig. Ich gebe dir eine Stunde Beit; geh in jenes
202 ,
Dorf nad Lebensmitteln, oder vielmebr treibe meine Steuer
ein. Che du did aufmadft, baft bu jedoch zwei Marken
nodtig, die eine fiir die Perfonen und die andere fiir mid
felber. Sieh, bier ift fie!” Und alfogleid ſtieß er einen bellen
Pfiff aus und ſagte mir, daß dies das Zeichen fiir vie Ge-
noffen und die Verwandten fei. Hiebei erzablte er mir, wie
einft ein Bandit aus Yrrtum feinen Bruder getödtet hatte,
waͤhrend diefer ibm heimlich das Brod aus dem Haufe zu⸗
trug; denn er hatte nidt das Zeichen gegeben.
„Die andere Marke,” fubr er fort, „iſt da3 erfte Pfand
des Vertrauens und ber Freundfdaft, bas id dir gebe, und
e3 wird ein unfeblbar Mtittel fein, reichlichen Vorrat zu ſchaffen.
Schau, dieſes Gewehr gehoörte einft einem meiner berühmteſten
Vorgänger. — Und mit diefen Worten ließ er mid den Ra-
men Ganfone lefen, den ich dem Gerücht nad fdon kannte
und der mit einer Doldfpige auf vem Mustetenfolben ein⸗
gerigt war; und während id) bei dieſem Wnblid mid zwang,
meine, Furdht yu verbergen, fagte er: „Nimm, nimm dieſe
Flinte! Was? du haft Angft? Gebh dreiſt nach Pirelli mit
diefem Grillenverſcheucher; fordere inrerften beſten Hauſe Lebens⸗
mittel für unſern Bedarf und zähle darauf, daß du einen
Creditbrief in Händen haſt; denn es weiß ein jeder, daß Vrod
und Wein verweigern uns den Krieg erklären heißt, und
wahrlich, wir machen zwiſchen dem, der uns durch's Schwert,
und dem, der uns durch Hunger umbringen will, keinen
Unterſchied.“
An dem Namen Sanſone erkannte ich die Waffe, .welde
einft Brandolaccio ba Cafacconi, den Bergbanditen, berühmt
und furdtbar gemacht hatte; id bedadte, welder Gefabr id
mid ausfepte, wenn id eine Botſchaft ausridten ging, diefen
ſchrecklichen Geleitsbrief in der Hand. Hiemit lief ih ja Gee
fabr, allen Menfden, Belannten und Unbefannten, Freund
und. Feind den Frieden fiir immer aufgufagen. Bd erfannte
203
wun die fürchterliche Lage, in die id) mid von dem Augen:
blick an verfegen mußte, fo bald id mid in Pirelli mit diefem —
wahrhaften Banditendiplom bliden ließ.
Ich verbarg Galvano mein Widerftreben und fagte ibm,
wie e3 aud) die Wabrheit war, daß id mid ftark genug
fiiblte, den Hunger bis zum folgenden Tag auszuhalten. Auf
dieſes zog er ein Tuch aus der Taſche und gab e3 dem Hunde
in das Maul; dann nabm er die Glode aus vem Ranjen
und bing fie ibm an den Hal3, damit, wie er fagte, ibr Ton
un3 gum Beiden diene, wenn ber Hund wieder fam. Hier:
auf wied er ibm den Weg gegen vas Klojter des beiligen
Franciscus. Wabrend nun das Thier, als ware es ſtolz,
jene3 Zeichen yu tragen, in der Ricdtung aufs Kloſter fort:
fprang, wandte fic) Galvano zu mir und faate:
„Es freut mid, dab du bereit bift, meine Enthaltſamkeit
nadguahmen; nur möchte id aud) fider fein, bap du jenen
Auftrag nidht aus Furdht abgelebnt haft; id will fagen, aus
Furcht als Erbe Brandolaccio’s und Gefandter de3 Galeaggino
au erfdeinen. Ware died der Fall, fo bedente, Pietro, dak,
wenn bu vor ſechs Tagen deine Vendetta vollzogen hätteſt,
du jetzt ein regelredter Bandit wareft. Nun Haft du an jenem
Tage mir das Wort gegeben, did) zu raden, und deshalb
bift bu vor meinen Augen bereits verurteilt. Senbde getroft
pon bier aus einen Ruf an alle vier Winkel deines Haufes
und denke, dap du der Juſtiz bereits den Handſchuh binge:
worfen und, wie wir fagen, das Gonetto empfangen baft,
d. h. die Senteng in contumaciam. Wiffe überdies, dab
ein Menſch, der mit mir drei ober vier Tage gelebt bat, fid
pon mir nicht trennen darf, obne mich oder die Juſtiz, unbd,
was fdlimmer ift, und beide gu Feinden gu haben.”
Alſo fprad) Galvano und madte mir mit dem Musketen⸗
lauf das gewohnte Zeichen, ihm voran-gu gehen. Wir fdritten
nun vorwarts und gelangten im Whendddimmern an einen ver⸗
204
Taffenen Zurm in einem tiefen Grunde, wenige Mtillien ‘von
Felce. Dort fab id quer über einem Felfen und betradhtete
ingftlid den Neumond, welder mit einem zweifelnden Schein
die Spige von St. Aleffio faum beftreifte. Eo in Gedanten
vertieft, hörte id von ferne plötzlich ein Schellengeläute im
Buſchwald. Im erſten Augenblid fiirdtete id die Ankunft
de3 Gigante; aber bald erfannte id Brusco, welder gan;
frdblich daber fprang, ein Bündel in fetnem Maule.
„Da fiebt man,” fagte mein Gefabrte, „daß dieſes Thier
den Ayftrag beffer ausgeridtet hat, als ein Menfd) deines
gleidjen e3 wiirde vermodt haben.” Und gleich) ging er Brusco
entgegen, und nachdem er- aus einem Tiſchtuch ein groped
Brod von Roggenmebhl und eine Kürbisflaſche voll Wein von
Verde gezogen hatte, entbldste er feinen Dold), um das Brod
gu jerteilen, tauchte ein Stitd pavon in Wein und warf ed
dem Hunde in den Schlund; fodann nabm er, wie gewöhnlich,
bie Muskete swifden die Schenkel und af bebaglid) auf dem
Grafe. Ich trank gierig aus ver Flafdhe, und obgleid id
allen Uppetit verloren hatte, zwang mid Galvano dennod, mit
ihm und Brugco jene3 ſchwarze, ein wenig muffige Brod gu
teilen und meinen Anteil bis auf die legte Rrume gu vergehren.
Hierauf fiel mir, ba ich den Schlund von Felce nabe vor
‘mir fab, Zintinnajo oder der Bandit Gigante ein, und der
Befud, welden Galvano ihm gu maden mir verfproden hatte.
Ich fiirdtete, mid) gu diefer Stunde dort gwifden jenen zwei
Banditen allein gu finden, und twollte Galvano um Gigante
befragen; aber id) bielt mid guriid, ich ſcheute mid) fogar,
feinen Namen auszuſprechen. Gr fing indeß febr vertraulid
mit mir ju reden an, und um, wie er jagte, den Schlaf und
den Hunger gu bintergeben, begann. er mir mebrere Züge aus
feinem Leben zu erzaͤhlen.
„Mein Neffe,“ fagte er, „laß did) das fortbauernde Miß⸗
trauen nicht wundern, das ich bisher gegen dich beobachtet
+ 905
habe. Mißtrauen ijt bet mir eine Notwendigkeit, eine Gewohn⸗
beit. G8 ijt, fo 3u fagen, mein Talisman, meine Religion,
die mid von Gift und Dold befreit, und damit du erfennit,
wie febr id) Redht habe, dem Nächſten yu miftrauen, will id
bir das unwiirdige Ende jenes tapfern Brandolaccio erzählen.
Du weift fidherlid), wie er durd) Gevatterfdaft und Gaftfreund-
ſchaft am Tiſch eines feiner leibliden Vettern verraten wurde.
Sch will dir nun diefen Ort jeigen, an dem wir und eben
befinden, und du follteit ihn wol vom Hbrenfagen fennen;
denn der blope Name des Turms de’ Pingacchi erinnert ja
jeden an ben Berrat, der am Pfarrer Paganello von feinem,
Gevatter Criftofano Appulo und feinem Blutsvetiwandten Mo⸗
razzano veritht ward. Du muft die Umftande diefer Begeben-
heit gebirt haben, aber weder die Art nod) die gebeimen Ur⸗
faden wirft du ferinen.” _ 8
Nun erzählte er mir, wie der Pfarrer im Scharmilgel gegen
die genuefifden Banden die ganze Terra di Comune an der
Spige von finfhundert Bewaffneten durchzogen habe, wie der
Governatore Grimaldi, da er ihm nidt gewadfen war, ihm
Verzeihung antragen lieB, und wie er, überzeugt, dab Paga-
nello diejem Wnerbieten mißtrauen werbde, heimlich Vincenzo
da Ghiatra, den Erzfeind jenes, vermodt habe, ihm die
Wahrheit zu fdreiben, d. h. ihm brieflid den Verrat, wel:
den er, Grimaldi, unter dem Wnerbieten bes Friedens ver-
barg, 3u enthillen. Wuf diefe Weife habe der Priefter, viel
eber dem Borfdlag Grimalvi’3 als ver Mitteilung feines Tod:
feindes Glauben ſchenkend, fic) eingebilbet, dap diejer aus Hab
feine Verfdhnung mit dem Governatore hintertreiben wolle; fo
traute er eher dem Genuefen als bem Corsen, und wurde von
beiden verraten.
„Ich war,” fiigte Galvano hinzu, „zur Vendetta in No—
vale guritdgeblieben, mit eta zehn Barrocdhianen, als Paga: .
nello bier mit Appulo, mit Morazzano und mit Guigo von
206 ,
Pietrafanta Zwiefprad hielt, und ich erinnere mid), dap die
Glode der Pfarrkirche den drei Meuchelmördern das Zeichen
des Berrates gab. Auf das Gefdrei der Angreifer und des
Verwundeten eilte id) mit meinen Bewaffneter herbei, und da
id von diefem birte, dap Morazzano fid) meiner Verwandt-
fcaft und meines ·Namens bedient hatte, um- die Hinterlift
auszuführen, ſtürzte id) voll Wut auf die Verräter. Es ſchien
mir die Beit nicht kurz genug, mein Blut und meinen Namen
yon jenem Fleden der Schande rein yu wafden, und, id war
fo glitdlid), an eben diefem Ort mit diefer Lange den Verrater
meines Vetters zu durchſtoßen.“
Dieſe Erzählung erregte mir Furcht und Grauen; aber
weil ich damals die wahren Frevel des Paganello nicht kannte,
empfand ich neben dem Schrecken ein gewiſſes Gefühl von Er⸗
barmen und Liebe zu ihm und zu meinem Ohm. Mir gefiel
vor allem an Galvano jene Empörung gegen den Verrat, und
daß er Ehre und Freundſchaft dem Leben und der Verwandten⸗
pflicht vorzog.
Wir waren mitten in dieſen Geſchichten, als der Bandit
die Glocke in Novale anſchlagen hörte und plötzlich von dem
Ort, wo er ſaß, auf die Füße ſprang. Er ergriff ſeinen
Sanſone, und den Flintenlauf hierhin und dorthin wendend,
ſpürte er rings in das Dickicht hinein. „Im Buſchwald,“ fo
ſagte er, „darf man nicht einmal den Glocken trauen; ich
weiß aus vielen Fällen, daß Glocken oft zu den Häſchern
reden; doch nein, hier iſt nichts zu fürchten; es iſt die Glocke
des De Profundis.“
Gr legte bie Muskete auf bie Grbe, naddem er fie bereits
ſchußbereit gemadt hatte, und feine Eiſenhaube vom Kopf neb-
mend ging er von mir fort, itber einem fleinen Gemäuer ju
beten, und nachdem er auf den Knieen einige Gebete gemur:
_ melt batte, ging er, fie über einem Gebüſch von Brombeeren
und Neffeln zu wiederbolen.
207
— —
„Unter jener Mauer,“ ſagte er mir hierauf, „liegt Paga⸗
nello begraben, und unter jenen Neſſeln einer ſeiner Mörder,
Simone von Arezzo, welcher den Seinigen ganz zuletzt zu
Hilfe fam und der einzige war, der als guter Soldat ge-
fodten. Ich habe fiir Freund und fiir Feind gebetet, denn id
lebe mit den Zodten gern in Frieden. Yn jenem Kampf trug
id nidt einmal eine Schramme davon, und bier leiftete id
vem Pfarrer, naddem ich ihn gerächt hatte, die Dienfte de3
Priefters, der Schildwache und des Chirurgen, und endlid
des Todtengraber3, Ich gab ihm ein verborgenes Grab, wie
bu fiebft, fonder Namen und Kreuz. Was mid damals am
meiften kraͤnkte, war died, dap mein Gefabrte bereits ver:
fcieden war, als id faum hundert Schritte von bier die Leide
Morazzano's fand. Der Schurke war in aller Stille fterben
gegangen, den Hügel hinunter, unter jene Steineiche. —
Armer Paganello! ihm ward volle Rade, aber er hatte nicht
ben Troft, fie vollfithrt zu fehen.”
WS Galvano mid bei diefen Worten ſchaudern fab, fubr
er fort: „Freilich, das find ſchlimme Dinge; aber wundere
did) nidt, dab unter fo vielen Feinden, die er hatte, gerade
id ihn tödten mupte. Dd hatte nidt ohne Schimpf leiden
birfen, dap ein Wnbderer die Hinde in mein Blut taudte;
und wenn ein Wnderer al3 id meinen Vetter tddtete, fo fiel
mit die traurige Pflidt gu, ibn gu rächen; du weißt, fo will
e3 die Gitte des Landes. — C3 war fein Gefdid: er follte
ungeradt fterben.” |
Welchen Cindrud auf mein Gemilt jene Todtengebete, jene
.Geſpräche machten, dad läßt fid) eher denfen als fagen. Gin
fold) abſcheuliches und wahrhaft gottlofes Gemiſch von Mitleid,
Religion utd Barbarei erfdien mir zuerſt unerklärlich, befon-
ders an einem fo verftandigen Manne, als Galvano war;
aber bald febrte id) mit meinen Gedanfen zu dem ſchauer⸗
vollen Schauſpiel guriid, und ich bedadte, wie ein Uebels
208
thater auf der Flucht ſchwerlich wieder ein guter Menſch wer-
ben finne, obne fic) tauſend Gefabren auszuſetzen. — Den-
nod fagte id) gu mir felbft: der Gebanke an Gott ift der
eingige Troft, der einem Menſchen übrig bleibt, welder von
feiner Familie getrennt, al3 Flidtling und im Bann der
Geſellſchaft lebt. Und ſchon fühlte ich vie Wahrheit in mir
felber; denn nod) niemal3 guvor hatte id) fo viel an Gott
und an das künftige Leben gedadht, al an diefem Ort und
in dieſem Wugenblide, das heißt nabe an jenen beiden Gra-
bern, im Anbli€ meines Heimatborfes und im Begriffe, mid
binnen wenig Stunden fiir immer von der menfdliden Ge:
fellfdhaft und von aller Tröſtung und GSiderbeit des bitrger-
licen Lebens loszureißen.
Ich eilte, dieſen Ort trauriger Erinnerungen zu verlaſen;
ich folgte der Richtung des Hundes, welcher auf einen Wink
ſeines Herrn gegen den Schlund von Felce dahin ſprang. Je
mehr ich mich von meinem Dorf entfernte, je tiefer ich mich
in die Schluchten und dicht bewachſenen Gründe verwickelte,
von denen das Tal finſter ijt, deſto lauter fühlte id) mein
Herz ſchlagen und ein nie empfundener Schauder durdhbebte
mid, Das Rauſchen des Gezweigs, das Sdreien und Fliigel-
ſchlagen der Vagel jagte mid bald auf, bald hemmte es mir
ben: Fup. Der Schatten der windbewegten Aeſte, dad leifefte
Knurren des Hundes oder fein Stilleftehen, felbft die vom
Feuer gefdwarzten Stamme der Rorkeiden, die befappten
Pfale auf ven Feldern, der ferne Rauch der Koblenmeiler und
Capannen, der Pfiff ber Hirten in den Bergen erwedten mir
Angſt und Gewiffensbiffe. Ich fürchtete meinen Begleiter, id
filrdtete mid) vor mir felber; denn fdredlidh war in mir der
Gedanfe an das verſprochene Verbreden, und entfeglid) wieder
die Reue felbit,. fet e3 aus Hap, den ich nod) heimlid) gegen
meinen Feind nährte, fet e3 aus Furdht, meinen Erzfeind in
meinem eigenen Begleiter zu finden.
209
Ungefabr eine Meile jenfeits des Schlunds von Felce
hielten wir an. Ich fab, daß Galvano dort iiber Nacht
bleiben wollte, und id fudte ein Lager, wo id) mid-rubig
bergen dürfte. Ich dachte nidt mehr daran, dab id Gigante
antrefjen follte, und wabrend des Gefpradhs mit meinem Ge-
fabrten hatte. ich jede Grinnerung an ibn vermieden. Ich
bielt mid fogar zurück, Galvano yu andern Vertraulidfetten
aufgufordern, und wabrlid), jede3 neue Gebeimnip, das er
mir enthiillte, laftete auf meiner Seele; es fdhien mir wie
eine neue Feſſel, die mid an ibn band. Wher er fagte mir,
dap er mir ein letztes Gebeimnif offenbaren müſſe, und in:
bem er mid an fein Verſprechen erinnerte, mic hier Gigante’s
Bekanntſchaft gu verſchaffen, begann er von ihm gu teden,
Und wer fann mein Erſtaunen faffen, als ic hörte, dab
jener beriihmte Hauptbandit, welder ſchon feit Jo Langer Zeit
Corsica erfdredte, im Bufdwald von einem Pfeil verwundet
worden, ja bap er fdon vor zehn Dtonaten geftorben war?
Galvano entiduldigte fid), daß er mir dad bisher vers
ſchwiegen hatte: ,denn es ijt, fo fagte er, ein Gebeimnif,
welded allen, felbjt dem Bogenjfdiigen, der ibn traf, un⸗
befannt blieb.“
Bei dieſen Worten ftandb id) zwiſchen Furdt und Sdreden
getetlt. „Weißt du es gewip,” fragte id hierauf, „daß Giz
gante todt ijt? Yn der That fagte das Gerücht, er fei trant;
aber man bielt es für eine Lift, und -fiderlid) glauben ihn
heute im Dorf alle am Leben, und daß er nod lebt und da3
Regiment führt, bas zeigen wol feine Feinde, die noc) immer
im Haufe fic verrammelt halten, und nod mebr feine Freunde,
welche franf und fret auf den Plagen umberidwarmen, be:
feblen, Steuern auflegen und ben Bebdrden Gefege vorſchreiben.
Alfo, entwebder ſtarb Gigante in diefen gwei Woden, oder er
lebt nod heute.” |
„Du begreifft wol,” antwortete Galvano, „daß id dir
Gregorpvius, Corsica. I. 14
210
für einen folden Mann feinen Todtenfdhein vom Pfarrer auf⸗
weiſen fann; aber ich fann dir verfidern, dab er fid) diesmal
nicht verftellt. Gr ift wirklid todt.” Und nun jeigte er mir
in einem Dorngebiijd den Ort, wo, wie er fagte, die Leidhe
fic) bineingefauert babe, einen Brunnen, Serpajo genannt,
troden, mit balb zerbridelter Umfaffung8mauer, und fo tief,
bap ev felbjt ben Gerud) verbarg.
Trotz diefer Erklärungen Galvano’s hatte id) über Tintin⸗
najo’s Tod meine begriindeten Bweifel. Fd war eben aus
dem Dorf gefommen, und wupte, daß man die Verwandten
des Banditen befduldigt hatte, ihm in dieſen verfloffenen
Monaten ein Afyl gegeben zu haben, daß man fie fogar
thatſächlicher Mitwirtung bei einer feiner neueſten Frevelthaten
angeklagt hatte. „Eben deswegen,“ fügte ich hinzu, „ſind
ſeine Vettern nod) jetzt im Kerker. Sollten ſeine eigenen Ber=
wandten nach ſo langer Zeit ſeinen Tod nicht wiſſen? und
wenn ſie ihn wiſſen, ſollten ſie das Gefängniß erleiden wollen,
um das Anſehen zu bewabren, welches ihnen der verwandte
Bandit verleiht?“
Dieſe zwei Mutmaßungen ſchienen mir gleich unmöglich,
und Galvano wußte nichts oder wollte mir nichts erklären.
Wher wol wiederholte ex mir, dab Gigante weber Uebles
nod) Gute3 mehr veritben könne. Gr fagte mir bierauf, daß
feit bem Tode Brandolaccio’s, und ehe id) fein Genoffe ge
worden, Gigante’s Name fein Geleit und jein Sdirm, und
das Gebeimnif von feinem Tode feds Monate lang jfeine
eingige Sicherheitswache geweſen ſei. „Und binnen zwei Tagen
wird es auch deine Sicherheitswache ſein,“ fügte er hinzu und
legte den Finger an den Mund, zum Seiden, dap er mir
Stilljdhweigen anempfeble.
Sh wollte diefes traurige Gefprad abſchneiden; ich wandte
mich von Galvano, um in einer nahen Grotte mich zu bergen
und, wie ich ſagte, mich vor dem feuchten und kalten Winde
211
zu fdiigen, der vom: Berafdlund herwehte; aber er verbot
e3 mir. Cr fagte mir, daß der Bandit in feiner eigenen
Pieve unter offenem Himmel fdlafen müſſe, dap er nie in
eine Höle friechen dürfe, außer yur Zeit des Sturm3 und bes
Schneefalls. Einzig meinen Bogen follte id in die Grotte
tragen, damit, fo fagte er, die Sehne nidt von der Nacht⸗
filte gerfpringe. „Und gib Adt, bir die Rapuge feft über⸗
zuziehen, daß du nidt einen Katarr davon trägſt. Die Jahres: -
zeit ijt gut und diefe Luft bier febr gefund, aber ein wenig
rheumatiſch; und ber geringfte Huften, ber did) befiele, würde
ung verderblid) fein, zumal am morgenden Tage.”
Alſo widelte id) mid) in meinen. Mantel, und erftarrt
vom Gunger, von der Angſt und der Kälte, legte ic) mid
auf vie nadte Erbe nieder. Yh gab mir Mühe, mich ſchla⸗
fend zu ftellen, aber id dachte daran, wie bie Thiere, welche
vom Menſchen am meiften verfolgt find, rubiger und fiderer
ſchliefen, als wir. Die düſtern Begebenbeiten, die in diefer
Gegend vorgefallen waren, und die Unthat, welde wir auf
morgen feftgefept batten, ftellten fid) abwedjelnd mit allen
ihren ſchredlichen Folgen vor meinen Geift hin. Kurz zuvor
hatte mid) bie Nadridt vom gewaltjamen Tobde jenes fürchter⸗
liden Banditen in etwas aufgeridtet, aber jept jagte mir
eben diefer Todedsfall, und der Gedanke, daß aud) id felber
bie Partei und ben Namen der Settejacari ermablen folle,
einen boppelten Schrecken ein. Ich dadte an jenen Brando-
laccio, deffen Name fitr mid) in meiner Rindbeit cin Wort
des Entſetzens und Abſcheus gewefen war; und dod hatte
id ibn nur eben jum erften mal mit Ruhm von meinem Be-
gleiter ausfpreden hören! Ich hatte in meiner Kindheit, als
id mit andern Corgen in der Romagna war, von den wilden
und fürchterlichen Thaten und Reden jenes Mannes erzählen
boven; id) erinnerte mich, wie er in einem Alter von finf-
undzwanzig Jahren fid) rühmte, genug gelebt zu haben, weil
212
er alle feine Geinde fiberlebt habe; ic) erinnerte mid, wie
id) ohne Vetriibnip die Nadhridt von feinem Tode vernommen,
und wie id diefelbe Teilnabmlofigteit, um nidt zu fagen
Freude, in den Biigen meiner Genofjen gefehen hatte. Ich
felbft -hatte bei jener Gelegenheit die Fremden mein Vaterland
fogar verhöhnen hören, und id) dachte bei mir: du follft ein
elende3 Leben führen, ſchlimmer al3 dad des Wildes, um
verbibnt gu ftecben, um die eigene Familie und dad eigene
Vaterland mit Sdmad yu beladen!
Jn. jener tiefen Stille, in jener Einſamkeit ward der Ge:
dante an die Gegenwart Gottes grifer und groper in meinent
Herzen: er umfaßte und unterwarf alle andern Madte meiner
Seele. Wabrend diefer unfreiwilligen und beftigen Betrach⸗
tungen exweckte mir nidt allein die Vorſtellung der zu be:
gebenden Unthat, fondern die Genoffenfdaft des Banditen
felber Gewiſſensbiſſe und ſie ſchien mir ein fortgeſettes Ver⸗
brechen.
In ſolchen Gedanken unterbrach mich Galvano, welcher,
in ſeine Kaputze gewickelt, eben an meiner Seite ſich nieder⸗
legte. Nach der Weiſe der Flüchtlinge kreuzte er ſeine Beine
mit den meinen und nahm die beiden Zipfel meines Mantels
in die Hand, und hierauf ſchien er mir einzuſchlafen. Ich
wußte in der That nicht, ob er wie ich ſich ſchlafend ſtellte,
oder ob ſein Schlaf nur leicht und unruhig war; aber bei
der geringſten Bewegung, die ich mit dem Fuß oder mit der
Seite machte, bei jedem ſeufzenden Odemzug fühlte ich ihn
zuſammenfahren und hörte ihn dann murren, oder gleichſam
trocken huſten, als murrte er, und dieſem Ton antwortete
das Winſeln und die Bewegung des Hundes, welcher ſich
und zu Füßen hingekauert hatte.
Furchtbar, ſchrecklich war für mich jene durchwachte Nacht;
ich fühlte alle Mühſal, die ich während dieſer acht Tage an
Leib und Seele erduldet hatte, und indem ich mir die erſte
213
Rede guriid rief, welche Galvano felbjt aber vem Berge von
S. AWleffio mir gebalten hatte, fagte id zu mir: „Wol! id
fühle nod) nidt tas Gewicht weber des privaten, nod) des
Sffentliden Haſſes; id) fable in meinem Herzen nod nidt den
Gewijjensbig einer Schandthat, nod den Schimpf und das
Zeiden de3 Cain auf meiner Stirn.” Ich ftellte mir nun
yor, welder Urt mein Buftand nad einem erften Berbreden
fein witrde, und fobald ber Ruf eines Frevlers und bie Ge⸗
ſellſchaft von Frevlern fiir. mid eine RNotwendigfeit und viel:
leicht eine Vedingung meines Dajeins geworben waren. Was
mid am meiften fdhaudern madte, war dieſer Gedante: nad
einem fo offenbaren Morde witrde id) auf jede Weife vor
meinen und vor ber Welt Augen den Charakter eines Chrijten,
ja eines Menſchen verloren haben, und alle andern Mtenfden
_ worden ihn in meinen Augen verlieren; und indem id an
jene ſchrecklichen Ereigniſſe zurückdachte, welde mir Galvano
am Zurm de’ Pingacdhi mit fo faltem Blut erzahlt hatte, fo
bedadte id, daß fic) ber Verbrecher und vie Gefellfcdhaft ein-
anber wie Ungeheuer betradten und fic) wie wilde Thiere
einer verjdiedenen Gattung bebandeln. .
Ich fand feine Rettung vor diefer {dredliden und ſchmerz⸗
liden Vorſtellung, nod Rube vor der Marter des Gewiſſens,
bid id) mid nicht ganz yu dem Gott wandte, welder jedes
Herz priift, und der vielleidht in diefem Wugenblid in das
meinige edle Grundfage legte. Ich ſchwor in meiner Geele
“bie gugefagte Rade ab; id bat dafür jenen um Verzeihung,
welcher vergeihend fiir und ftarb; id rief Gott felbjt yum
Zeugen meine3 Glaubens auf, ic verfprad ihm mid ſchuldlos
gu erbalten, felbft im Wngefidht bes Todes; und wenn er in
feiner Grbarmung es beftimmt hatte, daß ich meine Reue über
lebe, fo ſchwor ic) den Reft meines Lebens feinem beiligen
Dienſt und der -Grleudtung und Unterweiſung meiner Land3-
leute zu widmen. — Dieſes Geliibse, dad ih Gott im Herzen
~ 914,
that, gab meinem Geift die Rrafte und ie Rube wieder, und
id) fcdlief einen fanften Schlaf, bid mid) die Stimme Gal:
vano's und dad Bellen des Hundes erweckten.
G3 war Morgengrauen. Die Spigen und Gipfel der Berge
waren rein von den Dampfen de3 Tages, und erfdienen leuch⸗
tend und flar in der ftillen, ajurblauen Quft. Die vier In⸗
feln, welde im Oft um Corsica daberftehen, taudten eingeln
am Horizont empor, und die edigen ind ſchroffen Gipfel des
Feſtlandes, die am Tage nidt ſichtbar find, traten vor uns
fo beſtimmt hervor, daß es ſchien, fie batten fic) wie durd
ein Wunder unfern Geftaden genähert. Ich ſah Galvano un-
beweglid) und mit ungewöhnlicher Aufmerkſamkeit auslugen;
id fab, wie er ben DMtorgenduft der Blumen, den fdarfen
Wolgeruch des Lentiscus, des Ciſtus und des wilden Laven⸗
dels, der die Felſen umſproßte, begierig einatmete; ich ſah,
wie er ſich lange an dem erſten Geſang der Vogel, am Mur⸗
mein und Raujfden des Fluffes von Aleſani -erfreute, und
wie er mit den Bliden bald die Hangeweiden und die flüch⸗
tigen Nebel de3 Fluſſes verfolgte, bald fein Auge wandte und
auf feinem Heimathiigel, auf dem Pteeresftrand und der Kifte
Stalien3 ruben lief.
Unterdeß betradtete id) feitwarts binter einem Caftanien:
baum unb burd) die Beige hin mein Haus und mein Frudte
felb; die Tranen entſtürzten mir und id) weinte, als id) den
Schall ver Glode von St. Damiano hirte. Diefer Ton ets
wedte mir bas fanfte'und redende Bild meiner vertvittweten
Mutter und mit ihm alle die frommen Gedanfen, welde jene
herrlide Frau mir mit der Muttermild eingeflipt hatte. Mein
Herz ſchlug beftig bei ihrer Crinnerung und fein Klopfen felber
ſchien mir eine innerlide Mahnung und ein frommer Ruf
von ibr gu fein. Zugleich fab id den erften Stral der Sonne,
ein Schaufpiel, welches den Bliden de3 Menfden immerdar
wie ein Wunder erfdeint; fie ftreifte faum das Peer, urd
215
wie id) fie erfdeinen fab, dünkte mic) dad Gelaut der Glode
vie Stimme Gottes, welche mir dad heilige Verſprechen dieſer
Nacht ins Gedadtnif rief und mid ermabnte, eilig den guten
Pfad eingufdlagen.
Galvano fuchte mic) indeß hinter dem Baume auf, two
id) mid zurückgezogen hatte. „Pietro,“ fagte er zu mir,
„ſahſt du nidt, wie fic) die Amiel fingend von jenem Zweig
erhob? und du fiebft dort den Mann nidt, der in unferer
Ridtung daher fommt? Wabrlid, ein braver Bandit dad,
ber feinen Feind von einem anbdern juerft erfennen läßt!“
Bei dieſen Worten betradtete er mic) aufmerffam, und
ich richtete die Blide nad jener Seite und ſah in der That
einen Mann, der fid) allein und waffenlos dem Sdlund von
Felce näherte. Wher mein vielleidht zu wenig geübtes Wuge
vermodte ihn in folder Entferhung nicht yu erfennen. Es
bedurfte nicht viel, daß ber Bandit, welder die Gedanfen
eines andern fo leicht durchſchaute, wie er die feinigen leidt
verbarg, meine offenbare Berinderung bemerfte und den Ab⸗
feu gegen den Mord auf meinem Antlig ausgedritdt fab. Cr
hatte fic) die Sturmbaube aufgefegt und die ſchwarze Maske,
welde Zeit und Schweiß roſtig gemadt batten, über das
Gejicht heruntergelafjen.
„Du willft guriid,” fagte er, „ich merfe e3 wol. Dod) gib
adt, denn die Reue fommt zu fpat. Du halt die Freund-
fcaft eines Flüchtlings geſucht, du halt feine Geheimniſſe
durchſchaut, und wollteft fhuldlos bleiben? Nimmermehr! Die
Freundſchaft eines Verurteilten ift ein fefteres Band als die
Mitbirgerfdaft und das Blut; der Tod Morayano’s hatte -
e3 did) lehren follen. Und dann, haſt du fdon die Bes
leidigungen deines Feindes und dads Verſprechen der Rade
wergeffen? Wolan denn, wenn teine andere Feffel, fo bindet
did) dieſes Berfpreden an mid; diefen Morgen foll ber Zod
jenes Mannes dort mir das Handgeld deiner Treue fein.
@
216
“Mit diefer That follft du deinen Mriegernamen verdienen, und
thn ‘heute von dem Ort deiner erften Race empfangen. Siehſt
bu jenen dunkeln Schlund, der dem Feld als Graben und
Durdgang dient? Man nennt ibn Trabocdhetto; im Augen⸗
blick wirſt du dort deinen Feind auftauchen feben. Yoh trete
bir, wie e3 bas Recht heiſcht, bie Chre der Rade ab, und
id) verfprede bir, did) ihrer yu verfidern, wenn dein Bogen
febit.”
Hier fditttete er frifhes Pulver auf das Zindlod und
fegte bas Rad der Urdibufe in Schußgerechtigkeit. „Ja,“
jegte ev bingu, ,,follteft bu did) weigern, dann, beint Himmel!
will id) did) wie einen Berrater betrachten!“ — In diefem
Augenblick ergrimmte aud) Brusco gegen mid, ba er die
drohende Miene feines Herrn ſah, er ftraubte fein Haar, und
indem er mir wütend fein Gebiß jeigte, {chien er nur ben
Wink ſeines Herrn yu erwarten, um fid) auf mid) yu ſtürzen.
Entſchloſſen warf id den Bogen, die Lange und den Pfeil⸗
köcher auf bie Erde und fagte mit fefter Stimme gum Ban-
diten: „O Galvano, bier bin id, waffenlos! Du fannft mid
tidten, aber, beim ewigen Gott! niemal3 fannft du mid gum
Morde zwingen. Bd) ſchwöre, dap id) um nidts auf der
Welt dich verraten werde; aber ic) hab’ es Gott gelobt, ab-
sufagen jenem frevelvollen Verſprechen; und fofte es mein
‘eben, bier in dein WAntlig ſchwöre ih...” — „Genug! ges
nug!” rief Galvano, und indem er feine BVifirmaste zurück⸗
ſchlug, fentte er den Flintenlauf auf die Erde. „Sei getroft,
o Pietro, und dante Gott, dab bu e3 mit einem Banbditen
su thun haſt, der ein wenig Manier verſteht.“
Gr reidhte mir die Hand, um mid ju berubigen, und
that wieder fo freunblic) mit mir, als er e8 act Tage zuvor
an eben diefem Ort gethan hatte. Beſtürzt und wie im Traum
‘ftarrte id ibn an; id) fab ibn tief bewegt und gerithrt. O!“
rief ih aus, „ich erfenne did), mein guter Ohm; du halt ges
217
fiegt, du baft gefiegt! Ad! wergib mir, dap ich vid) bisher
verfannte, daß id) nidt deinen erften Rat befolgte und jened
PVerfpreden nicht verftand, das du mir bier ant erften Tage
gegeben — ja, dieſes Verſprechen Haft du nun wahr gemadt,
und nächſt Gott verdanfe id) es dir, daß id ein neuer
Menſch geworden bin.”
Bei diefen Worten weinte id) bitterlid) Tranen des Dank3
und der Freude; id) horte nicht zu weinen auf, bis meine Seele
fid) erleichterte und neue Rraft und Mut gewann. „Ach, wenn
e3 fo ijt,” jagte id, „daß du all dies thatejt, um mid gu
erleudjten, fo ijt ja dad ein Zeichen, daß aud) du fdon feit
lange ein newer Menſch geworden bijt. Ich hoffe von dir
heute einen deppelten Troſt. Teurer Ohm, beim_ Andenten
meines von dir einſt fo geliebten Vaters, bei allem, was dir
auf Grben bad Liebfte und dad Heiligite ift, id beſchwöre
vid, fliebe mit mir aus diefer fitrdterliden Einſamkeit, entfage
für immer. diefem unwürdigen Leben! Für ein von Natur
edle3 Herz, wie das deinige es ift, muß es entfeplid und
unertriglid) fein. Grinnere did) bei Gott, daß diefe meine
Gedanten deine eigenen find, denn du haft fie mir in dad
Herz fo lebbaft etngedritdt. Zu febr bajt du bis jegt deine
liebevolle Natur verlarvt, laf fie nun die Welt erfennen und
{dagen lfernen. Alle, id) bin e3 überzeugt, felbft deine Feinde
werden bir mit Achtung verzeiben. — Folge mir. Jetzt ift
an mir die Reihe, dein Führer gu fein und deine Wolthat gu
vergelten. Ich will der Welt die verbotgenen und feltenen
Vorziige deines Gemütes fund thun, id will dir die Adtung
und bie Liebe ber Menfden erwerben, und in jedem Falle
will id bir, felbft auf Gefabr meines Leben, ein Wit, Schutz
und Berteidiger’ gewinnen.”
Hier warf ih mid, im Enthuſiasmus der Dantbarteit
und Leidenjdaft, in die Arme des Banditen, und lange hatte
id) ibn umfdlofien gebalten, wenn ec mid nicht felbft mit
218
edler Zurückhaltung von feiner Bruft abwebrte. „Halt, Knabe,“
fagte er, „nicht fo hitzig! Dteiner Treu! du bift ein wenig
auger bir, weil bu eine heiße Gommerwode mit mir im Buſch⸗
walbe gelebt haſt. — Geb’ nur, du wareft mir der redpte
Bandit! Wber, ba du nod zur Beit in dtd) gegangen Dbift,
fo ift es gut; dod) deine Rede, Pietro, vad ift eine anbdere
Angelegenbeit. Glaubft du, dap id Predigten nötig haben
würde, wenn ich mein Leben ändern finnte? Siehſt pu nidt,
daß meine Wiederberftelung in meinem Lande eine Unmig:
Jichfeit ijt? Ich fürchte bier bie Reue; ich fliehe vor ihr, wie
yor einem Hausfeinde, wie vor einem Freunde, der mir ver-
raterifd) nad dem Leben tradtet. Wuf denn! nimm deine
Waffen und folge mic nod) dbiefe kurze Strede, und id bitte
did), bebalte beine Predigten fein bei dir.”
Mit diejen Worten entfernte er fidy allgemad vom Schlund
von Felce. Ich war gang und gar von Bewunderung und
Liebe erfiillt, und folgte ihm auf jerriffenen Irrpfaden und
durch die nun trodenen und mit Rraut verwadjenen Rinnen
ver Wildbadhe, die am Strand von Bravona miinden.
Wir famen an die Küſte von Chiatra, als die Gonne
ſchon hod) war und itber den Wolkenhöhen von Clha fid im
Meere fpiegelte. Dort faben wir eine fleine, tiefbordige Galere
in voller Kriegsrüſtung, welde-mit lautlofen Rudern der Mun⸗
dung bes Bravonafluſſes zuftenerte.
Galvano lieB den Ton feiner Stimme finten und ftand
unbeweglic) hinter einer- Klippe, aufmerkſam und mißtrauiſch
lauſchend; dann etlte er jdynell gegen die Galere bin, als er
bie Rudericlaven pfeifen bhirte und einen Mann fiber den
Klippen fah, welde ftufenweife gum Geftade auffteigen. Ich
erfannte eben jenen Dann wieder, den ich viele Tage zuvor
mit meinem Obm gefunden hatte, als id) ihn uͤber dem Berge
Sant’ Aleffio gum erftenmal auffudte. Auf einen Wink jenes
Unbefannten fagte mir Galvano dad legte Lebewol; und da
219
id ibn nidt gu fragen wagte, wobin er fid) wende, bot id
ibm in Wem, wwefjen er bediirfe, meine Hilfe an und ver:
fprad ihm in Bezug auf ibn ein unverleglides Stillfdhweigen.
„Mein Neffe,“ antwortete er, ,,wiffe, daß id in Corsica
nidts mebr mit Gebeimniffen yu thun habe. Ich erlaube
vir alles, was du gefeben, gebért und in ber Cinfamfeit der
Walder und Berge erduldet haft, der Welt fund zu thun.
Qa, du follft mir ausdrücklich verfpreden — und dad ift die
einzige Gunjt, um die id) did bitte — die Geſchichte diefer acht
Lage deined Lebens, fo viel du vermag{t, in die Deffentlid:
feit zu bringen. Sonſt, o Pietro, vergif meinen Namen und
bemiihe did), ihn vergefjen ju maden; denn bas ift fir und
beide das Beffere. Nur unfern Landsleuten fage, du habeſt
den Galeayino auf jener Galere nad der’ Riijte Afrifa’s forts
fegeln feben. Endlich verfiinde aller Orten den Behörden und
vem Bolt die grofe Runde, dab der berithmte Gigante, der
Schrecken Aller, dort in jenem Brunnen fein Grab gefunden .
bat; und obwol er fdon zehn Monate todt -ift, mird man
ihn dod) an der fleinen Gejtalt erfennen, denn in Wahrheit,
dieſer fogenannte Gigante war fiber der Erde wenig mebr
denn fünf Spannen bod.”
Galvano vernabm mit danfbarer Freude das Verſprechen,
das ich ihm gab, ſeinen frommen Wunſch zu erfüllen. Aber
er zog ſeine Hand zurück, als ich mich nahte, ſie zum Pfand
meiner Treue gu drücken, und mit der Miene, ihm nod weiter
au folgen. Gr bedeutete mir, mid fdnell von ihm ju ent:
fernen, und naddem ic) ibm das legte Abſchiedswort zuge⸗
rufen hatte, eilte er, feinen Begleiter gu erreichen, fiber jene
trodenen Stellen des Geſtades.
Ich ſchlug allein und mit vielen Tranen den Weg nad
Mlefani ein, indem id Galvano in der Geſellſchaft jenes Un⸗
betannten lief. Und biefer Mann war, wie ich nadber er:
fubr, ber Pater Guglielmo von Gpeloncato, der berithmte
220
heilige Bruder vom Orden der Minoriten, welder mit feinen
Bffentliden Predigten auf unferer Inſel fo viel Frieden ge
ftiftet, fo Biele befehrt und fo reichliche Almofen gejammelt
hatte, um die Chriftenfclaven in der Barbaret loszukaufen,
nad) ber frommen Gewohnheit der Prddifanten. Ich erfubr
aud), daß er fid) in die Tradt der Landleute verfleidet hatte,
um dem Haß der Parteien und der politifden Eiferſucht der
Beit gu entgeben.
Cr fuhr auf jenem Schiff nad Afrifa, in Begleitung
einiger Bater des Ynftituts della Mercede, um dem Bater:
land viele tapfere und brave Corgen, welche fdon lange im
Bagno gu WAlgier jdymachteten, wieder zu bringen.
Als id nun von der Spige eines Hügels meine Wugen
nad der Küſte zuriidwanbdte, jah ic) das Boot, auf welchem
die beidben Wanderer ftanden, mit Kraft gegen die Galere
rudern; und id) ftaunte, als id diefen unerſchütterlichen, ‘im
gripten Ungliid gebarteten Mann fab, wie er bitterlich weinte,
wadbrend er von diefen ihm fo feindfeligen und verbangnif:
‘ pollen Geftaden fic) entfernte. Yc folgte dem Schiff mit den
Augen; ein frifder Maeftrale webte günſtig und es ging ſüd⸗
warts in See. Ich unterfdied nocd Galvano, alg er jum
legten Lebewol feine Archibuſe abfeuerte, und fie dann weit
von fid) in bas Meer fdleuderte, und ihe nad die Maste
und die Sturmbaube.
Welder Wrt mein Verbalten war, als ic in mein Dorf
suriidgefommen, babe id bier nidt gu beridten. Es erinnern
fid) nod) alle Corsen der dffentliden Berwunberung und der
allgemeinen Freude, die meine Nadridt von Gigante’s Tod
erregte, und gumal die Wuffindung feiner Leiche coram populo
an jenem von mir in Perfon angegeigten Ort. Bei diefer
Botidhaft, die mit Hirnerfdall durch die Dörfer getragen ward,
öffneten fid) die Tange verfperrten Genfter und Thiiren der
Feinde der Settejacari, und nad einer langen Einkerkerung
221
fah man aus den Haufern die bleidhen und magern Gefidter
pieler Landleute bervorfdhauen. Man fab die Barrifaden von
pen Baltonen nehmen, und dort die Kleider in die Luft hangen,
um fie von dem Podergerud ju reinigen. Ich fab felbjt viele
Leute mit gefdhorenem Bart und ohne Waffen fidd auf Plag
und Strafen zeigen, oder mit ihren magern Odfen und ihren
roftigen Haden aufs’ Feld geben.
Ginige Verwandte de Gigante wurden freigeſprochen, weil
ſie ungerecht angeklagt waren, ihm entweder ein Aſil gegeben
zu haben ober ihm bei einigen neuen ihm fäaͤlſchlich beigelegten
Verbrechen behülflich geweſen zu ſein. Bei dieſer Gelegenheit
machte ich eine ſeltſame Erfahrung. Die Vettern des Banditen
hatten um ſeinen Tod gewußt, aber ſtillſchweigend die fünf
Monate lange Gefangenſchaft ertragen; und ſie hatten dieſes
Geheimniß bewahrt, um ihren Familien die Macht und den
Einfluß zu retten, welcher ihnen durch den Ruf des lebenden
Banditen zu gute kam. Es ſchien ſie der Kerker nicht einmal
zu ermüden, denn er trug dazu bei, jenen öffentlichen Irr⸗
tum zu beſtärken. Alle wurden auf Befehl des Vicarius in
Freiheit geſetzt. Nur ein Verwandter des Todten, welcher den
Leichnam heimlich weggebracht hatte, wurde im Gefängniß
zurückbehalten, gleichſam ſchuldig eines Verbrechens neuer Art,
d. i. des Attentats gegen die öffentliche Sicherheit, weil er
aus böſer Abſicht dem todten Banditen ein Aſil gegeben, und
aus gleicher Abſicht ſeinen Tod verhelt hatte.
Es wiſſen aud alle meine Landsleute, wie id nad meiner
Rückkehr nad Felce, und nadbem ic) der friedlichſte und ruhigſte
Jüngling von Aleſani geworden war, nicht allein mit allen
meinen Feinden Frieden ſchloß, ſondern auch bemüht war,
viele alte Feindſchaften beizulegen, welche damals meine und
die angrenzenden Pievi beunruhigten; und das gelang mir
glücklich, denn bald darauf hatte die Rückkehr der Geſandten
des Volks vom Hofe zu Mailand und die Ankunft des neuen
222
Vicefdnigs in Corsica, fammt der Beftitiqung unfered National:
ftatutes, den Ehrgeiz der Caporali und der Cinardefen nieder⸗
gebeugt und die Wngelegenbeiten dieſes unglückſeligen Landes
beſſer geordnet.
Es wiſſen endlich Alle, wie-id, im der ueberzeugung,
daß jenes Gelübde ein wahrer Ruf vom Himmel geweſen ſei,
mich vor Gott deſſen entledigen wollte, indem ich mein ganzes
Leben ſeinem heiligen Dienſt weihte. Und ſo habe ich denn
hier eben jenes Gelübde und zugleich mein an Galvano ge⸗
gebenes Verſprechen erfüllen wollen, indem ich dieſe Geſchichte
treu niederſchrieb, meinen Mitbürgern zur Erleuchtung und
meinem wolverdienten Lehrer zum Zeugniß der Dankbarkeit.
Zweites Bud).
Erſtes Kapitel.
Die nächſten Gegenden des Cap Corso.
Das Cap Corso iſt die lange und ſchmale Halbinſel, in
welcher Corsica gegen Norden ausläuft. Das rauhe Gebirge,
die Serra, durchzieht ſie und erhebt ſich im Monte Alticcione
und im Stello zu mehr als 5000 Fuß Höhe. Zu beiden Küſten
ſenkt es liebliche Taͤler ab.
Man hatte mir viel geſagt von der Schönheit dieſes Lands
dens, von feinem Reidtum an Wein und Orangen, und
von den milden Sitten der Bewohner, fo dab id mit rechter
Freude meine Wanderung antrat. Gleich der erjte Cintritt
in den Canton S. Martino ijt feftlid), da eine gute Strafe
durd) Olivenbaine lings be Geftades fortfibrt. Rapellen im
Grin, befuppelte Familiengrifte, einfam gelegene Haufer am
Strande, hie und da ein verlaffener Turm, in deffen Rigen
Ber wilde Feigenbaum niftet und bem zu Filpen der ſtach⸗
lichte Cactus wudert, maden das Land malerifh. Ganj
Corsica ift mit diefen Türmen umſtellt, welche Piſaner und
Genuefen bauten, die Riaften gegen den Garacen ju ſchützen.
Sie find rund ober vieredig, nur dreißig bid fünfzig Fuh
bod. Eine Wachmannſchaft lag darin unb gab ber Gegend
Runde, wenn CorBaren nabten. Alle dieje Türme find nun
verlaffen und ſtürzen allmadlig ein. Sie geben dem corsifden
Strand einen überaus romantijden . Charatter.
224
Es war ein ſchönes Wandern in der ftralenden Morgen⸗
frühe, da der Blick das Meer mit den ſchön geformten Cilanden
Elba, Capraja und Monte Crifto umfaßte, und wieder von
dem Wechſel der Berge und ber Taler in unmittelbarer Meeres⸗
nabe erfreut ward. Amphitheatraliſch umfdliepen bier die
Höhen blühende und f{dattige Taler, weldhe Bache durch⸗
taufden. Ym Cirfel umber ftehn ſchwarze Dorfer mit ſchlanken
Kirchtürmen und alten Klöſtern; auf den Wiefen treibt die
Hirtenwelt ibre Gefdafte, und wo fide das Tal zum Ufer
dffnet, fteht ein Turm und ein wmeltverlaffener Hafenort, in
weldem ein paar Fahrzeuge antern.
Yeden Morgen fommen mit ber Gonne Scharen von
Frauen und Madden aus dem Cap Corso nad Baſtia, ibre
Früchte zu Markt gu tragen. Für die Stadt wird ein zierlich
Kleid angelegt, ein blaues oder ein braunes, und dad ſauberſte
Sud als Ptandile um das Haar gefdlungen. Es ift ein
reizender UAnblid dieſe Geftalten am Mteeresufer im Dtorgen:
licht einberjdreiten zu feben, auf dem Kopf die jaubern Körbe,
aus denen Goldfritdhte laden; und nidt leidt möchte es etwas
Grazisferes geben, als ein ſchönes ſchlankes Kind, welded
einen Rorb voll Trauben auf bem Ropfe tragend, leichtfüßig
daberfommt wie eine Hebe oder wie Tizians Tochter. Sie
famen alle des Weges voritber plaudernd, ſcherzend mit dems
felben ſchönen Gruße Covina. Nichts Beſſeres fann der Menſch
dem Menſchen anwünſchen, als daß er leben ſolle.
Dod) nun vorwärts, denn. die Sonne ſteht im Löwen und
wird in zwei Stunden grimmig werden. Hinter dem Turm
Miomo gegen die zweite Pieve Brando zu, hört auch der
Fahrweg auf, und nun inuß man klettern gleich der Ziege,
denn nur an wenigen Stellen des Cap Corso gibt es fahr⸗
bare Verkehrſtraßen. Von der kleinen am Strand verlornen
Marina di Vaſina ſtieg ich aufwärts in die Berge, auf welchen
die drei Communen der Pieve von Brando liegen. Der Weg
-
225
war rauh und fteil, doc erquidlid) durd Bade die herunter-
rauſchen und durd die Ueppigheit der Garten. Das ganje
Geftabe ift mit ihnen bededt, voll Reben und Orangen und
Delbaiumen, an denen Brando befonders reid ift. Der Feigen:
baum hangt feine Früchte nieder und halt dem fdmadtenden
Munde ftill, undbnlid dem Baume de3 Tantalus.
In einem der Uferabbange befindet fic) die fine Stalacs
titenbole, welche por nicht Langer Zeit entbedt wurde. Sie
liegt in den Garten eines zurückgezognen Officier3. Gin Bers
bannter aus Modena hatte mir einen Brief an diefen Herrn
mitgegeben und fo ſuchte ich ibn in feiner Befigung auf. Das
ganze Ufer hat ber Colonel gu einem Garten umgefdaffen.
Derfelbe hangt aber dem Meer traumerifd) und fdhattig von
ftillen Oelbaumen, von Mirten und Lorbeern; Cypreffen und
Pinien einzeln oder in Gruppen, Blumen überall, Epheu um
bie Mauern, die Rebengewinde mit Trauben belaftet, ein
Landhaus ftill im Griin verftedt, eine kühle Grotte tief in
ver Erde, Welteinfamleit, Rube, ein Blid in den ſmaragdnen
Himmel und auf das Meer mit feinen Inſeln, ein Blid in
bad eigne glidjelige Menſchenherz; id) weif nicht, wann man
hier wohnen foll, fo lange man nod jung, oder wenn man
ſchon alt ift. .
Aus der Villa ſah ein ältlicher Herr heraus, wie er mid
ven Gartner nad dem Colonel fragen hörte und winkte mir
herauf. Wer der Mann fei, das hatte mir ſchon der Garten
gefagt, und nun jeigte e3 mir aud das Zimmer in das id
eintrat. Die Wande waren mit finnvollen Emblemen bemalt;
ba fab ic) die fid) verbrilbernden Stände, dargeftellt in einem
Landmann, einem Golbaten, einem Priefter und einem Ge⸗
lebrten, bie fic) die Hande reichen. Dort fafen die finf
Racen, Curopder, WAfiate, Mohr, Auſtralier, Rothaut um
einen Tiſch, hielten die Beder in der Hand und tranten
Briiderfdhaft, gar lujtig umrankt von tangenden Rebenguir- —
Gregorovius, Corsica. I. 15
226
landen. Sogleich erfannte id, daß ich in dad ſchöne Land
Icarien und zu feinem andern Manne gefommen fei, als zu
dem vortreffliden Oheim aus Goethe’s Wanderjabren. Und
fo war e3 aud; der Gerr war ledig und der Oheim, humani⸗
ſtiſcher Socialiſt, fegenverbreitender Landmann von ftillem,
großem Wirken.
Gr fam mit beiter rubig entgegen, das Journal des Debat3
in ber Hand, ladelnd fiber dad, wads er darin gelefen hatte.
„Ich habe in Yhrem Garten und Ihrem Bimmer, Signore,
den Contrat Social ded Rouffeau gelefen und ein Stid aud -
der Republif des Platon. Sie zeigen mir, daß Sie ein Lands:
mann des grofen Pasquale find.”
Wir fpraden allerlei über die Welt, die Menſchlichkeit
und bie Barbarei, und wie die Theorie fid fo unmächtig ers
weife. Dod) find dies alte Gefdidten und jeder denkende
Menſch hat ſie wol bedacht und beſprochen.
So gedankenvoll angeregt ging ich in die Grotte hinunter,
nachdem ich dem ſeltnen Manne Lebewol geſagt hatte, der
mir dichteriſch Geſchautes fo überraſchend ins Wirkliche über⸗
tragen. Wunderlich iſt doch dieſe Inſel! Geſtern ein Bandit,
welcher zehn Menſchenleben aus Capriccio gemordet hat und
zum Blutgerüſt geführt wird, heute ein praktiſcher Philoſoph
der Menſchenverbrüderung; beide gleich echte Carsen, aus der
Geſchichte ihres Volks hervorgegangen. Unter den blühenden
Bäumen des Gartens hingehend aber ſagte ich mir, daß es
nicht ſchwer ſei im Paradieſe die Menſchen zu lieben. Ich
glaube, daß die wunderbare Macht des erſten Chriſtentums
daher kommt, weil ſeine Lehrer arme und wol unglückliche
Leute waren.
Der heilige Paulus, fo erzählt die corsiſche Legende, landete
einſt auf dem GCap Corso, dem Promontorium Sacrum, wie
es in alten Zeiten hieß, und predigte bier das Chriftentum.
Es ijt unbezweifelt, dab die chriftlide Religion zuerſt auf bem
22.7
Cap Corso Gingang fand, als fie nad) der Inſel biniberfam.
So ift denn died Landden ein von Alters her der Humanitat
geweibter Boden.
Gine Gartnerin führte mid) gur Grotte. Sie ift weber
febr bod, nod febr tief und ein Zufammenbang von Rammern
und Gemadern, die man bequem durdh{dreitet. Bon den
Deden hangen Lampen. Die Gartnerin zündete fie an und
lies mid allein. Mun erbellte das matte Dammerlidt diefe
fine Krypta von fo bizarren Tropfiteinbiloungen als nur
ein gothifder Architect in Gpigbogen, Säulenknäufen, Taber:
nateln und Rofetten erdenfen fann. Die Grotte ijt die altefte
gothiſche Kirche Corsica’s, die Natur hat fie im ſchönen Phantafie-
{piel fo aufgebaut. Als die Lampen flimmerten und dad hell⸗
gelbe Tropfgeltein überlichteten und durdhfdhimmerten, war e3
bod ganz und gar eine Unterfirdhe. In diefer Dammerung
verlafjen ſah id bas folgende Märchenbild aus Tropfftein.
Gine wunderbare Jungfrau fap in weiße Schleier gebillt
auf einem Trone vom klarſten Alabafter. Sie regte fic) nidt.
Auf dem Haupt trug fie eine Lotosblume und auf der Bruft
ben Rarfuntelftein. Das Auge fonnte gar nidt von der vers
ſchleierten Sungfrau laffen, denn fie erwedte die Sebnfudt.
Bor ihr knieten viele eine Bwerge, die armen Trdpfe waren
alle aus Tropfitein und trugen gelbe Kronen aus dem aller:
ſchönſten Tropfitein. Sie regten fid) nidt. Aber fie bielten
alle bie Hande nad der weifen Jungfrau ausgeftredt, als
wollten fie ibr den Schleier beben, und es tropfte aus ibren
Augen bitterlih. Mir ſchien e8, als follte id) Cinige fennen
und bei Namen rufen. „Dies ift die Iſis,“ fagte die Kröte
ſatiriſch. Sie ſaß auf einem Stein, und id glaube, fie bielt
mit ibren Mugen alle verjaubert. „Wer nidt das rechte Wort
weif und will ben Schleier der ſchönen Jungfrau heben, der
wird wie diefe ein Tropf. Fremdling, willft du das Wort
ſagen?“ —
228
Run wollte ich eben einfdlafen, weil ic) ſehr müde war,
und die Luft in der Grotte fo dunfel und fo abl, und weil
aud die Tropfen fo melandolijd niederfielen, da fam die
Gartnerin in die Grotte und rief: „Es ift Zeit!” — Beit?
den Sdleier ded Iſis gu beben, o ihr ewigen Götter — —
„Ja, Signore, wieder hinauszugehen an die ſchöne Gonne
und in ben lebendigen Garten.” Diefes fagte die Gart-
nerin; e8 dünkte mid wolgefagt, fo dap id) ihr auf der Stelle
folgte. — 7
Sebt dieſes Fucile, Herr; bas haben wir in der, Grotte
gefunden, gang mit Tropfitein überzogen, und daneben lag:
menſchliches Gebein. Es war wol eines Panditen Flinte und
Gebein. Der Aermite hat fid) gewif in diefer Hile verfroden
gebabt und ift drinnen wie das wunde Wild geftorben. —
Nichts war von ver Flinte mehr über, als der roftige Lauf.
Manchem mag er die Raderfugel ins Herz gewettert haben.
Nun halte ich ihn hier in der Hand wie ein Foffil graufiger
Gefdhidte, und er thut feinen Mund auf und erzählt mir
Bendettagefdhidten.
Bweites Kapitel.
Mon Brando nag Luri.
Wohin bod Fier durch bie Berghöh'n wanderſt bu einſam,
Gang unkundig ber Wegend?
. Hbgffee.
| Nun ftieg ich nach Erba Lunga binab, einem fdon ziemlich
Iebhaften Stranbdort, von defjen Hafen jeden Tag Fiſcherbarken
nad Baftia auslaufen. Die entfeplide Hige gwang mid dort
_ einige Stunden zu raften.
Hier war einſt ber Sig der mächtigſten Signoren ded Cap.
Gorn, und da fteht über Erba Lunga da3 alte Schloß der
° 229
Gentili. Madtig ragen nod feine ſchwarzen Mauern von einem
Selfenberge. Die Gentili herrſchten über das Cap Corso neben
den ba Mare. Den da Mare gehirte aud) die gang nabe liegende
Inſel Capraja, welche von den gewaltthitigen Herren ſehr
bebriidt im Jahre 1507 ibnen fid) durch einen Aufſtand ents
30g, und unter bie Bank Genua’s fid ftellte. Ymmer ftand
ba8 Gap Corso fdon feiner Sage wegen im Ruf genue:
fiidher Gefinnung und feine Bewohner galten als untriegerijd.
Aud) heute nod feben die Bergcorsen auf das milde und
riibrige Völkchen ver Halbinfel mit Geringſchätzung herab.
Der Gefhidhtidreiber Filippini fagt von den Capcorsen:
„Die Einwohner de Cap Corso fleiden ſich gut und find
wegen ibres Handels und ber Nachbarſchaft ves Feftlandes
viel haäuslicher als die anderen Corsen. Unter ibnen herrſcht
grope Redhtlidfeit und große Treue. Ihre Ynduftrie. befteht
allein in Wein, melden fie nad dem Feftlande ausführen.“
Sdon jur Zeit Filippini’3 war der Wein vom Cap Corso
berühmt und meiftens von weifer Farbe. Den beften Ruf
bat der von Luri und von Rogliano; er gebirt zu den treff:
lidften Sorten, welde Südeuropa bervorbringt und gleidt
dem Spanier, bem Cyper und Syracufer. Dod ift das Cap
Corso aud reid) an Orangen und an Limonen.
- Wandert man in diefen Höhen weiter, den Meeresftrand
verlaffend, fo fieht man wenig von den Reigen de3 ſchönen
Landes, denn dieſe liegen. verftedt in den Talern. Das ganze
Cap Corso ijt ein Syftem von folden Talern nad beiden Seiten
be3 Meeres zu. Aber vie Berge felbft find rauh und ſchatten⸗
103, ihr Gebüſch ſchützt nicht vor der Sonne. Ralfgeftein, Ser⸗
pentin, Zalffdiefer, Porphyre zeigen fid. Spat am Abend
gelangte ic) nad) einer mühſamen Wanderung. in das Tal von
Sisco. Gin Paefane hatte mir dort Gaſtfreundſchaft zugefagt,
und folder Ausſicht froh ftieg id in’ Tal binab. Wher weldes
war hier die Commune von Sisco? Rings um ftanden am Fuh
230 ;
ber Berge und höher hinauf mebhre Eleine ſchwarze Darfer,
welde alle unter dem Ramen Sisco begriffen werden. Dies
ift corsiſche Art, dab man alle Ortfdhaften eines Tals mit
dem einen Namen der Pieve nennt, obwol jede ihren be-=
fondern fibrt. Sd ging auf das nächſte Dorf. zu, wo ein
alteS Rlofter unter Pinien mid anjog. Aber ih taufdte
mid, und nod eine Stunde mußte id fteigen, bis id) endlich
den Gaftfreund in Sisco erreidhte. Malerifd lag dad Heine
Dorf unter wilben und fdwarjen Felfen, von einem wiitenden
Waffer durchſchäumt, vom Berge Stello iberragt.
Meines Gajtfreundes Haus war wohnlich und eine junge
Wirtſchaft. Corsen famen gerade mit ihren Flinten von den
Bergen und e3 gab eine fleine Gefelljdaft von Landleuten.
Die Frauen nahmen daran nicht Teil; fie riifteten nur dads
Mal, bedienten, verfdwanden. Der Abend wurde verplaudert.
Die Menfdhen in Sisco find arm, aber gajtlid und freundlid.
Mit der morgenden Sonne wedte mid mein Wirt; er geleitete
mid vor fein Haus und übergab mid dann einem Greife,
welder mid) durch die labyrinthiſchen Bergpfade auf den rechten
Weg nad Crosciano führen follte. Mit mir hatte id) einige
Gajtbriefe fiir andere Dörfer de Cap3, ein Corse hatte fie
mir Whends iibergeben. Dies ift die preiswürdige Gitte in
Gorgica: der Gaftfreund gibt ſeinem fdeidenden Gaft nod |
einen Brief auf die Reife an Verwandte oder Freunde, welche
ibn dann ebenfall3 gaftlid) aufnebmen und wiederum mit einem
Briefe an Wndere entlafjen. So fann man Tage lang zu Gaft
geben und ift itberall hod) gebalten. Weil es faft in teinem
Ort Gafthaufer gibt, ware das Reifen ohne died kaum möglich.
Sisco hat eine der heiligen Catharina geweihte Rirde,
welde ein Wallfahrtsort ift. Sie liegt hod am Ufer. Ginft
war ein fremdes Schiff an dieſen Strand verfdlagen worden
und hatte fir feine Rettung Reliquien in die Rirdhe gelobt,
welde das Schiffsvolk wirklid) weibte. Es find gar feltne
231
Dinge, und die Leute in Sisco können fid etwas yu Gute
varauf thun, fo {dine Sachen zu befigen, als da find ein
Stid von dem Erdenkloß, woraus Adam modellirt worden
ift, ein paar Mandeln aus dem Paradiefe, Aarons griinender
Stab, Wiftenmanna, ein Stud Fell von Johannes dem Taufer,
Splitter von der Wiege Chrifti, ein Stid Rohr Chrifti, und
die beriihmte Rute, mit welcher Mtofes dad rote Meer aud:
einander geſchlagen bat.
Der ſchönen Anſichten gibt es mande in den Bergen Sis:
co’8 und immer anmutiger wird bas Land, je weiter nad
Norden. Yoh ging durd) viele Orte: Crosciano, Pietra Cor⸗
bara, Gagnano, an dem Abhange des Monte Alticcioni hin;
aber id) fand aud die drmlidften Dirfer, in denen felbft der
Wein ausgegangen war. Da ich im Haufe meines Gaftfreundes
ein Frühbrod ausgefdlagen hatte, um nidt bie guten Leute
mit ber Gonne in die Küche zu treiben, und es nun Mittag
werden wollte, fo begann mid) der Hunger zu qualen. Weder
Seigen nod Wallniifje am Wege — da beſchloß ich denn,
im nächſten Ort um jeden Preis- meinen Hunger zu ftillen.
In dreten Haufern Hatten fie nichts, nidt Wein, nidt Brod;
e3 war all’ auggegangen. Ym _ vierten hörte ic) die Citer
{dlagen. Zwei Greife in gerlumpten Ritteln fapen hier, der
eine auf dem Lager, der andere auf einem Schemel. Der
auf dem Lager jaf, bielt die Cetera im Arm, jah naddentlid
vor fid) bin und fpielte. Bielleidjt dachte er an feine ents
ſchwundene Jugend. Der Alte that eine hölzerne Labe auf,
bolte ein balbe3 Brod heraus, welde3 forgjam in ein Tuch
gewidelt war, und reidjte es mir, dab id) mir davon ſchneiden
follte. Dann fepte er fich wieder auf da8 Lager, fdlug die
Giter und fang ein trauriges Lied. Ich af dazu bas Brod
der bitterften Armut, und mir war e3, als wire id gu dem
alten Harfner aus dem Wilhelm Meifter gefommen, welder
mir das Lied vorfang:
¢
232
Wer nie fein Brod mit Thranen af,
Wer nie die fummervollen RNadte
Auf ſeinem Bette weinend fab,
Der fennt eud nidt, ibe himmliſchen Madte. .
Weiß Gott, wie Goethe nach Corsica fommt, aber das ift
nun ſchon der zweite Goethe'ſche Menſch, den id auf dieſem
wilden Cap angetroffen habe.
Alſo ward mein Hunger mehr als geſtillt, und ich wan⸗
. derte wieder weiter. Wie id in das Tal Luri nieder ſtieg, war
bie Gegend um mid ber yu einem Paradlefe geworden. uri
ift das reizendfte Tal tm Cap Corso und aud das gripte, obs
wol e3 nur zehn Silometer Linge und fünf Kilometer Breite
hat. Mad der Landfeite zu ſchließen es ſchöne Berge, auf deren
höchſtem Gipfel einfam ein ſchwarzer Turm ſteht. Dies ift der
Surm des Seneca, fo genannt, weil nad der Volfsfage Seneca
auf ibm die adt Jahre feiner Verbannung jubradte. Nach
dem Meere zu verlauft bad Tal fanft bid zur Marina von
Luri. Cin reides Bergwaffer durchſtrömt es und ift.in Candlen
durch bie Garten geleitet. Hier liegen die Communen, welde
die Pieve Luri bilden, reid) und wohnlich ausſehend mit
ſchlanken Rirdhen, RKldftern und Tiirmen, in einer. Vegetation
von ber ſüdlichſten Fille. Ich ſah manches herrliche Tal in
Stalien, doch erinnere id) mid nidt an eines, welde3s mit
einen fo lachenden, fo wonnefamen Anblick gewabrt hatte,
als diefes von Luri. Gang ift e3 voll vom Gegen der Wein:
berge, bededt mit Orangen und Limonen, mit Frudtbaumen -
jeder Art, retdh an Melonen und Gartengewaidjen, und je
höher man hinauf fteigt, dejto didter werden die Haine von
Caftanien und Nupbdumen,, von Feigen, Mandeln und Oliven⸗
bäumen.
233
Drittes Kapitel.
Pino. |
Gine gute Fahrſtraße fibrt von der Marina Luris aufe
warts. Mar ijt immer im Garten, in balfamifder Luft. Haufer
in eleganterem Billenftil verraten Reichtum. Wie glidlid muß
bier der Menſch fein, den die Elemente und die Leidenfdaften
fdonen. Gin Winger, der mid) bes Weges fommen fah, wintte
mir in feine Bigne, und id lies mid) nicht bitten. Hier ift
redt der Ort, den Thyrſusſtab yu fdwingen. Nichts von
Traubentrantheit, Labfal und Herzensluft allerwegen. Der
Wein von Luri ift trefflich, und die Citronen diefes Tals
follen fiir die beften des Mittelmeeres gelten. Es ift naments
lid) vie Gattung didfdaliger Cedri, welde bier und beſonders
auf-ber ganjzen weftliden Küſte bes Caps, vor allen andern
Orten aber in Centuri gejogen wird. Der Baum, äußerſt
froftig, forbdert viele Pflege. Cr gedeiht nur in heifer Sonne
und in den Talern, welde vor dent Libeccio geſchützt find.
Das Cap Corso ijt das wate Glyfium dieſes koſtbaren Baumes
der Hesperiden.
Nun machte ich mich weiter auf über die Serra nach Pino
zu ſteigen, an die andere Seite des Meers. Lange Zeit ging
ich durch Wälder von Wallnußbäumen, deren Früchte ſchon
reif waren, und id) mußte bier beſtätigen, mas id) gehört
hatte, dap bie Nupbaume Corsica’s ihres Gleiden ſuchen.
G3 wedfeln mit ihnen Feigen, Delbäume und Cajtanien.
G3 ift ſchön, einen tieffdattigen deutſchen Wald von Buden,
Giden oder. Tannen yu durdwandern, aber aud die Walder
des Südens find berrlid),. penn diefe Baume find eine gar ebdle
Geſellſchaft. Yd) ftieg auf den Turm Fondali hinauf, welder
neben dem fleinen Ort gleiches Namens im Grin verfdattet
liegt, wunderbar pittoresf in diefem faftigen Laube wirtend.
234 :
Man fdhaut von feinen Zinnen in vas ſchöne Tal hinunter
bis zum blauen Meer und ſieht fiber fic) griine Berge, auf
denen verlafjen ſchwarze Klöſter ſtehn. Auf dem hodften Fels:
blod der Serra erblidt man den Turm de3 Seneca, welder
wie ein in Gedanten ſtehen gebliebener Stoifer weit ing Land
und in die See nievergraut, Die vielen Türme — id) zablte
deren mebhrere — liefern den Beweis, daß viefes Tal von
Ruri fdon in alten Zeiten eine reiche Cultur hatte. Sie
wurden erbaut, um fie gu ſchützen. Und fo fennt aud fdon
Ptolemaus in feiner corsifden Geographic bas berrlide Tal;
e3 heißt bei ihm Lurinon. *
Durd einen fdattigen Hain und blabentde Gewinde klomm
id) gu dem Riiden der Serra empor, hart unter dem Fue
des Bergkegels, auf bem der Turm Geneca’s ftebt. Bon
diefem Puntt aus erblidt man beide Meere zur Redten wie
zur Linfen. Nun ging’s hinab nad Pino, wo carrarifde
Bildhauer mid) ertwarteten. Der Blid auf das weftlide Ge-
ftabde mit feinen roten Riffen und den ausgezackten elfen:
budten, endlid) auf die didt umlaubte Pieve von Pino war
überraſchend. Pino hat einige ſchloßartige Haufer und köſt⸗
lide Parks, welde ein rimifdher Duca yu bewohnen nicht vers
ſchmähen würde. Es gibt aud in Gorsica Millionäre, und
namentlich zaͤhlt man auf dem Cap etwa. bundert reiche Fas
milien, darunter einige von unverbdltnipmaipigem Bermigen,
weldes entwever fie jelbft oder ihre Verwandten in den An:
tillen, in Mexico und Brafilien erworben haben.
Einer diefer Cröſus in Pino hat von feinem Onkel auf
Thomas 10 Millionen Franten ererbt. Obeime find dod
bie vortrefflidften Mtenfden. Einen Obeim haben ift fo viel
als beftinbdig in der Lotterie fpiclen. Es find ganz pradtige
Menſchen, fie finnen aus ihren Neffen alles machen, Millio:
naire, unfterblide, gefdidtlide Perſonen. Der Neffe in
Pino hat dem Obeim fiir feine Berdienfte eine Todtenfapelle
235
aus Marmor bauen lafjen, eine maurifde Familiengruft auf
einem Hügel am Meer. Die Carrarefen arbeiteten gerade
daran und fiibrten mich in die Capelle. Weber der Gruft
ded Obeims fteht gefdrieben: unter der Protection Gottes.
G3 wire wabrlid) beſſer fir und alle, wenn der liebe Gott
ftatt eit Vater der Menfchen ibr Onkel geworden wäre. Dann
waren wir feine Neffen und batten Millionen, bezablten unfre
Schulden, äßen nidts als Muranen mit Champagner, faften
uns alle in einem grofen Rreife bet den Handen und waren
lauter Prafidenten, Vicefdnige, Könige und Raifer.
Abends befuchten wir. den Curaten. Wir fanden ibn vor
feinem herrlich gelegenen Presbyterium , nadtwandelnd in einer
braunen Corgenjade und die phrygiſche Freiheitsmütze auf dem
Kopf. Der gaftlice Herr führte und in fein Zimmer. Gr fepte
fic) auf einen hölzernen Stul, befabl der Donna Wein zu
bringen und langte, wie die Glajer famen, feine Citer von
der Wand. Nun hub er an frijd, fromm, fröhlich und fret
nad Herjensluft die Saiten yu fdlagen und den Paoli⸗Marſch
qu fingen. Die corsifden Geiftlicen waren ſtets freie Manner
und fampften in mandher Sdladht neben ihren Gemeinbdes
finbern. Der Pfarrherr von Pino fdob feine Mithrasmiige
zurecht und begann eine Gerenata an die ſchöne Marie. Bh
drückte ihm herjlid) die Hand und dankte ihm fiir Wein und
Lied, und ging fort in ein Paefe fdlafen, two man mir ein
Lager angewiefen hatte. Morgens in der Frühe wollten wir
nod in Pino umberftreifen und dann den Seneca auf dem
Turme bejuchert.
. Auf diefer weftliden Rite liegt unterbalb Pino die letzte
und fünfte Pieve des Caps, Nonza genannt. Bei Nonza ſteht
jener Turm, deſſen ich in der Geſchichte der Corsen erwähnte,
von einem Zug heroiſcher Vaterlandsliebe berichtend. Noch eine
andere heldenkühne That hat derſelbe Turm aufzuweiſen. Im
Jahre 1768 lag in ihm mit einem Häuflein Milizen der alte
236
itan Cafella. Die Frangofen hatten bereits das Gap unters
— vorfen, und die übrigen Capitane ſich ergeben. Caſella wollte
nist bas OGleidhe thun. Der Turm beſaß eine Kanone und
nod Pulber genug, die Milizen batten ihre Flinten. Damit
könne man fid, fo fagte der Alte, gegen eine ganze Armee
verteidigen, und im legten Notfall müſſe man fic in die Luft
fprengen. Die Milizen fannten den Mann und touften, daf
er that, wad er ſagte. Sie madten ſich deshalb Nadts davon
mit Zuridlaffung ihrer Gewebre, und der alte Capitin. fand
fic) allen. Gr beſchloß aljo den Turm ganz allein zu ver-
teidigen. Die Kanone war geladen; er Iud ſämmtliche Ge⸗
webre, verteilte fie an den Schießſcharten und ertwartete bie
Angreifer. Sie famen, geführt vom General Grand-Mtaifon.
Wie fie in ber Schußweite waren, ſchoß Cafella erft bie Ranone
. gegen fie ab und madte dann ein hölliſch Feuern mit den
Slinten. Die Frangofen fdidten an den Turm einen Parlas
mentir, welder bem Hauptmann. zurief, daß fic) bas Cap
unterworfen babe und daß ber General ihn aufforbere, nütz⸗
loſes Blutvergiefen yu erfparen und mit feiner Mannfdaft
ſich gu ergeben. Hierauf antwortete Cajella, daß er Kriegsrat
halten wolle, und 30g fid) zurück. Nach einer Weile erfdien
er wieder und erflarte, die Befagung des Turm3 von Nonza
wolle capituliren unter der Bedingung, mit friegerifden
Ehren, mit allem Gepid und ber Artillerte abziehen zu dür⸗
fen, wozu die Franzoſen felber das Fubrivert zu liefern batten.
Die Bedingungen wurden jzugeftanden. Als nun jene ſich vor
bem Turm auffteliten, die Befagung yu empfangen, fam heraus
ber alte Cafella mit feiner Flinte, fetnen Piftolen und feinem
Degen. Die Frangofen warteten auf die Mannfdaft und vers
wunbert, bap fie nod nidt herauskomme, fragte der befeblende
Dfficier: Nun warum zögern Yhre Leute? — Gie find ja fdon
braufen, erwiederte der Corse, denn id bin die Mannſchaft
des Turms von Nonza. Hierauf wurde der Officier wiitend
237
und wollte an Gafella. Der Alte 30g den Degen, ſich zu
wehren. Indeß eilte Grande⸗Maiſon ſelbſt herbei, und wie
er den Zuſammenhang der Dinge erkannte, wurde er von Be⸗
wunderung hingeriſſen. Sofort ſchickte er ſeinen Officier in
Haft, dem alten Caſella aber vollzog er nicht allein jede Be⸗
dingung Punkt für Punkt, ſondern er entſandte ihn mit einer
Ehrenwache und mit einem bewundernden Schreiben in das
Hauptquartier Paoli's.
Oberhalb Pino erſtreckt ſich der Canton Rogliano mit Erſa
und Centuri, ein durch Wein, Oel und Limonen ausgezeichnetes
Land, deffen Cultur mit der Luri's wettetfert. Die fünf Pievi
pes ganen Caps, Brando, Martino, Luri, Rogliano und
Nonza haben 21 Communen und gegen 19,000 Ginwobner,
alfo faft fo viel al8 die Inſel Elba. Geht man von Rogliano
tuber Grja nad dem Norden, fo gelangt man an die äußerſte
Nordſpitze Corsica’s, welder die kleine Ynfel Girolata gegens
fiberliegt. Wuf iby ftebt ein Leuchtturm. |
Viertes Rapitel.
Der Surm des Seneca.
Melius latebam procul ab invidiae malis
Remotus. inter Corsici rupes maris.
Rimifhes’ Teanerfpiel, Octavia.
Der Turm ves Seneca ift ſchon auf ver Gee und viele
Millien weit fidtbar. Er fteht auf einem gigantijden Granit:
blod, welder einzeln aus dem Berggipfel hervorragt und diz
ſchwarze Turmſäule trigt. Einzeln ſteht aud diefe da, ſchauer⸗
lich und melancholiſch, von Nebeln umflattert. Ringsum öde
Berge, zu beiden Seiten in der Tiefe das blaue Meer.
Sollte hier, wie die ſinnige Sage es behauptet, der ver⸗
bannte Stoiker acht Sabre bes Exils verbracht haben, bod
238
am Himmel tronend, in fdweigjamer Felſenwildniß, nun fo
war der Ort fiir einen Pbilofophen fo übel nist, weife Be
tradtungen fiber Welt und Fatum anguftellen und die ewigen
Clemente bewunbdernd anzuſchauen. Der Geift der Einſamkeit
ift der beſte Sehrer ber Weifen. Gr mag denn Geneca die
Welt erklärt und in ftillen Nadten ibm die Gitelfeit ded großen
Rom gezeiqt haben, wenn ver Verbannte fein Los beklagen
wollte. Als er aus dem Gril wieder nad Rom zurückkehrte,
mochte er unter den neronijden Graueln jene einfamen Tage
von Corsica oft zuriidfebnen. Es gibt eine alte römiſche Tra:
gödie Octavia, welche das tragiſche Schichſal der Gemalin
Rero’s jum Gegenjtande hat. Yn diefem Trauerfpiel tritt
Seneca al8 moralifdhe Figur auf und tlagend ſpricht er fol:
genbe Verſe:
© waltend Olid, warum ad! haſt du dod,
Mit ſchmeichleriſchem Antlig taufdend, mid
Der fein befdheiden Vos zufrieden trug
So hod erhoben! daß id um fo tiefer dann
Bon fteiler Kaiferburg fo viel bes Grau'ns
Gridauend ſtürze. Beffer war id dort
Bom Flud des Reides fern in Einſamkeit
Geborgen auf des Corsenmeers Geftade.
Frei war die Seele dort und felbjtbeftimmt,
Der Studien Muße immer hingegeben.
D wie erlabte mich's — denn nimmer ſchuf
Die Meifterin Natur Erhabneres
Wn Riefenwerfen — anzuſchau'n den Himmel,
Den heil’gen Sonnenwagen und der Welt
Bewegung, Wedfelwiederfehr des Jahrs,
Des Mondes Rund und jene fcdhinen Sterne,
Die ihn umgiirten, weit und breit fodann
Des grofen Aethers Funfelflammenfdein.
239
Das All fol einft in3 blinde Chaos wieder
' Wenn’s altert ſtürzen; vod) ift hewte fdon
Der legte Weltentag, der in dem Stuy;
Des Himmels nun das ſündige Geſchlecht
Begraben fol.
Rauh war der Hirtenpfad, der und auf den Berg über
Trümmergeſtein führte. Zu Füßen des Turmes liegt im Ge⸗
ſtrüpp und in Felſen ganz verſteckt, etwa auf halber Höhe,
ein verlaſſenes Franciskanerkloſter. Die Hirten und die wilden
Feigenbaume wohnen jetzt in den Gallen, und der Rabe krächzt
das de: profundis. Dod fommt der Morgen und der Abend
feine ftille Andadt yu halten und die wilde Mirte, Mente
und Cytiſus opfernd. anzuzünden. Weld’ ein RKraduterduft
ring3, und welches Morgenſchweigen auf den Bergen und
auf dem Meer!
Wir ftanden am Turm des Seneca. Auf Handen und
Füßen waren wir geklettert um an ſeine Gemäuer zu gelangen.
Man kann ſich an Mauerkanten feſthalten und fo, über dem
Abgrunde ſchwebend, zu einem Fenſter klimmen. Denn ſonſt
gibt es keinen Eingang in den Turm; ſeine Außenwerke ſind
ganz zerſtört, aber man erkennt noch an den Reſten, daß hier
ein Caſtell ſtand entweder der Signoren vom Cap oder der
Genueſen. Der Turm iſt rund, aus feſtem Material gebaut,
ſein Kranz zerſplittert. Schwerlich lebte Seneca auf dieſem
Aornos; wenigſtens iſt's unerfliegbar für Moralphiloſophen,
ein Geſchlecht welches die Ebnen liebt. Seneca lebte wol in
den römiſchen Colonien Aleria oder Mariana, wo der an
römiſche Bequemlichkeit gewöhnte Stoiker ſich mag ein wohnlich
Haus eingerichtet haben nahe am Meer, von deſſen Strand
der beliebte Mullus und der Thunfiſch nicht weit zur Tafel
hatten.
Ein Bild aus der graufig ſchönen aaiſerwelt Roms 30
240
wieder an mir vorfiber, wie id auf Geneca’s Turme fab.
Wer fann diefe Welt ganz und richtig begreifen? Mir ift 3
mandmal als ware fie ber Hades, und als halte die ganje
Menſchheit in feiner Dammerung einen grofen diabolifden
Narrenfafding, ein Riefenballet vor des. Kaiſers Trone tan:
send. Der Kaiſer aber figt dfifter wie Pluto, und bisweilen
bridt er in ein wabnfinniges Gelddter aus; Denn gar zu
toll ijt bod) diefer Carneval. Aud der alte Geneca fpielt
unter den Pulcinellen und tritt auf mit der Badewanne.
Aud ein Seneca tann etwas tragifomifded haben. Man
febe ihn nur in der rührend lächerlichen Geftalt jener alten
Bildſäͤule, welche feinen Namen tragt. Er ſteht da nadt,
ein Tuch um die Lender, in der Badewanne worin er fterben
will; die Geftalt ijt fo überaus Haglid), in die Rniee geknickt,
und das UAntlig jammert, fo ſehr jammervoll. Gr fiebt aus
wie der heilige Hieronymus oder wie ein verhagerter Büßer,
und dod zum Laden reizend, wie mandhe Ptartirergeftalten
tragikomiſch find, weil die Form ihres Leidens meiftend fo
wunderlich ijt.
Drei Jahre alter als Chriftus war Seneca, in Gorduba
in Spanien geboren, aus ritterlider Familie. Seine Mutter
war Helvia, eine Frau von feltnem Geiſt, fein Vater Lucius
Anndus ein nambafter Rhetor, welder mit der Familie nad
Rom ging. Bur Beit Caligula’s glangte Seneca der Sohn
alg Redner und ſtoiſcher Philoſoph von gropem BWiffen. Gin
ausgeseichnetes Gedidtnif hatte ihm dazu verbolfen. Gr felbjt
erzablt, daß er gweitaufend Namen, welche man ihm nannte,
in derfelben Ordnung gleich wieder herfagen fonnte-und daß
e3 ibm leidht war, mehr al8 zweihundert Verſe nad ein:
maligem Hiren genan wieder gu geben.
Aud am Hofe des Claudius angefehn, wurde er durch
Meſſalina geſtürzt. Sie klagte ibn an, daß er mit der be:
rüchtigten Julia, der Tochter des Germanicus und der ſcham⸗
241
{ofeften Bulerin Roms, ein Liebesverhaltnip gebabt habe. Die
Beſchuldigung ijt doppelt komiſch, weil fie von einer Mteffalina
ausgebt, und weil wir un den moralifden Seneca als Don
Suan gu denen haben. Was an der fcandaldfen Gefdidte
wabr jei, tft ungewip, aber Rom war frivol, und es gibt
nichts bizarreres als feine Charattere. Sulia wurde befeitigt,
der Don Juan Seneca aber unter die VBarbaren nad Corsica.
vertviefen. Gang eigentlid) wurde alfo Geneca ein corsiſcher
Bandit. 3
Es gab damals kaum eine fürchterlichere Strafe als die
Verbannung aus Rom, weil ſie die Verſtoßung aus der Welt
war. Acht Jahre lang lebte Seneca auf der wilden Inſel.
Ich kann es deshalb meinem alten Freunde gar nicht ver⸗
geben, daß er nichts geſagt, nichts aufgezeichnet hat über ihre
Natur, über die Geſchichte und Art des damaligen Volks.
Es würde heute ein einziges Kapitel darüber von großem
Werte ſein. Aber daß er nichts über das barbariſche Land
zu ſagen wußte, iſt für den Römer bezeichnend. Hochmütig,
beſchränkt, lieblos gegen das Menſchengeſchlecht war damals
der Menſch. Wie anders ſtehen wir heute der Natur und
der Geſchichte gegenüber.
Dem verbannten Seneca war die Inſel nur ſein Kerker,
den er haßte. Was er über ſie in ſeinem Troſtbriefe ſagt,
zeigt wie wenig er ſie kannte. Denn war ſie gleich noch un⸗
cultivirter als heute, ſo blieb die Größe ihrer Natur doch
immer dieſelbe. Er dichtete dieſe Epigramme auf Corsica,
welche in ſeinen poetiſchen Werken ſtehn:
Anf Corsica.
Corsiſche Ynfel, du von phokäiſchem Pflanzer bewohnte,
Corsica, Cyrnus guvor von den Griedhen benannt,
Corsica, gegen Sardinien kurz, und gebebnter al3 Elba,
Corsica, ſtroͤmedurchrauſcht, fifdeerndbrender Fut,
Gregorovius, Cor8ica. l. 16
242
Corsica, fdredlide3, wenn erft ſommerlich fenget der Glut⸗
brand,
Schrecklicher zeiget des Hunds wiitend Geftirn dad Gebif:
Sdon’ ver Verwieſ'nen, diefes ja heißt, o ſchon' ver Be-
grabnen ;
Deine Erde fie fet leicht ber Lebendigen Staub.
Gin zweites Epigramm hat man Seneca abgefprodjen, doch
weiß id) nicht, warum e3 der Hagende Mann nidt fo gut ge-
vidtet haben foll, als einer feiner vielen Genoffen oder Nach⸗
folger im corſiſchen Gril.
Corsica bad barbariſche fperren die jabeften Felfen,
Starrend iſt's dberall, dde fein wüſtes Geland’.
Frucht nicht reidet der Herbft nod Saaten reift dort der
Sommer,
Und fein Winter voll Meif fennt nicht der Pallas Gefdent.
Rimmer erfreuet fein Mai mit fdattigen Laubes Bedadung,
Nirgend entfprieBet ein Kraut diefem unfeligen Land.
Nidt vie Gabe des VBrods und des Quells, nidt die legte
des Feuers,
Bwei, die Verbannung nur, und der Verbannte find bier.
Ueberfept man Berbannte mit Banditen, fo paßt der Vers
ſchlagend nod heute auf Corsica.
Die Coren haben Seneca mit ihrer Rade nicht verfdont.
Weil er von ibnen und ihrem Lande ſo ſchaͤndliches geſagt
hat, haben fie ihm eine faubere Gefdhidte angebangt. Die
Volksſage erzablt namlid nur dieſe eine Begebenbheit aus der
Beit feines corsiſchen Aufenthaltes: wie Seneca auf. feinem
Turme fap und in das fdredlide Ciland miederblidte, fo fab
er die corsifden Jungfrauen, und fie wurden lieblich vor
ſeinen Augen. Der Götterſohn ftieg herab und fing an ju
bulen mit ben Töchtern des Landes. Cine ſchöne Hirtentodter
— —
243
wirbigte er feiner Umarmung. Als er fic) nun ihrer menſchlich
erfreute, itberrafdten ibn bie Verwandten der Schönen, nab:
men ibn und mit Reffeln geipelten fie ihm fein irdiſches Teil.
Seitdem wadjt die Nefjel unausrottbar am Turme de3 Seneca
alZ eine warnende Sinnpflange für Moralpbhilofophen. Ortica
di Seneca nennen fie die Coren.
Armer Geneca! er fommt aus tragifomifden Zuſtänden
nicht heraus. Mich fragte ein Corse: Ihr habt gelefen was
Seneca von un3 gefagt bat? ma era un birbone, er war
ein groper Schuft. Seneca morale, ſagt Dante, Seneca
birbone fagt der Corse, Wud das ift ein Beichen von corsi⸗
ſcher Vaterlandsliebe. .
Nod andere Seufzer haudte ver unglitdlidhe Dtann in
Verſen aus, ein paar Epigramme an Freunde, eins an feine
Vaterjtadt Corduba. Von den, Tragddien, welche Seneca’s
Ramen tragen, hat er, wenn er je eine fdrieb, bie Medea
ficberlidh in Corsica gefdrieben. Wo gab e3 einen zu diejem
Argonautengedidht anregenderen Ort ald die meerumrauſchte
Inſel? da fonnte er feinen Chor wol die merfwiirdigen Verſe
fingen laſſen, welche den Columbus prophezeien:
Kommen dereinft wird ein ſpätes Jahrhundert,
Welchem Okeanos löſt den Giirtel des Landed.
Schrankenlos ſteht dann offen die Erde,
lind neue Welten entdecket der Tiphys.
Nicht iſt Thule das äußerſte Land.
Der Steuermann Columbus aber wurde geboren im ge:
nuefifden' Lande, in ber Nabe Corsica’s. Zu Calvi in Cor:
Sica felber laſſen ihn die Corsen geboren fein und nod beute
bebaupten fie dieſes.
— ——— — — — —
244
Fünftes Kapitel.
- Seneca morale.
— e vidi Orfeo
Tullio e Livio e Seneca morale.
Dante.
Mande ſchöne Frudt 30g Seneca in feinem Gril, und
vielleicht verdankte er einen Teil feiner erhabnen Weltbetrach⸗
tung eber der corsifden Einſamkeit als den Lehren eines
Attalus und Socio. Jn der. Troftfdrift an feine Mutter
Helvia ſchreibt er ihr am Ende: Siehe nun, fo follft bu mid
denfen: froh und beiter wie im Glide. Dad ift aber das
befte Glid, wenn der Geift ohne Nebengedanten feiner Thatig-
teit bingegeben ijt, und fic) bald an leidteren Studien er-
götzt, bald nad Wahrheit dürſtend zur Vetradtung feiner eignen
Natur und der des WMS fic erhebt. Buerjt erforjdt er die
Lander und ihre Lage, dann die Befdhaffenheit des umftri-
menden Meers, feine wedfelnde Chbe und Flut; dann be:
tradtet er, was zwiſchen Himmel und Croe Furdthares liegt,
und dieſen burch) Donner, Blige, Windesbraujen, Regenguß,
Sdnee und Hagel aufgeregten Raum; endlid) wenn er die
niederen Regionen durdwanbdert bat, nimmt er jum Hidften
feinen Glug und genießt da ſchönſte Sdaufpiel der himmli⸗
ſchen Dinge, und feiner Cwigheit eingedent geht er in Alles
ein, was da war und fein wird in alle Gwiafeit.
Als ic) Seneca’s Troftfdrift an feine Mutter in die Hand
nabm, war id nidt wenig neugierig, in welder Weife er fie
trdften toiirde. Wie mag wol heute irgend einer der taufend
Verbannten von Bildung, welche in der Welt zerſtreut find,
eine Mutter tröſten? — Geneca’s Brief ift eine ganz fdul-
geredte Whhandlung von 17 Rapiteln. Cie ijt ein Lebrreider
Beitrag zur Pfydologie jener ſtoiſchen Menſchen. Der Sohn
will weniger die Mutter tröſten als eine trefflidhe Schrift ver:
eet, eee Lo
~
245
faffen, deren Logit und Stil man bewundern foll. Gr ift gang
ſtolz darauf, daß fie eine neue literarifde Gattung fein werde.
Der eitle Mann fdreibt an feine Mutter, wie ein Schriftſteller
an einen Rtitifer, mit dem er feinen Gegenftand kühl ermagt.
Ich babe, fo fagte er, alle Werke der größten Genied nach⸗
gefdlagen, welde zur Mapigung der Trauer gefdrieben find,
aber fein Beifpiel gefunden, daß Yemand die Seinigen ge:
trojtet, wenn fie um ibn felbft weinten. So fam id bet bem
neuen Gall in Verlegenheit und firdtete die Wunden aufzu⸗
reifen, ftatt fie 3u beilen. Mipte nidt ein Menſch, der vom
Sdeiterhaufen felbft fein Haupt erbebt, um die Seinen zu
trdften, neue und nidt aus der tagliden Umgangsſprache ber:
genommene Worte nötig haben? Jeder grofe und ungewöhn⸗
lide Schmerz muß eine Auswahl von Worten treffen, ba er
pod) oft bad Wort felber verfagt. Nun denn, id twill es
wagen, nidt im Vertrauen auf mein Genie, fondern weil id
felbft ftatt der wirlfamften Triftung Trofter fein fann; dem
du nidts abfdlagen könnteſt, wirſt du wie ic) hoffe (obwol
jeder Schmerz ſtörriſch ift) nidt verfagen, dab bu deinem Gram
durch mid) eine Grenge fepen laffeft.
Nun fängt ev auf die nene Art zu trdften an, indem er
der Mutter vorrechnet, wads fie fdon alle3 erlitten hat und
daraus ben Schluß zieht, daß fie ſchon abgebartet fein müſſe.
Durch die ganze Abhandlung klappert das Skelett der Dispo⸗
fition: erſtens, die Mutter ſoll nicht um ſeinetwillen trauern;
zweitens, die Mutter ſoll nicht um ihretwillen trauern. Der
Brief iſt voll der ſchönſten ſtoiſchen Weltverachtung.
„Aber es iſt dod) ſchredlich, dad Vaterland zu miſſen.“
Was iſt dagegen zu ſagen? Mutter, ſieh doch die ungeheure
Volksmenge in Rom; der größte Teil derſelben iſt aus dem
ganzen Erdkreiſe zuſammengeſtrömt. Die einen hat Chrgeciz
aus der Heimat getrieben, andere da dffentlice Leben, eine
Geſandtſchaſt, Genußſucht, Lafter, Studium, Sdaufpiel, Freund-
jdhaft, Speculation, Beredfamfeit, fdine Geftalt. Sodann
abgefeben von Rom, das man freilid als die Vaterftadt aller
betradten fann, gebe dod in andere Städte, gehe auf Ynfeln,
bieber nad Corsica, überall find mebr Fremde als Einhei⸗
mifde. „Denn dem Menfden ift ein beweglider Wanderfinn
gegeben, weil er vom himmliſchen Geifte bemegt wird. Be-
tradte die welterleuchtenden Geftirne; ibrer keines bleibt ſtehn,
unaufhörlich wandern fie ihre Bahn ynd wedfeln ewig ihren
Ort.” Diefen ſchönen Gedanten hat vem Seneca fein Didter-
talent eingegeben. .Unfer befannte3 Wanderlicd fagt: die
Sonne fie bleibet am Himmel nidt ftebn, es treibt fie durd
Meere und Lander. zu gebu.
„Gegen die Veränderung des Ortes felbft, fabrt Geneca
fort, balt Varro der gelehrtefte Rimer das fiir die befte Be-
rubigung, dap die Natur ber Dinge überall diefelbe fei. Mar—
cus Brutus findet genug Troft darin, daß wer ins Gril gebt
fein Outed mit fi nehmen fann. Aft es nidht eine Klei⸗
nigfeit was wir verlieren? Wohin wit uns wenden mögen,
geben zwei berrlidhe Dinge mit uns: die Natur die überall,
und bie Tugend die unjer eigen ift. Lab uns durd alle
migliden Lander gehen, wir werden feinen Teil der Erde
finden, der dem Menſchen nidt Heimat fein könnte. Von
überall fteigt der Blid gen Himmel, und in gleider Weite
ftehn alle göttlichen Welten von allem Irdiſchen entfernt. So
lange alfo meinen Augen jenes Schauſpiel, dad gu feben fie
nidt fatt werden können, nidt verfdloffen. wird, fo lange id
‘Mond und Sonne fdauen darf, fo lange mein Blid an den
ibrigen Sternen haften, ihren Aufgang und Untergang, ihre
Raume und die Urſachen erforjden darf, warum ſie ſchneller
oder langſamer wandeln, fo lange ich die unzähligen Sterne
der Nadht ſchauen darf, wie die einen unbeweglid find, die
anberen nidt großen Raum durdeilend, fondern in ihrer etgenen
Bahn freifend, mande plötzlich hervorbligend, manche mit
a
247
Stromfener das Auge blendend al3 ob fie fielen, oder im -
langen Zuge mit Lidtflut vorüber wallend; fo lange id bei
diefen bin und fo viel bem Menſchen erlaubt ift im Himm:
liſchen wohne, fo lange id) den Geift, welder nad dem An⸗
ſchaun verwandten Weſens tradtet, im eter halten fann:
was fimmert e3 mid, welden Boden mein Fup tritt? Alſo
eS trigt dieſes Giland nidt frudthringende nod) twonnige
Baume, es wird nidt von grofen und {diffbaren Strimen
bewaͤſſert, e3 ergeugt nichts was andre Völker begehren midten,
es ift taum fir bie Notdurft der Bewohner frudfbar, tein
foftbarer Stein wird bier gehauen (non. pretiosus hic lapis
caeditur), nidt Gold: nod Gilberadern 3u Tage gebradt.
Der Geift ift enge, der am Irdiſchen fic ergigt. Auf das
ift er gu leiten, was überall gleid erſcheint und überall er⸗
glänzt.“ —
Hatte id Humboldts Kosmos zur Hand, ſo würde id
nadfeben, ob der grope Naturforfder dieje erhabenen Perioden
Seneca’3 ba berudſichtigt hat, wo er von dem Sinn der Alten
für Naturſchönheit handelt.
Auch dies iſt ſchön und geiſtreich: Je länger ſie ihre Hallen
bauen, je höher ſie ihre Türme erheben, je breiter ſie ihre
Straßen dehnen, je tiefer ſie ihre Sommergrotten graben, je
maſſiger fie ihre Speifefile aufgipfeln, um deſto mehr ver:
deden fie fid den Himmel. — „Brutus ergahlt in fejnem Bud
über bie Tugend, daß er den Marcellus im Gril gu Mytilene
> gefebn, und bap er fo viel es bie menfdlide Natur verginnt,
höchſt glidjelig gelebt habe und niemals den ſchoönen Künſten
mehr ergeben gewefen fei. Daber, fiigt er bingu, weil er
felbft obne ibn zurückkehren follte, habe es ihm gefdienen, er
vielmehr gebe ind Gril und nicht jenen laſſe er in der Ver:
bannung zurück.“
Nun folgt das Vob ber Armut und der Geniigfamleit im
Gegenſatz zur Schlemmerei der Reichen, welche alle Tiefen
248
’ purdfuden, um ihren Gaymen zu figeln, vom Pbhafis ber
das Wild, und die Vögel von den Partern holen, weldhe fich
erbreden um effen gu können, und effen um ſich yu erbredjen.
Der Raifer Caligula, fagt Seneca, den mir die Natur er-
zeugt zu haben ſcheint, um darjuthun, was im bidften Glück
das höchſte after vermdge, hat an einem Tage fir zehn Mil⸗
lionen Geftergien gefpeift und obwol er dabei durch alle erfin⸗
deriſchen Menfden unterftiigt wurde, bat er e3 bod kaum
heraus gebradt, wie man den Tribut von brei Provingen in
eine eingige Malzeit verwandeln finne. — Wie Rouſſeau prez
digt Seneca bie Rückkehr ter Menſchen yum einfaden Natur-
guftande. Die Seiten beider Moraliften waren-einander gleid;
fie felbft find in der Schwäche des Charakters ſich ähnlich,
obwol Seneca gegen einen Rouſſeau ein Romer und ein
Heros war.
„Scipio's Töchter bekamen aus bem Staatsſchatz ihre Aus⸗
ſteuer, weil ber Vater ihnen nichts hinterließ. O glidlide
Manner der Madden, ruft Seneca aus, denen das römiſche
Rolf Sdhwiegervaters Stelle vertrat! Wirft ou die fir glad:
lider balten, deren Ballettangerinnen eine Million Sefterzien
alg Heiratsgut mitbringen?”
Nachdem nun Geneca feine Mutter wm fein eignes Leiden
getröſtet hat, trdftet er fie auc) um ihrer felbft willen. „Nicht
nad) Frauen, ſchreibt er, baft du dich zu richten, deren Trau⸗
rigfeit, wenn fie einmal fie durchdrang, nur der Tod endigte.
Du fennft Mande, die nad dem Verluft ihrer Söohne dad -
angelegte Zrauerflein nie mebr ablegten.. Bon bir verlangt
ein won jeber ftirfere3 Wefen Größeres. Für diejenige fann
bie Entſchuldigung des Geſchlechts nidt gelten, welder alle
weiblide Gebrechen ferne waren. Did hat nidt dad größte
Uebel der Gegenwart, die Zuchtloſigkeit, der Menge beigefellt;
über dich batten weder Edelſteine nod Perlen Macht; did ©
blendeten nidt Reichtümer al3 das höchſte Gut der Menfden;
249
nicht hat did die in altem und ftrengem Haufe wol Erzogene
die Nachahmung den Sdledten vereint, welde aud den Guten
gefährlich tft. Niemals haſt du did) deiner Kinderzahl ge-
ſchämt, al3 ob fie dir dein Alter vorrücken; niemal3 haſt du
wie Andere, denen ſchöne Leibesgeftalt einzige Empfeblung ift,
deinen gefegneten Zuftand verborgen, al ob er eine unges
giemende Biirde fei, nod haft bu die in deinem: Schooß em:
pfangene Hoffnung auf Kinder vernidtet. Rie Haft ou dein
Antlig durch Flitter und Schminke befledt; nie gefiel dir ein
Kleid, das nur gemadt war, die Blife yu zeigen. Als die
eingige Bier und die hidfte nie alternde Schönheit, als der
trefflidfte Schmuck erfdien dir die Sittfamfeit.” So fdreibt
der Sohn an feine Mutter, und mir fdeint, es ift eine recht
philofophifhe RKaltblitigteit darin zu ſpüren.
Er erinnert an Cornelia, die Mutter der Gracchen. Doch
verhehlt er ſich nicht, daß der Schmerz ein ungehorſames
Ding ſei. Aus dem verſtellten Blicke brechen doch die Traͤnen
hervor. Bisweilen befangen wir die Seele mit Spielen und
Fechterkaͤmpfen, aber ſelbſt mitten in ſolchem Anblick beſchleicht
ſie einer Sehnſucht leiſes Mahnen. Darum iſt es beſſer zu
iiberwinden, als yu tiufden. Denn wenn das Gemilt ent⸗
weder durch Vergniigen getiufdt oder durch Beſchäftigung zer⸗
ſtreut iſt, ſo erhebt es ſich wieder und nimmt aus der Ruhe
ſelber die Gewalt zu neuem Toben; doch dauernd iſt es ſtill,
wenn es der Vernunft nachgegeben hat. Eines Weiſen Stimme
ſpricht hier einfache, allein richtige, doch bitter ſchwere Regeln
der Lebenskunſt. Deshalb ratet Seneca ſeiner Mutter nicht
die gewöhnlichen Mittel zu gebrauchen (hier muß man dod
wieder laͤcheln), naäͤmlich eine ſchöͤne Reiſe gu machen oder in
ber Hauswirtſchaft fic) yu zerſtreuen, ſondern er ratet zu
geiſtiger Beſchaftigung. Er bedauert es hiebei ſehr, dab fein
Vater, ein vortrefflicher Mann, der aber gu ſehr an den Ge⸗
wohnheiten der Alten hing, ſich nicht entſchließen konnte, ihr
250
eine pbilofophifde Bildung geben zu laffen. — Dad ift mit
wenig Striden ein Portrait vom alten Seneca, id) meine von
dem Bater. Man weif nun, mie er ausgeſehn bat. Als
die mobernen Herren und Damen in Corduba, welche aus
ver Republif des Platon die Frauenemancipation und dte
höhere Stellung ded Weibes aufgegriffen batten, dem Alten
vorftellten, haf feine junge Frau gut thate, in die Vorleſungen
einiger Pbhilofophen yu geben, da bat er fo berausgepoltert :
Dummes Zeug, mein Weib foll feine verdrehte Prinzeß und
fein alberner Blauftrumpf werden; kochen foll fie können, Rin:
der befommen, Stinder ergichen. Died fagte der pradtige Herr
und fepte im ſchönſten fpanifd nod bingu: Bafta!
Vieles fpridt nun Seneca von der Seelengröße, deren
aud das Weib fabig fei und er abnte damals nidt, dab
er felbjt fie einft fterbend an feinem eignen Weibe Paulina
erfabren follte. Gin edler Mann und ein Stoifer von der
erhabenſten Gefinnung bat in diefer Troftfdrift an Helvia ge-
fproden. Iſt e3 nun miglid, daß eben derfelbe Mann aud
denfen und fdreiben könne, wie ein, gemeiner Krieder und der
niedrigften Sdmeidler Giner? —
Sechstes Kapitel.
Seneca birbone.
Magni pectoris est inter — —*
Hier iſt eine andre Troſtſchrift, welche Seneca im zweiten
oder dritten Jahr ſeines Exils an Polybius ven Freigelafjenen
des Claudius, einen gemeinen Höfling ſchrieb. Derſelbe ging
dem überſtudirten Claudius als wiſſenſchaftlicher Ratgeber an
die Hand und quälte ſich ſelbſt mit einer lateiniſchen Ueber⸗
ſetzung des Homer und mit einer griechiſchen des Virgil. Der
‘ 251
Werluft feines talentvollen Bruders veranlabte das Troſtſchrei⸗
ben Geneca’3 an den Höfling. Gr ſchrieb die Abbandlung in
dem Bewubtfein, dap Polybius fie dem Raifer vorlefen: werde;
fo boffte er ben Zorn ded Claudius ju befanftigen, und die
Schrift wurde ein Mufter gemeiner Sdmeidelei gegen Fir:
ſten und ibre - einflupreiden Rammerdiener. Wenn man fie
lieft, muß man nidt vergeffen, welche Menſchen Claudius und.
Polybius waren.
O Sdidfal, ruft ber Schmeichler, wie haft du doc liftig
bie verwundbare Stelle ausgeſucht. Was folltejt du einem
jolhen Manne nehmen? Geld? — Gr hat es ſtets veradtet.
— Das Leben? Sein Genie macht ibn unfterblid. Dafitr
forgte.er ſchon felbft, bap fein beſſeres Zeil daure, und dah
er durch die Verfaſſung von herrlichen rednerifden Werken fid
ver Sterblidteit entziehe. Go lange irgend bie Literatur ges
ebrt wird, fo lange bie lateiniſche Sprache ihre Rraft oder die
griechiſche ihre Anmut behalt, wird er mit den grdften Min:
nern leben, deren Genie er fic) gleicdftellt, oder wenn feine
Beſcheidenheit fid) dagegen ftraubt, dod gendbert hat. — Un⸗
wilrdiger Frevel! Polybius trauert, Polybius hat einen Kum⸗
mer, und der Raifer ift ihm gnidig! Das, unerbittlices
Sdidjal, haſt bu obne Zweifel zeigen wollen, daß niemand
von bir gefdiigt werden: tinge, ſelbſt nidt vom Raifer! Wher
was weint dod Polyhius? hat er nidt feinen geliebten Kaiſer,
ver ibm teurer ift als bad Leben? Iſt er unverfebrt, fo find
Die Deinigen im Wolfein, dann haſt ou nidts verloren,
dann müſſen deine Augen nidt nur troden, fondern von
Freude glingend fein. Gm Raifer haft ou Wiles, er ijt dir
ftatt Alem. — Auf dieſe deine Gottheit alfo mußt du deinen
Blid ridten, dann wird der Schmerz dein. Gemitt nidt be:
ſchleichen. — —
Schickſal, halte deine Hand vom Raifer yuri, und zeige
Macht nur im Segen, indem du ihn der ſchon lange leidenden
— ⸗— — — —
252
Menſchheit cin Arzt fein laffeft, damit er wad bie Furie feines
Vorgdngers zerſtört hat, wieder ordne und einfiige. Diefer
Stern, welder der in det Abgruud geftiirjten und ind Duntel
verfuntenen Welt erglangt, lenchte immerdar! Germanien mige
er berubigen, Britannien auffdliefen und viferlide Trimmfe
halten und neue, deren Zeuge yu fein aud mid die Gnade
hoffen lapt, die unter feinen Tugenden die erfte Stelle etn:
nimmt. Denn nidt fo warf er mid) weg, daß er mid) nidt -
aufridten wollte: nein, nidt einmal geſtürzt hat er mid,
fondern da dad Sdidfal mir einen StoB gab, bat er mid
im alle aufgebalten, und wie id fallen wollte, bat er mit
Gotterhand fanft vermittelnd mid an einen VerwahrungZort
gebradt. Für mid bat er beim Senat und bat mir nidt
nur das Leben gegeben, fondern erbeten. Gr wird ſchon zu⸗
febn, wie er meine Gade ju beurteilen babe; entweder wird
feine Geredtigheit fie al3 gut erfennen, oder feine Gnade fie
baju machen. Ymmer wird feine Wolthat diefelbe fein, mag
er erfennen oder mag er wollen, dap id) unfdulbdig fei.
Unterdeß ift e3 mir in meinem Elend ein groper Troft, ju
feben, wie fein Grbarmen die ganze Welt durchwandelt; und
da er aus diefem Winkel, in welchem ic begraben bin, fdon
mebrere, bie im Raum vieler Jahre hier verjunten lagen,
ans Licht zurückgeholt bat, fo firdte id) nidt, daß er mid
allein übergehen werde. Gr felbft aber fennt am bejten die
Beit, wo er einem Jeden helfen foll: id will mir alle Muhe
geben, dab er nidt errdten darf, aud ju mir yu fommen.
D Geil deiner Gnade, Cajar, weldhe macht, daß unter dir
Verbannte rubiger leben, als vor Kurzem unter Cajus die
Erſten bed Volls. Nicht gittern fie, nidt erwarten fie ſtünd⸗
lid das Schwert, nicht erbeben fie, wenn fie ein Schiff tom:
men feben. Durd did haben fie fowol ein Siel des grau⸗
figen Gefdhids als aud die Hoffnung einer befferen Zukunft
und einer rubigen Gegenwart. Du follft e3 wiffen, da’ nur
— Cae — om,
253
vie Bannftralen ganz geredt find, weldhe aud diejenigen an:
beten, bie von ibnen getroffen find.”
O Neffeln, mehr Reffeln, edle Gergen — era un bir-
bone! |
Der Troftbrief ſchließt mit diefen Worten: „dies habe id
fo gut id tonnte mit einem in Langer Unthatigheit ſchon matt
und ftumpf gewordenen Geift gefdrieben; ſcheint e3 dir nun
entweder deinem Genie yu wenig entfpredend oder deinem
Schmerz zu darftige Arzenei zu fein, fo bedenle, dab demjenigen
nicht leicht dad lateinifde Wort zufließt, den dad wirre und
{chwerfallige Kauderwälſch der Barbaren umlärmt.“
Die Schmeichelei fruchtete dem Jammermanne nichts, aber
@
die am Hof in Rom eingetretenen Verbaltniffe ripen ihn aus .
dem Gril. Der Kopf de3 Polybius war gefallen, Meffalina
geridtet worden. Go ftumpf war Claudius, dab er die Hin:
tidtung ſeines Weibes vergaß und einige Tage darauf beim
Abendeffen fragte, warum Meffalina nicht zu Tiſche komme.
Go find alle diefe Greuel tragifomifh, und da kommt denn
aud) der treffliche Tröſter, der corsifde Bandit zurück. Agrip⸗
pina, die neue Gemalin de3 Claudius, ließ ibn zurückrufen,
um ibren elfjabrigen Gobn Rero zu erjiehen. Gibt es etwas
Tragikomiſcheres al Geneca in der Geftalt eine3 Erziehers
ved Nero? Cr fam, den Gbttern dankendb, dab fie ihm den
Beruf auferlegt, einen Knaben gum Fürſten ber Welt gu bil:
pen. Gr dadhte nun die Erde mit feinem Geijt yu erfitllen,
indem er ihn dem jungen Nero eingab. Weld’ ein Bemühen,
ein tragifdes und laͤcherliches zugleich! Gr wollte eine junge
Tigerfage in ftoifden Grundfagen erziehn. Uebrigens fand
Seneca an feinem bhoffnungsvollen Zögling einen von Sdul:
methoden nod ganz unverpfufdten Stoff vor; denn er war
in gittlider Unwiſſenheit aufgewadfen, und bid gu ſeinem
zwölften Jahr hatte er den innigften Umgang genoffen mit
einem Barbier, einem Kutſcher und einem Geiltinjer. Aus
254
deren Handen übernahm Geneca den Knaben, welder beftimmt
war, über bie Gitter und die Menfden gu herrſchen.
Da Seneca im erften Yabre ded Claudius nad Corsica
. verbannt gewejen war und in deffen adtem juriidfebrte, fo
fonnte er ſich ,,diefer Gottheit und dieſes himmliſchen Sterns”
nod) mehr als fünf Sabre erfreuen. Eines Zags aber ftarb
Claudius, weil ihm Agrippina in einem RMirbifje, ber ald
Trinkgefäß diente, Gift gegeben hatte. Die beriidtigte Locufta
hatte den Trank gemifdht. Der Tod ded Raifer3 gab Seneca
vie lang erfebnte Gelegenbeit feiner Race Luft zu machen.
Schrecklich entgalt er ihm bad Gril, er ſchrieb auf den Todten
feine Satire die Mpofolotyntofis, ein Pamphlet von erſtaun⸗
lidem Wig und faft unglaublider Frechbeit, weldhes dem Lucian
an Genialitat villig gleid fommt. Schon der Vitel ift genial
etfunden. Das neue Wort parodirt den Begriff ver Apotheoſe
oder BVerfegung der RKaifer unter die Gstter, und heißt die
Verjepung unter die Kirbiffe oder Verkürbiſſung de3 Claudius.
Man muß dieſe Satire lefen. Sie ift haratteriftifd fiir bie
roömiſche Beit, in deren grengenlofer Defpotie eines Menfden
Bunge dennoch folde Dinge fagen durfte, und wo ein eben
geftorbner Raifer von feinem RNadfolger, von feiner Familie,
wie vom Volk dffentlid als Hauswurſt verfpottet werden durfte,
unbefdadet des kaiſerlichen Anſehns. Alles ift in diefer
römiſchen Welt ironiſcher Zufall, tragilomiſch und byarr,
Narrenfaſching.
Seneca redet in Maskenfreiheit und als römiſcher Pasquino
und hebt alſo an: Was am 13. October unter dem Conſulat
des Afmius Marcellus und des Acilius Aviola in bem neuen
Kaiſerjahr, beim Beginne der Zeit des Heils im Himmel ge⸗
ſchah, will id bem. Andenken überliefern. Hiebei ſoll weder
meine Rade nod) meine Dankbarkeit mitſprechen. Fragt mid
Semand, wober id denn alled fo genau wiffe, fo werde id
für's Erſte nicht antworten, wenn mir's nicht beliebt. - Wer
. ; 255
darf mid zwingen? Weiß id dod, bab id ein freier Menſch
geworbden bin, feitdem jener abgefabren ift, welder das Sprich⸗
wott wabr gemadt bat: man muß entwebder als König oder
als Starr geboren fein. Wenns mirc belicbt gu antworten,
fo werde id) fagen, was mir in ben Schnabel fommt. —
Mun fagt Seneca höhnend, er habe, wad ex erzählen werde
yon dem Genator, welder Drufilla (vie Schwefter und Ges
liebte de3 Caligula) auf der appifden Straße babe gum Simmel!
fabren fehen. (Fur diefe freche Ausſage hatte Livins Geminus
von Galigula 250000 Denare Belobnung erhalten.) Der⸗
felbe Senator babe nun aud alle3 gefebn, wad dem Claudius
bei feiner Himmelauffabrt begegnet fei.
Man wird mid beffer verjtehen, fabrt Seneca fort, wenn
id) fage, e3 war der 13. October. Die Stunde fann id dir
nidt genau fagen. Denn leidter ftimmen die Pbhilofophen
als die Whren überein. Dod war's zwiſchen der fedsten und
fiebenten. — Claudius fdnappte eben nad Luft und tonnte
feine finden. Da nabm Mercur, der fid an ves Manned
Genie ſtets ergdpt hatte, eine ber drei Parzen bet Seite und
fagte: Graufame3 Weib, was läßt du bod) den armen Men⸗
ſchen fid fo lange qualen, ba er's nidt verdient bat. Es
find nun 64 Sabre, dap er immer nad Luft fdnappt. Was
suirneft bu ihm? Lap dod) endlid) die Mtathematifer Redt be-
fommen, bie ibn feitbem er Herrfder wurde, jedes Jahr jeden
Monat fterben laffen. Und dod ift’s fein Wunder, wenn fie
irren. Geine Stunde fennt Niemand; denn fein Menſch bat
ihn jemal3 als einen Gebornen betradtet. Thue deine Schul⸗
vigfeit,
Laß fterben ibn; ein Beſſrer fet Herrſcher ftatt ihm.
Gierauf fdneidet vie Parze des Claudius Faden entzwei,
aber Lacheſis fpinnt einen andern bellglangenden, ben Leben:
faden des Mero. Dazu fpielt Phöbus auf der Leier, und e3
256
ſchmeichelt Seneca ſeinem Zöglinge, ſeiner neuen Sonne, nichts⸗
wiirdige Verſe zu:
Nun ſpricht Phöbus es aus: die Tage des ſterblichen Lebens
Ueberſchreit' er zumal, mir ähnlich an Antlitz und Schönheit,
Schlechter an Stimm' und Geſang nicht; er bringt beglückende
Zeiten
Ueber die alternden Menſchen, und bricht das Schweigen des
Rechts auch.
Gleich wie Lucifer wol die flüchtigen Sterne verſcheuchet,
Oder wie Hesperus glänzt, wenn zurück ſie wieder gekommen,
Wie wenn roſig der Morgen, die Finſterniß löſend, den Tag
bringt
Heiter empor, und die Sonne den Erdkreis ſtralend beſchauet,
Und aus den Schranken entführt den ſchimmernden Wagen
der Frühe,
Alſo tritt aud) CAfar hervor, Rom ſchauet ihn alſo,
Nero deß ſtralend Geſicht hell glänzt von ſanfterem Schimmer,
Und den herrlichen Nacken umfließt weit wallend has Haupt:
haar.
„Claudius indeß pumpte die Luftblaſe ſeiner Seele heraus und
hörte demnach auf als ein Phantasma ſichtbar zu ſein. Er
hauchte aber aus während er die Komödianten anhörte, fo
daß ou weift, wie id) dieſe nidt ohne Grund fürchte.“ Sein
lepted Wort war: vae me, puto concacavi me.
* Claudius alfo ift todt. Nun wird dem Yupiter gemeldet,
e8 fei ein Mann von guter Figur, ſchon ziemlich grau, ange:
fommen; er drobe man weiß nidt wad; beftindig ſchüttle er
mit bem Kopf und fdleppe dad rechte Vein nad fid. Man
finne feine Sprache nidt verftehn, er fei weder Griede nod
Rimer, nod von irgend einer befannten Race. Bupiter be:
fieblt nem Hercules, ba er dod) durch die gange Welt vaga:
bonbdirt fei, nadgufebn, was fiir eine Menſchenart das wire,
257
WS Hercules, der dod fein Ungeheuer fürchtete, die beifpiel-
loſe Geftalt wie von einem Seemonftrum, dumpf und nieder⸗
gedriidt, erblidte, meinte er, es fei ihm eine dreigehnte Ar⸗
beit angefommen, Wie er aber genauer hinſah kam es ihm
doch vor, als ſei es ſo Etwas wie ein Menſch. Er fragte
alſo auf griechiſch und aus dem Homer:
Sprich! woher denn der Männer, aus welcher Stadt du?
Claudius war höchlich erfreut, daß es im Himmel Philologen
gäbe und hoffte, dort ſeine Geſchichtsbücher anbringen zu
können. Gr hatte nämlich 20 Bücher tyrrheniſcher und acht
Bücher carthagiſcher Geſchichte griechiſch geſchrieben. Er ant⸗
wortet ſogleich ebenfalls homeriſch und albern mit folgendem
Verſe:
Her von Ilion trug mich der Wind jetzt zu den Kikonen.
Das Fieber, welches allein von allen römiſchen Göttern den
Claudius in den Himmel begleitet hatte, ſtraft ihn Lügen und
nennt ihn einen Stockgallier. „Deshalb hat er auch, was er
als Gallier nicht laſſen konnte, ſich Roms bemächtigt.“ (In⸗
dem id) dieſen Gag des alten Römers hier in Rom nieder⸗
ſchreibe und gerade franzöſiſche Trompeten hire, wird mir
feine Richtigkeit recht deutlicd.) Claudius gibt fofort den Bes
febl, man folle dem Sieber den Hals abfdneiden. Er ge⸗
winnt indeB Hercules, der ihn in den Götterſal hineinbringt.
Aber der Gott Janus trigt darauf an, daß feiner von denen
vie „des Aderlands Früchte genieBen” fortan wergdttert wer:
ven folle, und Auguftus lieft ein fdriftlides Gutadten vor,
wonad Claudius binnen bret Tagen den Olymp rdumen fol,
Die Götter treten der Genteng bei, und Mercur fdleppt den
RKaifer in die Untertwelt.
Auf ver Via Sacra fommt ihnen gerade der Leidengug
deS Claudius entgegen, welder fo befdrieben wird: Und e3
Gregorovius, Corsica. 1. 17
war ein prddtiger Leidhengug von fo ungebeurem Aufwand,
daß man wol fab, ein Gott werde begraben. Da waren
Flötenſpieler, Hornblifer, Erzſchläger jeder Art in folder
Menge und ein folde3 Bufammenftrimen, dab e3 aud Clau-
dius hören fonnte. Wlle waren luftig und vergniigt, das
römiſche Volk fpazierte umber ald ware es ein freies Volk
geweſen. Agathon nur und einige Advocaten weinten und
recht von Herzen. Die Recht3gelehrten traten aus der Finſter⸗
niß bervor, bleich, bager, faum nod) bei Luft, gleid als ob
fie eben wieder auflebten. 213 Einer von diefen die Advocaten
fab, wie fie die Ripfe gufammenftedten und ihr Mißgeſchick
beflagten, fam er berbet und rief: Ich fagte e3 end), die
Saturnalien werden nidt ewig dauern. Als Claudius fein
Begraͤbniß erblidte, fiel e3 ihm ein, daß er todt fei. “Denn
mit grofem Wortfdwall fang man die anapaftifde Nänie:
Strimet iby Tranen,
RKlagen - ertdnet
Geheuchelter Trauer,
Lafet von Webruf
Sdhallen bas Forum.
Gr ift gefallen
Der Herrlidfte Aller,
Weldhem fein Mann je
An Tapferkeit gleid) war
Auf weitefter Welt.
Jaͤhlings im Lauf wol
Bebhendefte hat er
Weit iberholet,
Hat den Parterrebell
Zu befiegen vermodt,
Ru treffen den Perfer
Mit flücht'gem Geſchoß,
259
Bu fpannen den Bogen
Starfarmig vermodt. -
Hinrennendem Feind
Streifende Wund’ er fdlug,
Sliehenden Meders
Bemaleten Schild
Sider er traf.
Ueber des Meeres
Letztem Geſtad
Die Britannen er zwang,
Und dem Briganten
Mit bläulichem Schild
Beugt' er den Nacken
In Romulus Joch.
Ob der neuen Gewalt
Römer⸗Lictorenbeils
Ließ erzittern er ſelbſt
Okeanos Flut.
Weint, beweinet den Mann,
Welcher ſo raſch wie
Nimmer ein Andrer
Rechtsfälle entſchied,
Hört' er nur eine,
Hört er auch keine Partei.
Wer wird als Richter nun
Jahr lang ſitzen zu Stul?
Dir läßt den Stul ſchon
Welcher den ſchweigenden
Schatten das Recht gibt
Der cretiſche König,
Hundert Stadten ein Fürſt.
Mit wehvoller Hand
260
Schlagt an die Vruft nun,
Feiles Geſchlecht ihr,
Rechtes Verdreher.
Grünſchnablige Dichter
Rufet nun Weh!
All' ihr zumal
Die reichſten Gewinn
Erbechert ihr habt
Mit becherndem Schwung.
Wie Claudius endlich in die Unterwelt kommt, eilt ihm ein
Gangerdor entgegen und ruft: Gr iſt gefunden, Freude!
Freude! So riefen naͤmlich die Aegypter, wenn fie den Ochſen
Apis fanden. Es kamen alle, die er hatte würgen laſſen,
darunter auch Polybius und ſeine übrigen Freigelaſſenen.
Nun unterſucht Aeacus des Claudius Thaten und findet, daß
er dreißig Senatoren, dreihundert und fünfzehn Ritter, und
Bürger ſo viel als Sand am Meer habe morden laſſen. Er
fällt demnach den Spruch, Claudius ſolle in alle Ewigkeit aus
einem durdliderten Becher würfeln. Da erſcheint plötzlich
Caligula und reclamirt ihn als ſeinen Sclaven. Er bringt
Zeugen, daß er dem Claudius, ſeinem Onkel, im Leben oft:
mal3 Rutenbiebe, Obrfeigen und Peitſchenſchlage gegeben habe,
und ba died niemand bejtreiten fann, wird Claudius dem Cali:
gula gugefproden. Caligula ſchenkt ibn feinem Freigelaffenen
Menander, und diefem muß er nun in Redhtsfaden behülflich fein.
Dies ift die Verkürbiſſung de3 Claudius. Seneca, welder
nem Lebendigen niedertridtiq fdmeidelte, war aud niebdrig
genug den Todten mit Kot yu bewerfen. Gin edler Mann —
rächt fid) nidt an der Leiche des Feindes, aud) wenn er ein
laͤcherliches Scheuſal war. Die Art des Feigen ifts, fie gu
beſchimpfen. Die Apololofyntofe ift der treuefte Spiegel ber
in Gemeinbeit verfuntenen römiſchen Kaiſerwelt.
261
Siebentes Kapitel.
Seneca eroe.
Ako morire ogni misfatto amenda.
Alfieri.
Der Pasquino Seneca verwandelt fid) wieder in den edlen
Moraliften. Er fdreibt feine Whhandlung „von der Gnade
an ben Raifer Nero” — ein lächerlicher Widerfprud Nero
und die Gnade. Doc weif man, dab der junge Raifer, wie
alle feine Vorginger, die erften Jahre ohne Granfamfeit re:
gierte. Die Sdrift Seneca's ijt wieder herrlich, weife und
voll Adel der Gefinnungen.
Nero iberjdiittete feinen Lehrer mit Reidtitmern, und
ber Verfaffer des Tractat3 über die Armut beſaß ein fürſt⸗
liches Vermögen, Garten, Aeder, Palate, Billen vor dem
nomentanifden Tor, in Baji, im Wlbaner Gebirge, über
ſechs Millionen an Wert. Cr hatte Zins: und Wucher⸗
gefdhafte in Italien, wie in den Provingen, ſcharrte Geld zu
Geld und frod) hündiſch vor Agrippina und ihrem Gobne bids
das Blatt umfdlug.
Nad vier Yabren hatte fic Nero von allen Banden ent:
feffelt. Den Muttermord hatte der furchtſame Seneca nidt
verbinbdert. Der edle Tacitus weift auf ibn mit Tadel. End⸗
lid) wurbe der Pbhilofoph bem Tyrannen unbequem. Schon
hatte diefer feinen Prafecten Burrhus umgebradht, und Seneca
fic) beeilt bem Witenden alle feine Reichtümer zur Verfiigung
gu ftellen; er lebte nun gang zurückgezogen. Aber feine Feinde
befduldigten ihn der Mitwiſſenſchaft um die Verſchwörung
des Calpurnius Pifo, und aud fein Neffe der befannte Did:
ter Lucanus wurde darein und nidt grundlos verwidelt. Es
ift unglaublid wie fid Lucan hierbei benahm. Gr geftand
Heinmitig, ließ fic) 3u den entebrendften Bitten berab, und
262
indent er fid) binter bad erlaudte Beiſpiel des neronifden
Muttermords flüchtete gab er feine eigene unfduldige Mutter
alg Zeilnehmerin ber Verſchwörung an. Da dieſe Scheuß—⸗
lichfeit ibn nicht rettete und er gum freiwilligen Tode ver:
dbammt war, ging er nad Haufe, fdrich an feinen Bater
Annaeus Mela Seneca Ciniges Aber gewiffe Verbeſſerungen
an feinem Gedicht, ſpeiſte köſtlich und fdnitt fid) mit der
größeſten Seelenrube die Adern auf.
Ganz edel, groß und würdevoll fteht der ſchwache Seneca
in feinem Tode da, faft in focratifder Heiterfeit und catoni:
ſcher Rube. Cr wählte die Verblutung als Todesart und wil:
ligte aud) darein, dap fein heroiſches Weib Paulina in gleider
Art ftarb, Bier Millien von Rom befanden fic) beibe, auf
ibrem Landgut unter Freunden und Dienern. Mero fcidte
in Unrube ab und gu feinen Tribun nad der Villa, gu feber,
wie es dort ftiinde. Gilend bradte man ibm die Machridt,
daß aud Paulina verblute. Auf der Stelle gab er Befebl,
ihren Tod zu hindern. Die Sclaven wverbinden der Frau
die Wdern, ftillen den Blutitrom und Paulina wird gerettet,
wider ihren Willen. Sie lebte nod) einige Sabre. Dem
greifen Geneca unterdeß entftrimte bad Blut nur fparlid
und quälend langjam. Gr bat Statins Annaeus um Gift,
nabm es, dod) obne Grfolg; dann ließ er fid) in ein warmed
Bad bringen. Die umftehenden Sclaven befprengte er mit
dem Waffer und fagte dabei: „Zeus dem Befreier fpende ih
nied.” Da er auc) hier nicht fterben konnte, ließ er fic) aud
bem warmen Bade in ein heißes Dampfbad tragen und fo
erftidte er in ber Badewanne. Geneca war adt und fed3zig
sabre alt geworden. |
Wer mag nun weiter mit diefem Weifen rechten, ber dod
ein Menſch feiner niedrigen Beit war, und in deſſen Natur fid
alent, Liebe zur Wahrheit und zur Weisheit mit den ge:
meinften Schwächen vereinigte. Seine Schriften haben auf
263
bas ganze Mittelalter gropen Cinflup ausgeitht und manden
Geijt zum Edlen geftimmt und von Leidenfdaften gereinigt.
Sdeiden wir alfo verſöhnt, Seneca.
cepikolokyntosis an Seneca.
Nun, cararifher Freund, du ganz unmarmornen Herzen,
Lange die Zucca hervor, corsiſches RKirbipgefap,
Die wir gefillt mit dem golonen Funtelweine von Pino ;
Dap wir fpenden dem Geiſt Seneca’s ſühnenden Trank.
Seneca, langausbulbdender Weifer, der du zuvor einſt
Auf de3 corsifchen Meers waldig umwildertem Fels
Snfelnder Mann mir Ynfelndem mühſaldauernd vorangingft,
Geneca, der du mid) oft fern in fifonifder Stadt
Conisberga benannt — es erglainjt dort immer Athenes
Friedliches Ehrengeſchenk ftoifden Denfern um's Haupt,
Dod ve3 Apollo duftiger Zweig, er vertrauert im Reife —
Der in barbarifdher Stadt oft mid römiſch gelabt;
Hor’ mid hier auf witterndem Turme, der Wolfen Bebaufung,
Sei mir gaftlid) gefinnt, nimmer verfag’ e3 bem Freund;
Weil's dock Lebendem frommt, wenn drunten in Aides Reide
Schützend ein freundlicder Geift dunkle Gewalten ihm hemmt.
Gie nun erwede mir wol firfpredend deine Genoffen,
Gsttlihe Helden zumal, dap fie dem Wanderer hold
Nahen in Latium3 Flur, wenn unter der tronenden Roma
Heiligen Schatten er weilt, finnend verfuntener Zeit.
Manches weiht’ ich Geiftern von Rom, und ic bab’ es eropfert,
Dap mir ambrofijd das Haupt tuscifde Rebe umlenzt,
Und ind Herz Entzückung mir ftrdmet die ſüdliche Muſe,
Bildend dem ftrebenden Mut voller die ſchaffende Kraft.
Seid voreilende Schatten, mir Laren fiber dem Meere
Dort in des marmornen Roms gotterumbegender Welt!
Wie ift die Bucca fpendenentleert! doch lieblich erfüllt fid
Bon vem bachifden Hauch felig befdwingt mein Gemüt.
264
Hier vom frifdeften Triebe vie Epheuranke mir bred’ id,
Wind' um die Stirn fie mir lind, wandre nun froͤhlich hinab,
Weil ih in ahnender Seele vernahbm, rab génnend die Pargen
prurpurne Sabre mir einft fpinnen im ewigen Rom.
—
Achtes Kapitel.
Träumereien einer Braut.
Unb bald ſteht bie Vermählung bevor, wo Schönes bu ſelber
Anzieh'n mußt, und reichen ben Jünglingen, wenn man bid heimführt;
Denn aus ſolchem ja gebt cin Gerücht aus unter bie Menſchen,
Das uns ehrt; aud ben Vater erfreut's und vie liebende Mutter.
; Obogffee.
Medes Tal oder jede Piewe des Cap Corso hat feine Ma⸗
rina, feinen Gafenort, und taum gibt es etwas Ginfameres als
dieſe Oertchen auf dem ftillen Ufer. Es war ſchwüler Mittag,
als id an den Strand von Luri tam, die Beit wo Pan gu
ſchlafen pflegt. Die Leute im Hauje, wo id) die Barke ers
warten wollte, waren alle wie im Schlaf. Gin lieblide3 Mäd⸗
den aber ſaß am offenen Fenfter und nähte im Traum an
. einem Fazzoletto mit gebeimnipvollem Lächeln und allerlei
ftillen, verbliimten Gedanfen. Sie ftidte etwa3 in bad Tud;
id) merfte, es war bas ein Gedicht, welded ihr ſeliges Herz
auf ibre nabe Hochzeit madte. Durchs Fenfter lachte hinter
ihrem Rücken das blaue Meer, welches um die Gefcidte
wupte, weil das Schiffermädchen ibm alles gejtanden batte.
Sie trug ein meergriines Reid, eine gebliimte Wefte, und
das Mandile jzierlidh ums Haar gefdlungen; die Mandile
war ſchneeweiß mit feimen roten CStreifen, je dreien itbers
einanbder. Wud) mir geftand Maria Benvenuta ibe öffentliches
Geheimniß und wufte allerlei Geplauder von Wind und Wellen
und von ber ſchönen Muſica beim Hodseitsreigen dritben im
265
Tal von Luri. Nad einigen Monaten wird das Hochzeitsfeſt
fein, und fein ſchöneres wird man feiern auf ganz Corsica.
An vent Ptorgen, da Benvenuta ibr miittterlides Haus
verlaſſen foll, wird am Gingang des Strandorts eine reizende
Trovata ftehn, ein griiner Triumfbogen mit bunten Bandern.
Die Freunde, die Nadbarn, die Sippen werden auf der Piaz⸗
zetta geſchart fein gum Gorteo, jum Brautgeleit. Da tritt
ein Yingling vor bie geſchmückte Braut und Hagt, daß fie
den Ort verlaffen wolle, wo fie als Kind in guter Hut auf
gewadjen fei, und wo es ihr nie an Corallen, an Blumen
und Freunden gefeblt habe. Weil fie aber nun fortgiehen wolle,
fo wiinfde er ihr im Ramen ihrer Freunde ein herzlich Glück
und gebe ihr bas Lebewol. Maria Benvenuta bridt in
aranen aus, und fie reidt bem Jünglinge ein Geſchenk zum
Andenten fiir die Commune. Cin gefdmiidtes Pferddhen wird
por bas Haus geführt, darauf fept fic) die Braut und wol
bewaffnete Jünglinge reiten neben ihr, mit Blumen und Van:
bern befrangt, und der Corteo zieht hinweg durd die Ehren⸗
pforte. Gin Yingling aber tragt den Freno, das Symbol
der Frudtbarkeit, einen Spinnroden welder oben mit vielen
Spindeln umgeben und mit bunten Bändern gefdmidt ift.
Wis Banner weht darauf ein Tud. Diefen Freno in der
Gand geht der Freniere’ ftolg und freudiq bem Bug voran.
Das Geltit nähert fic) Campo, wo der Bräutigam wohnt,
in deffen Haus nun die Braut geführt werden foll. Auch am
Gingang dieſes Orts fteht eine herrlide Trovata. Da fommt
nun ein Yingling bervor, hod) in der Hand einen bebdn:-
berten Oelzweig bhaltend; mit fdinen Sprüchen übergibt er
ibn der Braut. Vom Corteo aber fprengen in rafender Haſt
swei Siinglinge gegen das Bräutigamshaus, den Vanto zu
erreiten. und 3u erjagen; bas heißt bie Chre ber Erfte gu fein,
welder der Braut die Schlüſſel von bed Bräutigams Haufe
bringt. Das Ginnbild ber Schlüſſel ift eine Blume. Der
266
{djnellfte Reiter hat fie gewonnen, und jubelnd halt er fie in
der Hand und fprengt zur Braut zuriid, ihr bas Symbol gu
tibergeben. Der Zug zieht nun nadh dem Haufe. Auf allen
PValconen ftehn Frauen und Madden und ftreuen auf die
Glidlide Blumen, Reis und Waizenkörner und werfen Früchte
der Jahreszeit unter die Biebenden mit Freudenrufen und
Segenswünſchen. Das nennt man Le Grazie. Rimmer aber
hört das Schießen mit den Flinten auf, das Sdallen der
Mandolinen und das Spiel der Cornamusa oder Sadpfeife.
Das ift ein Jubiliren in Campo, ein Rnallen, Jauchzen,
Klimpern und Geigen, und wie toll fdwirrt’s in den Liiften
von Frühlingsſchwalben, Lerdenliedern, fliegenden Blumen,
Paizentdrnern, Sonnenftaubdhen, und das alles um diefe kleine
Maria VBenvenuta, die hier am Fenfter diefe ganze Geſchichte
in dad Fazzoletto ſtickt.
Nun fommt auc der alte Sdwiegervater aus dem Hauſe
und fpridt alfo ernft 3u bem fremben Corteo: Wer feid thr,
Manner in Waffen? Freunde oder Feinde? feid ibr Begleiter
einer donna gentile, ober habt ihr fie geraubt, obwol ibr
mir dem Ausfehn nad edle und tapfre Männer gu fein fdeint.
Wir find, fo ſpricht ber Brautführer, Gaftfreunde und
geleiten dieſe herrliche Jungfrau, das Pfand unferer neuen
Sreundfdaft. Wir pfliidten die ſchönſte Blume am Strand
yon Luri, um fie Campo zum Gefdent zu bringen.
Seid denn willfommen, Gaftfreunde, und tretet in mein
Haus und labt eud) am Feft. Wlfo ruft wieder der Alte,
bebt die Jungfrau vom Pferd, umarmt fie und fahrt fie tn
bas Haus. Dort ſchließt fie der glückliche Bräutigam in jeine
Arme, und das gefdhieht mit eitel Yubiliren auf der feds:
zehnſaitigen Cetera und beim Schall ber Cornamusa.
Dann gebht’s in die Kirche, wo die Rergen funkeln, und
Mirten reidlich geftreut find. Und wenn das Baar zufammen:
gegeben ift und wieder in das Hochzeitshaus tritt, fo ſtehn
267
da im Feſtzimmer zwei Stile. Wuf die zwei Wunderſtüle
ſetzen fid) bie jungen Glidliden, und nun fommt eine fdalf:
haft ladelnde Frau, die ein bebändertes Wideltind tragt.
Das legt fie der Braut in den Arm. Die Meine Maria Ben:
venuta errdtet feinesweg3, fondern nimmt bas Rind und bergt
e3 nad Herjensluft. Dann fet fie ihm eine fleine phrygifde
Mütze auf, die ift mit bunten Bandern ſchön ausgeflittert.
Wie died gefchehen ift, umarmen die Sippen dad Paar, und
eitt jeder fpridt den guten alten Sprud:
Dio vi dia buona fortuna,
Tre di maschi e femmin’ una,
das heißt: Gott gebe euch gutes Glück, drei Söhne und eine
Tochter. Mun teilt die Braut kleine Geſchenke an ihres Man⸗
nes Verwandte aus, der nächſte Verwandte erhält eine kleine
Münze. Darauf folgt der Schmaus und der Ballo, da wird
man tanzen die Cerca, die Marsiliana und die Tarantella.
Ob ſie weiter die ältern Gebräuche thun werden, wie ſie
vie Chronik erzablt, dad weiß ich nicht. Denn ehedem war
es Sitte, daß ein junger Verwandter der Braut in die Kam⸗
mer voranging. Der ſprang einigemale über das Brautbette
und wälzte ſich mehre Male darüber, dann ließ er die Braut
ſich auf das Lager ſetzen und löſte ihr die Bänder an den
Schuhen, mit demſelben Anſtande wie Anchiſes der auf dem
Lager ſitzenden Venus die Sandalen löſt, wie man's auf alten
Bildern ſehen kann. Die Braut bewegte nun zierlich dad Füß⸗
den und ließ die Schuhe zur Erde gleiten, bem bandauf—
löſenden Jüngling aber gab ſie ein Geldgeſchenk. Kurz und
gut, es wird am Hochzeitstag der Benvenuta luſtig zugehen,
und noch nach vielen Jahren wird man davon im Tal von
Campo reden.
Das alles beſprachen und beplauderten wir ernſtlich in
vem Schifferſtübchen yu Luri, und ich weiß aud das Schlummer⸗
268
lied, mit dem Maria Benvenuta ihren Heinen Spripling in
ibren Armen einwiegen wird.
Mauna.
Cortiſches Wiegenlied von jenfeits ber Berge.
RNinnind, mein herziges Holdden,
Ninnind, mein eingiges Gut,
Bift mein kleines tanzendes Schiffden,
Das da tanzt auf blauer Slut;
Das vor Wellen ſich nicht firdtet,
Nidt vor Winden auf der See.
Schlaf' cin Weilden, ſchlaf' mein Holdden,
Mach’ dir ninni nani.
Schifflein ſchwer von Perlen, mein Holoden,
Seide führſt bu, Tüchlein an Bord,
Und die Gegel find von Brocate,
Kommen aus indijdhem Port;
Und die Ruder find von Golde,
Koftbar ijt die Arbeit daran.
Schlaf' ein Weilden, ſchlaf' mein Holdden,
Mad’ dir ninni nani.
Holdden, als du wareſt geboren,
On bie Taufe trug man bid dann;
Und die Gonne war die Frau Bathe,
‘Und der Mond Gevatters8mann;
Und die Sternlein in dem Himmel
Wiegten fic) in goldener Wieg'.
Schlaf' ein Weildhen, ſchlaf' mein Holdden,
Mad’ dir ninni nani.
Heiter war der Himmel, mein Holdden,
Blau im Glanze hat er geladt,
269
Ya aud) felbft die fieben Planeten
Haben dic Spenden gebradt,
Whe Girten auf den Bergen
Hielten durd) act Tage ein Feft.
Sdlaf ein Weilden, ſchlaf' mein Goldden,
Mad’ dir ninni nani.
Nichts als Citern hirte man, Holdden,
Nichts als Tange fah man zumal
In dem Tale von Cuscioni,
Weit und brett alliberall.
Poccanera und Falconi
Pellten froh nad ibrer Art.
Sdlaf ein Weilden, ſchlaf' mein Holdden,
Mak’ dir ninni nani.
Bift du groper worden, mein Holoder,
Wirft du wandeln fiber die Au,
Alle Kräuter werden dann blühen,
Rares Oel wird fein der Tau.
seiner Balſam wird dann werden
Wes Waffer in ver See.
Schlaf' ein Weilden, ſchlaf' mein Holdden,
Mad’ dir ninni nani,
Alle Berge werden, mein Holdden,
Sid mit Schäfchen dbeden fdneeweif ,
Und dann laufen dir nad die Hirjdlein
Und das GemSlein und die Geif.
Dod ver Habidt und die Füchſe
Laufen fort au3 diefem Tal,
Schlaf' ein Weilchen, ſchlaf' mein Holoden,
Mach’ dir ninni nani,
270
Tu mein Holdden bift meine Primel,
Du mein Liebdhen mein Taufendfdin,
Das man ſieht im Tale Bavella,
Ym Tale Cuscioni ftebn.
Bift vom Kee mein würzig Blattdhen,
Das vie Bodden weiden gebn.
Schlaf' ein Weilden, ſchlaf' mein Holdden,
Mad’ dir ninni nani.
Collte nun das Rind von der Pbhantafie diefes Liedes
zu febr aufgeregt worden fein, fo wird ibm feine Dtutter
nod dieſes fleine Nanna fingen, worauf es fofort ein-
ſchlafen wird.
Ninni ninni, ninni nanna,
Ninni ninni, ninni nolu,
Allegrezza di la mamma,
Addorméntati, o figliuolu.
Neuntes Kapitel.
Eine geſpenſtige Waſſerfahrt.
Mittlerweile wurde es am Ufer laut. Die Schiffer waren
angekommen, und ſo nahm ich Abſchied von der zierlichen
Benvenuta, wünſchte ihr allerlei gute Dinge und ſtieg in die
Barke, welche nach Baſtia ſegelte. Wir fuhren immer längs
der Küſte und unmittelbar am Ufer. Das Schiff landete in
Porticcioli, einem kleinen Hafen mit einer Dogana, um ſeine
vier Paſſagiere einſchreiben zu laſſen. Auch hier ankerten einige
Segelboote. Die reifen Feigen auf den Bäaͤumen und die
Trauben in ben Garten wurden und begebrlid. Man bradte
ung einen balben Weinberg der köſtlichſten Muscatellertrauben
271
und eigen von dem fipeften Wolgeſchmack fir ein paar
Solbi.
Abends weiter fabrend hatte id redte Freude an dem
monbdbeglingten Meer und an den feltfamen Uferformen.
Viele Titrme fah id auf den Felfen, hie und da eine Ruine,
Kirde oder Rofter. Wir fegelten an der alten Rirde der
beiligen Catharina von Sisco vorbei, welche hod und praidtig
am Ufer ftehbt. Das Wetter wollte fic verwüſten, wie man
in der italienifdhen Gprade fagt, und es drobte ein Sturm.
Der alte Steuermann nahm im Angefidt der heiligen Catha-
rina fein Berretto ab und betete laut: beilige Mutter Gottes
Maria, wir fabren nad Baſtia, gib dab wir gliidlid in den
Hafen fommen. Die Schiffer alle nabmen die Berretti ab
und jdlugen andidtig ein Kreuz. Der Mondfdein auf dem
Meer, welder aus ſchwarzen Weiterwolfen hervorbrad, die
- Furdht vor einem Sturm, das grauenvoll beleudtete Ufer,
enblid) die betlige Catharina bradten über die ganze Barke
pliglich cine jener unividerftebliden Stimmungen, die fid) in
Gefpenftergefdidten Luft maden. G8 begannen die Sdiffer
allerlei Herereien gu ergiblen. Nun wollte einer der Reiſen⸗
ben in des Fremden Augen feine Landsleute nidt gar alle
fir abergläubiſch gelten laſſen und zuckte als Freigeift be:
flandig die Adfeln, ärgerlich bab ich ſolche Dinge hörte; ein
anbderer aber belraftigte feine und der Schiffer Meinung be:
ftandig mit bem Schluß: ic) babe die Heren nidt mit Augen
gefebn, aber Teufelskünſte müſſen fein. Ich felber behauptete,
daß ic) an bie Stregen und Geren guverfidtlid glaube und
daß id) aud die. Ehre gebabt hatte, einige von der beſten
Art fennen zu lernen. Der Anhänger der Teufelskünſte, ein
Pewohner Luri’s, hatte mid übrigens einen tiefen Blid in
jeine geheimnißvollen Studien thun laſſen, da er bet Gelegen:
beit eines GefpridS über London febr naiv die Frage hin:
warf, ob London frangdfifd fet. C8 fdien mir deShalb vor:
bo
—*
w
trefflich geeiqnet, dad Heuer in diefer Herenkiide lebbaft ju
unterbalten.
Die Corsen nennen die Here strega. Sie faugt befon-
per3 als Bampyr den Kindern das Blut aus. Gin Schiffer
befdrieb ihr Ausſehn, da er fie in feines Vater3 Haufe einmal
ertappt batte, pechſchwarz nämlich ift fie auf ber Bruſt und
fann fid) au3 einer Rage in eine Jungfrau, aus einer Jung:
frau in eine Rage verwandeln. Diefe Stregen maden namentlid
den Kindern Weh, thun ihnen das böſe Gefidt an und allerlei
fattura. Sie finnen aud Waffen verberen, daß fie verfagen.
Jn diefem Fall mus man am Flintenbiigel ein Kreug machen,
wie überhaupt das Kreuz die befte Wehr gegen alle Zauberet
ift. Gut ift es tmmer, Reliquien und Amulette zu tragen.
Ginige fichern gegen da3 Blei und den Bif der giftigen Spinne
malmignatto. Unter diefen Amuletten hatte man ehemals in
Corsica aud) einen Reifeftein, wie er aud in Rordlandsjagen -
baufig vorfommt. Wan fand ibn allein am Turm des Seneca,
er war vierfantig und eifenbaltig. Wer fid einen folden Stein
fiber bad Knie band, that eine leichte und glückliche Reife.
Viele Gebraude der Heiden haben ſich in Corsica ver:
Toren, manche fid) nod) erhalten und befonder3 im Hirtenland
Niolo. Da ift hauptſächlich vie Weisfaqung aus RKnoden
merhviirdig. Der Wabhrfager nimmt das Sdulterblatt (sca-
pula) einer Geif oder eines Schafe3, macht es fpiegelblant
und fieft daraus die Gefdide der betreffenden Perſon. Es
mup aber dad linke Schulterblatt fein, weil nad dem alten
Sprude la destra spalla sfalla das redhte tritgerifd ift.
Yon vielen berihmten Corsen wirh ergiblt, daß Wabrfager
ibnen ihr Los prophejeit haben. Man fagt, daß als Sam⸗
piero am Wbend vor feinem Tobe mit feinen Begleitern bei
Tiſche fab, eine Cule auf dem Haufe die ganze Nacht ge⸗
ſchrieen habe; da babe aud ein Wabrfager die Scapula ge
lefen und gum Entſetzen aller Gampiero’s Tod darin gefunden.
273
Aud Rapoleons Sdidfal wurde aus einer spalla propbe-
gett. Es war ein alter Girte in Ghidazzo, berühmt im Lefen
ber Sdulterblatter; ver befah eines Tages, ba RNapoleen nod
klein war, bie Gcapula und fand darauf deutlid abgebildet
einen Baum, der mit vielen Bweigen bod in den Hommel
griff, aber aur fleine und wenige Wurgein hatte. Daraus
erkannte der Hirt, daß ein Gorse Herrſcher der Welt werden
würde, aber mur filr kurze Rett. . Diefe Bropheseiung ift in
Corsica ſehr befawnt; fie bat eine merkwuͤrdige Verwandtſchaft
mit bem Traum der Mandane von jenem Baume, welder den
Gyrus bedeutete.
Piele aberglaubifdhe Borftellungen von febr didterifcder
Phantafie beziehn fid auf den Tod, den wahren Genius der
corsiſchen Vollapoeſie, weil er auf dieſem Eiland ber Blutrache
fo recht eigentlich fein Haus hat. Die Inſel ves Todes möchte
id Corsica: nennen, wie andere Inſeln die des Apollo, der
Venus, bes Jupiter waren. — Wenn Jemand fterben foll, fo
tundigt oft ein Bleicher Lichtſchein ſeinen Tod an. Die Gule
ſchreit bie ganze Radht, der Hund heult, und mandmal [apt
ſich eine Heine Trommel hören, welde cin Geijt ſchlaͤgt. Soll
Jemand fterben, fo fommen oft bie Todten Nachts an fein Haus
und kündigen e3 an. Gie find nämlich gang fo gefleidet wie
die Tontenbritderjdaft, in langen weifen Rapugmanteln, mit den
fpigen Rappen, welde die gefpenftigen Augenldder haber.
Dann thun fie alle Geberden der Todtenbritder, weldhe fid um
vie Babre ftellen, fie aufbeben, fie tragen, ihr vorausgehen.
Und fo treiben die Geifter ben Spuf bid der Hahn kraht.
Ruft ver Hahn, fo ſchlüpfen fie fort, bie einen auf den Kirch⸗
bof, die andern in die Kirche in ihre Graber.
Die Todten lieben die Gemeinfdhaft. Wenn ou Nachts
auf den Kirchhof gebft, fo tannft du fie bervorfommen feben.
Dann fdlage fdnell ein Kreuz über dem Flintenbigel, daß
ber Geiſterſchuß 103 geht. Denn ein voller Schuß hat Ge-
Gregorovins, Corsica, I. 18
274
walt über bie Gejpenfter, und ſchießeſt du unter fie, fo zer⸗
ſtreuen fie ſich, und erft nad zehn Sabren können fie . fig
nad einem ſolchen Schuß wieder vereinigen. . .
. Bisweilen fommen die Todten an dads. Bett des Ueber: .
bliebenen und. ftellen fid) vor ibn bin und ſagen zu ibm:
Nun Hage nicht mehr und höre auf mit deinem Weinen ,. weil
id) nod) die Gewißheit babe, einft.felig zu fein.
In ſchweigender Nacht, wenn du auf deinem Bette figeft
und das traurige Herz dich nidt ſchlafen läͤßt, rufen oft die
Todten deinen Ramen: o Mari! — — o Jose! — — Bei
Reibe, antworte nidt, rufen fie aud) nod fo flaglid), und
will dir gleich dad Herz zerbreden. Antworte nidt! wenn du
antwortet , ig mußt bu fterben. —
„Andate! Andate! der Sturm. fowmt! febt die Tromba
dort, wie fie Elba vorbei treibt!”. Und mächtig jog das ſchwarze
Meergefpenft über See, ein graufig {hiner Anblid;. der. Mond
war. etlofden, und Ufer und Meer lagen in falbem: Wetter:
fdein. Gott Lob! da ſind wir am Turm Baftia. Die beilige
Mutter Gotted hatte uns dod. gebolfen, und. wie. wir aus der
Barke geftiegen waren, begann bas Wetter drein zu Hotere.
Wir aber waren im Port.
Drittes Bud.
— — —
Erſtes Kapitel.
Wescovato und die coxsiſchen Geſchichtſchreiber.
Einige Meilen ſüdwärts von Baſtia liegt auf den Höhen
der Oſtküſte der in der corsiſchen Geſchichte vielberühmte Ort
Vescovato. Wenn man an der Straße zum Turm Buttafuoco
gelangt ijt, fo wandert man aufwärts, dutch die herrlichſte
Raftanienwaldung, welde alle Hiigel rings bededt. Das ganze
ſchöne Landden heißt Casinca und die Gegend um Bescovato
ganz im befondern Caftagniccia ober dad Raftanienland.
Ich war gefpannt darauf, diefe corsiſche Stadt zu ſehen,
in welder Matteo Buttafuoco einft Rousseau ein Aſil an⸗
geboten hatte. Ich vermutete einen Ort gu finden, wie id
deren in den Bergen genug gefunden hatte; daher war id
überraſcht, als id) Vescovato vor mir jah, unter den praͤch⸗
tigften Raftanienbainen, umkränzt von Orangen, Weinreben
und Fruchtbaͤumen jeder Art, von einem Bergwaffer durch⸗
raufdt, originell corsiſch gebaut, dod) nicht obne einige zier⸗
lide Arditectur. Da geftand id mir, dah unter allen Ufilen,
welche ein mifanthropijdjer Philoſoph wablen midte, Vescovato
nidt pas fdledtefte fei. Es ift felber eine Bergfiedelet in der
ſchattigſten Waldeinſamkeit, mit. köſtlichen Spagiergangen, auf
denen man ungeftirt traumen fann, bald im Geftein am wilden
oe —
276
Bergbad, bald unter einem bliitenvollen Crifabufd an einem
epheugriinen Kloſter, bald auf einem Berghange, von dem
dad Auge in dte Ehene des Golo und in das Meer hinab-
fiebt.
Gin Biſchof baute den Ort, und die Biſchöfe ded alten
Mariana, welches unten in der Ehene lag, wobnten spater
bier. 7
Vescovato ijt eine Dafe voll von hiftorifden Crinnerungen
und Namen; vor allem zieren es drei corsiſche Geſchichtſchreiber,
alle aud bem ſechszehnten Jahrhundert, Ceccaldi, Mtonteggiant
und Filippini. Ihre Haufer find wolerbalten wie ihr Ans
denken. Der Curato des Orts führte mid in Filippini’s Haus,
welches ein armfeliges Bauernhaus ift. Yo fonnte mid eines
Lächelns nicht erwebren, als man mir einen aus der Wand
gebrodenen Stein zeigte, auf welchen der berühmteſte Geſchicht⸗
ſchreiber Corsica's in feiner Herzensfreude bie Inſchrift ge:
graben hatte: Has Aedes ad suum et amicorum usum
in commodiorem formam redegit anno MDLXXV eal.
Decemb. A. Petrus Philippinus Archid. Marian. fair:
wabr die Anſprüche diefer wadern Manner waren febr be:
ſcheiden. Gin anderer Stein zeigt das Wappen Filippini’s,
fein Haus namlid und ein Pferd, bas an einen Baum ge:
bunden ift. Der Archidiaconus hatte die Gewobhnbeit, feine
Gefchidte in feinem Weinberge zu ſchreiben, den man nod in
BVescovato zeigt. Wenn er von Mariana heraufgeritten tam,
band er fein Pferd unter eine Pinie und fegte fid) zum Nach⸗
denken oder gum Schreiben nieder, geſchützt durd bas bobe
Gemiuer feines Gartens: denn er war feines Lebend vor den
Kugeln feiner Feinde nie fider, und fo ſchrieb er die Ge:
ſchichte der Corsen unter recht dramatifden und erregenden
Gindrilden.
Silippini ift bas Hauptwerk der corsifden Geſchichte, ein
ganz nationales Werk, auf welded die Inſel ſtolz fein tann.
277
Gs ijt aus dem Boden des Volks herausgewadfen. Lieder,
Chronifen, endlid) bewußte Geſchichtſchreibung haben es ju-
fammengefegt. Der Crfte, welder daran arbeitete, war Gios
vanni della Grossa, Leutnant de tapfern Bincentello d'Iſtria.
Gr fammelte die alten Gagen und verfubr wie Paul Diaconus
in feiner Hiſtorie. Go bradte er die corsiſche Geſchichte bis
auf das Jahr 1464. Sein Schüler Monteggiani fegte fie
fort bi8 1525, ziemlich ditrftig; dann führte fie Geccaldi
bis auf dad Jahr 1559 und Filippini bis 1594. Bon den
13 Büchern des Ganjen hat diefer nur die legten vier ges
ſchrieben, aber das gejammte Wert geordnet, fo dap es nun
feinen Namen -tragt. Es erfdien sum erften Pal in Tournon
im Jahre 1594 italienifdh unter diefem Titel:
Die Geſchichte von Corsica, in welder alle Dinge erzählt
werben, die fid) zugetragen haben feit dem fie anfing bewobnt
gu werden, bid auf das Jahr 1594. Mit einer allgemeinen
Befdhreibung der ganjen Inſel, eingeteilt in 13 Bücher, von
denen. die erften neun angefangen worben von Giovanni della
Grossa, weldhe Pier Antonio Mtonteggiani fortgefegt hat, und
bernad Dtarc’ Antonio Ceccaldi, und gefammelt wurden fie
und ertweitert von dem bodgeebrten Antonpietro Filippint
Ardidiaconus in Mariana, und die legten vier von ihm
felber gemadt. Durdgefehen mit Fleip und an's Lidt ge⸗
geben von dbemfelben Urdhidiaconus. Yu Tournon. Yn der
Druderei des Claudio Michael, Druder der Univerfitat. 1594.
Obwol Filippini Gegner Sampiero's war und aus Men⸗
fdenfurdht ober Unwahrheit manches in feinem Bud unter:
drückte, anbdere3 verdrebte, fo bat er dod den Genuefen fo
viel bittere Wahrheiten gefagt, daß die Republik bem Geſchichts⸗
wert eifrig nadftellte. Es war febr felten geworden; da er⸗
warb fic) Pozzo di Borgo das grofe Verdienft um fein Vaters
land, den Filippini new herausgeben 3u laffen. Diefe Aus⸗
gabe wurde von dem gelebrten Cor8en Gregori beforgt und
278
mit einer treffliden Cinleitung vetfehen. Sie erfdien in
5 Banden. zu Pifa im Jahr 1827. Die Corsen find defjen
wol würdig, dab. man ibre. hiſtoriſchen Dentmaler pflege. —
Ihre neueren Geſchichtſchreiber tadeln Filippini, weil er alle
Sagen und Fabeln des Grossa in fein Werk. mit aufgenommen
hat.“ Ich will ihn deshalb loben, denn man mug. feine. Ge:
ſchichte nidt-nad der ftrengen hiſtoriſchen Wiſſenſchaft meffen,
und. jo wie fie ift hat fie gerade den hohen Wert eines volfa-
tümlichen Geprages. Wud) darin ftimme id den Tadlern nidt
bei, daf fie dem Mann das Talent verfleinern. Gr. ift breit,
aber reid) und bat eine gejunde au3 moralifden Lebensbetrad:
tungen gefdipfte Philoſophie. Man muf ibn in Ehren halten,
ec bat feinem Volk genug gethan, war er gleid) ein unfreier
UAnhanger Genua’s. Obne Filippini ware heute ein gutes
Teil corsijdher Geſchichte gänzlich in..Duntel begraben. Gr
hat fein Werk dem Alfonso d'Ornano, Gampiero's Sobne,
gewidmet in ber Freude, die er darüber empfand, daß der
junge Held ſich mit dem genueſiſchen Senat verſöhnte und
ſelbſt Genua beſuchte.
Als ich die Geſchichte zu ſchreiben unternahm, ſo ſagt er,
vertraute id) mehr auf die Gaben, welche mir die Natur vers
lieben hat, als auf die Kunſt, welde von dem verlangt wird,
‘der eine ähnliche Gace unternimmt: Bei mir felbjt dadte
‘id entſchuldigt gu fein bei denjenigen, die mid leſen merden,
wenn fie jehen wie groß der Dtangel aw allen Mitteln tn
dieſer unſerer Inſel ift (in welder e3 Gott einmal gefallen
bat, daß id lebe), fo daß man nicht an Wiffenfdpaften,
welder Art fie immer feien, fic) machen, gefdweige denn in
einem reinen und ganz matfellojen Stile fdreiben fann. —
Wud an andern Stellen beflagt fid) Filippini bitter über die
gänzliche Untwifjenbeit der Corgen in den Wiſſenſchaften. Selbſt
die Priejter nimmt er nidt davon aus, unter denen es faum
zwölf gabe, welche die Grammatit gelernt batten; unter den
279
Franciscanern; welde 25 Klöſter hatten, gabe ed: taum adt
Miteraten, und-fo wadfe das ganze Volt in Unwiſſenheit auf.
Er verſchweigt nie die Febler feiner Landsleute. „Neben
der Unwiſſenheit fann man nidt Worte finden, um auszu⸗
ſprechen, wie groß die Faulbett der Ynfulaner fet, too es gilt
das Erdreich yu bebauen. Selbſt die ſchönſte Chene der Welt,
pte vont Wletia und Mariana, ift verddet, und fie jagen midt
etnmal die Bagel. Sondern wenn fie zufallig Herren eines
eingigen Carling -find, ſo ditnit es ibnen, daß ibnen nun nie
mehr etwas mangeln könne; und da verfinfen fie in Nichts⸗
thun und Trägheit.“ — Dies bezeichnet treffend aud) nod die
heutige Natur der Corsen. — Warm pfropft man den uns
zähligen wilden Oleafter nicht? fragt Filippini;. warum nicht
die Rajtanien? Wher fie thun nichts, deshalb find fie alle
arm. Armut führt yu Laftern > und täglich gibt's Räubekeien.
Man ſchwört aud Meineide. Ihre Feindfdaften und. ibe Haß,;
ihre wenige Liebe und ihre wenige Treue find. faft ewig; daber
witd jenes Sprichwort wahr, welches man yu fagen pflegt:
ver Corse verzejht nie. Und daher entſteht all’ das Ber:
läumden und all das Hinterbringen, wie man’s immer fiebt.
Die Valter Cordica’s find (wie Braccellio gefdrieben. bat) mehr
al alle andern neuerungsſüchtig und aufftindifd, viele find
gewifjem Wherglauben ergeben, welchen fie Magonie rennen;
und dazu braudt man Männer wie Weiber. Es herrſcht bier
aud eine Urt von Weiffagung, die man aus dem Betradten
pon Sdulterinochen todter Thiere ‘madt.
‘Died ift in Kürze das moraliſche Schattenbild, welded der
corsiſche Gefdhidtidreiber' von ſeinem Volk entwirft, und er
bat e3 fo menig geſchont, dap er eigentlich nichts anderes
pon ben Corsen gejagt. hat, als: tas: Seneca in } folgendem
Verſe von-ibnen gefagt haben foll: . |
Prima est ulcisci lex, altera vivere raptu,
Tertia mentiri, quarta negare Deos.
280
Dagegen verteidigt er in feiner Widmung an Aifonso mit
grofem Gifer bie Tugenden feines Boll, welde3 von Tomaso
Porcachi Aretino ba Caftiglione in feiner Veſchreibung der
beribmteften Ynfeln der Welt angegriffen worden war. Diefer
Mann, klagt Filippini, behandelt die Corsen als Meudel:
mirber — bas macht mid nidt wenig ther ibn ftaunen and
mid gar vertoundern; weil man bod, fo darf ich wol jagen,
in der Welt keine Ration findet, von welder die Fremben
mebr geliebtoft werden, und wo fie fiderer reifen können:
denn in ganz Corsica finden fle die ausgeſuchteſte Höflichleit,
ohne daß fie fiir ihren Unterbalt nur den geringften Quatrin
ausgeben dürfen. — Died ift wabhr; ein Frember befdheinigt
es bier bem corsiſchen Gefdhidtidreiber nod nad drethunbert -
Jahren.
Da wir nun bier auf einer Daſe der Geſchichtſchreiber ſtehen,
will id einen Blid aud auf die anderen corsifden Hiftorio:
grapben werfen. Gin Inſelvolk von diefem Reidhtum an Helden:
fimpfen und grofen Wannern, und von dieſer faft beifpiel:
lofen Baterlandsliebe muß wol aud an Geſchichtſchreibern
reid) fein, und gewif ift ihre Menge int Berhaktnif gu der
Rleinheit der Volkszahl erftaunlidh. Jd) nenne nur die Rams
hafteſten.
Neben Filippini iſt der trefflichſte Hiſtoriograph Corsica's
Peter von Corsica, oder Petrus Cyrnaeus, Archidiaconus
pon Aleria, ber andern alten Colonie ver Romer. Cr lebte
im fünfzehnten Yabrhundert, und fdrieb aufer feinem com-
mentarium de bello Ferrariensi lateinifd aud eine Ges
ſchichte Cordica’s unter bem Titel: Petri Cirnaei de rebus
Corsicis libri quatuor, welde bid auf das Jabr. 1482 reidt.
Sein Latein gehört gum Beften jener Beit, fein Stil ift falus
ſtiſch, ftrdftig, in großen Bagen; feine Stoffbebandlung ift
gang untinftlerifh. Wm langften verweilt er bei ber Be:
lagerung Bonifazio's durch Wlfon’o von Wrragon und bei
a
281
feinen eigenen wedfjelvollen Gdidfalen. Filippini bat fein
Wert weber benugt sod) aberbaupt gefannt; es war nur in
einem Manufcript vorhanden, und wurde zuerft aus der Viblios
thef Sudwigs XV. ans Licht gesogen. Muratori hat daffelbe
in fein grofes Werk aufgenommen, und Gregori beforgte dann
auf Roften Pozzo bi Borgo’S aud Peter von Corsica in einer
trefflidgen Musgabe, Paris 1834, und gab zugleid neben dem
lateiniſchen Text die italienifde Weberjegung.
Rod einſichtsvoller hat Peter vom Character feines Volkes
geſprochen, und auch was er fagt, wollen wir nadfebn, um
und bei Gelegenbett gu überzeugen, ob die heutigen Corsen
nod viel oder wenig von der Natur ihrer Vorfabren bewabrt
haben.
„Sie find begierig, eine Beleidigung yu raden, und fid
nicht gerddt yu baben, gilt fir fdimpflid. Wenn fie dens
jenigen, welder gemordet bat, nidt erreichen können, dann
fivafen fie einen feiner Berwandten. Deshalb legen fobald
ein Mord. gefdeben ijt, alle Verwandte de3 Moͤrders augenc
blids die Waffen an, um fid) zu verteidigen. Nur Kinder
und Beiber werden verfdont.” — Die Bewaffnung der Corsen
jener Zeit beſchreibt er fo: Sie tragen fpige Helme, Cerbellerad
genannt, andere aud) runbe; ferner Dolche, vier Ellen lange
Spere, deren jeder zweie bat; links rubt das Sdwert, rechts
ber Dold.
„Im BVaterland find fie uneins, draufen auf's innigſte
verbunbden. Ihre Geelen find gum Tode bereit (animi ad
mortem parati). Alle find fie arm und veradten den
Handel. Nad Rubm find fie begierig; Gold und Silber ges
brauden fie faft gar nicht. Trunkenheit gilt far’ ſehr ſchimpf⸗
lich. Schreiben und Lefen lernen fie faum; wenige hören die
Redner und die Didter; in Streitjaden üben fie fid) aber fo
febr, dab wenn e3 auf einen Streit anfommt, man glauben
midte, fie feien alle trefflide Sadwalter. Unter ben Corsen
282
fab ich nie einen Rablfopf. Die Corsen find unter allen Men⸗
ſchen die. gaftfretften.. Den Landeshauptern ſelbſt kocht das
Weib vie. Speifen. Von Ratur: find fie: fdiweigfam, meht
gemadt zum Handeln ald: jem Reden. . Aud). find fre bie reli:
gidjeften Menfden. .
G3 ift Gitte die Manner. von “ben Weibern zumal bei Tiſch
su trennen. Un die Wafjerquellen geben die Frauen, die
Töchter. Denn Dienſtboten haben die Corsen fajt fetne. Die
corsiſchen Weiber find arbeitjam. Man fann fie fehen, wenn
fie an bie Quellen gehn, auf dem Kopf das Gefäß tragenr,
das Pferd, wenn fie eins haben, am Arme nach fich fabrend,
und die Spindel drehend. Auch ſind ſie ſehr keuſch und ſchlafen
nicht lange.
Die Todten beſtatten ſie mit Anſtand: denn ſie beerdigen
fie nicht ohne Lamento, ohne Lobpreiſung, ohne Trauergeſang,
ohne Gebet. Ihre Todtenfeier iſt jener der Römer ſehr ähn⸗
lich. Einer von den Nachbaren erhebt den Ruf und ruft nach
dem nächſten Dorf: O-du,:rufe dorthin, denn eben iſt er ges
ftorben.. Dann. fommen fie 3ufammen, Dorf:, Stadt:, ‘Ge:
meindeweiſe, je -eingeln in langem Zuge, erſt die Manner
dann die Weiber. Wenn dieſe ankommen, erheben alle ein
Weinen und ein Klagegeſchrei, und bas Weib und die Brüder
zerreißen die Rleider auf der Bruſt. Die Weiber, von Traͤnen
entftellt fdlagen fid) die Britfte, zerfleiſchen ihr Geſicht, zer⸗
raufen fid) die Haare. — Wile Corsen find fret.“
Man wird gefunden haben, dap diefes Gemalde vielfad
Aehnlichkeit mit dem Bilve hat, welded uns Zacitus pon den
alten Deutſchen aufſtellt. —
- . Qas 15. und 16. Jahrhundert war die » Bate der corset:
ſchen Gefdhidtidreibung. Sie ſchwieg tm 17., meil dad Bolt
in diefer Zeit in todedabnlider Erſchöpfung tag. Wher mit
dem Aufſchwung de 18. Jahrhunderts begann fid) aud oR
Gefdhidhtidretbung der Coren wieder yu regen. Da haben
283
wir die Biider von Natali: Disinganno sulla guerra di Cor-
sica,-und von Galvini: Giustificazione dell’ insurrezione;
braudbare, dod) nidt ausgejeichnete Schriften.
Gine Gefdidte Corsica’s ſchrieb Dr. Limperani bis zum
Ende des 17. Jahrhunderts, ein ſtofflich reiches, aber breit:
gezogenes Bert. Hochſt brauchbar, ja unentbehrlich befonders
. durd) die-vielen- Urkunden, iſt die Geſchichte der Corsen von
Cambiaggi, welde 4 Quartbände umfaßt. Cambiaggi wid-
mete fein Werf Friedrid) dem: Grofen, vem BVerehrer Pas:
quale’3 und des corsiſchen Heldenmutes.
Nun die Freibeit der Inſel verloren gegangen ijt, haben
ſich gelehrte Patrioten — und Gilippini hatte fic) heute nicht
mebr fiber den Mangel an -wiffenfdhafttiden Mannern zu be-
flagen — mit rühmlichem Gifer der Geſchichte ihres Volts
angenommen. Meiſt find e3 Wovocaten. Pompei fdrieb ein
Bud: Pétat actuel de la Corse; Gregori fammelte die
Statuten Corsica’s.. Diefe Gefege entftanden aus alten Rechts⸗
und Gtrafbeftimmungen, welche ſchon die Demokratie Gam:
bueuccios aufnabm, feftitelite und ergdngte; fie wurden unter
Den Genuefen nad und nad vermebrt unb geordnet, endltd
im. 16. Jahrhundert von ibnen .gefammelt. Sie waren jebr
felten getworden. Ihre neue Ausgabe ijt ein glangendes Dent:
mal corsiſcher Geſchichte, wie ‘auc ber Coder felbjt den Ge:
‘nuefen zur hohen Ehre gereicht. Gin anderer talentvoller Corse
Renucci ſchrieb feine Storia di Corsica, 2 Bande, Baltia
1833; fie berithrt in Kürze die Alteften Zeiten und bebandelt
ausführlich das 18. und 19. Sabrhundert bid auf bas Jahr
1830. Died Werk ijt an Stoff reich, aber als Geſchichtswerk
ſchwach. Arrighi ſchrieb die Biographieen Gampiero’s und
Paoli’3. Die weitejte Verbreitung. genießt Yacobi’s zweibändige
Gefchichte Corsica’s, welche bis auf das Ende des Unab⸗
bangigfeitstrieges unter Paoli reicht, ein lester Band foll
nod) nadfolgen. Sacobi bat dad Berdienft, aus allen ge-
284
gebenen Quellen zuerſt cine überſichtliche Geſchichte ver Corsen
gejdrieben zu haben; fein Bud ijt unentbebrlidh, aber nidt
von ber beften Kritik. Der jiingfte Verfaffer eines vortreff⸗
liden Compendium corsiſcher Gefdidte ijt vex Archivar Ca-
millo Frieß in Ajaccio, welder mir fagte, daß er eine gropere
Geſchichte der Corsen zu fdreiben beabfidtige. Ich wünſche
ibm Glid baju, denn er ift ein Mann vonTalent. Möchte
er fein Werk nicht wie Jacobi frangofifh, fondern aus Pflidt
fix fein Volk italienifd fdreiben.
Zweites Kapitel.
Roussean und die Corsen.
SH ging zum Hauſe des Grafen Matteo Buttafuoco, welches
einft bie Wohnung Rousseau's fein follte. Es ift das ftatt-
lidfte in VeScovato, ein fdlofartiger Bau. Gegenwartig beji¢t
der Marfdall Sebaftiant, deffen Familie aus dem naben Dorje
Porta ftammt, einen Teil deffelben.
Buttafuoco war derfelbe, gegen welden Napoleon als
junger Demofrat in Wjaccio ein feuriges Pamphlet ſchleuderte.
Als jener nod) Officier in franzöſiſchen Dienften war, lud er
Sean Jacques Rousseau nad BVescovato ein. Im Contrat
Social hatte nämlich der Genfer Philofoph über Corsica fid
in folgender Weife propheseiend ausgeſprochen: In Curopa
ift nod) ein Gand ber Gefeggebung fabig, das ijt die Ynfel
Corsica. Die Kraft und Ausdauer, mit welder dieſes tapfere
Bolt feine Freiheit gu erlangen und yu verteidigen gewußt
hat, verdiente tool, daß irgend ein weifer Mann es lebrte,
fie gu bewabren. Ich habe eine gewiffe Ahnung, daß diefe
fleine Snfel eine3 Tages Curopa in Erſtaunen ſetzen wird.“
Bei Gelegenbeit der legten franzöſiſchen Unternebmung zur
285
Ulnterdriidung Cordica’s hatte Rousseau gefdrieben: „Man
muß gefteben, daß eure Franzoſen ein febr ferviles Bolt find,
ein Volt, das von der Tyrannei leicht zu erfaufen ift, febr
graujam und gleich Henkern gegen die Unglidliden; wenn
fie am Ende der andern Welt einen freien Menſchen wüßten,
id glaube fie würden marſchiren einzig um ded Vergnügens
willen ihn gu vertilgen.”
Ich will nicht behaupten, daß aud vied eine Prophezeiung
Rousseau’s war, jene aber war e3 und fie bat fid erfüllt,
denn der Tag ift gefommen, an weldem die Corgen Europa
in Grftaunen gefegt haben. Der giinftige Musfprud Rousseau's
war es, welder and Paoli bewog, ibn im Jahr 1764 nad
Corsica einguladen, damit er fic) der Verfolgung feiner Feinde
in der Schweiz entziebe. Voltaire, der erbitterte Neider und
Spitter Rousseau’3, hatte das Gerücht ausgefprengt, daß
man diefem ein Aſil in Corsica anbiete, um ihm einen lader:
licen Streid gu fpielen; darauf hatte Paoli felber an Rousseau
eine Ginladung gefdvieben. Buttafuoco war nod weiter ge:
gangen, et hatte ben Philoſophen aufgefordert, far die Corsen
eine Gefeggebung gu verfafien, wie ibn and die Polen wm
eine foldhe baten. Paoli ſcheint diejem Anfinnen nidt wider:
ſtrebt zu haben, vielleidjt weil er eine ſolche Arbeit wenn aud
fix unniig, fo bod immer von gewiffer Seite fiir dienlid
dem Ruf der Corsen bielt. Go fab fid der eitle Mijanthrop
in der ſchmeichelvollen Lage eines Pythagoras, und er ant:
wortete mit Freuden, „daß fdon die Yoee ſich mit diefer
Aufgabe yu befdaftigen, feine Seele begeiftre, und daß er
den Reft feiner unglidliden Tage edel und tugendhaft ver:
wenbdet glaube, wenn er fie gum Vorteil der tapfern Corsen
verwenben könne.“ Wiles Ernſtes verlangte er Materialien.
Sein Werk tam nicht zu Stande, weil ibn die Pladereien
ſeines Lebens daran binderten. Was wire e3 aud).geworden:
und twas follten die Cor8en mit einer Theorie, da fte fid
286
ihre auf der eigenen Volksart begriinbete Berjafiung ſelber
geben konnten?
Die Verhaltnijfe brachten indeß Roussean von vem Ent⸗
ſchluß ab, nad) Corsica zu geben — ſchade! Gr hatte bier
eine Probe von feinen Theorien ablegen finnen — denn die
Inſel erfdeint wie das verwirklidte Utopien feiner Anfidten
von dem normalen Zuftand der Gefellfdhaft, wie er ibn nament:
lid in der Abhandlung: ob die Künſte und Wiffenfdaften ven
Menſchen heilfam gewefen feien, angepriefen hat. Ju Corsica
batte er, was er wünſchte, vollauf gefunden: RNaturmenfden
im wollnen Sittel, die von Ziegenmild und wenig Caftanien
leben, weder Wiſſenſchaft nod Kunſt, Gleihbeit, Tapferteit,
Gaftfreiheit, und die Blutrade an allen Enden. Ich glaube,
die Corgen würden herzlich geladt haben, wenn fie Rousseau
unter den Gaftanien batten herumwandeln febn, feine Rage
auf dem Arm, oper fein Fledhtwerk wirfend. Mein! das Ges
brill vendetta! vendetta! und ein paar Gdiiffe aus dem
Fucile wirden-den armen Yacques fdnell wieder verjagt haben.
Aber immer denlwiirdiqg und gum innern Weſen feiner Ge-
fhidte gebirend bleibt RNousseau’s Besiehung zu Corsica.
In dem Brief, welder dem. Grafen Buttafuoco abfagt,
ſchreibt Rousseau: Ich habe nicht bas wahrhafte Verlangen
in Ihrem Lande yu leben verloren; aber die ganglide Er⸗
ſchöpfung meiner Kräfte, die Sorgen, welden id) mid unter⸗
ziehen, bie Unftrengungen die ich leiden müßte, mod) andere
Hinderniſſe die aus meiner Lage entfpringen, zwingen mich
wenigftend fiir den Mugenblid meinen Entidlup aufzugeben,
auf den bod) trog diefer Sdwierigfeiten mein Herz nod nicht
gang und gar vergidjten kann. Aber, mein teurer Herr, id
werbe alt, id werde hinfällig, bie Kräfte verlafjen mid), der
Wunſch reigt und dad Hofjen ſchwindet. Wie e3 aud fet,
empfangen Sie und erbieten Sie bem Heren- Paoli meinen
lebbafteften und. zartlidften Dank fir das Afil, welded mir
287
angutragen er mid gewitrdigt bat. Tapferes und gaftfreies
Voit! nein; ich werde.e3 fo lange id lebe nie vérgefjen, dab
eure Herjen, eure Arme, eure Hande mir gedffnet gewefen
find. in dent Ungenblid, als mir in -Guropa beinabe fein
anberer Zufluchtsort übrig blieb. Wenn id nicht dad Glid
babe, weine Afche in. eurer Inſel zu laffen, fo werde ich vers
ſuchen wenigitens ein Dentmal meiner Dantbarfeit dort zurück⸗
zulaſſen, und in den Augen der gangen: Welt -werde ich mid
ebren, wenn ic) cud) meine Gaftfreunde und meine Vefdhiger
nenne. — — Das. was. id) Ihnen verfprede und worauf Sie
pon jept.ab rechnen können ift, ‘dap. id) fiir den Reſt meines
Lebens mid nur, mit mir.oder mit Corsica beſchäftigen werde:
jede andere Ungelegenbeit ift ganglid) aus meiner Seele verbannt.“
Das Legte will viel fagen — bod es ift die rhetoriſche
Spradhe Rousseau’s. . Wie wunbderfam und. fremd nimmt fid
dad Rousseau⸗Weſen den ſchweigſam düſtern, männlich ftarfen,
wild und kühn handelnden Corsen gegenüber aus; und doch
beriibren: fie ſich wie. Körperliches und Unkörperliches, durch
Zeit und Idee verbunden. Es ijt merkwürdig, wie neben den
prophetiſchen Traumen, einer Menſchendemokratie, welche Rous⸗
Zeau weisſagte, ber Korybanten⸗Waffentanz ber Corsen unter
Paoli herklingt, die neue Zeit verküundend, welche ihr Helden⸗
kampf begann. Mit dem. Erzgetöſe wollten fie. das Ohr der
alten Despotengötter betäuben, dieweil auf ihrer Inſel der
neue Jupiter geboren wurde, — Napoleon Buonaparie, der
revolutionare Gott des eiſernen heitalters.
Drittes Kapitel.
Die Moresca. Corsiſcher Waffentanz.
Die Corsen haben wie. anbere tapfere Völker von feuriger
Natur und poetifdem Sinn ben. Waffentanz, welchen man
288
Moresca nennt. Ueber feinen Urfprung herrſcht Streit, da
ihn Ginige von den Mauren, Andere von ben Griechen her⸗
leiten. Die Grieden nannten diefe Tange der triegerifden
Jugend mit Gdwert und Schild menfitifde und pyrrhiſche
und fdrieben ihre Grfindung per Minerva und dem Sohn
des Adill Pyrrhus zu. C3 ift ungewiß, auf welde Weiſe
fie fidh fiber das Abendland verbreiteten; genug, feit den
Kimpfen der Chriften und der lauren nannte man fie Mo⸗
resca, und es ſcheint, daß fie iberall ba nod in Gebraud
find, wo die Biller an Trabitionen von dem alten melt:
geſchichtlichen Riefenfampf zwiſchen Chrift und Heide, Curopa
und Ufien reid) find, wie in Griedenland, bei den Alba:
nefen, Gerben, Dtontenegrinern, Gpaniern und anbdern Ra:
tionen.
Ich weiß nicht welder Sinn fonft in bie Moresca gelegt
witd, ba ich den herrliden Tang nur einmal in Genua tangen
fab; in Corsica bat er immer die Gigenbeit eines kreuz
ritterlichen Charafters bewahrt, weil bie Moresca ftet einen
Kampf gegen die Saracenen darftellte, fei es die Befreiung
Serufalems, die Groberung Granadas, oder die Einnahme
der corsifden Städte Wleria und Mariana durch Hugo Go-
lonna. Dadurch hat die Moresca eimen profans religtdjen
Charatter, wie mande feierlide Tange der Alten, und durch
ihre geſchichtliche Borjtellung ein nationales Geprige erhalten.
Die Corgen haben zu allen Zeiten vas’ Sdhaufpiel dieſes
Tanzes aufgeführt, beſonders in vielbewegter Feit des Bolts:
fampfe3, wo ein folde3 Nationalfpiel in Waffen die Zu:
ſchauer entflammte, indem es fie zugleich an die gropen Thaten
der Vater gemabnte. Ich weif fein edleres Vergniigen far
ein fretes und mannhaftes Bolf, als vas Schauſpiel der
Moresca, die Bliite und bie Poefie bes Sdhladtenmutes.
Sie ift bad eingige Nationalbrama der Corsen, welche, da
fie feine anderen Gentiffe batten, die Thaten ihrer Helden:
289
pater fic) auf demjelben Boden vortanzen liepen, den fie einft
mit ibrem Blute tranften. Oftmals modte e3 geſchehn, dap
fie von der Moresca hinweg in die Sdladt zogen.
Vescovato war haiufig das Theater dafiir, und aud Fie
lippini gedenft deffen. Man erinnert fic) nod, dah fie Sam⸗
piero zu Chren dort getangt wurde, und aud) sur Beit Paoli’s
wurde fie aufgefiibrt. Die legte Vorjtellung fand im Yabr
1817 ftatt.
Ganz befonders beliebt war vie Darjtellung der Eroberung
Mariana’s durd Hugo Colonna. Cin Dorf ftellte die Stadt
por. Die Schaubühne felbjt war ein freter Plag, die grünen
Berge dienten als Amphitheater, worauf ſich Taufende, aus
ver Snjel zufammengeftrdmt, niederliefen. Man denke fid
dieſes Publicum, diefe rauhen Manner alle in Waffen, unter den
Caftanienbiumen gelagert und mit Blid, Wort und Geberde den
Heldentanz begleitend. Die Sdaufpieler, bisweilen 200 an
der Babl, find in zwei Scharen geteilt, alle tragen fie dite ri:
mifdhe Toga. Seder Tanger halt in der Redten ein Sdwert,
in der linten einen Dold; die Farbe des Helmbuſches und des
Panzers madt den Chrijten oder den Mauren tenntlid. Cin
eingiger Geigenfpieler regiert mit bem Fiedelbogen den Tanz.
Er beginnt. Gin maurifder Aftrolog tommt aus Mariana
herausgefdritten, im Kaftan mit langem weißem Bart, er
befdhaut den Himmel und befragt die Sterne, und beftiirgt
weisfagt er Unglitd. Mit Zeichen des Schreckens eilt er in
bas Por zurück. Siehe, da fommt ein mauriſcher Bote, in
Blick und Bewegung jähe Furdt, nad) Mariana gelaufen und
bringt bie Runde, dab die Chriften bereits Wleria und Corte ©
eingenommen und im Anmarſch auf Mariana feien. Bie
der Bote im Tor verfdwunden ijt, blajfen Horner, und es
tritt auf Hugo Graf Colonna mit dem Chriftenbeer. Unend⸗
lider Jubel fcallt ihm von den Bergen entgegen. Bd habe
das Ganze in diefer Ballade auszudrücken verjudt.
Gregorovius, Corsica. I. 19
290
Hugo, Hugo, Graf Colonna,
© wie berrlid) er vor allen
Tanzet wie ber Koͤnigstiger,
Wenn er tangt den Fels empor.
Graf Colonna hebt den Degen,
Küßt das Kreuz an feinem Griffe,
Und zu feinen Rriegerjdaren
Alſo fpridt der edle Graf:
Wuf gum Sturm im Namen Gotte3,
Tanzt hinauf Mariana’s Mauern,
Laffet fpringen heut die Mobhren,
Alle fpringen über's Schwert.
Wiffet, wer im Sturm gefallen,
GHeute wird er nod im Himmel
Mit den Engelchören tangen
Seinen ſeligen Sphaͤrentanz.
Die Chriſten ſtellen ſich auf. Hörnerſpiel. Aus Mariana
kommt herausgezogen der Maurenkönig Nugalon und ſein Heer.
Nugalone, o wie herrlich
Ihm die leichten Glieder tanzen,
Wie dem braungeflectten Panter,
Wenn er tanzt aus ſeinem Buſch.
Nugalone dreht den Schnauzbart
Mit der goldbereiften Linken,
Und zu ſeinen Kriegerſcharen
Alſo ſpricht der ſtolze Mohr:
291
Nun wolauf, im Name Allahs
In bie Ghriftenfdladht getanget !
Durd den Sieg laft uns bezeugen,
Allah ift der eingige Gott.
Wiffet, wer im Kampf gefallen,
Heute wird er nod in Eden
Mit der fchdnften Houri tanzen
Seinen Wolluft- Taumeltang.
Nun ziehen beide Heere voritber — ber Mohrenkönig gibt das
Zeichen yur Sdhladt, und 8 beginnen bie Figuren des Tanzes,
deren es zwölfe find.
Fiedelſtrich, ein ſcharfer, heller —
Nugalone und Colonna
Schweben tanzend ſich entgegen,
Sid entgegen tanzt ihr Heer.
Bierlidh in dem Tact ber Tine .
Wiegen fic bie jungen Glieder,
Pie vie ſchlanken Blumenhalme,
Wenn vas Abendlüftchen geigt.
Raum berühren fich der Kimpfer
Leidhtgefdwungne Flimmerdegen;
Sind e3 Degen, find e3 Stralen,
Sonnenftralen in der Hand!
Geigentine, voller, voller —
Kling und Klang gefreugter Degen,
Ridwirts, vorwarts leichte Glieder
Dreben fid gum Geigenfpiel.
292
Und nun tangen fie im Ringe,
Chrift und Maure feft verſchlungen,
Bon dem Cilberhall der Degen
Ihre Waffentette klingt.
Kling und Klang gekreuzter Degen,
Neue Weiſe, neue Schwünge,
Jetzt zerbrochen iſt die Kette,
Halber Bogen ſind's nun zwei.
Wilder, wilder die Moresca,
Rauſcht der Tanz ſich wild entgegen,
Wie die Meereswelle rauſchet,
Wenn der Sturm auf Felſen geigt.
Halte wacker dich Colonna,
Tanz' ſie nieder in den Boden!
Heute gilt es unſre Freiheit
Zu ertanzen mit dem Schwert.
Alſo wollen wir die Berge
Vescovato's niedertanzen,
Niedertanzen deine Heere,
Gottverfluchtes Genua!
Immer neue Figuren, endlich tanzen ſie die letzte, welche die
resa heißt, da ergibt fic) der Saracen.
WS ic) die Moresca in Genua’ tanjen fab, fiibrte man
fie zu Ehren der fardinijden Verfajjung und an deren Jahres—
tag am 9, Mai 1852 auf, denn der ſchöne Tanz hat in
Stalien eine revolutiondre Bedeutung und war deshalb in den
unfreten Landern verboten. C8 war ein gar herrliches Schau:
fpiel, da bas Voll in feinen malerifden Trachten, zumal die
293
Frauen in den weißen angen Sdleiern, den Plag am Hafen
bedeckte. Etwa 30 junge Männer, alle weiß und fnapp ge:
fleibet, griine und rote Schärpen um den Leib gewunden,
tangten die Moresca mit Begleitung von Hornern und Trom⸗
peten. Alle hielten fie in jeder Hand eine Fahne; die ver-
fdiedenen Weifen tangend fdlugen fie die Degen gegen ein:
ander. Gine geſchichtliche Beziehung zeigte dieſe Moresca nidt.
Die Corsen haben wie dte Spanier, die Bayern und die
Tyroler, aud) nod die Paffionsfpiele erhalten, welche indeß
felten geworbden find. Im Yabr 1808 wurde unter andern
ein ſolches Spiel vor 10,000 Menſchen in Orezza gegeben.
Belte ftellten vie Haufer des Pilatus, de Herode3 und de3
Caiphas dar. Da gab e3 Engel und Teufel, welde aus etner
Fallthüre heraufſtiegen. Das Weib de3 Pilatus war ein
junger Menjd von 23 Yabren mit einem rabenfdwarzen
Bart. Der erfte Oberft der Garden trug die Uniform der
Franzoſen mit Cpauletten von Gold und Silber, der zweite
einen Infanterierock, und beide batten dad Kreuz der Ehren⸗
Ieqion auf der Bruſt. Den Judas ftellte bar der Pfarrer
von Gardeto. Als nun das Spiel begann, gerieten die Zu⸗
fhauer durd) unbefannte BVeranlafjung in ein Handgemenge
und warfen emanbder mit Felsitiden, die fie von dem natiir-
lidhen Wmphitheater aufrafften. Hierauf wollte Jeſus, welder
gerade aufgetreten war, nicht weiter fpielen, und 30g fid
Grgerlid) aus diefem irdiſchen Jammertal zurück. Wber zwei
Gendarmen faften ibn unter die Arme und fibrten ihn mit
Gewalt auf bie Scene, fo bab er weiter fpielen mußte. Diefe
ſpaßhafte Geſchichte erzablt ver Ingenieur Robiquet in feinen
hiſtoriſchen und ftatiftifden Forſchungen über Corsica,
294
Viertes Kapitel.
Joachim Murat. .
Espada nunca vencida!
Esfuergo de esfuergo eatava.
Romange Durandarte.
Da ift nod ein drittes, fehr merkwürdiges Haus in Ves—
covato, das der Familie Ceccaldi, aus welder zwei nambafte
Manner ftammen, der genannte Gefdidtidreiber und der
General Andrea Cdlonna Ceccaldi, Triumvir neben Giafferi
und Oyancint Paoli.
Aber mehr als folde Crinnerungen reigt eine andere,
welche an diefem Haufe haftet. Es gehört dem General Fran:
cesdetti, oder vielmebr feiner Gemalin Catarina Ceccalbi,
und bier war e3 wo ber unglückliche Murat gaftlide Buf:
nabme fand, al8 er auf der Flucht aus der Provence in
Corsica landete, und bier faßte er den Blan, fein ſchönes
Reid Neapel durch einen ritterliden Handſtreich wieder zu
erobern.
Wieder zieht alfo das Lebensbild eines tapfern Caballero
an un3 voritber auf biefer tounderfamen Inſel, wo die Konig’:
fronen auf den Baumen wild wachſen wie die golonen Aepfel
im Garten ber Hesperiden.
Das Ende Murat3 ift fo bewegend wie faum dad eines
andern Dtanne3, welder als ein pridtiges Meteor eine Zeit
fang durch die Welt fubr, dann in kläglichem Fall verknallte.
Nad feinem letzten unitberlegten Krieg in Stalien war et
flidtig nad) Frankreich gegangen. Unter Todesgefahr, in
Weinbergen und Gebiifden umberirrend, hatte er fitch etne
Beit Tang an der Küſte bet Toulon verborgen gebalten; ei
alter Grenadier hatte ihn gerettet und vor bem Hungertode
geſchußt. Derſelbe Marquis von Riviere, welchem Murat
295
nad der Verſchwoͤrung de3 George Cadoudal und Pichegru
großmütig bas Leben erbalten, ſchickte Goldaten nad dem
Fladhtling aus, ibn todt oder lebend eingubringen. In feiner
Vage war YJoadhim auf den Gedanken gefommen, im naben
Gorsica Gajtfreundjdaft zu jucen.
Gr floh aus feinem Sdlupfwintel, erreidte den Strand
und eine Barle, welde ibn trop Sturm und Ungewitter nad
Gorsica bradte. Cr landete am 25. Auguſt 1815 bei Bajtia,
und hörend dap Francesdetti, der friiher unter feiner Garde
in Neapel gedient hatte, fic) in Vescovato befinde, madhte er
fic) dabin auf. Gr flopfte an das Haus de3 Maire Colonna
Geccaldi, Schwiegervaters jene3 Generals, und verlangte dieſen
zu fpreden. Yn feinen Memoiren über Murats Aufenthalt
in Corsica und fein Ende erzählt Francesdhetti: „Ein Mann
ftellt fid) mir dar eingebiillt in einen Rapugmantel, den Kopf
begraben in eine Mütze von ſchwarzer Seide, mit dichtem
Bart, in Pantalons, in Gamafden und Sduben eines ge-
meinen Golbaten; er war abgemagert von Glend. Wie groß
war mein Grftaunen als id) unter dieſer groben Verhüllung
den Konig Joachim erfenne, diefen nod vor kurzem fo glanz⸗
pollen Fürſten. Gin Schrei entfabrt meinem Munde, und
id falle an feine Kniee.“
Alsbald bewegte fid Baſtia, und viele corsiſche Officiere
eilten nad BVescovato Murat ihre Dienfte angubieten. Der
Gommandant Bajftias, Oberſt Berriére, fdhidte Gendarmen
nad Vescovato, Joachim zu verbaften. Aber dad Vol€ ergriff
vie Waffen, den Gajt gu verteidigen, und der Trupp febrte
unverridteter Sade um. Wie fidh nun bas Geriidt ver:
breitete, dab König Murat die Gaftfreundfdaft der Corsen
angerufen babe und dap man feine Berfon bedrobe, zogen
Scharen aus allen Darfern der Umgegend nad Vescovato
und fdlugen bier ein Lager auf, fo dab ſchon am folgenden
Tag Murat über ein eines Heer gu befeblen hatte. Der
~~
296
arme Joachim war entgidt vom Qubelruf ber Corgen. G3
fland bei ibm fidh gum König Corsica zu machen, aber er
hatte feine andern Gedanfen al3 an fein fines Neapel. Der
legte Anblid einer ihm zujauchzenden Volksmenge gab ihm
wieder das Gefühl eines Königs, und wenn Ddiefe Corsen,
fagte er, welche mir gar nidt3 verdanfen, fdjon fo bingebend
find, wie werden mid erft meine Neapolitaner empfangen,
welden id fo viele Wolthaten erwiefen habe.
Der Entſchluß, Neapel wieder zu gewinnen, wurde in ibm
feft; das Beifpiel Napoleons, welder von bem naben Elba
in abenteuerlider Weife Frantreid) überfallen hatte, fdhredte
ibn nicht. Der Sohn des Glücks mufte feinen lepten Wurf
verjuden, und um die Königskrone oder den Tod fpielen.
Das Haus Ceccaldi ward unterdeß der Sammelplatz vieler
Herren von nah und fern, twelde Murat feben und ibm
dienen wollten. Gr hatte feinen Blan gefaßt. Gr berief aus
Elba einen feiner alten Geecapitine, welder fic) nad Porto:
Longone gefliictet batte, den Mtaltefer Barbara, um mit ihm
der die Küſten Calabriens genau fannte, fid} yu befpreden.
Gr fdidte einen Corgen nah Neapel, Verbindungen anjus
fnilpfen und Geld aufgubringen. Gn Baftia taufte er drei
Fahrzeuge, twelde ihn an der Küſte Mtariana’s aufnehmen
follten, aber die Franjofen wurden dort davon benach⸗
tidtigt und belegten fie mit Befdlag. Bergebens mabnien
Murat verftindige Manner von feinem tollkühnen Unters
nebmen ab, Die Boee war bei ihm unerſchütterlich geworbden,
daß die Neapolitaner ibn liebten, dab er nur den Fuß auf
bie calabriſche Küſte yu fegen braude, um im Triumf nad
feiner Hauptitadt geflbrt 3u werden. Auch kamen Menſchen
pon Meapel ber und fagten ihm, dab der König Ferdinand
dort verhaßt fet und daß man fic) nad der berrſchaft Murats
zurückſehne.
Es erſchienen von Genua zwei engliſche Officiere. Sie be
297
gaben fid) nad VeScovato und erboten fid) dem Könige Joachim,
ibn fider nad England ju bringen. Wher er wie3 in edlem
Born vied Anerbieten zurück, weil er daran dadte, wie Eng:
{and mit Napoleon verfabren war. Unterdeß wurde feine Lage
in Bescovato immer gefabrlider und für feine Gaftfreunde
Geccaldi und Francesdetti bedroblider, denn der bourbonifde
Oberft hatte eine Schrift erlaffen, welde alle diejenigen fir
Hodverrater erflarte, welche Murat folgen oder ihm ein Aſil
geben wüͤrden. |
Diefer entſchloß fidh, von BVescovato fo bald als möglich
abjureifen. Er unterhandelte noc) wegen der Riidgabe feiner
Fahrzeuge; er wendete fid an ven Befebl3haber der Balagna
Antonio Galloni, deffen Bruder er einft mit Wolthaten über⸗
häuft hatte. Galloni ließ ihm fagen, dab er in diefer Wn-
gelegenbeit nidts vermige, daß er vielmebr von BVerriere den
Befehl bekommen habe, folgenden Tags mit 600 Mtann gegen
Vescovato zu marfdiren um ihn gefangen yu nehmen. AWber
aus Ridfidt fir fein Ungliid wolle er nod vier Tage warten
und thn nidt verfolgen, wenn er fid) innerhalb diefer rift
au3 Be8covato entfernt babe.
WS der Capitin Moretti mit diefer Botſchaft und obne
Ausſicht auf Wiebererlangung ver Fabhrzeuge nad Vescovato
zurückkehrte, vergoß Murat Tränen. „Iſt e3 möglich, rief er
aus, daß ich ſo unglücklich bin! ich kaufe Schiffe um von
Corsica abzureiſen, und man belegt ſie mit Beſchlag, ich
brenne vor Ungeduld die Inſel zu verlaſſen, und man ſchließt
mir jeden Weg. Wolan! ich will die Tapfern zurückſchicken,
welde mich fo großherzig bewachen, id will allein bleiben,
id will meine Bruft dem Galloni entgegenbalten, oder id
werde bas Mittel finden mid) von bem graufamen Sdidfal
su erldfen, das mid verfolgt” — dabei blidte er auf die
Piftolen welche auf dem Tiſche lagen. Indem trat Frances:
detti in bad Bimmer; bewegt fagte er zu Pturat, dab dte Corsen
298
nimmer leiden würden, daß ihm ein Leids gefdebe. ,, ein,”
entgegnete Yoadim, „ich werde nie zugeben, dab Corsica um
meinetwillen ein Ungemad erfabre; ih mup binweg!“
Die Frift war verftriden, Galloni zeigte fic) mit feinen
aruppen vor BVescovato. Aber das Vol€ ftand bereit, ihm
eine Schlacht gu liefern. Man erdffnete ein Feuern, jener zog
ſich guriid. Denn eben hatte aud Pturat den Ort verlafjen.
Am 17. September war er von Vescovato gegangen, mit
Srancesdhetti und einigen Officieren und Beteranen, und ge:
leitet von mehr als fünfhundert Bewajffneten. Gr hatte fid
entfdlofjen nad) Ajaccio gu geben, um fic) dort eingufdijfen.
Wo er ſich zeigte, in der Cadinca, in Tavagna, in Moriani,
in Campoloro und jenfeits der Berge, lief das Vol€ hergu und
empfing thn mit Jubel. Yede Commune begleitete ibn bis zur
Grenge der nadften. Bn San Pietro di Venaco 30g ibm der
Priefter Mturacciole mit einem zahlreichen Gefolge entgegen
und bradte ibm als Geſchenk ein ſchönes Pferd. Sofort be⸗
ftieg diefes Murat und galoppirte auf ibm de3 Weges, ſtolz
und feurig wie er einft in ben Tagen feines Glanges durd)
pie Straben von Mailand und Wien, Berlin, Paris und
Neapel, und über unzählige Schladtfelder gefprengt war.
In Bivario fehrte er bei dem greifen Pfarrer Pentalacct
ein, welder feit 40 Jahren fo vielen Fladtlingen Gaftfreund-
ſchaft gegeben, in wedfelvollen Zeiten Cnglinder, Franzoſen,
Gor3en aufgenommen, und einft aud den jungen Napoleon
bei fich beſchirmt batte, al3 ibm die Panliften nad bem Leben
tradteten. Beim Frühſtück fragte Yoadhim den Greis, was
er von feiner Unternehmung auf Reapel dente? Yoh bin ein
armer PBfarrer, fo fagte der Geiftlide, und verftehe mid nidt
auf. Krieg oder Diplomatie, aber dod möchte ich zweifeln,
dap Cw. Majeftit den Tron heute wieder getvinnen fdnnen,
den Sie einft an der Spige Ihrer Armee nicht behaupten
tonnten. Lebbaft entgegnete Murat: id bin fo fider mein
299
Königreich wieder yu gewinnen, als id fider bin diefes Tud
in meinen Handen zu halten.
Joachim ſchickte Francesdhetti nad Mjaccio voraus, um zu
feben, wie e3 dort um feine Aufnabme ftante. Denn ſeitdem
er in Corsica erfdienen war, batten Napoleons Verwandte
feine Runde von ihm genommen, und fo war er fdon willens
in Bocognano zu bleiben und erft dann nad Ajaccio 3u geben,
wenn gu feiner Cinfdiffung alles bereit wire. Francesdettt
ſchrieb ihm, dab die Biirgerfdaft Wjaccio’s vor Freubde aufer
fic) fei, den Konig Murat in ihren Mauern zu feben, und
daß fie ibn dringend einlade zu kommen.
Am 23. September um 4 Uhr AWbends betrat er Wjaccio
gum zweiten Mal in feinem Leben, denn das erfte Mal war
er dort mit Rubm bededt, von der Welt als Held gefeiert,
mit Napoleon gelandet, als diefer von Egypten zurückkam. Bei
feinent Gintritt [auteten alle Gloden, das Volf umjauchzte ibn,
Freudenfeuer brannten auf den Stragen und die Haufer waren
erleuchtet. Aber die Behörden ver Stadt entfernten fic) aus
ihr, und aud Napoleons Verwandte, vie Ramolini, zogen
fid zurück; nur die Signora Paravisini hatte den Mut und
die Liebe gu bleiben, ihren Verwandten yu umarmen und ihm
Gaftfreundfdaft in ihrem Haufe angubieten. Murat hielt 3
fiir gut in. einer dffentliden Locanda zu wobnen.
Die Vefagung der Citadelle war corsiſch, alfo Joachim
ergeben. Der Commandant fdlop ſich in die Feftung ein uud
legte den Belagerung3zuftand auf die Stadt. Murat traf
nun Borkehrungen zur Wbreife. Gr verfabte aud eine Pro-
clamation an bas neapolitanifde Volk, von 36 Artikeln; fie
ward in Wjaccio gedruckt.
Am 28. September erfchien Maceroni ein engliſcher Officer
und verlangte Zutritt zu Yoadhim. Cr bradte Paffe fiir ihn
von Metternid, welche von diefem, von Carl Stuart und
von Schwarzenberg gejeidjnet waren. Sie waren ausgeſtellt
300
auf den Grafen Lipona, unter weldem Namen, einem Ana⸗
gramm von Napoli, ibm ein Aſil in Oefterreid) zugeſichert
wurde, Murat nahm den Officier zur Tafel, man fprad von
det Sdhladt bet Waterloo. Mtaceroni rühmte die faltblitige
Lapferkeit bes englifden Fußvolks, deffen Vierede die Reiteret
der Franzoſen nicht hatte zerfprengen finnen. Da fagte Murat:
wire id) dort gewefen, id hatte fie ficerlid) zerfprengt. ener
entgegnete: Ew. Majeftat batten vie Quarrés der Preufen
und Defterreidher zerfprengt, aber niemal3 die der Englander.
Voll Feuer rief Murat: und id) hatte aud die~ver Englander
zerbroden; denn Curopa weiß, dab id) nod nie ein Quarré
getroffen habe, welches e3 auch war, das ic nicht zerfprenate.
Er nabm Metternidhs Paffe und ftellte ſich erft, als wolle
er auf bad Wnerbieten eingehen, dann erflérte er, dab er nad
Neapel hiniiber müſſe, fein Reid) -3u erobern. Maceroni bat
ihn unter Tranen, abguftebn fo lange e3 nod Zeit fei. Murat
entlieB ibn.
Nod an demfelben Tage um Mitternadt, ftieg der Un:
glitdlide in die Bare, und wie fein kleines Geſchwader den
Hafen Wjaccio verließ, feuerte die Citadelle einige Kanonen⸗
ſchüſſe auf pasfelbe ab, welde, wie man fagt, nur blinde Schüſſe
waren. Die fleine Flotte beftand aus 5 Fabrzeugen und der
Scorridora einer fdnellfegelnden Felule, unter den Befeblen
Barbara’3, und mit fid nahm Murat ungefabr 200 Mann
und 22 Officiere, auferdem einigen Mtatrofen.
Voll Unbheil war feine Fahrt, unbegitnftigt burd das Glid,
welches Napoleon nod einmal begleitet hatte, als er mit
feh3 Schiffer und 800 Mann von Elba hinwegfegelte, feine
Krone wieder zu erobern. Gieben Monate friiher war der
Raifer von jener naben Inſel unter Segel gegangen. G8 ift
aufregend Murat yu beobadten, wie er da Herz von Zweifel
und Ungewifbeit zerwühlt, an der Küſte Calabriens hinfdwebt,
wie er von ben Barken verlafjen wird, wie ihn nun gleidjam
301
a
eine warnende Hand von der feindliden Küſte zurüchſtößt, wie
ex fdon den Entſchluß fabt, nad Trieft gu fegeln, und end-
lid) die phantaftifde Idee den Traäumer dennod beftimmet in
Pizzo gu landen.
Murat, fo fagte der Mann, der mir von feinen Tagen
in Ajaccio als Augenjeuge fo manches erzablte, war ein groper
Ritter und ein fleiner Kopf. Daz ift wol wahr. Er war der
Held nur eines Romans, ein Adter Paladin. Gr fap beffer
auf vem Pferb als auf dem Tron. Gr hatte niemals regie:
ten gelernt, er beſaß nur, wa geborne Rinige oft nidt haben,
den Wnftand und den Ptut König zu fein, und er war e3
am meiften alg er vom Tron berunterftieg; Ddiefer einftige
Kellner in feines Vaters Sdenke, Whbé und weggejagter Unter:
officier, ftand vor feinen Henfern fdniglider al3 Ludwig XVI.
aus bem Hauje Capet, und ftarb nidjt minder, ſtolz al Rarl
yon England aus dem Haufe der Stuart.
Gine Dienerin sffnete mir die Zimmer Srancesihetti’s, in
denen Murat gewohnt hatte. Die Scladticenen in welden
ex geglangt hatte, wie Marengo, Gylau, die Landfdladt von
Abukir-Borodino ſchmückten die Wande. Das fdwarmerifde
Auge, die braunen gelodten Haare welche über die Stirn
berabfallen, die weichen Geſichtszüge, die phantaſtiſche weife
Kleidung, vie rote Schärpe waren wol Joachims. Unter dem
Portrait [a8 id diefe Worte: 1815. Tradito!!! abban-
donato!!! li 13. Octobre assassinato!!! erraten!!!
Verlaſſen!!! Am 13. October ermordet!!! Schmerzensſeufzer
Franceschetti's, ber ihn nad Pizzo begleitet hatte. Dad
Bilonip des Generals hangt neben dem Murats, eine hobe,
triegerifde Gejtalt mit ebernen Geſichtszügen, ein lebbafter
Gegenfag gu dem Troubadourgeſicht Joachims. Francesdetti
hatte fic) fiir Murat geopfert, Weib und Rinder verlafjen,
und obwol er das Unternehmen feines ehemaligen Königs ge:
mipbilligt, war er ihm dod gefolgt und bid gum letzten Augen⸗
302
blid nidt von ihm gewiden. Man erzählte mir einen ſchönen
Zug von Edelmut (und id [a3 ibn aud in den Memoiren
des General3), welder fein Andenfen ehrt; als die wiitenden
Banden in Pizzo auf Murat eindrangen, um ibn fdimpflid
qu mipbandeln, fprang Granceddhetti vor und rief: „ich bin
Murat!” Cin Säbelhieb ftredte ihn gu Boden; in demfelben
Augenblid war auch jener vorgefprungen und hatte ſich ju
erfennen gegeben. — Wile Soldaten, weldhe man bet Pizzo
gefangen nabm, warf man ins Gefingnif, verwundet wie fie
waren. Nach Joachims Hinridtung führte man fie und Fran:
ceSchetti in die Gitabelle der Ynfel Capri; Tange Zeit ſaßen
fie dort, ihren Zod erwartend, bid unverbofft der König Fer-
dinand fie begnadigte. Franceschetti kehrte nad) Corsica juried,
aber faum landete er bier, als die Frangofen ibn als Hod-
verraͤter feſtnahmen und nad) Marfeille abfithrten. Der un:
gliidlide Mann fab einige Yabre in den Kerkern der Pro⸗
vence, dann durfte er yu feiner Familie nad BVescovato jus
riidfebren. Gein Vermögen war durd Murat vernidtet wor:
ben — er ſah fic) in die Rotwendigheit gefept, feine Frau
nad Wien und ju Mturats Gemalin Caroline reifen gu laſſen,
um einen Zeil feiner Auslagen wieder yu erlangen, und da
dieſe Reife nichts frudtete, einen langdauernden Prozeß mit
Caroline gu führen, den er verlor. Franceschetti ftarb im
Jahr 1836. Geine beiden Söhne, guritdgezogene Officiere,
gehdren gu den angefebenften Männern Corsica’s und haben fid
um die Verbefferung des Landbaus anerfannte Verdienfte er:
worben.
Seine Gemalin Catarina Ceccaldt lebt nod bodbetagt in
dem Haufe, wo fie einft Murat gaftlid) aufgenommen hatte.
Ich fand die edle Greifin in einem Oberzimmer in der land:
lidften Befdhaftigung, von Tauben umringt, welde bei meinem
Gintritt aus dem Fenfter flatterten — eine Gcene die mir
seigte, daß bie ſchlichte Natur ber Cor8en nidt nur im Haufe
303
des Bauern, fondern aud des Vornehmen fic erhalten bat.
Sh dadte mir die glingende Jugend, welche diefe Frau in
dem ſchönen Neapel, am Hof Joachims verlebt hatte, und
im Berlauf des Gefprads gedachte fie felber jener Beit wo
per General Franceschetti mit Coletta, ver gleidfall3 eine be:
fondere Schrift fiber die letzten Tage Murats verdffentlidt
hat, in deffen Dienjt geftanden war. Es ift erfreuend, cine
ftarfe Natur yu febn, welche die Lebensftiirme ſiegreich über⸗
ftand und fid) gleich blich, wenn die Scidfale wedfelten; fo
betrachtete ich dieſe würdige Matrone mit Chrfurdt, wie fie
von den großen Dingen der Vergangenheit redend ſorgſamlich
die Bohnen ſchnitt zum Mittagsmal für Kinder und Enkel.
Franceschetti, ſo ſagte ſie, machte Murat die lebhafteſten Vor⸗
ſtellungen, er ſcheute ſich nicht ihm zu ſagen, daß er ein un⸗
mögliches Unternehmen vorhabe; dann rief jener ſchmerzlich
aus: auch ihr wollt mich verlaſſen! ach! meine Corsen wollen
mich im Stiche laſſen! man konnte ihm nicht widerſtehen.
Als ich von Vescovato weiter in die Casinca wanderte,
konnte ich an Murat nicht denken, ohne ihn mit dem aben⸗
teuerlichen Baron Theodor von Neuhoff yu vergleichen, wel:
ther an eben diefer Küſte 79 Sabre früher gelandet war,
wunderlid) und phantaftijd gefleidet, mie fid auch Dturat ju
Heiden pflegte. Theodor war in Corsica der Vorldufer aller
jener, welche fid) die ſchönſten Rronen. ber Welt eroberten.
Napoleon holte fid) die Raiferfrone, Yofeph bie Krone von
Spanien, Louis die Krone von Holland, Yerome die Krone
jenes Weftfalen, aus welchem Theodor der König der Corsen
abftammte, und neben ifnen erabenteuerte fid Murat rie
normannifde Krone beider Sicilien, Bernadotte die Krone der
Scandinavier, der Alteften Ritter Europa’s. Cervantes hatte
bunbdert Sabre vor Theodor bas Kbnigtum fabrender Ritter
in feinem Gando Panfa verjpottet — und fiehe da nad
hundert Jahren wiederbolte ſich dieſes Rittermärchen von Kinig
304
>
Artur und der Tafelrunde an den Grengen Spaniens auf der
Inſel Corsica, und fept fich fort am ellen Tage durd das
19. Jahrhundert bis in ben ellen lidten Tag unferer Gegen-
wart hinein.
Der Don Quijote und die fpanifdhen Romanjen find mir
oftmals in Corsica eingefallen, und mir ift ald reitet wieder
ver edle Ritter von der Mancha durch die Weltgejdidte.
Werden dod) nun wieder fpanifde, uralte Namen hiſtoriſch,
weldbe der Welt gerade fo romantijd unbefannt gewefen find,
wie Thefeus der Herjog von Athen im Sommernachtstraum.
Fünuftes Kapitel.
Romantiſch · chriſtliche Verſunkenheit.
Que todo se passa en fiores
Mis amores,
Que todo se passa en flores.
Sypaniſches ied.
Nahe bei Vescovato liegt der fleine Ort Venzolasca. Cin
Herrlider Weg über Hiigel und durd Caftanienbaine führt
dorthin. Bd fam an bem Capuginertlofter Vescovato’s vorbei,
welches verlafjen ſteht. Wuf einer Hobe gelegen, mit fdwar:
gem Schiefer gededt, aus braunem Stein gebaut, ftebt es
im Griinen höchſt malerifd da.
Auf diefen Gangen burch das Cajtanienland vergipt man
jeglihe Ermüdung. Die Ueppigkeit der Natur und die lachen⸗
ven Berge, der Blid in die Goloebne und auf das Meer
machen dad Herz froh, die Nachbarſchaft vieler Dirfer unter:
Halt und gibt mande Bilder des Voltsleben3. Ich ſah mande
gemauerte Fontinen, an denen Weiber und Mädchen in ihren
runden Krügen Waſſer ſchöpften, einige mit der Spindel, wie
Peter von Corsica es gefagt bat.
v
305
Vor Venzolasca fteht am Weg ein Grabmal der Familie
Gajabianca, Aud) diefe ift aus Vescovato gebiirtig und ge-
Hort gu den angefebenften der Ynfel. Die unmittelbaren Vor-
fabren des beutigen Senators Cafabianca madhten ihren Na⸗
men durd Waffenthaten beribmt. Raffaello, Oberbefehls⸗
haber Cordica’s im Jahr 1793, Senator, Graf und Pair
Frankreichs, ftarb ju Baftia hodbetagt im Yabre 1826. Lu-
gio, Deputirter CorZica’s beim Convent, war Capitan des
Admiralſchiffes per Orient in der Schlacht bei Abukir. Als
der Admiral Brueys von einer Kugel in Stücke geriſſen war,
ũbernahm Caſabianca den Oberbefehl des Schiffs; es brannte;
er ordnete bie Rettung der Mannſchaft an, fo weit dieſe möglich
war, und wollte dad Schiff nicht verlaffen. Sein junger
Gobn Giocante, ein Knabe von dreigehn Yabren, war nidt
gu bewegen von des Vaters Seite yu weiden. Jeden Augenblid
fonnte da3 Schiff fpringen. Vater und Sobn bielten fic) mit
ibren Armen feft umfdlungen und flogen fo mit den Schiffs⸗
triimmern gen Himmel, und in die Unfterblidfeit. Wo man
aud wandern mag in Corsica, man atmet Haud vom Heldengeift.
Venzolasca ijt ein Heiner Ort mit ſchmucker Kirche wenig:
ften3 im Innern. Man war eben dabei den Chor audszu-
malen und Hagte mir, bap der Mteifter, welder die Holz⸗
fchnigelet vergolden follte, das Dorf ſchimpflich betrogen habe;
denn man batte ihm Dulatengold gegeben und er hatte died
eingeftedt. Der eingige Lurus, den die Cor8en treiben, wird
auf den Schmuck ihrer Rirden verwandt, und e3 gibt faum
ein kleines Dorf der Inſel, welded nidt feinen Stoly darein
fegte, belle bunte Farben und Goldjierraten in bem Kirchlein
zu haben.
Von dem Ort, auf welchem die Kirche Venzolasca's ſteht,
hat man eine wonneſame Fernſicht aufs Meer und ſich um⸗
wendend die Anſicht des ſchönen Bergkeſſels der Caſtagniccia.
Wenige Gegenden Corsica's haben mir eine ſolche Freude ge-
Gregorovius, Corsica. I. 20
306
madt als diefe Berge in ihrer Verbindung mit dem Meer. Die
Caftagniccia ift ein madtiger Circus, welden faftig grüne
Berge von den ſchönſten Formen umſtellen. Wlle find fie bis
gegen die Gipfel mit Caftanien bededt, au Füßen tragen fie
Dlivenhaine, deren Silbergrau mit dem Tiefgritn des Caftanien-
laubes abwedfelt: Aus nem Laub hervor fehen einzelne Ort:
fdhaften, Sorbo, Penta, Caftellare und da8 bod in Wolken
ftehende Oreto, duntel, mit fdlanten ſchwarzen Kirchtürmen.
Die Sonne ging yu Abend, als id diefe Verge hinauf-
ftieg, und id hatte frohe Stunden. Wieder tam id) an einem
verlapnen Rlofter der Franziscaner vorbei. Es lag gang ver-
graben in Reben und Laub, und die Fruchtbäume wufter
ibren Gegen faum gu betgen. Wie id in den Hof und in die
Kloftertirdhe trat, überraſchte mid dieſes wüſte Bild der Zerftirung,
welde3 die Natur mit ihrem Pflanzenwucher lachend zudedte.
Die Steinplatten der Graber waren aufgethan, als batten dte
Todten fie gefprengt, um gen Himmel gu fliegen, Schädel
fagen im Grin, und die driftlidhe Symbolik alles Schmerzes
war verſunken in ein Blumenmeer.
Sm Klofter von Venzolasca.
Transfiguration.
Zu einem fdattendunfeln Wald
Hat mid der Irrweg hin verfdlagen,
| Die Sonne ging zu Rüſte bald,
Da fah id Kloftermauern ragen.
Der Ephen fdlug um’3 graue Tor
Den wonneſamſten Ehrenbogen,
Ein alter Oelbaum ſtund davor,
War auf die Kloſterwacht gezogen.
307
Der that mir ba mit ftilem Wit
Zum GCintritt in den Kreuzgang winter,
Als war’ er Pfdrtner, der den Gaft
Bum Beten ladet oder Trinfen.
Die Rebe ſchreibt mit leifer Hand
Inſchriften, liebeſam zu leſen,
Mit grünen Lettern an die Wand,
Weß Ordens der Convent geweſen.
Der Crucifixus — wunderbar! —
Ein Chriſtus ſchien's pfingſthimmeltrunken,
Vom Marterholz gefallen war,
G'rad in das Rebenlaub geſunken.
Und eine Rebe ſah ich da
Wes Herren Füße feſt umſchließen,
Das war vie blonde Magdala
Mit ihrem Kup, dem fiindig ſüßen.
Sobannes auc) als Rofe lag
Dem Herrn 3u Haupt auf feinen Knieen,
“Und ſchaut' verzückt empor und fprad
Bur Trauerweide, yu Marien:
„O ting’ bie Hinde nidt in Mot!
Was fann’3 auf Erden Beſſres geben,
Als einen heißbeweinten Tod
Nad einem jungen Liebeleben?”
Die blonde Rebe lispelnd rief:
Ergoſſen bab’ id) meine Sdmerjen,
Die Luft bie mir im Bufen fdlief,
Ergoſſen voll aus vollem Herzen.
308
Still dacht id dem Myſterium nad,
Dem Chriftentum, bas worden trite;
Die Rofe fab mid an und fprad:
1D Menſch! Am Anfang war vie Liebe!”
Der bekraãnzte Shade.
Im ſtillen Kloſterhof id fab,
Gin Sade! lag gu meinen Fagen,
Der lauſchte lachend aus dem Gras,
Und that mid gaftlid grußen. 7
Nichts that ihm an gemeiner Staub,
Denn um die table Stirn gelinde
Schlang ſchirmend dad getraujte Laub
Die blihende Clematiswinde.
Mix war's, als ob der Schädel fprad:
Gin Gorgenabt bin id gewefen,
Ich hab’ den Britdern allgemad
Des Evangeliums Lert gelefen.
Gin Gleichniß lag mir ftets gum Grund:
Ich bin der Beinftod, ihr die Trauben;
Das Gleidnip fuhrt id ftets im Mund,
_ Sein Ginn ift einfach, ohne Sdrauben,
Und einfach war mein Sacrament,
Bom Abendmal die tiefe Lehre:
Das Befte was die Erde nennt,
Die Traube ift es und die Aehre.
309
Ich tetlt’ fie au3 an manden Gaſt,
Dem Armen gab ich Gottes Segen,
War frdhlid) diefe Erdenraſt,
Und fonnt’ mid froh yur Grube legen.
Sieh’ hier bas junge Laub, mein Sohn — |
Des Lebens muft’ ih mid entfdlagen,
Doh ſchmückt den Schädel mir gum Lohn
Der griine Kranz, ben id getragen.
Run fei mein Gaſt, genie’ des Weins,
Lap dir die Mloftertraube munden.
Sei einft dein Todtenbaupt wie mein3
Von einem gritnen Zweig umwunden.
Sechstes Kapitel.
Gaſtliches Familienſtillleben tr Oreto.
Denn tem Zens gehiret ein jeder
S$rembling unb Darbender an; und dte Dab’ ift Hein aud erfreulich.
Oboffee.
Zwiſchen Frudtgarten, deren Gemäuer die ſchöne Clematis:
winde umfringt bielt, ging id) nod zwei Stunden bergauf
und burd Caftanienbaine bid Oreto dem Hddftgelegenen Ort
per Casinca.
Oreto bat feinen Namen von dem griechiſchen Oros; denn
e3 liegt hoch auf der Spige eines gritnen Berges. Cin
madtiger Granitblod ragt grauhäuptig mitten aus dem Dorf
hervor wie ein Fundament, gefdaffen vas Coloffalbild eines.
Hercules darauf gu ftellen. Um nad Oreto gu gelangen,
mufte id) mühſam auf engem Pfad emporllimmen, wo an vielen
Stellen zugleich ein Quell herabraufdte.
. —— — —— —
310
Oben angelangt trat ich auf den Platz, den größeſten,
den ich noch in einem Dorfe fand. Er iſt die Plattform des
Berges, von anderen Bergen überragt, von Haujern umſtellt,
welche wie der Frieden ſelber ausſehen. Der Pfarrer ſpazierte
mit ſeinem Küſter umher, und die Bewohner lehnten in der
Sabbatruhe an den Gärten. Ich trat auf eine Gruppe zu
und fragte, ob im Ort eine Locanda wäre. Nein, ſagte der
Eine, wir haben keine ſolche, aber ich biete euch mein Haus
an, ihr ſollt finden was wir haben. Das nahm ich mit
Freuden an und folgte meinem Gaſtwirt. Ehe ich eintrat,
wollte Marcantonio, daß ich den Stolz Oreto's, die Fontäne
des Dorfs, in Augenſchein nähme und das Waſſer koſte, das
herrlichſte im ganzen Land Casinca. Trotz meiner Ermüdung
folgte ich dem Corsen. Das eiskalte Waſſer ſtrömte in einem
ſteinernen Tempel aus fünf Röhren in unerſchöpfter Fülle.
In Marcantonio's Haus gekommen, wurde ich von ſeinem
Weib ohne Phraſe bewillkommnet. Sie bot mir guten Abend
und ging gleich in die Küche das Mal zu rüſten. Mein Wirt
hatte mid in fein beſtes Zimmer geführt, und id) war er⸗
ftaunt dort einen fleinen Bitchervorrat 3u finden; e3 waren
geiftlidhe Dinge, die er geerbt hatte. Ich bin unglidlid,
fagte Ptarcantonio, denn id) habe nichts gelernt und bin febr
arm. Deshalb muß ic hier auf vem Berge figen, ftatt auf
das Feftland gu geben und ein Amt zu belleiden. Ich be-
tradtete mir dieſen Mann im braunen Rittel und der phry⸗
gifdhen Mütze genauer. Gr hatte ein verſchloſſenes, von
Leidenfchaft durchfurchtes Gefidt von wahrhaft eiferner Harte,
und twas er fprad war kurz, entfchiedben und in einem - bittern
Son, Ich fab diefen Mann nidt ein eingiges Mal lächeln
und fand in den einfamen Bergen eine von Ehrgeiz gequilte
binausftrebende Seele. Golde Grideinungen find in Corsica
nidt felten; mächtig lodt dad Beifpiel vieler Familien aus
ven Dörfern, wo man oft in der finfterjten Capanna die Fa:
;
311
milienbiloniffe von Senatoren, Generalen und Präfecten finden
fann. Die Inſel Corsica ift das Land der Emporlimmlinge
und der natirliden Gleicbeit.
. Marcantonio’s Todter, ein junges Mädchen yon blitbend
fraftiger Geftalt trat in da3 Bimmer. Sonſt feine Runde von
ver Anwefenheit des Gafted nehmend fragte fie nur gang laut
und ganz naiv: Vater, wer ijt ber Fremde, ift e3 ein Franzos,
was will er in Oreto? Ich fagte ihr, dab ich ein Deutſcher
fet, was fie nidt verftand. Giulia ging ihrer Mutter beim
Male helfen.
Es ward aufgetragen das reichſte Mal eines Semen, « eine
RKrautfuppe und dem Gaft zu Chren ein Stück Fleiſch, Brod,
Pfirfden. Die Todter brachte die Speiſen, aber nach corsi⸗
ſcher Gitte nabm weder fie nod). die Mutter am Cfien- Teil,
fondern der Mann allein legte mir vor und aß neben mir. -
Gr fiibrte mic) darauf in die fleine Kirche Dreto’s und
auf den Rand des Felfens, um die unvergleidlid [chine Fern:
ficht gu genießen. Der junge Curate und eine nidt fleine
Gefolgſchaft von Paeſanen begleiteten uns dahin. C3 war
ein fonnengoldiger, wonnig frifder Abend. Ich ftand erftaunt
ob folder Herrlidfeit der Natur, denn yu meinen Füßen fab
id) die caftanientvalbbededten Berge in die Chene hinabſinken,
biefe einem unermefliden Garten gleid fid) zum Strande
dehnen, von dem Golofluß und dem Fiumalto durchſchlängelt,
begrenjt vom verflarten Meer, an dejfen Horizont die Inſeln
Capraja, Elba und Monte Crifto ſich aufreihten. Der Blick
umfaßt die ganze Uferlinie bis nad Baſtia und ſüdlich bis
Gan Nicolao — landhinein Berg an. Berg , mit Dorfern
gekrönt.
Auf dieſer Stelle war eine fleine Gemeinde um uns ver-
fammelt, und id) madte. mir das Vergniigen, die Bnfel gu
preifen, twelde fo merkwürdig fei durch ibre Natur wie burd
pie Geſchichte ihres heroiſchen Voll. Der junge Curate fepte
312
dieſes Lob mit vielem Feuer fort, die Bauern ftimmten ein,
und jeder wußte fein Baterland gu ebren. Yd madte die
Bemertung, dab diefe Leute in der Geſchichte ihres Landes
trefflid zu QGaufe waren. Der Curate erregte meine Verwun⸗
derung, er hatte Geift und einen wigigen Wusdrud. Von
Paoli fpredend fagte er einmal: „ſeht, feine Zeit war eine
Beit ver Thaten, die Pinner von Orezza fpracden wenig,
aber fie banbdelten viel. Hätte unfere Beit einen eingigen
Mann von der grofen und aufopfernden Seele des Pasquale
hervorgebradjt, fo ſtände e3 heute ander in der Welt. Wher
jept ift e3 die Seit der Chimadren und der Federn, und bod
ift der Menſch nidht gemadt gum Fliegen.“ Ich folgte bem
Curaten mit Freuden -in fein Presbyterium, ein ärmliches
Haus-von ſchwarzen Steinen. Aber fein Stibden war ſchmuck
und hatte eine faubere Bibliothef von cin paar hundert Bän⸗
ben. Ich verlebte eine angenehme Stunde bei einer Flafde
des köſtlichſten Weines mit dem gebildeten und aufgellarten
Mann mid unterbaltend, wabrend Marcantonio ftumm und
verfdloffen dabei fap. Da wir auf Aleria gu ſprechen famen,
fragte id nad) rdmifden Wtertiimern in Corsica. Marcantonio
nabm pliglid) bas Wort und fagte ſehr ernft und kurz: wir
brauden den Ruhm römiſcher Altertümer nidt, wir haben
genug an dem unjerer Vater.
In Ptarcantonio’s Haus zurückgekehrt, fand id im Zim:
mer aud) Mutter und Todter, und wir fegten und zum vers
trauliden Familienfreife um den Tijd gufammen. Die Frauen
befferten ihre leider aus, fie waren gejpradig, unbefangen,
naiv wie alle Corſen. Die raftlofe Thatigkeit der corsiſchen
Srauen ift befannt; den Mannern untergeordnet und in der
Gefellfdaft befcheiben ein dienendes Los hinnehmend, rubt
. bie ganze Laft der Arbeit auf ihnen; fie teilen dieſes Scidfal
mit ben Weibern aller friegerifchen Völker, wie namentlid der
Serben und Wlbanefen.
313 .
Ich beſchrieb ihnen die großen Städte des Feftlandes,
ibre Gebriude, wie einige Sitten meined Baterlandes. Mie
dufserten fie Gritaunen, obwol was fie bitten ihnen gänzlich
fremd war und Giulia nod feine Stadt, nidt einmal Bajtia
gefeben hatte. Ich fragte das Madchen nad) ihrem Alter. Ich
bin zwanzig Jahre alt, ſagte ſie.
Das iſt unmöglich. Ihr habt kaum ſiebzehn Jahre.
Sie iſt ſechzehn Jahre alt, ſagte die Mutter.
Nun, wißt Ihr nicht Euren eigenen Geburtstag, Giulia?
Nein, aber er ſteht im Regiſter und der Maire wird ihn
ſchon wiſſen.
Der Maire iſt alſo der einzige Glückliche, der den Ge⸗
burtstag des ſchönen Kindes feiern kann, wenn er nämlich
ſeine große Hornbrille auf die Naſe ſetzt und in dem großen
Regiſter nachſchlaͤgt.
Giulia, wie vergnügt Ihr Euch? Jugend will doch ihre
Freude haben.
Ich habe zu thun genug, den Brüdern fehlt auch alle Augen⸗
blick etwas; Sonntags gehe ich in die Meſſe.
Wie werdet Ihr Euch morgen ausputzen?
Ich werde die Faldetta anziehn.
Sie holte die Faldetta aus dem Schrank und zog ſie über,
das Mädchen ſah ſehr hübſch darin aus. Die Faldetta iſt ein
langes Gewand, meiſt von ſchwarzer Farbe, deſſen hinteres
Ende über den Kopf geworfen wird, ſo daß es einem Nonnen⸗
gewande mit Kapuze ähnelt. Aeltlichen Frauen: gibt die Fal:
detta Wikrde, junge Mädchen umwallt fie geheimnißvoll und
reigend.
Die Frauen fragten mid, wer id fet. Das war fdwer yu
beantworten. Ich zog mein febr funftlofes Skizzenbuch hervor
und indem id ibnen einige Blatter seigte, fagte id), daß id
ein Daler fei.
Seid Ihr ins Dorf gefommen, fragte Giulia, um die
314
Stuben anjuftreichen? Yeh lachte laut auf, e3 war diefe Frage
eine geiftvolle Rritif meiner corsiſchen Sfiszen.
Marcantonio fagte febr ernft: laßt nur, fie verfteht es nidt.
Von ſchönen Künſten und Wiffenfdhaften haben dieſe cor:
Zifdhen Frauen feine Runde; fie lefen feine Romane; in der
Dammerftunde fpielen fie die Biter und fingen einen ſchwer—⸗
mut2vollen Bdcero. Wher in vem fleinen Kreiſe ihrer An:
{hauungen und Gefiible bleibt ibre Geele ftart und gefund
wie die göttliche Natur, feufd und fromm und lebensſicher,
und fabig aller Uufopferung und folder heroiſchen Entſchlüſſe,
welche die Poefie der Cultur als die erhabenften Bilver menfd-
lider Geelengrife fiir alle Zeiten aufftellt, wie Wntigone und
Iphigenia.
Dieſes Naturvolk kann jeder einzigen heroiſchen That des
Altertums eine gleiche an die Seite ſtellen.
Der jungen Corsin Giulia zu Ehren erzähle ich die fol:
gende Geſchichte, welche hiſtoriſch iſt, wie jede andere Novelle,
die ich mitteilen werde.
Die corsiſche Antigone.
Daliegen ſoll er unbeweint, grablos, ein Mal
Den Vögeln, tie gum ſüßen Raube niederſchaun — —
Id) will ihn ſelbſt
Beſtatten, ruhmvell iſt ber Tob für ſolche That.
Bet ihm, dem Lieben, werd’ ich ruhn bie Lietende,
Die frommen Frevel übte.
Antigone bed Sophoklee.
Es war gegen das Ende des Jahres 1768. Die Fran⸗
zoſen hatten Oletta beſetzt, ein anſehnliches Dorf im Lande
Nebbio. Weil dieſer Ort wegen ſeiner Lage höchſt wichtig
war, hatte Pasquale mit den Einwohnern Verbindungen an⸗
geknüpft, um die franzöſiſche Beſatzung zu überfallen und ge:
fangen gu nehmen. Cie zählte 1500 Mann unter dem Bee
315
febl de3 Marquiz Arcambal. Wber die Franjofen waren auf
ibrer Out, fie verfitndeten dad Kriegsgeſetz in Oletta, fo dap
pie Manner de3 Dorf3 nights wagen durften.
Grabesſtille herrſchte in Oletta.
Da verlieh eines Tags Giulio Saliceti ohne Erlaubniß
per frangdfifden Wade fein Dorf, um auf die Campagna
binausgeben. WIS er zurückkehrte, wurde er feftgenommen
und in den Rerfer geworfen; dod gab man ihm nad furzer
Beit die Fretheit wieder.
Der Yingling ging nad dem Hauje feiner Verwandten,
Groll im Herzen, dab ihm der Feind eine Sdmad angethan.
Gr murmelte etwas vor fid bin, und das war wol ein Flud
gegen die verhaften Franzoſen. Cin Sergeant hörte was
Giulio murmelte, er gab ihm einen Sdlag ind Gefidt. Died
geſchah vor dem Fenfter de3 Haufes, und am Fenfter ftand
ver Wht Saliceti, Giulio’s Verwandter, den dad Volk Peve-
tino nannte, das beibt ſpaniſcher Pfeffer, weil er ein higiger
Mann war. Wie Peverino den Schlag ins WAntlig feines
Verwandten fallen fah, war e3 ihm als follte ibm das Herz
im Leib verbrennen.
Als nun Giulio feiner Ginne nicht madtig in das Haus
ſtürzte, nahm ibn Peverino in feine Rammer. Jad einer
Weile fah man beide heraustreten, rubig, doc) unheimlich ernft.
Nachts ftiegen andere Manner in dad Haus Saliceti und
ſaßen jufammen und berieten. Was fie berieten war died:
fie wollten die Rirdhe in Oletta, weldhe die Frangofer in ihre
Caſerne verwandelt batten, in die Luft jprengen. Cie wollten
ſich rdchen und fich befreien.
Sie gruben eine Mine von Galicet’3 Hauſe bid unter
die Kirche, und nachdem fie ſich dabin durchgewühlt, fillten
fie den Minengang mit all’ dem Pulver, welches fie verſteckt
gebalten batten.
Am 13. Februar follte die Kirche auffliegen, gegen die Nadt.
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Dem Giulio war das Herz vor Ingrimm fo fein ge:
worden wie eine Flintenfugel. Morgen, fagte er 3itternd,
morgen! Laßt mid die Lunte anlegen. Sie haben mid) in3
Geſicht gefdlagen, ich twill ihnen einen Schlag geben, ber foll
fie bi in die Wolfen werfen; id will fie.aus Oletta heraus⸗
wettern mit einem Schuß wie das Blei aus einer Tromba.
Aber die Weiber und Kinder, und die e3 nidt wiffen?
G8 wird die nächſten Haufer mitreipen unb die ganze Wad:
barſchaft.
Man muß ſie warnen. Man muß ihnen unter irgend
einem Vorwand befehlen, um die gewiſſe Stunde nach dem
andern Ende des Dorfs zu gehen, und das in aller Stille.
So thaten die verſchwornen Manner.
Als nun die flirdterlide Stunde des Whends fam, fah
man Greife, Manner, Weiber, Kinder in ungewiffer Furdt,
heimlid) und ſchnell nad dem andern Ende des Dorfes geben
und dort fid) fammeln.
Da ſchöpften die Franzoſen Argwohn, auch kam ein Bote
vom General Grande: Maijon herbeigeſprengt; der gab jäh—⸗
ling3 Kunde von dem twas man diefem bereits gemeldet hatte.
Denn Jemand hatte den Anſchlag werraten. Augenblicks
warfen fic) die Frangofen auf Saliceti’s Haus und die Pulver:
mine und verbhinbderten dad hölliſche Unternehmen.
Saliceti mit einem fleinen Teil der Verſchworenen hieb
fic) vergiweifelt durd und entfam aus Oletta. Andere aber
wurden ergriffen und in Retten gelegt. Das Kriegsgericht
verurteilte vierzehn Zapfere zum Vode burch das Rad, und
an fieben Unglidliden wurde die Strafe wirklich vollzogen.
Sieben Leichname fab man auf dem Blak vor dem Klofter
in Oletta öffentlich ausgeftellt. Rein Grab durfte thnen wer:
den, Der frangbfifdje Obert hatte das Gebot erlaffen, dab
der des Todes ſchuldig fein folle, welder einen der Todten
vom Geriift nebmen und begraben würde.
317
Auf vem Dorf Oletta Tag das Cntjegen. Der Todes⸗
ſchauer hatte jede3 Herz ergriffen. Reine menſchliche Seele
geigte fid) auf ben Strafen; dad Feuer auf den Herden war
erlojden, jede Stimme todt auper der ded Weinens. Cie -
fafen in ben Häuſern, und ihre Gedanfen ftarrten unablafjig
nad dem Rlofterplag, wo die fieben Leichen auf dem Ge⸗
ritfte lagen.
G3 fam die erfte Nacht, da ſaß auf ihrem Bett in der
Kammer Maria Gentili Montalti. Sie weinte nicht, ſie ſaß,
pas Antlitz auf die Bruſt gebeugt, die Hinde im Schoß, die
Augen gefdlofen. Manchmal ſchluchzte ihre Seele auf.
G3 war ibr, als riefe durch die Stille der Nacht eine
Stimme: O Mari!
Die Todten rufen mandmal in der ftillen Nacht ben Namen
defjen, den fie gelicbt haben. Wer antwortet, muß fterben.
Bernardo! rief Maria.
Bernardo aber lag vor dem Klofter auf dem Geriift, und
yon den Todten war er der Dilngfte und der Giebente. Gr
war Maria's Geliebter, im folgenden Monat follte die Hochzeit
fein. Nun lag er todt auf dem Blutgeriift.
Maria Gentili ftand in der dunkeln Rammer ftill, fie
hordte gegen bie Seite bin, wo der Rlofterplag lag, und ibre
Seele bielt Swiefprad mit einem Geifte. Bernardo fdien fie
su bitten um ein chriſtliches Begrabnif.
Der aber follte des Todes ſchuldig fein, welder einen
Rodten vom Gerüſt nehmen und begraben wiirde. Maria
wollte ihren Geliebteh begraben und dann fterben,
Sie öffnete leiſe die Thür ihrer Kammer, um das Haus
zu verlaſſen. Sie ſchritt durch das Zimmer, in welchem ihre
greiſen Eltern ſchliefen. Sie trat an ihr Lager und lauſchte
den Atemzügen ihres Schlafes. Da fing ihr Herz an zu
zittern, denn ſie war das einzige Kind ihrer Eltern und ihr
Stab, und wie ſie bedachte, daß ihr Tod durch Henkershand Vater
318
und Mutter in die Grube beugen würde, ſchwankte ibr Die Seele
in großem Leide; fie that einen Schritt zurück nach ihrer Kammer.
Da hörte fie wieder die Todtenftimme Hagen: — O Mari!
— O Mari, id habe did) fo febr geliebt, und nun willſt
du mid) jverlaffen. Jn meinem gebrodjenen Leibe liegt das
Herz, das in Viebe zu dir geftorben ift — beqrabe mid, in
der Kirche des Sanct Franciscus, im Grab meiner Vater...
Maria’ sffnete die Thüre be Hauſes und trat in die
Nacht hinaus. Sie wantte nad dem Klofterplag. Die RNadt
war finſter. Mandmal fam der Sturm und fegte die Wolfen
binweg, dab der Mond hinunterfdien. Wenn fein Stral auf
den Kloſterplatz fiel, war’s als wollte dad Licht de3 Himmels
nidt fehen was es fab, und der Mond 30g die ſchwarzen
Wolkenfdleier wieder vor. Denn vor dem Rlofter lagen auf
dem roten Geriift fieben eichen,. eine neben der andern, und
die fiebente war eines Jünglings Leide.
Die Cule und der Rabe fdricen auf dem Turm, die fangen
den Vdcero, die Todtenflage. Cin Grenadier aber ging mit
gejdultertem Gewebr in der Mabe ded Platzes auf und ab.
Ihm graufte wol bis in dad tieffte Mark, er hatte feinen
Mantel über das Geficht gefdlagen, ‘und wandelte langſam
auf und nieder.
Maria hatte fic) in die ſchwarze Faldetta gehüllt, daß in
ver Nacht ihre Geftalt leidter verſchwände. Cin Gebet ſchickte
fie gur beiligen Gchmerzen3mutter, dab fie ihr belfen folle,
und dann. fdritt fie rafd) gu bem Gerüſt. Der fiebente Todte
war's — fie liste Bernardo; ibe Herz und ein Sdimmer
von feinem Todtengefidt fagten ihr, dab er es war, aud in
ver dunfeln Nadht Maria nabm den Todten auf. ihre Arme,
auf ihre Sculter. Gie war ftarf geworden wie von Mannes⸗
fraft. Sie trug ihn in die Kirche des beiligen Franciscus.
“Da fete fie fich erſchöpft auf die Stufen eines Altars,
diber dem dad Muttergotteslimpden brannte. Der todte Ber-
—
— —
— — —
319
nardo lag auf ihren Knieen, wie der todte Chriftus auf den
Knieen Maria’s lag. Pieta nennt man diefe3 Bild im Silden.
Kein Laut in der Kirche. Die Muttergotteslampe flimmert.
Draußen ein Windſtoß, der voritberfaust.
Da erhob fid Maria. Sie lieB ven Tobdten auf die Stufen
des Altars niedergleiten. Sie ging an die Stelle, wo das
Grab von Bernardo’s Vätern lag. Sie Hffnete es. Dann
nabm fie ben Todten. Gie fipte ihn und fentte ibn in dag
Grab hinunter, das fie wieder ſchloß. Maria tniete lange
por dem Bilbe der Ptuttergottes und betete, daß Bernardo’3
Seele Frieden babe im Himmel, und dann ging fie ftill bin:
weg, in ihr Haus und in ihre Rammer.
Als der Morgen anbrad, feblte von den Todten auf dem
Klofterplag Bernardo’s Leide. Die Kunde flog durch das Dorf,
Daf fie verſchwunden fet, und die Soldaten trommelten Warm.
Man zweifelte nidt, dab die Familie Leccia ihren Verwandten
Nachts von dem Gerüſt genommen habe, und auf der Stelle
prang man in ihr Haus, nabm fie gefangen und warf fie
mit Retten gefdlofien in den Turm. Nach dem Gefeg ded
Toves ſchuldig follten fie ben Tod erleiden, ob fie gleich die
That leugneten.
Was geſchehen war hirte Maria Gentili in ihrer Rammer.
Ohne ein Wort zu fagen, eilte fie aus dem Hause zu dem
Grafen de Baur, welder nad Oletta gefommen war. Sie
warf fid) ihm gu Füßen und bat um die Freilafjung der Ges
fangenen. Gie befannte fid) gu der That. Yd) habe meinen Ge-
liebten begraben, fagte fie, ic) bin des Todes fduldig, bier
ift mein Gaupt; aber laßt die in Freibeit, weldhe unſchul⸗
dig leiden.
Der Graf wollte anfangs dem nidt trauen was er birte,
denn er bielt e8 fiir unmöglich, fowol dap ein ſchwaches Mäd⸗
den einen folden Heldenmut befigen, als daß es die Kraft
haben fdnne, zu vollbringen was Maria vollbradte. Als er
320
fih nun von der Wahrheit ihrer Ausfage überzeugt hatte,
ftand er tief erfdiittert und gu Tranen gerührt. Gebe, fagte
er, großherziges Dtadden, und ldje ſelbſt deines Brautigams
Verwandte, und mige Gott deinen Helbenmut belohnen.
Am felbigen Tage nahm man die ſechs Geridteten vom
Gerfift und gab ihnen allen ein driftlides Begräbniß.
Siebentes Kapitel.
Cin Ritt durdy das Land Orezza nach Morosaglia.
Ich wollte von Oreto durd das Land Orezza nad Mo⸗
rosaglia hinüber. Marcantonio hatte mir verfproden mid
zu begleiten und gute Pferde gu beforgen. Gr wedte mid
alfo de8 Ptorgen3 und machte ſich bereit. Gr hatte fic in
feinen beften Gtaat geworfen, eine fammtne Jade angezogen
und fid) febr glatt raſirt. Die Frauen gaben un3 nod ein
guted Frühbrod auf die Reife, und fo ſchwangen wir uns auf
die Corgenpferde und ritten ſtolz von dannen.
Mir wird nod die Geele froh, wenn ih an jenen Gonn-
tag3morgen dente und an den Ritt durd) dies romantifd {dine
Land Oregga über die grünen Berge, durch die kühlen Tal:
ſchluchten, über raufdende Bade, durd) die dunkeln Gichen:
wilder. So wweit dad Wuge reicht überall diefe tieffdhattigen
duftigen Caftanienbaine, diefe gewaltigen Riefenbaume, wie
id fie nimmer nod gefebn. Die Natur hat hier alles ge:
than, der Menfd fo wenig. Die Cajftanien find oft fein eingig
Gut, und der Corse befigt mandesmal nidt mehr ald feds
Biegen und feds Baume, welde ihm feine. Polenta geben.
Die Regierung hatte bereits den Ginfall gebabt, dieſe Walder
auszuhauen, um den Corsen gum Wderbau yu gwingen, aber
das biebe ihn verbungern laffen. Manche Baume haben awilf
321
Fuß dide Stamme;. das volle Laub, die langen breiten und
dunkeln Blatter mit. den gefaferten hellgrünen Fruchtkapſeln
gemabren einen ſchönen Anblick.
Ginter Caſalta famen wir in eine fberaus romantifde
Schlucht, weldhe der Fiumalto durchrauſcht — überall iſt bier
Serpentin und der köſtliche Marmor, Verde antico. Dad
Elyſium der Geologie nennen die Ingenieure das Ländchen
Orezza; die Waſſer des Fluſſes rollen das edle Geſtein mit
ſich. Immer fort durch balſamiſche Haine, bergauf, bergab,
ritten wir weiter nach Piedicroce, dem Hauptort in Orezza, be⸗
rühmt durch ſeine Heilquellen. Denn wie an Mineralien, ſo
iſt dies Land auch an mineraliſchen Waſſern reich.
Marmocchi ſagt in ſeiner Geographie der Inſel: Die Mine⸗
ralwaſſer ſind überhaupt das charakteriſtiſche Zeichen der Länder,
welche durch die innern Kräfte gehoben find. Corsica, welches
in einem kleinen Raum das überraſchende und fo mannig:
faltige Schaufpiel ver taufend Wirkungen diefes alter Rampfes
awifden bem erbigten Innern und der erfalteten Rinde der
Erde darbietet, fonnte von diefer allgemeinen Regel teine Wus-
nabme madden.
Corsica bat alfo feine falten und warmen Mineralquetlen,
und obwol diefelben, fo weit man fie bisher gezählt bat, zahl⸗
reid) genug find, ift e3 bod unbegweifelt, daß man fie nod
nicht alle fennt.
Was vie Naturgefdidhte und im Befondern die Mineralogie
betrifft, fo ift diefe ſchöͤne Inſel nod lange nidt vollftandig
erforjdt.
Bis heute fennt man nur genau und vollftindig 14 Miz
neralquellen, warme wie falte. Die Verteilung diefer wol:
thitigen Wafer über die Oberfläche, befonders was ihre
Waͤrmebeſchaffenheit hetrifft, tft fehr ungleid. Die Region
des primären Granits zählt ibrer adt, alle warm und mebr
oder minder ſchwefelhaltig bids auf eine; wabrend die Region
Gregorovius, Corsica. I. 21
322
ber primaren ophyolitijden und calciren Waffen mur feds
bejigt, von denen eine cingige warm ift.
Die Ouellen Drezza's, an vielen Stellen vorbredjend,
fiegen anf dem redjten Ufer des Fiumalto. Man benugSt nur
die Hauptquelle; fie ift falt, ein eiſenhaltiger Gauerbrunnen.
Sie fprubelt mit groper Macht in cinem Berge unterhalb
Piedicroce, aus einem Cteinbeden. Wan hat gar feine An-
ftalten getroffen, den Brumengäſten dort Gricidternng jn
fdaffen, fondern diefe geben oder reiten unter ifren Sonnen⸗
fdirmen die Berge hinunter in den griinen Wald. Rad einem
mebrftiindigen Ritt in der brennenden Hige und ohne Connen-
ſchirm fdymedte mir dies heftig muffirende Waffer gar köſtlich.
Piedicroce liegt hod). Gein fdlanter Kirchturm fieht frei
und luftig vont dem griinen Berg herunter. Die Lage der
corsijden Kirchen ift oft bejaubernd fdin und fiibn. Cie
fliegen eigentlid fdon tm Himmel, und wenn man ibre
Thüren aufthut, fo können die Wolfen und die Engel unter
die Gemeinde berein{pazieren. |
Gin majeftdtifdes Gewitter flammte um Piebdicroce und )
ber Donner hallte ftarftinig rings in den Bergen. Wir ritten
in den Ort, der Regenflut yu entgehn. Gin junger Mann in
fauberer ſtädtiſcher Kleidung fprang aus einem Haufe und
[ud und ein abjufteigen und in feine Locanda zu treten. Es |
waren da nod) zwei Herren mit Cavalierbarten und von febr
gewandtem Benehmen, die ſogleich nad meinen Befeblen
fragten. Und flint waren fie dabei; der Gine rührte Gier
sufammen, der Andere trug Hol; and Feuer, der Dritte hackte
Fleiſch. Der Aeltefte unter ihnen hatte ein ede! gefdnittenc3,
nod) fieberblaffes Gefidt und einen langen ſlaviſchen Schnauz⸗
bart. Go viel Rice zu einem jdlidten Mal und fo gar
pornehme hatte id) nod) nirgend gefunden. Ich war ſchier
verwundert, bid fie fid) mir enthbedten. C3 waren zwei flidtige
Modenefen und ein Ungar. Wabrend ber Magnare das Fleiſch
_ all
- 323
briet, erzablte er mir, dap er fieben Jahre lang Oberleutnant
gewefen fei. Nun ftebe id bier und Lode, febte er hinzu;
aber fo geht's in der Welt, wenn man jum armen Teufel
in ber Fremde geworden ijt, darf man fid nidt ſchämen.
Wir haben hier ein Gafthaus aufgefdlagen fiir die Zeit der
Brunnencur und haben faft nichts eriibrigt.
Wie id) ven bleiden Mann betradtete — er hatte fid
in Aleria dad Fieber gebolt — überkam mid ein Mitgefühl.
Wir fegten uns zuſammen, Magyar, Lombarre, Corse,
Deutfher, fpraden manderlet von alten Dingen und nannten
manden Ramen jiingfter Vergangenheit. Wie werden viele
dieſer Namen fo ftill vor dem einen grofen Paoli. Ich darf
" fie neben ihm nidt nennen, der edle Birger und der ſtarke
Mann der That will allein fein.
Das Gewitter war hinweggezogen, aber die Berge ftanden
nod) tief vernebelt. Wir ftiegen yu Pferd um über da3 Geez
birg Gan Pietro weiter nad Ampugnani ju reiten. Es grollte
und rollte nod in den Schluchten und rings um flatterten
vie Wolfen. Cine wilde Stimmung lag tranenfdwer über dem
Gebirg, bisweilen nocd ein Blig — Berge wie im Wolfenmeer
verfunten, andere fic) herauswühlend gleich) Giganten; wo die
Schleier reipen eine faftige Landfdajt, gritne Haine, ſchwarze
Dörfer — und das fliegt gleichſam an dem Reiter voriber,
Gipfel und Tal, Klofter und Turm, Berg und Berg, wie
Sraumbilber in Wolfen hangend. Die elementarifhen Ges
walten, welde gefefjelt in ber Menfdhenfeele ſchlafen, möchten
da ihre Bande fprengen und hinausraſen. Wer erlebte nidt
folhe Stimmungen auf wilder Gee oder beim Wandern durd
ven Sturm. Was man da fihlt ift diefelbe Naturgerwalt,
welde wir Menſchen Leidenfdaft nennen, wenn fie fid in
einer Gorm beftimmt. Vorwärts Marcantonio, und laffen
wit die roten Pferde diefen Nebelberg entlang fpringen, weil
wir nod jung find, und fo gilts: alles wad Federn bat
324
ftiegt hod); Wolfen fliegen, Berge fliegen, Klöſter fliegen,
Tiirme fliegen, Roß und Reiter fliegen. Wh! e3 ijt eine
Luft, zu fliegen! — Da hängt ein ſchwarzer Kirhturm drüben
bod in den Mebeln und die Gloden läuten und liuten —
Wve Maria, daß die Seele ftille werbde.
Die Ortfdaften find hier Hein, tberall auf den Bergen
serftreut, hod) gelegen und in granen Talern. Yd zählte deren
bon einem Puntt aus um mic her 17 mit ebenfoviel ſchlanken,
ſchwarzen Kirchtürmen. Viele Ptinner famen un3 entgegen,
Manner aus dem alten hiftorifden Lande Orezza und Roftino, |
ftarfe, bliihende Heldengeftalten. Ihre Vater bildeten einjt die
Garde Paoli’3.
Bei Polveroso gab’s einen herrliden Bli¢ in einen Tal:
feffel, in defjen Mitte Porta liegt, ber Hauptort des Ländchens
Wmpugnani, ganz umringt von Cajftanienbiumen, die nun
abtropften. Hier lag ehemal3 das alte Accia, ein Bistum,
welches ſpurlos verſchwunden ijt. Porta fiebt fauber aus und
viele feiner Häuſer gleichen BVillen. Die fleine gelbe Kirde
hat eine ſchmucke BVorderfeite und ein grazidfer Glodenturm
jteht al8 Campanile nad toscanifdher Wrt neben ihr. Wom
Berg San Pietro hinunter fieht man in dieje Hauferreihen
um die Rirde her wie in ein Theater. Porta ijt das Vater:
land der Gebajtiani.
Mun werden die Berge fabler und lakoniſcher und ver:
lieren den Schmuck der Caftanien. Gewaltige Difteln fand
id am Wege, mit breiten, fdingerandeten Blattern und alg
baumartige Sträucher, deren Stämme fdon bart verbolst
waren.
Marcantonio war ganz in Schweigen verfunfen. Die
Corgen fprechen wenig wie bie Spartaner, mein Wirt vor
Oreto war meift ftumm wie Harpofrates. Ich war dod einen
ganzen Tag von Morgen bid Abend mit ihm durd die Berge
geritten und konnte fein Geſpräch in Fluß bringen. Nur bids
6
325
weilen watf er eine naive Frage hin: habt ihr Ranonen?
habt ibr Gloden 3u Hauſe? wachſen bei eud) auch Friidte?
ſeid ihr reid?
Nach Ave Maria erreichten wir den Canton Roſtino oder
Morosaglia, das Vaterland der Paoli, die glorwürdigſte Stelle
corsiſcher Geſchichte und den Mittelpunkt der alten pemofratijden
Serra del Commune. Auf der Campagna nahm Ptarcantonio
von mir UWbfdhied, er wollte in einem Haufe auf dem Feld
ibernadten um morgenden Tags mit ben Pferden heimzu⸗
febren. Gr küßte mid briiderlid) und wandte ſich dann um,
ſchweigſam und ernft, und id, begliidt auf diefem Helden:
lande freter Manner ju ftehn, wanderte allein fort, um das
Kloſter Morosaglia yu erreiden. Cine Stunde habe ic bier
nod) Zeit auf ziemlich öder Flur, und ehe id) nun in Paoli's
Haus fomme, will id fein und feines Volkes Geſchichte fort:
ſetzen, wo td fie abgebroden habe.
Achtes Kapitel.
Pasquale Paoli.
II cittadin non la eittà son io.
Timoleon bes Alfieri.
Nachdem Pasquale mit jeinem Bruder Clemens und feinen
Genoffen Corsica verlaffen hatte, bemadtigten fid) bie Fran:
zoſen leicht der ganjen Snfel. Mur eingelne Guerillabanden
febten in ben Bergen den Kampf fort. Unter ihnen verbdient
ein edler Rimpfer fiir bie Freiheit die Berwunderung der Nach⸗
welt. G3 war ber arme Pfarrer von Guagno, Domenico
Leca, aus der alten Familie Giampolo’3s. Gr hatte auf das
Evangelium gefdworen der Freibeit treu zu bleiben und eber
326
au fterben alg vom Kampf zu lajjen. Wie nun alles Land
fic) unterworfen hatte und der Feind ihn aufforderte, dite
Waffen niederzulegen, erflarte er, daß er an jeinem Gide fid
nidt verfiindigen finne. Cr entließ diejenigen von fetner Ge-
meinde, welche ihm nicht Langer folgen wollten, und warf
fidh mit feinen Treuen in die Berge. Nod Monate hindurd
fimpfte er bier, dod) nur wenn man ibn angriff, und fo oft
verwundete Feinde in feine Hande fielen, pflegte er fie aud
chriſtlicher Barmberzigheit. Nie that er jemand ein Leid anders
alg im ebrliden Rampf. Die Franjofen forbderten ihn auf,
herabzukommen, daß er ungetrantt in feinem Dorf leben mage.
Der Pfarrer von Guagno aber irrte in den Bergen, denn er
wollte frei fein, und nadbem er von allen verlafjen war,
frifteten ihm Biegenbirten dad Leben. Eines Tags fand man
ihn todt in einer Hole, wo er zu feinem Herrn eingegangen
war, miibe und fummervoll und als ein freier Mann. —
Cin Blutsverwandter Paoli’3 und Freund Alfieri’3, Giuseppe
Ottaviano Savelli hat das Andenken de3 Pfarrer3 von Guagno
in einem lateiniſchen Gedicht verherrlicht, welches heißt Vir
nemoris, der Mann vom Walde.
Auch andere Corsen, welche in die Verbannung nach Italien
gegangen waren, landeten hie und da, und verſuchten wie
ihre Väter Vincentello, Renuccio, Giampolo und Sampiero
in alten Zeiten gethan, die Inſel zu befreien. Es gelang
ihnen nimmer. Viele Corsen ſchleppte man in die Kerker,
viele warf man in die Galeren zu Toulon, als wären dieſe
Männer Heloten, die fic) gegen ihre Herren empört Hatten.
Nbbatucci, einer der legten, welde in Waffen geblieben waren,
durch falfde Wnklagen de Hodverrats gezieben, wurde in
Baftia zur Brandmarfung verurteilt. Als er auf dem Hod:
gerüſt fab, wagte der Henker nidt ihm das glühende Cifen
anzulegen. Thue deine Pflicht! rief ein franzöſiſcher Ridter —
ber Henker fehrte fid) yu diefem und ftredte bas Eiſen gegen
327
ihn aus, als wollte er den Ridter brandmarfen. Später
ward Abbatucci freigefprocden.
Unterdeß war auf den Grafen de Baur im Commando
Corsica’s Marbeuf gefolgt. Seine Verwaltung war wolthatig ;
vie biirgerlidben Gefege der Corsen, ihre Statuten, blieben
beftebn, die Zwölfmänner wurden wieder eingefegt und fiir
eine befjere Geridt3barfeit geforgt. Wud fudte man Ynduftrie
und Uderbau im ganz verarmten Lande zu heben. Nachdem
Marbeuf 16 Jahre lang Corsica regiert hatte, ftarb er in
Baftia im Sabre 1786.
Sobald nun bie franzöſiſche Revolution ausgebroden war,
verſchlang die ungeheure Bewegung alle befonderen Angelegen⸗
beiten ber Corsen, und dieſe freiheitsliebenden Dtanner warfen
fic mit Begeifterung in den Strom der neuen Zeit. Der Ab⸗
geordnete Saliceti hatte ben Vorſchlag gemadt die Inſel Frank:
reid) einguverleiben, daß fie an feiner Verfaffung Teil nabme.
Das geſchah burd) Decret der geſetzgebenden Verjammlung vom
30. Movember 1789, und allgemeine Freude erhob fic dar:
über in Corsica. Verwunderſam war der Umfdlag und der
Widerſpruch der Dinge. Daffelbe Frankreich, weldhes 20 Jahre
frither jeine Heere ausgejendet hatte, um die Freiheit der
Corsen zu vernidten, hatte jet deren Berfafjung auf den
ron erhoben.
Die Revolution traf Pasquale nod im Gril. Gr war
nämlich guerft nad Toscana gegangen und von dort nad
London, wo er mit Chren empfangen ward. Paoli fam nad
England geräuſchlos; der edle Birger, welder Curopa auf
der neuen Bahn vorangefdritten war, verlor fic ftill in
feinem Haus in der Orfordſtraße. Cr hielt feinerlei pomp:
hafte Declamationen. Gr wußte nur al Mann yu handeln,
und wenn er e3 nidt mehr durfte, in ftoker Wiirde ju
ſchweigen. Hatte dod) ſelbſt ein Schüler in Corte einmal vor
ibm gefagt: ,Wenn man die Freiheit durd) blope Reden ges
328
winne, fo ware alle Welt frei.” Als Rapoleon vom Bord
deS Bellerophon das Gaftredt Cnglands anrief, als ächter
Core feine legte Sufludt in der Gaftlidfeit ſuchend, verglid
er fic) mit dem Schutz fuchenden Themiftocles. Gr hatte nidt
das Recht fid) mit dem großen Birger Griedhenlands zu ver-
gleiden; jener Themiftocles in der Fremde war Pasquale
Paoli.
Hier find ein paar Briefe aus jener Zeit.
Daoli au feinen Wruder Glemeus
(welder in Toscana geblieben war).
London, 3. October 1769. Ich habe feine Briefe von dir
erhalten. Ich fiirdte, fie find unterſchlagen, denn die Feinde
find dabei flint... Ich bin vom König und von der Konigin
wol empfangen. Die Minifter haben mid beſucht. Diefe Auf:
nahme bat einigen fremden Botfdaftern mipfallen: id bore,
nap fie bei dbiefem Hof reclamirt haben. Ich habe verſprochen
Sonntag aufs Land yu geben den Herzog von GSlocefter zu
befuden, welder und febr jugethan ift. Gd) hoffe fiir ben
-Unterbalt der Unfrigen dabier etwas zu erlangen, wenn Wien
nichts thut. Diefen gehn jebt die Augen auf, fie erfennen
die Wichtigkeit Corsica’s. Der König hat mit mir ange:
legentlid) von der Gade gefproden: meine Perſon felbft
betreffend hat mid) feine Gitte verwirrt. Der Empfang bei
Hof hat mir faft den Unwillen der DOppofition zugezogen, fo
bap einige von ihnen angefangen haben, Satiren gegen mid
su ſchleudern. Die Feinde judten fie zu ermutigen, indem fie
mit gebeimnipuoller tiene ausfprengten, daß id) das Baters
land verfauft habe; dag id) mit franzöſiſchem Geld ein Gut
in der Schweiz erworben habe, dap unfere Giiter von den
Keamanien nidt angetaftet wiirden; daß fie mit diefen Miniſtern
329
tm Einverſtändniß feien, weil aud fie an Frankreid verkauft
wären. Dod glaube id), dab jept jeder aufgeflart fein wird;
und jeder billigt meinen Entſchluß in fein Barteigetriebe mid
etnjulaffen; aber wol das zu firdern was mir geziemt, und
worin ſich alle in Cinflang fegen fdnnen ohne Einbuße an
ibren perfinliden Riidfidten.
Scide mir ein genaues Verzeichniß von allen Unfern,
Die in die Verbannung gegangen find; man muß nidt Roften
ſcheuen: und ſchicke mir Nadhridten von Corsica. Die Briefe
müſſen unter der Zufdrift an Privatfreunde gehen, fonft er⸗
reiden fie mid nidt. Sch erfreue mid einer - vollfommenen
Gejundheit. Diefes Clima ſcheint mir bid jegt ſehr gelinde.
Die Campagna ift immer ganz griin. Wer fie nidt fieht
Fann feine Vorjtellung von Frühling und Lieblidfeit haben:
ver Boden Englands ift qetraiufelt wie die Meereswellen, wenn
der Wind fie leidt bewegt. Die Mtanner leben hier, obfdon
fie von politijden Parteien erregt find, was Handel anbetrijft,
alg waren fie die innigften Freunde: fie find menfdenfreund-
lid, verſtändig, groß in allen Dingen; und fie find glidlid
unter einer Verfaffung, weldje nicht beffer fein fann. Diefe
Stadt ift eine Welt; und fie ift ohne Bweifel die ſchönſte von
allen 3ujammengenommen. Durch ihren Flup fdetnt jeden
Augenblid eine Flotte cingulaufen: id) glaube daß Rom weber
qrifer nod) reidjer war. Aber was bei uns nad Paoli ge-
rednet wird, wird bier nad Guineen, dads ift Louisdor’s ge:
rednet. Ich habe nad einem Wedfel. gefdricben, id habe
nidts von Unterftiigungen fiir mid) hören wollen, bevor id
nidt weiß was fie über die Andern befdloffen haben; aber
id) weiß daß fie gute Whfidten hegen. Bm Fall dab man
laviren muß wenn fie jept nidt finnen, wollen fie beim
erften Rriege bereit fein. Yd grüße alle; lebt glidlid) und
denft nidt an mid.”
"330
Gaffarina von Rußſand an BWasquale Baoli.
Mein Herr General von Paoli!
St. Petersburg, 27. April 1770. Ich habe Shren Brief
aus London vom 15. Februar erhalten. Alles was der Graf
Alexis Orloff Sie von meinen guten Wbfidten fiir Sie mein
Herr hat wiffen laffen, ift eine Folge der Gefühle, welde
mir Ihre Seelengrdpe und die hochherzig edle Weiſe eingeflößt
haben, mit der Sie Shr Vaterland verteidigten. Das Cinjelne
Ihres Wufenthalte3 in Pisa ift mir befannt. Es enthalt unter
anbdern aud die Achtung aller derer, welche Gelegenbeit batten
Gie fennen zu lernen. Das ijt der Lohn der Tugend, in welder
Lage immer fie fid) finden mag. Geien Gie verfidert, dab
id) ftet3 die lebhafteſte Teilname fiir die Ihrige empfinden
werbde.
Der Grund Ihrer Reife nad England war eine natitrlide
Folge Ihrer Grundfage gegen Ihr Vaterland. Es mangelt
Ihrer guten Sade nidts als die giinftigen Umſtände. Die
natirliden Borteile unſeres Reiches mit denen von Groß⸗
britannien jo verbunden wie fie find, die wechſelſeitige Freund⸗
ſchaft der beiden Nationen, die baraus folgt; die Aufnabme,
welde meinen Flotten deshalb geworbden ijt; die welche meime
Sdiffe im Mittelmeer und der Handel Rußlands von einem
freien Volf, das dem meinigen befreundet ijt, wiirden zu er-
warten haben, find Beweggriinde, welde Ihnen nur günſtig
fein können. Alſo fSnnen Sie mein Herr verjichert fem, dab
ich die Gelegenbeiten nidt auper Adt laſſen werde, welde
fid) darbieten finnen, um Ihnen alle die guten Dienfte qu
leiſten, welche die Umftinde erlauben werden.
Die Tiirfen haben mir den ungeredjteften Krieg erflart,
der vielleidht je ift erflart worden. Ich kann mid in dieſem
Augenbli€ nur verteidigen. Der Segen de Himmels, welder
331
bis jest meine gute Gade begleitet hat, und welden mir ju
erhalten id) Gott bitte, zeigt binlanglid), daß die Gerechtigkeit
nidt für lange unterliegt, und daß bie Geduld, die Hoffnung
und der Mut in ver Welt voll ſchwierigſter Lebenslagen zum
Biele tonimen. Ich empfange mit Vergniigen mein Herr die
Berfiderungen der Anhänglichkeit, weldhe Sie mir ſchenken
wollen, und id) bitte Sie der Adtung verfidert gu fein, mit
welder id bin Catharina.
*
* 2
Bwanzig lange Sabre hatte Paoli in London als Ver:
bannter gelebt, da rief man ihn in fein Baterland zurück.
Die Corsen fdidten ihm Wbgeordnete, und die franzöſiſche
Rationalverjammlung lud ibn durd) ein Sdreiben zur Riid:
febr ein. .
Wm 3. Wpril 1790 fam er zum erften Mal nad Paris.
Als ber Washington Curopa’s wurde er hier gefeiert, Lafavette
war ftet3 an feiner Seite. Mit ftirmifchem Zuruf und praid-
tigen Reden empfing ihn die Nationalverjammlung, in deren
Mitte er fic) begab. Gr fprad) zu ihr diefe Worte:
„Meine Herren ,- diefer Tag ift der ſchönſte und glidlidfte
meine3 Lebens. Ich habe es hingebradht im Streben nad
der Freiheit, und ihr edelftes Scaufpiel finde id bier. Ich
habe mein Baterland in der Sclaverei gelafjen, jest finde id
es in der Freiheit. Was bleibt mir nocd zu begebren übrig?
Nach einer Abweſenheit von zwanzig Jahren weif id nid,
welde Veränderung die Unterdriidung unter meinen Land3-
leuten wird bhervorgebradt haben: ad! fie bat nicht anders
als verhängnißvoll fein können, weil Unterdriidung ſchlecht
macht. Aber da ihr, wie ihr gethan habt, den Corsen die
Ketten nahmt, habt ihr ihnen die alte Tugend wieder gegeben.
Indem ich in mein Vaterland zurückkehre dürft ihr an meinen
Geſinnungen nicht zweifeln. Ihr ſeid hochherzig gegen mich
332
$
gewefen und id) war niemals ein Gclave. Meine vergangene
Handlungsweiſe, welde ihr durd) eure Billigung geehrt babt,
biirgt aud) fiir mein zukünftiges Handeln: mein ganzes Leben,
id) darf e8 ſagen, ift ein unverbrodner Schwur an die Frei⸗
heit geweſen: es ift barum als hatte id) ſchon der Verfaſſung
geſchworen, welde ihr aufgeftellt habt; aber mir bleibt nod
iibrig ibn der Nation zu leijten, die mic zu ihrem Gobn er-
flart, und dem Monarchen, den id) nun anerfenne. Das ift
vie Gunſt, welche ich von der hohen BVerfammlung begebre.”
Sn dem Club der Conftitutionsfreunde ſprach RobeSpierre
au Paoli: „Ach! es gab eine Zeit wo wir die Freiheit in ihren
letzten Aſilen zu unterdriiden judten. Dod) nein! dies war
bad Verbreden des Despotismus... das franzdfifhe Volk hat
ſes getilgt. Weldhe große Sühne fitr das eroberte Corsica
und für die beleidigte Menſchheit! Edle Bürger, ihr habt die
Freiheit in einer Zeit verteidigt, in welcher wir nicht einmal
wagten ſie zu hoffen. Ihr habt für ſie geduldet; ihr triumfirt
mit ihr, und euer Triumf iſt der unſrige. Vereinigen wir
uns fie fiir immer ju wahren, und mögen ihre feilen Gegner
bei dem Anblick diefes unſeres heiligen Bundes vor Furdt
erblaſſen.“
Noch ahnte Paoli nicht, in welche Stellung der Gang der
Ereigniſſe ihn zu dieſem Frankreich bringen würde, und daß
er noch einmal als Feind ihm gegenüberſtehen ſollte. Er reiſte
nad Corsica ab. Jn Marſeille empfing ihn wiedef eine cor⸗
ifce Gefandtidaft, unter ihr die beiden jungen Clubfibrer
Ajaccio’s Yofeph und Napoleon Bonaparte. Unter Tranen
ſtieg er auf dem Cap Corso ans Land und küßte die viters
lide Erde; im Triumf führte man ihn von Canton zu Canton.
Sm gangen Lande fang man das Te Deum.
Seitdem widmete fid) Paoli ganz den Angelegenbeiten
jeines Landes als Prafident der Landesverfammlung und als
Generalleutnant der corsifden Nationalgarde; im Sabre 1791
333
fibernabm er aud) den Oberbefehl der Divifion und der Inſel
felbft. Obwol die franzöſiſche Revolution die befondern Wn-
gelegenheiten der Corsen verjtummen gemadt hatte, fingen
fie fic dod) gu regen an, und zumeiſt mußten fie e3 in der
Geele Paoli's, deſſen oberjte Tugend ber Patriotismus war.
Gr fonnte nimmer in einen Srangojen fic verwandeln, nod
es je vergeffen, dab fein Volk feine Selbſtändigkeit und eigene
Verfaſſung gebabt hatte. C3 bildete fic) bald eine Spannung
awijden ihm und einigen Parteien; die einen waren arijto-
fratijd und franzöſiſch geſinnt, wie Gaffori, Roffi, Peretti
und Buttafuoco; die anderen waren leidenſchaftliche Demo-
fraten, welde dad Glück der Welt nur in dem Strudel der
franzöſiſchen Revolution faben, wie die Bonaparte, Saliceti
und rena.
Die Hinrictung des Königs und das wilde Treiben der
Volksmänner verwundete den Humaniften Paoli. Wllmalig
brad) er mit ber Revolution, und diefer Brud ward offen
fidtbar, nad) der verungliidten Unternebmung, welde Frank:
reid) von Corsica aus gegen Sardinien madjte und deren
Scheitern man ihm zur Laſt legte. Seine Gegner batten ihn
und Pozzo di Borgo, den Generalprocurator, angeflagt, daß
er die Snfel von Frankreich losreißen wolle.
Der Convent {ud ihn vor, aber Paoli gehordhte nidt dem
Decret, jondern er wies in einem würdigen Sdreiben die Bes
ſchuldigungen zurück und beflagte fic), dab man einen bods
bejabrten Mann und einen Ptartirer der Freiheit vor Geridt
lade. Schreiern und Schauſpielern follte ein Paoli fic) ftellen,
um dann fein greiſes Heldenhaupt unter das Meſſer der Guillos
tine 3u legen? follte died das Ende eines fo thatenreiden und
edeln Lebens jein?
Seine Weigerung führte nun wirklich den Abfall Paoli’s
und der Paoliften von Frankreich herbei. Die Commiffare
reijten ab, und auf ibre Beridte erflirte der Convent Paoli
334
des Hodverrates jduldiq und ftellte ibn außerhalb ded Ge:
ſetzes. Die Inſel fpaltete ſich in zwei feindlide Heerlager,
Patrioten und Republifaner, und e3 fam bereits zum Kampf.
Unterdef hatte Paoli den Plan gefaft die Inſel unter
den Schutz Englands yu ftellen — nichts fonnte ihm naber
liegen — er hatte mit bem Admiral, welder vor Toulon lag,
Abrede getroffen, und Hood machte fic) mit feinen Schiffen
gegen Corsica auf. Gr lanbdete bei S. Fiorengo am 2. Februar
1794. Dieje Feftung fiel nad einer heftigen Beſchießung,
und ebenfo ward Bajtia eingenommen, naddem der General
Antonio Gentili fid) ergeben hatte.
Nur Calvi, das fo viele Stürme in fo vielen Jahrhun⸗
derten ausgebalten, widerftand; ſchrecklich wüteten die eng:
lifchen Bomben in der tleinen Stadt, welde faft ganz in
Ruinen ſank. Am 20. Juli 1794 ergab fid die Feſtung,
ihr Oberft Cafabianca jciffte fic) mit feinen Truppen nad
Srantreidh ein. Da Bonifazio und Wjaccto ſchon in den
Handen der Paoliften waren, fo batten die Republifaner
feinen QHaltpuntt auf der Ynfel mehr. Sie wanderten aus;
Paoli und die Englander waren Gebieter Corsica’s.
Gine Landedverfammlung fprad) hierauf die Trennung der
Inſel von Frantreid aus und ftellte fie unter ben Schutz Eng:
lands. Aber diefes begehrte die Herrfdaft. Daraus entftand
ein Bruch zwiſchen Paoli und Pozzo di Borgo, weldhen Sw
Gilbert Clliot fitr fich getwonnen hatte. Am 10. Bunt 1794
erflarten die Cor8en, daß fie ihr Land mit Grofbritannien
vereinigen twollten, daß e8 aber ſelbſtaͤndig bleiben und von
einem Bicefdnig regiert werden folle nad) der Landesverfafjung.
Paoli hatte darauf gerednet, dab man ihn zum Bice-
fdnig maden werde, aber er taufdte fid), denn Clliot wurde
in diefer Eigenſchaft nad Corsica gefandt — ein groper Miß⸗
griff, weil diefer Mann mit dem Zuftand der Ynfel unbekannt
war, und weil man Paoli tief verwundete.
335
Der greife Patriot zog fid) in das Privatleben zurück, und
Glliot fdrieb fogar an Georg III., man müſſe Pasquale ent:
fernen. So gefdhah es. Der Konig [ud ibn ein, fid nad
London zu begeben, um den Reft feiner Tage in Ehren am
Hof zuzubringen. Paoli war in feinem Haufe zu Morosaglia,
al3 er die Schreiben empfing. Traurig madte er fid) nad
S. Fiorenzo auf, fdiffte fic) hier ein und verließ fo zum
britten und zum legten Mal fein Vaterland, im October 1795.
Der große Birger teilte vasfelbe Scidjal mit den meiften
Gefeggebern bes Wtertums: er ftarb mit Undank belobnt,
unglidlid) und in der Frembde. Die gripten Planner Corsica's,
Pasquale und Napoleon, beide fich feind, follten auf britannis
{chem Gebiete jterben und begraben werden.
Die Herrſchaft der Englander in Corsica, aus Landed:
unkenntniß verfebrt und ſchlimm, danerte übrigens nidt lange.
Denn fobald Napoleon in Ftalien Sieger geworden war, {dite
er die Generale Gentili und Cafalta mit Zruppen ab, und
faum erfdienen diefe, al8 die Corsen, obnebin erbittert über
bie Verbannung Paoli’s, ſich gegen die Englander erhoben.
Diefe gaben in faft unerflarlicher Haft die Inſel auf, von
peren Volk fie eine unausfillbare Kluft nationalen Wider:
fprudes trennte. Schon im November 1796 war fein Eng:
lander mehr in Corsica. So kehrte bie Inſel unter Grant:
reichs Herrſchaft zurück.
Pasquale erlebte noch das Napoleoniſche Kaiſertum. Dieſe
Genugthuung wenigſtens, einen Landsmann an der Spitze
Europa's ftehen zu ſehn, vergönnte ibm das Schickſal. Nad:
bem er nochmals zwölf Jahre im Exil gu London gelebt hatte,
ftarb er am 5. Februar 1807, im Alter von 82 Sabren,
einen rubigen Zod, einfdlafend in Gedanken an fein Volk,
das er fo heiß geliebt hatte. Cr war der älteſte Gejeggeber
der europdijdhen Freibeit und thr Patriard. Yn feinem legten
Brief an feinen Freund Padovani fagte der edle Greis feine
336
Laufbahn iiberblidend in Demut: „Ich babe genug gelebt,
und wenn es mir verginnt ware, mein Leben nod) einmal
au beginnen, würde id) dad Geſchenk ausjdlagen, wenn es
nidt begleitet mare von der verniinftigen.Crfenntnif der Ber:
gangenbeit, um bie Qrrtiimer und Torbeiten zu verbefjern,
die mid begleitet haben.“
Geinen Tod melbdete einer der corsijden Exilirten in dieſem
Brief nad ver Heimat: |
Giacomorsi an den Herrn Padovani.
London, 2. Juni 1807. Es ift leider wahr, daß die
Hffentliden Blatter nicht die Unwahrheit fagten in Betreff ves
Todes des armen Generals. Gr legte fid) nieder am 2. Fe
bruar, Montags, um 81/. Uhr Abends; und um 1L1/, Ube
Nadhts am Donnerftage ftarb er in meinen Armen. Er inter
läßt fiir die Schule 3u Corte oder fiir die Univerfitat, fiir vier
Profefforen eine Beſoldung von 50 Pfund Sterling aufs Yabr
fiir jeden; und eine andere Qebrftelle fiir die Schule in Ro:
tino, welde zu Morosaglia foll gegründet werden
Wm 13. Februar wurde er in S. Pancraz begraben, wobin
man fajt alle RKatholifen bringt. Gein Leichenbegängniß wird
nabe an 500 $fund gekojtet haben. Gegen die Mtitte des
vergangnen Wpril ging id) und der Doctor Barnabi nach der
Weftmiinfter = Wbtet um dort eine Stelle auszuſuchen, wo wir
ibm ein Denfmal mit feiner Büſte fegen werden. —
Sterbend jagte Paoli: Meine Neffen haben wenig ju
boffen, aber id will ihnen zum Gedächtniß und gum Troſt
dieſen Bibelſpruch vermaden: „Niemals fah ich einen Ge
redten verlaffen, nod) feine Kinder bitten um Brod.“
337
Neuntes Kapitel.
Aus dem Heimatsort der Paoli.
Es war ſchon ſpät geworden, als id) Roſtino oder Mo—⸗
rosaglia erreichte. Mit dieſem Namen bezeichnet man einen
Verein von Ortſchaften, welche in den rauhen Bergen zerſtreut
ſind. Mit Mühe fand ich mich durch mehre dieſer kleinen
Nachbardörfer nach dem Convent von Morosaglia zurecht,
auf ſchwierigen Felspfaden ſteigend und wieder zu Tal gehend
unter rieſigen Caſtanien. Dem Kloſter gegenüber liegt eine
Locanda, eine Seltenheit in corsiſchen Landen. Ich fand dort
einen jungen aufgeweckten Mann, welcher ſich als Director
der Paoli⸗Schule zu erkennen gab und mir für den folgenden
Tag ſeine Unterſtützung verſprach.
Morgens ging ich nach dem Dorf Stretta, wo die drei
Paoli geboren ſind. Man muß die Caſa Paoli ſehn um die
Geſchichte der Corsen erſt recht zu begreifen und dieſe ſeltnen
Menſchen noch mehr zu bewundern. Sie iſt eine elende, ſchwarze
Dorfcapanne, und ſteht auf einem Granitfelſen. Gin friſcher
Bergquell rieſelt vor der Thüre vorüber. Das Haus iſt aus
Steinen kunſtlos zuſammengeſetzt, ſchartig wie ein Turm, durch⸗
löchert, und hat wenige und unſymmetriſche Fenſter ohne Glas,
mit Holzladen wie zur Zeit des Pasquale. Als dieſer von
den Corsen zu ihrem General berufen war und man ihn von
Neapel her erwartete, ließ ſein Bruder Clemens Scheiben in
die Fenſter des Wohnzimmers ſetzen, um ſeinem Bruder die
väterliche Stätte wohnlicher zu machen. Aber Pasquale war
kaum eingetreten und hatte kaum die Veränderung bemerkt,
als er mit ſeinem Stock ſämmtliche Fenſterſcheiben zerſchlug
indem er ſagte, daß er in ſeines Vaters Hauſe nicht wie ein
Graf, ſondern wie ein Landeskind wohnen wolle. So wie
damals find aud) heute die Fenſter ohne Glas geblieben. Man
Gregorovius, Corsica, I. 99
338
iiberfieht aus ihnen dad erhabene Panorama der Berge Niolo's
bis 3u bem himmelhohen Monte Rotondo.
Cine Verwandte Paoli's, ein ſchlichtes Landmadden aus
der Familie Tommafi, fibrte mid in bas Haus. Alles trdgt
bier dad Geprige einer Bauernwohnung. Wuf einer hölzernen
fteilen Stiege fteigt man yu den ärmlichen Zimmern, in denen
nod) Paoli’3 hölzerner Tiſch und hölzerne Seffel ftehn. Ich
ftand voll Freude in dem Stübchen, wo Pasquale geboren
wurde, und id) war frober bewegt an dieſer Stelle al An
dem Geburt3zimmer Napoleons.
Nod einmal trat mir bier, ernft und wůrdevoll das edle
Menſchenbild entgegen, vereinigt mit der Geſtalt eines kraft⸗
vollen Vaters und eines Heldenbruders. Hier kam Pasquale
im April des Jahres 1724 zur Welt. Seine Mutter war
Dioniſia Valentina, eine wackere Frau aus einem Ort nahe bei
Pontenuovo, das ihrem Sohn fo verhängnißvoll werden ſollte.
Seinen Vater Hyacint kennen wir ſchon. Cr war Arzt ge⸗
weſen und wurde General der Corsen neben Ceccaldi und
Giafferi. Hohe Tugenden zeichneten ihn aus; er war des
Ruhmes würdig, ſeinem Vaterland ſolche zwei Söhne gegeben
zu haben. Hyacint war ein ausgezeichneter Redner und auch
als Dichter genannt. Im Larm der Waffen hatten dieſe kräf⸗
tigen Geiſter noch Zeit und Schwung genug, ihre Seele über
den Dingen frei zu halten und gleich dem Tyrtäus eherne
Sonette zu ſingen, wie dieſes geharniſchte, welches Hyacint
an den tapfern Giafferi auf die Schlacht bei Borgo dichtete,
im Jahre 1735.
An Don Suis Giafferi.
Mars kröne Cyrnus’ Held, der unbeswungen,
Und vor ihm foll das Fatum tief fich netgen;
Die Seufzer, die fid) Genua entrungen,
Lapt Gama hell in die Trommete fteigen.
339
Kaum war er über'n Golo vorgedrungen,
Spielt’ er bem Feinde auf den Tovesreigen,
An Zahl gering, war ihm der Sieg gelungen;
Gr fiegte, wo bas Schwert er mochte zeigen.
Den großen Kampf worauf Europa ſchauet,
Hat ſeinem Arm und ſeinem Heldendegen
Das Schickſal und der Corse anvertrauet.
Und jahe Furcht will Genua bewegen,
Wie ihm ſein Schwert am Haupt das Haar verhauet —
In Cyrnus' Hand wird er das Scepter legen.
Wie aus griechiſchem Erz gegoſſen ſind alle dieſe Männer.
Sie waren auch Menſchen des Plutarch und gleichen dem
Ariſtides, dem Epaminondas und Timoleon. Sie konnten
entbehren und ſich aufopfern, ſchlichte und ſtarke Bürger ihres
Vaterlandes. Sie waren an den Dingen groß geworden, nicht
an den Theorien; der hohe Adel ihrer Grundſätze hatte die
Grundlage der Handlungen und der Erfahrungen. Will man
das ganze Weſen dieſer Männer mit einem Worte nennen,
ſo heißt dies Wort: die Tugend, und deren reinſte Blüte:
die Freiheit.
Da fallt mein Blick auf das Bildniß Pasquale's. Nicht
anders möchte ich ihn mir denken. Sein Kopf iſt machtvoll
und klar; hoch gewölbt und frei ſeine Stirn, das Haar lang
und frei. Dichte Augenbrauen, etwas in die Augen hinunter,
wie ſchnell zum Zuſammenziehen und zum Zürnen. Aber die
blauen Augen hell, groß, frei, voll klarer Vernunft; über
dem bartloſen Antlitz Milde, Würde, Menſchlichkeit.
Es gehört unter meine ſchönſten Freuden, Bilder und
Buſten groper Menſchen zu betrachten. Bier Perioden reizen
ba am meiſten, die Köpfe Griechenlands, die Rimertipfe, die
340
RKopfe des grofen fünfzehnten und ſechszehnten Jahrhunderts,
bie Köpfe des adjtgehnten Jahrhunderts. Man wiirde fein
Ende finden, wollte man die Viiften groper Menſchen aus dem
adtgebnten Jahrhundert neben einander ftellen; ſolches Muſeum
ſollte ſich wol belohnen. Wenn ich deren nun eine gewiſſe
Gruppe beiſammen ſehe, will es mich dünken, als walte in
ihnen eine gewiſſe Familienähnlichkeit, die eines und deſſelben
geiſtigen Princips: Pasquale, Waſhington, Franklin, Vico,
Genoveſi, Filangieri, Herder, Peſtalozzi, Leſſing.
Pasquale's Kopf gleicht auffallend dem Alfieri's. Wiewol
dieſer, ariſtokratiſch ſtolz und egoiſtiſch wie Byron, weit hin⸗
weg ſteht von ſeinem Zeitgenoſſen Pasquale, dem ruhigen
menſchenliebenden Bürgersmann, ſo beſaß er doch eine Seele
voll bewundernswürdiger Energie und voll Tyrannenhaß.
Beſſer als Friedrich der Große vermochte er eine Natur wie
Paoli war, zu verſtehen. Friedrich fdentte Paoli einſt in
biejes Haus einen Ehrendegen mit der Auffdrift: Libertas,
Patria. Im fernen Preufen hielt der große König vielleidt
Pasquale fiir einen grofen Sieger. Gr war fein Soldat,
fein Bruder Clemens war fein Gdwert; er war der den:
fende Kopf, ein Birger und ein ftarfer und edler Menſch.
Alfieri didtete feinen Zimoleon und fandte ibm das Stiid zu.
Died ift Alfieri's Brief an Paoli:
An Herrn Hasquale de Waolt, den großherzigen Kampfer
der Gorsen.
Freiheitstragödien in der Sprache eines unfreien Volles
zu fdreiben, wird vielleidt mit Recht dem eine reine Dumm⸗
beit ſcheinen, welder nichts fiebt al3 dad Gegenwartige. Aber
wer von dem beftandigen Wedfel der vergangenen Dinge auf
vie Zukunft ſchließt, darf fo auf Geratewol nicht urteilen.
Deshalb widme id diefe meine Tragödie an Sie als an Ginen
341
jener Wenigften, der, weil er die richtigſte Idee anderer Seiten,
anbderer Bolfer und hober Gebanfen befigt, aud wilrdig ge:
wefen ware in einem minder weidliden Jahrhundert al3 das
unjrige ift, geboren und thatig yu fein. Weil e3 Ihnen nun
nidt verginnt war Yhr Vaterland in Freiheit zu ſetzen, beur⸗
teile id) nidjt (wie der Haufe yu thun pflegt) die Menſchen
nad dem Glad, fondern nad ihren Werfen, und ich halte
Sie fiir vollfommen wilrdig, die Gefinnungen de3 Timoleon
anzuhören, als ſolche welche Sie ganz verftehen und empfin-
den können.
Vittorio Alfieri.
Auf das Cremplar, welches Alfieri dem Pasquale zufendete,
hatte er diefe Verfe gefdricben:
Dem edlen Corsen, der zum Meiſter fid
Und zum Genoff’ de3 jungen Frankreichs madte.
Du mit dem Schwert und mit der Feber id
O Paoli; verfudten fruchtlos wir
Vom Schlaf Ytalia eines Tags zu weder.
Mun fieh, ob deines Hergen3 Sinn zu deuten
Hier meine Hand vermodte.
V. A.
Paris, den 11. April 1790.
Einen feinen Sinn legte Alfieri an den Tag, da er Paoli
den Timoleon widmete, die Tragödie eines Republikaners,
welcher in dem nahen Sicilien einſt dem befreiten Volk weiſe
demokratiſche Geſetze gegeben hatte und dann als einfacher Pri⸗
vatmann geſtorben war. Pasquale las gerne den Plutarch,
wie die meiſten jener großen Menſchen des achtzehnten Jahr⸗
hunderts. Epaminondas war ſein Lieblingsheld; beide waren
verwandte Naturen, beide verſchmähten den Aufwand und
342
lebten bitrgerlich in der Viebe zu ihrem Baterlande. Pasquale
(a8 gern. Geine Bibliothef war gut verforgt und fein Ge:
dächtniß bielt aus. Mir ergablte ein bejabrter Mann, daß er
einft al Knabe mit einem Gdhulgefabrten des Weges ge-
gangen fet, eine Stelle aus bem Virgil herfagend; zufällig fet
Paquale hinter ibm bhergefommen, der habe ibm auf die
Schulter geflopft und fei in jener Stelle weiter fortgefabren.
Vieles von Einzelnheiten aus Paoli’s Leben lebt hier im
Munde des Volks. Die When fahen ihn nod unter diefen
Cajtanienbiumen herumgeben, im langen griinen Rok mit
Goloftreifen, den corsifden Farben, und in einer Wefte aus
braunem Tuch. Wenn er fic zeigte war er ftets von fetnen
Bauern umringt, die er wie feines Gleiden behandelte. Allen
war er zugänglich, und Iebbaft erinnerte er fic) eines Tags
aus bem Iebten Freibeitsfampf, wo er bitter hatte bercuen
milfjen, eine Stunde lang ſich verfdloffen gebalten zu haben.
Gr war einft in Gollacaro, mit Gefdaften überhäuft; er batte
den Schildwachen befoblen, Niemand vorzulafien. Nach einer
Weile erjfdien ein Weib mit einem Yingling in Waffen. Das
Weib war in Trauer, in die Faldetta gehillt, und trug um
den Hals ein ſchwarzes Band mit einem filbernen Mohren⸗
fopf, dem Wappen Corsica’s. Sie begebrte Einlaß, die Wace
ftieB fie guriid. Auf das Geräuſch öffnet Pasquale die Thiire
und Iebbaft und herriſch fragt er, wad fie begebre. ene
fagt in trauervoller Rube: Mein Herr, wollet mid anhören.
3h war Mutter zweier Söhne, der eine fiel am Zurm Giro:
lata, der andere fteht bier und id fomme ibn dem Vater:
lande zu bringen, dap er feine3 todten Bruders Stelle erfege.
Gie febrte fic) gu dem Siingling und fagte 3u ihm: Mein
Sohn, vergip nidt, dab du eber der Sohn des Vaterlandes
alg der meine bift. Das Weib ging. Paoli blieb einen
Augenblid wie angedonnert ftehn, dann fprang er der. Hin:
weggegangenen nad, umarmte gerührt fie und ibren Sohn
343
und ftellte fie den Officieren und Beamten vor. Paoli fagte
nadber, dap er nie fo verwirrt gewefen fei, al3 vor jenem
gropberzigen Weibe. |
Gr war niemals verbeiratet; fein Bolf war feine Familie.
Seine einjige Nichte, die Todter feines Bruder3 Clemens,
wermilte er einem Corsen Barbaggi. Dod feblte ihm, der alle
Tugenden eines Freundes beſaß, nicht ein freundfdaftlid zartes
Verhältniß zu einem edlen Weibe, einer geiftvollen, glühen⸗
den Patriotin, welder die größeſten Manner des Landes ibre
Blane und Gebdanfen vertrauten. Diefe Roland + Corsica’3
hielt feinen Galon, fie war eine Nonne, eine Edeldame aus
dem Hauſe Rivarola. Wie eifrig fie an dem Freiheitskampf
Teil nahm, jeigte der eine Bug, dab fie nad) der kühnen Gr:
oberung Capraja’s durch UAdill Murati in ibrer Hergensfreude
felbft auf die Inſel binitberging, um fie gleidfam im Namen
Paoli’3 in Befig yu nehmen. Viele Briefe Pasquale’s find
an die Signora Monaca geridtet und ganz und gar politi:
{den Inhalts, als waren fie an einen Mann gefdrieben.
- Wie grop Paoli’s Thatigteit war, geht aus der Samm:
{ung feiner Briefe hervor. Die widtigiten hat der gelebrte
Staliener Tommafeo zu einem ftarfen Bande vereinigt. Sie
find voll eines mannlid feften und klaren Geijtes. Pasquale
fdrieb ungern, er dictirte wie Napoleon; er fab ungern, fein
Geijt lieB ihm nicht Rube. Man fagt von ibm, dab er nie-
mals bas Datum des Tages gewußt habe, aber dab er in
ver Zukunft babe lefen können, und dap er oftmal3 Vi—
fionen batte.
Paoli’s Andenken ift heilig in feinem Volf. Napoleon er-
füllt die Seele des Gorden mit Stoly; aber nennt man ibm
Paoli, fo verklärt fid) fein Wuge wie das eines Sohnes, dem
man den Namen eines edlen heimgegangenen Vaters nennt.
G2 ift unmiglid, dab ein Menſch nad feinem Lode von einer.
ganzen Nation mehr geehrt und geliebt werden könne, als
——s — — ————— —7 ——
344
Pasquale Paoli, und wenn Nachruhm noch ein zweites Leben
iſt, ſo lebt dieſer größeſte Menſch Corsica's und Italiens im
achtzehnten Jahrhundert, tauſendfach, ja in jedem corsiſchen
Herzen vom Greiſe an, der ihn noch kannte, bis zu dem
Kinde herunter, dem man ſein großes Beiſpiel in die Seele
legt. Es gibt keinen edleren Namen als den „Vater des
Vaterlandes.“ Die Schmeichelei hat ihn oft gemißbraucht und
laͤcherlich gemacht; im Lande der Corsen erkannte ich daß er
auch eine Wahrheit ſein könne.
Paoli iſt das ſchöne Gegenbild zu Napoleon, Menſchen⸗
liebe zur Eigenliebe — kein Fluch der Todten ſteht hinter
ihm auf, ſeinen Namen zu verwünſchen. Auf Napoleons Wink
wurden Millionen Menſchen gemordet um des Ruhmes und
des Beſitzes willen. Das Blut, welches Paoli vergießen ließ,
floß um die Freiheit, und das Vaterland gab es hin wie der
Pelikan, welcher ſeine Bruſt zerreißt, um die verſchmachtende
Brut zu tranten.
Rein. Schlachtenname ziert Pasquale’s Andenken, aber bier
ſchmückt ibn die Stiftung einer Volksſchule zu Moresaglia,
und Ddiefer Rubm dünkt mid menſchlich finer als der Ruhm
von Marengo und den Pyramiden.
Ich beſuchte diefe Schule, das Vermächtniß des PBatrioten.
Gie ift im alten Convent eingeridtet. Sie beftebt aus zwei
Glafjen; die unterfte enthält 150, die erfte etwa 40 Schiller.
Aber zwei Lehrer reiden far die große Bahl nidt aus Der
Rector der unterften Claffe war fo freundlid, in meinem
Beifein ein. kleines Eramen abzuhalten. Wud) bier. lernte id
bie corsiſche Unbefangenbeit ſchon in den Rnaben erfennen.
G3 waren deren itber bundert beifammen von 6 Yabren auf:
warts bis yu 14, in Scharen abgeteilt, braune Wildlinge,
serlumpt, jerriffen, ungewafden und alle nad) der Reihe ibre
Mützen auf dem Ropf. Einige trugen Ordenskreuze am roten
Band; fie madten fid auf der Bruft fo eines Heinen ſchwarzen
345
Teufels poffierlid) genug, der den Kopf auf beide Faufte ge:
ftemmt, mit den ſchwarzen Wugen frant und frei vor fid) bins
blidte, ſtolz vielleicht auf den Rubm ein Paoli: Sdiiler ju
fein. eden Gonnabend werden folde Chrengeiden ausgetcilt
und eine Woche lang von dem Schiller getragen, eine alberne
und zugleich ſchädliche frangdfifche Sitte, welche ſchlechte Leiden:
ſchaften nabren, und die von Natur mit einer ungewöhnlichen
Sudt fid) auszuzeichnen begabten Corsen ſchon frühe zu fal:
{hem Chrgeiz treiben kann. Diefe jungen Spartaner laſen
den Zelemaque. Auf meine Bitte, der Rector möchte das
Franzöſiſche aud) in das Ytalienifde überſetzen laffen, damit
id) erfenne, wie bie Kinder in ihrer Mtutterfpradje gu Hauſe
feien, entfdulbdigte er fic) mit dem ausdrücklichen Berbot der
Regierung, welde „das italienifde in den Schulen nidt dul:
vet.” Die Lebrartifel waren Schreiben, Lejen, Rednen, die
Anfänge der Geographie und bibliſche Geſchichte.
Die unterfte Claffe hat ihren Gig in dem Capitelfal de3
alten Gonvent3, in weldhem Clemens Paoli fein Leben ver⸗
trauerte. Die luftige Aula, worin corsiſche Jungen ftudiren,
ben Blick zum Fenſter hinaus auf die gewaltigen Verge Niolo’s
und die Scladtfelder ihrer Whnen, möchte von mander
veutfden Univerfitat gewinfdt werden. Die heroifde Natur
Corsica's ſcheint mir neben den Grinnerungen der Gefdhidte
das befte Bildungsmittel de3 Volks zu fein; und viel wert ift
ſchon der Blid des Knaben, welder auf dem Portrait dort
an per Wand des Saales haftet, denn died ift das Bildniß
Paoli’s,
346
Behutes Kapitel.
Clemens Paolt.
Geprieſen fei ber Kerr, welder meine Hände lehret
gur Schlacht und meine Finger gum Gefedte.
Pfatm 143.
Das Klofter von Morosaglia ift vielleidt das ehrwür⸗
digfte Denfmal der corsiſchen Geſchichte. Wie eine fteinerne
Sage fieht e3 aus, braun und diifter mit einem bodaufragen:
ben finftern Campanile yur Seite. Zu allen Zeiten wurden
in diefem ebemaligen Francisfanertlofter Parlamente gebalter
Pasquale hatte hier feine Zimmer, feine Bureau’3 und des
Sommer’ fah man ibn oft unter den Mönchen, welche dant,
fo oft e3 Not that, den Crucifir in die Schlacht vorauf tru
gen. Sn demfelben Convent lebte gern fein tapferer Bruder
Clemens, und er ftarb auc) bier in einer Belle im Sabre 1793.
Clemens Paoli ift ein hod) merkwürdiger Charafter. &
war der Altefte Sohn Hyacints. In Neapel hatte er als Sol:
bat mit Auszeichnung gedient, dann war er einer ber Gene
tale ber Corsen geworden. Aber die Staatsgefdafte fagter
feinem fanatifden Geift nidt zu. Nachdem fein Bruder ar
die Spike de Landes getreten war, 30g er fid) in Das Privat
leben zurück, legte das Gewand der Tertiarier an und ver:
fant in religidfe Betradhtungen. Gleid) Jofua lag er verjiidt
im Gebet vor bem Herrn, und vom Gebete ftand er auf und
ftiirgte fid) in die Schlacht, denn der Herr hatte bie Feinde
in feine Gand gegeben. Cr war ber Gewaltigfte im Kampf
und ber Demiltigfte vor Gott. Sein düſtres Wefen hat etwas
Prophetifdhes, wie das des Ali.
Wo vie grdpefte Gefahr ſich zeigte, erfchien er wie em
Racheengel. Seinen Bruder befreite er aus vem Rlojter
Bozio, als ihn Marius Matra dort belagerte; aus Oreqya
_
347
warf er die Genuefen nad einem fürchterlichen Kampf. Gr
bezwang Gan Pellegrino und Gan Giorengo; in ungezählten
Sdladten blieb er Sieger. Als die Genuefen mit aller ihrer
Macht vas fefte Lager in Furiani ftirmten, blieb Clemens
durch 56 Tage unerfdittert in dem Schutthaufen, obwol der
ganze Ort jufammengeftiirzt war. Taufend Bomben waren
um ibn ber gefallen, er betete gu dem Gott der Heerfdaaren
und wantte nidt, und fein war der Sieg.
Corsica verdantte Pasquale feine Freibeit durch den leiten-
ven Gebdanfen, dem Clemen3 aber fie durd das Schwert.
Wud nadhdem bie Frangojen im Jahre 1768 zum Angriff ge-
ſchritten waren, vollfithrte er die glingendften Waffenthaten.
Gr gewann die glorreidhe Schlacht bet Borgo, er kämpfte ver-
zweifelt bei Ponte Nuovo, und naddem alles verloren war,
eilte er feinen Bruder zu retten. Gr warf fid) mit einem
Häuflein Tapferer nad Miolo und dem General Narbonne
entgegen, feinem Bruder die Flucht gu fidern; fobald ihm
vies gelungen war, eilte er zu Pasquale nad Baftelica und
dann fdiffte er fid) mit ibm trauernd nad Toscana ein.
Gr ging nicht mit nad) England. Gr blieb in Toscana,
denn die Sprache der Frembde hatte ihm das Herz betriibt;
port verfant er in dem ſchönen RKlofter Vallombrofa wieder in
pas inbriinftige Gebet und in ein ftrenges Büßen, und wer
ba dieſen Mind auf ven RKnieen liegen fah, hatte in thm
nimmer den getwaltigen Freibeitshelden gu erfennen vermodt.
Nad zwanzigjährigem Mlofterleben in Toscana febrte Cle:
men3 fury vor feinem Bruder nad Corsica zurück. Rod ein:
mal erglühte er in Qoffnung fir fein Baterland, aber die
Greigniffe ließen den greifen Helden bald erfennen, daß alled
fiir immer verloren fei. Büßend, trauernd ftarb er im De-
cember deffelben Jahres, in weldem der franzöſiſche Convent
feinen Bruder al3 Hochverrater vorgeladen hatte.
Sn Clemen3 war die Vaterlandsliebe eine Religion. Eine
348
grofe und heilige Leidenfdhaft in ihrer höchſten Erregung ift
ſchon an ſich religid3; wenn fie ein Volk ergreift, zumal in
fürchterlicher Bedrängniß, wird fie wie ein Gottesdienft. In
jenen Tagen hörte man Priefter den Kampf predigen von allen
Kanzeln; Mönche zogen mit in die Sdhladt, und die Cruci-
fire vertraten die Stelle der Fabnen. Jn den Kldftern zumeiſt
tourden bie Parlamente gebalten, wie unter Gottes eignem
Vorſitz, und ehmals hatten ja aud) die Corsen ibr Land durd
Volksbeſchluß unter den Schutz der heiligen Jungfrau geftellt.
Aud Pasquale war religiös. Ich fab in feinem Haufe die
Capelle, weldhe er fid) dort in einem dunflen Zimmer einge—
ridtet hatte. Zaglid) betete er dort zu Gott. Clemens aber
lag taglid) fedS oder fieben Stunden im Gebet. Selbſt mitten
in der Schlacht betete er, und er mar. ſchrecklich angufebn,
wenn er daftand in der einen Hand den Roſenkranz, in der
anbdern die Flinte, gekleidet wie der gemeinfte Corse, dod
fenntlid) an den großen feurigen Augen und den didten Augen⸗
brauen, Man ergiblt, bab er fein Gewebr mit rafender
Schnelligkeit zu laden verftand und daß er, ftet3 feines Schuſſes
fider, die Seele defjen, den er erſchießen wollte, vorber fegnete
und ausrief: arme. Dtutter! Dann opferte er den Feind dem
Gott der Freiheit. Nach ver Schlacht war er fanft und milde,
aber immer ernft und tief melandolifh. Sein Wort war:
mein. Blut und mein Leben find meinem BVaterlande; meine
Seele und meine Gedanten find alle meinem Gotte.
Die Vorbilder des Pasquale muß man bei den Griedcen
fuchen, die Vorbilder des Clemens bei den Mtatfabiern. Gr
war nidt ein Held des Plutard, er war ein Held des alten
Teftament3.
349
Elftes Kapitel.
Der alte Einſiedel.
Multa linquitis mortales, non quia contemnitis,
sed quia desperatis posse consequi: excitant enim
se alternis stimulis spes et desideriuam —
Potrarca de Contemptu Mundi.
Man hatte mir in Stretta gefagt, dab ein Landsmann
pon mir dort wohnhaft fei, ein Preupe, ein Mann auf RKritden,
ein alter, tounderlider. Und dem hatte man aud gefagt,
daß ein Landsmann von ibm angefommen fei. Wie ich nun
aus dem Sterbezimmer de3 Clemen3 Paoli zurückkehrte, in
Gedanfen an diefen alten Gotteshelden, fam der alte Lands:
mann auf Krücken angebintt und gab mir einen deutfden
Handſchlag. Yoh lieb ein Frühſtück auftragen; wir fepten uns
nieder und ic) hordte ftundenlang auf des alten Auguſtin au3
Nordhauſen fonderbare Gefdidten.
Mein Vater, fo erzählte er, war ein proteftantifder Pre:
diger und wollte mid gum Luthertum ergiehn, aber ſchon als
Rind modte mir die proteftantifde Kirche nidt bebagen, und
id erfannte daß die Lutheret cine Verſchimpfung der eingigen
und wahren Rirde fei, wie fie nimlid im Geift und in der
Wahrheit ift. C3 ging mir durd den Kopf Miffiondr zu
werden. Dn Nordhauſen beſuchte id die lateinifde Schule,
und fam bid zur Logit und Rhetorik. Und naddem id die
Rhetorik gelernt hatte, ging ich in dad ſchöne Land talien
nad Caſamari unter die Trappiften und fdwieg elf Fabre lang.
Aber, Freund Wuguitin, wie haben Gie das ausbalten
ténnen ?
Ya, wer nicht luftig ift, der halt e3 nicht aus. Wer die
Melancholie bat, der wird in der Trappe verriidt. Ich fonnte
tifdlern, und tifdlerte den gangen Tag und fang dazu im ftillen.
350
Was habt Ihr gu eſſen gebabt?
Krautfuppen, zwei Teller voll, Brod nad Belieben und
eine balbe Flaſche Wein. Ich habe wenig gegeffen aber nie
babe id) einen Tropfen in der Flaſche gelaffen. Gott fei ge-
priejen um den ſchönen Wein. Mein Bruder zur Redten war
immer bungrig, er af immer zwei Teller voll Krautfuppe und
fünf Brode dazu.
Haben Sie den Papft Pio Nono gefehen?
Sa, aud gefproden babe id) mit ibm, wie mit meinem
Freunde. Cr war als Biſchof in Rieti, und id ging dabin
in meiner Rutte, da id in einem andern Kloſter war, am
beiligen Charfrettag dad heilige Del zu bolen. Ich war damals
ſchon febr krank. Der Papft fiipte meine Kutte wie id) Abends
gu ibm fam, mid) gu verabſchieden. Fra Agoftino, fagte er,
Ihr feid krank, Shr müßt was effen. Herr Biſchof, fagte id,
id babe nod) nie einen Bruder am heiligen Freitag effen feben.
Shut nidts, Ihr feid dispenſirt, denn Ihr feid frank; und
da ließ er mir aus dem vornebmften Gafthaufe ein halbes
Hubn holen, Fleifdhbrithe, Cingemadtes und Wein, und id
ſaß an feinem Zifd.
Wie? hat der heilige Vater damals dud gegefjen?
Gr af nur drei Nuſſe und drei Feigen. Nun wurde id
immer franfer, und ic) ging nad) Toscana. Da gefielen mir
eine3 Tages die Menfdenwerle nicht mehr und wurden mir
grundhäßlich. Ich beſchloß Cinfiedler yu werden. Ich nahm
alſo meine Werkzeuge, kaufte mir das Nötige und fuhr auf
pas Inſelchen Monte Criſto. Es iſt von neun Millien Um⸗
fang; niemand wohnt darauf als wilde Ziegen, Schlangen
und Ratten. In der alten Zeit hat der Kaiſer Diocletianus
den heiligen Mamilian, welcher Erzbiſchof von Palermo war,
dahin verbannt gehabt. Der hat ſich oben auf den Steinen
eine Kirche gemacht, und darauf wurde ein Kloſter gebaut.
Es waren da einſt 50 Mönche, zuerſt Benedictiner, dann
351
Gifterctenfer, bann die Carthdujer vom beiligen Bruno. Die
Mönche von Ptonte Grijto haben viele Hofpitdiler in Tos⸗
cana erridtet und viel Gute gethan, aud) das Hojpital der
Maria Novella in Floreng haben fre geftiftet. Nun feben Sie,
vie Garacenen haben die Mönche hinweggeführt mit fammt
ibren Ochſen und Knedten; die Ziegen fonnten fie nicht fangen,
die jprangen auf die Steine und dann find fie wild geworden.
Haben Sie im alten Rlofter gewobnt ? |
Rein, das ift zerfallen. Ich lebte in einer Grotte. Die
hatte id) mir mit meinem Handwerkszeug eingeridtet und aud
eine Mauer davor gemadt. ;
Wie haben Sie die langen Tage hingebradht? Sie haben
wol immer gebetet?
Ach! nein, ich bin tein Phariſäer. Man fann nidt viel
beten. Was Gottes Wille ijt, vas gefdieht. Ich hatte meine
Flite. Ich ging aud die wilden Biegen ſchießen, oder fuchte
Steine und Pflangen, ober fah gu wie bas Meer gegen die
Selfen geſchwommen fam. Ich hatte auch Bücher gu lefen.
Was fir welde?
Die fammtlichen „Opern“ de3 Yefuiten Paul Segneri.
Was wächst auf der Inſel?
Lauter Haidekraut und Marienkirſchen. Es gibt auch kleine
Täler, die hübſch grün find, fonft iſt alles Stein. Gin Gar-
pinier fam an die Ynfel und gab mir Pflangenfamen, da habe
id Gemiije gepflanzt, aud) Bäume habe id gefegt.
Sind gute Steine auf der Ynfel?
Ya, ſchöner Granit und ſchwarzer Turmalin, der wächst
in dem weifen Stein, und von ſchwarzen Granaten babe id
drei Urten gefunden. Wm Cnde wurde id todtfrant auf Monte
Grifto, da famen jum Glück die Toscaner und haben mid ands
Land gebolt. Nun bin id) elf Jahre hier auf diefer verfludten
Inſel unter den Spigbuben, denn es find lauter Spigbuben.
Die Aerzte haben mid hergeſchickt; aber wenn ein Jahr um
352
ift, fo boffe ic) das Land Stalien wiedergufehen. So ein
Leben wie in Stalien gibt e3 auf der gangen Welt nidt mehr,
und die Menſchen find artig. Id werde alt und gehe auf
Krücken, und weil id) alt bin und mir gedadht babe: du wirſt
bald dein Zifdlern aufgeben müſſen und willft dod nidt
betteln gehn, fo bin id in bie Berge gegangen und habe dad
Negroponte entdectt.
Was ift bas Negroponte?
Das ift die Erde, wovon fie in Negroponte die Pfetfen
maden; gu Hauſe fagen fie Meerſchaum. C8 ift die reine
Bliite von einem Stein. Died Negroponte bier ift fo gut wie
pas in ber Türkei, und wenn id es erjt heraus habe, fo bun
id) der eingige Chrift der e3 gemadt bat.
Der alte Auguftin wollte durchaus dap id in fein Labo:
tatorium ging. Gr bat fid) daffelbe im Convent unter den
Zimmern ves armen Clemen3 eingeridtet; dort geigte er mit
frdblid fein Negroponte und die Pfeifentdpfe, die er bereits
gemadt und in bie Sonne zum Trodnen gelegt hatte. —
Sch glaube, jeder Menſch bat einmal im Leben cine
Stunde, wo er in den griinen Wald geben und ein Siebel
werden midte; und jeder bat einmal eine Gtunde, two et
ſchweigen midte wie ein Trappift.
De3 alten Auguſtin kleines Lebensbily habe ich Hier auf:
gezeichnet, weil e3 mid fo febr anregte, und id glaube, es
ift ein ächtes Stid deutſcher Natur.
353
Bwolftes Kapitel.
Das Schlachtfeld von Ponte nuovo.
Gallia vicisti! profuse turpiter auro,
Armis pauca, dolo plurima, jure nihil!
Die Corser.
Vor Ave Maria madte ih mid von Morosaglia auf, um
pie Berge hinab nad dem Schlachtfeld von Ponte nuovo zu
- geben. Da liegt auch das Stationshau3 von Ponte alla Leccia,
wo die Poft von Corte nad) Mitternacht eintrifft, und mit
iby wollte id dann nad Baftia zuriidfebren,
Der Whend war ſchön und Har, die Bergeinfamfeit yu Ge-
danken anregend. Kurz ift hier die Dammerung; faum ift Ave
Maria voritber, jo fommt die Nacht.
Wie oft fallen mir, wenn id die Gloden Ave Maria
lduten bore, die ſchönen Verſe des Dante ein, mit denen er
pie Abendftimmung auf Wafjer und Land ausgefproden hat:
Die Stunde war e3, die gu ftillem Weinen
Dem Schiffer gwingt das Herz und ftill ibn rühret
Am Tag, da er verließ die holden Seinen,
Und two der Wandrer Sehnſuchtsleid verfpiret,
Hort fern beritber -er das Glidden ſchallen,
Als weint’ es, weil der Tag fic) bin verlieret.
Gine eingelne Cypreffe dort auf dem Berge, vom Abendrot
angezündet, wie eine Opferferze. Dads ijt ein wabrer Ave—
Mariabaum, monumental wie ein Obeli3t, ſchwarz und trauernd.
. G8 ift fcdhdn, wie in Btalien Alleen von Cypreffen auf die
Klöſter und die Kirchhöfe fibren. Wir haben die Trauer:
weiden. Beide find wahrhaft Graberbdume, aber wie gegen:
ſätzlich verſchieden. Die Weide weiſt mit ibren Hangezweigen
ſehnſuchtsvoll binab zur Gruft, die Cypreffe fteigt kerzengerade
Gregorovius, Corsica. L. 93
354
auf und weift vom Grabe in den Himmel. Go fpreden fte
troftlofes Leid um den Verluft und glaubiges Hoffen aus.
Die Symbolif der Baume ift ein finnvolle3 Zeichen von der
Ginbeit des Menſchen und der Natur, die er immer in das
Bereich feines Gemütes gieht, um an feinen Cmpfindungen
Seil zu nebmen ober fie zu deuten. Da haben nun wieder
bie Fidte, per Lorbeer, die Gide, der Oelbaum, die Palme
ibren menjdliden Sinn und ibre poetifde Sprade.
Wenig und nur fleine Cypreffen fab i auf Corsica, und
dod follten fie diefer Inſel des Todes gufommen. Der Baum-
des Friedens aber wächst dort überall; die Friedensgöttin
Minerva, welder vie Olive gebeiligt ift, ift zugleich auch die
Gdttin des Krieges.
Fünfzehn Millien hatte ich von Morosaglia zu wandern,
immer in wilden ſchweigſamen Bergen, und ſtets den Blid
auf die bimmelboben Riefen des Riolo dort drüben, den weiß⸗
beſchneiten Cinto, den Artiga und den Ponte Rotondo, den
hidften 9000 Fup boben Berg Corsica’s. Gr ftand jest
violett im Abendglühn, und tofig fdhimmerten feine Schnee⸗
felder. Ich war bereits auf ‘feinem Gipfel geweſen; id er:
kannte deutlich die äußerſte Felfenginfe, auf welder id) mit
einem Siegenbirten geftanden war. Diefe yu febn machte mir
ein großes Vergnügen. Als nun der Mond über dem Berge
gu ftebn fam, gab es ein begauberndes Bild,
So im Mondfdein wandert es ſich ſchön in der ftillften
Bergwildnip. Da ift tein Laut, wenn nidt das Rieſeln eines
Quells und das Flattern ded Nachtgevögels, dad man nidt
fiebt. — Die Felfen glangen aus finjtern Schatten, und das
Geſtein fdeint wie gediegenes Silber. Nirgends ein Dorf,
nod eine menfdlide Seele. Ich ward müde und tief traurig
durch die Einſamkeit. Auf gut Glad ging id in ber Rid:
tung bin, wo id) unten im Tal den Golo dampfen fab. Dod
ſchien es mir, als hatte id) einen falfden Weg eingefdlagen,
355
und id war eben im Begriff durd eine Schludt nad der andern
Seite ithergugeben, al3 id) durch die Stille ber Nacht Gloden
Hingeln birte, deren Ton mir von den Felfen näher und näher
entgegen fam. Ich trat binter einen Fels und aus dem Mond:
ſchein; nidt ohne Graun, dad mid) jept in diefer ſchweigenden
Wildniß gum erften Mal überfiel. Bald fab ich vom bHellen
Felspfad herab einen Zug Mtaulthiere mit ihren Treibern fteigen,
und diefe ſagten mir auf meine Frage, dap id ben ridtigen
und allernddften Weg gewablt hatte. |
Go fam id endlidh an ben Golo um Mitternadht. Der
Fluß ftrdmt durd ein weites Tal, die Luft ift voll Fieber
und wird gefloben. Es ift Schlachtfeldluft von Ponte nuovo.
In Morosaglia warnte man mid durd die Nachtnebel ded
Golo ju gebn, oder lange in Ponte alla Leccia gu bleiben.
Wer da herumgebt, hört leicht die Todten die Geiftertrommel
ſchlagen oder feinen Namen rufen, wenigitens befommt er das
Sieber und Bifionen. So twas von dem legten glaube id
verſpürt yu baben. Denn id) fah die ganze Golofdhladt vor
mit, aud den fdredliden Mönch Clemens Paoli mit den
qropen feurigen Wugen und den didten Augenbrauen, den
Rofentrang in der einen, das Fucile in ber andern Hand, die
Geele beffen fegnend, den er eben erſchießen will, Wilde Fludt
— Sterbende. — Die Corsen, fo fagt Peter Cyrndus, find
Menfden gum Sterben bereit. Charatteriftifd ift folgender
Bug: Cin Frangofe fartd einen wunden Corsen, der obne
Rlagelaut den Tod erwartete. Was madt ihr, wenn ibe ver-
wundet feid, fragte er ihn, obne Aerzte, ohne Hofpttaler?
Wir fterben, fagte ber Corse, lakoniſch wie ein Spartaner.
Gin Wolf, defjen Charatter fo plaftijd und männlich ijt wie
per des corsiſchen, gewinnt nidts mehr, wenn man es mit
ven antifen Heldennationen vergleidt. Wher dod) ſchwebt mir
bier ungerufen immer Lacedimon yor Augen. Wenn es er-
laubt ift gu fagen, dap in dem italienifdben wunderbar be-
356
gabten Boll der Geift ner Hellenen noch einmal aufgelebt jei,
fo trifft died meiner Anſicht nad hauptſächlich dieſe Nachbar⸗
lander Toscana und Corsica, Yenes zeigt ganz den idealen
Reichtum de3 joniſchen Geiftes, und wabhrend feine Didter in
ver melodiſchen Sprache fangen, feine Künſtler die Tage ded
Perikles ernenerten, während feine Geſchichtſchreiber den Ruhm
des Thucydides erreichten und die Philoſophen ſeiner Akademie
vie Welt mit platoniſchen Ideen erfüllten, ftand hier in Cor⸗
Zica ber raube doriſche Geift. wieder auf und wurden bier
Spartanerfimpfe gefampft.
Sin Jahr 1790 befudte der junge Napoleon dieſes Golo:
ſchlachtfeld. Cr war damals 21 Sabre alt, vod fab er 03
wol fdon als Rnabe. Napoleon auf vem erften Schlachtfelde,
das er fab, als Jüngling, nod) fcidfallos und ſchuldlos, er,
welder die halbe Erde vom Ocean bid an die Wolga und
von den Wen bid an die Wüſte Lybien3 von Sdladtenblut
röten follte: died war ein Wugenblid fiir Daimonen.
G3 war eine foldbe Nacht, wie diefe, als der junge Napoleon
bier auf dem Golofeld umberftreifte. Gr fegte fid) an den
Fluß, welder an jenem Schlachttage, wie dad Volk erzählt,
24 Millien weit bis zum Meer blutig rot gewefen war und
Leichen gewälzt hatte. Der Fiebernebel machte ibm den Kopf
ſchwer und traumfdlafend. Gin Geift ftand binter ibm, em
rotes Schwert in der Hand. Der Geift rührte ihn an und ent:
führte ihm die Seele durd die Luft. .Sie ſchweben fiber einem
Felde; da wird eine blutige Schlacht gefdlagen; ein junger
General fprengt iiber Leichen hinweg. Montenotte! ruft der
Damon, und du bift es, der dieſe Schlacht ſchlägt. — Weiter
geht ver Flug. Sie ſchweben über einem Felde; ba wird eine
blutige Schlacht gefdlagen, ein junger General ftirmt im
Pulverdampf, die Fahne in der Hand, über eine Bride.
Lodi! ruft ver Damon, und du bift e3, der dieſe Schlacht
ſchlägt. — Und weiter geht ver Flug von Saladtfeld ju
357
Sdladtfeld. Da halten die Geifter ber einem Strom:
Sdiffe brennen auf ibm, Blut und Leiden wälzt er fort,
rings enbdlofe Wifte. Die Pyramiden ruft der Damon, aud
dieſe Schlacht wirft vu ſchlagen! — Und fo fliegen fie wetter
und immer weiter, von einem Sdladtfelde zum andern, und
binter einander ruft der Geift die fdjredliden Namen: Ma:
rengo! Wufterlig! Eylau! Friedland! Wagram! Smolensf!
Borodino! Berefina! Leipzig! Bis er itber dem legten Schlacht⸗
feld {cwebt und mit donnernder Stimme ruft: Waterlo!
Kaijer, deine letzte Schlacht, und da wirſt du ſtürzen! —
Der junge Napoleon fprang am Goloflub auf, ihm fdau-
verte, in einem firdterliden Traum hatte er Dinge de Wahn⸗
finns geträumt. — —
Mun aber war diefe ganze Leidhenphantafie eine Folge von
dem böſen Golonebg, welcher mich felbft umwitterte. Auf
dieſem dunftigen Corsenfdladtfelde und in folder falben Mond-
nadt iff es wol vergeiblid), wenn man Bifionen bat. Und
welde wüſte, dunftige, grauenvoll fine Mondnadt. Ueber
jenen ſchwarzen urgranitnen Riejenbergen bangt der rote Mond
— nein! es iff ber Mond nicht mehr; es ift ein großes,
leichenblaſſes, blutig entfeplide3 Haupt, welches über der Inſel
Corsica ſchwebt und ftumm auf fie bernicderfdhaut, ein Me:
pufenbaupt, ein Vendettahaupt, ein ſchlangenhaariges, ſchreck⸗
liches. Wer diefes Haupt angubliden wagt, der wird nidt
au Stein, fondern wie Oreftes faßt ibn die Furie, dab er in
rafender Leidenfdaft morden, und dann von Berg zu Berg,
yon Hole zu Höle irren mup, binter fic) die Blutrade und
das Gefeg, die fid) an feine Golen beften.... Ich fab den
Rachegeiſt in den Liften fahren, auf gefliigeltem Rob, das
qraufige Medujen-Vendettahaupt bei ben Haaren gefabt; fo
ftiirmt er einber und ruft: Vendetta! Vendetta! ....
Welche Phantafieen und fie wollen nimmer enden! Aber
Gottlob! da ift das Stationshau3 von Ponte alla Leccia und
eo!
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358
bie Hunde fdlagen an. In dem grofen wüſten Zimmer figen
einige Menfden am Tiſch um vie fdmaudende Ocllampe,
haben die Köpfe auf die Bruft hangen und find fdlaftrunten.
Gin Priefter im ſchwarzen Rod und ſchwarzen Hut nadtwan-
delt im Zimmer. Gr wartet auf die Poſt. Mit diefem bet:
ligen Manne will id ein Gefprad von geiftliden Dingen an:
tniipfen, dab er alle Geiftertrommelet und Dämonenwirtſchaft
aus mir austreibe.
Aber obwol diefer Mann von einer felfenfeften Rechtgläu⸗
bigleit war, fo Eonnte er dod den böſen Gologeift nicht aus
mit bannen, fondern mit dem fdmerzvollften Kopf tam id
nad Bajtia. Dd Elagte meiner Wirtin, dab mir die Gonne
und der Webel e3 angethan, und id) glaubte nun auf frem:
ver Grde fterben yu miiffen. Die Wirtin fagte, bier helfe
nichts al3 dab eine weife Frau ber mir die Orazion made.
Ich lente die Orazion ab und begebrte nur gu fdlafen. Ich
ſchlief einen ganzen Tag und eine Nacht den tiefften Schlaf.
Wie id) erwachte, ftand die heilige Sonne hod) und preiswirdig
am Himmel. |
Gorstca.
Von
Ferdinand Greqgorovins.
Dritte Anflage.
Bwetter Band.
Stuttgart.
Perlag ver J. G. Cotta’ fdhen Buchhandlung.
1878.
Autorredjt vorbehalten,
Bugdruderei der J. G. GotterfGen Buchhandlung in Stuttgart.
Erfies Bud.
Erſtes Kapitel.
Durch das Land Nebbio nach Isola Rossa.
Wenn man von Baſtia aus die Serra überſteigt, welche
vom Cap Corso herauf kommt, ſo gelangt man auf die andere
Seite des Meers in das Land Nebbio. Der treffliche Weg
ſteigt zuerſt eine Stunde lang den Monte Bello an. Man
blickt zur Linken in die Ebene von Biguglia und Furiani
und auf den großen Teich, in welchen der Fluß Bevinco mündet.
Sobald man die Höhe erreicht hat, ſieht man das Meer zu
beiden Seiten. Nun fällt die Straße nach dem weſtlichen
Geſtade ab, dad öſtliche ift verfdwunden, und vor den Augen
entfaltet fic) das zauberiſche Gemalde des Golfe3 von San
Fiorenzo. Rötliche Felfenufer, faft ohne Vegetation und niedrig
fic) abjenfend, wunderlich ausgezackt, umfdliepen die tiefblaue
Meereshudt. Der Anblick ift groß, fremd und ſüdlich.
Am Abhange des VBergritdens liegt das finftere Dorf Bar:
bignano; die Strafe fibrt an ihm vorbei durd Gaine von
Cajftanien und Oelbdumen. Diefe Straße ift vom Grafen
Marbeuf gebaut, und hier war e3, wo BVernadotte am Wege
arbeitete. In gewaltigen Rriimmungen befdreibt fie etn M,
worauf mid der Führer der Poſt aufmerffam madte.
Wir naberten uns dem herrliden Golf, der aus dem Kranz
der ftillen roten Ufer hervorlachte. Es ift ein alted febr treffendes
Gregorovius, Corsica. Il, 1
|
|
| Seiten galt das Nebbio fir eine natürliche Feftung, weshalb
Bild, dag man vom ftralenden Meereswaffer fagt, e3 lade.
Ich erinnerte mid) an eine Stelle des Aeſchylus: „O du im
Wellenfpiel des Meers ungablig Laden!” — Diefer Golf
lachte aber gar aus unzähligen purpurblauen Wellen, und
es lachte dazu ein Tal, durch welded ein Bach ſich ſchlängelte,
cus tauſend und aber tauſend Lorbeerroſen, welche mit ihren
roten Bliten bededt weit und breit umherwucherten. In unſrem
Vaterland iſt der Bach froh, wenn er ſich mit Erlengebüſch
und Weiden behangen kann, hier im ſchönen Süden prangt
ev im teidften Oleanderfdmud.
Die Gegend ift faft gar nidt bebaut. Ich ſah oft vere
laſſene Haufer. Der Epheu hatte fie gang umzogen und in
jeinen Ranten, welche Thüre und Fenfter aberfpinnen, be:
graben. Jn foldem Cpheuhausden wohnen jetzt wol die Elfen
und kichern, wenn ein Sonnenſtral oder das Mondlidt urd
die grinen Rantengitter fid) ftielt, um gu ſehn, was die
Wichtchen drinnen fir Sdhelmereien vorhaben. Die Gefdhidte
der Menfden, die einft-dort toohnten, mag blutig und graujig
ſein. Vielleicht vertrie fie der Barbareste, oder ber mörde—
riſche Rrieg gegen Genua oder die Blutrade.
Am Ufer fteht hie und da ein alter Turm.
Inmer malerifdher wird die Gegend in der Nahe von 6.
Fiorenzo. Zur Rechten breitet fid) der Golf in feiner ganjen
Grdfe aus, gur Linten weit im Hintergrunde überſchaut der
Blick dad Umphitheater ver Berge, welde gegen das Meered-
becken ſich neigen. Es find die ſtolzen Berge des Col di Tenda,
an deren Fuß einft die Rimer von den Corsen gejdlagen
wurden, Sie umftellen das Land, welches Nebbio genannt
wird, Denn dies ift das Gebiet um den Golf von GS. Fio—
renjo, wohinaus allein dad Bergampbitheater fid) dffnet. Es
ijt eine bergige Proving von groper Dirre, aber reid) an
Wein, an Frithten, Oliven und Caftanien. Seit den älteſten
alle Croberer bier eingubdringen ftrebten, und unzählige Schlachten
bier gefdlagen wurden.
Pier Cantons oder Pievt enthalt heute bas Nebbio, S.
Fiorenzo, Oletta, Murato und Santo Pietro di Tenda.
Wir erreihten das Stadtden S. Fiorenzo um die heiße
Mittagzzeit. Es ijt ein Hafenort von faum 600 Ginwohnern
in herrlicher Lage an einem der ſchönſten Golfe Corsica's.
Das einige gripere Tal des Nebbio, das Tal Aliſo, weldes
yom Fluſſe gleiden Namens durchſchnitten wird, liegt vor
dem Ort. Der Flug ſchleicht durch ven Gumpf, der die ganze
Gegend verpeftet. Wn feinem Rande fah id eine einjelne
Fächerpalme ftehn; fie gab der ganzen Landfdaft in der flim:
mernden Dtittagsluft einen tropifden Charatter. Weiber und
Rinder lagen um eine Cifterne und fdwagten, die ehernen
Waffergefafje neben ſich — ein Genrebild, das yu der Fader:
palme jain ftimmte. Durdgebend ijt ber Charakter bes corsi⸗
ſchen Strande$ an den Golfen halb homerijd) und halb alt:
teftamentlid.
Gine Biertelftunde reicht hin, dad Oertchen zu durch⸗
ſchreiten. Cin fleines Fort mit einem befuppelten Turm, der
eher nad) einer Capelle in Mekka al nad einem Caſtell aus⸗
fieht, fdiigt den Hafen. Wenige Fiſcherkähne anferten in
ibm. Der Golf, einer der fdinften des Mtittelmeer3, ift fo
lodend 3u einer großen Hafenanfiedlung, daß man über feine
Dede ftaunen muß. Napoleon gedenft in hen Memoiren de3
Antommardi des Ortes mit diefen Worten: „S. Fiorenzo hat
eine der glidlidften Lagen die id fenne. Sie ift die gün—
ftigite fiir den Handel. Sie berithrt Frankreich, fie grengt an
Ytalien; ihre Landungspuntte find fider, bequem, ihre Rheden
finnen grope Slotten aufnehmen. Ich hatte vort eine große,
ſchöne Stadt gebaut, welde eine Hauptſtadt hatte fein follen.”. .
Nad Ptolemaus mup am Golf das alte Cersunum ge:
ftanden haben. Ym Mittelalter lag hier die Stadt Nebbio,
ba
4
deren Ruinen eine halbe Millie von Gan Fiorenzo entfernt
find. Auf einem Hiigel erhebt fic) nocd die alte Rathedrale
der Biſchöfe von Nebbio, verfallen, dock nod anjebnlid. Cie
zeigt den Bafilifenftil der Pifaner und läßt auf das zwölfte
oder elfte Jahrhundert ſchließen. Die Kirche war der Santa
Maria dell’ Asſsunta geweiht. Daneben fieht man die Ruinen
des biſchöflichen Hauſes. Die Biſchöfe dort waren nicht minder
friegerifd) al3 die trogigften ber Gignoren Corsica's. Sie
nannten fid) Grafen von Nebbio, und man erjzablt, daß fie
in der VolfSverfammlung der Terra del Commune mit dem
Schwert an der Seite erfdhienen, und bei der Meſſe zwei ge:
ladene Piftolen auf dem Altar liegen batten. Die Stadt ver:
fiel, wie bie andern Bistiimer Corsica’s Accia und Gagone.
Heute findet man dort viele römiſche Münzen, und Grabs
urnen wurden mande ausgegraben.
Das fpdtere Gan Fiorenzo war einer der erften corsiſchen
Orte, welde fid) an die Bank Genua’s gaben, im Jahr 1483.
Deshalb genoß die Stadt viele Freiheiten. Jährlich fcbidte
pie Bank einen Caſtellan und Podefta, welder das Recht mit
vier Confuln verwaltete. Yn ſpäteren Kriegen ijt das Caftell
oft von Bedeutung gewefer.
Vortrefflide Fiſche gab's in bem Ort, frifd aus dem Golf
gefommen und geriftet. Raum waren fie verzehrt, fo ging
e3 aud) weiter. Auf einige Zeit verlapt nun die Strafe die
Meereskifte und fteigt eine Bergfette an. Bis in die Provinz
Balagna und nad) Isola Rossa hinein iſt's ein unfruchtbares
Uferbergland. Die plutonifden Gewalten haben große Felfen:
ſtücke umhergeſchleudert. Oft bededen fie in gigantifden Bliden
oder zu fleinen Triimmern zerſchlagen die Whhinge; Schiefer,
Ralf, Granit fieht man überall.
Sparfam wird aud die Cultur der Olive und rer Caftanie,
bagegen überbuſcht der wilde Oelſtrauch (Oleaſtro) die Higel,
und Arbutus, Rosmarin, Ptirte und Crifa haben bier ihre
Sreude. Die Juliſonne hatte dieje Geftraude verfengt; die
rdtlid) braune Farbe ihrer Zweige, das Grau des Oelgeſtrüpps
und die veriwitterten Steine gaben baber ber Gegend einen
melancholiſchen Zon. Die Luft allein regt fic) flimmernd in
dieſer Stille, fein Bogel fingt, nur die Grille zirpt. Bid-
weilen ſieht man eine ſchwarze Biegenberde unter einem Oel⸗
baum gelagert, oder vom panifden Schrecken ergriffen über
die Felfen hinweg fegen.
Yon Zeit zu Zeit famen wir an eine einjame Strafen-
fchenfe, wo die Ptaulthiere ner Poſt gewedfelt wurden, oder
an eine in Stein gefaßte Quelle, über welde Menſchen und
Thiere jubelnd herfielen.
Ich ſah an einigen Stellen kleine Getreidefeider, Gerſte
und Korn. Das Getreide war bereits geſichelt und wurde
ausgeſtampft. Die Vorrichtung iſt ſehr einfach. Mitten auf
dem Feld iſt eine kreisrunde Tenne aufgemauert, darauf
ſchüttet der Corse das geſichelte Getreide und läßt es von
Ochſen zertreten, welche einen ſchweren Stein hinter ſich
ſchleppen. Ich fand, daß man überall den Ochſen das Maul
verbunden hatte, alſo wider das Gebot der Bibel. Unge⸗
zählte Tennen dieſer Art waren auf den Feldern zerſtreut,
dabei kein Dorf ſichtbar; aber in der Nähe ſtanden kleine
Scheuern, viereckige Würfel aus Stein, mit platter Bedachung.
Dieſe kreisrunden Tennen und dieſe grauen Häuschen, welde .
weit und breit umherſtanden, ſahen in der öden Gegend
wunderlich aus, wie Wohnungen von Erdmännchen. Der
Gorse lacht, wenn man ibm erzaͤhlt, wie bet uns das Ges
treibe gedroſchen wird; eine folde Galerenfclavenarbeit witrde
ec um feinen Preis verridten. .
Auf der ganjen Fabrt jah id) fein Fubrwerf. Dann und
wann fam ein Gorge geritten, tas Doppelgewehr umgehangt
und den. Sonnenſchirm über fid. Sie ſchießen hier viel wilde
Zauben und vielleiht auc — Menſchen.
Endlich naberten wir uns dem Meeresufer wieder, nad:
dem wir über den Heinen Fluß Oftriconi. gefabren waren. Die
Küſte ift oft nur hundert Fup erhoben, dann fteigt fie wieder
au den fdrofijten Formen auf. Je mehr man fid nun Bola
Rossa nähert, defto madtiger werden die Berge. Es find die
hohen Gipfel der Balagna, des gelobten Landes ver Corsen,
weil dort in Wahrheit Honig und Oel fließt. Cinige trugen
Schneekappen und glangten von kryſtallreiner Schöne.
Da liegt Isola Rossa vor uns am Pteeresftrande! Da
die beiden grauen Türme der Pifaner! Da die blutroten
Sufelflippen, welche bem Stadtden den Namen geben. Welde
reizende Meeresftrandidylle im Abendlicht. Schweigſame Verge
driiben, ftille Flut hier, graue Oelbäume, die dem Pilger ibre
Friedenszweige entgegenhalten, ein gaſtlicher Rauch aus den
Herden aufſteigend — wahrlich, ich ſchwöre, daß ich zu dem
zaubervollen Strand der Lotophagen gekommen bin.
Zweites Kapitel.
Strandidylle von Isola Rossa.
Sondern ſie trachteten dort in der Lotophagen Eeſellſchaft
Letos pflückend gu bleiben, umd abzuſagen ber Heimat.
Odyſſee.
Ein großer ländlicher Platz liegt am Eingang und noch
in den Stadtmauern eingeſchloſſen, welche Gartenmauern gleich
ſehn. Da erhebt ſich in der Mitte eine Fontäne, auf deren
Granitwürfel die Marmorbüſte Pasquale Paoli's ſteht. Sie
war vor zwei Monaten dort aufgeſtellt. Bm Jahie 1758
mitten im Krieg wider Genua, welches nocd) das benadbarte
fefte Algajola behauptete, griindete der grope Mann Sola
Rossa. Die Genuefen famen mit Kanonierboten, den Bau
gu ftiren, aber er erjtand unter ihrem Rugelregen, und heute
ift J3ola Rossa ein Ort von 1860 Cinwohnern und der wid:
tige Stapelplag der ölreichen Balagna.
—Iſch fand um den Brunnen Kinder fpielen, varunter war
ein {dined Rind von ſechs Jahren, mit den ſchwärzeſten Loden
und großen ſchwarzen, tieffinnigen Augen. Das Kind war
Lieblid wie ein Engel. Wißt ihr aud, fragte id), wer der
Mann ijt, welder hier vor und auf der Fontaine fteht? Sa,
wir wiffen e3, fagten fie, das ift Pasquale Paoli. Die Kinder
fragten mid), aus weldem Land id fei, und da ic) fie raten
ließ, rieten fie auf alle Länder, endlich auf Egypten, aber
Deutſchland fannten fie nidht. Seitdem begleiten fie mid
bier auf allen Wegen: ich kann fie gar nidt [03 werden.
Gie fingen mir Vieder, und bringen mir Corallenftaub und
bunte Muſcheln vom Strande; iiberall find fie ba und mit
ihnen viele andere. Wie der Rattenfanger von Hameln ziehe
id eine Kinderſchar hinter mir “her, und fie folgen mir felbjt
bis in die See. Der Crderfdiitterer Pofeidaon, Mereus aud
und die blaufiipigen Doriden dulden un3 alle, und manden
Delphin fehe ich hier in kryſtallner Welle fröhlich fpielen.
Hier ift aud) gang der Ort, unter Kindern ein Rind zu fein.
Diefe Weltwerlorenheit am weißen Strande und im Griinen
thut dem Gemiit wol. Das Städtchen liegt ftill wie ein Traum.
Die Haufer mit den platten Dadern und griinen Fenjterladen,
pie zwei ſchneeweißen Türme der kleinen Rirde, alles fieht jo
gierlid) und fo beimlid) aus. Im Mteer ftehen drei rote Klip⸗
pen, ein Turm halt auf ihnen Wade und erzählt in jtillfter
Abendrube die alten Gefdidten vom Saracen. Wilde blaue
Tauben und Mauerſchwalben umflattern ibn. Ich bejtieg dtefe
Klippen des Whends. Man fann jegt gu ibnen zu Land ges
fangen, weil fie mit ihm durd einen Damm verbunden find.
Die Meereswellen dringen in eine Grotte, welde ſchwer zu⸗
gänglich iſt. Rah an diefen Mlippen wirft man jegt einen
23 0
oe fy «4
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neuen Molo ins Meer; franzöſiſche Arbeiter waren gerade
damit beſchaftigt, die grofen Steinwiirfel mit Sdrauben auf:
zuwinden, und in die Gluten gu ſtürzen.
Shin iſt die Abendlandſchaft von diefen roten Inſeln
aus detradtet. Zur Redyten das Meer und die ganze Halb-
injel des Cap Coro im Duft verfdleiert; zur inten eine
rote Landzunge, um welche die Gee biegt; die Eleine Stadt
im Qorgrunde, Fifdherbarten und ein paar Segelbote im Hajen.
Im Hintergrund drei herrlide Berge, Santa Angiola, Santa
Suſanna und der raubfelfige Monte Feliceto. Wn ihren Ab—
hangen Olivenhaine und viele ſchwarze Dérfer. Hin und
wieves glühen die Feuer der Ziegenbirten.
G3 gibt feinen Ort, deffen Volk patriarchaliſcher leben
firnte, Das Land bietet feine Friidte, und das Meer aud.
Sie haben genug. Wbends figen fie am Molo und fdwagen,
oder angeln in dem ftillen Waffer, oder luſtwandeln in den
Oliverhainen und Orangengarten. Tags rüſtet der Fiſcher
jeine Nege und der Handwerker figt unter dem Maulbeerbaum
und arbeitet emfig. Hier darf das Lied und die Guitarre
nicht feblen. Ich hatte mid) in einem kleinen Caffeebaufe ein-
gebeimt. Die junge Lotoswirtin fonnte ſchöne Lieder fingen;
auf meinen Wunſch tam Abends eine fleine Geſellſchaft zu⸗
jammen und waidlid) wurde auf den Guitarren getlimpert
und mandes reigende Lied gefungen.
Auch die Kinder fangen mir, wo fie hinter mir ber liefen,
Lieder, die Marfeillaife, den Girondiftenmarfd und Bertrams
Abſchied mit untergelegtem Tert als Loblied auf den Präſi—
denten von Frankreich. Der Refrain ſchloß immer mit ver
Apoſttophe vive Louis Napoléon! Der fleine Camillo fang
am ſchönſten die Marfeillaife.
Bir fucdten Muſcheln am Strande. Deren gibt eB da
die File, wenn man bem fleinen Rlofter vorbeigebt, dad am
Meer im Garten fteht, und worin die Schweſtern der Mas
9
donna alle Grazie wohnen. Die Marienfdweftern haben in
dieſer -Villa die köſtlichſte Ausſicht auf das Mteer und die
Berge, und ihrer mance mag ihrem verſunkenen Liebed-
Lebensroman nadtraumen, wenn die golone Mondſichel über
dem Berg Reparata glangt fo wie heute. Der Strand ift
weit bin ſchneeweiß. Sein ſandiges Ufer ijt gan; von rotem
Corallenftaub und von den allerſchönſten Muſcheln durdftidt.
Der eine Camillo half mir wader ſuchen, aber mehr nod
reigten ihn die lebendigen kleinen leppere, Muſcheln, welche
fic an den Steinen feftjaugen. Gr brad fie aus bem Wafer,
ap bas Thierden mit vielem Behagen und wunderte fid, dab
id) nicht mitſpeiſen wollte. Whends ergigten wir uns an den
phosphorescirenden Meereswellen und badend ſchwammen wir
in Millionen Funten.
Schöne Kinderwelt! C3 ijt gut wenn mandmal ihre vers
lornen Stimmen wieder zu reden anfangen. — Die Lotophagen
wollen mic) nicht fortlajfen, fie bilden fic) ein, daß ich ein
reicher Baron fei und haben mir den Vorſchlag gemadt, mid
in Isola Rossa angufaufen. Hier verloren 3u gehen, ware
nidt übel. — :
„Ja! die Blutradhe bringt uns um!” fagte mir ein
Birger ver roten Inſel. Sehet dort den fleinen Mercato,
unfere Kaufballe mit den weifen Gaulen. Ym vorigen Jahr
fpagierte eines Tags ein Birger dort auf und ab; auf einmal
fiel ein Schuß, und der Mann ſtürzte todt zujammen. Wm
bellen lichten Tag war Maffoni in das Städtchen gefommen,
der hatte feinem Feind eine Kugel in die Bruft gejagt, und
weg war er wieder in die Berge, und das alles am bellen
lidten Tage.
Da ift das Haus, in weldem Paoli itberfallen wurde,
alg Dumouriez einen Anſchlag auf ibn angegettelt hatte. Und
hier landete gum legtenmal Theodor von Neubhoff, und ging
wieder in See, weil fein Rinig3traum ausgeträumt war.
10
Eines Tags ging ic) mit einem Elſaßer vom zehnten
Regiment, welches gegenwirtig in Corsica verteilt ijt, auf
ben Berg Santa Reparata und in den Ort gleidhen Namens.
G3 ift fdwer, das Bild eines folden corsiſchen Bergdorfes
mit Worten zu malen. Man wird ibm am nächſten kommen,
wenn man ſich Reihen von ſchwärzlichen Türmen denkt, welche
in der Mitte durchſchnitten ſind. Die Häuſer ſind aus oft
gar nicht behauenen Steinen errichtet, meiſtens nur mit einem
Eſtrich von Lehm bedeckt, auf welchem bisweilen Pflanzen
wachſen. Sehr ſchmale und ſteile Treppen von Stein führen
zur Thüre hinauf. Go wohnten die Bergcorsen wol fdon
zur Zeit der Etrusker und der Carthager. Allenthalben fand
ich Armut und Unſauberkeit; Menſchen und Schweine bei etn:
ander, in hölenartigen Stuben, in welche das Licht durch die
Thüre fiel. Und doch leben dieſe Menſchen in einem Ocean
von Luft und Licht, aber ſie hauſen wie die Troglodyten.
Aus einer dieſer Hölen trat mir ein junges bleiches Weib
entgegen, ein Kind auf dem Arm. Ich fragte ſie, ob ſie
ſich hier wol fühlen könne, da ſie doch immer im Finſtern
ſäße. Sie ſah mich an und lachte.
In einem andern Hauſe fand ich eine Mutter, welche
ihre drei Kinder eben zur Ruhe bringen wollte. Alle drei
ſtanden ſie nackt auf dem Erdboden und ſahen krank und
verkommen aus. Ym Elend wächst dies ſtarkmutige Bergvolk
auf. Sie ſind Jäger, Hirten und Ackerbauer zugleich. Ihr
einziger Reichtum ift die Olive, deren Oel fie in den Staͤdten
verfaufen. Aber nicht Yeder ift an Oliven reid. Hier iit
alfo dad Leben nicht elend durd) die Webel der Cultur, fon:
dern durd) die des ftehen geblicbenen Naturzuſtandes.
Ich ging in die Kirche, deren ſchwarze Facade mid) reijte.
Der weife Glodenturm ift neu. Die Rirdtiirme Corgica’s
haben feine Gpigen, fondern enden in einem durchbrochnen
und gefdweiften Glodenftul. Das Ynnere hatte eine Tribuna
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mit einem Hauptaltar, einem wunderlich baroden Dinge aus
getiindten Steinen mit vielen Wusf{dweifungen. Ueber dem
Altar ftand die lateinifhe Inſchrift: Heilige Reparata, bitte
fitr dein Volk. Populus, das ift recht altdemofratifd. An
pen Wanden Anfänge der Malerei, einige Nifden mit halbe
runden Gaulen eingefapt, die teils korinthiſche, teils Phantaſie—
Gapitiler batten. €3 liegt jegt ein Interdict auf der beiligen
Reparata und feine Mteffe wird dort gelefen. Nad) vem Tode
des Pfarrers hatte fid) die Gemeinde geweigert den Nadfolger,
welden der Biſchof von AWjaccio fdidte, anjunehmen. Sie
hatte fid) in zwei Parteien gefpalten, welche fid) blutig be-
fehdeten. Das auf die Rirde deshalb gelegte Ynterdict hat
den Streit nod nidt gefdlictet.
Ich ging durd bie engen, fdmugigen Gafjen nad dem
Zalrande, von wo man die weite Ausſicht in die Bergreihe
bat, welde die Balagna weiterhin fdliebt. Viele braune
Ortfhaften ftehen in dem Bergcirfel und viele Olivenbaine.
Die Felfendiirre hebt kräftig das Grin der Garten hervor.
Cin Corse filhrte mid dabin, ein Stammler, der dad Feuer
im Geſicht hatte; id) glaube, er war geiſtesſchwach. Ich lief
mir die Namen der Orte des Balagnatals von ihm nennen.
Gr erzablte mir in einem gurgelnden Ton allerlei was id
nur balb verftand, aber id) verjtand wol, daß er bier und
port binwie3: ammazzato, ammazzatto a colpo di fucile.
Gr zeigte mic Orte in den Felfen, wo Menſchenblut vergofjen
worden war. Mir graute, und ic madte, dab id von dem
Unbeimliden hinwegfam. Sd febrte über Oggilione zurück
purd Olivenbaine auf ſchmalen Hirtenpfaden abfteigend. Bes
waffnete famen beraufgeritten, und fdnell kletterten ihre Pferde
von Fels yu Fels. Da wurde es Wbend, der öde Feliceto-
berg erfdhimmerte in den ſanfteſten Farben, ein Glidden
lautete Ave Maria und an einem Hang blied ein Biegenbirt
auf der Schalmey. Das ftimmte alles ſchön zufammen, und
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wie id Isola Rossa erveidhte, war mir aufs neu idyllifd
gu Mut geworden.
Fürchterlich grell ſtoßen hier die Gegenfaige gegen ein:
anber, Kinderwelt, Hirtenwelt und der blutrote Mord.
Drittes Kapitel.
Wittorta Malaspina.
Ed i] modo ancor m’offende.
Francesca da Rimini,
In Baftia hatte id) einen angefebenen Mann der Balagna
fennen gelernt, Dtutius Malaspina. Cr ift ein Whfomme der
to8canifden Malaspina, welde im elften Jahrhundert Corsica
regiert haben. Durd) feine Gattin wurde er mit der Familie
Paoli verwandt, denn Vittoria Malaspina war eine Urentelin
des Hyacint Paoli aus ber Nachkommenſchaft des berühmten
Clemens, und die Todter des allgemein beliebten Staats:
rats Giovanni Pietri, eines der verbdienitvollften Danner
Corsica’s.
Signor Malaspina hatte mir zu Monticello, einem Ort,
welder oberhalb Isola Rosſsa und wenige Millien davon
entfernt liegt, Gaſtfreundſchaft angeboten, und id) deſſen frob
hatte gugefagt fein Gaſt gu fein in einem Hauſe, dad einft
Pasquale bewohnt und von wo er fo viele feiner Briefe
datirt bat. DPtalaspina gab mir einen Brief an fein Haus
mit, welches id) offen finden würde zu jeder Beit, aud) ebe er
felbjt zurückgekommen ware.
Sh war aljo nad Bola Rosa gefabren mit dem Bor
jag, nad Monticello hinaufgugebn und dort einige Tage ju
verleben. Aber unterwegs erzablte man mir, was Malaspina
mir verſchwiegen, das graufige Sdidfal, welded feine Familie
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wor nod nicht drei Sahren dort erlitten batte, fo dap id
nicht wufte, wad mid) mebr erftaunen follte, das Ungebeure
jenes Geſchicks oder der Charafter des Corsen, welder trog
ibm einem ungefannten Fremdling die Gaftfreundfdaft bot.
Ich bradte e3 nidt mehr über mid, fie in einem Hauje zu
geniefen, wo fie gemordet worden war. Aber ich ging nad
Monticello hinauf, das Unglück durch menſchliche Teilnahme
zu ebren.
Das Haus Malaspina liegt am Gingang des Ort3, auf
dem Rand eines umgriinten Felfen, ein großes, ernftes und
caftellartig feftes Haus aus der alteften Beit. Cypreffen um:
ftebn feine Terraſſe. Schon von ferne rufen fie bem Wandrer
pie Tragddie gu, die hier gefpielt worden ijt. Gin fleiner
Plag liegt vor dem Cingang. Junge Platanen ftehn darauf
und umgriinen eine Todtenkapelle.
Ich ftieg eine ſchmale und finftre Steintreppe binauf und
fah mid) nad den Bewohnern um. Das Haus fdien aud:
geftorben. Yd ging durdh unbeimlidhe Zimmer, aus denen
der Geift der Wohnlichkeit gewiden war. Cndlid) fand id
eine in Trauer gefleidete Ute, die Schaffnerin, und ein Rind ,
yon adt Yabren, die jüngſte Tochter. C3 foftete mir Mühe,
der Alten ein freundliches Geſicht abzugewinnen, bis fie nad
und nad mir Vertrauen fdentte.
Ich fragte nidt. Wher die Heine Felicina forderte mid
pon felbft auf, die Zimmer der Mutter zu fehn, und fic
fagte mir in ihrer Unſchuld mehr als gu viel. |
Die alte Marcantonia hatte fic) zu mir gefegt, und was
fie mir erzählte, will id) treulich nacherzählen, nur den Buz
namen und die Vaterftadt de3 Unglidjeligen will id ver:
ſchweigen.
„Im Sommer (1849) famen viele Staliener nad) Corsica,
die fic) hiniibergefltichtet batten. Unter ihnen war Ciner, den
man audsliefern wollte, Da erbarmte fid) fein der Signor
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Pietri, welcher allen Menſchen wolthut; er wirkte es aus,
daß er bleiben konnte, und er nahm ihn in ſein eignes Haus
nach Isola Rossa. Der Fremde — er hieß Giuſtiniano —
blieb einen Monat bei dem Herrn Pietri unten in Isola
Rossa, und weil der Herr gerade nad Ajaccio zum Fat
mußte, nahmen den Giuftiniano Mutius und meine Herrin
Vittoria hier ins Haus. Da hatte er alles Vergniigen, wad
er nur wiinfden fonnte, Jagd und Pferde, eine gute Tafel
und Gäſte vollauf, die zu feinem Gefallen in3 Haus famen.
Der Ytaliener war fehr angenebm und ſehr leutfeltg, aber
er war traurig, weil er in der Fremde lebte. Die Signora
Vittoria war von allen Menſchen geliebt, und am meiften
yon den Wrmen. Gie war aud wie ein Engel.”
War fie ſchön?
„Sie hatte eine zarte Farbe, nod) ſchwärzere Haare als
bie Felicina, und zum Berwundern ſchöne Hände und Füße.
Sie war groß und voll. Der Ytaliener, ftatt in unſrem
Hauſe fic) wol yu fühlen, wo er alle Freundlichkeit und Gite
genoß, tourde immer trauriger. Er fing an wenig zu {preden,
wenig 3u effen, und fab fo blag au3 wie ber Tod. Er ging
jtunbdenweit in den Bergen herum und fap oft wie verftirt
und obne ein Wort zu fagen.”
Hatte er niemals feine Liebe yur Signora verraten ?
»Sinmal war er ihr ind Bimmer nadgegangen, aber fie
hatte ibn binandgeftofen und dem Madden befohlen, zu ſchwei⸗
gen, dem Herrn nits zu fagen. Ginige Tage vor dem
20. December (es find jest bald drei Jahre) wurde Giuftiniano
fo elend, dap wir glaubten, er wiirde ſehr krank wwerben.
Gr follte Monticello verlaffen und nadh Baftia, um fid ju
serftreuen. Und aud) er felbft hatte e3 gewiinjdt. Gr af
in breien Tagen feinen Biffen. Eines Morgens wollte id
ibm wie gewöhnlich den Cajfee bringen, aber die Thüre war
veridlofjen. Sch fam nad einer Weile wieder und rief ibn
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bet Namen. Cr öffnete mir. Yoh war erjdredt über fein
Ausſehn. Bd fragte ihn, Signor, was feblt eud? Cr legte
feine Hand fo auf meine Gdulter, wie id fie bier auf die
eure lege, und fagte zu mir: Wh! Marcantonietta, wenn du
wüßteſt, wie mir dad Herz wehe thut. — Mehr fagte er fein
Wort. Auf feinem Tifdh fab ich eine Pijtole liegen und Pulver
in Papier gefcdhittet, wie aud Kugeln. Das hatte er fid am
vorigen Abend durch die Gltere Schweſter der Felicina aus
ber Bottega holen laffen. Nun wollte er nad Baftia zurück
und fid) dort in ein andere3 Land einfdiffen. Cr nabm aud
Nbidied von Allen und ritt nach Isola Rossa hinunter.
Das war am 20. December. Am Morgen diejes Tags hatte
die Signora Vittoria zu mir gefagt: Yd habe heute Nadt
einen bifen Traum gebabt. Mir ſchien al3 wollte meine
franfe Gevatterin fterben. Heute will id gehn und ibr eine
Grfrijdhung bringen. — Denn das war ihre Art. Sie ging
oft zu den Kranken und bradte ihnen Del, Wein oder Friidte.”
Hier weinte die alte Marcantonia bitterlid.
„Der Herr Malaspina war nad Speloncato geritten, id
war fortgegangen, und Niemand im Hauſe als die franfe
Madamigella Matilde, die war eine Verwandte der Herrin,
pie jüngſten Kinder und ein Mädchen. C3 war Nadmittag.
Wie id) nach dem Hauſe zurückkehre, fallt ein Schuß. Ih
glaubte, fie jagen in den Bergen oder fprengen die Steine.
Aber bald varauf fiel nod ein Schuß, und mir wars als
ob er im Haufe gefallen fei. Mir zitterten die Glieder, wie
id ind Haus fam, und in der großen Angſt fragte id) vas
Madden: wo ijt vie Herrin? fie fagte aud jitternd: Wd!
Gott, fie ift ja oben auf ihrem Bimmer, ſich umzukleiden,
denn fie will yu der Rranfen gehn. Lauf, fagte id, und
fieh nad) ibr.”
„Das Madden fam wieder die Treppe herabgeftiirst, gang
leichenblaß. — Da muß was vorgegangen fein, fagte fie,
—
16
—
denn die Stube der Herrin fteht fperrweit offen, da ift Alles
fiber einanber getvorfen, und die Stube des Fremden tft ver:
ſchloſſen. Ich lief hinauf, dad Mädchen, die Felictna, ibre
Schwefter . . . e8 ſah graplic) aus in meiner armen Herrin
Stube ... Die Thire am Zimmer des Stalieners war ver
ſchloſſen ... Wir klopften, wir fdrieen, wir riffen fie enbdlid
aus den Angeln — da, Herr, faben wir es vor uns — —
aber id) fage eud) nun nidt3 mehr.”
Nein, fein Wort mehr, Marcantonia! Ich ftand erſchüttert
auf und ging hinaus. Die kleine Felicina und die Schaffnerin
kamen mir nach. Sie führten mich in die Todtenkapelle. Das
Kind und die Alte knieten vor dem Altar nieder und beteten.
Ich nahm einen Mirtenzweig vom Altare und warf ihn auf
die Stelle, unter welcher Vittoria begraben liegt. Und traurig
wanderte ich nach Isola Rossa hinunter.
So Ungeheures zu faſſen wird dem Gedanken ſchwer, und
das Wort ſträubt ſich es zu ſagen. Giuſtiniano war, nachdem
er Monticello verlaſſen hatte, plötzlich umgekehrt. Heimlich
ſtieg er die Treppen des Hauſes wieder hinauf. In demſelben
Obergeſchoß liegen die Bimmer, welche Vittoria und er be:
wobnten. Gie find durd einen Gal getrennt. Wittoria war
in ihrem Zimmer eben befdaftigt, fid anzukleiden. Giuftiniano
ſtürzte gu ibr, mit einer Piftole und einem Dold bewajfnet.
Gr war finnlos durch die Liebestout. Er rang fürchterlich mit
dem ftarfen Weibe. Cr warf fie auf den Boden, er fdleppte
fie in jein Bimmer; fie war fdon fterbend, von feinen Dold:
ftichen durchbohrt. Ihre Haarloden fand man zerrauft am
Boden hingeftreut und das Zimmer durd) den Kampf ver:
wiijtet. Giuftiniano warf die Unglidlide auf fein Lager —
er erſchoß fie mit der Piftole durch die Schläfe — ibre Ringe
40g ey von ibren Fingern und ftedte fie an die feinen —
dann legte er fid an ihre Seite — mit dem Gewehr jer:
ſchmetterte er fid) den Ropf.
17
—
So fanden ſie jene Alte und die arme Felicina, damals
ein fünfjährig Kind, das weinend rief: Das iſt das Blut
meiner Mutter. Das Volk von Monticello wollte Giuſtiniano's
Leiche zerreißen. Malaspina, welcher ahnungslos von Sye-
loncato zurückgekehrt war, wehrte dem. Man verſcharrte ſie
in den Felſen. Vittoria war 36 Jahre alt und Mutter von
ſechs Kindern. Giuſtiniano zählte kaum 25 Jahre.
Ich fand an Mutius Malaspina einen Mann von ſchlich—
tem Weſen, von ehernen Zügen und von einer ehernen Ruhe.
Ich hatte mich geſcheut, die traurige Geſchichte hier yu er:
zählen, doch iſt ſie in aller Munde und auch in einem Büch—
lein mit Sonetten auf Vittoria erzählt, welches in Baſtia ge⸗
druckt iſt. Schon jetzt erkannte ich, wie ſchnell das Ereigniß
im Volk ſich ins Sagenhafte umzubilden beginnt. Denn die⸗
felbe alte Schaffnerin ergablte mir, daß der Geiſt der armen
Vittoria einigen Kranten erjdienen fei. Und bald wird man
aud hören, dab ibe Mörder nächtens aus feinem grauen
Selfengrabe fteigt, bleidc) und ruhelos wie er im Leben war,
und nad dem Haufe wankt, wo er die Schredensthat veriibte.
*
* *
Grollend mit der menſchlichen Natur ftieg id die Berge
hinunter und erwog die kleine Grenge wo die edelfte Leiden:
ſchaft, bie Liebe, in die gräßlichſte Furie fid verwandeln Fann,
wenn fie jene um ein paar Linien überſchreitet. Wie nab
grenzen in der menfdliden Ceele Gott und Teufel, und
wie gefdiebt e3, daß aus dem Stoff eines und defjelben Ge-
fühls beide werden? Ich ſah weder die Verge nod das heiter
rubige Meer, id) verwünſchte gang Corsica und dap id) meinen
Fup auf feine blutige Erde gefebt hatte. Da tam an meine
Seite gejprungen das {dine Kind Camillo. Der Kleine war
mir fiber alle Felfen nachgeflettert. Gr hatte eine Hand voll
Brombeeren gepfliidt, und mit freundliden Wugen hielt er fie
Gregorovius, Corsica. II. Q
18
mir entgegen, dap id fie effen folle. Der Anblick diefes un-
ſchuldigen Kindes erbeiterte mid) augenblids. Es war mit,
al3 hatte er ſich mir in den Weg geftellt, nur um mir ju
zeigen, wie ſchön und rein der Menſch aus den Handen der
Natur hervorgeht. Camillo lief nun immer neben mir ber
und fprang von Stein zu Stein, bid er pliglidh fagte: id
bin mild’ und will ein wenig figen. Mun fap er auf einem
Felsſtücke ſtill. Ich fah nie ein fchdneres Rind. Als ich das
jeinem Glteren Bruder fagte, entgeqnete der: ja! alle Leute
baben den Gamilluccio lieb, bet der Broceffion zu Corpus
Domini war er aud ein Engel, hatte ein ſchneeweißes Hemd
an und bielt einen grofen Palmenjweig in ber Gand. Mit
Freude betradtete id) den Knaben, wie er auf dem elfen fas,
vie ſchönen ſchwarzen Loden wild übers Gefidht und aus den
grofen Augen ſtill vor fid) herausfdhauend. Gein Kleid war
serrifjen, benn er war armer Leute Kind. Auf einmal hob
er an, aus freien Stitden die Marfeillaije zu fingen: Allons
enfans de la patrie... contre nous de la tyrannie
Pétendard sanglant est levé. G3 war feltjam dies aus
dem Ptunde eines fo liebliden Kindes gu hören und fein ernſtes
Geſicht dabei zu febn. Aber im Mund eines Corsentnaben,
wie geſchichtlich klingt da dieſes blutige Lied, und als der
fleine Camillo jang: „Gegen uns bat die Tyrannei ihre Blut:
fabne erhoben,“ dachte id): armed Kind, mag did) der Himmel
ſchützen, dab ou nidt einft von. der Rachekugel fallft, oder
nicht als Bluträcher in den Bergen irren muft.
WS wir Isola Rossa nabe waren, erfdredte uns ein |
roter Glutidhein in der Stadt. Ich eilte hineingufommen, |
glaubend, Feuer fet dort ausgebroden. Wber e8 war ein
Freudenfeuer. Auf dem Platz Paoli batten die Kinder, fleine
Madden und Buben, ein mächtiges Feuer angegiindet, batten
fid alle in einem Ringe an ben Handen gefabt und umtanjten
vie Flamme mit Laden und Singen. Gie fangen aber ungdb:
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Tige kleine Berfe, weldje fie felber erfanden; einige davon babe
id) nod bebalten:
Amo un presidente, Ich liebe einen Prafinenten,
Sta in letto senza dente. Gr liegt im Bett und bat feine
Zähne.
Amo un ufficiale, Ich liebe einen Offizier,
Sta in letto senza male. Er liegt im Bett und es fehlt
ihm nichts.
Amo un pastore, Ich liebe einen Hirten,
Sta in letto senz' amore. Gr liegt im Bett und hat nidt3
au lieben.
Amo un cameriere, Ich liebe einen RKammerdiener,
Sta in letto senza bere. Gr liegt im Bett und bat nidts
zu trinfen,
Diefe Versdhen riffen gar nicht ab, indem fid) das kleine
Volk dabei luftig um das Feuer ſchwenkte. Mir machte died
Kinderfeft aus dem Stegreif fo großes Vergnügen, daß id
aud ein paar Verschen zum Beften gab, worauf da3 kleine
Volk in ein fo lautes Yubelgeladter ausbrad, dab es durch
ganz Sola Rossa fdallte.
Zags darauf fuhr id) mit einem Char-asbanf nad Calvi.
Der tleine Camillo ftand am Wagen und fagte traurig: Non
mi piace, che tu ci abandoni. Der Wanderer zeichnet vieles
auf, Berge und Fliffe, Stadte und Creigniffe aus der ſchönen
und bapliden Welt, warum nidt aud einmal das Bild eines
ſchönen Kindes? Noch nad Jahren erfreut e3 die Crinne-
tung, wie ein lieblided Lied, wenn es wieder ind Gedddt:
nip fommt.
Biertes RKapitel.
Won Tsola Rossa nat Calvi.
Mein Vetturin erzablte mir gleich zum Willkomm, dak id
die Ehre hatte, auf einem auferordentliden Wageldhen ju
figen. Denn, fagte er, auf ibm habe ich im vorigen Qabre
pie drei großen Banditen, Arrighi, Maffoni und Xaver ge:
fahren. Wie id) de Wegs fubr, famen fie gerade die Strafe,
alle bi8 an die Zähne bewaffnet und befablen mir, fie nad
Calvi gu bringen. Dad that id) denn aud) obne weitere3 und
darnach ließen fie mid) ungefranft umfebren. Sept find fie
alle todt. °
Der Weg nad Calvi fihrt immer der Küſte entlana.
Auf ven Bergen fieht man mande Ruine von Orten, die der
Saracen zerſtört bat. Oberhalb Monticello liegen auch die
Trimmer eines Schloſſes des berithmten Giudice della Rocca,
des Leutnants ver Pifaner. Diefer Richter feines Volls lebt
nod im Andenken der Corsen. Cr war geredht, fagt man,
aud gegen die Thiere. Eines Tags hörte er in der Balagna
Lämmer einer Herde kläglich ſchreien; er fragte die Hirten,
toad den Lammern feble; fie geftanden, daß fie aus Hunger
{hrieen, weil man den Mutterfdafen die Milch genommen
habe. Da befabl Giudice, daß fortan vie Sdhafe nicht eber
follten gemelft werden, bid nidt die Lämmer getrantt feien.
Ich fam zuerſt nad) Algajola, einem alten Ort am Meer,
ver jest gang verfallen ijt und faum 200 Ginwobner zählt.
Viele Haujer ftehen unbewohnt und in Trimmern, von den
Bomben der Englander zerſchoſſen. Denn wie fie vor 60 Jahren
der Krieg verwüſtet hat, fo bat man fie bid auf den heutigen
Tag als Ruinen ftehen laſſen, ein trauriges Zeugniß von dem
Buftande Corsica’. Wud) die bewohnten Häuſer gleiden
ſchwarzen Ruinen. Cin freundlider Wlter, melden der napo⸗
2]
leoniſche Krieg einft nad Berlin gefiihrt hatte, zeigte mir die
Merkwürdigkeiten Wlgajola’s und nannte einen gropen Stein:
baufen den palazzo della comunita. Zur Zeit der Genuefen
mar Wgajola ber Mittelpuntt ver Balagna, und weil e3 fo
gelegen war, dab aus jedem Dorf die Bewohner an einem
und demfelben Tage nad) dem Ort und von ihm in ibre Heimat
zurück gehen fonnten, erhoben ibn bie Genuefen gum Cig eines
ver Leutnants der Ynfel und befeftigten ibn.
Die ausgezeicdhnetite Merkwürdigkeit dieſes Städtchens ift
vie Volksſage von Chiarina und Tamante, zwei treuen Lie-
benden. Tamante war von den Franjofen zum Tod verurteilt,
feine Geliebte aber bewaffnete ſich und mit Hilfe ihrer Freunde
entriß fie ibn der Hinrichtung. Das Volk ebrt die ſchönen
Thaten der Liebe überall und madt fie al3 Gagen unfterblid ;
vie Gefdhidte der Chiarina und des Tamante ift in gang
Italien befannt, und ihre fliegenden Blatter habe id) aud in
Rom gefunden.
Bei Ulgajola wird ein überaus ſchöner blaugrauer Granit
gebroden. Ich jah im Bruch eine Saule liegen, welde einem
ägyptiſchen Tempel Chre machen würde. Cie ift 60 Fuß
lang und bat 12 Fup im Durdmeffer. Cie liegt fdon feit
Sabren verlafjen und vom Wetter geſchlagen, und höchſtens
nimmt von -ihbr Runde ein Wandrer, welder fide auf ibr
niederlapt, ober der Wdler, dex auf iby ausrubt. Urſprüng⸗
lid) fiir Wjaccio, zu einem Denfmal Napoleons beftimmt, blieb
fie liegen, weil die Roften der Wegſchaffung yu groß waren.
Wahrſcheinlich wird fie nad Paris gebradht werden. Bon
bemfelben fdftliden Granit Wlgajola’s ijt der ungeheure Blod,
welder die Vendomefaule tragt. Mit beredtigtem Stolz fann
alſo der Corse vor jener Säule von Aufterlig ftehn, auf die
Franzoſen herabbliden und ihnen gurufen: mein Vaterland hat
beide3 hervorgebradt, den grofen Mann dort oben und aud)
ben Granit, auf welchem er ftebt.
Ich fam nad Lumio, einem hod gelegenen Ort, deſſen
ſchwarzbraune, turmartige Häuſer aus der Ferne gar nicht von
den Felfen gu unterfdeiden waren. Wn griinen Fenfterladen
merft man bie und da das Wohnhaus eines angefebenen
Manned. Die Wbfommen der alten Signoren wohnen nod
in allen diefen Dirfern, und Männer von den ftolzeften Ramen
unb ungezablten Whnen leben unter dem Voll und in feiner
Gefellfdhaft. Nirgend in ver Welt möchte eine fo grofe de—
mofratifde Gleichheit angetroffen werden als auf diefer Inſel,
wo Standesunterfdhiede faum fidtbar werden und der Baner
mit dem Herrn als freier Mann verfebrt, wie id oftmals
davon Augenzeuge gewefen bin. Oberhalb Calvi wohnt Peter
Napoleon, Lucians Sohn, ver einzige Bonaparte, welder fid
jebt auf der Heimatsinfel feiner Familie aufhalt. Die Ba:
lagnefen rithmen, daf er ein guter Yager fei, dab er ſich oft
unter die Hirten mifde und nidt vergeffen habe, wie feine
Vorfabren den Corsen angehörten. Die Erwählung Louis
Napoleons erfiillt das corsiſche Volk mit Stolz und Freude.
Ich fanb auf der Ynfel überall nas Bildniß diefes Mannes
und hörte feine Cnergie rühmen als corsiſche Kraft. Weiter
Blidende waren nidt gang jo von Patriotismus befangen,
id vernahm auc) bas Urteil, dab die Napoleon Zyrannen
feien und zwar die letzten Tyrannen der Freiheit.
Lumio hat viele Orangengärten und eine erftaunlide Menge
von Gactusheden, die id) in folder Fille nur nod) in Ajaccio
antreffen follte. Der Cactus madhst bier zu Baumftimmen
auf. Won den Bergen ift ver Blid auf das Tal und den
Golf febr fhin. Da liegt Calvi auf einer Landjunge. Mit
feinen dunkeln platten Häuſern, zwei Kuppeln welche über fie
binwegragen, und mit den Mauern des Forts, dad auf der
äußerſten Spige der Landzunge ftebt, gleidt es einer mauri⸗
{den Stadt. °
Calvi ift der Hauptort des Heinften der Wrrondiffements
23
Corsica's, welches in 6 Cantons mit 34 Communen ungefabr
25000 Ginwohner zaͤhlt. C3 umfaßt beinahe den gangen
Nordweften der Ynfel, Berge und Küſten, von denen nod
nidt einmal die Halfte bebaut ift. Denn der große Riften:
jtrid von Galeria liegt gänzlich wüſte. Nur vie Balagna ift
in guter Cultur und am zahlreichſten bevölkert.
Die Heine Stadt, heute ungefabr 1680 Einwohner zäh—⸗
fend, verdantt ihren Urjprung dem Giovanninello, Herrn von
Nebbio > dem erbitterten Feinde de3 Giudice della Rocca und
Anhaänger Genua’s. Darauf gab fie fid an Genua und blieb
der Republi immer treu. Wie die Bonifaginer erbielten aud
bie Calvefen viele Freibeiten. Bur Beit Filippini’3 zählte
die Stadt 400 Feuerftellen, und er nennt fie eine Hauptftadt
fotwol wegen ibre3 Alters als wegen der Schönheit der Haufer,
wobei er aber bingufegt „im Berbaltnip zum Lande.” Die
Bank Genua’s ließ die Feftung bauen.
. Calvi liegt auf der Landzunge, in weldje die eine Reihe
ver Berge ausgeht, die das große Tal um den Golf um-
frangen. Die Berge find fabl und beftehen aus Granit und
Porphyr. Sie bilden ein madhtiges Wmphitheater. Biel Oel
und Wein gedeiht an den Abhängen und die Füße ver Höhen
bedeckt Taxus und anderes Geftraud von Mirten, Albatro und
Linus, aus defjen Bliiten vie Biene den Honig faugt. Davon
fommt die Bitterfeit des corsiſchen Honigs, von welchem fdon
Ovid und Virgil gewubt haben. Calengana namentlid ijt an
Honig reid. Gin Waffer durchfließt das Tal diefer Berge und
bildet in der Nähe Calvi’ einen Sumpf, defjen Ausdün⸗
ftungen gefabrlid find. Man nennt ibn la vigna del ves-
covo, den Weingarten ved Bifchofs, und ergzablt ſich von
feiner Cniftehung eine jener finnvollen Gagen, welche in Cor-
Zica den Wanderer ergigen. G3 war nämlich der Biſchof
von Gagona nad Calvi tibergefiedelt und hatte dort einen
ſchönen Weingarten. Cr verliebte fid in ein Madden, und
4
nahm dasſelbe in feinen Weinberg. Cr ſchloß dad ſchöne Kind
in feine Arme, bededte e3 mit Riijjen und war ganz des Teu⸗
fel. Das Madden fah den Siegelring am Finger des hei⸗
ligen Mannes, und lachend fagte e3 yu ihm: ,,Gi! wie gar
fin ift der Ring eines Biſchofs. Jd will eud lieben um
dieſen Gottesring.” Da feufgte ver Biſchof tief, aber feine |
Liebe war fo heip, dab fie ihn wergehren wollte; er zog den
Gottesring vom Finger und gab ibn der ſchönen Jungfrau.
Wie fie nun den heiligen Mann in ibre Arme ſchloß, fprang
ver Ring von ibrem Finger und fiel yu Boden. Cr war nicht
mebr 3u finden. Wm folgenden Taq ging der Bifdof wieder
nad jeinem Weinberg, den Ring: zu fuden; aber fiehe! ba
war fein Weinberg mehr, ſondern an feiner Stelle lag ein
Sumpf.
Fünftes Kapitel.
Calvi und ſeine Manner.
Die Sumpfluft madt den Borgo Calvi's ungefund. Befjer
ift die Luft in der Feftung oben, welche die eigentlide Stadt
umſchließt. Ich ging gu dieſer genueſiſchen Citadelle binauf,
ver fefteften Corsica's naͤchſt Bonifazio. Ueber dem Tor las
id die Worte: Civitas Calvis semper fidelis. Stet ges
treu war Calvi den Genueſen. Treue ift immer fin, wenn
fie nicht knechtiſch iſt, und Calvi war eine genuefifde Colonie.
Sener Spruch tft in mehr als einem Sinn biftorifd geworden.
Als dex republikaniſche General Cafabianca, nach der helden⸗
miltigen Berteidigung Calvi’s gegen die Cnglinder, im Jahre
1794 fic ergeben mufte, war es eine der Bedingungen, dap
bie alte Inſchrift über bem Tor nicht ausgelöſcht werden ſolle.
Sreulidh bat man diefe Bedingung gebalten.
bo
qj
Nur in einem Punkt hadern Genua und Calvi mit ein-
ander, Denn die Calvefen behaupten, daß Columbus bei
ibnen geboren fei. Sie behaupten, daß feine genuefifde Fa⸗
milte in alten Zeiten fic) in Calvi niedergelaffen habe. Wirt:
lic) erbob fic) ein Streit über diefes Geburt3redt, wie ehe⸗
dent um Homers Wiege fieben Städte ftritten. Man fagt, dab
Genua die Familienregifter der Colombi von Calvi in Beſchlag
nabm, und daß es eine Strage der Stadt, bie Colombo:
ſtraße, del filo umtaufte! Auch finde id, dab Einwohner
Galvi’3 die erften Goren waren, die nad) Amerika ſchifften.
Man fagte mir ferner, dah der Name Colombo nod heute
port Icbe. Auch heutige corsiſche Schriftſteller nehmen den
großen Entdecker al8 ihren Landsmann in UAnfprud, wie denn
aud) Rapoleon während feine3 Aufenthalts in Elba damit
umging, Nachforſchungen über diefe Frage anftellen zu laffen.
In feinem Zeftament nennt fid) Columbus einen gebornen
Genuefen. Die Welt könnte neidifd werden, wenn das Ge-
{did dem kleinen Corsica aud) nocd den Mann gegeben bitte,
welder größer war als Napoleon.
Lapfere Manner genug jieren Calvi, und betradtet man
dies Stddtdhen innerhalb der Feftung, wie es nidts ift als
ein Haufe fdwarzer und durdlicerter Haufer, fo liedt man
in diefer Trümmerchronik die Gefdidte alter Helden. Ber:
wunderjam ift der Wnblid einer Stadt, die vor faft hundert
Jahren zerſchoſſen nod heute in Ruinen fteht. Yn Corsica
fceint die Zeit ftille geftanden gu fein. Gine eiferne Hand hat
nie Vergangenheit feftgebalten, ihre alten Volfsfitten, die
Lodtentlagen der Ctruster, die Familientriege ded Mittelalters,
die Barbaret der Blutrade, die alte Lebenseinfalt und den
alten Heroi8mus; und wie in grau gewordenen Ruinen von
Städten dad Volk lebt, lebt es nod in grauen, fir den Cultur-
menfden fagenbaft gewordenen Lebenszuftanden.
Yn der Hauptkirche, deren Kuppel von den Kugeln der
26
GCnglinder durchlöchert ift, zeigt man das Grab einer Familie,
welche den foftbarften Namen der Welt tragt, den Namen Li:
berta. G3 ift die alte Heldenfamilie Baglioni, die ihm fibrt.
G3 war im Qabr 1400, als einige Ariftotraten in Calvi fid
gu Zprannen der Stadt aufwarfen, um fie dann den Ara:
goniern auszuliefern. Da erhob fic) der junge Baglioni,
tiberfiel mit Freunden die Tyrannen in der Burg, wie einft
Pelopinas die von Theben, hieb fie gufammen und rief da3
Volk zur Freiheit auf. Bon feinem Ruf liberta! liberta!
{dreibt fid) ber Zuname ber, welden dad danfbare Volt thm
beilegte und feine Familie fortan getragen bat. Baglioni’s
Nachkommen waren drei Heldenbritder Piero Liberta, Wntonio
und Bartolomeo. Gie gingen nad Mtarfeille. Diefe Stavt
befand fid in den Händen der Liga und trogte nod) Heinrid
dem Bierten, nachdem er bereits in Baris eingezogen und die
Guifen ihm Gehorſam gefdworen batten. Der Conful der
Liga Casaur war der Tyrann Marfeille’s; er ging damit um
diefe Stadt in bie Gewalt der fpanifden Flotte zu geben,
welche Andreas Doria befebligte. Da verſchwor fic) Piero
Libertad mit feinen Britbern und andern kühnen Dtinnern,
Marfeille zu retten. Sie drangen in dad Caftell; mit eigner
Hand fties Pierro dem Conful eine Lange ourd den Hals;
nadbdem er die Wadden niedergemadht oder entwaffnet hatte,
flop er die Tore ded CaftellZ, und dad blutige Schwert in
der Hand eilte er in die Stadt und rief: Libertad! Liberta!
In das befreite Marfeille zog der Herzog Guife im Ramen
Heinrids des Vierten, und diefer fdrieb ein ehrendes Dant:
fdreiben an Piero Libertd, aus dem Lager von Rosny den
6. März 1596. Cr madte ibn gum Grofridter von Mar:
feille, zum Capitän der Borta Reale, jum Gouverneur der
nôtre Dame de la guarde und überhäufte ibn. mit andern
Ghren. Das gefdah in derfelben Beit, al3 ein zweiter Corse
Alfonso Ornano, der Sohn Sampiero's, dem Könige von
27
Srantreih Lyon gewann, und damals rief Heinrid) der Vierte
aus: , dept bin id) König.“
Wenige Jahre nachher ftarh Piero Libertad. Die Stadt
begrub ibn auf das Pradtvollfte und ftellte feine Statue im
Gemeindepalaft auf. Wuf ihr Piedeftal ließ fie die Worte
eingraben : °
Petro Libertae Libertatis assertori, heroi, malorum
averrunco, pacis civiumque restauratori.
Wahrlich bemerfenswert ift die Kraft, welde die cordic
ſchen Gefdledter auszeichnet. Wer auf die Gefdhidte diefes
Volts geadtet hat, wird gefunden haben, dap beinabe durch⸗
gehend bie Starke der Vater auf Sohne und Enkel fid forterbte.
Sawer wird e3 mir, von den Grabern der Libertd auf
jenes Feld von Calenzana bintiberzugehen, wo die Graber
liegen. der Gchiavith. Graber find e3 von 500 verfauften
Deutſchen, Söhnen unferes Vaterlandes, welche dort fielen.
Ich babe es in der Gefdidte der Corsen erzählt. Carl VI.
hatte ben Genuefen deutfdhe Hilfztruppen verfauft. Wm 2. Fee
bruar 1732 griffen die Corsen unter Ceccaldi jene bet Ca:
Tengana an. Nach einem barten Kampf wurden die RKaifer-
licen gefdlagen; 500 Mann fielen. Die Corsen begruben
diefe Fremblinge, welche in ihr Land gefommen waren gegen
bie Freiheit zu fampfen, auf dem ſchönen Berghang zwiſchen
Calvi und Calenzana. Ihre Graberdede griint von Mirten
und blühenden Kräutern. Jedes Yabr bis auf den heutigen
Zag fommen am heiligen Samftag die Geiftliden von Ca-
lengana auf ben Camposanto dei Tedeschi wie jenes Feld
genannt wird, und fie befprengen die Statte, wo die armen
Söldner gefallen find, mit Weihwaffer. Go rächt fich der
Corse an den Feinden, welche ihm feine Unabbhangigleit zu
morden famen. Mir iſt's al hatte ich, der einer der wenigen
Deutſchen war, welche auf den Silonergrabern von Calengana
{tanden, und wol der Gingige, ber ibrer noch gedadte, bier
28
—
bie Pflicht dem Volk ber Corsen fiir diefes großmütige Mit:
gefühl im Namen Deutſchlands yu danten. G8 ift ein edler
Bug mehr in der Geſchichte feiner Tugenden. Meinen Lands:
Teuten aber fege ic) dieſe Grabſchrift:
Orab(drift
auf die fünfhundert deutſchen Söldner von Calenzana.
Fünfhundert arme Söldner kamen wir,
Vom Kaiſer, weh! an Genua verkauft,
Dem Corsenvolk die Freiheit zu erſchlagen.
Wir fielen all' in unſres Frevels Blüte.
Nicht ſchuldig nenn' uns, doch bejammernswert,
Deckt uns erbarmend doch die Feindeserde.
Schmäh', Wandrer, nicht die Kinder dunkler Zeit!
Ihr die ihr lebt, ſollt uns der Schmach entſühnen.
Jene Zeiten, als man unſre Vater wie eine willenloſe
Herde nach Corsica und nach Amerika verkaufte, waren ſchmach⸗
voll genug. Da erhoben ſich hier Paoli und, dort Waſhington,
und jenſeits des Rheins die Menſchenrechte. Die Schuld jener
Zeiten wurde getilgt, und auch die Schmach von Calenzana;
denn die Enkel dieſer, die hier in ihren Sclavengräbern liegen,
fampften als freie Manner fir die Unabhängigkeit bes Vater:
landes und überwanden auch den corsifden Despoten.
Die Sonne gebt unter, der Golf erglangt, und die Felfen:
berge Galengana’3 ftehn in Farbenglut. Wie zauberiſch ift
dieſer ſüdliche Duft der Ferne, und wie fein find diefe Farben:
tine. G8 ergreift die menſchliche Seele nichts fo tief al3 alles
Uebergehen. Auf dieſer Grenge fei e3 vom Sein gum Nichts,
oder von dem Nichts zum Sein fteht die ſchönſte und die tieffte
Poefie de Lebens. Nicht ander3 ift e3 in der Völlergeſchichte.
Ihre wunderfamiten Erſcheinungen ftehen immer auf der Grenje,
wo fic) zwei Culturperioden berithren, und eine in die andere
29
iibergeben will, wie ja aud eine Jahreszeit oder eine Tageds
zeit in der Natur die berrlidften Erſcheinungen zeigt, wenn
fie in eine andre fibergeben will. Mich dünkt, es ijt aud
nidt ander3 in. der Geſchichte de3 einzelnen Menſchenlebens.
Aud da find die Ueberginge von einer Culturperiode in die
andre, von einer Bilbungsform in die andre voll von Zauber
und fo frudtbar, dab bier allein die Reime der Poefte oder
des Schaffens fid) entwideln.
G3 ift aud bier. in Calvi eine faft mardenbafte Welt:
verlafjenbeit. Die Spiegelflut ded Golf3 regt fid) nidt —
kein Schiff in meilenweiter Ferne — fein Vogel der fic auf:
ſchwingt — der ſchwarze Turm dort ragt auf ſchneeweißem
Strand wie eine dunfle Traumgeftalt. Dod, bier figt ein
Adler, ein pradtiges Geſchöpf, ernft und finiglid) rubend —
nun fltegt er auf und mit maidtigem Fligelfdlage ftrebt er
nad ben Bergen. Gr ift fatt von Blut. Da ſtöre ich nod
einen Fuchs auf, den erften den ic) in Corsica febe, wo die
Füchſe auffallend groß find. Gr ſaß vergniiglid am Ufer und
fchien ſich über dad Rofenrot ver Wellen gu freuen, denn er
war ganz in Naturbetradtungen vertieft und fo ſehr in Ge-
danken verloren, dap ich ihn bid auf fünf Schritte bejdleiden
fonnte. Plötzlich fprang Herr Reinefe auf, und da der Strand
ſchmal war, fo hatte id) die Freude ihm den Weg gu ver:
rennen und ibn einen Augenblid aufer Faſſung gu bringen.
Herr Reineke that hierauf eine geniale Schwenkung und lief
mit grofem Humor in die Berge. C8 geht ibm ſehr gut
in Corsica, wo ibn die Thiere gum Könige gemadt haben,
weil e3 bier feine Wolfe gibt.
Da es Nacht wurde, fete ic) mid in eine Barle und
ruderte im Golf umber. Weld ein Vergniigen, welde Nadt-
bilder! der Himmel mit funfelnden Sternen beſät, magifd
und durdfidjtig die Liifte, fern auf der Landfpige ein leuch⸗
tender Fanal — Lister im Caftell von Calvi — QHirtenfeuer
30
— —
in den dunfeln Bergen droben — ein paar fdlafende Schiffe
auf dem Waffer — die Wellen um den Kahn funfelnd, die
Waffertropfen die vom Ruder fallen, Funken — in der tiefen
Stille vie Klange einer Ptandoline, vie vom Ufer herüber⸗
ſchallen.
Ein Meiſterſängerfeſt.
Die Poeſie dieſer Nacht ſollte ſich noch fortſetzen. Denn
kaum war ich in meiner kleinen Locanda eingeſchlafen, als
mid) Citerklänge und ein vielſtimmiger Geſang weckten. Sie
ſpielten und ſangen wol eine Stunde lang in ſtiller Nacht vor
meinem Hauſe. Es galt einem jungen Mädchen, welches dort
wohnte. Die Serenata klang fo traurig wie ein Vöcero. Jn
jtiller Nacht drangen diefe pſalmodiſchen RKlange madtig in
meine Geele. Die erfte Stimme fang Golo, dann fiel die
zweite und die britte ein und der ganze Chor. Der Vortrag
war Recitativ in Weife ded italienifden Ritornello. Und aud
im Ritornello wird ein an fid) nidt trauriges Gefühl fait
flagend gefungen.. Ich hatte wol fdon in anbdern Orten
Corsica's ſolche Nadtgefange gebdrt, dod nicht fo voll und
jo feterlic) wie bier. Ich vernehme nod oft ihr Echo, und
namentlid) ift e8 das eine Wort und der eine lang: spe-
ranza, deſſen klagender Ausdrud mir nod) oftmals hörbar ift.
Am Morgen geriet id) durch Zufall in die Bude eines
alten Schubmader3, welder fid) mir als den Giterfpieler
von geftern Nacht gu erfennen gab. Bereitwillig langte er
fein Bnftrument hervor. Die corsifde Cetera hat ſechszehn
Saiten und fajt die Form ber Manbdoline, nur daß fie groper
und der Refonangboden nicht gang rund, fondern ein wenig
Sechstes Kapitel. |
|
|
31
abgefladt ijt. Die Saiten werden mit einem fpigen Widder⸗
hörnchen gefdlagen. Dd) fand alſo aud bier die allgemeine
Grfabrung beftatigt, daß bas Gefdledt der Schuſter in aller
Welt denfend, mufifalijd) und poetifd fei. Der Hans Sachs
von Calvi holte auf meinen Wunfdh einige der beften Canger
berbei. Schuhe und Leiften tourden in den Winkel gelegt,
und die fleine Gangergefellfdaft verfammelte fid in dem
Hinterjtibden, defjen blumenumranttes Fenfter auf den Golf
binausging — die Muſiker riidten die Stile gufammen, der
Meiſter nahm die Citer, driidte die Augen ein und fdlug in
pollen Tönen. Dod will id) fagen, wer die Sanger waren:
vor allen der alte Schuſter als Meifterfanger, dann fein junger
Gefelle, der bet ihm Stiefeln und die holde Musica madden
lernte, dann ein feingefleideter junger Dtann, ein Gerr vom
Gericht, und endlich ein filbergrauer Greis von 74 Yabren.
So alt er war, fo fang er dod) aus Hergensluft, wenn aud
nidt ganz fo wader mebr als in feiner Jugend, und weil die
Noten ber corsifden Vöceri fo langgedehnt find, verlor er
oft pen Odem.
Mun hob das allerſchönſte Sangerfeft an, dad je gebalten
worden ift. Sie fangen, twas mein Herz begebrte, Gerenaten
und Bocerati oder Lamenti, aber zu meiſt Lamenti, weil mid
deren Schönheit am meiften retgte. Sie fangen nad vielen
anbern aud) einen Vöcero auf den Tod eines Soldaten. Der
Inhalt war diefer. Gin junger Menfd) aus den Bergen ver:
[apt Mutter, Vater und Schweſter und geht auf das Feftland
in den Krieg. Nach vielen Yahren kehrt er als Officier heim.
Gr fteigt gu feinem Dorf hinauf; Niemand der Seinen ere
fennt ibn bier. Nur der Schweſter entdedt er fid), , deren
Freude unfaglid ijt. Dann fagt er dem Vater und der Mutter,
fie midten auf Morgen ein herrlides Mal rüſten, er wolle
e3 gut begablen. Abends nimmt er die Flinte und geht auf
pie Jagd. Jn feinem Zimmer hat er feinen Rangen gelafjen,
in weldem viel Gold enthalten iſt. Der Vater fieht den
Reichtum und befdliebt ben Fremdling zu ermorbden. Die
{dredlide That wird vollbradt. Wie nun der Tag- und der
Mittag fommt und fid) der Bruder nicht zeigen will, fragt
die Schwefter nad dem Fremdling; in der Angſt ihres Her:
zens entbedt fie den Eltern, bap e3 ber Bruder fei. Cie
ftiirgen in die Rammer, Vater, Mutter, Schwefter — da liegt
er in feinem Blut. Mun folgt das Lamento der Schweſter.
Die Geſchichte ift wabr, wie überhaupt was die corsiſchen Volks⸗
lieder fingen, ein wirkliches Ereigniß ift. Der Gchufter er:
ziblte mir bie Begebenheit fehr dramatifd, und der Greis
unterſtützte ihn dabei mit den ausdrudsvollften Geberden, dann
ergriff jener die Citer und ſie fangen bas Lamento.
Die freunbdliden Sänger, denen id) fagte, dap id ibre
Gefange in meine heimifde Sprache itberfegen und auch ibrer
und diefer Stunde gedenfen würde, baten mid) nod) diefen
Abend in Calvi zu bleiben, da wollten fie die ganze Radt
vetfingen und mir Freude maden. Wenn id) aber durchaus
fort wolle, fo folle ich ja nad) Zilia geben, da ſeien die beften
Ganger in ganz Corsica. Wh! fagte der Schuſter, der aller
befte ift todt. Gr fang mie ein Vogel mit Heller Stimme,
aber er ging in die Berge und wurde Bandit, und weil er
fo ſchön fang, fo webrten die Paefanen lange den Hajdern,
ibn gu fangen. Dod fie fingen thn und in Corte haben fre
ibm das Haupt berunter gefdlagen.
So war mir denn Calvi eine Oafe ded Gefanges in dieſen
ftiller und menfdenarmen Gegenden. Mir war's nun aud
merkwürdig, dab ein paar der beften Dichter Corsica’s aus
Calvi zu Haufe gemefen find, ein geiftlider Dichter Giovanni
Baptifta Wgnefe, geboren im Jahr 1611, und Vincenzo Gi:
bega, welder 39 Dabre alt im Yabre 1800 al3 Tribunals:
tidter in Ajaccio ſtarb. Man nennt Giubega nicht mit Un
test den Wnacreon Corsica's. Bd) las von ihm einige fine
33
Liebeslieder, welche fid) durd) Grazie ber Empfindung aus⸗
seinen. G3 gibt nur wenige Lieder von ihm, da er die
meiſten felbft verbrannt bat. Weil Sophocles fagt, das Ge-
daͤchtniß fet die Königin der Dinge, und weil aud die Muſe
ber Poefie ein Kind der Mnemoſine ift, fo nenne ic hier nod
einen einſt weltberiihmten Corgen aus Calvi, Giulio Guidi,
im Jahre 1581 das Wunder Padua’s wegen feines unglid:
lichen Gedächtniſſes. Gr war im Stande 36,000 Ramen nad
einmaligem Hören wiebdergufagen. Man nannte ibn Guidi
della gran memoria, Gr fduf nidts, fein Gedidtnif batté
feine ſchöpferiſchen Kräfte getdntet. Pico von Mirandola, der
dbnlid begabt war, ftarb jung. Go ift’s aud bet der köſtlichen
Gabe des Gedadtniffes, wie bet allen anderen Gefdenten, etn
Fluch der Götter, wenn fie yu viel geben.
Ich nannte ſchon einmal den Namen Salvatore Viale. Diefer
Didter, in Baftia zu Hauſe, wo er nod hodbetagt lebt, iſt
ber fruchtbarſte Poet, welden vie Inſel hervorgebradt hat.
Gr bat ein komiſches Gedidt „la Dinomachia® im Charatter
ver Secchia rapita bes Taffoni gefdrieben, den Wnacreon
fberfegt und aud Einiges von Byron fibertragen. Byron alfo
bod in Corsica! — Viale hat grofe Berdienfte um. fein
BVaterland durd eine unermidlide wiſſenſchaftliche Thätigkeit,
und aud um die Beleudtung corfifher Sitten bat er fid
Berdienfte erworben. Wud einen Uecberfeger des Horaz hat
Corsica, Giufeppe Ottaviano Savelli. Manchen Ramen cor-
Zijder Poeten fdnnte id) nod) nennen, wie ben des Lieder-
dichters Biadelli von Baftia, welder im Sabre 1822 geftorben
ijt. Dod werden ihre Lieder nicht weiter in die Welt drin-
gen. Die ſchönſten, welde Corsica hervorgebradt hat, find
die Gefainge ded Volks, und der größte Dichter der Corsen iſt
ber Schmerz.
Gregorovius, Corsica, I. 3
34
!
Siebentes Kapitel.
Die corsiſchen Todtenklagen.
Der Charakter der corsiſchen Todtenklagen begreift fid
aus den Todtengebräuchen dieſer, Nation, welche uralt ſind.
Bei einem Volk, unter welchem der Tod mehr als anderswo
als Würgengel umhergeht, und bem ſeine blutige Geftalt be:
ſtändig vor Augen tritt, müſſen bie Todten aud einen auf:
fallenderen Cultus haben als ſonſt wo.
Wenn der Tob eingetreten iſt, beten die um das Todten:
bett ftebenden BVerwandten den Roſenkranz, dann erbeben fie
ein Klagegeſchrei (grido). Die Leiche wird auf einen Lifd
an die Wand gelegt, welder die Tola (tavola) genannt wird.
Das Haupt liegt auf einem Kiſſen und tragt eine Kappe.
Damit die Gefichtsziige nicht ihre Haltung verlieren, wird um
Hals und Kinn ein Tuch oder ein Band gebunden und auf
vem Sdeitel unter der Rappe feſtgeknüpft. Iſt's ein junges
Madchen, fo zieht man thm ein weißes Hembe an und be:
fringt die Todte mit Blumen; iſt's eine Frau, fo tragt fie
in der Regel cin buntes Klein, eine Greifin ein ſchwarzes.
Der Mann liegt im Leichenhemde und mit der phrogifden
Mütze, und möchte dann wol einem Todten der Ctruster glei-
chen, wie id ibn im Muſeum des Vatican abgebildet fand,
von Rlagenden umgeben.
An der Tola wird gewadt und gellagt, oft die ganze Radt
hindurd, und es brennt ein Feuer. Die grofe Klage aber
erhebt man am Frühmorgen vor dem Leichenbegdngniffe, wenn
ver Todte in den Garg gelegt wird, und ehe die Brüderſchaft
fommt, um die Babre aufgubeben. Sur Leidenfeier fommen
aus ben Darfern der Umgegend Freunde und Verwandte.
35
Dieſes Geleit heißt corteo oder scirrata, ein Wort, welded
unſerem deutſchen „Schar“ ähnlich fingt, deſſen Urfprung
aber kaum zu ermitteln iſt. Eine Frau, und dies iſt immer
die Dichterin oder Sängerin, was hier zuſammenfällt, führt
den Chor der Klageweiber. Man ſagt alſo in Corsica: an-
dare alla scirrata, wenn die Weiber im Zuge nach dem
Leichenhauſe gehen; iſt der Todte ein Erſchlagener ſo ſagt
man: andare alla gridata, das heißt zum Geheule geben.
Sobald der Chor ins Haus tritt, begrüßen die Rageweiber
bie Leidtragende, fei es die Wittwe, die Mutter oder die
Schweſter, und fie neigen Kopf an Kopf wol eine halbe Mi⸗
nute lang. Dann ladet ein Weib der trauernden Familie die
Zufammengefommenen zum lagen ein. Sie maden um die
Sola einen Kreis, ben cerchio oder caracollo und ſchwin⸗
gen fid) um den Todten, den Rreis löſend oder wieder ſchlie⸗
fend, immer mit Rlageruf und den wildeften Beiden des
Jammers.
Nicht überall ſind dieſe Pantomimen gleich. An vielen
Orten find fie ſchon durch die Beit verdrangt, an anderen ge⸗
milbert, in den Bergen tief im Yunern, zumal im Miolo be-
ftehen fie in ibrer altheidnifden Kraft und gleiden den Todten⸗
tingen Sardiniens. Ihre dramatiſche Lebendigfeit ift grauen⸗
voll. Es ſind nur Weiber, welche tanzen, klagen und ſingen.
Die Haare aufgelöſt und mänadenhaft um die Bruſt fliegend,
bie Augen voll ſprühendem Feuer, die ſchwarzen Mäntel flat⸗
ternd, ſo ſchwingen ſie ſich um, ſtoßen ein Klagegeheul aus,
ſchlagen die flachen Hände zuſammen, ſchlagen ſich die Brüſte,
raufen ſich an den Haaren, weinen, ſchluchzen, werfen ſich an
der Tola nieder, beſtreuen ſich mit Staub — dann ſchweigt
das Geſchrei, und dieſe Frauen ſitzen nun ſtill, Sibyllen gleich
auf dem Boden der Todtenkammer, tiefausatmend, ſich be⸗
ruhigend. — Schrecklich iſt der Gegenſatz zwiſchen dem wilden
Todtentanz und dem Todten ſelber, welcher ſtarr auf der Bahre
36
liegt und doc diefen Furientaumel regiert. In den Bergen
zerreißen fic) bie Rlageweiber aud) das Gefidht bid aufs Blut,
weil nad uralter heidniſcher Vorftellung das Blut den Todten
angenebm ift und bie Gdatten verfdbnt. Dann nennt mau
die} raspa oder scalfitto.
Das Wefen diefer Klageweiber muß fürchterlich erfcheinen,
wenn ihr Tang einem Gemorbdeten gilt. Dann werden fie |
wahrhaft yu ben fdlangenbaarigen Raderinnen de Mordes,
wie fie Wefdylus gemalt bat. So fdwingen fie fid um
grauſenhaft, bie Hände in einanderfdlagend, heulend, Rade
fingend, und fo gewaltig ift. oft die Wirkung ihres Lieded
auf den Mörder ber es Hirt, dab ihn Entfegen und Gewiſſens⸗
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a angft erfaft, und er fic) felber verrät. Ich lad von einem
‘ Mörder, welder verhillt in den Mantel der Todtenbriider 3
ia pie Rerze an der Babhre deffen yu halten fic) erfrechte, bener
3 mit erſchlagen hatte, und der wie er dad Rachelied anftim:
7 men hörte, fo beftig yu gittern begann, daß ibm die Kerze
™ aus der Hand fiel. Bei Criminalproceffen gelten Seugen:
7 ausfagen, daß Jemand bei der Todtentlage gezittert babe,
. alg Schuldbeweiſe. Ya! mander Mann auf diefer Inſel
> gleicht bem Oreft bes Aeſchylus, und bie Seberin fann vor
| ibm fagen:
a Und figen fab’ id einen gottverfludten Mann
- Wm Erdennabel, fdhuggewartig, frijd von Blut
net Die Hande triefend, nod das blofe Schwert zur Hand — —
* Um dieſen Mann her eine wunderbare Schar
ty Bon Weibern ſchlafend auf vie Seffel hingeftredt;
* Doch nicht von Weibern — nein, Gorgonen nenn' ich ſie,
Pe Und wieder nidt den Bildern der Gorgonen gleid ;
* Einſt ſah ich die gemalet, welche mit Phineus Mal
* Von dannen fliegen; aber ungeflügelt ſind
a Die dort und ſchwarz und völlig efelbaft yu ſchau'n.
2
bs
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37
. Lodtenftille herrjdt in der Rammer. Mian hort nur bas
Atmen der umberfauernden Mageweiber, welde in ihre Mäntel
gehüllt vafigen, den Kopf auf die Bruft gefentt, tiefften Schmerz
ausdrückend nad althelleniſcher Weife, wie der Kiinftler bas
Haupt defjen verhüllt darftellt, deffen Schmerz fiber das Maß
groß iſt. Die Natur felbft hat bem Menfden nur zwei höchſte
Ausdrudsweifen des Schmerzes gegeben, den Wuffdrei de3
bervorbredenden Gefühls, indem die Lebenstraft- gleichſam alle
ibre Geifter entfeffelt, und dad tiefe Verftummen, in welchem
pie LebenSfraft in Obnmadt erftirbt. — Plsglidh fpringt aus
bem reife ber Frauen eine empor, gleid) einer begeifterten
Seberin hebt fie cin Lied auf den Todten an. Recitativifd
trägt fie died Lied vor, Strofe fir Strofe, und eine jede
endigt mit Weh! Weh! Weh! melded der RKlagedor wieder:
bolt, nad Weife der Tragödie bei ben Griedhen. Die San-
gerin ift aud) die Chorfiibrerin, welde bas Lied gedidtet bat
oder improvifirt. Yn Sardinien pflegt fie dad jüngſte Mav:
den gu fein. Jn der Regel werden diefe Gefinge, Loblieder
oder Radelieder, in denen der Preis des Todten mit der Kage
um ibn ober mit ber BWufforderung zur Rade wedfelt, auf
ber Stelle gedidtet.
Wie wunderbar ift der Widerfprud der Cultur in diefem
Lande, welde3 foldhe Scenen noc) Iebend erbalten hat, die
von unferer Gefellfdhaft durch eine Rluft von 3000 Jahren
getrennt gu fein fdeinen. Man febe alfo den Todten auf der
Zola, die fauernden Klageweiber am Boden; ein junges Mäd—⸗
chen erbebt fid, dad Antlig flammend von Vegeifterung fingt
fie wie Mirjam oder wie Gappho Verfe von unerreidbarer
Anmut, voll von den kühnſten Vildern, und unerſchöpflich
ftrdmt die bingerifjene Seele rhythmifd, in Dithyramben fort,
welde das Zieffte und Höchſte menfdliden Schmerzes melos
diſch ſagen. Der Chor heult hinter jeder Strofe Deh! Deh!
Deh! — Joh weiß nidt, ob irgend wo ein Bild im Leben
38
aufgefunden merden fann, in welchem fic) das Graufige mit
ber Anmut 3u fo tieffinniger Poeſie verbindet als in folder
Scene, da ein Madden über dem gemordeten Bruder, der
in feinen Waffen auf ver Tola liegt, als Crinnye aufiteigt,
in Berfen Rade fordernd, deren blutig wilde Sprache felbjt
Mannesmund nicht graufender fagen finnte. Bn diefem Lande
‘Halt das niedrig dienende Weib das Geridht, und vor das
Tribunal feiner Klage, die bier recht eigentlid) Anklage ft,
wird ber Schuldige gelaben. So fingt aud der Chor der
Méagde in ben Grabesfpenderinnen beim Wefdylus :
O Kind, bewältigt
Wird des Todten Denken nicht
Durch den blendenden Zahn der Glut;
Spät einſt zeigt er ſein Zürnen.
Und bejammert wird der Todte: —
Und erkannt wird, der ihn todtſchlug;
Um den Vater und Erzeuger
Die gerechte Todtenklage,
Gericht heiſcht ſie mit lautem Schmerzſchrei.
Einige dieſer Seherinnen, der germaniſchen Velleda möchte
ich ſie vergleichen, machten ſich wegen ihrer Inſpirationen be⸗
rühmt; fo im vorigen Jahrhundert Mariola delle Piazzole,
bie Führerin der Todtenchöre, deren Lieder aller Orten be:
gebrt wurden, und wie Clorinda Franceschi aus der Cadinca.
Sn Sardinien heißen die Klageweiber Piagnoni ober prefiche,
in Gor8ica voceratrici oder ballatrici. Nicht immer find
es die bergebradten Chorfithrerinnen, welche fingen, vielfad
aud die Verwandten des Todten, Mtutter, Gattin, befonders
die Schweftern. Denn das vom Schmerz erfiillte Herz ftrimt
in kunſtlos beredte Rlagen über und madt die Sprache er:
baben und den Gedanfen genial aud) obne Didhtertalent.
39
Außerdem ift die. Form der Todtenflagen eine ftehende, und
wenn der Trauerfall eintritt, bat fid) das corſiſche Weib ſchon
lange vorber in den Lamenten geübt, welde von Mund ju
Munde gehen, wie andere Lieder bei uns.
Sener pantomimifde Klagetanz heipt im corsiſchen die bal-
lata (ballo funebre), die Ballade. Man fagt ballatare
sopra un cadavere, itber einer Leiche tanzen. Das Klagen
beift vocerare, bas Klagelied Vocero, Compito oder Ballata.
Im Garbdinifden heißt jene Ceremonie Titio oder Attito. Man
leitet diefes Wort von bem Webeausruf ahi! ahi! ahi! ab,
womit die Chorfithrerin jede Strofe ſchließt und welden die
Klageweiber wiederbolen. Die Lateiner riefen ftatt defjen Atat,
die Grieden wie man in den Tragddien finden fann otototoi,
und aud bet und Deutſchen ijt der heftige Schmergzensruf
ahtatata gebraudlid, wad der an fic erfabren fann, welder
darauf adtet, was er ruft, wenn er fid) den Finger ver:
brannt bat und ballatirend, vor Schmerz fpringend, mit dem
ginger in der Luft ſchnalzt.
Sobald endlid) die Tontenbritderfdaft vor bas Haus fommt,
um die Babre yu heben, wird nocd einmal ein Klagegeſchrei
angeftimmt, bann bringt das Gefolge den Todten in die Kirche,
wo er eingefegnet wird und von ber RKirdhe wiederum mit
Klagegefang auf den Kirchhof. Die Feter ſchließt das Todten:
mal, der convito oder conforto. Schon vorber wird denen,
weldje an ber Leiche waden, ein Giffen gegeben, twas man
bie veglia nennt, und jeder Todtenbruder pflegt einen Kuchen
au befommen. Der Conforto felbft wird den Verwandten und
Freunden entweder im Todtenbaufe oder in der Wohnung eines
Sippen gegeben, wobin die Gäſte mit ungeftimer Dringlid:
feit gelaben werden. Es ebrt den Todten, wenn das Mal
grop geriiftet ift, und war er im Leben eine geadhtete Perfon,
fo erfennt man bas an det Menge der Gajte. Oft wird bei
dieſem Todtenbankett (banchetto) viel Aufwand getrieben,
40
und aud in die Haufer des Dorfs wird Brod und Fleiſch ge:
fandt. Schwarz ift bie Kleidung der Nachtrauer, der trauernde
Mann lapt oft lange Beit den Bart wachſen. Kehrt die Jahres⸗
feier ded Begdngnifjes wieder, fo wird dad Bankett bisweilen
wiederbolt.
Dies nun ift der corsiſche Todtencultus, wie er fid) nod
im Innern und Süden bes Landes bis auf den heutigen Zag
erhalten bat, der Reft uralter Heidengebraude mitten im
Chriftentum und mit deffen Gebrauden vereinigt. Wie alt
dieſe Ballata fet, wann und twober fie in diefe3 Land getragen
worden, ift ſchwer gu wiffen und bier will id keine Unter:
{udungen dariber wagen. Jur einige Beziehungen wollen wit
nidt entbebren.
Der Schmerzausdruck an ber Leiche eines Geliebten ift
itberall derfelbe, dad Weinen, die Rlage, die regende Erinne⸗
rung an da8, wads er im Leben gewefen war, und an die Liebe,
mit der man ibn geliebt bat. Dad leidenfdaftlide Gemüt
bridt in gewaltfame, dramatiſch Iebendige Beiden des Yam:
mers aus. Dod hemmt die Macht der Bildung, welche aud
die Empfindungen regelt, den Culturmenfden und webrt dem
Naturgefühl die maflofe Geberde. Nicht fo bei dem Natur⸗
menfden, bet dem Kinde und bem fogenannten gemeinen Dtann,
welder bie epifde Zeit bed Menſchengeſchlechts mitten in unferet
Civilifation nod wiederfpiegelt. Will man fid überzeugen,
daß epiſche Menſchen, Könige, Helden, Volkshäupter fid im
Schmerz ebenſo leidenſchaftlich geberdeten, wie heute die Corsen
bei der Ballata, ſo muß man den Homer und die Bibel, die
Geſänge des Firduſi und die Nibelungen leſen. Eſau ſchreit
laut und weint um den geſtolnen Segen; Jacob zerreißt ſeine
Kleider um Joſeph; Hiob zerreißt ſein Kleid und rauft ſein
Haar und fallt zur Erde und fo thun ſeine Freunde, fie hoben
auf ibre Stimme und weinten und ein jeglider gerrif fein
Kleid und fprengeten Erde auf ihr Haupt gen Himmel. David
41
faßt feine Rleiber und jerreipt fie um Saul und Jonathan
und trigt Leid und weinet und flagt, ebenſo weint er auf
per Fludt vor Abſalom, und fein Haupt war verhillet und
er ging barfup.
Rod) zügelloſer find die Schmergausbriide der homerifden
Menfden. Achill jammert um Patroclus, die finftre Wolfe
per Sdwermut umbillt ibn, mit beiden Handen überſtreut er
mit ſchwaͤrzlichem Staube fein Haupt; ‘
Aber er felber, groß, auf großem Bezirk, in bem Staube
Lag, und entftellete raufend mit eigenen Handen das Haupthaar.
Magde zugleid), die Achilleus erbeutete fammt Patroklos,
Innig im Gergen betriibt, auffdricen fie; al? aus der Thiire
Rannten fie vor um Achilleus, den feurigen, und mit ben Handen
Schlugen fie alle die Bruft, und jeglicher wantten die Kniee.
WIZ Hektor fallt rauft Hekuba ibr Haar, und Magli) meint
Priamos und jammert, und ſpäter fagt er gu Adil, als er
ibn um ein Lager gum Wusruben bittet, bab er ſtets geſeufzt
babe voll unendlicden Sammers ,
Ym Gebhege de Hofs auf fdmugiger Erde mic wälzend.
Ebenſo rauft im Firdufi der Held Ruſtem fic bas Haar um
feinen Gobn Gobrab, brüllt vor Schmerz und weint Blut;
Gobrabs Mutter wirft fid) Feuer aufs Haupt, zerreißt das
Gewand, fintt immer von neuem in Obnmadt, erfüllt den
- Gal mit Staub, weint Tag und Nadt und ftirbt nad einem
Jahr. Die Leidenſchaft hat hier ein Riefenmap von Wusdrud,
wie bie Heldengeftalten ſelber coloffal find.
Yn den Nibelungen, der größeſten Tragödie der Blutrade,
vritdt fid) die Leidenfdaft des Schmerzes nicht minder ge-
waltig aus. Um ben todten Siegfried erhebt Chriembild das
42
Jammergeſchrei. Blut dringt aus ihrem. Halfe, fie weint
Blut an feiner Leiche, und alle Weiber helfen ihr mit
RKlagen.
Saft an allen jenen Stellen finden wir die TodtenHage
al8 lyriſchen Erguß des Schmerzes und gum Liede ſich bildend.
Um der corsifden Voͤceri willen ftehe bier das erbabentte
Lament von allen, die Todtentlage Davids um Gaul und
Jonathan:
Weine Israel um die welche durchs Schwert fielen auf
deinen Bergen, die Helden Iſraels find erfdlagen auf
den Bergen. Web! wie fielen die Helden!
Sdweiget! Sagt es nidt an gu Gath, verkündigt's nidt
auf den Gaffen yu Wscalon, dab nidt frobloden die
Töchter der Philifter, dap nicht tangen die Töchter dex
Unbefdnittenen.
© ibr Berge Gilboa’3! nicht Thau, nidt Regen fale
auf euch. Nicht foll man Ader haben auf eud, die
Hebopfer yu opfern. Denn zerſchlagen ift auf end der
Sdild der Helden, der Schild Saul, als ware er nidt
gefalbet mit Dele.
Der Bogen Yonathan3 hat nie gefeblet, noch ift das
Schwert Sauls leer wieder gefommen von dem Blut
der Erſchlagenen und von dem Fette der Helden.
Saul und Yonathan, holdfelig und lieblid) in ihrem
Leben, find aud) im Tode nicht gefdieden, leichter denn
bie Adler, ftarfer denn die Löwen.
43
Ihr Töchter Iſraels, weint fiber Gaul, ver euch fleidete
mit Rofinfarbe fauberlid), und ſchmückte eud mit gold⸗
nen Kleinodien an euren Kleidern.
Wie ſind die Helden ſo gefallen im Streit! Jonathan iſt
auf deinen Hdben erſchlagen.
Es ijt mir Leid um did, mein Bruder Yonathan; id
babe grofe Freubde und Wonne an dir gebabt; deine
Riebe war mir fonderlidher denn Liebe ber Frauen.
Web! wie find die Helden gefallen, und die Streitbaren
umgefommen!
Ganj dramatifd ift das Lament um Hettor im letzten Gefang
der Gliade und möchte gang unb gar einer Ballata an ber
Sola gleichen. Auch dieſen BScero wollen wir nod hören.
Als fie den Leichnam jetzo geführt in die prangende Wobhnung,
Legten fie ibn auf-ein ſchönes Geſtell, und orbneten Ganger,
Daf fie die Klag’ anftimmten; und nun mit jammernden Tönen
Sangen fie Trauergefang, und rings nad) feufgten die Weiber.
(Andromade bebt das Lament an:)
Mann, ou verloreft vein Leben, du blühender; aber mid
Wittwe
Laffeft du bier im Palaft, und das ganz unmündige Söhnlein,
Weldhes wir beide gezeugt, wir Clenden! Ad) wol fdwerlid
Bliht er gum Yingling heran! Denn zuvor wird Troja vom
Gipfel
Umgeſtürzt, da du ſtarbſt, ihr Verteidiger, welcher die Mauern
Schirmte, die züchtigen Frau'n und ſtammelnden Kinder er⸗
rettend.
ee
44
Bald nun werden hinweg fie geführt in gerdumigen Schiffen,
Und mit jenen ic) felbft! Dod du, mein trautefter Sohn, wirk
Dorthin geh'n mit der Mtutter, um Schmach gu erdulden und
Arbeit,
Unter des Frohnherrn Siang, des graufamen; oder es ſchmettert
Didh ein Adhaier, am Arme gefabt, von dem Turm ind Ber:
derben,
Zurnend, dab Heltor ben Bruder ihm tddtete, ober dex Bater,
Oder den blithenden Sohn: denn febr viele Manner Adhaia’s
Sanken burd Geltors Hinde, den Staub mit den Zaähnen
zerknirſchend.
Denn fein Schonender war dein Vater im Grau'n der Ent⸗
ſcheidung;
Drum webflagen ihn nun die Völker umber in der Veſte.
Unaudsfpredliden Gram der Versweiflung fdufft du den Gltern,
Hektor; dod mid vor Allen betritbt nie endender Yammer!
Denn nidt haft du mir fterbend die Gand aus dem Bette
gereichet,
Noch ein Wort mir geſagt voll Weisheit, deſſen ich ewig
Dächte bei Tag und Nacht, wehmütige Tranen vergießend.
Alſo ſprach ſie weinend, und rings nach ſeufzten die Weiber.
(Hekuba nimmt das Lament auf :)
Hektor, du Herzenskind, mir geliebt vor allen Gebornen!
Ach und weil du mir lebteft, wie lieb auc warft du den Gsttern,
Welche ja dein wahrnahmen nod felbft in be} Todes Ber:
haͤngniß!
Denn die anderen Söhne, die mir der ſchnelle Achilleus
Nahm, verkauft' er vordem jenſeits der verödeten Salzflut,
Hin gen Samos und Imbros und zur unwirtbaren Lemnos.
Aber da Dich er entſeelt mit ragender Spitze des Erzes,
O, wie ſchleift' er dich oft um das Mal des geliebten Patroklos,
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Seines Freunds, den du fdlugit; und erweckete jenen aud
fo nicht!
Dennod jept wie betaut und frifd nod mir in der Wohnung
Ruheſt du, jenem gleid), den der Gott des filbernen Bogens
Unverſeh'ns hinftredte, mit lindem Geſchoß ibn ereilend.
Alſo fprad fle weinend, und wedt’ unermefliden Yammer.
(Qelena nimmt das Lament auf:)
Hektor, o Trautefter du, mir geliebt vor de3 Manned Gebritdern!
Ach mir Gemal ift jego der göttliche Held Alexandros,
Der mid gen Troja gefithrt! O war’ id guvor dod geftorben!
Denn mir entfloh’n feitdem ſchon zwanzig Jahre des Lebens,
Geit von dannen id) ging, die heimiſchen Fluren verlafjend;
Dod nie hdrt id) von dir nur ein Wort im Bafen, nod
Unglimpf.
Ya, wenn ein andrer im Hauje mid anfubr unter den Brildern
Over Gefdwiftern de3 Manns, und ftattliden Frauen der
Schwäger,
Oder die Schwäherin auch, denn der Schwäher iſt mild wie
ein Vater:
Immer beſänftigteſt du, und redeteſt immer jum Guten,
Durch dein freundliches Herz und deine freundlichen Worte.
Drum bewein' ich mit dir mich Elende, herzlich bekümmert!
Denn kein Anderer nun in Troja's weitem Gefilde
Iſt mir Tröſter und Freund; ſie wenden ſich Alle mit Abſcheu!
Alſo ſprach fie weinend; es ſeufzt' unzählbares Volk nach.
Pelasger, Griechen, Phönizier, die Egypter zumal, die alten
Völker Italiens, die Etrusker, die Römer, alle haben fie die
Todtenflagen gehabt; nidt minder die Celten, wie die Bren,
vie Germanen, und daffelbe gilt von dem heutigen Natur⸗
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vilfern in Wmerica wie in Africa, wie von den Indern. And
in Stalien finden ſich auperbalb Sardinien3 und Corsica's
dbnlide Todtengebräuche, namentlich im Neapolitanifden.
Schon Peter Cyrndus findet den corsiſchen Todtencultus
dem der alten Romer febr ähnlich, welder ungweifelbaft pe
lasgifd-etrustifd ijt. Wud fie batten die Klageweiber, welde,
wie heute in Sarbinien, praeficae genannt wurden, und die
Rlagelieder Naeniae. Yoh habe eine ſolche rdmifde Nänie
ſchon mitgeteilt, damit man fic) ihrer bier erinnere, es ift
died der parodiſtiſche Vocero des Seneca auf Claudius. Beim
Leichenbegängniß des Germanicus fpridt aud nod Tacitus
yon den Feierlichkeiten als Gebräuchen der Vorfabren, Lob-
und Gebddidtnifliedern feiner Tugenden, Tranen und Schmerz⸗
aufftadlung. In dem rimifden Gefeg der zwölf Tafeln wurde
jene Ballata Leſſus genannt und als barbariſcher Gebraud
beftraft, wie ibn fdon bas folonijde Gefeg verboten atte:
„Es follen die Weiber ihre Wangen nidt zerfragen, nod foll
der Leffus beim Begängniß gebalten werden; bie Weiber follen
ibe Geficht nicht zerfleiſchen.“
Aud bie Sitte das Todtenmal zu feiern ift uralt. Ich
leite mic ibren Urfprung aus drei Dingen ab: dad Bedürfniß
nad der Erſchöpfung durch ben Traueract fid) yu erquiden;
bie Chre welde dem Todten durch ein letztes Feftmal erwieſen
wird, deſſen Geber er gleidfam ijt; endlid) das moftifde
Symbol bes Eſſens von Speiſen, welded die Rückkehr vom
Love zum Leben ift und ausdriiden foll, wie nun die Trauern:
ben wieder an der Welt der Lebendigen Teil haben. Dads
Todtenmal bei den Phdniziern, Pelasgern, Egyptern, Ctrusfern
beftand hauptſächlich in Bohnen und in Giern. Beide Speifen
waren Symbole der activen und paffiven ebenStraft, nad
der altorientalifd - pythagoraifden Myſtik. Mod heute ipt man
beim Todtenmal in Gardinien an manden Orten Bohnen und
Gier; daß died aud in Corsica gebraudlid ift, babe id nidt
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gebirt. Bei den Römern hieß das Todtenmal Silicernium.
Zum ftattliden Feſtſchmaus in Priamos Haufe kehren aud
die leidtragenden Trojaner vom Begdngnip ded Heltor beim.
Die corsifden Voceri von denen ic) nun einige mitteile,
find alle im Dialect gebidtet. Jn der Regel herrſcht das
trochäiſche Maß vor, dod) wir es nidt felten durdbroden.
Ebenſo ift der dreiface Reim vie Regel, dod kreuzt er fid
bi8weilen. Diefes Maß und die Ptonotonie der Reime find
pon der tiefften Wirkung, und ſchwerlich liebe fic ein Rhythmus
finden, welcher dem Schmerz anpajfender ware. Die Voceri
felbft ſcheiden fid) in die mildere Klage um den Tod eines
Dabhingenommenen, oder in das wilde Rachelied. In das
Wefen der Coren werfen diefe Lieder ein Helles Lidt. Sie
zeigen, wie heißblütig ihr Herz und wie ſtark ihre Leidenſchaft ift.
Bedenkt man, dab viefe Lieder faft alle von Frauen gedidtet
find, fo muß man erfdreden, weil nod) da3 Weib durd die
Natur beſtimmt ift, die milderen Empfindungen der Seele aude
gufpreden und die robe Kraft bes Männlichen gu erweiden.
Ich weiß fein Beifpiel in aller Poefie der Voller, wo das
Graufige und Furchtbare in gleidher Weife zum Stoff des
Volksliedes geworden ware, und hier zeigt fid) die Gewalt
ver Poefie überhaupt, welde aud) nod das Sdhredlidjte mit
einem Haud) webmiltiger Schönheit ju mildern vermag. Denn
aud der zarteften Empfindungen ift wieder die corsiſche Poeſie
im bidften Maße fabig. Man wird in diefen Liedern die
Bilderfprache des Homer und wieder die der Pfalmen und des
Hohenliedes finden. Kunſtlos wie fie find, tragen fie nur
dad Geprage von Ymprovifationen, welche fic) beliebig aus-
dehnen laſſen; und weil fie ſolche find, lebt in ibnen der ge-
niale Wugenblid des truntenen Herzens. Die gang unfaglice
Unfdhuld in manden Voceri und ibre rührende Natureinfalt
entriiden in die Rinderwelt, Hirten- und Patriarcenwelt.
' Rein Genie de3 Didhter3 tann dergleiden Naturlaute erfinden.
48
Dap unter ben Stimmen der Valter, welde wir Deutfche zu
erlauſchen wiſſen, dieſe Klageſtimme nicht feble, habe td) einige
der corsiſchen Lamente übertragen, mit der möglichſten Treue
in ihrer Form wie in ihrem Ton. Schöne Lieder nennt man
wol wie Tranen, die von einem edlen Schmerz geweint mer:
ven, Perlen; id nenne dieſe Todtenflagen blutrote Corallen
aus Corsica.
Biitery.
Corsiſche Todtenklagen.
E come i gru van cantando lor lai —
Dante.
Gregorovius, Corsica. II. 4
Weihe.
Rufet ihr, Geliebte beide,
Deren Gräber friſch mir ragen?
Wenn am ſtillen Inſelſtrande
Sänger ſanft die Citern ſchlagen,
O wie weckt dann ihr Lamento
Meiner Seele Todtenklagen!
Schwäne, mir voraufgeflogen,
Genien meiner Wanderreiſe,
Auf den Bergen, auf den Meeren
Grüßt ihr mich mit Stimmen leiſe,
Grüßt mich hier auf ödem Eiland
Mit der Todtenklageweiſe.
Was hier rührt im Trauerliede,
Mitgefühlt iſt's, mitgeklungen,
Eigner Seele iſt es Echo,
Eignem Schmerz iſt es entſprungen;
Klagend hab' ich meinen Todten
Einen VScero geſungen.
52
Vocero
auf den Tod eines Madchens von Pietra di Berde.
(Die Mutter fingt:)
Laßt mid gehn gu meiner Todter,
Rabe gebn ju meinem Kinde,
Denn mir fdeint, da auf ver Tola
Ich fie ausgeftredt hier finde,
Und daß um ven Hals fie banden
Ihr von Bandern ſchon die Binde,
© Maria, Mutterwonne,
Ud! Du Shag von meinen Freuden,
Ad! Du Blume veined Vaters
Seine Augen dran su weiden,
Geute muß eS nun geſchehen,
Daf gum letzten Mal wir fdeiden.
© wie aft du Tod fo grauſam
Um mein Hoffen mic) betrogen,
Meine Blume mir getnidet,
Mix mein HersenSpfand entzogen,
Diefen Morgen mir das Herze
So verfentt in Jammers BWogen.
Wauſe.)
Willſt du die Geſpielen nimmer,
Deine Trauteſten nicht ſehen,
Wie ſie alle dich im Kreiſe
So gum Tob betriibt umſtehen?
Ad! gib einmal ihnen Antwort,
Laß fie ohne Troft nidt geben.
53
Biebe an dod) deine leider,
Qujt der Mutter, o Ptarie,
Sieh’ die Jungfraun all zuſammen
Wollen mit dir dieſe Frithe
In bie heil'ge Meſſe geben,
Nach der Kirche Sant' Eliä.
(Eine Geſpielin der Todten nimmt den Geſang auf.)
In die Meſſe laß uns gehen,
Weil die Lichter ſchon erprangen
Und die Kerzen am Altare;
Ganz mit Schwarz iſt er behangen.
In die Kirche iſt dein Vater
Mit der Mitgift heut' gegangen.
Dieſen Morgen in der Kirche
Wird man ſehn ein großes Prangen,
Denn da iſt Maria's Mitgift
All' in Kerzen aufgegangen.
(Eine andere Geſpielin nimmt den Geſang auf.)
© mein Fraulein, eure Krankheit
Möcht' id wol mit Namen fagen,
Weif nicht, ob e3 war das Fieber,
Oder foll ich's Schwindſucht lagen.
Over war's ein frembde3 Leiden,
Das ſich fonft nidt zugetragen.
Ach! wo modte dod, mein Fraulein,
Gud) der ſchnelle Tod erfpiiren?
Immer ſaßt ibr ja im Lebnftul,
Oder gingt im Tal fpagieren.
Ließ eud) dod bei Tiſch die Mutter
NiemalZ nur den Finger riihren.
54
(Die Mutter nimmt den Geſang auf.)
Heute frih will Sant Glia
Einen ſchönen Straug id bieten,
Cine Blume zum Gefdente,
Die da fteht in vollen Bliten,
Und id glaub’, er wird fo ſchönes
Weihgeſchenk mit Dank bebiiten.
Beten will id zur Maria,
Will gum Herren Jeſu fpreden,
Denn heut' Morgen will ich geben,
Meine Blume will ic brechen —
O Marl, du Herz der Mutter,
Denn mir will das Herz zerbreden.
(Paufe.)
O du Blume aller Yungfraun,
Wer ad! wer wird fid) erlaben .
Nun an deinen zwölf Gebetten,
Wer wird deine Ringlein haben?
Briider haft du nist nod Sdweftern,
Wes wird mit dir begraben.
Wie fo blap find nun geworden
Deine purpurbhellen Wangen,
Ihre Rofen, ihre flaren,
Ach! wobin find fie gegangen?
Ach! ber Tod ift e3 gewefen,
Hat fie alle fortgefangen.
Zod, o woll’ denn 3u mir fommen,
Mad’ dab gänzlich es ſich ende;
55
Hab’ Erbarmen, denn id leg’ dir
Nun mein Leben in die Hande,
Dap vereint mit meiner Todter
Ich mic heut’ vow hinnen wende.
(Paufe.)
Heute ijt das Dorf von Petra
Mit Versweiflung ganz geſchlagen,
Mlle Veute ftehn voll Jammer,
Schluchzen bitterlid) und klagen,
Und die Sduld davon, mein Liebling,
Du alleine muft fie tragen.
Siehſt du nicht wie die Freundinnen
Zärtlich ſchmiegend an dir lehnen,
Wie ſie ſo dein liebes Antlitz
Dic benetzen all mit Traänen?
Und du willft fie alſo laffen,
Alſo traurig und voll Sehnen!
Ein'ge gingen ſchon nad Rofen,
Andre gingen Blumen binden,
Denn fie flechten die Guirlande,
Wollen dich als Braut umwinden.
Und du willſt uns alſo laſſen,
Willſt im dunkeln Schrein verſchwinden?
Wenn du trateſt aus dem Hauſe,
Lieblichkeit iſt von dir kommen,
Und geglaͤnzt hat deine Milde
Wie ein Stern von Licht umſchwommen.
Dich hat in der ſchönſten Blüte
Nun der Tod dabingenommen.
56
Dod nun enden wir dad BWeinen,
Wollen uns vom Gram erheben;
Wird dod unfre Mariutſcha
Nun als Braut ves Herren leben.
Heute frih wird ihr Maria
Ginen Plag im Himmel geben.
(Die Lodtenbriider fommen,)
Ad! id bor’: Ora pro ea
Rufen Rings gu der Maria,
Denn die Todtenbriider tommen
Auf den Plag fon — ad! Maria —
Und fie wollen dich ſchon tragen
In die Kirdhe Sant Glia.
Auf den Kirchhof mit den andern
Wollt gu gehn id) mid entſchließen;
Dod id kann fo weit nidt fommen,
Kann nidt ftebn auf meinen Füßen.
Nur ein Bad aus meinen Augen
Rann allein hinunterfliefen.
Vocero
eines Madchens an der Leiche ihres etmordeten Balers.
(Diatett von dieſeius der Berge.)
(Das Madden tommt mit einer Fadel.)
Bon Calanca bin id) gefommen,
Mitternadt war im Verſchwinden,
Hab’ gefudt mit meiner Fadel
Qn den Garten und in den Griinden,
Bo mein Vater fet geblieben —
Zod, im Blute mußt' ich ihn finden.
D7
(G8 fommt eine andere Jungfrau, welde aud einen ermordeten Blutsver⸗
wanbdten fudt; ben Todten erblidend halt fie thn fiir einen Verwandten, bleibt
fteben und will das ament anbeben. Die Erfte aber fingt:)
Weiter aufwärts muft du fteigen, -
Denn dort liegt Matte erfdhlagen,
Wher died hier ift mein Vater,
Und an mir ijt’s bier yu klagen.
Hebet mir auf bie Lederfdiirze,
Seinen Hammer und feine Kelle.
Vater, willft du nicht zur Wrbeit
Wieder gehn an die Capelle?
Wud aus meines Bruder3 Wunden
Fließt vom Blut die rote Welle.
Laufet und holt mir ſchnell eine Scere,
Schneiden will id mir vom Zopfe
Einen Büſchel meiner Haare,
Dap die Wunden id ihm verftopfe.
Denn von meines Vater3 Blute
Kebt am Finger mir ein Tropfe.
Farben will ich ein Mandile,
Rot vom Vaterblut es madden;
Das Mandile will id tragen,
Bis ich Mupe hab’ zum Laden.
Rad) bet Rirhe Santa Croce
Will id gehn mein Leid zu lagen;
Immer ruf id deinen Namen,
Antwort wirft du einft mir fagen,
Denn fie haben did) gekreuzigt,
Wie den Chrift an3 Kreuz gefdlagen.
58
Docero
det Runziola auf den Tod ihres Manned.
@iatett von jenfeits der Berge.)
(Rungiola fingt:)
O du mein Petro Francesco,
O du Haupt von meinen Ragen,
Meine Rofe ohne Dornen,
Die mir Blumen hat getragen.
Bon den Bergen bis sum Meere
Barjt mein Held du ohn’ Verzagen.
Ich umidlinge did mit den Armen,
Ich umftride did) mit den Fifen,
Biſt mein Ehgemal getvefen,
Hoffnungsſtern mit Segensgrüßen.
Und du haſt von meinem Unglüd
Nun die Quelle werden müſſen.
Du mein Sdhiff auf hohem Meere,
Das da fegelt um anjulanden,
Dod nidt kann gum Hafen tommen,
Beil im Sturm die BWellen branden.
Und mit feinen fhdnen Sdhagen
Treibt eB weiter um gu ftranden.
Komm’ o Griscio, meine Todter,
Wo dein Vater liegt in Frieden,
Sag’ ihm daf im Paradiefe
Fir fein eingig Rind hienieden
Gr ein beffer Los erbitte,
Als der Mutter ward befdieden.
59
O du wareft meine Säule,
Meine Stipe meine ganze,
O du warft mein eigner Bruder,
Meine Wehr und meine Sdhanje.
du wart mein Scag mein fdiniter,
Meine Perle du voll Glanje.
O du meine Goldorange,
Rleinod ſorgſamlich verfdloffen,
Du mein Beder blank’ von Silber
Und mit Golde ausgegoffen.
Du mein Herrens Speifeteller,
Mir wie Blei ins Herz geſchoſſen.
Cher will id) meine Augen
Bu zwei Quellen mir jzerweinen,
WS ich je dein Angedenfen
Bu vergeffen follte jdeinen.
Immer will ich vid), Francesco,
Klagend nennen nod den Meinen.
Bijt mein feines Schwert gewefen,
Meine ftarke Wehr und Waffen,
O du mein unfelig Sdidfal,
Trümmer die mid ſtürzend trafen.
Du bijt meinem ug’ erſchienen
Als ein Segel in dem Hafen.
| Hatt’ mich wol far did) gelobet,
Bon dem Tod dich zu erldfen,
Wher mir, mein Petro Francesco,
Sit das nicht vergönnt gewefen.
© mein Grofer du von Ptute,
Sdhirm und Sdhug mir vor den Böſen.
60
D du mein Hahn fo bochgemutet,
Mein Fajan im blumigen Hiigel,
Du. mein Vogel fo wunderherrlich,
Meines Gliides mix ein Spiegel,
Rimmer mehr darf id mic duden,
Duden unter deinen Flügel.
O du mein Petro Francesco,
Unfern Gerrgott will ich bitten,
Daf did jeine Engel tragen
In des Paradiejes Mitten,
Dies wird mir dad Herze tröſten,
Weil es deinen Tod erlitten.
Vocero
eines Madchens auf den Tod ihrer zwei Briider, welche an einem Tey
. erſchlagen wurden,
Gemiſchter Dialett von diefeits und jenfeits der Verse)
(Die Sqweſier fingt:)
O das Pralen nun von Piero,
O das Grofthun von Orajio!
Gine große Wiijte madten
Sie bis hin nad San Brancajio.
Satt ift nun von unjrem Blute
Der Midele und der Oragio.
Lod, o Tod, wie biſt du fo ſchwarz dod,
Beil dies Leiden uns überlommen,
Denn ein Haus ein volles haſt du
Bid aufs Neſt-Ei ausgenommen,
Haupt des Hauſes nun gu bleiben,
Goll dad mir Berwaif'ten frommen?
61
Ich alleine von allen Frauen
Bin am Feuerberd gefefjen,
Ueber meine fiinf Gebriider
Hab’ id) Herrenrecht bejeffen —
Aber nun ift ja die Herrfdaft
WM verloren, all vergeffen.
Anziehn will id) die Faldetta,
Will mid ganz mit Schwarz betritben,
Weil fein Haud von feiner Freuvde
Mir im Herzen mehr ift blieben,
Wegen meiner finf Gebriiver,
Pater und Mutter, das find fieben.
Und nad Asco will ich fdiden,
Schwarzen Kienruß will id) haben,
Ganz in Schwarz will id) mid farben
Wie die Febern find vom Raben;
Steigen und finfen foll mein Leben,
' Wie vie Regenflut im Graben.
Seht ihr nicht wie meine Augen
Als zwei Quellen mir überwallen?
Um die zwei vielſüßen Brüder,
Die in einer Stunde gefallen.
Nun zu thun die Glocken haben
Für zwei Todte zu erſchallen.
Du mein Ball von rotem Golde,
Du mein Ring von Demantſteine,
O Piero, du meine Wonne,
Und Ora um den ich weine.
Yn die Kirdhe von Tallanu
Gebet Reiner mebr fo feine.
62
Und um eud, o Herr Curate,
Mus id bitter mid betlagen,
Beil ihr euch gu meinem Hauſe
Alſo undanthar betragen, .
Jn drei Jahren waren es fieben,
Die aus ihm ihr fortgetragen.
Bis ans Ende von der Gaffen
Dil id gehen mit euch hernieder,
Und die Augen fent ich weinend,
Reber’ nad Hauſe weinend wieder.
Und dag find die legten Gange
Fur die todten fünf Gebriider.
bocero
der Maria Felice von Calacuccia auf den Tod des Bude’.
CDialett von Rioto.)
(Die Sqhweſer fingt:)
Als id ſpann an meiner Spindel,
Hort’ id einen Donner erſchallen,
Bar's ein Schuß aus einer Flinte.
That durchs Herz mir wiederballen,
Bar mir’s vod, als ob er fagte:
Lauf’, dein Bruder ift gefallen.
Auf die Kammer bin id gefprungen,
An das Fenjter, das ftand offen.
Hab’ im Herzen den Schuß empfangen,
Serie: er fiel gu Tod getroffen.
Starb id da nicht auf der Stelle,
Bar es um ein eingiges Hoffer.
63
Will mir faufen eine Piftole,
Will in Hofer mid) verkleiden,
Zeigen will ich nun dein Bluthemd.
Weil mir doch zu dieſen Leiden
Niemand blieb, der ſeinen Bart ſich
Nach der Rache könnte ſchneiden.
Sprich, wen willſt du dir erwählen,
Deine Vendetta zu ererben?.
Deine Mutter? Die liegt am Tode;
Schweſter Mari? Die will fie erwerben.
Lage Lariu nicht im Grabe,
Würd' er ohne Blut nicht fterben.
Dir ift blieben vom großen Stamme
Cine einzige Schweſter nur Cine,
Ohne Vettern leibliden Blutes,
Gine Waiſe, Arme und Kleine.
Wher deine Vendetta zu nebmen,
Sei rubig, geniigt aud) die Cine.
Vocero
einer Hittin von Talavo auf den Tod ihres Mannes, eines Rinderhirten.
(Die Hirtin fingt:)
An vem Strand ift er geftorben,
Wo die swet Korkeichen ſtehen.
O Franceseu Hirt der Herbde,
Graufam iſt's did) todt zu feben.
Web! wie wird e3 im dunkeln Bufdwald
Mir Verlaffnen nun ergehen?
ee
‘Di, Di, Dib! wie bin id traurig,
(Nachdem der Todte beerdigt ift, kehrt die Hirtin in ihre Capanne jurid wo)
befdreibt der Familie und den Nadbarn die Beerdigung.)
64
Bill entdften min den Palo,.
Jenen dort mit fieben Weften,
Keinen Schlauc und feine Kappe
Soll man weiter daran befeften.
Will nie Obren auc) befdneiden
Seinem Schäferhunde bem beften.
Mun erhebet ein Helles Klagen,
Meine Briider und Schweftern alle;
Diefes Leib ift ſchwer zu tragen.
Todt, ijt nun das Haupt de$ Haufes,
© mein Gott der mid gejdlagen!
Auf vie Babhre fie ibn legten,
Nach Prunelli fie ihn bradten.
Da vor bittrem Herjeleide
Kühe und Lammer alle flagten,
Wud die Zidlein in der Hirde,
Be, be, be vor Gram fie madten.
In der Kirche zu Sanct Marien,
In der beiligen Parocdhiale,
Gang der Pfarrherr der Curate
Mit den Prieftern allzumale,
Wie um einen vornehmen Herren
Sangen fie alle dad Miſſale.
Als fie nun das Amt beendigt,
Wie fie flinf und dienftbar waren,
Thaten eine Grube öffnen,
Den Francescu zu verwahren;
Gine grofe Mtenge Leute
Trugen ibn auf einer Babren.
Gregorovius, Corsica. II.
65
Nd! wad wollen fie dod maden,
Weh! weh! web! that ich da denken —
Gab in das Grab, ob drin ein Fenfter,
Das ibm Licht nok möchte fdenten;
Dod id fah ihn von den Männern
In ein finftres Grab verfenten,
| voͤcero
auf den Tod des Banditen Canino.
(Dialett aus dem Pieve von Ghisoni.)
(Die Schweſter fingt:)
Yh wollt’, dab meine Stimnte
Wie der Donner könnte erflingen,
Daf fie den Sdhlund von Viggavona
Schallend follte durddringen,
Bon allen, die did) gemorbet
Der Welt bie Runde gu bringen.
Alle von Luco di. Nagga
Radhgierig gufammen fie traten,
Mit jenen grimmigen Sdaren,
Den Banditen und den Soldaten.
Und des Morgens in der Frithe
Plotzlich abmarfdirt fie waren.
Ploötzlich abmarſchirt fie waren
Mit Schalmeien die erflangen;
Mie die Walfe fie im Rudel
Auf die Lammer mordend drangen.
Als fie in den Engpaß famen,
An die Keble fie dic fprangen.
66
Bie ih hdrte ſolche Kunde
That an Fenfter ic) mid) wagen,
Und id rief: was gibt es da? —
Ad, dein Bruder wird getragen,
Todt im Engpaß ift er geblieben,
Bon dem Mörder iſt er erſchlagen.
Nicht gefrommt hat dir die Flinte,
Nicht gefrommt die Piftolette,
Nicht gefrommt die Doldestlinge,
Nicht gefrommt dir die Tergette,
Nicht gefrommt hat dir der Freifprud,
Nicht geweihte Amulette.
Grimmig wadfen meine Schmerzen
Bei dem Anblick deiner Wunden,
Barum ad! willft du nicht reden?
Dol halt Tod dein Herz gebunden,
Gani, Herz du deiner Schweſter,
Deine Farbe ijt geſchwunden.
O du mein Breiter von Sdultern,
O du mein Schlanker von Leben,
Du warft ein Uft voller Blumen,
Ginen wie du hat's nimmer gegeben.
Gani, Herz du deiner Sehwefter,
Gemorbdet haben fie dein Leben.
Ginen Dornftraud will id) pflangen
Qn dem Dorf zu Nazza dritben,
Beil von unfres Vaters Hauſe
Keiner mebr ift leben blieben.
Weil's nidt waren drei oder viere,
Gegen Ginen waren es fieben.
67
Unter den Dornftraud will id tragen
Mein Bettchen, da will id fdlafen.
Weil fie hier, o Du mein Bruder,
In das Herz dich mitten trafen.
Laffen will ih meine Spindel,
Greifen will ich gu den Waffen.
Will mid giirten mit Kartufden,
In den Gurt thun die Terzetta,
Cani, Herz du deiner Schweſter,
Nehmen will ich vie Vendetta.
Vocero
auf den Tod der Romana, Todhter der Dariola Dane8i von Buani,
(Die Mutter fingt:) .
Sebt, nun liegt fie auf der Tola,
Ad! mein Kind von ſechzehn Jahren,
Meine Todter, die fo Tange
Schmerz und Leiden hat erfabhren,
Ach! in ihrem ſchönſten Kleidc,
In bem weißen, ſchleierklaren.
Ach! in ihrem ſchönſten Kleide
Will ſie nun von hinnen gehen,
Laßt der Herr ſie doch nicht länger
Hier auf dieſer Erde ſtehen.
Wer geſchaffen iſt zum Engel
Soll nicht lang auf Erden gehen.
68
Ad! wo find auf deinem Antlig
Nun die Rofen, meine Wonnen?
Seine Klarheit, feine Shine
Sit im ode all zerronnen.
Schau ich's an, will e3 mir. fdeinen
Gine Finfternif ver Gonnen.
Ad! du wareft zwiſchen Jungfraun
Und den allerſchonſten Schönen
Bie die Nofe zwiſchen Blumen,
Bie der Mond, den Sterne frinen,
Und fo muften did, o Todter,
Alle Schoönſten nod verſchönen.
Wenn vom Dorf die jungen Leute
Bor dein Angeſicht gekommen,
Schienen ſie wie Fackelbrände,
Die von Feuer ſind erglommen,
Und ju allen warſt du höflich,
Dir gu nab durft' Keiner kommen.
In der Kirche thaten alle
Nur alleine nach dir ſpähen,
Bon dem Erſten bis gum Legten;
Uber du thatft feinen fehen.
War die Meffe faum gu Gude,
Spradft bu: Mutter, lap uns gehen.
Ud! du warſt fo hod) gebalten,
Ud! du warft jo hodgeehret,
In den Lehren von dem Herren
Warſt du aud fo hodgelehret.
‘Wes andre als gu beten
Haft vem Herzen du verivebret,
69
Wer wird je mic trdften können,
Du mein Stolz und du mein Prangen,
Da ver Herr did) hat gerufen,
Und gu ihm du bift geqangen.
Wh! warum trug aud) Herr Jeſu
Nad dir alfo heiß Verlangen! —
Dod du ruhſt jest in dem Himmel
Lachelnd au von den Befdhwerden.
War ja aud dein liebes Antlig
Viel zu ſchön auf diefer Groen.
O! wie wird das Paradies nun
Um fo vieles finer werden.
Dod fiir mid wird diefe Erde
Voller fein von ſchweren Plagen,
Und 3u taufend Yabren wird mir
Sdon ein Zag von meinen Klagen,
Wenn id dann nad dir, o Todter,
We Lente werde fragen.
Bei Verwandten ohne Liebe,
Bei den Nadbarn ohne Pflege,
Wer wird mir das Antlig trodnen,
Wenn id trant mid) niederlege?
Wer wird mir zu trinfen geben,
Wenn im Fieber ich mid rege?
Wenn id) dod nur fterben könnte,
So wie du der Welt enthoben!
O du meiner Seelen Hoffnung,
Die im Yammer ijt zerftoben.
Wh! dann würd' id) did) nod finden,
Mit dir leben nocd dort oben.
70
Bitte drum den Herren Jeſu,
Lap ex mid von hinnen jagen,
© vu meiner Seelen Hoffnung,
Denn fo kann ich's nicht ertragen,
Und fo tann id ja nicht enden,
Ud! nidt enden meine Ragen,
Vicero
cine Weibes von Niolo auf den Tod des Ubbate Larione,
1740.
(Das Weib fingt:)
Ungeridtet ift der Kuchen,
SKommen find die Kindtaufsgaben,
Denn er wollte dod, forfagt’ er,
Mid gu feiner Pathe haben.
Bebo, wer vermag es gu denfen,
ego wird man ihn begraben, |
(Das Weib ſieht im Fenſter des gegeniiGerftehenden Hauſes ven Todfitd vs
Berflordenen, welder iiber den Bocero lacht, und fingt gu ihm die folgede
Steofe:)
Lache du nur an deinem Fenfter,
Spotte du nur der Furdht und Rene;
Gehe nur nad Feliceto
Und nad Muru geh' aufs neue;
Aus dem Blut des Larione )
Auf den Weg id Gift dir ftreue.
An das Herg ift mic ein Tropfe
Seines Blutes hingefunten,
71
Und id will ins Dorf von Muru
Werfen einen Rachefunten.
Denn ein Blut ein alfo edles
Hat die Erde nun getrunten.
O mein Grofer du von Geifte,
O du meines Hoffen3 Krone,
Du mein Hektor, du mein Löwe,
Ach fie ſchlugen did) mit Hohne, a
Würgten did) mit falfdher Tide, y
Du mein liebfter Larione.
Vacero F
auf den Tod des Cesario und des Cappato. 3
(Diefes wilde Radelied, welches vom Bolle gefungen wird, ift unter dem “a
Ramen eines WeibeS von einem ungenannten Frate (!!), einem Freunde i
Cesario's gedidtet. Wie eB das Lied geweiffagt hat, rächte die Gefallnen ft
{pater ein gewiffer Paolo, ihr BlutSverwandter; er ging darauf in den Buſch⸗
walb und naddem er einige Sabre als Bandit gelebt hatte, fiel er in die
Hinde der Jultiy.) 2
Jeſus, Joſef und Marie F
Und das heilige Sacramente, ¥
Alle nun in Companie F
Helfet mir bei dem Lamente. F
Allerorten ſoll es erſchallen: “3
Die gwei Helden find gefallen. - oe:
So ihr gebet durch alle Gauen,
So ibr geht durch alle Reide:
Ginen der Gefariu gleide
Werdet nimmermebhr ibe fchauen;
72
Reinen .der wie er gewefen
Qn der Rede fo auserleſen.
Hat der’ Morder von Martini
Bie ein Hund ſich da gerochen,
Qn dem Dornbuſch fid) vertroden,
Aufgehetzt von den Martini.
Als er tam in fein Bereide
Galt’ ex ihn mit einem Streide.
Nabe hatt’ ex gu dem Ziele
Den Chiuchinu fie nennen,
That in's Herg den Schuß ihm brennen,
War's Pijtole, war es Fucile,
Daf durchs Herg dad Blei ihm dringe
Die cin Stoß von einer Minge.
Cappatu ift aufgefpriingen
Gleid dem wunden Geu im Walde,
Auf Tangone eingedrungen,
Der — um’s Leben bat er balde.
Reuig hub er an gu Fagen,
Dap er tidifdh ihn erſchlagen.
Todt find nun die Helden beide,
Aber Paulu blieb auf Erden,
Dird im Bufdwald Klausner werden,
Dird ſich nennen Radeleive.
Wird gum Feld er niederfteigen,
Bird aufs Feld er manden neigen.
Wartet nur bis auf dem Lande
Sit der Winterſchnee zerfloſſen,
13
Rade wird dann ausgegoſſen
Bon ven Bergen bis zum Stranve.
Race ift wie Flammenbrande,
Allerorten faßt es behende.
Wenn ein Dutzend wird erſtochen
Von den Erſten und den Reichen,
Sind mit dieſem Dutzend Leichen
Seine Stiefeln kaum gerochen.
Und des Cappatu des Armen
Muß ſich Rache auch erbarmen.
Will's Lamento nun beſchließen,
Weiter hab' ich nichts zu ſagen.
Wehe, Wehe allen dieſen,
Die mit Ratſchlag ſie erſchlagen.
Nun gebt Acht, wenn's euch gelinget;
Denn wo nicht — der Prieſter ſinget.
voͤcero
eines jungen Mädchens auf den Tod ihrer Geſpielin, welche im Alter
von vierzehn Jahren ſtarb.
(Dialekt von Vico.)
(Das Maͤdchen fingt:)
Heute früh ift meine Gefpielin
Mit vem ſchönſten Staate gegieret,
Denn vielleidht wird fie verlobet,
Vater und Mutter fie verlieret.
Sit fie {don bereit und fertig,
Dap man fie zum Brdutigam fibret ?
74
Allbeifammen ijt die Pieve,
Und man bharet nidt3 als Magen;
Traurig lauten alle Gloden,
Kreuz und Fahne wird getragen.
Und wie ift vod deine Feier
So in Trauer umgefdlagen!
Heut' verveifet meine Gefpiclin,
Reifet nad entfernten Landen,
Meinen Vater will fie befuden,
Wo ſich unfre Vorfahren fanden,
Bo ein Feder muh verweilen,
Wo man gehet Hand in Handen.
Beil du Land und Luft willjt ander,
Deiner Heimat vid entſchlagen,
Iſt es gleich nod) viel gu friihe,”
Sid fo jung hinaus yu wagen —
Gar’ ein bischen deine Gefpielin,
Dir fo lieb in fritheren Tagen.
Gin Hein Briefden will id) ſchreiben,
Alſogleich und will e3 dir geben,
Gar nidt will id es verfiegeln,
Beil ih tann der Hoffnung leben,
Daf du gleid) nach deiner Ankunft
Meinem Vater es wirft geben.
Und dann fage ihm aud miindlid
RNeuigteiten von den Seinen,
Daf die Kleine, die am Herde
Ge verlaffen in bitterm Weinen,
Wol gedeiht und grof ijt worden
Und ſich aufnimmt, wie fie meinen,
75
Und daß ſeine älteſte Tochter
Einem Manne wurde zu eigen,
Daß ein Söhnchen fie geboren,
Einen Aſt voll Blumenzweigen,
Daß er ſchon den Babu kennet,
Mit dem Finger ihn kann zeigen.
Daf er ſeinen Namen führet,
Den id hod in Ehren halte,
Und er bat fo ſchöne Glieder
Zierliche und wolgeftalte,
Alle die das Rindlein ſehen,
Sagen gleih: gang wie der Alte.
Sage aud dem lieben Ontel,
Daf fein Dorf iſt wol geborgen,
Seit er mit fo vielen Roften
Jenen Brunnen ließ beforgen.
Und daf alle an ibn denken,
Die den Abend fo den Morgen.
Benn wir in die Kirche tommen,
Penden wir und gu der Stelle,
Wo wir ign beftattet haben,
Dort an jener Ultarfdwelle;
Dann thut gleich das Herz und webe,
Und die Trinen fließen belle. .
Seht! nun tommt ver Herr Curate,
Did mit Waffer einguweihen ;
Alle ftehn mit bloßem Haupte —
Um den Sarg fid andre reihen —
Geb’ nun ein gum Himmel, Liebjte,
Mit dem Herren did) gu freuen,
76 .
Vocero
auf den Tod des Giovanni von BVescovato.
(Cine Frau fingt:)
Bin ein Vogel aus vem Buſch,
Schlimme Mähre fomm’ id fagen;
Steiget fdnell herab zur Kammer,
Müſſet ſchnell ven Tiſch auffdlagen.
(Santia des Verſtorbenen Weib ſingt:)
Aufgeſchlagen iſt die Tola
Für fünfhundert Speiſegäſte;
Herr Juvanni läßt euch bitten,
8 Daß ihr alle kommt zum Feſte.
Eine Tafel alſo koſtbar,
Froh die Gäſte und unverdroſſen — |
O Yuva, Juvad, was haſt ou |
Mir ein folches Leid beſchloſſen,
Ginen Pfeil mir in die Seele
Mitten durch dad Herz gefdofjer!
Nein! nad oben laßt un geben,
Dies ift ja bas Frembengimmer,
Und du weißt e3 wol, Juvanni,
* Hier verweilet find wir nimmer.
Wie ift vod) dein Haus gefallen,
Hingejunten fo in Trimmer!
Ah! daß ou fein Wort follft ſagen,
Wer Yuva hat’s did gebeipen?
Aus dem Leibe will mein Herz id
Mir mit allen Wurzeln reifen,
77
Beil vu folhe Yammertage
Hinguleben mid gebeifen.
Rimm den Ring zurück von Demant,
Den du mir gum Pfand gegeben.
Weißt du nidt, dab id dein Weib bin,
Du mit mir al3 Mann follft leben?
Ud! du warft wie Nebelwolten,
Die in blauer Luft verſchweben.
Dillft im Dorf du nicht mehr wohnen,
Sannft du nad) Baftia geben,
Und dort wird an deiner Seite
Deine Annungiata ftehen.
Denn vielleidt bift vu mir bafe,
Willſt vein Weib nicht gerne feben.
Wo find Felir und Lilina,
Unſre Kinder hingetragen?
Will das Herz in meinem Leibe
Mit ver eignen Hand zerſchlagen,
Wenn es wabr ift, was die Leute
Qn dem Dorje von dir fagen.
(Gine Frau von Bengotasea fUllt ein:)
Gebt zufrieden euch, Gignora,
Herrn Juvd Ade gu fagen,
Und das Bolt von BVescovato
Bird ihn ewiglich betlagen.
Wollen ihn nad Venzolasca
Heute frih hindbertragen.
(Gantia nimmt den Geſang auf:)
Dod id) glaube Vescovato
Laßt ihn nidt von dannen tragen.
78
AG! drei Dörfer find gefommen,
Daf fie did) gur Gruft geleiten;
Ad! Juvd, willft du nicht feben,
Bie fie Stride um did breiten?
© ihr Gerren von Venzolasca,
© ihr Gieger nun, ihr grofen,
Habt genommen mic Juvanni,
Mid in Cinfamteit geftofen.
Abthun will id meinen Sdleier,
Will in der Falvetta wandern,
Und fo will id weiter geben,
Die die Armen gehn, die andern.
Vocero
auf den od de Matteo.
(Die Sawefter fingt:)
Fluch tomm’ über feinen Stamm,
Ueber alle, die dran bangen;
Meinen Bruder fcluget ihr todt,
Der dem Frieden ift nadgegangen.
Do ihr ihn gur Stelle lodtet,
Habt im Neg ihr ihn gefangen.
Uber alles was gefat ift,
Fruh oder ſpat iſt's aufgegangen.
Was er war will ich nicht ſagen,
Noch wie jetzo ich ihn fand;
—
79
eden laß id) in feinem Haufe,
Yeden lap id in fetnem Stand. *
Du allerhidfter Jeſu, 4
Alles geb’ id in deine Hand. ad
Zum Flußrand will id mid wenden,
Dort wo im blutigen Staube
Ihre Fehern und Fliigel lief
Meine lieblide Taube.
Auf der Strape ift fie gewandelt,
Sorglos fiel fie Falten zum Raube.
Gemein ijt ber Tod, es ift wabr,
Dod diefer ift einzig, wie id glaube.
|
Weiter fann id) nichts mehr fagen,
Mid thut Schmerz zu febr verwunden,
Weil dod) meine fünf Gebritder
We bid auf zwei geſchwunden.
Das Blut vom Petracdhiolo
Wie habt ihr's vod) fo. ſüß erfunden.
Wir find umrungen von Gendarmen,
Von Sergeanten, die ftehn auf der Hut;
Ihre Babne fie uns weifen,
Meine Britder triefen von Blut.
Wenn Gelegenheit ift kommen,
Wird ſich zeigen, wie und zu Deut.
Wer dod) war's, der vid, o Jammer,
Ausgeblafen, o meine Kerze?
Dap id an ibn fommen finnte,
Ihm zerdoldhen dock fein Herze!
80
O Matteju, wirft meinem Hergen
Blutegel fein nun immerdar.
Die fo oft fagt’ id's, o Bruder,
Mehr als zwanzig Male farwabr,
Daf im Hergen diefer Grimmen
Nichts als Gift von Sadlangen war.
D du gottverfludte Neidſchaft,
Möchteſt du durch Pelt bod enden,
Immer ftehn fie auf ver Wade,
Laſſen uns nidt aus den Banden.
Uber Beit ift's ſich gu rachen,
Und gur Halle fie gu fenden.
O Matte wie grimme Stide
Qn der Nacht mein Herz ourddringen!
Neunmal haben fie geſchoſſen,
Gh’ die Mordthat wollt’ gelingen,
Gelfet mir, o meine Schweſtern,
Beil die Adern mir gerfpringen.
vocero
auf den Tod des Matteo eines Arztes.
Dieſes alte Lament aus dem Jahre 1745 wurde gejungen von einet Blutuvn ·
wandten des Todten. Als Chorführerin an der Spitze der Scirtata jut au⸗
achend, kommt fie an eine Bride und begegnet Hier denen, welqhe den Lodi
nad feinem heimiſchen Dorfe tragen, worauf fie bas Sament beginnt)
Die ih an die Bride fommen,
War es wie Wolken, die dort ftunden;
Dod) nicht Priefter mit ver Stola,
Nod) das Kreuz hab’ id) gefunden.
Das Mandile nur alleine
Um den Hals ihm war gebunden.
ie el
81
(Indem fie den Leidnam gu grüßen ſich weigert, noch irgend einem ein
Zeichen der Freundſchaft geben will, fährt fie fort:)
Sepet nieder hier Matteju,
Dap ic) ibm die Hand mag reiden,
Andern will id fie nidt geben,
Denn fie find nicht Seinesgleichen.
O Matteju, meine Taube,
Du biſt' todt von ihren Streiden.
Wh! erhebe did) dod), Matteju,
Deine Krankheit wolle uns flagen.
Sieber ift e3 nicht gewefen,
Nod hat Sdlagflup dich erjdlagen.
Deine Krantheit heipt Negretti
Und Natale mup man fagen.
Wenn vie Not e3 hatte geboten,
Aint’ und Feder zu beeilen,
Wenn nidt italienifd genitgte,
Schrieb lateiniſch er die Zeilen.
Wh! du fonnteft gehn nad Sorru,
Einen Rain felbft zu beilen.
(Cine andere Blutsverwandte des Todten tommt herbei und fallt ein:)
Wenn id) denfe an meinen Vetter,
Fühl' id die Erde zerfpringen;
Wenn ich denke dap er geftorben,
Will mid) Schauder all durchdringen.
Gehn wir weiter, liebe Nadbarn,
a Dab wir heim die Leice bringen.
Diejer war die Turteltaube,
Ginem Bruder gleid) geadtet,
Gregorovius, Corsica, Il. 6
82
Bar ein Shag begehrt von Fremben,
Labfal dem der arm verſchmachtet.
Wo et ging von den Balconen
Hat im Dorf man ibn betradtet.
Wiltender bift du gewefen,
Denn ein Gund, o Hund Natale;
Weil ex feinen Arzt verraten,
Wie ver Judas nad dem Male.
Weil ex wabnte, daß aus dem Blute
Man ven Beuteteil ihm gable.
Dod) das Blut von dem Matteju
Ungeroden darf e8 nidt fließen.
Schuldlos habt ibe ibn erfdblagen,
Und fein Blut follt ihr nun büßen.
Che will id gue Mobrin werden,
Als es ungeroden wiſſen.
(Die Chorfuhrerin nimmt den Gefang auf:) +
Ja! das Blut von dem Matteju
Dird in Balve ſchon geroden;
. Denn eB find ſchon feine Britder
Und die Vettern aufgebroden.
Und wenn diefe nidt geniigen,
Hat's der ganze Stamm verfproden.
Wahrend der Leichenzug durch ein Dorf von Goro gieht, kommt ein ier
Diefes Dorfed und bietet allen eine tleine Erfriſcung ader die
° fingt:)
Mein, von euch in Sorru droben
Sei und Labe nidt geboten,
Dir erwiefen euch nur Gutthat,
Uebles habt ihr uns entboten.
‘83
Den wir lebend euch gegeben,
Gebt guriid ihr un3 als Todten.
Eſſet nur von eurem Brode,
Trinket nur von eurem Weine.
Denn wir wollen das nidt haben,
Wollen euer Blut alleine.
Ginen fdidten wir gum Bufdwald,
Daf der Rader und erſcheine.
Iſt dad nicht das Dorf da droben,
Bo mein Vetter mufte erblafjen?
Mage Feuer eB verfdlingen,
Lieg’ eB verddet und verlaffen!
(Gine ite Fat ein)
Gtille, ſtille, o iht Schweſtern,
Hoͤrt nun auf mit dieſem Toben.
Denn Matteju will nicht Rache,
Er iſt nun im Himmel droben.
Schweſtern ſeht auf dieſe Bahre,
Seht das Kreuz daruber ſchweben.
Jeſus Chriſtus will uns lehren,
Unſern Feinden zu vergeben.
Stachelt nicht die Männer weiter,
Sturm genug hat ja das Leben.
Heute ſtehn wir noch in Gnaden,
Morgen ach! ſchon fluchbeladen.
84
Vécero
auf den Tob der Ghilina von Carcheto d’Dreyic.
(Die Mutter fingt:)
‘Ad! fie jagten ſchon das Ave,
Und id lag bier an der Babre;
Son getommen find die Frauen,
Did gu fen den Krang im Haare —
O Ghilina, Mutterwonne,
Meine ſchöne, demantflare.
Weißer warft du denn der Bergfdnee,
Mehr denn Reis warſt ou erlefen;
Ud! dein Leib iſt auf der Tola,
Dod dein Geiſt im Herrn genefen.
O Ghilina, Mutterwonne,
Biſt fo eilig mix gewefen,
O mein Hahn du in den Nächten,
Meine Taube du am Morgen,
Rimmer wirſt du heut’ erwachen,
Meine Luft du und mein Sorgen.
Ud! Chilina, deine Augen
Haben all’ ihr Licht verborgen.
Niemals ſchickt' fie mid) gum Brunnett,
Niemals lies fie Holy mid fpalten,
Denn eB hat mid meine Todter
Giner Herrin gleid gebalten,
Ad! ver Tod hat ihr die Flügel
Nun mit einem Mal entfalten.
85
Wo ift blieben meine Schönhand,
Die Scmalfingerlein. die rafden,
Wenn bie Faden fie getniipft hat ;
Und die Knoten und die Mafden.
Ach! der Dieb der Fußzehſchleicher *
Mußte ſie ſo plötzlich haſchen. a
Ah! was willft du dod Chilina J
In ſo böſem Ort verſchwinden! —
Nimmer geht dort auf die Sonne, ms
Feuer kann man da nidt gitnden. et
© Chilina, Mutterwonne,
Nirgend mehr werd’ id) did) finden.
Du wirft nidt mehr in die Meffe,” | of
Bu bem Ave nidt mehr gehen, , Ais
© GChilina, Mutterwonne, ‘a
Nimmermehr werd’ id) did) feben. Eat
Ach! dads will mir nicht gefallen, 48
Dap ic foll verlaffen fteben. *
Ein Madden tritt in die Todtenkammer und fingt:) oa
Nun fteh auf, fteh auf, Cbhilina,
Weil dein Pferdden ift bereitet,
Und wir wollen nad Carcheto,
Wo die Hochzeitsglode läutet;
Denn du biſt ſchon aufgeboten,
Und der Brautzug dich geleitet.
Du bewegſt did) nidt, du fagft nidts,
© Chili willft feinen fehen —
Deine Handden find gebunden,
Deine Füßchen find gebunden —
86
Schweſtern, löſen wir die Binden,
Beil fie gern will mit und geben.
(Gine Frau fatlt ein:)
Stille, ftill o Madalena,
Denn id will fie etwas fragen:
Gh’ vielleicht als ihrer Mutter
Dird fie mir die Antwort fagen,
Beil gu Haupt ihr dod die Mutter
Ufo weint und ſchluchzt in Ragen...
Text des zweiten Vocero in diefer Keihe.
Eo partu dalle Calanche
Cirea quattr’ ore di notte:
Mi ne falgu cu la teda
A cirea per tutte lorte,
Per truvallu lu mio vabu:
Ma li avianu datu morte.
Cullatevene pid in su,
Chi truvarete a Matteju;
Perché questu é Iu mio vabu.
E laghiu da pienghie eju.
Via, pigliatemi u scuzzale
La cazzola e lu martellu.
Nun ci vulete anda, vabu,
A travaglid a San Marcellu?
Tombu m*hann lu mio vabu,
E feritu u mio fratellu.
87
Or circatemi e trisore,
E qui prestu ne venite:
Vogliu tondemi i capelli
Per tuppalli le ferite;
Chi di lu sangue di vabu
N’achiu careu le mio dite.
Di lu vostru sangue, o vabu,
Bogliu tinghiemi un mandile;
Lu mi vogliu mette a collu
Quandu avrachiu oziu di ride.
Eo collu per le Calanche
Falgu per la Santa Croce,
Sempre chiamanduvi, vabu:
Rispunditemi una voce.
Mi Vhann crucifissatu
Cume Ghesù Cristu in croce.
Sh habe den Tert dieſes Vöcero mitgeteilt, damit fid
aus einem Gangen ein Urteil ber den cordsifden Dialekt
bilben laſſe und der Rundige im Stande fei, ibn mit dem
Italieniſchen zu vergleichen. Bch finde eine nidt geringe Aehn⸗
lichkeit zwiſchen dem Dialefte Corsica's und dem römiſchen,
wie er in Zraftevere gefproden wird. Wher itberhaupt ift den
italienifden Volksmundarten die Cigenfdaft gemein, bie Verbal:
enbungen are und ire abjufdleifen oder abguplatten, ferner
oft das l in r 3u verwandeln. Der Corse fagt aud soretra
ftatt sorella. Durdgebend ijt die Neigung der corsiſchen Mund⸗
art, den Bocal o in das u abzudämpfen. Spradfenner haben
e3 ausgefproden, bab der corsifde Dialekt einer der reinften
unter denen Stalien3 fei, und befonders rithmt ibn Tommajeo
in feiner Sammlung toscanifder, corsifder und griedifder
88
Vollslieder, in welder er aud) die Vöoceri, aber giemlid ver:
jtiimmelt, aufgenommen und erlautert bat. Gr nennt in
dicfem Bud) das Corsiſche eine machtige Sprade und einen
der am meiften italienifden Dialette Italiens. Mich dint
fie achtes Gold gegen das Patois der Piemontefen und Lom:
barden und die Mundarten von Parma und Bologna, Schon
aus dem mitgeteilten Rlageliede toird man ertannt haben, daß
die corsifde Sprade, wiewol eine platte Mundart, bod weich
und gragids ift,
Bweites Bud.
. Erſtes Kapitel.
Durch die Balagna nach Torte.
Ich verzichtete auf eine Wanderung lings ber Küſte Calvi’s,
wo die Golfe von Galeria und Girolata und die größeren
pon Porto und Gagone in das Land einfdneiden. Diefe
Gegenden find größtenteils unbebaut, die Wege abfdredend.
Mit der Poft, welche von Calvi nad Corte geht, madte
id mic) auf, durd dad berrlide Tal der Balagna zu fabren.
Wie id ſchon erwähnt habe nennt man diefes Land den Garten
Corsica’s. Himmelhohe Verge umſchließen daffelbe, Schnee⸗
häupter wie ber Tolo und ber getwaltige Groffo, Höhen von
den pradtigften Formen, die den Lanbdfdaftsmaler entgiiden
würden. An den Abhängen ftehen Ortſchaften in groper Zabl,
welche der Blid überlaufen fann, Ganta Reparata, Muro,
Belgodere, Cofta, Speloncato, Feliceto, Meffa, Occhiatana,
alle ehedem Sige des Adels und der Caporali und voll von
Grinnerungen alter Zeiten. Ginft berrfdten hier die Mart:
grafen Malaspina, welche aus Maſſa und der [unigianifden
Mark zu Haufe waren, cin madtiges Herrengefdledt, dads
aud) Dante rühmt. Ym Fegefeuer findet er Currado Malas⸗
pina und fagt zu ibm:,
90
Ich bin in ewer Land nod nie gefommen,
Dod wo man in Curopa mag verfebren,
Wo hatte feinen Ruf man nicht vernommen.
Man hirt den Ruhm von eure Haujes Chren
Von Herr’n und Land aus jedem Munde fommen.
Fünf Grafen ihres Haufe Guglielmo, Ugo, Rinaldo,
Isuardo und Wlberto Rufo waren feit dem Sabre 1019 nad
Corsica gefommen. Ihr zahlreiches Geſchlecht ift in vielen
Zweigen itber die italienijden Lande verbreitet. Sie bauten
in der Balagna Speloncato. |
Spater verloren die Barone ihre Macht durch die Ber:
fafjung der Terra del Commune. Man hielt hier häufig Volls⸗
verfammlungen, wie auf dem Feld von Campiolo. Der corsiſche
Geſchichtſchreiber erzAhlt einen Bug von Heroismus, welchen
Renuccio della Rocca dort gu erfennen gab. Gr ftand gerade
vor bem Volk, als fein vierzehnjähriger Sohn über dad Feld
titt, und von dem wild gewordenen Roß in die Lanje ge
ſchleudert wurde, die fein binter ihm reitender Schildknappe
hielt. Man bradte den fterbenden Yingling zum Vater. Aber
Renuccio, ohne die Mtiene yu ändern, fubr in feiner Rede
fort, das Volk gum Aufftand gegen Genua zu entflammen.
Diefer fpartanifdhe Bug, der Heroismus Gaffori’s, jener Helden:
finn Leoni's vor dem Turm Nonza, erinnert an die Dtannlid:
keit Xenophons. Als dieſer einſt beim Opfern war, braddte
man ibm die Nachricht, dab fein Sohn Gryllus gefallen fei
Der Vater nahm beſtürzt pen Opfertrang vom Haupt, aber
als man ibm fagte, dab fein Sohn tapfer gefampft babe,
fegte er den Kranz wieder auf und opferte rubiq den Géttern.
Ich fand in der Balagna viele fdon .gefidelte Getreide:
felber, ein tröſtlicher Wnblig in corsifden Landen. Ueberall,
gumal in der Mahe von Ortfdhaften, gibt e3 herrliche Haine
yon Gaftanien, Wallnußbäumen und Mandeln, Garten voll
91 ’
i]
von Orangen und Citronen, und Oelwälder. Die gute Straße
führt am Fub de Bergcirfels hin, und von allen Puntten
genießt man der ſchönſten Fernfidten in die Berge oder auf
das Meer. Die gropten Orte der Balagna find Muro und
Belgodere, namentlid das legtere, weldes feinen Namen der
ſchönen Lage verdankt. Um Belgodere her ift dad- redte
palladifde Land der Olivenbaine.
Man behauptet, dab e3 in gang Stalien feinen Ort gebe,
wo der Delbaum gu folder Größe erwadfe, wie in der Balagna.
Sein Wuchs, feine Fille von Gegweig und fein Frudtfegen
find erftaunlid. Gr ift ſtark wie die Buche, und im heißen
Mittag ruht man beſchirmt unter feinem Frieden. Wie muh
man den Oelbaum lieb gewinnen! Gr ift nit pradtig anzu—
fdauen wie die Blatane oder die Gide; fein Stamm, feine
graulid gritnen, angen, fdmalen Blatter erinnern an die
heimiſche Weide, aber außer bem Reichtum, den er trigt, haftet
an ihm die Poefie der menfdliden Cultur. Wenn man unter
einem grauen DOelbaum am Meeresftrand -figt, wird man in
baz fromme, fonnige Dtorgenland entritdt, wo unfre Phan:
tafie zu Hauſe ijt, feitbem uns die Mutter die Bilberbibel
auffdlug und vom Oelberg in Yerufalem ergablte. Wie oft
haben wir und nidt jene Olivenbaine gebadt! Und wieder
rauſcht aus diefem Baum die Poefie ver Hellenen und die
Weisheit ber Minerva; er verfept un3 in das Land des Homer,
nes Pindar und Aeſchylus und unter die Muſen und Götter
des Olymp. Cin driftlid helleniſcher Baum ift der Oelbaum,
ein boppelheimifder; fein Sweig köſtlicher als der des Lorbeers,
pad fdinfte Sinnbild de3 Glids und des Friedens, und der
Menſch follte vie ewigen Götter gu allererft bitten: ſchenkt
mir ins Leben einen grünen Oelzweig. Sie fdenten allerlei
ind Menſchenleben, ven Lorbeersweig, die Mirte, den Dorn:
und ben Cypreffengweig. Mit Demut ſoll's der Menſch bin:
nehmen. —
\
92
G8 gibt in der Balagna mehrere Gattungen von Oelbaumen,
bie fabinifden sabinacci, bie saraceni, die genovesi, fo
nennt man fie nad ihrer Abkunft gleich edlen Signorenfamilien.
Die dritte ift die haufigfte. Man fdreibt fie Waoftino Doria
su, welcher bie Corsen zwang, die Olive reichlich yu pflanjen.
Das ift denn ein friedlides Denkmal der Genueſenherrſchaft in
Corsica. Wann dort die Olive überhaupt heimijd geworden
ift, weiß id) nicht gu fagen. Dm Gpigramm Geneca’s mird
nod gellagt, bab der Pallas Geſchenk auf der Inſel nidt gu
finden fei. Doc ſcheint e3 mir faum glaublid, dap man nidt
ſchon vor Seneca den Oelbaum auf Corsica follte gepflanzt
haben. Heute gilt von den corsifden Oelbaumen der Rubm,
dap fie unter allen andern der Welt den Witterungsverande:
rungen am fraftigften trogen, und dieſes Lob hat ibnen Hum⸗
boldt gefpendet. Sie bebiirfen weniger Pflege. Man fdneivet
ihre dlteften Wefte ab, umgrabt den Baum, oder tragt etwas
Diinger um den Stamm auf. Wenn die Oliven abfallen,
fammelt than fie. Zwanzig Pfund geben fünf Pfund Hares Del.
Das thut man in Steinfriige, worin es bis zum Monat Mai
fteben bleibt. Der Oelbaum tragt alle drei Jahre febr reidlid.
G3 fommen die Vögel und tragen die Olivenferne nad
allen vier Winden und ftreuen fie aus. Da bededt ſich dte
Inſel mit wilden Oelgebüſchen, weldhe in Berg und Tal griinen
und det BVeredelung warten. Ym Jahr 1820 hat man fie,
id weiß nicht auf welde Weife, gu zählen unternommen und
man will ibrer zwölf Dtillionen rednen. Heute find die reid:
ften Oellinder Corsica’s die Balagna, das Nebbio und die
Gegend von Vonifagzio.
Ich verlieB die Balagna bei dem Ort Novella. Bon Hier
geht es in dad bergige Innere hinein, und ftundentweit rollt
das Fuhrwerk durch enge Taler und zwiſchen unfrudtbaren
Felſenhügeln hin, ohne daß ſich eine Ortſchaft zeigt, bids man
nad Ponte alla Leccia im Golotal gelangt, wo die Haupt:
93
ftrafen von Calvi, Ajaccio und Baftia ſich treffen. Man fabrt
nun Langs des Golo fort in einem anmutigen Tale. Bur
Redten hat man das Hirtenland Niolo, den heutigen Canton
Galacuccia; es ijt mufdelfirmig von den höchſten Bergen um:
geben, in denen die Seen Meno und Greno fliegen. Dies
merkwürdige Gebtet ijt eine natiirlidhe Feftung, denn nur an
wier Stellen öffnet es fid), nad Bico, Venaco, Calvi und
nad) Corte, Gin fteiler Weg, die scala di Santa Regina,
führt nad Corte. Bn jenem Landden wobhnen die ftarkiten
Manner Corsica’s, patriarchaliſche Hirten, welde die Citten
per Wltvordern treu bewabhrt haben.
Mander merfwiirdige Ort liegt auf der Straße nad Corte,
wie zuerſt Soveria, die Heimat der Cervoni. Thoma3 Cervoni
war es, welder Paoli aus dem Kloſter Wlando befreite, al3
Matra ibn dort belagerte. Man wird fic) erinnern, dab er
Pasquale’s Feind war, dab aber feine Mutter ihm felbft die
Waffen in die Hand gab und unter der Drohung, ihn ju
verfluden, thn forttrieb, jenen zu retten.
Gervoni’3 Gobn war der tapfere General, welder als Offi-
cier bei Toulon neben Napoleon die erften Waffenebren davon:
trug. Gr glangte bet Lodi; im Jahr 1799 war er Befebls-
haber in Rom. Gr findigte vem Papft Pius VI. an, dah
feine Herrſchaft zu Cnde fei und dab er den Vatican verlaffen
mifje. Gr war bas Schrecken Rom's. Valery erzaͤhlt, dab
verfelbe Gervoni in den Tuilerien an der Spige der Generale
por Pius VII. trat und ibn begrüßte. Sein ſchönes Organ
und feine reine italieniſche Sprache fepten den Papft in Er⸗
ftaunen, fo dab er ihm Gdymeideleien fagte. Santo Padre,
fagte bierauf Cervoni, sono quasi ‘italiano — Ob! —
Sono Corso — oh! oh! — „Sono Cervoni!* — ob! ob!
oh! und bei diefer Grinnerung wid) der Papſt bis an dad
Kamin zurück. Ym Jahr 1809 rip dem Marjdall Cervoni
eine Kanonentugel bei Regensburg den Kopf hinweg.
94
Nahe bet Soveria fteht Wlando, berühmt durd Sambu⸗
cuccio, jenen Lykurg der Corsen, welder die demokratiſche
Verfaffung dieſes Volfes gritndete. Man zeigt kaum fennt-
lide Trimmer: feines Schloſſes. Einer feiner Nachkommen
war vierhundert Sabre fpdter, im Jahr 1466, Bicar der
corsifden Nation; Caporali wobhnten hier, namentlid im naben
Omeffa, Crit Tribune des Volk3 und burd) bie Demofratie
Gambucuccio’s berufen, die Redte der Gemeinden zu vertreten,
etlagen fie bem allgemeinen Uebel, welded die beften Ber-
faffungen untergrabt, bem Chrgeig und ber Herrjdfudt, und
fie madhten fic) ebenfo wie die Cignoren zu Despoten. Tod
zu feiner Beit klagt Filippini, bab die Caporali die ſchred⸗
lichſte Geißel Corsica's feien.
Rings um Alando gedeihen Caſtanien, aber das Land iſt
arm. Auf den Berghaiden haben ſchwarze Schafe und Ziegen
ihre Nahrung. Ihre Wolle wird zum pelone verwirkt.
Sobald man über das Gebirg Alluraja gekommen iſt,
welded ſich hoch zwiſchen dem Golo und dem Tavignanofluß
erhebt, ſteigt man auf der vortrefflichen Straße nach Corte
nieder.
Zweites Kapitel.
Die Stadt Corte.
Der Bezirk Corte, die Mitte der Inſel, umfaßt in 15
Cantons und 113 Communen eine Zahl von 55000 Menſchen.
Die Hauptſtadt ſelber zabhlt etwa 5000 Seelen.
Sie iſt eine Binnenſtadt von herrlicher Lage. Der Halb⸗
kreis der Berge, in deren Mitte ſie liegt, und die Citadelle
auf einem unerſteiglich ſchroffen Felſenriff, geben ihr ein ſehr
ernſtes Anſehen. Von allen Seiten erheben ſich Berge und
a ie
e
95
in ben mannigfaditen Formen. Nach) Morden find fie nied-
tiger und meift fuppelfirmige Höhen, welde bebufdt oder mit
Getreidefelbern bededt find. Der Gommer hat fie in tiefes
Braun gefleidet. C3 find dies die letzten Abſenkungen der
Bergreiben, welde bie Waſſerſcheide zwiſchen dem Golo und
bem Tavignano bilben und zwei Taler trennen, Niolo und
Tavignano. Wn der Oeffnung des legteren, two der Tavignano
mit ber ReStonica zuſammenſtrömt, liegt Corte. Drei gan;
mit Felfen gepangerte Höhen beherrſchen den Cingang in diefed
Gebirg3tal, waͤhrend beide Fliffe durch tiefe Schluchten ihre
Wege babnend über Tritmmergeftein in einander raufden.
Bwei fteinerne Britden führen aber fie hinweg.
Die untere Stadt hat nur eine Hauptftrape, welde neu
ift, den fogenannten Corso. Aud hier überraſchte mid die
idylliſche Stimmung, twelthe den corsifden Orten ein fo eigen:
tiimliche3 Geprage verleibt. Dtan glaubt fid) in bem fernften
Teil der Welt und von allem BWerkehr abgeſchieden.
Ehrwürdig ift die Stadt durd Crinnerungen der Gefcicdte.
In Alteften Zeiten war fie Sig maurifder Könige, in allen
Jahrhunderten als Mittelpunkt der Ynfel widtiqg und durd
ibre Feftung oftmals entfdeidend fir den Gang der Kriegs⸗
ereigniffe.
Diefe Afropolis Corsica’s fteht auf einem ſchroffen, zadigen
Felſen, welder itber dem Tavignano auffteigt. Mauern,
Tirme, die alte Stadt, weldbe fie umſchließt, Alles fieht
ſchwarz aus, verivittert, und von unablaffigem Kampf jer:
hauen. Defter als Belgrad ift diefes Schloß beftirmt und
verteibigt worden. Den Grund. yu feiner jepigen Gejtalt
legte Vincentello o'Sftria im Anfang des fünfzehnten Jahr⸗
hunderts.
Man zeigt hier noch die Schießſcharte, aus welcher die
Genueſen den jungen Sohn Gaffori's heraushingen, um den
Vater vom Sturm abzuhalten.
~
96
Gaffori’s Name ift die ſchönſte Bierde der Stadt Corte,
und fein Eleines Haus ibr glänzendſtes Denkmal. Die Genuefen
verſuchten einjt wabrend der Abweſenheit des Helden fidh feines
Weibes gu bemächtigen, wie es ihr Kunſtgriff war, die Fa-
milien gefitrdteter Corsen als Geifeln zu gebrauden und bie
Baterlandsliebe durch die Natur yu bejtreiten. Wher Gaffori's
Weib verſchanzte fic) in ihrem Haufe, und verteidigte fid
barin mit ben wenigen Freunden, die ihr zugeſprungen waren,
bie Flinte in der Hand, Tage lang. Als die Mot immer
höher jtieg, rieten ibr ihre Freunde zur Ergebung. Sie aber
bradte ein Pulverfaß in ein unteres Zimmer, ergriff eine
Lunte und ſchwor bas Haus in die Luft gu fprengen, wenn
man aufbire auf die Stiirmenden gu feuern. Die Freunde
bielten Stand, bid Gaffori felbjt mit einer Corsenfdar ber:
beifam und feine Gattin befreite. Als er ermordet war, nabm
vaffelbe Weib feinen jungen Sohn, ben man einft an jene
Mauer des Caſtells gebunden hatte, und ließ ihn ſchwören,
vie Genuefen gu haſſen und feinen Vater zu rächen. So that
aud) Hasdrubal mit Hannibal in alten Beiten.
In demjelben Haufe wobnte im Jahr 1768 Carlo Bona:
parte mit Vatitia; e3 war wilrdig einem Napoleon die Gut:
ftehung 3u geben. .
Viele Erinnerungen an Paoli haften an einem andern Ge:
baͤude, welches Palazzo dt Corte heift, und Sig der Regierung
Paoli's wie feine Wohnung war. Da ift fein Zimmer, in
weldem er arbeitete, aͤrmlich und fdledt, wie e3 dem Gefeg:
geber der Corsen geziemte. Man weiß gu ergiblen, daß der
große Mann, nicht fider vor den Mörderkugeln, dad Fenfter
dieſes Zimmers ſtets verrammelt hielt; und in der That fiebt
man nod die Fenfterladen mit Kork ausgefitttert. Die National:
verfammlung batte ibm eine Garbe von 24 Mann bewilligt,
wie ebedem Demotratien Griedenlands ibren Volksmännern
foldhe Garden gaben. Stets hatte er Hunde als Wade bei
97
fid. Ich muß bier an ſeinen Zeitgenoſſen Friedrich den
Großen denken, wie auch diefet fid) gern mit Gunden umgab;
Dod waren es Spielhunde, Alkmene, Biche und andere zier⸗
liche Windhunde.
Ein Zimmer, ehemals der Sitzungsſal des Staatsrats ber
Neun, bewabhrt eine feltjame Merkwürdigkeit. Da fieht man
_ namlid nod) bie Stangen, welde den Balbadhin über einem
~ Tron tragen follten. Paoli und ein Tron! dag ift unglaublid —
hat dieſer große Volksmann Gelitfte nad königlichen Chren
getragen? Man erziblt Folgende3. Eines Tags fah man im
Nationalpalaft einen Tron aufftellen. Er war von carmoifin-
rotem Damaft, mit goldenen Franfen verjiert und trug über
dem Wappen Corsica’s eine goldene Krone, welde fo ange:
bradt war, daß wenn Paoli auf vem Stule jaf, fie über
feinem Haupte jtand. Bu diefem Tron gehörten fleinere Seſſel
für die Neunmanner. Als nun ver Mat in dem Sal fid ver:
fammelt hatte, öffnete fid) die Thüre und Paoli trat herein,
in pridtigem Staat8gewand, bas Haupt bededt, ben Degen
an det Geite, und ſchritt auf dén Tron yu. In diefem Augen:
blid erhob fic) ein Murmeln unter den Neunmannern, und dann
folgte tiefe Stille. Paoli hat fid nie auf den Tron gefegt.
Ich finde diefe Erzählung fo oft beftdtigt, dap fie yu be-
aweifeln mir faft gewagt fdeint. Wenn fie wabr ift, ware
bas ein beflagenswerter Beweis, dab menfdlide Schwachheit
überall eindringt, dap fein Sterblider vor bem Augenblid
ſicher ift, wo ihn ‘die Eitelkeit beſchleicht.
Seine Feinde haben Paoli vorgeworfen, daß er nad) der
Königskrone ftrebte, dod) thaten fie ihm Unrecht, und jener
Rorwurf wird durch die Geſchichte Liigen geftraft. Wollte er
vielleicht durd) königliche Abzeichen feinem Staat nad aufen
ein erhöhtes Anfehn geben, da dieſer ſtets den althergebradten
Ritel de Königreichs Corsica führte? Sonſt hat er nie fürſt⸗
liden Prunk zur Schau getragen. Gr, wie alle Glieder der
Gregorvvius, Corsica. II. 7
98
Regierung, trug die Kleidung des Landes, das Tud) Corsica’s,
und er lebte nad der ſchlichteſten Landesart. Die Haupter
de3 Staats unterfdicden fis nur durch ibre Cinfidt vem
Bolt, und nur um den Frangofen aud äußerlich den Schein
einer geregelten Regierung ju geben, beftimmte Paoli far den
Staatérat eine auszeichnende Kleidung, einen griinen Rod
mit Goldftreifen, den Farben Corsica's. Gr felbft legte ibn
an und ließ dieſes Staatsgewand von den Räten tragen, als
die franzöſiſchen Officiere gum erftenmal nad Corte famen.
In wilrdiger Weife follten die Vandesregenten erfdeinen. Dies
war ein Zugeſtändniß an die franzöſiſche Ctifette, vad fdox
bedauerlich ijt, weil fid) Paoli bier nicht mehr fret vom Sdein
erbielt, und jene demokratiſche Gleichheit durch ein paar Gold
treffen aufhob. Go untergeordnet dieſe Dinge an ſich er
ſcheinen mögen, fo geben fie dod) zu denfen. Denn die Heit
macht uniwefentlide Unterſchiede am Ende zu wefentliden.
G3 liegen in ihr unjidtbare Einflüſſe des Schledten, welche
alles Reine triiben und alles Edle verunedlen. Die Menſchen⸗
welt ijt einmal fo, bap ihre erbabenften Erſcheinungen nur
da zu finden find, wo nad einem hohen Biel erſt gerungen
wird, G3 hat mid in Corsica mandmal traurig gemadt,
wenn ic) baran dachte, daß alle dieje heroiſchen Anſtrengungen
nes Vols um die Freiheit fruchtlos gewefen find, dap mum
im Lande Sampiero’3, Gaffori’3 und Paoli's die Nation der
Gitelfeit die Herrfdaft filhrt. Dod) ſchmerzlicher nod) ware
vie Erfabrung, wenn der Staat Paoli’s in ſich felber erfrantte
und bem menfdliden Cigennug erlag. Ich glaube wenigitens,
bab er diefem Schickſal nidt entgangen ware. Denn bie
wabre Freibeit lebt nur in Utopien. Die Menſchheit fdeint
ibver nur in geweihten Wugenbliden fabig yu fein.
Einmal empfing Paoli in diefem Palaft aud eine pomp
hafte Gefandtidaft. Gin tuneſiſches Schiff war an den Sifter
ber Balagna geftrandet, und Paoli hatte den ſchiffbrüchigen
‘
99
Barbaren nidt allein all! ihr Hab und Gut juriidjtellen, fon:
bern fie gaftlid verpflegen und von zwei Officieren gum Bey
pon Tunis heimwärts geleiten lajjen. Der Bey ſchickte des:
balb Gefandte, welde ihm feinen Dank und die Verfiderung
bringen follten, dab er fein und ſeines Volkes Freund bleiben
wolle, und dap in feinen Staaten feinem Corsen je ein Leid
gugefiigt werden diirfe. Der Gefandte kniete vor Paoli nieder,
und die Hand an bie Stirne führend fagte er: il bey ti
saluta e ti vuol bene. Gr bradte ibm ein koſtbar bededted3
Pferd, zwei Strauge, einen Tiger, einen mit Diamanten bes
fegten Gabel; und nachdem er einige Tage in Corte gewohnt
hatte, febrte er nad) Afrika zurück.
Yn der unmittelbaren Nabe Corte’s liegt das alte Francis:
canerflofter, eine anfebulide Ruine. Hier verfammelte fid) zu
Paoli's Zeit das corsiſche Parlament in ber Kirche, von deren
Kanzel herab jo mander Patriot feurige Reden hielt. Der
Freiheit wurde in diefer Kirche viel geopfert, und ihr Name
flang bier nicht als wefenloje Phraſe. Die ibn anviefen,
ftarben aug) dafür. Ym Jahr 1793 waren auf dem Plag
vor diefem Rlofter die Corsen zu einer Verfammlung ver⸗
einigt; die Beit war ſtürmiſch, denn der franzöſiſche Nationals
convent hatte Paoli des Hodverrats angeflagt. Da fletterte
bier Pozzo di Borgo, jener unerbittlide Feind Napoleons,
gleich) ihm ein Birger aus Wjaccio, auf einen Baum und
hielt eine begeifternde Verteidigungsrede; fiir infam wurden
bier erflart Paoli's Wnkliger, die wiitenden Clubbiften Wrena
und die Bonaparte.
Wenn man heute in dem ftillen Städtchen umberwandert,
unter deſſen fdattigen Ulmen ärmlich ausfehende Corsen ftehn,
al3 wollten fie ben Tag und bie Welt vertrdaumen, fo will’3
einem gar nidt in den Ginn, dab vor taum bunbdert Jahren
pie aufgeflartefte Staatsweisheit in foldem Erdenwinkel ihren
Sig aufgefdlagen hatte.
-~-y
100
Aud eine Univerfitat hatte Paoli in Corte gegriindet, wie
er bier aud) die erjte corsiſche Druderei und die erfte Zeitung
ind Leben rief. Won diefer hoben Schule follten fid Auf
flirung und Wiſſenſchaft als ein Lidjtftrom fiber die Berge
und in alle Taler Corgica’s verbreiten, und vor ibm follte
die mittelaltrige Barbarei verfdwinden. Viele wadere Manner
gingen aus ihr bervor, titdtige Advocaten, die auf dieſer
Ynfel meift aud die Sdriftfteller find. Wud Carlo Bona:
parte, Napoleons Vater, ftudirte bier. Die junge Anftalt
ging mit dem Berluft der Freibeit unter. Yene wiederber
suftellen, fegte Paoli auf feinem Todtenbett ein Legat aus,
und fo wurde im Jahr 1836 die Hodfdule neu erridtet.
Sie bat einen Director und fieben Profefjoren, doch erfreut
fie fic) feiner grofen Blüte. Bielleidt aud) möchte eine An:
ftalt afademifder Art den Bedürfniſſen Corsica’s weniger ent:
ſprechen, als tidtige Realfdulen.
Ich habe unter den Corsen wolgebildete Dtinner getroffen,
und aud bier in Corte madte ich die Belanntfdaft eines
Mannes, deffen Belefenheit in der romanifden Literatur mid
in Grftaunen ſetzte. Es war der Gobn eines der tapferen
Capitaine, die nad der Schlacht bei Ponte Nuovo bid zum
legten Augenblid die Waffen bielten, und den id) namentlid
genannt babe. Sein Gedächtniß ift fo grop, daß er die beften
Stellen aus Stalienern, Frangofen und Lateinern auswendig
fannte, und es ihm nidt darauf anfam, ganje Seiten aus
Taſſo oder Arioſt, lange Stellen aus Voltaire oder Macchia⸗
velli, aus Livius, Goraz, Boileau und Rouffeau herzufagen.
Mit ihm über Literatur fpredend, fragte id ibn einmal: laſen
Sie je etwas von Githe? Nein, fagte der wolbelefene Mann,
von ben Englindern fenne id nur Pope.
Meine freundliden Tifdgenoffen, unter ibnen der eingige
corsiſche Maler, den id) fennen lernte, fabrten mid zu den
Marmorbrüchen Corte’s. Der Stein ift von blaulicer Farbe
101
mit rötlichweißem Gedder und braudbar fiir Urditectur. Man
war in der Grube befdaftigt, einen Gaulenblod den Berg
hinunter yu fdaffen. Man hatte ibn auf Walken gelegt und
ſchob ibn mit der ardimedifden Schraube bis an den Rand
nes abſchüſſigen Weges, ber vom Brud an die Stelle führte,
wo die Blide behauen werden. Der madtige Stein fubr hin:
unter, wiiblte fid) durch, hüllte fid) in eine ſchwarze Staub:
wolfe, und fo hinabgleitend erflang er bell und rein wie eine
Glode. Am Fuh diefes marmorreiden Berges treibt die Res:
tonica eine Mibhle, in welder Mtarmorplatten gefdnitten
werden. Dan braudt fieben Lage, um einen Blog in 30
Platten gu zerfdneiden. Yn Corte alfo wird Seneca’s Aus⸗
fprud) tiber Corsica zu Schanden: non pretiosus lapis hic
caeditur; bier wird fein köſtlicher Stein gehauen. — Sonſt
befteht Seneca's Wort nod in Kraft: die fdftliden Steine
find hier todtes Rayital.
Drittes Kapitel.
Unter den Biegenhirten des Monte Rotondo.
— tomo un puiio de bellotas en la mano, y
mirandolas atentamente solto la voz a semejantes
ragones: Diohosa edad y siglos dichosos aquellos a
quien log antiguos pusieron nombre de dorados —
\ Cervantes, Don Quijote.
Ich hatte mir vorgenommen, den hidften Berg Corsica’s,
den Monte Rotondo zu befteigen, welder eine halbe Tagereife
fildweftlid) von Corte liegt und faft als Mittelpuntt der Inſel
betradtet werden fann. Obwol man mir die Muhe ald febr
groß fdilderte, hoffte id) bod einen laren Tag und hinreidende
Entſchaͤdigung zu finden. Wm meiften war mir daran gelegen,
102
einen Blid in dad nod gang urfpritnglide Naturleben der
Hirten gu thun.
Ich mietete einen Führer und ein Maulthier, und aud:
geritftet mit Brod und einigen Marbisflajdhen voll Wein, ritt
id) am 28. Julius in der Morgenfriihe in die Berge Hinein.
Der Weg, ein Hirtenpfad, fibrt immer durd ein und dad:
felbe Tal der wilden Restonica, von ibrer Dtindung in den
Aavignano batt an der Stadt bid hinauf yum Gipfel ded
Rotondo, fiber den ihre Quellwaffer hinabjtrdmen. Daz Bette
diefes ſchönen Bergftroms ift jene tiefe und fdauerliche Tal:
ſchlucht. Yn ber Nabe Corte’s öffnet fie fic) gu ziemlicher
Breite, und da gedeiben Caftanien: und Wallnugbaume am
Wafjer. Weiter hinauf wird fie enger, die ſchwarzen Ufer
titrmen fid) fteif gu beiden Seiten auf und tiefgriine Urwälder
von Pinien und Larden umfdatten fie.
Das Mtaulthier Eletterte ficher auf den ſchmalſten Pfaden
an Abgründen hin, und oft war der Blid in die Tiefe, durd
welde die Restonica fchaumt, furdterregend. Wie die Gonne
empor ftieg, nabm mid ein pradtiger Wald auf. Herrlich
find dieje Riefenbdume, die Pinie mit ihrem grünen breiten
Dad, ver Lardenbaum gleid) einer Ceder fnorrig, mächtig
aufgeftrebt und vieldftig. Die Stimme umbufdt der wile
Walogarten von blühenden Mirten, von hochaufgeſchoſſener
Grifa und von Buxus. CErquidend und labſam war der Duft
von all’ dem mebdicinalen Rraut, woran die Berge Corsica's
jo reid) find. |
Mein Fithrer fdritt raſch voran. Manchesmal überfiel
mich doch ein Grauen, wenn ich mich in dieſer dunkeln Felſen⸗
und Waldwildniß mit ihm allein ſah und er einen Blid nad
mir zurück warf. Gr war ein häßlicher Menfd und in femen
Augen lag nichts Gutes. Ye follte erft nadber erfabren, dab
an feiner Hand Blut flebte.
In Ddiefer romantifden Bergwildniß ftundenmeit reitend,
103
hört man nichts als das Raujden der Waljer, das Schreien
der Falfen und bisweilen den hellen Pfiff eines Hirten, der
feinen Ziegen ruft.
Die Hirten wobhnen serftreut in Hilen oder in Capannen
an den Abhängen de3 Monte Rotondo, bis yu deffen Ramm
binauf ibre Gerden flettern. Die legten Hirtengemeinden haufen
in einer Höhe von mehr als 5000 Fup über vem Meeres⸗
fpiegel. Ihre wunderliden Lagerplage haben ihre Namen.
Rad dreiftiindigem Ritt fam id) an die Rota del Dra:
gone, das Dradenrad. Bom Ufer der Schlucht an Waffer
hinreitend, ſah ich eine ſchwarze rußige Hale vor mir, tief
in den Fels gebogen, ang ungebeuren Granitbliden aufge:
wilbt. Wenige Sdritte vor ibrem Cingang tobte die Red:
tonica voriiber, swifden Getrimmer binwegrafend — ring3um
Selfen und didter Wald. Um den Cingang der Grotte waren
alg Umfriedung Steine aufgefdidtet. Gin Feuer brannte in
ver Haile, um dafjelbe fauerte die Hirtenfamilie. Cin elend
ausfebendes Weib ſaß daran und befferte an einem Rleide,
neben ibr ein fieberfranfer Rnabe in eine braune Dede von
Riegenwolle gehüllt, aus der fein bleides Gefidht und feine
fladernden Augen fragend herausfdauten.
Der Hirt war aus ber Hole getreten; er lud mid freunds
lid) ein, abjufteigen und frifche Milch und frifden Rafe ju
effen. Ich nabm das mit Dank an und befah bas Innere
biefer wunderliden Felfentlaufe. Die Grotte zog fich tief in
den Berg hinein und hatte Raum fir eine Herde von 200 |
Biegen und Sdafen, welde der Hirte jeden Abend dort hinein
treibt, fie gu melfen. Es war das fo wabrhaft die Hile des
Rolyphem, dap Homers Vefdreibung nad ibr gemadt zu fein
ſcheinen fonnte. Denn alles fand id bier wieder, felbft die
Reihen von Gefäßen voll Milch und mehr als hundert Stad
plattrunder Rafe auf frifdes Blatterwerk gelegt. Nur den
Polyphemos felber fand id) nicht, denn mein Wirt, fo rdubes
104
riſch und wild er in feinen gottigen Kleidern ausſah, war die
Gaſtlichkeit felbft.
Kommen bisweilen die Banditen vom Berg gu euch? fragte
id den Troglodyten. — Die fommen wol, fagte der Mann,
wenn fie bungrig find. Seht bier diefen Stein, auf dem id
fige — vor zwei Jahren verftedten fid) bier zwei Banditen
jager, die wollten den Serafin erlauern. Wber der fam Nachts
herbeigeidliden, und mit zwei Stiden bat er die Beiden auf
diejem Stein ftumm gemadt, bann ging er- wieder in bie
Berge. “
Der Filbrer mabhnte zum Aufbrud. Ich fagte dem Hirten
Dank fiir feine Gabe, und ritt hinweg, nidt ohne Schaudern.
Der Pfad, ber nun durd die Restonica aufs andere Ufer
fiibrte, wurde immer fteiler und befdwerlider. Endlich er:
reidhte id) nad zwei Stunden, vom Nebel durchnäßt, wabrend
eines pridtigen Gewitter3 die legte Hirtenraft auf den Unter:
bergen des Rotondo, wo ic übernachten follte. Sie heißt Co
di Mozzo.
Ich hatte von den Capannen pier oben viel gehört, und
dachte fie mir in den wilden Bergen feltfam genug, als eine
Hiitten im Pinienwalde oder auf duftigen Alpenhängen ix
fcaferlidfter Natur. Wie ic nun bei Donner und Blig und
im Gprithregen hinaufritt, fab id) nichts als wüſtes Geftein,
titaniſch jertriimmert, durdeinandergeworfene Granitflippen
auf dem Hange eines grofen grauen,. troftlos öden Felſen⸗
fegel8. Aus bem Geftein ſtieg leichter Raud empor. Dad
Grau der Regenwolfen, die matten Blige, bas Rollen des
Donners, das Raufden der Restonica und die tiefe Melans
dolie ner Berge umber ftimmte die Geele traurig.
Cinige vom Sturm zerjaufte Lardenbaume ftanden auf
dem fteilften Rand einer nadten Schlucht, durch die in Wellen:
ſtürzen von Blod zu Blod die Restonica herabſchäumte. Rings
umber nichts als ddefte Klippen und ein groper Blid in das
105
wernebelte Tal, aus bem ic heraufgefommen war. Sd fudte
mit ben Augen lange bie Capannen, auf die mein Führer
hinwies. Endlich fab ic fie im Geftein und den feltjamiten
Hirtenftaat vor mit, beftehend aus vier Wohnungen im ur-
ſprünglichſten Bauftil der Welt, ja vielleidht mit weniger Kunft
gebaut ala Zermiten oder Biber an ihre Haufer zu wenden
wijjen.
Jede diejer Hütten befteht aus vier Wanden von über
einander gelegten Steinen. Sie find etwa 3 Fuß hod. Auf
ihnen liegt ein Dadgiebel von ſchwarzberußten Baumſtämmen
und Brettern, welde mit grofen Steinen befdwert find. Cine
Oeffnung in der Vorderwand dient als Thüre. Der Rauch
ſucht durd diefe feinen Ausgang und quillt aus bem Dad)
oder aus den Wanden, wo immer er eine Mize findet. Vor
ver Hütte umſchließt eine Umfriedung von Steinen einen fleinen
Raum, in weldhem Gefäße ftehn. Bn deffen Ecke erhebt fid
ver palo, ein Pfal mit wenigen Aeften, an welchen Reffel,
Kleidungsitiide und Striemen von Biegenfleifd hangen.
Cin paar zottige Hunde fprangen mir entgegen als id) auf
die Capanne guritt, und die Hirtengemeinde, Manner und jer:
lumpte Kinder, froden aus den Hiitten heraus und betradteten
neugierig ben Fremdling. Sie faben feltjam genug aus in
biefen wüſten Steinen, den pelone, ibren jottigen braunen
Mantel wmgefdhlagen und das rote berretto auf dem Ropf,
vie Gefidter bronjen und dunfelbartig. Ich rief ibnen ju:
Freunde, gebt einem Fremben Gaftfreundfdaft, der fiber Meer
gefommen ift die Hirten von Co di Mozzo gu bejuden. —
Gie riefen freundlid: Evviva! und Benvenuto!
Tretet in bie Capanne, fagte der Cine, und trodnet eud
am Feuer; drinnen ijt e8 warm. Yd swangte mid fogleid
durch bie Thüre, neugierig, bas Ynnere zu feben. Yo fand
einen dunflen Raum von etwa 14 Fup Lange und 10 Fuh
Breit’ — da war fein Gerät, fein Stul, fein Tiſch, nidts
106
alg der nadte ſchwarze Steinboden, die nadten ſchwarzen
Steinwande und ein Raud) des Kienfeuers, welder mit uns
ertraglid fdien. An der Wand brannte auf dem Boden em
madtiger Holaftamm, ein Reffel bing darüber.
Angelo, mein Wirt, breitete die Dede, die id) mitgebradt
hatte, auf dem Boden aus und gab mir den Ghrenplag fo
nabe am Feuer als miglid. Bald tauerte darum die ganze
Familie, das Weib, drei Heine Mädchen und ein Bube, der
Hitt, id und mein Fibrer. Die Capanne war voll. Unterdeß
warf Angelo einige Striemen getrodneten Biegenfleifdes in
ben effel, und Ganta fein Weib bholte Rafe und Mild.
Das Geded war hirtenmäßig, die Tafel nämlich beftand ans
einem drei Fuß langen abgerandeten Brett, welded auf die
Erde gelegt wurde. Darauf ftellte die Hittin ein hölzernes
Gefap voll Mild, einen platten Kafe und ein Brod. Eßt,
fagte fie, und denkt, daf ihe bet armen Hirten ſeid; zu Abend
geben wir eud) Truten (Forellen), denn mein Sohn ift ge:
gangen fie gu ftyden.
Hole den Broccio, fagte der Hirt, dad ift dad Befte was
wir haben, und e8 wird eud ſchmecken. Ich war auf den
Broccio neugierig; id hatte ihn fdon in Corte als den
größten Lecerbifjen der Inſel und als die Blume der Hirten:
inbuftrie preifen biren. Santa bradte ein bedecktes runbded
Rorbgefledt, ftellte e3 vor mid hin und that e3 auseinanbder.
Da drinnen fag denn der Broccio, weif wie Schnee. G3
ijt eine Art geronnener fiper Ziegenmil}. Mit Rum und
Zucker genoffen ift’3 allerdings ein Lederbiffen. Die armen
Hirten verfaufen einen Broccio-Kuchen in der Stadt far |
ober 2 Franten.
Wir langten mit den Holldffeln wader in ben Broccio —
nur das Weib und die Kinder durften nist mit effen. So
am Feuer auf dem Boden fauernd in der engen, ganz von
Raud erfüllten Capanne, um mich her wilde und neugierige
107
Geficter, den Holjliffel in der Gand, überkam mid die
aune, und id bob an das Leben der Hirten auf den Bergen
zu preijen, welde fic) geniigen lafjen mit bem twas ihre Herden
geben, und das Elend von Mein und Dein und die goldne
Gorge des Palajts nidt fennen.
Aber ver wadere pastore fdittelte den Kopf und fagte:
vita povera, vita miserabile!
Und fo ift eB in der That. Diefe Menfden führen ein
febr elendes Leben. Vier Ptonate lang, Mai, Suni, Juli
und Auguſt haufen fie in diefen Gapannen, alles entbebrend .
was das Leben menfdlid) macht. Yn ihrer Welt gibt es
feinen anbdern Wechſel als ben der Elemente, von Sturm,
Wolfen, Regenflut, Hagel und Sonnenwärme; Whends ein
trauriges Lied, ein Lamento zur Schalmei, eine Banditens
gefdidte am Feuer, ein Jagdftid vom Muffro und vom
Huds, und hod über fid und um fid die Riefenpyramiden
des Urbergs und die geftirnte Herrlidfeit des Weters, in der —
Bruſt vielleidht, trop der vita povera, ein geniigfames, hei⸗
teres, gottergebene3 und ebrlides Menſchenherz.
Wenn der Morgen graut, erheben fich diefe armen Men:
fden von dem harten Boden, auf dem fie in ihren Kleidern
ohne Dede geſchlafen haben und jagen die Herden auf ibre
Waideplage. Dort verzehren fie iby diirftiges Mal, den Rafe
und die Mild. Die Alten, welche zu Hauſe bleiben, liegen
in der Capanne am Feuer oder bejdaftigen fic) mit der nots
dürftigſten OHausarbeit. Abends fehrt die Herde heim und
wird gemolfen, und dann bridt wieder die Nadt an, und
es tft Beit fid) niederzulegen.
Der Schnee und die Regengiiffe bes September vertreiben
vie Hirten aus ihren Bergcapannen. Dann fteigen fie mit
den Herden nad ber Küſte hinunter. Dort haben fie in der
Regel ihre wohnlideren Hitten, in denen oft aud) das Weib
mit den Kindern den Gommer über bleibt. Meine Wirtin
108
Santa war bas einjige Weib im Hirtenftaat Co di Mtoyo,
welder aus ſechs Familien befteht. Warum, fo fragte id
fie, feid ibr in diefe diiftre Capanne herauf gezogen? Seht,
fiel Angelo ein, fie ift heraufgefommen fid) zu erfrifden. Ich
batte beinabe aufgeladt, wie er died fagte, denn der Raud
in ber Hütte prepte mir Tränen aus und die Atmofphir
war infernalifdh. Ich follte alfo den elenden Steinhaufen gar
alg Gommervilla betradten, wohin eine Familie gekommen
war fid) 3u erquiden. Ya, fagte Ungelo, wie id ein bedent:
liches Geſicht madte, unten ift e3 warm und bier oben weht
ver Bergwind, und das flare Wafjer fommt bherunter, dad
ift frifd) wie Cid, Wir leben fo wie e3 uns Gott gefeguet.
— Mir aber war, wie Angelo fpradh, und id) die lachenden
braunen Rindergefidhter um mid ber fab, als ware id auf
den twunderbaren Berg der Brahmanen gefommen, und als
ware Angelo Jarchas aller Brahmanen und Bergpbhilofopben
Weifefter. Gr fprad ernft, fury, und war ſchweigſam wie
einem Pbhilofophen ziemt.
Angelo beſaß 60 Stück Ziegen und 50 Stück Schafe. Der
Ertrag der Milch iſt gleichwol nicht groß. Im Sommer reicht
er hin die Familie notdürftig zu nähren. Der Broccio und
ber Rafe wird unten verkauft, aus dem Erlös wird Brod und
das Reid beſchafft. Ym Winter gibts wenig, denn die Mild
gebt drauf die jungen Lammer und Ziegen gu fittern. Mander
Hitt hat einige hundert Stid in feiner Herde. Wenn es an
vie Teilung unter die Kinder fommt, gilt e3 das Olid der
Patriarden 3u haben und die Herde gu mehren. Die Aus
fteuer einer Qirtentodter bejteht in 12 Ziegen wenn fie arm,
wenn fie reid) ift, nad dem Vermögen.
Die Nebelwolke hatte fid) verzogen. Yd) trat heraus m
vie frifde Luft. Die Hirten ſaßen auf den Steinen umber,
aus ibren hölzernen Pfeifen raudend. Sie wablen unter fid
ben Melteften ober ben Wngefehenften yu ibrem Vorſtand und
109
——
Friedensrichter. Mich überraſchte dieſe Wahrnehmung, die ich
zufällig machte; denn ſie ließ mich in dieſer Hirtendemokratie
einen Blick gleichſam in den Urzuſtand der menſchlichen Ge⸗
meinſchaft und in die Anfänge der Staatenbildung thun. So
können denn nicht ſechs Menſchen neben einander leben ohne
daß ihre Geſellſchaft zu einer Regel wird, aus der ſich Ge-
ſetze entwickeln. Ich grüßte den Heinen ftammigen Podeſtä
voll Achtung, und indem id ihn ſchweigend betrachtete, dünkte
ex mir nod) ebrivitrdiger zu fein als Dejoces, der erfte und
weifefte aller Rinige der Mteder.
Neben den Capannen bemertte id) tleinere fiberdedte Stein:
biitten von runbder oder von langlider Form. Das waren die
Borratsfammern. Angelo öffnete eine kleine Thitre in der
feinigen, und in das Innere bineintriedhend wintte er mir
ihm ju folgen. Dd begniigte mid) hineingufehn. Da lagen
auf grünen Zweigen die platten Käſe und in kleinen Körben
Kugeln von weiflider Ziegenbutter.
Nun fepte id) mid auf einen Stein und jeidnete die
Hiitten. Die ganze Gemeinde umringte mid und dridte ihr
höchſtes Vergnügen aus. Es wollte ein jeder gezeichnet fein,
um nadber in Paris gedrudt gu werden, wie fie fagten.
»Sie blieben dabei daß id aus Paris fei, und id fonnte
ibnen gar nicht begreiflidh maden daß e3 außer Paris nod
ein Land gebe, welches Germania heißt. Germania alfo,
jagte mein Wirt, heift euer Paefe, und diefes Paefe hat
Könige, und e3 gehört yu Paris. Dabei blieb es denn.
Die Nadmittagsfonne ſchien warm und lodte mid in die
Berge. Yh nahm die Hirtentinder mit mir, Antonio einen
Sungen von 13 Yabren, der wie etn zottiger Bar ausfab,
Paola Maria und Fiordalija. Fiordalifa heißt auf deutfd)
Rilienblume. Man dente fic) diefe 12jährige Lilienblume vom
Monte Rotondo in einem jerfegten Kleide, die dunklen Haare
wild um das braune Gefidt hängend, und mit nadten Füßen
“
e
110
flin® wie eine Gemfe auf den elfen kletternd. Ihre Auger
waren munter wie die Mugen der Bergfalfen und ihre Zabne
weif wie Elfenbein. Wir botanifirten an der Restonica. 34
fab ſchöne rote Nelfen auf einer mir ſchwer erſteiglichen Felſen⸗
tante und wies darauf bin. Aspettate! rief die Lilienblume,
und wie ein Blig war fie hinweg und oben binauf gefprungen,
und nad kurzer Zeit mit einer Handvoll Nelfen wieder unten.
Run wetteiferten die Kinder im Klettern und tangten auf der
gefabrliden Felsbliden gleid den Robolden, furdtlos, denn
e3 waren die Kinder des Berges. Als wir wieder nad Hauje
guriidfebrten und fiber bie Restonica hinüber mußten, fprang
die Lilienblume ind Waffer und madte fid) dad tolle Vergniigen,
mid waidlid ju taufen. Ich fand in den Bergen unſern rot:
blibenden Fingerhut in groper Bahl. Die kleinen Teufel bradten
mir davon die Menge, und heimkehrend umfrangten wir die
raudende Capanne mit einer Guirlande der ſchönen Gift:
blumen — ein Schmuchk, welder ibr ſchwerlich nod wider
. fabren war. Und died follte bas Feſtzeichen fein, denn fii
gute Menſchen ijt es immer ein Fefttag, wenn ein Gat a
ihr Haus eingiet.
Die Lilienblume. hatte eine närriſche Freude an der Guir⸗
lande. Morgen, ſo ſagte ſie, wenn ihr oben auf dem Berge
ſein werdet, da werdet ihr eine blaue Blume finden, die iſt
die allerſchöͤnſte Blume in gang Corsica. — Wenn du es
fagft, Giorbalije, jo wird es wabr fein und ic) merde morgen
die blaue Wunderblume finden.
So fam der Abend in der grofen ftillen Wildniß. Mude
von bem Tage ſetzte id) mich vor den Capannen nieder und
betradtete dad wechſelvolle Schauſpiel der Wolkenbilbung. Die
Rebel ftiegen aus den Sdliinden, und-von den Bergen an -
gezogen und abgeftopen ballten fie fid) in ben Tälern zuſan⸗
men, ober jerflopen und zergingen in bie Gewöllke, welde id
langfam fiber bie Berggipfel von oben herunterwalzten. Die
111
Herden famen heim. Yo betradtete mit Vergniigen diefe
Tangen Züge von ſchwarzen zierlichen Ziegen und von ſchwarzen
Schafen, denen die armen Hirten ihr Dafein verdanfen. Seder
trieb oder lodte fie durch einen bellen Ruf in eine Umzaͤunung
neben feiner Hitte, wo er fie melfte. Dieſe Arbeit. geht ſchnell
von ftatten. Der Hirt figt unter ber Herde und greift eine
Biege nad) her andern bei den Hinterbeinen. Alle Thiere ruft
- et bei Ramen, jedes fennt er genau, und irgend eine Marke,
hauptfadlid am Obr ift dad Zeichen, weldem Befiger das
hier gehört. Vierzig Stück Biegen meines Hirten gaben
einen nur mapigen Gimer voll Mild.
$n der Umzäunung bleiben die Herden bei Nadt. Die
anttigen Hunde befdirmen fie, nidt vor dem Wolf, der in
Corsica nidt yu finden ijt, aber wol vor dem Fuchs, welder
in ben Bergen auffallend ftarf und mutig ijt und die Lammer
überfällt. Der Roffo und der Muftaccio meines Wirtes waren
ein paar pradtige Hunde.
Unterdeß fam ver altefte Sohn mit feiner Beute an Fo-
rellen beim, und Wngelo riiftete das Whendmal. Es fiel mir
auf dap ftet3 der Mann fodte und nidt das Weib. Wollte
er vielleicht ſeinen Gaſt ebren? Denn fonft fteht das Weib
in Gorsica in niedrigem und dienendem Verhaltnip. Wie
id nun bas bedadte, fiel mir ein, daß ja auc beim Homer
die Männer alles felber verridten, das Fleiſch an den Spies
fteden, braten und vortragen; und da hatte id) denn den
Menfthen der epifden und einfaden Culturzeit leibhaftig
por mir. |
G3 gab eine Brodfuppe, Rafe und Milch und zur Aus⸗
zeichnung bes Gaſtes gebratenes Ziegenfleifd. Denn der. wols
geborne und göttliche Biegenbirt nabm das Fleiſch vom palo
und nad uralter Menſchenweiſe ftedte er e3 an einen Spieß,
und am Feuer knieend hielt er es über die glühenden Roblen.
Sorgſam tourde das abtropfelnde Fett von Zeit yu. Zeit auf
112
ein Stid Brod gedriidt, auf dab. von dem duftigen Lenden⸗
ftiid das Köſtlichſte nidt werloren gehe. Die Forellen kochte
er in einer Bribe von Biegenfleifd, und als fie nun gehörig
gefotten waren, jtellte er fie vow mid bin, ſchöpfte mir ans
bem grofen Loffel und gab mir aus demſelben Löffel zu effen,
fo wiel als bas Herz begebrte. Jd fah es den Sindern an .
ben Augen an, dah dies ein ungewdhnlides Mal war, und
nod vortrefflider hatte es mid) erquidt, wenn jene and) batten
mitefjen diirfen.
Nun die Nadt in der Capanne. Ich war gefpannt darauf,
wie wir uns in dem engen Raum einridten wiirden. Dod
war es fdnell geſchehn. Die Dede ward fir mid auf die
Erde gebreitet, ich ftredte mid an der innerften Wand darauf
bin, und des Menfden Sohn hatte nichts worauf er fem
Haupt legen follte. Ich fab Wngelo an. Göttlicher und weiſer
Angelo, fagte id, mögeſt du diefe meine Rede hören undin
deinem Herzen wol erwägen. Niemals, fo ſchwöre id diz,
war Schwelgerei meine Gewobhnbeit, immer aber ein Stopf:
fifjen. Wenn du mic alfo ein fiffenartiges Ding geben willft,
fo wird bas eine der edelften Thaten deines Lebens fein.
Hierauf fann Angelo der Biegenbirte nad, und naddem ec
nadgefonnen und alles reiflid) erwogen hatte, reidjte er mit
den Zaino feinen Biegenfdlaud und fprad die geflügelten
Worte: nun fdlaft, und felicissema notte!
Nad und nad legten ſich aud die Wndern nieder, Weib
und Kinder auf nadter Erbe, den Kopf an die Wand gelehnt.
Wngelo aber legte fic neben die Schwelle, neben ſich dad
fleinfte Kind Maria, dann Santa fein Weib, die Lilienblume,
Paola Maria und id. So lagen wir friedlid) beijammen,
alle bie Fuße gegen das Feuer hingekehrt. Es dauerte nidt
lange, fo waren fie in Schlaf geſunken, und id betradhtete
mit Greude diefe glücklich fdhlummernde Gymnofophiften- Familie
und gebadte des ‘tieffinnigen Gandjo, wie er den gu preifen
113
anbob, welder den Schlaf erfuriden bat, ,ben Mantel, der
alle menfdliden Sorgen gudedt, das Eſſen, dad den Hunger
ftilt, das Waffer, bas den Durft vertreibt, das Feuer, dads
Die Kalte erwaͤrmt, wie Malte, die die Hige mildert, und tury
das allgemeine Geld, fiir welches alle Dinge gefauft werden
fdnnen, die Wage und bas Gewidt, welches den Schafer und
den König gleid) madt.” Die rote Glut Abergop die tounder-
liche Gruppe mit ihrem Sdein. Ich bedauerte, dab id nidt
Maler war. Aber die entfeplide’ Hige des Hargbrande3 und
fein Raud liepen mid nidt fdlafen. Ich ftand von Beit gu
Beit auf und ftieg aber die Schlafenden durd die Thüre ins
Freie. Ich fann fagen, ich ftieg aus der Capanne geradezu
in eine Wolfe, denn diefe hatte Berg und Hiitten bededt, und
fo ftieg id anB der Galle in dew Himmel, und wieder guriid
aus dem Himmel! in die Hille. |
Die Nadt war falt und nebelfeudt, vod verzogen fid) die
Wolfen, und der unendlide Himmel warf feine Myriaden
Lichter auf die Rebel, die Felfertzacken und die dunkeln Larden:
biume. Ich fab lange an der braufenden Restonica, deren
wildes Raufden diefe erhabene, aterreine Nacht durchbrach.
Rimmer nocd) war mir der fdauerlice Geift der Cinfamfeit
fo nabe gefommen, al8 in diefer Nacht unter ſchwarzen Felfen-
bergen, am Wellenfturz eines raſenden Baches, fo hod in den
Wolfen, auf der Urjtatte ber Natur, unter wilden Hirten, auf
frember Inſel mitten im Meer verloren. Yn foldhem Augen:
blid midjte bas Gefühl ver Bereinfamung das Gemit er:
ſchrecken und det pliptiche Gedante kränkt vie Seele, wie bas
menfdlide Wefen dod nur ein Atom fei — vielleiht aud
könnte dies GeifteSatom feine Beziehung yu allen ihm ver-
wandten auf einmal verlieren, vergefjen, im leeren Raume
bleiben. Aber fiehe da! bie Seele breitet von dem einjamen
Snfelberge ihre. Schwingen aus, und heiter ſchwingt fie fid
qu dem Heimifden und durdfliegt wandernd das Geifterreid,
Gregorovius, Corsica. If. 8
114
und ift nimmer allein. — Ich horde in die Berge: mand:
mal ift’3, als ftofen fie ein wildes Gelidter aus — es if
die Re8tonica, welche fo rast. Diefe Steine find ftumme
Beugen von alten, fürchterlichen Schipfungsqualen, Rinder
der feurigften Umarmungen de3 Uranus und ber Gaa.
Die falte Luft trieh mid wieder ans Feuer. Endlich vor
Müdigkeit eingefdlafen, wedte mid plötzlich die belle Stimme
Santa’s, welde mehrmals rief: spettacoli divini, spetta-
coli divini! Gie legte ihre tinder guredt, die fic) in
fomifden Stellungen yimbergeworfen batten. Die Lilienblume
lag wie eine Schlange jgufammengeringelt halb fiber ihrer
Mutter, vie Eleine Paola aber hatte ihren Arm um meinen
Hals gefdlungen. Das Kind hatte vielleidht eine Cule im
Schlaf gehört oder den Vampyr im Traum gefehn, welder
fommt, das Hergblut ausgufaugen.
Ich verbradte den Reft ver Nacht figend und in die
Slamme blidend und unterbhielt mid damit, mir die Reger
su vergegenwwartigen, welde die beilige rdmifde Kirche zu
Chren Gottes verbrannt bat.
— — — — —
Viertes Kapitel.
Der Berggipfel.
Der Morgen graute. Ich ging hinaus und erfriſchte mich
an den Wellen der ſchlummerloſen Restonica, welche jung und
flar vom Felſen fprang und in das Tal hinunterraste. Der
Duell hat ein ſchönes eben. Mad zwölf Stunden eines
wonnefamen Laufes durch die immergriinen Walder ftirbt ex
in den Waffern ve} Tavignano. Yd) gewann die ReStonica
lieb. Ich kenne ihre ganze Lebensgeſchichte, denn von ihrem
Urſprung an habe ich ſie an einem Tage bis an ihr Ende
115
begleitet, und manden berrliden Trunk hat fie mir kredenzt.
Ihr Waffer ift fo lar, fo frifd und fo leicht wie der Aeter,
und im ganzen Lande Corsica ift e3 weit und breit berithmt.
Rie trank id befferes Waffer, es hat mid mehr gelabt als
ver koöſtlichſte Wein. Diefer unvergleidlide Quell befigt eine
folde Schärfe, daß er Gifen in kürzeſter Seit fpiegelblant
reinigt und es vor Roft bewabhrt; fdon Boswell weiß, dab
die Corsen zur Zeit Paoli's ihre roftigen Flintenldufe in die
ReStonica ftedten, um fie gu reinigen. Alle Kiefel und Steine,
welde der Ouell überflutet, madt er fdneeweip, und bid gu
feiner Muündung in den Tavignano ift fein Bette oder fein
Ufer mit diefem mildweifen Geftein gegiert.
Als id meinen Filhrer aufforderte, nunmehr auf den
Gipfel des Rotondo zu ftcigen, geftand er, daß er den Weg
nidt wiffe. Es wurde nun Angelo mein Fiibrer auf den
Berg. Nad drei Uhr des Morgens begannen wir die Wande-
tung. Ste war gefabriofer aber unendlich miibevoller als id.
geglaubt hatte.
G3 erbeben fic) mebrere Felfenfimme Aber einander, die
man erft zu erfteigen bat big man jum Trigione, bem legten
Vorberg bes Rotondo, gelangt. C3 ift eine gemwaltige Scala,
die bier bie Natur über einander gelegt bat, von Koloſſal⸗
ftufen aus bem pradtigften rötlichen Urgranit; plumpe Gigan-
ten, welde den Himmel ftiirmen, Felsblide mit den Riefen-
hanbden faffend, möchten fie befdreiten. Blod liegt bier fiber
Blod, ungeheuer und ungeftaltet wie die Urzeit und fo grau,
in3 Unendlide fort emporgetiirmt, daß der Menſchenfuß ver-
zagen will. Das überſtrömende Herbftwaffer hat den Granit
oft fo febr geglattet, bap der fine Stcin große Bladen dar⸗
bietet, welde wie im Fluß erftarrt gu fein fdeinen. Das
Waffer rinnt aus taufend Rinnen in unerfddpflider Fille.
Der Baumwuchs aber Hirt auf, nur Erlenbüſche bejeidnen
den fpringenden Lauf der Restonica.
116
Nad zwei Stunden batten wir den Trigione erlettert,
und vor und lag der beſchneite Berggipfel. Seine gerfplitterten
Felſen bilden einen traterfdrmigen Halbtridter, und diefe Form
hat bem Berge ben Ramen gegeben. Wo dies ungeheure
Amphitheater ſich dffnet, liegt duntel hingegoffen ein kleiner
Sve, der Lago di Monte Rotondo, von gritnen Wiefen fanit
umtrangt; ein eifig kühler Trank in granitner Riefenfdale,
Schneefelder giehen fid) vom See bis gum Gipfel auf, in der
Glutzeit des Hundsgeftirns und unter dem 42ften Breitens
grave, unter fidlidem Himmel ein feltfamer Anblick. Sie
waren mit einer Gistrufte iberlegt und hauchten eine talte
Luft aus, Uber obwol id in der Region ves ewigen Schnees
wat, blieb die Temperatnr angenehm frifd) und erquidlid,
obne je empfindlid) gu werden.
Der Gipfel erſchien nahe genug, und doch muften wit
jiwei vole Stunden mit groper Anftrengung oft auf Handen
und düßen uver dad Getrümmer klettern, ehe wir ibn et
reichten. Am fcwierigften war der Wufgang über einen
Schneeſtreifen, auf bem ver Fup nidt haften wollte. Bir
haljen ung, indem wir mit einem fpigigen Stein nad und
nach Stufen ausſchlugen, in welde wir vorfidtig den Fub
ehten. So gelangten wir endlid ſehr erſchöpft auf die duferfte
Spitze, welde von einem grauen durdriffenen Obelisten ge
bildet wird und in einem fdmalen Baden endigt, fo dab
man ibn umtlammernd auf ſchwindelnder Felſenhöhe gleidfam
ſchwebend ſich erhalt.
Von dieſem 2764 Meter hohen Gipfel Corsica's üuberſah
ich denn den größten Teil der Inſel und das Meer zu ihren
beiden Seiten, ein Anblick, den einmal gehabt gu haben man
fein Lebenlang ſich freuen darf. Der Horizont, welchen man
vom Rotondo überblickt, iſt bei weitem großartiger als der
des Mont-Blanc. Weit hin ſchweift ver Blid in die ſtralenden
‘Meeresfernen, hinaus Aber die toscanifden Inſeln nad dem
117
Feftland Stalien?, welches bei heitrer Luft die weifen See:
alpen und den ganjen Uferbogen von Nizza bid nad Rom
zeigt. Auf ber andern Seite tauden die Berge Toulons auf,
und fo fdlieBt dies wunderbare Panorama Mteere, Cilande,
die Alpen, die Apenninen und Gardinien in einen Zauber-
ring. Nicht ganz fo glidlidh war mir die Stunde, denn die
raftlos aus den Sdludten fic) fpinnenden Dünſte entzogen
mir einen Zeil der Ferne. Nad Norden fah id) vie Halbinfel
Cap Corſo lang ausgeftredt wie ein Dold, nad Often die
Ebenen der Küſte in fanften Linien niederfteigend, die Inſeln
des toscaniſchen Meers, Toscana felbft, nad Weften die
Golfe von Prato, Sagone, Ajaccio und Balinco. Deutlid
zeigte fic) Ajaccio auf feiner Landzunge in der ſchönen Bai,
eine Reihe von weißen Haufern, die auf dem Meer ſchwim⸗
mende Schwäne yu fein ſchienen. Dad Pteer felbft glich einem
Lidtocean.
Nad vem Süden zu verfperrt der breitbruftige Monte
d'Oro die Ausfidt in das Ynfelland. Viele Berggipfel, wenig
Heiner al8 ber Rotondo und ebenfalls vom Sdnee umglingt,
geigen fid) umber, wie der Cinto und der Capo Bianco nad
Morden zu, die Gipfel bes Landes Miolo.
Die Inſel felbft erfdeint al ein ungeheures Felfenftelett.
Der Monte Rotondo liegt zwar nicht auf der Gebirgskette,
weldje fie von Morden bis zum Silden durchzieht, fondern auf
einem etwas dftlid) fortgewidnen Zweige. Wher ver Stanb-
puntt erlaubt einen Blid in das ganze Berafyftem und fein
rieſiges Zellengewebe. Man fieht die Haupttette nabe vor fich,
yon diefem Grat die Gebirg3rippen nad beiden Seiten parallel
fortlaufen und Reihen von Talern bilden, welche bebaut und
bewohnt find. Jedes derfelben ijt von einem Fluß durch⸗
ftrdmt, und wiederum ftrdimen vom Hauptgebirgsftod die dret
grofen Flüſſe der Ynfel, nach der Oſtküſte der Golo und Tas
vignano, nad dem Weften der iamone.
118
Blidt man vom Gipfel in deffen nächſte Umgebung, fo
erjhridt man vor den Felſenwüſten und todtenftillen Berg:
tuinen tings umber. Die Bldde liegen hier endlos ungeheuet
wie ein Mal des Kampfs der Glementargeifter mit vem Lidt
des Himmels. Fürchterlich fteile Bergwande bilden cin Ge
tebe von dden Talern, Yn den meijten derfelben liegt mitten
inne ein Heiner unbewegter See. Ye nachdem er Lidt ode
Schatten vom Himmel oder von den Felfen empfangt, ift ſeine
Farbe azur, grau over tiefſchwarz. Ich zählte mebrere folder
Seen rings umber, den Rinofo, Mello, Nielluccio, Ponolo,
aus denen Quellen nad) ver Restonica hinunterfliepen, dee
Oriente, aud welchem fie felbft entfpringt. Weiter nad or
weft lag vor mit das beruhmte Hirtenland Niolo, dad bode
Becken Corsica's, und fein ſchwarzer See Nino, aus welchen
der Tavignano entfpringt.
Ulle diefe Seen find ſehr tleine und tiefe Waſſerbeden;
bie meiften wimmeln von Forellen.
Man hart, auf dem Gipfel ftehend, beſtändig vie Wafer
rauſchen, die gum Teil ihre unterirdifden Wege fid bahnen
miiffen. Alſo ftrdmt dieſe ftarre Felſenwildniß dennod von
lebendigen Quellen itber, deren Gegen in die Taler quillt usd
Cultur und Menſchengeſellſchaft möglich macht. Da fieht mar
an den Hangen diefer Berge tief unten hie und da cin Dorf
und grune Garten foie Streifen gelblider Felder.
Das Gewslt umgog allmalig die Gipfel, wir muften hina
ſteigen. Bir nabmen den beſchwerlichen Rudweg nad der
Seite des Lago di Pozzolo. Dort erhebt ſich der gemaltige
Frate, ein Felskoloß des Rotondo und die machtigſte Granit
pyramide des Berges. Schwarze Zinnen und Baden umftarra
ibn, und dhaotifdes Urgeftein, in unzählige graue Trimme
zerſchmettert und herabgeſtürzt, bededt feinen plumpen Sth
det ſich in das melancholiſche Gelfental Pozzolo hinadjent.
In den Rigen des Gefteind ftand die blaue Wunderblumt,
119
pon der mir Fiordalife gejagt hatte, dap ich fie finden würde.
Angelo hatte fie gepflidt und rief mir gu: ecco, ecco, lu
fiore! Ich nabm fie aus feiner Hand; e3 war unfer Vergiß⸗
meinnidt. Camillen, Taufendfdhin und Ranunfeln blühten
in Menge in dem Geftein ded Gipfels felbcr, und den Rand
ber Schneefelder gierten unfere Veilden. |
G3 foftete gar grope Mühe über dad Geftein ded Frate
hinwegzuſteigen, und endlid) dritber weggefommen, drobte und
ein Sdneeftreif ven Weg gu verfperren: der Ziegenbirte wollte
ibn umgebhen, doc) bitte e3 mir al3 einem Nordländer zu ſehr
webe gethan, die3 vortrefflide Rutſchfeld unbenugt zu laffen.
Ich ſetzte mid alfo auf Angelo's Pelone und fubr getroft
binunter. Go bin id denn in der Gommerfonnenglut und
obenein in Stalien, unter bem 42. Breitengrade auf Schnee
gefabren.
Wir hielten unfer Frühſtück am Fuß eines Kegel, und
geſtärkt durch etwas Brod und frifdes Waffer wanderten wir
wetter abwärts. Bergeben3 fab id mid) nad) den wilden
Xbieren um, welde die Felfen de3 Monte Rotondo bewobhnen,
nad dem Muffro namlid) und dem Banditen. Wiewol mir
Angelo verficerte, daß deren genug in dem Gelliift baufen,
an dem wir voribergingen, fonnte ic) dod) feinen entdeden.
Ich fab nur ein eingiges vogelfreies Wejen auf jener Hobe,
vie gterlide Bergamfel, einen grauen Vogel mit rot:, ſchwarz⸗
und weibgefiederten Fliigeln.
Das corsiſche Wildſchaf, der Muffro oder Muflone, iſt
ein ſehr merkwürdiges Erzeugniß der Inſel. Es iſt ein ſchönes
Thier mit ſpiralen Hörnern, braunſchwarz und feidenhaarig,
und ftar—E von Gliedern. G3 lebt in ben höchſten Regionen
des ewigen Schnees und fteigt immer höher binauf, je mehr
vie Sommerfonne diefen von den Bergen zehrt. Tags ſchweift
e3 um die Gelfenfeen, wo es griine Weide findet, Nachts
fudt e8 wieder den Schnee. Denn der Muffro fclaft auf
120
ibm, fein Weibchen wirft auf den Schnee die Jungen. Bie
vie Gemfe ftellt aud) der Mtuffro Sdilowaden aus. Bid:
weilen fommen diefe Wildfdafe im harten Winter unter die
Biegen der Hirten, und man fiebt fie oft in den Tälern von
Bivario, von Piolo und von Guagno friedlid) neben den .
Herden weiden. Das junge Thier läßt fid) zaͤhmen, nicht jo
das alte. Man ftellt ibnen häufig nad, und wenn man in
den corsifden Bergen eine Jagd .toben hört und Schuß auf
Schuß in den Felfen donnert, fo weiß man, e3 wird gejagt
ver Muffro poder der Banpit. Beide find Wildbriider und
gleihe Berggenoffen und klimmen bi yum ewigen Schnee.
Nad dreiſtündigem Herabfteigen erreichte id) die Capannen
wieder, und da mein Zwechk erfüllt war, erfdienen mir diefe
Hütten fo traurig und ibre Luft im Vergleich gu dem reinen
Aeter, den ich eben geatmet hatte, fo erdriidend, daß id nad
einer Stunde Raft bas Maulthier fatteln ließ und mid anf
den Ritdweg nad Corte madte. Freundlid) fagte id dem
guten Völkchen yon Co di Mozzo Vebewol, und wünſchte ibnen,
bap ibre Gerden fich mehren möchten wie die Herden Jacobs
und daß es ibren Kindern wol erginge. Sie geleiteten mid
alle big gum Wusgang der Capannen, und wie id hinabritt
riefen mir Dtinner und Rinder nod ein ebrlid) gemeintes
Evviva nad.
Nad einigen Stunden befand ich mich wieder in der
climatifden Region, wo Caftanien und Gitronen reifen; id
hatte alfo an einem Zag vom ewigen Schnee herab bid in
die Garten Corte’s drei Bonen durdwandert, was einer Reife
gleihfhmmt vom boben Winter Norwegens bis gu den Sild:
ländern Curopa’s,
121 ©
Fünftes Rapitel.
Wendetta oder nidt?
Nit gang im Frieden follte id) von dem ftillen Corte
fcbeiden, und da verfduldete mein Fuhrer auf den Monte
Rotondo. Rad der Stadt zurückgekehrt erfubr ic erft, welchem
jabgornigen Menfden id mid anvertraut hatte. Obwol er
mir die Unwahrheit gefagt und, des Weges auf den Gipfel
nidt kundig, mid gendtigt hatte, den Ziegenbirten Angelo
gum Führer qu nebmen, gab id ibm dennod) den vollen
porausbedungenen Lohn. Aber der Menſch forderte in der
unverſchämteſten Weife nod die Halfte daritber. Geine und
meine Worte zogen einige corsiſche Herren herbei, welche fic
meine3 Rechtes annehmen wollten. Seht, fagte der Cine ju
dem ihrer, died ift ein Frembder, und der Frembe hat. bet
und immer Redht. Yoh entgegnete dem artigen Parolaten,
daß id mein Recht nidt als Fremder fondern als Ptenfd
beawfprude und die Behörde ber Stadt augenblids angeben
würde, wenn der Wütende mid nocd) weiter belajtige. Der
warf feinen Lohn auf den Tiſch und indem er rief, dab er
fie an dem Deutſchen ſchon yu raden wiffen würde, ſtürmte
er davon. Auf dieſes fam die Wirtin ver Locanda herbei
und fagte mir, ic folle auf meiner Hut fein, denn der Menſch
fei in bichftem Maße jabzornig, im vorigen Sabr babe er
einen Burſchen auf dem Markt erftoden.
Beſtürzt fragte ic) nad dem Grunbe. Weil, fagte die
Wirtin, der Lucdhefe den Heinen Bruder des Menſchen ge-
ſchlagen hatte, der fid) an den Wagen gebangt, wie Kinder
thun. Der Knabe lief weinend und klagend gu feinem Bruder,
und piefer fprang augenblids mit dem Dold dem Burfden
nam und mit einem Stoß hat er ihn gemordet,
Wie hat man ihn beftraft? — Mit fünf Monaten Ge:
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122
fäängniß, denn man konnte ihm die That nicht fo recht be
weifen. — Nun id geftehe, la giustizia Corsa è un po
corta. Uber, gute Frau, Ihr fanntet die jabe Art dieſes
Menfden, wuptet daß er Blut vergoffen, und dod habt Sor
mir diefen Teufel felber zum Führer beftellt und ließet einen
Fremden obne Waffen mit einem Marder in das einfame
Gebirg ziehn?
Ich glaubte, Herr, Ihr wütdet es ibm an den Augen
anſehn, aud) babe id) Gud ein paar Pale zugeblingelt. Der
Menſch hatte fid) angeboten, und wenn id) der Grund ge
wefen ware, dab Ihr ibn abwiefet, dann hatte ich's mit thm
gebabt.
Jetzt erft fiel mir ein, daß die gute Frau, wie id mit
vem Führer hinwegzog mid) fragte: wann denkt Ihr wieder
zu fommen? und dap fie auf meine Antwort: nach joe
Tagen, die Achſeln zudte und mit den Wugen etwas ju
fagen ſchien.
Nun laßt's gut fein, fagte id), id) gebe dem Menſchen
nidt einen OQuatrino mehr, ald Recht ijt, und dabei foll es
fein Bewenden haben. Abends fam der Wütende und holte
fic von der Wirtin befdeiden fein ihm gebiihrendes Geld.
Aber obwol er fo fein Unredht eingefehen gu haben ſchien,
glaubte id) vod) mid hüten gu müſſen, und ging Nachts
nidt vor die Stadt.
Am folgenden Abend madte id) einen Spajiergang im
Begleitung des mir befannt gewordenen Officiers. Wor dem
Tore fah id ein kleines Probeftiid corsiſchen Temperaments.
Gin Yunge von ungefähr 15 Jahren hatte ein Pferd an einen
Zaun gebunden, und fteinigte daffelbe, gang außer fic vor
Wut und finnlos gleid) einem rafenden Thiere kreiſchend.
Wahrſcheinlich hatte das arme Thier ibm nidt geborchen wollen.
Ich blieb ftehen, und indem mid eine ſolche Bosheit erbitterte,
tief ich dem Burfden ju, dap er aufhören folle, dad Pferd
~
123
gu ftetnigen. Augenblids fagte mir mein Begleiter: um
Himmels willen, kommen Gie und feien Gie ſtill. — Yah
that, wie er fagte, und war nidt wenig nachdenklich über
bie Scene und die beforglide Weiſe in der mein Begleiter
mir die Worte halblaut jugerufen hatte. C3 war das aud
ein Blid in die Zuſtände der Corsen.
Nad kurzer Beit jagte ber Burfde auf feinem Pferd vor-
fiber, wie ein Rachegeift, bie Haare flatternd, vas Gefidt
flammend, die Wugen gwei Blige — die ganje Crfdeinung
jam vorüber wie ein Wutausjaudzen.
In dem Augenblid fiel mir ein, daß ich dod unter Bar-
baren war, und mid überkam eine plötzliche Sebnfudt nad
Florenz und feinem milden Voll.
Indeß haufte fic) auf dieſem Gange dad Unbeimlide.
Denn faum eine Biertelftunde weiter in die Berge hinein:
gefommen, fab id meinen Führer, feine Flinte gefdultert
feitab vom Wege auf eine nabe Hobe geben und auf einem
elfen niederfigen, das Gewebr auf bie Kniee nehmend. Ich
wufte nidt, ob er nod einen Groll auf mid habe und Vöſes
im Gchilde fibre, aber es war miglid. Ich zeigte ibn
meinem Begleiter; benn nidt ein Zeiden von Furdht ſehen
gu laſſen, ging id) rubig voritber, dod diinkte mich der Gang,
ein wenig ſchwül. Gr wird nidt auf euch ſchießen, fagte mein
Begleiter, wenn ihr ibn nicht durd ein Wort beleidigt habt.
Thatet ihr aber das, fo fann man fiir nichts fteben, denn
viefe Mtenfden fdnnen eine Beleidigung nicht ertragen. Und
fo ſchoß er denn aud nidt, und dies mar recht freundlid
von diefem Vampyr, dem armen Teufel wollte ich fagen, der -
mehr unglidlid als fduldig gu. nennen ift. Denn mebr
fiindigt bier die Natur als der Menſch. Das Blut, dad in
den corsiſchen Bergen vergoffen wird, fliebt felten um ge-
meine Habjudt, Gewinn und niedre? Gut, zu allermeift um
falſche Ehre.
124
Sechstes Kapitel.
Won Corte nach Ajaccio.
Die Straße nak Ajaccio fteigt nad Siden bid zum Monte
d'Oro mebrere Stunden lang auf. Sie führt durd ein wol:
bebautes Hiigelland und herrliche Caftanienbaine. Nichts ift
lachender al die Landſchaften des Canton3 Serraggio, welder
ehemals die Bieve Benaco war, Bade, die vom Monte Re:
tondo herabfliefen, durdftrdmen ein grünes Land, auf deffer
Hitgeln Dorfer ftehen, wie Pietro, Cafa Nova, Riventofa
und Poggio.
Poggio di Venaco bewahrt vie Grinnerung an Arrigo
Golonna, welder im zehnten Jahrhundert Graf Corsica's ge
wefen tar. Ym Vorüberfahren haſcht man mandes Bild mw
mantifder Gagen auf, und dad ift von Wanderfreuden immer
ein gute Teil. Arrigo war fo ſchön von Geftalt und fo
holdſelig von Weſen, daß er Bel=Meffere hie; mit dieſen
Namen lebt er noch im Munde des Volls. Schön und edel
mar aud fein Weib, und ſeine ſieben Kinder waren alle liek
lid und jung. Aber feine Feinde wollten ihm vie Herefdaft |
rauben, und ein grimmiger Garde verſchwor fid) mit ifn |
gegen fein Leben. Eines Tags aberffelen ihn die Mörder ud
erftacen ibn, und die fieben Rinder nabmen fie und warfer
fie in den Heinen Gee „der fieben Napfe.” Wie nun die
bafe That gefdehen war, erhob fic) eine Stimme in dea
Luften, die Hagte und rief: Bel Meffere ift todt! armed
Corsica, nun hoffe tein Glid mehr! — Alles Volk hob ax
gu Hagen um Bel Meffere. Sein Weib aber nahm Said |
und Gper, und mit den Bafallen zog fie vor vad Sdhleb
Tralavedo, in weldes die Mörder fic) geflüchtet atten; dad
Schloß brannte fie nieder und ſchlug alle Marder gu Tod.
125
Heute fieht man nod) auf den griinen Higeln Benaco’s in
mander Nacht neun Geifter herumſchweifen, dad find die
Geifter de3 Bel Meſſere, feines Weibes und der fieben armen
Kinder.
G3 war Sonntag. Das Voll wandelte in ben Débrfern
umber, und jzumeift fapen fie wie die Vater in uralten Tagen
um die Kirche — ein fdhines Bild: in ver Sabbatrube feiernde
Menſchen, welde den Gottesfrieden halten. Dod aud) Sonn⸗
tag3 und vor der Rirdthire fann plötzlich ein Flintenſchuß
fallen, und dann gibt's eine andere Scene.
Bei Vivario wird die Gegend wüſter und die Berge werden
bedeutender. Bor der Schwelle der fleinen Rirde fteht mander
ftill und betradtet einen Grabjtein. Auf ibm fteht der latei⸗
niſche Bibelvers gefdrieben: Maledictus qui percusserit
clam proximum suum et dicet omnis populus amen.
Verflucht fei wer feinen Machften heimlid) erſchlägt, und alles
Bolt wird fagen Amen (5 Mof. Cap. 27). Der Stein er:
zählt eine Geſchichte der Blutrade aus bem fiebengehnten Jahr⸗
hundert; unter ihm liegt der Blutrader begraben. Gefegnet
fei das Andenken des Geijtlicen, ver diefen Fluch aus der
Bibel nahm und auf den Stein ſchrieb. Gr ift, fo fagt man,
ver Talisman Vivario3; denn auf ibm fteht die legte Blut:
rade des Dorfs verzeichnet. Wire dock die Hand die ihn
ſchrieb eine Riefenband gewefen, und hatte fie in Riefenlettern
fiber gang Cor8ica fdreiben tinnen: Maledictus qui per-
cusserit clam proximum suum et dicet omnis populus
amen! .
Gin Blodhaus mit einer Befagung von zehn Ptann ftebt.
in ben Bergen Vivario’s, einſam und twild gelegen. Hier
fdlieBt fic) bas große Tal bed Tavignano, und ein Höhenzug
bilvet bie Wafferfdheide zwiſchen ihm und dem in entgegen:
gefegter Ridtung nad S.W. bis Wjaccio binftrdmenden Gra:
vone. An der Grenge beider Taler fteben zwei befdneite Verge,
126
der Renogo und der Monte v'Oro, der nur um twenige Pete
Heiner iſt als der Rotondo und ihn an mächtigen Forma
iibertvifft.
Biele Stunden fang hat man ibn vor Augen.
Run fabrt man zwiſchen beiden Bergen durch den her:
lichen Forſt Vizzavona. Gr befteht größtenteils aus Linger
biumen (pinus larix), die oft eine Hbhe von 120 und cm
Dide von 21 Fuß erreiden. Da id die Cedern Aſiens nicht
fenne, barf id) bebaupten, dap der Lardenbaum Cordica’s ber
erbabenfte aller Baume ift, den id nod) irgend fab. Shu p
ſehn in feiner ftilen, dunteln Majeſtät auf den gewaltiges
Felfen jener Berge, war für mid) ftetd ein entgiidender Xe
blid. Diefem Laiferliden Baum will es wol gegiemen, doi
ev auf Granit ſtehe. Gr wächst hod hinauf über den Felfea,
welden feine Wurzeln gewaltſam durchdringen, und an vielen
Stellen, die nur der Adler oder das Wildſchaf tennt, ſteht ea
majeftdtifh da. G8 gibt im Walde aud Pinien, Rothuden,
immergriine Giden (Ilex) und Tannen. Biel Wild birgt fd
hier, namentlid) Hirſche, welde in Corsica klein find; bo
Wildſchwein sieht fic) nad) den KAften hinab, wo es eifrig
gejagt wird,
Der Forſt von Bigavona ift ver gweite an Grope nbdk
dem von Aitone im Canton Eviſa, welder gu Ajaccio gehirt
Alle diefe Forften ftehn in gebirgigen Gegenden. Ginige g
hiren dem Gtaat, die meiften ben Communen. Aud hier
find nod) große Schage gu heben. Ich fab eine Schlange im
Wege fic ſonnen. Nur zwei Sdlangenarten befigt Corsica
und tein giftiges Thier, außer einer Spinne, Malmignati
genannt, deren Bip ploglide Grtaltung des Korpers und bik
weilen den Tod herbeiführt, und aufer der giftigen Ameiſe
Innafantato.
Es war Mittagszeit, als id) den Forſt durchzog. De
Luft war erftidend heiß, aber der Wald bot feine tibia
127
Quellen. Ueberall viefeln fie von den elfen dem Gravone
gu, tbr Waffer ift falt und leicht. Seneca muß niemal3
corzifde Bergquellen gefoftet haben, weil er in feinem Gpi-
gtamm fagt, dab die Ynfel feinen Trunk Waffers habe.
Endlich erreidjten wir das Bergjod, den höchſten Puntt
ver Strape nad Ajaccio, welder 3500 Fup über dem Meeres⸗
fpiegel liegt. G8. ift died der Paß von Vigzavona, der in
mandem corsifden Liede genannt twird.
Nun fallt der Weg in das Gravonetal hinunter. Diefed
frudtbare Tal wird von zwei Bergketten gebilbet. Die nörd⸗
liche geht vom Ptonte d'Oro aus und endet oberhalb Ajaccio
in der Punta della Parata. Sie trennt das Waffergebiet des
Gravone von bem des Liamone. Die ſüdliche läuft vom
Monte Renoso in paralleler Richtung fort und trennt das
Gravonetal vom Tale Brunelli. Bu beiden Seiten des Fluffes
fteben Ortſchaften auf den Bergen. Sie faben freundlider
aug, als id fie noch in Corsica gefunden hatte.
Der erfte Ort ift Bocognano, welder nabe vor dem wilden
Sdlund von Vizzavona liegt. Rings umber waldbedeckte
dunkle Berge mit befdneiten Hauptern, die ganze Gegend von
einem ernften, grofen Charakter. Arme Hirten wobnen bier,
ftarfe3 und tapferes Volk. Wer nidt von ver Milch fic
nabrt, nabrt fid) von der Caftanie. Viele wirken den Pelone.
Waffen find hier überall. Der WUnblid fo fraftiger Manner
mit ibren Dopypelflinten, der Cardera und bem braunen
Wollenrod ftimmt gut zu den ditftern Wlpenbergen und den
Pinienforften rings umber. Gifern feben diefe Bergcorsen
aus, wie ihre Fucili, die fie tragen. Dad Volk fdien mir
hier im Mittelalter ftehen geblieben und etngerojtet gu fein.
Der Weg fallt immer ab nad AWjaccio gu. Endlich faben
wir ven Golf. G3 war fünf Whr Wbends als wir uns der
Stadt nabten. Reider bebaute Higel, Weingarten und Oliven
und eine frudtbare Ebne, dad Campoloro genannt, in welde3
128
bas Gravonetal am Golf endigt, verfindigten die Hauptſtadt
Corsica's. Sie zeigte fic) endlid) als eine in den Golf ge
zogene Linte von weißen Häuſern gu Füßen einer Hügellette
und umgeben von Villen. Eine Reihe von Ulmbäumen führt
laäͤngs des Golfs in die Stadt, und fo betrat id) den Ae:
nen Heimat8ort de3 welterſchütternden Manne3 mit freudiger
Erregung.
Drittes Sug.
Erſtes Kapitel.
Ajaccio.
Ajaccio liegt am ndrdliden Ende eines Golfes, welder
gu den berrlidften ber Welt gezählt wird. Seine beiden Ujer-
Tinien find von ungleicer ange. Die ndrdliche ift die tirjere ;
fie lauft in weftlider Ridtung fort bis zur Punta della Parata,
einer Landfpige, vor welder die Iſole Sanguinarie oder Blut:
infeln liegen. Die fitlide Seite zieht fid mit vielen Ein—
ſprungen weit bis gum Cap Muro, um welded herumfabrend
man in die Bai Balinco gelangt.
Man fieht auf vem nordliden Ufer teine, auf dem fiir:
Lichen wenige Ortidaften und mere Titrme und Fanale, Das
Nordende des Golfs .diberragen hohe Berge, unter ihnen ver
Pozzo di Borgo; es find die Grenggebirge bes Gravonetals,
weldes im frudtreiden Campo di Loro endigt.
Man behauptet, dab Ajaccio eine der alteften Stadte Cor-
Bica’s fei. Die fabelnden Chroniften leiten fie von jar ab,
anbere von Ajazzo dem Sohn des trojanifden Fürſten Corso,
welder mit Aeneas in das Weftmeer wanbderte, Sica, eine
Nichte der Dido, entführte und der Inſel fo den Namen gab.
Rad den Angaben des Ptolemaus lag an diefem Golf Urci:
nium, welches bad Adjacium des friiheften Mittelalters ge-
wefen fein foll, umd dieſe Stadt wird ſtets mit ben älteſten
Gregorovius, Corsica. I. 9
———
130
der Inſel, mit Aleria, Mariana, Nebium und Sagona ge
nannt, Stadten die untergegangen find.
Das alte Ajaccio. lag aber nicht auf der Stelle ves heu⸗
tigen, fondern auf einem nérdlider gelegenen Hagel, Sar
Giovanni. Auf feinee Spige ftehn nod die Trümmer eines
Gaftells, castello vecchio genannt, und ehedem fah mm
dort die Ruinen der alten Rathedrale, auf denen die Bifdife
Ajaccio’s lange eit fortfubren fic) einweihen gu laſſen. Sie
find verſchwunden; nichts verrät mehr, dap bier eine Stat
geftanden bat. Aber man fand in den Weinbergen vide
Rdmermangen und grope Gefaffe von terra cotta in ovale
Form, aud Graburnen, welde jedesmal ein Stelett und einen
* Sdhlaffel enthielten. Man will dort aud die gewölbten Gri:
ber ber Maurentinige geseigt haben, welche verſchwunden find.
Die neue Stadt legte mit der Gitadelle die Bank ves heir
ligen Georg im Jahre 1492 an. Gie war der Sig eines
Leutnants, und erft im Jahr 1811 wurde fie gur Hauptftadt
der Inſel erhoben, auf Betwetben der Madame Letitia umd
des Cardinals Feld, welche ihren und des Kaiſers Geburtdort
auszeichnen wollten.
Bon jenem Hüugel San Giovanni überſieht man die Stadt
und ibre Umgebung am beften. Sie gewährt das freundlidfe
Bild, und tein anderer Ort Corsica's tommt ihr gleid. Se
Horizont ift herrlich. Woltenhohe Berge weit ins Land hime
ein, der majeſtätiſche Golf in agurblauem Lidt, der Himmd
des Sudens und eine italieniſche Vegetation; man tann fid
teinen befferen Verein denfen, und da liegt nun ein harm
loſes Stadtchen von 11500 Einwohnern, im Laub der Ulmer
baume verftedt, und gebietet Aber eine Gegend, welche be
ftimmt gu fein ſcheint, eine Weltftadt gu tragen.
‘Auf einer Landgunge, deren Spite dad Caftell einnimmt,
reibt fid) die Stadt auf und zieht fic) weiter gu beiden Seiten
am Golf entlang. Die Ulmen und Platanen fegen fid i
131
per Hauptftrabe, bem Cours Napoleon, fort. Denn diefe ift
eigentlid) die Fortfepung ber Straße von Corte. Man hat fie
sum Teil in die Felfen fprengen müſſen, von denen zwei nod
an ibrem Gingang ftebn. In diefem Corso vertwandeln fid
die Ulmen in Orangenbäume von jziemlider Höhe, welche der
Straße ein reiches Anſehn geben. Die Häuſer find bod aber
ohne ſchöne Urchitettur. Charalteriftijd find die grauen Fenfter:
laden, welde man in Corsica liebt, wabrend fie in Stalien
pon einer muntern grünen Farbe gu fein pflegen. Diefe3 Grau
ftumpft bie Gebdude ab und madt fie monoton. Alle anſehn⸗
lidjeren Gaufer des Corso ftehn auf der redten Seite, dad
fleine Gabrieltheater, die zierliche Prafectur und eine Militar:
caferne.
Mid überraſchte die ländliche Stille auf allen diefen
Strafen; nur ibre Namen rufen den Wanderer an und erz
ziblen die Geſchichte Napoleons. Da lieft man cours Napo-
léon, rue Napoléon, rue Fesch, rue Cardinal, place
Letitia und rue du roi de Rome. Die Grinnerung an
Napoleon ift die Seele ber Stadt, und fo geht man einber
in Gedanfen an den tounderbaren Menſchen und an feine Kinds
heit, au einer Gaffe in die andere, und bald find fie alle
durchwandert. Barallel mit dem Cours Napoleon läuft die
Straße Feſch. Yene führt auf den Play des Diamanten am
Meer, diefe endigt in dem Marktplatz und führt nad dem
Hafen. Das find die beiden Hauptftrafen und Hanptplage
Ajaccio’. Mleine Seitengaffen verbinden fie und durchſchneiden
alle die Landzunge. Die Stille ift fo recht einladend yum Gr-
innern, und fo ftill liegt aud) der blaue Golf vor den Blicen
ausgebreitet. Man ſieht ibn fajt aus jeder Strafe. Mirgend
bleibt bas Auge in Mauern gefangen, denn die Hauptſtraßen
find brett, die Plage grof, mit griinen Baumen bepflanzt, und
Meer und Oelberge, welde hart Aber dem Stddtdhen anf:
ſteigen, blicken überall berein wo man geben und fteben mag.
132
Ajaccio ift Landftadt und Seeftadt zugleich, man lebt dort
mitten in der Natur. .
Abends belebt fid) ber Corso und der Diamantplag. Die
Mufitbande fpielt; in Gruppen gebt, fteht das Volk umber.
Die Frauen tragen meift ſchwarze Sebleier, die vom Mittel:
ftand bie maleriſche Faldetta. Man fann fic einbilden irgenwo
auf einer fpanifden Rilfte yu ſtehn.
Ich fenne twenige Plage, die eine fo ſchöne Anfidt ge:
wabrten, al8 diefer Diamantplag. Unmittelbar an ihm rau:
fden die MeereZwellen, nach der Landfeite gu ſchließen ign
freundliche Hauferreiben, darunter ein ftattlides Militarhofpital
und ein zierliches Geminar der Briefter, und bart aber ibm
jtebt ein gritner Berg. Cine fteinerne Wehr faßt ibn gegen
den Golf ein; mit wenigen Schritten ift man am Strand,
welden ein Baumgang umkraͤnzt.
Ich fand nidts Angenehmeres in Ajaccio als am Abend,
wenn der Weftwind aber den Golf webte, dort zu luſtwandeln
oder auf der Wehr gu figen und das Panorama von Reet
und Bergen gu betradten. Der Himmel ftrablt dann im feen⸗
haften Lidt; die Luft ift fo Mar, ab die Milchſtraße und det
Venusftern lange Schimmer aber den Golf werfen und die
Wellen won einem fanften Glang wiederſcheinen. Wo fie
ſchwanken oder ein voritbergleitender Rahn Furdhen hinter fid
atebt, erjittern fie von phosphorescirenden Funken. Gerade
über Halt fic) das Ufer in Nacht; Fanale brennen auf den
Landfpigen, und an den Bergen fieht man madtige Feuer
lodern. Dort brennt man ndmlid) um die Zeit des Auguſt
bie Bufdwalder nieder, um urbares Land gu gewinnen, wel:
ches ourd die Aſche gugleid gediingt wird. Ich fab diefe Feuer
Tage lang fortlovern. Tags wialjen fie weiße Dampfwoller
iiber die Berge, Nachts leudten, fie Aber dem Golf wie Bul
fane, und dann wird die Aehnlichkeit mit Neapel fberrafdend.
Aud der mit Baumen bepflangte Marktplag ift nicht mins
133
wer ſchön. Man itberfieht hier den Hafen, der durch einen
gtanitnen Molo, eine Anlage Mapoleons, begrengt wird. Cin
Rai von Granit fdliept die Meerfeite des Platzes. Wn feinem
Gingang ſteht Ajaccio's Hauptbrunnen, ein groper Wiirfel
aus Marmor, aus defjen Seiten das Wafer in halbrunde
Becken ſtrömt. Gr ift ftets umlagert, und niemals fonnte ih
dieſe Gruppen von Waffer ſchöpfenden Frauen und Rindern
betradten, ohne an die Brunnenfcenen des alten Teftament3
au benten. In einem heißen Lande ift die Bafferquelle wahr⸗
haft die Quelle der Poeſie und der Geſelligkeit; Feuerherd
und Brunnen ſind die altgeheiligten Sammelpunkte der menſch⸗
lichen Gemeinſchaft. — Die Weiber ſchoͤpfen hier nicht mehr
mit Erzgefäßen wie in Baſtia, ſondern mit kleinen Tonnen
oder Krügen von Terra Cotta, über deren Oeffnung ein Henkel
geſchlagen iſt. Auch dieſe Krüge ſind althergebracht; ſie haben
aber auch Steingefäße mit langem ſchmalem Halſe, welche
ganz und gar etruskiſch ausſehen. Die armen Leute auf der
unfruchtbaren Inſel Capraja erwerben ſich zum Teil ihren
Unterhalt mit der Anfertigung ſolcher Gefäße, welche weit und
breit verſendet werden.
Auf demſelben Marktplatz ſteht vor dem Stadthauſe eine
Marmorſtatue Napoleons, auf einem übertrieben hohen und
unſchönen Piedeſtal von Granit. Die Inſchrift lautet: dem
Kaiſer Napoleon ſeine Vaterſtadt am 5. Mai 1850, im zweiten
sabre der Prafiventidaft Louis Napoleons. Lange hatte fid
Ajaccio um ein Denkmal Napoleons bemüht und immer ver⸗
geblid), Die Wntunft eines Kunſtwerks in Corsica war daber
ein nidt fleines Ereigniß. Nun traf e3 fid), dab die Familie
Bonaparte einft dem Herrn Ramolino vie Statue eines Ga⸗
nymed ſchickte. Als diefe ausgefdifft wurde und bad Bolf
fie evblidte, hielt e3 ben Adler de3 Beus fiir den RKaiferadler,
ben Ganymed fiir Napoleon. G3 fammelte fic) auf dem Martt-
plag und verlangte, bab man die Bildfaule fofort auf dem
134
Brunnenwirfel aufftelle, damit man endlid den großen Mann
in Marmor vor fid) habe. Indem die wadern Corden
den trojanifdhen Dangling ju ihrem Landsmann Napoleon
madjten, ſchienen fie die Fabel der Chroniften zu beftdtigen,
daß die Ajacciner von einem Prinzen Troja’s abftammen.
Gigentlid) war die ſchöne Napoleonbildſäule nes Floren:
tiner3 Bartolini fir Ajaccio beftimmt; man wurbe indeß um
den Preis nidt einig, und fo ſchmückt Bartolini’s Werk viefe
Stadt nidt. Die Statue Napoleons in Ajaccio ift eine mittel:
mafige Arbeit Laboureur3. Sie ijt eine Confularftatue. Der
Conful blidt auf das Meer, von der winzigen Vaterftadt in
bas Glement hinausgewendet. Gr trigt die rdmifde Toga
und einen Lorbeerkranz; die rechte Hand halt ein Stenerruder,
welde3 auf der Welttugel auffteht. Die Yoee ift gut, denn
im Angeſicht des Golfs ift das Steuerruder ein natürliches
Symbol, zumal in der Hand de3 Ynfulaner3. Der Befdhauer
verweilt bier bei der Gefdidte nidt des vollendeten, fondern
des werdenden Herrfder3, indem er die Heine Welt Ajaccio's
um ſich ber fiebt, auf welder der gewaltigfte Menſch Cure:
pa’3 al3 Rind und Dingling umberging, nicht wiſſend wer
er fei und woju ibn bas Gefdhid beftimmt hatte. Dann
fdweift die Crinnerung wieder auf das Meer und in diefem
Golf bier fieht man dad Schiff ankern, welches den General
Bonaparte von Egypten nad Frantreid tiug. Nachts fab et
am Bord und durdflog mit haftiger Seele die Zeitungen, die
man fir ibn auftreiben fonnte, und bier war es, wo er den
Entſchluß fabte, jenes Steuerruder gu ergretfen, mit dem et
dann nicht Frankreich allein, fondern ein Kaiſertum und die
balbe Welt regieren follte, bis e8 in feinen Händen jer
brah, und der Mann von Corsica an der Inſel Sanct He
Tena fcetterte.
Dem Maeftrale nicht ausgefegt wie die Bai S. Fiorenjo,
fondern von allen Stitrmen gefdiigt, könnte diefer Golf die
135
größeſten Flotten befdhirmen. Aber der Hafen ift todt. Cine
mal in der Wode bringt ein Dampfidiff aus Marſeille
Nadhridten und Gebraudsartifel. Yd hörte oft die Corsen
Hagen, daß die BVaterftadt Napoleons, obwol durch eine un:
vergleidlide Lage und Zone fo febr begiinftigt, nidt3 mebr
fet als ein Städtchen irgend einer Proving von Frantreid.
Wie gering der Abſatz der Waren und wie diirftig die hei-
miſche Ynduftrie ift, zeigt gleid ein Umgang auf dem Martt-
plag, wo die meiften Verkaufsläden im Untergeſchoß der Häuſer
fic befinden. Man fieht nur das notdürftigſte Handiwerf,
namentlid Schneider und Sdhubmader; was nad Luruswaren
ausfiebt, bat ein veraltetes Anſehn.
Ich fand eine eingige Buchhandlung in Ajaccio, aber auch
dieſe iſt mit einem Kleinwarenlager verbunden, und Seife, Band,
Meſſer und Flechtwerk verkauft man dort neben Vüchern. Dod)
hat bad Stadthaus eine Bibliothef von 27,000 Banden. Lucian
Bonaparte legte yu ihr den Grund, und man fagt, er babe
fic) burch diefe Bücherſammlung größere Verdienfte um Corsica
erworben als durd fein Epos in zwölf Gefangen: La Cyrneide.
Aud die Prafectur befigt eine fhagenswerte Bibliothek, naments
lid) ift iby Urchin reid an Documenten corsiſcher Geſchichte.
Sm CStadthaufe wird die Bilderfammlung aufbewabhrt,
welde ber Cardinal Feſch feiner Baterftadt vermacht hat. Es
find 1000 Bilver an der Bahl. Die armen Biirger Wjaccio’s
können diefe Gemalde nidt aufftellen, weil fie tein Mtujeum
dafür haben. Gie liegen alfo ſchon feit Jahren in der Rumpel-
kammer. Feſch beftimmte aud fein Haus gu einer Stiftung,
erft fir die Yefuiten, dann gu einem Collegium, welded jetzt
feinen Namen tragt. Es befteht aus einem Principale und
"12 Lehrern fiir verfdhiedene Wiffenfchaften.
Groß ijt die Armut Ajaccio’s an Anftalten, wie an öffent⸗
lichen Gebäuden. Sein gripter Scag ift das Haus Bonaparte.
136
Rweites Kapitel.
Die Casa Ronaparte. |
Aus ver Gaffe S. Charles tritt man auf einen Heinen
vieredigen Platz. Gin Ulmbaum fteht dort vor einem gelb:
gtau tibertiindten Gaufe von drei Stodwerfen, mit plattem
Dah, mit feds Fenftern und mit verbraudt ausfehenden
Thüren. Wn der Gde dieſes Hauſes liest man die Auffdrift
»Place Letitia.“ .
Reine Marmortajel fagt dem Fremden, der aus Italien
fam, too die Häuſer groper Menſchen ihre Inſchriften tragen,
daß er vor der Casa Bonaparte jteht. Gr flopft an ver Thitre;
feine Stimme antiwortet; alle Fenjter find mit qrauen Laden
verfperrt, als befinde fid) dad Haus im Verteidigungsſtande
ver Vendetta. Rein Menſch jeigt fic) auf dem Play. Ailes
ringsum fdeint binweggeftorben oder hinweggeſcheucht von dem
Namen Napoleon. °
Endlich erſchien ein alter Mann an einem Fenſter der
Nadhbarjdaft und befdied mid nach zwei Stunden wiederzu⸗
fommen, wo er mir den Schlüſſel beforgen wollte.
Bonaparte’s Haus, feither wenig verdindert, wie man mir
verjiderte, ift immer die Wohnung einer angefehenen Familie
geweſen. Died zeigt fein Wusfehn, und gerabegu tft e3 ein
Palaft gu nennen im Bergleidh mit ber Hiitte, in welder
Paoli geboren wurde. Alle Geräte find aus den Zimmern
verſchwunden, nur die Tapeten hat man auf den Wanden ge
laffen, und aud) fie find veraltet. Der Fupboden, welder
nad corsifdem Gebraud mit fed8tantigen roten Fliefen aus⸗
gelegt ift, zeigt fic) ſchon bie und da fdabbaft.
Ginft glangte diefes Wohnhaus von einem gropen Familien:
leben und von frober Gaftlicfeit, heute gleidjt e3 einem Todten:
gewölbe, und vergeben3 fudt man nad einem Gegenftand
-
137
umber, an bem die Phantafie einen Anhalt fir vie Gefdidte
per ratjelbaften Bewohner fande.
Ich weiß nidt, wann das Haus gebaut wurde, bod ſchwer⸗
Tid ift 3 alt. Damal3 beberridte Genua die Ynfel, und
vielleicht erfüllte Ludwig XIV. die Welt mit feinem und mit
Srantreih3 Rubm.! Ich dachte an die Zeit, da der Meifter
dieſes Haus ridtete und feinen Abliden Segen ſprach, und
nad gebeiligter Sitte die Sippſchaft die Familie hineingeleitete,
welde e3 hatte bauen laffen; ahnungslos, daß einft das launen⸗
bafte Schickſal Kaiſer- und Rinigstronen fiber diefes Dad
ausfdiitten wiirde, und daß es die Wiege eine3 länderver⸗
fdlingenden Fiirftengefdledts werden follte.
Die erregte Phantaſie fucht fie in diefen Bimmern und
fiebt fie um ibre Mutter verfammelt, Kinder, gewdhnlid wie
andere Menfdentinder, Sdulbuben, welde bei ihrem Plutard
oder Sulius Cafar fdwigen, vom ernften Vater und vom Grof-
onfel Lucian gemeiftert, und die drei jungen Schweſtern,
welde forglod und jiemlid wild aufwachſen wie ibre Nad-
barinnen in ber balbbarbarifden Inſelſtadt. Da ift Yofeph,
der dltefte, ba Napoleon der zweitgeborne, Lucian, Louis,
Jerome, da Caroline, Glife und Pauline, die Kinder eines
Notars von mittelmapigem Cinfommen, der mit ben Defuiten
in Ujaccio unausgeſetzt und vergebens Proceffe führt, ein ibm
beftrittene3 Gut gu gewinnen, deffen feine febr zahlreiche Fa⸗
milie bendtigt ift. Denn die Zukunft feiner Kinder madt
ibm Sorgen. Was werden fie einmal in der Welt werden,
und auf welde Weiſe ein wolbabendes Daſein fid fidern? —
Und fiehe ba! diefelben Kinder Langen ſich eines Tags
ein nad dem andern die maidtigften Kronen der Erde, reißen
fie von ben Häuptern der unnabbarjten Könige Curopa’s,
tragen fie vor aller Welt, laffen fic von Kaifern und Königen
als Brüder und Sdwager umarmen, und grope Voller fallen
au ihren Fifen und geben den Sdbnen des Notars in Wjaccio
138
But und Vermigen preis. Napoleon ift europdifder Kaiſer,
Joſeph Konig von Spanien, Ludwig König von Holland,
Jerome Konig von Weftfalen, Pauline eine Firftin Jtaliens,
Glife eine Firftin Stalien3, Caroline eine Rinigin von Neapel
Go viele gefrinte Herrfder gebar und erjog in diejem einem —
Haufe eine der Welt unbelannte Biirgerstodter einer kleinen
faum genannten Inſelſtadt, Letitia Ramolino, welde viergeha —
Yabre alt einen eben fo unbefannten Mann beiratete. Ihre
Webhen waren Webhen ber Weltgefdidte.
G3 gibt fein Marden aus taufend und einer Nadt, dad
miardenbafter ware als die Gefdidte der Familie Bonaparte.
Dap aber diejes Marden in den gang nüchternen Tagen dex
neueren Zeit Wahrheit geworden ijt, muß man als eix
grope3 Greignif und ein groped Glid betradten. Hat &
vod) die Gefdidte der Menfdbeit, welche durch die poli:
tiſche Regel in Verfndderung verſank und in einem legitimen
RKaftenwefen erftarrte, gewaltjam durdhbroden, neu bewegt, mit
neuem Geift erfitlt und den Mann ither das politifde Sdidfal
geftellt. Es hat die Menfdentraft und Menfdenleidenfdaft
vom Bann der Standebefdrantungen losgerifjen, und gezeigt,
daß der Gingelne, auc) wenn er im Staube geboren ift, alle?
werden darf, weil die Menſchen fid gleid find. Daf ma
vie Gefdhidte der Bonaparte märchenhaft erjdeint, ift allen
vie Schuld der mittelalterigen Suftinde, im denen ſich daé
Leben nod) bewegt und jener iberfommenen Anſichten von dex
unerſchütterlichen Unterfdieden der Gefellfdaft. Napoleon it
per politifde Fauft. Nicht in feinen Schlachten, fondern in
feinem revolutiondren Wefen liegt feine weltgeſchichtliche Groͤße.
Gr bat die legitimen Gatter der Politi€ geſtürzt. Die Geſchichte
dieſes Menſchen ift darum ſehr einfad, ſehr menfdlid und
natürlich, aber heute fann fie nod) nidt gefdrieben werden.
Aud die Gefdicdte ift Natur. Es gibt eine Rette vox
Urfadhen und Wirkungen, und twas wir Genie oder einen
A
139
großen Menſchen nennen, ift immer da3 notwendige Erzeugniß
beftimmter Bedingungen.
Gin mebr al8 taufendjabriger Kampf Corsica’s mit feinen
Bezwingern war vorangegangen, ehe ber große Sieger Napo⸗
leon geboren tourde, in deffen Natur fid) died felfenfefte Ciland
und died im Sdladtentampf geftablte, auf engftem Raum zu⸗
fammengedringte Inſelvolk ein Organ gefdaffen hat, deffen
Geſetz war: die Sdrantenlofigkeit. Died ift die Reibe auf:
warts, ber corsiſche Bandit, der corsifdhe Soldat, Renuccio
della Rocca, Sampiero, Gaffori, Pasquale Paoli, Napoleon.
Ich trat in ein Heines Zimmer mit blauen Tapeten und
gwei Fenſtern, von denen das eine nad) einem Hofbalfon, das
anbere nad der Straße gebt. Man ſieht darin einen Wand:
ſchrank binter einer Tapetenthiire, und einen Ramin, der mit
gelbem Marmor eingefabt und mit mythologifden Reliefs ge:
ziert iſt. In dieſem Zimmer fam am 15. Auguft 1769 Na:
poleon zur Welt. C3 ijt dod ein ſeltſames Gefühl, welded
pie Seele auf einer Statte ergreift, wo ein ungewöhnlicher
Menſch geboren ward. G3 ift, ald werfe man einen Blick
inter den Vorhang der Natur, wo fie die Organe ihrer Be⸗
wegung fdafft. Wber nichts erfennen wir als das Erſcheinende,
und nad dem Wie fragen wir ſtets vergebens. |
Mod andere Räume zeigt man, den Tangfal der Familie, |
pas Bimmer der Mtadame Letitia, dad kleine Bimmer Rapo-
leons, wo er fdlief, und das, worin er arbeitete. G3 find
port nod zwei Heine Wandſchränke yu feben, in denen feine
Seculbiider ftanden. Auch jest ſtehen Bücher darin. Neu:
gierig griff id) barnad, als ob es die Napoleons geweſen
waren; es twaren vergilbte Rechtsbücher, theologifhe Dinge,
ein Livius, ein Guicciardini und andere, wol Cigentum der
Familie Pietra Santa, die mit den Bonaparte verwandt ift
und gegenwartig ihr Haus befigt.
In diefem Hauſe ijt es gut die Jugendgefdidte Napoleons
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140
fic) gu vergegenwartigen, welche nod) immer nidt gehörig be
gründet ijt. Was ih davon weiß, hörte, (a3, will id ez:
sablen. Vieles werdanke ic) dem eben erfdhienenen Bud eine’
Corsen Rasica: Mémoires sur l’enfance et la jeunesse
de Napoléon jusqu’a l’age de vingt-trois ans. Das Bud
ift dem Neffen de3 Onkels gewidmet, geiftlos gefdrieben, abet
es enthalt unbesweifelt ridtige Thatfaden und einige ſchatzens⸗
werte Documente.
Drittes Kaypitel.
Die Familie Bonaparte.
Der Urfprung der Bonaparte ift gar nidt mehr mit Sider:
beit gu ermitteln, Niedrige Schmeichelei bat vie lächerlichſten
Dinge herbeigegogen, um Napoleon die alteften und höchſtge⸗
jtellten Ahnen zu geben. Man hat fogar einen Stammbaun
-angefertigt, welder mit Emanuel II., bem adten Raifer au3
bem Haufe der Comnenen anbebt, deffen zwei Söhne nad
bem Falle Conftantinopels unter dem Namen Bonaparte erft
nad Corfu, dann nad Reapel, nad Rom und Floreng ge:
gangen fein follen. Yon ibnen ftammen dann ladherlicder
Weiſe die corsifden Bonaparte ab.
Daß bie Familie der Bonaparte im Mittelalter unter den
Signoren italienifder Städte befannt war, ift geſchichtlich er-
wiefen. Sie waren in bas goldne Bud yu Bologna, unter
vie Patricier in Floreng und in das Adelsbuch Trevifo’s ein:
geſchrieben. Als Napoleon fein Schwiegerſohn geworden war,
ließ der Kaiſer Franz Nachforſchungen über deſſen Familie
anſtellen und er überſandte ihm Documente, welche beweiſen
ſollten, daß die Bonaparte lange Beit Herren Treviſo's ge
wefen feien. Napoleon dankte und entgegnete, er finde fd
geehrt genug, der Rudolf von Habsburg ſeines Stammes zu
141
fein. Und aud fonft befeitigte er die alten Aoelsdiplome, die
man ibm vorframte, mit dem Wort: id datire meinen Adel
yon Milleſimo und von Montenotte.
Ich babe an einer anderen Stelle die Vermutung ausge-
fproden, dap der Name Bonaparte eine Stalianifirung des
longobardifden Namens ,,Bonipert” fei, welder fid) in Ur⸗
kunden de3 adten Jahrhunderts in tuscifden Landen haufig
findet. Wann die Bonaparte nad Corsica famen, ift ungewif.
Muratori hat ein Document vom Jahr 947 angefiihrt, in
welchem drei corzifde Signoren Othon, Domenico und Guido
dem Kloſterabt Silverio von Monte Crifto ihre Befigung Ve-
naco in Gorgica fdenfen; unter den Zeugen, welde diefes
Inſtrument in Mariana zeidnen, befindet fic) aud) ein Bona⸗
parte. G3 müßte bemnad die Familie oder vielmebhr ein Zweig
verjelben ſchon frithe aus Toscana nad Corsica gegangen fein.
Andere vielleiht folgten in fpateren Jahrhunderten nad, denn
bie toscanijden Bonaparte waren teils Guelfen, teils Gbi-
bellinen und wurden abwedjelnd mit der einen oder der andern
Partei vertrieben. Man weip, dap einige in die Lunigiana,
nad Sarjana, gingen und in ben Dienft der madtigen Herren
Mtalaspina traten, mit denen fie, wie id) behaupten midte,
aud nad Corsica wanderten. Gin anbderer Bweig blieb in
Toscana und madte fid) hier heimiſch, erjt in Florenz, dann
in Gan Miniato al tede8co. Die Familie hatte ihre Gruft
in Ganto Spirito ju Floreng, und dort las id im Kreuzgang
auf einem Grabjtein diefe Inſchrift:
S. di Benedeto
Di Piero di Giovanni
Buonaparte. E di sua Descendenti.
Das Wappen zeigt über und unter den Querbalten je einen
Stern. Zweimal, in Wahrheit, ijt der Stern ther bem Haus
Bonaparte aufgegangen.
142
Sn Gan Miniato blieben nod bid auf Napoleons Zeit
Glieder feiner Familie, Bei feinem Zuge gegen Livorno fand
er bort einen alten Canonicus Silippo Bonaparte, welder
den jungen Helden zu feinem Erben einfegte und im Jahre
1799 ftavb.
Was die Bonaparte in Wjaccio betrifft, fo fteigen fie mit
Sicherheit auf nur bis yum Messire France8co, der im Yabr
1567 ftarb; obne Sweifel war der corsifde Zweig ber Bona:
parte von Sarzana herüber gefommen. Died ift ihre Stamm:
tafel: |
Francesco Bonaparte 1567.
Gabriele Bonaparte Messire,
baute in Ajaccio Türme gegen die VBarbaresien.
Geronimo Bonaparte Cgregius, procurator nobilis,
Haupt der Aelteften AWjaccio’s.
Francesco Bonaparte ,
Gapitano der Stadt..
|
—— —
A
Sebajftiano Bonaparte. Fulvio Bonaparte.
Carlo Bonaparte nobilis. Ludovico Bonaparte 1632,
vermält mit Maria von Gondi.
Guiseppe Bonaparte,
Aelteſter der Stadt.
° — Oro
Sebaftiann Bonaparte, magnificus, Luciano Bonaparte,
Aeltefter ber Stadt. 1760, Ardidiaconus.
Carlo Maria Bonaparte,
geb. 29. März 1746, Vater Napoleons,
vermalt mit Letitia Ramolino.
Die Bonaparte haben keine Bedeutung in der corsifden
Geſchichte gehabt. Angefehn in ihrer Stadt, von den Genuefen,
weldjen diefe geborfam blieb, mit Titeln als Cole geehrt, bes
143
ſchränkten fie fid) auf die Teilnahme an ber birgerliden Ver⸗
waltung. Grft mit Carlo Bonaparte wird diefer Name im
gangen Land Corsica angefebn und gefdidtlid.
Napoleons Vater war am 29. Maͤrz 1746 in Ajaccio ge:
boren, in einer ſtürmiſchen Zeit, da die Cor8en alle ihre Rraft
gufammen nabmen, um da3 Genuefenjod abzuſchütteln. Gaffori
war damals ibr Haupt, PaFquale nod in der Verbannung
gu Reapel. Bet den Bonaparte in Ajaccio war es Gitte, ihre
Kinder nad Toscana yur Ausbiloung gu fdiden, und befon-
pers fie in Piſa ftudiren gu laſſen. Denn fie erinnerten jid
ibres florentinifden Adels, welden fie geltend yu machen nie
aufbirten. Carlo felbft nannte fid Nobile und Patrizier von
Florenz. Gr madte feine erften Studien auf Paoli’3 neu ge-
ftifteter Gochfdule in Corte und dann ging aud er nad Pifa,
Gr ftudirte die Rechte; man erzählt, dab er fich durd feine
Kenntniffe Adtung und durd feine Freigebigkeit Neigung zu
gewinnen wußte. In fein Vaterland zurückgekehrt, naddem
er zum Doctor der Rechte promovirt worden war, wurde er
der beliebteſte Advocat Ajaccio's.
Carlo, ſehr ſchön, und von glaänzendem Verſtand, erregte
die Aufmerkſamkeit Paoli's, welcher einen richtigen Blick für
Menſchen hatte. Er zog ihn an ſich und gebrauchte ihn in
Staatsgeſchaͤften. Bm Jahr 1764 lernte der junge Advocat
das ſchönſte Mädchen Ajaccio's kennen, Letitia Ramolino,
welche 14 Jahre alt war. Beide entbrannten in heftiger Nei⸗
gung für einander, aber die Ramolini waren genueſiſch ge⸗
ſinnt und wollten ihre Tochter einem Paoliſten nicht zum Weibe
geben. Da legte Paoli ſelbſt ſich ins Mittel und wußte die
Eltern Letitia's zu gewinnen. Ihre Mutter hatte als Wittwe
Herrn Feſch geheiratet, Capitin im Schweizerregiment in ge⸗
nueſiſchen Dienſten, und aus dieſer Ehe ſtammte der nach⸗
herige Cardinal.
Den jungen Carlo machte unterdeß Paoli gu ſeinem Sez
144
crete und nabm ibn mit fid nad Corte, dem Sig der Re:
gierung. Nur ungern folgte Letitia. Nun brad die Kata-
ftrophe über die Corsen herein; die Frangofen batten nad
vem Bertrag von Fontainebleau bereits die Inſel betreten;
das Volk aber war yu einem Parlament zufammen gefommen.
Hier ftimmte Carlo Bonaparte in einer feurigen Rede fiir den
Krieg gegen Frankreid.
Nad der unglidliden Schlacht bei Ponte nuovo, da die
Franzoſen bereits Corte fic) ndberten, flidteten einige hundert
angefebene Familien auf den Monte Rotondo, unter ihnen
aud) Garlo Bonaparte und fein Weib, welches gerade mit
Napoleon ſchwanger ging. G8 vergingen Tage der Angft und
Ungewißheit in jenen Wildniffen unter den Ziegenbirten. Cur
lid erfdienen Gefandte de3 Grafen Devaur, welder in Corte
eingerfidt war, Sie kündigten ben Flüchtlingen an, daß die
Inſel unterworfen und Paoli im Begriff fet, fid) einzuſchiffen,
daß fie nichts zu fürchten batten und in ibre Heimat herab⸗
fteigen téinnten. Sogleich fdidten jene eine Gefandtfdaft nad
Corte, an deren Spige Carlo Bonaparte und Lorenzo Giubega
von Calvi ftanden, und nachdem dieſe Abgejandten Sicherheits⸗
paffe fir alle ihre Familien empfangen batten, kehrten fie auf
ven Ptonte Rotondo zurück, um diefe abjubolen.
Bonaparte ftieg mit feinem Weibe ins Niolo, um fo nad
Ajaccio gu gelangen. Sie muften über den Liamone feper
und ba diefer Fluß angefdwollen war, fam Letitia in Gefahr
zu ertrinfen. Jur ibr Mut und die Sebnelligheit ihrer Be
gleiter retteten fie. Carlo wollte Paoli, feinen Gdnner ud
Freund, in Gril begleiten, indem er es fir fdhimpflid hielt,
in Corsica gu bleiben, nachdem das Baterland in Frangofen:
gewalt gefallen war. Wber die Bitten feines Onkels, ded
Ardidiaconus Lucian und die Tranen feines Weibes vers
modten ibn von diefem edeln Gedanten abjubringen. Gr wat
denn dod fein glühender Patriot; er fehrte nad Ajaccio zurüd
145
und wurde dort unter franzöſiſchem Regiment Aſſeſſor ve3 Ge—
ridtshofes. Marbeuf bebandelte ibn mit Auszeichnung; durd
feine Berwendung erbielt er ſpaͤter für feinen alteften Gobn
Joſeph eine Stelle im Seminar yu Autun, fir feinen zweit⸗
gebornen Napoleon eine in der Militdrfdule zu Brienne.
Marbeuf, der Croberer Corsica's, war e8 alfo, welder dem
jungen Napoleon feine Laufbabn möglich madjte. Gr befucte
das Haus Bonaparte fehr häufig und verlebte in der Gefell-
ſchaft bet ſchönen Letitia manche angenehme Stunde; died
und die Gunft, welde er dem jungen Napoleon fdentte, ver⸗
anlapten das Gerücht von einem galanten Verhältniß Dar:
beuf3 zu Letitia.
Uebrigens war derfelbe bem Vater Napoleons verpflidtet.
Als nämlich der General Narbonne-Friglar in Corsica gegen
jenen Ranke machte, um den Oberbefehl gu erhalten, ftimmte
Carlo bas franzdfifhe DMtinifterium dahin, Marbeuf in der
Regierung zu helaffen. Diefen Dienft vergalt ihm der Graf
mit feiner Freundfdhaft, mit feinem Wolwollen und mit der
Empfehlung des jungen Militarfdiilers Napoleon an die ein:
flubreihe Familie Brienne. Carlo zeigte Marbeuf auf jede
Weiſe feine Anhanglidfeit; id) las von ihm ein Sonett auf
ven Grafen, welches ich nicht mitteilen will, weil e3 un-
bedeutend ijt.
om Jahre 1777 wurde Napoleons Vater Wbgeordneter
des Adels fiir Corsica und reiste über Floreng nad Paris.
Rod einmal begab er fic) dabin, um feinen ProceB mit den
Yefuiten in Wjaccio gu Ende gu führen. Daritber ftarb er in
feinem 39ften Jahr zu Montpellier an vemfelben Magenübel,
an weldem aud) fein Sohn Napoleon fterben follte, im
Sebruar 1785. Bn den Pbhantafien des Todes träumte er
beftindig von Napoleon, ein Beweis, dab er auf diefen Sohn
alle feine Hoffnungen gefegt hatte; er rief fterbend: „Wo ift
Napoleon, warum fommt er nidt mit feinem gropen Degen
Sregorovius, Corsica. Il. 10
146
fetnem Bater zu belfen?” Bn den. Armen feines Sohnes
Joſeph verfdied er. Man begrub ifn in Dtontpellier. Als
Napoleon Kaifer geworden war, madten ihm die Bürger diefer
Stadt den Antrag, feinem Vater ein Dentmal gu erridten.
Gr antwortete, dab man die Todten folle ruben laſſen, denn
wenn er feinem Vater, der nun fdon fo lange todt fei, eine
Statue fege, fo würden fein Großvater und fein Urgrofvater
mit demfelben Redt- eine gleide verlangen. Später ließ Louis
Bonaparte, König von Holland, ſeines Baters Leiche and
gtaben und in St. Leu beifegen. -
Rapoleon war, als Carlo Bonaparte ftarb, auf ver Schule
in Paris. Dies ijt der Troftbrief, welden der 16jabrige
Jüngling damals an feine Mutter fdrieb:
. Paris, den 29. März 1785.
Meine teure Mutter! |
Heute hat die Beit die erften Ausbrüche meines Schmerzes
ein wenig berubigt, und id beeile mid Ihnen die Dankbarkeit
su bezeugen, welde mir bie Güte einflößt, die Sie immer
fiir un3 gebabt haben. Tröſten Sie fid, meine teure Mutter.
Die Umſtände gebieten es. Wir werden unfre Gorge und
unfre Grfenntlidfeit verdoppeln und gliidlid fein, wenn wit
durch unjern Geborfam Sie in Etwas fiir den unſchätzbaren
Verluft eines geliebten Gatten entfdadigen finnen. Ich ſchließe,
meine teure Mutter; mein Schmerz befieblt es, indem id bitte,
daß Sie ben Yhrigen befinftigen. Meine Gefundbeit ift aud:
gezeichnet und alle Tage bitte ich den Himmel, Ihnen eine
ähnliche gu fdenten. Bringen Sie meine Hochadtung der
Tante Gertrud, Minana Saveria, Minana Fefd 2c,
P. S. Die Kinigin von Frankreich ift mit einem Pringen
niedergefommen, genannt Herzog ber Normandie, am 27. Dtar;,
7 Uhr des Wbends.
Ihr febr ergebener und affectionirter Sohn:
Napoleon de Bonaparte.
147
Wenn diefer lakoniſche Brief des jungen Napoleon ächt ift,
fo ift er nod) etwas mebr wert, als der Troftbrief Seneca's
an feine Mutter Helvia.
Carlo war ein Mann von glangenden Cigenfdaften, ein
flarer BVerftand, ein feuriger Redner, und wie man gefebn
bat wol fügſam in die Umſtände und von politifder Lebens⸗
Flugbeit. Gr liebte Glanz und Verſchwendung. Bei feinem
Tode war Madame Letitia erft 35 Jahre alt und hatte ibm
fon 13 Kinder geboren, von denen 5 geftorben waren.
Jerome lag nod in ber Wiege.
Das Gaupt ver Familie wurde der Urdidiaconus Lucian,
welder dad Familienvermdgen verwaltete. Die Bonaparte be-
fapen einige Landgiiter, Weinberge und Herden.
Viertes Kapitel.
Napoleons Rnabenfayre.
Ich bin and ein fierblider Menſch,
Gleich wie bie anbern geboren
Vom Geſchlecht des erften gefdhaffenen Menſchen.
Weisheit Salomonié.
G3 hat einen großen Reiz, einen außergewöhnlichen Menſchen
alg Kind und in dem Alter fic) vorguftellen, wo er unter feined-
gleiden verloren nod) ſchickſalslos ift. Man fühlt fid) verfudt
{chon bier die Bikge des Mannes zu erraten; aber die Kindheit
ift ein tiefes Dtyfterium, und wer fann in ihr die Gejtalt des
Genius oder de3 Damon entdeden, wer gar die geheimnipvolle
Macht wabrnehmen, die das fdlummernde Ungebheure plötzlich
ergreift und in bie Beit hinausſetzt.
Ich fab in den Uffigien gu Floren die Marmorbiifte eines
Knaben. Ihr unjdhuldiges Kindesladeln zog mid) an und mit
148
Vergnügen betradtete id) fie. Auf dem Sockel ftand ge:
fdrieben: Nero.
Bon der erjten Kinderzeit Napoleons ift nicht viel befannt.
Seine Mutter war beim Feft der Affunta in der Kirche, als
fie die Geburtswehen empfand. Sie hatte nidt mebr Heit,
ibe eignes Zimmer zu erreichen, fondern gebar in dem fleinen
Cabinet und wie man erjablt, auf einem Teppich, welder
Scenen aus der Heldengefdidte ver Iliade darftellte. Fore
Sdwigerin Gertrude verridjtete die Hebammendienfte. Es
war 11 Ubr de Mtorgen3, ba Napoleon zur Welt fam.
Gr wurde erſt am 21. Juli 1771 getauft, alfo faft swei
Sabre nad ſeiner Geburt, und zufammen mit feiner bald ver:
florbenen Gdwejter Maria Anna. Man erzählt, dap er fid
heftig ſträubte, als der Priefter ibn mit Weibwaffer begießen
wollte; vielleicht wollte er fid) felber taufen, wie er fic) fpdter
felber frdnte, dem Papft die Krone aus den Händen nehmend.
WS Knabe zeigte er ein heftiges Temperament und war
in fortdauerndem Zank mit feinem älteſten Bruder Yofeph.
Yn den findliden PBriigelfcenen war Joſeph immer der Jet:
zauſte, und wenn er Hagen lief, befam Napoleon Recht. Hu:
legt wurde Joſeph dem kleineren Bruder ganz untertan, und
vie Familie ſchien Napoleon als bas Haupt ver Gefdwifter
{chon in früher Beit betradtet 3u haben. Auf feinem Tonten:
bett fagte der Urdidiaconus Lucian yu Joſeph: „Du bift ver
altefte der Familie, aber dort fteht ihr Haupt, dad follft ds
nidt vergeſſen.“
Wir wollen e3 gerne glauben, dap ber Knabe Napoleon
eine unbezgibmbare Leidenſchaft fir bad Militär geigte, und
pap er nichts Tieber that, al neben den Golbdaten berlaufen.
Gr qualte feinen Bater mit Bitten, ibm eine Kanone am
zuſchaffen, und nod lange jeigte man die Hemme metallia
Kanone im Hauſe Bonaparte, mit welder diefer Pulverwollen⸗
fammler Zeus als Kind zu fpielen pflegte.
149
Im Jahr 1778 bradte ihn ver Vater auf vie Militar:
fdule nad Brienne, wo Pidegrit fein Lehrer war. Man
weiß, dab Napoleon dort anfangs fanft und fleipig fich zeigte.
Mur bisweilen brad fein reigbares Ehrgefühl gewaltſam hervor.
Sein OQuartiermeifter verurteilte ihn eine3 Tags um eines
Vergehens willen zu der fdhimpfliden Buße im Wollenkleid
und auf den Knieen an der Thiire des Refectorium zu effen.
Das fonnte der Stolz des jungen Corsen nicht ertragen —
er erbrad fic) und befam einen Mervenanfall. Der Pere
Petrault befreite ihn fofort von der Strafe indem er fic) be-
flagte, dap man feinen beften Mathematifer fo ſchmählich
bebanbdle.
Sm Jahr 1783 ging Napoleon auf die Militärſchule nad
Paris um feine Studien zu vollenden, bereits trefflid) ge:
bildet, den Ropf voll Heldengeftalten aus feinem geliebten
Plutard und das Herz durddrungen von den Thaten feiner
großen corsiſchen Vater, ein fprithend genialer Yingling und
ein ausgepragter Charafter. Es gährte damals in der Welt
und durd die Beit ging der Geift groper Creigniffe.
Der junge Officier Napoleon war im Jahre 1785 gu
feinem Regiment nad Valence gegangen. Das erregte Gemiit
fudte nad einem Ausdruck feiner felbft. Gr madte fic) bier
an die Prei8aufgabe ber Wlademie von Lyon: „Welches find
vie Principien und die Ynftitutionen, die man den Menfden
geben mup, um fie glücklich zu maden” — ein in jener
humaniſtiſchen Beriode beliebtes Thema, welches der Yingling
anonym löſte. Später warf er dad Manufcript ins Feuer
al3 er Raifer getworden war und Talleyrand daffelbe aus den
Ardhiven in Lyon hervorgezogen hatte, um dem Madtigen
qu ſchmeicheln. Der junge Menjdhenbegliider mußte den Tribut
an feine Beit entridten, und aud die Empfindfamfeit war ein
Bug in ihr. Wad wiirde man twol dazu fagen, wenn eines
Sages Napoleon als Autor eines fentimentalen Romans im
150
Charafter des Ridardfon und Sterne Auffebn gemadt hatte?
Gr hatte mit einem feiner Freunde Demarris eine Reife auf
den Mont Cenis unternommen, und guriidgefehrt, dad Her;
angenebm bewegt von feiner zartliden Neigung zum Fräulein
Colombier, mit weldem er verftolne Rendezvous hatte und
unfduldige Kirſchen ab, fete er fic) an den Tifd und fing
eine empfindfame Reife auf ben Mont Cenis gu ſchreiben an.
Gr fam nidt weit damit; dod ift diefe Anwandlung in der
Geele Napoleons mertwiirdig, und hatte er nicht aud in
Egypten Werthers Leiden mit fic ?
Mod) Corse mit Leib und Seele ſchrieb er in Valence aud
eine Geſchichte der Corsen, eine ſchöne Aufgabe fiir einen
jungen Napoleon. Das nidt vollendete Manufcript befinbdet
fic) in der Bibliothef zu Pari und wird nun herausgegeben
werden. Gr fdidte e3 an Paoli, welchen er bewunderte, und
der damals in der Verbannung 3u London lebte. Dieſes ift ein
Teil feines hegleitenden Sdreiben3 an den großen Land3mann:
„Ich ward geboren als das Baterland ftarb. Dreifig:
taufend Franzoſen, auf unjre Küſten gefpicen, ber Tron der
Freiheit in den Blutwellen verfinfend, bas war das verbapte
Schauſpiel, welded zuerſt meine Blide erfdredte. Dad Gefdrei
ver Sterbenden, das Gefeufge der Unterdritdten, die Tränen
ber Vergweiflung umgaben meine Wiege feit metner Geburt.
„Sie verlieBen unfre Snfel, und mit Ihnen verſchwand
die Hoffnung des Glücks; vie Sclaverei war der Preis unferer
Unterwerfung. Unter der gebduften Laft der dreifaden Rette
des Soldaten, ded Geſetzgebers und des Steuereinnehmers,
lebten unſre Landsleute in der Verachtung ... in der Ber:
achtung derjenigen, welche die Gewalt der Regierung in der
Hand haben, Iſt das nicht die graufamfte ber Martern die
verjenige erleiden fann, welder Gefühl bat?
„Die Berrater am Baterland, die feilen Seelen, welde
die Liebe zu einem ſchmutzigen Lohne befticht, haben, um fid
° . 151
zu redtfertigen, gegen bie nationale Regierung und gegen
Ihre Perjfon im. Befondern Verliumbungen ausgefaet. Die
Schriftſteller nehmen fie auf und iiberliefern fie als Wahr⸗
heiten der Nachwelt.
„Indem ich ſie las, geriet ich in Flammen, und ich habe
beſchloſſen, dieſe Uebel, die Erzeugniſſe der Unwiſſenheit, zu
zerſtreuen. Ein frühe begonnenes Studium der franzöſiſchen
Sprache, gute Beobachtungen und Denkwürdigkeiten aus den
Papieren der Patrioten geſchöpft, ſetzen mich in den Stand
ſogar einigen Erfolg gu hoffen ... Ich will Ihre Verwaltung
mit det gegenwärtigen vergleichen ... Dd will die Verräter
per gemeinen Gade mit dem Pinfel ‘ver Schande in Schwarz
malen... Ich will vor das Tribunal der öffentlichen Meinung
Diejenigen Laden, welche regieren, ihre OQualereien “bid ind
Kleinfte darftellen, ihre geheimen Schliche aufoeden, und wenn
e3 miglicd ijt, bem tugendbaften DPtinifter welder den Staat
regiert, Herrn von Neder, Teilnabme fiir das beflagens:
werte Sdidjal einflößen, welches un3 fo graufam nieder:
ſchlaͤgt.“
Dies ſind die Geſinnungen und dies iſt die Sprache des
jungen Corsen Napoleon, des revolutionären Schülers des
Plutarch. In ſeiner Geſchichte der Corsen ſagt er einmal:
„Wenn das Vaterland nicht mehr iſt muß ein edler Bürger
ſterben.“ Es waren dies damals keine Phraſen aus dem
Tacitus, es war die glühende Sprache einer zum Großen be⸗
fabigten Jünglingsſeele. Gibt es doch kaum einen Menſchen,
deſſen raſche Entwicklung man mit gleicher Freude verfolgen
darf, als die des jungen Napoleon, etwa bis zum Frieden
von Campo Formio. Ein Held, ein Halbgott fliegt an uns
vorüber, noch unangetaſtet vom Eigennutz, bis das herrliche
Menſchenbild nad und nad ſich zertrümmert und von uns
su denen geftellt wird, welche gewibnlide Defpoten waren.
Denn e3 bauert feine Gripe, und Macdiavelli bat Recht:
_-
ty u . . .
pt ea M. , ae .
RE ROL Ay ea gee at
! OO a0 SCT
152
G3 gibt feine andern, als gewibnlide Menfden. — Man
nennt nod) einige Yugendfdriften Napoleons, welde nun ge:
druckt werden ſollen, darunter zwei Novellen le Comte d° Essex
und le Masque prophéte, ein Dialog fiber die Liebe, Giulio
betitelt und andere literarifde Verſuche.
Napoleon fam alle Jahre nach Ajaccio und madte dann
feinen Einfluß auf die Erziehung . feiner Geſchwiſter geltend.
Diefe war einfad nad der Art des Landes und altvdterifd
ftrenge. ,,Dtan midte fagen,” heißt e3 in dem Bude Nasicas,
„daß man. in einem Collegium ober in einem Slofter lebte.
Das Gebet, der Sdlaf, das Studium, die Erholung, die
Luftharkeit, alles war geregelt und gemeffen. Die größte
Harmonie, eine zarte und aufridtige Liebe herrſchte unter
allen Gliedern der Familie. Sie war damals das Muſter
ver Stadt, wie fie {pater ihre Bierde und ihr Rubm wurde.”
Der Ardidiaconus Lucian verwaltete das Familiengut mit
Sparfamfeit, und es foftete den jungen Napoleon viel An:
ftrengung, wenn er vom Großonkel einiges Geld mehr ju
feinen Ausgaben erbalten wollte. Indeß er erbielt es. Die
ganze Familie fiblte den Ginflub de3 jungen Mannes und
ftand unter ber Herrfdaft diejes geborenen Gebieters. Denn
gebieten mußte er einmal, und fo ijt e3 febr bezeichnend, dab
er nidt allein die jüngeren Gefdwifter, fondern auch feinen
Glteften Bruder ſchulmeiſtert, und in ihre Erziehung beftimmend
eingreift. Es war bald eine ausgemadte Gade, daß man
dem jungen Mapoleon zu geborden babe.
Sd finde einen Brief Napoleons an feinen Onkel Feſch,
den nadberigen Cardinal, vom 15. Juli 1784 aus Brienne.
Der 15jährige Knabe ſchreibt hier in der verftandigften An:
fchauung der LebenSverbdltnifje über bie Laufbabn, die fein
altefter Bruder Joſeph gu ergreifen habe. Der Brief ift leſens⸗
wert, erwägt man, dap diefer fo bebdentlid) befprocene Joſeph
nadber König von Spanien war.
—
153
Rapoleon an feinen Onkel FJeſch. |
Mein teurer Onkel, id) fdreibe Ihnen, um Gie von der
Reiſe meines lieben Vaters durch Brienne zu unterridten,
welcher nach Paris ging, Marianne (die ſpätere Eliſa von
Toscana) nad St. Cyr zu bringen und ſeine Geſundheit
wiederherzuſtellen. Er iſt hier am 21. angekommen mit Lucian
und den beiden Demoiſellen, die Sie geſehn haben. Dieſen
letzteren hat er hier gelaſſen. Er iſt 9 Jahre alt, und 3 Fuß,
11 Zoll und 10 Linien groß: ev iſt in der Sechsten im Latein,
und wird die verfdiedenen Partieen de Unterridtes lernen;
er zeigt viel Talent und guten Willen, man darf hoffen, dab
etwas Gute3 aus ihm twerden wird (que ce sera un bon
sujet — Lucian war der Gingige, der es verſchmähte, König
gu fein). Gr ift gefund, er ift fraftiq, lebbaft und unbefonnen,
und fiir den Unfang ift man mit ihm gufrieden. Er weif
das Frangofifdhe recht gut und hat das Italieniſche ganz und
gar vergefjen. Uebrigens wird er meinem Brief beifdreiben;
id) werde ihm nidts fagen, damit Sie wiſſen, wie e3 mit
ibm ftebt. Ich hoffe, dab er Ihnen nun öfter fdreiben wird,
als ba er in Autun war... . Ich bin überzeugt, dab mein
Bruder Joſeph Ihnen nod) nidt gefdrieben hat. Wie wollten
Gie bag verlangen? Gr fcreibt an meinen lieben Water
höchſtens zwei Beilen, wenn er e8 nocd thut. Yn Wabrheit,
er ift nicht mebr derfelbe. Indeß an mid fdyreibt er febr oft.
Gr ift in der rbetorifden Rlaffe; und er würde beffer thun,
wenn er atbeitete, denn der Herr Lehrer hat meinem lieben
Pater gefagt, dap e3 im Collegium (ju Wutun) feinen Pby-
filer, nod) Rbetorifer, nod Philoſophen gebe, der fo viel
Valent hatte als er, und der fo gut eine Ueberfegung madte.
Was den Stand betrifft, den er ergreifen foll, fo tar e8, wie
Sie wiſſen, guerft der geiſtliche, welchen er wablte. Er blieb
bei diefem Entſchluß bis auf diefe Stunde, wo er nun dem
154
Könige dienen wil. Darin thut er aus mebren Gritnden
Unrecht.
1) Wie mein Vater bemerkt, hat er nicht Kühnheit genug,
um den Gefabren einer Schlacht die Stirn zu bieten; feine
ſchwache Gefundbeit erlaubt ibm nidt, die Befdhwerden eines
Feldzuges gu ertragen; und mein Bruder fieht den Soldaten⸗
ftand nur von der Geite der Garnifonen. Ja, mein Lieber
Bruder wird ein guter Garnijonofficier fein: da er einen
leichten Ginn bat und folglid) zu frivolen Complimenten ge:
(chidt ift, wird er mit feinen Talenten immer eine gute Figur
in dex Gefellfdaft maden, aber in einer Schlacht? Das ift’s,
was mein teurer Vater besweifelt.
Qu'importe a des guerriers ces frivoles avantages?
Que sont tous ces trésors sans celui du courage?
A ce prix fussiez vous aussi beau qu’Adonis,
Du Dieu méme du Pinde eussiez-vous [éloquence,
Que sont tous ces dons sans celui de la vaillance?
2) Er hat eine Erziehung fiir den geiftliden Stand em:
pfangen; es ift zu fpdt, fie gu vergeffen. -Der Herr Biſchof
von Autun würde ibm ein groped Benefig gegeben haben,
und er ware fider Biſchof zu werden. Welche Borteile fir
vie Familie! Der Herr Biſchof von Autun hat fein möglichſtes
gethan, um ibn zu bewegen gu bleiben, und ibm verfproden,
bap er e3 nie bereuen folle. Vergebens: er bebarrt. Ich lobe
e3, wenn er einen entfdiedenen Gefdmad fiir diefen Stand
hat, den ſchönſten von allen Standen, und wenn der große
Beweger der menfdliden Dinge (le grand moteur des
choses humaines) indem er ibn bildete. ihm wie mir eine
entſchiedene Neigung fiir dad Militar gegeben hatte.
3) Gr will, dab man ihn im Militär anftellt; das ift
gang gut, dod in welchem Corp? Ctwa in der Marine?
x
155 |
4) Gr verfteht nidts von der Mathematik. C3 bedürfte sweier
Jahre, um fie ibn zu lebren. 5) Seine Gefundbeit vertragt
fic nicht mit dem Meer. Etwa im Genie? Da braudte er
vier oder fiinf Sabre, um dad Nötige gu lernen. Außerdem
denfe id, dab den gangen Tag befdhaftigt yu fein und zu
arbeiten fid) nicht mit der Leidtigheit feines Weſens vertragt.
Derfelbe Grund wie für das Genie ift fiir die WArtillerie vor:
Banden, mit der Ausnabme, dab er nur 18 Monate zu
arbeiten brauchte, um Cleve, und ebenfo viel um Officier gu
werden. Ob! das ift nod nidt nad feinem Gefdmad. Laft
alfo febn: ex will obne Sweifel in die Snfanteric. Gut, id
verftehe: er will den gangen Tag nichts gu thun haben, er
will ben ganjen Tag das Pflafter treten: um dann, was ift
ein wingiger Ynfanterieofficier? Cin fdledtes Subject drei
Viertel ber Zeit hindurd. Und das wollen weder mein teurer
Vater, nod) Sie, nod meine Putter, nod mein Onfel der
Wrdidiaconus, denn er bat ſchon Heine Proben von Leidtfinn
und Verſchwendung gezeigt. Folglid, man muß einen letzten
Verfud maden, um ibn fiir den geiftliden Stand ju ge:
winnen; wo nidt, fo wird ibn mein Lieber Vater mit fid
nad Corsica nebmen, wo er unter feinen Augen fein wird.
Man wird verfudhen, ihn in die Geridtsjdreiberet yu geben.
Ich ſchließe mit der Bitte, mir Ihr Wolwollen zu erhalten;
mid) deffen wert zu maden wird fiir mid die wefentlidjte
und angenebmite Pflicht fein. Ich bin mit dem tiefften Refpect,
mein teurer Ontel,
Ihr febr ergebener und febr geborfamer Diener und Neffe
Napoleon de Bonaparte.
P. 8. Berreifen Sie diefen Brief.
Dod finnen wir hoffen, dab Yofeph mit den Talenten,
die er befigt, und den Gefinnungen, welde feine Erziehung
im eibngefldpt haben muß, fid gum Guten befinnen und die
156
Stipe unferer Familie fein werde. Stellen Sie ibm ein wenig
alle diefe Borteile vor.” |
Hatte man nidt ein Recht zu gweifeln, dab eta Knabe
von 15 Jahren diefen fo felbjtbemubten, entfdiedenen und
Haren Brief gefdrieben habe? Cr ijt bisher nicht heraus—
gegeben ; ich fand ihn in dem Werf Tommaſeo's: ,, Briefe des
Pasquale Paoli,” welcher erflart, dab er ibn vem Rat des
fdniglidjen Gerichts in Baftia, Herrn Luigi Biadelli, gu ver:
danten habe. Mic oink, dad ift ein unfdhagbares Docu⸗
ment. Man blidt da recht tief in den Familienrat der Bona:
parte und ſieht die kleine Sippjdaft recht deutlid) vor Augen.
Here Feſch in Wjaccio trug, als er den Brief mit den Rad:
richten über den leichtſinnigen Joſeph befam, gerade feinen
ſchafswollnen Rittel und hatte die hilgerne Tabakspfeife im
Munde; denn fo haben ibn nod viele Augenzeugen gejeben.
Spater trug er den Cardinalshut, der leidtfinnige Junge
Joſeph aber ward König von Spanien.
Napoleon fann man in dieſem Brief ſchon als den fpateren
Tyrannen feiner Familie erfennen. Hier fiir feine Briider
forgend, an ihre Zukunft denfend, gab er ibnen dann Königs⸗
fronen und verlangte unbebdingten Geborfam. Geiner Zy:
rannei widerftanden allein der birgerlide Qucian und Loui’
König von Holland.
Fünftes Rapitel.
Hapoleon als etfriger Demokrat.
So oft Napoleon zum Beſuch nad Wjaccio fam, lebte ex
gern in Dtilelli, einem den Bonaparte gebdrigen Landhaufe
nabe bei Wjaccio, mo man nod heute den alten Gidbaum
157
-fiebt, unter weldhem der Jüngling gu figen, zu trdumen, gu
grübeln pflegte.
Da fam die Revolution in Frankreich, der Sturm auf die
Baſtille, der Umſturz der beftehenden Dinge.
Der junge Rapoleon warf fid) mit der ganzen Leidenfdaft
ſeines Weſens in vie Bewegung der Geifter. Das Sdhidfal
aber hatte ihn gu anderen Dingen aufgefpart, als in bem
Kampf der Parteien frithe fic) aufgureiben. Von Paris fern
und auf feiner kleinen Snfel mufte er die erften Stürme der
neuen Zeit gleidhjam vorbereitend mitleben. Corsica wurde
ſeine Schule.
Wir finden ihn in Ajaccio wieder als feurigen Revolu-
tionir, in den Clubs Reden halten, Adreſſen ſchreiben, die
Nationalgarde einridten belfen.
Ajaccio war damals der Mtittelpunkt der corsifden Revo-
lutiondre, das Haus Bonaparte bald ihr Verſammlungsort,
die beiden Brüder Yofeph und Napoleon Führer der Demo:
fratie. Die Stadt war in Wufrubr. Ihre Bewegung fdien
dem General Barrin, welder die Inſel befebligte, fo bedroblid,
bap er Gaffori’s Sobn, den Marſchall Francesco abfdidte,
fie zu zügeln. Gaffori hatte feinen Grfolg, vielmebr war er
froh im Hauſe Bacciocdhi’3, des nachherigen Firften von
Lucca und Piombino, Schutz zu finden.
Napoleon und Yofeph verfammelten indeß die demofratijde
Partei in der Kirche Gan Francesco und erließen ein Glid:
wunſchſchreiben an die Conftituante, worin zugleich die bitterſten
Befchwerden gegen die bisherige Regierung in Corsica und
die Forderung ausgefproden wurden, die Ynfel gu einem Teile
Frankreichs gu erflaren.
Napoleon erfannte feine Zeit; dem corsifden Patriotismus
entfagend, wurde er entfdieden Franzoſe und warf ſich der
Revolution in die Wrme.
Ym November 1789 febrte er nad Valence zurück, und
158
bald darauf ift er wieder in Ujaccio, wo Yofeph, wabrend
man die Nationalgarbde einvidtete, fic) eifrig um eine Officier-
ftelle bemihte. Darius Peraldi, der reichſte Mann Ajaccio’s
und Feind der Bonaparte, wurde yum Oberſten erwablt,
Joſeph aber Officer.
Mittlerweile hatte man in Corsica den Antrag gemadt,
die Verbannten zurückzurufen, und auf Betreiben der beiden
Brüder Bonaparte. und des Wbbate Coti ernannte die Landed:
verfammlung vier Deputirte, welche Pasquale in Frankreidh
einbolen und nad) der Ynfel geleiten follten; unter ihnen be
fand fid) Peraldi, und Napoleon wie Joſeph ſchloſſen fic den
Boten an.
Als Paoli nad Paris gefommen war, hatte die Confti-
tuante am 1. December 1789 die Cinverleibung der Inſel in
Frankreich bereits ausgefproden, und died Decret madhte ihrer
politifhen Gelbjtanbdigheit fiir immer ein Ende. SDtirabeau
und der Corse Galiceti, Whgeordneter des dritten Stande3,
ber nadber berithmt geworbene Minijter Murats in Neapel,
batten diefen Antrag geftellt.
Napoleon felbft eilte Paoli in Marfeille zu bewillkommnen
und war Beuge der Freudentranen, welche der edle Patriot
vergop, als er im Gap Corso feinen vaterlandijden Boden
wieder betrat. Gine LandeSverfammlung fam in Oregga ju:
ſammen. Jtapoleon und fein Feind, ber junge Carlo Andrea
Pozzo vi Borgo, verdienten ſich hier die erften Sporen als
dffentlide Redner. Son um feines Vaters willen mufte er
bie Aufmerkſamkeit Paoli's erregen, der über die glangende
Urteilstraft de3 Jünglings erjtaunt, von ihm gefagt haben
foll: diefer junge Mann wird feine Laufbabn machen, es feblt
ihm nur die Gelegenbeit um ein Menſch ded Plutard) gu fein.
Man erziblt, dab Pasquale in eine Locanda einfehrte, und
die Zimmer in Unordnung findend ſich vom Wirt fagen lief:
ein junger Mann, Bonaparte, fei vor ihm bier gewefen, der
159
babe Zag und Nadt gefdrieben und wieder jerriffen, in Un⸗
rube auf und ablaufend, dann fei er fort auf da3 Schlachtfeld
bei Ponte Muovo. |
Napoleon hatte e3 an nits feblen laffen, um feinem
Bruder Yofeph zur Präſidentenſtelle des Diftricts Ajaccio zu
verbelfen; als ein gewandter Parteimann hatte er die Ort:
ſchaften bereijt, Stimmen geworben und Geld gefpendet.
In Wjaccio war er unermüdlich thatiq, den republifanifden
Glub in Atem gu halten, vie Priefter und die WAriftofraten gu
iiberwiltigen. Es gab zwiſchen beiden Barteien blutige Kämpfe;
Napoleon ſchwebte in Lebensgefahr, ein Officier der National:
garde wurde neben ihm getddtet. Gr ergiblte die näheren
Umftande felbft in einem Manifeft. Mebrere Tage lang
dauerte das Blutvergiepen und mehrmals ftand bas Leben
der Bonaparte auf dem Spiel.
Napoleon galt als die Geele ded Clubs. Gleich den
jungen Politifern unferer jingften Vergangenheit, feben wir
ibn ein Pamphlet gegen einen Ariftofraten fdleudern. Es
war die der Graf Matteo Buttafuoco ,; verfelbe welder Rouffeau
nad BVescovato eingeladen, welder zur Zeit de} Unabbhangig:
feit3friege3 ber Corsen in frangdfifden Dienften geftanden und
dem Landesfeinde gegen feine eignen Landesbrüder feinen Arm
geliehen hatte. Gr war corsiſcher Woelsdeputirter, hatte gegen
vie Vereinigung der Stdnde in Verfailled geftimmt und fid
aud fonft durch feine atiftofratifden Meinungen verhaßt ges
madt. Gegen diefen Mann nun fdrieb der junge Napoleon
au Milelli ein Mtanifeft, welches er in Ddle druden lieB und
pann dem Club in Ajaccio gufandte. Das überſchwängliche,
pod) ſachlich wol begriindete Pamphlet ift ein merkwürdiger
Beitrag gur Kenntniß Napoleons. C3 hat all’ den Schwung
der jungen Revolutionare, und wie id e3 las in diefer Gin:
famfeit Ajaccio's, erwedte es mir die Heiterften Crinnerungen
aug den Qabren 1848 und 1849. Wher es ift mehr als das
— —— ieee 8k.
160 .
blofe Libell eines jungen Demagogen, es ift das Grercitium
fiir faiferlidhe Coicte, es ift der Raifer felbft als Embryo.
Man kann vas Sebriftitiid nicht entbebren, wenn man Ra:
poleon8 Werden von der jugendliden Cntwidlung an et:
fennen twill.
Brief des Herrn BWonaparte an Herrn Matteo Wutfafuoce,
Deputirten Corsica’s zur Nationalverfammlung.
Mein Herr!
Von Bonifazio bis zum Cap Corso, von Ajaccio bis nad
Bajtia ijt nur ein Chorus von Verwiinfdungen gegen Gie.
Dore Freunde verbergen fid, Ihre Verwandten verleugnen
Sie, und der Verftandige ſelbſt, der fid) von der Volksmeinum
nie meiftern läßt, ijt diesmal von der allgemeinen Crbitteruns
mit fortgeriffen.
Was haben Sie denn gethan? Weldhes find denn die Ber
breden, die einen fo allgemeinen Unwillen, ein fo vollftin
diges Verlaſſen redtfertigen finnen? das mein Herr, will i¢
eben ergriinden und mid) Ihres eignen Lichtes bedienen.
Die Gefdhidte hres Leben3, zum mindeſten feit Sie auj
den Schauplatz der UAngelegenheiten geworfen find, ift befannt.
Ihre Hauptziige find hier in Blutharatteren gezogen. Indes
e3 gibt weniger befannte Gingelbeiten; id) könnte alfo irren.
bod redne id) auf Dhre Nadhfidt und Ihre Zurechtweijung.
Sn den Dienjt Frankreichs getreten, famen Sie zurũüd
Ihre Verwandten zu feben; Sie fanden die Tyrannen nieder:
gefdlagen, die Nationalregierung eingefegt, und die Corser,
von großen Gefinnungen beberrfdt, dem sffentliden Wol um
die Wette tägliche Opfer bringen. Sie ließen fic) durch die
allgemeine Gabrung nicht verfiihren; weit entfernt, Gie bértes
nur mit Mitleiden die Geſchwätz von Baterland, Freibeit,
Unabbangigkeit, Conftitution, mit bem man felbft unfre letzten
161
Bauern aufgeblabt hatte. Cin tiefes Nachdenken hatte Sie fetts
dem bdiefe künſtlichen Empfindungen ſchätzen gelehrt, welche
ſich nur mit dem allgemeinen Schaden aufrecht erhalten. In
Wahrheit, der Bauer ſoll arbeiten und nicht den Helden machen,
wenn er nicht vor Hunger ſterben, wenn er ſeine Familie er⸗
ziehn und die Geſetze achten ſoll. Was die Perſonen betrifft,
welche durch ihren Rang und ihr Glück zum Regieren berufen
ſind, ſo iſt es unmöglich, daß ſie lange Zeit ſo dumm ſein
ſollten, ihre Gemächlichkeit und ihr Anſehn einem Hirngeſpinnſt
gu opfern, und daß fie ſich erniedrigen follten, einem Schuh⸗
flicker zu ſchmeicheln, um den Brutus zu ſpielen. Indeß, als
Sie auf den Plan verfielen, Herrn Paoli zu feſſeln, mußten
Sie heucheln. Herr Paoli war der Mittelpunkt aller Be⸗
wegungen des Staatskörpers. Wir wollen ihm Talent, ſelbſt
ein gewiſſes Genie nicht abſprechen: er hatte eine Weile die
Angelegenheiten der Inſel auf einen guten Stand gebracht;
er hatte eine Univerſität geftiftet, wo man vielleicht das erſte
Mal feit der Shipfung in unſern Bergen bie Wiffenfdaften
Febrte, weldhe der Entwidlung unfrer Vernunft forderlid find;
er hatte eine Eiſengießerei, Pulvermühlen, Befeftiqungen eine
geridtet, welche die Verteidigungsmittel vermebhrten; er hatte
Hafen gedfinet, welde den Handel ermutigend den Landbau
boben; er hatte eine Marine gefdafjen, welde unfre Verbins
Dungen begiinitigte, indem fie den Feinden verderblid war.
Alle viefe Cinridtungen waren in ihrem Entſtehen nur das
Anzeichen von dem, was er eines Tages würde gefdaffen haben.
Die Cinheit, der Friede, die Freiheit waren die Vorläufer
Des Nationalglids, wenn nichtsdeſtoweniger eine fdledt ein:
geridtete, auf falfden Grundlagen gebaute Regierung nicht
pas nod fiderere Vorjeihen des Ungliids gemefen ware, in
welches die Nation ſtürzen mußte.
Der Traum Paoli's war, den Solon zu machen; aber er
hatte ſein Vorbild ſchlecht getroffen. Er hatte alles in die
Gregorovius, Corsica. Il. 11
162
Hinde des Volks oder fener Vertreter gelegt, fo daß mat
nidt befteben fonnte als durch fein Gefallen. Geltfamer Yer
tum, welder einem roben Ldbner einen Mann unterwirft, de
durch feine Etziehung, durch feine glangende Geburt und fem
Glid allein gum Herrjder gemacht ift. Yu die Lange fam
eine fo fühlbare Verkehrung der Vernunft nicht ermongels,
die Auflifung des Staatskörpers herbei yu ziehn, naddew fe
ibn durch aller Art Uebel in Aufrubr gebradt hat.
Rad Wunſch erreichten Sie. Ihren Bwed. Herr Pasli,
von Enthufiaften und Sdwinbelfdpfen unaufhörlich umgeben,
ftellte fic) nidt vor, daß man cine andere Qeidenjdaft alé
ben Fanatismus der Freibeit und der Unabhängigkeit hater
könne. Gie fanden gewiſſe franzöſiſche Verbindungen mit ibe,
und er nabm ſich nidt Beit, die Grundfaige Ihrer Moral
näher ju priifen alS Ihre Worte. Er Hef Sie ernenner,
um in Berfaille3 wegen des Abkommens zu unterhandels,
das unter Bermittlung diefes Cabinets in Gang fam. fer
yon Choifeul fab Sie und erfannte Gie. Die Seelen vet
einem gewiffen Geprige weif man im MAugenblid gu {dips
Bald verwandelten Sie fic auB dem BWertreter eines freee
Volfes in ben Commis eines Satrapen; Gie teilten ihm die
Auftrage, die Plane, die Gebeimniffe des Cabinets we
Corte mit. |
Diefe Auffahrung, welde man bier niedrig und ſchaulb⸗
findet, finde id fiir meine Perfon gang einfad); dod) im jeder
Art von UAngelegenheit kommt es darauf an yu verftehen us
mit faltem Blut 3u urteiten.
Die Pruve ridtet die Coquette, und man verfpottet ft
darob; dag ift in wenig Worten Ihre Geſchichte.
Gin Menfe von Grundfagen beurteilt Sie nad des
Schlimmſten, aber Sie glauben nidt an Menſchen vex
Grundfagen. Der Gewöhnliche, welder ftets durch tugen
hafte Demagogen verfibrt wird, fann von Ihnen nidt ge
163
wilrdigt fein, der Gie an Tugend nicht glauben. Man darf ‘
Sie nur durd) Ihre eignen Grundfage verurteilen, wie einen
Verbrecher durd die Gefege; aber diejenigen, welche fein
find, finden in Xbrer Handlungsweife nichts als große Cine
faltigfeit: ba fommt alfo auf dad fdon Geſagte hinaus,
daß man in jeder Wrt von WAngelegenheit zuerſt verſtehen,
und dann mit Rube urteilen foll.. Ym übrigen finnen Sie
nicht minder fiegreich fic) verteibigen, denn Sie haben nidt
bas Anſehn eines Cato ober Catinat hegebrt; e3 geniigt
Ihnen gu fein wie eine gewiſſe Welt; und in dieſer gewiffen
Welt ift es Herfommen, daß ver, welder Geld haben fann
und das nidt benugt ein Einfaltspinſel ift; benn bas Geld
verfdhafft alles Bergniigen der Ginne, und bas Bergniigen
per Sinne ift bas allein Gchdgenswerte. Alfo Herr von
Choijeul, welder febr freigebig war, geftattete Ihnen nicht
gu widerftehen, als Ihr lächerliches Baterland nad feiner
luftigen Gewohnheit Sie fiir Ihre Dienfte mit der Chre ihm
au dienen bezablte.
Als der Vertrag von Compiègne abgefdloffen war, lan⸗
peten Herr pon Ghauvelin und 24 Bataillone auf unſern
Riiften. Herr von Choifeul, dem es auf die Sdnelligfeit
ber Unternehmung gar febr anfam, geriet fo ſehr in Un-
tube, daß er diefe Erregung Ihnen nicht verbelen fonnte.
Gie rieten ihm, Sie mit einigen Millionen herzuſchicken.
Wie Philipp mit feinem Mauleſel Staote einnabm, ver⸗
fpraden Sie ibm alles ohne Hinbderniffe zu unteriwerfen .
Gefagt, gethan; und itber das Meer eilend, warfen Sie die
Maske ab, und bas Gold unb dad Gnadendiplom in der
Hand, zettelten Sie mit denen Unterbandlungen an, welche
Sie für die zugänglichſten hielten.
Das corsiſche Cabinet ſtellte ſich nicht vor, daß ein Corse
ſich ſelbſt mehr lieben könne als das Vaterland, es hatte Sie
mit ſeinen Intereſſen beauftragt. Indem Sie Ihrerſeits ſich
164
nicht voritellten, dab ein Menſch dad Geld und fich felbft nicht
mebr lieben könne als das Baterland, verfauften Gie fid
und bofften alle zu kaufen. Ziefer Moralijt, Sie wußten was
ber Fanatismus eines Yeden gelte; als einige Pfunde Gold
mebr oder weniger wedfelten in Dhren Mugen die verfdie
penen Charaktere.
Indeß Sie täuſchten fic); der Schwache wurde wol er
ſchüttert, aber er ward burd) die ſchreckliche Idee den Bujen
nes Vaterlandeds gu serfleifden entfegt. Cr bildete fich ein, den
Vater, den Bruder, den Freund, der in feiner Verteidigung
umfam, feinen Grabjtein erheben gu fehn, um ibn mit Flüchen
gu erftiden: Dieſe lächerlichen Borurteile waren mächtig ge
nug, Sie in ihrem Lauf aufzubalten. Gie feufgten eS mit
einem kindiſchen Volk zu thun haben; aber, mein Herr, dieje
Verfeinerung von Empfindungen ift der Menge nicht geqeben;
fo lebt fie in der Armut und in dem Clend, wabrend der
kluge Menſch fo bald ihm nur die Uebelftinde einigermafen
giinftig werden, fid) ſchnell yu erbeben weiß. Das ijt uns
gefabr die Moral Ihrer Geſchichte.
Indem Cie von den Hinderniffen Redhenfdaft gaben,
welde fic) der Verwirklichung Ihrer Verſprechen entgegen:
ftellten, madten Gie den Borjdlag das Regiment Royal:
Corse hieber fommen zu laffen. Sie bofften, bap fein Bei
ſpiel unfre gu guten und zu einfaltigen Bauern belehren würde,
dap e3 fie an eine Gace gewibnen würde, in der fie fo vie
Widerftrebendes fanden; arid) in diefer Hoffnung wurden Sie
nod getäuſcht. Haben nidt die Rossi, Marengo und einige
andere Narren dieſes Regiment bis fo weit begeiftert, daß
die geſammten Officiere durd) eine authentiſche Acte ertlarten,
lieber ihre Diplome juritdjufdiden al ihren Eid oder nod
beiligere Pflichten zu verletzen?
Sie fanden ſich auf Ihr alleiniges Beiſpiel defdrantt.
Ohne aus der Faſſung zu kommen, warfen Sie ſich an der
165
Spite einiger Freunde und ciner frangdfifden Whteilung nad
Bescovato; aber der ſchreckliche Clemens jagte Sie aus dem
Neſt. Sie zogen ſich nad Baftia zurück mit den Gefährten
ihres Abenteuers und ihrer Familie. Diefer tleine Vorfall
bradte Ihnen wenig Chre; Ihr Haus und die Haufer Ihrer
Genofjen wurden verbrannt. Yn Shrem Sicerheitsort fpotteten
Sie ither diefe Anſtrengungen der Obnmadt.
Man will Ihnen hier dreiſt zumuten, daß fie Royal: Gorse
gegen feine Britder haben bewaffnen wollen. Man twill des:
gleichen wegen ded geringen Widerftandeds in Vescovato Ihnen
ben Mut abſprechen. Diefe Beſchuldigungen find wenig be:
griindet; denn die erjte ijt eine unmittelbare Folge, ift ein
Mittel der Ausführung Yhrer Plane, und wie wir behauptet
haben, dab Ihre Handlungsweiſe febr fimpel geweſen fei, fo
folgte daraus, bap dieſe nebenſächliche Befduldigung geboben
ijt. Was den Mangel an Mut betrifft, fo febe id nidt daß
ner Vorgang in Vescovato ibn beftdtigt; Sie gingen nidt
dahin um im Crnft einen Krieg zu fiibren, fondern um durd
Ihr Beiſpiel diejenigen zu ermutigen, welde in der Gegen-
partet {don wantten. Und dann, welde3 Recht hatte man |
gu verlangen daß Sie die Frudt gweier Jahre von guter
Auffibrung daran fegten, um ſich tddten gu lafjen wie einen
Solbaten; aber Sie muften -in Bewegung geraten, da Sie
Ihr Haus und die Häuſer Ihrer Freunde die Beute der Flam:
men werden faben. Guter Gott! wann werden die dummen
Menjden aufhdren auf alle Wert legen yu wollen? Indem
Sie Ihr Haus brennen lieben, zwangen Sie Herrn von Choifeul
Sie yu entſchädigen. Die Crfabrung hat die Ridtigheit Ihrer
Rednung beftatigt; weit fiber den Wert de3 Verlornen hat
man Gie bezahlt. Es ijt wabr daß man fic) beflagt, dab
Gie alle3 fiir fidh in Anfprud nahmen und nur eine Rleinig:
feit ben Glenden. gaben, welche Sie verfiilbrt hatten. Um zu
wiffen was Sie thin durften, ift e3 nur ju wiffen nitig, ob
fonnten nidjt die Mipvergniigten maden und gegen Ihe
Autoritat fid auflebnen; ein Abſcheu ibren Landsleuten, wire
ihre Rückkehr nicht einmal fider gewefen. 3 ift alfo ml
natürlich vaß wenn Gie fo einige Tauſend Thaler fanden,
Sie diefelben nicht entwifden lieben; bas ware eine Dumm—⸗
beit getwejen.
Die Franjofen, trog ihres Goldes, ibrer Diplome, de
Disciplin ihrer zahlreichen Bataillone, ver Leidtigtert *
Schwadronen, der Geſchidlichkeit ihrer Artillerie geſchlager,
vernichtet bet Penta, bei Vescovato, bei Oreto, bei S. Ricola,
bei Borgo, Borbaggio, Oletta, verfdangten fic) äußerſt ent
mutigt. Der Winter, die Beit ihrer Rube, war fir si
mein Herc, die der griften Arbeit; und wenn Sie über die
Hartnddigteit der Vorurteile nicht triumphiren konnten, welde
in dem Geift bes Volks tiefe Wurzeln gefdlagen baer, fe
gelang e3 Ihnen, einige feiner Häupter yu verfibren, dene
Sie, obwol mit Mahe, ihre guten Gefinnunger gu rauben wo
modjten, was, vereint mit ben 30 Bataillonen, die im folgender
Frühjahr Herr be Baur mit fic) brachte, Cordica unter do!
Joch warf, Paoli und die Begeiftertiten gum Radyuge zwang
Gin Teil der Patrioten war gefallen wabrend der Be
teidigung ihrer Unabbangigteit, ein anderer hatte ein ie
birte3 Land, jest dad efle Neft der Tyrannen, gefloben; abe
eine grofe Zahl hatte weber fterben nod fliehen diirfen: ſe
waren ber Gegenſtand der Verfolgungen. Seelen, welche mis
nicht hatte beſtechen toͤnnen, waren von einem anderen 9
prige. Man fonnte die franzoſiſche Herrſchaft nur auf We
pollftindigen Bernidtung befeftigen. Wd! diefer Plan wu
nur gu pinttlid ausgeführt. Die Ginen ftarben als Opfer der
166
Gie es mit Sicherbeit thun fonnten; nun, arme Leute, weld
Ihres Schutzes fo febr bertdtigt waren, waren wedet in det
Lage Forderungen zu machen, od felbjt das Unredt, bas
man Ihnen anthat, deutlid) genug einfeben gu können; fit
167
BVerbredhen, die man ibnen unterfdob; die andern durd die
Gaſtfreundſchaft und bas BVertrauen verraten, handten auf
dem Schaffot ibre Seufzer aus, ihre Zranen unterdriidend.
Jn. groper Zabl ourd Narbonne = Friglar in den Turm von
Toulon gefperrt, durch fdledte Nahrung vergiftet, durch ihre
Ketten gemartert, mit den uniwiirdigiten Mißhandlungen itber-
häuft, lebten fie einige Beit in den Krämpfen des Todes⸗
fampfe3, nur um dew Tod mit langfamem Schritte fid) naber.
gu fen... © Gott, Beuge ihrer Unfduld, warum haſt du
vid nicht iu ihrem Racer gemadt!
In dieſem allgemeinen Elend, mitten unter vem Gejdret
und dem Seufgen diefes unglidliden Volkes fingen Sie unterdeß
an, die Frudt Bhrer Mithen yu geniefen. Ehren, Wiirden,
Penfionen regneten auf Sie, Ihre Beſitztümer warden fid now
reifender vermebrt haben, wer nidt die Dubarry, Herm
von Choiſeul ſtürzend, Sie eines Protector3, eines Schätzers
Ihrer Dienfte beraubt hatte: Der Schlag entmutigte Sie
nidt; Sie febrien von ber Seite bed Bureaus wieder; Sie
erfannten allein die Notwendigteit emfiger 3u fein. Man fiiblte
fid) dadurch geſchmeichelt, Ihre Dienjte waren fo befannt!....
Alles ward Yhnen zugeftanden. Nicht zufrieden mit dem Teiche
von Biguglia, verlangten Sie einen Teil der Landereien mebrer
Gemeinden. Warum wollten Sie diefe ihrer berauben? fragt
man. Jd meiner Seit3 frage, welde Ridfidten durften Sie
fiir eine Nation nebmen, von der Cie wußten, daß ſie Sie
verabſcheue?
Ihr Lieblingsplan war die Inſel unter zehn Barone zu
teilen. Wie! nicht genug, daß Sie die Ketten Ihres Vater:
landes hatten ſchmieden helfen, Sie wollten ſie auch der ab⸗
ſurden Feudalherrſchaft unterwerfen! Aber ich lobe Sie, daß
Sie den Corsen das größte Uebel zufügten, das Ihnen möglich
war; Sie waren in einem Kriegsſtande mit ihnen, und im
Kriegsſtand iſt es Grundſatz, Schaden thun zu ſeinem Vorteil.
168
Dod geben wir itber alle diefe Miferen hinweg; Eommen
wir yur Gegenwart und endigen wir einen Brief, welder durch
jeine fdredlide Linge Sie gu ermüden nicht verfeblen wird.
Die Lage. der Dinge Franfreidhs weiffagte auferordentlide
Greignifje; Sie fürchteten ihren Rückſchlag in Corsica. Diefelbe
Raferet, von welder wir vor bem Mriege befeffen waren, be⸗
gann 3u Ihrem grofen Werger dieſes liebenswürdige Bolf
auper fid) zu bringen. Sie begriffen bie Folgen davon; denn
wenn die grofen Gefinnungen die Meinung beberrfdten, wurden
Sie aus einem redtfdaffenen Manne nur ein Verradter, und
nod ſchlimmer, wenn die großen Gefinnungen das Blut unferer
warmen Mitbiirger in Bewegung ſetzten; wenn je eine nationale
Regierung daraus folgte, mas wurde aus Ihnen? Ihr Ge:
wiffen alfo begann Gie zu beunrubigen. Erſchreckt, niever-
gefdlagen, gaben Sie fid) dod) nidt auf; Sie entſchloſſen
ſich Wes gegen Alles gu fepen, aber Gie thaten e3 als ein
Mann von Kopf; Sie nabmen ein Weib, um Ihren Halt
su vergrofern. Gin Chrenmann, welder auf.Jhr Wort feine
Schweſter Ihrem Neffen gegeben hatie, fab. fid hintergangen.
Ihr Neffe, defjen vadterlidhes Gut Sie verfdlungen batten, um
ein Erbe zu vermebren, welches dad feinige fein follte, fand
fic) mit einer zablreidhen Familie ins Clend gefegt.
Nachdem Sie Ihre häuslichen Wngelegenbeiten geordnet
batten, warfen Gie einen Blid auf bas Land. Sie faben
e8 von dem Blute feiner Martyrer rauchen, bedeckt mit vielen
Opfern und iiberall nur Rachegedanken atmen. Wher Sie faben
bier ben wilben Golbaten, den frechen Sdreiber, den gierigen
Steuereinnehmer ohne Widerfprud herrfden und den Corsen
unter ber dreifachen Rettenlaft nidt yu denfen wagen webder
an dag, was er war, nod an bas, was er nod fein fonnte.
Yn der Freube Ihres Herzens- fagten Cie fid: vie Sachen
gehn gut, es banbdelt fid) nur darum, fie fo gu erbalten,
und augenblid3 verbanten Gie fic) mit dem Soldaten, mit
169
—
dem Schreiber und mit dem Zollpächter. Es war von nichts
mehr die Rede, als darauf zu denken, Deputirte zu haben,
welche von dieſen Geſinnungen beſeelt waren; denn was Sie
ſelbſt betraf, ſo konnten Sie nicht glauben, daß eine Ihnen
feindliche Nation Sie zu ihrem Vertreter wählte. Aber Sie
ſollten die Meinung ändern, als die Berufungsſchreiben durch
eine vielleicht abfichtliche Dummheit feſtſtellten, daß der Adels⸗
deputirte in einer allein aus 22 Perſonen zuſammengeſetzten
Verſammlung gewählt werden ſolle; es handelte ſich nur
darum, 12 Stimmen ju gewinnen. Ihre Mitverbündete vom
hohen Rat waren äußerſt thätig: Drohungen, Verſprechungen,
Liebkoſungen, Geld, alles ward aufgeboten: Sie gewannen
das Spiel. Die Ihrigen waren in den Communen nicht ſo
glücklich: der erſte Präſident fiel durch, und zwei in ihren
Ideen ſchwärmende Menſchen — der Eine war Sohn, Bruder,
Neffe der eifrigſten Verteidiger der Volksſache; der andere
hatte Sionville und Narbonne geſehn, und über ſeine Ohn⸗
macht ſeufzend, war ſeine Seele mit den Schrecken, die er
hatte ausüben ſehen, erfüllt — dieſe beiden Menſchen wurden
aufgeſtellt und begegneten den Wünſchen der Ration, deren
Hoffnung ſie wurden. Der geheime Unwille, die Wut, welche
bei Ihrer Ernennung Alle angriff, macht Ihren Ränken und
dem Credit Ihrer Verbündeten Ehre.
Als Sie in Verſailles angekommen waren, wurden Sie ein
eifriger Royaliſt; in Paris mußten Sie mit einem fühlbaren
Kummer ſehen, daß die Regierung, welche man auf ſo vielen
Trümmern errichten wollte, dieſelbe war, die man bei uns
in fo viel Blut ertraͤnkt hatte.
Die Anſtrengungen der Schlechten waren anmachtig; die
neue Conſtitution, von Europa bewundert, iſt die Sorge jedes
denkenden Weſens geworden. Es blieb Ihnen nur noch eine
Rettung, und die war glauben zu machen, daß dieſe Vers
faſſung für unſere Inſel nicht paſſe, da ſie doch genau die—
170
felbe war, welde fo gute Grfolge bewirkte, und be und 7
entreißen e3 fo vielen Bluts bedurfte.
Alle Abgeordneten der alten Verwaltung, welde in Ihren
Plan natiirlich eingingen, dienten Ihnen mit aller Diem
des perſönlichen Eigennutzes. Man faßte Denkfdriften ob,
in denen man behauptete, die Vorteile zu erfahren, weld
fir uns die beſtehende Regierung hatte, und in denen man
darſtellte, daß jede Beranderung vem Wunſche des Volls je
wider fei. Sn derfelben Beit hatte die Stadt Ajaccio Bird
von bem, was man angettelte: fie erhob ihr Haupt, ſchuf ihr
Rationalgarde und ihr Comité. Diefer unerwartete Zwiſchenfal
bradte Sie in Schrecken. Die Gährung teilte fid) überall wi
Sie beredeten den Miniſter, vor vem Sie in Angelegenheitn
Corsica’s die Einſicht voraus batten, dab es ndtig fei, Joes
Sdwiegervater, Herrn Gaffort, dahin yu fdiden, den wir
digen BVorlaufer des Herrn Narbonne, welder an ver Spe
feiner Truppen die Unverfhamtheit hatte, mit Gewalt de
Tyrannei aufredht halten 3u wollen, die fein verftorbent
Vater, ‘glorreichen Andenkens, durch fein Genie geld ages :
und niedergeworfen hatte. Ungiblige Schnitzer liepen de
Mittelmapigheit der Talente Ihres Schwiegervaters nidt ver
borgen bleiben: er befaf nur die Runft, fic) Feinde gu made
Allerfeits fammelte man fic) gegen ihn. Yn dieſer dringenden
Gefabr erhoben Sie Ihre Blide und faben Narbonne. Rar —
bonne hatte, einen gitnftigen Augenblick benützend, den Bla
gefapt, in einer Snfel, welche er durd) unerhörte Grarſan⸗
feiten verwitftet hatte, ben Despotismus zu befeftigen, melde
fein Gewiffen qualte. Gie ftimmten ihm bei: ver Blan if
entworfen, 5000 Mann haben Befehl erhalten; die Decrett
bas Provinsialregiment um ein Bataillon yu vermehren, fi
geſchrieben; Narbonne ift abgereist. Diefes arme Bolt, om
Waffen, ohne Mut, iſt ohne Hoffnung und ohne Halfsquella
den Handen deſſen tiberliefert, der fein Henker twar.
171
O ungliidfelige Dtitbiirger! welder gebiffigen Lift folltet
ibr gum Opfer fallen! iby würdet fie gemerft haben, wenn
e3 zu ſpät war. Weldes Mtittel, ohne Waffen 10,000 Men⸗
ſchen zu wiberitehn? Ihr felber- battet eure Entehrung unter:
fdrieben, die Hoffnung ware entflohen, die Hoffnung ware
exftidt, und Zage des Unbeils waren unabläſſig ſich gefolgt.
Das freie Frankreich hatte euch mit Veradtung angejeben,
vas befimmerte Stalien mit Unwillen, und Curopa, fiber
dieſe beijpiellos tiefe Erniedrigung erjtaunt, hatte aus feinen
Annalen vie Biige geftrichen, welche eurer Tugend Ehre maden.
Aber eure Gemeindeabgeordnete durddrangen den Plan und
gaben euch gur rechten Beit Runde. Cin Rinig, welder ftets
nur das Glück feiner Vilter wünſchte, durch Herrn Lafayette,
dieſen ftandbaften Freund ber Freiheit, aufgellart, wußte die
Ranke eines treulofen Minijter3 zu vernidten, den die Race
fortwährend antrieb, eud) yu ſchaden. Ajaccio zeigte ſich in
feiner Bufdrift entſchloſſen; dort war mit fo viel Cnergie der
Haglide Zuſtand dargeftellt, in welchen eud) das am meiſten
despotiſche Regiment gebradht hatte. Das bis dabhin nod)
jdlummernde Baſtia erwadhte beim Geräuſch der Gefabr und
ergtiff die Waffen mit diefer Entſchloſſenheit, welche e3 immer
audsgeseidnet bat. Arena fam von Paris nad der Balagna,
voll von diefen Gefinnungen, welche alles zu unternehmen
und feine Gefabr gu fürchten fahig madden. Die Waffen in
ver einen, die Decrete der Nationalverjammlung in der andern —
Hand, madjte er die dffentliden Feinde erbleiden. Achille
Murati, ver Croberer Capraja’s, welder die Verzweiflung
bis nad Genua getragen hatte, bem, um ein Türenne 3u
fein, nur die Umftande und ein größerer Schauplatz feblten,
erinnerte die Gefabrten ſeines Ruhms, daß e3 Beit fei, ihn.
wieder zu gewinnen, dab das Baterland in Gefabr nicht
Rane, vie es nie verftand, fondern Gifen und Feuer nötig
babe. Weim Gerdufd eines fo allgemeinen Stopes, febrte
172
Gaffori in das Nichts zurück, aus dem ihn wider Willen Lit
hatte bervorgeben laffen. Gr gitterte in ber Feftung von Corte.
Narbonne eilte von Lyon hinweg, in Rom feine Sdanbde und
feine bollijden Plane gu begraben. Wenige Tage fpater, md
Corsica ift an Frankreich gefettet, Paoli guriidgerufen, und
in einem Augenblick ändert fic) die Ausſicht und bietet eud
eine Laufbahn, welde ihr zu hoffen nie würdet gewagt haber.
Berzeihen Sie, mein Herr, verzeihen Sie: ich habe die
Feder ergriffen, um Sie yu verteidigen, aber mein Her bat
fid) gewaltjam gegen ein Syſtem empirt, in deſſen Gefolge
Verrat und Treulofigkeit waren. Und wie? Sohn dieſes felben
Vaterlandes, haben Sie nie Ctwas fiir e3 gefühlt? Und mie!
war Shr Herz denn ohne Bewegung beim Wnblid der Feller,
ber Baume, der Haufer, ver Gegenden, welthe vie Shar:
plage Ihrer Spiele in der Kindheit waren? Als Sie zu
Welt famen, trug die Land Sie an feinem Bufen, naͤhrte
Gie mit feinen Fridten. Als Sie in die Fabre der Vernunft
famen, fepte es auf Sie feine Hoffnung, ebrte es Sie mt
feinem Bertrauen, fagte es yu Ihnen: „Mein Sohn, du fiebt
den elenden Suftand, in welden mid die Ungeredtigheit be
Menſchen verfegt hat: mid fammelnd in meiner eidenidatt
gewinne id) die Kräfte wieder, welche mir eine fidere unl
unfeblbare Wiederberftellung verſprechen; aber man bedrolt
mid auf neu; eile, mein Gobn, eile nad Berfailles, flare
ben grofen König auf, zerſtreue feinen Argwohn, bine ihn
um ſeine Freundſchaft.“
O wol! ein wenig Gold machte Sie zum Verräter an
ſeinem Vertrauen, und bald ſah man Sie um ein wenig
Gold das vatermörderiſche Schwert in der Hand feine Cw
geweide zerreißen. Wd! mein Gerr, ic) bin weit entfertt
Ihnen Uebles yu wünſchen: aber fitrdten Sie ... es gift
Gewiffensbiffe, welche raächen. Ihre Mitbürger, welche St
verabſcheuen, werden Frankreich aufklären. Die Gater, de
173
Penfionen, Früchte Ihrer Verratereien, werden Ihnen ges
nommen fein. In der Abgelebtheit des Wlters und des
Elends, in der fchauderhaften Ginfamteit de Berbrechens,
werden Gie lange genug leben, um von Ihrem Gewiffen ge:
peinigt zu fein. Der Vater wird Sie feinem Sohn, der Lehrer
feinem Gcbiiler zeigen, ibnen fagend: „Jünglinge, lernt bad
Vaterland, die Zugend, die Treue, die Mtenfdlidfeit adten.”
Und Gie, deren Jugend, Anmut und Unſchuld man blob
ftellte, Nbr reines und feufdes Herz zittert unter ber Be-
rührung einer Verbreherhande Achtungewerte und unglück⸗
liche Frau!. .. wee ee
‘Bald wird bie Ehrenkette und das Gepränge des Reid:
tums verfdwinden; die Veradtung der Menfden wird ſich
auf Gie baufen. Werden Sie in der Bruft deffen, welder
ver Urheber davon ijt, einen Troft ſuchen, deſſen Ihre fanfte
und liebende Geele nidt entbebren Fann? Werden Cie in
feinen Mugen Tranen ſuchen, um fie mit ben Yhren zu mifden?
Wird Ihre bebende Hand, auf fein Herz gelegt, ihm die Be-
wegung des Yhrigen yu fagen fucen: Wd! wenn Sie bei
ihm Tranen finden, werden e3 die der Gewiffensangft fein.
Wenn fein Herz ſchlägt, werden e3 die Krämpfe des Böſen
fein, welder ftirbt, die Natur, fic) und bie Hand, weldhe ihn
führt, verfludend.
© Lameth! o Robespierre! o Petion! o Volney! ° Mirae
beau! o Barnave! o Bailley! o La Fanette! feht, das ijt der
Menſch, welder es wagt an Eurer Geite gu figen. Gang
yom Blut feiner Briider triefend, mit Verbreden jeder Art
beſudelt, ftellt er fid) fred unter dem General3tleide, dem
ungeredten Lohn feiner Schurkereien, dar! Er wagt es fid
Reprajentanten der Nation zu nennen, ev der fie verfauft
hat, und Ihr dulbet es! Er wagt es die Wugen zu erbeben,
Euren Reden zuzuhören, und Ihr duldet ed! Wenn dies die
174
Stimme bes Bolfes ift, fo hatte er nie mebr als bie vox
zwoͤlf Edelleuten. Wenn dies die Stimme de3 Bolles ift,
jo mufte Ajaccio, Baftia und ber größte Teil der Cantons
dasjenige an feinem Bilde thun, was fie an ſeiner Perſon
hatten thun wollen.
Aber Ihr, welche der Irrtum des Augenblids, vielleicht
der Mißbrauch der Minute verleitet, den neuen Veränderungen
euch zu widerſetzen, werdet Ihr einen Verräter leiden tinnen;
den, welder unter ber kalten Außenſeite eines verſtändigen
Mannes die Gier eines Lakaien verbirgt? Ich fann es wit
nicht denken. Ihr werdet die erſten fein, ibn mit Schimpf
und Schande fortzujagen, ſobald man Euch über das Gewebe
von Schurkereien wird aufgellart haben, deſſen Künſtler ex
geweſen iſt.
Ich babe die Ehre, mein Herr, Yor ſehr unterwürfiger
und febr geborfamer Diener ju fein.
Bonaparte.
Aus meinem Cabinet von Mileli, den 23. Januar,
im gweiten Jahre.
Aus meinem Cabinet von Mileli — — es klingt gayj
imperatorifd. Man wird fagen müſſen, daß diefer gemaltige
Brief des Wljabrigen Jünglings, halb RobeSpierre, hall
Marat, den beften Pampbleten ver RevolutionSberedjamteit
*nimmer nadftebt.
Ich will bier bemerfen,; daß unter den feds Deputirten
Corsica’s zum Convent, drei für die ewige Haft des unglid:
liden Königs, zwei fie Haft bis zum Frieden und Verban
nung darnad, Criftoforo Saliceti allein fir ben Tod ftimmten.
175
Sechstes Kapitel.
Mapoleons letzte Thätigkeit in Corsica.
Sm Jahre 1791 follten zwei Bataillone in Corsica ges
bildet werden. Da ift e3 merfwiirdig yu feben, wie der nad:
herige Cajar es filr bie höchſte Ehre und ein faft unerreids
bared Glad erachtet, fid) gum Oberſt eine folden empor⸗
zuſchwingen. Die Scwierigfeiten waren grop. Ihm ftanden
bie angefebenften Manner entgegen, Cuneo, Lodovico Ornano,
Ugo Peretti, Matia Pozzo di Borgo, der reidhe Marius Pes
raldi. Peraldi machte Nayoleon lächerlich, er fpottete über
feine Figur, feine geringen Wusfidten. Diejer, ganz in Wut,
forderte ibn. Gr .nabm das Duell an. Napoleon wartete
auf ibn bid gum Abend an der Capelle ver Griedhen, un:
tubig auf und abwandelnd; aber Peraldi erſchien nidt.
Wenn man heute nad jener Capelle geht, fo fieht man
ſeitswärts einen kleinen jonifden Tempel. Ich fragte nad
feiner Bedeutung: es ijt das Grabmal der Peraldi, fo fagte
man mir. Dtarius, der Nebenbuler Napoleons um eine
Meajoritelle, liegt dort begraben. Seine Familie hat teinen
andern Ruf binterlafjen al3 den, eine der reidjten Corsica's
zu fein.
Madame Letitia opferte ihr halbes Vermögen, um dem
geliebten Gobn ben Oberbefebl des Bataillond zu verfdaffen.
Ihr Haus war fiir bie gablreiche Partei ftets geöffnet, ihr
Tiſch ſtets gededt. Yn den Zimmern lagen Matragen bereit,
um den bewaffneten Unhangern Aufnabme fiir die Nadt zu
geben. Dan lebte wie im Zuftand der Vendetta. Napoleon
war nie fo aufgeregt als in diefer Beit; er ſchlief nidt, Tags
ging ex unrubig in den Zimmern umber oder beriet fic) mit
dem Abbé Fefd) und feinen Parteigdngern. Gr war nad:
denklich und blab, die Augen voll Feuer, die Seele voll Leiden:
176
ſchaft. Bielleidht ging er dem Confulat und dem Raifertum
tubiger entgegen al3: dem Range eine? Majors der National:
garte in Wjaccio.
Der Commiffar, welder die Wahl leiten follte, war angefom:
men, und im Hauſe der Peraldi hatte er Wohnung genommen.
Dies war fürchterlich. Man beſchloß einen 18. Brumaire auszu⸗
führen. Die Partei Napoleon bewaffnet fic, der wilde Ba-
gaglino dringt Nachts in das Haus Peraldi, wo man mit
dem Commiffar eben bei Tiſche ſitzt. „Madame Letitia will
Euch fpreden,” fo ruft er. drobend, ,,aber fogleih.“ — Der
Commiffar folgt ihm, die Beraldi wagen es nicht ibn zurüd⸗
subalten, die Napoleoniften entfiibren den Gajt, und fie zwingen
ibn in die Casa Bonaparte tiberjufiedeln, unter dem Bor:
i wand, dap er bei den Peraldi nicht frei fei. Diefer Staats⸗
— ſtreich zeigt Napoleon fix und fertig.
Peraldi wagte nichts. Nun erſchien der Tag der Wahl.
In der Kirche San Francesco ſollte fie vollzogen werden
Es gab einen Sturm, Geronimo Pozzo di Borgo ward von
Rednerſtul geriſſen und nur mit Mühe geſchützt. Das G:
gebniß der Wahl war dieſes: Quenza, von der Partei Bona:
parte, wurde der erſte, Napoleon der zweite Officier.
Von dieſer Zeit an lebte er nur in ſeinem Bataillon.
Hier machte er ſeine praktiſchen Studien ehe er ind Feld ging,
wie er im Club zu Ajaccio die Schule ded Politifers durchmachte.
Unterdeß wuds bie Spannung zwiſchen ber Gegenpartei, den
Ariftotraten, den von eidfcheuen Prieftern bearbeiteten Bar:
gern und der Mationalgarde. Am Ofterfeft 1792 fam ef ju
einem blutigen Rampf zwiſchen dem Volf und dem Bataillon.
Gr pauerte mebrere Tage fort, ohne daß bie Behörden fid
ins Mittel legten. Napoleon entging glidlid aller Lebens⸗
gefabr. Nachdem fic) der Sturm gelegt hatte, fdrieb er im
Namen feines Bataillons eine Rechtfertigung an den Rriegs-
minifter und die Legislative. Es erfchienen darauf drei Com:
*
177
— —
miſſäre; ſie ſtatteten günſtigen Bericht über die Führung des
Bataillons ab, aber es wurde aus Ajaccio entfernt. Napo⸗
leon ging nad) Corte, wo thn Paoli mit Kalte empfing.
Im Mai deffelben Jahres reifte er nad Paris, feine
Schweſter Clifa aus S. Cyr gu holen. Der Umſturz der Dinge
sertritmmerte bier die Ausfichten auf Beförderung, die er in
Paris zu finden gebofft hatte. Cr wurde davon fo madtig
ergriffen, bab man fagt, er babe Selbftmordgedanten gebegt.
Gr ward fie [o8 in einem Dialog über den Gelbjtmord. Na⸗
poleon verlies Baris bald nad dem ſchrecklichen 2. September
und febrte nad) Corsica zurück.
Der Ptann alfo, welder beftimmt war Curopa umzuge⸗
ftalten, mithte fich in derfelben Beit wo Dumouriez mit den -
erften Waffenthaten ber jungen Republi€ die Welt in Erſtau⸗
nen fegte, in bem wilden Corsica ab, den Ranfen fetner
Gegner Stand zu halten und felber ſolche gu ſchmieden; er
fegte taglid) fein Leben bem Dolchſtoß oder der Flintenkugel
aus. Yn Corte entließ ihn Paoli mit Strenge. Ihre Wege
gingen vollftindig auseinander, denn in der Geele ded jungen
Bonaparte regten fic) nun andere Wiinfde als die, in die
Fußſtapfen bes edlen Patrioten gu treten. Hätte er das ge:
than, ware fein Herz fiir die Freiheit Corgica’s entzündet ges
blieben, dann jeigte mir beute vielleicht ein wilder Ziegen-
birt in ben Bergen irgend einen Schauerort und fagte: febt,
bier ift ber große Corsenhduptling Napoleon Bonaparte ge-
fallen, er war faft fo tapfer mie Gampiero.
Paoli gab ihm Befehl fic nach Bonifazio gu verfilgen,
um ber Unternehmung gegen Sardinien ſich angufdlieben.
Murrend gehordte er.
Acht Monate blieb er in Bonifazio, Anordnungen zu treffen,
fo weit er damit bequftragt war. Am 22. Januar, einen
Zag nad der Hinridtung Ludwigs, hatte Napoleon dort faft
bas Leben verloren. DPtarinefoldaten, wütendes Gejindel aus
Gregorovius, Corsica. Il, 12.
178
Marfeille, waren ans Land gefommen und batten mit dem
Corgenbataillon Handel angefangen; als Napoleon herbeieilte,
Rube yu ſchaffen, empfingen fie ibn mit dem Gebrüll ca ira,
tiefen, dap er ein Wriftofrat fei, und auf ihn einſtürmend
wollten fie ibn an bie Laterne bangen, bid e3 dem Boll und
den Soldaten gelang die Bande gu verjagen.
Die Unternebmung auf Sardinien unter Truguets Ober:
befebl eingeleitet, um ben Gof in Turin zu ſchrecken, ſchlug
vollftandig febl. Man will wiffen, dab Baoli vad gewolt
batte. Zwar hatte er taufend Mann Nationalgarden unter
den Befehl feines vertrauteften Freundes Colonna - Cefari ge
ftellt, aber wie dieſer ſpäter felbft ergiblte, ihm gefaat:
„Erinnere did, daß Sardinien der natiirlide Berbindete
unferer Snfel ift, daß e3 in allen Berbaltniffen und mit
Lebensmitteln und mit Munition verforgt bat, daß der Konig
von Piemont immer der Freund der Corsen und ihrer Cade
gewefer ift.” Dad Gefdwader verließ endlid den Hafen Be
nifagio und fegelte gegen die Inſel Santa Maddalena, Re:
poleon ftand unmittelbar unter dem Befehl Colonna’s um
leitete bie WUrtillerie. Giner ber erften fprang er and Lam
und fdleuderte mit eigener Gand eine Brandkugel in dad Ce
ftell Maddalena. Aber feine Anordnungen batten keinen &
folg; die Garden madten einen Ausfall und Colonna lis
sum Ruückzuge blafen.
Der junge Napoleon weinte vor Wut, er machte Colom
heftige Vorftellungen, und da diefer ibn mit Rictadtung a:
bérte, wandte ‘fid) Napoleon gegen einige Officiere unbd fagte:
Gr verfteht mid nicht. — Colonna herrfdte ihm darauf pu:
Nbr feid ein Unverfdhamter! — Der junge Soldat taunt
feine Pflicht, ſchwieg und ftellte fid) an feinen Boften. Su
Paradepferd ift er und nichts anderes, fagte er nachher. Eo
war die erfte Waffenthat Napoleons fieglo3 und ein Rid
Nad Bonifazio zuridgefehrt erfubr er, dab Paoli, weldet
179
bie Maske absuwerfen fid) gendthigt fab, das Bataillon Quenga
aufgelds8t habe. Dies geſchah im Frühling 1793, yur ZAt
al3 ber Convent Saliceti, Delder und Lacombe als Com:
miffare auf die Inſel fdidte. Lucian Bonaparte und Barto-
Tomeo Arena hatten Paoli angeklagt, Napoleon nahm aber daran
fetnen Unteil, vielmehr gebot ihm das Andenken feines Vaters
und fein eigner Edelmut den großen Landsmann zu vertei⸗
digen. Gr ſchrieb eine Redtfertigung Paoli’3 und fandte fie
dem Convent; died war eine That, die ihn ebrt. Die metf-
würdige Schrift ift un3 aufbebalten, dod lückenhaft; wie fie
vorliegt, balte id) fie nur far den erften Ginwurf Napoleons,
aus weldem er dann ein Ganges formen wollte.
Schreiben Wapoleous an sen Convent.
Reprafentanten!
Ihr ſeid die wahren Organe des Volks. Alle eure Decrete
find von der Nation erlaſſen ober durch fie unmittelbar voll:
zogen. Jedes eurer Gefege iſt eine Wolthat und erwirbt eud
neuen Anſpruch auf den Dank der Nachwelt, weldhe eud) die
Republik ſchuldet, und auf den der Welt, die von eud die
Freiheit herfdreiben wird.
Gin einziges eurer Decrete hat die Birger der Stadt Wjaccio
tief niedergefdlagen; dasjenige, welded einem 7Ojabrigen ſchwa⸗
chen Greife befieh fic) an eure Barre zu fdleppen, und ihn
einent Angenblid neben den gottlofen Withler ober den feilen
Ehrgeizigen ftellt.
Paoli follte ein Wühler oder ein Ehrgeiziger fein?
Mufwiegler! und warum? Etwa um fid) an der -Familte
per Bourbons yu raden, deren perfide Politil fein Vater:
land mit Yammer iiberbaufte und ibn yur Verbannung
zwang? Uber endete jene nidt eben mit der Tyrannei, und
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180
habt ihr nicht eben feinen Groll, wenn er ibn nod bewabrt,
in dem Blut Ludwigs gefattigt ? )
Aufmiegler! und warum? Ctwa um die Ariftofratie ded
Adels und der Priefter wiederherguftellen? Cr, welder feit
jeinem 13. Qabre..... er welder, faum an die Spige der
Angelegenbeiten gelangt, bas Lehnswefen gerftdrte, und
feine andere Auszeichnung fannte, al3 die ded Bürgers? er
welder, dreißig Jahre find es her, gegen Rom kämpfte und
excommunicirt ward (diefed ift eine Unridtigteit), welder
der Giter der Biſchöfe fic bemächtigte, um fie gu geben, nad
Venedig....in Btalien....
Wufwiegler! und warum? Um Corsica an England ju
liefern, ex, welder e3 nidt an Frankreich bat liefern wollen
trop der Antrage Chauvelins, der nicht Titel nod) Gunſtbe—
zeugungen ſchonte!
Corsica an England geben! Was würde er gewinnen,
wenn er in bem Rote Londons lebte? Warum blieb er nidt
port als er verbannt ward?
Paoli follte Egoiſt fein? Wenn Paoli Cgoift ift, waz
fann er nod mebr begebren? Gr ift der Gegenjtant
der Liebe feiner Landsleute, welche ihm nichts verweigern; er
ftebt an der Spike der Armee; er befindet ſich am Bor:
abend des Tages, wo er das Land gegen einen frembden Wn:
griff verteibigen foll.
Wenn Paoli ehrgeizig war, fo bat er alles bei der Repu:
blit gewonnen: und wenn er fic) anhänglich geigte an... fet
der conftituirenden Verfammlung, was mup er nidt Heute thus,
wo das Bolt alles ift?
Paoli ebrgeizig! Reprafentanten, alB bie Frangofen von
einem verderbten Hof regiert waren, alS man weder an die
Tugend nod an die Vaterlandslicbe glaubte, hatte man ohne
Bweifel fagen miiffen, dab Paoli ebrgeizig war. Wir haben
ven Tyrannen ben Krieg gemadt; das hat nidt
181
fein follen aus Liebe gum BWaterlande und zur
J Freiheit, ſondern aus Ehrgeiz der Führer! In
Coblenz alſo muß Paoli für ehrgeizig gelten; aber in Paris,
in dem Centrum der franzöſiſchen Freiheit, muß
Paoli, wenn man ihn wol kennt, der Patriarch der franzöſiſchen
Republik ſein; ſo wird die Nachwelt denken, ſo glaubt
es bas Volk. Folgt meiner Stimme, laßt die Verläumdung
ſchweigen und die gründlich verderbten Menſchen, welche fie
als Mittel gebrauchen. Repräſentanten! Paoli iſt mehr als
ein Greis von ſiebenzig Jahren, er iſt ſchwächlich! Ohne dies
würde er an eure Barre gegangen ſein, um ſeine Feinde zu
vernichten. Wir ſind ihm alles ſchuldig, bis auf das
Glück eine franzöſiſche Republik zu ſein. Er genießt ſtets unſer
Vertrauen. Nehmt, was ihn betrifft, euer Decret vom 2. April
zurück und gebt dieſem ganzen Volke die Freude wieder... .”
Bald darauf überwarf ſich der junge Revolutionär mit
Paoli bis zur tödtlichen Feindſchaft. Der greiſe Patriot fand
in dem jungen Manne den heftigſten Gegner nicht ſeiner Perſon
ſondern ſeiner Ideen. Man erzählt, Paoli habe ihn damals
noch nicht ganz erkannt und ihm angedeutet, daß er damit
umgehe, Corsica von Frankreich loszureißen und eine Ver⸗
bindung mit England anzuknüpfen. Entrüſtet fei Napoleon
aufgefabren, und Paoli in leibenfdhaftliden Born gegen ihn
geraten. Pasquale's Anhang war jablreid, und aud) die
Feſtung Wjaccio in ben Handen feines Freundes Colonna, Cr
und Pozzo di Borgo, damals Generalprocurator, vor den Con⸗
vent geladen, trogten daber der Wufforderung; fie lebten. jest
unter ber Acht und im offnen RKriege gegen Frantreid.
Nun beftellten die drei Reprdjfentanten Napoleon zum Ge:
neralinjpector der Artillerie Corsica's, und gaben ibm auf,
bie Gitadelle Ajaccio’ zu erobern. Gr verfudte es, dod alle
feine Anſtrengungen fdeiterten. Das Scidfal hatte fiir ihn
in Corsica feine Lobeern gepflangt. Während diefer Unter:
182
nehmung fdwebte fein Leben in duferfter Gefabr. Gr befegte
namlid) den Turm Capitello am Golf mit etwa 50 Mann, um
von bier aus zu Lande anjugreifen, während die Kriegsfahr⸗
zeuge von der Gee ber feuerten. Gin Sturm webte die Flotte
aus dem Golf; Rapoleon blieb von ihr abgefdnitten allein
im Turm und mufte fid drei Tage lang, von Pferdefleiſch
ſich nährend, verteidigen, bid einige Hirten von den Bergen
ibn aus feiner Lage befreiten und er über Waffer die Flotte
wieder erreidte.
Mißmutig reifte er nad) Baftia, gu Lande. Unterwegs
aber erfubr er, dab Marinus Peraldi das Volk aufgewiegelt
babe, ibn feftgunehmen und an Paoli audzuliefern, der ibu
wolle erſchießen laffen, fobald er feiner habhaft würde. Sn
Vivatio barg ibn der Pfarrer, in VBocognano wurde er von
feinen Freunden mit duperfter Not der Volkswut entriffen; et
verftedte fid) in einem Simmer und entidliipfte Nachts durdh
ein Fenfter auf die Straße. Glidlid entfam er nad) Ajaccio.
Aber aud hier nod heftiger bedroht, rettete er ſich aus feinem
Hauſe in eine Grotte, nabe bei der Capelle der Grieden, we
er eine Nacht fid) verborgen bielt. Seine Freunde fcifften
ibn enbdlid) ein, und fo gelangte er nad Baftia. Unterdef
ridtete fid) die Wut der Paoliften aud auf Napoleons Familie.
Madame Letitia floh mit ihren indern nad Milelli, won
einigen Getreuen aus Baftelica und Bocognano begleitet.
Mit ihr waren Louis, Glifa, Paolina und ver Abbé Feld;
Hieronymus und Carolina blieben im Hauſe Ramolino ver-
ftedt. Aud in Milelli nicht fider, ſtoh die geängſtigte Fa:
milie wabrend. der Nacht dem Meere gu in die Gegend de3
Turms Capitello, hoffend die franzöfiſche Flotte daſelbſt er
warten gu finnen. Die Fludt durch dieſes ſchwierige Berg:
land war mühſam. Dadame Letitia bielt die Meine Paolina
an ber Hand; Fefd ging mit Clifa und mit Louis; voraus
40g ein Trupp Landleute aus Vaftelica, bem Geburtsort Gam:
183
piero’s, dabinter die Manner von Bocognano. Go erreidte
die Familie Napoleons nad) vieler Unftvengung, aber Felfen -
fletternd und durd Bade watend, bas Ufer von Capitello,
wo alle fid im Buſchwald verbargen.
In eben diefer Zeit hatte Napoleon in Baftia ein eines
Schiff beftiegen und war der franzöſiſchen Flotte vorangefegelt,
welde von dort ausgelaufen war, um bei Ajaccio gu Landen.
und dad Caftell gu nehmen. Gr ftieg bei den Blutinfeln ans
Land, wo viele der. Hirten feined Hauſes ihre Herden Hatten,
und dort erfabrend, dap feine Familie auf der Flucht fei,
fcidte er Boten nad allen Gegenden fie aufgufuden. Er
wartete die Nacht hindurd. Es ward Morgen; er jap unter
einem Felfen, forgenvoll an das Schickſal der Seinigen den:
fend — plötzlich ſtürzt ein Hirt auf ibn gu, rufend: rettet
Gud! Cin Trupp Menfden, aus Ajaccio ausgezogen, Bona⸗
parte und feine Familie eingubringen, nabte ſchon — Napo⸗
leon fprang ind Meer. Gein Heines Schiff bielt die Ver:
folger durch Schüſſe juriid, und gliidlid nabm ibn bad
Boot auf.
An vemfelben Tage fubr Bonaparte in den Golf ein,
und an ber Küſte binjtreidend, bemerfte er Menſchen am Ufer,
welde Zeichen gaben, dap fie aufgenommen werden wollten.
G3 waren feine Mutter und feine Gefdwifter.
Man ſchaffte fie fdnell nad Calvi, wo fie Gaftfreundfdaft
fanden. Das Haus Bonaparte war von dem wütenden Volt
gepliindert worden. Ihre Rettung hatte die Familie nur der
Umſicht des Corsen Cofta gu verdanfen, weldem Mapoleon
nod in feinem Teftament aus Créenntlidfeit 100,000 Franken
vermachte.
Er ſelbſt ſegelte nach einem vergeblichen Verſuch ſich Ajaccio's
au bemadtigen, von der Flotte nicht unterſtützt, und endlich
abgerufen, gleichfalls nach Calvi, und von bier aus Corsica
verlaffend, erfdeint er in. Toulon wieder.
184
So hatte ibn Pasquale in die Weltgeſchichte hineingetrieben.
Zwei Manner, die ſich als erbitterte Feinde gegenitbergeftan:
den, Marbeuf und Paoli, und das ift der Despotismus und
vie Demotratie, batten Napoleon feine Laufbabn gewiejen.
US er Conful wurde, al fein Geftirn glangend über der Welt
ftand, war der Stern Paoli's lange untergegangen. Tief be
wegt es mid, dente id) mir da- den edlen Greis Pazquale
als verfdollenen Berbannten einjam in feinem Haufe gu Lon:
von, mie er in uneigenniigiger Freude auf die Runde von
Napoleons Confulernennung fein Gaus beleudtet, den Groll
vergeffend und boffend, bab der große Corse ein Gort der
Menſchheit fein werde. Jn einem Brief fagte er: „Napoleon
hat unfere Vendetta an allen denen vollgogen, welche die Ur:
ſache unfred Galles geweſen find. Ich winfde nur, dab ex
ſich feine3 Baterland3 erinnern mage.” Gr blieb in der Ber:
bannung: Napoleon rief ibn nicht gurid, vielleicht weil er
fürchtete, die Giferfudt der Frangofen gu erregen.
In den Tagen feines Glids vergaß Bonaparte fein kleines
Baterland, undantbar wie alle Gmportimmlinge, welde an die
puntle Stelle ihrer Geburt nicht gern erinnert fein wollen.
Gr that nidtd fir das arme Land und die Corsen haben ihm
das nicht vergeffen können. Gie erinnern fic) aud) nod beute
daran, dap der Raifer, al fid) ihm einſt ein Corse vorftellte,
dieſen troden fragte: „Nun, wie fteht’s in Cordica, ermorden
fic) die Corsen nod) immer?”
Geit feiner Flucht befudte er die Heimatsinfel nur nod
einmal, al8 er von Ggypten jurid tam. Am 29. Septem:
ber 1799 lief fein Schiff in den Hafen Ajaccio ein; mit ihm
waren Murat, der in anderer Geftalt einſt diefen Gafen vers
lafjen follte, Gugen, Berthier, Cannes, Andreoffi, Louis Bos
naparte, Monge und Berthollet. Cr wollte nicht ans Land,
aber feine Begléitér waren neugierig feinen Heimatsort tennen
ju lernen, und er widerſtand nidt Tanger ihren Bitten und
4m
185
denen der Bitrger Wjaccio’s. Cin Mann, der damal3 als
Kind die Landung Napoleons mit angefeben hatte, erzählte
. mit davon. ,,Sebt, fagte er, diefer Blag war mit jaudgenden
Menſchen bededt und das Volk fiillte die Dader; es wollte
den ratfelbaften Mann feben, der nod) vor wenigen Yabren als
{dlidter Officier und als einer der Hauptbemofraten Bjaccio’s
bier herumgegangen war. Gr ftieg ab in der Casa Bona:
parte. Er ging auf dem Diamantplag ſpazieren. Da muh
id) Gud eine Gefdidte erzablen, welche ihm Chre madt.
Als Napoleon nod in Ajaccio war, waren die Priefter und
Ariftotraten auf ihn febr erbittert. Eines Tages will er in
fein Haus juriidfebren; er ift gerabe an bie Ede dieſer Strafe
gefommen, da fiebt er einen Priefter, meinen eignen Ber-
wandten, am Fenfter jenes Haufes ftehn, die Flinte auf ibn
angelegt. Yn bemfelben Wugenblid bückt fic) Napoleon, und
die Kugel ſchlägt her ihm weg in die Wand — einen Mo⸗
ment frither, und es gab feinen Raifer Napoleon in der Welt.
Jenem PBriefter nun begeqnete der General Bonaparte auf dem
Diamantplag. Der Geiftliche wid nad der andern Geite der
Strafe aus. Aber Napoleon ſah ihn, fam auf ibn yu, gab
ibm bie Gand und erinnerte ihn beiter an die Vergangenheit.
Sebt, er war darin fein Corse, und grope Menfden ver:
geffen leicht Beleidigungen.” Wher Napoleon war wol gang
Gorse, al er den Herzog von Enghien erfdiepen lich. Died
war die That eines corsifden Banditen, und fie fann erft
recht begriffen werden, wenn man weiß was die Blutrache
bier erlaubt, den Mord namlid aud an den unfduldigen
Gliedern der feindliden Sippſchaft. Nicht gang fonnte Na⸗
. poleon feine corsiſche Natur verlaugnen, und fo war er aud
romantifd, theatraliſch, abenteuerlid) wie bie Coren e3 gum -
eile find. Egypten, Rupland, Clha find Stellen in feiner
Gefdidte, wo er nidts war als ein groper und genialer
NAbenteurer.
186
In Ajaccio ging er damals mit feinen Vegleitern auf die
Jagd; einen Tag bradte er in Milelli gu, wo er einft die
Schrift gegen Buttafuoco gefdrieben hatte. Wie viele bewun⸗
dernswürdige Thaten lagen nun ſchon hinter ibm, wie viele
Furſten und Völker hatte nun fdon die Gewalt feines Schwertes
und ber Donner feiner Phraſe niedergemorfen. Er rief feine
Hirten, reichlich belohnte er jenen Bagaglino, der ihm einft
feinen erften Staatsſtreich ausgeführt hatte. Seine Herden,
feine Weer verteilte er. Auth feine Amme Camilla Ilari
fam berbet; fie umarmte ibn mit Tranen, fie bradte ihm eine
Flaſche voll Mild yum Gefdent; in ihrer einfaltigen BWeife
fagte fie 3u ibm, mein Sohn, id babe dir bie Milch meines
Herzens gegeben, nimm jegt die Milch meiner Ziege. Rapo-
leon ſchenkte ihr ein wohnliches Haus und reichliches Ader:
land, und ald er Raifer geworden war fiigte er nod cine
' Penfion von 3600 Franken hingu. — Nad einem Aufenthalt
von ſechs Tagen ging er von Ajaccio nad Frankreich unter
Segel.
Seitdem befuchte er feine Heimatsinfel nie mehr; aber dad
Schickſal jeigte fie eines Tages nod feinen Augen als er,
ein gefdlagener Mann,. befeitigt von der Weltgeſchichte und
fiir :ibre Bwede aufgebraudt, auf dem Felfen von Elba
ftand. Da zeigte ihm.das ironiſche Scidjal die dunkle Stelle,
von two er einft als Rind der Fortuna in die Welt gegogen war.
Spater, auf Sanct Helena, febrten feine Gedanten immer
wieder gu Corsica zurück. Sterbende pflegen ibren Lebensgang
in Gedanten zurüdzuwandern und ‘am liebften bei ihrer Rind:
heit 3u verweilen. Biel fprad er von feiner Heimat. Sn
den Commentaren fagt er einmal: ,,Meine guten Corden
waren in det Beit des Confulats und des Raiferreichs nidt
mit mir gufrieden. Sie bebaupteten, id hatte wenig far mein
Vaterland gethan... Meine Feinde und mehr meine Reider
umlauerten mid; alles was ich fiir meine Corsen that, ward
187
wie ein Diebftal ausgefdrien und wie ein Unredt gegen die
Frangofen. Diefe notwendige Politif hatte mir bas Gemiit
meiner Landsleute abgewendet und fie gegen mid erfaltet.
Ich bedaure fie, dod id) fonnte nicht ander3 bandeln. Als
bie Corsen mid ungliidlid faben, als fie mid) von manchem
undanfbaren Franzoſen mißhandelt, als fie Curopa gegen
mid verfdworen faben, da vergafen fie alle3 wie Dtenjden
von fefter und unverdorbener Tugend, und fie waren bereit
fid fr mid gu opfern, wenn id) es gewollt hatte... Welche
Crinnerungen bat mir Corsica gelaffen! Ich denke nod mit
Freude an feine ſchönen Gegenden, an feine Berge, id erin:
nere mid) nod jebt an den Duft, den es aushaudt. Jo
würde das Los meined ſchönen Corsica verbeffert haben, id
würde meine Mitbirger glücklich gemadht haben, aber der Um:
fturg ift gefommen, und id babe meine Plane nidt ausführen
können.“
Die erſte Frage, welche Napoleon an den Corsen Antom⸗
marchi, ſeinen Arzt richtete, als er in S. Helena zu ihm ins
Zimmer trat, war dieſe: Haben Sie einen Filippini? — Viele
Landsleute ſeiner Inſel batten ihn in ſeiner Laufbahn be:
gleitet gehabt, viele hatte er erhoben, Bacciochi, Arena, Cer⸗
voni, Arrighi, Saliceti, Casabianca, Abbatucci, Sebaſtiani.
Mit demſelben Colonna, welcher Paoli's Freund geweſen war
und der ihn einſt befeindet hatte, war er bis zu feinem Ende
innig befreundet. Man ſagt, dab Paoli- jenem aufgetragen
hatte, dem jungen Napoleon bei Ajaccio einen Hinterhalt zu
legen, um ihn lebend oder todt aufzubrigen; nun, man ſagt
es. Deſſen weigerte fic) Colonna. Beiden Mannern Paoli
wie Napoleon blieb er Freund, ohne gu heucheln. Gr war der
Grfte, welder um Napoleons Fludt aus Elba wufte, und
in feinem Zeftament von S. Helena vertraute ihm der Kaiſer
bie Gorge um feine Mutter. Colonna unterzog fich ihr gee
wiffenbaft; bid an Letitia's Tod blieb er bei thr als Freund
188
und Hausmeifter. Dann zog er fi nad Vico bei Ajaccio
zurück.
Aus eines Corsen Handen nahm der ſterbende Napoleon
vie letzte Delung auf Sanct Helena; es war der Prieſter Big:
nale, welder nadber in Corgica ermordet wurde. So ftard
a er unter feinen Heimatsbriidern, die ibn nidt verlaffen batten.
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°. *
ae) wee
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.
x
,
>
Siebentes Kapitel.
wwe &
;
i. Bwet Sarge.
ve Wo tam ter Tren bed griften REnigs bin?
+ Wo find bie Greßen all” vol Helbenfinn ?
ic Du gebft ven Hinnen, bod es währt bie Welt,
an Und feiner Hat ihr Rätſel aufgehellt.
. Lol welfer Lehren ift fic uns ihr Lanf,
Pe Warum denn adten wir fo wenig brauf?
- Firduſi (ven Edad).
oe Indem id) die Geſchichte Napoleons, fein glangvolles
x. RKaiſerreich, die Balter und die Fitrften, welche diefer jahe
Me, Wandelftern gu feinem Hof herangog, die Flut von Greig:
x ° ° e ° e
— niſſen und von Geſchicken, die er über die Welt warf, mir
vergegenwaͤrtigte, überkam mid) in ſeinem nun todtenſtillen
Hauſe Traurigkeit und Befriedigung zugleich.
Alle jene ungeheuren Leidenſchaften, welche nimmerſatt die
halbe Welt verſchlangen, wo ſind ſie nun, was bewegen ſie
noch? Sie ſind wie ein Traum, wie eine große Fabel, welche
die Säugamme Zeit ihren Kindern erzählt. Dank ſei der Zeit.
Sie iſt die ſtille und geheimnißvolle Macht, die alles wieder
ebnet, ſelbſt die himmelaufragenden Herrſcher. Sie iſt der
heilſamſte Oſtracismus, das wahre Scherbengericht.
Wo iſt Napoleon? Was blieb von ihm übrig? — —
Ein Name und eine Reliquie, welche ein leicht zu blenden⸗
des Volk nun öffentlich anbetet. Wie die verhaltene Leichen⸗
189
feier Jtapoleon3 vom Jahr 1821 erfdeint mir das, was nun
jenſeits des Rheins geſchah. Aber vie Todten ſtehen nicht
mehr auf. Nach den Göttern kommen die Geſpenſter und nach
der Welttragödie das Satirſpiel. — Ein Leichengeruch geht
durch die Welt, ſeitdem ſie drüben, jenſeits des Rheins, einen
todten Mann angerührt haben.
Ich ging aus dem Hauſe Letitia's in ihre Sargceapelle.
Die Straße des Königs von Rom führt zur Kathedrale
Ajaccio's. Dieſe Kirche iſt ein plumper Bau mit ſchlichter
Façade, über deren Portal ein ausgelöſchtes Wappen zu ſehen
iſt. Ohne Zweifel war es das Wappen der Republik Genua.
Das Innere iſt bunt und ziemlich ländlich. Schwere Pfeiler
trennen es in drei Schiffe; die Kuppel iſt klein, wie die
Tribüne.
Rechts nun befindet ſich am Chor eine kleine ſchwarz aus⸗
geſchlagene Capelle. Zwei mit ſchwarzem Sammet überdeckte
Sarge ſtehen darin vor einem gang dörflich ausgezierten Altar.
Zu Fuß und zu Haupt eines jeden Sarges ſind hölzerne Cande⸗
laber aufgeſtellt, und ein ewiges, dod ausgelöſchtes Lämp⸗
chen haͤngt über jedem. Auf dem Sarge zur Linken liegt ein
Cardinalshut und ein Immortellenkranz; auf dem Sarge zur
Rechten eine Kaiſerkrone und ein Immortellenkranz.
Das ſind die Särge des Cardinals Feſch und der Madame
Letitia. Im Jahre 1851 hat man ſie aus ihren italiſchen
Gruften hieher gebracht. Letitia war am 2. Februar 1836 in
ihrem rdmifden Palaft am venetianifden Plag geftorben, und
ibr Sarg ftand feitbem in einer Kirche der Stadt Corneto
bet Rom.
Rein Marmor, fein Runftwerk, fein Graberpomp — nichts
aiert die Stätte, wo eine Frau begraben liegt, welde einen
RKaifer, drei Kdnige und dret Firjtinnen geboren bat.
Mid überraſchte die bewußtloſe Ironie und der tief tra:
giſche Sinn, welder in dieſer faft landliden Ginfalt von Le-
190
titia’s Gruftcapelle liegt. Sie gleicht einer fiirftlichen Todten⸗
gruft aus Theatercouliffen. Ihr Sarg rubt auf einem hohen
hölzernen Geftell, von Holy find die plumpen Candelaber und
bas Gold daran ift Schaum. Sammet diinft der Ueberhang
der Capelle, dod ift er von gemeinem Zafft und die angen
filbernen Franſen daran find von Gilberpapier. Jene goldne
Raiferfrone auf dem Sarge ift von Holz und mit Goldfdaum
iberflebt. Mur der Immortellenkranz Letitia’s ift ächt.
Man fagte mir, daß dieſe Gruftcapelle proviforifd fei,
und daß man eine neue Rathedrale bauen werde mit einer
fchdnen Todtengruft fir die Putter Napoleons. Das hat gute
Wege, benn die Corsen find fehr arm, und e3 follte mid
aud) bauern. Die wadern Biirger Wjaccio’s wiffen gar nid,
wie tieffinnig fie gewefen find. Es fpridt eine fo grofe fe
bendweisheit aus dieſer Capelle... Was waren aud die
Kronen, welde Letitia von Ajaccio und ihre Kinder trugen?
Ginen fturjen Whend lang waren fie Firjten, dann warfen fie
ſchnell Purpur und Scepter ab und verſchwanden, al3 wire
nidt3 gefdebn. Darum hat die Gefdidte felber die Rrone
yon Goldfdaum auf den Sarg der Biirgerstodter Ramolino
gelegt. Laßt fie liegen, fie ift nicht minder ſchön, wenn fie
gleich) unächt ift wie das Glück der Baſtardkönige, welche dieſes
Weib gebar. |
Nie durfte mol, fo Tange die Welt ſteht, einer Mutter
Herz höher ſchlagen, als bas Herg des Weibes in diefem Sarge.
Ihre Kinder ſah fie eins nad dem andern auf der höchſten
Sonnenhöhe menfdlider Herrlicfeit, aber ein3 nach dem an:
dern fab fie diefelben niederſtürzen. Sie bat bem Schidfal die
Schuld begablt.
Welch ein unverjduldetes Los, und wie fam es, daß in
bem Scop einer jungen, beitern und eiteln Frau fo dame:
niſche Mächte, diefe völker- und ſtädteverſchlingenden Gewalten
reifen mußten? —
—
— —
191
Adtes Rapitel.
Pozzo Dt Borgo.
Das Haus in ber Strafe Napoleon, in weldem der
Slidtling Murat gewohnt hatte, ift gu einem Palaft um-
geſchaffen. Das Wappen über der Thüre fagt, dab e3 ben
Poyo di Borgo angehört. Nächſt ven Bonaparte find die
Pozzo die berühmteſte Familie Ajaccio's, von altem Adel und
lange vor jenen in Corsica nambaft. Ym ſechzehnten Yabr-
hundert zeichneten fie fid) im Dienft ber Venetianer aus. Der
corsiſche Didter Biagino di Leca, welder in feinem Epos il
d'Ornano Parte die Thaten de3 Alfonso Ornano verberrlidt,
preist zugleich aud) mebrere Pozzo di Borgo und weiſſagt
ibrem Geſchlecht unfterbliden Rubm.
Wenigtens hat die Familie eine europdijde Bedeutung
durch den Grafen Carlo Andrea erlangt, jenen Jugendgenoffen
Napoleons, Freund Paoli’s und unerbittlicben Haffer des Rai-
fer3, Gr war am 8. März 1768 in lata bei Ajaccio geboren;
er hatte in Pifa die Rechte ftudirt, wie Carlo Bonaparte,
und madte fid dann in Corsica erft als Demofrat und Revo-
lutionér, dann als Paoliſt nambaft. Sm Yabre 1791 war
er Ubgeordneter Wjaccio’s, dann Generalprocurator und Pav:
li's redte Hand. Als Corsica fid) an England angefdloffen,
wurde der gewandte Mann Präſident des Staat8rate3 unter
dem Vicekönigtum Elliots. Man fagt, dap der Diplomat
feinen Ginner Paoli bei den Cnglandern in Verruf bradte,
um ſeinen eigenen Einfluß geltend zu machen. Später verließ
er Corsica, ging mehrmals nach London, nach Wien, nach
Rußland, nach Conſtantinopel, nach Syrien; die Welt und
die Höfe durchwandernd, wie einſt Sampiero, ſchürte ber un:
ermüdliche Feind in raftlofer Thätigkeit den Gab gegen Ma:
poleon. Napoleon verfolgte ihn mit gleidhem Haffe; diefen
192
alle feine Babnen durchſchleichenden Feind febnte er fid in
feine Gewalt yu befommen. Nad bem Prebburger Frieden
forberte er feine Auslieferung. Hätte er fie erlangt, fo würde
er mit Pozzo di Borgo gethan haben, wie Carl der Zwölfte
mit Pattul that. Diefe Feindfdaft ift corsiſche Benvdetta,
corsifdher Hab auf die Weltgefdidte itbertragen. Pozzo di
Borgo war e3, welder Vernadotte gegen Napoleon zur Thi:
tigteit ftimmte; er war e3, welder die Verbitndeten jum
ſchleunigen Zuge gegen Paris trieb; er war e8, welder den
Konig von Rom befeitigte, welder auf dem wiener Congreß
barauf drang, Napoleon aus Elba in eine weit abgelegene
Ynfel zu verbannen. Bei Waterlo ftand er feinem großen
Gegner mit den Waffen in ber Hand gegeniiber und wurde
verwundet. Als nun endlich fein Feind fiir immer gebandiat
auf St. Gelena da lag, fprad der Diplomat im Gefithle ſeiner
gefattigten Rade dad ftolze und fürchterliche Wort: Yeh habe
Napoleon nicht getddtet, aber id habe auf ibn die lepte
Schaufel Erde geworfen!
P0330 bie Borgo erndtete die ruſſiſche Grafentrone und die
Chre, der bleibende Vertreter aller ruffifden Staaten am Hoje
Frankreichs gu fein. In Paris lebend trat er freimiltig det
Reaction entgegen und geriet darilber in eine gefpannte Stel:
lung mit den Höfen. Gr war und blieb trog feiner Laufbahn
Corse. Man ergiblte mir, dab er die LandeSart nimmer ab
gelegt hatte. Gr liebte feine Heimat. Man könnte faft fager,
er befrieqte aud) darin Napoleon, dap er ibm die Dantbar:
feit feiner Landsleute nabm. Napoleon that nidts fir Corsica,
Pozzo di Borgo jebr viel. Cr ließ die Herausgabe der beiden
corsiſchen Geſchichtſchreiber Filippini und Peter beforgen, und
Gregori widmete ibm feine Sammlung der Statuten. Poye
ni Borgo’s Name prangt nun auf den drei größeſten Monu:
menten corsiſcher Geſchichte und ift unauslijdhlid. Seine Bol:
thatigteit in milden Stiftungen und Spenden an feine Landi
va WA NA
sh
a OYA
193
f — —
leute war groß, wie fein Vermögen. Gr ſtarb als Privatmann
in Paris am 15. Februar 1842, 74 Jahre alt, mit der
Welt zerfallen, zerriſſen und geiſteskrank. Er war einer der
gewandteſten Diplomaten und der ſcharfſinnigſten Köpfe dieſes
Jahrhunderts.
Sein Vermögen ging auf ſeine Neffen über, welche ſich
reiche Beſitzungen bei Ajaccio gekauft haben. Einer derſelben
wurde vor wenigen Jahren in der Nähe der Stadt ermordet.
Er war Verwalter der Wolthaten, welche der Graf Carlo
Andrea ſpendete, und hatte ſich als ſolcher durch Ungerechtig⸗
keiten verhaßt gemacht. Man erzählte mir, daß er nebenher
ein Mädchen verführt hatte, und ſich weigerte, ein hohes
Bußgeld an die Sippſchaft deſſelben zu zahlen. Die durch ihn
Beleidigten beſchloſſen ſeinen Tod. Als er eines Tags von
ſeiner Villa nach der Stadt fuhr, umringten Jene den Wagen
und riefen ihm zu: Neffe des Carlo Andrea Pozzo di Borgo
ſteige aus! Der Unglückliche that es ohne Zögern. Mit kaltem
Blut vollzogen die Mörder die That, am hellen Tag und
unter freiem Himmel, gleichſam als Act der Volksjuſtiz gegen
einen Verbrecher. Nicht gleich hatten die Schüſſe den Mann
getödtet. Die Mörder trugen den Sterbenden ſelbſt in den
Wagen und befahlen dem Kutſcher, umzukehren, damit der
Neffe Pozzo di Borgo's auf ſeinem Bette ſterbe. Dann gingen
ſie in den Buſchwald, wo ſie nach einiger Zeit im Kampf
mit den Gendarmen erſchlagen wurden.
Died iſt ein Bug fdredlider Gerechtigkeit, wie fie in dem
Lande der Corsen fo oft geübt wird. Ich erzähle bier ein
zweites Beifpiel. E3 ijt ein bewundernswürdiger und erſchüttern⸗
der Vorfall, welder fid in dem Geburtsdorf der Pozzo zu
Alata wenige Millien von Ajaccio begeben bat.
* *
*
Gregorovius, Corsica. Il. 13
194
Der corsiſche Brutus.
Zwei Grenabiere des frangififdhen Regiments Flandem,
welded als genuefifdes Hülfscorps in Wjaccio lag, enwichen.
Sie floben in die Berge Alata’s und hielten fich dort im den
Wildniffen verborgen, wo fie das Mtitleid und die Gaftlidtert
ber armen QHirten anſprachen.
Heilig ift das Gaftredt. Wer es verlegt ift nach der alter
Gitte ber Vater vor Gott und Menſchen gleid) dem Rain.
Als es nun Frühling geworben war, jagten Officiere vom
Regiment Flandern in jenen Bergen. Sie famen dem ft
nabe, wo die Flüchtlinge fid) verftedt hielten. Dort meidete
gerade ein junger Hirt feine Biegenberde. Der Herr ven
Nozidres, Oberft des Regiments, trat auf ihm gu und fragt
ibn, ob etwa entflohene Grenadiere in den Bergen verfied!
waren. Ich weif es nidt, fagte der junge Hirt und war wr
legen. Der Here von RNozidres ſchöpfte Argwohn. Gr drohte
bem GHirten mit Gefängniß im Turm Ajaccio’s, wenn er midt
pie Wahrheit fage.
Da erſchrak Yofeph, er fagte nichts, aber gitternd wies
er mit ber Hand nad bem Ort bin, wo die armen Fide
linge fid) verftedt bielten. Der Officier verftand ihn nidt
Rede! ſchrie er ihn an. Dofeph fagte nichts, er zeigte wieder
mit ber Gand. Die anderen Officiere ließen die Hunde lo⸗
und eilten nad ber angedeuteten Stelle, vielleicht im Glauber,
port ein Thier gu finden, welded der einfaltige Stumme ihnen
gewieſen hatte.
G3 fprangen die beiden Grenadiere auf, flohen, tures
eingebolt und feftgemadt.
Dem Yofeph gab ver Herr won Nogieres vier blante goldne
Louisd'ors al Anzeigelohn. Wie der junge Hirt die Gelt
ftiide in der Gand bielt, vergaß er vor kindiſcher Freude Off
ciere und Grenadiere und bie ganze Welt, denn er hatte me
. Ww we R x
195
mal3 blante3 Gold gefebn. Gr lief in feine Hütte, und Rater,
Mutter und Bruder rief er zufammen, geberbdete ſich unfinnig
por Freude und zeigte feinen Schatz.
Wie haft bu diefes Gold erworben, mein Sohn Yofeph ?
feagte ber alte Hirte. Der Sohn erzählte was geſchehen war.
Mit jedem Wort, das er ſprach, wurbe dad Geſicht feines
Vaters finfterer, die Brüder entfegten fid, und wie Joſeph
auserzablt hatte, war er felbjt blab geworben wie der Zod.
Heilig ift bas Gaftredht. Wer es verlegt ijt nad) der alten
Sitte ber Vater vor Gott und Menſchen gleid dem Rain.
Der alte Hirt warf einen fdredliden Blid auf feinen
zitternden Gobn, und ging aus der Capanne. Geine ganje
Sippſchaft rief er gufammen. Wie fie nun gefommen waren,
legte er ibnen den Fall vor und gab ibnen auf über feinen
Gobn ju urteilen. Denn e3 fceine ibm, er fei ein Verrater
und babe feinen ganzen Stamm und da8 ganze Volk geſchändet.
Das Gericht der Sippen fallte den Spruch, dab Joſeph
des Todes fchuldig fei, und das thaten fie einftimmig. Webe
mir und meinem Sohn! rief vergweifelt der Alte. Webe
meinem Weibe, dap fie mir den Judas gebar!
Die Sippen gingen gu Joſeph. Sie nahmen ibn und -filhrten
ibn an die Stadtmauer Ajaccio's, an einen einfamen Ort. |
Wartet hier, fagte der alte Hirt, denn ic) gebe zum Com:
manbdanten. Ich will ihn um das Leben der beiden Grena⸗
piere bitten. Ihr Leben fei aud) meine’ Sohnes Leben.
Der Alte ging zu dem Herrn von Nozièeres. Gr warf fid
yor ihm auf die Rniee und bat um die Begnadtgung der
beiden Soldaten. Verwundert fah ihn diefer an und ftaunte
iiber eines Hirten Mitgefühl, der um zwei fremde Soldaten
fo bitterlich weinte, Aber er fagte ihm, daß Fabnenflidtige
des Todes ſchuldig feien, benn fo wolle e3 bad Gejeg. Der
Mite ftand auf und ging feufzend hinweg.
Gr fam juriid an die Mauer, wo bie Sippen mit dem
196
armen Dofeph ftanden. G8 war umfonft, fagte er. Rein
Sohn, du mußt fterben, ſtirb wie ein braver Mann, und
lebe wol!
Yofeph weinte, dann wurde er ftill und gefaßt. Ginen
Priefter hatte man gebolt, der empfing feine Beichte und gab
ibm den bimmlifden Troſt.
G8 war gerade die Stunde, als man die beiden Grena:
biere mit Spießruten gu Tode fdlug. Da ftellte fid and
ber arme Yofeph rubig an die Ptauer. Die Sippen jielten
gut, und er fiel.
Wie er todt war, nabm fein alter Vater die vier blanten
Louisd'ors, gab fie dem Priefter und fagte zu ibm: Gebet
gu bem Commanbdanten und fagt ihm: Herr, hier habt ibe
ben Judaslohn guriid. Wir find arme und redliche Menſchen
und baben den geridtet, welder ibn aus eurer Hand empfing.
Geilig ift das Gaftredht. Wer es verletzt ift nad der alten
Gitte ber Vater vor Gott und Menfden gleich vem Rain.
* *
Lebhaft gedenkt man nod in Alata und Ajaccio der grof:
herzigen That eines Weibes aus der Familie Pozzo di Borgo,
yom Jahr 1794. Aud) diefe fet bier ergablt.
Marianna Vozzo di Worgo.
In Appietto bei Ajaccio war alles Volk beim Carneval
vergnügt. Nad alter Gitte, die nod heute auf der Inſel
beſteht, fap der Carnevalfinig von feinen Miniſtern umgeben,
eine golbne Krone auf bem. Haupt, mitten auf dem Martt:
play. Tiſche waren dort aufgeltellt voll von Wein, Fritdten
und Gpeifen manderlei Art. Denn der König hatte tüchtig
Steuern ausgefdrieben; und dies ift corsiſches Carnevals⸗
gefep, dab er dad Recht hat den Familien des Dorfed je nad
197
ibrem Vermögen die Steuer aufzulegen, welde fie in Wein
und Gpeifen zum gemeinen Beften herbeigubringen haben.
Da wurde nun waidlid) getrunten und gefdmaust. Die
Citern und die Biolinen fpielten auf, und das junge Volt
drehte fid) im Tanz.
Pldplich fief mitten in den Jubel hinein ein Flintenſchuß
und ein Gchrei, und alle3 ftob auSeinander. Gin wilde Ge:
wiih! entftand auf bem Marft gu Wppietto. Da fag in feinem
Blut der junge Felir Pozo di Borgo. Andrea Romanetti
hatte ihn erfdoffen — eine Beleidiqung war gefallen. Andrea
war in die Macchia gefprungen.
Man trug den todten Jüngling in bas Haus feiner Mutter.
Die Frauen erhoben den Lamento. De3 Feliz Mutter Marinna
war verwittwet; viel Ungliid hatte fie erfabren. Als man den
Singling auf ben Friedbof gebradht hatte, weinte fie nidt
mebr, fondern fie dachte nur daran ibn gu raden, denn fie
war eine mutige Frau und aus bem uralten Hauſe Colonna
d'Iſtria.
Marianna legte die Frauenkleider ab und ein Manned:
fleid an. Sie hüllte fic) in ben Pelone, fegte eine phrygifde
Mütze auf, umgürtete fid) mit der Carchera, ftedte Dold und
Piftolen in den Gurt und ergriff die Doppelflinte. Ganj
qlid fie einem rauben corsiſchen Manne, nur der Girtel
yon Scharlach, eine Verbramung von Sammt auf dem Pez
Ione, und der zierliche Griff be3 Dolchs, der von Clfenbein
und Perlmutter glingte, verrieten, daß fie von einem edlen
Hauſe fei. ,
Sie ftellte fid) an die Spike ihrer BVerwmandten, und rube-
los verfolgte fie den Mörder ihres Sohnes. Wndrea Romanetti
floh von Bufd zu Buſch, von Grotte zu. Grotte, von Berg
su Berg. Wher Marianna war ihm auf den Ferjen. Bn einer
finftern Nacht warf ſich der Flidtling in fein eigenes Haus
im Dorf zu Marchesaccia. Hier entdedte ihn ein Mädchen
198
von der feindliden Sippfdaft und gab von feinem Aufent-
balte Runde. Marianna eilte berbei. Ihre Verwandten um⸗
tingten dad Haus. Tapfer hielt ſich Romanetti, aber da ihm
das Pulver ausging und bie Feinde bereits aufs Dad ftieqen
um durch dafjelbe eingubdringen, erfannte er, daß er verloren
fei. Gr dachte an nichts mebr, als an fein Geelenbeil, denn .
ev war fromm und gottesfitrdtig.
Haltet ein! rief Romanetti aus dem Hauſe; id will mid
ergeben, aber verfpredet mir, dab ebe id) fterbe, id) beidten
darf. Marianna verſprach ibm dieſes. .
Alfo fam Romanetti hervor und gab fid willig in die
Hände feiner Feinde. Sie führten ihn in. das Dorf zu Teppa
und zogen mit ihm vor das Haus des Pfarrers Gavertué
Cagalonga. Marianna rief den Geiftlidden und bat ibn um
Gottes Willen Romanetti’s Beidte zu empfangen, denn dar:
nad) müſſe er fterben. |
Mit Tranen bat der Priefter um das Leben de3 Unglid:
lichen; aber feine Bitten waren frudtlo3. ener empfing die
Beichte, und wabrend der Mörder ihres Sohne’ fie vor dem
Pfarrer ablegte, lag Marianna auf ihren Knieen und rief Gott
an, daß er fid) feiner Geele erbarmen mage.
Die Beidhte war vollbradt. Nun führten die Pozzo den
Ungliidlicen hinaus vor das Dorf und banden ibn an einen
Baum.
Gie erboben ihre Flinten — pliglich ftiirgte Marianna
herbei — baltet ein! rief fie, um Gott baltet ein! und fie
lief an den Baum, woran Yener gebunden ftand, und um:
ſchloß mit ihren Armen den Ptdrder ihres Sohnes. Im Ramen
Gotte3, rief fie, id) verjeihe ihm. Hat er mich aud) gu der
unfeligften aller Mütter gemadt, fo follt ihr ihm fürder tein
Leides thun, und ehe mid) erſchießen als ibn. Und fo bielt
fie ibren Feind umfdloffen und. dedte ibn mit ihrem eigenen
Leibe. : ‘,
ty Uy * tq
199
Der Priefter trat hingu. C3 bedurfte feiner Worte nidt
mehr. Die Manner löſten Romanetti, und zur Stunde ward
er frei und fein Haupt heilig den Sippen der Poste di Borgo
daß ibm Reiner ein Haar krümmte.
Neuntes Kapitel.
Umagegend Afaccto’s.
Ich habe die Umgegend Ajaccio's durchwandert. Der enge
Raum erloubt eigentlid) nur drei Strafen und einen Spazier⸗
gang lings bes nördlichen Ufer3, einen ind Land auf der
Strage nad Baftia, einen an der andern Geite des Golfed
nad Sartene yu. Berge ſchließen die vierte Seite ab. Da
führen Landwege zwiſchen Weingarten hin.
In diefen fieht man häufig jene twwunderliden Widter-
häuschen, welde Wjaccio eigentilmlid find und Pergoliti ge:
nannt werden. Sie befteben aus vier jungen Pinienftammen, °
die fret in der Luft ein mit Stroh bedachtes Hittdhen tragen,
worin der Wadter fid niederlegen fann. Diefer führt hier
den ftolzen Namen Barone. Gr ift bewaffnet mit einem Doppel⸗
gewebr und ftipt von Beit gu Beit in ein Muſchelhorn oder
in eine gellende Thonpfeife, um feine Gegenwart bemertlid ju
maden und die Traubenfrevler zurückzuſchrecken.
Eines Whends führte mid ein freundlider Greis in feinen
Weinberg am Hiigel S. Giovanni. Cr bejdentte mid) reihlid
mit Muscatellertrauben und pfliidte mir Mandeln, fajftige
Pflaumen und Feigen, die bunt durch einander gwifden den
Rebenftdden wuchſen. Gr hatte mid de3 Wegs fommen febn,
und wie e3 fo die gute gaftlide Art ijt, mich in fetnen Gar:
ten genommen. G3 war ein guter Vater, das rührende Bild
pes Alters, wie wir e3 in den. Gebidten der Zeit Gleims
200
argeftellt finden, welde in ihrer fabelnden Ginfalt oft mebr
menſchliche Weisheit haben als die gelefenften Gedidte unſerer
Gegenwart. Gibt e3 ein ſchöneres Mtenfdenbild, als emen
beitern Grei3 in feinem Garten, ben er in der Sugend ge
pflangt bat, und deſſen Fritchteer nun milde austeilt an die
Müden, bie des Weges tommen? Ja, fo fol das Menſchen⸗
leben friedlid) und wolthätig ausgeben.
Der Alte rithmte mir geſprächig dtefe und jene Frudt und
fagte, tote man’s maden milffe, um fie recht ſaftig gu be:
fommen. Die Reben zieht man hier in einer Höhe von vier
bid finf Jub, wie die Bohnen an Stiden; in der Regel
ſtehn deren vier in einer vieredigen leichten Vertiefung neben
einanbder mit ben Gpigen gufammengebunden. Der Gegen an
Trauben war grop, aber an vielen Orten herrjdte die Trauben:
krankheit. Ich fand in jener Vigna auch yum erftenmal die
reife Frudt der indifden Feige. Wenn diefe ihre Cactushlume
abgeworfen hat, reift die Grudt fdnell. Ihre Farbe ift gelb:
lid; man ſchaͤlt die Rinde ab und gewinnt dad Fleifdige
" und Rornige, weldes unangenebm ſüß iſt. Man bat fdon
Verſuche gemadt, daraus Zuder yu ziehen. Die Triebtraft
piefer Cactusart, welche bei Wjaccio in erftaunlicher Menge
wächſt, ift ſehr groß. Gin abgeriffenes Blatt ſchlägt haſtig
Wurzel im Boden und bildet ſich dreiſt gu einer neuen Pflanze.
Sie bedarf mur der geringſten Nahrung, des wenigſten Staubes,
um fortzuwuchern.
Eine ſchloßartige Villa mit gothiſchen Turmchen und mid:
tigen Imperator-Adlern von Stein ſteht neben S. Giovanni.
Dies iſt die Villa des Principe Bacciocchi.
Die kleine fruchtreiche Ebene, welche ſich weiter am Ende
des Golfes hinzieht, heißt Campo Loro. Der Geiſt einer
düſtern Begebenheit aus dem Genueſenkriege ſchwebt über dieſen
Goldfelde. Hier hatten ſich 21 Hirten aus Baſtelica aufge:
ftellt, gewaltige Manner, Sampiero-Menfden. Gegen 800 Grie:
°
7 lt Re Oe 8.
201
den und Genuefen bielten fie tapfer ftand, bid fie in einem
Sumpf eingefdloffen allefammt getddtet wurden mit Ausnahme
eines eingigen Jünglings. Diefer hatte fid unter die Todten
geworfen, und gum Zeil von ibnen bededt fid) fir todt geftellt.
G3 famen aber bie Genuefen, ben Todten die Köpfe abju-
ſchneiden, um fie auf die Mauern der Citadelle aufzupflanzen.
Sie nahmen ben jungen Hirten und fiibrter ihn vor den
genuefifden Leutnant. Sum Tobe verurteilt, wurde der Ding:
ling, der Lepte ber 21 Manner Vaftelica’s, durch die Strafen
Ajaccio’s gefiihrt, behängt mit feds RKdpfen feiner Gefährten,
und dann gevierteilt und ben Raben auf der Mauer ausgefest.
Am Ende diefes Felde3 liegt der botaniſche Garten, eine
Anlage,; welche fid von Ludwig XVI. herſchreibt, und die
* in ibren Anfängen unter der Obbut Carlo Bonaparte’s ftand.
Sie war anfang3 dazu beftimmt, fremde Pflangen gu ziehen,
pie man in Frantreid) einfithren wollte. Der Garten, von
ben Höhen gegen die falten Winde geſchützt und der Mittags-
fonne gedffnet, enthalt die berrlidften Gewächſe, welde unter
freiem Himmel üppig gebeiben. Auf den indifden Feigen
entfteht dort auc) die Codenifle nidt anders al3 in Merico.
Der Garten liegt hart an ver Strage nad) Baftia, welde am
meiften belebt ijt. Namentlich ift died Abends der Fall, wo
die Bewohner aus dem Felde heimkehren.
Ich madte mir oft bad Vergnitgen, mic am Golf nieder-
gufegen und die Vortibergiehenden ju betradten. Die Weiber
find bier wolgebaut und von reinen und jarten Bilgen. Ofte
mals iiberrafdhte mid die Ganftmut ibrer Augen und die
Weiße ihrer Gefichtsfarbe. Sie tragen das Mandile um den
Kopf gebunden; am Sonntag ift e3 von weifer Gage und
fiebt gur ſchwarzen Faldetta äußerſt fauber aus, Die Bauerinnen
tragen bier allgemein kreisrunde Strohhüte mit febr niedrigem
Boden. Das Weib legt auf den Strohbut ein kleines RKiffen
und tragt dann getandt und flint fdwere Laften. Wie in
202
Stalien zeichnet die Frauen in Corsica natirlide Anmut aus.
Ich begegnete eines Tag einem jungen Mädchen, welches mit
Früchten nad der Stadt ging. Yd bat fie, mir einige zu
verfaufen. Das Madden fegte fofort den Korb ab und mit
ver liebenswürdigſten Weife bat fie mid, gu effen fo viel id
wollte. Mit eben fo viel Feinheit fdlug fie eine Gelvent:
ſchädigung aus. Sie war febr ärmlich gekleidet. Go oft id
ihr nadber in Ajaccio begegnete, erwiderte fie meinen Gruß
mit einer Grajie, die aud einem vornehmen Fraulein wol
würde geſtanden haben.
Da ſprengt nun ein Mann an uns vorbei. Sein zier⸗
liches Weib ging vielleicht eben vorüber, belaſtet mit Reis
holz oder Viehfutter, der faule Mann aber kam aus den
Bergen, wo er nichts that, als auf der Vendetta liegen. Sieht
man dieſe Halbwilden in Scharen zu dreien, fechſen oder auch
einzeln, reitend, gehend, alle das Doppelgewehr vor ſich, ſo
möchte man glauben, dap fie fic) fortdauernd im Kriegszu⸗
ſtande befinden. Gelbft der Bauer, der auf feinem Heuwagen
figt, bat bie Flinte übergehängt. Ich zählte in einer halben
Stunde 26 mit Doppelflinten bewaffnete Leute, die an mix
vorüber famen, um nad Ajaccio yu geben. Das Boll hier
ift aud) in Corsica befannt als dad ftreitbarfte der Inſel.
Oft feben diefe Menfden kühn und malerifdh aus, oft ab:
fdredend haͤßlich und felbft lacerlid. Sie figen auf den Heinen
Pferden, in ver Regel Heine Menfden von Napoleonsgröße,
ſchwarzhaarig, ſchwarzbärtig, brongefarbig; braunſchwarz und
zottig iſt ihre Jacke, ebenſo die Hoſe; das Doppelgewehr hangt
über der Schulter, an einem Riemen auf dem Rücken die gelbe
runde Zucca, welche meiſt nur mit Waſſer gefüllt iſt, an
einem andern Riemen hängt der kleine Schlauch von Siegen:
oder Fuchsfell, worin Brod, Kafe und noͤtige Dinge hinein⸗
geftopft find; um den Leib ift der lederne Rartufdengurt ge
ſchnallt, an bem gewöhnlich ein lederner Tabaksbeutel bangt
tt
203
So ift ber corsifde Reiter fertig, und fo liegt er alle Tage
im Feld, während bas Weib arbeitet. Ich fonnte mid nie-
mals eines Wergers enthalten, wenn id diefe Menfden das
Pferd, auf bem haufig zwei Perfonen hintereinander figen,
unbarmberjig antreibend, mit Gefdrei voriberjagen fah, und
wenn id) dabet auf die ſchönen Ufer des Golfs blidte, auf
welden fein Dorf fidtbar ijt. Ihr Boden könnte hundertfaltige
Frucht tragen, nun tragt er Rosmarin, Dorn und Difteln
und wildes Delgeſtrüpp.
Erfreuend iſt der Gang an der nördlichen Seite des Golfs
lang des Strandes. Dort brechen ſich bei leichtem Winde die
Wellen an den Granitriffen und überſchütten ſie mit milch⸗
weißem Schaum. Zur rechten Seite ſteigen Berge auf, welche
nahe an der Stadt mit Oelbäumen bedeckt ſind, weiter hin
kahl und öde werden bis zum Cap Muro.
Auf dieſem Ufer ſteht hart am Meer die kleine Capelle
der Griechen. Man konnte mir nicht ſagen, weßhalb ſie ſo
heiße, da ſie doch den Namen der Familie Pozzo di Borgo
(Puteo-Burgensis) auf einer Tafel führt. Wahrſcheinlich
hatte man ſie den Griechen eingeräumt, als ſie nach Ajaccio
kamen. Die Genueſen hatten eine Mainoten⸗Colonie in Paomia
weit oberhalb Ajaccio angeſiedelt. Dieſe fleißigen Männer
wurden von ben Corsen beftindig bedroht. Voll Hab gegen
bie Ginbringlinge, welde ihre Pflangung yu ſchöner Blüte ge-
bracht batten, iberfielen fie den Ackerbauer beim Pfluge, er:
ſchoſſen den Winger in feinem Weinberg, und verwüſteten Fel:
der und Furdtgirten. Ym Qabre 1731 wurden die armen
Grieden aus ibrer Colonie gejagt; fie floben nad Wjaccio,
wo bie Genuefen, denen fie ftet3 treu blieben, drei Compa:
nien aus ibnen bildeten. Als nun bie Ynfel den Frangofen
untertan wurde, gab man ibnen Gargefe ju Befigung. Sie
bradten bas Landden in Bliite, aber faum darin warm ge-
worben, iiberfiel fie der Corfe wieder im Jahr 1793, warf
204
Feuer in thre Häuſer, vertilgte ihre Herden, zertrat ibre
Weinberge, und zwang die Mainoten wiederum nad) Ajaccio
su flieben. Der General GCafabiafica fiibrte die BVertriebenen
im Jahre 1797 nad Cargefe zurück, two fie nun rubig leben
Sie ſprechen corsifd wie ibre Umwohner, unter fic) aber
rebden fie ein verfälſchtes Griechiſch. Cargeſe liegt nördlich
von Ajaccio am Meer, ſeitwärts von den Bädern Vico's und
denen von Guagno.
Auf demſelben nördlichen Ufer ſtehen viele kleine Capellen
zerſtreut, in mannichfaltiger Form, rund, vieleckig, gekuppelt,
in Sarkophag-, in Tempelform, mit weißen Mauern um
ſchloſſen und zwiſchen Cypreſſen und Trauerweiden. Es find
Familiengräber. Der Corse läßt ſich nicht gern auf dem
öffentlichen Kirchhof begraben; denn nach der uralten Sitte
ver Patriarchen will er in ſeinem Beſitztum beſtattet fem.
. Daber ift die ganze Inſel mit Gruftcapellen iberftreut, welde
oft ben Reig der Gegenden erhöhen.
Weiter wandernd gegen das Cap Muro, wo Hart am Ufer
einige rote Granitilippen liegen, die blutigen Ynfeln genannt,
mit einem Fanal und mit mebreren genuefifden Wadttirmen,
fand ic Fiſcher beſchäftigt, ihr Netz an ben Strand gu ziehn.
Sie ftanden in zwei Reihen von je 10 bis 12 Mann; eine
jede wand ein lange3 Tau auf, an dem dad Reg befeftigt
war. Golde Zane find auf jeder Seite mehr als 150 Gillen
lang; was von ibnen mühſam aufgewunden ift, wobei die
Fiſcher mit den Handen und ber Brujt an einem Gurt ziehn,
wird fauber in einer Rreislinie aufeinandergebauft. Nad dret
Viertelftunden war bas Reg am Stranbe, einem wolgefiillter
Sade gleich. Wie e3 nun auseinander gefdlagen wurde, wat
e3 ein Wimmeln, . Zappeln, Springen und Srabbeln des
armen Seegethiers — jumeift waren es Gardellen, und die
gripeften Fiſche Roden (razza), die unferm baltiſchen Flinder
dbneln. Am langgefpipten Schwanz tragen fie einen böſen
205
Stadel. Vorſichtig legt ber Fifcher den Roden auf den Boden
und fdneidet ibm mit dem Meffer den Schwanz ab. Die
Corsen find fo tüchtig auf der See, wie in den Bergen. Der
Granitberg und das Peer beftimmen den Charatter der Ynfel
und ibrer Bevdlferung, daher zerfällt diefe in zwei uralte
gleid) fraftige Stände, die Qirten und die Fifder. — Die
Fiſcherei bet Wjaccio ift ſehr bedeutend wie in allen Golfen
ber Snfel. Im April gieht aud) ver Thunfijd längs den
Küſten Spanien’, Frantreidh3 und Genua’s in den Canal Cor:
Bica’s; der Haififd ift fein gefdworener Geind. Gr zeigt fid
oft in diefen Meeren.
WS id in der Duntelheit von diefer Strandwanderung
nad Ajaccio guriidtehrte, fiel in meiner Nabe in den Bergen
ein Slintenfdup. Gin Mann fam auf mich jugeeilt und
fragte febr erregt: Gie birten den Schuß? — Ja, mein Herr.
— Saben Sie etwas? — Mein, mein Herr. — Der Frager
verſchwand. Zwei Sbhirren famen. voritber. Was war's? —
Vielleicht fiel Ciner in den Bergen in fein Blut. Die Spajzier⸗
gange bier zu Lande finnen redht dramatifd fein. Immer
von einem Haud) de Todes ift man hier umwittert, und die
Natur felbft hat bier den Reig einer ſchwermütigen Sdhinbeit.
Piertes Bud.
Erſtes Kapitel.
Von Ajaccio bis mm Tal Ornano.
Die Strafe von Ajaccio nad) Sartene ift reid an mett
würdigen Gegenden und eigentiimliden Anfidten. Eine Jet
lang führt fie lang3 des Golfed fort, gebt tiber ben Gravone
flug, und dann in das Tal Prunelli. Die Anſicht de groper
Golfs ijt von allen Seiten gleich herrlich; fie entfdwindet bab
und bald geigt fie fid) wieder, weil ber Weg fpiralformig ax |
den Bergen hinlduft. |
An der Mündung des Prunelli fteht einfam der Tum
Capitello, den wir aus der Gefdidte Napoleons fennen. |
Der Ortfdaften gibt e3 hier wenige, wie Fontanaccia, |
Sertola und Cavro. Cavro ift ein gerteiltes Dorf in wil
romantifder Berqgegend, welde an Granit und Porphyr wid
ift, und von den üppigſten Weingarten umgeben. Zehn Minuten
weiter gelangt man in ben Felfengrund, in weldem Sampiero
ermorbet wurbe. Dort ftehen, hohe Felfen im reife umber,
ein Steg windet fid) in die Tiefe, welde ein Bergmaffer
durchrauſcht, und Giden, Oelbaume und wilbes Geftriipp be
deden ben Ort. Wuf einem Felfen in der Rabe fieht mar
nod die Trimmer der Burg Giglio, wo Sampiero über
nadtete, ehe er in feinen Tod ging. Vergebens fah id mid
207
nad einem Denkeiden um, welches bem Wandrer fagen midte,
daß hier der beldenmiitigfte aller Corsen gefallen fei. Das
lebendige Gedächtniß ift das eingige Denkmal ihrer wilden,
tragiſchen Gefdhidte. Cin jeder Fels ihrer Inſel ijt Denkſtein
ihrer Thaten: fie mögen daber der Gedächtnißſäulen und der
Inſchriften leidt entbebren, fo lange die gefdidtliden Gr-
eignifje nod al8 ein Teil von ihrem eignen Wefen fortleben.
Denn fobald ein Volk anfängt, fein Land mit Dentmalern
auszuſchmücken, liefert e3 ben Beweis, daß feine Mraft ver:
loren ging. Ganz Stalien ijt -heute ein Muſeum von Denk:
faulen, von Statuen und Inſchriften. Bn Corsica blieb auch
hier Der Naturftand und die lebendige Weberlieferung. Als
Pasquale Paoli nach jeiner Rückkehr aus England eine Vild-
faule zu feiner Ehre ablehnte, fagte ein Corse: einem ein-
fadhen Mann eine Bildfaule fegen, ift fo viel-al3 ihm eine
Obrfeige geben.
An dem Rand der düſtern Mordfdludt fand id) indeß
eine Gruppe lebendiger Standbilder Gampiero’3, Bauern,
welche die phrygifche Freiheitsmütze in die Stirn gedrückt, im
Sdein ber Sonne plauderten. Ich trat an fie beran und
wir redeten von bem alten Helden. Das Volk hat ihm den
ehrendſten 3unamen gegeben, den irgend eines Volkes Sohn
tragen barf, benn er wird niemals anders genannt als Gam:.
piero Corso. Sdlagend hat fid in diejem Zunamen das Urteil .
feiner Landsleute ausgefproden, daß Gampiero der Wusdrud
des corsifhen Volkscharakters fet, und dap er fein Volk bez
deute. Die ganze Natur de Ynfellandes fapt ſich in diefem
Manne aus Urgranit zufammen, wilde Tapferfeit, Freiheits-
glut, Vaterlandsliebe, durddringender Verjtand, Wrmut und
Bedürfnißloſigkeit, Rauhheit und Jähzorn, vulkaniſche Leiden:
ſchaft, Rachſucht, dag er wie Othello der Mohr fein Weib |
erwürgte; und damit in der Geſchichte des Sampiero Corso
nidt aud) ver ganze blutige Bug feble, welder ba corsiſche
208
Volk heute pfydologijd fo merfwiirdig madt, wurde an ibm
felber die Blutrade volljogen. Yn einem frithen Jahrhundert
lebend konnte er dad volkstümliche Weſen nod) ganz bewahren.
Das aber wird ſchon in Pasquale Paoli durch den humaniſti⸗
ſchen Bug feines Jahrhunderts verallgemeinert.
Bon Sampiero’s Söhnen haben wir den alteften Alfonso
d'Ornano nad feines Baters Tod eine Beitlang den Krieg
gegen Genua fortführen feben, bid er auswanderte. Sm Yabr
1570 ernannte ihn Catharina von Medici zum Oberften des
Corsenregiments, welded fie in Dienfte genommen hatte. Gr
glangte in vielen Schlachten und Belagerungen unter Carl IX.
und Heinrich III. Rath der Ermordung diefes Königs, in
deffen Namen er die Dauphine regierte, bemühte fic) die Liga
den einflußreichen Corsen auf ihre Seite gu ziehn, aber Alfonso
war einer der. Griten, welche Heinrid) IV. anerfannten, und
er wurde feine traftigfte Stage. Der König ernannte ihn
sum Marſchall von Franfreidh und vergalt ihm feine Treue
durch Freundfdaft. Yn einem Brief fdreibt er an Alfonso:
„Mein Coufin, ourd Cure Depeſche, welche mir der Herr
pon Tour überbracht hat, habe id die erjte Nachricht von
bem erhalten, was Shr fo glidlid in meiner Stadt Romans
ausgefihrt habt. Gott fcdentt mir die Gunjt, dap faft alle
biefe böſen Anſchläge ohne Erfolg bleiben, nächſt ihm, weiß
id, hat in dieſer Gade niemand ein fo groped Verdienjt um
mid, als Ihr, der mit aller Klugheit und Tapferfeit ge
handelt bat, wie nur yu wiinfden war, und def will id) Euch
Dank wifjen. Es ift nur die Fortfegung Curer gewobhnten
Handlungsweife und des Gliides, das alle Cure guten Abs
fidhten begleitet.” Ym Jahr 1594 unterwarf Wlfonso dem
Könige aud Lyon, dann Vienne und viele Stadte der Pros
pence und Daupbhiné. Er war das Schrecken der feindliden
Partei, und wie er durd) fein kriegeriſches Genie gefirdtet
war, fo wurde er aud) wegen feiner Geredtigfeit und Menſchen⸗
Wo OW Tt on
ae VE Ya Ye
209
liebe geactet. Biele durch Peft und Krieg heruntergefommene
Städte Frantreihs unterftiigte er aus eignen Dtitteln. Gr
ftarb im Wter von 62 Jahren, im Jahr 1610 gu Paris und
liegt in der Stirche de Ia Merci in Bordeaur begraben. Bon
feiner Gemalin, einer Todjter de3 Nicolas de Pontevöze, Herrn
von Flassan, hatte er mehrere Kinder, von denen ein Sobn
Sean Baptifte d'Ornano gleidfalls Marſchall von Frantreih
wurde. Zur Zeit Ricelien’s ftirgten ibn Intriguen des Hofes ;
der Ptinifter warf ihn in die Baftille, wo er, wie man jagt,
auf deffen Befebl vergiftet im Jahre 1626 ſtarb. Bm Jahr
1670 erlofd der Stamm Gampiero’3, welder mit Wlfonso
nad Frankreich biniibergegangen twar.
Sein zweiter Sohn Wnton Francesco b’Ornano nahm wie
ber Vater ein blutiges Ende. C3 war derſelbe, mit weldem
vie unglidlide Mutter Vannina von Marfeille nad) Genua
auf die Flucht fic) begab, und den fie bei fic) hatte, als der
rafende Bater. fie ermordete. Wnton Francesco lebte wie fein
Bruder am Hofe Frankreichs. Gung und feurig wollte er die
Welt fehen und begleitete den Geſandten Heinrids III. nad
Rom. GCines Tages gab das Rartenfpiel die Veranlafjung
gu einem Streit gwifden ibm und einem der Herren der
Gefandtidaft. Der ungeftiime Corse beleidigte den Franzoſen
durch einige beftige Worte, aber dieſer verjtedte feinen Groll,
fo daß der junge Ornano nichts argwöhnte. Hierauf madten
dieſe Herren gemeinfdaftlid) einen Ritt nad dem Coloffeum;
Ornano blieb mit feinem Diener allein, nachdem feine italie:
nijden Freunde thn verlafjen batten, und mit ibm waren
zwölf Frangofen, feds gu Fup und feds gu Pferd. Gein
Gegner [ud ibn höflich ein, abzufteigen um einen Gang ins
Goloffeum yu machen. Ornano folgte der Ginladung, aber
faum war er abgeftiegen, als die tidijden Franjofen über
ibn berfielen. Schon aus vielen Wunden blutend, verteidigte
fic) der Sohn Gampiero’s gegen die Uebermadt mit beroifder
Gregorovinus, Corsica, It, 14
210
Lapferteit. Nachdem er fid) ten Riiden an einem Pfeiler ge:
deckt hatte, bielt er mit bem Degen fo lange Stand, bid er
niederſtürzte. Die Mörder lieBen ihn in feinem Blut liegen
und entwiden. Anton Francesco ftarh am folgenden Tage.
Das gefdhah im Dabre 1580. Gr hinterließ feine Rad:
fommen. |
Ich habe das Grab diefed jüngſten Sohnes Sampiero's
in der Riche Gan Crisogono in Trastevere zu Rom anf:
gefudt, wo er unter vielen corsifden Herren begraben ward,
denn diefe Rirde war ben Corsen eingeräumt. Anton Frances
ſoll das fprechende Chenbild feines Vaters gewefen fein; man
fagt, daß er von ihm wie Gefidht und Geftalt, fo aud bie
Unerfdrodenbeit geerbt hatte; und dieſe Tugend wurde an
Sampiero fo bod) gerithmt, wie fie einft bie Romer an Fa:
briciud gerithmt haben. Wie Pyrrhus diefen durd dad plop
lihe Erſcheinen eines Clephanten zu ſchrecken fudte, fo ver
judte der Sultan Soliman Wehnlides mit Sampiero. Die
Sage erzablt nämlich, dap der Großherr eines Tags ſich über⸗
zeugen wollte, ob was man von Sampiero’s Unerfdrodenbeit
erzible, itbertrieben jet oder nidt. AWlZ nun Sampiero bei
ihm yu Tiſche fap, lieB er in dem Wugenblid ba der Corse
vie Scale zum Trinfen an den Mund fepte, eine zweipfündige
Kanone unter dem Tifd) abfeuern. . Wller Augen waren auf
Sampiero gerichtet, Der aber verzog keine Miene; ver Schuß
madte auf ibn nidt mebr Cindrud als etwa das Geräuſch
einer Taſſe, die einem Sclaven aus der Hand gefallen ware.
Weiter nordwart3 von Cavro liegt der grofe Canton Bafte
lica, welder durch eine Gebirgstette vom Canton Zicavo ge
fhieden wird. Diefes rauhe Gebirggland, aufgetiirmt aus
gewaltigen Granitmaffen, voll von wilden Tälern, welche der
tnorrige Eichbaum beſchattet, und riefige, bie und da befdneite
Perghaupter umragen, ift das Baterland Sampiero’s. Jn
Baſtelica oder vielmehr in Dominicaccia zeigt man nod) das
211
alte Haus, worin er geboren wurde; denn fein eigenes bat:
ten die Genuefen unter Stefan Doria niedergerifjen. Viele
Grinnerungen an ibn leben in bdiefer Gegend, welche die
Phantafie des Volks in Gedächtnißmalen mancher Art ge:
heiligt bat. Denn bald ijt e3 eine Fußſpur Sampiero's im
Felſen, bald ein. Abdruck feiner Flinte, bald eine Haile, bald
eine Gide, unter der er gefeffen baben fol.
—s Wes Volk diefes Tales Prunelli zeidnet fic) urd kräf—
tigen Wuchs und kriegeriſche Art aus; meiſt find es Hirten,
raube Männer von den eifernen Gitten der Wltvordern, und
pon der Cultur gänzlich unberithrt geblieben. Die Mtanner
von Baftelica und die von Morosaglia galten ftet3 als die
Stärkſten unter allen Corgen. |
Der Gebirg3famm Gan Giorgio trennt das Tal Prunelli
von dem großen Zale Zaravo. Hat man fein Yow, die Bocca,
hinter fid), fo breiten fic) vor dem Blick zwei ſchöne mit Ort:
ſchaften reid) befegte Taler aus, Y8tria und Ornano. Der
Fluß Taravo durchſtrömt fie, Felfen durchrauſchend. Ich fuche
vergebens eine befannte Gegend Stalien3, um durch Crinnerung
an fie die Borftellung folder corsiſchen Bergtaler deutlich zu
maden. Der Apennin würde in manden Teilen ihnen nahe
fommen. Wher diefe corsifden Berge und Taler erfcienen
mir dod bei weitem gropartiger, wilder, malerifder durch
ibre Gajftanienbaine, durch die braunen Felſenwände, die
ſchäumenden Waffer, die ſchwärzlichen gerftreuten Dörfer, und
ganz unvergleidlid) wird bas Gemalde, wenn ſich plötzlich in
per Ferne das ftralende Mteer zeigt.
Yn diefen Bergen hausten die alten Adelsgeſchlechter der
Istria und der Ornano, welde die Landesfage von jenem
Hugo. Colonna abfteigen apt, den id in der Gefdhidte der
Corsen genannt habe. Mancher Turm und mandes zertrüm⸗
merte Caftell gibt nod) eine halbverfdollene Runde. Die Haupt:
cantons Ddiefer Gegend find S. Maria und Petreto.
212
Sn S. Maria d’Ornano war der Sig ver Ornani. Us
ſprünglich hieß aud die Pieve Ornano, heute aber heißt fie
Santa Maria. Schönes Land ift ringsum, lachend durd grine
Hügel, Viehwaiden und Olivenbaine. Hier war das Baterland
der ſchönen Vannina, und da fteht auch nod) das turmartig
bobe, braune Haus, weldes ihr gebdrt hat, ſchön gelegen
auf einer bas Tal beberrfdenden Hobe. Nahe dabei erblidt
man die Zritmmer eines CaftellZ, welches Sampiero erbaut
bat, und eine Capelle in deſſen Nabe, wo er vie Meſſe hoͤrte.
Man fagt, daß er fic begnügt babe, in Fenfter feines Schloſſes
zu liegen, wenn diefe gelefen tourde. Gr baute jene3 Caftell
im Sabr 1554.
Zweites Kapitel.
Von Ornano nach Sartene.
Der Taravo macht die Grenze zwiſchen der Provinz Ajaccio
und ber von Sartene, des ſüdlichſten der corsiſchen Arron:
diſſements. Gleid) am Cingang liegt der fchine Canton Petrete
und Bicdhifano, welder ſich am Taravo bid jum Golf Valinco
binunterjieht. Die Anſicht der Landſchaft und ded tief unten
flutenden Meerbuſens gilt ſelbſt ben Corsen fiir eine ber herr
lidjten ihrer Inſel. Ueberhaupt find alle dieſe Gegenden jen:
jeits ber Berge von überraſchend mächtiger Art und tragen
den edelften Stempel der Urnatur. Es liegen in diefem Canton
zerftreut die Ruinen der Herrenſchlöſſer von Istria, aber Haglid
sertriimmert und nur felten fo weit aufredt, daß man ir
ſchwarzes Mauerwerk auf den erjten Blid vom Granit der
Felſen unterfdeiden fann.
Auf einem Berg oberhalh Sollacaro ftehen die Trümmer
eines Schloſſes jenes in ber Gefdhidte genannten Bincentelle
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213
v'Istria tief begraben unter Baumesſchatten und Schling—
pflanjen. An dieſes Schloß knüpft fid eine der wilden
Gagen, weldhe die Cor8en und aud) die furdtbare Zeit des
Mtittelalters bezeidnen. Es ftand hier friber ein andres
Schloß, in weldem eine {dine und unbandige Dame Savilia
wobnte. Diefe lodte einft einen mächtigen Herrn, Giudice
yon Istria, in ibre Burg, nachdem fie ihm ihre Hand zu—⸗
gefagt hatte. Istria fam und Gavilia ließ ibn in das Turm⸗
verlieB werfen. Wher jeden Morgen ftieg fie zum Gefangnif
binab, und indem fie fich am Gitter deffelben vor den Mugen
Istria's entblößte, höhnte fie ibn mit ben Worten: fdaue
mid an, ift diefer Leib gemadt von einem häßlichen Dtanne
wie du bift genoffen zu werden? So trieb fie es lange Beit,
bis es Ystria endlid gelang 3u entfommen. Rachevoll 30g
et mit feinen Bafallen vor Gavilia’s Burg, erbrad fie und
madte fie bem Boden gleid); die ſchöne Amazone fepte er in
eine Hütte auf einen Scheideweg, wo er fie zwang, fic) jedem
Vorübergehenden hin zu geben. Savilia verſchied am dritten
Lage. — Spiter baute Vincentello d'Istria an der Stelle
der zerftirten Burg jene, welde nun aud in Trümmern liegt.
Die nächſte Pieve Olmeto war ein Lehn der Istria. Hoch⸗
ftrebende Berge umfdliefen den Hauptort Olmeto von der
einen Geite, nach ber anbdern liegt ibm gu Filfen ein {tilled
Olivental, welches der Golf von Balinco beſpült. Wud bier
seigte man mir auf einem der fdroffjten Berge, dem Buttareto,
die Trimmer eines Caſtells, welches ehedem die Burg ded
Arrigo della Rocca geweſen war. CErhaben und jaubervoll
ift der Blid von Olmeto in das Tal und auf den Golf.
Seine Linien find fanft, feine Ufer braun und fdweigend.
Seine duferften Landfpigen find nördlich das Cap Porto Pollo,
ſüdlich Gampo Moro. Der Name Mobrenlager, welden das
Gap, ein fleiner baran gelegener Ort und ein Wadtturm
führen, wedt lebhaft bie Crinnerung an die Garacenen, die
214
ehemals fo oft bier fandeten. Bon der ſaraceniſchen Croberung
durch den fagenbaften Maurenkönig Lanza Ancifa her, hat
bie Snfel Corsica nod ihr Wappen bebalten, den Mohrenlopf
mit der Stirnbinde. Mauriſch braun ift bier alles Uferland
und von einer unfagliden Sommerjtille. Als ich nach dem
Heinen Hafenort Bropriano tam, webte mid) aufs neu diefer
Geift der Weltabgefdiedenbeit an, den man auf dem dden
Inſellande fo lieb gewinnt. Auf dem Strand aber ftanden
viele Manner, frifchblithende, duntelgelodte Manner, alle das
Doppelgewehr auf der Schulter, wie in Bereitſchaft, vie Gara:
cenen abzuwehren. Der Anblid diefer ernften Kriegergeftalten
und die melandolifdhe Wildheit bes Uferlandes entrücken gary
in die fagenhafte Garacenenseit. Mir fallt eine ſpaniſche
Romanze ein, welde den aus der Gefdhidte der Corsen be
fannten Corsaren Dragut befingt. Wn diefem Golf aft fie
fid unter Rriegergeftalten wol vernebmen.
Dragut vor Barifa.
Angefidtes von Tarifa
Wenig mehr denn eine Meile,
Meifter Dragut der Corsare,
Der Corgar zu See und Lande,
Von ven Chriſten er entbedte
Und von Malta Segel finfe.
Deshalb ward er da genidtigt
aut und birbar fo zu rufen:
Al arma! al arma! al arma!
Cierra! cierra! cierra!
Que el enemigo viene à darnos guerra.
Meifter Dragut der Corsare
Gin Kanon abfeuern lief er,
215
Das Signal fie follten hören
Die da Holy und Waſſer holten.
Antwort gaben da die Chriſten
Von dem Strand und den Galeren,
Und vom Hafen aud die Gloden
Jn das Schreien larmten alfo:
Al arma! al arma! al arma!
Cierra! cierra! cierra! |
Que el enemigo viene & darnos guerra.
Und ber Chrift der darob weinte,
Daf die Hoffnung ihm geftorben,
Heitert auf nun feine Trauer,
Weil er jeine Freibeit hoffet.
Dragut mit ben Capitanen
Augenblids den Kriegsrat hielt er,
Ob 3u warten gut fie thiten,
' Ob die Segel aufzubiffen:
Al arma! al arma! al arma!
Cierra! cierra! cierra!
Que el enemigo viene & darnos guerra.
Und die Andern fagten alfo:
Warte! Warte! Law fie naben,
Wenn in hohe See wir fommen,
Dann wird unfer. fein Victoria. .
Dragut laut und hörbar rief er:
Ihr Canaljen auf zum Rampfe,
Kanoniere allmitjammen,
Laden, fciepen, laden, rufen:
Al arma! al arma! al arma!
. Cierra! cierra! cierra!
Que el enemigo viene à darnos guerra.
216
Am 12. Juni 1564 landete Gampiero im Golf von
Valinco — ein erner Klang mebr in diefen friegerifden
Grinnerungen.
Nach dem Lande gu erbebt fid) die Gegend yum wüſten
Gebirg, deffen Seiten mit grauem Felsgetrümmer iberftrent
find, Steine, Geftripp, Uferjand und ein Gumpf maden
diefen Strid) befonders traurig. Dod wächſt hier die immer⸗
. gtiine Gide und die Rorfeide reichlich, und das rauhe Land
tragt Rorn und volltraubigen Wein. — Endlid ſah id) Sar
tene vor mir, einen grofen Ort, fdwermutsvoll in fdwer
miltigen Bergen vereinjamt.
Die Stadt Sartene.
Die Stadt Sartene hat nur 3890 Ginwobner. Gie if
ber Hauptort des Arronbdiffement3, weldes in adt Pieven
oder Cantons 29,300 Ginwobner zaͤhlt. Sartene erfdien mir
weniger ftadtifd ausfebend als felbjt Calvi und dad fleine
Isola RosZa; denn in nists unterfdeidet fie fid) von den
anbdern Orten der Ynjel. Ihre Bauart ift die landesübliche
der Dörfer, nur etwas verſchönt. Alle Häuſer, felbft dex
Turm der Hauptfirde find aus braunem Geftein gebaut,
welde3 itbereinander gelegt und mit Lehm verfeftigt ijt. Die
Kirche allein ift gelb übertüncht, alle anderen Gebäude jeben
fhwarzbraun aus. iele find elend wie Capannen, einige
Gafien am Bergabbange fo eng, dak darin höchſtens zwei
Menſchen nebeneinander fteben finnen. Hobe fteinerne Treppen
fabren zu der gewölbten Thüre, welde in der Mitte der Border:
wand angebradt ift. Yd durchwanderte dieſe Gaffen: fie ſchienen
mit twitrdig von Damonen bewohnt yu werden, und fo meine
217
— — —
ich möchte Dis ausſehen, die Stadt der Hölle beim Dante.
Dod gibt es aud im Quartier Santa Anna zierliche Häuſer
ber Reichen, und einige fehen trog ihres ſchwarzen Materials
gut genug aus. Originell und höchſt malerifd find fie alle,
und bas verbanten fie aud) ben ftumpfwinkligen Dadcern,
welde weit über bie Wande hinausragen, und den vielen
Sdornfteinen italienifden Stils, die bald faulenartiq mit
bigarren Kndufen, bald al Spigtiirmden, bald in Obelistens
form aufgefept find. Gin ſolches Dad verfdinert das Haus,
und wenn deffen Wände aus regelredht behauenen Steinen
erridtet find, fo laͤßt man fid ibre Wrt wol gefallen. Aber
aud meine Capannen vom Dtonte Rotondo fand id mitten
auf dem Mart wieder. Dies waren nämlich BVorratshaufer
ber Birger. Wunderlid) nehmen fic) dazu die pruntvollen
Namen einiger Gafthiufer aus, auf denen gu lefen ift Hötel
de l’"Europe, de Paris und de la France.
Der Rame Sartene erinnert an Garbinien ober an den
Garacen. Man wußte mir nicht yu fagen, wober er fomme.
In alten Zeiten hieß der Ort Sartino und die Stadtfage er:
zählt, daß er durd feine mineralifdhen Waffer berühmt war.
Da kamen viele Gajte, die Quellen yu gebrauden. Die armen
Ginwobner des Fleckens ftarben darüber vor Hunger, weil
die Gajte ihre Frucht verszehrten. Sie verfdiitteten alfo die
Quellen, verlieBen ihre Häuſer und bauten fie höher hinauf
in den Bergen. Wenn dieje Gage wabhr ijt, fo fpridt fie
nidt gegen die corsiſche Traigheit.
Sdredlid litt Sartene von den Saracenen. Sach wieder:
bolten Ginfaillen iiberrafdten die Barbaresfen die Stadt im
Yabre 1583 und fdleppten an einem Tage 400 Perfonen in
pie Gefangenfhaft, alfo wol den dritten Theil der damaligen .
Bevölkerung. Seitbem umgaben fic die Gartener mit einer
fefter Mauer.
Heute fieht man dem ftillen Ort, deffen Einwohner auf
218
dem idyllifden Marktplatz unter dem großen Ulmbaum friedlid
beifammen ftebn, gar nidt an, daf er in feinen IRauern fo
grimme Leidenjdaften verbergen fann. Denn nad der Julis
revolution war Sartene jabrelang der Schauplatz eines grin
liden Biirgertrieges. Der Ort hatte ſich ſchon tm Yabre 1815
in zwei Parteien geteilt, in die Anhanger der Familie Rocca
Gerra und die der Ortoli. ene find die Reichen und be
wobnen das Biertel Gant’ Anna, diefe die Armen und be:
wobnen ben Borgo. Beide hatten die Haufer gefperrt, die
Fenſter gefdlofien, thaten Ausfalle auf einander und erſchoßen
und erdoldten fic) mit groper Wut. Die Rocca Serra waren
die Weifen oder die Vourboniften, die Ortoli die Rtoten over
bie Liberalen; jene hatten der Gegenpartei den Cintritt in
ihre Biertel unterjagt, aber die Ortolt wollten ibn ertropen
und zogen eines Tages mit Fabnen nad Sta. Anna. Auger
blids ſchoßen die Rocca Serra aus ihren. Häuſern, tödteten drei
Menfden und verwundeten andere. Dies war das Signal
qu einem blutigen Kampf. Des folgenden Tags famen viele
bundert Bergbewohner mit ihren Flinten herab und belagerten
Sta. Anna. Die Regierung fdidte Truppen, aber obwol diefe
ſcheinbar Rube ſchafften, lagen die beiden Parteien immerfort
gegen einander gu Feld und tddteten fid) viele Leute. Die
Spannung dauert nad heute; wenn gleid) die Rocca Serra
und Ortoli nad einer 33jabrigen Feindfdaft am Feſt ver Pri
fibentenwabl outs Napoleons zum erftenmal ſich verſöhnlich
nadberten und ihre Kinder mit einander tanjen liefen.
Dieje unausrottbaren Familientriege bieten tn Corsica dak
felbe Gemälde dar, welches die Städte Italiens, Florenz—
Bologna, Verona, Padua, Mailand, Rom im alter Zeit ge:
geben haben, und jo findet man dad Mittelalter nod Heute
in Corsica wieder und diefelber Tumulte, welche Dino Com:
pagni in feiner florentinifchen Chronif fo plaſtiſch dargeſtellt
bat, ben Strieg ber Biirger, welde wie Dante Hagt, von
219
einem Graben und von ein und dérfelben Mauer umſchloſſen
find. Wber dieſe corsifden Familientriege find weit firdter-
lider, weil fie in fo Heinen Ortſchaften geführt werden, in
Débrfern, die oft kaum 1000 Geelen haben, und deren Gin:
wobner durd die Bande des Blutes und der Gaſtfreundſchaft
unauflöslich an einander gekettet ſind.
Heute iſt das Völkchen Sartene's feierlich auf dem Markt⸗
platz verſammelt, wo man ein wunderliches Gerüſt für den
15. Auguſt, den Namenstag Napoleons, herrichtet, um darauf
ein Feuerwerk loszubrennen. Vielleicht wird das Feſt den Zwiſt
aufs neue entflammen, und dieſe ſchwarzen Häuſer können in
wenig Tagen ſich in eben ſo viel kleine Feſtungen verwandeln,
woraus Feind den Feind zu treffen weiß. Hier gab die Politik
zum Bürgerkriege Anlaß, anderswo thut es die Beleidigung
irgend einer Perſon und der geringfügigſte Umſtand. Für eine
getödtete Ziege ftarben einft 16 Menſchen und ein ganzer Canton
‘ftand in Waffen. Gin junger Menſch wirft feinem Hunde ein
Stiid Brod zu, ber Hund eines andern ſchnappt e3 ibm weg,
daraus entftebt ein Krieg zwiſchen Gemeinden, und die Folge
ijt Mord und Tod auf beiven Seiten. Es feblt nicht an Ge⸗
legenbeiten zum Rampf bei den Communaltwablen, bei Feftlid:
feiten und Tänzen. Manchesmal find die Unlaffe fehr lachens⸗
wert, Ym Jahre 1832 gab ein todter Gfel in Mtarana den
Grund ju einem blutigen Kriege zwiſchen zwei Dorfern. In
der Ofterwode ging namlid eine Proceffion nad einer Capelle
und ftieb auf bem Wege auf einen todten Eſel. Darob ent:
fepte fid) ber Küſter und fig über die gu fluchen an, welde
pag Thier auf den Weg geworfen und die heilige Procefjion
alſo verunebrt batten. Gofort erhob ſich ein Streit zwiſchen
den Leuten aus Lucciana unb denen aus Borgo, in welde
Gemeinde ber Eſel gebire, und man griff ju den Waffen
und wedfelte Schüſſe: die Proceſſion verwandelte ſich in eine
Schlacht. Cine Dorffidaft wälzte den Eſel auf die andere;
220
eine trug ibn ber anbdern zu; bald fdleppten ibn die von
Borgo nad Lucciana, bald die von Lucciana nad) Borgo,
und bas geſchah von beiden Seiten unter beftindigem Schießen
und wiitendem Rampfgefdrei.
So fampften einft Trojaner und Grieden um die Leide
des Patroclus. Die von Borgo fdleppten den todten Gel
emmal bis an bie Rirde in Lucciana, wo fie ibn an ber
Thüre niederwarfen, aber die von Lucciana boben ibn wieder
auf und nachdem fie Borgo erftiirmt batten, ſpießten fie den
Gfel auf den Glodenturm. Endlich lieB der Bodeftd dad
corpus delicti, welde3 von folder Banderjdhaft mürbe fid
bereits auflöſen wollte, ergreifen, und der todte Gfel ward
verfdarrt und zur Rube gebradt. Der Dichter Viale hat cin
komiſches Epos auf diefen Cfel gedidtet in Weife ves ge
taubten Eimers von Bologna.
Gin Trupp von zehn Gendarmen liegt in Cartene. Eben⸗
foviel pflegen in jedem Canton3ort ober in ſolchen Doͤrfern
au liegen, welde befonbders unrubig find. Der Officier war
ein Gifafer, der ſchon 22 Sabre in Corsica lebte und gay
glidlid fdhien, unvermutet einen Landsmann zu treffen. Yedes:
mal wenn id Cljafer ober Lothringer treffe — die letzteren
ſprechen ein febr gebrodjne3 Deutſch — empfinde id) geſchicht⸗
lide Schmerzen um diefe verlornen deutſchen Brüder. Denn
es ift ein bleibender Gamer; fiir un3, ein Stiid edler dents
ſcher Erde in ben Handen der Franjofen ju wiffen. Jener
Officier flagte ſehr über ben gefährlichen Dienft und den Heinen
Krieg gegen bie Banditen. Cr zeigte mir in der Ferne einen
Berg, ben hohen Yncudine. Sehen Sie, fo fagte er, dort fist
ein Gauptbandit, auf den wir Jagd maden wie auf einen
Muffrone. Gintaufend und finfhundert Franken ſtehn auf feis
nem Kopf, bod) fie find ſchwer yu verbienen. Vor einigen Tagen
haben wir 29 Menfden eingebradyt, welde dem Banditen Lebens:
mittel gugetragen haben. Sie figen bier in diefer Caferne.
221
Was wird ibre Strafe fein?
Wenn man ibnen bas Verbrechen eriwiefen hat, ein Jahr
Gefingnifp. Sie find Hirten ober Leute won den Bergen,
Freunde und Verwandte des Banditen. — Armes Corsica,
was foll unter folden Umftanden aus deinem Uderbau werden!
Der Anblid de Berges Incudine, in weldem id den
armen Banditen figen wußte, und der Familientrieg in Sar⸗
tene gibt wieder Veranlaſſung yu Erzaͤhlungen aus dem un:
erfddpfliden corsiſchen Landesroman der Blutrade. Wir
wollen un3 alfo auf einen elfen fegen, wo wir die mad:
tigen Berge und den Golf von Balinco fehen, und ein paar
Erzählungen aus dem Flintenlaufe hören.
Biertes Kapitel.
Bwet Geſchichten ans dem Flintenlauf.
Orso Yaolo.
Cines Tages feierte bas Volt zu Monte d'Olmo ein Feft.
Die Puieſter ftanden fdon am Altare, ein Teil der Gemeinde
war ſchon im Gotteshaufe verjammelt, anbere fafen nod auf
vem RKirdhenplag und plauderten über allerlet Dinge. Es waren
barunter die Vincenti und die Grimaldi, deren Familien feit
uralter Zeit in ererbtem Haber lagen. Heute wagten fie fid
Mug’ in Auge zu feben, weil das Gottedsfeft aller Feindfdaft
Ginbalt gebot.
Da warf Giner die Frage auf, ob die Geiftliden gehalten
fein follten, wabrend der Broceffion die Kapuzen der Brüder⸗
fdaft ju tragen oder nidt.
Nein, fagte Orso Paolo aus der Familie ber Vincenti,
ſie ſollen dazu nicht gehalten ſein, denn es iſt das bei unſern
Altordern nicht der Brauch geweſen.
222
Ya, rief Ruggero aus ver Familie Grimaldi, fie follen
dazu gebalten fein, denn fo ſchreibt e3 die Gitte der Religion vor.
Und fo ftritten fie bin und her fiber Rapuzen oder Ridt:
fopuzen, und auf dem Rirdenplag gab es ein Larmen ud
Toben, als galt e3 gu entfdeidben, ob Genua oder Ridt:
Genua. Giner nabm dem anbdern das Wort, einer fprang
nad bem andern auf den Stein, feine Meinung zu verfedhten,
und man jifdte ober rief Beifall, jubelte ober höhnte, je
nachdem ein Grimaldi oder ein Vincenti ein Wort Aber die
Kapuzen gefagte hatte.
Ploͤtzlich fiel eine Beleidigung. Wugenblids erhob fid ein
Wutgeſchrei, und bie Piftolen wurden aus den Giirteln ge:
riffen. Die Grimaldi warfen fid auf Orso Paolo, und diefer
ſchoß unter die Angreifer. C8 fiel Wntonio, ber altefte Sohn
Ruggero’s, gum Tobe verwundet.
Da ſchwieg in der Kirdhe die Mefje. Das Volk ſtürzte
beraus, Dinner, Weiber, Kinder, die Priefter im Mef:
gewande, die Crucifixe in der Hand.
Das gange Dorf von Olmo war ein Gewühl von Fliehenden
und Berfolgenden, tind fdallte wieder von Wutgefdrei und
von Flintenſchüſſen. Die Grimaldi fdrieen nad Orso Paolo,
daß fie ihn morbdeten.
Gleid einem Hirfh war Orso hinmeggefprungen, den Buſch⸗
wald zu erreichen. Aber feine Verfolger verrannten ihm, von
ber Rade befliigelt, den Weg und ſuchten ihn zu umſtellen.
Von allen Seiten fah er die Watenden heranſtürzen; ihre
Rugeln umfauften ibn. Cr fonnte den Bufdwald nicdt ers
reichen, unb nur nod wenige Minuten Zeit batte er, einen
Entſchluß yu faffen. Rein Wusweg blieb ihm, nur ein Haus
ftand nabe am Berge, und dies mar da8 Haus feines Tod⸗
feindes Ruggero.
Orso Paolo fprang in diefes Haus und verrammelte die
Thitre. Gr hatte feine Waffen bei ſich, feine Carchera war
223
|
voll von Kartuſchen, Lebensvorrat fand fid im Haufe genug,
ex fonnte fic) Zagelang dort halten. Wud) ftand es leer,
denn alle feine Bewohner waren ins Dorf geeilt und Rug:
gero's Weib um den Verwundeten Antonio befdaftigt. Ihr
zweiter Gobn, ein Rind von wenigen Yabren, war allein im
Haufe zurückgeblieben und hier eingefdlafen.
Kaum hatte fid) Orso Paolo dort verfdhangt, als Rug:
gero mit allen Grimaldi erfdien: aber Jener jtredte ihnen
aus ber Oeffnung des Fenfters feinen Slintenlauf entgegen
und drobte jedem mit der Kugel, welder es wagen würde,
der Thüre zu nahen. Keiner wagte es.
Wütend ſtanden fie da, und wußten nicht, was fie be-
ginnen follten; Ruggero raste, daß ber Todfeind in feinem
eignen Hauſe den Sufludtsort gefunden habe. Gr fdrie auf
wie ber Tiger fdreit,. welder den Fang fieht, den er nicht
erreichen fann.
Go ftand der wiltende Haufe, und e3 mebrte fid) mit
jeder Ptinute bas Gewühl von denen dié herzuſtrömten und
pie Luft mit ihrem Geſchrei erfiillten. Bn diefes Toben mifdte
fic der Rlageruf der Weiber. Sie trugen eben den fchwer
verwundeten Untonio in das Haus eines Verwandten. Beim
Anblick feines Sohnes verdoppelte fid) die Wut Ruggero’s,
und jelber ftiirzte er in ein Haus und rif einen Feuerbrand
aus dem Herde, ibn auf fein eignes Dad) yu werfen, um
Orzo Paolo mit ihm jugleich yu verbrennen. Wie er den
Brand in der Hand ſchwang und anderen gufdrie, Feuer auf
fein Dad) zu werfen, ſtürzte ihm fein Weib in ben Weg.
Rafender, rief fie, unfer Kind ift im Haufe. Willft du dein
Rind verbrennen? Antonio liegt auf bem Tobe — dort ſchläft
Francesco in feiner Kammer — willft nu dein letztes Rind
ermorden ?
Lap es mit ihm verbrennen, ſchrie Ruggero, laß die
Welt verbrennen, wenn nur Orso Paolo umkommt.
224
Heulend warf fid dad Weib dem Manne gu Füßen, um:
ſchlang feine Kniee und wollte ihn nidt von der Stelle laſſen.
Aber Ruggero fdleuderte fie von ſich und warf den Feuer:
brand in fein Haus.
Die Flamme ftieg auf, die Funken flogen mit dem Winde.
Die Mutter war leblos niedergeſtürzt. Man trug fie dorthix,
wo ihr Sohn Antonio lag.
Ruggero aber ftand vor bem brennenden Hauje, welches
vie Grimaldi umringt batten, damit Orso Paolo wenn er
entiprange, ibren Rugeln nidt entfliebe; Ruggero ftand ver
ſeinem Hauſe und ftarrte mit graufem Laden in die Flammen,
wie fie lohend und praffelnd gufammenjdlugen, und wenn die
Balten in einander fradten, ſchrie er auf vor Rachluſt und
vor wilder Pein, denn e3 war ihm, al’ ftilrgte ein jeder
brennende Balten auf fein eignes Herz.
Mandmal fdien 3, als zeigte fid) eine Geftalt in den
Flammen, dod war es vielleicht eine ſchwarze Rauchwolle,
oder eine herumzitternde Feuerſaͤule — jetzt wieder war es,
als weinte drinnen die Stimme eines Kindes. Pldglid) krachte
das Dach zuſammen und Rauch und Feuerlohe ſchlugen aus
dem ſtürzenden Trümmergraus gen Himmel.
Ruggero, welder ftumm und ſtarr da geſtanden, vers
gebeugten Leibes und mit ftierem Auge, die Hand gegen dad
Haus ausgeftredt, fiel mit einem dumpfen Schrei zu Boden.
Man trug ibn gu feinem wunden Gobne Antonio. Wie er
bier gu fic) tam, begriff er erft nidjt wad geſchehen fei, aber
e3 tagte bald in feiner Geele; der Slammenfdein feines
Hauſes leuchtete ihm grell ind Gewiffen, dab er den Frevel
feiner That erfannte. Gine Minute lang ftand er, in fid
binein, und wie vom Blitz gefdlagen, dann rip er den Dold
aus feinem Gartel, um ibn fic) in die Bruft gu ftofen. Wher
fein Weib und die Freunde fielen ibm in ben Arm und ents
waffneten ibn.
‘
225
Was ward aus Orso Paolo? was aus Francesco?
Als die Flammen das Gebälk ergriffen, fudte Orso einen
Bufludtsort, irgend eine. Hilung, ein Gewidlbe, fid) darin
wor bem Feuer gu fdiigen. Cr irrte burd alle Kammern.
Da hörte er in einer das Weinen und das Angſtgeſchrei eines
Rindes. Gr fprang in die Kammer. Gin junged Kind fab
bier auf feinem Bett. Es ftredte bitterlid) weinend die Hande
nad ibm aus und rief den Namen. feiner Mutter. Da war's
vem Orso, als riefe ihm aus den-Flammen der böſe Geift
gu, et folle das bolde Kind ermorden und fo die Unmenfd:
lichkeit ſeines Feindes ftrafen. „Sind nidt aud) die Rinder
deines Feindes der Blutrade verfallen? Stoße yu, Oro,
tilge die legte Hoffnung vom Hauſe ded Grimaldi!”
Orso beugte fid) ber dad Kind mit einem gräßlichen
Radheblid. Die Glut der Flammen übergoß ibn, dad Kind,
bie Rammer mit einem purpurfarbnen Sdein, wie von Blut.
Gr beugte fid) iber ben weinenden Francesco — und pliglid
rip er das Rind empor, dritdte es an feine Bruft und küßte
e3 mit einer wilden Inbrunſt. Dann ſtürzte er aus der
Kammer, das Kind in feinem Arme, und tappte weiter in
pem brennenden Hauje, ob nidt irgend wo ein ſchützender
Ort zu finden ſei.
Das Haus war kaum zuſammengeſtürzt, als vor dem
‘Dorf vie Muſchelhörner der Vincenti erflangen. Die Manner
pon Caſteld'acqua, alle Freunde und Verwandte Orso Paolo’s,
waren auf bie Runde von feiner Mot bherbeigesogen, ihn ju
retten. Die Grimaldi fliidteten von der Brandſtätte in dad
Haus, wo Ruggero, fein Weib und Antonio beifammen waren.
Gine fürchterliche Viertelftunde ging voriiber.
Da ſchallte auf dem Markt von Olmo lautes Jubelgeſchrei
und der hundertfadhe Ruf: Evviva Orso Paolo! — Die Mtutter
Antonio's ftiirzt and Fenfter; fie ſtößt einen Schrei der Freude
aus; fie ſtürzt aus ber Thüre; ihr nach Ruggero und bie Frauen.
Gregorovius, Gorsica. Il. 15
- 226
Durd die jaudgende Menge aber fam daber Orzo Paolo,
von Freude ftralend, bas Kind France3co in feinen Armen
bergend, mit Aſche bededt, vom Maud geſchwärzt, die Meider
verjengt. Gr hatte fid) und den Kleinen unter einem Bogen
ber Treppe gerettet.
Ruggero’s Weib flog auf Orso yu, fie warf fid an feine
Bruſt, und umfdlang ihn und den Heinen Sobn mit nomen:
loſer Freude.
Ruggero fiel vor ſeinem Feind auf die Kniee, und indem
er ſchluchzend ſeine Füße umſchlang, bat er ibn und Gott um
Verzeihung.
„Stehe auf, mein Freund Grimaldi, ſagte Orso Paolo;
mige uns Gott heute fo vergeben, als wir und beide ver:
geben, und fdiviren wir uns bier vor dem Volk von Olmo
ewige Freundfdaft.” ’
Die Feinde fanten fid) in die Arme, und das BVolk€ rif
jubelnd: G3 lebe Orso Paolo!
Nad furzer Zeit genas Antonio von feiner Wunde; und
eitel Freube herrfdte eines Abends im Dorf zu Monte d’Olmo,
als die Grimaldi und die Vincenti bas Verſöhnungsmal feierten.
Mit vem Oelsweige bes Friedens waren die Häuſer geſchmüdt,
und da hörte man nidts als Glaferflang, und Freudenfdiiffe
aus den Slinten und Geigen und Mandolinenſpiel.
Dezio Dezii.
Es war noch zur Zeit, als die Genueſen die corsiſche
Inſel in ihrer Gewalt hielten, da waren die Dörfer Serra
und Serrale, in der Pieve von Moriani in heftigem Krieg
entbrannt. Zwei Hauler befehdeten ſich dort aufs Blut, die
Dezii in Serra und in Serrale die Venturini.
Endlich waren ſie des langen Rachekrieges müde geworden,
227
und beide feindlide Familien batten mit feierlichem Gide vor
den Parolanti Frieden gefdworen, Wenn ihr nun nidt wift
oder es vergeſſen habt, wer die Parolanti find, fo will id
e8 eud) fagen. Die Parolanti find die guten Danner, die
Mittelslente, welde die Feinde in Uebereinftimmung ernennen,
bap fie ben ſchriftlichen Friedensvertrag und Handfdlag wie
Gid in ibre Hinde empfangen, und darüber waden, dab
Riemand den Frieden bricht. Wer ihn bridt, der ift gottlog,
und aller Guten Beradtung fallt auf ibn, der Zorn und die
Vehme der Parolanti fallt auf fein Haus, fein Felb und
feinen Weinberg.
So batten alſo die Dezii und die Venturini den Brieden
gefdworen, und es gab eine {chine Rube in Moriani. Weil
aber der böſe Habdergeift nidt ruben fann, fondern immer in
vie Aſche blast, ob nidt ein Funke vom alten Rachegroll nod
gu erweden wire, fo geſchah e3 aud eines Tages, bab er
auf bem Markt von Cerrale bem alten Venturini in da3
gtimmige Herz blies. Nicolao war ein Greis, aber nod
jung an riften wie feine Söhne. Gr hatte einen böſen
Blid, eine giftige Bunge und ben RKrampf in der Hand,
welde den Dold führt. Der traf auf dem Mtarkt den jungen
Dezio Dezii, den Stolg und die Blume aus dem Haufe der
Seinde. Gr war fdin und angenehm von Gitten, aber fein
Mut feurig und rafd.
Der Ute nun mit dem böſen Blid höhnte dem Jüngling
ein giftiges Wort zu, und Niemand weif wie das gefommen
war. Denn Degio hatte feinen Anlaß gegeben. Wie der
Jüngling bas Wort empfangen hatte, ſchwoll ihm das Herz
por Sdam und Zorn, aber er dachte an die Parolanti, an
pen Frieden und die grauen Haare ded Nicolao. Deshalb
ftieB er fein Herz zurück und ging ſchweigend aus dem Dorf
Serrale.
Mun fiigte es fid) aber, daß nod) an demfelben Abend
228
der Alte und der Junge auf dem Feld einander begegneten.
Wie Dezio den Ricolao heranfommen fah, welder feine Waffen
hatte, warf er fdnell jeine Flinte an einen Baum, damit
der böſe Geijt ibn gegen einen Wehrloſen nicht reige, und
ging dem Alten entgegen und forberte ſtolz Rechenfdaft vox
ibm, wesbalb er ihn beletdigt babe.
Der Alte entgegnete mit Hohn, und wie die Worte higiger
bin und ber gingen, faßte er den Sungen bei der Bruſt und
gab ihm einen Schlag ins Gefidt. Dezio taumelte zurüc;
im Augenblid war evr nad feiner Flinte gefprungen, im
zweiten Moment fiel der Schuß und ftiirgte der Alte ins Her;
getroffen nteder.
Der arme Degio floh wie gejagt von bem Radeengel, und
von Fels gu Felfen fprang er in die Berge ves Monte Cinto,
und warf fid dort weinend in eine Hoöle.
Auf vie Blutthat waren die Parolanti herbeigeeilt. Sie
riefen Wehe Aber Degio und feinen gangen Stamm, und fie
sogen vor fein Haus. Dezio's junges Weib war darin. Sie
fagten ihm, dap e3 bas Haus verlafjen müſſe, weil es der
Acht verfallen fei. Nachdem fie feufyend aus der Thüre ge
gangen war, warfen die Parolanti Feuer ins Haus und ver:
brannten e3 bid in den Grund. Dann gingen fie in den
Caftanienbain und den Delgarten Dezio's; jeden Baum fdalten
fie mit bem Beile ab, gum Seiden, bab Degio den Gid ae:
broden und Blut vergoffen, und dap ber Born des Himmel3
ibn und fein Gut verfludt babe.
Die Sippen Dezio's bielten fic ftil, denn fie erfannten,
daß man an ibm die. Geredtigteit geübt babe. Aber des er
morbeten Nicolao Sohn Luigione ließ fic) den Bart wadfen,
zum Zeichen, dab er bas Vaterblut raden werde. Gr nahm
die Flinte und ftreifte in den Bergen, Dezio gu erjagen, und
pa er ihn nidt erreidte, obwol er Tag und Nacht in den
Selfen lag, nahm er Dienfte bei den Genuefen, welde im
229
Turm Padulella die Wace hatten. Bielleiht, dab er fo,
aud mit Hilfe der Wadter den Feind erlauern fonnte.
Dezio lebte mit bem Fuchs, mit bem Hirſch und dem
Wildſchaf, und irrte in den Wildniffen umber, alle Nacht wo.
anders fid) bergend, und immer wanbdernd und tmmer bad
Herz voll Traurigfeit und Sdreden. Da ſchiffte er ſich eines
Tages mit Sdiffern, die fetne Freunde waren, nad Genua
ein. Er nabm Dienfte bet der Republif, und Yabre vergingen
ibm dort in ber Verbannung.
Nach Langer eit erwadte in ihm die Sehnſucht nach
ſeinem Vaterland und nach ſeinem Weibe. Er nahm Abſchied
vom Soldatenſtande; in Genua gab man ihm einen Freibrief,
daß er ſicher und ungekränkt in Corsica leben könne.
Vielleicht hoffte Dezio auch, daß der Groll Luigione's in
ſo langer Zeit eingeſchlafen ſei. Er kam in ſein Dorf zurück,
fand fein Weib wieder und hielt fic ſtil. Niemand wußte
um ſeine Rückkehr. Denn er zeigte ſich nicht, nur in den
Wald ging er und an einſame Orte, wo er ſicher war, daß
ihn Niemand traf. Immer ging mit ihm der Schatten des
alten Nicolao.
So vergingen Wochen und Monde, und von Dezio wußte
und redete Niemand. Eines Tags nun ſagte Luigione, welcher
in den Bergen als Jäger berühmt war, zu ſeinem Weibe:
mir bat geträumt, dab ich einen Fuchs gejagt habe, fo will
id auf die Jagd gebn, vielleiht bab ic heute ein gute3 Wild
erjage. - Gr warf bie Flinte aber die Schulter und ging.
Gin roter Fuchs ſtieß ihm auf. Der rannte in ein Ge:
büſch, und Luigione eilte ibm nad. Der Ort war gang einfam
und traurig. Wie er in den Buſch trat, fand er einen fdmalen
Girtenpfad, der gleid bem Wege eines Labyrint3 gewunden
war und immer tiefer in bie Wildnip führte. Plötzlich blieb
er ftehn. Unter einem wilden Delgebüſch fab er einen Mann
im tiefften Sdlafe liegen. Neben ihm Tagen fein Doppelgewebhr
230
und feine Zucca. Gin Tanger Bart verfdattete fein Geſicht.
Luigione blieb ftarr wie eine Bildfaule, nur feine Augen
fieberten und verfdlangen den fdlafenden Mann. Das Blut
ſchoß ibm fiedendbeip in die Wangen; dann bededte fie wieder
Lobtenblafje; das Herz Elopfte ihm fo laut, daß e3 den
Schlafenden hatte erweden migen.
Einen Schritt that er vorwärts, nod einen — er ftartte
dem frembden Mann ind Geſicht — ja! e3 war Dezio, der
Mörder feines Vaters. Da flog ein wildes Laden über dad
Antlig Luigione’s. Cr zog den Dold aus feinem Giirtel.
„Dich bat Gott in meine Hand gegeben, dab id did
heute tödte. Das Blut meines Vaters fomme heute über
vid” — und er erbob die zweiſchneidige Klinge. Aber ein
Gedante trat wie ein Engel zwiſchen ibn und den Sdlafenden
und bielt feine Rlinge auf. Der Engel fagte ihm: Luigione,
du ſollſt den Schlaf nicht morden!
Luigione fprang pliglid) zurück. Dann fdrie ex mit
fürchterlicher Stimme:
Dezio! Dezio! ftehe auf und bewaffne did!
Der Sdlafende fprang auf und griff nad feinem Gewehr.
Oh hatte vid) im Schlaf morden finnen, fagte Luigione
gu ihm, aber bas wäre eines Schurken That gewefen. Run
verteidige bid); denn meine3 Vater3 Blut fdreit um Rache.
Dezio fah einen Wugenblid den firdterliden Plann jum
Tod erfdroden an, dann fdleubderte er feine Flinte weit in
den Buſch bhinein, rip das Piftol und den Dold aus femen
Gurt und fdleuderte beide von fih, und dann rip er dad
Gewand von feiner Bruft und rief: Luigione, ſchieß und
rade deinen Vater! In meinem Grabe wird mir dann sol!
Tödte mid! —
Luigione betradtete den unglidliden Feind mit Staunen,
und eine Weile ſchwiegen beide. Dann legte Luigione feine
Slinte ab, ging auf Dejio gu und reichte ibm die Gand.
i143 14 ;x vt
231
Gott, fagte er, hat did) in meine Hand gegeben, dap id dir
verzeihe. Dad Blut meines Vaters habe feinen Frieden. Nun
fomm und fet mein Gaft! —
Die Manner gingen in das Dorf, einer neben dem anvdern,
und fie blieben Freunde, Und weil Luigione ein Kind ge:
boren war, nabm er Dezio gu des Kinde Pathen zum hei⸗
ligen Beiden, dab fie vor Gott verfdhnt feien.
Dezio wurde bald der Welt mide, er nabm die Kutte.
So rein und gottfelig war fein Wandel, dap er bid in das
fpadtefte Alter von allen Menſchen geliebt ward und der Segen
feiner Frdmmigheit weit und breit in den Bergen Frieden
ftiftete. |
Als er eines Tages im Herrn entfdlafen war, begleiteten
ibn die Dörfer der ganzen Gegend zu Grabe, und nod heute
fagt man in ber Pieve von Moriani: Dezio der Weltlide,
Dezio der Mörder, Dezio der Bandit, Dezio der Mind), Dezio
per Priefter, Dezio der Heilige.
Fünftes Kapitel.
Umgegend von Sartene.
Rings um Gartene ftehen wüſte Berge, unter denen nad
Norden gu fic) der Sncudine und der Coscione erbeben. Der
GoScione ift beriibmt durch feine Weiden, welche von den
berrliden Quellen Bianca und Viola durdhriefelt werden.
Hieber treiben die Hirten von Quenza Sommers ibre Herden,
und Winters fteigen fie nad der Küſte von Porto Veccchio
hinab. Giner dieſer Berge ijt ein wunderlid) geformter Fels,
von Gejtalt ein Gigant, der fein plumpes Riefenhaupt in bie
Wolfen ftredt.. Man nennt ihn den Mann von Cogna.
Im Gebiet Gartene’s ftehen aud) einige Ueberrefte von Men⸗
232
hirs und Dolmen, jenen uralten Malern der Heiden, welde
ſich auf den Dtittelmeerinfeln und in ben celtifden Qandern
finden. Sie befteben aus Säulenſteinen, die im reife auf:
geftellt find; man nennt fie Stazzone. Go geringe Ueberrefte
biefer ſabbaiſchen Bauten Corsica aufbewahrt hat, fo reidy ift
baran Garbdinien. Ich babe die Stazzone von Sartene nidt
mebr feben finnen, und bedaure dad ſchmerzlich.
Auf ben Bergen rings umber liegen mandhe Ruinen von
Schlöſſern ves tapfern Rinuccio und bes berithmten Gindice
della Rocca. Das Lehn diefer alten Signoren lag rings um
Sartene. Crinnerungen an Rinuccio bewahrt namentlid) Santa
Lucia de Tallano in dem alten und zerfallenen Franziskaner⸗
flofter, einer Stiftung dieſes Herrn, mit welchem die Madt
per corsifden Barone gu Grunde ging. In der Kirche zeigt
man das Grab feiner Todter Serena, vie in Dtarmor da
liegt, einen Rofenfrang in der Hand, von weldem ein Geld
beutel al8 Symbol ihrer Freigebigkeit herabhängt.
In dem Felfen bei S. Lucia findet fid) and der merk⸗
wiirdige und nur Corsica eigene Granit, welden man Orbi⸗
culari3 nennt. Gr ift von graublauer Grundfarbe, aber in
ben Stein find viele ſchwarze und weif umrandete Wugen ein:
gefprengt, die überall an die Flade fommen, wo man ibn
durchſchneidet. Ich fab vortrefflidhe Stücke davon; polirt nimmt
fid) diefer fdftliche Granit febr ſchön aus und läßt fic gu den
feltenften Gerdten verwenden. Gr ift ein Kleinod in der reidjen
mineralogifden Schatzkammer der Inſel. In der Kapelle der
Mediceer zu Florenz, welche mit den ſeltenſten Steinen aus⸗
gelegt iſt, bat aud) dieſer Orbiculargranit ſeine Stelle ge:
funden.
Nordöſtlich von S. Lucia liegt im Tal des Fiumiccioli
per alte berühmte Canton Levie bis zum kleinen Golf von
Ventilegne. Berge und Forſten bedecken ihn. Auch hier
hauften alte Adelsgeſchlechter, wie namentlich die Familie der
233
Peretti, aus welder Napoleon der Freund Sampiero’s ftammte,
der erjte dieſes Namens, den die corsiſche Geſchichte nennt,
ver aber nicht mit den Bonaparte verwandt war. Gr fand
feinen Zod in einer Genuejenfdladt.
Bu Levie gebdrt San Gavino de Corbini, ein Ort, welder
in der Geſchichte ber Corsen genannt ift, weil bier die Secte
per Giovannalen ihren Hauptfip hatte, jener Communiften,
die auf ber Ynfel fo reißende Fortfdritte madten, und gleid:
fam Borliufer der Saint-Simoniſten und der Mormonen
waren. G3 ift gu beflagen, bab und die Chronifen des Landes
nidt mehr vom Wefen diefer Gemeinde aufbewabhrt haben.
Die Gaftfreibeit ver Gartener will ih, von dem Orte
ſcheidend, berglid) rithmen. Ich erfubr fie in der liebens⸗
wilrdigften Weife, und in der fclidten, trauliden Gefellfdaft
guter Menfden war mir rect wol. Sie wollten mid ourdaus
nicht fortlaffen, ich follte mit ibnen in die hddften Berge dads
Wildſchaf jagen, und vor allem in ihre Frudtgarten um mid
nad Herzensluſt gu erquiden. Als id nun in der Morgen:
frithe hinweg wollte, geleiteten mich alle diefe Graven, die
mir Freundfdaft erzeigt batten, und Giner von ibnen — er
war ein Better der unglidliden Vittoria Malaspina — reichte
mir zum Abſchied ein Blatt Papier.
Wie ich das Blatt auseinander faltete, las ich darauf
dieſe Worte geſchrieben: „Dem Signor Ferdinando. Wenn
Ihr in unfrem Lande je etwas bedürfen folltet oder Euch Un⸗
angenehmes wiberfiibre, fo erinnert Euch dab Ihr in ter
Stadt Sartene einen Freund habt. Aleffandro Cafanova.”
234
Sechstes Kapitel.
Die Stadt Bonitfasto.
Um 8 Uhr Morgens fubr id von Sartene ab nad Boni:
fazio, der fiidlidjten Stadt Corsica's. Es ift ein wilfted
Uferlamd ba id) durchreiſte, ba die Berge allmalig sur Küſte
berabfinten. Auf der gangen Fahrt findet man keine Ortfdaft,
und id ware por Hunger und Durft verfdmadtet, wenn nidt
mein Reifegefabrte Brod und Wein mitgenommen hatte.
Wer nie fein Brod mit Freunden ab, am grauen Oelbaum
nie beim Weine jab, der fennt eud) nicht, ihr himmliſchen
Madhte.
Wir famen durch das Ortoli-Tal — überall odes Hügel⸗
land und feine Frudt. Der Delbaum Hort auf, nur Rort:
eichengeftriipp und Arbutus bededt die Gegend. Wir nadberten
und der Südküſte. Nicht weit von der Ptindung des Ortoli
liegt ein eingelnes Stationshaus, und ibm gegenitber ein
Selfenriff, auf weldhem ber Turm Roccapina fteht. Gin bigare
geformter Steinblod erbebt fid) neben ibm auf der ſcharfen
Selfentante. Wuffallend gleidht er einem gefrinten Löwen,
und fo nennt ihn aud das Bolt il leone coronato. An
dieſem Ufer, welches Genua zuerſt befepte, als es den Pifanern
Corsica enttip, erfdeint der Fels wie das Wappen der Re
publif felber. ;
Bon dieſer Höhe aus erblidte ich guerft in der Meeres⸗
weite, nidt gar fern, bie Küſten und Berge Gardiniens. Der
Anblid eines fremden Landes, dad fic) pliglidh vem Blid
cntfaltet, bier nur feine Linien, dort ſchon charaktervoll ge
jtaltete Gegenden zeigt, ermwedt die angenebmften Gmpfindun:
gen abnung3voller Sebnfudt. Sie gleichen wol am meiſten
jenen mardenbaften Pbhantafien ber Kindheit. Vollends eine
Snfel. — Joh ftand alfo lange auf einem der wilften Fels:
235
bléde, im heftigen Winde und in der Sonnenglut des Mittags,
und ſah voll Verlangen über die Meerenge nad) der Zwillings⸗
ſchweſter Corsica's. Sie war gang in luftige blaue Sdleier
gebillt, und die vom Dtaeftrale aufgeregten Wellen ſchäumten
um fie ber in weißen Srandungen.
Rad zwei Stunden Raft gings weiter lings der Küſte.
Gie ift von Meeresarmen jerriffen und melandolijdh. Keine
Flüſſe ſchleichen durch Sümpfe ind Meer, auf deffen Ufer-
flippen graue Zitrme Wade halten. Die Luft ift faul und
ungefund. Ich fab am Verghange ein paar fleine Orte. Man
fagte mir dap fie menfdenteer feien: denn erft im September
ziehn ihre Bewohner aus ven Bergen wieder ein.
Das Meer bildet hier die fleinen Golfe Figari und Venti-
legne. Sie gleichen Fiorden; ibre Uferformen find oft von
ver bigarrften Bildung, gleich Reihen von afdgrauen Obelisten
fid) erbebend.
Die letzte Landfpige Corsica’s nad Sildweften, die im
Gapo di Feno endigende Bunge S. Trinita durdfdneidend,
erblidt man die weifen Raltufer Bonifazio's, und diefe
feltfamfte Stadt der Inſel, ſchneeweiß wie des Ufer, bod
darüber — ein itberrafdender Unblid mitten in der weiten
und fdwermutvollen Dede.
Das Uferland rings umber ift fteinig und bufdig. Aber
eine balbe Stunde lang fabrt man zwiſchen Olivenbainen und
Srudtgarten bis yur Stadt hin, und ift erftaunt folden
Gegen ju finden, welden der zum Fleip gendtigte Menſch dem
falfigen Boden abgewonnen hat. Bonifazio ergeugt eine Fille
von Oliven, welde denen der Balagna an Gite nidt nad:
fteben. Zwiſchen Ralffelfen fabrt man yur Marina hinab.
In die Stadt felbft fann man nur ju Pferd oder zu Fup ges
langen, denn man muf den jteilen Raltfelfen auf einem breiten,
ausgeftuften Wege anflimmen. Ueber zwei Zugbriiden. und
durch zwei alte Tore gelangt man endlid) nad) Bonifagio.
236
Die gange Stadt liegt in der Feftung, auf der Hochfläche des
Felſens.
Einen ſchoͤnen Grup ruft Bonifazio dem Wanderer ent:
gegen, wenn er durch dad alte finftre Tor hineinſchreiten wil;
denn auf einem ber Türme prangt das große Wort Libertas.
Ich Las es oft auf Tirmen und Stadthäuſern Italiens al
die Haglidfte Sronie der Gegenwart, und auf mander Fahne
bat dies Wort geflunfert. Wber hier nimmt es fich ftoly an’
auf dem uralten Turm, der von fo glangenden Waffenthater
su ergiblen weiß, und fo trat id) in bie Stadt mit der frohen
Empfindung, zu tapfern und freien Männern zu kommen.
Denn nod heute ftehn die Bonifaziner in bem Ruf, die am
meiften republifanifden, wie die arbeitfamften und religidjeten
Bewohner Corsica’s gu fein.
Die Lage Bonifazio’3 ift fonderbar. Man denke fich eine
folofjale weiflide Felspyramide, horizontal gefdhidtet, um:
gefehrt und die Bafis nad oben, an3 Meer geftellt, und anf
der Bafis hod) in der Luft Feftung, Titrme und Stadt; fo |
wird man ein Bild von diefem corsiſchen Gibraltar haben,
Der Felfen ift in feiner Facade herausgebdlt. Gr hangt mit
bem Lande zuſammen. Von zwei Seiten umbrandet ihn die |
Meerenge, von der dritten beſpült ihn ein ſchmaler Meeres-
arm, welder Golf, Hafen und Feftungsgraben gugleid bide,
und von den fdroffften, ja uneriteigliden Bergen umfdloffer
ift. Die Gewalt des Wafers hat das Ufer ringsumber jer:
fdlagen und die grotesfeften Formen gebildet. Bon unter,
pas heißt von ber Pteeresfeite gefeben, welde an vielen Stellen
feinen Strandfaum bat, weil bas Ufer gang fteil in die Gee
abſtürzt, erregt dieſer Felfen Grauen. Yd) war binabgeftiegen
und blidte 3u ibm empor, die Wogen brandeten und Woller
zogen am Himmel, da ſchien es, als wollte der Fels ſchwanken
und fiber mid) zuſammenſtürzen, eine Taufdung:, die wm fe
natürlicher wird al von der Baſis deffelben ein Teil hinweg⸗
237
gerifien ift, und bie und da die vom Wetter gefdiwargten
Kallkſchichten frei in die Luft hinausgreifen. Als id) Bonifazio
jab, begriff id) twol, dab Wfonso von Aragon die Stadt
nidt nehmen fonnte.
Sie zablt 3380 Einwohner und begreift feine Communen
in ſich. Ihre Haufer find pifanifden und genuefifden Ur⸗
fprungs. Alt und verwobnt gleiden fie oft eber Ruinen als
Wobhnungen. Das Ptaterial des Felfens ift in der Regel aud
pas ibre. Sie find alle weip, aud die Ptauern und die
ftumpfen Zirme find weiß. Es würde mir fcwer werden ein
peutliches Bilb von der Stadt felbft gu geben; denn faum
laäßt fic) died Gewirre enger Gaffen fdiloern, in denen der
Geewind beftindig Kalfftaub umberwirbelt, und die man berg:
auf, bergab durdirrt, überraſcht von der Neuheit der Lage,
pa ver Blid, wenn er ind Freie fallt, tief unter fic das Meer
entbedt, dad nicht minder blau ift, als bod) oben der Himmel.
Aft find Balten von einem Hauſe gum andern gefdlagen, oft
fiibren finftere Durdgdnge aus einer ſchmalen Gaffe in die
andere.
Der Wind pfeift und die Meereswellen branden. Es ift
unbeimlid); man bat feinen Raum. Die einfame Schildwache
port am runden Turm gebt auf und ab, umwirbelt von Kall:
ftaub. Ich will eine Piazza auffuden, unter Menſchen 3u
fommen. Aber e3 gibt teinen Play. Der Mangel an Raum
lapt keine Ausdehnung yu; dod nennt man bier die Haupt:
gaffe bie Piazza Doria. Denn die Bonifaziner fühlten wol
nas Bedirfnib ein Forum ju haben, obne weldes eine Stadt
ift wie ein Gaus obne Familienjimmer. Sie nannten alfo
vie Gauptgafje ihren Platz. Der Mtangel an Breite zwang
fie die Hauser hod aufgubauen. . Weil fie nun feine Tiefe
haben, find ihre Treppen febr fteil. An mandhem Haufe fab
id nod dad Wappen Genua’s, den fpringenden gefrinten
Lowen, welder einen Ring in der RKralle halt. Das alte
238
Zeichen wedt ſtolze Crinnerungen, wie ber Name Doria, der
fidh bier lebend erbalten bat; benn e8 gibt in Bonifazio nod
heute eine Familie Doria, ober ridtiger gefdrieben d'Oria.
Denn dies ift der eigentlide Name jener berühmten genuefifden
Herren. Die Corsen hapten Genua bis aufs Blut; wo id
mit ibnen von der alten Republif ſprach, fand id denfelber
eingefleifdjten Haß. Wiles Elend weldes Corsica betraf, jeme |
moralifche wie feine phyſiſche Wildniß fdreiben fie, oft mit |
Unredt, den Genuefen ju; aber bei den Bonifaginern fiebt
Genua im beften Andenfen, und bas begreift fic) ans ibrer
Geſchichte.
Man iſt nicht darüber einig, wie im Altertum die Gegend
hieß, in welcher bas heutige Bonifazio ſteht. Man halt fie
fir den Syracuſanus portus, oder fiir die Stadt Ballee,
welde immer die lepte ift, die bas Dtinerarium des Antonin
in feiner Angabe der corsiſchen Stationen aufzählt. Bonifagio
felbft wurde von dem tostanifden Markgrafen gegründet, deffen
Ramen fie tragt; und wir wiffen, bab er fie im Jahr 833
nad einem Geefieg über bie Garajenen anlegte. Son den
Befeftigungen jenes Marfgrafen fteht nod der große Turm,
Lorrione; dret anbere erbeben fic) iiber dem elfen. Beni:
fazio führt fie alle in feinem Wappen. Die Stadt fam jpdter
an die Pifaner; aber die Genuefen entriffen fie ibnen fdon
im Yabre 1193. Gie bebandelten fie mit groper Liberalitat,
gaben ibr febr freie Statuten und ließen fie als Republit
unter ihrem Schutz befteben. Ym roten Bud) Bonifagio’s be:
findet fid) das Ynftrument, welches der Procurator Genna's
Brancaleone b’Oria im Yabr 1321 am 11. Februar unter:
zeichnete und befdwor. Darnach wurde den Bonifazinern
Handelsfreiheit gugeftanden; ferner bad Recht, ſich felbft yu
regieren. Sie w&blten fic ihre Anziani, und bem Beſchluß
diefer Melteften follte fid) der genueſiſche Podeftd fügen, welder
jabrlid) in die Stadt gefandt wurde. Gr fonnte feine Steuer
239
auflegen, nocd irgend eine Neuerung obne den Willen der
Anjianen treffen; er durfte Niemand gefangen halten, wenn —
er Biirgen ftellen fonnte, e3 fei denn einen Mörder, Dieb
ober Verräter. Sobald ein Podeſtä nad Bonifazio fam,
mußte er ſchwören, die Statuten der Biirgerfdaft aufrecht zu
halten. Diefes Ynftrument ift gezeichnet: per Brancaleonem
de Oria et per Universitatem Bonifatii in publico Par-
lamento. Dad flingt ftolg genug fiir einen Ort, der damals
faum 1000 Ginwobner zählte.
So errang fich die tapfere Volk feine Freibeit und wußte
fie viele Jahrhunderte zu bewahren.
Die Genueſen ehrten die Bonifaziner auf jede Weiſe.
Wenn eins ihrer Schiffe nach Genua kam und ſeinen Hafen
angab, pflegte man zu fragen, ſeid ihr aus dem Gebiet von
Bonifazio oder aus Bonifazio proprio? Daher hat ſich noch
heute bie populdre Benennung erhalten: er iſt ein Bonifazino
proprio. Viele genuefifde Nobili und Biirger fiedelten nad)
dieſem Felfen ber, und Bonifazio wurde in Sprade, Sitten
und Neigung eine genuefifee Colonie. Das erfennt man
nod heute, nidt allein an den alten Wappenfdildern, fondern
am olf felber.
Gleic Calvi hat Bonifazio Genua ftets die Treue gebalten;
und fo ift e3 merkwürdig, in diefem Meer des corsifden
Haſſes, gleichſam zwei Gilande gu finden, auf denen man das
tyrannifde Genua liebte. Gonnen wir died den mannbaften
Genuejen, ibre herrliche und große Republit bat ja langft
ihre Schuld an die Gefdidte bezahlt und ift nicht mebr.
Gin Bonifajiner Murgolaccio hat im Jahr 1625. eine
eigene Geſchichte ſeiner Stadt gefdrieben. Sie ift in Bologna
erfdienen und ein duberft feltenes Bud. Ich babe es nidt
auftreiben fdnnen, und das bedauert, weil mir Bonifazio
fo lieb geworben ift. Wber hier will ih nad dem Petrus
Cyrnäus die dentwitrdige Belagerung der Stadt burd) Wlfonso
240
ergiblen, denn wol verbdient ber Heldenmut der Bonifagziner,
neben bem von Rumantia, von Carthago und Garagofja m
neuerer Zeit, im Gedddtnifp der Mtenfdben fort gu leben. Ich
gebe Peters Darftellung nicht immer wörtlich und nicht ganz,
weil fie zu lang ift.
Siebentes Kapitel.
Die Belagerung Bonifazio's durch Alfonso von Aragon.
Naddem Wlfonfo vie Lage der Stadt erfannt hatte, be:
febte er einen gegen Norden gelegenen hohen Berg, und Tag
und Nacht lies er von dort und von der Gee Steine aus den
Bombarden auf die Stadt werfen. Mit achtzig Schiffen,
barunter dreiundzwanzig Triremen, waren die Spanier ge
fommen; in ben Hafen waren fie nad dem Fall gweier Türme
eingedrungen. Wie nun ein groper Teil der Verteidigungs⸗
werfe und ber Mauern eingeſtürzt mar und es fdien, dab
man in bie Stadt einbrecden könne, berief ber König einen
Krieg3rat. Gr war jung und feurig und begierig nad) groper
Dingen. Wenn Bonifazio gefallen fei, fagte er, fo werde
ganz Corsica in feine Getwalt geraten und er wolle dann nad
Stalien in Gegel gehn. Belohnungen fegte er für venjenigen
aus, welder der Erſte die Mauern erfteigen und dad Banner
aufpflangen wwilrde, und fofort bid gu bem Sebnten. Das
borten bie Spanier mit groper Freude und alfo machten fie
fic) gum Sturme auf. Biel litten bie von Bonifagio durd
Wurfgeſchoße und Pfeile, aber fie warfen die Stürmenden
mit Steinen und langen angen in bas Meer und Hielten
wader aus Da pliglich ftiirgte der Turm, welden man
Scarincio nennt, mit ungebeurem Gekrach jyufammen, und
ſogleich hängten fic) bie Schiffe an vie Breſche, die Spanier
241
fprangen auf bie Mauer und pflangten das Banner auf. Bm
Heer de Königs erbob fid) dad Gefdrei: die Stadt fet. er-
ftirmt. Da fah man die Geefoldaten in Gile mit Hitlfe der
Maften und der Raaen das Mauerwerk erflettern; wie fie den
Häuſern nabe famen, warfen fie Feuerbrande auf bie Dadjer.
Nun erhob fid ein groped Kampfgewühl von Fliehenden,
Widerftrebenden und Stirmenden. “Wher Orlando Guaracdi,
vie heldenmütige Dtargarete Bobia und Chiaro Ghigini
warfen fic) den Wnbdringenden entgegen; von ihren Stationen
famen Jacopo GCataccioli, Giovanni Gicanefi und Filippo
Campo; alle Feinde, welche in die Stadt gedrungen waren,
hieben fie nieder. Sodann warfen fie Feuer auf die Sdiffe
im Hafen, und fo wurde der Konig mit gropem BVerluft zurück⸗
- getrieben.
Drei Tage lang hatte ber Kampf gedauert mit Brand
und Blutvergiepen ohne Ende. Min legte jedes Alter und
Gejdleht Hand an, die Ptauern neu zu verfeftigen und die
Brefden zu fperren. Leider war das Getreidemagazin ver⸗
brannt. Alfonso unterdeß warf Pfeile mit Briefen in die
Stadt und verfprad allen denen Belohnung, welde gu ihm
libergeben twitrden. Zwei liefen ther, Galliotto Ristori ein
Bonifaziner und Conrado ein Genuefe, und diefe reigten den
Mut de3 Königs, indem fie fagten, daß die in der Stadt an
Brod und Waffen Mangel hatten. Der Konig befegte nod
einen ander Hügel, zog eine boppelte Rette quer über den
Hafen, um die Vonifaziner von aller genuefifden Hilfe ab-
gufperren, und beſchloß nun die Stadt durch Belagerung zu
erzwingen. Das birte der Doge Thomas Fregofo und ritftete
eine Flotte von -fieben Schiffen; und darüber verftrid der
September. Den ganjen October, Movember und December
binburd) wütete das Pteer fo fcredlid), dab die Flotte aus
dem Hafen Genua’s nidt auslaufen tonnte. Es waren aber
bie Bonifaziner durch bas Sdleudern der Bombarden und
Gregorovius, Corsica. I. 16
242
Wurfmafdhinen fo febr in Not gefommen, daß fie aus der
Stadt wandern, in den Hain neben Gant Antonio gehen und
im Gonvent des Heiligen Franciscus fid) bergen muften, da
ber größte Teil ihrer Haufer in Triimmern Tag; nur in den
Kriegsſtationen btieben fie.
Der Konig, verftirft durd Zufubr aus Spanien, wollte
vennod) ben Weg der Unterbandlungen verfuden und gab
denen in ber Stadt die feierlide Zuſage, daß fie frei und nad
ibren Gefepen leben follten, tenn fie fic) ergeben würden.
Die Bonifaziner gogen die Unterbandlung in die Lange; da
fie bungerbleih und verfommen ausfaben und die Aragoner
meinten, bab ber Hunger fie gur Ueberqabe zwingen milffe,
fo fagt man, bitten jene, diefe Dteinung Lügen gu ftrafen,
an vielen Stellen von den Mauern Brod unter die feindliden
Poften geworfen und dem Könige einen Kafe gum Gefdente
gefdidt, welder aus Weibermild gemadt worden war. Da
lieB der König alle Ptafdinen an die Mauern riiden mit
Sdiffen, weldhe je zwet verbunden Tirme trugen. Bou dex
Höhen wie von ver Seefeite begann aufs neue der Sturm
Gegen die Sdiffe fich gu ritften batten die Bonifaziner gleid:
fall Mafdhinen aufgeftellt; auf die entfernteren warfen fie
Steine von ungebeurem Gewidt, auf dte ndberen von ge
ringerer Schwere und hageldidte Geſchoſſe. Obgleich fie felber
mit Bombarben und Pfeilen aberfdiittet wurden und mande
in Stücke jerriffen da lagen, fo bielten fie fic) dod) mit wunder⸗
barer Tapferfeit. Ymmerfort erfegten die Fallenden die nod
Kraftigen, den vertoundeten Vater der Sohn, der Bruder den
Bruder; und die Weiber trugen herzu Wurfmaterial, Wein
und Brod und nabmen die Verwundeten an. Sie nabmes
aud Schilde und Lanzen und ftellten fid) auf die Mauern
anftatt ber Maͤnner. G3 gab viele, welde ihre gefallenen
Angehbrigen nidt aufnehmen nod beftatten fonnten, bis die
Feinde herabgeftiirgt waren. Auch dviefe litten ſchrecklich, weil
243
viele durch bas Schwert, durch die Sichel und die Hakenlanze
umfamen, womit die von ben Mauern jene auf den ſchwim⸗
menden Türmen anjogen und ertrinften. Gebr viele wurden
mit Balfen und Steinen niedergefdmettert, wenn fie mit
Leitern die Stadt erfteigen wollten. Wn andern Orten warf
man Sadeln, brennendes Werg und fliffiges Harz, fo dap
man oft nicht wußte, wobin guerft rennen, two juerft ab:
webren, |
Schon waren die von Bonifajio durd) die unablaffigen
Kaͤmpfe erſchöpft, fo dap der Konig nod einmal alle feine
Kräfte zuſammen 3u nehmen befdhlop, um folgenden Tags
einen Hauptiturm zu madden.
Nur am Turm Scarincio fdwiegen die Bombarden, damit
fie nidt die Spanier, welche fdon von den Schiffstürmen in
vie Stadt fiberftiegen, zugleich mit den Stadtern vernidteten.
Da tampften aud bie Weiber neben den Maͤnnern und warfen
Harpunen. Bon den Schiffstürmen und Maſtkörben aber
ſchleuderten die Gpanier fort und fort Pfeile, und aud
bleierne Gideln aud gewiffen handliden Bombarden von ge-
goffenem Erz, welche wie ein Rohr hol waren, und die fie
Sclopetus nennen. Diefe Bleieichel wurde durch Feuer Forte
getrieben und durchbohrte einen bewaffneten Mann. (So bez
ſchreibt Peter von Corsica die Flinten, weldbe damals unbefannt,
Heute in Corsica nur yu febr befannt find.) Es warfen die
Seinde von den Sdiffen aud) Sdwefelftaub auf die Haufer
und auf die Ptenfden und darnad) Feuer, fo dap viele balb
verbrannten und die übrigen fopfitber aus der Brefde weg⸗
ſtürzten. Go ftand den Feinden diefe offen neben bem Turm
Preghera. Wis fic) nun der Sdwefeldbampf, der wie didte
Finſterniß die Brefde verhüllt hatte, in der Luft verzog, jab
man Matronen, Webhrlofe, Scharen von Kindern, Gefdoffe
und Gteine jeder Art gu der Mauer tragen, um fie den
Streitern zuzuführen; wie fie nun den Ort von diefen leer
244
fanbden, erboben ‘fie ein Geſchrei und lautes GHeulen. Da
trieben die Mütter vie Söhne, die Töchter die Water, die
Frauen ibre Manner mit Wehklagen und Tranen an, daß fie
auf die Brefde zurückkehrten. G3 griffen aud) Priefter und
Mince gu den Waffen und fdleuderten brennende Wergbündel
hinunter und gelifdten Ralf. Dies half fo febr, dab die
Meiften von dem OQualm und dem fdwebenden Dunft betdubt
und faft blind gemadt, nur ind Ungewiffe ſchoſſen. Wie die
Flammen nadliepen, fiel man aus bem Tore aus.
Es war diefer Tag der härteſte fir die Städter gewefer;
aber er batte den Grfolg, dap ein groper Teil der Feinde
verwundet und getddtet worden war.
we bebrangender pon Tag zu Tage die Belagerung wurde,
deſto baufiger tourden die Briefe an ben Dogen und dex
Senat Genua’s, dap fie endlich Bonifazio zu Hilfe amen.
Wher ber König gab, wie ihm neuer Zuwachs gefommen war
den Geinigen bas Seiden, und man griff zu den Waffen.
Bu Waffer und zu Lande, an fieben Stellen war’s ein grim:
miger Anlauf; dod in die Stadt fonnte er nicht. Denn mit
gleider Gile war eine neue Mauer an die Stelle der ein
geſtürzten aufgeführt worden, und die Vewaffneten felbft galten
auf den Brefden ftatt ber Schanzen. Da ließ Wlfonso einen
Damm gegen das grofe Tor fiihren, in einer Höhe von adt
Sup; darauf wurde ein Turm von zehn Stodwerten geftellt,
auf dap er die Mtauern itberrage. Wie nun unter beftindigem
Hagel von Wurfgejdhofjen der Wall und der Turm immer
naber gegen dad Tor rildte, öffnete ſich daffelbe, dad Boll
ſtürzte Fadeln ſchwingend heraus und warf Feuer auf den
Wal, auf die Fafdinen und ben Turm, und fo vergebrte es
das mühſame Werk einer fo langen eit.
Nidt Tag nicht Nacht ſchwieg ber Sturm, und von den
Bonifazinern wurde nichts unterlaffert, mas dem Feinde Gin:
halt thun fonnte, fowol durd) Wuffithren neuer Dtauern, als
245
durch unablaffige Ausfalle. Die arme Bilrgerfdaft hatte feinen
Mugenblid Rube, und war dod) durd) die beftindige Wn-
ftrengung erſchöpft, durd Wachen bei Nadht und bei Tag,
durch Wunden, endlich durd) Hunger verzehrt. Taglid) bez
ftattete man Geftorbene, der Tod ftand vor aller Augen, Tag
und Nacht hörte man bas Weinen. Unterdeß war der Dtangel
fo groß geworden, dap man geswungen war edelhafte3 Kraut
qu effet, und wie lange follte man nod auf die Hilfe Genua’s
warten! Ueber alles menfdlide Können hinaus duldete das
Volk den Hunger. Pferdes und Gfelsfleifd war in jenen
Tagen ein Lederbiffen. Einige aßen allerlei Kraut, wad nidt
einmal bas Vieh berührt, Wurzeln und wilde Fruct, fowie
Baumrinde und nie zuvor gegeffene Thiere. Wher da fie ſchon
an dem Entſatz versweifelten, batten viele webflagend ihr Leben
freiwwillig geendet, viele aud), die vertoundet lagen, hatte der
Hunger in den Mauern dabingerafft, wenn nidt das Erbarmen
ner Frauen fie erquidte. Denn die frommen Weiber gaben
Verwandten, Brüdern, Kindern, Blutsfreunden, Gevattern frei-
willig ihre Milch gu trinfen. Es gab in jener Belagerung
Niemand in Bonifazio, ber nicht eines Weibes Bruft ge:
fogen bitte.
Da fic) nun in grofer Not eine Hülfe zeigte, ſchloſſen
pie Bonifaginer den Vertrag, daß wenn die Genuefen binnen
vierzig Tagen nicht zum Entſatz herangefommen, fie fic) er:
geben wollten. Zwei Danner gaben fie zu Geipeln und dreipig
Kinder der Edelſten. Aber die Bonifaziner waren in Sorge,
weil der König ibnen nidt geftattete, Boten nad Genua ju
ſchicken. Deshalb bauten fie in groper Gile ein fleines Schiff,
und in tiefer Nacht lieben fie e3 von dem Felfen, welcher
Sarbdinien gegenitberfteht und dem Feinde abgelehrt war, an
Geilen herab; und lieben aud die Jünglinge, welche die
Poten waren, 24 an der Zabl, ebenjo hinab, Briefe hatte
ihnen der Magiftrat an Genua mitgegeben, und eine große
.
246
Menge von Biirgern fie mit Wiinfden bis an den Uferfelfen
qeleitet. Abwechſelnd batten ihnen die Weiber ihre Briifte
gereicht, denn von Speiſe nahmen fie nidt3 mit fid. Rad
mander Gefabr auf ber See famen die mutigen Boten, vom
Winde lang aufgebalten, nad Genua und benadridtigten den
Senat, bab die Stadt auf3 Aeußerſte gebradt fei.
Unterdeß beſchloß man in Bonifazio Gott um Rettung und
Bergebung aller Sinden anjuflehen. Die Proceffion ging von
ver Rathedrale nad Sanct Sacob, dann tad Gan Domenico
und gu allen Rirden; und ob die Winterlalte gleid bart war,
gingen dod alle barfuß, und man fang Hymnen mit grofer
Snbrunft. Am Tage wurde in den Kirden gebetet von früh
bis fpdt, und Wer Geift war fortbauernd auf den Cntjag
geridtet, und ob nicht endlid) eine Runde aud von den
Boten fame.
Am fünfzehnten Tage endlich famen diefe in ihrem Schiffchen
Nadhts nak Bonifazio zur, gaben dad Zeichen und wurden
an Geilen beraufgejogen. Die Freude in ber Stadt war fo
grop, daß man von Sinnen gefommen ju fein fdien. Bie
bie Boten nad) der Kirche der heiligen Paria gingen, wo
der Senat Tag und Nacht verfammelt war, ſtrömte alles Volk
ibnen nad, um die Botfdhaft yu hören. Sie überreichten die
Briefe des Dogen, welche verlefen twourden, und nadbem died
geſchehn, wurden fie in die Volfsverfammlung geführt. Picino
Cataccioli, das Haupt der Boten, gab hier einen ausfahr:
lichen Beridht and die Verfiderung, dab die genuefifde Flotte
bereit fei und nur den günſtigen Wind abwarte, um aud:
gulaufen. Der Senat Bonifazio’s ordnete ein öffentliches Dant:
gebet von drei Tagen an, und die Freude in ber Stadt hatte
feine Grengen, als das wenige Getreide verteilt wurde, welded
die Boten aus Genua mit ſich gebracht batten.
Yndeffen nabte ber Tag der Uebergabe heran, obne dah
pie Flotte erfdhienen war, und die Gefandten bes Koͤnigs
247
brangen fdon in ben Genat ber Stadt, den Bertrag yu er⸗
fiflen. Wenn in der folgenden Radt, fo erflarten die Wn-
gianen, die Genuefen nicht erfdeinen, fo wollen wir uns er:
geben. Da begann ein Jammern und Webflagen von Weibern
und RKindern, und eine große Troftlofigteit bemadtigte fid
aller, Der Genat aber berief die Boltsverjammlung, die
Meinungen zu hören. Da beftand Guglielmo Bobia auf der
Ausdauer, und er beſchwor den Sdatten des Grafen Bonifazio,
welder die Stadt erbaut hatte, bab er die Bonifaginer mit
feinem Geift erfitlle, auf dab feiner von der Freibeit laffe.
Man entfdhied fic), ausgubarren bis zum letzten Augenblick.
Pldglidh erhob fic) in ber Nadht der Ruf, daß vie Genuefen
kämen. Alle Gloden fingen an gu läuten, auf allen Türmen
jah man Feuerzeichen:. endlofes Jubelgeſchrei ftieg gen Himmel,
Die Spanier ftaunten, da fic dod nidt3 von den Genuefen
faben; obne Zögern famen ihre Abgefandten mit Tagesanbrud)
vor das Lor und forderten die Uebergabe gemap der Ber:
abredung. Die von Bonifazio aber entgegneten, fie batten
in ber Nacht die genuefifde Hillfe aufgenommen; und fiebe
da! es erfdienen Bewaffnete, ein genuefifdes Banner voran
tragend, dreimal auf den Mauern vortibergehend, welche von
angen ftarrten. Denn alle Weiber hatten in diefer Nacht
bie Wajfenriiftung angelegt, daß es fcien, die Scar der
Bonifaziner fet verdreifacht worden. Wie Wlfonso von Aragon
das fabe, tief er: „Haben denn die Genuefen Flagel, dab fie
nad Bonifazio fommen können, da wir dod alle Orte bejept
balten?” Und auf3 neue ließ er feine Mafdhinen zum Sturm
gegen die Stadt vorritden.
Endlich erſchienen die Genuefen wirklich, am vierten Tag
nach Ablauf des Vertrages, und fie gingen im WAngefidt des
Canals vor Anker. Angelo Bobia und einige andere Tapfere
ſchwammen in der Nacht gu ihren Schiffen; fie entfepten alle
durch ibre hungerbleiche Geftalt. Die genuefifden Capitaine
248
aber erflarten, daß fie es nidt wagen dürften, die Spanier
angugreifen. Da legte Bobia wie angedonnert den Seigefinger
an ben Mund, und fagte, wir haben auf Gott allein und
auf eud “gebofit, ibr follt e3 wagen und wir werden eud
helfen!
Alſobald wandte auch Alfonso einen Teil ſeiner Schiffe gegen
die Genueſen, und richtete die Bombarden auf den Hafen,
um den Entſatz abzuſchneiden. Die Schiffe Genua's zögerten,
die Spanier anzugreifen, bid der junge Giovanni Fregoso,
Rafael Negro und andere Hauptleute im Rat durchdrangen,
daß man den Kampf wagen müſſe. Beſonders ſtimmte dafür
Jacopo Benesia, der tapferſte und der kühnſte. Durch ſieben
Stunden währte der Kampf auf dem Hafen und vor dem
Felſen, mit großer Wut da Schiff an Schiff gedrängt war
und im ſchmalen Raum eins das andre hinderte; während
zugleich die Bonifaziner von oben her Wurfgeſchoſſe und Feuer⸗
brände ſchleuderten. Die Genueſen ſprengten endlich die Hafen⸗
kette und bahnten fid) den Weg nad) Bonifazio, und un⸗
beſchreiblich war das Jauchzen des verhungerten Volkes, als
ſieben Getreideſchiffe im Hafen landeten und ihre Fracht aus⸗
luden.
Da erkannte Alfonso von Aragon, dab er die Stadt Boni⸗
fazio nicht mebr beswingen könne; er bob die Belagerung auf,
und die Geifeln mit fic) nebmend, ging er tief beſchämt und
erbittert gegen Stalien in Segel, im Januar 1421.
Achtes Kapitel.
Andere Grinnerungen, und ein Feſt.
Meiner Locanda gegenitber fteht ein altes Haus, deſſen
marmornes Thiirgefim3 meine Aufmerkſamkeit angog. G3 find
249
alte Sculpturen darauf, bad Wappen Genua’s und gothifde
Snitialen. Meine Freude war groß al man mir fagte, dab
der Kaiſer Karl V. in diefem Hauſe zwei Tage und eine Nacht
gewobnt babe. Wenn id) das Fenjter betradte,-an welchem
er ftand, fo itberfdilttet e3 mid) mit deutſcher Hiftorie und
nennt manden Namen, Luther, Worms, Augsburg, Witten:
berg, Moriz von Sadfen, Philipp von Hefjen, nennt Sdiller
und Don Carlos, Goethe und Cgmont. Karl V. war der
lepte Raifer im vollen Sinne de3 Worts; denn gegen ibn,
in deſſen Reid) die Sonne nidt unterging, erbob fid ein
Heiner Mann in der grauen Kutte und ließ ein Wort fallen,
welches all die Herrlicdfeit de3 Raifertums wie cine Bombe
zerfprengte. Dod) find diejenigen töricht, welde Karl V.
ſchmähen, dab er die Reformation nidt begriff und fid) nicht
an die Spige ihrer Bewegung ftellte. War er dod) eben
RKaifer. Che fein Ende fam, wurde er miide; und der Mann
deffen vielbewegtes Leben ein unausgefepter Kampf mit den
Mächten gewefen war, welche das Reid) ftiirzten, mit Frant:
reich und der Reformation, gab feine Lander hin und die
alles umwandelnde Zeit erfennend, tward er Cremit und legte
fid) in einen Garg. Ich bin froh, dab id) Tizians herrliches
Portrat Karls V. fab. Mun ift mir mein Madbar hier am
Fenſter tein Begriff, fondern Perfon von Fleiſch und Bein.
Es war ein Zufall, dab Rarl nad Bonifazio fam. Mein
Freund Lorengo ergiblte ibn mix fo. Rarl war im Jahre 1541
von feinem verfeblten Buge gegen Algier zurückgekehrt; ein
Sturm zwang ibn im Golf Santa Ptanga gu anfern. Cr
ftieg ans Ufer, und neugierig des corsiſchen Lande3 Art, das
damals wie heute fiir barbarifd und friegerifd) galt; kennen
zu lernen, trat er in einen Weinberg. Filippo Cataccioli,
ner Befiper deffelben, war gerabe anwefend. Diefer bot dem
Raifer von feinen Trauben, und im Gefprach erwedte er ibm
das Berlangen. die Stadt Bonifazio zu feben, welche Alfonso
250
von Aragon nidt hatte gwingen finnen. Alſo erbot fid der
Corse ibn ju geleiten, bot ihm Gaftfreundjdaft in feinem
Haufe und verfprad ibm fein Incognito gu achten. Gr gab
ibm fein Pferd; der Kaifer ftieg auf, und der Heine Zug
fegte fid in Bewegung. Voraus aber fdidte Cataccioli einen
Boten und lies den Angianen fagen: Karl, Konig von Spanien
und Kaijer de3 heiligen rimifden Reids, würde heute Boni-
fazio's Gaft fein. Wie nun Rarl gegen Bonifazio zu reiten
fam, erdonnerten auf einmal bie Ranonen, und das entgegen:
jtrdmende Volk rief: Evviva Carlo di Spagna! Der wanbdte
fid) überraſcht zu Cataccioli und fagte: ,, Freund, du haſt mid
bod verraten.” Mein! entgegnete diejer, fondern dies ift die
Natur der Kanonen Bonifazio's, daß die GSonnenftralen fre
losbrennen, nabet fid) ein Fürſt gleich ed).
Karl zog in Cataccioli’s Haus und wurde dort wol anf:
geboben und gut verpflegt. Beim Abſchiede rief er feinen
Wirt und fagte ju ibm: „Mein Freund, weil Jor euren Gait
wol gebalten babt, fo bittet eud) dret Gnaden aus.” Ca:
taccioli bat um drei Freibheiten fiir bie Stadt Bonifazio, unr
dieje gugefagt, gebot ihm der Raifer nod eine Gunft, aber
fiir feine eigene Perfon yu fordern. Der Corse fann lange
nad, dann fagte er: „Ew. Hobeit wolle befeblen, dab, wenn
id todt bin, mein Leichnam im Wllerbeiligften der Rathedrale
beigefept werde, denn weil das feinem Laien zufommt, fo
wird das die allergrdfe(te Ehre und Auszeichnung fein, die
nod) je einem Bürger Bonifazio's widerfabren ijt.“
Der Kaifer gebot diefes, und Cataccioli geleitete ihn wieder
an den Hafen, und nachdem fein Gaft an Bord geftiegen war,
nabm er das Rob worauf diefer geritten, und erſchoß es auf
ver Stelle.
Catacciol’3 Haus ift nicdt gang vollendet. Man fieht
einige Mauerliiden in ber Wand. Denn die Angianen batten
ibm, alg er es baute, den Bau unterfagt, aus Ridfidter
251
auf die Feftung, Gr verfprad) nun auf feine Roften einen
anal yu bauen, wenn man ibm das Haus geftattete. Der
Magiftrat ging darauf ein, man ſchloß den Bertrag, dab
Catacciolt fein Haus nidt eber vollenden diirfe, als bid er
den Faro vollendet habe. Alſo baute er beide zugleich, bradte
ben Faro ridtiq bid gum Fundament und fein Haus unter
Dad, bis auf einige Liden die er in der Mtauer lief.
Hod und fdhin von Geftalt war Cataccioli, und deshalb
nannte ihn das Volk Alto Bello. Seine Familie war eine
ver reidften und alteften der Stadt und wird in deren Ge:
ſchichte viel genannt.
Der Blid, der an diefer Wohnung Karls V. vorbeiftreift,
fallt auf die Snfel Santa Maddalena, weldhe am Rande Sar:
diniens ſteht. Deutlich febe id) den Turm auf ihr, und febe
den jungen ArtilleriesOffigier Napoleon dort aus der Bartle
fpringen, ibn ju nebmen. Napoleon wobnte faft adt Monate
lang in Bonifagio, dem Haufe Rarls V. gegenitber. Diefe
Begegnung zweier groper Raifernamen hier ift merkwürdig;
denn Napoleon war es, der die alte rubmvolle Raifertrone
Karls V. zerbrach.
Bonifazio hatte ehedem in ber Zeit feiner Blüte einige
zwanzig Kirchen und Klöſter. Die Klöſter find aufgeboben und
nur drei Kirchen iibergeblicben, die Rathedrale S. Maria vom
Feigenbaum, Gan Domenico und Gan Francesco. Ganta
Maria ijt von pifanifder Bauart, eine große ſchwere Kirche,
welde in engen Gafjen fid verliert. Ihre gerdumige Halle
ijt der Verfammlungsplag und Spajziergang der Stddter, die
darin umberwanbdeln wie vie Venegianer in den Hallen de3
Marcusplages. Jn alten Beiten verfammelte fic) in diefer
Rathedrale aud der Senat Bonifazio's, um her die An—⸗
gelegenbeiten der Stadt gu beraten.
Weiter hin gegen. den Rand bes Felfens liegt Gan Do-
menico, eine fdine Kirche ber Templer, deren Triangel nod
252
an der Mauer fidthar ijt. Der Bau ift von den reinften
gothiſchen BVerhaltniffen, und es feblt thm nur die befleidete
Facade, um aud von Außen angenehm zu wirken. Unſtreitig
ift fie die ſchönſte Kirche Corsica's neben der in Ruinen
ftebenden Ganonica in Mariana. Ihr ſchneeweißer achteckiger
Turm, welden die Pifaner bauten, gleidht einem frenelirten
Feftungsturm; er ift nidt vollendet. Ich fand in der Kirche
viele Grabfteine von Tempelherren und genuefifden Goeln,
aud ben eines Doria. Der Kardinal Feſch hat einige Bilder
in fie gefcenft, die indeB von feinem Werte find. Mert:
wilrbiger find die Votivbilder auf Hols, welche gerettete Bürger
Bonifazio’s der Ptadonna und dem heiligen Domenicus ge:
weibt haben. G3 gibt manches Weihbild unter ihnen, welches
Piratenfcenen redt wader darftellt.
Die dritte Kirche San Francesco befigt eine grofe Mert:
würdigkeit, denn es befindet fic) in ibr die eingige lebende
Wafferquelle Bonifazio's. Gonft trinten die Bonifaginer nur
Regenwaffer, und befonbers verforgt fie die große, tiefe Ci⸗
fterne, in welche man auf fteinernen Stufen binabftetgen fann,
ein verdienftlides Werk der Genuefen.
Die meijten ehemaligen Kldfter Corsica’s waren vom Orden
der Franciscaner. Diefe Mönche batten fic) äußerſt zableeid
auf der Snfel angefiedelt und ihr Heiliger felber ift, wie bie
Sage erziblt, in Corsica gewefen. Er foll nad Bonifazio
gefommen fein, und ba die Birger diefer Stadt als die reli:
gidfeften der Ynfel gelten, fo will id) meinem Freunde Lorenzo
eine Legende nacherzaͤhlen. |
Man fieht über dem Golf dad verlaffene Klofter San
Giuliano; gum Bau deffelben gab der heilige Franciscus felber
Veranlaffung. Eines Nachts naämlich landete er, id) weiß
nicht auf welcher Fahrt, im Hafen Bonifazio's und ſtieg ans
Ufer. Er klopfte an ein Haus und begehrte Herberge. Aber
es wurde ihm nicht ſo gut begegnet, wie dem Kaiſer Karl.
253
Denn man fdlop ihm dite Thitre, weil er gang verwildert
und ftruppig wie ein corsifder Bandit ausfah. Der Heilige
ging betritbten Herzens hinweg und legte fid) in eine Grotte
neben bem Hauſe fdlafen, und nadhdem er ſich dem Herrn
empfoblen hatte, entfdlief er. Derweilen fommt eine Dienft-
magd, um wie fie gu thun gewobnt war gewijje Unfauber-
feiten in die Grotte auzzumerfen. Wie fie nun in diefe ein:
tritt, fiebt fie brinnen etwas Ieudten und hatte vor Schrecken
die Unreinlidfeit beinabe über den Heiligen ausgegofjen. Denn
eben dieſer war es, was ba leudtete. Franciscus erhob fid
hierauf vom Boden und fagte mit feinem milden Lächeln zur
Magd folgendes: „O meine Freundin, thue nur immerbin
wie bu gu thun gewobnt bift, Meil ic) bod ein ganged Jahr
in einem Schweineſtall gewohnt babe, wie dad alle Welt weiß.“
Die dumme Ptagd aber lief mit Gefdrei davon und erzählte,
pap fie einen Mann in der Grotte gefunden habe, welcher
pie Eigenſchaft befige, an einigen Zeilen des Körpers ju
leuchten. G3 verbreitete fic) flugs die Runde davon in Boni-
fazio; die Bonifaginer eilten an Ort und Stelle, und da fie
den Heiligen gefunden batten, boben fie thn auf ibre Hände,
Viebfoften ihn und baten ibn, er möge ein Denkmal feiner
Anwefenbheit hinterlafjen. Der heilige Franciscus fagte: meine
Freunde, errichten wir zum bleibenden Gedächtniß ein Kloſter.
Auf der Stelle trug man Steine herbei, Franciscus aber legte
mit eigner Hand den Grundftein, und naddem er folded ge:
than, empfabl er fic) und ftieg in fein Schiff. Das Kloſter
nannte man nidt nad feinem Namen, weil er damals nod
nidt beilig gefproden war, fondern nad dem S. Julian.
Spiter bauten die Bonifaziner die Kirche Gan Francesco.
Nahe dabei ftand auf dem Felfen in alten Zeiten ein Hain
von Pinien, von Mirten und Burus, ein wahrhaftes Wunder,
weil ibn dad nadte Ralfgeftein hergab. Bei BVerluft der rechten
Hand war e3 verboten, einen Baum aus jenem Waldden gu
254
fallen. Gremiten ſaßen darin in einer Bergflaufe, lobten Gott
und fangen fromme Lieder hod) oben über der Meerenge, nahe
am Simmel. Nun ift der Wald und das Cremitenbaus ver:
fdwunden, und es gebt jest dort die Schildwache in roten
Hofen auf und ab und pfeift fid) ein Soldatenlied.
Am 15. Auguft wedte mid) Ranonendonner unter meinem
Senfter. Im Sdlaf glaubte id es feien die Spanier und
Alfonso von Aragon mit den Bonrbarden, und diefe machten
ein gräuliches Schießen und Sturmlaufen gegen den Helfer;
aber id) befann mid bald, daß diefe Kanonenſchüſſe dem Ge:
burt3tage ded alten Kaiſers Napoleon und der Jungfrau Maria
galten. Denn am Feft der Aſſunta war Rapoleon geboren,
und beide haben nun die Che in gang Frankreid zuſammen
gefeiert 3u werden, Die Schüſſe rollten und hallten madtig
über der Meerenge und wedten Gardinien aus dem Schlaf.
Wie fchin und feftlic war der Morgen, Himmel und Meer
blau und mit rofenroten Fahnen ausgeflagat, die Luft ftill
und kuhl.
Das Volk Vonifazio’s ſchwamm in einem Meer von Wonne.
Den gangen Tag tummelte e8 fid) anf den Strafen, die mit
Nationalfabnen pruntten. Darauf {a3 man nod die ftolzen
Worte: république frangaise, liberté, égalité, fraternité.
„Ihr dürft mir glauben, fagte mir ein Bonifaziner, wir find
pon jeber edjte Republifaner gewefen.” — Ich fabh viele Grup:
pen auf den Strafen Dambrett fpielen, und auch im großen
Tor ſaßen fie bei diefem alten, ritterlicen Spiel. Andere
gingen auf der Piagga umber, trugen ibre beften Kleider und
waren friblid.
Ich babe immer eine Luft an einer fefttigigen Menge.
Man fühlt ſich da auf einer guten Erde; und nun bier, wo
dieſes weltverlaffene Volk einmal auf feiner Klippe ausrubt
und aus feiner Diirftigteit fic) ein findlides Feſt bereitet, war
mir redt wol. Diefe armen Menfden haben fo gar nidt3
255 .
was das Leben wedfelnd und angenehm madt, nicht Schau⸗
fpiel, nicht Geſellſchaft, nicht Pferd nod Karoſſe, nicht Muſik,
kaum dann und wann eine Zeitung. Viele werden bier ge⸗
boren und fteigen in ihr falfige3 Grab obne einmal Ajaccio
gefeben 3u haben. Sie leben bier bod) am Himmel auf ibrem
diirren Felfen und haben nidts als Luft und Lidt und den
einen gropen Blid auf die Meerenge und die Berge Gar:
dinien3. Man kann fic alfo leicht denfen, was bier cin Feſt⸗
tag jein muß.
Aud) von det Umgegend waren die Bewobhner herein ge:
fommen; da war's ein fonderbarer Gegenſatz, fo viele gepuste
Menfden in den wüſten Strapen umbergehn zu feben, und
gar lieblich Lacten die jungen Mädchen aus den Fenftern,
Blumen im Haar und weiß gefleidet, denn id) glaube heute
waren alle Madden von Bonifazio der Proceffion wegen Engel.
Kanonenſchläge findigten ihren Beginn an. Gie fam aus
ver Santa Maria und 30g nad) San Domenico. Chriſtus⸗
freuze, alte Kirchenfahnen, die nod) genuefifd fdienen, zogen
poran, dann Pinner, Frauen und Mädchen, Kerzen in der
Hand, und zum Beſchluß die himmlifde Jungfrau. Bier
riijtige Manner trugen fie auf einer Bahre. Auf jeder Cele
derjelben ftand ein bunter hölzerner Engel mit einem Blumen:
bufd in ver Hand, und in der Mitte ſchwebte auf blauen
hölzernen Wolfen Maria felbjt; aud fie war von Holz. Gine
filberne Stralentrone hing über ihrem Haupt und an ibrem
Halfe eine köſtliche Kette von Corallen, die in der Meerenge
gefiſcht und von den Fiſchern ihr dargebracht waren. Hun⸗
derte von Menſchen gingen in der Proceſſion, und viele hübſche
Kinder waren darunter, mit weißen Kleidern und bleichen Ge⸗
ſichtern, daß es ſchien, ſie ſeien aus dem Gypſe Bonifacio's
geformt. Alle trugen fie Kerzen; aber der Seewind ging eben⸗
falls in der Procefſion einher, das war ein groper, langer
Geſelle aus weißem Kalk und ganz in einen weißen Mantel
256
von Ralfftaub eingebilt. Gr blied einer hübſchen Gypsfigur
nad der anbdern die Kerze aus, und ebe der Zug nod Gan
Domenico erreichte, hatte er das Moccolifpiel gewonnen und
aud) bie legte Kerze ausgelöſcht. Wud) id ging bis Gan Do:
menico mit. Wenn mid Yemand fragte, wie mir die Pro-
ceffion gefalle, fo ſah id e3 ihm an den Augen an, dap fie
febr fchin fet, und ic) fagte: signore mio, ella é mara-
vigliosa. Abends erridteten fie einen gewaltigen Holzſtoß ix
ber engen Straße vor dem Stadthaufe und erleudteten damit
bie Gaſſen. Als ic fragte, weshalb man bas grofe Feuer
angezündet babe, fo fagte man mir: dieſes Feuer ift ange:
zündet gu Ehren Rapoleons. Go feterte Bonifazio dad grofe
geft und war froh und glidlid, und nod da e3 Racht war,
hörte id) beiteren Gefang auf den Straßen fdallen und dad
Klimpern der Mandoline.
Neuntes Kapitel.
Die Meerenge.
Abends, ehe die Dunkelheit eintritt, iſt es mein Vergni-
gen durch dad alte Feſtungstor yu geben und auf dem hohen
Ufer gu figen. ier habe id) dad feltenfte Gemälde um mid
ber: Bonifazio auf dem Felfen hart neben mir, ſchwindelnd in
vie See hinuntergeneigt, dite Meerenge und das nabe Gar:
dinien. G3 gibt ein alted Buc, welded unter den Welt:
wundern diefen FelS von Bonifazio als bas 72ſte zählt. Mein
guter Freund Lorenzo hat das Buch gelefen. Blide ich nun
pon diefem fteinernen Bänkchen binab, fo tiberfdaue id) den
ganzen Stufenweg, der gur Darina berunter führt. Da fom:
men und geben beftindig Leute aus bem Tor und in dads
Sor, und von unten berauf reiten fie im Bidjad auf ihren
257
Gjeln oder treibew diefe mit Melonen belafteten Geſchöpfe im
Ridjad hinauf; denn fo wird ibnen' dad Klettern leichter. Dd
erinnere mid) nicht, je fo kleine fel’ gefehen zu haben als in
Bonifazio, und fonnte e8 nidt begreifen, wie ein Mann auf
cinem folden Thier reiten könne. Seinen fah ich mit dem
Fucile fommen; von Flinten wird man hier nidts gewahr.
Wenn id nun dort an der kleinen Capelle S. Rocco ſaß,
war id) bald von Neugierigen. umringt, die fic) oft zutraulich
su mir fepten und mid) fragten, wober ic) fame, und wad
id) wollte, und ob mein Baterland ein gebildetes Land fei
ober nidt. Die legte Frage ift fehr oft an mic geridtet
worden, fobald id fagte, dab id) aus Preußen fei. Gin vor-
nehm ausfebender Herr fegte fic) eines Abends gu mir, und
da wir in ein politifdjes Geſpräch über ven jegigen König
von Preupen gerieten, fo dritdte er pliglid feine Verwunde-
tung aus dab die Preupen italientfd fpraiden. Wud) darnad)
bin id) ſchon oft und in allem Ernſt gefragt worden, ob in
Preußen italienifd geſprochen würde. Mein freundlider Herr
fragte mid) bierauf, ob id lateiniſch ſpräche. Auf meine Ant-
wort daß id) lateinijd) verſtünde, fagte er dab er ebenfalls
lateiniſch verſtünde, und bob alfo zu reden an: Multos an-
nos jam ierunt, che io non habeo parlato il latinum.
Im Begriff ibm ebenfalls lateinifd zu antworten, madte id
die Erfahrung dab das Lateinifde mir augenblids in Ita⸗
lientfd fic) verwandeln twollte, und dab ich wo miglid nod
trefflicher mic) auszudrücken im Begriffe war als mein Boni:
faginer. Zwei verwandte Spraden mifden fic) fofort auf
ber Bunge, wenn man fic taglid) nur in der einen ausge⸗
drückt bat.
Auch oiefer Herr fagte mir die Prophezeiung Roussean’s ber
Corsica her, welder man nicht entrinnen fann, wenn man
mit gebilveten Corsen fpridt.
Immer ſchöner wird im Abendſchein die Unfidt ver Meer:
Gregorovius, Corsica, II. 17
258
enge. Da fdweben Segelboote voritber «gegen die Bellen
kampfend; goldig überlichtet fahren fie hin; eingelne Klippen
tagen ſchwarz aus bem Waffer und in Violet farbew fic die
Küſten Sardinien3. Geradeüber ftehen die ſchönen Berge von
Tempio und von Limbara, dort die Hdhen weldhe Saffari ver:
veden; links eine pradtvolle Sergpyramide, die man mir nidt
gu nennen weiß. Die Wbendfonne belenchtet die naben Küſten
und ftralt auf der nächſten ſardiniſchen Stadt Longo Sardo.
Gin Turm fteht an ibrem Gingang. Dd erfenne deutlid die
Haufer und möchte mir einbilden, jene Schattenſtriche dort
feten herumwandelnde Garden. Bei ftiller Nacht, fo fagte
man mir, birt man von Longo Gardo ber die Trommel, die
man dort ſchlägt. Dh zählte fedh3 Türme auf den Ritften;
Caftello Cardo ‘und Porto Torres, die nddften Stadte am
Ufer in der Ridtung nad Saffart, fonnte id nicht erfennen.
Mein gaftlider Lorengo hatte drei Jahre in Saſſari ſtudirt,
wupte mir viel von den Garden zu erzählen und ftannte ibre
Spraden.
Schweigend bliden wir hinunter
Wuf die fchaumbebedten Küſten,
Auf die blaue Mteeresenge,
Die zwei Schwefterinfeln trennt.
Ad! wie ſchön bift du Sardegna,
Du von Mufdeln hell umbligte,
Mirtenitbertrangte, braune,
Wilde Schweſter Corsica’s.
Als ein Halsband von Corallen
Hangen um fie ber die roten
Ynfelflippen und die Riffe,
Und mand’ ausgejadte3 Cap.
!
259
Freund Lorenzo, jene Berge,
ene wonnefamen blauen,
Weden mit fo heiße Sehnfudt,
Dab mein Herg dabin verlangt —
Scone Berge von Limbara!
Sprad Lorenzo vor ſich nieder,
Blaue Berge wie bas Leben
Ligenbilder find fie nur.
gern erfceinen fie Sapphire,
Und fryftallne Himmelsoome,
Wher nabt ihr eud), dann werfer
Sie den blauen Mantel ab.
Bieten euch die nadten Klippen,
Drohen eud) mit Dorngewinden,
Mit dem Wetter, mit dem Wbgrund,
Wie das Leben, junger Freund. —
Freund Lorenzo, jene Ebne
Lact mid an mit ihrem Golde,
Wiffen möcht' id) wie der’ Sarde
Sn dem ſchönen Lande lebt. —
Weit ins Innre fteigt der Vergwald,
Gelbe Stddtlein ftehn im Grünen,
Und das Maulthier mit ber Selle
Bor fid) treibt der Catalan.
Den Sombrero auf dem Scheitel,
Dold, Piftolen in dem Gurte,
Summt er ein lateiniſch Lienden
Und marfdirt yu feinem Tact.
260
Wandert ſüdwärts nur zum Strande
Nad Cagliari’s Felfersudten,
Dort im Dorfe fdlaigt ver Moro
Caftagnett’ und Tamburin.
Mauren find’s von Algesiras,
In Barbarenjungen ftammelnd,
Tanzend um die Faderpalme,
Braune Mädchen an der Hand.
Wie merkt man in Bonifazio fdon die Nabe der dritten
großen romanifden Nation, der Spanier. Mein Zimmer ift
bededt mit Columbusbildern, welche lange fpanifde Grfla-
rungen baben, und bie und da trifft man Garben, die den
catalanifden Dialeft reden. Weide Ynfeln in grauen Zeiten
zuſammenhängend, nun auseinanbdergeriffen, ſtehen in nachbar⸗
lidem Schmuggelverkehr. Die fo gtinftige Lage Bonifagio’s
würde diefe Stadt zu balbdiger Blüte bringen miiffen, wenn
der Handel fret wire. Die Mufficht ift febr ftrenge; denn
aud die Vanditen beider Inſeln ftehen im Verkehr; aber 3
geſchieht feltener dab Garden nad) dem fleinen Corsica flüchten,
weil fie fic) dort nicht balten fdnnen. Dagegen flüchten viele
corsiſche Blutracher in die Berge Sardiniens. Die Poliget in
Bonifazio ijt ſehr wadfam. Mirgend forderte man mir im
ganzen Corsica den Paß ab, man that e3 nur hier und in
Gartene. Gin Vefiger war vom Cap Corso her bid Bonifagzio
mein Begleiter gewefen, und da der freundlide Mann mir
fein Schiffchen, dad in Propriano anferte, yur Ridfabrt nad
Baftia und auf dem Cap Corso fein Haus gur Wobhnung an:
bot, nabm id) thn in mein gerdumiges Zimmer, weil er
fcdlecht verforgt war. Der hatte nun die Chre fir einen
Banditen gu gelten, der mit gutem Sein nad Sardinien ju
fommen fude.
261
‘Wenn ver Abend hereinbridt, ftedt der Leuchtturm Boni-
. fagio’s fein Licht auf. Die Küſte Sardiniend ift in Dunkel
gebillt, aber von Longo Gardo her antwortet das rote Lidt
eines Fanals, und fo unterbalten fic) dieſe beiden Schwefter-
infeln aud) in der Nacht durd die Beidenfprace ihrer Wandel: |
feuer, Die Türmer hüben und drüben fahren ein einfames
Leben. Gin jeder von ibnen ift der erfte oder legte Bewohner
feiner Ynfel. Der von Bonifazio ift der allerfitdlidfte Corse
den id) nod je gefeben habe, und der vom Cap drüben ijt
ner allernördlichſte Menſch Cardiniens. Sie haben ſich nie
gefeben und gefproden. Aber jeden Tag fagen fie fid) guten
Abend und felicissima notte, wie man in Btalien fagt, wenn
pie Hausfrau mit dem Licht in die Stube fommt. Der Titrmer
von Corsica fommt zuerſt mit feinem Licht in die Macht hin:
aus und fagt felicissima notte, und dann fommt ibm ent:
gegen ber von Sardinien und fagt aud felicissima notte;
und fo treiben ſie e3 Nacht fiir Nacht und werden es fort:
treiben ihr Leben lang, bid einft drüben dad Lidt eine Weile
ausbleibt. Dann weiß der Tilrmer hüben, dab der alte
Freund jenfeits geftorben ijt, und weint und fagt: felicissima
notte !
Ich befuchte diefen fidlidften Corsen auf feinem Turm.
Der liegt eine Stunde weit von Bonifazio auf dem niedrigen
Cap Pertufato. Das Südende Corsica’s geht hier in einem
abgeſtumpften Dreief aus, an deffen Enden weftlid jened
Cap und öſtlich bas Cap Sprono liegt, eine ſchmale Klippen⸗
fpige, Gardinien am nächſten ftehend. Mit gutem Winde
fann man in einer Stunde in Garbdinien fein. Der fleine
Leudtturm ift von einer weifen Dtauer umgeben und gleidt
einem Caſtell. Freundlich nabm mid der Titrmer auf und
fepte mir ein Glas Biegenmild) vor. Gr lebt wie Aeolus im
Winde. Es iſt eigentlid)- feltfam zu denfen, dab eines Men⸗
ſchen Tange Sabre fic) nur drehen um eine Oellampe, und
262
— —
daß ein Individuum dazu aufgebraucht wird, auf einer ein⸗
ſamen Mippe Nachts Lampendochte zu verbrennen. Es gibt
nichts Ungentigfameres und nichts Beſcheideneres als dad menſch⸗
liche Weſen.
Mein Türmer führte mich auf die Bruſtwehr des Fanals,
wo der heftige Wind mid zwang, ans Geländer mid feſtzu⸗
halten, und er zeigte mir von ſeines Daches Zinnen all ſein
Inſelreich und Untertanenſchaft, welche in dreißig Stück Ziegen
und in einem Weinberge beſtand, und indem ich erkannte,
daß er zufrieden war und an Gütern der Erde genug beſah,
pries ich ihn ſofort ſchon vor ſeinem Ende glücklich. Er zeigte
mir die Herrlichkeit Sardiniens, die Inſeln und Iſolotte, die
es umſchwärmen, Sta. Maria, Sta. Maddalena, Caprera, Re⸗
parata und die kleineren Eilande. Die weſtliche Miindung
ver Meerenge iſt mit Inſellklippen beſtreut, die öſtliche iſt breiter
und da liegt dem ſardiniſchen Cap Falcone gegenüber das
Eiland Aſinara, ein maleriſches Gebirge.
Zu Corsica gehören nod einige Inſelriffe von der bizart⸗
ften Gorm, welde ganz nabe in der Meerenge zerſtreut liegen
und Gan Bainjo, Cavallo und Lavezzi heißen. Sie beſtehen
aus Granit. Die Rimer hatten auf ihnen Steinbritde . ange: -
legt, um filr ihre Tempel und Bafiliten Säulen von dort ju
bolen. Deutlic& erfennt man nod ihre Werkſtätten, felbft die
Kohlen in ver alten Römerſchmiede haben nod ihre Spuren
suritdgelaffen. Noch liegen ungebeure, halbbebauene Saulen,
deren zwei namentlid auf Gan Baingo, und andere Bldde,
welde dad Gifen ſchon bearbeitet hat, auf diejen Klippen. Ries
mand weif, fir welden Bau in Rom fie beftimmt gewefen
find. Und weld’ ein panifder Schreck modte es fein, der
‘pie Rinftler und Steinmegen von diefer einfamen Werkſtatt
im Meer plötzlich verjagte, dap fie ihre Wrbeit unbeendigt
liegen ließen. Vielleicht verſchlang fie die Flut, vielleicht er:
ſchlug fie der wilde Corse oder dev grimmige Sarde, Mid
. 263
wundert’3, dap bier feine Gage von einer römiſchen Geifter:
werkſtatt entftanden ift. Denn id) felbft habe dod) im Mtond-
ſchein die todten Künſtler aus dem Meer jteigen febn, in
römiſchen Togen, ernfte Manner, breitftirnig, adlernafig und
mit bolen Wugen. . Sie madten fid) alle ſchweigend an die
beiden Gaulen und boben an, geiftéerbaft daran ju fdlagen
und ju meipeln. Der Cine aber ftand bod aufredt und .
deutete nur befeblend mit dem Finger; ic hörte thn auf la:
teinifd fagen: „Dieſe Saule wird eine der ſchönſten im gold-
nen Hauſe de Nero fein. Flint, Gefellen, und. fördert Cud!
denn fo Ihr in 40 Tagen nidt fertig feid, werden wir alle
ven Thieren wvorgeworfen.” Ich wollte ibm eben jurufen:
„O Artemion und ibr anderen todten Manner, da3 Hau3
des Nero ift. ja langft von der Erde verfdwunden, wie wollt
ibr nod) Säulen dafür bauen? Gebt fdlafen in euer Grab?”
Aber wie id) das fagen wollte, verwandelten fic) mir die latei-
niſchen Worte augenblids in italienifde und id fonnte nidt.
Und diejem Umftand allein ijt e3 ju verdanfen, daß die alten
Römergeiſter now immer fort in der Werkftatt an den Säulen
gefdhaftig find — und alle Nadt fommen fie beraufgeftiegen
und fdlagen und meifeln in rajtlofer Eile, aber fobald die
Hibne in Bonifazio traben, fpringen die weipen Geftalten
wieder ind Meer guritd.
Mod einen vollen, legten Blid warf id auf die weitaus-
gedebnte Küſte Sardiniens, auf dad and Gallura, und dadte
an dent ſchönen. Enzius, ded Kaifers Friedrich, Sohn. Wud-er
ijt einjt gewefen und war drüben ein König. Bor wenigen
Monaten jtand id eines Abends an feinem Gefangnip in
Bologna. Gin Puppentheater war dort aufgefdlagen und
iiber den ftillen großen Platz fcallte laut die Stimme ded
Pulcinella. —
Die Welt iſt rund und die Geſchichte eine Kugel, wie das
einzelne Menſchenleben.
264
Zehntes Kapitel.
Mie Hölen von Bonifazio.
Hochauf bonnerre bert an bes Eilands Küſten bie VBrandung,
@ranenvell (prigen’ emper, und betedt war alles mit Sal;‘haum.
Obygffee
An einem ſchönen Morgen ging id aus bem alten Ge:
nuefentor, an deſſen Mauer der fpringende Löwe und der
beilige Dradentddter Georg, das Wappen der Bank Genua’s,
eingemeipelt find, ſtieg zur Marina binunter und rief den
Sciffsmann-und feine Barke. Heute erlaubte die See eine
Fahrt in die Hilen der Kiiften, aber fie war nod immer vom
Maeftrale bewegt und fpielte dreift genug mit dem Boot.
Sm tiefen, ſchmalen Hafen aber, dem ficherften der Welt,
ift e3 windftil, und wie in Whrabams Schoß rubten dort die
wenigen Segelkähne und die beiden zweimaſtigen Rauffabrer
Bonifazio’3, Jeſus und Maria namlid und die Fantafia.
Gantafia ift der trefflichſte Name, den nod) ein Schiff getragen
bat, dad wird jeder gugeben, deb Fantafiefdhif—f je auf dem
Meer gefegelt ift und mit feinen. Sdhagen zu Bort fam oder
an den Strand getworfen ward.
Von beiden Seiten engen Ralkfelfen den Hafen fo febr
ein, dap ſeine Mündung dem Blick lange verdedt bleibt. Die
Enge diefes. Canals madt e3 möglich, ihn querdurd mit
einer Rette gu fperren, wie Alfonso von Aragon das gethan
hat. Man zeigte mir nod einen madjtigen eifernen Ring,
der in einem Uferfelfen eingefdlagen iſt. Rechts und links
und weiter an der offenen Küſte bat die Waffergewalt fleine
und grope Hilen gebildet, weldje höchſt febensmert find und
in aller Welt berithmt fein witrden, wenn Corsica nicht gleidhfam -
außer der Welt lage.
In der nächſten Nabe Bonifazio’s gibt es deren drei be⸗
265
— — —
ſonders ſchöne. Zuerſt gelangt man nach der Grotte San
Bartolomeo. Sie iſt ein ſchmaler Hölengang, der gerade
ſo viel Raum läßt, daß die Barke ſich hineinzwängen kann.
Sie gleicht einem kühlen gothiſchen Gemach. Das Meer dringt
faſt bis an ihr Ende, ſo weit dies dem Auge ſichtbar ſcheint,
und bedeckt ihren Boden mit ſeinem ſtillen, klaren Waſſer.
Es iſt das eine Geſellſchaftsgrotte für die Fiſche, die ſich hier
Beſuche machen, vor dem Hai geſichert. Ich fand auch eine
wolige Fiſchfamilie darin. Sie ließen ſich nicht ſtören, ſondern
ſchwammen luſtig um die Barke her.
Rudert man aus dieſer Grotte weiter, ſo gelangt man
nach kurzer Zeit in die offene See und hat den überraſchend
großen Anblick der Seeſeite ded Felſens Bonifazio, der mit
ſeiner breiten zwiegeteilten Bruſt mächtig herausgehoben gegen
die Flut ſtrebt. Er iſt ein herrliches Bauwerk der Meiſterin
Natur. Von beiden Seiten hat fie Säulen angeſtemmt, gewal⸗
tige Strebepfeiler aus Kalk und Sandſchichtungen und von
per Woge tief cannelirt. Eine derſelben heißt Timone. Zwi⸗
ſchen ihnen wölbt ſich ein coloſſaler Bogen, auf welchem hoch
oben die weißen Mauern Bonifazio's ſtehen, und in deſſen
Mitte eine prachtvolle Grotte als Portal ſich aufthut. Ich war
itherrajdht von dieſem großen Bau, einem Vorbilde der Men⸗
ſchenwerke, der Tempel und Bafilifen. Das aufgeregte Meer
ſchlug ſeine Wellen gegen die Wande der Höle; aber drinnen
war es ſtill. Sie gebt nicht tief in ben Fels binein. Sie ift
nur eine Niſche, welde in halben Rreislinien traubenfirmige
Guirlanden von Tropfftein umziehen. Man finnte darin
ein Riefenbild bes Poſeidon aufftellen. Sie heißt sotto al
Francesco.
Fährt man nad der redhten, öſtlichen Seite, fo ſieht man
bas Ufer weithin unterbdlt und wunderlice Bilbungen von
Rellergewilben, in welde dad Meer eindringt. Yd fubr in
eine diefer Grotten hinein, die Fifcer nennen fie Camere. Bn
266
9
ibrer Nahe befindet fic) die herrlichſte Grotte Bonifazio's, der
Spragonato, und bier verzage ich Worte gu finden, welche
dieſes Wunderwerk zeichnen migen. Nimmer fah id ein dbn:
fides und vielleiht möchte diefe Hole eingig in Curopa da:
fteben. Shr Cingang ift gleich ber von Gan Francesco, eine
rieſige Tropffteinnifde, aber diefe Sffnet fic) in den Berg und
führt durch ein fleines Tor in die gange umſchloſſene innere
. Hölung. G8 war fdhin und dugftigend durch den Heinen
Schlund ju fteuern; die Waffer brandeten mit Wut gegen
denſelben, fprigten ihren weißen Gifdt an das Geftein empor,
ſchlugen zurück, verfdlangen fid), witbhlten fid) wieder anf.
Solden wilden Waſſerſchwall zu hdren ijt eine wabhrbaft- ele:
mentarifde Luft; feinen Laut gibt nur die italienifde Sprache
treffend wieder — fie fagt rimbomba. Glidlid ward bie
Bare durd den Hilenfdlund geſpült, und mit eins glitt fie
hin in einem berrlid) gewölbten Tempel von ungebeurem
KreiZumfange, auf einem bier griinen, dort duntelfdwarjzen,
bier agurblauen und dort rofig gefirbten Wafferfpiegel. Es
ift ein natirlides Pantheon. Oben klafft die Ruppel aus⸗
einander und der belle Himmel ſcheint herein; ein Baum beugt
fid) und ſchwankt vom Rande herab, gritne Büſche und Krduter
neigen fid) in ben Spalt hernieder; und wilde Tauben flattern
berein. Die Wande der ſchönen Héle find faft regelmapig ge:
wilbt, bas Waſſer fidert von ibnen herab und umzieht fie
mit Zropfftein, der aber nidt die Formen der Hoͤle von
Brando auf dem Cap Corso, oder der Harghdlen hat. Er
bangt in Knollen umber, ober bat dad Geftein wie mit einem
Laſurguß überzogen. Man fann mitten in der Grotte um⸗
berrudern oder nad Belieben audsfteigen, denn ringsum bat
bie Natur Sige und Stufen von Stein aufgefdlagen, welde
freiliegen, wenn nidt die Sturmflut fie bededt. Hieber fom-
men die Seebunde des Proteus und lagern fic in dem Wonne⸗
faal, eider fah ic) keinen, fie waren draußen auf einer
267
Wafferfabrt; nur wilde Tauben und Tauder fdredte id auf.
Der Waſſergrund ift tief und Har. Man fieht Muſcheln,
Fiſche, und Peeresgrafer. C3 möchte fid) ber Mühe verlobnen
feinen Gommerfig von Beit gu Beit bier aufgufdlagen, die
Odyſſee yu leſen und aufzulauſchen, wenn die Wefen der ge:
beimnipoollen Meerest efe eingesogen fommen. Der Menſch
verfteht weber Pflanze nod) Thier, die auf dem Lande leben
und feine Freunde find, nod) weniger jene ftummen, wunderbar
geformten Gefddpfe des grofen Clements. Sie leben und
baben ibre Gefege, ihren Berftand, ibre Freuden und Leiden,
ihre Liebe und ihren Gab. Nicht wie die Landwefen an die
Sdolle gebannt, ziehen fie im ſchrankenloſen Element umber
und wobnen in der immer flaren fryftallnen Ziefe, bilden
madtige Republifen, haben ihre Revolutionen, ibre Valter:
wanberungen und Corfarenftreifsiige, und die ſchönſten Waſſer⸗
partieen, wenn fie wollen.
Das Ufer vom Cap Partufato bis nad VBonifazio ift vom
Meer zerſchlagen und in feltfame Formen gerriffen. Man findet
dort viele Verfteinerungen und die merfwirdige Spinnenart,
welde baut. Diefe Spinne madt fich nämlich im Ganbde der
Küſte ein ganz fleines Sandhäuschen und in dem Sandhäus⸗
den ein Thürchen. Dieſes fann fie nad Belieben auf: und
sufdlieben. Wenn nun die Spinne allein fein will, fo ſchließt
fie bad Thürchen zu. Wenn fie ausgeben will, fo madt fie
das Thitrdhen auf und geht hinaus und führt ihre Töchter
an der ſchönen Meerenge fpagieren, wenn fie nämlich fleipig
geweſen find und an ihrer Uusftattung genug gefponnen haben.
Diefe treffliche Baufpinne heibt Mygal Pionniére oder Araignée
Magonne von Corsica.
Ich fab aud die scalina di Alfonso, die Treppe ded
Königs von Aragon, welde er der Gage nad hart unter den
Mauern der Stadt aushauen lie. Weil Alfonso nämlich die
Stadt nicht zwingen fonnte, verfiel er auf den Gedanfen, in
268
das Ufer heimlid) einen Gang ju hauen. Nachts landeten die
Spanier an einer Stelle, welche von den Bürgern nidt ge-
febn werden fonnte; dort zieht fid) eine Grotte in den Berg,
welde wol 300 Menfden beberbergen fann und ſüßes Waſſer
enthalt. Da fdlugen nun die Spanier einen Gtufengang em-
por, und wirflid) waren fie bis an die Feſtungsmauern ge-
langt, al3 ein Weib fie bemerfte, Larm madte und die her:
beieilenden Birger den Feind herabſtürzten. Die Erzählung
ift ein Marden; mir fdeint e3 unglaublid, dab die Spanter
viefe {drag auffteigende fdmale Treppe follten ausgehauen
haben, obne von ben Bonifazinern gefeben worden 3u fein.
Gine andere Felfentreppe der Art hatten fic übrigens die
Mönche von San Francesco ausgegraben, um jum Geebabde
hinabzuſteigen; aud) fie ijt größtenteils hinweggetilgt.
3h habe Ungliid gebabt, die Thunfifde fangen fie died
mal nidt in der Mteerenge und die Corallenfifder find wegen
des Maeftrale nidt auf See. Die Meerenge tft an Corallen
reid), aber die Corgen itberlafjen den Fang den Genuefen,
ben Zoscanern und Neapolitanern. Diefe fommen im April
und bleiben bis zum September. Schöne rote Corallen fab id
bei einem Genuefen. Man verkauft fie nad dem Gewidt, die
Unje 3u drei Franken. Die meiften Corallen, welde in den
Sabrifen Livorno’s verarbeitet werden, fommen ans diefer
Meerenge. Seitdem aber die Frangofen reichere und beffere
an ben Küſten Wfrifa’s entdedt haben, vermindert fic bier
ver Corallenfang. Dest fifeht man fie hauptſächlich an den
Ufern von Propriano, von Roccapina, Figari und Ventilegne,
wo aud) die Thunfiſche befonders haufig find.
Nachdem id nun Land und Küſte Bonifazio’s kennen ge
lernt hatte, riljtete id) mic zur Wfabrt won diefem merk⸗
wiirbdigen Ort. Wie Lorenzo e3 mir gefagt hatte fand id
das Volk Bonifazio's. Wir find arm, fagte er mir, aber
wir find fleipig und haben genug. Oel wadft in Fille auf
I
269
unjrem Kalkboden, der Wein gibt genug fiir dad Haus und
die Luft ift gefund. Wir find fröhlich und jufrieden und
nehmen Gottes Tage auf unfrem Felfen mit Dantbarteit hin.
Wenn ver arme Mann Wbends von feinem Felde heimfebrt,
findet er immer feinen Wein mit Wafer gu mifden, fein el
zum Fiſch, vielleicht aud) ein Gtid Fleifh, und Sommers
immer feine Dtelone.
Ich werde mid an die Gaftlidfeit der Bonifaziner fo dank: .
bar erinnern wie an die der Gartener. Ptorgen3, da id) vor
Sonnenaufgang binabwollte, um nad Wleria zu fabren, wartete
ſchon Lorenzo am Burgtor um mir nodmals eine gute Reife
su wünſchen und mid) gur Marina gu geleiten. Mit der
Morgenrdte den Felfen Hhinabfteigend nahm ich von der felt:
famen Stadt mit einer jener Gcenen Abſchied, deren Bild
ver Grinnerung ſich unausldfdlid einpragt. Unter dem Tor
liegt auf dem Uferrande bie fleine unbedadte Capelle Gan
Rocco, welde auf der Stelle gebaut worden ift, wo im Jahr
1528 das legte Opfer der Peft niederfank. Wie id nun vom
Zor herabftieg, ſah ich gerade auf diefe Capelle: die Thüren
ftanden weit offen, der Briefter am Wltar auf dem die Kerzen
brannten; vor ibm fnieten in zwei Reihen andddtige Frauen,
und aud) vor der Pforte fnieten Manner und Weiber auf dem
Selfen. Der Blid von oben in diefe ftille, fromme Menfden-
gemeinde im Sdein der Morgenrdte, hoc) aber der Meerenge
überraſchte mid tief, und id) glaubte bier ein Bild wirklider
Frömmigkeit gefehen gu haben.
Fänftes Bud).
Erſtes Kapitel.
Die Oſtkäſte.
Die Ufer längs der Oſtküſte Bonifacio's ſind ganz öde.
Die Straße führt am Golf Santa Manza vorüber nad
Porto Vecchio, welches man in drei Stunden erreicht. Dort
liegt bei bem Ort Gotta die Ruine des alten Herrenſchloſſes
Campana, und erzablt eine feltjame Gage. Yn grauen Zeiten
baufte bier Ors' Alamanno, der deutfdhe Bar. Auf feine
Vafallen hatte er dad fürchterliche Herrenredt der erften Nadt
(jus primae noctis) gelegt. Go jemand ein Weib nabm,
mupte er daffelbe in das Schloß fibren, daß der deutſche
Bar ihrer erften Nadht genieße, und auferdem mufte er dem
Orso das ſchönſte Pferd in den Stall fibren, daß er darauf
veite. Wie nun die Jahre famen und gingen, ward die
Kammer de Baren nidt leer und jein Stall war voll. Da
wollte ein junger Menſch Probetta eine ſchöne Jungfrau heim:
führen. Probetta war ein wilder Reiter und konnte geſchidt
den Laffo werfen. Gr ftedte beimlid) die Schlinge unter den
tod, fegte ſich auf ein ſchmuckes Pferd und ritt vor das
Derrenfihlof, denn er wollte bem Orso das Thier vorreiten,
tam ue ier wie e8 gar ftattlid fei. Der deutſche Bar
Sung frau an or und ladte vor Freude, daß er die ſchönſte
Uffen und das ſchönſte Pferd reiten werde. Bie
271
er nun ladend daftand und dem Probetta zuſchaute, jagte
ner pliglic) voritber und hatte er dem Orso den Laffo um:
geworfen, und jagte wie der Sturm den Berg binuntew und
fdleifte den Orso über dad Geftein. Das Gerrenfdlop jer:
ſtörten fie, den deutſchen Baren verfdarrten fie an einem
dunkeln Ort. Nad einem abr aber dachte Ciner, was wol
aus dem todten Orso geworden fei, und fie liefen eilig an
die Stelle, wo fie ihn vergraben batten, und jfdarrten fie
auf. Da fam eine Fliege herausgeflogen. Die Fliege flog
in alle Häuſer und ftad alle Weiber, und fie wurde immer
größer und grifer, und am Ende twar fie fo groß geworden
wie ein Ochs und ftad alles in der ganzen Gegend. Da
wußte man nicht, wie man die Ods-Fliege los werden könne.
Aber Giner fagte, in Piſa feien die Wunderdoctoren, die
finnten allerlei Dinge wegcuriren. Da gingen fie nad Pifa
und bolten einen Wunderdoctor, der allerlei Dinge wegcuriven
fonnte.
Wie ber Doctor die große Fliege jah, fing er an Pflafter
au ſchmieren, und ſchmierte 6000 ſpaniſche Fliegenpflajter und
drehte 100000 Pillen. Die 6000 Fliegenpflajter aber legte
er der Sliege auf und gab ibr die 100000 Pillen gu ſchlucken.
Darnad wurde die Fliege immer einer und Heiner, und
wie fie fo flein geworben war wie eine rechte Fliege, da
jtarb fie. Da nabmen fie eine grope Bahre und dedten fie
mit einem fdneeweifen Lailadhen zu, und auf da3 Lailachen
legten fie ben Leichnam der Fliege; und alle Weiber famen
zuſammen, jerrauften fid) die Haare und weinten bitterlid,
daß eine fo muntere Fliege geftorben fet, und zwölf Manner
trugen die Fliege auf der Bahre nad) dem Kirchhof und gaben
ibr ein chrijtlid) Begrabnip. Darnady waren fie von dem Un-
heil erlöſt.
Dieſe ſchöne Sage habe ich dem corsiſchen Chroniſten nach⸗
erzaͤhlt bis auf den Wunderdoctor, welchen er aus Piſa kommen
272
[apt und der die Ochs-Fliege einfach tödtet. Das andere habe
id) gugefept.
Porto Vechio ijt ein Fleiner ummauerter Ort von etwa
2000 Einwohnern, am Golf gleides Namens, dem einjigen
an der ganjen Oſtküſte. Cr ift groß und berrlid) und fonnte
von Widtigkeit werden, weil er dem Feftland Italiens gegen:
über liegt. Die Genuefen legten Porto Vecdhio an, um die
Saracenen von diefen Riften abzuwehren. Sie gaben den
Coloniften viele Freiheiten, fie zur Niederlaffung zu bewegen.
Weil aber die Gegend durd) die vielen Sümpfe ungefund iit,
wurde Porto Vecchio dreimal verlaffen und verddete. Aud
heute ift der ganze Canton einer der am wenigften bevilferten
Corsica's; er wird hauptfadlid nur von Hirfden und Wild⸗
fdweinen bewohnt. Dod ift bas Land febr frudtbar, die
Umgegend Porto Vecdhio’s reid an Oliven und Wein; die
Stadt felbjt ijt auf Porphyrfelfen gebaut, welde zu Tage
jteben. Ich fand fie faft verddet, ba es Auguft war, und
die halbe Einwohnerſchaft fid in die Verge geflitdtet hatte.
Nördlich vom ſchönen Golfe zieht fid) vie Küſte in gleider
Linie aufwärts, und nod) hat man den Gebirgdzug nabe zur.
Linfen, bis er in der Gegend von Salenzara in das Innere
zurückweicht und die gropen Ebenen freilapt, welche der Oſt⸗
küſte Corsica's ein von der Weſtküſte ſo verſchiedenes Anſehn
geben. Der ganze Weſten der Inſel iſt eine fortgeſetzte Bildung
von parallelen Talern; die Gebirgszüge fteigen-bort ins Meer,
endigen in Caps und umragen die pradtigen Golfe. — Der
Often hat nidt diefe vortretende Talbilbung, das Land ver:
liert fid) bier in MNiederungen. Der Weften Corsica’s ijt
romantifd und gropartig, der Often fanft und melandolijd.
Das Auge fdweift bier über ftundenweite Chnen, Ortfdaften,
Menſchen, Leben fudend, und entdedt nichts als Haiden mit
wildem Geftréud und Sümpfe und Teiche, die fid) neben
dem Meer hingiehn und das Land mit Traurigkeit erfiillen.
"273
Die immer ebene Straße führt faft eine Tagereife weit
pon Porto. Vecchio bis zu dem alten Wleria. Das Gras widft
auf iby Fuß hod. Man firdtet fie Gommer3 zu befabren.
Auf der langen Fabrt begegnete id) teiner lebenden Seele.
Man trifft feine einjige Orifdaft an, nur bie und da fiebt
man weit in den Bergen ein Dorf. Nur am Meeredsufer
ftebn eingelne verlafjene Haufer an folden Stellen, welche
einen fleinen Port haben, eine Gala oder Landungspuntt,
wie Porto Favone, wobhin die alte Rdmerftrage führte, Fantea,
Cala di Tarco, Cala de Canelle, Cala de Coro, weldes
beifen foll Cala Moro, Maurenlandung. Auch bier fteben ©
eingelne genuefifde Wadttiirme.
Wile jene Haufer waren verlafjen, ihre Fenfter und Thüren
gefdlofien, denn die Luft tft bdfe auf der ganzen Küſte. Der
arme Luccheſe verridjtet bier die geringe Feldarbeit fiir den
Corsen, der fid) von den Bergen nidt herabwagt. Yd) babe
indeß von der bösartigen Luft nichts gelitten, aber zur Vor:
fidt folgte ic) meinem Reifegefabrten und fdnupfte Rampfer,
was ein gutes Vorſichtmittel fein foll.
Mit diirftigftem Reifevorrat verfebn überfiel uns jählings
der Hunger und verfolgte uns diefen und den halben folgenden
zag, denn nirgend trafen tir ein offnes Haus nod eine Wirt:
ſchaft. Der Fupwanderer mipte hier verfdmadten, oder er
würde gezwungen fein, fid) in die Berge hinaufzuflidten, und
ftundenlang umpuirren, bid ibn ein Pfad zu einer Hirten:
capanne führt. Es ift eine Strada morta.
Wir fubren ber den Taravoflug. Bon dort beginnt die
Reihe von Teichen mit bem langen ſchmalen Stagno di Palo.
Es folgen der Stagno di Graduggine, der Zeid) von Urbino,
ver Giglione, der Stagno del Sale und der ſchöne Teich der
Diana, welder feinen Ramen nocd von Römerzeiten her be:
halten hat. Mebrungen trennen dieſe fifdhwimmelnden Teiche
vom Meer, dod) haben die meiften eine Cinmiindung. Ihre
Gregorovius, Corsica. II. 18
974°
Fiſche ſind berühmt. C8 find große fette Wale und madtige
Ragnole, Man faingt fie in Binſenxeuſen.
Vom Taravo an erftredt fic) weit nad) Norden die hertz:
lidjte Chene, das Fiumorbo oder der Canton Prunelli. Bon
Flüſſen durdlaufen, von Teichen und yom Meer begren;t,
gleidht fie aus der Ferne gefehn einem endlofen, üppigen
. Garten am Geeftrande. Wher faum ijt ein Ackerland zu ent:
deden, das Farrentraut bededt unabſehbare Flächen. C3 ijt
unerflarlid), dap die frangifiihe Regierung dieje Gegenden
nicht bebaut. Hier würden Colonien fiderer gedeihen als in
vem Menfden und Geld verjdhlingenden Sande Africa’s. Hier
ift Raum fiir zwei volfrethe Stadte von mindeftens 50000
Cinwobnern. Colonien von fleipigen Aderbauern und Hand⸗
werfern würden die ganze Ebne in einen Garten verwandeln.
Candle würden die Sümpfe tilgen und die Luft gefund maden.
G3 gibt feinen herrlicheren Strid) Landed in Corsica und
feinen der ergiebigeren Boden hatte. Das Clima ift fonniger
alZ bas bes fitdliden Toscana, es wiirde aud) das Buderrobr
pflegen, und das Getreide miifte hunbdertfaltig tragen. Nur
durch foldhe Mittel, welde den Wetteifer in den Erzeugniſſen
mit den Bediirfnifjen fteigern, wiirbe man aud) jene Berg:
corgen zwingen, aus ibren ſchwarzen Dörfern in die Ebne
herabjufommen und den Wder gu bebauen. Die Natur bietet
bier alles in reicdfter Fille, was ein großes Ynduftrieleben
ſchaffen fann; die Berge find Schatzkammern edlen Geſteins,
pie Walder geben Pinien, Lärchenbäume, Eichen; es feblt
felbft nicht an verfdidbaren Geilquellen; die Chne gibt Felk-
frudt und Nahrung fiir den reichſten Viehſtand, und die un:
mittelbare Verbindung von Gebirg, Miederung und dem fijds
reidften Meer lapt nidjts zu wilnfden brig. :
Wie vie Küſte nun heute ift, paßt auf fie ſchlagend das
Bild, welches Homer von dem Strand der Cyflopeninfel ent
wirft :
275
Drin ja ftrecen ſich Auen am Strand des graulidhen Meeres,
Saftreich, ſchwellend von Gras, wo der frdbhlidjte Wein fid
erbiibe.
Drin ijt loderer Grund, wo wudernde Saaten beftindig
Reiften zur Grndte; denn fett ift unten das Erdreich.
Drin aud die ſicherſte Budt, wo nie man braudet der Feffel.
Als ich diefe ſchöne Ebne ſah mubte ic) den ridtigen Blick
der alten Romer preifen, welche ihre einzigen Pflangitadte in
Corsica gerade hier anlegten.
Bweites Kapitel.
Alerta, dDte Colonte Sulla’s.
Wenn man fic dem Fiumorbofluß nähert, fo fieht man
einzelne palaftabnlide Haufer; einige davon find Anfiedlungen
franzöſiſcher Capitalijten, welche banferott wurden, weil fie
unverftindig anfingen. Andere find reiche Güter, wahre Graf:
{daften an Ausdehnung, wie Migliacciaro im Canton Brunelli,
welches einer franzöſiſchen Companie gebirt und vormals ein
Gut der Familie Fiesco von Genua war.
Der Fiumorbo, der vom höchſten Gebirgsſtock Corsica’s
entfpringt, miindet oberhalb des Stagno di Graduggine. Seinen
Namen ,blinder Fluß“ hat er von feinem Lauf, denn einem
Blinden gleid) ſchwankt er lange in der Ebne umber, bis er
fic) zum Meer den Weg herausgefiihlt hat. Das Land swifden
ibm und dem Tavignano foll das frudtbarjte Corsica’s fein.
Als e3 Abend wurde wedjelte die Temperatur auffallend
ſchnell von der trodenften Hike zu nebelfeudter Ralte. Wn
mandhen Stellen war die Luft von Fäulniß durchzogen. Gin
Grabmal am Wege fiel mir auf. Bn diefer Einſamkeit fdien
276
e3 eine bemerfen3werte GCtelle zu verfiinden. Es war daé
Denfmal eines Wegeunternehmers, welden ein Landmann et:
ſchoß, weil er eine Liebjdaft mit einem Mädchen hatte, um
das fid) jener bewarb. C3 zieht doch den Menſchen nidts fo
febr an al die Geſchichte de3 Herzens. Cine einfade Liebes⸗
tragödie übt diefelbe Macht auf vie Phantafie ver Menge aus,
wie eine heroiſche That, und fie erbalt fid) oft Jahrhunderte
lang im Gedächtniß. Go bat aud) dad Herz feine Chronif.
Die Corsen find Teufel der Eiferſucht, fie rachen die Liebe
wie bad Blut. Mein Begleiter erzählte mir folgenden Fall.
Cin junger Menfd hat fein Madden verlaffen und fid) einem
anbern zugewandt. Gine3 Tages figt er in feinem Dorf auf
offnem Plag beim Dambrettfpiel. Da kommt feine verftopenc
Geliebte, überſchüttet ibn mit Fliden, zieht ein Piftol auz
rem Bufen und fdmettert ihm die Kugel an den Kopf. —
Gin anbdere3 verftopnes Mädchen hatte einft gu ihrem Ge:
liebten gefagt: , Wenn du eine andere nimmft, follft dw did
ihrer nicht erfreuen.” Zwei Jahre vergingen.. Der Yingling
führt ein Mädchen zum Altar. Wie er mit ihr aus der Kird-
thiire tritt, ftredt ihn die Verlafjene mit einem Schuß zu Boden;
dad Volt aber fdreit: „Es lebe dein Geficdht!” Die Jury
verurteilte das Madden yu drei Monaten Gefängnißſtrafe.
Siinglinge bewarben fid) um ihre Hand, aber die junge Wittwe
de3 Erſchoßnen begebrte nidt Ciner.
Die corsifden Weiber, welche jo blutrote Rachelieder fingen,
find aud im Stande, Pijtole und Fucile gu tragen und zu
fampfen. Wie oft fampften fie nidt in den Schlachten trog
der Manner! Man fagt, daß der Sieg der Corsen über die
Franzoſen bei Borgo mindeften3 zur Halfte der Heldentapfer:
feit der Weiber zu verdanfen war. Gie fampften- aud) mit
in der Schlacht bei Ponte nuovo, und in aller Munde lett
nod das kühne Weib des Giulio Francesco di Pastoreccia,
welde immer an der Seite ihres Mannes in jener Gdhladt
i
|
277
ftritt. Sie ward mit einem frangififden Officier handgemein,
überwand ihn und nabm ibn gefangen; als fie fab, daß die
Sorgen fid in Fludt aufliften, gab fie ihm die Freibeit,
inbem fie ju ihm fagte: ,,Grinnere did, dab ein cordifdes
Weib did) tiberwand und dir den Degen und die Freibeit
zurückgab.“
Hinter dem Fiumorbo beginnt das Flußgebiet des Tavig⸗
nano, welcher bei Aleria unter dem Teich der Diana ins
Meer fließt. Ich wollte dort die Vettura verlaſſen, weil ich
von einem Bürger Sartene's einen Gaſtbrief für Casa janda
hatte, eine reiche Beſitzung bei Aleria, welche der Capitän
Franceschetti, der Sohn des aus Murats letzten Tagen be⸗
kannten Generals befigt. Leider war er auf dem Feſtland
und id fam um das Vergniigen, diejen thaitigen Mann fennen
zu lernen und mid) von ihm über Manches belebren zu lafjen.
Mittlerweile war e3 duntel geworden, und wir waren Wleria,
- der Colonie Sulla’3, nahe gefommen. Wir erfannten die Haufer:
rethe und bie Burg auf dem Hiigel am Wege, und in der
Hoffnung eine Locanda in dem Staddtden yu finden, aber
deſſen nidt ganz fider, liepen wir den Wagen halten und
gingen nad dem Ort. ;
Die Scenerie rings umber dünkte mir wahrhaft fullanifd -
zu fein; eine grabesftille Nacht, eine von Fieberluft erfiillte
bode Slur yu unfern Füßen, ſchwarznächtige Berge hinter dem
Caſtell, und der Horizont gerdtet wie vom Glutidein brennender
Stadte, denn rings ftanden die Buſchwälder in Flammen;
der Ort todt und ohne Lidt. Endlich ſchlug ein Gund an,
und bald fam die ganje Bevilferung und entgegen, zwei
Doganiert namlid), welde die einjigen Bewohner WAleria’s
waren. Das Volf war aus Furdt vor ver Malaria. in die
Berge gezogen, jede Thüre gefdlofjen, aufer -der einen. des
Turms, in dem .die- Strandfoldaten lagen. Wir. baten fie -
um Gaftfreundfdaft fiir dieſe Nacht, weil die Pferde den
278
Dienft verfagten und nirgend ein Ort in der Rabe lag, der
un3 aufnehbmen fonnte. Wher diefe wadern Cornelier Gulla’s
jdlugen und unfre Bitte ab, weil fie ben Doganencapitan
fürchteten, und überdieß in einer Stunde auf die Bade
mupten. Wir befdworen fie nun bei der himmlifden Sung:
frau und nidt in die Fieberluft auszuftopen, fonbdern ein
Obdad im Turm zu geben. Sie blieben bei ihrer Weigerung,
und fo febrten wir ratl3 um, mein Begleiter argerlid und
id) wenig erfreut, dab id) auf der erften Römercolonie, die
mein Fup betrat, ausgewiefen wurde trog zweier großer Ca:
farn, welde meine befondere Freunde find. Indeß begannen
die Sullaner ein-menfdlid) Ruhren zu empfinden, fie famen
uns nadgelaufen und riefen: entrate pure! rob traten
wir in bas kleine viereckte Gebaͤude ohne Schanzen oder Ball
nod) Graben, und tappten un3 die fteinernen Gtufen in daz
Solbatenquartier binauf.
Die armen Strandfoldaten hingen bald ihre Gewebre aber
und wanderten mit ibrem Hunde an den Teich der Diana,
den Contrebandirern aufjulauern. Ihr Dienft ift gefabrlid;
fie wedfeln alle 15 Tage, weil fie fonft dem Fieber erliegen
wiirden. Ich legte mid) auf den Boden des Zimmers und
verſuchte zu fdlafen, aber die Schwüle war entfeplid. Ic
30g es vor, in ben Wagen zurüchzukehren und die bdfe Luft
einzuatmen, welche wenigftend kühlte. Ich verbradte eine
wahrhaft ſullaniſche Nacht in dieſem Aleria, vor der Kirche,
an welcher einſt Peter Cyrnäus Diaconus geweſen war, und
mit Betrachtungen über die Urſachen der Größe der Römer
und ihres Verfalles und jene vortrefflichen ſullaniſchen Luxus⸗
mäler, wo es Fiſchleberpaſteten und Fontänen köſtlicher Saucen
gab. Mich hungerte gar ſehr, da id) faſt nichts zu eſſen be
kommen hatte. Es war eine diaboliſche Nacht und mehr als
einmal ſeufzte id: Aleria, Aleria, chi non ammazza vitu-
peria, „Aleria, Aleria wer nicht mordet muß did) ſchmähn;“
279
denn dies iſt der Schandvers, welchen die Corsen auf das
Oertchen gemacht haben, und mir ſcheint, er paßt vortrefflich
auf eine Colonie des Sulla.
Der Morgen brach an. Ich ſprang aus dem Wagen und
betrachtete die Lage Aleria's. Sie iſt vortrefflich gewählt.
Ein Hügel beherrſcht die Ebne; von ihm hat man den herr⸗
lichſten Blick auf den Teich der Diana, den Teich del Sale,
das Meer, die Inſeln. Schöne Bergpyramiden ſchließen land⸗
wärts das Panorama. Der Morgen war köſtlich, Luft und
Licht in zartem Uebergangsſchimmer, der Blick fret und um:
fafjend, der Boden römiſch und mehr nod alt phöniziſch.
Das heutige Wleria befteht nur aus ein paar Häuſern,
welde fid an dad genuefifde Caftell anlehbnen. Daz alte
nabm mebrere Hiigel ein und 30g fic) weit hinab zu beiden
Seiten des Tavignano bi in die Ebne, wo am Zeid) der.
Diana nod GCifenringe verraten, daß hier der Hafen der Stadt
lag. Ich wanderte gu den Ruinen welde nabe liegen. Rings
find die Hügel iiberftreut mit Steinen und Dtauertriimmern,
aber id) fand fein eingige3 Ornament, weder Kapitäler nod
Frieſe, nichts als robes, furges Material. Man fieht bie
und da den Ueberreft von Gewilben, einige Stufen von
einem Circus und eine Ruine, welche da Bolf casa reale
nennt und die man fiir das PBratorianerhaus ausgeben will.
Dod weiß id nidt aus welchem Grunde, denn die Refte laffen
nichts mebr erfennen, nidt einmal vie Epoche. Rach. dem
Umfange yu ſchließen tar Wleria eine Stadt von etwa 20,000
Einwohnern. Man fand auf dem Felde Vajen und römiſche
Münzen; Ziegenbhirten fagten mir, daß vor drei Tagen Sez
mand eine golbne Munze gefunden habe. Gin riidfehrender
Strandfoldat aber fpannte meine Neugier aufs Hidfte, da er
mit fagte, daß er zwei Mtarmortafeln gefunden habe, welde
eine Inſchrift enthieltenr, die Niemand entziffern könne. Die
Marmortafeln feien in einem Haufe verfdlofien, aber er habe
280
eine Abſchrift genommen. Gr holte hierauf feine Brieftaſche;
e3 waren zwei lateiniſche Snfdriften, welche diefer vortreff:
lide Altertumsforfdher in einer wahrhaft phöniziſchen Weife
abgejdrieben hatte, fo daf id nur mit Mühe erfennen fonnte,
wie die eine eine Votividrift aus der Zeit des Auguftus, die
andere eine Grabinfdrift war.
Das war alles, was id) von dem alten Aleria fand.
Drittes Kapitel.
Theodor von Meubhoff.
Abenamar, Abenamar,
Moro de la Moreria ,
El dia que tu naciste
Grandes seiiales avia.
Mauriſche Romanze.
In Aleria war es, wo am 12. März 1736 Theodor von
Neuboff landete, der in Corsica die Reibe der Emporkömm⸗
linge eröffnen follte, welde der neueften Gefdidte Curopa’s
einen mittelalterlid) romantifden Bug geben.
Ich: ſah alfo an jenem Morgen bier diefen phantaftijden
Glidsritter, wie id) ihn abgebildet gefebn in einemt nod nidt
herausgegebenen genueſiſchen Manuſcript aus dem Jahr 1739:
Accinelli, hiſtoriſch⸗geografiſch⸗politiſche Denkwiirdigkeiten des
Königreichs Corsica. Diefes Manuſcript ift im Befig de3
Herrn Santelli zu Bajtia, welder mir gern Einſicht in dads
felbe verjtattete, mir aber nidt erlauben wollte, einige Briefe
daraus abjujdreiben, die id) indeß ſpäter dod) aufgefunden
habe. Mit weldem Sinn der Genuefe feine Schrift verfaßt
hat, fagt das Motto auf. derfelben, welches die Corsen jo '
benennt: Generatio: prava et exorbitans, Bestise et: uni-
versa pecora — fdledtes und freches Volk, Beſtien und
281
alles Viehzeug. Gr hat den Theodor in Wafferfarben nad
nem Leben gemalt, in maurifder Rleidung, dazu Perritde
und Hütchen, Sdleppfabel und Robritod. Gr ſteht gravitätiſch
am Deer, aus weldhem- man eine Ynfel herausragen fiebt.
Man fann ben Theodorus von Corsica aud) ſchön ab-
gebildet finden in einem deutſchen Biidlein vom Sabre 1736,
weldes in Franffurt gedrudt worben ijt unter dem Titel:
„Nachricht von bem Leben und Thaten des Baron Theodor
von Rewhofen, und der von ihm gefrandten Republic Genua,
herausgegeben von Giovanni di S. Fiorenzo.”
Die Vignette zeigt Theodor in fpanifder Tracht. Ym
Hintergrund fiebt man eine ummauerte Stadt, wabhrideinlid
Bajtia, und vor derjelben auf das Vergniiglidfte dargeftellt
vrei Mtenfden, von denen der eine am Galgen bangt, der
andre geſpießt ijt und der dritte im Begriffe ijt ſich vierteilen
au lafjen.
Das Erideinen Theodor in Corsica und feine romanhafte
Ernennung jum Könige der Corsen befdaftigte damals alle
Welt. Dies geht jdon aus jenem deutfden Bidlein hervor,
welde3 nod) in demfelben Yabr 1736 erfdien. Da es ju:
gleid) nas eingige. deutfde Bud) ift, welches id gu meinen
Studien iiber die Corsen benugt habe, fo will id Ciniges
daraus mitteilen.
Dies ift die Beſchreibung der Ynfel Corsica aus jener Zeit:
„Es ift Corsica eine der griften Inſuln bes mittellan:
diſchen Meeres, über der Inſul Garbinien gelegen. Gie ijt
etwa 25. teutide Meilen lang und 12. breit. Der Lufft nad
wird fie nidt eben alljugefund gebalten; dod ift das and
ziemlich frudtbar, ob es gleid mit vielen Bergen und ſtei⸗
nigten Gegenden untermifdet .ift. Die Cinwobner haben den
- Rubm, dab fie muthigsund in Waffen hurtig. find;.alleine -
man ſaget -ibnen gugleidh nad, dap fie ſehr bosbafft, rad:
gierig, graufam und räuberiſch find. — Naͤchſt dem haben
282
fie ben Ruff, daß fie grobe Corsicaner genennet werden, wel⸗
den Charatter id) ibnen atid) nicht ftreitig maden werbde.*
Die Nadridt von der Landung Theodors wurde nad dem
Büchlein durd Briefe aus Baftia unter dem 5. April alfe
mitgeteilt:
„In dem Hafen von Wleria ift jingfthin ein Englifd Saif,
welches dem Conſul felbiger Nation zu Tunis geboren fol,
und mit bemfelben eine, bem Wnjehen nad, febr vornehme
Perfon angelanget, die einige fir einen Königlichen Pringen,
andere fiir einen Englifden Lord, und nod andere fiir den
Prinzen Ragopy ausgeben. Go viel hat man Nachricht, daß
er fic) zur Römiſchen Religion befennet, und ben Namen Theodor
führet. Geine Rleidbung ift nad Art der Chriften, die in die
Türkey reiſen, und beftehet in einem langen Scharlachnen ge:
fiitterten Rode, Peruqve und Huth, nebſt Stod und Degen.
Gr bat ein Gefolge von 2 Officieren, einem Gecretario, einen
Prebdiger, einen Ober=Hof- Meifter, einen Hof-Meiſter, einen
Küchen⸗Meiſter, 3 Sclaven und 4 Laqvayen bei fic), aud) bier:
nadft 10 Canonen, tiber 7000 Slinten, 2000 paar Schuhe,
und eine grope Menge von allerhand Vorrath, darunter 7000
Side Mehl, ingleichen verſchiedene Kiften mit Gold: und
Silber-Species, darunter eine ftarde mit Bled befdlagen mit
filbernen Handbaben, voller gangen und balben Zedinen, avd
der Barbarey ans Land bringen laſſen, und wird der Saag
auf 2 Millionen Stud von Achten gerednet. Die Anführer der
Corſen haben denſelben mit großen Chren--Bezeugungen ems
pfangen, und ibm den Vitel Ihro Excellentz und eines Bices
Königs beigeleget;-wie er dann bereits 4 von den Corfen su
Oberften ernennet, und iedem Monatlidh 100 Stid von Achten
beftimmet, hiernächſt 20. Compagnien erridtet, iedem Ge:
meinen ein Feuer-Rohr, ein paar Schuhe und eine Sechine
reichen Iaffen, ein GCapitain aber bekommt voriego monatl.
11 Stid von Achten, und wenn die Compagnien in völligem
283
Stand feyn werden, 25. Seine Refideng hat er gu Campo
Loro in dem Biſchöfflichen Pallajt genommen, vor tweldyem
400 Dtann mit 2 Canonen Wade halten. C3 verlautet bier:
nächſt, daß er fid) nad Cafinda, ohnweit St. Pelegrino be-
geben wiirde, und ertwarte er nur nod einige grope Rrieg3:
Sdiffe, welde gegen ben 15. diefes anfommen follen, um
die Genuefen mit aller Madht zu Vande und zur See an:
zugreiffen; zu weldem Cute er nod viele Compagnien er-
tidjten wird. Man verfidert, daß er von einigen Catholifden
Potentaten in Europa abgejdhidet worden, die fein Unter:
nebmen auf alle Weije unterjtiigen wollen; daber man ju
Genua in die dufferfte Furdt gefepet tft, und die Gade der
Genuefer auf diefer Snful fo gut als fir verlobren anfiebet.
Ginige neuern Nadridten fügen hinzu, dab vorermeldeter
Fremder feinen Hof-Staat immer mebr auf das pradtiajte
einridjte und jedesmal von einer Garde in die Kirche begleitet
werde, aud) einen, Namens Hyacinth Paoli, zu feinem Schatz⸗
Meifter, und einen der Vornehmiten zu Wleria zum Ritter
ernennet babe.”
Nun war man eifrig bemiht, den Lebensumftinden Theo-
dors nadzuforfden. Mad) dem romantifden Spanien und nad
‘Paris wiefen hauptfadlid) feine Whenteuer und feine Verbin:
bungen. Dod hier ijt ja ein Brief aus unfrem Büchlein,
welchen ein weftphalifder Coelmann an feinen Freund in
Holland den Baron Theodor betreffend fdreibt.
* *
*
Sugendroman ans dem Leben Theodors von Corsica,
dargeftellt in einem Briefe.
„Mein Herr!
Sh made mir ein allzu groffes Vergnitgen Cud in allem,
jo von mir abbanget, ein Geniigen ju leijten, als dap id
Cud) dadsjenige, fo mir von dem Leben eines Menfden, der
—
284
— —
beginnet in der Welt ein Aufſehen zu machen, bewuſt ift,
nicht ſollte zu wiſſen thun.
Ihr habet, mein Herr, in den Zeitungen geleſen, daß
Theodor von Neuhoff, dem die Corſen die Krone angetragen,
in Weſtphalen in einem dem König in Preußen zugehoörigen
Diftrict geboren. Diefes ift wabr, und id fann ſolches um
fo viel leidjter mit bejeugen, weil er und id) mit einander
ftudizt, und einige Yabre in einer vertrauten Freundfdaft ge-
lebet haben. Wir haben faft diejenigen Exempel vergeffen,
fo uns das Alterthum von Perfonen mittelmapigen Standes,
bie den Thron beftiegen, angegeben; allein Kuli Cham in
Perfien, und Neuhoff in Corfica erneuern felbige wieder bey
und. Diefer legtere ift yu Altena, einem flein Städtchen im
- Weftphalifden, geboren, wobin fid) feine Dtutter bei einem
Edelmann aus ibrer Freundfdaft begeben, nachdem fie ihren
Mann. zu frithzeitig verloren, welder fie im Wittwenftand und
Sdhwangerfdaft mit bem Theodor binterlaffen.
Sein Vater war Hauptmann unter der Leib-Garde de3
Biſchoffs von Miinfter, und fein Groß-Vater, welder unter
den Waffen grau geworden, hatte ein Regiment unter dem
gropen Bernhard von Galen commandiret. Bey dem Tode
feines Vaters waren feine hausliden Geſchäffte ſehr verworren,
und obne feinen gutthatigen Vetter, welder fie aufgenommen,
würden fie in einem betriibten Suftande geweſen feyn. Als
er gehen Jahr alt war, bradte man ibn in dad Jeſuiter
Collegium zu Münſter, dem Studiren objuliegen, wo er in
kurzer Zeit gute Progreſſen madte. Ich fam ein Jahr darnad
in daffelbige Collegium, und wie die Güter ſeines Vaters an
vie meinigen grangeten, fo batten wir fdon in der erften
Kindheit eine Freundſchafft unter und erridtet, welche fid in
der’ Folge aufs génauefte befeftigte.. Er war von einer Leibed:
Geftalt, die fein Wter überſtiege, und feine lebbaffte und feurige
Augen zeugten ſchon von feinem Ptuth und Herghafftigfett.
— — —
— —
«
1
285
Gr war febr fleipig und unjere ehrer ftelleten ihn uns be:
ftindig gum Exempel vor. Das was bei andern Schülern
Mipgunft erregte, madte mir ein Vergnügen, und erwedte
in mir bas Berlangen, ibm in feinem Fleip nachzufolgen.
Wir blieben ſechs Jahr beifammen ju Minter, und da mein
Vater unfere genaue Vereinigung erfabren, nahm er fic vor,
um mid) nidt von ibm gu trennen, ibn zu meinem Reife:
Gejellen zu madden, und ibm die Mittel, dabey ehrlich aud:
sufommen, zu geben.
Man fchidte uns nad Cöln, um dafelbft unfer Studiren
und Grercitien fortgujegen. Es däuchte und unter einem neuen
Clima ju feyn, da wir von dem eingefdrandten Wefen der
Schul-Tyranney befreyet waren und anfingen die ſüſſe Frey:
heit gu fdmeden. Vielleicht hatte ich felbige gemißbrauchet,
wenn mein Eluger Gefibrte mid nidt von allen Arten eines
liederlidjen eben klüglich abgebalten hatte. Wir waren bey
einem ‘Brofeffor in der Roft, deffen Frau, obfdon etwas bey
Sabren, war von einem aufgewedten Gemiith, und ihre zwey
Töchter eben jo aufgewedt als ſchöne, verknüpfften diefe beyden
Eigenſchafften mit einer febr flugen Aufführung. Rad dem
Abendeffen beluftigten wir uns ordentlich einige Stunden mit
- Gpielen, oder wir gingen in einen Garten, den fie am Thore
ver Stadt batten, fpagieren.
Diefe anmuthige Gefellfdafft dauerte bey nahe zwey Jahre,
als fie durd die UAntunfft des jungen Grafen von M***, den
fein Vater in dafjelbe Haus, da wir logirten, that, geftiret
wurde. Gr hatte einen Hofmeifter, der ein Cölner von Ge:
burt war, und da er feit [angen Jahren dajelbft fetne betm-
liche Gänge hatte, fo verließ er gum Offtern fetnen Unter:
gebenen, felbigen nadgubangen. Als wir faben, dab ibm
zuweilen die Zeit lang wurde, waren wir zum Unglid die
erften, die. dem jungen Grafen den Vorfdlag thaten, in unſere
Gefellfchafft mit eingutreten, welden er mit Vergnügen annahm.
286
Theodor hatte allegeit feinen Platz zwiſchen denen zweyen
Schweſtern gebabt, und id den Meinigen zwiſchen der jing:
jten und ibrer Mutter. Man ward gendthiget eine andere
Ginridtung zu maden, und aus Hodadtung fitr der Würde
des Grafen, thm die Stelle einguraumen, welche der Baron
von Neuhoff bis dabin inne gebabt. Ich wurde offt gewahr,
daß mein Camerad gegen die älteſte Sdjwefter verliebte Augen
madte, und bap, wenn fid) ibre Augen einander traffen, die
Schöne aus Sittſamkeit fid) entferbte. Sie war eine artige
Brunette, ihre Augen waren fdwarg, und ihre Farbe von
einer ungemeinen Weiffe: Der Graf blieb nidt Lang obne
aͤuſſerſt verliebt in fie gu werden, und wie die Augen eines
Perliebten viel beffer alS anbderer fehen, fo wurde Theodor
balb gewabr, dab er ber Ptariana (fo hieß diejes angenehme
Madgen) zu gefallen fudjte, und geriethe dariiber in ein tiefed
Nachſinnen.
Was fehlet euch, wertheſter Freund? fragte ich ihn an
einem Abend beim Schlaffengehen, ich finde euch ſeit einigen
Tagen gang in euren Gedancken vertieffet, ihr habet das auf:
geweckte Weſen nicht mehr, welches eure Unterredung fo an-
genebm madte, ibe miiffet nothwendig von einem innerliden
Verdrup angegriffen feyn, Ad! mein liebjter Freund, ant:
wortete er mir, id bin unter einem ungliidliden Stern ge-
boren, ich babe niemal3 meinen Vater gefannt, es ift nie-
mand al3 ibr, der die Zufälle meine3 Leben3 erleidtert, welded
obne eud) nod) ungliidlider ſeyn würde.
Uber warum madet ihr aniego, verfegte id, diefe traurige
Betradhtungen? mein Vater wird fiir euer Glid forgen, und
ihr felbft fend vermigend basjenige gu erfegen, tad eud) dad
Glück entzogen. Belennet es, Theodor, e3 ift gang was anders
fo eud) beunrubiget, und wo ic) mid nicht irre, haben die
ſchöne Augen der Mariana fdon allguviel in eurem Hergen
gewirket.
— —
287
Ich fann es nidt läugnen, war feine Untwort, und id
bin wobl gefonnen, euch alle. meine Schwachheit zu befennen.
Ihr wiffet, mit wie. viel BVergniigen wir diefe zwey Jahre
mit diefen liebenswürdigen Mädgens gugebradt haben, Mein
Herg lendte fic) gleid) nad der Mariana, und indem ic.
mepnte weiter nichts als eine zartlidhe Hochachtung gegen fie
au baben, werbde ich itzt gewahr, daß fie mir dite allerbeftigite
Liebe eingegeben. Die Ankunfft des jungen Grafens giebet
mir folde ju erfennen, id) nehme mebr al3 3u viel wabr,
pie Aufwartung jo ev ihr madet, und das Vorredt feiner
Geburt, fiir der meinigen, läſſet mid fiirdten, dap er die:
felben Vorzüge aud in der Zuneigung der ſchönen Mariana
finden mige. Wn der Eifferſucht fo ich empfinde, erfenne id wie
befftig ich fie liebe,. ich vergeffe baritber Eſſen und Trinfen,
id) bringe die Nadt ohne Schlaff zu, und dieſes zuſamt dem
Liebes «Feuer, fo mid verzehret, muß mid gang und gar über
den Hauffen ſchmeiſſen.
Aber, mein lieber Theodor, ſagte ich ihm, wie könnet ihr
euch, da ihr ſonſten fo klug ſeyd, von einer Leidenſchafft ein-
nehmen laſſen, welche keine andere als gang betrübte Folge-
rungen vor euch haben kann. Mariana iſt nicht von einem
Stande, daß ihr ſie heyrathen könnet, und ſie hat zu viel
Tugend, ſich euch auf eine andere Art zu überlaſſen. Laſſet
uns unſere Wohnung verändern, bey Entfernung des Gegen⸗
ſtandes, ſo euch entzündet, werdet ihr nach und nach deſſen
Andencken verlieren. Alles was ihr ſaget, hat guten Grund,
verſetzte mir Theodor, aber ſeit wann habt ihr gehöret, daß
die Liebe raiſoniret, und wiſſet ihr nicht, daß in dieſem Fall,
wie in denen, ſo die Ehre betreffen, man niemand als ſein
Hertz yu rathe ziehet. Ich kann mid nicht von der Mariana ©
abziehen, ohne meiner ſelbſt zu vergeſſen, die Wunde iſt ſchon
ſo tief, daß ſie nicht mehr kann geheilet werden. Allein was
werden eure Freunde ſagen, fuhr ich fort, wenn ihr euch mit
288.
ibr in fo ftarde Verbindungen einlaffet, dab man feine Mittel
mebr haben wird, felbige gu hintertreiben. Euer Glide be-
tubet auf ibnen, fie werden nidt unterlaffen, ihre gutthatige
Hande von euch abguziehen, und eud) derjenigen Erbſchafft be-
rauben, die ibr einsmals von -ibnen zu gewarten abet.
Gie fdnnen thun, fagte er mir, alle3 was fie wollen, vor
mid), id) werde niemals aufbdren, die anbetenSwirdige Mariana
gu lieben.
Wir wiinfdten uns hierauf eine gute Nacht, id ſchlief
ein, allein Theodor bradte die Nadht nidt fo ruhig zu. Jo
fande ibn den Morgen fo verdndert und fo abgemattet, daf
id) unfer den Whend gehabtes Gefprade nidt wieder anfangen
modte. Wir fehrten gu unfern ftubiren und Grercitien, und
fanbden uns Abends nad Gewobhnbeit bey unfrer fleinen Ber:
fammlung ein. Man 30g ibn, wegen feiner verwirrten Ge:
banden, ein wenig auf, er ſchützte Kopf-Wehtage vor, und
bath, man möchte ibn mit Spielen verfdonen. Gr bemerdte
wabrend dem Spiel die Augen der Mariana und des Grajen,
er glaubte darinnen ein gewifjed Liebesverftindnip yu entdeden,
welches ihn vollends zur Verzweiflung bradte. “Wir begaben
uns binweg, und beym Gintritt in unfer Zimmer fagte et,
woblan, zweifelt ihr noc an der Liebe, fo Mariana und det
Graf gegen einander hegen? Sie haben fic) hundert verliebte
Augen zugeworffen, er hat ibr beim Hinweggeben etwas in3
Obr gefaget, mein Unglid ift alljugewip. Ich habe nicht alles
dieſes bemerdet, verſetzte ich ibm, die Cifferfudt hat euch viel:
‘leicht die Gace in einer gang andern Geftalt gezeiget al3 mir.
Zwei oder drei Tage verſtrichen unter dergleichen Reden.
Unſer Profeffor gab uns und anderen Perfonen, bey -Gelegen:
heit der Mariana Namens-Lag, ein Gaſtmahl in ſeinem Garten.
Der Graf hievon beridtet, hatte ibr des Morgens ein Bou:
quet nebft einer foftbaren Diamanten-Rofe verehrt. Es braudte
nimts mehr, den Theodor außer fid) felbft gu bringen, e
289
verfiel in ein ſchwermüthiges Stillfdweigen, er af faft nichts
wabrend der gangen Mablgeit; das Kopf-Weh mute ihm
wieder gu Hülffe fommen, man ftund von der Zafel auf,
und nad) einigen Gpagier-Gingen fieng man den Ball an.
Der Graf erdffnete felben mit der Mariana, welde wie es
nothwendig feyn mußte, Ball-Rinigin war. Theodor wollte
nidt tangen, ſondern fpagierte bie Janze Nacht im Garten
berum. Der Ball währte bis an den Morgen, da wir nad
Haus zurück febrten.
Sh gieng in mein Zimmer, mein Camerad mar unten
im Hof zurück geblieben, und da er den Grafen dafelbft fand,
ndthigte er ibn den Degen zu ziehen. Bch hörte das Klingeln
ver Degen, lief aufs Gefdwindefte herunter, allein id) fam
gu ſpät, er hatte dem Grafen fdon den tödtlichen Stich bey-
gebradt, und fid) durch die Hinter-Thür mit der Fludt ge⸗
rettet. Ihr tinnet urtheilen von dem Gdmergen und dem Bez
ftiirgen, fo diefe That in bem ganzen Haufe verurfadet. Man
bradte den armen Grafen auf fein Bette, wo er zwey Stuns
den hernach verfdied. Weder id) nod) feine Freunde fonnten
erfabren, too er bingefommen, und wir batten e3 aud nie:
mals erfabren, obne die Briefe, die er un3 vor einigen Ptonaten
aus der Inſul Corsica ſchrieb.“
* *
*
Was von dem Leben Theodors, ehe er nad Corsica fam,
verlautete, und das ift natürlich bet der Natur diefes Manned
unfidher und widerfpredend, zeigt ibn und al3 einen der ber-
vorragendften und gliidlidften aus der Reihe der WAbenteurer
des achtzehnten Jahrhunderts. Die Crfdeinung folder Men⸗
ſchen, wie Caglioſtro, Saint Germain, Law, Theodor, Casa⸗
nova, Königsmark iſt ein höchſt merkwürdiger Widerſpruch
zu ihren großen Zeitgenoſſen Waſhington, Franklin, Paoli,
Pitt, Friedrich dem Großen. Indem dieſe die Grundlagen
Gregorovius, Corsica. Il. 19
290
einer neuen Gtaaten: und Gefellfdhaft3orbnung legen, tindigen
jene wie flatternde Sturmvdgel die Bewegung der Geifter an.
Man erziblt, dab Theador Page bei der berithmten Her:
zogin von Orleans wurde und gum vollendeten Hofmann fid
auzbildete. Seine Proteus-Natur trieb ibn in die verfdie-
‘denften Bahnen. Yn Paris verfdhaffte ihm der Marquiz Cour:
cillon eine Officierftelle. Gr wurde ein leidenfdaftlider Spieler;
dann entfloh er, um fic vor feinen Glaubigern zu retten, ju
dem Baron von Girg nad Scweden, und nad der Reibe
tritt er in Verbinbung mit den rainkevollen und genialen Ni:
niftern jener Zeit, mit Ripperda, Wlberoni, endlid) mit Law,
welde mebr ober minder denfelben Charafter der Glücksritter
aud auf die Politik itbertrugen. Theodor wurde der Vertraute
Alberoni's und gewann in Spanien fo großen Einfluß, dab
er ſich ein betridtlides Vermögen zufammenraffte, bid Whe:
roni ftilrgte und er wieder auf den Gand geriet. Gr klam⸗
merte ſich nun an Ripperda, und beiratete ein Hoffräulein
der Kdnigin von Spanien. Glifabeth Farnefe, Meifterin aller
Ranke, hatte ein hohes Spiel gefpielt, um ihrem Gobne Don
Carlos ein Königreich in Btalien zu verfdaffen: all’ died ge:
jhah in abenteuerlider Weife. Die Welt war damals voll
von Emportdmmlingen, Pratendenten, Phantaften und Glüds⸗
jagern. Man fann ibrer eine ganze Reihe gufammenftellen und
dies auf politifhem Boden: Don Carlos, Carl Stuart, Rakotzy,
Stanislaus Lesczinsti, die Creatur des großen Wbenteurer3
Carl von Schweden, auper den fdon genannten Staatsmän⸗
nern die Emporfimmlinge Rußlands, Mencgifof, Münnich,
Biron; Mazeppa und Patkul gehoͤren aud) nod) in den An⸗
fang der grofen Reihe. Zugleich war e3 die Zeit ded ent:
fdhiedenen Weiberregiments in Curopa. Wir feben alfo, auf
weldem Boden unfer Theodor ftand.
Gein Weib war eine Spanierin, dod wie es fdeint aus
irlandifdem oder engliſchem Gefdledt, eine Verwandfe ded
291
Gerzog8 von Ormond. Gie fdeint nidt gerade ein Ausbund
vor Schönheit getwefen yu fein. Theodor verließ fie, und man
will wiffen, nidt obne ihre Suwelen mitgenommen yu baben.
Gr ging nad Paris, wo er ſich bei Law eingufdmeideln
wubte und mit Hilfe der Mifjiffippi-Actien fic) eine Menge
Geld erſchwindelte. Cine ,,Lettre de Cachet half ibm wieder
auf die Wanderfdaft, und fo trieb er ſich in allen Landern
der Welt .alled verfudend umber, in England, namentlid in
Holland, wo er allerlei Plane ſchmiedete, fpielte und Sdulden
madte. Wie er nad Genua fam, habe ich in der Gefdhidte
der Corsen erzählt; vielleicht machte ihm feine Schuldenlaft
eine Krone ſehr wünſchenswert. Und fo haben wir dad ergötz⸗
liche Schaufpiel, einen Mann pldglid als gefrinten Herrſcher
paftebn zu febn, welder vor kurzem ovielletcht aud feinen
Schneider unter feinen Gliubigern zählte. Solche Dinge find
in Zeiten miglid, in denen bie Grundlagen ber ftaatliden
Ordnung bis ind Tieffte erfdittert find; dann ſpürt man fo-
fort romantifde Lifte in ber Welt weben, und bas Unmög—
lichſte darf wirklich werden.
Wir wiſſen, daß Theodor nach Genua kam, mit verbannten
Corsen dort und in Livorno Verbindungen anknüpfte, den Ge-
panfen fapte Rinig der Corsen zu werden und nad Tunis
ging. Jn der Verberet wurde er gefangen, deshalb nabm er
ſpäter eine Rette in fein fdniglides Wappen auf. Sein Genie
befreite ihn nidt allein, fondern verbalf ihm aud ju ben
Mitteln, mit denen ausgeriiftet er pldglid) in Corsica landete.
Kaum dem Gefangnif entronnen, wurde er Konig.
Aus Corsica fdrich er den folgenden Brief an feinen
weftphalifcen Better, den Herrn von Droſt; diejen Brief fowol
alZ alle andern Documente, die ich mitteile, [a3 ich) im Mtanu-
feript de3 Genuefen Accinelli und fand id abgebdrudt als
autbentifde Witenftiide in dem dritten Bande Cambiaggi’s;
aud das kleine deutſche Bud gibt fie, und fo will id da
292
Schreiben nad feinem Tert und nicht nach einer Ueberſetzung
aus dem Italieniſchen wiedergeben, weil er möglicherweiſe die
deutſche Abfaſſung des Theodor ſein kann.
„Mein Herr, und Hochgeehrteſter Herr Vetter.
Die Hochachtung und Gütigkeit, welche Ew. Excellenz von
der zarteſten Jugend an vor mich getragen, machen mir die
Hoffnung, daß Sie noch beſtändig mich mit einem Antheil
ihres Andenckens und Wohlwollens beehren. Obwohl ich wegen
ber Unordnung und Derangements, die von einigen Miß—
günſtigen verurſachet worden, und vielleicht auch wegen meiner
natürlichen Begierde und Neigung, unbekannter Weiſe zu dem
Ende Reiſen zu thun, damit ich nehmlich dereinſt nach meiner
Abſicht dem Nächſten nützlich ſeyn möchte, fo viele Sabre unter:
laſſen, Ihnen von meinem Zuſtande Meldung zu thun; ſo
bitte id) dod) gu glauben, daß Sie jederzeit in meinem Ge-
dächtniß gegenwärtig gewefen, und id feine andere Wmbition
gebabt, alg in bem erwiinfdten Stand in mein Baterland
zurück zu febren, da id) vermigend wire, gegen meine Wohl:
thater und Freunde dandbar zu feyn, und die wider mich aud:
gebreitete ungeredte Calumnien zu gernidten. Endlich aber
fan id) al8 ein aufridtiger Freund und guter Anvertwandter
nidt ermangeln, Ihnen gu erdffnen, dab es mir nad vielen
Verfolgungen und Widerwartigketten gelungen, perfdnlid) in
diefes Königreich Corsica ju fommen, und das Unerbieten der
biefigen getreuen Ginwobner, da fie mid) gu ihrem Oberbaupt
und König erflaret und aufgenommen, ju acceptiren: fo dab,
weil id) nad) vielen feit zweyen Jahren ihrentwegen gethanen
groffen Aufwand, erlittener Gefangenfdhaft und Verfolgung,
nidt mehr im Stande gewefen, mebrere Reifen zu thun, um
fie einmabl von der tyrannifden Beherrſchung der Genuefer
su befreyen; Ich mid) endlid) nad ihren Verlangen in dieſes
Land begeben, und al3 König erfannt und proclamiret worden;
293
Und ic) hoffe unter Göttlichem Beyftand mid dabey ju er⸗
halten. Ich würde mid glidlid ſchätzen, mein werther Vetter,
wenn Sie mid) burd) Ueberfendung einiger aus meiner Freund:
ſchaft erfreuen, und triften wolten, damit id fie nad) Zu—⸗
friedenbeit employiren, und Ihnen an meinem Glück Theil
geben midte: Welches Glad ich durch vie auf meinen Reifen
erlangte Bortheile, durch göttliche Hilfe, sur Chre Gottes,
und zum groffen Mugen meines Nächſten nod berrlider gu
maden hoffe. Es wird Ihnen wohl nidt belannt feyn, dah
id) da Unglück gebabt, voriges Jahr auf dem Meer gefangen
und als ein Gclave nad Algier gefithret gu werden: Daraus
id mid aber bennod ju retten gewupt, gleidwobl dabei einen
groffen Verluſt erlitten 2. Ich muß indeffen auf eine andere
Bett verſchieben, Shnen yu melden, wad id durch dte Gnade
Gottes ermorben; Und vorietzo nur bitten, dap Sie auf mid
fo viel Redhnung als auf fic felbft maden, und verficert
ſeyn tinnen, daß id) die aufridtigen Kennzeichen der von
Sugend an mir in größtem Maah erwiefenen Freundfdaft in
mein Hertze eingezeidnet, und id mid auf We Weife be-
mühen will, Xhnen wiirdlide Merkmahle meiner aufridtigen
Grgebenbeit, womit id Shnen allftets zugethan feyn werde, gu
geben; indem id von gangem Herzen der Ihrige und ein
treuer Freund und Vetter bin.
Den 18. Mart. 1736.
Der Baron von Neuhoff,
erwehlter Rinig in Corsica, unter bem Ramen Theodor der Erſte.
P. S. Ich bitte, Sie wollen mir Beridt von Ihrem 3u-
ftand geben, und von meinetwegen alle die werthe Familie
und Freunde griffen; Und gleidwie meine Crhebung ihnen
zur Ehre gereidet; So hoffe id, fte werden insgeſamt gu
meinem Beften beytragen belffen, und zu mir fommen, um
mir mit Rath und That beyzuſtehen. Weil ich auch in vielen
294
Jahren feine Briefe von meinen Freunden aus dem Branden:
burgifden empfangen, fo erlauben Sie, dab id) Ihnen bey:
liegenden Brief mit dem Grfuden itberfende, um felbigen nad
Bungelfdhild yu befördern, und mir Nachricht zu ertheilen, ob
mein Obeim nod am Leben ift und was meine BVettern ju
Raufdenberg Gutes madden.
Viertes Kapitel.
Wheodorus der Erſte von Gottes Gnaden und durch die
hetlige Trinität erwählter König anf Corsica.
Kaum war Theodor in Corsica angelangt und in der
Welt rudbar geworden, als die von ihm „gekränkte“ Re
publit Genua ein Manifeft erließ, worin fie fich über ſeine
Perfon vernehmen lieB, und die Genuefer, fo fagt das deutfde
Büchlein, befdrieben in einem Edict den Theodor febr häßlich.
Sie befdrieben ibn freilid) febr häßlich, wie man bier
ſehen wird:
Wir Doge, Governatoren und Procuratoren
ver Republit Genua.
Auf die uns zugekommne Nadridt, dab in unfrem Konig:
reiche Corsica in dem Hafen Wleria das fleine Kauffahrteiſchiff
de3 engliſchen Capitin’ Did Kriegsvorräte und eine gewiffe
berüchtigte, orientalifd gefleinete Perfon ans Land gefept bat,
welder es unbegreiflider Weife gelungen, bei den HaAuptern
und beim Bolfe fic) beliebt zu machen; da diefer Frembe den:
jelben Waffen, Pulver und einige Geldmilngen wie andre
Dinge ausgeteilt hat, ferner mit dem Verſprechen auf eine
mebr als hinreichende Hülfe ihnen verſchiedene Rathfdlage gibt,
welche die Rube ſtören, die zum Wol der Untertanen unſres
295 ;
befagten Reiches wiederherguftellen wir uns angelegen fein
laffen, fo find wir mittelft glaubwiirdiger Beugniffe von der
wirklichen Eigenſchaft und dem Leben dieſes Menfden unter:
ridtet. Es ift un demnad befannt, dab er aus der weft:
phalifden Mart zu Haufe fei, daß er fid) fiir den Baron von
Neuhof ausgibt, dap er fic) berühmt der Alchimie, ver Cab⸗
bala und der Aftrologie, mit deren Hülfe er viele widtige
Gebheimniffe entoedt habe, dab er fic) ferner al eine irrende
und vagabondirende Perfon von wenig Glid bemerklich ge-
madt hat. ,
Yn Corsica wird er Theodor genannt. Ym Yabre 1729
fam er mit biefem Namen nad Bari3, wo et fein aus Briand
gebiirtiges und in Spanien genommenes Weib mit einem
Kinde verlaffen bat. |
Während er die Welt durdreifte hat er feinen Zunamen
und feinen Geburt3ort verleugnet. In London hat er fid fir
einen Deutfden, in Livorno fir einen Englander, in Genua
fiir einen Schweden ausgegeben, und fid bald Baron von
Raraer, bald von Smihmer, bald von Niſſen, bald von Smite
berg genannt, wie bas aus feinen Paffen und andern be:
waährten Schriftſtücken, aus verfdiedenen Staidten datirt und
aufbewabrt, unter vielem gu erfebn ift.
Indem er fo den Namen und feine Heimat gewedjelt hat,
gelang es ibm durd feine Betriigereien auf Koften anderer
gu leben, und ed ift befannt, bab er in Spanien um da3
Jahr 1727 die ihm gur Werbung eined deutſchen Regiments
vorgefdoffenen Gelder verfdwendet und fid) dann aus dem
Staube gemadht hat, dab er auch fonft an vielen Orten Eng⸗
lander, Frangofen, Deutfdhe und andere von andern Nationen
betrogen bat.
Wo er ſolche Vetriigereien veriibt hat, hat er ſich bemüht
verborgen gu bleiben. Als er aber weggewefen, ift er durd
bie von ibm veriibten Gaunereien ſehr rudbar geworden, tie
296
das zumal der von einem deutſchen Cavalier unter dem
20. Februar diefes Jahres 1736 agefdriebene Brief ausweift.
Daf er aber foldergeftalt gu leben gewohnt gewefen ift,
lehtt, daß er vor einigen Jahren von dem Bankier Jabad
in Livorno 515 Stiide gelieben bat mit dem BVerfpreden, fie
follten ibm in Goln erftattet werden. Nachdem diefer fid) be-
trogen fab, lieB ex ibn feftnebmen. Um wieder auf freien
Sup gu gelangen, bediente er fid) eines Schiffspatrons, den
ex bverleitete fiir ibn ju biirgen, und naddem feine Los⸗
laffung durd da3 von dem Notar Gumano in Livorno unter
bem 6. September 1735 aufgenommene Ynftrument befannt
geworben war und er fid) aud) die Feit feines Arreſtes über
franf befand, wurde er in dad Badfpital erwähnter Stadt auf:
genommen, um alS ein Bebdiirftiger curirt yu werden.
Bor ungefahr drei Monaten begab er fid) mit Empfehlung?-
briefen von Livorno nad) Tunis, wo er den Medicus maddte,
und mit den Häuptern des dafigen ungliubigen Landes mehre
gebeime Conferengen bielt. Daſelbſt bat er bernad Waffen
und Krieg8vorrat befommen, womit er ſich in Gejellfdaft des
Chriftophorus, Bruders des Boungiorno Arjtes in Tunis,
dreier Türken, worunter fid ein gewiffer Mobamet befindet,
ber auf den to2canifden Galeeren Gclave geweſen, zweier ihrem
paterliden Hauſe entlaufener Livornefer, Namens Johann
Attimann und Giovanni Bondelli, und eines Geiftliden von
Portugal, ver fid) auf Veranlaffung der Miſſionsväter von
Tunis und mit Grund von dort hatte entfernen mifjen, nad
Corsica begeben bat.
Unter fo bewandten Umftdnden und folden unbesweifelten
Zeugniffen, und ba diefer Menfd) fid) in die Lage gefept hat,
Cor3ica gu beberrfden, mithin unfere Untertanen von dem
ihrem natirlichen Fürſten ſchuldigen Geborfanw böswillig ab-
zuwenden, und da aud) zu befilrdten ſteht, daß eine Perjon
pon fo ſchändlichen Abfidten im Stande fei nod mehr Ber:
297
witrungen und Unruben unter unferem Bolle anzuzetteln: fo
haben wir befdloffen, alles fund und offenbar ju madden,
und zu erfliren, wie wir es mit gegenwärtigem Edict alfo
thun, dap diefer fogenannte Baron Theodor von Neuhof als
ein wirflider Urbeber neuer Empdrungen, Verführer de3 Volks,
Stbrer der allgemeinen Rube, des Hodverrats und des Ver⸗
brechens der beleidigten Majeſtät fduldig fet, demnad alle
durch unfere Gefege beftimmten Strafen verivirtt babe.
Wir verbieten demnad allen mit gedadter Perfon Um: |
gang oder Verfehr gu pflegen, und wir erfldren alle diejenigen,
fo ibm Hilfe und Beiftand leiften oder fo fonft um unfer
Volk nod mehr gu vertwirren und jum Mufrubr gu regen,
pie Partei diefes Menſchen halten werden, als fduldig der
beleidigten Majeftét und als Stirer der öffentlichen Rube und
al3 in eben diefelbe Strafe verfallen.
Gegeben in Unferem Rinigliden Palafte, am 9. Mai 1736.
Gezeidnet: Jofeph Maria.
Die gelrintte Republi Genua hatte mit diefem Manifeft
feinen Erfolg. Gelbft in ihrer eigenen Stadt Bajtia fdrieb
pas Bolt unter daffelbe Evviva Teodoro I. Re di Corsica,
und Theodor weit gefeblt, dab er fid) feiner Emporkömmlings⸗
fchaft fdamte, fagte mit männlichem Humor: weil mid die
Genuefen fiir einen Whenteurer. und Charlatan ausfdreien, fo
will id mein Theater eheſtens in Baftia auffdlagen.
Gr erlieB indeffen ein Manifeft als Antwort auf bas ge-
nuefifhe, und died ift ſehr ergötzlich.
Theodorus, Kinig auf Corsica. Dem Dogen und Senat ju
Genua feinen Grub und viel Geduld.
G3 ift mir nod) nidt eingefallen, wie ic) wol eine Unters
lafſungsſünde begangen babe, dab id) meinen Entſchluß nad
Corsica gu gehn, Hoddenenfelben nicht gu wiſſen that; um
4
vf
{
298
vie Wahrheit zu fagen, hielt id) ſolche Förmlichkeit fiir un-
nitig, weil id dachte, dad Gerücht würde Sie obnebin ſchon
davon benadridtiqt haben. Deshalb hielt ich es fiir aber:
flaffig, Ihnen dasjenige felber fund yu thun, was dero corsi⸗
fhe Minifter Shonen ſchon vorher mit pompbhaften Erzählungen
fund gegeben.
Weil es mir aber dennod fdeint, dab Sie ftd darüber
beflagten, dab id Ihnen mein Vorhaben verfdwiegen habe,
finde id mid gemüßigt Ihnen aus Bürgerpflicht, wie jeder
welder verzieht feinen Nachbarn es angeigt, angugeigen, dab
id meine Wohnung verindert habe. Ich muh deshalb be:
merken, dap id) aus Ueberdruß über mein langes und vieled
Herumreijen, welches id wie Sie wiffen gethan babe, endlid
gu dem Schluß gefommen bin, mir ein Plagden in Corsica
qu erwählen; da died nun in Ihrer Nachbarſchaft liegt, nehme
id mir die Freibeit Ihnen durd diefes Screiben meine Vifite
-abguftatten. Ihr Commiffarius yu Baftia wird, wenn er Sie
nidt wie feine Vorgdnger betriigt, Sie von meiner befonderm
Bemuhung, eine hinreidhende Truppengahl nad befagter Star
zu fdiden, um ibr diefe unfre neue Nachbarſchaft vollfommen
zu erfennen zu geben, verficern fdnnen.
Weil aber das Wegziehn zwiſchen Nadhbarn oft wegen Grany:
ſcheidung, Durchzug oder fonft Streit erregt, fo will ich des⸗
balb weiterer Complimente mid- enthalten, fondern mit Ihnen
gleidh von unfern Angelegenheiten reden, um fo mehr als
man mid) von verfdiedenen Orten her verſichert, dab Ihnen
unfre neue Nachbarſchaft fehr laftig fei, daß Sie diefelbe bitter
ſchmähen und fie aller Pflicht zuwider fogar gänzlich ablehnen.
Die von Yonen gegebene Grflarung, dab Ihr Nachbar etn
Stirer der allgemeinen Rube und des Friedens und ein Vollke⸗
verführer fei, ift die fonnenflarfte Lüge, welde man nidt
nut bie und ba fondern vor der ganjen Welt als Wahrheit
ausgibt, obwol Jedermann weiß, dap der Friede und die
299
Rube ſchon vor fieben Jahren aus Corsica verbannt gewefer
find, und daß Gie erft durch Ihre Regierung diefelbe geſtört
und dann durch Graufamfeit verbannt haben. Diefe Staats:
mazimen baben- unter nem Scheine den Frieden zu befördern
pie armen Corgen in ein Blutbad geftiirgt.
Dies war Yor Verbalten und fo haben Sie aus Corsica
den Frieden und die Rube verjagt, nachdem fie durd den
RKaifer mit fo groper Mühe war wieder bhergeftellt worden.
Ihr frevelvoller und hartnddiger Pinellt verleitete das Vol,
und in foldem Zuſtande babe id es gefunden, naddem id
nur wenige Tage bier zu wohnen gefommen bin. Warum
aber wird die Schuld von dem, wad Sie felbft verbroden
haben, auf mid) gewaljt? In welchem Gefege hat man ges
Tefen, dap ein fo einfaltiger Nadbar als id) bin, des Hod:
verrat3 fdulvig fein fonne? Verräterei fept eine durch gröb⸗
lidjten Frevel gebrodne Freundfdhaft voraus, welder unter
dem Scheine von Freundfdaft begangen wird. Gefegt nun,
Gie waren von mir groblidft beleidigt, wad fiir eine Freund:
jdaft bat wol unter und beiden beftanden? und wann bin
id Ihr Freund gewefen? der Himmel verbitte 03, dab id
mit je einfallen ließe einer Nation Freund ju fein, die fo
wenig Freunde bat! |
Aber man will mit aller Gewalt beweifen, dab id dad
Verbrechen der beleidigten Majeftat begangen habe. Schon
der Gedanke an eine fo gräßliche Beſchuldigung erſchreckt mid.
Allein naddem id ernftlid nadgeforjdht habe, wo dero Ma⸗
jeftat fic) herſchreibe, fo babe ic) mic) dadurch wieder be-
rubigt, daß id trop meines ernftliden Nachforſchens, fie nir⸗
gends angetroffen babe, Gagen Sie mir dod, baben Gie
folde Majeftat von Ihrem Dogen überkommen, oder auf dem
Meere erbeutet, da Sie Yhre Stadt den Mabomedanern ju
einem Schutzorte überlaſſen und aus Gewinnfudt fo viel
Türken herbeigezogen haben, dab fie villig zugereicht Hatten,
300
bie gange Chriftenbeit zu ũberwältigen? Bielleidht haben Sie
diefe Mtajeftat auf Ihren Schultern aus Spanien gebradt,
oder fie muß irgend wie in Yhr Land aus England yu Schiff
angefommen fein, welde3 durch einen englifden Kaufmann
an einen Ihrer Landsleute, ber gerade gum Dogen erwablt
war, abgefandt worden war und einen Brief mitgebradt hatte,
defjen Adreſſe alfo lautete: An den Herrn, Herrn N. N. Dogen
von Genua und Kaufmann von allerhand BWaaren.
Sagen Sie mir dod im Ramen Gottes, wober Sie die
Wiirde einer Monardhie und den Firftentitel gewonnen haben,
ba Ihre Republif vordem nichts andere gemefen ift als
eine Zunft gewinnfiidtiger Piraten! Haben denn feit vielen
hundert Yabren andere Perfonen in Yhren Ratsverfammlungen
gefefien, als folde, die bürgerliche Aemter verwalten? und
find es diefe, von denen Sie Yhre Mtajeftat erhalten haben?
Sit nicht der Mame eines Hergogs, den Sie Ihrem Dogen
geben, ein ungebürlicher Titel? Ich bin verſichert, daß die
Gefege und Grundartifel Yhrer Republik fo eingeridtet find,
daß Niemand ein Filrft fein fann, al3 dad Gefeg felbft un
daß Sie als bie Handbaber und Apminiftratoren deffelben fid
den Namen eines Souveräns ungebürlich julegen und dad
Volt mit eben fo wenig Grund Untertanen heißen, ba es ja
mit Ybnen regieren muh, wie e3 aud in der That der Fall
if, Ob Sie nun gleid in Ihrem Lande, worauf Sie fein
Recht haben, fiir jest nod in friedlichem Befige bleiben, fo
fann id) vod nidt einfebn, dap es Jhnen mit Corsica eben
fo wol geben milffe, wo das Boll, weil es offre Augen pat,
auf feinen geredhten Yorderungen befteht und gezwungen iſt
fid) das Joch vom Halfe gu ſchaffen. Ich fir mein Teil bin
feft entidloffen, mid gu einer Partei gu halten wie mir es
vie Vernunft und die Liebe zur Geredtigteit eingeben werden.
Und weil Sie mic durch die gange Welt als einen Betrüger
aller und jeder Nationen ausgefdrieen haben, fo habe id
301
mic jegt vorgenommen einer Nation und dad ift den unter:
driidten Corsen durch die That das Gegenteil gu beweifen. So
oft id nun, indem id) Ihnen aus diefer Luge heraushelfe,
Sie betritgen tann, fo werde ich es mebr al8 gerne thun
und werde es Shnen itberlaffen, wo Sie können ein Gleicdes
an mir qu thun.
Indeſſen glauben Gie ficer, bap meine Glaiubiger das
Ihrige wol erhalten werden, weil Yhre GHabfeligteiten, welde
mit bie Corsen auf rechtmäßige Weiſe gum Präſent gemadt
baben, zur Bezablung meiner Schulden mebr als hinreichen.
Dod follte e3 mir leid fein, wenn id Ihrer Republit die
Harte, die fie in dieſem Königreich verübt hat, nicht genug:
fam ſollte vergelten finnen, weil alle Bezahlung dagegen nidt
groß genug gu fein fdeint.
Ich will nidt vergefjen, ihnen biermit aud gu vermelden,
bap die Meinigen glidlide Fortidritte maden, alldieweil Sie
wol werben gebirt haben, daß id fo viel Truppen im Solde
babe als qu zeigen nötig ift, ic) fei nidt nur fabig aus dem
Beutel anderer gu leben fondern aud gefdidt genug, 10,000
Mann auf meine eignen Roften yu unterbalten. Ob diefe
ibren vollftindigen Sold und Proviant erhalten, mögen jene
beldenmiltigen Goldaten begeugen, welche fic in den Mauern
von Baftia eingefdhlofjen halten, weil fie nidt die Courage
haben, im offnen Felde fid) gu ftellen, damit man fie in der
Rahe befdauen könne.
Ich verſichere übrigens, bab fo ſehr Sie aud) meinen
guten Ruf vor der Welt gu verunglimpfen fid Mühe geben,
id nicht firdte, es midte died bei diefen Menſchen den von
ihnen eingebildeten Gindrud machen, und die Ducaten, welde
fie erbalten, midten nidt von größerer Wirkung fein, als
alle Lafterungen, die Sie gegen meine Perfon fort und fort
erfinden. Nod mup id Sie um eine Gefalligheit erjuden,
nämlich wenigſtens dafilr ju forgen, daß fid) in den gwifden
802
meinen und Ihren Truppen etwa vorfallenden Gefedten ded
Jemand von Vhren Landsleuten möge bliden laffen, welder
bas Commando über fie fithre, weil der wahre Heldenmut,
den redtfdaffene Manner für ihr Baterland hegen milffen,
bei dergleiden Mannern unftreitig angutreffen ift. Aber id
glaube wol, daß id die Erfüllung meiner Bitte nicht erreiden
werbde, weil Sie fammtlidh mit Ihren Wedfelbriefen, Wucher⸗
und Handelsgeſchäften fo viel gu ſchaffen haben, fo daß der
Geift der Tapferkeit bei Ihnen feinen Plag finden fann. Ded:
balb vermeine id auch gang und gar nidt, dab Sie mit
Shren Truppen jemal3 Chre einlegen werden, weil diejenigen
welde fie anführen follten, weder Zeit noch Tapferkeit genug
befigen,, fie nad) dem Beifpiel anderer großmütiger Nationen
ind Feld gu führen.
Gegeben im Lager vor Baftia, am 10. Juli 1736.
Theodorus. Sebaftiano Cofta, Staatsfecretar
und Groffangler des Königreichs.
Diefes höhnende Schreiben mufte die Republif Genna
allerding3 auf bas Zieffte tranfen. Wber fo ift der Lauf der
Dinge, die ſtolze Beherrſcherin der Meere war gefunten, ein
fleine3 Volk vor ihren Toren fdhredte fie mit Waffengewalt,
ein fremder Glücksritter lief ftraflos feinen Gpott an ihr aus.
Die Wahl war am 15. April 1736 in AleZani vollgogen
und Theodor auf Lebenseit zum Könige ernannt worden;
pie Krone follten feine mannliden Nadhfommen erben, nad
dem Redht der Geburt und des Alters, in Ermanglung ihrer
follten aud die Töchter erbfahig fein. Hatte er felbjt keine
Leibeserben, fo follten feine Anverwandte auf den Tron ge:
langen. Uber die Cor8en gaben ihrem König nur den Titel,
fie bewahrten ihre Verfaffung.
3H habe nidt gehört, daß der neue Herrſcher daran
e, dem Lande eine Königin yu geben, die Seit eilte viel:
303
leicht gu febr. Gr ridtete fic) in dem biſchöflichen Hanfe ju
Gervione nad den Umftinden ein, umgab fid mit Baden
und mit fürſtlichen Gormen, und fpielte fo gut den König,
al8 ob er im Burpur ware geboren worden. Wir wiffen ſchon,
daß er einen pridtig tlingenden Hofftaat einfabrte und Grafen,
Mardhefi und Barone ſchuf. Die Menfden und ibre Leiden:
ſchaften find fid) fiberall gleid. Man fann fid al8 Konig
empfinden in den ditftern Stuben eines Dorf3, wie in den
Prunkſälen des Louvre, und ein Herzog von Chofolade oder
Marmelade am Hof eines ſchwarzen Königs wird feinen Titel
mit faum minderem Stolz tragen, al3 ein Herzog von Alba.
Man fah in Cervione aud) Menfden ſich herzudrangen, welche
an den Stralen der neuen Sonne fid) erwarmen wollten und
Titel und Gunft begebrten; in dem ſchmutzigen Bergdorf, in
einem verivitterten. Haufe, welches cin fdniglider Palaſt war,
weil e3 nun fo hieß, fpielten Ehrgeiz und Selbftfudt fo gut
ibre Rolle, wie an jedem andern Hof der Welt.
Giner dev Akte königlicher Machtvollkommenheit Theodors
war auch die Stiftung eines Ordens, denn ein König muß
Orden verteilen. Wie ich ſchon erzählt habe, hieß er „von
der Befreiung.“ Die Ritter ſahen ſehr ſchön aus. Sie trugen
ein azurblaues Kleid und ein Kreuz; mitten in dieſem ſtand
ein Stern, darin die Figur der Gerechtigkeit eine Wage in
der Hand. Unter ihr ſah man einen Triangel, in deſſen
Mitte ein T.; in der andern Hand hielt die Gerechtigkeit ein
Schwert, unter welchem man eine Kugel mit darauf befind⸗
lichem Kreuze ſah. In den Ecken des Ordenszeichens waren
die Wappen der koniglichen Familie angebracht. Jeder Ritter
mufte bem König Gehorfam gu Waffer und zu Lande ſchwören;
taglid) zwei Pfalmen fingen, den vierzigiten: Herr unfre Bu-
fludt, und den fiebsigften: auf did), o Herr, hab’ id gebofft.
Die febr felten gewordnen Münzen Theodor in Golbd,
Gilber und Rupfer zeigen auf ver cinen Seite fein Bruftbild
mit der Umfdrift: Theodorus D. G. unanimi consensu
electus Rex et Princeps regni Corsici; auf ber anbern:
Prudentia et industria vincitur Tyrannis. uf einigen
Miingen fieht man eine von drei Palmen getragene Krone
mit den Budftaben T. R., auf der Rückſeite vie Worte pro
bono publico Corso.
Aud vem Scharfridter gab Theodor das ndtige Hofamt
und manden Pann lieb er hinridten, weil er ihm gefaͤhrlich
fdien. Beſonders verdarb er e8 mit feinen Untertanen, nad:
bem er einen angefebenen Corsen Luccioni de Cafacciolo hatte
enthaupten Iaffen; auch warf man ibm vor, dap er auf dte
Lugend corsifder Madden einige Verfude gemadht Habe, deren
Beredhtigung nidjt in der Wablcapitulation ftand. Aber etn
paar Jahre hindurch hingen ibm die Corgen mit groper Treue
an. Diefe3 arme Volk hatte in feiner Verjweiflung nad einem
Konig verlangt wie einft die Juden einen foldhen begebrt batten,
bamit er fie von den PBbiliftern erldje. Als Theodor gum
erften Dtal hinweggegangen war, erliefen fie diefen Aufruf:
Wir
Don Louis Mardhefe Giafferi und
Don Giacinto Mardhefe Paoli,
erfte Dtinifter und Generale Seiner Majeftat de3 Königs Theodor
. unſeres Souveräns.
Raum haben wir die Briefe des Königs Theodor J., unfſres
Herrn, erhalten, fo haben wir um ſeinen Befehlen yu gehor⸗
famen alle Valter der Provingen, Städte, Fleden und Caftelle
bes Königreichs in die Stadt gu Corte berufen, um eme
Generalverfammlung abjubalten betreffs der Anordnungen und
Befeble unferes vorgenannten Gouverdn3, Die Verſammlung
war allgemein wie von dem einen Zeil der Berge fo von
vem andern. We haben mit Befriedigung und Unterwiirfigtert
vie Befeble Seiner Ptajeftat aufgenommen, gegen welde fie
305
einmiitig den Gid ber Treue und des Gehorſams als gegen
ibren legitimen und oberften Herrn erneuert haben. Sie haben
gleicher Weife defjelben Erwählung zum Könige von Corsica
für ibn und feine Descendenten beftatigt, wie das ſchon in
ber Convention von Wlefani unverbridlid ift ftipulirt worden.
Bu dem Ende than wir fund allen denen fo e3 angebt
und endlid) der ganjen Welt, dap wir beftandig eine un-
verleplidde Treue gegen die königliche Berfon Theodor ded
Grften bewahren werden, und dab wir entfdloffen find ald
feine Untertanen fiir ihn gu leben und zu fterben, und niemal3
einen andern Herrn denn ibn und feine legitimen Descendenten
su erfennen. Wufs neu ſchwören wir aufs heilige Coangelium,
in allen Stücken den Gid der Treue gu halten, im Namen
des bier verjammelten Voltes.
Und auf dab gegenwartiger Act alle Kraft und erforder:
lide Autenticität habe, haben wir ihn in die Kanzelei des
Königreichs regiftricen laffen und haben ibn untergeichnet mit
unferer eignen Hand und belrdftigt mit dem Ynfiegel ded
Königreichs.
Gegeben in Corte, am 27. December 1787.
Aehnliche Erklaͤrungen wurden aud im Jahre 1739 wieder⸗
holt, als Theodor unter großem Jubel des Volkes wiederum
in Corsica landete. Bei dieſer zweiten Landung ware er bald
lebendig verbrannt worden. Gin deutſcher Capitin Wigmans⸗
haufen, welder fein Schiff befebligte, war von den Genuefen
beftodjen worden, daffelbe in die Luft gu fprengen. In der
Nacht wadte Theodor mehremale auf, e3 war ihm al wiirde
er Iebenbdig verbrannt. Da fiel e3 ihm ein mit feinen Dienern
in die Cajiite des Capitins yu geben, twelden er gerade be:
{Haftigt fand, Zuriiftungen ju treffen, um das Pulvermagajzin
des Schiffs anzuzünden. Gr. verurteilte ibn auf der Stelle
gum Feuertod, dann verwandelte er das Urteil dahin, dap
Gregorovius, Corsica. Il. 20
306
ber Capitan am Maſt ſeines Schiffes gebangt werden folle,
was augenblids gefdab. Go hatte Theodor in feiner kurzen
Herrſcherlaufbahn aud ein Wttentat erfabren miifjen.
Seine weiteren Schickſale in Corsica fennen wir. Nachdem
er vergebens feine Krone wieder gu gewinnen gefudt hatte,
ging er nad Gngland zurück. Ginen wunbderbaren Lebens⸗
traum ließ er binter fic), in weldem er fic) auf einem wilden
Giland eine Krone auf dem Haupt, und ein Scepter in ber
Hand gefeben hatte, Marquis, Grafen, Barone, Cavaliere,
Rangler und Groffiegelbewabrer um ibn ber. un faf et
alg ein Bettler im Londner Schuldturm, wobin ibn feine
Gliubiger geworfen batten, und gedadte an den Königs⸗
roman feines wechſelvollen Wanderlebens und Hagte mit nidt
weniger Gefühl und Pein, dab er nun als Martirer in der
Gefangenfdaft englifder Raufleute ſchmachten müſſe, als Ra:
poleon fpdter im englifden Kerker gu St. Helena Hagte. Aud
Theodor war eine gefallne Gripe und eine tragifce Perfon.
Der Minifter Walpole fammelte milde Beitrage gu Gunjten
des armen Corsenkönigs und befreite ibn aus feinem Serter.
Bum Dant fdentte ibm Theodor das Groffiegel feines Reichs.
Aud er ftarb wie Paoli und wie Napoleon auf dem Boden
Englands, im Jahre 1756. Auf dem Kirchhof ju Weftminfter
liegt er begraben. Gr war ein Dtann wunderlid verwegen,
phantaftifd genial, unerfddpflid in Planen, ausdauernder
als fein feltnes Glid, und von allen tapfern Whenteurern der
preiswürdigſte, weil er für die Freibeit eines kühnen Bolls
Kopf und Arm verwandte. Die grellften Gegenfage des Lebens,
Konigsherrſchaft und Sduloturm, in weldem ihm das Brod
feblte, hatte er an fic erfabren. Wir Deutſche wollen ibm
einen Plag unter den BVraven unfres Volls gern bewabren,
und dieſes Eleine Erinnerungsmal fegte ich meinem tapfern
Landsmann, fein Andenken wieder gu erneuern.
307
Fünftes Kapitel.
Mariana und Rückkehr nach Baſtia.
Era gia Vora che volge il disio
Ai naviganti e intenerisce 1 cuore,
Lo di ch’ han detto a’ dolei amici addio.
Dante.
Der Ort Cervione liegt nördlich von Wleria auf dem Hang
der Berge; und bier ftraft mid der Wunſch, auch dort ge:
weſen gu fein; denn enthalt jene3 Caftell gleid) nichts Sehens⸗
wilrdiges, fo war es dod) bie Refidenz Theodors. G3 über⸗
fallt den Wanderer wol bisweilen die Wandermilde, dap er
fdlafenden Wugs an mandem Gegenftand der Betradhtung
voritbergebt. Ich ſah Cervione auf der Höhe, und gab den
Ort auf um der Trimmer von Mariana willen.
Weiter ndrdlid von Cervione mündet der Goloflup, die
größeſte Wafjerader der Ynfel, welche fo viele Taler trantt.
Die Sommerglut hatte ihn faft troden gelegt. Rings umber
bat der Strom die weite Ebne von Mariana angefdwemmt,
oder von Marana wie die Corsen jetzt fagen. Und bier ftand
auf dem linfen Ufer ded Fluſſes die gweite Römercolonie.
Marius hatte fie gegriindet. Es ift ein merfwiirdiger Zufall,
bab in dieſes blutige Land der Corsen gerade die beiden Blut:
racer und Todfeinde Sulla und Marius Colonieen ausfibran
mußten. Ihre Namen, welde die ſchrecklichſten Gräuel des
Bürgerkrieges ausfpreden, mehren hier die Schwüle corsifder
Atmoſphäre.
Ich ſuchte die Trümmer Mariana's auf. Sie liegen eine
Stunde weit von der Straße ab nach dem Meeresſtrand zu.
Wie bet Aleria fand id auch Hier weite Flächen mit Mauer⸗
fteinen bededt, welde den Boden ganz bededen. C8 wandert
ſich troſtlos auf foldem Felde, gedenft man, dab diefe Steine
einft eine VolfBftadt waren und dab in ibnen das Leben von
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Sabrhunderten wobnte. Man midte Ampbhions Citer nebmen,
bie Triimmer nod einmal zuſammenharmoniren und einen
Bli€ in Volf und Stadt hineinthun. Denn welder Wrt waren
fie? und welder Epoche gebirten fie an? Die Tritmmer
Mariana’s find nod unbedeutender als die von Aleria. Sie
laffen die Zeit gar nicht mehr erfennen. Der Corse hat es
gern, wenn man in jenen Steinen die Refte römiſcher Bauten
finden will, und fic felbft betrigend mag der Wandrer fid
auf einem jener Trümmerhaufen niederlaffen und an jenen
Marius denten, wie er auf den Ruinen Carthago’s fap und
ben Fall der gropen Stadt beflagte.
Bwet jerftirte Kirchen ziehen allein die Betradtung an.
Es ſind die bervorragendften Ruinen Corsica’s aus dem Mittel-
alter, Die eine war eine ſchöne Capelle, deren langlides
Schiff ſich wol erhalten bat. Sie bat eine Tribiine, welche
von aufen feds balbrunde Säulen korinthiſcher Ordnung jieren.
Sculpturen von fehr einfader Arbeit find über bem Gefunfe
des Geiteneingangs angebradt. Cine Dtillie weiter liegen die
Refte einer größeren Kirche, von welder ebenfalls das Schiff
aufredt fteben blieb. Sie heißt die Canonica. Sie iſt eine
Bafilita von drei Sdhiffen mit Pilafterreihen dorifder Ord:
nung und einer Tribiine mit gothifdem Capellenbau gu beiden
Seiten. Nach außen hat die Nifdhe ebenfalls Pfeiler doriſcher
Ordnung. Die Lange des Schiffes betrigt 110 Fup, feme
Breite finfzig. Die Vorderjeite ift halb zerſtört und zeigt den
piſaniſchen Stil, Am Portalbogen fieht man Greife, Hunde
vie einen Hirfd jagen, ein Lamm von fo rober Arbeit, dak
fie bem achten Jahrhundert angebdren könnte. Dtan hat diefe
Canonica fir einen römiſchen Tempel ausgegeben, den die
Garacenen zu einer Dtofdee, die Chriften wieder gu einer
Kirche umgewandelt, naddem Hugo Colonna Mariana den
Mauren abgewonnen hatte. Man erfennt wol, dap der Bau
einmal bereits erneuert worden ift, aber nichts ſpricht dafür,
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daß er römiſch war. Ym Gegenteil erfdheint er durchaus als
eine Bafilifa der Pifaner. Seine Formen find edel und ein-
fad), von der beften Symmetric, und died wie die Gediegenheit
des corsifden Marmors, mit welder die Rirche bekleidet ijt,
gibt ihr das Anſehn antifer WArditectur.
Als id in bas Ynnere trat, überraſchte mid die andidtige
Gemeinde, welde darin auf den Knieen lag. Es waren hod:
aufgeſchoſſene Wildlinge, die dort quer durch die Sdhiffe in
Reihen hinter. einander gritnten. Gin birtiger Biegenbod ftand
gerade vor der Tribiine und ſchien eher moraliſche als - ge:
frapige Gedanten yu hegen. Die Hirten weideten ibre Ziegen:
berde neben der Canonica. Ich fragte fie vergebens nad
Münzen, vod) hat man bier wie an andern Orten Gordica’s
eine große Zabl von Kaiſermünzen gefunden, mit denen die
balbe Welt gefegnet ift. Won diefer ehemaligen Colonie des
Marius, welde frither als Aleria ausgeführt wurde, führte
bie eingige Römerſtraße in Corsica über Wleria nad Prajidium,
nad) Portus Favoni und nad Palae an bie Mteerenge des
beutigen Bonifazio. G3 war alfo die Snfel in jenen Zeiten
nod) unwegſamer als fie gegenwirtig ift; in dad bergige
Innere drangen die Rimer nimmer ein. :
Hier zeigt fid) nun Baftia wieder in der Ferne und der
Ring ber Wanderung will fic ſchließen. Bur Linken erheben
ſich die blutgetrantten Höhen von Borgo, wo die Corsen ihren
frangdfifdhen Unterdritdern den legten Sieg abgewannen. Weiter
hin ſchimmert der ftille Zeid) Biguglia und oberbalb jtebt
Biguglia felbjt, einft der Sig der genuefifden Governatoren.
Das alte Schloß liegt am Boden.
Der legte Ort vor Baftia iſt Furiani. Gein graues Schloß
ſteht in Ruinen und das ſchwarze Gemäuer bedeckt mit dem
üppigſten Grün die Epheuranke und die weiße Waldrebe.
Noch einmal ſchweift das Auge von hier in die liebliche Golo⸗
ebne hinab, zu den duftigen blauen Bergen hin, welche aus
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dem Innern der Inſel gum Wbfdied mit ibren Wolkenſchleiem
winfen.
Gine ſchöne Wanderreife ift nun vollbradt. Und hie
ftebt der Wandrer im freudigen Befinnen ftill und dantt den
guten Madhten, die ihn fdhirmend geleiteten. Dod wird es
bem Gemilte fdhwer, von dem wunderbaren Eilande gu ſcheiden.
" Bie cin Freund ift e3 mic geworbden. Die ftillen Taler mit
ibren Olivenbainen, die gauberifden Golfe, die äterfriſchen
Berge mit ihren Ouellen und Pinientronen, Stäadte und
Dorfer und ibre gaftliden Menfden, vieles haben ſie dem
Verftand wie dem Herzen jum dauernden Gaftgefdent gegeden.
Mod einmal das Bild eines Corsen, der hier unter dem .
alten Oelbaum gelagert mir Land und Bolt nod darftellen will
Abſchied vou Corsica.
Der Fremdling.
Du wilder Cord’ vom Berg, was trdumeft du
Am alten Oelbaum bier in dumpfer Rub,
Und ftredft did bin den Doppellauf im Arme
Und ftarrft fo in die Luft, die flimmerwarme ?
Im grauen Turme weint dein bungrig Kind,
G8 fingt Lament dein Weib und fpinnt und fpinnt,
Und Hagt, dab ohne Ende die Beſchwerde,
Die Rammer leer, dab Feuer todt im Herbde.
Dod du, vem Fallen gleidh, hodft auf dem Stein,
Verſchmaähſt im Tal das goldne Korn ju ftreun,
Und auszuſä'n den griinen Pflangenfegen
Und Rebenwuds, ein wobnlid Haus gu pflegen.
Schau' bier hinab, wie fid die Chne dehnt
An blauen Bergen fonnig hingelehnt,
Und fic) gum Meere lachend niederfentet,
Gin Paradies von Baden übertränket.
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Doch wuchert drauf nur ſtrupp'ger Albatro,
Der Mirtenſtrauch der weiten Herrſchaft froh,
Das Farrenkraut und Cytiſus und Haide,
Schwarzhaar'ger Ziegen ſommerliche Waide.
arag ſchleicht der Golofluß hinab yum Sumpf
Dem ſchilfbewachſ'nen, der die Luft macht ſtumpf
Und fieberfeucht und langſam zehrt am Leben
Des Fiſchers, dem er ſeinen Fiſch gegeben.
Und wenn der Wandersmann das Feld durchirrt,
Wird er vom Haidevogel nur umſchwirrt,
Und ſtößt auf Trümmer nur und Mauerhallen
Von Römerſtädten, die zu Staub zerfallen.
Auf denn, du Cord’, aus deiner trägen Raft,
Und fteig’ berab, und flint die Art gefaßt,
Den Spaten und den Rarft, und bau’ die Erde,
Daf fie ein fruchtbededter Garten werde.
Der Corse.
Du Frembling, deffen Water einft id traf,
Bei Calengana fentt? in ew'gen Sdlaf,
Was ftdrft nu meine Muh? — Sweitaufend Jahre
Schon timpft’ id, ſchlachtenvolle, freudenbare,
Und bielt sweitaufend Jahre ringend Stand
Dem Feind’, der überzog mein Inſelland.
Am Col di Tenda hab’ ic fie gefdlagen
Die Romer deren Spur die Felder tragen;
Carthago’s Hasdrubal traf id am Meer,
Zerftreut? wie Gamen das Gtrusterbeer.
Der Maure drang in meinen Golf nad Beute,
Gr fdleppte Weib und Kind mir in die Weite,
Und warf ind Haus ben roten Feuerbrand;
Dod fabt’ id ibn und rang und überwand.
Lind wieder birt? dad Muſchelhorn ic fdallen,
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Wenn neu der Feind mir in das Land gefallen,
Lombard’ und Türke und der Aragon.
Und floß mei Blut in ellen Baden fdon,
Und fab in Aſche id mein Dad zerſtieben,
Ich weinte nidt — mir war die Freiheit blieben.
Da fam der Genueſ' — o ſchwerer Fluch!
Stalia ihr Kind in Ketten fdlug.
Schauſt du mein Land und klagſt, dab e3 fo wüſte,
Die Fluren Sd’ und leer die Hafentiijte,
Das Dorf von Epheu griin und halbzerſtört,
So wip, der Genuefe hat's verbeett.
Hörſt du am Golf die Mtandoline. fdlagen,
Des Vöcero gedehnte Laute Hagen,
Und wunderft did), daß trib’ jtets der Gefang,
So wif, der Genuef’ ihn fo erzwung.
Hörſt du ben Flintenfdup im Berge ballen,
Siehſt du ind dunfle Blut das Opfer fallen,
Und ſchauderſt ob der Rachluſt unerhört,
So wif’, der Genuef’ hat fie gelebrt. .
Und wiffe nun, was wir gelitten haben.
Dod hab’ id Genua das Grab gegqraben,
Lind fiebft bu fie hereinft fo fag’: Ich fab
Das Corseneiland, Grab von Genua.
Wild war ner Kampf und graufig fonder Cnde,
Der Kaufmann gab mein Land in Frankreihs Hanvde,
UZ wie ein Gut, das man erfteht um Geld, .
Und rubig fab e3 an die feige Welt.
Du Fremdling hdr’, an Pontenuovo’s Bergen
Grlag id) wund den fran’ fden Freiheitſchergen,
Und weint’, und fdleppt’ mid wie ein blutend Wild
Die Felfen aufwarts von dem Schlachtgefild.
Nun bin id müd' — fold’ Kämpfen macht ermiden,
Drum gönn' die Raft mir in de Oelbaums Frieden,
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Der Fremodling.
Nidt wollt’ mein Mund ein bitter Wort dir fagen,
Mitfiiblend nur dein Fludgefdhid beklagen,
Du Vortampf-Streiter, blutig, ſchlachtenmüde,
O Sobn des Tode3 und der Cumenide!
Nun rub’! weil bu Curopa’s Tange Nacht
Allein auf deinem Felfen haſt durchwacht,
Und haſt allein um Manned Gut gerungen,
Ws in Der Welt fein Name war verflungen.
Hab’ einen Ruf gehört von deinen Ahnen,
Bon Pasqual Paoli ein ernſtes Mtabnen,
Als ob dem roft’'gen Heldenangedenten
Mein lebend Wort follt’ neues Leben ſchenken.
Und war es oft ein blutig dunkles Gdauern,
Und war es oft ein tiefes Geelentrauern,
Das hier mein Herz im Innerſten gerührt,
Hat’s dod) vom Heldengeift den Hauch gefpiirt;
Hat's dod) von deinen liederreiden lagen
Den hellſten Glodenflang hinweggetragen.
Und wie id fab dem Riefenfels gu Füßen,
Und fab den Wildbad fret durd Wolfen ſchießen,
Shat mit aufs Haupt die Aeterfdhale gießen
Natur und neu den Sinn zum Licht erſchließen.
Sm Land bes Tode3 war id nun ju Galt,
Und tebre, beim mit dem Ofivenaft;
Froh ſchwingt der Pilgrim das geliebte Zeichen,
Weil's gute Geiſter ihm gewährend reichen.
Du Cors' leb wol! dieweil auf regen Wellen
Von meinem Wanderſchiff die Segel ſchwellen.
Hab' Gottes Lohn für deiner Früchte Gabe,
Für gaſtlich Obdach und des Weines Labe.
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Mag Jahr um Jahr dein fetter Oclbaum tragen,
Dein Garten ‘nie die Lefe dir verfagen.
Auf goloner Aue reif’ dir Mais genug;
Aufzehr' die Sonne deiner Rade Flud,
Dap einft vor ihrem Antlitz troden werbde
Dein Heldenblut auf deiner Heldenerde.
Hod wadf dein Sohn den ftarfen Whnen nad,
Die Todter fenfd wie deines Berges Bad;
Halt’ gwifden fie und feile Franfenfitten
Granitner Felſen Schanze ftets inmitten.
Leb, Giland, wol! mag nie dein Rubm verfdwinden,
Der Bater Tugend laß in Enkeln finden;
Daf nidt ein Gaft auf deinen Bergen flage:
„Sampiero's Heldenfinn, du wardft gur Sage!“
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Note.
Ich gebe am Schluſſe meineS Buchs eine literarifde Note
über ſolche wefentliche Schriften, die mir dabei gedient haben.
Es gilt aud) hier die Erfahrung, dak jedeS Ding, mag e8 nod
jo ſehr injularifd fein, fdon einen Continent von Qiteratur nad
fich gieht. Die hiftorifehen Werke der Corsen habe ich bereits ge-
nannt, Filippini, Peter von Cor8ica, Cambiaggi, Jacobi, Lim⸗
perani, Renucci, Gregori, Fries. Ihnen will ih anſchließen:
Robiquet recherches historiques et statistiques sur la Corse,
Paris 1835, ein Buch, weldeS ftofflich reich tft, und dem id
ſchätzenswerte Notizen verdantfe.
Von Niccolo Tommaseo ſtanden mir zu Gebot ſeine Lettere
di Pasquale de Paoli, Firenze 1846, und ſeine Canti Popolari
Corsi in der Sammlung corsiſcher, toScanifdher und griedifder
Vols lieder.
Die von mir mitgeteilten cor8ifden Todtenflagen entnahm
id dem Saggio di Versi Italiani e di Canti Popolari Corsi,
Bastia 1843. Der greife Dichter Salvator Viale hatte die Güte,
mir bei jeinem legten Beſuch in Rom eine handſchriftliche Samm⸗
lung cor8ifder Volkslieder zurückzulaſſen, weldhe ich nod, in Beiten
der Muge, herauszugeben gedenfe. Der würdige Mann ift nun
todt. Tommaseo widmete ihm und feinen Verdienften einen ſchönen
Nachruf im Archivio Storico. Ich habe Viale's Novelle: „Das
Geliibde des Petrus Cyrnäus“ in mein Bud aufgenommen; fie
feblt in deffen erfter Ausgabe. Den Stoff gu den andern corsiſchen
Novellen, welche alle wirkliche Begebenheiten erzählen, verdanke
'ich einer Sammlung ſolcher kleinen Geſchichten von Renucci,
Baftia 1838. Die Behandlung iſt mein eigen.
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BoSwellS, eines Englanders Bud: „Zuſtand CorBica’s nod
einem Reifejournal und nad Denkwiirdigfeiten des Pasquale Paoli,
aus dem Jahre 1769, in London”, ift leſenswert, weil der Ber-
faffer den großen Coren perſönlich fannte, und was er aus feinem
Munde Hdrte niederſchrieb. — Endlich verdanfe ich auch Valerys:
Voyages en Corse, à lile d’Elbe et en Sardaigne; Bruxelles
1838, mande Notiz.
tq